COLLEEN McCULLOUGH
M L
DIE ACHT UND DIE IEBE ROMAN
C. BERTELSMANN
Bravourös erobert Colleen McCullough mit
ihrem j...
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COLLEEN McCULLOUGH
M L
DIE ACHT UND DIE IEBE ROMAN
C. BERTELSMANN
Bravourös erobert Colleen McCullough mit
ihrem jüngsten Werk ein für sie neues Terrain: den historischen Roman. »Seit ich vor rund dreißig Jahren Briefe und Reden Ciceros las«, schreibt dazu die Autorin, »faszinierten mich die letzten hundert Jahre der Römischen Republik, denn nie zuvor agierten gleichzeitig so viele talentierte Männer auf der politischen Bühne«. Die letzten hundert Jahre: das ist die Zeit zwischen 110 und 27 vor Christi Geburt, die Zeit der Bedrohung Roms durch die Germanen, die Zeit der Bürgerkriege und Triumvirate. In diese Periode fallen der Sklavenaufstand unter Spartacus, die Herrschaft und Ermordung Julius Caesars sowie das Ende der Römischen Republik. Aus dieser turbulenten Geschichtsepoche greift die Autorin im vorliegenden Roman zwei faszinierende Gestalten heraus, beide besessen vom Ehrgeiz, der »Erste Mann in Rom« zu werden: Marius und Sulla. Der eine ist ein alternder Emporkömmling aus der Provinz, ein begnadeter Feldherr, der militärischen Beutezügen sein Vermögen verdankt; der andere ist ein verarmter, gutaussehender Dreißigjähriger aus dem Hochadel der Stadt Rom, rastlos auf der Jagd nach seinem persönlichen Vergnügen. Der eine heiratet aus politischem Kalkül eine Tochter aus der noblen Familie der Julier, der andere heiratet aus Liebe deren Schwester. Souverän verfolgt Colleen Mccullough den erbitterten Kampf dieser beiden sich ebenbürtigen Gegenspieler um die Vormachtstellung in Rom. Das Schicksal ist zunächst Marius hold: Durch geschicktes Taktieren wird er Konsul, und er kann dieses höchste Arnt weitere sechs Mal
erringen, denn die politisch wirren Zeiten verlangen nach einem starken Mann. Die Jahre seiner Herrschaft sind geprägt von Kriegen und Intrigen, von Liebschaften und Enttäuschungen, von großen Triumphen und vernichtenden Niederlagen. Despotisch und selbstherrlich bestimmt er die Geschicke des Imperiums und erhält auf dem Höhepunkt seiner Macht den Beinamen »Dritter Gründer Roms«.
Colleen McCullough wurde im australischen Wellington geboren. Sie arbeitete mehrere Jahre in England als Neuro-Physiologin, bevor sie nach Amerika an die Yale University School of Medicine ging. Ihre Romane: »Tim« »Ein anderes Wort für Liebe« »Dornenvögel«, der weltweit wohl erfolgreichste Roman der letzten Jahrzehnte, »Credo« sowie »Die Ladies von Missalonghi«.
Colleen McCullough
Die Macht und die Liebe ROMAN Aus dem Amerikanischen von Verena Koch, Christine Neugebauer und Ursel Schäfer
C. Bertelsmann
Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel »The First Man in Rome« bei William Morrow & Company, Inc., New York
Für FREDERICK T. MASON den lieben Freund, großartigen Kollegen, wunderbaren Mann, in Liebe und Dankbarkeit
1. Auflage © der deutschsprachigen Ausgabe 1990 bei C. Bertelsmann Verlag GmbH, München © der Originalausgabe 1990 by Colleen McCullough Satz: Büro Dr. Ulrich Mihr, Tübingen Druck & Bindung: Wiener Verlag Printed in Austria ISBN 3-570-08502-3
Inhalt Das erste Jahr 7 Das zweite Jahr 180 Das dritte Jahr 249 Das vierte Jahr 326 Das fünfte Jahr 367 Das sechste Jahr 417 Das siebte bis neunte Jahr 599 Das zehnte und elfte Jahr 856
Illustrationen: Aurelias Insula 1035 Das Haus von Marcus Livius Drusus auf dem Palatin 1036
Das erste Jahr (110 v. Chr.)
Unter den Konsuln Marcus Minucius Rufus und Spurius Postumius Albinus
Gaius
Julius Caesar stand keinem der beiden neuen Konsuln besonders nahe, und so reihte er sich mit seinen Söhnen einfach irgendwo in jene Prozession ein, die ganz in der Nähe seines Hauses begann, die Prozession des Konsuls Marcus Minucius Rufus. Beide Konsuln wohnten auf dem Palatin; das Haus von Spurius Postumius Albinus, dem jüngeren Konsul, lag jedoch in einem eleganteren Viertel. Man munkelte, daß Albinus’ Schulden in schwindelerregende Höhen gestiegen seien. Kein Wunder, das war der Preis, wenn man Konsul werden wollte. Nicht, daß Gaius Julius Caesar sich den Kopf darüber zu zerbrechen brauchte, was der politische Aufstieg kostete, und aller Wahrscheinlichkeit nach würden auch seine Söhne sich nie darum sorgen müssen. Es war vierhundert Jahre her, daß ein Julier auf der sella curulis, dem elfenbeinernen Amtsstuhl der Konsuln, Platz genommen hatte. Zwar war die Ahnenreihe der Julier wirklich imposant, aber die nachfolgenden Generationen hatten es versäumt, die Schatztruhen wieder aufzufüllen, und mit jedem Jahrhundert wurde das Geschlecht der Julier ärmer. Konsul? Unmöglich! Vielleicht Prätor, der zweithöchste Beamte nach dem Konsul? Unmöglich! Nein, heute konnte ein Julier nur noch ein bescheidenes, ruhiges Plätzchen als Hinterbänkler im Senat erben, und die Aussichten der Caesaren — der Linie der Julier, die wegen ihres üppigen Haupthaares diesen Beinamen trugen — waren auch nicht besser. Die Toga, die der Kammerdiener seinem Herrn Gaius Julius 9
Caesar an diesem Morgen über die linke Schulter gelegt, um den Leib geschlungen und über den linken Arm geführt hatte, war die schlichte weiße Toga eines Mannes, der nie nach dem Elfenbeinstuhl getrachtet hatte. Nur die dunkelroten Schuhe, der eiserne Senatorenring und der breite Purpurstreifen auf der rechten Schulter unterschieden ihn von seinen beiden Söhnen Sextus und Gaius, die gewöhnliche Schuhe und Siegelringe trugen und eine Tunika mit dem schmalen Purpurstreifen der Ritter. Die Dämmerung war noch nicht angebrochen, als die Familie den neuen Tag begrüßte: ein kurzes Gebet, am Herd im Atrium das Salzopfer für die Hausgötter und, als der wachhabende Sklave die vom Hügel herannahenden Fackeln ankündigte, die Verbeugung vor dem Gott Janus Patulcius, der über das Öffnen der Türen wachte. Dann trat der Vater mit seinen Söhnen hinaus auf die schmale, gepflasterte Straße, und dort trennten sie sich. Während die beiden jungen Männer sich dem Zug der Ritter anschlossen, die vor dem neuen Konsul gingen, mischte Gaius Julius Caesar sich hinter Marcus Minucius Rufus und den Liktoren unter die Senatoren.
Marcia richtete ein kurzes ein kurzes Gebet an den Gott Janus Clusivius, der über das Schließen der Türen wachte, und gab dann den gähnenden Sklaven ihre Anweisungen. Jetzt war sie endlich allein und konnte sich um ihre Schützlinge kümmern. Wo waren die Mädchen nur? Marcia hörte Lachen aus dem Zimmer ihrer beiden Töchter. Da saßen sie, die beiden Julias und aßen dünn mit Honig bestrichene Brote zum Frühstück. Wie bezaubernd sie doch aussahen! Man sagte, jede Julia aus diesem Geschlecht sei ein kostbares Juwel, denn alle Julias hätten die seltene Gabe, ihre Männer glücklich zu machen. Diese beiden kleinen Julias würden die Familientradition gewiß fortsetzen. Die ältere der beiden, Julia genannt, war fast achtzehn. Hochgewachsen und von würdevollem Ernst, hatte sie die bronzefarbenen 10
Haare tief im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden, und der Blick ihrer großen grauen Augen war prüfend und sanft zugleich auf ihre Umgebung gerichtet. Ein ruhiges, kluges Mädchen.
Ihre jüngere Schwester, genannt Julilla, war sechzehneinhalb, die Jüngste der Familie und eigentlich ein unerwünschter Nachzügler, doch sie hatte schon bald die Herzen der Eltern und der drei älteren Geschwister erobert. Ihre Haut hatte die Farbe des Honigs, Haare und Augen den weichen Glanz von Bernstein. Natürlich war sie es, die soeben gelacht hatte. Sie hatte ein unruhiges, unvernünftiges Temperament. »Fertig, Kinder?« fragte Marcia. Schnell stopften sie sich die letzten Bissen des klebrigen Brotes in den Mund, fuhren mit den Fingern durch eine Wasserschale, dann über ein Handtuch und folgten ihrer Mutter hinaus. »Es ist frisch«, sagte Marcia und griff nach den Wollmänteln, die ein Sklave über dem Arm trug. Es waren einfache, schwere Umhänge. Die Mädchen sahen sie enttäuscht an, hüteten sich aber, etwas zu sagen. Geduldig ließen sie sich einwickeln wie Raupen in einen Kokon, bis nur noch ihre Gesichter aus dem rauhen, braunen Tuch hervorlugten. Auch Marcia wickelte sich in eine Decke, dann führte sie den kleinen Zug aus Töchtern und Sklaven hinaus auf die Straße. Sie wohnten am Cermalus, dem unteren Teil des Palatin, in einem bescheidenen Haus, das Vater Sextus zusammen mit fünfhundert iugera guten Ackerlandes zwischen Bovillae und Aricia seinem jüngeren Sohn Gaius vermacht hatte. Das Land würde zwar ausreichen, um den Sitz im Senat zu halten, aber es war viel zu wenig, um ein Amt im cursus honorum anzusteuern. Vater Sextus hatte sich von keinem seiner beiden Söhne trennen wollen, und diese eigennützige Haltung hatte zwangsläufig dazu geführt, daß sein Vermögen zwischen seinem älteren Sohn Sextus und seinem jüngeren Sohn Gaius aufgeteilt wurde. Dies bedeutete 11
wiederum, daß keiner seiner Söhne sich Hoffnungen auf das Amt eines Prätors oder gar Konsuls machen durfte. Gaius’ Bruder Sextus war nicht so sentimental wie sein Vater. Er hatte mit seiner Frau Popillia drei Söhne gezeugt, eine unerträgliche Belastung für jede Senatorenfamilie, und dafür gab es nur eine Lösung: Er hatte sich von seinem ältesten Sohn getrennt und ihn dem kinderlosen Quintus Lutatius Catulus zur Adoption gegeben. Das hatte ihm ein Vermögen eingebracht und sichergestellt, daß auch sein Ältester einmal ein Vermögen erben würde, denn der alte Catulus war unvorstellbar reich. Freudig hatte er eine riesige Summe dafür springen lassen, daß er einen Patrizierjungen adoptieren konnte, der nicht nur blendend aussah, sondern auch leidlich intelligent war. Sextus hatte das Geld, das der Junge ihm eingebracht hatte, wohlüberlegt in Ländereien und Immobilien angelegt. Seine beiden jüngeren Söhne hatten somit mehr zu erwarten als ein Hinterbänklerdasein im Senat. Der nüchtern rechnende Sextus war freilich eher eine Ausnahme. Die anderen Männer der Familie hatten seit je das Problem, daß sie mehr als einen Sohn zeugten und alle gleichermaßen liebten. Nie brachten sie es über sich, einen ihrer zahlreichen Sprößlinge zur Adoption freizugeben oder wenigstens dafür zu sorgen, daß ihre Kinder vorteilhafte Ehen eingingen. So waren ihre einstmals großen Ländereien im Lauf der Jahrhunderte immer weiter geschrumpft, weil sie auf immer mehr Söhne verteilt oder für die Mitgift der Töchter verkauft werden mußten. Auch Marcias Mann Gaius Julius setzte diese Tradition fort. Er hing an seinen Kindern, war stolz auf seine Söhne und vernarrt in seine Töchter und ließ sich nicht von der Vernunft leiten, wie es einem richtigen Römer geziemte. Denn sonst hätte er den ältesten Sohn zur Adoption freigeben und die beiden Mädchen schon vor Jahren reichen Bürgern für die Ehe versprechen müssen. Nur das Geld bestimmte die politische Karriere. Auf die aristokratische Herkunft war schon lange kein Verlaß mehr.
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Das neue Jahr begann wenig verheißungsvoll. Ein kalter Wind trieb dünne Regenschleier vor sich her über das nasse, rutschige Pflaster und verstärkte den beißenden Gestank abgestandener Asche, der in der Luft lag. An einem solchen Feiertag zogen es die einfachen Leute in Rom vor, in ihren engen Wohnungen auf ihren Strohsäcken liegenzubleiben. Bei schönem Wetter hätten sich auf den Straßen Menschen aller Schichten getummelt und von geeigneten Aussichtspunkten den prachtvollen Umzügen auf dem Forum Romanum und dem Kapitol zugeschaut. Aber an diesem trüben Tag kamen Marcia und ihre Töchter gut voran, und die Sklaven mußten den Damen nicht gewaltsam einen Weg durch die Menge bahnen. Die schmale Gasse, in der das Haus von Gaius Julius Caesar lag, mündete in den Clivus Victoriae, eine Straße unweit der Porta Romulana, dem altehrwürdigen Stadttor des alten Palatins. Das Stadttor war aus mächtigen Quadern zusammengefügt, die Romulus vor sechshundert Jahren eigenhändig dort aufgeschichtet hatte, die inzwischen aber mit allerlei Gestrüpp überwuchert waren. Die Frauen wandten sich nach rechts und gingen den Clivus Victoriae hinab bis zu der Ecke, wo sie vom Cermalus aus das Forum Romanum überblicken konnten. Nach fünf Minuten hatten sie ihr Ziel erreicht, ein ödes Stück Brachland. Vor zwölf Jahren noch hatte hier eines der vornehmsten Häuser Roms gestanden, jetzt erinnerte daran nur noch hier und da ein halb im Gras verborgener Stein. Von hier aus hatte man einen unverstellten Blick auf das Forum Romanum und das Kapitol, auf das lebhafte Treiben in der Subura und auf die Hügel, die die Stadt im Norden begrenzten. Die Sklaven stellten Klappstühle für Marcia und die beiden Julias auf. »Hast du schon gehört?« fragte Caecilia, die Frau des Geldverleihers Titus Pomponius, die hochschwanger mit ihrer Tante Pilla in der Nähe saß. Sie wohnten in derselben Straße wie die Caesars, im übernächsten Haus. »Nein, was denn?« Marcia beugte sich fragend vor. »Die Konsuln, Priester und Auguren haben gleich nach Mitter13
nacht mit den Gebeten und Zeremonien angefangen, um nur ja rechtzeitig fertig zu sein...« »Das machen sie immer so!« unterbrach Marcia. »Denn wenn sie einen Fehler machen, müssen sie wieder ganz von vorn anfangen.« »Ja ich weiß, so dumm bin ich nun auch wieder nicht!« sagte Caecilia giftig. Sie ärgerte sich, daß die Tochter eines Prätors sie belehren wollte. »Die Sache ist nur die, daß sie keinen Fehler gemacht haben! Die Himmelszeichen waren einfach ungünstig. Viermal hat es geblitzt, und mitten auf der Kultstätte hat eine Eule geschrieen, es klang wie ein Todesschrei. Und jetzt noch dieses Wetter — das wird kein gutes Jahr werden, von den Konsuln ganz zu schweigen.« »Das hätte ich dir auch ohne Blitz und Eulen sagen können«, erwiderte Marcia. Ihr Vater war zwar nicht Konsul geworden, doch er hatte in seiner Funktion als Stadtprätor den großen Aquädukt gebaut, die Trinkwasserleitung für ganz Rom. Mit diesem Werk war er als einer der Großen in die Geschichte eingegangen. »Eine armselige Auswahl von Kandidaten, und dann haben die Wahlmänner noch nicht einmal die besten aus diesem Sammelsurium ausgesucht. Vielleicht gibt Marcus Minucius Rufus einen tüchtigen Konsul ab, aber Spurius Postumius Albinus? Die haben noch nie etwas zuwege gebracht.« »Wer?« fragte Caecilia dümmlich. »Die Sippe von Spurius Postumius Albinus.« Marcia warf einen wachsamen Blick auf ihre Töchter. Die beiden hatten vier Mädchen aus dem Geschlecht des Claudius Pulcher entdeckt — von denen gab es so viele, daß man nie genau wußte, wer zu welchem Familienzweig gehörte! Auch die Claudier führten einen endlosen Kampf gegen das doppelte Verhängnis des alten Adels, daß für zu viele Kinder immer weniger Land und Geld da waren. Und zu benehmen wußten sich die Mädchen auch nicht! Nun, Marcia konnte ihren Töchtern den Umgang mit Mädchen aus einem beinahe ebenbürtigen Geschlecht wohl kaum verbieten, zumal sie gemeinsam zur Schule gegangen waren. Die beiden 14
Julias hatten ihre Klappstühle in die Nähe der anderen Mädchen gerückt, die unbeaufsichtigt waren. Wo waren überhaupt ihre Mütter? Aha! Sie unterhielten sich mit Sulla. Unmöglich! Das reichte. »Mädchen!« rief Marcia streng. Zwei verhüllte Köpfe drehten sich nach ihr um. »Kommt sofort hierher.« Sie gehorchten. »Mama, bitte, dürfen wir mit unseren Freundinnen spielen?« bettelte die kleine Julilla. »Nein«, sagte Marcia in einem Ton, der keine Widerrede duldete. Unten auf dem Forum Romanum formierte sich die Prozession. Wie ein Reptil hatte sich der eine Zug vom Haus des Marcus Minucius Rufus zum Forum geschlängelt und sich dort mit dem nicht minder langen Zug vereinigt, der vom Haus des Spurius Postumius Albinus ausging. Voraus gingen die Ritter, zwar nicht so viele wie an sonnigen Neujahrstagen, aber doch um die siebenhundert an der Zahl. Es wurde etwas heller, aber der Regen fiel noch dichter, als der Zug sich den Clivus Capitolinus hinaufbewegte bis zur ersten Wende des kurzen, steilen Weges, wo die Priester und die Schlächter mit zwei — makellos weißen — Stieren mit reichverzierten Halftern warteten. Hinter den Rittern schritten die vierundzwanzig Liktoren der neuen Konsuln, gefolgt von den Konsuln und den Mitgliedern des Senats, je nach Rang gekleidet in purpurgesäumte Togen oder schlichtes Weiß. Ganz am Schluß kamen die, die eigentlich gar nicht dazugehörten, die Schaulustigen nämlich und die Bittsteller. Wie schön, dachte Marcia. Etwa tausend Männer stiegen langsam zum Tempel des höchsten Gottes Jupiter Optimus Maximus empor. Eindrucksvoll ragte der mächtige Tempel ganz oben auf der südlichen Kuppe der beiden Kapitolhügel auf. Die Griechen pflegten ihre Tempel im Tal zu bauen, die Römer hingegen bauten ihre in luftiger Höhe, und viele Stufen führten zu ihnen hinauf, ganz besonders viele zum Tempel des Jupiter. Wie schön das 15
aussieht, dachte Marcia wieder, als sich der Zug mit den Opfertieren in die Prozession einreihte und alle gemeinsam das letzte Stück zum Tempel zurücklegten. Oben drängten sich die Menschen auf dem Platz vor dem Heiligtum zusammen. Dort oben, irgendwo in der Menge, befanden sich auch ihr Mann und ihre beiden Söhne, denn auch sie gehörten jener Klasse an, die über die mächtigste Stadt der Welt herrschte.
Auch Gaius Marius stand in der Menge vor dem Tempel. Als ehemaliger Prätor trug er die purpurgesäumte toga praetexta und auf den dunkelroten Schuhen eine Schnalle in Form eines Halbmonds. Vor fünf Jahren war er Prätor geworden, vor drei Jahren hätte er Konsul werden müssen. Aber er wußte, daß man ihn niemals für dieses Amt nominieren würde. Warum nicht? Weil er nicht fein genug war. Aus keinem anderen Grund. Wer hatte je von einer Familie namens Marius gehört? Niemand.
Gaius Marius war ein Aufsteiger aus der Provinz, und er war Soldat. Angeblich konnte er kein Griechisch, und manchmal, wenn er aufgeregt oder wütend war, mischten sich Wörter des heimatlichen Dialekts in sein Latein. Da zählte es nicht, daß er mit seinem Geld den halben Senat in die Tasche stecken konnte und als Feldherr den ganzen. Was zählte, war allein die Herkunft, und seine war nicht gut genug. Gaius Marius stammte aus Arpinum. Das war zwar gar nicht weit von Rom entfernt, aber doch so bedenklich nahe an der Grenze zwischen Latium und Samnium, daß einige an seiner Treue und Loyalität zu Rom zweifelten. Schließlich waren die Samniten von allen italischen Stämmen immer noch die hartnäkkigsten Feinde Roms. Die Einwohner Arpinums hatten erst vor achtundsiebzig Jahren von Rom die vollen Bürgerrechte erhalten, und der Bezirk besaß nach wie vor keine volle Selbstverwaltung. Die Gegend war freilich wunderschön! Ein fruchtbares Tal am 16
Fuß des Apennin, eingefaßt von den beiden Flüssen Liris und Melfa. Dort gediehen die köstlichsten Trauben, zum Essen wie zum Keltern gleichermaßen geeignet, die Ernten fielen überreichlich aus, die Schafe waren dick und ihre Wolle außergewöhnlich fein. Ein friedliches, grünes, verträumtes Land. Im Sommer war es dort angenehm kühl, im Winter hingegen wärmer, als man erwartet hätte. Die beiden Flüsse waren fischreich, und die dichtbewaldeten Berge um Arpinum lieferten immer noch vorzügliches Holz für den Bau von Schiffen und Häusern. Kiefern und Pinien wuchsen dort, und Eichen, deren Früchte im Herbst den Boden bedeckten und Wildschweinen zur Nahrung dienten. An jeder vornehmen Tafel in Rom schätzte man die fetten Schinken, Speckseiten und Würste aus Arpinum. Die Familie des Gaius Marius lebte schon seit vielen hundert Jahren in Arpinum, stolz auf ihre latinische Abstammung. War Marius etwa ein volskischer oder samnitischer Name? Hatte er einen oskischen Beiklang, nur weil es auch Volsker und Samniten gab, die Marius hießen? Mitnichten! Marius war ein lateinischer Name. Er, Gaius Marius, konnte es sehr wohl mit diesen hochnäsigen, arroganten Adligen aufnehmen, die sich einen Spaß daraus machten, ihn zu demütigen. Mehr als das — er fühlte genau, daß er ihnen allen überlegen war. Dieses Gefühl verfolgte ihn wie ein ungebetener Gast, der nicht weicht, mochte man ihn noch so ungastlich behandeln. Seit langer Zeit schon nagte es in ihm, lange genug, um sich über seine Nutzlosigkeit klarzuwerden. Nach so vielen Jahren hätte an seine Stelle eigentlich Resignation treten müssen, doch Marius hatte nicht resigniert. Das Gefühl der Überlegenheit war lebendig und ungebrochen wie eh und je. Nachdenklich betrachtete Gaius Marius an diesem trüben, regnerischen Morgen die starren Gesichter der in purpurgesäumte Togen gekleideten Senatoren. Wie merkwürdig die Welt doch war! Keiner von ihnen konnte einem Tiberius oder Gaius Sempronius Gracchus das Wasser reichen, und wenn man von Marcus Aemilius Scaurus und Publius Rutilius Rufus absah, blieb 17
nur eine Schar recht unbedeutender Männer. Und doch behandelten sie ihn, Gaius Marius, als sei er ein aufgeblasener Niemand, tüchtig zwar, aber ohne wirkliches Format. Nur weil in ihren Adern das richtige Blut floß. Sie alle gingen wie selbstverständlich davon aus, daß einmal ihre Stunde kommen und sie die Herren Roms sein würden, die »Ersten« — Scipio Africanus, Aemilius Paulus, Scipio Aemilianus und vielleicht ein Dutzend anderer in der viele Jahrhunderte alten Geschichte der Republik waren so genannt worden. Der Erste war nicht notwendig der Beste. Er war der Erste unter seinesgleichen, unter Männern, die demselben Stand entstammten und dieselben Chancen gehabt hatten wie er. Der Erste Mann von Rom, das bedeutete viel mehr als die Königskrone, mehr als Autokratie, Despotismus oder wie auch immer man es nennen mochte. Ein solcher Mann zeichnete sich durch seine überragenden Qualitäten vor allen anderen aus, wußte aber zugleich, daß er viele Rivalen hatte, die begierig waren, ihn auszustechen, und das auch legal und ohne Blutvergießen konnten, indem sie bewiesen, daß sie ihn an Tüchtigkeit noch übertrafen. Der Erste Mann von Rom, das bedeutete auch mehr als das Amt des Konsuls. Konsuln kamen jedes Jahr zwei neue, aber in der langen Geschichte der Republik hatte das Volk nur wenigen als den Ersten im Staate zugegejubelt. Gegenwärtig gab es keine Männer, die sich so auszeichneten, und seit dem Tod des Scipio Aemilianus vor neunzehn Jahren hatte es keine mehr gegeben. Marcus Aemilius Scaurus entsprach noch am ehesten den Anforderungen, doch fehlte es ihm an Macht oder vielmehr auctoritas, jener für Rom so charakteristischen Mischung aus Macht, Autorität und Ruhm. Niemand sprach Marcus Aemilius mit diesem Titel an, nur er selbst benutzte ihn manchmal.
Wie auf ein Stichwort ging in diesem Augenblick ein Murmeln durch die Reihen der Senatoren. Der ältere Konsul, Marcus 18
Minucius Rufus, hatte soeben dem großen Gott den weißen Stier als Opfer darbringen wollen, aber das Tier hatte gescheut, vielleicht weil es in böser Vorahnung das letzte, mit einem Betäubungsmittel vermischte Futter verweigert hatte. Die Senatoren schüttelten die Köpfe: Dies würde kein gutes Jahr werden. Schlechte Vorzeichen bei der Nachtwache der Konsuln, schreckliches Wetter, und nun schnaubte und bockte auch noch das erste Opfertier. Die Altardiener, ein halbes Dutzend an der Zahl, hatten Mühe, den Stier an Hörnern und Ohren festzuhalten. Dummköpfe, dachte Gaius Marius, hätten sie ihm doch vorsichtshalber einen Ring durch die Nase gezogen. Der Akoluth mit dem Betäubungshammer, bis zur Hüfte nackt wie die anderen Diener, wartete nicht mehr, bis der Stier den Kopf zum Himmel erhoben und wieder zur Erde geneigt hatte. Später konnte man immer noch sagen, das Tier habe den Kopf im Todeskampf unzählige Male gehoben und gesenkt. Er trat vor und schwang seine eiserne Waffe blitzschnell auf und nieder. Dem dumpf knallenden Schlag folgte unmittelbar darauf ein zweiter. Die Vorderläufe des Stiers knickten ein, dann krachte er mit seinem ganzen Gewicht von sechzehnhundert Pfund aufs Pflaster. Der halbnackte Schlächter versenkte sein zweischneidiges Schwert im Nacken des Tieres, und das Blut spritzte nach allen Seiten. Ein Teil wurde in den Opferschalen aufgefangen, das meiste floß als dampfender, klebriger Strom über das aufgeweichte Erdreich und vermischte sich dort mit dem Regen. Wie sehr sich doch beim Anblick von Blut der wahre Charakter eines Mannes offenbart, dachte Gaius Marius. Mit einem distanzierten Lächeln auf den Lippen beobachtete er, wie ein Senator hastig zur Seite sprang, ein anderer gleichgültig mit dem linken Schuh im Blut versank und ein dritter zu verbergen versuchte, daß ihm speiübel war. Dann fiel ihm ein Mann auf, der am Rand des Ritterzuges stand, ein junger, aber bereits voll ausgewachsener Bursche, gekleidet in eine Toga, jedoch ohne den ritterlichen Streifen auf der rechten Schulter der Tunika. Er stand erst seit kurzem dort, und jetzt wandte er sich auch schon wieder dem steilen Weg zu, der vom 19
Clivus Capitolinus zum Forum hinabführte. Ehe er sich abwandte, sah Gaius Marius freilich noch, wie er mit seinen blitzenden grauweißen Augen gierig den Anblick des frischen Blutes verschlang. Gaius Marius war sicher, daß er den Burschen noch nie zuvor gesehen hatte. Ein Gesicht von zugleich femininer und maskuliner Schönheit, und dann diese erstaunlichen Farben! Die Haut weiß wie Milch, die Haare rotgolden wie die aufgehende Sonne. Apollo in Menschengestalt. Sollte er es gewesen sein? Nein. Ein Gott hatte nicht solche Augen. Aus diesen Augen sprach viel Leid, und ein Gott brauchte doch nicht zu leiden. Der zweite Stier hatte zwar mehr Betäubungsmittel gefressen, er wehrte sich aber trotzdem, sogar noch heftiger als sein Vorgänger. Der Hammerschläger verfehlte sein Opfer, und die rasende Kreatur stürzte sich in blinder Wut auf ihn. Geistesgegenwärtig packte jemand den Stier an den pendelnden Hoden, und diesen Augenblick des Erstarrens nutzten die beiden Schlächter, der Hammerschläger und der Mann mit der Axt, um gemeinsam erneut zuzuschlagen. Der Stier brach zusammen, und das Blut spritzte zwanzig Schritt weit und traf auch die beiden Konsuln. Spurius Postumius Albinus und sein seitlich hinter ihm stehender jüngerer Bruder Aulus wurden von oben bis unten mit Blut besudelt. Gaius Marius musterte den Konsul von der Seite und grübelte, was dieses Omen bedeuten mochte. Auf Rom kamen böse Zeiten zu, kein Zweifel. Jenes unwillkommene Gefühl der Überlegenheit begleitete ihn auch jetzt, ja, es war in der letzten Zeit sogar noch stärker geworden, so als stünde der entscheidende Augenblick unmittelbar bevor. Der Augenblick, da er, Gaius Marius, der Erste Mann von Rom werden würde. Sein gesunder Menschenverstand — und daran mangelte es ihm nicht — schrie ihm zu, daß dieses Gefühl falsch sei, eine Falle, die Schande und Verderben über ihn bringen werde. Aber das Gefühl ließ sich nicht verscheuchen. Lächerlich! sagte die Vernunft in ihm. Er war jetzt siebenundvierzig Jahre alt. Bei der Wahl zum Prätor vor fünf Jahren hatte er die wenigsten Stimmen bekommen. Er war zu alt für das Konsulat, seine Her20
kunft stand ihm im Weg, und er hatte keine Anhänger. Seine Zeit war vorbei. Vorbei! Endlich begann die Amtseinführung der Konsuln. Lucius Caecilius Metellus, ein affektierter Trottel, der sich Pontifex Maximus nennen durfte, leierte die abschließenden Gebete herunter, und gleich nach den Gebeten würde Minucius Rufus, der ältere der beiden Konsuln, den Herold beauftragen, den Senat im Tempel des Jupiter Optimus Maximus zusammenzurufen. Die Senatoren würden festlegen, wann die feriae latinae in den Albaner Bergen stattfinden sollten, debattieren, in welche Provinzen neue Statthalter entsandt werden mußten, und die Provinzen durch Los auf die Prätoren und Konsuln aufteilen. Ein egoistischer Volkstribun würde das Volk in den höchsten Tönen preisen, und Scaurus würde den dreisten Narren wie einen Käfer zertreten. Ein anderer eingebildeter Caecilius Metellus würde sich endlos über den Verfall von Sitte und Moral in der jüngeren Generation ereifern, bis er durch Zurufe zum Schweigen gebracht würde. Es war immer dasselbe: Senat, Volk, Rom, Gaius Marius. Siebenundvierzig Jahre alt. Bald würde er siebenundfünfzig sein, dann siebenundsechzig, und dann würde man seine Leiche auf dem Scheiterhaufen aufbahren, und er würde sich in Rauch auflösen. Das war dann das Ende von Gaius Marius, dem Emporkömmling aus den Schweineställen Arpinums, der kein echter Römer war. Der Herold rief die Senatoren zur Sitzung. Seufzend machte sich Gaius Marius auf den Weg. Wie gern hätte er seine Wut jetzt an jemandem ausgelassen, wäre er auf jemandem herumgetrampelt. In diesem Moment traf sein Blick den des Gaius Julius Caesar, der lächelte, als wisse er genau, was in Gaius Marius vorging. Irritiert starrte Gaius Marius ihn an. Dieser Julius Caesar war jetzt, da sein Bruder Sextus tot war, der älteste Sproß der Caesarenfamilie im Senat, und er vertrat dort eine eigenständige Meinung, auch wenn er nur ein Hinterbänkler war. Hochgewachsen und breitschultrig, hielt er sich kerzengerade wie ein Offizier, und sein feines, silbermeliertes Haar umrahmte ein von Furchen durchzogenes edles Gesicht. Er war nicht mehr jung, sicher über 21
fünfundfünfzig, sah aber aus, als würde er einmal zu jenen unverwüstlichen Mumien gehören, die die Aristokratie mit so schöner Regelmäßigkeit hervorbrachte und die noch jenseits der Neunzig zu jeder Senats- und Volksversammlung schwankten, um dort goldene Worte der Vernunft zu sprechen. Die Sorte, die auch mit einem Opferbeil nicht totzukriegen war und die letzten Endes Rom zu dem gemacht hatte, was es war, trotz der zahllosen Priester vom Schlage eines Caecilius Metellus. Besser als der ganze Rest der Welt. »Welcher Metellus wird uns heute mit seinen Worten beglükken?« fragte Caesar, als sie nebeneinander die Stufen zum Tempel hinaufstiegen. »Einer, der sich seinen Namen erst verdienen muß«, antwortete Gaius Marius. Seine gewaltigen Augenbrauen zuckten auf und ab wie auf Nadeln gespießte Tausendfüßler. »Quintus Caecilius Metellus, der kleine Bruder unseres verehrten Pontifex Maximus.« »Wieso er?« »Weil er nächstes Jahr für das Konsulat kandidieren will, soviel ich weiß. Da will er sich jetzt schon ein bißchen ins Gespräch bringen.« Gaius Marius trat zur Seite, um dem älteren Caesar den Vortritt in das irdische Domizil des großen Gottes Jupiter Optimus Maximus zu lassen. Caesar nickte. »Du hast wohl recht.« Der große Saal in der Mitte des Tempels wurde vom trüben Licht draußen nur spärlich erhellt, aber das ziegelrote Gesicht der Götterstatue leuchtete gleichsam aus sich heraus. Die Statue war uralt, der berühmte etruskische Bildhauer Vulca hatte sie vor vielen hundert Jahren aus Terrakotta geformt, und im Lauf der Zeit hatte man sie mit einem elfenbeinernen Gewand, goldenen Haaren, goldenen Sandalen und einem goldenen Blitzstrahl geschmückt. Sogar Arme und Beine hatte man mit einer silbernen Haut überzogen, Finger und Zehennägel waren aus Elfenbein, und nur das Gesicht wahrte noch die ursprüngliche Farbe des rauhen, erdigen Tons. Es war bartlos, nach der Mode, die die Römer von 22
den Etruskern übernommen hatten. Die aufeinandergepreßten Lippen waren zu einem idiotischen Grinsen verzerrt, das fast bis zu den Ohren reichte und den Gott aussehen ließ wie einen Vater, der verzweifelt bemüht ist, über die Untaten seiner Kinder hinwegzusehen. An den großen Tempelsaal schloß sich zu beiden Seiten ein weiterer Raum an, links der Tempel der Minerva, der Tochter des Jupiter, rechts der seiner Frau Juno. In beiden Tempeln waren herrliche Statuen der Göttinnen in Gold und Elfenbein aufgestellt und daneben jeweils ein weiteres Götterbild. Als nämlich der Tempel erbaut worden war, hatten sich zwei der alten Götter geweigert auszuziehen, und so hatten die Römer alte und neue Götter einfach nebeneinandergestellt. »Darf ich dich für morgen Nachmittag zum Essen einladen?« fragte Caesar. Gaius Marius sah ihn überrascht an und überlegte, was er antworten sollte. Was hatte Caesar vor? Wieso lud er ihn ein, ausgerechnet ihn? Eines konnte man mit Bestimmtheit sagen: Ein Snob war Caesar nicht. Wer seine Vorfahren in der männlichen Linie bis zu Julus, Aeneas, Anchises und der göttlichen Venus zurückverfolgen konnte, hatte das gar nicht nötig. »Ich danke dir, Gaius Julius«, antwortete Marius. »Ich nehme deine Einladung gerne an.«
Als Lucius Cornelius Sulla am Neujahrstag lange vor dem Morgengrauen erwachte, war er schon fast wieder nüchtern. Er stellte fest, daß er an seinem Stammplatz zwischen seiner Stiefmutter zur Rechten und seiner Mätresse zur Linken lag und daß die beiden Damen — wenn man sie schmeichelhafterweise so nennen durfte — vollständig bekleidet waren und ihm den Rücken zukehrten. Dem entnahm er, daß seine Liebesdienste in der vergangenen Nacht nicht gefordert gewesen waren, wofür auch die enorme und genußvoll peinigende Erektion sprach, die ihn geweckt hatte. Einen Augenblick lang versuchte er, sein drittes Auge, das ihn 23
schamlos und aufrecht über seinen Bauch hinweg anstarrte, durch einen strengen Blick zum Einlenken zu bewegen, aber wie immer verlor er den ungleichen Wettstreit. Also blieb nur eins: den undankbaren Burschen befriedigen. Sulla streckte die rechte Hand aus und schob das Kleid seiner Stiefmutter nach oben, mit der linken Hand tat er dasselbe bei seiner Mätresse. Im selben Moment schossen die beiden Frauen, die sich nur schlafend gestellt hatten, wie Furien in die Höhe und begannen, ihn mit Schlägen und Bissen zu traktieren. »Was habe ich denn getan?« brüllte er und krümmte sich unter ihren Fäusten zusammen, die Hände schützend über die Lenden gehalten. Die fürstliche Erektion war wie ein leerer Weinschlauch in sich zusammengefallen. Die Frauen wollten ihm diese Frage unbedingt beantworten und zwar beide zugleich. Doch da erinnerte er sich schon selbst. Auch gut, die beiden kreischenden Weiber waren sowieso nicht zu verstehen. Metrobius, Fluch seinen Augen! Aber was für Augen! Tiefschwarz und glänzend wie polierte Pechkohle, umkränzt von schwarzen Wimpern, die so lang waren, daß man sie um einen Finger wickeln konnte. Haut, zart und hell wie Sahne, schmale Schultern, bedeckt von üppigen schwarzen Locken, und der süßeste Arsch der Welt. Vierzehn Jahre alt, aber mit der Erfahrung von tausend Jahren Laster, ein Schüler des alten Skylax, des Schauspielers — ein Lustknabe, eine süße Versuchung, ein kleiner Tiger. Eigentlich bevorzugte Sulla inzwischen Frauen, aber Metrobius war ein Fall für sich. Als Cupido verkleidet war der Junge mit dem als Venus geschminkten Skylax zum Fest gekommen, auf dem Rücken ein herziges gefiedertes Flügelpaar und um die Lenden einen winzigen Streifen Schappseide, gefärbt mit billigem falschen Safran, der in dem heißen, stickigen Raum zerlaufen war und auf der Innenseite seiner Schenkel orangegelbe Spuren hinterlassen hatte, Spuren, die die Aufmerksamkeit nur noch mehr auf kaum verhüllte Reize lenkten. Sulla hatte die Augen nicht von ihm abwenden können, und der Junge schien gleichermaßen fasziniert von Sulla. Es gab auch 24
wenige Männer, die eine so schneeweiße Haut wie Sulla hatten, Haare von der Farbe der aufgehenden Sonne und Augen so hell, daß sie beinahe weiß wirkten. Ganz zu schweigen von seinem Gesicht, das vor einigen Jahren in Athen geradezu einen Aufruhr verursacht hatte. Damals hatte ein gewisser Aemilius den mittellosen, gerade sechzehn Jahre alten Sulla mit dem Postschiff nach Patrai geschmuggelt und sich dann auf dem längstmöglichen Weg von Patrai nach Athen entlang der Küste des Peloponnes nach Belieben mit dem Jungen vergnügt. In Athen hatte Aemilius Sulla allerdings schnell fallen lassen, denn er konnte sich angesichts seiner Stellung Zweifel an seiner Männlichkeit nicht leisten. Bei den Römern war Homosexualität verpönt, den Griechen galt sie als höchste Form der Liebe. So verbargen die einen ängstlich, was die anderen vor den Augen ihrer beeindruckten Kameraden offen zur Schau stellten. Dafür machte die Angst vor der Entdeckung die Römer freigebiger. Sulla mußte feststellen, daß die Griechen nur ungern für etwas zahlten, das sie auch umsonst bekommen konnten, selbst wenn der Gewinn etwas so Außerordentliches war wie Sulla. Er erpreßte deshalb Aemilius, ihm eine Fahrt erster Klasse zurück nach Italien zu zahlen, und kehrte Athen für immer den Rücken. Mit seinem Eintritt ins Mannesalter änderte sich natürlich alles. Sobald sein Bartwuchs eine tägliche Rasur erforderte und rotgoldene Haare sich auf seiner Brust kräuselten, ließen seine Anziehungskraft auf Männer und umgekehrt deren Großzügigkeit ihm gegenüber nach. Aber dann stellte er fest, daß Frauen noch dümmer waren als Männer. Sie sehnten sich nach Beständigkeit und ließen sich deshalb bereitwillig ausbeuten. Als Kind hatte er kaum Kontakt mit Frauen gehabt. Seine Mutter war so früh gestorben, daß er keine Erinnerung an sie hatte, und sein Vater, ein verarmter Säufer, kümmerte sich kaum um die beiden Kinder. Sulla hatte eine zwei Jahre ältere Schwester, Cornelia Sulla. Sie sah genauso außergewöhnlich aus wie ihr Bruder und hatte sich einen schwerreichen Landadligen namens Lucius Nonius aus Picenum geangelt, dem sie nach Norden gefolgt war, um an seiner 25
Seite die wie auch immer gearteten Freuden des Lebens in der Provinz zu genießen. Der sechzehnjährige Sulla war allein bei seinem Vater zurückgeblieben. Als Sulla vierundzwanzig war, heiratete sein Vater zum zweiten Mal. Die Hochzeit brachte für Sulla eine große Erleichterung, denn in den Jahren davor war er ausschließlich damit beschäftigt gewesen, Geld zu beschaffen, damit sein Vater seinen Durst löschen konnte. Die neue Frau hieß Clitumna. Sie stammte ursprünglich aus einer umbrischen Bauernfamilie und war die Witwe eines reichen Kaufmanns. Nachdem es ihr gelungen war, das Testament ihres verstorbenen Gatten zu vernichten und sein gesamtes Vermögen zu erben, hatte sie dessen einzige Tochter mit einem Ölhändler aus Kalabrien verheiratet. Was Clitumna an seinem heruntergekommenen Vater interessierte, begriff Sulla erst, als sie ihn einlud, in ihrem geräumigen Haus am Cermalus auf dem Palatin zu wohnen, und alsbald aus dem Bett des Vaters in das Bett des Sohnes sprang. Der entdeckte bei dieser Gelegenheit einen kleinen Funken Mitgefühl und Zuneigung für den ihm ansonsten eher lästigen Vater, wimmelte Clitumna so taktvoll wie möglich ab und zog wieder aus. Er hatte ein wenig Geld sparen können und mietete in einem riesigen Mietshaus auf dem Esquilin zwei Zimmer zu einem Mietzins, den er gerade noch aufbringen konnte: dreitausend Sesterze im Jahr. Das eine Zimmer bewohnte er, im anderen mußte sein Diener schlafen und kochen. Außerdem nahm Sulla die Dienste einer jungen Wäscherin in Anspruch, die zwei Stockwerke über ihm wohnte und für verschiedene Mieter »arbeitete«. Einmal in der Woche trug sie seine schmutzige Wäsche zu einer Kreuzung am Ende der Gasse, wo sich das Gewirr der Straßen zu einem kleinen, unregelmäßigen Platz erweiterte. Dort befanden sich ein Heiligtum, ein Wachhäuschen für die Soldaten und eine Quelle, die sich in unaufhörlichem Rinnsal aus dem Maul eines häßlichen alten Silens in ein steinernes Becken ergoß. Der Brunnen war wie viele andere Brunnen eine Spende des großen alten Zensors Cato, der als Mann niederer Herkunft Sinn für praktische Einrichtungen 26
gehabt hatte. An diesem Brunnen erkämpfte sich die Wäscherin einen Platz, schlug dann Sullas Tuniken auf die Steine, wrang jedes Kleidungsstück mit Hilfe einer anderen Wäscherin aus, bis es trocken war, legte die Wäsche sorgfältig zusammen und brachte sie Sulla zurück. Der Preis, den sie forderte, war gering: eine schnelle Nummer im Bett als Entschädigung für ein Leben an der Seite eines griesgrämigen alten Ehemanns. Damals lernte Sulla auch Nikopolis kennen. »Stadt des Sieges« bedeutete ihr griechischer Name, und das bedeutete sie auch für ihn, denn sie war eine vermögende Witwe und bis zum Wahnsinn in ihn verliebt. Leider kleidete sie ihn zwar verschwenderisch nach der neuesten Mode, ließ sich aber auf keine regelmäßigen Zuwendungen ein. Zwei Jahre nachdem er aus Clitumnas prachtvollem Haus ausgezogen war, starb sein Vater, der im ungetrübten Glück seiner zweiten Ehe seine Leber endgültig ruiniert hatte. Wenn Clitumna ihn als Preis für seinen Sohn in Kauf genommen hatte, ging ihre Rechnung nun auf, vor allem als Sulla entdeckte, daß Clitumna durchaus nicht abgeneigt war, seine Zuneigung — und ihr Bett — mit Nikopolis zu teilen. In behaglicher Dreisamkeit ließen sie sich in dem Haus auf dem Palatin nieder, und ihre Eintracht wurde nur gelegentlich durch Sullas Schwäche für junge Männer getrübt. Eine harmlose Schwäche freilich, wie er den beiden Frauen versicherte. Er fand keinen Geschmack an unschuldigen Knaben, es verlangte ihn nicht, Senatorensöhne zu verführen, die auf den Exerzierplätzen des Campus Martius herumtollten, mit Holzschwertern gegeneinander kämpften und über gepolsterte Attrappen sprangen, die wie richtige Pferde gesattelt waren. Nein, Sulla bevorzugte Lustknaben, professionelle, mit allen Wassern gewaschene Jünglinge, die ihn daran erinnerten, wie er selbst in diesem Alter gewesen war. Da aber die Frauen seine Lustknaben verabscheuten, unterdrückte er sein Verlangen um des häuslichen Friedens willen oder gab ihm nur heimlich nach. Bis zum Abend des Vortags, dem letzten des alten Jahres, als sich das Konsulat von Publius Corne27
lius Scipio Nasica und Lucius Calpurnius Bestia dem Ende zuneigte und die Amtseinführung von Marcus Minucius Rufus und Spurius Postumius Albinus unmittelbar bevorstand. Clitumna und Nikopolis würden den Abend vermutlich als Nacht des Metrobius in Erinnerung behalten. Alle drei gingen für ihr Leben gern ins Theater, allerdings nicht in die anspruchsvollen griechischen Stücke von Sophokles, Äschylos und Euripides, in denen maskierte Schauspieler mit tremolierenden Stimmen hochgestochene Verse deklamierten. Nein, ihre Liebe galt der Komödie, den witzigen lateinischen Schwänken von Plautus, Naevius und Terenz und vor allem den derben Possen mit unmaskierten Mimen, die aus dem Stegreif ein volkstümliches Programm mit nackten Dirnen, tollpatschigen Narren, furzenden Trompeten, allerlei grobem Schabernack und unwahrscheinlichen Geschichten darboten. Riesige Gänseblümchen, die aus wackelnden Ärschen ragten, die Bewegung eines Fingers, vielsagender als tausend Worte, Schwiegerväter mit verbundenen Augen, die Brüste mit reifen Melonen verwechselten, tolldreiste Seitensprünge, betrunkene Götter — nichts war der Posse heilig. Sie kannten alle Schauspieler und Direktoren der Komödienbühnen Roms, und ein Fest ohne die Anwesenheit zumindest einiger Zelebritäten der Bühne war kein richtiges Fest. Die Tragödie existierte für sie überhaupt nicht, und darin glichen sie den meisten Römern, die immer für einen guten Spaß zu haben waren. Zum Neujahrsfest in Clitumnas Haus waren Skylax, Astera, Milo, Pedokles, Daphne und Marsyas eingeladen. Natürlich mußten alle Gäste verkleidet kommen. Clitumna und Nikopolis verkleideten sich leidenschaftlich gern, und Sulla verwandelte sich mit Vorliebe in eine Frau, die er dann so lächerlich darzustellen pflegte, daß die Zuschauer sich köstlich darüber amüsierten. Diesmal hatte Sulla sich als Gorgo Medusa verkleidet. Er trug eine Perücke mit lebendigen kleinen Schlangen, die sämtliche Anwesenden entsetzt aufkreischen ließen, wenn er den Kopf wie zum Angriff senkte, und war in fließende Gewänder aus Schappseide gehüllt, die den Gästen nur allzu freizügig den Blick 28
auf seine größte Schlange gewährten. Seine Stiefmutter trat als Äffchen auf. Sie hatte ihren nackten Hintern blau angemalt, hüpfte in einem haarigen Umhang durch das Zimmer und kratzte sich überall. Nikopolis, die Clitumna an Schönheit weit übertraf, hatte ein gemäßigteres Kostüm gewählt, das Kostüm der Diana, der Göttin der Jagd, das ihre langen schlanken Beine und eine ihrer makellosen Brüste zeigte. Tanzend brachte sie die winzigen Pfeile ihres Köchers im Takt der Flöten, Pfeifen, Glocken, Lyren und Trommeln zum Rasseln. Das Fest nahm einen schwungvollen Anfang. Sulla mit seinen lebenden Schlangen war zweifellos ein Erfolg, während über Clitumna, das Äffchen, am meisten gelacht wurde. Der Wein floß in Strömen. Schon lange vor Anbruch des neuen Jahres dröhnte das Gelächter und Geschrei der Gäste aus dem Säulengarten hinter dem Haus zu den erbosten Nachbarn hinüber. Als letzter Gast wankte Skylax zur Tür herein. Er trug Sandalen mit hohen Plateausohlen aus Kork und eine goldblonde Perücke, und unter seinem prachtvollen Gewand wölbten sich riesige Brüste. Geschminkt war er wie eine alte Hure. Arme Venus! Im Schlepptau hatte er Metrobius, seinen Cupido. Kaum hatte Sullas größte Schlange einen Blick auf ihn geworfen, als sie sich auch schon in Sekundenschnelle aufrichtete, was weder das Äffchen noch die Jägerin Diana sonderlich erfreute und auch die Venus Skylax verdrießlich dreinblicken ließ. Und dann kam es zu einem wilden Durcheinander, das jeder Bühnenposse Ehre gemacht hätte: ein hüpfender blauer Hintern, eine hüpfende entblößte Brust, eine hüpfende blonde Perücke, eine hüpfende Schlange und ein hüpfender gefiederter Knabe. Ihren Höhepunkt erreichte die Hüpferei, als Sulla mit Metrobius hinter einem Sofa verschwand und den Knaben dort liebte. Leider war die Ecke den Blicken der anderen nicht so verborgen, wie die beiden gehofft hatten. Natürlich hatte Sulla gewußt, daß er einen furchtbaren Fehler beging, doch genützt hatte das nichts. Von dem Augenblick an, als er die an den seidigen Schenkeln herunterlaufende Farbe gesehen 29
und einen Blick in die glänzenden schwarzen Augen mit den langen Wimpern geworfen hatte, war es um ihn geschehen. Er war dem Knaben hoffnungslos verfallen. Und als er mit den Fingern über das gerüschte Röckchen strich, das der Knabe trug, und es gerade so weit lüftete, daß er die Schönheit des unbehaarten, mattgoldenen Schatzes darunter sehen konnte, gab es kein Halten mehr. Er hatte den Knaben hinter ein Sofa drängen und ihn besitzen müssen. Fast wäre aus der Posse eine Tragödie geworden. Clitumna ergriff einen kostbaren Kelch aus Alexandriner Glas, zertrümmerte ihn und ging mit den Scherben in der Hand auf Sulla los. Nikopolis stürzte sich daraufhin mit einem Weinkrug auf Clitumna, Skylax bearbeitete Metrobius mit einem seiner Plateauschuhe. Gebannt sah die Festgesellschaft dem Spektakel zu. Zum Glück war Sulla noch nicht so betrunken, daß er nicht mehr Herr seiner Kräfte gewesen wäre. Er machte kurzen Prozeß und schlug Skylax so gewaltig auf sein dick geschminktes Auge, daß es für mindestens einen Monat zuschwoll. Den langen, nackten Beinen der Diana verpaßte er einen Köcher voll spitzer Pfeile, Clitumna legte er übers Knie und schlug ihre blaubemalten Hinterbacken so lange, bis sie schwarz waren. Dann dankte er dem Knaben mit einem sehnsuchtsvollen Zungenkuß und begab sich mit einem überwältigenden Gefühl des Ekels zu Bett. Erst am Neujahrsmorgen begriff Sulla, was sich abgespielt hatte: keine Posse und auch keine Komödie, sondern eine Tragödie, nicht minder sonderbar und voller häßlicher Verwicklungen wie eine der Tragödien, die Sophokles in tiefster Verzweiflung über das Treiben der Götter und Menschen geschrieben hatte. Heute, am ersten Tag des neuen Jahres, hatte Sulla Geburtstag. Er war jetzt genau dreißig Jahre alt. Er wandte sich den beiden raufenden und keifenden Frauen zu und sah sie so voller Zorn, Schmerz und Abscheu an, daß sie augenblicklich verstummten. Reglos hockten sie da wie Statuen, während er eine frische weiße Tunika anzog und sich von einem Sklaven in eine Toga hüllen ließ, die er in den letzten Jahren 30
höchstens zu Theaterbesuchen angezogen hatte. Erst als er gegangen war, kam wieder Bewegung in die Frauen. Sie starrten einander an, und dann jammerten und weinten sie, ohne zu verstehen, daß sie nicht um sich, sondern um ihn weinten.
In Wirklichkeit war das Leben des Lucius Cornelius Sulla eine einzige Lüge. Er hatte sich schon immer etwas vorgelogen. Die Welt, in der er dreißig Jahre lang gehaust hatte — eine Welt von Säufern, Bettlern, Schauspielern, Dirnen, Betrügern und freigelassenen Sklaven — war nicht seine Welt. In Rom gab es unzählige Familien mit dem Namen Cornelius. Sie trugen diesen Namen, weil ein Vater, Großvater oder anderer Vorfahr irgendwann einmal als Sklave oder Bauer zum Haushalt eines Patriziers namens Cornelius gehört hatte. War der Vorfahr anläßlich einer Heirat, Geburt oder Beerdigung aus der Leibeigenschaft entlassen worden oder hatte er sich mit eigenen Ersparnissen freigekauft, hatte er den Namen seines Herrn übernommen. Er nannte sich fortan auch Cornelius und blieb dem Geschlecht, dessen Namen er das Bürgerrecht verdankte, als Klient verbunden. Mit Ausnahme von Clitumna und Nikopolis gingen auch alle Bekannten Sullas wie selbstverständlich davon aus, daß Sulla ein solcher Cornelius war, also der Sohn, Enkel oder Urenkel eines Sklaven oder Bauern. Seiner hellen Hautfarbe nach eher eines Sklaven als eines Bauern. Natürlich gab es Patrizier, die Cornelius Scipio, Cornelius Lentulus oder Cornelius Merula hießen, aber wer hatte je von einem Patrizier namens Cornelius Sulla gehört? Kein Mensch wußte, was der Name Sulla überhaupt bedeutete! Lucius Cornelius Sulla aber war tatsächlich ein Patrizier, der Sohn eines Patriziers, der Enkel eines Patriziers und so fort bis in die Zeit der Gründung Roms, auch wenn er in den Listen der Zensoren unter den capite censi geführt wurde, den besitzlosen Römern. Seine Herkunft qualifizierte Sulla für eine glänzende politische Laufbahn, den cursus honorum. Seine Geburt berechtigte ihn, Konsul zu werden. 31
Aber Lucius Cornelius Sulla war arm. Sein Vater hatte ihm außer dem Bürgerrecht nichts hinterlassen, er hatte nicht einmal genug besessen, um seinen Sohn in die unterste der fünf Vermögensklassen eintragen zu lassen. Auf Sulla wartete kein roter Streifen auf der Tunika, weder der schmale Streifen der Ritter noch der breite Streifen der Senatoren. Wenn er sagte, daß er aus dem Geschlecht der Cornelier stamme, wurde er ausgelacht. Schließlich gehörte das Geschlecht der Cornelier zu den vier ältesten der fünfunddreißig römischen Tribus, und es war unvorstellbar, daß ein Mitglied dieser Familie zu den capite censi gehörte. An seinem dreißigsten Geburtstag hätte Sulla eigentlich Senator werden sollen — die Zensoren hätten ihn entweder als gewählten Quästor oder allein aufgrund seiner Abstammung in den Senat berufen müssen. Statt dessen war er der Gespiele zweier ordinärer Weiber, und es bestand nicht die geringste Hoffnung, daß er jemals die nötigen Mittel würde aufbringen können, um sein Geburtsrecht wahrzunehmen. Im nächsten Jahr würde ein Zensus stattfinden. Sulla wünschte sich, stolz vor die Zensoren auf dem Forum Romanum treten zu können, um ihnen ein Jahreseinkommen von einer Million Sesterze vorzuweisen! Denn das war das Mindesteinkommen für einen Senator. Oder wenigstens 400 000 Sesterze, das Mindesteinkommen für einen Ritter! Doch er besaß nichts, sein jährliches Einkommen hatte 10 000 Sesterze nie überstiegen, und er ließ sich von Frauen aushalten. Unter die Armutsgrenze fiel in Rom, wer sich nicht einmal einen Sklaven halten konnte, und so gesehen hatte Sulla schon einige Male unter der Armutsgrenze gelebt. Er, ein patrizischer Cornelius! In jenen zwei Jahren, als er tapfer den Verlockungen Clitumnas widerstanden und in dem Mietshaus auf dem Esquilin gehaust hatte, hatte er auf den Docks im Hafen Arbeit suchen müssen, hatte Weinkrüge geschleppt und Weizenurnen verladen, nur damit er sich einen Sklaven leisten konnte. Denn niemand sollte merken, daß er im Elend lebte. Mit zunehmendem Alter wuchs auch sein Stolz oder genauer — das Bewußtsein seiner Erniedrigung. Er hatte stets dem Drang widerstanden, sich eine regelmäßige Arbeit 32
zu suchen, ein Handwerk in einer Gießerei oder Zimmerei zu erlernen, als Schreiber in einem Kontor oder als Schriftenkopierer für einen Verlag oder eine Leihbücherei zu arbeiten. Wer auf den Docks, auf den Märkten und auf Baustellen arbeitete, brauchte keine lästigen Fragen zu beantworten. Wer regelmäßig am selben Arbeitsplatz erschien, mußte alle möglichen Fragen beantworten. Nicht einmal Soldat konnte er werden, denn auch dafür hätte er Vermögen nachweisen müssen. Von der Geburt her hätte er Feldherr sein können, aber er hatte noch nie ein Schwert getragen, auf einem Pferd gesessen oder einen Speer geworfen, nicht einmal auf den Exerzierplätzen des Campus Martius bei der Villa Publica. Hätte er irgendeinen entfernten Verwandten angebettelt — denn nähere Verwandte hatte er nicht mehr —, so wäre sein Schicksal vielleicht durch ein großzügiges Darlehen gemildert worden. Doch sein Stolz, der ihm immerhin gestattete, sich von ordinären Frauen aushalten zu lassen, hinderte ihn daran, zum Bittsteller zu werden. Lieber wollte er ein Niemand bleiben, der niemandem etwas schuldete, als durch ein großes Darlehen in ein Klientelverhältnis geraten. Er, ein patrizischer Cornelius!
Ohne ein bestimmtes Ziel stürmte er aus dem Haus seiner Stiefmutter. Nur in der feuchten Luft durchatmen und den ganzen Arger hinter sich lassen! Clitumna hatte sich einen für ihre Verhältnisse ungewöhnlichen Wohnort ausgesucht. In ihrer Straße wohnten erfolgreiche Advokaten, Hinterbänkler aus dem Senat und Ritter mit mittleren Einkommen. Die Straße verlief zwar weit unten am Hang des Palatin und bot deshalb keine schöne Aussicht, aber sie lag angenehm nah am politischen und wirtschaftlichen Zentrum der Stadt, dem Forum Romanum, und den Markthallen und Plätzen in seiner Umgebung. Natürlich schätzte Clitumna auch die Sicherheit dieses Viertels, das weit von der Subura mit ihren engen Gassen und finsteren Gestalten entfernt war, wenngleich Clitumnas lärmenden Feste und zweifelhafte Freunde schon zu manch wütendem Streit mit den Nachbarn 33
geführt hatten. Neben ihr wohnte der steinreiche Bankier und Kaufmann Titus Pomponius, auf der anderen Seite der Senator Gaius Julius Caesar. Clitumna sah ihre Nachbarn selten. Das war einer der Vorteile — oder auch Nachteile, wenn man so wollte — der nach innen ausgerichteten Häuser mit ihren fensterlosen Außenwänden, den großen Innenhöfen und den Gärten mit Säulengängen. Wenn sich Clitumnas Gäste allerdings aus dem Eßzimmer hinaus in den Säulengarten ergossen, drang der Lärm weit über die Grenzen ihres Anwesens hinaus und erboste sämtliche Nachbarn. Inzwischen war es hell geworden. Vor sich erkannte Sulla die Frauen aus dem Haus des Gaius Julius Caesar, die auf den hohen Korksohlen und noch höheren Korkabsätzen ihrer Winterschuhe vorsichtig über die schmutzige Straße stakten. Wahrscheinlich wollten sie sich die Feierlichkeiten ansehen. Er verlangsamte seinen Schritt und maß die dickvermummten Gestalten mit dem schamlosen Blick eines Mannes, der von seinen Trieben beherrscht wird. Caesars Frau war eine Marcia, Tochter des Erbauers der Aqua Marcia und kaum älter als vierzig. Höchstens fünfundvierzig. Eine schlanke, gepflegte Erscheinung, hochgewachsen, brünett und überdurchschnittlich hübsch. Mit ihren beiden Töchtern konnte sie freilich nicht konkurrieren. Das waren echte Julias, zwei blonde Schönheiten, wobei nach Sullas Geschmack der jüngeren die Krone gebührte. Er hatte sie einige Male beobachtet, wenn sie auf dem Markt einkaufen gingen, und er wußte, daß ihre Börsen ebenso schmal waren wie ihre Taillen. Die Familie konnte sich nur mit knapper Not im Senat halten. Geld regierte die Welt. Ohne Geld war man ein Nichts. Kein Wunder, daß niemand eine Gelegenheit ausließ, sich zu bereichern. Wer sich durch die Politik bereichern wollte, mußte zunächst dafür sorgen, daß er zum Prätor gewählt wurde. Sobald er gewählt war, zahlten die jahrelangen Investitionen sich aus. Denn als Prätor regierte er eine Provinz, und dort konnte er leben wie ein Gott und sich großzügig bedienen. Wer die Gelegenheit hatte, führte einen kleinen Grenzkrieg gegen einen Barbarenstamm, plün34
derte dessen Gold und Heiligtümer, verkaufte die Gefangenen auf dem Sklavenmarkt und strich den Gewinn ein. Aber auch ohne Krieg gab es Wege, zu Geld zu kommen. Ein Prätor konnte mit Getreide und anderen wichtigen Gütern handeln, er konnte zu schwindelerregenden Zinssätzen Geld verleihen und es, wenn nötig, mit Hilfe der Armee eintreiben, und er konnte bei der Steuererhebung die Bücher frisieren, römische Bürgerrechte teuer verkaufen oder ungesetzliche Gebühren erheben. Alles hing am Geld. Doch wie sollte Sulla zu Geld kommen? Wie konnte er genug auftreiben, um Senator zu werden? Träume, Lucius Cornelius Sulla! Träume! Die Frauen bogen nach rechts in den Clivus Victoriae ein, und Sulla wußte jetzt, wohin sie gingen: zur area Flacciana, auf der einst das Haus des Flaccus gestanden hatte. Als er an dem steilen, von winterlich grauem Gras bedeckten Abhang stehenblieb, ließen sich die Frauen gerade auf Klappstühlen nieder, während ein kräftiger Bursche, der aussah wie ein Thraker, damit beschäftigt war, eine Zeltplane aufzuspannen, um seine Herrin vor dem stärker werdenden Regen zu schützen. Sulla beobachtete, wie die beiden Julias sich brav neben ihre Mutter setzten, dann aber, als diese ein Gespräch mit der schwangeren Frau des Titus Pomponius begann, ihre Stühle nahmen und die Wiese hinunter zu den vier Mädchen aus der Sippe des Claudius Pulcher rannten. Auch deren Mütter saßen in der Nähe. Wie hießen sie doch gleich? Ach ja, Licinia und Domitia. Sulla kannte sie recht gut, er hatte mit beiden schon geschlafen. Ohne nach rechts oder links zu blicken, stieg er den Abhang hinunter zu den beiden Frauen. »Meine Damen«, sagte er mit einer Verbeugung, »was für ein scheußlicher Tag.« Alle Frauen der Gegend kannten ihn, und das war in gewisser Weise besonders schlimm. Während seine Freundinnen aus der Gosse ihn stets als einen der ihren betrachteten, begingen die adligen Römerinnen diesen Fehler nicht. Sie wußten alle ganz genau, daß er von edler Herkunft war, und sie kannten seinen Stammbaum und seine Vergangenheit. Die einen empfanden Mit35
leid mit ihm, andere, wie Licinia und Domitia, vergnügten sich mit ihm im Bett, aber helfen wollte ihm keine. Der Wind blies aus Nordost und trug den säuerlichen Dunst kalter Asche heran, den Geruch feuchter Holzkohle, verbrannten Kalks und Tausender vergrabener, verwester Leichen. Im vergangenen Sommer waren der gesamte Viminal und der obere Teil des Esquilin in Flammen aufgegangen. Es war das schrecklichste Feuer seit Menschengedenken gewesen: Ungefähr ein Fünftel der Stadt war niedergebrannt, bevor es gelungen war, mit vereinten Kräften eine so breite Bresche zwischen die Häuser zu schlagen, daß das Flammenmeer vor den überfüllten Mietshäusern der Subura und dem unteren Teil des Esquilin zum Stehen gebracht werden konnte. Glücklicherweise hatten der Wind und der breite Vicus Longus verhindert, daß das Feuer sich auf den dünner besiedelten Quirinal ausbreitete, den nördlichsten Hügel innerhalb der Stadtmauern. Obwohl inzwischen ein halbes Jahr vergangen war, war die schreckliche Narbe, die der Brand hinterlassen hatte, noch deutlich zu erkennen. Eine ganze Quadratmeile verbrannter Erde, halb eingestürzter Gebäude, Öde. Wieviele Menschen ums Leben gekommen waren, wußte niemand. Mehr als genug jedenfalls, denn danach hatte es keinen Mangel an Wohnungen gegeben, obwohl der Wiederaufbau nur langsam voranging. Hier und da ragten hölzerne Gerüste hundert Fuß oder noch höher auf, Zeichen für einen neuen Typ mehrstöckiger Mietshäuser, die die Taschen so mancher Vermieter füllen würden. Belustigt registrierte Sulla, daß Licinia und Domitia sich in seiner Gegenwart höchst unbehaglich fühlten und ihn am liebsten nicht erkannt hätten. Geschah ihnen ganz recht, sollten sie doch leiden, die dummen Weiber! Ob sie wußten, daß er mit beiden geschlafen hatte? Kaum. Diese Vorstellung verlieh der Begegnung eine zusätzliche pikante Note. Mit flinken Augen beobachtete er, wie sie einander versteckte Blicke zuwarfen und zu Marcia und den anderen Frauen hinüberschielten. Nein, doch nicht Marcia! Diese Säule des Anstands, dieses Monument der Tugend! 36
»Es war eine furchtbare Woche damals«, sagte Licinia schrill, die Augen starr auf das verbrannte Gelände gegenüber gerichtet. »Ja«, sagte Domitia und räusperte sich. »Es war so schrecklich!« schnatterte Licinia weiter. »Wir wohnten damals auf den Carinae, Lucius Cornelius, und das Feuer kam immer näher. Als es endlich vorbei war, habe ich Appius Claudius überredet, in diesen Teil der Stadt zu ziehen. Man ist nirgendwo sicher vor Feuer, aber es ist bestimmt besser, wenn man zwischen sich und der Subura das Forum und die Sümpfe hat!« »Es war herrlich«, sagte Sulla. Er dachte daran, wie er in jener Woche Nacht für Nacht auf den Stufen des Vestatempels gestanden und dem Feuer zugeschaut hatte. Angesichts der grauenvollen Pracht war er sich vorgekommen wie ein Feldherr, der die Plünderung einer feindlichen Stadt angeordnet hat. »Herrlich!« wiederholte er. Der hämische Ton seiner Stimme veranlaßte Licinia nun doch, ihm in die Augen zu schauen, aber was sie dort sah, ließ sie schnell wieder wegsehen. Sie bereute bitter, daß sie sich jemals in die Hände dieses Mannes begeben hatte. Sulla war nicht nur gefährlich, er war offenbar auch nicht ganz richtig im Kopf. »Und doch hat alles auch sein Gutes«, sagte sie mit einem krampfhaften Lächeln. »Meine Vettern Publius und Lucius Licinius haben danach eine Menge Brachland erworben. Sie sagen, daß der Wert in den kommenden Jahren unermeßlich steigen wird.« Licinia gehörte zur Familie des Multimillionärs Licinius Crassus. Warum suchte sich Sulla keine reiche Braut wie Appius Claudius Pulcher, der Licinia geheiratet hatte? Ganz einfach! Weil kein reicher und adliger Vater, Bruder oder Vormund einer solchen Heirat zustimmen wurde. Mit einem Mal machte es ihm keinen Spaß mehr, mit den Frauen zu spielen. Wortlos drehte er sich um und stapfte den Clivus Victoriae hinauf. Im Vorübergehen bemerkte er, daß die beiden Julias zur Ordnung gerufen worden waren und wieder neben ihrer Mutter unter dem Zeltdach saßen. Seine hellen Augen streiften sie, glitten über das größere der beiden Mädchen hinweg 37
und blieben an der kleinen Schwester hängen. Ein süßes Geschöpf! Ein in Nektar getauchter Honigkuchen, eine göttliche Speise. Er verspürte einen Stich in der Brust. Zugleich entging ihm freilich nicht, daß die kleine Julia sich auf ihrem Klappstuhl umgedreht hatte und ihm nachsah. Er ging die Stufen zum Forum Romanum hinab und stieg dann den Clivus Capitolinus hinauf, bis er bei der Menschenmenge anlangte, die sich vor dem Tempel des Jupiter Optimus Maximus versammelt hatte. Zwar war er nicht zu der Feier eingeladen worden und viele der Ritter und sogar einige Senatoren kannten ihn nicht, aber es waren immer noch genug Männer da, die wußten, wer er war, und ihn nicht fortschicken würden. Auch wenn er am öffentlichen Leben der Oberschicht nicht teilhatte: Vielleicht hatte er es nach so vielen Generationen einfach im Blut, dieses gewisse Gefühl, als ob Todesglocken Untergang und Verderben ankündigten. Für die politischen Vorgänge auf dem Forum Romanum hatte er sich nie interessiert. Lieber blieb er dem Geschehen dort fern, als sich für etwas aufzureiben, zu dem ihm der Zugang doch verwehrt war. Aber jetzt ahnte er, daß es ein schlechtes Jahr werden würde, ein weiteres schlechtes Jahr in jener langen Folge schlechter Jahre, die mit der Ermordung des Tiberius Gracchus begonnen und ihre Fortsetzung mit dem erzwungenen Selbstmord seines Bruders Gaius Gracchus gefunden hatte. Fast schien es, als liege Rom in den letzten Atemzügen, als sei es politisch am Ende. Sulla sah sich um. Mittelmaß und Bedeutungslosigkeit, wohin sein Auge traf. Dort standen sie und dösten im Nieselregen vor sich hin, Männer, die innerhalb von zehn Jahren den Tod von über 30 000 tüchtigen römischen und italischen Soldaten verschuldet hatten, und das zumeist aus persönlicher Habgier. Da war es wieder, das Geld. Geld, Geld und nochmals Geld. Und Macht. Man durfte den Hunger nach Macht nicht unterschätzen. Wo waren die wirklich großen Köpfe in dieser jämmerlichen Versammlung? Wo waren die Männer, die Rom vor dem Untergang erretten würden? 38
Der weiße Stier bockte. Kein Wunder, wenn man sich die Konsuln für dieses Jahr ansah. Für jemanden wie Spurius Postumius Albinus würde ich meinen Kopf auch nicht freiwillig unters Beil legen, dachte Sulla, er mag noch so oft ein Patrizier sein. Woher hatte er überhaupt so viel Geld? Richtig, die Postumius Albinus hatten immer Geld geheiratet. Verflucht sollten sie sein. Das Blut spritzte. Ein ausgewachsener Stier hat eine Menge Blut. Was für eine Verschwendung. Kraft, Muskeln, Potenz. Doch was für eine wunderbare Farbe. Tiefrot und dickflüssig rann sie zwischen den Füßen der Zuschauer hangabwärts. Gebannt blieb Sullas Blick daran hängen. Verband sich Kraft immer mit der Farbe Rot? Feuer. Blut. Haare — seine Haare. Penisse. Senatorenschuhe. Muskeln. Flüssiges Metall. Lava. Es war Zeit zu gehen. Das Blut noch vor Augen, sah er auf und begegnete dem ruhigen, festen Blick eines hochgewachsenen Senators, der in die toga praetexta der hohen Magistratsbeamten gekleidet war. Was für ein Mann! Wie hieß er? Er hatte keine Ähnlichkeit mit anderen prominenten Senatoren. Sulla kannte deren Gesichter genau, obgleich er nicht mit ihnen verkehrte. Wer auch immer der Mann sein mochte, er gehörte jedenfalls keiner der großen Familien an. Schon die Nase ließ auf einen Schuß keltischen Blutes schließen. Für einen echten Römer war sie zu kurz und gerade. Und dann die gewaltigen Augenbrauen! Auch sie keltisch. Sein Gesicht war von zwei Narben gezeichnet, die ihn aber nicht verunstalteten. Eine Kämpfernatur, ungestüm, stolz und intelligent. Ein Adler. Doch wer war er? Kein Konsul, dessen war sich Sulla sicher. Vielleicht ein Prätor? Jedenfalls keiner der diesjährigen Prätoren, denn die hatten sich hinter den Konsuln versammelt und starrten stocksteif vor Würde geradeaus wie ein Haufen alter Vogelscheuchen. Sulla drehte sich abrupt um und ging. Er konnte sie nicht länger ertragen, auch den Mann mit dem Adlerblick nicht. Es war Zeit zu gehen. Doch wohin? Blieb ihm etwas anderes übrig, als sich in die Arme seiner alternden Stiefmutter und seiner Mätresse zu flüchten? 39
Wenn ein gekrönter Herrscher Rom besuchte, durfte er das pomerium, die geheiligte Stadtgrenze, nicht überschreiten. So mußte Jugurtha, der König der Numider, den Neujahrstag in seiner schwindelerregend teuren, aber todlangweiligen Villa auf dem Pincio über der weiten, das Marsfeld umschließenden Flußschleife verbringen. Der Makler hatte die Aussicht in höchsten Tönen gepriesen, den weiten Blick über das Janiculum und den vatikanischen Hügel, die grünen, vom Tiber begrenzten Auen und das breite, blaue Band des mächtigen Stroms. So große Flüsse wie den alten Vater Tiber gebe es in Numidien bestimmt nicht, hatte der eitle kleine Mann geplappert und dabei verschwiegen, daß er im Auftrag eines Senators handelte, der das Haus so günstig wie möglich vermieten wollte. Warum hielten die Römer eigentlich alle Nichtrömer für dumm und einfältig? Jugurtha wußte genau, wem die Villa gehörte. Er wußte genau, daß man ihn mit dem Mietzins übers Ohr gehauen hatte. Aber Offenheit war nicht zu jeder Zeit und an jedem Ort das richtige, und deshalb hatte er nichts gesagt, als er den Mietvertrag unterschrieben hatte. Immerhin konnte er von seinem Haus aus die schwarzen Felsen des Kapitols und die Rückseite des Jupitertempels sehen, wo nach Auskunft seiner Agenten in eben diesem Augenblick die erste Senatssitzung mit den neuen Konsuln stattfand. Wie verhandelte man mit den Römern am besten? Wenn er das gewußt hätte, er hätte jetzt ein paar Sorgen weniger gehabt.
Dabei hatte am Anfang alles ganz einfach ausgesehen. Jugurthas Großvater war der große Massinissa, der aus den Trümmern des von den Römern im Punischen Krieg zerstörten Karthago das Königreich Numidien geschaffen hatte. Die Römer hatten das zunächst geduldet, waren aber unruhig geworden, als Massinissas Macht immer weiter wuchs und ein neues Karthago zu entstehen schien. Für Numidien war es ein Glück, daß Massinissa rechtzeitig 40
starb, denn nach seinem Tod teilte Scipio Aemilianus die Macht in Numidien unter Massinissas drei Söhnen auf, wie der König es in seinem Testament verfügt hatte. Scipio Aemilianus griff dabei allerdings zu einer List: Er teilte nicht das Land auf, sondern die königlichen Pflichten. Den ältesten Sohn machte er zum Verwalter der Finanzen und der Paläste, den mittleren zum Feldherrn des numidischen Heeres und den jüngsten zum obersten Richter. So hatte der Sohn, der das Heer befehligte, für einen Aufstand kein Geld, der Sohn, der das Geld hatte, kein Heer, und der Sohn, der das Gesetz hütete, weder Geld noch Soldaten. Bevor Rivalität und Streitereien doch noch einen Aufstand herbeiführen konnten, starben die beiden jüngeren Söhne, und der älteste, Micipsa, wurde Alleinherrscher. Seine verstorbenen Brüder hatten jedoch Kinder hinterlassen: zwei rechtmäßige Söhne und einen Bastard namens Jugurtha. Einer dieser jungen Männer würde Micipsa nach dessen Tod auf den Thron folgen. Aber welcher? Doch dann zeugte der bisher kinderlose Micipsa in fortgeschrittenem Alter zwei eigene Söhne, Adherbal und Hiempsal. Der Kampf um die Krone wurde zusätzlich dadurch angeheizt, daß die potentiellen Thronfolger in der falschen Reihenfolge geboren worden waren. Jugurtha, der Bastard, war der älteste, die Söhne des regierenden Königs waren noch Säuglinge. Massinissa hatte seinen Enkel Jugurtha verachtet, allerdings weniger deshalb, weil er ein Bastard war, sondern vielmehr, weil seine Mutter von den geringsten seiner Untertanen abstammte — sie war ein nomadisches Berbermädchen. Micipsa erbte von seinem Vater die Abneigung gegen Jugurtha, und als er sah, daß dieser zu einem gutaussehenden, intelligenten Mann heranwuchs, suchte er Mittel und Wege, den Hauptrivalen um die Thronfolge aus dem Weg zu räumen. Als Scipio Aemilianus von Numidien militärische Unterstützung bei der Belagerung Numantias anforderte, stellte Micipsa die numidischen Truppen unter den Befehl Jugurthas, in der Hoffnung, daß Jugurtha in Spanien fallen würde. Doch es kam anders. Jugurtha war der geborene Soldat, und außerdem freundete er sich schnell mit den Römern an, besonders 41
mit zwei jungen Militärtribunen aus dem Stab des Scipio Aemilianus, Gaius Marius und Publius Rutilius Rufus. Die drei Männer waren gleich alt, dreiundzwanzig. Am Ende des Feldzuges hatte Jugurtha überdies eine wichtige Einsicht gewonnen: Alle Römer, die ein hohes politisches Amt anstrebten, litten unter chronischem Geldmangel. Mit anderen Worten, sie waren käuflich. Zurück in Numidien, übergab Jugurtha König Micipsa einen Brief des Scipio Aemilianus, in dem dieser Jugurthas Tapferkeit, Vernunft und überragende Intelligenz so überschwenglich lobte, daß Micipsa seine Ablehnung aufgeben mußte. Etwa zur selben Zeit, als Gaius Sempronius Gracchus im Hain der Furrina starb, entschloß sich Micipsa, Jugurtha offiziell als Sohn anzunehmen und ihn zum ersten Anwärter auf den Thron zu bestimmen. Er machte jedoch zur Bedingung, daß Jugurtha niemals König werden dürfe, sondern lediglich die Vormundschaft über die beiden legitimen Söhne Micipsas übernehmen solle. Unmittelbar darauf starb König Micipsa und hinterließ zwei minderjährige Thronerben und Jugurtha als Regenten. Innerhalb eines Jahres wurde der jüngere der beiden Brüder, Hiempsal, auf Jugurthas Veranlassung ermordet. Der ältere, Adherbal, entkam Jugurthas Häschern und floh nach Rom. Dort trat er vor den Senat und verlangte, Rom solle in Numidien Ordnung schaffen und Jugurtha entmachten.
»Warum fürchten wir die Römer so sehr?« fragte Jugurtha und richtete seine Gedanken wieder auf die Gegenwart. Der Regen legte einen weichen Schleier über Exerzierplätze und Gärten, das andere Ufer des Tiber war im Nebel verschwunden. Auf der Loggia befanden sich ungefähr zwanzig Männer, mit einer Ausnahme alles Leibwächter. Sie waren keine angeworbenen Gladiatoren, sondern Jugurthas eigene Leute aus Numidien — dieselben, die ihm vor sieben Jahren den Kopf des jungen Prinzen Hiempsal gebracht hatten und fünf Jahre später den Kopf des 42
Prinzen Adherbal. Die Ausnahme war ein semitisch aussehender Mann, ungefähr so groß wie Jugurtha — an ihn hatte Jugurtha seine Frage gerichtet. Der Mann saß neben dem König auf einem bequemen Stuhl. Ein Außenstehender mochte die beiden für Verwandte halten, was sie auch tatsächlich waren, wenngleich der König es vorzog, nicht daran zu denken. Der Begleiter des Königs an diesem häßlichen Neujahrstag war sein Halbbruder, Sohn eines Höflings, mit dem Jugurthas unglückliche Mutter verheiratet worden war. Er hieß Bomilkar und war seinem König treu ergeben. »Warum fürchten wir sie?« wiederholte Jugurtha, und es klang drängend, fast verzweifelt. Bomilkar seufzte. »Ganz einfach. Was ist das: Es trägt einen Helm aus Stahl, der ein bißchen aussieht wie ein umgestülpter Blumentopf, eine rotbraune Tunika und darüber ein langes Kettenhemd, ferner ein lächerlich kleines, kurzes Schwert, fast wie ein Dolch, und ein oder zwei Speere mit kleinen Spitzen? Ja? Nein, kein Söldner. Auch kein Bettler. Ein römischer Infanterist.« Jugurtha brummte und schüttelte den Kopf. »Das ist nur die halbe Antwort. Auch römische Soldaten sind sterblich.« »Aber sie sterben nur sehr schwer.« »Nein, es muß noch etwas anderes sein. Ich verstehe es einfach nicht! Du kannst sie kaufen wie Brot beim Bäcker, und man sollte meinen, daß sie innen auch so weich wie Brot sind. Aber das sind sie nicht.« »Du meinst ihre Anführer?« »Ja, ihre Anführer. Die ehrwürdigen patres conscripti des Senats. Sie sind durch und durch korrupt! Sie müßten schon völlig verdorben sein. Wachsweich und hohl. Aber das sind sie nicht. Sie sind hart wie Granit, kalt wie Eis und verschlagen wie ein parthischer Satrap. Sie geben niemals auf. Kaum hat man sich einen gefügig gemacht, taucht schon der nächste auf, und man muß wieder von vorn anfangen.« »Ganz zu schweigen davon, daß man manchmal auch einen braucht, den man nicht kaufen kann — nicht, weil er nicht käuf43
lich wäre, sondern weil sein Preis zu hoch ist.« Bomilkar schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich hasse sie alle«, stieß Jugurtha verbittert hervor. »Ich auch, aber damit ist uns nicht geholfen.« »Numidien gehört mir!« rief der König. »Sie wollen das Land ja gar nicht. Sie wollen sich nur einmischen. Stören!« Bomilkar hob die Arme. »Mich darfst du nicht fragen, Jugurtha, ich weiß keine Antwort. Ich weiß nur, daß du jetzt hier in Rom bist und daß allein die Götter wissen, was dabei herauskommen soll.« Da hat er allerdings recht, dachte der König von Numidien und versank wieder in seinen Erinnerungen.
Als der junge Adherbal vor sechs Jahren nach Rom geflohen war, hatte Jugurtha sofort gewußt, was er tun mußte. Er hatte eine Gesandtschaft nach Rom geschickt, beladen mit Gold, Silber, Edelsteinen, Kunstwerken und was sonst noch das Herz eines römischen Patriziers höher schlagen lassen mochte. Interessant, daß man die Römer nicht mit Frauen oder Knaben bestechen konnte. Nur mit handfesten Dingen. Das Ergebnis seiner diplomatischen Bemühungen war den Umständen entsprechend einigermaßen befriedigend ausgefallen. Die Römer hatten eine Vorliebe für Komitees und Kommissionen, die sie an irgendeinen weit entfernten Punkt der Welt entsandten, damit sie dort in irgendwelchen Dingen ermittelten, Urteile fällten und Abhilfe schafften. Wo andere Staaten einfach mit einer Armee einmarschierten, erschienen die Römer in Zivil, in ihren Togen, lediglich in Begleitung einiger Liktoren. Dann gaben sie Befehle und erwarteten, daß sie befolgt wurden. Und meistens wurden sie befolgt. Diese Gedanken brachten Jugurtha zu seiner ursprünglichen Frage zurück: Warum fürchtete er die Römer? Vielleicht, weil immer auch ein Marcus Aemilius Scaurus unter ihnen war? Scaurus war schuld, daß der Senat sich damals, als Adherbal in Rom Beschwerde geführt hatte, gegen Jugurtha ausgesprochen 44
hatte. Eine einzige Stimme gegen dreihundert Senatoren! Aber sie hatte sich durchgesetzt. Scaurus war schuld, daß der Senat sich auf einen Kompromiß festgelegt hatte, der weder für Jugurtha noch für Adherbal annehmbar war: Ein Komitee aus zehn Senatoren sollte unter Leitung des Konsulars Lucius Opimius nach Numidien reisen, vor Ort ermitteln und dann entscheiden, was zu tun sei. Und zu welcher Entscheidung war das Komitee gekommen? Es hatte das Königreich geteilt. Adherbal bekam den östlichen Teil mit Cirta als Hauptstadt, der dichter besiedelt und besser erschlossen war als der Westen, dafür aber nicht so wohlhabend. Die westliche Hälfte ging an Jugurtha, der sich jetzt auf zwei Seiten bedrängt sah: von Adherbal im Osten und vom Königreich Mauretanien im Westen. Zufrieden zogen die Römer wieder ab. Jugurtha aber lag von da an auf der Lauer: Eines Tages mußte Adherbal ihm in die Falle gehen. Um sich nach Westen abzusichern, heiratete er die Tochter des Königs von Mauretanien. Vier Jahre wartete Jugurtha geduldig, dann griff er Adherbal und dessen Armee zwischen Cirta und dem Hafen der Stadt an. Adherbal wurde geschlagen und mußte sich nach Cirta zurückziehen und sich dort verschanzen. Hilfe bekam er von den vielen einflußreichen römischen und italischen Kaufleuten, die das Rückgrat der numidischen Wirtschaft bildeten. Natürlich war die Kunde vom Krieg zwischen Jugurtha und Adherbal schnell bis zum Senat nach Rom gedrungen. Der Senat entsandte ein Komitee, bestehend aus drei höflichen jungen Senatorensöhnen. Jugurtha bekam die Gesandten als erster zu fassen, hinderte sie daran, mit Adherbal und den Einwohnern von Cirta Kontakt aufzunehmen, und schickte sie mit wertvollen Geschenken beladen nach Rom zurück. Dann gelang es Adherbal, einen Hilferuf nach Rom zu schmuggeln Marcus Aemilius Scaurus, der immer noch auf seiner Seite stand, machte sich nun selbst auf und reiste an der Spitze eines weiteren Komitees nach Numidien. Die Lage, die er dort vorfand, war jedoch so angespannt, daß er sich gezwungen sah, seinen Aufenthalt auf die römische Provinz Africa zu beschränken. Un45
verrichteter Dinge mußte er schließlich nach Rom zurückkehren. Als nächstes griff Jugurtha Cirta an und eroberte die Stadt. Adherbal wurde auf der Stelle hingerichtet, und außerdem ließ Jugurtha in seinem Haß gegen Rom alle römischen und italischen Kaufleute umbringen, die ihm in die Hände fielen. Von da an waren die Römer seine erbitterten Feinde. Die Kunde über das Massaker von Cirta hatte Rom vor fünfzehn Monaten, im Herbst, erreicht. Der designierte Volkstribun Gaius Memmius hatte auf dem Forum ein solches Geschrei angestimmt, daß die Katastrophe nicht mehr mit Bestechungsgeldern abwendbar schien. Lucius Calpurnius Bestia, der Konsul des nächsten Jahres, wurde beauftragt, zu Beginn seiner Amtszeit nach Numidien zu reisen und Jugurtha unmißverständlich klarzumachen, daß er nicht ungestraft Römer abschlachten könne. Doch Bestia hatte sich von Jugurtha kaufen lassen. Vor sechs Monaten hatte Jugurtha einen Friedensvertrag mit Rom ausgehandelt und Bestia dreißig Kriegselefanten sowie eine kleine finanzielle Zuwendung für die römische Staatskasse überreicht. Eine weitaus größere Summe war in Bestias private Schatztruhe geflossen. Rom schien zufrieden, und Jugurtha war endlich der unbestrittene König von Numidien. Gaius Memmius jedoch hatte keine Ruhe gegeben. Tag für Tag hatte er Bestia beschuldigt, Jugurtha gegen Geld den numidischen Thron zugesichert zu haben, und schließlich erreichte er sein Ziel. Der Prätor Lucius Cassius Longinus wurde mit dem Auftrag nach Numidien gesandt, König Jugurtha persönlich nach Rom zu bringen, wo er Gaius Memmius die Namen all derer nennen sollte, die er im Lauf der Jahre bestochen hatte. Besonders gefährlich für Jugurtha war, daß er nicht vor dem Senat aussagen sollte, sondern vor der Volksversammlung. Als Cassius in Cirta eintraf und seine Botschaft überbrachte, war Jugurtha nichts anderes übriggeblieben, als ihm nach Rom zu folgen. War ihm wirklich nichts anderes übriggeblieben? Warum hatte er solche Angst? Was konnte Rom denn tun? In Numidien einfallen? Die meisten römischen Beamten waren doch ohnehin 46
bestechlich! Die Römer brauchten nur mit dem Finger zu schnippen, und schon eilte der Herrscher eines großen, reichen Landes ihnen zu Diensten. Warum? Gaius Memmius hatte seine Ankündigung wahrgemacht und im Circus Flaminius eine Versammlung der Plebs einberufen. Der Circus lag außerhalb des pomerium und war ein Gerichtsort, den auch ein gekröntes Staatsoberhaupt wie Jugurtha betreten durfte. Die Volksversammlung sollte interessierten römischen Bürgern aller Schichten Gelegenheit geben, zu hören, was der König von Numidien auf die Fragen des Gaius Memmius antworten würde. Wen hatte er mit welchen Summen bestochen? Die Versammlung war entsprechend gut besucht, die Arena war überfüllt, und die Zuspätgekommenen mußten es sich auf den hölzernen Rängen bequem machen, in der Hoffnung, trotz der großen Entfernung etwas zu verstehen. Jugurtha hatte seine Verteidigung freilich gut vorbereitet: Er hatte sich einen Volkstribunen gekauft. Die Volkstribunen standen theoretisch auf der untersten Stufe der Verwaltungs- und Senatshierarchie. Sie hatten kein imperium — ein Wort, für das die numidische Sprache keine Entsprechung hatte. Imperium bedeutete — göttliche Macht auf Erden! Ausgestattet mit ihr, konnte ein einziger Prätor einen mächtigen König zwingen, ihm nach Rom zu folgen. Auch Provinzstatthalter hatten ein imperium, desgleichen Konsuln und sogar einfache Beamte. Der einzige sichtbare Ausdruck des imperium war der Liktor: Liktoren schritten dem Inhaber eines imperium voran und bahnten ihm den Weg. Auf der rechten Schulter trugen sie die fasces, die von roten Bändern zusammengehaltenen Rutenbündel. Zensoren hatten kein imperium, genausowenig wie plebejische Ädilen oder Quästoren. Auch Volkstribunen hatten keines — für Jugurthas Pläne von großer Bedeutung. Sie waren die gewählten Vertreter der Plebs, jener breiten Masse von Römern, die sich nicht patricii, Patrizier, nennen durften. Die Patrizier gehörten dem alten Adel an, der seine Vorfahren bis auf die Gründungsväter Roms zurückführte. Als vor vierhundert Jahren die Republik ent47
standen war, hatten nur die Patrizier Macht und Einfluß gehabt. Nach und nach waren auch einige Plebejer zu Geld und Ansehen gekommen und hatten sich den Weg in den Senat und in die Ämterlaufbahn, den cursus honorum, erzwungen. Die Nobilität, der Amtsadel, entstand. Zum Adel gehörte, wer einen Konsul in seiner Familie nachweisen konnte, und niemand konnte einen Plebejer daran hindern, Konsul zu werden. Die Plebs hatte ihre eigene Versammlung, an der kein Patrizier teilnehmen durfte, und zehn Volkstribunen vertraten die Interessen der Plebs gegenüber dem Senat. Sie wurden jedes Jahr neu gewählt. Genau das war ja so lästig am römischen Staat: Die Beamten dienten alle nur ein Jahr, mit anderen Worten, sie mußten jedes Jahr aufs neue bestochen werden. Nein, die Volkstribunen hatten kein imperium, sie galten nicht als hohe Beamte und schienen überhaupt keinen nennenswerten Einfluß zu haben. Trotzdem waren sie zum wichtigsten Glied im Magistrat geworden, denn sie allein hatten das Vetorecht. Ein Volkstribun konnte sein Veto gegenüber einem Zensor, einem Konsul, einem Prätor, dem Senat und den neun anderen Volkstribunen einlegen, aber auch in Sitzungen, Versammlungen oder bei Wahlen. Nur ein Diktator konnte sich über ihr Veto hinwegsetzen, aber seit fast hundert Jahren hatte es keinen Diktator mehr gegeben. Dieses System sollte natürlich der gegenseitigen Kontrolle dienen und verhindern, daß eine einzelne Person oder ein Gremium zuviel politische Macht an sich zog. Wäre das politische Verantwortungsbewußtsein der Römer ausgeprägter gewesen, das System hätte vielleicht funktioniert. Doch die Römer verstanden sich hervorragend darauf, auf scheinbar legale Weise die eigenen Gesetze zu umgehen. König Jugurtha kaufte sich also einen Volkstribunen, Gaius Baebius mit Namen — im Grunde ein unbedeutender Mann, der weder einer der großen Familien angehörte noch besonders reich war. Aber Gaius Baebius war rechtmäßig gewählter Volkstribun, und als sich ein Strom von Silberdenaren vor ihm auf den Tisch 48
ergoß, schaufelte er den unerwarteten Geldsegen wortlos in ein Dutzend großer Säcke. Damit war er Eigentum des Königs von Numidien. Gegen Ende des alten Jahres berief Gaius Memmius die große Versammlung der Plebs im Circus Flaminius ein und lud Jugurtha vor. Als die Massen erwartungsvoll verstummt waren, stellte Gaius Memmius seine erste Frage. »Hast du Lucius Opimimus bestochen?« Bevor der König den Mund aufmachen konnte, sprang Gaius Baebius auf. »Ich verbiete dir, auf diese Frage zu antworten, König Jugurtha!« Ein Veto! Ein Volkstribun hatte Jugurtha verboten, zu antworten, deshalb durfte er nach dem Gesetz nichts mehr sagen. Die Versammlung löste sich auf, und murrend zogen Tausende von Zuschauern wieder nach Hause. Gaius Memmius war so wütend, daß seine Freunde ihn mit Gewalt hinausführen mußten, während Gaius Baebius sich mit einer Unschuldsmiene umsah, die ihm niemand glaubte. Der Senat hatte Jugurtha jedoch nicht erlaubt, nach Hause zurückzukehren, und so saß er an diesem Neujahrstag in seiner überteuerten Mietvilla und verfluchte Rom und die Römer. Keiner der neuen Konsuln hatte ihm zu verstehen gegeben, daß er an einer privaten Zuwendung interessiert sei. Von den neuen Prätoren war es keiner wert, gekauft zu werden, und auch die neuen Volkstribunen schienen wenig vielversprechend. Aber er konnte doch nicht einfach herumsitzen und warten, während sein Königreich von gierigen Thronanwärtern belagert wurde. Gauda, der legitime Sohn Mastanabals, und Massiva, der Sohn Gulussas, erhoben Anspruch auf den Thron, und sie waren beileibe nicht die einzigen. Er mußte unbedingt nach Hause zurück. Doch wenn er ohne die Erlaubnis des Senats Rom verließ, konnte das als kriegerischer Akt gewertet werden. Wie seine Agenten ihm berichtet hatten, war Marcus Aemilius Scaurus äußerst erbost über das Veto, und Marcus Aemilius Scaurus hatte großen Einfluß im Senat. Er hatte es schon einmal ganz allein 49
geschafft, den Senat umzustimmen.
Schweigend saß Bomilkar da und wartete darauf, daß sein Halbbruder Jugurtha aus seinen Gedanken erwachen würde. Er hatte ihm Neuigkeiten mitzuteilen, aber in dieser Stimmung wagte er nichts zu sagen. Ein großartiger Mann, dieser Jugurtha, geradezu ein Genie! Wie schwer hatte seine niedere Herkunft auf seinem Leben gelastet. Warum war die Herkunft auch so wichtig? Immerhin floß in Jugurtha das punische Blut der numidischen Aristokratie! Ebenso präsent war freilich das Berberblut seiner blonden Mutter: Von ihr hatte er die hellgrauen Augen geerbt, die gerade Nase, das schmale, hagere Gesicht und den hohen Wuchs. Von seinem punischen Vater Mastanabal stammten die dichten schwarzen Locken, die ausgeprägte dunkle Körperbehaarung, die dunkle Haut und der kräftige Körperbau. Die numidische Oberschicht, durch jahrhundertelange Beziehungen zu Griechenland hellenisiert, kleidete sich in griechische Gewänder, die Jugurtha freilich nicht recht stehen wollten. Am besten sah er hoch zu Roß in Helm, Harnisch und Beinschienen aus, das Schwert gegürtet. Ein Jammer, daß die Römer den König noch nie als Krieger gesehen hatten, dachte Bomilkar und erschauderte gleichzeitig bei dem Gedanken. Es war eine Herausforderung des Schicksals, an Krieg zu denken! Am besten opferte er gleich morgen der Göttin Fortuna und betete, daß die Römer Jugurtha nie im Kriegsstaat zu Gesicht bekommen würden. Der König lehnte sich zurück, seine Züge entspannten sich. Schrecklich, ihn aus dieser harterkämpften inneren Ruhe herausreißen und mit neuen Sorgen belasten zu müssen. »Mein König?« fragte Bomilkar vorsichtig. Sofort richteten sich die grauen Augen auf ihn. »Ja?« »Gestern kam mir im Haus des Quintus Caecilius Metellus ein Gerücht zu Ohren.« Damit traf er Jugurtha an einer empfindlichen Stelle: Bomilkar konnte in Rom gehen, wohin er wollte, denn er war kein König. 50
Bomilkar wurde zum Essen eingeladen, Jugurtha nicht. »Was für ein Gerücht?« fragte der König höflich. »Massiva ist in Rom aufgetaucht. Schlimmer noch, er hat den Konsul Spurius Postumius Albinus für seine Sache einspannen können. Albinus soll eine Petition im Senat einbringen.« Überrascht richtete sich der König auf und rückte den Stuhl so, daß er Bomilkar direkt in die Augen sehen konnte. Massiva war einer von denen, die ihm den Thron streitig machten. »Ich habe mich schon gefragt, wohin sich dieser erbärmliche Wurm verzogen hat. Nach Rom also. Aber wie kommt Albinus ausgerechnet auf ihn? Er müßte doch wissen, daß ich viel mehr bezahlen kann als Massiva.« »Ich vermute, sie haben eine Abmachung getroffen, die davon ausgeht, daß Albinus Statthalter der Provinz Africa wird. Während du hier in Rom hockst, zieht Albinus mit einer netten kleinen Armee nach Africa, marschiert kurz über die Grenze nach Cirta und — hoch lebe König Massiva von Numidien!« »Ich muß nach Hause!« rief der König verzweifelt. »Ich weiß! Aber wie willst du das anstellen?« »Glaubst du nicht, ich kann Albinus doch noch auf meine Seite ziehen? Ich habe immer noch Geld flüssig, und ich kann noch mehr beschaffen!« Energisch schüttelte Bomilkar den Kopf. »Der neue Konsul kann dich nicht leiden. Du hast versäumt, ihm zu seinem Geburtstag vor einem Monat ein Geschenk zu schicken. Massiva hat das nicht versäumt. Er hat Albinus ein Geschenk geschickt, als dieser zum Konsul gewählt wurde, und ein zweites zu seinem Geburtstag.« »Daran sind meine verfluchten Agenten schuld!« Jugurtha knirschte mit den Zähnen. »Sie halten mich wahrscheinlich schon für den Verlierer und strengen sich nicht mehr an.« Er biß sich auf die Lippen. »Werde ich verlieren?« Bomilkar lächelte. »Du? Niemals!« »Ich weiß nicht... Massiva! Ich hatte ihn schon ganz vergessen. Ich dachte, er sei bei Ptolemaios Apion in Kyrene.« Jugurtha 51
mußte sich sichtlich zusammenreißen. »Vielleicht ist das Gerücht falsch. Wer hat es dir erzählt?« »Metellus persönlich. Er müßte es eigentlich wissen. Er hört sich überall um, weil er nächstes Jahr Konsul werden will. Er billigt den Handel nicht, auf den Albinus sich eingelassen hat, sonst hätte er mir kein Sterbenswörtchen erzählt. Du kennst doch Metellus — er gehört zu den tugendhaften Römern, Bestechung ist für ihn kein Thema.« »Metellus kann es sich leisten, tugendhaft und anständig zu sein« sagte Jugurtha gereizt. »Seine Familie ist reich wie Krösus. Sie hat sich Spanien und Asien unter den Nagel gerissen, aber ich werde dafür sorgen, daß sie nicht auch noch Numidien bekommt! Und Spurius Postumius Albinus auch nicht.« Er starrte Bomilkar an. »Massiva ist wirklich in Rom?« »Metellus zufolge ja.« »Wir müssen abwarten, bis wir wissen, welcher Konsul nach Africa geht und welcher nach Makedonien.« Bomilkar schnaubte verächtlich. »Du glaubst doch wohl nicht an die Losentscheidung?« »Ich weiß nicht, was ich den Römern glauben soll«, antwortete der König düster. »Manchmal glaube ich, daß alles schon entschieden ist, manchmal denke ich, daß sie es mit dem Los ernst meinen und das Ergebnis wirklich dem Zufall überlassen. Ich warte ab, Bomilkar.« Mit diesen Worten lehnte Jugurtha sich zurück und blickte wieder versonnen in den Regen.
In dem alten, weiß verputzten Bauernhaus nahe der Stadt Arpinum waren drei Kinder aufgewachsen. Gaius Marius war der Älteste, dann kam seine Schwester Maria und zuletzt ein jüngerer Bruder, Marcus Marius. Die Familie Marius gehörte dem Landadel an, und die Männer der Familie waren eingefleischte, konservative Gutsherren, dazu bestimmt, für alle Zeit in ihrem kleinen Arpinum zu herrschen. Unvorstellbar, daß einer von ihnen einmal dem 52
Senat von Rom angehören könnte. Es war keine Frage des Geldes, daran mangelte es nicht. Die Familie Marius war außerordentlich wohlhabend. Das fruchtbare Land um Arpinum gehörte im wesentlichen den drei Familien Marius, Gratidius und Tullius Cicero. Ehegatten suchte man nicht in Rom, sondern in Puteoli, wo die Familie Granius ansässig war, vermögende Seefahrer und Kaufleute, die ursprünglich aus Arpinum stammten. Für Gaius Marius wurde eine Frau ausgewählt, als er noch ein kleiner Junge war. Seine Braut war noch jünger als ihr Verlobter, sie wartete deshalb geduldig im Hause Granias in Puteoli, bis sie alt genug für die Heirat war. Doch als sich Gaius Marius zum ersten Mal verliebte, galt seine Liebe keiner Frau — auch keinem Mann. Er verliebte sich in die Armee — in ihr erkannte er instinktiv die Gefährtin fürs Leben. An seinem siebzehnten Geburtstag trat er in die Armee ein. Traurig darüber, daß gerade keine großen Kriege stattfanden, diente er dennoch ohne Unterbrechung als junger Offizier, bis er im Alter von dreiundzwanzig bei der Belagerung von Numantia in Spanien dem persönlichen Stab des Scipio Aemilianus zugewiesen wurde. In Spanien freundete sich Marius rasch mit Publius Rutilius Rufus und Prinz Jugurtha aus Numidien an. Sie waren ungefähr gleich alt, und Scipio Aemilianus schätzte sie alle drei hoch. Keiner von ihnen stammte aus der römischen Oberschicht. Jugurtha war sowieso ein Außenstehender, Publius Rutilius Rufus kam aus einer Familie, die schon seit über hundert Jahren keinen Senator oder gar Konsul mehr hervorgebracht hatte, und Gaius Marius kam aus dem Landadel. Unter ihnen tat sich Gaius Marius besonders hervor. Er war nicht nur der geborene Soldat, er war auch der geborene Anführer. »Er weiß einfach, was wie zu tun ist«, seufzte Scipio Aemilianus mit einem Anflug von Neid. Im Alter von siebzehn Jahren war Gaius Marius noch ziemlich klein und mager gewesen, ein schlechter Esser und überhaupt ein schwieriger Junge, von seiner Mutter verhätschelt und von seinem 53
Vater insgeheim verachtet. Doch dann zog er zum ersten Mal die Soldatenstiefel über, schnallte einen Panzer aus Bronze über seinen ledernen Rock und wuchs von Stund an körperlich und geistig, bis er alle anderen an Körpergröße, Verstand, Stärke, Mut und Entschlossenheit weit überragte. Er entfremdete sich seiner Mutter, während der Vater jetzt voller Stolz auf seinen Sohn blickte. Für Gaius Marius gab es nichts Erhebenderes als das Bewußtsein, Teil der größten Militärmaschinerie der Welt zu sein. Kein noch so anstrengender Marsch, keine noch so lange und schikanöse Unterweisung im Schwertkampf, keine noch so erniedrigende Aufgabe konnte seine überschwengliche Begeisterung dämpfen. Es war ihm egal, was für Aufgaben er zugewiesen bekam, solange er nur Soldat sein durfte. In Numantia machte er die Bekanntschaft eines siebzehnjährigen Offiziersanwärters, den Scipio Aemilianus eigens für seinen kleinen Stab aus Rom angefordert hatte. Der Bursche hieß Quintus Caecilius Metellus, und er war der jüngere Bruder jenes Caecilius Metellus, der später nach einem Feldzug gegen die Horden der Barbaren in den dalmatinischen Bergen von Illyricum den Beinamen Delmaticus annehmen und zum Pontifex Maximus aufsteigen sollte, dem höchsten Priester des Staates. Der kleine Metellus war ein typischer Vertreter seines Geschlechts: ein fleißiger Arbeiter ohne jede praktische Begabung, jemand, der nie aufgab und von seinen außerordentlichen Fähigkeiten felsenfest überzeugt war. Scipio Aemilianus schwieg dazu aus Loyalität zu Metellus’ gesellschaftlicher Klasse, der auch er angehörte, aber die Besserwisserei des Siebzehnjährigen schien ihn zu ärgern, denn nicht lange nach dessen Ankunft in Numantia unterstellte er ihn der Aufsicht des Gaius Marius und seiner beiden Freunde. Die drei ließen den jungen Metellus ihre Ablehnung spüren — sie waren nicht grausam zu ihm, aber hart. Numantia hielt der Belagerung stand, Scipio Aemilianus hatte alle Hände voll zu tun, und der junge Metellus mußte selbst sehen, wie er zurechtkam. Dann fiel die Stadt und wurde dem Erdboden gleichgemacht. Das römische Heer feierte den Sieg mit einem 54
Saufgelage, an dem vom höchsten Offizier bis zum einfachen Soldaten alle teilnahmen, auch die drei Freunde und Quintus Caecilius Metellus, der an diesem Tag seinen achtzehnten Geburtstag feierte. Gaius Marius und seine Freunde spielten ihm an diesem Tag einen bösen Streich: Sie warfen das Geburtstagskind in einen Schweinekoben. Ernüchtert und von oben bis unten mit Schweinekot besudelt, kroch Metellus aus dem Dreck. Blanker Haß stand ihm in den Augen. »Ihr — ihr armseligen Emporkömmlinge! Für wen haltet ihr euch eigentlich? Ich will es euch sagen! Du bist nur ein dreckiger Ausländer, Jugurtha! Und du bist ein aufgeblasener Schleimer, Rutilius! Und du, Gaius Marius, du bist ein italischer Bauer, der nicht einmal Griechisch kann! Wie könnt ihr es wagen! Wißt ihr nicht, wer ich bin? Kennt ihr meine Familie nicht? Ich bin ein Caecilius Metellus. Wir waren etruskische Könige, als es Rom noch gar nicht gab!« Jugurtha, Rutilius Rufus und Gaius Marius lehnten an der Bretterwand des Schweinekobens und starrten Metellus unbeeindruckt an. Dann schwang sich Publius Rutilius Rufus mit einem breiten Grinsen rittlings auf den obersten Balken. »Versteh mich nicht falsch, Quintus Caecilius«, sagte er, »ich weiß durchaus zu würdigen, was du uns da erzählst. Das Problem ist nur, oh König der Etrusker, daß auf deinem Kopf ein dicker fetter Haufen Scheiße sitzt und keine Krone!« Er kicherte. »Nimm erst einmal ein Bad, und dann erklärst du uns alles noch einmal. Vielleicht gelingt es uns dann, ernst zu bleiben.« Metellus versuchte verzweifelt, sein Gesicht vom Kot zu reinigen. »Rutilius!« stieß er giftig hervor. »Was ist das schon für ein Name! Der wird nie im Senat auftauchen. Oskische Niemands seid ihr! Bauern!« »Jetzt ist es aber genug!« sagte Rutilius Rufus freundlich. »So viel Etruskisch kann ich auch noch, daß ich weiß, was Metellus heißt.« Er drehte, sich zu Jugurtha und Marius um und übersetzte: »Vom Dienst als Söldner befreit.« Das war zuviel. Der junge Metellus warf sich auf Rutilius Rufus 55
und riß ihn hinunter in den stinkenden Schlamm, wo die beiden sich im Dreck wälzten und miteinander rangen, ohne sich freilich ernsthaft zu verletzen. Schließlich konnten auch Jugurtha und Marius der Versuchung nicht widerstehen und sprangen hinunter. Mit brüllendem Gelächter landeten sie inmitten der Schweine, die sie neugierig beschnüffelten. Zum Abschluß rieben sie Metellus noch kräftig mit Kot ein. »Das werdet ihr mir teuer bezahlen!« zischte Metellus, als er sich mühsam aufrappelte. »Abwarten!« rief Jugurtha und bekam einen neuen Lachanfall.
Als Gaius Marius dem Bad entstieg und nach dem Handtuch griff, dachte er: Das Schicksal nimmt seinen Lauf, egal was wir tun. Metellus hatte im Haß gesprochen, aber seine Worte waren deshalb nicht weniger wahr. Wer waren sie denn, er, Rutilius Rufus und Jugurtha? Ein dreckiger Ausländer, ein aufgeblasener Schleimer und ein italischer Bauer aus der Provinz. Das hatte Rom sie gelehrt. Jugurtha hätte schon seit Jahren König von Numidien sein können. Die Römer hätten ihn freundlich, aber bestimmt unter ihren Schutz gestellt und streng, aber gerecht in sein Land hineinregiert. Statt dessen hatte er den unversöhnlichen Haß des Caecilius Metellus und seiner Anhänger auf sich gezogen und kämpfte jetzt in Rom mit dem Rücken zur Wand, führte einen verzweifelten Grabenkrieg gegen einige numidische Möchtegernkönige und mußte sich erkaufen, was ihm aufgrund seiner Stärke und seiner Fähigkeiten eigentlich umsonst zugestanden hätte. Und der liebe Publius Rutilius Rufus mit dem sandgelben Haar, der Lieblingsschüler des Philosophen Panaitios, der von Scipio und seinen Freunden so bewundert worden war, ein Dichter und Denker, ein Soldat und Politiker mit außerordentlichen Fähigkeiten? Im gleichen Jahr, in dem Marius mit knapper Not Prätor geworden war, war Publius Rutilius um das Amt des Konsuls betrogen worden, nicht nur wegen seiner bescheidenen Herkunft, 56
sondern weil er sich die Familie Caecilius Metellus zum Feind gemacht hatte. Damit war er — wie Jugurtha — automatisch auch der Feind des Marcus Aemilus Scaurus geworden. Und Gaius Marius — nun, Quintus Caecilius Metellus Schweinebacke würde sagen, er habe es weiter gebracht, als ein ungebildeter italischer Bauer verdiente. Warum hatte er sich überhaupt für die politische Laufbahn entschieden? Ganz einfach: weil Scipio Aemilianus ihm dazu geraten hatte. Für die Provinz sei er zu schade, hatte Scipio Aemilianus gesagt. Und was für seine Entscheidung noch wichtiger gewesen war: Solange er nicht Prätor war, durfte er keine römische Armee befehligen. Marius hatte sich als Militärtribun zur Wahl gestellt und diese Hürde mit Leichtigkeit genommen. Dann ließ er sich zum Quästor wählen, wurde von den Zensoren bestätigt und fand sich im Senat von Rom wieder. Eine außergewöhnliche Karriere! Seine Familie in Arpinum war überwältigt. Bei der ersten Wahl zum Volkstribunen war er durchgefallen, beim zweitenmal hatte merkwürdigerweise Caecilius Metellus ihn unterstützt. Caecilius Metellus und seine Parteigänger glaubten, ihn damit in der Hand zu haben — bis er sie vom Gegenteil überzeugte, indem er sich mit aller Macht dafür einsetzte, daß die Unabhängigkeit der concilia plebis, der Versammlung der Plebs, gewahrt blieb. Lucius Caecilius Metellus Delmaticus hatte versucht, ein Gesetz durchzudrücken, das die gesetzgebende Gewalt der Versammlung der Plebs beschneiden sollte. Gaius Marius hatte sein Veto eingelegt und sich weder mit guten Worten noch durch Zwang dazu bringen lassen, das Veto zurückzunehmen. Aber das war ihn teuer zu stehen gekommen. Nach dem Jahr als Volkstribun hatte er sich um das Amt des Ädilen beworben, aber die Meteller hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Als er sich um das Amt des Prätors bewarb, stieß er auf dasselbe Hindernis. Angeführt von Metellus Delmaticus, hatten sie ihn mit den üblichen Nachreden diffamiert: Er sei impotent, verführe kleine Jungen, esse Exkremente, gehöre bacchischen und orphischen Geheimkulten an, nehme Bestechungsgelder und schla57
fe mit Schwester und Mutter. Seine Gegner hatten sich aber auch noch einer subtileren Art der Verleumdung bedient, die vielleicht noch wirkungsvoller war: Sie wiesen bei jeder Gelegenheit darauf hin, daß Gaius Marius kein Römer sei. Rom aber bringe genug fähige Männer hervor, kein Römer habe es daher nötig, einen Gaius Marius zum Prätor zu wählen. Ein überzeugendes Argument. Am stärksten traf Gaius Marius der Vorwurf, er sei aufgrund seiner mangelnden Griechischkenntnisse kein akzeptabler Kandidat. Dabei entsprach dieses Gerücht keineswegs den Tatsachen. Sein Griechisch war ausgezeichnet. Seine Lehrer waren allerdings kleinasiatische Griechen aus Lampsakos am Hellespont und Amisus an der Schwarzmeerküste gewesen, Gaius Marius sprach Griechisch deshalb mit einem Akzent, der ihn als einfachen, ungebildeten Mann aus der Provinz brandmarkte. Aus Verdruß über die vielen Spötteleien hatte er es schließlich ganz aufgegeben, jene Sprache zu sprechen, die als Beweis einer standesgemäßen Bildung galt. Immerhin war er dann doch Prätor geworden, wenn auch mit den wenigsten Stimmen. Und er hatte die kurz nach der Wahl gegen ihn erhobene Anklage wegen Bestechung niederschlagen können. Bestechung! Damals hatte er gar nicht das Geld gehabt, sich ein Amt zu kaufen! Zum Glück hatten seine Wähler mit ihm in der Armee gedient oder von seinen militärischen Leistungen gehört, und militärische Leistungen hatten die Römer schon immer beeindruckt. Der Senat hatte ihn zum Statthalter von Hispania Ulterior ernannt und gehofft, daß er dort in der Ferne in Vergessenheit geraten und resignieren würde. Statt dessen hatte dort sein Aufstieg begonnen.
Die Spanier, vor allem die unzivilisierten Stämme im Westen und Nordwesten, pflegten einen Kampfstil, der weder den römischen Feldherren noch den römischen Legionären behagte. Sie scherten 58
sich nicht um die Regel, lieber in einer Entscheidungsschlacht alles aufs Spiel zu setzen, als die unübersehbaren Kosten eines endlosen Krieges zu riskieren. Die Spanier waren entschlossen, so lange zu kämpfen, bis sie ihre Unabhängigkeit erstritten hatten. Da ihnen aber die Mittel für eine langdauernde militärische Auseinandersetzung fehlten, führten sie einen Partisanenkrieg. Sie stellten sich nie der offenen Schlacht, sondern kämpften aus Hinterhalten, zettelten Überfälle und Attentate an und zerstörten feindliche Stützpunkte. Römische Stützpunkte. Immer tauchten sie überraschend auf, nie marschierten sie in Reih und Glied, und nie wußte man genau, wie viele sie waren. Plötzlich waren sie da, griffen an und verschwanden wieder spurlos in den unheimlichen Bergklüften, als ob es sie nie gegeben hätte. Kontrollierten die Römer ein Städtchen, das nach Berichten römischer Spitzel in einen Überfall verwickelt war, trafen sie dort nur friedfertige, unschuldige Leute an, so harmlos wie brave Esel. Spanien war ein unermeßlich reiches Land. Seit tausend Jahren wurde das Land von fremden Völkern heimgesucht, die versuchten, sich ihren Teil vom Reichtum des Landes abzuschneiden. Die iberischen Ureinwohner hatten sich mit den Kelten vermischt, mit maurischen Berbern, mit Phöniziern aus den syrischen Küstenstäden, und mit Griechen. Vor zweihundert Jahren waren die Karthager gekommen, selbst Nachfahren der syrischen Phönizier, und damit war es um Spaniens relativ isolierte Stellung endgültig geschehen. Die Karthager beuteten die spanischen Bodenschätze aus: Gold, Silber, Blei, Zink, Kupfer und Eisen. Das spanische Erz begründete ihre Macht. Die Karthager waren ein Seefahrervolk und hatten auch Sizilien, Sardinien und Korsika unterworfen, was zwangsläufig zum Konflikt mit Rom führte. Nach drei Kriegen, die zusammen über hundert Jahre dauerten, war Karthago vernichtet, und Rom hatte seine ersten überseeischen Besitzungen erworben, darunter die spanischen Minen. Die praktisch veranlagten Römer hatten gleich erkannt, daß Spanien am besten von zwei verschiedenen Stellen aus regiert 59
wurde, und die Halbinsel in zwei große Provinzen gegliedert, Hispania Citerior und Hispania Ulterior. Der Statthalter von Hispania Ulterior kontrollierte den gesamten Süden und Westen des Landes, und seine Hauptstadt war die mächtige alte Phönizierstadt Gades an der Mündung des Guadalquivir mit ihrem üppigen, sagenhaft fruchtbaren Hinterland. Der Statthalter von Hispania Citerior kontrollierte den Norden und Osten der Halbinsel vom Küstenstreifen gegenüber den Balearen aus. Seine Hauptstadt verlegte er je nach Bedarf und Eingebung. Die weiter entfernt liegenden Regionen im Westen und Nordwesten, Lusitanien und Cantabrien, blieben weitgehend unberührt. Trotz des Denkzettels, den Scipio Aemilianus den iberischen Stämmen bei Numantia erteilt hatte, gaben diese ihren Widerstand keineswegs auf. Als Gaius Marius sich als Statthalter von Hispania Ulterior mit dieser gespannten Situation konfrontiert sah, beschloß er, die Stämme mit ihren eigenen Mitteln zu bekämpfen — mit großem Erfolg: Er konnte die Grenze des römischen Spaniens bis nach Lusitanien vorschieben, in jenes gewaltige, an Erzen reiche Bergmassiv, wo der Guadalquivir, der Guadiana und der Tejo entspringen. Beim Vorrücken stolperten die römischen Eroberer förmlich über immer reichere Silber-, Kupfer- und Eisenvorkommen. Natürlich profitierte der Provinzstatthalter, der für die Neueinzeichnung der Grenzen im Namen Roms verantwortlich war, am meisten davon. Das Schatzamt in Rom beanspruchte zwar seinen Teil, überließ die eigentliche Förderung des Erzes und die Eigentumsrechte an den Minen jedoch Privatleuten, die die Arbeit wesentlich effektiver und mit unternehmerischer Skrupellosigkeit durchführten. Gaius Marius wurde reicher und reicher. Jede neue Mine gehörte ihm ganz oder zumindest teilweise, und das brachte ihm gleichzeitig stille Teilhaberschaften in anderen großen Unternehmen ein, angefangen vom Getreidehandel bis hin zu Bankgeschäften und öffentlichen Dienstleistungen. Bevor Marius aus Spanien zurückkehrte, riefen seine Truppen ihn zum imperator aus, und das bedeutete, daß er beim Senat 60
einen Triumphzug beantragen konnten. Angesichts der Kriegsbeute und der Steuern und Tribute, die er der Staatskasse zugeführt hatte, konnte sich der Senat diesem Wunsch schlecht widersetzen. Gaius Marius war also auf dem alten Triumphwagen durch Rom gefahren, ihm voran die Zeugnisse seiner Siege und Raubzüge: Festwagen mit szenischen Darstellungen seiner Heldentaten, des Landes und seiner Einwohner in ihrer Stammestracht. Er hatte bereits davon geträumt, in zwei Jahren Konsul zu sein. Er, Gaius Marius aus Arpinum, der verachtete italische Bauer aus der Provinz, würde Konsul der mächtigsten Stadt der Welt sein. Und er würde nach Spanien zurückkehren und sein Werk vollenden und das Land in zwei friedliche, blühende römische Provinzen verwandeln. Aber nun war er bereits seit fünf Jahren wieder in Rom. Fünf Jahre! Metellus und seine Parteigänger hatten schließlich doch gewonnen: Er würde niemals Konsul werden.
»Ich glaube, ich ziehe mein Purpurgewand an«, sagte Gaius Marius zu seinem Leibsklaven. Mit seinen siebenundvierzig Jahren war er immer noch ein stattlicher Mann, der sich auch an arbeitsreichen Tagen Zeit für sportliche Betätigung nahm. Er übte mit Hanteln und Gewichten, durchschwamm mehrere Male hintereinander den Tiber bei Trigarium und rannte anschließend den ganzen Weg vom entfernten Ende des Marsfeldes bis zu seinem Haus an der Arx des Kapitols. Zwar lichteten sich seine dunkelbraunen Locken oben schon ein wenig, aber wenn er sie nach vorn bürstete, sah das Haar immer noch voll aus. So, das mußte genügen. Eine Schönheit war er nie gewesen. Er hatte ein gutgeschnittenes, eindrucksvolles Gesicht, aber mit einem Gaius Julius Caesar konnte er nicht konkurrieren! Interessant, daß er sich für ein Essen im kleinen Familienkreis, dazu bei einem unbedeutenden Hinterbänkler des Senats, mit seiner Garderobe soviel Mühe gab. Warum eigentlich? Caesar hatte es nicht einmal zum Ädilen, geschweige denn zum Prätor 61
gebracht. Trotzdem hatte Gaius Marius das Purpurgewand gewählt. Er hatte es vor vielen Jahren gekauft und sich darin bereits als Gastgeber großartiger Gesellschaften gesehen, wenn er erst einmal Konsul war oder, in den Jahren danach, ein hochgeachteter ehemaliger Konsul, ein Konsular. Dabei waren für eine rein private Einladung eigentlich schon die weiße Toga und die Tunika mit dem roten Streifen zuviel, erst recht natürlich die prächtig mit Gold bestickte purpurne Tunika mit dem weiten Umhang. Zum Glück galten zur Zeit nicht die Luxusgesetze, nach denen es verboten war, sich nach eigenem Gutdünken zu kleiden und zu schmücken. Nur die lex Licinia war in Kraft, die den Konsum kulinarischer Raritäten einschränkte — aber kein Mensch hielt sich daran. Außerdem bezweifelte Gaius Marius, daß er bei Caesar Wolfsbarsch und Austern vorgesetzt bekommen würde.
Nicht für einen Augenblick kam es Gaius Marius in den Sinn, seine Frau aufzusuchen, bevor er das Haus verließ. Er nahm schon seit vielen Jahren keine Notiz mehr von ihr, falls er überhaupt jemals von ihr Notiz genommen hatte. Die Ehe war irgendwann in dunkler Vergangenheit geschlossen worden und hatte in nunmehr fünfundzwanzig kinderlosen Jahren eine freudlose Fortsetzung ohne Liebe oder auch nur Zuneigung gefunden. Ein kriegerischer, sportlich aktiver Mann wie Marius suchte nur dann sexuelle Befriedigung, wenn er durch eine besonders attraktive Frau an seine sexuellen Bedürfnisse erinnert wurde. Viele Frauen hatte es in seinem Leben nicht gegeben, nur von Zeit zu Zeit eine Affäre mit einer Sklavin oder — auf Feldzügen — einer Gefangenen. Aber war Grania nicht seine Frau? Doch er hatte sie vergessen, bemerkte sie selbst dann nicht, wenn sie neben ihm stand und ihm zu verstehen gab, daß sie wenigstens ein Kind von ihm empfangen wollte. Mit Grania zu schlafen war, als ob man eine Abteilung Soldaten durch undurchdringlichen Nebel führte. Marius’ Gefüh62
le waren dabei so unbestimmt, daß er sich zwingen mußte, überhaupt etwas zu empfinden, und wenn er seinen Höhepunkt erreichte, öffnete er den Mund höchstens zu einem Gähnen. Er empfand nicht das geringste Mitleid mit Grania und versuchte auch nicht, sie zu verstehen. Sie war seine Frau, nicht mehr, ein zähes altes Huhn, das nicht einmal als junges Küken attraktiv gewesen war. Er hatte keine Ahnung, was sie tagsüber oder nachts trieb, und es interessierte ihn auch nicht. Führte Grania ein zügelloses, lasterhaftes Doppelleben? Hätte jemand diesen Verdacht geäußert, Marius hätte Tränen gelacht — und recht gehabt: Grania war so keusch wie langweilig. Dank der Silberminen hatte er das Haus oben am Kapitol erwerben können, auf dem teuersten Grund und Boden Roms, der dem Marsfeld zugewandten Seite der servianischen Mauer. Vom Gewinn der Kupferminen hatte er den Buntmarmor für die Verkleidung der Backsteinsäulen und Zwischenwände und für die Fußböden gekauft. Der Gewinn der Eisenminen war in die Taschen des größten römischen Malers geflossen, der die verputzten Felder zwischen den Pfeilern mit Jagdszenen, Blumengärten und Landschaften ausgemalt hatte. Von den stillen Teilhaberschaften hatte er Statuen und Hermen gekauft, wundervolle Tische aus Zitronenholz mit Füßen aus Elfenbein, das mit Gold eingelegt war, vergoldete Sofas und Stühle, prächtig bestickte Wandteppiche und gegossene Bronzetüren. Den großen Säulengarten mit seinen fein aufeinander abgestimmten Düften und Farben hatte Hymettus eigenhändig entworfen, und der große Dollchus hatte das langgestreckte Becken gebaut, das mit Springbrunnen, Fischen, Lilien, Seerosen und meisterhaften, überlebensgroßen Skulpturen von Tritonen, Nereiden, Nymphen, Delphinen und bärtigen Seeschlangen geschmückt war. In Wahrheit gab Gaius Marius keinen Pfifferling auf diese ganze Pracht. Sie diente nur zum Vorzeigen. Er selbst schlief auf einem Feldbett im kleinsten und einfachsten Zimmer des Hauses, an dessen Wänden als einziger Schmuck Schwert, Scheide und Marius’ stinkender alter Soldatenmantel hingen. Ja, so sollte ein 63
Mann leben! Das Amt des Prätors und des Konsuls waren für Gaius Marius nur von Bedeutung, weil sie den Zugang zum militärischen Oberbefehl über die römische Armee eröffneten — vor allem das Amt des Konsuls. Aber er wußte, daß er nie Konsul werden würde, jedenfalls vorerst nicht. Niemand würde einen Mann ohne Namen wählen, der Mann mochte noch so reich sein.
Der graue Nieselregen vom Vortag hielt noch immer an, als er aus dem Haus trat. Fast hätte er vergessen, daß das Gewand, das er anhatte, ein Vermögen gekostet hatte. Jetzt warf er wenigstens noch sein altes sagum über, das er in so vielen Feldzügen getragen hatte — einen dicken, schmuddeligen, übelriechenden Umhang, der die fürchterlichen Winde der Alpenpässe ebenso abhielt wie die tagelangen Regenfälle von Epirus. Genau das richtige Kleidungsstück für einen Soldaten. Der scharfe Geruch kitzelte ihn in der Nase wie der appetitanregende, warme Duft einer Bäckerei. »Nur herein!« begrüßte Gaius Julius Caesar seinen Gast an der Tür. Er streckte die feingliedrigen Hände aus, um ihm das sagum abzunehmen, reichte den Umhang jedoch nicht gleich angeekelt dem bereitstehenden Sklaven weiter, sondern strich zuerst anerkennend über den groben Stoff. »Der hat sicher einige Schlachten mitgemacht«, sagte er. Über Marius’ protziges Gewand in Gold und Purpur verlor er kein Wort. »Mein Vater hat mir den Umhang geschenkt, als ich mit siebzehn Soldat wurde«, erwiderte Gaius Marius. »Als ich dann selbst für die Ausrüstung der Legionen verantwortlich war, habe ich meine Männer mit denselben Mänteln versorgt — denn wie können sie gesund bleiben, wenn sie bis auf die Knochen durchnäßt und durchgefroren sind.« Gaius Marius ging an seinem Gastgeber vorbei ins Eßzimmer, ohne auf die bescheidene, einfache Einrichtung des Hauses zu achten. Caesar nahm auf der linken Seite des mittleren Sofas Platz und bedeutete seinem Gast, sich zu seiner Rechten, auf dem Ehrenplatz, niederzulassen. Sklaven zogen ihnen die Schuhe aus und 64
reichten ihnen Strümpfe, da Gaius Marius kein qualmendes Kohlenbecken im Zimmer haben wollte. Dann streckten die beiden Männer sich bequem aus und schoben die Kissen so zurecht, daß sie den linken Ellbogen aufstützen konnten. Der Mundschenk näherte sich, gefolgt von einem Sklaven, der die Becher trug. »Meine Söhne kommen gleich«, sagte Caesar. »Die Damen werden erst zum Essen erscheinen.« Er bedeutete dem Mundschenk mit einer Geste, innezuhalten. »Ich hoffe, Gaius Marius, daß du mich nicht für geizig hältst, wenn ich dich höflich bitte, wie ich den Wein mit Wasser zu mischen. Ich habe dafür einen guten Grund, den ich dir aber noch nicht verraten will. Der einzige Grund, den ich dir im Moment nennen kann, ist, daß wir beide bei klarem Verstand bleiben sollten. Außerdem lieben die Damen es gar nicht, wenn wir Männer den Wein unverdünnt trinken.« »Übermäßiger Weingenuß gehört nicht zu meinen Lastern«, sagte Gaius Marius. Sein Becher war noch nicht zur Hälfte gefüllt, als er die Hand hob und den Rest bis zum Rand mit Wasser auffüllen ließ. »Ein Gast, der auf sich hält, sollte die Zunge zum Reden, nicht zum unmäßigen Trinken benutzen.« »Trefflich gesprochen!« rief Caesar lächelnd. »Aber du hast mich außerordentlich neugierig gemacht!« »Im Laufe des Abends wirst du alles erfahren.« Das Gespräch verstummte. Die beiden Männer nippten etwas unbehaglich an ihrem stark verdünnten Wein. Sie kannten sich nur vom Sehen aus dem Senat. Schließlich räusperte Caesar sich und setzte seinen Becher ab. »Ich könnte mir vorstellen, daß du über den diesjährigen Magistrat nicht sonderlich erbaut bist, Gaius Marius.« »Bei den Göttern, nein! Genausowenig wie du vermutlich.« »Ein kläglicher Haufen. Manchmal frage ich mich, ob es richtig ist, an der einjährigen Amtszeit festzuhalten. Wenn wir einmal einen wirklich guten Mann haben, wäre es vielleicht besser, wenn er länger im Amt bleiben könnte.« »Ein verführerischer Gedanke«, sagte Marius, »und wenn die Menschen nicht Menschen wären, würde es vielleicht gehen. Aber 65
die Sache hat einen Haken.« »Einen Haken?« »Wer garantiert uns, daß der Mann wirklich gut ist? Er selbst? Der Senat? Die Versammlung der Plebs? Die Ritter? Die Wahlmänner, die über jede Bestechung so haushoch erhaben sind?« Caesar lachte. »Nun, ich denke doch, Gaius Gracchus war ein guter Mann. Als er sich zum zweiten Mal als Volkstribun aufstellen ließ, habe ich ihn vorbehaltlos unterstützt — bei der dritten Bewerbung ebenfalls. Nicht, daß meine Unterstützung als Patrizier viel geholfen hätte.« »Da hast du es, Gaius Julius«, sagte Marius düster. »Wann immer Rom einen guten Mann hervorbringt, wird er zu Fall gebracht. Und warum? Weil er sich mehr um die Geschicke Roms kümmert als um Familie, Parteigänger und Geld.« »Das ist kaum eine Besonderheit der Römer«, sagte Caesar stirnrunzelnd. »Die Menschen sind überall so. Was Machtgier und Neid betrifft, kann ich zwischen Römern, Griechen, Karthagern, Syrern und wem sonst auch immer keinen Unterschied entdecken. Ein guter Mann kann sich nur auf eine Weise an der Macht halten. Er muß König sein. Wenn nicht dem Titel, so doch der Stellung nach.« »Rom würde niemals einen König dulden«, antwortete Marius. »Zumindest hat es seit fünfhundert Jahren keinen König mehr gehabt. Die meisten Völker bevorzugen die Alleinherrschaft eines Mannes. Nicht so wir Römer. Die Griechen übrigens auch nicht.« Marius mußte lachen. »Aber nur, weil es in Rom und Griechenland so viele Männer gibt, die sich selbst für Könige halten. Rom ist wahrhaftig keine echte Demokratie geworden, nachdem wir die Könige verjagt hatten.« »Natürlich nicht! Die echte Demokratie ist nur eine Idee der griechischen Philosophie — ein unerreichbares Ideal. Sieh dir das Chaos bei den Griechen an. Rom ist eigentlich eine Oligarchie, eine Herrschaft von wenigen über viele. Die Herrschaft der großen Geschlechter.« »Und manchmal auch die Herrschaft eines homo novus«, er66
gänzte Gaius Marius, der selbst ein homo novus war. Caesar nickte gelassen. »Manchmal auch das.« Caesars Söhne betraten das Eßzimmer. Ihr Benehmen war von Bescheidenheit und Ehrerbietung und zugleich männlichem Selbstbewußtsein geprägt, wie es sich für junge Männer gebührte. Sextus Julius Caesar, der ältere, fünfundzwanzig Jahre alt, war großgewachsen und hatte hellbraunes Haar und graue Augen. Gaius Marius’ in der Beurteilung junger Männer erprobter Blick entdeckte einen merkwürdigen Schatten auf seinem Gesicht: Die Augen wirkten erschöpft, und die Lippen, obgleich wohlgeformt, waren fest zusammengepreßt. Der junge Gaius Julius Caesar, der in diesem Jahr zweiundzwanzig wurde, war kräftiger als sein Bruder und noch größer und hatte goldblondes Haar und helle blaue Augen. Außerordentlich intelligent, aber nicht genug Durchsetzungsvermögen, dachte Marius. Trotzdem waren die beiden gutaussehenden jungen Römer eine Augenweide, wie sie sich kein Senator schöner wünschen konnte. Die Senatoren von morgen. »Du kannst dich glücklich schätzen mit solchen Söhnen, Gaius Julius«, sagte Marius. Die beiden jungen Männer ließen sich auf dem Sofa zur Rechten ihres Vaters nieder. Das Sofa links von Marius würde leer bleiben, es sei denn, noch mehr Gäste kamen, oder die Frauen dieses Hauses hatten die neumodische Unart, im Liegen zu speisen. »Ja, ich kann mich wirklich glücklich schätzen.« Lächelnd blickte Caesar auf seine Söhne, und aus seinen Augen sprach Achtung und Liebe. Dann stützte er sich auf den Ellbogen und sah Marius mit höflichem Interesse an. »Du hast keine Söhne?« »Nein«, antwortete Marius ohne Bedauern. »Aber du bist verheiratet?« »Ich glaube ja!« Marius lachte. »Wir Soldaten sind doch alle gleich. Wir sind mit der Armee verheiratet.« »Das soll vorkommen«, sagte Caesar und wechselte das Thema. Sie verbrachten die Zeit bis zum Essen in gepflegter, heiterer 67
und, wie Marius fand, sehr ausgewogener Unterhaltung. In diesem Haus hatte es niemand nötig, den anderen im Gespräch herabzusetzen. Der männliche Teil der Familie gefiel ihm, und nun war er auf die Frauen gespannt. Da traten sie auch schon ein, Marcia und die beiden Julias. Hinreißend! Absolut hinreißend, auch die Mutter. Die Diener stellten drei Stühle für sie in das von den Sofas gebildete Hufeisen, so daß Marcia gegenüber ihrem Mann zu sitzen kam, Julia gegenüber Gaius Marius und Julilla gegenüber ihren beiden Brüdern. Amüsiert sah Marius, wie Julilla ihren Brüdern die Zunge herausstreckte, sobald ihre Eltern nicht hersahen und sie sich der Aufmerksamkeit des Gastes sicher war. Das Essen war einfach, aber vorzüglich zubereitet. Der Eigengeschmack des Fleisches, der Gemüse und der Früchte wurde nicht von garum, der scharfen Fischsoße, und exotischen Gewürzmischungen aus dem Osten überdeckt. So zubereitetes Essen mochte der Soldat Marius am liebsten. Es gab gebratene Vögel, gestopft mit einer einfachen Füllung aus Brot, Zwiebeln und Gartenkräutern, dazu helles, knuspriges Brot, zwei Sorten Oliven, Klöße aus feinstem Dinkelweizen, Eiern und Käse, köstliche Landbratwürste mit einer KnoblauchHonig-Soße, zwei gemischte Salate, bestehend aus Kopfsalat, Gurken, Schalotten und Sellerie mit zwei verschiedenen Essig-ÖlSoßen, und eine Gemüseplatte mit leicht gedünstetem Broccoli, kleinen Kürbissen und Blumenkohl, überbacken mit Kastanienmus. Die Mahlzeit wurde abgerundet von kleinen Obsttörtchen, in wildem Thymianhonig getränkten Sesamecken, Teigtaschen mit einer Füllung aus Rosinen, Pfefferminz und Feigensirup und zwei vorzüglichen Sorten Käse. »Arpinum!« rief Marius auf einmal und hielt ein Stück Käse hoch. Sein Gesicht mit den gewaltigen Augenbrauen sah auf einmal um Jahre jünger aus. »Diesen Käse kenne ich gut! Mein Vater stellt ihn her. Man nimmt dafür die Milch zweijähriger Mutterschafe, die zuvor eine Woche lang auf das spezielle Milchgras in der Flußaue getrieben wurden.« 68
»Oh, wie interessant«, sagte Marcia und lächelte ihm offen zu. »Ich habe diesen Käse schon immer besonders gemocht, aber von jetzt an werde ich auf dem Markt besonders nach ihm Ausschau halten. Der Käse des Gaius Marius aus Arpinum — dein Vater heißt doch auch Gaius Marius?« Kaum war der letzte Gang abgetragen, standen die Frauen auf und verabschiedeten sich. Den Wein hatten sie nicht angerührt, aber dafür hatten sie den Speisen kräftig zugesprochen und viel Wasser getrunken. Marius bemerkte, daß Julia ihn beim Hinausgehen mit offensichtlicher Sympathie anlächelte. Sie hatten während des Essens höfliche Worte gewechselt, aber in seine Gespräche mit ihrem Vater hatte Julia sich nicht eingemischt. Trotzdem hatte sie nicht gelangweilt gewirkt, sondern die Gespräche verständig und interessiert verfolgt. Ein ganz reizendes Mädchen, fand Gaius Marius. Die kleine Julilla dagegen war ein rechter Kobold — sicher niedlich, aber wahrscheinlich auch ziemlich anstrengend. Sie war verwöhnt und eigenwillig und wußte genau, wie sie Eltern und Geschwister um den Finger wickeln konnte. Und irgend etwas an ihr störte Marius. Irgend etwas an ihr stimmte nicht. Er zuckte in Gedanken die Schultern und verbannte das Problem aus seinem Kopf. Schließlich ging es ihn nichts an.
Die beiden jungen Männer blieben noch etwa zehn Minuten, dann entschuldigten auch sie sich und gingen. Die Dunkelheit war schon hereingebrochen, in den Wasseruhren tropften die Nachtstunden dahin, doppelt so viele an der Zahl wie die Stunden, in denen es hell war. Es war Winter, und der Kalender stimmte ausnahmsweise einmal mit der Jahreszeit überein, dank des pedantischen Pontifex Maximus Lucius Caecilius Metellus Delmaticus, der glaubte, daß Datum und Jahreszeit einander entsprechen müßten — ein typisch griechischer Gedanke. Denn was machte es schon für einen Unterschied? Schließlich konnte man sehen und fühlen, welche Jahreszeit gerade herrschte, und der 69
offizielle Kalender auf dem Forum Romanum informierte über Monat und Tag. Als die Diener die Lampen anzündeten, bemerkte Marius, daß das Öl von allerbester Qualität war und die Dochte nicht aus grobem Zeug gewirkt, sondern aus Leinen gewebt waren. »Ich lese viel«, sagte Caesar, der Marius’ Blick gefolgt war und seine Gedanken mit derselben unheimlichen Genauigkeit zu deuten verstand wie am Vortag auf dem Kapitol, als sich ihre Blicke getroffen hatten. »Außerdem schlafe ich leider nicht sehr gut. Vor Jahren, als die Kinder erstmals alt genug waren, am Familienrat teilzunehmen haben wir beschlossen, daß sich jeder etwas Besonderes wünschen dürfe, vorausgesetzt, es war erschwinglich. Soweit ich mich erinnere, hat sich Marcia einen Meisterkoch gewünscht — aber da wir von diesem Wunsch alle profitierten, beschlossen wir, daß sie einen neuen Webstuhl bekommen sollte, das neueste Modell aus Patavium, und dazu immer das Garn, das sie sich wünschte, auch wenn es teuer war. Sextus hat sich gewünscht, mehrmals im Jahr die Feuerkrater bei Puteoli zu besuchen.« Ein sorgenvoller Ausdruck trat in Caesars Augen, und er seufzte tief. »Die Julier vererben seit je bestimmte Eigenschaften auf ihre Kinder. Die bekannteste — abgesehen von unserer hellen Hautfarbe — ist die Sage, daß jede Julia mit der Fähigkeit geboren wird, ihren Mann glücklich zu machen. Das ist ein Geschenk unserer Urmutter, der Göttin Venus, die mit ihren Geschenken freilich nicht allzu viele Menschen glücklich gemacht hat. Jedenfalls gibt es diese Sage über die julischen Frauen. Unser Geschlecht ist aber auch noch mit anderen, weniger glücksbringenden Geschenken bedacht worden, etwa mit dem, was unser armer Sextus geerbt hat. Ich bin sicher, du kennst die Krankheit, an der er leidet: die Kurzatmigkeit. Wenn er einen seiner Anfälle bekommt und nach Luft ringt, hört man es durch das ganze Haus. Manchmal läuft er blau an. Wir haben ihn schon einige Male fast aufgegeben.« Das also war es, was dem jungen Sextus im Gesicht geschrieben stand! Er litt an Kurzatmigkeit, der Arme. Das würde zweifellos 70
seine Karriere behindern. Marius nickte. »Ich kenne die Krankheit. Mein Vater sagt, daß sie zur Heuernte und im Sommer, wenn alles blüht, am schlimmsten ist und daß sich Menschen, die unter dieser Krankheit leiden, von Tieren, vor allem von Pferden und Hunden, fernhalten sollen. Wenn er seinen Militärdienst ableistet, geht er am besten zur Infanterie.« »Er hat das schon selbst herausgefunden.« Wieder seufzte Caesar. »Aber erzähle weiter, was deine Kinder sich gewünscht haben, Gaius Julius.« Marius war fasziniert von der Vorstellung eines Familienrates, von so viel Demokratie. Merkwürdige Leute, Julius Caesar und seine Familie! Von außen betrachtet überkorrekte Patrizier und Stützen der Gesellschaft, bei genauerem Hinsehen aber erstaunlich unkonventionell. »Nun, der kleine Sextus wünschte sich die Besuche bei den Feuerkratern, weil die Schwefeldämpfe ihm offenbar halfen. Er geht heute noch hin.« »Und dein jüngster Sohn?« »Gaius sagte, er habe nur einen Wunsch auf der Welt und der würde nicht einmal etwas kosten. Er wünschte sich, seine Frau später einmal selbst auswählen zu dürfen.« Marius’ Augenbrauen tanzten lebhaft auf und ab. »Bei den Göttern! Und du hast ihm diesen Wunsch zugestanden?« »Natürlich.« »Und wenn er sich nun nach Knabenart in ein Flittchen oder eine alte Dirne verliebt?« »Dann kann er sie heiraten, wenn er will. Ich glaube aber nicht, daß Gaius so dumm ist. Er denkt sehr vernünftig.« »Heiratet ihr noch nach alter Patriziersitte confarreatio — für das ganze Leben?« Marius kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. »Natürlich.« »Bei den Göttern!« »Meine älteste Tochter Julia denkt auch sehr vernünftig«, fuhr 71
Caesar fort. »Sie wollte Mitglied in der Bibliothek des Fannius werden. Nun hatte ich mir genau dasselbe wünschen wollen, aber da wir nicht unbedingt beide Mitglied sein mußten, ließ ich ihr den Vortritt. Unsere Kleinste, Julilla, nun, sie ist leider überhaupt nicht vernünftig. Aber ich denke, Schmetterlinge müssen auch nicht klug sein.« Er lächelte schief. »Dafür verschönern sie die Welt. Eine Welt ohne Schmetterlinge wäre schrecklich.« »Was hat sie sich gewünscht?« fragte Gaius Marius lächelnd. »Ach, ungefähr das, was wir erwartet hatten. Zuckerwerk und Kleider.« »Und du, was hast du dir gewünscht?« »Ich habe mir das beste Lampenöl und die besten Dochte gewünscht. Und ich habe Julia ein Geschäft vorgeschlagen: Wenn sie mir ihre Bücher aus der Bibliothek ausleiht, darf sie meine Leselampen benutzen.« Marius lächelte still in sich hinein. Er hatte den Erzähler dieses kleinen Lehrstücks bereits ins Herz geschlossen. Was für ein einfaches, glückliches Leben ohne Arg er doch führte! Umgeben von Frau und Kindern, die er glücklich machen wollte und die er Jeden in seiner Art schätzte. Zweifellos täuschte er sich nicht in seinen Kindern. Der junge Gaius würde sich seine Frau sicher nicht aus der Gosse der Subura holen. Marius räusperte sich. »Gaius Julius, es war wirklich ein reizender Abend. Aber nun bin ich doch recht gespannt zu erfahren, warum ich die ganze Zeit nüchtern bleiben mußte.« »Ich werde zuerst die Diener hinausschicken«, sagte Caesar. »Der Wein steht hier in unserer Reichweite, und da jetzt die Stunde der Wahrheit gekommen ist, brauchen wir uns nicht mehr so zu mäßigen.« Marius wunderte sich schon wieder. Er war es gewöhnt, daß die römischen Patrizier ihre Haussklaven mit völliger Nichtbeachtung behandelten. Nicht, daß sie sie schlecht behandelt hätten — sie behandelten sie in der Regel sogar gut, aber sie schienen zu glauben, daß Sklaven ausgestopfte Puppen waren, sobald private Dinge zur Sprache kamen. Marius hatte sich mit dieser Haltung 72
nie anfreunden können. Sein Vater hatte auch immer darauf geachtet, daß die Sklaven hinausgeschickt wurden, wenn über private Dinge gesprochen wurde. »Es wird furchtbar viel getratscht«, sagte Caesar, als sich die Tür hinter den Sklaven geschlossen hatte. »Und unsere Nachbarn sind auf beiden Seiten sehr neugierig. Marcia hat mir erzählt, daß einige ihrer Freundinnen ihre Sklaven für Gerüchte bezahlen und ihnen sogar ein Geschenk machen, wenn sich die Gerüchte als wahr erweisen! Außerdem sind auch Sklaven denkende und fühlende Menschen, es ist also besser, sie erfahren nichts.« »Gaius Julius«, sagte Marius warm, »du hättest Konsul werden und dann als unser bedeutendster Konsular zum Zensor gewählt werden müssen.« »Ich stimme dir bei, Gaius Marius, so hätte es kommen müssen! Aber ich hatte für das höchste Amt nicht das nötige Geld.« »Ich habe Geld. Bin ich deshalb eingeladen worden? Mußte ich deshalb nüchtern bleiben?« Caesar sah ihn schockiert an. »Mein lieber Gaius Marius, doch nicht deshalb! Ich gehe schon auf die Sechzig zu! Nein, ich mache mir Gedanken über meine Söhne und, wenn die Zeit gekommen ist, über die Söhne meiner Söhne.« Marius griff nach dem Weinkrug, füllte seinen leeren Becher mit unverdünntem Wein und nahm einen Schluck. Dann sah er verwundert auf. »War es dieser Wein, den wir den ganzen Abend bis zur Geschmacklosigkeit verwässert haben?« Caesar lächelte. »Aber nein! So reich bin ich wirklich nicht. Der verdünnte Wein war ein einfacher Landwein. Diesen hier bewahre ich für besondere Anlässe auf.« »Ich fühle mich geschmeichelt.« Marius sah Caesar aufmerksam an. »Was willst du von mir, Gaius Julius?« »Hilfe. Im Gegenzug werde ich dir helfen.« Caesar goß sich ebenfalls Wein ein. »Und wie soll diese gegenseitige Hilfe aussehen?« »Ganz einfach. Du wirst Mitglied meiner Familie.« »Was?« 73
»Ich biete dir eine meiner Töchter an«, sagte Caesar geduldig. »Welche du willst.« »Ich soll sie heiraten?« »Ganz recht, heiraten!« »Was für eine Idee!« Marius erkannte sofort, welche Möglichkeiten sich hier auftaten. »Man wird dich beachten müssen, wenn du mit einer Julia verheiratet bist«, sagte Caesar. »Zum Glück hast du keine Söhne — und keine Töchter, was das betrifft. Eine Frau, die du in deiner jetzigen Situation heiratest, muß also jung und fruchtbar sein. Jeder wird verstehen, daß du dir eine neue Frau suchst. Aber wenn diese Frau eine Julia ist, wird man dich mit ganz anderen Augen ansehen müssen als bisher, denn sie kommt aus einem der ältesten Patriziergeschlechter, und auch in deinen Kindern wird dann julianisches Blut fließen. Eine Heirat mit einer Julia adelt dich, Gaius Marius. Dein Name wird durch die große dignitas, das öffentliche Ansehen und den Rang einer der erlauchtesten Familien Roms aufgewertet werden. Wir haben kein Geld, aber wir haben dignitas. Das julianische Geschlecht geht auf die Göttin Venus zurück, auf ihren Enkel Julus, der der Sohn ihres Sohnes Aeneas war. Auch du wirst am Glanz unseres Namens teilhaben.« Caesar stellte seinen Becher ab, lächelte und seufzte. »Ich versichere dir, Gaius Marius, daß es wahr ist! Ich bin zwar nicht der älteste lebende Julier, aber wir bewahren die Wachsbilder in unserem Haus auf, und man kann unsere Familie über tausend Jahre zurückverfolgen. Auch Rea Silvia, die Mutter von Romulus und Remus, war eine Julia! Als sie sich mit Mars vereinigte und die Zwillingssöhne empfing, gaben wir ihrem Sohn Romulus Menschengestalt und schufen damit Rom.« Sein Lächeln wurde breiter. »Wir waren Könige von Alba Longa, der größten Stadt Latiums, die unser Ahnherr Julus gegründet hat. Als die Stadt von den Römern zerstört wurde, führte das Schicksal uns nach Rom und erhöhte uns abermals, um dem römischen Führungsanspruch über die Latiner Gewicht zu geben. Der Priester auf dem Albanerberg ist bis zum heutigen Tag ein Julier.« 74
Marius atmete vor Ehrfurcht unwillkürlich tief ein, dann hörte er schweigend weiter zu. Mit ernster Stimme fuhr Caesar fort: »In bescheidenerem Rahmen verfüge auch ich über einigen Einfluß, obwohl ich nie genügend Geld hatte, um mich für ein hohes Amt zu bewerben. Die Wahlmänner kennen meinen Namen. Emporkömmlinge schmeicheln mir — und du weißt ja, wie viele es von ihnen in den Zenturien gibt, die die Konsuln wählen —, und der Adel achtet mich hoch. Meine persönliche dignitas, wie die meines Vaters vor mir, steht außer Frage.« Gaius Marius konnte seinen Blick nicht von Caesars edlen Gesichtszügen lösen. Dieses Geschlecht ging bis auf Venus zurück, ganz bestimmt! Bis ins letzte Glied hatte es nur schöne Männer und Frauen hervorgebracht, und Schönheit zählte — überall auf der Welt waren blonde Menschen im Vorteil. Wenn er Kinder von einer Julia bekam, waren sie vielleicht ebenfalls blond und hatten lange, römische Nasen. »Du willst Konsul werden«, sagte Caesar, »das weiß in Rom jeder. Als Prätor in Spanien hast du viele Klienten gewonnen. Leider geht das Gerücht um, du seist selbst ein Klient und deine Klienten seien die Klienten deines Patrons.« Verärgert zeigte Marius seine kräftigen, weißen Zähne. »Das ist eine Verleumdung! Ich bin niemandes Klient!« »Ich glaube dir, aber die Leute sind anderer Meinung«, beharrte Caesar, »und das zählt mehr als die Wahrheit. Wer auch nur ein bißchen Verstand besitzt, weiß, wie unsinnig die Behauptung ist, du seist Klient der Familie Herennius. Schließlich ist dieses Geschlecht viel weniger latinisch als deine Familie in Arpinum. Aber es heißt auch, du seist Klient eines Caecilius Metellus, und das klingt weniger unsinnig. Die Familie deiner Mutter Fulcinia ist etruskisch, die Familie deines Vaters hat Besitz in Etrurien, und dort hatten die Meteller schon immer großen Einfluß.« »Weder ein Marius noch ein Fulcinius hat jemals einen Caecilius Metellus zum Patron gehabt!« sagte Marius aufgebracht. »Die Meteller behaupten das nur, weil sie genau wissen, daß sie es nicht 75
beweisen müssen!« »Du hast vollkommen recht«, sagte Caesar. »Aber ihr Haß ist gegen dich persönlich gerichtet, und das macht ihre Behauptungen glaubhaft. Die Leute sagen, daß ein so persönlicher Haß nicht erst damals entstanden sein kann, als du sie als Volkstribun an der Nase herumgeführt hast.« »Durchaus nicht.« Marius lachte bitter. »Erzähle.« »Ich habe einmal den kleinen Bruder von Delmaticus in einen Schweinekoben geworfen — den, der nächstes Jahr sicher Konsul wird. Das war in Numantia. Eigentlich waren wir zu dritt, und alle drei sind wir seither mit den Römern, die das Sagen haben, nicht zurechtgekommen.« »Wer waren die anderen zwei?« »Publius Rutilius Rufus und König Jugurtha von Numidien.« »Das erklärt einiges.« Caesar preßte die Fingerspitzen aneinander. »Aber an deinem Namen haftet noch ein anderer Makel, der viel schlimmer ist als die Klientengeschichte, Gaius Marius.« »Bevor wir darüber sprechen, hätte ich gern von dir gewußt, wie ich dieses Gerücht ausmerzen kann, Gaius Julius.« »Indem du eine meiner Töchter heiratest. Wenn ich dir eine meiner Töchter zur Frau gebe, heißt das, daß ich nicht an das Gerücht glaube. Und erzähle die Geschichte von dem spanischen Schweinekoben jedem, der sie hören will! Vielleicht bringe ich Publius Rutilius Rufus dazu, daß er sie bestätigt.« Caesar lächelte. »Das stelle ich mir komisch vor: ein Caecilius Metellus inmitten von Schweinen — und nicht einmal römischen Schweinen!« »Es war komisch«, erwiderte Marius kurz angebunden. »Was ist mit der anderen Verleumdung?« »Man sagt, du seist Geschäftsmann.« Marius verschlug es den Atem. »Aber — ich betreibe keine anderen Geschäfte als drei Viertel der Senatoren. Ich besitze keinerlei Firmenanteile, die mir das Recht oder die Macht geben, in die Geschicke einer Firma einzugreifen! Ich bin nur ein stiller Teilhaber, ein Kapitalgeber! Wird tatsächlich von mir behauptet, 76
ich sei aktiv in Geschäften tätig?« »Das natürlich nicht! Niemand läßt sich genauer darüber aus, mein lieber Gaius Marius. Man tut dich einfach mit einem verächtlichen Lächeln ab, mit dem Satz: ›Er betreibt Geschäfte.‹ Damit kann alles gemeint sein, auch wenn nie etwas Konkretes gesagt wird. Wer nicht genauer nachfragt, gewinnt den Eindruck, deine Vorfahren seien seit Generationen im Geschäft und du selbst seist im Besitz der verschiedensten Firmen.« »Ich bin nicht mehr Geschäftsmann als ein Caecilius Metellus. Wahrscheinlich sogar weniger.« »Gut möglich. Aber wenn ich dich von Anfang an beraten hätte, hätte ich dir empfohlen, keinerlei Geschäfte zu betreiben, die nicht mit Land- und Grundbesitz verbunden sind. Deine Minen sind zwar sauber und ein guter, solider Besitz. Aber für einen homo novus sind sogar solche Geschäfte unklug. Du hättest bei dem bleiben sollen, was einem Senator auf keinen Fall schaden kann — beim Land- und Grundbesitz.« »Du meinst also, daß meine Beteiligung an verschiedenen Firmen ein weiterer Grund ist, warum ich nie ein richtiger römischer Adliger werden kann?« Marius klang bitter. »Genau!« Marius straffte die Schultern. Es war verlorene Zeit und Mühe, sich mit solchem Unsinn weiter abzugeben. Statt dessen wandte er sich wieder der verlockenden Vorstellung zu, eine Julia zu heiraten: »Meinst du wirklich, daß mein Ansehen in der Öffentlichkeit durch die Ehe mit einer deiner Töchter entscheidend verbessert werden könnte?« »Ganz sicher!« »Eine Julia. Aber warum heirate ich dann nicht gleich eine Sulpicia — oder eine Claudia — eine Aemilia — oder eine Cornelia? Auch das sind alte Geschlechter, und ich würde zum alten Namen noch großen politischen Einfluß gewinnen.« Caesar lächelte und schüttelte den Kopf. »Natürlich könntest du eine Cornelia oder eine Aemilia heiraten. Aber alle würden wissen, daß du dir das Mädchen einfach gekauft hast. Der Vorteil bei 77
einer Julia ist, daß bisher kein Julius Caesar jemals seine Tochter einem reichen Mann ohne Namen verkauft hat. Allein die Tatsache, daß du eine Julia heiraten darfst, wird alle Welt überzeugen, daß du die höchsten politischen Ehren verdienst und daß die Verleumdungen um deine Person nichts als üble Nachrede sind. Ein Julius Caesar hat es noch nie nötig gehabt, seine Töchter zu verkaufen.« Marius lehnte sich zurück und starrte nachdenklich auf den Becher in seiner Hand. »Gaius Julius, warum bietest du mir diese Chance?« Caesar runzelte die Stirn. »Ich habe dafür zwei Gründe. Der erste mag nicht sehr vernünftig klingen. Als ich dich gestern bei den Feierlichkeiten zur Amtseinführung sah, hatte ich plötzlich eine Vorahnung. Normalerweise gebe ich nichts auf Vorahnungen, aber ich schwöre dir bei den Göttern, daß ich auf einmal wußte, daß vor mir der Mann stand, der — hätte er die Möglichkeit dazu — Rom auf seinen eigenen Schultern aus schrecklicher Gefahr tragen würde. Und ich wußte plötzlich, daß Rom ohne dich verloren ist.« Caesar erschauerte. »Nun, in jedem Römer steckt ein Stück Aberglaube, und in den wirklich alten Familien ist er sehr verbreitet. Die Vorahnung hat mich nicht mehr losgelassen. Und ich dachte mir auch, wie wunderbar es wäre, wenn ich, ein einfacher Hinterbänkler im Senat, Rom zu dem Mann verhelfen könnte, den es so dringend braucht.« »Auch ich habe eine solche Vorahnung«, warf Marius ein. »Seit Numantia.« »Siehst du! Jetzt sind wir schon zwei.« »Und dein zweiter Grund, Gaius Julius?« Caesar seufzte. »Ich muß mich der Tatsache stellen, daß es mir trotz meines Alters noch nicht gelungen ist, für meine Kinder so vorzusorgen, wie es einem Vater ansteht. An Liebe hat es ihnen nicht gefehlt, und sie haben auch eine hervorragende Erziehung genossen. Aber dieses Haus und fünfhundert iugera Land in den Albaner Bergen sind alles, was ich besitze.« Er richtete sich auf und beugte sich vor. »Ich habe vier Kinder, und das ist, wie du 78
wohl weißt, zuviel. Zwei Söhne und zwei Töchter. Mein Besitz reicht nicht einmal aus, meinen beiden Söhnen eine politische Laufbahn als Hinterbänkler im Senat zu sichern. Wenn ich meinem Ältesten Sextus alles vermache, kann er sich gerade im Senat halten wie ich. Mein jüngerer Sohn Gaius dagegen wird so arm sein, daß es nicht einmal zum Ritter reicht. Ich würde praktisch einen Lucius Cornelius Sulla aus ihm machen — kennst du Lucius Cornelius Sulla?« »Nein.« »Seine Stiefmutter wohnt gleich nebenan. Eine schreckliche Frau: niedere Herkunft, kein Verstand, aber sehr reich. Soviel ich weiß, wird nicht ihr Stiefsohn, sondern ein Neffe sie beerben. Sie hat mir keine Ruhe gelassen, bis ich ihr geholfen habe, ihr Testament aufzusetzen. Hat ununterbrochen geredet. Ihr Stiefsohn Lucius Cornelius Sulla wohnt bei ihr, weil er ihr zufolge nirgendwo sonst unterkommt. Seine Familie ist schon lange verarmt, sein Vater besaß buchstäblich nichts und hat auch noch getrunken. Du hast entschieden mehr Glück gehabt, Gaius Marius, denn immerhin hatte deine Familie genug Geld, daß du Senator werden konntest. Lucius Cornelius Sulla stammt aus einer vornehmen patrizischen Familie, allein die Armut ist schuld, daß er nicht den Platz in der Gesellschaft einnehmen kann, der ihm zusteht.« Und mit bewegter Stimme schloß Caesar: »Mir liegt das Wohlergehen meines jüngeren Sohnes zu sehr am Herzen, als daß ich ihn, seine Kinder oder Kindeskinder dem Schicksal eines Lucius Cornelius Sulla aussetzen möchte.« »Keiner kann etwas für seine Geburt!« sagte Marius gleichfalls bewegt. »Warum soll die Geburt über unser ganzes weiteres Leben bestimmen?« »Warum das Geld?« entgegnete Caesar. »Du mußt zugeben, Gaius Marius, daß Geburt und Geld überall auf der Welt zählen. Verglichen mit dem Partherreich etwa finde ich die römische Gesellschaft sogar noch relativ mobil. In Rom ist es immerhin schon vorgekommen, daß mittellose Männer Karriere gemacht haben.« Nachdenklich fügte er hinzu: »Glaube nicht, daß ich diese 79
Männer jemals bewundert hätte. Der Kampf um den Aufstieg scheint sie menschlich zu ruinieren.« »Dann ist es vielleicht besser, Lucius Cornelius Sulla bleibt, wo er ist.« »Nein!« entgegnete Caesar fest. »Ich bin meiner Klasse immerhin so sehr verbunden, daß ich das Schicksal des Lucius Cornelius Sulla außerordentlich bedauere!« Er setzte eine geschäftliche Miene auf. »Im Moment geht es mir aber um die Zukunft meiner Kinder. Ich kann meinen Töchtern keine Mitgift geben, Gaius Marius, weil meine Söhne sonst völlig mittellos wären. Das bedeutet, daß meine Töchter niemals einen Mann aus ihrer Klasse heiraten können. Bitte entschuldige, wenn diese Worte dich kränken. Ich wollte damit nicht sagen, daß...« Er brach ab und machte eine hilflose Handbewegung. »Ich will lediglich anständige, ehrbare, sympathische Männer für meine Töchter.« Caesar erhob sich schwerfällig. »Der Abend war lang und anstrengend für mich, und ich fange an, meine Knochen zu spüren. Hast du etwas dagegen, wenn wir uns im Garten ein wenig die Beine vertreten? Ich weiß, es ist kalt draußen, aber du kannst von mir einen warmen Mantel haben.« Wortlos glitt Gaius Marius vom Sofa, ergriff Caesars Schuhe, streifte sie ihm über und band sie schnell und geschickt zu. Dann zog er sich selbst die Schuhe an und stand auf »Das gefällt mir an dir«, sagte Caesar. »Du handelst überlegt und ohne Umschweife.«
Der Säulengarten war klein, aber wunderschön. Trotz der Jahreszeit gediehen aromatische Kräuter, die einen köstlichen Duft verströmten. Ansonsten wuchsen hier hauptsächlich winterharte, immergrüne Pflanzen. Die Verbundenheit mit dem Land war den Juliern immer noch anzumerken, dachte Marius, und bei diesem Gedanken wurde ihm warm ums Herz. Unter den Dachvorsprüngen hingen Hunderte von kleinen Flohkrautbüscheln zum Trocknen, gerade wie bei seinem Vater zu Hause. Ende Januar würde man sie 80
im Haus in allen Schubladen und Ecken verteilen, um Fliegen, Silberfischchen und anderes Ungeziefer fernzuhalten. Flohkraut wurde zur Wintersonnenwende gepflückt. Marius hatte nicht gewußt, daß man diesen Brauch in Rom auch kannte. Zur Feier seines Besuches brannten die Leuchter in den Arkaden um den Garten, und zierliche Bronzelampen tauchten die Gartenwege in warmes, gelbes Licht. Es hatte aufgehört zu regnen. Schwere Tropfen hingen an Büschen und Sträuchern, und die Luft war feucht und kalt. Die Männer achteten nicht darauf. Schweigend schritten sie eine Weile auf und ab, bis sie zuletzt in der Mitte des Gartens vor dem Becken mit dem Springbrunnen stehenblieben. Den vier steinernen Dryaden hatte man Fackeln aufgesteckt. Das Becken war jetzt im Winter leer, der Springbrunnen abgestellt. Eigenartig gerührt betrachtete Gaius Marius den verwitterten Brunnen. In seinem Garten plätscherte das Wasser dank eines Heizsystems das ganze Jahr über. Dennoch erschien ihm dies hier viel wirklicher. »Bist du an der Heirat mit einer meiner Töchter interessiert?« fragte Caesar ruhig. Marius nickte entschlossen. »Das bin ich, Gaius Julius.« »Wird dir die Trennung von deiner Frau nicht schwerfallen?« »Überhaupt nicht.« Marius räusperte sich. »Was verlangst du von mir für die Braut und deinen Namen, Gaius Julius?« »Ich will offen sein: eine Menge. Da du in unserer Familie mehr ein zweiter Vater als ein Schwiegersohn sein wirst — ein Privileg deines Alters —, erwarte ich, daß du auch meine zweite Tochter mit einer Mitgift ausstattest und meine beiden Söhne versorgst. Du mußt dich außerdem bereit erklären, meinen beiden Söhnen nach Kräften zu helfen, wenn sie in den Senat eintreten und die Ämterlaufbahn beginnen. Ich will, daß beide Konsul werden. Mein Sohn Sextus ist ein Jahr älter als der ältere der beiden Söhne, die mein Bruder Sextus behalten hat. Mein Sextus wird also der erste Julius seiner Generation sein, der sich um das Konsulat bewerben kann. Ich will, daß er zum frühestmöglichen Zeitpunkt Konsul wird, zwölf Jahre nach seinem Eintritt in den Senat, 81
zweiundvierzig Jahre nach seiner Geburt. Er wird der erste Konsul meines Geschlechts nach vierhundert Jahren sein. Das ist mir außerordentlich wichtig!« »Dein Bruder Sextus hat seinen ältesten Sohn zur Adoption gegeben, nicht wahr?« fragte Marius. Angestrengt versuchte er sich zu erinnern. Kein Römer aus Rom hätte nach so etwas fragen müssen. »Ja, vor langer, langer Zeit. Er hieß ebenfalls Sextus. Die erstgeborenen Söhne unseres Geschlechts heißen in der Regel so.« »Ach natürlich! Quintus Lutatius Catulus! Er gebraucht den Namen Caesar ja nicht mehr. Aber dann wird doch sicher er der erste Caesar auf dem Stuhl des Konsuls sein, denn er ist ja wesentlich älter als deine Söhne.« »Nein«, sagte Caesar und schüttelte heftig den Kopf. »Er ist kein Caesar mehr, er ist jetzt ein Lutatius Catulus.« »Ich kann mir vorstellen, daß der alte Catulus ein schönes Sümmchen für seinen Adoptivsohn hingelegt hat.« »Er hat damals sehr viel bezahlt. So viel, wie du für deine neue Frau, Gaius Marius.« »Julia. Ich werde Julia zur Frau nehmen.« »Nicht die Kleine?« fragte Caesar erstaunt. »Nun, ich gebe zu, daß ich froh darüber bin, denn ich bin der Meinung, daß Mädchen unter achtzehn nicht heiraten sollten, und Julilla ist erst sechzehneinhalb. Du hast eine gute Wahl getroffen, denke ich. Aber ich dachte immer, Julilla sei die hübschere von beiden.« »Du bist ja auch ihr Vater«, sagte Marius lächelnd. »Nein, Gaius Julius, deine jüngste Tochter reizt mich nicht im geringsten. Wenn sie ihren zukünftigen Ehemann nicht gerade vergöttert, wir sie ihm mit ihren Launen arg zu schaffen machen. Ich bin für solche Mätzchen zu alt. Julia dagegen sieht nicht nur gut aus, sie scheint auch Verstand zu haben. Sie hat mir auf Anhieb gefallen.« »Sie wird eine exzellente Konsulsgattin sein.« »Glaubst du wirklich, daß mir der Sprung ins Konsulat gelingen wird?« Caesar nickte. »Davon bin ich überzeugt! Aber so etwas braucht 82
Zeit. Heirate erst einmal Julia und warte in Ruhe ab. Sieh zu, daß du dich ein paar Jahre im Krieg bewährst — ein militärischer Erfolg verbessert deine Chancen enorm. Biete einem Feldherrn deine Dienste als Legat an. Zwei oder drei Jahre später kannst du dich um das Konsulat bewerben.« »Dann bin ich fünfzig«, sagte Marius bedrückt. »Männer, die soviel älter sind als üblich, werden nicht gern gewählt.« »Du bist auch jetzt schon zu alt, was machen da diese zwei oder drei Jahre? Wenn du sie gut nutzt, werden sie dir zustatten kommen. Und du siehst jünger aus, als du bist, Gaius Marius, das spielt auch eine Rolle. So wie du aussiehst, bist du der Inbegriff eines gesunden, vitalen Mannes, und außerdem bist du groß, was die Wahlmänner im allgemeinen auch sehr beeindruckt. Wenn du ein unscheinbarer, kleiner Wicht wärst, würde dir vielleicht nicht einmal eine Julia helfen.« »Was soll ich für deine Söhne tun?« »Du meinst materiell?« Marius nickte. Ohne auf sein Purpurgewand zu achten, setzte er sich auf eine Bank aus weißem, unpoliertem Marmor. Da er einige Zeit sitzen blieb und die Bank sehr naß war, blieb, als er sich wieder erhob, ein rosarot gesprenkelter Fleck zurück, der wie natürlich aussah. Die Purpurfarbe haftete fest an dem porösen Stein, und viele Jahre später ließ ein anderer Gaius Julius Caesar die Bank im Domus Publicus des Pontifex Maximus aufstellen. Der Gaius Julius Caesar, der mit Gaius Marius einen Heiratsvertrag aushandelte, sah in dem Fleck ein gutes Omen, ein erfolgversprechendes Omen. Gaius Marius würde das Schicksal Roms entscheidend bestimmen, und seine eigenen Söhne würden den Purpur des höchsten Amtes erlangen. »Für meinen Sohn Gaius brauche ich so viel Land, daß ihm der Sitz im Senat sicher ist«, sagte Caesar. »Zufällig stehen gerade sechshundert Iugera besten Ackerlands neben meinen eigenen Ländereien in den Albaner Bergen zum Verkauf.« »Der Preis?« »Schwindelerregend.« Caesar atmete tief durch. »Vier Millio83
nen Sesterze — eine Million Denare.« »Einverstanden«, sagte Marius ungerührt. »Aber ich denke, es wäre gut, wenn wir unser Geschäft im Moment noch geheimhielten.« »Selbstverständlich!« pflichtete Caesar ihm sofort bei. »Dann bringe ich dir das Geld morgen persönlich vorbei«, lächelte Marius. »Was willst du noch?« »Wenn mein ältester Sohn das Alter für den Senat erreicht, bist du vermutlich Konsular. Du hast dann Macht und Einfluß, und ich verlange, daß du sie dazu nutzt, meine Söhne auf der Ämterlaufbahn voranzubringen. Wenn du in den nächsten zwei bis drei Jahren Legat bist, sollen meine Söhne mit dir in den Krieg ziehen. Sie haben zwar beide schon als Offiziersanwärter Erfahrung gesamrnelt, aber für ihre politische Karriere brauchen sie noch mehr. Bei dir werden sie in guten Händen sein.« Marius dachte bei sich, daß keiner der jungen Männer aus dem Holz geschnitzt war, aus dem große Feldherren gemacht sind, daß sie aber sicherlich gute Offiziere abgeben würden. Laut sagte er nur: »Ich nehme sie gerne mit, Gaius Julius.« Caesar fuhr fort: »Ihre patrizische Herkunft ist ein schwerer Nachteil für ihre politische Karriere. Du weißt so gut wie ich, daß sie als Patrizier nicht Volkstribun werden können, daß aber ein spektakuläres Auftreten als Volkstribun die beste Methode ist, sich einen politischen Ruf zu verschaffen. Meine Söhne werden sich als kurulische Ädilen hocharbeiten müssen — und das ist sündhaft teuer. Ich gehe deshalb davon aus, daß du Sextus und Gaius mit genügend Geld versorgst, daß sie dem Volk Spiele und Spektakel ausrichten können, an die das Volk sich bei den Wahlen zum Prätor erinnert. Und wenn es sich an irgendeinem Punkt ihrer Laufbahn als notwendig erweisen sollte, Wählerstimmen zu kaufen, sollst du die Mittel dafür bereitstellen.« »Einverstanden.« Gaius Marius streckte Caesar seine Rechte mit geradezu erstaunlicher Bereitwilligkeit entgegen. Schließlich ließ er sich auf eine Verbindung ein, die ihn mindestens zehn Millionen Sesterze kosten würde. 84
Gaius Julius Caesar ergriff die Hand und schüttelte sie lang. »Also abgemacht!« rief er lachend. Sie kehrten ins Haus zurück. Caesar schickte einen verschlafenen Sklaven nach dem alten sagum von Gaius Marius. »Wann darf ich Julia sehen und sprechen?« fragte Marius. »Morgen nachmittag«, antwortete Caesar und öffnete eigenhändig die Haustür. »Gute Nacht, Gaius Marius.« »Gute Nacht, Gaius Julius.« Marius trat in die kalte Winternacht hinaus. Aber er spürte die Kälte nicht. Auf dem Heimweg war ihm so warm ums Herz wie schon lange nicht mehr. Sollte der ungebetene Gast, jenes gewisse Gefühl, das ihn immer wieder überfiel, tatsächlich recht behalten? Konsul! Wenn ihm das gelang, dann mußte er auch einen Sohn haben. Einen zweiten Gaius Marius.
Als die beiden Töchter Caesars am nächsten Morgen zum Frühstück in ihr kleines Wohnzimmer kamen, war Julilla so unruhig, daß sie sich nicht setzen konnte, sondern ständig von einem Bein aufs andere hüpfte. »Was ist denn los?« fragte ihre Schwester gereizt. »Spürst du nichts? Irgendwas ist los, dabei wollte ich mich doch heute vormittag mit Clodilla auf dem Blumenmarkt treffen — ich habe es ihr fest versprochen! Aber ich glaube, wir müssen heute wieder zu so einem langweiligen Familienrat dableiben.« Julilla verdrehte die Augen. »Du bist wirklich undankbar!« sagte Julia. »Kennst du sonst noch ein Mädchen, das bei einem Familienrat mitreden darf?« »Ach Quatsch, so ein Familienrat ist doch nur langweilig. Nie reden wir über etwas Interessantes, immer nur über Sklaven, Geldsorgen und Lehrer. Ich will nicht mehr in die Schule. Homer und der blöde alte Thukydides hängen mir zum Hals raus! Was soll ich damit?« »Diese Autoren bilden dich«, sagte Julia streng. »Du willst doch auch einmal einen tüchtigen Ehemann, oder nicht?« 85
Julilla kicherte. »Ich stelle mir unter einem tüchtigen Mann jemand anders vor als Homer und Thukydides. Ach, ich wollte heute so gerne ausgehen!« Sie hopste hin und her. »Wie ich dich kenne, tust du das auch, wenn du es dir in den Kopf gesetzt hast«, sagte Julia. »Setz dich jetzt bitte hin und iß!« Ein Schatten verdunkelte die Tür. Die Mädchen blickten auf und öffneten erstaunt den Mund. Ihr Vater! Hier! »Julia, ich möchte mit dir sprechen«, sagte Caesar und trat ein. Ausnahmsweise schenkte er Julilla keine Beachtung. »Oh, tata! Nicht einmal ein Gutemorgenküßchen?« fragte die Lieblingstochter schmollend. Gedankenverloren sah er sie an und kniff sie in die Wange. »Willst du nicht etwas unternehmen, mein Schmetterling?« Julilla strahlte. »Danke, tata, danke! Darf ich auf den Blumenmarkt gehen? Und zum Porticus Margaritaria?« »Wie viele Perlen willst du dir heute kaufen?« fragte ihr Vater lächelnd. »Tausend!« rief sie und wollte losrennen. Caesar drückte ihr noch einen Silberdenar in die Hand. »Das reicht zwar nicht einmal für eine einzige kleine Perle, aber vielleicht reicht es für einen Schal.« »Oh, danke tata, danke!« Julilla gab ihm einen Kuß und war verschwunden. Caesar blickte seine älteste Tochter freundlich an. »Setz dich, Julia.« Erwartungsvoll setzte sie sich, sagte aber kein Wort. Marcia kam herein und nahm neben ihrer Tochter auf dem Sofa Platz. »Was ist los, Gaius Julius?« fragte Marcia neugierig. Caesar blieb stehen, verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und richtete schließlich seine leuchtend blauen Augen auf Julia. »Hat Gaius Marius dir gefallen, Liebling?« fragte er. »Ja, warum, tata?« »Was hat dir an ihm gefallen?« Sie überlegte einen Augenblick. »Ich glaube, seine schlichte, aufrichtige Art zu sprechen. Und weil er so natürlich wirkt. Er hat 86
bestätigt, was ich mir schon immer gedacht habe.« »Ja?« »Dieser Tratsch, den man immer hört — daß er kein Griechisch kann, daß er ein dummer Bauer ist, daß er sich auf Kosten anderer einen Ruf als Feldherr geschaffen hat. Mir kam es immer so vor, als ob die Leute zuviel redeten. Das konnte einfach nicht alles wahr sein. Jetzt, wo ich ihn kennengelernt habe, bin ich mir sicher, daß ich recht habe. Er ist kein dummer Bauer und durchaus nicht ungehobelt. Er ist intelligent und sehr belesen! Sein Griechisch klingt zwar nicht besonders schön, aber seine Grammatik und sein Wortschatz sind ganz ausgezeichnet. Er kleidet sich nicht besonders geschmackvoll, aber daran ist vermutlich seine Frau schuld.« Bei diesen Worten schlug Julia verwirrt die Augen nieder. »Julia! Du hast ihn ja richtig lieb!« sagte Caesar, und in seiner Stimme schwang eine merkwürdige Scheu. »Ja, tata, ich hab ihn lieb.« »Darüber bin ich sehr froh, denn du wirst ihn heiraten«, platzte Caesar heraus. Sein berühmter Takt und sein diplomatisches Einfühlungsvermögen ließen ihn in dieser ungewöhnlichen Situation auf einmal im Stich. Julia sah erstaunt auf. »Was?« Marcia versteifte sich. »Ihn heiraten?« Caesar nickte und setzte sich jetzt doch. »Und wann bist du zu diesem Entschluß gekommen?« fragte Marcia. Sie klang verärgert. »Wann hatte er denn Gelegenheit, Julia kennenzulernen, daß er jetzt um ihre Hand anhält?« »Er hat nicht um Julia angehalten«, sagte Caesar. »Ich habe ihm Julia angeboten. Oder Julilla. Deshalb habe ich ihn gestern zum Essen eingeladen.« Marcia starrte ihn an, als würde sie an seinem Verstand zweifeln. »Du hast einem homo novus, der dir im Alter näher steht als deinen Kindern, unsere Töchter zur Auswahl angeboten?« Jetzt war sie wirklich zornig. »Ganz genau.« »Aber warum denn?« 87
»Du weißt doch, wer er ist.« »Natürlich weiß ich das.« »Dann weißt du auch, daß er einer der reichsten Männer Roms ist.« »Ja.« »Na also«, sagte Caesar ernst, an Frau und Tochter zugleich gewandt, »ihr wißt doch beide, in welcher Lage wir sind. Vier Kinder und weder genug Geld noch genug Grundbesitz. Zwei Jungen, die es dank ihrer Herkunft und ihrer Intelligenz bis ganz nach oben schaffen können, und zwei Mädchen, die aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Schönheit nur den besten Mann verdienen. Aber — kein Geld! Kein Geld für den cursus honorum und kein Geld für die Mitgift.« »Das ist richtig«, sagte Marcia nüchtern. Ihr Vater war gestorben, bevor sie das heiratsfähige Alter erreicht hatte, und seine Kinder aus erster Ehe hatten mit Hilfe der Nachlaßverwalter dafür gesorgt, daß für sie kein nennenswertes Erbe übrigblieb. Gaius Julius Caesar hatte sie aus Liebe geheiratet, und da sie nur eine unbedeutende Mitgift in die Ehe einbringen konnte, hatte ihre Familie der Verbindung erleichtert zugestimmt. Ja, sie hatten aus Liebe geheiratet und waren mit Glück, Harmonie, drei überaus wohlgeratenen Kindern und einem zauberhaften Schmetterling gesegnet worden. Trotzdem war es für Marcia immer noch eine Demütigung, daß Caesar finanziell keine gute Partie gemacht hatte. »Gaius Marius braucht eine Frau aus einer Patrizierfamilie, deren gesellschaftliche Stellung, Integrität und dignitas untadelig sind«, erklärte Caesar. »Er hätte schon vor drei Jahren Konsul werden sollen, aber die Meteller haben es verhindert. Unsere Julia wird Rom zwingen, Gaius Marius endlich ernst zu nehmen. Unsere Julia wird ihm die gesellschaftliche Stellung verleihen, die er braucht. Sein öffentliches Ansehen wird tausendfach steigen. Dafür wird Gaius Marius unsere finanziellen Schwierigkeiten beheben.« »Ach, Gaius!« sagte Marcia mit Tränen in den Augen. 88
»Ach, Vater!« flüsterte Julia mit niedergeschlagenen Augen. Jetzt, da der Zorn seiner Frau besänftigt war und Julia verlegen errötete, entspannte sich Caesar. »Er fiel mir vorgestern bei den Feierlichkeiten für die neuen Konsuln auf. Merkwürdigerweise hatte ich ihm bis dahin kaum Beachtung geschenkt. Es ist wohl keine Übertreibung, wenn ich sage, daß es mir vorgestern wie Schuppen von den Augen fiel. Ich wußte, da steht ein großer Mann! Ich wußte, daß Rom ihn brauchen wird.« »Und du hast ihm das Angebot gemacht, nicht umgekehrt?« fragte Marcia. »Ja.« »Dann sind unsere Probleme jetzt gelöst?« Caesar nickte. »Gaius Marius ist zwar kein gebürtiger Römer, aber er ist ein Ehrenmann. Ich bin überzeugt, daß er zu seinem Teil des Vertrags stehen wird.« »Und der wäre?« fragte Marcia praktisch und griff im Geiste nach ihrem Abakus. »Noch heute bringt er mir vier Millionen Sesterze in bar, damit ich das Land neben unserem Grundstück in Bovillae kaufen kann. Dann hat Gaius genug Grundbesitz für einen Sitz im Senat, und Sextus’ Erbe bleibt erhalten. Gaius Marius wird beiden Jungen helfen, kurulische Ädilen zu werden. Er wird unsere Jungen in jeder erdenklichen Weise unterstützen, damit sie zur vorgesehenen Zeit Konsul werden können. Und er wird Julilla mit einer großzügigen Mitgift ausstatten, auch wenn wir in dieser Frage noch nicht ins Detail gegangen sind.« »Und was will er für Julia tun?« fragte Marcia knapp. Caesar sah sie verständnislos an. »Für Julia?« wiederholte er. »Was sollte er mehr tun, als sie heiraten? Immerhin bringt sie keine Mitgift mit, und es kostet ihn ein Vermögen, sie zu seiner Frau zu machen »Die Mitgift dient normalerweise dazu, einer Frau auch nach der Heirat eine gewisse Unabhängigkeit zu garantieren, vor allem, wenn sie geschieden wird. Es gibt wohl Frauen, die dumm genug sind, die Mitgift ihren Männern zu überlassen, aber nicht alle 89
Frauen sind so dumm. Ich bestehe darauf, daß Gaius Marius unsere Julia mit einer Mitgift ausstattet, die ihr ein sorgenfreies Leben ermöglicht, wenn es zu einer Scheidung kommt.« Marcias Ton ließ keinen Widerspruch zu. »Marcia, ich kann unmöglich noch mehr von ihm verlangen!« sagte Caesar verzweifelt. »Ich fürchte, es bleibt dir nichts anderes übrig. Ich bin erstaunt, daß du nicht selbst daran gedacht hast, Gaius Julius. Julia haben wir unser künftiges Glück zu verdanken, deshalb sind wir es ihr schuldig, daß ihr Auskommen gesichert wird.« »Ich gebe zu, du hast recht, meine Liebe«, sagte Caesar beschämt. »Aber ich kann unmöglich noch mehr von ihm verlangen!« Julia sah abwechselnd Vater und Mutter an. Es war nicht das erste Mal, daß ihre Eltern in ihrer Gegenwart Meinungsverschiedenheiten austrugen, aber es war das erste Mal, daß es dabei um sie ging. Sie beschloß, etwas zu sagen. »Es ist gut so, wirklich. Ich werde Gaius Marius selbst auf die Mitgift ansprechen. Er wird es schon verstehen.« »Julia! Du willst ihn wirklich heiraten?« fragte Marcia atemlos. »Aber natürlich, Mama. Ich finde ihn wunderbar!« »Aber er ist fast dreißig Jahre älter als du! Du wirst schneller Witwe sein, als du denkst.« »Junge Männer langweilen mich, sie erinnern mich an meine Brüder. Einer wie Gaius Marius ist mir viel lieber. Ich werde ihm eine gute Frau sein, das verspreche ich euch. Er wird mich lieben und seine Ausgaben nie bereuen.« »Wer hätte das gedacht?« fragte Caesar. Er hatte die Frage mehr an sich selbst gerichtet als an eine der Frauen. »Warum bist du so erstaunt, tata? Ich werde bald achtzehn, und ich wußte, daß du noch in diesem Jahr eine Heirat für mich arrangieren würdest. Ich habe mich, ehrlich gesagt, davor gefürchtet. Nicht vor der Heirat — aber davor, wen du als Mann für mich auswählen würdest. Als ich Gaius Marius gestern abend kennenlernte, dachte ich sofort, es wäre wunderbar, wenn du jemanden 90
wie ihn für mich finden würdest.« Julia errötete. »Er ist ganz anders als du und doch wieder genauso wie du — gerecht, freundlich und aufrichtig.« Gaius Julius Caesar sah seine Frau an. »Es ist doch eine Freude, festzustellen, daß man sein Kind wirklich schätzt. Sein Kind lieben ist ganz natürlich. Aber schätzen? Das muß verdient sein.«
Die Aussicht, an einem Tag gleich mit zwei Frauen sprechen zu müssen, machte Gaius Marius mehr zu schaffen als die Aussicht auf einen Kampf gegen eine zehnfach überlegene Armee. Zunächst sollte er zum erstenmal seine künftige Frau und deren Mutter treffen, dann zum letztenmal seine bisherige Frau. Zur achten Stunde — mitten am Nachmittag — traf er am Haus von Gaius Julius Caesar ein, diesmal in seine purpurgesäumte Toga gekleidet. Die Million Silberdenare hatte er nicht dabei. Sie hätten 10 000 Pfund gewogen, was 160 Talenten entsprach oder einem Zug von 160 schwerbeladenen Männern. Nein, er trug statt dessen eine Bankanweisung bei sich. Im Arbeitszimmer überreichte er seinem Gastgeber eine Pergamentrolle. »Ich bin so diskret wie möglich vorgegangen«, sagte er, als Caesar die Urkunde entrollte und die Zeilen überflog. »Wie du siehst, habe ich bei deiner Bank zweihundert Talente in Silber auf deinen Namen hinterlegen lassen. Man kann diese Einlage unmöglich zu mir zurückverfolgen, es sei denn, jemand würde sehr viel Zeit dafür opfern.« »Das ist gut so. Es würde sonst so aussehen, als ob ich Bestechungsgelder kassiert hätte.« »Ich bezweifle, daß jemals jemand mit einer so hohen Summe bestochen wurde«, antwortete Marius lächelnd. Caesar streckte ihm die Hand hin. »Ich habe mir die Summe nicht in Talenten vorgestellt«, sagte er. »Bei den Göttern, ich habe ein Königreich von dir gefordert. Bist du sicher, daß du soviel entbehren kannst?« 91
»Das bin ich.« Marius konnte seine Hand nicht aus Caesars Umklammerung lösen. »Wenn das Land soviel kostet, wie du gesagt hast, dann sind es vierzig Talente zuviel. Das soll die Mitgift für deine Tochter sein.« »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, Gaius Marius.« Caesar ließ endlich seine Hand los und sah ihn mit wachsendem Unbehagen an. »Ich sage mir die ganze Zeit, daß ich meine Tochter ja nicht verkaufe, aber jetzt kann ich mich dieses Eindrucks nicht erwehren. Wirklich, Gaius Marius, ich würde anders handeln, wäre ich nicht aufrichtig überzeugt, daß sie mit dir einer glanzvollen Zukunft entgegensieht. Ich bin überzeugt, daß du gut für sie sorgen und sie behüten wirst, wie es einer Julia zusteht.« Seine Stimme klang rauh. Unsicher kam er hinter seinem Schreibtisch hervor. Obwohl sein Herz pochte und seine Gedanken rasten, nahm er die Pergamentrolle wie beiläufig an sich und steckte sie in eine Falte seiner Toga. »Ich werde erst Ruhe haben, wenn ich das auf die Bank gebracht habe.« Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Julia wird erst Anfang Mai achtzehn, aber ich möchte die Heirat nicht bis in den Juni hinauszögern. Wenn du einverstanden bist, kann die Zeremonie im April stattfinden.« »Ich bin einverstanden«, sagte Marius. »Dann warte hier, Gaius Marius. Ich schicke Julia herein.« Jetzt war es an Gaius Marius, nervös und gespannt zu sein. Hoffentlich sträubte sich das Mädchen nicht zu sehr! Caesars Verhalten hatte zwar nicht darauf hingedeutet, aber Marius wußte sehr wohl, daß es Dinge gab, über die Caesar nie mit ihm sprechen würde. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als daß Julia ihn freiwillig nahm. Freilich — wie konnte sie eine Verbindung erstreben, die so wenig zu ihrem Stand, ihrer Schönheit, ihrer Jugend paßte? Ob sie viele Tränen vergossen hatte, als man ihr den Beschluß eröffnet hatte? Hatte sie bereits einen jungen, hübschen Adligen für sich auserkoren, den sie aus Gründen der Vernunft nun nicht bekommen konnte? Ein alternder Bauer aus der Provinz, ohne Kultur — was für ein Mann für eine Julia! Die Tür zum Säulengarten ging auf, und wie ein Fanfarenstoß 92
brach die Sonne in Caesars Arbeitszimmer herein. Inmitten des goldenen Glanzes stand lächelnd Julia. Die rechte Hand hatte sie ausgestreckt. »Gaius Marius«, sagte sie freundlich. Ihr Lächeln vertiefte sich. »Julia.« Marius trat näher und ergriff ihre Hand, hielt sie aber, als wüßte er nicht, was er damit tun solle oder was überhaupt als nächstes zu tun sei. Verlegen räusperte er sich. »Dein Vater hat es dir gesagt?« »Aber ja.« Sie lächelte immer noch, sogar, wenn das überhaupt ging, noch strahlender als zuvor, und sie wirkte durchaus nicht unreif oder mädchenhaft schüchtern. Im Gegenteil, sie schien sich und die Situation vollkommen zu beherrschen. Ganz die selbstbewußte Prinzessin, strahlte sie eine königliche Gelassenheit aus, in die sich unterschwellig Demut mischte. »Du hast nichts dagegen?« fragte er abrupt. »Ich freue mich darüber.« Sie ließ den Blick ihrer schönen grauen Augen auf ihm ruhen, in dem noch immer das warme Lächeln lag. Gleichsam als wollte sie ihn ermutigen, drückte sie zart seine Hand. »Gaius Marius, sieh nicht so ängstlich drein. Ich freue mich wirklich und wahrhaftig!« Er zog seine linke Hand aus den Falten der Toga und nahm ihre Hand in beide Hände. »Ich bin ein alter Mann!« »Dann mag ich alte Männer, denn ich mag dich.« »Du magst mich? Sie nickte. »Natürlich! Sonst hätte ich der Heirat nicht zugestimmt. Ich kann mir keinen gütigeren Mann als meinen Vater vorstellen. Er ist kein Tyrann. Er hätte mich nie zu einer Heirat gezwungen, die ich nicht gewollt hätte.« »Aber bist du sicher, daß du dich nicht selbst dazu zwingst?« »Das ist nicht notwendig«, erwiderte sie ruhig. »Es gibt doch bestimmt einen jungen Mann, den du lieber magst als mich!« »Nein. Junge Männer erinnern mich zu sehr an meine Brüder.« »Aber... aber...«, er suchte krampfhaft nach einem Einwand. Schließlich sagte er: »Aber meine Augenbrauen!« 93
»Ich finde sie wunderbar!« Er merkte, wie er errötete, und war vollkommen verunsichert. Dann erkannte er, daß sie trotz ihrer Selbstbeherrschung und Gelassenheit ein unschuldiges Mädchen war und nicht verstehen konnte, was er durchlitt. »Dein Vater meint, daß wir im April heiraten sollen, noch vor deinem Geburtstag. Ist es dir recht so?« Sie runzelte die Stirn. »Nun, wenn er es sagt. Aber ich würde lieber schon im März heiraten, wenn ihr beide einverstanden seid. Ich würde gerne am Fest der Anna Perenna heiraten.« Ein angemessener Tag für eine Hochzeit — und gleichzeitig ein unglückbringender Tag. Das Fest der Göttin Anna Perenna, das in der ersten Vollmondnacht im März gefeiert wurde, hing mit dem Zyklus des Mondes und dem alten Neujahr zusammen. Der Feiertag galt als Glückstag, doch der Tag danach war ein Unglückstag. »Hast du keine Angst, daß der erste Tag deiner Ehe dir schlechte Omen bringt?« »Nein«, antwortete Julia. »Eine Heirat mit dir steht unter einem guten Omen.« Sie schob ihre linke Hand unter seine rechte, so daß ihre Hände jetzt ineinander verschlungen waren, und blickte ernst zu ihm auf. »Meine Mutter hat mir nur wenig Zeit mit dir allein gegeben, und bevor sie kommt, muß ich noch etwas mit dir besprechen. Meine Mitgift.« Ihr Lächeln erstarb und machte einer ernsten Miene Platz. »Ich glaube nicht, daß unsere Ehe unglücklich wird, Gaius Marius. Ich zweifle nicht im geringsten an deiner Absicht und Integrität, und du wirst ebensowenig an meiner zu zweifeln haben. Meine Mutter besteht aber auf einer Mitgift. Sie meint, ich müsse eine Mitgift haben, für den Fall, daß du dich je von mir scheiden läßt. Mein Vater ist von deiner Großzügigkeit so überwältigt, daß er es nicht über sich bringt, noch mehr zu fordern. Deshalb habe ich, mich bereit erklärt, mit dir darüber zu sprechen, und das muß jetzt sein, bevor Mama hereinkommt, denn sie wird ganz bestimmt darauf zu sprechen kommen.« In ihrer Miene war keine Habgier, nur Sorge zu erkennen. »Wäre es möglich, daß du zu diesem Zweck einen Betrag beiseite 94
legst? Wenn wir, wie ich sicher annehme, nicht geschieden werden, können wir beide darüber verfügen, im Falle einer Scheidung würde das Geld mir zustehen.« Eine echte Römerin! Die Worte wohlgesetzt, anmutig und freundlich, aber kristallklar. »Ich denke, das müßte möglich sein«, sagte er ernst. »Du mußt dich natürlich absichern, daß ich während unserer Ehe keine Verfügungsgewalt darüber habe.« »Es soll geschehen, wie du es wünschst«, sagte er. »Aber ich brauche keine Absicherung. Ich überschreibe dir mit Freuden einen Betrag auf deinen Namen, über den du nach eigenem Gutdünken verfügen kannst.« Sie mußte lachen. »Gut, daß du mich gewählt hast und nicht Julilla! Nein danke, Gaius Marius. Ich ziehe den ehrenhaften Weg vor.« Sanft sah sie zu ihm auf. »Willst du mir jetzt einen Kuß geben, bevor meine Mutter hereinkommt?« Über die Mitgift hatte er ganz ruhig gesprochen, aber die Bitte um einen Kuß brachte ihn aus der Fassung. Er durfte Julia nicht enttäuschen. Aber was wußte er schon von Küssen und von der Liebe? Er hatte sich nie dafür interessiert, was seine sporadischen Geliebten von seinen Küssen und seinen Liebeskünsten hielten, und er hatte keine Ahnung, was ein junges Mädchen von seinem ersten Geliebten erwartete. Sollte er sie an sich reißen und leidenschaftlich küssen? Sollte er eher zart und zurückhaltend sein? Was erwartete Julia von ihm? Er wußte nur, daß es ihm sehr wichtig war, ihr zu gefallen. Schließlich trat er ganz nah an sie heran und neigte den Kopf. Nicht sehr tief, denn sie war ungewöhnlich groß. Ihre geschlossenen Lippen fühlten sich kühl an, weich und samtig. Er löste sein Dilemma, indem er instinktiv die Augen schloß und passiv empfing, was sie zu geben bereit war. Für Julia war es eine völlig neue Erfahrung, der sie sich öffnete, ohne zu wissen, was sie barg, denn Caesar und Marcia hatten ihre Töchter sehr behütet erzogen. Als sie ihre Hände aus seinen Händen zog, ließ er sie sofort los und wollte einen Schritt zurücktreten. Sie aber hob die Arme und 95
legte sie ihm um den Hals. Der Kuß wurde inniger. Julia öffnete leicht die Lippen, und Marius umfing ihren Körper mit seinen Armen. Nach einer Weile lösten ihre Lippen sich wie von selbst voneinander. Als Marcia geräuschlos das Zimmer betrat, konnte sie nichts Unlauteres an der Umarmung finden. Gaius Marius’ Mund berührte Julias Wange, Julia stand mit geschlossenen Augen da, zufrieden wie eine Katze, die sich still streicheln läßt. Ganz ohne Verlegenheit lösten sie sich aus der Umarmung und wandten sich Marcia zu, die zumindest in Marius’ Augen ausgesprochen finster dreinblickte. Er vermutete, daß sie ihre Tochter lieber mit einem Mann aus ihrer Klasse verheiratet hätte, selbst wenn dann kein Geld in die Familie gekommen wäre. Doch er fühlte sich in diesem Augenblick so glücklich, daß er leicht über den Unmut seiner zukünftigen Schwiegermutter, die fast zwei Jahre jünger war als er, hinwegsehen konnte. Er würde Marcia beweisen, daß der alternde Bauer aus der Provinz Julia glücklich machen konnte. »Ich habe ihn um die Mitgift gebeten, Mama«, sagte Julia. »Wir haben alles besprochen.« Marcia sah Marius verlegen an. »Darauf habe ich gedrängt, nicht meine Tochter — oder mein Mann.« »Ich verstehe«, sagte er freundlich. »Du warst außerordentlich großzügig, Gaius Marius. Wir danken dir.« »Ich muß dir widersprechen, Marcia. Ihr wart außerordentlich großzügig. Julia ist eine Perle, die nicht mit Geld aufzuwiegen ist.« Diese letzten Worte gingen Gaius Marius nicht aus dem Kopf. Als er kurze Zeit später Caesars Haus verließ, lenkte er deshalb seine Schritte am Fuß der Vesta-Treppe nicht nach links, zu seinem Haus, sondern nach rechts, an dem hübschen, kleinen, runden Tempel vorbei und den engen Weg zwischen der Regia und dem Domus Publicus hindurch. Er kam auf der Via Sacra heraus, die hier anstieg und Clivus Sacer genannt wurde. Rasch stieg er den 96
Clivus Sacer hinauf, denn er wollte den Porticus Margaritaria erreichen, bevor die Händler alle gegangen waren. In den hohen, luftigen Arkaden, die den rechteckigen Platz säumten, waren die besten Juweliere der Stadt zu Hause. Marius wollte eine Perle für Julia kaufen, und wie jeder Römer wußte er genau, wohin er dazu gehen mußte: zum Geschäft des Fabricius Margarita. Marcus Fabricius verkaufte ganz besondere Perlen. Der erste Marcus Fabricius hatte phantastische Erzählungen über wunderbare Perlen gehört, die es in Ägypten und Arabia Nabataea geben sollte. Wie ein Spürhund hatte er sich auf die Suche gemacht — und war fündig geworden. Zuerst hatte er nur enttäuschend kleine und unregelmäßig geformte Perlen gefunden, aber sie besaßen bereits jenes charakteristische, cremige Weiß. Sie stammten aus dem Roten Meer. Nach und nach entdeckte er Perlenvorkommen in den indischen Meeren und vor Ceylon. Ungefähr zu dieser Zeit hatte er sich den Beinamen Margarita gegeben und sein Monopol im Handel mit diesen besonderen Perlen begründet. Heute, zur Amtszeit der Konsuln Marcus Minucius Rufus und Spurius Postumius Albinus, war sein Enkel so gut sortiert, daß ein reicher Mann sicher sein konnte, in seinem Geschäft jederzeit eine passende Perle zu finden. Selbstverständlich hatte Fabricius Margarita auch für Marius die passende Perle auf Lager, Marius nahm sie jedoch nicht mit nach Hause. Er wollte diese vollkommen geformte, erbsengroße Perle, in der sich das Mondlicht zu spiegeln schien, zusammen mit anderen, kleineren Perlen auf ein Halsband aus massivem Gold aufziehen lassen, was einige Tage dauern würde. Er spürte einen ihm völlig neuen Drang, einer Frau kostbare Geschenke zu machen. Die Erinnerung an den Kuß und an Julias Bereitschaft, seine Braut zu werden, ließ ihn nicht mehr los. Allein der Gedanke, daß er so ein Herz, so rein, so jung, so edel wie das Julias besitzen würde, erfüllte ihn mit einem Gefühl der Dankbarkeit. Julia war seine Perle, und sie war nicht mit Geld aufzuwiegen. Perlen, diese Tränen, die der ferne, tropische Mond in die Tiefe des Ozeans fallen ließ und die auf dem Weg in die Tiefe zu Stein gefroren — 97
diese Perlen gehörten seiner Julia. Natürlich war Grania zu Hause. Grania ging nie aus. Tagtäglich wartete sie von der neunten Stunde an, ob ihr Mann zum Essen nach Hause kommen würde. Immer wieder zögerte sie das Essen um ein paar Minuten hinaus und trieb damit ihren Koch zur Verzweiflung, und allzu häufig endete es damit, daß sie unter Tränen ein einsames Mahl zu sich nahm. Die kulinarischen Meisterstücke, die der Koch in der Küche vollbrachte, waren immer vergeblich, egal ob Marius auswärts oder zu Hause speiste. Grania hatte ein Vermögen für den Koch ausgegeben, und seine Leistungen hätten den verwöhntesten Epikureer in Ekstase versetzen können. Aß Marius tatsächlich einmal zu Hause, wurden die üppigsten Gerichte aufgetragen: mit Gänseleberpastete gefüllte Schlafmäuse, kleine, unvorstellbar delikate Vögel, exotische Gemüse und aromatische Soßen, die Marius’ Zunge und Magen, wenngleich nicht seine Geldbörse, überforderten. Marius war wie die meisten Soldaten mit einem Stück Brot und einer Schale Erbsensuppe mit Speck zufrieden. Das Essen war ihm nur als Brennstoff für den Körper wichtig, nicht als Genuß. Grania hatte dies nach all den Jahren ihrer Ehe noch immer nicht begriffen, und das war ein Zeichen der großen Distanz zwischen ihnen. Marius war unbehaglich zumute, wenn er daran dachte, was er Grania antun wollte — obgleich seine Zuneigung zu ihr gering war. Er fühlte sich ihr gegenüber stets schuldig, denn er wußte, daß sie von ihrer Ehe ein glückliches Leben mit Kindern und gemeinsamen Mahlzeiten erwartet hatte. Arpinum hätte das Zentrum ihres Lebens sein sollen, mit häufigen Ausflügen nach Puteoli und vielleicht jeden September einem zweiwöchigen Urlaub in Rom während der ludi romani. Grania hatte Marius völlig kalt gelassen, als er sie das erste Mal sah, und sogar noch, als er das erste Mal mit ihr schlief. Er konnte sich nicht dazu überwinden, Zuneigung oder gar Verlangen auch nur vorzutäuschen. Dabei war Grania nicht häßlich. Ihr rundliches Gesicht sah recht hübsch aus, sie hatte große Augen und einen 98
kleinen Mund mit vollen Lippen. Jemand hatte Marius sogar einmal gesagt, sie sei schön. Grania war auch nicht streitsüchtig, im Gegenteil, sie wollte ihm auf jede mögliche Weise gefallen. Das Problem bestand darin, daß sie ihm einfach nicht gefiel, er wußte selbst nicht warum, auch wenn sie seinen Becher mit einem Aphrodisiakum gefüllt oder einen der neuerdings beliebten Kurse für erotische Tänze besucht hätte. In den ersten fünfzehn Jahren ihrer Ehe hatte sie sich große Mühe gegeben, ihre Figur zu behalten, die wirklich nicht schlecht war — sie hatte volle Brüste, eine schmale Taille und kurvige Hüften. Sie bürstete ihr dunkles Haar nach der Wäsche in der Sonne, bis es einen rötlichen Schimmer bekam, zog ihre sanften braunen Augen mit schwarzem stibium nach und achtete darauf, jeden Geruch von Schweiß oder Menstruation zu vermeiden. Als Marius an diesem Abend im frühen Januar nach Hause kam, hatte er sich verändert: Er hatte endlich eine Frau gefunden, die ihm gefiel, und er freute sich auf die Ehe, auf ein gemeinsames Leben mit ihr. Grania war prosaisch, ungebildet, häuslich und strotzte vor Gesundheit, die ideale Frau eines Landadligen. Julia dagegen war eine echte Aristokratin und majestätische Erscheinung, hochgebildet und politisch interessiert, die ideale Frau eines römischen Konsuls. Bei seiner Verlobung mit Grania hatte seine Familie angenommen, daß er das Leben eines Landadligen führen würde, aber Gaius Marius war ein Adler, der aus dem Käfig der arpinischen Familie ausbrechen wollte. Er hatte es weit gebracht und war entschlossen, noch höher aufzusteigen, besonders jetzt, nachdem ihm eine Julia aus dem Patriziergeschlecht der Julier versprochen worden war. Das war die Frau, die er sich gewünscht hatte. Das war die Frau, die er brauchte. »Grania!« Er ließ die schwere Toga auf den prächtigen Mosaikboden des Atriums gleiten und trat darüber hinweg, bevor noch ein Diener herbeieilen und sie ihm abnehmen konnte. »Ja, Liebster?« Sie eilte ihm aus ihrem Zimmer entgegen, und hinter ihr fielen Nadeln, Broschen und Krümel zu Boden. Sie war füllig geworden, viel zu füllig, denn sie tröstete sich mit zu vielen 99
Süßigkeiten und Feigen über ihre bittere Einsamkeit hinweg. »Im tablinum, bitte«, sagte er über die Schulter und marschierte voraus. Sie trippelte hinter ihm her. »Schließ die Tür«, sagte er und ließ sich auf seinem Lieblingsstuhl hinter dem großen Schreibtisch nieder. Grania mußte wie ein Klient auf der anderen Seite der in Gold gefaßten Tischplatte aus poliertem Malachit Platz nehmen. »Ja, Liebster?« fragte sie noch einmal arglos. Er hatte sich ihr gegenüber nie absichtlich roh verhalten, und abgesehen davon, daß er sie vernachlässigte, hatte er sie nie schlecht behandelt. Marius legte die Stirn in Falten, seine Hände spielten mit einem Abakus aus Elfenbein. Grania hatte diese Hände immer geliebt, denn sie waren feingliedrig und stark zugleich, mit breiten Handflächen und langen Fingern. Sie legte den Kopf auf die Seite und sah ihn an — ihn, den Fremden, mit dem sie seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet war. Ein gutaussehender Mann, lautete auch jetzt ihr Urteil, und sie stand damit keineswegs allein. Liebte sie ihn noch immer? Nach fünfundzwanzig Jahren glichen ihre Gefühle für ihn einem komplizierten Gewebe ohne jegliches Muster: Wut, Schmerz, Verwirrung, Abneigung, Trauer, Selbstmitleid — oh, so viele Gefühle! Grania war jetzt fünfundvierzig Jahre alt, und sie menstruierte nur noch unregelmäßig, denn ihr armer, unfruchtbarer Schoß verdorrte. Wenn es ein Gefühl gab, das sie beherrschte, dann diese niederdrückende, ausweglose Enttäuschung. Sie hatte sogar begonnen, Vediovis, dem Gott der Enttäuschungen, Opfer darzubringen. Marius öffnete die Lippen. Sie waren ursprünglich voll und sinnlich gewesen, doch er hatte ihnen eine soldatische Strenge anerzogen, noch bevor Grania ihn kennengelernt hatte. Grania beugte sich leicht vor, damit ihr nichts entging, jede Faser ihres Körpers gespannt. »Ich lasse mich von dir scheiden«, sagte er. Er reichte ihr ein Stück Pergament, auf das er am Morgen die Scheidungserklärung geschrieben hatte. 100
Seine Worte drangen kaum zu ihr durch. Sie breitete das dicke und leicht übel riechende Viereck aus glatter Haut auf der Tischplatte aus und las es mit alterssichtigen Augen durch. Dann blickte sie auf. »Das habe ich nicht verdient«, sagte sie dumpf. »Ich bin anderer Meinung«, erwiderte er. »Weshalb? Was habe ich getan?« »Du hast als Ehefrau nicht zu mir gepaßt.« »Und du hast fünfundzwanzig Jahre gebraucht, um das herauszufinden?« »Nein. Ich wußte es von Anfang an.« »Warum hast du dich dann nicht schon früher von mir getrennt?« »Damals erschien es mir nicht wichtig.« Oh, ein Schmerz nach dem anderen, eine Beleidigung nach der anderen! Das Pergament zitterte in ihrer Hand. Sie warf es auf den Tisch und ballte die Hände zu kleinen, harten Fäuste. »Ja, das glaube ich dir!« sagte sie, und ihre Resignation schlug in Wut um. »Ich war dir nie wichtig. Nicht einmal wichtig genug, um dich von mir zu trennen. Warum also ausgerechnet jetzt?« »Ich will mich wieder verheiraten.« Granias Wut wich ungläubigem Staunen. Sie starrte ihn an. »Du?« »Ja, ich. Man hat mir die Ehe mit einem Mädchen aus einem sehr alten Patriziergeschlecht angeboten.« »Jetzt hör aber auf, Marius! Wird der große Verächter plötzlich zum großen Aristokraten?« »Ich glaube nicht«, sagte er gleichmütig. Es war ihm unbehaglich zumute, doch er verbarg dies ebenso geschickt wie seine Schuldgefühle. »Es ist ganz einfach. Diese Ehe bedeutet, daß ich doch noch Konsul werden kann.« Das Feuer ihrer Zornes erlosch, ausgeblasen vom kalten Wind der Logik. Was konnte sie dagegen sagen? Wie konnte sie ihm Vorwürfe machen? Sie wußte, daß er als Politiker chancenlos war und nur geringes Ansehen genoß, obwohl er nie mit ihr darüber 101
gesprochen hatte. Sie hatte um ihn geweint, hatte sich für ihn verzehrt und gewünscht, sie könnte den Makel ausmerzen und ihn in den Augen des römischen Adels gesellschaftsfähig machen. Doch was konnte sie schon ausrichten, sie, eine Grania aus Puteoli? Sie war so wohlhabend, angesehen und von makelloser Ehre, wie eine Ehefrau nur sein konnte, aber es fehlte ihr an Beziehungen. Marius war ein Landadliger und sie die Tochter eines Kaufmanns aus der Campania. In den Augen des städtischen römischen Adels gehörte sie der untersten Klasse an. Bis vor kurzem hatte ihre Familie nicht einmal die Bürgerrechte besessen. »Das also ist der Grund«, sagte sie tonlos. Marius hatte genügend Mitgefühl, um nichts mehr hinzuzufügen und seine Erregung vor ihr zu verbergen, jenes glühende, kleine Körnchen Liebe, das in seinem kühlen Herzen neue Triebe hervorbrachte. Sollte sie doch denken, daß es nur eine politische Zweckheirat war. »Es tut mir wirklich leid, Grania«, sagte er sanft. »Mir auch, mir auch«, murmelte sie vor sich hin. Sie begann wieder zu zittern, doch diesmal zitterte sie, weil sie ihre Zukunft vor sich sah — eine noch größere und noch unerträglichere Einsamkeit als bisher. Ein Leben ohne Gaius Marius? Undenkbar. »Die Verbindung wurde mir angeboten, ich habe mich nicht selbst darum bemüht, falls dir das ein Trost ist.« »Wer ist das Mädchen?« »Die ältere Tochter des Gaius Julius Caesar.« »Eine Julia! Du willst hoch hinaus! Du wirst bestimmt Konsul, Gaius Marius.« »Ja, das glaube ich auch.« Nervös spielte er mit seiner Lieblingsschreibfeder aus Schilfrohr, mit der kleinen Porphyrflasche, die den Löschsand enthielt, und mit dem Tintenfaß aus poliertem Amethyst. »Du wirst selbstverständlich deine Mitgift zurückerhalten. Das ist mehr als genug für deine Bedürfnisse. Ich habe das Geld in profitablere Unternehmen gesteckt als dein Vater, und da du es nie angerührt hast, ist daraus ein stattliches Vermögen geworden.« Er räusperte sich. »Ich nehme an, daß du in der Nähe 102
deiner Familie wohnen willst, aber in deinem Alter ist es wohl vernünftig, wenn du in einem eigenen Haus wohnst. Besonders jetzt, da dein Vater tot und dein Bruder pater familias ist.« »Du hast nie oft genug mit mir geschlafen, um mir ein Kind zu schenken«, sagte sie. Der Schmerz ihrer Einsamkeit drohte sie zu überwältigen. »Ich wünschte so sehr, ich hätte ein Kind!« »Ich bin verdammt froh, daß du keins hast! Dann wäre unser Sohn mein Erbe, und meine Heirat mit Julia hätte nicht dieselbe Bedeutung.« In verändertem Ton fügte Marius hinzu: »Sei vernünftig, Grania! Unsere Kinder wären jetzt längst erwachsen und würden ihr eigenes Leben führen. Sie wären kein Trost für dich.« »Wenigstens hätte ich Enkel«, sagte sie. Die Tränen schossen ihr in die Augen. »Dann wäre ich nicht so allein!« »Ich habe dir schon vor Jahren geraten, dir einen kleinen Schoßhund zu kaufen!« Er sagte es nicht unfreundlich, er meinte es aufrichtig gut. Ein noch besserer Rat fiel ihm ein: »Du solltest wieder heiraten!« »Niemals!« rief sie. Marius zuckte mit den Schultern. »Wie du willst. Aber um auf deine künftige Wohnung zurückzukommen: Ich bin bereit, eine Villa am Meer bei Cumae zu kaufen und sie für dich einzurichten. Von Cumae aus ist Puteoli mit der Sänfte gut zu erreichen. Puteoli liegt nahe genug, daß du deine Familie ab und zu für ein oder zwei Tage besuchen kannst, und es ist weit genug entfernt, daß du deine Ruhe hast.« Alle Hoffnung war verflogen. »Danke, Gaius Marius.« »Du brauchst dich nicht zu bedanken!« Er stand auf, ging um den Tisch und half ihr mit einem unpersönlichen Griff am Ellbogen aus dem Stuhl. »Sag jetzt dem Verwalter Bescheid. Denk auch darüber nach, welche Sklaven du mitnehmen willst. Einer meiner Agenten wird morgen in Cumae nach einer passenden Villa suchen. Das Haus wird natürlich mir gehören, aber ich werde dir ein lebenslanges Wohnrecht einräumen — oder bis du wieder heiratest. Schon gut, schon gut! Ich weiß, daß du nicht mehr heiraten 103
willst, aber unternehmungslustige Freier werden dich umschwirren wie die Fliegen einen Honigtopf. Du bist reich.« Sie hatten die Tür zu Granias Zimmer erreicht. Er blieb stehen und zog seine Hand zurück. »Es wäre mir recht, wenn du bis übermorgen ausziehen würdest. Am besten vormittags. Ich denke, Julia wird im Haus manches verändern wollen, bevor sie einzieht. Wir werden in acht Wochen heiraten, es bleibt mir also nicht mehr viel Zeit für all die Veränderungen. Deshalb also — übermorgen früh.« Sie wollte ihn noch etwas fragen — irgend etwas —, aber er hatte sich bereits abgewandt und sich entfernt. »Mit dem Essen brauchst du nicht auf mich zu warten«, rief er über die Schulter zurück, während er das geräumige Atrium durchquerte. »Ich treffe mich mit Publius Rutilius und werde wahrscheinlich erst zurückkommen, wenn du schon schläfst.« Das also war das Ende. Ihr Herz würde nicht brechen, nur weil sie das Wohnrecht in dieser riesigen Scheune verloren hatte. Sie hatte das Haus immer gehaßt, und sie haßte auch das hektische Leben der Stadt Rom. Sie nickte dem Sklaven zu, der an der Wand vor ihrem Zimmer stand. »Hole mir sofort den Verwalter«, befahl sie. Der Verwalter war ein majestätischer Grieche aus Korinth. Er hatte es geschafft, eine gute Ausbildung zu bekommen, und hatte sich dann selbst in die Sklaverei verkauft, in der Hoffnung, reich und irgendwann römischer Bürger zu werden. »Strophantes, der Herr will sich von mir trennen«, sagte sie ohne Schamgefühle, denn sie empfand keine Scham. »Ich muß bis übermorgen früh ausziehen. Du wirst das Packen übernehmen.« Der Verwalter zeigte nicht, wie erstaunt er war, sondern verneigte sich lediglich. Er hatte nicht erwartet, daß diese Ehe durch etwas anderes als den Tod geschieden würde, denn sie war eher von einer dumpfen Erstarrung gekennzeichnet gewesen als von jenem bitteren Kampf, der gewöhnlich zu Scheidungen führte. »Welche Diener willst du mitnehmen, domina?« fragte er. Er war sicher, daß er im Hause bleiben würde, denn er gehörte Gaius Marius, nicht Grania. 104
»Den Koch auf jeden Fall. Und das gesamte Küchenpersonal, sonst wäre der Koch unglücklich. Dann meine Dienerinnen, meine Schneiderin, meine Friseuse, meine Badesklaven und meine beiden Leibsklaven.« Sonst fiel ihr niemand ein, den sie brauchte und den sie mochte. »Gewiß, domina.« Strophantes ging. Er konnte es kaum erwarten, der übrigen Dienerschaft die Neuigkeit mitzuteilen. Ganz besonders freute er sich auf das Gesicht des Kochs, wenn er erfuhr, daß er ausziehen mußte. Diesem eingebildeten Meister der Töpfe würde es ganz bestimmt nicht gefallen, daß er Rom gegen Puteoli eintauschen sollte! Grania betrat ihr geräumiges Zimmer und blickte sich in dem vertrauten Durcheinander um, sah ihre Farben und ihren Nähkasten und die mit Nägeln besetzte Truhe, in der sich die Babyausstattung befand, die sie so hoffnungsvoll zusammengetragen und dann nie benutzt hatte. Da Römerinnen ihre Möbel weder selbst auswählten noch kauften, würde Marius ihr nichts mitgeben. Ihre Augen hellten sich ein wenig auf, die Tränen versiegten. Gleich morgen würde sie Möbel für ihre neue Villa kaufen gehen! Wie angenehm es war, daß endlich sie auswählen konnte, was ihr gefiel! Morgen würde also ein geschäftiger Tag werden, keine Zeit für Gedanken, keine leeren, traurigen Stunden. »Berenice!« Als das Mädchen erschien, sagte Grania: »Ich werde jetzt essen. Sag bitte in der Küche Bescheid.« In dem Durcheinander auf ihrem Arbeitstisch fand sie ein Stück Papier, nach dem Essen wollte sie darauf ihre Einkaufsliste zusammenstellen. Marius hatte doch noch etwas anderes erwähnt — ja, richtig: der kleine Schoßhund. Morgen würde sie einen kleinen Schoßhund kaufen; er würde ganz oben auf ihrer Liste stehen. Granias Euphorie hielt an, bis sie ihre einsame Mahlzeit fast beendet hatte. Dann schlug der Schock in Trauer um. Sie fuhr sich mit den Händen in die Haare und zerrte und zog wie wild daran. Ihr Mund öffnete sich zu einem langen, schrillen Heulen, die Tränen brachen in Strömen hervor. Die Diener entfernten sich. 105
Einsam heulte sie im Eßzimmer in den golden und purpurrot gewirkten Bezug ihres Sofas. »Hör dir das an!« sagte der Koch in der Küche bitter. Er war dabei, seine verschiedenen Pfannen, Töpfe und Küchengerate einzupacken. »Warum heult sie denn? Eigentlich muß doch ich ins Exil — sie lebt doch schon seit Jahren im Exil, die blöde alte Kuh!«
Am Neujahrstag wurde die römische Provinz Africa durch ein Dokument der Statthalterschaft des Konsuls Spurius Postumius Albinus unterstellt. Kaum vierundzwanzig Stunden später ergriff Postumius erstmals öffentlich für den Prinzen Massiva von Numidien Partei. Spurius Albinus hatte einen zehn Jahre jüngeren Bruder mit Namen Aulus Albinus, der seit kurzem dem Senat angehörte und begierig war, sich einen Namen zu machen. Während sich Spurius Albinus eifrig für seinen neuen Klienten Prinz Massiva einsetzte, wurde Aulus Albinus damit beauftragt, Prinz Massiva in der Stadt herumzuführen und allen bedeutenden Römern vorzustellen. Wie die meisten Mitglieder des numidischen Königshauses war auch Massiva ein wohlproportionierter, gutaussehender Semit, der sehr charmant sein konnte und großzügig mit Geschenken war. Am Ende der ersten Woche des neuen Jahres trug Aulus Albinus dem Senat offiziell den Fall des Prinzen Massiva vor und forderte in dessen Namen den numidischen Thron für den legitimen Zweig der Familie. Es war Aulus Albinus’ Jungfernrede, und es war eine gelungene Rede. Marcus Aemilius Scaurus befürwortete Massivas Anliegen. Dies, sagte er, sei die Antwort auf die lästige Frage, was man mit Numidien anfangen solle. Das Land könne wieder auf den rechten Weg gebracht werden, wenn man dort einen rechtmäßigen König einsetze. Als Spurius Albinus die Sitzung beendete, schien der Senat entschlossen, den herrschenden König abzusetzen und an seiner Stelle Massiva anzuerkennen. »Das Wasser steht uns bis zum Hals«, sagte Bomilkar zu Jugurtha. 106
»Plötzlich werde ich nicht mehr zum Essen eingeladen, und unsere Agenten finden niemanden mehr, der ihnen auch nur zuhören will.« »Wann findet die Abstimmung im Senat statt?« fragte der König. Seine Stimme klang ruhig und gelassen. »Die nächste Sitzung soll am vierzehnten Tag vor den Kalenden des Februars stattfinden — morgen in sieben Tagen.« Der König richtete sich auf. »Sie werden gegen mich stimmen, nicht wahr?« »Ja, Herr«, sagte Bomilkar. »In diesem Fall ist es zwecklos, daß ich weiter versuche, mein Anliegen auf die römische Art durchzusetzen.« Jugurtha schien auf einmal zu wachsen, und eine furchteinflößende Majestät ging von ihm aus. »Von jetzt ab handle ich auf meine Weise — auf numidische Weise.« Der Regen hatte aufgehört, eine kalte Sonne schien. Jugurthas Körper verlangte nach den wärmeren Winden Numidiens, nach der freundlichen und uneigennützigen Geborgenheit seines Harems, doch sein Verstand verlangte nach der rücksichtslosen Logik numidischen Handelns. Ruhelos schritt er den Säulengang auf und ab, der den riesigen Garten umgab. Dann winkte er Bomilkar zu sich und trat mit ihm zu dem laut plätschernden Brunnen in der Mitte des Gartens. »Hier kann uns nicht einmal ein Vogel hören«, sagte er. Bomilkar erstarrte und wappnete sich innerlich. »Massiva muß verschwinden«, sagte der König. »Hier? Mitten in Rom?« »Ja, und zwar innerhalb von sieben Tagen. Wenn Massiva tot ist, kann es keine Abstimmung geben. Wir würden Zeit gewinnen.« »Ich selbst werde ihn töten«, sagte Bomilkar. Jugurtha schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein! Der Attentäter muß ein Römer sein. Deine Aufgabe ist es, einen Römer zu finden, der die Sache für uns erledigt.« Bomilkar starrte den König entsetzt an. »Mein Herr und König, 107
wir sind in einem fremden Land! Wir wissen nicht, wo und wie so etwas zu tun ist, und schon gar nicht, wer es tun könnte!« »Frage einen unserer Agenten. Einem können wir doch wohl vertrauen.« Bomilkar dachte nach. »Agelastus«, sagte er schließlich. »Marcus Servilius Agelastus, der Mann, der nie lächelt. Sein Vater ist Römer. Marcus ist hier geboren und aufgewachsen, aber mit dem Herzen hängt er an seiner numidischen Mutter, da bin ich ganz sicher.« »Ich überlasse alles dir. Handle!« Der König entfernte sich über den Gartenpfad.
Agelastus war entsetzt. »Hier? In Rom?« »Nicht nur hier, sondern auch innerhalb der nächsten sieben Tage«, sagte Bomilkar. »Wenn der Senat zugunsten von Massiva abstimmt — und das wird er sicherlich —, bricht in Numidien der Bürgerkrieg aus.« »Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wo ich einen Attentäter finden kann!« »Dann mach es selbst.« »Das kann ich nicht!« jammerte Agelastus. »Es muß sein!« beharrte Bomilkar. »In einer so großen Stadt wie Rom gibt es doch sicher eine Menge Leute, die für gute Bezahlung morden würden!« »Natürlich gibt es sie! Die Hälfte des Mobs wäre bereit dazu. Aber ich habe keine Verbindungen zu diesen Kreisen, ich kenne keine Plebejer! Ich kann mich schließlich nicht an den erstbesten Mann heranmachen, ihm einen Beutel Gold unter die Nase halten und ihn bitten, dafür einen numidischen Prinzen zu töten!« Agelastus stöhnte. »Warum nicht?« fragte Bomilkar. »Er könnte mich beim Stadtprätor anzeigen, deshalb!« »Wenn du ihm zuerst das Gold zeigst, tut er das nicht, das verspreche ich dir! In dieser Stadt hat jeder seinen Preis.« 108
»Das kann schon sein, Herr«, erwiderte Agelastus. »Aber ich habe keine Lust, deine Theorie zu überprüfen.« Und Agelastus blieb bei seiner Weigerung.
Die Subura war der Sumpf von Rom, deshalb machte sich Bomilkar dorthin auf den Weg, unauffällig gekleidet und ohne die Begleitung eines Sklaven. Er war wie jeder andere Besucher Roms gewarnt worden, sich in das Tal nordöstlich des Forum Romanum zu begeben, und jetzt verstand er, warum. Die Straßen der Subura waren nicht enger als die auf dem Palatin, und die Gebäude waren auch nicht so bedrückend hoch wie auf dem Viminal und dem oberen Esquilin. Nein, was dem Neukömmling in der Subura auffiel, waren die Menschen, mehr Menschen, als Bomilkar jemals gesehen hatte. Sie lehnten aus tausend Fenstern und schrieen einander zu, sie schoben sich in einer so dichten Masse von Körpern durch die Gassen, daß man nur noch im Schneckentempo vorankam, sie spuckten und pißten und begannen Streit mit jedem, der sie nur schräg ansah. Der zweite Eindruck war ein alles beherrschender Geruch, ein entsetzlicher Gestank. Schmutz und Gestank bedrängten Bomilkar auf seinem Weg vom zivilisierten Argiletum zu den Fauces Suburae, dem ersten Abschnitt der Hauptstraße. Warum hatte man letztes Jahr nicht den ganzen Bezirk einfach abbrennen lassen, statt so sehr um seine Rettung zu kämpfen? Nichts und niemand in der Subura war es wert, gerettet zu werden! Immer tiefer drang er in das Gewirr der Gassen ein. Seine Abscheu wurde immer mehr zu Staunen, denn nun erkannte er die Vitalität der Einwohner und begegnete einer Fröhlichkeit, die sein Begriffsvermögen überstieg. Die Sprache, die er vernahm, war ein bizarres Kauderwelsch aus Latein, Griechisch und einigen Wörtern Aramäisch, ein Jargon, den wahrscheinlich niemand verstand, der nicht in der Subura lebte. Bomilkar jedenfalls, der das übrige Rom ausgiebig durchstreift hatte, konnte sich an nichts Vergleichbares erinnern. 109
Überall gab es Läden, kleine Imbißstuben, die offenbar florierten — es schien genügend Geld im Umlauf. Dazwischen sah er Bäckereien, Metzgereien, Weinstuben und andere kleine Geschäfte, in denen alle möglichen Artikel verkauft wurden — vom Garn über Kochtöpfe und Lampen bis hin zu Talgkerzen. Es gab auch Fabriken. Bomilkar hörte Pressen stampfen, Mühlräder knirschen und Webstühle klappern, und der Lärm der Fabriken vermischte sich mit weiteren Geräuschen, die aus dem unergründlichen Gewirr dunkler Nebengassen und vielstöckiger Wohngebäude drangen. Wie konnten Menschen inmitten dieses Getümmels leben? Auch die kleinen Plätze an den größeren Kreuzungen waren dicht mit Menschen besetzt. Bomilkar bemerkte erstaunt, daß sie es sogar schafften, in den Brunnen ihre Wäsche zu waschen oder Wassereimer nach Hause zu schleppen. Anderswo sah er freilich auch Männer tatenlos herumsitzen, trinken und sich die Zeit vertreiben. Solche Orte schienen hauptsächlich an den großen Durchgangsstraßen zu liegen, aber er war sich nicht ganz sicher, da er nicht wagte, die Hauptstraße zu verlassen. In den düsteren Höhlen der Tavernen an den Kreuzungen herrschte relative Ruhe. Bomilkar war ein großer, kräftiger Mann, und er erkannte, daß er sich in eine Taverne wagen mußte, wenn er weiterkommen wollte. Schließlich war er in die Subura gekommen, um einen römischen Attentäter zu finden, und das hieß, daß er mit Einheimischen ins Gespräch kommen mußte. Er bog von der Subura Major in den Vicus Patricii ein, eine Hauptstraße, die zum Viminal führte, und fand eine Taverne an einem dreieckigen Platz, an dem die Subura Minor und der Vicus Patricii zusammenliefen. Die Tür war so niedrig, daß er den Kopf einziehen mußte. Als er eintrat, drehten sich alle Anwesenden nach ihm um. Es befanden sich ungefähr fünfzig Personen in dem Raum. Das Stimmengewirr verstummte. »Entschuldigt bitte«, sagte Bomilkar. Ohne sich seine Nervosität anmerken zu lassen, blickte er sich um. Wer führte hier wohl das Kommando? Nach der ersten Überraschung über das Auftau110
chen des Fremden schauten alle auf einen Mann in der linken hinteren Ecke, der aussah wie ein Anführer. Er hatte ein eher römisches als griechisches Gesicht, war klein und ungefähr fünfunddreißig Jahre alt. Bomilkar musterte ihn. Da er kein Latein konnte, mußte er sich mit Griechisch behelfen. »Entschuldigt bitte«, wiederholte er. »Ich hoffe, ich störe hier nicht. Ich suche nach einer Taverne, in der ich mich ein wenig ausruhen und einen Becher Wein bekommen kann. Gehen macht durstig.« »Das hier ist ein privater Verein, Freund«, sagte der Anführer in fürchterlich gebrochenem, aber gerade noch verständlichem Griechisch. »Gibt es keine öffentlichen Tavernen?« fragte Bomilkar. »Nicht in der Subura, Freund. Du bist hier am falschen Ort. Geh zur Via Nova zurück.« »Ich kenne die Via Nova, aber ich bin fremd in Rom. Ich denke immer, daß ich eine Stadt erst richtig kenne, wenn ich in dem Viertel war, das am dichtesten bevölkert ist.« Bomilkar versuchte, einfältig wie ein Tourist und unwissend wie ein Fremder zu erscheinen. Der Anführer betrachtete ihn mit schlauer Berechnung von oben bis unten. »Du bist also so durstig wie wir, Freund?« Bomilkar griff das Stichwort dankbar auf. »Durstig genug, um eine Runde auszugeben.« Der Anführer stieß den neben ihm sitzenden Mann vom Stuhl und schlug mit der Hand darauf. »Wenn meine ehrbaren Kumpel einverstanden sind, ernennen wir dich vielleicht zum Ehrenmitglied.« Er blickte sich um. »Wer damit einverstanden ist, daß dieser Herr Ehrenmitglied wird, sagt ja.« »Ja!« tönte es im Chor. Bomilkar sah weder eine Theke noch einen Wirt. Er atmete tief ein und warf seine Börse auf den Tisch, so daß ein paar silberne Denare herausrollten. Entweder würden sie ihn jetzt töten und sein Geld nehmen, oder er war tatsächlich Ehrenmitglied geworden. »Darf ich?« fragte er den Anführer. 111
»Bromidus, hol eine schöne, große Flasche für den Herrn und die Mitglieder«, sagte der Anführer zu dem Mann, den er vom Stuhl gestoßen hatte. »Unsere Weinstube ist gleich nebenan«, erklärte er. Bomilkar nahm noch ein paar Denare aus der Börse. »Ist das genug?« »Für eine Runde ist es genug, Freund.« Bomilkar schüttelte noch einige Münzen auf den Tisch. »Wie wär’s gleich mit mehreren Runden?« Ein allgemeines Aufseufzen war zu vernehmen. Bromidus nahm das Geld und verschwand durch die Tür. Drei eifrige Helfer folgten ihm. Bomilkar streckte dem Anführer sein Hand hin. »Ich heiße Juba«, sagte er. »Lucius Decumius«, stellte sich der Anführer vor und schüttelte kräftig die dargebotene Hand. »Juba! Was für ein Name ist das denn?« »Mauretanisch. Ich komme aus Mauretanien.« »Maure-was? Wo ist das?« »In Africa.« »Africa?« Wenn Bomilkar das sagenhafte Land der Hyperboreer genannt hätte, hätte das Decumius Lucius ebensoviel — oder ebensowenig — bedeutet. »Das ist weit weg von Rom«, erklärte das neue Ehrenmitglied. »Westlich von Karthago.« »Ach, Karthago! Warum sagst du das nicht gleich?« Lucius Decumius starrte das Gesicht dieses interessanten Fremden an. »Ich habe nicht gewußt, daß Scipio Aemilianus einen von euch am Leben gelassen hat.« »Hat er auch nicht. Mauretanien ist nicht Karthago, sondern liegt weiter westlich«, erklärte Bomilkar geduldig. »Was früher Karthago hieß, ist jetzt die Römische Provinz Africa. Dorthin geht der diesjährige Konsul — du weißt, Spurius Postumius Albinus.« Lucius Decumius zuckte die Schultern. »Konsul? Die kommen und gehen, Freund. In der Subura macht das keinen Unterschied, sie leben nicht hier, verstehst du. Solange du zugibst, daß Rom die 112
Welt beherrscht, Freund, bist du hier in der Subura willkommen. Das gilt auch für die Konsuln.« »Glaub mir, ich weiß, daß Rom über die Welt herrscht«, sagte Bomilkar im Brustton der Überzeugung. »Mein Herr — König Bocchus von Mauretanien — hat mich nach Rom geschickt. Ich soll den Senat bitten, ihn zum Freund und Verbündeten des Volkes von Rom zu ernennen.« In diesem Moment kam Bromidus mit einem riesigen Krug zurück, gefolgt von seinen drei Helfern, die ebenfalls große Krüge trugen. Sie machten sich sogleich daran, den Inhalt unter den Anwesenden zu verteilen, und bald stand ein randvoll gefüllter Becher vor Bomilkar. Er hob ihn hoch und brachte einen Trinkspruch aus: »Für die besten Freunde, die ich bisher in Rom gefunden habe.« Dann schüttete er den furchtbaren Rebensaft hinunter. Oh ihr Götter! Die Eingeweide dieser Männer mußten aus Stahl sein. »Auf dein Wohl, Juba, alter Freund!« sagte Decumius. »Juba!« brüllten die anderen im Chor. Sie waren in guter Stimmung. In der nächsten halben Stunde erfuhr Bomilkar mehr über das plebejische Rom, als er sich je hätte träumen lassen. Alle Mitglieder des Vereins waren Arbeiter. Einige von ihnen, ungefähr ein Viertel, trugen kleine, konische Kappen auf dem Hinterkopf, die sie als Freigelassene kennzeichneten. Bomilkar erfuhr zu seinem Erstaunen, daß einige der übrigen Männer noch immer Sklaven waren, obwohl sie den anderen gleichgestellt schienen, dieselben Arbeiten verrichteten, denselben Lohn erhielten und dieselbe Arbeitszeit und Freizeit hatten. Er begann den Unterschied zwischen einem Sklaven und einem Freien zu verstehen: Ein freier Mann konnte gehen, wohin er wollte, und Wohnung und Arbeit frei wählen. Ein Sklave hingegen gehörte seinem Besitzer, war dessen Eigentum, konnte also sein eigenes Leben nicht bestimmen. Das war ganz anders als die Sklaverei in Numidien. Lucius Decumius arbeitete, anders als die übrigen Mitglieder, nur für den Verein. 113
»Ich bin der Vereinsvorsteher«, sagte er, noch immer genauso nüchtern wie beim ersten Schluck. »Was für ein Verein ist das hier eigentlich?« fragte Bomilkar, der versuchte, seinen Becher so langsam wie möglich zu leeren. »Klar, daß du das nicht weißt«, sagte Lucius Decumius. »Wir sind ein Kreuzwegverein. Eine richtige Bruderschaft, eigentlich sogar eine Art Schule. Wir sind bei den Ädilen und beim Stadtprätor registriert, und der Pontifex Maximus hat uns seinen Segen gegeben. Vereine an Straßenkreuzungen gab es schon zu Zeiten der Könige, bevor Rom eine Republik wurde. Heute ist an den Kreuzungen wichtiger Straßen viel los. An richtigen compita, meine ich, nicht an kleinen Nebensträßchen und Gassen. Ja, an den Kreuzungen ist viel los. Stell dir mal vor, du bist ein Gott und schaust auf Rom herunter. Da müßtest du doch auch überlegen, wohin du nun deinen Blitz schleudern willst. Von oben ist Rom ein großer Haufen roter Dächer, die so eng beieinanderliegen wie Mosaiksteinchen. Aber wenn du genau hinschaust, siehst du die freien Stellen, wo sich die großen Straßen kreuzen. Das sind die compita, wie wir hier draußen eine haben. Wenn du ein Gott wärst, würdest du deinen Blitz wahrscheinlich genau dorthin schleudern, stimmt’s? Nur — wir Römer sind klug. Die Könige haben gemerkt, daß wir uns an den Kreuzwegen ganz besonders schützen müssen. Deshalb wurden sie unter den Schutz der Laren gestellt. An jedem Kreuzweg hat man Schreine für sie gebaut, noch bevor es die Brunnen gab. Hast du den Schrein draußen an der Wand des Vereinshauses nicht gesehen? Das kleine, einfache Türmchen?« »Doch ich habe es gesehen.« Bomilkar war inzwischen ganz verwirrt. »Wer sind diese Laren? Wie viele gibt es denn davon?« »Oh, Laren gibt es überall — Hunderte, Tausende«, sagte Decumius vage. »Rom ist voll von Laren. Italien auch, sagen manche, aber ich war noch nie in Italien. Hier sind sie jedenfalls überall, wo man sie braucht, und wir, die Vereine an den Kreuzwegen, kümmern uns um sie. Wir halten den Schrein in Ordnung und sorgen für die Opfergaben, wir reinigen den Brunnen, wir schie114
ben zerbrochene Wagen weg und beseitigen die Kadaver, meistens Tiere, und schaffen den Schutt weg, wenn ein Haus einstürzt. Und an Neujahr feiern wir ein großes Larenfest, die compitalia. Das letzte Fest war erst vor ein paar Tagen, deshalb haben wir jetzt kein Geld mehr für Wein. Wir haben alles ausgegeben. Es dauert eine Welle, bis wir wieder etwas zusammengespart haben.« »Jetzt wird mir vieles klar«, sagte Bomilkar, dem allerdings nichts klar wurde, denn die alten römischen Götter stellten für ihn ein unlösbares Rätsel dar. »Müßt ihr das Fest ganz allein bezahlen?« »Ja und nein«, sagte Lucius Decumius. »Der Stadtprätor gibt uns ein wenig Geld, genug für ein paar Spanferkel — je nachdem, wer gerade Stadtprätor ist. Manche sind sehr großzügig, andere sind so geizig, daß sie nicht mal ihre Scheiße umsonst stinken lassen wollen.« Dann wandte sich das Gespräch dem Leben in Karthago zu. Es war unmöglich, den neugierigen Fragern klarzumachen, daß es in Africa noch andere Orte außer Karthago gab. Ihr Wissen über Geschichte und Geographie schien sich auf das zu beschränken, was sie bei ihren gelegentlichen Besuchen auf dem Forum Romanum hörten, und das Forum Romanum suchten sie höchstens dann auf, wenn politische Unruhen eine Zirkusatmosphäre erwarten ließen. Ihr Bild von Roms politischem Leben war deshalb ziemlich einseitig. Der Höhepunkt schienen die Ereignisse gewesen zu sein, die Gaius Sempronius Gracchus das Leben gekostet hatten. Bomilkar hielt den richtigen Moment für gekommen. Die Mitglieder des Vereins hatten sich so an seine Gegenwart gewöhnt, daß sie ihn kaum mehr bemerkten, außerdem hatten sie zuviel Wein getrunken. Nur Lucius Decumius war noch immer nüchtern und hielt die wachen, neugierigen Augen ständig auf Bomilkar gerichtet. Sicher kein Zufall, daß sich dieser Juba hier mit dem Mob an einen Tisch setzte. Der führte etwas im Schilde. »Lucius Decumius«, sagte Bomilkar und beugte sich so nahe zu dem Römer, daß nur er ihn verstehen konnte. »Ich bin in Schwie115
rigkeiten. Ich hoffe, du kannst mir sagen, wie ich sie lösen soll.« »Ja, mein Freund?« »Mein Herr, König Bocchus, ist sehr reich.« »Wenn er ein König ist, muß er ja wohl reich sein.« »Aber er weiß nicht, wie lange er noch König bleiben wird«, sagte Bomilkar langsam. »Das ist sein Problem.« »Und das ist auch dein Problem, Freund?« »Richtig.« »Und wie kann ich dir helfen?« Decumius fischte eine Zwiebel aus der Schale mit eingelegtem Gemüse, die auf dem Tisch stand, und begann nachdenklich zu kauen. »In Africa wäre die Lösung einfach. Der König gibt einen Befehl, und der Mann, der das Problem darstellt, wird beseitigt.« Bomilkar verstummte. Jetzt mußte Decumius doch endlich begreifen. »Aha! Das Problem hat also einen Namen?« »Richtig. Massiva.« »Hört sich jedenfalls mehr wie ein lateinischer Name an als Juba«, sagte Decumius. »Massiva ist Numider, nicht Mauretanier.« Bomilkar rührte mit einem Finger im Bodensatz seines Weins herum. »Die Schwierigkeit ist nur, daß Massiva hier in Rom lebt. Und uns Ärger macht.« »Ich verstehe, warum Rom die Sache schwierig macht«, sagte Decumius mehrdeutig. Bomilkar sah den kleinen Mann verblüfft an. Offenbar verfügte er über einen scharfen Verstand. Bomilkar holte tief Luft. »Für mich ist die Sache besonders gefährlich, weil ich in Rom fremd bin«, sagte er. »Aber ich muß einen Römer finden, der Prinz Massiva töten wird. Hier. In Rom.« Lucius Decumius zuckte mit keiner Wimper. »Das ist nicht weiter schwer.« »Nicht schwer?« »Nein. Für Geld bekommst du in Rom alles, Freund.« »Dann kannst du mir sagen, wohin ich mich wenden soll?« »Du brauchst nicht weiter zu suchen, Freund.« Decumius 116
schluckte das letzte Stück Zwiebel hinunter. »Ich würde dem halben Senat die Kehlen durchschneiden, wenn ich dafür statt Zwiebeln Austern zu essen bekäme. Wieviel bringt die Sache denn ungefähr?« »Wie viele Denare sind in dieser Börse?« Bomilkar leerte sie auf dem Tisch aus. »Nicht genug.« »Wie wär’s mit der gleichen Zahl Münzen in Gold?« Decumius schlug sich klatschend auf die Schenkel. »Jetzt kommen wir der Sache näher! Du hast deinen Partner gefunden, Freund.« Bomilkars Gehirn raste, jedoch nicht wegen des Weins. Den hatte er in der letzten halben Stunde heimlich auf den Boden geschüttet. »Die Hälfte morgen, die andere Hälfte, wenn der Auftrag ausgeführt ist«, sagte er und wollte die Münzen in die Börse zurückschieben. Doch eine fleckige Hand mit schmutzigen Nägeln hielt ihn mitten in der Bewegung fest. »Laß das Geld als Vertrauensbeweis hier, Freund. Und komm morgen wieder. Aber warte draußen beim Schrein auf mich. Wir reden dann in meiner Wohnung darüber.« Bomilkar erhob sich. »Ich werde kommen, Lucius.« Auf dem Weg zur Tür blieb er stehen und starrte in das unrasierte Gesicht des Vereinsvorstehers. »Hast du schon einmal getötet?« Decumius legte den rechten Zeigefinger an den rechten Nasenflügel. »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, Freund. In der Subura gibt es keine Aufschneider.« Bomilkar lächelte Decumius zufrieden an und trat in das Menschengewühl der Subura Minor hinaus.
Marcus Livius Drusus feierte seinen Triumph in der Mitte der zweiten Januarwoche. Er war zwei Jahre zuvor Konsul gewesen und zum Statthalter der Provinz Makedonien ernannt worden. Glücklicherweise war seine Statthalterschaft verlängert worden, so daß er einen sehr erfolgreichen Krieg gegen die Skordisker 117
führen konnte, einen geschickten und gut organisierten Keltenstamm, der ständig das römische Makedonien heimsuchte. Es gelang Drusus, einen wichtigen Stützpunkt der Skordisker zu erobern, und dort fand er in einem Versteck einen großen Teil des Skordiskerschatzes. Zwar konnten die meisten Statthalter von Makedonien am Ende ihrer Amtsperiode Triumphe feiern, aber man war sich einig, daß Marcus Livius Drusus diese Ehre mehr verdient hatte als die meisten anderen. Prinz Massiva war bei den Feierlichkeiten Gast des Konsuls Spurius Postumius Albinus, deshalb wurde ihm im Circus Maximus ein besonders guter Platz zugewiesen, von dem aus er den langen Triumphzug auf seinem Weg durch den Circus verfolgen konnte. Was er sah, versetzte ihn in Erstaunen, obwohl er schon oft gehört hatte, daß die Römer die Kunst spektakulärer Inszenierungen besser als jedes andere Volk beherrschten. Sein Griechisch war natürlich hervorragend, und er hatte alles verstanden, was man ihm vor dem Triumphzug mitgeteilt hatte. Vom Circus Maximus aus eilten Spurius Albinus und seine Gäste zum Dioskurentempel auf dem Forum Romanum. Die beiden Konsuln und ihre Gäste sollten auf einer Plattform am oberen Ende der Treppe dieses eindrucksvollen Gebäudes sitzen, um von hier den Triumphzug entlang der Via Sacra von der Vella bis hinauf zum Kapitol zu verfolgen. Um den Triumphator nicht zu beleidigen, mußten sie ihre Plätze einnehmen, bevor der Zug ankam. »Die anderen Magistrate und Senatoren gehen an der Spitze des Zuges«, hatte Spurius Albinus Prinz Massiva erklärt. »Auch die Konsuln des jeweiligen Jahres werden formell eingeladen, am Zug teilzunehmen. Sie werden auch zu dem Fest eingeladen, das der Triumphator danach für den Senat im Tempel des Jupiter Optimus Maximus veranstaltet. Aber es gehört sich nicht, daß sie die Einladungen annehmen. Dies ist der große Tag des Triumphators, er soll die wichtigste Person der Feierlichkeiten mit den meisten Liktoren sein. Deshalb verfolgen die Konsuln die Feierlichkeiten von dieser Tribüne aus. Der Triumphator grüßt sie, 118
wenn er vorbeizieht — doch sie stellen ihn nicht in den Schatten.« Der Prinz hatte erkennen lassen, daß er verstanden hatte, obwohl er alles sehr verwirrend fand. Im Unterschied zu Jugurtha hatte er keine Erfahrung im Umgang mit Römern. Als die Konsuln und ihre Gäste an der Stelle anlangten, wo die lange Treppe zum Vestatempel die Via Nova kreuzte, fanden sie ihren Weg durch eine große Menschenmenge versperrt. Hunderttausende von Römern wollten den Triumphzug des Drusus sehen, und die Liktoren hatten Schwierigkeiten, den Ehrengästen den Weg zu bahnen. Bis sie beim Tempel des Castor und Pollux ankamen, hatte sich die Gruppe buchstäblich aufgelöst. Prinz Massiva, der von seinen Leibwächtern begleitet wurde, war so weit zurückgefallen, daß er den Kontakt mit dem Rest der Gruppe völlig verloren hatte. Massiva war daran gewöhnt, als Hoheit behandelt zu werden, und das grobe, respektlose Benehmen der Menschenmenge machte ihn wütend. Seine Leibwächter wurden beiseite gedrängt, so daß er sie für kurze Zeit aus den Augen verlor. Auf diesen Augenblick hatte Lucius Decumius gewartet. Er handelte mit absoluter Präzision — schnell, gezielt und für Massiva völlig überraschend. Als die Menge Decumius gegen Prinz Massiva drückte, stieß er seinen scharfen Dolch in die linke Seite des königlichen Brustkorbs und drehte ihn mit einer brutalen Bewegung aufwärts. Er ließ den Griff sofort los, als er spürte, daß die Klinge bis zum Heft im Körper des Prinzen steckte. Noch bevor das Blut herausschießen oder der Prinz aufschreien konnte, hatte Decumius bereits ein Dutzend Menschen zwischen sich und sein Opfer gebracht. Doch Prinz Massiva schrie nicht auf, er fiel auf der Stelle um. Als seine Leibwächter zu ihm vorgedrungen waren, eilte Decumius schon über das untere Forum zum sicheren Hafen des Argiletum. Volle zehn Minuten vergingen, bis jemand auf den Gedanken kam, Spurius Albinus und seinen Bruder Aulus zu benachrichtigen, die bereits auf dem Podium des Tempels ihre Plätze eingenommen hatten. Liktoren sperrten den Tatort ab, die Menge wurde 119
zurückgedrängt. Spurius und Aulus Albinus blickten erschrocken auf den ermordeten Prinzen, dessen Tod ihre Pläne durchkreuzt hatte. »Das muß jetzt warten«, sagte Spurius schließlich. »Es wäre beleidigend für Marcus Livius Drusus, wenn wir seinen Triumph störten.« Die Leibwache des Prinzen bestand aus angeheuerten römischen Gladiatoren. Spurius wandte sich an ihren Anführer und befahl: »Tragt Prinz Massiva in sein Haus und wartet dort auf mich.« Aulus reagierte auf das Unglück nicht so phlegmatisch wie sein Bruder. »Jugurtha!« zischte er. »Jugurtha hat es getan!« »Das wirst du niemals beweisen können«, seufzte Spurius. Sie stiegen die Treppen zum Tempel des Castor und Pollux wieder hinauf und nahmen ihre Sitze in dem Moment ein, als die ersten Magistrate und Senatoren auftauchten. Langsam kam die Prozession hinter dem mächtigen Bau des Domus Publicus hervor, in dem die Vestalinnen und der Pontifex Maximus wohnten, um dann majestätisch hangabwärts zu jener Stelle zu ziehen, an der die Via Sacra neben dem Rund des Comitiums endete. Spurius und Aulus Albinus beobachteten den Triumphzug, als hätten sie an nichts anderes zu denken als an das prächtige Schauspiel zu Ehren des Marcus Livius Drusus.
Bomilkar und Lucius Decumius trafen sich ganz offen und deshalb um so unauffälliger. Sie standen nebeneinander an der Theke einer belebten Imbißstube an der oberen Ecke des Großen Marktplatzes und bestellten mit Knoblauchwurst gefüllte Pasteten. »Genau der richtige Tag für so etwas, Freund«, sagte Lucius Decumius. Bomilkar atmete tief ein. Er trug einen Mantel mit Kapuze, der ihn fast völlig verbarg. »Ich hoffe, der Tag bleibt so schön«, sagte er. »Ich versichere dir, der heutige Tag wird so schön enden, wie er angefangen hat, Freund«, sagte Lucius Decumius zufrieden. 120
Bomilkar tastete unter seinem Mantel nach der Börse. »Bist du sicher?« »Genau so sicher, wie ich weiß, daß mein Schuh stinkt, wenn ich in Kot trete.« Der Beutel Gold ging unsichtbar von einer Hand zur anderen. Erleichtert verabschiedete sich Bomilkar. »Ich danke dir, Lucius Decumius.« »Keine Ursache, Freund, das Vergnügen war ganz meinerseits!« Lucius Decumius blieb an der Theke stehen und aß genußvoll seine Pastete zu Ende. »Austern statt Zwiebeln«, sagte er laut. Bomilkar verließ das Viertel durch das Fontinalis-Tor und erreichte den Campus Martius. Er kam jetzt schneller voran, weil sich die Menge zerstreute. Er betrat Jugurthas Villa durch die Vordertür, ohne jemandem zu begegnen. Erleichtert warf er den Mantel ab. Der König war heute besonders großzügig gewesen und hatte allen Sklaven im Haus freigegeben, damit sie den Triumphzug des Drusus ansehen konnten. Außer den numidischen Dienern und Leibwächtern, die dem König in fanatischer Treue ergeben waren, befand sich also niemand im Haus. Jugurtha saß wie gewöhnlich in der Loggia im Obergeschoß. »Die Sache ist erledigt«, sagte Bomilkar. Der König ergriff Bomilkars Arm und drückte ihn. »Gut gemacht!«sagte er lächelnd. »Ich bin froh, daß es so glatt ablief«, sagte Bomilkar. »Ist er wirklich tot?« »Der Attentäter hat mir versichert, daß er tot ist — so gewiß, wie er weiß, daß sein Schuh stinkt, wenn er in Kot getreten ist.« Bomilkar wollte sich auf einmal ausschütten vor Lachen. Jugurtha atmete auf. »Sobald wir bestätigt bekommen, daß mein lieber Vetter Massiva tot ist, werden wir unsere Agenten zu einer Besprechung zusammenrufen. Wir müssen den Senat dazu bringen, daß er mein Recht auf den Thron anerkennt und daß wir nach Hause dürfen.« Er verzog das Gesicht. »Ich darf natürlich nicht vergessen, daß ich auch noch mit meinem ewig kränkelnden, geliebten Halbbruder Gauda fertig werden muß.« 121
Einer fehlte, als Jugurtha seine Agenten in seiner Villa zusammenrief. Als Marcus Servilius Agelastus von der Ermordung des Prinzen Massiva erfuhr, bat er den Konsul Spurius Albinus um eine Unterredung. Der Konsul ließ ihm durch einen Sekretär mitteilen, er sei zu beschäftigt, doch Agelastus beharrte auf seinem Wunsch, bis der Sekretär ihn zum jüngeren Bruder des Konsuls schickte. Aulus reagierte erregt auf das, was Agelastus zu sagen hatte. Spurius Albinus wurde gerufen, hörte sich gleichmütig Agelastus’ Aussage an, dankte ihm, notierte sich seine Adresse, ließ sich außerdem, um ganz sicher zu gehen, noch eine Anschrift nennen, bei der Nachrichten hinterlegt werden konnten, und verabschiedete Agelastus so freundlich, daß jeder andere Mann mit einem Lächeln auf dem Gesicht gegangen wäre. Doch Agelastus lächelte nie. »Wir müssen den Stadtprätor einschalten. Es muß alles so legal wie möglich ablaufen«, sagte Spurius, als er mit seinem Bruder allein war. »Die Sache ist zu wichtig, um Agelastus als Kläger auftreten zu lassen — das mache ich selbst. Aber er ist für uns von größter Wichtigkeit, weil er der einzige römische Bürger unter Jugurthas Agenten ist. Der Stadtprätor muß dann entscheiden, wie Bomilkar angeklagt werden kann. Zweifellos wird er die Senatsvollversammlung konsultieren und um Anweisung bitten, weil er sich nicht in die Nesseln setzen will, aber ich glaube, ich kann seine Furcht zerstreuen, wenn ich ihm die rechtliche Lage schildere. Das Verbrechen ist ja in Rom von einem Bürger Roms verübt worden. Da brauche ich nur noch darauf hinzuweisen, daß Prinz Massiva der Klient des Konsuls war und unter seinem Schutz stand. Es ist wichtig, daß Bomilkar in Rom und vor einem römischen Gericht angeklagt und verurteilt wird. Du, Aulus, wirst dich bereithalten, als Ankläger aufzutreten. Ich werde dafür sorgen, daß auch der praetor peregrinus konsultiert wird, denn er ist ja normalerweise für Gerichtsverfahren gegen Nichtbürger zuständig. Wir werden verhindern, daß Jugurtha den Senat auf seine 122
Seite zieht — und dann schauen wir uns nach einem anderen Thronanwärter um.« »Wie wäre es mit Prinz Gauda?« »Meinetwegen Prinz Gauda, obwohl er kaum das Zeug dazu hat. Schließlich ist er Jugurthas legitimer Halbbruder. Wir müssen nur dafür sorgen, daß Gauda niemals persönlich nach Rom kommt, um seinen Anspruch anzumelden.« Spurius lächelte Aulus an. »Numidien haben wir noch dieses Jahr in der Hand, das schwöre ich dir!« Jugurtha hatte den Gedanken völlig aufgegeben, nach den römischen Spielregeln zu kämpfen. Als der Stadtprätor mit seinen Liktoren in der Villa auf dem Pincio vorsprach und Bomilkar wegen Verschwörung zum Mord verhaften wollte, war der König einen Augenblick lang versucht, die Auslieferung Bomilkars einfach zu verweigern und abzuwarten, was daraufhin geschehen würde. Dann erklärte er, da weder das Opfer noch der Beschuldigte Bürger Roms seien, habe Rom seiner Meinung nach damit gar nichts zu tun. Der Stadtprätor erwiderte, daß der Senat beschlossen habe, den Beschuldigten vor ein römisches Gericht zu stellen, denn es gebe Beweise, daß der Attentäter römischer Bürger sei. Ein gewisser Marcus Servilius Agelastus, ein römischer Ritter, habe die Beweise geliefert. Er habe geschworen, man habe zuerst ihn gefragt, ob er den Mord begehen könne. »In diesem Fall«, sagte Jugurtha, »kann mein Gefolgsmann nur vom Fremdenprätor verhaftet werden.« »Man hat dich falsch informiert, Herr«, erklärte der Stadtprätor gewandt. »Der Fremdenprätor wird natürlich auch mit dem Fall befaßt werden. Aber die Gewalt des Stadtprätors reicht bis zum fünften Meilenstein vor den Mauern Roms, deine Villa liegt also innerhalb meines Zuständigkeitsbereichs. Ich fordere dich deshalb auf, Bomilkar auszuliefern.« Bomilkar wurde geholt und sofort in die Zellen der Lautumiae verbracht. Jugurtha ließ durch seine Agenten fordern, man möge Bomilkar gegen Kaution entlassen oder ihn zumindest im Haus eines angesehenen Bürgers gefangenhalten. Das wurde abgelehnt. 123
Das jahrhundertealte Gefängnis der Lautumiae bestand aus ungemauerten Steinblöcken und schmiegte sich an den Steilhang oberhalb des Forum Romanum. Die Gefangenen waren in zerfallenen Zellen ohne jegliche Sicherungsmaßnahmen untergebracht und konnten sich innerhalb der Mauern frei bewegen. Nur die Liktoren an den Ausgängen hinderten sie daran, das Gefängnis zu verlassen. Da das Gefängnis meist leerstand, war der Anblick von Liktoren vor den Eingängen eine große Sensation. Bomilkars Gefangennahme verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt — dank der Liktoren, die nur allzu gerne die Neugier der Passanten befriedigten.
Lucius Decumius gehörte zwar dem gemeinen Volk an, doch sein sozialer Status hatte nichts mit seinem Verstand zu tun. Der Posten des Vorstehers eines Kreuzwegvereins stellte einige Ansprüche. Als das Gerücht von Bomilkars Gefangennahme in die Subura drang, zählte Lucius Decumius zwei und zwei zusammen und kam auf vier. Zwar lautete der Name Bomilkar, nicht Juba, und Bomilkar war Numider, nicht Mauretanier, doch Decumius wußte sofort, daß das sein Mann war. Er nahm Bomilkar die List nicht übel, sondern bewunderte ihn eher dafür. Sofort machte er sich auf den Weg zu den Lautumiae. Am Eingang grinste er die beiden Liktoren breit an, die dort Wache standen, und stieß sie mit dem Ellbogen einfach beiseite. »Scheißkerl!« sagte der eine und rieb die schmerzende Stelle. »Selbst einer!« rief Decumius und sprang gewandt hinter eine der halbverfallenen Säulen. Dort wartete er, bis sich die Liktoren wieder beruhigt hatten. Da Rom nicht über militärische oder zivile Vollzugsorgane verfügte, rekrutierte es das Personal für besondere Aufgaben wie die Bewachung der Gefängnisse traditionell aus den Reihen der Liktoren. In Rom gab es insgesamt etwa dreihundert Liktoren, die vom Staat schlecht bezahlt wurden und deshalb von der Großmut der Männer abhingen, denen sie dienten. Liktoren begleiteten alle 124
Magistrate mit imperium. Sie kämpften um die Gelegenheit, mit einem Statthalter ins Ausland zu gehen, da sie dort von den Privilegien und Einkünften des Statthalters profitierten. Liktoren beriefen ferner die Kuriatkomitien ein, zu denen das Volk in dreißig curiae zusammentrat, und sie konnten für den Wachdienst vor der Lautumiae oder dem benachbarten Tullianum eingesetzt werden, wo die zum Tode Verurteilten die kurze Zeit bis zu ihrer Erdrosselung gefangengehalten wurden. Der Wachdienst gehörte zu den unerfreulichsten Aufgaben. Hier waren keine Trinkgelder, keine Bestechungsgelder, überhaupt nichts zu erwarten. Deshalb machte sich keiner der beiden Liktoren die Mühe, Lucius Decumius in das Gebäude hinein zu verfolgen. Ihre Anweisung lautete, den Eingang zu bewachen. Und das war alles, wozu sie bereit waren, beim Jupiter. »Hallo, Freund, wo steckst du?« schrie Decumius. Bomilkar sprang auf, und die Haare auf seinen Armen und seinem Nacken sträubten sich. Also gut, dachte er, das ist das Ende. Wie betäubt wartete er, daß Decumius in Begleitung von Magistraten und anderen Beamten hereingeführt würde. Doch Decumius erschien allein. Als er Bomilkar erblickte, lächelte er ihm unbekümmert zu. In der Mauer hinter Bomilkar befand sich eine Öffnung, die so groß war, daß ein Mann ohne weiteres hindurchklettern konnte. Bomilkar hatte von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht, denn nie wäre ihm eingefallen, die Römer, denen die Idee des Gefängnisses völlig fremd war, könnten ihn in einen Raum sperren, aus dem er jederzeit entkommen konnte. Decumius trat in den türlosen Raum. »Wer hat dich verpfiffen, Freund?« fragte er, während er sich auf einem heruntergefallenen Steinbrocken niederließ. Bomilkar unterdrückte ein Zittern und befeuchtete seine Lippen. »Wenn du mich nicht verpfiffen hast, du Narr, dann hast du es jetzt getan!« fuhr er Decumius an. Decumius starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Dann dämmerte ihm, was Bomilkar meinte. »Aber, aber, mein Freund, keine Sorge«, sagte er beruhigend. »Hier kann uns niemand hören, 125
nur die zwei Liktoren am Eingang, und die sind zwanzig Schritt weit weg. Ich habe gehört, daß man dich verhaftet hat, und da dachte ich mir, ich frage besser nach, was schiefgegangen ist.« »Agelastus«, sagte Bomilkar. »Marcus Servilius Agelastus!« »Soll ich mit ihm dasselbe tun wie mit Prinz Massiva?« »Mensch, verschwinde!« rief Bomilkar verzweifelt. »Verstehst du nicht, daß man fragen wird, was du hier zu suchen hast? Wenn dich jemand in der Nähe von Prinz Massiva gesehen hat, bist du jetzt so gut wie tot!« »Schon gut, Freund, schon gut! So beruhige dich doch. Niemand kennt mich, und niemand interessiert sich dafür, daß ich hier bin. Das hier ist kein Verlies wie bei den Parthern. Es wäre den Römern völlig egal, wenn du ausbrechen würdest.« Decumius deutete auf das Loch in der Außenwand. »Aber es wäre für sie ein Beweis deiner Schuld.« »Dann darf ich nicht fliehen«, sagte Bomilkar. »Wie du meinst.« Decumius zuckte mit den Schultern. »Und dieser Vogel Agelastus? Soll ich ihn beseitigen? Ich mache es für den üblichen Preis — zahlbar nach Erledigung, denn ich vertraue dir.« Bomilkar war fasziniert. Lucius Decumius glaubte nicht nur, was er sagte, er hatte sogar recht. »Du kannst dir einen zweiten Beutel Gold verdienen«, sagte er. »Wo wohnt er, dieser Agelastus?« »Auf dem Caelius, im Vicus Capiti Africae.« »Oh, eine gepflegte Neubaugegend!« sagte Decumius anerkennend. »Agelastus muß es recht gut gehen, wie? Aber dort draußen ist er auch leicht zu finden. Dort singen die Vögel lauter als die Nachbarn. Keine Sorge, ich erledige die Sache sofort. Wenn dich dein König dann hier herausholt, kannst du mich bezahlen. Schick das Gold einfach an den Verein.« »Und woher weißt du, daß mein König mich hier herausholen kann?« »Natürlich wird er das, Freund! Man hat dich hier nur eingesperrt, um ihm einen Schrecken einzujagen. In ein paar Tagen 126
lassen sie dich gegen Kaution frei. Aber wenn sie das tun, rate ich dir, so schnell wie möglich nach Hause zu reisen. Bleib nicht länger in Rom, verstanden?« »Ich soll meinen König im Stich lassen? Das kann ich nicht!« »Natürlich kannst du das, Freund! Was glaubst du, daß ihm hier in Rom passiert? Daß er eins über den Schädel bekommt und in den Tiber geworfen wird? Nein, niemals! Das tun die Römer nicht, Freund. Sie morden nur, wenn es um ihre kostbare Republik geht. Die Gesetze, die Verfassung und solches Zeug, verstehst du? Sie töten vielleicht ab und zu einen Volkstribunen wie Tiberius oder Gaius Gracchus, aber sie würden niemals einen Fremden töten, jedenfalls nicht in Rom. Mach dir also über deinen König keine Sorgen, Freund. Ich wette, daß sie auch ihn nach Hause schicken, wenn du erst einmal geflohen bist.« Bomilkar starrte Decumius verwundert an. »Und du weißt nicht einmal, wo Numidien liegt« sagte er langsam. »Du warst nicht einmal in Italien! Woher willst du dann wissen, was die römischen Patrizier tun und lassen?« »Ich bin hier aufgewachsen«, sagte Lucius Decumius und erhob sich von seinem Stein. »Muttermilch, Freund, Muttermilch!« Bomilkar streckte seine Hand aus. »Ich danke dir, Lucius Decumius. Du bist der einzige durch und durch ehrliche Mann, dem ich in Rom begegnet bin. Ich werde dir dein Gold schicken.«
Agelastus starb. Spurius und Aulus besaßen zwar seine Zeugenaussage, aber der Tod des Hauptzeugen war ein schwerer Schlag für ihre Sache. Jugurtha nützte die Gelegenheit und forderte den Senat erneut auf, Bomilkar gegen Kaution freizulassen. Gaius Memmius und Scaurus sprachen sich entschieden dagegen aus, doch schließlich wurde Bomilkar im Austausch gegen fünfzig numidische Sklaven auf freien Fuß gesetzt. Jugurtha mußte außerdem eine große Geldsumme an den Staat zahlen, die angeblich für den Unterhalt der Geiseln bestimmt war. Jugurtha wußte jetzt, daß die Römer seinen Anspruch auf den 127
Thron niemals anerkennen würden. Nicht wegen Massivas Tod nein, die Römer hatten gar nie vorgehabt, Jugurtha als König anzuerkennen. Sie hatten ihn jahrelang hingehalten, ihn nach ihrer Pfeife tanzen lassen und ihn insgeheim ausgelacht. Jugurtha beschloß, nach Numidien zurückzukehren — mit oder ohne Genehmigung des Senats. Er wollte ein Heer ausheben und es so ausbilden, daß es in dem unvermeidlichen Kampf mit den römischen Legionen bestehen konnte. Bomilkar floh sofort nach seiner Entlassung nach Puteoli, bestieg ein Schiff nach Africa und entkam ungeschoren. Daraufhin beschloß der Senat, auch Jugurtha ziehen zu lassen. Er erhielt seine fünfzig Geiseln zurück, nicht jedoch das Geld. Verlasse Rom, verlasse Italien, laß uns in Ruhe. Der König von Numidien trieb sein Pferd den steilen, Janiculum genannten Hügel hinauf und warf einen letzten Blick auf die Stadt. Da lag sie, in Wellen ausgebreitet über sieben Hügel und die dazwischen liegenden Täler, ein Meer von orangeroten Dachziegeln und bunt bemalten Mörtelwänden. Die vergoldeten Ziergiebel der Tempel funkelten und warfen das Sonnenlicht gebündelt zum Himmel zurück — kleine Straßen für die Götter. Eine lebendige und farbenfrohe Stadt aus Terrakotta, durchsetzt mit grünen Bäumen und Grasflächen. Doch Jugurtha hatte kein Auge für die Farbenpracht. Lange blickte er auf die Stadt. Er war sicher, daß er Rom niemals wiedersehen würde. »Du wohlfeile Stadt«, sagte er, »wenn sich ein Käufer findet, bist du verloren!« Er wendete sein Pferd und ritt der Via Ostiensis zu.
Clitumna hatte einen Neffen, der als Sohn ihrer Schwester nicht den Familiennamen Clitumnus trug, sondern Lucius Gavius Stichus hieß. Sulla folgerte aus diesem Namen, daß einer der Vorfahren dieses Lucius ein Sklave gewesen war, denn woher sonst konnte der Spitzname Stichus stammen? Doch Lucius Gavius Stichus 128
beharrte darauf, seine Familie sei durch den Sklavenhandel zu diesem Namen gekommen. Wie sein Vater und sein Großvater verdiente auch Lucius Gavius Stichus sein Geld mit dem Sklavenhandel: Er hatte eine kleine Agentur für Hausdiener im Porticus Metelli auf dem Campus Martius. Eigenartig, dachte Sulla, als der Verwalter ihm mitteilte, der Neffe der Herrin warte im Arbeitszimmer, eigenartig, wie viele Männer mit dem Namen Gavius ich kenne. Da war einmal der Saufkumpan seines Vaters, Marcus Gavius Brocchus, sodann sein guter alter grammaticus Quintus Gavius Myrto. Gavius. Es war kein sonderlich häufiger Familienname und auch kein besonders angesehener, und doch kannte er drei dieses Namens. An den Saufkumpan seines Vaters und den Gavius, dem er eine nicht unbeträchtliche Bildung verdankte, dachte er gerne. Stichus war ein anderer Fall. Einen Augenblick lang blieb Sulla im Atrium stehen und kämpfte mit sich, was er jetzt tun sollte — das Haus verlassen oder sich in einen Raum zurückziehen, in den Stichus seine Nase nicht stecken würde. Der Garten. Sulla lächelte dem Verwalter zu, dankbar, daß er ihn gewarnt hatte. Er umging das Arbeitszimmer und begab sich in das Peristyl, wo er sich auf einer Bank niederließ. Versonnen starrte er die kitschige Statue des Apollo an, der die Nymphe Daphne verfolgte. Clitumna liebte die Statue, sie hatte sie selbst gekauft. Aber hatte der Herr des Lichts wirklich so schreiend gelbe Haare, so ekelhaft blaue Augen oder eine so süßlich-rosige Haut? Und wie konnte jemand einen Bildhauer bewundern, der jegliche Kriterien des Geschmacks so gänzlich verleugnete? Der unbekannte Künstler hatte aus den Fingern der Nymphe, die sich gerade in einen Lorbeerbaum verwandelte, hellgrüne Zweige gemacht und aus ihren Zehen schmutzigbraune Wurzeln. Er hatte sogar, Gipfel der Geschmacklosigkeit, auf der einen noch menschlichen Brust der armseligen Kreatur einen purpurroten Tropfen angebracht, der aus einer knorrigen Brustwarze quoll! Sulla konnte dieses Machwerk nur blinden Auges anstarren, denn jede Faser seines Körpers drängte danach, zur Axt zu greifen. 129
»Was habe ich hier eigentlich noch zu suchen?« fragte er Daphne. Nicht einmal erschrocken sah sie aus, einfach nur lächerlich. Daphne gab keine Antwort. »Was habe ich hier zu suchen?« fragte er Apollo. Doch auch Apollo antwortete nicht. Sulla hob die Hand, preßte die Finger gegen die Stirn und schloß die Augen. Er versuchte, sich selbst zu disziplinieren — was er brauchte, war nicht Ergebenheit in sein Schicksal, eher eine Art grimmiger Duldsamkeit. Gavius. An einen anderen Gavius denken, nicht an diesen Stichus. Sulla dachte an Quintus Gavius Myrto, der ihn zu einem gebildeten Menschen gemacht hatte.
Sie hatten sich kurz nach Sullas siebtem Geburtstag kennengelernt. Der magere, aber kräftige kleine Sulla hatte versucht, seinen betrunkenen Vater nach Hause zu bringen, mit dem er damals ein einziges Zimmer am Vicus Sandalarius bewohnte. Der Vater brach auf der Straße zusammen, und Quintus Gavius Myrto kam dem Jungen zu Hilfe. Gemeinsam schafften sie den Vater nach Hause. Sullas Erscheinung und sein reines Latein faszinierten Myrto. Sobald sie den alten Sulla auf sein Strohlager gelegt hatten, setzte sich der grammaticus auf den einzigen Stuhl und fragte den Jungen nach der Familiengeschichte aus. Schließlich erklärte Myrto ihm, daß er Lehrer sei, und bot dem Jungen an, ihm kostenlos Lesen und Schreiben beizubringen. Sullas Elend entsetzte Myrto: Sollte ein patrizischer Cornelius mit offensichtlichem Talent für den Rest seines Lebens in den Elendsvierteln von Rom verkümmern? Nicht auszudenken. Der Junge sollte wenigstens so viel Bildung erhalten, daß er sich seinen Lebensunterhalt als Schreiber verdienen konnte. Sulla nahm das Angebot des Lehrers an, war jedoch entschlossen, dafür zu bezahlen. Wann immer er konnte, stahl er genug, um dem alten Quintus Gavius Myrto einen Silberdenar oder ein fettes Hühnchen zustecken zu können, und als er etwas älter wurde, verkaufte er seinen Körper, um an den Silberdenar zu kommen. 130
Obwohl Myrto vielleicht ahnte, wie Sulla zu dem Geld kam, sprach er nie davon. Dank Myrto sprach Sulla bald das reine attische Griechisch und erwarb wenigstens Grundkenntnisse in Rhetorik. Myrto verfügte über eine umfangreiche Bibliothek, und Sulla konnte Homer, Pindar, Hesiod, Plato, Menander, Eratosthenes, Euklid und Archimedes lesen, außerdem lateinische Schriften — Ennius, Accius, Cassius Hemina, Cato den Zensor. Er arbeitete sich durch jede Schriftrolle, die ihm in die Hände fiel, und entdeckte dabei eine Welt, die ihn seine eigene Lage für ein paar kostbare Stunden vergessen ließ — eine Welt edler Helden und großer Taten, wissenschaftlicher Fakten und philosophischer Hirngespinste, er entdeckte den Stil der Literatur und das Wesen der Mathematik. Das einzige Vermögen, das Sullas Vater nicht schon lange vor der Geburt seines Sohnes verloren hatte, war sein wunderbares Latein. Sulla beherrschte neben Latein auch den Jargon der Subura und das Latein, das in den unteren Klassen gesprochen wurde. Er konnte sich also in allen Schichten der römischen Bevölkerung bewegen, ohne aufzufallen. Quintus Gavius Myrto hielt seinen Unterricht in einer ruhigen Ecke des Macellum Cuppedenis ab, des Marktes für Gewürze und Blumen, der sich auf der rückwärtigen, östlichen Seite des Forum Romanum befand. Er mußte auf einem öffentlichen Platz unterrichten, weil er sich kein eigenes Schulgebäude leisten konnte. Es war Myrto nie vergönnt, als Hauslehrer verwöhnte Plebejer-Kinder zu unterrichten oder in einem richtigen Schulraum die Sprößlinge der Ritter zu erziehen. Er ließ einfach seinen einzigen Sklaven einen hohen Stuhl für sich und Stühle für seine Schüler so aufstellen, daß die Marktkunden nicht darüber stolperten. Unter freiem Himmel, inmitten des Lärms und des Marktgeschreis der Gewürz- und Blumenhändler brachte er ihnen Lesen, Schreiben und Arithmetik bei. Weil er sehr beliebt war und den Jungen und Mädchen der Markthändler einen Preisnachlaß einräumte, durfte er seine Klasse bis zu seinem Tod immer in der gleichen Ecke unterrichten. Als Myrto starb, war Sulla fünfzehn. 131
»Ach, Lucius Cornelius«, pflegte er zu sagen, wenn er mit dem Jungen nach dem Unterricht allein zurückblieb, stets bemüht, den Jungen von der Straße fernzuhalten, »irgendwo auf dieser großen Welt hat ein Mann oder eine Frau die Werke des Aristoteles versteckt! Wenn du wüßtest, wie ich mich danach sehne, etwas von diesem Mann zu lesen! Solch ein gewaltiges Werk, solch ein Verstand — stell dir nur vor, er war der Lehrer von Alexander dem Großen! Man sagt, er habe über alles geschrieben — über das Gute und das Böse, über Sterne und Atome, über die Seele und die Hölle, über Hunde und Katzen, Blätter und Muskeln, die Götter und die Menschen und über Gedankensysteme und das Chaos der Geistlosigkeit. Welch ein Genuß wäre es, die verlorenen Werke des Aristoteles zu lesen!« Dann schlug er verbittert die Hände zusammen, zuckte die Schultern und kramte in den herrlich nach Leder duftenden Schriftrollenbehältern und den säuerlich riechenden Papieren feinster Qualität. »Macht nichts, macht nichts«, murmelte er, »ich kann nicht klagen, ich habe ja noch meinen Homer und meinen Plato.« Myrto starb während eines kalten Winters, kurz nachdem sein alter Sklave auf einer vereisten Treppe ausgerutscht und sich das Genick gebrochen hatte. Eigenartig, dachte Sulla damals, wie beide Teile verfallen, wenn ein Band zwischen zwei Menschen durchschnitten wird. Bei Myrtos Beerdigung zeigte sich, wie beliebt er gewesen war. Es blieb Quintus Gavius Myrto erspart, in den Kalkgruben verscharrt zu werden, wie es das entsetzlich würdelose Schicksal der Armen war. Ihm wurde ein richtiger Trauerzug mit gedungenen Klageweibern und einer Leichenrede zuteil, ein Scheiterhaufen, der nach Myrrhe, Weihrauch und Balsam duftete, und ein hübscher Schrein für seine Asche. Die Bestattung wurde von zwei Generationen von Schülern organisiert und bezahlt, die in echter Trauer um Myrto weinten. Sulla hatte sich hocherhobenen Hauptes und mit trockenen Augen in die Menge eingereiht, die Quintus Gavius Myrto das Geleit aus der Stadt hinaus zum Scheiterhaufen gab. Er warf einen Strauß Rosen in die lodernden Flammen und zahlte dem Leichen132
bestatter einen Silberdenar — seine Beteiligung an den Kosten. Später am Tag, sein Vater lag als weingetränkter Haufen auf dem Boden und seine unglückliche Schwester hatte so gut wie möglich sauber gemacht, saß Sulla grübelnd in seiner Zimmerecke, immer noch fassungslos über den unerwarteten Schatz, der ihm in den Schoß gefallen war. Denn Quintus Gavius Myrto war im Tod ebenso ordentlich wie im Leben: Er hatte ein Testament aufgesetzt und bei den Vestalinnen hinterlegt. Zwar hatte er kein Geld, aber alles, was er besaß — seine Bücher und ein kostbares Modell des Universums, das Sonne, Mond und Planeten in ihren Umlaufbahnen um die Erde zeigte, hatte er Sulla vermacht. Erst jetzt hatte Sulla weinen können, hatte ihn eine leere Verzweiflung übermannt. »Eines Tages, Quintus Gavius«, hatte er geschluchzt, »werde ich die verlorenen Werke des Aristoteles finden.« Sulla hatte sich nicht lange über die Bücher und das Planetenmodell freuen dürfen. Als er eines Tages nach Hause kam, fand er seine Ecke bis auf das Strohlager leer. Sein Vater hatte alles verkauft, weil er Geld für Wein brauchte. Sulla wollte ihn umbringen, aber glücklicherweise war seine Schwester da und warf sich dazwischen. Sulla vergaß und vergab nie. Noch am Ende seines Lebens, als er Tausende von Büchern und fünfzig Modelle des Universums sein eigen nannte, trauerte er der verlorenen Bibliothek des Quintus Gavius Myrto nach.
Sulla kehrte in die Gegenwart zurück und sah wieder die grell bemalte, grobschlächtige Statuengruppe des Apollo und der Daphne vor sich. Als sein Blick auf die noch grauenhaftere Statue des Perseus fiel, der das Haupt der Medusa in der Hand hielt, fühlte er sich endlich stark genug, Stichus entgegenzutreten. Er ging durch den Garten zum Arbeitszimmer, das eigentlich dem Herrn des Hauses vorbehalten war. Da Sulla jedoch mehr oder weniger als Herr des Hauses galt, war ihm der Gebrauch des Arbeitszimmers erlaubt worden. 133
Der pickelige kleine Stichus war gerade dabei, sich mit kandierten Feigen vollzustopfen. Mit seinen klebrigen Stummelfingern wühlte er in den Schriftrollen, die in Löchern in der Wand aufbewahrt wurden. »Ohhhhh!« wimmerte Stichus, als er Sulla erblickte, und zog seine Hände zurück. »Zum Glück weiß ich, daß du zu dumm bist, um sie zu lesen«, sagte Sulla. Er gab dem Diener an der Tür, einem hübschen Griechen, der nicht ein Zehntel des hohen Preises wert war, den Clitumna für ihn bezahlt hatte, mit den Fingern ein Zeichen. »Hole Wasser und ein sauberes Tuch«, befahl er, »und wische den Dreck weg, den dieser Herr gemacht hat.« Er starrte Stichus mit seinen unheimlichen Augen an, die boshaft waren wie der Blick einer Ziege. Während Stichus sich verzweifelt mühte, den Feigensirup an seiner teuren Tunika abzuwischen, sagte Sulla: »Ich wünschte, du würdest dir endlich aus dem Kopf schlagen, daß ich hier obszöne Schriftrollen aufbewahre! Ich habe keine. Warum auch? Ich brauche sie nicht. Obszöne Bücher sind nur für Menschen, die sich selbst nichts trauen. Menschen wie du, Stichus.« »Irgendwann einmal«, sagte Stichus giftig, »gehört dieses Haus mir. Dann wirst du nicht mehr so hochnäsig sein.« »Ich kann dir nur raten, den Göttern zu opfern, daß sie diesen Tag hinausschieben. Denn das würde dein letzter Tag sein, Lucius Gavius. Wenn Clitumna nicht wäre, würde ich dich in kleine Stücke schneiden und den Hunden vorwerfen.« Stichus starrte Sulla mit hochgezogenen Augenbrauen an. Er hatte keine Angst vor ihm, dafür kannte er ihn schon zu lange, aber er war vorsichtig, denn er wußte, daß seine dumme alte Tante Clitumna ihre sklavische Zuneigung zu diesem Kerl nicht aufgeben wollte. Vor einer Stunde hatte er seine Tante und ihre Zechschwester Nikopolis ganz aufgelöst vorgefunden, weil ihr Liebling Lucius Cornelius seine Toga angelegt und wütend das Haus verlassen hatte. Stichus hatte seiner Tante die ganze Geschichte entlockt und war entsetzt. Angeekelt. 134
Stichus ließ sich auf Sullas Stuhl fallen und sagte: »Meine Güte, heute siehst du ja wie ein richtiger Römer aus! Du warst sicher bei der Amtseinführung der Konsuln, nicht? Lächerlich! Dein Stammbaum ist nicht halb so gut wie meiner.« Sulla hob Stichus aus dem Stuhl, indem er ihn mit Fingern und Daumen seiner rechten Hand am Unterkiefer packte. Der Griff war ungeheuer schmerzhaft, verhinderte aber zugleich, daß das Opfer schreien konnte. Als Stichus wieder bei Besinnung war und Sullas Gesicht sah, wagte er nicht mehr zu schreien. Stumm wie ein Götzenbild starrte er Sulla an. »Meine Vorfahren«, sagte Sulla liebenswürdig, »gehen dich nichts an. Und jetzt verlaß mein Zimmer.« »Vielleicht ist es bald nicht mehr dein Zimmer!« stieß Stichus hervor. Er eilte zur Tür und stieß dort fast mit dem Sklaven zusammen, der eben mit einer Schale Wasser und einem Lappen hereinkam. »Wer weiß!« rief Sulla ihm nach. Stichus war noch vor Sulla bei Clitumna. Als Sulla vor ihrem Zimmer ankam, teilte ihm der Verwalter entschuldigend mit, Clitumna und ihr Neffe wollten nicht gestört werden. Sulla ging durch den Säulengang, der das Peristyl umgab, zu den Zimmern, die seine Geliebte Nikopolis bewohnte. Aus der Küche, die am entfernten Ende des Gartens neben der Toilette und dem Bad lag, drangen verlockende Düfte. Wie die meisten Häuser auf dem Palatin war auch Clitumnas Haus an die Wasser- und Abwasserleitungen angeschlossen. Die Dienerschaft mußte das Wasser also nicht vom öffentlichen Brunnen holen und die vollen Nachttöpfe nicht zur nächstgelegenen Latrine tragen oder in den Straßengraben schütten. »Wenn du nur ab und zu aus deinen aristokratischen Höhen herabsteigen würdest, Lucius Cornelius«, sagte Nikopolis und ließ ihre Stickarbeit in den Schoß sinken. »Dann ginge es dir viel besser. Sulla sank mit einem Seufzer auf das bequeme Sofa und zog die Toga enger um seinen Körper, denn in dem Zimmer war es kalt. 135
Eine Dienerin, die Bithy gerufen wurde, zog ihm die Winterstiefel aus. Sie war ein nettes, fröhliches Mädchen mit einem unaussprechlichen Namen und stammte aus dem Hinterland von Bithynien. Mit den Stiefeln in der Hand eilte sie geschäftig aus dem Zimmer. Kurze Zeit darauf kehrte sie mit einem Paar dicker, warmer Socken zurück und zog sie ihm an. »Danke, Bithy«, sagte Sulla, lächelte ihr zu und fuhr ihr mit der Hand durch das Haar. Das Mädchen erglühte. Seltsames kleines Ding, dachte er mit einer Zärtlichkeit, die ihn selbst überraschte, bis ihm klar wurde, daß Bithy ihn an das Mädchen aus dem Nachbarhaus erinnerte. Julilla. »Was willst du damit sagen?« fragte er Nikopolis. »Warum sollte dieser habgierige kleine Kriecher Stichus alles erben, wenn Clitumna zu ihren zweifelhaften Ahnen versammelt wird? Wenn du sie nur ein klein wenig anders behandeln würdest, mein lieber Freund Lucius Cornelius, würde sie alles dir vermachen. Und sie hat nicht wenig, glaube mir!« »Was erzählt er ihr jetzt? Daß ich ihm weh getan habe?« fragte Sulla. »Natürlich! Und er wird es ihr in den buntesten Farben ausmalen. Ich mache dir keine Vorwürfe, er ist wirklich ein abscheulicher Mensch, aber er ist nun mal ihr einziger Verwandter — und sie liebt ihn. Aber dich liebt sie noch mehr, obwohl du so ein eingebildeter Bengel bist! Wenn du das nächste Mal bei ihr bist, darfst du dich nicht hochmütig weigern, dich gegen seine Anschuldigungen zu verteidigen. Erzähl ihr, was für ein unausstehlicher Mensch Stichus ist, und erzähl es ihr so, daß sie dir glaubt und nicht Stichus!« Sulla starrte sie mit einer Mischung aus Interesse und Skepsis an. »Clitumna ist nicht so naiv, daß sie auf so etwas hereinfällt.« »Ach, lieber Lucius! Wenn du nur willst, kannst du jede Frau dazu bringen, daß sie dir aus der Hand frißt!« schmeichelte Nikopolis. »Versuche es! Tu es mir zuliebe!« »Nicht um alles Geld der Welt würde ich vor jemandem wie 136
Clitumna im Staub kriechen!« »Sie hat nicht alles Geld der Welt, aber sie hat mehr als du brauchst, um in den Senat zu kommen«, schmeichelte die Verführerin. »Du irrst dich, wirklich! Sie hat dieses Haus, aber abgesehen davon gibt sie jeden Sesterz aus, den sie einnimmt — und was sie nicht verbraucht, gibt der klebrige Stichus aus.« »Warum, glaubst du, wird sie dann von den Geldwechslern umworben, als wäre sie Cornelia, die Mutter der Gracchen? Sie hat bei ihnen ein hübsches Vermögen angelegt, und sie gibt nicht einmal die Hälfte ihres Einkommens aus.« Sulla setzte sich so ruckartig auf, daß die Falten seiner Toga auseinanderfielen. »Nikopolis! Hast du das alles erfunden?« »Nichts habe ich erfunden«, antwortete sie und führte einen Faden aus purpurroter, mit Goldfäden durchwirkter Wolle durch die Nadel. »Clitumna wird sicher hundert Jahre alt«, sagte Sulla und sank gelangweilt auf das Sofa zurück. »Schon möglich, daß sie hundert Jahre alt wird«, sagte Nikopolis. Sie machte einen Stich und zog den glitzernden Faden mit unendlicher Vorsicht durch das Gewebe. Dann richtete sie ihre großen, dunklen Augen wieder auf Sulla und blickte ihn ruhig an. »Vielleicht auch nicht. Niemand in ihrer Familie wurde sehr alt.« Von draußen drangen Geräusche herein. Lucius Gavius Stichus war wohl dabei, sich von seiner Tante Clitumna zu verabschieden. Sulla erhob sich. »Also gut, Nikopolis.« Er grinste. »Dieses eine Mal versuche ich es. Drück mir die Daumen!«
Sullas Gespräch mit Clitumna war nicht erfolgreich. Stichus hatte seine Tante mit List bearbeitet, und Sulla konnte sich nicht so weit erniedrigen, wie Nikopolis ihm geraten hatte. »Du bist an allem schuld, Lucius Cornelius«, sagte Clitumna weinerlich und drehte und zog mit ihren beringten Fingern an den 137
Fransen ihres teuren Schals. »Du gibst dir überhaupt keine Mühe, nett zu meinem Jungen zu sein, obwohl er dir doch immer so weit entgegenkommt!« »Er ist ein schmieriger kleiner Gernegroß«, knurrte Sulla. In diesem Augenblick glitt Nikopolis, die an der Türe gelauscht hatte, in den Raum und setzte sich neben Clitumna auf das Sofa. Sie kuschelte sich an Clitumna und sah Sulla resigniert an. »Was ist los?« fragte sie unschuldig. »Lucius verträgt sich nicht mit Lucius«, sagte Clitumna, »obwohl ich mir doch so sehr wünsche, daß sie Freunde werden!« Nikopolis hob Clitumnas Hand an ihre Wange. »Oh, mein armes Mädchen!« gurrte sie. »Der eine ist eben ein geradeso böser Kampfhahn wie der andere, das ist das Problem.« »Aber sie müssen lernen, miteinander auszukommen«, sagte Clitumna, »weil mein lieber Lucius Gavius seine Wohnung aufgeben und nächste Woche hier einziehen wird.« »Dann ziehe ich aus«, sagte Sulla. Die beiden Frauen begannen zu jammern, Clitumna mit schriller Stimme, Nikopolis wie ein kleines, gefangenes Kätzchen. Sulla beugte sich zu Clitumna herunter und brachte sein Gesicht dicht vor ihr Gesicht. »Benimm dich endlich wie eine erwachsene Frau!« zischte er. »Gavius weiß doch, was hier los ist. Wie soll er ertragen, mit einem Mann im selben Haus zu wohnen, der mit zwei Frauen schläft, von denen eine seine eigene Tante ist?« Clitumna brach in Tränen aus. »Aber er will hier einziehen! Ich kann doch meinen eigenen Neffen nicht zurückweisen!« »Auch gut! Wenn ich ausziehe, hat er keinen Grund mehr, sich zu beklagen.« Sulla wandte sich zur Tür, doch Nikopolis streckte die Hand aus und ergriff seinen Arm. »Sulla, liebster Sulla, zieh nicht aus!« rief sie. »Du kannst doch weiter mit mir schlafen, und wenn Stichus nicht zu Hause ist, kann Clitumna zu uns kommen!« »Oh, sehr geschickt!« sagte Clitumna eisig. »Du willst ihn ganz für dich allein, du geile Ziege!« Nikopolis wurde blaß. »Was schlägst du dann vor? Deine Dumm138
heit hat uns das doch eingebrockt!« »Haltet den Mund, alle beide!« zischte Sulla. »Ihr habt so viele Theaterstücke gesehen, daß ihr euch selbst wie Schauspieler aufführt. Ihr hängt mir beide zum Hals heraus. Ich habe genug davon, ein halber Mann zu sein!« »Du bist ja auch kein halber Mann!« sagte Clitumna gehässig. »Du bist zwei Hälften — eine gehört mir, die andere Nikopolis!« Sulla wußte nicht, was ihn mehr schmerzte: die Wut oder die Trauer. Halbwahnsinnig starrte er seine beiden Peinigerinnen an. Er war nicht mehr fähig zu denken, nicht mehr fähig zu verstehen. »So kann ich nicht weiterleben!« sagte er schließlich. »Unsinn! Natürlich kannst du das«, rief Nikopolis mit der Überheblichkeit der Frau, die ihren Mann genau dahin gebracht hat, wo sie ihn haben will — unter ihren Fuß. »Jetzt geh und tu was Vernünftiges. Morgen sieht alles wieder ganz anders aus. Das ist bei dir doch immer so.«
Sulla verließ das Haus und stolperte ohne Ziel die Straße entlang. Etwas Vernünftiges tun — geistesabwesend ging er vom Cermalus zu jener Seite des Palatin, die dem Ende des Circus Maximus und dem Capena-Tor zugewandt war. Hier gab es weniger Häuser, und zwischen den Häusern erstreckten sich weite Parkanlagen. Unbekümmert um die Kälte, setzte Sulla sich auf einen Stein und blickte gedankenverloren vor sich hin. Er sah weder die leeren Zuschauerränge des Circus Maximus noch die anmutigen Tempel auf dem Aventin, er sah nur seinen eigenen Weg vor sich, der sich unendlich in eine furchtbare Zukunft erstreckte, eine holprige Straße aus Knochen und Haut ohne jeden erkennbaren Zweck. Schmerz schüttelte ihn, bis er seine Zähne knirschen hörte. Er merkte nicht, daß er laut stöhnte. »Ist dir nicht wohl?« fragte leise eine ängstliche Stimme. Als Sulla aufblickte, sah er niemanden — der Schmerz lag noch immer über seinen Augen. Doch dann hob sich der Schleier, und langsam nahm er das Mädchen wahr: ein spitzes Kinn, goldene 139
Haare, ein herzförmiges Gesicht, das nur aus Augen zu bestehen schien, aus riesigen, honigfarbenen Augen, die ihn besorgt anblickten. »Julia.« Er erschauerte. »Nein, Julia ist meine ältere Schwester. Ich heiße Julilla«, sagte das Mädchen lächelnd. »Bist du krank, Lucius Cornelius?« »Nicht so krank, daß ein Arzt mir helfen könnte«, sagte er. »Ich wäre jetzt gerne verrückt, aber es will mir nicht gelingen.« Julilla rührte sich nicht. »Wenn es dir nicht gelingt, dann wollen dich die Furien offenbar noch nicht haben.« Sulla sah sich um und runzelte mißbilligend die Stirn. »Bist du allein? Was denken sich deine Eltern denn, daß sie dich so spät noch hier herumspazieren lassen?« »Meine Dienerin ist bei mir«, sagte sie ruhig und kauerte sich auf die Fersen. In ihren Augen blitzte es koboldhaft auf. »Sie ist ein gutes Mädchen, treu und verschwiegen.« »Du meinst, sie läßt dich tun, was du willst, und verrät dich nicht? Aber eines Tages werden sie dich doch erwischen.« Sie schwiegen. Julilla betrachtete sein Gesicht mit unbefangener Neugier. Was sie sah, gefiel ihr. »Geh nach Hause, Julilla. Wenn sie dich erwischen, dann wenigstens nicht mit mir.« Sulla seufzte. »Weil du ein schlechter Mann bist?« fragte sie. Er mußte lächeln. »Wenn du es so ausdrücken willst.« »Ich glaube nicht, daß du so schlecht bist!« Welcher Gott mochte sie geschickt haben? Sullas Muskeln entspannten sich, er fühlte sich auf einmal unbeschwert und leicht, als ob tatsächlich ein Gott ihn gestreift habe. »Ich bin wirklich schlecht, Julilla«, sagte er. »Unsinn!« Ihre Stimme klang fest und überzeugt. Sulla erkannte die Symptome mädchenhafter Schwärmerei und verspürte den Impuls, den Flirt durch eine grobe oder einschüchternde Bemerkung zu beenden. Doch er brachte es nicht über sich. Dieses Mädchen verdiente eine bessere Behandlung. Für sie würde er den besten Lucius Cornelius Sulla hervorholen, frei von 140
Schmutz, Kriecherei und Obszönität. »Ich danke dir für dein Vertrauen, kleine Julilla«, sagte er. »Ich muß noch nicht nach Hause«, sagte sie ernsthaft. »Reden wir noch ein wenig miteinander?« Sulla rückte auf seinem Felsblock zur Seite. »Also gut. Aber setz dich hierher. Der Boden ist zu feucht.« »Die Leute sagen, daß du deinem Namen Schande bringst. Aber ich glaube nicht, daß das stimmt. Du hast ja noch gar keine Gelegenheit gehabt zu zeigen, was du kannst.« »Das hat vermutlich dein Vater gesagt?« »Was?« »Daß ich meinem Namen Schande bringe.« Sie war entsetzt. »Oh nein! Tata würde so etwas nie sagen. Er ist der klügste Mann der Welt.« »Meiner war der dümmste. Wir beide stammen aus zwei sehr unterschiedlichen Schichten der römischen Bevölkerung, kleine Julilla.« Sie zupfte die langen Grashalme heraus, die um den Felsblock wuchsen, und flocht sie mit geschickten Fingern zu einem Kranz. »Hier«, sagte sie und hielt ihm den Kranz hin. Sullas Atem stockte. »Eine Krone aus Gras!« sagte er verwundert. »Nein! Nicht für mich!« »Natürlich für dich«, beharrte sie, und als er keine Anstalten machte, den Kranz anzunehmen, beugte sie sich zu ihm hinüber und setzte ihm den Kranz auf den Kopf. »Blumenkränze gibt man nur jemandem, den man liebt«, sagte er. »Ich liebe dich doch!« erwiderte sie leise. »Vielleicht jetzt. Aber das geht vorbei.« »Nein, nie!« Sulla stand auf und lachte. »Jetzt hör aber auf! Du bist doch höchstens fünfzehn Jahre alt.« »Sechzehn!« sagte sie schnell. »Fünfzehn, sechzehn, da ist kein Unterschied. Du bist noch ein Kind.« 141
Sie wurde rot vor Empörung und preßte die Lippen wütend zusammen. »Ich bin kein Kind mehr!« »Natürlich bist du eins«, lachte er. »Schau dich doch einmal an, du steckst ja noch halb in den Windeln, ein kleines, dickes Baby.« Gut gesprochen! Das würde ihr den Kopf zurechtrücken. Aber er hatte sie tief verletzt. Das Licht in ihren Augen erlosch. »Ich bin nicht hübsch!« sagte sie. »Und ich habe immer gedacht, ich sei hübsch!« »Wahrscheinlich bekommen das alle kleinen Mädchen von ihren Eltern zu hören«, sagte Sulla grob. »Aber die Welt urteilt nach anderen Kriterien. Na ja, wenn du älter bist, wirst du ganz ordentlich aussehen. Jedenfalls wirst du schon einen Mann finden.« »Ich will nur dich«, flüsterte sie. »Das glaubst du jetzt. Aber du irrst dich, du dickes Baby. Und jetzt hau ab, bevor ich dich an den Haaren ziehe. Geh schon! Sssch!« Sie rannte so schnell davon, daß die Dienerin ihr kaum folgen konnte. Sulla blickte den beiden Mädchen nach, bis sie hinter dem Kamm des nächsten Hügels verschwunden waren. Er trug noch immer den Graskranz auf dem Kopf. Er riß ihn herab, warf ihn jedoch nicht weg, sondern hielt ihn in den Händen und starrte darauf. Dann stopfte er ihn in seine Tunika und machte sich auf den Rückweg. Armes Ding. Er hatte ihr wehgetan. Doch er hatte ihr jede Hoffnung nehmen müssen, denn das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war eine liebeskranke Nachbarstochter, die ihn über die Mauer hinweg anhimmelte. Schließlich war ihr Vater nicht nur Clitumnas Nachbar, sondern auch noch Senator. Bei jedem Schritt erinnerte ihn ein leichtes Kitzeln auf seiner Haut an den Graskranz. Corona graminea. Ihm überreicht hier auf dem Palatin durch eine Personifikation der Venus — eine Julia. Ein Omen. »Wenn es ein gutes Omen ist, werde ich dir einen Tempel bauen, siegreiche Venus«, sagte er laut. Endlich sah er seinen Weg klar vor sich liegen. Ein gefährlicher 142
Weg und doch ein gangbarer Weg — für jemanden, der nichts zu verlieren und alles zu gewinnen hatte.
Schwer senkte sich die winterliche Dämmerung über die Stadt, als Sulla wieder bei Clitumnas Haus ankam. Er fragte nach den Frauen. Sie steckten im Eßzimmer die Köpfe zusammen und hatten mit dem Essen auf ihn gewartet. Es war offenkundig, daß er der Gegenstand ihres Gesprächs gewesen war. »Ich brauche Geld«, sagte er als erstes. »Aber Lucius Cornelius...«, begann Clitumna. »Halt deinen Mund, du alte Schlampe! Ich brauche Geld.« »Aber Lucius Cornelius!« »Ich mache Ferien«, sagte er, ohne sich zu setzen. »Es liegt an euch. Wenn ihr mich zurückhaben wollt — wenn ihr weiterhin genießen wollt, was ich zu bieten habe —, dann gebt mir tausend Denare. Andernfalls verlasse ich Rom für immer.« »Wir geben dir jede die Hälfte«, sagte Nikopolis und sah ihn mit ihren dunklen Augen aufmerksam an. »Einverstanden.« »Aber vielleicht haben wir nicht soviel Geld im Haus.« »Euer Pech. Ich werde nämlich nicht warten.« Als Nikopolis eine Viertelstunde später sein Zimmer betrat, war Sulla bereits mit Packen beschäftigt. Sie setzte sich auf sein Bett und sah ihm schweigend zu, bis er geruhen würde, sie zu bemerken. Schließlich brach sie das Schweigen. »Du bekommst dein Geld. Clitumna hat den Verwalter zu ihrem Bankier geschickt. Wohin gehst du?« »Ich weiß es nicht. Es ist mir auch egal, solange ich nur hier wegkomme.« Er faltete Socken zusammen und steckte sie in die Schuhe. »Du packst wie ein Soldat.« »Woher willst du das wissen?« »Ich war einmal die Geliebte eines Militärtribuns und bin mit 143
der Truppe gezogen. Kaum zu glauben, nicht wahr? Was man nicht alles tut, wenn man jung und verliebt ist! Ich betete ihn an. Ich folgte ihm bis nach Spanien und dann nach Asien.« Sie seufzte. »Und dann?« Sulla wickelte seine zweitbeste Tunika um ein Paar lederne Stiefel. »Er fiel in Makedonien. Ich kehrte nach Hause zurück.« Mitleid erfüllte ihr Herz, doch nicht Mitleid für den toten Geliebten, sondern Mitleid für Lucius Cornelius, diesen gefangenen, schönen Löwen, der für irgendeine schmutzige Arena bestimmt war. Warum mußten Menschen lieben, wenn es so sehr schmerzte? Sie lächelte, aber es war kein frohes Lächeln. »Er hinterließ mir sein gesamtes Vermögen, und ich wurde ziemlich reich. Damals machten die Soldaten reiche Beute.« »Mir bricht das Herz«, sagte Sulla. Er steckte sein Rasierzeug in einen Leinenbeutel und ließ den Beutel in eine Satteltasche gleiten. Nikopolis verzog das Gesicht. »Das hier ist ein furchtbares Haus. Wie ich es hasse! Alle sind verbittert und unglücklich. Wir beleidigen und verachten einander und sagen einander böse Dinge. Warum bleibe ich hier?« »Weil du, meine Liebe, auch nicht mehr die Jüngste bist«, antwortete er. »Und du haßt uns alle«, sagte sie. »Ist die Stimmung im Haus deshalb so schlimm? Es wird jeden Tag schlimmer.« »Richtig. Und deshalb gehe ich auch für eine Zeitlang weg.« Er schloß die beiden Satteltaschen und hob sie ohne Mühe hoch. »Ich will frei sein. Ich will mein Geld in irgendeiner Stadt durchbringen, wo keiner meine dumme Visage kennt. Ich will fressen und saufen, bis ich alles wieder herauskotze. Ich will mindestens ein halbes Dutzend Weiber schwängern, und jeder Strichjunge, der mir über den Weg läuft, wird einen wunden Arsch kriegen.« Sulla lächelte böse. »Dann, meine Liebe, komme ich wieder ganz zahm hierher zurück. Zu dir, zu unserem klebrigen Stichus und zu Tantchen Clitumna. Und dann leben wir glücklich zusammen bis 144
ans Ende unserer Tage.« Sulla sagte ihr nicht, daß er Metrobius mitnehmen würde. Er erzählte niemandem, nicht einmal Metrobius, was er eigentlich vorhatte. Denn er plante keine Ferien. Er plante eine Bildungsreise. Er wollte sich mit Dingen wie Arzneimittelkunde, Chemie und Botanik beschäftigen.
Sulla kehrte erst Ende April nach Rom zurück. Er setzte Metrobius vor Skylax’ eleganter Wohnung im Erdgeschoß eines Hauses auf dem Caelius ab. Dann gab er die Maulesel und den Wagen zurück, die er gemietet hatte, warf die Satteltaschen über die linke Schulter und betrat Rom zu Fuß. Auf dem Caelius standen zwar ein paar teure Mietshäuser, doch bis zum Capena-Tor wirkte die Gegend recht ländlich. Erst nach dem Tor begann die eigentliche Stadt, zwar noch nicht das undurchdringliche Straßengewirr der Subura und des Esquilin, aber doch schon erkennbar kein Dorf mehr. Sulla ging am Circus Maximus entlang und die Cacus-Treppen zum Palatin hinauf. Von hier war es nur noch ein kurzes Stück bis zu Clitumnas Haus. Vor der Tür holte Sulla tief Luft, dann betätigte er den Türklopfer. Zwei kreischende Weiber flogen ihm an den Hals. Es war offenkundig, daß sich Nikopolis und Clitumna freuten, ihn wiederzusehen. Sie weinten und heulten und klammerten sich an ihn, bis er sie von sich stieß. »Wo soll ich schlafen?« fragte Sulla. Er weigerte sich, die Satteltaschen dem Diener zu übergeben, der geradezu begierig schien, sie ihm abzunehmen. »Bei mir«, sagte Nikopolis triumphierend. Clitumna schien auf einmal niedergeschlagen. Sulla bemerkte, daß die Tür des Arbeitszimmers geschlossen war. Er folgte Nikopolis zum Säulengang hinaus, seine Stiefmutter Clitumna blieb händeringend im Atrium zurück. »Hat sich der klebrige Stichus gut eingenistet?« fragte er Nikopolis, als sie deren Zimmer erreichten. 145
»Hier«, sagte sie, ohne seine Frage zu beachten. Sie wollte ihm unbedingt seine neue Unterkunft zeigen. Sie hatte ihm ihr geräumiges Wohnzimmer überlassen und für sich selbst nur ein Schlafzimmer und eine kleine Kammer behalten. Sulla fühlte Dankbarkeit in sich aufsteigen, und er sah Nikopolis wehmütig an. Er mochte sie in diesem Augenblick mehr als je zuvor. Er warf die Satteltaschen auf das Bett. »Und Stichus?« Er brannte darauf zu erfahren, wie schlimm es hier im Haus stand. Natürlich sehnte Nikopolis sich danach, von ihm geküßt zu werden, mit ihm zu schlafen. Sie kannte ihn aber auch gut genug, um zu wissen, daß er keine sexuellen Tröstungen brauchte, nur weil er eine Zeitlang auf sie und Clitumna hatte verzichten müssen. Sie seufzte. »Stichus hat sich wirklich gut eingerichtet.« Sie begann, die Satteltaschen auszupacken. Sulla schob sie beiseite, stellte die Taschen hinter eine Kleidertruhe und setzte sich in seinen Lieblingsstuhl, der hinter einem neuen Tisch stand. Nikopolis ließ sich auf dem Bett nieder. »Erzähl mir alles«, sagte er. »Nun, Stichus wohnt hier, schläft im Herrenzimmer und beansprucht natürlich auch das Arbeitszimmer. Eigentlich ist es sogar besser gelaufen, als zu erwarten war. Selbst Clitumna kann ihn kaum ertragen, wenn sie auf so engem Raum mit ihm zusammenlebt. Ich wette, sie wirft ihn in ein paar Monaten wieder hinaus. Das war wirklich geschickt von dir, einfach wegzugehen.« Geistesabwesend glättete sie die Kissen. »Und was er alles verändert hat! Deine Bücher hat er auf den Abfallhaufen geworfen — schon gut, die Diener haben sie wieder gerettet. Und was du sonst noch zurückgelassen hattest, Kleidung, persönliche Sachen, kam ebenfalls zum Müll. Aber die Diener mögen dich und hassen ihn, deshalb ist nichts verlorengegangen.« Sulla ließ seine hellen Augen über die Wände und den wunderbaren Mosaikboden gleiten. »Erzähl weiter.« »Es geht Stichus nicht schlecht. Aber es hat ihm doch ein wenig 146
die Freude verdorben, daß du nicht gesehen hast, was er mit deinen Sachen gemacht hat. Es war niemand da, mit dem er streiten konnte.« Das kleine Dienstmädchen Bithy kam lautlos herein. Sie stellte einen Teller mit Pasteten und Kuchen auf den Tisch und lächelte Sulla schüchtern zu. Dann sah sie die beiden Satteltaschen hinter der Kleidertruhe. Sie durchquerte das Zimmer und wollte die Taschen auspacken. Sulla bewegte sich so schnell, daß Nikopolis nicht einmal merkte, was vor sich ging. Eben noch hatte er sich bequem in seinem Stuhl zurückgelehnt, im nächsten Moment schob er das Mädchen sanft von der Kleidertruhe weg. Sulla lächelte Bithy zu, zwickte sie leicht in die Wange und schob sie zur Tür hinaus. Nikopolis starrte ihn überrascht an. »Meine Güte«, sagte sie, »du paßt aber gut auf deine Taschen auf! Was ist denn da drin? Du bewachst sie ja wie ein Hund seinen Knochen!« »Schenke mir Wein ein«, sagte er und ließ sich wieder auf dem Stuhl nieder. Er nahm ein Stück Fleischpastete aus der Schale. Nikopolis schenkte ihm Wein ein und schob ihm den Becher hin. Sie ließ sich aber nicht ablenken. »Komm schon, Lucius Cornelius, was ist so Geheimnisvolles in den Taschen drin?« Sulla zog die Mundwinkel herunter und hob die Arme in gespielter Verzweiflung. »Was glaubst du denn? Ich habe meine beiden Mädchen fast vier Monate nicht gesehen! Ich gebe zu, daß ich nicht immer an euch gedacht habe, aber manchmal habe ich doch an euch gedacht!« Nikopolis’ Gesicht wurde sanft. Sie konnte sich nicht daran erinnern, daß Sulla ihr oder Clitumna jemals auch nur ein einziges billiges Geschenk gemacht hatte. »Oh, Lucius Cornelius!« rief sie strahlend. »Wirklich? Wann kann ich es sehen?« »Wenn es mir paßt«, sagte er, drehte sich auf seinem Stuhl um und blickte aus dem Fenster. »Wie spät ist es?« »Ich weiß es nicht — es geht auf die achte Stunde zu, glaube ich. Jedenfalls gibt es noch nichts zu essen.« 147
Sulla stand auf, holte die Satteltaschen hinter der Kleidertruhe hervor und warf sie sich über die Schulter. »Ich bin rechtzeitig zum Abendessen zurück.« Nikopolis sah ihm mit offenem Mund nach, als er zur Tür ging. »Sulla! Du bist das abscheulichste Geschöpf auf der Welt, so wahr ich lebe! Kaum bist du zurück, gehst du schon wieder.« Die Satteltaschen ließen ihr keine Ruhe. »Du hast also nicht einmal so viel Vertrauen zu mir, daß du die Taschen daläßt?« »Ich bin doch nicht verrückt«, sagte Sulla und ging. Weibliche Neugier. Ein Narr war er, daß er das vergessen hatte. Er ging zum Großen Markt und gab den Rest seiner tausend Denare aus. Weiber! Neugierige Schnüfflerinnen! Warum hatte er nicht daran gedacht? Als die Satteltaschen mit Schals und Armreifen, frivolen orientalischen Pantöffelchen und Haarspangen vollgestopft waren, kehrte er nach Hause zurück. Ein Diener sagte ihm, daß die Damen und der junge Stichus im Eßzimmer auf ihn warteten. »Sag ihnen, ich komme gleich«, antwortete Sulla und betrat Nikopolis’ Zimmer.
Dort schloß er die Fensterläden und verriegelte die Tür. Die hastig eingekauften Geschenke häufte er auf den Tisch, ebenso ein paar neue Schriftrollen. Die linke Satteltasche beachtete er nicht, aus der rechten Tasche nahm er die obenauf liegenden Kleider und regte sie auf das Bett. Dann griff er tief in die Tasche und zog zwei Paar zusammengerollte Socken hervor, in die er zwei kleine Fläschchen mit dick versiegelten Korken eingewickelt hatte. Auch ein einfaches Holzkästchen kam zum Vorschein, so klein, daß es in seiner Hand Platz fand. Wie unter einem Zwang öffnete er den Deckel, der dicht abschloß. Der Inhalt bestand aus ein paar Unzen eines weißlichen Pulvers. Sulla drückte den Deckel wieder herunter und sah sich mit gerunzelter Stirn im Zimmer um: Wohin damit? Auf einem langen, schmalen Wandtischchen standen mehrere 148
altersschwache Holzschreine, die aussahen wie Tempelmodelle. Es handelte sich um die letzten Überreste der Einrichtung von Sullas Elternhaus. Sein Vater hatte die Kästchen nicht gegen Wein tauschen können, weil niemand sie haben wollte, und so waren sie Sullas ganzes Erbe geworden. Es waren fünf würfelförmige Schreine, von denen jeder etwa zwei Fuß lang, breit und hoch war. Auf der Vorderseite der Schreine befanden sich Säulen, dazwischen stand ein bemaltes, hölzernes Türchen. Die Giebel waren an der Spitze und an den Seiten mit geschnitzten Tempelfiguren verziert, auf dem einfachen Gesims unterhalb des Giebels war auf jedem Schrein ein Männername aus dem Patriziergeschlecht der Cornelier eingraviert. Der Name des ersten Schreins gehörte dem Urvater der sieben Zweige des Geschlechts. Der zweite lautete Publius Cornelius Rufinus, der vor mehr als zweihundert Jahren Konsul und Diktator gewesen war. Auf ihn folgte sein Sohn, der während der Kriege gegen die Samniten zweimal Konsul und einmal Diktator gewesen, dann aber aus dem Senat verstoßen worden war, weil er Silbergeschirr gehortet hatte. Sodann kam der erste Rufinus, der den Namen Sulla getragen hatte. Er war ein Priester des Jupiter gewesen. Der letzte Name schließlich, Publius Cornelius Sulla Rufinus, hatte dem Sohn des Priesters gehört, der Prätor gewesen und durch die Gründung der Spiele zu Ehren Apollos berühmt geworden war. Sulla öffnete den Schrein des ersten Sulla. Er ging sehr sorgfältig zu Werk, denn das Holz war brüchig. Eines Tages wollte er die Ahnenschreine restaurieren lassen und sie in seinem Haus in einem eindrucksvollen Atrium aufstellen. Im Augenblick jedoch schien der Schrein der richtige Ort, um die beiden Fläschchen und das Kästchen mit dem Pulver zu verstecken — der Schrein des Sulla, der zu seiner Zeit der heiligste Mann in Rom, der Diener des Jupiter Optimus Maximus gewesen war. Im Innern des Schreins befand sich eine Wachsmaske mit einer Perücke. Die Maske war lebensgroß und wirkte durch ihre sorgfältige Bemalung außerordentlich lebensecht. Stechende Augen sahen Sulla an, blau im Unterschied zu seinen eigenen blaßgrauen 149
Augen. Die Haut des Ahnen war hell, aber nicht so hell wie die Sullas, das dichte und lockige Haar war karottenrot, während Sullas Haar goldrot glänzte. Die Maske war auf einem hölzernen Block befestigt und zuletzt bei der Beerdigung seines Vaters herausgenommen worden. Das Geld für die Beerdigung hatte Sulla durch eine Reihe demütigender Begegnungen mit einem ihm verhaßten Mann verdienen müssen. Liebevoll schloß Sulla die Tür, dann tasteten seine Finger suchend über die Treppe, die zu dem Holztürchen hinaufführte. Die Stufen waren glatt und nichts deutete darauf hin, daß in ihnen eine kleine Schublade verborgen war. Doch wie bei einem echten Tempel war das Podium des Ahnentempelchens hohl. Sullas Finger fanden die richtige Stelle und zogen die Schublade aus der Treppe. Die Schublade war nicht als Geheimfach gedacht, sondern in ihr wurden das Testament des Verstorbenen sowie eine detaillierte Beschreibung seiner körperlichen Erscheinung, seiner Größe, seines Ganges, seiner Gewohnheiten und seiner sonstigen Körpermerkmale aufbewahrt. Wann immer ein Cornelius Sulla starb, wurde ein Schauspieler engagiert, der die Maske aufsetzte und den toten Vorfahr so täuschend ähnlich spielte, daß man glauben konnte, er sei zurückgekehrt, um einen weiteren Sproß seines Geschlechtes aus dieser Welt zu geleiten. Neben den Dokumenten über den Priester Publius Cornelius Sulla Rufinus war in der Schublade genügend Platz für die beiden Fläschchen und das Kästchen mit dem Pulver. Sulla legte alles hinein, schob die Schublade wieder zurück und vergewisserte sich, daß sie ganz geschlossen war. Sein Geheimnis war bei Rufinus sicher aufgehoben. Erleichtert richtete er sich auf, öffnete die Fensterläden und schob den Riegel an der Tür zurück. Er nahm den Flitterkram vom Tisch und griff mit einem boshaften Grinsen nach einer der Schriftrollen, die gleichfalls dort lagen. Dann ging er ins Eßzimmer, in dem neben Clitumna und Nikopolis Lucius Gavius Stichus lag, natürlich auf dem Platz des Hausherrn. Auch Clitumna und Nikopolis lagen auf einem Sofa, 150
statt auf Stühlen zu sitzen, wie es sich für Frauen ziemte. Die beiden Frauen gaben nicht viel auf Traditionen. »Da seid ihr ja, Mädchen«, sagte Sulla. Zwei anbetende Augenpaare folgten ihm durch den Raum. Sulla warf den Frauen die Geschenke in den Schoß. Er hatte gut gewählt, die Sachen hätten tatsächlich von Märkten außerhalb Roms stammen können, und keine der Frauen würde sich schämen, sie zu tragen. Stichus warf er die Schriftrolle hin. »Dir habe ich auch eine Kleinigkeit mitgebracht, Stichus«, sagte er. Verwirrt sah Stichus Sulla an, und während dieser sich zwischen den beiden kichernden und schnurrenden Frauen auf dem Sofa niederließ und es sich bequem machte, band er das Buch auf und rollte es auseinander. Zwei scharlachrote Flecken flammten auf seinen pickeligen Wangen auf, als er mit hervorquellenden Augen die realistisch gezeichneten Männerfiguren mit erigierten Penissen anstarrte, die auf dem unschuldigen Papyrus alle möglichen athletischen Taten miteinander vollführten. Mit zitternden Händen rollte er das Ding wieder zusammen und band es zu. Dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen und blickte seinen Wohltäter an. Sullas furchteinflößende Augen glitzerten ihn über Clitumnas Kopf voller Verachtung an. »Ich danke dir, Lucius Cornelius«, stammelte er. »Gern geschehen, Lucius Gavius«, erwiderte Sulla kalt. In diesem Augenblick wurde der gustus hereingetragen, das Vorgericht, das man, wie Sulla vermutete, anläßlich seiner Rückkehr in aller Eile erweitert hatte, denn neben den üblichen Oliven, Salaten und hartgekochten Eiern gab es heute auch ein paar Fasanenwürstchen und Thunfisch in Öl. Sulla stürzte sich hungrig auf das Essen. Dazwischen beobachtete er Stichus, der allein auf seinem Sofa saß und mitansehen mußte, wie seine Tante sich mit ihrem ganzen Körper gegen Sulla lehnte und Nikopolis’ Hände hemmungslos Sullas Lenden liebkosten. »Na, was gibt es Neues zu Hause?« fragte Sulla, als der erste Gang beendet war. 151
»Nicht viel«, antwortete Nikopolis, die sich mehr für das interessierte, was sich unter ihren Händen abspielte. »Das glaube ich nicht.« Sulla hob Clitumnas Hand an seinen Mund und begann, ihre Fingerspitzen zu küssen. Als er Stichus angeekelten Blick sah, ging er dazu über, wollüstig an Clitumnas Fingern zu lutschen. »Komm, Schatz« — Clitumnas kleiner Finger verschwand in seinem Mund — »das glaube ich euch nicht« — der Ringfinger folgte — »daß gar nichts passiert ist.« Nacheinander verschwanden Mittelfinger, Zeigefinger, Daumen in Sullas Mund. Glücklicherweise wurde in diesem Augenblick das ferculum, das Hauptgericht, hereingetragen. Clitumna zog ihre Hand zurück und streckte sie gierig nach dem Lammbraten in Thymiansoße aus. »Unsere Nachbarn hatten viel Aufregung«, sagte sie kauend, »während es bei uns ruhig zuging.« Sie seufzte. »Titus Pomponius’ Frau hat im Februar einen kleinen Jungen geboren.« »Oh ihr Götter! Noch so ein langweiliger Geldsack!« meinte Sulla. »Und bei den Juliern?« Er dachte an die reizende Julilla und die Krone aus Gras. »Dort gab es große Neuigkeiten!« Clitumna schleckte ihre Finger ab. »Ein ganz großes gesellschaftliches Ereignis — eine Hochzeit!« Sulla glaubte zu fühlen, daß ihm das Herz wie ein Stein in den Magen fiel und dort inmitten der Speisen heftig schlagend liegenblieb. Ein seltsames Gefühl. »Wirklich?« sagte er betont gleichgültig. »Ja! Caesars älteste Tochter hat Gaius Marius geheiratet! Stell dir vor!« »Gaius Marius?« »Kennst du ihn nicht?« »Ich glaube nicht. Marius? Er muß ein homo novus sein.« »Richtig. Vor fünf Jahren war er Prätor, aber er hat es natürlich nicht zum Konsul gebracht. Er war Statthalter in Hispania Ulterior und hat dort ein Vermögen gemacht. Minen und so weiter.« 152
Sulla erinnerte sich plötzlich an den Mann mit dem Adlergesicht, der an der Amtseinführung der neuen Konsuln teilgenommen hatte. Er hatte eine purpurgeränderte Toga getragen. »Wie sieht er aus?« »Grotesk, mein Lieber! Riesige Augenbrauen! Wie haarige Raupen.« Clitumna nahm sich von dem gedünsteten Broccoli. »Er ist mindestens dreißig Jahre älter als Julia, das arme Kind.« »Das ist doch fast schon normal«, mischte sich Stichus ein, der endlich auch einmal zu Wort kommen wollte. »Mindestens die Hälfte aller römischen Mädchen heiratet Männer, die ihre Väter sein könnten. Ekelhaft!« »So ein Unsinn!« Nikopolis richtete sich auf und funkelte Stichus böse an. »Laß dir sagen, du Schlappschwanz, daß ältere Männer für junge Mädchen sehr attraktiv sind! Ältere Männer sind wenigstens mitfühlend und vernünftig. Meine schlimmsten Liebhaber waren alle unter fünfundzwanzig. Tun so, als ob sie alles wüßten, dabei wissen sie gar nichts. Pfui! Als ob man von einem Bullen gestoßen würde! Vorbei, bevor es angefangen hat.« Stichus, der dreiundzwanzig Jahre alt war, konnte das nicht auf sich sitzen lassen. »Du glaubst wohl, du weißt alles?« höhnte er. Nikopolis sah ihn kalt an. »Ich weiß jedenfalls mehr als du, Schlappschwanz!« »Jetzt kommt schon, heute wollen wir uns vertragen«, rief Clitumna. »Wo doch unser lieber Lucius Cornelius zurückgekommen ist.« Prompt warf der so angesprochene Heimkehrer seine Stiefmutter auf den Rücken und kitzelte sie am Bauch, so daß sie schrill aufschrie und mit den Beinen in der Luft herumstrampelte. Daraufhin begann Nikopolis, Sulla zu kitzeln, und auf dem Sofa entstand ein wüstes Durcheinander. Das war zuviel für Stichus. Er packte seine Schriftrolle und stolzierte aus dem Raum. Gegen Sulla war kein Kraut gewachsen. Tante Clitumna mußte den Verstand verloren haben! Nicht einmal während Sullas Abwesenheit hatte sie sich überreden lassen, Sulla aus dem Haus zu werfen. Sie hatte immer nur geheult, wie schade 153
es sei, daß ihre beiden lieben Jungen sich nicht vertragen würden. Daß er nichts gegessen hatte, war Stichus egal. In seinem Arbeitszimmer bewahrte er eine stattliche Sammlung von Eßbarem auf: ein Glas mit in Sirup eingelegten Feigen, ein kleines Tablett, das der Koch ständig mit süßem Honiggebäck versorgen mußte, eine Schachtel mit saftigen Rosinen, ferner Honigkuchen und Honigwein. Er konnte es ohne Lammbraten und Broccoli aushalten, für ihn zählten nur Süßigkeiten. Eine fünfeckige Lampe verscheuchte die einbrechende Dunkelheit, als Stichus, das Kinn in die Hand gestützt und süße Feigen kauend, aufmerksam die Zeichnungen der Schriftrolle studierte, die Sulla ihm geschenkt hatte, und dazu die griechische Beschreibung las. Ah! Ooooh! Unter seiner Tunika regte sich etwas! Und Stichus’ Hand. fiel vom Kinn in den Schoß, verstohlen, obwohl nur ein Glas Feigen ihm zusah.
Einem Impuls folgend, für den er sich zugleich verachtete, ging Lucius Cornelius Sulla am nächsten Morgen über den Palatin zu jener Stelle, wo er vor Wochen Julilla begegnet war. Inzwischen war es Spätfrühling, und überall blühten Blumen — Narzissen und Ameronen, Hyazinthen, Veilchen und hier und da sogar eine frühe Rose. Der Felsbrocken, auf dem er im Januar gesessen hatte, war jetzt fast ganz unter saftiggrünem Gras verschwunden. Julilla war da. Sie wirkte dünner, auch ihre Honigfarbe schien blässer, und eine Sklavin war bei ihr. Als Julilla Sulla sah, schoß eine wilde, triumphierende Freude in ihre Augen und verwandelte ihr Gesicht — sie war wunderschön. Sulla blieb abrupt stehen, ein Schauer überlief ihn. Venus. Sie war Venus, die Herrscherin über Leben und Tod. Denn war Leben nicht Zeugungstrieb und Tod sein Erlöschen? Alles andere waren Fabeln, die die Menschen erfunden hatten, um Leben und Tod eine tiefere Bedeutung zu geben. Sie war Venus. War er Mars, ihr gleich an Göttlichkeit? Nein, er war nicht Mars. Wut packte ihn, Enttäuschung und Haß. Gift 154
schoß durch seine Adern, und er verspürte einen überwältigenden Drang, sie zu verletzen und zu demütigen, bis aus Venus wieder Julilla geworden war. »Ich habe gehört, daß du gestern zurückgekommen bist«, sagte sie. »Du hast wohl überall Spione?« fragte er. »In unserer Straße braucht man keine Spione, Lucius Cornelius. Die Diener wissen alles.« »Nun, hoffentlich glaubst du nicht, daß ich hier nach dir gesucht habe. Ich wollte nur ein wenig Ruhe.« Sie war schöner geworden in der Zwischenzeit. Mein Liebling, dachte er. Julilla. Der Name ging wie Honig über die Lippen. »Willst du damit sagen, daß ich deine Ruhe störe?« Trotz ihrer Jugend war sie erstaunlich selbstsicher. Er lachte und sagte so herablassend wie möglich: »Oh ihr Götter! Kleines Mädchen, du mußt noch lange warten, bis du groß bist!« Er lachte noch einmal. »Ich habe gesagt, daß ich hierher kam, weil ich Ruhe brauche. Also habe ich angenommen, daß ich hier Ruhe finde, oder? Die logische Schlußfolgerung lautet, daß du meine Ruhe nicht im geringsten störst.« Julilla gab sich nicht geschlagen. »Keineswegs! Die Folgerung könnte auch lauten, daß du nicht erwartet hast, mir hier zu begegnen.« »Weil es mir absolut gleichgültig war«, sagte er. Es war ein ungleicher Kampf. Der Glanz in Julillas Augen erlosch, und aus der Unsterblichen wurde die Sterbliche. Julillas Gesicht zuckte, aber sie unterdrückte den Drang zu weinen und starrte Sulla nur verwirrt an. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck und seine Worte nicht mit ihren tiefsten Herzensinstinkten in Einklang bringen, die ihr sagten, daß sie ihn eingefangen hatte. »Ich liebe dich!« sagte sie, als ob damit alles erklärt sei. Er lachte wieder. »Fünfzehn! Was weißt du schon von Liebe?« »Ich bin sechzehn!« erwiderte sie. »Jetzt hör mir mal zu, Kleine«, sagte Sulla schneidend. »Laß mich in Ruhe! Deine Reden sind mir nicht nur lästig, sondern 155
langsam auch peinlich.« Er wandte sich um und ging weg. Julilla brach nicht in Tränen aus. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie in Tränen ausgebrochen wäre. So aber ging sie zu ihrer Sklavin, die so tat, als genieße sie die Aussicht auf den menschenleeren Circus Maximus. »Früher oder später kriege ich ihn, Chryseis.« »Ich glaube nicht, daß er dich will«, sagte Chryseis. »Natürlich will er mich!« rief Julilla. »Und wie er mich will!« Chryseis wußte aus langjähriger Erfahrung mit Julilla, wann es besser war, den Mund zu halten. Sie widersprach nicht, sondern seufzte nur und zuckte mit den Schultern. »Mach, was du willst.« »Das tue ich sowieso.« Schweigend machten sich die beiden Mädchen auf den Rückweg. Als sie den großen Tempel der Magna Mater erreicht hatten, brach Julilla das Schweigen. Ihre Stimme klang entschlossen. »Von jetzt an werde ich nichts mehr essen«, sagte sie. Chryseis blieb erschrocken stehen. »Und was willst du damit erreichen?« »Im Januar hat er gesagt, daß ich dick bin. Und er hat recht.« »Julilla, du bist nicht dick!« »Doch. Deshalb habe ich seit Januar keine Süßigkeiten mehr gegessen. Jetzt bin ich ein wenig schlanker, aber noch nicht schlank genug. Er mag schlanke Frauen. Schau dir nur Nikopolis an. Ihre Arme sind dünn wie Strohhalme.« »Aber sie ist alt!« rief Chryseis. »Was dir steht, würde an ihr furchtbar aussehen. Außerdem werden sich deine Eltern Sorgen machen, wenn du nichts mehr ißt — sie werden glauben, daß du krank bist!« »Sollen sie«, sagte Julilla. »Wenn sie glauben, daß ich krank bin, glaubt Lucius Cornelius das auch. Und dann wird er sich furchtbare Sorgen um mich machen.«
Vier Tage nach Sullas Rückkehr erkrankte Lucius Gavius Stichus in Clitumnas Haus an einer Verdauungsstörung und mußte das 156
Bett hüten. Besorgt ließ Clitumna ein halbes Dutzend der angesehensten Ärzte des Viertels kommen, die übereinstimmend Lebensmittelvergiftung diagnostizierten. »Aber er hat nichts anderes gegessen als wir anderen!« wandte Clitumna ein. »Er ißt sogar viel weniger.« »Ah, domina, da irrst du dich aber«, lispelte der Arzt Athenodorus Siculus, ein Grieche aus Sizilien, der sich neugierig im ganzen Haus umgesehen hatte. »Du weißt doch bestimmt, daß Lucius Gavius im Arbeitszimmer einen halben Süßwarenladen aufbewahrt?« »Unfug!« rief Clitumna. »Einen halben Süßwarenladen? Ein paar Feigen und etwas Gebäck, das ist alles.« Die sechs Ärzte sahen einander an. »Domina, er ißt diese Süßigkeiten den ganzen Tag und die halbe Nacht, das haben mir deine Diener erzählt«, sagte Athenodorus. »Ich rate dir: Nimm ihm die Süßigkeiten weg. Dann wird sich nicht nur die Magenverstimmung bessern, sondern sein ganzer Gesundheitszustand.« Lucius Gavius Stichus lag leichenblaß daneben, vom heftigen Durchfall so geschwächt, daß er sich nicht verteidigen konnte. Unruhig wanderten seine hervorstehenden Augen von einem Sprecher zum anderen. »Er hat überall Pickel, und seine Haut hat eine schlechte Farbe«, sagte ein anderer griechischer Arzt, der aus Athen stammte. »Treibt er Sport?« »Er braucht keinen Sport«, sagte Clitumna. Zum ersten Mal lag ein leicht zweifelnder Ton in ihrer Stimme. »Er ist geschäftlich dauernd unterwegs und reist von Ort zu Ort. Das hält ihn auf Trab, glaube mir!« »Was hast du für einen Beruf, Lucius Gavius?« fragte ein spanischer Arzt. »Ich bin Sklavenhändler«, sagte Stichus. Außer Publius Popillius, einem Römer, waren alle anwesenden Ärzte als Sklaven nach Rom gekommen, und die Ablehnung in ihren Blicken war deutlich zu sehen. Sie erklärten die Untersuchung für beendet und zogen sich zurück. 157
»Wenn er nach Süßigkeiten verlangt, soll er Wein mit Honig trinken«, sagte Publius Popillius. »Ein oder zwei Tage lang darf er keine feste Nahrung zu sich nehmen. Wenn er sich dann hungrig fühlt, soll er ein normales Essen bekommen. Normales Essen, domina! Keine Süßigkeiten.« Stichus’ Zustand besserte sich in der folgenden Woche, er wurde jedoch nicht völlig gesund. Zwar aß er nur nahrhafte und gesunde Speisen, aber er litt in regelmäßigen Abständen unter Schwindelanfällen, Erbrechen, Schmerzen und Durchfall. Er verlor an Gewicht, allerdings so allmählich, daß es niemand im Haus auffiel. Als der Sommer zu Ende ging, konnte er sich nicht einmal mehr in sein Arbeitszimmer am Porticus Metelli schleppen. Die Tage, an denen er danach verlangte, auf dem Sofa in der Sonne zu liegen, wurden immer seltener, das illustrierte Buch, das Sulla ihm geschenkt hatte, interessierte ihn nicht mehr, und Essen war eine Tortur. Er konnte nur noch den Honigwein ertragen und manchmal nicht einmal mehr den. Bis September hatte Clitumna jeden Arzt in Rom zu Rat gezogen. Die Ärzte gaben viele verschiedene Diagnosen ab, von den Behandlungsvorschlägen ganz zu schweigen. »Er darf essen, was er will.« »Er darf nichts essen. Fasten ist am besten.« »Er darf nur noch Bohnen essen.« »Tröstet euch«, sagte der Grieche Athenodorus Siculus, »was immer er hat, ansteckend ist es offenbar nicht. Ich glaube, er hat eine bösartige Geschwulst in den oberen Eingeweiden. Trotzdem solltest du dafür sorgen, daß alle sich gründlich die Hände waschen, die mit ihm in Kontakt gekommen sind oder seinen Nachttopf ausleeren müssen.« Zwei Tage später starb Lucius Gavius Stichus. Clitumna war außer sich vor Trauer. Sie wollte nicht länger in Rom bleiben, und Sulla brachte sie zu ihrem Landhaus nach Circei. Als Sulla aus Circei zurückkehrte, gab er Nikopolis einen Kuß, dann zog er aus ihren Räumen aus. 158
»Ich übernehme wieder das Arbeitszimmer und mein eigenes Schlafzimmer«, sagte er. »Schließlich bin ich jetzt, wo der klebrige Stichus tot ist, der nächste Verwandte Clitumnas.« Die üppig illustrierten Buchrollen verbrannte er in einem Eimer. Nikopolis sah ihm von der Tür des Arbeitszimmers aus zu. Die Karaffe mit dem Honigwein stand auf einer kostbaren Konsole aus Zitronenholz. Als Sulla das Gefäß hochhob, sah er Feuchtigkeitsringe, die sich unauslöschbar in die feine Holzmaserung gefressen hatten. Verächtlich zog er den Atem durch die Zähne. »So eine Kakerlake! Leb wohl, du süße Feige!« Er warf die Karaffe durch das offene Fenster in den Garten des Peristyls, wo sie auf der Fußplatte des Standbilds von Apollo und Daphne in tausend Scherben zerbarst. Der Honigwein bildete auf dem glatten Stein einen große Lache und tropfte in dünnen Rinnsalen auf den Boden. »Du hast recht«, kicherte Nikopolis, »er war wirklich eine süße Feige.« Sie rief nach ihrer Magd Bithy und befahl ihr, die Lache aufzuwischen. Niemand bemerkte die Spuren eines weißen Pulvers auf dem Marmor. Bithy wischte sie unbeachtet weg. »Ich bin froh, daß du nicht die Statuen getroffen hast«, sagte Nikopolis. Sie saß auf Sullas Knien. »Mir tut es leid«, sagte Sulla. Er sah sehr zufrieden aus. »Leid? Aber Lucius Cornelius, sie sind doch so schön angemalt! Die ganze Farbe wäre ruiniert gewesen.« Sulla kräuselte verächtlich die Oberlippe, so daß seine Zähne zu sehen waren. »Warum muß ich es immer mit Narren zu tun haben, die nicht wissen, was Kunst ist?« Er schob Nikopolis von seinen Knien. Die Lache war verschwunden. Bithy wrang den Lappen aus und leerte den Wassereimer in das Blumenbeet. »Bithy!« rief Sulla. »Wasch dir die Hände, und zwar gründlich! Du weißt nicht, woran Stichus gestorben ist, und er hat ja dauernd von dem Honigwein getrunken.« 159
Bithy strahlte, weil er so besorgt um sie war.
»Ich habe heute einen sehr interessanten jungen Mann entdeckt«, sagte Gaius Marius zu Publius Rutilius Rufus. Die beiden Männer saßen in der Einfriedung des Tellus-Tempels gleich neben Rutilius Rufus’ Haus, in die an diesem windigen Herbsttag die Sonne schien. »In mein Peristyl fällt kein einziger Sonnenstrahl«, hatte Rutilius Rufus erklärt und deshalb seinen Besucher zu einer Holzbank in der Nähe des großen, aber halbverfallenen Tempels geführt. »Unsere alten Götter werden heutzutage vernachlässigt, ganz besonders meine gute alte Nachbarin Tellus. Alle verneigen sich vor der Magna Mater von Asien und vergessen, daß Rom mit seiner eigenen Erdgöttin besser gedient wäre!« Gaius Marius hatte die Begegnung mit dem interessanten jungen Mann nur erwähnt, um der drohenden Predigt über die ältesten und geheimnisvollsten Götter Roms zu entgehen. Der kleine Trick funktionierte. Rutilius Rufus konnte interessanten Menschen jeden Alters und Geschlechts nicht widerstehen. »Von was für einem jungen Mann redest du?« fragte er und wandte sein Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne zu. »Er heißt Marcus Livius Drusus und ist wahrscheinlich nicht älter als — nun, siebzehn oder achtzehn Jahre.« »Mein Neffe Drusus?« Marius sah ihn überrascht an. »Er ist dein Neffe?« »Ja, wenn du den Sohn des Marcus Livius Drusus meinst, der im Januar seinen Triumph gefeiert hat und sich für das kommende Jahr zum Zensor wählen lassen will.« Marius lachte und schüttelte den Kopf. »Nein, wie peinlich! Warum kann ich mir solche Dinge nie merken?« »Wahrscheinlich deshalb«, sagte Rutilius Rufus trocken, »weil meine Frau Livia jetzt schon seit vielen Jahren tot ist, nie an den Gelagen in meinem Haus teilnahm und auch nie außer Haus ging. Um dein bäurisches Gedächtnis aufzufrischen: Livia war die Schwe160
ster des Vaters deines interessanten jungen Mannes. Ich habe meine Frau sehr gemocht. Sie hat mir zwei prächtige Kinder geschenkt und nie mit mir gestritten.« »Ich weiß«, sagte Marius unangenehm berührt. Würde er diese Familienbeziehungen denn niemals auseinanderhalten können? »Du solltest wieder heiraten«, sagte er dann. Seine eigene Ehe machte ihn sehr glücklich. »Nein danke! Ich kann meine Leidenschaften beim Briefeschreiben abreagieren.« Rutilius Rufus öffnete ein Auge und sah Marius an. »Und warum hältst du soviel von meinem Neffen Drusus?« »In den letzten Wochen haben mich mehrere Abordnungen unserer italischen Bundesgenossen aufgesucht«, sagte Marius langsam. »Alle beschwerten sich bitter, daß Rom ihre Soldaten mißbraucht. Meiner Meinung nach haben sie gute Gründe für ihre Beschwerde, denn fast alle Konsuln sind in den letzten zehn Jahren oder länger leichtfertig mit dem Leben der Soldaten umgegangen — als ob die Männer Stare oder Spatzen wären! Und als erste mußten immer die Soldaten der italischen Bundesgenossen dran glauben, denn es ist üblich geworden, sie in gefährlichen Situationen vor unseren eigenen einzusetzen.« Rutilius Rufus kannte Marius gut genug, um zu wissen, daß diese scheinbare Abschweifung zuletzt doch noch zu seinem Neffen Drusus führen würde. Deshalb ging er bereitwillig auf sie ein. »Rom hat die italischen Bundesgenossen unter seinen Schutz genommen, um die ganze Halbinsel besser verteidigen zu können. Die italischen Völker stellen uns Soldaten zur Verfügung, dafür wurde ihnen ein Sonderstatus als Bundesgenossen Roms zugestanden. Sie stellen uns Truppen, damit wir gemeinsam für eine gemeinsame Sache kämpfen können. Wäre es nicht so, würden sich die Völker der Halbinsel noch immer gegenseitig bekriegen — und dabei mehr Männer verlieren, als irgendein römischer Konsul jemals verloren hat.« »Darüber kann man geteilter Meinung sein«, sagte Marius. »Sie hätten sich auch ohne Rom miteinander verbünden können!« 161
»Aber sie sind nun einmal mit Rom verbündet, und das seit zwei- oder dreihundert Jahren. Mein lieber Gaius Marius, ich verstehe nicht, worauf du eigentlich hinauswillst.« »Die Bundesgenossen behaupten, daß Rom ihre Truppen in fernen Kriegen einsetzt, von denen keinerlei Nutzen für Italien zu erwarten ist«, erklärte Marius geduldig. »Dafür haben wir ihnen einmal das römische Bürgerrecht in Aussicht gestellt, aber seit fast achtzig Jahren hat keine italische oder latinische Gemeinde mehr das Bürgerrecht erhalten. Es mußte erst zur Revolte von Fregellae kommen, bis der Senat zu Zugeständnissen bereit war!« »Das ist eine sehr vereinfachte Darstellung«, sagte Rutilius Rufus. »Wir haben den italischen Bundesgenossen nicht pauschal das Bürgerrecht versprochen. Wir haben ihnen angeboten, stufenweise die Bürgerrechte zu erwerben, und zwar im Austausch für fortgesetzte Treue — zuerst die latinischen Rechte.« »Latinische Rechte bedeuten sehr wenig, Publius Rutilius! Bestenfalls ein zweitklassiges Bürgerrecht.« »Nun ja, aber du wirst zugeben, daß wir in den fünfzehn Jahren seit dem Aufstand von Fregellae viel verbessert haben«, beharrte Rutilius Rufus. »Jeder, der in einer Bürgergemeinde ein Amt innehat, erhält jetzt automatisch das volle römische Bürgerrecht für sich und seine Familie.« »Ich weiß, ich weiß. Das Gesetz verschafft Rom genau die richtigen neuen Bürger — Männer mit Vermögen und Einfluß.« Rutilius Rufus zog die Augenbrauen hoch. »Und was ist falsch daran?« »Du denkst zwar oft aufgeschlossen und fortschrittlich, Publius Rutilius, aber in deinem Herzen bist du ein genauso spießiger römischer Adliger wie Gnaeus Domitius Ahenobarbus!« Marius war gereizt, versuchte jedoch, sich zu beherrschen. »Warum begreifst du denn nicht, daß Rom und Italien gleichberechtigt in eine Union zusammengehören?« »Weil sie eben nicht zusammengehören!« Auch Rutilius Rufus war ungeduldig geworden. »Wirklich, Gaius Marius! Wie kannst du hier in Roms Mauern für politische Gleichberechtigung von 162
Römern und Italikern eintreten? Rom ist nicht zufällig die erste Macht in der Welt geworden! Rom ist anders.« »Rom ist etwas Besseres, willst du sagen.« »Richtig!« Rutilius Rufus richtete sich auf. »Rom ist Rom, die Römer sind den anderen Völkern überlegen!« »Hast du eigentlich nie darüber nachgedacht, Publius Rutilius, daß Rom noch größer wäre, wenn ganz Italien — auch das italische Gallien — zu seinem Herrschaftsbereich gehören würde?« »Unsinn! Rom wäre dann nicht mehr Rom«, antwortete Rutilius. »Und damit weniger?« »Natürlich!« »Aber die heutige Situation ist doch eine Posse«, beharrte Marius. »Italien ist ein Flickenteppich! Einige Gegenden haben das volle Bürgerrecht, andere das latinische Recht, wieder andere nur den Status von Bundesgenossen, alles wild durcheinander. Wie kann da ein Gefühl der Einheit, der Verbundenheit mit Rom entstehen?« »Völker, die das Bürgerrecht oder das latinische Recht haben, verraten uns nicht. Es würde sich für sie nicht auszahlen, uns zu verraten, besonders dann nicht, wenn sie die Alternative in Betracht ziehen.« »Damit meinst du vermutlich einen Krieg gegen Rom?« »Na ja, so weit würde ich nicht gehen — ich meine mehr den Verlust von Privilegien, der für die römischen und latinischen Gemeinden unannehmbar wäre, ganz zu schweigen von dem Verlust an gesellschaftlicher Wertschätzung und Anerkennung.« »Dignitas über alles«, sagte Marius. »Genau.« »Du glaubst also, die Anführer dieser römischen und latinischen Gemeinden könnten verhindern, daß die italischen Völker eines Tages auf die Idee kommen, sich gegen Rom zusammenzuschließen?« Rutilius Rufus war schockiert. »Gaius Marius, von was redest du da? Du bist doch kein Gaius Gracchus und ganz bestimmt kein Reformer!« 163
Marius erhob sich und ging mehrere Male vor der Bank auf und ab. Dann wandte er sich plötzlich Rutilius zu und sah ihn mit einem wilden Blick an. »Du hast recht, ich bin kein Reformer, aber ich bin ein praktisch denkender Mensch, und ich habe, wie ich mir selbst schmeichle, mehr als nur meinen gerechten Anteil an Intelligenz mitbekommen. Außerdem bin ich kein echter Römer — wie mir die echten Römer immer wieder deutlich zu verstehen geben. Vielleicht ist es meiner Herkunft aus der Provinz zuzuschreiben, daß ich Rom aus einer Distanz sehen kann, wie das vermutlich kein echter Römer kann. Und ich sehe voraus, daß wir Probleme mit unseren Bundesgenossen bekommen werden. Vor ein paar Tagen habe ich gehört, was die italischen Bundesgenossen zu sagen hatten. Veränderungen liegen in der Luft.« Rutilius Rufus sah Marius, der sich vor ihm aufgebaut hatte, gereizt an. »Setz dich bitte wieder! Ich bekomme sonst noch Nackenschmerzen.« Marius setzte sich wieder auf die Bank und streckte die Beine aus. »Du suchst dir Klienten unter den Italikern«, sagte Rutilius Rufus. »Richtig. Aber nicht ich allein, Publius Rutilius. Gnaeus Domitius Ahenobarbus zählt inzwischen ganze Ortschaften zu seinen Klienten. Auch Marcus Aemilus Scaurus ist sich nicht zu schade, norditalische Klienten an sich zu binden.« »Aber wenigstens tut er etwas für seine Klienten — er läßt Sümpfe trockenlegen oder eine neue Versammlungshalle bauen.« Rutilius Rufus gehörte zu Scaurus’ Anhängern. »Zugegeben. Aber vergiß nicht die Meteller in Etrurien. Auch sie werben eifrig Klienten.« Rutilius Rufus seufzte tief. »Gaius Marius, wann erfahre ich endlich, was du mir auf diese umständliche Weise sagen willst?« »Das weiß ich selbst noch nicht genau«, sagte Marius. »Ich spüre nur so etwas wie eine Grundströmung. Den großen römischen Geschlechtern wird langsam bewußt, wie wichtig die italischen Bundesgenossen sind. Sie — wie soll ich es ausdrücken 164
— folgen einem Instinkt, den sie selbst noch nicht verstehen.« »Ich zweifle nicht an deinem Instinkt«, sagte Rutilius Rufus. »Du bist ein bemerkenswert kluger Mensch, Gaius Marius. Oberflächlich betrachtet, ist ein Klient nicht viel wert. Er ist viel mehr auf seinen Patron angewiesen als umgekehrt. Mit Ausnahme von Wahlen vielleicht, oder wenn eine Katastrophe droht. Vielleicht kann der Klient seinem Patron nur dadurch helfen, daß er sich weigert, jemanden gegen die Interessen seines Patrons zu unterstützen. Aber Instinkte sind wichtig, darin stimme ich dir zu. Sie machen auf verborgene Tatsachen aufmerksam, noch lange ehe der nüchterne Verstand sie entdeckt. Vielleicht hast du recht mit deiner Grundströmung. Und vielleicht ist es der einzige Weg aus der Gefahr, daß die großen römischen Familien die italischen Bundesgenossen als Klienten gewinnen. Ich weiß es wirklich nicht.« »Ich weiß es auch nicht«, sagte Marius. »Aber ich werbe Klienten an.« »Aber zurück zum Ausgangspunkt«, lächelte Rutilius Rufus. »Wir wollten über meinen Neffen Drusus sprechen, wenn ich mich richtig erinnere.« Marius sprang auf. »Stimmt! Komm mit, Publius Rutilius, vielleicht sind wir noch nicht zu spät dran. Ich will dir ein Beispiel für die neue Einstellung der großen Familien gegenüber den italischen Bundesgenossen zeigen!« Rutilius erhob sich ebenfalls. »Ich komme ja schon! Aber wohin?« »Zum Forum natürlich!« Marius ging bereits den Abhang des Tempelbezirks zur Straße hinunter. »Dort findet gerade ein Prozeß statt, und wenn wir Glück haben, ist er noch nicht vorbei.« »Es überrascht mich, daß du davon weißt«, sagte Rutilius Rufus trocken. »Du kümmerst dich doch sonst nicht um die Vorgänge auf dem Forum.« »Und mich überrascht, daß du nicht seit heute morgen auf dem Forum bist«, entgegnete Marius. »Schließlich ist es der erste Auftritt deines Neffen Drusus als Advokat.« 165
»Nein! Seinen ersten Auftritt hatte er schon vor Monaten. Damals vertrat er die Anklage gegen den obersten Finanztribunen.« »Ach so.« Marius zuckte die Schultern und beschleunigte den Schritt. »Dann kann ich dir natürlich kein Versäumnis vorwerfen. Aber auf jeden Fall solltest du die Karriere des jungen Drusus genau beobachten, Publius Rutilius. Dann würdest du nämlich auch meine Ausführungen über die italischen Bundesgenossen besser verstehen.« »Bitte kläre mich auf.« Rutilius Rufus’ Atem ging schwer. Marius vergaß immer, daß sein Freund kürzere Beine hatte als er. »Ich hörte heute auf dem Forum jemanden in schönstem Latein und mit einer schönen Stimme reden. Ein neuer Redner, dachte ich und blieb stehen. Es war dein junger Neffe Drusus!« »In welchem Fall vertritt er diesmal die Anklage?« »Das ist ja gerade das Interessante: Er tritt diesmal nicht als Ankläger auf, sondern als Verteidiger. Noch dazu vor dem Fremdenprätor! Es ist ein wichtiger Fall, denn es werden sogar Geschworene berufen.« »Mord an einem römischen Bürger?« »Nein. Bankrott.« »Das ist ungewöhnlich«, schnaufte Rutilius Rufus. »Wie ich die Sache verstanden habe, handelt es sich um eine Art Präzedenzfall«, fuhr Marius fort, ohne seine Schritte zu verlangsamen. »Kläger ist der Geldhändler Gaius Oppius, Beklagter ein marsischer Geschäftsmann namens Lucius Fraucus aus Marruvium. Wie mir ein Informant erzählt hat, hatte Oppius die Außenstände auf seinen italischen Konten satt. Deshalb beschloß er, einen Italiker hier in Rom vor Gericht zu bringen, um ein Exempel zu statuieren. Er will den Italikern solche Angst einjagen, daß sie ihre — vermutlich exorbitanten — Schuldzinsen pünktlich zahlen.« »Die Zinsen«, keuchte Rutilius Rufus, »liegen bei zehn Prozent.« »Nur wenn du Römer bist«, erwiderte Marius. »Wenn du so weiterredest, wirst du wie die Gracchen enden, nämlich mausetot.« 166
»Unsinn!« Rutilius Rufus verlangsamte seinen Schritt. »Ich möchte lieber nach Hause. Ich weiß wirklich nicht, warum wir zum Forum gehen.« »Weil dein Neffe immer noch spricht. Als ich das Forum verließ, hatte er noch gute zweieinhalb Stunden für sein Plädoyer«, antwortete Marius. »Der Prozeß ist sozusagen ein Experiment. Hat irgendwas mit den neuen Prozeßregeln zu tun, die sie einführen wollen. Zuerst kamen die Zeugen dran, dann erhielt die Anklage zweieinhalb Stunden für die Zusammenfassung, dann die Verteidigung drei Stunden für das Plädoyer. Danach bittet der Fremdenprätor die Geschworenen um ihr Urteil.« Sie schritten den Clivus Sacer hinunter, und der untere Teil des Forum Romanum lag jetzt direkt vor ihnen. »Gut! Wir kommen gerade rechtzeitig zum Schlußplädoyer«, sagte Marius. Marcus Livius Drusus sprach immer noch, und immer noch hörten ihm die Anwesenden gebannt zu. Der neue Advokat war deutlich unter zwanzig Jahre alt, von mittlerer Größe und gedrungener Gestalt, und er hatte schwarze Haare und eine dunkle Haut: kaum ein Advokat, der durch seine physische Erscheinung zu bannen vermochte, obwohl sein Gesicht nicht unattraktiv war. »Ist er nicht erstaunlich?« fragte Marius leise. »Man fühlt sich persönlich angesprochen und glaubt sich geradezu allein mit ihm.« Marius und Rutilius standen am hinteren Rand einer großen Menge, aber sogar auf diese Entfernung hatten sie den Eindruck, als seien Drusus’ dunkle Augen allein auf sie gerichtet. »Nirgends steht geschrieben, daß sich ein Mann nur deshalb im Recht befindet, weil er Römer ist«, sagte der junge Mann gerade. »Ich spreche nicht für den Beklagten Lucius Fraucus, ich spreche für Rom! Für Ehre, Integrität und Gerechtigkeit! Nicht für jene Art vordergründiger Gerechtigkeit, die nur die Buchstaben des Gesetzes versteht, sondern für die Gerechtigkeit, die den Sinn hinter dem Wortlaut begreift. Das Gesetz darf kein Felsbrocken sein, der auf einen Menschen herabfällt und ihn gleichmacht mit allen 167
anderen Menschen, denn die Menschen sind nicht gleich. Das Gesetz soll ein weiches Tuch sein, das den Menschen umhüllt und dennoch seine Konturen erkennen läßt, auch wenn das Tuch für alle Menschen gleich ist. Wir dürfen nie vergessen, daß wir, als Bürger Roms, dem Rest der Welt ein Beispiel geben müssen, vor allem, was unsere Gesetze und Gerichte angeht.« Drusus unterstrich seine Worte mit beredten Gesten. Die kleinste Fingerbewegung, die weit ausholenden Bewegungen des rechten Arms, die Kopfbewegungen und das Mienenspiel — alles beherrschte er perfekt. »Lucius Fraucus, Italiker aus Marruvium, ist ein Opfer, kein Täter. Niemand — auch Lucius Fraucus nicht — bestreitet die Tatsache, daß der große Geldbetrag, den Gaius Oppius als Kredit gegeben hat, verschwunden ist. Es bestreitet auch niemand, daß das Geld Gaius Oppius zurückerstattet werden muß, und zwar einschließlich der aufgelaufenen Zinsen. Lucius Fraucus ist bereit, notfalls seine Häuser zu verkaufen, seine Ländereien, seine Geschäftsbeteiligungen, seine Sklaven, seine Möbel — seinen gesamten Besitz!« Drusus trat vor die Geschworenen und musterte sie eindringlich. »Ihr habt die Zeugen gehört. Ihr habt die Anklage gehört. Lucius Fraucus hat das Geld geliehen, aber er hat es nicht gestohlen. Deshalb behaupte ich, daß Lucius Fraucus das eigentliche Opfer ist, nicht der Geldhändler Gaius Oppius. Wenn ihr, die Geschworenen, Lucius Fraucus verurteilt, unterwerft ihr ihn dem vollen Strafmaß des Gesetzes, das für Menschen gilt, die nicht Bürger dieser großen Stadt sind und auch nicht die latinischen Rechte besitzen. Das gesamte Hab und Gut des Lucius Fraucus wird versteigert werden. Ihr wißt, was das bedeutet. Es wird nicht annähernd soviel Geld einbringen, wie es wert ist, vielleicht nicht einmal genug, um die geborgte Summe zurückzuerstatten.« Bei dieser letzten Bemerkung warf Drusus einen vielsagenden Blick auf den Geldhändler Gaius Oppius. »Nun denn! Wenn Lucius Fraucus seine Schulden deshalb nicht bezahlen kann, wird er in Schuldknechtschaft verkauft werden, 168
bis die Differenz zwischen der geforderten Summe und dem Erlös aus der Versteigerung gedeckt ist. Nun mag Lucius Fraucus zwar ein schlechter Menschenkenner sein, wenn es um die Auswahl seiner wichtigsten Angestellten geht, doch er ist ein geschickter und erfolgreicher Geschäftsmann. Aber wie soll er jemals seine Schulden zurückzahlen, wenn er — arm und entehrt — in Schuldknechtschaft lebt?« Drusus konzentrierte sich nun ganz auf den römischen Geldhändler, einen milde aussehenden, etwa fünfzigjährigen Mann, der Drusus gleichfalls gebannt lauschte. »Wird ein Mensch, der kein römischer Bürger ist, eines Verbrechens für schuldig befunden, so folgt eines unausweichlich: Er wird ausgepeitscht. Er wird mit einer Peitsche geschlagen, die mit Widerhaken versehen ist. Er wird gepeitscht, bis von seiner Haut und seinen Muskeln nichts mehr übrig ist, bis er für den Rest seines Lebens verunstaltet ist und schlimmere Narben davonträgt als ein Minensklave.« Marius’ Nackenhaare sträubten sich: Hatte der junge Mann ihn bei diesen Worten direkt angeblickt oder hatten ihm seine Augen einen Streich gespielt? Denn Marius war einer der größten Minenbesitzer Roms. Doch wie hätte der junge Drusus einen verspäteten Zuhörer am hinteren Rand einer so großen Menschenmenge entdecken sollen? »Wir sind Römer!« rief er. »Italien und seine Bürger stehen unter unserem Schutz. Wollen wir uns wirklich wie Minenbesitzer gegenüber Menschen verhalten, die uns als Vorbild ansehen? Wollen wir einen Unschuldigen wegen einer Formsache verurteilen — nur weil ein Schuldschein seine Unterschrift trägt? Wollen wir seine Bereitschaft ignorieren, volle Wiedergutmachung zu leisten? Wollen wir ihm weniger Gerechtigkeit widerfahren lassen, als wir einem römischen Bürger zubilligen würden? Wollen wir einen Mann auspeitschen lassen, dem man eher eine Narrenmütze aufsetzen sollte, weil er einem Dieb vertraut hat? Wollen wir seine Frau zur Witwe machen? Wollen wir seinen Kindern den liebevollen Vater nehmen und sie zu Waisen machen? Sicherlich 169
nicht, verehrte Geschworene! Denn wir sind Römer. Wir sind besser als andere Menschen!« Der Redner wandte sich abrupt von dem Geldhändler ab. Eine kleine Pause entstand. Alle Augen waren wie gebannt auf Drusus gerichtet, fast alle Augen — mit Ausnahme der Augen einiger Geschworener in der vordersten Reihe, die sich ansonsten von den übrigen Mitgliedern der Jury nicht unterschieden. Auch Gaius Marius und Publius Rutilius Rufus sahen den Redner nicht an. Einer der Geschworenen starrte Oppius durchdringend an und fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Kehle, als ob er sich dort kratzen wollte. Die Antwort folgte sofort: ein kaum wahrnehmbares Kopfschütteln des großen Bankiers. Gaius Marius lächelte. »Ich danke dir, praetor peregrinus«, sagte der junge Mann und verbeugte sich vor dem Fremdenprätor. Plötzlich wirkte er steif und schüchtern. »Ich danke dir, Marcus Livius«, antwortete der Fremdenprätor und richtete seinen Blick auf die Geschworenen. »Bürger Roms, schreibt euren Spruch auf die Tafeln und übergebt sie dem Gericht.« Die Geschworenen zogen kleine graue Tontafeln und Kohlestifte hervor, doch sie schrieben nicht. Statt dessen starrten sie auf die Hinterköpfe der Geschworenen, die in der Mitte der ersten Reihe saßen. Der Mann, der Oppius eine stumme Frage gestellt hatte, nahm seinen Stift und zeichnete einen Buchstaben auf seine Tontafel. Dann gähnte er ausgiebig und reckte dabei die Arme hoch über den Kopf. Die Tafel hielt er noch immer in der linken Hand. Die übrigen Geschworenen begannen nun eifrig zu schreiben und überreichten dann ihre Tafeln den Liktoren, die sie einsammelten. Der Fremdenprätor zählte die Stimmen selbst aus. Atemlos warteten alle auf das Urteil. Der Prätor blickte erst auf, als er alle einundfünfzig Tafeln gezählt hatte. »Freispruch«, sagte er. »Dreiundvierzig dafür, acht dagegen. Lucius Fraucus von Marruvium, Angehöriger des mit Rom verbündeten Volkes der Marser, du wirst von diesem Gericht hiermit freigesprochen, aber nur unter der Bedingung, daß du die verspro170
chene volle Wiedergutmachtung leistest. Du wirst noch heute die Einzelheiten mit deinem Gläubiger Gaius Oppius klären.« Damit war der Prozeß beendet. Marius und Rutilius Rufus warteten, bis die versammelten Menschen dem jungen Marcus Livius Drusus ihre Glückwünsche ausgesprochen hatten. »Ich gratuliere dir, Marcus Livius«, sagte Marius und reichte ihm die Hand. »Danke, Gaius Marius.« »Gut gemacht«, sagte Rutilius Rufus. Gemeinsam verließen sie das Forum. Rutilius Rufus beteiligte sich nicht an dem Gespräch zwischen Marius und Drusus. Er freute sich, daß sein Neffe seine Sache so gut gemacht hatte, aber er kannte auch die Schwächen in dessen Charakter. Der junge Drusus war ein ziemlich humorloser Mensch, brillant, aber zugleich seltsam starrsinnig, ernst, zäh, ehrgeizig und unfähig, eine Sache aufzugeben, in die er sich verbissen hatte, selbst wenn er sich dadurch selbst schädigte. Er würde es einmal nicht leicht haben. Trotzdem war er ein ehrenwerter Kerl. »Es wäre schlecht für Rom gewesen, wenn dein italischer Klient verurteilt worden wäre«, sagte Marius gerade. »Sehr schlecht«, stimmte Drusus zu. »Fraucus ist einer der einflußreichsten Männer in Marruvium, er gehört dem marsischen Ältestenrat an.« Sie waren am Ausgang des Forums angekommen. »Geht ihr den Palatin hinauf?« fragte Drusus. »Nein.« Publius Rutilius Rufus war aus seinen Gedanken wieder erwacht. »Gaius Marius wird bei mir speisen, Neffe.« Drusus verbeugte sich und ging in Richtung Clivus Palatinus weiter. Hinter Marius und Rutilius Rufus tauchte die wenig einnehmende Gestalt des jungen Quintus Servilius Caepio auf. Caepio war Drusus’ bester Freund, und er beeilte sich, Drusus einzuholen. »Diese Freundschaft gefällt mir nicht.« Rutilius Rufus sah den beiden jungen Männern nach. »Warum nicht?« »Die Familie Servillus Caepio ist sehr vornehm und sagenhaft 171
reich, aber bei ihnen paart sich ein kleiner Verstand mit einer großen Einbildung. Meinem Neffen scheinen die Unterwürfigkeit und die Schmeicheleien des jungen Caepio mehr zu bedeuten als die Freundschaft seiner anderen Altersgenossen. Schade. Denn ich fürchte, Gaius Marius, daß der junge Drusus sich überschätzt, wenn er sich nur an Caepios Ergebenheit orientiert.«
Später in derselben Woche besuchte Marius seinen Freund Rutilius Rufus noch einmal. Rutilius war beim Packen. »Panaitios liegt im Sterben«, sagte er mit Tränen in den Augen. »Oh, das tut mir leid! Wo lebt er? Wirst du rechtzeitig zu ihm kommen?« »Ich hoffe es. Er lebt in Tarsus. Offenbar hat er nach mir verlangt. Stell dir das vor: Von all den Römern, die er unterrichtet hat, will er ausgerechnet mich sehen!« Marius sah ihn freundlich an. »Wundert dich das? Schließlich warst du sein bester Schüler.« »Nein, nein«, sagte Rutilius abwesend. »Ich will dich jetzt nicht länger stören, Publius Rutilius.« »Unsinn.« Rutilius Rufus führte Marius in sein Arbeitszimmer, das ein einziges Chaos war. Auf allen Tischen stapelten sich Buchrollen, die meisten nur halb aufgerollt, einige vom Tisch auf den Boden hängend — Kaskaden kostbaren ägyptischen Papiers. »Laß uns in den Garten gehen«, sagte Marius. Es schien ihm unmöglich, in diesem Durcheinander ein ruhiges Gespräch zu führen, obwohl er sicher war, daß Rutilius Rufus bei Bedarf jede beliebige Buchrolle sofort finden würde. »Woran schreibst du gerade?« fragte er. Sein Blick war auf eine lange Rolle gefallen, die zur Hälfte mit Rutilius Rufus’ gestochener Handschrift bedeckt war. »Dazu wollte ich dir später noch ein paar Fragen stellen«, antwortete Rutilius, während er seinen Besucher in den Garten führte. »Ich arbeite an einem Handbuch der Kriegführung. Wir haben uns doch neulich über die unfähigen Feldherren unterhal172
ten. Ich dachte mir, daß endlich einmal ein kompetenter Mann ein hilfreiches Buch über Kriegführung schreiben sollte. In den ersten Teilen geht es um Logistik und Planung, jetzt bin ich bei Taktik und Strategie. Darüber kannst du mir sicher einiges sagen.« »Ich stehe dir jederzeit zur Verfügung.« Marius setzte sich auf eine Holzbank. Der Garten war sehr klein und ohne Sonnenlicht. »Hat dich Metellus Schweinebacke wieder einmal besucht?« »Er war erst heute morgen hier.« Rutilius ließ sich ebenfalls nieder. »Mich hat er heute morgen auch besucht.« »Unser Freund Schweinebacke hat sich überhaupt nicht verändert.« Rutilius Rufus lachte. »Wenn ich hier einen Schweinestall hätte, ich hätte ihn auf der Stelle hineingeworfen.« »Das kann ich dir zwar nachfühlen, aber wir sollten uns lieber zurückhalten. Was wollte er?« »Er will für das Konsulat kandidieren.« »Wenn überhaupt Wahlen stattfinden! Wie kommen diese beiden Narren nur auf die Idee, sich noch einmal als Volkstribunen aufstellen zu lassen? Das ist schon den Gracchen schlecht bekommen.« »Das dürfte die Wahlen der Zenturien und die Wahlen der Plebs eigentlich nicht beeinflussen«, meinte Rutilius Rufus. »Aber es wird sie beeinflussen! Unsere beiden Wiederbewerber werden ihre Kollegen dazu bringen, gegen jede Wahl ein Veto einzulegen. Du weißt doch, wie die Volkstribunen sind — wenn sie einmal Blut gerochen haben, kann sie niemand mehr aufhalten.« Rutilius mußte lachen. »Ich sollte ja eigentlich wissen, wie Volkstribunen sind! Ich war einer der schlimmsten. Und du warst nicht besser, Gaius Marius!« »Na ja...« »Die Wahlen werden stattfinden, mach dir keine Sorgen«, sagte Rutilius Rufus gelassen. »Ich vermute, daß die Volkstribunen vier Tage vor den Iden des Dezember gewählt werden. Alle anderen Wahlen werden gleich nach den Iden stattfinden.« 173
»Und Metellus Schweinebacke wird Konsul werden«, sagte Marius. Rutilius Rufus beugte sich vor. »Er weiß etwas.« »Ich glaube, du hast recht, alter Freund. Er weiß etwas, das wir nicht wissen. Aber was?« »Jugurtha. Er plant einen Feldzug gegen Jugurtha.« »Er hat mir angeboten, in seinem Heer erster Legat zu werden.« »Das hat er mir auch angeboten.« Die beiden Männer sahen sich an und grinsten. »Wir müssen so schnell wie möglich herausfinden, was los ist.« Marius stand auf. »Wirst du sein Angebot annehmen?« »Unter der Bedingung, daß du sein Angebot auch annimmst, Gaius Marius.« »Abgemacht!« Rutilius brachte Gaius Marius zur Haustür. »Wie geht es Julia? Ich werde sie in absehbarer Zeit nicht besuchen können.« Marius strahlte. »Wunderbar — wunderschön — einfach herrlich!« »Du alter Lustmolch«, lachte Rutilius und schob Marius durch die Tür. »Halte die Ohren auf, während ich weg bin, und schreibe mir, sobald du etwas erfährst.« »Das werde ich. Gute Reise.«
Julia war schwanger und freute sich darüber. Nur Marius’ übertriebene Fürsorge störte sie. »Wirklich, Gaius Marius, es geht mir doch ausgezeichnet«, sagte sie unzählige Male. Es war jetzt November, das Kind wurde im März erwartet. »Bist du sicher?« fragte Marius ängstlich. »Jetzt geh schon, bitte!« Sie lächelte. Beruhigt ließ Marius sie mit den Sklaven in ihrem Zimmer allein und ging in sein Arbeitszimmer. Er mußte nachdenken. Zum Beispiel über die Ereignisse in der Provinz Africa. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, zog Papier hervor und verfaßte 174
in seinem schlichten, schmucklosen Stil einen Brief an Publius Rutilius, der inzwischen in Tarsus angekommen war. Ich nehme an jeder Versammlung des Senats und der Plebs teil, und es sieht so aus, als würden bald Wahlen stattfinden. Wird auch höchste Zeit. Wie Du vorausgesagt hast, vermutlich vier Tage vor den Iden des Dezember. Publius Licinius Lucullus und Lucius Annius beginnen zu wanken. Ich glaube nicht, daß sie es schaffen werden, sich für eine zweite Wahlperiode als Volkstribunen aufstellen zu lassen. In Africa ist bisher alles ruhig geblieben. Allerdings berichten unsere Kundschafter, daß Jugurtha ein großes Heer aushebt und ausbildet — und zwar nach römischen Methoden! Aber als Spurius Albinus vor gut einem Monat nach Rom zurückkehrte, um die Wahlen abzuhalten, war es mit der Ruhe vorbei. Er erstattete dem Senat Bericht und erklärte, er habe sein eigenes Heer auf drei Legionen beschränkt. Eine Legion bestehe aus africanischen Hilfstruppen, eine aus römischen Truppen, die in der Provinz Africa stationiert seien, die dritte Legion habe er letztes Frühjahr aus Italien mitgebracht. Diese letzte Legion sei noch nicht kampferprobt. Spurius Albinus scheint nicht nach Schlachtenruhm zu gieren, ganz im Unterschied zu Metellus Schweinebacke. Aber eine Nachricht ärgerte unsere ehrbaren Senatskollegen wirklich: daß nämlich Spurius Albinus für die Dauer seiner Abwesenheit seinen kleinen Bruder Aulus Albinus zum Statthalter der Provinz Africa und zum Oberbefehlshaber der dortigen Truppen ernannt hat! Unsere römische Provinz Africa wird also während der Abwesenheit des Statthalters von einem dreißigjährigen Hitzkopf regiert, der weder über Erfahrung noch über sonderlich viel Intelligenz verfügt. Marcus Scaurus sprühte Funken vor Wut. Aber es ist nun einmal geschehen. Der Brief war bereits unterwegs, als die Wahlen stattfanden. Marius hatte damit gerechnet, daß Rutilius Rufus zu Beginn des neuen Jahres wieder in Rom sein würde. Doch dann traf ein Brief von 175
Rutilius ein, in dem dieser berichtete, Panaitios’ Zustand habe sich wider Erwarten leicht gebessert, er wolle aber trotzdem bis Frühjahr in Tarsus bleiben. Marius schrieb deshalb gegen Ende des Jahres einen weiteren Brief an seinen Freund nach Tarsus. Du hast nie daran gezweifelt, daß Schweinebacke zum Konsul gewählt werden würde, und Du hast recht behalten. Volk und Plebs haben vor den Zenturien gewählt, und beide Male gab es keine Überraschungen. Die Quästoren haben am fünften Tag des Dezember ihre Ämter angetreten, die neuen Volkstribunen am zehnten Tag. Der einzige interessante unter den neuen Volkstribunen ist Gaius Mamilius Limetanus. Ach ja, auch drei der neuen Quästoren sind recht vielversprechend — zwei davon sind unsere berühmten jungen Redner Lucius Licinius Crassus und sein bester Freund, Quintus Mucius Scaevola. Den dritten finde ich noch interessanter: ein sehr frecher, dreister Junge namens Gaius Servilius Glaucia. Man sagt, er sei der beste Ankläger, den Rom je hervorgebracht habe. Ich mag ihn nicht. Schweinebacke hat die Wahl der Zenturien mit den meisten Stimmen gewonnen, deshalb wird er im nächsten Jahr Konsul sein, aber Marcus Junius Silanus lag nicht weit zurück. Übrigens war das eine konservative Wahl. Unter den sechs Prätoren ist nicht ein homo novus, statt dessen sind zwei Patrizier dabei und ein Patrizier, der von einer Plebejerfamilie adoptiert wurde — Quintus Lutatius Catulus Caesar. Soweit der Senat betroffen ist, war es also ein erstklassiges Wahlergebnis. Und dann, mein lieber Publius Rutilius, schlug der Blitz ein. Anscheinend glaubte Aulus Albinus Gerüchten, daß ein riesiger Schatz in der numidischen Stadt Suthul versteckt sei. Er wartete gerade so lange, bis er sicher sein konnte, daß sich sein Bruder, der Konsul, unwiderruflich auf dem Rückweg nach Rom befand, dann fiel er in Numidien ein! An der Spitze dreier jämmerlicher, unerfahrener Legionen, stell Dir das vor! Die Belagerung von Suthul blieb natürlich erfolglos — die Einwohner schlossen ein176
fach die Tore und lachten ihn von ihren Mauern herab aus. Und was tat Aulus Albinus? Statt einzusehen, daß er nicht einmal zu einer kleinen Belagerung fähig war, geschweige denn zu einem richtigen Feldzug, gab er die Belagerung auf und marschierte tiefer in das westliche Numidien hinein! An der Spitze seiner drei jämmerlichen, unerfahrenen Legionen. Jugurtha griff ihn irgendwo in der Nähe der Stadt Calama an. Er schlug Aulus Albinus so vernichtend, daß der kleine Bruder unseres Konsuls bedingungslos kapitulierte. Jugurtha zwang alle Römer und alle Legionäre der Hilfstruppen, unter dem Joch durchzugehen. Dann mußte Aulus Albinus einen Vertrag unterschreiben, in dem Jugurtha alles zugestanden wurde, was der Senat ihm zuvor verweigert hatte! Die Nachrichten über diese Ereignisse erhielten wir nicht von Aulus Albinus, sondern von Jugurtha. Er sandte eine Abschrift des Vertrags an den Senat und fügte einen Brief bei, in dem er sich in scharfem Ton über das verräterische Verhalten der Römer beschwert. Sie hätten ein friedfertiges Land überfallen, das nicht einmal einen Finger gegen Rom erhoben habe. Den Brief sandte Jugurtha direkt an seinen ältesten Feind, an Marcus Aemilius Scaurus in seiner Eigenschaft als Senatsvorsitzender. Scaurus raste vor Wut! Er berief umgehend eine Senatssitzung ein und zwang Spurius Albinus, vieles zu enthüllen, was dieser so listig hatte verbergen wollen, zum Beispiel die Tatsache, daß er über die Pläne seines kleinen Bruders doch mehr gewußt hatte, als er hatte zugeben wollen. Die Senatoren waren entsetzt. Besonders demütigend war natürlich, daß Jugurtha das römische Heer unter das Joch gezwungen hatte. Diese Schmach erregt unweigerlich die gesamte Stadt, vom gemeinsten bis zum vornehmsten Mann. Auch ich fühlte mich so betroffen, so erniedrigt, so am Boden zerstört wie der römischste Römer. Unglaubliche Szenen haben sich abgespielt: In Schwarz gekleidete Menschen weinten und rauften sich die Haare, viele Ritter haben die schmalen Streifen an ihrer Tunika abgelegt, die Senatoren trugen statt breiter nur noch schmale Streifen, der Platz vor dem Bellona177
Tempel war mit Opfergaben überfüllt, die bewirken sollen, daß Jugurtha bestraft wird. Fortuna hat Metellus einen wunderbaren Feldzug für das nächste Jahr beschert, und Du und ich werden dabei kräftig mitreden, vorausgesetzt, wir können uns an Schweinebacke als Feldherr gewöhnen. Der neue Volkstribun Gaius Mamilius will Aulus Albinus wegen Hochverrat hinrichten lassen und fordert, auch Bruder Spurius Albinus solle wegen Hochverrat angeklagt werden, weil er so dumm gewesen sei, Aulus für die Dauer seiner Abwesenheit zum Statthalter zu ernennen. Mamilius fordert die Einsetzung eines Sondergerichts. Er will alle Römer anklagen, die jemals mit Jugurtha zweifelhafte Geschäfte gemacht haben, und zwar rückwirkend von der Zeit des Lucius Opimius. In Anbetracht der Stimmung unserer patres conscripti wird er sich wahrscheinlich durchsetzen. Alle meinen, das Heer und sein Feldherr hätten lieber kämpfend sterben sollen, als eine solche Schmach wie das Joch über sich ergehen zu lassen. In diesem Punkt bin ich natürlich anderer Meinung, und Du vermutlich auch. Ein Heer kann noch so stark sein — es ist immer nur so gut wie sein Befehlshaber. Der Senat verfaßte ein förmliches Schreiben an Jugurtha, in dem stand, Rom könne und wolle diesen Vertrag nicht anerkennen. Der Vertrag sei einem Mann aufgezwungen worden, dem der Senat und das Volk von Rom weder Handlungsbefugnis noch Befehlsgewalt verliehen hätten, ein Heer zuführen, eine Provinz zu regieren oder einen Vertrag zu schließen. Schließlich erhielt Gaius Mamilius von der Versammlung der Plebs den Auftrag, ein Sondergericht einzuberufen. Vor diesem Gericht werden alle des Hochverrats angeklagt, die im Verdacht stehen, mit Jugurtha irgend etwas zu tun gehabt zu haben. Ausnahmsweise unterstützte der Senat den Beschluß der Plebs. Scaurus ist bereits eifrig damit beschäftigt, eine Liste der Männer zusammenzustellen, die angeklagt werden sollen, und Gaius Memmius hilft ihm mit dem größten Vergnügen. Die Gefahr, vor dem Sondergericht verurteilt zu werden, ist viel größer als bei den bisherigen Verfahren vor der Zenturienversammlung. Bisher stehen die 178
Namen Lucius Opimius, Lucius Calpurnius Bestia, Gaius Porcius Cato, Gaius Sulpicius Galba, Spurius Postumius Albinus und sein Bruder zur Diskussion. Die Familienbande beginnen bereits zu wirken: Spurius Albinus hat eine ansehnliche Schar von Advokaten um sich versammelt. Sie sollen im Senat argumentieren, daß gegen seinen jüngeren Bruder Aulus keine rechtmäßige Anklage erhoben werden könne, denn was immer er getan habe, er habe doch nie Befehlsgewalt besessen. Wenn er damit, wie ich erwarte, durchkommt, kann der Hauptschuldige Aulus Albinus, der sich dem Joch gebeugt hat, seine Karriere unbeschadet fortsetzen! Übrigens: Scaurus wird einer der drei Vorsitzenden der Kommission des Mamilius sein, wie das neue Gericht heißt. Und damit geht das alte Jahr zu Ende. Ein ereignisreiches Jahr Nachdem ich die Hoffnung bereits aufgegeben hatte, tauche ich nun doch wieder auf der Bildfläche der römischen Politik auf, dank meiner Heirat mit Julia. Sogar Metellus Schweinebacke umwirbt mich, und Männer, die mich vorher nie bemerkt haben, sprechen mit mir als einem Gleichgestellten. Komm bald zurück, und paß auf der Heimreise gut auf Dich auf.
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Das zweite Jahr (109 v. Chr.)
Unter den Konsuln Quintus Caecilius Metellus und Marcus Junius Silanus
Panaitios starb Mitte Februar in Tarsus, und Publius Rutilius Rufus blieb nur wenig Zelt bis zum Beginn des Feldzugs. Ursprünglich hatte er den Großteil seiner Reise zu Land zurücklegen wollen, aber nun zwang ihn die Eile, den Seeweg zu wählen. »Ich habe unverschämtes Glück gehabt«, sagte er am Tag nach seiner Ankunft in Rom zu Gaius Marius. Er hatte es gerade noch vor den Iden des März geschafft. »Diesmal blies der Wind tatsächlich einmal in die richtige Richtung.« Marius grinste. »Ich sage dir, Publius Rutilius, nicht einmal Vater Neptun würde es wagen, Schweinebackes Pläne zu durchkreuzen! Du hast übrigens noch in anderer Hinsicht Glück gehabt. Wärst du in Rom gewesen, wäre dir die unerquickliche Aufgabe zugefallen, Soldaten bei den italischen Bundesgenossen anzuwerben.« »Das hast dann wohl du getan?« »Ja, schon seit Anfang Januar, als das Los Metellus dazu bestimmte, den Krieg gegen Jugurtha zu führen. Es war allerdings nicht schwierig, Rekruten anzuwerben. Ganz Italien brennt auf Rache für die Beleidigung, die Jugurtha uns zugefügt hat, als er unsere Soldaten unter das Joch zwang. Aber Männer von der richtigen Sorte werden allmählich rar.« »Dann wollen wir hoffen, daß die Zukunft keine militärischen Katastrophen für Rom mehr bereithält«, sagte Rutilius Rufus. »Wie hat sich unser Freund Schweinebacke dir gegenüber benommen?« »Eigentlich ganz anständig«, sagte Marius. »Er hat mich am Tag 182
nach seinem Amtsantritt aufgesucht und war immerhin so freundlich, mich offen über seine Motive aufzuklären. Ich fragte ihn, warum er mich wolle und warum dich, trotz der Geschichte damals in Numantia. Er sagte, Numantia sei ihm völlig egal. Er wolle den Krieg in Africa gewinnen, und wir beide seien am ehesten in der Lage, Jugurthas Strategie zu durchschauen.« »Das ist ein schlauer Gedanke«, sagte Rutilius Rufus. »Als Heerführer wird er den Ruhm ernten. Was schert es ihn, wer den Krieg für ihn gewinnt, solange er im Triumphwagen fahren und den Beifall einheimsen kann? Der Senat wird dann weder dir noch mir den Ehrennamen Numidicus anbieten, sondern natürlich ihm!« »Na ja, er hat ihn auch nötiger als wir. Metellus Schweinebacke ist ein Caecilius, Publius Rutilius! Und das heißt, sein Kopf herrscht über sein Herz, vor allem, wenn es um seine eigene Haut geht.« »Sehr treffend formuliert«, sagte Rutilius Rufus anerkennend. »Er versucht bereits jetzt, vom Senat eine Verlängerung seines Kommandos in Africa bis in das nächste Jahr hinein zu bekommen.« »Weil er Jugurtha kennt und weiß, daß es nicht leicht sein wird, Numidien zu unterwerfen. Wie viele Legionen nimmt er mit? »Vier. Zwei römische, zwei italische.« »Und dazu die Truppen, die bereits in Africa stationiert sind sagen wir, noch einmal zwei Legionen. Damit sollten wir es schaffen, Gaius Marius.« »Das denke ich auch.« Marius stand von seinem Schreibtisch auf und schenkte Wein ein. »Was sind das für Gerüchte über Gnaeus Cornelius Scipio?« fragte Rutilius Rufus. Er konnte Marius den Becher gerade noch rechtzeitig aus der Hand nehmen, denn Marius bekam einen Lachanfall und verschüttete seinen eigenen Wein. »Ach Publius Rutilius, es war herrlich! Ich staune immer wieder über die Schrullen des alten Adels. Da war also Scipio als Prätor gewählt und mit dem Amt des Statthalters für Hispania Ulterior 183
betraut worden, als das Los für die Provinzen der Prätoren geworfen wurde. Und was macht er? Er erhebt sich und schlägt feierlich die Ehre aus, Statthalter von Hispania Ulterior zu werden. ›Warum?‹ fragte Scaurus erstaunt. Scipio antwortete mit geradezu rührender Aufrichtigkeit: ›Weil ich die Provinz ausplündern würde bis zum Letzten.‹ Der ganze Senat tobte, es gab Hochrufe, brüllendes Gelächter, Beifall und Getrampel. Als sich der Lärm endlich gelegt hatte, sagte Scaurus nur: ›Ich muß dir zustimmen, Gnaeus Cornelius, das würdest du wirklich.‹ Jetzt schicken sie Quintus Servilius Caepio als Statthalter nach Hispania Ulterior.« »Er wird die Provinz genauso ausplündern«, sagte Rutilius Rufus lächelnd. »Natürlich, selbstverständlich! Aber Caepio hatte zumindest Anstand genug zu sagen, er werde es nicht tun, also kann Rom beide Augen zudrücken.« Marius hatte sich wieder an seinen Schreibtisch gesetzt. »Ich bin froh, daß Silanus zu Hause bleibt.« »Einer muß zum Glück Rom regieren! Nachdem auch der Statthalter für Makedonien bestimmt war, blieb für Silanus nichts anderes übrig als Rom. Silanus an der Spitze eines Heeres wäre eine Aussicht, die selbst Mars erbleichen ließe.« »Allerdings!« Rutilius Rufus nickte heftig mit dem Kopf. »Bisher hat sich das Jahr sehr gut angelassen«, sagte Marius. »Nicht genug damit, daß Spanien von Scipios Wohltaten verschont bleibt und Makedonien von den Wohltaten des Silanus: Rom selbst wurde von einer ganzen Reihe von Schurken befreit, wenn du entschuldigst, daß ich unsere Konsularen Schurken nenne.« »Du meinst die Kommission des Mamilius?« »Genau. Bestia, Galba, Opimius, Gaius Cato und Spurius Albinus wurden verurteilt, und es wird noch mehr Anklagen geben. Mamilius sammelt eifrig Beweise, Gaius Memmius hilft ihm, und Scaurus ist ein gnadenloser Gerichtsvorsitzender.« »Und wohin sind die Verurteilten gegangen?« fragte Rutilius Rufus. 184
»Viele haben Massilia als Verbannungsort gewählt, Lucius Opimius ist nach Westmakedonien gegangen.« »Aber Aulus Albinus ist ohne Strafe davongekommen?« »Ja, Spurius Albinus hat die Schuld seines Bruders auf sich genommen, und der Senat hat dem zugestimmt.« Marius seufzte. »Eine geschickte Taktik.«
An den Iden des März setzten bei Julia die Wehen ein. Als die Hebammen Marius sagten, die Geburt werde schwer werden, ließ er sofort Julias Eltern kommen. »Unser Blut ist zu alt und zu dünn«, sagte Caesar besorgt, während er mit Marius im Arbeitszimmer wartete. »Mein Blut nicht«, erwiderte Marius. »Aber das hilft Julia nichts! Es hilft vielleicht ihrer Tochter, wenn sie eine bekommt, und wir müssen dafür dankbar sein. Ich hatte gehofft, meine Heirat mit Marcia würde ein wenig plebejische Kraft in meine Linie hineinbringen, aber es scheint, daß auch Marcia noch zu vornehm ist. Ich weiß, manche Patrizier sagen, wir müßten unser Blut reinhalten. Aber warum verbluten so viele Mädchen aus den alten Familien bei der Geburt?« Nervös fuhr Caesar mit den Händen durch sein silbriges Haar. Marius konnte nicht mehr stillsitzen. Er stand auf und begann, auf und ab zu gehen. »Auf alle Fälle hat sie die beste Hilfe, die für Geld zu haben ist.« Er nickte zum Entbindungszimmer hinüber. »Clitumnas Neffen konnten sie im letzten Herbst auch nicht retten«, sagte Caesar und versank in trübsinnige Gedanken. »Wer ist Clitumna? Meinst du deine unerfreuliche Nachbarin?« »Ja. Ihr Neffe starb letzten September nach einer langwierigen Krankheit. Er war noch ein junger Bursche und wirkte kerngesund. Die Ärzte taten alles, was in ihrer Macht stand, aber er starb trotzdem. Das spukt mir seither immer im Kopf herum.« Marius starrte seinen Schwiegervater verständnislos an. »Aber was hat das mit Julia zu tun?« Caesar nagte an seiner Unterlippe. »Aller bösen Dinge sind 185
immer drei«, sagte er niedergeschlagen. »Zuerst der Tod von Clitumnas Neffen in der Nachbarschaft. Jetzt müssen noch zwei weitere Todesfälle dazukommen.« »Aber dann doch in Clitumnas Familie.« »Nicht unbedingt. Es müssen lediglich drei Todesfälle sein, die in irgendeiner Weise miteinander verknüpft sind. Aber bis der zweite Todesfall eintritt, kann nicht einmal ein Wahrsager vorhersehen, welcher Art der Zusammenhang ist.« Marius rang die Hände, halb ärgerlich, halb verzweifelt. »Gaius Julius, hör auf! Du darfst nicht so schwarzsehen! Niemand hat gesagt, daß Julia in Lebensgefahr schwebt, man hat mir nur gesagt, die Geburt werde nicht leicht sein. Ich habe nach dir geschickt, damit du mir hilfst, die schreckliche Wartezeit zu verkürzen, und nicht, damit du mich mit deinen trübsinnigen Gedanken ansteckst!« Caesar nahm sich beschämt zusammen. »Im Grunde bin ich froh, daß es soweit ist«, sagte er betont munter. »Ich wollte Julia in letzter Zeit nicht belästigen, aber wenn sie die Entbindung überstanden hat, hoffe ich sehr, daß sie ein ernstes Wort mit Julilla spricht.« Nach Marius’ Ansicht fehlte Julilla nichts weiter, als daß ihr Vater ihr einmal ordentlich den Hintern versohlte. Aber das wagte er nicht zu sagen. Statt dessen fragte er: »Was fehlt Julilla?« Caesar seufzte. »Sie ißt nicht. Sie ißt schon seit langem kaum noch, aber in den letzten vier Monaten ist es schlimmer geworden. Sie ist spindeldürr und wird immer wieder ohnmächtig, fällt einfach um wie ein Stein. Die Ärzte können nichts feststellen.« »Und Julia soll der Sache auf den Grund gehen?« »Unbedingt!« »Wahrscheinlich ist sie unglücklich verliebt«, sagte Marius aufs Geratewohl und traf damit ins Schwarze. »Unsinn!« sagte Caesar scharf. »Woher weißt du, daß es Unsinn ist?« »Weil die Ärzte auch daran gedacht haben und ich mich gründlich umgehört habe.« 186
»Wen hast du gefragt? Sie?« »Natürlich!« »Es wäre vielleicht geschickter gewesen, ihre Dienerin zu fragen.« »Ich bitte dich, Gaius Marius!« »Schwanger ist sie nicht?« »Also wirklich, Gaius Marius!« »Sieh mal, Schwiegervater, es hat keinen Zweck, mich anzuschauen, als wäre ich ein Insekt«, sagte Marius ohne Mitgefühl. »Ich gehöre zur Familie, ich bin kein Fremder. Wenn ich mit meiner außerordentlich begrenzten Erfahrung mit jungen Damen von sechzehn Jahren diese Möglichkeit erkennen kann, dann kannst du das erst recht. Laß ihre Dienerin in dein Arbeitszimmer kommen und verprügle sie, bis du die Wahrheit aus ihr herausgeholt hast.« »Gaius Marius, das kann ich doch nicht machen!« Schon der Gedanke an eine so drakonische Maßnahme entsetzte Caesar. Marius seufzte. »Dann mach, was du willst. Aber glaube nicht, du wüßtest die Wahrheit, nur weil du Julilla gefragt hast.« »In meiner Familie war man stets aufrichtig zueinander«, sagte Caesar. Marius antwortete nicht, sah ihn aber skeptisch an. Es klopfte. »Herein!« rief Marius, froh über die Unterbrechung. Athenodorus, der kleine griechische Arzt aus Sizilien, trat ein. »Dominus, deine Frau möchte dich gerne sehen«, sagte er zu Marius, »und ich glaube, es würde ihr guttun, wenn du kämest.« Marius rutschte das Herz in die Magengrube. Er holte ächzend Luft und streckte die Hand aus. Caesar sprang auf und starrte den Arzt schreckensbleich an. »Ist sie... ist sie...?« Er konnte den Satz nicht beenden. »Nein, nein! Keine Angst, domini, es geht ihr gut«, sagte der Grieche beruhigend. Gaius Marius war noch nie bei einer Frau gewesen, die in den Wehen lag, und er hatte schreckliche Angst. Es fiel ihm nicht 187
schwer, Männer anzuschauen, die in einer Schlacht gefallen oder verstümmelt worden waren. Sie waren Kriegskameraden, ganz gleich, auf welcher Seite sie kämpften, und jeder wußte, daß es mit etwas weniger Glück auch ihn hätte treffen können. Aber bei Julia lagen die Dinge ganz anders. Hier war das Opfer eine geliebte Frau, ein Mensch, der behütet und beschützt werden mußte und dem Marius alle Schmerzen soweit wie irgend möglich ersparen wollte. Und doch war Julia genauso sein Opfer wie seine Gegner in der Schlacht, und es war seine Schuld, wenn sie jetzt auf diesem Schmerzenslager litt. Dieser Gedanke quälte Gaius Marius. Als er jedoch das Entbindungszimmer betrat, sah alles ganz normal aus. Julia lag im Bett, und der Gebärstuhl, auf den sie sich im letzten Stadium der Wehen setzen würde, stand dezent verhüllt in einer Ecke, so daß Marius ihn nicht einmal bemerkte. Zu seiner großen Erleichterung sah sie weder erschöpft noch todkrank aus. Sie lächelte ihn vielmehr strahlend an und streckte ihm beide Hände entgegen. Er nahm sie und küßte sie. »Geht es dir gut?« fragte er verlegen. »Natürlich geht es mir gut! Die Ärzte haben mir nur gesagt, daß es ziemlich lange dauern wird, und ich habe eine leichte Blutung. Aber bis jetzt besteht kein Grund zur Sorge.« Dann verkrampfte sich auf einmal ihr Gesicht vor Schmerz, und ihre Hände schlossen sich mit einer Kraft um die seinen, die er bei ihr nie vermutet hätte. Sie hielt sich etwa eine Minute lang fest, dann entspannte sie sich wieder. »Ich wollte dich nur sehen«, fuhr sie fort, als sei nichts geschehen. »Kannst du nicht ab und zu hereinkommen, oder ist das zu schlimm für dich?« »Natürlich komme ich, mein kleiner Liebling.« Er beugte sich zu ihr hinab und küßte sie. Ihre Haut war ganz feucht. »Es wird alles gutgehen, Gaius Marius«, sagte sie und ließ seine Hände los. »Mach dir keine Sorgen. Ist tata noch bei dir?« »Ja.« Als Gaius Marius sich umdrehte und hinausgehen wollte, traf ihn ein finsterer Blick von Marcia, die zusammen mit drei alten Hebammen in einer Ecke des Zimmers stand. Oh ihr Götter! Sie 188
würde ihm gewiß nicht so schnell verzeihen, was er ihrer Tochter da angetan hatte! »Gaius Marius!« rief Julia ihm nach, als er an der Tür war. Er drehte sich noch einmal um. »Ist der Astrologe da?« »Noch nicht, aber wir haben nach ihm geschickt.« Sie sah erleichtert aus. »Das ist gut!«
Marius’ Sohn wurde vierundzwanzig Stunden später in einem Schwall von Blut geboren. Er kostete seine Mutter beinahe das Leben, aber ihr Lebenswille war stärker. »Er wird ein berühmter Mann werden, Dominus, und sein Leben wird voller großer Ereignisse und Abenteuer sein«, sagte der Astrologe und sparte die weniger erfreulichen Aspekte aus, von denen die Eltern neugeborener Söhne erfahrungsgemäß nichts wissen wollten. »Er wird also am Leben bleiben?« fragte Caesar barsch. »Das wird er, Dominus.« Ein langer und ziemlich schmutziger Finger lag auf einer bedeutsamen Opposition und verdeckte sie. »Er wird das höchste Amt im Staat bekleiden, das läßt sich aus seinem Horoskop deutlich ablesen.« Ein zweiter langer und schmutziger Finger deutete auf einen Trigonalaspekt. »Mein Sohn wird Konsul werden«, sagte Marius strahlend. »Ganz gewiß«, bestätigte der Astrologe und fügte dann hinzu: »Aber er wird kein so großer Mann sein wie sein Vater.« Das gefiel Marius noch besser. Caesar schenkte zwei Becher besten, unverdünnten Falerners ein und reichte einen Becher seinem Schwiegersohn. Er strahlte vor Stolz. »Auf deinen Sohn und meinen Enkel, Gaius Marius«, sagte er. »Auf euch beide!«
Als der Konsul Quintus Caecilius Metellus Ende März mit Gaius Marius, Publius Rutilius Rufus, den beiden Söhnen von Gaius 189
Julius Caesar und vier gut ausgebildeten Legionen in die Provinz Africa segelte, konnte Gaius Marius in dem glücklichen Bewußtsein Abschied nehmen, daß seine Frau außer Gefahr war und sein Sohn prächtig gedieh. Selbst seine Schwiegermutter hatte sich bereit gefunden, wieder mit ihm zu sprechen. »Rede einmal mit Julilla«, sagte er kurz vor der Abreise zu Julia. »Dein Vater macht sich große Sorgen.« Julia ging es schon wieder besser, und sie war sehr stolz auf ihren strammen, kerngesunden Sohn. Sie bedauerte nur, daß sie noch nicht stark genug war, Marius nach Campania zu begleiten, um noch einige Tage bei ihm zu sein, ehe er Italien verließ. »Du meinst wegen dieser albernen Hungerkur?« Sie schmiegte sich fester in Marius’ Arm. Marius nickte. »Ich weiß nur, was dein Vater mir gesagt hat, aber soweit ich verstanden habe, geht es darum.« »Ich werde mit ihr reden. Ach, Gaius Marius, wie schade, daß es mir noch nicht wieder richtig gut geht, sonst könnten wir versuchen, einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester für Marius junior auf den Weg zu bringen!«
Noch ehe Julia mit ihrer Schwester sprechen konnte, traf in Rom die Nachricht ein, die Germanen seien im Anmarsch. Panik brach aus. Seit die Gallier vor dreihundert Jahren in Italien eingefallen waren und den jungen römischen Staat beinahe ausgelöscht hatten, lebte die Halbinsel in der Furcht vor den Barbaren. Zur Abwehr von Einfällen der Barbaren hatte Gnaeus Domitius Ahenobarbus vor zehn Jahren einen befestigten Landweg zwischen Gallia Cisalpina und den spanischen Pyrenäen bauen lassen und die Stämme unterworfen, die an den Ufern der Rhone siedelten. Noch vor fünf Jahren hatten sich die Römer am meisten vor den barbarischen Galliern und Kelten gefürchtet, aber dann waren erstmals die Germanen auf dem Plan erschienen, und im Vergleich zu ihnen wirkten die Gallier und Kelten plötzlich zivilisiert, zahm 190
und fügsam. Wie bei allen Schreckgespenstern wuchsen diese Ängste nicht aus dem Bekannten, sondern aus dem Unbekannten. Die Germanen waren während des Konsulats von Marcus Aemilius Scaurus aus dem Nichts aufgetaucht, hatten dem riesigen und erstklassig ausgebildeten römischen Heer eine vernichtende Niederlage beigebracht und waren dann während des Konsulats von Gnaeus Papirius Carbo wieder verschwunden, als sei nichts gewesen — geheimnisvoll und unberechenbar. Nach der verheerenden Niederlage der Römer war ganz Italien den Germanen ausgeliefert wie eine hilflose Frau in einer geplünderten Stadt, aber die Germanen hatten einfach kehrtgemacht und waren verschwunden. Warum? Kein Mensch hatte das damals begriffen. Im Laufe der Jahre legte sich die Angst wieder, die Germanen waren nur noch eine Lamia, eine Mormo, ein Kinderschreck. Und jetzt waren sie wieder da, wieder aus dem Nichts aufgetaucht, und strömten zu Hunderten und Tausenden nach Gallia Transalpina und überrannten die Rom tributpflichtigen gallischen Stämme. Drei Meter groß waren sie, leichenblaß, Riesen aus Legenden, Geister einer barbarischen Unterwelt. Sie stießen in das warme, fruchtbare Rhônetal vor und walzten auf ihrem Weg alles Lebendige nieder, Mann und Maus, Wald und Wiese, so unbekümmert um die Früchte des Feldes wie um die Vögel des Himmels. Als die Nachricht in Rom eintraf, war Konsul Quintus Caecilius Metellus mit seinem Heer gerade in der Provinz Africa gelandet. So kam es, daß Konsul Marcus Junius Silanus, den man nur deshalb in Rom behalten hatte, weil er dort am wenigsten Schaden anrichten konnte, die Stadt vor den Barbaren schützen mußte. Ein amtierender Konsul konnte nicht zugunsten eines anderen Feldherrn übergangen werden, wenn er den Krieg selbst führen wollte. Und Silanus war begeistert von der Aussicht auf einen Krieg gegen die Germanen. Wie Gnaeus Papirius Carbo fünf Jahre vor ihm, sah auch er bereits schwer mit Gold beladene germanische Wagen vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen, und nach diesem Gold gelüstete es ihn. 191
In aller Eile wurden Soldaten angeworben. Oft drückten die Werbeoffiziere ein Auge zu und schrieben Männer ein, die nicht genügend Vermögen nachweisen konnten. Veteranen wurden aus ihren ländlichen Domizilen hervorgelockt — meist ohne Schwierigkeiten, denn die ländliche Muße lag Männern, die lange Jahre in der Armee gedient hatten, ganz und gar nicht. Schließlich war alles bereit, und Marcus Junius Silanus brach an der Spitze eines glänzenden Heeres von sieben Legionen und einer großen Reiterabteilung aus Thrakern, gemischt mit ein paar Galliern aus den ruhigen Teilen der römischen Provinz Gallien, nach Gallia Transalpina auf. Es war Ende Mai, und seit der Nachricht vom Einfall der Germanen waren erst acht Wochen verstrichen. In dieser kurzen Zeit hatte Rom ein Heer von 50 000 Mann rekrutiert, bewaffnet und teilweise ausgebildet. Nur ein so gewaltiges Schreckgespenst wie die Germanen konnte zu einer derart heroischen Leistung anspornen. »Das ist wieder einmal ein schlagender Beweis dafür, was wir Römer können, wenn wir nur wollen«, sagte Gaius Julius Caesar zu seiner Frau Marcia. Sie hatten zugesehen, wie die Legionen die Via Flaminia hinauf in Richtung Gallia Cisalpina abmarschiert waren. Es war ein erhebender Anblick gewesen. »Ja, vorausgesetzt, Silanus bewältigt seine Aufgabe«, sagte Marcia, die als echte Senatorengattin großes Interesse an Politik hatte. »Du glaubst nicht daran?« fragte Caesar. »Du ja auch nicht, du gibst es nur nicht zu. Aber als ich so viele Stiefel über den Pons Mulvius marschieren sah, war ich doch sehr froh, daß wir jetzt Marcus Aemilius Scaurus und Marcus Livius Drusus als Zensoren haben.« Marcia seufzte erleichtert. »Marcus Scaurus hat recht — die Mulvische Brücke wackelt und wird ein weiteres Hochwasser nicht überstehen. Und was dann, wenn all unsere Truppen südlich des Tiber stehen und schnell nach Norden marschieren müssen? Ich bin froh, daß Scaurus gewählt wurde, denn er hat versprochen, die Mulvische Brücke erneuern zu lassen. Ein wunderbarer Mann!« 192
Caesar lächelte ein wenig säuerlich. »Scaurus wird langsam zu einer regelrechten Institution, der alte Hund! Er ist ein Blender, ein Gauner, der den Leuten den Kopf verdreht. Dreiviertel ist Schwindel, aber das eine Viertel, das kein Schwindel ist, ist zufällig mehr wert als bei den meisten anderen der ganze Kerl. Er hat recht, wir müssen tatsächlich eine ganze Reihe öffentlicher Bauarbeiten durchführen, und nicht nur, damit möglichst viele Menschen Arbeit haben. Man muß Scaurus lassen, daß er einige Dinge in Angriff nehmen will, die längst überfällig sind. Obwohl ich nicht gutheiße, daß er die Sümpfe um Ravenna trockengelegt hat und zwischen Parma und Mutina ein Kanal- und Deichsystem anlegen will.« »Sei nicht zu streng mit ihm, Gaius Julius!« sagte Marcia ein wenig scharf. »Es ist doch großartig, daß er den Po bändigen will! Wenn die Germanen in Gallia Transalpina einfallen, kann kein Hochwasser des Po unsere Truppen von den Alpenpässen abschneiden.« »Das finde ich ja auch gut«, erwiderte Caesar trotzig. »Aber ich finde es auch sehr interessant, daß er sein öffentliches Bauprogramm fast ausschließlich auf die Gegenden begrenzt hat, in denen seine Klienten leben. Deren Anzahl hat sich bestimmt versechsfacht, bis er fertig ist. Die Via Aemilia führt von Ariminum am Adriatischen Meer nach Taurasia im Vorgebirge der westlichen Alpen — dreihundert Meilen, auf denen seine Klienten dicht an dicht wohnen wie Pflastersteine auf der Straße!« »Und wenn schon, ich wünsche ihm viel Glück«, sagte Marcia ebenso eigensinnig. »Wahrscheinlich hast du auch etwas daran auszusetzen, daß er die Küstenstraße im Westen begutachten und pflastern lassen will!« »Du hast vergessen, die Abzweigung nach Dertona zu erwähnen, die die westliche Küstenstraße mit der Via Aemilia verbinden soll«, spottete Caesar. »Und obendrein bringt er bei der Geschichte noch seinen Namen unter! Die Via Aemilia Scauri. Ha!« »Miesmacher!« sagte Marcia. »Besserwisserin!« erwiderte Caesar. 193
In diesem Augenblick schwebte Julilla herein, schmal und durchsichtig. Seit etwa zwei Monaten war ihr Befinden unverändert. Sie sah erbärmlich aus, aber ihr Zustand war so weit stabil, daß keine Lebensgefahr bestand. Der Tod gehörte nicht zu Julillas großem Plan. Sie hatte zwei Ziele: Sie wollte Lucius Cornelius Sulla zu einem Liebesgeständnis bringen, und sie wollte ihrer Familie so lange zusetzen, bis sie weich wurde. Denn sie wußte, nur dann hatte sie die leiseste Chance, von ihrem Vater die Erlaubnis zu einer Heirat mit Sulla zu bekommen. Sie war zwar noch sehr jung und sehr verwöhnt, aber sie beging nicht den Fehler, ihre eigene Macht im Vergleich zur Macht ihres Vaters zu überschätzen. Er mochte sie lieben bis zum Wahnsinn, er mochte den letzten Denar für sie ausgeben, aber wenn es darum ging, wen sie heiraten sollte, würde er keine Rücksicht auf ihre Wünsche nehmen. Wenn sie so fügsam war wie Julia, würde er natürlich vor Vaterfreude strahlen. Und sie wußte, daß er einen Mann für sie suchen würde, von dem er glaubte, daß er gut für sie sorgen, sie lieben und gut und respektvoll behandeln würde. Aber Lucius Cornelius Sulla als Ehemann? Nein, nie und nimmer würde ihr Vater dazu seine Zustimmung geben, sie mochte weinen, betteln, ewige Liebe schwören — nie würde ihr Vater zustimmen. Besonders jetzt, da sie eine Mitgift von etwa vierzig Talenten auf der Bank hatte und eine gute Partie war. Nie würde ihr Vater Sulla glauben, daß er es nicht auf ihr Geld abgesehen hatte. Vorausgesetzt, er wollte sie überhaupt heiraten. Als Kind hatte Julilla keine besondere Geduld an den Tag gelegt, aber jetzt, da sie Langmut brauchte, zeigte sich, daß sie auch dazu fähig war. Geduldig wie ein Vogel, der ein unbefruchtetes Ei auszubrüten versucht, machte sich Julilla daran, ihren großen Plan zu verwirklichen. Eines wußte sie genau: Wenn sie bekommen wollte, was sie sich wünschte — Sulla —, mußte sie mehr Zähigkeit und mehr Widerstandskraft aufbringen als alle ihre Gegenspieler, angefangen bei ihrem Opfer Sulla bis zu ihrem Vater Gaius Julius Caesar. Ihre wichtigste Waffe war die vorge194
täuschte Krankheit. Sie zielte auf das Herz des Mannes, der ihr so geflissentlich aus dem Weg ging. In den ersten Monaten nach Sullas Rückkehr hatte sie viele Male versucht, ihn zu treffen, und sie hatte einen Korb nach dem anderen bekommen. Zuletzt hatte er sogar gedroht, wenn sie ihn nicht in Ruhe lasse, würde er Rom für immer verlassen. Ihr großer Plan war langsam gereift. Angefangen hatte alles nach jener ersten Begegnung, als Sulla sie wegen ihres Babyspecks ausgelacht und sie weggescheucht hatte. Sie hatte aufgehört, sich mit Süßigkeiten vollzustopfen. Als Sulla sie nur noch grober behandelt hatte, hatte sie zu hungern begonnen. Zuerst war es ihr sehr schwer gefallen, nach einiger Zeit jedoch konnte sie gar nicht mehr soviel essen, und das nagende Hungergefühl verschwand völlig. Damit Sulla sie nicht vergaß, traktierte sie ihn mit Briefen. Ich liebe Dich, und ich werde nie müde werden, es Dir zu sagen. Wenn Briefe der einzige Weg sind, auf dem ich mir bei Dir Gehör verschaffen kann, dann schreibe ich Dir eben Briefe. Dutzende. Hunderte. Tausende. Ich werde Dich mit Briefen zudecken, mit Briefen überschütten, mit Briefen überschwemmen. Ich lebe davon, Dir zu schreiben. Was könnte mir das Essen bedeuten, wenn Du mir die Nahrung verweigerst, nach der mein Herz und mein Geist hungern? Du mein grausamer, gnadenloser und unbarmherziger Geliebter! Wie kannst Du mir fernbleiben? Komm heimlich in mein Zimmer und küß mich, küß mich, küß mich! Aber Du wirst es nicht tun. Ich höre, wie Du das sagst, während ich hier liege, zu schwach, um mein verhaßtes Lager zu verlassen. Womit habe ich Deine Gleichgültigkeit verdient? Sicher sitzt irgendwo unter Deiner schneeweißen Haut ein winziges weibliches Wesen, meine Seele, und die Julilla, die nebenan wohnt und in ihrem schrecklichen, verhaßten Bett liegen muß, ist nur ein leergesaugtes, ausgetrocknetes Trugbild, das täglich schattenhafter und schwächer wird. Eines Tages werde ich verschwinden, und dann wird nur noch das winzige Abbild unter Deiner schneeweißen Haut von 195
mir übrig sein. Komm und besuche mich, sieh, was Du angerichtet hast! Küß mich und küß mich und küß mich, denn ich liebe Dich. Es war nicht leicht gewesen, beim Essen das richtige Maß zu finden. Obwohl sie sich bemüht hatte, ihr Gewicht auf dem gleichen Stand zu halten, hatte sie immer weiter abgenommen. Und dann waren eines Tages sämtliche Ärzte, die sich monatelang vergebens um sie bemüht hatten, geschlossen zu Gaius Julius Caesar marschiert und hatten empfohlen, sie mit Zwang zu ernähren. Diese unerfreuliche Aufgabe hatten die Ärzte natürlich der Familie überlassen, und niemand erinnerte sich hinterher mehr freiwillig an diese Prozedur. Julilla hatte geschrieen, als würde man sie umbringen, hatte mit ihren schwachen Kräften gekämpft und jeden Bissen wieder erbrochen, herausgespuckt und herausgewürgt. Schließlich hatte Caesar befohlen, dem Schrecken ein Ende zu machen. Die Familie hatte sich zur Beratung zusammengesetzt und einstimmig beschlossen, Julilla nie mehr gewaltsam zu füttern, auch wenn es noch so schlecht um sie stand. Aber seit jenem Tag wußte die ganze Nachbarschaft Bescheid, was in Caesars Haus vor sich ging. Bisher hatte die Familie geschwiegen, nicht aus Scham, sondern weil Gaius Julius Caesar Klatsch haßte. Als erste eilte die Nachbarin Clitumna herbei, bewaffnet mit einem Kochrezept. Sie schwor, daß Julilla diese Speise freiwillig zu sich nehmen und auch bei sich behalten werde. Caesar und Marcia lauschten begierig ihren Worten. »Ihr müßt frische Kuhmilch besorgen«, sagte Clitumna mit wichtiger Miene. Sie genoß es, im Mittelpunkt von Caesars Aufmerksamkeit zu stehen. »Ich weiß, daß sie nicht leicht zu bekommen ist, aber ich glaube, im Camenarum-Tal leben ein paar Bauern, die Milchkühe haben. Dann schlagt ihr ein Hühnerei in eine Tasse Milch und rührt drei Löffel Honig darunter. Das Gemisch schlagt ihr schaumig, und zuletzt fügt ihr eine halbe Tasse starken Wein hinzu. In einem Trinkgefäß aus Glas sieht das besonders schön aus: Sattrosa mit einem gelben Schaumhäubchen. Wenn sie 196
das bei sich behält, bleibt sie am Leben.« »Wir werden es versuchen«, sagte Marcia mit Tränen in den Augen. »Meiner Schwester hat es geholfen.« Clitumna seufzte. Caesar stand auf. »Ich werde sofort jemanden ins CamenarumTal schicken.« Er ging hinaus, steckte aber noch einmal den Kopf zur Tür herein. »Und die Hühnereier? Muß es ein extra großes Ei sein oder genügt auch ein normales?« »Wir haben ein normales genommen«, sagte Clitumna und lehnte sich zurück. »Die besonders großen Eier könnten die Ausgewogenheit des Trankes zerstören.« »Und der Honig?« fragte Caesar. »Gewöhnlicher latinischer Honig, oder sollen wir versuchen, Honig aus Hymetta zu bekommen?« »Gewöhnlicher latinischer Honig genügt völlig«, sagte Clitumna bestimmt. »In Ordnung.« Caesar entschwand wieder. »Hoffentlich hilft es!« Marcia war den Tränen nahe. »Nachbarin, wir wissen uns nicht mehr zu helfen!« »Das glaube ich gern. Aber macht nicht soviel Aufhebens darum, zumindest nicht, wenn Julilla es hört«, riet Clitumna. Sie konnte sehr vernünftige Ratschläge erteilen, wenn ihr eigenes Herz nicht betroffen war. Hätte sie allerdings von den Briefen gewußt, die sich in Sullas Zimmer türmten, wäre sie vermutlich weniger hilfsbereit gewesen. »Wir wollen keinen zweiten Todesfall«, sagte sie und schniefte trübselig. »Ganz gewiß nicht!« rief Marcia. Sie besann sich auf ihre nachbarlichen Pflichten und fragte teilnahmsvoll: »Ich hoffe, du hast den Tod deines Neffen schon ein wenig verwunden, Clitumna?« »Es geht einigermaßen«, erwiderte Clitumna. Sie hatte inzwischen festgestellt, daß ihr Leben wenigstens in einem Punkt entschieden leichter geworden war: Die dauernden Auseinandersetzungen zwischen Stichus und ihrem geliebten Sulla hatten aufgehört. Sie seufzte abgrundtief. 197
Dieser Begegnung folgten viele weitere, denn der Trank wirkte tatsächlich, und Caesars Familie war der vulgären Nachbarin unendlich dankbar. »Dankbarkeit«, sagte Gaius Julius Caesar, der sich stets in sein Arbeitszimmer flüchtete, sobald er Clitumnas schrille Stimme im Atrium hörte, »kann eine verdammte Plage sein!« »Aber Gaius Julius, sei doch nicht so empfindlich!« sagte Marcia tadelnd. »Clitumna ist wirklich sehr freundlich, und wir dürfen auf keinen Fall ihre Gefühle verletzen.« »Ich weiß, daß sie ganz außerordentlich freundlich ist!« rief der Hausherr aufgebracht. »Genau das ist ja das Problem!«
Julillas großer Plan hatte Sullas Leben in einem Maße kompliziert, das ihr große Befriedigung verschafft hätte, wenn sie davon gewußt hätte. Aber sie wußte es nicht, denn Sulla verbarg seine Qualen und heuchelte gegenüber Julillas Leiden eine Gleichgültigkeit, die sogar Clitumna erfolgreich täuschte. Clitumna berichtete täglich Neues aus dem Nachbarhaus. »Ich wünschte, du würdest einmal dort vorbeigehen und das arme Mädchen besuchen«, sagte sie eines Tages gereizt. »Sie fragt oft nach dir, Lucius Cornelius.« »Ich habe Besseres zu tun, als mich um eine Frau in Caesars Haus zu kümmern«, sagte Sulla barsch. »So ein dummes Geschwätz!« fuhr Nikopolis ihn an. »Du sitzt doch den ganzen Tag nur herum!« »Ist das denn meine Schuld?« fragte er und drehte sich so heftig zu seiner Geliebten zu, daß sie erschrocken zurückwich. »Ich wüßte schon, was ich tun könnte! Ich könnte mit Silanus marschieren und gegen die Germanen kämpfen!« »Warum gehst du dann nicht?« fragte Nikopolis. »Sie haben die Besitzanforderungen so gesenkt, daß ich sicher bin, sie würden dich nehmen.« Sulla verzog den Mund zu einem häßlichen Grinsen. »Ich, ein Cornelius aus patrizischem Geschlecht, soll als einfacher Soldat 198
in einer Legion dienen? Lieber lasse ich mich als Sklave an die Germanen verkaufen!« »Das kann auch noch kommen, wenn die Germanen nicht aufgehalten werden.« Nikopolis war sichtlich wütend. »Clitumna hat dich lediglich gebeten, einem todkranken Mädchen einen lächerlich kleinen Gefallen zu tun, und du stehst da und faselst, daß du weder Zeit noch Lust dazu hast. Du bringst mich auf die Palme!« Ein boshaftes Glitzern trat in ihre Augen. »Schließlich mußt du doch zugeben, Lucius Cornelius, daß dein Leben hier sehr viel angenehmer ist, seit Lucius Gavius im richtigen Moment gestorben ist.« Und sie summte leise die Melodie eines bekannten Liedes, in dem der Sänger erzählte, er habe seinen Rivalen in der Gunst einer Frau ermordet, ohne dafür bestraft worden zu sein. »So paaaaasssend dahiiiinschied!« trällerte sie. Sullas Gesicht wurde steinhart und seltsam ausdruckslos. »Meine liebe Nikopolis, warum gehst du nicht zum Tiber hinunter und stürzt dich hinein?« Damit war das Thema Julilla fürs erste vom Tisch. Aber es tauchte beinahe täglich wieder auf, und seine heikle Lage machte Sulla schwer zu schaffen. Jeden Tag konnte Julillas Dienerin dabei ertappt werden, wie sie ihm einen Brief brachte, und Julilla konnte erwischt werden, wie sie ihm einen Brief schrieb. Wie stand er dann da? Wer würde ihm, bei seiner Vergangenheit, glauben, daß er gänzlich unschuldig war und keine Intrige angezettelt hatte? Wenn die Zensoren ihn aber für schuldig befanden, die Tochter eines patrizischen Senators sittlich verdorben zu haben, dann konnte er den Sitz im Senat vergessen. Und er wollte in den Senat. Am liebsten wäre er von Rom fortgegangen, aber er wagte es nicht. Was würde das Mädchen in seiner Abwesenheit anstellen? Und so ungern er es sich auch eingestand, er brachte es einfach nicht fertig, wegzugehen, solange sie so krank war. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Immer wieder zog er den verwelkten Kranz aus Gras aus seinem Versteck in einem der Ahnenschreine hervor und schaute ihn an. Er kannte sein Ziel, und das dumme Mädchen würde alles kaputtmachen. Und doch hatte mit dem 199
dummen Mädchen und dem Graskranz alles angefangen. Er dachte sogar an Selbstmord, spielte mit der süßen Phantasie eines leichten Auswegs aus allen Schwierigkeiten, mit dem Traum vom ewigen Schlaf. Doch dann kehrten seine Gedanken unweigerlich zu Julilla zurück. Warum nur? Er liebte sie nicht, er konnte gar nicht lieben. Und doch gab es Zeiten, in denen er nach ihr verlangte, darauf brannte, sie zu beißen und zu küssen und in sie hineinzustoßen, bis sie vor ekstatischem Schmerz aufschreien würde. Zu anderen Zeiten, wenn er schlaflos zwischen seiner Geliebten und seiner Stiefmutter lag, haßte er Julilla abgrundtief, wollte er ihren mageren Hals zwischen seinen Händen spüren und ihre Augen hervorquellen sehen, wenn er den letzten Funken Leben aus ihr herauspreßte. Dann kam wieder ein Brief, und er fragte sich, warum er die Briefe nicht einfach wegwarf oder sie ihrem Vater brachte und der Tortur ein Ende machte. Statt dessen las er jeden Brief ein dutzendmal und steckte ihn dann in den Ahnenschrein zu den anderen. Aber an seinem Entschluß, sie nicht zu besuchen, hielt er eisern fest. Der Frühling ging in den Sommer über, der Sommer in die Hundstage des Sextilis. Träge schimmerte der Hundsstern Sirius über dem brütend heißen Rom. Dann, als Silanus zuversichtlich die Rhone hinaufmarschierte, den ungebärdigen Horden der Germanen entgegen, begann es in Mittelitalien zu regnen. Und es hörte gar nicht mehr auf zu regnen. Für die Bewohner des sonnigen Rom war das noch schlimmer als die Hundstage des Sextilis. Auf den Marktplätzen stand knöcheltief das Wasser, das Getreide in den Kornspeichern wurde feucht, das politische Leben war lahmgelegt, Prozesse mußten verschoben werden. Der Tiber stieg so weit an, daß es in einigen öffentlichen Latrinen einen Rückstau gab und Exkremente auf den Straßen herumschwammen. Hohe Mietshäuser stürzten zusammen oder bekamen breite Risse in den Wänden und Fundamenten. Ganz Rom war erkältet, viele alte und schwache Menschen starben an Lungenentzündung, die jungen starben an Kehlkopfdiphterie und Mandelentzündung, Menschen 200
jeden Alters starben an einer rätselhaften Krankheit, die den Körper lähmte. Wer die Krankheit überlebte, behielt einen verkrüppelten Arm oder ein verkrüppeltes Bein zurück. Clitumna und Nikopolis stritten täglich, und jeden Tag flüsterte Nikopolis Sulla ins Ohr, wie ungeheuer gelegen ihm Stichus’ Tod gekommen sei. Nach zwei Wochen ununterbrochenen Regens zogen die letzten Wolken nach Osten ab, und die Sonne kam heraus. Rom dampfte. Dampfwölkchen stiegen von den Pflastersteinen und den Dachziegeln auf, die Luft war gesättigt mit Feuchtigkeit. Auf jedem Balkon, in jedem Innenhof und in jedem Fenster der Stadt wurde Wäsche mit Stockflecken ausgebreitet. Schuhe mußten von Schimmelflecken befreit werden, jede Schriftrolle mußte aufgerollt und sorgfältig auf Pilzbefall untersucht werden, Kleidertruhen und Schränke mußten gelüftet werden. Einen einzigen erfreulichen Aspekt hatte die stinkende Feuchtigkeit: Die Pilze schossen in diesem Jahr üppig wie nie zuvor aus dem Boden, die ganze Stadt schwelgte in Pilzen. Und Sulla drückten wieder Julillas Briefe auf der Seele, nachdem die zwei Regenwochen wunderbarerweise verhindert hatten, daß Julillas Dienerin ihn aufsuchte und ihm Briefe in die Toga steckte. Sulla spürte, daß er den schwülen Krankheitsherd Rom wenigstens für einen Tag verlassen mußte, wenn er nicht verrückt werden wollte. Metrobius und sein Beschützer Skylax machten Ferien in Cumae, und Sulla wollte seinen Erholungstag nicht allein verbringen. Also beschloß er, Clitumna und Nikopolis zu einem Picknick an seinem Lieblingsplatz außerhalb von Rom einzuladen. »Kommt, ihr beiden Mädchen«, sagte er am Morgen des dritten sonnigen Tages zu ihnen, »zieht euch was Hübsches an, ich führe euch zu einem Picknick aus!« Die beiden, die sich nicht im geringsten wie Mädchen fühlten, sahen ihn mit säuerlichem Spott an und machten keine Anstalten, das gemeinsame Bett zu verlassen, obwohl es nach der feuchten Nacht schweißgetränkt war. 201
»Ihr braucht beide dringend frische Luft«, drängte Sulla. »Wir wohnen auf dem Palatin, weil hier oben die Luft so gut ist«, sagte Clitumna und drehte ihm den Rücken zu. »Im Augenblick ist die Luft auf dem Palatin kein Haar besser als im übrigen Rom. Sie ist erfüllt vom Gestank der Abwasserkanäle und der feuchten Wäsche. Ich habe einen Wagen gemietet. Wir fahren Richtung Tibur hinaus und essen im Wald zu Mittag. Vielleicht können wir ein paar Fische fangen oder notfalls kaufen, oder ein dickes, fettes Kaninchen. Vor Einbruch der Dunkelheit sind wir wieder daheim, erholt und viel fröhlicher.« »Nein«, sagte Clitumna verdrossen. Nikopolis war unschlüssig. »Also...« Das genügte Sulla. »Mach dich fertig, ich bin wieder da.« Er streckte sich genüßlich. »Ach, ich bin es so leid, in diesem Haus eingesperrt zu sein!« »Ich auch«, sagte Nikopolis und kletterte aus dem Bett. Clitumna blieb mit dem Gesicht zur Wand liegen. Sulla ging in die Küche und bestellte ein Mittagessen zum Mitnehmen. Dann versuchte er es noch einmal bei Clitumna. »Komm doch auch mit.« Keine Antwort. »Dann mach, was du willst.« Er ging zur Tür. »Nikopolis und ich sind heute abend wieder da.« Wieder keine Antwort. Am Fuß der Cacus-Treppe erwartete sie ein offener, zweirädriger Wagen. Sulla half Nikopolis auf den Nebensitz und schwang sich selbst auf den Platz des Kutschers. »Auf geht’s!« rief er fröhlich, faßte die Zügel und spürte, wie sein Herz ungewohnt leicht wurde. Im stillen gestand er sich ein, daß er ganz gern mit Nikopolis allein war. »Hü, ihr Maultiere!« rief er. Die Maultiere trabten munter los, und der Wagen ratterte das Tal von Murcia entlang, in dem der Circus Maximus lag. Sie verließen die Stadt durch das Capena-Tor. Leider bot sich ihren Augen zunächst ein eher uninteressanter und unerfreulicher Anblick, denn die Ringstraße, die Sulla Richtung Osten nahm, führte durch 202
die großen Friedhöfe Roms. Grabstein reihte sich an Grabstein — nicht die eindrucksvollen Mausoleen und Grabmäler der Reichen und Hochgeborenen, die alle großen Ausfallstraßen der Stadt säumten, sondern die Grabsteine einfacher Leute. Jeder Römer und Grieche, selbst der allerärmste bis hinab zu den Sklaven, träumte davon, daß einmal ein fürstliches Grabmal Zeugnis von seiner Existenz ablegen würde. Aus diesem Grund gehörten die Armen und die Sklaven Bestattungsvereinen an und zahlten jeden Denar, den sie erübrigen konnten, in die Vereinskasse ein. Der Verein legte das Geld möglichst gewinnbringend an. Die Veruntreuung von Geldern war in Rom zwar gang und gäbe, aber die Bestattungsvereine wurden von ihren Mitgliedern derart eifersüchtig überwacht, daß den Verantwortlichen keine andere Wahl blieb, als ehrlich zu sein. Eine schöne Bestattung und ein dekoratives Grabmal waren ungeheuer wichtig. Als der Wagen unter den Bogen des Aquädukts hindurchgerollt war, der Wasser zu den dicht besiedelten Hügeln im Nordosten der Stadt brachte, änderte sich die Aussicht. In allen Richtungen dehnte sich fruchtbares Land, zuerst Gemüsegärten, dann grüne Weiden und Weizenfelder. Obwohl die Via Tiburtina durch die schweren Regenfälle stark beschädigt war — der Regen hatte die dicke Schicht aus Schotter, Staubtuff und Sand auf den Pflastersteinen teilweise weggespült — und die Fahrt nicht sehr gemütlich verlief, waren die beiden Ausflügler bester Stimmung. Die Sonne brannte, aber es wehte ein kühles Lüftchen. Nikopolis’ Sonnenschirm schützte Sullas schneeweiße Haut ebenso wie ihren eigenen olivfarbenen Teint. Die Maultiere erwiesen sich als willig und gutmütig. Sulla trieb sie nicht zur Eile an, sondern ließ sie ihr eigenes Tempo finden, und sie trabten leichtfüßig Meile um Meile. Es war unmöglich, den ganzen Weg nach Tibur und wieder zurück an einem einzigen Tag zurückzulegen, doch Sullas Lieblingsplatz lag ein gutes Stück vor der steilen Auffahrt nach Tibur. Kurz hinter Rom zog sich ein Wald die Hügel hinauf. Die Straße führte etwa eine Meile quer durch diesen Wald und erreichte dann 203
das üppig grüne, sehr fruchtbare Tal des Anio. Im Wald war der Boden härter, und hier verließ Sulla die Straße und lenkte die Maultiere auf eine unbefestigte Wagenspur, die zwischen den Bäumen hindurch führte und schließlich auslief. »Wir sind da«, sagte Sulla und sprang vom Wagen. »Ich weiß, daß es hier nicht besonders schön ist, aber komm ein kleines Stück mit, dann zeige ich dir eine Stelle, für die sich der weite Weg lohnt.« Er schirrte die Maultiere ab und legte ihnen Fußfesseln an, dann schob er den Wagen vom Weg in den Schatten, hob den Picknickkorb heraus und hievte ihn sich auf die Schulter. »Woher kennst du dich so gut mit Maultieren und Wagen aus?« fragte Nikopolis, als sie Sulla mit vorsichtigen Schritten durch den Wald folgte. »Jeder, der im Hafen von Rom gearbeitet hat, kennt sich damit aus«, sagte Sulla über seine freie Schulter. »Laß dir Zeit! Wir gehen nicht weit, und wir haben es nicht eilig.« Tatsächlich hatten sie noch viel Zeit, denn bis Mittag waren es noch zwei Stunden. Sie traten auf eine bezaubernde Lichtung hinaus, auf der hohes Gras und spätsommerliche Blumen wuchsen — rosa und weiße Kosmeen, große, blütenübersäte rosa und weiße Heckenrosenbüsche und die hohen Blütenrispen der Lupinen, ebenfalls rosa und weiß. Durch die Lichtung rauschte ein Bach, der vom Regen noch Hochwasser führte. In seinem Bett lagen zerklüftete Felsbrocken. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser und sprühte blitzende Funken, Libellen und kleine Vögel spielten im Licht. »Ach, wie schön!« rief Nikopolis. »Ich habe die Stelle entdeckt, als ich letztes Jahr ein paar Monate von Rom weg war«, sagte Sulla und setzte den Korb an einem schattigen Platz ab. »Mein Wagen verlor damals genau an der Stelle ein Rad, wo die Wagenspur in den Wald hineinführt, und ich mußte Metrobius auf einem der Maultiere nach Tibur schicken, um Hilfe zu holen. Während ich auf ihn gewartet habe, habe ich die Umgebung erkundet.« 204
Nikopolis war nicht erfreut, daß Sulla ausgerechnet mit Metrobius das erste Mal an diesem wundervollen Platz gewesen war, aber sie sagte nichts. Sie ließ sich ins Gras fallen und sah zu, wie Sulla einen großen Schlauch Wein aus dem Korb nahm. Er legte den Schlauch an einer Stelle in den Bach, wo ein Ring aus Steinen ihn festhielt, schlüpfte aus seiner Tunika und zog die Stiefel aus. Mehr hatte er nicht an. Sulla fühlte sich noch immer durch und durch leicht, und dieses Gefühl wärmte ihn ebenso wie die Sonne auf seiner Haut. Er streckte sich lächelnd und sah sich mit einem Entzücken auf der Lichtung um, das nichts mit Metrobius oder mit Nikopolis zu tun hatte. An diesem Ort konnte er sich sagen, daß die Zeit stillstand, daß es keine Politik gab, daß die Menschen nicht in Klassen eingeteilt waren und daß Geld keine Rolle spielte. Die Augenblikke ungetrübten Glücks waren so sparsam auf seinem Lebensweg verteilt gewesen, daß er sich an jeden einzelnen mit schmerzender Klarheit erinnerte: an den Tag, an dem sich das Durcheinander von Schnörkeln auf einem Stück Papier plötzlich zu verständlichen Gedanken geordnet hatte; an die Stunde, in der ein unfaßlich freundlicher und aufmerksamer Mann ihm gezeigt hatte, wie vollkommen ein Liebesakt sein konnte; an das überwältigende Gefühl der Befreiung beim Tode seines Vaters sowie an die Erkenntnis, daß diese Waldlichtung das erste Stück Land war, das er für sich erobert hatte. Das war alles. Die Summe der glücklichen Augenblicke seines Lebens. Keiner dieser Augenblicke hatte mit der Wertschätzung des Schönen oder des Lebens an sich zu tun. Das Glück lag im Lesenkönnen, in der erotischen Lust, in der Freiheit und im Besitz. Nikopolis betrachtete ihn fasziniert, ohne den Grund für seine Freude auch nur im entferntesten zu erraten. Sie bewunderte seine blendend weiße Haut, das leuchtende Gold seiner Haare auf Kopf, Brust und Scham. Diesem Anblick konnte sie nicht widerstehen. Sie schlüpfte aus ihrem leichten Kleid, löste die lange schwarze Schärpe des Unterhemds, streifte das Hemd ab und war nun ebenfalls nackt. 205
Sie wateten in einen der tiefen Tümpel hinein, die das Wasser gebildet hatte. Zuerst stockte ihnen der Atem vor Kälte, aber sie vergnügten sich so lange im Wasser, bis ihnen wieder warm wurde. Sulla spielte mit Nikopolis’ Brustwarzen und ihren schönen Brüsten. Dann kletterten sie hinauf in das dicke, weiche Gras und liebten sich, während sie sich von der Sonne trocknen ließen. Anschließend verzehrten sie ihr Mittagessen: Brot, Käse, hartgekochte Eier und Hähnchenschlegel, dazu Wein. Nikopolis wand einen Blumenkranz für Sulla, dann noch einen für sich selbst und streckte sich im Gras. »Ist das herrlich«, seufzte sie. »Clitumna weiß gar nicht, was sie versäumt.« »Clitumna weiß nie, was sie versäumt«, sagte Sulla. »Na ja«, sagte Nikopolis träge. Die Spottlust war wieder in ihr erwacht. »Sie vermißt ihren lieben Stichus.« Sie summte wieder das Liedchen über den Liebesmord, bis sie einen scharfen Blick von Sulla auffing. Sie verstummte. Zwar glaubte sie nicht ernstlich daran, daß Sulla etwas mit Stichus’ Tod zu tun hatte, aber sie konnte Sulla so herrlich mit diesem Thema ärgern. Sie sprang auf und streckte Sulla, der noch auf dem Boden lag, die Hände hin. »Komm, du Faulpelz, ich möchte ein bißchen im Wald spazierengehen und mich abkühlen«, sagte sie. Gehorsam stand er auf, nahm ihre Hand und spazierte mit ihr in die Kühle unter dem Laubdach. Sie gingen über einen Teppich aus nassen Blättern, der nach dem langen Sonnenschein des Tages aufgewärmt war. Und da standen sie! Ein kleines Heer der herrlichsten Pilze, die Nikopolis je gesehen hatte, kein einziger von Insekten durchlöchert oder von Tieren angeknabbert, schneeweiß, mit dicken, fleischigen Hüten und schönen, schlanken Füßen. Sie dufteten herrlich nach Erde. »Oh, sieh mal!« rief sie und fiel auf die Knie. Sulla schnitt eine Grimasse. »Komm weiter«, sagte er. »Nein, sei doch nicht so, bloß weil du keine Pilze magst! Bitte, Lucius Cornelius! Geh zurück und hole ein Tuch aus dem Korb, 206
ich möchte ein paar Pilze zum Abendessen mitnehmen.« »Vielleicht sind sie nicht eßbar.« Sulla rührte sich nicht vom Fleck. »Unsinn! Natürlich sind sie eßbar! Sieh hier! Keine Hülle auf den Lamellen, keine Flecken und keine roten Punkte. Sie riechen köstlich. Und das ist auch keine Eiche, oder?« Sie sah an dem Baum hinauf, an dessen Fuß die Pilze wuchsen. Sulla betrachtete die wellenförmig geschwungenen Blätter, und auf einmal hatte er eine Vision von der Unausweichlichkeit des Schicksals und meinte, einen Wink seiner Glücksgöttin zu erkennen. »Nein, es ist keine Eiche«, sagte er. »Dann bitte! Bitte!« schmeichelte sie. Er seufzte. »Also gut. Wenn du willst.« Das ganze kleine Heer der Pilze fiel. Nikopolis legte die Pilze sorgfältig auf den Boden des Korbes, dort waren sie auf der Heimfahrt vor der Hitze geschützt. »Ich weiß nicht, warum ihr keine Pilze mögt, du und Clitumna«, sagte sie, als sie wieder im Wagen saßen und die Maultiere ihrem Stall entgegentrabten. »Was ist denn so Besonderes an diesen Pilzen?« fragte Sulla. »Zur Zeit kann man Pilze bergeweise auf dem Markt kaufen und spottbillig noch dazu.« »Aber das hier sind meine«, erklärte sie. »Ich habe sie entdeckt und selbst gepflückt. Die Pilze auf dem Markt sind ganz anders voller Raupen, Löcher, Spinnen und weiß Gott was. Meine werden viel besser schmecken, das verspreche ich dir.« Und sie schmeckten besser. Als Nikopolis sie in die Küche brachte, beäugte der Koch sie mißtrauisch, aber er mußte zugeben, daß weder Auge noch Nase etwas daran auszusetzen fanden. »Brate sie kurz in ein wenig Öl«, sagte Nikopolis. Der Koch briet sie kurz an, schwenkte sie dann in einer Schüssel mit ein wenig frisch gemahlenem Pfeffer und einem Schuß Zwiebelsaft und schickte sie zu Nikopolis ins Eßzimmer. Nikopolis schlang sie hungrig hinunter. Nach dem Tag im Freien hatte sie einen gesunden Appetit. 207
Achtzehn Stunden später bekam sie Magenschmerzen. Ihr wurde übel, und sie mußte sich übergeben, hatte aber keinen Durchfall und meinte, die Schmerzen seien erträglich, sie kenne Schlimmeres. Dann urinierte sie eine kleine Menge Flüssigkeit, die blutig rot war. Jetzt geriet sie in Panik. Man rief sofort Ärzte, der ganze Haushalt rannte aufgescheucht umher. Clitumna schickte Diener aus, die Sulla suchen sollten, der früh am Morgen aus dem Haus gegangen war. Als Nikopolis’ Puls sich beschleunigte und der Blutdruck sank, machten die Ärzte ernste Gesichter. Nikopolis bekam Krämpfe, ihr Atem ging langsam und flach, ihr Herz schlug unregelmäßig, und sie sank unaufhaltsam in tiefe Bewußtlosigkeit. Niemand dachte an die Pilze. »Nierenversagen«, sagte Athenodorus von Sizilien, der inzwischen der erfolgreichste Arzt auf dem Palatin war. Die anderen Ärzte stimmten ihm zu. In dem Augenblick, als Sulla ins Haus stürzte, starb Nikopolis an starken inneren Blutungen — den Ärzten zufolge waren alle ihre inneren Organe zusammengebrochen. »Wir sollten eine Autopsie durchführen«, sagte Athenodorus. »Das meine ich auch«, sagte Sulla. Die Pilze erwähnte er mit keinem Wort. »Ist es ansteckend?« fragte Clitumna. Sie sah alt und krank und sehr einsam aus. Alle verneinten.
Die Autopsie bestätigte die Diagnose: Nieren- und Leberversagen. Die Nieren und die Leber waren geschwollen, verstopft und voller Blutungen. Es hatte Blutungen im Herzbeutel, im Magen, im Dünndarm und Dickdarm gegeben. Der unschuldig aussehende Weiße Knollenblätterpilz hatte sein zerstörerisches Werk gründlich vollbracht. Da Clitumna völlig entkräftet war, organisierte Sulla die Bestattung und führte den Leichenzug als Haupttrauernder an, gefolgt 208
von den führenden Schauspielern der komischen und pantomimischen Theater Roms. Es war ein langer Leichenzug, der Nikopolis sicher gefallen hätte. Als Sulla anschließend zu Clitumnas Haus zurückkehrte, wartete dort Gaius Julius Caesar auf ihn. Sulla warf seine dunkle Trauertoga ab und ging zu Clitumna und ihrem Gast ins Wohnzimmer. Er hatte Gaius Julius Caesar nur wenige Male gesehen und noch nie mit ihm gesprochen. Daß der Senator Clitumna wegen des vorzeitigen Todes einer griechischen Dirne aufsuchen sollte, kam ihm merkwürdig vor, deshalb war er auf der Hut. »Gaius Julius«, sagte er und verbeugte sich. »Lucius Cornelius.« Caesar verbeugte sich gleichfalls. Sie setzten sich. Caesar wandte sich freundlich der weinenden Clitumna zu. »Warum willst du hier bleiben, meine Liebe?« fragte er. »Nebenan wartet Marcia auf dich. Frauen brauchen in Zeiten des Kummers die Gesellschaft von Frauen.« Wortlos stand Clitumna auf und wankte zur Tür, während der Gast in seine dunkle Toga griff und eine kleine Rolle Papier herausnahm. »Lucius Cornelius, deine Freundin Nikopolis ließ mich vor langer Zeit ihr Testament anfertigen und in die Obhut der Vestalinnen geben.« »So?« sagte Sulla hilflos. Mehr fiel ihm nicht ein. Stumm saß er da und starrte Caesar verständnislos an. Caesar kam zum Kern der Sache. »Lucius Cornelius«, sagte er, Nikopolis hat dich als Alleinerben eingesetzt.« Sulla sah ihn noch immer verständnislos an. »So?« »Ja.« »Ich hätte es mir vielleicht denken können«, sagte Sulla und gewann allmählich seine Fassung zurück. »Aber es ist sowieso nicht wichtig. Sie hat alles ausgegeben, was sie besaß.« Caesar sah ihn scharf an. »Aber nein, keineswegs. Nikopolis war ziemlich wohlhabend.« »Unsinn«, sagte Sulla. 209
»Doch, Lucius Cornelius, sie war sehr wohlhabend. Sie hatte keinen Grundbesitz, aber sie war die Witwe eines Militärtribuns, der durch Beutegut reich geworden war, und sie hat das Geld in gewinnbringende Unternehmen investiert. Der Wert ihres Vermögens liegt gegenwärtig bei etwas über zweihunderttausend Denaren.« Sullas Überraschung war zweifellos echt. Was immer Caesar bis zu diesem Augenblick von ihm gedacht haben mochte, er wußte, daß er jetzt einen Mann vor sich sah, der keine blasse Ahnung von dem Testament gehabt hatte. Entgeistert starrte Sulla auf das Papier. Dann schlug er sich die Hände vor das Gesicht, erschauerte und rang nach Luft. »So viel! Nikopolis?« »So viel. Zweihunderttausend Denare. Oder achthunderttausend Sesterze, wenn dir das lieber ist. Eine fürstliche Summe.« Sullas Hände sanken herab. »Oh, Nikopolis!« stöhnte er. Caesar stand auf und streckte ihm die Hand hin. Sulla ergriff sie benommen. »Nein, Lucius Cornelius, bleib sitzen«, sagte Caesar mit warmer Stimme. »Mein Lieber, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mich das für dich freut. Ich habe schon oft von ganzem Herzen gewünscht, du mögest eines Tages ein besseres Los haben — und mehr Glück. Morgen früh werde ich die amtliche Testamentseröffnung vornehmen. Am besten triffst du mich um die zweite Stunde auf dem Forum, beim Tempel der Vesta.« Nachdem Caesar gegangen war, saß Sulla lange Zeit reglos da. Das Haus war so still wie Nikopolis’ Grab. Stunden später erhob er sich steif und ungelenk. Das Blut begann wieder zu zirkulieren, sein Herz füllte sich mit Glut. »Lucius Cornelius, du bist endlich auf dem richtigen Weg«, sagte er laut und lachte. Das Lachen hatte ganz leise begonnen, wurde allmählich lauter, schwoll an zu einem dröhnenden Gelächter, einem Brüllen, einem wiehernden Kreischen. Die Diener hörten starr vor Schrecken zu und berieten, wer sich in Clitumnas Wohnzimmer hineinwagen sollte. Aber noch ehe sie zu einer Entscheidung gekommen waren, 210
verstummte das Lachen.
Clitumna alterte beinahe über Nacht. Zwar war sie erst fünfzig, aber der Tod ihres Neffen hatte den Alterungsprozeß stark beschleunigt, und jetzt war außerdem ihre beste Freundin gestorben. Nicht einmal Sulla gelang es, sie aus ihrer Schwermut herauszuholen, und weder eine Pantomime noch eine Posse konnte sie aus dem Haus locken. Sie litt darunter, daß der Kreis ihrer Vertrauten so drastisch schrumpfte. Wenn Sulla sie jetzt auch noch verließ — das Geld von Nikopolis hatte ihn unabhängig gemacht —, war sie ganz allein. Eine Aussicht, vor der ihr graute. Wenige Tage nach Nikopolis’ Tod schickte sie nach Gaius Julius Caesar. »Toten kann man nichts hinterlassen«, sagte sie, »deshalb muß ich mein Testament noch einmal ändern.« Also wurde das Testament geändert und anschließend wieder bei den Vestalinnen hinterlegt. Clitumna trauerte weiter. Sie vergoß Ströme von Tränen, und ihre früher rastlosen Hände lagen gefaltet und müßig in ihrem Schoß. Alle sorgten sich um sie, aber alle wußten, daß man nichts anderes tun konnte als darauf warten, daß die Zeit die Wunden hellen würde. Falls noch Zeit war. Für Sulla war es jetzt Zeit zu handeln. Julillas letzter Brief hatte gelautet: Ich liebe Dich, obwohl die Monate, aus denen inzwischen schon Jahre geworden sind, mir gezeigt haben, wie wenig meine Liebe erwidert wird, wie wenig Dich mein Schicksal rührt. Im Juni bin ich achtzehn geworden, und eigentlich sollte ich jetzt verheiratet werden, aber es ist mir gelungen, dieses Übel durch meine Krankheit hinauszuzögern. Ich will Dich heiraten, Dich und keinen anderen. Mein Vater zögert, da er mich niemandem als begehrenswerte Braut anbieten kann, und ich werde dafür sorgen, daß es dabei bleibt, bis Du zu mir kommst und mir sagst, daß Du mich heiraten 211
willst. Du hast einmal zu mir gesagt, ich sei ein kleines Kind, ich würde aus meiner unreifen Liebe zu Dir herauswachsen. Aber ich habe bewiesen, daß meine Liebe zu dir so verläßlich ist wie die Rückkehr der Sonne aus dem Süden im Frühjahr. Deine magere griechische Freundin, die ich mit jedem Atemzug gehaßt und verflucht habe, ist tot. Du siehst, wie mächtig ich bin, Lucius Cornelius! Warum begreifst Du nicht, daß Du mir nicht entrinnen kannst? Du liebst mich, ich weiß, daß Du mich liebst. Gib nach, Lucius Cornelius, gib nach! Komm mich besuchen, knie an meinem Schmerzenslager nieder und küsse mich. Verurteile mich nicht zum Tod! Ja, es war Zeit für Sulla. Zeit, vielen Dingen ein Ende zu setzen, Zeit, Clitumna und Julilla abzuschütteln und all die anderen menschlichen Bindungen, die seinen Geist so schrecklich einengten. Auch Metrobius mußte verschwinden. Er mußte handeln, ehe Clitumnas Stimmung sich aufheiterte. Und er brauchte Gaius Julius Caesar hinter sich. So klopfte Sulla eines Tages Mitte Oktober an Caesars Tür. Der Junge, der den Türdienst versah, ließ ihn ohne Zögern ein. Sulla erkannte, daß er auf die Liste derjenigen gesetzt worden war, die Caesar jederzeit empfing, wenn er zu Hause war. »Ist Gaius Julius zu sprechen?« »Ja, Lucius Cornelius. Bitte warte einen Augenblick«, sagte der Junge und verschwand eilig in der Richtung von Caesars Arbeitszimmer. Sulla richtete sich darauf ein, eine Weile warten zu müssen, und schlenderte durch das bescheidene Atrium. Im Vergleich zu diesem schlichten, schmucklosen Raum wirkte Clitumnas Atrium wie das Vorzimmer zum Harem eines orientalischen Herrschers. Noch während er sich Gedanken über Caesars Atrium machte, kam Julilla herein. Wie lange hatte sie wohl jeden Sklaven, der für den Türdienst in Frage kam, beschwatzt, daß er sie sofort benachrichtigen müsse, 212
wenn Lucius Cornelius zu Besuch kam? Und wie lange würde es jetzt dauern, bis der Junge dorthin eilte, wo er sofort hätte hineilen sollen, und Caesar sagte, wer ihn sprechen wollte? Diese beiden Fragen schossen Sulla durch den Kopf, schneller als ein Blitz aufzuckt und wieder verglüht, schneller als sein Körper auf den Schock von Julillas Anblick reagierte. Seine Knie gaben nach, er mußte die Hand ausstrecken und nach dem ersten Gegenstand greifen, den er zu fassen bekam. Zufällig war es ein alter Wasserkrug aus vergoldetem Silber. Der Wasserkrug fiel um, als Sulla sich blindlings an ihn klammerte, und stürzte laut scheppernd zu Boden, während Julilla, die Hände vor das Gesicht geschlagen, hinausrannte. Das Getöse hatte alle Hausbewohner alarmiert. Sulla merkte, daß der letzte Blutstropfen aus seinem ohnehin blassen Gesicht gewichen war und der kalte Angstschweiß ihm den Rücken herunterrann. Seine Beine knickten ein, er sackte zu Boden. Da saß er, den Kopf auf den Knien, die Augen fest geschlossen, und versuchte, das Bild dieses Skeletts, das von Julillas goldener Haut umhüllt war, wieder abzuschütteln. Caesar und Marcia halfen ihm auf die Beine und führten ihn in Caesars Arbeitszimmer. Nach einem großem Schluck unverdünnten Weines kehrte allmählich seine Gesichtsfarbe zurück, und er konnte sich mit einem Seufzer auf dem Sofa aufsetzen. Hatten Caesar und Marcia etwas gesehen? Und wohin war Julilla gegangen? Was sollte er sagen? Was tun? Caesar sah grimmig aus, Marcia gleichfalls. »Es tut mir leid, Gaius Julius«, sagte Sulla und nahm noch einen Schluck Wein. »Ein Schwächeanfall. Ich weiß nicht, was mit mir los ist.« »Ruh dich aus, Lucius Cornelius«, sagte Caesar. »Ich weiß, was mit dir los ist. Du hast ein Gespenst gesehen.« Nein, diesen Mann konnte man nicht täuschen — jedenfalls nicht so plump. Er war viel zu klug, beobachtete viel zu genau. »War das wirklich eure jüngere Tochter?« fragte Sulla. 213
»Ja.« Caesar schickte seine Frau mit einem Nicken aus dem Zimmer. »Ich habe sie vor einigen Jahren manchmal am Porticus Margaritaria gesehen, zusammen mit ihren Freundinnen«, sagte Sulla, »und sie war genauso, wie ein römisches junges Mädchen sein soll. Sie lachte, war niemals vulgär, ach, ich weiß nicht. Und dann, einmal auf dem Palatin, als ich tiefste Schmerzen litt, seelische Schmerzen, verstehst du...« »Ja, ich glaube, ich verstehe«, sagte Caesar. »Sie fragte, ob sie mir helfen könne, und ich war ziemlich unfreundlich zu ihr. Ich glaubte, du würdest es nicht gerne sehen, wenn sie mit Leuten wie mir Bekanntschaft schließt. Aber sie ließ sich nicht abweisen, und ich brachte es nicht fertig, richtig grob zu werden. Weißt du, was sie getan hat?« Sullas Augen sahen noch merkwürdiger aus als sonst. Seine Pupillen waren riesengroß, um die Pupillen herum liefen zwei schmale Ringe in hellem Grauweiß und darum herum zwei Ringe in Grauschwarz. Diese Augen starrten zu Caesar hinauf und wirkten gar nicht menschlich. »Was hat sie getan?« fragte Caesar leise. »Sie hat mir einen Kranz aus Gras gemacht! Sie hat mir einen Kranz geflochten und ihn mir aufgesetzt. Mir! Und ich hatte... ich hatte eine Vision!« Er schwieg. Da keiner der Männer wußte, wie er dieses Schweigen brechen konnte, trat eine lange Stille ein. Beide Männer waren in Gedanken. »Gut«, sagte Caesar schließlich seufzend, »was hat dich zu mir geführt, Lucius Cornelius?« Damit sagte er auf seine Weise, daß er Sullas Unschuld als erwiesen ansah, unabhängig davon, wie er das Verhalten seiner Tochter deutete. Und er sagte außerdem, daß er zum Thema Julilla nichts mehr hören wollte. Sulla hatte mit dem Gedanken gespielt, von den Briefen zu erzählen. Jetzt verwarf er den Gedanken. Er straffte sich, stand vom Sofa auf, setzte sich auf den Stuhl vor Caesars Schreibtisch, der für die Klienten bestimmt war, und wandte sich wie ein Klient an Caesar. 214
»Clitumna«, sagte er. »Ich wollte mit dir über Clitumna sprechen. Vielleicht sollte ich lieber mit deiner Frau über sie sprechen, aber auf alle Fälle gehört es sich, daß ich mich erst einmal an dich wende. Clitumna ist nicht mehr wie früher. Sie ist deprimiert, weint viel und interessiert sich für nichts. Sie verhält sich ganz und gar nicht normal. Nicht einmal für die Trauerzeit. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.« Er holte tief Luft. »Ich stehe in ihrer Schuld, Gaius Julius. Sie ist eine arme, dumme, ordinäre Frau, aber ich stehe in ihrer Schuld. Sie war gut zu meinem Vater, und sie war gut zu mir. Und ich weiß nicht, was ich zu ihrem Besten mit ihr tun soll, ich bin einfach ratlos.« Caesar lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Irgend etwas störte ihn an dem, was Sulla sagte. Er zweifelte nicht an Sullas Darstellung, er hatte Clitumna selbst gesehen und oft genug von Marcia gehört, wie es um sie stand. Aber warum war Sulla zu ihm gekommen? Das paßte nicht zu Sullas Charakter. Caesar bezweifelte, daß Sulla wirklich wissen wollte, was er mit seiner Stiefmutter machen sollte, die einem Gerücht zufolge auch noch seine Geliebte war. In diesem Punkt wollte er freilich kein Urteil fällen. Wenn Sulla hierherkam und um Hilfe bat, deutete das eher darauf hin, daß das Gerücht eine Lüge war, typischer Palatin-Klatsch. Genauso wie das Geschwätz, demzufolge Sulla zu Clitumna und Nikopolis sexuelle Beziehungen unterhalten hatte — und auch noch gleichzeitig! Marcia hatte so etwas angedeutet, aber als Caesar in sie gedrungen war, hatte sie ihm keine konkreten Beweise liefern können. Caesar aber wollte nicht bloßen Gerüchten glauben. Eindeutige Beweise waren eine Sache, bloßes Gerede eine ganz andere. Und doch lag ein falscher Ton darin, daß Sulla ihn heute aufsuchte und um Rat bat. An dieser Stelle dämmerte Caesar eine mögliche Antwort. Daß ein Mann wie Sulla beim Anblick eines ausgemergelten jungen Mädchens in Ohnmacht fiel, war doch höchst ungewöhnlich! Und dann die seltsame Geschichte mit dem Graskranz. Caesar wußte natürlich, was so ein Kranz bedeutete. Vielleicht waren die beiden nur ein paarmal im Vorübergehen zusammengekommen, aber ir215
gend etwas war zwischen ihnen im Gang, und das mußte er sorgfältig beobachten. Natürlich konnte er keine Beziehung zwischen den beiden dulden. Wenn sie sich zueinander hingezogen fühlten, war das ihr Pech. Julilla würde einen Mann heiraten, der hoch erhobenen Hauptes in den Kreisen verkehren konnte, zu denen Caesars Familie gehörte. Während Caesar diese Überlegungen anstellte, fragte sich Sulla, an was Caesar denken mochte. Wegen Julilla war das Gespräch nicht so verlaufen, wie er geplant hatte, nicht einmal annähernd so. Wie konnte er nur so wenig Selbstbeherrschung haben? In Ohnmacht fallen! Er, Lucius Cornelius Sulla! Nachdem er sich so verraten hatte, war ihm keine andere Wahl geblieben, als dem wachsamen Vater eine Erklärung dafür zu liefern, und das wiederum hatte bedeutet, einen Teil der Wahrheit zu sagen. Hätte es Julilla geholfen, hätte er die ganze Wahrheit gesagt, aber er glaubte nicht, daß Caesar die Lektüre ihrer Briefe Freude machen würde. Sulla hatte sich in eine schwierige Lage gebracht und war darüber keineswegs erfreut. »Hast du dir überlegt, wie du Clitumna helfen könntest?« fragte Caesar. Sulla runzelte die Stirn. »Sie hat ein Landhaus in Circei, und ich habe mir gedacht, sie könnte dorthin gehen und eine Weile dort bleiben.« »Und warum kommst du damit zu mir?« Sulla sah, wie sich unter seinen Füßen ein Abgrund auftat, und versuchte, ihn zu überspringen. »Du hast ganz recht, Gaius Julius. Warum komme ich zu dir? Die Wahrheit ist, daß ich zwischen Scylla und Charybdis festsitze und hoffte, du würdest mir eine rettende Hand entgegenstrecken.« »Wie kann ich dich retten?« »Ich glaube, daß Clitumna an Selbstmord denkt.« »Oh.« »Die Frage ist, was kann ich dagegen tun? Ich bin ein Mann, und seit Nikopolis tot ist, gibt es buchstäblich keine Frau in Clitumnas Haus oder Familie mehr, der Clitumna sich anvertrauen 216
könnte, nicht einmal unter ihrer Dienerschaft.« Die Worte kamen jetzt ganz von selbst. »Rom ist gegenwärtig nicht der richtige Platz für sie, Gaius Julius! Aber wie kann ich sie nach Circei schicken ohne die Begleitung einer zuverlässigen Frau? Ich bin nicht sicher, ob sie derzeit überhaupt meine Gesellschaft will, außerdem habe ich... Ich habe verschiedene Dinge in Rom zu erledigen. Ich habe mir überlegt, ob deine Frau vielleicht bereit wäre, Clitumna für ein paar Wochen nach Circei zu begleiten... Das Landhaus ist sehr gut ausgestattet, und das Klima in Circei ist das ganze Jahr über gut für die Gesundheit! Es könnte auch deiner Frau guttun, ein wenig Seeluft zu atmen.« Caesar entspannte sich sichtlich. Er wirkte, als sei eine ungeheure Last von seinem gebeugten Rücken verschwunden. »Ich verstehe, Lucius Cornelius, ich verstehe. Ich verstehe dich besser, als du denkst. Meine Frau könnte Clitumna tatsächlich eine Hilfe sein, aber leider kann ich sie nicht entbehren. Du hast Julilla gesehen, ich brauche dir nicht zu sagen, wie verzweifelt wir über sie sind.« Sulla sah ihn bittend an. »Könnte Julilla nicht mit den beiden Frauen nach Circei gehen? Eine Luftveränderung wirkt oft Wunder!« Caesar schüttelte den Kopf. »Nein, Lucius Cornelius, ich fürchte, das geht nicht. Ich bin bis zum Frühjahr an Rom gebunden. Ich kann meine Frau und meine Tochter nicht allein nach Circei gehen lassen. Nicht, weil ich ihnen die Abwechslung nicht gönne, sondern weil ich mich während ihrer Abwesenheit ständig um sie sorgen würde. Wenn Julilla gesund wäre, wäre es anders. Aber so... nein.« »Ich verstehe dich, Gaius Julius, und ich versichere dich meines Mitgefühls.« Sulla stand auf. »Schick Clitumna nach Circei, Lucius Cornelius. Sie wird schon zurechtkommen.« Caesar brachte seinen Gast zur Tür. »Danke für deine Nachsicht mit meinem törichten Anliegen«, sagte Sulla. »Aber nicht doch. Ich bin froh, daß du gekommen bist. Ich 217
glaube sogar, ich weiß jetzt besser, wie ich meine Tochter behandeln muß. Und ich gestehe, daß du mir durch die Ereignisse dieses Morgens sympathisch geworden bist, Lucius Cornelius. Halte mich auf dem laufenden über Clitumna.« Caesar reichte ihm lächelnd die Hand. Sobald sich die Tür hinter Sulla geschlossen hatte, machte sich Caesar auf die Suche nach Julilla. Sie saß im Wohnzimmer ihrer Mutter und schluchzte verzweifelt, den Kopf in den Armen vergraben. Als Caesar in der Tür erschien, legte Marcia einen Finger an die Lippen, und zusammen gingen sie leise aus dem Zimmer. »Gaius Julius, es ist schrecklich«, sagte Marcia und preßte die Lippen zusammen. »Haben sie sich getroffen?« Eine brennende Röte stieg unter Marcias hellbrauner Haut auf, und sie schüttelte so heftig den Kopf, daß einige Haarnadeln zu Boden fielen und ihre Haare, die sie hochgesteckt hatte, herunterfielen. »Nein, sie haben sich nicht getroffen!« Sie rang die Hände. »Ach, wie beschämend! Wie demütigend!« Caesar faßte ihre Hände. »Beruhige dich, Frau, beruhige dich! Nichts kann so schlimm sein, daß du dich deswegen krank machst. Jetzt sag mir, was los ist.« »So ein unwürdiges Benehmen! So eine Schamlosigkeit!« »Beruhige dich. Erzähl der Reihe nach.« »Er hat nichts damit zu tun, es ist alles ihr Werk! Unsere Tochter, Gaius Julius, hat die beiden letzten Jahre damit zugebracht, Schande auf sich und ihre Familie zu häufen. Sie... sie hat sich einem Mann in die Arme geworfen, der nicht nur unwürdig ist, dir den Staub von den Schuhen zu wischen, sondern der obendrein nichts von ihr wissen will! Und mehr noch, Gaius Julius! Sie hat versucht, seine Aufmerksamkeit dadurch auf sich zu ziehen, daß sie gehungert hat, und hat ihm damit eine Schuld aufgeladen, die er durch nichts verdient hat! Briefe, Gaius Julius! Das Mädchen hat ihm Hunderte von Briefen geschrieben. Sie hat ihn für ihre Krankheit verantwortlich gemacht und um seine Liebe gebettelt wie eine winselnde Hündin!« Aus Marcias Augen ström218
ten Tränen, Tränen der Enttäuschung und ohnmächtigen Wut. »Beruhige dich«, wiederholte Caesar. »Bitte, Marcia, weinen kannst du später. Ich werde mit Julilla reden, und du mußt dabeisein.« Marcia beruhigte sich, trocknete ihre Tränen, und zusammen kehrten sie ins Wohnzimmer zurück. Julilla weinte noch immer, sie hatte nicht einmal bemerkt, daß sie allein war. Seufzend setzte Caesar sich auf den Lieblingsstuhl seiner Frau, fuhr suchend in die Brustfalten seiner Toga und holte sein Taschentuch hervor. »Hier, Julilla, putz dir die Nase und hör auf zu weinen«, sagte er und schob ihr das Tuch hin. »Ich muß mit dir reden.« Julilla hatte hauptsächlich deshalb geweint, weil man hinter ihr Geheimnis gekommen war. Als sie die beruhigend feste, sachliche Stimme ihres Vaters hörte, beruhigte sie sich. Sie hörte auf zu weinen und saß mit hängendem Kopf da, ihr zerbrechlicher Körper wurde von heftigem Schluckauf geschüttelt. »Du hast wegen Lucius Cornelius Sulla gehungert, Julilla, stimmt das?« fragte Caesar. Sie antwortete nicht. »Julilla, du darfst der Frage nicht ausweichen, und ich werde keine Nachsicht haben, wenn du nicht antwortest. Ist Lucius Cornelius Sulla der Grund für all dieses Übel?« »Ja«, flüsterte sie. Caesars Stimme klang weiterhin fest und sachlich, aber die Worte brannten sich gerade deshalb um so tiefer in Julillas Herz. So sprach ihr Vater mit einem Sklaven, der ihm ein unverzeihliches Unrecht zugefügt hatte. Mit seiner Tochter hatte er noch nie so gesprochen. Bis jetzt. »Hast du auch nur die leiseste Vorstellung, was für Schmerzen, Sorgen und Mühen du uns allen seit über einem Jahr zufügst? Seit über einem Jahr bist du der Mittelpunkt, um den sich alle drehen. Nicht nur ich, deine Mutter, deine Brüder und deine Schwester, sondern auch unsere treuen Diener, unsere Freunde und Nachbarn. Du hast uns an den Rand des Wahnsinns gebracht. Und wofür? 219
Kannst du mir sagen, wofür?« »Nein«, flüsterte sie. »Unsinn! Natürlich kannst du das sagen! Du hast ein Spiel mit uns getrieben, Julilla. Ein grausames und selbstsüchtiges Spiel. Du hast es mit einer Geduld und einer Intelligenz betrieben, die einer edleren Sache würdig wären. Du hast dich — mit sechzehn Jahren! in einen Mann verliebt, von dem du genau wußtest, daß er nicht zu dir paßt und daß ich ihn nie billigen würde. Einen Mann, der selbst wußte, daß er nicht zu dir paßt, und der dich in keiner Weise ermutigt hat. Also hast du dich dazu entschlossen, mit Täuschung vorzugehen, mit Schläue, mit... Mir fehlen die Worte, Julilla.« Caesar verstummte. Seine Tochter zitterte. Seine Frau zitterte. »Ich glaube, ich muß deinem Gedächtnis nachhelfen, Tochter. Weißt du, wer ich bin?« Julilla antwortete nicht, ließ nur weiter den Kopf hängen. »Sieh mich an!« Sie hob das Gesicht und richtete ihre tränennassen Augen auf Caesar. Ihr Blick war verschreckt und wild. »Nein, ich sehe, daß du nicht weißt, wer ich bin«, sagte Caesar. »Deshalb muß ich es dir sagen, Tochter. Ich bin der pater familias, das Oberhaupt dieses Hauses. Mein Wort ist hier Gesetz. Kein Gericht kann es aufheben. Was immer ich im Bereich dieses Hauses zu sagen und zu tun beliebe, kann ich sagen und tun. Kein Gesetz des Senats und des römischen Volkes steht zwischen mir und meinem Haushalt, meiner Familie. Die römische Familie steht unantastbar über jedem Gesetz, außer dem Gesetz des pater familias. Wenn meine Frau Ehebruch begeht, Julilla, kann ich sie töten oder töten lassen. Wenn sich mein Sohn der sittlichen Verworfenheit oder einer anderen Verfehlung schuldig macht, kann ich ihn töten oder töten lassen. Wenn meine Tochter unkeusch ist, Julilla, kann ich sie töten oder töten lassen. Wenn irgendein Mitglied meines Haushalts die Grenzen dessen überschreitet, was ich als sittliches Benehmen betrachte, kann ich diese Person töten 220
oder töten lassen. Verstehst du mich, Julilla?« Ihre Augen waren nicht von seinem Gesicht gewichen. »Ja«, sagte sie. »Es betrübt mich und beschämt mich, dir mitteilen zu müssen, daß du die Grenzen dessen überschritten hast, was ich als sittliches Benehmen betrachte, Tochter. Du hast deine Familie und die Diener dieses Hauses und vor allem den pater familias zu deinen Opfern gemacht, deinen Marionetten, deinem Spielzeug. Und warum? Aus Selbstsucht, zu deiner persönlichen Befriedigung, aus dem niedrigsten aller Motive — allein um deiner selbst willen.« »Aber ich liebe ihn, tata!« rief sie. Caesar fuhr auf. »Liebe? Was weißt du von Liebe, Julilla? Wie kannst du das Wort ›Liebe‹ mit dem niedrigen Abklatsch der Empfindung besudeln, den du erfahren hast? Ist es Liebe, wenn du deinem Geliebten das Leben zur Hölle machst? Ist es Liebe, wenn du deinen Geliebten zu einer Verbindung drängst, die er nicht will? Ist irgend etwas davon Liebe, Julilla?« »Wahrscheinlich nicht«, flüsterte sie, »aber ich habe geglaubt, es sei Liebe.« Die Augen von Caesar und Marcia trafen sich über Julillas Kopf, voller quälenden, bitteren Schmerzes, weil die Eltern in diesem Moment Julillas Beschränktheit erkannten und begriffen, daß sie sich selbst Illusionen gemacht hatten. »Glaub mir, Julilla, was immer du gefühlt hast und was immer dich zu diesem schäbigen und unehrenhaften Benehmen veranlaßt hat, Liebe war es nicht«, sagte Caesar und stand auf. »Ab jetzt gibt es keine Kuhmilch mehr, keine Eier und keinen Honig. Du wirst essen, was die übrige Familie auch ißt. Oder du ißt nichts. Es ist mir gleichgültig. Ich verstoße dich nicht, und ich werde dich nicht töten oder töten lassen. Aber von diesem Augenblick an liegt alles, was du tust, allein in deiner Verantwortung. Du hast mir und den Meinen Schaden zugefügt, Julilla, und was vielleicht noch unverzeihlicher ist, du hast einem Mann Schaden zugefügt, der dir nichts schuldig ist, denn er kennt dich nicht und ist nicht mit dir 221
verwandt. Später, wenn dein Anblick weniger abstoßend ist, werde ich von dir verlangen, daß du dich bei Lucius Cornelius Sulla entschuldigst. Ich verlange keine Entschuldigung von dir bei uns oder deinen Geschwistern, denn du hast unsere Liebe und unsere Achtung verloren, und damit sind Entschuldigungen wertlos.« Er verließ das Zimmer. Julilla wandte sich instinktiv ihrer Mutter zu und wollte sich ihr in die Arme zu werfen. Aber Marcia fuhr zurück. »Du hast dich abscheulich benommen!« sagte sie kalt. »Und all das wegen eines Mannes, der nicht einmal gut genug ist, den Boden zu lecken, auf dem Caesar schreitet!« »Ach, Mama!« »Nichts ›Ach, Mama‹! Du wolltest erwachsen sein, Julilla, du wolltest Frau genug sein, um zu heiraten. Jetzt sei erwachsen.« Nach diesen Worten verließ auch Marcia das Zimmer. Einige Tage später schrieb Gaius Julius Caesar an seinen Schwiegersohn Gaius Marius: Die unglückselige Geschichte geht endlich ihrem Ende zu. Ich wollte, ich könnte sagen, daß Julilla eine Lehre daraus gezogen hat, aber ich bezweifle es sehr. In späteren Jahren wirst auch Du, Gaius Marius, die Qualen und Anfechtungen der Elternschaft kennenlernen, und ich wollte, ich könnte Dir zum Trost sagen, daß Du aus meinen Fehlern lernen wirst. Aber das wirst Du nicht. Denn so wie jedes Kind sich von anderen Kindern unterscheidet und unterschiedlich behandelt werden muß, so sind auch alle Eltern verschieden. Was haben wir falsch gemacht bei Julilla? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob wir überhaupt etwas falsch gemacht haben. Vielleicht ist der Fehler angeboren, liegt er in ihrem Wesen begründet. Ich bin zutiefst verletzt und die arme Marcia auch. Auch Julilla leidet schrecklich, aber ich mußte mich fragen, ob wir nicht verpflichtet sind, vorerst Abstand von ihr zu wahren, und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß wir das müssen. Liebe haben wir ihr immer gegeben, nicht aber Gelegenheit, Selbstdisziplin zu lernen. Sie wird nur begreifen, wenn sie 222
leidet. Um der Gerechtigkeit willen habe ich unseren Nachbarn Lucius Cornelius Sulla aufgesucht und eine Entschuldigung in unser aller Namen ausgesprochen. Das muß genügen, bis Julilla wieder besser aussieht und sich selbst bei ihm entschuldigen kann. Er wollte mir Julillas Briefe nicht aushändigen, aber ich bestand darauf. Ich befahl Julilla, die Briefe zu verbrennen, aber zuerst mußte sie jede einzelne der törichten Episteln mir und ihrer Mutter vorlesen. Wie schrecklich, wenn man seinem eigenen Fleisch und Blut gegenüber so hart sein muß! Aber ich fürchte sehr, daß nur die allerbitterste Lektion auf Julillas selbstsüchtiges Herz Eindruck macht. So. Genug von Julilla und ihren Ränken. Es gehen viel wichtigere Dinge vor, und vielleicht bin ich sogar der erste, der diese Nachrichten in die Provinz Africa schickt. Marcus Junius Silanus ist von den Germanen vernichtend geschlagen worden. Über 30 000 Mann sind gefallen, der Rest ist in alle Winde zerstreut. Silanus scheint darüber nicht betroffen, oder vielleicht sollte ich besser sagen, daß ihm sein eigenes Überleben wichtiger ist als das seiner Soldaten. Er hat die Nachricht selbst nach Rom gebracht, aber in einer stark verharmlosenden Version. Bis nach und nach die ganze Wahrheit herausgekommen ist, war die Schockwirkung der Katastrophe schon weitgehend verpufft. Natürlich will er sich der Anklage wegen Hochverrat entziehen, und ich schätze, daß ihm das auch gelingt. Und was, so höre ich Dich fragen, ist mit den Germanen? Strömen sie jetzt nach Süden? Packen die Einwohner von Massilia in Panik ihre Sachen? Nein. Ob Du es glaubst oder nicht: Nachdem sie Silanus’ Heer vernichtet hatten, machten sie prompt kehrt und zogen nach Norden ab. Was soll man von einem so rätselhaften Feind halten? Uns allen läuft es kalt den Rücken hinunter, wenn wir an die Germanen denken. Denn sie werden kommen. Früher oder später werden sie kommen, dem jetzigen Eindruck nach eher später, und wir haben ihnen keinen besseren Feldherrn entgegenzustellen als einen Marcus Junius Silanus. 223
Zum Schluß noch etwas Angenehmeres. Wir fechten zur Zeit einen höchst amüsanten Kampf mit unserem geschätzten Zensor Marcus Aemilius Scaurus. Der andere Zensor, Marcus Livius Drusus, ist vor drei Wochen überraschend gestorben, so daß die Amtszeit der Zensoren abrupt endete, und jetzt will Scaurus nicht zurücktreten! Gleich nach der Bestattung von Drusus trat der Senat zusammen und befahl Scaurus, sein Zensorenamt niederzulegen, damit das lustrum offiziell mit der üblichen Zeremonie abgeschlossen werden kann. Scaurus weigerte sich. »Ich bin zum Zensor gewählt worden«, sagte er, »und stecke mitten in der Aufgabe, Verträge für meine Bauvorhaben zu vergeben. Ich kann meine Arbeit unmöglich abbrechen.« »Marcus Aemilius Scaurus, das steht nicht bei dir«, sagte Metellus Delmaticus, der Pontifex Maximus. »Das Gesetz sagt, wenn ein Zensor während der Amtszeit stirbt, ist das lustrum zu Ende und sein Kollege muß unverzüglich zurücktreten.« »Es ist mir gleich, was das Gesetz sagt«, erwiderte Scaurus. »Ich kann jetzt nicht zurücktreten, und ich werde nicht zurücktreten!« Sie baten und bettelten, zeterten und schrieen, alles vergebens. Scaurus war entschlossen, einen Präzedenzfall zu schaffen. Daraufhin begann das ganze Geschrei und Gezeter von neuem. Bis Scaurus die Geduld und die Beherrschung verlor. »Ich scheiße auf euch alle!« schrie er und machte weiter mit seinen Plänen und Verträgen. Also berief der Pontifex Maximus eine weitere Senatssitzung ein und zwang den Senat, einen formellen Beschluß zu fassen, der den unverzüglichen Rücktritt Scaurus’ forderte. Eine Abordnung wurde zu Scaurus geschickt. Wie Du weißt, bin ich kein Anhänger von Scaurus. Er ist so verschlagen wie Odysseus und ein so gerissener Lügner wie Paris. Aber Du hättest sehen sollen, wie er die Abgesandten in der Luft zerrissen hat! Wie ein so häßlicher, magerer Wicht wie Scaurus das fertigbringt, ist mir ein Rätsel — er hat nicht einmal mehr ein einziges Haar auf dem Kopf! Marcia sagt, es liegt an seinen 224
schönen grünen Augen und seiner noch schöneren Stimme und seinem Sinn für Humor. Nun, den Sinn für Humor will ich ihm zugestehen, aber den Reiz seiner Augen und seiner Stimme kann ich nicht nachempfinden. Marcia sagt, ich sei ein typischer Mann, wobei ich nicht genau weiß, was sie damit sagen will. Frauen nehmen gern Zuflucht zu solchen Bemerkungen, wenn man sie auf die Logik festzunageln versucht, wie ich festgestellt habe. Aber es muß auch irgendeine verborgene Logik in seinem Erfolg liegen, und wer weiß? Vielleicht trifft Marcias Einschätzung ja zu. Aber ich schweife ab. Zurück zur Sache. Als er die Senatoren sah, schob er Verträge und Vertragspartner beiseite. Kerzengerade saß er auf seinem Amtsstuhl, die Toga in perfekte Falten gelegt, einen Fuß vorgestellt, in der klassischen Haltung. »Ja bitte?« fragte er Metellus Delmaticus, den Sprecher der Abordnung. »Marcus Aemilius, der Senat hat formell beschlossen, daß du auf der Stelle dein Zensorenamt niederlegen sollst« sagte der Unglücksrabe. »Das werde ich nicht tun«, sagte Scaurus. »Du mußt aber!« blökte Delmaticus. »Ich muß gar nichts!« Scaurus drehte den Senatoren den Rükken zu und winkte die Bauunternehmer wieder heran. Delmaticus versuchte es noch einmal. »Marcus Aemilius, bitte!« Aber Scaurus sagte nur: »Ich scheiße auf euch! Scheiße, scheiße, scheiße!« Nachdem der Senat seine Möglichkeiten erschöpft hatte, reichte er das Problem an die Versammlung der Plebs weiter. Damit wurde der Plebs die Verantwortung für etwas zugeschoben, für das sie eigentlich gar nicht zuständig war, denn die Zensoren werden ja von den Zenturiatkomitien gewählt, einer weitaus vornehmeren Körperschaft, als die Versammlung der Plebs es ist. Die Plebs hielt dennoch eine Versammlung ab und übertrug ihren Volkstribunen eine letzte Aufgabe für das laufende Amtsjahr: Marcus Aemilius Scaurus aus seinem Zensorenamt zu entfernen. 225
Also marschierten gestern, am neunten Tag des Dezember, alle zehn Volkstribunen geschlossen zu Scaurus, an der Spitze Gaius Mamilius Limetanus. »Marcus Aemilius, das Volk von Rom hat mich beauftragt, dich aus deinem Zensorenamt zu entfernen«, sagte Mamilius. »Da das Volk mich nicht gewählt hat, Gaius Mamilius, kann das Volk mich auch nicht absetzen«, erwiderte Scaurus. »Aber das Volk hat die oberste Gewalt, Marcus Aemilius, und das Volk sagt, du mußt zurücktreten.« »Ich werde nicht zurücktreten!« »In diesem Fall, Marcus Aemilius, bin ich vom Volk ermächtigt, dich festzunehmen und ins Gefängnis zu bringen«, sagte Mamilius. »Lege Hand an mich, Gaius Mamilius, und du wirst wieder die Sopranstimme deiner Kindheit bekommen«, drohte Scaurus. Worauf sich Mamilius der Menge zuwandte, die sich natürlich inzwischen versammelt hatte, und ihr zurief: »Volk von Rom, ich rufe Dich zum Zeugen, daß ich hiermit mein Veto dagegen einlege, daß Marcus Aemilius Scaurus weiter Zensor ist!« Und damit war der Fall natürlich erledigt, Scaurus rollte seine Verträge zusammen, befahl seinem Stuhlsklaven, seinen Elfenbeinstuhl zusammenzuklappen, und verbeugte sich nach allen Richtungen vor der applaudierenden Menge, die nichts mehr liebt als eine gelungene Auseinandersetzung zwischen Beamten, und die Scaurus uneingeschränkt bewundert, weil er die Art von Mut besitzt, die alle Römer bei ihren Beamten bewundern. Dann ging er auf Mamilius zu, hängte sich bei ihm ein und verließ ruhmreich das Feld. Caesar seufzte, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und dachte, daß er noch einen Kommentar zu den Nachrichten abgeben sollte, die Marius aus der Provinz Africa geschrieben hatte. Dort hatte es Metellus anscheinend fertiggebracht, den Krieg mit Jugurtha in einem Sumpf inkonsequenter Aktivitäten und schwacher Führung ersticken zu lassen. Das war zumindest Marius’ Version, die allerdings nicht mit den Berichten übereinstimmte, die Metellus fort226
laufend dem Senat schickte. Du wirst bald erfahren — falls Du es nicht schon weißt —, daß der Senat Quintus Caecilius’ Kommando als Statthalter der Provinz Africa und Feldherr im Krieg gegen Jugurtha verlängert hat. Ich bin sicher, daß Dich das nicht überrascht, und ich nehme an, daß Quintus Caecilius seine militärischen Aktivitäten verstärken wird, denn wenn der Senat das Kommando eines Konsuls erst einmal verlängert hat, kann er sicher sein, daß er das Kommando behält, bis er die Gefahr in seiner Provinz erfolgreich bekämpft hat. Es ist eine kluge Taktik, untätig zu bleiben, bis das Konsulatsjahr vorbei ist und das prokonsularische imperium verliehen wird. Aber ich stimme Dir zu, daß Dein Feldherr empörend lange gezögert hat. In seinen Berichten schreibt er, sein Heer hätte eine gründliche Ausbildung gebraucht, und der Senat glaubt ihm. Ich verstehe auch nicht, warum er Dich, der du immer als Fußsoldat gekämpft hast, zum Anführer seiner Reiterei ernannt hat und Publius Rutilius zum Befehlshaber der Heereshandwerker, wo er doch im Feld viel bessere Dienste leisten könnte. Aber es ist nun einmal das Vorrecht des Feldherrn, seine Männer so einzusetzen, wie er möchte, von den Legaten bis hinunter zu den einfachen Hilfssoldaten. Deine Schilderung von der Schlacht am Fluß Muthul beeindruckt mich viel mehr als die Version, die Quintus Caecilius in seinem Bericht an den Senat gegeben hat. Ich stehe voll und ganz auf Deiner Seite und bin überzeugt, daß Du recht hast, wenn Du sagst, der beste Weg, den Krieg gegen Numidien zu gewinnen, sei die Gefangennahme Jugurthas. Es tut mir leid, daß dieses erste Jahr so enttäuschend für Dich war, weil Quintus Caecilius Deine Talente nicht nutzt. Dein Ziel, Dich im übernächsten Jahr zum Konsul wählen zu lassen, wird schwer zu erreichen sein, wenn Du keine Gelegenheit erhältst, Dich in den kommenden Schlachten in Numidien auszuzeichnen. Aber ich glaube nicht, Gaius Marius, daß Du eine so schmähliche Zurücksetzung widerstandslos dulden wirst, und ich bin sicher, 227
Du wirst einen Weg finden, Dich doch noch auszuzeichnen. Ich schließe mit einer letzten Neuigkeit vom Forum. Nach der vernichtenden Niederlage von Silanus in Gallia Transalpina hat der Senat eines der letzten noch übriggebliebenen Gesetze von Gaius Gracchus aufgehoben, jenes Gesetz nämlich, das eingrenzt, wie oft ein Mann Soldat werden kann. Zehn Jahre Dienst im Feld oder die Teilnahme an sechs Feldzügen reichen jetzt nicht mehr aus, um ihn vom weiteren Dienst unter der Fahne zu befreien. Auch das Mindestalter von siebzehn Jahren wurde aufgehoben. Wir haben nicht mehr genug Soldaten. Gib auf Dich acht und schreib mir bald wieder. Gaius Julius Caesar war zufrieden mit seinem Brief: viele Neuigkeiten und gute Ratschläge. Gaius Marius wurde den Brief noch vor Ende des Jahres erhalten.
Es war Mitte Dezember geworden, bis Sulla Clitumna endlich nach Circei begleiten konnte, ein Vorbild an Fürsorge und liebevoller Aufmerksamkeit. Er hatte befürchtet, daß Clitumnas Verfassung sich bessern und seine Pläne daran scheitern könnten, aber das Schicksal meinte es weiterhin gut mit ihm. Clitumna war immer noch sehr deprimiert, und Marcia hatte Caesar davon bestimmt berichtet. Für ein Landhaus an der Küste der Campania war Clitumnas Haus nicht übermäßig groß, aber doch erheblich größer als ihr Haus auf dem Palatin, denn Römer, die reich genug waren, sich für die Ferienzeit ein eigenes Landhaus zu leisten, hatten den Wunsch, sich mit viel Raum zu umgeben. Das Landhaus stand hoch oben auf einer vulkanischen Landzunge und verfügte über einen privaten Strand. Nachbarn in unmittelbarer Nähe gab es keine. Nach der Ankunft nahm Clitumna als erstes ein Bad, anschließend aß sie zu Abend, dann gingen Sulla und sie zu Bett, allerdings in getrennten Zimmern. Sulla wollte nur zwei Tage in Circei 228
bleiben und widmete in diesen zwei Tagen seine ganze Zeit Clitumna. »Ich habe eine Überraschung für dich«, sagte er am Tag der Abreise frühmorgens bei einem Spaziergang. »Ja?« fragte sie teilnahmslos. »Du bekommst sie in der ersten Vollmondnacht«, sagte er verheißungsvoll. »In der Nacht?« fragte sie und zeigte einen Funken Interesse. »In der Nacht und bei Vollmond! Vorausgesetzt, es ist eine schöne, klare Nacht und du kannst den Vollmond sehen.« Sie waren unter der hohen Fassade des Landhauses stehengeblieben, das wie die meisten dieser Häuser auf abfallendem Gelände erbaut worden war. Auf der Vorderseite hatte es oben eine Loggia, von der aus die Bewohner die Aussicht genießen konnten. An die Loggia schloß sich das großzügige Peristyl an, der von Säulen umgebene Garten, und hinter dem Peristyl kam das eigentliche Haus, in dem sich die meisten Räume befanden. Die Ställe lagen im Erdgeschoß der Vorderseite, die Wohnräume der Stallknechte über den Ställen und unter der Loggia. Das Gelände vor Clitumnas Haus war mit Gras und üppigen Rosenbüschen bewachsen und fiel schräg zur Spitze einer Felsnase ab. Zur Seite war das Gelände kunstvoll mit einem Wäldchen bepflanzt worden, das ungestörte Ruhe auch für den Fall sicherte, daß auf dem nächsten Grundstück ein weiteres Landhaus erbaut wurde. Sulla wies auf die Pinien und Zypressen des Wäldchens. »Ein Geheimnis, Clitumna«, sagte er mit schmeichelnder Stimme. »Was für ein Geheimnis?« Allmählich wurde sie doch neugierig. »Wenn ich dir das sagen würde, wäre es kein Geheimnis mehr«, flüsterte er und knabberte an ihrem Ohrläppchen. »Was ich dir jetzt sage, mußt du unbedingt geheimhalten. Schwörst du mir das?« »Ich schwöre es«, sagte sie. 229
»Du wirst dich zu Beginn der dritten Stunde nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Haus schleichen, in acht Tagen, von gestern abend an gerechnet. Du mußt allein sein und dich in dem Wäldchen dort verstecken.« Sulla streichelte ihre Hüfte. Clitumna war jetzt überhaupt nicht mehr teilnahmslos. »Oooooh! Ist es eine schöne Überraschung?« fragte sie aufgeregt. »Es wird die größte Überraschung deines Lebens sein«, sagte Sulla, »und das ist kein leeres Versprechen, Liebling. Aber ich stelle zwei Bedingungen.« Sie lächelte ihn an und sah dabei unerträglich dumm aus. »Ja?« »Erstens darf niemand etwas davon erfahren, nicht einmal die kleine Bithy. Wenn du ihr davon erzählst, wirst du statt der Überraschung eine große Enttäuschung erleben, und ich werde sehr, sehr böse sein. Du magst es nicht, wenn ich sehr, sehr böse bin, nicht wahr, Clitumna?« Sie fröstelte. »Nein, Lucius Cornelius.« »Dann behalte unser Geheimnis für dich«, flüsterte er. »Wenn es dir gelingt, von jetzt an bis zu dem Augenblick, in dem du die Überraschung bekommst, besonders niedergeschlagen zu wirken, wird die Überraschung noch größer sein, das verspreche ich dir.« »Ich werde brav sein, Lucius Cornelius«, sagte sie eifrig. Er erriet, in welche Richtung ihre Gedanken gingen. Sie glaubte, die Überraschung werde eine neue, liebevolle Gefährtin sein, hübsch, willig beim Liebesspiel und unterhaltsam im Gespräch. Und Clitumna kannte Sulla gut genug, um zu wissen, daß sie seine Bedingungen erfüllen mußte, weil er ihr die Gefährtin sonst für immer wieder wegnehmen würde. Außerdem wagte niemand, Sullas Wünschen zu widersprechen, wenn es ihm ernst war. »Es gibt noch eine zweite Bedingung«, sagte er. Sie schmiegte sich an ihn. »Ja, liebster Lucius?« »Wenn die Nacht nicht schön ist, muß die Überraschung ausbleiben. Achte also auf das Wetter. Wenn es in der ersten Nacht regnet, dann warte auf die nächste trockene.« »Ich verstehe, Lucius Cornelius.«
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Sulla fuhr in einem gemieteten Wagen nach Rom zurück. Clitumna hütete ihr Geheimnis und bemühte sich, deprimierter als je zuvor zu erscheinen. Als Sulla in Rom eintraf, rief er den Verwalter von Clitumnas Haus auf dem Palatin zu sich. »Wie viele Bedienstete hat die Herrin hiergelassen, Iamus?« fragte er. Er saß am Schreibtisch seines Arbeitszimmers und erstellte offensichtlich eine Liste. »Nur mich, zwei Hausdiener, zwei Hausmädchen, einen Marktjungen und den Unterkoch, Lucius Cornelius«, sagte der Verwalter. »Dann wirst du zusätzliche Hilfe holen müssen, Iamus, denn heute in vier Tagen gebe ich ein Fest.« Sulla hielt dem erstaunten Verwalter die Liste unter die Nase. Iamus wußte nicht, ob er einwenden sollte, daß seine Herrin Clitumna ihm kein Wort von einem Fest gesagt habe, oder ob er einfach darauf hoffen sollte, daß es später keinen Ärger geben würde, wenn die Rechnungen kamen. Sulla erriet, was in ihm vorging, und zerstreute seine Bedenken. »Es ist mein Fest, also bezahle ich dafür. Außerdem bekommst du eine große Belohnung — unter zwei Bedingungen: erstens, daß du mir bei der Vorbereitung des Festes nach Kräften zur Hand gehst, und zweitens, daß du es Clitumna gegenüber nicht erwähnst, wenn sie zurückkommt. Ist das klar?« »Vollkommen, Lucius Cornelius«, sagte Iamus und verbeugte sich tief. Sulla machte sich an die Vorbereitung. Er bestellte Tänzer, Musikanten, Akrobaten, Sänger, Zauberer, Possenreißer und andere Unterhaltungskünstler, denn sein Fest sollte alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen. Auf dem ganzen Palatin sollte man darüber sprechen. Als letzten suchte er Skylax auf. Unangemeldet platzte er in dessen Arbeitszimmer. »Ich möchte Metrobius ausleihen«, sagte er. In der Wohnung hing ein schwüler Geruch nach Räucherwerk und dem Holz der Zimtkassie, die 231
Zimmer waren mit Wandteppichen behängt und üppig mit Sofas und Sitzkissen ausstaffiert. Sulla ließ sich auf eines der luxuriös gepolsterten Sofas fallen, während Skylax, der träge auf einem der Sofas gelegen hatte, sich empört aufsetzte. »Wirklich, Skylax, du bist so weich wie Karamelpudding und so dekadent wie ein syrischer Potentat!« sagte Sulla. »Warum besorgst du dir nicht ein paar gewöhnliche Roßhaarsofas? Bei diesem Zeug fühlt man sich, als versinke man in den Armen einer gigantischen Hure!« »Ich scheiße auf deinen Geschmack«, lispelte Skylax erregt. »Solange du Metrobius herausgibst, kannst du scheißen, worauf du willst.« »Warum sollte ich, du... du... Rohling!« Skylax fuhr sich mit der Hand durch seine sorgfältig frisierten, gefärbten goldenen Lokken, klimperte mit seinen langen Wimpern, die er mit stibium geschwärzt hatte, und rollte mit den Augen. »Weil der Knabe dir nicht mit Leib und Seele gehört«, sagte Sulla. »Er gehört mir mit Leib und Seele! Und er ist nicht mehr der alte, seit du ihn mir gestohlen und in ganz Italien herumgeschleppt hast, Lucius Cornelius! Ich weiß nicht, was du mit ihm gemacht hast, aber auf alle Fälle hast du ihn verdorben!« Sulla grinste. »Ich habe einen Mann aus ihm gemacht! Er frißt dir nicht mehr aus der Hand, was?« Er verzog angeekelt den Mund und brüllte dann: »Metrobius!« Der Junge schoß durch die Tür, warf sich Sulla in die Arme und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Sulla sah Skylax über den schwarzen Schopf des Jungen an und zog eine rotgoldene Augenbraue hoch. »Gib’s auf, Skylax, dein Bumsjunge mag mich lieber als dich.« Zum Beweis zog er Metrobius’ Tunika hoch und enthüllte dessen Erektion. Skylax brach in Tränen aus, und das stibium floß ihm in schwarzen Bächen die Wangen herab. »Komm, Metrobius.« Sulla stand auf. An der Tür drehte er sich 232
um und warf Skylax ein zusammengefaltetes Blatt Papier hin. »Ein Fest in Clitumnas Haus, in vier Tagen«, sagte er. »Schluck deine schlechte Laune runter und komm. Du kannst Metrobius zurückhaben, wenn du kommst.«
Alle kamen, auch Hercules Atlas, der stärkste Mann der Welt, der auf Jahrmärkten und Festen und Feiern in ganz Italien auftrat. Hercules Atlas war außerhalb seines Hauses nie anders zu sehen als mit einem mottenzerfressenen Löwenfell bekleidet und mit einer riesigen Keule in der Hand. Er wurde freilich nur selten irgendwohin eingeladen, denn wenn der Wein seine Kehle hinunterfloß, wurde er streitsüchtig und gewalttätig. »Du bist ja nicht recht bei Trost, wie konntest du diesen Bullen einladen!« sagte Metrobius und spielte mit Sullas glänzenden Locken. Die entscheidende Veränderung, die mit Metrobius während der Reise mit Sulla vorgegangen war, bestand darin, daß Sulla dem Jungen Lesen und Schreiben beigebracht hatte. »Hercules Atlas ist mein Freund«, sagte Sulla und küßte jeden einzelnen Finger des Jungen mit erheblich mehr Genuß, als ihm Clitumnas Finger bereiteten. »Aber er ist verrückt, wenn er betrunken ist!« protestierte Metrobius. »Er wird das Haus zertrümmern und wahrscheinlich auch noch ein paar Gäste zusammenschlagen! Er soll seine Nummer vorführen und dann verschwinden.« »Unmöglich.« Sulla schien ganz unbesorgt. Er streckte die Arme aus und zog Metrobius auf seinen Schoß. Metrobius schlang die Arme um Sullas Hals, hob das Gesicht, und Sulla küßte ihn langsam und zärtlich auf die Augenlider. »Lucius Cornelius, warum behältst du mich nicht bei dir?« Mit einem Seufzer tiefster Befriedigung lehnte sich Metrobius an Sullas Arm. Sulla runzelte die Stirn. »Du hast es bei Skylax viel besser«, sagte er. Es klang schroff. Metrobius öffnete seine großen dunklen Augen, die vor Liebe 233
glänzten. »Aber das stimmt nicht, wirklich nicht! Die Geschenke und der Schauspielunterricht und das Geld sind mir nicht wichtig, Lucius Cornelius! Ich wäre viel lieber bei dir, ganz gleich, wie arm wir wären!« »Ein verlockendes Angebot, das ich sofort annehmen würde wenn ich vorhätte, arm zu bleiben.« Sulla drückte den Jungen an sich. »Aber ich werde nicht arm bleiben. Ich habe jetzt das Geld von Nikopolis, und ich spekuliere fleißig damit. Eines Tages werde ich genug haben, um in den Senat zu kommen.« Metrobius setzte sich auf. »In den Senat!« Er drehte sich um und starrte Sulla an. »Aber das kannst du doch nicht, Lucius Cornelius! Deine Vorfahren waren Sklaven!« »Nein, das waren sie nicht.« Sulla starrte zurück. »Ich bin ein patrizischer Cornelius. Ich gehöre in den Senat.« »Das glaube ich dir nicht!« »Aber es ist die Wahrheit«, sagte Sulla trocken, »und deshalb kann ich dein verlockendes Angebot nicht annehmen. Ich werde ein Vorbild der Tugend sein müssen — keine Schauspieler, keine Mimen und keine hübschen Knaben mehr.« Er umarmte Metrobius. »Jetzt kümmere dich um die Liste. Hercules Atlas kommt nicht nur zu einer Vorstellung, sondern auch als Gast, und dabei bleibt es.« Die Kunde, daß ein lärmendes Fest zu erwarten sei, hatte sich natürlich in der ganzen Straße verbreitet, und die Nachbarn waren auf eine Nacht mit Geschrei, Gelächter und lauter Musik gefaßt. Wie üblich war es ein Kostümfest. Sulla hatte sich mit fransenbesetzten Schals, zahllosen Ringen und einer hennagefärbten Perücke als Clitumna verkleidet und ahmte fortwährend ihr albernes Gekicher und ihr wieherndes Gelächter nach. Da die Gäste Clitumna gut kannten, wußten sie Sullas Künste zu schätzen. Metrobius hatte wieder Flügel bekommen, aber an diesem Abend war er nicht Cupido, sondern Ikarus. Skylax kam als Minerva, und es war ihm gelungen, die strenge, knabenhafte Göttin in eine alte, aufgedonnerte Hure zu verwandeln. Als er sah, daß Metrobius Sulla nicht von der Seite wich, betrank er sich und weinte sich in 234
einer Ecke in den Schlaf. Tänzerinnen traten auf, die sich mit vollendeter Grazie entkleideten und ihre unbehaarte Scham enthüllten, ein Mann ließ seine dressierten Hunde fast ebenso graziös tanzen, und ein Mädchen aus Antiochia führte einen Tierakt mit einem Esel vor — die Männer waren von der natürlichen Ausstattung des Esels so eingeschüchtert, daß sich anschließend keiner an das Mädchen herantraute. Hercules Atlas trat ganz am Schluß auf. Die Gäste versammelten sich unter den Säulen des Peristyls. Hercules Atlas hatte sich auf einem stabilen Podium in der Mitte des Gartens installiert. Zum Aufwärmen verbog er ein paar Eisenstangen und zerknickte ein paar dicke Holzbalken wie Streichhölzer. Dann packte der starke Mann ein halbes Dutzend kreischender Mädchen, setzte sie sich auf Schultern und Kopf und klemmte sich einige unter die Arme, hob mit den Händen einen Amboß hoch und brüllte wie ein Löwe in der Arena. Hercules amüsierte sich glänzend, denn der Wein floß seine Kehle hinunter wie das Wasser die Aqua Marcia. Er ergriff immer mehr Ambosse, und den Mädchen wurde es immer ungemütlicher, und zuletzt ging ihr freudiges Gekreische in Schreckensgeschrei über. Sulla schlenderte in die Mitte des Gartens und stieß Hercules Atlas freundlich ans Knie. »Komm alter Freund, setz die Mädchen ab«, sagte er lächelnd. »Du zerquetschst sie ja mit deinen Eisenbrocken.« Hercules Atlas ließ die Mädchen auf der Stelle fallen. Statt dessen packte er jetzt Sulla. »Schreib mir nicht vor, wie ich meine Nummer zu machen habe«, brüllte er und wirbelte Sulla über seinem Kopf herum. Sullas Perücke, Schals und Gewänder regneten zu Boden. Einige Festgäste gerieten in Panik, andere versuchten zu helfen und redeten auf Hercules Atlas ein. Aber Hercules Atlas klemmte sich Sulla so beiläufig wie ein Paket unter den linken Arm und verließ das Fest. Niemand konnte ihn aufhalten. An der Vesta-Treppe blieb er stehen. »Alles in Ordnung?« 235
fragte er. »Habe ich alles richtig gemacht, Lucius Cornelius?« Er stellte Sulla vorsichtig auf den Boden. »Ganz ausgezeichnet«, sagte Sulla. Ihm war immer noch schwindlig, und er schwankte. »Ich begleite dich nach Hause.« »Nicht nötig«, sagte Hercules Atlas. »Ich wohne gleich um die Ecke.« »Ich bestehe darauf«, sagte Sulla. »Ich will dir dein Geld nicht mitten auf dem Forum geben.« »Ach ja, richtig?« Hercules Atlas schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Ich hatte vergessen, daß du mich noch nicht bezahlt hast. Dann komm mit.« Hercules Atlas wohnte in einer Vierzimmerwohnung im dritten Stock eines Mietshauses in der Nähe des Clivus Orbius. Das Haus stand am Rand der Subura, aber in einer viel besseren Wohngegend. Sulla sah sofort, daß die Sklaven die Chance genutzt und den Abend freigenommen hatten. Eine Frau schien nicht im Haus zu sein, aber er wollte sichergehen. »Ist deine Frau nicht da?« fragte er. Hercules Atlas spuckte aus. »Weiber! Ich hasse sie.« Ein Krug Wein und einige Becher standen auf dem Tisch. Sie setzten sich. Sulla zog eine prall gefüllte Börse aus einem Leinenband um seine Taille. Während Hercules Atlas zwei Becher Wein einschenkte, öffnete Sulla die Börse und ließ geschickt ein Papierpäckchen in seine Handfläche gleiten. Dann stülpte er die Börse um, und ein Strom glänzender Silbermünzen ergoß sich auf die Tischplatte. Drei oder vier Münzen rollten über den Tisch und fielen mit hellem Klirren zu Boden. »He, halt!« rief Hercules Atlas und kroch auf allen Vieren auf dem Boden herum. Sulla faltete gemächlich das Papier in seiner Hand auseinander und schüttete ein weißes Pulver in den Becher von Hercules Atlas. Da er kein anderes Instrument zur Hand hatte, rührte er den Wein mit dem Finger um, bis Hercules Atlas ächzend unter dem Tisch auftauchte. »Auf dein Wohl«, sagte Sulla und prostete dem Muskelprotz 236
freundschaftlich zu. »Auf dein Wohle, und vielen Dank für den phantastischen Abend.« Hercules Atlas leerte seinen Becher in einem Zug. Dann füllte er ihn erneut und goß den Inhalt wiederum in einem Zug hinunter. Sulla stand auf, schob Hercules Atlas seinen eigenen Becher in die Hand, nahm ihm den anderen Becher weg und steckte ihn in seine Tunika. »Kleines Andenken«, sagte er. »Gute Nacht.« Er schlüpfte leise aus der Tür. Die Bewohner des Mietshauses schliefen. Rasch und lautlos stahl sich Sulla die drei Stockwerke hinunter und trat ungesehen auf die schmale Straße hinaus. Der Becher, den er entwendet hatte, verschwand zwischen den Eisenstäben eines Kanaldeckels. Sulla horchte, bis er es tief unten platschen hörte, dann warf er das gefaltete Papier hinterher. An der Juturna-Quelle unter der VestaTreppe blieb er stehen, tauchte Hände und Arme bis zu den Ellbogen ins Wasser und wusch und schrubbte sie gründlich. Er kehrte nicht zu dem Fest zurück, sondern machte einen großen Bogen um den Palatin und ging die Via Nova hinauf in Richtung Capena-Tor. Hinter der Stadtmauer betrat er einen der zahlreichen Ställe. Nur wenige Römer hielten sich eigene Maultiere oder Pferde und besaßen eigene Wagen. Es war billiger und einfacher, sie zu mieten. Der Stall, den Sulla betrat, war gut und angesehen, aber die Sicherheitsvorkehrungen waren lax. Der einzige Stallbursche schlief fest in einem Haufen Stroh. Sulla beförderte ihn mit einem Schlag ins Genick in einen noch viel tieferen Schlaf und ging dann langsam auf und ab, bis er ein kräftig und gutmütig aussehendes Maultier gefunden hatte. Da er noch nie im Leben ein Reittier gesattelt hatte, brauchte er einige Zeit, bis er herausgefunden hatte, wie man das machte. Er hatte gehört, daß Reittiere die Luft anhalten, wenn der Sattelgurt festgezogen wird, daher wartete er geduldig, bis er sicher war, daß der Brustkorb des Maultiers nicht aufgebläht war. Dann schwang er sich in den Sattel und stieß das Tier sanft in die Flanken. 237
Er war zwar noch nie geritten, aber er hatte keine Angst und vertraute auf sein Glück. Die Hörner an den vier Ecken des Sattels hielten den Reiter relativ sicher auf dem Rücken des Tieres. Das einzige Zaumzeug, das Sulla dem Maultier hatte anlegen können, war ein einfaches Trensengebiß, und das Maultier kaute still und zufrieden daran. Zügig ritt Sulla die mondhelle Via Appia entlang. Bis zum Morgen würde er bereits eine gute Strecke zurückgelegt haben. Jetzt war es Mitternacht. Da er das Reiten nicht gewöhnt war, taten ihm bald alle Knochen weh. Bei Tripontium verließ er die Via Appia und ritt querfeldein auf die Küste zu, denn dieser Weg war relativ unbefahren und erheblich kürzer, als wenn er bis Tarracina der Via Appia gefolgt wäre und dann nördlich einen Bogen nach Circei geschlagen hätte. Ein Mantel mit Kapuze, den er aus dem Stall mitgenommen hatte, schützte ihn vor neugierigen Blicken. Nachdem Sulla etwa zehn Meilen in das öde Land hineingeritten war, hielt er bei einer Baumgruppe an. Der Boden war trocken und hart, und es schien keine Stechmücken zu geben. Er band das Maultier mit einer langen Leine fest, die er zusammen mit dem Tier gestohlen hatte, nahm ihm den Sattel ab und legte ihn als Kopfkissen unter eine Pinie. Dann schlief er tief und traumlos. Gegen Mittag des nächsten Tages ritt Sulla weiter. Er war guter Dinge, obwohl seine Wirbelsäule vom Reiten schrecklich schmerzte und sein Gesäß wund war. Er hatte noch nichts gegessen, verspürte aber keinen Hunger. Das Maultier hatte frisches, saftiges Gras gefressen und wirkte zufrieden und erstaunlich munter. In der Dämmerung erreichte er den vorspringenden Berg, auf dem Clitumnas Villa stand. Erleichtert saß er ab. Wieder nahm er dem Maultier Sattel und Zaumzeug ab und band es fest, damit es grasen konnte. Aber diesmal ließ er es allein ausruhen. Die Nacht war wundervoll still und sternklar. Als die zweite Stunde der Nacht beinahe vorüber war, stieg der Vollmond weit im Osten über den Hügeln auf und übergoß die Landschaft mit seinem unwirklichen Licht. In Sulla stieg ein Gefühl der Unverwundbarkeit auf, das Müdig238
keit und Schmerzen verbannte, den Fluß seines kalten Blutes beschleunigte und ihn mit Zufriedenheit erfüllte. Alles lief wunderbar glatt und würde weiterhin glatt laufen, mit anderen Worten, er konnte seinem Vorhaben mit völliger Gelassenheit entgegensehen. Als sich so überraschend die Chance aufgetan hatte, Nikopolis loszuwerden, hatte er gar keine Zeit gehabt, sich zu freuen. Er hatte nur blitzschnell eine Entscheidung treffen und dann abwarten können. Den Weißen Knollenblätterpilz hatte er bereits während seiner Ferien mit Metrobius entdeckt, aber Nikopolis hatte die Art ihres Hinscheidens selbst bestimmt, er war nur Mittler gewesen. Pech für sie, Glück für ihn. Aber was er heute abend vorhatte, hatte er bewußt geplant. Das Glück würde ihm nur bei der Ausführung helfen. Angst dagegen — wovor hätte er Angst haben sollen? Clitumna war da, sie wartete im Schatten der Pinien. Sulla näherte sich ihr nicht sofort, sondern überprüfte zuerst die ganze Umgebung, um sicherzugehen, daß sie niemanden mitgebracht hatte. Ja, sie war allein. Geräuschvoll ging er auf Clitumna zu. Als sie ihn aus der Dunkelheit heraustreten sah, war sie auf sein Kommen vorbereitet und breitete die Arme aus. »Es ist genau, wie du gesagt hast!« flüsterte sie und hängte sich kichernd an seinen Hals. »Meine Überraschung! Wo ist meine Überraschung?« »Bekomme ich keinen Kuß zur Begrüßung?« fragte Sulla. Seine weißen Zähne schimmerten im Mondlicht. Clitumna bot ihm gierig die Lippen. Und so stand sie da, auf Zehenspitzen, den Mund an seinem festgesaugt, als er ihr das Genick brach. Es war so leicht. Knacks. Wahrscheinlich merkte sie es nicht einmal, denn er sah keinen Funken des Begreifens in ihren Augen aufscheinen, als er ihren Kopf mit der Hand zurückstieß, auf seine andere Hand zu, die ihren Rücken geradehielt. Alles ging blitzschnell. Knacks. Er ließ sie los. Aber sie sank nicht zu Boden, sondern erhob sich noch höher auf die Zehen und begann vor ihm zu tanzen, die Arme in die Seiten gestemmt, mit 239
obszön rollendem Kopf. Sie ruckte und zuckte und machte abgehackte Sprünge, bis sie in einer wilden Drehung mit verrenkten Knien und Ellbogen hinstürzte. Der beißende Geruch warmen Urins stieg in Sullas geweitete Nasenflügel, danach der Gestank von Kot. Sulla schrie nicht und sprang nicht zur Seite, im Gegenteil, er empfand ein ungeheures Vergnügen. Fasziniert sah er zu, wie sie tanzte, und als sie hinfiel, schaute er angewidert weg. »Na, Clitumna«, sagte er, »wie eine Dame bist du nicht gestorben.« Er mußte sie aufheben, selbst wenn das bedeutete, daß er sich beschmutzen, beflecken, verunreinigen würde. Es durften keine Spuren zurückbleiben, keine Anzeichen, daß ein Körper über den Boden gezogen worden war. Das war der Hauptgrund dafür, daß er trockenes Wetter zur Bedingung gemacht hatte. Er trug sie das kurze Stück bis zur Spitze des Felsens auf den Armen. Die richtige Stelle hatte er bereits ausgesucht und mit einem Stein markiert, als er Clitumna in ihre Villa gebracht hatte. Er fand sie ohne Schwierigkeiten wieder. Unter Anspannung aller Kräfte schleuderte er Clitumna hinaus. Ihre Gewänder blähten sich im Wind, und sie stürzte wie ein großer, toter Vogel tief hinab auf die Felsen. Dort blieb sie liegen, ein formloses Bündel, das die See an Land gespült haben mochte. So würde man sie finden, und es war wichtig, daß sie gefunden wurde. Wie am Morgen hatte er das Maultier in der Nähe eines Baches angebunden, aber ehe er es zum Trinken führte, watete er voll bekleidet ins Wasser und wusch die letzten Spuren seiner Stiefmutter Clitumna ab. Danach blieb nur noch eines zu tun. Er zog einen kleinen Dolch aus dem Gürtel und ritzte sich auf der linken Seite eine Schnittwunde in die Stirnhaut, knapp unter dem Haaransatz. Wie alle Kopfwunden blutete der Schnitt heftig. Aber das war erst der Anfang. Die Wunde durfte nicht glatt und sauber aussehen. Also setzte er die Mittel- und die Ringfinger beider Hände rechts und links des Einschnitts an und zog, bis das Fleisch wulstig auseinanderklaffte. Blut spritzte auf sein schmutziges, 240
triefend nasses Festgewand und verteilte sich auf dem durchnäßten Stoff rasch. So! Gut! Aus der Gürteltasche nahm er ein weißes Stück Leinen heraus, preßte es auf den Schnitt in der Stirn und band es fest. Dann holte er das Maultier. Er ritt die ganze Nacht durch und trieb das Maultier erbarmungslos an, wenn es stehenbleiben wollte. Das Maultier mochte seinen Reiter, deshalb war es gutwillig. Es mochte das Trensengebiß, das viel angenehmer war als die Kandare, es mochte Sullas Schweigsamkeit und Fürsorge, es mochte seine Ruhe. Ihm zuliebe trabte und galoppierte es, fiel in Schritt und beschleunigte wieder, sobald es konnte. Das Maultier wußte nichts von der Frau, die mit gebrochenem Genick auf den rauhen Felsen unterhalb ihres großen, weißen Landhauses lag. Es spürte nur einen ungewöhnlich freundlichen Reiter.
Eine Meile vor dem Stall stieg Sulla ab und nahm dem Maultier das Sattelzeug ab. Er warf es in die Büsche am Wegrand, gab dem Tier einen Klaps auf die Kruppe und scheuchte es in die Richtung seines Stalles. Er war sicher, daß es nach Hause finden würde. Aber als er zum Capena-Tor losmarschierte, folgte ihm das Maultier, und er mußte es schließlich mit ein paar Steinen vertreiben. In seinen Kapuzenmantel gehüllt, betrat Sulla Rom in dem Augenblick, als der Himmel sich im Osten perlgrau färbte. In neun Stunden zu vierundsiebzig Minuten war er von Circei nach Rom geritten, eine beachtliche Leistung für ein müdes Maultier und einen Mann, der nie zuvor geritten war. Die Cacus-Treppe führte vom Circus Maximus auf den Cermalus hinauf, den nordwestlichen Teil des Palatins. Hier war noch der Geist der ursprünglichen Siedlung des Romulus lebendig: In einer kleinen, unauffälligen Höhle mit einer Quelle hatte die Wölfin die Zwillinge Romulus und Remus gesäugt. Die Höhle erschien Sulla der geeignete Ort, seine Verkleidung abzulegen. Er verbarg Mantel und Verband sorgfältig in einem hohlen Baum hinter dem Denkmal für den Genius Loci. Die Wunde begann sofort wieder 241
zu bluten. Wie vom Donner gerührt sahen die wenigen Menschen in Clitumnas Straße, die so früh schon auf den Beinen waren, den vermißten Sulla herantaumeln: schmutzig, blutig und übel zugerichtet. In Clitumnas Haus war schon Leben. Seit man Hercules Atlas gefunden hatte, hatte man nach Sulla gesucht. Von allen Seiten eilten die Diener herbei, er wurde ins Bett gebracht und mit einem Schwamm abgetupft, kein Geringerer als Athenodorus aus Sizilien wurde gerufen, um die Wunde zu untersuchen, und Gaius Julius Caesar kam von nebenan und erkundigte sich, was geschehen sei. Der ganze Palatin war in Aufruhr. »Erzähle mir, was passiert ist.« Caesar setzte sich an sein Bett. Sulla sah wirklich krank aus. Um seine von Schmerz und Mattigkeit gezeichneten Lippen lag ein bläulicher Schimmer, seine durchsichtige Haut war noch blasser als sonst, und seine Augen waren vor Erschöpfung glasig und hatten breite rote Ränder. »Dumm war ich«, sagte Sulla. Das Sprechen fiel ihm sichtlich schwer. »Ich hätte mich nicht mit Hercules Atlas anlegen sollen. Ich habe nicht damit gerechnet, daß ein Mann so stark sein kann, ich dachte, er mache nur Spaß. Er war stockbetrunken, und er... er trug mich einfach unter dem Arm davon. Ich konnte ihn nicht aufhalten. Irgendwo hat er mich dann wieder abgesetzt. Ich versuchte zu entkommen, und er muß mir einen Schlag versetzt haben, ich weiß es nicht. Ich kam irgendwann in einer Gasse der Subura wieder zu mir. Ich muß dort bewußtlos gelegen haben, mindestens einen Tag. Als ich mich wieder bewegen konnte, ging ich nach Hause. Das ist alles, Gaius Julius.« »Du hast großes Glück gehabt«, sagte Caesar. »Wenn Hercules Atlas dich mit zu sich nach Hause genommen hätte, hättest du vielleicht sein Schicksal geteilt.« »Sein Schicksal?« »Dein Verwalter kam gestern zu mir. Nachdem er mir die ganze Geschichte erzählt hatte, ging ich mit ein paar Gladiatoren zur Wohnung von Hercules Atlas. Dort fand ich ein Bild der Verwüstung vor. Aus irgendeinem Grund hatte er alles zusammenge242
schlagen — sämtliche Möbel zertrümmert, mit den Fäusten große Löcher in die Wand geschlagen und die anderen Bewohner seines Mietshauses derart in Angst und Schrecken versetzt, daß sich bis dahin niemand in seine Nähe gewagt hatte. Er lag mitten Im Wohnzimmer, tot. Ich vermute, daß ein Blutgefäß in seinem Gehirn geplatzt ist und er vor Schmerzen wahnsinnig wurde. Oder jemand hat ihn vergiftet.« Ein Ausdruck des Ekels glitt über Caesars Gesicht. »Er hat beim Sterben eine fürchterliche Schweinerei angerichtet. Ich glaube, seine Diener haben ihn als erste gefunden, aber sie waren längst weg, als ich ankam. Sie haben vermutlich mitgenommen, was sie tragen konnten, und sind über alle Berge. Hat er Geld für den Auftritt bei deinem Fest bekommen? Wenn ja, war es nicht in der Wohnung.« Sulla schloß die Augen. Seine Müdigkeit war nicht geheuchelt. »Ich hatte ihn im voraus bezahlt, Gaius Julius, deshalb kann ich dir nicht sagen, ob er Geld in der Wohnung hatte.« Caesar stand auf. »Nun, ich habe alles getan, was in meiner Macht steht.« Streng sah er auf die reglose Gestalt im Bett hinunter, doch Sullas Augen blieben geschlossen. »Du tust mir außerordentlich leid, Lucius Cornelius, aber so kann es nicht weitergehen. Meine Tochter hat sich beinahe zu Tode gehungert wegen einer unreifen Schwärmerei für dich, und sie hat sich bis heute nicht davon erholt. Du hast zwar meine Tochter nicht ermutigt, aber es wäre mir trotzdem lieber, wenn du in eine andere Gegend ziehen würdest. Ich habe einen Boten zu deiner Stiefmutter nach Circei geschickt und sie darüber informiert, was in ihrer Abwesenheit hier vorgegangen ist. Ich habe sie weiterhin darüber informiert, daß sie in dieser Straße schon lange nicht mehr gern gesehen ist. Wir hier sind ruhige Leute, und ich würde nur äußerst ungern eine Klage beim Stadtprätor einreichen, um unser Recht auf Frieden und Ruhe zu schützen. Aber wenn es nicht anders geht, werde ich die Klage einreichen.« Sulla rührte sich nicht und öffnete auch nicht die Augen. Caesar blieb noch eine Welle stehen und überlegte, wieviel von seiner Strafpredigt angekommen sein mochte, als er auf einmal ein Schnar243
chen hörte. Er drehte sich um und ging. Aber nicht Caesar, sondern Sulla erhielt zuerst Nachricht aus Circei. Der Verwalter des Landhauses teilte Sulla mit, man habe Clitumnas Leiche am Fuße der Felsen gefunden, die ihr Grundstück begrenzten. Beim Sturz habe sie sich das Genick gebrochen. Wie Sulla ja wisse, sei die Herrin Clitumna in letzter Zeit in sehr schlechter Verfassung gewesen. Sulla schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. »Laß mir ein Bad ein und lege meine Toga bereit«, sagte er. Die kleine Wunde an der Stirn heilte gut. Abgesehen von der Schwellung erinnerte nichts mehr an seinen gestrigen Zustand. »Schicke nach Gaius Julius Caesar«, sagte Sulla zu Iamus, als er angekleidet war. Von diesem Gespräch hing seine Zukunft ab. Den Göttern sei Dank, daß Skylax Metrobius nach dem Fest mit nach Hause genommen hatte, obwohl der Junge sich gesträubt hatte. Er war nur knapp davongekommen! Hätte Caesar Metrobius in Clitumnas Haus angetroffen, wäre Sullas Schicksal besiegelt gewesen. Caesar würde Sulla zwar niemals aufgrund von Gerüchten verurteilen, aber das Zeugnis seiner eigenen Augen hätte ein völlig neues Licht auf die Situation geworfen. Als er Caesar empfing, war er vom Scheitel bis zur Sohle ein patrizischer Römer: Er war makellos weiß gekleidet, der schmale Streifen des Ritters schmückte seine Tunika, sein prachtvolles Haar war frisch geschnitten und zu einer männlichen Frisur gekämmt. »Ich bitte dich um Entschuldigung, Gaius Julius, daß ich dich noch ein weiteres Mal bemühen muß«, sagte Sulla. Er überreichte Caesar eine kleine Papierrolle. »Dieses Schreiben ist soeben aus Circei eingetroffen, und ich dachte, ich sollte dich sofort informieren.« Mit regloser Miene und sehr langsam las Caesar das Schreiben. Sulla wußte, daß er jedes einzelne Wort genau abwog. »Das ist der dritte Todesfall.« Caesar schien regelrecht erleichtert. »Dein Haus hat schwere Verluste erlitten, Lucius Cornelius. 244
Mein aufrichtiges Beileid.« »Ich nehme an, daß du Clitumnas Testament aufgesetzt hast«, sagte Sulla, »sonst hätte ich dich nicht belästigt, das versichere ich dir.« »Ja, ich habe mehrere Testamente für sie gemacht, das letzte kurz nach Nikopolis’ Tod.« Caesars schönes Gesicht, seine klaren, blauen Augen, sein ganzes Auftreten wirkten betont sachlich und unverbindlich. »Bitte sage mir ehrlich, Lucius Cornelius, was du für deine Stiefmutter empfunden hast.« Hier war sie, die brüchigste Stelle seines Planes. Er mußte so sicher und vorsichtig auftreten wie eine Katze auf einem mit Scherben übersäten Fensterbrett im zwölften Stock eines Mietshauses. »Ich erinnere mich, schon früher mit dir über dieses Thema gesprochen zu haben, Gaius Julius«, sagte Sulla, »aber ich bin froh, daß ich mich ausführlicher darüber äußern kann. Clitumna war eine alberne, dumme und vulgäre Frau, aber ich hatte sie trotzdem gern. Mein Vater« — hier zuckte Sullas Gesicht — »war ein unheilbarer Trinker, das Leben mit ihm war ein einziger Alptraum. Wir waren nicht einfach verarmter Adel, Gaius Julius: Nichts erinnerte mehr an unsere Herkunft. Wir konnten uns nicht einmal einen einzigen Sklaven leisten. Hätte sich nicht ein alter Lehrer, der auf dem Marktplatz unterrichtete, aus Mitleid meiner angenommen, hätte ich, ein Patrizier aus dem Geschlecht der Cornelier, nicht einmal Lesen und Schreiben gelernt. Ich habe keine militärische Grundausbildung auf dem Marsfeld erhalten, ich habe nicht Reiten gelernt, ich war nie als Schüler eines Anwalts bei Gerichtsverhandlungen dabei. Vom Militär, von der Rhetorik und vom öffentlichen Leben weiß ich nichts. Das ist die Schuld meines Vaters. Und deshalb... hatte ich Clitumna gern. Sie hat meinen Vater geheiratet und ihn und mich in ihr Haus aufgenommen. Wer weiß — hätten mein Vater und ich weiter in der Subura gelebt, wäre ich vielleicht eines Tages wahnsinnig geworden und hätte ihn ermordet. So jedoch hat Clitumna bis zu seinem Tod die Hauptlast getragen und mich befreit. Ja, ich hatte sie gern.« 245
»Sie hatte dich auch gern, Lucius Cornelius«, sagte Caesar. »Ihr Testament ist einfach und klar. Sie hat alles dir hinterlassen.« Jetzt war äußerste Vorsicht angebracht! Er durfte nicht zuviel Freude zeigen, aber auch nicht zuviel Kummer! Caesar war sehr klug und besaß große Menschenkenntnis. »Hat sie mir so viel hinterlassen, daß ich Senator werden kann?« fragte er und sah Caesar direkt in die Augen. »Mehr als das.« Sulla sackte in sich zusammen. »Ich — kann es — nicht glauben!« sagte er. »Bist du ganz sicher? Ich weiß, daß sie dieses Haus hatte und das Landhaus in Circei, aber ich dachte, sonst sei nicht mehr viel da.« »Oh nein, sie war eine sehr reiche Frau. Sie hat Geld in Aktien investiert und in Wertpapiere aller möglichen Unternehmen und in ein Dutzend Handelsschiffe. Ich rate dir, die Schiffsanteile und die Wertpapiere zu verkaufen und den Erlös für Grundstückskäufe zu verwenden. Du mußt deinen Besitz tadellos in Ordnung haben, damit die Zensoren zufrieden sind.« »Es ist wie ein Traum!« sagte Sulla. »Ich verstehe, daß es dir so vorkommen muß, Lucius Cornelius. Aber sei versichert, es ist wirklich wahr.« Caesar wirkte ganz ruhig. Offensichtlich hegte er keinerlei Verdacht gegen Sulla. »Das Schicksal ist mir doch gnädig«, sagte Sulla mit Verwunderung in der Stimme. »Ich hätte nicht geglaubt, daß ich das jemals sagen könnte. Ich werde Clitumna vermissen, aber ich hoffe, daß man später einmal sagen wird, ihr größtes Geschenk an die Welt sei ihr Tod gewesen. Denn ich habe vor, eine Zierde meines Standes und des Senats zu sein.« Klang das echt? »Ich glaube auch, Lucius Cornelius, daß es sie glücklich machen würde, wenn sie wüßte, daß du ihr Erbe so nutzen willst«, sagte Caesar. Er faßte Sullas Worte genau in der beabsichtigten Weise auf. »Und darf ich annehmen, daß es keine lärmenden Feste mehr geben wird? Keine zweifelhaften Freunde?« »Wenn ein Mann das Leben führen kann, auf das er nach seiner Herkunft ein Anrecht hat, Gaius Julius, dann braucht er keine 246
lärmenden Feste und keine zweifelhaften Freunde.« Sulla seufzte. »Sie dienten nur dazu, die Zeit totzuschlagen. Du wirst das vermutlich schwer verstehen, aber das Leben, das ich über dreißig Jahre geführt habe, hing mir am Hals wie ein riesiger Mühlstein.« »Ich verstehe es«, sagte Caesar. Sulla kam ein schrecklicher Gedanke. »Aber wir haben ja gar keine Zensoren! Was soll ich tun?« »Eine der Bedingungen, die Marcus Scaurus für seinen freiwilligen Rücktritt gestellt hat — falls man das als freiwilligen Rücktritt bezeichnen kann —, war, daß bereits im April nächsten Jahres neue Zensoren gewählt werden«, sagte Caesar ruhig. »Bis dahin wirst du dich gedulden müssen.« Sulla straffte sich und holte tief Luft. »Gaius Julius, ich habe noch eine weitere Bitte an dich.« Caesars blaue Augen sahen ihn an, als wisse er, was Sulla jetzt sagen würde — aber wie war das möglich, wo ihm der Gedanke doch gerade erst gekommen war? Eine hervorragende Idee. Denn wenn Caesar zustimmte, hatte Sullas Bewerbung bei den Zensoren erheblich mehr Gewicht, als Geld allein ihr verleihen konnte. »Was für eine Bitte, Lucius Cornelius?« fragte Caesar. »Ziehe mich als Ehemann für deine Tochter Julilla in Erwägung.« »Obwohl sie dir soviel Unrecht zugefügt hat?« »Ich — liebe sie«, sagte Sulla und glaubte es in diesem Moment selbst. »Im Augenblick geht es Julilla noch viel zu schlecht, als daß man an Heirat denken könnte«, sagte Caesar, »aber ich werde deine Bitte überdenken, Lucius Cornelius.« Er lächelte. »Vielleicht habt ihr einander verdient, nach so viel Kummer.« »Sie hat mir einen Kranz aus Gras geschenkt«, sagte, Sulla. »Seitdem, Gaius Julius, hat sich für mich das Blatt gewendet.« »Ich glaube dir.« Caesar stand auf und wandte sich zum Gehen. »Trotzdem werde ich im Augenblick niemandem etwas davon sagen, und ich bitte dich dringend: Halte dich von ihr fern. Sie versucht noch immer, einen Ausweg aus ihrer mißlichen Lage zu 247
finden, und ich möchte nicht, daß sich ihr eine so einfache Lösung bietet.« Sulla begleitete Caesar zur Tür und streckte ihm dort die Hand hin. Dabei lächelte er mit geschlossenen Lippen, denn er wußte nur zu gut, welche Wirkung es hatte, wenn er seine langen, scharfen Eckzähne entblößte. Caesar mußte umworben und gehätschelt werden. Sulla wußte natürlich nichts von dem Gespräch, das Caesar und Gaius Marius seinerzeit geführt hatten, aber er war in puncto Heirat zum selben Schluß gekommen. Gab es einen besseren Weg, sich bei Zensoren und Wählern beliebt zu machen, als eine Julia zur Frau zu nehmen? »Iamus!« rief Sulla, nachdem Caesar gegangen war. »Lucius Cornelius?« »Du brauchst dich nicht um das Abendessen zu kümmern. Richte das Haus als Trauerhaus für die Herrin her und sorge dafür, daß alle Diener aus Circei zurückkommen. Ich breche sofort auf und kümmere mich um die Bestattung.« Und ich werde Metrobius mitnehmen und mich von ihm verabschieden, dachte Sulla, als er in aller Eile einige Dinge zusammenpackte. Ich werde mich von allen Resten meines alten Lebens verabschieden, und ich werde mich von Clitumna verabschieden. Ich werde nichts davon vermissen. Bis auf Metrobius. Ihn werde ich vermissen. Sehr sogar.
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Das dritte Jahr (108 v.Chr.)
Unter den Konsuln Servius Sulpicius Galba und Quintus Hortensius
Mit dem Beginn der winterlichen Regenzeit kam der Krieg gegen Numidien — soweit er bisher überhaupt gediehen war — vollends zum Stillstand. Römer und Numider bezogen ihre Winterquartiere. Gaius Marius hatte den Brief seines Schwiegervaters Caesar erhalten und machte sich Gedanken über den Inhalt. Er fragte sich, ob der Konsul Quintus Caecilius Metellus Schweinebacke wußte, daß er im neuen Jahr die Ernennung zum Prokonsul und eine Verlängerung seines Kommandos erhalten würde und daß ihm über kurz oder lang ein Triumph sicher war. Auch zum Sieg der Germanen über Marcus Junius Silanus und den Verlust so vieler Soldaten hatte im Hauptquartier des Statthalters in Utika noch niemand ein Wort verloren. Aber das hieß natürlich nicht, dachte Marius verärgert, daß Metellus diese Tatsachen nicht längst bekannt waren. Es hieß nur, daß der erste Legat Gaius Marius wie üblich als letzter davon erfuhr. Dem armen Publius Rufus war die Aufgabe zugewiesen worden, die Winterlager an der Grenze zu überwachen, und dort war er von allen Neuigkeiten abgeschnitten. Gaius Marius, der zum Dienst nach Utika berufen worden war, hatte sich als Untergebener von Metellus Schweinebackes Sohn wiedergefunden. Dieser junge Mann, ganze zwanzig Jahre alt und Offiziersanwärter im persönlichen Stab seines Vaters, genoß sichtlich die Aufgabe, die Garnison von Utika zu befehligen und ihre Verteidigung zu organisieren. Marius mußte sich jetzt mit jeder Kleinigkeit, die mit der militärischen Planung von Utika zu tun hatte, an das unerträglich arrogante Ferkel wenden, wie der junge Metellus bald genannt 250
wurde — und nicht nur von Marius. Marius war aber nicht allein für die Festung Utika zuständig, er mußte darüber hinaus all die Aufgaben erledigen, um die sich der Statthalter drücken wollte — Pflichten, die eher ein Quästor als ein erster Legat übernehmen sollte. Im Winterlager gingen die Wogen der Gefühle hoch, und Marius’ Selbstbeherrschung schwand rasch, vor allem seit der junge Metellus sich einen Spaß daraus machte, Marius zu ärgern. Nachdem das Ferkel gemerkt hatte, daß solche Scherze auch seinem Vater gefielen, gab es für ihn kein Halten mehr. Nach der Schlacht am Fluß Muthul, bei der die römischen Truppen nur knapp einer Niederlage entronnen waren, hatten Rutilius Rufus und Marius nicht mit Kritik an ihrem Feldherrn gespart, und Marius hatte Metellus ins Gesicht gesagt, daß sie den Krieg in Numidien nur gewinnen würden, wenn es gelänge, Jugurtha gefangenzunehmen. »Wie soll ich das machen?« hatte Metellus gefragt. Von seiner ersten Schlacht war er immerhin so weit ernüchtert, daß er zuhörte. »Mit List«, hatte Rutilius Rufus geantwortet. »Mit was für einer List?« »Das«, hatte Gaius Marius abschließend gesagt, »wirst du allein herausfinden müssen, Quintus Caecilius.« Aber jetzt, da alle wieder sicher in der Provinz Africa saßen und die Langeweile verregneter Tage und alltäglicher Pflichten ertragen mußten, hüllte sich Metellus in Schweigen. Zumindest hatte er so lange geschwiegen, bis es ihm gelungen war, Verbindung zu einem numidischen Adligen namens Nabdalsa aufzunehmen. Bei dem Gespräch mit Nabdalsa wollte er Marius unbedingt dabeihaben. »Warum?« fragte Marius barsch. »Kannst du deine Dreckarbeit nicht alleine machen, Quintus Caecilius?« »Glaub mir, Gaius Marius«, fauchte Metellus, »wenn Publius Rutilius hier wäre, würde ich dich nicht bemühen! Aber du kennst Jugurtha im Gegensatz zu mir, und das heißt vermutlich, daß du besser weißt als ich, was im Kopf eines Numiders vor sich geht. 251
Ich will nur, daß du dabeisitzt, diesen Nabdalsa beobachtest und mir anschließend sagst, was du von ihm hältst.« »Es überrascht mich, daß du mir so viel Vertrauen schenkst und damit rechnest, daß ich dir ehrlich meine Meinung sage«, erwiderte Marius. Metellus zog verblüfft die Augenbrauen hoch. »Du bist hier, um gegen Numidien zu kämpfen, Gaius Marius. Warum solltest du mir nicht ehrlich deine Meinung sagen?« »Dann hol den Burschen herein, Quintus Caecilius, und ich werde mein Bestes tun.« Marius wußte einiges über Nabdalsa, obwohl er ihm noch nie begegnet war. Nabdalsa war Anhänger eines legitimen Anwärters auf den numidischen Thron, des Prinzen Gauda. Dieser lebte zu jener Zeit umgeben von königlicher Pracht in der blühenden Stadt, die unweit von Utika an der Stelle des alten Karthago entstanden war. Nabdalsa war also von Prinz Gauda gekommen und wurde von Metellus zu einer frostigen Audienz empfangen. Metellus weihte ihn in seine Überlegungen ein: Der beste und schnellste Weg, die numidische Frage zu lösen und Prinz Gauda auf den Thron zu bringen, sei die Gefangennahme von Jugurtha. Hatten Prinz Gauda — oder Nabdalsa — eine Idee, wie man sich Jugurthas bemächtigen könnte? »Am besten mit Hilfe von Bomilkar, Dominus«, sagte Nabdalsa. Metellus starrte ihn ungläubig an. »Bomilkar? Aber er ist doch Jugurthas Halbbruder, sein treuester Gefolgsmann!« »Im Augenblick sind die Beziehungen zwischen ihnen etwas gespannt«, sagte Nabdalsa. »Warum?« fragte Metellus. »Es geht um die Thronfolge, Dominus. Bomilkar möchte für den Fall, daß Jugurtha etwas zustößt, zum Regenten bestimmt werden. Aber Jugurtha will nichts davon hören.« »Zum Regenten, nicht zum Erben?« »Bomilkar weiß, daß er niemals Erbe werden kann, Dominus. Jugurtha hat zwei Söhne. Allerdings sind sie noch sehr klein.« Metellus runzelte die Stirn und versuchte die Gedankengänge 252
eines Mannes nachzuvollziehen, der aus einer ihm fremden Welt kam. »Warum ist Jugurtha dagegen? Ich hätte gedacht, Bomilkar wäre ein idealer Kandidat.« »Es ist wegen der Abstammung, Dominus«, sagte Nabdalsa. »Baron Bomilkar ist kein Nachfahr König Massinissas, und deshalb ist er nicht von königlichem Geblüt.« »Ich verstehe.« Metellus richtete sich auf. »Also gut, sieh zu, was du tun kannst. Versuche Bomilkar davon zu überzeugen, daß er sich mit Rom verbünden muß.« Er wandte sich an Marius. »Wie erstaunlich. Man sollte denken, ein Mann, der nicht hochgeboren genug ist, den Thron zu beanspruchen, sei der ideale Anwärter für eine Regentschaft.« »Bei uns wäre es so«, sagte Marius, »aber in Jugurthas Reich käme das einer Aufforderung gleich, Jugurthas Söhne zu ermorden. Denn wie könnte Bomilkar den Thron besteigen und eine neue Dynastie begründen, solange Jugurthas Söhne am Leben sind?« Metellus wandte sich wieder an Nabdalsa. »Vielen Dank, Baron Nabdalsa. Du kannst gehen.« Aber Nabdalsa zögerte noch. »Dominus«, sagte er, »ich möchte dich um einen kleinen Gefallen bitten.« »Und der wäre?« fragte Metellus ganz und gar nicht erfreut. »Prinz Gauda möchte dich gerne kennenlernen und fragt sich schon geraume Zeit, warum er noch keine Gelegenheit dazu hatte. Dein Jahr als Statthalter der Provinz Africa ist beinahe vorüber, und noch immer wartet Prinz Gauda auf eine Einladung von dir.« »Wenn er mich kennenlernen möchte, was hält ihn dann davon ab?« fragte Metellus verständnislos. »Er kann nicht einfach herkommen, Quintus Caecilius«, sagte Marius. »Du mußt eine formelle Einladung aussprechen.« »Ach so! Wenn es weiter nichts ist, werde ich eine Einladung aussprechen«, sagte Metellus und verbiß sich ein amüsiertes Lächeln. Und nachdem die Einladung tatsächlich am nächsten Tag zu Papier gebracht worden war, so daß Nabdalsa sie persönlich nach 253
Karthago mitnehmen konnte, kam Prinz Gauda, um den Statthalter huldvoll zu begrüßen. Es wurde keine erfreuliche Zusammenkunft. Gauda und Metellus waren so verschieden, wie zwei Männer nur verschieden sein können. Gauda war schwach, kränklich und nicht sehr intelligent und benahm sich auf eine Weise, die er seinem Stand für angemessen, Metellus jedoch nur für unerträglich hochmütig hielt. Seit Metellus gehört hatte, daß es einer Einladung bedurfte, bevor der Prinz ihn besuchen konnte, rechnete er damit, daß der königliche Gast aus Karthago demütig, ja sogar unterwürfig auftreten würde. Mitnichten. Gauda eröffnete die Unterredung mit einem Wutausbruch, weil Metellus sich zu seiner Begrüßung nicht erhoben hatte, und beendete die Audienz nur wenig später, indem er hinausstolzierte und den Statthalter einfach sitzenließ. »Ich bin eine königliche Hoheit!« brüllte Gauda draußen Nabdalsa an. »Das wissen alle, Hoheit«, sagte Nabdalsa mit einer tiefen Verbeugung. »Aber die Römer haben ein seltsames Verhältnis zu Königen. Sie fühlen sich ihnen überlegen, weil sie ihre Könige vor vielen hundert Jahren vertrieben haben und sich seither selbst regieren.« »Von mir aus können sie verehren, wen sie wollen!« So leicht beruhigte sich Gauda nicht, dafür hatte man ihn zu sehr verletzt. »Ich bin der legitime Sohn meines Vaters, Jugurtha ist nur ein Bastard! Und wenn ich bei diesen Römern erscheine, dann sollen sie sich gefälligst zu meiner Begrüßung erheben, einen Thron für mich aufstellen und mir ihre hundert besten Soldaten als Leibwache mitgeben!« »Ganz recht«, pflichtete Nabdalsa seinem Herrscher bei. »Ich werde Gaius Marius aufsuchen. Vielleicht kann er Quintus Caecilius zur Vernunft bringen.« Jeder Numider kannte die Namen Gaius Marius und Publius Rutilius Rufus, denn Jugurtha hatte ihren Ruhm überall verbreitet, als er damals aus Numantia zurückgekehrt war, und er hatte beide bei seinem letzten Besuch in Rom oft aufgesucht. 254
»Dann geh zu Gaius Marius«, sagte Gauda und zog sich zutiefst beleidigt nach Karthago zurück, wo er über das Unrecht nachgrübelte, das ihm Metellus im Namen Roms zugefügt hatte. Nabdalsa suchte inzwischen unauffällig ein Gespräch mit Gaius Marius. »Ich werde tun, was ich kann, Baron«, seufzte Marius. »Dafür wäre ich dir sehr dankbar, Gaius Marius«, sagte Nabdalsa überschwenglich. Marius grinste. »Dein königlicher Herr läßt dich dafür büßen, wie?« Nabdalsa antwortete mit einem vielsagenden Blick. »Das eigentliche Problem, mein Freund, ist Quintus Caecilius. Er meint, er sei von unendlich edlerem Blut als jeder numidische Prinz. Ich bezweifle stark, daß irgend jemand — geschweige denn ich — ihn dazu bewegen kann, sein Verhalten zu ändern. Aber ich werde es versuchen, denn ich möchte dich frei wissen, damit du Bomilkar aufsuchen kannst. Es gibt entschieden wichtigere Dinge als Streitereien zwischen Statthaltern und Prinzen«, sagte Marius. »Die syrische Prophetin sagt, daß die Familie Caecilius Metellus langsam, aber sicher ihrem Untergang entgegengeht«, bemerkte Nabdalsa nachdenklich. »Die syrische Prophetin?« »Eine Frau namens Martha«, fuhr der Numider fort. »Prinz Gauda hat sie in Karthago aufgelesen. Offenbar hat sie dort vor etlichen Jahren ein Schiffskapitän zurückgelassen, der glaubte, sie habe sein Schiff verflucht. Zuerst sind nur die Armen zu ihr gelaufen, aber jetzt ist sie sehr berühmt, und der Prinz hat sie an seinen Hof geholt. Sie hat prophezeit, daß Prinz Gauda eines Tages tatsächlich König von Numidien wird, wenn Jugurtha gestürzt ist. Aber bis zu Jugurthas Sturz werde es noch einige Zeit dauern, sagt sie.« »Und was ist mit der Familie Caecilius Metellus?« »Sie behauptet, die ganze Familie Caecilius Metellus habe den Höhepunkt ihrer Macht überschritten, und sowohl die Anzahl ihrer Mitglieder als auch ihr Reichtum würden schrumpfen. Andere würden in Zukunft größer sein — so auch du, Dominus.« 255
»Ich möchte diese syrische Prophetin sehen«, sagte Marius. »Das läßt sich einrichten. Aber dafür mußt du nach Karthago kommen, denn sie verläßt Prinz Gaudas Haus nicht«, entgegnete Nabdalsa. Eine Audienz bei Martha, der syrischen Prophetin, erforderte zuerst eine Audienz bei Prinz Gauda. Ergeben hörte sich Marius die Litanei der Klagen über Metellus an und gab Versprechen, von denen er nicht die leiseste Ahnung hatte, wie er sie halten sollte. »Du kannst versichert sein, Hoheit, daß ich, sobald es mir möglich ist, dafür sorgen werde, daß du mit all dem Respekt und all der Ehrerbietung behandelt wirst, auf die du deiner Herkunft gemäß Anspruch hast«, sagte Marius und verbeugte sich so tief, daß er fast den Boden berührte. »Dieser Tag wird kommen!« verkündete Gauda selbstsicher und grinste. Dabei entblößte er eine Reihe sehr schlechter Zähne. »Martha sagt, du wirst der Erste Mann in Rom sein, und es wird nicht mehr lange dauern. Aus diesem Grund, Gaius Marius, möchte ich mich unter deine Klienten einreihen, und ich werde dafür sorgen, daß meine Anhänger in der römischen Provinz Africa meinem Beispiel folgen. Mehr noch, wenn ich erst König von Numidien bin, wird ganz Numidien deine Klientel sein.« Marius hörte zu, und sein Erstaunen wuchs mit jedem Satz. Ihm, einem einfachen Prätor, wurden Klienten angetragen, die sich ein Caecilius Metellus vergebens wünschte! Er mußte diese Martha, die syrische Prophetin, unbedingt kennenlernen! Nur wenige Augenblicke später bot sich ihm die Gelegenheit, denn Martha hatte den Wunsch geäußert, Gaius Marius zu sehen, und Gauda hatte Marius zu ihrer Wohnung in der riesigen Villa geführt, die hin vorläufig als Palast diente. Marius wartete in Marthas Wohnzimmer. Ein rascher Blick in die Runde überzeugte ihn, daß sie tatsächlich hoch in Ehren gehalten wurde, denn die Wohnung war prachtvoll eingerichtet. Marius konnte sich nicht erinnern, schon jemals so herrliche Wandgemälde und so prachtvolle Bodenmosaike gesehen zu haben. Martha erschien in schimmernden, purpurnen Gewändern, ein 256
weiteres Zeichen der Ehre, denn eine Frau, die nicht von Adel war, durfte normalerweise keine Purpurgewänder tragen. Und von adeliger Herkunft war sie ganz gewiß nicht. Sie war eine kleine, verschrumpelte, magere alte Frau, die nach abgestandenem Urin stank und deren Haare vor Dreck starrend vom Kopf abstanden, als wären sie jahrelang nicht gewaschen worden. Sie sah fremd aus mit ihrer großen, gebogenen, schmalen Nase in dem Gesicht mit den tausend Fältchen und ihren schwarzen Augen, die so scharf und stolz und wachsam blickten wie die Augen eines Adlers. Ihre herabhängenden Brüste erinnerten an zwei leere Sokken, die an der Spitze mit Kieseln gefüllt sind, und baumelten sichtbar unter dem dünnen Hemd aus tyrischem Purpur, das ihr knapp bis zur Taille reichte. Um die Hüften hatte sie einen Purpurschal geschlungen. Ihre Hände und Füße waren mit Henna tief dunkelrot gefärbt, und beim Gehen klimperten Dutzende von Glöckchen, Armbändern, Ringen und Kinkerlitzchen an ihrem Körper, alle aus echtem Gold. Ein Kamm, ebenfalls aus echtem Gold, hielt an ihrem Hinterkopf einen Gazeschleier aus tyrischem Purpur fest, der ihr schlaff auf den Rücken fiel wie eine Fahne bei Windstille. »Setz dich, Gaius Marius«, sagte sie und zeigte mit einer langen Kralle auf einen Stuhl. An dem knorrigen Finger blitzten etliche Ringe. Marius tat, wie ihm geheißen, unfähig, den Blick von Marthas altem, sonnengebräuntem Gesicht zu wenden. »Prinz Gauda hat mir erzählt, du habest prophezeit, ich würde der Erste Mann in Rom werden«, begann er und mußte sich räuspern. »Ich würde gern mehr darüber hören.« Sie brach in ein meckerndes Gelächter aus, wie man es oft von alten Frauen hört, und zeigte dabei ihren Gaumen, der bis auf einen gelben Schneidezahn zahnlos war. »Das will ich wohl glauben«, rief sie und klatschte in die Hände. Ein Diener kam. »Bring uns einen Tee aus getrockneten Blättern und ein paar von den kleinen Kuchen, die ich so gerne mag«, befahl sie. Dann wandte sie sich an Gaius Marius: »Es wird nicht lange dauern. Wenn der 257
Tee und der Kuchen da sind, werden wir reden. Bis dahin werden wir schweigen.« Da Marius sie nicht verärgern wollte, saß er schweigend da, wie sie es ihm befohlen hatte, und als das dampfende Getränk kam, trank er einen Schluck aus der Tasse, die sie ihm reichte. Er schnupperte mißtrauisch, seine Sinne waren wachsam. Das Gebräu schmeckte gar nicht so schlecht, aber da er nicht an heiße Getränke gewöhnt war, verbrannte er sich die Zunge und stellte die Tasse weg. Martha war offenbar eine Kennerin. Genüßlich nahm sie so kleine Schlucke wie ein Vogel aus ihrer Tasse und ließ sie mit einem hörbaren Laut des Wohlgefallens hinuntergluckern. »Ein köstliches Getränk, aber du trinkst wahrscheinlich lieber Wein.« »Ganz und gar nicht«, murmelte er höflich. »Nimm einen Kuchen«, nuschelte sie mit vollem Mund. »Vielen Dank, aber lieber nicht.« »Schon gut, schon gut, ich verstehe den Wink mit dem Zaunpfahl«, sagte sie und spülte ihren Mund mit einem weiteren Schluck der heißen Flüssigkeit leer. Gebieterisch streckte sie eine Klaue aus: »Gib mir deine rechte Hand.« Er gab sie ihr, und sie packte sie fest. »Dir ist eine große Zukunft beschieden, Gaius Marius«, sagte sie, während ihre Augen neugierig über die vielen Linien in seiner Hand huschten. »Was für eine Hand! Sie gibt allem Gestalt, was sie anfaßt. Und was für eine Kopflinie! Sie regiert dein Herz, sie regiert dein Leben, sie regiert alles — bis auf die Spuren der Zeit, Gaius Marius, und ihnen kann niemand widerstehen. Aber du wirst vielem widerstehen, dem andere Menschen unterliegen. Da ist eine schreckliche Krankheit... Aber du wirst sie überstehen, wenn sie das erste Mal kommt, und sogar beim zweiten Mal... Es gibt Feinde, Feinde in Scharen... Aber du wirst sie besiegen... Du wirst Konsul werden in dem Jahr nach dem Jahr, das gerade beginnt, also im nächsten Jahr... Und danach wirst du noch sechsmal Konsul werden... Siebenmal wirst du insgesamt Konsul sein, und man wird dich den ›Dritten Gründer Roms‹ nennen, denn du 258
wirst Rom aus der schwersten aller Gefahren retten!« Er spürte, daß sein Gesicht brannte, so heiß wie ein Speer, den man im Feuer erhitzt hat. Sein Kopf dröhnte, alles drehte sich, und sein Herz hämmerte wie ein hortator, der mit seinem Trommeln die Soldaten anspornt, wenn sie mit dem Rammbock gegen eine Mauer anrennen. Vor seinen Augen hing ein dichter roter Schleier. Sie sprach die Wahrheit, er wußte es. »Du besitzt die Liebe und die Achtung einer großen Frau«, fuhr Martha fort, während sie die kleineren Linien in seiner Haut berührte, »und ihr Neffe wird der größte Römer aller Zeiten sein.« »Nein, das bin ich«, widersprach er schnell. Seine Erregung war bei dieser weniger schmeichelhaften Ankündigung mit einem Schlag verflogen. »Nein, ihr Neffe wird der größte Römer sein«, sagte Martha hartnäckig. »Ein viel größerer Mann als du, Gaius Marius. Er hat denselben Vornamen wie du, er heißt auch Gaius. Aber sein Familiennamen ist der ihre, nicht der deine.« Diese Prophezeiung grub sich tief in sein Gedächtnis ein, so tief, daß er sie nie mehr vergessen würde. »Und was ist mit meinem Sohn?« fragte er. »Auch dein Sohn wird ein großer Mann sein. Aber nicht so groß wie sein Vater, und er wird auch längst nicht so viele Jahre leben. Aber er wird noch am Leben sein, wenn deine Zeit kommt.« Bei diesen Worten stieß sie seine Hand abrupt weg und zog ihre schmutzigen nackten Füße mit unzähligen Glöckchen an den Zehen und Fußreifen an den Fesseln unter sich auf das Sofa. »Ich habe alles gesehen, was zu sehen ist, Gaius Marius«, sagte sie, lehnte sich zurück und schloß die Augen. »Ich danke dir, Prophetin Martha.« Marius stand auf und zog seine Geldbörse hervor. »Wieviel...?« Sie öffnete die Augen, die in tiefem Schwarz funkelten und boshaft lebendig waren. »Von dir verlange ich nichts. Es ist Lohn genug, die Gesellschaft der wahrhaft Großen zu genießen. Geld ist etwas für Leute wie Prinz Gauda, der nie ein großer Mann sein wird, obwohl er König werden wird.« Wieder erfüllte ihr mek259
kerndes Lachen den Raum. »Aber das weißt du so gewiß wie ich, Gaius Marius, auch wenn du nicht die Gabe besitzt, in die Zukunft zu sehen. Du hast die Gabe, in die Herzen der Menschen zu sehen, und Prinz Gauda hat ein enges Herz.« »Dann muß ich dir noch einmal danken.« »Oh, ich möchte dich noch um einen Gefallen bitten«, rief sie ihm nach, als er schon fast an der Tür war. Er drehte sich sofort um. »Ja?« »Wenn du zum zweitenmal Konsul bist, Gaius Marius, dann hole mich nach Rom und behandle mich ehrenvoll. Ich möchte einmal Rom sehen, bevor ich sterbe.« »Du sollst Rom sehen«, versprach er und ging. Siebenmal Konsul! Der Erste Mann in Rom! Der Dritte Gründer Roms! Welche Zukunft konnte größer sein als diese? Wie sollte ein anderer Römer da noch größer sein als er? Gaius... Sie mußte den Sohn seines jüngeren Schwagers meinen, einen zukünftigen Gaius Julius Caesar. Ja, dessen Sohn wäre Julias Neffe — und gewiß der einzige, der Gaius heißen würde. »Nur über meine Leiche«, sagte Gaius Marius laut, stieg auf sein Pferd und ritt nach Utika zurück.
Am nächsten Tag suchte Marius Metellus auf. Er fand den Konsul in ein Bündel Briefe und Dokumente aus Rom vertieft, denn in der Nacht war ein Schiff angekommen, das lange von stürmischer See aufgehalten worden war. »Großartige Nachrichten, Gaius Marius« sagte Metellus, und er war ausnahmsweise einmal freundlich. »Mein Kommando in Africa ist verlängert, mit prokonsularischem imperium, und alles spricht dafür, daß ich eine weitere Verlängerung bekommen kann, wenn ich noch mehr Zeit brauche.« Ein Blatt Papier wurde weggelegt, eine Schriftrolle zur Hand genommen, beides nur, um Eindruck zu machen, denn Metellus hatte die Briefe offensichtlich schon gelesen, ehe Marius gekommen war. Niemand überflog einfach schweigend und mit blitzartigem Verständnis Wörter auf dem Papier — 260
man mußte sie einzeln entziffern und laut lesen, damit ihr Sinn klar wurde. »Es ist ein Glück, daß mein Heer vollzählig ist, denn es sieht so aus, als sei der übliche Mangel an Männern in Italien schlimmer geworden, wegen Silanus’ Blamage in Gallien. Aber davon weißt du noch gar nichts, oder doch? Ja, mein Mitkonsul wurde von den Germanen besiegt. Unerhört hohe Verluste.« Metellus griff nach einer weiteren Rolle und hielt sie hoch. »Silanus schreibt, daß über eine Million germanische Riesen auf dem Schlachtfeld waren.« Er legte die Rolle wieder weg und wedelte mit der, die er noch in der Hand hatte, vor Marius’ Nase hin und her. »Hier teilt mir der Senat mit, daß er die lex Sempronia von Gaius Gracchus aufgehoben hat, die verbot, einen Mann zu beliebig vielen Feldzügen einzuberufen. Höchste Zeit! Wir können Tausende von Veteranen einziehen, falls wir sie einmal brauchen.« Metellus war sichtlich erfreut. »Das ist ein sehr schlechter Gesetzesentscheid«, sagte Marius. »Wenn sich ein Veteran nach zehn Jahren oder sechs vollständigen Feldzügen zur Ruhe setzen möchte, dann sollte er dies ohne Furcht vor neuerlichen Waffendiensten tun dürfen. Wir untergraben den Stand der Kleinbauern, Quintus Caecilius! Wie kann ein Mann seinen kleinen Hof für nunmehr bis zu zwanzig Jahren Heeresdienst verlassen und damit rechnen, daß er in seiner Abwesenheit dennoch gedeiht? Wie kann er Söhne zeugen, die einmal seinen Platz einnehmen sollen, sowohl auf seinem kleinen Hof als auch in unseren Legionen? Es ist immer mehr die Pflicht der kinderlosen Frauen geworden, das Land zu bestellen, und Frauen sind nicht kräftig, nicht umsichtig genug, einfach nicht geeignet dafür. Wir sollten anderswo nach Soldaten Ausschau halten — und wir sollten sie vor schlechten Feldherren schützen!« Metellus hatte sich aufgerichtet, starr und mit zusammengepreßten Lippen stand er da. »Es steht dir nicht zu, Gaius Marius, die Weisheit der höchsten gesetzgebenden Körperschaft in unserem Staat zu kritisieren!« sagte er. »Was glaubst du denn, wer du bist?« 261
»Ich glaube, du hast mir schon einmal mitgeteilt, wer ich bin, Quintus Caecilius, vor vielen Jahren. Soweit ich mich erinnere, hast du mich einen italischen Bauern ohne Griechischkenntnisse genannt. Und das mag stimmen. Aber das nimmt mir nicht die Berechtigung, einen Kommentar zu einer Sache abzugeben, die ich nach wie vor für einen schlechten Gesetzesentscheid halte«, sagte Marius mit ruhiger Stimme. »Wir — und mit ›wir‹ meine ich den Senat, dem ich ebenso angehöre wie du — erlauben, daß eine ganze Schicht unserer Bürger ausstirbt, weil wir weder den Mut noch die Geistesgegenwart besitzen, all den sogenannten Feldherren das Handwerk zu legen, die jetzt schon jahrelang ins Feld ziehen. Das Blut römischer Soldaten ist nicht dazu da, verschwendet zu werden, Quintus Caecilius!« Marius stand auf, beugte sich über Metellus’ Schreibtisch und fuhr mit seiner leidenschaftlichen Rede fort. »Am Anfang, als wir unseren Heeresdienst eingerichtet haben, gingen die Feldzüge nach Italien. Die Männer konnten jeden Winter nach Hause zurückkehren, sich um ihre Höfe kümmern, Söhne zeugen und ihre Frauen beaufsichtigen. Aber wenn sich ein Mann heute freiwillig zum Waffendienst meldet oder eingezogen wird, wird er mit dem Schiff über das Meer gebracht, und der Feldzug dauert nicht einen einzigen Sommer, sondern zieht sich über Jahre hin. Jahre, in denen die Soldaten nicht ein einziges Mal nach Hause kommen. Es kann also gut sein, daß sechs Feldzüge einen Mann zwölf oder gar fünfzehn Jahre kosten — in einem fremden Land! Gaius Gracchus hat sein Gesetz erlassen, weil er die Zeit begrenzen wollte, weil er verhindern wollte, daß die kleinen Bauernhöfe in Italien zur Beute reicher Viehzüchter werden, die in großem Stil mit Land spekulieren!« Marius holte tief Luft und sah Metellus ironisch an. »Aber ich habe etwas Wichtiges vergessen, nicht wahr, Quintus Metellus? Du bist doch selbst ein reicher Viehzüchter, der in großem Stil mit Land spekuliert, nicht wahr? Und es paßt dir sehr gut, wenn diese kleinen Höfe in deinen Schoß fallen, weil die Männer nicht zu Hause sein und sie versorgen können, sondern auf irgendeinem fernen Schlachtfeld sterben, nur wegen 262
aristokratischer Besitzgier und Nachlässigkeit!« »Aha! Jetzt haben wir es!« rief Metellus, sprang auf und hielt sein Gesicht dicht vor Marius’ Gesicht. »Das also ist es! Aristokratische Besitzgier und Nachlässigkeit, wie? Dann will ich dir mal ein oder zwei Kleinigkeiten sagen, Gaius Marius, du Emporkömmling! Eine Julia aus dem Hause Julius Caesar macht aus dir noch lange keinen Aristokraten!« »Darauf kann ich auch verzichten«, schnaubte Marius. »Ich verachte das ganze Aristokratenpack — mit einer einzigen Ausnahme, und das ist mein Schwiegervater, dem es wie durch ein Wunder gelungen ist, ein anständiger Mensch zu bleiben, trotz seiner vornehmen Herkunft!« Ihre Stimmen waren längst zu einem durchdringenden Gebrüll angeschwollen, und in den Vorzimmern spitzten alle die Ohren. »Gib’s ihm, Gaius Marius!« rief ein Militärtribun und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Würg ihm ordentlich eine rein, Gaius Marius!« sagte ein anderer und rieb sich die Hände. »Scheiß doch auf den verdammten fellator, Gaius Marius!« feuerte ihn ein dritter an und grinste. Offensichtlich mochten alle Gaius Marius viel lieber als Quintus Caecilius Metellus, vom Offizier bis hinunter zum einfachen Soldaten. Aber das Gebrüll war noch weiter als bis in die Vorzimmer gedrungen. Es dauerte nicht lange, und der Sohn des Konsuls, der junge Quintus Caecilius Metellus, stürmte ins Vorzimmer. Alle Soldaten des Stabes beugten sich über ihre Schriftrollen und schienen eifrig zu schreiben. Metellus das Ferkel schenkte ihnen nicht einen Blick, sondern riß sofort die Tür zum Zimmer seines Vaters auf. »Vater, eure Stimmen sind meilenweit zu hören!« rief er und warf Marius einen haßerfüllten Blick zu. Der junge Metellus sah seinem Vater äußerlich sehr ähnlich. Er war wie dieser von durchschnittlicher Größe und Gestalt, hatte braune Haare, braune Augen, sah weder besonders gut noch be263
sonders schlecht aus, sondern so durchschnittlich, daß er in einer Gruppe von Römern nie auffallen würde. Die Unterbrechung ernüchterte Metellus, besänftigte jedoch kaum Marius’ Zorn. Keiner der beiden Streithähne machte Anstalten, sich wieder hinzusetzen. Der junge Metellus stand seitlich an einer Wand, erschreckt und aufgeregt. Er liebte seinen Vater abgöttisch, war jetzt aber völlig ratlos, vor allem wenn er an die unzähligen Demütigungen dachte, die er Marius zugefügt hatte, seit sein Vater ihn zum Kommandanten der Garnison Utika bestellt hatte. Jetzt sah der junge Metellus zum erstenmal einen ganz anderen Marius vor sich: körperlich riesengroß und von einer Tapferkeit, einem Mut und einer Intelligenz, die die Fähigkeiten eines Caecilius Metellus weit überstiegen. »Ich denke es hat keinen Sinn, dieses Gespräch fortzusetzen, Gaius Marius«, sagte Metellus und preßte seine Hände mit den Handflächen nach unten auf den Schreibtisch, damit Marius nicht merkte, wie sehr sie zitterten. »Warum hast du mich überhaupt aufgesucht?« »Ich bin gekommen, um dir mitzuteilen, daß ich die Absicht habe, Ende des nächsten Sommers aus dem Dienst in deinem Heer auszuscheiden«, antwortete Marius. »Ich will nach Rom zurückkehren und mich der Wahl zum Konsul stellen.« Metellus sah aus, als traue er seinen Ohren nicht. »Du willst was?« »Ich werde nach Rom gehen und für das Konsulat kandidieren.« »Nein, das wirst du nicht«, rief Metellus. »Du bist mein erster Legat — und obendrein mit dem imperium eines Proprätors ausgestattet — für die Zeit meiner Statthalterschaft in der Provinz Africa. Meine Frist ist soeben verlängert worden. Und somit auch die deine.« »Du kannst mich freigeben.« »Falls ich dich freigeben möchte. Aber das möchte ich nicht«, entgegnete Metellus. »Wenn es nach mir ginge, Gaius Marius, würde ich dich glattweg hier in der Provinz vergraben für den Rest 264
deines Lebens!« »Zwinge mich nicht, etwas Häßliches zu tun, Quintus Caecilius«, sagte Marius mit ruhiger, freundlicher Stimme. »Dich wozu zwingen? Mach, daß du hier rauskommst, Marius! Verschwinde und tu etwas Nützliches — hör auf, meine Zeit zu verschwenden!« Metellus fing einen Blick seines Sohnes auf und lächelte ihm verschwörerisch zu. »Ich bestehe darauf, daß ich vom Dienst in diesem Krieg entbunden werde, damit ich mich im kommenden Herbst in Rom um das Konsulat bewerben kann.« Ermutigt vom wachsenden Ausdruck erhabener und gleichmütiger Überlegenheit in der Haltung seines Vaters, brach Metellus das Ferkel in unterdrücktes Gekicher aus, was wiederum seinen Vater zu wahren Geistesblitzen anspornte. »Hör mir gut zu, Gaius Marius«, sagte Metellus mit einem milden Lächeln. »Du bist jetzt beinahe fünfzig Jahre alt. Mein Sohn ist zwanzig. Darf ich dir vorschlagen, daß du dich im selben Jahr wie er zur Konsulwahl stellst? Bis dahin hast du vielleicht gerade so viel gelernt, daß du auf den Stuhl eines Konsuls paßt! Und ich bin sicher, daß mein Sohn dir liebend gern ein paar nützliche Ratschläge erteilen wird.« Der junge Metellus brach jetzt in schallendes Gelächter aus. Marius blickte beide unter seinen buschigen Augenbrauen hervor an, sein Adlergesicht war stolzer und hochmütiger denn je. »Ich werde Konsul sein«, sagte er. »Du kannst dich darauf verlassen, Quintus Caecilius, ich werde Konsul sein — nicht einmal, sondern siebenmal!« Und er verließ das Zimmer. Vater und Sohn sahen ihm mit einer Mischung aus Verwirrung und Furcht nach. Merkwürdigerweise konnten sie gar nichts Amüsantes an dieser vermessenen Behauptung finden. Am nächsten Tag ritt Marius nach Karthago zurück und bat um eine Audienz bei Prinz Gauda. Als Marius vorgelassen wurde, beugte er ein Knie tief zu Boden und drückte seine Lippen auf Gaudas feuchte, schwammige Hand. 265
»Steh auf, Gaius Marius!« rief Gauda hocherfreut. Der Anblick dieses eindrucksvollen Mannes, der ihm so respektvoll und bewundernd huldigte, entzückte ihn. Marius erhob sich ein Stück weit, sank dann auf beide Knie nieder und streckte die Hände aus. »Königliche Hoheit«, begann er, »ich bin nicht würdig, in deiner Gegenwart zu stehen, denn ich bin als demütiger Bittsteller gekommen.« »Steh auf, steh auf«, krähte Gauda, noch entzückter als zuvor. »Ich werde mir keine Bitte anhören, solange du vor mir kniest! Komm, setz dich zu mir und erzähle, was du auf dem Herzen hast.« Gauda deutete auf einen Stuhl, der neben ihm stand — aber eine Stufe tiefer als der Prinzenthron. Marius verbeugte sich den ganzen Weg bis zu diesem Stuhl immer wieder tief und setzte sich dann auf die äußerste Kante, als würde ihm der Glanz des Prinzen, der bequern saß, so viel Ehrfurcht einflößen, daß er selbst nur unbequem dasitzen durfte. »Als du dich unter meine Klienten einreihen wolltest, königliche Hoheit, habe ich diese außerordentliche Ehre angenommen, weil ich glaubte, ich könnte in Rom für deine Sache eintreten. Denn ich hatte vor, mich im Herbst den Konsulwahlen zu stellen.« Marius hielt inne und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Aber das soll leider nicht sein! Quintus Caecilius Metellus bleibt in der Provinz Africa, denn seine Zeit als Statthalter wurde verlängert — und das bedeutet, daß ich als sein Legat nicht ohne seine Erlaubnis aus dem Dienst ausscheiden kann. Als ich ihm nun eröffnete, ich wolle mich zum Konsul wählen lassen, weigerte er sich, mich freizugeben, und verbot mir, Africa auch nur einen Tag vor ihm zu verlassen.« Der edle Sproß des numidischen Königshauses erstarrte vor Zorn, denn wie alle verhätschelten Kranken war er leicht zu erzürnen. Er erinnerte sich sehr gut daran, daß Metellus zu seiner Begrüßung nicht aufgestanden war, daß er sich nicht tief genug verbeugt hatte, daß er keinen Thron aufgestellt und ihm keine römische Eskorte gegeben hatte. »Aber das ist völlig unvernüftig, 266
Gaius Marius!« empörte sich Gauda. »Wie können wir ihn zwingen, seine Haltung zu ändern?« »Hoheit, welche Intelligenz — mit welcher Schnelligkeit hast du die Lage erfaßt, ich bin tief beeindruckt!« rief Marius aus und schien einen Augenblick sprachlos. »Genau das müssen wir tun! Wir müssen ihn zwingen, seine Haltung zu ändern.« Marius hielt inne. »Ich weiß, was du mir vorschlagen wirst, aber vielleicht sollte es besser über meine Lippen kommen als über deine, denn es ist ein schmutziges Geschäft. Darum bitte ich dich um die Erlaubnis, es an deiner Stelle aussprechen zu dürfen!« »Sprich es aus«, bat Gauda huldvoll. »Königliche Hoheit, Rom und der Senat und selbst das Volk in seinen beiden Versammlungen müssen mit Briefen überschwemmt werden! Mit Briefen von dir — und von jedem einzelnen Städter, Landbewohner, Getreideanbauer, Kaufmann und Makler in der gesamten Provinz Africa. Sie müssen Rom darüber aufklären, wie stümperhaft wie ganz und gar unzulänglich Quintus Caecilius Metellus diesen Krieg gegen den numidischen Feind geführt hat. Aus den Briefen muß hervorgehen, daß die wenigen Erfolge, die wir erringen konnten, ohne Ausnahme mir zu verdanken waren und nicht Quintus Caecilius Metellus. Wir brauchen Tausende von Briefen, mein Prinz! Und es genügt nicht, daß sie nur einmal geschrieben werden, sie müssen wieder und wieder geschrieben werden, bis Quintus Caecilius Metellus nachgibt und mir gestattet, nach Rom zu gehen, damit ich mich zur Wahl als Konsul stellen kann.« Gauda wieherte selig. »Ist es nicht wahrhaft erstaunlich, Gaius Marius wie sehr unsere Gedanken in Einklang stehen? Briefe sind genau das Mittel, das ich auch vorschlagen wollte!« »Das wußte ich, wie schon gesagt«, erwiderte Marius anerkennend. »Aber ist das möglich, Hoheit?« »Möglich? Natürlich ist es möglich!« sagte Gauda. »Dazu braucht man nur Zeit, Einfluß und Geld — und ich denke, Gaius Marius, daß wir beide zusammen eine Menge mehr Zeit und Einfluß und Geld zusammenbringen können als Quintus Caecilius Metellus, 267
meinst du nicht auch?« »Auf alle Fälle hoffe ich es«, erwiderte Marius. Natürlich ließ Marius es dabei nicht bewenden. Er gab seine Pflichten im Dienst von Metellus als Grund dafür an, daß er soviel herumreisen mußte, und suchte persönlich jeden wichtigen römischen, latinischen und italischen Mann vom einen Ende der Provinz bis zum anderen auf. In seinem Gepäck führte er ein geheimes Schreiben von Prinz Gauda mit, in dem der Prinz Numidiens alle möglichen Zugeständnisse für die Zeit seiner Herrschaft versprach und in dem er alle bat, sich als Klienten von Gaius Marius einzuschreiben. Weder Regen noch Matsch noch reißende Flüsse konnten Gaius Marius aufhalten. Er reiste unermüdlich umher, schrieb Tausende von Klienten ein und sammelte Versprechen für Briefe, Briefe und nochmals Briefe. Abertausende von Briefen. So viele Briefe, daß sie Quintus Caecilius Metellus von seinem hohen Roß in den Abgrund des politischen Untergangs stürzen würden.
Ab Februar trafen nach und nach unzählige Briefe aus der römischen Provinz Africa bei jedem wichtigen Mann und jeder politisch bedeutenden Körperschaft Roms ein. Mit jedem Schiff kamen sie säckeweise. In einem der ersten Briefe schrieb Marcus Caecilius Rufus, ein römischer Bürger, der im Tal des Flusses Bagradas etliche hundert iugera Land besaß und den römischen Markt mit umfangreichen Getreidelieferungen versorgte: Quintus Caecilius Metellus hat sich in Africa vor allem um seine eigenen Interessen gekümmert. Es ist meine wohlüberlegte Meinung, daß er beabsichtigt, diesen Krieg in die Länge zu ziehen, weil er seinen Ruhm mehren und seine Machtgelüste befriedigen will. Letzten Herbst ließ er wissen, er werde numidisches Getreide verbrennen und numidische Städte plündern, besonders jene Städte, in denen große Schätze lagern, um König Jugurthas Position zu schwächen. Seither sind meine Ländereien sowie die Ländereien 268
vieler anderer römischer Bürger in dieser Provinz in Gefahr, denn numidische Stoßtrupps schlagen überall in der Provinz zurück. Das gesamte Bagradas-Tal, das für die Getreideversorgung von Rom so wichtig ist, lebt in Furcht und Schrecken von einem Tag zum anderen. Außerdem ist mir und vielen anderen zu Ohren gekommen, daß Quintus Caecilius Metellus nicht einmal seine Legaten, geschweige denn sein Heer ordentlich führen kann. Er hat absichtlich die Talente so altgedienter und tüchtiger Männer wie Gaius Marius und Publius Rutilius Rufus verschwendet, indem er den einen mit der Führung seiner unbedeutenden Reiterei betraut, den anderen zum praefectus fabrum gemacht hat. Sein Betragen gegenüber Prinz Gauda, den der Senat und das Volk von Rom als den rechtmäßigen Herrscher von Numidien betrachten, war unerträglich arrogant, unbedacht und gelegentlich sogar grausam. Zum Schluß möchte ich noch erwähnen, daß die wenigen Erfolge, die beim Feldzug des letzten Jahres errungen wurden, einzig und allein Gaius Marius und Publius Rutilius Rufus zu verdanken sind. Soweit ich sehe, ist ihnen weder Dank noch Anerkennung zuteil geworden. Ich möchte Gaius Marius und Publius Rutilius Eurer Aufmerksamkeit empfehlen und meine schärfste Mißbilligung über das Verhalten von Quintus Caecilius Metellus zum Ausdruck bringen! Dieses Schreiben war an einen der größten und wichtigsten Getreidehändler in Rom gerichtet, einen Mann mit unglaublichem Einfluß auf Senatoren und Ritter. Nachdem er von Metellus’ Versäumnissen Kenntnis erhalten hatte, äußerte er natürlich lautstark seinen Unmut, und seine Stimme erreichte in kürzester Zeit viele interessierte Zuhörer. Und als die Tage vergingen und die Flut von Briefen immer mehr anschwoll, gesellten sich seiner Stimme viele weitere Stimmen hinzu. Den Senatoren wurde es höchst unbehaglich, wenn sie nur von weitem einen Kaufmann oder einen Bankier oder einen Großreeder sahen, und die selbstgefällige Zufriedenheit der unermeßlich reichen Sippe Caecilius 269
Metellus wich der Bestürzung. Quintus Caecilius, der Prokonsul in der Provinz Africa, erhielt nun seinerseits viele Briefe aus Rom, die meisten von Mitgliedern seiner weitverzweigten Familie. Man mahnte ihn, er solle behutsamer mit Prinz Gauda umgehen, seine Legaten rücksichtsvoller behandeln als seinen eigenen Sohn und, wenn möglich, endlich einen Durchbruch im Kampf mit Jugurtha erzielen. Und dann kam der Skandal von Vaga. Die Stadt Vaga, die sich im letzten Herbst Metellus ergeben hatte, rebellierte, und viele italische Kaufleute wurden niedergemetzelt. Jugurtha hatte die Revolte geschürt — mit der stillschweigenden Duldung von keinem Geringeren als dem Garnisonskommandanten Turpillius, einem persönlichen Freund von Metellus. Metellus beging den Fehler, Turpillius zu verteidigen, nachdem Marius öffentlich gefordert hatte, den Kommandanten wegen Hochverrat vor ein Kriegsgericht zu stellen. Als diese Geschichte in Hunderten von Briefen nach Rom berichtet wurde, hatte es bereits den Anschein, Metellus selbst wäre ebenso des Hochverrats schuldig wie Turpillius. Die römischen Mitglieder der Familie Caecilius Metellus schickten nun noch sehr viel mehr Briefe an ihren verehrten Quintus Caecilius in Utika. Sie ermahnten ihn dringend, seine Freunde sorgfältiger auszuwählen, wenn er sie denn unbedingt bei Anklagen wegen Hochverrat selbst verteidigen wolle. Viele Wochen gingen ins Land, bis Metellus sich davon überzeugen ließ, daß Gaius Marius der Urheber der römischen Briefkampagne war. Und als er es endlich glauben mußte, dauerte es wiederum ziemlich lange, bis er begriff, was diese briefliche Schlacht bedeutete — und noch länger dauerte es, bis er etwas dagegen unternahm. Er, ein Caecilius Metellus, sollte in Rom in Mißkredit gebracht werden von einem eingebildeten Emporkömmling, einem wehleidigen Thronanwärter und ein paar gewöhnlichen Provinzkaufleuten? Unmöglich! So funktionierte Rom doch nicht! Rom gehörte ihm, Quintus Caecilius Metellus, nicht Gaius Marius. Regelmäßig alle acht Tage sprach Marius bei Metellus vor und 270
verlangte, am Ende des Sextilis vom Dienst freigestellt zu werden. Und ebenso regelmäßig lehnte Metellus ab. Immerhin mußte man Metellus zugestehen, daß er sich mit wichtigeren Dingen zu beschäftigen hatte als mit ein paar schnöden Briefen, die in Rom auftauchten. Die meiste Zeit beschäftigte er sich mit Bomilkar. Nabdalsa hatte lange gebraucht, bis eine Unterredung mit Bomilkar einfädeln konnte, und dann noch länger, bis er eine geheime Zusammenkunft zwischen Bomilkar und Metellus arrangiert hatte. Aber Ende März war es endlich soweit. Bomilkar wurde in ein kleines Nebengebäude der Statthalterresidenz zu Utika eingeschmuggelt, und dort fand die Unterredung schließlich statt. Metellus und Bomilkar kannten sich natürlich ziemlich gut, denn Metellus hatte Jugurtha über Bomilkar während der letzten verzweifelten Tage in Rom auf dem laufenden gehalten, da der König die geheiligten Stadtgrenzen nicht hatte überschreiten dürfen. Bei dieser neuerlichen Begegnung verschwendete man nicht viel Zeit mit Höflichkeiten. Bomilkar war nervös, weil er fürchtete, seine Anwesenheit in Utika könne durchsickern, und Metellus war in seiner neuen Rolle als Anstifter zur Spionage noch unsicher. Metellus steuerte direkt auf sein Ziel zu. »Ich möchte diesen Krieg mit dem geringstmöglichen Verlust an Menschen und Material zum baldmöglichsten Zeitpunkt beenden«, begann er. »Rom braucht mich an wichtigeren Stellen als an einem so entlegenen Vorposten wie diesem.« »Ja, ich habe von den Germanen gehört«, entgegnete Bomilkar trocken. »Dann verstehst du meine Eile«, sagte Metellus. »Die verstehe ich sehr gut. Aber ich verstehe nicht, was ich dazu beitragen kann, die Feindseligkeiten hier abzukürzen.« »Man hat mich davon zu überzeugen versucht — und nach langen Überlegungen bin ich davon überzeugt —, daß der schnellste und beste Weg, das Schicksal Numidiens in einer für Rom 271
günstigen Weise zu entscheiden, die Beseitigung König Jugurthas ist«, sagte Metellus. Bomilkar betrachtete ihn nachdenklich. Metellus war kein Gaius Marius, das wußte er wohl, Metellus war nicht einmal ein Rutilius Rufus. Er war stolzer, hochmütiger und sich seines Ranges viel bewußter, aber er war bei weitem nicht so ruhig und kompetent. Wie allen Römern bedeutete Rom ihm alles. Aber das Bild, das Caecilius Metellus von Rom hatte, unterschied sich stark von dem eines Gaius Marius. Bomilkar sah, daß der Metellus, der heute die Provinz Africa regierte, ein anderer war als der Metellus, den er früher in Rom gekannt hatte, und das verwirrte ihn. Bomilkar wußte zwar von den Briefen, aber er hatte keine Vorstellung, wie wichtig sie waren. »Es stimmt, Jugurtha ist die Quelle des numidischen Widerstandes gegen Rom«, sagte Bomilkar. »Du bist dir aber vielleicht nicht darüber im klaren, wie unbeliebt Prinz Gauda in Numidien ist. Numidien wird sich nie von einem Gauda regieren lassen, ob er nun legitimer Thronfolger ist oder nicht.« Als Metellus den Namen Gauda hörte, erschien ein Ausdruck tiefsten Widerwillens auf seinem Gesicht. »Pfui!« rief er mit einer wegwerfenden Handbewegung aus. »Ein Nichts, ein armseliges Würstchen von Mann, von einem Herrscher gar nicht erst zu reden!« Metellus’ hellbraune Augen ruhten abwägend auf Bomilkars düsterem Gesicht. »Sollte König Jugurtha etwas zustoßen, dann hatte ich — und natürlich auch Rom — eher daran gedacht, einen Mann auf den numidischen Thron zu setzen, den sein gesunder Menschenverstand und seine Erfahrung gelehrt haben, daß den numidischen Interessen am besten gedient ist, wenn sich der König mit seinem ganzen Land als getreuer Klient Roms versteht.« »Ich stimme dir zu, ich glaube auch, daß den numidischen Interessen auf diese Weise am besten gedient wäre.« Bomilkar machte eine Pause und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Würdest du mich als einen möglichen König von Numidien 272
betrachten, Quintus Caecilius?« »Aber gewiß!« sagte Metellus. »Gut! In diesem Fall werde ich gerne das Meine dazu beitragen, daß Jugurtha das Handwerk gelegt wird.« »Und hoffentlich bald«, fügte Metellus mit einem verbindlichen Lächeln hinzu. »Sobald es geht. Es hat keinen Sinn, einen Mordanschlag zu versuchen. Jugurtha ist zu wachsam, außerdem ist ihm seine königliche Garde treu ergeben. Auch ein Staatsstreich hätte wohl keinen Erfolg. Die meisten Adligen sind sehr zufrieden mit der Art und Weise, wie Jugurtha Numidien bisher regiert hat — und mit seiner Kriegführung auch. Wenn Gauda eine verlockendere Alternative wäre, dann stünden die Dinge vielleicht anders. Ich«, hier zog Bomilkar eine Grimasse, »habe nicht das Blut Massinissas in meinen Adern, und das heißt, ich werde gewaltige Unterstützung von Rom brauchen, damit ich den Thron besteigen kann.« »Aber was können wir wirklich tun?« fragte Metellus. »Ich sehe nur einen Weg. Wir müssen Jugurtha in eine Lage bringen, in der er von römischen Soldaten gefangengenommen werden kann — ich meine nicht in einer offenen Schlacht, sondern in einem Hinterhalt. Dann kannst du ihn auf der Stelle töten oder in Haft nehmen und später mit ihm machen, was du willst«, schlug Bomilkar vor. »Gut, Baron Bomilkar. Und du benachrichtigst mich früh genug, daß wir den Hinterhalt in Ruhe planen können?« »Natürlich. Grenzüberfälle sind für so etwas ideal, und Jugurtha hat vor, viele Vorstöße selbst anzuführen, sobald der Boden trokkener ist. Aber stell dir die Sache nicht zu einfach vor, Quintus Caecilius. Es kann sein, daß du mehrmals scheiterst, ehe du einen so gerissenen Mann wie Jugurtha gefangennehmen kannst. Schließlich kann ich mein eigenes Leben nicht aufs Spiel setzen — wenn ich tot bin, nützt das weder mir noch den Römern. Aber verlaß dich darauf, daß es mir über kurz oder lang gelingen wird, ihn in eine gute Falle zu locken. Nicht einmal Jugurtha ist unverletzlich.« 273
Alles in allem war Jugurtha sehr zufrieden mit dem Gang der Dinge. Zwar hatte Marius ihm mit überraschenden Einfällen in dichter besiedelte Gebiete des Reiches ziemlich zugesetzt, aber Jugurtha wußte besser als jeder andere, daß die unermeßliche Weite der numidischen Landschaft sein größter Vorteil und sein bester Schutz waren. Während den meisten Herrschern anderer Länder die besiedelten Gegenden am wichtigsten waren, lagen diese Gebiete Jugurtha weit weniger am Herzen als die ungezähmte Wildnis. Die Mehrzahl der numidischen Soldaten, auch die leichtbewaffnete Reiterei, die in der ganzen Welt berühmt war, stammte von Völkern ab, die tief im Inneren des Landes ein halbnomadisches Leben führten. Jugurthas Leute kamen sogar von der Südseite der mächtigen Bergkette, wo Atlas geduldig den Himmel auf seinen Schultern trug. Diese Stämme kannte man unter dem Namen Gaetuler und Garamanten. Jugurthas Mutter gehörte zum Stamm der Gaetuler. Nach dem Fall von Vaga ließ der König alles Gold und alle Schätze aus sämtlichen Städten entlang der vermuteten Marschroute der Römer herausschaffen und an Orte wie Zama und Capsa bringen, abgelegene und schwer zugängliche Zitadellen auf unbesteigbaren Berggipfeln, die von den fanatisch treuen Gaetulern verteidigt wurden. Und Vaga war letztlich auch kein Sieg für die Römer. Wieder einmal hatte sich Jugurtha einen Römer gekauft, den Garnisonskommandeur Turpillius. Den Freund von Metellus. Aber etwas hatte sich verändert. Als die Regenfälle des Winters allmählich nachließen, wurde sich Jugurtha dieser Tatsache immer deutlicher bewußt. Etwas war anders, aber er konnte nicht genau sagen, was es war. Der Hof hatte keine feste Residenz, und Jugurtha zog ständig von einer Zitadelle zur nächsten und verteilte seine Frauen und Konkubinen gleichmäßig auf alle Orte, so daß ihn überall freudestrahlende Gesichter und liebende Arme erwarteten. Aber etwas stimmte nicht, Es hatte nichts mit seinen Plänen zu tun, nichts mit seinen Soldaten, nichts mit dem Nachschub, nichts mit der Treue seiner vielen Städte und Bezirke und Stämme. Was 274
Jugurtha witterte, war kaum mehr als eine schwache Fährte, ein Hauch von Gefahr, ein warnendes Prickeln, das von einer Quelle in seiner Nähe ausging. Aber er brachte seine böse Vorahnung nicht im entferntesten damit in Zusammenhang, daß er Bomilkar nicht zum Regenten bestimmen wollte. »Es ist etwas am Hof«, bemerkte er gegenüber Bomilkar, als sie Ende März von Capsa nach Cirta ritten. Ihre Pferde gingen im Schritt an der Spitze eines langen Zuges von Reiterei und Fußsoldaten. Bomilkar wandte den Kopf und sah seinem Halbbruder direkt in die hellen Augen. »Am Hof?« »Es liegt Unheil in der Luft, Bruder. Angezettelt und geschürt von dem schleimigen kleinen Dreckskerl Gauda, möchte ich wetten«, sagte Jugurtha. »Meinst du, es gibt eine Palastrevolution?« »Ich weiß nicht genau, was ich meine. Es stimmt einfach etwas nicht. Ich habe es im Gefühl.« »Ein Mörder?« »Vielleicht. Aber ich weiß es einfach nicht, Bomilkar! Meine Augen spähen in ein Dutzend verschiedene Richtungen gleichzeitig, und meine Ohren rotieren beinahe, so eifrig lauschen sie überallhin — aber bisher hat nur meine Nase registriert, daß etwas faul ist. Wie sieht es bei dir aus? Merkst du nichts?« fragte er, denn von Bomilkars Zuneigung, Vertrauen und Treue war er zutiefst überzeugt. »Ich muß sagen, ich merke nichts«, antwortete Bomilkar. Dreimal lockte Bomilkar den arglosen Jugurtha in eine Falle, und dreimal gelang es Jugurtha, unbeschadet davonzukommen. Und er schöpfte keinen Verdacht gegen seinen Halbbruder. »Sie werden allmählich zu raffiniert«, meinte Jugurtha, nachdem er dem dritten Hinterhalt der Römer entgangen war. »Da ist Gaius Marius am Werk oder Publius Rutilius, nicht Metellus.« Er grunzte. »Ich habe einen Spion in meinem Lager, Bomilkar.« Bomilkars Miene drückte ehrliches Erstaunen aus. »Das ist denkbar. Aber wer würde es wagen?« 275
»Ich weiß nicht«, erwiderte Jugurtha mit finsterer Miene. »Aber verlaß dich darauf, früher oder später werde ich es herausbekommen«« Ende April marschierte Metellus in Numidien ein. Rutilius Rufus hatte ihn davon überzeugt, daß er sich zunächst mit einem leichteren Ziel als der Hauptstadt Cirta begnügen sollte, und so zogen die römischen Truppen statt dessen in Richtung Thala. Von Bomilkar traf die Botschaft ein, er habe Jugurtha persönlich nach Thala gelockt, und Metellus machte einen vierten Versuch, den König gefangenzunehmen. Aber da Metellus zögerte, anstatt Thala mit der nötigen Schnelligkeit und Entschlossenheit zu stürmen, entkam Jugurtha wiederum, und aus dem Angriff wurde eine Belagerung; es dauerte einen Monat, bis der Widerstand der Stadt gebrochen war. Zu Metellus’ großer Überraschung fielen ihm in Thala beträchtliche Schätze in die Hände. Jugurtha hatte sie mitgebracht und mußte sie bei seiner Flucht notgedrungen zurücklassen. Ende Mai, Anfang Juni marschierte Metellus auf die numidische Hauptstadt zu, wo ihn eine weitere angenehme Überraschung erwartete: Cirta ergab sich kampflos. Die zahlreichen italischen und römischen Kaufleute der Stadt waren eine bedeutende prorömische Kraft in der Lokalpolitik. Außerdem liebte Cirta Jugurtha ebensowenig, wie Jugurtha Cirta liebte. Das Wetter war heiß und trocken, wie üblich zu dieser Jahreszeit. Jugurtha entzog sich den Fühlern des schlampigen römischen Spitzelsystems, indem er sich erst nach Süden zu den Zelten der Gaetuler absetzte, dann nach Capsa, dem Gebiet des Stammes, aus dem seine Mutter kam. Capsa war eine kleine, aber stark befestigte Bergzitadelle inmitten des schwer zugänglichen Gebietes der Gaetuler. Jugurtha liebte diesen Ort, denn hier lebte seine Mutter seit dem Tod ihres Mannes, Bomilkars Vater. Und hier lagerte Jugurtha auch den größten Teil seiner Schätze. Nach Capsa brachten Jugurthas Leute im Juni Nabdalsa, der gefangen worden war, als er die von Römern besetzte Stadt Cirta verlassen hatte. Jugurthas Spitzeln bei den Römern war es endlich 276
gelungen, genügend Beweise zu sammeln, und sie benachrichtigten den König von Nabdalsas Verrat. Zwar hatte man schon immer gewußt, daß Nabdalsa ein Anhänger Gaudas war, aber Nabdalsa konnte sich bisher dennoch frei in Numidien bewegen. Als entfernten Verwandten des Königs, mit Massinissas Blut in den Adern, ließ man ihn lange Zeit gewähren und traute ihm einen Hochverrat nicht zu. »Aber jetzt habe ich Beweise«, begann Jugurtha, »daß du eng mit den Römern zusammengearbeitet hast. Und daran enttäuscht mich besonders, daß du so töricht warst, mit Metellus zu verhandeln anstatt mit Gaius Marius.« Jugurtha ließ seinen Blick über Nabdalsa wandern, der in Ketten vor ihm stand und deutliche Spuren von Schlägen trug. »Natürlich bist du in dieser Sache nicht allein«, fuhr er nachdenklich fort. »Wer von meinen Baronen ist an der Verschwörung beteiligt?« Nabdalsa antwortete nicht. »Foltert ihn«, befahl Jugurtha gleichmütig. Die Folter in Numidien war kein ausgeklügeltes Verfahren, auch wenn Jugurtha wie alle barbarischen Herrscher Verliese hatte und manche Gefangene lange dort schmachten ließ. Jugurthas Kerker lagen tief im felsigen Sockel des Berges unter der Stadt Capsa versteckt und waren nur durch ein Labyrinth von Gängen vom Palast innerhalb der Zitadellenmauern her zugänglich. In ein solches Verlies wurde Nabdalsa geworfen, und dort wandten die unmenschlich rohen Soldaten, denen diese Aufgabe offenbar vererbt wurde, die Folter an. Jugurtha erfuhr sehr bald, warum Nabdalsa dem schwächlichen Gauda diente, denn Nabdalsa berichtete alles. Es hatte genügt, ihm die Zähne und die Fingernägel einer Hand auszureißen. Jugurtha war gerufen worden, um Nabdalsas Geständnis anzuhören, und er hatte ahnungslos Bomilkar mitgebracht. Bomilkar wußte, daß er die unterirdische Welt, in die er gleich eintreten würde, nie mehr verlassen sollte. Er schaute in den unendlich weiten, tiefblauen Himmel hinauf, sog tief die süße Wüstenluft ein, streifte mit dem Handrücken die seidigen Blätter 277
eines blühenden Busches. Und er bemühte sich, diese Erinnerungen mit in die Finsternis zu nehmen. Aus dem schlecht gelüfteten Verlies schlug ihnen ein bestialischer Gestank entgegen. Exkremente, Erbrochenes, Schweiß, Blut und abgestandenes Wasser ergaben zusammen eine ekelhafte Fäulnis, eine Luft, die jedem Menschen den Atem stocken ließ. Selbst Jugurtha schauderte, als er eintrat. Die Befragung konnte nur unter großen Schwierigkeiten durchgeführt werden, denn Nabdalsas Gaumen blutete heftig, und da die Nase gebrochen war, konnte man die Blutung auch nicht dadurch zum Stillstand bringen, daß man ihm den Mund zustopfte. Diese Dummköpfe, dachte Jugurtha, hin und her gerissen zwischen dem Schreck über den furchtbaren Anblick, den Nabdalsa bot, und dem Zorn über die Gedankenlosigkeit seiner Folterknechte. Sie hatten ihr Werk an der einzigen Stelle begonnen, die sie mit ihren Folterinstrumenten hätten verschonen sollen. Aber es war egal. Nabdalsa stieß bei Jugurthas dritter Frage das eine, entscheidende Wort hervor, und es war nicht allzu schwer zu verstehen, obwohl es mit einem Schwall von Blut herauskam. »Bomilkar.« »Laßt uns allein«, befahl der König seinen Folterknechten. Zuvor mußten sie Bomilkar sicherheitshalber noch den Dolch abnehmen. Als Bomilkar allein mit dem König und dem halb bewußtlosen Nabdalsa im Kerker stand, seufzte er tief. »Ich bedauere nur eines«, sagte er, »diese Geschichte wird unsere Mutter umbringen.« Es war das Klügste, was er unter diesen Umständen hatte sagen können, denn so starb er durch einen einzigen Axthieb des Scharfrichters und wurde nicht langsam und qualvoll zu Tode gefoltert, wie sein Halbbruder es am liebsten gesehen hätte. »Warum?« fragte Jugurtha. Bomilkar zuckte die Achseln. »Als ich alt genug war, über mein Leben nachzudenken, Bruder, stellte ich fest, wie sehr du mich betrogen hast. Du hast mich mit derselben Herablassung behan278
delt, mit der du einen zahmen Affen behandelt hättest.« »Was wolltest du?« fragte Jugurtha. »Daß du mich Bruder nennst vor aller Welt.« Jugurtha starrte ihn verwundert an. »Und dich über deinen Rang erhebe? Mein lieber Bomilkar, es kommt auf den Vater an, nicht auf die Mutter. Unsere Mutter ist eine Berberfrau aus dem Stamme der Gaetuler und noch nicht einmal die Tochter eines Häuptlings. Sie kann kein königliches Geblüt vererben. Würde ich dich vor aller Welt Bruder nennen, dann hieße das, ich nähme dich in die Linie Massinissas auf. Und das wäre, da ich zwei eigene Söhne habe, die rechtmäßige Erben sind, gelinde gesagt unklug.« »Du hättest mich zu ihrem Vormund und zum Regenten ernennen können«, erwiderte Bomilkar. »Mein lieber Bomilkar, das Blut unserer Mutter verbietet es! Dein Vater war ein kleiner Baron, fast ein Niemand. Mein Vater dagegen war Massinissas legitimer Sohn. Ich habe mein Königsblut von meinem Vater geerbt.« »Aber du bist nicht legitim, nicht wahr?« »Nein. Aber das richtige Blut ist da. Und Blut läßt sich nicht verleugnen.« Bomilkar wandte sich ab. »Dann mach es kurz«, bat er. »Ich bin gescheitert — nicht du, sondern ich. Grund genug, zu sterben. Aber nimm dich in acht, Jugurtha.« »In acht nehmen? Wovor? Vor Mordanschlägen? Weiterer Treulosigkeit, anderen Verrätern?« »Vor den Römern. Sie sind wie die Sonne und der Wind und der Regen. Am Ende zermahlen sie alles zu Sand.« Jugurtha rief die Folterknechte, die hereinstolperten und auf Anweisungen warteten. »Tötet sie beide«, befahl Jugurtha und ging in Richtung Tür. »Aber macht es schnell. Und schickt mir beide Köpfe.« Die Köpfe von Bomilkar und Nabdalsa wurden an die Zinnen von Capsa genagelt, wo alle Welt sie sehen konnte. Das war mehr als ein bloßes Zeichen königlicher Rache an einem Verräter. Ein Kopf wurde an einem öffentlichen Ort befestigt, um den Leuten zu 279
zeigen, daß der richtige Mann gestorben war, und um weitere Betrüger abzuschrecken. Jugurtha redete sich selbst ein, keinen Kummer zu empfinden er fühlte sich nur einsamer als je zuvor. Es war eine notwendige Lektion gewesen. Er hatte gelernt, daß ein König keinem Menschen trauen kann, nicht einmal seinem eigenen Bruder. Bomilkars Tod hatte zwei unmittelbare Folgen. Die eine war, daß niemand mehr wußte, wo Jugurtha sich gerade aufhielt, denn er blieb nie länger als ein oder zwei Tage am selben Ort und sagte seinen Wachen nicht, wohin er als nächstes ging. Auch seinen Soldaten sagte er nicht, was er vorhatte; er entschied und nur er allein. Die zweite Folge betraf seinen Schwiegervater, König Bocchus von Mauretanien. Bocchus hatte Rom nicht gegen den Mann seiner Tochter unterstützt, war aber Jugurtha auch nicht gegen Rom zu Hilfe geeilt. Jugurtha setzte sich unverzüglich mit Bocchus in Verbindung und drängte ihn, sich mit Numidien zu verbünden und gemeinsam mit den Numidern die Römer aus Africa zu vertreiben.
Bis zum Ende des Sommers war der gute Ruf von Quintus Caecilius in Rom vollständig ruiniert, niemand hatte mehr ein gutes Wort für ihn oder seine Kriegführung übrig. Und immer noch trafen Briefe ein, regelmäßig, erbarmungslos und außerordentlich wirksam. Nach der Eroberung von Thala und der Übergabe von Cirta hatten Metellus’ Anhänger bei den Rittern ein Stück weit Boden gutgemacht, aber darin kamen weitere Nachrichten aus Africa, die klarstellten, daß weder Thala noch Cirta das Ende des Krieges bedeuteten. Später folgten Berichte von endlosen Scharmützeln, von tieferen Vorstößen in den Westen Numidiens, die zu nichts geführt hatten, von mißbrauchten Geldern und davon, daß die sechs Legionen unter enormen Kosten für die Staatskasse im Feld gehalten wurden und daß ein Ende der Ausgaben nicht absehbar war. Dank Metellus würde sich der Krieg gegen Jugurtha gewiß noch mindestens ein weiteres Jahr hinziehen. 280
Die Konsulwahlen waren auf Mitte Oktober angesetzt, und Marius’ Name, der durch die Briefe in aller Munde war, tauchte immer häufiger gerüchteweise auf der Liste der möglichen Kandidaten auf. Aber die Zeit verstrich, und Marius kam nicht nach Rom. Metellus blieb eisern. »Ich bestehe darauf, daß du mich freigibst«, verlangte Marius zum mindestens fünfzigsten Mal von Metellus. »Du kannst darauf bestehen, solange du willst«, erwiderte dieser. »Aber du gehst nicht.« »Ich werde dennoch nächstes Jahr Konsul sein«, sagte Marius. »Ein Emporkömmling wie du Konsul? Unmöglich!« »Du hast Angst, daß die Wähler mich wählen könnten, nicht wahr?« fragte Marius selbstsicher. »Du willst mich nicht gehen lassen, weil du weißt, daß ich gewählt werde.« »Ich kann nicht glauben, daß auch nur ein echter Römer für dich stimmen würde, Gaius Marius. Aber du bist sehr reich, und das heißt, du kannst dir Stimmen kaufen. Solltest du je irgendwann zum Konsul gewählt werden — sicher nicht nächstes Jahr —, dann garantiere ich dir schon heute, daß ich mit Vergnügen jeden Funken Energie, den ich besitze, dafür einsetzen werde, vor Gericht zu beweisen, daß du dein Amt gekauft hast!« »Ich habe es nicht nötig, ein Amt zu kaufen, Quintus Caecilius. Ich habe keines meiner Ämter gekauft. Deshalb kannst du es gerne versuchen«, entgegnete Marius, noch immer empörend selbstsicher. Metellus wechselte die Taktik. »Ich lasse dich nicht gehen — finde dich damit ab. Als römischer Römer würde ich meinen eigenen Stand verraten, wenn ich dich gehen ließe. Das Konsulat, Gaius Marius, ist ein viel zu hohes Amt für einen Mann von italischer Herkunft. Die Männer, die auf dem Elfenbeinstuhl sitzen, müssen von ihrer Geburt her — durch die Leistungen ihrer Vorfahren und durch ihre eigenen — dafür würdig sein. Ich würde lieber in Schande sterben, als einen Italiker aus dem samnitischen Grenzland — einen Bauern, der ein halber Analphabet ist, der 281
niemals auch nur Prätor hätte werden dürfen — auf dem Elfenbeinstuhl zu sehen! Ich werde lieber in Schande geraten und sterben, als daß ich dir erlaube, nach Rom zu gehen.« »Wenn es nötig ist, Quintus Caecilius, kannst du beides haben«, bemerkte Marius trocken und verließ das Zimmer. Publius Rutilius Rufus versuchte, die beiden Männer zur Vernunft zu bringen, weil er um Rom ebenso besorgt war wie um Marius. »Laßt die Politik aus dem Spiel«, sagte er zu den beiden. »Wir drei sind hier in Africa, weil wir Jugurtha besiegen wollen, aber keiner von euch beiden setzt seine Energien ernsthaft für dieses Ziel ein. Ihr seid viel mehr damit beschäftigt, euch gegenseitig kleinzukriegen, und ich habe davon endgültig genug!« »Wirfst du mir etwa vor, daß ich meine Pflichten vernachlässige, Publius Rutilius?« fragte Marius gefährlich ruhig. »Nein, natürlich nicht! Ich werfe dir nur vor, daß du deine genialen Einfälle zurückhältst, die du sonst immer hast, wenn es um Kriegführung geht. Taktisch bin ich ebenso gut wie du. Logistisch bin ich ebenso gut wie du. Aber wenn es um Strategie geht, Gaius Marius — die langfristige Planung eines Krieges —, da kann dir keiner das Wasser reichen, nicht ein einziger. Und hast du auch nur ein Minimum an Zeit und Überlegung darauf verwendet, dir Gedanken zu machen, wie wir diesen Krieg gewinnen können? Nein!« »Und wo ist mein Platz in dieser Lobeshymne auf Gaius Marius?« fragte Metellus spitz. »Und wo ist, ganz nebenbei, mein Platz in der Lobeshymne auf Publius Rutilius Rufus? Oder zähle ich gar nicht?« »Du zählst wohl, du Erzangeber, weil du nominell der Befehlshaber in diesem Krieg bist!« schnaubte Rutilius Rufus. »Und wenn du denkst, daß du taktisch und logistisch besser bist als ich, und taktisch und logistisch und strategisch besser als Gaius Marius, dann zeig uns das doch endlich, bei allen Göttern! Aber das tust du natürlich nicht. Wenn du gelobt werden willst, dann will ich dir so viel zugestehen: Du bist weder so korrupt wie Spurius 282
Postumius Albinus noch so unfähig wie Marcus Junius Silanus. Dein Hauptproblem ist, daß du einfach nicht so gut bist, wie du glaubst. Immerhin warst du so intelligent, mich und Gaius Marius als oberste Legaten mitzunehmen, und eine Zeitlang dachte ich tatsächlich, du hättest im Laufe der Jahre etwas dazugelernt. Aber ich habe mich geirrt. Du hast unsere Talente ebenso verschwendet wie das Geld des Staates. Wir gewinnen diesen Krieg nicht, wir stecken in einer außerordentlich kostspieligen Sackgasse. Deshalb höre auf meinen Rat, Quintus Caecilius! Laß Gaius Marius nach Rom gehen, laß Gaius Marius an den Konsulwahlen teilnehmen — und laß mich unsere Mittel organisieren und unsere militärischen Schachzüge planen. Und du — widme deine Energien der Aufgabe, Jugurthas Beliebtheit bei seinem Volk zu untergraben. Von mir aus kannst du so viel öffentlichen Ruhm einheimsen, wie du willst, solange du nur innerhalb dieser vier Wände zugibst, daß ich recht habe.« »Ich gebe gar nichts zu«, sagte Metellus. Und so ging es den ganzen Sommer fort bis weit in den Herbst hinein. Jugurtha konnte nicht dingfest gemacht werden, er schien wie vom Erdboden verschluckt. Als auch dem letzten einfachen Soldaten klar geworden war, daß es keine offene Schlacht zwischen dem römischen und dem numidischen Heer geben würde, zog sich Metellus aus den westlichen Gebieten Numidiens zurück und schlug vor Cirta ein Lager auf. Dort traf die Kunde ein, Bocchus von Mauretanien habe endlich Jugurthas Druck nachgegeben und sein Heer zusammengezogen und sei jetzt unterwegs, um irgendwo weiter südlich zu seinem Schwiegersohn zu stoßen. Es ging das Gerücht, daß sie gemeinsam nach Cirta marschieren wollten. Metellus hoffte, es werde endlich zur Schlacht kommen, er schmiedete Pläne und hörte mit mehr Interesse als sonst auf Marius und Rutilius Rufus. Aber es kam anders. Die beiden Heere lagen einige Meilen voneinander entfernt in Stellung, Jugurtha ließ sich nicht zu einem Angriff provozieren. Nichts bewegte sich. Die römische Position war so gut vertei283
digt, daß Jugurtha keinen Angriff wagte, und die Position der Numider war so wenig greifbar, daß Metellus sich nicht aus seinem Lager locken ließ.
Und dann, zwölf Tage vor den Konsulwahlen in Rom, entließ Quintus Caecilius Metellus Schweinebacke den ersten Legaten im Feldzug gegen Jugurtha, Gaius Marius, offiziell aus seinem Dienst. »Mach, daß du wegkommst«, sagte Metellus und lächelte zukkersüß. »Verlaß dich darauf, Gaius Marius, daß ich ganz Rom davon unterrichten werde, daß ich dich doch vor den Wahlen freigegeben habe.« »Du denkst, ich komme nicht rechtzeitig dort an«, durchschaute ihn Marius. »Ich denke gar nichts, Gaius Marius.« Marius grinste. »Das stimmt allerdings«, meinte er und schnippte mit den Fingern. »Wo ist die Urkunde, die bestätigt, daß ich formell entlassen bin? Gib sie mir.« Metellus händigte Marius mit gefrorenem Lächeln den Marschbefehl aus, und als Marius die Tür erreicht hatte, sagte Metellus mit ruhiger Stimme: »Übrigens, Gaius Marius, ich habe gerade hervorragende Nachrichten aus Rom bekommen. Der Senat hat meine Statthalterschaft der Provinz Africa und mein Kommando im numidischen Krieg für das nächste Jahr verlängert.« »Das ist nett vom Senat«, erwiderte Marius und verschwand. »Ich scheiße auf ihn!« knurrte Marius gleich darauf bei Rutilius Rufus. »Er denkt, er hat mich in die Pfanne gehauen und sein Schäfchen ins trockene gebracht. Aber er täuscht sich. Ich kann ihn schlagen, Publius Rutilius, wart es nur ab! Ich werde rechtzeitig zu den Konsulwahlen in Rom sein, und dann werde ich ihm seine verlängerte Befehlsgewalt wieder abnehmen lassen. Und sie mir selbst geben lassen.« Rutilius Rufus sah ihn nachdenklich an. »Ich habe großen Respekt vor deinen Fähigkeiten, Gaius Marius«, begann er, »aber in diesem Fall arbeitet die Zeit für unseren Freund Schweine284
backe. Du schaffst es nie nach Rom bis zu den Wahlen.« »Ich schaffe es«, entgegnete Marius im Brustton der Überzeugung. Er ritt in zwei Tagen von Cirta nach Utika und legte unterwegs nur kurze Pausen ein, um ein paar Stunden zu schlafen. Bei jeder Gelegenheit schnappte er sich ein frisches Pferd. Noch vor Einbruch der Dämmerung des zweiten Tages hatte er ein kleines, schnelles Schiff gemietet, das im Hafen von Utika lag. Und in der Morgendämmerung des dritten Tages segelte er nach Italien ab, nachdem er am Strand großzügig den Lares Permarini geopfert hatte, und zwar genau in dem Augenblick, als ein schmaler Lichtstreifen den östlichen Rand der Welt erhellte. »Du segelst einem unvorstellbar großen Geschick entgegen, Gaius Marius«, sagte der Priester, als er das Opfer den Göttern darbrachte, die all diejenigen beschützten, die auf dem Meer unterwegs waren. »Ich habe noch nie ein besseres Omen gesehen als heute.« Die Worte des Priesters überraschten Marius nicht. Seit ihm die syrische Prophetin Martha offenbart hatte, was die Zukunft für ihn bereithielt, war er felsenfest davon überzeugt, daß die Dinge sich genauso entwickeln würden, wie sie vorhergesagt hatte. Als das Schiff in langsamem Tempo den Hafen von Utika verließ, lehnte er deshalb ruhig an der Reling und wartete auf den Wind. Er kam aus Südwesten und blies gleichmäßig mit zwanzig Seemeilen. Er blies das Schiff von Utika nach Ostia in ganzen drei Tagen, ein stets gleichmäßiger Wind bei vollkommen ruhiger See, so daß man sich nirgendwo nahe an der Küste halten oder irgendwo anlegen mußte, um Schutz zu suchen oder Vorräte an Bord zu nehmen. Alle Götter waren auf seiner Seite, genau wie Martha prophezeit hatte. Die Nachricht von der wundersamen Reise traf noch vor Marius in Rom ein, obwohl er sich in Ostia nur gerade so lange aufhielt, wie er brauchte, um das Schiff zu bezahlen und den Kapitän reichlich zu entlohnen. Als er auf das Forum Romanum ritt und vor dem Wahltisch des Konsuls Aurelius abstieg, hatte sich dort 285
schon eine große Menschenmenge versammelt. Eine Menge, die ihm zujubelte und ihm begeistert applaudierte. Und die ihm zeigte, daß er der Held des Tages war. Die Menschen klopften ihm auf den Rücken, und durch ein Spalier strahlender Gesichter trat Marius vor den consul suffectus hin, der den Platz von Servius Sulpicius Galba eingenommen hatte, nachdem Galba von der Kommission des Mamilius verurteilt worden war. Marius legte Metellus’ Brief auf den Tisch. »Bitte entschuldige, daß ich mir nicht die Zeit genommen habe, die weiße Toga anzulegen, Marcus Aurelius«, sagte Marius. »Ich bin hier, um mich für die Konsulwahlen einzutragen.« »Wenn du beweisen kannst, daß dich Quintus Caecilius von deiner Verpflichtung in Numidien entbunden hat, Gaius Marius, werde ich deinen Namen gerne eintragen«, sagte der nachgerückte Konsul. Er war bewegt von dem Empfang, den die Menge Gaius Marius bereitet hatte. Aus jeder Basilika und jedem Porticus ringsum eilten immer mehr einflußreiche Ritter herbei, sobald sich die Nachricht von Marius’ überraschender Ankunft verbreitete. Wieviel Format Marius gewonnen hatte! Was für eine eindrucksvolle Erscheinung, als er so dastand, einen halben Kopf größer als die Menschen um ihn herum, mit einem stolzen Lächeln auf den Lippen! Wie breit seine Schultern waren, wie geschaffen, um die Bürde des Konsulats zu tragen! Zum ersten Mal in seiner langen Laufbahn erlebte der italische Bauer ohne Griechischkenntnisse eine echte politische Huldigung. Nicht die gesunde, vertrauensvolle Achtung seiner Soldaten, sondern die wankelmütige, eitle Bewunderung der Massen auf dem Forum. Und Gaius Marius genoß sie nicht, weil sie seinem Selbstwertgefühl schmeichelte, sondern weil sie so fremd, so verführerisch, so geheimnisvoll war. Er stürzte sich in die fünf hektischsten Tage seines Lebens. Er hatte weder Zeit noch Energie, Julia mehr als eine flüchtige Umarmung zu schenken, und war nie zu einer Zeit daheim, zu der man ihm seinen Sohn zeigen konnte. Denn der überschwengliche Emp286
fang, der ihm auf dem Forum zuteil geworden war, hieß nicht, daß er auch gewinnen konnte. Die ungeheuer einflußreiche Sippe Caecilius Metellus verband sich mit allen anderen aristokratischen Fraktionen, Patriziern und Plebejern, in einem letzten verzweifelten Bemühen, den italischen Bauern ohne Griechischkenntnisse vom Elfenbeinstuhl fernzuhalten. Marius hatte Rückhalt bei den Rittern, bei seinen spanischen Verbindungen und in Prinz Gaudas Versprechungen für die Zeit, wenn er endlich Herrscher in Numidien sein würde. Aber es gab auch viele Ritter, die an die verschiedenen Fraktionen gebunden waren, die sich gegen Marius zusammengeschlossen hatten. Und die Menschen redeten, argumentierten, fragten, diskutierten: Wäre es wirklich gut für Rom, den homo novus Gaius Marius zum Konsul zu wählen? Ein homo novus war immer ein Risiko. Ein homo novus kannte das vornehme Leben nicht. Ein homo novus war nun einmal ein homo novus und blieb ein homo novus... Ja, seine Frau war eine Julia aus dem Geschlecht Julius Caesar. Ja, seine militärische Laufbahn war eine Zierde für Rom. Ja, er war so reich, daß man zuversichtlich erwarten konnte, er werde nicht anfällig für Bestechung sein. Aber hatte man ihn je bei Gericht gesehen? Hatte man ihn je über Gesetze und Gesetzgebung sprechen hören? War er nicht vor vielen Jahren einmal ein Störenfried im Kollegium der Volkstribunen gewesen, als er denjenigen die Stirn geboten hatte, die Rom und die Bedürfnisse Roms besser kannten als er, und hatte er nicht dieses verhaßte Gesetz durchgebracht, das regelte, daß die Abstimmungsbezirke in der saepta verengt wurden? Und dann sein Alter! Volle fünfzig Jahre wäre er alt, wenn er gewählt werden sollte, und alte Männer waren immer schlechte Konsuln. Und zusätzlich zu all diesen Spekulationen und Einwänden schlug die Fraktion von Caecilius Metellus handfestes Kapital aus dein größten Schwachpunkt des Gaius Marius. Er war kein römischer Römer. Er war ein italischer Römer. Hatte Rom so wenig geeignete römische Adlige, daß ein italischer homo novus Konsul werden sollte? Gewiß gab es unter den Kandidaten ein halbes 287
Dutzend Männer, die würdiger waren als Gaius Marius! Alles Römer. Alles gute Leute. Natürlich hielt Marius Reden, vor kleinen und vor großen Gruppen, auf dem Forum Romanum, im Circus Flaminius, von den Podien der Tempel, am Porticus Metelli, in allen Basiliken. Und er war ein guter Redner. Er beherrschte die Prinzipien der Rhetorik, obwohl er seine Fähigkeiten erst geübt hatte, seit er Mitglied des Senats war. Scipio Aemilianus hatte ihm den nötigen rhetorischen Schliff beigebracht. Er schlug seine Zuhörer in Bann, niemand ging vorzeitig weg oder langweilte sich, auch wenn er es nicht mit einem Lucius Cassius oder einem Catulus Caesar aufnehmen konnte. Viele Fragen wurden ihm gestellt, manche von Männern, die einfach etwas wissen wollten, manche von Männern, die er selbst beauftragt hatte zu fragen, und manche von Männern, die sich für die Unterschiede zwischen seinen Antworten und Metellus’ Berichten an den Senat interessierten. Die Wahl verlief ruhig und geordnet. Sie fand auf dem Marsfeld statt, in der saepta, einem eigens für Volksabstimmungen umzäunten Raum. Die Wahlen der fünfunddreißig Tribus konnten am Versammlungsort der Komitien auf dem Forum Romanum abgehalten werden, denn es war leicht, die Wähler der Tribus auf relativ engem Raum zu organisieren. Aber die Wahlen der riesigen Zenturienversammlung bedeuteten einen enormen Aufwand, denn die Hundertschaften mußten sich entsprechend den fünf Vermögensklassen aufstellen, denen sie zugeteilt waren. Als die Stimme einer jeden Hundertschaft abgerufen wurde, angefangen bei der ersten Hundertschaft der Ersten Klasse, zeichnete sich bald ein Muster ab. Lucius Cassius Longinus war die erste Wahl einer jeden Hundertschaft, aber für den zweiten Konsul gab es ganz unterschiedliche Nennungen. Die Erste und die Zweite Klasse stimmten so einhellig für Lucius Cassius Longinus, daß er an die vorderste Stelle gesetzt wurde. Lucius Cassius Longinus war damit zum ersten Konsul gewählt, und im Monat Januar würden ihm die fasces vorangetragen werden. Der Name des zweiten Konsuls blieb unbestimmt bis beinahe ans Ende der Drit288
ten Klasse, so dicht lagen Gaius Marius und Quintus Lutatius Catulus Caesar beieinander. Und dann fiel die Entscheidung. Gaius Marius setzte sich als zweiter Konsul durch. Die Sippe Caecilius Metellus konnte zwar die Abstimmung der Zenturien noch beeinflussen — aber es reichte nicht mehr, den Sieg Gaius Marius’ zu verhindern. Die Wahl war ein großer Triumph für ihn, den italischen Bauern ohne Griechischkenntnisse. Er war ein echter homo novus, der erste in seiner Familie, der im Senat saß, der erste in seiner Familie, der seinen Wohnsitz nach Rom verlegt hatte, der erste in seiner Familie, der ein riesiges Vermögen erworben hatte, der erste in seiner Familie, der sich beim Heer ausgezeichnet hatte. Und nun der erste in seiner Familie, der Konsul wurde.
Spät am Nachmittag des Wahltages gab Gaius Julius Caesar ein Festessen im engsten Familienkreis. Bis dahin hatte er Marius nur einmal auf dem Forum kurz die Hand gedrückt und ein weiteres Mal auf dem Marsfeld seine Hand geschüttelt, als sich die Zenturien aufgestellt hatten, so hektisch war Marius’ Wahlkampf während der letzten fünf Tage gewesen. »Du hast unglaubliches Glück gehabt«, sagte Caesar, als er seinen Ehrengast ins Speisezimmer führte. Seine Tochter Julia holte inzwischen ihre Mutter und ihre jüngere Schwester. »Ich weiß«, sagte Marius. »Wir Männer sind heute nicht eben zahlreich vertreten, da meine beiden Söhne noch in Africa sind. Aber ich habe einen weiteren Mann als moralische Stütze eingeladen, so können wir es mit den Frauen aufnehmen.« »Ich habe Briefe von Sextus und Gaius Julius mit Nachrichten von ihren Heldentaten«, sagte Marius, als sie sich bequem auf dem Sofa niederließen. »Das reicht auch noch später.« Der angekündigte dritte männliche Gast betrat das Speisezimmer, und Marius fuhr überrascht hoch, denn er erkannte einen 289
jungen, aber reif wirkenden Mann wieder, der ihm schon vor beinahe drei Jahren unter den Rittern aufgefallen war. Dieses Gesicht, diese Haare — wie hätte er das vergessen können? »Gaius Marius«, sagte Caesar mit kaum merklich gezwungenem Tonfall, »Ich möchte dir Lucius Cornelius Sulla vorstellen, der nicht nur unser Nachbar ist, sondern auch mein Mitsenator, und der bald mein zweiter Schwiegersohn sein wird.« »Donnerwetter!« rief Marius und drückte Sulla sehr herzlich die Hand. »Du bist ein Glückspilz, Lucius Cornelius.« »Das weiß ich gut«, erwiderte Sulla bewegt. Caesar hatte beschlossen, bei der Tischordnung ein wenig von der Konvention abzuweichen. Die Liege am oberen Ende hatte er sich und Marius vorbehalten und die zweite Liege für Sulla bestimmt. Das war nicht als Beleidigung gedacht, wie er ausdrücklich erklärte, sondern sollte die Gruppe ein wenig größer erscheinen lassen und allen mehr Platz bieten. Wie interessant, dachte Marius und runzelte innerlich die Stirn. Ich habe bisher noch nie erlebt, daß Gaius Julius Caesar sich rechtfertigt. Aber dieser verteufelt hübsche Bursche bringt ihn irgendwie aus der Fassung, aus dem Gleichgewicht... Dann kamen die Frauen herein, setzten sich auf Stühlen mit geraden Lehnen den Männern gegenüber, und das Festmahl konnte beginnen. Marius gab sich große Mühe, nicht das Bild eines älteren Ehemanns abzugeben, der seine Frau anbetet, aber seine Augen wanderten unwillkürlich immer wieder zu Julia hin, die in seiner Abwesenheit zu einer blühenden jungen Ehefrau gereift war, anmutig, ihrer neuen Verantwortung vollkommen gewachsen, eine hervorragende Mutter und Hausherrin — und die ideale Gattin. Während Julilla keineswegs gereift ist, dachte Marius. Natürlich hatte er sie in den schlimmsten Zeiten ihrer Krankheit nicht gesehen, und nun war sie bereits seit einiger Zeit wieder genesen. Aber etwas war zurückgeblieben, was Marius nur als armselige Haltung dem Leben gegenüber bezeichnen konnte: Sie war armselig von Gestalt, arm an Intellekt, arm an Erfahrung und unzufrieden mit 290
sich und ihrem Leben. Sie redete fieberhaft, bewegte sich fahrig, zuckte erschreckt zusammen und konnte nicht still auf ihrem Stuhl sitzen. Und ständig zog sie die Aufmerksamkeit ihres künftigen Gatten auf sich, so daß dieser häufig vom Gespräch zwischen Marius und Caesar ausgeschlossen war. Er ertrug es mit Fassung, wie Marius feststellte, und schien Julilla wirklich gern zu haben. Ohne Zweifel faszinierte es ihn, daß er so ganz im Mittelpunkt ihrer Gefühle stand. Aber dieser Reiz würde nicht mehr als die ersten sechs Monate ihrer Ehe überdauern, dachte der nüchterne Marius. Nicht wenn Lucius Cornelius Sulla der Bräutigam war. Er sah wahrlich nicht so aus, als hätte er eine ausgeprägte Vorliebe für weibliche Gesellschaft oder eine besondere Neigung, ein treuergebener Gatte zu werden. Nach dem Essen erklärte Caesar, daß er sich unter vier Augen in seinem Arbeitszimmer mit Gaius Marius unterhalten wolle. »Bleibt hier, wenn ihr möchtet, oder tut, was immer ihr zu tun habt«, sagte er ruhig. »Gaius Marius und ich haben uns viel zu lange nicht gesehen.« »In deinem Haus hat es Veränderungen gegeben, Gaius Julius«, sagte Marius, als die beiden Männer es sich im tablinum gemütlich gemacht hatten. »Ja, in der Tat — das ist auch der Hauptgrund dafür, daß ich unverzüglich mit dir allein sprechen wollte.« »Nun, ich werde am nächsten Neujahrstag Konsul, und damit nimmt mein Leben eine höchst erfreuliche Wendung«, sagte Marius lächelnd. »All das habe ich dir zu verdanken — und nicht zuletzt habe ich dir das Glück einer wunderbaren Ehefrau zu verdanken, einer vollkommenen Gefährtin für meinen Lebensweg. Ich habe ihr seit meiner Rückkehr wenig Zeit widmen können, aber jetzt, nach meiner Wahl, will ich das wiedergutmachen. In drei Tagen fahre ich mit Julia und meinem Sohn nach Baiae, und wir werden die ganze Welt für einen Monat vergessen.« »Es freut mich mehr, als du dir vorstellen kannst, daß du mit soviel Liebe und Respekt von meiner Tochter sprichst.« Marius lehnte sich ein wenig bequemer in seinen Stuhl zurück. 291
»Gut. Nun zu Lucius Cornelius Sulla. Ich erinnere mich an ein paar Bemerkungen von dir über einen Patrizier, der nicht das Geld habe, so zu leben, wie es ihm von Geburt aus zustehe, und der Name, den du nanntest, war der Name deines zukünftigen Schwiegersohnes. Was ist geschehen, daß sich die Verhältnisse gewandelt haben?« »Nach seiner Darstellung hat er einfach Glück gehabt. Er sagt, wenn sein Leben so weitergehe, wie es seit der Begegnung mit Julilla verlaufen sei, dann werde er einen zweiten Beinamen an den Beinamen anhängen müssen, den er von seinem Vater geerbt hat. Felix. Der Vater, ein Säufer und Verschwender, heiratete vor mehr als fünfzehn Jahren die reiche Clitumna und starb bald darauf. Lucius Cornelius begegnete Julilla am Neujahrstag vor jetzt beinahe drei Jahren, und sie gab ihm einen Graskranz, ohne zu wissen, was das bedeutete. Er behauptet, daß sein Leben von jenem Augenblick an eine glückliche Wendung genommen habe. Zuerst starb Clitumnas Neffe, der ihr Erbe war. Dann starb eine Frau namens Nikopolis und hinterließ Lucius Cornelius ein kleines Vermögen — soweit ich weiß, war sie seine Geliebte. Und nur wenige Monate später beging Clitumna Selbstmord. Da sie keine Blutsverwandten hatte, denen sie etwas vererben konnte, vermachte sie ihr gesamtes Vermögen — das Haus nebenan, ein Landhaus in Circei und ungefähr zehn Millionen Denare — Lucius Cornelius.« »Ihr Götter, er hat den Beinamen Felix wirklich verdient«, sagte Marius trocken. »Bist du in dieser Sache naiv, Gaius Julius, oder hast du dich zufriedenstellend vergewissert, daß Lucius Cornelius Sulla keinem der Toten in Charons Fähre über den Styx hineingeholfen hat?« Caesar hob bei dieser spöttischen Bemerkung abwehrend die Hand, aber er lächelte. »Nein, Gaius Marius, du kannst dich darauf verlassen, daß ich nicht naiv war. Ich kann Lucius Cornelius mit keinem der drei Todesfälle in Verbindung bringen. Der Neffe starb nach einer langen Magen- und Darmkrankheit, die freigelassene griechische Sklavin starb an akutem Nierenversagen 292
— innerhalb von ein oder zwei Tagen, das weiß ich nicht genau, aber auf keinen Fall länger. Bei beiden wurde eine Autopsie durchgeführt, und man fand nichts Verdächtiges. Clitumna war in der letzten Zeit vor ihrem Tod sehr depressiv. Sie hat sich in Circei das Leben genommen, und Sulla war zu diesem Zeitpunkt nachweislich in Rom. Ich habe alle Sklaven aus Clitumnas Haushalt, sowohl in ihrem Haus hier wie auch in ihrem Landhaus in Circei, gründlich befragt, und ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß es über Sulla nichts herauszufinden gibt.« Er zog eine Grimasse. »Ich bin immer dagegen gewesen, Sklaven zu foltern, um Beweise für ein Verbrechen zu erhalten, denn ich meine, daß solche Beweise keinen Pfifferling wert sind. Aber ich glaube ehrlichen Herzens nicht, daß Clitumnas Sklaven eine Geschichte erzählen könnten, auch unter der Folter nicht. Daher habe ich mich nicht weiter darum bemüht.« Marius nickte. »Ich stimme dir zu, Gaius Julius. Zeugenaussagen von Sklaven sind nur etwas wert, wenn sie freiwillig gemacht werden — und wenn sie logisch sind und mit dem Sachverhalt übereinstimmen.« »Die Folge all dieser Ereignisse war, daß Lucius Cornelius innerhalb von zwei Monaten aus tiefster Armut zu ansehnlichem Wohlstand gelangte«, fuhr Caesar fort. »Von Nikopolis erbte er genug, um in den Ritterstand aufgenommen zu werden, und von Clitumna genug, um zum Senat zugelassen zu werden. Weil Scaurus so ein großes Geschrei darüber erhoben hat, daß zwei Zensoren fehlten, wurden im letzten Mai zwei neue gewählt. Sonst hätte Lucius Cornelius mehrere Jahre auf die Zulassung zum Senat warten müssen.« Marius lachte. »Ja, was war denn da los? Wollte niemand die Zensorenposten haben? Ich meine, es ist noch einigermaßen logisch, daß wir Fabius Maximus Eburnus haben, aber wie kommen wir zu Licinius Getha? Er wurde vor acht Jahren wegen unmoralischen Verhaltens von den Zensoren aus dem Senat hinausgeworfen und fand den Rückweg dorthin nur dadurch, daß er sich zum Volkstribunen wählen ließ!« 293
»Ich weiß«, sagte Caesar verdrossen. »Nein, ich denke, es war so, daß alle vor einer Kandidatur zurückschreckten, weil sie Scaurus nicht beleidigen wollten. Wenn in dieser Situation jemand Zensor werden wollte, sah das ganz nach einem Mangel an Respekt und Loyalität gegenüber Scaurus aus, also ließen sich nur solche Kandidaten aufstellen, denen diese Art von Feingefühl abging. Übrigens wird man mit Getha leicht fertig — er wollte den Posten nur aus Prestigegründen und zu dem Zweck, ein paar Silberlinge von Unternehmen zu ernten, die Verträge mit dem Staat abschließen wollen. Aber Eburnus — na ja, wir wissen ja alle, daß er nicht ganz richtig im Kopf ist, nicht wahr, Marius?« Ja, dachte Marius, das wissen wir in der Tat. Die Familie Fabius Maximus war uralt und so aristokratisch, daß ihr nur die Julier das Wasser reichen konnten. Ihre legitimen Erben waren allesamt ausgestorben, und die Familie blieb nur durch eine Reihe von Adoptionen erhalten. Der Quintus Maximus Eburnus, der nun zum Zensor gewählt worden war, war ein adoptierter Fabius Maximus. Er war Vater eines einzigen Sohnes und hatte diesen vor fünf Jahren wegen Unkeuschheit hingerichtet. Zwar gab es kein Gesetz, das Eburnus daran gehindert hätte, in seiner Funktion als pater familias seinen Sohn zu töten, aber die Hinrichtung von Frauen und Kindern unter dem schützenden Dach des Famillengesetzes war seit langem nicht mehr üblich. Ganz Rom war deshalb über Eburnus’ Tat empört und entsetzt gewesen. »Weißt du, es ist eigentlich gut für Rom, daß Getha einen Eburnus als Kollegen hat«, sagte Marius nachdenklich. »Ich glaube nicht, daß er sich viel erlauben kann, wenn er Eburnus neben sich weiß. Eburnus wird ihm ganz schön auf die Finger sehen.« »Da hast du bestimmt recht, aber sein armer Sohn! Eburnus ist ja in Wirklichkeit ein gebürtiger Servilius Caepio, und die ganze Sippschaft Servillus Caepio ist ziemlich merkwürdig, wenn es um Moral und Sittlichkeit geht. Keuscher als die Jägerin Artemis, und sie posaunen es auch noch in alle Welt hinaus. Man fragt sich wirklich, was da los ist.« »Und welcher Zensor hat nun welchen überredet, Lucius Cor294
nelius Sulla in den Senat zu lassen?« fragte Marius. »Man hört allenthalben, daß er nicht gerade der Inbegriff eines keuschen Lebenswandels sei. Das fiel mir ein, seit ich seinen Namen und sein Gesicht zusammenbringe.« »Ach, ich glaube, seine sexuelle Freizügigkeit hatte ihren Grund vor allem in Langeweile und Frustration«, sagte Caesar leichthin. »Aber Eburnus hat wirklich seine kleine Knubbelnase gerümpft und ein bißchen gemault, das stimmt. Während Getha ungerührt einen Affen für den Senat zulassen würde, wenn nur das Geld stimmt. Also einigten sie sich schließlich darauf, Lucius Cornelius einzuschreiben — aber nur mit Vorbehalten.« »Ach?« »Ja. Lucius Cornelius ist Senator unter Vorbehalt — er muß sich für die Quästur zur Wahl stellen und auf Anhieb durchkommen. Wenn er scheitert, verliert er zugleich seinen Senatssitz.« »Und wird er es schaffen?« »Was meinst du, Gaius Marius?« »Mit diesem Namen? Oh, er wird es sicher schaffen.« »Ich hoffe es.« Aber Caesar sah aus, als zweifle er. Als sei er unsicher. Womöglich sogar ein wenig verlegen? Er holte tief Luft, richtete den Blick seiner blauen Augen direkt auf seinen Schwiegersohn und lächelte bekümmert. »Ich habe gelobt, Gaius Marius, dich nie mehr um einen Gefallen zu bitten, nachdem du bei der Heirat mit Julia so großzügig warst. Aber das war ein törichtes Gelöbnis. Wie soll man wissen, was die Zukunft erfordert? Ich muß dich um etwas bitten. Ich muß dich um einen weiteren Gefallen bitten.« »Was immer du willst, Gaius Julius«, sagte Marius herzlich. »Hast du schon so viel Zeit mit deiner Frau verbracht, daß du weißt, warum Julilla sich beinahe zu Tode gehungert hat?« fragte Caesar. »Nein.« Das ernste, kraftvolle Adlergesicht leuchtete einen Augenblick lang voll Freude auf. »Die wenige Zeit, die wir seit meiner Heimkehr zusammen verbracht haben, haben wir nicht auf Gespräche verschwendet, Gaius Julius!« 295
Caesar lachte und seufzte. »Ich wünschte, meine jüngere Tochter wäre aus demselben Holz geschnitzt wie meine ältere. Aber sie ist es nicht. Wahrscheinlich liegt die Schuld dafür bei Marcia und mir. Wir haben sie verwöhnt und haben ihr vieles nachgesehen, was wir den drei älteren Kindern nicht durchgehen ließen. Andererseits bin ich fest davon überzeugt, daß Julilla auch charakterliche Mängel hat. Kurz bevor Clitumna starb, fanden wir heraus, daß das törichte Mädchen sich in Lucius Cornelius verliebt hatte und versuchte, ihn — und uns — dazu zu zwingen... Wir wissen gar nicht genau, was sie eigentlich im Sinn hatte, falls sie das überhaupt selbst richtig gewußt hat — auf alle Fälle wollte sie Lucius Cornelius haben, und sie wußte, daß ich einer solchen Verbindung niemals zustimmen würde.« Marius sah ihn ungläubig an. »Und obwohl du gewußt hast, daß eine heimliche Beziehung zwischen ihnen bestand, hast du eine Eheschließung erlaubt?« »Nein, nein, Gaius Marius, Lucius Cornelius war in keiner Weise in die Sache verwickelt!« rief Caesar. »Ich versichere dir, daß er nichts mit dem zu tun hatte, was sie getan hat.« »Aber du hast gesagt, sie hätte ihm am Neujahrstag vor zwei Jahren einen Graskranz gegeben«, wandte Marius ein. »Glaub mir, dieses Zusammentreffen war unschuldig, zumindest aus seiner Sicht. Er hat sie nicht ermutigt — er hat sogar versucht, sie abzuschrecken. Julilla hat Schande über sich und uns gebracht, weil sie ihn unbedingt dazu verleiten wollte, ihr Gefühle zu gestehen, von denen er wußte, daß ich sie ihm nie verzeihen würde. Laß dir von Julia die ganze Geschichte erzählen, und du wirst verstehen, was ich meine«, sagte Caesar. »Und wie kommt es dann, daß sie heiraten werden?« »Nun, als er das Vermögen geerbt hatte und in der Lage war, einen respektablen Platz in der Gesellschaft einzunehmen, bat er mich um Julillas Hand. Trotz der Art und Weise, wie sie ihn behandelt hat.« »Der Graskranz«, sagte Marius nachdenklich. »Ja, ich kann verstehen, daß er sich mit ihr verbunden fühlt, besonders wenn ihr 296
Geschenk sein Leben verändert hat.« »Ich verstehe es auch, deshalb habe ich meine Zustimmung gegeben.« Wieder seufzte Caesar, diesmal tiefer. »Das Schlimme ist, Gaius Marius, daß ich für Lucius Cornelius nicht die geringste Spur der Sympathie empfinde, die, ich für dich empfinde. Er ist ein sehr merkwürdiger Mann, und er hat etwas in seinem Wesen, das mich schaudern macht. Aber ich habe keine Ahnung, was es ist. Und man muß sich immer darum bemühen, gerecht zu sein und unparteiisch zu urteilen.« »Kopf hoch, Gaius Julius, es wird schon alles gut werden«, sagte Marius. »Doch nun: Was kann ich für dich tun?« »Lucius Cornelius helfen, damit er zum Quästor gewählt wird«, sagte Caesar mit festerer Stimme, denn wenn es um Politik ging, war er in seinem Element. »Das Problem ist, daß ihn niemand kennt. Zwar kennt jeder seinen Namen, alle wissen, daß er ein echter patrizischer Cornelius ist. Aber der cognomen Sulla ist heute nicht gerade in aller Munde, und er hatte nie die Gelegenheit, sich als junger Mann auf dem Forum und bei Gericht bekannt zu machen, er hat auch keinen Militärdienst geleistet. Übrigens könnte schon allein die Tatsache, daß er nie Soldat war, ausreichen, seine Wahl zu vereiteln, falls irgendein böswilliger Adliger deswegen Theater macht — und das könnte ihm auch den Weg in den Senat versperren. Wir hoffen, daß niemand allzu genaue Fragen stellt, in dieser Hinsicht sind die beiden gegenwärtigen Zensoren ideal. Es ist keinem von beiden in den Sinn gekommen, daß Lucius Cornelius nicht fähig sein könnte, auf dem Marsfeld auszubilden oder als unterer Militärtribun in einer Legion zu dienen. Und glücklicherweise hat Scaurus höchstpersönlich Lucius Cornelius in den Ritterstand aufgenommen, deshalb glauben unsere neuen Zensoren einfach, daß die alten Zensoren alles sehr viel genauer überprüft haben, als es tatsächlich der Fall war. Scaurus und Drusus waren verständige Männer, sie wollten Lucius Cornelius eine Chance geben. Und außerdem stand damals seine Aufnahme in den Senat nicht zur Debatte.« »Möchtest du, daß ich Lucius Cornelius durch Bestechung ins 297
Amt bringe?« fragte Marius ganz direkt. Caesar war so altmodisch, daß ihn diese Frage schockierte. »Aber nein, selbstverständlich nicht! Ich sehe ein, daß Bestechung entschuldbar ist, wenn es um das Konsulat geht, aber für das Amt des Quästors? Nie im Leben! Außerdem wäre es zu riskant. Eburnus hat Lucius Cornelius im Auge. Er lauert nur auf eine Gelegenheit, ihn von der Wahl auszuschließen — und ihn zu verfolgen. Nein, der Gefallen, um den ich dich bitten möchte, ist ein ganz anderer, viel unerfreulicher für dich, falls die Sache fehlschlägt. Ich möchte, daß du Lucius Cornelius als deinen persönlichen Quästor anforderst — ihm die Auszeichnung einer persönlichen Ernennung zuteil werden läßt. Wie du ja weißt, kann ein Kandidat für die Quästur sicher sein, tatsächlich gewählt zu werden, wenn die Wahlberechtigten erfahren, daß er bereits von einem neugewählten Konsul angefordert wurde.« Marius antwortete nicht gleich. Er war damit beschäftigt, die ganze Tragweite dieses Wunsches zu verdauen. Letzten Endes war es ihm vollkommen gleichgültig, ob Sulla irgendeine Mitschuld am Tod seiner Geliebten oder seiner Stiefmutter trug, die ihn durch ihre Testamente zu einem reichen Mann gemacht hatten. Es würde später auf alle Fälle heißen, er habe sie umgebracht — spätestens, wenn er die Neigung bekunden sollte, Konsul zu werden. Irgend jemand würde die Geschichte ausgraben. Durch Flüsterpropaganda würde man das Gerücht verbreiten, Sulla habe gemordet, um genügend Geld für die politische Karriere in die Hand zu bekommen, die ihm durch die Armut seines Vaters verwehrt war. Für seine politischen Rivalen käme das einem Geschenk der Götter gleich. Die Ehe mit einer Tochter von Gaius Julius Caesar wäre ihm zwar eine Hilfe, aber nichts könnte ihn von dem Verdacht völlig reinwaschen. Und am Schluß würde etwas an ihm hängenbleiben, genauso wie an ihm, Marius, etwas hängengeblieben war. Das war der erste Einwand. Der zweite war Caesars Unbehagen. Caesar mochte Sulla nicht recht, obwohl er keine greifbaren Gründe für seine Abneigung nennen konnte. Hatte es eher mit dem Gefühl zu tun als mit dem Verstand? War es Instinkt? 298
Und der dritte Einwand war Julilla. Seine Julia, das wußte Marius genau, hätte niemals einen Mann geheiratet, der ihr unwürdig erschienen wäre, wie bedrückend die finanziellen Verhältnisse der Familie auch sein mochten. Julilla hingegen hatte gezeigt, daß sie flatterhaft, gedankenlos und selbstsüchtig war — ein Mädchen, das nicht einmal dann einen würdigen Partner aussuchen würde, wenn ihr Leben davon abhinge. Und sie hatte Lucius Cornelius Sulla ausgesucht. Dann ließ Marius seine Gedanken weit in die Vergangenheit abschweifen, erinnerte sich an die regnerischen Morgenstunden auf dem Kapitol, als er unbemerkt beobachtet hatte, wie Sulla die Opferstiere verbluten sah. Und da wußte er, was das Richtige war, was er antworten mußte. Lucius Cornelius Sulla war fraglos wichtig. Unter keinen Umständen durfte man zulassen, daß er wieder in den Sumpf zurücksank. Er mußte das Erbe seines Namens antreten. »Also gut, Gaius Julius«, sagte Marius ohne das geringste Zögern in der Stimme, »morgen werde ich den Senat bitten, mir Lucius Cornelius Sulla als persönlichen Quästor zu geben.« Caesar strahlte. »Danke, Gaius Marius! Vielen Dank!« »Kannst du sie verheiraten, ehe die Versammlung der Plebs zur Wahl der Quästoren zusammentritt?« fragte er. »Das kann ich«, antwortete Caesar.
Und so vermählten sich kaum acht Tage später Lucius Cornelius Sulla und Julia Minor, die jüngere Tochter des Gaius Julius Caesar, durch die traditionelle Zeremonie der confarreatio, die zwei Patrizier auf Lebenszeit aneinanderband. Sullas Karriere nahm einen glänzenden Beginn: Der neugewählte Konsul Gaius Marius forderte ihn persönlich als Quästor an, und durch seine Heirat mit Julilla wurde er Mitglied einer Familie, deren dignitas und Integrität über jeden Zweifel erhaben waren. Jetzt konnte eigentlich nichts mehr schiefgehen. In dieser Hochstimmung sah Sulla der Hochzeitsnacht gelassen 299
entgegen und vergaß beinahe seine Abneigung gegen die Pflichten des Familienlebens. Von Metrobius hatte er sich getrennt, ehe er sich bei den Zensoren zur Aufnahme in den Senat beworben hatte. Obwohl bei dem Abschied so viele Tränen geflossen waren, daß er es kaum hatte ertragen können — denn der Junge liebte ihn abgöttisch und wollte nicht von ihm lassen —, war Sulla doch fest bei seinem Entschluß geblieben, solche Ausschweifungen für immer hinter sich zu lassen. Nichts und niemand sollte seinen Aufstieg zum Ruhm gefährden. Außerdem konnten ihn seine Empfindungen für Julilla nicht täuschen. Er hatte erkannt, wieviel sie ihm bedeutete, und sie war ihm teuer — nicht nur, weil sie sein Glück verkörperte. In Gedanken jedoch waren seine Gefühle für Julilla diesem Glück untergeordnet. Sulla war ganz einfach unfähig, sich einzugestehen, daß er einen Menschen liebte. Liebe war in seinen Augen etwas, das andere Menschen, geringere Menschen empfanden. So, wie diese anderen, geringeren Menschen die Liebe verstanden, erschien sie ihm als eine recht befremdliche Sache: voller Illusion und Verblendung, manchmal edel bis zur Dummheit und manchmal niedrig bis zur Schamlosigkeit. Sulla konnte in sich selbst keine Liebe erkennen, weil er felsenfest davon überzeugt war, daß sie den gesunden Verstand, die Selbsterhaltung und die geistige Klarheit untergrub. In späteren Jahren kam er nicht ein einziges Mal auf den Gedanken, daß seine Geduld und seine Nachsicht mit seiner flatterhaften und labilen Frau der beste Beweis dafür waren, daß es auch in ihm ein Gefühl namens Liebe gab. Statt dessen glaubte er, Geduld und Nachsicht gehörten als gute Seiten zu seinem Charakter, und so verstand er nicht, was die Liebe in ihm bewirkte, und wuchs nicht innerlich an dieser Erfahrung. Die Hochzeit war eine typische Feier der Familie Julius Caesar: würdevoll und festlich, ohne jeden Anflug von Derbheit, während die Hochzeiten, an denen Sulla bisher teilgenommen hatte, eher derb als würdevoll gewesen waren. Sulla ließ die ganze Prozedur mehr über sich ergehen, als daß er sich daran freute. Zur entscheidenden Stunde torkelten keine betrunkenen Gäste vor seiner 300
Schlafzimmertür herum, und er mußte keine Zeit darauf verschwenden, sie gewaltsam hinauszuwerfen. Die Gäste geleiteten Sulla und Julilla den kurzen Weg von der einen Tür zur anderen, und als Sulla Julilla hochhob — wie federleicht sie war, wie zerbrechlich —, um sie über die Schwelle zu tragen, zogen sich die Gäste diskret zurück. Unerfahrene Jungfrauen hatten in Sullas Leben bisher noch nie eine Rolle gespielt. So hatte er sich über sein Verhalten in der Hochzeitsnacht noch keinerlei Gedanken gemacht — und sich damit eine Menge unnötiger Ängste erspart. Denn wie auch immer es aus medizinischer Sicht um Julillas Jungfräulichkeit bestellt sein mochte, sie war so reif zur Hingabe wie ein Pfirsich, der von selbst vom Baum fällt. Sie sah Sulla zu, wie er seine Hochzeitstunika ablegte und den Blütenkranz vom Kopf nahm. Sie beobachtete jede Handbewegung fasziniert und gespannt. Und sie schälte sich bereitwillig Schicht um Schicht aus ihren zahlreichen Hüllen, den cremefarbenen und roten und safrangelben Brautgewändern. Sie nahm die siebenreihige wollene Tiara vom Kopf und löste all die speziellen Knoten und Gürtel. Dann betrachteten sie einander und freuten sich an der Schönheit ihrer Leiber. Sullas Gestalt war makellos, Julilla war noch zu dünn, aber bei ihrer biegsamen anmutigen Schlankheit erschien vieles weich, was bei einer anderen Frau eckig und häßlich gewirkt hätte. Und während er noch dastand und sie betrachtete, kam sie auf ihn zu, legte ihm die Hände auf die Schultern und schmiegte mit vollkommenen natürlicher und spontaner Sinnlichkeit ihren Körper an seinen Körper. Sie seufzte vor Wonne, als er die Arme um sie legte und mit beiden Händen ihren Rücken zu streicheln begann. Er war bezaubert von ihrer Leichtigkeit, von der akrobatischen Geschmeidigkeit, mit der sie reagierte, als er sie hoch über seinen Kopf hob, mit der sie sich um ihn schlang. Nichts, was er tat, erschreckte oder beleidigte sie, und sie erwiderte jede Zärtlichkeit, die man nur erwidern kann. Es dauerte lediglich Sekunden, bis sie küssen gelernt hatte, und in all den Jahren ihrer Ehe lernte sie 301
beständig weiter. Eine wunderbare, schöne, glutvolle Frau, die ihm gerne Wonne schenken wollte, und die hungrig danach verlangte, daß er ihr ebenfalls Wonne schenkte. Und sie war sein. Ganz und gar. Wer von beiden hätte in dieser Nacht ahnen sollen, daß sich die Dinge ändern könnten, weniger vollkommen, weniger beglückend, weniger willkommen sein könnten? »Wenn du einen andern auch nur anschaust, bringe ich dich um«, sagte er, als sie erschöpft auf dem Bett lagen und sich zwischen ihren Liebesspielen ausruhten. »Ich glaube dir«, sagte sie und erinnerte sich an die Lektionen ihres Vaters über die Rechte eines pater familias. Denn von jetzt an stand sie nicht mehr unter der Autorität des Vaters, sondern hatte sich der Gewalt Sullas zu unterwerfen. Als Patrizierin war sie nicht Herrin ihrer selbst und konnte es auch niemals werden. Frauen wie Nikopolis und Clitumna hatten es da erheblich einfacher. Sulla und Julilla waren ungefähr von gleicher Größe: Sie war recht groß für eine Frau und er eher durchschnittlich für einen Mann. Ihre Beine waren ein wenig länger als seine, und so konnte sie ihre — zu seiner Verwunderung — zwischen seinen Knien hindurchschlingen, während sie darüber staunte, wie weiß seine Haut im Vergleich zu ihrer tiefgoldenen war. »Neben dir sehe ich aus wie eine Syrerin«, sagte sie und hielt ihren Arm an seinen. Sie reckte beide Arme nach oben, damit im Lampenlicht der Unterschied noch deutlicher hervortreten konnte. »Ich bin nicht normal«, sagte er plötzlich. »Das ist gut«, lachte sie, beugte sich zu ihm hinüber und küßte ihn. Dann betrachtete er sie, und er staunte, weil sie so anders war als andere Frauen, so viel schlanker und von fast knabenhaftem Körperbau. Mit einer Hand fuhr er rasch über ihren Körper, drückte ihr Gesicht in das Kopfkissen und studierte die Linien ihres Rückens, ihres Gesäßes und ihrer Schenkel. Hinreißend. »Du bist so hübsch wie ein Knabe«, sagte er. Sie wollte empört in die Höhe fahren, aber er hielt sie fest wie in 302
einem Schraubstock. »Das ist mir ein schönes Kompliment!« fauchte sie mit halb erstickter Stimme aus dem Kissen heraus. »Man könnte beinahe glauben, dir wären Knaben lieber als Mädchen, Lucius Cornelius!« Sie sagte es in aller Unschuld und kicherte in das weiche Kissen. »Nun, bis ich dich getroffen habe, war das wohl auch so«, sagte er. »Dummkopf!« lachte sie und hielt seine Bemerkung für einen gelungenen Scherz. Dann machte sie sich los, kletterte auf ihn, setzte sich rittlings auf seine Brust und drückte seine Arme mit den Knien nieder. »Dafür darfst du jetzt meine süße Muschel ganz aus der Nähe anschauen. Und dann sag mir, ob sie irgendeine Ähnlichkeit mit einem harten, spitzen Speer hat.« »Nur anschauen?« fragte er und zog sie hoch an seinen Hals. »Ein Knabe!« Die Idee erheiterte sie noch immer. »Du bist ein Dummkopf, Lucius Cornelius!« Und dann vergaß sie es wieder über der entzückenden Entdeckung neuer Wonnen.
Die Versammlung der Plebs wählte Sulla dann auch wirklich zum Quästor, und obwohl sein Amtsjahr erst am fünften Tag des Dezembers begann — und er zudem, wie alle persönlichen Quästoren, erst im neuen Jahr anfangen konnte, wenn sein Vorgesetzter das Amt antrat —, fand sich Sulla am Tag nach der Wahl in Marius’ Haus ein. Es war schon November, und zum Glück wurde es erst spät hell. Sulla war dafür sehr dankbar, denn die ausschweifenden Liebesnächte mit Julilla machten ihm das Aufstehen schwerer als früher. Aber er wußte, daß er vor Sonnenaufgang bei Marius erscheinen mußte. Als Marius’ persönlicher Quästor hatte Sulla bestimmte Pflichten und konnte seine Zeit nicht nach Gutdünken verbringen. Zwar ergab sich aus dem Quästorenamt kein traditioneller Klientenstatus auf Lebenszeit, wohl aber war Sulla jetzt formal Marius’ Klient, solange er das Amt innehatte, und dies würde solange der Fall sein, wie Marius sein imperium behielt, aller 303
Voraussicht nach länger als ein Kalenderjahr. Ein Klient lag nicht bis in den Morgen hinein mit seiner frisch angetrauten Ehefrau im Bett, ein Klient stellte sich im Hause seines Patrons ein, wenn das erste Licht den Horizont heller färbte, und stand dort zu Diensten. An manchen Tagen wurde er höflich wieder nach Hause geschickt, an anderen Tagen wurde er gebeten, seinen Patron zum Forum Romanum oder zu einer der 9 Basiliken zu begleiten und ihm bei der Abwicklung privater oder öffentlicher Angelegenheiten behilflich zu sein, und manchmal erhielt er den Auftrag, für seinen Patron irgend etwas zu erledigen. Zwar kam Sulla nicht so spät, daß er einen Tadel verdient hätte, aber das riesige Atrium in Marius’ Haus war schon dicht mit Klienten gefüllt, die vor ihm zur Stelle gewesen waren. Sulla kam zu dem Schluß, daß manche von ihnen sogar auf der Straße vor Marius’ Tür geschlafen haben mußten, denn normalerweise wurden sie in der Reihenfolge vorgelassen, in der sie eingetroffen waren. Seufzend verzog sich Sulla in eine stille Ecke und richtete sich auf eine lange Wartezeit ein. Manche großen Männer beschäftigten Sekretäre und nomenclatores, die den morgendlichen Fang an Klienten sortierten. Die kleinen Fische schickten sie sofort wieder weg und nur die dicken und interessanten Fische ließen sie zu dem großen Mann vor. Aber Gaius Marius sortierte seinen Fang selber, wie Sulla anerkennend feststellte, ein Helfer war nirgendwo zu sehen. Dieser große Mann, ein bereits zum Konsul Gewählter, der deshalb für viele in Rom ungeheuer wichtig war, tat seine schmutzige Arbeit ruhig und rasch. Er trennte die Bedürftigen mit größerer Treffsicherheit von den Pflichtschuldigen als jeder Sekretär. Innerhalb von zwanzig Minuten waren die vierhundert Männer, die sich im Atrium drängten und bis in den Säulengang des Peristyls hinein standen, sortiert und geordnet. Über die Hälfte von ihnen ging zufrieden weg, jeder Freigelassene und jeder freie Klient aus niedriger Stellung nahm eine kleine Gabe mit, die ihm ein lächelnder Marius mit entschuldigender Geste in die Hand gedrückt hatte. Er mag ein homo novus sein, dachte Sulla, und er mag ein 304
italischer Bauer sein, aber er weiß sich zu benehmen. Kein Fabius und kein Aemilius hätte die Rolle des Patrons besser spielen können. Es war nicht nötig, die Klienten großzügig zu beschenken, wenn sie nicht ausdrücklich darum baten, und auch dann lag es im Ermessen des Patrons, nein zu sagen. Aber Sulla sah an der Haltung derer, die warteten, bis sie an die Reihe kamen, während der künftige Konsul von einem Mann zum anderen ging, daß Marius immer großzügig war. Gleichzeitig gab er stillschweigend zu verstehen, daß jemand, der nur gierig war, bei ihm nichts zu lachen hatte. »Lucius Cornelius, du brauchst doch nicht hier draußen zu warten!« sagte Marius, als er in Sullas Ecke ankam. »Geh in mein Arbeitszimmer, setz dich hin und mach es dir gemütlich. Ich komme bald nach, dann können wir miteinander reden.« »Aber nein, Gaius Marius«, sagte Sulla und lächelte mit geschlossenen Lippen. »Ich bin hier, um dir meine Dienste als neuer Quästor anzubieten und warte gern, bis ich an der Reihe bin.« »Dann warte in meinem Arbeitszimmer, bis du an der Reihe bist. Wenn du deine Aufgaben als mein Quästor ordentlich erfüllen willst, dann solltest du als erstes lernen, wie ich meine Geschäfte erledige«, sagte Marius, legte Sulla die Hand auf die Schulter und schob ihn zum tablinum. Es dauerte drei Stunden, bis die Anliegen des Klientenschwarms geduldig, aber zügig durchgesprochen waren. Die Bitten reichten vom Wunsch nach Beistand bis zu dem Gesuch, unter den ersten berücksichtigt zu werden, sobald Numidien wieder für römische und italische Geschäftsleute zugänglich sein würde. Von einem Klienten verlangte man keine Gegenleistung, aber es galt die unausgesprochene Regel: Halte dich bereit für alles, was dein Patron von dir verlangt, und zwar zu jeder Zeit, sei es morgen oder erst in zwanzig Jahren. »Gaius Marius«, sagte Sulla, als der letzte Klient gegangen war, »das Kommando von Quintus Caecilius Metellus in Africa wurde doch bereits für das nächste Jahr verlängert. Wie kannst du da deinen Klienten versprechen, daß sie wieder Handel in Numidien 305
treiben können?« Marius sah nachdenklich vor sich hin. »Ja, das stimmt natürlich, Quintus Caecilius hat Africa tatsächlich für nächstes Jahr in der Tasche, oder etwa doch nicht?« Da dies offenkundig eine rhetorische Frage war, suchte Sulla erst gar nicht nach einer Antwort, sondern saß einfach da und staunte, wie Marius’ Gehirn arbeitete. Kein Wunder, daß er es bis zum Konsul gebracht hatte! »Nun, Lucius Cornelius, ich habe über das Problem nachgedacht, daß Quintus Caecilius in Africa ist, und es ist durchaus lösbar.« »Aber der Senat wird Quintus Caecilius nie und nimmer durch dich ersetzen«, wagte Sulla einzuwenden. »Ich kenne mich noch nicht gut aus mit den politischen Feinheiten im Senat, aber ich habe immerhin schon mitbekommen, wie unbeliebt du bei den führenden Senatoren bist, und diese Strömung erscheint mir viel zu stark, als daß du dagegen ankommen könntest.« »Sehr wahr«, sagte Marius und lächelte noch immer freundlich. »Ich bin ein italischer Bauer ohne Griechischkenntnisse — um Metellus zu zitieren, den ich stets Schweinebacke nenne, wie du besser wissen solltest — und nicht würdig, auf dem Elfenbeinstuhl des Konsuls zu sitzen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, daß ich schon fünfzig bin — viel zu alt für das Konsulat und viel zu alt für große militärische Kommandos. Im Senat stehen die Zeichen gegen mich. Aber das war schon immer so, weißt du. Und doch — hier bin ich, Konsul mit fünfzig Jahren! Ein bißchen rätselhaft, nicht wahr, Lucius Cornelius?« Sulla grinste und fletschte diesmal ungeniert die Zähne, aber Marius schien das nicht zu erschüttern. »Ja schon, Gaius Marius.« Marius beugte sich in seinem Stuhl nach vorn und faltete seine schönen Hände auf der herrlichen grünen Steinplatte seines Schreibtisches. »Lucius Cornelius, vor vielen Jahren habe ich entdeckt, daß es verschiedene Methoden gibt, ein Wild zu stellen. Während andere den cursus honorum ohne Atempause durchliefen, trat ich auf der Stelle. Aber die Zeit war nicht verschwendet. Ich habe sie 306
damit verbracht, sämtliche Methoden aufzulisten, wie man das Wild stellt. Und ich habe andere, ebenso lohnende Dinge betrieben. Weißt du, wenn man über die Zeit hinaus warten muß, zu der man eigentlich an der Reihe wäre, dann beobachtet man, man wägt ab und setzt Mosaiksteinchen zusammen. Ich war nie ein großer Rechtsgelehrter, nie ein Experte für unsere ungeschriebene Verfassung. Während Metellus Schweinebacke hinter Cassius Ravilla her durch die Gerichtshöfe zog und lernte, wie man die Verurteilung einer Vestalischen Jungfrau erwirken kann — das meine ich natürlich nur metaphorisch —, war ich Soldat. Und ich bin Soldat geblieben. Dieses Handwerk beherrsche ich am besten. Und doch kann ich mich damit brüsten, daß ich inzwischen mehr über das Gesetz und die Verfassung gelernt habe als fünfzig von der Sorte eines Metellus Schweinebacke. Ich sehe mir die Dinge von außen an, mein Denken wurde nicht durch eine Ausbildung in vorgezeichnete Bahnen gelenkt. Und ich sage dir jetzt, daß ich Quintus Caecilius Metellus Schweinebacke vom hohen Roß seines africanischen Kommandos stürzen und seine Stelle einnehmen werde.« »Ich glaube dir«, sagte Sulla und holte Luft. »Aber wie?« »In puncto Recht sind sie alle Einfaltspinsel«, sagte Marius verächtlich, »und deswegen werde ich mein Ziel erreichen. Es ist von jeher Brauch, daß der Senat die Statthalterschaften vergibt, und es ist noch nie jemandem in den Sinn gekommen, daß Senatsbeschlüsse genaugenommen keine Gesetzeskraft haben. Zwar wissen sie alle darum, wie man leicht zeigen kann, wenn man sie die Gesetze herunterrattern läßt. Aber wirklich zur Kenntnis genommen haben sie diese Tatsache nie, nicht einmal nach der Lektion, die ihnen die Gracchen erteilt haben. Senatsbeschlüsse haben nur die Kraft der Gewohnheit, der Tradition, nicht die Kraft des Gesetzes! Die Versammlung der Plebs macht heute die Gesetze, Lucius Cornelius. Und ich verfüge über erheblich mehr Macht in der Versammlung der Plebs als jeder Caecilius Metellus.« Sulla saß reglos da, ehrfurchtsvoll und ein wenig ängstlich, und beide Gefühle waren ihm vollkommen fremd. Marius’ Scharfsinn 307
war zwar eindrucksvoll, aber nicht das beeindruckte Sulla so sehr. Viel tiefer berührte Sulla die neue Erfahrung, daß ihn ein Mann in einer verletzlichen Lage rückhaltlos ins Vertrauen gezogen hatte. Woher wußte Marius, daß er, Sulla, vertrauenswürdig war? Er hatte noch nie in dem Ruf gestanden, vertrauenswürdig zu sein, und Marius hatte gewiß gründlich Erkundigungen über seinen neuen Quästor eingezogen. Und doch legte Marius jetzt seine zukünftigen Absichten und Pläne ganz offen dar! »Gaius Marius«, brach es aus Sulla heraus, »was sollte mich davon abhalten, von deinem Haus geradewegs zum Haus eines beliebigen Caecilius Metellus zu gehen und diesem Caecilius Metellus alles zu erzählen, was du mir soeben erzählt hast?« »Nichts, Lucius Cornelius«, sagte Marius ungerührt. »Warum weihst du mich dann in all das ein?« »Das ist ganz einfach«, sagte Marius. »Das tue ich, Lucius Cornelius, weil ich dich für einen außerordentlich fähigen und intelligenten Mann halte. Und jeder außerordentlich fähige und intelligente Mann ist außerordentlich gut in der Lage zu erkennen, daß es ganz und gar nicht intelligent ist, auf einen Caecilius Metellus zu setzen, wenn einem ein Gaius Marius die Anregung und den Reiz einiger Jahre interessanter und lohnender Arbeit bietet.« Er holte tief Luft. »So! Habe ich das nicht schön gesagt?« Sulla lachte schallend. »Deine Geheimnisse sind bei mir bestens aufgehoben, Gaius Marius.« »Das weiß ich.« »Und doch möchte ich dir sagen, daß ich mich über dein Vertrauen freue.« »Wir sind Schwäger, Lucius Cornelius. Und wir sind durch mehr miteinander verbunden als durch die Caesaren aus dem Hause der Julier. Wir haben noch etwas gemeinsam. Glück.« »Ah, Glück!« »Glück ist ein Zeichen, Lucius Cornelius. Glück zu haben heißt, ein Liebling der Götter zu sein. Glück zu haben heißt, ein Auserwählter zu sein.« Und Marius schaute seinen neuen Quästor hochzufrieden an. »Ich bin ein Auserwählter. Und ich habe dich 308
gewählt, weil ich glaube, daß auch du auserwählt bist. Wir sind wichtig für Rom, Lucius Cornelius. Wir werden beide Rom unseren Stempel aufdrücken.« »Das glaube ich auch«, sagte Sulla. »Na dann... In einem Monat haben wir neue Volkstribunen. Wenn sie erst einmal eingesetzt sind, werde ich einen Vorstoß bezüglich Africa unternehmen.« »Du wirst mit Hilfe der Versammlung der Plebs ein Gesetz durchbringen, das den Senatsbeschluß aufhebt, der Metellus Schweinebacke ein weiteres Jahr in Africa gibt«, sagte Sulla ohne Zögern. »Genau das werde ich«, bestätigte Marius. »Aber ist das wirklich rechtmäßig? Wird man ein solches Gesetz dulden?« fragte Sulla. Im stillen bewunderte er, wie ein überaus intelligenter homo novus, der nicht an Sitte und Brauchtum gebunden war, das ganze System auf den Kopf stellen konnte. »Es steht nicht auf den Tafeln, daß es illegal ist, warum sollte man es also nicht machen können? Ich habe den brennenden Wunsch, den Senat zu schwächen, und das läßt sich am wirksamsten erreichen, wenn man diese traditionelle Autorität untergräbt. Und wie? Indem man seine traditionelle Autorität durch Gesetze außer Kraft setzt. Indem man einen Präzedenzfall schafft.« »Warum ist es so wichtig, daß du den Oberbefehl in Africa bekommst?« fragte Sulla. »Die Germanen sind schon bis Tolosa vorgedrungen, und sie sind viel wichtiger als Jugurtha. Irgend jemand wird nächstes Jahr nach Gallien gehen und gegen sie kämpfen müssen, und mir wäre es viel lieber, wenn du dieser Jemand wärest und nicht Lucius Cassius.« »Diese Chance werde ich nicht bekommen«, sagte Marius mit Nachdruck. »Unser geschätzter Kollege Lucius Cassius ist der erste Konsul, und er möchte den Oberbefehl in Gallien gegen die Germanen haben. Außerdem ist der Oberbefehl gegen Jugurtha unerläßlich für mein politisches Überleben. Ich habe mich dazu entschlossen, die Interessen der Ritter zu vertreten, sowohl in der Provinz Africa als auch in Numidien. Und das heißt, daß ich in 309
Africa sein muß, wenn der Krieg zu Ende geht, damit ich sicherstellen kann, daß meinen Klienten all die Zugeständnisse erfüllt werden, die ich ihnen versprochen habe. Es wird in Numidien nicht nur riesige Flächen von hervorragendem Ackerland für Getreideanbau zu verteilen geben, vor kurzem wurde außerdem ein einzigartiger, erstklassiger Marmor entdeckt sowie große Kupfervorräte. Weiterhin gibt es in Numidien zwei sehr seltene Sorten Edelsteine und viel Gold. Und seit Jugurtha König geworden ist, hat Rom keinerlei Anteil an all dem gehabt.« »Also gut, dann wird es Africa«, sagte Sulla. »Was kann ich dazu beitragen?« »Lernen, Lucius Cornelius, lernen! Ich werde einen Stab von Offizieren brauchen, die mehr als nur loyal sind. Ich will Männer, die aus eigener Initiative handeln können, ohne meinen großen Plan zu zerstören — Männer, die mit ihrer eigenen Fähigkeit und Tüchtigkeit mitwirken und nicht an meinen Kräften zehren. Es macht mir nichts aus, die Lorbeeren zu teilen, es gibt eine Menge Lorbeeren und Ruhm zu ernten, wenn die Dinge gut laufen und die Legionen Gelegenheit haben, zu zeigen, was sie können.« »Aber ich bin ein blutiger Anfänger, Gaius Marius.« »Das weiß ich«, sagte Marius. »Aber wie ich dir schon sagte, glaube ich, daß in dir Großes steckt. Bleib bei mir, sei mir treu und arbeite hart, dann werde ich dir jede Möglichkeit geben zu beweisen, was in dir steckt. Du beginnst spät, genau wie ich. Aber es ist niemals zu spät. Ich bin endlich Konsul geworden, acht Jahre nach der üblichen Zeit. Du bist endlich im Senat, drei Jahre nach der üblichen Zeit. Wie ich wirst auch du dich auf dem Weg nach oben auf das Heer verlassen müssen. Ich werde dir auf jede mögliche Weise zur Seite stehen. Dafür erwarte ich, daß du mich genauso unterstützt.« »Das klingt fair, Gaius Marius.« Sulla räusperte sich. »Ich bin dir sehr dankbar.« »Du brauchst dich nicht zu bedanken. Wenn ich nicht überzeugt wäre, daß ich von dir noch viel Gutes zurückbekomme, Lucius Cornelius, dann würdest du jetzt nicht hier sitzen.« Und Marius 310
streckte ihm die Hand hin. »Komm, wir einigen uns darauf, daß es zwischen uns keine Dankbarkeit geben wird! Nur Loyalität und die Kameradschaft unter Soldaten.«
Gaius Marius hatte sich einen Volkstribunen gekauft, und er hatte dabei einen guten Griff getan. Denn Titus Manlius Mancinus verkaufte seine Gunst nicht allein um des Geldes willen. Mancinus wollte als Volkstribun Aufsehen erregen, und je spektakulärer die Angelegenheit, desto besser. Dabei verfolgte er nur ein Ziel: Er wollte der patrizischen Familie Manlius, der er nicht angehörte, jedes nur mögliche Hindernis in den Weg legen. Und er merkte schnell, daß sein Haß auf die Familie Manlius sich leicht auf alle anderen großen aristokratischen Familien ausdehnen ließ, einschließlich der Familie Caecilius Metellus. Daher konnte er Marius’ Geld mit reinem Gewissen annehmen und sich mit eifriger Vorfreude für Marius’ Pläne einsetzen. Die zehn neuen Volkstribunen traten am dritten Tag vor den Iden des Dezembers ihr Amt an, und Titus Manlius Mancius verlor keine Zeit. Noch am selben Tag brachte er einen Gesetzentwurf in die Versammlung der Plebs ein, der besagte, daß der Oberbefehl in Africa von Quintus Caecilius Metellus auf Gaius Marius übertragen werden sollte. »Die Herrschaft liegt beim Volk!« schrie Mancinus in die Menge. »Der Senat ist Diener des Volkes, nicht Herr des Volkes! Wenn der Senat seine Pflichten mit dem angemessenen Respekt für das Volk von Rom erfüllt, dann darf er selbstverständlich weitermachen. Aber wenn der Senat seine Pflichten so erfüllt, daß seine eigenen führenden Mitglieder auf Kosten des Volkes von Rom geschützt werden, dann muß man ihm Einhalt gebieten. Quintus Caecilius Metellus hat seinen Oberbefehl nachweislich schlecht ausgeübt, und er hat nicht das Allergeringste erreicht! Warum hat dann der Senat sein Kommando noch ein zweites Mal verlängert und auf das kommende Jahr ausgedehnt? Weil, Volk von Rom, der Senat wie üblich seine eigenen führenden Leute auf Kosten des 311
Volkes schützt. In Gaius Marius, der ordnungsgemäß zum Konsul gewählt wurde, hat das Volk von Rom einen Führer, der diesen Namen auch verdient. Aber nach Meinung der Männer, die im Senat das Sagen haben, ist der Name Gaius Marius nicht gut genug! Gaius Marius, oh Volk von Rom, ist nur ein homo novus — ein Emporkömmling, ein Nichts, kein Adliger!« Die Menge lag ihm zu Füßen. Mancinus war ein guter Redner und kämpfte leidenschaftlich gegen die Arroganz bestimmter Senatoren. Es war schon eine Welle her, daß die Plebejer dem Senat zum letzten Mal ein Schnippchen geschlagen hatten, und viele der nicht gewählten, aber einflußreichen Führer der Plebs fürchteten, daß sie ihren Einfluß auf die Politik Roms allmählich einbüßen könnten. An diesem Tag und in diesem historischen Augenblick sprach alles für Marius — die Stimmung in der Öffentlichkeit, der Unmut der Ritter und die zehn Volkstribunen, die dem Senat unbedingt Steine in den Weg legen wollten. Keiner der Volkstribunen stand auf der Seite des Senats. Der Senat setzte sich zur Wehr. Die besten Redner plebejischer Herkunft marschierten auf und sprachen in der Versammlung der Plebs, darunter auch der Pontifex Maximus Lucius Caecilius Metellus Delmaticus — der seinen jüngeren Bruder Schweinebacke glühend verteidigte — und der neugewählte erste Konsul Lucius Cassius Longinus. Aber Marcus Aemilius Scaurus, der vielleicht als Zünglein an der Waage dem Senat zum Sieg verholfen hätte, war ein Patrizier und konnte darum nicht in der Versammlung der Plebejer sprechen. Scaurus mußte sich damit begnügen, von der Treppe vor dem Senatsgebäude auf die brechend vollen Ränge des offenen Rundbaus hinunterzuschauen, in dem die Plebs sich versammelt hatte, und ohnmächtig zuzuhören. »Sie werden uns schlagen«, sagte er zum Zensor Fabius Maximus Eburnus, der ebenfalls Patrizier war. »Dieser verdammte Gaius Marius!« Und Marius gewann. Durch seine gnadenlose Briefkampagne war es ihm gelungen, die Ritter und die mittleren Stände von Metellus abzubringen. Metellus’ Name war befleckt, seine politi312
sche Macht zerstört. Natürlich würde er sich im Laufe der Zeit erholen, seine Familie und seine Verbindungen waren zu einflußreich. Aber im Augenblick wollte ihm die Versammlung der Plebs, geschickt geführt von Mancinus, den Oberbefehl in Africa abnehmen, und sein Name war schmutziger als der Schweinestall von Numantia. Das römische Volk verabschiedete ein Gesetz, mit dem ein Präzedenzfall geschaffen wurde. Dieses Gesetz ersetzte Metellus durch Gaius Marius, der namentlich genannt wurde. Und als das Gesetz — genaugenommen ein Plebiszit — erst einmal auf den Tafeln festgehalten war, lag es im Archiv eines Tempels, Beispiel und Vorbild für andere, die in Zukunft dasselbe versuchen würden — andere, die vielleicht weder die Fähigkeiten eines Gaius Marius besaßen, noch seine ausgezeichneten Gründe hatten. »Aber«, sagte Marius zu Sulla, sobald das Gesetz verabschiedet war, »Metellus wird mir nie und nimmer seine Soldaten überlassen.« Ach, was mußte er noch alles lernen, wie viele Dinge, die er als patrizischer Cornelius hätte wissen müssen und die er doch nicht wußte? Manchmal zweifelte Sulla, ob er jemals genug würde lernen können, aber dann dachte er daran, welches Glück es war, daß er unter Gaius Marius diente, und faßte wieder Mut. Denn Marius hatte immer für ihn Zeit, erklärte ihm Zusammenhänge und kreidete ihm seine Unwissenheit nicht an. Und so nutzte Sulla die Gelegenheit, sein Wissen zu erweitern, und fragte: »Aber gehören die Soldaten nicht zum Krieg gegen König Jugurtha? Sollen sie nicht so lange in Africa bleiben, bis der Krieg gewonnen ist?« »Sie könnten in Africa bleiben — aber nur, wenn Metellus einverstanden ist. Er müßte den Leuten verkünden, daß sie sich für die Dauer des Feldzuges eingeschrieben haben und daß sein Rücktritt vom Oberbefehl daran nichts ändert. Aber er kann sich ebensogut auf den Standpunkt stellen, die Soldaten kraft seines Amtes rekrutiert zu haben. In diesem Fall endet ihre Dienstzeit gleichzeitig mit der seinen. Wie ich Metellus kenne, wird er diese Auffassung vertreten. Er wird sie entlassen und sie schnurstracks nach 313
Italien zurückverfrachten.« »Und das heißt, daß du ein neues Heer aufstellen mußt«, sagte Sulla. »So ist das also.« Dann fragte er: »Könntest du nicht warten, bis er sein Heer nach Hause bringt und die Leute dann in deinem Namen neu rekrutieren?« »Das könnte ich«, antwortete Marius, »aber leider werde ich keine Gelegenheit dazu bekommen. Lucius Cassius wird nach Gallien gehen, um in Tolosa gegen die Germanen zu kämpfen. Eine Aufgabe, die erledigt werden muß — wir wollen keine halbe Million Germanen knapp hundert Meilen weit von der Straße nach Spanien und direkt an den Grenzen unserer eigenen Provinz sitzen haben. Deshalb vermute ich, daß Cassius bereits an Metellus geschrieben und ihn gebeten hat, sein Heer für den Feldzug nach Gallien neu zu verpflichten, ehe es Africa überhaupt verläßt.« »Ach, so funktioniert das«, sagte Sulla. »Ja, so funktioniert das. Lucius Cassius ist der erste Konsul, er hat Vorrang vor mir. Folglich hat er auch die erste Wahl bei allen Soldaten, die verfügbar sind. Metellus wird sechs sehr gut ausgebildete und erfahrene Legionen mit nach Italien zurückbringen. Und das werden auch zweifellos die Legionen sein, die Cassius nach Gallia Transalpina mitnimmt. Das heißt, ich muß ganz von vorn anfangen — ich werde gezwungen sein, Leute ohne militärische Vorkenntnisse zu rekrutieren — sie ausbilden, ausstatten und mit Begeisterung für den Krieg gegen Jugurtha erfüllen müssen.« Marius schnitt eine Grimasse. »Das heißt auch, daß mir in meinem ersten Jahr als Konsul nicht genügend Zeit bleiben würde, einen so massiven Angriff gegen Jugurtha zu führen, wie ich ihn führen könnte, wenn mir Metellus seine Truppen übergeben würde. Und das bedeutet wiederum, daß ich dafür sorgen muß, daß mein eigener Oberbefehl in Africa für das folgende Jahr verlängert wird, oder ich werde platt auf den Bauch fallen und am Ende schlechter dastehen als Schweinebacke.« »Und jetzt steht ein Gesetz auf den Tafeln, das einen Präzedenzfall geschaffen hat. Nun kann dir jemand den Oberbefehl auf dieselbe Weise abnehmen, wie du ihn Metellus abgenommen 314
hast.« Sulla seufzte. »Es ist nicht leicht. Ich hätte mir im Traum nicht vorstellen können, wie viele Schwierigkeiten ein Mann überwinden muß, um nur sein eigenes Überleben sicherzustellen, vom Schicksal Roms ganz zu schweigen.« Das erheiterte Marius. Er lachte fröhlich und klopfte Sulla auf den Rücken. »Nein, Lucius Cornelius, es ist niemals leicht. Aber deshalb lohnt sich die Mühe auch! Welcher Mann, der wirklich begabt und tüchtig ist, wünscht sich ehrlichen Herzens einen leichten Weg? Je rauher der Pfad, je mehr Hindernisse den Weg versperren, desto größer ist die Befriedigung.« Das war nur der persönliche Teil der Antwort, Sullas wichtigste Frage war damit nicht gelöst. »Gestern hast du mir gesagt, daß Italien völlig ausgepumpt ist«, sagte er. »Es sind so viele Männer gefallen, daß wir unter den Bürgern von Rom nicht genug Truppen ausheben können und daß bei den italischen Bundesgenossen der Widerstand gegen weitere Aushebungen täglich wächst. Wo willst du genug Leute für vier gute Legionen hernehmen? Du hast ja selbst gesagt, Jugurtha ist nicht mit weniger als vier Legionen zu schlagen.« »Warte ab, bis ich Konsul bin, Lucius Cornelius, dann wirst du schon sehen.« Mehr bekam Sulla aus Marius nicht heraus.
Am Fest der Saturnalien fielen Sullas gute Vorsätze zusammen wie ein Kartenhaus. Solange er noch mit Clitumna und Nikopolis zusammengelebt hatte, war diese Zeit des Feierns und der Lustbarkeiten ein herrlicher Abschluß für das alte Jahr gewesen. Die Sklaven lagen herum und schnippten mit den Fingern, während die beiden Frauen kichernd durch das Haus rannten und die Wünsche der Sklaven erfüllten. Alle tranken zuviel, und Sulla überließ seinen Platz im gemeinsamen Bett bereitwillig jedem Sklaven, der Lust auf Clitumna und Nikopolis hatte — unter der Bedingung, daß er, Sulla, an anderer Stelle im Haus dieselben Privilegien genoß. Und wenn die Saturnalien vorüber waren, kehrten die Herren und die Sklaven wieder zur alten Ordnung zurück, als wäre 315
nichts geschehen. In diesem ersten Jahr seiner Ehe mit Julilla war alles ganz anders. Es wurde von Sulla erwartet, daß er den Tag im Haus nebenan verbrachte, im Kreis der Familie von Gaius Julius Caesar. Auch dort dauerte das Fest die üblichen drei Tage, und alles stand auf dem Kopf — die Sklaven wurden von ihrer Herrschaft bedient, man tauschte kleine Geschenke aus, besonders köstliche Speisen und Getränke wurden in reichlichen Mengen bereitgestellt. Aber im Grunde änderte sich nichts. Die armen Sklaven lagen so steif wie Statuen auf ihren Speiseliegen und lächelten schüchtern Marcia und Caesar an, die zwischen triclinium und Küche hin und her eilten. Niemand wäre im Traum auf die Idee gekommen, sich zu betrinken, und erst recht nicht, irgend etwas zu tun oder zu sagen, was nach dem Fest peinlich gewesen wäre. Gaius Marius und Julia waren ebenfalls da und offensichtlich in bester Laune. Aber Gaius Marius wollte ja unbedingt ein richtiger Patrizier sein, dachte Sulla aufgebracht, da würde er schon keinen Fehltritt riskieren. »Ich habe mich prächtig amüsiert«, sagte Sulla, als er und Julilla sich am letzten Abend verabschiedeten. Er war inzwischen so vorsichtig geworden, daß niemand, nicht einmal Julilla, bemerkte, daß er die Bemerkung sarkastisch gemeint hatte. »Es war gar nicht so schlecht«, sagte Julilla, als sie Sulla in ihr eigenes Haus folgte, wo die Sklaven, anstatt von ihrem Herrn und ihrer Herrin bedient zu werden, einfach drei Tage frei bekommen hatten. »Es freut mich, daß es dir gefallen hat«, sagte Sulla und verriegelte das Tor. Julilla seufzte und streckte sich. »Und morgen ist das Abendessen für Crassus Orator. Ich muß sagen, ich freue mich darauf.« Sulla blieb mitten im Atrium stehen, drehte sich um und starrte sie an. »Du bleibst zu Hause«, sagte er. »Was soll das heißen?« »Was ich gesagt habe.« »Aber — aber — ich dachte, die Frauen wären auch eingela316
den!« rief sie, und ihr Gesicht zuckte verdächtig. »Manche Frauen«, sagte Sulla. »Du nicht.« »Ich will aber mit! Alle reden davon, alle meine Freundinnen sind neidisch — ich habe ihnen schon gesagt, daß ich hingehe!« »Dein Pech. Du kommst nicht mit, Julilla.« Einer der Haussklaven schwankte ihnen betrunken aus der Tür zum Arbeitszimmer entgegen. »Ach, gut daß ihr heimkommt!« lallte er und mußte sich festhalten. »Holt mir mal Wein, aber dalli!« »Die Saturnalien sind vorüber«, sagte Sulla gefährlich leise. »Verschwinde, du Dummkopf.« Der Sklave ging, jäh ernüchtert. »Warum bist du so miserabel gelaunt?« fragte Julilla, als sie das Schlafzimmer betraten. »Ich bin nicht miserabel gelaunt«, sagte er, stellte sich hinter sie und legte die Arme um ihre Schultern. Sie entzog sich ihm. »Laß mich in Ruhe!« »Was ist denn jetzt los?« »Ich will zu dem Essen für Crassus Orator mitgehen!« »Nein, das geht nicht.« »Aber warum denn nicht?« »Weil es nicht die Art von Fest ist, die dein Vater billigen würde, Julilla«, sagte er geduldig. »Und die paar Frauen, die hingehen, sind auch keine Frauen, die dein Vater billigen würde.« »Ich unterstehe nicht mehr meinem Vater, ich kann alles tun, was ich will«, sagte sie. »Das ist nicht wahr, und das weißt du auch. Du bist von der Hand deines Vaters in meine Hand übergegangen. Und ich sage, daß du nicht mitkommst.« Ohne ein Wort hob Julilla ihre Kleider vom Boden auf und warf ein Gewand über ihren dünnen Körper. Dann drehte sie sich um und verließ das Zimmer. »Ganz wie du willst!« rief Sulla ihr nach. Am Morgen behandelte sie ihn kühl, eine Taktik, die er ignorierte. Als er zu dem Abendessen für Crassus Orator aufbrach, war sie 317
nirgendwo zu finden. »Verwöhntes kleines Luder!« murmelte er vor sich hin. Diese kleine Reiberei hätte ihn eigentlich amüsieren sollen, aber daß sie das nicht tat, war nicht in dem Zwist selbst begründet, sondern kam aus einer tieferen Schicht seines Wesens, in der für Julilla kein Raum war. Er war nicht im geringsten aufgeregt bei der Aussicht, im luxuriösen Palast des Auktionators Quintus Granius zu speisen, der das Essen ausrichtete. Als Sulla die Einladung in Händen hielt, hatte er sich zuerst unbändig gefreut, weil er sie als Freundschaftsangebot eines wichtigen Kreises junger Senatoren verstanden hatte. Dann war ihm der Klatsch über das Fest zu Ohren gekommen, und er begriff, daß man ihn eingeladen hatte, weil über seine Vergangenheit finstere Gerüchte kursierten und weil man den aristokratischen Gästen den Kitzel eines Hauchs von Zwielicht und Verrufenheit bieten wollte. Als er jetzt so vor sich hin stapfte, konnte er zum ersten Mal ermessen, was für eine Falle hinter ihm zugeschnappt war, als er Julilla geheiratet und sich in die Reihen seiner Standesgenossen eingegliedert hatte. Denn es war eine Falle. Und er konnte ihr nicht entrinnen, solange er in Rom lebte. Das war alles gut und recht für Crassus Orator, der so fest im Sattel saß, daß er an einem Fest teilnehmen konnte, bei dem der Gastgeber auf Schritt und Tritt gegen den Luxuserlaß seines eigenen Vaters verstieß. So sicher war er als Mitglied des Senats und neugewählter Volkstribun, daß er sich ruhig vulgär und ungebildet gebärden und die aufdringlichen Schmeicheleien eines Emporkömmlings wie Quintus Granius, des Auktionators, akzeptieren konnte. Als Sulla Quintus Granius’ riesigen Speiseraum betrat, fiel sein Blick sogleich auf Colubra. Sie schenkte ihm über den Rand eines goldenen, mit Juwelen besetzten Bechers hinweg ein verführerisches Lächeln und klopfte einladend auf die Liege neben der ihren. Ich hatte recht, ich bin nur zur Unterhaltung für die Gäste hier, sagte er sich im stillen. Dabei lächelte er Colubra strahlend zu und überließ sich der Dienstbarkeit einer Schar unterwürfiger Sklaven. Das hier war keine Angelegenheit im kleinen Kreis! Der 318
Speiseraum war mit Liegen angefüllt — sechzig Gäste würden zu Tische liegen, um den neuen Volkstribunen Crassus Orator zu feiern. Aber, dachte Sulla verächtlich, als er sich neben Colubra niederließ, Quintus Granius hat nicht die leiseste Ahnung, wie man ein richtiges Fest aufzieht. Als er sechs Stunden später wieder ging — alle anderen Gäste blieben noch da —, war er stockbetrunken. Statt wie vorher sein Los anzunehmen, war er in die tiefsten Tiefen einer schweren Depression versunken. Dabei hatte er immer gedacht, diese Art Depression würde er nie mehr erleben, wenn er erst einmal zu seinem rechtmäßigen Rang aufgestiegen war. Er war enttäuscht, ohnmächtig — und, so erkannte er schlagartig, unerträglich einsam. Von seinem Herzen bis zu seinem Kopf und seinen Händen und Füßen hungerte er nach freundlicher und liebevoller Gesellschaft, nach einem Menschen, mit dem er lachen konnte, einem Menschen, der keine selbstsüchtigen Hintergedanken hatte, einem Menschen, der ganz ihm gehörte. Nach einem Menschen mit schwarzen Augen und schwarzen Locken und dem hübschesten Hintern der Welt. Bei diesem Gedanken ging er mit beflügeltem Schritt weiter, den ganzen Weg bis zur Wohnung des Schauspielers Skylax, ohne auch nur einen Augenblick daran zu denken, wie gefährlich dieser Weg war, wie unklug, wie töricht, ihm war es gleich! Denn Skylax würde dasein, er würde mit Skylax am Tisch sitzen und einen Becher verdünnten Wein trinken und banale Bemerkungen austauschen und seine Augen voll Wohlgefallen auf dem Knaben ruhen lassen. Niemand würde ihm einen Vorwurf machen können. Ein unschuldiger Besuch, nichts weiter. Aber Fortuna blieb ihm auch weiterhin treu. Metrobius war allein zu Hause, zur Strafe zurückgelassen, während Skylax Freunde in Antium besuchte. Metrobius langweilte sich tödlich und war überglücklich, Sulla zu sehen! So voller Liebe, Leidenschaft, Hunger, Kummer. Und nachdem ihr Hunger und ihre Leidenschaft gestillt waren, zog Sulla den Knaben auf seinen Schoß, umarmte ihn und weinte beinahe. 319
»Ich habe zu lange in dieser Welt gelebt«, sagte er. »Oh ihr Götter, wie ich dich vermisse!« »Und wie ich dich vermisse!« sagte der Knabe und schmiegte sich an Sulla. Es wurde still. Metrobius fühlte an seiner Wange, wie Sulla hart schluckte, er sehnte sich danach, Sullas Tränen zu spüren. Aber Tränen würde er nicht spüren, das wußte er. »Was ist los, liebster Lucius Cornelius?« fragte er. »Ich langweile mich«, sagte Sulla sehr ruhig. »Diese Leute da oben sind solche Heuchler, so schrecklich fad! Gute Sitten und gute Manieren bei jeder öffentlichen Gelegenheit, und dann heimlich schmutzige Vergnügen, wenn sie glauben, daß niemand sie beobachtet — ich kann heute abend meine Verachtung nur schwer verbergen.« »Ich dachte, du würdest glücklich werden da oben«, sagte Metrobius sichtlich erfreut. »Das dachte ich auch«, sagte Sulla bitter und schwieg wieder. »Warum bist du heute abend gekommen?« »Ach, ich war auf einem Fest.« »War es nicht schön?« »Nicht für deine oder meine Begriffe, mein Goldjunge. Für ihre Begriffe war es ein großer Erfolg. Aber ich hätte die ganze Zeit lachen können. Und dann, auf dem Heimweg, wurde mir bewußt, daß ich niemanden hatte, der mit mir gelacht hätte. Niemanden!« »Außer mir«, sagte Metrobius und setzte sich aufrecht hin. »Na, willst du mir nichts davon erzählen?« »Du kennst die Familie Licinius Crassus, nicht wahr?« Metrobius betrachtete eingehend seine Fingernägel. »Ich bin ein Kinderstar am Komödientheater«, sagte er. »Was weiß ich über berühmte Familien?« »Die Familie Licinius Crassus hat Rom mit Konsuln und gelegentlich auch mit einem Pontifex Maximus versorgt seit — ach, seit Jahrhunderten! Sie sind unerhört reich und bringen zwei Sorten von Männern hervor — die genügsame und die genußsüchtige Sorte. Der Vater dieses Crassus war von der genügsamen 320
Sorte und ließ das lächerliche Luxusgesetz auf die Tafeln schreiben — du weißt, welches ich meine«, sagte Sulla. »Kein goldenes Geschirr, keine Purpurgewänder, keine Austern, kein importierter Wein — ist es das?« »Genau. Aber Crassus Orator — der sich anscheinend nicht gut mit seinem Vater versteht — liebt den Luxus mehr als alles andere auf der Welt. Und Quintus Granius der Auktionator, braucht Crassus Orator, der doch jetzt Volkstribun ist. Also hat Quintus Granius heute abend ein Fest zu Ehren von Crassus Orator gegeben. Das Motto«, sagte Sulla, nun mit etwas mehr Ausdruck in der Stimme, »hieß: ›Laßt uns die lex Licinia sumptuaria mißachten!‹« »Wurdest du deshalb eingeladen?« fragte Metrobius. »Ich wurde eingeladen, weil es so aussieht, als hielte man mich in den höchsten Kreisen für einen faszinierenden Burschen — hohe Geburt, niedriges Leben. Ich glaube, sie haben gedacht, ich würde mich nackt ausziehen, ein paar schmutzige Gassenhauer grölen und nebenher Colubra bumsen, bis ihr die Puste ausgeht.« »Colubra?« »Colubra.« Metrobius pfiff durch die Zähne. »Du bewegst dich wirklich in gehobenen Kreisen! Ich habe gehört, sie verlangt ein Talent Silber für irrumatio.« »Das mag sein, aber mir hat sie es umsonst angeboten«, sagte Sulla grinsend. »Ich habe abgelehnt.« Metrobius fröstelte. »Ach, Lucius Cornelius, lauf nicht herum und mach dir Feinde, wo du doch jetzt in deiner rechtmäßigen Welt lebst! Frauen wie Colubra haben eine enorme Macht.« Ein Ausdruck des Widerwillens erschien auf Sullas Gesicht. »Quatsch! Ich scheiße auf sie!« »Das würde ihnen wahrscheinlich gefallen«, sagte Metrobius nachdenklich. Damit hatte er es geschafft — Sulla lachte und erzählte seine Geschichte etwas fröhlicher weiter. »Es waren auch ein paar Ehefrauen da — von der abenteuerlustigen Sorte, die ihre Ehemänner halb zu Tode nörgeln —, zwei 321
Claudias und eine Dame mit Maske, die darauf bestand, Aspasia genannt zu werden. Ich habe aber gleich gemerkt, daß sie Crassus Orators Cousine Licinia war — weißt du, die, mit der ich ab und zu mal geschlafen habe.« »Ja, ich weiß schon«, sagte Metrobius ein wenig grimmig. »Alles war vollkommen überladen mit Gold und tyrischem Purpur«, fuhr Sulla fort. »Sogar die Geschirrtücher waren aus purpurroter Seide und mit Gold bestickt! Du hättest sehen sollen, wie der Serviersklave gewartet hat, bis sein Herr wegschaute, und dann schnell ein gewöhnliches Geschirrtuch herauszog, um den Wein aus Chios aufzuwischen, den jemand verschüttet hatte — die Tücher aus Seide mit Gold waren natürlich nur Dekoration.« »Dir war das alles zuwider«, sagte Metrobius verständnisvoll. »Es war mir zutiefst zuwider«, seufzte Sulla und erzählte weiter. »Die Liegen waren mit Perlen bestickt. Stell dir das mal vor! Und die Gäste haben gerupft und gezupft, bis die Liegen kahlgepflückt waren. Dann haben sie die Perlen in eine Ecke der Servietten aus purpurner Seide mit Goldstickerei gelegt und die Ecke sorgfältig verknotet — dabei hätten alle diese Geldsäcke die Ausgabe nicht einmal bemerkt, wenn sie so viele Perlen gekauft hätten, wie sie stahlen.« »Außer dir«, sagte Metrobius sanft und strich das Haar aus Sullas weißer Stirn. »Du hast keine Perlen genommen.« »Lieber wäre ich gestorben«, sagte Sulla. Er zuckte mit den Achseln. »Und außerdem waren es sowieso nur armselige kleine Süßwasserperlen.« Metrobius lachte verschmitzt. »Verdirb nur nicht die Pointe! Ich mag es, wenn du so unerträglich stolz und nobel bist.« Sulla küßte ihn lächelnd. »Bin ich so schlimm?« »Ja, das bist du. Wie war das Essen?« »Fertig angeliefert. Nicht einmal in Granius’ Küche hätte man genug Essen für sechzig — ähm, neunundfünfzig — der gefräßigsten Schlemmer zubereiten können, die ich je gesehen habe. Jedes Hühnerei war extra groß, die meisten hatten zwei Dotter. Dann gab es Schwaneneier, Gänseeier, Enteneier, Eier von Seevögeln 322
und Eier mit vergoldeten Schalen. Gefüllte Zitzen von Mutterschweinen, Truthähne, gemästet mit Honigkuchen, die in bestem Falernerwein getränkt waren — Schnecken, die eigens aus Ligurien geliefert wurden — Austern, die man in schnellen Kutschen aus Baiae gebracht hatte — die Luft war derart geschwängert von den teuersten Pfeffersorten, daß ich einen Niesanfall bekam.« Metrobius spürte, daß Sulla unbedingt sprechen wollte. In was für einer seltsamen Welt mußte er jetzt leben. Diese Welt war wohl ganz anders, als er sie sich vorgestellt hatte, allerdings wußte Metrobius nicht genau, was Sulla sich früher vorgestellt hatte, denn Sulla war nicht redselig, jedenfalls war er es bis heute abend nicht gewesen. Und jetzt das, aus heiterem Himmel! Metrobius hatte sich damit abgefunden, dieses geliebte Gesicht nie mehr zu sehen, außer vielleicht von ferne. Und dann hatte Sulla plötzlich vor der Tür gestanden und einfach entsetzlich ausgesehen. Und liebesbedürftig. »Was gab es noch?« fragte Metrobius, damit sein Gast weitererzählte. Eine rotgoldene Braue zog sich in die Höhe, die dunkle Färbung mit stibium war längst dahin. »Das Beste sollte erst noch kommen, wie sich herausstellte. Sie brachten es auf Schulterhöhe herein, auf einem Kissen aus tyrischem Purpur in einer mit Edelsteinen besetzten goldenen Schüssel: einen riesigen Fisch aus dem Tiber, dessen starre Augen wie die einer geprügelten Bulldogge blickten. Sie trugen ihn mehrmals im Kreis um den ganzen Raum herum, mit mehr Feierlichkeit, als den zwölf Göttern bei einem lectisternium zuteil wird. Einen Fisch!« Metrobius runzelte die Stirn. »Was für ein Fisch war es?« Sulla legte den Kopf zurück und schaute Metrobius ins Gesicht. »Ein Barsch aus der Kanalisation. So etwas kennst du doch!« »Ich weiß nicht, ich kann mich nicht daran erinnern.« Sulla dachte nach, entspannte sich. »Na, vielleicht kennst du es wirklich nicht. Einen solchen Fisch gibt es auf Schauspielerfesten bestimmt nie und nimmer. Ich will dir nur soviel sagen, Metrobius, daß jeder Dummkopf von Feinschmecker in den höheren Kreisen von Rom schon allein bei dem Gedanken an einen Barsch aus der 323
Mündung der Kanalisation vor Entzücken fast in Ohnmacht fällt. Dabei schwimmen sie zwischen der Hölzernen Brücke und dem Pons Aemilius zu Tausenden herum und baden ihre schuppigen Leiber in der Fracht der Abwasserkanäle. Sie sind so vollgefressen von Roms Fäkalien, daß sie Köder verschmähen. Sie riechen nach Kot, und sie schmecken nach Kot, und wenn du sie ißt, ißt du Kot. Das ist meine Meinung. Aber Quintus Granius und Crassus Orator schwelgten und schwärmten, als hätten sie nicht einen kotfressenden Flußbarsch aus dem Tiber vor sich, sondern Nektar und Ambrosia!« Metrobius konnte sich nicht mehr halten und würgte laut. »Gut gesagt!« rief Sulla und lachte. »Ach, wenn du sie nur gesehen hättest, diese aufgeblasenen Trottel! Sie feierten sich als die Besten und Feinsten von Rom, und dabei lief ihnen Roms Abwasser über das Kinn...« Sulla hielt inne und sog scharf die Luft ein. »Ich kann es nicht mehr ertragen. Keinen Tag mehr, keine Stunde.« Er hielt wieder inne. »Ich bin betrunken. Es waren diese schrecklichen Saturnalien.« »Wieso schreckliche Saturnalien?« »Langweilig — schrecklich — das ist egal. Eine andere Sorte Oberschicht als die Festgäste von Crassus Orator, aber genauso schlimm. Langweilig, langweilig, langweilig!« Er zuckte die Achseln. »Mach dir nichts daraus. Nächstes Jahr bin ich in Numidien und habe etwas, woran ich mir die Zähne ausbeißen kann. Ich kann es kaum erwarten! Rom ohne dich — ohne meine alten Freunde — ich kann es nicht ertragen.« Ein Schauder überlief ihn. »Ich bin betrunken, Metrobius. Und ich sollte nicht hier sein. Aber wenn du wüßtest, wie gut es mir tut, hier zu sein!« »Ich weiß nur, wie gut es mir tut, dich hier zu haben«, sagte Metrobius laut. »Du bist im Stimmbruch«, sagte Sulla überrascht. »Es ist auch an der Zeit. Ich bin siebzehn, Lucius Cornelius. Zum Glück bin ich klein für mein Alter, und Skylax hat mir beigebracht, wie ich meine Stimme oben halten kann. Aber inzwischen vergesse ich es manchmal. Es ist schwierig zu kontrollieren. 324
Ich muß mich auch bald rasieren.« »Siebzehn!« Metrobius glitt von Sullas Schoß, stellte sich vor ihn hin und sah ernst auf ihn hinunter, dann streckte er die Hand aus. »Komm! Bleib noch ein bißchen bei mir. Du kommst rechtzeitig nach Hause, bevor es hell wird.« Widerwillig stand Sulla auf. »Ich bleibe«, sagte er, »diesmal bleibe ich. Aber ich komme nicht wieder.« »Ich weiß«, sagte Metrobius und zog Sullas Arm über seine Schultern, »nächstes Jahr bist du in Numidien, und du wirst glücklich sein.«
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Das vierte Jahr (107 v. Chr.)
Unter den Konsuln Lucius Cassius Longinus und Gaius Marius (I)
Wohl noch keinem Konsul hatte das Amt so viel bedeutet, wie das erste Konsulat Gaius Marius bedeutete. Als er am Neujahrstag zur Amtsübergabe schritt, tat er dies in dem beruhigenden Wissen, daß er vorschriftsgemäß die ganze Nacht nach Omen Ausschau gehalten hatte, und sein weißer Stier hatte das mit Betäubungsmitteln versetzte Futter bereitwillig gefressen. Jetzt stand Marius, seiner Würde bewußt und bereits jeder Zoll der Konsul, aufrecht in der frischen Luft des heraufziehenden wolkenlosen Tages. Eindrucksvoll hob sich seine hochgewachsene Gestalt von den Umstehenden ab. Der erste Konsul Lucius Cassius Longinus, ein kleiner, feister Mann, sah in seiner Toga wenig beeindruckend aus und wurde von dem zweiten Konsul vollkommen in den Schatten gestellt. Und Lucius Cornelius Sulla war endlich Senator geworden. Mit dem breiten Purpurstreifen auf der rechten Schulter seiner Tunika stand er, der Quästor, neben seinem Konsul. Obwohl Marius die fasces, die durch karmesinrote Bänder zusammengehaltenen Rutenbündel, im Monat Januar nicht führte — sie wurden bis zu den Kalenden des Februars dem ersten Konsul Cassius vorangetragen —, berief er am folgenden Tag den Senat zu einer Sitzung ein. Fast alle Senatoren kamen, denn sie trauten Marius nicht. »Senatoren«, begann Marius, »Rom führt gegenwärtig an mindestens drei Fronten Krieg, Spanien nicht mitgerechnet. Wir brauchen Armeen, um gegen König Jugurtha zu kämpfen, gegen die Skordisker in Makedonien und gegen die Germanen in Gallien. In 327
den fünfzehn Jahren seit dem Tod von Gaius Gracchus haben wir aber auf den verschiedenen Schlachtfeldern sechzigtausend römische Soldaten verloren. Tausende Soldaten taugen nicht mehr für den Dienst in der Armee. Ich wiederhole es, eingeschriebene Väter des Senats: fünfzehn Jahre. Nicht einmal eine halbe Generation.« In der Curia war es totenstill. Unter den Senatoren saß Marcus Junius Silanus, der erst vor knapp zwei Jahren über zwanzigtausend Soldaten verloren hatte, ein Drittel der Gesamtverluste. Der Hochverratsprozeß gegen ihn war noch nicht abgeschlossen. Noch nie hatte jemand gewagt, die Zahl der insgesamt gefallenen Soldaten im Senat auszusprechen, aber alle Anwesenden wußten, daß Marius eher zu vorsichtig geschätzt hatte. Sie waren wie betäubt von den Zahlen. »Wir können die Reihen unserer Armeen nicht mehr auffüllen«, fuhr Marius fort. »Aus einem einfachen Grund: Wir haben nicht mehr genügend Männer. Schon der Mangel an römischen Bürgern und Männern latinischen Rechts ist erschreckend, aber der Mangel an Männern unserer italischen Bundesgenossen ist noch viel schlimmer. Auch wenn wir in jedem Bezirk südlich des Arno Truppen ausheben, bekommen wir nicht annähernd so viele Soldaten zusammen, wie wir dieses Jahr im Feld brauchen. Unsere africanische Armee unter Quintus Caecilius Metellus besteht aus sechs gut ausgebildeten und ausgerüsteten Legionen. Ich nehme an, sie wird nach ihrer Rückkehr aus Africa von meinem geschätzten Kollegen Lucius Cassius übernommen und im fernen Gallien gegen die Tolosater eingesetzt. Auch die makedonischen Legionen sind gut ausgerüstet und bestehen aus erfahrenen Soldaten. Sie werden, davon bin ich überzeugt, unter Marcus Minucius und seinem jüngeren Bruder weiterhin gute Arbeit leisten.« Marius machte eine Pause, um Atem zu holen. Die Senatoren hingen an seinen Lippen. »Bleibt das Problem einer neuen africanischen Armee. Quintus Caecilius Metellus hatte sechs volle Legionen zu seiner Verfügung. Ich denke, daß ich notfalls mit vier Legionen auskommen kann. Aber Rom hat keine vier Legionen in 328
Reserve! Rom hat nicht einmal eine Legion in Reserve! Um euer Gedächtnis aufzufrischen, zähle ich euch jetzt im einzelnen auf, wie viele Soldaten man für vier Legionen braucht.« Gaius Marius brauchte dazu kein beschriebenes Wachsplättchen. Gelassen trat er einen Schritt vor seinen elfenbeinernen kurulischen Amtsstuhl auf der erhöhten Bühne des Konsuls und nannte die Zahlen aus dem Kopf: »Auf eine volle Legion kommen 5 120 Fußsoldaten, dazu 1280 nichtkämpfende Freie und weitere 1000 nichtkämpfende Sklaven. Dann haben wir die Kavallerie: 2000 Reiter, dazu 2000 nichtkämpfende Freie und Sklaven zur Versorgung der Pferde. Ich muß also irgendwo 20 480 Fußsoldaten, 5120 nichtkämpfende Freie, 4000 nichtkämpfende Sklaven, 2000 Reiter und 2000 nichtkämpfende Männer zur Versorgung der Kavallerie herbekommen.« Er ließ seine Augen über die Senatoren schweifen. »Es war noch nie schwer, Männer für den nichtkämpfenden Teil der Truppe zu finden, und das wird, denke ich, auch diesmal nicht schwer sein. Für sie gibt es keine untere Einkommensgrenze, sie können so arm sein wie der ärmste Bauer im Gebirge. Auch die Kavallerie ist kein Problem. Rom hat schon seit vielen Generationen keine römischen oder italischen Reiter mehr in die Schlacht geschickt, und trotzdem mangelt es uns nicht an Reitern. Wir finden sie in Ländern wie Makedonien, Thrakien, Ligurien und Gallia Transalpina, und sie bringen ihre eigenen Knechte und Pferde mit.« Diesmal machte er eine längere Pause, den Blick nachdenklich auf einige Senatoren in der ersten Reihe gerichtet — Scaurus, Catulus Caesar, der sich vergeblich um das Konsulat beworben hatte, den Pontifex Maximus Metellus Delmaticus, Gaius Memmius, Lucius Calpurnius Piso Caesoninus, Scipio Nasica und Gnaeus Domitius Ahenobarbus. Diese Männer waren entscheidend, die anderen Senatoren würde ihnen folgen wie die Herde dem Leithammel. »Wir sind ein sparsamer Staat, patres conscripti. Als wir die Könige davongejagt haben, haben wir zugleich die vom Staat 329
finanzierte Armee abgeschafft, haben den Dienst in der Armee auf die beschränkt, die genug Geld haben, daß sie Waffen, Rüstung und anderes Kriegsgerät selbst kaufen können. Diese Voraussetzung galt ohne Unterschied für alle Soldaten — römische, latinische und italische. Wer etwas besitzt, hat etwas zu verteidigen. Die Erhaltung des Staates und seines Vermögens ist ihm wichtig. Er wird mit ganzem Einsatz dafür kämpfen. Deshalb haben wir gezögert, unser Reich auf überseeische Länder auszudehnen. Wir haben immer wieder versucht, uns vor dem Besitz von Provinzen zu drücken. Aber nach unserem Sieg über Perseus sind wir mit unserem lobenswerten Versuch, in Makedonien die Selbstverwaltung einzuführen, gescheitert, weil das Volk dort mit keinem anderen System als der Autokratie zurechtkommt. Wir mußten Makedonien zur römischen Provinz machen, denn wir konnten nicht zulassen, daß Barbarenstämme die Westküste Makedoniens heimsuchten, die unserer eigenen Ostküste so nahe liegt. Die Niederlage Karthagos hat uns gezwungen, das karthagische Reich in Spanien zu verwalten, oder wir hätten das Risiko eingehen müssen, daß ein anderes Volk davon Besitz ergreift. Den größten Teil des africanischen Karthago haben wir den Königen von Numidien überlassen und behielten selbst nur eine kleine Provinz um das eigentliche Karthago im Namen Roms. Damit wollten wir uns für ein erneutes Erstarken der Punier wappnen — ihr seht selbst, was daraus geworden ist, daß wir so viel an die numidischen Könige weggegeben haben! Jetzt müssen wir alles zurückfordern, damit wir unsere kleine Provinz schützen und den dreisten Eroberungsgelüsten eines einzigen Mannes, des numidischen Königs Jugurtha, einen Riegel vorschieben können. Ein einziger Mann erhebt sich, eingeschriebene Väter, und schon droht Rom der Untergang! König Attalus hat uns Kleinasien vermacht, als er starb, und wir versuchen immer noch, uns vor unserer Verantwortung als Verwalter dieser Provinz zu drücken! Gnaeus Domitius Ahenobarbus hat die gesamte gallische Küste zwischen Ligurien und Hispania Citerior erobert, so daß wir einen sicheren, fest in römischer Hand 330
befindlichen Verbindungsweg für unsere Armeen zwischen Rom und Spanien haben — aber daraus ist uns die Notwendigkeit erwachsen, eine weitere Provinz zu schaffen.« Marius räusperte sich. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. »Unsere Soldaten kämpfen inzwischen außerhalb Italiens. Sie sind lange von zu Hause weg und können sich nicht um Haus und Hof kümmern. Ihre Frauen werden ihnen untreu, ihre Kinder wachsen vaterlos auf. Das Ergebnis ist, daß immer weniger Freiwillige zu uns kommen, daß wir immer mehr Zwangsrekrutierungen vornehmen müssen. Keiner, der Felder bestellt oder ein Geschäft führt, will fünf, sechs oder gar sieben Jahre von zu Hause fort sein! Und wenn er entlassen wird, kann er jeden Augenblick wieder einberufen werden, wenn sich keine Freiwilligen finden.« Marius’ tiefe Stimme wurde noch tiefer. »Aber was schwerer wiegt als alles andere: In den letzten fünfzehn Jahren sind so viele Soldaten gefallen! Und niemand ist an ihre Stelle getreten. In ganz Italien gibt es keine Männer mehr, die aufgrund ihres Vermögens für die römische Armee in Frage kommen.« Marius hob die Stimme. Laut und machtvoll hallten seine Worte durch die altehrwürdige Halle. »Seit den Zeiten des zweiten Krieges gegen Karthago mußten die Werbeoffiziere immer wieder ein Auge zudrücken, wenn es um die Vermögensgrenzen ging. Und nach dem Verlust der Armee des jüngeren Carbo vor sechs Jahren haben wir sogar Männer in die höheren Ränge aufgenommen, die weder ihre Rüstung noch sonst irgend etwas bezahlen konnten. Offiziell gebilligt war das nie, es war immer nur der letzte Ausweg. Diese Zeiten sind vorbei, eingeschriebene Väter. Ich, Gaius Marius, Konsul des Senats und des Volkes von Rom, erkläre vor den Mitgliedern dieses Hauses, daß ich meine Soldaten in Zukunft anwerben werde, nicht zwangsverpflichten — ich will Freiwillige, nicht Männer, die lieber zu Hause wären! Wo ich zwanzigtausend Freiwillige finden will, fragt ihr? Die Antwort darauf ist einfach! Ich finde sie bei den besitzlosen Plebejern, bei den Ärmsten der 331
Armen, die so arm sind, daß sie keiner der fünf Vermögensklassen angehören — ich finde meine Freiwilligen bei denen, die kein Geld haben, keinen Besitz und oft nicht einmal einen festen Beruf — ich finde sie bei denen, die noch nie Gelegenheit hatten, für ihr Land, für Rom zu kämpfen!« Die Senatoren waren unruhig geworden, und die Unruhe hatte sich immer mehr gesteigert, bis schließlich der ganze Senat donnerte: »Nein! Nein! Nein!« Marius verzog keine Miene. Geduldig wartete er, auch als der Aufruhr handgreiflich zu werden drohte und geballte Fäuste in die Luft flogen. Die Senatoren waren rot vor Zorn aufgesprungen, und über zweihundert Klappstühle polterten, von den Falten der Togen mitgerissen, über die alten, von ungezählten Füßen im Lauf der Jahrhunderte abgewetzten Marmorfliesen. Endlich legte sich der Lärm wieder. Die Senatoren schäumten, aber sie wußten, daß sie noch nicht alles gehört hatten, und ihre Neugier war stärker als ihre Wut. »Ihr könnt schreien und brüllen und heulen, bis Essig zu Wein wird!« rief Marius, sobald er sich Gehör verschaffen konnte. »Aber ich erkläre euch hier und jetzt, daß ich genau das tun werde! Und dazu brauche ich euer Einverständnis gar nicht! Kein Gesetz verbietet mir, Plebejer anzuwerben — aber in einigen Tagen wird es ein Gesetz geben, welches mir genau das erlaubt! Ein Gesetz, nach dem jeder rechtmäßig gewählte Konsul, der eine Armee braucht, Freiwillige bei den capite censi anwerben darf — besitzlose Bürger und Plebejer. Denn ich, Senatoren, trete mit meinem Anliegen vor das Volk!« »Nein!« schrie Delmaticus. »Nur über meine Leiche!« schrie Scipio Nasica. »Nein!« schrieen alle Senatoren. »Nein! Nein! Nein!« »Wartet!« rief eine einsame Stimme. Es war Scaurus. »So wartet doch! Laßt mich ihm antworten!« Aber niemand hörte ihm zu. Die curia hostilia, Sitz des Senats seit der Gründung der Republik, erzitterte vom Geschrei der tobenden Senatoren. 332
»Kommt mit!« Hocherhobenen Hauptes verließ Marius die Curia, gefolgt von seinem Quästor Sulla und seinem Volkstribunen Titus Manlius Mancinus. Auf dem Forum waren bei den ersten Anzeichen des Sturms in der Curia Menschen zusammengeströmt, und auf den Sitzreihen des Comitiums drängten sich bereits Marius’ Anhänger. Entschlossen marschierten der Konsul und sein Volkstribun die Treppe der Curia hinunter und hinüber zur Rednerbühne an der Rückseite des Comitiums. Quästor Sulla, ein Patrizier, mußte auf den Stufen der Curia stehenbleiben. »Hört mich an!« brüllte Mancinus. »Hiermit berufe ich die Versammlung der Plebs ein und eröffne eine contio, eine vorbereitende Diskussion!« Gaius Marius trat zum Rednerplatz am vorderen Rand der Bühne. Er drehte sich so, daß er halb zum Comitium, halb zum unteren Teil des Forums gewandt war. Wer auf den Stufen der Curia stand, sah von ihm nicht viel mehr als seinen Rücken, und als die Senatoren mit Ausnahme der wenigen Patrizier des Senats durch die Sitzreihen des Comitiums nach unten drängten, zur Mitte, wo sie Marius ins Gesicht sehen und ihn stören konnten, verstellten ihnen die zum Comitium befohlenen Klienten und Anhänger Marius’ den Weg. Es entstand ein unsanftes Geschiebe und Gedränge, und heftige Worte flogen hin und her, aber die Absperrung gab nicht nach. Nur die neun anderen Volkstribunen wurden zur Rednerbühne durchgelassen. Der innere Zwiespalt eines jeden stand auf ihren Gesichtern zu lesen. Wortlos verharrten sie am hinteren Rand der Bühne und rangen mit der Entscheidung, ob sie angesichts dieser Umstände ein Veto einlegen und damit ihr Leben riskieren sollten. »Volk von Rom«, rief Marius, »der Senat verbietet mir zu tun, was ich tun muß, wenn Rom überleben will! Rom braucht Soldaten, Rom braucht dringend Soldaten! Wir sind auf allen Seiten vom Feind umgeben, doch die ehrwürdigen Väter des Senats sind wie immer ausschließlich daran interessiert, ihre überkommenen Privilegien zu verteidigen, statt sich um Roms Schicksal zu küm333
mern! Es ist der Senat, Volk von Rom, der die Römer und Latiner und Italiker bis aufs Blut ausgesaugt hat und der rücksichtslos die Männer jener Klassen ausgebeutet hat, die traditionell die Soldaten Roms stellen! Denn ich sage euch: Von diesen Männern ist keiner mehr übrig! Wer nicht wegen der Habgier, Arroganz und Dummheit eines Feldherrn und Konsuls auf dem Schlachtfeld gefallen ist, ist entweder verstümmelt und als Soldat nicht mehr zu gebrauchen oder er dient gegenwärtig in den Legionen! Aber es gibt noch Männer, die bereit und begierig sind, Rom freiwillig zu dienen! Ich meine die besitzlosen Plebejer, jene Bürger Roms und der italischen Städte, die zu arm sind, um eine Stimme in der Zenturienversammlung zu haben, zu arm, um Land oder ein Geschäft zu besitzen, zu arm, um sich als Soldaten ausrüsten zu können! Es ist an der Zeit, Römer, diese Tausende und Abertausende von Männern aufzufordern, daß sie mehr für Rom tun sollen als Schlange stehen, wann immer es billiges Getreide gibt, an Feiertagen in den Zirkus drängen und dort die Zeit totschlagen, Söhne und Töchter in die Welt setzen, die sie nicht ernähren können! Wenn sie kein Vermögen besitzen, sind sie doch nicht wertlos! Ich glaube zum Beispiel nicht, daß sie Rom weniger lieben als die Reichen. Ich glaube sogar, sie lieben Rom aufrichtiger als manches ehrenwerte Mitglied des Senats!« Marius richtete sich leidenschaftlich auf und breitete die Arme aus, als wolle er ganz Rom umarmen. »Ich bin heute zusammen mit den Tribunen hier, um mir von euch, dem Volk, zu holen, was der Senat mir nicht geben will! Ich bitte euch um das Recht, besitzlose Plebejer als Soldaten anzuwerben! Ich will aus namenlosen Bürgern Soldaten der römischen Legionen machen! Ich biete ihnen eine einträgliche Stellung an, einen ordentlichen Beruf, außerdem eine Zukunft für sie und ihre Familien und die Möglichkeit, zu Ehre und Ansehen zu gelangen. Ich biete ihnen eine Erhöhung ihres Selbstbewußtseins und ihrer Würde und die Chance, bei der Errichtung der römischen Herrschaft eine bedeutende Rolle zu spielen.« 334
Er hielt inne. Die Menge starrte schweigend zu ihm hinauf. Die Blicke aller waren wie gebannt auf das zornrote Gesicht und die blitzenden Augen des Konsuls gerichtet, auf sein trotzig emporgerecktes Kinn und die stolze Brust. »Die Väter des Senats wollen diesen Abertausenden von Männern ihre Chance vorenthalten! Und mir will man verbieten, ihre Dienste, ihre Loyalität und ihre Liebe zu Rom in Anspruch zu nehmen! Und weshalb? Weil die Senatoren Rom mehr lieben als ich? Mitnichten! Weil sie sich selbst und ihresgleichen mehr lieben als Rom und alles andere! Deshalb komme ich zu euch, zum Volk. Ich bitte euch, auch im Namen Roms, gebt mir, was der Senat mir verweigert! Gebt mir die capite censi, Römer! Gebt mir die Niedrigsten und Ärmsten! Laßt mich aus ihnen Bürger machen, auf die Rom stolz sein kann, Bürger, die Rom nützen, statt ihm zur Last zu fallen, Bürger, die vom Staat ausgerüstet, ausgebildet und bezahlt werden, damit sie dem Staat mit Leib und Seele als Soldaten dienen! Wollt ihr mir geben, was ich verlange? Wollt ihr Rom geben, was Rom braucht?« Und dann brach der Tumult los. Jubelgeschrei und Füßegetrampel machten jedes weitere Wort unmöglich. Marius hatte es geschafft — eine tausend Jahre alte Tradition stürzte ein. Die neun Volkstribunen sahen einander verstohlen an, in stummem Einverständnis, daß sie kein Veto einlegen würden. Auch sie lebten gern.
Nach Verabschiedung der lex Manlia, die den amtierenden Konsuln das Recht verlieh, Freiwillige unter den capite censi zu werben, sprach Marcus Aemilius Scaurus im Senat. »Gaius Marius ist ein geifernder, tollwütiger Wolf! Gaius Marius ist ein bösartiges Geschwür, das in unserer Mitte wuchert! Gaius Marius ist der sprechendste Grund, patres conscripti, warum wir unsere Reihen gegen Aufsteiger schließen müssen! Nicht einmal einen Platz in der letzten Reihe dieses ehrwürdigen Hauses dürfen sie bekommen! Was, frage ich euch, versteht ein Gaius Marius denn vom römischen Wesen, von den unvergänglichen Idealen und Traditionen des römischen Staates? 335
Ich bin der Senatsvorsitzende, aber in all den Jahren in diesem Hause, das ich als die Verkörperung des römischen Geistes verehre, bin ich keinem so arglistigen, gemeingefährlichen und erpresserischen Menschen wie Gaius Marius begegnet! Zweimal innerhalb von drei Monaten hat er die geheiligten Vorrechte des Senats mit Füßen getreten und auf dem rohen Altar des Volkes geopfert! Zuerst hat er den Senatsbeschluß aufgehoben, mit dem wir das Kommando des Quintus Caecilius Metellus in Africa verlängert haben. Und jetzt nutzt er die Ahnungslosigkeit des Volkes dazu aus, seinen persönlichen Ehrgeiz zu befriedigen: Er läßt sich vom Volk ermächtigen, Soldaten anzuwerben. Das ist skrupellos, unsinnig und unannehmbar!« Die Senatssitzung war gut besucht. Es war Scaurus und anderen einflußreichen Senatoren gelungen, über zweihundertachtzig der dreihundert Senatoren herbeizurufen. Einige hatten eigens das Krankenlager verlassen. Jetzt saßen sie auf ihren kleinen Klappstühlen in den ansteigenden Rängen zu beiden Seiten der curia hostilia wie eine große Schar schneeweißer Hennen, die sich zum Schlafen auf ihren Hühnerstangen niedergelassen haben. Die purpurgesäumten Togen der ehemaligen hohen Magistrate waren die einzige Abwechslung in der blendendweißen, schattenlosen Masse. Die zehn Volkstribunen hatten zwischen den Rängen auf ihrer langen hölzernen Bank neben den amtierenden Magistraten Platz genommen. Die Magistrate — die zwei kurulischen Ädilen, die sechs Prätoren und die beiden Konsuln — saßen aufgrund der Würde ihrer hohen Ämter getrennt von den übrigen Senatoren. Auf einer erhöhten Bühne am Ende des Saals, gegenüber dem gewaltigen, doppelflügligen Bronzeportal, durch das man die Curia betrat, standen die beiden eleganten Elfenbeinstühle der Konsuln. Auf der Bühne saß neben Konsul Cassius, ein kleines Stück zurückgesetzt, Gaius Marius. Er unterschied sich von den anderen nur durch seine Haltung: Ruhig, zufrieden und mit halbgeschlossenen Augen hörte er Scaurus zu. Die Tat war getan. Er hatte seine Vollmacht. Er konnte es sich leisten, großzügig zu sein. »Der Senat muß alles tun, was er kann, um die Macht einzu336
schränken, die Gaius Marius soeben den Plebejern gegeben hat. Die Plebejer sollen bleiben, was sie immer waren — hungrige Mäuler, die zu nichts zu gebrauchen sind und für die wir, die Privilegierten, sorgen, die wir ernähren und tolerieren müssen — ohne im Gegenzug eine Dienstleistung von ihnen zu verlangen. Denn solange die Plebejer nicht für uns arbeiten und keine Aufgabe haben, sind sie nichts weiter als ein Anhängsel, das Weib Roms, das nicht arbeitet, aber auch keine Macht und keine Stimme besitzt. Sie können nichts von uns fordern, das wir ihnen nicht freiwillig geben, denn sie tun nichts. Sie sind nur da. Wir können uns bei Gaius Marius bedanken, wenn wir jetzt mit den grotesken Problemen einer Armee von Plebejern konfrontiert werden, einer Armee von Berufssoldaten, wie ich sie wohl nennen muß — von Männern, die kein anderes Einkommen haben, keine andere Verdienstmöglichkeit —, Männer, die dann wohl auch nach Abschluß eines Feldzuges in der Armee bleiben wollen und die den Staat enormes Geld kosten werden. Und, eingeschriebene Väter, Männer, die Mitsprache in der römischen Politik fordern werden, weil sie Rom helfen und weil sie für Rom arbeiten. Ihr habt das Volk gehört. Wir vom Senat, die wir den Staatsschatz verwalten und Roms öffentliche Gelder verteilen, müssen jetzt unsere Truhen öffnen und Waffen, Rüstungen und anderes notwendiges Kriegsgerät für die Armee des Gaius Marius kaufen. Das Volk hat uns auch aufgetragen, diese Soldaten regelmäßig zu bezahlen und nicht erst am Ende des Feldzugs, wenn man die Unkosten mit der Beute bestreiten kann. Das Geld, das es kostet, eine Armee von Bettlern ins Feld zu schicken, wird den Staat finanziell ruinieren, daran besteht kein Zweifel.« »Unsinn, Marcus Aemilius!« unterbrach Marius ihn scharf. »Rom hat so viel Geld in seinen Truhen, daß es gar nicht weiß, wohin damit — denn, patres conscripti, ihr gebt das Geld nie aus! Ihr hortet es nur.« Die Senatoren begannen zu murren, und einige Gesichter liefen rot an. Scaurus hob den rechten Arm und bat um Ruhe. »Es stimmt«, sagte er, »Roms Truhen sind voll. Aber das ist auch 337
richtig so! Die Truhen sind voll trotz der Unkosten der öffentlichen Arbeiten, die ich als Zensor begonnen habe. Es gab in der Vergangenheit allerdings Zeiten, in denen unsere Truhen gähnend leer waren. Die drei Kriege gegen Karthago brachten uns an den Rand des finanziellen Ruins. Was, so frage ich euch, ist also falsch daran, wenn wir Vorsorge treffen, daß so etwas nie wieder passiert? Solange Roms Truhen voll sind, blüht Rom.« »Rom wird noch mehr blühen, wenn die besitzlosen Bürger Geld in der Tasche haben, das sie ausgeben können«, sagte Marius. »Das ist nicht wahr, Gaius Marius!« rief Scaurus erregt. »Die Plebejer werden ihr Geld verprassen. Es wird aus dem Umlauf verschwinden, statt sich zu vermehren.« Scaurus verließ seinen Stuhl in der ersten Reihe und stellte sich vor das große bronzene Portal. Dort konnten ihn beide Seiten des Hauses sehen und hören. »Ich sage euch eines, eingeschriebene Väter: In Zukunft müssen wir mit aller Macht Widerstand leisten, wenn ein Konsul mit der lex Manlia Rekruten bei den capite censi anwerben will. Das Volk hat uns nur aufgetragen, die Armee des Gaius Marius zu bezahlen. Der schriftliche Wortlaut des Gesetzes sagt nicht, daß wir auch die nächste Bettlerarmee zahlen müssen, die auf uns zukommt! Hier werden wir den Hebel ansetzen. Soll der künftige Konsul nur nach Belieben Plebejer rekrutieren, um damit die Reihen seiner Legionen aufzufüllen — wenn er uns, die Hüter des römischen Staatsschatzes, bittet, seine Legionen zu bezahlen und auszurüsten, sagen wir nein.« Gaius Marius erhob sich, um zu antworten. »Eine kurzsichtigere und lächerlichere Haltung würde man schwerlich im Harem eines parthischen Satrapen finden, Marcus Aemilus! Warum bist du so uneinsichtig? Wenn Rom behalten will, was es jetzt hat, muß es in alle Römer investieren, auch in die, die nicht berechtigt sind, in der Zenturienversammlung zu wählen! Statt dessen schicken wir unsere Bauern und kleinen Geschäftsleute in die Schlacht und in den sicheren Tod, wenn wir sie so hirnlosen Idioten wie Carbo 338
und Silanus anvertrauen — ach, du bist auch anwesend, Marcus Junius Silanus? Entschuldige bitte! Was spricht dagegen, jenen großen Teil der Gesellschaft für den Staat arbeiten zu lassen, der Rom bisher so nützlich war wie dem Stier das Euter? Wenn unser einziger ernsthafter Einwand dagegen ist, daß wir mehr von dem Geld ausgeben müssen, das in unseren Schatztruhen vermodert, dann sind wir nicht nur kurzsichtig, sondern dann sind wir dumm! Du, Marcus Aemilus, bist überzeugt, daß die Plebejer katastrophale Soldaten sein werden. Gut, ich bin überzeugt, sie werden hervorragende Soldaten sein! Sollen wir also weiter darüber stöhnen, daß sie uns Geld kosten werden? Ihnen die Pension am Ende ihres aktiven Dienstes verweigern? Das willst du, Marcus Aemilius! Ich schlage etwas anderes vor. Ich schlage vor, daß der Staat dem besitzlosen Soldaten am Ende seiner Dienstzeit eine kleine Landparzelle aus öffentlichem Besitz vermacht. Der Veteran kann dieses Land dann bestellen oder verkaufen. Es wäre eine Art Pension. Zugleich wächst unseren dezimierten Kleinbauern dadurch die so dringend benötigte neue Kraft zu. Und das sollte für Rom ein Schaden sein? Männer, Senatskollegen, erkennt ihr nicht, daß Rom nur reicher werden kann, wenn es seinen Reichtum nicht nur mit den Walen, sondern auch mit den Sprotten teilt?« Aber die Senatoren waren schon wieder empört aufgesprungen, und Konsul Lucius Cassius Longinus, der die Sitzung leitete, wollte einer weiteren Eskalation vorbeugen. Er erklärte die Sitzung für geschlossen und schickte alle nach Hause.
Marius und Sulla machten sich daran, 20 480 Fußsoldaten, 5120 nichtkämpfende Freie, 4 000 nichtkämpfende Sklaven, 2000 Reiter und 2000 Pferdeknechte aufzutreiben. »Ich übernehme Rom, und du kümmerst dich um Latium«, sagte Marius zufrieden. »Ich bezweifle, daß wir unsere italischen Bundesgenossen überhaupt belästigen müssen. Wir werden es schon schaffen, Lucius Cornelius! Obwohl sie sich so sträuben, 339
wir werden es schon schaffen. Ich habe unseren gemeinsamen Schwiegervater Gaius Julius gebeten, mit den Rüstungs- und Waffenfabrikanten zu verhandeln, und ich lasse seine Söhne aus Africa kommen. Wir können sie hier brauchen. Zwar glaube ich nicht, daß Sextus und der junge Gaius das Zeug zu militärischen Führern haben, aber sie sind ausgezeichnete Befehlsempfänger. Sie arbeiten hart, sind intelligent und loyal.« Marius ging in sein Arbeitszimmer, wo bereits zwei Männer warteten. Der eine war ein Senator Mitte dreißig, an dessen Gesicht Sulla sich vage erinnern konnte. Der andere war ein junger Bursche von ungefähr achtzehn Jahren. Marius machte seinen Quästor mit den beiden bekannt. »Lucius Cornelius, das ist Aulus Manlius. Ich habe ihn gebeten, mir als Legat zu dienen.« Der Senator lächelte. Einer aus dem Patriziergeschlecht Manlius, dachte Sulla. Marius hatte wirklich überall Freunde und Klienten. »Und dieser junge Mann ist Quintus Sertorius, der Sohn meiner Cousine Maria in Nersia, kurz Ria genannt. Ich habe ihn in meinen persönlichen Stab aufgenommen.« Ein Sabiner, dachte Sulla. Er hatte gehört, daß die Sabiner hervorragende Soldaten waren — unorthodox, aber tapfer und unbeugsam. »Also gut, an die Arbeit«, drängte Marius. Über zwanzig Jahre hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Nun endlich konnte er seine Vorstellung von der römischen Armee der Zukunft in die Tat umsetzen. »Wir teilen uns auf. Aulus Manlius, du kümmerst dich um Maultiere, Karren, Ausrüstung, Troß, Verpflegung und Munition. Meine beiden Schwäger müssen jeden Tag eintreffen, sie werden dir helfen. Ich will, daß du Ende März fertig bist und nach Africa auslaufen kannst. Hol dir alle Hilfe, die du brauchst. Mein Vorschlag wäre, zuerst die Männer für den Troß zu suchen und dann die besten von ihnen als Hilfe bei der Arbeit einzusetzen. So sparst du Geld und bildest sie gleich aus.« Der junge Sertorius sah Marius unverwandt an. Er war ganz 340
offensichtlich von ihm fasziniert, während Sulla, der sich inzwischen an Marius gewöhnt hatte, vor allem von Sertorius fasziniert war. Nicht daß Sertorius sexuell attraktiv gewesen wäre, das nicht. Aber von ihm ging eine Kraft aus, die an einem so jungen Menschen überraschte. Auch physisch ließ er bereits die gewaltigen Kräfte erkennen, die er als Erwachsener haben würde, und vielleicht bestimmte das Sullas Eindruck. Sertorius war großgewachsen und bereits jetzt so muskulös, daß er untersetzt wirkte. Sein eckiger Kopf und der dicke Hals verstärkten diesen Eindruck. Besonders auffällig waren seine hellbraunen Augen: Aus tiefen Höhlen starrten sie ihr Gegenüber bezwingend an. »Ich selbst will Ende April mit der ersten Abteilung Soldaten aufbrechen«, fuhr Marius fort. Er sah Sulla an. »Du wirst die restlichen Legionen und eine anständige Reiterei organisieren. Wenn du Ende Quintilis auslaufen kannst, bin ich zufrieden.« Er drehte sich zu Sertorius um und grinste. »Und dich halte ich auf Trab, Quintus Sertorius, verlaß dich darauf! Man soll mir nicht nachsagen, daß ich meine Verwandtschaft faulenzen lasse.« Der Bursche lächelte langsam und gedankenverloren. »Ich liebe es, auf Trab gebracht zu werden, Gaius Marius.«
Das besitzlose Volk Roms strömte in Scharen zu den Anwerbestellen. Rom hatte nie zuvor etwas Vergleichbares erlebt. Und die Senatoren hatten nicht im Traum mit solch großem Zulauf aus einem Teil der Bevölkerung gerechnet, der in ihren Gedanken nur auftauchte, wenn das Getreide knapp war und es um des lieben Friedens willen geraten schien, die hungrigen Plebejermäuler mit billigem Getreide zu stopfen. Innerhalb weniger Tage waren zwanzigtausend römische Vollbürger rekrutiert — aber Marius ließ die Anwerbestellen nicht schließen. »Wer kommt, wird genommen«, sagte er zu Sulla. »Metellus hat sechs Legionen. Ich sehe nicht ein, warum ich weniger haben soll — zumal der Staat die Kosten trägt! Schließlich soll es bis auf 341
weiteres die einzige Plebejerarmee bleiben, wenn wir unserem lieben Scaurus glauben dürfen. Und mein Instinkt sagt mir, daß Rom die beiden zusätzlichen Legionen noch brauchen wird. Dieses Jahr können wir sowieso keinen richtigen Feldzug mehr beginnen, konzentrieren wir uns also lieber auf Ausbildung und Ausrüstung der Truppen. Mich freut vor allem, daß diese sechs Legionen ausschließlich aus römischen Bürgern bestehen, und nicht aus italischen Hilfstruppen. Das heißt, wir haben für künftige Jahre immer noch die italischen Plebejer in Reserve.« Alles verlief nach Plan, was Sulla nicht weiter überraschte, da schließlich Gaius Marius in das Feldherrenzelt eingezogen war. Ende März brach Aulus Manlius von Neapolis nach Utika auf, die Transportschiffe schwer beladen mit Maultieren, ballistae, Katapulten, Waffen, Sätteln, Zaumzeug und tausend anderen Dingen, die eine Armee erst in ein waffenstarrendes Ungetüm verwandeln. Sobald Aulus Manlius in Utika gelandet war, kehrten die Schiffe nach Neapolis zurück und setzten Gaius Marius mit den ersten beiden seiner sechs Legionen über. Sulla blieb in Italien. Er hatte die Aufgabe, die restlichen vier Legionen aufzustellen, sie auszurüsten und die Kavallerie aufzutreiben. Die Suche nach Reitern führte ihn schließlich gen Norden, nach Gallia Cisalpina jenseits des Po. Dort fand er tüchtige Reiter gallisch-keltischer Abstammung. Nicht nur die plebejischen Soldaten waren neu an Marius’ Armee, es gab auch noch andere Veränderungen. Da die Plebejer nie zuvor gedient hatten und deshalb nicht wußten, wie eine Armee aufgebaut war, konnten sie sich organisatorischen Neuerungen nicht widersetzen oder über sie murren. Der Manipel, die alte taktische Einheit, war seit Jahren zu klein für den Kampf der Legionen gegen die riesigen, ungeordneten Heere des Feindes. Er war deshalb in der Praxis allmählich durch die dreimal so große Kohorte verdrängt worden, aber bis zu dieser Zeit hatte niemand die Legionen auch offiziell in Kohorten statt in Manipel eingeteilt. Die Arbeit mit einer Plebejerarmee warf allerdings auch unerwartete Probleme auf. Die vermögenden römischen Soldaten alten 342
Stils hatten zumeist lesen, schreiben und rechnen gelernt, und Flaggen, Zahlen, Buchstaben und Symbole ohne Schwierigkeiten erkannt. In Marius’ jetziger Armee konnten die meisten weder lesen noch schreiben und nur wenig rechnen. Sulla teilte die Soldaten deshalb so ein, daß von jeweils acht Mann, die ein Zelt teilten und gemeinsam aßen, wenigstens einer diese Kenntnisse besaß. Er war dann der Vorgesetzte seiner Kameraden und erteilte ihnen Unterricht. Das Lernen ging allerdings nur langsam voran. Deshalb wurde der Abschluß der Ausbildung verschoben, bis die winterlichen Regen in Africa eine Fortsetzung des Feldzugs unmöglich machen würden und Zeit für solche Dinge bliebe. Marius dachte sich ein einfaches, aber einprägsames Feldzeichen für seine Legionen aus und sorgte dafür, daß alle Soldaten die gebührende Ehrfurcht und Achtung vor dem neuen Zeichen empfanden. Jeder Legion wurde ein schöner silberner Adler mit ausgebreiteten Schwingen auf einer langen, mit Silber beschlagenen Stange übergeben. Der Adler sollte vom aquilifer getragen werden, dem besten Soldaten der ganzen Legion, bekleidet mit einem Löwenfell und einer silbernen Rüstung. Dieser Adler war Marius zufolge das Symbol für Rom, und jeder Soldat mußte einen Eid schwören, lieber zu sterben als zuzulassen, daß der Adler seiner Legion in die Hände des Feindes fiel. Natürlich wußte Marius genau, was er tat. Nicht umsonst war er Soldat mit Leib und Seele und hatte ein halbes Leben im aktiven Dienst verbracht. Er kannte die Bedürfnisse des gemeinen Soldaten genau — besser als jeder Aristokrat. Seine eigene niedere Herkunft hatte ihn zu einem scharfen Beobachter gemacht, und seine überlegene Intelligenz ermöglichte ihm, aus diesen Beobachtungen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Seine Leistungen waren lange unterschätzt worden, und seine unbestreitbaren Fähigkeiten hatten meist nur dem Fortkommen seiner Vorgesetzten gedient. Gaius Marius hatte sehr lange warten müssen, bis er zum ersten Mal Konsul wurde — aber er hatte in dieser Zeit viel nachgedacht.
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Die Reaktion von Quintus Caecilius Metellus auf den Aufruhr, den Marius in Rom verursacht hatte, überraschte sogar seinen Sohn. Metellus hatte immer als nüchterner, beherrschter Mensch gegolten. Als er aber erfuhr, daß man ihm den Oberbefehl in Africa genommen und Marius übertragen hatte, verlor er in aller Öffentlichkeit die Nerven. Er heulte und jammerte, raufte sich die Haare und schlug sich an die Brust, und das alles nicht in seinen privaten Amtsräumen, sondern mitten auf dem Marktplatz von Utika unter den faszinierten Blicken der punischen Bevölkerung. Auch nachdem der erste Kummer vorüber war und er sich schmollend in seine Residenz zurückgezogen hatte, reichte die bloße Erwähnung des Namens Marius aus, ihn erneut in Heulkrämpfe zu stürzen, zwischen denen er unverständliche Anspielungen hervorstieß — Numantia, irgendwelche Drei, gewisse Schweine... Ein Brief des neugewählten Konsuls Lucius Cassius Longinus trug wesentlich dazu bei, daß sich seine Laune wieder besserte. Die nächsten Tage widmete er der Entlassung seiner sechs Legionen, nicht ohne zuvor die Soldaten zu verpflichten, sich gleich nach ihrer Landung in Italien in den Dienst von Lucius Cassius zu begeben. Denn Cassius hatte Metellus in dem Brief mitgeteilt, er sei entschlossen, in Gallia Transalpina die Germanen und die mit ihnen verbündeten Volsker-Tektosager zu schlagen und damit den Aufsteiger Marius in Africa auszustechen. Marius habe ja schließlich keine Truppen. Metellus wußte nicht, daß Marius dieses Problem bereits gelöst hatte, und er sollte es erst bei seiner Ankunft in Rom erfahren. Ende März verließ er Utika. Seine sechs Legionen nahm er mit, nur Publius Rutilius Rufus blieb zu Marius’ Empfang zurück. Metellus zog zur gut hundert Meilen südöstlich gelegenen Hafenstadt Hadrumentum und überließ sich seinen trübsinnigen Gedanken, bis man ihm meldete, Marius sei in der Provinz eingetroffen, um den Oberbefehl zu übernehmen. Als Marius in den Hafen einfuhr, stand nur Rutilius zum Empfang am Pier. Er übergab Marius offiziell die Provinz. 344
»Wo ist unser Freund Schweinebacke?« fragte Marius, als sie zum Palast des Statthalters schlenderten. »Der sitzt mit seinen Legionen in Hadrumentum und hadert mit dem Schicksal«, seufzte Rutilius. »Er hat beim Jupiter Stator geschworen, daß er dich weder sehen noch sprechen wird.« »So ein Schwachkopf.« Marius grinste. »Hast du meinen Brief über die capite censi und die neuen Legionen bekommen?« »Natürlich. Aulus Manlius singt Loblieder auf dich, seit er hier eingetroffen ist, ich kann es schon gar nicht mehr hören. Eine geniale Idee, Gaius Marius.« Dann sah Rutilius Marius ernst an. »Sie werden dich für deine Kühnheit bezahlen lassen, alter Freund. Darauf kannst du dich verlassen!« »Das glaube ich nicht. Ich habe sie jetzt dort, wo ich sie haben wollte — und bei den Göttern, ich schwöre, es wird so bleiben, solange ich lebe! Ich werde den Senat in den Staub treten, Publius Rutilius.« »Das wird dir nicht gelingen. Am Ende wird der Senat dich in den Staub treten.« »Niemals!« Und von dieser Überzeugung konnte Rutilius Rufus ihn nicht abbringen. Utika zeigte sich von seiner besten Seite. Die flachen Häuser waren nach den winterlichen Regenfällen frisch verputzt worden, und die ganze Stadt leuchtete in strahlendem Weiß. Zwischen den Häusern blühten Bäume, es war angenehm warm, und farbenfroh gekleidete Menschen bevölkerten sämtliche Straßen. Die kleinen Plätze waren mit Buden und Cafés besetzt, hochgewachsene Bäume spendeten Schatten, das Pflaster war sauber gefegt. Utika hatte wie die meisten römischen, ionischen und punischen Städte eine funktionierende Kanalisation, öffentliche Bäder für die Bevölkerung und eine gute Trinkwasserversorgung. Aquädukte führten das Wasser von den sanft geschwungenen blauen Bergen her, die in der Ferne anstiegen. »Publius Rutilius, was gedenkst du zu tun?« fragte Marius. Sie hatten im Arbeitszimmer des Statthalters Platz genommen und 345
sahen belustigt zu, wie die Sklaven, die bisher Metellus bedient hatten, jetzt vor Marius dienerten und katzbuckelten. »Willst du als mein Legat hierbleiben? Ich habe Aulus Manlius diesen besten Posten, den ich zu vergeben habe, noch nicht angeboten.« Rutilius schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, Gaius Marius, ich fahre nach Rom zurück. Schweinebacke geht, deshalb ist auch meine Zeit hier zu Ende. Außerdem habe ich genug von Africa. Und ganz offen gesagt, lege ich keinen Wert darauf, den armen Jugurtha in Ketten vor mir zu sehen — denn so wird er enden, jetzt, wo du das Kommando übernommen hast. Nein, da bevorzuge ich Rom und etwas Muße, Zeit, um zu schreiben und Freundschaften zu pflegen.« »Und wenn ich dich eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft bitten sollte, fürs Konsulat zu kandidieren — zusammen mit mir?« Rutilius sah ihn erstaunt, aber aufmerksam an. »Was führst du im Schilde?« »Mir wurde prophezeit, lieber Publius Rutilius, daß ich nicht weniger als siebenmal Konsul von Rom sein werde.« Jeder andere hätte vermutlich gelacht oder gespottet oder Marius einfach nicht geglaubt. Nicht so Publius Rutilius Rufus. Er kannte Marius. »Ein großes Schicksal. Es erhebt dich über alle anderen, und ich bin zu sehr Römer, als daß ich das gutheißen könnte. Aber wenn dir dieses Schicksal bestimmt ist, kannst du nichts dagegen tun, genausowenig wie ich. Ob ich gerne Konsul wäre? Ja, natürlich! Ich betrachte es als meine Pflicht, den Ruhm meiner Familie zu mehren. Doch spare mich für ein Jahr auf, in dem du mich wirklich brauchst, Gaius Marius.« Marius nickte zufrieden. »Das werde ich.«
Auch die beiden africanischen Könige Bocchus und Jugurtha erfuhren, daß Marius den Oberbefehl in Africa übernommen hatte. Bocchus bekam eine Heidenangst. Er setzte sich sofort ins heimatliche Mauretanien ab und ließ Jugurtha allein zurück. Jugurtha freilich konnte weder die Flucht seines Schwiegervaters 346
noch Marius’ neue Stellung einschüchtern. Er warb bei den Gaetulern Soldaten an und wartete darauf, daß Marius den ersten Schritt tun würde. Ende Juni waren vier der sechs neuen Legionen in der römischen Provinz Africa eingetroffen. Zufrieden mit dem Stand ihrer Ausbildung, führte Marius sie nach Numidien. Dort ließ er sie Städte plündern, Felder verwüsten und kleinere Gefechte kämpfen. Es war die Feuertaufe für seine plebejischen Rekruten und schweißte sie zu einer ernstzunehmenden Armee zusammen. Als Jugurtha jedoch hörte, wie klein die römische Streitmacht war und daß sie aus plebejischen Freiwilligen bestand, beschloß er, den Kampf zu wagen und Cirta zurückzuerobern. Marius traf bei Cirta ein, bevor die Stadt fiel, und zwang Jugurtha zur Schlacht. Endlich konnte die ›Bettlerarmee‹ ihren Kritikern zeigen, was sie taugte. Ein überglücklicher Marius berichtete nach der Schlacht in einem Brief an den Senat, wie glänzend sich seine Plebejer geschlagen hatten. Zwar hätten sie keine persönlichen Besitzinteressen in Rom, aber sie hätten deshalb um kein Haar weniger tapfer und begeistert gekämpft. Marius’ Freiwilligenarmee schlug Jugurtha tatsächlich so vernichtend, daß der König Schild und Speer wegwarf und davonlief. Als König Bocchus davon erfuhr, ließ er Marius durch einen Boten bitten, dieser möge ihn, Bocchus, wieder als Klient Roms aufnehmen. Marius antwortete nicht, und Bocchus schickte weitere Boten. Schließlich empfing Marius eine Abordnung des Königs, und Bocchus erfuhr, daß Marius nicht mit ihm verhandeln wolle. Ihm blieb nichts anderes übrig, als finster vor sich hinzubrüten und zu grübeln, warum er Jugurthas Schmeicheleien einstmals erlegen war. Marius hatte alle Hände voll zu tun, Jugurtha jeden besiedelten Flecken numidischen Landes abzunehmen. Der König sollte sich weder in den reichen Flußtälern noch in den Küstengebieten seines Reiches Rekruten, Nachschub oder Geld und Gold beschaffen können. Nur zu den Berberstämmen des Inlands, den Gaetulern und Garamanten, konnte Jugurtha jetzt noch fliehen, nur dort 347
konnte er noch Soldaten auftreiben, und nur dort waren seine Waffen und sein Gold vor den Römern sicher.
Im Juni gebar Julilla nach siebenmonatiger Schwangerschaft ein kränkliches Mädchen, und Ende Quintilis kam Julia nach neun Monaten mit einem großen, gesunden Jungen nieder, einem Bruder für den kleinen Marius. Aber nur Julillas kränkelndes Kind überlebte. Julias kräftiger zweiter Sohn starb, als in der Sommerhitze des Sextilis übelriechende Dämpfe zu den Hügeln Roms aufstiegen und eine Typhusepidemie in der Stadt ausbrach. »Ich habe nichts gegen ein Mädchen«, sagte Sulla zu seiner Frau. »Aber bevor ich nach Africa abfahre, bist du wieder schwanger, und diesmal mit einem Jungen.« Julilla war selbst unglücklich, daß sie Sulla nur ein greinendes Mädchen geschenkt hatte, und machte sich mit Feuereifer an die Aufgabe, einen Jungen zu bekommen. Eigenartigerweise hatte sie ihre erste Schwangerschaft und die Geburt ihrer Tochter weit besser überstanden als ihre Schwester Julia. Dabei war Julilla dünn, schwach und ständig gereizt. Die stabiler gebaute und seelisch weit besser gegen die Stürme von Ehe und Mutterschaft gewappnete Julia hatte die zweite Schwangerschaft viel Kraft gekostet. »Wenigstens haben wir jetzt ein Mädchen, das wir später im Bedarfsfall verheiraten können«, sagte Julilla zu Julia. Es war Herbst. Julias zweiter Sohn war soeben gestorben, und Julilla war wieder schwanger. »Hoffentlich wird es diesmal ein Junge.« Julillas Nase lief. Sie schniefte und nestelte nach einem leinenen Taschentuch. Julia trauerte um ihren Sohn und konnte nicht mehr so viel Geduld und Mitleid für ihre Schwester aufbringen wie früher. Inzwischen verstand sie, warum ihre Mutter Marcia einmal bitter bemerkt hatte, Julilla sei für immer verdorben. Eigenartig, daß man neben der eigenen Schwester aufwachsen konnte, ohne je ganz zu verstehen, was mit ihr vorging. Julilla 348
alterte im Eiltempo — allerdings nicht körperlich oder geistig. Es war mehr ein seelischer Prozeß der Selbstzerstörung. Das Hungern hatte etwas in ihr kaputtgemacht, ihr die Fähigkeit genommen, glücklich zu sein. Vielleicht hatte es diese Julilla aber auch unter dem Gekicher und dem Schabernack, den liebenswerten mädchenhaften Possen, die ihre Familie so entzückt hatten, schon immer gegeben. Man möchte glauben, daß es die Krankheit war, die diese Veränderung verursacht hat, dachte Julia traurig. Man will unbedingt eine äußere Ursache finden, weil man sonst zugeben müßte, daß die Schwäche von Anfang an da war. Julilla würde immer eine Schönheit bleiben mit ihrer wunderbaren bernsteinfarbenen Haut, ihren eleganten Bewegungen und ihrer makellosen Figur. Heute zeichneten sich allerdings dunkle Ringe unter ihren Augen ab. Zwischen Wangen und Nase hatten sich zwei tiefe Linien eingegraben, und ihre Mundwinkel hingen nach unten. Ja, sie sah unzufrieden und ruhelos aus. Ihre Stimme hatte einen klagenden Unterton, und sie stieß immer noch diese tiefen Seufzer aus, eine unbewußte Angewohnheit, die aber trotzdem ärgerlich war. Wie ihr Schniefen. »Hast du Wein da?« fragte Julilla plötzlich. Julia sah sie verblüfft an. Sie war schockiert und ärgerte sich zugleich über ihre prüde Reaktion. Schließlich tranken heutzutage viele Frauen Wein! Als Zeichen sittlicher Verkommenheit galt das nur noch in Kreisen, die Julia selbst unerträglich intolerant und bigott fand. Und trotzdem, wenn die jüngere Schwester, kaum zwanzig Jahre alt und aus dem Hause eines Gaius Julius Caesar, am hellen Morgen nach Wein fragte, ohne daß eine Mahlzeit in Sicht war — dann war das doch schockierend! »Natürlich habe ich Wein da«, erwiderte Julia. »Ein Glas wäre jetzt wunderbar.« Julilla hatte lange mit sich, gerungen, ob sie fragen sollte. Natürlich provozierte sie damit einen Kommentar, und sie setzte sich ungern der Mißbilligung ihrer älteren, stärkeren und erfolgreicheren Schwester aus. Aber sie hatte sich nicht beherrschen können. Früher oder später mußte 349
die Rede sowieso auf das heikle Thema kommen. Julilla stellte fest, daß sie ihrer Familie immer überdrüssiger wurde. Sie fand die ganze Sippschaft uninteressant, fad und langweilig. Besonders die allseits bewunderte Julia, die Gattin des Konsuls, die so schnell zu einer der geachtetsten jungen Ehefrauen Roms aufgerückt war. Nie ein falscher Schritt — so war Julia. Mit ihrem Schicksal zufrieden, verliebt in ihren entsetzlichen Gaius Marius, eine vorbildliche Hausfrau, eine treusorgende Mutter. Wie entsetzlich langweilig! »Trinkst du oft morgens Wein?« fragte Julia so beiläufig wie möglich. Die Antwort waren ein Schulterzucken, eine fahrige Bewegung der Hände und ein bohrender Blick, mit dem Julilla den versteckten Vorwurf zur Kenntnis nahm und zugleich beiseite wischte. »Sulla tut es, und er hat gern Gesellschaft.« »Sulla? Du nennst ihn bei seinem cognomen?« Julilla lachte. »Ach Julia, du bist so altmodisch! Natürlich nenne ich ihn bei seinem Beinamen! Wir sind doch nicht im Senat! In unserem Bekanntenkreis verwendet heute jeder den Beinamen, das ist schick. Außerdem mag Sulla es, wenn ich ihn so nenne. Er meint, wenn jemand Lucius Cornelius zu ihm sagt, fühlte er sich gleich tausend Jahre älter.« »Dann bin ich wirklich altmodisch, das muß ich sagen.« Julia versuchte wieder, beiläufig zu klingen. Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf, und sie lächelte. Vielleicht lag es am Licht, aber sie sah jetzt jugendlicher aus als ihre jüngere Schwester — und schöner. »Aber wenigstens habe ich eine Entschuldigung! Gaius Marius hat überhaupt keinen Beinamen.« Der Wein kam. Julilla goß sich ein Glas voll. Den Wasserkrug aus Alabaster ließ sie unbeachtet stehen. »Darüber habe ich oft nachgedacht«, sagte sie. Sie nahm einen großen Schluck. »Wenn Gaius Marius Jugurtha besiegt hat, findet er sicher einen eindrucksvollen Beinamen für sich. Daß aber auch dieser eingebildete Sauertopf Metellus den Senat überreden konnte, ihm einem 350
Triumph zu gewähren und ihm den Beinamen Numidicus zu verleihen! Gaius Marius hätte diesen Beinamen bekommen müssen!« »Metellus Numidicus hat sich seinen Triumph verdient, Julilla«, belehrte Julia ihre Schwester. »Er hat viele Numider getötet und große Beute nach Hause gebracht. Und wenn er sich Numidicus nennen will und der Senat sagt ja, das darf er, dann spricht doch nichts dagegen, oder? Außerdem sagt Gaius Marius immer, daß der schlichte Name seines Vaters für ihn gut genug sei. Gaius Marius gibt es nur einmal, Caecilius Metellus heißen Dutzende. Wart’s ab — mein Mann hat es gar nicht nötig, sich durch so etwas Künstliches wie einen Beinamen von der Masse abzuheben. Mein Mann wird der Erste Mann in Rom sein — allein deshalb, weil er mehr kann als andere.« Julilla fand es unerträglich, wenn Julia ihren Gaius Marius so über den grünen Klee lobte. Ihre Gefühle gegenüber ihrem Schwager waren eine Mischung aus Dankbarkeit für seine Großzügigkeit und Geringschätzung. Die Geringschätzung hatte sie von ihren neuen Freunden übernommen, die Marius und mit ihm seine Frau als Aufsteiger verachteten. Julilla schenkte sich nochmals Wein ein und wechselte das Thema. »Der Wein ist nicht übel, Schwester. Ich stelle fest, Marius kann sich einen guten Tropfen leisten.« Und nach einer kleinen Pause fragte sie: »Liebst du Marius?« Ihr war plötzlich eingefallen, daß sie das gar nicht wußte. Julia errötete. Aus Ärger, daß sie sich verraten hatte, klang ihre Antwort trotzig: »Natürlich liebe ich ihn! Und wenn du schon fragst: Ich vermisse ihn sehr. Das ist doch wohl nichts Schlimmes, selbst in deinen Kreisen! Liebst du Lucius Cornelius etwa nicht?« »Doch!« Jetzt fühlte Julilla sich angegriffen. »Aber ich sage dir eins: Ich vermisse ihn nicht, wenn er fort ist! Und er kann ruhig zwei oder drei Jahre fortbleiben. Dann bin ich wenigstens nicht gleich wieder schwanger, wenn ich dieses Kind geboren habe.« Sie schniefte. »Andauernd mit einem Talent Übergewicht herumzuwatscheln entspricht nicht meiner Vorstellung von Glück. Ich 351
möchte wie eine Feder schweben. Ich hasse es, so schwerfällig zu sein! Seit meiner Heirat bin ich entweder schwanger oder erhole mich von einer Schwangerschaft. Igitt!« Julia mußte sich beherrschen. »Schwanger zu sein ist deine Aufgabe«, wies sie ihre Schwester zurecht. »Warum können sich Frauen nie aussuchen, was sie tun wollen?« fragte Julilla weinerlich. »Jetzt sei nicht albern!« brauste Julia auf. »Aber es ist schrecklich, so leben zu müssen«, beharrte Julilla störrisch. Endlich begann der Wein zu wirken. Mit einem Mal hellte sich ihre Miene auf, und sie lächelte angestrengt. »Komm, hören wir auf zu streiten, Julia! Es ist schon schlimm genug, daß Mama nicht nett zu mir ist.« Julilla hat recht, dachte Julia. Marcia hatte Julilla ihr Benehmen gegenüber Sulla nie vergeben, und keiner wußte warum. Vaters Verstimmung hatte nur wenige Tage gedauert. Dann war er wieder aufgetaut und hatte die langsam genesende Julilla mit seiner alten Zuneigung behandelt, aber Mutter war verstimmt geblieben. Arme, arme Julilla! Legte Sulla wirklich Wert darauf, daß sie morgens mit ihm Wein trank, oder war das nur eine Entschuldigung? Jetzt nannte sie ihn selbst schon Sulla! Respektlos.
Sulla traf am Ende der ersten Septemberwoche mit den restlichen beiden Legionen und zweitausend hervorragenden keltischen Reitern aus Gallia Cisalpina in Utika ein. Marius steckte mitten in den Vorbereitungen zu einem größeren Vorstoß nach Numidien. Er begrüßte Sulla freudig und kam sofort auf die Arbeit zu sprechen »Jugurtha rennt vor mir davon«, erzählte er aufgeräumt, »dabei hatte ich noch gar nicht meine ganze Armee. Jetzt bist du da, Lucius Cornelius, und jetzt legen wir richtig los.« Sulla übergab Marius Briefe von Julia und Gaius Julius Caesar. Dann faßte er sich ein Herz und kondolierte Marius zum Tod seines zweiten Sohnes, den der Feldherr nie gesehen hatte. »Mein aufrichtiges Beileid zum Tod des kleinen Marcus Mari352
us«, sagte er, etwas unsicher und fast schon verlegen, weil sich seine Tochter Cornelia Sulla so zäh und hartnäckig ans Leben klammerte. Ein Schatten verdüsterte Marius’ Gesicht, aber nur für einen Augenblick. »Ich danke dir, Lucius Cornelius. Kinder kann ich auch später noch zeugen, und ich habe ja den kleinen Marius. Sind er und meine Frau wohlauf?« »Das sind sie, und auch die anderen Mitglieder der Familie Julius Caesar.« »Gut!« Die übrigen privaten Angelegenheiten wurden auf später vertagt. Marius legte die Post auf einen Nebentisch und ging zum Schreibtisch, auf dem eine riesige Karte aus speziell behandeltem Kalbsleder ausgebreitet war. »Du kommst gerade recht, um Numidien aus nächster Nähe kennenzulernen. In acht Tagen marschieren wir nach Capsa.« Aufmerksam musterten seine braunen Augen Sullas Gesicht. Es war fleckig, und die Haut schälte sich in großen Flächen. »Ich schlage vor, Lucius Cornelius, du stattest zuvor den Märkten von Utika einen Besuch ab und legst dir einen stabilen Hut mit einer extrabreiten Krempe zu. Man sieht dir an, daß du den ganzen Sommer in der Sonne Italiens unterwegs warst. In Numidien scheint die Sonne noch heißer und erbarmungsloser. Ohne Hut verbrennst du hier wie Zunder.« Marius hatte recht. Sullas makellos weiße Haut, bisher durch ein Leben in überwiegend geschlossenen Räumen geschützt, hatte sichtbaren Schaden erlitten in den Monaten, die er durch Italien gereist war, Truppen ausgebildet und selbst heimlich gelernt hatte, was ihm noch zum Soldaten fehlte. Sein Stolz hatte Sulla nicht gestattet, sich in den Schatten zurückzuziehen, wenn die anderen in der prallen Sonne exerzierten. Und Stolz war es auch, daß er den attischen Helm getragen hatte, wie es seinem hohen Rang entsprach. Diese Kopfbedeckung schützte das Gesicht in keinster Weise vor der Sonne. Der schlimmste Sonnenbrand war vorüber, aber Sullas helle Haut wurde nicht braun. Die verheilten Stellen waren so weiß wie eh und je. Wenigstens waren seine Arme glimpflicher davongekommen als sein Gesicht. Vielleicht würden 353
sich die Arme und Beine mit anhaltender Bestrahlung allmählich an die Sonne gewöhnen. Aber sein Gesicht? Nie. Marius spürte, was in Sulla vorging bei dem Gedanken, mit einem breitkrempigen Hut auf den Feldzug zu gehen. Er setzte sich hin und deutete auf das Tablett mit dem Wein. »Lucius Cornelius, seit ich mit siebzehn in die Legionen eintrat, bin ich immer wieder aus dem einen oder anderen Grund ausgelacht worden. Zuerst war ich zu mager und zu klein, dann zu groß und zu schwerfällig. Ich konnte kein Griechisch. Ich war ein Italiker, kein Römer. Ich verstehe deshalb, wie es dich demütigt, solch eine empfindliche helle Haut zu haben. Aber für mich als deinen Feldherrn ist es wichtiger, daß du gesund und munter bist, als daß du nach außen hin unbedingt etwas darstellst, von dem du glaubst, es deinem Rang schuldig zu sein. Kauf dir diesen Hut! Binde ihn mit dem Halstuch einer Frau fest oder mit Bändern oder meinetwegen auch nur mit einer goldpurpurnen Schnur. Und lach über die anderen! Mach absichtlich eine Schau daraus. Du wirst feststellen, daß es bald niemandem mehr auffällt. Außerdem rate ich dir, eine Salbe oder Creme zu beschaffen, die so dick ist, daß sie deine Haut vor der Sonne schützt. Reib dich damit ein. Und wenn die Salbe nach Parfüm stinkt, ist das schlimm?« Sulla nickte grinsend. »Du hast recht, und dein Rat ist trefflich. Ich werde ihn befolgen, Gaius Marius.« »Gut.« Sie schwiegen. Marius war unruhig und gereizt, aber Sulla merkte, daß diese Gereiztheit nichts mit ihm zu tun hatte. Und auf einmal wußte er den Grund — hatte nicht auch ihn derselbe Gedanke gequält, und litt nicht ganz Rom darunter? »Die Germanen«, sagte Sulla. Marius nickte. »Die Germanen.« Er streckte die Hand nach seinem Becher mit stark verdünntem Wein aus. »Woher sind sie gekommen, Lucius Cornelius, und wohin ziehen sie?« Sulla schauderte. »Sie ziehen nach Rom, Gaius Marius. Wir alle fühlen es in unseren Knochen. Woher sie kommen, wissen wir nicht. Vielleicht sind sie die fleischgewordene Nemesis. Wir wis354
sen nur, daß sie keine Heimat haben, und wir fürchten, daß sie unsere Heimat zu ihrer Heimat machen wollen.« »Sie wären Narren, wenn sie das nicht wollten«, erwiderte Marius düster. »Ihre Einfälle in Gallien sind nur ein Vorspiel, Lucius Cornelius. Sie warten noch ab und sammeln Mut. Sie mögen Barbaren sein, aber auch Barbaren wissen, daß sie zuerst gegen Rom ziehen müssen, wenn sie am Mittelmeer siedeln wollen. Die Germanen werden kommen.« »Ich stimme dir zu. Aber du und ich, wir sind nicht allein. Ganz Rom fühlt in diesen Tagen so. Eine schreckliche Sorge hat sich breitgemacht, und eine noch schrecklichere Angst vor dem Unvermeidlichen. Auch unsere Niederlagen rütteln das Volk nicht auf. Alles scheint sich gegen uns und zugunsten der Germanen zu verschwören. Sogar im Senat redet man schon, als wäre unser Untergang bereits besiegelt. Einige behaupten, die Germanen seien ein Urteil der Götter.« Marius seufzte. »Kein Urteil der Götter, aber eine Prüfung.« Er stellte den Becher hin und faltete die Hände. »Erzähl mir von Lucius Cassius. Die offiziellen Berichte sagen mir wenig, sie klingen so gestelzt.« Sulla zog eine Grimasse. »Lucius Cassius hat die sechs Legionen übernommen, die Metellus aus Africa zurückbrachte — was sagst du übrigens zu ›Numidicus‹? —, und er marschierte mit ihnen auf der Via Domitia bis Narbo. Dort ist er wohl nach acht Wochen zu Beginn des Quintilis eingetroffen. Die Soldaten waren ausgeruht, und er hätte schneller vorankommen können, aber keiner wird es ihm verdenken, daß er sie am Anfang eines aller Voraussicht nach anstrengenden Feldzugs schonen wollte. Dank der Entscheidung von Metellus Numidicus, keinen einzigen Soldaten in Africa zurückzulassen, lagen alle Legionen des Cassius zwei Kohorten über der Sollstärke. Er hatte also an die vierzigtausend Fußsoldaten und eine Reiterei, die er auf dem Marsch noch durch unterworfene Gallier verstärkte — insgesamt rund dreitausend Reiter. Eine große Armee.« Marius grunzte. »Gute Soldaten.« 355
»Ich weiß. Ich habe sie sogar gesehen, als sie das Tal des Po zum Mons-Genava-Paß hinaufmarschierten. Damals rekrutierte ich Kavallerie. Und du wirst mir vielleicht nicht glauben, Gaius Marius, aber ich hatte bis dahin noch nie eine römische Armee marschieren sehen, Kohorte auf Kohorte, alle voll bewaffnet, ausgerüstet und mit dem entsprechenden Troß. Ich werde den Anblick nie vergessen!« Sulla seufzte. »Auf jeden Fall... Die Germanen scheinen sich mit den Volsker-Tektosagern verständigt zu haben. Die Tektosager behaupten, sie seien mit den Germanen verwandt, und haben den Germanen Land im Norden und Osten von Tolosa gegeben.« »Ich muß gestehen, daß mir die Gallier fast so rätselhaft sind wie die Germanen, Lucius Cornelius.« Marius beugte sich vor. »Den Berichten zufolge gehören Gallier und Germanen aber nicht derselben Rasse an. Warum behaupten die Tektosager dann, sie seien mit den Germanen verwandt? Die Tektosager gehören ja nicht einmal mehr zur Provinz Gallia Narbonensis. Sie leben in der Gegend um Tolosa, und das schon seit der Zeit, als Spanien noch nicht uns gehörte. Sie sprechen Griechisch und treiben Handel mit uns. Also warum?« »Ich weiß es nicht«, sagte Sulla. »Niemand scheint es zu wissen.« »Entschuldige die Unterbrechung, Lucius Cornelius. Fahre fort.« »Lucius Cassius marschierte von Narbo an der Küste auf der guten Straße des Gnaeus Domitius landeinwärts und stellte seine Armee auf einem geeigneten Gelände unweit von Tolosa zum Kampf auf. Die Tektosager hatten sich inzwischen vollständig mit den Germanen verbündet, uns stand also eine gewaltige Streitmacht gegenüber. Lucius Cassius zwang sie jedoch am richtigen Ort zur Schlacht und verpaßte ihnen einen gehörigen Denkzettel. Wie für Barbaren typisch, blieben die Germanen und Gallier nach ihrer Niederlage nicht in der Nähe. Sie rannten um ihr Leben, bloß möglichst weit weg von Tolosa und unserer Armee.« Sulla machte eine Pause, runzelte die Stirn, nahm einen Schluck Wein und stellte den Becher wieder ab. »Das hat mir übrigens 356
Popillius Laenas selbst erzählt. Er traf mit dem Schiff von Narbo ein, kurz bevor ich abfuhr.« »Der arme Tropf. Der Senat wird ihn zum Sündenbock machen.« »Natürlich.« Sulla zog die rotblonden Brauen in die Höhe. »In den Berichten steht, daß Cassius die flüchtenden Barbaren verfolgte«, sagte Marius. Sulla nickte. »Das ist richtig. Sie flohen zu beiden Seiten der Garonne in Richtung Ozean — als Cassius sie wegrennen sah, waren sie nur noch ein chaotischer Haufen. Wahrscheinlich hielt Cassius sie deshalb für sehr dumme und einfältige Barbaren. Als er die Verfolgung aufnahm, hielt er es nicht einmal für nötig, das Heer in geschlossener Formation marschieren zu lassen.« »Er hat die Legionen nicht in Schlachtordnung marschieren lassen?« fragte Marius ungläubig. »Nein. Er tat so, als wäre die Verfolgung lediglich ein normaler Marsch. Er nahm den gesamten Troß mit, sogar die Wagen und alles, was flüchtende Germanen zurückgelassen hatten. Du weißt ja, daß die römische Straße in Tolosa endet. Das Heer kam auf dem Marsch entlang der Garonne durch Feindesland sehr langsam voran. Cassius kümmerte sich nur darum, wie er den Troß schützen konnte.« »Warum hat er den Troß nicht in Tolosa gelassen?« Sulla zuckte die Schultern. »Anscheinend hat er den Tektosagern nicht getraut, die bei Tolosa zurückgeblieben waren. Wie auch immer, als er entlang der Garonne bis Burdigala vorgestoßen war, hatten die Germanen und Gallier mindestens fünfzehn Tage Zeit gehabt, sich von ihrer Niederlage zu erholen. Sie verkrochen sich in Burdigala. Burdigala scheint eine deutlich größere Siedlung als das durchschnittliche gallische oppidum zu sein, ist außerdem schwer befestigt und ein einziges Waffenarsenal. Der dort ansässige Stamm wollte keine römische Armee im Land, deshalb half er den Germanen und Galliern auf jede erdenkliche Weise. Er verstärkte sie durch eigene Soldaten und bot ihnen Schutz in Burdigala. Und dann lockten sie Lucius Cassius listig in einen Hinterhalt.« 357
»Der Trottel!« stöhnte Marius. »Unsere Armee hatte das Lager nicht weit im Osten von Burdigala aufgeschlagen. Cassius beschloß, die Stadt anzugreifen. Den Troß ließ er im Lager zurück, bewacht von etwa einer halben Legion — Verzeihung, ich meine fünf Kohorten — ich hoffe, ich lerne das eines Tages noch!« Marius lächelte. »Das wirst du, Lucius Cornelius, ich garantiere es dir. Aber weiter.« »Cassius muß felsenfest davon überzeugt gewesen sein, auf dem Weg nach Burdigala auf keinen nennenswerten Widerstand zu treffen. Er ließ das Heer deshalb in einfacher Kolonne marschieren, nicht im geschlossenen Viereck, und er sandte auch keine Kundschafter aus. Unsere gesamte Armee lief in einen perfekt gelegten Hinterhalt, und die Germanen und Gallier löschten die Legionen buchstäblich aus. Cassius selbst und sein erster Legat fielen in der Schlacht. Popillius Laenas schätzt, daß insgesamt etwa fünfunddreißigtausend Römer bei Burdigala ihr Leben ließen.« »Popillius Laenas hatte demnach das Kommando über Troß und Lager?« fragte Marius. »Richtig. Er hörte den Schlachtlärm, der vom Wind in das nur nur wenige Meilen entfernte Lager getragen wurde. Von der Katastrophe erfuhr er erst, als eine Handvoll unserer Männer in panischer Flucht dort eintrafen. Er wartete und wartete, aber es kamen keine weiteren Soldaten. Statt dessen kamen die Germanen und die Gallier. Popillius sagt, es seien Tausende und Abertausende siegestrunkener, rasender Barbaren gewesen. Sie hätten die Köpfe römischer Legionäre auf Speere gespießt und wilde Kriegsgesänge gebrüllt. Sie seien alle Riesen, und ihre Haare würden ihnen als dicke gelbe Zöpfe über die Schultern hängen oder steif vom Kopf abstehen, weil sie sie mit Lehm eingerieben hätten. Ein schrecklicher Anblick, sagte Laenas.« »Ein Anblick, den wir in Zukunft noch öfter zu sehen bekommen werden, Lucius Cornelius«, sagte Marius grimmig. »Aber fahre fort.« 358
»Es stimmt, Laenas hätte kämpfen können. Aber wozu? Er hielt es für sinnvoller, wenigstens den kläglichen Rest unserer Armee für die Zukunft zu retten. Was er dann auch tat. Er ließ die weiße Flagge hissen und ging persönlich mit umgedrehtem Speer und leerer Scheide vor das Lager, um mit den Häuptlingen der Barbaren zu verhandeln. Sie verschonten ihn und den ganzen Rest der Armee. Sie ließen uns sogar den Troß, weil sie uns zeigen wollten, für was für ein gieriges Pack sie uns halten! Sie nahmen sich nur, was Cassius zuvor ihnen weggenommen hatte.« Sulla holte Luft. »Aber sie ließen Popillius Laenas und die Legionäre unter dem Joch durchgehen. Dann begleiteten sie sie nach Tolosa. Und dort überzeugten sie sich, daß die Römer auch wirklich nach Narbo weitermarschierten.« »Wir sind in den letzten Jahren viel zu oft unter dem Joch gegangen.« Marius ballte die Fäuste. »Das ist mit Sicherheit auch der Hauptgrund, warum man in Rom so empört über Popillius Laenas ist. Man wird ihn wegen Hochverrat anklagen, aber wenn ich ihn richtig verstanden habe, will er den Prozeß gar nicht abwarten. Ich glaube, er wird sofort ins freiwillige Exil gehen und an Vermögen mitnehmen, was er kann.« »Das ist vernünftig, denn so rettet er wenigstens etwas. Wenn er auf den Prozeß wartet, konfisziert der Staat alles.« Marius schlug mit der Faust auf die Karte. »Aber was Lucius Cassius passiert ist, wird uns nicht passieren, Lucius Cornelius! Egal mit welchen Mitteln, wir werden Jugurtha in den Staub zu unseren Füßen zwingen — und dann kehren wir nach Rom zurück und lassen uns vom Volk mit dein Kampf gegen die Germanen beauftragen!« »Darauf trinke ich, Gaius Marius!« Sulla hob den Becher.
Der Feldzug gegen Capsa war über alle Erwartungen erfolgreich, und der Erfolg war — so die einhellige Meinung — allein der hervorragenden Führung Gaius Marius’ zu verdanken. Da Marius der Reiterei seines Legaten Aulus Manlius nicht traute, weil sich 359
darunter auch Numider befanden, die behaupteten, Männer Roms und Gaudas zu sein, hatte er den Legaten beauftragt, vor seinen Männern so zu tun, als handle es sich lediglich um einen Plünderungszug. Jugurtha wurde deshalb von seinen Spionen völlig falsch informiert. Der König glaubte Marius hundert Meilen entfernt, da tauchte dieser mit seiner Armee vor Capsa auf. Man hatte Jugurtha nicht berichtet, daß die Römer sich reichlich mit Wasser und Getreide für den Marsch durch das dürre Land zwischen dem Fluß Bagradas und Capsa versorgt hatten. Als die angeblich uneinnehmbare Festung plötzlich von einem Meer römischer Helme umgeben war, ergaben die Einwohner sich kampflos. Jugurtha freilich konnte erneut fliehen. Marius beschloß, den Numidern und besonders den Gaetulern eine Lektion zu erteilen. Obwohl Capsa keinen Widerstand geleistet hatte, erlaubte er seinen Soldaten, die Stadt zu plündern und zu brandschatzen. Alle erwachsenen Einwohner, Männer wie Frauen, wurden mit dem Schwert niedergemetzelt. Die Beute aus den Plünderungen und Jugurthas gewaltiger Geldschatz wurden auf Wagen verladen. Dann führte Marius seine Soldaten sicher und rechtzeitig vor den winterlichen Regenfällen wieder aus Numidien heraus und ins Winterquartier bei Utika. Die Soldaten hatten sich die Ruhepause redlich verdient. Mit tiefer Befriedigung schrieb Marius dem Senat einen Brief — Gaius Julius Caesar sollte ihn im Senat verlesen —, in dem er mit wohlklingenden Worten den Kampfgeist, den Mut und die Moral seiner Plebejerarmee pries. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und fügte hinzu, daß Rom nach dem totalen Versagen seines Mitkonsuls Lucius Cassius Longinus als Feldherr sicher noch weitere Armeen dieser Art brauchen werde. Gegen Ende des Jahres erreichte Gaius Marius ein Brief von Publius Rutilius Rufus: Du hättest ihre roten Gesichter sehen sollen! Dein Schwiegervater hat Deinen Brief im Senat mit einer solchen Donnerstimme verlesen, daß sogar die ihm zuhören mußten, die sich die Ohren 360
zuhielten. Metellus Schweinebacke — neuerdings auch Metellus Numidicus genannt — schäumte. Mit gutem Grund — seine Soldaten liegen tot an der Garonne, und Deine Plebejer sind die Helden des Tages. Nach der Sitzung hörte ich ihn sagen: »Es gibt keine Gerechtigkeit mehr!« Daraufhin drehte ich mich zu ihm um und sagte ganz freundlich: »Stimmt, Quintus Caecilius. Wenn es Gerechtigkeit gäbe, dann würdest Du jetzt nicht Numidicus heißen!« Das fand er gar nicht lustig, aber Scaurus wollte sich ausschütten vor Lachen. Du kannst über Scaurus sagen, was Du willst, aber ich kenne niemanden, der soviel Humor hat, soviel Sinn für Komik. Von seinen Freunden läßt sich das nicht behaupten, und manchmal frage ich mich, ob er sich seine Freunde nicht danach auswählt, wie gut er insgeheim über ihr aufgeblasenes Getue lachen kann. Am meisten erstaunt mich, Gaius Marius, daß das Glück stets auf Deiner Seite ist. Ich weiß, Du hast Dir keine Sorgen gemacht. Aber ich kann Dir ja jetzt sagen, ich hätte nicht geglaubt, daß der Senat Dein africanisches Kommando ein weiteres Jahr verlängern würde. Aber was passiert? Lucius Cassius fällt, und mit ihm Roms größte und erfahrenste Armee. Die Kamarilla und damit der ganze Senat können nichts gegen Dich tun. Dein Volkstribun Mancinus tritt vor die Volksversammlung und erreicht völlig problemlos, daß Dein Kommando in der Provinz Africa per Plebiszit verlängert wird. Der Senat sagt gar nichts mehr, es war zu offensichtlich, selbst für die Senatoren, daß Rom Dich braucht. Denn die Atmosphäre in Rom ist gespannt wie noch nie. Die Bedrohung durch die Germanen hängt über der Stadt wie ein Damoklesschwert, und viele sagen, daß niemand mehr das Verhängnis aufhalten kann. Denn, fragen sie, wo ist der nächste Scipio Africanus, der nächste Aemilius Paullus oder Scipio Aemilianus? Aber Du hast eine loyale Gefolgschaft treu ergebener Anhänger, Gaius Marius, und seit Cassius’ Tod sagen Deine Anhänger immer lauter, daß Du der einzige bist, der die germanische Invasion abwehren kann. Zu ihnen gehört auch der angeklagte Legat von 361
Burdigala, Gaius Popillius Laenas. Und da Du nur ein ungebildeter italischer Bauer ohne Griechischkenntnisse bist, erzähle ich Dir jetzt eine kleine Geschichte. Es war einmal ein sehr schlechter und böser König von Syrien, der hieß Antiochus. Er war nicht der erste König von Syrien mit Namen Antiochus und auch nicht der größte — sein Vater hatte sich bereits Antiochus der Große genannt —, deshalb hatte er eine Zahl hinter seinem Namen. Er war Antiochus IV, der vierte König Antiochus von Syrien. Obwohl sein Land reich war, gelüstete es ihn nach dem benachbarten Königreich Ägypten. Dort herrschten gemeinsam seine Vettern Ptolemaios Philometor und Ptolemaios Euergetes der Dicke und seine Cousine Kleopatra. Kleopatra war die zweite ihres Namens, auch sie hatte deshalb eine Zahl hinter ihrem Namen, Kleopatra II, — ich wollte, ich könnte sagen, die drei herrschten in Frieden und Eintracht, aber das war keineswegs der Fall. Obwohl sie Bruder und Schwester, Mann und Frau waren — jawohl, in orientalischen Königreichen ist so etwas möglich —, kämpften sie seit Jahren gegeneinander und hatten das schöne und fruchtbare Land am Nil schon fast zugrunde gerichtet. Als König Antiochus von Syrien beschloß, Ägypten zu erobern, rechnete er fest damit, daß er wegen des Zwistes zwischen den beiden Ptolemaios und Kleopatra leichtes Spiel haben würde. Kaum hatte er Syrien verlassen, da zwangen ihn einige aufsässige Untertanen umzukehren. Zur Strafe für diesen Ungehorsam ließ er etliche Köpfe abhacken, einige Körper verstümmeln, einige Zähne ziehen und sogar eine Gebärmutter herausreißen. Es dauerte vier Jahre, bis König Antiochus sein aufständisches Volk der alten Ordnung unterworfen hatte und zum zweiten Mal aufbrechen konnte, um Ägypten zu erobern. Diesmal war Syrien während seiner Abwesenheit ruhig und gehorsam, König Antiochus fiel also in Ägypten ein, eroberte Pelusium und zog dann das Nildelta hinauf bis Memphis. Er eroberte auch Memphis und 362
marschierte dann das Delta auf der anderen Seite in Richtung Alexandria hinunter. Die Brüder Ptolemaios und ihre Schwester-Frau Kleopatra hatten Land und Armee ruiniert, und so blieb ihnen nichts übrig, als Rom gegen König Antiochus zu Hilfe zu rufen, da Rom der beste und größte aller Staaten war und der Held der ganzen Welt. Senat und Volk von Rom verstanden sich damals besser, als wir heute für möglich halten würden — so steht es jedenfalls in den Geschichtsbüchern, Sie schickten den vornehmen und tapferen Konsular Gaius Popillius Laenas nach Ägypten. Jedes andere Land hätte seinem Helden eine große Armee mitgegeben, aber der Senat und das Volk von Rom gaben Gaius Popillius Laenas nur zwölf Liktoren und zwei Sekretäre mit. Die Liktoren durften, da es ins Ausland ging, rote Tuniken tragen und in die Rutenbündel das Beil stecken. Gaius Popillius Laenas war also nicht ganz ohne Schutz. Und dann machten sie sich in einem kleinen Schiff auf den Weg und langten in der großen Stadt Alexandria an, als König Antiochus gerade den in Kanopos mündenden Nilarm in Richtung Alexandria hinuntermarschierte. Dorthin waren nämlich schlotternd vor Angst die Ägypter geflohen. Angetan mit seiner purpurgeränderten Toga und hinter den zwölf karmesinrot gekleideten Liktoren einherschreitend, verließ Gaius Popillius Laenas Alexandria durch das Sonnentor und marschierte nach Osten. Er war kein junger Mann mehr, mußte sich beim Gehen bereits auf einen langen Stab stützen, und sein Schritt war so gemächlich wie seine Miene friedvoll. Da nur die tapferen und heldenhaften Römer anständige Straßen bauten, ging er bald knöcheltief im Staub. Aber ließ Gaius Popillius Laenas sich dadurch abschrecken? Nein! Er marschierte einfach weiter, bis er in der Nähe des riesigen Hippodroms, in dem die Alexandriner Pferderennen veranstalteten, auf eine Mauer syrischer Soldaten stieß und anhalten mußte. König Antiochus kam Gaius Popillius Laenas entgegen. »Rom hat in Ägypten nichts zu suchen!«, sagte der König und runzelte unheilverkündend die Stirn. 363
»Syrien hat ihn Ägypten auch nichts zu suchen«, entgegnete Gaius Popillius Laenas und lächelte heiter und gelassen. »Kehre nach Rom zurück«, befahl der König. »Kehre nach Syrien zurück«, sagte Gaius Popillius Laenas. Aber keiner der beiden wich auch nur einen Zoll zurück. »Du kränkst den Senat und das Volk von Rom«, sagte Gaius Popillius Laenas, nachdem er das wilde Gesicht des Königs eine Weile betrachtet hatte. »Ich bin beauftragt, dafür zu sorgen, daß Du nach Syrien zurückkehrst.« Der König begann zu lachen und wollte gar nicht mehr aufhören. »Und wie willst Du das erreichen?« fragte er schließlich. »Wo ist Deine Armee?« »Ich brauche keine Armee, König Antiochus. Alles, was Rom ist, war und sein wird, steht in diesem Moment vor dir. Ich bin Rom, genauso wie ich Roms größte Armee bin. Und ich fordere dich im Namen Roms abermals auf. — Kehre nach Hause zurück!« »Nein«, erwiderte König Antiochus. Da trat Gaius Popillius Laenas ruhig vor und zog mit seinem Stab im Staub einen Kreis um den König. »Bevor Du diesen Kreis verläßt, König, denke genau nach. Und wenn Du ihn verläßt, dann in Richtung Osten, weil Du nach Syrien zurückkehren wirst.« Der König sagte nichts und tat keinen Mucks. Auch Gaius Popillius Laenas sagte nichts und tat keinen Mucks. Weil er ein Römer war und sein Gesicht nicht zu verbergen brauchte, war seine heitere und gelassene Miene für jedermann sichtbar, König Antiochus’ Gesicht hingegen bedeckte ein gekräuselter, mit Draht durchflochtener Zeremonialbart, aber seine Erregung war ihm dennoch deutlich anzusehen. Die Zeit verstrich. Und dann drehte sich der mächtige König von Syrien, der immer noch in dem Kreis stand, nach Osten um. Er verließ den Kreis und marschierte mit seinen Soldaten nach Syrien zurück. Nun hatte König Antiochus aber auf dem Weg nach Ägypten auch die zu Ägypten gehörende Insel Zypern überfallen und er364
obert. Ägypten brauchte Zypern, weil die Zyprioten Balken für ägyptische Schiffe und Häuser sowie Getreide und Kupfer lieferten. Nachdem sich Gaius Popillius Laenas von den jubelnden Ägyptern verabschiedet hatte, segelte er nach Zypern. Dort traf er die syrische Besatzungsarmee an. »Kehrt nach Hause zurück« sagte er zu den Soldaten. Und sie kehrten nach Hause zurück. Gaius Popillius Laenas selbst brach in Richtung Rom auf. Dort angelangt, berichtete er dem Senat in seiner ruhigen, freundlichen Art, er habe König Antiochus nach Syrien zurückgeschickt und Ägypten und Zypern ein grausames Schicksal erspart. Ich wollte, ich könnte zum Schluß meiner kleinen Geschichte erzählen, daß die beiden Ptolemaios und ihre Schwester Kleopatra hinfort in Eintracht lebten und herrschten, aber leider taten sie dies nicht. Sie bekämpften sich weiterhin, ermordeten einige nahe Verwandte und ruinierten das Land. Bei den Göttern, höre ich Dich fragen, warum erzählst Du mir Kindergeschichten? Ganz einfach, lieber Gaius Marius. Wie oft hast Du auf dem Schoß Deiner Mutter die Geschichte gehört, wie Gaius Popillius Laenas einen Kreis um die Füße des Königs von Syrien zog? Na ja, vielleicht erzählen die Mütter in Arpinum diese Geschichte nicht. In Rom kennt die Geschichte von Gaius Popillius Laenas jedenfalls jedes Kind, egal aus welcher Schicht. Wie also, frage ich, hätte der Urenkel des Helden von Alexandria das Exil wählen können, statt alles auf eine Karte zu setzen und den Prozeß durchzustehen? Wäre er freiwillig ins Exil gegangen, hätte das ein Schuldbekenntnis bedeutet — und ich zum Beispiel glaube, daß unser Gaius Popillius Laenas vor Burdigala richtig gehandelt hat. Um es kurz zu machen: Popillius Laenas blieb und wartete den Prozeß ab. Der Volkstribun Gaius Coelius Caldus gelobte, nicht eher zuruhen, bis Laenas verurteilt sei. Er handelte im Auftrag einer Clique von Senatoren, die ich nicht namentlich nennen möchte — Du darfst Vermutungen anstellen —, einer Clique, die entschlos365
sen war, die Schuld an Burdigala nicht auf Lucius Cassius’ Schultern ruhen zu lassen. Da das einzige auf Hochverrat spezialisierte Gericht Roms nur im Krieg gegen Jugurtha ermittelt, mußte der Prozeß in der Zenturienversammlung stattfinden, im grellen Licht der Öffentlichkeit also. Sollten die Sprecher der einzelnen Zenturien das Urteil ihrer Hundertschaft also laut hinausrufen, so daß alle Welt es hören konnte? Condemno oder Absolvo? Wie könnte ein Römer, der zu Füßen seiner Mutter die Geschichte von Gaius Popillius Laenas und dem Kreis um die Füße des syrischen Königs gehört hatte, noch rufen: Condemno!? Aber ließ sich Caldus davon abschrecken? Mitnichten. Er beantragte in der Volksversammlung, die geheime Abstimmung bei Wahlen auch auf Hochverratsprozesse auszudehnen. So konnten die zur Stimmabgabe aufgerufenen Zenturien sicher sein, daß nicht bekannt wurde, wie einzelne Mitglieder gestimmt hatten. Der Antrag wurde angenommen. Alles schien bestens zu stehen. Anfang Dezember wurde Gaius Popillius Laenas in der Zenturienversammlung des Hochverrats angeklagt. Die Abstimmung war geheim, wie Caldus es gewollt hatte. Aber einige von uns mischten sich unter die Mitglieder der riesigen Jury und flüsterten: »Es war einmal ein vornehmer, tapferer Konsular, der hieß Gaius Popillius Laenas...«, und das war das Ende. Als die Stimmen ausgezählt wurden, hieß es bei allen Zenturien: Absolvo. Man könnte sagen, hier hat die Kinderstube der Römer dafür gesorgt, daß Gerechtigkeit geschah.
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Das fünfte Jahr (106 v. Chr.)
Unter den Konsuln Quintus Servilius Caepio und Gaius Atilius Serranus
Als
Quintus Servilius Caepio den Auftrag erhielt, gegen die Volsker-Tektosagen aus Gallien und ihre germanischen Gäste — die jetzt glücklich wieder ins Gebiet von Tolosa zurückgekehrt waren — zu ziehen, kam das für ihn nicht überraschend. Es war der erste Tag des neuen Jahres. Der Senat hatte sich nach den Feierlichkeiten zur Amtseinführung der Konsuln im Tempel des Jupiter Optimus Maximus versammelt. Und Quintus Servilius Caepio kündigte in seiner Jungfernrede als erster Konsul an, daß er von der neuen römischen Armee nichts wissen wolle. »Ich werde mit altbewährten Soldaten kämpfen, nicht mit diesem armseligen Haufen besitzloser Plebejer!« rief er unter Beifall und Jubelrufen der Senatoren. Natürlich applaudierten nicht alle Senatoren, Gaius Marius stand nicht allein einem ihm feindselig gesonnenen Senat gegenüber. Es gab durchaus einige Hinterbänkler, die bereit waren, Marius’ Standpunkt zu unterstützen, auch wenn sie sich dafür mit der geballten Mehrheit des Senats anlegen mußten. Selbst unter den Mitgliedern der großen Familien gab es unabhängig denkende Männer. Doch den Ton im Senat gaben die Konservativen an, die sich in der ersten Reihe um den Senatsvorsitzenden Scaurus geschart hatten. Wenn sie jubelten, jubelte das Haus, und so wie sie abstimmten, stimmte das Haus ab. Zu dieser Clique gehörte auch Quintus Servilius Caepio, und diese Clique hatte dafür gesorgt, daß die eingeschriebenen Väter Quintus Servilius Caepio eine acht Legionen starke Armee zur Verfügung stellten, damit er den Germanen eine gründliche Lekti368
on erteilen, sie endgültig aus dem Mittelmeerraum vertreiben und den Volsker-Tektosagen aus Tolosa zeigen konnte, daß es sich nicht auszahlte, mit den Germanen gemeinsame Sache zu machen. Etwa viertausend Männer aus Lucius Cassius’ Armee waren unversehrt zurückgekommen. Bis auf einige wenige waren alle nichtkämpfenden Männer ums Leben gekommen, die überlebenden Angehörigen der Kavallerie hatten sich in alle Winde verstreut und die verwaisten Pferde mitgenommen. Quintus Servilius Caepio mußte also 41 000 Fußsoldaten, 12 000 nichtkämpfende Freie, 8000 nichtkämpfende Sklaven, 5000 Reiter und 5000 Pferdeknechte auftreiben. Und das in einem Land, in dem es keine Männer mehr gab, die die Bestimmungen bezüglich der Vermögensgrenzen erfüllten, weder Römer noch Latiner noch Italiker. Caepios Rekrutierungsmethoden waren brutal. Er beteiligte sich nicht persönlich daran, sondern ließ seinen Leuten, einem bezahlten Stab und seinen Quästoren, vollkommen freie Hand. Er beschäftigte sich lieber mit anderen Dingen — Dingen, die eines Konsuls würdiger waren. Die Aushebung der Truppen wurde mit Brachialgewalt durchgeführt, Männer wurden gegen ihren Willen zum Dienst gezwungen, viele wurden entführt, Veteranen wurden aus ihren Häusern geholt und verschleppt. Der vierzehnjährige Sohn eines zwangsweise rekrutierten Kleinbauern, der älter aussah als er in Wirklichkeit war, wurde genauso zum Dienst in der Armee gezwungen wie sein sechzigjähriger Großvater, der jünger wirkte. Wenn die Familie eines zwangsweise Rekrutierten die Hände rang, weil sie das Geld für die Bewaffnung und die Ausrüstung nicht aufbringen konnte, war immer sofort jemand zur Hand, der zwar das Geld zur Verfügung stellte, dafür aber das kärgliche Pachtland beschlagnahmte. Auf diese Weise kamen Quintus Servilius Caepio und seine Helfershelfer zu beträchtlichem Landbesitz. Da aber trotzdem weder die römischen noch die latinischen Bürger genügend Männer zur Verfügung stellen konnten, mußten Roms Verbündete in die Bresche springen. Doch schließlich hatte Caepio seine 41 000 Infanteristen und 12 000 nichtkämpfenden Freien zusammen, und der Senat mußte wie 369
früher weder für Waffen noch für Gerät noch für die Ausrüstung aufkommen. Und weil die große Mehrheit der Soldaten auf die Hilfstruppen der italischen Bundesgenossen entfiel, lag die finanzielle Hauptlast nicht bei Rom, sondern bei den Verbündeten. Der Senat sprach Caepio seinen offiziellen Dank aus und stellte bereitwillig die Gelder für die Anwerbung thrakischer und gallischer Reiter zur Verfügung. Caepio lief mit stolzgeschwellter Brust herum und ließ sich von den Konservativen loben. Zu den Dingen, die Caepio für weit wichtiger und eines Konsuls für würdiger erachtete als die Rekrutierung seiner Soldaten, gehörten seine politischen Pläne. So war er, während seine Werber die Halbinsel durchkämmten, mit Überlegungen beschäftigt, wie er dem Senat zu mehr Macht verhelfen könnte. Seit der Amtszeit von Tiberius Gracchus vor fast dreißig Jahren hatte der Senat deutlich an Macht eingebüßt. Erst Tiberius Gracchus, dann Fulvius Flaccus, dann Gaius Gracchus und nach ihm noch alle möglichen Emporkömmlinge und reformbeflissenen Männer aus der Nobilität hatten nach und nach die Senatoren alten Schlags aus den wichtigsten Gerichten und gesetzgebenden Versammlungen hinausgedrängt. Wenn nicht vor kurzem erst Gaius Marius einen Schlag gegen die Privilegien der Senatoren geführt hätte, wäre Caepio womöglich weniger zielstrebig und nicht so entschlossen an diese Aufgabe herangegangen. Aber Marius’ Gesetz war ein Stich ins Wespennest gewesen, die Senatoren waren sehr beunruhigt. Bereits in den ersten Wochen von Caepios Amtszeit schlug das Pendel in die andere Richtung aus, die Plebs und die Ritter, die in der Versammlung der Plebejer das Sagen hatten, mußten empfindliche Niederlagen einstecken. Als Patrizier hatte Caepio das Recht, eine Volksversammlung einzuberufen, und er durfte davon nicht ausgeschlossen werden. In der Volksversammlung setzte er durch, daß den Rittern das Repetundengericht entzogen wurde, das ihnen seit Gaius Gracchus unterstand. Die Richterbank sollte wie früher ausschließlich vom Senat besetzt werden, und der würde seine eigenen Leute schon 370
schützen. In der Volksversammlung gab es eine harte Auseinandersetzung, der gutaussehende Gaius Memmius führte eine starke Gruppe oppositioneller Senatoren an, doch letztendlich gewann Caepio. Nach diesem Erfolg zog der Konsul Ende März mit acht Legionen und einer starken Reiterei in Richtung Tolosa. Er träumte von einem großen Sieg, nicht um des öffentlichen Ruhmes willen, sondern zu seiner persönlichen Befriedigung. Quintus Servilius Caepio war nämlich ein typischer Vertreter seiner Sippe, den die Aussicht, als Statthalter sein Vermögen zu mehren, weitaus mehr lockte als der Lorbeerkranz des siegreichen Feldherrn. Caepio war schon als Prätor in Hispania Ulterior Statthalter gewesen, als Nachfolger von Scipio Nasica, der das Vertrauen des Senats verloren hatte, und hatte schon damals reich davon profitiert. Als Statthalter im Range eines Konsuls würde er noch mehr profitieren. Wenn es möglich gewesen wäre, jederzeit Truppen auf dem Seeweg von Italien nach Spanien zu bringen, wäre die von Gnaeus Domitius Ahenobarbus gut ausgebaute Straße entlang der Küste von Gallia Transalpina eigentlich überflüssig gewesen. Doch in dieser Jahreszeit, bei anhaltenden Stürmen und unberechenbaren Strömungen, war der Transport über See zu riskant. Caepios Legionen mußten deshalb wie die Soldaten des Lucius Cassius im Jahr zuvor die gut tausend Meilen von der Campania nach Narbo auf dem Landweg zurücklegen. Den Legionären machte der Marsch nichts aus, denn sie alle haßten und fürchteten das Meer, hundert Meilen auf einem Schiff erschienen ihnen schlimmer als tausend Meilen zu Fuß. Der Weg von der Campania nach Narbo dauerte mehr als siebzig Tage, die Soldaten legten also im Durchschnitt knapp fünfzehn Meilen pro Tag zurück. Sie kamen nur langsam voran, weil sie Unmengen von Gerät, unzählige Tiere, Wagen und Sklaven in einem riesigen Troß mit sich führten, denn für einen römischen Soldaten aus einer besitzenden Schicht war es selbstverständlich, daß er allerlei Dinge für den persönlichen Bedarf auf den Feldzug 371
mitnahm. In Narbo, einem kleinen Hafen, den Gnaeus Domitius Ahenobarbus für die Zwecke der römischen Armee hatte ausbauen lassen, schlugen die Soldaten ein Lager auf. Der Aufenthalt war gerade so lang, daß die Legionäre sich von den Strapazen des Marsches erholen und neue Kräfte sammeln konnten. Während ihrer Rast gewannen die Römer einen Eindruck davon, wie wunderschön Narbo im Frühsommer war. Im klaren Wasser des Hafenbeckens tummelten sich Garnelen, Langusten, riesige Krebse und allerlei Fische, in dem schlammigen Grund der Salzwassertümpel an den Mündungen von Aude und Têt lebten Austern und Meeräschen. Die Meeräschen galten als die größte Köstlichkeit, die römische Legionen auf ihren weltweiten Eroberungszügen jemals kennengelernt hatten. Platt und rund wie Teller, beide Augen auf der einen Seite des albernen, flachen Kopfes, dämmerten sie im Schlamm vor sich hin. Man mußte sie ausgraben, und wenn sie dann zappelnd versuchten, sich wieder im schützenden Schlamm einzugraben, wurden sie aufgespießt. Nach sechzehn Tagen wurde zum Aufbruch geblasen. Caepio zog mit seinen Truppen auf der Küstenstraße nach Tolosa. An der Stelle, wo die Aude auf ihrem Weg von den Pyrenäen nach Süden eine Biegung nach rechts machte, ragte die furchteinflößende Festung Carcasso auf. Von dort aus nahmen die Legionen den Weg über das Hügelland zwischen dem breiten Tal der Garonne und den kleinen, zum Meer hinabfließenden Flüssen und erreichten schließlich das fruchtbare Schwemmland bei Tolosa. Caepio besaß wie gewöhnlich ein geradezu unglaubliches Glück. Die Germanen hatten sich mit den Volsker-Tektosagern heftig gestritten und waren von König Copillus von Tolosa daraufhin verjagt worden. Caepio und seinen acht Legionen standen also nur noch die glücklosen Tektosagern gegenüber. Ein einziger Blick auf die waffenstarrenden Reihen, die sich wie eine endlose Schlange die Hügel hinabwanden, genügte den Tektosagern, um zu erkennen, daß Zurückhaltung geboten war und nicht Heldenmut. König Copillus und seine Krieger zogen sich an die Mündung der Ga372
ronne zurück und warnten die dort lebenden Stämme. Dann warteten sie ab, ob Caepio denselben Fehler begehen würde wie Lucius Cassius im Jahr zuvor. In Tolosa waren nur einige wenige alte Männer zurückgeblieben. Die Stadt kapitulierte sofort, und Caepio triumphierte. Denn Caepio hatte gehört, daß hinter den Mauern von Tolosa angeblich ein Goldschatz lagerte. Jetzt konnte er den Schatz heben, ohne daß er eine einzige Schlacht geschlagen hatte. Fortuna war auf seiner Seite!
Vor einhundertundsiebzig Jahren hatten sich die VolskerTektosagern der gallischen Völkerwanderung angeschlossen, die von dem großen keltischen König Brennus angeführt wurde. Brennus überrollte Makedonien, zog durch Thessalien, zerschlug die griechische Verteidigungsfront am Thermopylenpaß und drang nach Mittelgriechenland und Epirus vor. Er zerstörte und plünderte die drei reichsten Tempel der Welt — den Dodonatempel in Epirus, den Zeustempel in Olympia und das große Heiligtum des Apollo und der Pythia in Delphi. Doch dann schlugen die Griechen zurück, und die Gallier mußten mit ihrer Beute nach Norden flüchten. Brennus starb an den Folgen einer Verwundung, und damit löste sich sein großartiger Plan in Nichts auf. In Makedonien beschlossen die führerlosen Stämme, über den Hellespont nach Kleinasien zu ziehen. Ein Teil der Gallier siedelte sich dort an und gab der Gegend den Namen Galatien. Etwa die Hälfte der Tektosagern zog jedoch nach Tolosa zurück. Bei einer großen Beratung einigten sich die Stämme darauf, die Beute aus insgesamt fünfzig Tempelplünderungen den heimwärts ziehenden Tektosagern anzuvertrauen. Nach ihrer Heimkehr sollten sie die Ausbeute der Völkerwanderung in Tolosa aufbewahren, bis alle Stämme nach Gallien zurückkehren und ihren Anteil einfordern würden. Um den Transport zu erleichtern, schmolzen sie alles ein: massivgoldene, gedrungene Statuen, fünf Fuß hohe Silberurnen, Becher, Teller und Pokale, goldene Dreifüße, Kränze aus Gold und Silber 373
— alles landete Stück für Stück im Schmelztiegel, und dann rollten eintausend schwerbeladene Karren durch die stillen Täler der Donau nach Westen. Es dauerte mehrere Jahre, bis sie die Garonne und Tolosa erreichten.
Caepio hatte in seiner Zeit als Statthalter von Hispania Ulterior von dieser phantastischen Geschichte gehört, und seitdem träumte er davon, den Schatz von Tolosa zu finden, obwohl sein spanischer Informant ihm damals versichert hatte, die Geschichte mit dem Schatz sei nur ein Märchen. In Tolosa gebe es kein Gold, das könne jeder beschwören, der einmal die Stadt besucht habe. Der Reichtum der Tektosagern beschränke sich auf den fischreichen Fluß und die fruchtbare Erde. Caepio aber glaubte an sein Glück. Er spürte, daß der Schatz in Tolosa lag. Warum sonst hatte die Fügung des Schicksals ihn dazu bestimmt, davon zu erfahren? Warum sonst war er ausersehen, als Nachfolger von Lucius Cassius nach Tolosa zu ziehen? Warum sonst waren die Germanen davongerannt und hatten ihm genau diese Stadt kampflos überlassen? Das Schicksal meinte es gut mit ihm. Er legte seinen Brustpanzer ab und zog die purpurbesetzte Toga an. Dann streifte er durch die Straßen der Stadt, schaute in alle Nischen und Ecken der Zitadelle und wanderte über die Weiden und Äcker am Rande der Stadt, die nach spanischer Art angelegt waren. Tolosa war keine typisch gallische Siedlung — keine Druiden, keine kleinliche Bauweise. Selbst die Tempel waren nach spanischer Manier angelegt: malerische Parks mit künstlichen Bächen und Seen, die vom Wasser der Garonne gespeist wurden. Entzückend! Nachdem seine eigene Suche vergeblich geblieben war, setzte Caepio die Legionäre auf den Schatz an. Es wurde eine ausgelassene Schatzsuche, die Soldaten waren vom Druck einer bevorstehenden Schlacht befreit und verteilten im Geiste schon ihren Anteil an der sagenhaften Beute. Doch das Gold blieb unauffindbar. Sicher gab es in den Tem374
peln das eine oder andere wertvolle Kunstwerk — aber keinen Goldschatz. Die Zitadelle war eine einzige Enttäuschung, wie Caepio bereits festgestellt hatte. Sie barg nur Waffen, holzgeschnitzte Gottheiten, Horngefäße und Teller aus gebranntem Ton. König Copillus hatte sehr bescheiden gelebt, und hinter der schlichten Steintäfelung der Säle gab es nicht einmal versteckte Lagerräume. Nach einer Weile kam Caepio auf die glorreiche Idee, seine Soldaten die Parkanlagen um die Tempel umgraben zu lassen. Umsonst. Nirgendwo, nicht einmal im tiefsten Erdloch, schimmerte auch nur eine Goldmünze. Die Wahrsager schwangen ihre Wünschelruten, ohne auch nur das leiseste Kribbeln in den Händen zu spüren, ganz zu schweigen davon, daß ihre zweizinkigen Zauberstäbe mit Macht nach unten gezeigt hätten. Nach den Tempelanlagen kamen die Felder und die Straßen an die Reihe. Noch immer nichts. Die Umgebung von Tolosa ähnelte bald einem riesigen, unwirklichen Maulwurfshügel, und Caepio lief grübelnd darauf hin und her.
In der Garonne tummelten sich zahlreiche Fischarten, darunter auch Salme und verschiedene Karpfensorten, und da der Fluß die Seen in den Tempelanlagen speiste, waren auch sie reich an Fischen. Die Legionäre gingen zum Angeln lieber an die Seen, denn der Fluß war breit, sehr tief und reißend. Wenn Caepio seine Runden machte, traf er viele Soldaten, die mit Weidenruten und Fliegenködern angelten. Bei einer seiner Runden kam er an den größten See des Parks. Gedankenverloren stand er am Ufer und beobachtete das Spiel der Sonne auf den Schuppen der flinken Fische, das plötzliche Aufblitzen, das Glitzern zwischen den Wasserpflanzen. Meistens war es ein silbriges Glitzern, doch wenn dann und wann ein seltener Karpfen vorbeiglitt, erhaschte er einen goldenen Schimmer. Langsam sickerte eine Idee in sein Bewußtsein. Und dann schlug sie ein, explodierte förmlich in seinem Kopf. Er schickte nach 375
seinen Ingenieuren und befahl ihnen, die Seen trockenzulegen — eine nicht sehr komplizierte, dafür aber überaus lohnende Aufgabe. Da lag der Schatz von Tolosa, versenkt auf den Grund der heiligen Wasser, verborgen von Schlamm, Schlingpflanzen und den natürlichen Ablagerungen vieler Jahrzehnte. Als der letzte Goldbarren gespült und verstaut war, kam Caepio und begutachtete den Fund. Er war starr vor Staunen. Aus einer Laune heraus hatte er der Bergung nicht beigewohnt, er wollte sich die Überraschung nicht verderben. Und überrascht war er, geradezu erschüttert: 50 000 Goldbarren lagen vor ihm, jeder etwa 15 Pfund schwer, das waren zusammen 15 000 Talente; dann 10 000 Silberbarren von je 20 Pfund, zusammen 3000 Talente in Silber. Und in den Seen lag noch mehr Silber. Es stellte sich heraus, daß die Tektosagen ihren Reichtum darauf verwendet hatten, Mühlsteine aus Silber herzustellen. Einmal im Monat hoben sie ihre silbernen Mühlsteine an Land, um Getreide zu mahlen. »Ausgezeichnet«, sagte Caepio voller Tatendrang. »Wie viele Wagen können wir entbehren, um den Schatz nach Narbo zu schaffen?« Die Frage war an Marcus Furius gerichtet, seinen praefectus fabrum, der für den Nachschub zuständig war und für den Transport von Material, Geräten, Viehfutter und sonstigem, was eine Armee im Feld benötigte. »Nun, Quintus Servilius, wir haben etwa tausend Wagen für den Gepäcktransport. Im Moment ist ungefähr ein Drittel davon leer. Sagen wir dreihundertfünfzig, wenn ich ein wenig umschichte. Sofern jeder Wagen mit etwa fünfunddreißig Talenten beladen wird — das ist viel, aber nicht zuviel —, brauchen wir etwa dreihundertfünfzig Wagen allein für das Silber und noch einmal vierhundertfünfzig Wagen für das Gold«, antwortete Marcus Furius. Er gehörte nicht der bekannten Familie Furius an, sondern war der Urenkel eines Sklaven aus dem Hause Furius, und inzwischen war er Bankier und Caepios Klient. »Dann schlage ich vor, daß wir zuerst das Silber auf dreihundertfünfzig Wagen laden, verschiffen, in Narbo löschen und die Wa376
gen nach Tolosa zurückbringen, damit wir anschließend das Gold transportieren können«, sagte Caepio. »In der Zwischenzeit werde ich hier hundert Wagen entladen lassen, so daß wir das ganze Gold auf einen Schub wegbringen können.« Am Ende des Monats Quintilis war das Silber entlang der Küste verschifft, gelöscht, und die leeren Wagen waren nach Tolosa zurückgebracht worden. Caepio hatte in der Zwischenzeit, wie angekündigt, hundert weitere Wagen entladen lassen. Während das Gold verladen wurde, lief Caepio wie im Delirium von einem Goldhaufen zum anderen, immer wieder streichelte er im Vorübergehen ein paar Goldbarren. Er nagte eine Weile nachdenklich an seiner Hand, dann seufzte er und sagte zu seinem praefectus fabrum: »Am besten begleitest du den Goldtransport, Marcus Furius. In Narbo soll möglichst ein Mann von hohem Rang dabei sein, bis der letzte Barren unter Deck ist.« Er wandte sich an den freigelassenen griechischen Sklaven Blas. »Das Silber ist doch hoffentlich schon auf dem Weg nach Rom?« »Nein, Quintus Servilius«, antwortete Blas hastig. »Die Transportschiffe, die die schweren Güter heil durch die Winterstürme gebracht haben, sind verschwunden. Ich konnte nur noch ein Dutzend seetüchtiger Schiffe auftreiben, und ich dachte, es wäre besser, sie für das Gold zu reservieren. Das Silber liegt schwerbewacht in einem Lagerhaus, dort ist es vollkommen sicher. Ich denke, je schneller wir das Gold nach Rom verschiffen, desto besser. Wenn wieder geeignete Schiffe einlaufen, werde ich sie gleich für das Silber reservieren lassen.« »Vielleicht können wir das Silber auch auf dem Landweg nach Rom bringen«, sagte Caepio leichthin. »Selbst angesichts der Gefahr, daß ein Schiff untergehen kann, Quintus Servilius, plädiere ich für den Seeweg«, sagte Marcus Furius. »Auf dem Landweg lauern zu viele Gefahren von den räuberischen Alpenstämmen.« »Ja, du hast recht«, stimmte Caepio zu und seufzte. »Es ist fast zu schön, um wahr zu sein. Wir senden mehr Gold und Silber nach Rom, als in sämtlichen römischen Schatzkammern liegt!« 377
»Ja, Quintus Servilius«, sagte Marcus Furius. »Es ist wirklich ganz wunderbar.«
Mitte des Monats Sextilis fuhren die 450 mit Gold beladenen Wagen in Tolosa los. Sie wurden von nur einer Kohorte begleitet, denn die römischen Straßen waren sicher, sie führten durch ein zivilisiertes Land. Man konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann es auf einer römischen Straße zum letzten Mal einen Überfall gegeben hatte. Außerdem wußten Caepios Späher zu berichten, daß sich König Copillus und seine Männer noch immer in Burdigala aufhielten, wahrscheinlich in der Hoffnung, daß Caepio denselben Fehler machen würde, der Lucius Cassius und seinen Soldaten das Leben gekostet hatte. Als erst einmal Carcasso erreicht war, ging es buchstäblich nur noch bergab, hinunter zum Meer, und der Transport kam merklich schneller voran als bisher. Alle freuten sich, niemand war besorgt. Die Legionäre glaubten schon die salzige Meerluft zu schmecken. Bei Einbruch der Dunkelheit, so wußten sie, würden sie mit den Wagen durch Narbo holpern, und sie dachten an nichts anderes mehr als an Austern, Meeräschen und Mädchen. Die Angreifer — es waren über tausend Mann — stürmten von Süden her aus dem Wald, der rechts und links die Straße säumte. Im Handumdrehen riegelten sie die Straße vor und hinter dem zwei Meilen langen Zug ab, an dessen Enden sich je eine Hälfte der Begleitkohorte befand. Bevor die Römer wußten, wie ihnen geschah, lagen ihre Soldaten und die Wagenlenker niedergemetzelt im Staub — ein einziges Gewirr von Armen und Beinen. Es war eine schöne, klare Nacht. Seit Stunden war den Römern auf der Straße keine Menschenseele begegnet, denn die römischen Straßen wurden fast nur für Truppenbewegungen genutzt, und in diesem Teil der römischen Provinz war überdies der Handel zwischen der Küste und dem Landesinneren nahezu eingeschlafen, vor allem seit der Zeit, als sich die Germanen bei Tolosa niedergelassen hatten. 378
Als der Vollmond hoch am Himmel stand, wurden die Maultiere wieder vor die Wagen gespannt. Einige der Angreifer stiegen auf und lenkten die Wagen, während andere nebenher gingen und die Tiere führten. Hinter dem Waldstück hielten sie sich rechts und fuhren auf einem karg bewachsenen Landstreifen entlang der Küste weiter, wo höchstens Schafe ihre spärliche Nahrung fanden. Als es dämmerte, hatten sie den Têt nördlich liegengelassen, der Wagenzug kehrte auf die Via Domitia zurück und überquerte am hellichten Tag den Pyrenäenpaß. Auf der Südseite der Pyrenäen schlängelte sich der Zug abseits der römischen Straßen über gewundene Pfade dahin, bis er westlich der Stadt Saetabis den Jücar überquerte. Von dort aus ging es auf dem schnellsten Weg über die große Ebene, einen öden, dürren Landstrich, der sich zwischen den beiden großen Bergketten Spaniens hinzog und den normalerweise niemand durchquerte, weil es dort kaum Wasser gab. Dort verlor sich die Spur des Goldtransports, und alle Nachforschungen nach dem weiteren Schicksal des Schatzes von Tolosa blieben vergeblich.
Ein Meldereiter, der mit einer Botschaft nach Narbo unterwegs war, hatte das Pech, die Leichenhaufen an der Straße im Wald östlich von Carcasso zu entdecken. Er eilte zurück nach Tolosa und berichtete Quintus Servilius Caepio von seinem grausigen Fund. Weinend brach Caepio zusammen. Er weinte um Marcus Furius, er weinte um die römischen Soldaten der Kohorte, er weinte um die Witwen und Waisen in Italien, aber am meisten weinte er um die rötlich glitzernden Goldhaufen, um den Schatz von Tolosa, der nun für immer verloren war. Wie konnten die Götter eine solche Ungerechtigkeit geschehen lassen? Er hatte doch eine Glückssträhne, stieß er immer wieder schluchzend hervor. In ein schwarzes Trauergewand ohne Streifen auf der Schulter gehüllt, darunter eine dunkle Tunika, rief Caepio seine Truppen zusammen. Als er ihnen die Nachricht verkündete, die sich gerüchteweise schon im Lager verbreitet hatte, brach er erneut in 379
Tränen aus. »Aber wenigstens bleibt uns das Silber«, tröstete er sich und seine Soldaten und wischte sich die Tränen fort. »Es ist genug, daß jeder von euch nach dem Feldzug einen ansehnlichen Betrag mit nach Hause bringen wird.« »Ich bin schon für eine kleine Entlohnung dankbar«, sagte ein einfacher Soldat und Veteran zu seinem Zeltgenossen. Sie kamen beide von kleinen Bauernhöfen in Umbrien und waren in den letzten fünfzehn Jahren nicht weniger als zehnmal zum Militärdienst gezwungen worden. »Ach ja?« fragte sein Kamerad. Er konnte nicht mehr allzu klar denken, seit er bei einem Kampf mit einem Skordisker eine Kopfwunde davongetragen hatte. »Ganz recht! Hast du jemals gehört, daß ein Feldherr sein Gold mit Abschaum wie uns geteilt hätte? Irgendwie findet sich doch immer ein Grund, daß nur er einen Anteil kriegt. Und natürlich das Schatzamt. Er zahlt das Schatzamt aus und sichert sich so den größten Teil des Kuchens. Wenigstens bekommen wir einen Anteil vom Silber, genug war es ja, man hätte daraus einen Berg aufschütten können. Bei der ganzen Aufregung über das verlorene Gold hat der Konsul keine andere Wahl, als uns an dem Silberschatz zu beteiligen.« »Ach so«, sagte sein Kamerad. »Komm, wir fangen uns einen schönen fetten Lachs zum Abendessen.« Das Jahr ging seinem Ende zu, und Caepios Armee saß tatenlos herum. Es hatte nur einen einzigen Kampf gegeben, und dem waren die Bewacher des Goldschatzes zum Opfer gefallen. Caepio schrieb nach Rom, schilderte die ganze Geschichte, angefangen von den verschwundenen Germanen bis zu dem verlorenen Gold, und bat um Instruktionen. Im Oktober erhielt er die Antwort, und sie fiel so aus, wie er erwartet hatte. Er solle mitsamt seiner Armee in der Nähe von Narbo bleiben, lautete die Anweisung, dort den Winter verbringen und im Frühjahr auf neue Befehle warten. Das bedeutete, daß man sein Kommando um ein Jahr verlängert hatte und er Statthalter 380
von Gallia Narbonensis blieb. Aber ohne das Gold bedeutete ihm das nicht viel. Caepio war reizbar und trübsinnig, er weinte oft, und seine Offiziere beobachteten, wie er stundenlang leise Worte vor sich hinmurmelnd auf und ab lief. So war er nun einmal, dachten sich die Offiziere, bestimmt galten seine Tränen nicht Marcus Furius oder den toten Soldaten. Caepio weinte allein um das verlorene Gold.
Zu den Besonderheiten eines derart langen Feldzuges gehört es, daß sich die einfachen Soldaten und die Offiziere in dem jeweiligen Land einrichten, fast als wären sie dort zu Hause. Trotz dauernder Truppenbewegungen, Scharmützel, Raubüberfälle und Schlachten wird das Feldlager allmählich zu einer kleinen Stadt. Die meisten Soldaten finden Frauen, viele der Frauen bekommen Kinder, außerhalb der stark befestigten Mauern siedeln sich Läden, Gasthäuser und fliegende Händler an. Lehmziegelhäuser für die Frauen und Kinder schießen wie Pilze aus dem Boden und bilden ein unübersichtliches Netz von engen Straßen. Genauso sah es auch in dem römischen Feldlager bei Utika aus, und auch in dem Feldlager bei Cirta war es nicht viel anders. Marius hatte seine Zenturionen und Militärtribunen sorgsam ausgewählt und nutzte die Regenzeit, in der man nicht kämpfen konnte, zum Exerzieren, aber auch zum Zusammenstellen neuer Achtergruppen für die Zelt- und Essensmannschaften. Und er mußte zahllose Reibereien schlichten, Streithähne trennen, lautstark Unzufriedene in die Schranken weisen, denn das enge Zusammenleben so vieler Menschen für eine so lange Zeit brachte eine Menge Probleme mit sich. Sobald aber der warme, fruchtbare, trockene africanische Frühling anbrach, wurde das Lager von einer Unruhe erfaßt, nicht unähnlich dem wellenförmigen Beben auf dem Rücken eines Pferdes. Die Waffen für die nächsten Feldzüge wurden geputzt, Testamente aufgesetzt und beim Legionsschreiber hinterlegt, Kettenhemden geölt und poliert, Lanzen wurden gespitzt und 381
Dolche geschliffen, Helme wurden gegen Hitze und Wundreiben mit Filz unterlegt, Sandalen repariert und mit neuen Nägeln beschlagen, Tuniken geflickt, und allerlei kaputte Gerätschaften wurden dem Zenturio vorgelegt und aus dem Vorrat ersetzt. Der Winter war auch die Zeit, in der der Quästor des Schatzamtes aus Rom anreiste und den Sold für die Legion brachte. Die Schreiber entwickelten hektische Aktivitäten, schlossen ihre Bücher ab und zahlten den Sold aus. Marius hatte für seine Soldaten, die ja besitzlos waren, zwei Kassen eingerichtet, in die ein Teil des Lohns zwangsweise abgeführt wurde. Aus einer Kasse wurde eine standesgemäße Beerdigung bezahlt, falls ein Legionär in der Fremde starb, unabhängig von einem Kampf — wenn er im Kampf fiel, zahlte der Staat die Beerdigung —, und in der zweiten Kasse wurde ein Teil des Soldes gespart und den Legionären erst bei der Entlassung ausbezahlt. Die Männer der africanischen Armee wußten, daß für das Frühjahr, unter der Amtszeit des Konsuls Caepio, große Dinge geplant waren, aber nur die höchsten Offiziere kannten die genauen Pläne. Leichte Marschbefehle wurden ausgegeben, nicht die unendlich langen, von Ochsen gezogenen Lastzüge setzten sich in Bewegung, sondern nur maultierbespannte Wagen, mit denen die Soldaten ohne weiteres Schritt halten konnten und die gleichzeitig als Wagenburg für das Nachtlager dienten. Die Soldaten mußten ihre gesamte Ausrüstung selbst tragen. Geschickt hatten sie einen kräftigen, gegabelten Stock auf der linken Schulter befestigt und daran Rasierzeug, Kleidung zum Wechseln, Socken, Kniehosen für kaltes Wetter und mehrere dicke Halstücher, die das Wundreiben durch das Kettenhemd verhindern sollten, aufgehängt, alles in eine Decke gerollt und in einem Fellsack verpackt. Aber sie trugen noch mehr: das sagum, den derben Umhang, der gegen Sturm und Regen schützte und der in einem Lederbeutel verstaut war, Eßnapf und Kochtopf, einen Wasserschlauch, eine Dreitagesration Lebensmittel, eine gekerbte Stange für den Palisadenbau am Abend, Werkzeug zum Bau von Befestigungen, einen ledernen Eimer oder einen Weidenkorb, eine Säge oder eine Sichel, ferner Putz382
zeug für Rüstung und Waffen. Das Schild, umhüllt von einem geschmeidigen Zickenfell, hing über dem Rücken unter den anderen Gegenständen. Der Helm, dessen ausladender Busch aus gefärbtem Pferdehaar abmontiert und sorgfältig verstaut war, wurde entweder am Stock befestigt oder über die rechte Brust geschnürt und nur vor einem Kampf aufgesetzt. Das zwanzig Pfund schwere Kettenhemd zog der Soldat auf jedem Marsch an. Allerdings lastete nicht das gesamte Gewicht auf den Schultern, denn das Hemd wurde mit Hilfe eines Gürtels eng um die Taille geschnürt, so daß sich das Gewicht auf die Hüften verlagerte. Rechts am Gürtel hingen Schwert und Scheide, links der Dolch. Nur die beiden Speere, die jeder Legionär besaß, mußte er nicht selbst tragen. Jeweils acht Männern war ein Maultier zugeteilt, und auf seinen Rücken schnallte man das lederne Zelt, die Zeltstangen, die Speere und, falls nicht innerhalb von drei Tagen Nachschub besorgt werden konnte, eine Extra-Ration Lebensmittel. Achtzig Legionäre und zwanzig nichtkämpfende Männer bildeten eine Hundertschaft und unterstanden einem Zenturio. Jeder dieser Zenturien war ein Maultierkarren zugewiesen, der mit allen übrigen Ausrüstungsgegenständen beladen wurde — Ersatzkleidung, schweres Werkzeug, Ersatzwaffen, Teile aus Weidengeflecht für die Befestigung des Lagers und, falls erforderlich, Lebensmittelrationen für längere Streckenabschnitte. Wenn alle Soldaten gleichzeitig marschierten und nicht abzusehen war, daß sie am Ende eines Feldzuges in das Ausgangslager zurückkehren würden, ließ man sämtliche Beutestücke und schweren Waffen auf Ochsenkarren geladen und unter schwerer Bewachung weit hinter dem Zug herführen. Als Marius im Frühjahr in den westlichen Teil Numidiens aufbrach, blieb das schwere Gepäck natürlich in Utika zurück, und trotzdem war es ein eindrucksvoller Zug, der sich scheinbar endlos dahinzog. Jede Legion nahm einschließlich der Maultierkarren und schweren Waffen etwa eine Meile in Anspruch, und Marius führte insgesamt sechs Legionen sowie seine Kavallerie nach 383
Westen. Die Kavallerie ließ er allerdings auf gleicher Höhe mit den Fußsoldaten reiten, so daß sein Zug ungefähr sechs Meilen lang war. Auf offenem Land bestand keine Gefahr, denn kein Feind konnte sich unbemerkt so verteilen, daß er alle Teile des Zuges gleichzeitig angreifen konnte. Sollte dennoch ein Überraschungsangriff auf eine Stelle des Zuges erfolgen, konnten alle anderen Abteilungen zum Gegenangriff übergehen und den Feind umzingeln, und dabei nahmen sie automatisch die richtige Kampfformation ein. Trotzdem wurde jeden Abend ein befestigtes Lager errichtet. Die Soldaten mußten eine Fläche abmessen und abstecken, die groß genug war, um sämtliche Menschen und Tiere der Armee unterzubringen, sie mußten tiefe Löcher ausheben und die gespitzten Pfähle, stimuli genannt, in den Boden rammen, sie mußten Erdwälle und Palisaden errichten. Dann aber konnten alle außer den Wachposten in der sicheren Gewißheit schlafen, daß kein Feind unbemerkt in das Lager eindringen konnte. Die Männer dieser Armee, die zum erstenmal ausschließlich aus Besitzlosen rekrutiert war, bezeichneten sich selbst als die »Maultiere des Marius«, weil Marius sie wie Maultiere beladen hatte. In den herkömmlichen Armeen, die aus Besitzenden bestanden, hatte selbst der einfachste Soldat ein Maultier, einen Esel oder zumindest einen Sklaven, der Gepäck trug, und wer sich das nicht leisten konnte, mietete sich bei den anderen ein. Niemand wußte, wie viele Wagen und Karren zur Verfügung standen — die meisten waren in Privatbesitz —, und eine herkömmliche römische Armee kam dadurch wesentlich langsamer und schwerfälliger voran als Marius’ africanische Plebejerarmee — und die vielen Armeen, die in den darauffolgenden sechs Jahrhunderten ähnlich zusammengesetzt waren.
Wie ein riesiges, aus menschlichen Leibern zusammengesetztes Ungetüm wälzte sich der sechs Meilen lange Zug unaufhaltsam in den westlichen Teil Numidiens. Um das Tempo zu halten, aber 384
auch aus einem Gefühl von Kameradschaft und Nähe sangen die Soldaten unaufhörlich und aus vollem Halse Marschlieder. Der Einklang der Stimmen und Füße schweißte die Männer zusammen, und in der Mitte des Zuges marschierten der Feldherr Marius und sein Stab und sangen mit. Ihre Ausrüstung wurde von Maultieren gezogen, aber auch sie gingen zu Fuß, denn Reiten wäre nicht nur unbequemer, sondern vor allem auffälliger gewesen. Allerdings hatten sie ihre Reittiere ganz in der Nähe, damit sie bei einem Angriff die Lage sofort überblicken und den Truppen schneller Befehle erteilen konnten. »Jede Stadt, jedes Dorf, jede Siedlung wird niedergemacht«, beschloß Marius, an Sulla gewandt. Dieser Plan wurde umgehend ausgeführt, und mehr als das: Aus Getreidespeichern und Räucherhäusern ergänzten die Soldaten ihre Lebensmittelvorräte, Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt, denn die Soldaten vermißten ihre Ehefrauen, und Geschlechtsverkehr zwischen Männern wurde mit dem Tode bestraft. Aber vor allem hielten die Soldaten die Augen nach Beute offen, obwohl private Bereicherung eigentlich verboten war und alle Beute in den Besitz der Armee überging. Nach jeweils acht Tagen wurde eine Pause eingelegt, und wenn es sich ergab, daß die Marschroute an der Küste entlang führte, durften die Soldaten drei Tage ausruhen, schwimmen, fischen und sich satt essen. Ende Mal waren sie schon westlich von Cirta, Ende des Quintilis hatten sie den sechshundert Meilen weiter westlich gelegenen Fluß Mulucha erreicht. Bis jetzt war es ein leichter Feldzug gewesen, keine Spur von Jugurthas Soldaten, kein Widerstand in den numidischen Siedlungen, und die Römer hatten noch reichlich Lebensmittel und Trinkwasser. Die karge Armeekost, bestehend aus Zwieback, Erbsenbrei, gepökeltem Speck und Käse, war mit Ziegenfleisch, Fisch, Kalb, Hammel, Obst und Gemüse angereichert worden und hatte alle bei Laune gehalten. Neben dem üblichen sauren Wein erwiesen sich das Gerstenbier der Berber und die guten Weine aus manchen Regionen als willkommene Abwechslung. 385
Der Mulucha bildete die natürliche Grenze zwischen dem westlichen Teil Numidiens und dem östlichen Teil von Mauretanien. Im Winter war er ein reißender Strom, im Sommer ein dünnes Rinnsal mit gelegentlichen Wasserlöchern, im Herbst ein trockenes Bett. Inmitten der Ebene, unweit des Meeres, ragte jäh ein zerklüfteter Vulkanberg von tausend Fuß Höhe auf, und hoch oben, am Gipfel dieses Berges, hatte Jugurtha eine Festung errichtet. In dieser Festung, so wurde Marius von seinen Kundschaftern berichtet, befand sich ein riesiges Vermögen, denn die Festung war Jugurthas westliches Hauptquartier. Die römischen Soldaten erreichten die Ebene und marschierten bis zu den steilen Ufern, die der Fluß gegraben hatte. Dort schlugen sie ihr Hauptlager auf, so nah an der Festung wie möglich. Dann studierten Marius, Sulla, Sertorius, Aulus Manlius und andere hohe Offiziere in aller Ruhe die scheinbar uneinnehmbare Zitadelle. »Einen Frontalangriff können wir vergessen«, sagte Marius. »Und ich für meinen Teil sehe auch keine Möglichkeit, sie zu belagern.« »Es gibt keine Möglichkeit, sie zu belagern«, bestätigte der junge Sertorius. Er hatte den Berggipfel mehrmals gründlich von allen Seiten untersucht. Sulla hob den Kopf, damit er die Bergspitze unter seiner Hutkrempe zu sehen bekam. »Ich glaube, wir werden hier unten sitzen und niemals da hinauf gelangen«, bemerkte er grinsend. »Selbst wenn wir ein riesiges Holzpferd konstruieren würden, könnten wir es nie bis zu den Toren dort oben schaffen.« »Genausowenig können wir einen Belagerungsturm hinaufschaffen«, überlegte Aulus Manlius. »Nun, wir haben ungefähr einen Monat Zeit, dann müssen wir wieder nach Osten«, sagte Marius schließlich. »Ich schlage vor, wir bleiben solange hier. Wir werden den Männern den Aufenthalt so schmackhaft wie möglich machen — Lucius Cornelius, überlege, wo du das Trinkwasser herbekommen willst, und dann weise die tieferen Wasserlöcher stromabwärts zum Schwimmen aus. 386
Aulus Manlius, du kannst Angelausflüge ans Meer organisieren, es soll nur zehn Meilen entfernt sein, sagen unsere Kundschafter. Wir beide werden morgen gemeinsam zur Küste reiten und die Gegend ein wenig erforschen. Sie werden auf keinen Fall das Risiko eingehen, ihre Festung zu verlassen, um uns zu überfallen, unsere Männer sollen also ruhig ihr Vergnügen haben. Quintus Sertorius, du kümmerst dich um die Beschaffung von Obst und Gemüse.« »Weißt du«, sagte Sulla später, als er mit Marius allein im Generalstabszelt saß, »dieser ganze Feldzug war bis jetzt eine einzige Vergnügungsreise. Wann werde ich endlich einmal verwundet werden?« »Du hättest in Capsa dabeisein sollen, die Stadt hat sich kampflos ergeben.« Marius warf einen prüfenden Blick auf seinen Quästor. »Wird es dir langsam langweilig, Lucius Cornelius?« »Eigentlich nicht«, antwortete Sulla und runzelte die Stirn. »Ich hätte nie gedacht, wie interessant das Leben beim Militär sein kann. Immer gibt es etwas Interessantes zu tun, interessante Probleme zu lösen. Sogar die Buchführung macht mir nichts aus! Es ist nur, daß ich endlich einmal verwundet werden möchte. Schau dich an. Als du so alt warst wie ich, hattest du schon Dutzende von Schlachten hinter dir. Aber ich — nichts, keine Schlacht, keine Verwundung.« »Dir wird sich schon noch eine Gelegenheit bieten, Lucius Cornelius, und hoffentlich recht bald.« »Wie?« »Aber sicher. Was meinst du, warum wir hier sind, fern von allen Städten und Siedlungen?« »Warte, laß mich nachdenken!« erwiderte Sulla schnell. »Du bist hier, weil... weil du hoffst, daß du König Bocchus so einschüchtern kannst, daß er sich mit Jugurtha verbündet... Und wenn sich Bochus mit Jugurtha verbündet, fühlt sich Jugurtha stark genug, uns anzugreifen.« »Sehr gut!« sagte Marius lächelnd. »Dieses Land ist so riesengroß, daß wir problemlos zehn Jahre hier herummarschieren kön387
nen, ohne Jugurtha auch nur einmal zu Gesicht zu bekommen. Hätte er seine Gaetuler nicht, würde es ausreichen, wenn wir die festen Siedlungen zerstören und damit seinen Widerstand brechen, aber so nützt uns das nichts. Doch er ist zu stolz, als daß er tatenlos mit ansehen kann, wie eine römische Armee seine Städte und Dörfer verwüstet. Und überdies wird er die Auswirkungen unserer Raubzüge spüren, vor allem bei der Getreideversorgung. Aber er ist schlau, er wird sich nie auf eine offene Schlacht mit mir einlassen. Außer wir bringen Bocchus dazu, daß er ihn unterstützt. Die Mauren können mindestens zwanzigtausend Mann auf die Beine stellen, dazu noch fünftausend Mann beste Kavallerie. Wenn Bocchus dazustößt, wird Jugurtha uns mit ziemlicher Sicherheit angreifen.« »Fürchtest du nicht, daß er uns zusammen mit Bocchus überlegen sein könnte?« »Nein! Sechs gut trainierte und gut geführte römische Legionen werden mit jedem Feind fertig, egal wie stark er ist.« »Aber Jugurtha hat das Kriegshandwerk bei Scipio Aemilianus in Numantia gelernt«, erwiderte Sulla. »Er wird kämpfen wie ein Römer.« »Es gibt auch noch andere Könige, die die römische Kriegführung beherrschen«, sagte Marius, »aber sie haben keine römischen Truppen, darauf kommt es an. Unsere Art der Kriegführung wurde entsprechend dem Charakter unseres Volkes entwickelt, und ich mache da keinen Unterschied zwischen Römern, Latinern und Italikern.« »Disziplin«, sagte Sulla. »Organisation«, ergänzte Marius. »Nur — weder Disziplin noch Organisation bringen unsere Truppen auf diesen Berg hinauf«, stellte Sulla fest. Marius lachte. »Das ist wahr! Aber es gibt trotzdem immer eine Unbekannte, Lucius Cornelius.« »Und die wäre?« »Glück«, sagte Marius. »Vergiß niemals, daß auch Glück eine Rolle spielt.« 388
Sulla und Marius waren inzwischen gute Freunde geworden. Natürlich gab es zwischen ihnen manche Meinungsverschiedenheiten, aber in grundlegenden Dingen waren sie sich sehr ähnlich. Sie waren beide Pragmatiker, hatten sich beide gegen Widerstände nach oben gekämpft, beide konnten sehr kühl abwägen und auch sehr leidenschaftlich sein. Die auffallendste Gemeinsamkeit aber war die Liebe zu ihrer Arbeit, die sie mit Freude und Gewissenhaftigkeit verrichteten. In den Anfangsjahren der Freundschaft schlummerten jene Seiten ihrer Persönlichkeiten noch, die sie hätten entzweien können. Sulla, der jüngere, konnte und wollte nicht zu Marius, dem Älteren, in Konkurrenz treten, und weder Sullas Hang zur Rücksichtslosigkeit noch Marius’ Neigung zum Sturm auf alles Althergebrachte traten in diesen Jahren bereits in Erscheinung. »Jene Männer setzen sich durch«, sagte Sulla und streckte sich, »die glauben, daß jeder sein Glück selbst in der Hand hat.« Marius sah ihn mit großen Augen an, und dabei schnellten seine Augenbrauen nach oben. »Aber sicher! Und es ist doch recht angenehm zu wissen, daß man das Glück auf seiner Seite hat.«
Publius Vagiennius, der aus dem ligurischen Hinterland stammte und in einer Hilfsschwadron der Kavallerie diente, hatte nach der Errichtung des Lagers am Ufer des Mulucha sehr viel mehr Arbeit, als ihm lieb war. Auf der Ebene wuchs zum Glück das für diese Gegend typische lange, dichte Gras, das sich im Sommer silbern verfärbte, und so hatten die vielen Maultiere mehr als genug zu fressen. Die Pferde jedoch waren anspruchsvoller und knabberten nur lustlos an dem harten, strohigen Gras, bis man sie schließlich weiter in die Ebene hineinführte, wo nördlich des Zitadellenberges der Boden feuchter war und zarteres Gras wuchs. Jeder andere Feldherr als Marius hätte erlaubt, daß die ganze Kavallerie ein eigenes Lager in der Nähe der Pferdeweiden aufschlug, dachte Publius Vagiennius verärgert. Aber nein. Gaius Marius wollte den Bewohnern der Zitadelle keinerlei Angriffs389
punkte bieten, und so hatte er allen befohlen, im Hauptlager zu bleiben, ausnahmslos. Die Kundschafter mußten sich jeden Morgen zuerst versichern, daß kein Feind in der Nähe lauerte, dann erst durften die Kavalleristen ihre Pferde auf die Weide führen, und abends mußten sie wieder ins Lager zurückgebracht werden. Das bedeutete auch, daß man die Pferde anpflocken mußte, denn es wäre zu aufwendig gewesen, sie jeden Abend wieder einzufangen. Jeden Morgen mußte Publius Vagiennius eines seiner beiden Reittiere besteigen und, das andere Pferd an der Leine, über die Ebene bis zu dem guten Grasland reiten, dort die Pferde so anpflocken, daß sie den Tag über genug zu fressen hatten, und dann die fünf Meilen zum Lager zu Fuß zurückgehen. Und kaum hatte nach einem langen Arbeitstag seine freie Zeit begonnen — so schien es ihm wenigstens —, mußte er sich wieder auf den Weg machen und die Pferde losbinden. Doch ein Kavallerist war einfach nicht zum Gehen geboren. Da er schwerlich etwas dagegen einwenden konnte, daß er zu Fuß zum Lager zurückgehen mußte, nachdem er die Pferde auf die Weide gebracht hatte, paßte Publius Vagiennius seinen Tagesablauf schließlich seiner neuen Arbeit an. Morgens, wenn er ohne Sattel und Zaumzeug hinausritt — nur ein Narr würde den wertvollen Sattel und das Zaumzeug den ganzen Tag unbewacht im Freien lassen —, nahm er jetzt immer einen Wassersack und einen Proviantbeutel mit, den er am Gürtel befestigte. Sobald er dann seine Pferde am Fuß des Zitadellenberges angepflockt hatte, suchte er sich ein schattiges Plätzchen und döste den Rest des Tages vor sich hin. Als er das vierte Mal auf diese Weise unterwegs war, ließ er sich mit Wassersack und Proviantbeutel in einer blütenduftenden, von hohen Felsen eingeschlossenen Kuhle nieder, lehnte sich an einen bemoosten Felsvorsprung und nickte ein. Ein zarter Windstoß wehte über die Spalten und Erker des felsigen Berges hin und trug einen merkwürdig feuchten, strengen Geruch ins Tal hinab, einen Geruch, der Publius Vagiennius so in Aufregung versetzte, daß er 390
mit einem Satz auf den Füßen war. Er kannte diesen Geruch gut. Schnecken. Große, fette, saftige, fleischige Schnecken! In den ligurischen Seealpen und den dahinterliegenden hohen Alpen, der Heimat von Publius Vagiennius, gab es viele Schnekken, er war sozusagen mit Schnecken aufgewachsen. Wegen seiner Vorliebe für diese schmackhaften Tiere war es regelrecht zu einer Sucht geworden, jedes Essen mit Knoblauch zu würzen. Es gab wohl kaum jemanden, der sich besser mit Schnecken auskannte als Publius Vagiennius. Er träumte davon, eines Tages Schnekken zu züchten und zu verkaufen, ja vielleicht würde es ihm sogar gelingen, eine ganz neue Sorte zu züchten. Manche Menschen hatten eine Nase für Weine, andere eine Nase für Parfüms, und Publius Vagiennius hatte eben eine Nase für Schnecken. Der zarte Duft, den der Wind vom Zitadellenberg zu ihm heruntergeweht hatte, sagte ihm, daß irgendwo dort oben Schnecken von unvergleichlicher Köstlichkeit zu finden waren. Er machte sich mit dem Eifer eines Trüffelschweines auf die Suche und folgte den Signalen seiner Nase, dabei kletterte er über Stock und Stein immer weiter nach oben. Seit er im September des letzten Jahres mit Lucius Cornelius Sulla nach Africa gekommen war, hatte er keine Schnecken mehr gegessen. Die africanischen Schnecken waren angeblich die besten auf der ganzen Welt, aber er hatte noch keine zu sehen bekommen. Die wenigen Tiere, die auf den Märkten von Utika und Cirta angeboten wurden, wanderten auf direktem Weg auf die Tische der Militärtribunen und Legaten oder wurden gleich nach Rom verschickt. Ein weniger aufmerksamer Beobachter hätte bestimmt nicht die uralte Fumarole entdeckt, die schon lange keine Vulkandämpfe mehr ausstieß, denn sie lag hinter einer scheinbar unversehrten Basaltwand aus säulenartigen Kristallen verborgen. Mit der Nase am Boden schnüffelte sich Publius Vagiennius um die massiv wirkende Felswand herum und stieß auf einen riesigen Kamin. In Millionen von Jahren, seitdem der Vulkan nicht mehr aktiv war, war der Vulkanspalt mit Staub zugeweht worden. Auf der im Windschatten gelegenen Seite des Spalts war die Staubschicht zu 391
einer hohen Wand angewachsen, aber es war noch immer möglich, sich zu dieser natürlichen Höhlung Zutritt zu verschaffen. Sie maß ungefähr zwanzig Fuß im Durchmesser, und in einer Höhe von vielleicht zweihundert Fuß konnte man ein Fleckchen Himmel erkennen. Die Wände ragten steil nach oben und schienen auf den ersten Blick unbezwingbar, doch für Publius Vagiennius, einen Mann der Berge und Schneckenkenner auf der Suche nach dem unübertroffenen Genuß, waren sie kein Hindernis. Er bezwang die Fumarole und kletterte höher hinauf, nicht ohne Mühe, aber niemals in Gefahr abzustürzen. Oben kam er auf einen grasbewachsenen Felsvorsprung, der vielleicht einhundert Fuß lang und fünfzig Fuß breit war. Hier war der Kamin zu Ende. Er befand sich auf der Nordseite des zerklüfteten Vulkanberges, dort, wo das Lavagestein größtenteils ausgewaschen war — die äußeren Erdschichten des Berges waren seit Äonen verschwunden — und dem Sickerwasser freien Lauf ließ. Der Felsvorsprung war dadurch ständig feucht, das Wasser tropfte sogar über den Rand der Fumarole, das meiste aber lief durch eine Rinne nach außen über die Felsen. Einige hundert Fuß weiter oben ragte ein mächtiger Felsbrocken nach vorne und überdachte den Vorsprung weitgehend. Die Felswand zwischen dem Vorsprung und dem Felsbrocken bildete eine nach vorne offene Höhle, an der das Sickerwasser herabtropfte, ein Paradies für Farne, Moose, Leberblümchen und Riedgras. An einer Stelle schien der darüberliegende Berg so mächtig auf den Fels zu drücken, daß sich sogar ein kleines Rinnsal gebildet hatte, das munter seinen Weg durch die Höhle suchte und mit dem Sickerwasser zusammen über den Felsvorsprung troff. Dies war offensichtlich der Grund, warum das Gras auf der Nordseite des zerklüfteten Vulkans so viel zarter war. Dort, wo jetzt die offene Höhle gähnte, hatten sich früher Schlammablagerungen befunden, die tief in die Lavaschicht eingedrungen waren und das Wasser gebunden hatten. Sobald sie an die Oberfläche getreten waren, hatten Wind und Wetter sie gierig weggefressen. Der Bergkenner Publius Vagiennius wußte, daß der 392
riesige Basaltbrocken, der so gefährlich vornüber ragte, eines Tages so tief unterspült sein würde, daß er herunterbrechen und den Felsvorsprung, die Höhle und den alten Vulkanschlot unter sich begraben würde. Die große Höhle war der ideale Lebensraum für Schnecken, sie war ständig feucht, eine Oase in dem sonst so trockenen Land. Verrottete Pflanzen und winzige tote Insekten — Delikatessen für die Schnecken — gab es reichlich. Außerdem war der Platz schattig und durch einen von unten über ein Drittel der Länge aufragenden, nach außen sich neigenden Fels vor Winden geschützt. Der ganze Ort roch durchdringend nach Schnecken, aber diese Sorte kam Publius Vagiennius’ Nase völlig unbekannt vor. Als er endlich eine Schnecke entdeckte, war er sprachlos vor Erstaunen. Das Schneckenhaus war so groß wie die Innenfläche seiner Hand! Jetzt sah er, daß es von Schnecken nur so wimmelte, Dutzende, Hunderte krochen herum. Kein Schneckenhaus war kleiner als sein Zeigefinger, manche größer als die ausgestreckte Hand. Er traute seinen Augen kaum, kletterte in die Höhle hinein und sah sich mit wachsender Verwunderung um. An der rückwärtigen Wand entdeckte er einen steil nach oben führenden Gang. Kein Gang für Schnecken, dachte er vergnügt, eher ein Gang für Schlangen! Der Gang führte in eine Felsspalte und von da in eine kleinere, abgeschlossene Höhle, in der viele Farne wuchsen. Hier gab es sogar noch mehr Schnecken. Und dann gelangte er auf die andere Seite des überhängenden Felsens und sah, daß dieser auch mindestens hundert Fuß breit war. Er kletterte weiter, zog sich hoch und kam von den himmlischen Gefilden in den Tartarus der Schnekken, in die trockene, windgegerbte Lavaschicht auf der Oberfläche des Felsüberhangs. Heftig atmend und voller Angst duckte er sich schnell hinter einen Stein, denn kaum fünfhundert Fuß über ihm ragte die Festung auf. Den Abhang konnte man mühelos bezwingen, und die Außenmauer der Zitadelle war so niedrig, daß er sich ohne fremde Hilfe hätte hinaufziehen können. Publius Vagiennius stieg wieder in den Schlangengang hinab, 393
ließ sich in die Höhle hinunter und sammelte ein halbes Dutzend Schnecken ein, und steckte sie, jede einzelne sorgfältig in feuchte Blätter gewickelt, in die weiten Falten seiner Tunika. Dann begann er mit dem gefährlichen Teil des Abstiegs. Seine kostbare Fracht war ihm dabei hinderlich, spornte ihn jedoch zugleich zu einer geradezu übermenschlichen Kletterpartie an. Schließlich stand er wieder wohlbehalten in seinem kleinen, blühenden Tal. Er nahm einen tiefen Schluck Wasser und fühlte sich gleich besser, seinen hübschen, schleimigen Schnecken war nichts passiert. Er hatte nicht die Absicht, sie mit jemandem zu teilen, deshalb verstaute er sie zusammen mit den feuchten Blättern und ein wenig Erde, die er mit Wasser aus seinem Sack getränkt hatte, im Proviantbeutel. Den Beutel verschnürte er sorgfältig, damit die Schnecken nicht herauskriechen konnten, und dann streckte er sich an einem schattigen Platz aus. Am nächsten Tag speiste er königlich. Er hatte einen Topf mitgebracht, garte darin zwei seiner Schnecken und verspeiste sie mit einer köstlichen Soße aus Öl und Knoblauch. Was für ein Genuß! Große Schnecken mußten nicht unbedingt zäh sein, im Gegenteil, sie waren besonders ausgeprägt im Geschmack und brauchten kaum gewürzt zu werden. Sechs Tage lang bereitete sich Publius Vagiennius täglich zwei Schnecken zu, noch einmal kletterte er zur Fumarole hoch und holte sich ein weiteres halbes Dutzend. Am siebten Tag begann ihn das Gewissen zu plagen. Hätte er die Gabe der Selbstbeobachtung besessen, dann hätte er feststellen können, daß seine Gewissensbisse im gleichen Maße zunahmen wie seine durch den Schneckengenuß hervorgerufenen Verdauungsstörungen. Zunächst dachte er nur, was für ein egoistischer mentula er doch war — da saß er hier und aß die Schnecken ganz allein, obwohl er doch unter seinen Kameraden so viele gute Freunde hatte. Und dann ging ihm auf, daß er einen Weg gefunden hatte, wie man auf den Berg gelangen konnte. Noch drei Tage lang rang er mit sich und seinem Gewissen, dann befiel ihn eine so schreckliche Übelkeit, daß ihm der Appetit 394
auf Schnecken gründlich verging und er sich wünschte, er hätte nie auch nur von Schnecken gehört. Da endlich faßte er einen Entschluß. Er machte sich nicht die Mühe, sich erst beim Führer seiner Einheit zu melden, sondern ging direkt zum Feldherrn. Ungefähr in der Mitte des Lagers, wo die via praetoria vom Vorder- zum Hintereingang des Lagers sich mit der via principalis kreuzte, die die beiden Seiteneingänge verband, stand das Feldherrenzelt mit dem Fahnenmast und einem Versammlungsplatz zu beiden Seiten. Hier, in diesem aus Weidengeflecht zusammengehaltenen Bau, der sich durchaus mit einem Holzhaus messen konnte, befanden sich Gaius Marius’ Hauptquartier und seine Privaträume. Im Schatten einer langen, über den Haupteingang gespannten Zeltplane standen ein Tisch und ein Stuhl für den diensthabenden Militärtribunen, der alle, die den Feldherrn zu sprechen wünschten, überprüfte und die zahlreichen Anfragen an die zuständigen Stellen weiterleitete. Zu beiden Seiten des Eingangs hielten Posten in lockerer Haltung, aber sehr aufmerksam Wache. Sie wurden für die Eintönigkeit ihres Dienstes dadurch entschädigt, daß sie die Gespräche zwischen dem diensthabenden Militärtribunen und den Vorsprechenden mit anhören konnten. An diesem Tag hatte Quintus Sertorius Dienst, und ihm machte die Arbeit außerordentlich Spaß. Es gefiel ihm, die Versorgungsprobleme, Diziplinarfälle, Moralfragen und Streitigkeiten, die an ihn herangetragen wurden, zu lösen, als wären es Rätsel. Er freute sich, daß Gaius Marius ihm zunehmend schwierigere und verantwortungsvollere Aufgaben übertrug. Quintus Sertorius empfand für Gaius Marius fast so etwas wie Heldenverehrung, die Haltung des unfertigen Schülers, der die reife Vollendung seines Meisters anerkennt. Gaius Marius konnte ihm jede noch so unangenehme Aufgabe anvertrauen, Quintus Sertorius erfüllte sie mit Freuden, und während andere junge Mllltärtribunen den Dienst vor dem Feldherrenzelt haßten, liebte Quintus Sertorius ihn über alles. Interessiert betrachtete Quintus Sertorius den ligurischen Kavalleristen, der in der typischen Gangart des Reiters daherschlurfte, 395
nicht daran gewöhnt, die Beine zum Gehen zu benützen. Kein sehr ansprechender Bursche, dachte Quintus Sertorius, wahrscheinlich konnte nur seine Mutter etwas Hübsches an ihm finden. Doch sein Kettenhemd war auf Hochglanz poliert, die weichen ligurischen Reiterstiefel waren mit funkelnden Sporen versehen, und die ledernen Kniehosen wirkten erstaunlich sauber. Er roch nach Pferd, aber das gehörte bei den Kavalleristen einfach dazu und hatte nichts damit zu tun, wie oft sie sich badeten oder ihre Kleider wuschen. Zwei Paar gescheiter, brauner Augen blickten sich an und fanden Gefallen aneinander. Noch keine Auszeichnungen, dachte Quintus Sertorius bei sich, aber die Kavallerie hatte bis jetzt ja auch noch nichts zu tun gehabt. Ziemlich jung für diese Aufgabe, dachte Publius Vagiennius, aber ein richtig gutaussehender Soldat — gibt es selten. Ein typischer römischer Fußsoldat, kein Gefühl für Pferde. »Publius Vagiennius, ligurische Kavallerieschwadron«, stellte er sich vor. »Ich möchte Gaius Marius sprechen.« »Rang?« fragte Quintus Sertorius. »Einfacher Soldat der Hilfstruppen.« »Worum geht es?« »Eine persönliche Angelegenheit.« »Der Feldherr«, sagte Quintus Sertorius freundlich, »empfängt keine einfachen Soldaten der berittenen Hilfstruppen, besonders wenn sie ganz alleine kommen. Wo ist dein Tribun, Legionär?« »Er weiß nicht, daß ich hier bin«, antwortete Publius Vagiennius mit trotziger Miene. »Es geht um eine persönliche Sache.« »Gaius Marius ist ein vielbeschäftigter Mann«, entgegnete Quintus Sertorius. Publius Vagiennius stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch und streckte seinen Kopf vor. Die Wolke von Knoblauchgeruch warf Sertorius fast um. »Jetzt hör mal zu, junger Herr, du sagst Gaius Marius, daß ich einen Vorschlag zu machen habe, der ihm viele Vorteile bringen wird — aber ich werde ihn nur ihm 396
persönlich unterbreiten. Das ist mein letztes Wort.« Quintus Sertorius platzte schier vor Lachen, aber er verzog keine Miene und erhob sich. »Warte hier, Legionär«, sagte er. Das Innere des Zeltes war durch eine Wand aus Leder in zwei Hälften geteilt, eine in das Leder geschnittene Klappe in der Mitte diente als Tür. Im hinteren Teil schlief Marius, im vorderen war sein Arbeitsraum. Der vordere Teil war sehr viel größer als der hintere, verschiedene zusammenklappbare Stühle und Tische, Stapel von Landkarten, etliche Modelle für Belagerungsmaschinen, die sich die Ingenieure zur Zitadelle am Mulucha ausgedacht hatten, standen dort, daneben tragbare Regale mit unzähligen Dokumenten, Schriftrollen, Büchern und Papieren. Gaius Marius saß auf seinem elfenbeinernen Amtsstuhl hinter dem großen Klapptisch, den er als seinen persönlichen Schreibtisch bezeichnete, ihm gegenüber saß Aulus Manlius, sein Legat, an der schmalen Seite Lucius Cornelius Sulla, sein Quästor. Sie waren offensichtlich mit einer unangenehmen Arbeit beschäftigt, die nur die Herzen der Bürokraten vom Schatzamt höher schlagen ließ — mit Berichten und Buchführung. Quintus Sertorius merkte auf den ersten Blick, daß das hier eine Vorbesprechung war, denn wenn es ernst wurde, nahmen verschiedene Sekretäre und Schreiber an den Besprechungen teil. »Gaius Marius, entschuldige die Unterbrechung«, begann Sertorius zaghaft. Etwas in seiner Stimme ließ alle drei Männer aufschauen. Sie blickten ihn scharf an. »Es sei dir vergeben, Quintus Sertorius. Was gibt es?« fragte Marius lächelnd. »Nun, wahrscheinlich ist es reine Zeitverschwendung, aber draußen steht ein Legionär der ligurischen Kavallerie. Er will unbedingt mit dir persönlich sprechen und will mir nicht sagen, worum es geht.« »Ein Legionär der ligurischen Kavallerie«, wiederholte Marius langsam. »Und was hat sein Tribun dazu zu sagen?« »Er hat nicht mit seinem Tribunen gesprochen.« 397
»Hm, streng geheim, was?« Marius betrachtete Sertorius eingehend. »Warum sollte ich diesen Mann vorlassen, Quintus Sertorius?« Quintus Sertorius grinste. »Wenn ich dir das bloß sagen könnte«, antwortete er. »Ich weiß es nicht, das sage ich dir ganz ehrlich. Aber — ich bin mir nicht sicher, wahrscheinlich täusche ich mich, aber — ich denke, du solltest mit ihm sprechen, Gaius Marius. Ich habe so ein Gefühl.« Marius legte die Papiere aus der Hand. »Führ ihn herein.« Der Anblick der gesamten obersten Heeresführung schüchterte Publius Vagiennius kein bißchen ein. Er blinzelte in dem dämmrigen Licht, und auf seinem Gesicht zeigte sich nicht eine Spur von Furcht. »Das ist Publius Vagiennius«, sagte Sertorius und wollte hinausgehen. »Bleib hier, Quintus Sertorius«, sagte Marius. »Also, Publius Vagiennius, was hast du mir zu sagen?« »Eine ganze Menge«, sagte Publius Vagiennius. »Dann schieß los, Mann!« »Ja, sofort«, erwiderte Publius Vagiennius unbeeindruckt. »Die Sache ist die, daß ich überlege, was ich zuerst mache. Soll ich zuerst über meine Information sprechen oder zuerst über den Handel, den ich vorzuschlagen habe?« »Hängt das eine mit dem anderen zusammen?« fragte Aulus Manlius. »Auf jeden Fall, Aulus Manlius.« »Dann laß uns dein Geschäft hören«, entschied Marius mit undurchdringlicher Miene. »Mir gefällt die indirekte Methode.« »Schnecken«, sagte Publius Vagiennius. Alle vier Römer blickten ihn an, niemand sprach ein Wort. »Ich habe folgendes Geschäft anzubieten«, erklärte Publius Vagiennius geduldig. »Es geht um Schnecken, die größten, saftigsten Schnecken, die ihr je gesehen habt.« »Also darum stinkst du auf eine Meile Entfernung nach Knoblauch!« sagte Sulla. 398
»Schnecken kann man nicht ohne Knoblauch essen«, sagte Vagiennius. »Wie können wir dir mit deinen Schnecken behilflich sein?« fragte Marius. »Ich möchte eine Konzession«, antwortete Vagiennius, »und ich möchte ein Empfehlungsschreiben an die richtigen Leute in Rom, daß ich sie verkaufen kann.« »Ich verstehe.« Marius blickte Manlius, Sulla und Sertorius an. Alle saßen mit unbewegter Miene da. »Gut, du bekommst deine Konzession. Und einer von uns dreien wird auch ein Empfehlungsschreiben zustande bringen. Nun, und welche Information hast du für uns?« »Ich habe einen Weg gefunden, wie man auf den Berg kommen kann.« Sulla und Aulus Manlius richteten sich kerzengerade auf. »Du hast einen Weg auf den Berg gefunden«, wiederholte Marius langsam. »Ja.« Marius erhob sich von seinem Schreibtisch. »Zeig ihn mir«, verlangte er. Aber Publius Vagiennius zuckte zurück. »Ja, das werde ich, Gaius Marius, natürlich! Aber zuerst müssen wir die Sache mit meinen Schnecken erledigen.« »Kann das nicht warten, Mann?« fragte Sulla drohend. »Nein, Lucius Cornelius, kann es nicht!« beharrte Publius Vagiennius. Damit bewies er, daß er wußte, welche Männer zur obersten Heeresleitung gehörten und wie sie hießen. »Der Weg auf den Gipfel des Berges führt mitten durch mein Schneckenrevier. Es ist mein Schneckenrevier, ich habe es entdeckt! Die besten Schnecken der Welt kriechen dort! Hier.« Er griff nach seinem Proviantbeutel, der ganz unüblich quer über seinem langen Reiterspieß hing, und schnürte ihn auf. Vorsichtig holte er eine fünfzehn Zentimeter lange Schneckenmuschel hervor und setzte sie mitten auf Marius’ Schreibtisch. Alle starrten wie gebannt auf die Schnecke, es herrschte völli399
ges Stillschweigen. Da die Oberfläche des Tisches kühl und glatt war, traute sich die Schnecke nach wenigen Augenblicken aus ihrem Schneckenhaus heraus. Sie war nämlich hungrig, und außerdem hatte das Gerüttel in Publius Vagiennius’ Proviantbeutel sie in ihrer Ruhe gestört. Jetzt kroch sie wie ein Kaninchen aus dem Bau. Sie schob nicht den Kopf vor wie eine Schildkröte, sondern hob die Muschel in die Höhe und trat als Ansammlung unförmiger, schleimiger Klumpen in Erscheinung. Aus einem der Klumpen entstand ein spitz zulaufender Schwanz, aus dem anderen ein stumpfer Kopf, aus dem sich trübe Stielaugen wie aus dem Nichts hervorhoben. Als diese Verwandlung vollendet war, begann sie hörbar an dem Mulch zu kauen, den Publius Vagiennius um sie herumgewickelt hatte. »Pfah!« entfuhr es Gaius Marius, »das nenne ich eine Schnekke.« »In der Tat«, sagte Quintus Sertorius. »Davon könnte eine ganze Armee satt werden«, sagte Sulla. Sein Geschmack, was Essen betraf, war eher konventionell, er mochte weder Schnecken noch Pilze. »Das ist es!« schrie Publius Vagiennius. »Genau das ist es! Ich möchte nicht, daß diese gierigen mentulae« — bei diesem Wort zuckten seine Zuhörer zusammen — »über meine Schnecken herfallen! Dort oben sind sehr viele Schnecken, aber fünfhundert Soldaten, das wäre das Ende. Ich möchte sie an einen geeigneten Platz in Rom bringen und eine Zucht aufmachen. Und ich möchte nicht, daß mein Schneckenrevier zertrampelt wird. Ich will eine Konzession, und ich will, daß mein Schneckenrevier vor allen cunni in dieser Armee sicher ist!« »Das hier ist also ein Heer von cunni«, sagte Marius ernst. »Es trifft sich gut«, näselte Aulus Manlius in seinem vornehmen Tonfall, »denn ich kann dir da wohl behilflich sein, Publius Vagiennius. Ich habe einen Klienten aus Tarquinia — in Etrurien, weißt du —, der hat einen sehr exklusiven und teuren Laden auf dem Feinschmeckermarkt — in Rom, verstehst du —, und dort verkauft er Schnecken. Sein Name ist Marcus Fulvius — kein 400
adliger Fulvius, weißt du —, und ich habe ihm vor ein paar Jahren ein bißchen Geld vorgeschossen, damit er auf die Beine kommt. Sein Laden geht sehr gut, und ich könnte mir vorstellen, daß er gerne mit dir ins Geschäft kommen würde, wenn ich mir diese wunderbare — wirklich wunderbare, Publius Vagiennius! — Schnecke so anschaue.« »Also abgemacht, Aulus Manlius«, erwiderte der Legionär. »Zeigst du uns jetzt endlich den Weg auf den Berg?« drängte Sulla, der immer ungeduldiger wurde. »Gleich, gleich«, bremste ihn Vagiennius. Er wandte sich an Marius, der schon seine Stiefel schnürte. »Zuerst möchte ich von meinem Feldherren hören, daß mein Schneckenrevier sicher ist.« Marius machte den letzten Knoten an seinem Stiefel und richtete sich auf. Er blickte Publius Vagiennius tief in die Augen. »Publius Vagiennius«, sagte er, »du bist ein Mann nach meinem Geschmack! Du verbindest handfeste Geschäftsinteressen mit treuem patriotischen Geist. Sei unbesorgt, ich gebe dir mein Wort darauf, dein Schneckenrevier ist dir sicher. Und jetzt führe uns bitte auf den Berg.« Zusammen mit dem leitenden Ingenieur machte sich die kleine Truppe wenig später auf den Weg. Um Zeit zu sparen, ritten sie, Vagiennius auf seinem besseren Pferd, Gaius Marius auf dem älteren, aber eleganten Roß, das er sonst bei Paraden ritt. Sulla blieb seiner Vorliebe für Maultiere treu. Aulus Manlius, Quintus Sertorius und einer der Ingenieure ritten Ponys aus den Beständen des Heeres. Die Spalte war kein Problem für den Ingenieur. »Das ist einfach«, meinte er und blickte den Kamin hinauf. »Ich baue eine schöne, breite Treppe bis ganz nach oben, dafür ist genug Platz.« »Wie lange wirst du brauchen?« fragte Marius. »Zufällig habe ich einige Wagenladungen Dielen und kurze Balken dabei. Also — ich würde sagen, zwei Tage, wenn ich Tag und Nacht arbeite«, antwortete der Ingenieur. »Dann mach dich gleich an die Arbeit«, sagte Marius und sah Vagiennius voller Bewunderung an. »Du mußt zu drei Vierteln das 401
Blut einer Bergziege haben, daß du hier heraufklettern kannst.« »Ich bin in den Bergen geboren und aufgewachsen«, gab Vagiennius stolz zurück. »Gut, dein Schneckenrevier wird ohnehin sicher sein, bis die Treppe fertig ist«, sagte Marius. Sie kehrten zu den Pferden zurück. »Wenn deine Schnecken bedroht sind, werde ich mich persönlich darum kümmern.« Fünf Tage später hatte Gaius Marius die Zitadelle am Mulucha eingenommen, dazu einen ungeheuren Schatz an Silbermünzen, Silberbarren und tausend Talente in Gold. Außerdem fanden sie noch zwei kleine Truhen, die eine war randvoll gefüllt mit den feinsten, roten carbunculus-Steinen, die sie je gesehen hatten, die andere mit Steinen, die ihnen völlig unbekannt waren: lange, von Natur geschliffene Kristalle, von Menschenhand sorgfältig poliert, am einen Ende schimmerten sie rosa, am anderen Ende ging die Farbe langsam zu dunklem Grün über. »Das ist ein Vermögen« sagte Sulla. Er hielt einen der zweifarbigen Steine in der Hand, die die Einheimischen lychnites nannten. »Ja, das ist es!« freute sich Marius. Alle Soldaten mußten antreten, und Publius Vagiennius wurde öffentlich, vor dem ganzen Heer, mit neun phalerae aus massivem Silber ausgezeichnet. Die großen, runden Schmuckscheiben waren in Hochrelief getrieben und wurden von schlichten, silberbeschlagenen Riemen zu drei Reihen mit je drei Stück zusammengehalten. So konnten sie auf der Brust über dem Brustpanzer oder über dem Kettenhemd getragen werden. Publius Vagiennius war stolz auf die Auszeichnung, aber viel mehr bedeutete es ihm, daß Marius Wort hielt und das Schneckenrevier vor Plünderern schützte, indem er den Weg auf den Gipfel einzäunen ließ. Der Durchgang wurde mit Leder umspannt, so daß die Soldaten nicht einmal sehen konnten, was für saftige Leckereien durch das dicht mit Farnkraut bewachsene Unterholz krochen. Sobald sie den Gipfel eingenommen hatten, befahl Marius, die Treppe unverzüglich zu zerstören. Aulus Manlius hatte inzwischen an seinen Klienten, 402
den nichtadligen Marcus Fulvius, geschrieben und die Geschäftsverbindung angebahnt für die Zeit, wenn der Krieg in Africa vorüber und Publius Vagiennius entlassen wäre. »Denk daran, Publius Vagiennius«, sagte Marius, als er ihm die neun silbernen phalerae verlieh, »wir vier erwarten in den nächsten Jahren die entsprechende Belohnung — Schnecken gratis auf unseren Tafeln, mit einer Extraportion für Aulus Manlius.« »Abgemacht«, sagte Publius Vagiennius. Er hatte zu seinem tiefsten Kummer feststellen müssen, daß ihm Schnecken seit seiner Übelkeit überhaupt nicht mehr schmeckten. Aber er sah die Schnecken jetzt mit dem aufmerksamen Auge des Hegers und nicht mehr mit dem Auge des Jägers.
Am Ende des Monats Sextilis machte sich das Heer auf den Rückweg aus dem Grenzland. Die Versorgung unterwegs warf keine Probleme auf, denn die Ernte war bereits eingefahren. Der Besuch am äußersten Rand von König Bocchus’ Reich erzielte die gewünschte Wirkung. Bocchus war überzeugt, daß Marius jetzt, wo er Numidien erobert hatte, nicht mehr Halt machen würde, und beschloß, sich mit seinem Schwiegersohn Jugurtha zusammenzutun. Er eilte mit seinem maurischen Heer an den Mulucha. Dort traf er auf Jugurtha, der wartete, bis Marius abgezogen war, und dann seine ausgeraubte Bergzitadelle wieder besetzte. Die beiden Könige folgten den Spuren der Römer auf dem Weg nach Osten. Sie hatten es nicht eilig mit einem Angriff und hielten sich in gebührender Entfernung, so daß sie unbemerkt blieben. Erst als Marius keine hundert Meilen mehr vor Cirta stand, schlugen sie zu. Die Dunkelheit brach gerade herein, die Römer waren eifrig damit beschäftigt, ihr Lager aufzuschlagen. Dennoch traf sie der Angriff nicht völlig unvorbereitet, denn Marius sorgte immer dafür, daß Wachen aufgestellt waren, während man das Lager errichtete. Die Landvermesser legten zuerst die vier Ecken fest, diese wurden ausgesteckt, und dann ließ sich das gesamte Heer 403
mit größter Präzision auf dem vorgesehenen Platz nieder. Jede Legion wußte, wo sie hingehörte, jede Kohorte jeder Legion, jede Hundertschaft jeder Kohorte. Niemand stolperte über den anderen, niemand stand am falschen Ort, niemand belegte zuviel Raum. Die Maultiere, die das Gepäck trugen, wurden an ihren Platz getrieben, die nichtkämpfenden Mannschaften jeder Zenturie kümmerten sich um die Maultiere und um die Wagen, von denen jede Hundertschaft einen besaß. Die Zugführer sorgten dafür, daß Tiere und Wagen untergebracht wurden. Mit Grabwerkzeugen und Palisadenpfosten aus ihren Rucksäcken ausgerüstet, marschierten die Soldaten, immer noch in voller Bewaffnung, zu dem Stück Umzäunung, für das sie zuständig waren. Sie arbeiteten in ihren Kettenhemden, mit Schwertern und Dolchen im Gurt. Ihre Speere waren fest in den Boden gerammt, daran lehnten ihre Schilde, die Helme hatten sie an den Kinngurten um die Speere und über die Schilde gehängt, so daß der Wind den Aufbau nicht umwerfen konnte. Auf diese Weise waren Helm, Schild und Speer auch bei der Arbeit stets griffbereit. Die Kundschafter spürten den Feind nicht auf — nach ihren Berichten war alles ruhig — und halfen beim Ausheben der Gräben und beim Aufrichten von Palisaden. Die Sonne war untergegangen. In der kurzen, schimmernden Dämmerung, bevor die Nacht hereinbrach, strömten die numidischen und maurischen Truppen hinter einem nahegelegenen Hügelkamm hervor und überfielen das halbfertige Lager. Die Schlacht fand in tiefster Finsternis statt, ein verzweifelter Kampf, und mehrere Stunden sah es nach einer Niederlage für die Römer aus. Schließlich wies Quintus Sertorius alle nichtkämpfenden Männer an, Fackeln anzuzünden, bis das Schlachtfeld so weit erleuchtet war, daß Marius sich einen Überblick verschaffen konnte, und von da an besserte sich die Lage der Römer. Sulla tat sich in der Schlacht besonders hervor. Er ermutigte die Truppen, die Müdigkeit zeigten oder in Panik gerieten, und tauchte überall dort auf, wo man ihn brauchte — es schien wie ein Wunder, war aber in Wirklichkeit seinem angeborenen Blick für 404
militärische Situationen zu verdanken. Er erkannte stets im voraus, wo sich die nächste Schwachstelle bilden würde. Mit blutigem Schwert und blutüberströmt warf er sich in den Kampf wie ein erfahrener Soldat — mutig im Angriff, vorsichtig in der Verteidigung, glänzend in jeder schwierigen Situation. Und nach acht Stunden nächtlichen Kampfes errangen die Römer den Sieg. Die numidischen und mauretanischen Truppen zogen sich einigermaßen geordnet zurück, aber mehrere Tausend ihrer Soldaten blieben auf dem Schlachtfeld liegen, während Marius überraschend wenig Männer verloren hatte. Am nächsten Morgen zog die römische Armee weiter, denn Marius hatte beschlossen, daß eine Ruhepause für seine Männer nicht in Frage komme. Die Toten des eigenen Heeres wurden verbrannt, wie es Sitte war, die Toten des Feindes überließ man den Geiern. Diesmal marschierten die Legionen im Karree, mit Reitern am Anfang und am Ende der dichtgefügten Kolonne und den Maultieren und Gepäckzügen genau in der Mitte. Sollte unterwegs ein weiterer Angriff erfolgen, brauchten die Soldaten nur die Außenseite des Karrees zu verstärken, die Kavallerie bildete bereits die Flügel. Alle trugen jetzt ihre Helme auf dem Kopf, mit dem buntgefärbten Busch aus Roßhaar an der Spitze. Die Schilde steckten nicht mehr in den Lederhüllen, jeder hielt seine beiden Speere in der Hand. Bis Cirta war höchste Wachsamkeit geboten. Am vierten Tag — Cirta lag noch einen Tagesmarsch entfernt — schlugen die beiden Könige erneut zu. Dieses Mal war Marius vorbereitet. Die Legionen formten sich zu Karrees, von denen jedes einen Teil eines größeren bildete, das Gepäck in der Mitte, und dann stellten sich die Soldaten jedes Karrees in Reih und Glied auf, so daß die dem Feind zugewandte Seite doppelt stark war. Wie immer verließ sich Jugurtha auf seine vielen tausend numidischen Pferde, um die vordersten Linien der Römer zu durchbrechen. Die Numider waren großartige Reiter, sie benutzten weder Sattel noch Zaumzeug und trugen keine Rüstungen, sie vertrauten allein ihrer Zahl, ihrem Mut und der tödlichen Genauigkeit, mit der sie Speere und Langschwerter handhabten. Aber 405
weder Jugurthas noch Bocchus’ Reitertruppen konnten in die Mitte der römischen Karrees einbrechen. Ihre Infanterie stieß auf eine undurchdringliche Mauer aus römischen Legionären, die weder vor Pferden noch vor Fußsoldaten zurückwichen. Sulla kämpfte in der vordersten Linie, mit der führenden Kohorte der führenden Legion, während Marius die taktischen Anweisungen gab und den Kampfplatz so überblickte, daß das Risiko eines Überraschungsmanövers weitgehend ausgeschaltet war. Als die Reihen von Jugurthas Fußtruppen schließlich nachgaben, führte Sulla den entscheidenden Schlag gegen sie, und Quintus Sertorius focht dicht hinter ihm. Getrieben von dem verzweifelten Wunsch, die Römer ein für allemal loszuwerden, verpaßte Jugurtha den richtigen Augenblick zum Rückzug. Als er dann endlich doch den entscheidenden Befehl erteilte, war es zu spät, und ihm blieb nichts anderes übrig, als weiterzukämpfen. Die Römer spürten, daß sie den Sieg bereits in den Händen hielten, und als sie gesiegt hatten, war es ein ganzer, runder, vollständiger Sieg. Die Armeen der Numider und Mauretanier waren aufgerieben, die meisten ihrer Männer lagen tot auf dem Schlachtfeld. Jugurtha und Bocchus konnten entfliehen. An der Spitze eines müden, aber jubelnden Heeres ritt Marius in Cirta ein. In Africa würde es keine größeren Kämpfe mehr geben, das war jedem Soldaten klar. Dieses Mal quartierte Marius seine Truppen innerhalb der Stadtmauern von Cirta ein, denn er wollte sich nicht der Gefahr aussetzen, auf dem freien Feld dem Gegner eine Angriffsfläche zu bieten. Er brachte seine Truppen bei unglücklichen numidischen Zivilisten unter, und dieselben unglücklichen numidischen Zivilisten wurden am nächsten Tag als Arbeitstrupps auf das Schlachtfeld geschickt. Sie mußten die Unmengen africanischer Leichen verbrennen und die wenigen römischen Toten in die Stadt schaffen, wo sie ordnungsgemäß bestattet werden konnten. Quintus Sertorius erhielt den Auftrag, sich um die vielen Orden zu kümmern, die Marius bei einer Versammlung des Heeres nach 406
der Bestattung der Gefallenen verleihen wollte. Außerdem mußte er die Leichenfeier organisieren. Da er noch nie bei einer solchen Zeremonie dabeigewesen war, hatte er keine Ahnung, wie er diese Aufgabe anpacken sollte, aber er war klug und einfallsreich. Er machte einen altgedienten, erfahrenen Zenturio ausfindig und fragte ihn aus. »Also, was du zu tun hast, junger Sertorius, ist folgendes«, sagte der alte Hase. »Zuerst mußt du alle Orden, die Gaius Marius selbst bekommen hat, herausholen und sie auf dem Podium ausstellen, damit die Männer sehen können, was für ein Soldat ihr Feldherr war. Wir haben gute Jungens, Plebejer hin oder her, aber sie wissen nichts über das Soldatenleben, weil sie aus Familien kommen, die mit dem Militär nie zu tun hatten. Wie sollen sie also wissen, was für ein ausgezeichneter Soldat Gaius Marius war? Ich weiß es! Weil ich nämlich in allen Feldzügen mit Gaius Marius gekämpft habe, seit — hm, seit Numantia.« »Aber ich glaube kaum, daß Gaius Marius seine Orden mit auf den Feldzug genommen hat«, wandte Sertorius betrübt ein. »Natürlich hat er das, junger Sertorius!« sagte der altgediente Soldat mit der Erfahrung aus hundert Schlachten und Scharmützeln. »Sie sind seine Glücksbringer.« Und in der Tat, als Sertorius ihn fragte, bestätigte Gaius Marius, daß er seine Orden auf den Feldzug mitgenommen hatte. Marius schien das Eingeständnis ein wenig peinlich zu sein, bis Sertorius ihm erzählte, was der alte Zenturio über die Glücksbringer gesagt hatte. Alle Bewohner von Cirta kamen und gafften, und es war eine eindrucksvolle Feier. Die Soldaten marschierten in ihren Paradeuniformen auf, der silberne Adler jeder Legion war mit dem Lorbeerkranz des Siegers geschmückt, genau wie die silberne Standarte jedes Manipels und das vexillum, die Fahne jeder Zenturie. Jeder Soldat trug seine Orden, aber da sie ein neues Heer mit neuen Männern waren, konnten nur wenige der Zenturionen und ein halbes Dutzend Soldaten stolz ihre Armreifen, Halsketten und Schmuckscheiben zeigen. Publius Vagiennius trug natürlich 407
seine silbernen phalerae auf der stolzgeschwellten Brust. Aber Gaius Marius war doch der Größte, dachte Quintus Sertorius wie geblendet, während er darauf wartete, daß er für den Nahkampf in der Schlacht mit dem goldenen Kranz ausgezeichnet wurde. Dann kam Sulla an die Reihe und erhielt ebenfalls den goldenen Kranz und einen vollständigen Satz von neun goldenen phalerae für seine Tapferkeit in der ersten Schlacht gegen die beiden Könige. Wie zufrieden er aussah, regelrecht — entrückt! Quintus Sertorius hatte gehört, daß er ein kaltblütiger Bursche sein sollte, mit einem Hang zur Grausamkeit. Aber in der ganzen Zeit, die sie in Africa zusammen gekämpft hatten, hatte er nicht ein einziges Mal etwas erlebt, das diese Behauptungen bestätigt hätte, und es konnte auch gar nicht stimmen, denn sonst stünde Sulla gewiß nicht so hoch in Gaius Marius’ Gunst, wie es offensichtlich der Fall war. Nun, Quintus Sertorius verstand einfach nicht, daß Kaltblütigkeit und Grausamkeit begraben werden konnten, wenn auch nur zeitweilig, solange das Leben gut lief, solange man es genießen konnte, solange es genügend geistige und körperliche Herausforderungen bot. Und Quintus Sertorius verstand auch nicht, daß Sulla sehr wohl wußte, daß er Gaius Marius die innere, dunklere Seite seines Wesens nicht enthüllen durfte. Lucius Cornelius Sulla zeigte sich in der Tat von seiner besten Seite, seit Marius ihn zu seinem Quästor gemacht hatte — und es fiel ihm nicht einmal schwer. »Oh!« Quintus Sertorius sprang auf. Er war so in seine Gedanken versunken gewesen, daß er nicht gehört hatte, wie sein Name gerufen wurde. Sein Bursche, der fast so stolz war wie Quintus Sertorius selbst, verpaßte ihm einen kräftigen Stoß in die Rippen. Quintus Sertorius stolperte zum Podium, und vor den Augen der ganzen Armee setzte der große Gaius Marius ihm den goldenen Kranz auf das Haupt. Die Soldaten jubelten, und Gaius Marius und Aulus Manlius schüttelten ihm die Hand. Nachdem alle Abzeichen, Armreifen, Schmuckscheiben und Banner verteilt waren, erhielten einige Kohorten goldene und 408
silberne Kränze für ihre Standarten als Auszeichnung für die ganze Mannschaft. Dann ergriff Gaius Marius das Wort. »Gut gemacht, ihr Männer aus den capite censi«, rief er. Die Soldaten, die Auszeichnungen erhalten hatten, standen wie benommen um ihn herum. »Ihr habt bewiesen, daß ihr mutiger seid als die Mutigen, klüger als die Klugen, bereitwilliger als die Bereitwilligen. Ihr habt härter gekämpft als alle, die ich hart habe kämpfen sehen. Viele bislang schmucklose Feldzeichen sind jetzt mit Kränzen geschmückt, und diese Kränze sind redlich verdient. Wenn wir im Triumph durch Rom ziehen, werden die Römer voller Stolz auf euch blicken! Und in der Zukunft wird kein Römer mehr sagen können, den Männern des Plebejerheeres sei Rom nicht wichtig genug, als daß sie für Rom Schlachten gewinnen könnten!«
Im November sah es schon nach dem Beginn der Regenzeit aus, als Gesandte des Königs Bocchus von Mauretanien in Cirta eintrafen. Marius ließ sie mehrere Tage warten und reagierte nicht auf ihre dringlichen Bitten. »Sie werden butterweich sein«, sagte er zu Sulla, bevor er sie endlich vorließ. »Ich werde König Bocchus nicht vergeben«, teilte er ihnen als Eröffnungszug mit, »also geht nach Hause! Ihr verschwendet meine Zeit.« Ihr Sprecher war ein jüngerer Bruder des Königs, Prinz Bogud, und Prinz Bogud trat eilig vor, ehe Marius seinen Liktoren bedeuten konnte, die Gesandtschaft hinauszuwerfen. »Gaius Marius, du mußt uns anhören! Mein Bruder, der König, ist sich seiner Verfehlungen nur allzu bewußt!« sagte der Prinz. »Er bittet nicht um Vergebung, er bittet nicht darum, daß du beim Senat und beim Volk von Rom ein gutes Wort für ihn einlegst, damit er wieder als Freund und Verbündeter Roms angesehen wird. Er bittet nur darum, daß du im Frühjahr zwei deiner erfahrensten Legaten an seinen Hof in Tingis hinter die Säulen des 409
Herkules entsendest. Dann wird er ihnen ganz genau erklären, warum er sich mit König Jugurtha verbündet hat, und er bittet um nichts weiter, als daß sie ihm mit offenen Ohren zuhören. Sie sollen ihm mit keinem Wort antworten — sie sollen nur dir berichten, was er gesagt hat, so daß du antworten kannst. Tu das, ich flehe dich an, gewähre meinem Bruder, dem König, diese Bitte!« »Was, ich soll zwei von meinen besten Männern bis nach Tingis schicken, gerade wenn die Zeit der Feldzüge beginnt?« fragte Marius mit gut gespieltem Unglauben. »Nein! Ich kann sie höchstens bis Saldae schicken.« Das war ein kleiner Hafen ein Stück westlich von Cirtas Hafen Rusicade. Die gesamte Gesandtschaft hob abwehrend die Hände. »Ganz unmöglich!« rief Bogud. »Mein Bruder, der König, möchte um jeden Preis eine Begegnung mit König Jugurtha vermeiden!« »Icosium.« Marius nannte einen weiteren Hafen, vielleicht zweihundert Meilen westlich von Rusicade. »Ich schicke meinen besten Legaten, Aulus Manlius und meinen Quästor Lucius Cornelius Sulla, aber auf keinen Fall weiter als bis Icosium — und zwar jetzt, Prinz Bogud, nicht im Frühjahr.« »Unmöglich!« schrie Bogud auf. »Der König ist in Tingis!« »Quatsch!« erwiderte Marius verächtlich. »Der König ist mit eingezogenem Schwanz auf dem Weg zurück nach Mauretanien. Wenn du einen schnellen Reiter hinter ihm her schickst, dann garantiere ich dir, daß Bocchus ohne Schwierigkeiten zu dem Zeitpunkt in Icosium sein kann, wenn meine Legaten dort eintreffen.« Starr blickte er Bogud an. »Das ist mein bestes — und mein letztes! — Angebot. Tu, was du willst.« Bogud nahm das Angebot an. Als sich die Gesandtschaft zwei Tage später einschiffte, gingen auch Aulus Manlius und Sulla an Bord und segelten mit nach Icosium. Ein schneller Reiter sollte die demoralisierten Überreste der mauretanischen Armee einholen. »Wie du gesagt hast, er hat uns erwartet, als wir einliefen«, berichtete Sulla einen Monat später bei seiner Rückkehr. 410
»Wo ist Aulus Manlius?« fragte Marius. Sullas Augen glitzerten. »Es geht Aulus Manlius nicht gut, er hat beschlossen, den Landweg zu nehmen.« »Etwas Ernsthaftes?« »Einen so schlechten Seemann habe ich noch nie gesehen«, meinte Sulla. »Was, das wußte ich gar nicht!« sagte Marius belustigt. »So hast vor allem du genau hingehört, nicht Aulus Manlius?« »Ja«, grinste Sulla. »Er ist ein ulkiger kleiner Mann, dieser König Bocchus. Kugelrund, weil er dauernd Süßigkeiten in sich hineinstopft. Nach außen sehr wichtigtuerisch, darunter geradezu schüchtern.« »Das paßt zusammen«, sagte Marius. »Tja, er hat natürlich Angst vor Jugurtha, ich glaube nicht, daß das eine Lüge ist. Und wenn wir ihm garantieren, daß wir ihm die Herrschaft über Mauretanien lassen, dann wird er meines Erachtens liebend gern Roms Interessen vertreten. Aber Jugurtha beschwatzt ihn, du weißt schon.« »Jugurtha versucht überall, die Leute zu beschwatzen. Hast du dich an Bocchus’ Regel gehalten und nichts gesagt, oder hast du etwas dazu geäußert?« »Nun, ich habe ihn zuerst ausreden lassen«, sagte Sulla, »aber dann habe ich mich zu Wort gemeldet. Er wollte ganz majestätisch werden und mich wegschicken. Da habe ich ihm gesagt, daß seine Abmachung einseitig war, daß deine Vertreter von dir aus nicht gebunden seien.« »Was hattest du zu sagen?« fragte Marius. »Daß er, wenn er ein kluger kleiner König sei, besser nicht auf Jugurtha hören, sondern sich an Rom halten solle.« »Wie hat er es aufgenommen?« »Ziemlich gut. Er war in recht nachdenklicher Stimmung, als ich ihn verließ.« »Dann warten wir ab und sehen, was als nächstes geschieht«, beschloß Marius. »Ich habe außerdem herausgefunden«, fuhr Sulla fort, »daß 411
Jugurtha wohl keine neuen Männer mehr rekrutieren kann. Selbst die Gaetuler wollen ihm keine Soldaten mehr geben. Die Numider haben den Krieg satt, und kaum jemand im ganzen Königreich, weder die Siedler in den bewohnten Gebieten noch die Nomaden im Inneren des Landes, glauben noch an einen Sieg.« »Aber werden sie Jugurtha ausliefern?« Sulla schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich werden sie ihn nicht ausliefern!« »Sei’s drum.« Marius fletschte die Zähne. »Nächstes Jahr, Lucius Cornelius! Nächstes Jahr kriegen wir ihn.«
Kurz bevor das alte Jahr zu Ende ging, erhielt Gaius Marius einen Brief von Publius Rutilius Rufus, der nach einer Serie schwerer Stürme mit großer Verzögerung eintraf. Ich weiß es schon, Gaius Marius, Du möchtest gerne, daß ich mit Dir zusammen für das Konsulat kandidiere — aber mir hat sich eine Gelegenheit geboten, die ich unmöglich abschlagen kann. Ja, ich will nächstes Jahr als Konsul kandidieren, morgen werde ich meinen Namen eintragen lassen. Unsere Quellen scheinen zeitweilig versiegt zu sein, weißt Du. Niemand von Bedeutung kandidiert. Ich höre Dich schon fragen: Was, Quintus Lutatius Catulus Caesar wieder nicht? Nein, er ist gerade ziemlich am Boden, er gehört allzu offensichtlich der Fraktion an, die alle die Konsuln verteidigt, die verantwortlich sind für den Tod von so vielen Soldaten. Bisher ist der beste Kandidat ein Emporkömmling — nämlich Gnaeus Mallius Maximus. Er ist kein schlechter Kerl, mit ihm könnte ich sicherlich arbeiten — aber wenn er das beste Pferd im Rennen ist, habe ich sicher gewonnen. Dein Kommando ist für das nächste Jahr verlängert, wie Du sicherlich schon weißt. Rom ist im Augenblick ein ziemlich langweiliger Ort, ich habe Dir fast keine Neuigkeiten zu berichten und schon gar keinen hübschen Skandal. Deiner Familie geht es gut, der kleine Marius bereitet allen große Freude. Er will immer seinen Kopf durchset412
zen und ist seinen Jahren weit voraus. Dauernd macht er Unsinn und bringt seine Mutter damit zur Verzweiflung — kurz, er ist genau so, wie ein kleiner Junge sein soll. Aber Deinem Schwiegervater, Caesar, geht es gar nicht gut, obwohl ihm natürlich nie ein Laut der Klage über die Lippen käme. Seine Stimme ist nicht in Ordnung, selbst mit Unmengen von Honig wird es nicht besser. Und das ist eigentlich schon alles! Wie schrecklich. Was soll ich bloß schreiben? Noch habe ich kaum eine Seite gefüllt. Nun, da wäre noch meine Nichte, Aurelia. Wer ist das denn? höre ich Dich fragen. Und es interessiert Dich kein bißchen, schätze ich. Egal. Du mußt zuhören, ich mache es kurz. Du kennst sicherlich die Geschichte der Helena von Troja, obwohl Du ein italischer Bauer bist ohne einen Tropfen griechischen Blutes. Sie war so schön, daß jeder König und jeder Prinz in ganz Griechenland sie heiraten wollte. Genauso ist meine Nichte. So schön, daß jeder Römer von Stande sie heiraten möchte. Alle Kinder meiner Schwester Rutilia sehen gut aus, aber Aurelia ist mehr als gutaussehend. Als sie noch ein Kind war, jammerten alle über ihr Gesicht — es war zu knochig, zu hart, alles war falsch. Aber jetzt, wo sie achtzehn wird, preist jeder dasselbe Gesicht in höchsten Tönen. Ich liebe sie wirklich sehr. Ja, warum? höre ich Dich fragen. Tja, in der Tat interessiere ich mich normalerweise nicht für die weiblichen Nachkommen meiner engsten Verwandten, nicht einmal für meine eigene Tochter und meine beiden Enkelinnen. Aber ich weiß, warum ich meine liebste Aurelia schätze. Wegen ihres Dienstmädchens. Als sie dreizehn wurde, beschlossen meine Schwester und ihr Mann, Marcus Aurelius Cotta, daß sie ein eigenes Dienstmädchen brauche, als Gefährtin und als Wachhund. Sie kauften eine sehr gute Sklavin und schenkten sie Aurelia. Nach kurzer Zeit allerdings verkündete Aurelia, daß sie dieses Mädchen nicht haben wolle. »Warum?« fragte meine Schwester Rutilia. »Weil sie faul ist«, erwiderte die dreizehnjährige Aurelia. So gingen die Eltern zu ihrem Händler zurück und wählten mit 413
noch größerer Sorgfalt eine andere Sklavin aus. Aber auch die wollte Aurelia nicht haben. »Warum?« fragte meine Schwester Rutilia. »Weil sie glaubt, sie könne mich herumkommandieren«, erwiderte Aurelia. So gingen die Eltern ein drittes Mal zu dem Händler und studierten die Listen von Spurius Postumius Glycon sorgfältigst. Sie fanden ein drittes Mädchen, wie die anderen war sie, das muß ich hinzufügen, bestens erzogen, Griechin und nach mündlicher Auskunft überaus klug. Aber Aurelia wollte auch das dritte Mädchen nicht. »Warum?« fragte meine Schwester Rutilia noch einmal. »Weil sie zu sehr nach ihrer eigenen Zukunft schielt. Sie klimpert schon mit ihren Wimpern in Richtung Hausverwalter«, sagte Aurelia. »Also gut, dann geh selber hin und such dir ein Dienstmädchen aus!« entgegnete meine Schwester Rutilia. Sie hatte endgültig genug von der ganzen Sache. Und Aurelia suchte sich eine Sklavin aus. Als sie mit ihr nach Hause kam, war die ganze Familie entsetzt. Da stand nämlich ein sechzehnjähriges Mädchen, vom gallischen Stamm der Arverner, ein riesig großes, dünnes Geschöpf mit einem gräßlich runden, roten Gesicht, einer platten Nase, blaßblauen Augen, scheußlich geschnittenem Haar — ihr Haar war an einen Perückenmacher verkauft worden, weil ihr früherer Herr Geld brauchte — und den größten Händen und Füßen, die ich je bei Männern und Frauen gesehen habe. Ihr Name sei Cardixa, verkündete Aurelia. Du weißt ja, daß es mich immer sehr interessiert, aus was für Familien die kommen, die wir uns als Sklaven ins Haus holen. Denn, so schien es mir immer, wir beschäftigen uns gründlicher damit, die Speisenfolge für eine Abendgesellschaft auszuwählen, als mit den Menschen, denen wir unsere Kleider, uns selbst, unsere Kinder und sogar unseren guten Ruf anvertrauen. Wohingegen meine dreizehnjährige Nichte Aurelia ihre Wahl, das erkannte ich sofort, für diese gräßliche Cardixa aus genau den 414
richtigen Gründen getroffen hatte. Sie wollte jemanden, der treu war, hart arbeiten konnte, gutmütig und gehorsam ihren Worten folgte. Auf gutes Aussehen, griechische Muttersprache und behende Konversation legte sie nicht den geringsten Wert. Also bemühte ich mich herauszufinden, wer Cardixa war. Ich fragte Aurelia, und sie erzählte mir die Geschichte des Mädchens. Als Cardixa vier Jahre alt war, wurde sie zusammen mit ihrer Mutter verkauft, nachdem Gnaeus Domitius Ahenobarbus die Arverner geschlagen hatte und unsere Provinz Gallia Transalpina durchkämmte. Die beiden waren noch nicht lange in Rom, da starb die Mutter, anscheinend am Heimweh. Das Mädchen wurde so etwas wie ein weiblicher Page, sie lief mit Nachttöpfen, Kissen und Schlafröcken durch die Gegend. Sie wurde mehrmals verkauft, als sie nicht mehr den Reiz des Kindes hatte und zu der Riesin heranwuchs, die Aurelia ins Haus brachte. Einer ihrer Besitzer vergewaltigte sie, als sie acht Jahre alt war, ein anderer schlug sie jedesmal, wenn seine Frau jammerte, ein dritter ließ sie zusammen mit seiner Tochter, einer bockigen Schülerin, lesen und schreiben lernen. »So hattest du Mitleid und wolltest das arme Geschöpf in ein freundliches Haus bringen«, sagte ich zu Aurelia. Und jetzt kommt es, Gaius Marius, warum ich Aurelia mehr liebe als meine eigene Tochter. Meine Bemerkung gefiel ihr nämlich überhaupt nicht. Wie eine kleine Schlange zischte sie mich an: »Ganz und gar nicht! Mitleid ist eine gute Eigenschaft, Onkel Publius, das steht in allen Büchern, und unsere Eltern sagen es auch. Aber Mitleid als Grund für die Wahl eines Dienstmädchen, das fände ich schlecht! Daß Cardixas Leben kein Zuckerschlecken war, dafür kann ich nichts, und darum bin ich in keiner Weise moralisch verpflichtet, ihr Unglück wiedergutzumachen. Ich habe Cardixa ausgewählt, weil ich sicher bin, daß sie eine treue, gehorsame und gutmütige Dienerin sein wird, die hart arbeiten kann. Ein schöner Umschlag sagt nichts darüber aus, ob es sich lohnt, ein Buch zu lesen.« Ach, liebst Du sie nicht auch, Gaius Marius, wenigstens ein 415
bißchen? Damals war sie ganze dreizehn Jahre alt! Und besonders auffallend war, daß sie dabei nicht, wie es durch meinen schlechten Brief vielleicht erscheint, kaltherzig und hochnäsig wirkte oder gar gefühllos. Nein, ich wußte, daß sie weder hochnäsig noch kaltherzig ist. Gesunder Menschenverstand, Gaius Marius! Meine Nichte hat gesunden Menschenverstand. Und wie viele Frauen kennst Du, von denen man das sagen kann? Alle diese Kerle wollen sie wegen ihrem Gesicht, ihrer Figur, ihrem Vermögen heiraten, ich würde sie lieber jemandem geben, der ihren gesunden Menschenverstand zu schätzen weiß. Aber wie soll man entscheiden, welcher der Männer, die um sie werben, der beste ist? Das ist die brennende Frage, die uns alle bewegt. Gaius Marius ließ den Brief sinken, griff nach seiner Feder und legte sich ein Stück Papier zurecht. Er tauchte die Feder in das Tintenfaß und schrieb ohne Zögern. Natürlich verstehe ich Dich. Mach es, Publius Rutilius! Gnaeus Mallius Maximus wird alle Hilfe brauchen, die er kriegen kann, und Du wirst ein sehr guter Konsul werden. Was Deine Nichte betrifft, so soll sie sich doch ihren Ehemann selbst aussuchen! Daß sie eine gute Wahl treffen wird, hat sie doch bei ihrem Dienstmädchen bewiesen. Obwohl ich ehrlich gesagt nicht verstehen kann, was das ganze Theater soll. Lucius Cornelius erzählte mir, daß er Vater eines Sohnes geworden sei, daß aber Gaius Julius, nicht Julilla, ihm dies mitgeteilt habe. Würdest Du mir den Gefallen tun und ein Auge auf die junge Dame haben? Ich glaube nämlich nicht, daß sie wie Deine Nichte so etwas wie gesunden Menschenverstand besitzt. Offen gestanden weiß ich nicht, wen ich sonst darum bitten sollte. Ihren tata kann ich ja wohl kaum fragen. Ich danke Dir, daß Du mich von Gaius Julius’ Gesundheitszustand unterrichtet hast und ich hoffe, Du wirst schon Konsul sein, wenn Du diesen Brief erhältst.
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Das sechste Jahr (105 v. Chr.)
Unter den Konsuln Publius Rutilius Rufus und Gnaeus Mallius Maximus
Jugurtha war zwar noch kein Verfolgter im eigenen Land, aber die Römer hatten Nordafrica fest im Griff. Die Bewohner in den dichter besiedelten und den östlich gelegenen Teilen des Landes hatten sich mit der römischen Herrschaft abgefunden. Cirta, die Hauptstadt, lag in der Mitte, und Marius entschied, daß es klüger sei, dort zu überwintern anstatt in Utika. Die Einwohner von Cirta hatten nie eine besondere Zuneigung zu ihrem Herrscher gezeigt, doch Marius kannte Jugurtha gut genug, um zu wissen, daß er am gefährlichsten — und am liebenswürdigsten — war, wenn er unter Druck stand. Er durfte Cirta nicht den Verführungskünsten des Königs überlassen. Sulla blieb in Utika, um die römische Provinz zu regieren, während Aulus Manlius vom Dienst befreit wurde und die Erlaubnis erhielt, nach Hause zu reisen. Er nahm die beiden Söhne von Gaius Julius Caesar mit nach Rom, obwohl keiner der beiden Africa verlassen wollte. Der Brief von Rutilius Rufus hatte Marius beunruhigt, und er hielt es für besser, die Söhne zu ihrem Vater zurückzuschicken.
Zu Beginn des neuen Jahres fällte König Bocchus von Mauretanien endlich eine Entscheidung. Trotz seiner Bluts- und Verwandtschaftsbande zu Jugurtha wollte er sich mit den Römern verbünden — sofern Rom bereit wäre, ihn als Verbündeten zu akzeptieren. Aus diesem Grund begab er sich von Iol nach Icosium, an den Ort, wo er zwei Monate zuvor mit Sulla und dem seekranken Manlius verhandelt hatte. Es kam ihm überhaupt nicht in den 418
Sinn, daß Marius überall, nur nicht in Utika überwintern würde, und so zog die kleine Gesandtschaft, die er zu Verhandlungen mit Marius schickte, nördlich an Cirta vorbei in Richtung Utika. Die Gesandtschaft bestand aus fünf maurischen Botschaftern, darunter dem jüngeren Bruder des Königs, Prinz Bogud, und einem seiner Söhne. Sie reisten mit wenig Aufwand und ohne militärische Eskorte, denn Bocchus wollte Marius auf keinen Fall provozieren, und ebensowenig wollte er die Aufmerksamkeit Jugurthas auf sich ziehen. Die kleine Reisegesellschaft wirkte wie eine Gruppe wohlhabender Händler, die sich nach einer ertragreichen Saison mit ihrem Gewinn auf der Heimreise befand, und das lockte natürlich Banditen an, die ihren Vorteil aus der verworrenen Situation in Numidien zu ziehen wußten. Als die Gesandten nicht weit südlich von Hippo Regius den Fluß Ubus überqueren wollten, gerieten sie in einen Hinterhalt und wurden ausgeplündert bis auf die Kleidung, die sie am Leibe trugen. Die Banditen nahmen ihre Sklaven und Diener gefangen, um sie später auf einem fernen Markt zu verkaufen. Quintus Sertorius und seine ausgezeichnet geschulten Offiziere hatten Marius nach Cirta begleitet, und das bedeutete, daß Sulla mit dem weniger gut geschulten Rest des Stabes zurechtkommen mußte. Er machte es sich zur Gewohnheit, selbst ein Auge auf alle Vorgänge an den Toren des Regierungspalastes in Utika zu haben, und so kam es, daß er als erster den Haufen zerlumpter Wanderer vor dem Tor erblickte, die vergebens Einlaß begehrten. »Wir müssen unbedingt mit Gaius Marius sprechen!« beharrte Prinz Bogud. »Wir sind Gesandte des König Bocchus von Mauretanien, so glaub uns doch!« Sulla erkannte einige der Gesandten und schlenderte hinüber. »Laß sie hinein, Idiot«, befahl er dem diensthabenden Wachsoldaten. Er nahm Boguds Arm und stützte ihn, denn es war offensichtlich, daß seine wunden Füße bei jedem Schritt schmerzten. »Nein, für Erklärungen haben wir später Zeit, Prinz«, schnitt Sulla ihm das Wort ab. »Jetzt brauchst du erst ein Bad, frische Kleidung, etwas zu essen und Ruhe.« 419
Einige Stunden später hörte er sich Boguds Bericht an. »Wir waren viel länger unterwegs, als wir gedacht hatten«, schloß Bogud, »und ich fürchte, der König, mein Bruder, hat inzwischen alle Hoffnung aufgegeben. Können wir Gaius Marius sprechen?« »Gaius Marius ist in Cirta«, meinte Sulla leichthin. »Ich gebe euch den Rat, sagt mir, was euer König will, und überlaßt es mir, die Botschaft nach Cirta weiterzuleiten, sonst könnte es noch mehr Verzögerungen geben.« »Wir sind alle Blutsverwandte des Königs, und der König bittet Gaius Marius, er möge uns nach Rom senden, damit wir persönlich den Senat ersuchen können, den König wieder als Verbündeten anzunehmen.« »Ich verstehe.« Sulla erhob sich. »Bitte, Prinz Bogud, mach es dir bequem und warte. Ich werde sofort eine Botschaft an Gaius Marius schicken, aber es wird eine Welle dauern, bis wir Antwort erhalten.« Marius’ Antwort traf vier Tage später in Utika ein: Gut, sehr gut! Das kann sehr nützlich sein, Lucius Cornelius. Aber ich muß äußerst vorsichtig sein. Der neue erste Konsul, Publius Rutilius Rufus, hat mir mitgeteilt, daß unser lieber Freund Metellus Schweinebacke Numidicus jedem, der es hören will, erzählt, er werde mich wegen Unterschlagung und Korruption während meiner Verwaltung der Provinz anklagen. Ich darf ihm keine Angriffsfläche bieten. Zum Glück muß er sich seine Beweise selbst basteln, denn Unterschlagung und Korruption waren nie meine Art — nun, Du kannst das besser beurteilen als die meisten, denke ich. Ich will, daß Du folgendes tust: Ich werde Prinz Bogud in Cirta Audienz gewähren, Du mußt also die Gesandtschaft hierher bringen. Doch bevor ihr euch auf den Weg macht, möchte ich, daß Du jeden einzelnen römischen Senator, jeden Beamten des Schatzamtes, jeden offiziellen Vertreter des Senats von Rom oder des römischen Volkes, jeden wichtigen römischen Bürger in der gesamten 420
Provinz Africa auftreibst. Bring sie mit nach Cirta. Ich werde mit Bogud verhandeln, und alle bedeutenden Römer, die ich finden kann, werden dabeisein, werden jedes Wort hören, das ich sage, und schriftlich gutheißen, was ich beschließe. Lauthals lachend legte Sulla den Brief zur Seite. »Das ist einfach genial, Gaius Marius!« sagte er zu den vier Wänden seines Arbeitszimmers. Und dann stürzte er seine Tribunen und Verwaltungsbeamten in heillose Verwirrung mit dem Auftrag, die gesamte Provinz nach prominenten Römern abzusuchen. Weil die Provinz Africa ein wichtiger Weizenlieferant für Rom war, besuchten sie reiselustige Senatoren gern. Die Provinz war exotisch und schön, und bei den üblichen Windverhältnissen Anfang des Jahres war die Seereise nach Osten sicherer als die Passage über das adriatische Meer. Selbst in der Regenzeit regnete es nicht jeden Tag, zwischen den Regengüssen war das Klima herrlich mild und eine Wohltat für die Frostbeulen der Besucher aus dem wintergeplagten Europa. Sulla gelang es, zwei Senatoren aufzutreiben, zwei bedeutende Landbesitzer — darunter den größten, Marcus Caelius Rufus —, einen leitenden Beamten des Schatzamtes, der seinen Urlaub in Nordafrica verbrachte, sowie einen Händler, der Weizengeschäfte in großem Stil abwickelte. »Aber mein größter Fund«, sagte Sulla zu Gaius Marius, als er zwei Wochen später in Cirta ankam, »ist Gaius Billienus, der sich Africa ein bißchen anschauen wollte, bevor er die Verwaltung der Provinz Asia antritt. Ich bringe dir also einen Prätor mit prokonsularischen Machtbefugnissen! Und dann haben wir noch einen Quästor vom Schatzamt, Gnaeus Octavius Ruso. Er kam mit dem Sold für das Heer und traf gerade im Hafen von Utika ein, als wir auslaufen wollten, und so habe ich ihn auch gleich mitgebracht.« »Lucius Cornelius, du bist ein Mann nach meinem Geschmack!« lobte Marius mit breitem Grinsen. »Du begreifst sehr schnell.« Bevor Marius die maurische Abordnung empfing, berief er die 421
römische Prominenz zu einer Sitzung ein. »Ich werde euch genau erklären, wie die Lage ist«, begann Marius, »dann werde ich in eurem Beisein mit Prinz Bogud und den anderen Gesandten sprechen, und anschließend sollten wir gemeinsam entscheiden, wie wir uns gegenüber König Bocchus verhalten. Ich muß jeden von euch bitten, seine Meinung schriftlich festzuhalten, damit man in Rom sieht, daß ich meine Befugnisse nicht überschritten habe.« Das Ergebnis der Sitzung fiel genauso aus, wie Marius es sich erhofft hatte. Er hatte die hochgestellten Herren aus Rom mit Vorsicht und Beredsamkeit über die Situation unterrichtet, dabei hatte Sulla ihn tatkräftig unterstützt. Die Versammlung kam überein, daß ein Friedensschluß mit Bocchus wünschenswert sei und daß man am besten drei der maurischen Gesandten in Begleitung des Quästors Gnaeus Octavius Ruso nach Rom schicken solle, die beiden anderen Mauren sollten als Beweis von Roms gutem Willen zu Bocchus zurückkehren. So reisten denn Prinz Bogud und zwei seiner Verwandten unter der Aufsicht von Gnaeus Octavius Ruso nach Rom, wo sie Anfang März eintrafen und in einer eigens einberufenen Sitzung des Senats angehört wurden. Die Senatssitzung fand im Tempel der Bellona statt, denn die Angelegenheit betraf einen ausländischen Krieg mit einem ausländischen Herrscher, und Bellona war Roms ursprüngliche Kriegsgöttin — weit älter als Mars —, ihr Tempel somit der angemessene Ort für Kriegsberatungen des Senats. Nach Abschluß der Beratungen wurden die Türen des Tempels weit geöffnet, damit draußen alle hören konnten, was der Senat beschlossen hatte. Konsul Publius Rutilius Rufus gab den Spruch des Senats bekannt. »Teilt König Bocchus mit«, sagte Rutilius Rufus mit seiner hellen, klaren Stimme, »daß der Senat und das Volk von Rom weder eine Beleidigung noch einen erwiesenen Dienst vergessen. Wir erkennen, daß König Bocchus seine Verfehlung aufrichtig bereut, und so wäre es nicht gerecht, wenn wir, der Senat und das Volk von Rom, ihm unsere Vergebung verweigerten. Ihm sei also 422
vergeben. Der Senat und das Volk von Rom verlangen jedoch, daß König Bocchus uns nun einen Dienst erweist, der an Größe seiner Schuld gleichkommt, denn bislang hat er für Rom noch nichts geleistet, was die Verfehlung hätte aufwiegen können. Wenn dieser Dienst ebenso unzweideutig ausfällt wie die Beleidigung, werden der Senat und das Volk von Rom mit Freuden König Bocchus von Mauretanien einen Freundschafts- und Bündnisvertrag anbieten.« Bocchus erhielt diese Antwort Ende März, Prinz Bogud und die beiden anderen Botschafter überbrachten sie persönlich. Die Angst des Königs vor Vergeltungsmaßnahmen der Römer war inzwischen größer als die Angst um sein Leben, und so hatte er beschlossen, in Icosium zu bleiben, anstatt sich in das entlegene Tingis hinter den Säulen des Herkules zurückzuziehen. In so entlegenen Gebieten würde Gaius Marius sicher nicht mit ihm verhandeln. Um sich vor Jugurtha zu schützen, rief er eine neue maurische Armee nach Icosium und befestigte das winzige Hafenstädtchen, so gut er konnte. Bogud machte sich auf den Weg nach Cirta, um mit Marius zu sprechen. »Mein Bruder, der König, bittet und beschwört Gaius Marius, er möge ihm mitteilen, welchen Dienst er Rom erweisen kann, um seine Verfehlung wiedergutzumachen«, flehte Bogud auf Knien. »Genug, steh auf!« sagte Marius ungehalten. »Ich bin kein König! Ich bin ein Prokonsul des Senats und des Volkes von Rom! Vor mir braucht niemand im Staub zu liegen. Es erniedrigt mich ebenso wie den, der im Staub liegt!« Bogud umklammerte Marius’ Füße, er wußte nicht mehr, was er tun sollte. »Gaius Marius, hilf uns!« rief er. »Was für einen Dienst erwartet der Senat?« »Ich würde dir ja helfen, wenn ich könnte, Prinz Bogud«, erwiderte Marius und betrachtete eingehend seine Fingernägel. »Dann schick uns einen deiner hohen Offiziere, und beauftrage ihn, mit dem König zu sprechen! Vielleicht findet sich dann ein 423
Weg.« »Gut«, stimmte Marius zu. »Lucius Cornelius Sulla kann sich mit deinem König zu Verhandlungen treffen. Vorausgesetzt, das Treffen findet in Icosium statt und nicht an einem weiter entfernten Ort.«
»Wir wollen natürlich Jugurtha, das ist der Dienst, den Bocchus uns erweisen kann«, sagte Marius zu Sulla, kurz bevor dieser an Bord ging. »Ich würde viel darum geben, wenn ich an deiner Stelle gehen könnte. Aber da das nun einmal nicht möglich ist, bin ich froh, daß ich einen Mann mit einem so scharfen Verstand schicken kann, wie du ihn hast.« Sulla grinste. »Sie haben angebissen, und jetzt werde ich nicht mehr lockerlassen.« »Dann sorg dafür, daß sie sich richtig festbeißen! Bring mir Jugurtha!« Sulla verließ den Hafen von Rusicade mit großen Hoffnungen und eiserner Entschlossenheit. Mit ihm segelten eine Kohorte römischer Legionäre, eine Kohorte leichtbewaffneter italischer Truppen vom Stamm der Paeligner aus Samnium, eine persönliche Eskorte von balearischen Schlingenwerfern und eine Schwadron der ligurischen Kavallerie, die Publius Vagiennius unterstand. Es war Mitte Mai. Die ganze Reise über war Sulla sehr unruhig, obwohl er die See und das Segeln liebte. Die Mission würde ein voller Erfolg werden. Er wußte, wieviel sie für seine Zukunft bedeutete, er wußte es so sicher, als hätte man es ihm prophezeit. Sulla hatte sich nie das Schicksal weissagen lassen, obwohl er von Marius oft genug gedrängt wurde, die Syrerin Martha aufzusuchen. Das hatte nichts mit Unglauben oder fehlendem Aberglauben zu tun, denn wie jeder Römer war Lucius Cornelius abergläubisch. Der Grund war seine Angst. Obwohl er den drängenden Wunsch verspürte, ein anderer Mensch möge seine eigenen Vorahnungen über sein außergewöhnliches Schicksal bestätigen, war er sich der Schwächen 424
und dunklen Seiten seines Wesens zu klar bewußt, um eine Weissagung so gelassen hinzunehmen wie Marius. Als er nun jedoch in die Bucht von Icosium einlief, wünschte er, er hätte mit Martha gesprochen. Seine Zukunft lastete auf ihm wie eine schwere Bürde, und er wußte nicht, ahnte nicht einmal, was sie für ihn bereithielt. Große Dinge. Aber auch Böses. Sulla war einer der wenigen Menschen, die die brütende, greifbare Gegenwart des Bösen fühlen können. Die Griechen diskutierten endlos über die Existenz des Bösen, und viele behaupteten, daß es diese unheimliche Macht gar nicht gebe. Doch Sulla wußte, daß es existierte. Und er fürchtete sehr, daß es auch in ihm selbst schlummerte. Die Bucht von Icosium hätte eigentlich eine majestätische Stadt beherrschen müssen, statt dessen lag im hinteren Teil der Bucht, wo zerklüftete Bergketten bis an die Küste reichten, nur ein kleines Städtchen, abseits und durch die Berge geschützt. Während der Regenzeit im Winter strömten an dieser Stelle viele Bäche ins Meer, und mehr als ein Dutzend Inseln lagen wie wunderschöne Schiffe auf dem Wasser, die hohen Zypressen ragten wie Schiffsmasten empor. Ein schöner Ort, dieses Icosium, dachte Sulla. An dem Küstenstreifen, der an das Städtchen grenzte, warteten ungefähr tausend maurische Berber zu Pferde. Sie waren ausgerüstet wie Numider — keine Sättel, kein Zaumzeug, keine Rüstungen — und trugen nur ein Bündel Speere, Langschwerter und Schilde. »Ah!« rief Bogud aus, als er und Sulla am Strand landeten, »der König hat seinen Lieblingssohn geschickt, um dich zu begrüßen, Lucius Cornelius.« »Wie heißt er?« fragte Sulla. »Volux.« Der junge Mann ritt heran, bewaffnet wie seine Männer, sein Pferd jedoch mit prachtvollem Sattel und Zaumzeug geschmückt. Sulla gefiel die Art des Prinzen, sein fester Händedruck. Doch wo war der König? Sein geschultes Auge konnte nirgends das übliche Gewimmel und Durcheinander entdecken, das einen Herrscher 425
stets umgab. »Der König hat sich nach Süden in die Berge zurückgezogen, ungefähr hundert Meilen von hier, Lucius Cornelius«, erklärte der Prinz, während sie zu einem Aussichtspunkt gingen, von wo aus Sulla beobachten konnte, wie seine Truppen und die Ausrüstung ausgeschifft wurden. Sulla spürte ein Kribbeln auf der Haut. »Die Abmachung des Königs mit Gaius Marius lautete anders«, sagte er. »Ich weiß«, erwiderte Volux unsicher. »Aber König Jugurtha hält sich ganz in der Nähe auf.« Sulla erstarrte. »Ist das eine Falle, Prinz Volux?« »Nein, nein!« rief der junge Mann und streckte abwehrend die Hände aus. »Ich schwöre bei all unseren Göttern, es ist keine Falle! Aber Jugurtha hat gemerkt, daß etwas vorgeht, weil der König, mein Vater, in Icosium blieb und sich nicht wie angekündigt nach Tingis begeben hat. Jugurtha hat sich mit einer kleinen Armee von Gaetulern in den Hügeln eingenistet. Er hat zu wenig Männer, um uns anzugreifen, aber zu viele, als daß wir ihn angreifen könnten. Der König, mein Vater, hat beschlossen, sich von der See zurückzuziehen, und falls Jugurtha ahnt, daß mein Vater einen Römer erwartet, wird er glauben, daß der Römer auf dem Landweg kommt. Jugurtha ist meinem Vater gefolgt. Wir sind sicher, daß er nichts von eurer Ankunft weiß. Es war eine kluge Entscheidung, den Seeweg zu wählen.« »Jugurtha wird früh genug erfahren, daß ich hier bin«, meinte Sulla grimmig und dachte an die höchst unzulängliche Eskorte von fünfzehnhundert Mann. »Hoffentlich nicht, oder wenigstens nicht zu bald«, sagte Volux. »Ich habe vor drei Tagen mit tausend Männern das Lager des Königs, meines Vaters, verlassen. Wir haben so getan, als ritten wir zu einem Manöver, und sind hierher an die Küste gezogen. Wir befinden uns nicht offiziell im Krieg mit Numidien, also hat Jugurtha keinen Grund, uns anzugreifen. Er weiß nicht, was der König, mein Vater, vorhat, und er wird den offenen Bruch mit uns nicht riskieren, bevor er Näheres in Erfahrung gebracht hat. Ich 426
versichere dir, daß er bei unserem Lager im Süden bleiben wird und daß seine Kundschafter nicht in die Nähe von Icosium kommen, solange meine Männer in dieser Gegend patrouillieren.« Sulla warf dem jungen Mann einen zweifelnden Blick zu, aber er behielt seine Gedanken für sich — die Angehörigen des maurischen Königshauses waren nicht gerade praktisch veranlagt. Das qualvoll langsame Ausschiffen machte ihm Sorgen, denn in Icosium gab es nur zwanzig Leichter, so daß die Arbeit mindestens bis morgen um diese Zeit dauern würde. Sulla seufzte und zuckte mit den Schultern. Sinnlos, sich aufzuregen. Entweder Jugurtha wußte, daß er hier war, oder er wußte es nicht. »Wo genau ist Jugurtha im Moment?« fragte er. »Ungefähr dreißig Meilen landeinwärts im Süden, auf einer schmalen Ebene in den Bergen. Er hält den einzigen Verbindungsweg zwischen Icosium und dem Lager des Königs, meines Vaters, besetzt«, antwortete Volux. »Hervorragend! Und wie soll ich zum König, deinem Vater, kommen ohne daß ich erst einmal mit Jugurtha kämpfen muß?« »Ich kann dich unbemerkt an seinem Lager vorbeiführen«, versicherte Volux eifrig. »Vertrau mir, Lucius Cornelius! Der König, mein Vater, vertraut mir — ich bitte dich, vertrau du mir auch!« Und nach kurzem Nachdenken fügte er hinzu: »Ich denke, es wäre besser, wenn deine Männer hierblieben. Je weniger wir sind, desto unauffälliger.« »Warum sollte ich dir trauen, Prinz Volux?« fragte Sulla. »Ich kenne dich nicht. Und wenn wir schon dabei sind, ich kenne auch Prinz Bogud nicht wirklich und auch nicht den König, deinen Vater! Wer garantiert mir, daß ihr es euch in der Zwischenzeit nicht anders überlegt und mich an Jugurtha verraten habt? Ich wäre ein guter Fang für ihn! Meine Gefangennahme wäre eine große Demütigung für Gaius Marius, das dürfte euch klar sein.« Bogud hatte geschwiegen, nur sein Gesicht hatte sich zusehends verfinstert, aber der junge Volux gab nicht auf. »Dann sag mir, wie ich beweisen kann, daß wir vertrauenswürdig sind!« rief er aus. 427
Sulla setzte sein wölfisches Grinsen auf, darauf hatte er gewartet. »Nun gut«, lenkte er ein. »Ihr habt mich sowieso in der Hand, was habe ich zu verlieren?« Und während er den jungen Mann anstarrte, tanzten seine seltsamen Augen wie Edelsteine unter der breiten Krempe seines Strohhutes — eine ungewöhnliche Kopfbedeckung für einen römischen Soldaten, doch bestens bekannt im ganzen Gebiet zwischen Tingis und der Cyrenaica, denn überall, wo an Lagerfeuern oder Herden von den Taten der Römer erzählt wurde, sprach man über den hellhäutigen Mann mit seinem breiten Hut. Ich muß mich auf mein Glück verlassen, dachte Sulla. Keine innere Stimme warnt mich. Dies ist eine Probe, eine Gelegenheit, jedem, von König Bocchus und seinem Sohn bis zu dem Mann in Cirta, zu zeigen, daß ich allem, was mir das Schicksal in den Weg stellt, gewachsen bin — nein, überlegen bin! Ein Mann kann nicht herausfinden, wozu er fähig ist, wenn er wegläuft. Nein, ich muß vorwärts gehen. Ich werde Glück haben, denn ich habe mein Glück selbst geschmiedet, und ich habe es gut geschmiedet. »Sobald es heute abend dunkel wird«, sagte er zu Volux, »werden wir beide mit einer kleinen Eskorte zum Lager des Königs, deines Vaters, reiten. Meine Truppen werde ich hierlassen. Falls Jugurtha merkt, daß Römer hier sind, wird er annehmen, daß wir in Icosium bleiben und daß der König, dein Vater, hierherkommt, um uns zu treffen.« »Aber heute nacht ist Neumond!« sagte Volux bestürzt. »Ich weiß«, erwiderte Sulla mit seinem unangenehmsten Lächeln. »Das ist die Probe, Prinz Volux. Wir werden nur das Sternenlicht haben. Und du wirst mich geradewegs durch Jugurthas Lager führen.« Boguds Augen traten fast aus den Höhlen. »Das ist Wahnsinn!« stieß er hervor. Volux’ Augen tanzten. »Das ist eine Herausforderung«, sagte er, und er lächelte in echter Vorfreude. »Bist du dabei?« fragte Sulla. »Genau durch die Mitte von Jugurthas Lager — zur einen Seite hinein, ohne daß uns die 428
Wachen sehen oder hören — die via praetoria hinunter, ohne einen schlafenden Mann oder ein dösendes Pferd zu wecken — und zur anderen Seite wieder hinaus, an den Wachen vorbei. Wenn du das wagst, Prinz Volux, weiß ich, daß ich dir trauen kann! Und auch dem König, deinem Vater.« »Ich bin dabei«, sagte Volux. »Ihr seid beide verrückt«, stellte Bogud fest.
Sulla beschloß, Bogud in Icosium zurückzulassen, denn er war sich nicht sicher, ob er diesem Mitglied des maurischen Königshauses trauen konnte. Bogud wurde höflich behandelt, doch auf Schritt und Tritt begleiteten ihn zwei römische Militärtribunen mit dem Auftrag, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Volux suchte sich die vier besten und trittsichersten Pferde in Icosium aus, und Sulla ließ sich sein Maultier bringen, denn er fand immer noch, daß ein Maultier ein weit besseres Reittier war als ein Pferd. Und er ließ auch seinen Hut einpacken. Nur Sulla, Volux und drei andere maurische Adlige würden mit von der Partie sein, und alle außer Sulla waren daran gewöhnt, ohne Sattel und Zaumzeug zu reiten. »Kein Metall, nichts darf klimpern und uns verraten«, erklärte Volux. Sulla sattelte sein Maultier dennoch und halfterte es mit einem Seil. »Das knarrt vielleicht, aber wenn ich vom Maultier falle, gibt es mehr Lärm.« In tiefster Dunkelheit ritten die fünf hinaus in die überwältigende Schwärze einer mondlosen Nacht. Dennoch schimmerte der Himmel, denn kein Wind hatte den africanischen Staub aufgewirbelt. Was auf den ersten Blick wie vorbeiziehende Wolken erschien, entpuppte sich bei näherem Betrachten als riesige Sternenhaufen, und die Reiter konnten ihren Weg mühelos erkennen. Keines der Tiere war beschlagen, und so zog die Schar fast ohne Hufschlag den Pfad entlang, der an einer Reihe von Schluchten entlangführte, die das hügelige Gelände um die Bucht von Icosium durchschnitten. 429
»Hoffentlich wird keines der Tiere lahmen«, meinte Volux, nachdem sein Pferd gestrauchelt war. »Vertrau auf mein Glück«, erwiderte Sulla. »Seid leise«, ermahnte sie einer der drei Begleiter. »In einer windstillen Nacht wie dieser kann man eure Stimmen meilenweit hören.« Sie ritten schweigend weiter und schärften ihre Augen, um auch die kleinste Lichtquelle sogleich wahrzunehmen. Nach etlichen Meilen tauchte vor ihnen der orangefarbene Schein verglimmender Lagerfeuer aus einem kleinen Talkessel auf, in dem Jugurtha sein Lager aufgeschlagen hatte. Das Lager breitete sich vor ihnen aus wie eine glänzende Stadt. Die fünf Reiter glitten schweigend den Hügel hinab, und unten machte sich Volux an die Arbeit. Geduldig beobachtete Sulla, wie die Mauren eigens angefertigte Pferdeschuhe an den Hufen ihrer Tiere befestigten. Normalerweise hatten solche Schuhe hölzerne Sohlen und wurden auf Geröllstrecken angelegt, um die empfindlichen Hufe zu schützen, in diesem Fall waren es Filzsohlen, die den Hufschlag dämpften. Die Pferdeschuhe wurden durch zwei weiche Lederriemen gehalten, die an der Vorderseite befestigt waren. Die Riemen wurden gekreuzt, durch einen eingehängten Metallhaken an der Rückseite gezogen und vorne zusammengeschnallt. Die Männer bewegten ihre Tiere eine Welle, um sie an diese Fußbekleidung zu gewöhnen, dann legten sie die letzte halbe Meile zu Jugurthas Lager zurück. Sie hatten mit Wachtposten und berittenen Patrouillen gerechnet, doch sie begegneten niemandem. Jugurtha hatte das Kriegshandwerk bei den Römern gelernt, und er hatte sein Lager nach römischem Vorbild angelegt, doch offensichtlich weder die Geduld noch den Willen aufgebracht, die Vorlage wirklich gewissenhaft zu kopieren — eine Eigenschaft, die, wie Sulla wußte, Gaius Marius an Fremden immer wieder faszinierte. So hatte Jugurtha, wohl wissend, daß Marius mit seiner Armee in Cirta überwinterte und Bocchus zu einem Angriff zu schwach war, sich nicht die Mühe gemacht, Schanzen anzule430
gen, sondern lediglich einen niedrigen Erdwall aufschütten lassen, der problemlos zu überqueren war. Wäre Jugurtha ein Römer gewesen, hätte er sein Lager vollständig mit Schanzen, Pfählen, Palisaden und Wällen ausgebaut, und wenn er sich noch so sicher gefühlt hätte. Die Reiter erreichten den Erdwall ungefähr zweihundert Schritte östlich des Haupttores, das eigentlich nur aus einer breiten Öffnung bestand, und überquerten ihn mit Leichtigkeit. Im Inneren des Lagers hielten sie ihre Pferde dicht am Wall und folgten seinem Verlauf. Auf der frisch ausgehobenen Erde war kein Laut zu hören, als sie sich dem Haupttor näherten. Dort waren zwar Wachen aufgestellt, aber sie konzentrierten sich auf den Bereich vor dem Lager, und sie standen so weit von dem Tor weg, daß sie nicht bemerkten, wie die kleine Gruppe auf die breite Lagerstraße einschwenkte, die vom Haupteingang hinunter zum hinteren Tor führte. Sulla, Volux und die drei maurischen Adligen ritten die via praetoria im Schritt entlang, verließen sie, als sie nach einer halben Meile das andere Ende erreichten, hielten sich wieder dicht an den Wall und überquerten ihn, sobald sie sich weit genug von der Torwache entfernt fühlten. Außerhalb des Lagers legten sie noch eine halbe Meile zurück, bevor sie die Pferdeschuhe entfernten. »Wir haben’s geschafft!« flüsterte Volux und grinste Sulla triumphierend an. »Vertraust du mir jetzt, Lucius Cornelius?« »Ich vertraue dir, Prinz Volux«, sagte Sulla und grinste ebenfalls. Sie ritten langsam weiter und achteten darauf, daß ihre unbeschlagenen Tiere nicht lahmten oder ermüdeten. Kurz nach Sonnenaufgang stießen sie auf ein Berberlager, wo sie ihre Pferde gegen frische einzutauschen versuchten. Da ihre Tiere weit besser waren als die der Berber und das Maultier eine Besonderheit darstellte, bereitete der Handel keine Schwierigkeiten. Anschließend ritten sie den ganzen Tag weiter, ohne größere Pausen einzulegen. Sulla verbarg sich unter seinem breiten Hut vor der Sonne und schwitzte. 431
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit erreichten sie das Lager von König Bocchus, das im Aufbau Jugurthas Lager glich, jedoch wesentlich größer war. Hier zögerte Sulla, zügelte sein Pferd und hielt außer Sichtweite der Wachen. »Nicht, daß ich dir nicht vertrauen würde, Prinz Volux«, sagte er, »aber ich habe ein seltsames Gefühl, ein Prickeln in den Fingern sozusagen. Du bist der Sohn des Königs, du kannst im Lager ein- und ausgehen, wie es dir beliebt. Ich hingegen bin offensichtlich ein Fremder. Also werde ich mich hier ein wenig hinlegen, so bequem es eben geht, und warten, bis du deinen Vater gesprochen hast. Wenn alles in Ordnung ist, kommst du zurück und holst mich.« »Ich würde mich nicht hinlegen«, meinte Volux. »Warum?« »Skorpione.« Sulla fühlte, wie seine Nackenhaare sich sträubten, und mußte sich zusammennehmen, um nicht entsetzt aufzuspringen. Da es in Italien keine giftigen Insekten gab, waren für jeden Römer und Italiker Spinnen und Skorpione der Inbegriff des Schrecklichen. Sulla holte tief Atem, ignorierte die Schweißperlen auf seiner Stirn und warf Volux einen betont gleichgültigen Blick zu. »Nun, ich werde bestimmt nicht die ganze Zeit stehen bleiben, bis du zurückkommst. Das kann ja Stunden dauern. Und ich werde auch nicht wieder auf dieses Pferd klettern. Also muß ich wohl mein Glück mit den Skorpionen versuchen.« »Wie du meinst«, sagte Volux, der Sulla bereits als Helden verehrte und ihn nun geradezu anbetete. Sulla legte sich auf ein Fleckchen weicher, sandiger Erde, grub eine Kuhle für seine Hüfte und formte eine Stütze für seinen Nacken. Nachdem er ein lautloses Gebet gesprochen und Fortuna ein reichliches Opfer für den Fall versprochen hatte, daß sie sämtliche Skorpione fernhielt, schloß er die Augen und schlief sofort ein. So fand ihn Volux, als er vier Stunden später zurückkehrte. Er hätte ihn ohne weiteres töten können, doch Fortuna meinte es wirklich gut mit Sulla. Volux erwies sich als echter 432
Freund. Die Nacht war kalt, und Sullas Glieder schmerzten. »Dieses Herumschleichen ist etwas für Jüngere!« spottete er und streckte eine Hand aus, um sich von Volux auf die Beine helfen zu lassen. Dann entdeckte er einen Schatten hinter Volux und erstarrte. »Es ist alles in Ordnung, Lucius Cornelius. Er ist ein Freund des Königs, meines Vaters. Sein Name ist Dabar«, sagte Volux schnell. »Ein weiterer Vetter des Königs, deines Vaters, nehme ich an?« »Nein, Dabar ist ein Vetter von Jugurtha, und wie Jugurtha ist er der Bastard einer Berberfrau. Deswegen ist er jetzt auf unserer Seite — Jugurtha zieht es vor, der einzige königliche Bastard an seinem Hof zu sein.« Sulla leerte die ihm gereichte Reiseflasche mit süßem, ungewässertem Wein in einem Zug. Der Schmerz in seinen Gliedern ließ nach, und die Kälte wich einer wohligen Wärme. Honigkuchen folgten und ein Stück stark gewürztes Ziegenfleisch, und noch eine Flasche des süßen Weines, der Sulla in diesem Augenblick köstlicher schien als alles, was er je getrunken hatte. »Ah, das tut gut!« sagte er und streckte sich, bis seine Gelenke knackten. »Was gibt es Neues?« »Das Prickeln in deinen Fingern hat dich zu Recht gewarnt, Lucius Cornelius«, erwiderte Volux. »Jugurtha war schneller als wir.« »Bin ich verraten?« »Nein, nein! Aber die Lage hat sich stark verändert. Dabar soll es dir erklären, er war dabei.« Dabar hockte sich auf seine Fersen, so daß er auf gleicher Höhe mit Sulla war. »Anscheinend hat Jugurtha erfahren, daß Gaius Marius Botschafter an meinen König gesandt hat«, berichtete er mit leiser Stimme. »Natürlich nahm Jugurtha an, daß mein König deshalb nicht nach Tingis zurückkehrte. Er beschloß, ebenfalls hierzubleiben und die Gesandtschaft abzufangen. Er hat sowohl den Landweg als auch den Seeweg verlegt. Und er hat einen seiner Würdenträger, Aspar, geschickt, der im Rat meines Königs sitzen und die Verhandlungen mit den Römern überwachen soll.« 433
»Ich verstehe«, meinte Sulla. »Was sollen wir unter diesen Umständen tun?« »Morgen wird Prinz Volux dich zu meinem König bringen, es wird so aussehen, als ob ihr zusammen von Icosium hierher geritten wäret. Zum Glück hat Aspar nicht beobachtet, wie der Prinz heute in das Lager kam. Unser Plan sieht vor, daß du mit meinem König verhandelst, als ob du auf Befehl von Gaius Marius hier wärest und nicht auf Bitten meines Königs. Du wirst meinen König auffordern, mit Jugurtha zu brechen. Der König wird ablehnen, nicht direkt, er wird zu Ausflüchten greifen. Er wird dich ersuchen, zehn Tage in einem nahegelegenen Lager zu warten, während er über deinen Vorschlag nachdenkt. Du wirst dich in dieses Lager begeben. Doch morgen nacht wird sich mein König an einem geheimen Ort mit dir treffen, und dann könnt ihr offen miteinander reden.« Dabar sah Sulla beifallheischend an. »Bist du einverstanden, Lucius Cornelius?« »Vollkommen«, erwiderte Sulla und gähnte ausgiebig. »Es bleibt nur ein Problem — wo soll ich heute nacht schlafen, und wo kann ich ein Bad nehmen? Ich stinke nach Pferd, und unter meinen Kleidern krabbelt irgend etwas herum.« »Volux hat nicht weit von hier ein komfortables Lager für dich errichten lassen«, sagte Dabar. »Dann bringt mich hin«, bat Sulla und erhob sich.
Am nächsten Tag führte Sulla die für Jugurthas Spion Aspar inszenierte Verhandlung mit König Bocchus. Es war nicht schwer, diesen unter den anwesenden Würdenträgern auszumachen. Er stand links von Bocchus’ Thron — der weitaus majestätischer wirkte als der König selbst —, und keiner behandelte ihn so unbefangen, wie man alte Bekannte behandelt. Noch in der gleichen Nacht trafen sich Bocchus und Sulla unbeobachtet an einem Ort zwischen ihren Lagern. »Was soll ich tun, Lucius Cornelius?« jammerte Bocchus. »Rom einen Gefallen erweisen.« 434
»Sag mir doch, was Rom erwartet — Gold — Juwelen — Land — Soldaten — Reiter — Weizen — nenne, was du willst, und es soll erfüllt werden! Du bist ein Römer, du mußt doch wissen, was die rätselhafte Botschaft des Senats bedeutet! Ich schwöre, ich weiß es nicht.« Bocchus schlotterte vor Angst. »All das kann Rom haben, ohne in Rätseln zu sprechen, König Bocchus«, sagte Sulla verächtlich. »Was dann? Sag mir, was?« flehte Bocchus. »Ich glaube, du hast das Rätsel bereits selbst gelöst, König Bocchus, du willst es nur nicht wahrhaben. Und ich verstehe dich sogar. Jugurtha! Rom wünscht, daß du Jugurtha friedlich und ohne Blutvergießen auslieferst. Es ist schon zuviel Blut in Africa geflossen, zuviel Land ist zerstört, zu viele Städte und Dörfer sind verbrannt, zuviel Reichtum ist verschwendet worden. Und solange Jugurtha nicht aufgehalten wird, wird auch diese entsetzliche Verschwendung andauern. Numidien verkümmert, Rom fühlt sich bedroht, und auch Mauretanien leidet. Also liefere mir Jugurtha aus, König Bocchus!« »Du verlangst von mir, daß ich meinen Schwiegersohn, den Vater meiner Enkel ausliefere, einen Mann, der durch Massinissas Blut mit mir verwandt ist?« »Genau.« Bocchus brach in Tränen aus. »Ich kann nicht! Lucius Cornelius, Ich kann nicht! Wir sind ebensosehr Berber wie Punier, das Gesetz der Nomaden gilt auch für uns. Alles, Lucius Cornelius, ich werde alles tun, um den Vertrag von Rom zu bekommen! Alles, aber ich kann meinen Schwiegersohn nicht verraten.« »Alles andere ist uninteressant«, erwiderte Sulla kalt. »Mein Volk würde mir nie vergeben!« »Rom wird dir nie vergeben. Und das ist weit schlimmer.« »Ich kann nicht!« Dicke Tränen flossen über Bocchus’ Gesicht und glitzerten in den kunstvoll gedrehten Locken seines Bartes. »Bitte, Lucius Cornelius, bitte! Ich kann nicht!« Sulla wandte sich verächtlich ab. »Dann wird es keinen Vertrag geben«, sagte er. 435
In den folgenden acht Tagen wurden die für Aspar inszenierten Verhandlungen weitergeführt. Aspar und Dabar ritten zwischen Sullas komfortablem Lager und dem Lager des Königs hin und her und überbrachten Botschaften, die nichts mit den wirklichen Verhandlungen zu tun hatten. Die wirklichen Verhandlungen wurden nur nachts geführt und blieben ein Geheimnis zwischen Sulla und Bocchus. Volux war offensichtlich eingeweiht, denn er mied Sulla inzwischen, so gut er konnte, und wann immer er ihn traf, wirkte er ärgerlich und verletzt. Sulla genoß das Gefühl der Macht und der Würde, das ihm sein Amt als Gesandter Roms gab, und noch mehr genoß er es, daß er der stete Tropfen war, der diesen königlichen Stein höhlte. Er war kein König, und doch hatte er Macht über Könige. Er hatte Macht, weil er ein Römer war — ein berauschendes, ein ungeheuer befriedigendes Gefühl. In der achten Nacht brach der König zusammen. »Ich bin einverstanden, Lucius Cornelius«, sagte er mit rotgeweinten Augen. »Sehr gut!« erwiderte Sulla knapp. »Und was soll ich jetzt tun?« »Ganz einfach«, antwortete Sulla. »Du schickst Aspar zu Jugurtha und bietest ihm an, daß du mich auslieferst.« »Er wird mir nicht glauben«, meinte Bocchus verzweifelt. »Er wird dir glauben! Mein Wort darauf, daß er dir glauben wird. Unter anderen Umständen wäre es genau das, was du tun würdest, König Bocchus.« »Aber du bist doch nur ein Quästor!« Sulla lachte. »Willst du damit sagen, daß ein römischer Quästor nicht ebenso wertvoll ist wie ein numidischer König?« »Nein! Nein, natürlich nicht!« »Ich werde es dir erklären, König Bocchus«, sagte Sulla betont freundlich. »Ich bin ein römischer Quästor, und es stimmt, daß dies die unterste Stufe der senatorischen Ämterlaufbahn ist. Aber ich bin auch ein Patrizier aus dem Hause Cornelius — meine Familie zählt Scipio Africanus und Scipio Aemilianus zu ihren 436
Vorfahren, und die Reihe meiner Ahnen läßt sich viel weiter zurückverfolgen als deine oder die von Jugurtha. Würde Rom von Königen regiert, würde meine Familie vermutlich zum Herrscherhaus gehören. Außerdem bin ich zufällig Gaius Marius’ Schwager, unsere Söhne sind Vettern ersten Grades. Macht das die Sache verständlicher?« »Jugurtha — weiß Jugurtha das alles?« wisperte der König. »Es gibt nicht viel, das Jugurtha entgeht«, erwiderte Sulla, lehnte sich zurück und wartete. »Nun gut, Lucius Cornelius, ich werde tun, was du vorgeschlagen hast. Ich werde Aspar zu Jugurtha schicken und ihm anbieten, daß ich dich ausliefere.« Der König richtete sich auf, und seine königliche Würde war sichtlich angeschlagen. »Du mußt mir aber genau sagen, was ich tun soll.« Sulla beugte sich vor und erklärte dem König knapp, wie die Sache vonstatten gehen sollte. »Du wirst Jugurtha bitten, übernächste Nacht hierherzukommen, und ihm versprechen, den römischen Quästor Lucius Cornelius Sulla auszuliefern. Du wirst ihm mitteilen, daß dieser Quästor sich ohne Begleitung in deinem Lager befindet und daß er versucht, dich zu einem Bündnis mit Gaius Marius zu überreden. Jugurtha weiß, daß das stimmt, denn Aspar hält ihn ja auf dem laufenden. Er weiß auch, daß sich im Umkreis von hundert Meilen keine römischen Soldaten befinden, und so wird er sich nicht die Mühe machen, seine Truppen mitzubringen. Und überdies glaubt er dich zu kennen, und er wird nicht im Traum auf die Idee kommen, du könntest ihn verraten.« Sulla tat so, als bemerkte er nicht, wie Bocchus zusammenzuckte. »Jugurtha fürchtet nicht dich oder deine Armee, sondern Gaius Marius. Sei beruhigt, er wird deiner Botschaft glauben, und er wird kommen.« »Aber was soll ich tun, wenn Jugurthas Männer merken, daß er nicht zurückkehrt?« fragte Bocchus zitternd. Sulla lächelte unangenehm. »Ich würde dir dringend empfehlen, König Bocchus, eiligst dein Lager abzubrechen und nach Tingis zu marschieren, sobald du mir Jugurtha übergeben hast.« 437
»Aber wirst du nicht meine Armee brauchen, um Jugurtha gefangenzuhalten?« Noch nie hatte ein Mann Sulla so angstvoll angeblickt. »Du hast keine Männer, wie willst du ihn nach Icosium bringen! Und sein Lager liegt mitten auf deinem Weg.« »Ich brauche nur ein paar gute Handfesseln und Ketten und sechs deiner schnellsten Pferde«, sagte Sulla.
Sullas Vorfreude auf das Treffen war ungetrübt von Selbstzweifeln und Beklommenheit. Ja, es würde sein Name sein, der für immer mit der Gefangennahme Jugurthas verknüpft wäre! Auch wenn er im Auftrag von Gaius Marius gehandelt hatte, so waren es doch seine Tapferkeit, seine Intelligenz und seine Entschlossenheit, die diese Tat schließlich ermöglicht hatten. Diesen Triumph konnte ihm niemand nehmen. Er glaubte allerdings nicht, daß Gaius Marius versuchen könnte, allen Ruhm für sich allein zu beanspruchen. Gaius Marius war nicht gierig nach Ruhm, er wußte, daß er schon mehr als einen fairen Anteil hatte. Und er würde nichts dagegen haben, wenn die Geschichte von Jugurthas Gefangennahme durchsickerte. Für einen Patrizier war es wichtig, Popularität zu erlangen, wenn er Konsul werden wollte. Und es war schwierig genug, Popularität zu erlangen, weil ein Patrizier nicht Volkstribun werden konnte. Ein Patrizier mußte andere Wege finden, sich einen Namen zu machen und den Wählern zu beweisen, was für ein würdiger Sproß seiner Familie er war. Jugurtha hatte Rom einiges gekostet, und ganz Rom würde erfahren, daß Lucius Cornelius Sulla, der unermüdliche Quästor, den Feind Roms ganz allein gefangengenommen hatte. Als Sulla Bocchus traf, um mit ihm zu dem vereinbarten Treffpunkt zu reiten, war er in Hochstimmung, voller Selbstbewußtsein und Tatendrang. »Jugurtha wird nicht erwarten, dich in Ketten zu sehen«, sagte Bocchus. »Er denkt, daß du um ein Treffen mit ihm gebeten hast, weil du ihn überreden willst aufzugeben. Er hat mich beauftragt, genügend Männer zu deiner Gefangennahme mitzubringen, Luci438
us Cornelius.« »Gut«, erwiderte Sulla kurz. Als Bocchus mit Sulla an seiner Seite und einer starken Truppe maurischer Kavallerie hinter sich eintraf, wartete Jugurtha bereits. Er hatte nur einige seiner Befehlshaber bei sich, darunter auch Aspar. Sulla brachte sein Pferd an die Spitze und trabte geradewegs auf Jugurtha zu, hielt, stieg ab und streckte seine Hand in der bekannten Geste des Friedens und der Freundschaft aus. »König Jugurtha«, sagte er und wartete. Jugurtha schaute auf die dargebotene Hand, dann stieg auch er ab und ergriff sie mit seiner Rechten. »Lucius Cornelius.« Während Sulla und Jugurtha sich die Hände reichten, hatte die maurische Kavallerie schweigend einen Ring um die Gruppe gezogen. Jugurthas Gefangennahme ging so schnell und glatt vonstatten, daß selbst Gaius Marius höchst zufrieden gewesen wäre. Die Begleiter des numidischen Königs wurden überwältigt, bevor sie auch nur ihre Schwerter ziehen konnten. Jugurtha wurde niedergeworfen und konnte keine Gegenwehr mehr leisten. Als er wieder auf die Füße gestellt wurde, trug er schwere Fesseln an Händen und Füßen, die durch Ketten miteinander verbunden und so kurz waren, daß sie ihm nur gebücktes Gehen erlaubten. Seine Augen waren, wie Sulla im Licht der Fackeln feststellte, erstaunlich hell für einen so dunkelhäutigen Mann. Er war groß und kräftig. Doch an seinem Gesicht, das von einer scharfen Nase beherrscht wurde, waren die Jahre nicht spurlos vorbeigegangen, und er sah wesentlich älter aus als Gaius Marius. Sulla wußte, daß er ihn auch ohne Begleitung dorthin bringen konnte, wo er ihn haben wollte. »Setzt ihn auf den großen Braunen«, befahl er Bocchus’ Männern und beobachtete schweigend, wie die Ketten an Metallringen befestigt wurden, die eigens dafür am Sattel angebracht worden waren. Dann überprüfte er die Fesseln und den Sattelgurt. Nachdem man ihm auf einen anderen Braunen geholfen hatte, nahm er die Zügel von Jugurthas Pferd und verknotete sie an seinem eigenen Sattel, so konnte sich Jugurthas Tier nicht losreißen, 439
selbst wenn dieser es antreiben sollte. Die vier Reservepferde wurden mit einem kurzen Seil an Jugurthas Sattel gebunden. Als letzte Sicherheitsmaßnahme kettete Sulla Jugurthas Handfessel an sein linkes Handgelenk. Von dem Moment an, da die Mauren Jugurtha auf sein Pferd gesetzt hatten, hatte Sulla kein Wort mehr gesagt. Nun trieb er, immer noch schweigend, sein Tier vorwärts, und Jugurthas Brauner folgte gehorsam, als die Zügel und Ketten, die ihn mit Sulla verbanden, sich strafften. Nach wenigen Augenblicken war die kleine Gruppe im Schatten der Bäume verschwunden. Bocchus weinte. Volux und Dabar standen hilflos daneben. »Vater, erlaube mir, daß ich ihn einfange!« bat Volux plötzlich. »So beladen, wie er ist, kommt er nicht schnell vorwärts. Ich kann ihn einholen!« »Es ist zu spät.« Bocchus nahm das zarte Taschentuch, das sein Diener ihm reichte, trocknete seine Augen und schneuzte sich. »Er wird sich nicht einfangen lassen, der nicht. Wir sind hilflose Kinder im Vergleich zu diesem Römer. Nein, mein Sohn, das Schicksal des armen Jugurtha liegt nicht mehr in unserer Hand. Wir müssen an Mauretanien denken. Es ist an der Zeit, daß wir heimkehren in unser geliebtes Tingis. Vielleicht gehören wir einfach nicht in diese Welt an der Mittelmeerküste.«
Ungefähr eine Meile lang ritt Sulla schweigend, ohne das Tempo zu verlangsamen. Seine überschwengliche Freude, seine tiefe Zufriedenheit mit seiner glänzenden Tat hielt er ebenso im Zaum wie seinen Gefangenen. Ja, wenn er die Geschichte von Jugurthas Gefangennahme vorsichtig verbreitete und darauf achtete, daß er Gaius Marius’ Verdienst nicht schmälerte, würde sie bald eine jener wunderbaren Geschichten sein, die die Mütter ihren Kindern erzählten — wie die Geschichte vom Sprung des jungen Marcus Curtius in den Spalt auf dem Forum Romanum oder die Geschichte vom Heldenmut des Horatius Cocles, der den pons sublicius gegen die Etrusker unter Porsenna verteidigt und damit Rom 440
gerettet hatte, oder wie die Geschichte von Gaius Popillius Laenas, der den Kreis um die Füße des Königs von Syrien gezogen hatte — ja, auch die Gefangennahme Jugurthas durch Lucius Cornelius Sulla würde von nun an eine der vielen Gute-Nacht-Geschichten sein. Mit wohligem Schaudern würden die Kinder von ihren Müttern hören, wie Sulla mitten durch Jugurthas Lager geritten war und wie klug er sich des Königs bemächtigt hatte. Da Sulla von Natur aus kein romantischer Träumer war, der Luftschlösser baute, fand er es nicht allzu schwierig, seine Gedanken von diesen Dingen zu lösen, als es an der Zeit war zu halten und abzusteigen. Während er immer in sicherem Abstand von Jugurtha blieb, löste er das Seil, das die vier Reservepferde mit Jugurthas Reittier verband, und jagte sie dann mit wohlgezielten Steinwürfen in verschiedene Richtungen davon. »Aha«, meinte Jugurtha, der beobachtete, wie Sulla etwas mühsam wieder auf sein Pferd kletterte. »Wir werden hundert Meilen zurücklegen, ohne die Pferde zu wechseln, was? Ich hatte mich schon gefragt, wie du mich auf ein anderes Pferd hieven wolltest.« Er lachte höhnisch. »Meine Kavallerie wird dich kriegen, Lucius Cornelius!« »Hoffentlich nicht«, erwiderte Sulla und zog das Pferd seines Gefangenen mit einem Ruck vorwärts. Anstatt weiter in nördlicher Richtung auf das Meer zuzuhalten, schwenkte Sulla nun nach Osten und überquerte eine kleine Ebene. Sie ritten durch die stille Nacht, der Weg war erhellt vom Mond, der hoch im Osten stand. Nach ungefähr zehn Meilen tauchte in der Ferne eine schwarze Gebirgskette auf, vor der sich in wildem Durcheinander einzelne, gigantische Felsbrocken auftürmten, die wenige verkrüppelte Bäume weit überragten. »Genau, wo es sein sollte!« rief Sulla erfreut und stieß einen schrillen Pfiff aus. Zwischen den Felsen strömte Sullas ligurische Kavallerie hervor und ritt schweigend auf ihn und seinen Gefangenen zu. Jeder Reiter führte zwei Reservepferde mit sich, auch für Jugurtha wurden zwei Tiere herangebracht und für Sulla zwei Maultiere. 441
»Ich habe sie vor sechs Tagen hierher geschickt und ihnen befohlen, daß sie hier auf mich warten, König Jugurtha«, sagte Sulla. »König Bocchus hatte gedacht, ich wäre allein zu seinem Lager gekommen, doch wie du siehst, war dem nicht so. Publius Vagiennius folgte mir die ganze Zeit unbemerkt, und ich schickte ihn zurück, um diese Truppe zu holen und hier auf mich zu warten.« Nachdem er von seinem Gefangenen losgekettet war, überwachte Sulla, wie Jugurtha auf ein frisches Pferd gesetzt und an Publius Vagiennius gekettet wurde. Bald darauf ritten sie in nordöstlicher Richtung weiter und umgingen Jugurthas Lager in einem großen Bogen. »Ich nehme nicht an, königliche Hoheit«, fragte Publius Vagiennius mit feinfühliger Zurückhaltung, »daß du mir sagen könntest, wo ich in der Gegend von Cirta Schnecken finden kann? Oder vielleicht in einem anderen Teil Numidiens?«
Ende Juni war der Krieg in Africa vorüber. Während Marius und Sulla ihre Angelegenheiten ordneten, wurde Jugurtha in einem angemessen bequemen Quartier in Utika untergebracht. Seine beiden Söhne, Iampsas und Oxyntas, leisteten ihm dort Gesellschaft, während sein Hof sich auflöste und das Gerangel um einflußreiche Posten unter dem neuen Herrscher begann. König Bocchus erhielt seinen Freundschafts- und Bündnisvertrag vom Senat, und der ewig kränkliche Prinz Gauda wurde König eines beträchtlich geschrumpften Königreichs Numidien. Da Rom zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt war und sich nicht darum kümmerte, seine africanische Provinz um mehrere hundert Meilen zu vergrößern, konnte sich Bocchus ungehindert diesen Teil Numidiens einverleiben. Sobald das Wetter es gestattete und genügend Schiffe beschafft waren, ließ Marius König Jugurtha und seine beiden Söhne auf dem Seeweg nach Rom — und damit in sicheren Gewahrsam — bringen. Die numidische Gefahr war ein für allemal gebannt. 442
Quintus Sertorius reiste ebenfalls ab, nachdem er von Marius die Erlaubnis dazu bekommen hatte, denn er war fest entschlossen, in Gallia Transalpina gegen die Germanen zu kämpfen. »Ich bin ein Mann, der den Kampf braucht, Gaius Marius«, erklärte der ernsthafte junge contubernalis, »und hier ist der Kampf vorüber. Lege ein gutes Wort für mich bei deinem Freund Publius Rutilius Rufus ein und bitte ihn, daß er mich nach Gallien schickt!« »Gehe mit meinem Segen und meinem Dank, Quintus Sertorius«, sagte Marius mit ungewohnter Herzlichkeit. »Und grüße deine Mutter von mir.« Sertorius’ Gesicht leuchtete auf. »Das werde ich, Gaius Marius,« »Denke daran, Sertorius«, sagte Marius an dem Tag, an dem Quintus Sertorius und Jugurtha nach Italien abreisen sollten, »daß ich dich auch in Zukunft wieder brauchen werde. Also sei vorsichtig in der Schlacht — wenn du das Glück haben solltest, daran teilzunehmen. Rom hat deine Tapferkeit und dein Geschick mit der goldenen Krone belohnt, mit den phalerae, mit goldenen Ketten und Armbändern. Eine seltene Auszeichnung für einen so jungen Mann, wie du es bist. Aber sei nicht unbesonnen. Rom braucht dich lebendig, nicht tot.« »Ich werde auf mich aufpassen, Gaius Marius.« »Und geh nicht sofort in den Krieg, wenn du wieder in Italien bist«, mahnte Marius, »bleib erst mal eine Welle bei deiner lieben Mutter.« »Das werde ich, Gaius Marius«, versprach Quintus Sertorius. Nachdem sich der junge Mann verabschiedet hatte, warf Sulla seinem Vorgesetzten einen ironischen Blick zu. »Du gluckst ja wie eine Henne, die ein Ei ausbrütet.« Marius schnaubte. »Unsinn! Seine Mutter ist eine Cousine von mir, und sie steht mir sehr nahe.« »Natürlich«, erwiderte Sulla grinsend. Marius lachte. »Na komm, Lucius Cornelius, gib zu, daß du den jungen Sertorius ebenso magst wie ich!« »Das gebe ich gerne zu. Aber ich fange trotzdem nicht an zu 443
glucken, Gaius Marius!« »Mentulam caco!« Damit war die Diskussion beendet.
Rutilia, die einzige Schwester von Publius Rutilius Rufus, hatte nacheinander zwei Brüder geheiratet. Ihr erster Mann, Lucius Aurelius Cotta, war vor vierzehn Jahren gleichzeitig mit Metellus Delmaticus Konsul gewesen. Er hatte aus seiner ersten Ehe einen neunjährigen Sohn mitgebracht, der nach ihm Lucius genannt wurde. Sie hatten ein Jahr nach der völligen Zerstörung der Stadt Fregellae — die Strafe für einen Aufstand gegen Rom — geheiratet, und in dem Jahr, in dem Gaius Gracchus sein Amt als Volkstribun antrat, wurde ihre Tochter Aurelia geboren. Lucius Cottas Sohn war da zehn Jahre alt und freute sich sehr über seine kleine Schwester, und auch seine Stiefmutter mochte er sehr gerne. Als Aurelia fünf wurde, starb ihr Vater plötzlich, nur wenige Tage nach Ablauf seiner Amtszeit als Konsul. Seine junge Witwe — Rutilia war vierundzwanzig — suchte Trost bei Lucius Cottas jüngerem Bruder Marcus, der noch keine Frau gefunden hatte. Sie entdeckten ihre Liebe füreinander, und mit der Erlaubnis ihres Vaters und ihres Bruders heiratete Rutilia elf Monate nach dem Tod von Lucius ihren Schwager. Sie brachte ihren Stiefsohn und Marcus’ Neffen, den kleinen Lucius, und ihre Tochter Aurelia, Marcus’ Nichte, mit in die Ehe. Die Familie wuchs schnell — nach weniger als einem Jahr gebar Rutilia einen Sohn, Gaius, im Jahr darauf kam Marcus der jüngere zur Welt und sieben Jahre später schließlich noch ein dritter Sohn, ein weiterer Lucius. Aurelia blieb das einzige Mädchen und wuchs in wahrhaft faszinierenden Verwandtschaftsverhältnissen auf. Von der Seite ihres Vaters hatte sie einen älteren Halbbruder und von der Seite ihrer Mutter drei jüngere Halbbrüder, die gleichzeitig ihre Vettern waren, da ihr Vater deren Onkel gewesen wäre und ihr Onkel Marcus gleichzeitig deren Vater war. Diese Verhältnisse waren besonders für Uneingeweihte äußerst verwirrend, vor allem, wenn 444
die Kinder sie erklärten. »Sie ist meine Cousine«, sagte Gaius Cotta und zeigte auf Aurelia. »Er ist mein Bruder«, erwiderte Aurelia und zeigte auf Gaius Cotta. »Er ist mein Bruder«, meinte Gaius Cotta dann und wies auf Marcus Cotta. »Sie ist meine Schwester«, fuhr Marcus Cotta nun fort und deutete auf Aurelia. »Er ist mein Vetter«, sagte Aurelia schließlich und zeigte auf Marcus Cotta. Sie konnten Stunden damit weitermachen, bis den Besuchern der Kopf schwirrte. Die verwirrenden Verwandtschaftsverhältnisse belasteten die selbstbewußten und eigenwilligen Kinder nicht im geringsten — sie liebten einander und kamen gut miteinander aus, und alle genossen die liebevolle Zuwendung ihrer Eltern, die eine sehr glückliche Ehe führten. Die Aurelier zählten zu den bedeutendsten Familien Roms, der Zweig der Aurelius Cottas hatte mehrere Senatoren unter seinen Vorfahren aufzuweisen, wenn auch Lucius Aurelius Cotta der erste Konsul der Familie gewesen war. Das Vermögen, das durch geschickte Investitionen, Erbschaften von riesigen Ländereien und viele kluge Heiraten erworben worden war, ermöglichte diesem Geschlecht, mehrere Söhne zu haben, ohne daß sie einen zur Adoption geben mußten. Und die Mitgift der Tochter war mehr als angemessen. Die Meute, die unter dem Dach des Marcus Aurelius Cotta und seiner Frau Rutilia lebte, war also ziemlich reich, und zudem sahen alle auch noch sehr gut aus. Aurelia, das einzige Mädchen, war die Hübscheste von allen. »Makellos!« fand Lucius Licinius Crassus Orator, einer ihrer glühendsten Bewunderer und einer der wichtigsten Bewerber um ihre Hand. Er war von rastloser Intelligenz und liebte den Luxus. »Herrlich!« schwärmte Quintus Mucius Scaevola, Crassus’ Cousin und bester Freund. Er hatte sich ebenfalls auf die Liste der 445
Freier setzen lassen. »Aufregend!« sagte Marcus Livius Drusus. Er war Aurelias Vetter und wollte sie unbedingt heiraten. »Helena von Troja!« nannte Gnaeus Domitius Ahenobarbus der Jüngere sie, als er um ihre Hand anhielt. Die Situation war in der Tat so, wie Publius Rutilius Rufus in seinem Brief an Gaius Marius geschrieben hatte — ganz Rom wollte seine Nichte Aurelia heiraten. Daß einige der Bewerber bereits verheiratet waren, spielte keine Rolle. Eine Scheidung war einfach, und Aurelias Mitgift war so groß, daß kein Mann Bedenken haben mußte, die Mitgift seiner früheren Frau zu verlieren. »Ich komme mir vor wie König Tyndareus, den jeder wichtige Prinz oder König um Helenas Hand bittet«, sagte Marcus Aurelius Cotta zu Rutilia. »Er hatte Odysseus, um das Problem zu lösen«, erwiderte sie. »Nun, ich wünschte, ich hätte auch einen Odysseus! Egal, wem ich sie gebe, ich werde alle beleidigen, die sie nicht bekommen.« »Genau wie Tyndareus«, meinte sie. Doch dann erschien Marcus Cottas Odysseus in Gestalt von Publius Rutilius Rufus zum Abendessen. Nachdem die Kinder einschließlich Aurelia zu Bett gegangen waren, wandte sich die Unterhaltung wie so oft Aurelias Heirat zu. Rutilius Rufus lauschte interessiert, und als der richtige Moment gekommen war, eröffnete er die Lösung. Allerdings verschwieg er seiner Schwester und seinem Schwager, daß eigentlich Gaius Marius, dessen knappen Brief aus Africa er gerade erhalten hatte, das Rätsel gelöst hatte. »Es ist doch ganz einfach, Marcus Aurelius«, sagte er. »Wenn es wirklich so einfach ist, dann liegt die Lösung so nahe, daß ich sie nicht sehen kann«, meinte Marcus Cotta. »Erleuchte meinen Verstand, Odysseus!« »Nun, ich sehe keinen Grund, wie Odysseus ein Lied darüber zu singen oder zu tanzen.« Rutilius Rufus lächelte. »Wir leben im modernen Rom, nicht im alten Griechenland. Wir können nicht einfach ein Pferd schlachten, es in vier Stücke teilen und alle Freier darauf stellen, damit sie dir den Treueid schwören, Marcus 446
Aurelius.« »Vor allem nicht, bevor sie überhaupt wissen, wer der Glückliche ist!« erwiderte Cotta lachend. »Wie romantisch die alten Griechen doch waren. Nein, Publius Rutilius, ich fürchte, wir haben es mit einem ganz anderen Schlag zu tun — mit einer Reihe von streitsüchtigen, verbissenen Römern.« »Genau«, bestätigte Rutilius Rufus. »Komm, Bruder, erlöse uns und erzähle von deiner Idee«, drängte Rutilia. »Wie ich schon sagte, meine liebe Rutilia, ganz einfach. Aurelia soll sich ihren Ehemann selbst aussuchen.« Cotta und seine Frau starrten ihn verblüfft an. »Meinst du wirklich, daß das klug wäre?« fragte Cotta. »In dieser Lage kann Klugheit nicht weiterhelfen, was habt ihr also zu verlieren?« entgegnete Rutilius Rufus. »Ihr habt es nicht nötig, Aurelia mit einem reichen Mann zu verheiraten. Auf eurer Liste gibt es keine notorischen Mitgiftjäger, beschränkt also ihre Wahl auf diese Liste. Es ist unwahrscheinlich, daß die Familien der Aurelier, der Julier oder der Cornelier gesellschaftliche Emporkömmlinge anziehen. Und schließlich besitzt Aurelia eine gehörige Portion gesunden Menschenverstand, sie ist absolut nicht sentimental und ganz bestimmt nicht romantisch. Sie wird euch nicht enttäuschen, nicht meine Aurelia!« »Du hast recht«, sagte Cotta und nickte. »Es gibt keinen Mann, der Aurelia den Kopf verdrehen könnte.« Und so riefen Cotta und Rutilia Aurelia am nächsten Tag in Rutilias Wohnraum und eröffneten ihr, was sie beschlossen hatten. Sie kam herein, weder schlendernd noch mit der Hüfte wakkelnd, ihre Schritte waren weder zu lang noch trippelnd. Aurelia hatte einen stolzen, aufrechten Gang, ihre Bewegungen waren präzise und zielbewußt, sie hielt Rücken und Schultern gerade, den Kopf erhoben. Ihre Figur war vielleicht etwas schmal, denn sie war groß und hatte nur kleine Brüste. Sie trug Gewänder von untadeliger Eleganz und verachtete hochhackige Korkabsätze und auffallenden Schmuck. Ihr dichtes, glattes, dunkelblond schim447
merndes Haar war in einem schlichten Knoten auf dem Hinterkopf zusammengefaßt, so daß ihr Gesicht dem Betrachter ohne schmükkenden Rahmen dargeboten wurde. Die zarte, makellose Haut zeigte über den hohen Wangenknochen ein leichtes Rosa, das sich in den sanften Kuhlen darunter vertiefte. Die Nase war so gerade und wohlgeformt, als hätte Praxiteles selbst sie gemeißelt, und lang genug, um jeden Verdacht auf keltisches Blut zu zerstreuen. Ihr Mund, tiefrot und an den Winkeln leicht aufwärts gebogen, zog jeden Mann magisch an. Das schöne, herzförmige Gesicht mit der hohen, klaren Stirn, dem wohlgeformten Haaransatz und einem kleinen Grübchen im Kinn wurde von großen Augen beherrscht. Man war sich einig, daß sie nicht dunkelblau, sondern veilchenblau waren, umrahmt von langen dichten Wimpern, über denen sich dunkle, seidige Brauen wölbten. Es gab viele Diskussionen auf Herrenabenden — gewöhnlich befanden sich unter den Gästen mindestens zwei oder drei von Aurelias Freiern —, was genau Aurelias Reiz ausmachte. Manche sagten, es seien diese nachdenklichen violetten Augen, andere meinten, es sei die bemerkenswerte Reinheit ihrer Haut, wieder andere gaben der Klarheit ihrer Gesichtszüge den Vorzug. Und einige äußerten sich leidenschaftlich über ihren Mund, über das Grübchen am Kinn oder die zartgeformten Hände und Füße. »Es ist nichts davon und doch alles zugleich, ihr Narren« knurrte Lucius Licinius Crassus Orator. »Sie ist eine vestalische Jungfrau, die frei herumläuft, sie ist Diana, nicht Venus! Unerreichbar! Und darin liegt ihre Faszination.« »Nein, es sind diese veilchenblauen Augen«, widersprach ihm der Sohn des Senatsvorsitzenden Scaurus, der Marcus hieß wie sein Vater. »Violett — die edelste der Farben. Sie ist ein lebendes, atmendes Omen.« Als das lebende, atmende Omen den Wohnraum betrat, so ruhig und makellos wie immer, verbreitete es keinerlei dramatische Atmosphäre — Aurelia hatte keinen Hang zum Theatralischen. »Setz dich, Tochter«, sagte Rutilia lächelnd. Aurelia nahm Platz und faltete die Hände im Schoß. 448
»Wir wollen über deine Heirat mit dir sprechen«, begann Cotta und räusperte sich. Er hoffte, sie würde ihm helfen, einen Anfang zu finden, doch Aurelia sah ihn nur höflich interessiert an. »Wie denkst du darüber?« fragte Rutilia. Aurelia kräuselte die Lippen und zuckte mit den Schultern. »Nun, ich hoffe, ihr werdet jemanden aussuchen, den ich mag.« »Das hoffen wir auch«, versicherte Cotta. »Gibt es jemanden, den du nicht magst?« fragte ihre Mutter. »Gnaeus Domitius Ahenobarbus den Jüngeren«, erwiderte Aurelia ohne Zögern. Cotta verstand das voll und ganz. »Sonst noch Jemand?« fragte er. »Marcus Aemilius Scaurus den Jüngeren.« »Oh, wie schade!« rief Rutilia. »Ich finde ihn sehr nett.« »Ich gebe zu, er ist nett«, meinte Aurelia. »Aber er ist schüchtern.« Cotta versuchte nicht, sein Grinsen zu verbergen. »Hättest du nicht gerne einen schüchternen Ehemann, Aurelia? Du wärst die Herrscherin im Hause.« »Eine gute römische Ehefrau beherrscht ihren Mann nicht.« »Nun, soviel zu Scaurus. Aurelia hat gesprochen.« Cotta bebte vor unterdrücktem Lachen. »Sonst noch jemand, der dir nicht gefällt?« »Lucius Licinius.« »Was stört dich bei ihm?« »Er ist fett.« »Nicht gerade anziehend, hm?« »Es zeigt einen Mangel an Selbstdisziplin, Vater.« Manchmal redete Aurelia Marcus mit Vater an, manchmal nannte sie ihn Onkel. Das richtete sich immer streng nach logischen Gesichtspunkten: War es deutlich, daß Cotta die Vaterstelle vertrat, war er »Vater«, handelte er in einer verwandtschaftlichen Rolle, war er »Onkel«. »Du hast recht, das tut es«, meinte Cotta. »Gibt es einen Bewerber, dem du den Vorzug vor den anderen 449
geben würdest?« versuchte Rutilia eine neue Taktik. Der gekräuselte Mund entspannte sich. »Nein, Mutter, eigentlich nicht. Es ist mir ganz recht, wenn ihr entscheidet, du und Vater.« »Was erhoffst du dir von der Ehe?« »Einen Ehemann, der meinem Rang entspricht — und dessen Rang ich entspreche — wohlgeratene Kinder.« »Eine Antwort wie aus dem Lehrbuch«, sagte Cotta. »Du kannst dich in die erste Reihe setzen.« Rutilia warf ihrem Gatten einen belustigten Blick zu. »Sag es ihr, Marcus Aurelius!« Cotta räusperte sich noch einmal. »Nun, Aurelia, du bereitest uns ein wenig Kopfzerbrechen. Bei der letzten Zählung waren es siebenunddreißig Bewerber auf der Liste. Keiner dieser hoffnungsvollen Freier kann als ungeeignet angesehen werden. Einige von ihnen stehen im Rang über uns, einige sind reicher als wir, ein paar sind sogar vornehmer und reicher! Das bringt uns in eine mißliche Lage. Wenn wir dir einen Gatten aussuchen, werden wir uns viele Feinde machen, weil wir viele abweisen müssen. Das ist für uns nicht weiter schlimm, aber wir müssen an die Zukunft deiner Brüder denken. Das verstehst du sicher.« »Natürlich, Vater«, sagte Aurelia ernsthaft. »Nun, dein Onkel Publius hat uns den einzig vernünftigen Weg aus diesem Dilemma gezeigt — du wirst deinen Gatten selbst auswählen, meine Tochter.« Aurelia schaute ihn entgeistert an. »Ich?« »Du.« Sie preßte ihre Hände an die geröteten Wangen. »Aber das geht nicht!« rief sie. »Das ist — das ist nicht römisch!« »Ich stimme dir zu«, sagte Cotta. »Es ist ganz und gar nicht römisch. Es ist rutilisch.« »Oh!« Aurelia rang die Hände. »Nein!« »Was ist denn, Aurelia? Warum glaubst du, daß du die Entscheidung nicht treffen kannst?« fragte Rutilia. »Nein, das ist es nicht«, antwortete Aurelia und wurde abwech450
selnd rot und blaß. »Es ist nur... nun...« Sie erhob sich. »Kann ich gehen?« »Natürlich.« An der Tür wandte sie sich um und sah Rutilia und Cotta ernsthaft an. »Wie lange habe ich Zeit, um meine Entscheidung zu treffen? »Oh, das hat keine Eile«, meinte Cotta leichthin. »Du wirst zwar Ende Januar achtzehn, aber du mußt nicht sofort heiraten, nur weil du das entsprechende Alter erreicht hast. Laß dir Zeit.« »Ich danke euch«, sagte sie und ging hinaus. Sie schlief in einem kleinen, fensterlosen Raum, der sich zum Atrium hin öffnete, in einer so fürsorglichen Familie hätte man der einzigen Tochter nie erlaubt, an einem weniger behüteten Ort zu schlafen. Doch ihre Stellung als einziges Mädchen unter so vielen Brüdern brachte auch Vorteile — sie wurde umhegt und verwöhnt und hätte sich mit Leichtigkeit zu einer verzogenen jungen Dame entwickeln können, wäre die Anlage dazu vorhanden gewesen. In ihrer Familie herrschte jedoch übereinstimmend die Meinung, daß es unmöglich war, Aurelia zu verziehen, denn es gab keinen Funken Habgier oder Neid in ihrem Charakter. Das bedeutete allerdings nicht, daß sie besonders liebenswürdig oder umgänglich war, im Gegenteil, es war viel einfacher, sie zu schätzen und zu respektieren, als sie zu lieben. Als Kind hatte sie den Angebereien ihrer Brüder so lange unbewegt zugehört, bis sie genug hatte. Dann hatte sie dem Aufschneider eine Ohrfeige versetzt, die ihm die Ohren klingen ließ, und war wortlos davongegangen. Aurelia, das einzige Mädchen, brauchte nach Meinung ihrer Eltern ein eigenes kleines Reich, wo sie sich vor ihren Brüdern zurückziehen konnte, wenn sie den Wunsch dazu verspürte. Und so hatte sie einen eigenen, recht großen und vor allem sonnigen Wohnraum bekommen, der am Peristyl, dem Säulengarten, lag. Und Aurelia besaß eine eigene Dienerin, die Gallierin Cardixa, eine echte Perle. Wenn Aurelia heiratete, sollte Cardixa mit ihr in das Haus ihres Gatten gehen.
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Ein kurzer Blick auf Aurelias Gesicht sagte Cardixa, daß etwas Ungewöhnliches vorgefallen war, doch sie sagte nichts und erwartete auch nicht, daß Aurelia ihr erzählte, was sie bewegte — so harmonisch und freundschaftlich das Verhältnis zwischen Herrin und Dienerin auch war, es gab doch keine kindlichen Vertraulichkeiten. Aurelia wollte offensichtlich allein sein, und so verließ Cardixa den Raum. An der Einrichtung des Zimmers war deutlich abzulesen, was die Bewohnerin interessierte. In die Wände waren unzählige Fächer für Schriftrollen eingearbeitet, auf dem Schreibtisch lagen leere Blätter, rote Stifte, Wachstafeln und ein kunstvoll gearbeiteter beinerner Stift, mit dem die Wachstafeln beschrieben wurden, und ein Abakus. Gepreßte Sepiastücke lagen neben einem abgedeckten Tintenfaß bereit, und ein wohlgefüllter Sandstreuer stand daneben. In einer Ecke des Zimmers hatte Aurelia einen Webstuhl aus Patavium aufgestellt, an den Wänden dahinter waren Pflöcke angebracht, die Dutzende langer Wollstränge in allen Farben trugen, Rot- und Violettöne, verschiedene Schattierungen von Blau, Grün, Rosa, Gelb und Orange. Aurelia webte die Stoffe für ihre Kleidung selbst, und sie liebte leuchtende Farben. Auf dem Webstuhl lag ein großes, beinahe vollendetes Stück eines hauchdünnen, flammenfarbenen Stoffes aus besonders feiner Wolle — Aurelias Brautschleier, eine wirkliche Herausforderung. Der safranfarbene Stoff für ihr Hochzeitskleid war bereits fertig und lag sorgsam gefaltet in einem Regal. Erst wenn der Heiratskontrakt unterzeichnet war, würde er zugeschnitten und genäht werden, vorher brachte es Unglück. Cardixa, die eine echte Begabung für kunstvolle Schnitzereien hatte, arbeitete an einem Wandschirm aus kostbarem africanischen Edelholz. Die polierten Steine — Sarder, Jaspis, Karneol und Onyx —, mit denen sie die geschnitzten Blätter und Blüten einlegen wollte, wurden sorgsam eingewickelt in einer geschnitzten Holzschatulle verwahrt, die sie ebenfalls selbst gearbeitet hatte. 452
Aurelia schloß die Fensterläden an der offenen Seite ihres Zimmers und ließ nur die Gitter geöffnet, damit frische Luft und gedämpftes Licht eindringen konnten. Wenn die Läden geschlossen waren, bedeutete dies, daß sie von niemandem gestört werden wollte, weder von Dienern noch von ihren Brüdern. Dann setzte sie sich an den Schreibtisch, verwirrt und ratlos.
Was würde Cornelia, die Mutter der Gracchen, an ihrer Stelle tun? Diese Frage stellte sich Aurelia bei jeder Entscheidung. Was würde Cornelia, die Mutter der Gracchen tun? Was würde Cornelia, die Mutter der Gracchen, denken? Wie würde Cornelia, die Mutter der Gracchen, empfinden? Cornelia, die Mutter der Gracchen, war Aurelias Idol, ihr Vorbild in allem, was sie sagte oder tat. Unter den Bücherrollen, die in den Fächern ihres Wohn- und Arbeitszimmers lagen, befanden sich sämtliche Briefe und sonstigen Schriften von Cornelia, der Mutter der Gracchen, und überdies alle Werke, in denen dieser Name erwähnt wurde. Wer war diese Cornelia, die Mutter der Gracchen? Nun, sie war der Inbegriff einer edlen Römerin gewesen, von ihrer Geburt bis zu ihrem Tod. Cornelia, eine Tochter von Scipio Africanus, der Hannibal besiegt und den Karthagern Spanien entrissen hatte, war mit neunzehn Jahren mit dem fünfundvierzigjährigen Tiberius Sempronius Gracchus verheiratet worden, einem Römer aus edelster Familie. Ihre Mutter Aemilia Paulla war eine Schwester des Aemilius Paullus, und deshalb waren ihre Kinder von beiden Seiten Patrizier aus dem Haus der Gracchen. Cornelia wurde Tiberius Sempronius Gracchus eine vorbildliche Ehefrau, und während der beinahe zwanzig Jahre ihrer Ehe gebar sie ihm zwölf Kinder. Gaius Julius Caesar würde vermutlich sagen, die Kränklichkeit ihrer Kinder — denn kränklich waren sie alle, und nur drei überlebten das Kindesalter — sei auf die häufigen Ehen zweier blutsverwandter Familien zurückzuführen. Sie 453
gab jedoch nicht auf, sondern kümmerte sich mit großer Liebe und Umsicht um alle ihre Kinder, und es gelang ihr, drei davon großzuziehen die Tochter Sempronia und die beiden Söhne Tiberius und Gaius. Mit großer Sorgfalt erzogen, eine echte Tochter ihres Vaters, der die griechische Kultur über alles geschätzt hatte, unterrichtete sie ihre Kinder im geeigneten Alter selbst und überwachte sorgfältig die anderen Bereiche ihrer Erziehung. Als ihr Gatte starb, blieb sie mit der fünfzehnjährigen Sempronia, dem zwölfjährigen Tiberius, dem zweijährigen Gaius und den anderen Kindern, die bis dahin überlebt hatten, zurück. Viele bewarben sich um die Hand der Witwe, denn sie hatte ihre Fruchtbarkeit mit erstaunlicher Regelmäßigkeit unter Beweis gestellt und war immer noch im gebärfähigen Alter. Zudem war sie die Tochter von Scipio Africanus, die Nichte von Aemilius Paullus und Witwe des Tiberius Sempronius Gracchus. Und sie war reich, unvorstellbar reich. Unter ihren Freiern war auch König Ptolemaios Euergetes der Fette, ehemaliger König von Ägypten und regierender König der Cyrenaica. In den Jahren zwischen seiner Entthronung und seiner Wiedereinsetzung als König von Ägypten, neun Jahre nach Tiberius Sempronius Gracchus’ Tod, war er ein häufiger Besucher in Rom. Er blökte dem Senat, der seiner gründlich überdrüssig war, die Ohren voll, hetzte und bestach, weil er unbedingt wieder auf den ägyptischen Thron zurückkehren wollte. Als Tiberius Sempronius Gracchus starb, war Cornelia sechsunddreißig, Ptolemaios war acht Jahre jünger als sie und um die Leibesmitte noch deutlich schlanker. Er bemühte sich gleichermaßen beharrlich um ihre Hand und um seine Wiedereinsetzung als König von Ägypten, doch beides blieb erfolglos. Cornelia, die Mutter der Gracchen, wollte keinen seltsamen ausländischen König heiraten, und mochte er noch so reich und mächtig sein. Tatsächlich hatte Cornelia beschlossen, überhaupt nicht mehr zu heiraten. Eine edle Römerin, die mit einem ebenso edlen Römer verheiratet gewesen war, hatte keinen Grund, noch einmal in 454
den Stand der Ehe zu treten. So wurde Freier nach Freier mit erlesener Höflichkeit abgewiesen, und die Witwe kümmerte sich ausschließlich um die Erziehung ihrer Kinder. Und sie erlebte schwere Schicksalsschläge. Ihr Lebensmut wurde weder durch die Ermordung ihres Sohnes Tiberius während seiner Amtszeit als Volkstribun gebrochen noch durch die Gerüchte über eine Beteiligung ihres Vetters und Schwiegersohnes Scipio Aemilianus an diesem Mord. Auch die entsetzlichen Vorkommnisse in der Ehe ihrer Tochter Sempronia mit Scipio Aemilianus und dessen mysteriöser Tod, bei dem man munkelte, daß er ermordet worden sei — von seiner Frau, Cornelias Tochter —, konnte ihren Lebenswillen nicht erschüttern. Sie umsorgte ihren geliebten Sohn Gaius Gracchus und unterstützte ihn auf seinem politischen Weg. Als dann auch Gaius Gracchus eines entsetzlichen Todes starb, dachte jedermann, daß sich die inzwischen siebzigjährige Cornelia, die Mutter der Gracchen, von diesem Schlag nicht mehr erholen würde. Doch sie fuhr fort, das Leben in ihrer gewohnten Art mit erhobenem Haupt zu meistern — verwitwet, ihrer vielversprechenden Söhne beraubt, das einzige überlebende Kind die verbitterte, unfruchtbare Sempronia. »Ich muß meine liebe kleine Sempronia großziehen«, sagte sie und meinte die kleine Tochter von Gaius Gracchus. Cornelia zog sich aus Rom zurück, doch nie vom Leben, und sie verfolgte weiterhin alle Geschehnisse. In ihrer weitläufigen Villa in Misenum, in der sie von nun an lebte, war alles vereint, was Rom an Geschmack, Kultur und Pracht zu bieten hatte. Hier begann sie auf Bitten ihrer Freunde, ihre Briefe und Schriften zusammenzufassen, und sie erlaubte dem betagten Sosius von Argiletum, diese zu veröffentlichen. Wie ihre Verfasserin waren sie lebhaft, voller Anmut, Charme und Witz, und doch vermittelten sie Stärke und Tiefe. In Misenum fügte sie dieser Sammlung noch viel Neues hinzu, denn trotz ihres Alters verlor sie weder ihre Aufgeschlossenheit noch ihre geistige Regsamkeit. Als Aurelia sechzehn war und Cornelia, die Mutter der Gracchen, 455
dreiundachtzig, statteten Marcus Cotta und Rutilia, die sich mit ihrer stattlichen Kinderschar auf der Durchreise befanden, Cornelia einen Besuch ab — kein langweiliger Pflichtbesuch, sondern ein aufregendes Ereignis. Bevor sie Cornelia, die Mutter der Gracchen, aufsuchten, wurde die gesamte Nachkommenschaft — auch Lucius Aurelius, der sich mit seinen sechsundzwanzig Jahren ein wenig überlegen fühlte — unter Androhung aller erdenklichen Strafen ermahnt, keinen Lärm zu machen, still zu sitzen und aufs Wort zu gehorchen. Marcus Cotta und Rutilia hätten sich die Ermahnungen, die eigentlich nicht in ihrer Art lagen, sparen können. Cornelia, die Mutter der Gracchen, wußte so ziemlich alles, was es über kleine und große Jungen zu wissen gab, und ihre Enkeltocher Sempronia war ein Jahr jünger als Aurelia. Cornelia war entzückt von den lebhaften und intelligenten Kindern und genoß den wunderbaren, langen Nachmittag sichtlich — einen zu langen Nachmittag, wie ihre besorgte Dienerschaft befürchtete, denn sie war schon recht gebrechlich und hatte ständig blaue Lippen und Ohrläppchen. Dieser Nachmittag beeindruckte Aurelia tief. Sie schwor sich, ihr zukünftiges Leben nach den gleichen hohen Maßstäben von Stärke, Ausdauer, Würde und Geduld auszurichten. Sie begann, ihre Bibliothek mit sämtlichen Schriften der alten Dame zu füllen, und damit wurde der Grundstein für ein Leben gelegt, das ebenso bemerkenswert verlaufen sollte wie das von Cornelia, der Mutter der Gracchen. Jener Besuch konnte nicht wiederholt werden, denn im darauffolgenden Winter starb Cornelia, die Mutter der Gracchen. Sie saß aufrecht auf einem Stuhl und hielt die Hand ihrer Enkelin, die sie gerade von ihrer offiziellen Verlobung mit Marcus Fulvius Flacchus Banibalio in Kenntnis gesetzt hatte. Er war der einzige Überlebende der Familie Fulvius Flacchus, alle anderen Mitglieder der Familie waren tot, weil sie Gaius Gracchus unterstützt hatten. Für Cornelia war es eine tiefe Befriedigung, daß ihre Enkelin, die Erbin des riesigen Vermögens der Sempronier, dieses nun in ein Haus einbringen würde, das sein Vermögen für die Sache von 456
Gaius Gracchus geopfert hatte. Und mit größtem Vergnügen teilte sie ihrer Enkelin mit, daß sie immer noch genügend Einfluß im Senat besaß, um ein Dekret zu erwirken, das ihre Enkelin von den Bestimmungen der lex Voconia de mulierum hereditatibus ausnahm. So war das riesige Vermögen geschützt für den Fall, daß irgendein entfernter männlicher Verwandter auftauchen sollte, um das Vermögen mit Hilfe dieses frauenfeindlichen Gesetzes an sich zu bringen. Dieses Dekret, fügte sie hinzu, galt auch für die darauffolgende Generation, falls Sempronia nur weibliche Erben haben würde. Der Tod von Cornelia, der Mutter der Gracchen, kam schnell und gnädig, und ganz Rom konnte feststellen, daß die Götter sie wirklich geliebt, wenn auch schwer geprüft hatten. Als Angehörige des Geschlechts der Cornelier wurde sie beigesetzt, nicht verbrannt. Die Cornelier waren die einzige unter den großen und weniger großen Familien Roms, die ihre Körper nach dem Tod nicht verbrennen ließ. Man errichtete für sie ein großartiges Grabmal an der Via Latina, das ständig mit frischen Blumen geschmückt war. Im Laufe der Jahre entwickelte es sich immer mehr zu einem Schrein, einer Kultstätte, obwohl der Kult offiziell nie anerkannt wurde. Die Römerinnen beteten an ihrem Grab um die Gaben, die mit Cornelias Namen verknüpft waren, und legten Blumen nieder. Cornelia, die Mutter der Gracchen, war zu einer Göttin geworden, ihr Name war der Inbegriff eines unbesiegbaren Geistes angesichts bitterster Leiden. Was würde Cornelia, die Mutter der Gracchen, tun? Dieses Mal fand Aurelia keine befriedigende Antwort auf ihre Frage, weder Logik noch Instinkt halfen ihr, ihr eigenes Dilemma auf das Leben einer Frau zu übertragen, deren Eltern ihr nie und nimmer erlaubt hätten, den Gatten selbst auszuwählen. Natürlich konnte Aurelia verstehen, warum ihr Onkel diese Lösung vorgeschlagen hatte. Ihre klassische Bildung war breit genug, daß sie die Parallele zu Helena von Troja erkannte, auch wenn sie sich selbst nicht für unwiderstehlich schön hielt, sondern in erster Linie für eine außergewöhnlich gute Partie. 457
Schließlich kam sie zu dem einzigen Schluß, den Cornelia, die Mutter der Gracchen, gutgeheißen hätte. Sie würde ihre Bewerber mit größter Gewissenhaftigkeit prüfen und den besten auswählen. Das bedeutete nicht, daß sie sich am meisten zu diesem Mann hingezogen fühlen mußte, sondern daß er dem römischen Ideal am nächsten kommen mußte. Er mußte also aus einer guten Familie stammen, die zumindest Senatoren unter ihren Mitgliedern hatte und die ihre dignitas, ihr öffentliches Ansehen, ihren Rang von der Gründung der Republik an durch Generationen hindurch makellos und unbefleckt bewahrt hatte. Er mußte mutig sein, beherrscht, keinesfalls geldgierig oder bestechlich, moralisch unanfechtbar, und er mußte bereit sein, wenn nötig sein Leben für Rom und seine Ehre zu opfern. Hohe Erwartungen! Und wie konnte ein Mädchen, das so behütet lebte wie sie, sicher sein, daß es richtig urteilte? Sie beschloß, mit den drei Erwachsenen ihrer Familie, mit Marcus Cotta, Rutilia und ihrem älteren Halbbruder Lucius, zu sprechen und sie um ihre offene Meinung zu jedem der Männer auf der Liste ihrer Freier zu bitten. Die drei waren zwar etwas erstaunt, doch sie versuchten, Aurelia zu helfen, so gut sie konnten. Unglücklicherweise mußte jeder von ihnen bei näherem Nachfragen zugeben, daß persönliche Sympathien oder Abneigungen sein Urteil beeinflußten. So war Aurelia wieder da, wo sie angefangen hatte. »Keiner gefällt ihr wirklich«, sagte Cotta bekümmert zu seiner Frau. »Nicht einer!« seufzte Rutilia. »Es ist unglaublich, Rutilia! Ein achtzehnjähriges Mädchen, das sich zu keinem einzigen Mann auch nur ein wenig hingezogen fühlt! Was ist los mit ihr?« »Woher soll ich das wissen?« Rutilia fühlte sich zu Unrecht angegriffen. »Sie hat das bestimmt nicht von meiner Seite der Familie!« »Nun, von mir hat sie es mit Sicherheit auch nicht!« schnappte Cotta. Dann riß er sich zusammen, gab seiner Frau einen Kuß und verfiel wieder in dumpfes Grübeln. »Weißt du, ich möchte wetten, 458
am Ende ist ihr keiner gut genug!« »Du könntest recht haben«, stimmte Rutilia zu. »Was sollen wir nur tun? Wenn wir nicht aufpassen, werden wir die erste freiwillige alte Jungfer Roms in unserer Familie haben!« »Wir sollten sie zu meinem Bruder schicken«, sagte Rutilia. »Er wird mit ihr reden.« »Eine ausgezeichnete Idee!« meinte Cotta erleichtert. Und so machte sich Aurelia am nächsten Tag in Begleitung ihrer Dienerin Cardixa und zweier großer, kräftiger gallischer Sklaven auf den Weg von der Villa der Cottas auf dem Palatin zu Publius Rutilius Rufus’ Haus in der Carinae. Cotta und Rutilia wollten Aurelias Gespräch mit ihrem Onkel nicht durch ihre Anwesenheit stören, und so blieben sie zu Hause. Publius Rutilius Rufus war als Konsul von Rom ein vielbeschäftigter Mann. Vor allem seit er die gesamten Verwaltungsaufgaben übernommen hatte, um seinen Mitkonsul Gnaeus Mallius Maximus zu entlasten, während dieser die riesige Armee zusammenstellte, die er gegen Ende des Frühlings nach Gallia Transalpina führen wollte. Aber für Familienangelegenheiten hatte Rutilius Rufus immer Zeit. Marcus Cotta hatte ihn kurz vor Einbruch der Dämmerung aufgesucht und ihm die verzwickte Situation geschildert. Rutilius Rufus war amüsiert. »Oh, diese Kleine!« rief er aus, und seine Schultern bebten vor Lachen. »Eine Jungfrau durch und durch. Nun, wir müssen dafür sorgen, daß sie nicht die falsche Entscheidung trifft und als alte Jungfer endet, trotz der vielen Bewerber.« »Ich hoffe, du hast eine Idee, Publius Rutilius, denn ich bin mit meiner Weisheit am Ende.« »Ich denke, ich weiß, was zu tun ist«, meinte Rutilius Rufus verschmitzt. »Schicke sie kurz vor der zehnten Stunde hierher. Wir werden zusammen zu Abend essen. Ich werde sie in einer Sänfte und gut bewacht nach Hause bringen lassen, mach dir also keine Sorgen.« Als Aurelia ankam, führte Rutilius Rufus sie in sein Eßzimmer 459
und deutete auf einen Stuhl, von dem aus sie sich bequem mit ihrem Onkel — der nach römischer Sitte im Liegen essen würde — und dessen Gast unterhalten konnte. Cardixa und die gallischen Sklaven wurden in die Räume der Dienerschaft geschickt, um dort zu essen und bei Bedarf aufzuwarten. »Ich erwarte nur einen Gast«, sagte Rutilius Rufus, während er es sich auf seiner Liege bequem machte. »Brrr! Kalt, findest du nicht? Möchtest du ein Paar warme Socken, Nichte?« Jede andere Achtzehnjährige wäre lieber erfroren, als etwas so wenig Kleidsames anzuziehen wie ein Paar dicke Wollsocken. Nicht jedoch Aurelia, die die Temperatur des Raumes gegen ihr körperliches Wohlbehagen abwog und dann bejahend nickte. »Ich danke dir, Onkel Publius«, sagte sie. Cardixa wurde hereingerufen und gebeten, sich von der Haushälterin ein Paar warme Socken geben zu lassen, was sie mit bemerkenswerter Geschwindigkeit erledigte. »Was für ein vernünftiges Mädchen du bist!« lobte Rutilius Rufus, der Aurelias gesunden Menschenverstand so hoch schätzte. Publius Rutilius hatte keine hohe Meinung von den Frauen, und dabei übersah er völlig, daß gesunder Menschenverstand auch unter Männern selten zu finden war. So suchte er in Frauen nur nach dem Mangel und fand seine Meinung meist bestätigt. Aurelia war die Ausnahme, seine kostbare Perle von den Schlammbänken der Weiblichkeit, und er hielt große Stücke auf sie. »Ich danke dir, Onkel Publius«, wiederholte Aurelia und schenkte ihre Aufmerksamkeit Cardixa, die vor ihr kniete und ihr die Schuhe auszog. Während die Mädchen ganz mit den Socken beschäftigt waren, wurde der erwartete Gast hereingeführt. Sie schauten beide nicht auf, als Rutilius Rufus ihn begrüßte und ihn bat, es sich auf der Liege zu seiner Linken bequem zu machen. Als Aurelia sich dann wieder aufrichtete, sah sie Cardixa in die Augen und schenkte ihr eines ihrer seltenen Lächeln. Es lag immer noch auf ihren Lippen, ebenso wie eine leichte Röte auf ihren Wangen, die von der gebückten Haltung herrührte, als sie sich 460
vollständig aufsetzte und über den Tisch hinweg den Gast anblickte. Sie sah atemberaubend aus. Der Gast zog hörbar den Atem ein. Ebenso Aurelia. »Gaius Julius, das ist die Tochter meiner Schwester, Aurelia«, sagte Publius Rutilius Rufus liebenswürdig. »Aurelia, ich möchte dich dem Sohn meines alten Freundes Gaius Julius Caesar vorstellen. Er heißt Gaius wie sein Vater, ist aber nicht der älteste Sohn.« Ihre veilchenblauen Augen wirkten noch größer als sonst. Aurelia sah in das Gesicht, das ihr Schicksal bestimmen sollte, und dachte weder an römische Ideale noch an Cornelia, die Mutter der Gracchen. Oder vielleicht tat sie es auf einer anderen, tieferen Ebene, denn Gaius Julius Caesar sollte sich als ein Mann erweisen, der ihren Idealen standhielt. Dies würde jedoch erst die Zeit zeigen, und im Augenblick war sie von dem länglichen Gesicht mit der römischen Nase, den tiefblauen Augen, dem dichten, welligen, goldenen Haar und dem schönen Mund vollständig in Bann geschlagen. Nach all ihren inneren Kämpfen, all den sorgfältigen und doch fruchtlosen Erwägungen löste sich ihr Problem auf die natürlichste und einfachste Art der Welt — sie verliebte sich. Natürlich unterhielten sie sich, sie verbrachten sogar einen ganz wunderbaren Abend. Rutilius Rufus stützte sich auf seinen linken Ellbogen und überließ ihnen das Feld, während er sich innerlich zu seiner klugen Idee gratulierte. Unter Hunderten junger Männer aus seiner Bekanntschaft hatte er den ausgewählt, der das Herz seiner Aurelia gefangennehmen würde. Selbstverständlich mochte er den jungen Gaius Julius Caesar außerordentlich gerne, und er war sicher, daß dieser in den kommenden Jahren seine hervorragenden Fähigkeiten unter Beweis stellen würde. Er vereinte alle Qualitäten eines großen Römers in sich, und er kam ja schließlich auch aus einer der besten Familien Roms. Und sollte die Neigung zwischen dem jungen Gaius und seiner Nichte sich vertiefen — woran Publius Rutilius Rufus keinen Zweifel hegte —, wären zwischen ihm und seinem alten Freund Gaius Marius verwandtschaftliche Bande geknüpft. Als echter Römer hatte Rutilius Rufus 461
diesen Aspekt nicht übersehen und war äußerst erfreut darüber. Die Kinder des jungen Gaius Julius und seiner Nichte Aurelia würden Vettern und Cousinen der Kinder von Gaius Marius sein. Normalerweise war Aurelia zurückhaltend und hätte nie gewagt, jemanden auszufragen, doch diesmal vergaß sie ihre guten Manieren und stellte dem jungen Gaius Julius Caesar eine Frage nach der anderen. Sie erfuhr, daß er mit seinem Schwager Gaius Marius als zweiter Militärtribun in Africa gewesen und einige Male ausgezeichnet worden war — mit der corona muralis für die Schlacht um die Zitadelle am Mulucha, mit einem Banner für die erste Schlacht vor Cirta und mit neun silbernen phalerae nach der zweiten Schlacht vor Cirta. Nach einer schweren Verwundung am Oberschenkel in dieser zweiten Schlacht war er ehrenhaft entlassen und nach Hause geschickt worden. All dies brachte Aurelia nur mühsam in Erfahrung, denn Gaius Julius erzählte viel lieber von den Heldentaten seines älteren Bruders Sextus. In diesem Jahr, fand sie heraus, war er Münzbeamter, einer von drei jungen Männern, die in den Jahren, bevor sie Senatoren wurden, die Gelegenheit erhielten, etwas über Roms Wirtschaft zu erfahren, indem sie die Verantwortung für das Prägen der Münzen trugen. »Münzen verschwinden aus dem Umlauf«, sagte Gaius Julius, der noch nie zuvor eine so faszinierte und faszinierende Zuhörerin gehabt hatte. »Unsere Aufgabe ist es, neue Münzen prägen zu lassen — aber nicht einfach nach unserer Laune! Der Schatzmeister bestimmt, wie viele pro Jahr geprägt werden, und wir beaufsichtigen dann die Arbeiten.« »Aber wie können Münzen denn einfach verschwinden?« fragte Aurelia erstaunt. »Oh, sie können in ein Abflußloch fallen oder bei einem großen Feuer verbrennen, und manche nützen sich einfach ab«, sagte der junge Caesar. »Aber die meisten verschwinden, weil sie von jemandem gehortet werden. Und wenn Münzen gehortet werden, können sie ihre Aufgabe nicht erfüllen.« »Und was ist ihre Aufgabe?« fragte Aurelia, die noch nie viel 462
mit Geld zu tun gehabt hatte, denn normalerweise erfüllten die Eltern ihre Wünsche, und überdies hatte sie keine großen Ansprüche. »Nun, sie müssen von Hand zu Hand gehen«, antwortete Gaius Caesar. »Das nennt man Zirkulation.« »Also macht ihr neue Münzen, um die zu ersetzen, die jemand hortet«, sagte Aurelia nachdenklich. »Aber die gehorteten Münzen sind doch immer noch da, nicht wahr? Was passiert, wenn plötzlich eine riesige Menge davon — äh — nicht mehr gehortet wird?« »Dann verliert das Geld an Wert.« Nach ihrer ersten Lektion in Wirtschaftslehre wollte Aurelia noch etwas über die praktische Seite des Prägens von Münzen erfahren. »Wir dürfen selbst entscheiden, was auf die Münzen geprägt wird«, erklärte Gaius Caesar eifrig. »Du meinst zum Beispiel die Siegesgöttin in ihrer biga?« »Nun, es ist einfacher, einen zweispännigen Streitwagen auf einer Münze abzubilden als einen vierspännigen. Und so ist die Siegesgöttin in einer biga anstatt in einer quadriga zu sehen«, antwortete er. »Aber wir versuchen auch, etwas Originelleres zu machen als die Siegesgöttin oder Rom. Wenn es in einem Jahr drei verschiedene Münzen zu prägen gibt — und das ist meistens der Fall —, kann jeder von uns bei einer Münze entscheiden, was darauf abgebildet wird.« »Wirst du auch etwas aussuchen?« fragte Aurelia. »Ja, wir haben Lose gezogen, und ich habe die Silberdenare gezogen. Also werden die Denare dieses Jahr auf der einen Seite Julus, den Sohn von Aeneas, zeigen und auf der anderen die Marcia Aqua zur Erinnerung an meinen Großvater Marcus Rex.« Im Herbst, erfuhr Aurelia, wollte Gaius Caesar sich zum Militärtribunen wählen lassen. Gegenwärtig hatte sein Bruder Sextus dieses Amt inne, und Sextus würde mit Gnaeus Mallius Maximus nach Gallien ziehen. Nach dem letzten Gang des hervorragenden Essens setzte Onkel 463
Publius seine Nichte in eine Sänfte und ließ sie gut bewacht nach Hause bringen, wie er es versprochen hatte. Seinen anderen Gast forderte er auf, noch ein Weilchen zu bleiben. »Trink doch noch ein Glas ungewässerten Wein«, schlug er vor. »Doch zunächst mußt du mich entschuldigen. Ich habe so viel Wasser getrunken, daß ich einen ganzen Eimer vollpinkeln könnte.« »Ich glaube, ich werde es dir gleichtun«, meinte sein Gast lachend. »Nun, was hältst du von meiner Nichte?« fragte Rutilius Rufus, nachdem er einen köstlichen Wein aus der Toskana hatte bringen lassen. »Du könntest ebensogut fragen, wie mir das Leben gefällt!« »Du magst sie, hm?« »Mögen? Natürlich. Ich bin verliebt in sie«, sagte der junge Caesar. »Willst du sie heiraten?« »Selbstverständlich! Halb Rom will sie heiraten.« »Das ist richtig, Gaius Julius. Entmutigt dich das?« »Nein. Ich werde bei ihrem Vater — ihrem Onkel Marcus, meine ich — um ihre Hand anhalten. Und ich werde versuchen, sie wiederzusehen und sie für mich zu gewinnen. Es ist einen Versuch wert. Ich denke, daß ich ihr nicht gleichgültig bin.« Rutilius Rufus lächelte. »Ja, das denke ich auch.« Er erhob sich von seiner Liege. »Nun, Gaius Caesar, erzähle deinem Vater von deinen Plänen, gleich wenn du heimkommst, und suche morgen früh Marcus Aurelius auf. Mich mußt du jetzt entschuldigen, ich bin müde, und es ist Zeit für mich, ins Bett zu gehen.«
Obwohl er sich Rutilius Rufus gegenüber zuversichtlich gegeben hatte, hegte Gaius Caesar keine allzu großen Hoffnungen, als er auf dem Heimweg über Aurelia nachdachte. Aurelias Schönheit wurde weithin gerühmt. Viele seiner Freunde hatten um ihre Hand angehalten, einige hatte Marcus Cotta auf seine Liste gesetzt, 464
andere nicht. Unter den erfolgreichen Bewerbern waren illustre Namen zu finden, viele waren bekannter oder reicher als er. Der Name Julius Caesar hatte zwar eine Aura, die selbst die Armut nicht zerstören konnte, doch wie konnte er hoffen, gegen Marcus Livius Drusus, den jungen Scaurus, Licinius Orator, Mucius Scaevola oder den älteren der Ahenobarbusbrüder zu bestehen? Julius Caesar wußte nicht, daß Aurelia die Erlaubnis erhalten hatte, ihren Gatten selbst auszuwählen, und so schätzte er seine Aussichten auf Aurelias Hand als sehr gering ein. Zu Hause sah er Licht im Arbeitszimmer seines Vaters. Er kämpfte die Tränen hinunter, ging auf die halbgeöffnete Türe zu und klopfte. »Herein«, sagte eine müde Stimme. Der alte Gaius Julius Caesar lag im Sterben. Jeder im Hause wußte es, obwohl nicht darüber gesprochen wurde. Die Krankheit hatte mit Schluckbeschwerden begonnen, schleichend und heimtückisch, dann wurde die Stimme rauh, und schließlich setzten die Schmerzen ein. Zunächst waren sie noch erträglich, aber das blieb nicht lange so. Inzwischen waren sie unerträglich, und Gaius Julius Caesar konnte keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen. Bis jetzt hatte er sich geweigert, einen Arzt kommen zu lassen, obwohl seine Frau Marcia ihn täglich darum bat. »Vater?« »Komm herein und leiste mir ein wenig Gesellschaft, mein Sohn«, flüsterte Caesar, der dieses Jahr sechzig geworden war, im Schein der Lampe jedoch wie achtzig wirkte. Er hatte so viel Gewicht verloren, daß seine Haut faltig an ihm herabhing. Sein Kopf sah aus wie der Schädel eines Skeletts, und dauerndes Leiden hatte seine einst so tiefblauen Augen ausgebleicht. Er streckte seinem Sohn die Hand entgegen und lächelte. »Oh Vater!« Der junge Caesar versuchte mannhaft, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen, doch er konnte sie nicht vollständig aus seiner Stimme verbannen. Er kam quer durch den Raum auf seinen Vater zu, nahm seine Hand und küßte sie, dann trat er noch näher und zog seinen Vater an sich, die Arme um die 465
mageren Schultern gelegt, die Wange gegen das leblose silberne Haar gepreßt. »Weine nicht, mein Sohn«, krächzte Caesar. »Bald ist es vorbei. Morgen kommt Athenodorus Siculus.« Ein Römer weinte nicht. Zumindest galt es als unrömisch, zu weinen. Dem jungen Caesar erschien diese Auffassung von gutem Benehmen zwar falsch, doch er drängte seine Tränen zurück, ließ seinen Vater los und setzte sich an sein Bett, nahe genug, daß er die völlig abgemagerte Hand seines Vaters in der seinen halten konnte. »Vielleicht wird Athenodorus wissen, was zu tun ist«, sagte er. »Athenodorus wird feststellen, was wir alle bereits wissen. Ich habe ein unheilbares Geschwür in meiner Kehle«, antwortete sein Vater. »Deine Mutter hofft auf ein Wunder, doch ich weiß, daß mein Leiden unheilbar ist und daß auch Athenodorus nichts daran ändern kann. Ich habe nur versucht, so lange am Leben zu bleiben, bis alle Mitglieder meiner Familie gut versorgt und glücklich verheiratet sind.« Caesar machte eine Pause, und seine freie Hand tastete nach einem Becher Wein, dem einzigen Genuß, der ihm geblieben war. Ein winziger Schluck oder zwei, dann fuhr er fort. »Du bist der letzte, Gaius«, flüsterte er. »Was soll ich für dich erhoffen? Vor Jahren gab ich dir die Erlaubnis, deine Frau selbst auszuwählen — du hast bis jetzt keinen Gebrauch davon gemacht. Ich denke, nun wäre es an der Zeit. Es würde mir das Sterben leichter machen, wenn ich wüßte, daß du gut verheiratet bist.« Der junge Gaius Caesar nahm die Hand seines Vaters und preßte sie an seine Wange, dabei stützte er ganz vorsichtig den Arm des gebrechlichen Mannes. »Ich habe sie gefunden, Vater«, sagte er. »Ich habe sie heute abend gefunden — ist das nicht seltsam?« »Bei Publius Rutilius?« fragte Caesar zweifelnd. Der junge Mann grinste. »Ich glaube, er hat den Ehestifter gespielt!« »Eine seltsame Rolle für einen Konsul.« »Ja.« Der junge Caesar holte tief Atem. »Hast du von seiner 466
Nichte, der Stieftochter von Marcus Aurelius, gehört?« »Die bekannte Schönheit? Ich denke, jeder hat von ihr gehört.« »Das ist sie. Das ist das Mädchen, das ich heiraten will.« Der alte Caesar sah beunruhigt aus. »Deine Mutter hat mir erzählt, daß die Reihe ihrer Freier endlos ist und daß einige der reichsten und mächtigsten Männer Roms darunter sind — wie ich höre, sogar einige, die bereits verheiratet sind.« »Das stimmt alles«, erwiderte sein Sohn. »Aber ich werde sie heiraten, keine Sorge!« »Wenn du recht hast, wirst du dir eine schöne Last aufbürden«, sagte der besorgte Vater sehr ernst. »Solch ungewöhnliche Schönheiten sind nie gute Ehefrauen. Sie sind keck, verwöhnt, anspruchsvoll und eigensinnig. Such dir lieber ein einfacheres Mädchen.« Ein beruhigender Gedanke schoß ihm durch den Kopf, und er entspannte sich. »Zum Glück bist du ein absoluter Niemand im Vergleich zu Lucius Licinius Orator oder Gnaeus Domitius dem Jüngeren, auch wenn du Patrizier bist. Marcus Aurelius wird dich nicht einmal in Erwägung ziehen, da bin ich mir sicher. Also hänge dein Herz nicht allzusehr an dieses Mädchen.« »Sie wird mich heiraten, tata, warte nur ab!« Und von dieser Überzeugung konnte Gaius Julius Caesar seinen Sohn beim besten Willen nicht abbringen.
Aurelia lag in der dicht verhängten Sänfte, die sie von Onkel Publius’ Haus zu dem ihrer Eltern zurückbrachte. Sie lag bequem auf dem Bauch und dachte an den jungen Gaius Julius Caesar, während die Sänfte sich schaukelnd hinauf- und hinunterbewegte. Wie wundervoll er war, wie vollkommen! Würde er sie heiraten wollen? Was würde Cornelia, die Mutter der Gracchen, denken? Cardixa, die mit ihrer Herrin in der Sänfte saß, lehnte aufrecht in einer Ecke und hielt eine Kerze, die von einem dünnen Alabasterschirm geschützt war. Im dämmerigen Licht betrachtete sie neugierig ihre seltsam verwandelte Herrin — nie zuvor hatte sie Aurelia so erlebt. Der sonst so straffe Körper räkelte sich ent467
spannt, die Lippen waren nicht so fest zusammengepreßt, und die sahneweißen Augenlider verbargen, was in den Augen lag. Da Cardixa einen überaus scharfen Verstand besaß, wußte sie genau, wer für diese Veränderung verantwortlich war — dieser unglaublich gutaussehende junge Mann, den Publius Rutilius fast wie einen Hauptgang serviert hatte. Was für ein schlauer alter Fuchs! Sei’s drum — der junge Gaius Julius Caesar war ein außergewöhnlicher Mann, genau der Richtige für Aurelia. Cardixa spürte das mit jeder Faser ihres Körpers. Was immer Cornelia, die Mutter der Gracchen, getan hätte, Aurelia jedenfalls wußte genau, was sie tun wollte, als sie am nächsten Morgen aufstand. Als erstes schickte sie Cardixa mit einer Botschaft für den jungen Mann zum Haus des Gaius Julius Caesar. Die Mitteilung bestand nur aus einem Satz: »Halte um meine Hand an.« Danach unternahm sie vorläufig nichts, blieb in ihrem Arbeitszimmer und zeigte sich während der gemeinsamen Mahlzeiten so unbefangen wie möglich. Sie war sich der Verwandlung bewußt, die mit ihr vorging, und wollte nicht, daß ihre aufmerksamen Eltern Verdacht schöpften, bevor sie ihren nächsten Zug machte. Am folgenden Tag wartete sie, bis Marcus Cotta die Besprechungen mit seinen Klienten beendet hatte. Da Cottas Sekretär ihr gesagt hatte, daß keine Senatssitzungen stattfanden und auch keine Besucher angemeldet waren, ließ sie sich Zeit, denn Cotta würde bestimmt für eine oder zwei Stunden zu Hause bleiben, nachdem der letzte Klient gegangen war. »Vater?« Cotta schaute von den Papieren auf seinem Schreibtisch auf. »Ah, heute ist der Vater an der Reihe, hin? Komm herein, meine Tochter, komm nur herein.« Er schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Möchtest du, daß deine Mutter auch bei unserem Gespräch dabei ist?« »Ja, bitte.« »Dann hole sie.« Sie ging und kehrte wenige Minuten später mit Rutilia zurück. 468
»Setzt euch, meine Damen«, sagte Cotta. Sie nahmen nebeneinander auf einer Liege Platz. »Nun, Aurelia?« »Haben sich neue Bewerber um meine Hand gemeldet?« begann sie unvermittelt. »Ja, in der Tat. Der junge Gaius Julius Caesar suchte mich gestern auf und hielt um dich an. Da ich nichts gegen ihn einzuwenden hatte, setzte ich ihn auf die Liste. Damit sind wir bei achtunddreißig.« Aurelia errötete. Cotta starrte sie fasziniert an — seit er sie kannte, hatte er noch nie erlebt, daß sie die Fassung verlor. Rutilia wandte sich auf der Liege ihrer Tochter zu und war ebenso erstaunt wie ihr Gatte. »Ich habe mich entschieden«, sagte Aurelia. »Ausgezeichnet! Wer ist der Glückliche?« rief Cotta. »Der junge Gaius Julius Caesar.« »Was?« fragte Cotta verblüfft. »Wer?« fragte Rutilia gleichfalls verblüfft. »Der junge Gaius Julius Caesar«, wiederholte Aurelia geduldig. »Das letzte Pferd, das ins Rennen ging«, meinte Cotta amüsiert. »Von meinem Bruder ins Rennen geschickt«, ergänzte Rutilia. »Ihr Götter, er ist wirklich schlau! Wie konnte er das nur wissen?« »Er ist ein bemerkenswerter Mann«, erwiderte Cotta. Dann wandte er sich an seine Stieftochter. »Du hast Gaius Julius Caesar vorgestern im Haus deines Onkels getroffen. Zum ersten Mal?« »Ja.« »Und du willst ihn heiraten?« »Ja.« »Mein Liebes, er ist ein vergleichsweise armer Mann«, sagte ihre Mutter. »Wenn du ihn heiratest, wird dein Leben nicht sehr luxuriös sein.« »Man heiratet nicht, um im Luxus zu leben.« »Ich bin froh, daß du dir darüber im klaren bist, mein Kind. Ich hätte ihn mir jedenfalls nicht ausgesucht«, meinte Cotta nicht gerade begeistert. 469
»Warum nicht, Vater?« fragte Aurelia. »Seine Familie ist seltsam. Zu — zu unkonventionell. Und sie ist eng mit Gaius Marius verbunden, einem Mann, den ich verabscheue«, antwortete Cotta. »Onkel Publius mag Gaius Marius«, erwiderte Aurelia. »Dein Onkel Publius ist manchmal ein wenig fehlgeleitet«, gab Cotta grimmig zurück. »Er ist immerhin nicht so verrückt, im Senat gegen seine eigene Klasse zu stimmen, nur um Gaius Marius zu unterstützen. Was man von diesem Zweig der Julier nicht behaupten kann! Dein Onkel Publius und Gaius Marius waren jahrelang zusammen in der Armee. Das verbindet natürlich. Wogegen der alte Gaius Julius Caesar diesen Gaius Marius regelrecht in seine Familie geholt hat, und er hat seine ganze Familie dazu erzogen, daß sie ihn schätzt.« »Hat Sextus Julius nicht vor kurzem eine Tochter der Claudier geheiratet?« fragte Rutilia. »Ja, ich glaube schon.« »Nun, das ist doch eine untadelige Verbindung. Vielleicht sind die Söhne nicht so eng mit Gaius Marius verbunden, wie du annimmst.« »Gaius Marius ist mit diesem Zweig der Claudier verschwägert, Rutilia.« Aurelia unterbrach das Gespräch. »Vater und Mutter, ihr habt die Wahl mir überlassen. Ich werde Gaius Julius Caesar heiraten. Das ist alles, was es dazu zu sagen gibt.« Cotta und Rutilia begriffen: Die kühle, vernünftige Aurelia hatte sich verliebt. »Das ist richtig«, sagte Cotta. Er konnte nur das Beste daraus machen. »Nun, hinaus mit euch!« Er gab seiner Frau und seiner Nichte ein Zeichen, sich zu entfernen. »Ich muß siebenunddreißig Briefe schreiben lassen. Und ich sollte Gaius Julius aufsuchen. Vater und Sohn.« Der Brief, den Marcus Aurelius Cotta von seinen Schreibern vervielfältigen ließ, lautete folgendermaßen:
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Nach sorgfältigen Erwägungen habe ich beschlossen, meiner Nichte und meinem Mündel Aurelia die Erlaubnis zu geben, sich ihren Gatten selbst auszuwählen. Meine Frau, Aurelias Mutter, hat zugestimmt. Hiermit gebe ich bekannt, daß Aurelia ihre Entscheidung getroffen hat. Sie wird Gaius Julius Caesar heiraten, den jüngeren Sohn des Senators Gaius Julius Caesar. Ich bin sicher, Du schließt dich den Glückwünschen für das junge Paar an. Cottas Sekretär schaute ihn mit großen Augen an. »Na los, sitz nicht so herum, mach dich an die Arbeit!« wetterte Cotta in schroffem Ton — für diesen sonst so ausgeglichenen Mann recht ungewöhnlich. »In einer Stunde möchte ich siebenunddreißig Abschriften davon, eine für jeden Mann auf dieser Liste.« Er schob die Liste über den Tisch. »Ich werde sie persönlich unterschreiben, und dann müssen sie sofort von Boten verteilt werden.« Der Sekretär machte sich an die Arbeit, doch der Klatsch eilte den schriftlichen Nachrichten wie immer weit voraus. Aurelias Wahl war eindeutig von Gefühlen bestimmt und nicht vom Verstand, und das nahm man ihr übel. Irgendwie wurde ihre Entscheidung dadurch noch unverzeihlicher. Die abgewiesenen Bewerber um ihre Hand grollten, weil der jüngere Sohn eines unbedeutenden Hinterbänklers aus dem Senat sie aus dem Rennen geworfen hatte, mochte die Reihe seiner Vorfahren auch noch so illuster sein. Außerdem sah der glückliche Auserwählte viel zu gut aus, und man vertrat allgemein den Standpunkt, daß dies ein unfairer Vorteil sei. Nachdem sie sich von ihrem ersten Schreck erholt hatte, hieß Rutilia die Wahl ihrer Tochter gut. »Oh, denk nur an die Kinder, die sie haben wird!« schwärmte sie Cotta vor, während ein Diener ihm die Toga mit den Purpurstreifen für den Besuch bei Julius Caesar anlegte. »Wenn du einmal nicht an das Geld denkst, ist es eine äußerst vorteilhafte Partie für eine Aurelia und erst recht für eine Rutilia. Die Julier gehören zu den allerbesten Familien.« »Davon wird man aber nicht satt«, knurrte Cotta. 471
»Ach, komm schon, Marcus Aurelius, so schlimm ist es doch gar nicht! Die Verbindung mit Gaius Marius hat das Vermögen der Julier um einiges vermehrt und wird es in Zukunft sicher noch weiter vermehren. Ich sehe keinen Grund, warum der junge Gaius Julius nicht Konsul werden sollte — ich habe gehört, er sei sehr begabt und höchst intelligent.« »Das glaube ich erst, wenn ich es sehe«, zweifelte Cotta und machte sich auf den Weg zu Caesars Haus, das in einem etwas weniger vornehmen Viertel auf dem Palatin lag. Im Schmuck seiner Toga war er eine eindrucksvolle Erscheinung, nur seine Gesichtsfarbe war ein wenig zu lebhaft, wie bei allen aus dem Geschlecht des Aurelius Cotta. Die Mitglieder dieser Familie wurden meist nicht sehr alt, weil sie mit einer Neigung zu Schlaganfällen erblich belastet waren. Der junge Gaius Julius Caesar war nicht zu Hause, und so bat Cotta darum, zu dem alten Caesar geführt zu werden. Er wunderte sich über das ernste Gesicht, das der Diener aufsetzte. »Wenn du mich bitte entschuldigen würdest, Marcus Aurelius, ich werde nachschauen«, sagte der Diener. »Gaius Julius geht es gar nicht gut.« Cotta hatte noch nichts von Julius Cäsars Erkrankung gehört, doch jetzt fiel ihm ein, daß der alte Mann schon einige Zeit nicht mehr im Senat erschienen war. »Ich werde warten«, sagte er. Der Diener kam schnell zurück. »Gaius Julius wird dich empfangen«, meldete er und führte Cotta zum Arbeitszimmer des Hausherrn. »Ich sollte dich darauf vorbereiten, daß er sehr schlecht aussieht, geradezu erschreckend.« Cotta war froh über die Warnung, denn so konnte er gerade noch sein Entsetzen verbergen, als er nach der Hand mit den knochigen Fingern griff, die ihm Caesar mit größter Anstrengung zur Begrüßung entgegenstreckte. »Marcus Aurelius, es ist mir eine Freude«, begrüßte ihn Caesar. »Setz dich doch, bitte! Es tut mir leid, daß ich mich nicht erheben kann, aber mein Diener hat dir bestimmt mitgeteilt, daß es mir nicht gutgeht.« Ein kaum erkennbares Lächeln spielte um die 472
feinen Lippen. »Eine Beschönigung. Ich sterbe.« »Aber, aber, wer wird denn gleich an so etwas denken«, sagte Cotta unbehaglich. Er setzte sich auf die Kante eines Stuhles, seine Nasenflügel zuckten — ein seltsamer Geruch hing im Raum, unangenehm. »Oh doch. Ich habe ein Geschwür in meiner Kehle. Athenodorus Siculus hat das heute morgen bestätigt.« »Es schmerzt mich, das zu hören, Gaius Julius. Wir werden dich im Senat sehr vermissen, besonders mein Schwager Publius Rutilius.« »Er ist ein treuer Freund.« Caesars rotgeränderte Augen blinzelten müde. »Ich glaube, ich weiß, warum du hier bist, Marcus Aurelius, aber bitte, sprich selbst.« »Wie du vielleicht gehört hast, gab es sehr viele Bewerber um die Hand meiner Nichte Aurelia, darunter sehr einflußreiche Männer. Als die Liste immer länger wurde, mußte ich befürchten, daß jede Entscheidung meinen Söhnen mehr Feinde als Freunde schaffen würde. So beschloß ich, Aurelia die Erlaubnis zu geben, ihren Gatten selbst auszuwählen. Vor zwei Tagen traf sie deinen Sohn im Hause von Publius Rutilius, und heute hat sie mir eröffnet, daß ihre Wahl auf Gaius Julius gefallen ist.« »Und das gefällt dir ebensowenig wie mir«, sagte Caesar. »Richtig.« Cotta seufzte und zuckte mit den Schultern. »Aber ich habe mein Wort gegeben, und ich werde dazu stehen.« »Ich habe meinem Sohn vor Jahren die gleiche Erlaubnis gegeben«, meinte Caesar lächelnd. »Wir sollten übereinkommen, das Beste daraus zu machen, und hoffen, daß unsere Kinder mehr Verstand haben als wir.« »Ich gebe dir vollkommen recht.« »Du wirst natürlich wissen wollen, wie es um die finanziellen Verhältnisse meines Sohnes bestellt ist.« »Er hat sie mir geschildert, als er um Aurelias Hand anhielt.« »Vielleicht war er nicht mitteilsam genug. Es steht mehr als genug Land zur Verfügung, um seinen Platz im Senat zu sichern. 473
Darüber hinaus im Moment leider nichts«, sagte Caesar. »Ich bin leider nicht in der Lage, ein zweites Haus in Rom zu kaufen, und da liegt das Problem. Dieses Haus wird an meinen älteren Sohn Sextus übergehen, der kürzlich geheiratet hat und mit seiner jungen Frau hier lebt. Sie erwartet inzwischen ihr erstes Kind. Ich habe nicht mehr lange zu leben, Marcus Aurelius. Nach meinem Tod wird Sextus der pater familias sein, und das bedeutet, daß mein jüngerer Sohn bis zu seiner Hochzeit ein eigenes Haus finden muß.« »Dir ist sicher bekannt, daß Aurelia eine hohe Mitgift in die Ehe bringt«, sagte Cotta. »Es wäre vermutlich das Vernünftigste, wenn wir ihre Mitgift in ein Haus investierten.« Er räusperte sich. »Von ihrem Vater, meinem Bruder, hat sie eine große Summe geerbt, die für etliche Jahre angelegt wurde, und bis heute sind trotz der Schwankungen des Marktes hundert Talente daraus geworden. Vierzig Talente sollten genug sein, um ein schönes Anwesen auf dem Palatin oder in den Carinae zu kaufen. Natürlich würde das Haus auf den Namen deines Sohnes eingetragen werden, aber bei einer Scheidung müßte dein Sohn den Kaufpreis zurückzahlen. Und einmal abgesehen von einer Scheidung — Aurelia würde auf ihren Namen eine Summe zur Verfügung haben, die sicherstellt, daß sie nie in Not kommt.« Caesar starrte vor sich hin. »Der Gedanke, daß mein Sohn in einem Haus leben wird, das vom Geld seiner Frau gekauft wurde, gefällt mir nicht«, krächzte er. »Es wäre eine Zumutung für ihn. Nein, Marcus Aurelius, wir brauchen eine Lösung, die Aurelias Geld besser schützt als der Erwerb eines Hauses, das ihr nicht gehören wird. Für hundert Talente kann man ein ansehnliches Mietshaus auf dem Esquilin kaufen. Es wird für sie gekauft und auf ihren Namen eingetragen. Das junge Paar könnte dort in einem ebenerdigen Appartement mietfrei wohnen, und deine Nichte würde ein Einkommen aus der Vermietung der anderen Wohnungen beziehen, das größer wäre als die Erträge aus Investitionen. Mein Sohn wird aus eigener Kraft das Geld für ein Haus verdienen müssen, und das wird seiner Entschlußkraft und seinem Ehrgeiz 474
förderlich sein.« »Ich würde Aurelia nie erlauben, in einer insula zu leben!« widersprach Cotta entgeistert. »Nein, ich werde vierzig Talente von der Mitgift abzweigen für ein Haus und die anderen sechzig Talente sicher anlegen.« »Eine insula, auf ihren Namen«, beharrte Caesar. Er keuchte, hustete und beugte sich um Atem ringend nach vorn. Cotta goß Wein in einen Becher, drückte ihn in Caesars Hand und half ihm, den Becher an die Lippen zu führen. »Vielleicht sollten wir ein anderes Mal weiterreden«, sagte Cotta. »Nein, laß uns das jetzt ausfechten, Marcus Aurelius. Wir beide stimmen überein, daß diese Verbindung nicht das ist, was wir für unsere Kinder erhofft hatten. Nun gut, wir sollten es ihnen nicht zu einfach machen. Sie sollen lernen, daß die Liebe ihren Preis hat. Wenn die beiden wirklich zusammengehören, können Entbehrungen das Band zwischen ihnen nur festigen. Wenn sie nicht füreinander bestimmt sind, werden die Entbehrungen den Bruch beschleunigen. Wir werden sicherstellen, daß Aurelias gesamte Mitgift ihr Eigentum bleibt, und wir werden den Stolz meines Sohnes nicht mehr verletzen als unbedingt notwendig. Eine insula, Marcus Aurelius! Sie muß von bester Qualität sein, also sorge dafür, daß die Männer, die sie für dich besichtigen, vertrauenswürdig sind. Und«, fuhr er mit ersterbender Stimme mühsam fort, »sei nicht zu wählerisch, wenn es um die Lage geht. Rom wächst schnell. Heute gibt es noch mehr billige Wohnungen als besser ausgestattete und teurere, aber wenn wieder schlechtere Zeiten kommen, werden die Aufsteiger, die sich die teuren Wohnungen genommen haben, abrutschen. Für billige Wohnungen wird es immer genug Mieter geben.« »Ihr Götter, und dann ist meine Nichte eine gewöhnliche Vermieterin!« rief Cotta. Allein der Gedanke empörte ihn. »Und warum nicht?« fragte Caesar mit einem müden Lächeln. »Ich habe gehört, sie sei eine außergewöhnliche Schönheit. Paßt das nicht gut zusammen? Wenn es nicht zusammenpaßt, sollte sie 475
sich die Heirat mit meinem Sohn vielleicht noch einmal überlegen.« »Es stimmt, sie ist außergewöhnlich schön«, bestätigte Cotta und lächelte, als ginge ihm gerade ein belustigender Gedanke durch den Kopf. »Ich werde sie hierherbringen, damit du sie kennenlernst, und dann kannst du dir dein eigenes Bild machen.« Er stand auf und beugte sich vor, um behutsam auf die schmalen Schultern des alten Mannes zu klopfen. »Mein letztes Wort: Aurelia soll entscheiden, was mit ihrer Mitgift geschieht. Du wirst ihr von der insula erzählen, und ich werde ihr vorschlagen, ein Haus zu kaufen. Einverstanden?« »Einverstanden«, antwortete Caesar. »Aber bring sie bald. Morgen nachmittag.« »Wirst du deinem Sohn von unserem Gespräch erzählen?« »Natürlich. Er soll sie morgen abholen.«
Unter normalen Umständen zögerte Aurelia nicht lange bei der Wahl ihrer Kleidung, sie liebte leuchtende Farben und kombinierte sie gerne, und sie entschied ebenso schnell und ohne Umstände wie in allen anderen Dingen. Nachdem sie jedoch erfahren hatte, daß ihr Verlobter sie zu einem Besuch bei ihren zukünftigen Schwiegereltern abholen würde, zauderte sie. Schließlich wählte sie ein kirschfarbenes Unterkleid aus feiner Wolle, über das sie einen Überwurf aus rosenfarbener Wolle legte, fein genug, das Unterkleid durchschimmern zu lassen. Darüber legte sie einen zweiten Überwurf, hellrosa und so fein wie ihr Hochzeitsschleier. Sie nahm ein Bad und parfümierte sich mit Rosenduft, doch das Haar wurde wie immer in einem schmucklosen Knoten zusammengefaßt, und den Vorschlag ihrer Mutter, ein wenig Rouge und stibium aufzulegen, lehnte sie ab. »Du bist zu blaß heute«, meinte Rutilia besorgt. »Das ist die Aufregung. Komm, versuche, so gut wie möglich auszusehen, bitte! Nur einen Hauch Rouge auf die Wangen und eine zarte Linie um die Augen.« 476
»Nein«, sagte Aurelia entschieden. Ihre Blässe spielte ohnehin keine Rolle, denn als der junge Gaius Julius Caesar kam, um sie abzuholen, nahm Aurelias Gesicht so viel Farbe an, wie ihre Mutter nur wünschen konnte. »Gaius Julius«, sagte Aurelia und streckte ihm die Hand entgegen. »Aurelia«, erwiderte er und nahm ihre Hand in seine. Dann waren sie beide verlegen und wußten nicht, was sie tun sollten. »Na, geht schon, auf Wiedersehen!« sagte Rutilia gereizt. Es war ein seltsames Gefühl, das erste Kind an diesen ungemein gutaussehenden jungen Mann zu verlieren, wo sie sich selbst noch wie achtzehn fühlte. Das Paar verließ das Haus, Cardixa und die beiden Gallier folgten ihnen. »Ich sollte dich darauf vorbereiten, daß es meinem Vater nicht gut geht«, begann der junge Caesar, sichtlich um Fassung bemüht. »Er hat ein bösartiges Geschwür in seiner Kehle, und wir fürchten alle, daß er nicht mehr lange unter uns sein wird.« »Oh«, sagte Aurelia. Sie bogen um eine Ecke. »Als ich deine Nachricht erhielt«, sagte er, »suchte ich auf der Stelle Marcus Aurelius auf. Ich kann kaum glauben, daß du mich gewählt hast!« »Ich kann kaum glauben, daß ich dich gefunden habe«, erwiderte sie. »Meinst du, daß Publius Rutilius das absichtlich arrangiert hat?« Aurelia mußte lächeln. »Ganz bestimmt.« Sie gingen die Straße hinunter und bogen wieder um eine Ecke. »Ich habe den Eindruck, du bist nicht sehr gesprächig«, bemühte sich der junge Caesar erneut, das Gespräch in Gang zu halten. »Nein.« Und das war ihre ganze Unterhaltung, bis sie zum Haus von Caesars Familie kamen. Ein Blick auf die Braut seines Sohnes zerstreute Caesars Beden477
ken. Das war keine verwöhnte, anspruchsvolle Schönheit! Oh, was er gehört hatte, traf vollkommen zu, sie war außergewöhnlich schön, doch nicht in der üblichen Weise. Das, dachte er, war vermutlich der Grund, warum ihr nur der Zusatz »außergewöhnlich« gerecht wurde. Was für wundervolle Kinder sie haben würden! Kinder, die er nicht mehr sehen würde. »Setz dich, Aurelia.« Seine Stimme war kaum hörbar, deshalb deutete er auf einen Stuhl neben sich, der ein Stück nach vorne gerückt war, so daß er sie ansehen konnte. Sein Sohn setzte sich auf seine andere Seite. »Was hat Marcus Aurelius dir von unserem Gespräch erzählt?« fragte er. »Nichts«, erwiderte Aurelia. Caesar berichtete ihr von der Unterredung, die Cotta und er über die Verwendung ihrer Mitgift geführt hatten. Dabei machte er aus ihrer beider Einstellung zu der Hochzeit kein Hehl. »Dein Onkel und Vormund will dir die Entscheidung überlassen. Möchtest du lieber ein eigenes Haus oder ein Mietshaus?« Was würde Cornelia, die Mutter der Gracchen, tun? Diesmal fand Aurelia die Antwort ohne langes Überlegen: Cornelia, die Mutter der Gracchen, würde sich für den ehrenhaften Weg entscheiden, egal wie hart er wäre. Nur ging es in ihrem Fall um die Ehre von zwei Personen, die ihres Liebsten und ihre eigene. Ein eigenes Anwesen wäre die bequemere und ihr vertrautere Lösung, aber es würde die Gefühle ihres Liebsten verletzen, wenn er in einem Haus wohnen mußte, das vom Geld seiner Frau gekauft worden war. Sie wandte ihren Blick von Caesar ab und schaute seinen Sohn an. »Was wäre dir lieber?« fragte sie ihn. »Es ist deine Entscheidung, Aurelia.« »Nein, Gaius Julius, du mußt entscheiden. Ich werde deine Frau sein. Ich möchte eine Ehefrau sein, die weiß, was sich gehört, und die ihren Platz kennt. Du wirst der Herr des Hauses sein. Dafür, daß ich dir diesen Platz einräume, erwarte ich nur, daß du ehrlich zu mir bist und mich ehrenhaft behandelst. Die Entscheidung 478
darüber, wo wir leben werden, liegt bei dir. Ich werde sie anerkennen, in Worten wie in Taten.« »Dann werden wir Marcus Aurelius bitten, ein Mietshaus zu suchen und es auf deinen Namen eintragen zu lassen«, erwiderte der junge Caesar, ohne zu zögern. »Es muß das lohnendste und beste Mietshaus sein, das er finden kann. Ich stimme meinem Vater zu — es ist nicht wichtig, wo es liegt. Die Mieteinnahmen gehören dir. Wir werden in einer der ebenerdigen Wohnungen leben, bis ich in der Lage bin, uns ein eigenes Haus zu kaufen. Von dem Geld, das ich aus meinen Ländereien beziehe, werden wir und unsere Kinder leben. Das bedeutet, daß du die volle Verantwortung für das Mietshaus trägst, ich werde nichts damit zu tun haben.« Sie war mit seiner Entscheidung einverstanden, das war deutlich sichtbar, doch sie sagte nichts. »Du bist nicht sehr gesprächig«, meinte Caesar verwundert. »Nein«, sagte Aurelia.
Cotta machte sich tatkräftig auf die Suche nach einem geeigneten Mietshaus, er wollte unbedingt ein behagliches Haus in einer der besseren Gegenden Roms finden. Doch so sorgfältig er auch suchte, das beste Angebot war und blieb ein ziemlich großes Mietshaus in der Subura. Obwohl es schon vor dreißig Jahren erbaut worden war, befand es sich in gutem Zustand, denn da es der Bauherr selbst bewohnen wollte, hatte er beim Bau auf solide Arbeit geachtet. Cotta, Aurelia und der junge Caesar besichtigten das Mietshaus, nachdem sie sich bereits eine ganze Reihe anderer Objekte angesehen hatten. Inzwischen kannten sie alle Maklersprüche. Dieser hier war ein kleiner, sehr beredter Mann, von unzweifelhaft römischer Abstammung — die angesehene Maklerfirma von Thorius Postumus beschäftigte keine freigelassenen Griechen! »Beachtet, daß die Wände innen und außen verputzt sind«, redete er auf sie ein, »es ist nirgendwo ein Riß zu sehen, die 479
Fundamente sind so fest wie der Griff eines Geizhalses um seinen letzten Goldbarren... Acht Läden, langfristig vermietet, kein Ärger mit den Mietern oder mit den Zahlungen... Zwei ebenerdige Wohnungen, die zwei Stockwerke hoch sind... Nur zwei Wohnungen im darüberliegenden Geschoß, acht Wohnungen pro Geschoß bis zum sechsten Stockwerk, zwölf Wohnungen im siebten Stockwerk, zwölf im achten... Über den Läden befinden sich ebenfalls Wohnräume... In den Schlafkammern im Erdgeschoß zusätzlicher Stauraum in falschen Zimmerdecken...« Endlos pries er die Vorzüge des Mietshauses. Nach einer Welle hörte Aurelia ihm nicht mehr zu, sondern konzentrierte sich auf ihre eigenen Gedanken. Onkel Marcus und Gaius Julius sollten zuhören und aufpassen. Dies war eine Welt, die sie nicht kannte, doch sie war entschlossen, sie zu meistern, und wenn das bedeutete, daß sie sich an einen neuen Lebensstil gewöhnen müßte, würde sie die Herausforderung annehmen. Natürlich plagten sie auch Ängste, es war nicht gerade einfach, sich in zwei neue Lebensweisen auf einmal zu stürzen — in das Leben einer Ehefrau und in das Leben einer Vermieterin. Und doch entdeckte sie eine Furchtlosigkeit in sich, die aus einem Gefühl der Freiheit erwuchs, an das sie sich noch nicht ganz gewöhnt hatte. Ihre Kindheit war mit Lernen und kleinen Beschäftigungen ausgefüllt gewesen, und weil sie nicht wußte, daß es auch anderes gab, hatte sie sich nie gelangweilt. Doch als ihre Heirat näherrückte, hatte sie immer öfter darüber nachgedacht, was sie mit ihrer Zeit anfangen würde, falls sie nicht so viele Kinder haben sollte wie Cornelia, die Mutter der Gracchen — die meisten römischen Frauen aus dem Adel wollten gar nicht mehr als zwei Kinder. Von Natur aus war Aurelia energisch und praktisch veranlagt, aber bei ihrer gesellschaftlichen Stellung hatte sie kaum Gelegenheit, diese Eigenschaften zu nutzen. Jetzt war sie auf dem Wege, eine Vermieterin und Ehefrau zu werden, und sie war klug genug zu erkennen, daß zumindest das erstere ihr Gelegenheit bot, ihre praktischen Seiten zu nutzen. Interessante und anregende Arbeit wartete auf sie. 480
Sie sah sich mit glänzenden Augen um, malte sich aus, wie es sein würde, und schmiedete bereits Pläne. Die beiden ebenerdigen Wohnungen waren unterschiedlich groß, denn der frühere Besitzer hatte seine eigene Wohnung so bequem wie möglich angelegt. Dennoch war die Wohnung im Vergleich zum Anwesen der Cottas auf dem Palatin sehr klein. Tatsächlich war das Haus der Cottas größer als die Grundfläche des gesamten Mietshauses, einschließlich der Läden, der Taverne an der Kreuzung und der beiden ebenerdigen Wohnungen. Obwohl im Eßzimmer kaum drei Liegen Platz hatten — das mindeste, was man erwarten durfte —, wirkte es durch seine Höhe luftig, ebenso das Arbeitszimmer. Die Zwischenwand zwischen den beiden Räumen war mehr eine Unterteilung und reichte nicht ganz bis zur Decke. So drangen Licht und frische Luft vom Luftschacht in beide Zimmer. Das Wohnzimmer konnte eigentlich kaum als Atrium bezeichnet werden, doch es hatte einen schönen Terrazzoboden und geschmackvoll gestaltete Wände. In der Mitte standen zwei Säulen aus Holz, das so bearbeitet war, daß es wie farbiger Marmor wirkte. Drei der üblichen fensterlosen Schlafkammern schlossen an das Wohnzimmer an, zwei weitere, darunter ein größeres, an das Arbeitszimmer. Es gab ein kleines Zimmer, das Aurelia für sich selbst nutzen würde, den kleinen Raum daneben konnte Cardixa haben. Am meisten freute sich Aurelia jedoch darüber, daß die Wohnung ein eigenes Bad und eine eigene Latrine besaß — denn, so erklärte der Makler voller Stolz, die insula war an einen der größten Abwasserkanäle Roms und an die Frischwasserzuleitung angeschlossen. »Es gibt noch eine öffentliche Latrine gegenüber auf der Subura Minor, und die öffentlichen Bäder sind gleich daneben«, führte der Makler weiter aus. »Wasser ist kein Problem. Das Haus liegt genau auf der richtigen Höhe — niedrig genug für die Frischwasserzuleitung, aber hoch genug, daß der Rückstau vom Abwasserkanal nicht bis hierher reicht, wenn der Tiber Hochwasser führt. Das Rohr, das das Haus mit den Hauptrohren verbindet, ist größer als heutzutage üblich — die meisten neuen Häuser erhalten ja 481
inzwischen gar keinen Anschluß mehr! Natürlich nutzte der frühere Besitzer die Wasser- und Abwasserversorgung für sich selbst, die Mieter sind mit der öffentlichen Latrine und den Bädern gegenüber gut versorgt.« Aurelia hörte aufmerksam und erleichtert zu, denn sie hatte schon gehört, daß die Mietshäuser üblicherweise weder Frischwasser noch Abwasserleitungen besaßen. Die Aussicht, kein eigenes Bad und keine eigene Toilette zu haben, hatte sie bestürzt und einen düsteren Schatten auf ihr neues Leben als Vermieterin geworfen. Keines der Mietshäuser, die sie bisher besichtigt hatten, war mit Wasserleitungen ausgestattet gewesen, obwohl sie alle in besseren Bezirken lagen. Wenn Aurelia vorher noch geschwankt hatte, ob dieses Haus das richtige war — jetzt zweifelte sie nicht mehr. »Wieviel Miete wirft es ab?« fragte Caesar. »Zehn Talente im Jahr — eine viertel Million Sesterze.« »Gut, sehr gut!« nickte Cotta. »Die Instandhaltungskosten sind niedrig, weil der Bauherr auf beste Qualität geachtet hat«, sagte der Makler. »Deshalb wird es auch stets genügend Mieter geben. So häufig kommt es vor, daß Mietshäuser einstürzen oder bei einem Feuer brennen wie Zunder. Aber dieses hier nicht! Außerdem grenzen zwei Seiten an Straßen, die dritte an einen breiteren Durchgang, und das bedeutet, daß es nicht schnell Feuer fängt, wenn es in der Nachbarschaft brennt. Ja, dieses Haus ist so solide wie ein Schiff von Granius. Darauf gebe ich mein Wort.« Cotta, Caesar und Aurelia waren zu Fuß gekommen, da man in dem Gewimmel auf den Straßen der Subura mit einer Sänfte nicht vom Fleck kam. Zu Aurelias Schutz hatte Cotta die beiden Gallier mitgenommen, doch diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich als überflüssig. Zur Mittagszeit war es hell, und die Menschen schienen viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als daß sie die schöne Aurelia belästigt hätten. »Was meinst du?« fragte Cotta sie, als sie die Fauces Suburae Richtung Argiletum hinuntergingen, um das untere Ende des Fo482
rum Romanum zu überqueren. »Oh, Onkel, es ist ideal!« sagte sie, dann wandte sie sich um und sah Caesar an. »Bist du auch der Meinung, Gaius Julius?« »Ich denke, es ist genau das Richtige für uns«, sagte er. Cotta war einverstanden. »Gut, dann werde ich heute nachmittag den Kaufvertrag abschließen. Für fünfundneunzig Talente ist es ein gutes Geschäft, wenn nicht sogar ein Gelegenheitskauf. Und ihr habt fünf Talente übrig, für die ihr Möbel kaufen könnt.« »Nein«, widersprach Caesar entschieden. »Für die Möbel bin ich verantwortlich. Ich bin nicht mittellos! Meine Güter bei Bovillae werfen ein gutes Einkommen ab.« »Ich weiß, Gaius Julius«, meinte Cotta geduldig. »Du hast mir davon erzählt, erinnerst du dich?« Der junge Caesar erinnerte sich nicht. Alles, woran er in diesen Tagen denken konnte, war Aurelia.
Die Hochzeit fand im April statt, an einem wunderschönen Frühlingstag, und alle Vorzeichen waren günstig. Sogar Gaius Julius Caesar schien es ein wenig besser zu gehen. Rutilia weinte, und Marcia weinte, die eine, weil ihr erstes Kind heiratete, die andere, weil ihr letztes Kind aus dem Haus ging, um von nun an mit seiner Gattin zu leben. Julia und Julilla waren anwesend, ebenso Sextus’ Frau Claudia, aber ihre Ehemänner konnten nicht kommen — Marius und Sulla waren immer noch in Africa, Sextus Caesar rekrutierte Männer für die Armee in Italien und erhielt keinen Urlaub vom Konsul Gnaeus Mallius Maximus. Cotta hatte dem jungen Paar für den ersten Monat der Ehe ein Haus auf dem Palatin mieten wollen. »Gewöhnt euch erst einmal daran, verheiratet zu sein, und dann an das Leben in der Subura«, hatte er voller Sorge um sein einziges Mädchen gesagt. Das junge Paar hatte das Angebot jedoch entschieden abgelehnt. So war der Weg der Hochzeitsgesellschaft sehr weit, und die ganze Subura schien der jungen Braut zuzujubeln. Der junge Caesar war mehr als erleichtert, daß Aurelias Gesicht von einem 483
Schleier verhüllt wurde. Er hörte über die anzüglichen Bemerkungen hinweg und verbeugte sich im Gehen lächelnd nach rechts und links. »Das sind unsere künftigen Nachbarn, wir müssen lernen, mit ihnen zurechtzukommen«, sagte er zu seiner Braut. »Hör einfach nicht hin.« »Mir wäre es lieber, ihr würdet euch von ihnen fernhalten«, knurrte Cotta, den man nur mit Mühe davon abgebracht hatte, Gladiatoren zur Begleitung der Hochzeitsgesellschaft zu bestellen. Die Subura mit ihren riesigen Menschenmassen und der hohen Verbrechensrate war ihm nicht geheuer, und die rüde Sprache bestätigte seine Befürchtungen. Als sie Aurelias insula erreichten, hatte sich hinter ihnen eine große Menschenmenge angesammelt, die auf ihre Weise mitfeiern wollte und hoffte, am Ende der Straße werde der Wein reichlich fließen. Doch Cotta, Lucius Cotta und die beiden Gallier hielten die Meute zurück, bis Caesar seine junge Braut über die Schwelle getragen und die Tür hinter sich zugeschlagen hatte. Unter dem Protestgeheul der ungeladenen Gäste schritt Cotta hoch erhobenen Hauptes den Vicus Patricii hinunter. Nur Cardixa war in der Wohnung. Aurelia hatte beschlossen, mit dem Rest ihrer Mitgift die notwendige Dienerschaft zu kaufen, aber sie hatte das Vorhaben bis nach der Hochzeit verschoben, weil sie ihre Diener ohne die Hilfe ihrer Mutter oder ihrer Schwiegermutter auswählen wollte. Auch der junge Caesar mußte Diener kaufen: einen Hausverwalter, einen Mundschenk, einen Sekretär, einen Gehilfen und einen Kammerdiener. Aurelias Liste war länger: Sie brauchte zwei Sklavinnen für schwere Hausarbeiten, eine Wäscherin, einen Koch und einen Hilfskoch, zwei Diener für verschiedene Zwecke und einen starken Mann. Kein großer Haushalt, aber angemessen. Draußen brach gerade die Dämmerung herein, doch in der Wohnung war es schon fast dunkel. Als sie das Haus vor einigen Wochen besichtigt hatten, war das nicht aufgefallen, denn sie waren in der Mittagszeit gekommen. Jetzt bemerkte Aurelia, daß 484
das Licht durch die oberen Stockwerke abgehalten wurde, wenn die Sonne tiefer stand. Cardixa hatte zwar alle Lampen angezündet, doch sie reichten nicht aus, um die dunklen Ecken zu erhellen. Cardixa selbst blieb in ihrem Zimmer, denn sie wollte die Neuvermählten nicht stören. Am meisten überraschte Aurelia jedoch der Lärm. Er kam von überall, von der Straße, von den Treppen zu den oberen Stockwerken, aus dem Lichtschacht, er schien sogar aus dem Boden zu dringen. Schreie, Flüche, Gepolter, laute Unterhaltungen, Auseinandersetzungen, Beschimpfungen, weinende Säuglinge, schreiende Kinder, Frauen und Männer, Musikanten, die auf ihre Trommeln und Becken eindroschen, Liedfetzen, brüllende Ochsen, blökende Schafe, Maultiere und Esel, endlos vorbeirumpelnde Karren, Gelächter. »Oh, wir werden unser eigenes Wort nicht verstehen können!« sagte sie und versuchte, die aufsteigenden Tränen wegzublinzeln. »Gaius Julius, es tut mir so leid! Ich habe nicht an den Lärm gedacht!« Caesar war klug und einfühlsam genug, um zu wissen, daß zumindest ein Teil dieses ungewöhnlichen Ausbruchs nicht auf den Lärm zurückzuführen war, sondern auf die Hektik der letzten Tage, die Aufregung der Hochzeitsvorbereitungen und der Heirat. Er selbst hatte dies empfunden, wieviel stärker mußte erst seine junge Frau darunter gelitten haben? So lachte er fröhlich und versicherte: »Wir werden uns daran gewöhnen, keine Angst. Ich verspreche dir, in einem Monat werden wir den Krach überhaupt nicht mehr hören. Außerdem — in der Schlafkammer wird es nicht ganz so schlimm sein.« Als er ihre Hand ergriff, fühlte er, wie sie zitterte. Die größere Schlafkammer, die an das Arbeitszimmer angrenzte, war wirklich ruhiger. Sie lag vollkommen im Dunkel, und außer der Tür gab es keine Frischluftzufuhr — wegen der falschen Zimmerdecken, die den zusätzlichen Stauraum boten, den der Makler angepriesen hatte. Caesar ließ Aurelia im Arbeitszimmer stehen und holte eine 485
Lampe aus dem Wohnraum. Hand in Hand betraten sie die Schlafkammer und hielten dann wie verzaubert inne. Cardixa hatte den Raum über und über mit Blumen geschmückt und duftende Blüten auf das breite Bett gestreut, entlang der Wände standen Vasen jeder Größe mit Rosen, Levkojen und Veilchen, und auf einem kleinen Tischchen waren eine Karaffe mit Wein, eine mit Wasser, zwei goldene Becher und eine große Platte mit Honigkuchen angerichtet. Sie waren beide nicht schüchtern. Man hatte sie in sachlicher Weise über sexuelle Dinge aufgeklärt, wenn auch nicht in allen Einzelheiten. Jeder Römer, der es sich leisten konnte, bevorzugte Zurückgezogenheit für Intimitäten, besonders wenn er sich dabei entblößte, aber gehemmt war man nicht. Natürlich konnte Caesar auf einige Abenteuer zurückblicken, doch obwohl er sehr gut aussah, war er ein zurückhaltender, verläßlicher Mann. Publius Rutilius Rufus’ Gefühl hatte ihn nicht getrogen — Caesar und Aurelia paßten wunderbar zueinander. Er war behutsam und rücksichtsvoll, in der Liebe eher zärtlich als leidenschaftlich. Wäre er feuriger gewesen, hätte er vielleicht auch Aurelia entflammt, doch das sollten sie nie erfahren. Ihre Liebe war vorsichtig, die Berührungen sanft, die Küsse zärtlich, sie befriedigte beide, erfüllte beide. Und Aurelia konnte sich sagen, daß Cornelia, die Mutter der Gracchen, mit ihr zufrieden gewesen wäre, denn sie hatte ihre Pflicht erfüllt, wie sie erfüllt werden mußte. Sie würde das Ehebett gewiß nie mit Abscheu betrachten, doch sexuelles Vergnügen und sexuelle Befriedigung waren nicht die Dinge, die ihr Leben bestimmen würden.
Quintus Servilius Caepio blieb den Winter über in Narbo und trauerte um sein verlorenes Gold. Dort erreichte ihn der Brief des jungen Advokaten Marcus Livius Drusus, der zu Aurelias glühendsten Verehrern gezählt hatte und der jetzt, nachdem sie sich für Caesar entschieden hatte, zutiefst enttäuscht war.
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Ich war gerade neunzehn, als mein Vater, der Zensor, starb. Er hinterließ mir nicht nur seinen gesamten Besitz, sondern auch die Stellung des pater familias. Glücklicherweise bestand die einzige Bürde in meiner dreizehnjährigen Schwester, die nach der Trennung meiner Eltern durch den Tod des Vaters nun beider Eltern beraubt war. Zu dieser Zeit wollte meine Mutter Cornelia meine Schwester zu sich nehmen, aber ich habe das natürlich abgelehnt. Obwohl es nie zu einer Scheidung kam, war das Verhältnis meiner Eltern äußerst kühl, wie Dir sicher nicht entgangen ist, und die Entfremdung rührte daher, daß mein Vater meinen jüngeren Bruder zur Adoption gegeben hatte. Meine Mutter stand meinem Bruder immer näher als mir, und als er ein Mamercus Aemilius Lepidus Livianus wurde, nahm sie seine Jugend zum Vorwand und zog mit ihm zu seiner neuen Familie. Dort führte sie ein anderes Leben, freizügiger und ausschweifender, als sie es im Haus meines Vaters je hätte führen können. Ich erinnere Dich an diese Dinge, weil es dabei auch um meine Ehre geht, denn ihr schäbiges und selbstsüchtiges Verhalten hat meine Ehre sehr beschmutzt. Ich schmeichle mir, daß ich meine Schwester Livia Drusa so aufgezogen habe, wie es ihrer hohen Stellung entspricht. Sie ist nun achtzehn und somit im heiratsfähigen Alter. Auch ich, Quintus Servilius, habe die Absicht, mich zu verheiraten, obwohl ich erst dreiundzwanzig bin. Ich weiß, daß es üblich ist zu warten, bis man die Fünfundzwanzig überschritten hat, und ich weiß auch, daß viele Männer erst heiraten, wenn sie im Senat sitzen. Doch so lange kann ich nicht warten. Ich bin der pater familias und der einzige männliche Livius Drusus meiner Generation. Mein Bruder, Mamercus Aemilius Lepidus Livianus, hat weder auf den Namen Livius Drusus noch auf das Vermögen Anspruch. Somit ist es meine Pflicht, zu heiraten und für Nachkommen zu sorgen. Als mein Vater starb, hatte ich beschlossen, damit zu warten, bis auch meine Schwester alt genug wäre für die Ehe. Der Brief war genauso steif und umständlich wie der junge Mann, doch Quintus Servilius Caepio störte das nicht. Er und der Vater 487
von Livius Drusus waren Freunde gewesen, so wie nun sein Sohn und der junge Drusus befreundet waren. Darum, Quintus Servilius, möchte ich Dir in meiner Eigenschaft als Oberhaupt der Familie eine Verbindung durch Heirat vorschlagen. Ich habe übrigens davon abgesehen, mich mit meinem Onkel Publius Rutilius Rufus in dieser Sache zu beraten. Als Ehemann meiner Tante Livia und als Vater ihrer Kinder habe ich nichts gegen ihn einzuwenden, doch weder seine Abstammung noch sein Charakter sind geeignet, mir seinen Rat als wertvoll erscheinen zu lassen. Erst kürzlich kam mir zum Beispiel zu Ohren, daß er Marcus Aurelius Cotta überredet hat, seiner Stieftochter Aurelia zu erlauben, sich ihren Gatten selbst zu wählen. Ein weniger römisches Verhalten kann man sich schwerlich vorstellen. Natürlich hat sich Aurelia für einen Schönling entschieden, für Julius Caesar, einen verarmten Nichtsnutz, der es nie zu etwas bringen wird. Soviel zu Publius Rutilius Rufus. Und Marcus Livius Drusus, wund an Herz und dignitas, schrieb weiter: Ich beschloß, mit meiner Heirat zu warten, bis meine Schwester das richtige Alter erreicht hätte, da ich meiner Frau nicht die Verantwortung für meine Schwester aufbürden wollte. Ich würde es als unedel empfinden, anderen meine eigenen Pflichten zu übertragen, die sie nicht mit dem gleichen Maß an Anteilnahme erfüllen könnten. Quintus Servilius, ich möchte Dir nun vorschlagen, daß Du mir die Erlaubnis erteilst, Deine Tochter Servilia Caepionis zu heiraten. Ich wiederum werde Deinem Sohn, Quintus Servilius dem jüngeren, gestatten, um die Hand meiner Schwester Livia Drusa anzuhalten. Das ist die ideale Lösung für uns beide. Die Bande zwischen unseren Familien reichen viele Generationen weit zurück, und außerdem haben meine Schwester und Deine Tochter Mitgiften der gleichen Größe, was bedeutet, daß kein Geld die 488
Hände wechseln müßte, ein Vorteil in diesen bargeldknappen Zeiten. Bitte teile mir Deine Entscheidung mit. Eigentlich gab es nichts zu entscheiden. Von so einer Verbindung hatte Quintus Servilius Caepio immer geträumt, denn Livius Drusus war unermeßlich reich, und er stammte aus höchstem Adel. Caepio antwortete umgehend: Mein lieber Marcus Livius, ich bin hoch erfreut. Du hast meine Erlaubnis, sämtliche Vorbereitungen zu treffen. So brachte Drusus die anstehenden Heiraten bei seinem nächsten Treffen mit dem jungen Caepio zur Sprache. Er wußte, daß dessen Vater ihm demnächst schreiben würde, und wollte seinen Freund darauf vorbereiten. Caepio sollte diese Hochzeit als ein erfreuliches Ereignis ansehen und nicht als Befehl seines Vaters. »Ich würde gerne deine Schwester heiraten«, sagte er zu Caepio, etwas unvermittelter als geplant. Caepio blinzelte überrascht, erwiderte aber nichts. »Und ich würde es gerne sehen, daß du meine Schwester heiratest«, fuhr Drusus fort. Caepio blinzelte etwas heftiger, sagte aber immer noch nichts. Endlich nahm der junge Caepio seinen Verstand zusammen — der nicht annähernd so groß war wie sein Vermögen — und antwortete: »Ich muß aber erst meinen Vater fragen.« »Das habe ich schon getan. Er ist entzückt.« »Oh, ich denke, dann wird alles seine Ordnung haben.« »Quintus Servilius, ich möchte deine Meinung hören!« rief Drusus verzweifelt. »Nun, meine Schwester mag dich... Und ich denke, ich mag deine Schwester, aber...« Er sprach nicht weiter. »Aber was?« fragte Drusus. »Ich glaube, deine Schwester mag mich nicht.« Nun blinzelte Drusus überrascht. »Ach, Unsinn! Warum sollte 489
sie dich nicht mögen? Du bist mein bester Freund! Natürlich mag sie dich! Es ist die ideale Lösung, wir werden immer zusammenbleiben.« »Tja, das wäre schön«, meinte Caepio. »Gut«, sagte Drusus knapp. »Ich habe mit deinem Vater bereits alle wichtigen Punkte geklärt, Mitgift und so weiter. Du mußt dich also um nichts kümmern.« »Gut.« Sie saßen auf einer Bank unter einer schönen alten Eiche im unteren Teil des Forum Romanum und hatten gerade eine köstliche Mahlzeit zu sich genommen — Brottaschen aus ungesäuertem Teig, gefüllt mit einer würzigen Mischung aus Linsen und gehacktem Schweinefleisch. Drusus erhob sich und reichte seine Serviette dem Sklaven. Dann stand er einen Moment still, während der Sklave prüfte, ob die schneeweiße Toga Flecken bekommen hatte. »Wo willst du so eilig hin?« fragte Caepio. »Nach Hause und meiner Schwester von unseren Plänen erzählen«, erwiderte Drusus. Er zog eine scharfgezeichnete, schwarze Augenbraue in die Höhe. »Meinst du nicht, daß auch du nach Hause gehen und mit deiner Schwester sprechen solltest?« »Vermutlich schon«, meinte Caepio, aber es klang sehr zweifelnd. »Könntest du es ihr nicht lieber selber sagen? Sie mag dich.« »Nein, du mußt mit ihr sprechen, Dummkopf! Im Moment bist du in loco parentis, also ist es deine Aufgabe — ebenso wie es meine Aufgabe ist, mit Livia Drusa zu sprechen.« Und damit ging Drusus über das Forum in Richtung VestaTreppen davon.
Seine Schwester war zu Hause — wo hätte sie auch sonst sein sollen? Seit Drusus das Oberhaupt der Familie war und ihre Mutter Cornelia das Haus nicht mehr betreten durfte, konnte Livia ohne die Erlaubnis ihres Bruders keinen Fuß vor das Haus setzen, 490
und sie hätte nie gewagt, heimlich auszugehen. In den Augen ihres Bruders war sie durch die Schande ihrer Mutter gezeichnet. Er betrachtete sie als schwaches, leicht verführbares Wesen, dem nicht die kleinste Freiheit zugestanden werden konnte, er war bereit, immer das Schlimmste von ihr zu denken — auch ohne Beweise. »Bitte meine Schwester ins Arbeitszimmer«, sagte Drusus zum Hausverwalter, als er wieder daheim war. Sein Haus stand an einem steilen Abhang auf dem höchsten Punkt des Palatin über dem Forum Romanum. Es war gerade vollendet worden, als Drusus, der Zensor, starb und galt allgemein als das schönste Haus Roms. Die Sicht von der Loggia auf der Vorderfront im obersten Stockwerk war atemberaubend. Das angrenzende Grundstück, die area flacciana, war unbebaut. Einst hatte dort das Haus von Marcus Fulvius Flaccus gestanden, auf der anderen Seite dieses Grundstücks lag das Anwesen von Quintus Lutatius Catulus Caesar. Drusus’ Haus hatte nach römischer Art keine Fenster an den Außenseiten, denn sollte das Nachbargrundstück je wieder bebaut werden, würde dieses Haus direkt an Drusus’ Haus anschließen. An der Rückseite, die an den Clivus Victoriae grenzte, befand sich ein großes Holztor, daneben waren einige Wareneingänge. Der vordere Teil des Hauses mit seiner prachtvollen Aussicht war drei Stockwerke hoch, die Stützpfeiler waren tief in dem darunterliegenden Felsvorsprung verankert. Das oberste Stockwerk lag auf gleicher Höhe mit dem Clivus Victoriae, und dort wohnte die Familie. Vorratsräume, Küchen und die Räume der Dienerschaft waren in den darunterliegenden Geschossen untergebracht, die sich nicht über die volle Breite des oberen Stockwerkes erstreckten, weil der Felsvorsprung steil abfiel. Die Wareneingänge an der Rückwand führten direkt in das Peristyl, den Säulengarten. Der Garten war so groß, daß sechs wunderschöne, großgewachsene Lotusbäume darin Platz fanden, die Scipio Africanus vor neunzig Jahren als Schößlinge aus Africa mitgebracht hatte. In jedem Sommer blühten sie in verschwenderi491
scher Pracht, zwei in Rot, zwei in Orange und zwei in tiefem Gelb, und erfüllten über einen Monat lang das ganze Haus mit ihrem Duft. Später trugen sie zarte, farnähnliche Blätter, und im Winter waren sie kahl, so daß ungehindert Licht einfallen konnte. Ein langes, schmales Wasserbecken, mit weißem Marmor ausgekleidet, wurde von vier perfekt aufeinander abgestimmten Springbrunnen umgeben, einem in jeder Ecke, die der große Myron angefertigt hatte. An den Seiten des Beckens standen lebensgroße Statuen, ebenfalls von Myron, die Satyre, Nymphen, Artemis, Dionysos und Orpheus darstellten. Jede dieser Statuen war so kunstvoll bemalt, daß man beinahe glaubte, im nächsten Moment würde sie sich bewegen. Der ganze Garten wirkte auf den ersten Blick wie eine Versammlung der Unsterblichen. Eine Kolonnade mit dorischen Säulen führte an den Seiten des Peristyls entlang, unterstützt von Holzsäulen, die gelb bemalt waren mit Basen und Kapitellen in leuchtenden Farben. Der Boden des Säulengangs bestand aus poliertem Terrazzo, die Wände waren in lebhaftem Grün, Gelb und Blau gehalten. Zwischen den erdroten Wandpfeilern befanden sich einige der schönsten Malereien der Welt: ein Kind mit Trauben von Zeuxis, der dem Wahnsinn verfallene Ajax von Parrhaslos, einige nackte männliche Gestalten von Timanthes, ein Bildnis Alexanders des Großen von Apelles, und ein Pferd, ebenfalls von Apelles, das so täuschend echt wirkte, daß man von weitem glauben konnte, es wäre an der Wand festgebunden. Entlang der Wand standen die Ahnenschreine mit den Wachsmasken von Livius Drusus’ Vorfahren, sie waren auf das Sorgfältigste erhalten. Bemalte Steinpfeiler — Hermen genannt, da sie mit aufgerichteten Phallen verziert waren — trugen Büsten von Ahnen und Göttern, von mythischen Frauen und griechischen Philosophen. Alle Büsten waren meisterhaft bemalt, ebenso wie die lebensgroßen Statuen, die um das impluvium, das Wasserbekken in der Mitte, und entlang der Wände aufgestellt waren. Große silberne und goldene Kronleuchter hingen von der unvorstellbar hohen Decke herab, die als sternenübersäter Himmel bemalt war, 492
umgeben von vergoldeten Stuckornamenten, und auf dem Boden standen Kerzenhalter, die sieben oder acht Fuß hoch waren. Das farbige Mosaik des Fußbodens zeigte den feiernden Bacchus, umgeben von seinen Bacchantinnen, die tanzten und tranken, Wild fütterten und Löwen an ihrem Wein schlürfen ließen. Doch Drusus hatte keinen Blick für all die Pracht, die ihn umgab, denn er war von klein auf daran gewöhnt und zudem — anders als sein Vater und sein Großvater, die einen ausgezeichneten Kunstgeschmack besessen hatten — nicht sehr empfänglich für schöne Dinge. Der Verwalter fand Drusus’ Schwester in der Loggia, die an die Vorderfront des Atriums anschloß. Livia Drusa war immer allein und immer einsam. Das Haus war so groß, daß sie nie das Bedürfnis nach einem Spaziergang geltend machen konnte, und wenn sie etwas kaufen wollte, rief ihr Bruder einfach die Händler ins Haus, und sie breiteten ganze Läden und Stände in den großen Räumen entlang des Säulengangs aus. Der Verwalter bekam Anweisung, alles zu bezahlen, was Livia Drusa haben wollte. Die beiden Schwestern aus dem Hause der Julier hatten unter den aufmerksamen Augen ihrer Mutter oder vertrauenswürdiger Sklaven oft die besseren Viertel von Rom besucht, Aurelia war ständig bei Verwandten oder Schulfreundinnen zu finden gewesen, und Frauen wie Clitumna und Nikopolis mußten nicht einmal regelmäßig zu den Mahlzeiten erscheinen. Doch Livia Drusa lebte in völliger Abgeschiedenheit, eine Gefangene des Reichtums und ein Opfer der Freiheit ihrer Mutter. Livia Drusa war zehn Jahre alt gewesen, als ihre Mutter, eine Cornelia aus dem Hause Scipio, die Familie verlassen hatte. Von da an hatte sie in der alleinigen Obhut ihres Vaters gelebt, der kaum Notiz von ihr genommen, sondern seine Zeit hauptsächlich damit verbracht hatte, durch seine Säulengänge zu wandeln und seine Kunstwerke zu betrachten. Die Dienerinnen und Lehrer hatten große Angst vor der Macht der Familie gehabt und nicht gewagt, sich mit Livia anzufreunden. Drei Jahre, nachdem ihre Mutter mit ihrem kleinen Bruder — Mamercus Aemilius Lepidus 493
Livianus, wie er jetzt genannt wurde — fortgegangen war, war sie mit ihrem Vater und ihrem Bruder in dieses riesige Mausoleum gezogen. Allein und ziellos wanderte sie seither durch das Anwesen, verloren, ungeliebt, unbeachtet. Der Tod ihres Vaters, fast unmittelbar nach dem Umzug, hatte ihr Leben kaum verändert. Lachen war ihr unbekannt. Wenn von Zeit zu Zeit Gelächter aus den überfüllten, fensterlosen Dienstbotenräumen zu ihr heraufdrang, fragte sie sich verwundert, was das war. Sie kannte nur eine Welt, die sie liebte, und das war die Welt der Schriftrollen. Da ihr niemand das Lesen oder Schreiben verbot, füllte sie den größten Teil ihrer Zeit damit aus. Sie ließ sich von den Beschreibungen der Wut des Achilles hinreißen, von den Taten der Griechen und Trojaner, von den Geschichten über Helden und Ungeheuer, über Götter und sterbliche Mädchen, nach denen es die Götter mehr zu verlangen schien als nach anderen Unsterblichen. Nachdem das Entsetzen über die schrecklichen Veränderungen ihres Körpers während der Pubertät abgeklungen war — niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie aufzuklären —, entdeckte sie mit ihrer leidenschaftlichen Natur die Faszination der Liebesdichtung. Des Griechischen so mächtig wie des Lateinischen, begeisterte sie sich für Alkman, Pindar, Sappho und Asklepiades. Der alte Sosilis von Argiletum schickte von Zeit zu Zeit willkürlich zusammengestellte Körbe mit Schriftrollen zu Drusus’ Haus. Er nahm selbstverständlich an, daß sie für Drusus bestimmt wären, und hatte keine Ahnung, wer sie in Wirklichkeit las. Kurz nach Livia Drusas siebzehntem Geburtstag hatte Sosilis begonnen, die Werke eines neuen Poeten namens Meleagros zu senden, der über die Liebe und über die Wollust dichtete. Mehr gefesselt als abgestoßen, ließ sich Livia in die Welt der erotischen Literatur einführen, und dank Meleagros erwachten ihre eigenen sexuellen Gefühle. Doch es änderte sich nichts. Sie durfte nicht ausgehen, niemanden treffen. Annäherungsversuche an einen Sklaven oder Annäherungsversuche eines Sklaven an die Herrin waren in diesem Haus unvorstellbar. Manchmal sah sie die Freunde von Livius Drusus, doch diese Begegnungen waren sehr flüchtig. Nur einen kannte 494
sie näher — Livius’ besten Freund, den jungen Caepio. Mit seinen kurzen Beinen, den vielen Pickeln und dem häßlichen Gesicht erschien er ihr wie ein Tölpel aus einem von Meleagros’ Stücken oder wie der widerliche Thersites, den Achilles mit einem Schwertstreich köpfte, nachdem Thersites den Helden angeklagt hatte, sich an der Leiche der Amazonenkönigin Penthesileia vergangen zu haben. Nicht, daß Caepio ihr jemals Anlaß zu solchen Vergleichen gegeben hätte — ihre ausgehungerte Phantasie hatte einfach sein Gesicht auf diese Figuren übertragen. Ihr Lieblingsheld war Odysseus. Sie liebte die überlegene Art, wie er die Probleme anderer löste. Sein Werben um Penelope, deren geistiges Kräftemessen mit ihren Freiern, Odysseus’ Rückkehr zwanzig Jahre später — so stellte sie sich die Liebe vor. Sie stattete Odysseus mit dem Gesicht eines jungen Mannes aus, den sie ein paarmal auf der Loggia des unterhalb liegenden Hauses gesehen hatte. Es war das Haus von Gnaeus Domitius Ahenobarbus, und er hatte zwei Söhne, die Livia flüchtig kannte. Der junge Mann auf der Loggia war keiner von ihnen. Odysseus hatte rotes Haar und war Linkshänder. Hätte sie ein wenig genauer gelesen, wäre ihr vielleicht nicht entgangen, daß er sehr kurze Beine hatte, und da sie kurze Beine einfach abscheulich fand, hätte das ihrer Vorliebe für Odysseus vermutlich ein wenig Abbruch getan. Der Unbekannte von der Loggia war ebenfalls rothaarig, sehr groß und breitschultrig, unter der Toga ließ sich ein schlanker, kraftvoller Körper vermuten. Sein Haar glänzte in der Sonne, die Kopfhaltung war stolz wie die eines Königs. Sogar von Livias Loggia aus konnte man sehen, wie die Nase gebieterisch hervorragte, doch die Gesichtszüge waren nicht zu erkennen. Aber das war auch nicht nötig — Livia wußte auch so, daß seine Augen groß und leuchtend und grau waren, wie die von Odysseus. Wenn sie die flammenden Liebesgedichte von Meleagros las, sah sie sich selbst in der Rolle des Mädchens — oder des Jünglings —, das von dem leidenschaftlichen Dichter verführt wurde. Und der Dichter war stets der junge Mann auf Ahenobarbus’ Balkon. Dachte sie dagegen an Caepio, was selten vorkam, ge495
schah dies mit einer angewiderten Grimasse.
»Livia Drusa, dein Bruder möchte dich unverzüglich in seinem Arbeitszimmer sprechen«, riß der Verwalter sie aus ihren Träumen heraus. Sie stand gerade auf der Loggia und hielt Ausschau nach dem rothaarigen Unbekannten, sie wäre so gerne noch geblieben. Doch ihren Bruder durfte sie nicht warten lassen. Sie wandte sich um und folgte dem Verwalter. Drusus saß an seinem Schreibtisch und blätterte in Papieren. Als sie eintrat, sah er auf und musterte seine Schwester mit einem nachsichtigen, nicht sehr interessierten Gesichtsausdruck. »Setz dich«, sagte er und deutete auf einen Stuhl. Livia setzte sich und betrachtete ihren Bruder ebenso uninteressiert. Sie hatte Drusus niemals lachen gehört, allenfalls den Anflug eines Lächelns an ihm wahrgenommen. Das gleiche konnte er von ihr sagen. Leicht beunruhigt registrierte sie, daß Drusus sie genauer betrachtete als sonst. Sie konnte nicht wissen, daß er das stellvertretend für den jungen Caepio tat. Ja, sie war ein hübsches kleines Ding, dachte er. Sie war klein, hatte aber glücklicherweise keine kurzen Beine wie so viele andere Familienmitglieder. Ihre Gestalt war entzückend, sie hatte volle, hohe Brüste, eine schmale Taille, runde Hüften. Ihre Hände und Füße waren zart und schmal — ein Zeichen von Schönheit — und die Nägel gepflegt, nicht abgekaut. Das Gesicht war herzförmig, die Nase besaß die richtige Länge und war leicht gebogen. Ihr Mund und ihre Augen entsprachen dem Schönheitsideal, die Augen waren sehr groß, der Mund klein und rot wie eine Rosenknospe. Augen, Wimpern, Brauen und das dichte Haar schimmerten schwarz, und sie trug ihr Haar anmutig frisiert. In der Tat, Livia Drusa war hübsch, wenn auch nicht annähernd so hübsch wie Aurelia. Bei dem Gedanken an Aurelia zog sich Drusus’ Herz schmerzvoll zusammen. Sofort nach Ankündigung ihrer Heirat mit Julius Caesar hatte er an Quintus Servilius ge496
schrieben. Die Aurelier waren zwar eine anerkannte Familie, doch mit den Serviliern konnten sie sich weder im Rang noch im Reichtum messen. »Meine Liebe, ich habe einen Ehemann für dich gefunden«, teilte er ihr ohne Umschweife mit. Livia erschrak, doch es gelang ihr, keine Miene zu verziehen. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, dann fragte sie: »Wer ist es, Marcus Livius?« »Der beste aller guten Männer, ein wunderbarer Freund! Der junge Quintus Servilius.« Ihr Gesicht spiegelte grenzenloses Entsetzen. Sie öffnete ihren Mund, versuchte zu sprechen, brachte aber keinen Ton heraus. »Was ist los?« fragte er verwirrt. »Ich kann ihn nicht heiraten«, flüsterte sie. »Warum nicht?« »Er ist widerlich... abstoßend!« »Das ist lächerlich!« Sie schüttelte den Kopf, immer wilder. »Ich werde ihn nicht heiraten, auf keinen Fall!« Drusus kam ein schrecklicher Gedanke, seine Mutter fiel ihm ein. Er sprang auf, ging um den Tisch herum und beugte sich über sie. »Hast du jemanden getroffen?« Livia hob den Kopf und starrte ihn an. Sie war außer sich. »Ich? Wie sollte ich jemanden treffen? Jeden Tag meines Lebens war ich eingesperrt in diesem Haus. Die einzigen Männer, die ich sehe, sind deine Gäste. Ich habe nicht einmal Gelegenheit, mich mit ihnen zu unterhalten! Wenn du sie zum Essen einlädst, bittest du mich nie dazu. Nur wenn dieser widerwärtige Tölpel Quintus Servilius da ist, darf ich mit euch essen!« »Wie kannst du es wagen!« Er wurde zornig. Niemals war ihm in den Sinn gekommen, daß sie seinen besten Freund nicht ausstehen könnte. »Ich werde ihn nicht heiraten!« schrie sie. »Eher sterbe ich!« »Geh sofort in dein Zimmer«, sagte er eisig. Sie sprang auf und ging auf die Tür zu, die zum Säulengang 497
führte. »Nicht in dein Wohnzimmer, Livia Drusa. In dein Schlafzimmer. Dort wirst du bleiben, bis du Vernunft angenommen hast.« Ein flammender Blick war die Antwort. Sie wandte sich um und verließ den Raum durch die Tür, die zum Atrium führte. Drusus blieb neben dem Stuhl stehen, auf dem sie gesessen hatte, und versuchte, seinen Zorn zu zügeln. Unvorstellbar! Wie konnte sie es wagen, sich ihm zu widersetzen! Nach einiger Zeit fand er seine Ruhe wieder. Er wollte das Problem mit Überlegung angehen, obwohl er keine Ahnung hatte, wie er es lösen sollte. In seinem ganzen Leben hatte noch niemand gewagt, sich ihm zu widersetzen, niemand hatte ihn je in eine Lage gebracht, aus der er keinen Ausweg sah. Er war Gehorsam gewohnt, Respekt und Ehrerbietung in einem Maß, das ungewöhnlich war für sein Alter. Jetzt wußte er nicht, was er tun sollte. Wenn er mehr von seiner Schwester wüßte — er mußte sich gestehen, daß er gar nichts von ihr wußte. Wenn sein Vater noch lebte — wenn seine Mutter — oh, was für ein Wirrwarr! Was sollte er tun? So etwas durfte er sich nicht bieten lassen, das war die Antwort. Er rief den Verwalter. »Die Herrin, Livia Drusa, hat mich beleidigt«, sagte er mit bewundernswerter Ruhe und ohne den geringsten Ausdruck von Zorn. »Ich habe ihr befohlen, in ihrem Schlafzimmer zu bleiben. Sorge dafür, daß ein Schloß an der Tür angebracht wird, und bis dahin stellst du eine ständige Wache vor ihrem Zimmer auf. Sie wird von einer Frau bedient werden, die sie nicht kennt. Auf keinen Fall darf sie das Zimmer verlassen, ist das klar?« »Jawohl, Marcus Livius«, erwiderte der Verwalter ausdruckslos.
Und dann nahm der Zweikampf seinen Lauf. Livia Drusa war in ein Gefängnis verbannt, das sehr viel kleiner war als ihr bisheriges, das Haus. Ihre Schlafkammer war wenigstens nicht ganz so 498
dunkel und stickig wie andere, sie grenzte an die Loggia und hatte an der oberen Außenwand ein Gitter. Dennoch war es ein tristes Gefängnis. Wie trist, das erfuhr sie, als man ihr Bücher und Schreibpapier verweigerte. Vier Wände umschlossen einen Raum, der ungefähr acht auf acht Fuß groß und bis auf ein Bett und einen Nachttopf vollkommen leer war. Die Mahlzeiten brachte ihr eine Frau, die sie noch nie gesehen hatte, und es schmeckte nicht sehr gut. Das war nun Livia Drusas Leben. In der Zwischenzeit mußte Drusus seinem Freund vorspiegeln, alles entwickle sich wunschgemäß. Er verlor keine Zeit. Unmittelbar nachdem er seine Anweisungen erteilt hatte, warf er die Toga um und ging zu Caepio. »Oh, wie schön, daß du vorbeikommst!« strahlte Caepio. »Ich dachte, wir müßten noch einiges besprechen«, sagte Drusus. Er machte jedoch keine Anstalten, sich zu setzen, und sprach auch nicht weiter. »Nun, Marcus Livius, willst du vorher nicht ein paar Worte mit meiner Schwester wechseln? Sie ist sehr aufgeregt.« Wenigstens etwas, dachte Drusus. Sie war nicht so störrisch wie seine eigene Schwester. Er fand Servilia Caepionis in ihrem Wohnzimmer. Als er eintrat, sprang sie auf und warf sich ihm an die Brust, sehr zu seinem Unbehagen. Nun, anscheinend war sein Werben willkommen. »Oh, Marcus Livius!« seufzte sie und sah ihn schmachtend an. Warum hatte Aurelia ihn nie so angesehen? Er schob den Gedanken entschlossen beiseite und betrachtete Servilia Caepionis. Eine Schönheit war sie beileibe nicht. Sie hatte kurze Beine, wie alle in ihrer Familie, aber von den Pickeln, die ebenfalls in der Familie lagen, war sie verschont geblieben. Und sie hatte außerordentlich schöne Augen, sanft und zärtlich im Ausdruck, groß und dunkel schimmernd. Gern gehabt hatte er sie schon immer, und vielleicht würde er sie mit der Zeit sogar lieben. Er küßte sie auf den Mund und war angenehm überrascht, daß sein Kuß erwidert wurde. Dann wechselte er noch ein paar Sätze mit ihr. 499
»Und deine Schwester Livia Drusa — freut sie sich?« fragte Servilia, als er aufstand und gehen wollte. Drusus blieb wie angewurzelt stehen. »Sie freut sich sehr«, sagte er, und dann fügte er ohne weitere Überlegung hinzu: »Leider fühlt sie sich im Moment nicht wohl.« »Oh, das — tut mir leid! Sag ihr bitte, daß ich sie besuchen komme. Wir werden Schwägerinnen sein, und das gleich doppelt, aber mir wäre es noch lieber, wenn wir Freundinnen sein könnten.« Er lächelte. »Ich danke dir.« Caepio wartete ungeduldig im Arbeitszimmer seines Vaters. »Ich bin hoch erfreut«, sagte Drusus, während er sich setzte. »Deine Schwester ist entzückt von der Verbindung.« »Ich habe dir ja gesagt, daß sie dich sehr gern hat«, meinte Caepio. »Aber wie hat Livia Drusa die Neuigkeiten aufgenommen?« Nun war Drusus vorbereitet. »Sie hat sich sehr gefreut«, log er. »Unglücklicherweise liegt sie mit Fieber zu Bett. Der Arzt war schon da. Er ist ein wenig besorgt. Anscheinend gibt es Komplikationen, und er befürchtet, es könnte ansteckend sein.« »Ihr Götter!« rief Caepio und wurde blaß. »Nun, es wird schon nicht so schlimm sein«, beruhigte Drusus ihn. »Du magst sie sehr, Quintus Servilius, nicht wahr?« »Mein Vater meint, ich könnte keine Bessere wählen. Mein Vater sagt, daß ich einen ausgezeichneten Geschmack habe. Hast du ihm erzählt, wie gern ich sie habe?« »Ja.« Drusus lächelte. »Es war schon seit einigen Jahren ziemlich deutlich, weißt du.« »Ich habe heute einen Brief von meinem Vater bekommen. Er schreibt, daß Livia sowohl reich sei als auch von hohem Rang. Und er findet sie nett.« »Nun, sobald es ihr wieder besser geht, werden wir zusammen essen und über die Hochzeit sprechen. Anfang Mai wäre gut, hin? Vor der Unglückszeit.« Er stand auf. »Ich kann leider nicht länger bleiben, Quintus Servilius. Ich muß nach meiner Schwester sehen.« 500
Sowohl Caepio als auch Drusus waren gewählte Militärtribunen und würden mit Gnaeus Mallius Maximus nach Gallia Transalpina ziehen. Doch während Sextus Caesar nicht einmal für die Hochzeit seines Bruders Urlaub bekommen hatte, waren Caepio und Drusus noch gar nicht einberufen worden. Rang, Reichtum und die richtigen politischen Ansichten machten sich eben bezahlt. Drusus sah keine Schwierigkeiten für eine Doppelhochzeit Anfang März, obwohl die beiden Bräutigame dann schon mit militärischen Angelegenheiten beschäftigt sein würden, und selbst wenn die Armee zu dieser Zeit bereits auf dem Weg nach Gallien sein sollte, würde es keine Probleme geben — sie konnten sie jederzeit einholen. Drusus ordnete an, weder Caepio noch Servilia zu seiner Schwester zu lassen. Außerdem sollte sie bis auf weiteres nur noch ungesäuertes Brot und Wasser erhalten. Fünf Tage lang suchte er sie nicht auf, dann ließ er sie in sein Arbeitszimmer bringen. Sie kam auf etwas unsicheren Füßen, die Haare durcheinander, und blinzelte in der ungewohnten Helligkeit. Ihren Augen sah man an, daß sie kaum geschlafen hatte, aber Spuren langen Weinens konnte ihr Bruder nicht an ihr entdecken. Ihre Hände zitterten, ebenso ihre Lippen, und die Unterlippe war zerbissen. »Setz dich«, sagte Drusus knapp. Sie setzte sich. »Wie denkst du inzwischen über die Heirat mit Quintus Servilius?« Sie begann am ganzen Körper zu zittern, alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Will nicht«, sagte sie. Ihr Bruder beugte sich nach vorn. »Livia Drusa, ich bin das Oberhaupt unserer Familie. Ich habe uneingeschränkte Gewalt über dein Leben, ich habe sogar Gewalt über deinen Tod. Zufällig mag ich dich sehr. Das bedeutet, daß ich dich nur ungern verletze, es bekümmert mich, dich leiden zu sehen. Doch wir sind beide Römer. Das bedeutet alles für mich. Es bedeutet mir mehr, als du mir bedeutest. Mehr als irgend jemand mir je bedeuten kann! Es tut mir leid, daß du meinen Freund Quintus Servilius nicht magst. 501
Aber du wirst ihn heiraten. Als Römerin hast du mir zu gehorchen. Quintus Servilius ist der Mann, den unser Vater für dich ausgesucht hat, ebenso wie sein Vater Servilia Caepionis als Ehefrau für mich ausgesucht hat. Eine Zeitlang wollte ich mir eine Frau meiner Wahl nehmen, aber die Ereignisse haben bewiesen, daß mein Vater — möge sein Schatten in Frieden wandeln — klüger war als ich. Außerdem müssen wir an die Schande denken, die unsere Mutter über uns gebracht hat. Ihr hast du es zu verdanken, daß eine besondere Verantwortung auf dir lastet. Nichts, was du sagst oder tust, darf den Gedanken erlauben, ihr Makel könnte auch an dir zu finden sein.« Livia Drusa holte tief Atem und wiederholte, stärker zitternd: »Will nicht!« »Was du willst, spielt keine Rolle«, entgegnete Drusus streng. »Wer bist du denn, Livia Drusa, daß du glaubst, deine Wünsche seien wichtiger als die Ehre oder die Stellung der Familie? Du hast die Entscheidung zwischen Quintus Servilius oder gar keiner Heirat. Wenn du hartnäckig bleibst, wirst du niemals heiraten. Du wirst dein Schlafzimmer nicht mehr verlassen, solange du lebst, es wird für dich keine Gesellschaft und keine Zerstreuung geben, nie mehr.« Seine Augen starrten sie an wie zwei kalte, schwarze Steine, ohne jedes Gefühl. »Ich meine, was ich sage, Schwester. Keine Bücher, kein Papier, kein Essen außer Wasser und Brot, kein Bad, kein Spiegel, keine Sklavin, keine sauberen Kleider, kein frisches Bettzeug, kein Kohlenbecken im Winter, keine warmen Decken, keine Schuhe, keine Gürtel oder Bänder, mit denen du dich aufhängen könntest, keine Scheren, mit denen du dir die Nägel oder die Haare schneiden könntest, keine Messer, mit denen du dich erstechen könntest — und falls du das Essen verweigerst, werde ich dich gewaltsam füttern lassen.« Er schnalzte mit den Fingern. Der Verwalter erschien mit einer Eilfertigkeit, die vermuten ließ, daß er gelauscht hatte. »Bring meine Schwester zurück in ihr Zimmer. Morgen früh, bevor ich meine Klienten empfange, möchte ich sie noch einmal sprechen.« Der Verwalter mußte ihr auf die Füße helfen und geleitete sie 502
zur Tür. »Morgen früh erwarte ich deine Antwort«, sagte Drusus. Wortlos führte der Verwalter Livia in ihre Kammer, schloß die Tür und verriegelte sie. Die Dämmerung brach herein. Livia Drusa wußte, daß sie in zwei Stunden von der schwarzen Leere einer langen Winternacht umgeben sein würde. Bis jetzt hatte sie nicht geweint. Die Gewißheit, im Recht zu sein, und eine grenzenlose Empörung hatten sie die ersten drei Tage und Nächte aufrechtgehalten. Danach hatte sie Trost aus den Geschichten geschöpft, die sie über die Leiden und Nöte ihrer Heldinnen gelesen hatte. An der Spitze stand natürlich Penelope, die zwanzig Jahre auf ihren Gatten gewartet hatte, und dann war da noch Danae, die von ihrem Vater in ihrem Schlafzimmer eingesperrt wurde, und Ariadne, die Theseus auf Naxos zurückgelassen hatte... stets hatte es ein glückliches Ende gegeben. Odysseus war nach Hause gekommen, Perseus wurde geboren und Ariadne sogar von einem Gott gerettet... Doch durch die Worte ihres Bruders, die immer noch in ihr nachhallten, wurde ihr allmählich der Unterschied zwischen Literatur und Realität bewußt. Literatur war kein Abbild oder Echo des wahren Lebens, sie sollte das Leben eine Welle ausschließen, die Gedanken vom Alltäglichen befreien, den Geist entspannen in einer Welt berauschender Sprache, lebhaft beschriebener Bilder, großartiger und mitreißender Ideen. Im wahren Leben wäre Penelope vergewaltigt und zur Heirat gezwungen worden. Ihren Sohn hätte man ermordet, und Odysseus wäre niemals heimgekehrt. Danae und ihr Neugeborenes wären in der Truhe auf dem Meer getrieben und schließlich ertrunken. Und Ariadne wäre von Theseus geschwängert worden, dann hätte er sie verlassen, und sie wäre bei der einsamen Geburt gestorben... Würde Zeus in einem goldenen Regen erscheinen, um die lebenslange Gefangenschaft der modernen Römerin Livia Drusa zu erhellen? Würde Dionysos mit seinem von Leoparden gezogenen Streitwagen in ihre kalte Schlafkammer fahren? Oder würde Odysseus seinen Bogen spannen und ihren Bruder und Caepio mit 503
demselben Pfeil töten, mit dem er die sieben Axtschäfte durchbohrt hatte? Nein! Natürlich nicht! Sie alle hatten vor über tausend Jahren gelebt — wenn es sie überhaupt gegeben hatte, wenn sie nicht nur in den unauslöschlichen Zeilen eines großen Dichters existierten. Insgeheim hatte sie sich an den Gedanken geklammert, daß der rothaarige Held auf Ahenobarbus’ Balkon von ihrer Bedrängnis hören, durch das Gitter ihres Gefängnisses eindringen und sie auf eine verzauberte Insel im Meer bringen würde. Sie hatte die entsetzlichen Stunden fortgeträumt und sich ihren Retter vorgestellt, dem Odysseus so ähnlich, so groß, so klug, so erfinderisch und so tapfer wie Odysseus. Das Haus des Marcus Livius Drusus wäre kein Hindernis für ihn, wenn er hörte, daß sie hier gefangengehalten wurde! Aber in dieser Nacht war es anders. Diese Nacht war der wahre Beginn einer Gefangenschaft, die kein glückliches Ende haben würde. Wer wußte denn schon, daß sie gefangen war, außer ihrem Bruder und seinen Sklaven? Und welcher Sklave würde es wagen, sich den Befehlen ihres Bruders zu widersetzen? Wessen Mitleid könnte die Furcht vor Marcus Livius überwiegen? Ihr Bruder war kein grausamer Mensch, aber er war strikten Gehorsam gewohnt. Sie war ihm genauso unterworfen wie die Sklaven und die Hunde, die er in seiner Jagdhütte in Umbrien hielt. Sein Wort war ihr Gesetz, seine Wünsche ihr Befehl. Was sie selbst wollte, war bedeutungslos und existierte nicht außerhalb ihrer Gedanken. Sie fühlte ein Brennen in ihrem linken Auge und dann eine heiße Spur auf der linken Wange. Etwas tropfte auf ihren Handrücken. Das rechte Auge begann zu brennen, und eine Träne lief die andere Wange herunter. Die Tränen fielen häufiger, wie bei einem kurzen Sommerregen, der mit einzelnen Tropfen beginnt und dann immer stärker wird. Livia Drusa weinte, denn ihr Herz brach. Sie wiegte sich vor und zurück, wischte sich die nassen Augen, putzte sich die Nase und weinte wieder. Sie weinte viele Stunden lang, allein mit ihrem Schmerz, gefangen durch den Wunsch ihres Bruders und ihre Weigerung, ihm zu gehorchen. 504
Doch als der Verwalter am nächsten Morgen die Tür entriegelte, saß sie gefaßt und ruhig auf der Bettkante. Sie ging vor ihm aus dem Raum und durchquerte das prächtige Atrium auf dem Weg zum Arbeitszimmer ihres Bruders. »Nun?« fragte Drusus. »Ich werde Quintus Servilius heiraten«, sagte sie. »Gut, aber ich werde noch mehr von dir verlangen, Livia Drusa.« »Ich werde mich bemühen, dir in allem zu gefallen, Marcus Livius«, erwiderte sie ruhig. »Gut.« Er schnalzte mit den Fingern, der Verwalter erschien sofort. »Schicke heißen, gesüßten Wein in das Wohnzimmer von Livia Drusa. Und sage ihrer Dienerin, sie soll ein Bad vorbereiten.« »Ich danke dir.« Sie war sehr blaß. »Es ist mir ein aufrichtiges Vergnügen, dich glücklich zu machen, Livia Drusa — solange du dich wie eine wohlerzogene Römerin verhältst und tust, was man von dir verlangt. Ich erwarte, daß du dich Quintus Servilius gegenüber so benimmst wie jede junge Frau, die sich über ihre Verlobung freut. Du wirst ihm diese Freude zeigen, und du wirst ihm mit unerschütterlicher Achtung, mit Respekt, Interesse und Anteilnahme begegnen. Niemals — auch nicht in der Zurückgezogenheit eures Schlafgemachs — wirst du ihm auch nur den leisesten Hinweis geben, daß er nicht der Gatte deiner Wahl ist. Hast du verstanden?« fragte er streng. »Ich habe verstanden, Marcus Livius«, sagte sie. »Komm mit.« Er nahm sie mit in das Atrium. An einer Wand war ein kleiner Schrein für die Hausgötter, die Laren und Penaten, angebracht. Auf beiden Seiten standen kleine Tempel mit den imagines der berühmten Vorfahren von Livius Drusus. Und hier ließ Drusus seine Schwester einen furchtbaren Eid bei den schrecklichen römischen Göttern schwören. Diese Götter hatten keine Statuen, keine Mythen, keine menschlichen Züge, weder männliche noch weibliche, sie waren Verkörperungen geistiger Eigenschaften. Bei diesen Göttern schwor Livia Drusa, daß sie dem jungen Quintus 505
Servilius Caepio eine warmherzige, liebende Gattin sein würde. Nachdem sie geschworen hatte, entließ er sie in ihr Wohnzimmer, wo der heiße, mit Honig gesüßte Wein und Honigkuchen für sie bereitstanden. Sie trank ein paar Schlucke und spürte sofort die wohltuende Wirkung. Doch essen konnte sie nicht, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie schob die Honigkuchen zur Seite, lächelte ihre Sklavin an und erhob sich. »Ich möchte mein Bad«, sagte sie. An diesem Nachmittag kamen Quintus Servilius Caepio und seine Schwester Servilia Caepionis zum Essen. Sie saßen mit Marcus Livius Drusus und Livia Drusa zusammen und sprachen über die geplanten Hochzeiten. Livia Drusa gehorchte ihrem Eid, doch sie dankte allen Göttern, daß man in ihrer Familie nur selten lächelte. Niemand fand es seltsam, sie so ernst zu sehen, alle waren ernst. Mit leiser Stimme und interessiert unterhielt sie sich mit Caepio, während ihr Bruder mit Servilia Caepionis sprach, und ganz allmählich schwanden Caepios Befürchtungen. Wie hatte er jemals zweifeln können, daß Livia Drusa ihn mochte? Sie wirkte etwas matt von ihrer Krankheit, doch die sanfte Freude, mit der sie Marcus Livius’ Pläne für eine Doppelhochzeit begrüßte, war eindeutig. Marcus wollte die Hochzeit Anfang Mai feiern, bevor Gnaeus Mallius Maximus seinen Marsch über die Alpen begann. Vor der Unglückszeit. Für mich wird immer Unglückszeit sein, dachte Livia Drusa. Aber sie sprach es nicht aus.
Im Juni schrieb Publius Rutilius Rufus einen langen Brief an Gaius Marius. Die Nachricht von Jugurthas Gefangennahme war zu dieser Zeit noch nicht nach Rom gedrungen. Wir hatten einen harten Winter, und der Frühling brachte Angst und Schrecken. Die Germanen sind auf dem Weg, sie ziehen entlang der Rhône nach Süden. Wir erhielten dringliche Schreiben von unseren gallischen Verbündeten, den Häduern. Sie be506
richteten, daß ihre ungebetenen Gäste, die Germanen, weiterziehen wollten. Im April kam dann die erste Abordnung und erzählte, wie die Germanen die Kornspeicher der Häduer und der Ambarrer geplündert hatten. Die Gallier glaubten jedoch, Spanien sei Ziel der Germanen, und einige Senatoren, die die Bedrohung herunterspielen wollten, haben diese Neuigkeiten gleich verbreitet. Zum Glück gehören Scaurus und Gnaeus Domitius Ahenobarbus nicht zu dieser Sorte. Kurz nachdem Gnaeus Mallius und ich unsere Ämter als Konsuln übernommen hatten, bildete sich im Senat eine starke Fraktion, die darauf drängte, eine schlagkräftige Armee für Notfälle zu rekrutieren. Gnaeus Mallius wurde beauftragt, sechs neue Legionen aufzustellen. Rutilius Rufus verkrampfte sich, als hätte er eine der heftigen Reden von Gaius Marius abzuwehren, und lächelte reuevoll. Ja, ja, ich weiß! Zügle Dein Temperament, Gaius Marius, und laß mich die Sache erklären, bevor Du anfängst, auf meinem armen Kopf herumzutanzen! Es wäre eigentlich mein Recht gewesen, diese neue Armee aufzustellen und zu kommandieren, dessen bin ich mir wohl bewußt. Ich bin der erste Konsul, ich habe eine lange und sehr erfolgreiche militärische Laufbahn hinter mir. Seit mein Handbuch für die Ausbildung der Soldaten veröffentlicht wurde, bin ich sogar fast so etwas wie eine Berühmtheit. Mein Mitkonsul Gnaeus Mallius hingegen hat so gut wie keine Erfahrung. Nun, es liegt vor allem an Dir! Meine Verbindung zu Dir ist allgemein bekannt, und Deine Feinde im Senat würden Rom lieber in einer germanischen Flutwelle ertrinken lassen, als Dich oder einen Deiner Anhänger zu Hilfe zu rufen. Also hat sich Metellus Schweinebacke Numidicus stark gemacht und eine großartige Rede geschwungen. Er meinte, ich sei viel zu alt, ich könne keine Armee mehr führen. Meine unleugbaren Talente würden besser genutzt, wenn ich in Rom bliebe und regierte. Sie folgten ihm wie Schafe, die zur Schlachtbank geführt werden, und erließen alle notwendigen Anordnungen. Ich höre Dich fragen, warum ich 507
nichts dagegen unternommen habe. Nun, Gaius Marius, ich bin nicht wie Du! Ich habe nun einmal nicht diesen zerstörerischen Haß auf sie und auch nicht Deine unermüdliche Energie. Also ließ ich es damit bewenden, daß ich darauf bestand, Gnaeus Mallius ein paar fähige und erfahrene Legaten zur Seite zu stellen. Zumindest das wurde beschlossen. Er hat Marcus Aurelius Scaurus zur Unterstützung — ja, Du hast richtig gelesen, Aurelius, nicht Aemilius. Außer dem cognomen hat er nichts mit dem ehrenwerten Senatsvorsitzenden gemeinsam. Aber ich vermute, daß seine militärischen Fähigkeiten weit besser sind als die des berühmten Scaurus. Zumindest hoffe ich es für Rom und Gnaeus Mallius! Alles in allem hat Gnaeus Mallius seine Sache bis jetzt ganz gut gemacht. Er hat nach dem Vorbild Deiner africanischen Armee eine Proletarierarmee rekrutiert. Im April erhielten wir die Nachricht, daß die Germanen südwärts ziehen, und da hatte Gnaeus Mallius bereits sechs Legionen aufgestellt, alles römische oder italische capite censi. Dann kam eine Abordnung der Häduer, und zum ersten Mal hörten wir genauere Zahlen über diese Völkerwanderung. Die 250 000 Germanen, die Lucius Cassius in Aquitanien geschlagen haben, sind höchstens ein Drittel. Die Häduer sagen, daß ungefähr 800 000 germanische Krieger, Frauen und Kinder auf dem Weg zur Mittelmeerküste sind. Unvorstellbar, nicht wahr? Der Senat gab Gnaeus Mallius die Befugnis, vier weitere Legionen aufzustellen, insgesamt also zehn Legionen und 5 000 Reiter. Die Nachricht von der riesigen Zahl der Germanen hat sich natürlich in Windeseile in ganz Italien verbreitet, obwohl der Senat beschwichtigte, wo er nur konnte. Überall herrschen Angst und Schrecken, vor allem, weil wir bis jetzt noch keine einzige Schlacht gegen die Germanen gewonnen haben. Seit Carbo haben wir nur Niederlagen erlebt. Immer mehr Leute, vor allem einfache Leute, werden ungeduldig. Sie glauben uns nicht mehr, daß sechs gute römische Legionen ohne weiteres eine viertel Million undisziplinierter Barbaren besiegen könnten, sondern halten diese Behauptung für pure merda. Ich sage Dir, Gaius Marius, ganz Italien 508
hat Angst, und ich zumindest kann Italien verstehen. Einige unserer italischen Verbündeten haben ihre Haltung geändert und stellen nun freiwillig Truppen zur Verfügung — aufgrund dieser Bedrohung, nehme ich an. Die Samniten haben eine Legion leichtbewaffneter Fußsoldaten geschickt, die Marser eine wundervolle Legion Fußsoldaten, die alle nach römischem Standard ausgerüstet sind, und dann ist da noch eine gemischte Hilfslegion mit Männern aus Umbrien, Etrurien und Picenum. Du kannst Dir vorstellen, wie zufrieden unsere Senatoren sind — immerhin werden drei der vier zusätzlichen Legionen von den italischen Verbündeten bezahlt und unterhalten. Alles schön und gut. Aber es gibt auch große Schwierigkeiten. Wir haben einfach nicht mehr genug Zenturionen, und das bedeutet, daß keine der neu verpflichteten Truppen eine gründliche Einweisung erhalten hat. Die eine zusätzliche Freiwilligenlegion ist nur so zusammengestückelt und hat keine Ahnung von Kriegführung. Gnaeus Mallius ist dem Vorschlag seines Legaten Aurelius gefolgt und hat die erfahrenen Zenturionen auf seine sieben Legionen verteilt. Also haben wir nun in jeder Legion ungefähr vierzig Prozent kampferfahrene Zenturionen. Militärtribunen hin oder her, ich muß Dir nicht erklären, daß es die Zenturionen sind, die die Kohorten zusammenhalten. Offen gesagt, ich fürchte, daß Gnaeus Mallius scheitern wird. Er ist kein schlechter Mann, doch ich bezweifle stark, daß er den Germanen gewachsen ist. Er selbst hat während einer Senatssitzung Ende Mai gesagt, er könne nicht garantieren, daß jeder Mann in seiner Armee wisse, was er auf dem Schlachtfeld zu tun habe! Es gibt immer Männer in einer Armee, die nicht wissen, was sie auf dem Schlachtfeld tun sollen. Aber man stellt sich doch nicht vor den Senat und sagt es laut und deutlich! Und was tat der Senat? Er sandte einen Befehl an Quintus Caepio in Narbo, er solle sich mit seiner Armee in Marsch setzen und sich an der Rhône mit den Truppen von Gnaeus Mallius vereinigen. Dieses eine Mal zögerte der Senat nicht — ein berittener Kurier überbrachte die Nachricht in weniger als zwei Wo509
chen. Und Quintus Caepio zögerte nicht zu antworten. Gestern kam seine Erwiderung, und was für eine! Natürlich enthielt die Botschaft des Senats auch die Anweisung an Quintus Servilius, sich dem Oberbefehl des diesjährigen Konsuls Gnaeus Mallius zu unterstellen. Alles ganz normal und üblich. Der Konsul des letzten Jahres kann prokonsularische Befugnisse haben, doch der amtierende Konsul hat den Oberbefehl. Aber Quintus Caepio war entschieden anderer Meinung! Wie sei der Senat nur auf die Idee gekommen, daß er, ein Patrizier aus dem Hause Servilius, ein Nachfahre des großen Gaius Servilius Ahala, des Retters von Rom, sich einem Emporkömmling unterordnen werde? Einem Mann, der nicht einmal eine einzige Wachsmaske in seinem Ahnenschrein habe? Einem Mann, der nur zum Konsul gewählt worden sei, weil niemand von besserer Abkunft zur Verfügung gestanden habe? Letztes Jahr, dem Jahr seiner eigenen Wahl, sei das Aufgebot an Bewerbern respektabel gewesen, doch in diesem Jahr habe es nur zu einem alten, nicht sehr vornehmen Konsul gereicht — damit bin ich gemeint — und zu einem überheblichen Emporkömmling — Gnaeus Mallius. Also, schloß Quintus Caepio, werde er sich sofort auf den Weg zur Rhône machen. Dort erwarte er, einen Kurier des Senats vorzufinden mit der Nachricht, daß man ihm, Quintus Caepio, den Oberbefehl über das Unternehmen übertragen habe. Wenn Gnaeus Mallius ihm unterstellt sei, so Quintus Caepio, werde alles einwandfrei klappen. Rutilius Rufus’ Hand begann zu schmerzen. Er legte den roten Stift mit einem Seufzer nieder und massierte sich die Finger. Seine Augenlider wurden schwer, und dann fiel sein Kopf nach vorne — er hielt ein Nickerchen. Als er nach einer Welle mit einem Ruck wieder erwachte, fühlte er sich besser und schrieb weiter. Was für ein langer Brief! Doch niemand sonst wird Dir so genau berichten, was sich ereignet hat, und es ist wichtig, daß Du Bescheid weißt. Quintus Caepios Brief war an den Senatsvor510
sitzenden Scaurus gerichtet, nicht an mich. Und Du kennst ja unseren geliebten Marcus Aemilius Scaurus! Er las den ganzen schrecklichen Brief dem Senat vor, mit allen Zeichen größter Freude. Er hat es sichtlich genossen! Na, das war eine Aufregung im Senat. Rote Gesichter, fuchtelnde Fäuste, Gnaeus Mallius und Metellus Schweinebacke Numidicus gerieten sich so in die Haare, daß ich die Liktoren aus der Vorhalle herbeirufen ließ — was Scaurus überhaupt nicht paßte. Oh, welch ein Tag, beim Mars! Schade, daß wir die ganze heiße Luft nicht in Flaschen füllen und die Germanen damit einfach wegpusten können. Die giftigste Waffe, die Rom zu bieten hat! Das Ergebnis dieser bewegten Sitzung war, daß tatsächlich ein berittener Kurier am Ufer der Rhône auf Quintus Caepio warten wird — mit genau den Befehlen, die bereits in der ersten Botschaft standen. Quintus Caepio hat sich dem Oberbefehl des rechtmäßig gewählten Konsuls, Gnaeus Mallius Maximus, zu unterstellen. Warum mußte sich dieser Narr ausgerechnet einen cognomen wie Maximus aussuchen? Das ist ein bißchen so, als würdest Du Dir selbst einen Graskranz verleihen, nachdem Deine Männer Dir das Leben gerettet haben. Und ich fühle mich wie ein Schlachtpferd auf der Weide. Es juckt mich in allen Fingern, an Gnaeus Mallius’ Stelle zu sein. Statt dessen bin ich mit weltbewegenden Fragen geplagt wie: Können wir es uns leisten, den staatlichen Kornspeichern dieses Jahr einen neuen Innenanstrich zu geben, nachdem wir sieben Legionen auszurüsten hatten? Kannst Du Dir vorstellen, daß der Senat acht Tage über diese Frage beraten hat, während ganz Rom vor den Germanen zittert? Manchmal könnte man aus der Haut fahren! Aber ich habe eine Idee, und ich werde sie in die Tat umsetzen, ob wir siegen oder verlieren in Gallien. Auch wenn nicht ein Mann in ganz Italien übrigbleibt, den man nur den Schuhabstreifer eines Zenturios nennen könnte, ich werde Ausbilder für Drill- und Kampfübungen von den Gladiatorenschulen holen. In Capua gibt es hervorragende Gladiatorenschulen. Wenn man 511
bedenkt, daß Capua ohnehin als Lager für alle neu angeworbenen Truppen dient, kann man es doch gar nicht bequemer haben. Und wenn Lucius Gernegroß dann nicht mehr genug Gladiatoren bekommt für eine gute Vorstellung zum Begräbnis seines Großvaters — Pech für ihn! Rom braucht die Gladiatoren dringender als Lucius Gernegroß, denke ich! Aus meinem Plan kannst Du schon ersehen, daß ich weiterhin Besitzlose rekrutieren will. Ich werde Dich auf dem laufenden halten. Wie geht es im Land der Lotusesser, der Sirenen und verzauberten Inseln? Hast Du Jugurtha immer noch nicht in Fußeisen gelegt? Nun, es wird bestimmt nicht mehr lange dauern, das wette ich. Metellus Schweinebacke Numidicus ist gerade ein wenig unentschlossen, ob er sich nun ganz der Hatz auf Dich oder auf Gnaeus Mallius widmen soll. Er hielt natürlich eine großartige Rede und unterstützte Quintus Caepio Ernennung zum Oberbefehlshaber. Es war mir ein außerordentliches Vergnügen, seine Sache mit ein paar gezielten Spitzen zu Fall zu bringen. Bei den Göttern, Gaius Marius, sie ermüden mich! Sie blasen sich mit den Heldentaten ihrer Vorfahren auf, während Rom so dringend ein lebendes militärisches Genie braucht! Beeil Dich und komm heim, ja? Wir brauchen Dich. Ich kann nicht allein mit dem ganzen Senat fertig werden, es geht über meine Kräfte. Der Brief hatte noch ein Postskriptum: Es gab übrigens ein paar merkwürdige Vorfälle in der Campania. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, aber es gefällt mir nicht. Anfang März brach ein Sklavenaufstand in Nuceria los. Nichts Großes, er wurde ohne Schwierigkeiten niedergeschlagen. Doch vor drei Tagen brachen weitere Unruhen aus, dieses Mal in einem großen Lager außerhalb von Capua. In dem Lager befanden sich männliche Sklaven der unteren Klasse, die für Arbeiten auf den Werften, in Steinbrüchen oder in Tretmühlen bestimmt waren. Beinahe zweihundertfünfzig Sklaven beteiligten sich. Der Aufstand wurde im Keim erstickt, da außerhalb von Capua einige neu rekrutierte 512
Kohorten stationiert waren. Ungefähr fünfzig Aufrührer wurden im Kampf getötet, der Rest auf der Stelle hingerichtet. Dennoch, es gefällt mir nicht, Gaius Marius. Es ist ein Omen. Die Götter sind gegen uns, ich spüre es in meinen Knochen. Und ein zweites Postskriptum: Ich habe noch eine traurige Nachricht für Dich, Gaius Marius, von der ich selbst eben erst erfahren habe. Dein geliebter Schwiegervater, Gaius Julius Caesar, ist heute nachmittag gestorben. Wie Du weißt, litt er an einer bösartigen Geschwulst in der Kehle. Heute nachmittag hat er sich in sein eigenes Schwert gestürzt. Ich bin sicher, Du stimmst mir zu, daß er den besten Weg gewählt hat. Kein Mann sollte weiterleben, wenn er seinen Lieben zur Last fällt, vor allem, wenn er nicht mehr in dignitas und menschlicher Würde leben kann. Gibt es einen unter uns, der lieber leben als sterben würde, wenn er in seinen Exkrementen liegen oder sich von einem Sklaven die Exkremente abwischen lassen müßte? Nein, wenn ein Mann keine Gewalt mehr über seinen Darm oder über seinen Magen hat, ist es Zeit, Schluß zu machen. Ich glaube, Gaius Julius wäre früher gegangen, wenn er sich nicht um seinen jüngeren Sohn gesorgt hätte. Aber kürzlich hat sein Sohn geheiratet. Ich habe Gaius Julius vor zwei Tagen besucht, und er hat mir durch dieses würgende Ding in seiner Kehle hindurch zugeflüstert, daß die schöne Aurelia — mein Liebling, wie ich zugeben muß — die richtige Frau für seinen Sohn sei. Und so heißt es: ave atque vale, Gaius Julius Caesar.
In den letzten Junitagen machte sich der Konsul Gnaeus Mallius Maximus auf den langen Marsch nach Nordwesten. Seine beiden Söhne waren seinem persönlichen Stab zugeteilt, die vierundzwanzig gewählten Militärtribunen wurden auf die sieben der insgesamt zehn Legionen verteilt, die Rom gestellt hatte und unterhielt. Sextus Julius Caesar, Marcus Livius Drusus und der 513
junge Quintus Servilius Caepio marschierten mit ihm, Quintus Sertorius diente als stellvertretender Militärtribun. Von den drei Legionen der italischen Verbündeten waren die Marser am besten ausgebildet und am kampffreudigsten — darin übertrafen sie sogar die Römer. Befehligt wurden die Marser von dem fünfundzwanzigjährigen Sohn eines marsischen Adligen, Quintus Poppaedius Silo, der natürlich der Aufsicht eines römischen Legaten unterstellt war. Mallius Maximus hatte darauf bestanden, Kornvorräte für zwei Monate mitzunehmen, und so war der Troß ungeheuer groß und kam nur sehr langsam voran. Nach sechzehn Tagen hatte das Heer noch nicht einmal den umbrischen Ort Fanum Fortunae am adriatischen Meer erreicht. Der Legat Aurelius mußte lange auf Mallius Maximus einreden, bis dieser sich entschloß, mit neun Legionen, der Kavallerie und leichter Ausrüstung vorauszuziehen. Bis zur Rhône würden die Truppen schon nicht verhungern. Eine Legion bewachte den Troß und kam langsam hinterher. Quintus Servilius Caepio hatte den kürzeren Weg auf leichterem Gelände und erreichte den riesigen Fluß lange vor Mallius Maximus. Er führte nur sieben seiner acht Legionen mit sich und keine Kavallerie. Die achte Legion hatte er auf dem Seeweg nach Hispania Citerior gesandt und die Kavallerie als unnötige Ausgabe schon im Jahr zuvor aufgelöst. Trotz der Befehle vom Senat und trotz des Drängens seiner Legaten wollte er in Narbo unbedingt noch einen wichtigen Brief aus Smyrna abwarten. Seine Laune war ausgesprochen schlecht — wenn er nicht gerade über die Langsamkeit der Verbindung mit Smyrna klagte, beschwerte er sich über die Taktlosigkeit des Senats, der ihn unter den Oberbefehl einer Laus wie Mallius Maximus stellen wollte. Am Ende mußte er ohne seinen Brief marschieren. Natürlich ließ er ausführliche Anordnungen zurück, auf welchem Weg ihm der Brief unverzüglich nachzusenden sei. Trotz dieser Verzögerungen erreichte Caepio den Zielort lange vor Mallius Maximus. In Nemausus, einer kleinen Handelsstadt im Rhônedelta, wurden ihm von einem Kurier des Senats die 514
neuen Befehle ausgehändigt. Nicht im Traum war es Caepio in den Sinn gekommen, sein Brief an die Senatoren könnte nicht die gewünschte Wirkung zeigen. Als er nun die Antwort gelesen hatte, tobte er. Unmöglich! Unerträglich! Er, ein Patrizier aus dem Hause Servilius, sollte den Launen des Emporkömmlings Mallius Maximus unterworfen sein? Niemals! Die römischen Kundschafter meldeten, daß die Germanen südwärts durch das Gebiet der Allobroger zogen. Die Allobroger waren unversöhnliche Feinde Roms, doch nun befanden sie sich in einer Zwickmühle — die Römer waren zwar Feinde, doch man kannte sie, während die Germanen eine unbekannte Gefahr darstellten. Und die Druiden machten bereits seit zwei Jahren jedem Stamm klar, daß es in Gallien kein Land für die Germanen gab. Die Allobroger hatten nicht vor, einen Teil ihres Gebietes an die Germanen abzutreten, die ihnen zahlenmäßig so weit überlegen waren. Außerdem hatten sie von den Häduern und den Ambarrern gehört, was für Verwüstungen die Germanen bei ihnen angerichtet hatten. So verschanzten sich die Allobroger in den Ausläufern ihrer geliebten Alpen und setzten den Germanen zu, wo immer sie konnten. Ende Juni stießen die Germanen nördlich des Handelspostens Vienna in die römische Provinz Gallia Transalpina vor und zogen von dort ungehindert weiter — eine unübersehbare Masse, bestehend aus achthunderttausend Menschen, die sich die Rhône entlangwälzte. Dabei blieben sie auf dem Ostufer, denn hier waren die Ebenen weiter und sicherer und Angriffe der wilden Hochlandstämme Galliens unwahrscheinlicher. Nachdem Caepio davon erfahren hatte, verließ er die Via Domitia bei Nemausus. Anstatt die Sümpfe des Rhônedeltas auf dem langen Damm zu überqueren, den Ahenobarbus gebaut hatte, zog er am Westufer der Rhône entlang und hatte so den Fluß zwischen sich und den Germanen. Es war inzwischen Mitte des Monats Sextilis. Von Nemausus aus hatte Caepio einen Eilkurier mit einem 515
neuen Brief an Scaurus nach Rom geschickt. Er erklärte, daß er keine Befehle von Mallius Maximus entgegennehmen werde, und damit Schluß. Der einzige Weg, den er danach einschlagen konnte, war der am Westufer der Rhône. Am Ostufer der Rhône, ungefähr vierzig Meilen nördlich von dem Punkt, an dem die Via Domitia die Rhône überquerte, befand sich eine römische Handelsstadt von einiger Bedeutung, ihr Name war Arausio. Am Westufer, zehn Meilen nördlich von Arausio, ließ Caepio ein Lager für seine vierzigtausend Soldaten und seine fünfzehntausend Männer vom Troß errichten. Hier wartete er auf Mallius Maximus, der am anderen Ufer auftauchen sollte — und auf eine Antwort des Senats auf seinen letzten Brief. Mallius Maximus kam Ende des Monats Sextilis, vor der Antwort des Senats. Er errichtete ein stark befestigtes Lager für fünfundfünfzigtausend Soldaten und dreißigtausend nichtkämpfende Männer direkt am Ufer der Rhône. Der Fluß war damit zugleich Teil der Verteidigungsanlage und Wasserreservoir. Marcus Mallius betrachtete das Gebiet nördlich des Lagers als ideales Schlachtfeld, den Fluß als besten Schutzwall. Das war sein erster Fehler. Den zweiten beging er, als er die fünftausend Mann starke Kavallerie vom Lager abtrennte und dreißig Meilen nördlich stationierte. Der dritte Fehler bestand darin, daß er seinen fähigsten Legaten, Aurelius, als Kommandanten der Kavallerie abstellte. Alle diese Fehler ergaben sich aus Mallius Maximus’ vermeintlich großartigem Plan. Aurelius und die Kavallerie sollten den Vormarsch der Germanen allein durch ihre Anwesenheit bremsen, denn Mallius Maximus wollte die Germanen mit römischer Waffentechnik einschüchtern, er wollte verhandeln, nicht kämpfen. Er wollte die Germanen dazu bewegen, sich freiwillig ins Innere Galliens zurückzuziehen. Alle früheren Schlachten zwischen Germanen und Römern hatten die Römer begonnen, und zwar immer dann, wenn die Germanen Anstalten machten, das römische Territorium friedlich zu verlassen. So hegte Mallius Maximus große Hoffnungen für seinen Plan, und die Hoffnungen waren nicht ganz unbegründet. 516
Als erstes jedoch mußte er Caepio dazu bewegen, vom Westufer zum Ostufer überzusetzen. Mallius Maximus war immer noch aufgebracht über Caepios beleidigenden Brief, den Scaurus im Senat verlesen hatte. So fiel sein schriftlicher Befehl an Caepio denkbar knapp und unfreundlich aus: Setze über den Fluß und begib Dich in mein Lager, und zwar sofort! Er ließ die Botschaft von ein paar Ruderern über den Fluß bringen, das war der direkteste Weg. Caepio gab den Ruderern seine Antwort gleich mit. In derselben eisigen Kürze schrieb er, daß er, ein Patrizier aus dem Hause Servilius, von so einer Laus, wie ein anmaßender Händler es sei, keine Befehle entgegennehmen werde. Er werde bleiben, wo er sei, nämlich am Westufer. Und so erging der nächste Befehl von Mallius Maximus: Als Dein Vorgesetzter wiederhole ich meinen Befehl: Laß Dich mit Deiner Armee sofort, ohne die geringste Verzögerung, über den Fluß setzen. Das ist meine letzte Anweisung. Solltest Du Dich weiterhin widersetzen, werde ich gerichtliche Schritte gegen Dich in Rom einleiten. Die Anklage wird auf Hochverrat lauten. Caepio antwortete in ähnlich kampflustigem Tonfall: Ich erkenne Dich nicht als Oberbefehlshaber an. Zögere nicht, mich wegen Hochverrat anzuklagen. Ich werde gegen Dich auf jeden Fall Anklage wegen Hochverrat erheben. Da wir beide wissen, wer gewinnen wird, fordere ich Dich auf, mir den Oberbefehl sofort zu übergeben. Die Antwort von Mallius Maximus stand dieser Aufforderung an Arroganz nicht nach. Und so ging es fort bis in die zweite Hälfte des Septembers. Dann kamen sechs Senatoren aus Rom an, vollkommen erschöpft von der langen und unbequemen Reise, die sie in höchster Eile unternommen hatten. Rutilius Rufus, der in Rom verbliebene Konsul, hatte seinen Plan, Senatoren zu Caepio und 517
Mallius Maximus zu schicken, nach etlichen Mühen endlich durchsetzen können, aber Scaurus und Metellus Numidicus war es gelungen, der Abordnung die Zähne zu ziehen — kein Konsular befand sich unter den Senatoren, und keiner hatte nennenswerten politischen Einfluß. Der Ranghöchste war ein einfacher Prätor von niederem Adel, Rutilius Rufus’ Schwager Marcus Aurelius Cotta. Zumindest Cotta hatte einige Stunden nach ihrer Ankunft begriffen, wie schwierig und verfahren die Lage war. Cotta machte sich mit großem Schwung und einer Leidenschaft an die Arbeit, die ihm normalerweise fremd war. Er konzentrierte sich auf Caepio, aber Caepio blieb unzugänglich. Nach einem Besuch im Lager der Kavallerie, dreißig Meilen nördlich, ging Cotta mit doppelter Energie zu Werke, denn der Legat Aurelius hatte ihn auf Schleichwegen auf einen hohen Hügel geführt, von dem aus man die Spitze der heranrollenden Masse der Germanen sehen konnte. Cotta schaute hinab und wurde blaß. »Ihr müßtet alle im Lager von Gnaeus Mallius sein«, sagte er. »Wenn Gnaeus Mallius auf einen Kampf hinauswollte, ja«, antwortete Aurelius ganz ruhig. Er hatte den Vormarsch der Germanen seit Tagen beobachtet und war an den Anblick gewöhnt. »Gnaeus Mallius meint, wir könnten an frühere diplomatische Erfolge anschließen. In der Vergangenheit haben die Germanen nur gekämpft, wenn wir sie dazu gezwungen haben. Aber diesmal wollen wir nicht kämpfen. Und ich bin sicher, daß sie auch nicht anfangen werden. Ich habe ein paar fähige Übersetzer hier, und seit Tagen trichtere ich ihnen ein, was ich sagen will, wenn die Germanen ihre Häuptlinge zu uns schicken. Ich bin sicher, daß die Germanen verhandeln werden, wenn sie sehen, daß eine riesige römische Armee auf sie wartet.« »Aber das wissen sie doch bestimmt!« »Das bezweifle ich«, meinte Aurelius gelassen. »Sie rücken nicht in militärischer Ordnung vor. Ich bin mir nicht sicher, ob sie überhaupt wissen, was Kundschafter sind, jedenfalls haben sie noch nie welche ausgesandt. Sie... wälzen sich einfach vorwärts!« 518
Cotta wandte sein Pferd um. »Ich muß sofort zurück zu Gnaeus Mallius. Wir müssen diesen starrköpfigen Idioten Caepio dazu bewegen, über den Fluß zu setzen. Dort drüben nützt er uns nichts.« »Da stimme ich dir vollkommen zu«, erwiderte Aurelius. »Ich möchte dich jedoch um eines bitten, Marcus Aurelius. Komm sofort zurück, wenn ich dir melden lasse, daß germanische Unterhändler da sind. Bring deine fünf Kollegen mit! Die Germanen werden davon beeindruckt sein, daß sechs römische Senatoren den weiten Weg gekommen sind, um mit ihnen zu verhandeln.« Er grinste sarkastisch. »Wir werden ihnen bestimmt nicht verraten, daß sechs römische Senatoren den weiten Weg gemacht haben, um mit unseren verbohrten Feldherren zu verhandeln!«
Der starrköpfige Idiot Caepio war seltsamerweise besserer Laune, als er sich am nächsten Tag über die Rhône rudern ließ. Bereitwillig hörte er Cotta an. »Woher die plötzliche Heiterkeit, Quintus Servilius?« fragte Cotta verwirrt. »Ich erhielt gerade einen Brief aus Smyrna, auf den ich Monate gewartet habe.« Doch anstatt zu erklären, wie dieser Brief zu seiner Aufheiterung beigetragen hatte, wurde Caepio sachlich. »Einverstanden«, sagte er und wies mit einem Stab aus Elfenbein, der mit einem goldenen Adler verziert war, auf die Karte. Den Stab trug er, um den hohen Rang seiner Befehlsgewalt zu unterstreichen. Er hatte immer noch nicht zugestimmt, mit Mallius Maximus selbst zu reden. »Hier werde ich übersetzen.« »Wäre es nicht klüger, die Rhône im Süden von Arausio zu überqueren?« fragte Cotta zweifelnd. »Bestimmt nicht! Wenn ich im Norden übersetze, bin ich näher bei den Germanen.« Und dabei blieb Caepio. Am nächsten Morgen räumte er sein Lager und marschierte zu einer Furt, die sich zwanzig Meilen nördlich von Mallius Maximus’ Lager befand, zehn Meilen süd519
lich vom Lager der Kavallerie. Cotta und die fünf anderen Senatoren befanden sich auf dem Weg zu Aurelius Lager, denn sie wollten dort sein, wenn die germanischen Häuptlinge zu Verhandlungen erschienen. Unterwegs stießen sie auf Caepios Armee, und bei dem Anblick stockte ihnen das Blut in den Adern. Der größte Teil der Armee war bereits am Ostufer und arbeitete daran, ein stark befestigtes Lager zu errichten. »Oh, Quintus Servilius, hier kannst du doch nicht bleiben!« rief Cotta, als sie ihn endlich auf einer Hügelkuppe oberhalb des neuen Lagers gefunden hatten. Unten eilten kleine Figuren hin und her, hoben Gräben aus und errichteten Wälle. »Warum nicht?« fragte Caepio und zog die Augenbrauen hoch. »Weil zwanzig Meilen südlich von hier bereits ein Lager errichtet ist — groß genug, um deine Legionen nebst den zehn, die schon dort sind, aufzunehmen! Dort mußt du hin, Quintus Servilius! Hier bist du zu weit von Aurelius und Gnaeus Mallius entfernt, als daß du ihnen helfen könntest — oder sie dir! Bitte, Quintus Servilius! Errichte hier ein normales Lager für die Nacht und marschiere morgen zu Gnaeus Mallius!« sagte Cotta und legte seine ganze Überzeugungskraft in seine Worte. »Ich habe gesagt, daß ich den Fluß überqueren werde, aber ich habe nicht gesagt, was ich danach tun werde! Ich habe sieben Legionen, hervorragend ausgebildete, erfahrene Soldaten. Und nicht nur das, sie sind keine Besitzlosen, sondern echte römische Soldaten! Glaubst du wirklich, ich würde das Lager mit diesem römischen und italischen Pöbel teilen? Mit kleinen Pächtern und Tagelöhnern, Männern, die weder lesen noch schreiben können? Eher würde ich sterben, Marcus Cotta!« »Das liegt durchaus im Bereich des Möglichen«, meinte Cotta trocken. »Weder meine Armee noch ich werden sterben«, erwiderte Caepio verbissen. »Ich bin hier zwanzig Meilen nördlich von Gnaeus Mallius und seinem ekligen Pöbel. Das bedeutet, daß die Germanen zuerst auf mich treffen. Und ich werde sie schlagen, 520
Marcus Cotta! Selbst eine ganze Million Barbaren kann sieben echte römische Legionen nicht besiegen! Und dieser — dieser billige Händler Mallius soll den Ruhm einheimsen? Nie! Quintus Servilius Caepio wird seinen zweiten Triumphzug durch die Straßen Roms erleben! Mallius wird sich mit dem Zuschauen begnügen müssen.« Cotta beugte sich in seinem Sattel vor und umklammerte Caepios Arm. »Quintus Servilius«, sagte er beschwörend, »ich flehe dich an, vereinige deine Kräfte mit Gnaeus Mallius! Kommt es darauf an, wer gewinnt, solange Rom gewinnt? Das ist kein kleiner Grenzkrieg gegen ein paar Skordisker, keine unbedeutende Auseinandersetzung mit den Lusitanern! Wir werden die größte und beste Armee brauchen, die Rom je aufgestellt hat. Gnaeus Mallius’ Armee hatte nicht so viel Zeit, an den Waffen zu üben, wie deine Männer. Deine Männer werden ihnen im Kampf zeigen, was zu tun ist. Und ich sage dir mit allem Nachdruck, es wird eine Schlacht geben! Egal, wie sich die Germanen in der Vergangenheit verhalten haben, diesmal wird es zur Schlacht kommen. Sie haben unser Blut gerochen und wollen mehr, sie haben unsere Stärke erprobt und uns schwach gefunden. Rom ist in Gefahr, Quintus Servilius! Bitte, ändere deine Meinung! Marschiere morgen zu Gnaeus Mallius’ Lager und vereinige deine Armee mit seiner.« Caepio trieb sein Pferd an und ließ Cotta stehen. »Nein«, rief er. »Ich bleibe hier.« So ritten Cotta und die anderen Senatoren weiter nach Norden zum Lager der Kavallerie, während Caepio sein Lager am Flußufer errichtete, kleiner als das Lager von Mallius Maximus, ansonsten jedoch ein genaues Abbild. Die Senatoren trafen gerade zur rechten Zeit bei Aurelius ein, denn kurz nach Sonnenaufgang am nächsten Tag kamen die germanischen Unterhändler. Ungefähr fünfzig Männer sind es, alle im Alter zwischen vierzig und sechzig, dachte Cotta, der noch nie so große Männer gesehen hatte. Keiner war weniger als sechs Fuß groß, die meisten sogar größer. Auch ihre Pferde waren unge521
wöhnlich groß und für römische Vorstellungen ziemlich zottig und verfilzt. Die riesigen Hufe waren mit Fell bedeckt, über die sanften Augen fielen lange Mähnen, keines trug einen Sattel, doch alle waren aufgezäumt »Ihre Pferde sehen aus wie Kriegselefanten«, bemerkte Cotta. »Nur ein paar von ihnen«, erwiderte Aurelius ungerührt. »Die meisten reiten normale gallische Pferde. Diese Männer hier können sich ihre Tiere aussuchen, vermute ich.« »Schau dir den an, den jüngeren dort!« rief Cotta aus und wies mit dem Kopf auf einen Mann, nicht älter als dreißig, der gerade vom Rücken seines Pferdes glitt. Seine Haltung war ausgesprochen selbstbewußt, während er seine Umgebung mit überlegener Gelassenheit musterte. »Achilles«, meinte Aurelius. »Ich dachte, die Germanen würden nackt gehen bis auf einen Umhang«, sagte Cotta und betrachtete die ledernen Beinkleider. »In Germanien gehen sie wohl tatsächlich nackt, aber die Germanen, die ich bisher gesehen habe, haben Hosen getragen wie die Gallier.« Hosen trugen sie alle, doch in der Sommerhitze keine Hemden. Viele waren mit breiten goldenen Ketten geschmückt, die die halbe Brust bedeckten. An Schwertgurten hingen die leeren Scheiden für ihre Langschwerter, ebenfalls reich mit Gold verziert. Überall trugen die Germanen Gold — Halsketten aus Gold, Armbänder aus Gold, goldbesetzte Helme, Gold an Schwertscheiden und Gürteln. Cotta konnte den Blick nicht von ihren Helmen wenden: Randlos, in der Form Schüsseln ähnlich, waren sie über den Ohren mit großartigen Hörnern geschmückt oder mit Flügeln oder kleinen Röhren, aus denen Federn ragten. Andere sahen aus wie Schlangen- oder Drachenköpfe oder schreckliche. Vögel, ja sogar Wildkatzen mit aufgerissenem Rachen waren vertreten. Keiner der Männer hatte einen Bart, und die langen, blonden Haupthaare hingen geflochten oder lose über die Schultern. Die Brust war bei den meisten nur spärlich behaart. Ihre Haut war nicht so rosa wie die Haut der Kelten, dachte Cotta, eher blaß522
golden. Auch konnte er weder rotes Haar noch Sommersprossen entdekken. Die Augen waren hellblau, keine Spur von Grau oder Grün. Selbst die Älteren wirkten kräftig und durchtrainiert, sie hatten kein Ansatz von Fettleibigkeit und keine schlaffe Haut. Die Römer wußten allerdings nicht, daß die Germanen erbarmungslos alle Männer töteten, die sich gehenließen. Die Verhandlungen wurden mit Hilfe von Aurelius’ Dolmetschern geführt, die meisten waren Häduer oder Ambarrer, zwei oder drei auch Germanen, die Carbo gefangengenommen hatte, bevor er bei Noricum besiegt wurde. Die germanischen Häuptlinge erklärten, daß sie auf ihrem Weg nach Spanien freien Durchzug durch Gallia Transalpina wünschten. Aurelius führte selbst die einleitenden Verhandlungen, dazu hatte er eigens die volle Paraderüstung angelegt — den silbernen Brustpanzer, der dem Körper genau angepaßt war, den attischen Helm aus Silber mit einem scharlachroten Federbusch und den pteryges, einen kurzen Lendenschutz aus steifem Leder, der über der dunkelroten Toga getragen wurde. Als Konsular trug er zudem einen violetten Umhang, der an den Schulterteilen des Brustpanzers befestigt war, und als Zeichen seines militärischen Rangs war über der Brust ein purpurfarbenes Band mit den traditionell geknoteten Schlaufen angebracht. Cotta beobachtete die Gespräche wie unter einem Bann und mit einer Angst, wie er sie nie zuvor empfunden hatte. Er war sich sicher, Roms Verhängnis vor sich zu sehen. Noch Monate danach verfolgten ihn diese germanischen Häuptlinge bis in den Schlaf, so unermüdlich, daß er seine Tage wie betäubt verbrachte, und selbst als sie ihren größten Schrecken verloren hatten, erwachte er manchmal aufrecht sitzend und mit aufgerissenem Mund in seinem Bett, wenn sie wieder einmal mit ihren riesigen Pferden durch seine schrecklichen Alpträume geritten waren. Die Kundschafter hatten von mehr als siebenhundertfünfzigtausend berichtet, und das bedeutete mindestens dreihunderttausend riesenhafte Krieger. Wie jeder Mann seiner Stellung hatte Cotta oft genug mit 523
barbarischen Kriegern zu tun gehabt, mit Skordiskern und Japuden, mit Salassern und Carpetanern, aber solche Männer wie die Germanen hatte er noch nie gesehen. Die Römer hatten die Gallier immer für Riesen gehalten — verglichen mit den Germanen waren die Gallier jedoch nur durchschnittlich groß. Aber das Schlimmste war, daß Rom selbst an seinem Verhängnis tatkräftig mitwirkte, weil es die germanische Bedrohung einfach nicht ernst genug nahm und den Machtkampf zwischen Gnaeus Mallius und Quintus Servilius nicht energisch unterband. Wie wollte Rom die Germanen besiegen, solange die beiden römischen Befehlshaber nicht einmal ein gemeinsames Lager aufschlugen? Solange sie sich gegenseitig beschimpften und auf den Soldaten des jeweils anderen herumhackten? Würden die beiden Feldherren zusammenarbeiten, hätte Rom eine Armee von knapp hunderttausend Mann, und bei guter Moral im Heer, bei umfassender Ausbildung der Soldaten und fähiger Führung könnte das für den Kampf gegen die Germanen gerade ausreichen. Ja, dachte Cotta, und dabei krampfte sich sein Magen schmerzhaft zusammen, heute habe ich die Verkörperung von Roms Schicksal vor mir gesehen! Wir werden mit dem Ansturm dieser blonden Horde nicht fertig werden. Jedenfalls nicht, solange wir nicht einmal mit uns selbst fertig werden. Aurelius brach die einleitenden Gespräche ab, um beiden Seiten Gelegenheit zu Beratungen mit ihren eigenen Leuten zu geben. »Nun«, sagte Aurelius zu Cotta und den anderen fünf Senatoren, »wir haben einiges in Erfahrung bringen können. Sie selbst nennen sich nicht Germanen, sondern betrachten sich als Bund dreier verschiedener Stämme — hauptsächlich Kimbern und Teutonen und eine dritte Gruppe kleinerer Stämme. Diese dritte Gruppe besteht aus Markomannen, Cheruskern und Tigurinern, die sich den Kimbern und Teutonen auf ihren Wanderungen angeschlossen haben. Nach Auskunft meiner Dolmetscher sind sie eher keltischen als germanischen Ursprungs.« »Wanderungen?« fragte Cotta. »Wie lange sind sie denn schon unterwegs?« 524
»Das scheinen sie selbst nicht zu wissen, aber auf jeden Fall viele Jahre. Vielleicht seit einer Generation. Der junge Mann, der aussieht wie ein germanischer Achilles, war noch ein Kind, als sein Stamm, die Kimbern, seine Heimat verließ.« »Haben sie einen König?« »Nein. Sie werden von einem Rat der Stammeshäuptlinge geführt, den größten Teil davon siehst du vor dir. Dieser barbarische Achilles scheint jedoch sehr schnell aufzusteigen in diesem Rat, und immer mehr bezeichnen ihn als König. Er heißt Boiorix und ist entschieden der Selbstbewußteste von ihnen. Er will nicht mit uns verhandeln, denn seiner Meinung nach ist Macht auch Recht, und er will uns nicht um freien Durchgang nach Spanien bitten. Er will einfach weiterziehen, egal, was wir davon halten.« »Gefährlich jung, um sich selbst König zu nennen. Ich stimme dir zu, er wird uns Ärger machen«, sagte Cotta. »Und wer ist der Mann dort drüben?« Er deutete unauffällig auf einen Mann um die Vierzig, der einen goldenen Brustschmuck und andere goldene Verzierungen trug. »Das ist Teutobod, der oberste Häuptling der Teutonen. Er läßt sich ebenfalls gern König nennen. Wie Boiorix denkt er, daß Macht Recht ist und daß sie einfach nach Süden ziehen sollten, ohne sich um Rom zu kümmern. Das alles gefällt mir überhaupt nicht, Vetter. Meine beiden germanischen Dolmetscher sind der Meinung, die Stimmung sei ganz anders als zu Carbos Zeiten. Die Germanen sind selbstbewußter geworden, und sie haben keinen Respekt mehr vor uns. Sie fangen an, uns zu verachten.« Aurelius biß sich auf die Lippen. »In der Zeit, die sie bei den Häduern und den Ambarrern verbrachten, haben sie einiges über Rom gelernt. Jetzt haben sie keine Angst mehr vor Rom, und nicht nur das — bisher haben sie jede Auseinandersetzung mit uns gewonnen, ausgenommen vielleicht diesen ersten Kampf mit Lucius Cassius, aber nur, wenn man nicht an die tragischen Folgen denkt. Jetzt reden Boiorix und Teutobod ihnen ein, daß sie keinen Grund hätten, uns zu fürchten. Auch wenn wir besser ausgerüstet seien und besser trainiert. Wir seien nichts als Schreckgespenster für 525
kleine Kinder, alles nur Einbildung, Popanz. Boiorix und Teutobod wollen den Kampf. Wenn Rom erst einmal geschlagen ist, können sie herumziehen — und sich niederlassen —, wo sie wollen.« Die Verhandlungen wurden weitergeführt, und diesmal bezog Aurelius seine sechs Gäste mit ein. Sie alle trugen ihre Togen und wurden von zwölf Liktoren in purpurroten Tuniken und mit breiten, goldbeschlagenen Gürteln eskortiert. Die Liktoren trugen Rutenbündel und Äxte. Natürlich hatten die Germanen die Senatoren bereits bemerkt, doch nach der gegenseitigen Vorstellung starrten sie mit offener Verwunderung auf die bauschigen, weißen, so ganz und gar nicht kriegerisch aussehenden Gewänder der Römer. So sahen die Römer aus? Nur Cotta trug die purpurgeränderte toga praetexta als Zeichen, daß er ein kurulisches Amt innehatte, und deshalb sprachen die Germanen zu ihm in ihren fremdartig klingenden, unverständlichen Reden. Cotta bewährte sich auch in dieser schwierigen Situation, er blieb stolz, unnahbar, bedächtig und sprach mit ruhiger Stimme. Allerdings verwunderte ihn das Auftreten seiner Gegner: Die Germanen schienen es als ganz natürlich und keineswegs als würdelos zu empfinden, daß sie vor Wut rot anliefen, ihre Worte mit Spucken bekräftigten und mit der Faust auf die flache Hand schlugen. Doch es war deutlich, daß die unerschütterliche Ruhe der Römer sie verwirrte und aus dem Konzept brachte. Vom Anfang der Verhandlungen bis zu ihrem Ende blieb Cottas Antwort gleich: nein. Nein, die Wanderung nach Süden könne nicht fortgesetzt werden, nein, das germanische Volk werde kein Wegerecht durch römisches Gebiet oder römische Provinzen erhalten, nein, sie könnten sich nicht in Spanien niederlassen, es sei denn auf Land der Lusitaner oder der Cantabrer, alles übrige Land in Spanien sei römische Provinz. Geht wieder nach Norden, sagte Cotta immer wieder. Geht nach Hause, wo immer das sein mag. Oder geht über den Rhein nach Germanien und siedelt bei euren eigenen Leuten. Erst als die Dämmerung völliger Dunkelheit gewichen war, schwangen sich die fünfzig germanischen Häuptlinge wieder auf 526
ihre Pferde und ritten davon. Boiorix und Teutobod ritten als letzte weg, und Boiorix drehte den Kopf, damit er die Römer so lange wie möglich ansehen konnte. Sein Blick zeigte weder Sympathie noch Bewunderung. Aurelius hat recht, dachte Cotta, Boiorix ist ein Achilles, obwohl er diesen Vergleich zunächst seltsam gefunden hatte. Erst im Laufe der Verhandlungen hatte er bemerkt, daß in dem hübschen Gesicht des jungen Mannes die ganze sture, unbarmherzige, rachsüchtige Kraft des Achilles zu finden war. Auch er schien ihm ein Mann, der wegen einer kleinen Kränkung seiner Ehre tatenlos auf seinem Schiff bleiben würde, während seine Landsleute reihenweise abgeschlachtet wurden. Cottas Herz pochte dumpf und verzweifelt — mußte man nicht das gleiche von Quintus Servilius Caepio sagen? Zwei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit ging der Vollmond auf. Nachdem die sechs Senatoren die unbequemen Togen abgelegt hatten, nahmen sie ernüchtert und schweigend ihr Abendessen an Aurelius’ Tafel ein, bevor sie wieder nach Süden reiten wollten. »Wartet bis morgen«, bat Aurelius. »Wir sind hier nicht in Italien, es gibt keine sicheren römischen Straßen, und ihr kennt die Gegend nicht. Auf ein paar Stunden wird es nicht ankommen.« »Nein, ich möchte bei Sonnenaufgang in Quintus Servilius’ Lager sein«, erwiderte Cotta. »Ich muß noch einmal versuchen, ihn dazu zu bringen, daß er sich Gnaeus Mallius anschließt. Ich werde ihm erzählen, was sich heute hier abgespielt hat. Doch wie Quintus Servilius auch entscheidet, ich werde auf jeden Fall morgen noch zu Gnaeus Mallius zurückreiten. Bevor ich nicht auch mit ihm gesprochen habe, ka