Margaret Klare
Heute nacht ist viel passiert Geschichten einer Kindheit
Nachwort von Peter Härtling
Beltz & Gelberg ...
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Margaret Klare
Heute nacht ist viel passiert Geschichten einer Kindheit
Nachwort von Peter Härtling
Beltz & Gelberg
2. Auflage, 1989 © 1989 Beltz Verlag, Weinheim und Basel Programm Beltz & Gelberg, Weinheim Alle Rechte vorbehalten
Einband von Peter Knorr Schriftkonzeption Wolfgang Rudelius Gesamtherstellung Druckhaus Beltz, 6944 Hemsbach Printed in Germany ISBN 3 407 80030 4
Margaret Klare wurde 1932 in Essen geboren und verbrachte dort ihre Kindheit und Jugend. Sie studierte Germanistik, Sprachwissenschaft und Französisch in Bonn und Nancy. Neben ihrer Lehrtätigkeit in Schule und Hochschule veröffentlichte sie literaturwissenschaftliche Aufsätze, arbeitete an Sprachbüchern mit und schreibt Lyrik, Kurzprosa und Kinderbuchtexte. Zur Zeit lebt sie in Sankt Augustin bei Bonn. Diese Geschichten erzählt ein Kind, das in einer schrecklichen Zeit lebt. Es ist die Zeit von 1938 bis 1946: eine Zeit, in der Menschen andere Menschen hassen und verfolgen; eine Zeit mit Bomben, Angst und Hunger; eine Zeit voll Leid und Trauer. Aber auch in solchen schlimmen Zeiten spielen Kinder. Ihre Spiele sind oft anders als heute. Auch in solchen Zeiten gibt es manchmal Spaß und Überraschung und Freude. Das Kind, das diese Geschichten erzählt, erlebt alles mit wachen Augen und tief im Herzen. Die Jury zum PeterHärtling-Preis befand: »Es sind bewegende, genaue Geschichten aus einer Zeit, die unvergessen bleiben muß.« Dieses Buch wurde ausgezeichnet mit dem PeterHärtling-Preis für Kinderliteratur. Jury zum Peter-Härtling-Preis für Kinderliteratur: Prof. Birgit Dankert (Fachhochschule für Bibliothekswesen), Hans-Joachim Gelberg (Lektor), Peter Härtling (Autor), Heike Mundzeck (Journalistin), Käthe Plöger (Buchhändlerin).
Ich hab keine Angst
Wir spielen nicht mehr auf dem leeren Platz nebenan. Da sind jetzt Zigeuner. Sie haben sich einfach da hingestellt, hat Katha gesagt. Ihr Wagen ist bunt wie die Wagen auf der Kirmes. Keiner weiß, wie viele es sind. Katha guckt manchmal im Garten über die Hecke. Sie ist groß genug. Dann sagt sie: »Es sind viele, auch Kinder.« Die sind sehr laut. Franz sagt, Zigeuner stehlen Kinder. Er hat es gelesen. Mutter hat auch Angst. Aber sie sagt, es sind alles Menschen wie wir. Großvater sagt, man muß keine Angst haben. Ich hab keine Angst. Heute hat Großvater im Garten über die Hecke gesprochen. Einer hat geantwortet. Sie haben lange und ruhig gesprochen. Großvater hat gesagt: »Keiner wird es tun. Hier nicht!« Und die Stimme hat gesagt: »Wir tun ja auch keinem was« und »Wir wollen ja auch leben«. Großvater hat mich gesehen und auf den Arm genommen und weggetragen. Vorher hab ich noch schnell zurückgeguckt über die Hecke. Da sind viele, bunt angezogen, auch Kinder. Die Stimme ist ein alter Mann, wie Großvater.
In der Hecke ist ein Loch, so groß wie meine Hand ohne Finger und genauso hoch wie meine Augen. Ich kann den ganzen Zigeunerwagen sehen. Er ist rot-braun angestrichen. An den Fenstern sind blaue Gardinen. Aus dem Rohr auf dem Dach raucht es.
Ich möchte gerne sehen, wie er innen aussieht. Franz sagt, er ist drin gewesen. Aber ich glaube es nicht. Er hat ja Angst. Auf einmal hat das Mädchen vor dem Loch gestanden. Ich hab einen großen Schrecken gekriegt. Sie hat schwarze Augen. Erst haben wir beide nichts gesagt. Dann hat sie gesagt, wie sie heißt. Ich habe es auch gesagt. Und noch einmal. Da hat sie bei meinem Namen gelacht und ich bei ihrem. Wir haben immer den anderen Namen gesagt, hin und her durch die Hecke, und haben gelacht. Sie heißt Saffi. Plötzlich hat sie eine Faust durch die Hecke gesteckt und ganz langsam die Finger auseinandergetan. In ihrer Hand hat ein schöner glatter Stein gelegen. »Der ist für dich«, hat sie gesagt. Ich hab ihn erst nicht genommen. Dann hab ich ihn doch genommen und bin schnell gelaufen und hab meine marmorierte Kugel aus Glas geholt und durch das Loch gehalten. Saffi hat sie sofort genommen und gesagt: »Warte!« und ist weggerannt und hat eine Flöte geholt. Es war eine ganz andere Flöte als meine. Da bin ich auch gerannt und hab meine Flöte geholt. Sie hat einen Ton gespielt. Ich hab denselben Ton gespielt. Dann zwei und dann drei und vier und fünf. Ich hab immer dieselben gespielt wie sie. Es ist hin- und hergegangen durch die Hecke, immer hin und her. Morgen wollen wir wieder Töne spielen.
Heute nacht war es laut im Haus. Ich bin wach geworden. Es waren viele Stimmen da. Großvater hat geschrien: »Die Synagoge brennt!« Ich habe noch nie gehört, wie Großvater schreit. Vater hat immer gesagt: »Ruhe! Ruhe!«, und Mutter: »Die Kinder! Still, die Kinder!« Sie sind alle hin und her gelaufen und haben die Fenster auf- und zugemacht. Es hat nicht
aufgehört. Ich bin unter die Decke gekrochen, auch mit dem Kopf, und hab große Angst gehabt. Heute morgen hat Mutter gesagt, wir sollen beim Haus bleiben und spielen. Franz hat mich doch mitgenommen. »Die Zigeuner sind weg«, hat er gesagt, »komm, wir gehen hin!« Auf dem Platz war alles leer. Nur der alte Mann hat auf einer Kiste gesessen und geweint. »Mein Wagen«, hat er gesagt, »sie haben meinen Wagen angesteckt. Wie eine Fackel. Sie haben kein Recht. Es ist mein Wagen. Die ganze Straße runter haben sie ihn laufen lassen. Über das Pflaster. Mein Wagen. Wie eine Fackel.« Ich hab Franz gefragt, wer es getan hat. Er hat es nicht gewußt. Franz hat den alten Mann gefragt. Der ist auf einmal ganz still gewesen und hat ihn lange angeguckt. Dann hat er gesagt: »Frag deinen Großvater!« Da sind zwei Zigeunerfrauen gekommen und haben den Mann weggeholt. Ich hab noch hinterhergerufen: »Wo ist Saffi?« Sie haben nichts geantwortet. Nachher hat Franz gesagt: »Wir gehen zur Synagoge.« »Nein!« hab ich geschrien. »Sie brennt, sie brennt – wie eine Fackel!« Aber er hat gesagt, es ist nur noch Rauch, und er will sie sehen. Da bin ich mitgegangen. Unterwegs hat er gesagt: »Heute nacht ist viel passiert.« An der Synagoge war es still. Manche Leute haben auf der anderen Seite gestanden. Wir sind nah rangegangen. Sie hat nicht mehr gebrannt. Aber ich hab das Feuer gerochen. An manchen Stellen ist auch noch Rauch rausgekommen. »Es ist die Judenkirche«, hat Franz gesagt. Wir sind dann zu Tante Hanna gegangen. Der Mann, dem ihr Geschäft gehört, gibt uns immer Bonbons, aus einem riesengroßen Glas. Jeder kriegt eins, jedesmal. Wir waren sehr erschrocken: Sie haben das Geschäft kaputtgemacht.
Die Scheiben sind zersplittert. Es knirscht unter den Schuhen. Innen liegen überall Stoffe und andere Sachen auf der Erde. Die Regale sind umgekippt. Tante Hanna ist sofort rausgekommen und hat gesagt, wir sollen schnell wieder nach Hause gehen. Eine Frau hat geschrien: »Das ist ja schrecklich!« Tante Hanna hat gesagt: »Bloß weil sie Juden sind.« Und sie hat auf einen Stern gezeigt. Er ist auf die Wand gemalt, mit Kreide, ganz dick und schwarz. Die Frau hat gesagt: »Sie haben doch keinem was getan.« Tante Hanna hat wieder gesagt: »Bloß weil sie Juden sind!« Franz hat mich weggezogen. Ich hab ihn gefragt, wer es getan hat. Er weiß es nicht. Vielleicht kriegen wir nie mehr Bonbons. Am meisten bin ich traurig, weil der Name über der Tür verschmiert ist. Man kann nicht mehr viel sehen. Es ist ein komischer Name. Er heißt: Lustig. Ich möchte gerne Lustig heißen. Er war so schön geschrieben, wie gemalt, weiß und blau. Jetzt ist er kaputt.
Ich hab lange wach gelegen und an Saffi und die Synagoge und Tante Hannas Geschäft gedacht. Dann sind Anna und Katha auch ins Bett gekommen, und Katha hat ganz leise zu Anna gesagt: »Ich weiß, wer es war mit dem Zigeunerwagen. Es waren mehrere, am meisten der Onkel Kurt.« »Welcher?« hat Anna gefragt. »Der vom Berg«, hat Katha gesagt. Ich kann es nicht glauben. Onkel Kurt vom Berg ist immer so lieb. Er hat keine Frau und keine Kinder und ist ganz alleine.
Er sagt immer, wir sind alle seine Kinder. Manchmal schenkt er uns Bilder von der Olympiade und vom Führer.
Franz und Josef haben im Garten gespielt. Da hat Josef die Flöte gefunden. Er hat sie mir gezeigt. Es ist Saffis Flöte. Er hat sie mir nicht gegeben. Ich hab ihn gefragt, was er dafür haben will. Wenn er will, kann er meine Rollschuhe bekommen. Sie sind viel besser als seine. Er überlegt es noch, bis morgen. Wenn ich sie kriege, verwahr ich sie, bis Saffi wiederkommt. Vielleicht spiel ich manchmal drauf, alle Töne, durch die Hecke, hin und…
Wer weint, darf nicht mehr mitmachen
Am besten geht es da, wo die Straße asphaltiert ist, hat Franz gesagt. Einer zieht mit Kreide einen großen Kreis und teilt ihn in Stücke – wie einen Kuchen. Die anderen bekommen jeder ein Stück und schreiben einen Buchstaben hinein. Es muß der erste Buchstabe von einem Land sein, nur nicht von Deutschland. Jedes Land darf es nur einmal geben. Ich nehme immer ›Jugoslawien‹ weil es so schön klingt. Ich weiß auch, wo das Land ist: Vater hat es mir im Atlas gezeigt. Aber er weiß nicht, warum ich es sehen wollte. Franz hat gesagt, ich soll das Spiel nicht verraten. Der den Kreis gezogen hat, darf ›Deutschland‹ sein. Er ist der Hauptspieler und hat einen Extrakreis in der Mitte vom großen Kreis. Wenn er dort steht, müssen wir alle in unseren Ländern sein, so weit wie möglich an der Grenze. Denn wir müssen fliehen, wenn ›Deutschland‹ den Krieg erklärt. Er ruft ganz laut: »Deutschland erklärt den Krieg.« Danach macht er eine Pause und dreht sich um sich selber und guckt alle böse an und schreit: »gegen« und macht wieder eine Pause und alles wie vorher, und wir warten und warten, wer drankommt. Ich kriege immer Herzklopfen, weil ich weiß, daß ich nie weit genug springen kann. Dabei springe ich viel weiter als alle, die so groß sind wie ich. Aber in diesem Spiel spielen nur Größere. Ich darf mitmachen, weil Franz dabei ist. Auf einmal schreit ›Deutschland‹ einen Namen, wie aus der Kanone geschossen: ›Polen‹ oder ›Rußland‹ oder ›England‹ oder ›Frankreich‹ – oder was er will.
Wenn er ›Jugoslawien‹ gerufen hat, muß ich springen, so schnell ich kann, mit einem Satz, so weit ich komme. Dann muß ich ruhig stehenbleiben und darf nicht wackeln und nicht fallen. Wer fällt, darf nicht weiterspielen. ›Deutschland‹ kommt in mein Land, bis an die Grenze, und legt sich auf die Erde, um mich zu fassen. Wenn er nur eine Fußspitze fassen kann, habe ich ein Stück von meinem Land verloren. Ich muß meinen Fuß in mein Land stellen, und er zieht mit Kreide drum herum und schreibt ein ›D‹ in das Stück. Jedesmal wenn ich einen Fuß verliere, bin ich traurig. Mein Land wird immer kleiner. Einmal hab ich geweint. Da hat Franz gesagt, ich dürfte nicht mehr mitspielen. Darum weine ich nicht mehr. Manchmal, wenn einer so weit springt, daß ›Deutschland‹ ihn nicht fassen kann, freu ich mich. Er kommt dann in die Mitte und wird ›Deutschland‹, und ›Deutschland‹ muß ›Polen‹ oder ›England‹ oder ›Rußland‹ oder ein anderes Land sein. ›Jugoslawien‹ ist noch nie ›Deutschland‹ geworden. Ich bin zu klein. Aber ich kann schon sehr weit springen. Wenn ich so groß bin wie Franz, kann ich bestimmt weiter springen als alle. Dann bin ich immer ›Deutschland‹ und darf alle angreifen. Nur wenn einer ›Jugoslawien‹ ist, greif ich ihn nicht an.
Franz kennt ein neues Spiel
Franz hat uns heute ein neues Spiel gezeigt. »Wollt ihr ein neues Spiel sehen?« hat er gefragt. Wir wollten alle. Ich will immer neue Spiele. Neue Spiele sind schön. »Ich brauch Streichhölzer«, hat er gesagt. »Wer hat Streichhölzer?« Sein Freund hat eine Schachtel aus der Hosentasche gezogen, und Franz hat sie geöffnet. »Nur drei?« hat er gefragt. Darauf hat der Freund noch zwei lose Streichhölzer aus der Tasche geholt, und Franz hat gesagt: »Gut! Das reicht.« Ich hab Angst gekriegt. Was macht er mit den Streichhölzern? Es ist noch ganz hell! Ich hab gefragt: »Ist es gefährlich?« – »Klar«, hat er gesagt. »Du kannst ja gehen!« Aber ich bin doch lieber geblieben. Franz hat auf die Erde geguckt und etwas gesucht. Dann hat er einen Stein aufgehoben und auf den Gartentisch gelegt. Der Stein war ganz flach. »Wie heißt das Spiel?« hat einer gefragt. »Wirst schon sehen!« hat Franz gesagt. Er hat einen Papierknuddel aus der Hosentasche geholt. Und noch einen. Und noch ein paar. Auf den Tisch hat er sie gelegt, neben den Stein. Ich hab es sofort gesehen: Es waren die schönen Servietten, die Großmutter in der Schublade verwahrt. Franz hat mich schnell und böse angeguckt. Dann hat er einen Knuddel auseinandergezupft, und es ist wieder eine richtige Serviette geworden. Die hat er auf den Tisch gelegt und glattgestrichen. Er hat es sehr vorsichtig gemacht. Darum hat es so lange gedauert. Dann hat er sie hochgehoben, bis an den Mund, und gepustet. Sie hat ganz leicht gezittert, wie eine Feder. Er hat eine Röhre daraus gedreht und sie auf den Stein gestellt. Dann hat er ein Streichholz angemacht und die Röhre
oben in Flammen gesteckt. Das Feuer ist erst im Kreis herum gebrannt und dann nach unten. Über dem Flammenkreis ist schwarzes Papier stehengeblieben, wie Spinnweben. Das Feuer ist ausgegangen, und die schwarze Spinnwebenröhre ist in die Luft gestiegen und hat ein bißchen in der Luft geschaukelt und ist wieder runtergefallen. Da hat sie fast an derselben Stelle gelegen wie vorher. Franz hat gefragt, ob wir noch mal wollten. Alle haben ›ja‹ geschrien. Ich war sehr aufgeregt. Da hat er schon wieder die Röhre gedreht; und das Feuer ist schon wieder im Kreis herum gebrannt; und das schwarze Ding ist schon wieder in die Luft gestiegen und hat geschaukelt und ist wieder auf die Erde gefallen. Fünfmal! Beim fünftenmal ist es am höchsten geflogen. Franz ist ein richtiger Zauberer. Wer weißes Papier schwarz verbrannt in die Luft steigen lassen kann – einfach so –, der ist ein großer Zauberer! Ich wollte es noch hundertmal sehen; aber er hat keine Streichhölzer mehr gehabt und auch kein Papier. Warum hat er es nicht hergezaubert? »Wißt ihr, wie das Spiel heißt?« hat er gefragt. Keiner konnte es sagen. Ich habe geschrien: »Zaubervogel!« Er hat mich wieder schnell und böse angeguckt. Alle haben herumgestanden, und keiner hat den Namen gewußt. Da hat Franz gesagt: »Es heißt ›Heß fliegt nach England‹.« Ich hab weggeguckt. Keiner hat was gesagt. »Rudolf Heß fliegt nach England«, hat er geschrien. »Ist das der Name?« hat der Freund gefragt. »Ach«, hat Franz gesagt, »mit euch kann man wirklich nicht spielen. Ihr seid einfach zu doof!«
Onkel Behr schaukelt
Gestern sind wir ganz allein auf der Straße gewesen, Franz und ich. Wir haben auf andere Kinder gewartet. Es war richtig langweilig. Da ist Onkel Behr gekommen. Er wohnt drei Häuser weiter. Mit Onkel Behr ist es komisch. Er spricht nie mit uns. Aber wenn wir ihn grüßen, sagt er immer unsere Namen. Er kennt alle. Onkel Behr ist schon sehr alt, mindestens so alt wie Großvater. Wir haben sofort gesehen, daß etwas anders war mit ihm. Er konnte seine Beine nicht richtig bewegen, und die Arme haben wie dicke Würste gebaumelt. Ich glaube nicht, daß er krank war oder traurig: Er hat nämlich gesungen. Franz hat gesagt: »Der ist besoffen!« Ich habe noch nie einen gesehen, der besoffen ist. Es war sehr komisch. Onkel Behr hat gehört, was Franz gesagt hat. Er ist stehengeblieben und hat auf der Stelle gewippt, wie ein Schaukelpferd. Dann hat er den Kopf gehoben. Es war sehr schwer. Ich habe gesehen, wie er die Augen aufmachen wollte. Sie sind immer wieder zugefallen, und der Kopf hat immer weiter gewackelt. Dann hat er einen Arm hochgehoben, dann die Hand und dann den Zeigefinger, ganz langsam. Der Zeigefinger ist krumm geblieben, und der Arm ist hin- und hergegangen wie das Pendel an unserer Uhr. Er hat laut geatmet und gepustet und etwas gesagt. Es hat sich angehört wie: uh – uh. Plötzlich habe ich es verstanden. Er hat gesagt: »Du Judenjunge.« Ich hab an Saffi gedacht und hab Angst gehabt und wollte weglaufen. Franz hat mich aber festgehalten und gesagt: »Der kann nicht kommen, der ist besoffen.«
Onkel Behr hat immer weiter geschaukelt und immer wieder gesagt: »Du Judenjunge.« Franz ist rot geworden, hat die Backen aufgeblasen und ein bißchen Luft wieder rausgelassen und hat ganz laut geschrien: »Nazischwein!« Onkel Behr hat den Arm fallen lassen, auch den Kopf, und hat nur auf dem Platz gestanden und gewippt. Dann ist er langsam weitergegangen und hat wieder gesungen. Franz hat keine Lust mehr gehabt, auf der Straße zu bleiben. Wir sind nach Hause gegangen. Er hat mir verboten, es zu erzählen. Sogar Mutter darf es nicht wissen. Sie hat die zwei Wörter aber doch gehört, als ich mit Jan gespielt habe. Jan ist Matrose und meine Lieblingspuppe. Beim Spielen war er sehr böse. Da hab ich mit dem krummen Zeigefinger geschimpft und mit dem Kopf gewackelt und gesagt: »Du Judenjunge!« Dann hab ich die Backen aufgeblasen und geschrien: »Nazischwein!« Mutter hat mich gefragt, woher ich die Wörter kenne, aber ich hab nichts verraten. Da hat sie gesagt, es wäre gut. Aber ich darf diese Wörter nie mehr sagen, nie mehr! Das hab ich ihr versprochen, ganz fest. Nachher hat sie mit Franz geredet, aber ich weiß nicht, was.
Heute haben wir Onkel Behr wieder gesehen. Franz hat ihn gegrüßt, und Onkel Behr hat auch gegrüßt und unsere Namen gesagt. Heute hat er nicht geschaukelt.
Josef geht nie mehr in die Badewanne
Ausgerechnet als Josef in der Badewanne war, hat es Alarm gegeben. Es ist alles ganz schnell gegangen. Nach dem Voralarm haben die Sirenen sofort weitergeheult für den Hauptalarm. Und dann sind schon Bomben gefallen, so nah wie noch nie. Es hat fürchterlich gekracht; alle Scheiben sind rausgebrochen und zersplittert; alle Türen sind aufgesprungen; es ist ganz schwarz geworden, überall; alle haben geschrien und sind mit blinden Augen in den Keller gestiegen. Josef ist aus der Wanne gesprungen und durch die falsche Tür gerannt: auf die Straße. Es sind noch mehr Bomben gefallen, und er hat schreckliche Angst gehabt da draußen, sagt er, und wollte wieder ins Haus. Aber die Frau von oben hat die Haustür zugedrückt und hat nicht gemerkt, daß einer draußen war. Da hat er geschrien und gebrüllt und an die Tür gehauen, bis sie ihn endlich reingelassen hat. Er ist in den Keller gekommen. Im Keller hat die Gaslampe gebrannt, und wir haben alle gesehen, daß Josef schwarz war und nackt. Er hat gefroren und geweint, wie einer, der noch ganz klein ist. Vater hat ihm seine Jacke umgehängt. Aber Josef konnte nicht aufhören mit dem Weinen. Es hat noch lange gedauert. Auch mit den Bomben. Endlich ist die Entwarnung gekommen. Wir durften wieder nach oben. Josef hat gesagt, daß er nie mehr in die Badewanne geht.
Das Brettchen auf dem Wasser
Jeden Tag müssen wir Wasser holen, Franz und Josef und ich. Alle Leute müssen Wasser holen. Mitten auf der Straße steht ein Rohr mit einem Wasserhahn dran. Hundert Schritte sind es bis dahin. Ich habe sie gezählt. Hundert Schritte hin. Zurück kann ich nicht zählen. Zurück ist es immer zu aufregend. Wir stellen die Wanne in den Leiterwagen und fahren los. Die beiden ziehen vorne an der Lenkstange. Es geht bergauf. Ich hab noch gar nichts zu tun und laufe hinter dem Wagen her. Wenn wir beim Wasser sind, müssen wir warten, bis wir drankommen. Die beiden lassen das Wasser durch einen Schlauch in die Wanne laufen. Ich freu mich immer, wenn es hochsteigt. Dann steigt auch das Brettchen, das in der Wanne liegt. Vater hat gesagt, wir sollen es immer reinlegen. Dann kann das Wasser nicht so schaukeln und überschwappen. Wir sollen die Wanne auch nicht ganz vollaufen lassen. Oben muß ein bißchen Platz bleiben. Aber Mutter hat gerufen: »Bringt viel!« Und die beiden machen die Wanne ganz voll. Zurück geht es bergab. Jetzt bin ich Bremser. Mit beiden Händen halte ich die Rückwand und zieh nach hinten. Dabei muß ich die Füße ganz fest auf den Boden stellen, bei jedem Schritt. Sicher sind es auch hundert. Manchmal ärgern mich die beiden und lassen den Wagen ein Stück laufen und schreien: »Halt! Halt!« Ich hab immer schreckliche Angst: Jetzt können wir den Wagen nicht mehr bremsen, und er rast die ganze Straße runter und rast vor die Mauer unten, und es gibt einen furchtbaren
Krach, wie beim Bombenangriff, und alles ist kaputt, und wir haben kein Wasser. Aber es dauert nur kurz, dann drücken die beiden wieder nach hinten, bremsen den Wagen und lachen über meine Angst. Ich ärgere mich, weil sie mich immer wieder ärgern. Eigentlich weiß ich doch, wie sie es machen. Aber die Angst ist zu schnell. Jedesmal wenn sie mich geärgert haben, möchte ich nicht mehr mitgehen. Ich bin böse auf sie. Aber ich geh doch wieder mit. Sie wissen nicht, warum. Ich sag es auch nicht, nie. Es ist, weil ich das Brettchen so gerne sehe. Es liegt immer vor mir auf dem Wasser und wippt und schaukelt und flitzt von einer Stelle zur andern und wird an einer Seite hochgehoben und rutscht wieder runter auf die andere Seite und liegt still – aber nur ganz kurz – und kommt auf eine Welle und wird nach oben geschaukelt oder gegen die Wand und kippt um und fällt in die Mitte und dreht sich um sich selber. Es tanzt. Das ist das schönste. Darauf warte ich immer. Aber es dauert nicht lange. Dann flitzt es wieder los. Es muß überall auf dem Wasser sein und aufpassen; sonst verschütten wir zuviel. Wenn das Brettchen nicht in der Wanne ist, liegt es immer auf dem Tisch in der Küche. Es ist ganz zerschnitten, auch wenn ich es umdrehe. Manchmal sieht es aus wie ein Gesicht. Wenn wir angekommen sind, stellt Mutter es in die Sonne. Dann kann ich sehen, wie es langsam wieder hell wird, und alle Schnitte kann ich sehen, kreuz und quer. Morgen gehen wir wieder Wasser holen.
Darf’s ein bißchen mehr sein?
Edith wohnt zwei Häuser weiter. Sie ist viel kleiner als ich und hat immer Hunger. Edith spielt am liebsten Kaufladen. Heute war es besonders schön. Erst waren wir beide alleine. Dann träumen wir immer, wie es einmal sein soll. Edith sagt: »Jedes Kind soll ein halbes Pfund Butter haben – in der Woche.« Ich sage: »Jedes Kind soll eine Tafel Schokolade haben – in der Woche.« Edith sagt: »Jeden Tag einen Apfel!« Ich: »Jeden Tag ein ganzes Weißbrot, so lang wie mein Arm!« Und so geht es immer weiter. Dann spielen wir ›Verkaufen‹. Mit Blättern geht es am besten. Sie können alles sein: die braunen Schokolade, die roten Wurst, die gelben Butter, die runden Geld und die großen Lebensmittelkarten. Heute ist Franz gekommen und hat zugeschaut. Auf einmal hat er gesagt: »Ach Quatsch! Nachher gibt es gar keine Lebensmittelkarten mehr. Man kann alles kaufen. Soviel man will. Die Verkäufer sind froh, wenn die Leute viel kaufen. Dann ist alles ganz anders.« Und er hat es uns gezeigt. Er war Verkäufer. Ich bin in seinen Laden gekommen. Ich wollte ihn ärgern und hab gesagt: »Zwei Pfund Wurst, bitte!« Aber er hat gar nicht getan, als ob es schlimm wär, und ganz viele Blätter auf die alte Waage gelegt. Er hat immer wieder auf den Zeiger gesehen und am Schluß gesagt: »Darfs ein bißchen mehr sein?« Ich hab nicht gewußt, was er meinte, und er hat noch mal gefragt: »Darfs ein bißchen mehr sein?« Da hab ich gesagt: »Ja, soviel wie Sie haben!«, und er hat mir alle roten Blätter gegeben und gesagt: »Ich hab noch genug im Lager.« Dann wollte er kaufen, und ich hab mich hinter die
Theke gestellt. »Ein Pfund Schinken, bitte«, hat er verlangt. Ich hab gewogen und gewogen und am Schluß gefragt: »Darfs ein bißchen mehr sein?« Ich hab schon gewußt, was er sagen würde – aber da hat er etwas ganz anderes gesagt: »Nein, ich möchte genau ein Pfund!« Das hab ich nicht verstanden. »Warum willst du denn nicht mehr?« hab ich ihn gefragt. Er hat geantwortet: »Das ist eben so: Wenn man haben kann, was man will, dann will man nicht immer alles haben! Bitte, geben Sie mir ein Pfund und nicht mehr! Sonst kaufe ich woanders!« Als Edith an die Reihe gekommen ist, hat sie gesagt: »Drei Tafeln Schokolade, bitte, und ein bißchen mehr und was im Lager ist!«
Unser Keller ist bombensicher
Unser Luftschutzkeller ist der sicherste in der ganzen Straße. Vater hat dicke Baumstämme aufgestellt, vom Boden bis zur Decke. Oben und unten hat er noch Holzkeile eingeschlagen, damit die Stämme nicht umfallen, wenn das Haus zittert. Er hat auch einen Schacht nach draußen gegraben. Wenn wir verschüttet sind, können wir da rauskriechen. Aber nur, wenn die Seite nicht verschüttet ist. An der anderen Seite ist eine dünne Wand. Wir brauchen nur fest mit dem Hammer dagegen zu hauen, dann sind wir im Nachbarhaus im Luftschutzkeller. Durch die dünne Wand können wir sprechen. Aber dahinter sind keine Kinder. Die Tür vor unserem Luftschutzkeller ist aus Eisen und hat einen ganz großen Hebel. Ich kann ihn nicht allein aufmachen. Die andern auch nicht. Nur die Erwachsenen können es. Ich denke oft daran, wie es ist, wenn alle Seiten verschüttet sind: die Türseite, die Schachtseite und die Dünne-Wand-Seite. Wenn ich ganz große Angst habe, nimmt Vater mich auf den Schoß und sagt: »Unser Keller ist doch bombensicher!« Darum wollen auch alle Leute rein. Aber es können nicht alle rein. Er ist zu klein. Vater sagt: »Nur zwanzig Leute dürfen rein. Es ist zu wenig Luft da. Und es ist Vorschrift.« Aber manchmal läßt er noch einen oder zwei mehr rein. Ich bin viel lieber im Luftschutzkeller als im Bunker. In den Bunker müssen wir nur, wenn ein Großangriff gemeldet ist.
Ich geh mit Großmutter schon bei Voralarm in den Keller. Großmutter braucht nämlich viel Zeit für die Treppe. Sie sitzt
immer auf dem kleinen geflochtenen Sofa vor dem Schacht. Ich sitze neben ihr. Großvater bleibt oben. Er sagt, er will nicht im Keller sterben. Mutter ist traurig, wenn Großvater oben bleibt. Auch wenn er nicht »Heil Hitler« sagen will. Einmal hat sie gezittert und ihn ins Schlafzimmer geschoben und die Tür abgeschlossen. Als der Mann in der braunen Uniform weg war, hat sie ihn wieder rausgelassen. Wenn er nicht in den Keller will, sagt sie: »Tu es der Kinder wegen!« Er tut es trotzdem nicht. Großmutter sagt nichts dazu. Wir sitzen schon immer auf dem kleinen Sofa, wenn die andern kommen. Ich hab große Angst, wenn bei Hauptalarm noch nicht alle da sind. Tanta kommt als erste. Sie ist viel älter als Großmutter, glaube ich. Sie wohnt schon immer im Haus, oben. Ihren richtigen Namen sagen wir nie. Für uns heißt sie einfach Tanta. Sie trägt ihren Wellensittich im Käfig mit einem Tuch darüber. Wenn sie sitzt, hat sie ihn immer auf dem Schoß. Und wenn der Angriff sehr schlimm ist, betet sie ganz laut durch das Tuch in den Käfig hinein. Hans und Josef gucken oft zu, wenn Tanta mit ihrem Stock und dem Käfig die Treppe runterkommt. Einmal ist sie gefallen, aber nur ein paar Stufen. Da hat sie unten gelegen und den Käfig hochgehalten. Die beiden haben es mir erzählt. Josef hat es nachgemacht – mit einem Eimer. Es war sehr lustig. Tanta hat einen Sohn. Er ist immer bei ihr und sitzt neben ihr und dem Wellensittich. Er ist krank. Darum ist er hier und nicht an der Front. In unseren Luftschutzkeller kommt auch die Frau, die immer sagt: »Mein Mann kämpft in Rußland.« Wenn Entwarnung ist, geht sie zuerst nach oben. Sie hat keine Angst, auch nicht vor dem Feind, sagt sie. Ich möchte auch keine Angst haben!
Einmal hab ich gehört, wie eine andere Frau gesagt hat: »Sie ist ein richtiges Flintenweib.« Was ist ein Flintenweib? Franz weiß es nicht. Ich möchte ein Flintenweib sein! Dann müßte ich auch keine Angst haben. Großmutter betet oft den Rosenkranz. Wenn die Bomben ganz nah fallen, legt sie das kleine Kreuz an die Lippen. Ihre Hände zittern. Ich hab sie sehr lieb. Darum trag ich immer ihre Tasche und das schwarze große Schultertuch und sitze neben ihr.
Heute nacht ist etwas Schreckliches passiert. Nach dem Angriff ist Großmutter nicht von der Bank aufgestanden. Die anderen waren schon nach oben. Sie hat ganz steif und schief gesessen, und das Gesicht war auf der einen Seite abgerutscht. Ich hab geschrien, und alle sind wieder runtergekommen. Jetzt liegt sie in ihrem Bett und kann sich nicht bewegen und nicht sprechen. Und wenn ein Angriff kommt, kann sie nicht in den Keller transportiert werden. Die Krankenschwester hat zu Mutter gesagt, es dauert meist neun Tage. Ob sie dann wieder ganz gesund ist?
Ich will bei ihr bleiben, wenn Alarm ist, aber ich muß immer mit in den Keller. Die kleine Bank ist leer. Ich sitze auf Mutters Schoß und denke an Großmutter oben im Bett. Großvater ist auch oben, aber für Großmutter ist es schlimmer. Sie will nicht oben sein. Das weiß ich ganz genau. Sie hat Angst. Es ist auch noch nicht besser geworden mit ihr.
Heute ist Großmutter gestorben. Es waren genau neun Tage. Jetzt sitzt Tanta auf dem kleinen Sofa; der Sohn sitzt neben ihr.
Wenn ich die Augen zumache, kann ich Großmutter sehen: Sie hält das kleine Kreuz an die Lippen, und ihre Hände zittern – aber nur, wenn die Bomben ganz nah fallen. Vater sagt: »Wenn es keine Fliegerangriffe mehr gibt, wird der Luftschutzkeller wieder ein richtiger Keller, für Äpfel und Kartoffeln und Eingemachtes.« Hoffentlich ist es bald.
Ich brauch nur meine Finger
O-moni-moni-mei, maka-roni-fidschi-dei, fidschi-dei-dei-dei, papagei. So heißt das Spiel. Ich kann es alleine spielen. Alle können es alleine spielen. Ich brauch keinen Ball, kein Seil und keine Puppe. Ich brauch nur meine Finger. Wir spielen es immer im Bunker, wenn das Licht ausgeht. Wenn nur die kleinen Lampen brennen, wie helle Punkte, wie Glühwürmchen. Wenn der Lautsprecher gemeldet hat, wir dürfen jetzt nichts mehr sagen. Wenn es ganz still geworden ist. Wenn ich die andern nicht mehr sehen kann. Wenn ich weinen möchte oder schreien. Dann fang ich an zu spielen: Omoni-moni-mei. Ich setze den rechten Daumen auf den linken Zeigefinger und den rechten Zeigefinger auf den linken Daumen. Dann drehe ich den rechten Daumen und Zeigefinger. Der Zeigefinger kommt immer wieder auf den linken Daumen, aber der Daumen läuft über alle linken Finger, hin und zurück. Bei ›papagei‹ bin ich wieder angekommen. Und es geht von vorne los und immer weiter, bis das Licht wieder angeht und wir wieder sprechen dürfen. Ich kann es sehr schnell spielen, schneller als die andern. Wenn ich es schnell spiele, mach ich die Finger ganz krumm. Manchmal spiel ich auch langsam. Dann mache ich die Finger steif und lang. Wenn wir nichts mehr sagen dürfen, sprech ich mit der Zunge hinter den Zähnen oder nur mit den Lippen. Manchmal, wenn wir die Bomben bis unten hören, bleiben die Finger stehen, und ich weiß nicht mehr, wo ich bin.
Dann muß ich ganz von vorn anfangen: O-moni-moni-mei. Irgendwann müssen wir nicht mehr in den Bunker; dann will ich das Spiel nicht mehr spielen, nie mehr.
Peter kommt bestimmt raus
Franz hat es schwer heute. Er muß ein langes Gedicht lernen, bis morgen. Morgen müssen es alle können. Ich hab mit ihm gelernt. »Mit dir geht es besser!« hat er gesagt. Jetzt kann ich es fast auswendig. Es ist ein sehr schweres Gedicht. Bei ›Du allertapferstes Heer‹ versprech ich mich immer. Sie haben es heute erst gekriegt, und morgen müssen sie es schon können. Morgen ist die Feier auf dem Schulhof. Sie sprechen es alle zusammen. Ich möchte am liebsten mitgehen. Am schönsten finde ich den Schluß: ›Wir stehen in stummer Trauer, geschlossen in Einigkeit. Wir stehen wie eine Mauer, in Treue zu allem bereit.‹ Es ist wegen Stalingrad, sagt Franz. Stalingrad ist gefallen. In allen Schulen überall in Deutschland müssen alle Kinder das Gedicht lernen, alle, von heute bis morgen. Morgen wird es überall auf allen Schulhöfen von allen zusammen aufgesagt, zur selben Zeit. Mutter sollte es abhören. Aber sie hat geweint. Großvater ist einfach weggegangen. Es war verlogen, hat er gesagt. Kathas Freund ist in Stalingrad. Sie guckt immer auf sein Foto auf dem Schrank. Er ist Gefreiter mit einem Winkel auf dem Ärmel. Onkel Heinz hat zwei; er ist Obergefreiter. »Da kommt keiner lebendig raus«, hat ein Mann zu Katha gesagt. »Sie sind eingekesselt – wie die Hasen.« »Peter kommt bestimmt raus!« hat Katha geschrien. Ich glaube auch, daß Peter rauskommt. Sie kommen alle raus.
Es ist das allertapferste Heer. Stalingrad ist sehr weit weg. Vielleicht ist es gar nicht auf der Erde. Großvater hat gesagt: »Es ist die Hölle.«
Es ist wegen Ha-da-mar
Es sollen richtige Ferien werden, hat Mutter gesagt. Mit Wiesen und Wäldern und Sonne und Spielen und Äpfeln und Pflaumenmus. Nirgendwo auf der Welt gäb es so viel Pflaumenmus wie dort, ungeheuer viel Pflaumenmus – und keine Fliegerangriffe. Die Tante, die zu Besuch gekommen ist, wohnt dort. Sie hätte ein Mädchen, genauso groß wie ich, sagt Mutter. Vielleicht könnte ich mit dem Mädchen im Dorf in die Schule gehen, manchmal bestimmt. Ich hab die Tante angesehen und bin sehr erschrocken. Sie hat einen großen Flecken im Gesicht: rot und blau, ganz dunkellila. Er klebt auf der einen Seite, von oben bis unten. Am liebsten hätte ich geweint. Aber ich weiß, daß man so tun muß, als wär da gar nichts. Ich hab immer wieder hingeguckt, aber meine Augen haben sich einfach weggedreht. Die Tante hat mich gefragt: »Willst du kommen?« Wenn einer mit einem spricht, muß man ihn ansehen! Ich hab zuerst in das eine Auge geguckt, das in dem Flecken sitzt. Es ist auch rot, aber hellrot. Es sieht aus wie die Augen von einem Vogel, den ich im Zoo gesehen hab. Danach hab ich in das andere Auge geguckt. Es ist groß und grau und grün und schön und sieht sehr lieb aus. Und da hab ich ganz laut ja gesagt. Mutter hat immer weiter gesprochen. Bei der Tante könnte ich überall spielen, auch draußen. Ich brauchte überhaupt keine Angst mehr zu haben. Sie wollte keine fremden Kinder nehmen, hat die Tante gesagt. Darum wär sie zu uns gekommen. Sie hätte schon genug mit dem Ostarbeiter. Dann hat sie laut geweint. »Es ist
schrecklich, wenn man alleine dasteht« und »Man wird nicht gefragt« und »Die machen mit einem, was sie wollen«. Mutter hat dauernd über meine Haare gestrichen. Es hat richtig weh getan.
Wir spielen oft im Hof, das Mädchen und ich. Manchmal essen wir auch alle dort. Ich möchte am liebsten immer im Hof essen. Wenn nur der Mann nicht käm! Immer wenn wir draußen essen, kommt er. Die Tante sagt, er ist aus dem Osten und muß für sie arbeiten, auf dem Feld. Ich weiß nicht, wo er sonst ißt, auch nicht, wo er wohnt und schläft. Ich will die Tante nicht fragen. Der Mann ißt viel. Noch nie hab ich einen Mann gesehen, der so viel essen kann. Er spricht nicht und geht sofort weg, wenn die Tante den Tisch abräumt. Ich bin immer froh, wenn er gegangen ist. Er stinkt. Beim erstenmal ist mir richtig schlecht geworden. Die Tante hat geschimpft: »Jetzt nimm dich aber zusammen!« Nachher hab ich alles erbrochen. Der Mann sitzt mir gegenüber. Ich seh ihn an, aber er guckt nicht zurück. Ich möchte gerne wissen, wie seine Augen sind. Anna hat mal zu mir gesagt: »Wenn man einen lange genug anschaut, muß er zurückschauen, auch wenn er nicht will.« Ich probier es immer wieder. Er tut es nicht.
Heute hat es geklappt. Er hat mich angeschaut. Aber ich habe gar nichts gesehen, weil es zu plötzlich passiert ist. Jetzt weiß ich immer noch nicht, wie seine Augen sind. Vielleicht sind sie dunkel? Beim nächstenmal muß ich ganz genau aufpassen. Die Tante hat mir verboten, auf der Straße zu spielen, auch mit dem Mädchen zusammen darf ich es nicht. Ich möchte
gerne auf der Straße spielen. Da sind Leute und Häuser und alles. Ich hab das Mädchen gefragt, warum wir es nicht dürfen. Sie hat gesagt: »Es ist wegen Ha-da-mar.« Ich weiß nicht, was Ha-da-mar ist. Ich will auch nicht fragen. Das Mädchen weiß immer alles besser als ich. Ich glaube, das ist nur, weil sie hier zu Hause ist. Ich möchte auch zu Hause sein.
Ich hab im Hof gespielt. Das Mädchen ist morgens in der Schule. Da hab ich draußen etwas gehört und bin rausgelaufen, durch das Tor. Ich hab gesehen, wie die Leute alle in die Häuser gerannt sind – wie bei einem Fliegerangriff. Aber es war kein Alarm. Ich hab keine Sirenen gehört. Am Schluß war ich ganz allein draußen. Da ist ein Auto langsam näher gekommen. Es hat ausgesehen wie ein großer Kasten. Zwei Männer haben hinter der Scheibe gesessen. Der Kasten war zu. Da hab ich Schreie gehört. Der Kasten ist vorbeigefahren. Die Schreie waren ganz nah. Innen haben welche geklopft und gestoßen. Auf einmal hab ich richtige Wörter gehört: »Mama« und »Papa« und »nein« und »raus«. Ich wollte wegrennen, nach Hause. Aber ich konnte nicht von der Stelle kommen. Da hab ich geschrien, wie die in dem Kasten: »Mama« und »Papa« und »nein« und »raus«. Die Tante hat mich von hinten gepackt und rumgerissen und in den Hof geschoben. Sie hat furchtbar geschimpft. Ihr Gesicht war dunkelrotblau. Ich hab gedacht: »Jetzt ist der Flecken über das ganze Gesicht gelaufen!« Und ich hab noch mehr geschrien und bin gegen die Tante gerannt und hab sie mit den Fäusten geschlagen. Die Tante hat mich festgehalten und auf den Arm genommen und gesagt: »Armes Kind. Du armes Kind!« und »Es ist schrecklich!« Da ist das Gesicht auf der einen Seite wieder hell geworden, und ich hab aufgehört zu schreien.
Ich bin krank geworden. Die Tante hat Mutter gerufen. Sie ist jetzt hier. Heute waren wir beim Arzt. Er hat mich untersucht. »Du willst nach Hause?« hat er gefragt. Ich hab genickt. Es soll keiner wissen. Morgen fahren wir nach Hause. Wenn wir die verbotene Straße runtergehen, hab ich keine Angst. Ich weiß genau, daß Ha-da-mar nicht kommt, wenn Mutter dabei ist.
Fliegeralarm und Vitaminbonbons
Ich möchte so gern in die Schule gehen, jeden Tag, am liebsten auch sonntags. Aber alle Schulen sind geschlossen. Alle Schulen in der Stadt sind geschlossen. Auf dem Land gibt es noch offene Schulen, hat Katha gesagt. Schulen mit Klassen und Bänken und Pulten und Tafeln und Kreide und richtigen Lehrerinnen. Ich möchte aufs Land fahren, weil ich gerne in die Schule möchte. Mit der Kinderlandverschickung geht es. Aber Mutter will nicht. Nur die Großen müssen weg, die Kleinen nicht. Ich möchte so gern. Wenn der Führer es will, müssen auch die Kleinen weg, sagt Katha.
Ich komme in die Schule. Sie heißt: Lagerunfähigenschule. Weil ich Mittelohrentzündung habe und unterernährt bin, komme ich in die Schule. Der Amtsarzt hat mich untersucht. Er mußte prüfen, ob ich krank genug bin und nicht zu krank. Franz hat gesagt, ich soll nicht zu krank aussehen, aber doch ziemlich krank. Bei der Untersuchung habe ich mich sehr angestrengt. Und es hat geklappt. Der Amtsarzt hat zuerst lange mit Mutter gesprochen. Danach mußte ich reinkommen, ganz nackt. Er hat sofort gesehen, daß ich unterernährt bin und eine schlechte Haltung habe. Als er meinen Rücken abgehört hat, hat er immer »mh, mh« gesagt. Ich hab Angst gekriegt, ich war zu krank, und hab gesagt, mit den Ohrenschmerzen wär es nicht so schlimm. Am Ende hat er festgestellt, ich war krank genug, um nicht verschickt zu werden, und nicht zu krank für die Lagerunfähigenschule.
Neben mir sitzt Berta. Sie hat keine Mittelohrentzündung und ist auch nicht unterernährt. Ich hab sie gleich danach gefragt. Ich weiß nicht, wo sie krank genug und nicht zu krank ist. Berta kommt vom Bauernhof. Wir sind schon Freundinnen. Sie schenkt mir immer Butterbrote mit Schinken und Leberwurst. Ich schenk ihr dafür Hausaufgaben. Morgens auf dem Schulhof singt sie für mich mit. Ich mach nur den Mund auf und zu. Wenn ich richtig singe, tut mein Ohr weh. Ich muß immer lachen, weil Berta singt: »Zum Schutz und Troste«. Es heißt doch: »Zum Schutz und Trutze«. Berta kann sehr laut singen. In der großen Pause gibt es Vitaminbonbons. Sie schmecken gut, ein bißchen sauer, und schmelzen auf der Zunge wie Brausepulver. Sie werden in einem großen Schrank im Lehrerzimmer aufbewahrt. Meistens darf ich die Bonbons holen. Wenn unser Lehrer mir den Schlüssel gibt, sagt er immer, ich soll vorsichtig gehen und nicht fallen mit dem Glas. Die Bonbons sind wichtig für alle. Sie sind Volkseigentum und für die Volksgesundheit, sagt er. Heute durfte Berta gehen. Sie ist sehr lange geblieben, viel länger als ich. Endlich ist sie wieder in die Klasse gekommen und ganz langsam gegangen, jeden Schritt extra. Der Lehrer hat sie gelobt, weil sie so vorsichtig war. Auf dem Weg nach Hause hat Berta mir drei Vitaminbonbons geschenkt. »Für die Volksgesundheit«, hat sie gesagt. Für sich hat sie auch noch drei gehabt. Wir haben sie auf einmal gelutscht. Der ganze Mund war voll Brause. Wenn es Alarm gibt, muß alles schnell gehen. Ich kann die Regeln im Schlaf sagen: Alles liegen- und stehenlassen! Zweierreihen bilden! Ausgang B benutzen! Im Laufschritt zum Bunker! Rennen verboten! Am Bunkereingang warten!
Wir haben alles oft geübt. Bis es alle konnten. Berta und ich müssen immer am Schluß gehen. Der Lehrer sagt, wir haben eine besondere Verantwortung. Ich wär lieber an der Spitze. Immer hab ich Angst, daß schon Bomben fallen – und wir sind noch nicht im Bunker.
Heute waren wir viermal im Bunker. Der Lehrer sagt, wenn es so weitergeht, hat es keinen Sinn mehr. Ich hab gedacht, er meint die Angriffe und die Bomben und die Trümmer und alles. Aber Katha sagt, er meint die Schule.
Unsere Schule ist geschlossen. Der Lehrer hat uns nach Hause geschickt. Ich war traurig. Berta hat mir alle Butterbrote geschenkt, die sie im Tornister hatte. Aber ich hab keins gegessen. Sie sind alle noch in meinem Tornister. Ich möchte wieder in die Schule gehen, in eine richtige Schule, jeden Tag, am liebsten auch sonntags!
Wir spielen Splittertauschen
Beim erstenmal haben wir so viele Splitter gesammelt, wie wir finden konnten. Auch beim zweiten- und drittenmal und noch lange. Manche hatten sich in die Erde gebohrt, zwischen die Pflastersteine. Wir haben sie mit den Fingern ausgegraben. Abends hat Mutter geschimpft, wegen der Fingernägel. Ich habe nichts verraten. Jetzt gibt es jeden Tag und jede Nacht Angriffe. Wir können nicht mehr alle Splitter sammeln. Es gibt viel zu viele. Franz sagt, wir sollen nur die schönsten behalten und die andern wegwerfen. Ich weiß nicht, welche am schönsten sind und welche ich wegwerfen soll. Eigentlich finde ich keinen schön. Franz hat uns Kistchen gegeben. Mehr als da reingehen, soll keiner haben. Manchmal treffen wir uns im Garten zum Tauschen. Dann sitzen wir unterm Fliederbaum und stellen die Knie hoch und halten die Kästchen im Schoß – daß keiner reinsehen kann. Wir sind fünf oder sechs oder sieben. Einer zählt: Ich und du, Müllers Kuh, Müllers Esel, das bist du! Wer übrigbleibt, darf anfangen. Er holt einen Splitter aus seinem Kistchen und zeigt ihn herum. Dabei sagt er: »Ich biete.« Wenn mir der Splitter nicht gefällt, brauche ich nur zu antworten: »Ich passe.« Wenn ich ihn haben möchte, hole ich einen aus meinem Kästchen und halte ihn hoch und sage, wie schön er ist. Der andere guckt ihn genau an -und nimmt ihn oder gibt ihn zurück. Die nicht dran sind, versuchen immer, einen Splitter schlechtzumachen. Es kommt drauf an, mit wem sie befreundet sind. Manchmal gibt es sogar Streit. Dann nehmen alle ihre Kistchen und gehen weg. Auch wenn Alarm kommt, rennen wir sofort los.
Ich möchte am liebsten alle Splitter wegwerfen. In den Kanal oder in ein Kellerloch. Ich möchte viel lieber Glanzbilder tauschen. Anna hat eine ganze Schachtel voll: Rosen und Vergißmeinnicht in Körbchen, Kätzchen und Kinder und Engel. Am besten gefallen mir die beiden auf der Wolke mit Locken und kleinen Flügeln. Ein Arm liegt auf dem Wolkenkissen, der andere stützt den Kopf. Einer guckt nach rechts, der andere nach links. Aber sie gucken sich nicht an, sondern nach oben, in den Himmel. Glanzbilder muß man vorsichtig anfassen. Sie sind ganz dünn und lackig. Splitter tun weh, wenn sie viele Zacken haben. Aber dann sind sie besonders wertvoll, sagen alle. Auch die andern haben nicht mehr viel Lust zum Splittertauschen. Franz meint, wir sollen ein paar gute mitnehmen, wenn wir evakuiert werden. Auf dem Land gibt es keine Bombensplitter – sagt er –, nur Geschosse von Tieffliegern. Dort können wir wieder richtig tauschen. Drei will ich mitnehmen. Den, der aussieht wie ein Blitz. Den, der zackig ist, aber fast rund. Und einen, den ich heute morgen gefunden habe, als wir aus dem Bunker gekommen sind und in unserm Haus keine Türen und keine Fenster mehr waren. Da hat er neben meinem Bett gelegen. Die anderen werf ich einfach auf die Straße.
Sieben Stücke Torte
Lisa hat Geburtstag. Wir haben eine Torte, eine richtige Geburtstagstorte. Mehl hat Mutter noch im Schrank gehabt. Sie siebt es immer durch, wegen der Würmer. Anna hat ein Stück Hefe geholt. Ich weiß nicht, wo. Dazu hat sie noch eine kleine Tüte Zucker geholt. Sie kann es am besten; sie kennt die meisten Leute hier. Franz ist mit einem Ei gekommen. Er hat es gefunden, sagt er. Mutter hat ihn nicht zurückgeschickt. Einmal mußte er Äpfel wieder wegbringen. Aus allem hat Mutter einen Teig gemacht. Nur das Eiweiß hat sie zurückgelassen. Der Teig hat sich mächtig aufgeblasen. Das macht die Hefe. Aber als sie nachher den Kuchen aus dem Ofen genommen hat, ist er zusammengefallen. Besonders in der Mitte. Da hat sie ihn in Scheiben geschnitten und Stachelbeeren dazwischen gelegt. Es war das Glas von der Frau, bei der wir jetzt wohnen. Sie hat es zum Geburtstag von Lisa gebracht. Aus dem Stachelbeersaft und dem Eischnee wird Sahne geschlagen. Es ist sehr schwierig. Den Saft muß man ganz langsam in den Schnee laufen lassen – tropfenweise, sagt Mutter. Man muß vorsichtig schlagen. Franz hat getropft, und Anna hat geschlagen. Wenn er zu schnell geschüttet hat, hat sie ihn angeschrien. Die Sahne ist ganz weiß und süß und klebrig geworden. Wir haben alle probiert. Mutter hat aus Pergamentpapier eine Tüte gedreht und unten an der Spitze eingeschnitten. Sie hat die Sahne in die Tüte gefüllt. Und dann ging es los. Wenn sie oben auf die Tüte gedrückt hat, ist unten eine weiße gerillte Kordel
rausgekommen. Damit hat sie die Torte verziert. In der Mitte steht eine große Drei, schön geschrieben. Drum herum sitzen lauter Tupfen mit Spitzen. Am Rand läuft eine wellige Sahnekordel ringsherum. Es ist eine wunderschöne Torte. Schade nur, daß Katha nicht hier ist und Vater auch nicht. Sie sind nicht evakuiert. Männer werden nicht evakuiert. Und Katha ist schon groß und arbeitet in einer Schule, wo es Lebensmittelkarten gibt. Wer in einer Lebensmittelkartenschule arbeitet, wird nicht evakuiert. Mutter ist traurig, daß sie nicht hier sind. Aber heute haben wir die Geburtstagstorte, und heute nachmittag essen wir sie ganz auf. Erst war es nicht so schön mit der Torte. Wir haben alle um den Tisch gesessen. Immer ist ein Stuhl zuwenig. Darum müssen zwei auf einem Stuhl sitzen, meist Josef und Hans. Hans ist kleiner als ich. Lisa sitzt auf Mutters Schoß oder auf Annas, manchmal auch bei mir, aber nicht lange. Sie ist zu schwer für mich. Jeder hat einen Teller gehabt und ein Glas Milch. Der Bauer hat uns heute viel gegeben. »Zur Feier des Tages«, hat er gesagt. Josef hat ihm extra erzählt, daß Lisa Geburtstag hat. Mutter hat das Messer genommen und wollte in die Torte schneiden. Da hat sie die Tanten vor dem Fenster stehen sehen und hat das Messer auf den Tisch gelegt und ist ganz weiß geworden und langsam raus zur Haustür gegangen. Wir haben still dagesessen. Auf einmal ist Anna hochgesprungen und hat die Torte gepackt, mit beiden Händen, und ist zum Schrank gelaufen. Ich hab gesehen, wie sie die Daumen in die Sahne gebohrt hat. Franz ist sofort hingerannt und hat die Schranktür aufgerissen, und Anna hat die Torte in das Brotfach gestopft. Josef hat das Messer vom Tisch genommen und unter den Schrank geworfen. Und dann haben die beiden Tanten in der Tür gestanden. Anna sagt, die eine ist gar keine richtige Tante. Sie ist nur unsere Cousine. Aber wir sagen immer »Tante«, weil sie schon
alt ist, so alt wie Mutter. Die Tanten haben schwarze Kleider angehabt und schwarze Strümpfe und Schuhe. Wenn einer schwarze Sachen anhat, dann hat er jemanden verloren, sagen die Leute. Die meisten fallen an der Front. Ich bin sofort auf den Schoß von Franz gegangen. Anna ist stehen geblieben. So sind zwei Stühle frei geworden, und die Tanten haben Platz genommen. Mutter hat noch in der Tür gestanden und mit großen Augen auf den Tisch geschaut. Die Torte war verschwunden. Und die Tanten haben uns angesehen und die leeren Teller und die vollen Gläser. Es war ganz still. Franz hat mich in den Rücken gestoßen. Als ob ich nicht selber wüßte, daß ich nichts von der Torte sagen darf. Ich hab ihn vors Schienbein getreten, und er hat »au« gebrüllt. Da ist es noch stiller geworden. Die eine Tante hat die Brauen ganz hoch auf die Stirn gezogen, und die andere hat gehustet. Nachher haben sie noch ein bißchen gefragt. Sie wissen unsere Namen, aber sie wissen nicht, wer wir sind. Darum haben sie immer geraten. Wir haben nicht viel gesagt, nur »ja« oder »nein«. Ich hab immer an die Torte gedacht, die Torte im Schrank. Dann sind sie aufgestanden und haben gesagt, sie hätten nicht viel Zeit und wären nur mal vorbeigekommen. Wir sind alle sofort aufgesprungen, haben ihnen die Hand gegeben und einen Knicks gemacht oder einen Diener. Mutter hat sie zur Haustür gebracht. Draußen haben sie noch eine Weile gesprochen. Wir haben uns wieder so gesetzt wie vorher und Angst gehabt, was Mutter sagen würde. Sie ist zurückgekommen und hat sich auf ihren Stuhl gesetzt und geweint. Da ist Lisa auf ihren Schoß gesprungen und hat auch geweint. Wir haben uns alle drum rumgestellt und uns an die beiden gedrückt. Auf einmal ist Anna zum Schrank gegangen, hat die Torte rausgeholt und auf den Tisch gestellt. Josef ist unter den
Schrank gekrochen und hat das Messer rausgeholt. Alle haben sich wieder auf ihren Platz gesetzt. Mutter hat immer noch geweint. Wir haben sie angeschaut und gewartet. Da hat sie das Messer genommen und gesagt: »Sieben Stücke – das ist sehr schwer.« Dann hat sie erst aus der Mitte einen Kreis geschnitten und noch sechs Stücke vom Rand. Das runde Stück hat Lisa bekommen, weil es ihr Geburtstag war. So ist es doch noch schön geworden mit der Torte.
Einer will trinken
»Es sind bestimmt tausend«, hat Franz gesagt, »oder fünfhundert mindestens.« Wie eine lange Schlange sind sie durch die Straße gezogen. Wir haben in der Küche am Fenster gestanden. Die Schlange ist überhaupt nicht zu Ende gegangen. Sie haben sehr traurig ausgesehen, besonders die Frauen. Manche waren noch jung – vielleicht so alt wie Katha. Die meisten hatten große Kopftücher um und dicke Jacken und lange weite Röcke an. Die Männer hatten die Hosen in die Stiefel gesteckt. Sie haben alle gleich ausgesehen, weil sie alle Schirmmützen aufhatten und nicht rasiert waren. Da ist einer aus der Schlange rausgekommen, zum Fenster, und hat die Hand an den Mund gehoben, wie wenn man trinkt. Mutter hat schnell ein Glas genommen und Wasser reinlaufen lassen, das Fenster aufgemacht und dem Mann das Glas gegeben. Er hat ganz laut »Wasser« gesagt und das Glas auf einmal leer getrunken. Ich bin nah rangegangen und hab ihn genau angesehen. Er hat dieselben Augen gehabt wie der Ostarbeiter bei Tante Klara. Anna sagt, sie haben alle solche Augen. Sie kommen aus der Ukraine. Wenn wir wieder zu Hause sind, will sie es mir im Atlas zeigen. Danach ist noch einer gekommen und noch einer und immer mehr. Die Schlange ist ganz dünn geworden vor unserem Haus. Anna und Franz haben Gläser aus dem Schrank geholt und vollaufen lassen, und Mutter hat sie rausgegeben und wieder angenommen. Plötzlich hat einer gebrüllt: »Weiter! Weiter!« Er ist mit dem Pferd vorbeigeritten und hat alle wieder in die Schlange getrieben. Es war einer in Uniform. Die
Frau, bei der wir evakuiert sind, hat Mutter angeschrien: Es wäre gefährlich, und sie sollte froh sein, daß sie uns aufgenommen hätte, und sie würde es ihr verbieten, noch einmal Wasser zu geben. Es wäre ihr Haus! Mutter ist ganz rot geworden und hat auch geschrien: Sie würde es sich nicht verbieten lassen! Die Frau ist gegangen, und die Schlange war zu Ende, und alles war still. »Wohin werden sie gebracht?« hat Josef gefragt. »In die Scheune unten am Ufer.« »Alle?« hat Franz gefragt. »Ja, alle.« »Kriegen sie da Wasser?« hat Anna gefragt. »Ja, ja!« »Und was zu essen?« »Ja, ich glaube. Ja, sicher.« »Wo gehen die denn aufs Klo?« hat Josef gefragt. »Ich weiß es nicht.« Ich hab gesagt: »Wenn einer Ohrenschmerzen hat…« Da hat Mutter geschrien: »Ich weiß es nicht! Ich weiß gar nichts! Woher soll ich es wissen!« Beim Essen hat Josef den Löffel hingeschmissen und geheult, einfach so. Mutter hat ihn auf den Schoß genommen. »Es sind bestimmt tausend oder mindestens fünfhundert«, hat Franz gesagt. Am Abend ist der Lehrer zu uns gekommen. Wir waren sehr erschrocken. Er kommt immer zu den Frauen, wenn die Männer gefallen sind – um es ihnen zu sagen. Aber es war wegen der Ostarbeiter. Mutter darf ihnen nichts mehr geben. Sonst muß er sie anzeigen. Es tut ihm leid, hat er gesagt. Als er rausgehen wollte, hat Franz ihn noch gefragt, wie viele es sind. »Hundertfünfzig, ungefähr«, hat er gesagt. Er ist noch mal zurückgekommen und hat geflüstert: »Bald ist alles vorbei. Es dauert nicht mehr lange.« Ob sie dann wieder aus der Scheune rauskommen?
Ich glaube bestimmt, daß Mutter ihnen noch mal Wasser gibt. Dann will ich auch mithelfen. Ich bin groß genug. Am besten, wir stellen einen Eimer voll auf das Fensterbrett. So geht es schneller.
Frieden und Apfelsinen und Schokolade
Hier, wo wir mit Mutter sind, ist der Krieg zu Ende. Zu Hause, bei Vater und Katha und Tante Hanna, geht es immer noch weiter mit den Bomben und Kanonen und Tieffliegern. Die Tiefflieger sind besonders schlimm. Sie schießen auf Menschen, die draußen sind, sogar auf einzelne. Wie der Blitz fallen sie vom Himmel bis fast auf die Erde und knallen: pengpeng-peng und steigen sofort wieder hoch. Hier gibt es keine Tiefflieger mehr. Hier ist Frieden. Wir haben alle im Keller gesessen, als der Frieden gekommen ist. Vorher hat ein Mann auf der Straße durch einen großen Trichter gerufen: »Wer mit dem Feind sympathisiert, wird erschossen!« ›Sympathisiert‹ heißt ›freundlich sein‹, sagt Franz. Als die Kanonen nicht mehr geschossen haben, sind aus vielen Fenstern weiße Fahnen geweht. Aber es sind keine richtigen Fahnen. Es sind Bettücher. Aus dem Haus, in dem wir wohnen, hängt auch eine Bettuch-Fahne. »Wir ergeben uns«, hat Franz gesagt. Wir haben alle im Keller gesessen, als der Frieden gekommen ist. Es war ein lautes Dröhnen von oben. »Das sind die Panzer«, hat die Frau gesagt, bei der wir hier wohnen, »jetzt sind sie da!« Alle sind ganz still gewesen. Da hat einer an die Haustür gehauen, laut und immer wieder, und hat etwas gerufen. Lisa hat angefangen zu weinen, dann Hans und ich und dann alle. Die Frau, bei der wir wohnen, hat gesagt: »Ich muß aufmachen, sonst schlagen sie alles kaputt.« Sie ist rauf gegangen.
Mutter hat uns alle in eine Ecke geschoben und sich vor uns gestellt. Nur Lisa ist auf ihrem Arm geblieben. Da sind laute Schritte die Treppe runtergekommen. Und dann hat ein Mann in der Tür gestanden. Es war ein Neger. Katha hat ein Buch von Onkel Tom. Daran hab ich sofort gedacht. Aber der Neger in der Tür war ein Riese und ein Soldat. Er hat den Kopf runtergezogen und im Keller rumgeguckt. Dann hat er Lisa gesehen und ist gekommen und hat ihren Kopf gestreichelt und gelacht. Er hat etwas gesagt. Es war fremd – wie gesungen. Franz hat auch etwas Fremdes gesagt. Ich habe es nicht verstanden. Es war Englisch. Der Soldat hat wieder gelacht und Franz auf die Schulter geklopft. Dann ist er verschwunden. »Er kommt zurück«, hat Franz gesagt. Dann hat es auch schon wieder geklopft, und er ist die Treppe runtergekommen, in den Keller, hat ein riesiges Paket auf die Erde gestellt, hat ein großes Messer aus der Tasche gezogen, hat das Paket aufgeschlitzt, hat seine Hand reingesteckt, hat einen dicken rotgelben Ball rausgeholt und in der Hand gedreht wie eine Kugel. Da hab ich es gesehen: Es war gar kein Ball, es war eine Apfelsine – wie im Bilderbuch, aber viel größer und schöner. Ich habe noch nie eine richtige Apfelsine gesehen. Der Soldat hat sie Lisa gegeben und wieder gelacht. Lisa hat auch gelacht und die Apfelsine mit beiden Händen festgehalten. Sie hat bestimmt gedacht, es wär ein Ball! Dann hat er ihr die Apfelsine wieder weggenommen und mit dem Messer reingeschnitten. Lisa ist ganz böse geworden und hat laut geschrien. Er hat gelacht und die Schale abgezogen und die Apfelsine auseinandergebrochen. Da hat es gerochen wie noch nie. Es hat wunderbar gerochen. Jedes Kind hat eine Scheibe bekommen, Lisa zwei. Wenn man sie im Mund hat, ist es fast nur noch Saft, ganz süß, aber auch ein bißchen sauer.
Der Soldat hat das Paket wieder hochgehoben und ist die Treppe raufgestiegen. Wir sind alle hinterhergegangen, nach oben, in die Wohnung. Er hat das Paket auf den Tisch gestellt und ausgepackt. Der ganze Tisch war voll: Apfelsinen und Dosen und Schokolade und Nüsse und Zigaretten. Er hat Lisa auf den Arm genommen. Sie hat überhaupt keine Angst gehabt. Wir haben ihm alle die Hand gegeben und danke gesagt. Er hat gelacht. Dann ist er weggegangen. »Ein richtiger Weihnachtsmann«, hat Anna gesagt. Wie schön ist es, wenn Frieden ist! Zu Hause geht es immer noch weiter mit den Bomben und Kanonen und Tieffliegern. Wenn es zu Ende ist, kriegen Vater und Katha und Tante Hanna sicher auch Apfelsinen und Schokolade und Frieden.
Wir haben kein Brot
Manchmal geh ich mit Franz zum Bäcker. Es ist sehr weit. Wir müssen durch die Gärten laufen und über den Hof in den Laden. Die Leute dürfen nicht sehen, wenn wir was gekriegt haben. Das Brot ist groß und weich und weiß wie die Sahne aus Stachelbeersaft und Eischnee. Franz sagt, es ist Ami-Brot. Sie backen es für die amerikanischen Soldaten. Unterwegs spielen wir oft ›Liederfinden‹. Einer singt ein Lied und hört plötzlich auf, irgendwo, wo er will. Der andere muß mit dem letzten Buchstaben ein neues Lied anfangen. Wenn er es schafft, hat er einen Punkt; wenn nicht, kriegt der andere den Punkt. Nazilieder zählen nicht. Die sind jetzt verboten. Heute war Franz krank, und ich mußte alleine gehen. Es war noch viel weiter als sonst. Ich hab allein ›Liederfinden‹ gespielt, einfach so, ohne Punkte und mit Naziliedern. Durch den Flur vor der Bäckerei bin ich ganz langsam gegangen. Da riecht es wunderbar. Wenn Franz dabei ist, sagt er immer: »Komm schnell, ich kriege Hunger!« Ich möchte mich am liebsten auf eine Treppenstufe setzen und so lange riechen, bis ich genug habe. Ob man auch vom Geruch satt werden kann? Ich hab, genau wie Franz, die Tasche auf die Theke gestellt. Die Frau hat mich böse angesehen und gesagt: »Wo kommst du denn her? Wir haben kein Brot!« Ich bin sehr erschrocken gewesen. »Franz ist krank«, hab ich gesagt und: »Die Tante kommt gleich.« Das sagt er auch immer, auch, wenn es gar nicht wahr ist. Die Frau gibt uns nur Brot wegen Tante Hanna – sagt Franz –, weil sie am Wirtschaftsamt ist. Wir brauchen kein Geld und keine Karten.
Wenn Tante Hanna nicht am Wirtschaftsamt wär, wären schon manche Leute in unserer Straße verhungert, vor allem alte, sagt Katha. »Heute habe ich nichts. Ich kann euch nicht immer was geben!« hat die Frau gesagt. Ich bin stehengeblieben und hab an Mutter gedacht: Was tut sie, wenn ich ohne Brot komme? Ich bin immer noch stehengeblieben. Da hat die Frau die Tasche gepackt und ist verschwunden und sofort wiedergekommen. »Mehr als eins hab ich nicht!« hat sie gesagt und die Tasche auf die Theke geworfen, daß sie bis zu mir gerutscht ist. Ich hab sie schnell runtergerissen und bin weggerannt. Draußen ist mir eingefallen, daß ich nicht danke gesagt hab. Aber ich bin nicht zurückgegangen. Den ganzen Weg hab ich daran gedacht. Ein paarmal wollte ich umkehren. Ich hab es nicht getan. Hoffentlich ist Franz morgen wieder gesund. Ich will nicht mehr alleine gehen. Die Frau ist sicher noch mehr böse, weil ich nicht danke gesagt hab.
Wie lange kann man die Luft anhalten?
Ich bin wieder mit Anna gegangen. Mutter hat gesagt, wir sollen uns beim Metzger anstellen. Da war schon eine lange Schlange. Keiner hat was gesagt. Sie haben alle gefroren. Anna hat die Kordel aus der Tasche geholt. Wir haben ›Schweinchen auf der Leiter‹ gespielt. Das können wir sehr gut, sogar mit Handschuhen. Wir spielen es oft, immer wenn wir Schlange stehen. Auf einmal hat Anna gesehen, wie auf der anderen Seite auch eine Schlange gewachsen ist, vor dem Lebensmittelladen. Es ist ganz schnell gegangen. Sie hat mir die Kordel von den Fingern gerissen und gesagt: »Los, stell dich an, egal, was es gibt. Ich komm rüber, wenn ich hier fertig bin.« Wir haben uns gegenüber gestanden; manchmal ist Anna ein Stück vorgerückt und manchmal ich. Aber Anna ist viel weiter vorne gewesen in ihrer Schlange. Sie mußte auch eher drankommen, weil sie das Geld gehabt hat und die Lebensmittelkarten. Immer wenn sie vorgerückt ist, hat sie mir eine lange Nase gedreht. In meiner Schlange ist es viel langsamer gegangen. Wenn eine Frau rausgekommen ist, haben andere gefragt, ob es sich lohnt. Einmal hat eine gesagt: »Es gibt Butter.« Da sind alle ganz still geworden und haben richtige Wartegesichter gemacht. Dann ist es immer schneller gegangen in meiner Schlange, und ich bin weiter vorne gewesen als Anna und hab ihr eine lange Nase gedreht. Sie hat die Karten hochgehoben und den Kopf geschüttelt. Da hab ich einen Schrecken gekriegt und gebetet: »Lieber Gott, laß Anna eher dran sein als ich!«
Eine Frau ist rausgekommen und hat gesagt, es sollen nur noch zehn stehenbleiben. Alle haben schnell gezählt. Ich war Nummer neun. Hinter mir sind noch viele stehengeblieben. Sie haben es nicht geglaubt. Was mach ich nur, wenn Anna nicht kommt? Lieber Gott, laß es länger dauern bei mir! Wenn wir Butter kriegen, ist es immer besonders schön. Vielleicht kriegt Anna Leberwurst! Hans ißt so gerne Leberwurst. Wie lange kann ich die Luft anhalten? Wir machen es oft. Franz hat gesagt, dann steht die Zeit still. Wenn man jeden Tag zwanzig Sekunden lang die Luft anhält, hat man in einem Monat schon sechs Minuten. In einem Jahr sind es zweiundsiebzig Minuten oder eine Stunde und zwölf Minuten, in zehn Jahren zwölf Stunden und in fünfzig Jahren sechzig Stunden. Wenn einer hundert Jahre lebt, hat er hundertzwanzig Stunden gespart: fünf Tage und fünf Nächte. Die kann er dann länger leben. »Vielleicht will er gar nicht mehr«, hat Katha gesagt. Sie kennt eine Frau, die nicht mehr will. Jetzt bin ich schon Nummer sechs. Wenn Anna nicht kommt, kriegt Nummer elf meine Butter. Es ist eine große Frau mit einem Kopftuch. Ich bleib einfach auf der Stelle stehen, bis Anna hier ist. Sie drängen mich nach vorne. Wenn ich im Laden bin, ist es zu spät. Es dürfen immer nur drei Leute im Laden sein. Da hab ich ganz laut geschrien: »Anna! Anna!« »Nun geh doch weiter!« hat Nummer zehn gesagt und mich geschubst. Ich hab immer noch geschrien und mich nach hinten gestemmt. Als ich schon auf der Treppe war, hat Anna mich runtergezogen und sich an meinen Platz gestellt. »Sei doch still!« hat sie gesagt. »Warte!« Wir haben ein Viertelpfund Butter gekriegt und zweihundertfünfzig Gramm Leberwurst.
Frohe Weihnachten!
Wir beide mußten zu der Frau gehen. Franz wollte nicht. »Am Heiligen Abend!« hat er gesagt. »In der Kälte!« Es war schon dunkel. Die Frau könnte er überhaupt nicht leiden, sie waä eine richtige Hexe, und vielleicht hätte sie auch gar nichts für uns. »Doch«, hat Mutter gesagt, sie hätte was für uns, wir sollten gehen. Ich wollte auch nicht. Ich konnte die Frau auch nicht leiden. Aber wenn sie etwas für uns hatte? Vielleicht etwas Weihnachtliches, Süßes? Ich habe einmal gehört, wie Tante Hanna gesagt hat, die Frau käme an alles, sogar an Schokolade. Sie hätte einen schwarzen Markt. Aber ich weiß nicht, wo. Warum wir manchmal etwas kriegen, weiß ich auch nicht. Meist kriegen wir Butterschmalz oder Öl. Aber heute, am Heiligen Abend? Die Straßen waren ganz leer. Es hat geschneit. Über den Trümmern hat eine Decke aus Schnee gelegen. Hunderttausend weiße Flocken haben in der dunklen Luft getanzt. Ich kenne den Weg gut. Seit der Krieg zu Ende ist und wir wieder zu Hause sind, muß ich ihn oft gehen. Fast jedesmal, wenn die Frau etwas für uns hat, muß ich ihn gehen. Aber dann ist es immer hell. Der Weg ist lang, und ich habe Angst vor langen Wegen. Darum erzähle ich mir Geschichten. Es sind meine Weggeschichten. Ich erfinde sie beim Gehen. Meine Zuhörer sind die Häuser, die noch stehen. An den Trümmern geh ich schnell vorbei. Die können nicht zuhören. Die haben überhaupt kein Gesicht.
Wenn ich an dem Haus der Frau angekommen bin und meine Geschichte noch nicht zu Ende ist, gehe ich noch mal ein Stück zurück und wieder vor – bis der Schluß der Geschichte genau mit dem Ende des Weges zusammenpaßt. Manchmal ist es schwierig. Wir sind die Straße hinuntergegangen, Franz und ich. Als wir in die Hauptstraße gebogen sind, ist die Bahn gekommen. Wie ein wunderschönes Spielzeug ist sie herangefahren, ganz hell von Licht, wie der Schlitten von Sankt Nikolaus auf dem Mondstrahl. Die Schneeflocken haben geleuchtet und noch mehr getanzt. Wie ein Wunder ist es gewesen. Da hat Franz plötzlich meinen Arm gepackt und mich weitergerissen. »Komm schnell!« hat er geschrien. Ich bin gestolpert. Er hat mich gefangen. »Schnell, komm!« hat er immer wieder gerufen. Ich wollte nur die goldene Bahn sehen und hab den Kopf nach hinten gedreht. Er hat mich aber nach vorne gezogen. »Komm schnell!« Da war sie neben uns. Wir sind ein Stück mit ihr gelaufen. Dann hat sie uns überholt. »Komm, komm!« hat er geschrien. »Sie fährt weg! Wir müssen sie haben!« Da bin ich gerannt, wie ich nur konnte. »Sie soll nicht wegfahren!« Sie ist langsamer geworden, und wir sind näher gekommen. Sie ist stehengeblieben, und wir waren da. Auf einmal hab ich viele Menschen gesehen, die vorher im Dunkeln waren. Sie haben sich auf die Bahn gestürzt. Franz hat geschrien: »Halt dich an mir fest. Wir müssen rein!« Die Leute haben sich auf die Trittbretter und durch die Türen gedrängt. Manche sind wieder runtergefallen und noch mal aufgesprungen. »Zurückbleiben!« hat der Schaffner gerufen, und Franz: »Komm! Halt dich an mir fest!« Die beiden haben immer abwechselnd geschrien: Besetzt! Wir müssen rein! Vorsicht! Die Bahn fährt ab! Komm! Komm! Zurück! Los, komm!
Es geht nicht! Zurückbleiben! Einige Leute sind zurückgetreten. Da ist Franz von der Seite auf das Trittbrett geklettert. »Komm rauf, schnell!« hat er gerufen und sich an der Stange hochgezogen. Dann hat er sich durch die Tür gedrückt, in die Leute hinein. Da war ein kleiner Platz vor ihm frei, und er hat geschrien: »Los, komm rauf!« »Tür zu!« hat der Schaffner gerufen. »Die Bahn fährt ab!« Ich hab gesehen, wie die Tür von beiden Seiten zugegangen ist, ganz langsam. Ich wollte rufen, aber es ist kein Ton rausgekommen. Als nur noch ein kleiner Spalt offen war, ist Franz abgesprungen. Er hat nichts gesagt. Wir sind ein großes Stück gegangen. Ich bin immer trauriger geworden. »Ist doch nicht so schlimm«, hat er dann gesagt, »wir sind schon bald da.« Plötzlich hat er gesungen: »Stille Nacht, Heilige Nacht«. Er hat gelacht. »Alles schläft, einsam wacht«, hat er weiter gesungen und noch mehr gelacht. »Nur das traute hochheilige Paar. Das sind wir!« hat er gerufen. »Verstehst du?« Dabei hat er sich rumgedreht, immer schneller, hat getanzt und gelacht und hat mich gepackt und rumgedreht. Wir haben getanzt und gelacht und gesungen: »Stille Nacht, Heilige Nacht«. Auf einmal hat er mich losgelassen und ist einfach weitergegangen. Endlich sind wir zu dem Haus gekommen. Es ist häßlich und dunkel und hat viele Splitterlöcher. Aber es ist mein Zuhörer: Es hört immer das Ende einer Geschichte und manchmal den Anfang der nächsten. Franz ist die Stufen zum Eingang hoch und hat geklingelt. Dann ist er wieder runtergekommen, und wir haben gewartet. Es ist nichts passiert. Da ist er wieder rauf, hat geklingelt und ist runtergekommen, und wir haben wieder gewartet. Es hat noch eine Weile gedauert, dann ist die Tür aufgegangen, und die Frau hat uns mit kleinen Augen gemustert. Dann hat sie
uns erkannt und gesagt: »Ach, ihr! Wartet!« Die Tür ist wieder zugegangen, und wir haben weiter gewartet. Dann ist sie wieder rausgekommen mit einem Paket in der Hand. Es war ein Zeitungspapierpaket. »Hier!« hat sie gesagt. Franz ist hochgestiegen und hat es angenommen. »Danke!« Wir sind weggegangen. Sie hat uns nachgerufen: »Sagt zu Hause ›frohe Weihnachten‹.« Ich bin sehr traurig gewesen. Ein Zeitungspapierpaket am Heiligen Abend! Meine Beine waren ganz schwer. »Beeil dich!« hat Franz gesagt. Zu Hause hat Mutter das Paket auf den Tisch gelegt. Alle haben rumgestanden und auf Vater gewartet. Es hat sehr lange gedauert. »Was ist denn drin?« hat Josef auf einmal geschrien und mit den Fäusten auf den Tisch gehauen. Hans hat auch angefangen und zuletzt Lisa. Die großen Schwestern haben uns angeguckt. Wir haben nicht gewußt, was drin war. Franz hat die Schultern hochgezogen. Als Vater endlich da war, hat Mutter das Zeitungspapier abgewickelt. Bei der letzten Seite hab ich die Augen zugemacht. Vater hat gesagt: »Heringe!« Mutter hat auch gesagt: »Heringe!« Ich hab die Augen wieder aufgemacht und gesehen, wie Mutter sich an den Hals gefaßt hat. Alle haben uns angeguckt, Franz und mich. »Wir sollen auch noch ›frohe Weihnachten‹ sagen«, hat Franz geschrien. Dann ist es sehr still geworden. Plötzlich hat Mutter das Papier mit den Heringen hochgehoben. »Wir haben noch Kartoffeln«, hat sie gesagt. »Pellkartoffeln und Hering – das ist ein richtiges Weihnachtsessen! Der Großvater hat es immer gegessen. Wo er früher gewohnt hat, haben es Weihnachten immer alle gegessen. Das ist ein richtiges Weihnachtsessen. Morgen essen wir Pellkartoffeln mit Hering!«
Vater ist aus der Küche gegangen. Ich habe gesehen, wie er sein Taschentuch aus der Hosentasche gezogen hat. »Pellkartoffeln mit Hering«, hat Hans leise vor sich hin gesagt. Und Lisa hat in die Hände geklatscht.
Es kommen immer noch welche
Sie sieht sehr alt aus. Viel älter als alle alten Frauen, die ich kenne. Ihr Kleid ist lang und schwarz, aus steifem Stoff. Den runden Hut hat sie tief und schief in ihr Gesicht gezogen. Der eine Sohn ist gefallen, der andere vermißt. Die Leute sagen, der gefallene wäre ein feiner Kerl gewesen. Von dem andern sagen sie nichts. Nur, daß es in jeder Familie ein schwarzes Schaf gibt. Sie wartet immer auf den vermißten. Jeden Morgen steht sie in der Küche mit ihrem steifen Kleid und dem schiefen Hut und kocht das Essen. »Für meinen Sohn«, sagt sie. Sie deckt den Tisch; sie hängt seinen Anzug an die Garderobe und setzt die Schuhe darunter; sie legt das Handtuch an das Waschbecken. Ich hab oft gesehen, wie sie es macht. Ich geh immer zu ihr, wenn ich darf. Manchmal kommt sie nach draußen und erzählt den Erwachsenen, daß ihr Sohn heute heimkehrt. »Ich habe viel zu tun«, sagt sie. »Er ist lange weg gewesen. Jetzt muß er nie mehr weg.« Die Erwachsenen gehen schnell weiter. Die Kinder hören öfter zu. Ich höre immer zu. Ich warte mit ihr auf den Sohn. Manchmal bleibt sie auf den Treppenstufen sitzen. Ich setze mich neben sie und laufe zwischendurch in die Küche und passe auf, daß das Essen nicht anbrennt. Einmal hat sie mich eingeladen, ich soll mit ihr essen. Er würde später kommen. Da hab ich auf seinem Platz gesessen. Aber sie hat mich nicht angeschaut. Sie hat gegessen und nicht gemerkt, daß ich nichts gegessen hab. Da bin ich leise weggegangen. Ich glaube, sie sieht gar nicht, was jetzt ist; sie denkt nur an später, wenn ihr Sohn gekommen ist. Sie wartet.
Weil sie nie eine Schürze trägt, wird ihr Kleid immer fleckiger. Vielleicht kämmt sie sich auch nicht mehr. Die Haare stehen aus dem Hut heraus wie ein Besen. Sie riecht auch immer mehr. Manchmal kann ich es kaum aushalten, wenn ich neben ihr sitze. Aber ich will mit ihr warten. Ich kann sie nicht allein warten lassen. Wenn er nur bald kommt!
Heute hat sie mich nicht in die Wohnung gelassen. Als sie rauskam, hat sie nicht gesprochen. Ich hab mich einfach neben sie gesetzt, bis sie wieder reingegangen ist. Sie hat nichts gesagt. Vielleicht kehrt er nicht mehr heim? Jetzt kommt sie nicht mehr raus, schon drei Tage nicht. Ich warte jeden Morgen. Alles ist zu, die Tür, das Fenster, alles. Ich weiß jetzt, wie es mit dem Warten ist. Ich kann es fühlen.
Heute hat der Mann im Haus gesagt, die Frau wär abgeholt worden, in der Nacht. Es wär besser für sie. Bestimmt wär es besser für sie. Und wenn der Sohn doch noch heimkehrt? Es kommen immer noch welche.
Da bin ich losgerannt
Wir sind fast immer dabei, wenn Heimkehrerzüge ankommen. Sie kommen meist nachmittags. Wenn sie morgens kämen, wär es nicht so gut. Morgens müssen wir oft Schlange stehen, für Brot oder Kartoffeln oder manchmal auch Fleisch. Der Bahnsteig ist immer voll Menschen. Die meisten sind Frauen. Aber es sind auch ein paar Männer da, die Ruhe und Ordnung halten. Wir klettern auf Bänke oder an Stangen hoch, weil wir alles sehen wollen. Wenn der Zug einfährt, werden die Frauen unruhig; manche laufen bis zum Bahnsteigende vor. Wenn der Zug steht, wird es ganz still. Es dauert immer sehr lange, bis die Türen aufgemacht werden und die ersten aus den Wagen klettern. Dann schreien die Frauen und rennen von einer Tür zur andern. Viele halten Fotos und Namensschilder hoch. Wenn eine ihren Mann gefunden hat, machen die andern Platz um sie. Dann umarmen sich die beiden und weinen. Warum weinen sie immer nur? Warum lachen sie nie? Wir warten auf Männer aus unserer Straße. Ich weiß nicht, ob ich einen wiederkenne. Aber ich weiß die Namen von allen, die noch kommen müssen. Wir möchten so gerne den Mann oder den Sohn einer Frau zuerst sehen und losrennen und es ihr sagen, wenn sie nicht auf dem Bahnsteig ist. Wer am schnellsten rennt, kann die Nachricht bringen. Hoffentlich kann ich am schnellsten rennen.
Gestern ist einer heimgekehrt. Wir waren schon wieder zu Hause und haben draußen gespielt. Da ist er gekommen, die Straße herauf, sehr langsam. Er hat wie alle ausgesehen: mit
einem langen Mantel und mit Lumpen an den Füßen, mit einer Kappe auf dem Kopf, mit einem Bart. Wie er immer näher gekommen ist, hab ich gesehen, daß es mit ihm noch schlimmer war als mit den anderen, die heimgekehrt sind. Ich glaube, er ist als letzter aus dem Zug geklettert. Er ist stehengeblieben. Dann hat er die Füße ein Stück weitergezogen und ist wieder stehengeblieben. Eine Frau ist aus dem Haus gestürzt und zu ihm hingerannt. Sie hat die Hände vor ihr Gesicht geschlagen und zu uns rübergewinkt. Ich bin sofort hingelaufen. »Schnell«, hat sie gesagt, »lauf schnell, lauf schnell!« »Wohin?« hab ich gefragt. »Frau Brand, ihr Sohn, schnell!« Da bin ich losgerannt, die Straße rauf, in das Haus, in die Wohnung, in die Küche. Sie hat am Tisch gesessen. Ich wollte es sagen. Ich konnte es nicht. Ich habe geheult. Sie hat mich in den Arm genommen und mir den Kopf gestreichelt und gesagt, ich soll ruhig sein und sagen, was passiert ist. Da hab ich ganz laut geschrien: »Ihr Sohn!« und bin weggerannt. Zu Hause habe ich nichts davon erzählt.
Heute morgen hat Mutter gesagt: »Der Sohn von Frau Brand ist gestern nach Hause gekommen und in der Nacht gestorben.« Er wäre nur gekommen, um zu sterben. Das wäre bei vielen so: Sie kämen nur nach Hause, um zu sterben. Ich geh nie mehr zum Bahnhof, wenn Heimkehrerzüge kommen, nie mehr!
Damals und jetzt Nachwort von Peter Härtling
Jetzt, liebe Leserinnen und Leser, seid ihr mit dem Buch zu Ende, steckt voller Geschichten, die lange her sind. Und trotzdem sind sie für euch neu, wie eben geschehen. Bücher können mit der Zeit spielen, zaubern. Da ihr viel lest, wißt ihr ja Bescheid. Da wird von früher erzählt, aber Satz für Satz erlebt ihr es so, als wäre es heute. Das Mädchen, das ihr in Margaret Klares Geschichten kennengelernt habt, steht plötzlich neben euch, als wäre es eine Freundin. Und weil es euch für die Dauer eines Buches nahestand, begreift ihr auch, wie es den Krieg erlebt hat. Mir ging es jedenfalls so, als ich Margaret Klares Geschichten las: Die kenne ich ja, dachte ich, an die erinnere ich mich. Mädchen wie dieses befanden sich auch unter meinen Spielgefährten. Ich bin nämlich so alt wie Margaret Klare. Damals, als wir Kinder waren, herrschte Krieg. Er veränderte unser Leben, er veränderte die Menschen, er veränderte unsere Umgebung, und er veränderte die ganze Welt. Wenn ich das schreibe, meine ich es bitter ernst. Doch euch bedeuten solche Sätze nur noch wenig, da ihr euch diese schrecklichen Veränderungen kaum vorstellen könnt. Ich weiß das. Ich habe es aufgegeben, gedankenlos von damals zu erzählen. Meine Kinder haben es mir vorgeworfen, und ich habe sie verstanden. Krieg ist für sie erst einmal nur ein klagend oder nachdenklich oder drohend gebrauchtes Wort. Krieg darf es nicht mehr geben. Klar! Selbst das ist Geschwätz. Denn Krieg wird bis
heute immer wieder auf der Welt geführt. Und immer wieder bringen sich Menschen gegenseitig um. Wir schauen uns Bilder vom Krieg im Fernsehen an und sind weit fort von ihnen. So weit fort wie meine Kinder von meinem Damals. Mit dem konnten sie nichts anfangen. Es ist ihnen zu ungenau, zu unwirklich. Darum haben sie es mir abgewöhnt, mein Damals gegen ihr Jetzt auszuspielen. Vor allem meine jüngste Tochter Sophie. Sobald ich im Gespräch bloß »Damals« oder »Im Krieg« sagte, straffte sich Sophie, setzte sich in Haltung, starrte mir in die Augen und brüllte Reime, die F. K. Waechter in seinem »Struwwelpeter« geschrieben hat: »Als ich noch im Kriege war, gab’s Rübensuppe fast ein Jahr. Du sollst die Suppe essen. Ich werd’ mich sonst vergessen.« Ich hab mich nicht vergessen, dank Sophies Warnung. Ich habe nachgedacht. Wenn ich heute vom Krieg und aus meiner Kindheit erzähle, versuche ich Menschen so zu schildern, daß meine Kinder dabeisein und deren Angst und Hoffnung teilen könnten. Margaret Klare glückt es in ihren Geschichten, vergangene Erlebnisse und Erfahrungen gegenwärtig werden zu lassen. Die Menschen, mit denen sie zu tun hatte, die Umgebung, in der sie lebte – dies alles wird in ihren Sätzen lebendig. Trotzdem könnt ihr natürlich nicht jede Begebenheit, jeden Eindruck nachvollziehen, euch vorstellen, wie es gewesen ist. Das ist auch nicht nötig. Das soll auch nicht sein. Ein Bombenhagel gleicht eben keinem Gewitter, und Krieg ist kein Abenteuer. Manches, was Kinder wie Margaret Klare oder ich damals erlebten, gehört allein uns und ist in unserem Gedächtnis verschlossen. Dafür habt ihr sicher Verständnis. Wichtig ist nur, daß ihr lesend mitlebt, daß ihr ganz plötzlich und ganz heftig von Angst und Schrecken so gebeutelt werdet wie das Mädchen vor beinahe fünfzig Jahren im Bombenkeller. Und
(wie sie) gleich danach wieder Lust habt, zu spielen und zu träumen. Vielleicht – nein, mit einem Vielleicht möchte ich nicht schließen. Ich wünsche mir fest, daß diese Geschichten sich in eurem Gedächtnis festsetzen – als wären es eure. Dann wißt ihr, warum wir den Frieden, den ihr kennt und in dem ihr lebt, bewahren und schützen müssen. Aber da höre ich die Sophie schon wieder grauslich brüllen: »Als ich noch im Kriege war…« Also lasse ich die großen Sprüche und gebe euch einen Rat, der mein Nach-Wort fast zum Vor-Wort macht: Lest lieber noch mal, wie Onkel Behr schaukelt, wie selbst bei Bombenangriffen die Zeit vergeht oder wie für Heißhungrige eine Torte schlau geteilt wird…
Einige geschichtliche Erklärungen zu Ich hab keine Angst
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 und in den Tagen darauf wurden in Deutschland die meisten der ungefähr 400 Synagogen in Brand gesteckt. Jüdische Friedhöfe wurden verwüstet. Viele Wohnungen und Geschäfte – wie das von Herrn Lustig – wurden zerstört und geplündert. An die 100 jüdische Menschen wurden ermordet, zahllose andere verletzt und gequält, etwa 30000 verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. In den folgenden Jahren mußten unglaublich viele jüdische Menschen sterben. Es ist eine Zahl, die sich keiner wirklich vorstellen kann: 5,7 Millionen. Auch viele Zigeuner haben in dieser Zeit gelitten – wie Saffi und ihre Familie. Sie wurden wie die Juden verfolgt und getötet. zu Franz kennt ein neues Spiel Das Spiel sollte zeigen, wie Rudolf Heß in England mit dem Fallschirm abgesprungen ist. Er war der Stellvertreter Adolf Hitlers. Am 10. 5. 1941 flog er nach England. Was er dort genau wollte, weiß man nicht. Als er mit dem Fallschirm landete, wurde er gefangengenommen. zu Darfs ein bißchen mehr sein? Je länger der Krieg dauerte, desto weniger gab es zu essen und anzuziehen. Jeden Monat mußten die Leute im Lebensmittelamt ihre Lebensmittelkarten holen. Darauf stand genau, wieviel Brot, Butter, Fleisch, Kartoffeln usw. jeder bekam. Im Wirtschaftsamt gab es Bezugsscheine für Kleider
und Schuhe. Aber alles wurde immer knapper. Zuletzt bekam man gar nichts mehr. Auch nach dem Krieg wurde es lange Zeit nicht besser. Die Leute tauschten ihre Sachen bei den Bauern oder Geschäftsleuten gegen Lebensmittel und kauften auf dem schwarzen Markt. Wer nichts hatte, mußte hungern. zu Peter kommt bestimmt raus Das Gedicht, das Franz und alle anderen Schulkinder lernen mußten, ging so: Es sterben die Grenadiere in russischem Eis und Schnee; es sterben für Deutschlands Ehre die Helden der Sechsten Armee. Das war die traurige Kunde, die Kunde von Stalingrad, die uns in ernster Stunde ins Herz getroffen hat. Was sollen wir dir sagen, du allertapferstes Heer? In Deutschlands Schicksalstagen ist uns kein Opfer zu schwer. Wir stehen in stummer Trauer, geschlossen in Einigkeit. Wir stehen wie eine Mauer, in Treue zu allem bereit. Zur Sechsten Armee, die in Stalingrad eingekesselt war, gehörten 284000 Soldaten. Hitler hatte den Rückzug verboten.
Ende Januar, als sie kapitulierten, lebten nur noch ungefähr 200000. Sie kamen in Gefangenschaft. Nur etwa 5000 haben überlebt. Von den allermeisten hat keiner mehr etwas gehört. zu Es ist wegen Ha-da-mar Ha-da-mar war kein Auto, wie das Mädchen meinte. Hadamar ist ein Ort im Westerwald, in der Nähe von Limburg. Dort wurden von 1941 bis 1945 in der damaligen Heil- und Pflegeanstalt 15000 Menschen umgebracht: geistig und psychisch behinderte Kinder und Erwachsene, Kinder aus Ehen zwischen Juden und Nichtjuden, junge Männer und Frauen aus Polen und der Sowjetunion, die als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt worden waren und angeblich Tuberkulose hatten. Anfangs wurden die Menschen in Gaskammern vergiftet. Da wurden Leute aus der Umgebung durch die Transporte und durch Rauch und Geruch aufmerksam. Sie protestierten mit Unterstützung ihres Bischofs. Daraufhin tötete man die Menschen nicht mehr durch Gas, sondern durch Injektionen. Heute steht auf dem Friedhof, wo die meisten Opfer begraben wurden, ein Mahnmal. Darauf ist geschrieben: MENSCH, ACHTE DEN MENSCHEN. zu Fliegeralarm und Vitaminbonbons Was war die Kinderlandverschickung (KLV)? Wegen der Bombenangriffe wurden viele Kinder aus den Großstädten in die besetzten polnischen Gebiete oder ins Riesengebirge geschickt. Sie lebten dort in Lagern. Oft fuhren ganze Schulklassen zusammen. Die Hitler-Jugend-Führung sagte den Eltern, die Kinder könnten sich dort erholen und hätten geregelten Schulunterricht.
In Wirklichkeit sollten sie dort durch harten HJ-Dienst zu guten Nationalsozialisten erzogen werden. Der Unterricht war Nebensache. Es gab auch gar nicht genug Fachlehrer. Für kranke Kinder wurden Lagerunfähigenschulen in den großen Städten eingerichtet. Aber es waren nicht nur kranke Kinder dort: Manche Eltern hatten ›gute Beziehungen‹ zum Amtsarzt oder zu den Lehrern in der braunen Uniform. Die LU-Schulen konnten nicht lange bestehen – wegen der Bombenangriffe. zu Wir spielen Splittertauschen Bei Luftangriffen auf deutsche Städte wurden 2 Millionen Tonnen Bomben abgeworfen. Dabei kamen ungefähr 500000 Menschen ums Leben, vor allem Frauen und Kinder. zu Es kommen immer noch welche Wie diese Mutter warteten damals viele hunderttausend Frauen auf ihre Söhne und Männer. Viele kehrten heim, vor allem in den Jahren 1947 bis 1949; aber noch mehr kamen nie zurück.