Ich brauch dich – Heute Nacht
Marie Ferrarella
Tiffany Duo 126–02 08/00 Scanned & corrected by SPACY
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Ich brauch dich – Heute Nacht
Marie Ferrarella
Tiffany Duo 126–02 08/00 Scanned & corrected by SPACY
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Seit einigen Jahren passiert Entsetzliches in Südkalifornien. Kleinkinder verschwinden spurlos. Cade Townsend, dessen Sohn seit drei Jahren vermisst wird, hat sich mit Kollegen darauf spezialisiert, Kinder zu suchen. Als eines Tages die attraktive Zahnärztin Kayla Dellaventura zu ihm in die Detektei kommt, entschließt er sich, ihren Fall persönlich zu übernehmen. Kaylas kleine Nichte wurde nach einem Autounfall entführt. Ihre Bedingung, sich maßgeblich an der Arbeit zu beteiligen, erfüllt Cade mit zwiespältigen Gefühlen. Er spürt ein starkes sexuelles Interesse an Kayla, befürchtet aber, dass ihre gegenseitige Anziehungskraft den Erfolg ihrer Such eher behindert. Eine heiße spur führt sie nach Phoenix zu einem Frauenarzt. Getarnt als liebendes Ehepaar erscheinen sie in dessen Praxis. Sie spielen ihre Rolle so perfekt, dass sie noch in dieser Nacht ihrem leidenschaftlichen Verlangen nachgeben...
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1. KAPITEL „Wo bist du nur?“ Die dunklen glänzenden Augen, die seinen eigenen so ähnlich waren, schauten Cade Townsend an. Brachen ihm das Herz. Wie ein Blinder ertastete Cade mit den Fingerspitzen die Umrisse des Kindergesichts. Doch statt die zarte Haut und die weichen Konturen eines Dreijährigen zu spüren, kamen seine Finger mit einer kalten harten Oberfläche in Berührung. Dem Glas, hinter dem Davins Foto steckte. Heute war Davins Geburtstag. Heute vor drei Jahren hatte er seinen Sohn zum letzten Mal gesehen. Für den Rest seines Lebens würde er sich an diesen Tag erinnern. Er war mit Davin in einem Erlebnispark gewesen, um seinen Geburtstag zu feiern. Mit Karussells und Lärm und Musik. Der Junge hatte gar nicht gewusst, wo er zuerst hinschauen sollte, so fasziniert war er gewesen. Wie ein Schwamm hatte er alle Eindrücke aufgesogen. Cade lächelte die Fotografie zärtlich an. Er hatte darauf bestanden, dass der erste Teil des Tages ihnen beiden allein gehörte. Er hatte mit seinem Sohn feiern wollen. Für eine Geburtstagsfeier mit Spielkameraden und Geschenken war später am Tag immer noch Zeit. Doch „später“ kam nie. In den Tagen und Wochen nach Davins Verschwinden aus dem Freizeitpark schien das Leben für Cade keinen Sinn mehr zu machen. Er, dessen Schriftstellerkarriere gerade erst so hoffnungsvoll angelaufen war, verspürte keine Lust mehr zu schreiben. Stattdessen griff er immer öfter zur Flasche, um Betäubung und Vergessen zu suchen. Doch diesen Weg hatte bereits sein Vater eingeschlagen, der im Alter von -4-
zweiundvierzig Jahren im Vollrausch gestürzt war und sich das Genick gebrochen hatte. Diese Art Vermächtnis wollte Cade seinem Sohn nicht hinterlassen. Deshalb hatte er sich eines Tages entschlossen, der quälenden Situation wenigstens irgendetwas Gutes abzugewinnen, und hatte ChildFinders, Inc. gegründet, eine Detektei, die darauf spezialisiert war, verschwundene Kinder aufzuspüren und wieder zu ihren Familien zu bringen. Und ChildFinders, Inc. hatte einen durchschlagenden Erfolg. Aus dem ganzen Land kamen verzweifelte Eltern nach Bedford in Südkalifornien angereist, um die Hilfe von Cades Detektei in Anspruch zu nehmen. Bislang hatten er und seine Mitarbeiter sämtliche Kinder gefunden. Bis auf Davin. Es gab Tage, da fühlte sich Cade, als kämpfe er gegen Windmühlen. Aber in Resignation zu versinken konnte er sich nicht erlauben. Er durfte sich nicht aufgeben, durfte die Hoffnung nicht verlieren, dass sein Sohn eines Tages wieder bei ihm sein würde. Aber an Tagen wie heute, Tagen, die so viele Erinnerungen bargen, war es besonders schwer, sich von dem Schmerz nicht überwältigen zu lassen. Erst als sie sich räusperte, merkte Cade, dass er nicht allein in seinem Büro war. Auf der Schwelle stand eine Frau. Schlank, mit einer langen dunkelroten Mähne. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich nervöse Aufregung. Cade stellte Davins Fotografie auf seinen Schreibtisch zurück, hob den Blick und schaute die Frau an. „Kann ich Ihnen helfen?“ fragte er, während er sich erhob. Kayla Dellaventura deutete mit dem Kopf hinter sich. „Ihre Sekretärin sagte, dass ich reingehen darf.“ Er hob eine Augenbraue. „Meine Sekretärin ist krank.“ Sie mochte es nicht, wenn sie durcheinander war. Normalerweise wusste sie immer ganz genau, wo es langging. -5-
Deshalb war die Situation, in der sie sich gerade befand, doppelt schwierig für sie. Sie warf einen Blick über die Schulter auf das vordere Büro, das jetzt leer war. „Eine blonde Frau...“ „Ach so“, unterbrach Cade sie, „das war wahrscheinlich Megan. Meine Partnerin. Eine meiner Partner“, ergänzte er, ChildFinders, Inc. war in den drei Jahren ihres Bestehens zu einer stattlichen Größe herangewachsen. Megan Andreini war damals beim FBI mit der Suche seines Sohnes betraut gewesen. Aus persönlichen Gründen hatte sie kurze Zeit später gekündigt und sich ChildFinders, Inc. angeschlossen. Im darauf folgenden Jahr hatten sie Sam Walters, einen Expolizisten, für die Detektei gewinnen können, und kürzlich war auch noch Megans jüngerer Bruder Rusty, der eben sein Examen in Kriminologie und Rechtswissenschaften abgelegt hatte, zu ihnen gestoßen. Genug Arbeit hatten sie mit Sicherheit. Das anfängliche Tröpfeln hatte sich in einen sehr beständigen Strom verwandelt. Und bei jedem Auftrag handelte es sich um ein verschwundenes Kind. Schon allein der Gedanke daran machte Cade krank. Er verdrängte ihn schnell und deutete auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Möchten Sie nicht Platz nehmen?“ Die Frau ließ sich auf der vordersten Kante nieder und schaute Cade mit einem energischen Blick in die Augen. Die meisten seiner Klienten gaben sich alle Mühe, eine tapfere Fassade zu wahren. Doch sobald das Gespräch begann, brachen nicht wenige zusammen und schluchzten. Diese Frau hier sah jedoch nicht aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Sie wirkte vielmehr wild entschlossen. Diese Frau war durch und durch eine Kämpfernatur, das erkannte Cade sofort. „Also, hören Sie zu. Vor zwei Tagen ...“, begann sie, als ob sie keine Sekunde Zeit verlieren wollte. Cade unterbrach sie freundlich: „Mein Name ist Cade -6-
Townsend. Und Sie sind?“ Kayla kam sich vor wie die letzte Idiotin. Wie hatte sie bloß vergessen können, sich vorzustellen? Na, warum schon? dachte sie. Weil du noch nie in so einer Situation gewesen bist, deshalb. Sie warf den Kopf in den Nacken und sagte: „Ach ja, natürlich. Ich bin Kayla Dellaventura. Dr. Kayla Dellaventura“, fügte sie nachlässig hinzu, als ob der Titel, den sie sich hart erarbeitet hatte, kaum einen Gedanken wert wäre. „Ich bin Zahnärztin“, erklärte sie. Sie merkte, wie abgehackt und unzusammenhängend sie klang. „Entschuldigen Sie, aber ich bin immer noch völlig durcheinander.“ Cade kannte das Gefühl aus eigener Erfahrung. „Lassen Sie sich Zeit“, riet er ihr. Seine tiefe wohlklingende Stimme übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Seit dem Unfall hatte sie das Gefühl, dass die Welt vollkommen aus den Fugen geraten war. Von einer Sekunde zur nächsten hatte sich alles verändert. Sie rutschte noch ein bisschen weiter auf ihrem Stuhl vor. „Ich möchte, dass Sie mir helfen, meine Nichte zu finden. Sie wurde entführt.“ Cade zog ein ledernes Notizbuch aus seiner Hemdtasche und schlug eine neue Seite auf. „Sie haben Grund anzunehmen, dass sie entführt wurde?“ „Grund?“ Kayla lachte erbittert auf. „O ja, wir haben Grund anzunehmen, dass sie entführt wurde.“ Wut machte es ihr leichter, mit der Situation umzugehen. „Die kleine Heather ist achtzehn Monate alt, also noch nicht unbedingt in dem Alter, in dem man in ein Auto steigt und einfach davonfährt.“ Kayla versuchte sich zusammenzureißen und atmete tief durch. „Tut mir Leid. Aber die letzten Tage waren nicht gerade ein Honig schlecken.“ Sie fuhr sich mit ihren unlackierten Fingernägeln durch die dunkelrote Mähne. „Meine Schwester -7-
hatte vor zwei Tagen einen Autounfall. Heather und sie wurden dabei verletzt. Die Sanitäter wollten auf Nummer sicher gehen und riefen einen zweiten Rettungswagen, der Heather in eine Spezialklinik für Kleinkinder bringen sollte. Ins Mission Memorial.“ Ihre grünen Augen verdunkelten sich. „Nur leider ist der Krankenwagen mit Heather nie dort angekommen. Und von den Sanitätern fehlt auch jede Spur.“ Sie erinnerte sich daran, wie fassungslos sie gewesen war, als sie kurz nach dem Unfall ins Krankenhaus gefahren war, um sich nach ihrer Nichte zu erkundigen. Ungläubigkeit hatte sich in kalte Wut verwandelt. Danach war ihr nichts anderes übrig geblieben, als ihre Eltern anzurufen und ihnen zu erzählen, dass ihr einziges Enkelkind vermisst wurde. Und weil sie ihre Eltern nicht noch mehr belasten wollte, war sie es auch gewesen, die ihrer Schwester Moira die schlimme Nachricht überbracht hatte. Sie erinnerte sich an das entsetzliche Gefühl von Hilflosigkeit, als sie sah, wie Moira von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Es war klar, dass keiner von ihnen diese Ungewissheit lange aushalten würde. Kayla musste Heather einfach finden. „Momentan sieht es so aus, als wäre der Krankenwagen gestohlen worden.“ Sie beugte sich vor und sah Cade eindringlich in die Augen. „Langer Rede kurzer Sinn: Meine Nichte ist irgendwo da draußen, und ich will sie so schnell wie nur möglich finden.“ Für Cade gab es immer noch mehr Fragen als Antworten. „Ihre Schwester...“ Kayla fiel ihm ungeduldig ins Wort, weil sie wusste, was er fragen wollte: „Liegt im Augenblick in einem Krankenhausbett im Harris Hospital und hat offen gestanden nicht das Gefühl, dass das Leben noch lebenswert ist.“ Die beiden Schwestern, die zwei Jahre auseinander waren, standen sich sehr nah. Moira war die Zerbrechlichere von ihnen beiden, das scheue Reh, das umhegt werden musste. Und dafür war in erster Linie -8-
Kayla zuständig. Kayla war überhaupt immer für alles zuständig. „Die Familie hat mich ermächtigt, in ihrem Namen zu handeln.“ „Die Familie?“ Die Situation war schrecklich, aber als Cade das hörte, musste er sich fast ein Schmunzeln verkneifen. Das klang ja wie in einem alten Mafiafilm. Kayla. wurde allmählich ungeduldig. Sie hatte schon zwei Tage vertrödelt und wollte endlich etwas Nützliches tun. Etwas Produktives. Sie wollte Heather finden, bevor ihrer Nichte noch mehr zustieß. Was dieses „noch mehr“ sein könnte, daran wollte sie gar nicht erst denken. „Ja. Mein Vater, meine Mutter, meine Brüder, meine Schwester meine Familie eben“, gab sie unwillig zurück. Kein Zweifel, Cade hatte es hier mit einem höchst ungeduldigen Energiebündel zu tun. Er versuchte besonnen und methodisch vorzugehen. „Haben Sie einen Erpresserbrief bekommen?“ „Nein.“ Er machte sich eine Notiz und unterstrich sie zwei Mal. Ein fehlendes Erpresserschreiben war normalerweise kein gutes Zeichen. Aber es war noch zu früh, um Schlüsse zu ziehen. Er hob den Blick und schaute Kayla in die Augen, die jetzt von einem intensiven Grün waren. „Warum glauben Sie dann, dass es sich um eine Entführung handelt?“ Der bedächtige Unterton, der in seiner Stimme mitschwang, ging ihr langsam, aber sicher auf die Nerven. Sie war nicht hierher gekommen, um zu plaudern! „Heather ist verschwunden, ist das nicht Grund genug?“ „Nun, es könnte immerhin sein, dass es dem Täter zunächst nur um den Diebstahl des Krankenwagens ging und er erst später gemerkt hat, dass Ihre Nichte drin war.“ „Wissen Sie, das ist eine wenig tröstliche Alternative“, erwiderte Kayla mit einem leicht sarkastischen Unterton. „So -9-
oder so, Heather ist immer noch verschwunden.“ „Das ist richtig“, räumte er ein, „aber wenn es die Absicht war, den Krankenwagen zu stehlen und nicht das Kind, ist es durchaus wahrscheinlich, dass man die Kleine irgendwo absetzt, wo sie wohlbehalten aufgefunden wird. Insofern denke ich schon, dass es sich hierbei um eine tröstliche Alternative handelt.“ Dennoch: Diese Aussicht bewirkte nicht, dass sie sich besser fühlte. Es bedeutete, dass Heather sonst was passieren konnte. Kayla kam sich langsam vor wie in einem Labyrinth, wo sie den Ausgang nicht finden konnte. Ihre Ungeduld wuchs. „Hören Sie, Mr. Townsend, ich möchte wirklich nicht wie eine gesprungene Schallplatte klingen, aber während Sie sich hier in Theorien ergehen, ist meine Nichte immer noch verschwunden.“ Diese Spekulationen über einen Diebstahl brachten sie doch rein gar nicht weiter. „Die Polizei versucht den gestohlenen Krankenwagen samt Sanitäter zu finden, aber bis jetzt hatte sie noch kein Glück.“ Sie sah, wie Cade den Mund aufmachte, und glaubte schon zu wissen, was er sagen wollte. „Ich weiß, ich weiß, die Polizei tut alles, was in ihrer Macht steht, deshalb ersparen Sie mir bitte Ihre Predigt. Aber auf dem Department haben sie leider noch eine ganze Menge mehr zu tun, als nur nach meiner verschwundenen Nichte zu suchen. Ich kann denen nicht vorschreiben, was sie tun sollen. Leider.“ Cade hatte das untrügliche Gefühl dass Dr. Kayla Dellaventura bereits alles versucht hatte, der Polizei von Bedford Dampf zu machen, und damit gescheitert war ... allerdings nicht, weil sie es nicht energisch genug versucht hätte, dessen war er sich sicher. „Aber mir können Sie vorschreiben, was ich tun soll?“ In seiner Stimme schwang ein belustigter Unterton mit. Kayla konnte nicht verstehen, was an der Situation hier lustig sein sollte. „Nun, immerhin bezahle ich Sie, deshalb denke ich - 10 -
schon, dass ich das durchaus tun kann.“ Es kostete sie einige Anstrengung, sich zu mäßigen. Obwohl sie immer sehr direkt war, war sie normalerweise nicht so schroff zu den Leuten. Aber im Augenblick stand einfach zu viel auf dem Spiel. Cade musterte sie einen Moment, bevor er sprach. Er war nicht verärgert, aber es war kaum zu übersehen, dass die gute Frau Doktor einen kleinen Dämpfer brauchte, damit ihr ein für alle Mal klar wurde, wer bei diesen Ermittlungen das Sagen hatte. „Sie haben einen Anspruch darauf, dass ich mein Bestes tue, um Ihre verschwundene Nichte zu finden, Dr. Dellaventura“, informierte er sie in ruhigen, wohl abgewogenen Worten. „Aber es berechtigt Sie nicht, mir vorzuschreiben, wie ich meine Untersuchung durchzuführen habe. Das liegt ganz allein in meinem Ermessen und dem Ermessen der Leute, die bei ChildFinders, Inc. arbeiten. Kurz gesagt, Sie bezahlen für Professionalität und nicht dafür, den Boss spielen zu dürfen,“ Er schaute sie forschend an, ob seine Botschaft auch angekommen war. „Noch irgendwelche Fragen?“ Das hatte sie kommen sehen. Zumindest hatte der Mann Rückgrat und war kein untertäniger Bürokrat. Um ihre Mundwinkel spielte ein winziges Lächeln. „Nun, immerhin habe ich jetzt kein schlechtes Gewissen mehr, dass ich anfangs so gereizt war.“ Er lächelte sie an. Vielleicht hatte er ein bisschen ruppig geklungen, aber Cade hatte das Gefühl, dass alles andere keinen Eindruck bei ihr hinterlassen hätte. „Ich hatte nicht vor, Ihnen eine Strafpredigt zu halten.“ Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr das dunkelroten Haar ums Gesicht und die Schultern flog. „Machen Sie sich keine Gedanken. Meine Gefühle spielen hier keine Rolle, Mr. Townsend. Das Einzige, was zählt, ist, dass Sie Heather - 11 -
finden. Lebend“, unterstrich sie. Sie gestattete sich einen Moment, den harten Panzer abzulegen, und gestand: „Ich habe eine schreckliche Ahnung, dass wenn wir sie nicht bald finden werden, wir sie nie wiedersehen.“ Cade wusste, dass die Suche nach einem Kind immer erfolgloser wurde, je mehr Zeit nach seinem Verschwinden verstrich. Erinnerungen verblassten, Fakten gerieten durcheinander, Spuren verloren sich oder wurden übersehen. „Wenn wir Heather nicht finden“, fuhr Kayla fort, „wird Moira nicht die Kraft haben durchzuhalten.“ Davon war sie überzeugt. Moiras Leben schien an einem seidenen Faden zu hängen. Und dieser Faden war Heather. „Moira ist Ihre Schwester“, riet er. „Ja“, bestätigte sie und schüttelte über sich selbst den Kopf, als ihr klar wurde, dass sie ihm Moiras Namen nicht gesagt hatte. Das zeigte nur, wie durcheinander sie war. „Ihr voller Name ist Moira McGuire.“ Er las in ihren Augen, dass die beiden Schwestern sich sehr nah standen. Und Kayla war von den beiden wahrscheinlich diejenige, die immer alles in die Hand nahm. Oder durchpeitschte. Sie richtete sich auf und schien in ihrem Stuhl einen Zoll zu wachsen. „Sie übernehmen den Fall.“ Genau genommen hätte es eigentlich eine Frage sein müssen, aber es klang eher wie eine Feststellung. Cade hatte das Gefühl, dass ein Nein dieser Frau gegenüber wahrscheinlich niemals eine leichte Sache war. „Meine Mitarbeiter sind im Moment alle beschäftigt ...“, begann er. „Ich habe nicht nach Ihren Mitarbeitern gefragt, Mr. Townsend“, schnitt sie ihm kühl das Wort ab. „Ich... meine Familie“, präzisierte sie, als ob sie den Vorschlag gemacht hatte, ChildFinders, Inc. einzuschalten, „möchte Sie.“ Cade erwog flüchtig, seine Partner zu verteidigen, die alle - 12 -
hervorragende Arbeit leisteten, aber er hatte das Gefühl, dass alles, was er sagen würde, auf taube Ohren stoßen würde. Die Lady hatte sich ihre Meinung offensichtlich bereits gebildet. Er nickte zustimmend und begann zu erklären: „Ich habe gerade gestern einen Fall abgeschlossen...“ „Gut, das heißt, dass Sie frei sind.“ Er fragte sich ernsthaft, ob diese Frau wohl beim Militär gewesen war. Es würde schwierig werden, sich mit ihr in irgendeiner Form abzusprechen. Wenn er auch nur einen Funken Verstand hätte, würde er seine Finger von dem Fall lassen. Das Lächeln kehrte langsam auf seine Lippen zurück. „Ich hätte darauf wetten können, dass Sie ein Einzelkind sind.“ Kayla, die einen Moment in die Betrachtung seines stolzen kantigen Gesichts versunken war, blinzelte verdutzt. Wie kam er denn auf so eine Idee? „Warum das denn?“ „Sie klingen so, als wären Sie daran gewöhnt, immer Ihren Willen durchzusetzen.“ Weil es eher wie eine Beobachtung denn wie eine Kritik klang, ließ sie es ihm durchgehen. „Das hat nichts mit Einzelkind zu tun, sondern mit Entschlossenheit, an dem, was man für richtig hält, festzuhalten - ein Rat, den mir mein Vater einmal gegeben hat. Ich bin überzeugt davon, dass Sie der Einzige sind, der in der, Lage ist, Heather zu finden. Sind wir uns einig?“ drängte sie. „Ich fühle mich geschmeichelt, Ms.... Dr. Dellaventura.“ Sie hatte ihm nicht schmeicheln wollen. Sie hatte nur gesagt, was sie dachte. Sie zuckte die Schultern. „Wenns Ihnen hilft, schön. Und gut bezahlt werden Sie auch. Ich zahle Ihnen mehr als Ihren üblichen Tagessatz.“ Da leuchteten bei Cade sämtliche Alarmlämpchen auf. Die Dame verstand hier ganz offensichtlich etwas falsch. Der Erfolg von seiner Arbeit hing nicht davon ab, ob ein Klient bereit war, ihm mehr zu zahlen. - 13 -
„Und warum wollen Sie mich über meinen üblichen Tagessatz hinaus bezahlen, Dr. Dellaventura?“ fragte er misstrauisch. „Nennen Sie mich Kayla“, antwortete sie ihm stattdessen. „Sie werden sich an meinen Namen gewöhnen müssen, weil ich vorhabe, Ihnen wie ein Schatten überallhin zu folgen, bis wir Heather gefunden haben.
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2. KAPITEL „Wie ein Schatten“, wiederholte Cade fragend. Kayla nickte, als ob es selbstverständlich sei, dass sie ihn bei seinen Ermittlungen begleiten würde. Er konnte nur ungläubig den Kopf schütteln. Sein oberster Grundsatz war, allein zu arbeiten. Er mochte es nicht, wenn ihm irgendjemand auf den Füßen herumstand. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und musterte Kayla eingehend, bevor er schließlich sagte: „Ich verstehe Ihre Situation durchaus. Aber wir von ChildFinders, Inc. bevorzugen es, wie Profis zu arbeiten. Und ich möchte doch ernsthaft bezweifeln, dass man Ihnen in Ihrer Ausbildung Dinge beigebracht hat, die bei einer kriminalistischen Untersuchung von Belang sind.“ Kayla wusste, wann ihr jemand entschiedenen Widerstand entgegensetzte. Sie ging damit auf die einzige Weise um, die sie kannte: Sie walzte ihn platt. „Da bin ich leider anderer Meinung, Mr. Townsend.“ In seinem Lächeln lag ein Anflug von Nachsicht. „Ich habe aber nicht vor, während der Ermittlungen Zahnschmerzen zu bekommen.“ Jetzt wurde Kayla langsam ärgerlich. Was meinte dieser selbstgefällige Detektiv eigentlich, wer er sei? „Nun, auch wenn Sie erst nächstes Jahrhundert Zahnschmerzen bekommen sollten, könnte ich nicht mehr für Sie tun, als Sie zu einem Kollegen zu überweisen. Ich habe mich nämlich auf die Behandlung von Kindern spezialisiert, und ich möchte doch stark bezweifeln, dass Sie noch Ihre Milchzähne besitzen.“ Cade wollte etwas erwidern, doch sie war nicht zu bremsen. „Und nur zu Ihrer Information, Mr. Superprofi. Ich habe im Nebenfach Polizeirecht und Kriminalistik studiert.“ Die Frau hat Biss, dachte Cade. Hoch gewachsen und gertenschlank wie sie war, erinnerte sie ihn an einen schottischen Terrier, nicht gewillt loszulassen, wenn sie sich einmal in etwas - 15 -
verbissen hatte. „Nun, und ich habe im Nebenfach Kunst studiert. Die bildende Kunst war nicht mehr als eine flüchtige Leidenschaft von ihm gewesen. Gleich im ersten Semester hatte er Elaine kennen gelernt... und hatte sich noch mit dem Pinsel in der Hand in sie verliebt. „Aber das macht noch lange keinen Pablo Picasso aus mir.“ „Nein“, stimmte Kayla leichthin zu, um ihre Überraschung zu überspielen, „aber es macht Sie zu Cade Townsend, der vielleicht genauso gut oder besser als besagter Künstler ist ... auf seine Art“, betonte sie. „Wir sind alle vielschichtig, Mr. Townsend, und wir sollten uns nicht davor fürchten, in diese Schichten auch einzutauchen.“ Die Redewendung „Dem Teufel ein Ohr abschwatzen“ kam Cade in den Sinn. Sie passte auf die Frau in seinem Büro wie das Tüpfelchen auf das i. „Und Sie haben auch einen Abschluss darin?“ „Selbstverständlich“, gab Kayla zurück. Sie fügte nicht hinzu, dass sie die Jahrgangsbeste gewesen war. Dann würde er womöglich noch auf die Idee kommen, sie versuche ihn zu beeindrucken Das wollte sie nicht. Sie wollte Cade Townsend lediglich davon überzeugen, dass sie ihn bei seinen Ermittlungen nicht behindern würde. Dennoch war in seinen Augen immer noch mehr Skepsis als Einwilligung zu lesen. Kayla versuchte ihn auf die humorige Art zu überzeugen: „Außerdem würden Sie meinen Patienten einen großen Gefallen tun, wenn Sie mich an den Ermittlungen teilnehmen ließen.“ „Warum?“ „Ich bin im Augenblick mit meinen Gedanken nicht unbedingt bei meiner Arbeit.“ Obwohl ihre Patienten für Kayla immer zuerst kamen, war sie seit dieser schlimmen Geschichte zerstreut und hatte Angst. Sie machte sich Sorgen um ihre Schwester, ihre Nichte und um die - 16 -
Auswirkungen, die das alles auf ihre Familie haben würde. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Kayla Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Das Beste, was sie für alle Beteiligten, sich selbst eingeschlossen, tun konnte, war, Heather so schnell wie möglich zu finden. „Ich bin mir nicht sicher, was Sie sich vorstellen, aber so ein Fall erfordert eine Menge mühselige Kleinarbeit“, unterbrach Cade ihre Gedanken. Wahrscheinlich hatte sie ihre Vorstellungen über die Arbeit eines Privatdetektivs von irgendwelchen Hollywoodfilmen. „Es hat sehr wenig mit spannenden Verfolgungsjagden und anderen aufregenden Dingen zu tun. Es ist methodische langweilige Kleinarbeit, bei der man viele winzige Mosaiksteinchen aneinander legen muss, um ein großes Ganzes zu bekommen.“ Wenn er glaubt, mich damit abschrecken zu können, sollte er sich auf eine Überraschung gefasst machen, dachte Kayla. „Ich habe schon im Alter von acht Jahren ein Puzzle aus Tausend Teilen zusammengelegt.“ Cade stieß einen belustigten Pfiff aus. „Sie erfüllen wohl auf allen Gebieten ein Übersoll, was?“ „Mag sein, dass mir das im Blut liegt, Mr. Townsend, aber ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen eine Hilfe und kein Hindernis bin. Sie haben das Kommando“, sagte sie. „Alles, was Sie sagen, gilt als beschlossen.“ Er lachte auf. „Das bezweifle ich. Ich habe bereits Nein gesagt, aber das scheint mich nicht sehr viel weiterzubringen.“ „Also schön“, räumte sie ein, „mit einer Ausnahme.“ Ihre Augen wurden sehr ernst. „Ich versuche meine Nichte und meine Schwester zu retten, Mr. Townsend. Moira hat ihren Mann bei einem Autounfall verloren, kurz bevor Heather zur Welt kam. Finanziell steht sie gut da, aber was ihre Seelenlage angeht, sieht es anders aus. Sie ist nicht so unverwüstlich wie ich.“ Cade ertappte sich bei dem Gedanken, dass das wahrscheinlich - 17 -
sowieso nur auf sehr wenige Frauen, zutraf. „An einem weiteren Schicksalsschlag wird sie womöglich zerbrechen. Ich kann einfach nicht tatenlos dabei zuschauen“, beteuerte sie leidenschaftlich. Kayla nagelte Cade mit ihrem Blick fest: „Ich würde mich wirklich erkenntlich zeigen.“ Sie nannte eine Summe. „Ihre Nichte zu finden würde mir schon reichen“, entgegnete er. Der Tagessatz war nötig, um die Unkosten der Detektei zu decken und seine Partner auszuzahlen. Für sich selbst brauchte Cade nur wenig. Geld bedeutete ihm nicht viel. Die Befriedigung, mitzuerleben, wenn Eltern ihre vermissten Kinder wieder in die Arme schließen konnten, zählte mehr als alles Geld der Welt. Das Einzige, was das noch übertreffen konnte, wäre, seinen eigenen Sohn zu finden. Aufseufzend gab Cade nach. „Also gut.“ Er sah sie eindringlich an. „Aber ich werde Sie an Ihr Versprechen erinnern. Ich gebe bei dieser Ermittlung den Ton an.“ Die nächste Stunde lang bombardierte er Kayla mit Fragen über den Unfall, das Umfeld der Familie, die Nachbarschaft, um sich ein möglichst genaues Bild der Situation zu zeichnen. Als sie fertig waren, sah Cade seine Notizen noch einmal durch. Die ganze Geschichte war entweder eine dreiste Entführung am helllichten Tag oder ein höchst absonderlicher Autodiebstahl, bei dem etwas schrecklich schief gegangen war. „Es klingt, als wäre Ihre Schwester absichtlich von der Straße abgedrängt worden.“ Dieser Gedanke war Kayla auch schon die ganze Zeit im Kopf herumgegangen. „Ja, aber warum? Sie hat keinen einzigen Feind. Meine Schwester ist die Sanftmut in Person. Warum sollte das irgendjemand machen?“ „Wenn Ihre Nichte nicht verschwunden wäre, könnte man annehmen, dass es schlicht Straßenrowdys waren.“ - 18 -
Cade runzelte die Stirn und dachte nach. Er hatte sich mittlerweile angewöhnt, stets mit dem Schlimmsten zu rechnen. „Hat irgendjemand außerhalb der Familie Heather besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht?“ Statt zu antworten, holte Kayla ihr Portemonnaie aus ihrer Handtasche und zog ein Foto von Heather heraus. Es war vor weniger als einem Monat in einem Fotostudio aufgenommen worden. Sie legte es auf den Schreibtisch. Cade griff danach und betrachtete das kleine Mädchen in dem rüschenbesetzten rosa Kleid. Heather hatte den Kopf in den Nacken geworfen und ihr ganzes Gesichtchen strahlte von einem bezaubernden Lächeln. Kayla beobachtete seine Reaktion. Moiras Tochter war eins von diesen kleinen Mädchen, nach denen sich die Leute auf der Straße umdrehten. „Heather wurde von allen Seiten Aufmerksamkeit entgegengebracht.“ „Kann ich das behalten?“ „Bitte.“ Über sein Gesicht huschte ein Ausdruck, der sie verunsicherte. „Was denken Sie?“ Cade wusste, dass ihr das, was er ihr gleich sagen würde, nicht gefallen würde, aber darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. „Es könnte eine Falle gewesen sein.“ „Wie meinen Sie das?“ „Dass man Ihre Schwester nur deshalb von der Straße abgedrängt hat, um Heather zu entführen.“ Er schaute wieder auf das Foto. „Kinder wie Ihre Nichte stehen hoch im Kurs.“ „Hoch im Kurs?“ Kayla verstand nicht. „Bei wem?“ „Bei kinderlosen Ehepaaren.“ Die Wirklichkeit war noch härter. „Und deshalb auch bei Kinderhändlern.“ „Ein Schwarzmarkt für Babys?“ fragte sie ungläubig. „Mag sein. Im Augenblick ist das jedoch alles reine Spekulation.“ Er steckte das Foto ein. „Aber um das durchzuziehen, hätten sie jemand gebraucht, - 19 -
der Moira von der Straße abdrängt, Krankenwagen, Sanitäter...“ Sie schaute ihn an. „Es klingt zu verrückt.“ „Glauben Sie mir, in der Realität gibt es kein zu verrückt. Aber vielleicht haben Sie ja Recht“, räumte er ein. Zumindest konnten sie es hoffen. „Wir sollten jetzt jedenfalls einen Schritt nach dem anderen machen und versuchen, ein bisschen Licht in die Sache zu bringen. Wissen Sie, welcher Rettungsdienst Ihre Nichte weggebracht hat?“ Kayla schüttelte frustriert den Kopf. „Fühlt sich Ihre Schwester in der Lage, einige Fragen zu beantworten?“ „Sie fühlt sich zu allem in der Lage, was ihr Heather zurückbringen könnte.“ „Gut.“ Cade überlegte. Das Verbrechen hatte sich in Newport Beach ereignet, auf dem Pacific Coast Highway, dem PCH. Er kannte die Polizei dort unten nicht besonders gut, aber er würde mit dem für die Ermittlung zuständigen Detective in Verbindung treten müssen. Cade spielte gerne mit offenen Karten, er hielt es für besser, mit der Polizei zu kooperieren. Er hob den Blick, um Kayla anzuschauen. Flüchtig ging ihm durch den Kopf, dass sie eine außergewöhnlich hübsche Frau war. Und außerdem schien sie der Stützpfeiler ihrer Familie zu sein. „Gibt es sonst noch etwas, das Sie mir erzählen können?“ Mehrere Dinge schossen Kayla gleichzeitig durch den Kopf, aber sie klangen alle zu verdächtig nach Hysterie, um sie auszusprechen. Panik war etwas, das sie sorgfältig unter Verschluss hielt. „Nur dass ich entschlossen bin, alles zu tun, um meine Nichte so schnell wie möglich zurückzubekommen.“ Das hatte er bereits verstanden. Cade klappte sein Notizbuch zu. Er stand auf und steckte das Buch in die Tasche. „In Ordnung. Ich werde sehen, was ich tun kann.“ Kayla sprang ebenfalls sofort auf, wild entschlossen, ihn zu - 20 -
begleiten. „Das Pronomen, auf das wir uns verständigt haben, ist wir, nicht ich „, erinnerte sie ihn, während sie ihm zur Tür folgte. Cade blieb stehen und drehte sich nach ihr um. Sie schien ihm tatsächlich wie ein Schatten folgen zu wollen. Das konnte verdammt lästig werden für einen Mann, der sich angewöhnt hatte, Geduld zum obersten Gebot zu erheben. „Von jetzt an?“ „Von jetzt an ... es sei denn, Sie haben noch irgendetwas anderes zu tun.“ Cade seufzte. „Ich möchte meine Partner von dem Fall unterrichten. Allein. Gestatten Sie mir also eine kurze Gnadenfrist.“ Jeder bei ChildFinders, Inc. war für seinen eigenen Fall zuständig. Dennoch wussten die anderen immer Bescheid über den aktuellen Stand aller Ermittlungen. „Natürlich, entschuldigen Sie, es kann mir eben nicht schnell genug gehen.“ Cade war fast erstaunt, als sie sich wieder auf ihren Stuhl setzte und ihn mit einem freundlichen Blick bedachte. „Es dauert nicht lange“, murmelte er noch und ging hinaus auf den Gang. Kurze Zeit später saß er mit Sam und Rusty in Megans Büro und informierte sie in knappen Worten über den Fall, den er gerade angenommen hatte. Seine Partner teilten seinen Verdacht, dass der Unfall von Moira kein Zufall gewesen sei, und diskutierten kurz einige Einzelheiten. Als Cade Megans Büro wieder verließ, wartete Kayla schon vor der Tür auf ihn. „Cade, bevor ich es vergesse, ich dachte mir, du willst das vielleicht.“ Megan kam gerade aus der Tür und reichte ihm ein Foto, das sie auf ihrem Farbdrucker ausgedruckt hatte. Cade wandte sich zu ihr um. „Was ist das?“ Die Frage schnürte ihm den Hals zu, während er auf das Foto schaute. Ein bittersüßes Gefühl stieg in ihm auf, das er eilig - 21 -
verdrängte. „Es ist Davins auf den neuesten Stand gebrachtes Foto. So müsste er jetzt ungefähr aussehen.“ Cade atmete tief durch und versuchte den aufsteigenden Schmerz niederzudrücken. Sehr sorgfältig faltete er den Ausdruck zusammen und steckte ihn in seine Brieftasche. „Danke.“ „Nichts zu danken“, erwiderte Megan. Sam und Rusty waren mittlerweile auch aus dem Büro gekommen, und alle drei schauten nun neugierig zu der Frau, die neben Cade stand. „Das ist Dr. Dellaventura, unsere neue Klientin.“ Er stellte ihr kurz seine Partner vor, die ihr freundlich zunickten. Danach legte er, ohne nachzudenken, Kayla eine Hand auf den Rücken und ging mit ihr nach draußen. Während sie Cade zu seinem Wagen folgte, sagte Kayla: „Nette Leute. „Ja, das sind sie.“ Er öffnete die Beifahrertür und hielt sie für Kayla auf. „Die nettesten, die man sich vorstellen kann.“ „Und wer ist Davin?“ erkundigte sie sich, nachdem sie im Auto saß. In dem Moment, in dem sie fragte, sah sie, wie Cade die Kiefer fest aufeinander presste. Vielleicht hatte sie kein Recht zu fragen, aber der Ausdruck, der über sein Gesicht gehuscht war, als Megan ihm das Foto gab, hatte sie neugierig gemacht. „Davin ist mein Sohn.“ Er schaute sie an, während er den Schlüssel in die Zündung schob. „Heute ist sein sechster Geburtstag. Und bevor Sie fragen - er wird seit drei Jahren vermisst.“ Normalerweise sprach Cade nie mit Klienten über seinen Sohn. Umso erstaunter war er über sich selbst, als er plötzlich begann, Kayla zu erzählen, was damals passiert war. Er hatte nur einen kurzen Moment weggeschaut, nur einen ganz kurzen Moment, als ein Mann ihn nach dem Weg gefragt hatte. Der Mann war älter gewesen als er und hatte irgendwie genervt dreingeschaut. Ein kleines, etwa vierjähriges Mädchen hatte ungeduldig an seinem Arm gezerrt, und Cade konnte - 22 -
sich noch gut daran erinnern, wie er gedacht hatte, was für ein Glück er doch mit seinem Sohn hatte. Davin, mit dem so leicht auszukommen war. Als Cade sich wieder umgedreht hatte, stand das Karussell bereits, aber der Junge saß nicht mehr in dem bunten Wagen. Wenn er die Augen schloss, konnte er sich noch ganz deutlich an das scheußliche Gefühl erinnern, das sich in seiner Magengrube zusammengebraut hatte, als er angefangen hatte, nach Davin zu rufen. Als er angefangen hatte, ihn zu suchen. Doch er hatte ihn nirgends gefunden. Und die Polizei auch nicht. Davin war wie vom Erdboden verschluckt. „Mein Sohn ist der Grund dafür, dass ich diese Detektei gegründet habe. Und von den Fällen abgesehen, die wir gerade bearbeiten, ist Davin das einzige Kind, das wir nicht gefunden haben.“ Er fuhr aus der Parklücke. Sie schaute ihn an. „Zumindest wissen Sie, was meine Familie und ich durchmachen.“ „Ja“, erwiderte er ernst. „Ich weiß sehr gut, was Sie durchmachen.“
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3. KAPITEL Das hat nicht gerade viel gebracht, was?“ fragte Kayla, während sie mit Cade auf den Aufzug zuging. Sie hatten eben Moira einen Besuch abgestattet, aber Kaylas Schwester hatte ihnen nicht weiterhelfen können. Er blieb beim Aufzug stehen und drückte den Knopf. „Ich habe schon mit weniger gearbeitet.“ Kayla wandte sich zu ihm um und senkte ihre Stimme, obwohl niemand in der Nähe war, der sie hören konnte. „Sie brauchen mir die Tatsachen nicht zu versüßen, Mr. Townsend. Ich bin hier die Starke. Ich ziehe es vor, die Wahrheit zu wissen.“ Die Starke. Verglich sie sich mit ihrer Schwester oder mit jemand anders aus ihrer Familie? Die Mutter, die an Moiras Krankenbett gesessen hatte, hatte nicht minder zerbrechlich gewirkt. „Die Wahrheit ist, dass ich schon mit weniger gearbeitet habe“, wiederholte er. „Erfolgreich?“ provozierte sie ihn, nicht gewillt, sich einschüchtern zu lassen. Der Aufzug kam. Er ließ ihr den Vortritt. „Ja.“ Cade drückte den Knopf fürs Erdgeschoss. Kayla starrte auf die sich schließenden stahlgrauen Türen. „Also gut, was machen wir als Nächstes?“ Bevor er jedoch antworten konnte, sprach sie schon weiter: „Also ich dachte mir, wir könnten vielleicht mit den Sanitätern sprechen, die Moira hierher gebracht...“ „Das ist unser nächster Schritt.“ Ihre Blicke verhakten sich für einen Moment. Lange genug für Kayla, um so etwas wie Zutrauen zu spüren. Sie lächelte. „Ich habe Ihnen ja gleich gesagt, dass ich Ihnen nicht auf den Füßen herumstehe.“ Ja, richtig. Nur dass allein ihre Anwesenheit irritierend auf ihn wirkte. Darauf war Cade nicht vorbereitet. - 24 -
Nachdem sich die Aufzugstüren geöffnet hatten, stiegen sie aus und gingen zum Büro der Krankenhausverwaltung, um den Namen des Sanitätsdienstes zu erfragen, der Moira hierher ins „Harns Hospital“ eingeliefert hatte. Die Sekretärin zeigte sich kooperativ und nannte ihnen Namen und Adresse der Ambulanz. Auf dem Weg zu „Mercy Ambulance“ fuhren sie über den Pacific Coast Highway und kamen an der Stelle vorbei, an der Moira den Unfall gehabt hatte. Kayla machte Cade darauf aufmerksam, und er nahm den Fuß vom Gas und lenkte den Wagen an den Straßenrand. „Glauben Sie, Sie finden hier noch was?“ Er bezweifelte es, aber eine Chance gab es immer. „Vielleicht.“ Cade öffnete seine Tür. Die Straße, die oft so befahren war, dass der Verkehr zum Stillstand kam, war jetzt praktisch leer. Genauso leer, wie sie es laut Moiras Schilderung zum Zeitpunkt ihres Unfalls gewesen war. „Sie können sitzen bleiben. Es dauert nicht lange.“ Er hatte gerade die Wagentür geöffnet, da war Kayla auf ihrer Seite bereits ausgestiegen. Er hatte es geahnt. Cade seufzte leise in sich hinein, während er sich vom Rücksitz seine Kamera schnappte. Er würde sich wohl oder übel für die Dauer der Ermittlung mit einem Schatten abfinden müssen. Zumindest bis es gefährlich wird, dachte er, während er die Bremsspuren auf der Straße abging. Beim ersten Anzeichen von wirklicher Gefahr würde er sie postwendend nach Hause schicken, egal ob ihr das nun passte oder nicht. Cade ging in die Hocke und studierte den Boden. Die Reifenspuren waren noch frisch. Kayla hockte sich neben ihn. „Wonach suchen Sie denn?“ „Nach Puzzleteilchen.“ Er erhob sich, richtete seine Sofortbildkamera auf den Boden und drückte zwei Mal auf den Auslöser. Er streckte die Hand aus und wartete darauf, dass die - 25 -
Kamera die Fotos ausspuckte. Keine Glasscherben, registrierte er. Keine abgerissenen Fahrzeugteile. Er warf einen Blick auf die Fotos, bevor er sie einsteckte, dann schaute er auf Kayla. „Wie stark war das Auto beschädigt?“ Sie zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht.“ Cade hatte sich schon auf dem Absatz umgedreht und marschierte zum Auto zurück. Sie musste rennen, um ihn einzuholen. „Ich habe es nicht gesehen. Die Polizei hat es abschleppen lassen. Mein Bruder Danny hat eine Werkstatt mit der Reparatur beauftragt.“ Offensichtlich war das wichtig. „Wollen Sie die Nummer?“ Cade warf die Kamera auf den Rücksitz,. dann setzte er sich hinters Steuer und startete den Motor. „Ja.“ Kayla stieg ein, kramte die Visitenkarte der Werkstatt aus ihrer Handtasche und gab sie ihm. „Danke.“ Unglaublich, wie gut die Frau organisiert ist, dachte er, während er die Visitenkarte zu den Fotos in seine Tasche steckte. Unglaublich gut organisiert und sexy. Keine schlechte Mischung. „Was spielt es für eine Rolle, in was für einem Zustand das Auto ist?“ „Vielleicht keine“, räumte Cade ein. Er drückte das Gas durch und schaffte es gerade noch bei Gelb über eine Ampel. „Andererseits könnte es vielleicht ein Hinweis darauf sein, dass der Fahrer Ihre Schwester nur von der Straße abdrängen wollte, um Heather zu kidnappen.“ „Nun, Moira ist von der Straße abgekommen. Wenn das die Absicht war, warum haben sie sich das Baby dann nicht gleich geschnappt? Warum haben sie gewartet? Und wie passt der zweite Krankenwagen ins Bild?“ Er war es nicht gewohnt, seine Ideen mit anderen durchzusprechen, und schon gar nicht, dass ihn dauernd jemand mit Fragen bombardierte. Normalerweise ließ er seine Ahnungen in seinem Kopf gären, bis er ein paar Antworten - 26 -
hatte. Cade warf ihr einen kurzen Blick zu. „Ich weiß es nicht ... noch nicht. Lassen Sie uns erst mal die Sanitäter befragen. Vielleicht haben die ja was beobachtet.“ Die beiden Sanitäter, die Moira ins Krankenhaus gebracht hatten, machten gerade in einem winzigen Raum im hinteren Teil des Verwaltungsgebäudes der „Mercy Ambulance“ Pause. Nachdem er sich und Kayla vorgestellt hatte, fragte Cade: „Wer hat Sie zur Unfallstelle gerufen?“ Die Männer tauschten Blicke aus. „Niemand.“ Das ergab keinen Sinn. „Und was haben Sie dann dort gemacht?“ kam Kayla Cade bei der Frage zuvor. Seine Neugier auf die Antwort war größer als sein Bedürfnis, Kayla an ihre Abmachung zu erinnern, deshalb sagte er nichts. „Wir kamen gerade von einem anderen Einsatz zurück“, sagte Jake, der ältere der beiden Männer, „und sind zufällig Zeuge des Unfalls geworden. Dieser blaue Chevrolet hatte den Wagen gerammt. Nicht besonders heftig, wirklich nicht. Eigentlich hätte das andere Auto nicht so außer Kontrolle geraten dürfen, aber wahrscheinlich ist die Fahrerin in Panik geraten...“ Cade registrierte, dass Kayla sich nur mit Mühe davon abhalten konnte, den Mann zu unterbrechen. Er fragte sich, wie lange sie es wohl aushalten würde. „Hat der Fahrer des Chevrolet versucht zu bremsen?“ „Ja, hat er“, sagte Andy, der andere Sanitäter. „Zumindest ist er langsamer geworden. Aber als er dann die Sirenen gehört hat, hat er wieder beschleunigt.“ „Sirenen?“ fragte Cade. War die Polizei so schnell am Unfallort eingetroffen? Jake schnitt eine Grimasse, während er mit dem Kopf auf seinen Partner deutete. „Andy nützt jede Gelegenheit, die Sirene anzumachen. Scheint ihn nicht zu jucken, dass er - 27 -
damit meine Gehörgänge ruiniert.“ „Dann ist der Chevrolet also einfach weitergefahren?“ fragte Cade. Andy nickte heftig. Er drückte seine Zigarette aus. „Wie angestochen.“ Kayla drängte: „Und was ist dann passiert?“ „Wir holten die Frau und das Baby aus dem Wagen. Und haben beschlossen, dass das Baby ins Mission kommt. Dort haben sie eine spezielle Traumastation für Kleinkinder.“ „Wie schwer verletzt war das Baby?“ fragte Cade. „Eine Wunde am Kopf und an den Armen einige Schrammen“, berichtete Andy. „Es war nicht schlimm, aber man darf kein Risiko eingehen, wenn sie noch so klein sind.“ „Wissen Sie zufällig, welcher Rettungsdienst den Anruf entgegengenommen hat?“ fragte Cade und hoffte, dass die beiden Männer sich daran erinnern würden. „Ja“, sagte Jake, „Dominion Ambulance. Sie waren in weniger als zehn Minuten da, dann sind wir mit der Frau weggefahren. Die Cops haben sich um den Rest gekümmert.“ „Wann traf die Polizei ein?“ fragte Kayla. Andy dachte nach. „Fünf oder zehn Minuten, bevor wir wegfuhren.“ Cade beendete seine Eintragungen und klappte sein Notizbuch zu. „Also ich fasse noch einmal zusammen. Sie beide haben Moira McGuire ins Harris Hospital gefahren, und die Kollegen von Dominion Ambulance sollten mit dem Baby ins Mission Memorial?“ Jake tauschte wieder einen Blick mit Andy aus. „So war es. Wenn Sie weiter nichts mehr haben, unsere Pause wäre jetzt zu Ende...“ „Die Adresse. Wir bräuchten noch die Adresse von Dominion Ambulance“, warf Kayla schnell ein. „Joan vorne kann sie Ihnen geben.“ Die beiden deuteten auf die Vorderfront des Gebäudes. Cade und Kayla bedankten sich, dann gingen sie, um sich - 28 -
die Adresse von „Dominion“ zu besorgen. Weniger als fünf Minuten später waren sie wieder auf dem kleinen Parkplatz und stiegen in Cades Auto ein. „Und?“ Cade wusste, dass Kayla nach seinen Schlussfolgerungen fragte. Er hatte keine. Er hatte nur einen Verdacht. „Es sieht immer mehr danach aus, dass der Fahrer des blauen Chevrolets Ihre Schwester von der Straße abgedrängt hat, um Heather in seine Gewalt zu bringen.“ „Aber sie sind weitergefahren ...“ „Weil der Krankenwagen ihren Plan durchkreuzt hat“, unterbrach er sie. „Und der andere Krankenwagen ist immer noch nicht aufgetaucht.“ Mit einem Seufzer lehnte sie sich zurück und bemühte sich, nicht vor Ungeduld zu zappeln. „Ich kann Ihnen nur sagen, was ich der Polizei auch bereits erzählt habe. Henry und Smithy sind zwei unserer besten Fahrer.“ Der Glatzkopf hinter dem Tresen schaute Cade und Kayla mit gerunzelter Stirn an. „Henry ist schon von Anfang an dabei, und Smithy kam vor drei Jahren an Bord, kurz bevor ich hier angefangen habe. Wenn einer von den beiden irgendwas auf dem Kerbholz hat, dann bin ich der Kaiser von China.“ Das Telefon klingelte. Ohne sich die Mühe zu machen, seine Verärgerung zu verbergen, riss der Mann den Hörer von der Gabel. „Dominion Ambulante.“ Einen Moment später weiteten sich seine Augen genug, um Cades Aufmerksamkeit zu erregen. „Sind sie okay? Und der Rettungswagen?“ Er atmete erleichtert auf, während Kayla und Cade Blicke austauschten. „Gott sei Dank. Ja, klar doch, und danke für den Anruf, Officer.“ Der Mann legte mit triumphierendem Gesichtsausdruck auf. „Das war die Polizei. Man hat sie gerade gefunden. Henry und - 29 -
Smithy“, verkündete er. „Und den vermissten Krankenwagen.“ „Wo sind sie?“ fragte Cade. „He, Billy“, brüllte er nach hinten. „Mit Henry und Smithy ist alles okay.“ Erst dann beantwortete er Cades Frage: „Die Polizei hat sie ins Harris Hospital gebracht.“ Das Krankenhaus, in dem auch Moira lag. „Kommt es Ihnen nicht auch so vor, als ob wir im Kreis laufen?“ brummte Kayla, als sie wieder zur Tür eilten. „Immerhin bewegen wir uns“, sagte Cade.
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4. KAPITEL „Aber das habe ich doch der Polizei schon alles erzählt.“ John Smith, für alle nur Smithy, schien es eilig zu haben, aus dem Krankenhaus herauszukommen. Bereit zum Aufbruch, warf er einen Blick auf Henry, der in einem besseren Zustand zu sein schien als er. „Schauen Sie, ich möchte nach Hause zu meiner Frau. Können Sie sich nicht von der Polizei die Informationen holen, die Sie brauchen?“ Cade hatte im Lauf der Zeit ein paar Tricks entwickelt, mit denen er aus widerstrebenden Zeugen mehr herausholte, als sie in ihrer Erinnerung zu haben glaubten, doch bevor er etwas sagen konnte, schaltete sich Kayla ein. „Sie wissen ganz genau, dass die Polizei, was ihre Untersuchungen anbelangt, nicht gerade auskunftsfreudig ist. Dieses kleine Mädchen war... ist...“ korrigierte sie sich angespannt und verfluchte sich sofort für ihren Ausrutscher, „...meine Nichte Heather. Wir haben seitdem nichts von ihr gehört. Meine Schwester ... ihre Mutter ... ist im Moment hier in diesem Krankenhaus auf der Intensivstation.“ Sie machte eine Kunstpause und nagelte den Mann auf der Suche nach Mitgefühl mit ihren Blicken fest. „Sie braucht etwas, woran sie sich festhalten kann.“ Kayla legte dem Mann leicht eine Hand auf den Unterarm und schaute ihn eindringlich an. „Helfen Sie uns.“ Smithy fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar und seufzte. „Also gut, fünf Minuten.“ Er schaute wieder auf seinen Partner. „Was ist mit dir, Henry?“ Henry, ein drahtiger Mann und ein bisschen größer und jünger als Smithy, kam zu dem Bett herüber, auf dem sein Partner immer noch saß. „Von mir aus.“ Kayla verlor keine Sekunde. „Okay, was ist passiert, nachdem Sie zum Unfallort gekommen sind?“ Smithy schaute sie einen Moment nachdenklich an. „Nun, die - 31 -
Kollegen hielten das Baby auf den Armen und übergaben es uns. Die Kleine wimmerte ein bisschen, aber auf den ersten Blick konnten wir keine ernsthaften Verletzungen feststellen. Die Kollegen sind dann mit der Mutter des Babys losgefahren, und wir haben uns noch im Wagen um das Kind gekümmert.“ „Und dann kam plötzlich diese Frau“, schaltete Henry sich ein. „Eine Frau?“ Cade warf Kayla einen überraschten Blick zu. Sie hatten beide vermutet, dass Heathers Entführer ein Mann sei. „Ja, und sie war sehr gut gekleidet“, fuhr Smithy fort. „Sie kam zu uns in den Krankenwagen und behauptete, die Tante des Babys zu sein. Dass sie mit im Auto gewesen wäre und ihr nichts passiert sei. Sie meinte, ihre Schwester hätte gesagt, dass sie mit dem Baby ins Krankenhaus fahren soll.“ Henry schaute von Kayla zu Cade und sagte, wie zur Entschuldigung: „Wir sind ja erst später an den Unfallort gekommen, die Polizei war schon da, außerdem machte die Frau einen absolut seriösen Eindruck. Deshalb dachten wir, dass das schon in Ordnung sei, und haben nicht weiter nachgefragt.“ „Wir waren kaum losgefahren, da zog die Frau eine Pistole, zielte mit dem verdammten Ding auf mich und schrie Henry an, dass er vom Highway runterfahren soll“, fuhr Smithy fort. „Bei Huntington Beach“, warf Henry ein. Kayla konnte ihre Ungeduld kaum zügeln. „Und was passierte dann?“ „Sie hat Henry befohlen, dass er anhalten soll, und dann musste er mich fesseln“, berichtete Smithy. „Ich wollte wissen, was das Ganze soll, aber sie gab mir keine Antwort, sondern brüllte nur ihre Befehle. Nachdem sie mir mit dem Griff ihrer Pistole eins übergebraten hatte, fesselte sie Henry ebenfalls und stieg mit dem Baby aus.“ „Bestimmt ist sie nicht zu Fuß weggegangen“, überlegte Kayla laut. „Wahrscheinlich hat in der Nähe ein Auto - 32 -
gewartet.“ Die Sache nahm Formen an, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließen. Wie lange mochten diese Leute Heather schon beobachtet haben? „Nein. Nachdem sie mit uns beiden fertig war, rief sie von ihrem Handy aus ein Taxi. Eine echt coole Frau.“ Trotz der Situation schwang in der Stimme des Mannes Bewunderung mit. „Hat einer von Ihnen das Taxi gesehen?“ forschte Kayla, obwohl sie wusste, dass das ziemlich unwahrscheinlich war. „Ich.“ Smithy entblößte beim Lächeln einen blinkenden Goldzahn. „Ich rappelte mich auf die Knie und schaute durchs Fenster, als sie einstieg.“ „Was war es für ein Taxi?“ fragte Cade. Diesmal schüttelte der Mann den Kopf. „Konnte den Namen nicht sehen. Auf jeden Fall war es gelb. Hatte eine große Werbung von diesem neuen Musical drauf.“ Unfähig, sich an den Namen zu erinnern, schaute er frustriert von Kayla zu Cade. „Meine Frau will es unbedingt sehen.“ Sein Kopf war leer. „Sie wissen schon, mit diesem maskierten Typ. Das Gespenst von Soundso.“ „Das Phantom der Oper?“ riet Kayla aufs Geratewohl. Smithy klatschte sich auf den Oberschenkel, dann reckte er triumphierend zwei Finger. „Genau!“ „Sonst noch etwas?“ fragte Cade. Smithy schüttelte den Kopf. „Das ist alles. Hilft es Ihnen weiter?“ „Auf jeden Fall“, versicherte Cade. Alles half. Es würde einigen Aufwand erfordern, das Taxi zu finden, aber zumindest hatten sie eine neue Spur. „Wie sah die Frau aus?“ fragte er. „Das ist ja das Komische daran“, berichtete Smithy. „Sie sah richtig vornehm aus. Eine Klassefrau. Wenn ich sie auf der Straße gesehen hätte, wäre ich im Leben nicht drauf gekommen, dass sie in so was verwickelt sein könnte.“ - 33 -
Cade war mehr und mehr überzeugt davon, dass sie es mit einer Organisation zu tun hatten. Die Täter waren sehr professionell vorgegangen. Er schaute Smithy an. „Können Sie mir die Frau ein bisschen näher beschreiben?“ „Sie war klein ... kleiner als Sie“, fügte er mit einem Blick auf Kayla hinzu. „Blond, um die vierzig, schätze ich mal, aber echt gut erhalten. Tolle Figur. So `ne Art Powerfrau, würd’ ich mal sagen.“ Smithy hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Er unterdrückte ein Aufstöhnen und massierte sich eine Schulter. Fast zwei Tage verschnürt wie ein Paket dazuliegen hatte seine Spuren hinterlassen. „Verdammt, das tut weh. Plötzlich schoss Kayla eine Idee durch den Kopf. Sie dachte an ihren Bruder Randy, der ein ausgeprägtes Zeichentalent besaß. „Glauben Sie, Sie könnten sie so gut beschreiben, dass sie jemand zeichnen kann?“ Ein mürrischer Gesichtsausdruck machte einem schiefen Lächeln Platz. Smithy hatte bereits mehr Zeit investiert, als er beabsichtigt hatte. „Wie, lange wird das dauern?“ Jetzt schaltete sich Henry wieder ein. „Wir machen es“, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Können Sie damit etwas anfangen?“ Randy Dellaventura hielt seinen Zeichenblock hoch, damit die beiden Männer ihn sehen konnten. Er bemühte sich bereits seit fünfundzwanzig Minuten, ein Bild von der Frau hinzubekommen, die auf die beiden Sanitäter anscheinend einen sehr unterschiedlichen Eindruck hinterlassen zu haben schien. Es dauerte noch eine ganze Weile, mit einem Maximum an Veränderungen und Kompromissen, bis sich schließlich beide mit der Skizze einigermaßen anfreunden konnten. „Ja, das ist sie.“ Befriedigt schaute Smithy Cade an. „Ich hab - 34 -
Ihnen ja gleich gesagt, dass sie eine Klassefrau war.“ Cade studierte die Zeichnung einen Moment. Die Frau erinnerte ihn an niemanden, den er kannte. Er wandte sich von der Zeichnung ab und Kayla zu. Es gab immer noch die Chance, dass die Entführerin jemand aus der Familie bekannt vorkam. „Haben Sie sie vielleicht schon mal gesehen?“ Kayla hatte jeden Strich von Randy hoffnungsvoll verfolgt Aber jetzt schüttelte sie den Kopf. Cade bedankte sich bei den beiden Sanitätern, dann drängte er zum Aufbruch. Im Internet gab es eine Datenbörse für diese Art von Informationen. Außerdem wollte er von der Skizze so schnell wie möglich Kopien anfertigen und unter die Leute bringen. „Wir werden Ihre Schwester bitten müssen; einen Blick auf die Skizze zu werfen“, sagte er zu Kayla und Randy. „Nein.“ Moira, die leichenblass und zerbrechlich in den Kissen lag, gab Cade die Skizze zurück. „Ich habe die Frau nie gesehen. Hat sie Heather mitgenommen?“ „Wir vermuten es“, gab Cade zartfühlend zurück. „Aber warum? Warum tut jemand etwas so Schreckliches? Warum nehmen sie mir mein kleines Mädchen weg?“ Moiras Augen füllten sich wieder mit Tränen, die ihr gleich darauf über die Wangen rannen. „Wir werden sie dafür bezahlen lassen, Moira“, beteuerte Kayla leidenschaftlich. „Das schwöre ich dir. Aber Du musst dich jetzt zusammennehmen und zusehen, dass du wieder auf die Beine kommst. Du kannst dich vom Krankenhausbett aus nicht um Heather kümmern.“ Sie drückte Moiras Hand. „Ich schaue später wieder rein.“ Sie drehte sich zu Cade um und deutete mit dem Kopf zur Tür. „Okay, gehen wir.“ Sie erteilt dir schon wieder Befehle, dachte Cade. Offensichtlich war die Frau nicht in der Lage, sich auch nur für eine Sekunde - 35 -
zurückzunehmen. Er folgte ihr nach draußen, aber sobald sie auf dem Flur waren, blieb er abrupt stehen. Als sie ihn ungeduldig anschaute, fragte er: „Wohin?“ Sie wirkte einen Augenblick verunsichert, dann wedelte sie vage mit der Hand in der Luft herum. „Den nächsten Schritt machen.“ Cade verschränkte die Arme über der Brust und rührte sich nicht von der Stelle. „Und der wäre?“ Was sollte das? „Das weiß ich doch nicht. Sie sind hier der Detektiv.“ „Richtig. Und ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie sich das für mehr als drei Sekunden in Erinnerung rufen würden.“ Nachdem er dies klargestellt hatte, ging er im Laufschritt auf die Aufzüge zu. „Entschuldigung.“ Kayla versuchte ihre Gereiztheit zu zügeln, während sie hinter ihm herrannte. „Ich wusste nicht, dass Sie so empfindlich sind.“ „Das bin ich auch nicht. Normalerweise.“ Er drückte den Aufzugkopf, dann schaute er sie an. „Können Sie telefonieren?“ „Bitte was?“ Er grinste, als der Aufzug kam und sie einstiegen. Die Antwort bekam sie erst, nachdem sie wieder in der Detektei waren. Cade hatte sich am Empfangschalter ein dickes Telefonbuch geholt, das er ihr jetzt in die Hand drückte und dann auf sein Zimmer deutete. „Sie können mein Telefon benutzen. Ich bin auf dem Flur gegenüber in Megans Büro.“ Sie verspürte einen kleinen Stich und fragte: „Störe ich Sie so sehr?“ Er hatte nicht zugehört. „Was?“ „Warum die getrennten Büros?“ „Weil wir zwei Telefone brauchen. Sie nehmen die Leitung eins und ich die zwei. Zuerst telefonieren wir sämtliche Krankenhäuser durch, um in Erfahrung zu bringen, ob gestern - 36 -
ein kleines Mädchen, auf das Heathers Beschreibung passt, eingeliefert wurde. Es gibt fünf Krankenhäuser in der Gegend. „Ich kümmere mich darum.“ „Anschließend müssen wir sämtliche Taxiunternehmen in dieser Gegend anrufen. Fragen Sie...“ „Ob sie vorgestern Morgen in der Nähe von Huntington Beach eine Fahrt mit einer Frau und einem kleinen Mädchen hatten“, ergänzte sie. Er musste sich, wenngleich auch widerwillig, eingestehen, dass es ihm gefiel, wie schnell sie begriff. „Wie üblich sind Sie mir einen Schritt voraus“, spöttelte er. „Und das ärgert Sie, stimmt’s?“ „Nicht unbedingt.“ Er lächelte sie an, obwohl er wusste, dass er es nicht tun sollte. Die Frau hatte sehr ausdrucksvolle Augen. Wenn er sie beobachtete, konnte er fast darin lesen, was sie dachte. Fast. „Ich bewundere einen scharfen Verstand. „Nur nicht bei einer Frau.“ Er schwieg einen Moment, dann sagte er: „Ihre Menschenkenntnis ist nicht so gut, wie Sie- glauben, Doc. Megan Andreini ist eine meiner engsten Freundinnen. Als ich sie das letzte Mal sah, war sie sowohl eine Frau wie auch ein verdammt scharf denkendes Individuum. Wenn sie das nicht wäre, hätte ich sie mir nicht als Partnerin ausgesucht.“ „Dann liegt es wohl an mir“, schlussfolgerte Kayla. Ohne es zu merken, drückte sie das Telefonbuch wie zum Schutz an ihre Brust. „Gelegentlich reagieren die Leute ein bisschen verschnupft auf mich“, sagte sie etwas schüchtern. Vielleicht war sie sogar in gewisser Hinsicht verletzlich. „Ich bin nicht verschnupft, Kayla“, sagte er ruhig. „Ich bin es nur nicht gewohnt, mit einem Partner zu arbeiten.“ „Aber gerade haben Sie doch gesagt...“ Er hatte sich offensichtlich nicht klar genug ausgedrückt. „Megan ist meine Partnerin in der Detektei, aber wir gehen getrennte Wege. Sie bearbeitet ihre Fälle und ich meine, nur - 37 -
manchmal strengen wir unseren Kopf gemeinsam an. Was wir beide hier machen ist eine vollkommen neue Erfahrung für mich. Sie werden ein bisschen Geduld mit mir haben müssen.“ Er deutete mit dem Kopf auf das Telefonbuch, das sie hielt. „Melden Sie sich, wenn Sie etwas herausbekommen haben.“ David Hutton kratzte sich seinen Eintagesbart und schaute für weniger als eine Sekunde auf die Zeichnung. Cade hatte das Taxiunternehmen ausfindig gemacht, und Hutton hatte ihnen bereits gesagt, dass er die Frau am Straßenrand eingesammelt hatte. „Ja, das ist sie. Ich vergesse nie ein Gesicht.“ Er gab Cade die Skizze zurück. „Aber sie hat gelächelt. Und mit dem Baby gesprochen.“ „Wie hat sich das Baby verhalten?“ fragte Kayla. Der Taxifahrer zuckte die Schultern. Ihm war nichts Außergewöhnliches aufgefallen. „Keine Ahnung, wie ein Baby, schätze ich mal. Ich kenne mich mit Babys nicht aus. Aber es war sehr ruhig.“ „Ruhig?“ Das gefiel Kayla ganz und gar nicht. Heather war ein ausgesprochen lebhaftes Kind. „Ja, als ob es schlafen würde. Die Frau sagte, es sei ein sehr liebes Baby.“ Mit wachsendem Unbehagen faltete er den Fünfzigdollarschein, den Cade ihm zugesteckt hatte, zusammen. „Was soll das eigentlich alles?“ „Das Baby wurde entführt“, sagte Cade. Auf dem Gesicht des Mannes spiegelte sich Überraschung. „Was? Von dieser Lady?“ Kayla bestätigte es. Der Taxifahrer stieß einen Pfiff aus. „Ohne Witz?“ Cade zog einen zweiten Fünfziger aus der Tasche und hielt ihn viel sagend hoch. „Ohne Witz. Wohin haben Sie die Frau gefahren?“ - 38 -
Ins Hotel Bedford Chandler.“ Cade wusste, dass Kayla sich Sorgen um die Gesundheit ihrer Nichte machte. Mit einem entführten Kind war es schwierig, einen Arzt aufzusuchen. Man würde Fragen beantworten und Formulare ausfüllen müssen. „Denken Sie dasselbe wie ich?“ fragte sie. Er nickte. „Das Hotel liegt direkt neben dem Flughafen.“
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5. KAPITEL „Bedaure, aber wir geben keine Auskunft über unsere Gäste.“ Der Portier hinter dem Tresen des „Bedford Chandler“ warf ihnen einen missbilligenden Blick zu, während er die Skizze von sich schob. „Diese Frau hat ein Baby entführt“, informierte Kayla den Mann, kaum in der Lage, ihre Verärgerung im Zaum zu halten. Der Mann schaute verdutzt. „Das Baby war nicht ihres?“ Kayla nagelte ihn auf der Stelle fest. „Dann ist sie also hier.“ „Nicht mehr“, korrigierte der Portier, noch immer ein bisschen verunsichert, ob die Geschichte, die ihm die beiden da auftischen, auch wirklich stimmte. „Sie ist gestern Abend ziemlich überstürzt abgereist. Behauptete, dass sie ihren Ehemann verpasst hätte.“ „Hat sie zufällig erwähnt, wo sie diesen Ehemann treffen wollte?“ drängte. Cade. Der Portier schüttelte den Kopf.“Nein.“ „Was ist mit Telefongesprächen?“ fragte Cade. „Hat sie von ihrem Zimmer aus telefoniert? Der Portier zuckte ungnädig die Schultern. „Kann ich Ihnen nicht sagen, aber die meisten Leute telefonieren von ihrem Zimmer aus.“ Kayla legte ihm eine Hand auf den Arm. „Können wir einen Blick in die Telefonunterlagen werfen?“ Der halsstarrige Ausdruck nistete sich wieder auf dem Gesicht des Portiers ein. „Das ist gegen die Vorschriften ...“ „Entführung auch“, schnitt ihm Kayla das Wort ab. Sie holte ihr Scheckbuch heraus. „Was kostet es, einen kurzen Blick hineinzuwerfen?“ Der Portier schaute sich um, ob jemand in der Nähe war, dann beugte er sich leicht zu Kayla vor. „Ist das Baby - 40 -
wirklich entführt worden?“ Er beißt an, dachte Kayla erleichtert. „Ja. Das Baby ist meine Nichte. Diese Frau hat meine Schwester mit dem Auto von der Straße abgedrängt. Sie hat das Kind meiner Schwester entführt, während meine Schwester fast verblutete. Meine Schwester liegt auf der Intensivstation, und ihr Leben hängt an einem seidenen Faden.“ Offensichtlich bewegt, tippte der Portier etwas in seinen Computer ein. „Einen Augenblick.“ Nachdem er gefunden hatte, wonach er suchte, drückte er, die Drucktaste. Gleich darauf erwachte der Drucker hinter ihm zum Leben, er summte leise, dann spuckte er eine Seite aus. Nach weniger als einer halben Minute überreichte der Portier Kayla mit einer Verbeugung einen Ausdruck. „Mit den besten Empfehlungen des Hauses.“ Cade schaute Kayla über die Schulter auf die Liste. Ihr Haar streifte seine Wange, und er versuchte das leichte Kribbeln zu ignorieren, das ihn dabei beschlich. Er ging ein bisschen auf Abstand und konzentrierte sich auf den Computerausdruck. Aus den Unterlagen ging hervor, dass sich die Frau von Zimmer 834 unter dem Namen Susan Wiley, wohnhaft in Seattle, Washington, einquartiert hatte. Cade bezweifelte, dass Name und Adresse richtig waren. Auf dem Ausdruck waren vier Telefongespräche registriert. Die letzte Nummer war ein Ortsgespräch, während die drei anderen Ferngespräche waren, wobei es sich jeweils um dieselbe Nummer handelte. „Können Sie mit der Vorwahl etwas anfangen?“ Kayla wandte den Kopf und schaute Cade an. Er griff nach dem Blatt, studierte die Nummer und überlegte angestrengt. „Ich glaube, das ist Phönix. Wo kann man hier telefonieren?“ Der Portier deutete auf eine Nische, die von der Lobby abzweigte. „Danke.“ Cade nickte dem Portier zu, ging zu den - 41 -
Telefonen hinüber und wählte die örtliche Nummer von der Computerliste. Nach dem dritten Klingeln meldete sich eine Fluggesellschaft. Cade legte auf. „Und?“ fragte Kayla, sobald er den Hörer aufgehängt hatte. „Sie ist mit U.S. Airlines geflogen.“ Sie hatten den Namen der Fluggesellschaft, jetzt mussten sie nur noch das Ziel in Erfahrung bringen. Die Anrufe nach Phönix legten die Vermutung nahe, dass sie dorthin geflogen war, aber Cade wollte Gewissheit. Er warf einen Blick auf seine Uhr. „Vielleicht sollten wir für heute Schluss machen und uns morgen früh mit neuer Kraft an die Arbeit machen.“ Er wollte aufgeben? Jetzt? Kayla unterdrückte ihre Empörung und nickte. „Na gut, ich erzähle es Ihnen dann.“ Damit wandte sie sich von den Telefonen ab und eilte im Laufschritt zur Eingangstür. Verdutzt schaute Cade ihr nach, bis ihm klar wurde, dass sie wegging. Bevor sie, es schaffte, das Hotel zu verlassen, hatte er sie mit langen Schritten eingeholt. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und drehte sie zu sich herum. „Was soll das heißen? Was erzählen Sie mir morgen?“ Sie hob kaum merklich die Schulter und schüttelte seine Hand ab, dann ging sie durch die Drehtür. „Was ich herausgefunden habe“, rief sie ihm zu. Er holte sie draußen auf dem Bürgersteig ein, aber sie beachtete ihn nicht mehr. Sie hatte nur noch ihr Ziel im Kopf. Kayla entdeckte einen Pagen und winkte mit einem Fünfdollarschein. „Ich brauche ein Taxi, bitte.“ „Nein, braucht sie nicht.“ Cade zückte ebenfalls einen Fünfer, drückte ihn dem Pagen in die Hand und bedeutete ihm, sich zu verdünnisieren. „Was soll das denn?“ fragte Kayla hitzig. „Sie brauchen kein Taxi.“ Sie stutzte, und ihre Verärgerung spiegelte sich unübersehbar - 42 -
in ihren Augen wider. „Ich bin mir nicht sicher, aus welchem Teil des Landes Sie kommen, aber für mich ist es zu weit zum Laufen.“ „Sie wollen zum Flughafen, stimmt’s?“ Das Lächeln, das um ihre Lippen spielte, kam nicht von Herzen. „Kompliment. Wie Sie das nur wieder rausgefunden haben?“ Cade war der Meinung, dass die Frau seine Geduld und seine guten Manieren auf eine harte Probe stellte. Mit einem Seufzer ergriff er ihren Arm. „Na gut, kommen Sie mit.“ „Ich bin keine zwölf mehr“, sagte sie und versuchte seine Hand abzuschütteln. Diesmal schaffte sie es nicht. „Mich schleppt man nicht einfach irgendwohin.“ „Mit Ihrem Alter hat das nichts zu tun“, versicherte er ihr. Er hielt sie fest, bis sie beim Auto waren. Es war sein Fall, und solange das so war, wollte er die Ermittlungen so überlegt wie möglich angehen. Cade hatte das Gefühl, dass die Frau, die Heather entführt hatte, nicht allein operierte und dass die Akteure in diesem Drama wesentlich raffinierter waren, als sie zuerst angenommen hatten. Kaylas ungestümes Wesen könnte alles gefährden. Beim Auto angelangt, ließ er sie los. Kayla rieb sich mit einem verärgerten Schnauben ihr Handgelenk. „Ich habe schon befürchtet, Sie hätten vor, mich auf den Dachgepäckträger zu schnallen.“ Er taxierte sie mit einem langen Blick, der viel tiefer ging als beabsichtigt. Irgendetwas regte sich in ihm, aber er ignorierte es. „Ich habe es zumindest erwogen.“ Cade wartete, bis sie eingestiegen war, dann setzte er sich hinters Steuer. Er machte die Scheinwerfer an und startete den Wagen. Als sie aus dem Parkplatz herausfuhren, sagte Kayla, wie um ihr Verhalten zu erklären: „Meiner Meinung nach ist uns unsere wie eine aufrechte Bürgerin aussehende Entführerin - 43 -
schon um wesentlich mehr als eine Nasenlänge voraus. Ich habe nicht vor, noch eine weitere Nacht zu vertrödeln.“ Cade warf ihr einen Blick zu. „Ist Ihnen schon mal der. Gedanke gekommen, dass diese Frau genau wie der Rest der Welt auch - außer Ihnen natürlich - essen und schlafen könnte?“ Sollte er nur versuchen, ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen, da hatten sich schon ganz andere die Zähne ausgebissen. Sie hatte kein Problem damit, zuzugeben, dass sie den Leuten gelegentlich auf die Zehen stieg. Aber sie war schließlich nicht hier, um sich beliebt zu machen. „Und wenn ich esse und schlafe, hole ich die verlorene Zeit auf, ja?“ Cade konzentrierte sich auf die Straße und machte sich nicht die Mühe, auf ihre Bemerkung einzugehen. Es würde nur mit einem weiteren Wortgefecht enden, und ihm drängte sich langsam der Verdacht auf, dass man Wortgefechte gegen Dr. Dellaventura nur selten gewann. Als sie vor dem Buchungsschalter der U.S. Airlines standen, breitete Cade Randys Skizze vor einem jungen Angestellten aus. „Waren Sie gestern Nacht im Dienst?“ fragte Kayla, noch ehe Cade sein Verhör beginnen konnte. Er war inzwischen mehr als nur ein bisschen verärgert darüber, dass sie ständig versuchte, ihn in die zweite Reihe zu stellen. Der Mann unterdrückte ein Gähnen, während er sein Revers geraderückte. „Ich habe jede Nacht Dienst, von Dienstag bis Samstag. „Bestens“, sagte Kayla. „Wir brauchen nämlich eine Information.“ Sie fuhr trotz des mürrischen Ausdrucks, der sich auf dem Gesicht des Angestellten breit machte, fort: „Hat diese Frau gestern Abend einen Flug nach Phönix gebucht? Möglicherweise reist sie unter dem Namen Susan Wiley.“ Sie ratterte sämtliche Informationen herunter, die sie hatte. Der junge Mann straffte verantwortungsbewusst die Schultern. - 44 -
„Bedauere, aber diese Art Informationen kann ich Ihnen nicht geben.“ Da wären wir wieder. Kayla dachte gar nicht daran, sich abspeisen zu lassen. Sie kramte in ihrer Handtasche herum. „Sie reiste mit einem Baby. Einem achtzehn Monate alten Mädchen. Heather.“ Sie hatte gefunden, wonach sie suchte, und legte das Foto von ihrer Nichte auf die Skizze. „Das ist sie.“ Neugierig geworden, streifte der junge Mann mit einem kurzen Blick aus dem Augenwinkel das Foto. „Wirklich, Maam, es tut mir Leid, aber ich kann nicht...“ Kayla griff nach seiner Hand, und schaute ihn flehentlich an. „Bitte. Das ist meine Tochter. Diese Frau hat meine Tochter.“ Cade beobachtete zu seiner Verblüffung und mit wachsender Bewunderung, wie Kayla sich von einer Dampfwalze in Menschengestalt in eine hilflose Frau verwandelte, der einzig der Mann hinter dem Tresen helfen konnte. „Sie wurde vor zwei Tagen entführt. Bei einem Verkehrsunfall. Der einzige Zeuge hat die Entführerin so wie hier beschrieben.“ Kayla tippte mit Nachdruck auf die Skizze. „Mein Mann und ich verfolgen ihre Spur schon den ganzen Tag.“ Sie deutete mit dem Kopf auf Cade, der einen Moment sprachlos war. „Bitte, Sie müssen mir helfen.“ Tränen rollten ihr über die Wangen und tropften auf die Hand des Mannes, die sie immer noch mit beiden Händen umklammerte. Argwöhnisch, nervös, aber auch berührt von ihren Bitten und Tränen, schaute der Angestellte von einem zum andern, dann gab er sich einen inneren Ruck und gab etwas in seinen Computer ein. „Ich glaube, ich habe sie gesehen“, gab er verunsichert mit gesenkter Stimme zu, „Sie flog nach Phönix, sagen Sie?“ „Das nehmen wir an“, sagte Kayla. Ohne es zu merken, ergriff sie jetzt Cades Hand und drückte sie hoffnungsvoll. Dabei ließ sie den Angestellten nicht aus den Augen. Cade hatte den Eindruck, dass sie aufgehört hatte zu atmen, - 45 -
während die Finger des Mannes über die Tastatur flogen. Als der Angestellte endlich die richtige Datei gefunden hatte, seufzte er auf. „Hier, Mutter und Kind. Nach Phönix. Ein einfacher Flug.“ Er schaute verwirrt auf. „Das Ticket wurde auf den Namen Lucy Carlyle ausgestellt.“ Das überraschte Cade nicht. Es war Teil ihrer Tarnung. Er reckte den Hals und versuchte einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen. „Wann ging der Flug?“ Der Angestellte, der sich noch immer bemühte, den Schein aufrechtzuerhalten, bewegte den Bildschirm keinen Millimeter in Cades Blickrichtung. „Zwanzig Uhr dreißig gestern Abend.“ „Danke.“ In seine Stimme schlich sich fast ein bewegter Unterton ein, als Cade dem Angestellten die Hand schüttelte. „Vielen Dank. Sie haben uns wirklich sehr geholfen.“ „Ich hoffe, Sie finden sie“ rief der Mann ihnen nach, als sie vom Tresen weggingen. Kayla warf ihm über die Schulter ein Lächeln zu. „Danke, das werden wir ganz bestimmt.“ Cade verspürte ein merkwürdiges Prickeln im Arm. Da merkte er, dass seine Finger, die Kayla immer noch umklammerte, anfingen taub zu werden. „Nicht dass ich den Körperkontakt als störend empfände, aber Sie körnen meine Hand jederzeit loslassen.“ „Was?“ Kayla starrte ihn einen Moment verständnislos an, dann wurde ihr klar, dass sie sich an ihm festklammerte. Peinlich berührt zog sie ihre Hand zurück. „Oh, Verzeihung.“ Er dehnte und streckte seine Finger, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen. Sie wirkte nicht so zart wie ihre Schwester, aber dass sie einen Griff wie ein Schraubstock hatte, überraschte ihn. Cade schwieg einen Moment, dann sagte er: „So, sind Sie jetzt damit einverstanden, dass wir für heute Schluss machen?“ Schon während er die Frage stellte, wusste er mit Sicherheit, wie die Antwort ausfallen würde. - 46 -
Kayla schaute ihn überrascht an. „Wir haben doch eben erst angefangen.“ Cade hatte den Eindruck, als ob sie auf der Stelle aus eigener Kraft nach Phönix fliegen könnte. Aber diese Art Energie hatte es seiner Erfahrung nach an sich, genau im falschen Moment zu verpuffen. „Sollten Sie nicht Ihren Mann anrufen?“ „Hab keinen.“ Sie grub in ihrer Handtasche, entdeckte ihr Handy und zog es heraus. „Aber ich sollte meinen Bruder anrufen, damit er Moira und meine Eltern auf dem Laufenden hält, während Sie uns einen Flug buchen.“ Als sie anfing, Randys Nummer einzutippen, nahm Cade ihr das Handy weg. Verdutzt schaute sie ihn an. „Was ist?“ Er klappte das Handy zu und gab es ihr zurück. „Lassen Sie mich ein paar Dinge klarstellen. Wenn Sie mich dafür bezahlen, dass ich eine Ermittlung durchführe, wäre ich Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie nicht dauernd versuchen würden, das Kommando an sich zu reißen.“ Er sah, dass sie verärgert die Stirn runzelte, aber er ließ sich nicht aufhalten. „Wenn Sie hingegen nur jemanden brauchen, der Ihnen hinterhertrottet, wenden Sie sich bitte an eine andere Detektei.“ Sie brauchte einen Moment, um sich auf die neue Situation einzustellen. „Hören Sie, wenn ich Ihre Detektivgefühle verletzt haben sollte, tut mir das Leid, es ist nur, weil...“ „Meine Gefühle haben nichts damit zu tun“, korrigierte er sie. „Ich verstehe, was Sie durchmachen. Ich habe es selbst durchgemacht. Ich mache es durch. Aber dieses Tempo, das Sie da an den Tag legen, kann kein Mensch durchhalten. Wenn Sie nicht in Bälde mal auftanken, wird Ihr Akku schnell leer sein.“ „Ich bin ein Mensch, keine Maschine.“ Seine Hand blieb auf ihrem Arm und hielt sie fest. „Schön, dass Sie das auch so sehen, denn genau das meine ich.“ Kayla beschlich das Gefühl, dass er sie nicht loslassen würde, ehe sie nachgab. Obwohl sie schon allein der Gedanke - 47 -
rasend machte, steckte sie vorübergehend zurück. Sie atmete mit einem Schnauben aus und schaute ihn an. „Was also schlagen Sie vor?“ Cade zog sie zum Ausgang und über den Parkplatz. „Wir essen jetzt etwas und gehen noch einmal die Hinweise durch, die wir haben. Dann rufen wir den zuständigen Detektive an, um herauszufinden, ob er noch mehr ...“ Wenn die Polizei etwas herausgefunden hätte, hätte man sich mit irgendjemand aus ihrer Familie in Verbindung gesetzt, der wiederum sie angerufen hätte, was jedoch nicht der Fall war. „Aber ...“ Cade sprach unbeirrt weiter, während sie den Terminal verließen: „...herausgefunden hat oder ob wir vielleicht etwas für ihn haben. Wenn man auf diesem Feld tätig ist, ist es immer von Vorteil, so weit wie möglich mit der Polizei zusammenzuarbeiten.“ Der Blick, den sie ihm zuwarf, hätte einen Baum in der Mitte spalten können. „Ich habe kein Interesse daran, weiterhin auf diesem Feld tätig zu sein. Ich bin nur daran interessiert, meine Nichte zu finden.“ „Dann sollten sie Ihre Kräfte einteilen und sie nicht maßlos verschwenden. Wie lange haben Sie nicht geschlafen und gegessen?“ Die Frage machte sie einen Moment sprachlos. Kayla fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Vielleicht war sie ja wirklich ein bisschen ausgepumpt, dennoch: Wenn erst alles wieder gut war, würde sie schon noch genug Zeit zum Essen und Schlafen haben. „Seit mein Vater mich wegen Moira angerufen hat. Irgendwann vorgestern Abend, glaube ich.“ Sie schaute ihn an. „Ich kann im Flugzeug schlafen und essen.“ „Nicht in dieser Reihenfolge“, sagte er und ließ sie los. „Es ist mein Ernst, Kayla. Wenn Ihnen daran gelegen ist, dass ich den Fall bearbeite, müssen Sie auch ein paar Befehle entgegennehmen. Daran ist jemand wie Sie wahrscheinlich - 48 -
nicht gewöhnt, aber es gibt Regeln.“ Er wartete auf eine Antwort. Sie überlegte einen Moment, dann machte sie eine resignierte Handbewegung. Ob es ihr nun passte oder nicht, sie war auf ihn angewiesen. Das bedeutete, dass sie sich fügen musste. „Also gut. Ich werde etwas essen. Und vielleicht ein paar Minuten schlafen, wenn Sie sich dann besser fühlen.“ Sie schüttelte den Kopf, dann gestattete sie sich ein winziges Lächeln. „Sie sind nicht so pflegeleicht, wie Sie auf den ersten Blick wirken.“ Er öffnete die Beifahrertür und hielt sie ihr auf. „Ich werde nicht fragen, ob das ein Kompliment ist.“ Und sie schien nicht geneigt, ihm eine Antwort zu geben. Er beobachtete, wie sie einstieg, dann schlug er die Tür zu. „Es gibt ein gutes Restaurant hier ganz in der Nähe“, informierte er sie, während er sich hinters Steuer setzte. Kayla schnallte sich an. „Muss ich am Tisch sitzen bleiben, bis ich meinen Teller leer gegessen habe?“ Er grinste bei der Vorstellung und startete den Motor. „Ja. Und seien Sie versichert, ich werde Ihnen eine große Portion bestellen.“
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6. KAPITEL Nach dem Essen wartete Cade am Tresen des Restaurants in einiger Entfernung von Kayla, bis sie ihr Telefonat beendet hatte. Sie wollte ihren Vater nur kurz über den Stand der Dinge informieren. Cade straffte die Schultern, als sie ihr Handy wieder einsteckte, und ging ihr entgegen. „Ist irgendwas?“ fragte er, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Sie schrak aus ihren Gedanken auf und schaute ihn an, als ob sie seine Anwesenheit vergessen hätte. „Was? Oh. Nein. Nein, es ist nichts.“ Aber es war Cade anzusehen, dass ihn die Antwort nicht zufrieden stellte. „Mein Vater hat mir eben gesagt, dass er sich Sorgen um mich macht. Nicht mit vielen Worten - er macht nie viele Worte - sondern eher zwischen den Zeilen.“ Selbst jetzt, wo sie es aussprach, erschien es ihr unwirklich. Normalerweise liefen Gespräche mit ihrem Vater eher so ab, dass er in knappster Form Befehle gab und sich nicht danach erkundigte, wie es ihr, Kayla, ging. Dass seine Tochter irgendwann selbst einmal ein Problem haben könnte, anstatt immer die der anderen zu lösen, kam ihm nie in den Sinn. „Muss ja ein interessantes Gespräch gewesen sein.“ Cade sah, dass sie ernst war. „Hat er sich früher auch schon öfter Sorgen um Sie gemacht?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, noch nie.“ Cade hatte sich in der Einschätzung ihrer Persönlichkeit nicht getäuscht. Sie war nicht nur daran gewöhnt, ihre eigene Frau zu stehen, sondern auch, die meisten Familienangelegenheiten in die Hand zu nehmen. Es war offensichtlich, dass ihr Vater das von ihr erwartete. Vielleicht bildete er sich das alles auch nur ein, aber Cade hätte schwören können, wieder eine Spur von Verletzlichkeit bei Kayla entdeckt zu haben. „Die meisten Väter machen sich um ihre Kinder Sorgen, egal ob sie es mit vielen Worten sagen oder nicht.“ Die Tür des Restaurants - 50 -
schloss sich hinter ihm, und er stand auf der breiten Steintreppe. „Das ist einfach so, und ganz sicher ist es bei Ihrem Vater nicht anders.“ Kayla beobachtete, wie Cades aristokratisches, fast stoisch wirkendes Gesicht lebendig wurde. In seinen Augen leuchtete ein Licht, das sie selbst in dem kärglichen Schein der Laternen sehen konnte. „Man sieht, wie diese winzige Kreatur in die Welt flutscht, ihren ersten Atemzug macht - und plötzlich ist nichts mehr so, wie es einmal war.“ Er riss seinen nach innen gerichteten Blick von seinen Erinnerungen los und schaute Kayla an. Vermutlich hatte er sich davontragen lassen, aber dieses eine Mal, nur weil heute Davins Geburtstag war, weil er ihn so sehr vermisste, gestattete sich Cade einen Moment der Nachgiebigkeit gegen sich selbst. „Alles ist wunderbarer, heller ... und gefährlicher.“ „Gefährlicher?“ Cade lachte wehmütig in sich hinein. „Man fängt an, die Welt mit den Augen eines Kindes zu sehen. Ein Tisch hat plötzlich scharfe Kanten. Wassergläser können zu Bruch gehen.“ Er zählte eine Reihe von Dingen auf, die auf einmal eine ganz andere Bedeutung gewonnen hatten, als sein Sohn anfing zu laufen. „Der Boden wird härter, die Entfernung zwischen Bett und Fußboden wird zu einem Sprung ins Ungewisse.“ Als er ihren Gesichtsausdruck sah, blieb er mitten auf dem Parkplatz stehen. „Was ist?“ Kayla lachte bitter auf. „Ich kann mir nur einfach nicht vorstellen, dass mein Vater jemals solche Gefühle hatte.“ Er erschien ihr zu sehr wie ein Mann, der den Wald nur sah, weil ihm keine Bäume die Aussicht verstellten. „Nur weil er sie nicht offen ausspricht, heißt es nicht, dass er keine Gefühle hat“, sagte Cade. Kayla fand, dass er ihren Vater zu positiv sah. Sie würde sich als Vater für ihre Kinder viel eher einen Mann wie Cade aussuchen als einen, der wie ihr eigener Vater war. Aber dafür besteht ja keine Notwendigkeit, dachte sie mit - 51 -
leisem Bedauern. Nicht, solange ihr Leben so war wie im Moment. „Das muss ja eine ganz schöne Umstellung für Sie gewesen sein“, bemerkte sie, als sie sein Auto erreicht hatten. Vielleicht redete er ja zu viel. Auf jeden Fall hatte er bereits weit mehr gesagt als beabsichtigt, aber irgendwie schienen die Worte weiterhin aus seinem Mund zu strömen, angestoßen von den Gefühlen, die er sich so zu verdrängen bemüht hatte. „Eine, die ich nie bereut habe.“ Cade fischte seine Wagenschlüssel aus der Tasche. Kayla warf ihm einen Blick zu, wobei sie ihn plötzlich in einem ganz neuen Licht sah. „Wie kommen Sie damit klar, dass Ihr Sohn ...“ Sie brachte es nicht über sich, das Schreckliche auszusprechen. Er zuckte die Schultern. „Irgendwie.“ Er schloss die Beifahrertür auf. „Es bleibt einem nichts anderes übrig. Die Alternative wäre aufzugeben, und wenn ich aufgebe, kann ich auch gleich sagen, er ist tot.“ Er presste die Kiefer aufeinander, ein äußerlich sichtbares Zeichen seiner Anspannung. „Davin ist zu lebendig, um tot zu sein.“ In diesem Moment wirkte Cade auf Kayla unglaublich sexy. Sensibel und sexy. Sie begriff nicht, was plötzlich in sie gefahren war. Eben noch hatte sie sich völlig normal mit einem Vater über Väter unterhalten. Und jetzt stellte sie sich auf die Zehenspitzen und streifte mit ihren Lippen zärtlich die seinen. Einen ganz kurzen Moment lang drohte der Kuss zu erblühen, auszuufern in etwas, das viel mehr und etwas ganz anderes war als das, was sie ursprünglich beabsichtigt hatte. Cade ergriff sie bei den Schultern und hielt sie fest, bevor er, erschrocken über sich selbst, schnell den Kopf abwandte. Er holte tief und zitternd Atem, während er auf die Frau schaute, die er festhielt. Verspätet erinnerte er sich daran, seine Hände von ihren Schultern zu nehmen. Ein flüchtiges Gefühl von - 52 -
Wärme durchzuckte ihn. „Wofür war denn das?“ Kayla vibrierte vor Nervosität, verärgert über sich selbst. Wie hatte sie nur so etwas Törichtes tun können? Sie räusperte sich., „Zum Trost.“ Sie steckte, plötzlich völlig verunsichert - ein Gefühl, das sie sich nie gestattet hatte -, die Hände in die Hosentaschen und zuckte die Schultern. Sie schaute an seinem Kopf vorbei, als sie sprach. „Schieben Sie es einfach darauf, dass ich ein bisschen durcheinander bin, okay? Ich ...“ „Kayla?“ Ihr Blick schoss zu seinem Gesicht und wich dann schnell wieder aus, weil sie befürchtete, dass sie in seinen Augen Belustigung entdecken könnte. Ihre Stimme klang jetzt wieder sorgfältig kontrolliert. „Ja?“ Cade lächelte. Als sie ihn geküsst hatte, hatte er ein ganz kleines bisschen von ihr gesehen, aber wahrscheinlich weitaus mehr, als ihr lieb war. „Es ist okay“, sagte er leise und fügte dann unabsichtlich hinzu: „Es hat mir gefallen.“ Dann wechselte er schnell das Thema, weil er ihr sichtliches Unbehagen nicht noch vergrößern wollte. „Was halten Sie davon, wenn ich Sie jetzt nach Hause fahre. Vielleicht können Sie ja ein paar Stunden schlafen.“ Es würde das Beste für sie sein. Er kannte die Anzeichen von Erschöpfung, und bei ihr waren sie unübersehbar. „Ich hole Sie morgen früh ab: Und dann fahren wir ohne Umweg zum Flughafen.“ Er ließ seinen letzten Satz wie ein Versprechen klingen. Doch sie wollte keine Versprechen, sie wollte Taten. Hier und jetzt. „Aber ...“ Er wusste, worauf sie hinauswollte. „Die Nummer, die die Frau in Phönix angerufen hat, gehört einer Anwaltskanzlei“, erinnerte Cade sie geduldig. Er ging um den Wagen herum und stieg auf seiner Seite ein. Sie blieb draußen stehen. „In der Nacht finden wir höchstwahrscheinlich sowieso nichts - 53 -
heraus“, sagte er, um sie zu überzeugen. Schließlich gab Kayla sich geschlagen und stieg ein. Ein eindringliches Klopfen bahnte sich allmählich seinen Weg durch Schichten aus tiefem Schlaf und drang nach und nach in Kaylas Bewusstsein ein. Jemand klopfte. An ihrer Tür. Mit einem überraschten Aufschrei schoss sie kerzengerade aus dem Bett hoch, wobei ihr klar wurde, dass sie, nachdem sie sich eine halbe Ewigkeit im Bett herumgewälzt hatte, schließlich doch, eingeschlafen war. Und nicht nur eingeschlafen. Sie hatte verschlafen. Während sie aus dem Bett sprang, warf sie einen verzweifelten Blick auf ihren Wecker. Es war acht. Der Flug nach Phönix, den sie gestern mit Cade gebucht hatte, ging genau in einer Stunde und fünf Minuten. Sie raste gerade zur Tür, da bemerkte sie, dass sie splitterfasernackt war. Wie konnte sie nur vergessen, dass sie immer nackt schlief? Schnell krallte sie sich die große Decke von der Couch, die ihre Schwester für sie gehäkelt hatte, und blieb gerade lange genug stehen, um sich einzuwickeln, bevor sie weiterraste. Cade machte sich Sorgen, weil Kayla auf sein Klingeln nicht reagierte. Er hatte eigentlich eher damit gerechnet, dass sie bereits voller Ungeduld gestiefelt und gespornt auf der Treppe stehen und ihn erwarten würde. „Kayla, ist alles in Ordnung?“ rief er durch die, Tür. „Ich komme!“ antwortete sie. Wütend über sich selbst, fummelte sie mit einer Hand an den Sicherheitsschlössern herum, während sie mit der anderen versuchte, die Häkeldecke vor dem Herunterrutschen zu bewahren. Mit einem tiefen Aufseufzen riss sie die Tür schließlich auf und taumelte, einen Schritt zurück, um Cade einzulassen. „Ich habe schon befürchtet, dass irgendetwas ... nicht stimmt.“ Cade blieb abrupt stehen, als er Kayla sah. Sein Blick verwandelte sich schnell in ein Starren. Die Häkeldecke, die sie - 54 -
hinter sich herschleifte, war gelb-weiß gemustert und trennte sich an einer Seite auf. Es gab keinen Zweifel. Die gelben Vierecke waren nicht so engmaschig gehäkelt, wie sie es hätten sein sollen, und sie waren auch nicht so fest miteinander verbunden, wie das Originalmuster es ganz sicher vorgesehen hatte. Das Ergebnis war, dass die Decke mehr ent- als verhüllte und Cades schlafende Fantasie umgehend weckte. Ihr Anblick erinnerte ihn an etwas, das er längst vergessen hatte. Dass er nicht nur ein Privatdetektiv war, sondern auch ein Mann. Ein Mann, der schon sehr lange mit keiner Frau mehr zusammen gewesen war.
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7. KAPITEL „Haben Sie nicht Angst, dass Sie etwas zu exzentrisch angezogen sind?“ fragte Cade, als er schließlich seine Stimme wieder gefunden hatte. Besser wäre es gewesen, ihren merkwürdigen Aufzug einfach zu ignorieren, aber er konnte sich einfach nicht von ihrem Anblick losreißen. Und je länger er sie anschaute, desto schwerer fiel es ihm. Er hatte ja keine Ahnung gehabt, dass ihre Figur derart atemberaubend war. Obwohl Kayla tapfer versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, wäre sie vor Scham am liebsten im Boden versunken. In der Hoffnung, dass es ihre Nacktheit überstrahlte, warf sie ihm ein breites Lächeln zu. „Ich habe verschlafen.“ Mit diesen Worten drehte sie sich auf dem Absatz um und rannte in ihr Schlafzimmer zurück. Er widerstand dem Drang, ihr zu folgen. „Das erklärt aber noch nicht die ungewöhnliche Kostümierung.“ „Ich schlafe nackt.“ Die Bilder, die ihre Erklärung in seiner Fantasie malten, ließen seine Körpertemperatur schlagartig um einige Grad ansteigen, mehr, als ihm lieb war. Er atmete sehr langsam aus und sagte sich, dass ein Mann in seinem Alter keinen Grund hatte, so zu reagieren. Vergeblich. „Das erklärt alles“, bemerkte er hastig. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Ausgeschlossen, dass sie es noch rechtzeitig zum Flughafen schafften. „H...hören Sie...“ Cade hob die Stimme noch ein bisschen mehr; weil er sich nicht sicher war, wie weit sie tragen würde, „... ich kann versuchen, unsere Flüge umzubuchen.“ „Kommt gar nicht infrage!“ rief Kayla ihm zu und steckte kurz den Kopf aus dem Zimmer. Cade hatte das Gefühl, dass alles, was - 56 -
sie im Augenblick trug, ihr Gesichtsausdruck war. Er spürte, wie seine Hose noch ein bisschen enger wurde und ihm der Atem stockte. „Ich bin rechtzeitig fertig.“ Das wagte er ernsthaft zu bezweifeln, aber eine Diskussion darüber würde nur wertvolle Zeit kosten, deshalb widersprach er nicht. Um sich abzulenken, schaute er sich um. Eine Ordnungsfanatikerin schien sie offenbar nicht zu sein. Elaine war eine gewesen. Er hatte früher keine Zeitung herumliegen lassen können, ohne dass sie nicht umgehend zusammengefaltet worden war und im Altpapiercontainer landete. Ein bisschen Unordnung machte ein Zimmer gemütlicher, es sah einfach wohnlicher aus, doch seine Frau war da immer anderer Meinung gewesen. Er konnte die Küche sehen, die links abging. Ganz bestimmt hatte Kayla noch nicht gefrühstückt. Vielleicht sollte er ihr etwas zu essen machen? Er schob seine Hände in seine Gesäßtaschen, und fragte: „Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“ Es blieb eine Weile still, als könne sie ihm nicht ganz folgen., „Sie meinen, mir meinen Reißverschluss zumachen oder so was in der Art?“ Er hatte nicht die Absicht, sich ihr so weit zu nähern, zumindest im Moment nicht. Je größer der Abstand von ihr, desto klarer würde sein Kopf bleiben. „Nein, ich dachte eigentlich eher daran, dass ich Ihnen vielleicht ein Sandwich machen könnte.“ „Gegessen habe ich gestern. Erinnern Sie sich?“ Er blinzelte. Kayla kam aus ihrem Schlafzimmer und knipste sich im Gehen den zweiten baumelnden Ohrring an. Unter den Arm hatte sie sich ein Paar Pumps geklemmt, die exakt zu ihrem dunkelblauen Wildlederrock passten. Ansonsten war sie vollständig angezogen. Wenn sie hastig in ihre Kleider geschlüpft war, so hatte man ganz bestimmt nicht diesen - 57 -
Eindruck. „Wie haben Sie das gemacht?“ fragte er gedankenverloren und musterte sie verdutzt. „Was?“ Sie sah aus wie eine erfolgreiche Geschäftsfrau: Er hatte erwartet, dass sie sich aufgrund der Zeitnot eben allenfalls Jeans und Sweatshirt übergestreift hätte. Und trotzdem schaffte er es nicht, das Bild von Kayla und der rutschenden Häkeldecke aus seinem Kopf zu verdrängen. Er versuchte sich wieder in den Griff zu bekommen. „Sie sind schnell.“ Kayla zuckte nur die Schultern. Sie merkte, dass sie sich geschmeichelt fühlte. Geschmeichelt über die unverhohlene Anerkennung eines Mannes, der, so war sie bereit zu wetten, mit Aufmerksamkeit gegenüber Frauen nicht gerade verschwenderisch umging. Dafür ist weder die richtige Zeit noch der richtige Ort, rief sie sich entschieden zur Ordnung. Das Gefühl verlor sich nicht gleich. Sie schnappte sich ihre Handtasche und die kleine Reisetasche, die sie gestern Abend noch zusammengepackt hatte. „Gehen wir?“ Sie war bereits aus der Tür, noch ehe Cade diese erreicht hatte. „Wollen Sie nicht Ihre Haustür abschließen?“ rief er ihr nach. Sie drehte sich um, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. „Lassen Sie sie einfach ins Schloss fallen.“ Sie marschierte schnurstracks zum Auto. Sie musste warten, bis er ihr die Tür aufgeschlossen hatte. Während sie auf den Beifahrersitz glitt, atmete Kayla zum ersten Mal an diesem Morgen tief durch. Sie drehte sich zu Cade um, während er den Wagen startete und losfuhr. „Sie sehen ein bisschen benommen aus. Ist irgendwas?“ „Nein, ich wusste nur bisher noch nicht, dass ein Wirbelwind eine menschliche Gestalt annehmen kann.“ Er warf ihr einen - 58 -
kurzen Blick zu, dann konzentrierte er sich wieder auf den Verkehr. „Die meisten Leute brauchen länger, ihre Unterschrift unter einen Scheck zu setzen, als Sie gebraucht haben, um sich fertig zu machen.“ Sie zuckte die Schultern. Natürlich hätte sie gerne noch geduscht, aber das war der Preis für die fast schlaflose Nacht, die sie hinter sich hatte. In der sie ständig an diesen idiotischen Kuss hatte denken müssen. „Ich wollte den Flug nicht verpassen.“ Cade hielt den Blick auf die Straße gerichtet und versuchte zu überlegen, wie er den dichtesten Verkehr umgehen konnte, um es noch rechtzeitig zum Flughafen zu schaffen. „Haben Sie Ihren Freund angerufen?“ Cade hatte ihr gestern beim Essen von einem Freund bei der Polizei von Bedford erzählt, der gute Kontakte zu Kollegen in Phönix hatte. Doch Cade schien in Gedanken woanders zu sein. „Hm?“ „Ihren Freund ... den Mann, von dem Sie dachten, er könnte uns in Phönix vielleicht weiterhelfen.“ Ein Blick von ihm bewirkte, dass ihr erneut die Röte in die Wangen kroch. Kayla brauchte nicht in den Spiegel zu schauen, um zu wissen, dass sie rot wurde, sie konnte es fühlen. Wahrscheinlich hielt er sie für ziemlich exzentrisch, weil sie ihm in einem derartigen Aufzug die Tür aufgemacht hatte. Cade, der vor einer Ampel anhalten musste, stellte zu seiner Verwunderung fest, dass ein so energischer Mensch wie Kayla überhaupt rot werden konnte. Er hätte nie geglaubt, dass das so ein fesselnder Anblick sein könnte. Offensichtlich war sie doch nicht ganz so nassforsch wie sie die Leute gern glauben ließ. „Ja. Ich habe Kane angerufen. Er hat mir den Namen eines Kollegen in Phönix gegeben, an den wir uns wenden sollen.“ Sie nickte. „Kann er uns helfen?“ Er wollte ihr keine falschen Hoffnungen machen. „Das wird sich herausstellen.“
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Hat sich irgendwas getan?“ fragte Cade, der gerade von dem Schnellimbiss zurückkam, wo er Hamburger und Pommes frites für sie beide besorgt hatte. Kayla beugte sich vor und öffnete ihm die Tür des Wagens, den sie sich nach ihrer Ankunft am Flughafen von Phönix gemietet hatten, dann richtete sie sich wieder auf. Cade rutschte hinters Steuer und stellte die braune Papiertüte behutsam zwischen den beiden Vordersitzen ab. Seine Beine protestierten, als er seinen Posten wieder einnahm. Sie saßen jetzt seit geschlagenen drei Stunden hier und beobachteten die Anwaltskanzlei von Phillip Taylor, dem Mann, den Heathers Entführerin von ihrem Zimmer im Hotel aus angerufen hatte. „Nein“, gab Kayla mit einem Aufseufzen zurück. „Nichts.“ Ihr Magen war wie zugeschnürt. Sie nahm den in Papier eingewickelten Hamburger, den Cade ihr eben gereicht hatte, legte ihn vor sich auf die Ablage und begnügte sich mit einem Schluck Mineralwasser. Sie hatte schon so lange auf die Haustür gestarrt, dass ihre Augen brannten. Die ganze Zeit über herrschte in dem Haus ein reges Kommen und Gehen, aber bislang hatte niemand auch nur die entfernteste Ähnlichkeit mit der Frau auf der Skizze gehabt. Cade kaute auf seinem Hamburger herum, ohne ihn richtig zu schmecken. Die Frau neben ihm beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit. Kaylas innere Anspannung, und Nervosität war geradezu fühlbar. Es war offensichtlich, dass die Warterei ihre Nerven über Gebühr beanspruchte. „Warten ist nicht gerade Ihre Stärke, stimmt’s?“ Sie lachte leise in sich hinein. „Fällt es sehr auf?“ Trotz der beruhigenden Musik, die aus dem Radio kam, lag eine merkliche Spannung in der Luft. „Ziemlich.“ Kayla schaute ihn forschend an und suchte nach den verräterischen Anzeichen, an die sie sich bei anderen Leuten - 60 -
inzwischen gewöhnt hatte. „Gehe ich Ihnen schon auf die Nerven?“ „Nein, warum?“ Sie zuckte unbekümmert die Schultern und überlegte, dass sie vielleicht besser den Mund gehalten hätte. Normalerweise war ihr egal, was andere Leute über sie dachten. Warum war sie dann nur so darum besorgt, einen guten Eindruck bei Cade zu hinterlassen? „Ich habe eben so meine eigene Art, die Dinge in Angriff zu nehmen ...“ Sie sollte besser die Kanzlei im Auge behalten, als sich hier in unbeholfenen Rechtfertigungen zu üben. Cade lachte. Sie hatte wirklich einen starken Hang zur Untertreibung. „Das habe ich bemerkt.“ Er schob sich den restlichen Hamburger in den Mund und stopfte das Einwickelpapier in die leere Tüte. „Das dachte ich mir. Den meisten Leuten geht das eben irgendwann auf die Nerven. Ich habe mich nur gefragt, ob es bei Ihnen auch schon so weit ist.“ „Nein, noch nicht. Aber ich sage Ihnen rechtzeitig Bescheid.“ Sie zuckte zusammen, als sein Handy klingelte. Sie wirkte wie ein Pulverfass, das kurz davor war hochzugehen. „Entspannen Sie sich, das ist wahrscheinlich Megan.“ Zumindest hoffte er, dass sie es war. Und wenn er nur ein bisschen Glück hatte, würde sie gute Neuigkeiten für ihn haben. Die konnte er jetzt brauchen. Seit Stunden saß er mit einer vor Energie berstenden attraktiven Frau auf sehr engem Raum beieinander. Und seine Gedanken waren dabei nicht unbedingt bei den Ermittlungen. „Erwarten Sie ihren Anruf?“ fragte Kayla, während sie sich den verspannten Nacken rieb. „Ja. Ich habe sie gebeten, ein paar Nachforschungen für mich anzustellen. Er klappte das Handy auf. „Hallo?“ Kayla glaubte aus seinem Lächeln schließen zu können, dass seine Vermutung. richtig gewesen war. Sie hatte Mühe, - 61 -
ihren Blick von Cades Gesicht loszureißen. Sein Lächeln wirkte warm und hatte in ihren Augen etwas unglaublich Tröstliches. Darüber, warum das so war, wollte sie lieber nicht spekulieren. Also beobachtete sie das Haus auf der anderen Straßenseite weiter und hörte mit einem Ohr zu, wie Cade mit seiner Partnerin telefonierte. „Wirklich? Megan, du bist ein Schatz. Wenn ich zurück bin, gebe ich dir einen aus. Von mir aus auch drei“, fügte er nach einer kurzen Pause mit einem Auflachen hinzu. Der Unterton der vertrauten Kameradschaft, der in seiner Stimme mitschwang, machte sie komischerweise eifersüchtig. Gab es in Cades Leben jemanden, dem er sich eng verbunden fühlte? War er deshalb gestern Abend zurückgeschreckt, als sie ihn geküsst hatte? Weil seine uneingeschränkte Loyalität einer anderen Frau galt? Megan? Sie schätzte Cade Townsend als einen Mann ein, der sich sein ganzes Leben lang nur an einen einzigen Menschen band. Sie war hoffnungslos romantisch. Oder hoffnungslos naiv. Cade hatte das Gespräch inzwischen beendet. Ohne dass er es ihr sagen musste, wusste Kayla, dass es bei dem Telefonat um Heather gegangen war. „Was hat Megan gesagt?“ Cade antwortete nicht sofort, sondern nahm seinen Pilotenkoffer vom Rücksitz und ließ ihn aufschnappen. Er holte ein Notebook und den kleinsten Drucker, den sie jemals gesehen hatte, heraus. Mit routinierter Schnelligkeit stellte er zwischen Drucker, Notebook und Handy eine Verbindung her. Er hatte ihr immer noch nicht geantwortet. „Was soll das denn werden? Richten Sie sich hier jetzt ein Büro ein?“ „So könnte man es nennen. Megan hat über ihre Kontakte beim FBI etwas herausgefunden.“ Er schaute auf. „Im Krankenwagen wurden ein paar Fingerabdrücke gefunden.“ Sie hielt gespannt den Atem an. „Und?“ „Zumindest haben wir jetzt einen Namen. Und vor allem ein - 62 -
Foto.“ Das war noch viel wichtiger, denn ihren Namen konnte die Frau jederzeit ändern. Noch während er sprach, erwachte der Drucker zum Leben. Einen Moment später hatten sie den Ausdruck eines Fotos vor sich. Er hielt das Blatt hoch und sagte: „Gestatten Sie, das ist Shirley Lambert.“ Er reichte ihr den Ausdruck, während der Drucker eine zweite Seite zu drucken begann. „Mag sein, dass es nicht ihr richtiger Name ist, aber zumindest nannte sie sich so, als sie ihren Führerschein beantragte. Er ist inzwischen abgelaufen, aber Megan ist es gelungen, ihre Sozialversicherungsnummer herauszubekommen. Und siehe da, unter dieser Nummer ist eine Dame in Phönix gemeldet. Es ist immerhin ein Anfang.“ Nachdem der Drucker das zweite Blatt ausgespuckt hatte, verstaute Cade die Gerätschaften wieder in seinem Pilotenkoffer. Kayla schaute lange auf das Foto, dann gab, sie es ihm mit einem Kopfschütteln zurück. „Die Sanitäter hatten Recht. Wenn diese Frau auf mich zugekommen wäre, hätte ich auch nicht lange überlegt. Sie wirkt absolut seriös.“ Sie machte eine Pause und presste die Lippen aufeinander. „Wissen Sie, ich glaube, an Ihrem Verdacht ist etwas dran. Da steckt noch mehr dahinter als nur Heathers Entführung. Es handelt sich um eine größere Sache.“ „Die Frage ist nur, wie groß.“ Er schwieg einen Moment und überflog die zweite Seite, die ein paar Informationen über Phillip Taylor enthielten, den Anwalt, dessen Haus sie gerade beobachteten. „Unser Mann hat sich auf Adoptionen spezialisiert. Ist das nicht ein seltsamer Zufall?“ Cade überflog die Informationen, die Megan ihm aufgelistet hatte. Dann faltete er das Blatt zusammen und verstaute es in seiner Brieftasche. „Da fragt man sich doch automatisch, wie viele dieser Adoptionen Kinder betreffen, deren leibliche Eltern immer noch nach ihnen suchen.“ - 63 -
„Aber warum ist ihnen die Polizei bis jetzt noch nicht auf die Schliche gekommen?“ Das war eine gute Frage. Doch Cade hatte keine Antwort. „Vielleicht hat man ihnen bis jetzt noch keine Entführung nachweisen können. Diese Leute sind keine Amateure. Und die meisten der Adoptionen, die über Taylors Büro vermittelt werden, sind wahrscheinlich völlig legal.“ Er überlegte einen Moment und versuchte sich in die Lage des Anwalts zu versetzen. „Möglicherweise haben sie bisweilen mehr adoptionswillige Ehepaare als Kinder. Dann müssen Taylor und seine Helfershelfer ein wenig, wie soll ich sagen, nachhelfen.“ Er seufzte und schaute auf das Bürogebäude. „Ausgeschlossen zu sagen, wie lange das schon so geht.“ „Und was machen wir jetzt?“ „Wir bleiben noch ein bisschen hier und warten, ob Shirley Lambert oder wie immer auch ihr Name ist, auftaucht. Wenn das nicht passiert, überprüfen wir ihre Adresse.“ Er wurde das Gefühl nicht los, dass es sich um eine fingierte Adresse handelte. „Und dann statten wir Lieutenant Graham Redhawk einen Besuch ab.“
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8. KAPITEL „Kane hat mir Ihren Besuch bereits angekündigt sagte Redhawk, während er Kayla und Cade in sein Büro bat. „Ich bin Kayla Dellaventura“, stellte Kayla sich vor. „Heather ist meine Nichte. Sie wurde entführt.“ Ihr konnte alles schon wieder nicht schnell genug gehen. „Hat Kane Ihnen davon auch erzählt?“ Redhawk nickte. „Eine schlimme Geschichte sagte er. „Wie kann ich Ihnen helfen?“ „Offiziell?“ Kayla wollte absolute Klarheit darüber haben, welche Art von Hilfe sie erwarten konnten, wenn überhaupt. „Offiziell oder inoffiziell spielt keine Rolle, solange keine gravierenden Gesetzesverstöße vorkommen.“ Er musterte sie beide eingehend. „Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als wenn einem das Kind entführt wird. Egal wie alt es ist. Also, wie kann ich Ihnen helfen?“ wiederholte er in sanfterem Ton. Cade berichtete in knappen präzisen Worten von den Ereignissen der vergangenen zwei Tage und gab dem Lieutenant alle Informationen, über die sie verfügten. Dann holte er das Foto heraus und legte es auf Redhawks Schreibtisch. „Wir nehmen an, dass es sich bei dieser Frau um die Entführerin handelt.“ Der Lieutenant griff nach dem Blatt und studierte das Foto eingehend. Weder der Name noch das Gesicht kamen ihm bekannt vor. „Ich kann nachprüfen lassen, ob sie vorbestraft ist.“ „Ist sie nicht“, berichtete Cade. „Zumindest nicht unter diesem Namen.“ Redhawk öffnete die Tür. „Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich mache mir gern mein eigenes Bild. Manchmal sehen vier Augen mehr als zwei.“ Er ging ins Nebenzimmer, wo eine Sekretärin saß. „Martha, sind Sie so nett und jagen das mal - 65 -
durch den Computer? Es eilt“, fügte er hinzu, während er der Frau das Blatt reichte. Er wollte eben die Tür wieder schließen, als Martha einen Blick auf das Foto warf und völlig verdutzt fragte: „Aber warum sollte Mrs. Lambert denn vorbestraft sein?“ Kayla war sofort auf den Beinen und bei der Frau, noch ehe Redhawk dazu kam, etwas zu sagen. Sie legte der Frau eine Hand auf die Schulter und fragte aufgeregt: „Sie kennen Shirley Lambert?“ Martha zögerte einen Moment. „Also ... kennen ist vielleicht etwas zu viel gesagt.“ Sie schaute wieder auf das Foto, um sich noch einmal davon zu überzeugen, dass sie sich nicht irrte. „Sie ist die Sprechstundenhilfe meines Arztes. Seine Frau, besser gesagt. Mrs. Lambert, genau wie es hier steht.“ „Sie ist die Frau Ihres Arztes?“ fragte Kayla. „Was für ein Arzt ist das denn?“ „Ein Gynäkologe, warum?“ Die Sekretärin schaute irritiert von Kayla zu Cade und schließlich zu dem Lieutenant. „Stimmt irgendwas nicht?“ Kaylas Herz hämmerte hart gegen ihre Rippen, Sie schaute Cade an. „Denken Sie dasselbe wie ich?“ Er nickte. Die kleine Heather war bei dem Unfall verletzt worden. Es hätte für die Entführer ein großes Risiko bedeutet, mit der Kleinen einen Arzt aufzusuchen, weshalb davon auszugehen war, dass sie es nicht getan hatten. Und jetzt stellte sich heraus, dass die Entführerin mit einem Arzt verheiratet war. Redhawk war der Meinung, dass man dieser Sache nachgehen musste. „Martha, kommen Sie doch einen Moment zu uns rein.“ Er deutete auf einen Stuhl und wartete darauf, dass seine Sekretärin sich setzte. Martha biss sich auf eine rot geschminkte Unterlippe. „Der Captain hat mich gebeten ...“ „Der Captain kommt nicht vor morgen früh zurück. Es dauert - 66 -
nicht lange“, versicherte er ihr. Nachdem sie zögernd Platz genommen hatte, schloss er die Tür. „Entspannen Sie sich“, empfahl er ihr. „Ich brauche nur ein paar Informationen. Ist Ihr Arzt innerhalb der Gynäkologie auf etwas Besonderes spezialisiert?“ Es war für alle drei offensichtlich, dass Martha sich bei der Frage unbehaglich fühlte. Sie starrte lange Zeit auf einen Fleck im Teppichboden. „Auf Unfruchtbarkeit. Mein Mann und ich wollten eine große Familie, noch nicht gleich am Anfang, aber irgendwann.“ Sie richtete ihre Worte an Kayla. „Doch dann schien irgendwann nie zu kommen. Durch Bekannte haben wir schließlich von Dr. Lambert erfahren, es hieß, er sei ein todsicherer Tipp. Dass er einem ein Baby praktisch garantieren würde.“ Ihre Stimme war ein bisschen lauter geworden. „Er macht eine ganze Reihe Tests, arbeitet ein Profil aus, und wenn alles nichts fruchtet, bietet er andere Arten von Hilfe an.“ „Andere Arten von Hilfe?“ forschte Redhawk. Sie atmete tief durch. „Befruchtung außerhalb des Körpers. In diesem Stadium sind Tim und ich jetzt.“ Aus ihrem Gesichtsausdruck ließ sich schließen, dass sie nicht näher ins Detail gehen wollte. Es war nicht genau das, was Cade zu hören gehofft hatte. Er zog Marthas Aufmerksamkeit auf sich, indem er ihr eine Hand auf die Schulter legte. „Wissen Sie, ob er manchen Paaren auch anbietet, eine Adoption zu arrangieren?“ „Davon weiß ich nichts.“ Sie schaute den Lieutenant an. „Ist das jetzt alles? Ich muss wieder zurück...“ „Selbstverständlich.“ Er öffnete ihr die Tür. „Danke, dass Sie uns geholfen haben.“ Martha war schon fast aus dem Büro, als sie sich plötzlich noch einmal umdrehte. Sie hatte die Stirn gerunzelt und wirkte, als ob sie angestrengt versuche, sich, an etwas zu erinnern. - 67 -
„Moment, jetzt, da Sie es ansprechen, fällt mir eine Unterhaltung ein, die ich mal im Wartezimmer mitbekommen habe. Ich habe damals nicht weiter darüber nachgedacht, aber wenn ich es mir jetzt überlege, glaube ich, dass die Frau vielleicht von einer Adoption geredet haben könnte. Wenn mich nicht alles täuscht, sagte sie irgendetwas davon, dass Dr. Lambert ihr helfen wollte, ein Baby zu finden.“ Kayla stürzte sich auf das letzte Wort, das sie förmlich ansprang. „Finden. Sind Sie sicher, dass sie das Wort finden benutzte?“ Martha kaute ihren Lippenstift noch ein bisschen mehr ab. Obwohl sie jetzt längst nicht mehr so verunsichert wirkte. „Ganz sicher.“ Ihre dunklen Augen richteten sich wieder auf Redhawk. „Was, hat das alles zu bedeuten?“ „Ich weiß es noch nicht genau“, gab er ehrlich zurück. Es war das Beste, sie so weit wie möglich im Unklaren zu lassen, falls sich herausstellen sollte, dass Dr. Lambert dem Kinderhändlerring angehörte. Ein sehr hässliches Bild begann in seinem Kopf Gestalt anzunehmen. „Aber gehen Sie weiterhin zu Dr. Lambert. Und sagen Sie zu niemandem ein Wort.“ Martha warf noch einen skeptischen Blick in die Runde, dann machte sie, dass sie aus dem Zimmer kam. Cade wartete, bis Redhawk die Tür hinter ihr geschlossen hatte. „Wir müssen versuchen, alles über Lambert und seine Frau herauszufinden.“ Der Lieutenant wiegte zweifelnd den Kopf. „Wenn sich die beiden nie strafbar gemacht haben, dürfte das nicht ganz leicht werden. Aber ich könnte ihr Haus beobachten lassen“, bot er nicht sonderlich begeistert an. „Unter der Hand, versteht sich. Sie wissen, dass ich offiziell nicht ermitteln kann, weil mir bisher die Beweise fehlen. Obwohl ich bezweifle, dass sich das gesuchte Kind dort aufhält.“ Da hatte Kayla eine Idee: „Warum gehe ich nicht einfach hin?“ - 68 -
Beide Männer schauten sie an. „Zu dem Haus?“ fragte Redhawk. „Nein.“ Sie war wie elektrisiert und hatte Mühe, einen zusammenhängenden Satz zu bilden. „Zu dem Arzt. Zu Lambert“, präzisierte sie für den Fall, dass die beiden ihr nicht folgen konnten. „Martha sagt, dass er auf Unfruchtbarkeit spezialisiert ist. Warum gehe ich nicht einfach hin und erzähle ihm, dass ich schon seit mehreren Jahren versuche, schwanger zu werden und ...“ Dieser Plan hatte so viele Haken und Ösen, dass Cade gar nicht wusste, wo er anfangen sollte. „Er wird Sie garantiert untersuchen wollen und Tests machen ...“ Kayla fiel ihm ungeduldig ins Wort. „Ich erzähle ihm einfach, dass ich schon unzählige Tests hinter mir habe und dass ich es satt habe, mich dauernd untersuchen zu lassen. Ich werde dick auftragen und ihm schmeicheln und ...“ „Er würde Verdacht schöpfen“, prophezeite Redhawk. „Solche Leute riechen die Polizei zehn Meilen gegen den Wind.“ Das war ja gerade der springende Punkt. „Genau, aber ich bin nicht bei der Polizei“, sagte sie triumphierend. „Ich bin eine ganz normale Bürgerin.“ Der Plan begann in ihrem Kopf klarere Formen anzunehmen. „Vielleicht kann ich ihm ja sogar Testergebnisse mitbringen. Gefälschte natürlich.“ Sie schaute den Lieutenant bittend an. „Bestimmt kennen Sie jemanden, der das besorgen, kann.“ Inzwischen fand Cade ihre Idee gar nicht mehr so schlecht. Aber man musste noch daran feilen. „Es wäre besser, wenn die Untersuchungsergebnisse nicht gefälscht wären“, überlegte er laut. „Wenn wir nur irgendwie an die Patientenkartei einer Frau herankämen, die wirklich unfruchtbar ist ...“ Er hielt inne und dachte an die Ärztin, die seinem Sohn damals ans Licht der Welt verholfen hatte. Sie war eine engagierte Frau, deren Beziehung zu ihren Patientinnen nicht an der Praxisschwelle endete. Einen Versuch könnte es wert sein. Er schaute Redhawk an. „Kann ich mal Ihr Telefon - 69 -
benutzen?“ Der Lieutenant trat von seinem Schreibtisch zurück und deutete auf den Apparat. „Bitte.“ Während Cade telefonierte, begann Kayla sich ihren Plan in allen Einzelheiten auszumalen. Nachdem er aufgelegt hatte, schaute sie ihn hoffnungsvoll an. Cade nickte. „Wir haben Glück. Die Ärztin kennt eine Frau, die als Jugendliche vergewaltigt wurde und wegen der inneren Verletzungen, die sie damals erlitt, keine Kinder bekommen kann. Sie war ungefähr in Ihrem Alter, als die, meisten Tests gemacht wurden.“ Er unterbrach sich, als ihm klar wurde, dass Kayla ihm nie gesagt hatte, wie alt sie war: „Ich schätze, Sie sind um die fünfundzwanzig.“ „Dann schätzen Sie falsch.“ Obwohl sie sich ein bisschen geschmeichelt fühlte. „Ich bin Zahnärztin, erinnern Sie sich? Wie viele fünfundzwanzigjährige Zahnärztinnen kennen Sie?“ „Ich kenne weder Zahnärzte noch Zahnärztinnen.“ Die Antwort überraschte sie, aber das war etwas, worauf sie später noch zurückkommen konnte. Im Augenblick gab es weit Wichtigeres, als Cade darauf hinzuweisen, dass Routinekontrollen beim Zahnarzt keine Zeitverschwendung waren. „Wann können wir die medizinischen Unterlagen dieser Frau bekommen?“ „Sheila muss sich erst noch die Erlaubnis ihrer Patientin holen, aber sie denkt nicht, dass es da ein Problem gibt. Anschließend wird sie die Unterlagen Megan geben, die sie noch ein bisschen frisieren; wird, damit sie wie Ihre aussehen.“ Cade überschlug schnell, wie viel Zeit das in Anspruch nehmen würde. „Wenn alles klappt, könnten wir sie schon morgen früh haben.“ Kayla war enttäuscht. Sie war bereit, sofort loszulegen. „Erst morgen?“ „Sie werden wahrscheinlich ohnehin nicht sofort einen - 70 -
Termin bei Dr. Lambert bekommen“, wandte Redhawk ein. Er musterte sie nachdenklich. Die Frau wirkte in jeder Hinsicht kompetent, aber die Sache war nicht ganz ungefährlich. „Sie wissen, worauf Sie sich da einlassen?“ Kayla zögerte keine Sekunde. „Ja.“ Er hatte mit dieser Antwort gerechnet. Und Cades Gesichtsausdruck nach zu urteilen, verhielt es sich bei ihm nicht anders. Redhawk ging das Wichtigste im Kopf noch einmal durch. „Gut, wenn Sie bereit dazu sind, darf ich Ihnen beiden einen Vorschlag machen?“ Cade war für jeden Rat dankbar. „Ja sicher, was?“ „Ich halte es für besser, wenn Sie gemeinsam zu dem Arzt in die Sprechstunde gehen. Ein gut situiertes Ehepaar, das sich zur Abrundung seines Lebens verzweifelt ein Baby wünscht.“ „Ja“, stimmte Kayla zu. „Das leuchtet mir ein.“ Sie schaute Cade an. „Was ist mit Ihnen? Sind Sie einverstanden?“ Natürlich. Cade war bereit, alles in seiner Macht Stehende tun, um die kleine Heather zu finden. „Die Frage erübrigt sich.“ „Wir müssen allerdings davon ausgehen, dass dieser Arzt und seine Frau, falls sie wirklich in diesen Kinderhandel verwickelt sein sollten, sehr vorsichtig und vor allem misstrauisch sind gab der Lieutenant zu bedenken. „Sie werden keine vorschnellen Entscheidungen treffen, und vor allem werden sie über Sie beide Nachforschungen anstellen. Das bedeutet, dass Sie eine Identität brauchen ... ein Leben, und zwar hier, in Phönix“, betonte er. „Wenn Sie sagen, dass Sie aus Kalifornien kommen, könnten sie Verdacht schöpfen.“ Cade nickte. Was Redhawk sagte, leuchtete ihm ein. „Wir könnten ihnen erzählen, dass ich Ingenieur bin und erst kürzlich aus dem Osten hierher versetzt wurde. Wir werden eine Wohnung brauchen ... Der Lieutenant war schon einen Schritt weiter. „Eine Freundin meiner Frau ist Maklerin. Ich werde sie anrufen und - 71 -
zusehen, ob ich etwas für Sie arrangieren kann. Sie“, er wandte sich an Kayla, „werden bei diesem kleinen Drama im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Glauben Sie wirklich, dass Sie das schaffen?“ Bevor sie antworten konnte, fuhr er fort: „Ich könnte auch noch ein bisschen unter der Hand ermitteln, und wenn wir ein paar Beweise zusammenbekommen, schaffe ich es vielleicht, den Captain zu überreden, eine Hausdurchsuchung ...“ Aber Kayla schüttelte den Kopf. „Das kostet alles viel zu viel Zeit.“ Sie schaute Cade an. „Und Zeit ist das Einzige, was wir nicht haben. Aber ich bin Ihnen sehr dankbar für das, was Sie für uns tun.“ „Keine Ursache. Redhawk wusste, dass er ein bisschen Arbeit in den Fall investieren musste, wenn auch inoffiziell. Nur für den Notfall, falls irgendetwas schief ging. Kayla zog sich das Telefon heran. „Dann lasse ich die Kugel jetzt wohl am besten gleich rollen:“ Sie atmete tief durch und rief den Arzt an. Und dann drehten sich die Räder schnell. Kayla hatte den Überblick verloren, wie viele Anrufe Cade und Redhawk in den Nachmittagsstunden gemacht hatten, um ihre kleine Inszenierung so glaubwürdig wie möglich zu gestalten. Mittlerweile gab es eine Menge Leute, denen sie dankbar sein musste. Während die Dämmerung draußen der Dunkelheit Platz machte, schaute sich Kayla in der großzügigen Dreizimmerwohnung um, die ihnen die Maklerin vorübergehend zur Verfügung gestellt hatte. Die Wohnung, die in einem teuren Viertel lag, war erst vor einer Woche möbliert auf den Markt gekommen. Der Besitzer war kurzfristig in eine andere Stadt versetzt worden und hatte die Maklerfirma beauftragt, die Vermietung zu übernehmen. Innerhalb von Stunden war ein Mann von einer Telefongesellschaft gekommen - irgendjemandes Schwager - 72 -
und hatte das Telefon angeschlossen, so dass ein weiteres Mosaikteilchen an seinen Platz eingefügt war. Jetzt war das Bühnenbild nahezu perfekt. Obwohl Dr. Lambert angeblich in den nächsten Monaten keinen Termin mehr frei gehabt hatte, war der Arzthelferin, nachdem Kayla ihre exklusive Adresse genannt hatte, „plötzlich“ eingefallen, dass jemand abgesagt hatte, und hatte sie für morgen bestellt. Patientinnen mit Geld schienen auf Dr. Lamberts Liste offensichtlich ganz oben zu stehen. „Diese Wohnung ist wirklich ein Juwel“, sagte Kayla, während sie sich umschaute. „Da wäre ich mir nicht so sicher.“ Sie drehte sich um und warf Cade einen überraschten Blick zu. „Ich kann von hier aus die Bahngleise sehen“, erklärte er. Wie um den Nachweis zu führen, ratterte in diesem Moment ein Personenzug vorbei. Der Lärm war beträchtlich. Sie grinste. „Sie könnten Recht haben.“ Das Lächeln auf seinem Gesicht machte einem besorgten Ausdruck Platz. Er war inzwischen daran gewöhnt, sich in Gefahr zu begeben. Dafür wurde er bezahlt. Aber für sie war eine solche Situation neu. Sie war Zahnärztin, um Himmels willen. Das Gefährlichste, was ihr passieren konnte, war es, dass ein kleiner Patient sie versehentlich in die Hand biss. Kayla war kopfüber in diese Sache hineingesprungen, und er fragte sich, ob sie sich der möglichen Konsequenzen wirklich bewusst war. „Sie wissen, dass es noch nicht zu spät ist, Ihre Meinung zu ändern.“ Ohne sich darum zu kümmern, dass ihre Augen überrascht aufleuchteten, sprach er weiter. „Aber wenn Sie erst in dieser Praxis sind, gibt es kein Zurück mehr. Bis jetzt hat Dr. Lambert Sie noch nicht gesehen. Wir könnten Lieutenant Redhawk immer noch bitten, jemand anders hinzuschicken.“ „Nein, das können wir nicht“, widersprach sie. „Ich sitze - 73 -
nicht gern in Wartesälen, Cade. Ich kann es nicht, weil ich nicht sehr geduldig bin, wie Sie ja bereits gemerkt haben.“ O ja, das war ihm nicht entgangen. „Na schön“, willigte er ein, „wenn Sie darauf bestehen, an mir soll es nicht scheitern. Das bedeutet aber, dass wir uns jetzt dringend kennen lernen müssen. Wenn wir als Ehepaar durchgehen wollen, sollten wir ein bisschen mehr voneinander wissen als nur unsere Namen.“
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9. KAPITEL „Und, war das schon alles, was Sie über mich wissen wollen?“ In Kaylas Augen tanzten Fünkchen. Cade verlor sich einen Moment in diesen Augen, fasziniert von dem Humor, den er dort entdeckte. Und von der Frau. Während sie die Pizza, die sie sich hatten kommen lassen, aßen, hatte Cade angefangen, ihr die Fragen über ihr Leben zu stellen, deren Antwort er als „Ehemann“ unbedingt kennen sollte. Doch es interessierten ihn noch weitaus mehr Dinge, intimere. Wie zum Beispiel die Frage, die ihm gerade auf der Zunge lag. „Warum sind Sie eigentlich nicht verheiratet?“ „Ich glaube nicht“ dass mir der Arzt diese Frage stellen wird. Seines Wissens nach bin ich nämlich verheiratet. Und zwar mit Ihnen.“ Und dann lachten ihre Augen ihn an. Cade schaute plötzlich so verlegen drein, als wollte er am liebsten im Boden versinken, dabei hatte sie ihn doch nur ein bisschen necken wollen. „Nun, wahrscheinlich liegt es daran, dass ich einfach noch nicht die Zeit gefunden habe, eine Liebesbeziehung zu entwickeln.“ Er dachte an seine Frau. Er hatte bei Elaine auf den ersten Blick eine Magie gespürt und gewusst, dass sie etwas Besonderes war. Ein bisschen so wie bei Kayla. Diese Erkenntnis überraschte ihn. „Manchmal muss man gar nichts entwickeln, es passiert einfach“, sagte er ruhig. Irgendetwas in seinem Tonfall bewirkte, dass Kayla eine Gänsehaut über den Rücken lief. Es machte sie nervös. Sie wich seinem Blick aus und wandte sich ihrem angebissenen Pizzastück zu. „Nun, wenn es passiert sein sollte, muss ich wohl gerade beschäftigt gewesen sein.“ Sie ist viel komplizierter und sensibler, als sie sich gibt, - 75 -
dachte Cade. Aber ganz konnte sie es. nicht verbergen. „Zu beschäftigt damit, sich um alle möglichen Leute zu kümmern?“ Kayla schaute ihn eindringlich an. „Ich kümmere mich um niemanden, ich ...“ Ihr Satz blieb in der Luft hängen. „Na gut, vielleicht. Aber nur, bis alles wieder seinen gewohnten Gang geht.“ „Dank Ihrer Hilfe.“ Er lächelte wissend, während er die Hand nach seinem dritten Stück Pizza ausstreckte. Kayla ließ ihr Stück auf ihren Teller fallen. Ihre Augen verengten sich. „Was wollen Sie damit sagen? Dass mir besser alles egal sein sollte? Soll ich vielleicht eher nach Hause fliegen und dort ewig auf Ihren Anruf warten?“ Zu spät fiel ihr auf, dass man diese Worte auch anders verstehen konnte. Die Männer, die sie kannte, würden sich jetzt augenblicklich auf die andere Bedeutung stürzen. „Damit Sie mich über die Entführung auf dem Laufenden halten“, ergänzte sie eilig. „Nein, das habe ich nicht gemeint.“ Cade hatte den deutlichen Eindruck, dass, obwohl ihr Vater sich so autoritär gab, in Wirklichkeit Kayla das Rückgrat der Familie war. Und dass sie damit möglicherweise ein bisschen überfordert war. „Ich könnte mir nur vorstellen, dass sich andere nicht immer nur auf Sie verlassen würden, wenn Sie anfangen würden, sich ein bisschen mehr um Ihr eigenes Leben zu kümmern.“ Kayla hatte Mühe, ihre Verärgerung im Zaum zu halten. Aufgrund seines Berufs hielt Cade sich vielleicht für einen halben Psychologen, aber was sie anbelangte, war er absolut auf dem Holzweg. Er hatte doch keine Ahnung von ihrer Familie. „Das mag sich in der Theorie möglicherweise alles ganz plausibel anhören.“ Kaylas Worte klangen leicht atemlos. „Aber in die Praxis würde ich das nicht umsetzen wollen. Cade musterte sie einen Moment. Er bildete sich ein, sie besser zu verstehen, als ihr wahrscheinlich lieb war. - 76 -
„Befürchten Sie, dass Ihre Familie herausfinden könnte, dass sie auch ohne Ihre Hilfe zurechtkommt?“ Nein. Das Wort drängte sich ihr auf die Lippen, aber sie war fair genug, es zurückzuhalten und über das, was er gesagt hatte, erst einmal nachzudenken. Um zu entdecken, dass ein kleiner Teil von ihr tatsächlich Angst hatte, Angst davor, nicht gebraucht zu werden. Gebraucht zu werden nahm einen sehr großen Raum in ihrem Leben ein, und sie war sich nicht sicher, ob sie ohne dieses Gefühl leben könnte. „Vielleicht“, räumte sie schließlich ein. Und dann schaute sie ihm gerade in die Augen. „Aber noch mehr Angst habe ich davor, sie auf die Nase fallen zu sehen oder Schlimmeres ... weil ich nicht da war, um Ihnen ein bisschen unter die Arme zu greifen.“ Cade fragte sich, ob sie das wirklich glaubte, was sie ihm weismachen wollte, oder ob sie es sich nur einredete. Und doch kam sie ihm nicht vor wie jemand, der ständig alle Zügel in der Hand halten musste, nur um einen inneren Machtdrang zu befriedigen. „Wenn Sie jemandem unter die Arme greifen wollen, müssen Sie einen Schritt hinter ihm sein“, erinnerte er sie mit einem Lächeln. „Nicht vorneweg laufen.“ Vielleicht hatte er ja Recht oder vielleicht auch nicht, aber Kayla war im Moment nicht gerade in Hochform und auch nicht in Stimmung für ein Wortgefecht. Deshalb beendete sie die Diskussion, indem sie ihre Position noch einmal bekräftigte. „Sie können auf mich einreden, wie Sie wollen, Cade, aber ich werde jetzt nicht nach Hause gehen. Nicht jetzt, wo wir so nah dran sind.“ Cade griff nach einer Serviette und wischte sich die Finger ab. Drei Stück waren fürs Erste genug. Er sah, dass sie immer noch an ihrem ersten herumknabberte. „So habe ich das auch nicht gemeint. Ich glaube nämlich nicht, dass ich Dr. Lambert davon überzeugen kann, dass es mein sehnlichster Wunsch ist, - 77 -
schwanger zu werden. Das ist Ihr Part, Doc.“ Die Vorstellung, wie Cade im Zimmer des Arztes saß und ihm seine heimliche Sehnsucht, schwanger zu werden, gestand, brachte Kayla zum Lachen. Plötzlich rutschte ihr ein Stückchen Pizza in die Luftröhre und blieb stecken. Innerhalb von Sekunden erstarb ihr Lachen. Sie bekam keine Luft mehr. Sie riss entsetzt die Augen auf. Sie würde ersticken! Cade sah die panische Angst in ihren Augen und reagierte auf der Stelle. Er sprang so schnell auf, dass sein Stuhl umkippte, war mit einem langen Satz hinter Kayla und riss sie auf die Füße. Er schlang ihr die Arme um den Brustkorb und faltete die Hände über ihrem Brustbein, dann drückte er sie zusammen und riss sie wieder hoch. Ihr Rücken presste sich gegen seine Brust, und selbst in dieser Situation nahm er wahr, dass ihr Haar sein Gesicht streifte, und er roch den feinen Duft, den es ausströmte. Obwohl er fürchtete, er könnte ihr die Rippen zerquetschen, riss er sie wieder hoch und drückte noch fester. Im nächsten Augenblick hustete sie das Stückchen heraus. Kayla würgte und röchelte und schnappte gierig nach Luft. Erleichtert hielt Cade sie noch einen Moment fest, um sichergehen zu können, dass sie auf eigenen Beinen stehen konnte. Später dachte er, dass er sie vielleicht eine Sekunde zu lange gehalten hatte. Gerade lange genug, um zu merken, dass er seine Hände auf ihre Brüste presste, dass ihr Körper eng an den seinen gedrückt war. Das hatte ihm für kurze Zeit den Atem geraubt. Diese Frau fühlte sich wunderbar an.. Den leichten Schwindel, der ihn ergriff, schob Cade auf den Umstand, dass Kayla nur mit knapper Not dem Erstickungstod entronnen war. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ fragte er sanft. Die Frage ging ihr direkt ins, Herz. Kayla spürte, wie sich alles in ihr anspannte, als ob ihre Haut auf eine unerwartete - 78 -
süße Brise reagierte. Da war jemand, der sich um sie kümmerte! „Hm.“ Sie nahm sich zusammen und holte noch einmal tief Atem, peinlich berührt, aber mehr noch erleichtert. Während sie sich zu ihm umdrehte, verzogen sich ihre Lippen zu einem halben Lächeln. „Ich schätze, das kann ich machen, wenn der Arzt anfängt, mir unangenehme Fragen zu stellen.“ „Ein hervorragender Trick, um jedes Gespräch zu beenden“, stellte Cade fest. Erst jetzt merkte er, dass er sie immer noch im Arm hielt. Nur dass seine Hände inzwischen auf ihrem Rücken lagen. Er hielt sie ein bisschen zu fest an sich gepresst. Er versuchte sich einzureden, dass er es nur tat, um sie zu stützen, aber sehr überzeugend klang es nicht. „Hm, Cade?“ begann Kayla. Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe, während sie ihn anschaute. Er traute seiner Stimme kaum, als er fragte: „Ja?“ Wieder schlich sich ein winziges Lächeln in ihre Augen und fand den Weg zu ihrem Mund. „Wie lange wollen Sie mich noch festhalten?“ Er erwiderte ihr Lächeln. „Entweder bis ich Sie loslasse oder bis ich Sie küsse.“ Ganz ohne ihr Zutun öffneten sich ihre Lippen ein bisschen. Kaylas Herz weigerte sich, ruhiger zu schlagen, und setzte den seltsamen Rhythmus fort, in dem es zu hämmern begonnen hatte, als er seine Arme um sie gelegt hatte. „Ich verstehe. Haben Sie sich schon für eins von beiden entschieden?“ „Ja, dafür.“ Cade flüsterte die Worte, bevor er seinen Mund auf ihren legte. In dem Moment, in dem seine Lippen ihre berührten, trat alles um sie herum in den Hintergrund. Alles, woran sie denken konnte, war Cade und sein Körper, der sich an ihren schmiegte. - 79 -
Die Art, wie er sie hielt - als ob, sie etwas Kostbares, etwas Zerbrechliches wäre. Seit sie denken konnte, hatte Kayla sich etwas auf ihre Kraft zugute gehalten, auf ihre Fähigkeit, andere von dieser Kraft profitieren zu lassen. Sie liebte die Vorstellung, dass sich ihre Familie an sie wandte, wenn sie sie brauchte. Jederzeit. Aber sie musste zugeben, dass in der Art, so gehalten, so geküsst zu werden, ein unglaublich schönes Gefühl von Geborgenheit lag. Als ob man sich um sie kümmern würde! Das ist das erste Mal, erkannte Cade. Er hatte noch nie zuvor das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden, er hatte aus seinem Job nie eine andere Befriedigung gezogen als die, dass er seine Arbeit gut machte. Aber in dem, was er jetzt gerade tat, lag eine Freude, eine tiefe, dunkle, überwältigende Lust, die ihn an einen Ort zog, an dem er schon lange nicht mehr gewesen war. Er konnte nicht einmal sagen, was es an Kayla war, das ihn dazu verführte, Dinge zu tun, die er normalerweise mehr als unprofessionell ansah. Aber irgendetwas war es. Irgendetwas. Er vertiefte den Kuss, umfasste zärtlich ihren Nacken und wünschte sich, diese Frau nie mehr loslassen zu müssen. Kayla hatte das Gefühl, dass es gleich kein Zurück mehr geben würde, wenn sie dem Geschehen nicht auf der Stelle ein Ende setzte. Noch eine Sekunde, und sie würde von dem Strudel verschlungen werden, und wer konnte schon vorhersagen, was dann passiert? Sie war ja bereits jetzt kaum mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie befahl ihrem Herzen, sich endlich zu beruhigen, aber es nützte nichts. Sie befahl sich, tief durchzuatmen, doch vergebens. „Junge, Junge, wenn du dich zu etwas entschließt, dann machst du es aber auch gleich richtig, was?“ versuchte Kayla zu scherzen, nachdem sie es endlich geschafft hatte, von Cades - 80 -
Lippen abzulassen. Ihre Augen suchten in seinem Gesicht nach Antworten auf Fragen, die sie bis jetzt noch nicht einmal zu formulieren wagte. „War das deine Vorstellung von einer Mund-zu-Mund-Beatmung?“ Seine Augen funkelten belustigt. Cade war sehr nah daran gewesen, jede Regel zu brechen, die er selbst aufgestellt hatte. „Vielleicht.“ „Wen von uns beiden wolltest du denn retten?“ Cade fuhr ihr zärtlich mit den Fingerspitzen über die Wange und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Kostete es aus, sie zu fühlen. Wünschte sich, sich noch mehr gehen lassen zu können, und wusste doch zugleich, dass er es nicht sollte. „Ich weiß nicht genau. Uns beide, vermutlich.“ Ihre Augen hielten ihn für eine lange Zeit fest. Sie fühlte sich wie eine Knospe, die sich unter den wärmenden Strahlen der Sonne öffnet. In ihrem ganzen Leben hatte Kayla sich noch nie so überwältigt gefühlt. „Und was machen wir jetzt?“ Das liegt allein bei dir, dachte Cade. Er musste wieder auf Abstand zu ihr gehen. Weil er derjenige gewesen war, der, den Abstand zwischen ihnen gebrochen hatte. Er zwang sich, sie loszulassen, und trat einen Schritt zurück. „Wir versuchen weiter, uns näher kennen zu lernen.“ Er setzte sich wieder hin. „Ich glaube, das haben wir schon“, murmelte sie in sich hinein. Er hatte es gehört. „Du hast Recht, vielleicht ist es für heute genug. Wir können anders weitermachen... mit dem Gespräch“, fügte er hinzu. Er war immer noch vollkommen durcheinander. Wann hatte er seine vertraute Welt verlassen? Sie nickte und sagte: „Ja, genau. Am besten nach dem Termin morgen.“ „Richtig.“ Bis auf die winzige Kleinigkeit, dass es nicht genau das war, was er hatte sagen wollen, weil es nicht das war, was er fühlte. - 81 -
Und wenn ihn nicht alles täuschte, ging es ihr genauso. Mit einem Seufzer, der tief aus ihrem Innern zu kommen schien, verabschiedete Kayla sich und ging mit klopfendem Herzen in ihr Schlafzimmer. Schon wieder eine Nacht, in der sie aller Voraussicht nach kaum ein Auge zumachen würde. Weil Cade sie geküsst, hatte. Das Sprechzimmer war so eingerichtet, dass es auf die Patienten eine beruhigende Wirkung ausübte. Es erinnerte mit seinen Blumen und den vielen Bildern an der Wand eher an ein gemütliches Wohnzimmer als an eine Arztpraxis. Auch der freundliche ältere Herr hinter dem wuchtigen Schreibtisch hatte weniger etwas von einem Arzt und mehr von einem Vater. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, wäre Kayla sicher gewesen, dass sie sich mit ihrem Verdacht gegen Dr. Lambert getäuscht hatte. Aber sie wusste es besser. Und an diesem Gedanken musste sie sich festhalten. Daran und an der Tatsache, dass sie Heather zurückbekommen mussten. „Genau dasselbe, was Sie mir jetzt sagen, haben mir schon eine Menge Frauen vor Ihnen gesagt, Mrs. Sinclair.“ Dr. Erasmus Lambert schaute Kayla mit einem ermutigenden Lächeln in die Augen. Sie hatte die letzten zwanzig Minuten damit verbracht, einem Mann, der problemlos den Weihnachtsmann hätte spielen können, zu erzählen, wie sehnlich sie sich ein Kind wünsche. Der zuvorkommende Dr. Lambert mit dem vollen weißen Haar hatte wahrscheinlich das freundlichste Gesicht, das sie jemals gesehen hatte. Es gelang ihm mühelos, die Menschen für sich einzunehmen. Er strömte ein Mitgefühl aus, das geräuschlos und in Windeseile alle Barrieren zwischen ihm und seinen Patientinnen niederriss und ihn in einem Atemzug in einen Übervater verwandelte, der Wunschträume wahr werden ließ. - 82 -
Kayla griff nach Cades Hand, während sie Lambert fest in die Augen schaute. „Und sind sie alle Mütter geworden?“ Lambert schenkte ihr ein fast selig machendes Lächeln. „Ja.“ Cade, der den Part des skeptischen Ehemanns spielte, forderte ihn mit dem genau bemessenen Anflug von Hoffnung in der Stimme heraus. „So eine große Erfolgsquote haben Sie?“ Lambert lehnte sich zurück und deutete auf das schwarze Brett hinter sich. Dort überlappten sich in bunter Fülle zahlreiche Fotos von Neugeborenen und Kleinkindern. „Auf die eine oder andere Weise.“ Kayla hob das Kinn und sagte: „Dann wird es bei mir wohl auf die andere Weise geschehen müssen.“ Sie warf Cade einen flüchtigen Blick zu und begann die Geschichte zu erzählen, die sie sorgfältig einstudiert hatten. „Ich kann keine Kinder bekommen, Herr Doktor. Ich wurde mit zwanzig vergewaltigt.“ Ihre Stimme bebte, und Kayla legte eine Pause ein, ehe sie fortfuhr. Es war nicht ihre Geschichte, sondern die einer Frau namens Julia Sinclair. „Der Täter war jemand aus meinem Bekanntenkreis. Ich habe mich zu sehr geschämt, um zur Polizei zu gehen und sogar, um es irgendjemandem zu erzählen, bis es zu spät war.“ „Zu spät?“ Lamberts Stimme verströmte unendliches Mitgefühl. Kayla biss sich auf die Unterlippe und nickte, während Cade ihre Hand noch fester drückte. Scheinbar in peinlicher Verlegenheit wich sie dem Blick des Arztes aus. „Auf Grund der inneren Verletzungen bekam ich eine Infektion, die sich zu einer chronischen Gebärmutterentzündung entwickelte.“ Sie sah aus dem Augenwinkel, wie Lambert verständnisvoll nickte. „Ich hätte damals zum Arzt gehen sollen, aber ich habe mich so geschämt. Und als ich mich dann endlich zu einer Untersuchung entschloss, war es zu spät. Ich war mittlerweile bei einem Dutzend Spezialisten, und sie haben alle gesagt, - 83 -
dass ich ... dass ich keine Kinder haben kann.“ Sie drehte an dem Ehering, den sie sich zur Vervollständigung ihrer Rolle angesteckt hatte, schwieg und schluckte ein unterdrücktes Aufschluchzen hinunter. Nachdem sie ihre Fassung wieder gefunden hatte, hob Kayla den Blick und schaute Lambert an. „Ich bin auf der Suche nach einem Wunder.“ „Befruchtung außerhalb des. Körpers ist Wissenschaft, kein Wunder, Mrs. Sinclair, aber...“ „Das haben wir auch schon versucht“, sagte Cade. Er schüttelte, den Kopf. „Es hat nicht funktioniert. Es führte nur dazu, dass meine Frau neue Hoffnung schöpfte, die dann wieder zerstört wurde. Ich möchte nicht, dass sie das noch einmal alles durchmachen muss.“ „Ich verstehe.“ Kayla presste die Lippen zusammen und stürmte vorwärts. „Ich weiß, dass ich niemals ein Kind austragen kann, Herr Doktor. Ich habe es akzeptiert. Aber ich möchte wenigstens eins in meinen Armen halten. Mein Mann und ich sehnen uns verzweifelt danach, ein Baby zu adoptieren.“ „Und Sie sind zu mir gekommen, Weil...“ „Weil wir gehört haben, dass wir über Sie eher Chancen haben, ein Kind zu adoptieren“, sagte Cade. „Auf normalem Weg dauert es Jahre, und ich könnte nicht mehr so viel Zeit haben, Doktor.“ „Wie darf ich das verstehen?“ Dr. Lambert runzelte die Stirn. Jetzt war Kayla wieder an der Reihe. „Mein Mann hat ein Herzleiden, Herr Doktor. Keine offizielle Stelle wird einem Ehepaar ein Kind geben, wenn der zukünftige Vater schon einen Herzinfarkt hatte und möglicherweise einen zweiten, tödlichen, erleiden könnte.“ Sie umklammerte Cades Hand und beugte sich vor. „Sie sind unsere einzige Hoffnung, Dr. Lambert. „ Sehr langsam nickte Lambert. „Adoptionsagenturen wollen nur das Beste für die Kinder, die sie vermitteln ...“ - 84 -
„Wir können dem Kind das Beste geben. Die beste Liebe, das beste Zuhause, das Beste von allem. Wir haben Geld. Aber wir finden, dass es kein Grund ist, uns die Liebe eines Kindes zu verweigern und einem Kind unsere Liebe, nur weil vielleicht - oder vielleicht auch nicht - irgendwann etwas passieren könnte.“ Kaylas Stimme vibrierte vor Empörung. „Das sehen Sie völlig richtig, Mrs. Sinclair.“ Der Arzt stand auf, ging zu ihr und legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. „Ich bin auf Ihrer Seite“, versicherte er ihr. „Tatsächlich waren meine Frau und ich vor Jahren in genau derselben Situation wie Sie. Das war der Grund dafür, warum ich überhaupt angefangen habe, mich auf diesem Gebiet ... zu engagieren. Weil ich weiß, wie man sich fühlt, wenn einem etwas so Grundlegendes wie eine Familie ... ein Kind ... versagt bleibt.“ Er unterbrach sich und schaute von Cade zu Kayla. „Und Sie sind sich vollkommen sicher, dass Sie es nicht noch einmal mit einer Befruchtung außerhalb...“ „Absolut“, fiel Kayla ihm ins Wort. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich diese Enttäuschung noch einmal ertragen könnte. Es ist, als ob einem das Herz aus der Brust gerissen wird.“ Sie dachte an Heather, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich habe es schon so viele Male durchgemacht.“ Lambert schaute sie mitleidig an. „Ich verstehe.“ „Ich habe ja so gehofft, dass Sie das sagen. Sie sind die Antwort auf meine Gebete, Doktor.“ Und das Lächeln auf Lamberts Lippen sagte Kayla, dass er sich genau in diesem Licht auch sah.
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10. KAPITEL „Dann spielen wir jetzt also das Wartespiel?“ fragte Kayla leise, während sie mit Cade zum Aufzug ging. Sie hatten weit über eine Stunde bei dem Arzt verbracht, Fragen beantwortet, Formulare und Fragebögen ausgefüllt. Am Ende der Konsultation hatte Lambert ihnen versichert, dass er denke, ihnen in nächster Zukunft ein Kind vermitteln zu können. Er brachte sie zur Tür und versprach sich zu melden. Als Kayla ihn gedrängt hatte, ein ungefähres. Datum zu nennen, hatte er nur gesagt: „Bald.“ Cade sah, dass Kayla Mühe hatte, ihre Aufregung zu zügeln. Nicht, dass er ihr das zum Vorwurf machte. Er wäre an ihrer Stelle sogar bereit gewesen, seine Seele zu verkaufen. Er drückte den Aufzugsknopf. „So ist es.“ „Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich so lange warten kann.“ Er legte ihr eine Hand auf den Rücken und schob sie in den Aufzug. Außer ihnen war niemand drin. „Wir haben keine andere Wahl.“ Kayla schaute auf Dr. Lamberts Praxiseingang, während sich die Türen des Aufzugs schlossen. Sie hätte sie am liebsten wieder aufgedrückt und wäre in die Praxis zurückgerannt. „Warum gehen wir nicht einfach rein und kaufen ihn uns? Warum kaufen wir sie uns nicht alle?“ Das war doch das einzig Wahre, oder etwa nicht? Sie hatten den Beweis, den sie brauchten. Und eine der beiden Sprechstundenhilfen hatten sie zweifellos als Shirley Lambert wiedererkannt. „Er hat Heather. Wenn er uns entwischt ...“ Obwohl sie allein im Fahrstuhl waren, fühlte Cade sich beobachtet. Möglicherweise war eine versteckte Überwachungskamera in dem Aufzug installiert. „Redhawk lässt sowohl die Praxis als auch Lamberts Haus beobachten.“ Um die Tarnung aufrechtzuerhalten und weil er spürte, dass sie ein bisschen Trost brauchte, legte Cade ihr einen Arm um die - 86 -
Schultern. „Kein Kind wird irgendwohin geschafft werden können, ohne dass er oder seine Leute es nicht merken, Kayla.“ Die Türen öffneten sich. Kayla trat aus dem Aufzug, sie fühlte sich ganz benommen. „Aber Redhawk hat doch gesagt, er könnte nicht ...“ „Es läuft inoffiziell“, gab Cade zurück, während er auf das Auto zuging. „Er hat Leute, die in ihrer Freizeit an dem Fall arbeiten, um ihm einen Gefallen zu tun. Und Redhawk macht es, um Kane einen Gefallen zu tun.“ Es war genauso, wie Kayla schon gestern gedacht hatte. Sie musste einer Menge Leute dankbar sein. Sie gingen über den überfüllten Parkplatz zu ihrem Mietwagen. Überall fuhren Autos im Schritttempo auf der Suche nach einer Lücke herum. Cade fragte sich, ob einer der Wagen jemandem gehörte, der von Lambert soeben den Auftrag erhalten hatte, ihnen nachzufahren. Kayla schien auf dieselbe Idee gekommen zu sein, denn kaum hatten sie den Parkplatz verlassen, drehte sie sich auch schon um und schaute aus dem Rückfenster. „Glaubst du, wir werden verfolgt?“ Er war sich mehr als sicher. „Rate mal.“ „Das blaue Auto?“ Das wäre zu offensichtlich gewesen. „Nein, ich tippe eher auf den beigen dahinter.“ Redhawk hatte Recht behalten, als er ihn und Kayla angewiesen hatte, ab Beginn der Operation ihre Mobiltelefone nicht mehr zu benutzen, weil er befürchtete, dass sie abgehört werden würden. Wenn Lambert und Taylor tatsächlich einen Kinderschwarzmarkt großen Stils betrieben, hätten sie es mit Profis zu tun, nicht mit Amateuren. Cade schaute in den Rückspiegel. Das Auto war immer noch hinter ihnen. Er wechselte die Spur. Gleich darauf tat der beige Wagen dasselbe. Okay, dann wäre das also geklärt, dachte er. „Ich werde Sams Frau mal ein bisschen recherchieren - 87 -
lassen“, sagte er, „aber ich bin mir sicher, dass die meisten Adoptionen, die bei diesem Anwalt über den Schreibtisch gehen, legal sind.“ Wenn schon nicht die meisten, so doch die Hälfte, fügte er in Gedanken hinzu. „Kann sein, dass sie ursprünglich alle legal waren, aber die Nachfrage nach Adoptionskindern ist riesig. Deshalb wurde die Versuchung für Lambert und Taylor nach einer Weile vielleicht zu groß. Es fällt schwer, sich ein lukratives Geschäft entgehen zu lassen.“ „Sams Frau? Wer ist Sam?“ „Sam Walters, einer meiner Partner. Du hast ihn vorgestern kennen gelernt. Seine Frau Savannah kommt wahrscheinlich in jede Datenbank des Landes rein, wenn sie sich ein bisschen Mühe gibt.“ Kayla war sich nicht sicher, ob das eine Empfehlung war oder nicht. Aber ihr war klar, dass sie an diesem Punkt jede Hilfe brauchten, die sie bekommen konnten. „Kennt sie sich mit so was aus?“ „Das ist noch untertrieben, sie ist ein Computergenie.“ Er zog vor jedem den Hut, der sich in der geheimnisvollen Welt der Datenautobahnen auskannte. „Meine Computerkenntnisse beschränken sich auf ein Textverarbeitungsprogramm und gelegentliches Surfen im Internet.“ Er grinste und warf einen Blick in ihre Richtung. „Manche Leute würden mich als Dinosaurier bezeichnen.“ „Nicht wenn sie dich jemals geküsst haben“, murmelte Kayla in sich hinein, während sie der Kopf abwandte. Aber er hatte es gehört. Und er lächelte. Cade legte auf und tat so, als starre er nachdenklich den öffentlichen Fernsprecher an, den er soeben benutzt hatte. In Wirklichkeit jedoch schaute er auf die Chromplatte an dessen Unterseite. Darin spiegelte sich der Fahrer des beigen Wagens, der ihnen zu Fuß durch die Einkaufspassage gefolgt war. „Es ist, wie ich dachte“, flüsterte Cade und legte einen Arm - 88 -
um Kayla. „Der Typ ist Privatdetektiv. Ich würde sagen, dass wir sein neuer Auftrag sind.“ Um sich seinen Verdacht bestätigen zu lassen, hatte er gerade Savannah angerufen und ihr die Autonummer des beigen Wagens durchgegeben. Dann hatte er gewartet, während sie die Nummer überprüft hatte. Sie hatte sich von der Zulassungsstelle ein Foto des Mannes heruntergeladen und Cade seine Beschreibung gegeben. Während er vorgab, mit Kayla Zärtlichkeiten auszutauschen, redete er weiter. „Nach allem, was mir Savannah über sein Vorstrafenregister erzählt hat, möchte ich wetten, dass dieser ehrenwerte Bürger für Taylor und Lambert auch so manch anderen Job erledigt.“ Kayla warf einen verstohlenen Blick auf den Mann. Er stand abseits, schlürfte einen Cappuccino, den er sich in dem italienischen Cafe in der Einkaufspassage geholt hatte, und tat so, als studiere er die Auslagen eines Schaufensters. „Na ja, wenigstens scheinen Taylor und Lambert diesen Schläger gut zu bezahlen, wenn er sich einen so überteuerten Kaffee leisten kann“, flüsterte Cade an ihr Ohr. Sie lächelte über seine Wortwahl. „Du scheinst dir ja nicht allzu viel aus italienischem Kaffee zu machen.“ Cade zuckte die Schultern. „Für mich gibt es nur zwei Kaffeesorten. Guten und schlechten.“ Ihr Lächeln wurde breiter. „Und eine gute Tasse Kaffee muss wie sein?“ „Heiß. Schwarz. Stark. Wozu soll sie sonst gut sein?“ „Um sie zu genießen“, schlug Kayla vor. „Ich genieße sie heiß und stark.“ Warum schaust du sie dabei so an? fragte Cade sich plötzlich. Und dann wusste er es. Weil die beiden Adjektive auf Kayla ebenso zutrafen wie auf seinen Kaffeegeschmack. Er schob den Gedanken beiseite und deutete mit dem Kopf auf den Ausgang. „Gehen wir.“ - 89 -
Kayla fing an, Gefallen daran zu finden, wenn er seinen Arm um ihre Schultern legte und sie im Gleichschritt nebeneinander hergingen. Denk an den Grund, weshalb du hier bist, befahl sie sich. Als sie den Kopf wandte, um Cade eine Frage zu stellen, wurde ihr bewusst, dass sein Gesicht ganz nah an ihrem war. Und seine Lippen. Sie dachte an den Mann hinter ihnen. Gelang es ihnen, ihn zu täuschen? Sie wusste ja selbst schon bald nicht mehr, was Realität und was Tarnung war. „So, und was machen wir jetzt, nachdem wir diese Klette am Rockzipfel haben?“ „Wir tun einfach so, als ob nichts wäre. Und verhalten uns wie ein Paar, das sich nach einem Kind verzehrt. Es kam ihm kurz in den Sinn, wie doppeldeutig diese Aussage war. Unwillkürlich drückte er Kayla fester an sich. Da kamen sie an einem Ausstattungsgeschäft für Kleinkinder vorbei. Das war die Art Hinweis, auf die der Privatdetektiv sicher achten würde. Cade blieb stehen. „Wir betrachten jetzt dieses Schaufenster, in der Hoffnung, dass wir bald ein Kind haben, das die Sachen anziehen kann.“ Er schaute sie an und sah, dass ihr Tränen über die Wangen kullerten. Verblüfft über ihre schauspielerischen Fähigkeiten fischte Cade ein Taschentuch aus seiner Tasche und reichte es ihr. Er gab vor, sie zu trösten und flüsterte: „So sehr brauchst du dich auch wieder nicht in deine Rolle reinzusteigern.“ „Das mache ich ja auch gar nicht“, schniefte sie. „Es ist nur, weil ... so ein Kleidchen habe ich Heather als Weihnachtsgeschenk gekauft. Am Tag bevor ... bevor...“ Kayla atmete tief durch und wandte den Kopf ab. „Tut mir Leid, aber normalerweise weine ich nicht.“ Der Anblick ihrer Tränen machte ihn hilflos. Er hasste es, sich hilflos zu fühlen. „Macht ja nichts, dafür hast du bestimmt unseren Detektiv beeindruckt. Er wird nun berichten können, - 90 -
dass du dir so sehnlichst ein Baby wünschst, dass du schon allein beim Anblick einer Schaufensterpuppe in Tränen ausbrichst.“ Er wollte sofort hier weg und irgendwohin, wo sie sich entspannen und sich frei fühlen konnten. „Komm, fahren wir in die Wohnung zurück. Cade verflocht seine Finger mit ihren und ging mit ihr aus der Einkaufspassage auf den Parkplatz. „Das ist mir wirklich noch nie passiert“, sagte sie, als sie wieder im Auto saßen. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich sehe in dir keinen Roboter.“ „Was siehst du denn in mir?“ „Eine sehr starke Frau.“ Er warf ihr einen Blick aus dem Augenwinkel zu und sah, dass sie seine Antwort erfreute. „Aber selbst starke Frauen dürfen ab und zu mal einen schwachen Moment haben. Menschlich sein. Wenn sie das nicht tun, brechen sie irgendwann zusammen.“ „Aha, und du bist ein Experte auf diesem Gebiet?“ Er wusste, dass sie ihn nur necken wollte, aber er antwortete ernst. „Gewissermaßen. Meine Frau Elaine war eine starke Frau.“ Cade merkte nicht, dass er seine Kiefer fester aufeinander presste, als er hinzufügte: „Besonders gegen Ende.“ „Gegen Ende?“ Sprach er über eine Scheidung oder über etwas noch Endgültigeres? Kayla biss sich auf die Unterlippe. Sie hätte nicht fragen sollen. „Sie starb an Krebs.“ Selbst jetzt erschütterten Cade die Worte noch bis ins Mark. „Sie erfuhr es im Juni, und sechs Wochen später war sie tot. Sie war unglaublich tapfer.“ Kayla hörte den Schmerz in seiner Stimme mitschwingen. Das bewirkte, dass sie sich wie ein Eindringling vorkam, obwohl ein winziger Teil von ihr froh war, dass er ihr davon erzählt hatte. „Es tut mir Leid. Ich wollte nicht neugierig sein. Cade zuckte die Schultern und suchte die Straße mit Blicken - 91 -
ab. Er glaubte sich vage zu erinnern, dass er irgendwo hier in der Nähe einen Supermarkt gesehen hatte. „Macht nichts. Vielleicht hätte ich ein bisschen mehr über sie sprechen sollen.“ Anstatt ihr Martyrium und ihren Tod zu verdrängen, fügte er in Gedanken hinzu. Er entdeckte den Supermarkt und fuhr auf die rechte Spur. „Sie war eine beeindruckende Frau.“ Er warf Kayla einen Blick von der Seite zu. „Wie du.“ Das kam völlig unerwartet. Über Kaylas Gesicht huschte ein Lächeln. „Danke. „Keine Ursache.“ Er brachte das Auto zum Stehen. Kayla schaute sich mit verengten Augen auf dem überfüllten Parkplatz um. „Was machen wir hier? Er war schon ausgestiegen und kam um den Wagen herum auf ihre Seite. „Einkaufen. Wir sind keine Neuvermählten, deshalb erwarten sie höchstwahrscheinlich, dass wir von Essen leben und nicht nur von Luft und Liebe.“ Ohne aufzuschauen, sah Cade aus dem Augenwinkel, dass das beige Auto auf den Parkplatz gefahren war und zwei Reihen weiter parkte. „War vorhin irgendwas?“ fragte Kayla, während sie die Tüten mit den Lebensmitteln aus dem Kofferraum holten und ins Haus trugen. Cade war beim Einkaufen plötzlich so merkwürdig still geworden, dass es sie ganz nervös gemacht hatte. „Nein, ich habe mich nur an etwas erinnert, das war alles“, sagte er schließlich, als sie in der Wohnung waren. Er macht dicht, dachte Kayla, während sie die Tüten auspackte. Was sie im Grunde nicht weiter hätte stören müssen, da sie ja eigentlich nur rein geschäftlich miteinander zu tun hatten. Das Problem war nur, dass sich ihre Beziehung inzwischen gewandelt hatte. Sie war längst nicht mehr so unpersönlich, wie Kayla es sich gewünscht hätte. Oder wünschte sie sich das womöglich gar nicht? Dieser Gedanke - 92 -
schoss ihr durch den Kopf, während sie die Lebensmittel in die Speisekammer einräumte. Irgendetwas an ihm berührte sie. Hatte sie praktisch von Anfang an berührt. Sie wusste nicht, ob es an ihrem zweifellos vorhandenen Helfersyndrom lag, dass sie in Cade einen Mann sah, der jemanden brauchte, oder ob sie zum ersten Mal in ihrem Leben bereit war zuzugeben - zumindest teilweise -, dass sie selbst jemanden brauchte. Der Gedanke flößte ihr Unbehagen ein. Als sie aus der Speisekammer kam, rannte sie fast in Cade hinein. Eilig trat sie einen Schritt zurück und schaute ihn an. Er hatte eine Dose Kaffee in jeder Hand. „Zwei?“ So lange, dass sie zwei Dosen Kaffee verbrauchten, würden sie bestimmt nicht hier sein, egal wie stark er seinen Kaffee auch trank. Er zuckte die Schultern. „Sie waren im Sonderangebot.“ Der Gedanke amüsierte sie. „Ein Mann, der nach Sonderangeboten Ausschau hält ... du bist unglaublich.“ Sie schwieg einen Moment, und das Lächeln auf ihrem Gesicht machte einem etwas ernsteren Ausdruck Platz. „Willst du darüber reden?“ Er stapelte die beiden Dosen übereinander. „Worüber? Dass ich zwei Dosen Kaffee gekauft habe?“ „Nein, woran du dich erinnert hast ... vorhin im Supermarkt.“ Als er sie anschaute, gingen ihr die Worte aus. „Eigentlich nicht.“ Sein Ton forderte sie zum Rückzug auf - in höflicher Form. Doch sie gab nicht klein bei. „Vielleicht solltest du es trotzdem tun.“ Er schaute sie an. „Wie kommst du denn darauf?“ „Nun, es ist offensichtlich, dass du dich an irgendetwas erinnert hast, was mit deiner Frau zu tun hatte. Du hast vorhin gesagt, dass du vielleicht öfter über sie hättest sprechen sollen. Warum tust du es dann nicht?“ Als sie seine Augen sah, die sich - 93 -
verdunkelt hatten, schwankte sie nur einen kurzen Moment. „Wenn du deine Gefühle ein bisschen genauer untersuchst, wird dir das vielleicht helfen, über ihren Tod hinwegzukommen.“ Hobbypsychologie, dachte Cade verächtlich. Es war das Letzte, was er im Augenblick brauchte. „Ich brauche meine Gefühle nicht zu untersuchen. Ich kenne sie ganz genau. Ich habe meine Frau geliebt, und sie ist tot. Mir bleibt nichts anderes übrig, als allein zurechtzukommen ... und nach unserem Sohn zu suchen. Erst nachdem er seinen Satz zu Ende gesprochen hatte, wurde ihm bewusst, dass seine Stimme schärfer geworden war. Kayla atmete laut aus. „Nun, ich nehme an, das verweist mich auf meinen Platz, stimmt’s?“ Es war nicht seine Absicht gewesen, sie zu verletzen. Er hatte geglaubt, sich besser im Griff zu haben, als es offensichtlich der Fall war. Unentschlossen hielt er die leere Einkaufstüte in der Hand. „Tut mir Leid, ich wollte dich nicht anschnauzen.“ „Das hast du auch nicht.“ Kayla nahm ihm die Tüte aus der Hand und legte sie automatisch in eine Schublade, so wie sie es zu Hause tat. „Du lässt nur nichts und niemanden an dich heran und stellst ein fünf Meter hohes ,Betreten-VerbotenSchild’ vor dir auf. Ich bin es, die sich entschuldigen sollte. Ich hätte deine Grenzen akzeptieren sollen.“ Cade wollte nicht, dass sie sich entschuldigte. Sie konnte es nennen, wie sie wollte, er wusste, das er ihr gegenüber den falschen Ton angeschlagen hatte. Und er wusste auch, warum. Um sich selbst zu zwingen, sie anzuschauen, legte er ihr die Hände auf die Schultern, während er sprach. „Schau, das ist im Moment nicht ganz einfach für mich. Ich weiß nicht, warum, aber wenn ich mit dir zusammen bin, fühle ich mich dauernd irgendwie an Elaine erinnert. Es ist etwas anderes, und trotzdem ist es dasselbe ..:“ Er schaute ihr - 94 -
forschend ins Gesicht. „Macht das Sinn?“ „Ich weiß nicht ...“ Sie hielt ihn für eine Weile mit Blicken fest. „Wenn du damit das sagen willst, was ich denke, dass du sagen willst.“ Er war bereits zu weit gegangen. Cade nahm seine Hände von ihren Schultern. „Vielleicht sollten wir es einfach dabei belassen.“ „Hast du Angst, Cade?“ fragte sie lächelnd. Es war nur gesund, ab und zu Angst zu haben. Angst hielt einen am Leben und brachte einen dazu, sich zu schützen. „Ja, vielleicht.“ „Wovor?“ Die Frage war ein Flüstern, das ihm durch und durch ging. Er konnte nicht anders, als ehrlich zu sein. Alles andere wäre ihm fremd gewesen. „Vor dir. Vor meinen Gefühlen. Davor, überhaupt irgendetwas zu fühlen.“ „Warum?“ Wieso konnte er sich nicht einfach auf seine Arbeit konzentrieren, so wie er es die ganze Zeit gemacht hatte? Diese Zahnärztin richtete ein heilloses Chaos in seinem Kopf an. „Weil sich Gefühle nicht steuern lassen. Man öffnet sich ein bisschen und wird plötzlich verwundbar. Es gibt nicht nur Gefühle der Freude. Es gibt auch Schmerz.“ „Manche Leute meinen, dass das ein fairer Preis ist.“ An dem Preis war gar nichts fair. „Manche Leute haben auch nicht so viel verloren wie ich.“ Mut war nie etwas gewesen, wonach Kayla hatte suchen müssen. Bis jetzt. „Manche Leute würden sagen, dass du eine Menge verloren hast, aber dass du es wenigstens gehabt hast“, sagte sie schüchtern. Cade hörte in ihrer Stimme etwas mitschwingen. „Hast du noch nie geliebt?“ Kayla weigerte sich, seinem Blick auszuweichen, obwohl sie es am liebsten getan hätte. „Meine Familie.“ - 95 -
„Aber noch nie ...?“ „Ich sagte Nein, oder nicht?“ Sie merkte, dass jetzt sie es war, die sich verteidigte, aber es ging anscheinend nicht anders. „Es hat in meinem Leben nie jemand Besonderen gegeben. Mir ist noch niemand begegnet, bei dessen Anblick ich Herzklopfen oder Schwindelgefühle bekommen hätte ...“ Bis jetzt. Weil sie wusste, dass sie Dinge beschrieb, die ihr bei Cade passierten. Mit ihm. Aber das war etwas, das sie nicht laut sagen konnte. Es war schlimm genug, dass er es wahrscheinlich in ihren Augen lesen konnte. Sie wandte sich ab und ging zum Tisch und der dort noch verbliebenen Einkaufstüte zurück. „Das Eis schmilzt.“ „Wir haben kein Eis gekauft.“ Aber ganz sicher war Cade sich nicht. Nachdem er sich im Supermarkt an seine Freitagabendeinkäufe mit Elaine erinnert hatte, war alles in einem Nebel der Trauer verschwommen. „Doch, haben wir.“ Sie nahm den Behälter heraus und stellte ihn ins Gefrierfach. „Ich habe es heimlich, reingeschmuggelt, als du gerade nicht aufgepasst hast.“ Kayla spürte, dass er sie anschaute. Als sie sich zu ihm umwandte, fühlte sie sich plötzlich wieder verunsichert. Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über ihre trockene Unterlippe. „Gibt es irgendetwas, das ich für dich tun kann?“ „Ja“, sagte er weich. „Gibt es. „Was?“ Verwirrt hörte Cade sich Worte sagen, die sich unbewusst in seinem Kopf formten. „Mach, dass ich alles vergesse, was ich gerade gesagt habe. Kayla fragte sich, ob er ihr Herz schlagen hörte. „Ich weiß nicht, ob ich das kann. „Ich glaube, dass du dich jetzt zum ersten Mal in deinem Leben unterschätzt, Kayla“, sagte er, während er sie in die Arme schloss. - 96 -
11. KAPITEL Wenn Kayla sich unterschätzt hatte, dann hatte sie die Wirkung, die Cade auf sie hatte, noch mehr unterschätzt. In dem Moment, in dem sie freiwillig hinter dem Schutzwall hervortrat, den sie um sich herum errichtet hatte, verlor sie sich. In dem Augenblick, in dem seine Lippen die ihren berührten, fand sie sich wieder. Allerdings auf eine vollkommen neue Art und Weise. Alles in ihrer Welt hatte sich verändert. Alles, was so geordnet und vorausgeplant gewesen war, wirbelte um sie herum und fiel in sich zusammen. Zuerst langsam, dann mit mehr Gefühl, mehr Tiefe ergriffen Cades Lippen von den ihren Besitz. Sie spürte, wie ihr das Blut schneller durch die Adern pulsierte, wie ihr Körper anfing zu beben. Sie fühlte sich so zerbrechlich an unter seinen Händen und an seinem Körper, dass Cade Angst hatte, sie zu beschädigen, wenn er nicht aufpasste. Er wurde den Eindruck nicht los, dass sich hinter Kaylas starker Fassade ein sehr empfindsames Pflänzchen verbarg. Sein Begehren wuchs plötzlich ins Unermessliche. Er musste seine ganze Beherrschung aufbieten, um sie nicht einfach hochzuheben, ins Schlafzimmer zu tragen und sie dort zu lieben. Mit Herzklopfen fuhr Cade ihr über den biegsamen schlanken Körper. Um sich zu versichern, dass sie real war, dass es nicht nur der nächtliche Traum eines hungrigen Mannes war, aus dem er gleich erwachen würde. Hunger. Das Wort sprang ihn in riesigen kühnen Lettern an, nur um im nächsten Augenblick von den Flammen, die um ihn herum emporschlugen, verschlungen zu werden. Er verzehrte sich nach Kayla. - 97 -
Diese Erkenntnis ergriff Besitz von ihm, sosehr er sich auch dagegen wehrte. Er hatte seit sehr langer Zeit keine Frau mehr begehrt, er hatte es sich nicht gestattet. Jemanden zu begehren und zu brauchen zog Verletzlichkeit und Schmerz nach sich und fegte alles hinweg, was vorher gewesen war. Und ließ nur Trauer zurück. Und doch ... Aber darüber würde er später nachdenken, später, wenn er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Nicht jetzt. Jetzt war die Liebe am Zug. Die Gefühle. Er hörte, wie Kayla zitternd einatmete, als er sie noch enger an sich zog und seinen Körper gegen ihren presste. Die Passform war perfekt. Wie die Frau. Kayla spürte, wie ihr Körper unter Cades Händen in köstlicher brennender Erwartung erschauerte. Und währenddessen küsste er sie auf eine Weise, dass sie nicht mehr unterscheiden konnte, wo ihre Lippen aufhörten und die seinen begannen. Sie wollte mehr. Sie wollte ihn. Langsam begann Cade, sie aus ihren Kleidern zu schälen, nicht rabiat, so wie sie erwartet hatte, dass ein Mann dies tun würde, sondern behutsam und zärtlich, als ob jede Kleiderlage hauchdünnes Seidenpapier wäre, das nachgeben und zerreißen könnte, wenn er es zu hastig entfernte. Zuerst flatterte ihre Bluse zu Boden, dann ihr Rock, einen Moment später schob er ihr mit quälender Langsamkeit die BHTräger über die Schultern und fuhr mit den Fingerspitzen sanft über ihre Brustknospen, die sich unter dem zarten Spitzenstoff sofort aufrichteten. Sie hatte sich noch nie so gefühlt. Und würde sich nie wieder so fühlen. Diese Gewissheit brachte eine bittersüße - 98 -
Traurigkeit mit sich, die sie völlig unerträglich gefunden hätte, wenn sie Zeit gehabt hätte, auch nur eine Sekunde länger darüber nachzudenken. Sie legte ihm die Arme um den Hals, und ihr Kopf sank in den Nacken, während er einen Ring aus leichten hingetupften Küssen um ihren Hals webte. Sie spürte, wie ihr Puls flog, fühlte, wie Cade ihren BH öffnete und sanft von ihren Brüsten schob. Als er anfing, die Spitzen mit der Zunge zu liebkosen, ging ihr Atem unregelmäßig. Sie musste sofort seine nackte Haut spüren, sofort. Der Gedanke drängte sich zwischen die bunten Feuerräder, die in ihrem Kopf kreisten. Kayla versuchte mit tauben Fingerspitzen, die Knöpfe an seinem Hemd zu öffnen. Keiner davon gab nach, sie blieben alle stur dort, wo sie waren. Vor lauter Ungeduld hätte sie ihm das Hemd am liebsten vom Körper gerissen. „Was ist denn mit denen los, sind die festgeklebt?“ Sie zog anklagend die Augenbrauen zusammen. Sie wirkte auf anbetungswerte Weise unbeholfen. Cade lachte leise über ihre ungehaltenen Worte, während er sich alle Mühe gab, seine eigene wachsende Erregung im Zaum zu halten. „Wenn du mir nicht sofort dabei hilfst, muss eben dein Hemd dran glauben“, warnte sie ihn. Er hatte gewusst, dass sie so sein würde. In seinem tiefsten Innern hatte er gewusst, dass sie ganz flammende Leidenschaft war. Dass er nur ein bisschen an der Oberfläche zu kratzen brauchte, um diese feurige Frau zum Vorschein zu bringen. Er wollte sie. Es war Jahre her, seit er dieses Gefühl zum letzten Mal verspürt hatte. Jahre, seit er eine Frau überhaupt angeschaut hatte. Er hatte eine so große Leere in sich gespürt, nachdem er erst Elaine und dann Davin verloren hatte, und er war sich sicher - 99 -
gewesen, dass ihn diese Leere nie wieder verlassen würde. Dass er nie wieder etwas fühlen würde. Er hatte sich geirrt. Schnell knöpfte er sich sein Hemd auf, sie streifte es ihm ungeduldig von seinen Schultern herunter und küsste mit heißen Lippen seine nackte Haut. Seine Finger griffen in die dichte Fülle ihres Haars, er zog ihr Gesicht zu sich heran und nahm wieder Besitz von ihrem Mund. Je näher er daran war, Kayla zu bekommen, desto weiter entfernte er sich von dem Mann, den er bis dahin gekannt hatte. Ruhig, vernünftig. Angetrieben nicht von seinen Gefühlen, sondern von glasklarer Logik. An dem, was im Moment geschah, war überhaupt nichts Logisches. Nichts von all dem machte Sinn, es sei denn auf höchst unvernünftige Weise. Es spielte keine Rolle. Nichts spielte eine Rolle, solange er mit ihr so zusammen sein konnte wie jetzt. Solange er sich an ihrem Körper ergötzen und von ihren Lippen trinken konnte. Eng umschlungen sanken sie zu Boden. Cade hörte sich selbst aufstöhnen, als er spürte, wie Kaylas Hände über seine nackte Haut hinunter zu seiner Hose fuhren und jede Stelle in Besitz nahmen, die sie berührten. Sie nahm ihn in Besitz. Er erwiderte ihre Zärtlichkeiten mit einer Hingabe, die der ihren in nichts nachstand. Ihre Zunge suchte die seine und schickte elektrische Stromstöße durch seinen Körper. Bevor Kayla es schaffte, sich mit gespreizten Beinen auf ihn zu setzen, packte Cade sie an den Hüften und drehte sie auf den Rücken. Er presste sie auf den Boden und hielt ihre Hände fest, während sein Mund eine quälende Reise über die sahneweiße zarte Haut ihrer Brüste antrat. Kayla stöhnte auf und wand sich unter seinem Körper, drückte sich ihm entgegen. Cade musste alle Beherrschung aufbringen, sie - 100 -
nicht sofort zu nehmen. Er ließ ihre Hände los und streifte ihr das Höschen herunter. Mit schnellen Bewegungen glitt seine Zunge ihren Bauch entlang, zwischen die Innenseite ihrer Oberschenkel und näherte sich immer mehr dem Zentrum ihrer Erregung. Sie spreizte die Beine und riss die Augen auf, als sie von einem plötzlichen atemberaubenden Taumel erfasst wurde. In dem Moment, in dem seine Zunge ihr Innerstes berührte, kam sie. Explosionen jagten durch ihren Körper und bescherten ihr eine unendlich quälende süße Lust. Keuchend sog sie die Luft ein, während sie suchend die Hände nach ihm ausstreckte. Sie brauchte ihn. Sie musste ihn unter allen Umständen in diesen Feuerkreis der Lust ziehen, ehe sie zu erschöpft war, um sich an ihn zu klammern. Aber Cade blieb, wo er war, und ergötzte sich an dem Anblick ihrer Reaktionen. Ihrer Reaktionen auf ihn. Und doch war nicht sie seine Gefangene, sondern er war der Gefangene der Frau, der er eine so überwältigende Lust verschaffte. Ein Gefangener ihrer Begierde. Und seiner eigenen. Schnell zog er seine Hose aus. Unfähig, sich noch länger zu beherrschen, glitt er über sie und gab jede Zurückhaltung auf. Bevor er zu ihr kam, schaute er ihr tief in die Augen, dann begannen ihre Körper miteinander zu verschmelzen. Er hörte, wie sie scharf einatmete, als er beim Eindringen auf einen unvermuteten Widerstand stieß. Diesmal war die grenzenlose Überraschung auf seiner Seite. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er sich zurückgezogen. Doch es ging nicht nach ihm. Der letzte dünne Fäden der Selbstkontrolle wurde ihm aus den Händen gerissen, als Kayla ihn an den Schultern packte und sich unter ihm aufbäumte. Mit einem leisen Keuchen, das sich alsbald in ein gutturales Stöhnen verwandelte, schlang sie die Beine um ihn und verschmolz mit ihm. - 101 -
Er hatte keine Wahl. Er sah nur noch die Begierde in ihren Augen, fühlte ihren Körper, als wäre es sein eigener, und bewegte sich immer schneller in ihr. Und als sie gemeinsam den Höhepunkt erreichten, schwappte eine haushohe Welle süßester Lust über sie hinweg und ließ sie atemlos zurück. Er spürte ihr Herz wild unter dem seinem hämmern, während er, zu erschöpft, um sich zu bewegen, in seliger Ermattung auf ihr lag und dem langsam abklingenden Liebestaumel nachlauschte. Doch es dauerte nicht lange, bis sich sein schlechtes Gewissen zu Wort meldete. Er hätte nicht zulassen dürfen, dass das passierte. Nicht nachdem ihm klar geworden war, dass ... Er stützte sich auf die Ellbogen, so dass er Kayla anschauen konnte. Er umrahmte ihr Gesicht mit den Händen und hielt nach dem Vorwurf Ausschau, von dem er sich ganz sicher war, dass er ihn in ihren Augen finden, würde. Verdammt, er hätte doch nicht im Traum daran gedacht ... Aber sie war ... über fünfundzwanzig. Woher hätte er es wissen sollen? Da war etwas in seinen Augen, das Kayla nicht entziffern konnte, aber der Aufruhr, der sich darin widerspiegelte, war nicht zu. übersehen. „Was ist?“ fragte sie beklommen. „Warum hast du es mir nicht gesagt?“ Irgendetwas in ihr erstarrte zu Eis, während ihr Herz sich zusammenkrampfte. „Was?“ Er setzte sich auf und durchbohrte sie mit seinem Blick. „Warum hast du mir nicht erzählt... warum hast du mir nicht gesagt, dass du noch- nie ...“ Ihm versagte die Stimme vor Wut und Frustration, und er wurde plötzlich von einer gewaltigen Welle der Hilflosigkeit überschwemmt, weil er etwas so Wertvolles zerstört hatte, und das allein deshalb, weil er es nicht geschafft hatte, sich zu beherrschen. - 102 -
Sie setzte alles daran, ihre Würde zu wahren und die Tränen, die ihr unerklärlicherweise in die Augen geschossen waren, zurückzuhalten. „Was erzählt?“ fragte sie hitzig. „Dass ich nie einen Mann getroffen hatte, mit dem ich zusammen sein wollte?“ Hatte er ihr nicht zugehört? „Das habe ich dir erzählt.“ Er raufte sich die Haare und verfluchte sich. Was er getan hatte, war nicht wieder gutzumachen. Sie war noch unberührt gewesen, um Himmels willen, und er hatte sie genommen wie ein wildes Tier. Er hatte ihr ihre Unschuld geraubt, und. es gab keinen Weg, das je wieder rückgängig zu machen. „Nein, du hast gesagt, dass es nie jemand gegeben hat, in den du verliebt warst.“ Sie starrte ihn an. „Und? Was heißt das für dich? Hast du geglaubt, ich schlafe mit jedem Kerl, der mir über den Weg läuft?“ „Nein, aber ... heutzutage ... na ja ...“ In seinem ganzen Leben war seine Zunge noch nie so verknotet gewesen. Seine Gedanken nie so chaotisch. Und dann verstand Kayla plötzlich, was das Problem war. Mit kühler Würde sammelte sie ihre Kleider ein, stand auf und schaute kalt auf ihn hinunter. „Mach dir keine Sorgen, Cade, du brauchst dich nicht für mich verantwortlich zu fühlen.“ „Verantwortlich?“ Er sprang auf die Füße, wobei er offenbar vergessen hatte, dass er nackt war. „Verdammt, Kayla, ich fühle mich schuldig.“ „Schuldig? Wofür?“ Was er sagte, ergab keinen Sinn. Aber sein Anblick bewirkte, dass sie schon wieder Lust bekam. Und wenn sie es noch so sehr versuchte, schaffte sie es doch nicht, den Blick von seinem nackten Körper abzuwenden. „Dafür, dass du mir Lust verschafft hast?“ Sie verdrehte alles und sprach ihn von einer Schuld frei, die er ganz zweifellos auf sich geladen hatte. Er, Cade, konnte das, was geschehen war, nicht einfach mit einem Schulterzucken - 103 -
abtun. „Dafür, dass ich erst zu spät gemerkt habe, dass ich der Erste bin.“ Sie hob trotzig das Kinn. „Und wenn du es gewusst hättest? Hättest du es dir dann anders überlegt?“ Das konnte er ehrlicherweise nicht behaupten. Er hätte gern geglaubt, dass er genug Selbstbeherrschung gehabt hätte, genug Anstand, um von ihr abzulassen, aber ganz sicher war er sich da nicht. Cade presste die Lippen aufeinander, erforschte seine Seele und fand doch keine Antwort. „Ich weiß es nicht. Möglicherweise.“ „Lügner. Du wolltest mich. Der Anflug eines süffisanten Lächelns spielte um ihre Mundwinkel. „Ich habe es dir angesehen. Und, nebenbei bemerkt, ich sehe es immer noch.“ Verdammt, sie hatte Recht. Cade hatte sie gewollt. Wollte sie schon wieder. Aber das machte das, was er getan hatte, noch lange nicht ungeschehen, das löschte die Schuld nicht aus. „Das hat nichts damit zu tun.“ Er irrt sich, sieht er das denn nicht? dachte Kayla. „Es hat alles damit zu tun.“ Für einen kurzen Moment wurde ihre Stimme weicher. „Denk darüber nach, Cade. Und dann brach sich ihre Entschlossenheit wieder Bahn. „Du schuldest mir nichts für das, was passiert ist ... außer vielleicht, dass du mir danach ruhig noch ein paar ruhige Minuten hättest gönnen können, anstatt mich schnurstracks anzuklagen.“ Sie verstand immer noch nicht! „Ich will dich nicht anklagen, verdammt.“ „Nun, mir kommt es aber so vor.“ Die Abwehrhaltung hatte sich wieder in ihrer Stimme, in ihre Seele eingeschlichen. Unbewusst ergriff er sie an den Schultern, ohne zu wissen, ob er sie schütteln oder umarmen sollte. „Das sollte es nicht. Ich habe mich selbst angeklagt. Ich hätte dir das nicht antun dürfen.“ „Mir?“ Er hätte nichts sagen können, was ihre Empörung - 104 -
mehr geschürt hätte. Kayla riss sich von ihm los. „Mister, ich hatte offen den Eindruck, dass wir das zusammen gemacht haben. Dass wir beide daran beteiligt waren.“ Sie verengte die Augen, als ihr plötzlich klar wurde, warum Cade das, was soeben geschehen war, bereute. „War ich so überwältigend schlecht?“ Cade starrte sie fassungslos an. „Nein, du warst überwältigend gut.“ Sie brachte ihn völlig aus dem Konzept. Cade versuchte sich zu konzentrieren. „Aber ich hätte es trotzdem nicht ...“ „Du hättest was nicht? Mich glücklich machen dürfen?“, schrie Kayla. „Bedaure, dafür ist es jetzt zu spät.“ Mit so viel Würde, wie sie angesichts der Situation aufbringen konnte, drehte sie sich um und begann aus dem Zimmer zu gehen. „Kayla ... Sie blinzelte wütend ihre Tränen weg. „Lass mich in Ruhe.“ „Es tut mir Leid.“ Die Worte hielten sie auf. Gerade lange genug für Cade, um zu ihr hinüberzugehen und sie zu sich umzudrehen. Wieder reckte Kayla trotzig das Kinn. „Ich habe gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen.“ Ein winziges Lächeln brach sich Bahn. „Sonst werde ich dich erwürgen müssen.“ Cade streckte die Hand nach dem Kleiderbündel aus, das sie an sich presste, nahm ihr ein Kleidungsstück nach dem anderen weg und ließ es zu Boden fallen, bis ihre Arme frei waren. Und bereit für ihn. „Mir wäre es lieber, wenn du mich noch einmal lieben würdest.“ Kayla stieß einen theatralischen Seufzer aus, während ihr Herz wieder schneller zu schlagen begann. „Nun, wenn du darauf bestehst, wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben.“ Als er sie umfing, schlang sie ihm die Arme um den Hals. Sie hatte keine Ahnung, woran sie bei ihm war. Aber das war ihr völlig egal. Sie wollte diesen Mann, sofort. Was danach geschehen würde, darüber konnte sie sich Gedanken machen, wenn es so - 105 -
weit war. Jetzt zählten. nur Cades Küsse, seine Hände und dieser Körper, der ihr eine Lust bereitete, die sie nie für möglich gehalten hätte.
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12. KAPITEL „Das wird nicht funktionieren, weißt du.“ Cades Worte waren ebenso für Kayla bestimmt wie für ihn selbst. Nachdem die Euphorie ihres nächtlichen Liebesspiels schließlich abgeklungen und einer seltsam vertrauten Atmosphäre gewichen war, hatte er lange mit seinem Wunsch, aufrichtig zu ihr zu sein, gerungen. Cade hatte die Dinge nie einfach nur laufen lassen, wenn es an ihm war, irgendetwas in Ordnung zu bringen oder richtig zu stellen. Er küsste Kayla, die in seinen Armen lag, sanft auf die Stirn. Eine bittersüße Traurigkeit stieg in ihm auf. „Funktionieren?“ fragte Kayla und stützte sich auf einen Ellbogen auf, um ihn anzuschauen. Ihr Haar, eine duftige kastanienbraune Wolke, hing ihr über die Brüste und verführte seine Finger und seine Seele. Er gab der Versuchung für einen kleinen Moment nach und streichelte ihr mit einer Haarsträhne zärtlich über die Wange. Er lächelte sie an und wünschte sich, dass die Dinge anders wären. Aber sie waren es nicht, auch wenn Kaylas Anblick bewirkte, dass er Herzklopfen bekam. „Es ist etwas passiert, was nicht hätte passieren dürfen.“ Der schlichte Satz hatte zur Folge, dass Kayla die Brust eng wurde. Und schmerzte. „Bereust du es schon? Ich dachte, ich wäre diejenige, die etwas bereuen müsste.“ Wie ein Boxer, der erneut bereit war, zum Angriff überzugehen, richtete sie sich halb auf und reckte herausfordernd das Kinn. „Oder ist das zu altmodisch?“ „Das Einzige, was ich bereue, ist, dass ich dir wehtun werde, Kayla.“ Sie spürte, wie ihre Anspannung wich. Sie senkte die imaginären Boxhandschuhe. Sie glaubte ihm. „Du hast die Zeiten durcheinander gebracht.“ - 107 -
In seinem weichen Lachen schwang Aufrichtigkeit und Traurigkeit mit. „Die Zeiten sind nicht das Einzige, was durcheinander ist.“ Cade zog sie an sich, obwohl er wusste, dass er besser von ihr abrücken sollte. Das Gefühl ihres geschmeidigen Körpers erwärmte ihn auf hundertfache Art und Weise, wie er es schon seit langer Zeit nicht mehr gespürt hatte. „Kayla, die treibende Kraft meines Lebens ist es, meinen Sohn zu finden.“ „Das weiß ich.“ Sie hat die Worte zwar gehört, aber sie versteht sie nicht, dachte er., „Und bis letzte Nacht hat es nichts anderes für mich gegeben.“ Sie hielt den Atem an. „Und jetzt?“ „Die Suche nach Davin wird immer das Wichtigste in meinem Leben sein“, sagte er und schaute ihr forschend in die Augen. „Es ist nicht fair, dich da mit reinzuziehen.“ Kayla streifte mit ihren Lippen die seinen. „Warum lässt du mich nicht selbst entscheiden, was fair ist und was nicht?“ Cade schüttelte den Kopf. „Hör auf damit. Wenn du das tust, kann ich keinen klaren Gedanken fassen.“ Sie lächelte über das Kompliment. „Ich bitte dich nicht, mich an die erste Stelle zu setzen, Cade, alles, was ich von dir will, ist ein kleines bisschen von deiner Zeit.“ Sie küsste ihn wieder. „Okay?“ Sie stellte keine Forderungen. Es schien Cade die perfekte Abmachung zu sein. Er streckte die Hand nach ihr aus, um sich selbst und ihr wieder Genuss zu verschaffen, bevor der Traum vorüber war. Da dämpfte das plötzliche Läuten des Telefons ihr erneut erwachendes Verlangen. Kayla rollte sich herum und legte ihre Hand auf den Hörer. Ihr Herz hämmerte, während sie das Telefon zu sich heranzog. „Hallo?“ „Mrs. Sinclair?“ Die tiefe freundliche Stimme von Dr. Lambert drang an ihr Ohr. - 108 -
Sie umklammerte den Hörer mit beiden Händen und schoss vom Bett hoch. „Ja.“ Ihr Blick suchte Cades Augen, und sie nickte, als sie seine Frage darin sah. „Hier ist Dr. Lambert“, sagte er unnötigerweise. „Ich denke, ich habe eine gute Nachricht für Sie.“ „Was ist es?“ Sie brauchte sich keine Mühe zu geben, das leichte Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Kayla fühlte sich, als sei sie auf eine Goldader gestoßen. „Mein Anwalt Phillip Taylor hat mich eben informiert, dass er heute Abend Zeit hat, falls Sie und Ihr Mann immer noch...“ Sie wusste nicht, ob der Arzt nur vorsichtig war oder ob er schlicht, seine Rolle als Wohltäter auskosten wollte. Aber es war nicht ihre Aufgabe, ihn zu analysieren. Da sie wusste, dass Lambert einen Gefühlsausbruch erwartete, enttäuschte sie ihn nicht. Sie stieß ein atemloses Ja aus. Dann legte sie Cade sanft eine Hand auf den Arm, als dieser in einer stummen Frage ihre Schultern ergriff. Sie wagte es nicht einmal, ihn anzuschauen. „Mein Mann und ich würden uns schrecklich gern mit Ihnen und Mr. Taylor treffen. Wo und wann immer Sie möchten. Oh, Herr Doktor, Sie wissen ja gar nicht, wie lange ich auf diesen Augenblick...“ Sie unterbrach sich und atmete zitternd tief durch, als ob ihr vor lauter Glück die Luft weggeblieben wäre. „Ich weiß, meine Liebe, ich weiß“, versicherte Lambert ihr warmherzig. „Und ich verstehe Sie: Glauben Sie mir, das Warten könnte sehr bald ein Ende haben.“ Er sagt könnte, dachte sie. Nicht wird, sondern könnte. Der Mann war wirklich sehr vorsichtig. „Sagen Sie mir einfach wo und wann.“ Lambert begann ihr den Namen und die Anschrift eines Restaurants zu nennen. Kayla schaute sich nach etwas zu schreiben um. „Warten Sie, warten Sie ... nie ist ein Stift da, wenn man einen braucht.“ Sie riss die Nachttischschublade auf und tastete - 109 -
darin herum. Zu ihrer Überraschung fand sie einen Kugelschreiber und einen kleinen Schreibblock. „So, da ist einer!“ Sie schrieb schnell. „Im Blue Quail, um zwanzig Uhr. Wunderbar, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich bin.“ Und damit legte sie auf. Cade schaute auf seine Uhr. Es war noch nicht einmal acht. Der Doktor war anscheinend ein Frühaufsteher. Oder hatte er nur Angst, dass ihm ein Geschäft durch die Lappen ging? Er tippte auf Letzteres. „Nun?“ fragte er. „Treffen wir uns heute Abend?“ Sie nickte langsam. Kayla zog die leichte Decke über sich und musterte Cade nachdenklich. „Hattest du vorher schon mal mit Leuten wie Lambert und Konsorten zu tun?“ „Du meinst mit Menschen, die Kinder feilbieten wie Ware?“ Sie nickte. „Leider ja. Ich kenne die Sorte Mensch genau. Das sind Schlangen.“ „Er klingt so aufrichtig ...“ Sie schüttelte den Kopf: „Wie viele ahnungslose Menschen mag er wohl schon hinters Licht geführt haben? Wie viele von ihnen mögen wohl jeden Abend ins Bett gehen und ihrem Schöpfer danken, dass er ihnen den Doktor geschickt hat? Und wie viele Leben mögen durch ihn schon zerstört worden sein? „Ja, er tarnt sich gut“, gab Cade zurück. Sie war in Gedanken schon bei dem nächsten Problem. „Wie treten wir mit Redhawk in Kontakt?“ Warum wirkte die Decke, in die sie sich eingewickelt hatte, so verführerisch? Und was war los mit ihm? Er war der zielstrebigste Mann, den er kannte, und in der Lage, sich auf das; was er gerade tat, voll und ganz zu konzentrieren. Offensichtlich war Kayla Dellaventura ein ganz neuer Typ dieses „Was“. Er riss sich zusammen und beantwortete ihre Frage. „Wir - 110 -
kaufen uns eine Flasche Champagner, um unsere in Aussicht stehende Familiengründung zu feiern. Und während ich an der Kasse bezahle und hoffentlich unsere Klette beschäftige, verdrückst du dich unauffällig und suchst nach einem öffentlichen Telefon.“ „Klingt nach einem guten Plan.“ Sie hatte sich die Decke abgeworfen und wollte eben aufspringen, um sich fertig zu machen. „Den wir allerdings in den nächsten zwei Stunden noch nicht in die Tat umsetzen können.“ Er packte ihre Handgelenke. „Warum nicht? Sie wandte ihm den Kopf zu. „Was hast du vor?“ „Die Weinhandlungen machen nicht vor zehn auf“, erklärte er. Kayla nickte. Daran hatte sie nicht gedacht. Das bedeutete, dass sie noch eine Menge Zeit totzuschlagen hatten. Die Vorstellung, dass sich die Minuten hinziehen würden, gefiel ihr gar nicht. „Hast du schon Lust auf Frühstück?“ Cade erkannte sich kaum wieder, als er sie zurück ins Bett zog. „Nein, auf Frühstück nicht.“ Er beobachtete, wie sie eine Augenbraue hob, was er plötzlich köstlich fand. „Aber wenn du willst, zeige ich dir, worauf ich Lust habe.“ Nachdem sie schließlich aus dem Bett und aus Cades Schlafzimmer gefunden hatten, gingen sie den Champagner einkaufen. Auf dem Weg dorthin bemerkten sie wieder den beigen Wagen des Privatdetektivs, der ein paar Autos hinter ihnen fuhr. Als sie bei der Weinhandlung ankamen, befürchtete Cade schon, dass der angeheuerte Aufpasser ihnen auch in den Laden folgen würde, aber sie hatten Glück. Der Detektiv parkte seinen Wagen in gebührendem Abstand und heftete sich erst wieder an ihre Fersen, als sie die Weinhandlung verließen. Ihr Plan funktionierte. Während Cade den Ladenbesitzer in ein ausgedehntes Gespräch über die Stärken und Schwächen verschiedener Champagnersorten verwickelte, bewegte Kayla - 111 -
sich unbemerkt in Richtung Toiletten, wo sich auch ein Münzfernsprecher befand, und rief Redhawk an. Sie informierte ihn mit knappen Worten über das bevorstehende Treffen. Danach fuhren die beiden zurück in die Wohnung und füllten die Stunden des Wartens auf den Abend mit Gesprächen und Fernsehen aus. Und mit ihrer Liebe zueinander. Das „Blue Quail“ war ein Traditionslokal mit einer Geschichte, die hundert Jahre zurückreichte. Das Gebäude, in dem das Restaurant sich befand, war ein vornehmer Bau, der fast schon an ein Schloss erinnerte. Cade und Kayla fuhren die breite Auffahrt hinauf, und noch ehe Cade den Motor ausgemacht hatte, kam ein Bediensteter des Restaurants auf sie zu. Der Mann hielt Kayla die Wagentür auf, und sie glitt heraus. Daran könntest du dich gewöhnen, dachte sie. Doch noch mehr könnte sie sich daran gewöhnen, Cade an ihrer Seite zu haben. In ihrem Kopf leuchteten sämtliche Alarmsignale auf. Diesen Gedanken sollte sie besser nicht weiterverfolgen, es war gefährlich. Als Cade ihren Arm nahm, flüsterte sie ihm ins Ohr: „Lambert weiß offensichtlich, wie man lebt.“ „Ja gab Cade grimmig zurück. „Der Kinderhandel scheint recht einträglich zu sein.“ Der Maitre hob zur Begrüßung nur ganz leicht eine Augenbraue. „Guten Abend, mein Name ist Sinclair“, sagte Cade. „Wir sind mit den Herren Lambert und Taylor verabredet.“ „Ja richtig. Ich glaube, die beiden sind bereits eingetroffen.“ Er hakte die dicke weinrote Samtkordel aus, die als Absperrung diente, griff nach zwei Speisekarten und führte sie zu dem Tisch. Wären sie jetzt in England gewesen, hätte Kayla beim Anblick der beiden vornehm wirkenden älteren Herren, die dort saßen, - 112 -
durchaus auf den Gedanken kommen können, zwei Mitglieder aus dem Adelsstand vor sich zu haben. Die beiden verbreiteten eine Atmosphäre kultivierter Achtbarkeit um sich, und Kayla begann sich unwillkürlich zu fragen, ob sie sich nicht womöglich irrten. Ob die beiden tatsächlich etwas mit der Sache zu tun hatten. Lambert erhob sich in dem Moment, in dem er sie herankommen sah. Der andere Mann, Taylor, folgte seinem Beispiel und lächelte wohlwollend. Das Lächeln des Arztes wurde breiter, als er Kaylas Hand in seine beiden Hände nahm und sie begrüßte. „Mrs. Sinclair, Sie sehen bezaubernd aus.“ Und du siehst aus wie der böse Wolf, der vorhat, zum Abendessen ein Opferlamm zu verspeisen, dachte Cade. Ohne es zu merken, legte er einen Arm um Kaylas schlanke Taille, wobei ihm Gedanken durch den Kopf schossen, die absolut nichts mit der Situation hier zu tun hatten. „Mir ist immer noch ganz schwindlig“, gestand sie, nachdem der Maitre einen Stuhl für sie zurechtgerückt und sie sich gesetzt hatte. „Ich habe nicht geglaubt, dass es so schnell geht.“ „Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen Phillip Taylor vorstelle.“ Der Anwalt, der ein bisschen jünger als Lambert war, beugte sich vor, um erst Cade und dann Kayla die Hand zu schütteln. Dann legte er seine gefalteten Hände vor sich auf den Tisch und knüpfte an das, was Kayla eben gesagt hatte, an. „Normalerweise geht es auch nicht so schnell, aber einige junge Frauen, die ich kenne, haben es im Augenblick sehr schwer. Und da Sie so begierig darauf sind, ein Kind zu adoptieren, hielt ich es für sinnvoll, so wenig Zeit wie möglich zu vertrödeln.“ Sein Lächeln sollte ihr die Anspannung nehmen. Er hatte viele Jahre Übung darin, nervöse Klientinnen zu beruhigen, und er sonnte sich in der Vorstellung, seine Sache gut zu machen. „Haben Sie irgendwelche Vorlieben?“ Sein Blick wanderte vom Ehemann zur Ehefrau, weil er wusste, dass in den meisten Fällen die Frau die Entscheidung fällte. „Junge, - 113 -
Mädchen? Säugling oder Kleinkind?“ „Oder vielleicht möchten Sie ja lieber ein älteres Kind?“ warf Dr. Lambert ruhig ein. Cade wandte interessiert den Kopf. Es kostete ihn eine Menge, sich die Verachtung, die er fühlte, nicht anmerken zu lassen. „Sie vermitteln auch ältere Kinder?“ „Mit älter meinen wir vier, fünf oder vielleicht sechs Jahre“, präzisierte Taylor. Er glättete sich mit zwei Fingerspitzen den eisengrauen bleistiftschmalen Oberlippenbart, der nur um einen Ton dunkler war als sein Haar. Dann schaute er aufseufzend in sein Glas. „Das sind im Moment harte Zeiten für manche Leute. Wirtschaftlich, meine ich. Geld ist bei vielen eine rare Sache heutzutage.“ Sein Blick wanderte zu Kayla. Er hob sein Glas und prostete Cade zu. „Aber manche Männer haben alles, was sie sich nur wünschen können.“ Wie selbstverständlich legte Cade seine Hand auf die von Kayla . „Nicht alles, aber fast alles.“ Lambert nickte wissend. Sein Lächeln war freundlich, verständnisvoll und mitfühlend. „Damit wollen Sie sagen, dass Sie keinen Sohn haben, der Ihren Namen weitertragen könnte.“ Der Schmerz, der ihn bei diesen Worten durchfuhr, war echt. Cade ermahnte sich, seine Gefühle außen vor zu lassen. „Offen gestanden dachten wir eigentlich eher an ein Töchterchen.“ Kayla sah den schmerzlichen Ausdruck, der über Cades Gesicht huschte, und gab ihm eilig Rückendeckung, indem sie die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. „Mein Mann hat kein Problem mit seinem Ego. Er hätte viel lieber eine Tochter als einen Sohn.“ „Und wie steht es mit Ihnen, meine Liebe?“ erkundigte sich Lambert. „Was wünschen Sie sich denn?“ Sie schüttelte den Kopf. „Mir ist es egal, was es ist.“ „Hauptsache, es ist gesund, nicht wahr?“ ergänzte Taylor. Diesen Satz hatte er schon bis zum Erbrechen gehört. „Hauptsache, ich kann ihn oder sie lieben“, sagte sie. - 114 -
Die beiden älteren Männer verständigten sich durch Blickkontakt. Kayla hielt unbewusst den Atem an. Taylor ergriff als Erster das Wort. „Sie sind in der Tat eine bemerkenswerte Frau, Mrs. Sinclair.“ „Julia, bitte“, korrigierte Kayla. Je schneller sie es schafften, das Vertrauen der Männer zu gewinnen, desto schneller würden sie sich handelseinig werden. „Gut, Julia. Aber jetzt schlage ich vor, dass wir erst einmal etwas essen.“ Taylor öffnete seine Speisekarte. Er warf kaum einen Blick hinein, und Kayla hatte den Eindruck, dass er sie auswendig kannte. „Und anschließend können wir uns dann über die Einzelheiten der Adoption unterhalten.“ Während die beiden Männer seelenruhig ihr Essen bestellten, merkte Kayla, wie ihr Adrenalinspiegel immer höher stieg. Sie wäre am liebsten über den Tisch gesprungen, hätte Taylor die magere Gurgel zugedrückt und ihn nicht eher losgelassen, bis er ihr sagte, wo Heather war. Sie riss sich jedoch zusammen, umklammerte zur Beruhigung Cades Hand und bestellte sich einen Salat. Ihr Magen fühlte sich wie zugeschnürt an. Sie war sich sicher, dass sie keinen einzigen Bissen hinunterbekommen würde. Als das Essen kam, stocherte sie darin herum und gab sich redliche Mühe, ihren Teil zum Gelingen der Konversation beizutragen. Alles, woran sie denken konnte, war Heather. Wo war sie? War sie gesund? Hatte sie Angst? Würden sie ihre Nichte wirklich finden oder war das alles eine sinnlose Maskerade? Lambert schaute vorwurfsvoll auf ihren Teller. „Was ist mit Ihnen, Julia, Sie essen ja gar nichts. Was für ein Vorbild wollen Sie Ihrem Kind sein, wenn Sie sich nicht gesund ernähren?“ „Wenn ich erst ein Kind habe, werde ich noch genügend Gelegenheit haben, ihm ein Vorbild zu sein.“ Sie pflasterte sich ein Lächeln ins Gesicht, ganz die nervöse Mutter in spe. Dann gab - 115 -
sie ihre kläglichen Bemühungen auf und deponierte ihre Gabel in einem Schlachtfeld, das einst ein kunstvoll angerichteter Salat gewesen war. „Es tut mir furchtbar Leid, Dr. Lambert, aber ich bin so schrecklich aufgeregt. Jetzt, wo wir unserem Ziel so nah sind.“ Sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen kroch, die allerdings nichts mit Verlegenheit zu tun hatte, sondern von ihrem unterdrückten Zorn herrührte. „Ich komme mir vor wie ein Kind vor Weihnachten.“ „Ich verstehe Sie sehr gut“, sagte Lambert, der seine Rolle als Wohltäter sichtlich auskostete. „Nun, vielleicht sollten wir aufhören, Sie auf die Folter zu spannen.“ Ohne auf die Einwilligung seines Komplizen zu warten, zog Lambert einen Umschlag aus seiner Tasche und legte ihn auf den Tisch. „Was ist das?“ fragte Cade. Die große Hand streichelte liebevoll den blassblauen Umschlag. „Das sind Fotos von einigen der Kinder, die dringend ein neues Zuhause brauchen.“ Lambert schaute Kayla an. „Kinder, deren Mütter nicht für sie sorgen können. Die uns von ihren Müttern anvertraut wurden, damit sie im Leben eine faire Chance bekommen. Hier, werfen Sie einen Blick darauf.“ Er schob Cade die Fotos hin. „Schauen Sie Ihrem zukünftigen Kind in die Augen.“ Der gute Wunderdoktor lässt sich von seiner Rolle fast davontragen, dachte Cade zynisch, während er nach dem Umschlag griff und den Stapel Fotos herausholte. Es waren Kindergesichter in Nahaufnahme, die, so schien es, mit einer Porträtkamera aufgenommen worden waren. Und hier war Heather. Cade spürte, wie Kayla sich neben ihm anspannte. Diesmal war es an ihm, die Aufmerksamkeit von ihr abzulenken, deshalb blätterte er weiter durch den Stapel und kommentierte die Gesichter, auf die er schaute, wobei sich sein Herz bei jedem neuen Gesicht schmerzhaft zusammenzog. „Da fällt es schwer, sich für eins zu entscheiden“, bemerkte er, - 116 -
während er weiterblätterte. „Nun, dann schlage ich vor, dass Sie ganz einfach zwei nehmen“, sagte Taylor lachend, „... aber ich befürchte, dass sie auf diese Weise nicht billiger werden. Jedes Kind, das Sie hier sehen, hat eine Mutter, für deren Auslagen wir aufkommen müssen. In manchen Fällen sind das hohe, noch offene Krankenhausrechnungen Er unterbrach sich abrupt, als er den seltsamen Ausdruck auf Cades Gesicht sah. „Ist irgendetwas, Mr. Sinclair?“ Cade hörte die Frage nicht. Ihm war die Luft weggeblieben, und das Blut rauschte ihm so laut in den Ohren, dass es alle anderen Geräusche übertönte. Er starrte auf ein Foto, das einen kleinen Jungen zeigte. Auf dem Bild war Davin.
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13. KAPITEL Kayla wusste nicht, wie Davin Townsend aussah. Aber ihr war nicht entgangen, wie Cade plötzlich zur Salzsäure erstarrt war, und daraus glaubte sie schließen zu können, dass dieser kleine Junge hier auf dem Foto sein Sohn war. Sie war felsenfest überzeugt davon. Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander, während sie nach einem gangbaren Weg suchte, die Aufmerksamkeit so lange von Cade abzulenken, bis er sich wieder im Griff hatte. Und dann kam ihr die zündende Idee. Sie griff nach ihrer kleinen Abendhandtasche und fächelte sich laut ausatmend Luft damit zu, während sie den beiden Männern ein um Verzeihung heischendes Lächeln zuwarf. „Bitte, entschuldigen Sie mich für einen Moment. Ich fürchte, das ist einfach alles ...“ Sie deutete auf die Fotos, „... ein bisschen zu viel für mich. Ich muss mich dringend etwas frisch machen.“ Sie erhob sich und sagte zu Cade: „Ich bin gleich wieder da.“ Aber es war Lambert und nicht Cade, der das Wort ergriff. „Gibt es etwas, das ich für Sie tun kann?“ Noch nicht, aber sehr bald, schwor sie sich rachsüchtig. Laut sagte sie: „Nein, vielen Dank. Ein paar Tropfen kaltes Wasser, und ich bin wieder fit. Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie sehr mich das alles aufregt.“ Lambert schaute Kayla nach, die durch den Raum nach hinten zu den Toiletten ging, dann richtete er seinen Blick wieder auf Cade, der noch immer auf das Foto starrte. Lambert lächelte. Mit dem Jungen hatte alles angefangen. Es war eine Ironie des Schicksals, dass seine Adoptiveltern plötzlich entschieden hatten, ihn zurückzugeben, weil ihnen, wie sie sagten, das nötige Rüstzeug fehle, um mit einem so tief traurigen Kind zurechtzukommen. Trotzdem verspürte Lambert eine gewisse Zuneigung zu dem - 118 -
Jungen. Er tippte mit einem sorgfältig manikürten Fingernagel auf das Foto. „Ich sehe, Jeremy hat es Ihnen angetan?“ Cade schaute abrupt auf. Alles kam ihm völlig unwirklich vor. Lamberts Worte, seine eigene Reaktion, alles. Er hatte das Gefühl, neben sich zu stehen. „Jeremy?“ wiederholte Cade hölzern. War das der Name, auf den Davin jetzt hörte? Jeremy? Cade, der befürchtete, dass sich seine Seelenqual auf seinem Gesicht spiegeln und ihn verraten könnte, zwang sich, nicht wieder auf das Foto zu schauen. Aber falls Lambert Verdacht geschöpft hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Er drehte das Foto zu sich herum und schüttelte nachdenklich den Kopf. „Der Junge ist auf sehr tragische Art und Weise zu uns gekommen. Seine Eltern hatten einen Autounfall, den sie nicht überlebten. Da Jeremy sonst keine Familie hatte, fühlte ich mich für ihn verantwortlich. Seine Mutter war meine Empfangsdame“, führte Lambert weiter aus. „Der Junge ist überdurchschnittlich intelligent. Das können Sie an seinen Augen sehen.“ Rasender Zorn machte sich in Cade breit. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich extrem gewaltbereit. Lambert sprach von seinem Sohn, als wäre dieser ein Konsumartikel mit bestimmten Qualitäten. Cade bemühte sich, seine Stimme so ruhig wie möglich und verbindlich klingen zu lassen. „Wo ist Jeremy jetzt? „Er wohnt bei meiner Frau und mir.“ Lambert drehte den Stapel mit den Fotos um, so dass Cade wieder einen ungehinderten Blick auf das Gesicht des Jungen hatte. Lambert hatte die Hoffnung, den Jungen irgendwo unterzubringen, schon fast aufgegeben, aber jetzt schien sich eine unerwartete Lösung des Problems anzubahnen. Er spielte mit seinem Glas, aber bis auf seinen ersten Schluck hatte Lambert den Inhalt unberührt gelassen. Er trank nie bei - 119 -
Verhandlungen. „Ich behalte Jeremy natürlich gern bei mir, aber wenn irgendjemand bereit ist, ihm ein gutes Zuhause ... eine angemessene Umgebung und das alles zu geben, dann denke ich, dass ich meine Pflicht erfüllt habe.“ Du Dreckskerl. „Um wie viel Geld reden wir hier?“ Obwohl Cade seine Frage an Taylor richtete, schaute er Lambert in die Augen. Er hatte den Eindruck, dass Lambert in diesem Drama der Drahtzieher war. „Für die Adoption, meine ich.“ „Sie meinen im Fall von Jeremy?“ Lambert hob die Schultern, die sich unter seinem maßgeschneiderten Jackett abzeichneten. „Was eben so anfällt.“ Er dachte einen Moment lang nach. „Das sind zum einen die Gerichts- und Anwaltskosten. Und vielleicht eine kleine Entschädigung für die Unkosten, die uns während des letzten Jahres entstanden sind.“ Cade horchte auf. „Ein Jahr?“ „So lange ist der Junge jetzt bei uns.“ Lambert lehnte sich wie ein mitfühlender Onkel vor und fragte in vertraulichem Ton: „Ich weiß, dass Sie und Julia sich eine. Tochter wünschen, aber glauben Sie mir, Jeremy ist etwas Besonderes.“ „Ja“, sagte Cade ruhig. „Das sehe ich.“ Er schaute wieder auf Taylor. Der Mann hatte während der Unterhaltung über weite Strecken geschwiegen und war offensichtlich mehr an dem Inhalt seines Glases interessiert als an dem Leben der unschuldigen Kinder, die wie Kaufartikel zum Gegenstand von Verhandlungen wurden. Als Taylor etwas zu Lambert sagte, bemerkte Cade, dass jemand neben ihm stand. Er schaute in dem Moment auf, in dem sich der Kellner zu ihm herunterbeugte. „Ja?“ „Mr. Sinclair?“ Als Cade nickte, fuhr der Mann fort: „Da ist ein Anruf für Sie. Leider ist unser schnurloses Telefon im Augenblick defekt, aber Sie können das Gespräch am Empfang entgegennehmen.“ Er deutete auf den Eingang. - 120 -
„Entschuldigen Sie mich für einen Moment. Es ist wahrscheinlich geschäftlich. Ich habe die Nummer des Restaurants hinterlassen, damit man mich in dringenden Fällen erreichen kann. Wir arbeiten gerade rund um die Uhr an einem wichtigen Projekt.“ Cade erhob sich, in der Hoffnung, dass die Erklärung seine Gesprächspartner zufrieden stellen würde. „Machen Sie sich keine Gedanken. Ich bin an dieserart Unterbrechungen gewöhnt, Arbeit geht nun mal vor“, sagte Lambert mit einem großzügigen Winken. Bestimmt ist es Redhawk, dachte Cade, als er nach dem Hörer griff. Niemand sonst wusste, dass er hier war. Doch als er sich meldete, drang Kaylas Stimme an, sein Ohr. „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Sprachlos schaute er sich um. Rief sie von ihrem Handy aus an? Und wo war ihr stets gegenwärtiger Schatten im Augenblick? „Kayla? Von wo aus rufst du an?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie stand in einer Nische im Vorraum des Restaurants, in der sich die Toiletten und drei öffentliche Fernsprecher befanden. „Ich bin bei den Münztelefonen, direkt um die Ecke. Ich wollte dich nur kurz aus der Schusslinie nehmen, weil ich Angst hatte, Lambert würde anfangen, dir Fragen zu stellen.“ Sie machte eine kurze Pause. „Du bist weiß geworden wie eine Leinwand. War das Davin auf dem Foto?“ „Ich denke, ja.“ Er wollte es nicht mit absoluter Sicherheit behaupten, weil er befürchtete, sie könnte sonst denken, dass er es sich nur einredete. Im Alter zwischen drei und sechs Jahren veränderte sich ein Kind gewaltig. Aber es war Davin gewesen. Das wusste er so sicher wie seinen eigenen Namen. Kayla spürte plötzlich eine unbändige Wut auf Lambert in sich aufsteigen. Wie viele Familien mochte dieser gewissenlose Schuft mit dem väterlichen Lächeln noch zerstört haben? „Los, wir lassen sie auffliegen. Jetzt gleich. Wir sagen Redhawk Bescheid.“ - 121 -
„Nein, wir müssen unsere Rollen weiterspielen. Wenn wir die Falle zu früh zuschnappen lassen, besteht die Gefahr, dass uns weitere Beteiligte durch die Lappen gehen. Oder schlimmer noch, dass sie alle Unterlagen vernichten, und dann werden wir nie mehr in der Lage sein herauszufinden, welche Kinder entführt und verkauft wurden.“ Kayla drückte sich an die Wand und senkte ihre Stimme noch ein bisschen mehr, als eine Frau an ihr vorbei zur Toilette ging. „Wie kommst du denn darauf, dass Unterlagen existieren könnten?“ Cade lachte kurz auf. „Ganz einfach. Weil diese Sorte Menschen über alles Buch führt. Schon allein, um sich an ihren Allmachtsfantasien zu ergötzen. Sie waren beide schon mehrere Minuten lang vom Tisch weg und Cade wollte unter allen Umständen verhindern, dass Lambert Verdacht schöpfte. „Warum gehst du nicht wieder zu unseren feinen Herren zurück? Ich komme dann gleich nach“, schlug er Kayla deshalb vor. „Okay.“ Sie wollte gerade auflegen, als sie ihn ihren Namen sagen hörte. „Ja?“ „Ich wollte dir nur noch danken.“ „Wofür?“ „Dass du mir aus der Patsche geholfen hast.“ „Keine Ursache. Und, Cade?“ „Ja?“ Sie lächelte, obwohl er sie nicht sehen konnte. „Wir schaffen das.“ Sie hatten keine andere Wahl, sie mussten es schaffen. Alles andere war undenkbar. „Ja, wir schaffen es.“ Cade legte auf. Davin. Er fühlte sich wie in Trance. Er hatte seinen Sohn gefunden. Nach drei unvorstellbar leeren, verzweifelten Jahren hatte er ihn endlich gefunden. Davin, der wie vom Erdboden verschluckt schien. Als er an den Tisch zurückkehrte, musste er seine ganze - 122 -
Selbstbeherrschung aufbieten, um den Männern nicht die Wahrheit ins Gesicht zu schreien. Die Wahrheit und die Forderung, auf der Stelle seinen Sohn herauszurücken. Aber er wusste, dass sie jede Verdächtigung empört von sich weisen würden. Deshalb hatte er keine andere Wahl, als das Spiel, das sie begonnen hatten, zu Ende zu spielen. Er durfte nicht nur an seinen Sohn und Heather denken. Er und Kayla trugen jetzt eine große Verantwortung, und er wusste, dass er sich den Luxus, seinen Gefühlen nachzugeben, nicht leisten konnte. Dafür stand für zu viele Menschen viel zu viel auf dem Spiel. Aber wenn alles vorbei sein würde, wenn die Namen und die Aufenthaltsorte der anderen entführten Kinder bekannt waren, dann wollte er mit Lambert und Taylor fünf Minuten allein sein. Fünf Minuten allein mit diesen gewissenlosen Haien, damit sie seine bloßen Fäuste kennen lernen würden. Um ihnen das, was sie Davin und ihm angetan hatten, heimzahlen zu können. „Entschuldigen Sie, dass es so lange gedauert hat.“ Cade nahm seinen Platz wieder ein. Lambert machte eine wegwerfende Handbewegung. „Keine Ursache, die Arbeit geht vor.“ Das leutselige Lächeln schloss sie beide ein. „Haben Sie sich schon entschieden?“ Cade tauschte mit Kayla einen Blick aus. „Wir würden gern das kleine Mädchen adoptieren.“ Er suchte Heathers Foto heraus. „Dieses hier.“ Er tippte mit dem Finger darauf. Er war Kayla gegenüber eine Verpflichtung eingegangen. Sie war seine Klientin und bezahlte ihn dafür, dass er ihre achtzehn Monate alte Nichte fand. Dass er bei dieser Suche zufälligerweise auf Davin gestoßen war, war ein Himmelsgeschenk, das er erst anzunehmen gedachte, wenn er diesen Fall abgeschlossen hatte. Lambert schien über ihre Wahl erfreut. „Wunderbar.“ Er drehte die Fotografie zu sich herum. „Lily. Sie ist ein Elfchen, nicht wahr?“ „Ein Elfchen“, wiederholte Kayla mit einem Lächeln, von dem - 123 -
sie hoffte, dass es verbindlich war, und legte Cade eine Hand auf den Arm. „Liebling, warum geben wir Lily nicht einen älteren Bruder?“ Während Cade überrascht zu ihr herumfuhr, schaute Kayla unbeirrt Dr. Lambert an. „Wäre das möglich? Könnten wir den Jungen auch adoptieren?“ Lambert schaute sie über den Rand seines Glases forschend an. „Sie möchten sie beide?“ Sie nickte nachdrücklich. „Ja, schrecklich gern. Der Junge hat etwas an sich, das mir sehr zu Herzen geht. Und ich finde, die beiden sehen sich sogar ein bisschen ähnlich.“ Ihre Hand lag auf Cades Arm, den sie jetzt etwas fester drückte. Da sie es nicht schaffte, den Ausdruck in seinen Augen zu entziffern, als er sich ihr zuwandte, wurde sie leicht unsicher. Hatte sie womöglich überzogen? Oder Verwirrung in die Angelegenheit gebracht? „Wir haben mit Sicherheit Liebe genug für beide. Und wir haben so lange gewartet ... Liebling, stell dir vor, wir wären eine richtige Familie.“ Taylor hatte sein Glas ausgetrunken, sein drittes nach Cades Zählung. Er schien ein bisschen betrübt, dass er nichts mehr hatte, um ihnen zuzuprosten. Nichtsdestotrotz hob er sein leeres Glas. „Scheint so, als hätte Ihre Frau eine Entscheidung getroffen.“ Er lachte ein derbes Lachen: „Und wir verheirateten Männer wissen, was es heißt, wenn sich eine Frau entscheidet.“ „Richtig, dann gibt es keine Widerrede“ stimmte Cade lächelnd zu. Doch innerlich war er längst nicht so gelassen, wie er sich gab. Er zweifelte immer mehr, ob sie nicht zu viel des Guten getan hatten und sich dadurch verdächtig machten. Oder sahen die beiden Männer in Kaylas plötzlicher Entschlossenheit, gleich zwei Kinder adoptieren zu wollen, nur die natürliche Reaktion einer Frau, deren größter Wunsch nach Jahren voller Enttäuschungen endlich in Erfüllung ging? Er schaute Lambert fragend an. „Das würde sich also einrichten lassen?“ - 124 -
„Das hängt ganz von Ihnen ab, Mr. Sinclair, aber was mich betrifft, kann ich Ihnen versichern, dass ich kein Problem darin sehe.“ Lambert lächelte Kayla hochherzig an.. „Zwei Kinder machen mehr Arbeit als eines. Sie sind sich wirklich ganz sicher?“ „Absolut“, sagte sie fest. Weil sie befürchtete, ihre Blicke könnten sie verraten, wagte sie es nicht, Cade anzuschauen, deshalb griff sie nur nach seiner Hand. „Schön, dann wird Phillip einen Vertrag aufsetzen und Sie morgen Vormittag anrufen. Sagen wir gegen zehn?“ Zehn. Noch mehr als zwölf Stunden Ungewissheit und zähes Warten, dachte Kayla. Aber sie hatten keine Wahl. Im Augenblick gaben Lambert und Taylor das Tempo vor. Und die zusätzliche Zeit konnten sie gut nutzen. Sie konnten Redhawk informieren, der jetzt endlich einen Beweis hatte, mit dem er zu seinem Vorgesetzten gehen konnte. Nachdem sie die beiden Männer auf frischer Tat beim „Verkauf“ von Kindern ertappt hatten, würde der Kinderhändlerring ausgehoben werden können. Und sie konnte Heather zu Moira zurückbringen, ganz wie sie es versprochen hatte. In ihrer Stimme lag eine Spur von Atemlosigkeit, als sie zu Lambert sagte: „Wir werden die Minuten zählen.“ „Davon bin ich überzeugt.“ Seine weiteren Worte wurden vom Klingeln seines Handys verschluckt. Er entschuldigte sich und nahm den Anruf entgegen. „Ja natürlich, ich bin sofort da.“ Er klappte das Handy zu und schaute entschuldigend von Cade zu Kayla. „Es scheint, dass meine Anwesenheit erforderlich ist, um Zwillingen ans Licht der Welt zu verhelfen. Eine Woche zu früh, sollte ich vielleicht hinzufügen.“ Er seufzte theatralisch: „Manchmal finde ich, dass das Wunder der Geburt überschätzt wird.“ Er steckte sein Telefon ein und stand auf. Dann blieb er einen Moment - 125 -
zögernd stehen und schaute Cade an. „Mr. Sinclair, Sie übernehmen die Rechnung?“ Cade fand die Frage geradezu armselig, da sie von einem Mann kam, der einen Anzug für mindestens vierhundert Dollar anhatte und am Handgelenk eine Rolex trug. „Selbstverständlich.“ Lambert bedankte sich mit einem kaum angedeuteten Nicken. „Ich mache mich auch auf den Weg“, sagte Taylor und erhob sich ebenfalls. „Ich melde mich dann morgen früh bei Ihnen.“ Dann wurden Hände geschüttelt und die gegebenen Versprechen ein weiteres Mal bekräftigt. Kayla und Cade blieben am Tisch sitzen, während die beiden Männer das Restaurant verließen. Kayla schaute ihnen mit angehaltenem Atem nach. Nachdem sie sicher war, dass sie fort waren, drückte sie Cades Hand. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. „Es hat geklappt. Wir bekommen sie zurück“, flüsterte sie und schaute ihn an. Für einen Mann, der endlich am Ziel seiner Träume angelangt war, wirkte er seltsam gedämpft. Gab es da vielleicht noch etwas, das er ihr nicht erzählt hatte, oder war das nur seine zurückhaltende Art? „Freust du dich denn gar nicht?“ Cade wurde klar, dass er es nicht wagte, sich wirklich zu freuen. „Dafür ist immer noch Zeit, wenn ich Davin erst in meinen Armen halte.“ Er hatte zu lange mit dieser entsetzlichen Ungewissheit gelebt, um wirklich glauben zu können, dass alles gut werden würde. Die Dinge entwickelten sich nicht immer nach Plan. und hatten nicht selten die Tendenz, schief zu gehen. Manchmal fielen Hoffnungen wie Kartenhäuser in sich zusammen. Er wollte noch nicht frohlocken, weil er befürchtete, dass er es nicht ertragen zu können, wenn am Ende doch noch irgendetwas dazwischenkam. „Glaubst du, dass sie Verdacht geschöpft haben?“ Er überlegte eine ganze Weile, ehe er antwortete. „Nein, - 126 -
aber es kann nicht schaden, vorsichtig zu sein. Kayla war ihr ganzes Leben lang vorsichtig gewesen. Zu vorsichtig vielleicht. Weil sie Angst gehabt hatte, auf die Nase zu fallen. Weil sie nicht von etwas abhängig werden wollte, das sich plötzlich als unzuverlässig herausstellte. Mit Vorsicht kannte sie sich zur Genüge aus. Und auch mit den Fallstricken, die damit einhergingen. „Ja, das stimmt. Meistens zumindest“, murmelte sie mehr zu sich selbst. Doch auch wenn Kayla vorsichtig damit war, ihr Herz zu verschenken, war sie ganz gewiss nicht vorsichtig, wenn es darum ging zu glauben, dass sie von dem Wiedersehen mit Heather nur noch ein paar Stunden trennten. Die fiebrige Aufregung, die sie befallen hatte, wollte einfach nicht von ihr abfallen. Sie fand es mehr als nur ein bisschen schwierig, ihre Anspannung unter Kontrolle zu bringen, aber sie versuchte es trotzdem. Immerhin war sicherlich noch dieser Privatdetektiv in ihrer Nähe, der jede Gefühlsregung der beiden genauestens observierte. Cade und Kayla verließen das Restaurant kurz nach Lamberts und Taylors Abgang und fuhren in die Wohnung zurück. Unfähig, sich zurückzuhalten, redete Kayla wie ein Wasserfall. Cade steuerte nur selten etwas zu ihrem Monolog bei und wenn, dann war es eher ein Laut als ein Wort. Als sie schließlich in der Wohnung waren, hatte Kayla das Gefühl, Cades gedrückte Stimmung keinen Augenblick länger ertragen zu können, zumindest nicht ohne eine Erklärung. „Willst du mir nicht sagen, was dich bedrückt?“ Er lockerte seine Krawatte. „Nichts.“ Ganz bestimmt. „Nichts ist das, was du während der letzten Viertelstunde gesagt hast.“ Cade schaute sie überrascht an. „Ich habe dir geantwortet.“ Sie hätte fast laut aufgelacht. „Nun, ich würde Grunzen nicht - 127 -
unbedingt als Antworten bezeichnen.“ Und dann glaubte sie plötzlich den Grund für seine Zurückhaltung zu wissen. „Du hast Angst, dass du dich geirrt haben könntest, dass es doch nicht Davin war, stimmt’s?“ Cade hatte in dem Restaurant so sicher gewirkt. Er dachte an das Gesicht auf dem Foto. Sein Magen krampfte sich zusammen. „Nein, er ist es. Ich habe keinen Zweifel. Er sieht aus wie seine Mutter. Und genau wie Megans Phantombild.“ Er überlegte, wie er am elegantesten das Thema wechseln könnte. Er wollte seine Gefühle mit niemandem teilen, auch nicht mit Kayla. Doch dann hörte er, wie er es dennoch tat. „Ich habe schreckliche Angst davor, dass sich plötzlich in letzter Minute alles in Luft auflösen könnte und ich wieder ganz am Anfang stehe.“ Das war es also. Kayla hatte es sich schon fast gedacht. „Nichts wird sich in Luft auflösen“, beharrte sie sanft. Sie folgte Cade in die Küche. „Wir werden ihn zurückbekommen.“ Sie benutzte das Wort wir, als wären sie ein Team, so wie Megan und er ein Team waren. Und Sam. Aber Kayla und er waren kein Team. Sie war eine Klientin, und je früher er sich daran erinnerte, desto besser würde es für sie beide sein. „Davin ist nicht deine Sorge.“ Kayla schaute ihm in die Augen. Sie fragte sich, ob er das wirklich glaubte, ob er wirklich glaubte, dass sie nach allem, was sie zusammen durchgemacht hatten, einfach weggehen konnte. „Doch, das ist er... Wenn wir Heather finden, bin ich dir etwas schuldig.“ „Die Rechnung findest du in der Post.“ Das tat weh. „Ich rede nicht von Geld.“ Kayla drehte sich um, während Cade sich eine Dose Cola aus dem Kühlschrank holte. „Und wenn ich dir helfe, Davin zu finden, wird meine Schuld bezahlt sein.“ „Dann bin ich dir etwas schuldig“; gab er zurück. „Nein, dann sind wir quitt“, widersprach sie. Sie schaute sich in der ordentlich aufgeräumten Küche um. Sie fühlte sich rastlos und - 128 -
nervös. Sie holte tief Atem, aber ihre Unruhe verstärkte sich nur noch. „Was machen wir jetzt?“ Es gab nichts, was sie hätten tun können. Cade hatte Redhawk bereits angerufen, bevor sie das Restaurant verlassen hatten, um ihn über den Verlauf des Abends zu informieren und die nötigen Vorkehrungen für morgen zu besprechen. „Wir warten.“ Kayla wollte nicht warten, sie wollte handeln. Indem sie zu Lamberts Haus ging und die Freilassung ihrer Nichte und seines Sohnes verlangte. „Ein Teil von mir...“ Cade las in ihren Augen. „Ja, ich weiß. Mir geht es genauso.“ Wir sind auf derselben Wellenlänge, dachte sie. Es überraschte sie, wie ähnlich sie sich waren. „Bestimmt kann ich heute Nacht nicht schlafen“, gestand sie. Sie schaute auf den Fernseher, aber sie wusste schon jetzt, dass sie keine Lust haben würde fernzusehen. „Was hältst du davon, wenn wir Karten spielen?“ „Ich kann nur Poker. Das Wort entlockte ihr ein breites Grinsen. Ein Mann ganz nach ihrem Geschmack. „Komisch, dass du das sagst, es ist mein Lieblingskartenspiel.“ Cade hatte Mühe, sie sich beim Pokern vorzustellen. Er hatte Poker immer mit Männern in verräucherten Kneipen verbunden. „Ich hätte dich eher für den Bridgetyp gehalten.“ Bridge war ihr immer zu behäbig gewesen. Kayla brauchte die Bewegung. „Das zeigt nur, dass man ein Buch nicht nach dem Umschlag beurteilen sollte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und kramte auf der Suche nach etwas, um das sie spielen konnten, im Küchenschrank herum. Die Auswahl, die sie schließlich zutage förderte, war ziemlich armselig. „Willst du um Streichhölzer oder um Gummibärchen spielen?“ Sie stand mit dem Rücken zu ihm. Plötzlich war Poker das Letzte, was Cade im Kopf hatte. „Ich glaube, mir steht der Sinn nach etwas viel Süßerem als Gummibärchen.“ - 129 -
14. KAPITEL Mit jeder Liebkosung, die Cades Hand ihr spendete, fiel die Anspannung des Tages ein bisschen mehr von Kayla ab. Ihre Nervosität wurde weiter und weiter in den Hintergrund gedrängt, bis sie sie kaum noch spürte. Sie war nicht verschwunden, aber für den Augenblick vergessen. Und mit jedem Streicheln erzeugte Cade eine andere Art von Anspannung, eine andere Art von Erwartung in ihr. Eine, die nur mit ihm zu tun hatte und die nur er erfüllen konnte. Kayla gab sich ihren Empfindungen völlig hin. Sie gab sich dem Mann hin, der sie schon so vieles hatte fühlen lassen, der ihr vorher ungeahnte Sinnenfreuden geschenkt hatte und noch mehr für sie bereithielt. Alles, was sie wusste, war, dass sie sich unverletzlich fühlte, wenn sie mit Cade zusammen war. Dass sie zu allem imstande war. Zu allem. Das muss Liebe sein, schoss es ihr durch den Kopf. Wäre sie in diesem Moment in der Lage gewesen, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen, hätten sie diese Worte zutiefst erschüttert. Aber jetzt hatte das Fühlen Vorrang vor dem Denken. Lange Zeit später lächelte sie ihn an und sagte: „So, das war die erste Stunde. Und was machen wir die restlichen elf?“ Cade hatte sie gerade erst gehabt. Und wollte sie schon wieder. Diese Erkenntnis ließ ihn fassungslos zurück. Er fühlte sich fast wie ein Zuschauer in seinem eigenen Leben. Mit einem Lachen in den Augen stützte er sich auf die Ellbogen und schaute sie an. Seine feuchten Haare klebten ihm an der Stirn. Er spürte, wie sich allein bei Kaylas Anblick sein Puls schon wieder beschleunigte. War das normal? Oder hatte ihn irgendein teuflischer Bann fest im Griff? Er spitzte die Lippen und drückte ihr einen Kuss auf den Hals. „Sagt dir das Wort Zugabe etwas?“ - 130 -
Wenn irgendwer sie gefragt hätte, hätte Kayla geschworen, dass in einem alten Staublappen in diesem Moment mehr Energie gewesen wäre als in ihr. Und doch begann sich ein süßes Gefühl in ihr zu regen, als sie seine Lippen auf ihrer Haut spürte, „In diesem Fall wäre es mit dem Wort Bravo gekoppelt. Aber ich glaube, das hängt zum größten Teil von dir ab.“ „Von uns“, korrigierte er sie mit tiefer Stimme, wobei sein Atem, über ihre Haut strich. „Von uns.“ Cade zog die Handbremse an, aber er blieb hinterm Steuer sitzen. Sie parkten am Straßenrand in einem ruhigen Wohnviertel. Die Straße war beidseitig von imposanten Bäumen gesäumt. Bis auf das Zwitschern eines Vogels war kein Laut zu hören. Kaum vorstellbar, dass an einem solchen Ort entführte Babys an gut betuchte Ehepaare verkauft werden sollten. Taylor hatte sie vor weniger als einer halben Stunde angerufen und ihnen die Wegbeschreibung zu dem Haus durchgegeben, wo sie die Kinder, die sie sich „ausgesucht“ hatten, in Empfang nehmen sollten. Angeblich wurden sie dort von Heathers Mutter und Mrs. Lambert erwartet. Kayla hatte in ihrer Brieftasche einen gefälschten Scheck über fünfzigtausend Dollar. Diese Summe hatten sie mit Taylor vereinbart. Nach Taylors Anruf hatten Kayla und Cade sich sofort ins Auto gesetzt und waren losgerast, in der Befürchtung, dass irgendwer in letzter Minute seine Meinung ändern und ihre Pläne durchkreuzen könnte. Kayla hatte seit dem Anruf noch keine fünf Worte gesprochen. Sie saß auf dem Beifahrersitz und hatte ihre Schultern gestrafft wie ein vorbildlicher Soldat. Cade legte eine Hand auf ihre. „Nervös?“ Am Anfang war sie nervös gewesen, aber jetzt war sie - 131 -
meilenweit von diesem Gefühl entfernt. Seine Frage brachte Bewegung in sie. „Ich bin zu wütend, um nervös zu sein“, sagte sie, während sie ihre Tür öffnete. Sie warf Cade einen Blick zu. „Ich will im Moment nur, dass endlich etwas passiert. Sonst kann ich für nichts mehr garantieren.“ Daran zweifelte Cade nicht. Und er zweifelte auch nicht daran, dass ihr Zorn es leicht mit jemanden aufnehmen konnte, der um einiges größer war als sie. Im Bett war die Frau eine echte Wildkatze, und wütend war sie wahrscheinlich eine Naturgewalt, die kaum zu bezähmen war. Als ihm das Bild einer zornschnaubenden Kayla durch den Kopf schoss, musste er sich ein Lächeln verkneifen. Er schlug die Tür auf seiner Seite zu. „Erinnere mich daran, dass ich darauf achte, nie deinen Zorn zu erregen. „Abgemacht.“ Kayla ließ das zweistöckige Wohnhaus, zu dem Taylor sie bestellt hatte, nicht aus den Augen. Taylor zufolge gehörte es einer Frau, die schwangere junge Mädchen bis zur Entbindung aufnahm. Einer Frau, die sich zweifellos in das Vertrauen dieser Mädchen einschlich, bevor sie sie dazu überredete, ihre Babys wegzugeben. Oder, wie im Fall von Heather, keine Fragen stellte, woher die Kinder kamen. Kayla wollte ihr das Herz aus der Brust reißen und darauf herumtrampeln. In dem kurzen Zeitraum zwischen Heathers Entführung und der Suche nach ihrer Nichte war Kayla eine Menge klar geworden. Sie hatte nicht gewusst, dass ihre Gefühlspalette so breit gefächert war. Im Positiven wie im Negativen. Irgendwer wird Heathers Mutter spielen müssen, dachte sie, während sie den kurzen Weg zur Einfahrt hinaufgingen. Und wie würde sich Shirley Lambert in der Rolle der fürsorglichen Pflegemutter von Davin geben? Aus dem Augenwinkel sah Kayla, dass Cade sich umschaute. - 132 -
Er wirkte angespannt. Sie wusste inzwischen, dass sie sich auf seine Intuition verlassen konnte. „Was ist?“ Cade war leicht irritiert. „Ich sehe Taylors Wagen nicht, du?“ Sie hatten durch Redhawk in Erfahrung gebracht, was er für ein Auto fuhr. Kayla suchte die Straße mit Blicken ab. Er hatte Recht. „Nein. Vielleicht ist er mit dem Taxi gekommen.“ „Vielleicht.“ Doch Cades Tonfall war zu entnehmen, dass er nicht so recht daran glaubte. Sie gingen die fünf Treppen zu der vorderen Eingangstür hinauf und klingelten. Als niemand öffnete, klingelte Cade ein zweites Mal. Wieder nichts. Sie tauschten einen Blick aus, und Kayla deutete ungeduldig auf die Tür. Ohne zu überlegen, drehte Cade am Türknopf, der zu seiner Überraschung nachgab. Die Tür war nicht abgeschlossen. Als Kayla jedoch Anstalten machte, das Haus zu betreten, hielt er die Hand hoch und verstellte ihr den Weg. Die Sache gefiel ihm nicht. Irgendetwas stimmte hier nicht. Da ihm klar war, dass nichts in der Welt Kayla dazu bringen würde, draußen zu warten, bedeutete er ihr, sich dicht hinter ihm zu halten, und betrat vorsichtig das Haus. Nur einen Sekundenbruchteil, nachdem sein Blick auf die Pistole mit dem aufgesetzten Schalldämpfer gefallen war, warf Cade sich zu Boden und riss Kayla mit. Kugeln zischten über ihre Köpfe hinweg, während sie bäuchlings hinter einem geblümten Sofa in Deckung gingen. Kayla hatte keine Zeit gehabt, auch nur einzigen klaren Gedanken zu fassen, sie reagierte einfach. Beim Sturz auf den Boden war ihr die Luft weggeblieben, und sie keuchte immer noch, als sie sich jetzt, zitternd vor Schreck, hinter der Couch verkroch. Als sie den Kopf hob, sah sie, dass Cade eine Pistole in der Hand hielt. Wie lange trug er sie schon mit sich herum? Mehrere Schüsse peitschten auf, als Cade das Feuer - 133 -
erwiderte, und dann sah sie, dass der Mann, der sie die ganze Zeit über beschattet hatte, mit einem Schmerzensschrei zu Boden ging. Ihr so sorgsam ausgetüftelter Plan war schief gegangen. Ihre Tarnung war aufgeflogen. Cade wollte dem Privatdetektiv keine Gelegenheit geben, ein zweites Mal das Feuer auf sie zu eröffnen. In Sekundenschnelle sprang er auf und richtete seine Pistole direkt auf den Kopf des Angreifers. Der Mann presste seine Hand gegen die Schulter. Durch seine, Finger sickerte Blut. „Kayla, such irgendwas, womit wir ihn fesseln können“, befahl Cade. Sie fand nichts in ihrer unmittelbaren Umgebung, was diesen Zweck hätte erfüllen können, deshalb rannte sie in die Garage. Sie kickte Kanister und Kisten beiseite und fand schließlich ein Hanfseil, das ihr in die Hand schnitt, als sie es unter einem Bretterstapel hervorzerrte. Nach ihrer Rückkehr fesselte sie dem unentwegt in sich hineinfluchenden Privatdetektiv die Hände auf dem Rücken. „Wo ist Heather?“ herrschte sie ihn an. In seinen braunen Augen leuchtete Verachtung auf. „Wer, zum Teufel, ist Heather?“ Cade drehte den Mann zu sich herum. „Das kleine Mädchen, von dem Taylor dachte, wir wollten es adoptieren.“ Der Detektiv warf aus dem Augenwinkel immer wieder einen Blick auf die Pistolenmündung, die nah an seiner Schläfe war. „Ich weiß nichts von einem kleinen Mädchen.“ Auf seiner Stirn begannen sich Schweißperlen zu bilden. „He, hören Sie, das ist alles ein großes Missverständnis.“ „Reden Sie keinen Quatsch, Sie wissen genau, worum es geht.“ Cade drückte die Pistolenmündung gegen die Schläfe des Mannes. „Das Spiel ist aus. Draußen wartet schon die Polizei auf Sie. Also, wo hält Taylor die Kinder fest?“ „Sie wollen wissen, wo Ihr Sohnemann ist, he?“ „Woher wissen Sie, dass...“, fragte Cade baff. - 134 -
„Ich bin Privatdetektiv, Mann. Taylor hat, mich gestern Abend nach Ihrem Treffen angerufen und wollte, dass ich ein paar Nachforschungen anstelle. Irgendwie kam es ihm spanisch vor, wie Sie auf Jeremy reagiert haben. Zu dumm für Sie, dass Ihre tragische Geschichte damals durch die ganze Presse ging, Mr. ,ChildFinders, Inc.’“ „An Ihrer Stelle wäre ich mir nicht so sicher, was hier für wen dumm gelaufen ist“, knurrte Cade. Die Versuchung, seine Frustration an dem Privatdetektiv auszulassen, war groß, aber er schaffte es, sich zusammenzureißen. Er packte den Mann bei den Schultern, und schubste ihn aus der Tür. „Soll ich die Polizei rufen, Mr. Taylor?“ fragte die Sekretärin verängstigt, allerdings ohne sich von der Stelle zu rühren, auf der sie angewurzelt stand, seit die Frau sie beiseite gestoßen hatte. Taylor glitt das Mikrofon, in das er gerade diktiert hatte, aus den plötzlich kraftlos gewordenen Fingern. Er war davon ausgegangen, dass man sich um die beiden Schnüffler bereits gekümmert hatte. An Taylors Stelle ergriff Kayla das Wort. „Warum tun Sie es nicht?“ Sie schleuderte dem Anwalt einen vernichtenden Blick zu. „Rufen Sie die Polizei an und verlangen Sie Lieutenant Graham Redhawk. Ich bin mir sicher, dass er mit Ihnen eine Menge zu besprechen hat, oder was meinen Sie, Taylor?“ In die Augen des Anwalts trat ein harter Glanz. Mit einer Handbewegung scheuchte er seine Sekretärin weg. „Machen Sie sich keine Mühe, Eugenia. Ich komme schon zurecht.“ „Darauf würde ich mich an Ihrer Stelle diesmal nicht verlassen.“ In Cades tiefer Stimme schwang ein stählerner Unterton mit. Er sah, wie der Anwalt zusammenzuckte, als er herankam. „Was ist passiert?“ Taylors Blick flog zur Tür. „Wo ist Fowler?“ Cade schaute Taylor mit einer hochgezogenen Augenbraue an. „Sie meinen den Mann, der den Auftrag hätte, uns ins Jenseits zu befördern? Er ist auf dem Polizeirevier:“ Cade - 135 -
beugte sich so weit vor, dass sein Gesicht ganz dicht vor Taylors war. „Und glauben Sie mir, er wird dort nicht nur erzählen, was er am liebsten zu Mittag isst. Wenn Sie sich ganz stark konzentrieren, können Sie hören, wie er Sie und den feinen Doktor gerade verrät.“ Taylors ohnehin schon bleiches Gesicht wurde noch bleicher. „Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden.“ Cade spürte, wie seine Geduld schwand. Er packte Taylor am Kragen und riss ihn aus seinem Schreibtischstuhl hoch. „Dann werde ich Ihrem erbärmlichen Gedächtnis mal- ein wenig auf die Sprünge helfen. Ich rede von Kindern, Sie Abschaum. Von kleinen unschuldigen Kindern, die man ihren Familien weggenommen hat und die in dem miesen schmutzigen Laden, den Sie und Lambert da betreiben, verkauft werden wie ein Stück Ware.“ „Ich weiß nicht, was...“ Cade packte noch fester zu, so dass Taylor fast keine Luft mehr bekam. „Wenn Sie hier weiterhin das Unschuldslamm spielen, reiße ich Ihnen Ihre verdammte Zunge raus, mache einen Knoten rein und zwinge Sie, sie runterzuschlucken.“ „Sie sind ja wahnsinnig. Taylor japste verzweifelt nach Luft und schaute Hilfe suchend auf die Frau, von der er bis heute früh noch gedacht hatte, sie heiße Julia Sinclair. Doch Kaylas Gesichtsausdruck war unnachgiebig. Sie schien noch weniger Mitleid mit ihm zu haben als der Mann, der gerade dabei war, ihn zu erwürgen. Er erwog einen Moment, nach Hilfe zu schreien, aber er wusste, dass es keinen Zweck hatte. „Wahnsinnig, sehr richtig, das bin ich - wahnsinnig vor Wut. Cade kämpfte gegen den Drang an, Taylor zu erwürgen. Die Genugtuung würde enorm sein. Außerdem würde Taylor dann auch keine Chance haben, sich mittels einer hilfreichen Hand, die ihm irgendein schmieriger Anwaltskollege entgegenstreckte, juristisch aus dem Sumpf zu ziehen. Denn davor hatte Cade Angst. „Sie haben meinen Sohn und ihre - 136 -
Nichte in Ihrer Gewalt, und wenn Sie diesen Raum lebendig verlassen wollen, wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben, als uns zu erzählen, wo Sie sie gefangen halten.“ „Aber ich weiß nicht ...“ Taylor war klar, dass es jetzt nur noch ums nackte Überleben ging. Er wimmerte, als er spürte, wie sich die starke Hand fester um seinen Hals schloss und ihm die Luft abdrückte. „Nein, bitte“, röchelte er. „Ich weiß ... wirklich ... nicht, wo sie sind.“ Kayla befürchtete, dass er den Mann mit bloßen Händen umbringen könnte, und legte Cade eine Hand auf die Schulter. Taylor und Lambert hatten schon genug Unheil in ihrer beider Leben angerichtet. Niemandem würde damit gedient sein, wenn Cade Taylor jetzt wie eine Kakerlake zerquetschte. „Cade, lass ihn los.“ Sie rüttelte ihn an der Schulter und versuchte ihn dazu zu bringen, sich umzudrehen. „Ich weiß, was du durchgemacht hast, aber für diesen Abschaum sind Gerichte zuständig.“ Er ließ ihn nicht los. Ihre Stimme wurde scharf. Sie musste zu ihm durchdringen, musste ihn dazu überreden, von Taylor abzulassen. Er konnte doch nicht wegen diesem Kerl sein Leben ruinieren. „Und was soll aus deinem Sohn werden, wenn du wegen Mord im Gefängnis sitzt?“ Mit einem hasserfüllten Fluch, in dem all die quälenden Jahre erfolgloser Suche mitschwangen, boxte Cade Taylor auf seinen Stuhl. zurück. „Reden Sie“, befahl er rau. Taylor liefen die Tränen über die Wangen. „Ich weiß nichts.“ Als Cade seine Waffe zückte und auf ihn richtete, schrie er voller Angst auf und versuchte mit zitternden Händen, Cade abzuwehren. „Bitte“, wandte er sich mit flehender Stimme an Kayla. „Ich will mit dem Bezirksanwalt sprechen. Ich möchte ihm einen Deal vorschlagen.“ Cade konnte es nicht mehr aushalten. Wollte es nicht mehr aushalten. Mit der freien Hand riss er Taylor wieder hoch und - 137 -
hielt ihm die Mündung direkt an die Schläfe. „Ich sage Ihnen, wie der Deal lautet: Sie verraten mir jetzt entweder auf der Stelle, wo die Kinder sind, oder Sie sprechen mit gar niemandem mehr. Nie wieder.“ Taylor duckte sich und zog den Kopf ein. „Ja gut, ja gut“, wimmerte er. „Bitte legen Sie die Waffe weg. Ich sage Ihnen, wo die Kinder sind. Ich habe über jede Adoption eine Datei angelegt.“ Er deutete auf den Computer. „Aber ich flehe Sie an, töten Sie mich nicht. „Reden Sie“, befahl Cade. „Und dann werden wir sehen, ob ich Sie töte oder nicht.“
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15. KAPITEL In dem Raum herrschte eine Dunkelheit, gegen die das Sonnenlicht nichts ausrichten konnte. Der Junge schaute Cade aus großen verängstigten Augen an. Er kauerte in einem Sessel, als versuche er, in dem weichen schwarzen Leder zu verschwinden. Es brach Cade das Herz, ihn so zu sehen. Sein Sohn, nach dem er all die Jahre so verzweifelt gesucht hatte, schien ihn nicht mehr zu erkennen. Schlimmer noch - er hätte Angst vor ihm. Cade, der sich nichts sehnlicher wünschte, als auf den Jungen zuzurennen und ihn in die Arme zu schließen, zwang sich, langsame behutsame Schritte zu machen. Er kauerte sich vor den Sessel hin. Davin drückte sich tiefer in die Polster. „Was haben sie mit dir gemacht, Davin?“ Angst mischte sich mit Verwirrung. Der Junge schüttelte seinen dunklen Kopf. „Nicht Davin ... Jeremy. Ich heiße Jeremy.“ Kayla spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Von Mitleid überwältigt, presste sie die Lippen aufeinander. Sie hatte ihre Nichte auf dem Arm, nicht gewillt, sie auch nur für eine Sekunde loszulassen. In Heathers Augen hatte Wiedererkennen aufgeleuchtet, als sie in das Kinderzimmer in einem anderen Teil des Hauses, in dem man die Kinder festhielt, getreten war. Sie legte Cade tröstend eine Hand auf die Schulter. „Er hat Angst vor dir.“ „Glaubst du, das weiß ich nicht?“ knurrte Cade, dann schämte er sich. „Entschuldige.“ In jeder Silbe schwang Qual mit. Es gab keinen Grund, sich zu entschuldigen. Sie verstand ihn nur allzu gut. Sie mussten dem Jungen eine Brücke bauen, etwas, das eine lange zurückliegende, aber nicht ganz vergessene Erinnerung wachrufen konnte. „Vielleicht solltest du mit ihm über etwas reden, was ihr zusammen... - 139 -
Cade, dessen Kopf plötzlich wie leer gefegt war, versuchte sich krampfhaft an das Leben zu erinnern, das er mit Davin geführt hatte, bevor man ihm seinen Sohn entrissen hatte. Woran würde sich der Junge erinnern? Cade kauerte noch immer vor dem Sessel, ohne sich der Tatsache bewusst zu sein, dass Kayla und Redhawk zuschauten. Selbst wenn der Raum voller Menschen gewesen wäre, wäre ihm das egal gewesen. Er hatte nur Augen für seinen Sohn. „Erinnerst du dich, dass wir uns jeden Sonntagmorgen Zeichentrickfilme im Fernsehen angeschaut haben, Davin?“ Die dunklen Augen schauten an ihm vorbei. „Jeremy“, sagte der Junge tonlos. Cades Frustration drohte ihn zu überwältigen. Er rang sie erbittert nieder. „Jeremy“, wiederholte er, obwohl der Name einen bitteren Nachgeschmack in seinem Mund hinterließ. Er zermarterte sich das Hirn. „Erinnerst du dich an Spotty, den Hund?“ Diese Zeichentrickfigur hatte sein Sohn heiß geliebt. Cade hatte. immer noch die Videos, die sich Davin wieder und wieder angeschaut hatte. „Ich hatte dir einen Stoffspotty geschenkt, den du überall mit dir rumgeschleppt hast, erinnerst du dich?“ Cades Stimme gewann an Fahrt, während er verzweifelt versuchte, die Barrieren, die ihn von seinem Sohn trennten, zu durchbrechen. „Irgendwann hattest du ihn verloren, und ich bin stundenlang durch die Gegend gefahren, um ihn zu finden. Am Ende stellte sich heraus, dass er die ganze Zeit in der Garage war.“ Der Gesichtsausdruck des Jungen blieb unverändert, nichts schien darauf hinzudeuten, dass er sich erinnerte. Cade schaffte es nicht, zu seinem Sohn durchzudringen. Was hatten sie mit ihm gemacht? Kayla tauschte mit Redhawk einen Blick aus. Der schüttelte hilflos den Kopf. „Versuch es mit einer Lieblingsgeschichte“, flüsterte Kayla Cade zu. - 140 -
Cade schnaubte frustriert. „Er hatte keine. Er liebte jede Geschichte, die ich ihm vorlas.“ Kayla verlagerte ihre Nichte auf ihre Hüfte. Sie versuchte sich daran zu erinnern, was sie getan hatte, wenn sie sich mit Heather beschäftigte. „Vielleicht ein Lieblingslied?“ schlug sie vor. „Hatte er ein Lieblingslied? Hast du mit ihm gesungen?“ Cade wollte schon Nein sagen, aber dann fiel es ihm ein. „Ja, er hatte eins. Me and my Shadow.“ Er wurde plötzlich ganz aufgeregt. „Davin war immer wie mein kleiner Schatten, und eines Tages kam mir das Lied in den Kopf. Wir sangen es ständig.“ Kayla hatte in den Augen des Jungen ein Aufflackern gesehen, als Cade das Lied erwähnt hatte. „Versuch es“, drängte sie. „Versuch es mit ihm zu singen.“ In seiner Lunge schien keine Luft mehr zu sein. Kaum hörbar entrangen sich die Worte seinem Hals, der sich wund anfühlte, angeschwollen von ungeweinten Tränen. Nach der dritten Strophe gab er entmutigt auf. Nichts in Davins Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass der Junge sich auch nur vage erinnerte. Cade wandte sich ab und drehte sich zu Kayla und Redhawk um. „Ich nehme an, es dauert länger, als ich...“ Er wurde von Davins dünner ernster Stimme unterbrochen, die das Lied dort, wo Cade aufgehört hatte, wieder aufnahm. Für einen Sekundenbruchteil erstarrte Cade. Und dann zersplitterte die Schmerzenskralle, die sich um sein Herz gelegt hatte. „Du erinnerst dich!“ Er wirbelte herum und riss den Jungen in seine Arme. Seine Augen füllten sich mit Tränen, die ihm gleich darauf über die Wangen strömten. Alles würde gut werden. Sein Sohn war zurückgekehrt. „Du erinnerst dich.“ Er barg sein Gesicht am Hals des Jungen und atmete den süßen Duft von Davins Haut ein. - 141 -
Kayla versuchte nicht einmal, nicht zu weinen. Davin wollte sich erst aus der Umarmung herauswinden, aber nach dem Bruchteil einer Sekunde entspannte sich sein Körper an Cades Schulter. Der Junge wirkte zwar immer noch verwirrt, aber seine Angst und sein Misstrauen schienen plötzlich wie weggeblasen. „Warum weinst du denn, Daddy?“ Daddy. Es war bei weitem das Süßeste, was er je gehört hatte. Cade hob den Kopf und schaute den Jungen an. „Weil ich so unendlich glücklich bin.“ Der Junge warf Kayla einen verständnislosen Blick zu. Unfähig zu widerstehen, verwuschelte sie ihm das dunkle Haar, während ihr das Herz überging vor Freude. „Wenn du größer bist, wirst du es ganz bestimmt verstehen“, versprach sie. „Glaub mir.“ Er schaute sie an, als versuche er sie in die neue Ordnung der Dinge einzusortieren. „Bist du Mommy?“ „Nein, das bin ich nicht.“ In dem Moment jedoch, in dem Kayla die Worte aussprach, wurde ihr plötzlich klar, dass sie es gern sein wollte. Dass sie sich wünschte, Davins Mommy und Cades Frau zu sein. Dass sie sich diese Art Wärme für sich selbst wünschte. Vielleicht war sie ja jetzt endlich bereit, die Chance zu ergreifen, jemanden zu lieben. „He, Lieutenant.“ Einer der uniformierten Polizisten steckte den Kopf zur Tür herein. „Sie werden kurz gebraucht.“ Redhawk, der ganz bewegt war von dem Anblick, der sich ihm bot, gab zurück: „Ich bin in einer Minute da“ und ging auf Vater und Sohn zu. Er dachte an seinen eigenen Jungen und fuhr Davin zärtlich durch das Haar. Dann sagte er zu Cade: „Wir haben bis jetzt an die hundert Akten gefunden. Das heißt, dass etwa hundert Kinder unter höchst mysteriösen Umständen verschwunden sind und dann adoptiert wurden. - 142 -
Soweit wir wissen, hat die Bande mehrere Fotostudios in Kalifornien, Arizona und Nevada betrieben. AhnungsloseEltern kamen mit ihren Neugeborenen und Kleinkindern an, um sie fotografieren zu lassen, und die Studios gaben die Fotos Lambert und Partner weiter, die dann ihre Wahl. trafen. Wir werden eine Menge Leute rund um die Uhr beschäftigen müssen, um Licht in das Dunkel zu bringen, aber am Ende wird es viele glückliche Familien geben.“ Er schaute die beiden an. „Kann ich noch irgendetwas für Sie tun?“ Es gab nur eins, was Cade jetzt wollte. „Könnte uns wohl irgendjemand zum Flughafen fahren?“ Cade warf Kayla einen fragenden Blick zu. Sie nickte. „Ja, ich glaube, wir möchten alle gern nach Hause.“ Es war das Wenigste, was Redhawk für sie tun konnte. „Aber selbstverständlich.“ Die Nachricht von dem Schwarzmarktring für Kinder, den sie ausgehoben hatten, war ihnen vorausgeeilt. Als ihre Maschine auf dem John Wayne Airport in Bedford landete, war der Terminal brechend voll mit Reportern und Kameraleuten. Cade und Kayla wurden mit Blitzlichtern und einem Meer von Fragen überschüttet, als sie sich ihren Weg vom Flugsteig zum Aufzug bahnten, der sie ins Freie bringen sollte. Kayla drückte sich eine wimmernde Heather an die Brust. Das Kind war unübersehbar verängstigt. Auch Davin klammerte sich ängstlich an seinen Vater. Cade, der Kayla und Heather voranging, versuchte sie alle so gut wie möglich abzuschirmen. „Wie, zum Teufel, haben sie es so schnell geschafft, uns zu finden?“ schrie er ihr über den Lärm zu. Obwohl ihm klar gewesen war, dass dieser Fall großes Aufsehen erregen würde, hatte er doch nicht geglaubt, dass er sich dem Medienrummel schon so bald stellen müsste. - 143 -
Kayla hatte ihre Familie ausdrücklich gebeten, sie nicht am Flughafen abzuholen. Sie wollte Heather selbst nach Hause bringen. Moira, die zwar bereits aus dem Krankenhaus entlassen war, war ganz gewiss noch nicht in dem Zustand für einen solchen Medienrummel. Und dann entdeckte Cade Megan, Sam und Rusty, die auf sie zukamen. Er war noch nie so glücklich gewesen, sie zu sehen, wie in diesem Moment. Megan gab ihm ein Küsschen auf die Wange. „Wir dachten, wir sollten euch ein bisschen Rückendeckung geben. Willkommen zu Hause, Dad.“ Sie strahlte den Jungen neben Cade an. „Und du bist der erfreulichste Anblick, den ich mir überhaupt nur vorstellen kann, Davin Townsend.“ Dann begann sie in ihrer Tasche herumzukramen, um gleich darauf ein abgewetztes Stofftier zu Tage zu fördern und es Cades Sohn in den Arm zu drücken. Davin - quietschte fröhlich auf und umarmte beseligt sein Spielzeug. „Spotty.“ Cade war sprachlos. „Wie kommst du...“ Megan hob abwehrend die Hände. „Es war nicht meine Idee. Kayla hat mich angerufen. Sie hatte so eine Ahnung, dass du dieses alte Ding bestimmt noch immer irgendwo rumliegen hast. Sie hat vorgeschlagen, dass ich es holen und zum Flughafen mitbringen sollte.“ Megan grinste, während sie Davin beobachtete. Cade wusste gar nicht, was er sagen sollte, deshalb warf er Kayla über die Schulter nur einen Blick zu und formte mit den Lippen das Wort „Danke“. Ihr Lächeln sagte, ihm, dass sie verstanden hatte. Und dann schlossen die Medien trotz aller wohlmeinenden Versuche, sie abzuschirmen, ihre Reihen doch enger um sie. „Kommen Sie, Mr. Townsend, sagen Sie uns ein paar Worte ...“ Ein Reporter hielt ihm ein Mikrofon direkt unter die Nase. - 144 -
Die Medien hatten ihn in der Vergangenheit freundlich behandelt, er hatte ihnen eine Menge zu verdanken. Sosehr er es sich auch wünschte, mit seinem Sohn endlich nach Hause zu gehen, wusste Cade doch, dass er diesen Leuten etwas schuldig war. Sie hatten seine Geschichte damals auf allen Titelblättern gebracht, und von Zeit zu Zeit hatten sie sie wieder aufgegriffen, damit sie nicht ganz in Vergessenheit geriet. Er konnte sie jetzt nicht einfach abwimmeln. Cade zögerte und schaute in die vielen Gesichter, ohne auch nur ein Einziges davon klar zu sehen. In ihm herrschte ein viel zu großes Chaos, um sich konzentrieren zu können. Das würde erst später kommen, wenn sich der Aufruhr in seinem Innern etwas gelegt hatte. Er grinste den Reporter vor sich an und beugte sich über das Mikrofon. „Ich sage ein paar Worte. So wie es aussieht, hat ChildFinders, Inc. Diesen Fall endlich gelöst.“ Die Fragen prasselten aus allen Richtungen auf Cade ein. Er lächelte in die Kameras und bemühte sich, diejenigen Fragen, die er verstehen konnte, so gut wie möglich zu beantworten. Die ganze Zeit über hielt er seinen Sohn dabei eng an sich gepresst. Während sie Cade zuhörte, spürte Kayla plötzlich eine Hand auf ihrem Arm. Als sie sich umdrehte, sah sie Megan hinter sich stehen. „Mein Auto steht ganz in der Nähe“, flüsterte Megan ihr ins Ohr. „Ihre Familie wartet im Büro auf Sie. Kommen Sie“, drängte sie. „Verschwinden wir unauffällig. Das dauert hier sicher noch eine Weile.“ Sie deutete mit dem Kopf auf Cade. Kayla wollte lieber bleiben. Um Cade zuzuhören. Um sich an dem Leuchten in seinen Augen und auf seinem Gesicht zu erfreuen. Dies war seine Stunde, und er hatte sie sich redlich verdient. Der Mann war durch die Hölle gegangen und hatte nicht nur überlebt, sondern allen unüberwindlich erscheinenden Hürden zum Trotz am Ende gesiegt. Und in ihrem tiefsten Innern wusste sie auch, dass sie sich - 145 -
zum letzten Mal so nah sein würden. Sie wollte bleiben. Aber sie hatte Verpflichtungen. Sie hatte Moira versprochen, ihr Heather wieder zurückzubringen. Ihre Familie wartete. Dankbar für Megans Hilfe, nickte Kayla ihr zu. „In Ordnung“, murmelte sie. Im Weggehen, warf sie noch einen letzten Blick über die Schulter auf Cade und formte mit den Lippen das Wort „Tschüs“. Sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte, und ganz sicher konnte er sie nicht hören, aber das hatte sie auch nicht erwartet. Es war genug, dass sie es gesagt hatte. Falls ihr Herz ein bisschen schmerzte, als sie den Flughafen verließ, war sie fest entschlossen, es zu ignorieren. Es machte sie verrückt. Mittlerweile waren zwei Wochen vergangen, und Kayla hatte es immer noch nicht geschafft, diese innere Unruhe loszuwerden. Eigentlich hätte man annehmen sollen, dass ihr Leben wieder in normale Bahnen geraten würde, sobald sie Heather zu Hause abgeliefert und sich der ganze Wirbel um die Entführung, die Rettungsaktion und Cade gelegt hatte. Das war aber nicht der Fall. Zu allem Überfluss hörte sie in ihrem Kopf unausgesetzt denselben Song. Me and my Shadow. Das Lied verfolgte sie Tag und Nacht. Sie war machtlos dagegen. Er rief nicht an. Sie wollte anrufen, aber sie tat es nicht. Sie war nicht am Zug. Außerdem hatte sie Angst, sich eine höfliche Abfuhr zu holen. Das brauchte sie nicht. Es reichte ihr schon, dass in ihrem Kopf Tag und Nacht ein alter Song spielte. Sofort nach ihrem Heimkommen hatte Kayla der Detektei einen Scheck in der vereinbarten Höhe sowie einen zusätzlichen - 146 -
großen Geldbetrag zugeschickt, den sie als Spende zu betrachten bat. Das hätte sie auch getan, wenn ihr Vater und ihre Brüder ihr das Geld nicht gegeben hätten. Cade hatte ihr auf dem Heimflug erzählt, dass er vorhatte, die Detektei weiterzuführen. Dass er seine Meinung nicht geändert hatte, hatte sie gerade erst gestern in der Zeitung gelesen. Zeitungen und Fernsehen waren in diesen Tagen die einzige Möglichkeit für sie, etwas über ihn in Erfahrung zu bringen. Natürlich hatte sie nicht wirklich damit gerechnet, dass er sich melden würde, nachdem die ganze Geschichte vorbei war. Sie hatten eine wunderbare flüchtige Beziehung gehabt. Sie waren ein Team gewesen. Ein Spitzenteam. Aber jetzt war es Zeit, wieder zur Tagesordnung überzugehen. Und zu vergessen, was gewesen war. Selbst wenn du glaubst, es nie zu schaffen, dachte sie, während sie in ihren weißen Kittel schlüpfte. Cade war offensichtlich überzeugt davon, dass er es konnte. Vielleicht hatte er sie ja auch bereits vergessen. Andernfalls hätte er bestimmt schon längst angerufen. Schließlich hatte sie ihren Anrufbeantworter weiß Gott oft genug abgehört. Frustriert riss Kayla die schwenkbare Armstütze des Behandlungsstuhls so hart nach unten, dass diese ein Geräusch von sich gab, das sich fast schon wie ein Jaulen anhörte. Aber ob sie es ihm nun zum Vorwurf machte oder nicht, es änderte nichts an den Tatsachen. Dass Cade aus ihrem Leben verschwunden war, war nicht ihre Entscheidung gewesen, und sie war nicht bereit, sich selbst zum Narren zu machen, indem sie einfach so bei ihm auftauchte. Selbst wenn sie nichts lieber getan hätte, als zu ihm zu gehen. Sein Leben war offenbar auch ohne sie erfüllt genug. Nur ihres kam ihr leider merkwürdig leer vor, auch wenn sie noch so viel arbeitete. - 147 -
Es geschah ihr ganz recht. Immerhin hatte sie gewusst, was für ein Risiko es war, sich auf so einen Mann einzulassen. Jetzt bekam sie die Quittung dafür. Sie würde sich einfach noch mehr in ihre Arbeit stürzen, bis ihre Erinnerungen verblassten. Doch wie lange würde das dauern? Seit sie zurückgekommen war, arbeitete sie ununterbrochen. Kayla war fest entschlossen, sich durch die Arbeit zu betäuben. Wenn sie nur lange und ausdauernd genug arbeitete, würde sie diesen Mann schon vergessen, das hoffte sie. Es funktionierte nicht. Ihr Zustand besserte sich nicht, sondern wurde laufend schlechter. Ihre Arbeit laugte sie aus. Nicht, dass sie Fehler machte, aber die Anzeichen der Erschöpfung waren unübersehbar. Kayla, versuchte sich zu erinnern, was heute für ein Wochentag war. Dienstag? Donnerstag? Die Tage waren alle gleich und rasten an ihr vorüber. Sie hasste dieses Gefühl. Hasste diesen Schmerz. Wann würde er endlich aufhören? Sie massierte sich die Nasenwurzel und wünschte sich, die bohrenden Kopfschmerzen vertreiben zu können, die sich hinter ihren Schläfen eingenistet hatten. Seit fast zwei Wochen hatte sie nun diese Kopfschmerzen, und es gab kein Anzeichen dafür, dass sie bald nachlassen würden. Kayla kämpfte mit sich, ob sie wieder einmal zwei Aspirin schlucken sollte, aber sie hatte schon bald mehr Tabletten intus als Los Angeles Einwohner hatte. Noch mehr zu nehmen würde nichts helfen. Allein die Zeit würde ihre Kopfschmerzen zum Verschwinden bringen. Vielleicht. Angie, ihre Assistentin, steckte den Kopf durch die Tür des kleinen Behandlungszimmers. „Doc, Sie haben einen neuen Patienten.“ Wieder ein Kind, dessen Herz du erobern musst, dachte sie niedergeschlagen. Der erste Gang zum Zahnarzt wurde nicht in demselben Licht gesehen wie der erste Ausflug nach - 148 -
Disneyland. Normalerweise betrachtete sie das als eine Herausforderung. Aber im Moment fühlte sie sich Herausforderungen wirklich nicht gewachsen. Mit einem Nicken nahm sie eine neue Schachtel mit Plastikhandschuhen aus dem Schrank und stellte sie auf den Tresen. „Schicken Sie die Kleine rein.“ „Es ist ein Junge“, korrigierte Angie und reichte Kayla die neu angelegte Patientenkarte. „Gut, dann schicken Sie ihn rein.“ Müde nahm sie die Karteikarte entgegen und überflog den Namen. Sie las ihn ein Mal, dann blinzelte sie und las ihn ein zweites Mal. Das konnte unmöglich ein Zufall sein. Kayla hob den Blick und schaute ihre Assistentin an. „Angie, will sich hier jemand einen Scherz mit mir erlauben?“ Angie hüllte sich in Schweigen. Dafür ergriff der hoch gewachsene dunkelhaarige Mann hinter ihr das Wort. „Nein, wir wollen nur sorgfältig auf unsere Zähne achten, stimmt’s, Davin?“ fragte er den kleinen Jungen, den er an der Hand hielt. Davin nickte und versuchte ernst zu bleiben. Im nächsten Moment riss er sich von der Hand seines Vaters los, rannte zu Kayla hinüber und umarmte sie unterhalb der Hüften. Davin hatte in den letzten beiden Wochen sichtliche Fortschritte gemacht. Der Junge hatte früher, vor seinem Verschwinden, ein freundliches offenes Wesen gehabt. Kayla freute sich zu sehen, dass er auf dem besten Wege war, die letzten drei Jahre zu vergessen. Schon auf dem Flug von Phönix in seine Heimatstadt war es Kayla gelungen, sein Herz zu erobern. Er schaute mit einem schiefen Grinsen zu ihr auf. „Hi, Kayla. Wird das sehr wehtun?“ Während sie dem Jungen über das weiche Haar streichelte, schaute sie den Vater an. Warum sah er nicht so aus, wie sie sich fühlte? Niemand hatte ein Recht, so gut auszusehen! „Davin ist mein neuer Patient?“ fragte sie ungläubig. - 149 -
Cade hatte seit zwei Wochen alles darangesetzt, sie zu vergessen. Er hatte sich wieder und wieder einzureden versucht, dass es das Beste für alle Beteiligten wäre, wenn er sein Leben einfach dort wieder aufnehmen würde, wo es vor drei Jahren so entsetzlich geendet hatte. Immerhin hatte er den Mittelpunkt seines Lebens wieder zurück, seinen Sohn. Und es war einfach wundervoll mit Davin. Ihn zurückzuhaben, endlich, hätte aus Cade den glücklichsten Menschen der Welt machen müssen. Wenn da nicht dieser leise, doch beständige Stich in seinem Herzen gewesen wäre, dieses permanente Gefühl, nicht vollständig zu sein. Dass etwas fehlte. Dass sie ihm fehlte. Cade schaute Kayla tief in die Augen und überlegte, wie er anfangen sollte. Wie er am besten ausdrücken könnte, was er für sie empfand. „Du bist doch auf Kinder spezialisiert, oder?“ „Ja.“ Cade deutete auf seinen Sohn, der sie immer noch umarmte. Als ob er sie nie mehr loslassen wollte. „Und er ist ein Kind.“ „Hm.“ Kayla wusste gar nicht, was sie sagen sollte, so sehr verunsicherte sie die Gegenwart von Cade. Sie schaute auf den Jungen hinunter. „Nein, Davin, es tut nicht weh. Kein bisschen. Ich verspreche es dir.“ Sie hob den Jungen hoch und setzte ihn in den Behandlungsstuhl. Sie brauchte einen Moment, um sich daran zu erinnern, was sie als Nächstes zu tun hatte, dann öffnete sie eine Schublade und holte eine Polaroidkamera heraus. Die Kamera hatte ihr Moira geschenkt, nachdem sie ihr Examen bestanden hatte. Sie schaute durch den Sucher auf Davin. „Bitte lächeln.“ Es war eine überflüssige Aufforderung. Der Junge grinste über beide Ohren, und Kayla drückte zwei Mal auf den Auslöser. Einen Moment später spuckte die Kamera erst eine, dann die zweite Fotografie aus. Sie zeigte dem immer noch grinsenden Davin das Bild, dann reichte sie es Cade. „Zur Erinnerung an seinen ersten Zahnarztbesuch.“ - 150 -
Cade registrierte, dass sie das zweite Foto selbst behielt. Eine nette Geste, dachte er. Davin streckte die Hand nach dem Foto aus, und er gab es ihm. Unübersehbar beeindruckt schaute der Junge das Bild lange und schweigend an. „Wenn du dem Sohn etwas schenkst, solltest du auch den Vater nicht vergessen. Er wird sonst eifersüchtig“, sagte Cade zu Kayla. „Nun gut, dann mache ich eben von dir auch ein Foto“, sagte Kayla leicht verunsichert, als sie das schelmische Funkeln in Cades Augen sah. Machte er sich über sie lustig? „Ich dachte da eher an eine andere Art von Geschenk“, erwiderte Cade und machte eine kurze Pause. „Wenn es möglich wäre, würde ich gerne die Zahnärztin mit nach Hause nehmen.“ Wenn Kayla nicht gewusst hätte, dass es medizinisch unmöglich ist, hätte sie geschworen, dass ihr Herz aufhörte zu schlagen. Sie versuchte sich wieder in den Griff zu bekommen, was alles andere als einfach war, und deutete auf den OverheadFernseher. Dort lief ein Kinderfilm. „Warum schaust du nicht ein paar Minuten zu, Davin? Ich möchte kurz ein paar Worte mit deinem Vater sprechen.“ Sie verließen zusammen das Behandlungszimmer. „Das klang ja fast schon wie eine Drohung.“ Ihre Augen schleuderten wütende Blitze, als sie zu ihm herumwirbelte. „Darauf kannst du Gift nehmen. Du hast es in zwei Wochen nicht ein einziges Mal für nötig gehalten, nach dem Hörer zu greifen, um zu fragen, ob ich überhaupt noch lebe, und jetzt kommst du hier hereinspaziert, als ob nichts passiert wäre...“ „Ganz im Gegenteil, es ist viel passiert“, unterbrach er sie in ruhigem Ton. „Das war ja das Problem. In meinem Kopf herrschte ein völliges Tohuwabohu, ich musste erst ein bisschen Ordnung schaffen.“ Er konnte nur hoffen, dass sie ihn richtig verstand. „Nach Elaines Tod habe ich mir geschworen, nie - 151 -
mehr eine Frau zu lieben. Es fiel mir nicht schwer, mich an meinen Schwur zu halten, weil irgendetwas in mir mit Elaine zusammen gestorben war.“ Er ließ Kayla nicht aus den Augen, während er sich daran erinnerte, wie es war, sich mit ihr zu lieben. Und wünschte sich, es wieder und wieder zu tun. Um sich in ihr zu verlieren. „Zumindest dachte ich das, bis du in mein Büro und mein Leben kamst.“ „Und darum hast du nicht, angerufen?“ Er wusste, dass es seltsam klang. „Aus eben diesem Grund. Weil ich einfach nicht fassen konnte, was passiert war. Ich versuchte mir einzureden, dass es nur eine Reaktion auf die Situation wäre. Auf die Anspannung. Und dann auf das unvorstellbare Glücksgefühl, Davin wiedergefunden zu haben. Es war so viel passiert, dass ich glaubte, irgendwie den Überblick verloren zu haben. Aber ich habe nicht den Überblick verloren, sondern etwas anderes.“ Cade wollte sie spüren, wollte sie in die Arme nehmen. Er begnügte sich vorerst jedoch damit, ihr nur tief in die Augen zu schauen. „Was ich verloren hatte, war mein Herz.“ Jetzt legte er ihr die Hand in den Nacken und streichelte sie zärtlich. „Ob es dir passt oder nicht, aber ich liebe dich, Kayla.“ Kayla hatte ihn in den letzten zwei Wochen Hunderte von Malen verflucht, aber jetzt hätte sie nicht glücklicher sein können. „Ob du es glaubst oder nicht, aber es passt mir“, sagte sie weich. Cade zog sie in die Arme. „Wunderbar, dann könnte der nächste Teil auch klappen.“ „Was für ein nächster Teil?“ Er konnte sie glücklich machen, er wusste, dass er es konnte. Und er wollte es für den Rest seines Lebens tun, wenn sie es nur zuließ. „Mich zu heiraten.“ Kayla glaubte zu träumen, falsch gehört zu haben. Doch ein Blick in sein Gesicht sagte ihr, dass es nicht so war. Er hatte - 152 -
ihr einen Heiratsantrag gemacht. „Ist das dein Ernst?“ Das Lächeln auf seinem Gesicht bekam etwas fast Feierliches. Er fuhr ihr zärtlich mit den Fingern durchs Haar. Gott, hatte er sie vermisst. Er hatte sie so sehr vermisst, dass es sogar jetzt noch wehtat, obwohl er sie doch im Arm hielt, „Mir war noch nie in meinem Leben etwas ernster.“ Kayla. hatte Schwierigkeiten, Luft zu bekommen. „Aber ... aber ... so schnell?“ „Vor einer Minute hast du dich noch beschwert, dass ich dir zu langsam bin. Du kannst nicht beides haben, Kayla.“ Sie spürte, wie ihr Puls anfing zu jagen. Es war ein Wunder, dass sie nicht am ganzen Körper zitterte. „Was kann ich denn haben?“ Er brachte seine Lippen ganz nah an ihre, aber dann streifte er sie nur. „Wenn du willst, mich.“ „Und was wäre die Alternative?“ Als er sie besorgt anschaute, lachte sie, dann küsste sie ihn fest auf den Mund. „Na gut dann, ich nehme dich!“ Sie sah die Frage in seinen Augen. „Und ja, ich liebe dich“, fügte sie weicher hinzu, um seinen Zweifel zu beseitigen Nach so langer Zeit fügten sich die Dinge schließlich von selbst in seinem Leben. Er vermochte es kaum zu glauben. „Dann sind wir uns also einig?“ Sie erhob sich auf die Zehenspitzen und legte ihm die Arme um den Hals. „Voll und ganz.“ Cade grinste und drückte sie noch fester an sich. Im Hintergrund hörte er Davin über irgendetwas kichern. Der Laut erwärmte ihm das Herz. „Heißt das, dass Davin ab jetzt seine Zahnbehandlung umsonst bekommt?“ „Falls ich nicht zu beschäftigt mit seinem Dad bin.“ „Oh. Dann ist es wohl besser, wenn er in den ersten hundert Jahren zu einem anderen Zahnarzt geht.“ Sie schaute ihn in gespielter Enttäuschung an. „Nur in den ersten hundert?“ - 153 -
„Danach sehen wir weiter. „Abgemacht“, murmelte sie, kurz bevor er seine Lippen auf ihren Mund presste.
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EPILOG „Mit beiden Händen, Davin. Halt die Zügel mit beiden Händen fest.“ Cade reckte seinen Hals und beobachtete, wie sein Sohn aus seinem Blickfeld verschwand, während sich das Karussell unbekümmert drehte. Obwohl er wusste, dass er es nicht tun sollte, hielt er den Atem an, bis Davin auf der anderen Seite wieder auftauchte und diesmal gehorsam die Zügel des cremefarbenen Pferdes mit beiden Händen festhielt. Vermutlich hätte Cade es noch ein bisschen länger hinausschieben können. Aber das tat er bereits seit fast einem; Jahr, und er hatte immer daran geglaubt, dass man seinen Dämonen ins Gesicht blicken musste. In den Vergnügungspark zurückzukehren, in dem Davin an seinem dritten Geburtstag entführt worden war, würde für sie beide heilsam sein. Er musste sich nur daran erinnern und sich entspannen. Davin macht seine Sache viel besser als du selbst, dachte er, während er seinen Sohn beobachtete. „Übertreibst du es nicht ein bisschen mit deiner Fürsorge?“ Kayla versuchte ihn mit ihren Armen zu umfangen. Aber das war derzeit nicht ganz leicht. Nicht solange ihr Bauch mit seinem vorübergehenden Bewohner im Weg war. Cade lachte leise in sich hinein. „Du hast Recht. Ich muss daran arbeiten, ihn sechs sein zu lassen. Ich meine, sieben.“ Kayla nickte, belustigt lächelnd. „Und dann acht und dann neun...“ „He, nicht so schnell.“ Cade hob die Hand, als ob er den Lauf der Zeit anhalten wollte. Als ob das so einfach wäre. „Immer einen Schritt nach dem anderen.“ Er küsste sie impulsiv auf die Schläfe. Das Karussell hatte angehalten, und jetzt kam Davin zu ihnen herübergestürmt. „Habt ihr mich gesehen? Hast du mich gesehen, Daddy?“ - 155 -
Im letzten Jahr war der Junge ein ganzes Stück gewachsen und war voller geworden. Er sah nicht mehr ausgemergelt oder verängstigt aus. Einmal die Woche ging er zu einem Kinderpsychologen, um die Ereignisse der letzten drei Jahre aufzuarbeiten. Doch es war vor allem der Fürsorge und Liebe von Cade und Kayla zu verdanken, dass Davin sich in der Welt wieder sicher und geborgen fühlte. Cade betrachtete sich selbst als einen der glücklichsten Menschen der Welt. Er ging seinem Sohn entgegen, um ihn zu umarmen, begnügte sich dann jedoch damit, dem Jungen das Haar zu verwuscheln. Davin fand, dass „große Jungen“ in der Öffentlichkeit nicht umarmt werden sollten. „Ich habe dich keine Sekunde aus den Augen gelassen, Champ.“ Davin hielt seine Hand an Kaylas Bauch. Er spürte, wie das Baby hart genug zurücktrat, um einen Fußball über den Torpfosten zu schicken. „Autsch.“ Davin sah ungläubig auf seine Hand. „Mom, ich glaube, das Baby hat mich eben geboxt.“ Kayla hob stolz das Kinn und legte Davin einen Arm um die schmalen Schultern. Er hatte angefangen, sie Mom zu nennen, worüber sie sich riesig freute. „Es ist schon mächtig stark.“ Davin schaute zu ihr auf. „Heißt das, dass das Baby bald raus will?“ Sie nickte. „Sehr bald.“ Davin grinste über ihre Antwort. „Das ist heute mein schönster Geburtstag.“ Cade, der spürte, dass ihm die Kehle eng wurde, trat zwischen Davin und Kayla. Er legte seiner Frau einen Arm um die Schultern, und mit dem anderen zog er seinen Sohn fest an sich. „Weißt du, dasselbe habe ich auch eben gedacht.“
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