F. Paul Wilson & Steve Lyon
Nacht
Inhaltsangabe Jake Nacht ist es gewohnt, Risiken einzugehen und keine Gefahr zu sch...
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F. Paul Wilson & Steve Lyon
Nacht
Inhaltsangabe Jake Nacht ist es gewohnt, Risiken einzugehen und keine Gefahr zu scheuen. Denn Jake ist Profikiller – der beste, obwohl er einem strengen Moralkodex folgt, der ihn trotz allem seine Menschlichkeit bewahren läßt. Ausgerechnet als Jake aus dem Geschäft aussteigen will und beschließt, daß sein jüngster Auftrag auch sein letzter sein soll, bekommt er es mit einem Gegner zu tun, gegen den selbst er machtlos ist: Verrat. Jake soll einem korrupten Politiker töten und kann nicht ahnen, daß seine eigenen Auftraggeber die Gelegenheit dazu benutzen wollen, ihn ans Messer zu liefern. Jake wird angeschossen und so schwer verletzt, daß er für den Rest seines Lebens gelähmt bleiben könnte. Doch da überredet ihn Dr. Joseph Graham, sich bei ihm in Behandlung zu geben. Graham ist auf Fälle von schweren Rückenmarksverletzungen spezialisiert, obwohl er seine Methoden bisher noch nicht an Menschen auszuprobieren wagte. Jake geht das Risiko schließlich ein und wird tatsächlich wieder gesund. Nun ist er nur noch von einem Gedanken besessen: sich an demjenigen zu rächen, der ihn verraten und beinahe für immer zum Krüppel gemacht hat…
Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel ›Nightkill‹ bei Forge, New York
Portobello Taschenbücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH
Einmalige Sonderausgabe Dezember 2002 Copyright © der Originalausgabe 1997 by F. Paul Wilson and Steven G. Spruill Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1998 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Redaktion: AB Alexander Groß Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schluck GmbH, 30827 Garbsen. Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagfoto: H. Steidle Druck: Eisnerdruck, Berlin Titelnummer: 55309 BH Herstellung: Lisa Weber Made in Germany ISBN 3-442-55309-1 1 3 5 7 9 10 8 6 4 2 Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Für die Angehörigen der Intensivstation unseres Krankenhauses, in deren Kreis wir diese Geschichte ausgekocht haben.
ERSTER TEIL BERUFSKILLER
1 Fredo August
J
ake hörte auf die übliche Weise von Fredo Papillardi – durch eine wie immer wortreiche Nachricht in Jakes Postschließfach in Atlantic City: »Fredo anrufen.« Jake rief also an. Aber diesmal durfte nicht er Zeit und Ort des Treffens bestimmen, wie es bisher üblich gewesen war; Fredo bestand auf nächsten Dienstag 16.00 Uhr als Zeitpunkt und verlangte als Ort einen Raum mit einem Fernsehgerät. Jake gefiel das nicht. Eine der Regeln – Sarges Regeln – lautete, daß man stets selbst die Bedingungen für ein Treffen festlegte. Aber Fredo blieb eisern, behauptete, es müsse so sein, sei ›absolut erforderlich‹, also gab Jake nach. Fredo drängte auf ein Hotelzimmer als Ort des Treffens, aber so weit ging Jakes Entgegenkommen nun auch wieder nicht. Er gab Fredo die Adresse eines Lokals an der Fairmount Street in Atlantic City. Leonardo's Bar & Grillie. Jake ließ sich von Ernie zwei Bier zapfen und setzte sich an einen der leeren Tische in einer dunklen Ecke. Hier war man fast unsichtbar. Leonardo's Bar war eine ausgesprochen schäbige Kneipe, einer der Gründe dafür, daß Jake sie mochte. Im Schankraum war es so dunkel, daß die Nachmittags-Stammgäste jedesmal wie Vampire zusammenzuckten und sich verschreckt abwendeten, wenn die Eingangstür aufging. Das Lokal war eines von hundert anderen, die es in dem Atlantic City gibt, das man auf Ansichtskarten nicht findet. AC war nicht Jakes Lieblingsstadt, aber es war die nächste zu seinem Haus am Bass River. Für ihn bestand AC grundsätzlich aus 2
zwei Städten. Zum einen aus dem neuen Atlantic City, das auf Ansichtskarten abgebildet wurde, zusammengedrängt am Ozean, mit den hohen, prächtigen Spielcasinos und den Plankenwegen der Strandpromenade, auf denen die Touristen flanierten. Zum anderen aus dem alten AC, das die Busse mit den Spielern auf dem Weg zu den Casinos durchqueren mußten – eine Stadt mit verdreckten, zerfallenen Bürgersteigen, leeren Geschäftsfronten, mutlos umherschlurfenden Bewohnern und alten, heruntergekommenen Gebäuden, die kaum einmal mehr als zwei Stockwerke hatten. Beirut an der Küste von New Jersey. Leonardo's Bar lag im zweiten AC, in einem Arbeiterviertel vier Blocks westlich von Trop World – in einer anderen Zeitzone, einem anderen Klima, einem anderen Land. Jake gefiel die Kneipe nicht nur wegen des schummrigen Dunkels, sondern auch, weil es hier nie sehr voll war, vor allem aber, weil Ernie einen selektiven Alzheimer entwickelte, wenn es darauf ankam – er kannte die detaillierte Statistik über jeden Spieler, der je das Baseball-Trikot der Phillies oder das Football-Trikot der Eagles getragen hatte, konnte sich aber an rein gar nichts erinnern, sofern es um einen seiner Gäste in der Kneipe ging. Wenn jemand versuchte, mit Ernie über seine Klientel zu sprechen, mußte er zu der Überzeugung kommen, die Kneipe sei Tag und Nacht völlig leer. Jake beobachtete, wie Fredo aus dem grellen Nachmittagslicht hereinkam, zunächst orientierungslos in der Düsternis stehenblieb, dann zur Bar taumelte, einer schwach beleuchteten Insel in der Dunkelheit. »Ich suche einen bestimmten Mann.« Ernie sah ihn feindselig an. »So 'ne Bar sind wir nicht, Süßer.« »Sehr witzig… Er heißt Jake.« »Ich kenn' keinen Jake.« Guter alter Ernie… »Hier bin ich«, meldete sich Jake, knipste sein Feuerzeug an und schwenkte es hin und her wie ein Fan bei einer Rockballade. Er ließ es brennen, bis Fredo den Weg zum Tisch gefunden hatte. 3
»Mein Gott, Jake, man meint ja, man wär' in 'ner verdammten Höhle.« »Deine Augen werden sich schnell anpassen.« »Hör mal, wir hatten doch abgemacht, daß ein Fernseher dasein muß.« »Drüben über der Theke ist einer.« »Ja, aber da läuft dieses verdammte Football-Spiel.« »Ich habe alles bereits arrangiert. Was wollen wir uns um vier denn angucken?« »Das Zielobjekt, wenn du weißt, was ich damit meine.« Jake dachte über diese Aussage nach. Vier Uhr war zu früh für die Nachrichten. Wer war dann also das Zielobjekt? Ein Gast in einer Talk-Show? Er starrte zu Fredo hinüber. Er wußte, daß Fredo dunkle Haare, dunkle Augen sowie eine olivbraune Gesichtsfarbe hatte und glänzende Schuhe, Tausend-Dollar-Sportmäntel und schweren Goldschmuck bevorzugte, aber alles, was er in der Dunkelheit ausmachen konnte, war das glatt zurückgekämmte Haar, die stämmige Gestalt und das Sporthemd, das er trug. Das schwache Licht von der Theke spiegelte sich in einer dicken Goldkette um seinen Hals. Fredo war ein gemachter Mann, und er war stolz darauf. Es hätte Jake nicht überrascht, wenn auf seinem Auto-Nummernschild Gangster-1 stehen würde. Jake andererseits achtete streng darauf, daß man ihn nicht für einen Gangster hielt. Sein Äußeres kam dem entgegen: hellblondes Haar mit einigen kaum sichtbaren grauen Strähnen, lange, gerade Nase, blaue Augen, spitzes Kinn, schlanke, drahtige Gestalt, Jeans, Sneakers, Baumwollhemd. Und keinerlei Gold. Keine Kette, nichts, in dem sich Licht widerspiegeln konnte. Er schob Fredo das zweite Bier hin. »Das ist für dich. Wir müssen ja noch ein paar Minuten warten.« »Gibt es denn keinen Wein hier?« »Welchen möchtest du denn?« »Einen Cabernet oder ein anderes gutes Tröpfchen.« »Ernest, mein Guter!« rief Jake, knipste wieder sein Feuerzeug an 4
und wedelte damit hin und her. »Eine Flasche von deinem besten Cabernet Sauvignon, wenn ich bitten darf!« Ernie lachte bellend und hielt den Stinkefinger deutlich sichtbar vor den Bildschirm des Fernsehers. Jake ließ das Feuerzeug ausgehen und schob das Bier noch dichter vor Fredo. »Du bleibst besser bei dem Bier.« Fredo trank einen Schluck und nickte zur Bar hinüber. »Der Typ da kommt mir nicht so vor, als würd' er auf deinen Wunsch hin um vier den Kanal wechseln.« »Ernie ist ganz in Ordnung«, sagte Jake und trank sein Bier aus. Es hätte kälter sein können und das Glas sauberer, aber egal, Bier ist Bier… Er schaute auf die alte Rheingold-Uhr hinter der Bar. Der Minutenzeiger erreichte gerade die Zwölf. Vier Uhr. »Welchen Kanal brauchen wir?« »Acht«, antwortete Fredo. »Bleib hier sitzen.« Jake stand auf, ging zum Tresen und hielt Ernie das leere Glas entgegen. »Noch so eins, und geh jetzt auf Kanal acht.« Ernie nickte, zapfte das Bier und hielt dann die Fernbedienung in Richtung Fernseher. Die Gäste an der Bar und den Tischen davor stießen wütende Schreie aus, als das Bild des Footballspiels verschwand. »Ich scheiß' auf euch alle«, knurrte Ernie. Die Rheingold-Uhr schien nachzugehen, denn die Show auf Kanal acht lief bereits. »Oprah?« wunderte sich Jake, als er zurück am Tisch war. »Du hättest mir sagen sollen, daß du Oprahs Talk-Show sehen willst. Könnte sein, daß es gleich einen Mordsaufstand hier gibt.« »Macht nichts – wenn er nur den Kanal erst wieder wechselt, wenn du den Typ gesehen hast.« »Ernie steht zu seinem Wort. Es sei denn, jemand überbietet den Zwanziger, den ich ihm in die Hand gedrückt habe, als ich reinkam.« Der ›Typ‹, Oprahs Gast, erschien auf dem Bildschirm. Ein vage 5
bekannter Apfel-Kopf auf einem Fettsack-Körper. Ein künstliches Haarteil, einem Kräuselteppich ähnlich, auf dem rotbackigen Kopf. Kein schlechtes Toupet – man mußte zwei- oder dreimal hinschauen, um zu erkennen, daß diese Löckchen nicht auf dem eigenen Mist gewachsen waren –, aber auch kein perfektes. Keinesfalls von der Qualität, wie sie Sinatra trug. »Ich geb's auf«, sagte Jake. »Wer ist das?« »Das da, mein Freund, ist Whiny. Ansonsten bekannt als Stanley Weingarten, Senator der Vereinigten Staaten von Amerika.« Jake verkniff es sich, Fredo zu erklären, daß er nicht sein Freund sei. Er dachte nach. Ein Senator. Sie wollten, daß er einen Senator umlegte… Dann fing der Mann an zu sprechen. O Gott, was für eine Stimme… Wie das Quietschen von Fingernägeln auf einer Schultafel. Als Fredo ihn Whiny genannt hatte, hatte Jake gedacht, es sei auf den Namen des Mannes bezogen. Jetzt aber, als er seine Stimme hörte, war ihm klar, daß der Spitzname auf seinen winselnden Tonfall zurückzuführen war. Und holte der Kerl denn niemals Luft? Oprah hatte ihm eine einfache Frage gestellt, und jetzt war er nicht mehr aufzuhalten. »…und ich bin mir bewußt, daß wir bessere, effizientere Wege zur Bekämpfung der Kriminalität beschreiten müssen, aber, Gott bewahre, wir dürfen es niemals zulassen, daß unser Land zum Polizeistaat wird.« Oprah schaltete sich sofort ein, als er nun doch einmal Luft holen mußte. »Wenn ich das richtig verstanden habe, sind Sie gegen das neue Abhörgesetz. Es wäre aber doch wichtig, daß wir herausfinden, worüber Drogendealer und die Leute vom Organisierten Verbrechen reden und was sie planen, oder?« Weingartens Stimme stieg noch um eine ganze Oktave an. »Natürlich ist das wichtig! Aber wenn wir dem FBI eine so große Machtfülle einräumen, sind dem Mißbrauch Tür und Tor geöffnet. Verbrechensbekämpfung ja, aber nicht auf Kosten des staatlichen Eindringens in die Privatsphäre unserer Bürger.« Er stieß einen dramatischen Seufzer aus. »Aber wissen Sie, ich frage mich manchmal, 6
ob es sich noch lohnt, für das Gute zu kämpfen.« Oprah sah ihn erstaunt an. »Nanu – ich kann nicht glauben, was Sie da gerade gesagt haben! Das war doch Stanley Weingartens Kampf in den vergangenen vierzehn Jahren!« »Es fällt mir ja selbst schwer, es zu glauben«, sagte Whiny. »Aber vielleicht ist es tatsächlich das, was unser Volk will. Manchmal denke ich, ich bin ein zum Aussterben verurteilter Dinosaurier. Vielleicht sollte ich beiseite treten und das Justizministerium machen lassen, was zum Teufel es machen will. Und dann später traurig den Kopf schütteln und den Verantwortlichen sagen: ›Ich habe ja von Anfang an darauf hingewiesen.‹« »Damit solltest du nicht rechnen, du Arschloch«, murmelte Fredo und wandte sich dann an Jake. »Genug gesehen?« Jake nickte und rief Ernie zu: »Danke, Ernie. Mehr können wir nicht verkraften. Schalt das Spiel wieder ein.« Erfreute Rufe der Zustimmung im Raum. »Was habt Ihr denn gegen den Mann?« fragte Jake. »Mr. C sagt, Whiny sollte sich aus der Politik zurückziehen, wenn du verstehst, was ich meine.« Mr. C war Bruno Caposa, seit zwanzig Jahren Chef der Lucanza-Familie – und Fredos Onkel. Was erklärte, warum Fredo, dessen gemeine Charakterzüge dazu neigten, seine Intelligenz zu überspielen, es zum Capo in der Organisation von Mr. C gebracht hatte. »Das verstehe ich. Warum?« »Wieso willst du das wissen? Bisher hast du es noch nie wissen wollen.« Das stimmte. Jake hatte im Verlauf der Jahre schon eine Reihe von Jobs für Mr. C erledigt, Jobs, die der Big Boß perfekt und ohne Verbindung zu seiner Organisation erledigt haben wollte. In der Folge dessen, was mit Gotti passiert war, legte Mr. C noch mehr Wert darauf, eine größere Distanz zwischen sich und der Drecksarbeit zu schaffen. Fredo hatte die meisten dieser Jobs arrangiert, und Jake hatte nie gefragt, warum er die Aufträge erledigen sollte. Weil ihn das nie interessiert hatte. Im Normalfall heuerte ihn ein Verbrecher 7
an, einen anderen Verbrecher umzulegen, und die Cops und Staatsanwälte zogen dann gegenüber der Öffentlichkeit eine große Show ab, aber hinter geschlossenen Türen beglückwünschten sie sich gegenseitig und strichen befriedigt einen weiteren Bösewicht aus ihren Listen. Dieser Fall aber war anders. »Diesmal will ich wissen, warum«, sagte Jake. »Es geht hier nicht um irgendeinen billigen Blödmann, nicht einmal um einen Konkurrenten. Es geht um einen US-Senator, den eine ganze Menge Leute in sein Amt gewählt haben, jemand, bei dem eine riesige Staubwolke aufgewirbelt wird, wenn er hopsgeht. Eine Staubwolke nicht nur in einer Stadt oder in einem unserer Staaten, sondern in den ganzen USA. Global sozusagen, Fredo, und deshalb will ich den Hintergrund wissen, und zwar im Detail.« »Okay«, sagte Fredo. »Ich erzähl's dir… Rund zwei Jahre, nachdem Whiny zum erstenmal in sein Amt gewählt worden war, drängten ein paar hartnäckige Südstaaten-Politiker auf den Erlaß dieses verdammten Gesetzes zur Verbrechensbekämpfung. So was taucht mit schöner Regelmäßigkeit auf, aber diesmal war es echt beängstigend. Es enthielt eine Menge Bestimmungen, die uns das Leben verdammt schwergemacht hätten. Ich kann dir sagen, uns ging der Arsch auf Grundeis, wenn du weißt, was ich sagen will. Ich meine, man hatte uns ja gerade diesen Schlag mit der beschissenen Legalisierung des Glücksspiels verpaßt.« Jake konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Spar dir das für die Glücksspiel-Kommission auf. Ich kann ja nichts dafür.« »Okay, natürlich… Wir haben zwar noch unsere Hand auf den Spielcasinos, aber es ist nicht mehr wie in den guten alten Tagen. Sicher, wir haben natürlich noch die Sportwetten und all so was, aber ich fürchte, irgendwann wird das ebenfalls legalisiert. Wir haben auch noch ein paar Lotterien, aber die staatlichen Lotterien haben uns ein dickes Stück aus dem Kuchen rausgebrochen. Wir können schließlich keinen Multimillionengewinn anbieten. Was bleibt uns da überhaupt noch? Drogen und Mädchen. Und ich sag dir, 8
Jake, seit dieser AIDS-Scheiße ist mit den Mädchen auch kein großer Profit mehr zu machen.« »Du brichst mir das Herz, Fredo.« »Nun, es herrscht jedenfalls ein wilder Konkurrenzkampf da draußen, Jake. Wie auch immer – dieser neue Senator Weingarten läßt uns damals über bestimmte Kanäle wissen, daß er an einem Gespräch mit hochrangigen Persönlichkeiten von unserer Seite interessiert ist, wenn du weißt, was ich sagen will. Botschaften gehen hin und her, und schließlich findet ein sehr geheimes Treffen mit einigen unserer Bosse statt. Whiny erklärt ihnen, daß er eine harte Opposition gegen alle Verbrechensbekämpfungs-Gesetze betreiben werde. Das Problem sei jedoch, daß damit erhebliche Ausgaben für den Betrieb seines Büros, für Reisen und für Sendezeit im Fernsehen, die er kaufen müsse, verbunden seien, und er habe nicht die Mittel, eine solche Kampagne erfolgversprechend zu finanzieren. Wären die Herren denn unter diesen Umständen nicht bereit, einen Beitrag zur Weingarten-Kriegskasse zu leisten?« Jake nickte anerkennend. Weingarten war kein Dummkopf. Er sprach nicht etwa irgendwelche Drohungen aus, betrieb kein Bezahlt-oder-ich-mach-euch-Ärger-Spielchen. Das wäre Erpressung gewesen und hätte ihm nur Schwierigkeiten eingebracht. Statt dessen sagte er: »Ich werde eine großangelegte Oppositionskampagne gegen eine Gesetzgebung aufziehen, die schädlich für euch ist, und ich brauche natürlich Geld, um sie wirkungsvoll betreiben zu können. Also, Ihr Säulen der Gesellschaft, wollt Ihr mich nicht dabei unterstützen?« Die Bosse konnten sich tatsächlich fast wie pflichtbewußte Staatsbürger fühlen, wenn sie zahlten… »Ich wette, sie haben tief in die Taschen gegriffen.« »Und wie«, bestätigte Fredo. »Sie haben sich fast überschlagen, ihren Beitrag zu leisten. Mein Onkel hat mir auch gesagt, wie Whiny es schafft, gewählt zu werden: Der Bursche kann einem Mann, der in Flammen steht, noch Streichhölzer andrehen. Und er würde das auch tatsächlich machen… Jedenfalls, der Deal kommt zustande, und Whiny macht seinen Job. Und macht ihn prima, Mann. 9
Er kriegt die Bürgerrechtsbewegung – die ACLU – auf seine Seite, dazu alle Gruppierungen, die sich für eine uneingeschränkte Meinungs- und Redefreiheit einsetzen, er bombardiert das Land mit Postwurfsendungen, in denen er die Leute auffordert, ihrem Kongreßabgeordneten Briefe in seinem Sinn zu schreiben, und er wendet sich an die Telefongesellschaften, deren Lobbyisten den Politikern bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Ohren vollquatschen.« Jake stieß einen leisen Pfiff aus. »Die ACLU, die Telefongesellschaften und die Mobster-Familien – das ist wahrlich eine unheilige Allianz.« »Aber sie ist erfolgreich. Der Druck von innen und von außen hat dazu geführt, daß das Gesetz zu Fall gebracht worden ist.« »Und ihr habt euch seitdem den guten Senator warmgehalten?« »So ist es. Er ist nicht nur ein Mitspieler in unserem Team, er gibt uns auch Namen von anderen Politikern, die gern die Hand aufhalten, und ich kann dir sagen, es gibt in unserem Land eine ganze Scheißgrube voll davon. Aber Whiny kriegt den Löwenanteil. Mann, ich würd' gern an sein Schweizer Nummernkonto rankommen. Ich würd' sofort in Pension gehen.« »Und jetzt kriegt er den Rachen nicht voll und will immer mehr haben?« »Sagen wir mal so – er wird unvernünftig. Er will mehr, und wir sind auch bereit, ihm mehr zu geben, aber nicht sofort. Die Familien sind im Moment ein bißchen in den Arsch gekniffen, verstehst du? Castellano hat's erwischt, Gotti hat die Himmelfahrt angetreten, die Luchese-Familie ist zerstritten. Meine Familie ist die einzige weit und breit, die noch intakt ist. Mein Onkel hat Whiny gesagt, er kriegt, was er haben will, aber er muß ein bißchen Geduld haben, warten, bis wieder normale Verhältnisse eingetreten sind. Und was macht Whiny? Er zieht solche verdammten Shows ab wie eben.« Fredo deutete mit dem Daumen auf das Fernsehgerät. »Fängt an zu quasseln, wie müde er in seinem Kampf geworden ist, daß er vielleicht besser seine Opposition ›gegen den offensichtlichen Willen des Volkes‹ aufgeben sollte. Die Politiker von der ›Recht-und-Ordnung-Fraktion‹ 10
hören das mit Freude und fangen schon wieder an, ihre scharfen Gesetzesvorlagen aus den Schubladen zu holen. Dieser verdammte fette Hurensohn…« Richtig, dachte Jake. Whiny steigt aus, und die Opposition verliert ihren Dirigenten. Die Jungs vom Mob könnten in große Schwierigkeiten geraten… »Was bringt es denn, wenn er aus dem Verkehr gezogen wird?« fragte Jake. Er hatte eine Vorstellung, aber er wollte hören, was Fredo dazu zu sagen hatte. »Erstens, es bringt ihn endgültig zum Schweigen. Und es macht ihn zum … zum… Wie heißen diese Christen-Typen noch mal, die man in den alten Zeiten den Löwen zum Fraß vorgeworfen hat?« »Märtyrer.« »Richtig. Whiny, der verdammte Märtyrer… Und wir sorgen dafür, daß es einem Waffennarren in die Schuhe geschoben wird.« »Warum einem Waffennarren?« »Warum nicht? Alle reden ja von einer strengeren Kontrolle des Schußwaffenbesitzes, nicht in erster Linie von den Dingen, die uns das Leben echt schwermachen könnten. Mann, ich liebe die Einschränkung des Waffenbesitzes. Zu viele Leute laufen mit Schußwaffen rum. Verstehst du, was ich meine? Wir sollten die einzigen sein, die Waffen haben.« Jake nickte. Wenn der tote Märtyrer Senator Weingarten der Öffentlichkeit richtig präsentiert wurde, konnte er für die Gangster wichtiger sein als zu seinen Lebzeiten. Fredo lehnte sich vor. »Aber der Job muß richtig ablaufen, wenn du verstehst, was ich damit sagen will.« Jake zuckte zusammen, versteifte sich. »Ich hoffe, du willst damit nicht sagen, daß ihr den Ort und die Zeit dafür festlegen wollt. Wenn es nämlich so sein sollte, spiele ich nicht mit.« »Nein, nein, hör zu, Jake… Whiny hat Ende nächsten Monats bei einer ›Kampagne für die Redefreiheit‹ einen großen Auftritt in New York City. Mr. C sagt, es müsse bei diesem Anlaß passieren. Und er ist bereit, dir dafür einen dicken Bonus zu zahlen.« 11
Sarges Regel Nummer zwei: Laß niemals einen anderen den Ort und die Zeit für einen Hit festlegen. Niemals… Hit – so hatte Sarge die Ausführung eines Jobs immer genannt. Nicht ›Kill‹ oder ›Mord‹. »Kommt nicht in Frage«, sagte Jake.
2 Sarge (I)
S
ein Name war Herbert Nacht, aber er wollte nur Sarge genannt werden. Bestand darauf. Er trug keine Drillichkleidung oder Kampfstiefel, aber man erkannte auf den ersten Blick, daß er längere Zeit Militärdienst geleistet hatte. Kräftige Gestalt, Stiernacken, rotes Haar im Bürstenschnitt und hellblaue Augen. Sarge… Jake war vierzehn, als die Jugendfürsorge ihn bei den Nachts unterbrachte – seine vierte Pflegefamilie in ebenso vielen Jahren. Die Nachts waren beide Anfang Vierzig; Sarge groß, gutmütigderb und schnell für ein Lächeln zu haben, Mrs. Nacht eher reserviert, vielleicht sogar auf Abstand bedacht, aber nie unfreundlich. Sie saß meistens irgendwo im Haus herum und rauchte ihre filterlosen Zigaretten. Und hustete. Die Nachts wohnten in einem Fünfzimmer-Haus an einem Fluß im Atlantic County, New Jersey. In der ganzen Siedlung gab es nur eine Handvoll Bewohner, die das ganze Jahr dort lebten. Die meisten der anderen Häuser wurden nur im Sommer bewohnt und standen vom Labor Day Anfang September bis zum Memorial Day Ende Mai leer. Eine sehr ruhige Nachbarschaft. 12
Die meisten seiner früheren Pflegeväter – eine scheinbar endlose Reihe in der Endlosigkeit seiner Kindheit – hatten seine Existenz kaum wahrgenommen, so daß es Jake fast wie ein Schock traf, als Sarge mit ihm redete wie mit einem anderen menschlichen Wesen und ihm sogar einen Teil seiner Zeit widmete. Der größte Teil dieser Zeit bestand darin, daß er Jake das Schießen beibrachte. Jake war erst eine Woche bei den Nachts, als Sarge ihn mit auf einen Ausflug nahm. Als Sarge mit einem Gewehr in einer Transporttasche aus seinem Schlafzimmer gekommen war, hatte Jake gedacht, sie gingen auf die Jagd. Als Sarge ihm eine kleinere, kompaktere Tasche in die Hand drückte, war sich Jake dessen sicher gewesen. »Hier, mein Sohn, nimm das da. Aber sei vorsichtig. Du willst sicher nicht, daß es kaputtgeht.« Sohn… Bei diesem Wort wurde es Jake warm ums Herz. Alle anderen Pflegeväter hatten ›Junge‹ oder ›Kid‹ zu ihm gesagt. Sarge fuhr mit ihm hinaus in die Einsamkeit – in die nur dünn besiedelten zweitausend Quadratmeilen Wald, die New Jersey Pine Barrens genannt werden. Die Fahrt dauerte sehr lange. »Dieser Platz hier ist so gut wie jeder andere«, sagte Sarge schließlich und hielt den alten Army-Jeep an. Jake hob die Schultern. Dieser Ort am Rand des Weges sah nicht anders aus als die tausend anderen, an denen sie in der letzten Stunde vorbeigekommen waren. Sarge stieg aus und drehte sich, die Hände auf die Hüften gestützt, dem Wald zu. »Eine Million Hektar menschenleeres Waldgelände, Jake. Fast menschenleer jedenfalls…« Jake stieg auf der anderen Wagenseite aus und schaute sich um. Kiefernbäume überall – vor ihm, hinter ihm, so dicht an den Weg gedrängt, als ob sie sich darauf fortbewegen wollten, über die Fahrspur gebeugt, als seien sie Zuschauer bei einem Unfall. Keine hoch aufragenden Kiefern; kein Hauch von Majestät in diesen kümmerlichen, knorrigen, höchstens sieben bis zehn Meter hohen Bäumen mit den müde herabhängenden, krummen Ästen und den flek13
kigen Nadeln. Sie verdeckten fast die beiden sandigen Radspuren, die sich in beide Richtungen erstreckten und in dieser Gegend hochtrabend als ›Weg‹ bezeichnet wurden. Wenn es hier Hügel, Täler, Seen oder Bäche gab, waren sie für Jake nicht sichtbar. Nur die Kiefern. Kümmerling-Kiefern, wie Sarge sie nannte. Jake nannte sie Grusel-Kiefern. Die ganze Gegend kam ihm gruselig vor. Vor allem die Stille. »Komm, wir gehen da drüben hin«, sagte Sarge und nahm die Gewehrtasche aus dem Jeep. »Bleib immer dicht bei mir«, sagte er über die Schulter. »Komm ja nicht auf die Idee, allein hier rumzulaufen.« »Warum nicht?« fragte Jake und unterdrückte ein Lächeln. Würde sonst der Jersey-Teufel kommen und ihn auffressen? »Du könntest dich verirren. Es kommt jedes Jahr ein paarmal vor, daß Jäger in die Wälder gehen und nie wiedergesehen werden. Und ich meine nicht, lebend wiedergesehen werden, ich meine, überhaupt nie wiedergesehen werden. Punkt.« Das Gruselgefühl bei Jake vertiefte sich. »Was passiert denn mit ihnen?« »Wer weiß das schon? Verirren sich höchstwahrscheinlich. Und es sind meistens erfahrene Jäger und Spurenleser. Ich sage dir, Sohn, wenn du hier in den Pine Barrens die Orientierung verlierst, kannst du tagelang umherirren, ohne auf ein anderes menschliches Wesen zu stoßen. Es gibt hier sogar Gegenden, in denen noch nie ein Mensch gewesen ist, das kannst du mir glauben. Und was diese Jäger angeht – sie verhungern wahrscheinlich.« Jake blieb dicht bei Sarge, als sie in den Wald gingen. Aber nicht zu dicht. Je mehr Jake über diese Situation nachdachte, um so weniger gefiel sie ihm. Hier draußen konnte alles mögliche mit ihm passieren – wirklich alles. Und wer würde es je merken? Die Jugendfürsorge sollte alle Pflegefamilien im Auge behalten, aber oft war sie in dieser Hinsicht sehr nachlässig. Er hatte Horrorgeschichten über Jungen gehört, die von ihren Pflegevätern mißbraucht worden waren. Jake schloß die Finger um sein Taschenmesser in den Jeans. Ihm würde das nicht passieren… 14
Bis jetzt hatte er Glück gehabt, wie er meinte. In all den Waisenhäusern, die er hinter sich hatte – er kriegte nicht mehr zusammen, wie viele es gewesen waren –, hatte ihn bisher niemand geschlagen oder an ihm rumgegrapscht. Er war in Waisenhäusern gewesen, solange er zurückdenken konnte. Niemand schien zu wissen, wer seine Eltern waren, und Jake hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich Gedanken darüber zu machen. Zumindest hatte man ihn nicht zur Arbeit auf eine Farm gesteckt oder zu anderen Ausbeutern. Er wollte keinen Ärger haben und gab sich deshalb Mühe, auch keinen zu verursachen; er hatte lernen müssen, daß er keine Liebe oder Freundlichkeiten erwarten durfte, und so vermißte er sie auch nicht, wenn er sie bei neuen Pflegeeltern nicht erfuhr. Er hatte gelernt, niemandem gegenüber Gefühle zu entwickeln, wußte vor allem, daß er keine Bindungen eingehen durfte, denn früher oder später – meist früher, wenn ihn seine bisherigen Erfahrungen nicht trogen – würden diese Menschen aus seinem Leben verschwinden, da man ihn mal wieder zu anderen abschob. Also schottete er sich gegen die Menschen ab. Alles, was er wollte, war ein Dach über dem Kopf, ein Bett zum Schlafen und genug Nahrung, um sich über Wasser zu halten, bis er sechzehn wurde. Dann konnte er endlich von diesem Waisenhaus-Pflegeeltern-Karussell abspringen und sich auf die eigenen Füße stellen. Adoption? Kann man vergessen… Als armes Waisenkind in der Donna Reed Show oder bei Leave It to Beaver zur Adoption angepriesen zu werden und dann unter die Fittiche der Familie Smith oder Brown zu kommen, ihren Familiennamen tragen zu dürfen, freundlich behandelt, mit bester Hausmannskost verpflegt und mit einem Küßchen auf die Stirn ins Bett gebracht zu werden – was für ein Witz! Diesen Traum hatte er sich schon so lange abgeschminkt, daß er schon gar nicht mehr wußte, daß er ihn überhaupt jemals geträumt hatte. Kaum zu fassen, daß er als kleines Dummköpfchen tatsächlich mal geglaubt hatte, der Traum könnte eines Tages wahr werden – und daß er trotz der häufigen Wechsel von einem Waisenhaus ins andere daran festgehalten hatte. Und außerdem war er inzwischen 15
vierzehn. Kein Mensch adoptierte noch acht Jahre alte Kinder, geschweige denn vierzehnjährige. Sarge blieb am Ufer eines Flusses stehen, der die Farbe von Eistee hatte. »Laß dich von der Farbe nicht irritieren, wenn du mal durstig bist«, sagte Sarge. »Das ist Zedern-Wasser. Du findest kein Wasser, das sauberer ist.« Er nahm Jake die kleine Transporttasche aus der Hand und holte ein kurzes, schweres Fernrohr heraus. Er montierte es auf ein Dreibein und drehte es hin und her, bis er gefunden hatte, was er suchte. Dann winkte er Jake zu sich. »Das da ist ein Beobachtungsfernrohr. Schau mal durch.« Jake legte das Auge an die Linse und zuckte zurück, als der Ast eines Baumes rund dreihundert Meter flußaufwärts auf ihn zuzuspringen schien. »Wow!« »Ja, interessant, nicht wahr? Schau dir jetzt mal die kleineren unteren Zweige genauer an, Sohn. Was siehst du da?« Jake ließ das Auge nicht vom Fernrohr. »Einen Kiefernzapfen«, sagte er. »Richtig. Behalte den jetzt mal im Auge.« Jake tat es, konnte aber nicht widerstehen, einen kurzen Seitenblick auf Sarge zu werfen. Der zog das Gewehr aus der Transporttasche, setzte ein Zielfernrohr auf, hockte sich mit untergeschlagenen Beinen auf die Erde, schlang den Gewehrriemen um den Ellbogen und visierte das Ziel an. Jake wußte, was jetzt kam, während er den Kiefernzapfen im Auge behielt, aber er zuckte doch gewaltig zusammen, als der Schuß ertönte. Er sah gerade noch, wie der Zapfen in Stücke zerfetzt wurde. »Wow!« Der Rest seines Vokabulars – bis auf anerkennende Flüche, die er im Beisein Sarges aber nicht zu benutzen wagte – war ihm abhanden gekommen. Er brachte jedenfalls nur das eine Wort heraus. »Wow!« 16
Sarge grinste ihn an. »Das verdanke ich dem Marinekorps der Vereinigten Staaten… Jetzt schieße ich noch den Zweig ab, an dem der Zapfen hing.« Sarge nahm das Gewehr wieder auf, und Jake starrte durch das Fernrohr auf den Zweig. Es knallte, und der Stumpf des Zweiges zerfetzte. »Das ist toll!« brachte Jake diesmal heraus. »Kannst du mir das auch beibringen?« Sarges Grinsen wurde noch breiter. »Ich hatte gehofft, daß du mich das fragen würdest.« Am nächsten Morgen führte Sarge Jake zu einem neben dem Schlafzimmer gelegenen überdimensionierten Wandschrank, fast so groß wie ein fensterloses Zimmer, und zeigte ihm seine Gewehrsammlung. Er schob Jake vor eine Glasvitrine an der Wand. »Schau dir dieses Baby an«, sagte er und zeigte auf das Gewehr hinter der Scheibe. »Das ist ein Garand-MiC mit einem Lyman-Alaskan-Jagdzielfernrohr. 1942 haben die Marines mir das Schießen damit beigebracht, und ich habe alles getroffen, was ich durch das Zielfernrohr sehen konnte. Nicht das beste Gewehr der Welt, aber verdammt wirkungsvoll, das kann ich dir sagen. Ich habe gute Arbeit damit geleistet.« »Hast du damit auch Menschen erschossen?« fragte Jake. Er hatte noch nie jemanden getroffen, der schon mal einen anderen Menschen umgebracht hatte. »Wie … wie viele hast du…?« »Mach dir darüber mal keine Gedanken«, antwortete Sarge. »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für Geschichten aus dem Krieg.« Er nahm ein Gewehr mit dünnem Lauf und glänzendem Kolben aus einem der Gewehrständer, wog es in der Hand und hielt es dann Jake hin. »Hier. Das ist für dich. Zum Üben.« Jake zögerte, dachte, Sarge würde sich einen Scherz mit ihm erlauben. Als er aber sah, daß Sarge es ernst meinte, nahm er das Ge17
wehr entgegen wie ein Priester den Abendmahlkelch. »Eine Kanone? Für mich?« »Ein Gewehr, Jake. Sag nie wieder Kanone zu einem Gewehr, zumindest nicht in meiner Gegenwart. Es ist ein Gewehr, in der Umgangssprache eventuell auch eine ›Knarre‹, aber niemals eine ›Kanone‹. Schnoddrige Typen sagen oft Kanone zu einer Pistole oder einem Revolver, aber zu einem Gewehr sagt man es niemals, verstanden? Das hier ist ein Ruger-77, Kaliber 5,6 mm Langpatrone, Einzellader, Repetierverschluß. Du wirst lernen, damit zu schießen, du wirst lernen, es blind auseinanderzunehmen und zusammenzusetzen, und du wirst lernen, es zu reinigen. Und du wirst es nach jedem Gebrauch reinigen. Du wirst es behandeln, als wäre es dein Eigentum. Du wirst dafür verantwortlich sein. Wenn du dieses Gewehr nicht ordentlich behandelst, fliegst du raus aus meinem Haus. Kapiert?« Jake nickte ehrfürchtig, wog das Gewicht des Gewehrs in der Hand, spürte den leichten Ölfilm auf dem glatten Schaft, sah die Reflexion des Neonlichts an der Decke auf dem blau-schwarzen Ölfilm des langen Laufs. Das ist für dich zum Üben. Ich bin tot und in den Himmel gekommen, ging es ihm durch den Kopf. »Wann darf ich damit schießen?« fragte er, hatte nur Augen für das Gewehr, sah nicht hoch. Als Sarge nicht sofort antwortete, zwang sich Jake, den Blick von dem Ruger loszureißen und Sarge nun doch anzusehen. Der starrte mit einem abwesenden Blick auf ihn herunter, als ob er eine jüngere Version von sich selbst vor sich hätte und an den Moment zurückdenken würde, als er sein erstes Gewehr bekommen hatte. Schließlich grinste er. »Wir fangen heute noch an. Steck das Gewehr in eine der Transporttaschen da drüben in der Ecke, und los geht's…«
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Wieder ein Ausflug in die Pine Barrens, diesmal aber kürzer. Sarge hielt den Jeep am Rand einer kleinen Lichtung an und deutete auf einen umgestürzten Baum. »Da drüben ist ein guter Platz.« Er holte eine Decke vom Rücksitz und führte Jake auf die Lichtung, wo er die Decke auf der sandigen Erde ausbreitete. »Wozu ist das denn gut?« fragte Jake. »Um dein Messing aufzufangen.« »Messing?« »Die leeren Geschoßhülsen. Eine meiner Regeln lautet, niemals Hülsen liegenzulassen. Niemals.« Das war die erste von vielen Regeln, die Sarge im Lauf der Zeit an Jake weitergeben und ihm einbleuen würde. Jake prägte sich alle gut ein. Sarge befahl Jake, sich auf die Decke zu setzen und zeigte ihm dann, wie man das Gewehr lud, wie man den Riemen nach militärischer Art um den linken Ellbogen schlang, um das Gewehr zu stabilisieren, wie man das Ziel über Kimme und Korn anvisierte – Sarge versprach Jake ein Zielfernrohr, wenn er die Grundtechnik beherrschte – und wie man den Abzug langsam durchdrückte, statt ihn ruckartig durchzureißen. Für den ersten Schuß ließ Sarge es zu, daß Jake den Vorderschaft auf dem umgestürzten Baumstamm auflegte. »Als erstes mußt du lernen, wie die Zielvorrichtung funktioniert. Später wenden wir uns dann den verschiedenen Schußpositionen und dem jeweils damit verbundenen Stabilisieren des Gewehrs zu. Jetzt aber suchst du dir einfach mal einen Kiefernzapfen an dem Baum da drüben aus und versuchst ihn zu treffen.« Jake spürte, daß seine Hände zitterten. Seine feuchten Hände rutschten am Kolben ab. Der Augenblick war gekommen, auf den er während Sarges schier endlosen Erklärungen und Übungen mit leerem Patronenlager so ungeduldig gewartet hatte. Diesmal war das Gewehr geladen. Es wurde ernst. Er suchte sich den größten Zapfen an dem zugewiesenen Baum aus, brachte Kimme und Korn in Über19
einstimmung, wie Sarge es ihm gezeigt hatte – und drückte ab. Daneben. Verdammt! Er verkrampfte, wartete darauf, daß Sarge ihn anbrüllte. Aber die Stimme neben ihm blieb ganz ruhig. »Worauf wartest du, Sohn? Versuch's noch mal.« Jake schob eine neue Patrone ins Patronenlager, lud durch, visierte den Zapfen wieder an, drückte ab. Und traf wieder nicht. Doppelt verdammt! Aber immer noch kein Schimpfen, kein Tadel von Sarge. »Du reißt den Abzug durch, statt ihn langsam durchzudrücken, wie ich es dir gesagt habe. Drück ihn ganz langsam durch. So langsam, daß der Schuß für dich genauso überraschend kommt wie für mich.« Jake lud nach, legte die Wange wieder an den Kolben, visierte den Zapfen an und zog den Abzug so langsam durch, wie es nur ging, mit einer so quälenden Langsamkeit, daß er schon meinte, der Schuß würde niemals losgehen. Und dann dröhnte er doch, und der Zapfen zerplatzte, war plötzlich verschwunden. »Ich hab's geschafft!« flüsterte Jake vor sich hin. »Ich hab's tatsächlich geschafft!« Sarge klopfte ihm anerkennend auf den Rücken. »Okay. Du hast soeben deinen ersten Kiefernzapfen erledigt. Und jetzt müssen noch mehr dran glauben. Viel mehr. Hab keine Hemmungen. Eines ist so sicher wie das Feuer in der Hölle – wir haben hier draußen keinen Mangel an Kiefernzapfen.« Sarge nahm Jake bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit zum Schießen, an Nachmittagen nach der Schule, am frühen Morgen an Wochenenden und während der Sommerferien. Ausnahmen gab es nur an Regentagen und dann, wenn Sarge zu Geschäften weg mußte. Jake hatte keine Ahnung, was das für Geschäfte waren; tatsächlich war Sarge weitaus öfter zu Hause als unterwegs. Dennoch – selbst 20
wenn Sarge nur einen oder zwei Tage abwesend war, zählte Jake die Stunden bis zu seiner Rückkehr. Schießen war nicht alles, was Sarge ihm beibrachte. An Regentagen mußte er das Auseinandernehmen und Zusammensetzen seines Ruger 77 üben und das Gewehr reinigen. Als er das aus dem Effeff beherrschte, erteilte Sarge ihm Unterricht an allen anderen Gewehren im Waffenraum und lehrte ihn, sie auseinanderzunehmen und zusammenzusetzen. Regentage waren auch Gelegenheiten, neue Patronen herzustellen. Sarge zeigte Jake, wie man gebrauchte Patronenhülsen wiederverwenden konnte, wie man die Pulverladung in die Hülsen nachfüllte, neue Zündhütchen einsetzte und die Geschosse, maßgeschneidert für die verschiedensten Zwecke, aufsetzte. Und mit der Zeit wurde Jake ein Meisterschütze. Tatsächlich ein so guter, daß das Schießen auf Kiefernzapfen langweilig wurde. Und das brachte Jake in gewisse Schwierigkeiten. Es passierte, als sie an einem kalten Tag nach der Schule auf einer neuen Lichtung in den Pine Barrens waren. Jake saß in Schußposition auf der Erde, den Gewehrriemen um den linken Arm geschlungen, die Ellbogen auf den Knien. Sarge suchte gerade weitere Zapfen aus, auf die Jake schießen sollte. Plötzlich tauchte ein kleines graues Tier mit buschigem Schwanz auf. Ein Eichhörnchen. Der Winter stand vor der Tür, und das Tier meinte wohl, auf eine Goldader gestoßen zu sein, als es die vielen Stücke zerfetzter Kiefernzapfen auf dem Boden liegen sah. Jake beobachtete, wie es hinter einen Busch schlüpfte, dann auf einen Baumstumpf zu hoppelte und dort genüßlich an etwas knabberte, das es zwischen den Vorderpfoten hielt. Ohne Sarge etwas zu sagen, schwang Jake den Gewehrlauf nach links, zielte kurz und drückte ab. Das Eichhörnchen kippte um und fiel vom Baumstumpf auf die Erde. »Getroffen!« »Was getroffen?« fragte Sarge und sah ihn an. »Ein Eichhörnchen!« Jake platzte fast vor Stolz. »Es saß da drüben auf dem Baumstumpf. Ich hab's runtergeschossen!« »Du hast ein Eichhörnchen erschossen?« 21
Etwas in Sarges Stimme, in seinen Augen, dämpfte Jakes Freude ein wenig. »Ja. Mit einem Schnellschuß. Wie du es mir gezeigt hast.« Sarge streckte ihm die Hand entgegen. »Zeig es mir.« »Was? Wie meinst du das?« »Gib mir das Gewehr und hol das Tier her. Zeig mir das Eichhörnchen, das du getötet hast.« Jake übergab ihm das Gewehr und ging zu dem Baumstumpf. Das Eichhörnchen lag dahinter auf dem Rücken. Sein linkes Hinterteil war von dem Geschoß zerfetzt worden. Der Beinstummel zuckte noch. Blut lief unter dem schlaff daliegenden Schwanz zu einer Lache zusammen. Es war tot, aber seine schwarzen Knopfaugen starrten Jake an. Jakes Stolz war nicht mehr so groß wie noch vor einer Minute – aber er hatte ja nichts falsch gemacht. Er hatte das Eichhörnchen schließlich getroffen. Er atmete tief durch, nahm das Tier an dem blutdurchtränkten Schwanz hoch und trug es zu Sarge hinüber. »Ich habe dir ja gesagt, daß ich es getroffen habe«, sagte er und hielt seine Beute hoch. »Das hast du tatsächlich«, sagte Sarge, aber er lächelte nicht. »Und nun sag mir mal, warum du das Tier erschossen hast.« »Na ja, es war plötzlich da, und ich wollte wissen, ob ich es erwischen kann, ehe es wieder wegläuft.« »Das hast du tatsächlich geschafft«, sagte Sarge. »Aber du überraschst mich, Jake. Ich hätte nicht gedacht, daß du ein Eichhörnchen-Fresser bist.« »Ein Eichhörnchen-Fresser? Wovon sprichst du denn da?« »Hier draußen in den Wäldern töten wir nur Tiere, wenn wir sie anschließend auch aufessen.« »Aber ich bin kein Eichhörnchen-Fresser…« »Doch, das bist du jetzt, Sohn.« Sarge nahm das Tier und steckte es in eine Plastiktüte. »Das bist du jetzt.«
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Trotz Jakes Protesten bestand Sarge darauf, daß er das Eichhörnchen zum Braten vorbereitete, wies ihn an, wie man es abzog und ausweidete. Und während der ganzen Zeit starrten diese schwarzen Knopfaugen Jake an, machten ihn krank. Schließlich griff Sarge ein und schnitt das blutige Fleisch vom Körper und von dem verbliebenen Bein des Eichhörnchens. Er brachte es zu Mrs. Nacht in die Küche, während Jake sich das Blut von den Händen wusch und versuchte, es unter den Fingernägeln herauszukratzen. Und vor allem versuchte, nicht an das bevorstehende Abendessen zu denken. Es gab Maiskolben, grüne Bohnen und Kartoffelbrei zum Abendessen – und Fleisch. Steak für Sarge und Mrs. Nacht, und für Jake … etwas anderes. Bräunliche, zerfaserte Bratenstreifen. »Ich werde das nicht essen«, sagte Jake. »Du wirst es essen«, knurrte Sarge, und in seiner Stimme lag eine eiserne Härte, die Jake vorher noch nie bei ihm gehört hatte. »Du hast ein Tier getötet, also wirst du es auch essen – so lautet nun mal die Regel hier bei uns.« Jake starrte auf seinen Teller, sah aber nichts als diese schwarzen Knopfaugen. Dann schaute er Mrs. Nacht an, hoffte auf ein wenig Hilfe, aber sie war voll damit beschäftigt, ihr Steak in Stücke zu schneiden, während eine Zigarette im Aschenbecher neben ihrem Ellbogen vor sich hinqualmte. »Ich kann nicht!« »Du wirst es essen – oder ich schmeiß' dich raus. Du bist der vierte Junge innerhalb von zwei Jahren bei uns, und du bist der erste, der Talent beim Schießen hat, aber wenn du diesen Teller nicht leer ißt, trete ich dir in den Arsch und gebe dich an die Fürsorge zurück, und zwar gleich morgen früh.« Soweit Jake zurückdenken konnte, war es das erste Mal, daß er am liebsten losgeheult hätte. Aber er unterdrückte das Wimmern in seiner Kehle, nahm die Gabel in die Hand, steckte sie in einen der Fleischstreifen und schob ihn in den Mund. Er versuchte den Brocken herunterzuschlucken, ohne darauf herumzukauen, aber er war zu groß. Er mußte hineinbeißen, ihn zerkleinern. Das Fleisch 23
war weich und klebrig, hatte keinen besonderen Geschmack. Es war einfach da. Er schluckte den Brocken nicht herunter, schob einen nächsten in den Mund, dann noch einen und noch einen und noch einen, bis das ganze gebratene Eichhörnchenfleisch zwischen seinen Kiefern und in den Backentaschen steckte, und er kaute und kaute mit geschlossenen Augen, spürte die Knorpel und das Fett und das weiche Fleisch zwischen den Zähnen, und schließlich blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als das Zeug runterzuschlucken, aber es war so viel, und er hätte es am liebsten ausgespuckt, wagte es aber nicht, und so würgte er den fetten Brei mit einer einzigen langen Kraftanstrengung hinunter. Dann saß er keuchend und schwitzend da. »Na also«, sagte Sarge, und ein Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Ich wußte doch, daß du es schaffst. Du mußt es mal positiv sehen. Es hätte ja auch ein Stinktier sein können.« Das war zuviel für Jake. Sein Magen revoltierte, und er sprang auf, rannte vom Tisch weg. Zum Badezimmer war es zu weit, also stürzte er durch die Hintertür auf die Veranda, beugte sich über das Geländer und würgte das Eichhörnchenfleisch heraus. Beim Hochsteigen schmeckte das Zeug noch ekliger als beim Runterschlucken, und so übergab er sich, bis ihm der Brustkorb schmerzte, die Innereien brannten und der Magen völlig leer war. Als er schließlich nur noch keuchend über dem Geländer hing, hörte er, daß Sarge auf die Veranda kam und hinter ihm stehenblieb. »Ich hoffe, du hast heute etwas gelernt«, sagte Sarge sanft. Jake sagte nichts, drehte sich nicht um. »Schießen macht Spaß«, fuhr Sarge fort. »Viel Spaß sogar. Aber das Töten eines Lebewesens ist eine sehr ernste Sache. Dieses Gewehr gibt dir Macht – die Macht über Leben und Tod jedes Lebewesens in deinem Visier. Diese Macht darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wenn du tötest, mußt du immer einen Grund dafür haben. Ist das klar, Jake?« Jake nickte, drehte sich aber immer noch nicht um. Er hörte, daß Sarge näher kam, spürte eine sanfte Hand auf sei24
ner Schulter. »Du hast Talent, Jake. Du bist ein echtes Naturtalent. Ich habe es dir nicht gesagt, aber das war ein großartiger Schnellschuß auf dieses Eichhörnchen. Bei weiterer Übung und Hingabe an die Sache kannst du einer der besten Schützen werden, die mir je begegnet sind. Aber du mußt bestimmte Regeln einhalten. Und vor allem diese Regel darfst du nie außer acht lassen: Töte niemals ohne Grund. Niemals. Wenn du das beachtest, werde ich weiter mit dir arbeiten, bis wir beide genug davon haben. Was sagst du dazu?« Jetzt drehte sich Jake um und sah Sarge an. Sah, daß der Mann ihm die Hand entgegenstreckte. »Abgemacht?« fragte Sarge. Jake schlug ein, und sie schüttelten sich die Hände. »Abgemacht«, krächzte Jake. Mehr brachte er nicht heraus. Er war emotional so aufgewühlt wie noch nie in seinem Leben. Er erkannte, daß er diesen Mann mit Namen Sarge liebte… Er hatte schließlich doch einen Vater gefunden.
3 Bernie
J
akes Aussage »Kommt nicht in Frage« wurde schließlich doch zu einem »Okay« Mr. C gegenüber; denn der war schließlich ein Mann, dessen Angebote man nicht ohne weiteres ausschlagen konnte. Und so war Jake einen Monat nach dem Treffen bei Leonardo auf dem Garden State Parkway auf dem Weg nach Norden. Sein Ziel war Manhattan. Während der Fahrt hörte er sich den Wetterbericht im Radio an. 25
Ein ausgedehntes Hochdruckgebiet zog aus Kanada heran. Ein klares, sonniges Wochenende mit weniger Luftfeuchtigkeit als sonst stand bevor. Es zeichnete sich ab, daß der Sonntag zu einem der zehn schönsten Tage des Jahres werden konnte. Jake lächelte. Wenn der Wetterfrosch im Radio recht behielt, würde übermorgen ein schöner Tag für einen Hit sein. Es hatte einige Zeit gedauert – tatsächlich mehrere Wochen –, bis Mr. C und Jake sich geeinigt hatten. Jake würde den Senator bei seinem Auftritt in New York im Rahmen der ›Redefreiheits-Kampagne‹ wie verlangt umlegen, aber es würde Mr. C eine glatte Million Dollar kosten – die Hälfte im voraus, die andere Hälfte, nachdem der Senator offiziell als ›gefallen im Kampf für die bürgerlichen Freiheiten‹ in die Annalen eingegangen war. Whiny war nicht der einzige mit einem Nummernkonto in der Schweiz… Und Jake wußte, er würde sein Konto strapazieren müssen. Er wollte außer Landes sein, wenn die Sache in den Medien hochkochte. Wegen des zu erwartenden Spektakels um den Mord an einem so hochrangigen Politiker hatte Jake sich bei Mr. C auch gegen sieben andere Bewerber um den Job durchgesetzt. Natürlich, die meisten der Jungs hätten es billiger gemacht – besser gesagt versucht, es zu machen. Aber sie hätten es höchstwahrscheinlich vermasselt. Mobster-Soldaten waren gut zu gebrauchen, wenn es darum ging, Polizeiinformanten oder anmaßende Rivalen oder irgendwelche lästigen Gammler auf der Straße umzulegen, leisteten großartige Arbeit bei blutigen Foltern und beim Beseitigen von Leichen in Abwasserkanälen und Flüssen, aber wenn eine kunstvolle Finesse bei einem Hit erforderlich war, waren sie überfordert. Diese Jungen waren eben keine Scharfschützen. Und nachdem Gotti wegen Mordes eingebuchtet worden war, hatte sich bei den anderen Bossen eine gereizte Empfindsamkeit eingestellt. Das FBI gab sich nicht mehr mit Anklagen wegen Steuerhinterziehung oder Erpressung oder ›Bildung einer kriminellen Vereinigung‹ zufrieden; es konzentrierte seine Ermittlungen auf den Nachweis von Mord. 26
Und eine Bestrafung wegen Mordes fanden die Bosse gar nicht lustig. Jake kam das nicht ungelegen. Das Ergebnis war, daß er in den letzten Jahren nicht über Mangel an Arbeit hatte klagen können. Die saftige Million für Whiny besänftigte zwar seine unguten Gefühle über diesen speziellen Hit ein wenig, konnte sie aber nicht ausräumen. Er verstieß gegen eine von Sarges Grundregeln: Laß niemals einen anderen – weder den Klienten noch das Zielobjekt – die Konditionen für einen Auftragsmord bestimmen; wähle den Ort und die Zeit immer selbst aus. Er war davon überzeugt, daß die strikte Einhaltung dieser Regel ihm seinen bisherigen Erfolg beschert hatte. Die Festlegung des Hits auf diese Redefreiheit-Veranstaltung preßte ihn, wie ihm vorkam, in eine Zwangsjacke. Noch schlimmer – Mr. C verlangte, daß es geschah, sobald Whiny mit seiner Rede begonnen hatte. Vielleicht hatte er Whinys Auftritte im Fernsehen verfolgt und wollte sich nicht mehr von der Rede anhören, als er unbedingt mußte. Jake kapierte nicht, warum Mr. C auf einem Mord in aller Öffentlichkeit bestand. Nicht einmal dem geistig beschränktesten Bürger konnte die tragische Ironie entgehen: Der Verteidiger der Redefreiheit wird bei einer Ansprache von einem Waffennarren erschossen, während er sich für die Waffenkontrolle einsetzt statt für die Redefreiheit. Zum Teufel mit dem Lauschangriff auf unsere Bürger! Stoppt lieber den unkontrollierten Waffenbesitz! Ein totales Verbot des Waffenbesitzes ist die Antwort! In den folgenden Wochen würden mehr Gesetzesvorlagen zur Waffenkontrolle die Exekutive passieren als in den vergangenen zehn Jahren. Mr. C wird für seine Million ganz schön viel kriegen, dachte Jake. Er atmete tief durch. Am Sonntagnachmittag zu dieser Uhrzeit würde alles vorbei sein; und am Sonntagabend würde er in zehntausend Metern Höhe über dem Atlantik in Richtung Heathrow unterwegs sein. Aber bis dahin gab es noch viel zu tun. Der wichtigste Teil der 27
Vorbereitung war bereits erledigt – seinen Ansitz für den Hit, den Ort, von dem aus er den tödlichen Schuß abfeuern würde, hatte er gefunden. Wenn ihm das nicht zur vollen Zufriedenheit gelungen wäre, hätte er die Million – selbst zehn Millionen – sausen lassen, denn was würde ihm das Geld nutzen, wenn sein Entkommen nicht sichergestellt war? Mit einer letzten Bedingung hatte er sich einverstanden erklärt: den Ansitz – ein Hotelzimmer – so aussehen zu lassen, als sei er von einem Waffennarren benutzt worden. Fredo hatte ihn dazu mit einer Sonderausstattung versehen, einem AK47 und sogar mit einem Exemplar der Zeitschrift Shotgun News. Jake hatte auch zugestimmt, sein eigenes Gewehr zurückzulassen. Ansonsten hatte er natürlich alles bestens geplant. Sarge hatte ihn das gelehrt. Sarge, Sarge… Die Tatsache, daß er nach Norden in Richtung New York City fuhr, ließ ihn unentwegt an Sarge denken. Und bei diesen Gedanken liefen ihm kalte Schauer über den Rücken. Jake fuhr nicht direkt in die Stadt, sondern machte einen kleinen Umweg über Paterson und besuchte Bernie Marsh in seinem Bürogebäude. »Hey, Jake«, sagte Bernie, als dieser in sein Büro kam. Er stand von seinem Schreibtischsessel auf und lächelte Jake nervös an. »Irgendwas nicht in Ordnung?« »Warum sollte irgendwas nicht in Ordnung sein?« »Weil ich … na ja, weil ich dich so schnell nicht wieder erwartet habe, verstehst du?« Die Worte ratterten mit Höchstgeschwindigkeit aus Bernies Mund, und seine Handfläche war feucht, als sie sich die Hände schüttelten. »Was ich meine, Jake – du warst ja wie üblich im Juni hier, und ich dachte, ich würde dich vor Dezember nicht wiedersehen.« »Ich möchte einen kleinen Urlaub nehmen, wenn du nichts dagegen hast.« »Aber natürlich! Natürlich!« Bernie stieß ein Lachen aus, das ei28
nen hysterischen Unterton hatte. »Ist das alles? Nimm Urlaub, solange du willst! Du hast 'ne ganze Menge gut bei mir! Ich meine, du bist ja schließlich mein bester Angestellter. Macht keinen Tag blau, beklagt sich nie, ist nie krank, nimmt nie Urlaub!« Er lachte wieder. »Ich wollte, ich hätte ein paar hundert von deiner Sorte!« »Ich möchte einen Monat wegbleiben. Von heute an. Ich rufe dich an, wenn ich wieder zurück bin.« Die Spannung schien auf einen Schlag von Bernie zu weichen, und er setzte sich wieder hin. »Alles klar, Jake. Schönen Urlaub!« Auf dem Weg nach draußen war es Jake wichtig, ein paar Worte mit Marge, Bernies Sekretärin, zu wechseln. Es konnte nichts schaden, seinen Status als langjähriger Angestellter der Firma zu zementieren. Jake Nacht war tatsächlich ein langjähriger Angestellter von Marsh Management Incorporated. Seit nun fast fünfzehn Jahren. Seit kurz nach dem Tag, als Bernie zu ihm gekommen war und nach einem Weg gesucht hatte, seinen Partner Gus Abelard in den – ewigen – Ruhestand zu schicken. Gus war kokainsüchtig geworden, und zwar auf extreme Art. So schlimm, daß er die Masse des Partnerschaftskontos veruntreut hatte und nun nach einem Weg suchte, seine Geschäftsanteile an seinen Dealer gegen eine große Portion Nose-Candy abzutreten. Bernie hatte alles versucht, aber Gus hatte völlig die Kontrolle über sich verloren. Die Firma begann Klienten zu verlieren. Die Teilhaberschaft – damals als Abelard-Marsh Enterprises firmierend – war auf dem Immobiliensektor tätig. Wenn die Leute einmal begannen, das Vertrauen in die Stabilität und Verläßlichkeit der Firma zu verlieren, war ihre Existenz gefährdet. Die Leute wanderten zu anderen Unternehmen ab. Und das setzte wegen Gus bei Abelard-Marsh ein. Also mußte Gus aus dem Verkehr gezogen werden. Jake war Gus gefolgt, bis er ihn bei einem Drogenkauf an einer Straßenkreuzung in der Mitte von Paterson erwischte. Jake schoß ihn mit einer Baretta-Maschinenpistole, die er später in den Paterson River warf, nieder. Sozusagen als Dienst an der Gesellschaft er29
ledigte er die beiden Dealer gleich mit. Das ließ die Sache so aussehen, als ob es sich um einen Hit im Drogenkrieg zwischen Gangstern handelte. Keine großen polizeilichen Ermittlungen. Keine Zeugen. Niemand hatte auch nur die Schüsse gehört. In diesem Teil der Stadt sieht oder hört nie irgend jemand irgend etwas. Und Gus wurde als unschuldiges Opfer des Gangsterkrieges betrachtet. Bernie hatte prompt bezahlt, und damit hätte die Angelegenheit erledigt sein können, aber Jake war noch auf eine weitere Idee gekommen. Als er sie Bernie unterbreitete, meinte der zuerst, es sei eine Art Erpressung. Als er aber sah, daß Jake es ehrlich meinte und ihn nicht unter Druck setzen wollte, stimmte er zu. Und so hatte Jake in den vergangenen rund fünfzehn Jahren dreißig Riesen im Jahr in halbjährlichen Tranchen an Bernie gezahlt. Im Gegenzug wurde Jake Nacht offizieller Angestellter der Firma Marsh Management Incorporated. Und zwar als Nachtwächter bei nicht mehr benutzten Lagerhäusern oder Fabrikgebäuden im Besitz der Firma, und er erhielt dafür 26.000 Dollar Gehalt und weitere 4.000 Dollar als Zuschuß für ärztliche und zahnärztliche Behandlungen. Es war also ein echtes Scheingeschäft. Jake bekam sein Geld zurück – abzüglich der geringen Steuern –, und Bernie kam ebenfalls auf seine Kosten: Er konnte 30.000 Dollar von der Körperschaftssteuer absetzen. Aber die wahre Dividende für Jake, der echte Grund dafür, daß er diesen Deal mit Bernie gemacht hatte, lag darin, daß er ein ehrsamer, solider Bürger wurde, eine Säule der Arbeiterschaft des Landes. Und falls irgendwelche offiziellen Stellen je einmal in seinem Lebenslauf herumschnüffeln sollten, würden sie feststellen, daß Jake Nacht ein grundsolider Steuerzahler mit einem ganz legitimen Einkommen war. Vielleicht würde diese Tatsache eines Tages einmal den Unterschied zwischen Freiheit und Knast bedeuten. Obwohl er sich im Grunde über jeden Cent ärgerte, den er an Steuern abführen mußte, tröstete er sich damit, daß die Steuern als Beitrag zu einer Unfallversicherung betrachtet werden konnten – man bezahlte die Prämien in der Hoffnung, die Versicherung nie in Anspruch nehmen 30
zu müssen. Aber bei diesem Hit überließ er nichts dem Zufall. Er schloß einige weitere Versicherungen ab – nur für den Fall, daß… In der Stadt stellte er den Wagen auf einem Parkplatz in der Nähe des Belvedere-Hotels ab und ging mit seinem Koffer in die Lobby. Er hätte den Hit nicht übernommen, wenn er für die Ausführung nicht einen Ort wie das Belvedere gefunden hätte. Es war das älteste Hotel an dem Platz, auf dem die Weingarten-Veranstaltung stattfinden würde. Alte Hotels waren am besten für sein Vorhaben geeignet. Je älter, um so besser. Diese Hotels hatten noch die guten alten Schiebefenster. Es war gefährlich, ein Loch in die Scheibe eines nicht zu öffnenden Fensters in einem der neueren, klimatisierten Hotels zu schneiden; es entstand dann eine sichtbare Unterbrechung in der Spiegelfassade des Hotels, ähnlich einer Fieberpustel auf dem Gesicht einer schönen Frau. Und das erregte Aufmerksamkeit. Das Belvedere hatte Schiebefenster. Großartig. Er trug sich am Empfang als Jake Nacht ein, legte seine Visa-Card vor und gab als Abreisetermin den Sonntagmorgen an. »Ich bin ein leichter und unruhiger Schläfer«, sagte Jake zu der jungen Frau am Empfang. »Ich bitte um ein Zimmer auf einem ruhigen Flur, so weit wie möglich vom Straßenlärm entfernt, und die Morgensonne sollte nicht ins Zimmer fallen.« Sie lächelte. »Schau'n wir mal, was ich für Sie tun kann.« Sie gab verschiedene Kombinationen über das Keyboard in ihren Computer ein, schaute dann auf den Screen, nickte. »Ich kann Ihnen ein Zimmer auf der Nordseite der obersten Etage geben. Das entspricht ganz sicher Ihren Wünschen.« »Wenn Sie es sagen… Vielen Dank.« Er hatte keine Probleme erwartet. Das Belvedere gehörte nicht zu den Top-Hotels in der Stadt; es war eher in die Klasse ›verblichener Ruhm‹ einzuordnen. Aber auch die Hotels mit den großen Na31
men waren an August-Wochenenden halb leer. Die Leute schienen an Freitagnachmittagen aus der Stadt zu fliehen. Der Page brachte ihn zu Zimmer 1021. Jake gab ihm zwei Dollar Trinkgeld – das war nicht zuviel und nicht zu wenig, ein normales, mittleres, schnell vergessenes Trinkgeld. Sobald er allein war, überprüfte er die Fenster, um sicher zu sein, daß die Schiebefenster auch funktionierten. Sie klemmten ein wenig, aber eines ließ sich problemlos hochschieben. Er streckte den Kopf hinaus und schaute sich um. Das DEA-Gebäude – die Zentrale der Drug Enforcement Administration –, vor dem die Veranstaltung stattfinden sollte, war von hier aus nicht zu sehen. Es lag links um die Ecke, in Richtung zum Stadtzentrum. Das war durchaus in Ordnung. Dieses Zimmer war nicht sein Ansitz für den Todesschuß. Von hier oben, dem zehnten Stock, wirkten die wenigen Fußgänger unten auf den Straßen wie Ameisen. Mr. C hatte ursprünglich verlangt, daß Whiny von einem Fenster aus der sechsten Etage erschossen wurde – wie John F. Kennedy. Vielleicht hatte er sich davon versprochen, Oliver Stone könne durch diese Tatsache bewegt werden, einen Film über ›Die Weingarten-Ermordung‹ zu drehen… Aber Jakes Entgegenkommen war nicht so weit gegangen, daß er sich seinen Ansitz hatte vorschreiben lassen. Er studierte die Skizze mit den Fluchtwegen im Fall eines Feuers, die an der Innenseite der Tür befestigt war. Er fuhr mit dem Zeigefinger von seinem Zimmer 1021 durch den Flur, dann um die Ecke zu Zimmer 1017 – dem Raum, von dem aus er den Hit tatsächlich ausführen würde. Seinem Ansitz… Die beiden Zimmer lagen ein wenig näher beieinander, als ihm im Grunde lieb war, aber auch wieder nicht zu nahe. Solange sie nicht direkt nebeneinander lagen, war das vertretbar. Morgen würde er in dieses andere Zimmer umziehen. Aber im Moment wollte er sich zunächst einmal ausruhen, sich ein paar Drinks genehmigen, vielleicht einen Film im Fernsehen anschauen. Alles – nur nicht schlafen. Denn in letzter Zeit war er häufig von Träumen über Sarge geplagt worden. 32
4 Sarge (II)
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ach dem Zwischenfall mit dem Eichhörnchen begann die Ausbildung im Schießen auf bewegliche Ziele. Auf sich bewegende Kiefernzapfen. Sarge knüpfte dazu eine Schnur an einen Kiefernast, befestigte einen Zapfen daran und versetzte den Ast in Schwingungen. Er brachte Jake bei, wie man das Ziel verfolgt – wie man die Geschwindigkeit des Geschosses mit der Abwärtsbewegung des Zapfens in Übereinstimmung bringt und einen Vorhalt einberechnet, so daß die Kugel und das Ziel zur gleichen Zeit am selben Ort zusammentrafen. Nachdem Sarge diese theoretischen Grundsätze erklärt hatte, begann Jake, sie in die Praxis umzusetzen. Die ersten Kiefernzapfen hingen an langen Schnüren, schwangen in weiten, langsamen Bögen hin und her. Nach einem halben Dutzend Versuchen traf Jake sie regelmäßig. Sarge postierte ihn weiter vom Ziel entfernt. Und noch weiter. Und Jake traf dennoch jeden Zapfen. Sarge verkürzte dann die Schnur, wodurch die Bögen kleiner und die Geschwindigkeit der hin- und herfahrenden Zapfen größer wurde. Jake brauchte ein paar Schüsse, um sich der neuen Situation anzupassen; aber dann schoß er die Zapfen wieder in Stücke, so schnell sie Sarge nur in Bewegung setzen konnte. »Genug!« sagte Sarge schließlich. »Du verschleißt meine Kräfte!« Er schüttelte den Kopf, grinste und boxte Jake leicht gegen die Schulter. »Du bist wirklich ein einmaliges Naturtalent. Was für ein Auge… Ich habe nie jemanden getroffen, der das so schnell gelernt hat wie du.« Jake saugte das Lob ein wie ein nasser Schwamm. Er konnte sich nicht daran erinnern, daß er einem anderen Menschen so gern gefallen wollte wie Sarge. 33
»Nur noch ein paar mehr!« bat er. »Nein. Du bist zu gut für diesen Kleinkram. Wir wenden uns jetzt Shotguns und Tontauben zu.« »Prima!« »Aber denk dran«, sagte Sarge mit einem Seitenblick, »ich sagte Ton-Tauben, nicht echte Tauben.« »Keine Sorge, Sarge. Ich bin auch kein Tauben-Fresser.« Sie lachten beide laut, und Jake erkannte schließlich, was Leute meinen, wenn sie sagen, das Leben sei schön. Die Shotgun war etwas ganz anderes als sein Gewehr. Die 12mmSchrotflinte hatte einen starken Rückschlag und ruckte beim Abschuß nach oben, und man konnte sein Ziel nur grob anvisieren, aber das wurde dadurch kompensiert, daß man statt eines einzelnen Geschosses eine Ladung aus mehr als einem Dutzend Schrotkugeln gegen das Ziel feuerte. Die Tontauben bewegten sich viel schneller als die Kiefernzapfen, aber Jake kam gut damit zurecht, nachdem Sarge ihm erklärt hatte, daß er nach dem Durchdrücken des Abzugs den Schwung des Flintenlaufes fortsetzen mußte. »Acht Treffer nacheinander!« wunderte sich Sarge und schüttelte den Kopf. »Scheiße, ich vergeude keine weiteren Tontauben mit dir. Nächste Woche, an deinem fünfzehnten Geburtstag, wenden wir uns der realen Welt zu. Es wird eines deiner Geburtstagsgeschenke sein: Wir gehen auf die Jagd nach ganz realen Zielen.« »Was für Ziele sind das?« fragte Jake aufgeregt und stolz. »Autos.« Jake brütete tagelang darüber nach, was Sarge mit ›Autos‹ gemeint haben könnte. Gingen sie etwa auf einen Autofriedhof und ballerten auf Schrottwagen? Sarge reagierte nicht auf Jakes dauernde Fragen, aber am vierten Abend fügte er seiner Standardantwort noch etwas hinzu: 34
»Du wirst es sehen, wenn es soweit ist… Aber heute abend darfst du ausnahmsweise mal lange aufbleiben. Ich habe in der Programmzeitschrift gesehen, daß auf Kanal fünf mein Lieblingsfilm kommt.« »Wie heißt er?« »The Most Dangerous Game.« »Nie was davon gehört«, sagte Jake. Aber das war egal. Wenn ›Das gefährlichste Spiel‹ Sarges Lieblingsfilm war, mußte er ja gut sein. »Keine Sorge – er wird dir gefallen. Es ist ein Oldie, aber auch ein Goodie.« Und selbst wenn ihm der Film nicht gefiel, es würde schön sein, mit Sarge zusammen lange aufbleiben zu können. Und der Film war ganz bestimmt besser als diese dauernden Sendungen über den Krieg in Vietnam. Wenn solche Sendungen kamen, war Sarge nicht vom Fernseher wegzukriegen. Nach den Nachrichten um sieben Uhr machte Mrs. Nacht in der Popcorn-Maschine einen großen Beutel Jiffy Pop heiß und ließ Sarge und Jake dann allein. Der Film war tatsächlich ein Oldie. Und Jake war sich gar nicht so sicher, ob er auch ein Goodie war. Zum einen war er nicht in Farbe. Und zum anderen war er sehr dunkel und flimmerte stark. »Siehst du das Mädchen da?« fragte Sarge und deutete auf den Bildschirm. »Das ist Fay Wray, das Mädchen, wegen dem King Kong durchgedreht ist.« Jake erkannte das Mädchen nicht, obwohl er den Film King Kong mindestens ein dutzendmal gesehen hatte. Aber das spielte keine Rolle. Dieser Film war echt gruselig. Er handelte von einem reichen Typen, der Leute dazu bringt, auf seine Dschungelinsel zu kommen, und dann schickt er sie in den Wald, macht Jagd auf sie und bringt sie um… Sarge redete nur mit ihm, wenn der Film durch Werbung unterbrochen wurde, was häufig geschah, aber während des Films starrte er auf den Bildschirm, als ob er hypnotisiert wäre oder so was. »Na?« fragte Sarge, als der Film zu Ende war, und sah Jake an. »Was 35
hältst du davon? War er nicht großartig?« »O ja!« strahlte Jake und nahm allen Enthusiasmus zusammen, den er aufbringen konnte. »Der war echt gut.« »Gut ist zu wenig«, knurrte Sarge und starrte wieder auf den Bildschirm. »Der beste Film, der je gedreht wurde. Der Titel sagt schon alles. Das gefährlichste Spiel – Jagd auf einen anderen Mann…« In Sarges Augen stand ein fast irrer Glanz, der Jake beunruhigte und ihm unheimlich war… Am nächsten Tag holte Sarge ihn mit dem Jeep von der Schule ab und fuhr mit ihm in eine Waldgegend, in der sie noch nie gewesen waren. Sie war anders als die Pine Barrens, aber doch ähnlich: viele Krüppelkiefern, aber auch zahlreiche Eichen, Ulmen und Ahornbäume. Der Herbst hatte die Blätter orangefarben und golden gefärbt, und der erste Frost ließ den Blätterteppich unter ihren Füßen knirschen. Sarge hielt am Fuß eines Hügels an und führte Jake, der sein Ruger in der Hand hielt, dann durch dichtes Gebüsch den Hang hinauf. Als sie sich dem Kamm des Hügels näherten, hörte Jake Verkehrsgeräusche auf der anderen Seite. Sarge gab ihm ein Zeichen, sich zu ducken, und das letzte Stück zum Kamm krochen sie hoch. Ein Grashang führte hinunter zu einer breiten Asphaltstraße, die Jake als den in Nord-Südrichtung verlaufenden vierspurigen Garden State Parkway erkannte. Seine Eingeweide schienen sich plötzlich zu verkrampfen. Ihm fiel ein, was Sarge über diesen Film The Most Dangerous Game gesagt hatte und wie dieser seltsame Glanz in seine Augen getreten war, als er von der Jagd auf einen anderen Mann gesprochen hatte. »Ich … ich…«, stotterte Jake, und er merkte, daß seine Zähne klapperten. »Ich … ich will das nicht.« »Was?« »Einen Menschen erschießen.« »Einen Menschen erschießen? Bist du denn total verrückt, Jun36
ge? Wie kommst du nur auf so eine verrückte Idee?« »Na ja…« »So was Verrücktes habe ich noch nie gehört!« »Na ja, du hast doch gesagt, wir würden auf Autos schießen …« »Das stimmt, aber Autos sind doch keine Menschen!« »Aber Menschen fahren die Autos.« Sarge lachte. »Okay, okay. Ich verstehe jetzt, warum du auf so eine blöde Idee kommen konntest. Nein, wir werden natürlich nicht auf Menschen schießen. Wir werden auf Reifen schießen – kleine Schäden anrichten, das ist alles.« Jake entspannte sich. Aber nur ein wenig. Auf den Reifen eines fahrenden Autos schießen – das konnte für den Fahrer gefährlich werden. Konnte einen Menschen genauso töten wie eine Gewehrkugel. »Du mußt natürlich geduldig sein«, sagte Sarge. »Du mußt dir dein Zielobjekt sorgfältig aussuchen. Der Wagen darf nicht zu schnell fahren, sonst wickelt der Fahrer ihn um einen Baum. Er darf auch nicht in einem Pulk fahren, weil er sonst einen anderen rammen und eine Massenkarambolage verursachen könnte. Denk dran, wir wollen niemanden verletzen, nur ein paar Reifen als bewegliche Ziele benutzen.« Jake wünschte, es würde wieder darum gehen, auf Kiefernzapfen und Tontauben zu schießen. Diese Sache hier machte ihm angst. »Ich weiß nicht, Sarge…« »Zeig mir, daß du es tun kannst«, sagte Sarge, und in seiner Stimme lag dieser scharfe und zugleich gruselige Ton. »Zeig mir, daß du es tun kannst, Jake.« Aber irgendwie hämmerten die Worte als »Zeig mir, daß du es tun wirst« durch Jakes Kopf. »So was wie den da«, sagte Sarge. Er zeigte auf einen vorbeiratternden Pick-up, und seine Stimme war wieder ganz normal. »Schieß ihm den Reifen kaputt, und du gibst dem Kerl zwanzig oder dreißig Minuten Zeit für eine dringend notwendige körperliche Betätigung. Oder noch besser«, fuhr er fort und deutete auf einen vor37
beirauschenden Cadillac, »zwing diesen reichen Bonzen dazu, sich mal die Finger dreckig zu machen.« Das klang gar nicht so schlecht. Eher danach, jemandem einen Streich zu spielen, als danach, auf jemanden zu schießen. Und am allerwenigsten wollte er Sarge mißfallen oder ihn gar verärgern. Jake ging in den ›Anschlag liegend‹, wie Sarge ihm das beigebracht hatte, schlang den Gewehrriemen um den linken Ellbogen, preßte die Wange an den Kolben – und wartete. Schließlich entdeckte er das perfekte Ziel: einen VW-Bus mit einem großen Friedenssymbol auf der Seite. »Oh, greif dir den«, knurrte Sarge. »Du mußt diesen verdammten Hippie erwischen.« Jake richtete den Lauf auf die weiße Linie am Rand des Asphalts, und als der Hinterreifen im Zielbereich auftauchte, visierte er ihn mit dem entsprechenden Vorhalt an und drückte ab. Wenn der Reifen explodierte, hörte Jake es nicht, aber er sah, wie er zu einer laschen, um die Radkappe rotierenden Gummimasse kollabierte. Der Wagen fing leicht an zu schleudern, wurde dann an den Straßenrand gelenkt. Sarge grunzte zufrieden und klopfte Jake auf die Schulter. »Gut gemacht!« Aber Jake hatte plötzlich noch nicht genug. Eine Hochstimmung durchzuckte ihn wie ein Stromschlag, und er visierte einen weiteren Hinterreifen an, der in sein Gesichtsfeld kam. Er gehörte zu einem schwarzen Mercedes mit goldfarbenen Zierleisten. Der Wagen eines Bonzen. Er rollte gemächlich auf der rechten Fahrspur dahin. Wieder ein Schuß und wieder ein platter Reifen… Der Mercedes kam schlitternd hinter dem VW-Bus zum Stehen. Sarge legte Jake die Hand auf den Arm. »Wow! Aber zwei sind genug. Wir wollen nicht zuviel Aufmerksamkeit erregen.« Sie blieben noch einen Moment liegen und sahen zu, wie der langhaarige Fahrer des VW-Busses und der geschniegelte Bonze im drei38
teiligen Anzug aus den Fahrzeugen stiegen und ihre platten Reifen anstarrten. »Ich wette, das ungleiche Pärchen hat sich jetzt viel zu sagen«, lachte Sarge. Dann schob er sich rückwärts den Hang hinunter. »Komm, wir verschwinden von hier.« Jake folgte ihm und richtete sich auf, als sie außer Sicht waren. Während sie auf den Jeep zuliefen, fing Jake an zu lachen. Er wußte nicht, warum er es tat. Vielleicht aus Erleichterung über das Nachlassen der fast unerträglichen Spannung, die sich in den letzten Tagen in ihm aufgebaut hatte; vielleicht auch wegen des Nervenkitzels, daß er es fertiggebracht hatte, mit der Zustimmung eines Erwachsenen ein ›böser Junge‹ zu sein; vielleicht auch, weil er gerade etwas getan hatte, das gefährlich war und gegen das Recht verstieß; oder wegen des Gefühls, daß er jetzt – in einer ihm nicht ganz klaren Weise – zum Verbrecher geworden war; oder weil er spürte, daß das emotionale Band zwischen ihm und Sarge jetzt noch enger geknüpft war. Vielleicht lag es an all diesen Dingen. Was es auch war, er mußte lachen und der Welt zeigen, wie großartig er sich fühlte. Sarge fuhr nicht direkt nach Hause. Er folgte einem Weg, der tiefer in die Wälder führte. Als sie ein gutes Stück von der Asphaltstraße entfernt waren, hielt er an und warf Jake eine braune Papiertüte in den Schoß. »Dein Geburtstagsgeschenk.« Jake öffnete die Tüte und steckte die Hand hinein. Sie zitterte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letztenmal ein Geburtstagsgeschenk bekommen hatte – wenn überhaupt jemals. Es wußte sowieso niemand genau, wann sein Geburtstag war. Man hatte das Datum auf den Tag Mitte November 1955 festgelegt, als man ihn in einem Müllcontainer in Camden als wimmerndes Baby gefunden hatte. Er zog eine rechteckige Holzschachtel aus der Tüte und machte den Deckel auf. In der Schachtel lag ein Zielfernrohr. »Für mich, Sarge?« 39
»Ja. Es ist ein Redfield-3-9x-Mehrzweck-Zielfernrohr. Ich denke, wir sollten langsam zu Gewehren mit größerem Kaliber und zu größeren Entfernungen übergehen.« Jake hätte ihn am liebsten umarmt, glaubte aber nicht, daß Sarge das gefallen würde. Vor allem auch, weil er inzwischen weiterfuhr. »In der Tüte ist noch mehr«, sagte Sarge. Jake langte wieder in die Tüte und zog ein großes, seltsam geformtes, in ein ölgetränktes Tuch gewickeltes Ding heraus. Er wickelte es aus dem Tuch und hielt die seltsamste Pistole in der Hand, die er je gesehen hatte. Sie war eckig, hatte einen über zwölf Zentimeter langen Lauf und einen komisch geformten Griff. Jake war sprachlos. »Das ist ein Sammlerstück, Jake«, sagte Sarge. »Eine Mauser-Bolo mit Besenstiel-Griff. Eine großartige Waffe. Ich habe sie im Krieg einem toten deutschen Offizier abgenommen.« Jake hielt das kostbare Stück vorsichtig in den Händen, als ob es durch das Holpern des Jeeps beschädigt werden könnte. Eine Frage drängte sich ihm auf, und er mußte sie stellen: »Hast du … hast du ihn getötet, Sarge?« Sarge nickte, schaute starr geradeaus. »Ja.« »Hast du viele Deutsche getötet?« Wieder ein Nicken. »Mehr als zweihundert, würde ich sagen. Ich habe bei rund fünfzig aufgehört zu zählen. Machte für jeden, den ich erledigt habe, eine Kerbe in den Gewehrkolben, aber nach einiger Zeit wurde das lächerlich. Ich meine, ich hätte bald keinen Kolben mehr übrig gehabt.« »Zweihundert?« Jake erstarrte in Ehrfurcht. »Einen nach dem anderen. Ich war der beste verdammte Scharfschütze, den das Marinecorps jemals hatte. Das ist keine Angeberei. Es ist eine Tatsache.« »Du warst ein Scharfschütze?« »Du sagst das, als wär's ein schmutziges Wort.« Jake wußte nicht, was er denken sollte. Irgendwie entsprach Scharfschütze nicht dem Bild, das er sich von Sarges Rolle im Krieg gemacht 40
hatte. Er hatte sich ihn immer vorgestellt, wie er unter tödlichem feindlichem Maschinengewehrfeuer einen Hügel hinauf stürmt – wie Audie Murphy oder John Wayne. Scharfschütze – das war irgendwie … hinterlistig. »Ich … ich wollte nicht…« »Es wird in bestimmten Kreisen als schmutziger Job betrachtet. Besonders in Offizierskreisen. Offiziere ziehen es vor, möglichst weit hinten zu bleiben, das Fußvolk voraus in den Kampf zu schicken und es dem Feind zum Fraß vorzuwerfen; wenn ihre Seite dann den Kampf gewinnt, streichen sie den Ruhm dafür ein; wenn sie verlieren, war es die Schuld des Fußvolkes. Der Scharfschütze ändert das – jedenfalls auf der Feindseite. Er macht ihre Pläne zunichte, indem er sich die Offiziere aus der Ferne vorknöpft und erledigt. ›Das ist nicht akzeptabel‹, meinen die Herren Offiziere. Aber diese Aktionen unterbrechen die Kommandokette und führen dazu, daß das feindliche Kanonenfutter führungslos umherirrt. Was jedoch aus der Sicht der Herren Offiziere geradezu ruchlos ist – es bringt sie in Gefahr, um Himmels willen! Sie sind doch nicht dazu da, daß tatsächlich auf sie geschossen wird! Ich sage dir, Jake, ein einziger gut ausgebildeter Scharfschütze kann aus einer günstigen Position eine ganze Schlacht entscheiden. Ich weiß das. Ich habe es getan.« Jake mußte lächeln, als ihm ein verrückter Gedanke durch den Kopf zuckte. »Hast du damals auch schon deine Regel eingehalten?« »Welche Regel meinst du?« fragte Sarge irritiert. »Immer auch aufzuessen, was du tötest.« Sarge mußte so heftig lachen, daß er fast vom Weg abkam. Jake übte den ganzen Winter hindurch mit seinem Zielfernrohr auf einem von Sarges Remington-700-Gewehren. Es war viel schwerer als das Ruger und mit den erheblich durchschlagskräftigeren 7,82mmPatronen auch großkalibriger. Am Vorderschaft war zur Stabilisierung ein ausklappbares Zweibein befestigt. Es gab viel zu lernen: Auswahl der Patrone mit der entsprechenden Ladung im Hinblick 41
auf die Entfernung, Korrektur der Erhöhung bei großen Entfernungen, Einberechnung von Seitenwind. Am ersten Tag klemmte Sarge den Lauf des Gewehrs in eine Zwinge und lehrte Jake, wie man das Zielfernrohr auf die verschiedenen Entfernungen genau justiert. Aber bei aller Fülle der Anweisungen und Informationen, die auf Jake eindrangen – alles, was Sarge sagte, leuchtete ihm sofort ein. Was auch immer er hörte, es wurde von seinem Gehirn unverzüglich absorbiert und ohne sichtbare Anstrengung von den Händen umgesetzt. Fast so, als ob er das alles bereits wüßte und von Sarge nur einen Auffrischungsunterricht erhielt. Im Frühjahr war Jake in der Lage, alles zu treffen, was er im Fadenkreuz seines Zielfernrohrs anvisierte. »Können wir nicht mal auf die Jagd gehen?« fragte Jake eines Tages, als sie wieder einmal eine Übungsstunde hinter sich hatten. Er wollte mal auf etwas anderes schießen als auf Kiefernzapfen. Auf irgend etwas, das bedeutsamer war. »Auf die Jagd nach was?« fragte Sarge und starrte ihn an. Die Eindringlichkeit seines Blickes beunruhigte Jake. »Ich weiß nicht… Ein Reh oder so was. Irgendwas, das sich bewegt.« Sarge lächelte. »Irgendwas, das gut schmeckt?« »Ja. Gut schmeckt und sich bewegt.« »Kiefernzapfen sind keine Herausforderung mehr für dich, wie?« »Keine große.« Sarge zuckte mit den Schultern. »Okay. Wenn du auf die Jagd gehen willst, dann machen wir das auch. Wenn du meinst, es wäre eine Herausforderung, auf dem Boden zu liegen und auf irgendein dummes Tier zu warten, das keine Verteidigungsmöglichkeiten außer seinen Instinkten und dem Davonrennen hat… Und dieses Tier dann aus einer Entfernung, bei der es dich weder riechen noch hören kann, anzuvisieren und ihm das Lebenslicht auszublasen, indem du den Abzug eines großartigen Tötungsinstrumentes, wie es dieses Remington ist, drückst… Manche nennen so was ja sogar ›Sport‹. Wenn du das willst, dann machen wir es. Sag mir nur, wann du es 42
willst.« Die Idee war plötzlich gar nicht mehr so attraktiv wie noch vor einer Minute. »Okay, Sarge. Ich sag's dir dann.« Sarge machte während dieser Trainingsmonate mit dem Zielfernrohr mehrere Reisen, bei denen er oft auch über Nacht wegblieb. Anfangs sagte er, es wären ›Geschäftsreisen‹, dann erklärte er meistens, sie dienten der ›Erkundung‹. Eines Tages dann, als Jake aus der Schule kam, wartete Sarge in seinem Wagen am Straßenrand auf ihn. »Willst du auf die Jagd gehen?« »O ja!« jubelte Jake und sprang auf den Beifahrersitz. »Wann?« »Jetzt sofort.« Aber sie fuhren nicht in die Wälder. Statt dessen nahmen sie den Parkway in Richtung Norden. Und Jake bemerkte auch, daß Sarge keine Jagdkleidung trug. »Wo fahren wir hin?« fragte er. »Nach New York City.« »Was wollen wir denn dort jagen?« »Das wirst du dann sehen.« Sie wechselten auf die gebührenpflichtige Schnellstraße und erreichten die Stadt durch den Holland-Tunnel. Jake war bei einem Schulausflug schon einmal in Manhattan gewesen, aber noch nie in Chinatown. Während Sarge die Canal Street hinunterfuhr, starrte Jake fasziniert auf die fremdartigen Schriftzeichen der Neon-Reklameschilder, auf die gebratenen Enten – Köpfe, Füße, Schnäbel noch dran – in den Fenstern der vielen kleinen Restaurants und auf die Asiaten, die sich Schulter an Schulter über die schmalen Bürgersteige schoben. Dann krochen sie im dichten Verkehr durch Little Italy und andere, namenlose Stadtviertel, bis Sarge den Wagen schließlich in einer dunklen Straße am Bordstein abstellte. »Zieh die an«, sagte er und gab Jake ein Paar schwarze Lederhandschuhe. »So kalt ist es doch nicht.« »Zieh sie trotzdem an.« Sarge schob seine Hände in ein ähnliches 43
Handschuhpaar. Jake tat, was Sarge von ihm verlangte. Das Leder war dünn und lag so fest an wie eine zweite Haut. »Laß uns gehen«, sagte Sarge. Er stieg aus und holte eine große Segeltuchtasche aus dem Kofferraum. Jake hatte tausend Fragen, aber er stellte sie nicht. Sarges Gesicht war ernst, angespannt, und Jake merkte, daß er nicht in Gesprächslaune war. Sie gingen in der zunehmenden Dunkelheit vier oder fünf Blocks weiter, überquerten Kreuzungen, bogen um Ecken, bis sie schließlich zu einer unbeleuchteten Lagerhalle kamen. Sarge hatte einen Schlüssel. Er schloß eine Seitentür auf, und Jake folgte ihm hinein, dann über endlos erscheinende Treppenabsätze hinauf aufs Dach. Ein kalter Wind fegte über das mit Teerpappe ausgelegte Flachdach. Jake nahm den Teergestank kaum wahr. Er starrte mit offenem Mund auf den abendlichen Lichterglanz der Silhouette Manhattans, die sich vor ihm abzeichnete. Millionen von Lichtern an den Fassaden der in den Himmel ragenden Betonstahl-Türme… »Komm her, Jake.« Sarges Aufforderung riß Jake aus seiner Verzauberung. Er lief zu Sarge hinüber, der am Rand des Daches kniete und die Segeltuchtasche öffnete. Jake kniete sich neben ihn auf den Boden. Sarge zog bündelweise Sweatshirts, Trainingshosen, Socken und Turnschuhe aus der Tasche und legte sie neben sich. Dann hob er vorsichtig einen länglichen, in eine Wolldecke gewickelten Gegenstand heraus. Die Sportkleidung, die offensichtlich als Polsterung für den Gegenstand gedient hatte, steckte er zurück in die Tasche. Dann wickelte er den Gegenstand aus. Es war ein Gewehr, ein Modell, das Jake noch nie gesehen hatte. Es war mit einem Zielfernrohr bestückt, das Jakes Geburtstagsgeschenk ähnlich sah, und es hatte ein am Vorderschaft angeklapptes Zweibein. Eine böse Ahnung beschlich Jake. »Was…« 44
»Es ist ein AR-10, Sohn, mit einem modifizierten LeatherwoodRedfield-Zielfernrohr. Halbautomatisch, Kaliber 9,1 mm.« »Aber was…?« »Heute abend wird ein Mann sterben, Jake.« Er machte eine Pause, während seine Aussage in Jakes wie gelähmtes Bewußtsein drang. »Wie du siehst, habe ich nie aufgehört, ein Scharfschütze zu sein.« Jake ließ den Kopf sinken und schloß die Augen, während Sarge das Zweibein des AR-10 ausklappte und das Gewehr am Dachrand in Stellung brachte. Jakes Magen verkrampfte sich so stark, daß er kaum noch Luft bekam. Erst nach langen Sekunden konnte er wieder sprechen. »Wer?« »Ein Bösewicht«, sagte Sarge und schaute durch das Objektiv des Zielfernrohrs. »Sieht so aus, als hätte er ein paar andere Bösewichter beschissen – um Gewinne aus illegalen Wettbüros –, und daher wollen die anderen Typen ihn aus dem Verkehr gezogen haben.« »Und die haben dich angeheuert?« Sarge sah Jake an. Der Ausdruck in seinen Augen war in der Dunkelheit nicht zu erkennen. »Richtig, Sohn. Es ist mein Job. Ich nehme Geld von einem Mistkerl, um einen anderen Mistkerl umzulegen. Ich betrachte es als Dienst an der Gemeinschaft. Eine Ratte weniger im Dreckhaufen. Hast du Probleme damit?« »Nein«, sagte Jake. »Keine Probleme.« Aber das stimmte nicht ganz. In Wahrheit stimmte es gar nicht. Jake hätte nie gedacht, daß er Probleme mit irgend etwas, das Sarge tat, haben könnte. Aber das war meilenweit entfernt von allem, was er sich vorgestellt hatte. Es war etwas, das man erst einmal verdauen mußte. An das man sich gewöhnen mußte. Aber er wußte, er würde sich daran gewöhnen können. Weil es Sarge war. Wenn Sarge sagte, der Mann, den er erschießen würde, sei ein schlechter Kerl, der es verdient hatte, getötet zu werden, dann mußte das stimmen. 45
»Gut«, sagte Sarge. »Schau jetzt mal durch das Zielfernrohr.« Jake kauerte sich zögernd hinter das Gewehr. Der Lauf war in Richtung auf ein Appartement-Hochhaus leicht schräg nach unten arretiert. Sarge würde doch um Gottes willen nicht von ihm erwarten, daß er den Mann erschoß? Jake wußte, er würde für Sarge alles tun, aber er war sich nicht sicher, ob er das machen würde… Er legte das Auge an das Objektiv, ohne das Gewehr anzufassen. Das Fadenkreuz war auf die untere Scheibe eines schmalen Fensters im vierten Stock des Appartement-Gebäudes gerichtet. Das Hochhaus lag jenseits eines kleinen Parks etwa einen Block entfernt. Das Fenster war nicht erleuchtet. »Es ist niemand in dem Zimmer«, sagte Jake. »Noch nicht. Aber der Mann wird dort reinkommen. Es ist ein Badezimmer.« Jake nahm das Auge vom Objektiv und sah Sarge an. »Wie heißt der Mann?« »Spielt keine Rolle«, antwortete Sarge. »Es macht es einem einfacher, wenn man von dem Zielobjekt nur als dem einen spricht: eben dem Ziel. Es ist keine Person, sondern ganz einfach nur ein Ziel. Dieses spezielle Ziel hat einen starken Bartwuchs. Muß sich oft zweimal am Tag rasieren. Rasiert sich immer ein zweites Mal, wenn er abends ausgeht. Und er will heute abend ausgehen. Die Bösewichter, die ihn tot sehen wollen, haben ihn zum Dinner im Positano an der Mulberry Street eingeladen. Aber er wird nicht erscheinen. Die anderen Gangster sitzen also dort beisammen, unschuldig wie die Lämmer, warten auf ihren Kumpel, während dem das Lebenslicht ausgeblasen wird.« Jake begann zu zittern. »Schau noch mal durch das Fernrohr«, sagte Sarge. Jake tat es. Das Badezimmer war immer noch dunkel. »Das Fenster könnte Probleme machen«, sagte Sarge. »Wegen des schrägen Winkels, in dem wir schießen müssen, könnte das Geschoß durch die Scheibe abgelenkt werden, vor allem bei einem Hohlladungs- oder einem Weichbleikern-Geschoß, bei denen man ande46
rerseits sicher sein kann, daß der erste Schuß tödlich ist.« Jake schaute zu Sarge auf. »Wirklich?« Es war schwer zu begreifen, daß eine Glasscheibe eine Kugel ablenken konnte. »Ja, wirklich. Ich habe das schon erlebt. Aber es gibt eine Möglichkeit, dem vorzubeugen.« Er streckte die Hand aus. Der leichte Schimmer von Metall glitzerte auf. Es waren Gewehrpatronen. »Das sind Vollmantelgeschosse Kaliber 9,1 mm.« »Vollmantelgeschosse?« fragte Jake. »Normale Geschosse, wie sie in der Genfer Konvention zugelassen sind. Stell dir das vor – man hat tatsächlich Gesetze fürs Töten erlassen… Aber jetzt zeige ich dir einen Trick.« Sarge legte eine der Patronen beiseite. »Die ist für den ersten Schuß. Wir kümmern uns nicht drum, ob sie unser Ziel trifft oder nicht, wir benutzen sie nur dazu, die Scheibe zu zertrümmern.« Daß Sarge ›wir‹ und ›uns‹ sagte, entging Jake nicht. Es beunruhigte ihn zwar, verband ihn aber mit Sarge, als ob sie Gemeinsamkeiten teilten. Sarge zog ein Taschenmesser aus der Brusttasche und klappte die Klinge aus. »Aber die nächsten beiden werden wir ein wenig herrichten.« Jake sah genau zu, wie Sarge das Kupfer von der Spitze des Geschosses schnitt und den Bleikern darunter bloßlegte. »Das führt dazu, daß das Geschoß sich zerlegt, sobald es auf dem Ziel auftrifft. Es wirkt dann wie ein Dumdumgeschoß – kleines Einschußloch, großes Ausschußloch. Wir haben das im Krieg praktiziert. Scharfschützen auf beiden Seiten haben es gemacht. Aber man durfte sich niemals mit so einem Geschoß im Magazin vom Feind erwischen lassen. Wenn sie so ein präpariertes Geschoß bei dir fanden, haben sie dich auf der Stelle erschossen – mit deiner eigenen Munition.« Er schnitt die Spitze des zweiten Geschosses ab. »Und man muß aufpassen, daß man nicht zuviel von der Spitze abschneidet. Wenn man das tut, fliegt beim Abfeuern der Bleikern 47
durch den geöffneten Kupfermantel, und der bleibt im Lauf stecken. Dann hat man den Salat…« Er lud die beiden präparierten Patronen in das Magazin des AR10, darüber die unbehandelte Patrone, führte dann das Magazin in das Gewehr ein und lud durch. »So, wir sind fertig.« Er schaute über den Rand des Daches zu dem Appartement-Gebäude hinüber. »Und es sieht so aus, als ob unser Ziel nach Hause gekommen wäre.« Jake schob sich ein Stück zur Seite, als Sarge das AR-10 an die Schulter preßte und die Wange an den Kolben lehnte. Er drückte die Handflächen auf die Ohren, schloß aber nicht die Augen. Er beobachtete Sarge, fasziniert von der absoluten Konzentration des Mannes. Er und seine Waffe schienen miteinander zu verschmelzen. Jake wartete. Und als er schon dachte, Sarge würde aus irgendeinem Grund nicht schießen, feuerte er in schneller Folge drei Schüsse ab, vielleicht innerhalb einer einzigen Sekunde. Dann richtete er sich auf und faßte Jake an der Schulter. »Laß uns verschwinden.« Er nahm die Segeltuchtasche und führte Jake am Arm zur Tür des Treppenhauses. »Aber das Gewehr!« sagte Jake. »Und die Hülsen.« »Das ist einer der wenigen Fälle, bei denen man die Hülsen zurückläßt. Und das Gewehr. Auch die Wolldecke. Diese Dinge kann niemand zu uns zurückverfolgen. Und kein Gewehr auf der Welt ist es wert, daß man es mitnimmt und nach dem Hit damit erwischt wird. Dann ist man geliefert.« Sie hasteten die Treppe hinunter, aber als sie aus dem Lagerhaus kamen, drückte Sarge Jake die flache Hand auf die Brust. »Okay, langsam jetzt. Für die anderen Leute sind wir beide Vater und Sohn auf der Suche nach einem kleinen Imbiß, ehe wir wieder nach Jersey zurückfahren.« Sie gingen zum Wagen, schoben die Tasche in den Kofferraum und nahmen Platz. Jake begann unkontrolliert zu zittern. Er spürte den Drang zu lachen und zu weinen und sich zu übergeben, al48
les zur gleichen Zeit. Und durch seinen Kopf zuckte immer wieder derselbe Gedanke: Wir haben es getan!… Wir haben es getan!… Wir haben es getan! Und es war so schnell gegangen, war so glatt abgelaufen – und war so … einfach gewesen. »Wie geht's dir, Jake?« fragte Sarge, als er losfuhr. »Alles okay?« »Ich weiß nicht…« Jake konnte nicht aufhören zu zittern. »Ich friere. Und bin auch irgendwie … verängstigt.« »Das ist gut. Es würde mich beunruhigen, wenn du keine Angst hättest. Das ist für die jetzige Situation das richtige Gefühl.« »Hast du … hast du das Ziel getroffen?« Sarge nickte mehrmals. Er schien weder besonders glücklich noch irgendwie traurig zu sein. »Ja. Zweimal. Kein großes Kunststück. Er konnte ja nicht zurückschießen. Er hat gar nicht mitgekriegt, was mit ihm passiert ist. Stand vor dem Spiegel und hat sich rasiert. Eine wehrlose, auf dem Präsentierteller sitzende Ente. Keine große Herausforderung. Was ist schon dabei?« Jake drängte sich die Vorstellung auf, wie es jetzt wohl in dem Badezimmer aussah, aber er unterdrückte sie schnell. Sein Magen war sowieso schon in Aufruhr. »Du hast dich da oben gut gehalten, Jake. Ich dachte mir, daß du aus dem richtigen Holz geschnitzt bist, aber man kann da bei einem Mann nie sicher sein, bis er sich der Bewährung in der Praxis stellen muß. Und du hast die Bewährungsprobe bestanden.« Ein Mann… Sarge hatte ihn ›Mann‹ genannt. »Was wäre denn gewesen, wenn ich mich nicht gut gehalten hätte?« »Dann hätte ich den Hit abgeblasen. Den Auftraggebern irgendeine Ausrede erzählt. Und es später mal ausgeführt. Aber das brauchte ich ja nicht. Ich bin stolz auf dich.« Jakes Übelkeit verflog plötzlich. Sarge legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. »Also, Jake, gleich morgen früh mache ich mich an den Papierkram, 49
um dich zu adoptieren. Du bist der Sohn, nach dem ich so lange gesucht habe. Das heißt, natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast.« Etwas dagegen haben? Natürlich nicht! Aber Jake war nicht in der Lage, Sarge das zu sagen. Zumindest nicht in diesem Augenblick. Er weinte.
5 Der Ansitz
A
m frühen Sonntagmorgen betrat Jake die Lobby des Belvedere in der Aufmachung einer völlig anderen Person. Diese Person war im Vergleich zum echten Jake äußerst auffällig: breiter schwarzer Schnurrbart, langes, über die Ohren und in die Stirn fallendes schwarzes Haar; dunkelblaue Strickmütze, Sonnenbrille mit Spiegelgläsern, weiter weißer Rollkragenpullover; in der Hand einen Koffer, über der anderen Schulter eine Golftasche. Und trotz der Augusthitze trug er enganliegende Fahrerhandschuhe. »Elliot Guyer«, sagte er und tippte mit einer falschen AmericanExpress-Card auf das Empfangspult. »Ist mein Zimmer fertig?« Der junge Mann am Empfang bat ihn, seinen Namen zu buchstabieren, und tippte ihn dann in einen Computer, um die Reservierung zu bestätigen. Jake hatte das Zimmer unter dem Namen Guyer bereits vor einer Woche telefonisch bestellt. Dieser Name war nicht seine eigene Erfindung; er stand auf der gefälschten Kreditkarte, die er einem von Fredos Freunden für diesen Job abgekauft hatte. Er würde sie nur dieses eine Mal benutzen. »Ja, Mr. Guyer«, sagte der junge Mann lächelnd. »Ihre Reservierung ist bestätigt.« 50
»Ich habe mehr als nur eine allgemeine Reservierung gemacht, junger Mann«, sagte Jake. »Ich habe um ein bestimmtes Zimmer gebeten. Zimmer Nummer 1017.« »Tut mir leid, Sir, da ist keine…« Jake schlug mit der Handfläche auf die Theke. »Schauen Sie genau nach, Mann! Wenn ich in die Stadt komme, wohne ich immer in der obersten Etage, und zwar auf der Westseite, weil ich nachmittags gern Licht im Zimmer habe, und man hat mir gesagt, man würde Zimmer 1017 für mich reservieren.« Er hob die Stimme. »Und ich will Zimmer 1017 haben – nicht 1016 oder 1018 – zehn-siebzehn, ist das klar?« Wenn er das von ihm tatsächlich bestellte Zimmer 1017 bekam – oder zumindest eines daneben –, machte ihm der anscheinend vorliegende Buchungsfehler nichts aus. Im Gegenteil – das gab ihm die Gelegenheit, eine Szene zu machen. Wenn er die Anmeldung hinter sich hatte, würde jeder Angestellte des Belvedere in der Morgenschicht sich an das laute Großmaul mit der Golftasche erinnern. »Oh, Entschuldigung«, sagte der Mann am Empfang. »Da haben wir's ja. Eine Fußnote – Zimmer 1017 ist für Sie zu reservieren. Habe ich übersehen.« »Na also«, knurrte Jake. »Ich habe bei der Bestellung ja auch schon meine Kreditkarten-Nummer angegeben.« »Richtig, Sir.« Der Rest der Anmeldung ging ohne Schwierigkeiten über die Bühne, und der Angestellte klingelte nach einem Pagen. Ein schmächtiger, schwarzer junger Mann erschien und ergriff Jakes Koffer. Als er die Hand nach der Golftasche ausstreckte, wehrte Jake ab. »Nein, Mann. Das sind meine Goldstücke. Die faßt niemand außer mir an.« Als sie ins Zimmer 1017 kamen, gab Jake dem Pagen einen Vierteldollar Trinkgeld. Der junge Mann starrte einen Moment auf die Münze in seiner Hand und verbeugte sich dann mehrmals spöttisch. »Ein Quarter! Oh, vielen Dank, Sir. Vielen herzlichen Dank! Ein ganzer Quarter! Wenn das die anderen hören! So ein tolles Trinkgeld!« 51
Jake schloß die Tür hinter ihm und lächelte vor sich hin. Noch eine Person, die sich ganz bestimmt an den widerlichen Bastard in Zimmer 1017 erinnern würde. Er ging zum Fenster und schob den unteren Teil hoch. Zwei Blocks entfernt, auf dem kleinen Platz vor dem DEA-Gebäude, waren Arbeiter dabei, die Rednertribüne zu errichten. Großartig. Er zog die Vorhänge zu und rieb sich den Magen. Er hatte bereits als Jake Nacht in Zimmer 1021 gefrühstückt, war aber trotzdem noch hungrig. Die Nerven… Denn bei dieser Sache handelte es sich nicht um einen normalen Hit. Es würde ein politischer Mord sein. Jake war sich darüber im klaren gewesen, als er den Job übernommen hatte, aber die Andersartigkeit gegenüber den bisherigen Hits wurde ihm noch deutlicher bewußt, als er jetzt den Fernseher einschaltete und ihm das Gesicht des Senators der Vereinigten Staaten von Amerika Stanley Weingarten entgegenstarrte. Es war die Sendung Gesicht der Nation. Jake setzte sich und versuchte sich die Talk-Show anzuschauen. Es war nicht einfach. Kaum zu glauben, daß Leute sich an einem Sonntagmorgen tatsächlich vor den Fernseher hockten und dieses Geschwafel über sich ergehen ließen. Hohlköpfe. Absolute Hohlköpfe. Und der hohlste von allen war der Gast, Senator Whiny Weingarten. Das Ziel. Während Jake sein Gewehr aus der Golftasche nahm und auspackte, zwang er sich dazu, dem Gespräch zuzuhören. Wegen Whinys unaufhörlichem Redefluß kam es Jake so vor, als ob der Mann wüßte, daß es sein letzter Fernsehauftritt war. Sein letzter Live-Auftritt. Er quasselte drauflos, als ob er alles auf einmal sagen wolle. Und er brachte es fertig, jede Lüge so verdammt aufrichtig klingen zu lassen. Jake bewegte den frisch geölten Verschluß des Gewehrs vor und zurück. Er wäre in diesem Moment fast bereit gewesen, den Kerl 52
ohne Bezahlung umzulegen. Aber nur fast. Eine weitere von Sarges Regeln: Laß dich bei einem Hit niemals emotional beeinflussen. Entwickle niemals Gefühle für das Ziel. Zuneigung oder Abneigung, beides bringt nur Schwierigkeiten mit sich… Das Problem bei Zuneigung lag auf der Hand – man fing an, in dem Ziel mehr zu sehen als eben nur ein Ziel. Ein Ziel mußte jedoch stets nur das eine bleiben: ein Ziel. Und Abneigung konnte dir das Blut zum Kochen bringen und dich dazu verleiten, beim Hit irgendwelche kunstvollen Ausschmückungen einzubauen; statt sich darauf zu konzentrieren, das Ziel einfach nur auftragsgemäß zu töten, konnte man auf den Gedanken kommen, es gleichzeitig auch noch irgendwie zu demütigen. Bei diesem Senator Whiny Weingarten drängte sich Jake der Wunsch auf, ihn umzulegen, wenn er gerade mit runtergelassener Hose auf der Toilette saß. Der Anblick dieses fetten, verlogenen Mistkerls, der da Aufrichtigkeit und erschöpften Idealismus heuchelte und von ›Aufgabe des guten Kampfes‹ quasselte, schnürte Jake fast die Kehle zu. Er konnte das Gequatsche nicht mehr ertragen und schaltete den Fernseher aus. Als sich langsam eine kleine Menge vor der Rednertribüne versammelte, war alles bestens vorbereitet. Die Tür des Ansitz-Zimmers 1017 war abgeschlossen, die Sicherheitskette vorgelegt, ein Stuhl von innen unter den Türknauf geschoben und das ›Bitte-NichtStören‹-Schild draußen aufgehängt. Die Utensilien zur Vortäuschung eines Waffennarren lagen auf dem Tisch. Die American-ExpressKreditkarte auf den Namen Guyer sowie der Schlüssel zu diesem Zimmer lagen daneben. Der Schlüssel zu Zimmer 1021 steckte in seiner Hosentasche, so daß er ihn sofort verfügbar hatte, wenn er von hier verschwand. Zimmer 1021 war sein Fluchtversteck. 53
Nach einem Hit drängte einen der Instinkt, sofort wegzurennen, so schnell wie möglich so viel Distanz wie möglich zwischen sich und den Ort der Schußabgabe zu bringen. Wenn man draußen auf freiem Feld war, ja selbst auf der Straße in einer Stadt, war das ein guter Instinkt. Nicht so in einem Hotel. Wenn die Cops das Hotel als Herkunftsort der Schüsse ausgemacht hatten, stürmten sie es innerhalb weniger Minuten. Natürlich konnte man Glück haben. Vielleicht stürzten sie zunächst in die falsche Richtung zum falschen Gebäude und ließen einem damit Zeit, im Aufzug nach unten zu fahren, durch die Lobby zu schlendern und den Türsteher zu bitten, ein Taxi herbeizuwinken; dann war man eventuell bereits auf halbem Weg nach Hause, ehe sie das richtige Gebäude identifiziert hatten. Aber Jake verließ sich nicht auf glückliche Umstände. Glück war das Ergebnis sorgfältiger Planung. Pech resultierte daraus, daß man etwas dem Zufall überließ. Und wie Jake es sah, bestand das negativste Szenario darin, daß er bei der Absetzbewegung nach dem Hit feststellen mußte, daß das Hotel von Cops umstellt war. Wenn man dann kein Zimmer nachweisen konnte, geriet man in Schwierigkeiten. Was antwortete man, wenn die Cops fragten, was man hier zu suchen hätte? Und wenn man sagte, man gehöre zu den Gästen des Hotels, wollten sie natürlich den Zimmerschlüssel sehen. Wenn man sagte, man wolle nur jemanden hier besuchen, wollten sie sofort wissen, wen. Und wenn man mit keinem von beidem dienen konnte… Dann ist man der Kater Sylvester mit den Federn des Kükens Tweety an der Schnauze – der Hauptverdächtige. Wenn man aber ein – zweites – Zimmer unter seiner echten Identität nachweisen kann, ist man in der Lage, in den Flur hinauszutreten und zu fragen, was denn die ganze Aufregung zu bedeuten hätte. Jake entfernte den falschen Schnurrbart und spülte ihn die Toilette hinunter, ließ dann die schwarze Perücke aus dem Fenster segeln und sah zu, wie sie nach unten trudelte. Die Sonnenbrille, die Strickmütze und den irischen Rollkragenpullover hatte er bereits in 54
eine Ecke geworfen. Die Jeans behielt er an – jedermann lief heutzutage in Jeans herum –, und auch die Handschuhe trug er natürlich noch; er würde sie im Flur wegwerfen, sobald er dieses Zimmer verließ. Und dann würde er ein glattrasierter, rotblonder Mann in einem karierten Hemd sein und keinerlei Ähnlichkeit mit dem Bastard haben, der Zimmer 1017 bezogen hatte. Jake trat ans Fenster und korrigierte die Scharfeinstellung des Zielfernrohrs. Ein wunderbarer Morgen für einen Hit. Fast perfekt sogar. Die hochstehende Sonne hinter seinem Rücken tauchte das Podium in helles Licht. Er würde keine Probleme haben, das Ziel deutlich zu erkennen. Und wegen der vom zehnten Stock nach unten führenden Geschoßbahn war eine Anpassung der Richthöhe nicht erforderlich. Er sah hinüber zur Fahne auf dem DEA-Gebäude, die morgen um diese Zeit ganz sicher auf Halbmast wehen würde. Sie hing schlaff am Mast. Sehr gut. Ein typischer Augusttag in New York – keine Notwendigkeit, Seitenwind einzuberechnen. Jake hatte das linke Fenster geöffnet und die Vorhänge bis auf einen schmalen Spalt in der Mitte zugezogen. Er hielt die Mündung des Gewehrlaufs gut fünfzehn Zentimeter von diesem Spalt entfernt und schaute durch das Zielfernrohr hinunter auf die Rednertribüne. Er hatte ein Steyr-Manlicher-SSG-PII für den Job mitgebracht – Mehrlader, Kaliber 7,8 mm. Normalerweise zog er Kaliber 5,7 mm vor, aber hier waren gut vierhundert Meter zu überbrücken. Kaliber 5,7 mm war bereits auf dreihundert Meter nicht mehr zuverlässig. Das SSG-PII hatte einen grünen Plastikschaft und einen langen, schweren Lauf, was den Geschossen eine höhere Mündungsgeschwindigkeit und damit größere Treffsicherheit verlieh. Das Zielfernrohr war ein Stahlmantel-Kahler-ZF-69 mit sechsfacher Vergrößerung, das Jake auf anderthalb MOA eingeschossen hatte. Ein MOA – ›Minute Of Action‹ – verlangte ein ›minimales Trefferbild‹; man mußte es schaffen, eine Reihe von Schüssen auf eine Entfernung von hundert Metern in ein Quadrat mit der Seitenlänge von 2,5 cm zu setzen. Anderthalb MOA bedeuteten also ein Quadrat 55
von rund 4 cm Seitenlänge. Das Gewehr mit diesem Zielfernrohr war eine großartige Waffe. Schade, daß er es zurücklassen mußte. Aber das war auch etwas, das er von Sarge gelernt hatte. Jake schob den Tisch zum Fenstersims und setzte das Gewehr mit dem Zweibein darauf ab; der Schaft lag fest an seiner Wange, als er das Fadenkreuz auf die Nase des Bürgermeisters richtete, der inzwischen das Podium betreten hatte. Okay. Der Ansitz war fertig. Jetzt brauchte er nur noch darauf zu warten, daß die Begrüßungsansprachen ihren Lauf nahmen – und dann Tweety-Whiny ans Rednerpult trat. Wie stets kurz vor einem Hit wanderten Jakes Gedanken zurück zu seinem letzten Tag mit Sarge. Er haßte die Erinnerung an diesen Tag.
6 Sarge (III)
W
ährend des Sommers von Jakes sechzehntem Lebensjahr brachte Sarge ihm die Feinheiten des Präzisionsfeuers mit dem AR10 bei. Er pflegte mit einem Beobachtungsglas neben Jake zu sitzen und ihn anzuspornen. Er war gnadenlos, drängte Jake unaufhörlich, das Gewehr bis zu seinen Leistungsgrenzen auszunutzen und dann darüber hinaus vorzudringen – bis zu seinen persönlichen Leistungsgrenzen. »Du bist bald soweit, Jake«, sagte er manchmal. »Ich möchte jetzt nur noch, daß du von anderthalb auf ein MOA runterkommst. Ich weiß, daß du das schaffen kannst.« 56
Jake nickte dann und schoß weiter. Ein MOA – Jake hätte nicht geglaubt, daß so etwas überhaupt möglich war, wenn er nicht gesehen hätte, daß Sarge es wieder und wieder schaffte. Also blieb Jake an der Sache dran. Wenn Sarge meinte, er könne es schaffen, dann war es auch möglich. Was er nicht so recht verstand, war, daß er bei Sarge einen Hauch von ungeduldiger Dringlichkeit wahrnahm. Es war nichts Handgreifliches, aber er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß Sarge ihn für einen bestimmten Zweck, auf ein bestimmtes Ziel hin trainierte. Aber er scheute sich, Sarge zu fragen. Er würde es ihm bestimmt sagen, wenn er es für richtig hielt. Trotz aller praktischen Übungen verlor Jake nie den Spaß am Schießen. Wenn Sarge keine Zeit für das Gewehrtraining mit ihm hatte, ging Jake allein in einen nahe gelegenen Wald und übte mit der Mauser-Pistole, die Sarge ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Er liebte diese Pistole, liebte ihr Aussehen und das Gefühl, wie sie ihm in der Hand lag, und er liebte sie, weil sie ein Geschenk von Sarge war. Er hatte sie immer im Hosenbund stecken, wenn sie in die Pine Barrens fuhren. Aber während des Sommers war es nicht der langsame Fortschritt bei Sarges schwer zu erreichendem ›1 MOA‹, der ihn vornehmlich beunruhigte, sondern der langsame Fortschritt beim Adoptionsverfahren. Die Befragungen, die Inspizierung der häuslichen Verhältnisse, die körperlichen Untersuchungen – das alles schien kein Ende zu nehmen. Jake hätte nie gedacht, daß etwas so wenig Materielles ihm so viel bedeuten würde. Er konnte sich nicht erinnern, jemals etwas so dringend herbeigesehnt zu haben. Doch dann kamen, zwei Tage vor Labor Day, ohne jede Vorwarnung die entsprechenden Papiere mit der Post. Die Adoption war genehmigt worden. Jake war kein Waisenkind mehr. Es war offiziell: Er war jetzt Jake Nacht. Sarge lud Jake und Mrs. Nacht – es würde lange dauern, bis Jake es fertigbrachte, sie ›Mom‹ zu nennen, wenn überhaupt – zu Philly am Pier 5 zum Dinner ein. Sarge trank zuviel, und Mrs. Nacht 57
mußte die Heimfahrt übernehmen. Sie schien nicht sehr glücklich darüber zu sein. Sie schien über nichts glücklich zu sein, einschließlich der Adoption, aber sie äußerte ja kaum einmal ihre Gefühle. Jake war es ziemlich egal, welches ihre Gefühle waren. Er war jetzt Sarges Sohn. Nur das war wichtig. Es spielte keine Rolle, wer seine Mutter war. Zwei Wochen später schoß Jake sein erstes ›1 MOA‹. Sarge schien darüber glücklicher zu sein als über den Eingang der Adoptionspapiere. »Vergiß heute die Schule«, sagte Sarge beim Frühstück an Jakes sechzehntem Geburtstag. Er trug einen Tarnanzug. Es war das erste Mal, daß Jake etwas Militärisches an ihm sah. »Wir fahren in die Barrens.« »Zum Üben?« Jake gab sich Mühe, nicht enttäuscht zu klingen, aber er hatte etwas anderes erwartet. »Meinst du das etwa im Ernst? An deinem Geburtstag? Kommt nicht in Frage. Hol dein Ruger und das Zielfernrohr und was du sonst noch willst, dann fahren wir los.« Sein altes Ruger 5,6 mm? Jake hatte im letzten halben Jahr ausschließlich mit dem AR-10 geübt. »Was werden wir denn unternehmen, Sarge?« Sarge blinzelte. »Das sage ich dir, wenn wir am Ziel angekommen sind.« Als Jake schon gehen wollte, schob Sarge ihm noch ein Paket zu. »Und zieh das an.« Jake riß das Papier von dem Paket. Es enthielt einen Tarnanzug, ähnlich dem, den Sarge trug. Die Luft war frisch, und die Sonne stand hoch und hell am kristallklaren Himmel. Sarge war tiefer in die Pine Barrens hineinge58
fahren als je zuvor. Er hielt den Jeep irgendwo in der tiefsten Einsamkeit an – wirklich in tiefster Einsamkeit –, und dann sah er Jake mit einem eiskalten Blick an. »Okay, Jake Nacht. Die Zeit für deine Bewährung ist gekommen.« »Bewährung?« Worauf wollte Sarge hinaus? »Es ist Zeit zu beweisen, daß du diesen Namen verdient hast.« »Ich verstehe nicht, Sarge…« »Ich habe dir meinen Namen gegeben, Sohn. Du bist Jake Nacht. Und jetzt mußt du beweisen, daß du es verdienst, diesen Namen zu tragen.« »Wie soll ich das beweisen?« »Indem du mich tötest.« Ein kalter Schauer lief Jake über den Rücken. »Wovon um Himmels willen redest du da, Sarge?« »Muß ich es, für dich buchstabieren?« Sarge schien verärgert zu sein. »Ich habe dir alles beigebracht, was ich selbst kann. Die Zeit ist gekommen, daß du unter Beweis stellst, ein guter Schüler gewesen zu sein. Du und ich, allein hier draußen, auf Leben und Tod…« »Du machst doch Spaß, oder?« Sarge starrte ihm mit zusammengebissenen Zähnen in die Augen, und sein Gesicht lief rot an. »Nein, mein Junge, das ist kein Spaß. Das ist das wahre Leben. Das gefährlichste Spiel im wahren Leben. Ich habe lange Zeit auf dich gewartet, Jake. Du bist der beste Schütze, der mir seit dem Krieg begegnet ist. Du hast es in zwei Jahren weiter gebracht als die meisten im ganzen Leben. Als du das ›1 MOA‹ geschafft hast, wußte ich, daß du bereit für mich bist. Die Zeit ist also gekommen. Als einziges spricht gegen dich, daß du kein Profi bist. Ich werde daher fair sein. Ich werde dein kleines, kümmerliches Ruger 5,6 mm nehmen und dir das AR-10 überlassen. Es ist halbautomatisch und hat Kaliber 9,2 mm, wie du weißt. Es gibt dir einen Vorsprung in der Feuerkraft und Schußfolge. Und trotzdem werde ich dich kriegen.« Jake war sprachlos. Worauf wollte Sarge hinaus? »Mein Gott«, sagte Sarge, »guck doch nicht so überrascht und ver59
wirrt drein. Was meinst du denn, warum ich so viel Zeit in dich investiert habe? Weil ich einen Sohn haben wollte? Scheiße, nein! Ich wollte ein Ziel haben – ein Ziel, das zurückschießen kann. Ich habe die Schnauze gestrichen voll von all den wehrlosen Enten auf dem Präsentierteller. Ich wäre zurück im Krieg, in Vietnam, wenn sie mich wieder eingestellt hätten, aber sie haben mich nicht genommen. Also muß ich mich mit dem Nächstbesten zufriedengeben. Ich habe zwei Jahre darauf verwendet, dich zu trainieren, Jake. Jetzt ist die Zeit gekommen, daß sich das für mich auszahlt.« »Du … du machst doch nur Spaß…?« »Spaß machen? Du denkst tatsächlich, ich würde Spaß machen?« Er griff nach dem Ruger und holte eine Schachtel mit Patronen aus der Seitentasche seiner Kampfjacke. Er öffnete sie und schob Jake eine der Patronen zu. »Mit so einer werde ich auf dich schießen!« Jake starrte die Patrone an. Eine Patrone 5,6 mm Langgeschoß. Das konnte doch alles nicht wahr sein… Es war ein Traum, ein Alptraum. Mußte es sein. »Sarge…?« Aber Sarge zog eine andere Patronenschachtel aus einer anderen Tasche und drückte sie Jake in die Hand. »Und damit wirst du auf mich schießen.« 7,8 mm Hohlladungspatronen. Echte Killerpatronen. »Du kriegst das schwere, halbautomatische AR-10, ich nehme das Einzellader-Ruger. Damit hast du einen enormen Vorteil.« »Vorteil? Ich will keinen Vorteil, Sarge. Ich will…« »O doch, du kriegst einen Vorteil, und glaub mir, du wirst ihn brauchen.« »Was habe ich denn getan, Sarge?« Jakes Stimme zitterte. Er versuchte sie zu stabilisieren, aber es gelang ihm nicht. Was er da hörte, zerriß ihm das Herz. »Hab' ich was falsch gemacht? Sag es mir, und ich bringe es wieder in Ordnung. Ich mache es so, wie du es haben willst.« »Was du getan hast?« Sarge schob eine Patrone in das Patronenlager des Ruger und lud durch. »Du bist ein großartiger Schütze 60
geworden. Du bist der richtige Gegner für das gefährlichste Spiel geworden. Wenn es nicht so wäre, würde das hier nicht stattfinden.« Der Jeep schien in die Erde zu versinken. Die Luft wurde knapp. »Aber du hast mich adoptiert. Warum? Nur, um mich jetzt zu töten?« »Nein. Ich habe es getan, weil die Leute vom Sozialdienst sich meistens nicht mehr um ein Kind kümmern, wenn es erst einmal adoptiert worden ist. Und ich habe es zur Tarnung getan. Stell dir unsere Bestürzung vor: Die Missus und ich adoptieren dich, und wie hast du uns das vergolten? Du läufst davon, verschwindest einfach, sobald du sechzehn bist. Welch ein Undank!« Jake unterdrückte die aufsteigenden Tränen. »Ich kann das alles nicht glauben…« »O doch, du kannst es glauben, Junge.« Sarge richtete das Gewehr auf ihn. »Und jetzt steig aus.« »Nein. Ich spiele nicht mit.« Sarge drückte ab, und Jake zuckte zusammen – beim Knall des Schusses, unter dem Brennen des Mündungsfeuers so dicht an seinem Arm, beim Zerren der Kugel an seinem Hemdsärmel, durch den sie fuhr und seine Haut nur um Haaresbreite verfehlte. Er sprang aus dem Jeep, fiel hin, verstreute dabei die Patronen für das AR-10 um sich herum. Sarge warf ihm das Gewehr hinterher. Es landete auf Jakes Körper. »Dein Magazin faßt zwanzig Stück, Jake. Ich schlage dir vor, es voll zu laden.« Jake kam taumelnd auf die Beine, ließ das AR-10 aber auf dem Boden liegen. Seine Gedanken rasten. Er mußte einen Weg aus dieser Situation finden, einen Weg, Sarge wieder zur Vernunft zu bringen. »Sarge, bitte… Du verstößt gegen eine deiner eigenen Regeln.« Sarge starrte ihn an. »So? Gegen welche denn?« »Du hast gesagt, man muß immer einen guten Grund für das Töten haben. Ich kann dich nicht töten, Sarge. Ich habe keinen Grund dafür.« 61
»O doch, den hast du«, sagte Sarge, und seine Augen sprühten Feuer, als er Jake ansah. »Weil es für dich die einzige Möglichkeit ist, den morgigen Tag zu erleben… So, und jetzt fahre ich ein paar Meilen zurück nach Osten, so weit, daß ich rund eine Stunde brauche, um hierher zurückzukommen. Du solltest darauf vorbereitet sein.« »Das werde ich nicht. Ich kann nicht.« »Das solltest du aber. Wenn ich zurückkomme und dich immer noch hier rumsitzen sehe, knalle ich dich ab wie einen Kiefernzapfen. Ist das klar? Also tu dir selbst einen Gefallen und sei auf mein Kommen vorbereitet. Und wenn du zum Schuß auf mich kommst, dann tu es mit dem Ziel, mich zu töten. Genau das werde ich nämlich tun, sobald ich dich vor die Flinte kriege.« Er legte den Rückwärtsgang ein, wendete unter dem Aufspritzen einer Sandfontäne und röhrte davon. Jake stand lange Zeit auf der sandigen Lichtung, schluchzte vor sich hin und wartete darauf, daß Sarge zurückkam und ihm sagte, es sei alles nur ein Scherz gewesen. Aber er konnte an der ganzen Sache nichts Scherzhaftes finden. Vielleicht war es ein Test. Eine Zeitlang war er überzeugt, daß es sich um einen Test handelte. Wie bei Gott und Abraham. Eine seiner Pflegemütter war eine echte Bibelfanatikerin gewesen, und er hatte jeden Abend vor dem Schlafengehen lange Passagen aus der Bibel laut vorlesen müssen. Er erinnerte sich an die Geschichte, als Gott zu Abraham sagte, er müsse seinen Sohn Isaak opfern. Und er erinnerte sich an Abrahams Antwort in dem Dylan-Song – Du willst mich wohl verarschen! Das muß es sein, nicht wahr, Sarge? dachte Jake. Du willst mich verarschen, oder? Wie bei der Sache zwischen Gott und Abraham. Und du willst Gott spielen und in letzter Minute sagen, du hättest mich nur testen wollen… Ein weiterer verzweifelter Schluchzer entrang sich seiner Kehle. 62
Sarge war doch bereits sein Gott. Er brauchte Jake doch nicht zu testen, ob er fest genug an ihn glaubte. Aber tief in seinem Inneren wußte Jake, daß es kein Test war. Und Sarge hatte keinen Spaß gemacht. In seinen Augen hatte ein irrer Killer-Glanz gelegen, als er Jake zum Schluß vom Fahrersitz aus angestarrt hatte. Er hatte ganz ernsthaft vor, mit Jake heute das gefährlichste Spiel zu spielen und ihn zu Tode zu jagen. Jake mußte dieser schrecklichen Wahrheit ins Auge sehen. Und während er sich dazu zwang, wurde seine tiefe Verzweiflung von einem anderen Gefühl überlagert. Er war noch immer entsetzt, aber jetzt war er auch wütend. Die vergangenen zwei Jahre waren nichts als eine einzige Lüge gewesen. Nichts als eine beschissene gemeine gottverdammte stinkige Lüge. Und er war darauf reingefallen… Seine Wut wurde immer größer. Er lief auf und ab, ballte wieder und wieder die Fäuste. Was für ein Dummkopf war er doch gewesen! Was für ein Idiot! Dieser gemeine Bastard hatte mit ihm gespielt – wie Santana auf seiner Gitarre spielte. Jake stieß wilde Schreie aus, richtete sie gegen die umstehenden Bäume. Er hob einen morschen Ast vom Boden auf und schmetterte ihn gegen die Kiefernstämme, bis er in tausend Stücke zerbrochen war, wiederholte es mit einem zweiten Ast, schrie dazu aus Leibeskräften, bis nur noch ein heiseres Krächzen aus seiner Kehle kam und er nach Atem ringen mußte. Er wollte sterben. Aber vorher wollte er Sarge töten. Dieser Bastard… Sarge wollte sein eigenes kleines verdammtes gefährlichstes Spiel spielen. Okay – Jake würde mitspielen. Aber wo? Der schlechteste Platz war hier, wo Sarge ihn zurückgelassen hatte. Sarge würde wahrscheinlich zwei Möglichkeiten ins Auge fassen: entweder die, daß Jake hier auf ihn wartete, oder die, daß Jake nach Westen davonlaufen würde, von Sarge weg, in der Hoffnung, ihm zu entkommen. 63
Nun, Jake hatte einiges von Sarge gelernt, und dazu gehörte, daß man niemals das tun sollte, was der Gegner erwartet. Er würde diese Lektion befolgen. Jake hob das AR-10 auf und lud die Patronen in das Magazin. Als es voll war, überprüfte er die Mauser-Pistole und lud sie durch. Dann schob er sie zurück unter sein Hemd und setzte sich in Bewegung. Nach Osten. Der Sonne entgegen. Sarge entgegen. Nach ungefähr einer Meile stieß er auf eine weitere Lichtung. An ihrem westlichen Ende stand ein Ahornbaum mit gelb gefärbten, aber noch nicht fallenden Blättern. Die dünnen Kiefern waren als Ansitz nicht geeignet – ihre spärlichen Nadeln gaben keinen ausreichenden Sichtschutz, selbst wenn man eine fand, die stabil genug war, nicht zu schwanken wie ein total Betrunkener, wenn man hochkletterte und einen Ansitz bezog. Aber der Ahornbaum eignete sich bestens. Er kletterte den Baum hinauf und fand eine Astgabel als Ansitz. Er legte das AR-10 auf einen Ast und schaute durch das Zielfernrohr. Sarge würde über den halb zugewachsenen Wildwechsel kommen, der von Osten in die Lichtung einmündete. Und dort würde Jake ihn erwischen. Peng! Eine Kugel ins Auge. Das Hohlladungsgeschoß würde ihm den ganzen Hinterkopf wegreißen. Geschah dem Bastard recht… Jake begann zu zittern. Er wußte plötzlich nicht mehr, ob er es tatsächlich tun konnte. Sarge würde es können. Kein Problem für Sarge. Aber er, Jake… Sarges Kopf ins Fadenkreuz nehmen und dann den Abzug durchdrücken… Er wußte nicht, ob er… Wußte es wirklich nicht… Als er den Kopf vom Gewehr nahm und sich zurücklehnte, drohte der Knall eines Schusses, und gleichzeitig zischte eine Kugel durch die Äste und Blätter dicht links von seinem Kopf. Er zuckte zusammen und fiel fast von der Astgabel. 64
Sarge! Jake legte das Auge sofort wieder an das Zielfernrohr, schaltete auf ›weites Sichtfeld‹ um und richtete es auf die linke Seite der Lichtung. Wo war Sarge? Sarge war seiner Regel gefolgt und hatte das Unerwartete getan. Er war nicht dem Wildwechsel gefolgt, sondern mußte durch das Unterholz gekommen sein. Aber wie hatte er Jake in dem Ahornbaum sehen können? Das Blätterdach war dicht, und Jake trug den Tarnanzug. War Sarge wirklich so gut? Trotz der kühlen Brise fing Jake an zu schwitzen. Selbst inmitten der dichten Blätter und Zweige fühlte er sich wie auf dem Präsentierteller. Nackt. Und blind. Er sah keinerlei Bewegung da drüben, ob mit oder ohne Zielfernrohr. In einem Anfall von Verzweiflung feuerte er ein halbes Dutzend Schüsse in das Gebüsch am Rand der Lichtung, duckte sich dann hinter einen Ast, beobachtete angestrengt und wartete darauf, daß das Echo der Schüsse aus seinen Ohren verschwand. Nichts… Stille. Kein Vogelgezwitscher. Kein Summen eines Insekts. War es möglich – konnte er Sarge mit einem Glücksschuß erwischt haben? Im selben Moment dröhnte wieder ein Schuß, und Borkensplitter des Astes neben seinem Gesicht zischten durch die Luft. Jake fuhr zurück, ließ das AR-10 los, und das Gewehr rutschte von dem Ast, auf dem er es aufgelegt hatte. Er griff hastig danach, verfehlte es aber. Die Bewegung brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er wollte sich an einem Ast neben sich festhalten, aber er war zu dünn und rutschte ihm aus der Hand. Und dann stürzte er mit einem entsetzten Schrei rückwärts von seinem Sitz. Kleine Äste peitschten in sein Gesicht, größere zerfetzten sein Hemd, während er verzweifelt versuchte, sich irgendwo festzuhalten und den Sturz zu bremsen. Er prallte mit dem Rücken gegen einen Ast von der Dicke seines Oberschenkels, und der irre Schmerz gebrochener Rippen zuckte durch seine Brust. Schließlich landete er unsanft neben dem AR-10 auf dem Boden. 65
Der Aufprall nahm ihm den Atem und verursachte eine neue Schmerzenswelle in der Brust. Er schnappte keuchend nach Luft, rollte sich in eine sitzende Position, riß das Gewehr an sich, feuerte in das Gebüsch am Rand der Lichtung, bis das Magazin leer war. Als der Schlagbolzen auf ein leeres Patronenlager traf, griff er in die Jakkentasche, suchte nach der Patronenschachtel, aber noch ehe seine Finger sie berührten, erstarrte er in der Bewegung. Sarge kam vom Rand der Lichtung langsam auf ihn zu. Seine Augen glitzerten hell, sein rotes Haar glänzte in der Sonne wie Feuer, sein Mund war nur ein schmaler Strich. Er sah aus wie der Tod. »Ich bin sehr enttäuscht von dir, Jake«, sagte er mit träger Stimme. »Du hast alles vergessen, was ich dir beigebracht habe.« »Sarge…«, begann Jake. Mehr brachte er nicht heraus. Jeder Atemzug bereitete ihm stechende Schmerzen in der Brust. »Was sollte dieses wilde Herumballern? Und dieser Baum – er ist der auffallendste Punkt weit und breit für einen Ansitz. Zum Teufel, ich saß da drüben im Gebüsch und habe zugeschaut, wie du raufgeklettert bist. Mach das Unerwartete, verdammt noch mal! Hast du denn nicht zugehört? Ich habe zwei Jahre Training in dich investiert, damit du mir einen ausgeglichenen Kampf lieferst, und was machst du? Du vermasselst alles!« Er entblößte wütend die Zähne, drehte das Gewehr um und hielt Jake den Kolben vors Gesicht. »Verdammt, ich bin so wütend auf dich, ich würde dir am liebsten damit den Schädel einschlagen!« Jake spürte, daß er es ernst meinte. Er bedeutete Sarge nichts – er war für ihn nichts als ein hausgemachtes Ziel, das zurückschoß. Und jetzt würde er dieses hausgemachte Ziel töten. Jake konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken, und es verursachte erneut ein wildes Stechen in der linken Brustseite. Er rollte sich auf die Seite und griff unter sein Hemd, um die schmerzende Stelle zu stützen. Seine Finger berührten die Mauser-Pistole, die Sarge ihm damals geschenkt hatte. Er legte die Hand um den Schaft, entsicherte sie. »Du machst mich krank, du Jammerlappen«, sagte Sarge. »Ich hät66
te keine einzige Patrone an dich vergeuden sollen. Hätte dich hier draußen verhungern lassen sollen, obwohl ich das nicht mal einem Straßenköter antun würde.« Er zog den Verschluß des Ruger zurück, legte eine neue Patrone ein und lud durch. »Aber es besteht ja die Chance von eins zu einer Million, daß jemand dich findet, ehe du verhungerst. Und dann würdest du natürlich alles ausspucken, mich in die Pfanne hauen, nicht wahr? Also heißt es jetzt, Abschied zu nehmen, Jake. Keine Angst. Ich mach's schnell. Ich bin schließlich kein Sadist.« Er richtete den Lauf auf Jake. Er macht es tatsächlich! Jake drückte den Abzug der Mauser. Der Schuß durch das Hemd verfehlte sein Ziel. Aber noch ehe die Schockreaktion in Sarges Augen sich verfestigen konnte, drückte Jake erneut ab. Der Schuß traf Sarge in die rechte Brustseite, riß ihn nach rechts zurück. Die dritte Kugel fuhr in die linke Schulter, stellte ihn wieder gerade vor Jake, der jetzt die Pistole unter dem Hemd hervorriß und die vierte, fünfte und sechste Kugel in die Mitte von Sarges Brust feuerte. Bei jedem Schuß taumelte Sarge ein Stück weiter zurück; er riß die Arme hoch, und das Ruger fiel ihm aus den Händen. Er sank nach hinten, in eine sitzende Position, und starrte Jake verblüfft und entsetzt an. »Du Bastard!« Der Schmerz in der Lunge erlaubte Jake nur ein heiseres Flüstern. »Du dreckiger, verlogener Bastard!« Er feuerte den siebten Schuß in Sarges Gesicht, und dessen Kopf zuckte, umgeben von einem rotsprühenden Ring, zurück. Er sank auf den Rücken. Jake kämpfte sich auf die Beine und taumelte die zwei Schritte zu ihm hin. Er stand über ihm und pumpte die letzten drei Kugeln in Sarges Kopf; dann war das Magazin leer, aber Jake drückte immer wieder auf den Abzug, schluchzend, weinend, fluchend… Und dann drehte er sich um, sank gegen den Stamm des Ahornbaumes und weinte zum letzten Mal in seinem Leben. Sarge war tot. Und mit ihm ein Teil von Jake. 67
7 Der Hit
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ake lehnte die Wange an den kühlen Kolben des SSG und schaute durch das Zielfernrohr. Zehn Stockwerke unter ihm und zwei Blocks entfernt erschien der vornehme graue Haarschopf des Bürgermeisters im Sichtfeld. Wie Jake seinen Lippen ablas, schloß er gerade seine Einführung ab und kündigte anschließend den Hauptredner der Veranstaltung an – den Senator der Vereinigten Staaten Stanley Weingarten. Das strahlende Gesicht des Bürgermeisters verschwand aus dem Sichtfeld, statt dessen tauchte der rotbäckige Apfel-Kopf des Ziels darin auf. Whinys Gesicht glänzte vor Schweiß; es glitzerte so hell, daß Jake kurz überlegte, ob er einen UV-Filter auf das Objektiv setzen sollte. Whinys künstliches Haarteil war heute deutlich als solches zu erkennen, da die Hitze und die Luftfeuchtigkeit das natürliche Haar um die Ohren und den Nakken kräuselten, das Toupet aber steif und strähnig blieb. »Sobald er anfängt zu reden – leg ihn gleich beim ersten Satz um.« Das war laut Fredo der ausdrückliche Wunsch seines Onkels. Okay. Für eine Million Dollar konnte er das haben. Jake preßte den Kolben fester an die Wange. Kein Grund, die Sache in die Länge zu ziehen. Kein Grund, die armen Leute da unten in der Hitze länger als nötig dem Gerede des Fettsacks auszusetzen. Er richtete das Fadenkreuz genau auf Whinys rechte Schläfe. Direkt unter ihm auf der Straße hatte ein Lastwagen eine laute Fehlzündung. Jake erlaubte sich ein Lächeln. Danke, Truck. Mach das noch mal. Dann kann niemand so schnell feststellen, von wo der Schuß kam. Er atmete tief ein, stieß die Luft wieder aus, zog den Abzug langsam durch… 68
Langsam … langsam … gleich fällt der Schuß… Plötzlich ein lautes Hämmern gegen die Zimmertür. Jake zuckte zusammen. Das SSG feuerte. Eine laute Stimme vor der Tür lenkte ihn ab, so daß er nicht erkennen konnte, ob er das Ziel getroffen hatte. »Polizei! Aufmachen! Wir wissen, daß Sie da drin sind! Öffnen Sie sofort die Tür – oder wir brechen sie auf!« Wieder ein wildes Hämmern gegen die Tür. Jake zögerte nicht. Er streckte den Kopf aus dem Fenster und schaute sich um. Ein etwa dreißig Zentimeter breiter Sims verlief vor den Fenstern. Um die Ecke des Gebäudes war er fast um die Hälfte schmaler. Während hinter ihm wildes Pochen und gedämpfte Rufe durch das Zimmer hallten, schwang er sich auf den Sims und schob sich, mit dem Gesicht zur Wand – schau ja nicht nach unten! –, nach rechts zur Ecke hin. In Richtung auf sein anderes Zimmer. Zimmer 1021. Nur zwei Fenster und dann um die Ecke – du kannst es schaffen… Was zum Teufel war geschehen? Cops. Jemand hatte ihnen einen Tip gegeben. Das war die einzige Erklärung. Wer? Warum? Diese Fragen fuhren ihm auf dem Weg zur Ecke durch den Kopf. Er schob sie von sich, als er den schmaleren Sims an der Ecke erreichte. Es würde schwierig sein, um die rechtwinklige Ecke zu kommen. Aber er durfte nicht langsamer werden. Sobald sie die Tür aufgebrochen hatten und das Zimmer leer vorfanden, würden sie zum Fenster stürzen und nach ihm Ausschau halten. Wenn er vorher um die Ecke kam… Und wenn niemand in den Zimmern sah, wie er sich draußen vorbeibewegte… Wenn, wenn … viele Wenns… Jake legte den linken Arm um die Ecke, schob den linken Fuß nach, dann den ganzen Körper. Mitten in der Bewegung wurde es gefährlich, als er fast das Gleichgewicht verlor und dazu noch ein unverhoffter Windstoß ihn von der Wand wegdrückte. Er schrie vor Angst beinahe auf, biß jedoch die Zähne zusammen, drückte die Wange und die Handflächen fest gegen die Wand und schob sich 69
endgültig um die Ecke. Auf der Nordseite des Gebäudes überfiel ihn das irre Verlangen, eine Pause einzulegen, sich auszuruhen. Warum nicht? flüsterte ihm eine verführerische Stimme ein. Du bist außer Sicht von Zimmer 1017, und du bist außer Sicht vom Ort der Veranstaltung da unten. Du hast eine Pause verdient. Nein, zum Teufel, dachte Jake und schob sich weiter vor, hielt den Atem an, als er am Fenster von Zimmer 1019 vorbeikam. Aber das Zimmer schien leer zu sein. Jetzt kam Zimmer 1021 – sein Zimmer. Er betete, daß er das Fenster gestern abend nicht verriegelt hatte. Er meinte, es nicht getan zu haben, war sich aber nicht sicher. Er lachte fast auf, als die Scheibe problemlos hochglitt. Er tauchte durch die Öffnung und blieb dann keuchend und zitternd auf dem Boden von Jake Nachts Zimmer liegen. Jetzt konnte er sich ausruhen. Aber nur für ein paar Sekunden. Nur lange genug, um sich wieder zu sammeln und ruhig zu werden. Während er auf dem Teppich lag, fragte er sich, ob der Hit gelungen war. Er hatte noch niemals einen Fehlschuß abgegeben, aber er hatte Whiny nicht zu Boden stürzen sehen. Er hatte nach dem Schuß nur vage ein wildes, chaotisches Durcheinander um das Podium wahrgenommen – vielleicht hatte er also doch sein Ziel getroffen. Aber war es auch ein tödlicher Schuß gewesen? Verdammt! Wenn diese Arschlöcher nur eine Sekunde später an der Tür gewesen wären, gäbe es dazu keine Frage… Er setzte sich auf, streifte die schwarzen Fahrerhandschuhe ab und warf sie aus dem Fenster. Dann schloß er es und starrte durch die Scheibe auf die umliegenden Gebäude. Die meisten waren Bürogebäude, tot und leer – dieser Teil der City war an einem Sonntagmorgen eine hochaufragende Geisterstadt. Hatte ihn jemand gesehen? Wahrscheinlich nicht. Es war ihm da draußen auf dem Sims wie eine Ewigkeit vorgekommen, aber tatsächlich war er kaum mehr als eine Minute unterwegs gewesen. Und wann schauten New Yorker schon mal aus dem Fenster? Was gab es außer anderen Gebäuden für sie zu sehen? 70
Aber es war natürlich nicht auszuschließen, daß doch jemand den Fassadenkletterer gesehen hatte. Jake zuckte mit den Schultern. Wenn es so war, er konnte es jetzt nicht mehr ändern. Er mußte sein weiteres Vorgehen danach ausrichten, daß er nicht bemerkt worden war. Er stand auf und ging zur Zimmertür. Er brauchte nicht einmal das Ohr an die Tür zu legen, um den Tumult draußen auf dem Flur zu hören. Okay, dachte er, richtete sein Hemd und klopfte die Jeans aus. Er mußte jetzt den aufgeregten Hotelgast spielen. Er öffnete die Tür und trat auf den Flur. Blieb an der Ecke stehen. Drei uniformierte Cops in schußsicheren Westen, Pistolen und Shotguns in den Händen, standen vor Zimmer 1017. Aus den aufgeregten, wütenden Stimmen, die durch die geöffnete Zimmertür drangen, schloß Jake, daß sich dort noch weitere Polizisten befanden. Ein etwa fünfzigjähriger Mann in blauem Blazer und grauer Hose kam aus dem Zimmer gestürmt. Er hielt eine Pistole in der Hand, und am Aufschlag seines Blazers baumelte das Metallschild eines Detectives. In seinem zerfurchten, gebräunten Gesicht fiel der grimmig vorstehende Unterkiefer besonders auf. Das volle Silberhaar trug er in einem kunstvollen Fünfzig-Dollar-Schnitt. Er sah aus wie eine alternde Yuppie-Bulldogge. »Dieser verdammte Mistkerl!« sagte der Mann im Blazer. »Wo zum Teufel ist er hin?« »Vielleicht war er gar nicht in dem Zimmer«, meinte ein uniformierter Sergeant, der hinter ihm aus 1017 kam. »Na, Harry, jetzt aber! Du hast doch selbst gesehen, wie er die Tür von innen verbarrikadiert hatte. Er war da drin. Er ist durchs Fenster entkommen. Und wenn er keinen Fallschirm benutzt hat, ist er immer noch im Gebäude. Versiegelt das Zimmer. Und stellt sicher, daß niemand das Hotel verläßt, den ich nicht persönlich überprüft habe. Und ich will, daß jedes verdammte Zimmer durchsucht wird, eines nach dem anderen, beginnend hier oben bis runter zum Keller.« 71
Jake meinte, dieser Moment sei so gut wie jeder andere geeignet, sein Spiel zu spielen. Er verzog das Gesicht zum besten zornigen Ausdruck, den er zustande brachte. »Was zum Teufel ist eigentlich hier los?« Der Sergeant namens Harry drehte sich zu ihm um. »Polizeiaktion, Sir. Bitte gehen Sie zurück auf Ihr Zimmer.« »Können Sie denn nicht ein bißchen leiser sein?« fragte Jake vorwurfsvoll. Der Mann im Blazer fuhr zu Jake herum, kniff wütend die Augen zusammen, preßte die Lippen zusammen, schien auf Jake losgehen zu wollen. Statt dessen erstarrte er, riß die Augen weit auf und hob dann die Pistole. »Das ist er!« Er drückte ab. Jake hatte sich bereits halb umgedreht, wollte zurück in sein Zimmer. Er hörte den Schuß, spürte den Aufprall des Geschosses wie einen Schlag mit dem Baseballschläger am Hinterkopf und im Nakken, und dann verblaßte alles – die Cops, der Flur, das Hotel … alles.
8 Lebende Leiche
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ake erinnerte sich, hin und wieder aus der Bewußtlosigkeit in einen Dämmerzustand der Wahrnehmungsfähigkeit erwacht zu sein; Lichter waren an- und ausgegangen, Stimmen waren zu hören gewesen, viele Stimmen, diesmal aber war es das erste Mal, daß er die Augen öffnen und einigermaßen klar sehen konnte. Er schaute auf 72
eine weiße Zimmerdecke. Eine Zimmerdecke in ordentlichem Zustand; nur wenige Risse… In seinem Kopf hämmerte es wie nach einer wilden Sauftour. Seine Zunge schmeckte, als ob jemand sie mit Zement beschmiert hätte … vor zwei Tagen. Er versuchte den Kopf zu drehen, um zu sehen, wo er sich befand, aber es ging nicht. Sein Hals steckte in einer Art Klammer. Er spürte, wie sie gegen sein Kinn und den Unterkiefer drückte. So konnte er seine Umgebung nur mit den Augen erkunden. Er lag in einem Bett. Mit Seitengeländer. An einem Metallständer rechts von ihm hing ein Plastikbeutel mit einer klaren Flüssigkeit, und ein durchsichtiger Schlauch lief von dem Beutel zu… Ein Krankenhaus. Er lag in einem Krankenhausbett. Warum? Dann erinnerte er sich. Das ist er! Der Detective in dem Blazer. Das ist er! Der Mann hatte ihn erkannt. Das ist er! Der Mann hatte die Pistole gehoben. Das ist er! Und dann hatte der Mann geschossen. Gar keine Frage – der Mann hatte ihn erkannt. Hatte gewußt, wie Jake aussah. Er hatte in Zimmer 1017 nicht nach Elliot Guyer gesucht. Er hatte nach Jake Nacht gesucht. Wie zum Teufel war das möglich? Nur Mr. C und Fredo hatten gewußt, daß er dort sein würde. Sie hatten ihn angeheuert, um Whiny zu töten. Warum sollten sie den Cops einen Tip geben, um ihn davon abzuhalten? Machte keinen Sinn… Es mußte irgendein anderer gewesen sein. Wer, verdammt noch mal? Eine Stimme… Irgendwo links von ihm. Aus den Augenwinkeln sah er, daß ein Mann am Kopfende des Bettes stand. Ein Mann in einem blauen Blazer. Der silberhaarige Bastard von Detective, der 73
auf ihn geschossen hatte. Er telefonierte, sprach mit leiser Stimme. »…Nein. Er wird überleben… Ja, er wird reden können. Wird nicht mehr viel sonst tun können, aber reden wird er können. Ob er reden wird, kann ich nicht beurteilen. Sie kennen ihn besser als ich… O nein. Das geht nicht. Ich habe ihn unter Bewachung hier. Wenn Sie das wollen, dann schicken Sie einen von Ihren Jungs her. Wenn der es macht, ist es okay. Aber ich kann es nicht machen. Auf keinen Fall.« Jake hörte, wie die Tür gegenüber dem Mann im blauen Blazer geöffnet wurde. Der Detective murmelte noch »Muß Schluß machen« und legte auf. Jake schloß die Augen. »Detective Danziger«, sagte eine neue Stimme, männlich, leise, selbstsicher. »Würden Sie bitte draußen warten, während ich Mr. Nacht untersuche?« »Ich weiß nicht, Doc…« »Er wird nicht davonlaufen, das versichere ich Ihnen.« »Sicher, aber wenn er aufwacht und zu reden beginnt, will ich hören, was er zu sagen hat.« »Wenn er aufwacht, werden Sie der erste sein, der es erfährt.« »Okay. Ich warte direkt vor der Tür.« Jakes Gedanken rasten, während der Arzt an sein Bett trat. Dieser Cop mit Namen Danziger war ganz offensichtlich ein korrupter Mistkerl, trieb ein schurkenhaftes Spiel, und ebenso offensichtlich war irgend jemand sehr besorgt, Jake könnte ausspucken, was er über den Weingarten-Hit wußte. Und dieser Jemand suchte nach einem Weg, ihn endgültig zum Schweigen zu bringen. Jake mußte schleunigst von hier verschwinden. Er öffnete wieder die Augen. Ein Mann in einem weißen Arztkittel mit blassem Gesicht und Halbglatze stand am Fußende des Bettes und hielt Jakes Fuß in der Hand, rieb mit irgendeinem Gegenstand über die Sohle. Eine eisige Welle des Schocks und der Panik ließ Jake erstarren. »Wieso spüre ich nichts von dem, was Sie da machen?« fragte er. Der Arzt ließ den Fuß aufs Bett sinken und starrte Jake an. Dann 74
lächelte er. »Ah, Mr. Nacht, ich sehe, wir sind aufgewacht…« »Verdammt richtig, wir sind aufgewacht. Und wieso habe ich nichts davon gespürt, was Sie da gerade gemacht haben?« Jake versuchte die Hand zu heben, aber es erfolgte keine Reaktion. Er versuchte herauszufinden, wo seine Hände waren – und mußte feststellen, daß er nicht einmal sicher sein konnte, ob er überhaupt Hände hatte. »Wieso spüre ich überhaupt nichts?« Seine panische Angst wurde immer größer. »Ganz ruhig bleiben, Mr. Nacht. Ich bin Dr. Graham, der diensthabende Neurochirurg. Ein Schuß hat Sie im Nacken getroffen. Ich habe die Geschoßsplitter entfernt, die verletzten Nackenmuskeln zusammengenäht und die Wunde verschlossen. Aber die Kugel hat einen Bruch in der Nacken-Wirbelsäule verursacht. Im Moment sind Sie gelähmt.« Jake unterdrückte die Panik und griff nach dem, was wie ein Strohhalm aussah. »Im Moment?« »Ja. Traumata dieser Art verursachen Ödeme – Schwellungen – an der gesamten Wirbelsäule, und diese wiederum verursachen eine Lähmung. Wenn die Wirbelsäule intakt ist, werden Ihre sensorischen und motorischen Funktionen zurückkehren, sobald die Schwellung nachläßt. Wenn nicht…« »Sie wissen also noch nicht, ob das eintreten wird?« »Wir warten noch auf das Resultat des Szintigramms von Ihrem Nacken. Erst dann können wir das genaue Ausmaß des Schadens beurteilen. Aber wie auch immer – es gibt da ja noch andere Dinge, über die Sie sich Gedanken machen müssen.« »Großartig. Und das wäre?« »Der Mordversuch an Senator Weingarten.« Mordversuch? Das bedeutete, daß er Whiny verfehlt hatte. Gottverdammte Scheiße! War denn wirklich alles schiefgegangen? »Wer ist Senator Weingarten?« fragte Jake. Dr. Graham sah Jake verwirrt an, trat dann aus seinem Gesichtsfeld 75
und ging zur Tür. Jakes Gedanken rasten. Er saß in diesem Zimmer in der Falle, und selbst nach dem bestmöglichen Szenario würde es lange Zeit dauern, bis er hier wieder rauskam. Das vordringlichste Ziel mußte also sein, bis dahin am Leben zu bleiben. Und es gab nur eine einzige Möglichkeit, das sicherzustellen: Er mußte alles ableugnen. Er war Jake Nacht, Wachmann aus New Jersey, in die Stadt gekommen, um sich einen schönen Tag zu machen und vielleicht ein bißchen Golf zu spielen. Er hatte nur ganz nebenbei mal was von diesem Senator Weingarten gehört und ganz bestimmt keinen Grund, ihm den Tod zu wünschen. Er war ein argloser Zuschauer, den ein schießwütiger New Yorker Cop grundlos niedergeschossen hatte. Ja, so könnte es funktionieren. Er hatte eine blütenweiße Vergangenheit und war ein ruhiger, gesetzestreuer, brav seine Steuern zahlender Hausbesitzer aus Atlantic County, New Jersey. Hausbesitzer, weil Sarges Haus inzwischen ihm gehörte… Plötzlich, mitten in all seiner Angst, drang Sarges Bild in Jakes Bewußtsein: Blut lief aus seiner Brust und seinem Gesicht; Jake hatte sich nie gefragt, wie es war, wenn man von Kugeln getroffen wurde, jetzt aber wußte er es. Für einen Augenblick war er, Jake, der auf dem Rücken liegende Sarge, in dessen Körper sich die Kugeln wie glühende Schürhaken gebohrt hatten. Dann war er wieder Jake, stand über Sarge und starrte hinunter auf den blutdurchtränkten Torso. Jake versuchte die Gedanken zu verdrängen, aber sie ließen ihn nicht los, führten ihm das weitere Geschehen wieder vor Augen… Er hatte Sarges Leiche unter dem Ahornbaum liegenlassen, war dann auf der Fahrspur davongetaumelt, nach Osten, bis er auf den Jeep gestoßen war. Es gab für ihn keinen anderen Ort als das Haus, zu dem er fahren konnte, also fuhr er dorthin zurück. Mrs. Nacht saß an ihrem üblichen Platz am Fenster, als er hereingestolpert kam. »Er kommt nicht mehr zurück, nicht wahr?« hatte sie gefragt. Jake hatte nur ein Kopfschütteln zustande gebracht. Sie nickte grimmig und steckte sich eine Zigarette an. 76
Sie bot nicht an, sich um seine Verletzungen zu kümmern oder ihn zu einem Arzt zu bringen, aber sie hielt weiterhin das Haus in Ordnung und kochte für ihn, als sei nichts geschehen. Nach drei Tagen meldete sie Sarge bei der Polizei als vermißt. Sagte der Staatspolizei, er sei zum Jagen in die Wälder gefahren und bisher nicht zurückgekommen. Sie erwähnte nicht, daß Jake bei ihm gewesen war. Wie sie später niemals mehr Sarges Namen erwähnte. Sobald Jake sich gesundheitlich erholt hatte, verließ er das Haus und fand einen Job in der Autofabrik von General Motors in Edison. Zwei Jahre später erhielt er per Einschreiben einen Brief von der Nachlaß Verwaltung, in dem ihm mitgeteilt wurde, daß Mrs. Nacht verstorben war – an Lungenkrebs, wie sich herausstellte –, und da Herbert ›Sarge‹ Nacht inzwischen für tot erklärt worden war, ging das Haus in Jakes Besitz über. In einer ersten Reaktion meinte er, er wolle nichts mit dem Haus oder irgend etwas anderem zu tun haben, das ihn an Sarge erinnerte, aber dann überlegte er sich, warum er das Erbe eigentlich nicht annehmen sollte. Es war ein hübscher Besitz – und er versprach ihm einen letzten höhnischen Triumph über Sarge. Kurz nach seinem Einzug in das Haus tauchte ein Mann auf und fragte nach Sarge. Er hätte einen Job für ihn, hätte ihn aber über die üblichen Kanäle nicht erreichen können und sei deshalb hergekommen, um ihn persönlich zu sprechen. Jake brauchte keine zwei Sekunden, um sich zu entscheiden – die beiden Jahre in der Autofabrik waren ihm wie eine Zuchthausstrafe vorgekommen –, und so sagte er, er sei Sarges Sohn und habe das Geschäft übernommen. Der Mann war unschlüssig geworden, bis Jake ihn mit in die Pine Barrens genommen und ihm seine Schießkünste demonstriert hatte. So bekam er seinen ersten Kontakt. Den ersten von vielen. Aber anders als Sarge hatte Jake nie geheiratet. Es gab keine Mrs. Nacht II. Nur periodische Ausflüge nach AC und eine Nacht oder ein Wochenende mit einer Gunstgewerblerin namens Caitlin oder einer ihrer Kolleginnen… 77
Hier riß Jakes Gedankenkette ab. Ihm fiel ein, warum er in einem so schwierigen Moment in die Vergangenheit abgeschweift war: das Haus. Sarges Haus. Die Cops würden es vom Dach bis zum Keller durchsuchen, um Beweise gegen ihn zu finden. Würden sie etwas finden? Für einen kurzen Moment überfiel ihn panische Angst, aber dann beruhigte er sich schnell wieder. Eine der ersten Veränderungen, die er im Haus vorgenommen hatte, war das Ausräumen von Sarges Waffenzimmer gewesen. Er hatte das ganze Arsenal tief in den Wäldern vergraben, wo niemand es jemals finden würde. Außer dem S&W Chief Special, seinem ›Dienstrevolver‹ als Wachmann, befand sich keine Waffe im Haus. Die Polizei würde sogar erwarten, den Revolver in seinem Haus zu finden. Ansonsten war das Haus ›sauber‹ wie ein Nonnenkloster. Links von sich hörte er den Doktor sagen: »Er ist wach, Detective.« Danziger erschien in seinem Blickfeld. Er wollte etwas sagen, aber Jake kam ihm zuvor. »Sie sind der Mann, der auf mich geschossen hat! Dr. Graham, dieser Mann da hat versucht mich zu töten! Rufen Sie sofort die Polizei an!« »Er ist die Polizei«, sagte Dr. Graham. »Das ist Detective Danziger vom New York Police Department.« »Ich will mit diesem Mann nicht sprechen! Er…« »Sie haben gar nichts zu wollen, Nacht.« Danziger stach mit dem Zeigefinger fast in Jakes Gesicht. »Sie stehen unter…« »Hilfe! Er hat bereits einmal versucht mich zu töten!« kreischte Jake mit hoher Stimme. Die Anstrengung verstärkte das Hämmern in seinem Kopf. »Er hat ohne jeden Grund auf mich geschossen! Und jetzt will er den Job endgültig zu Ende bringen!« Danzigers Gesicht lief rot an. »Reden Sie keinen Blödsinn!« Aber Jake steigerte sein Geschrei noch: »Hilfe! Mörder! Hilfe! Er wird mich umbringen! Hilfe!« Seine Kopfschmerzen waren inzwischen fast unerträglich, aber er schrie weiter, während Dr. Graham den Detective zur Tür zog. 78
»Ich muß Sie bitten, das Zimmer zu verlassen, Detective. Mein Patient regt sich wegen Ihnen zu sehr auf!« »Quatsch!« knurrte Danziger. »Er ist ein…« »Bitte, Detective. Sein Zustand ist kritisch, und Ihre Anwesenheit verschlimmert ihn noch. Sie haben ihn bereits zum Krüppel geschossen. Was sonst wollen Sie ihm noch antun?« Danziger schimpfte vor sich hin, warf Jake einen letzten wütenden Blick zu und stürmte dann aus dem Zimmer. Als er das Zuschlagen der Tür hörte, stellte Jake sein Hilfegeschrei ein. »Ist er weg?« fragte er mit ängstlicher Stimme. »Ja, er ist gegangen«, sagte Dr. Graham und trat ans Bett. »Aber er wird sicher irgendwann zurückkommen.« Er schaute über die Schulter und dann wieder auf Jake. »Sie haben da gerade eine sehr ernste Beschuldigung erhoben…« Jake wußte, daß er jetzt zum ersten Mal eine später sicher noch oft vorzutragende Geschichte erzählen mußte. Er machte es kurz und prägnant: »Es ist wahr, was ich sage. Sie müssen mir das glauben, Dr. Graham. Ich verstehe es nicht… Ich ging aus meinem Hotelzimmer, um nachzusehen, was da für ein Tumult auf dem Flur war. Zwei Zimmer weiter um die Ecke standen mehrere Polizisten vor der offenen Tür. Ich fragte, was denn los sei, und dann … dann schoß dieser Mann sofort auf mich. Ich verstehe das nicht…« Er blinzelte, wünschte, er könnte eine Träne aus den Augenwinkeln drücken. »Ich verstehe es einfach nicht.« Zweifel und Glauben mischten sich auf Dr. Grahams offenem Gesicht. Er klopfte sanft auf Jakes Schulter – eine Schulter, die für Jake nicht existierte. »Ich werde der Sache nachgehen, darauf können Sie sich verlassen«, sagte er. »Machen Sie sich inzwischen keine Sorgen. Wir tun alles für Sie, was in unserer Macht liegt. Alles.« »Ich glaube Ihnen«, sagte Jake. »Aber lassen Sie diesen Killer nicht mehr in meine Nähe.« Man ließ Jake eine Zeitlang in Ruhe. Hin und wieder kamen Schwe79
stern herein, sahen ihn mit wachsamen, aber auch mitleidigen Blicken an, gaben ihm Wasser, taten auch sonst das, was Schwestern zu tun pflegen und ließen ihn dann wieder allein. Das war gut so. Denn er mußte über vieles nachdenken. Er kam zu dem Schluß, daß es wohl am besten sei, wenn er bei der Story blieb, die er Dr. Graham erzählt hatte: Ich bin absolut zufällig in diese Sache reingeraten – ein argloser Zuschauer, der Opfer eines schießwütigen Cops geworden ist. Das würde auch seinen Auftraggebern die Botschaft vermitteln, daß sie sich keine Sorgen um sein Schweigen zu machen brauchten – und bestätigen, was sie wahrscheinlich schon wußten: daß Jake Nacht ein zuverlässiger Mann war, der auf niemanden mit dem Finger zeigen würde – höchstens auf den Cop, der ihn zum Krüppel geschossen hatte. Aber das brachte ihn kein Stück weiter bei der Frage, wer Whinys Arsch gerettet hatte. Und warum. Er mußte das klären, sobald er hier raus war. Er würde früher oder später herausfinden, wer dahintersteckte, und dann würde er auch wissen, warum man ihn in die Pfanne gehauen hatte. Und dann würde es ein paar Tote geben. Ganz bestimmt… Dr. Graham kam herein, das Gesicht grimmig wie der Sensenmann persönlich. »Ich mag den Ausdruck auf Ihrem Gesicht nicht, Doc.« »Wir haben jetzt die Auswertung des Szintigramms, Mr. Nacht. Leider keine guten Nachrichten.« Jakes Mund wurde trocken. »Spucken Sie's schon aus.« »Nun denn…« Dr. Graham schluckte. »Ein Fragment der Kugel ist in Ihr Rückenmark eingedrungen und hat es zu neunzig Prozent durchtrennt.« »Was bedeutet das?« Eiskaltes Entsetzen packte ihn. »Es bedeutet, daß Sie nie mehr gehen oder Ihre Arme bewegen werden können, Mr. Nacht.« Der Doc redete weiter, erzählte Jake von all den wunderbaren Dingen, die man für Menschen mit Quadriplegie – der Lähmung aller 80
vier Extremitäten – heutzutage entwickelt habe, daß er vielleicht sogar, wenn auch nach langer Rehabilitationszeit, wieder einige Finger bewegen könne, eventuell sogar so weit, um eine Computertastatur zu bedienen. Aber die Worte gingen in dem Dröhnen in Jakes Ohren unter, als er in die Zukunft blickte und einen Mann vor sich sah, der gefüttert werden mußte, der sich nicht selbst im Bett herumdrehen, sich nicht einmal den Hintern selbst abwischen konnte. Eine endlose, trostlose Zukunft… Und dieser Mann hatte Jakes Gesicht. Er konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken. Der Mann in dieser Zukunfts-Horrorvision konnte sich noch nicht einmal selbst umbringen… Am nächsten Morgen lehnte sich eine Schwester über ihn und sagte: »Ihr Anwalt ist da. Wollen Sie ihn sprechen?« Jake tauchte langsam aus dem Sumpf seiner Depression auf, zwang sich, die Worte in Gedanken zu wiederholen und zu verstehen. Anwalt? Er hatte keinen Anwalt. Was bedeutete, daß derjenige, der da draußen im Flur wartete, etwas anderes als Rechtshilfe im Sinn hatte. Sterbehilfe… Gut so. Sie schickten jemanden, der ihn umlegen sollte… Gestern hatte Jake noch Angst gehabt, die Leute, die dieses böse Spiel mit ihm getrieben hatten, würden zur Vollendung des Werkes, das Danziger vermasselt hatte, einen Killer schicken. Seit seinem letzten Gespräch mit Dr. Graham hatte Jake Angst, sie würden keinen Killer schicken. Und jetzt war es also soweit. Der Mann, der sich da als Anwalt ausgab, hatte ohne Zweifel einen .22er mit Schalldämpfer in seiner Aktentasche. »Lassen Sie ihn rein.« Der Mann war um die Vierzig, fast kahlköpfig und trug eine Nikkelbrille sowie einen dreiteiligen Anzug. »Vielen Dank, daß Sie mich empfangen, Mr. Nacht«, sagte er und streckte Jake schwungvoll die Hand entgegen, zog sie dann aber ha81
stig wieder zurück, als ihm klar wurde, daß Jake sie nicht ergreifen konnte. »Mein Name ist Steven Krosny, und ich denke, wir haben ausgezeichnete Gründe…« »Sparen Sie sich den ganzen Scheiß«, unterbrach ihn Jake. Krosnys Augen weiteten sich hinter den Brillengläsern. »Wie bitte? Ich verstehe nicht…« »Reden Sie nicht lange rum. Bringen Sie den Hit hinter sich. Aber machen Sie's schnell.« Er schloß die Augen und wartete, während Krosny seine Aktentasche öffnete. Es gehörte nicht viel Können dazu, aus nächster Nähe ein paar Kugeln in Jakes Schädel zu pumpen. Der Kerl brauchte nur zu wissen, wohin er den .22er richten mußte und wie er den Abzug durchzudrücken hatte. Jake würde nichts spüren. Und dann war dieser Alptraum zu Ende… »Hit? Ich bedauere, aber ich verstehe nicht, wovon Sie sprechen, Mr. Nacht. Ich bin hergekommen, um einen reichen Mann aus Ihnen zu machen.« Jake öffnete die Augen. »Was?« Krosny hatte eine Akte auf dem Schoß liegen. »Ich habe Einsicht in die Beweislage Ihres Falles nehmen können – ich habe ein paar Freunde bei der Staatsanwaltschaft –, und es ist ganz klar, daß es niemals zu einer Anklage gegen Sie kommen wird. Sie haben nichts gegen Sie in der Hand, Mr. Nacht. Es reicht nicht einmal, den Fall zur Anklageerhebung vor eine Grand Jury zu bringen. Sie hingegen, Mr. Nacht, haben als Unschuldiger eine schreckliche Verletzung davongetragen und sind für den Rest Ihres Lebens zum Krüppel gemacht worden. Sie und ich werden die Stadt New York verklagen, und sie wird Schadenersatz zahlen müssen. Und zwar gewaltig.« »Sie … Sie sind nicht hier, um mich platt zu machen?« »Was heißt das, ›platt machen‹? Irgendein Slang-Wort für eine böse Absicht? O nein – ich bin hier, um Ihnen meine Hilfe bei einer Schadenersatzklage gegen die Stadt New York anzubieten – eine Klage im Bereich von Zigmillionen Dollar, Mr. Nacht.« »Ach du lieber Gott, Sie meinen das ehrlich! Ich habe im Mo82
ment andere Sorgen als Geld.« »O doch, das ist wichtig für Sie. Sie brauchen zum Beispiel für den Rest Ihres Lebens fachkundige Pflege. Das kostet Unmengen. Und Sie brauchen außerdem…« Jake schloß die Augen und ließ Krosny seine Sprüche runterrasseln. Er wollte sterben, und es sah so aus, als wolle ihm im Moment niemand dabei helfen. Natürlich, er konnte anfangen, bei den Cops zu singen, ihnen alles über Fredo und Mr. C zu erzählen. Das würde ihm ganz sicher die gewünschte todbringende Aufmerksamkeit verschaffen, aber er wollte nicht als Verräter sterben. Wie schlimm es auch um ihn stand, sein Ehrgefühl ließ es nicht zu, daß man sich nach seinem Tod an ihn als einen ›singenden Kanarienvogel‹ erinnerte. Nein, er mußte noch eine Weile weiterleben, alle Therapien über sich ergehen lassen, ja sogar fleißig daran mitarbeiten, in der Hoffnung, eines Tages einen letzten Hit ausführen zu können – den Hit an sich selbst.
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ZWEITER TEIL STERBEN
9 Im Krankenhausbett
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enn Jake Ablenkung von seinem Kummer suchte, machte er Geruchsübungen in seinem Krankenzimmer. Der leichte Chlorgeruch kam aus dem Badezimmer. Der Badezusatz fügte einen schwachen Parfümgeruch hinzu… Was für eine Verschwendung, daß er ein eigenes Badezimmer hatte. Toll, daß er zu so einer geistreichen Feststellung fähig war. Was war er doch für ein fröhlicher Mensch… Er schaute hinunter auf die Ausbuchtung, mit der der Urin-Katheter sich unter der Decke abzeichnete. Sah aus wie ein Maulwurfshaufen. Die Klimaanlage schaltete sich mit einem leisen Wimmern ein. Jake rollte die Augen zur Seite, konzentrierte sich, nahm schließlich den schwachen, fruchtartigen Geruch der Farbe an der Wand wahr. Anscheinend hatte man kurz vor seinem Einzug die Wände frisch gestrichen. Pastellblau – besser als rosa, aber warum nicht weiß? Egal, spielte schließlich keine Rolle… Er nahm jetzt auch seine eigenen Gerüche wahr – den Katheter, den Schweiß, das Haaröl, seinen leicht nach Fleisch riechenden Atem. Er war jetzt ein fester Bestandteil dieses Zimmers, wie die Farbe an der Wand, das Wachs auf dem Fußboden und der Geruch der Toilette. Für wie lange? Wenn er daran dachte, was der Arzt ihm gesagt hatte, stieg die Welle der Angst wieder in ihm hoch. Der Boden unter ihm schien einzubrechen, und er hatte das Gefühl, in einem schwindelerregenden endlosen Fall nach unten zu stürzen. Er schloß die Augen, rang die Panik nieder. Sie haben mich gebeten, ehrlich mit Ihnen zu sein, Mr. Nacht, und ich denke, es ist am besten so. Bei Verletzungen dieser Art habe ich es noch nie erlebt, daß ein Patient wieder gehen konnte. Mit der neuen Biofeedback-The85
rapie können jedoch durchaus wieder Tastsinn und Beweglichkeit, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grad, in Ihren Händen aufgebaut werden. Auch wenn Sie das jetzt noch nicht erkennen – es wird einen großen Unterschied machen, weil Sie dann weniger abhängig von anderen werden. Und letztlich sollten Sie die Möglichkeit eines medizinischen Durchbruchs nie ganz ausschließen. Ich muß raus hier, dachte Jake. Ich werde bei dieser Therapie eisern mitarbeiten, um meine Finger wieder benutzen zu können. Und dann arbeite ich an meinen Beinen, und sie werden ebenfalls wieder funktionieren, egal, was der Doktor gesagt hat. Beim Gedanken an seine Beine keimte eine leise Hoffnung in ihm auf. Er konnte sie bewegen. Ganz eindeutig. Er hatte gestern gesehen, wie eines der Beine gezuckt hatte, das zunächst jedoch für eine Einbildung gehalten. Dann war heute dasselbe passiert, gerade erst vor ein paar Minuten – das rechte Bein hatte sich unter der Decke bewegt. Er hatte nicht versucht diese Bewegung auszuführen, und als er es dann probiert hatte, war keine Reaktion erfolgt. Aber Dr. Graham würde dieses Zucken ganz sicher als hoffnungsvolles Zeichen werten. Ich werde hier herausmarschieren, dachte Jake, und dann werde ich Fredo das Gehirn aus dem Schädel blasen. Und wenn es diesem Anwalt Krosny, der sich anscheinend auf Fälle wie meinen spezialisiert hat, gelingen sollte, ein paar Millionen aus der Stadt rauszukitzeln, soll es mir nur recht sein. Aber ich werde nicht gelähmt bleiben. Ich werde kein bemitleidenswertes armes Würstchen sein, das mit rein- und rausführenden Kathetern und Schläuchen im Bett liegt, sich nicht mal zum Pinkeln aufsetzen kann und wie ein Baby gefüttert werden muß. Ich nicht. Er ließ sich von seiner Wut forttragen, stellte sich Fredos gemeines, dümmliches Gesicht im Fadenkreuz seines Zielfernrohrs vor. Stellte sich vor, wie er den Zeigefinger am Abzug langsam durchkrümmt… Seine rechte Hand auf der weißen Bettdecke fesselte seinen Blick. Mit einer Mischung aus Hoffnung und Angst starrte er auf den Zeigefinger, versuchte ihn durchzukrümmen. Keine Reaktion. Er kon86
zentrierte sich ganz fest darauf, versuchte eine Verbindung vom Willenszentrum in seinem Gehirn zu der Hand herzustellen. Wie sahen die Nerven aus, die durch seinen Arm verliefen – vielleicht wie weiße Röhren? Du brauchst nur die richtige Röhre zu finden und deinen Befehl durch sie hindurch in deine Hand zu schicken… Der Geruch nach Schweiß wurde stärker. Der Zeigefinger bewegte sich nicht. Jake wandte den Blick von der Hand ab und starrte an die Decke. Okay, die Röhren waren vorübergehend blockiert. Aber sie würden sich wieder öffnen. Er würde es schaffen. Du wirst es erleben, Fredo… Jake atmete tief durch. Er ließ sich zu sehr von seinen Emotionen beherrschen. Er mußte gelassener werden. Panik und Wut blokkierten die Gedanken. Und er mußte über viele Dinge nachdenken – beginnend damit, was genau in diesem Hotelzimmer passiert war. Wieso hatten die Cops es so schnell gefunden? Wenn Detective Danziger ein ehrenhafter Cop wäre, würde es ja vielleicht noch passen – er hatte eine verdächtige Bewegung im Fenster gesichtet, war mit seinen Leuten hochgestürmt und hatte es gerade noch geschafft. Aber ich war wie immer sehr vorsichtig, dachte Jake, niemand konnte mich in dem Fenster sehen. Und außerdem – er kannte mein Gesicht, er wußte, daß ich der Täter war. Einige der Leute aus seiner Truppe, die Zeugen des Vorfalls waren, müssen ehrliche Cops sein, sonst hätte Danziger mir sicher noch ein paar Kugeln mehr in den Rücken gepumpt. Aber Danziger ist ein so krummer Hund, daß er sich selbst in den Schwanz beißen kann. War der Bastard nun eigentlich zu spät gekommen oder zu früh? Wenn sie wollten, daß ich Whiny umlege, um mich danach dann selbst abzuknallen und mich für immer zum Schweigen zu bringen, war Danziger zu früh dran gewesen. Noch fünf Sekunden, und die Leute, die die Fäden in diesem Spielchen zogen, hätten wenigstens die Hälfte ihres Ziels erreicht. So, wie die Sache ablief, ging sie dann aber schief – Whiny ist nicht tot, und sie können sich nicht sicher sein, daß ich die Schnauze halten werde. 87
Also muß ich davon ausgehen, daß sie nicht wollten, daß ich Whiny tatsächlich umlege. Dann war Danziger zu spät dran gewesen – oder fast zu spät. Aber irgendwie paßt das nicht zusammen. Wenn sie nur das Ziel hatten, mich aus dem Verkehr zu ziehen, warum haben sie mich dann auf Whiny angesetzt, um sich dann in aller Öffentlichkeit, nur ein paar hundert Meter von Fernsehkameras und einer ganzen CopBrigade entfernt, auf mich zu stürzen? Warum haben sie dann nicht ein paar Jungs mit Uzis losgeschickt, die mich eines Abends in einer stillen Gasse abknallen? Also wollten sie vielleicht, daß ich Whiny beinahe umlege, um ihm im wahrsten Sinn des Wortes einen Schuß vor den Bug zu verpassen? Das macht Sinn, dachte Jake grimmig. Da haben sie diesen Senator in der Tasche, und dann fängt der an, Sperenzchen zu machen. Warum sollten sie einen so wertvollen Förderer ihrer Angelegenheiten zum Schweigen bringen, wenn sie ihn mit einem Schuß vor den Bug zurück auf ihre Linie bringen konnten? Sie setzen also den Hit an, brechen ihn im richtigen Moment ab und übermitteln damit eine sehr deutliche Botschaft an Whiny. Jetzt sehen Sie mal, was Ihnen da beinahe passiert wäre, Senator… Welch ein Glück für Sie, daß wir unsere Leute vor Ort hatten. Vielleicht ist das beim nächsten Mal nicht mehr der Fall. Danziger war genau richtig in der Zeit gewesen, dachte Jake. Und ich bin der Sündenbock. Wieder baute sich eine wilde Wut in ihm auf. Man hatte ihn schändlich verraten, ihn mißbraucht. Mr. C war bei den siebzehn Hits, die Jake bisher für ihn erledigt hatte, immer ehrlich zu ihm gewesen. Und dann hatte er sich entschieden, ihn fallenzulassen. Ob sie nun Weingarten getötet oder nur gewarnt sehen wollten, Jake Nacht sollte das Hotelzimmer auf keinen Fall lebend verlassen. Als erstes werde ich Fredo umlegen, dachte Jake. Dann Danziger. Mr. C lasse ich eine Weile schmoren. Und dann ist er ebenfalls dran. Ja. Nur – wann? 88
Die Wut wich einem schrecklichen Gefühl der Ohnmacht. Seit wann bin ich hier im Krankenhaus? fragte sich Jake. Er zählte die Nächte zurück, die Zeiten, wenn es dunkel im Zimmer wurde und draußen im Flur tiefe Stille herrschte. Drei Nächte. Drei Tage und drei Nächte. Kam ihm eher wie drei Wochen vor – die Zeit schien zu kriechen. Und während dieser Zeit hatte er viele tausend Male versucht, seinen Zeigefinger zu bewegen. Nur den Zeigefinger… Jake dachte über die Therapie nach, die der Doktor erwähnt hatte. Biofeedback, was auch immer das heißen mochte. Und daß er es lernen könne, mit einem Stab zwischen den Zähnen die Tasten eines Telefons oder einer Computertastatur zu bedienen oder mit seiner Stimme das Licht oder den Fernseher an- oder abzuschalten. Und daß er immer tief durchatmen müsse, damit sich in seiner Lunge kein Wasser ansammle. Von der Möglichkeit, daß er eventuell seine Finger wieder bewegen könne, war nicht mehr die Rede gewesen… Was, wenn mein Zustand so bleibt, wie er jetzt ist? fragte sich Jake. Was, wenn ich Fredo nicht umlegen kann? Was, wenn ich bis zu meinem Tod, gespickt mit Kathetern, im Bett liegen muß? Okay, ich kann mir zur Unterhaltung Fernsehsendungen anschauen. Ich kann essen – wenn einer da ist, der mich füttert. Und ich kann natürlich auch schlafen und schlafen… Erneut überfiel ihn Panik. Er kämpfte gegen sie an, schloß die Augen, atmete langsam und tief durch. Er hörte sie ins Zimmer kommen, konnte ihre leisen, behutsamen Schritte sofort von denen der anderen Schwestern unterscheiden. Na und? Er würde nicht mal die Augen aufmachen… Irgendwie gingen sie von selbst auf. »Hallo, Mr. Nacht.« Sie lächelte auf ihn herunter. Ihr braunes Haar hing ihr bis auf die Schultern. Ihr Gesicht war jugendlich-hübsch, die Haut glatt und um die Nase sommersprossig, ihr Lächeln aufrichtig, die Zähne weiß und ebenmäßig. In ihren braunen Augen tanzten goldene Flecken. 89
Eine wirklich attraktive junge Frau. Er wollte sie berühren, aber dieser Wunsch hatte weniger mit ihrem Körper zu tun als damit, irgend etwas berühren und fühlen zu können. »Nennen Sie mich Jake«, sagte er. »Gerne.« Sie schien sich tatsächlich zu freuen. »Und ich bin Angel… Angela Deschanel laut Taufschein, aber alle nennen mich Angel.« Ich kann verstehen, warum sie das tun, wollte Jake sagen, aber etwas in ihrem Gesicht hielt ihn davon ab. Wahrscheinlich sagten das Männer dauernd zu ihr. In seinem elenden Zustand wollte er auf keinen Fall den Eindruck erwecken, er wolle sie anmachen – wofür sie ganz bestimmt auch kein Verständnis gehabt hätte. »Okay, Angel. Sehr schön, Sie schließlich offiziell kennenzulernen.« Sie nahm seine Hand vom Bett und schüttelte sie. Diese Geste verblüffte ihn. Er sah seine Hand in ihrer, fühlte aber nichts, spürte nicht einmal, daß sein Arm sich auf- und abbewegte. Aber auf seltsame Weise freute es ihn, diese Bewegung bei sich zu sehen. »Schon Zeit fürs Abendessen?« »Nein. Ich dachte nur, es würde Sie freuen, wenn ich Ihnen das Gesicht wasche.« »Ja, wäre schön.« Er folgte ihr mit den Augen, als sie ins Bad ging, und sah sie auch wieder an, als sie mit einer Schüssel in der Hand zurückkam. Sie machte ihn langsam neugierig. Sie kam mehrmals am Tag zu ihm herein, oft nur für kleine Aufgaben wie diese. Komisch in einem ständig überfüllten Krankenhaus wie dem Manhattan General. Er hatte sich nie viele Gedanken über Krankenhäuser gemacht, aber wie er gehört hatte, waren Schwestern permanent im Streß und hatten nicht viel Zeit für die Patienten. Wenn Ernie einen unliebsamen Gast aus seinem Lokal ekeln wollte, erzählte er immer bis ins Detail, wie bei einem Krankenhausaufenthalt wegen einer Gallenblasenoperation einmal seine Bettpfanne übergelaufen und trotz Dauerdrückens auf den Rufknopf erst nach einer halben Stunde eine 90
Schwester erschienen war. Angel rieb mit dem Waschlappen sanft über Jakes Gesicht. Das Wasser war gerade richtig warm. Die Seife roch natürlich, ohne Parfümzusatz. Dann trocknete sie ihn ebenso sanft wieder ab. Sie sah ihn dabei aufmerksam an. Sah ihn richtig an – nicht wie die anderen Schwestern, die es vermieden, ihm in die Augen zu sehen, vielleicht, um ihr Mitleid oder ihr Entsetzen zu rationieren – was für Gefühle auch immer er bei ihnen hervorrief –, damit sie noch etwas davon für das nächste arme Schwein übrig hatten. »Danke«, sagte er. »Gern geschehen.« »Wann entläßt man mich?« Sie legte den Kopf schief. »Entlassen?« »Ich denke, die Betten sind knapp hier.« »Das stimmt, aber niemand denkt daran, Sie zu entlassen. Wir müssen noch weitere Tests machen, und danach müssen wir sicher sein, daß Sie stabil genug für eine Entlassung sind. Und außerdem haben Sie ja noch nicht einmal mit der Therapie begonnen.« »Danach wollte ich Sie sowieso fragen. Als Dr. Graham die Behandlungsmethoden mit mir durchging, erwähnte er eine Therapie, mit der ich vielleicht meine Finger wieder bewegen könnte.« Angel nickte. »Dabei geht es um die neue Biofeedback-Therapie. Wenn Sie soweit sind, werden wir es mit ihr versuchen.« Sie zögerte, sah ihn ernst an. »Sie dürfen nicht zu viel zu schnell erwarten. Ihr Szintigramm…« »Szintigramme können falsch sein, oder nicht?« Angel zögerte erneut. »Manchmal. Haben Sie mal versucht Ihre Hände zu bewegen?« »Natürlich«, antwortete er. »Haben Sie irgendein Gefühl in den Fingern?« »Nein.« »Ihr Rückenmark ist fast ganz durchtrennt worden«, erinnerte ihn Angel. »Aber so was kann doch verheilen, oder?« 91
»Nein. Nicht beim menschlichen Rückenmark. Zumindest noch nicht.« Jake entschloß sich, seine kleine Hoffnungs-Granate auf sie abzuschießen. »Ich … ich habe gesehen, wie meine Beine sich bewegt haben – zweimal sogar.« »Ja. Das ist in einem Fall wie Ihrem normal. Es handelt sich dabei um einen unwillkürlichen Reflex. Wenn das Rückenmark intakt ist, wird dieser Reflex vom Gehirn unterdrückt.« Seine Hoffnung zerplatzte wie eine Seifenblase. Er starrte sie entsetzt an. Er konnte unterhalb seines Halses nichts fühlen, nichts bewegen, wenn er es wollte, und nun verpuffte auch dieser letzte Hoffnungsfunken, an den er sich geklammert hatte… Er war gelähmt. Sein Körper, getrennt vom Gehirn, hatte nur ein neckisches Spielchen mit ihm getrieben, hatte ihm mit diesen unwillkürlichen Bewegungen lediglich klargemacht, was er tatsächlich war: ein Krüppel. »Es gibt jedoch vielversprechende Versuche mit Tieren«, sagte Angel. Jake bemühte sich um ein Lächeln. »Danke, daß Sie ehrlich mit mir waren.« »Es gibt vieles, was Sie tun können. Es werden laufend neue Geräte entwickelt, die…« »Bitte…« Seine Kehle zog sich zusammen. Sie sah ihm in die Augen. »Ich weiß, es ist hart. Wenn sie nicht darüber sprechen wollen, lassen wir es. Sie werden sich besser fühlen, wenn Sie Zeit hatten, sich mit Ihrem Zustand abzufinden und das Beste daraus zu machen.« Nein, dachte Jake. Ich werde mich noch elender fühlen. Angel nestelte an der Bettdecke herum, faltete das obere Ende, strich es über seiner Brust glatt. »Wissen Sie, Ihr Fall ist bereits in den Nachrichten behandelt worden. Wenn Sie zugelassen hätten, daß ich den Fernseher einschalte, hätten Sie es auf Kanal neun verfolgen können. Anscheinend hat sich der Mann, der auf Senator Weingarten geschossen hat, in Luft aufgelöst. Die Cops stürmten 92
Sekunden nach dem Schuß in sein Hotelzimmer, aber es war niemand drin. Vor den Fenstern führt ein Sims vorbei, und über den muß er entkommen sein. Der Cop, der auf Sie geschossen hat – Detective Danziger –, sagte aus, er sei deshalb davon ausgegangen, Sie wären der Attentäter. Sie seien offensichtlich über den Sims in das andere Zimmer geflohen.« Angel stieß ein skeptisches Lachen aus. »Es klang, als ob Sie Spiderman wären. Er ist übrigens vom Dienst suspendiert worden.« »Gut«, sagte Jake mit fester Stimme. »Die gängige Theorie ist, daß der Täter sich in einem kleinen Schränkchen, das vornehmlich als Verkleidung für die Installationsleitungen dient, versteckt hat. Als Danziger auf Sie schoß, rannten alle Cops aus dem Zimmer in den Flur. Das habe es dem tatsächlichen Attentäter ermöglicht, aus dem Zimmer zu schlüpfen und zu entkommen. Alles nur Theorie, aber sie haben eine VPB von einem Mann namens Elliot Guyer, der das Zimmer gemietet hat. Die Identität ist offensichtlich falsch, aber der Mann vom Empfang hat ausgesagt, er habe schwarze Haare und einen Schnurrbart gehabt und sei korpulenter gewesen als Sie.« »Eine VPB?« fragte Jake. Er wußte genau, was sie damit meinte, wunderte sich aber, daß Angel diese Abkürzung geläufig war. »Verläßliche Personen-Beschreibung«, antwortete sie. »Sie kennen sich ja in der Cop-Terminologie gut aus.« Er zog das Gespräch absichtlich in die Länge, wollte nicht, daß sie ihn verließ. Er würde es im Moment nur schwer ertragen können, allein gelassen zu werden und seine Beine wieder zucken zu sehen… »Als ich auf dem College war, wollte ich ein Cop werden«, sagte Angel. »Aber niemand nahm mich ernst.« »Weil Sie so hübsch sind…« Angel sah ihn mißtrauisch an. »Das will ich nicht gerade sagen. Eher, weil alle dachten, ich sei zu zart und zu naiv. Haben Sie Geschwister, Jake?« »Nein.« Nicht daß ich wüßte, fügte er in Gedanken hinzu. »Ich habe fünf Geschwister – vier Schwestern und einen Bruder. 93
Ich bin die Jüngste. Alle in der Familie reden dauernd davon, wie verzogen ich bin. Sie haben keine Ahnung, was es heißt, die Jüngste zu sein. Alle schauen auf dich herab. Dauernd wirst du gönnerhaft behandelt. Angel ist sooo niedlich, Angel ist unser süßes kleines Nesthäkchen. Wenn sie dich mitspielen lassen, sind es immer ihre Spiele. Wenn sie dich irgendwohin mitnehmen, dann natürlich dorthin, wo sie hinwollen. Wenn ein Familienfoto gemacht wird, kniest du immer in der ersten Reihe. Nie stehst du in der hinteren Reihe. Mein Kopf ist so oft getätschelt worden, daß meine Schädeldecke eigentlich platt sein müßte.« Jake fragte sich, ob sie wußte, wie das klang. Du hast eine Familie, dachte er. Sieben Menschen, in deren Adern dasselbe Blut fließt wie deines. Menschen, die dich lieben, die dich umsorgen… Dennoch erkannte er, was sie zum Ausdruck bringen wollte. »Sie wollten ein Cop werden, weil Sie dann anderen Menschen Befehle geben können, nicht wahr?« Sie sah ihn durchdringend an; er lächelte nicht, und sie tat es auch nicht. »Genau das ist es«, bestätigte sie. »Ich würde das den meisten Menschen gegenüber niemals zugeben.« »Der Beruf der Krankenschwester ist ja aber auch nicht gerade einfach«, sagte er. »Vielleicht sogar schwieriger als der des Cops.« »Das stimmt. Er ist schwieriger.« Sie sah ihn gedankenvoll an. Er fragte sich, wie es sein würde, sie zu küssen. Er würde einen Kuß fühlen können – aber wer wollte ihn in diesem Zustand schon küssen? Man konnte so viel Schönes mit der Zunge anstellen. Und wenn man es tat, wollte man weitere schöne Dinge anstellen. Aber wenn man nach einem Kuß aufhören mußte, würde das so ähnlich sein wie kauen, ohne zu schlukken. Man fing dann besser gar nicht erst damit an… »So, ich muß jetzt gehen«, sagte Angel. »Aber vorher möchte ich eines noch mal klarstellen: Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, daß man Sie irgendwann hier nicht mehr haben will. Die Stadt kommt für alle Ausgaben auf. Man hat uns gesagt, wir sollen an nichts sparen. Deshalb haben Sie ja auch ein Einzelzimmer. Anscheinend 94
haben sie gewaltigen Schiß vor Ihrem Anwalt. Bei den Cops nennt man so was einen ›schlechten Schuß‹. Sie sind verantwortlich für Ihren Zustand, und sie wissen es. Sie kriegen wahrscheinlich ein paar Millionen Dollar.« »Jede Wolke hat einen Silberstreifen«, sagte Jake und lächelte, um seinen Worten den Zynismus zu nehmen. Angel sah ihn erneut eindringlich an. »Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?« »Falls es nicht um Bruchrechnung geht, gerne. Ich bin ganz schlecht in Mathe.« Sie lächelte und wurde dann ernst. »Waren Sie es, der versucht hat, den Senator zu erschießen?« Jake spürte ein warnendes Kribbeln im Nacken. War Angel deshalb so nett zu ihm? Hatte die Staatsanwaltschaft ihr Abhörwanzen unter der Kleidung versteckt? »Nein«, sagte er, und seine Stimmung sank auf den Nullpunkt. »Entschuldigung. Ich weiß, es ist eine schlimme Unterstellung, aber ich … ich mußte Sie das einfach fragen.« »Warum?« »Weil die Frage in meinem Hinterkopf steckte und ich ehrlich zu Ihnen sein will.« Interessant, dachte Jake. Seine Stimmung hellte sich wieder auf. »Bis zum Abendessen dann«, sagte Angel und ging aus dem Zimmer. Er sah ihr nach, soweit seine Augen ihr folgen konnten. Sie ist nicht nur nett, dachte er. Sie mag mich. Ich frage mich, ob ich sie dazu bringen kann, mich genug zu mögen, daß sie mich umbringt.
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10 Die Hure
J
ake schaute zu der dunklen Decke hoch. Er war verzweifelt. Wie konnte er Angel dazu bringen, sich in ihn zu verlieben? Sein Gehirn, düster und still wie das ganze Krankenhaus, bot keine Antwort. Er rollte die Augen nach rechts, schaute auf die Uhr auf dem Nachttisch. Die roten Digitalzahlen sagten zehn Minuten vor drei. Schlaf endlich ein, dachte er. Morgen wird sich eine Antwort finden. Aber er fürchtete, daß es nicht so sein würde. Er hatte mit vielen Frauen Sex gehabt, aber wie man eine Frau dazu brachte, sich in ihn zu verlieben – das war eine Kunst, von der er nie gedacht hätte, daß er sie einmal brauchen würde. Welche Ironie… Im Fach ›Selbsterhaltung‹ stufte er sich mit der Note ›sehr gut‹ ein, einem Fach, in dem sogar Leute mit der Note ›gut‹ noch im Gefängnis landen oder gar ganz auf der Strecke bleiben konnten. Es gab viele Menschen, die einen Grund hatten, Jake Nacht zu hassen; die Freunde und Verwandten von siebzehn getöteten Zielobjekten bildeten ein nicht zu unterschätzendes Haß-Potential. Aber keiner dieser Menschen wußte, daß er seinen Haß auf Jake Nacht richten mußte. Er hatte alles getan, unerkannt zu bleiben, stets dazu entschlossen, daß Haßgefühle gegen ihn sein Leben nicht in Gefahr bringen durften. Und jetzt konnte ihm seine Ignoranz in Sachen Liebe den Tod verwehren, den er doch so herbeisehnte. Welche anderen Möglichkeiten außer Angel gab es, dieses Ziel zu erreichen? Mr. C zum Beispiel… Er konnte Mr. C vielleicht dazu bringen, ihn zu besuchen; eine Schwester konnte den entsprechenden Anruf für ihn machen. Und wenn Mr. C dann kam, konnte er ihm 96
sagen, er würde ihn bei den Cops verpfeifen. Aber eine Welle des Ekels überflutete Jake. Allein der Gedanke, er könne so tun, als wolle er jemanden bei den Cops verpfeifen, ließ seinen Magen verkrampfen. Und Mr. C würde ihm das sowieso nicht abkaufen. Wenn ich ihn wirklich ans Messer liefern wollte, ging Jake durch den Kopf, würde ich ihn auf keinen Fall warnen. Ich würde singen und ihn selbst herausfinden lassen, daß ich dahinterstecke, wenn er verhaftet und dem Staatsanwalt vorgeführt wird. Mr. C würde sofort wissen, was ich damit bezwecke. Er würde erkennen, daß ich ihn dazu einlade, mich zu töten. Übelkeit packte ihn. Es war zum Kotzen. Mr. C war schließlich der Mann, der ihn verraten und verkauft hatte. Das einzige, was ihn noch mehr schreckte als die Vorstellung, vom Hals ab querschnittsgelähmt weiterleben zu müssen, war der Gedanke, dem Bastard, der das verschuldet hatte, die Kehle hinzuhalten – und dann hohnlachend abgewiesen zu werden. Und Mr. C würde ihn abweisen. Es gibt keine Möglichkeit, ihm angst vor mir zu machen, dachte Jake, außer der, daß ich hier rausmarschieren kann und er die Gefahr sieht, daß ich ihn umlege. Aber das wird nicht möglich sein, und das weiß er inzwischen längst. Und er weiß auch, daß es verdammt schwierig wäre, ihm irgend etwas nachzuweisen, falls ich doch singen würde. Er hat mir nie Einzelheiten seiner Aktivitäten verraten. Ich weiß nur, daß er mich dafür bezahlt hat – über einen Strohmann –, daß ich Leute für ihn umlege. Und selbst das kann ich nicht beweisen – höchstens dadurch, daß ich ihn dazu kriege, einen Hit auf mich zu starten. Und das weiß er selbst ganz genau. Er braucht keine zwei Sekunden, um zu erkennen, daß ich versuche, diesmal ihn reinzulegen, daß ich bereits bei den Cops gesungen habe und mich als Köder anbiete, damit er sich selbst die Schlinge um den Hals legt. Mr. C würde keinen Killer auch nur in die Nähe des Krankenhauses schicken, wenn ich mich ihm auf dem Präsentierteller zu einem Hit anbieten würde. 97
Jakes Gedanken wanderten zurück zu seinen siebzehn Hits. Einige seiner Opfer waren ihm besser in Erinnerung als andere. Siebzehn Männer, tot – vom Hals abwärts und aufwärts… Meistens Abschaum der Menschheit, aber selbst solche Leute hatten Freunde und Verwandte, die vielleicht auf Rache sannen. Nur – seine Vorsicht, ja nicht als der Killer identifiziert werden zu können, war jetzt ein Nachteil. Selbst wenn er mit einem Verwandten eines seiner Opfer in Verbindung treten und beweisen konnte, daß er den Hit ausgeführt hatte, selbst wenn dieser Verwandte bereit war, Rache zu üben – warum sollte er Jake töten, wenn es doch eine viel bessere, süßere Rache war, ihn lebenslang als Krüppel leiden zu sehen? Nein, dieser Racheengel würde sich diesen Krüppel ansehen und grinsen – und das wäre schrecklich für Jake. Er spürte plötzlich den wilden Drang, sich die Haare auszureißen. Seine Hände aber lagen machtlos auf der Bettdecke. Gottverdammte Scheiße! Das Leben war zu einem Alptraum geworden. Mehr Leute, als er zählen konnte, dürstete es nach seinem Blut, aber seine einzige Hoffnung, sterben zu können, gründete sich auf Liebe… Mußte es Angel sein? Sie mochte ihn, aber er hatte keine Ahnung, was er tun mußte, um mehr als ›mögen‹ bei ihr daraus zu machen. Gab es nicht eine Frau in seiner Vergangenheit, die ihn vielleicht geliebt hatte, so daß er mit dieser Prozedur nicht ganz von vorn anfangen mußte? Er ging in Gedanken zurück in die Vergangenheit, erinnerte sich an seine Beziehungen zu Frauen. Viele Huren. Er hatte das gebraucht, so war er nun mal veranlagt… Aber Liebe war etwas ganz anderes. Man konnte es lernen, ohne Liebe zu leben. Er hatte sich nie nach Liebe irgendeiner Art gesehnt. Nicht seit Sarge. Und er sehnte sich auch jetzt nicht danach – darum ging es nicht. Es ging um die Frage, ob irgendeine dieser Frauen ihn geliebt hatte. Caitlin fiel ihm ein. Es könnte sein, daß sie ihn geliebt hatte. Vielleicht war sie ihm auch nur dankbar gewesen. Jake stellte plötzlich fest, daß sein Herz schneller gegen die Rip98
pen pochte. Dankbarkeit würde vielleicht auch genügen. Was ich damals tat, tat ich ebensosehr für mich wie für sie, dachte er, aber sie weiß das nicht, und es ändert nichts an der Tatsache, daß sie mir was schuldig ist. Wenn sie sich überhaupt daran erinnert, daß ich existiere. Er schüttelte die negativen Gedanken ab und bewegte die Augen zum Telefon auf dem Nachttisch, fragte sich für den Bruchteil einer Sekunde, warum er nicht die Hand danach ausstreckte… Vom Hals ab gelähmt. Und die Schwärze der Nacht überfiel ihn, legte sich vom Hals bis zu den Zehen auf ihn, drückte ihn auf das Bett, während eine Stimme in seinem Kopf immer wieder ein einziges Wort intonierte: gelähmt… gelähmt… gelähmt… Caitlin O'Shea lag im Bett und konnte nicht einschlafen. Der letzte Freier des Abends war gegangen. Zeit, an sich selbst zu denken, zu schlafen, zu vergessen… Aber sie konnte nicht einschlafen. Sie mußte immer wieder an Jake denken. Sie stand auf, ging zur Schiebetür, die zum Balkon führte, und zog sie auf. Eine sanfte Brise wehte vom Atlantik herüber, drückte die dünnen Vorhänge gegen ihre nackten Brüste und Oberschenkel. Sie trafen auf einen dünnen Schweißfilm, blieben kleben – wie Leichentücher. Schaudernd schob sie sie weg und trat hinaus auf den Balkon. Sie blickte hinaus auf das dunkle Meer und auf den Halbmond, der darüber schwebte. Eine kurze Lichterkette – anscheinend ein Frachter – wanderte dem Horizont zu. Die Straße unter ihr war fast leer. Atlantic City bereitete sich auf die Nacht vor, auf den Schlaf. Was war mit Jake? Ob er schlief? Sie ging zurück ins Zimmer, knipste die Nachttischlampe an und zog die Times unter dem Bett hervor – die Ausgabe von dem Tag, als es geschehen war. Der Artikel über den Mordversuch an Senator Weingarten stand natürlich auf der Titelseite; er umrahmte ein Foto, das Weingarten auf dem Podest kauernd zeigte, abgeschirmt 99
von einem tapferen Polizisten des NYPD. Weitere in Deckung stürzende Personen am Rand des Fotos waren nur verschwommen zu erkennen. Beim Anblick von Weingartens ängstlich aufgerissenen Augen erfaßte sie ein aus Verachtung und Beunruhigung gemischtes Gefühl. Whiny mochte es, wenn sie ihn fesselte und mit schmutzigen Ausdrücken bombardierte. Der Whiny, der in vorderster Linie im Kampf gegen die Drogen stand – das bevorzugte Thema jedes Demagogen –, sich aber einen Teufel darum scherte, wenn sie vor seinen Augen eine Line Koks zusammenscharrte und einsaugte. Er hätte vielleicht etwas dagegen gehabt, wenn er gewußt hätte, daß sie ihn nur mit Hilfe der Droge überhaupt ertragen konnte. Aber das zeigte sie natürlich nicht. Sie war schließlich eine Professionelle. Im Grunde war Whiny gar nicht so anders als andere Menschen. Widersprüchlichkeit ist die Norm unter den menschlichen Wesen… Sie wußte das besser als so manche andere. Die Menschen dachten, sie seien konsequent, aber sie waren es nicht. Sie spendeten für ›Kinder in Not‹, gingen aber an dem Bettler auf der Straße achtlos vorbei. Männer, die beim Poker niemals betrügen würden, betrogen ihre Frauen nach Strich und Faden. Wenn es um gut und böse ging, waren die meisten Menschen beides. In ihrem ganzen Leben hatte sie nur einen Menschen getroffen, der ausschließlich böse war. Und Jake hatte diesen Menschen getötet. Sie war sich zumindest ziemlich sicher, daß er es getan hatte. Caitlin schloß die Augen und dachte an diese schreckliche Nacht zurück… Er nannte sich Mark Porter. Ein großer Mann, attraktiv auf fast unwirkliche Weise. Eckiges Kinn, leuchtendgrüne Augen, lockiges, stets ordentlich gekämmtes blondes Haar. Gebaut wie ein Ballettänzer mit kräftigen Oberschenkeln, muskulösen Armen und glänzender, haarloser Brust. Anfangs hatte er recht anziehend auf sie gewirkt. Und bei den ersten Besuchen hatte er sich auch halbwegs normal verhalten – bis auf ein paar Anzeichen, die nichts Gutes verhießen: zu festes Kneifen in ihre Brustwarzen, zu wilde Bisse in ihre Schulter, zu rück100
sichtsloses, brutales Eindringen in sie. Im Grunde kein Problem. Viele Kunden mochten es ein wenig rauh. Aber sie war, darauf legte sie Wert, eine Hure der Sonderklasse, nicht irgendeine billige Nutte vom Times Square. Ohne Zuhälter mußte sie besonders vorsichtig sein. Und als er sie dann eines Abends einmal schlug, warnte sie ihn: keine harten Sachen, kein S&M-Sex mit mir. Er hatte sie nur kalt angelächelt. Beim nächsten Mal erschien er mit einem Dutzend Rosen. Während Caitlin sie in eine Vase stellte, hatte er sie von hinten niedergeschlagen. Als sie wieder zu sich kam, lag sie nackt auf dem Bett, über dem Mund ein Klebeband, Hände und Füße an die Bettpfosten gefesselt. Mark Porter, oder wie auch immer er wirklich hieß, saß neben dem Bett, starrte sie an. Ihr Kopf schmerzte schrecklich. Ihr Magen revoltierte, aber sie unterdrückte die aufsteigende Übelkeit, aus Angst, sie könnte wegen des Klebebands an Erbrochenem ersticken. Sie zwang sich zur Ruhe, konzentrierte ihre Gedanken. Wie komme ich aus dieser Situation wieder raus? Porter lehnte sich vor und lächelte sie an. Er hielt etwas hoch, damit sie es sehen konnte. Ein Messer mit einer kurzen, dreieckigen Klinge, wie Collage-Künstler es zum Zuschneiden ihrer Materialien benutzen. »Meinst du, ich könnte dich damit töten?« fragte er. Sie wollte schreien, aber das Klebeband dämpfte den Laut zu einem leisen Wimmern. Sie zerrte an den Fesseln. Sie gaben nicht nach, schnitten ihr ins Fleisch. »Die Klinge ist kaum drei Zentimeter lang«, erklärte Porter nachdenklich. »Natürlich, wenn ich einen Schnitt quer zu deinen Rippenbögen mache, kann ich dein Herz freilegen und mich damit beschäftigen. Aber keine Angst, das kommt erst ganz zum Schluß.« Sie wußte, daß er es ernst meinte; sie würde sterben. Porter setzte die Klinge an eine ihrer Brustwarzen. Sie spürte ihre 101
rasiermesserscharfe Kälte. Sie schrie gegen das Klebeband an, bäumte sich verzweifelt auf. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer wurde aufgestoßen. Porter zuckte zusammen. Er stand auf und drehte sich zu dem Mann um, der hereinstürmte. Jake! Caitlin atmete tief durch die Nase ein. Eine irre Erleichterung durchströmte sie. Der Raum verschwamm vor ihren Augen, wurde halb dunkel. Wie in einem Traum sah sie, wie Porter mit dem Messer auf Jake losging. Jake machte einen Schritt zur Seite, packte Porters Handgelenk, drehte ihm mit einer schnellen Bewegung den Arm auf den Rücken. Das Messer fiel klirrend zu Boden. Jake wirbelte Porter herum und schlug ihm mit dem Handrücken gegen die Nase. Porter sank auf die Knie, hielt die Hände vor die Nase. Blut quoll zwischen seinen Fingern hindurch. Jake hob das Messer auf und schnitt Caitlins Fesseln durch. Sie riß das Klebeband vom Mund, während Jake sich schnell wieder Porter zuwandte. Welch ein Glück, daß Jake zu früh gekommen war! Was für ein wunderbarer Anblick, wie er über Porter gebeugt dastand und auf ihn herabschaute! Dennoch – der Ausdruck auf seinem Gesicht war irgendwie seltsam. Nicht wütend. Leer. So als ob er sich eine öde Fernsehshow anschauen und dabei über etwas anderes nachdenken würde. »Ich wollte ihr nicht weh tun«, winselte Porter. »Es war doch nur ein Spiel.« »Du verdammter Lügner!« schrie Caitlin. »Du wolltest mich umbringen!« Sie konnte ihre Wut nicht mehr bändigen. Sie sprang vom Bett, stürmte auf Porter los, trat ihm in die Seite, schlug mit den Fäusten auf ihn ein. Er krümmte sich zusammen, wehrte sich nicht. Jake zog sie sanft von ihm weg. »Setz dich aufs Bett«, sagte er. Sie gehorchte. 102
»Steh auf«, sagte Jake zu Porter. »Was hast du mit mir vor?« fragte Porter mit ängstlicher Stimme. Die Verwandlung in seinem Verhalten war erstaunlich. »Nichts. Ich werde dich nur nach draußen bringen.« Porter sah zu Jake hoch. Langsam wich die Angst aus seinen Augen und machte einer verschlagenen Berechnung Platz. »Bist du ihr Zuhälter?« fragte er. »Ja«, antwortete Jake ruhig. »Und deine Zeit bei Caitlin ist für heute abgelaufen.« Porter stand auf und richtete seine Kleidung. Caitlin sah, daß sein Selbstbewußtsein zurückkehrte. Sie war verwirrt. Wollte Jake ihn tatsächlich ohne weiteres laufenlassen? Porter trat vor sie hin, und Jake ließ es zu. »Das war noch nicht alles zwischen uns beiden, du Miststück«, zischte er. Doch es war alles. Jake ging mit ihm nach draußen, und dann sah sie Porter nie mehr wieder. Jake kam in dieser Nacht nicht zu ihr zurück. Später fragte sie ihn, was er mit Porter gemacht habe. »Wir hatten ein Gespräch miteinander. Er wird nicht mehr zurückkommen«, war alles, was Jake sagte. Ein Schauder überlief Caitlin. Sie nahm die Zeitung wieder auf und sah sich Jakes Foto an. Es war das von seinem Ausweis als Wachmann. In dem kurzen Sonderbericht unter dem Foto stand, daß Mr. Jake Nacht, ein unschuldiger Zuschauer, der im selben Hotel abgestiegen war wie der Attentäter, versehentlich von einem übereifrigen Detective angeschossen und schwer verletzt worden war. Caitlin starrte auf Jakes Gesicht. Nichts darauf zu erkennen, was Aufmerksamkeit erregen könnte. Die Augen waren sanft, der Mund entspannt. Das dichte blonde Haar, auf dem Schwarzweißfoto grau wirkend, war ordentlich gekämmt. Er trug ein einfaches Uniformhemd. Er sah aus wie ein gelassener, ein wenig träger Wachmann. Das Foto log. Jakes wache Intelligenz und die ruhige, kontrollierte Kraft, die er ausstrahlte, machten ihn auf eine irgendwie unheimliche Art zu einem attraktiven Mann. »Du warst es, nicht wahr?« flüsterte sie dem Foto zu. »Du hast Por103
ter getötet, und du hast versucht Whiny zu töten. Sie haben dich zum Krüppel geschossen, und jetzt spielst du ihnen den Unschuldigen vor, und sie müssen dir glauben.« Sie legte die Zeitung zur Seite und stellte sich Jake im Krankenhausbett vor – gelähmt für den Rest seines Lebens. Gab es jemanden, der ihn im Krankenhaus besuchte? Er hatte nie von einer Familie gesprochen. Er war nicht verheiratet – das hatte er ihr jedenfalls erzählt. Ich habe viel Zeit mit dir verbracht, dachte sie. Und doch kenne ich dich kaum. Sie spürte überrascht, daß sich Tränen in ihre Augenwinkel drängten. Du hast mir damals das Leben gerettet, Jake. Und ich habe dich in deinem Elend bisher nicht einmal besucht. Sie faßte einen spontanen Entschluß. Zum Krankenhaus in New York waren es nur rund zwei Stunden Fahrt. Wenn sie gleich losfuhr, war zwar bei der Ankunft im Krankenhaus keine Besuchszeit, aber das konnte sie umgehen. Sie würde die Schwesterntracht anziehen, die sie für Kunden mit dem Hang zum ›Krankenhaus-Sex‹ bereithielt. Jake schlief wahrscheinlich noch, aber es würde ihm nichts ausmachen, wenn sie ihn weckte. Er hatte in seinem Zustand ganz bestimmt sehr viel Zeit zum Schlafen. Jake roch ihr Parfum – Poison. Er hatte ihr einmal ein Fläschchen davon bei Saks gekauft. Er war erstaunt über ihr Kommen. Sie trat an sein Bett; er konnte in der Dunkelheit ihr Gesicht nicht erkennen, aber er wußte, daß es Caitlin war. »Du mußt hellseherische Fähigkeiten haben«, sagte er. »Ich habe gerade an dich gedacht.« »Wirklich?« fragte sie sanft. »Geh doch mal einen Schritt zurück ins Licht, das vom Flur hereinscheint«, bat er. Sie tat es, und er sah, daß sie eine Schwesterntracht trug. »Sehr clever.« »Ich hätte schon früher kommen sollen«, sagte sie. 104
Er hörte die Anspannung in ihrer Stimme. Der Schock, ihn so liegen zu sehen? Nein, er sah ja ganz normal aus, hatte keine Verletzungen im Gesicht, keine Brandwunden – er war einfach nur der gute alte Jake, der reglos in einem Krankenhausbett lag. »Darf ich deine Hand nehmen?« fragte sie. »Nur zu.« Sie nahm seine Hand in ihre. Er spürte nichts davon, aber er erinnerte sich – sie hatte die weichen, gepflegten Hände einer Kartengeberin in einem Spielkasino, was sie tatsächlich auch einmal gewesen war. Mit den Spielen, die sie inzwischen beruflich betrieb, verdiente sie bestimmt eine ganze Menge mehr. »Wir haben uns immer nachts getroffen«, stellte er fest. »Warum hast du aufgehört, zu mir zu kommen?« fragte sie. Jake schaute auf ihre dunkle Silhouette und überlegte, was er ihr sagen sollte. Die Wahrheit? Daß sie ihm irgendwie lästig geworden war? Daß ihm ihre Fragen über Porter, über Jakes Leben, trotz aller Zwanglosigkeit, zu aufdringlich erschienen waren? Nein… »Du hast von Anfang an zu viel Klasse für mich gehabt«, sagte er. »Ein Mädchen aus Vassar und ein Wachmann, der die High-School nicht abgeschlossen hat…« »Jake, komm, red keinen Quatsch. Machst du dir nichts mehr aus mir?« »Du bist schön, Caitlin. Du weißt das.« »Aber es beantwortet nicht meine Frage.« »Ich bin an der Reihe, dich etwas zu fragen. Warum bist du zu mir gekommen?« »Ich dachte, zum erstenmal in deinem Leben würdest du mich brauchen.« »Ja, ich brauche dich.« Sie beugte sich über ihn und küßte ihn sanft und innig auf den Mund. Er versuchte den Kuß zu erwidern, aber seine Gesichtsmuskeln schienen plötzlich verhärtet und seine Lippen aus Stein zu sein. Sie richtete sich wieder auf. »Entschuldigung. Vielleicht hätte ich das nicht tun sollen. Es ist das einzige, das ich dir geben kann.« 105
»Nein, das ist es nicht.« »Was sonst? Sag mir, was ich sonst für dich tun kann.« Jake zögerte. Er war noch immer an einen Überwachungsmonitor angeschlossen. Wenn sie ihm ein Kissen aufs Gesicht drückte, stürmten Schwestern ins Zimmer, ehe er die Chance zum Sterben hatte. Wenn sie das Kabel des Monitors aus der Steckdose zog, geschah dasselbe. Vielleicht konnte Caitlin dann aber aus dem Krankenhaus verschwunden sein, ehe die Schwestern im Zimmer auftauchten. »Hat dich jemand reinkommen sehen?« »Ja«, antwortete sie. »Der Wachmann in der Halle, eine Schwester vor dem Aufzug. Aber das macht ja nichts. Sie haben mich für eine Krankenschwester gehalten.« Jakes Hoffnung schwand. Selbst wenn sie entkommen konnte, sie würden sich an sie erinnern – an die attraktive Schwester, die sie nicht kannten. Er hatte genug Hits durchgeführt, um zu wissen, wann eine Sache riskant war. Der Wachmann aus der Halle und die Schwester vom Aufzug würden mit einem Polizeizeichner zusammengebracht werden. Sein Fall machte immer noch Schlagzeilen, und Caitlins markantes Gesicht würde auf den Titelseiten prangen: OPFER
SCHIESSWUT VON UNBEKANNTER FRAU KRANKENHAUS ERMORDET
POLIZEILICHER
IM
Es gab zu viele Leute, die das Gesicht von Caitlin O'Shea kannten und sich nichts daraus machen würden, die Polizei zu informieren. Einer ihrer Kunden, vor allem ein ›Krankenschwestern-Sex-Freak‹, würde sie anhand der Polizeizeichnung erkennen und die Cops verständigen – es genügte ja ein anonymer Anruf. Nein, selbst wenn er Caitlin überreden konnte, ihn zu töten, es durfte nicht jetzt sein. Er brauchte Zeit, sich einen Plan auszudenken – angefangen damit, wie er sie überreden konnte, ihn zu töten, vor allem aber auch, wie sie es machen mußte, ohne in Verdacht zu geraten. Bei ihrem nächsten Besuch würde er soweit sein. 106
Im Moment kam es darauf an, sie an die frühere Beziehung mit ihm zu erinnern – und darauf zu hoffen, daß es ausreichte, sie zu der Tat zu bewegen… »Du hast gesagt, ich könnte etwas für dich tun«, hakte Caitlin nach. »Sag mal, wie … wie waren damals deine Gefühle für mich?« Es überraschte ihn nicht, daß sie mit der Antwort zögerte. »Was soll das denn, Jake?« sagte sie schließlich. »Ich habe immer wieder versucht dir zu sagen, was ich für dich fühle, aber du hast es mich nie wirklich aussprechen lassen.« Jake erinnerte sich an die ersten Male bei ihr. Beim Sex hatte sie angefangen zu stöhnen: »Oh, Baby, du machst das so toll, ich liebe es!« Und so weiter. Er hatte ihr gesagt, sie solle das seinlassen. Er war bei ihr, um Sex zu haben, nicht, um sich Schmeicheleien oder Lügen anzuhören. Eine klare Abmachung – alle Karten lagen auf dem Tisch, Betrugsmanöver waren nicht zu erwarten. Der Betrug, den Sarge an ihm begangen hatte, reichte ihm für sein ganzes Leben. »Jetzt lasse ich es dich aussprechen«, sagte er. Sie starrte auf ihn herunter. »Okay… Am Anfang hast du mich verwirrt. Du warst so höflich. So respektvoll. Die meisten anderen Männer bringen das mir gegenüber nicht fertig. Sie meinen, sie müßten mich verachten, vor allem nach dem Sex. Du hast das nicht gemacht. Das hat mir gefallen – sehr sogar. Und ich mochte deinen Sinn für Humor. Ich mochte es, wenn du mir Geschenke gemacht hast. Und dann, als du mich vor diesem irren Porter gerettet hast…« »Caitlin…«, unterbrach Jake. »Was ist?« Die Worte lagen ihm auf der Zunge, platzten beinahe heraus. Er durfte sie um diesen Gefallen bitten, durfte sie bitten, es jetzt gleich zu tun. Sie hatte eine Chance zu entkommen. Und er sehnte sich so sehr nach dem Tod… »Jake…« Sie strich ihm über die Stirn. Ihre Hand war noch immer so sanft und kühl, wie er sich an sie erinnerte. »Armer Jake. Willst du mich fragen, ob ich dich geliebt habe? Natürlich habe ich 107
dich geliebt, du dummer Junge.« »Mach mir nichts vor, Caitlin.« Sie sagte lange Zeit nichts, ließ die Hand sanft auf seiner Stirn liegen. »Okay, Jake«, sagte sie schließlich. »Ich wünschte, ich könnte die Hure mit dem goldenen Herzen sein. Aber mein Job verändert eine Frau. Vielleicht sind wir Huren schon anders als die anderen Frauen, bevor wir mit diesem Job anfangen. Wie auch immer – ich weiß nicht, was Liebe ist. Ich weiß nur, daß ich die Bewunderung von Männern brauche. Sie bewundern natürlich nicht mich, sondern nur meinen Körper. Für mich macht das keinen großen Unterschied. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich nicht mein Gehirn, sondern das, was die Männer sehen, was sie begehren…« Ihre Stimme verebbte. »Ich habe dich gemocht, Jake«, sagte sie dann. »Ich mochte dich mehr als jeden anderen Mann, und das ist keine Lüge. Wenn ich eine anders geartete Frau wäre, hätte ich dich vielleicht geliebt. Und wenn du ein anders gearteter Mann wärst, hättest du vielleicht sogar mich lieben können.« Jake sagte nichts. Was hätte er auch sagen können? »Kriegst du noch einen hoch?« fragte sie. »Nein.« Jake spürte, daß sie ihre Hand von seiner Stirn nahm, sah, ohne etwas zu fühlen, wie sie die Hand unter die Decke schob, in seine Leistengegend. »Laß das«, sagte er. »Laß das zu deinem und meinem Wohl.« »Entschuldigung, Jake. Tut mir leid.« Sie lehnte sich über ihn und küßte ihn auf die Stirn. »Ich komme dich bald wieder besuchen.« »Gut«, sagte er. Aber er wußte, sie würde nicht wiederkommen.
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11 Das Versprechen Oktober
J
ake ging durch den Wald. Seine Nerven waren angespannt. Die rechte Hand hing locker an seiner Seite. Er spürte den Kolben der Mauser in der Handfläche, und das Gewicht der Pistole zerrte an den Sehnen seines Arms. Er schaute hoch, sah durch die Baumwipfel Streifen eines ultramarinblauen Himmels. Die grelle Farbe schmerzte in den Augen und ließ die Netzhaut vibrieren wie der Bohrer eines Zahnarztes die Kieferknochen. Er senkte schnell den Blick, sah aber auch den Boden unter seinen Füßen nur verschwommen. Dunkle Blätter krümmten sich um seine Knöchel, schienen an seinen Füßen zu ziehen, während er hindurchschlurfte. Die Luft stach in seine Lunge. Es roch nach Feuer. »Jake«, sagte eine Stimme vor ihm. Jake ließ sich sofort in die Hocke sinken. Er kämpfte gegen das unnatürliche Gewicht der Mauser an, brachte sie schließlich hoch in Schußposition. »Ich werde dich kriegen, mein Junge.« Die Stimme klang barsch, höhnisch. Jake zielte über den kurzen Lauf auf einen Busch direkt vor ihm. Die Stimme war von dort gekommen. Er wollte den Abzug durchdrücken, aber er schien festgerostet zu sein. »Nun komm schon, Jake, worauf wartest du noch, du Schlappschwanz? Hast ihn gestern abend nicht mal für diese Nutte hochgekriegt.« Jakes Kehle zog sich zusammen. »Sarge?« »Wer sonst könnte hier draußen bei dir sein? Bist du ein bißchen durcheinander, Junge? Ich sehe dich glasklar in meinem Fadenkreuz. 109
Du verhältst dich nicht sehr geschickt, meinst du nicht auch?« »Nein«, sagte Jake. »Also, was ist los?« »Erschieß mich, Sarge«, bettelte Jake. »Ich bin gelähmt, siehst du?« Er hob die schlaffe Hand ein wenig an, damit Sarge sie sehen konnte, und ließ den Arm mit der Mauser wie ein Pendel hin- und herschwingen. Er ließ die Pistole fallen. »Erschieß mich. Ich will nicht mehr leben.« »Du bemitleidenswertes Häufchen Elend.« Sarge trat aus dem Gebüsch, und Jake stockte beim Anblick der blutüberströmten Erscheinung der Atem. Einschußlöcher hatten Sarges Uniformjacke zerfetzt, die Stirn in eine blutige Masse verwandelt. »Du hast mich getötet, erinnerst du dich nicht? Ich war der einzige Freund, den du hattest.« Jake schluckte. »Du warst nicht mein Freund.« »Nicht dein Freund?« Sarge hob die Augen zum Himmel. »Ich habe dich zu mir genommen, als niemand dich haben wollte. Ich habe dich an dem teilhaben lassen, was das Wichtigste in meinem Leben ist. Ich war dein Lehrer. Ich habe meinen Ärger unterdrückt, wenn du was verbockt hast und dich gelobt, wenn du was gut gemacht hast. Ich war der erste Mann in deinem jämmerlichen, unbedeutenden Leben, der Interesse an dir gezeigt und dich mit Respekt behandelt hat. Ich habe deinem Leben einen Sinn gegeben. Und du sagst, ich wäre nicht dein Freund?« Jakes Kopf dröhnte. Er konnte nur schwer seine Gedanken ordnen. »Du hast mein Vertrauen mißbraucht.« »Blödsinn!« »Du hast mich dazu gebracht, dich zu töten.« »Quatsch. Ich wollte dich nur testen. Habe nur mit Platzpatronen geschossen. Und du hast den Test nicht bestanden. Wie hast du nur denken können, ich könnte dir was Böses antun wollen? Ich, Sarge – dein Vater, dein bester Freund auf der ganzen Welt?« Jake starrte Sarge entsetzt an. Platzpatronen? Nein, das konnte nicht sein. Er hatte ja die Geschosse neben seinem Kopf durch die Blät110
ter und in die Äste fahren hören. Oder hatte er das all die Jahre hindurch nur geträumt? »Du wolltest mich töten…« Sarge schüttelte traurig den grotesken, blutigen Kopf. Und dann war der Mann vor Jake plötzlich nicht mehr Sarge, sondern Mark Porter. Eines seiner Augen war nur noch eine leere Höhle – das Einschußloch der 9mm-Kugel. Jakes Gesicht prickelte vor Angst. Caitlin war jetzt in Sicherheit, er selbst aber in großer Gefahr. Er mußte Porter in den Kofferraum seines Wagens schaffen, ehe jemand in den Hinterhof kam. Irgendwie schaffte er es jedoch nicht, die Leiche hochzuheben. Sie war schrecklich schwer und entglitt immer wieder seinem Griff. »Jake, Jake«, sagte eine weibliche Stimme hinter ihm. Er wollte herumfahren, aber irgend etwas hielt ihn fest. »Jake, wachen Sie auf.« Er öffnete die Augen. Angel schaute auf ihn herunter. Ihre Hände lagen auf seinen Schultern. Er atmete tief durch. »Sie hatten anscheinend einen Alptraum«, sagte Angel. »Sehen Sie sich an – Sie sind in Schweiß gebadet.« Sie ging ins Badezimmer und kam gleich darauf mit der Schüssel und dem Waschlappen wieder zurück. Sanft wischte sie ihm das Gesicht ab. Das Wasser war kühl, fühlte sich gut an, und es erlöste ihn endgültig aus den Klauen seines Traumes. Sie sah wunderschön aus. Ihr weiches braunes Haar glänzte im Licht der Morgensonne. Die Sommersprossen auf ihren Wangenknochen und dem Nasenrücken ließen ihn an ein Rehkitz denken, das er einmal in den Pine Barrens gesehen hatte. Sie sah so gesund, so lebensfroh aus, daß ihm fast der Atem stockte. Die plötzliche Angst vor einer Demütigung durchfuhr ihn. Hatte Angel ihn stöhnen, laut schreien gehört? Er zwang sich zu einem fragenden Lächeln. »Wie kommen Sie auf die Idee, ich hätte geträumt?« »Ich habe Ihre Augen beobachtet.« Jake verstand nicht, was sie meinte. Wie hatte sie seine Augen se111
hen können? Waren sie offen gewesen? Ein kalter Schauer durchlief ihn. »Wissen Sie«, sagte Angel mit einem Anflug von Ungeduld, »man sieht es an den Bewegungen der Augäpfel unter den Lidern. Wenn Leute träumen, gehen die Augäpfel hin und her – es sieht aus, als ob sie bei einem Tennisspiel zuschauen würden.« Er wußte jetzt, daß sie an seinem Bett gestanden und ihn im Schlaf beobachtet haben mußte. Warum hatte sie das getan? »Okay, aber wie kommen Sie auf die Idee, es sei ein Alptraum gewesen?« »Nur eine Vermutung«, sagte sie trocken. »Im übrigen – ich habe gute Nachrichten für Sie.« »Oh – Sie werden mein Gehirn in Arnold Schwarzeneggers Körper verpflanzen…« Sie drohte, den Waschlappen über seinem Gesicht auszuwringen. »Jetzt seien Sie doch mal ernst… Was ich sagen wollte – es ist soweit, daß wir mit der physischen Therapie anfangen können.« »Großartig! Drehen Sie mich auf den Bauch, und ich mache Liegestütze mit den Lippen.« »Mit Ihrer großen Klappe würden Sie das vielleicht sogar schaffen. Aber vielleicht sollten wir doch mit weniger anstrengenden Dingen anfangen, zum Beispiel mit Fingerübungen; versuchen, ein wenig Gefühl in sie zurückzubekommen.« Jake dachte an Fredos blasiertes Gesicht im Fadenkreuz seines Gewehrs, den Finger am Abzug. Großartig. Aber wer würde ihn stützen und seinen Arm halten? »Bei den meisten vom Hals ab Querschnittsgelähmten«, fuhr Angel fort, »bleibt in den Händen ein geringer Rest des Tastsinns erhalten. Forscher haben ihr Biofeedback-Gerät entwickelt, mit dem Querschnittsgelähmte die manuelle Gefühlsfähigkeit bis zu einem gewissen Grad wiedererlangen können. Wir haben hier am Krankenhaus eine eigene erfolgversprechende Version dieser Geräte entwickelt, die…« »Moment, Angel, ich will keine Reha-Maßnahmen durchführen.« 112
»Nun, wir könnten natürlich noch ein paar Tage damit warten.« »Ich will keine solche Behandlung. Schluß.« Sie starrte ihn an. »Jetzt sind wir an dem Punkt angelangt, wo Sie mir erzählen werden, daß Sie nicht weiterleben wollen, nicht wahr?« Er schwieg, war völlig überrascht davon, daß sie ihm das so unverblümt gesagt hatte. Das Gespräch war kurz davor, außer Kontrolle zu geraten. Sein Plan war doch, sie dazu zu bringen, sich in ihn zu verlieben, erst dann wollte er sie bitten, ihn zu töten… »Jake«, sagte sie sanft, »ein Drittel aller Querschnittsgelähmten versucht irgendwann, Selbstmord zu begehen. Wenn Sie jetzt daran denken, sollten Sie keine Hemmungen haben, es mir zu sagen.« Er hatte Hemmungen, es zu sagen. Und nicht nur, weil es sie davon abhalten konnte, sich in ihn zu verlieben und ihm dann zum Tod zu verhelfen. Erstaunt registrierte er, daß er sich etwas daraus machte, was sie von ihm dachte. Eine Alarmglocke schrillte in seinem Gehirn. Das lief nicht gut… Gar nicht gut. »Sie können Ihren Körper nicht bewegen«, begann sie. Im selben Augenblick zuckte sein Knie unter der Decke hoch. »Bis auf das da«, unterbrach er sie. »Ja, bis auf das. Aber Sie haben noch Ihr funktionsfähiges Gehirn. Ihre Gedanken, Ihre Träume, Ihre Phantasie…« »Ich habe nie zu den Leuten gehört, die gern rumsitzen und nachdenken«, sagte Jake. Angel sah ihn fest an. »Dann müssen Sie Ihren Job gehaßt haben.« Er brauchte einen Moment, um zu erkennen, daß sie von seiner falschen Identität sprach – von Jake Nacht, dem Wachmann. »All diese Nächte in der Wachkabine eines Lagerhauses«, fuhr Angel fort, »und Sie wollen mir erzählen, Sie hätten während dieser Zeit nicht nachgedacht? Was haben Sie denn sonst getan?« »Ich bin viel rumgelaufen.« Eine dürftige Antwort, das war ihm klar. »Kommen Sie, Sie haben doch bestimmt viel gelesen, oder nicht? 113
Oder Ihrer Phantasie freien Lauf gelassen und sich vorgestellt, Sie würden einem aufregenden Job nachgehen.« »Das habe ich getan«, sagte Jake, »allerdings mit dem Unterschied, daß ich nach der Arbeit tatsächlich tun konnte, worüber ich nachgedacht hatte.« »Und was war das?« Jake mochte die Richtung nicht, die die Unterhaltung nahm. Er wollte nicht dazu gedrängt werden, Einzelheiten eines Lebens zu schildern, das er in Wirklichkeit nie geführt hatte. Er antwortete nicht. »Ich hatte von Anfang an Schwierigkeiten mit der Vorstellung, Sie seien ein Wachmann«, sagte Angel. »Sie wirken viel zu intelligent dafür.« »O ja, Ma'am, hier bin ich, der Superstar der Wissenschaft.« Angel verzog die Mundwinkel. »Versuchen Sie nicht, mich hinters Licht zu führen, Jake. Ich kenne alle Lügengeschichten, die es gibt, von der Märchenfee bis zum Schwarzen Mann. Am ersten Schultag meines Lebens bekam ich große Schwierigkeiten, weil eine meiner Schwestern mir eingeredet hatte, ich müsse die Lehrerin unbedingt nach meinem Masturbations-Stundenplan fragen. Als ich vier war, sagte mir mein Bruder, wenn ich nachts ein Bein über die Bettkante hängen lassen würde, kämen die Krokodile unter dem Bett hervorgekrochen und würden es abbeißen.« »Und Sie meinen, das wäre alles nicht wahr?« Sie lächelte. »Sie meinen, Sie könnten mich mit Späßchen vom Ziel meiner Rede abbringen? Das wird Ihnen nicht gelingen. Sie sind kein träger Mensch. Im Moment sind Sie deprimiert. Sie verbergen das großartig, und, bei Gott, ich bewundere das, denn wenn ich in Ihrer Lage wäre, ich würde mir die Augen aus dem Kopf heulen und jeden schroff abweisen, der mir zu helfen versucht.« »Nein, das würden Sie nicht«, sagte Jake. »Sie nicht.« Sie schien sich über diese Aussage zu freuen. »Ich wollte, Sie hätten recht. Ich wäre gern so tapfer wie Sie. Aber tapfer oder nicht, ich wäre auf jeden Fall zutiefst deprimiert. Ganz bestimmt. Ich könnte mir sogar vorstellen, den Tod herbeizusehnen.« 114
»Machen Sie sich etwa jetzt meine Argumente zu eigen?« fragte Jake sanft. »Daß Sie tatsächlich sterben sollten? Keinesfalls! Sie sollten deprimiert sein und wütend und verängstigt, und sie sollten weiterhin dagegen ankämpfen, mit Späßchen oder Flüchen oder was auch immer Ihnen hilft, bis Sie eines Tages feststellen, daß es doch ein lebenswertes Leben für Sie gibt.« »Es gibt kein lebenswertes Leben mehr für mich.« Jakes Zorn wich einer stillen Resignation. Plan A war gescheitert. Sie war ihm zuvorgekommen. Und was war jetzt Plan B? »Sie empfinden Selbstmitleid, nicht wahr?« fragte Angel. Jake dachte darüber nach. Hatte sie recht? Er war oft von Selbstmitleid gequält worden. Vor allem als Kind – das heißt, bis Sarge in sein Leben getreten war. Er hatte sich so sehr eine Familie gewünscht, aber niemand hatte ihn haben wollen. Das war sehr schmerzhaft gewesen, und er hatte starkes Selbstmitleid empfunden. Aber mit der Zeit hatte er sich nichts mehr daraus gemacht. Wenn keinem anderen etwas an ihm lag, warum sollte er sich dann selbst etwas aus sich machen? Dann hatte Sarge ihn aufgenommen. Hatte sich um ihn gekümmert. Und deshalb war er auf den Gedanken gekommen, er könne für andere Menschen doch eine Rolle spielen. Bis sich zeigte, warum Sarge freundlich zu ihm gewesen war. Seit diesem Tag hatte er, soweit er sich erinnern konnte, keinerlei Gefühle mehr für sich selbst entwickelt. Was nicht hieß, daß er keine Gefühle für das Leben entwickelt hätte. Das Leben war im Grunde ganz angenehm. War es zumindest bisher gewesen… Die Befriedigung, daß man manches gut zustande brachte. Ein kaltes Bier in einer dunklen Kneipe. Das Gefühl eines glatten Pistolenkolbens in der Hand. Man brauchte nichts für sich selbst zu fühlen, um das Rütteln des Lenkrads zu lieben, wenn man mit achtzig Meilen durch offenes Gelände fuhr. Oder um die Erregung zu genießen, wenn man sich der elektrisierenden Weichheit einer Frau 115
hingab. Sein Körper hatte einen besonderen Draht für solche Genüsse entwickelt, und jetzt war dieser Draht durchtrennt worden. Die Kugel eines korrupten Cops hatte die einzigen Gefühle zerstört, die eine Rolle spielten, hatte alle Dinge, die das Leben interessant machten, aus seiner Reichweite verbannt. Das einzige, was noch in seiner Reichweite lag, war sein Ich, für das er nichts fühlte, so oder so. Verdammt, wenn er für dieses Ich irgend etwas fühlen könnte, wie Angel unterstellte, dann gäbe es vielleicht tatsächlich einen Grund, leben zu wollen. Aber wenn man gar nichts fühlte… Es war wirklich besser, den Tod zu suchen. Wie konnte er Angel das verständlich machen? »Sagen Sie doch was«, bat Angel. »Erinnern Sie sich daran, wie Sie mir erzählt haben, was es bedeutet, die Jüngste zu sein?« »Ja.« »Es hat mich verstehen lassen, warum Sie ein Cop werden wollten. Ich brauche jetzt Ihr Verständnis, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll, um es zu erreichen. Mir hat niemand den Kopf getätschelt, bis der Schädel flach wurde. Aber ich habe dasselbe Verlangen wie Sie, die Dinge unter Kontrolle zu haben.« Angel nahm seine Hand von der Bettdecke und betrachtete sie, als sei sie ein Spiegel, in dem sie sein Inneres sehen konnte. »Ich glaube, ich verstehe Sie, Jake… Ich wollte ein Cop werden, damit ich endlich einmal anderen Menschen Befehle geben konnte. Deshalb bin ich dann wohl auch Krankenschwester geworden. Und jetzt können Sie nicht einmal mehr Ihren Händen Befehle geben – aber mein Verständnis für Ihre Situation bedeutet nicht, daß ich den Tod als beste Lösung für Sie betrachte. Ihr Körper ist verändert worden. Worauf es jetzt ankommt, ist, daß sich auch Ihr Geist verändert. Er muß sich der neuen Situation anpassen. Er hat das noch nicht getan, aber er wird es, wenn Sie ihm die Chance dazu geben. Vielleicht ist es so, daß Sie vorher keinen Körper hatten – Sie waren Ihr Körper. Bestanden nur aus Körperlichkeit. Wenn dieses Unglück sich nicht ereignet hätte, wären Sie vielleicht in dem Glau116
ben, das sei alles, durch Ihr ganzes weiteres Leben gegangen – oder Sie hätten sich überhaupt keine Gedanken darüber gemacht. Aber es ist geschehen. Jetzt sind Sie dazu gezwungen, den Unterschied zwischen Empfindungen und Gefühlen zu erkennen, müssen sich darüber klar werden, daß Sie niemals nur aus Ihrer Körperlichkeit bestanden. Ihr Körper war nur das Werkzeug Ihres Geistes, wie der Hammer eines Zimmermanns. Der Hammer ist zerbrochen, sie müssen sich auf ein anderes Leben umstellen. Das bedeutet Umschulung. Das ist nicht einfach. Aber wenn Sie sich wirklich bemühen, wird der neue Mann weiterleben wollen.« »Das können Sie doch gar nicht wissen.« »Und Sie können es erst wissen, wenn Sie es versucht haben.« Sie schaute von seiner Hand auf und blickte ihn mit ihren wunderschönen goldbraunen Augen herausfordernd an. Er erkannte bewundernd, wie intelligent diese Frau war. Was sie gerade gesagt hatte, war so klar, so logisch… Dr. Graham hätte das nie so einfach ausdrücken können. Mein Körper, der Hammer, dachte Jake. Nicht schlecht. Wenn jemand es schaffen kann, mich zu überzeugen, dann Angel… Mit einiger Aufgeregtheit erkannte er, daß sie ihm gerade ein kleines Schlupfloch eröffnet hatte. Konnte er es erweitern? »Was ist, wenn ich es versuche und dann doch sterben will?« fragte er. »Darüber sprechen wir, wenn es soweit ist.« »Nein, lassen Sie uns jetzt gleich darüber sprechen.« »Sie können sich nicht in eine so weit entfernt liegende Situation versetzen. Es bringt nichts, jetzt schon darüber zu reden. Wenn Sie es ein Jahr versuchen und dann immer noch darüber diskutieren wollen, werden wir es tun. Ich verspreche es Ihnen.« »Das gefällt mir so nicht, Angel. Sie wollen, daß ich es versuche. Wie ich es im Moment sehe, könnte es sich tatsächlich lohnen. Ich werde es versuchen – aber nur, wenn wir jetzt gleich ein Übereinkommen treffen.« 117
Sie sagte nichts, sah ihn nur unverwandt an. »Ich werde in den nächsten zwei Wochen mein Bestes geben. Ich schwöre, ich werde alle Kraft einsetzen, die ich habe. Wenn ich am Ende dieser Zeit immer noch sterben will, werden Sie mir dabei helfen…« Angel wurde blaß. »Zwei Wochen! Das ist lächerlich. Sie…« »Dann einen Monat.« »Ein Jahr.« Sie hat angebissen! dachte Jake, ließ sich seine Zufriedenheit aber nicht anmerken. »Zwei Monate.« Sie ging zur Wand am Ende des Zimmers, kehrte wieder zurück. »Jake, ich werde Sie nicht töten. Auf gar keinen Fall.« »Angel, wenn wir jetzt keinen Deal machen, werde ich meine ganze Kraft auf das Sterben verwenden. Und ich werde es schaffen, das können Sie mir glauben. Ich habe Freunde. Ich werde jemanden finden, der mir hilft. Sie werden das nicht verhindern können.« Er legte alle Überzeugungskraft, zu der er fähig war, in seine Worte, obwohl er wußte, daß es nicht so einfach sein würde, jemanden für eine solche Tat zu finden. Fast unmöglich. Ja, richtig, Freunde… Viel zu lange Jahre hindurch hatte er keine gebraucht, und so gab es keine in seinem Leben. »Sie müssen sich entscheiden«, fuhr er fort, »ob ich es mit der Therapie versuchen soll und alles nach Ihren Vorstellungen abläuft. Ich werde mich mit vollem Einsatz darauf stürzen. Sie müssen dafür den Mut aufbringen, mir zum Tod zu verhelfen, falls sich herausstellen sollte, daß Sie mit Ihrer Vermutung falsch lagen, ich wolle dann weiterleben.« »Ich liege nicht falsch damit«, sagte sie. »Dann haben Sie ja kein Problem.« Sie ging wieder auf und ab, zur Wand und zurück. Auf ihrer Stirn stand ein dünner Schweißfilm. »Sechs Monate«, sagte sie. »Vier. Ich werde alles tun, was Sie sagen. Nie nachlassen. Wenn ich dennoch zwischendrin schlappmache, sind Sie aus dem Schneider, ich erwarte dann nichts von Ihnen. Wenn ich aber durch118
halte und dennoch sterben will, werden Sie tun, was getan werden muß. Wir werden es so arrangieren, daß niemand auf den Gedanken kommen kann, Sie hätten mir geholfen.« »Jake…« »Wenn Sie nicht zustimmen, werde ich mich mit meinen Freunden in Verbindung setzen.« »Vier Monate. Sie tun alles, was ich sage? Kein Nachlassen in den Anstrengungen?« »Ich schwöre es.« »Und ich bestimme, wann der Zeitpunkt für Ihren Tod gekommen ist?« Jake zögerte. »Okay«, sagte er dann. Angel starrte ihn an. »Abgemacht.« Jake wollte ihre Hand nehmen. Begnügte sich mit einem Lächeln. Zum ersten Mal, seit er hier im Krankenhaus aufgewacht war, spürte er eine leise Hoffnung in sich aufkeimen. Vier Monate waren eine lange Zeit. Aber er würde sie durchstehen, Tag für Tag, Woche für Woche. Ja, er würde durchhalten. Und dann würde Angel ihn töten.
12 Angel
A
ngel sehnte sich nach der Pause. Die Zeit verging entsetzlich langsam; das Universum schien erstarrt zu sein. Sie spürte, daß William seinen Arm gegen ihren drückte. Die eleganten weißen Logen der Carnegie Hall erstreckten sich bogenförmig nach beiden Seiten von ihr weg bis hin zur hell erleuchteten Bühne, auf der ein 119
kleines Orchester musizierte. Und musizierte … und musizierte. Das beste Wort, das ihr zu Johann Sebastian Bach einfiel, war ›aufdringlich‹ – zu viele Töne auf einmal. Der Cembalo-Spieler hämmerte das grelle Klirren seines Instrumentes viel zu laut heraus. Die Geiger sägten in ernster Übereinstimmung ihren Part herunter, aber irgendwie schien der Rhythmus nicht synchron mit ihren auf- und abfahrenden Bögen zu sein – wie bei einem japanischen Film, wenn die Lippen der Schauspieler sich noch bewegten, nachdem der englische Text bereits zu Ende war. Versuch es mit Bach, hatte William gesagt. Wenn du Bach gehört hast, wirst du verstehen, warum die Barockmusik schöner ist als die klassische. Und sie hatte immer gedacht, die Barockmusik gehöre zur Klassik… Angel wünschte, Williams Boß, Senator Harrison, hätte nicht darauf bestanden, in der Loge hinter ihnen zu sitzen. Er hatte gescherzt, sie würden sonst nicht über ihn hinwegsehen können – was allerdings stimmte. Aber der Gedanke, daß der Senator sah, wie William sich an sie schmiegte, war ihr heute abend irgendwie unangenehm. Seltsam. Angel stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie so dicht neben Jake sitzen würde. Sein Arm würde sich bestimmt härter anfühlen. William war kein Weichling, aber was konnte man von einem Mann, der im Stab eines Senators arbeitete, an durchtrainierten Muskeln erwarten? Als sie ihn in Washington besucht hatte, hatte er sie mit zweien seiner Kollegen bekanntgemacht. Beide sahen trotz der gepolsterten Schultern ihrer modischen Sportjacketts recht verweichlicht aus. Und sie waren so bleich wie die weißen Ratten in Onkel Joes Forschungslabor – und nicht halb so schön. Ratten vom Capitol Hill… William aber sah wenigstens gut aus – mehr als das, er war ein ausgesprochen attraktiver Mann. Und man mußte fair sein – man konnte schlecht zu einer gesunden Bräune kommen, wenn man den 120
ganzen Tag und die halbe Nacht vor Computermonitoren und unter Neonlicht im Büro saß und am Geschick der Nation feilte. Und was harte Muskeln anging – vom Redenschreiben für den Senator bekam man die bestimmt nicht. Offensichtlich wurden unter dem Dach des Capitols weitaus mehr Worte gestemmt als Gewichte. Selbst nach Wochen im Krankenhaus war Jake immer noch gebräunt. Wenn sie an die Abmachung dachte, die sie mit Jake getroffen hatte, ließ ein Anflug von Angst ihren Magen verkrampfen. Was würden ihre früheren Schwesternausbilder sagen, wenn sie wüßten, daß sie sich bereit erklärt hatte, einem Patienten zum Tod zu verhelfen? Natürlich, sie war sicher, daß Jake sie nicht in diese Verlegenheit bringen würde. Seit nunmehr zwei Wochen arbeitete er hart an sich, tat alles, was sie von ihm verlangte, stürzte sich mit aller Kraft auf die Übungen. Er schien eine äußerst positive Einstellung zu der Therapie zu haben. Leute mit einer so positiven Haltung hatten keine Todessehnsüchte. Warum also nagte das fortlaufend an ihr? Weil das Schlüsselwort ›schien‹ hieß. Unter dieser scheinbar so positiven Haltung war nicht zu erkennen, was Jake Nacht wirklich dachte… Angel sprach sich Mut zu. Selbst wenn er im Moment nicht weiterleben wollte, am Ende der vier Monate würde er es ganz bestimmt wollen. Und wenn das wider Erwarten nicht der Fall war, lag es daran, daß er nicht wie versprochen durchgehalten hatte. Für sie war es also, wie man es auch betrachtete, eine sichere Abmachung. Völlig sicher. Und außerdem, was hätte sie sonst tun sollen? Für den Versuch mit der Therapie mußte der Patient eine Hoffnung vor Augen haben, zumindest eine Motivation. Als sie dem Deal zugestimmt hatte, war Jakes einzige Motivation der Wunsch nach dem Tod gewesen. Hier mußte sie ansetzen, seine Motivation in positive Bahnen lenken. Ihm Hoffnung auf ein lebenswertes Leben machen. Und was ist, wenn er sich wirklich anstrengt, alles versucht und am Ende 121
der vier Monate dennoch sagt: Okay, Angel, jetzt bring mich um? Ich werde ihm sagen, unser Deal sei ungültig, dachte Angel. Das Stück war zu Ende, und die Leute klatschten. Einige riefen auch »Bravo!« Angel nahm sich William zum Vorbild und klatschte eifrig. Sein Gesicht strahlte vor Freude. Eines war klar – er täuschte das nicht vor. Er mochte dieses Bach-Zeug tatsächlich. Sein Enthusiasmus gefiel ihr. Es geschah nicht oft, daß er seine gesetzte, erhabene Maske fallen ließ. Sie wünschte, er würde auch ein paar Bravorufe ausstoßen. Es würde ihm guttun. Wenn sie ihn jetzt so ansah, konnte sie sich ihn gut als kleinen Jungen vorstellen, wie er grinsend freihändig auf seinem Fahrrad herumfuhr. Sie wünschte, sie könnte Bach ebenfalls mögen, um seine Freude zu teilen. William würde sie bald fragen, ob sie ihn heiraten wolle, da war sie ziemlich sicher. In letzter Zeit war es bei den täglichen Telefonkonferenzen mit der einen oder anderen ihrer Schwestern zum Hauptthema geworden, ob William die entscheidende Frage denn nicht schon gestellt hätte. Natürlich waren alle der Meinung, sie wäre verrückt, wenn sie ihn abweisen würde. Selbst Onkel Joe mochte William. Bis vor einigen Wochen hatte es für sie außer Frage gestanden, daß sie Williams Antrag annehmen würde, wenn er ihn denn stellte. William Fitzpatrick III war schließlich intelligent, attraktiv und fürsorglich ihr gegenüber. Und Mitglied im Stab eines Senators der USA zu sein war ein wichtiger und einflußreicher Job. William war Senator Harrisons Fachmann für Fragen der Ernährung der Weltbevölkerung. Das war durchaus beeindruckend. Es war nur so, daß William und sie nicht sehr viel gemeinsam hatten. Er war ernst, und sie scherzte gern; er hatte eine furchtsame Abneigung gegen Krankenhäuser, in denen sie die Hälfte ihres wachen Lebens zubrachte. Er liebte Bach, und sie liebte Eric Clapton. Wie sollte da ihre Hochzeitsmusik aussehen? Sich in der Mitte treffen? Bach, Eric… Der seichte Burt Bacharach! Das Orchester fing wieder an zu sägen und zu klirren – offensichtlich hatte die Pause ihm neue Kräfte verliehen. Angel widerstand dem Drang, laut aufzustöhnen. Mein Gott, diese Leute brauchten 122
ein paar Saxophone – oder ein fetziges Schlagzeug. Um sich abzulenken, dachte sie an später, wenn William sie nach Hause begleiten würde. Es kam ihr noch immer ein wenig komisch vor, wenn er, ihr voraus und mit absolut besitzergreifender Attitude, in ihr Appartement marschierte, als sei es seine Wohnung und sie der Gast. Angel hatte kein Problem damit, daß er stets bei ihr wohnte, wenn er in New York war. Es hatte sich wie selbstverständlich so ergeben. Und bis jetzt war es schön gewesen, mit William zusammen zu sein. Natürlich blieb er nie länger als erwünscht – meistens nur ein Wochenende, selten einmal eine Urlaubswoche. Heute abend würde er sich nach der Ankunft im Appartement zunächst einmal sorgfältig seines Smokings entledigen. Er würde sie ein paarmal küssen und dann ins Schlafzimmer drängen. Er würde sie hastig lieben, ohne einen Ton von sich zu geben, die Augen geschlossen halten, als ob er fürchte, ihre Gefühle zu verletzen, wenn er sie anschaute. Jake… Jake würde sie ansehen. Sie stellte sich vor, Jake würde neben ihr liegen, sie mit hungrigen Augen ansehen, mit seiner Hand über ihren Bauch streichen, dann hoch zu ihren Brüsten… Allein bei dem Gedanken daran klopfte ihr Herz. Seltsam, daß sie sich den gelähmten Jake überhaupt so vorstellen konnte. Sie hatte schon viele gelähmte Männer als Patienten gehabt, und einige von ihnen waren attraktiver als Jake gewesen, aber ihre Phantasie war noch nie soweit mit ihr durchgegangen, daß sie sich Sex mit ihnen vorgestellt hatte. Das Wissen, daß diese Männer keine Erektion haben konnten, rief Mitleid bei ihr hervor, und in ihrem Beruf mußte man sich vor Mitleid hüten. Aber irgendwie kam bei dem Gedanken an den bewegungsunfähig daliegenden Jake Nacht kein Mitleid in ihr auf. Sie spürte eine Aura um ihn, eine Aura unterdrückter Kraft. Selbst als Gelähmter schien er ein wenig … ja, gefährlich zu sein, und sie mußte sich eingestehen, daß sie das erregte. Irgendwann in seiner Vergangenheit hatte er durchs Feuer gehen müssen. Sie war sich dessen sicher. Aber was es auch war, er hielt 123
es verborgen. Was war sein Geheimnis? War seine ganze Familie bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen? Vielleicht war er auch gar kein Wachmann, sondern Agent des FBI oder der CIA, und seine Arbeit war so geheim, daß er nicht darüber sprechen durfte. Vielleicht ging es ja auch um eine Frau. Ein Mann wie er hatte bestimmt schon einmal eine große Liebe erlebt. Hatte sie tragisch geendet? War seine Frau von Terroristen gekidnappt und getötet worden, ehe er sie retten konnte? Angel wünschte, sie würde sein Geheimnis kennen. Eines Tages würde sie es kennen. Sie würde es herausfinden, sie mußte es herausfinden. Dieser Mann faszinierte sie… Vorsicht! Sie riß sich zusammen. Sie war Jakes Krankenschwester, nicht seine Vertraute oder gar Geliebte. Ihre Aufgabe war es, ihn zu motivieren und ihm zur bestmöglichen Rehabilitation zu verhelfen. Sie war gut in ihrem Job, und sie würde ihm helfen und nicht daran denken, was sein könnte, wenn… Wenn die vier Monate um waren, würde Jake feststellen, daß er weiterleben wollte. Sie würde William heiraten und weiter ihrem Beruf nachgehen. Mit all dem Geld, das Jake ohne Zweifel von der Stadt bekommen würde, konnte er sich Betreuer leisten, die sich täglich um ihn kümmerten. Und er konnte sich eine Wohnung mit Blick auf den Central Park leisten und vom Bett aus die Färbung der Blätter im Herbst beobachten und im Winter den Schlittschuhläufern zuschauen. Er konnte lesen oder fernsehen… Angel spürte einen Kloß im Hals. Nicht aus Mitleid, sondern aus Angst. Irgendwie konnte sie sich Jake nicht vorstellen, wie er all diese Dinge tat. Was sie sich jedoch vorstellen konnte, war ein Jake, der sie am Ende der vier Monate auffordern würde, ihn zu töten. Sie sah diese Szene wieder und wieder vor sich. Sie hatte eine sehr gefährliche Abmachung mit ihm getroffen. Sie dachte an Onkel Joes Experimente mit den Ratten. Vielleicht würde sich in den nächsten vier Monaten ein Erfolg einstellen, wenigstens ein kleiner Durchbruch nach all den Fehlschlägen. Jake wußte nicht, daß der Mann mit der sanften Stimme und der Halbglatze, 124
der jeden Tag zu ihm kam und ihn untersuchte, nicht irgendein Neurochirurg war, daß sich hinter der leicht abwesend wirkenden Art ein hochkonzentrierter Geist verbarg – und daß das Objekt dieser Konzentration nichts weniger war als die Heilung der Paralyse. Onkel Joe befolgte strikt die selbstauferlegte Regel, seine Forschungsarbeit von der Behandlung seiner Patienten zu trennen. Bis jetzt war es noch keinem Forscher gelungen, eine Regeneration des Rückenmarks zu erreichen, und solange dieses Ziel nicht erreicht war, wollte er keine falschen Hoffnungen wecken. Wenn es aber jemand schaffte, dann würde es Dr. Joseph ›Joe‹ Graham sein, da war Angel sicher. Aber es war ein sehr, sehr großes ›Wenn‹… »Soll ich dir ein Glas Champagner holen?« fragte William. Angel fuhr aus ihren Gedanken hoch. Das Konzert war zu Ende. Die Leute klatschten begeistert. »Nein, danke – wenn, dann brauchte ich was Stärkeres«, sagte Angel. Sie folgte William in ihr Appartement. Sie fragte sich, warum sie so bedrückt war. Schließlich war der Konzertteil nach der Pause dankenswerterweise erheblich kürzer gewesen als der davor. William war sogar einverstanden gewesen, daß sie vor der Zugabe aus der Loge gehuscht waren und so gleich ein Taxi bekommen hatten. Und jetzt wollte er Sex mit ihr haben. »Hast du Lust auf ein Glas Wein?« fragte sie und ging zum Kühlschrank. »Ich habe Lust auf Angel.« Er lehnte bereits am Rahmen der Schlafzimmertür. Er sah wirklich gut aus in seinem Smoking. Er löste die Schleife und grinste sie lüstern an. Sie spürte ein leises Begehren. Aber sie goß sich noch ein Glas Chardonnay ein, ehe sie ihm ins Schlafzimmer folgte. Er hatte bereits seine Jacke ausgezogen. Ein Impuls packte sie. »Zieh die Jacke wieder an«, sagte sie. William sah sie verblüfft an. 125
»Laß es uns angezogen machen«, sagte sie. »Du brauchst nur deinen Reißverschluß aufzuziehen, und ich hebe mein Kleidchen hoch, zieh' das Höschen aus und setz' mich auf die Fensterbank.« Er lächelte sie tolerant an, reagierte aber nicht. Er zog sich bis aufs Unterhemd aus, faltete sorgfältig die Smokinghose – genau wie immer. Sie wollte ihn auffordern, sie auszuziehen, unterließ es dann aber, weil sie keine Lust hatte, dieses tolerante Lächeln noch einmal zu sehen. Also zog sie sich selbst aus und schlüpfte unter die Bettdecke. William machte die Lampe aus, bevor er neben sie kroch, aber es drang genug Licht durch das Fenster, um erkennen zu können, daß er die Augen bereits geschlossen hatte. Angel schloß ihre Augen ebenfalls und stellte sich vor, William sei Jake. Sie fühlte sich deshalb schuldig – aber diesmal kam sie ausnahmsweise einmal vor William zum Höhepunkt… Danach, als er eingeschlafen war, nahm Angel sanft seine bleischwere Hand von ihrem Oberschenkel. Sie überhörte sein leichtes Schnarchen und fragte sich, ob sie Onkel Joes Regel brechen und Jake von seiner Rückenmarkforschung erzählen sollte. Sie wußte das meiste, was es darüber zu wissen gab, da sie täglich mehrere Stunden in Onkel Joes Labor mitarbeitete. Die neueste Versuchsreihe mit Ratten lief nun schon seit über einem Jahr; sie hatte die Anästhesie bei jedem einzelnen Tier durchgeführt und die täglichen Beobachtungen in Protokollen festgehalten. Auf der Habenseite war zu verzeichnen, daß der Ansatz zu diesem Versuch in der Theorie ausgesprochen vielversprechend aussah. Nur – bis jetzt hatten die Ratten selbst nicht den geringsten Grund zu irgendwelchen Hoffnungen gegeben. Die drei vorangegangenen Versuchsreihen von Onkel Joe hatten mit Mißerfolgen geendet. Wie gut die Theorie der laufenden Versuchsreihe auch war, es hatten sich noch keinerlei Anzeichen dafür ergeben, daß es diesmal in der Praxis anders ausgehen könnte. Nein, die getroffene Regelung war gut. Jake war nicht der Typ, der auf Theorien vertraute, und selbst wenn es ihr gelang, bei ihm Hoffnungen zu wecken – was würde geschehen, wenn diese Hoffnungen 126
wie Seifenblasen zerplatzten? Er würde dann noch deprimierter sein als zuvor, und er würde das Vertrauen in sie gänzlich verlieren. Dieses Vertrauen aber war es, das ihn zu seinen Anstrengungen bei der Therapie motivierte, und sie durfte es nicht in Frage stellen lassen. Keine Rehabilitation auf der Welt konnte Jakes Rückenmark wieder funktionsfähig machen, und er wußte das. Die Anstrengungen, die er für die Therapie aufbrachte, konnten jedoch durchaus seinen Lebenswillen stärken. Und sie mußte zusehen, daß das eintrat, denn wenn Jake weiterhin sein Bestes bei der Therapie gab und die vier Monate vorbei waren und er immer noch sterben wollte, konnte sie dann sein Vertrauen mit Füßen treten? Konnte sie ihm dann tatsächlich in die Augen sehen und sagen, ihre Abmachung sei ungültig?
13 Arbeit November
A
ls er gerade ins Internet gehen wollte, spürte Jake ein warnendes Prickeln im Genick. Er hielt den ›Taststab‹ fest zwischen den Zähnen, rollte den Kopf zur Seite – das Zurückgewinnen dieser simplen Fähigkeit hatte seinem Dasein eine ganz neue Dimension gegeben –, und er erwartete, Angel neben seinem Bett auftauchen zu sehen. Aber nein, das Zimmer war leer. Ein Anflug von Paranoia – Angel schlich sich niemals heimlich an ihn heran. Morgenlicht flutete ins Zimmer, ein bernsteinfarben glitzerndes Meer, in dem sich Staubkörnchen wie Fische tummelten. Ein Teil 127
der Wand wurde angestrahlt und strömte den schwachen, an überreife Früchte erinnernden Geruch der Farbe aus. Draußen im Flur, auf den sich das Gehör unwillkürlich richtete, wurden die letzten Schiebewagen mit dem Frühstück auf quietschenden Rädern davongeschoben. Angel könnte sich gar nicht heimlich an mich ranschleichen, sagte sich Jake. Ihr Gang, ihre Bewegungen waren deutlich von allen anderen zu unterscheiden… Er schloß die Augen, seltsam niedergedrückt beim Gedanken an sie. Ja, er kannte ihren leichten, dennoch forschen Schritt, den Duft ihrer Haut, ihr Lachen draußen im Flur, das Knistern ihrer Nylonstrümpfe, wenn sie zu seinem Bett kam – wie ein anderer Mann wahrscheinlich die glatte Zartheit ihrer Wangen kannte, die Konturen ihrer Lippen… Seine Kinnmuskeln taten ihm plötzlich weh. Er lockerte den Biß am Stab, ließ die Spitze auf die Bettdecke sinken. Wichtig war, und darüber sollte er nachdenken, daß Angel, auch wenn sie ihm nicht nachschnüffelte, inzwischen sicher wußte, wieviel Zeit er mit der Arbeit am Computer verbrachte. Sie hatte versichert, daß niemand seine Computer-Aktivitäten von einer Zentralstation aus überwachen würde, aber es gab andere Möglichkeiten, ihm auf die Schliche zu kommen. Schwestern und Pfleger kamen dauernd ins Zimmer. Wenn er bat, man möge den Sichtschutzvorhang um sein Bett zuziehen, brachte das nichts – das grüne Licht des Bildschirms schimmerte durch den Vorhang, besonders nachts, wenn nur das Notlicht im Zimmer brannte. Und wahrscheinlich hörte man das Klappern des Stabes auf der Tastatur bis hinaus in den Flur. Dr. Graham kam immer wieder zu unvorhersehbaren Zeiten hereingeschneit und hatte ihn schon mehrmals am Computer arbeiten sehen. Ein komischer Typ, dieser Dr. Graham. Er kam herein, griff nach seiner Hand, bog sie auf und ab und fragte: »Spüren Sie das, Mr. Nacht? Nein? Und das? Auch nicht? Okay.« Er sagte nie Jake zu ihm, zeigte nie irgendwelche Regungen. Dr. Graham mochte ihn nicht besonders, das war klar. Vielleicht war er auch nur einer dieser Ty128
pen ohne Persönlichkeit. Manchmal meinte Jake allerdings, einen abwägenden, fast gierigen Blick in seinen Augen zu erkennen. Als ob ich die Gans wäre, die das goldene Ei legen soll, dachte Jake. Bei anderen Gelegenheiten behandelt er mich, als ob ich Luft wäre. Gestern allerdings nicht. Graham hatte ihm während des ganzen Besuches höchste Aufmerksamkeit geschenkt. Der ›Goldenes-Ei-Blick‹ war die ganze Zeit über nicht aus seinen Augen gewichen. Was hat der Mann vor? Jake haßte unerklärliches Verhalten bei seinen Mitmenschen, hatte es auf die harte Tour lernen müssen, was dabei herauskommen konnte, wenn man nicht erkannte, was in den Leuten tatsächlich vorging. Und er hatte nicht die leiseste Ahnung, welcher Film im Inneren von Dr. Graham ablief. Zum Teufel damit… Wichtig war, daß Graham nicht gerade hereinplatzte, während er im falschen Teil des Internet herumsurfte. Kein prinzipielles Problem, wenn die Schwestern und Graham sahen, daß er am Computer arbeitete. Und Angel sollte es auf jeden Fall wissen. Es würde sie freuen – ein weiterer Beweis, daß er sich tatsächlich alle Mühe gab. Solange Angel nicht wußte, was er tatsächlich am Computer herauszufinden versuchte. Er durfte die Sache jetzt nicht vermasseln. Neun Wochen waren vergangen; mehr als die Hälfte der Zeit bis zum Erreichen seines Ziels war vergangen. Noch sechs Wochen, dann kam er raus hier, weg von dem Geruch der Wandfarbe nach überreifen Früchten, den Staub-Fischchen im Meer der Sonnenstrahlen, dem ewig gleichen, starren Ablauf der Dinge um ihn herum, den er mit schmerzhafter, hilfloser Verzweiflung zu hassen gelernt hatte. Er nahm den Stab wieder fest zwischen die Zähne, drückte verschiedene Tasten und versuchte sich in die richtige Sektion des Internet-Informationsangebotes einzuloggen. Er landete statt dessen bei den ›Nachrichten des Tages‹: Politik, Aktienkurse, Baseball-Ergebnisse… 129
Er war frustriert, tippte wahllos auf der Tastatur herum, versuchte sich an die richtige Kommandoeingabe zu erinnern. Auf dem Bildschirm rollten jedoch starrköpfig weiterhin die Nachrichten ab, und plötzlich sprang ihm ein bekannter Name ins Auge. Wie von selbst gab der Stab das Kommando ein, eine Nachricht festzuhalten, die die heutige New York Times brachte: Senator Weingarten bezichtigt NRA. Jake spürte ein plötzliches Brennen im Genick, dort, wo die Kugel eingedrungen war. Was Whiny sagte, war sicher alles Scheiße, und er sollte seine Zeit besser nicht mit diesem Geschwätz vergeuden… Andererseits aber – Zeit hatte er im Überfluß. Jake überflog den Artikel. Senator Weingarten ließ sich dem Reporter der Times gegenüber lang und breit darüber aus, daß die Hysterie, die die ›National Rifle Association‹, die Vereinigung der Schußwaffenbesitzer in den USA, im Zusammenhang mit den AntiSchußwaffengesetzen verbreitete, für den Anschlag auf sein Leben vor zwei Monaten verantwortlich zu machen sei. »Die Waffennarren wissen, daß ich ihr größter Feind bin«, sagte der Senator. »Sie wollten mich zum Schweigen bringen. Sie spüren den Sinneswandel bei einem Teil unserer Bevölkerung. Ich bin nur einer unter anderen Senatoren, ein Diener unseres Staates, aber dennoch, wenn sie mich zum Schweigen bringen würden, könnte die Waffen-Lobby ungestörter ihre Ziele verfolgen. Der Mordversuch hat mich nicht im geringsten eingeschüchtert. Ich werde fortfahren, gegen das Verbrechen in unserem Land anzukämpfen, und ich werde es tun, wie ich es immer getan habe: nicht, indem ich auf den individuellen Freiheiten oder der freien Meinungsäußerung herumtrample, sondern indem ich dafür kämpfe, daß die Waffen von der Straße verschwinden.« Ja, dachte Jake grimmig. Whiny hat den Schuß vor den Bug richtig gedeutet. Er ist wieder ganz auf der Linie seiner Gangsterfreunde. Und das ist mir zu verdanken… Eine maßlose Wut stieg in ihm auf, packte ihn so, daß er meinte, sie lasse ihn über der Matratze schweben. Er genoß diese Wut, 130
biß auf die Zähne, nährte sie mit Bildern von Fredos verschlagenem Gesicht. Er stellte sich vor, er könne vom Bett springen, aus dem Krankenhaus laufen, sich eine Waffe besorgen und sie alle umlegen, angefangen mit Fredo. Er meinte, die kalten, klebrigen Fliesen draußen im Flur unter den nackten Füßen zu spüren, zu sehen, wie Ärzte und Schwestern sich nach ihm umdrehten, völlig verblüfft über dieses Wunder. Er rannte im Geist an ihnen vorbei, klammerte sich an seine Wut, wußte, wenn er sie auch nur für eine Sekunde vergaß, würde er auf den Boden sinken und wieder gelähmt sein… Er atmete um das Mundstück des Stabes herum tief ein und brach seine Phantasievorstellung ab. Haß war ein machtvolles Gefühl, vielleicht das machtvollste auf der Welt, aber er konnte ihm nicht helfen, aus diesem Bett zu steigen, ebensowenig, wie glückliche Gedanken Peter Pan dazu verholfen hatten, fliegen zu können. Jake stabilisierte den Stab mit den Zähnen, drückte diesmal konzentriert auf die Tastatur, bis er es schließlich schaffte, die Sektion ›Schriftstellerberatung‹ des Internet zu erreichen. Zu schade, daß Dr. Kevorkian keine Homepage hatte. Hey, Dr. K, ich brauche einen Rat. Bitte melden. Er ging in das Menue und tippte die Anfrage ein, die er sich während der Nacht ausgedacht hatte: Ich schreibe einen Medizin-Thriller. Brauche den Namne (Löschtaste, Löschtaste) N-a-m-e-n eines Giftes, das den Herztod herbeiführt. Darf bei Autopsie nicht entdeckt werden. Jake erstarrte, als er plötzlich den so bekannten Schritt hörte. »Bereit zur Arbeit?« Angel kam auf das Bett zu. Er war so in seine Arbeit vertieft gewesen, daß er sie nicht durch die Tür kommen gehört hatte! Er versuchte verzweifelt, auf die Escape-Taste in der obersten Reihe der Tastatur zu drücken, verfehlte sie, versuchte es noch einmal. Schweiß drang in seine Augen, ließ den Bildschirm verschwimmen. »Was ist das?« fragte Angel. Panik drückte ihm die Kehle zu. Wenn sie seine Anfrage auf dem 131
Bildschirm sah, würde sie sofort wissen, was sie zu bedeuten hatte, und dann waren zwei Monate täglicher Anstrengung mit ihren verdammten, sinnlosen ›Hand-Übungen‹ umsonst gewesen… »Hey, das gefällt mir.« Er atmete erleichtert auf. Er hatte es in letzter Sekunde geschafft, aus dem Menue rauszukommen; auf dem Schirm stand ein Zwischenbild. Er starrte mit ihr zusammen darauf, während sie vorlas: »Es ist einfacher, sich eine neue Art des Denkens zu erarbeiten, als sich eine neue Art des Arbeitens auszudenken.« Sie sah ihn nachdenklich an. »Klingt sehr nach Zen. Woher kennen Sie den Spruch?« Er bugsierte den Stab in den Schlitz der Schaumstoffhalterung, wo er ihn jederzeit wieder erreichen konnte. »Ich bin mal in einem Buch über Psychologie darauf gestoßen«, sagte er dann. Er bemühte sich, seine Stimme gleichgültig zu halten, sich nichts anmerken zu lassen. Sie war clever, und wenn sie dachte, er würde ihr etwas vorspielen, war sie doppelt wachsam. »Sie schwitzen«, stellte sie fest. »Es ist heiß hier drin«, brummte er. »All das verdammte Sonnenlicht.« Er wußte, ein gewisses Maß an Mißmut wurde ihm zugestanden – sie schien ihn manchmal sogar dazu zu ermutigen. Als er sah, daß sich ihr Gesicht ein wenig entspannte, wußte er, daß er den richtigen Ton getroffen hatte. Aber dieser kleine Sieg heiterte ihn nicht auf. Obwohl er das Spiel, Angel zu manipulieren, gewinnen mußte, machte es ihm keine Freude. Er nahm den Stab mit den Zähnen aus der Halterung, ging aus dem Programm, schaltete den Computer aus und legte den Stab wieder ab. »Sie werden immer geschickter damit«, stellte Angel fest. »Ich würde das Daumen-Zeigefinger-Greifvermögen vorziehen, aber ich nehme, was ich kriegen kann.« »Das ist die richtige Einstellung.« »Welche Unannehmlichkeiten stehen heute auf dem Programm?« »Dieselben wie gestern, fürchte ich.« Sie drehte sich zur Tür um und winkte den Technischen Assistenten 132
herein. Er schob einen Wagen mit dem Monitor und dem Biofeedback-Gerät zum Bett. Angel gab dem kräftigen Mann namens Mustaf ein paar Anweisungen, während er die Elektroden an Jakes Hände anschloß. Jake meinte heute, er könne spüren, wie die Klammern über seine Finger glitten. Vielleicht war es ja auch nur Einbildung. Angel hatte gesagt, man könne damit rechnen, daß sich eine gewisse Gefühlsfähigkeit wieder einstellen würde. Wie üblich sah Mustaf ihn nicht an und sprach kein Wort mit ihm, erledigte nur geschickt seine Arbeit und verließ dann, Angel kurz zunickend, das Zimmer. »Ist er bei anderen Patienten auch so gesprächig?« fragte Jake. »Er ist im Grunde ein freundlicher Mann. Ich glaube, er hat ein bißchen Angst vor Ihnen.« »Vor mir oder vor der Tatsache, daß ich querschnittsgelähmt bin?« »Vor Ihnen. Sie, Jake, fühlen sich, wie ich weiß, hilflos. Aber manch einer sieht Sie anders…« »Was soll das denn, Angel…« Halt, Vorsicht! Jake zwang sich zu einem Lächeln, verbarg seine Irritation dahinter. »Falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten, ich kann keine Faust machen. Und ich hätte selbst in meinen besten Tagen den kräftigen Mustaf nicht verprügeln können.« Ihr Gesicht blieb ernst. »Er hat keine Angst, sie könnten aufspringen und auf ihn einprügeln – er sieht etwas anderes in Ihnen, das ihm angst macht.« Jake konnte aus ihrer Stimme nichts herauslesen. Was war da los? Er sieht etwas anderes in Ihnen, das ihm angst macht. »Sprechen Sie von Mustaf oder indirekt von sich selbst?« Angel hielt seinem Blick stand. »Auch ich habe ein wenig Angst vor Ihnen, ja.« Jake spürte plötzlich eine tiefe Leere in sich, die selbst seine Lähmung überlagerte. Dasselbe unheimliche Gefühl hatte ihn einmal überfallen, als ein Ziel den Kopf gedreht und ihn im Zielfernrohr direkt angeblickt hatte. Obwohl er wußte, daß der Mann ihn aus fast vierhundert Metern Entfernung nicht wirklich sehen konnte, war ihm eine Gänsehaut über den Rücken gekrochen. Und jetzt 133
schien Angel ihn anzusehen, prüfend, schien in sein Innerstes eindringen und erforschen zu wollen, wer er wirklich war. Und das durfte sie nie im Leben erfahren. Wenn sie wüßte, daß er siebzehn Männer getötet hatte, würde sie aus dem Zimmer rennen und nie mehr zurückkommen. Er brauchte sie aber täglich um sich, brauchte sie noch zwei Monate lang, und dann mußte sie die Abmachung erfüllen. So mußte es kommen. »Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte Angel. »Ich mag Sie. Es macht mir Spaß, mit Ihnen zusammen zu sein, mit Ihnen zu reden. Sie sind sehr tapfer und haben viel Sinn für Humor. Sie haben hart an sich gearbeitet, alles getan, was ich von Ihnen verlangt habe, ja sogar mehr. Aber ein Teil von Ihnen bleibt mir verschlossen, und das ist das an Ihnen, was mir angst macht. Ich weiß nicht, was hinter diesem Teil von Ihnen steckt, wozu er fähig wäre…« Jakes Ängste verflogen, aber nicht ganz. »Ich bin ein ganz normaler Mann, ein simpler Wachmann, der dachte, ein Wochenende in der großen Stadt wäre mal eine schöne Abwechslung.« »Wollen Sie mich irgendwie einlullen, Jake? Sind Ihre ganzen Anstrengungen bei der Therapie nur Schauspielerei?« Jake erstarrte. »Das ist nicht fair, Angel. Meine Anstrengungen sind natürlich echt. Erinnern Sie sich an den Spruch auf dem Bildschirm? Ich bin dabei, mir eine neue Art des Denkens zu erarbeiten – darum geht es doch letztlich bei unserem Deal. Also fragen Sie mich nicht, ob ich irgend etwas vortäusche. Ja, ich tue es manchmal – aber ich handle. Ich habe versprochen, alles zu geben, und das tue ich wirklich.« »Werden Sie es schaffen, Jake?« Er konnte jetzt die Angst in ihrer Stimme heraushören. Was sollte er sagen? Nicht ›ja‹, denn dann würde sie es ihm später unter die Nase reiben. Aber er durfte auch nicht ›nein‹ sagen. Der Deal ging über vier Monate, und Angel würde ihn nicht einen Tag früher töten – wenn sie es überhaupt tat… »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Es ist nur so, daß ich das Gefühl habe, Ihr ganzes Handeln sei 134
darauf ausgerichtet, mich nur glauben zu lassen, Sie würden es mit aller Kraft versuchen, und wenn das zutrifft, dann wollen Sie immer noch sterben. Sie haben Ihren Entschluß gefaßt, und niemand und nichts kann Sie davon abbringen.« »Sie denken zu viel, Angel. Hören Sie auf damit, mich analysieren zu wollen, arbeiten Sie einfach mit mir weiter, okay?« »Am Anfang, als der Schock und die Panik am größten waren, konnte ich verstehen, daß Sie sterben wollten. Aber seit wir unseren … unseren Deal gemacht haben, konnte ich nicht mehr das leiseste Anzeichen für Depressionen oder Zorn bei Ihnen feststellen.« »Wollen Sie, daß ich dumpf vor mich hinbrüte? Wutanfälle bekomme?« »Vielleicht wäre es das, was Sie brauchten. Unser Deal lautet, daß Sie es versuchen, nicht, daß Sie alle Ihre Gefühle verbergen. Es ist nicht menschlich, wie Sie sich verhalten, Jake. Wut und Depressionen sind normal bei Querschnittsgelähmten, wenn der anfängliche Schock und die Panik sich gelegt haben. Aber bei Ihnen ist das nicht so. Sie verhalten sich so … so stark. Sie lassen alle Anzeichen eines Mannes erkennen, der sich des Lebens wieder freut. Wenn das echt wäre, wäre es großartig. Wenn es aber nicht echt ist – und ich weiß wirklich nicht, was denn nun zutrifft –, dann kann ich nur sagen, daß diese Selbstbeherrschung, diese eisenharte Fähigkeit zur Täuschung, tatsächlich … beängstigend ist.« »Angel, bitte… Ich versuche nicht, Sie zu täuschen.« Sie hielt seinem Blick einen Moment stand; dann schaute sie weg. Er spürte wieder dieses Schuldgefühl, und das ärgerte ihn. Was zum Teufel verdankte er dieser Frau eigentlich? Sie hatte, was das betraf, kein Recht, von ihm zu erwarten, daß er sie nicht täuschte. Es ging um sein Leben – um das Recht, es beenden zu dürfen, wie es jeder normale Mensch mit der Fähigkeit, seine Arme und Beine bewegen zu können, in Anspruch nehmen durfte. Wenn sie das nicht verstehen konnte, war es ihr Problem. Und gleichzeitig wünschte er, er könnte ihre Hand in seine nehmen… 135
»Angel«, sagte er sanft, »Sie denken viel zu weit voraus. Konzentrieren Sie sich auf das Heute. Es liegen noch fast zwei Monate vor uns, ehe jeder von uns beiden sich damit herumschlagen muß, ob ich tatsächlich sterben will. Keiner von uns beiden kann diese Frage heute schon beantworten, also hat es keinen Zweck, sich jetzt schon Gedanken darüber zu machen.« Sie sah ihn lange an und nickte dann. »Sie haben recht. Es tut mir leid. Machen wir uns an die Arbeit.« Während sie die Kabel, die von seinen Fingern herabhingen, an das Biofeedback-Gerät anschloß, faßte Jake noch einmal für sich zusammen, was sich gerade abgespielt hatte. Irgendwie ermutigend, dachte er. Wenn sie nicht beabsichtigte, ihren Teil der Abmachung einzuhalten, warum sollte sie sich dann Sorgen machen, ob er immer noch entschlossen war zu sterben? Angel schmierte Elektroden-Paste in seinen Nacken und schob die Lamellenkabel zwischen seinen Hals und das Kopfkissen. Sie schaltete den Monitor ein, und eine grüne Linie zuckte über den Bildschirm. Sie fing plötzlich an zu zittern – nach Angels Aussage ein Zeichen dafür, daß in seinem Rückenmark unterhalb der Stelle, an der das Geschoßfragment eingedrungen war, neurologische Aktivitäten zu verzeichnen waren, meist kleine Impulse der vom Nacken ausgehenden Nerven. Angel regulierte einige Einstellungen, bis die Zitter-Impulse verschwanden und die grüne Linie wieder glatt war. »Fertig?« »Fertig«, antwortete Jake und starrte auf den Bildschirm. Die grüne Linie machte einen plötzlichen Satz, und er wußte, daß Angel einen Stromschlag an einem seiner Finger ausgelöst hatte. Offensichtlich drang dieser Stromschlag trotz der Rückenmark-Ruptur bis in sein Gehirn vor. Das Rückenmark war zu neunzig Prozent durchtrennt, aber die verbliebene Verbindung von zehn Prozent reichte aus, um den Impuls ins Gehirn zu übermitteln. Warum also spürte er nichts von den Stromschlägen? Als er Angel gefragt hatte, hatte sie ihm eine verwirrende Vorlesung über die Funktion des Gehirns gehalten. Offensichtlich hatte das Gehirn selbst 136
keine Schmerz-Rezeptoren. Aber es interpretierte den Schmerz, der in einem anderen Teil des Körpers aufgetreten war. Der Monitor bewies, daß zumindest ein Teil der durch den Stromschlag an seinen Fingern ausgelösten Impulse bis zum Gehirn vordrangen, aber sie waren offensichtlich nicht stark genug, daß das Gehirn sie wahrnahm und interpretierte. Kein Schmerz, kein Erfolg… »Haben Sie das gespürt?« fragte Angel hoffnungsvoll. »Nein.« »Versuchen wir es mal mit dem Mittelfinger.« »Okay.« Die Linie auf dem Monitor machte wieder einen Sprung; Jake spürte ein ganz schwaches Prickeln im Mittelfinger der rechten Hand. »Hey!« rief er. »Das habe ich gespürt!« Hoffnung keimte in ihm auf. Nach drei Wochen an diesem neuen Gerät war es das erste Mal, daß er überhaupt etwas gespürt hatte… Und dann fiel ihm ein, daß es ja keine Rolle spielte. Angel grinste ihn an. »Wunderbar! Okay, gleich noch mal!« »Ja! Ein ganz schwaches Kribbeln.« Er bemühte sich, den Enthusiasmus in seiner Stimme beizubehalten. »Wir versuchen jetzt, es zu verstärken. Beobachten Sie den Bildschirm.« Er starrte auf den Monitor, und zum erstenmal seit Wochen brauchte er seine Konzentration nicht vorzutäuschen. Er beobachtete den Ausschlag der kleinen Zacken, konzentrierte sich auf sie, hoffte, daß sie größer wurden. Nichts passierte. »Noch mal!« Er biß auf die Zähne, wollte, daß die Zacken größer wurden. Nun kommt schon, dachte er. Für Angel. Die Zacken schlugen um einen Millimeter stärker aus. Zugleich spürte er, daß das Prickeln in seinem Finger ein wenig intensiver wurde. »Jake, das ist großartig! Es funktioniert!« Sie grinste ihn wieder an. 137
Er grinste zurück. Sie machten noch dreißig Minuten weiter. Die Zacken waren schließlich um drei Millimeter größer. »Okay, das reicht für heute«, sagte Angel. Sie sah ihn mit glänzenden Augen an. Sie war so glücklich, daß er davon angesteckt wurde. Sie schob die Schwenkplatte mit dem Computer wieder an ihren Platz und schaute dann auf ihn herunter. »Sie waren großartig«, sagte sie. »Ja, nicht wahr?« Sie hob seine Hand hoch und küßte sie. Er ließ das Lächeln auf seinem Gesicht, bis sie das Zimmer verlassen hatte. So schön es auch gewesen war, ihre Freude zu sehen, es änderte nichts. Jake hatte im Online-Lexikon des Computers gelesen, daß das Maximum an Hoffnung durch diese Biofeedback-Methode darin bestand, einen auf die Handflächen ausgeübten Druck zu spüren und zu merken, wenn jemand seine Hand bewegte, ohne daß er es gleichzeitig auch sehen mußte. Und vage bestand die Möglichkeit, daß er seine Finger ein klein wenig bewegen konnte. Vielleicht brachte er es ja fertig, Fredo den Vogel zu zeigen, wenn der ihn mal besuchen kam. Jake klemmte behutsam den Tastenstab zwischen die Zähne. Er schaltete den Computer wieder ein, suchte den Weg zurück ins Internet, ins Menue ›Schriftstellerberatung‹… Und da stand es, direkt unter seiner Anfrage. Ein Mann, der die Pflanzenwelt des Amazonas für eine Pharmafirma erforscht hatte, gab die Antwort in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung. Claviceps cyandius. Tod durch Herzstillstand. Bei richtiger Dosierung war das Gift auch im Rahmen einer Autopsie nicht feststellbar. Es würde ein schmerzvoller Tod sein. Aber Jake hatte keine Angst vor Schmerzen. Er würde dann wenigstens etwas spüren.
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14 Blumen vom Monster
N
a, wie geht's, Kumpel?« Jake hatte Angel zur nächsten Biofeedback-Sitzung erwartet, und als er die Stimme hörte, war er einen Augenblick völlig desorientiert. Dann aber überschwemmte ihn eine maßlose Wut. Fredo! Dieses Dreckschwein hatte die Unverfrorenheit, zu ihm zu kommen. Jake rollte den Kopf zur Seite. Fredo hielt eine große Vase mit roten Rosen in den Händen. In seinem Blick lag eine Mischung aus Faszination und Abscheu. Seine olivbraune Gesichtshaut war um eine Nuance heller geworden. »Bist du gekommen, um meinen Platz einzunehmen?« »Komm, Jakey, keine Bitterkeit.« Jakey? Fredo hatte ihn nie so genannt, als Jake seine Gliedmaßen noch bewegen konnte. Hätte es nie gewagt. Fredo stellte die Vase auf den Computermonitor. Jake hatte die Horrorvision, daß Wasser in den Computer lief und ihn von der wichtigsten Verbindung zur Außenwelt abschnitt. Die Vorstellung ließ seinen Magen verkrampfen. »Nicht dorthin«, sagte er so gleichgültig wie möglich. »Drüben auf die Fensterbank.« Fredo reagierte äußerst langsam, um Jake zu zeigen, daß er die Blumen dorthin stellte, wo es ihm gefiel und hob sie auf den Nachttisch. »Was ist das denn?« fragte er dann und deutete auf die Schlangenlinie des Urinkatheters unter der Bettdecke. »Wenn du gelähmt bist«, sagte Jake, »kannst du kein Pipi mehr produzieren, also pumpen sie es aus diesem Beutel da in dich rein.« »Ehrlich?« Fredo kniff die Augen zusammen, als ihm plötzlich klar wurde, daß Jake ihn zum Narren gehalten hatte. »Du dämlicher Klug139
scheißer… Wenn du tatsächlich so clever bist, wie kommt's dann, daß ich hier stehe und du da liegst wie ein toter Fisch am Strand?« »Erklär du's mir.« Jake konnte die Augen nicht von Fredo abwenden. Der maßgeschneiderte Armani-Anzug konnte die Tatsache nicht verbergen, daß er seit ihrem letzten Treffen oberhalb der Hüfte ein wenig rundlicher geworden war. Sein schwarzes Haar klebte in geraden, steifen glänzenden Streifen am Schädel, wie sie der von ihm bevorzugte Kamm mit breiten Zähnen hinterlassen hatte. Jake roch sein Haarspray, einen klebrig-süßen Duft, der, wie er realisierte, Fredo schon immer umschwebt hatte. Jakes Geruchssinn war während der Monate, die er nun schon hier lag, viel intensiver geworden. Aber leider reichte das nicht, Fredo eine Kugel in die niedrige Stirn zu pusten. »Du willst, daß ich es dir erkläre?« fragte Fredo. »Okay, das mach' ich gerne. Ich denke, du warst ein bißchen leichtsinnig, alter Junge.« Jake wurde sich plötzlich bewußt, daß der Tastenstab nur ein paar Zentimeter von seinem Gesicht entfernt in seiner Halterung lag. Konnte er Fredo dazu bringen, sich über ihn zu beugen? Dann würde er den Stab zwischen die Zähne nehmen und ihn in eines dieser schwarzen Knopfaugen stoßen. Ein Schmerzensschrei von Fredo würde der süßeste Laut auf der Welt sein. Und dann würde Fredo ihn mit der Pistole, die er stets unter der Jacke trug, erschießen. Jake stellte sich vor, wie Angel hereinkam, um mit der Therapie zu beginnen. Sie würde ihn mit einem Loch in der Stirn vorfinden – und dazu einen schmierigen Kerl im Armani-Anzug und mit einer dicken Goldkette um den Hals, der, aus einem Auge blutend, im Zimmer herumtaumelt. Eine wunderschöne Vorstellung – leider mit einem Nachteil: Angel hatte sich bereits einige Minuten verspätet, eine Seltenheit bei ihr. Sie war vielleicht jetzt schon draußen auf dem Flur, würde den Schuß hören und hereingerannt kommen. Und dann würde Fredo nichts anderes übrigbleiben, als sie ebenfalls zu er140
schießen. Zum Teufel damit. Er würde sowieso nicht viel mit dem Stab an Fredos Auge ausrichten können. Wunschdenken… Er sah Fredo kalt und neugierig-fragend an. »Wie geht's eurem Kumpel Danziger? Er vermißt seine verantwortungsvolle Aufgabe bei der Polizei sicher sehr. Habt ihr schon einen Ersatz für ihn gefunden?« Fredo verzog die Mundwinkel zu einem ungläubigen Lächeln. Er lehnte sich über das Bett. Jake sah, ohne etwas zu spüren, daß er seinen Körper unter der Bettdecke abtastete. Er biß wütend die Zähne zusammen. Was sollte das…? Wanzen. Der Idiot dachte doch tatsächlich, er hätte Abhörwanzen am Körper! Jake hätte am liebsten laut aufgelacht. »Ich habe noch gar nicht gewußt, daß du solche Gefühle für mich hast, Fredo. Bist du etwa eine kleine Tunte?« Fredo zog ruckartig die Hand unter der Decke hervor und starrte ihn an. »Die Polizei plaziert normalerweise nur Abhörwanzen an Leuten, die sich bewegen können«, sagte Jake. »Wenn man gelähmt ist, verstecken sie die Mikrophone irgendwo im Krankenzimmer und warten darauf, daß die Bösewichter reinkommen und sich verplappern.« Fredo schaute sich automatisch um und merkte erst dann, daß er erneut reingefallen war. »Arschloch«, knurrte er. Fredo war noch nie besonders schlagfertig gewesen. »Rote Rosen«, sagte Jake und schaute auf die Blumen auf dem Nachttisch. »Ich bin echt gerührt.« »Mr. C übermittelt dir seine Grüße und seinen Respekt, wie du das aufgenommen hast«, sagte Fredo. Seine Stimme war flach und emotionslos. Man hatte ihn hergeschickt, um das zu sagen, aber es mußte ja nicht so klingen, als ob er selbst auch dieser Auffassung sei. Interessant, dachte Jake. Mr. C dankt mir, daß ich nicht gesungen habe. Was erwartet man jetzt von mir? Daß ich Mr. C danke, 141
daß er mich nicht hat umlegen lassen? »Sag Mr. C, daß ich zu ihm stehe«, sagte Jake. »Soll das wieder mal ein Witzchen sein? Nach allem, was ich höre, wirst du nie mehr nicht stehen können.« »Nie mehr; das ›nicht‹ mußt du weglassen.« »Häh?« »Du mußt die doppelte Verneinung beachten, Fredo. Es sei denn, du wolltest sagen, ich würde wieder stehen können.« Fredo kräuselte die Lippen. »Auch wenn du flach auf deinem Arsch liegst, du guckst immer noch auf mich runter, nicht wahr? Du hast immer gedacht, ich wär' zu doof, das zu merken, aber ich habe vom ersten Tag an gewußt, wie du über mich denkst. Ich bin in deinen Augen ein dämliches Arschloch, und du hältst dich für Superman. Aber ich will dir mal ein kleines Geheimnis verraten, Jakey: Du warst nie mehr als ein simpler Killer, im Dutzend billiger, hast dich wie ein Gigolo verkauft. Und weißt du, was mir gut gefällt, Jake? Daß du nach all deinen Hits jetzt fünfmal soviel dafür kriegst, daß du ein Halbtoter bist. Du bist kein Gigolo mehr. Du bist jetzt eine Nutte. Vielleicht hättest du den Trick schon früher mal versuchen sollen.« Fünfmal soviel? Wovon redete Fredo? Ach so, richtig, der Vergleich mit der Stadt New York… Die Zeitungen hatten vor zwei oder drei Tagen darüber berichtet. Über die 5,2 Millionen Dollar, die ihm die Stadt bezahlte, wenn er die Sache nicht vor Gericht brachte. Er hatte zugestimmt, denn man konnte nie wissen, was ihm ein Gericht an Schadenersatz zubilligen würde. Er brauchte also nicht einmal vor Gericht zu gehen. Hurra! »Was wirst du nun mit all dem Geld machen?« fragte Fredo. »Heuerst du dir ein paar Mädchen an, die dich besuchen kommen? Die können dir dann eine nette kleine Massage verpassen. Aber du wirst nichts davon spüren, oder? Hmmm.« Fredo tat so, als ob er angestrengt nachdenken müsse. »Vielleicht kannst du dir eine Yacht kaufen, eine Crew anheuern und dich um die Welt segeln lassen. Sie könnten dich immer wieder mal an Land rudern, wo dann ein Roll142
stuhl auf dich wartet…« Fredo laberte ununterbrochen weiter. Jake wünschte, er würde endlich mit seinem hämischen, schadenfrohen Geleier aufhören und verschwinden. Angel mußte jeden Augenblick erscheinen, und er wollte nicht, daß Fredo sie sah. Er würde sich an sie ranmachen, sie vielleicht sogar betatschen, und Jake würde ihm dafür nicht in die Fresse schlagen können. Und was wird sie von mir denken? Jake, ich verstehe das nicht. Wie kommt es, daß Sie einen derart schleimigen Widerling kennen? Wieso hatten Sie jemals etwas mit ihm zu tun? Angel war nicht dumm. Fredo stand der Gangster unübersehbar ins Gesicht geschrieben, so deutlich, als ob er ein Schild mit dieser Berufsbezeichnung um den Hals hängen hätte. Bei unserer ersten Begegnung, erinnerte sich Jake, hat Angel mich argwöhnisch gefragt, ob ich auf Senator Weingarten geschossen hätte. Fredos Anblick würde allen Argwohn erneut in ihr aufleben lassen. Angst durchströmte ihn. Er mußte Fredo hier rauskriegen. »…könntest dir jemand anheuern, der die Arme und Beine für dich bewegt«, sagte Fredo gerade. »Dann könntest du der erste Querschnittsgelähmte sein, der Rock 'n' Roll tanzen kann.« »Vielleicht heure ich jemanden an, der dich umlegt«, sagte Jake. Fredo kniff die Augen zusammen; dann lächelte er. »Richtig. Du brauchst ja nur in den Gelben Seiten unter ›Berufskiller‹ nachzuschlagen. Ich kenne mich beim Pissen vielleicht nicht gut aus, aber man braucht dir ganz bestimmt die Scheiße nicht zurück in den Arsch zu pumpen, oder doch?« Diesmal sagte Jake nichts. Es war zu nahe daran, daß Fredo sich als Sieger fühlen konnte – die beste Motivation für ihn, jetzt aus dem Zimmer zu stolzieren, bevor Jake noch eins oben drauf setzte. Und so kam es denn auch; Fredo schlenderte zur Tür. »Mach' nichts, Jake, was ich an deiner Stelle nicht auch tun würd'.« Jake konzentrierte alle Geisteskräfte auf den Mittelfinger seiner rech143
ten Hand, die er sich auf der Bettdecke liegend vorstellte. Lag sie mit der Handfläche nach oben? Er rollte den Kopf zur Seite und schaute entlang des Armes auf die Hand. Ja, die Handfläche lag nach oben. Stinkefinger – heb dich bitte, nur ein paar Zentimeter… Komm, mach schon! Komm… Er meinte zu spüren, daß der Finger sich bewegte, sich hob. Aber seine Augen sagten ihm etwas anderes. Die Hand lag schlaff und reglos auf der Decke. Es spielte sowieso keine Rolle mehr. Fredo war gegangen. Jake hörte sich selbst kichern. Ein trockener, scheußlicher Laut… Er wollte aufhören, schaffte es aber nicht auf Anhieb. Er stellte sich Fredos Gesicht in einem Redfield-Zielfernrohr vor. Das Fadenkreuz auf seine Stirn richten, ihm dort ein zusätzliches schwarzrotes Auge verpassen… Mit einiger Anstrengung gelang es ihm schließlich, das Kichern einzustellen. Seine Kehle brannte. Ein heftiger Schmerz zuckte von seiner Kinnlade in die Schläfe. Wie hatte dieser Fluch nur auf ihn fallen können? Mit Fredo auf demselben Planeten existieren zu müssen, ihn nur einen Meter vor sich zu haben und nicht in der Lage zu sein, ihn zu töten… Ich muß sterben, dachte er. Ich muß sterben. Muß raus hier, muß … raus … hier. Er lag eine Zeitlang still da, versuchte sich aller Gefühle zu entledigen. Wo zum Teufel blieb Angel? Er brauchte sie. Beim Gedanken an sie kehrte Ruhe in seinem Geist ein. Sie war der einzige Lichtblick in seinem Leben, der einzige Mensch, auf dessen Erscheinen er sich täglich freute. Angel hatte sich darauf gestürzt, ihm zu helfen, wohl wissend, daß es wahrscheinlich nicht viel brachte, aber sie versuchte es dennoch mit aller Kraft. Und die Art, in der sie zu ihm sprach – es waren nicht nur die gedankenlosen, seichten Äußerungen der anderen Schwestern, sondern tiefgehende, aufrichtige Gespräche über alles, was ihr – oder ihm – gerade in den Sinn kam. Und die Art, wie sie ihn ansah… Angel fühlte etwas für ihn. Es war mehr als das Schwester-Patienten144
Gefühl, sogar mehr als ›mögen‹. Er war sich nie einer Sache sicherer gewesen. Er wünschte sich fast, sie würde sich nichts aus ihm machen. Das würde ihr die Einhaltung ihrer Verpflichtung aus dem Deal erleichtern, wenn es soweit war. Und danach würde es ihr leichter fallen zu vergessen, was sie getan hatte. Er wollte nicht, daß sie sich schuldig fühlte, einen Mann getötet zu haben, der von ihr abhängig gewesen war. Ich habe sie gebeten, es zu tun, dachte Jake. Ich habe sie angefleht. Aber es würde sie trotzdem belasten. Ja, er mußte sich wünschen, daß sie sich nichts aus ihm machte. »Jake!« Er drehte ihr den Kopf zu, als sie zum Bett kam. Sie lächelte ihn an, nahm seine Hand und drückte die Handfläche fest gegen ihre. Sie beobachtete ihn aufmerksam dabei, schien wissen zu wollen, ob er etwas spürte. »Nichts«, sagte er. »Sie sollten sich vielleicht einen dieser Handschlag-Schocker besorgen, wie es sie in Scherzartikelläden gibt…« Seine Stimme verebbte, als sie die Hand hob und ihm das flache, runde Schockgerät in ihrer Handfläche zeigte. »So ist's recht«, stöhnte er, »immer schonend mit mir umgehen!« »Das Ding funktioniert vielleicht nicht.« Sie inspizierte das Gerät mit zornigen Blicken. Plötzlich stieg der Geruch von gemähtem Gras in seine Nase. »Sie tragen andere Schuhe als sonst.« »Wie bitte?« Sie sah an sich hinunter. »Oh, natürlich. Meine Laufschuhe. Ich war spät dran, also habe ich mich nicht umgezogen.« Sie drehte sich zur Tür um und winkte Mustaf herein. Er schob den Wagen mit dem Biofeedback-Gerät zum Fußende des Bettes. »Oh«, sagte Angel, »für mich?« Sie schaute auf Fredos Rosen. Er wurde unruhig. Bei den seltenen früheren Gelegenheiten – das Bukett von seinem Anwalt, der Strauß, den Caitlin nach ihrem Besuch geschickt hatte – hatte er 145
die Blumen sofort an Angel weitergegeben. Aber diese Rosen… Nein, das ging nicht. Blumen, die Fredo in seinen dreckigen Händen gehalten hatte, konnte er ihr nicht schenken. »Diesmal nicht«, sagte er. »Sie sind von meinem Boß, und er hat gesagt, er käme morgen wieder.« »Ihr Boß?« »Ja, mein Ex-Boß.« Er grinste, hoffte, daß es überzeugend wirkte. »Marsh Management in Paterson, New Jersey. Bernie Marsh. Hat eine Immobilienfirma in der Stadt. Sie erinnern sich – der Typ, dessen Gebäude ich bewacht habe.« »Die Rosen sind wunderschön.« Jake wand sich innerlich, als Angel die Nase in die Blüten steckte und ihren Duft tief einsog. Mustaf schob den Computer zur Seite und schloß Jakes Finger an sein Gerät an. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Augen, und Jake sah Mustafs Abneigung darin. Der Mann schien eine verdammt gute Antenne für Menschen mit Dreck am Stecken zu haben… Angel schaltete das Gerät ein. »Heute wollen wir mal an einigen der anderen Finger arbeiten«, sagte sie, während Mustaf aus dem Zimmer ging. »Ich wußte gar nicht, daß Sie joggen«, sagte Jake. »Was? Ach so, die Schuhe. Nein, ich bin im Grunde keine Joggerin. Ich trage diese Schuhe immer dann, wenn ich was im Freien unternehme.« Er bemerkte, daß ihre Sommersprossen heute besonders deutlich zu sehen waren. Ihr Teint hatte die honigbraune Farbe eines Menschen, der gerade ein paar Stunden in der Sonne zugebracht hat. »Picknick?« fragte er. »Im November?« »Ja. Es ist warm draußen.« Sie wandte den Blick ab, und ein plötzlicher Verdacht stieg in Jake auf: Angel hatte sich mit einem Mann getroffen. Nun, das war ja eigentlich selbstverständlich. Kein Ring am Finger, aber eine so attraktive, wunderbare Frau wie sie mußte Freundschaften mit Männern haben. Sie hatte dieses Thema nie ange146
sprochen, aber es mußte so sein. Jake versuchte den Gedanken schnell zu verdrängen, aber er hatte bereits seine bösartigen kleinen Milchzähne in sein Bewußtsein gegraben. Der Gedanke, daß Angel wahrscheinlich einen Freund hatte, war ihm schon früher gekommen, aber er war ihm irreal erschienen, als ob dieses Krankenzimmer nicht nur für ihn selbst, sondern auch für alle anderen Menschen um ihn herum der Mittelpunkt des Universums sei. Aber Angel hatte eine Existenz – ein Leben – außerhalb dieses Zimmers. Sie kannte andere Menschen, mit denen sie reden konnte. Die Herzen anderer Männer schlugen schneller, wenn sie in diese goldgefleckten Augen mit dem offenen Blick schauten. Andere Männer spürten das berauschende Glück ihrer Aufmerksamkeit… Männer, die in der Lage waren, sie zu berühren… Der Gedanke verursachte einen Stich in Jakes Brust, als ob er das Gift genommen hätte, nach dem er im Internet gesucht hatte. Oder einen nahen Verwandten von Claviceps cyanidus, allerdings nicht aus den Amazonas-Wäldern, sondern aus dem Dschungel seines eigenen Geistes. »Okay«, sagte Angel. »Fertig?« Sie schob die Elektrodenscheiben unter seinen Nacken, und er nahm das schwache, vibrierende Anheben seines Kopfes wahr, spürte die kühle Elektrodenpaste auf seiner Haut. Er drehte den Kopf zum Bildschirm, auf dem die grüne Linie aufzuckte und sich dann stabilisierte. »Feuer frei!« sagte er. Die Linie zuckte. »Welcher Finger?« »Was?« »Kommen Sie, Jake. Welchen Finger habe ich gereizt?« »Entschuldigung. Noch mal bitte.« Die Linie zuckte wieder. »Mittelfinger?« fragte er. Sie seufzte. »Ich sagte Ihnen doch, daß wir uns heute einige andere Finger vornehmen wollen.« »Ach ja, richtig. Tut mir leid.« Er nahm den Blick nicht vom Mo147
nitor. »Machen Sie weiter.« Die Linie zuckte. Er spürte nichts. Schüttelte den Kopf. »Das ist okay«, sagte sie beruhigend. »Warten wir mal eine Minute.« Sie sah ihm in die Augen. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« »Natürlich.« Er roch wieder das Gras … zerdrücktes Gras. Es mußte an den Seiten ihrer Schuhe kleben. Er sah sie vor sich, wie sie mit gekreuzten Beinen auf einer Decke saß. Sie war nicht allein, aber der Mann bei ihr lehnte es ab, sich in Jakes Vorstellung zu zeigen. »Central Park?« fragte er. Sie nickte. »Bei Sheep Meadow.« »Sie haben hoffentlich kein Hammelfleisch essen müssen.« Sie lächelte. »Hähnchen und Tomatensalat. Die normale Pflichtübung.« Er sah ihr fest in die Augen. Diesmal wandte sie den Blick nicht ab, obwohl es so aussah, als ob sie es am liebsten getan hätte. Das Schweigen wuchs, wurde immer schwerer, beunruhigender, wie ein Stalaktit in einer Tropfsteinhöhle, der bedrohlich über ihnen hing. Wenn er herabstürzte, würde er sie beide aufspießen. »Okay«, sagte er. »Ich bin fertig.« »Nein, das sind Sie nicht. Was geht in Ihnen vor, Jake?« »Nichts. Was geht Ihrer Meinung nach denn in mir vor?« Sie errötete ein wenig, die frische Sonnenbräune wurde dunkler. »Sie scheinen in Gedanken vertieft zu sein.« Ein unangenehmes Gefühl packte ihn. Sie würde es nicht riskieren, mit Ihrer Vermutung falsch zu liegen, andererseits aber dem Thema auch nicht ausweichen. Und sie lag ja nicht falsch. »Ich nehme an, Sie waren nicht allein bei dem Picknick.« »Nein…« »Wie heißt er?« »William Fitzpatrick. Er ist Mitarbeiter im Stab von Senator Harrison.« Jake sah sie an, wußte nicht, was er jetzt sagen sollte. Sie wirkte plötzlich kühl und zurückhaltend, und das sagte alles. Dieser Mann war kein flüchtiger Bekannter; er bedeutete ihr etwas. Sie waren bis148
her auf Zehenspitzen um das Thema ihrer Beziehung herumgeschlichen, aber sie hatte Gras an den Schuhen, und jetzt waren sie mittendrin. Er wollte, er könnte die Hände unter die Decke stecken und zu Fäusten ballen, irgend etwas tun, um dem Druck zu begegnen, der sich in seiner Kehle aufbaute und dazu führte, daß er Angel am liebsten angeschrien hätte. Irgendwie war das doch alles völlig verrückt… Was zum Teufel ging nur in ihm vor? »Aha, Mitglied im Stab von Senator Harrison«, wiederholte er dann. Seine Stimme klang, als würde sie durch ein Sieb gequetscht. »Ja«, sagte sie fröhlich. »Er kommt hin und wieder nach New York. Er kommt kaum einmal an die Sonne, also habe ich ihn überredet, heute mit mir in den Central Park zu gehen. Er bekam den Sonnenbrand seines Lebens…« Ihre Stimme verebbte, und sie hob die Augenbrauen. »Sind Sie verlobt oder so was?« »Nicht offiziell.« Nicht offiziell. Jakes Brustkorb zog sich zusammen. Das Licht im Zimmer schien zu verblassen. »Würde ich ihn mögen?« Das war geschmacklos. Und ich werde eine entsprechende Antwort bekommen. Aber das geschah nicht. Sie neigte den Kopf zur Seite, sah einen Moment an ihm vorbei. »Ich weiß es nicht«, sagte sie dann. »William Fitzpatrick…« »Ja, William Fitzpatrick.« Ich würde ihn bestimmt nicht mögen, dachte Jake. Ich mag ihn jetzt schon nicht. Ich habe ihn nie getroffen, und ich werde ihn nie treffen. Ich habe nie eine Chance bei Angel gehabt – wollte ja eigentlich auch gar keine haben. Ich wollte, daß sie mich tötet, das war alles, um Himmels willen… Wie kommt es dann, daß ich diese Gefühle entwickle? Er zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. »Nun, William ist glücklich dran, Sie zu haben.« Es klang nach Selbstmitleid. Er unterdrückte ein Stöhnen. »Lassen Sie es uns weiter mit der Maschine versuchen.« »Jake… Okay.« Sie richtete sich mit einem Seufzer auf, wußte anscheinend ebensogut wie er, daß es keinen Zweck hatte, diese sinn149
lose Quälerei noch weiter fortzusetzen. »Fertig?« »Okay.« Er spürte nichts in den Fingern. Er wünschte, er würde nirgends etwas fühlen… Als sie gegangen war, loggte sich Jake wieder in den Computer ein. Er starrte auf das aus einer Schreibfeder und einem Tintenfaß bestehende Icon des Menues ›Schriftstellerberatung‹, unter dem er von Claviceps cyanidus erfahren hatte, dem Gift vom Amazonas, das den Herzstillstand bewirkte. Er hatte noch keine Antwort auf die Frage gefunden, wie er an dieses Gift herankommen konnte. Er hatte diese Frage bisher beiseite geschoben, aber es wurde langsam ernst. Denn in vier Wochen würde Angel ihn töten… Er brauchte sich wenigstens keine Sorgen zu machen, daß es den Rest ihres Lebens ruinieren würde. William Fitzpatrick, Mitarbeiter im Stab von Senator Harrison, würde bei ihr sein und dafür sorgen, daß sie es vergaß.
15 Die Entscheidung Januar
D
as Bewußtsein, daß es die letzte Nacht seines Lebens war, gab Jake ein tiefes Gefühl der Erleichterung. Er hatte erwartet, aufgeregt zu sein, aber nein, er spürte einzig und allein Erleichterung. In der lautlosen Stille, die er so sehr haßte, beobachtete Jake die Schatten der Leute, die sich hinter den Vorhängen vor dem In150
nenfenster am Ende des Zimmers auf dem Flur draußen bewegten. Gegen neun Uhr hörte er das leise Quietschen eines Rollstuhls. Er erinnerte sich, daß er es in den vergangenen Tagen stets um diese Zeit gehört hatte – einer der gelähmten Patienten der Station fuhr rastlos im Flur auf und ab. Jake fragte sich, wie sich dieser Mann – wenn es ein Mann war – fühlte. Vermutlich verzweifelt darüber, daß er seine Beine nicht mehr bewegen konnte. Zweifellos verfluchte er sein Schicksal, daß er auf den Rollstuhl angewiesen und gezwungen war, seine Arme zu strapazieren und an den Rädern zu schieben, nur um sich fortbewegen zu können. Er hatte wahrscheinlich Schwielen an den Händen vom Drehen an den Rädern. Im Moment taten ihm vielleicht gerade die Arme vor Anstrengung weh. Das Quietschen hörte plötzlich auf. Jake erhaschte den schwachen Geruch von Schweiß, kräftig und ein wenig fettig – der Rollstuhlfahrer war also tatsächlich ein Mann. Jake stellte ihn sich vor, wie er eine Pause machte und sich mit der Hand den Schweiß vom Gesicht wischte. Was für eine einfache Handlung… Wie oft hatte er selbst das im Verlauf der Jahre getan, jedoch niemals darüber nachgedacht und ganz gewiß keine Freude an dieser Bewegung gefunden… Vielleicht dachte der Mann da draußen im Rollstuhl ja: »Na gut, ich kann wenigstens meine Arme noch bewegen…« Nein. Das dachte er bestimmt nicht. »Dieser verdammte Rollstuhl«, fluchte er wahrscheinlich. Jake merkte, daß er in der Dunkelheit lächelte. Lächelte, obwohl seine Gedanken nicht gerade fröhlich waren… Das war etwas, was in letzter Zeit immer wieder vorkam. Es ärgerte ihn, aber er schien es nicht unterdrücken zu können. Nun ja, morgen, wenn Angel ihr Versprechen hielt, würde es von selbst aufhören… Nachdem sein Geruchssinn nun einmal aktiviert war, nahm er auch andere Düfte wahr – süßliche Keri-Lotion aus dem Nebenzimmer; ein Hauch von Parfum, kräftig, wie ältere Frauen es benutzen. Hoch oben in der Nase prickelte ein leichter Zigarettengeruch, wahrscheinlich von einem Krankenpfleger, der im Treppenhaus schnell ein paar Züge machte. Der Geruch ließ ihn an Mrs. Nacht denken. 151
Er sah sie vor sich, wie sie in ihrem Schaukelstuhl saß und die Züge an der Zigarette nur unterbrach, um sich vorzulehnen und zu husten. Mom. Ein trockenes Kichern stieg in seiner Kehle auf. Und da war Sarge… Er saß auf dem großen Küchenstuhl und reinigte sein Garand-MiC-Gewehr mit dem Lyman-AlaskanZielfernrohr. Jake meinte beinahe, er könne den schwachen Geruch des Reinigungsöls aufnehmen. Komm her, Sohn, ich möchte dir was zeigen. Warum hat er mich Sohn genannt? fragte sich Jake. Eine brennende Ungeduld stieg plötzlich in ihm auf. Morgendämmerung, komm doch endlich! Angel, komm doch! Er versuchte sich vorzustellen, was passieren und wie es ablaufen würde, wenn er Angel aufforderte, ihr Versprechen zu halten. Das Bild wurde jedoch nicht klar, und das beunruhigte ihn. Vielleicht versuchte sein alter Freund Paranoia mal wieder, ihm etwas einzuflüstern – daß Angel morgen früh nicht erscheinen würde. Sie wußte ganz sicher, ebensogut wie er, daß morgen der Tag der Entscheidung war… Was war, wenn sie einfach verschwand und nie wieder auftauchte? Er würde nichts daran ändern können. Sie würde sich wie eine miese Ratte fühlen, wenn sie vor der Einlösung ihres Versprechens floh, aber das würde sie wahrscheinlich einem Mord vorziehen. Sie wird kommen, sagte sich Jake. Sie ist nicht der Typ, der im Angesicht von Schwierigkeiten davonläuft. Er ging noch einmal durch, was im einzelnen er von ihr verlangen würde. Claviceps cyanidus, das Herzgift, hatte er abgeschrieben. Es hatte keine Chance gegeben, an das Zeug heranzukommen. Selbst wenn er den im Internet genannten Mitarbeiter der Pharmafirma, den Entdecker des Giftes, direkt erreichen konnte und der Mann einen privaten Vorrat verfügbar hatte, er würde niemals einem Fremden, der sich als Krimiautor ausgab, eine tödliche Dosis des unentdeckbaren Giftes mit der Post zuschicken. Die Überlegungen zu 152
dieser Sache hatten mitgeholfen, Zeit totzuschlagen, aber das war auch schon alles. Dennoch, der Computer hatte letztlich die Lösung des Problems geliefert. Jake merkte, daß er schon wieder vor sich hingrinste. Er sog die Lippen ein und biß auf ihnen herum, solange, bis der Drang zum Grinsen verebbte. Hinter den Vorhängen bewegten sich keine Schatten mehr. Das Krankenhaus versank in die Stille der Nachtschicht. Jake dachte an Fredo … an Mr. C … an Danziger. Die bekannte Wut stieg wieder in ihm auf, erhitzte ihn, ließ ihn wünschen, er könne die Bettdecke zurückschieben und zur Tat schreiten. Der Geruch nach Waffenöl drängte sich wieder in seine Erinnerung, wohlriechend wie Weihrauch. Komisch, wie ein Wort in der englischen Sprache zwei kontrastierende Meinungen haben konnte. ›Incense‹ – Weihrauch – als Substantiv bezeichnete, wie ein Blick in das CD-ROMWörterbuch des Computers aufzeigte, eine Substanz, die ein Priester entzündete, um während eines Gottesdienstes Wohlgeruch zu verbreiten. ›Incense‹ als Verb bedeutet jedoch ›sich ärgern‹. Wie viele Leute wußten das schon? Oder daß seine frühere Berufsbezeichnung ›assassin‹ – Mörder – von dem Wort ›Assassinen‹ – ›Haschischgenießer‹ – abgeleitet war, da sich im elften Jahrhundert die Anhänger des von Hasan ibn-al Sabbah gegründeten ismailitischen Geheimbundes mit dem Zeug vor ihren mörderischen Raubzügen in mystische Verzückung versetzt hatten? Ich habe in den vergangenen vier Monaten viel gelernt, dachte Jake. Aber nicht, am Leben bleiben zu wollen. Nach einiger Zeit döste er ein. Das Klappern von Geschirr weckte ihn – die Schwesternhelferin kam mit dem Frühstück herein. Helles Sonnenlicht strömte durch die geöffneten Vorhänge ins Zimmer. Ein schöner Tag zum Sterben… In einem ersten Impuls wollte Jake der jungen Frau sagen, sie solle das Frühstück wieder mitnehmen. Er hatte keinen Hunger. Dann kam ihm die – irre – Idee, daß Essen und Trinken ihm eine Chan153
ce geben könnte. Wenn nachher der Strom durch seinen Körper zuckte, könnte das ein Erbrechen hervorrufen und zu einer schweren Schockreaktion führen; wenn er daran nicht starb, würde er vielleicht am Erbrochenen ersticken… Er ließ sich von der Schwesternhelferin den ganzen Haferbrei verabreichen, Löffel für Löffel, und er aß auch jeden Bissen des Toasts. Dann saugte er durch den gebogenen Strohhalm jeweils einen halben Liter Orangensaft und Milch in sich hinein. Wie üblich plauderte die junge Frau mit ihm. Er dosierte seine Antworten sehr sorgfältig. Ihr Wahrnehmungsvermögen würde später durch die Tatsache seines Todes beeinflußt sein, und sie würde aussagen: »Ja, mir ist aufgefallen, daß Mr. Nacht an diesem Morgen recht depressiv zu sein schien.« Aber jetzt, in diesem Moment, durfte das nicht zu auffällig sein, sonst würde sie ihn aufmerksam im Auge behalten. Nachdem sie gegangen war, schaltete Jake den Computer ein und starrte auf den Bildschirm. Er nahm den Tastenstab zwischen die Zähne und drehte ihn solange, bis er ihn falsch herum im Mund hielt und die Kerbe für den Biß sich jetzt vor dem Ende des Stabes befand. Er schob die Kerbe in den schmalen Metallrand des Schiebewagens, auf dem der Monitor stand. Dann biß er fest auf den Stab und zog den schweren Wagen ungefähr zwei Zentimeter zu sich heran. Er hörte die Wagenräder leise quietschen. Der Winkel zwischen dem Stab und der Wagenplatte veränderte sich, und er mußte den Stab jetzt schräg zwischen die Zähne nehmen. Wieder gelang es ihm, den Wagen knapp zwei Zentimeter näher heranzuziehen. Schweiß perlte aus seiner Kopfhaut. Nach weiteren fünfzehn Minuten mußte er den Stab in einem extremen seitlichen Winkel ansetzen. Der Wagen war rund acht Zentimeter näher gekommen, aber jetzt, mit dem Stab in diesem Winkel, war die Hebelkraft zu gering, ihn noch näher heranziehen zu können. Er hatte seit zwei Wochen geübt, aber mehr als heute hatte er nie geschafft. Obwohl er es erwartet hatte, war er enttäuscht. Es gab keinen Weg daran vorbei – er brauchte Angel. Sie mußte den 154
Monitor dicht vor sein Gesicht schieben und es so aussehen lassen, als ob er selbst das getan hätte. Kein Problem, sagte sich Jake. Sie werden niemals auf den Gedanken kommen, Angel hätte mir geholfen. Voraussetzung für einen solchen Verdacht wäre, daß sich jemand genauso ins Bett legt wie ich und in der Praxis ausprobiert, ob ich den Monitor tatsächlich zu mir heranziehen konnte. Aber das wird niemand tun, und man wird nicht herausfinden, daß das unmöglich war. Sie werden das Offensichtliche akzeptieren – daß der tief depressive und zum Tod entschlossene Jake Nacht soviel Kraft in seinem Kiefer und den Zähnen mobilisieren konnte, um den Wagen mit dem Monitor zu sich heranzuziehen. Und daß er es dann auch noch schaffte, so nahe an das Stromkabel zu kommen, daß er es durchbeißen konnte… Er würde mit dem Durchbeißen des Kabels natürlich warten, bis Angel das Zimmer verlassen hatte. Ein weiterer starker Stromschlag. Haben Sie das gespürt, Jake? Ja, aber nur ganz kurz… Jake entspannte sich. Der Schweiß auf seiner Stirn war kaum getrocknet, als Angel hereinkam. »Wie geht es Ihnen heute morgen?« Das Lächeln auf ihrem Gesicht war gezwungen, aber er meinte, auch etwas anderes in ihrem Gesichtsausdruck zu erkennen – eine hoffnungsvolle Anspannung. Seltsam. »Ich bin bereit.« Seine Stimme klang seltsam heiser. Sie starrte ihn an, und ihre wunderschönen goldgefleckten Augen wurden feucht. Verdammt, dachte Jake. Er rollte den Kopf zur Seite, um nicht mit ansehen zu müssen, wie sie weinte. Die Matratze unter seiner Schulter sank ein wenig ein, als sie sich auf die Bettkante neben ihm setzte, und er konnte nicht anders, als ihr wieder in die Augen zu sehen. »Sie müssen doch zugeben, daß ich mich angestrengt habe, oder?« Sie blinzelte und wischte mit dem Zeigefinger eine Träne aus dem Augenwinkel. »Ja, Jake, Sie haben sich angestrengt.« 155
Und das stimmte tatsächlich. Irgendwann im Verlauf der Therapie war aus dem Vortäuschen von Bemühung echte Anstrengung geworden. Und dennoch konnte er nicht einmal den Zeigefinger durchkrümmen. »Angel, es tut mir leid, aber ich will nicht weiterleben.« »Nein.« Kalte Angst packte ihn. »Sie müssen zu Ihrem Wort stehen!« Tränen quollen aus ihren Augen. Er stöhnte auf, überwältigt vom ganzen Elend dieser Situation, und er fühlte sich wie der widerlichste Bastard auf der Welt. Aber er durfte es nicht zulassen, daß sein Geist weiterhin in diesem nutzlosen Körper gefangen war, nur um eine Frau vom Weinen abzuhalten. »Kommen Sie, lassen Sie das! Es ist nicht angebracht, jetzt traurig zu sein. Sie geben mir doch nur, was ich ganz dringend haben will.« Sie weinte noch stärker, Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Ihre Gesichtszüge waren starr, und er merkte, daß sie um Fassung rang. Eine Frau wie Angel weinte nicht so schnell. Ihre Schultern zuckten, als sie ein Schluchzen unterdrückte. »O Jake… Ist der Gedanke, mich zu verlassen, denn so einfach für Sie? Fühlen Sie denn gar nichts für mich?« Jake starrte sie erstaunt an. »Natürlich tue ich das. Wissen Sie das denn nicht?« Angel biß sich auf die Lippen und wischte die Tränen ab. »Was bedeute ich Ihnen, Jake?« Er zögerte, war unsicher, was sie jetzt hören wollte. Vor einigen Monaten hatte er diese Frage an Caitlin gerichtet, und jetzt stellte Angel sie ihm. Wollte sie von ihm hören, daß er sie liebte? Wußte sie nicht, daß er niemanden lieben konnte? Es war zu spät dazu, schon seit langem… Aber er fühlte etwas für sie. Wenn er ein gesunder Mann wäre, würde er gerne jeden Tag mit ihr Zusammensein. Er würde sie beschützen, jeden Kummer von ihr fernhalten. Sie würden miteinander 156
lachen und Scherze machen und vieles gemeinsam unternehmen. Er würde ihr alles geben, was sie sich wünschte, soweit es in seiner Macht lag. Wenn sie dann nach einem Picknick Gras an den Schuhen hatte, würde es ein Picknick mit ihm gewesen sein. Aber er liebte sie nicht. Liebe – das gab es nicht für Jake Nacht. »Warum hast du solche Angst?« fragte sie sanft. »Ich kann es sagen, auch wenn du es nicht sagen kannst. Ich liebe dich, Jake.« Jake spürte, wie sein Herz plötzlich raste. Ein machtvoller Drang überfiel ihn, ein Drang, den nie mehr zuzulassen er sich antrainiert hatte – aufzuspringen und im Zimmer herumzutanzen. Er stöhnte erneut, wußte nicht, wie er reagieren sollte. Das konnte nicht wahr sein. Daß Angel ihn liebte – das war noch unfaßbarer, als wenn er sie lieben würde. Wie konnte sie einen Mann lieben, der für immer ans Bett gefesselt war, der sich nicht bewegen konnte? Er würde nie etwas mit ihr zusammen unternehmen, nie mit ihr ins Bett gehen, sie nie in den Armen halten können. Sie hatte ihn doch Tag für Tag hier liegen sehen – wieso hatte sie das nicht begriffen? »Was ist mit deinem Freund?« platzte es aus ihm heraus, ehe er die Frage unterdrücken konnte. Das alles spielte doch überhaupt keine Rolle. Es konnte ja nicht sein, daß sie ihn liebte. »Was mit meinem Freund ist? Jake, ich hatte viele Freunde. Keiner von ihnen hat mich je so angesehen wie du. Keiner von ihnen hat mir je so zugehört wie du. Du ahnst, was ich denke, du ahnst, was ich fühle. Nein, du ahnst es nicht nur, du weißt es, du weißt es in jeder Situation. Jake, ein Mann besteht nicht nur aus einem Körper. Der ist nur die äußere Verpackung. Ein Mann besteht aus dem, was in ihm ist. Und du bist der Mann, nach dem ich mich immer gesehnt habe.« »Du sagst das jetzt nur, um mir nicht bei meinem Tod helfen zu müssen.« Als Jake klar wurde, was ihm gerade wieder herausgerutscht war, grinste er schnell, um die Härte seiner Worte abzumildern. Angel lächelte und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Hör auf damit, sagte Jake zu sich selbst. Sofort. Du bist nicht der 157
Mann, den sie in dir sieht. Du hast siebzehn Männer getötet. Und du verspürst den Drang, drei weitere zu töten. Du siehst jede Nacht vor dem Einschlafen ihre Gesichter im Fadenkreuz eines imaginären Gewehrs. »Wenn du wüßtest, wer ich in Wirklichkeit bin«, sagte er, »würdest du mich nicht lieben.« Angel lächelte ihn wissend an, ganz sanft, bezaubernder als das Lächeln der Mona Lisa. »Ich kenne dein wahres Ich. Was auch immer du getan hast, das du für so schrecklich hältst – diese Zeiten liegen weit hinter dir.« Sehr richtig, dachte Jake. Die Zeiten, irgend etwas zu tun, liegen tatsächlich hinter mir. »Angel, es ist unmöglich… Liebe ist auch etwas Körperliches. Und das kann ich dir nicht geben.« »So, meinst du? Du hast immer noch deine Zunge, nicht wahr?« Jake spürte, daß er errötete. »Jake, du kannst mir körperliche Liebe geben. Aber ich kann sie dir nicht geben – jedenfalls jetzt noch nicht. Ist das ein Problem für dich?« »Sei nicht albern…« »Ich bin nicht albern. Denk doch mal nach. Hast du manchmal ein … ein Begehren für mich gespürt?« Ein gräßliches graues Unbehagen stieg in Jake auf. Er hätte lieber alles andere getan, als über diese Sache zu sprechen. Aber er erkannte, daß sie die Antwort auf ihre Frage brauchte. »Angel, ich weiß nicht, wie das bei einer Frau ist. Aber bei einem Mann äußert sich körperliches Begehren gleichzeitig an zwei Stellen – im Kopf und … und da unten.« Er deutete mit dem Kinn auf seinen Unterleib. »Habe ich dich begehrt? Ja. Du bist in jeder Hinsicht so schön, welcher Mann würde dich nicht begehren? Aber ich begehre dich, wie es bei einem sehr alten Mann der Fall sein würde – in meiner Erinnerung. Ich erinnere mich daran, wie es war, wenn ich eine Erektion bekam, sofern ich eine Frau begehrte. Ich könnte es dir im Detail beschreiben. Aber sich erinnern und darüber re158
den ist nicht dasselbe, als es tatsächlich zu fühlen und zu tun.« Jake brach ab, sah das Mitleid in ihren Augen. Es machte ihn wütend. Er mußte den Drang unterdrücken, sich von ihr abzuwenden. Er sehnte sich nach dem Tod. Warum verstand sie das nicht? Und dann, genau in diesem Augenblick, drängte sich etwas, das sie gesagt hatte, in sein Bewußtsein: Jedenfalls jetzt noch nicht. Er sah sie an, fühlte sich gehemmt. »Angel, du mußt den Tatsachen ins Auge sehen. Mein Zustand bleibt für den Rest meines Lebens so…« Seine Stimme verebbte. Sie aber lächelte. Wieso lächelte sie in diesem Moment? »Vielleicht nicht«, sagte sie. »Was meinst du damit – vielleicht nicht?« Zorn packte ihn. »Was verdammt noch mal meinst du mit vielleicht ›nicht‹?« Angel stand von der Bettkante auf. »Warte bitte einen Moment, Jake.« »Soll das etwa lustig sein? Angel, komm zurück. Lauf nicht weg, verdammt, du hast mir versprochen…« Erst jetzt merkte er, daß sie das Zimmer verlassen hatte. Sein Herz klopfte so heftig, daß das Bett zu zittern schien. Vielleicht nicht, hatte sie gesagt… Jakes Gedanken überschlugen sich. Vielleicht nicht, vielleicht nicht, vielleicht nicht… Angel kam zurück. In der Hand hielt sie eine kleine Schachtel. Ein Geruch nach Staub und Getreidekörnern, nicht unangenehm, ging von ihr aus. Angel öffnete die Schachtel und nahm eine weiße Ratte heraus. »Der Name unseres kleinen Rattenmannes ist Jake«, sagte sie. »Ich gab ihm diesen Namen, als wir ihn in das Forschungsprojekt aufnahmen.« »Welches Forschungsprojekt?« Angel antwortete zunächst nicht. Die Ratte drängte sich aus ihrer Hand, kletterte über ihre Brust zur Schulter und ließ sich dort nieder. Sie knabberte an Angels Ohr. Jake stellte fest, daß er das Tier beneidete. 159
»Welchen Plan hast du?« fragte er. »Willst du mein Gehirn in den Körper von Jake junior verpflanzen?« Angel lachte. »Erkennst du, daß er sich unbeholfen bewegt?« Jake konnte seine ungeduldige Anspannung nur mühsam unter Kontrolle halten. »Nein. Er hat seine Pfoten an deiner Brust gehabt und küßt jetzt dein Ohr, und das ist genau das, was ich auch gerne tun würde. Ich meine, er bewegt sich flüssig, muß aber seine Manieren dringend aufpolieren. Was ist denn nun der springende Punkt an der Sache?« »Der springende Punkt ist, daß Jake, die Ratte, noch vor sechs Wochen nichts als seine Barthaare bewegen konnte. Sein Rückenmark war zu neunzig Prozent durchtrennt. Er war dauerhaft und irreversibel querschnittsgelähmt.« Ein Schwindel erfaßte Jake; das Bett schien sich unter ihm zu drehen, und schlagartig veränderte sich das Bild dieser Welt für ihn. Er konzentrierte seinen Blick auf die Ratte, das schönste Lebewesen, das er je gesehen hatte. Das Bett hörte auf, sich zu drehen, aber jetzt schien er zu schweben, ein ekstatisches Gefühl, das so fremd für ihn war, daß es ihn fast erschreckte. Und dann erkannte er diese ungewohnte Gefühlsregung: Freude! »Angel … einen Moment mal… Willst du etwa sagen… Mein Gott, ich kann es nicht glauben…« »Ich mache dir nichts vor, Jake. Das würde ich niemals tun.« »O mein Gott, Angel!« Er nahm den Blick von der Ratte, sah Angel an, war sich aber immer noch voll des Tieres bewußt, das auf ihrer Schulter herumkroch. »Wie soll ich das verstehen? Du kommst hier rein, weißt, daß es der Tag ist, und läßt mich durch die ganzen Höllenqualen meines Todeswunsches gehen… Und dann deine Fragen, ob es mir nichts ausmache, dich zu verlassen, und ob ich denn keine Gefühle für dich habe… Und du weinst, als ob tatsächlich der letzte Tag in meinem Leben gekommen sei.« »Du willst also sagen, daß du deine Meinung geändert hast?« fragte Angel mit Unschuldsmiene. »Weich nicht vom Thema ab!« 160
»Ich habe geweint, weil du so viel Schlimmes durchgemacht hast. Und ich habe diese … andere Sache vorher angesprochen, weil ich wußte, daß ich keine Chance mehr haben würde, deine Gefühle für mich herauszufinden, wenn ich dir sofort von der Ratte erzählt hätte.« Jake versuchte sich zu erinnern, was er alles zu ihr gesagt hatte. Hatte er ihr gesagt, er würde sie lieben, oder hatte er gesagt, er könne sie nicht lieben? Was auch immer – es war erledigt, ausgelöscht von der Ratte. Da saß sie auf Angels Schulter, seine Retterin, und strich sich mit schnellen, aber gekonnten Bewegungen ihrer kleinen Pfoten über die Barthaare. Dann hörte sie auf und erwiderte seinen Blick. Er spürte, wie eine unglaublich warme Freude durch sein Bewußtsein strömte. Sein Herz schwamm auf einem See aus Gold. Er wollte Angel an sich reißen und sie küssen. Zum Teufel, er würde sogar diese Ratte küssen. »Du willst wissen, was ich für dich fühle, Angel?« fragte er. »Ich will es dir sagen – ich liebe dich, natürlich liebe ich dich!« Sie lächelte nur schwach. »Selbstverständlich, daß du das jetzt sagst. Wenn es tatsächlich funktioniert, wirst du für eine Weile jeden Menschen auf dieser Welt lieben.« Nein, nicht jeden Menschen, dachte Jake. Er brauchte eine Sekunde, um Fredos Gesicht in sein Gedächtnis zu rufen und es ins Fadenkreuz zu nehmen. Nein, denk später an Fredo… »Angela!« Jake erkannte die Stimme im Flur, und dann kam Dr. Graham auch schon herein und in sein Blickfeld. Er schnappte nach der Ratte auf Angelas Schulter und steckte sie hastig zurück in die Schachtel. Er starrte Angela an. »Was zum Teufel machst du da?« »Ich löse zwei Probleme auf einmal«, antwortete Angel. Graham sah sie finster an. »Angela, du kannst doch nicht einfach eine Ratte aus dem Labor mitnehmen! Als ich sah, daß eine fehlt, bin ich fast durchgedreht!« Er klang verständnislos und verletzt. Jake spürte eine tiefe innere Befriedigung, als das fehlende Stück im Graham-Puzzle seinen Platz fand. Der Doktor stellte Forschungen 161
an, wie man durchtrenntes Rückenmarksgewebe wieder zusammenfügen und seine Funktionsfähigkeit wiederherstellen konnte. Und er hatte offensichtlich einen Durchbruch erzielt. Deshalb hat er mich oft angesehen, als ob ich die Gans sei, die ein goldenes Ei legen könnte, dachte Jake. Er räusperte sich. »Guten Morgen, Dr. Graham. Wann können Sie mich operieren?« Graham riß die Augen auf; dann warf er Angel einen wütenden Blick zu. »Du hast ihm doch nichts erzählt, oder?« »Reg dich nicht auf, Onkel Joe. Ich mußte es tun.« Onkel Joe? dachte Jake. Mein Gott, diese Frau ist fast so gut wie ich darin, Geheimnisse für sich zu behalten. »Wo liegt das Problem, Doc? Sie sind ein Genie. Sie haben es geschafft, dieser Ratte die Bewegungsfähigkeit zurückzugeben. Und jetzt stelle ich mich freiwillig für einen ersten Versuch am Menschen zur Verfügung.« Dr. Graham starrte Jake in einer Mischung aus Entsetzen und gieriger Spekulation an, was so komisch wirkte, daß Jake lachen mußte. Graham strich sich durch sein dünnes Haar, das daraufhin vom Kopf abstand. »Nein. Das kommt überhaupt nicht in Frage. Sie haben keine Vorstellung, was das für Folgen haben kann.« Er warf Angel einen weiteren finsteren Blick zu. »Wieviel hast du ihm erzählt?« »Alles.« »Heilige Mutter Gottes!« Graham zog an seinem Haar, drehte sich zur Seite, starrte an die Decke. Dann murmelte er zwischen tiefen Atemzügen vor sich hin: »Wenn du nicht die Tochter meiner einzigen Schwester wärst…« Jake wurde zornig. Der Ton, den der Mann gegenüber Angel anschlug, gefiel ihm nicht. Mit einiger Mühe gelang es ihm, seine Stimme ruhig zu halten. »Noch mal, Dr. Graham – wo liegt das Problem?« »Wo das Problem liegt? Wo das Problem liegt? Sie sollten besser fragen, wo es kein Problem gibt. Das Ergebnis meiner Forschung 162
muß absolut geheim bleiben, bis ich einen eindeutigen Erfolg vorweisen kann. Wenn das herauskäme…« »Ich kann Geheimnisse sehr gut für mich behalten.« Graham starrte ihn an, und Jake meinte, Abneigung in seinem Blick zu erkennen. »Tatsächlich? Sie haben das lange genug praktiziert, nicht wahr?« »Onkel.« Angel sagte das mit leiser, aber scharfer Stimme. Jake spürte, daß irgend etwas zwischen den beiden vor sich ging. Er meint immer noch, ich hätte auf Whiny geschossen. Deshalb sieht er mich manchmal so an, als ob ich Dreck an seinen Schuhen sei. Und er und Angel haben eine Diskussion darüber gehabt. Graham sah ihn erneut feindselig an. »Sie sollten besser den Mund darüber halten, was Sie bereits wissen, sonst…« »Dr. Graham, Sie sollten mir nicht drohen«, unterbrach ihn Jake mit ruhiger Stimme. »Es ist, ehrlich gesagt, sogar ein wenig unklug, meinen Sie nicht auch? Wenn ich tatsächlich der Typ wäre, der Ihr Geheimnis ausplaudern könnte, sollten Sie mich besser nicht attackieren.« »Tut mir leid«, sagte Graham schnell in einer unglaubwürdigen Anstrengung, es überzeugend klingen zu lassen. »Es ist noch bei weitem zu früh für Versuche an Menschen. Ich habe das Angel gestern ausdrücklich erklärt. Nur weil Ratte Nummer dreiundzwanzig, wie es im Moment aussieht, die volle Bewegungsfreiheit wiedererlangt hat, können wir noch nicht von einem echten Durchbruch sprechen. Einige der Ratten, bei denen ich die Operation durchgeführt habe, sind psychotisch geworden. Bei anderen ist eine Verschlimmerung ihres Zustands eingetreten. Gott allein weiß, welche anderen Probleme noch auftreten können.« »Also, wann können Sie mich operieren?« Graham hob die Hände und starrte zur Zimmerdecke. »Sie hören mir anscheinend nicht zu, Mann.« Jake war im Moment zu fasziniert, um reagieren zu können. Er hätte nie gedacht, daß der kühle, nüchterne Dr. Graham, der meistens so abwesend wirkte, sich dermaßen erregen konnte. 163
Graham atmete tief durch. »Lassen Sie mich es Ihnen noch einmal erklären. Ich fürchte, Angel hat Ihnen falsche Hoffnungen gemacht, Mr. Nacht. Ja, diese Ratte hat ihre volle Bewegungsfähigkeit wiedererlangt. Aber vier andere haben nicht nur ihre Gefühls- und Bewegungsfähigkeit wiedererlangt – sie sind darüber hinaus auch psychotisch geworden. Und da sind noch andere negative Implikationen. Mein Zuschuß von der Nationalen Gesundheitsbehörde steht gerade zur erneuten Festsetzung an, und die Leute dort sind wegen der erzielten Erfolge in heller Aufregung, wissen aber genausogut wie ich, daß wir noch weit davon entfernt sind, eine allgemein anwendbare Technik entwickelt zu haben. Sie haben mir gesagt, sie würden die Gelder nur dann weiterbewilligen, wenn ich zwei ihrer Forscher in das Projekt eingliedere.« Graham ging zum Fenster und starrte auf den Parkplatz. Jake erkannte, daß der Mann innerlich kochte. Und er verstand auch, warum. »Sie meinen, man erpreßt Sie, um ein Stück vom Kuchen des zu erwartenden Ruhms zu bekommen?« »Nein, das nicht«, sagte Graham, ohne sich umzudrehen. Aber der Ton in seiner Stimme machte klar, daß es genau das war, was er dachte. »Sie … sie meinen, sie könnten mir bei der Bewältigung der noch vorhandenen Probleme helfen.« »In Wirklichkeit meinen diese Leute, ihre Jungs seien cleverer als Sie, obwohl Sie derjenige sind, der die ganze Sache entwickelt hat.« Diesmal sagte Dr. Graham nichts. Angel grinste Jake an und gab ihm mit hochgerecktem Daumen das Okay-Zeichen. »Doktor Graham, sie sagten, es sei zu einigen negativen Ergebnissen gekommen. Sind sie so schlimm wie eine Querschnittslähmung?« »Schlimmer«, antwortete Graham mit leiser, müder Stimme. »Entschuldigen Sie, aber ich glaube, ich bin sicher kompetenter als Sie, das beurteilen zu können. Sie sagten, einige der Ratten seien ›psychotisch‹ geworden. Was heißt das im Detail?« 164
Graham drehte sich um und sah ihn an. »Diese Ratten liefen planlos herum und stießen dauernd irgendwo an. Sie bissen sich in den eigenen Körper. Einige rannten solange im Kreis herum, bis sie erschöpft zusammenbrachen. Es war klar, daß sie den Kontakt zur Realität völlig verloren hatten.« »Doc, überrascht es Sie zu erfahren, daß ich hundertmal gebetet habe, den Kontakt zur Realität verlieren zu können?« »Es überrascht mich zu erfahren, daß Sie jemals gebetet haben.« »Onkel…« Jake warf Angel einen besänftigenden Blick zu. »Tut mir leid«, sagte Graham steif. »Das war unangebracht.« »Kein Problem, Doc. Aber ich möchte sicher sein, daß ich richtig verstehe, was da…« Jake unterbrach sich, als er sah, daß Graham die Augen verächtlich zur Decke rollte. Erkenntnis Nummer zwei: Er denkt nicht nur, ich könnte ein Killer sein, er denkt auch, ich sei dumm. Jake war überrascht, daß ihn das nicht ärgerte. Wenn der Mann es fertigbrachte, ihm wieder zur Bewegungsfähigkeit zu verhelfen, würde er ihm absolut alles verzeihen. »Diese Ratten, die psychotisch wurden – wie lange waren sie gelähmt, ehe Sie die Operation an ihnen durchgeführt haben?« fragte er. »Das war unterschiedlich«, antwortete Graham. »Von drei bis vier Wochen bis zu drei Monaten.« »Woher wissen Sie, daß sich die Psychose nicht während der Zeit, in der die Ratten gelähmt waren, ausgebildet hat? Wie würde sich eine Psychose bei einer Ratte, die sich nicht bewegen kann, äußern?« Graham neigte den Kopf zur Seite. In seinen Augen stand plötzlich Respekt. Aber er sagte: »Wenn es so wäre, hätte sich die Psychose gelegt, sobald die Bewegungsfähigkeit wiederhergestellt war.« »Treffer… Dr. Graham, Sie sind tatsächlich ein Genie. Wenn die Sache klappt, werden Sie in die Reihe der wahrhaft großen Männer in der Geschichte der Menschheit einzuordnen sein. Und als erstes nach gelungener Operation werde ich Ihre Füße küssen. Aber Sie können das Wichtigste über den Zustand der Querschnittslähmung 165
nicht wissen, weil Sie es nicht erlebt haben. Ich stand so kurz davor, verrückt zu werden – stellen Sie sich vor, Doc, ich könnte meine Hand heben, und Sie würden zwischen meinem Daumen und dem Zeigefinger kein Licht sehen. Vier volle Monate lang war mein einziger echter Wunsch, sterben zu können. Ich habe ohne Grund vor mich hingelacht. Ich habe mit den Zähnen geknirscht. Ich habe irre Phantasien gehabt, meinte, ich würde in der Schwerelosigkeit des Alls umhergehen. Wenn das so weitergegangen wäre, hätte ich, das können Sie mir glauben, bestimmt den Kontakt zur Realität verloren. Und wenn es soweit gekommen wäre, hätte ich, selbst wenn ich durch ein Wunder wieder hätte gehen können und das auch realisiert hätte, wahrscheinlich gedacht, es sei Teil meiner Wahnvorstellung, und ich hätte Angst davor gehabt, wieder normal zu werden.« »Ich verstehe, was Sie da sagen, aber Sie sollten zur Kenntnis nehmen, daß die große Mehrheit der Querschnittsgelähmten nicht den Verstand verliert.« »Noch mal – woher wollen Sie das wissen? Wenn Sie damit meinen, daß wir nicht den Broadway runterwanken und vor uns hinmurmeln, haben Sie natürlich recht. Aber mir hat jemand gesagt, daß ein Drittel von uns Selbstmordversuche unternimmt. Wenn ein Mensch völlig bewegungslos ist, ruft das eine Veränderung bei ihm hervor. Doch nicht nur an seinem Körper, sondern auch an seinem Geist. Und ich denke, wenn das Wiedererlangen der Bewegungsfähigkeit mich geistig wieder normal macht, ist das für eine Ratte vielleicht nicht so einfach. Bei ihren kleinen Gehirnen könnte es doch sein, daß das, was sie während der Zeit der Lähmung durchgemacht haben, irreversibler ist als bei einem Menschen.« Graham starrte ihn an und lächelte leicht. »Mr. Nacht, Sie hätten in der Wissenschaft wahrscheinlich eine gute Karriere gemacht.« »Operieren Sie mich.« »Verdammt noch mal, Mann, Sie wollen das anscheinend nicht verstehen! Die Gesundheitsbehörden würden mir beim derzeitigen Stand der Forschungsarbeit niemals die Genehmigung zur Opera166
tion an einem Menschen geben.« »Dann fragen Sie einfach nicht danach.« »Lächerlich«, zischte Graham. »Ich könnte schwer bestraft werden. Ganz sicher würde ich die Subventionsgelder verlieren. Eventuell sogar meine Zulassung als Arzt.« »Wie klingen fünf Millionen zweihunderttausend Dollar für Sie? Könnte diese Summe Einfluß auf Ihre Entscheidung haben?« Graham starrte ihn an. »Fünf Millionen?« »Okay, die zweihunderttausend behalte ich für mich. Ich bin ein reicher Mann, falls Sie das noch nicht gehört haben sollten.« »Im Ernst – Sie würden das wirklich tun? Meine Forschungsarbeit finanzieren?« »Ich hatte daran gedacht, das Geld zur Verringerung des Staatsdefizits der Vereinigten Staaten einzusetzen«, sagte Jake trocken. »Aber unter bestimmten Bedingungen könnte man mich überreden, das Geld statt dessen zur Finanzierung Ihrer Forschungsarbeit zur Verfügung zu stellen.« »Bestimmte Bedingungen…?« »Erstens, wir fragen niemanden und reden mit niemandem darüber. Wenn Sie es schaffen, mir wieder zur Bewegungsfähigkeit zu verhelfen, werde ich so tun, als ob ich weiterhin gelähmt sei, bis ich aus dem Krankenhaus entlassen werde und aus jedermanns Sichtweite verschwunden bin.« Was ich auf jeden Fall tun muß, fuhr es Jake durch den Kopf. »Wenn Sie es nicht schaffen, gilt dasselbe. Außer Ihnen, Angel und mir wird niemand erfahren, was Sie getan haben. Zweitens, wenn es doch irgendwie rauskommt und die Gesundheitsbehörde Ihnen auf den Pelz rückt, übernehme ich die Finanzierung Ihrer weiteren Forschungsarbeit, und Sie sagen den Leuten von der Behörde – entschuldigen Sie den Ausdruck –, sie sollen sich das Geld dorthin schieben, wo kein Sonnenstrahl hinfällt. Drittens, ich gebe Ihnen fünf Millionen Dollar, was auch passiert. Und nun mein Schlußwort, Doc – Sie machen den Fortschritt von den Ratten zu mir.« Graham starrte ihn lange Zeit an, aber Jake erkannte, daß er in 167
Gedanken bei anderen Dingen war – die möglichen Resultate bei einer Zustimmung zur Operation abschätzte, sich wahrscheinlich den zu erwartenden Ruhm vorstellte, die Ehre, die ihm letztlich zufallen würde, auch wenn er Jakes Fall nicht sofort publizieren konnte; die Schande, die einer Entdeckung seines unerlaubten Handelns auf dem Fuß folgen würde, der Verlust der behördlichen Unterstützungsgelder; auf der anderen Seite die fünf Millionen… »Es tut mir leid«, sagte er schließlich. »Ich kann es einfach nicht riskieren.«
16 Unter dem Messer
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ake war in Hochstimmung, als Angel ihn auf einer Liege zum Labor von Dr. Graham schob. Wenn die Operation erfolgreich verlief, würde er eine ganze Nacht hindurch mit Angel tanzen, solange, bis sie auf den Boden sanken, und auch dann würde er noch mit den Füßen wackeln, bis er einschlief. Ich bin zu euphorisch, dachte Jake. Er versuchte sich auf die Warnungen zu konzentrieren, mit denen Dr. Graham und Angel ihn in der vergangenen Woche bombardiert hatten: Die Operation konnte erfolglos sein; aber selbst wenn sie erfolgreich war, konnte sie, trotz seiner logisch klingenden Argumentation im Zusammenhang mit den Ratten, zu einem geistigen Schaden bei ihm führen. Na und? dachte er. Nichts konnte schlimmer sein als das, was er in den vergangenen Monaten durchgemacht hatte. Die Operation konnte zum Irrsinn führen; ohne Operation würden seine Sicherungen 168
jedoch ganz bestimmt durchbrennen. Jake schaute in Angels schönes Gesicht. Es war vor Sorge angespannt. Die Flure des Krankenhauses wichen endlos hinter ihr zurück. Sie schienen mit Menschen überfüllt zu sein – vor allem mit Ärzten und Schwestern. Angel mußte fast ununterbrochen »Hallo« sagen und »Wie geht's« oder »Guten Morgen Doktor X, guten Morgen Doktor Y«. Ihre Stimme klang gelassen, fast normal, aber Jake wußte, daß sie vor Sorge innerlich zitterte. Wenn jemand auch nur ahnte, daß sie Jake zur Operation in Dr. Grahams Labor schob und nicht mit dem Ziel, ihm ein wenig Abwechslung zu verschaffen und einen Einblick in die Forschungsarbeiten zu geben, würde das das Ende für die Karriere von Dr. Graham bedeuten. Jake fragte sich, wie Graham sein Handeln im einzelnen vor sich selbst rechtfertigte. Es schien klar zu sein, daß er Jake für Abschaum hielt, für den Mann, der wahrscheinlich das Attentat auf Senator Weingarten verübt hatte, aber vielleicht war das eher ein Plus für Jake als ein Minus. Vielleicht stellte sich Graham im Geist vor, er operierte einen Sträfling – oder einen Mann, der lebenslang hinter Gitter gehörte. Wenn die Operation schiefging, würde Jake Nacht nur das bekommen, was er verdient hatte – lebenslange Bestrafung. Und wenn die Operation erfolgreich war? Hatte Dr. Graham je daran gedacht, daß er einen Berufskiller zurück auf die Straße schickte? Vielleicht meinte er, selbst wenn das als Resultat herauskäme, würde sein Handeln durch das große, hehre Endziel gerechtfertigt sein. Graham schien ein ehrgeiziger, besessener Mann zu sein, blind gegenüber allem, was außerhalb seiner Forschungsarbeit lag. Besessenheit war etwas, das Jake gut verstand. Denn falls Dr. Graham heute erfolgreich war und er wieder gehen konnte, würde er sich sofort Fredo, Mr. C und Danziger vorknöpfen – das Ziel, mit dessen gedanklicher Realisierung er täglich, vom ersten Tag im Krankenhaus an, eingeschlafen und wieder aufgewacht war. Er stellte sich Fredos Gesichtsausdruck vor, kurz bevor die Kugel sich in seine Stirn bohren würde. 169
Hey, Jakey, du kannst ja wieder gehen! Wie zum Teufel… Um Gottes willen, nicht schießen… Jake spürte ein leichtes Rütteln im Nacken, als an den Seiten der Liege eine Doppeltür aufglitt. Die Tür schlug hinter Angel zu, und sie wirkte jetzt ein wenig entspannter. Sie drehte sich um und schloß die Tür ab. Jake blinzelte ihr zu. Sie reagierte mit einem kurzen, nervösen Lächeln. Dr. Grahams Gesicht kam in Jakes Blickfeld. Er sah seltsam aus mit der grünen Kappe und der Operationsmaske; seine Augen wirkten vergrößert. Ein seltsames Leuchten lag darin, als ob er Speed genommen hätte. »Die getroffenen Vorkehrungen sind Ihnen klar?« fragte er. »Ja, alles klar.« »Die offizielle Version ist, daß ich Sie heute zu speziellen Untersuchungen in eine Privatklinik verlege. Das verschafft uns genügend Zeit, eventuell auftretende nachteilige Auswirkungen der Operation abklingen zu lassen. Sie dürfen auf gar keinen Fall jemals darüber reden, daß Sie in diesem Labor waren und sich hier einer Operation unterzogen haben.« »Das ist klar, Doc.« »Das will ich hoffen… Ich wäre sonst wahrscheinlich ruiniert. Wenn es gelingt, die Bewegungsfähigkeit wiederherzustellen, wird es nicht einfach für Sie sein, eine Fortdauer der Paralyse vorzutäuschen, aber es ist äußerst wichtig, daß Sie es tun. Eine ganze Menge Leute haben eine allgemeine Vorstellung, worum es bei meiner Forschungsarbeit geht. Wir müssen vermeiden, daß auch nur der geringste Verdacht aufkommt.« »Ich stimme Ihnen voll und ganz zu, Doc.« Jake unterdrückte ein Lächeln. Wenn Graham ihm die Bewegungsfähigkeit zurückgab, würde Jake sehr gute eigene Gründe dafür haben, weiterhin eine Querschnittslähmung vorzutäuschen. Bis der richtige Augenblick gekommen war… »Sie stimmen also allem zu?« »Ich schwöre es«, sagte Jake feierlich. »Gut. Sie sind dann also bereit?« 170
»Ich bin mehr als bereit, Dr. Graham.« Die Operationsmaske vor dem Mund des Arztes blähte sich auf, als er kräftig ausatmete. Er nickte Angel zu. Sie trat neben Jake, und er sah, daß sie seinen Arm anhob. Sie hielt eine Spritze hoch und sah ihn kurz an. »Nur ein Barbiturat«, sagte sie. »Wir brauchen dich nicht in Narkose zu versetzen.« »Sehr gut.« Jake hätte sich nicht gerne narkotisieren lassen – sein alter Freund Paranoia war entschieden dagegen. Wer weiß, was er alles ausplaudern würde. »Du wirst den Einstich nicht spüren«, sagte Angel. »Bist du sicher, daß du auf schmerzstillende Spritzen verzichten willst?« »Sehr witzig.« Sie konzentrierte sich auf seinen Arm. Einen Moment später verschwamm ihr Gesicht ein wenig vor seinen Augen. Ein goldener Dunstschleier schien sich darüberzulegen. Ein angenehmer Geruch stieg ihm in die Nase. »Wasndas?« nuschelte er. »Parfüm?« »Nein, das ist das Desinfektionsmittel. Besteht vornehmlich aus Jodtinktur.« »Hah.« Jake hielt diesen Kommentar für sehr witzig. »Wir werden Sie jetzt auf den Operationstisch rollen«, sagte Graham. »Wir versuchen, Sie nicht durchzurütteln – normalerweise machen das vier Leute.« »Ich bin selbst leider auch knapp an Arbeitskräften«, sagte Jake. Er konnte nicht sehen, ob Graham lächelte. »Eins, zwei, drei«, kommandierte Graham, und für Jake stellte sich die Welt auf den Kopf. Grüne Bodenfliesen zitterten plötzlich in sein Blickfeld, wurden dann stabil. Ein Kissen wurde unter sein Kinn geschoben. Er starrte auf die Fliesen. Sie waren wunderschön. Dieses Barbiturat hatte eine großartige Wirkung. Wenn Fredo jetzt hereinmarschierte und ihn umlegte, würde Jake grinsend sterben. »In ein paar Minuten geht's los«, sagte Graham. »Angel muß noch die Operationsstelle desinfizieren.« Jake starrte auf die Fliesen. »Sie sollten wissen«, fuhr Graham fort, »daß es bei dieser Ope171
ration nicht nur um einen chirurgischen Eingriff geht. Tatsächlich ist der chirurgische Aspekt sogar von nachrangiger Bedeutung. Ich werde die Stelle freilegen, an der Ihr Rückenmark durchtrennt ist, die beste Möglichkeit zur Behebung des Schadens beurteilen und dann ein in einer physiologischen Kochsalzlösung eingeschwemmtes fötales Nervengewebe in die Stelle injizieren. Dann werde ich den von der Kugel verursachten Schnitt mit einem Omentum-Lappen abdecken. Omentum ist ein Gewebe, das normalerweise zwischen dem Magen und dem Kolon, auch Grimmdarm genannt, eingefaltet ist…« »Woher kriegen Sie das?« unterbrach Jake. »Was?« »Dieses Oh-Mentum. Müssen Sie dafür jemanden auf Eis legen?« Um Gottes willen, Vorsicht! »Was meinen Sie mit ›auf Eis legen‹?« »Ich meine, es in Eis aufbewahren, nachdem Sie es aus einem Menschen rausgeschnitten haben«, sagte Jake schnell, versuchte seinen Fehler zu übertünchen. »Ja. Das Gewebe stammt von einem Mann, der heute morgen bei einem Autounfall ums Leben kam. Er war Organspender. Das Omentum enthält verschiedene biochemische Wirkstoffe, die die Adern und Nerven zum Wachsen anreizen…« Jake ließ ihn weiterreden. Graham war nervös und offensichtlich deshalb so gesprächig. Auch Jake war nervös. Redete davon, Leute auf Eis zu legen! Um Himmels willen… Er machte im Geist eine Notiz, sich nie mehr ein Barbiturat spritzen zu lassen. »Fertig«, sagte Angel. Jake starrte auf die Fliesen und nahm sich bei aller Benebelung seiner Sinne vor, den Mund fest geschlossen zu halten. Minuten vergingen. Graham murmelte Angel kurze, rätselhafte Anweisungen zu. Metallgegenstände klirrten auf Platten aus rostfreiem Stahl, anscheinend chirurgische Instrumente. Das ist doch alles gar nicht so schlimm, dachte er… Aber dann spürte er ein Zerren an seiner Wirbelsäule. Heißer 172
Schmerz zuckte plötzlich durch seinen Rücken; er biß auf die Zähne, aber der Schmerz ließ nicht nach, wurde sogar immer stärker, breitete sich weiter aus. Wie in weiter Ferne hörte er jemanden schreien, realisierte dann, daß er selbst es war. Und dann wurde es dunkel um ihn. Der Schmerz weckte ihn auf. Er hatte das Gefühl, sein Rückgrat sei zerschmettert, darüber hinaus ziehe jemand einen Rechen über die zerfetzten Enden der Knochen und Nerven. Er stöhnte, öffnete die Augen. Angel beugte sich über ihn. Ihr Gesicht war eine bleiche Maske der Besorgnis. Grahams Gesicht tauchte neben Angels auf. Er trug die Kappe und die Operationsmaske nicht mehr. Sein Gesicht war aschgrau. »Was ist passiert?« ächzte Jake. »Die Operation ist beendet«, antwortete Graham. »Sie sind noch im Labor. Wie fühlen Sie sich?« »So, als ob jemand mit einem stumpfen Messer an meinem Rücken rumgeschnippelt hätte.« »Großer Gott, das tut mir leid! Ich habe bei keiner der Ratten jemals eine Schmerzreaktion festgestellt. Aber es könnte ein vielversprechendes Zeichen sein.« Er nickte Angel zu. Jake spürte dumpf einen Druck auf seinem Arm, dann eine sich ausbreitende Kühle. Fast umgehend ließ der Schmerz nach. »Besser?« fragte Angel. »Viel besser. Ein bißchen Schmerz ist noch da, aber im Vergleich zu vorher kaum der Rede wert.« Angel und Graham wechselten Blicke. »Ich habe dir gerade eine große Dosis Morphin injiziert«, erklärte Angel. »Sie wird vier bis sechs Stunden wirken.« »Was meinten Sie mit ›vielversprechendem Zeichen‹?« fragte Jake. »Es bedeutet, daß die sensorischen Nerven in Ihrem Rückgrat funktionieren. Die motorischen Nerven sollten es auch tun, aber man kann da nicht sicher sein.« 173
Aufgeregt dachte Jake: Natürlich! Wenn ich den Schmerz fühlen konnte, werde ich auch andere Dinge fühlen können! »Wann werden wir Gewißheit haben?« »Wenn Sie einen Ihrer Finger bewegen können.« Das Zimmer um Grahams Gesicht verschwamm. Der Arzt sprach weiter, aber Jake nahm den Sinn seiner Worte nicht mehr wahr. Dunkelheit schloß sich erneut um ihn. Als er beim nächsten Mal aufwachte, befand er sich in einem anderen Zimmer. Es sah wie ein Krankenhauszimmer aus; Angel sagte ihm, daß sie ihn in Onkel Joes Klinik in Brooklyn verlegt hatten. Er fiel immer wieder in Schlaf, zwei Tage lang, wurde nur gerade solange wach, daß Angel ihn ein wenig füttern konnte. Als einziges fragte er dann regelmäßig nach dem Datum und der Uhrzeit, nahm die Antwort aber nicht richtig wahr und tauchte dann schnell wieder in den warmen Ozean des Morphins ein. Sein Bewußtsein nahm den Ablauf der Zeit nicht mehr wahr. Dann wachte er wieder auf. Sein Kopf war diesmal klar, und er spürte wieder den Schmerz im Rücken. Er drehte den Kopf zur Seite und sah, daß Angel in einem Sessel am Fußende seines Bettes eingeschlafen war. Sofort aber zuckte ein stechender Schmerz durch seinen Rücken, ließ ihn keuchen. Offensichtlich rief das Drehen des Kopfes neuerdings Schmerzen hervor. Er krallte die Finger seiner rechten Hand in die Bettdecke und kämpfte gegen den Drang an, laut aufzustöhnen… Er hatte die Finger in die Bettdecke gekrallt! Sein Atem stockte. Schockartig erfaßte ihn ein wildes Glücksgefühl. Eine Schwindelwelle schwappte über ihm zusammen, und das Zimmer begann sich um ihn zu drehen. O Gott, seine Hand! Er spürte, wie sie ihm gehorchte, sich zur Seite bewegte, um die Bettkante legte! Die Bewegung bereitete Schmerzen, aber was machte das schon, mein Gott, was machte das schon! Der Schmerz würde wieder vergehen. Er konnte sich bewegen! Jake spürte, wie sich sein 174
Gesicht zu einem bösartigen Grinsen verzog. Ich komme, Fredo…
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DRITTER TEIL WIEDERAUFERSTEHUNG
17 Rehabilitation April
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ake saß auf der Bettkante, drückte immer wieder auf den hohlen Gummiball und biß bei jedem Schmerz, den die Bewegung im Unterarm verursachte, die Zähne zusammen. Er redete sich ein, nicht in schlechter Stimmung zu sein. Wie könnte er auch? Verdammt, noch vor drei Monaten hatte er bewegungsunfähig im Bett gelegen, hatte den Tod herbeigesehnt, und dann war ihm durch ein Wunder sein Körper zurückgegeben worden – sein Leben. Nach einem so extremen Glücksfall dürfte er eigentlich nicht einmal andeutungsweise auf die Idee kommen, in schlechter Stimmung zu sein, weder jetzt noch jemals in der Zukunft. Na schön – der Körper, den man ihm zurückgegeben hatte, war nur ein zerbrechliches, eingeschrumpftes Zerrbild des Körpers jenes Jake Nacht, dem der Bastard Danziger in den Nacken geschossen hatte. Aber ein schwacher, bewegungsfähiger Körper war besser als ein gelähmter – weitaus besser. Er würde wieder so fit werden, wie er einmal gewesen war; er arbeitete intensiv daran. Er würde es schaffen. Bald. Nach der Operation hatte er die Finger in das Bettuch krallen können, jetzt konnte er sie um einen Gummiball legen. Großer Fortschritt… Okay, er konnte gehen – oder, um korrekter zu sein, ungelenk herumstolpern. Die Schmerzen waren abgeklungen, aber die Schwäche schien sich für immer in seinem Körper eingenistet zu haben. Die Monate im Bett, in denen Bewegungen nur stattfanden, wenn 177
jemand ihm dazu verhalf, hatten ihre Spuren hinterlassen. Angel versicherte ihm immer wieder, seine Verstimmung, seine Schwäche und der Mangel an Koordinationsfähigkeit seien völlig normal und entsprächen den Erwartungen. Und sie sagte, daß die Arbeit, die sie und die anderen Schwestern im Krankenhaus an ihm geleistet hatten, indem sie seine Beine und Arme täglich bewegten, das Schrumpfen seiner Sehnen und Bänder zwar verlangsamt hatte, letztlich aber nur wenig Spannkraft der Muskulatur erhalten werden konnte. Im Klartext hieß das, daß seine Muskeln zu Pudding geworden waren. Nicht nur die großen in Armen und Beinen, sondern auch die kleineren in den Fingergelenken, an den Rippenbögen und entlang der Wirbelsäule. Sein Rücken schmerzte dauernd von der Anstrengung bei den Rehabilitationsübungen. Seit dem Tag, an dem er niedergeschossen worden war, hatte er fünfzehn Pfund abgenommen; das war an sich nicht schlimm, aber er haßte die Schlaffheit der Muskeln, die seine prüfenden Finger in den Oberarmen und auf der Bauchdecke aufspürten. Sein Kopf wackelte nicht mehr auf den Schultern, aber sein Nacken schmerzte ununterbrochen. Selbst nach monatelangen Übungen mußte er sich immer noch erheblich anstrengen, um den Gummiball in seiner rechten Hand ganz zusammendrücken zu können, und die linke Hand war noch schwächer. Die Koordinierung der Bewegungen war so durcheinander, daß er kaum einen Kugelschreiber halten konnte; wenn er seinen Namen schreiben wollte, mußte er seine volle Konzentration darauf verwenden… Hier in Grahams Klinik hatte er keine Chance, an eine Waffe heranzukommen, um auch nur damit zu üben – sie in die Hand zu nehmen, zu zielen und den Abzug durchzudrücken. Und selbst wenn er eine Pistole hätte, er konnte sich vorstellen, was bei der Abgabe eines Schusses passieren würde: Er würde sich glücklich schätzen können, wenn er statt einem Ziel an der Wand den Fußboden traf. Wenn sich das nicht besserte, war die Chance, sich an Fredo heranzumachen und ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen etwa so groß wie die Chance, den Wettbewerb im Pistolenschießen bei den näch178
sten Olympischen Spielen zu gewinnen. Geduld, sagte er sich. Ich hatte auch früher immer Geduld. Ich habe nie einen Hit durchgeführt, ohne vorher jeden Schritt genau zu planen, Fluchtwege festzulegen, jede mögliche Entwicklung einzukalkulieren, Dutzende von Probeschüssen auf dieselbe Entfernung und bei denselben Lichtverhältnissen wie beim Hit abzugeben. Manchmal hatte das mehrere Wochen gedauert. Warum dann jetzt diese Ungeduld? Weil ich es zu einer persönlichen Sache mache. Er drückte noch fester auf den Ball und konzentrierte sich auf die Belohnung für seine Anstrengung: ein Schuß genau zwischen Fredos Augen, ja, aber zuerst einen ins rechte Knie, dann einen in den Bauch… Ihn hilflos und in Panik und von Schmerzen gequält am Boden liegenlassen, bis jemand kommt und sich um ihn kümmert. Dann der Todesschuß zwischen die Augen – eine Gnade, die Fredo nicht verdient hatte. Alles natürlich aus entsprechender Entfernung; niemand würde ihn entdecken können. In den letzten Sekunden seines Lebens würde Fredo den Haß spüren, den Jake jeder Kugel mit auf den Weg gegeben hatte. Während Fredo seine letzten Atemzüge tat, würde er tief im Inneren erkennen, wer ihn getötet hatte, aber dann war es für jegliche Reaktion zu spät. Und dann? Wie würde Mr. C reagieren, wenn Fredo zur Hölle gefahren war? Fredo war ein solches Schwein, er mußte viele Feinde haben. Niemand konnte ihn mehr hassen als Jake Nacht, aber der war doch ein hilfloser Krüppel, nicht wahr? Mr. C wird Nachforschungen anstellen, dachte Jake. Im Moment hat er mich vergessen, aber wenn Fredo umgelegt wird, wird er mich überprüfen lassen, nur um sicherzugehen, daß kein Wunder mit mir geschehen ist. Nachdem ich Fredo umgelegt habe, werde ich also schleunigst hierher zurückkehren und mich ins Bett legen, jeden Augenblick für einen Besuch bereit sein, Tag und Nacht, selbst wenn Mr. C jemanden nach Mitternacht zu mir schickt, der durchs Fenster reinklettert. Ich brauche nichts anderes zu tun, als ein paar Wo179
chen still im Bett liegenzubleiben – und darin habe ich, verdammt noch mal, ja nun wirklich genug Erfahrung. Graham und Angel würden sich wundern, daß ich plötzlich so sehr darauf achte, den Gelähmten zu mimen, aber sie werden froh darüber sein, weil Graham ja ebenfalls gute Gründe dafür hat, meine Existenz als Geheilter zu verheimlichen. Wenn Mr. C festgestellt hat, daß ich immer noch gelähmt bin, wird er mich wieder vergessen. Und dann schlüpfe ich wieder hier raus und erledige Danziger – von hinten, mit einem einzigen Schuß in den Nacken, wie er es bei mir gemacht hat. Nur daß ich besser zielen werde. Und sofort danach knöpfe ich mir Mr. C persönlich vor. Ich muß ihn umlegen, ehe er von Danzigers Schicksal erfährt. Für den Hit an Fredo kommen viele in Frage, aber dann auch noch Danziger? Das ergibt ein klares Muster, das auf mich hindeutet. Keine Zeit für einen sorgfältig geplanten Hit. Mr. C hat Glück – ein sauberer, schneller Tod wie ein Blitz aus heiterem Himmel… »Du siehst so entschlossen aus!« Jake spürte, wie das auf seinem Gesicht festgefrorene finstere Grinsen in ein warmes Lächeln überging, als ob Angel ein Sonnenstrahl sei, der unerwartet ins Zimmer fällt. Ihre goldgefleckten Augen, ihr kastanienbraunes Haar, ihr leicht asymmetrisches Lächeln erhellten sofort seine Gedanken, riefen ein wunderbares Gefühl der Leichtigkeit in seiner Brust hervor, und er wußte, er brauchte nur ihre Hand zu ergreifen, und aller Schmerz und alle quälenden Gedanken würden sofort verfliegen, und er würde ohne Schwierigkeiten mit ihr durchs Zimmer tanzen können. »Schau dir das an!« sagte er. Mit einer wilden Anstrengung preßte er den Ball fast flach zusammen und wollte ihn dann in die andere Hand nehmen. Aber der Ball hüpfte von der Handfläche, noch ehe er die Finger um ihn schließen konnte. Beim Versuch, ihn aufzufangen, geriet er aus dem Gleichgewicht, kippte von der Bettkante und sank auf die Knie. Diese Demütigung ließ sein Gesicht rot anlaufen. Angel war klug genug, ihm nicht zur Hilfe zu eilen. Seine Beine 180
verhedderten sich, zuckten, aber dann bekam er sie unter Kontrolle. Er richtete sich auf und setzte sich wieder auf den Rand des Bettes. »Das muß ich wohl noch ein bißchen üben«, sagte er. Sie hob den Ball vom Boden auf, drückte ihn ihm wieder in die Hand, legte dabei zärtlich ihre Finger auf seine und zog sie dann sanft streichelnd weg. Sein Herz klopfte schneller. Sie arbeitete ein paar Minuten mit ihm, ließ ihn Greifübungen machen und massierte ihm dann den Rücken. Als sie gegangen war, stellte er fest, daß er keinesfalls in schlechter Stimmung war. Zwei Wochen später begann plötzlich eine schnell fortschreitende Besserung seines Zustands. Angel erklärte ihm, daß sie und Graham das erwartet hatten, es ihm aber nicht im voraus gesagt hätten, um ihn nicht zu enttäuschen, wenn es nicht so gekommen wäre. Man befand sich schließlich auf unbekanntem Terrain. Er war der erste Mensch, bei dem es gelungen war, ein fast gänzlich durchtrenntes Rückenmark wieder zu regenerieren. Es ging ihm täglich besser. Vier Monate nach der Operation saß er in dem viel zu großen, lächerlichen Klinik-Schlafanzug auf der Kante von Dr. Grahams Untersuchungsliege, und der Arzt testete seine Reflexe, klopfte mit seinem kleinen Gummihammer gegen seine Knie und die Ellbogen. Von draußen drangen Verkehrslärm und das Gurren von Tauben, die auf dem Fenstersims herumstolzierten, herein. Wie oft war er in den ersten Monaten in diesem Zimmer zum Fenster getorkelt, hatte hinausgeschaut und kaum etwas wirklich registriert… Und dann, vor wenigen Wochen, hatte seine Heilung eine magische Schwelle zum Positiven überschritten; der dunkle Vorhang aus Schmerz und Schwäche hatte sich gehoben, und er hatte die Welt da draußen wieder wahrgenommen. Das Fenster führte zu einer breiten Straße in Brooklyn, die von dreistöckigen Backsteinhäusern gesäumt war. Aus der Hälfte aller Fenster hingen Blu181
menkästen, die meisten dunkelblau gestrichen. Einige Blocks entfernt lag ein altes Theatergebäude, über dessen Vordach ›Begegnungsstätte der Söhne Norwegens‹ zu lesen war. Von Marktständen stieg ein Geruchsgemisch aus Kartoffelpfannkuchen, Fischgerichten und dem sonderbaren braunen Ziegenkäse, den man Jetost nannte, auf. Nur wenige echte New Yorker kannten diese skandinavische Enklave in Brooklyn, aber Jake war nicht zum ersten Mal hier. Er war kurz nach der Übernahme von Sarges ›Geschäften‹ auf das Viertel gestoßen, als er sich wochenlang damit beschäftigt hatte, die wichtigsten Straßenzüge der Stadt zu erkunden. Er hatte sich dabei einige Blocks um jede einzelne Station der U-Bahn angesehen, darunter auch die um die oberirdische Station fünf Blocks von hier. Nach Angels Erzählungen war die Klinik ihres Onkels einst ein kleines Appartement-Gebäude gewesen, das einer norwegischen Tante von Dr. Graham gehört hatte. Als Tante Hanna gestorben war, hatte Graham es geerbt und in ein Rehabilitationszentrum umgewandelt. Aber seine Vergangenheit war noch erkennbar – in den Querbalken über den Fenstern, im leichten Gefälle einiger Fußböden und in einem Speicher, der einem Gruselroman zu entstammen schien. Die Erinnerung an dieses staubige oberste Stockwerk drang auf Jake ein wie der Geschmack eines Pfefferminzbonbons, der sich plötzlich auf der Zunge entwickelt. Gestern hatte er es endlich geschafft, den letzten schmalen Treppenabsatz zum Speicher zu bewältigen, und er war in eine seltsame, vergessene Welt eingetaucht. Alte Spiegelrahmen, von Spinnweben überzogene Schaukelstühle, merkwürdige hölzerne Geräte, die aussahen, als stammten sie aus der Turnhalle eines Sanatoriums aus der Zeit um die Jahrhundertwende… Und dann hatte ihn hinter einem alten Ruder-Trimmgerät ein absolut regloser Hund angestarrt. Er war zusammengezuckt, hatte dann aber erkannt, daß der Hund ausgestopft war – anscheinend vor langer Zeit eines von Tante Hannas Lieblingshündchen. Jake sah Tante Hanna vor sich, wie sie ihr Hündchen streichelte, ihm Koseworte zuflüsterte, ihn mit Lecker182
bissen verwöhnte… Was zum Teufel war los mit ihm? Da schaut er auf einen ausgestopften Hund und, um Himmels willen, stellt sich die Liebe und die Qual einer einsamen alten Frau vor, die er gar nicht gekannt hat. Sentimentaler Quatsch. Er durfte seinen Geist nicht mit so etwas belasten, mußte sich auf Fredo, Danziger und Mr. C. konzentrieren… Doc Graham klopfte auf seine Kniescheibe, und das Bein zuckte hoch, aber nicht so hoch, wie es das früher getan hatte. Der Doc hatte ihm gesagt, das sei ein gutes Zeichen. Seine Haut hatte ihr Empfindungsvermögen noch nicht voll zurückgewonnen; es war, als sei Jake in eine weiche Plastikhaut eingehüllt. Er spürte Berührungen, aber nur wie durch ein Polster. Aber auch das war kein Problem, da die Polsterung von Woche zu Woche dünner wurde. »Sehr schön«, sagte Dr. Graham. »Und wie fühlen Sie sich heute?« »Gut. Keine Beschwerden.« »Ich meine Ihre Stimmung, das mentale Befinden.« Jake unterdrückte ein Stöhnen. Würde Graham denn niemals mit diesen Fragen aufhören? »Ich befinde mich in einem guten mentalen Zustand.« Er spürte die Unbeholfenheit seiner Worte, die da aus ihm herauskamen, als sei Englisch plötzlich eine Fremdsprache für ihn. Er entwickelte ganz neue Gefühle, und darüber sprechen zu müssen war äußerst unangenehm. »Keine Alpträume, keine seltsamen Regungen?« Graham sah ihn mit ernster Konzentration an. »Nun ja… Ich spüre gelegentlich den Drang, meine Blase an Orten zu entleeren, wo es verboten ist.« Graham sah ihn ausdruckslos an. »Sie müßten diesen Scherz eigentlich mögen«, sagte Jake. »Schließlich ist ›Blase entleeren‹ ein Ausdruck aus der gehobenen Ärztesprache. Ich würde mich da anders ausdrücken.« »Oh, ja, ich verstehe.« Graham lächelte dünn. 183
Die Tür wurde aufgestoßen, Angel kam herein und drückte hastig die Tür hinter sich zu. Man merkte sofort, daß sie aufgeregt war, und ein Warnlicht blinkte in Jakes Bewußtsein auf; sein Magen verkrampfte sich, und noch ehe Angel sprach, setzte er sich bereits zu seinem Bett in Bewegung. »Ein Mann ist gekommen und will Jake besuchen. Ich habe ihm gesagt, er soll unten warten, aber ich weiß nicht, ob er das auch tun wird.« Jake schlüpfte in sein Bett, streckte den Körper aus und zog die Decke über sich. Er konnte gerade noch die Arme neben den Körper legen, als Fredo auch schon hereinkam. »Überraschung!« »Sir, entschuldigen Sie, aber die Besuchszeit ist erst heute abend«, fuhr Graham ihn wütend an. Fredo ignorierte ihn und starrte Jake an, der ihm langsam den Kopf zudrehte. Dein Kopf ist der einzige Körperteil, den du bewegen kannst. Vergiß das nicht eine Sekunde. »Hallo, Fredo«, sagte er. Graham streckte seine Hand aus, wollte Fredo am Arm fassen, aber Angel hielt ihn zurück. Der verängstigte Schimmer in ihren Augen schmerzte Jake. Ihre Intuition war so ausgeprägt, daß sie erkannte, wer Fredo war – und ich bin nicht in der Verfassung, sie schützen zu können. »Ich bin sicher, daß wir da mal eine Ausnahme machen können«, sagte Fredo. »Jakey und ich sind uralte Freunde, nicht wahr, Jake?« »Stimmt.« »Nun, dann geht das in Ordnung«, sagte Graham. »Aber bitte kommen Sie zukünftig zwischen sieben und acht Uhr abends.« »Mach ich, Doc«, sagte Fredo, ohne den Arzt oder Angel anzusehen. Als die beiden gegangen waren, schlenderte er zum Bett. Wie Jake sah, war er bis auf helle Kreise um die Augen von den Gläsern der Sonnenbrille tiefdunkel gebräunt. »Diesmal keine Blumen?« fragte Jake. Die Bräune wurde für einen Moment von Röte überlagert. »Die Blumen damals waren von Mr. C. Wenn's nach mir gegangen war', 184
hätt' ich dir Fisch gebracht.« »In Zeitungspapier eingewickelt.« »Richtig. Vielleicht auch einen toten Kanarienvogel.« »Du warst schon immer sehr feinfühlig.« »Feinfühligkeit ist was für Weiber. Und wenn wir schon bei Weibern sind – das ist ja eine tolle Schwester, die du da hast, Jakey. Ich kann mir vorstellen, daß man sogar als Querschnittsgelähmter bei der einen hochkriegt.« Jake bemühte sich um ein ausdrucksloses Gesicht. Er wollte mit Fredo nicht über Angel sprechen. »Wenn du der Meinung bist, ich sollte bei den Fischen liegen«, sagte er, »warum tust du dann nichts dafür?« Fredo lächelte ihn kalt an. »Das willst du wirklich, Jake? Bist du so verzweifelt, daß du sogar durch mich ins Gras beißen willst?« Jake starrte ihm in die Augen, und nach einem Moment schaute Fredo weg. »Das würde dir so gefallen, was, alter Kumpel? Ich jage dir 'ne Kugel ins Hirn, und dann kriegen die Bullen mich am Arsch. Aber wenn du's echt willst, könnte ja mal die Zeit kommen, wo Mr. C das gerne für dich arrangiert. Halt noch ein paar Monate durch, bis die Bullen dich vergessen haben. Dann kann man sicher was arrangieren, das wie ein Unfall aussieht. Mr. C hat immer noch eine Schwäche für dich.« »Ich bin wirklich gerührt.« Fredo steckte die Hand unter die Bettdecke, und Schweiß perlte über Jakes Stirn, als er erkannte, nach was Fredo suchte. »Diese Röhre, mit der sie die Pisse aus dir rausgesaugt haben – wo ist sie, Jake?« »Sie können sie nicht dauernd in dir steckenlassen«, antwortete er. »Man kriegt sonst Geschwüre.« »Wie? Tatsächlich? Die lassen dich einfach ins Bett pinkeln?« »Nicht ins Bett.« Jake drehte den Kopf zur Seite. »Monatsbinden?« Fredo lachte laut. »Großartig! Das muß ich mir ansehen.« Er zog die Decke weg und sah Jake dann lauernd an. »Da 185
ist keine Binde.« »Sie waren gerade dabei, sie zu wechseln, als du reingekommen bist. Willst du die benutzte sehen? Ich bin sicher, man kann sie für dich noch irgendwo auftreiben.« Jake mußte gegen den irren Drang ankämpfen, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. »Sehr witzig.« Fredo ging zum unteren Ende des Bettes und legte die Hände um den Bügel des Fußbrettes. »Warum haben sie dich hierher verlegt?« »Weil sie im Krankenhaus nichts mehr für mich tun konnten.« »So? Haben sie es nicht mal geschafft, deinen Fingern ein bißchen Bewegungsfähigkeit zu geben?« Woher weiß er von diesen Bemühungen? Er hat mich intensiver im Auge behalten, als ich gedacht habe. »Nein«, antwortete Jake. Er zuckte mit dem Bein, mimte die unkontrollierte spastische Bewegung, die Fredo bei seinem Besuch im Krankenhaus bereits gesehen hatte. Fredo sah ihm unablässig in die Augen. »Wenn man dir im Krankenhaus nicht helfen konnte, was kann man dann hier für dich tun?« »Gar nichts, aber es ist ruhiger hier, und das Personal ist ausgezeichnet. Sie pflegen mich bestens. Aber warum zum Teufel kümmert dich das, Fredo? Es ist nicht dein Geld.« »Gibt es noch andere Patienten hier?« »Das weiß ich nicht.« »Scheint nicht so zu sein. Ich hab' mich umgeschaut. Sieht eher aus wie das, was sie ›Ambulantes Zentrum‹ nennen. Keine Patienten im Haus, aber für dich haben sie eine Ausnahme gemacht. Wie kommt das?« »Mit fünf Millionen kann man sich eine ganze Menge Ausnahmen kaufen.« Fredo starrte ihn an. »Ich habe so ein ganz sonderbares Gefühl, was dich angeht, Jakey. Versucht da etwa ein Gangster, einen anderen zu bescheißen? Jake die Schlange? Versuchst du etwa, deinen alten Kumpel Fredo aufs Kreuz zu legen? Machst ihm vor, du wärst 186
gelähmt, und bist es gar nicht?« Jake überlegte, welche Antwort Fredo erwartete, und sagte dann: »Ich weiß ja, daß du ziemlich doof bist, aber ein bißchen Wissen über eine Querschnittslähmung hätte ich dir schon zugetraut. Also, du solltest wissen: Wenn das Rückenmark einmal durchtrennt ist, ist nichts mehr zu machen. Es wächst nie wieder zusammen. Warum haust du also nicht ab und läßt mich allein?« Fredo lächelte. Er griff in die Tasche, nahm eine Zigarette aus einer Schachtel und steckte sie an. Jakes Nackenhaare stellten sich auf, aber er sagte: »Rauch du nur… Sobald der Doc auch nur einen Hauch davon riecht, schickt er die Pfleger rein. Du wirst sie mögen, Fredo – sie waren beide Berufsringer.« »O weh, ich scheiße mir gleich vor Angst in die Hose«, sagte Fredo und nahm einen tiefen Zug. »Okay. Mach' nur. Ich werde mit Freuden zuschauen, wie sie dich zwingen, die Zigarette auszumachen.« Fredo schlug die Decke über seinen Füßen zurück, und Jake wußte, was jetzt kommen würde, noch ehe Fredo die Glut der Zigarette durch tiefe Züge noch mehr entfachte. O Gott! Panik stieg in ihm auf, schloß sich wie eine Kralle um seine Kehle. Die Sensitivität seiner Haut war zwar gemindert, aber würde er das durchstehen können? Er versuchte sich vorzustellen, seine Füße seien in einem Eisblock eingefroren. Die Haut der Füße war blau angelaufen, und er hatte jedes Gefühl für sie verloren. Er brauchte dringend etwas Heißes an den Füßen, sonst würden sie erfrieren… Fredo hob seinen linken Fuß an – Kalt, so kalt… Ein bißchen Wärme würde guttun… – und drückte die Glut gegen die Haut am Ansatz der Zehen… O Gott, dieser Schmerz, trotz des ›Polsters‹ über seiner Haut… Dieser irre Schmerz, der grelle Blitze durch sein Gehirn schickte… Er wollte schreien, mußte schreien… Aber er tat es nicht. 187
Fredo drückte die Glut gegen seinen Fuß, bis sie erlosch, und ließ den Fuß dann wieder aufs Bett fallen. Jake sah die Enttäuschung auf seinem Gesicht, aber sie verschwamm vor seinen Augen. Für einen Moment schien Fredo zu schrumpfen und in einem langen, dunklen Tunnel zu verschwinden… Nein, ja nichts anmerken lassen… »Das hätte kein normaler Mensch ausgehalten«, murmelte Fredo vor sich hin. »Was hast du gemacht, du dämliches Arschloch?« fragte Jake. »Hast du mir etwa mit der Zigarette die Füße versengt?«
18 Liebe und Hass
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ehnsüchtig wartete Jake darauf, daß Angel ihm Fragen zu dem Vorfall stellte. Aber statt dessen konzentrierte sie sich ganz auf seinen Fuß, redete ihm gut zu und bestrich die verbrannte Stelle mit Heilsalbe. Die Wunde schmerzte immer noch stark, und Jake hätte schwören können, die Glut der Zigarette bohrte sich weiterhin in sein Fleisch. Aber er spürte auch die wohltuende Kühle ihrer Hände um seinen Fußknöchel. »Ein Glück, daß ich noch nicht die volle Gefühlsfähigkeit zurück hatte«, sagte er in dem Drang, die Stille zu unterbrechen. Zu seiner Überraschung lachte Angel unsicher. »Trotzdem muß es wie verrückt weh getan haben. Und du hast nicht mal mit dem Fuß gezuckt? Jake, wie hast du das nur aushalten können?« »Man tut, was man tun muß.« War das unbestimmt genug? Sie starrte ihn an, und er sah nur Bewunderung in ihren Augen. 188
Verdammt, es brachte ihn noch um – wann stellte sie ihm endlich die unausweichlichen Fragen? »Du bist ein sehr tapferer Mann, Jake Nacht.« »Nun, ich wollte die Forschungsarbeit deines Onkels nicht gefährden.« Diesmal war ihr Lachen sicherer. »Aha. Du nimmst eine Verbrennung dritten Grades an deinem Fuß in Kauf, um deinen Arzt vor einer peinlichen Befragung durch die Ethik-Kommission der Ärztekammer zu bewahren…« »Und vor dem Verlust seiner Subventionen. Das darfst du nicht vergessen.« Trotz des Schmerzes grinste Jake. War es wirklich möglich, daß sie keinerlei angstvolle Ahnungen hatte, was seine Vergangenheit betraf? Keine Angst davor, Danzigers Anklagen gegen ihn nach dem Vorfall könnten wahr sein? Sie hatte ein gutes Beurteilungsvermögen für Menschen, und Fredo stank geradezu nach Gangster. Selbst wenn sie nichts über den Mob wußte – aus der Tatsache, daß Fredo einem anderen Mann mit einer Zigarette die Fußsohle versengte, konnte sie unschwer erkennen, was für ein Typ Mann er war. Und sie konnte ebenso unschwer die Schlußfolgerung ziehen, daß Fredo es getan hatte, um absolut sicher zu sein, daß Jakes Verlegung in das Rehabilitationszentrum nicht die Wiedergewinnung seiner Bewegungsfähigkeit bedeutete. Was ist los mit mir? Vergiß Angel. Ich sollte mich auf dem Gipfel des Glücks fühlen. Ich habe es geschafft, Fredo zu täuschen. Er wird nicht mit meinem Auftauchen rechnen. Eine warme, hämische Freude durchströmte Jake, und der Schmerz verebbte schließlich. »Besser?« fragte Angel. »Ja.« Sie legte einen Verband um den Fuß. »Du darfst dich nicht auf diesen Fuß stellen. Aber wir können ja eine Menge anderer Dinge tun – du mußt sowieso mehr an deinen Armen arbeiten und auch…« Graham kam herein und blieb in der Tür stehen, wartete, bis Angel ihren Satz zu Ende gesprochen hatte. Seine Augen funkelten zor189
nig, und Jake wußte, daß er im Gegensatz zu Angel Fragen stellen würde. Die Frage war nur, ob er sie im Beisein Angels stellen würde. »Mr. Nacht, darf ich Sie bitten, mir diesen Vorfall zu erklären?« Jake versuchte seinen Ärger zu verbergen. Natürlich stellte er die Fragen in Angels Beisein. Warum auch nicht? Er hat den Verdacht, daß ich ein böser Bube sein könnte, nie ganz abgelegt, warum sollte er dann die Chance nicht nutzen, ihn in Angels Anwesenheit zu äußern und jegliche Gefühle, die sie eventuell für mich entwickelt hat, abzuwürgen? Wichtigtuerischer Armleuchter. Der wichtigtuerische Armleuchter, der mir mein Leben wiedergegeben hat. »Warum hat dieser … dieser Fredo Ihnen das angetan?« fragte Graham dann auch prompt. »Er wollte sichergehen, daß ich tatsächlich noch querschnittsgelähmt bin.« »Das kann ich mir denken. Aber warum sollte ihn speziell das interessieren?« »Onkel…« »Nein, Angela, das ist wichtig. Er wird Zeit, daß die Luft endlich gereinigt wird. Deine Sicherheit könnte auf dem Spiel stehen.« Angel nahm die Salbe und das Verbandsmaterial an sich und ging zur Tür. »Du solltest hierbleiben und dir das anhören«, sagte Graham. Du Bastard, dachte Jake. Du hast dich zu lange mit Ratten beschäftigt… Angel drehte sich vor der Tür noch einmal um und sah ihren Onkel kühl an. »Du bist so erfüllt von dem, was du für Jake getan hast, daß du vielleicht keine Zeit dafür hattest, darüber nachzudenken, was er für dich getan hat.« Sie ging aus dem Zimmer, während Graham, offensichtlich bestürzt, noch nach einer Antwort suchte. Dann wandte er sich wieder Jake zu. Sein Gesichtsausdruck war jetzt offen feindselig. »Ich möchte nicht, daß sie verletzt wird, Mr. Nacht.« »Das möchte ich auch nicht.« »Dann sollten Sie besser ehrlich zu mir sein. Sie haben auf den 190
Senator geschossen, nicht wahr? Und dieser Mann, dieser Fredo, ist ein Gangster. Sie, Mr. Nacht, haben das Attentat im Auftrag dieser Gangster verübt, aber sie haben Ihnen eine Falle gestellt. Sie wagen es nicht, Sie endgültig aus dem Verkehr zu ziehen, weil das zu deutlich auf ihre Beteiligung an der Sache hindeuten würde, aber sie wollen andererseits auch sicher sein, daß Sie sich nicht an ihnen rächen können.« Jake war beeindruckt, ließ es sich aber nicht anmerken. Er schüttelte den Kopf. »Doc, Sie haben gerade zwei und zwei zusammengezählt und zweiundzwanzig dabei rausbekommen.« »Tatsächlich? Warum hat dann dieser Fredo seine Zigarette an Ihrer Fußsohle ausgedrückt?« »Weil er mich haßt.« »Und warum?« »Er hat mal versucht mich zu bestechen, und ich habe ihm die Cops auf den Hals gehetzt.« »Er wollte Sie bestechen? Um was zu tun?« »Um bestimmte Substanzen in einem Lagerhaus, das mir als Wachmann anvertraut war, aufbewahren zu können.« Grahams mißtrauischer Blick wirkte beinahe komisch. Jake spürte plötzlich eine tiefe Müdigkeit. Das Adrenalin, das Fredo bei ihm aktiviert hatte, versiegte langsam, und dazu kam noch, daß es ihn seltsamerweise bedrückte, Graham anzulügen. Aber was blieb ihm sonst übrig? Der gute Doc war ein Mann, dessen Handeln von Prinzipien bestimmt war. Seine unerlaubte Operation an einem Menschen war keine Ausnahme von dieser Maxime, sondern ein Beweis dafür. Er würde eher Schmach und Schande in Kauf nehmen, als Jahre damit zu vergeuden, eine wissenschaftliche Entdeckung, die die Rettung für die gequältesten Menschen auf dieser Erde bedeutete, den endlosen bürokratischen Kanälen der traditionellen Medizin zu überlassen. Und er würde seinen Vorzeigepatienten eher der Polizei übergeben, als sich nachsagen zu lassen, einem Killer die Bewegungsfähigkeit zurückgegeben zu haben. »Was für Substanzen?« 191
»Rauschgift.« Graham schaute aus dem Fenster. Dunkelheit senkte sich über das norwegische Viertel von Brooklyn; der Himmel über den Backsteingebäuden auf der gegenüberliegenden Straßenseite färbte sich kobaltblau. Wie immer empfand Jake das verblassende Tageslicht als wohltuend. Er glaubte, es sei ihm gelungen, Graham zu überzeugen. Wenn man alles in Betracht zog, hatte er ihm letztlich eine plausible Erklärung für Fredos Attacke geliefert. Und das Lügen mußte ich schließlich seit Beginn meines Berufslebens beherrschen… Graham drehte sich um und sah ihn an. »Mr. Nacht, das ist doch alles Scheiße…« Er stolzierte aus dem Zimmer. Jake sah ihm nach, war überrascht und besorgt. Vielleicht hatte Graham letztlich doch ähnliche intuitive Fähigkeiten wie seine Nichte. Oder es ist so, dachte Jake, daß ich kein so guter Lügner mehr bin. Der Gedanke beunruhigte ihn – und auf unerklärliche Weise gefiel er ihm auch. Es war ungefähr Mitternacht, als Angel zu ihm kam. Jake war wach; die Wirkung des Demerol, das man ihm um acht Uhr abends gegeben hatte, ließ nach, und der Schmerz in seinem Fuß steigerte sich von einem unangenehmen Beißen zu bohrendem Brennen. Als er hörte, daß die Tür leise geöffnet wurde, blieb er regungslos liegen, dachte, es könnte Fredo sein. Doch dann spürte er, daß sich Angels Hand sanft wie ein Schleier auf seine Stirn legte. Die Berührung war vom kühlen Geruch nach Seife und einer Körperlotion begleitet. »Jake?« flüsterte sie. Er drehte sich auf die Seite und sah sie an. Das Licht des aufgehenden Mondes schien durchs Fenster, traf auf die weichen Falten ihres übergroßen T-Shirts, das bis zur Hälfte ihrer Oberschenkel herabreichte. Es stand ein Schriftzug darauf, aber er konnte ihn im Halbdunkel nicht lesen. War ja auch unwichtig… Das Haar fiel ihr ins 192
Gesicht, und ein leichter Shampoogeruch verriet, daß sie es frisch gewaschen hatte. Jake spürte, wie sein Glied voll erigierte – zum ersten Mal, seit die Kugel sich in seinen Nacken gebohrt hatte. Eine unaussprechliche Freude, gemischt mit Verlangen, durchströmte ihn. Er setzte sich auf und streckte wortlos die Arme nach ihr aus. Sie kam näher, ergriff seine Hände, legte sie um ihre Hüfte, lehnte sich an ihn. Du machst einen Fehler, dachte er, aber der Gedanke hatte nicht viel Kraft; er verflog, wurde in dem heißen Feuer, das in ihm brannte, zu Asche. Er preßte seine Lippen auf ihre und spürte, daß sein Nacken unter der Anstrengung, seine Gier zu unterdrücken, zitterte. Ihre Lippen paßten wunderbar aufeinander, so, wie er es sich tausendmal vorgestellt hatte. Sie öffnete sich ihm, und er ließ seine Zunge in ihrem Mund spielen, schmeckte die Wärme, die süße Feuchtigkeit, die Frische ihrer Zahnpasta. Sie schob sich aufs Bett, setzte sich mit gespreizten Beinen auf seinen Unterleib. Als sie ihre Weichheit gegen seine Härte drückte, spürte er mit wollüstiger Verzückung, daß sie unter dem T-Shirt nackt war. Wie magnetisiert preßten sie sich aneinander. Ihre erigierten Brustwarzen strichen mit köstlicher Sanftheit über seine Brust. Er stöhnte. Nicht schon kommen – noch nicht… Er versuchte sich abzulenken, an Baseball zu denken – wie stand es zur Zeit um die Mets? –, aber als sie ihre Hüfte auf ihm kreisen ließ, drängte er sich in sie. Sie stöhnte erregt auf, preßte sich gegen ihn, drängte ihn tiefer in sich hinein. Er verlor die Kontrolle über sich, stieß wild immer wieder zu, explodierte, biß die Zähne zusammen, um nicht zu schreien… Danach wollte er sich von ihr lösen, aber sie klammerte sich mit den Beinen an ihm fest, hielt die noch vorhandene Härte in sich. »Nein…« Er blieb reglos liegen. »Gut«, murmelte sie. 193
Sie küßte ihn, stieß ihre Zunge tief in seinen Mund. Er umschloß mit den Händen ihre Gesäßbacken, bewegte sie sanft hin und her. Er küßte ihre Brüste, saugte an ihnen durch den dünnen Stoff des T-Shirts, schmeckte ihren Schweiß. Sie bewegte sich auf und ab, langsam, sanft, und dann spürte er die Explosion ihres Orgasmus, ein langes, wildes Beben wollüstigen Fleisches. Sie stieß ein langes, leises Stöhnen aus und sank dann auf ihn. »O Jake…« Er rollte sich auf die Seite und hielt sie fest an sich gepreßt. Eine euphorische Ekstase durchfuhr ihn, als ob alle Zellen seines Körpers plötzlich entdeckt hätten, daß sie bisher halb leer gewesen waren, und nun die Nacht, das Mondlicht, alles Schöne, das sie finden konnten, in sich einsaugten. Verwundert und befremdet erkannte er, was er da fühlte: Liebe. Was er nicht erkannte, war, wie er damit umgehen sollte. Hatte das, was gerade geschehen war, zu bedeuten, daß Angel ihn tatsächlich liebte, wie sie es ihm an dem Tag, als er sterben wollte, gesagt hatte? Daß sie es nicht nur vorgetäuscht hatte, um ihn am Selbstmord zu hindern? Für viele Frauen bedeutete Sex noch lange nicht, daß sie den Partner auch liebten. Aber Angel war nicht wie andere Frauen. Was war mit ihrem Fast-Verlobten? Hatte sie Schluß mit ihm gemacht? Sie hatten nur einmal über den Mann gesprochen, und selbst jetzt noch hatte er Angst, nach ihm zu fragen. Aber sie hatte ganz bestimmt die Beziehung zu ihm abgebrochen. Angel war nicht die Frau, die mit einem Mann ins Bett ging, während sie noch mit einem anderen verlobt war. Sie liebt mich tatsächlich, dachte Jake. Sie liebt mich, und sie darf sich dieser Liebe ohne Gewissensbisse hingeben. Wir beide dürfen problemlos beisammenbleiben. Sein Herz begann so wild zu klopfen, daß er Angst hatte, Angel könnte es spüren. Entspann dich, sagte er sich. Bleib ganz ruhig. Nach einigen Minuten schliefen sie ein, immer noch fest aneinandergepreßt. 194
Als Jake aufwachte, hatte der jetzt höher stehende Mond den Streifen seines milchigen Lichts auf das Fußende des Bettes gerichtet. Er schaute über Angels Schulter auf die roten Digitalzahlen der Uhr auf dem Nachttisch und sah, daß es fast drei Uhr war. Sein Fuß tat wieder weh, aber der Schmerz war meilenweit entfernt. Er blieb ruhig liegen und versuchte, die von Angel ausgehenden Gerüche einzuordnen. Der Duft der Seife und der Körperlotion war jetzt überlagert vom Moschusgeruch des Geschlechtsverkehrs, und er war so aufreizend, daß er erneut eine Erektion bekam. Ihr Rücken war glatt und zart unter seiner Hand; dann aber spürte er, daß ihn eine Gänsehaut überlief. »Oh«, sagte sie, hob den Kopf und ließ ihn dann wieder auf das Kissen sinken. Ein Schauer überlief sie. »Hast du einen bösen Traum gehabt?« fragte er sanft. »Mmmm… Ich saß in einem Bus, und als ich dann ausstieg, wurde mir erst klar, daß ich Mitglied in einem Chor war, einem Chor auf Tournee. Leute warteten draußen auf uns, und so fingen wir an zu singen, und ich mußte in meinem Traum bitterlich weinen. Die Leute, die an der Haltestelle auf uns warteten, starrten uns ausdruckslos an, und ich konnte nicht erkennen, ob ihnen unser Lied gefiel oder nicht…« »Irgendwie verrückt. Sind alle deine Träume so wie der?« »Hey, ich kann doch nichts dafür! Du erwartest sicher, daß ich jetzt sage, ich würde oft von dir träumen, oder?« »Es würde mir gefallen.« Sie boxte ihm sanft in die Rippen. Er hoffte, sie würde nichts von seiner Erektion merken. Er hätte gerne wieder Sex mit ihr gehabt, aber das wäre falsch – denn er mußte raus hier, und zwar sofort, noch ehe es Tag wurde. Er erkannte das mit plötzlicher Klarheit, so, als ob ihr verwirrter Traum es bei ihm ausgelöst hätte. Jedoch nicht mit dem Bus. Die U-Bahn – irgendwo in Manhattan aussteigen, einen Wagen mieten – nein, einen Jeep. Und keine traurigen Lieder… »Woran denkst du gerade?« 195
»Daß dein Traum gar nicht so verrückt war. Du weißt, daß ich verschwinden muß.« »Mußt du das wirklich?« Sie stützte sich auf dem Ellbogen auf und sah ihn an. Ein Lichtstreifen fiel auf ihr Gesicht. »Wohin verschwinden?« »Irgendwohin, wo ich in Sicherheit bin.« »Du glaubst, Fredo kommt zurück?« »Nein. Wenn er es aber doch tut, sag ihm, er soll verschwinden, sonst würdest du die Polizei verständigen. Das wird ihn nicht besonders beeindrucken, aber es ist das, was er von dir erwartet. Außerdem sagst du ihm, ihr hättet mich zur häuslichen Pflege in mein Haus in New Jersey entlassen, und dort würde ich rund um die Uhr von Bodyguards bewacht, denen es ein Vergnügen wäre, ihn niederzuschießen, sobald er den Fuß auf mein Grundstück setzt. Er wird das verstehen – nach dem, was er mir angetan hat.« »Jake, nun mal ganz langsam. Wir können dich auch hier bewachen lassen. Dein Geld ist in Brooklyn genausoviel wert wie in New Jersey. Und du brauchst noch weitere Pflege. Außerdem kannst du auf diesem Fuß nicht gehen…« »Ich kann nicht?« »Okay du sollst nicht.« Sie legte die Hand auf seine Schulter. »Was steckt dahinter? Ist es … ist es das, was heute nacht zwischen uns geschehen ist?« »Nein.« Er hoffte, sie würde die Wahrheit nicht in seinen Augen erkennen, sie nicht durch seine Haut spüren. »Okay dann«, sagte sie. »Häusliche Pflege. Ich werde mit dir gehen und die Pflege übernehmen.« Er unterdrückte ein Stöhnen. »Angel, es gibt nichts, was mir lieber wäre, aber es geht nicht.« »Warum nicht? Onkel Joe braucht mich hier nicht – vor allem, wenn du weg bist. Und du kannst keine bessere Rehabilitationsschwester finden als mich. Außerdem hast du versprochen, deine Genesung geheimzuhalten, bis Onkel Joe sie veröffentlichen kann, also bin ich die einzige Schwester, die du um dich haben darfst.« 196
Jake versuchte eine Antwort zu konstruieren, die keine Lüge war. »Ich werde die Rehabilitationsmaßnahmen selbst übernehmen – ich weiß ja, was zu tun ist, und ich werde es durchhalten, bis ich wieder ganz fit bin. Fredo ist das Böse in Person, Angel. Das brauche ich dir gar nicht erst zu sagen. Es ist möglich, daß er wiederkommt, und wenn er es tut, will ich, daß wir an verschiedenen Orten sind. Dein Onkel und du, ihr werdet sicherer sein, wenn Fredo glaubt, ihr hättet keine Verbindung mehr zu mir.« Sie sah ihn unverwandt an. »Jake, ich mache mir keine Gedanken um Fredo. Ich habe dich nicht einmal nach ihm gefragt, und ich will auch jetzt noch nichts über ihn wissen. Ich weiß nur, daß er ein Mann aus deiner Vergangenheit ist, und deine Vergangenheit interessiert mich nicht, weil sie aus und vorbei ist. Als ich dich zum ersten Mal sah, hatte ich ein bißchen Angst vor dir. Und dann habe ich über die Monate hinweg die Veränderung beobachtet, die mit dir vorgegangen ist. Schon bevor du deine Bewegungsfähigkeit wiedererlangt hast, warst du ein anderer Mensch geworden. Und jetzt habe ich plötzlich wieder Angst…« »Vor mir?« »Ich habe Angst davor, daß du etwas vorhast, das dich zurück in deine Vergangenheit wirft.« Er sah sie erstaunt an. Sie wußte zumindest teilweise, wer er in Wirklichkeit war, hatte es vielleicht schon lange gewußt – und es machte ihr nichts aus. Wie war das nur möglich? Ein Gefühl der Verwunderung erfüllte ihn. Er starrte unbewußt auf seine Hände, und dann nahm Angel diese Hände in ihre, spielte sanft mit den Fingern, die sich um die Kolben eines Dutzends exotischer Gewehre geklammert hatten – Sensenmann-Finger, die als Ernte das Leben von siebzehn Männern aus Entfernungen von hundert, zweihundert, vierhundert Metern eingefahren hatten… »Es interessiert mich nicht, Jake. Es ist mir egal. Solange es endgültig vorbei ist. Es muß vorbei sein. Vergiß Fredo. Gib's auf, Jake. Du hast dich gestern fantastisch verhalten, warst unglaublich tapfer, und du hast Erfolg damit gehabt. Du bist in Sicherheit – wir 197
sind beide in Sicherheit. Wir können Zusammensein, du und ich, wenn du nur alles andere von dir abschüttelst.« Jake dachte darüber nach. Dachte an Fredo, der in die Bar kam und ihm die höchste Bezahlung anbot, die ihm je für einen Hit geboten worden war, Fredo, der ihn zu einem Deal überredete, der von Anfang an stank, ihn mit einer Million Dollar köderte, weil er und seine Hintermänner nicht vorhatten, diesen Preis jemals voll zu bezahlen. Er dachte an Danziger, der ihm die Kugel in den Nacken gejagt hatte – an den irren Schmerz, das Verlöschen seines Körpers, als hätten seine Funktionen sich in Rauch aufgelöst. Er dachte an die Monate als Gelähmter im Bett, an den Kampf, nicht dem Wahnsinn zu verfallen, an sein Verlangen nach dem Tod. Er dachte an den Ausdruck auf Fredos Gesicht am gestrigen Tag, die sadistische Freude auf der feisten, dümmlichen Visage, als er die Glut der Zigarette auf seinen Fuß gedrückt hatte. »Es tut mir leid«, sagte er leise. Ihre Tränen tropften auf seine Hände, und sie brannten schlimmer auf seiner Haut als die Glut der Zigarette.
19 Herr der Wälder Mai
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n der verlorenen Weite der Pine Barrens, wo er nun schon am fünften Tag hintereinander hingefahren war, dachte Jake nicht an Fredo oder Danziger oder an die Kugel, mit der sie beinahe sein Leben zerstört hätten, sondern an Angel. Es war quälend, zum Verzweifeln… 198
Und es war ganz einfach auch verrückt. Als er mit ihr zusammengewesen war, hatte er an nichts anderes denken können als an Fredo und die anderen. Und jetzt, da er sich dringend auf diese Mistkerle konzentrieren sollte, beherrschte Angel seine Gedanken. Er liebte sie, o ja, er liebte sie. Sie zu verlassen war die schlimmste Tortur gewesen, die er sich selbst je zugefügt hatte. Der Schmerz nagte unablässig an ihm, saß in seiner Brust wie ein kalter, schuppiger Fisch, der sein Herz verschlungen hatte. Fünf Tage – und die Qual wurde immer schlimmer. Er hatte Angel geliebt, noch bevor er sich wieder bewegen konnte, hatte sie geliebt, als er den Tod herbeisehnte, aber es war ihm nicht bewußt geworden. Auch während des Kampfes zur Erlangung der vollen Bewegungsfähigkeit des wiederbelebten Körpers hatte er sie geliebt; hatte sie geliebt, wenn sie bei ihm im Zimmer war, sogar noch mehr, wenn sie nicht da war, und er hatte immer noch nicht verstanden, daß es tatsächlich Liebe war. Und dann hatte diese letzte Nacht mit ihr zusammen, diese unglaublich süße, wundervolle Mitternachtstunde, es ihm begreiflich gemacht. Es war ihm endlich bewußt geworden. Und dann hatte er sie trotzdem verlassen. Jake visierte durch das Redfield-Zielfernrohr den Kiefernzapfen an, drückte ab – und mußte feststellen, daß der Zapfen weiterhin ungeschoren an der Schnur baumelte. Er fluchte und rieb sich die Schulter, versuchte den Schmerz des heftigen Rückstoßes des AR10 zu lindern. Hatte der Schuß überhaupt in der Nähe des Ziels gelegen? Er konnte es nicht sagen – das Geschoß war geräuschlos durch die verkrüppelten Kiefern hinter dem baumelnden Zapfen gefahren, war nirgends sichtbar eingeschlagen. Würde er das verdammte Ding jemals treffen? Oder hatte er seine Treffsicherheit, die ihn einmal ausgezeichnet hatte, für immer verloren? Jake setzte sich entnervt auf den Boden und legte das Gewehr auf die Oberschenkel. Ein Eichelhäher schrie heiser aus einem Holunderbusch, verhöhnte ihn. Er spürte einen dumpfen Schmerz in 199
seinem Fußballen, wo Fredo ihn mit der Zigarette verbrannt hatte. Das Herumstolpern auf dem unebenen Boden hatte dazu geführt, daß sich die Wunde entzündet hatte. Aber er konnte sich jetzt nicht damit befassen. Schweiß rann unter seinem Stirnband hervor, lief bis zu seiner Nasenspitze, und das machte ihm bewußt, daß die Frühlingssonne ihren Weg durch das niedrige, dünne Kieferndach gefunden hatte und in seinen Nacken brannte. Kein Windhauch regte sich, es waren nur Wärme und Stille um ihn, wie an so vielen anderen Tagen, die er hier draußen verbracht hatte… Er war sich nicht darüber im klaren gewesen, wie sehr er diese Gegend haßte, bis er wieder hergekommen war, aber es gab keinen Ort, an dem er seine Schießübungen ungestörter durchführen konnte. Er kannte dieses gottverlassene Waldgebiet so gut, wie man es nur kennen konnte, aber das bedeutete noch lange nicht, daß er sich wirklich darin zurechtfand. Hier draußen sahen jede kümmerliche Kiefer und jeder Busch genauso aus wie alle anderen, und selbst erfahrene Waldläufer liefen Gefahr, sich zu verirren. Dieser Gedanke ließ Angst in ihm aufsteigen. Den Jeep nicht mehr zu finden, nicht mehr zurück zum Motel zu kommen, bei Einbruch der Dunkelheit noch hier draußen zu sein, wohl wissend, in jedem Schatten Sarges Geist zu sehen, ihn in jedem Rascheln eines Waschbären oder einer Schlange zu hören… Sarge, den toten König der Pine Barrens. Jake versuchte die Angst abzuschütteln. Abergläubiger Quatsch… Hier hatte er das Schießen gelernt, und vielleicht gelang es ihm, ein wenig von dieser Magie wiederzubeleben. Vielleicht konnten die vertrauten Brombeerzweige und Kiefernäste ihm dazu verhelfen, die Nervenstränge in seinem Inneren wieder zu aktivieren, deren Steuerung er hier gelernt hatte. Seine Schießkunst, der bestimmte Trick – oder was auch immer es war – mußte doch noch irgendwo in seinem Gehirn stecken. Alles, was er tun mußte, war doch, die richtige Verbindung zwischen den Augen und den Händen zu bewerkstelligen, die äußerst komplexe Kontrolle über den Abzugsfinger 200
sicherzustellen und auf die innere Stimme zu hören, die ihm sagte, wann der richtige Sekundenbruchteil zum Abdrücken gekommen war. Jake kämpfte sich auf die Beine, noch steif von den wenigen Minuten des Sitzens, ging dann hinüber zu dem an der Schnur hängenden Zapfen und versetzte ihn wieder in Schwingung. Er eilte die fünfzig Meter zurück zur Schußposition, zielte durch das Redfield, erfaßte den schwingenden Zapfen und ließ die Bewegung in sein Bewußtsein sinken. Jetzt! Er drückte ab, und der Zapfen zerplatzte. Er spürte kein Triumphgefühl, nur eine träge Genugtuung. Er hatte auf dieses Ergebnis fünf Tage lang hingearbeitet, aber als solches bedeutete es nichts. Bedeutsam war einzig und allein, daß er diesmal das richtige Gefühl gehabt hatte, und vielleicht würde es ihn, nachdem es erstmals wiederaufgetaucht war, wieder und wieder erfassen, bis er es schließlich wie früher auf Kommando aktivieren konnte. Jake traf zwei der nächsten zehn Zapfen. Dann vier. Vier von zehn. Sechs. Sieben. Sieben. Sechs. Sieben. Es wurde dunkel. Auf dem Weg zum Jeep wurde Jake von widerstrebenden Gefühlen erfaßt – Hoffnung und Frustration. Sieben von zehn war nicht gut genug. Die erste Kugel mußte mit Sicherheit in Fredos Kniescheibe fahren. Und dann würde Fredo sich auf dem Boden winden, in einer irren Folge krampfartiger Zuckungen, anders als die vorhersehbaren Schwingungen eines Kiefernzapfens. Eine Kugel in die Kniescheibe, dann eine in den Unterleib und zum Schluß, wenn Fredo von Panik erfaßt sterbend dalag, der erlösende Schuß in den Schädel… Jake versuchte sich diese Situation vorzustellen, aber sie wurde von Angels Gesicht überlagert, von ihrem bezaubernden, leicht asymmetrischen Lächeln, das er außer in seiner Vorstellung nie mehr sehen würde.
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Am Abend des nächsten Tages hatte Jake es auf eine Trefferquote von 9,5 gebracht. Am Tag darauf vergrößerte er die Entfernung auf hundert Meter. Er ging auf einem kleinen Hügel in Schußposition, versetzte mit einem Streifschuß den Ast, an dem der auserwählte Kiefernzapfen hing, in Schwingung, und der Zapfen tanzte in wilden Pirouetten auf und ab, hin und her. Die Pirouetten gingen dann in weite Schwünge über, und das gab ihm Gelegenheit, mehrere Schüsse auf dieses kleine, sich bewegende Ziel abzugeben, bevor die Bewegung immer langsamer und schließlich zum Stillstand gebracht wurde. Innerhalb von drei Tagen traf er aus hundert Metern Entfernung neun von zehn schwingenden Zapfen. Die alten Reflexe, die automatischen Reaktionen und die Anpassungsfähigkeit erwachten wieder zum Leben. Sein Nervensystem war zermalmt worden, hatte sich aber die Erinnerungsfähigkeit erhalten. Die Befriedigung darüber hielt sich jedoch in Grenzen; sie war keinesfalls so euphorisch, wie er sie sich in seinen Träumen stets vorgestellt hatte. Er war immer noch gut – oder wieder gut –, wie die richtige neurologische Charakterisierung auch sein mochte. Sehr wahrscheinlich war er wieder der beste Schütze weit und breit. Er war bereit für Fredo. Und dann würde ihn diese wilde Freude, diese dunkle Ekstase überfallen – wenn er den Abzug durchzog und zusah, wie dieser Bastard, der sein Leben zerstört hatte, auf den Boden sank. Er würde Fredo töten, dann Danziger, dann Mr. C… Und was würde er danach mit dem Rest seines Lebens anfangen? Es war Sonntag, und Jake saß hoch oben in einem Eichenbaum in der Nähe von Bedminster, New Jersey, und sah zu, wie Fredos Cadillac-Limousine die lange Zufahrt zu seinem Landhaus hinauffuhr. Es war Pferde-Land hier draußen, aufgeteilt auf die Anwesen in Arealen von mindestens zwanzigtausend Quadratmetern. Bewohnt von Leuten wie Whitney Houston … und Fredo Papillardi. Hübscher Wagen. Mr. C schien seinem Neffen neue Verantwortlichkeiten übertragen zu haben. Fredos Sonnenbräune ließ dar202
auf schließen, daß es sich um das sonnige Atlantic City handelte – Fredo hatte sich seit Jahren gewünscht, die Interessen seines Onkels dort zu vertreten. Sah so aus, als ob dieser Wunsch nunmehr in Erfüllung gegangen war. Jake hob das AR-10 und schaute durch das Zielfernrohr. Da der richtige Moment noch nicht gekommen war, spürte er keinerlei Nervosität. Als erster stieg ein Bodyguard aus dem Wagen, dann folgte Fredos Nummer eins, Vito Cangemi, ein wenig jünger als Fredo, aber ebenso gemein. Dann tauchte Fredo selbst auf. Sein dunkler Anzug schimmerte leicht im Sonnenlicht. Jake spürte ein leichtes Jucken im Zeigefinger am Abzug. Nein – unter dem Anzug trug Fredo ganz bestimmt eine schußsichere Weste. Seit er den Film Der Pate gesehen hatte, verzichtete er selbst beim Kirchgang nicht auf diesen Schutz, obwohl es bisher noch nie zu Schußwechseln zwischen verfeindeten Gangstern während eines Gottesdienstes gekommen war. Fredo war heute nur zu Hause, weil Mr. C Wert darauf legte, daß seine Capos sonntags in die Kirche gingen und dann den Tag mit ihren Familien verbrachten. Was für ein Witz – so ähnlich, als ob ein Hai den Segen des Herrn erfleht, ehe er dir das Bein abbeißt. Fredos Frau, eine dünne, zerbrechlich wirkende Person mit hochgestecktem Haar, folgte ihm, und bis auf den Bodyguard verschwanden alle im Schatten des Säuleneingangs; der Bodyguard bezog draußen Position und lehnte sich an einen der weißen Pfeiler. Eine große, glückliche Familie. Jake fragte sich, ob Fredos Frau von seinen vielen Liebschaften wußte – oder sich überhaupt darum scherte. Jake stieß den Atem aus, den er unbewußt angehalten hatte. Automatisch überprüfte er noch einmal den Einfallswinkel des Sonnenlichts, obwohl er bereits sicher war, daß es von der Linse des Zielfernrohrs nicht reflektiert wurde. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Swimmingpool zu, einem aquamarinblau funkelnden Marmorbecken im saftigen Gras an der linken Seite des Hauses. An einem warmen Tag wie heute würde Fredo, nachdem er sich den Ma203
gen mit halbgarem Roastbeef und Chianti gefüllt hatte, den Kirchgang-Anzug gegen eine Badehose eintauschen und zum Pool gehen. Die Sonne würde bis zu diesem Zeitpunkt hinter den Eichenhain gewandert sein, und Fredo würde sich in einen Sessel setzen und ihn so drehen, daß er in die Sonne schaute. Er würde die Sonnenbrille aufsetzen, ein Schläfchen machen und dabei in der wohligen Wärme des Sommertages den genossenen Wein ausschwitzen. Bis die Kugel in sein Knie fuhr und ihn aufweckte. Dann würde er auf den Betonplatten neben dem Pool liegen und wie ein Fisch auf dem Trockenen herumzappeln, was Jakes weitere Aktivitäten erschweren würde. Der Unterleib, dachte Jake mit eisiger Entschlossenheit. Und dann der Schädel. Im ersten Schock würde es mindestens zehn Sekunden dauern, bis jemand bei Fredo war und ihn aus der Schußlinie zu ziehen versuchte. Diese Bodyguards waren keine selbstlosen Secret-ServiceAgenten, und Fredo war nicht der Mann, über den sich jemand schützend warf, wenn auf ihn geschossen wurde. Ich werde die Zeit, die sie mir geben, voll ausnutzen. Er kriegt die Kugel erst in den Schädel, wenn er Schmerzen empfunden hat. Werde ich ihn aus dieser Entfernung schreien hören? Wird von der Windrichtung abhängen… Jake war überrascht, daß eine leichte Übelkeit in seinem Magen aufkam. Er hatte das vor einem Hit übliche Frühstück zu sich genommen – Brot und Tee. Was war los mit ihm? Ein Anflug von Nervosität? Oder hatte sich die Entzündung in seinem Fuß nach all der ungewohnten Anstrengung verschlimmert? Er hatte gestern abend Salbe auf die Wunde geschmiert, aber die Wundränder waren flammend rot gewesen. Ehe er es verhindern konnte, stieg der Wunsch in ihm auf, Angel wäre bei ihm und würde sich um ihn kümmern. Aber Angel würde nie wieder bei ihm sein. Er hatte es so gewollt. Seine eigene Entscheidung. Reiß diesen Gedanken also aus deinem Bewußtsein. 204
Knie, Unterleib, zusehen, wie Fredo sich am Boden windet, den süßen Klang seiner Schreie einsaugen, dann die Kugel in den Schädel. Das ist für dich, du verdammter Bastard, du Judas, du hinterfotziger Dreckskerl. Du hast mein Leben kaputtgemacht. Du hast mich für vier Monate in die Hölle geschickt. Wegen dir konnte ich keinen Finger mehr heben. Meine Pisse mußte durch Schläuche aus mir rauslaufen. Wegen dir war ich kein Mann mehr. Und wegen dir habe ich Angel getroffen. Jake schüttelte diesen Gedanken wütend ab. Richtig – und wegen Lee Harvey Oswald konnte Jackie Kennedy sich wieder mit diversen Männern rumtreiben. Ich bin nicht für Angel bestimmt, dachte er. Angel ist schön. Angel ist gut im Bett. Wie kann sie mich lieben? Wie kann sie darüber hinwegsehen, wer ich bin? Sie würde… Jake fuhr zusammen, als er Fredo den Poolbereich betreten sah. Sein Herz fing an zu klopfen, während er das Gewehr an die Schulter nahm und durch das Zielfernrohr blickte. O Gott, dieses dämliche Arschloch trug doch tatsächlich eine Tanga-Badehose – schon allein deswegen hatte er den Tod verdient. Hatte er denn keine Ahnung, wie er aussah – mit dem Bauch, der sich dick über dem Gummizug des Sackzwickers wölbte? Und der Haarpelz – nicht nur auf der Brust, auch auf den Schultern, selbst auf dem Rücken. Jakes Kehle zog sich zusammen. Was für eine widerliche Kreatur. Ja, setz dich hin. Dreh den Stuhl zur Sonne. Gut so. Schieb die Sonnenbrille zurecht. Okay, hast du's jetzt so richtig gemütlich? Jake richtete das Fadenkreuz auf Fredos Brust, ging dann langsam nach unten, fand unter einem feisten Oberschenkel das Knie. Es sah rund und blaßbraun aus, wie ein Biskuit. Wenn ein Mann jemals den Tod verdient hatte, dann war es Fredo… Jake legte den Finger um den Abzug. Angels Tränen auf seiner Hand drangen plötzlich in sein Bewußtsein. Und er hörte sie sagen: Laß es sein, Jake. Der Gummirand des Zielfernrohrs drückte über der Augenbraue 205
gegen seine Stirn. Er schluckte. Sein Magen bäumte sich auf. Er haßte Fredo. Haßte ihn aus vollem Herzen. Also mach weiter, das ist der Augenblick, von dem du so oft geträumt hast. Du kannst jetzt nicht einfach abbrechen. Sie liebt dich. Es kann alles gut werden. Du brauchst es nur seinzulassen… Und dann sah er sein künftiges Leben vor sich, ein sauberes, helles neues Leben, gereinigt durch das Höllenfeuer der vergangenen neun Monate. Neun Monate … wie eine Schwangerschaft. Und jetzt der Augenblick der Wahrheit: Was würde er aus diesem Schoß der Angst und Qual und völligen Verzweiflung gebären? Ein neues Leben stand am Horizont vor ihm, wartete auf ihn. Wollte, sollte er es mit Fredos Blut besudeln? Laß es sein. Ich kann nicht… Jake richtete das Fadenkreuz auf Fredos Kopf, dicht über die Sonnenbrille, ging dann ein kleines Stück tiefer, genau zwischen die Augen… Und zögerte. »Peng«, sagte er dann laut. Und senkte das Gewehr. Laß es sein. Er wußte nicht, ob es mit dem neuen Leben funktionieren würde. Aber er konnte es versuchen. Wie ein um Heilung kämpfender Alkoholsüchtiger … täglich aufs neue. Jake wartete im Laubdach des Baumes auf das Hereinbrechen der Dunkelheit, und er sah lächelnd zu, wie Fredo seinen Stuhl herumschob, um stets gegen die Sonne zu schauen. Fredo spielte für ihn keine Rolle mehr; Fredo war jetzt ein Fremder auf einem anderen Planeten. Als sich die Dunkelheit über den Eichenhain gesenkt hatte, klet206
terte Jake vom Baum, und er fühlte sich stark und wie von einer Last befreit – und selbstbewußter als je zuvor in seinem Leben. Er legte das Gewehr in die Tragetasche und ging zu seinem Jeep, den er in einer Buschgruppe versteckt hatte. Er würde jetzt nach Brooklyn zu Angel fahren und ihr sagen, daß es vorbei war – daß er Fredo und allen anderen bösen Dingen aus seiner Vergangenheit den Rücken zugekehrt hatte. Heute abend würden sie gemeinsam ein neues Leben anfangen… Im Jeep zerlegte Jake das AR-10 und das Zielfernrohr. Er würde die Einzelteile unterwegs in einen See oder einen Fluß werfen. Als erstes aber mußte er ein Telefon finden. Er konnte nicht warten, bis er Angel sah, er mußte es ihr sofort sagen, so schnell wie möglich: Angel, ich habe die Vergangenheit überwunden, und es wird keinen Rückfall geben. Angel, ich liebe dich. Bei der ersten der malerischen Raststätten an der Route 24 hielt er an – Dew Drop Inn, beruhigend unauffällig. Ein blaues Neonlicht zuckte über der Tür und warf sein sanftes Licht auf ein Münztelefon. Jake wählte die Nummer von Grahams Klinik und sog unterdessen gierig den Geruch nach gebratenem Fisch und Malzbier ein. Das Geplauder der Gäste im Restaurant erfüllte ihn mit einem wunderbaren, euphorischen Wohlgefühl. »Hallo!« Grahams wie betäubt klingende Stimme, und Jakes Heiterkeit verflog sofort. Irgend etwas schien nicht in Ordnung zu sein. »Hier ist Jake. Kann ich Angel sprechen?« »Jake? Ach so, ja, Jake Nacht…« Der Mann sprach tatsächlich wie in Trance. Jakes Magen verkrampfte sich vor Angst. »Was ist los?« »Sie ist verschwunden. Man hat sie entführt, und es ist Ihre Schuld.«
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VIERTER TEIL WIEDERGEBURT
20 Teamwork
J
akes Gedanken rasten, kreisten wirr um die erschreckenden Worte, die Graham gerade gesagt hatte. Angel entführt? Fredos Jungs haben anscheinend die Klinik noch mal überprüft, sahen, daß ich nicht mehr da war, fuhren zu meinem Haus, fanden mich auch dort nicht… Aber warum? Nachdem Fredo mir die Fußsohle versengt hatte, mußte er doch zufrieden gewesen sein. Warum dann noch mal nachhaken? Jake drängte die Frage aus dem Bewußtsein – eine viel direktere Angst zuckte in ihm auf. Sie haben Angel gekidnappt, um mich aufzuspüren. Wenn sie derart mißtrauisch sind, haben sie ganz bestimmt Grahams Telefon angezapft. »Sie scheinen zu vergessen, daß ich gelähmt bin«, sagte Jake. »Wie kann es da meine Schuld sein, daß Angel entführt wurde?« Ein längeres Schweigen zeigte Jake, daß Graham die versteckte Botschaft überdachte, gottlob endlich nachzudenken schien. Aber würde jemand, der das Gespräch mithörte, aus Grahams Schweigen nicht vielleicht ähnliche Schlüsse ziehen? »Ihre Freunde aus Ihrem früheren Leben müssen dahinterstecken.« Graham gab dem Wort ›Freunde‹ einen bitteren Unterton. »Bevor Sie als Patient zu uns kamen, kannte Angela keine Leute wie diesen Fredo. Sie haben ihn in unser Leben gebracht – und damit Ihre Verbindung zu diesem Mann aus Ihrer Vergangenheit, wie auch immer sie aussah, bevor Sie gelähmt wurden. Wenn er Sie so haßt, daß er einem hilflosen Mann die Fußsohle verbrennt, dann haßt er Sie auch genug, jemanden zu kidnappen, von dem er annimmt, daß er Ihnen was bedeutet.« Jake, der mit den Ohren von Fredos Horchern zugehört hatte, 209
fand, daß das eine angemessene Antwort war. Graham kannte die ganzen Hintergründe natürlich nicht, aber Fredo erwartete das ja auch nicht von ihm. Im Moment war es am wichtigsten, Fredo in dem Glauben zu bestärken, Jake sei noch gelähmt. Und kein Anzeichen dafür zu offenbaren, wieviel Angel ihm bedeutete. Glücklicherweise wußte Graham das offenbar selbst nicht, und so konnte er nichts Verräterisches darüber ausplaudern. Jake gab sich Mühe, seine sich überschlagenden Gedanken zu ordnen. »Wann ist es passiert?« »Ich weiß es nicht genau. Irgendwann im Verlauf des Tages. Ich habe gerade erst entdeckt, daß sie verschwunden ist. Ihr Zimmer ist … ein wüstes Durcheinander.« Grahams Stimme zitterte. »Haben Sie die Polizei angerufen?« »Nein, noch nicht. Sie haben einen Zettel mit einer Warnung hinterlassen. Es steht drauf, sie würden Angel töten, wenn ich die Polizei verständige.« »Tun Sie alles genauso, wie sie es von Ihnen verlangen«, sagte Jake mit fester Stimme. »Sie wollen mich haben. Ich denke, ich kann alles wieder in Ordnung bringen.« »Sie geben also zu, daß es Ihre Schuld ist…« Ja, dachte Jake, aber er sagte: »Es ist die Schuld der Leute, die sie entführt haben – und ich muß zugeben, daß wahrscheinlich mein alter Bekannter Fredo dahintersteckt. Er scheint trotz seiner handfesten Überprüfung daran zu zweifeln, daß ich tatsächlich gelähmt bin. Wahrscheinlich hat er mein Haus überprüft, als er erfahren hatte, daß ich nicht mehr in Ihrer Klinik bin. Ich habe mich aber nicht dorthin bringen lassen, weil ich nicht wollte, daß er dort auftaucht und mir eventuell was anderes als die Fußsohle versengt.« »Wo sind Sie jetzt?« Jake zuckte zusammen. Diese Frage hätte Graham nicht stellen sollen. Er dachte immer noch nicht genug mit. Ich muß das Gespräch schleunigst beenden, dachte Jake. Ich muß so schnell wie möglich zu Graham und sicherstellen, daß er nicht die Polizei einschaltet oder sonst was Dummes anstellt. 210
»Machen Sie sich keine Gedanken darüber, wo ich mich aufhalte«, sagte Jake. »Ich werde Fredo anrufen und ihm sagen, wo ich bin. Das ist es ja, was er will. Wenn es tatsächlich er war, der Ihre Nichte entführt hat, wird er sie freilassen, sobald er sich vergewissert hat, daß ich immer noch gelähmt bin. Wenn ich genug Leute zu meinem Schutz angeheuert habe, werde ich Fredo anrufen und herkommen lassen, dann kann er sich die gewünschte Gewißheit verschaffen. Ich werde mir was ausdenken, wie ich ihn überzeugen kann. Ganz wichtig ist, daß Sie auf keinen Fall die Polizei einschalten dürfen. Warten Sie in der Nähe des Telefons, ich rufe Sie wieder an, sobald ich mehr weiß.« Stille in der Leitung. »Doktor Graham?« »Ich habe zugehört. Aber ich bin nicht bereit, lange zu warten. Ich muß etwas unternehmen, verstehen Sie? Sie könnten ihr was antun oder…« »Bleiben Sie beim Telefon.« Jake betonte jedes Wort einzeln und legte dann den Hörer auf. O Gott! Eine irre Angst schüttelte Jake. Seine Hände zitterten, und er drückte sie gegen das Gesicht, um ihr Beben zu unterdrücken. Gut, daß er das AR-10 noch nicht weggeworfen hatte oder die 45erPistole, die er für den Fall mitgebracht hatte, daß ihm jemand zu nahe auf den Leib rückte. Und Gott sei Dank hatte er den Abzug nicht durchgedrückt, als er Fredo im Visier gehabt hatte. Wenn er es getan hätte, wäre Angel jetzt tot. Jake atmete in langsamen, gleichmäßigen Zügen, um den Anfall von Klaustrophobie zu bekämpfen. Es schien kaum Luft genug zum Atmen hier zu geben, und es war stockdunkel. Der ölige Gestank verdorbener Sardinen schien aus den Mauern zu sickern, die zu beiden Seiten seine Schultern streiften, während er vorankroch. Ein vertikaler hellgrauer Strich vor ihm veranlaßte ihn, sich noch tiefer zu 211
ducken. Er versuchte nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn jemand vor den grauen Strich trat und einen Schuß in den schmalen Spalt zwischen den Gebäuden, den er entlangkroch, abfeuerte. Der Schütze brauchte gar nicht zu zielen – treffen würde er auf jeden Fall, und Jake würde nicht einmal seitwärts umfallen können. Wenn er jedoch diesen Spalt unentdeckt hinter sich brachte, würde er in die mit Kopfsteinen gepflasterte Gasse kommen, einen alten, den Block in zwei Hälften teilenden Zugang für Lieferanten zur Rückseite der Läden und Backsteinhäuser, deren Frontseiten zu den flankierenden Straßen zeigten. Grahams Klinik war eines dieser Gebäude. Nach dem Spalt rechts in die Gasse, dann rund zehn Meter weiter zum Hintereingang… Wenn Fredo auch dort, wie am Vordereingang, seine Leute postiert hatte, konnten diese zehn Meter zu zehn Meilen werden. Jake verbannte die negativen Gedanken aus seinem Kopf. Er horchte, ob irgendein Laut aus der Gasse zu hören war. Um zwei Uhr nachts war es im norwegischen Viertel im Vergleich zu anderen Teilen Brooklyns unheimlich still. Die guten Gunnars und Dagnes lagen offensichtlich alle tief schlafend im Bett, und wenn jemand den Hintereingang der Klinik bewachte, würde er vielleicht ebenfalls eindösen. Aber Jake glaubte nicht an soviel Glück. Deshalb hatte er die 45er schußbereit nach vorne gerichtet. Wenn einer von Fredos Männern ihn in die Klinik schlüpfen sah, konnte der Versuch, Angel zu retten, bereits gescheitert sein, ehe er überhaupt begonnen hatte. Vielleicht hätte er die Scharade ausführen sollen, von der er Graham am Telefon erzählt hatte – ein Haus mieten, ein paar Muskelmänner anheuern, Fredo zu überzeugen… Was aber, wenn er Fredos neuen Test nicht durchgehalten hätte? Oder was war, wenn Fredo bereits wußte, daß er die Lähmung überwunden hatte? Dann jagt er mir eine Kugel in den Kopf, dachte Jake. Ein Jake Nacht mit funktionsfähigen Armen und Beinen ist zu gefährlich, 212
um ihn am Leben zu lassen. Und zum Teufel mit dem Gezeter in den Zeitungen und den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, die seinem Tod folgen würden. Der nagende Verdacht, daß Fredo eventuell wirklich bereits Bescheid wußte, brachte Jake fast zur Verzweiflung. Er hatte einen großen Fehler begangen. Er hatte sich von seinem Haß – und dem Bestehen von Fredos dümmlichem Zigaretten-Test – blenden lassen. Der Kerl war eine solche Karikatur – sein schmieriges Aussehen, seine Großtuerei, sein dummes Gerede… Zum Teufel, er war gar keine Karikatur, er war wirklich so. Aber das war offensichtlich nicht alles an ihm. Wenn Fredo tatsächlich so dämlich war, warum war es dann Jake, den man niedergeschossen hatte, warum war er es, der sich monatelang nicht bewegen konnte, der reglos daliegen mußte, während der sadistische Bastard eine Zigarette an seiner Fußsohle ausdrückte – und warum war er es, der in den Wald fuhr und Schießübungen auf Kiefernzapfen machte, während eben dieser Bastard die Frau kidnappte, die er liebte… Jake knirschte vor Wut mit den Zähnen. Er schloß die Augen, blieb reglos in der Dunkelheit hocken und zwang sich zur Ruhe. Wut hatte ihn in diesen finsteren Spalt hier gebracht. Jetzt war die Zeit für kühle Überlegung gekommen – die Zeit herauszufinden, wer wirklich cleverer war, er oder Fredo. Wenn Fredo es war, würde Angel sterben, und dasselbe würde mit Jake Nacht geschehen, denn selbst wenn er nicht zusammen mit Angel ums Leben kam, er würde es niemals verwinden können, sie zu verlieren. Am Ende des Spalts blieb Jake flach auf dem Bauch liegen und horchte wieder. Er streckte vorsichtig den Kopf um die Ecke und starrte in die Dunkelheit der Gasse. Warum war es nur so verdammt dunkel hier? Daß es in der Gasse keine Laternen gab, war verständlich, aber warum war bei keinem der Läden die Hintertür beleuchtet? Der einzige Lichtschimmer kam vom fernen Ende der Gasse; er hellte die Dunkelheit jedoch nur soweit auf, daß man eine schnelle Bewegung erkennen würde. Die Bedingungen für eine versteckte Überwachung der Hintertür der Klinik waren ideal. Wenn sich wirklich 213
jemand da irgendwo unter einem Torbogen versteckte, war er nur dann auszumachen, wenn er sich bewegte. Er braucht sich nicht zu bewegen, dachte Jake. Aber ich muß es. Nimm dir Zeit. Warte. Horche. Nach fast fünfzehn Minuten hörte er es – ein schwaches Kratzen, kurz und sehr gleichmäßig –, ein Geräusch, das ihm irgendwie bekannt vorkam. Aber er konnte es nicht auf Anhieb einordnen. Ein paar Sekunden roch es nach Kaffee. Aha. Eine Thermosflasche. Jake erinnerte sich daran, wie er bewegungsunfähig in seinem Krankenbett gelegen und die Gerüche im Zimmer analysiert hatte. Die fast völlige Lähmung hatte sein Gehör und seinen Geruchssinn geschärft, und er hatte sich diesen neuen Fähigkeiten ganz hingegeben, hatte sich schließlich darauf verlassen können, Angels Parfüm bereits zu riechen und das besondere Quietschen ihrer Sneakers schon zu hören, wenn sie noch im Flur auf dem Weg zu seinem Zimmer war. Und er hatte den kalkigen Geruch der Medizin aufgenommen, sobald die Schwester die Zimmertür aufmachte und auf Zehenspitzen hereinkam, was ihm ermöglicht hatte, so zu tun, als ob er schlafe. All das waren verzweifelte Versuche gewesen, den Verlust der Motorik durch andere besondere Fähigkeiten auszugleichen – und ihn davor zu bewahren, verrückt zu werden. Wer hätte damals gedacht, daß er sich in neuen Künsten geübt und Sinne geschärft hatte, die ihm jetzt vielleicht das Leben retten konnten? Aber er mußte mehr tun, als nur sein Leben retten. Er mußte in Grahams Klinik reinkommen. Der vordere und der hintere Eingang wurden überwacht. Was jetzt? Es mußte einen anderen Weg geben. Und dann erkannte er, welches dieser Weg sein könnte – wenn er geduldig genug, stark genug, leise genug war. Er hielt das Gesicht auf das sandige Pflaster gerichtet und schob sich auf dem Bauch Zentimeter für Zentimeter in die Gasse, stieß sich mit den Zehenspitzen ab, zog sich gleichzeitig mit rollenden Bewegungen der Schultern voran, unterstützte das Gleiten durch den Druck der Finger zu beiden Seiten des Körpers. Er brauchte 214
zehn Minuten, um sich in voller Länge in die Gasse zu schieben. Sein Rücken war vor Angst mit einer Gänsehaut überzogen, und es drängte ihn, schneller voranzukommen; jeden Augenblick konnte sich eine Kugel in seinen Körper bohren. Noch eine Kugel in den Rücken – diesmal würde sie tödlich sein. Würden sie Angel dann laufenlassen? Nicht Fredo. Nach weiteren zehn Minuten war er bis zur Mitte der Gasse vorangekommen, und noch eine Körperlänge war zu überwinden, ehe er in den Spalt zwischen den Gebäuden auf der anderen Seite der Gasse eintauchen konnte. Sein Gehör war angespannt, fürchtete, irgendeinen Laut aufzunehmen. Und als es dann tatsächlich geschah – ein leises Rascheln von Kleidung –, traf es ihn wie ein Schlag, und er erstarrte, wollte aufspringen… Nein! Mach das um Gottes willen nicht! Er blieb reglos auf dem Bauch und dem Gesicht liegen, horchte angestrengt. Einige Sekunden nichts, dann das Plätschern von Pisse gegen eine Backsteinmauer… Jake richtete sich auf Hände und Knie auf, kroch geräuschlos in den Spalt, zog die Pistole und schaute um die Ecke zurück in die Gasse. Sein Herz hämmerte so schnell, daß er den Puls im Zeigefinger am Abzug spürte. Wenn Fredos Mann da draußen jetzt auf ihn zukam, würde Jake ihn töten müssen, und dann war alles verpatzt. Jake wartete. Fünf Sekunden, eine Minute… Nichts. Er hatte es geschafft. Zur Hälfte. Jetzt kam überhaupt erst der schwierige Teil. Die Zeit der Prüfung, was die Rehabihtationsmaßnahmen gebracht hatten. Und wieviel Schmerz er inzwischen wirklich aushalten konnte. Er sicherte die Pistole, schob sie zurück in die Jackentasche und tastete sich in dem Spalt voran, bis er meinte, ungefähr die Hälfte hinter sich zu haben. Dann drückte er den Rücken an die Mauer gegenüber der Klinikwand, hob einen Fuß an und setzte ihn in Hüfthöhe gegen die Wand. Er blieb einen Moment in dieser Haltung 215
stehen und sammelte sich. Er wünschte, das Gebäude hätte Fenster im Erdgeschoß. Es gab in New York durchaus auch Backsteingebäude mit Fenstern in so enge Durchlässe, aber er wußte aus der Zeit, die er in der Klinik verbracht hatte, daß die Häuser zu dieser Seite keine Fenster hatten. Nur die kleine, mit einer Holzjalousie verschlossene Belüftungsöffnung in der Wand des Speichers, drei Stockwerke über ihm. Jake stemmte den Fuß fester gegen die Mauer, schob den Rücken an der gegenüberliegenden Wand hoch, setzte dann den anderen ein Stück höher an. Er spürte einen dumpfen Schmerz an der Stelle der Brandwunde, als er die Sohle gegen die Backsteinwand drückte, aber seine Nike Airs hatten eine dick gepolsterte Sohle. Die Bewegungstechnik, die er anwenden mußte, war ihm vertraut. Er war bei mehr als einem Hit auf diese Weise zu und von seinem Ansitz gekommen. Aber wie kräftig waren seine Beine noch – oder wieder? Er war noch weit von einer Topform entfernt. Was war, wenn er es zwei Stockwerke hoch schaffte und die Beine ihm dann den Dienst versagten? Dann würde er hinunterstürzen. Jake arbeitete sich Stück für Stück nach oben. Der dauernde Druck gegen die Wand verursachte starke Schmerzen in seiner Wirbelsäule; eine panische Angst durchzuckte ihn plötzlich, er könne sein Rükkenmark irgendwie wieder verletzen. Mach einfach weiter. Als er die Speicherebene erreichte, begannen die Nerven in seinen Beinen heftig zu zucken, als ob Stromstöße von den Hüften hinunter zu den Fersen fahren würden. Er konnte die notwendige Anspannung zwischen Rücken und Füßen kaum mehr aufrechterhalten. Er war froh, daß es dunkel war, aber er war sich auch der drei Stockwerke Luft unter seinem Körper bewußt, und er stellte sich schaudernd die Wucht des Aufpralls auf dem Boden vor, wenn er abstürzte. Bleibt stabil, befahl er seinen Beinen. Wir sind fast am Ziel. Und dann begannen seine Beinmuskeln in hektischen, chaotischen 216
Stößen zu zittern – wie in einer schlechten Elvis-Persiflage. Das wäre an sich recht lustig gewesen, wenn er nicht drei verdammte Stockwerke hoch in der Luft gehangen hätte. Aber noch schlimmer – Jake spürte, daß die Kraft in seinen Beinen nachließ. Schweiß lief ihm über die Stirn. Er biß die Zähne zusammen, konnte mit letzter Kraft die Anspannung zwischen Rücken und Füßen halten und sah sich nach der verdammten Ventilationsöffnung um. Da war sie – etwas mehr als einen Meter links von ihm. Er unterdrückte ein Stöhnen, schob sich seitwärts, so schnell er es wagen konnte, bis seine zitternden Füße sich unter der quadratischen Lüftungsöffnung befanden. Seine Beine waren dicht davor, den Dienst zu verweigern, und er mußte die Hände einsetzen, um die Masse seines Körpergewichtes in der Schwebe zu halten. Er drückte die Finger und die Handflächen fest gegen die Backsteinwand hinter seinem Rücken. Er hob den rechten Fuß, stieß gegen die Holzjalousie der Lüftungsöffnung und hoffte, sie sei so verrottet, wie sie von innen ausgesehen hatte. Sie gab tatsächlich sofort nach und fiel mit einem dumpfen Schlag nach innen. Jake glaubte nicht, daß dieses Geräusch die drei Stockwerke nach unten und dann um die Ecke in die Gasse drang, aber selbst wenn es so war – was machte es schon? Er befand sich hier oben in Lebensgefahr. Dann mußte er feststellen, daß er es falsch angefangen hatte. Er hätte sich beim Hochklettern mit dem Rücken an der Klinikwand abstützen sollen, nicht an der gegenüberliegenden Mauer; er hätte dann mit den Händen nach hinten in die Öffnung greifen können. Keine Zeit, sich jetzt über diesen Fehler zu ärgern. Er spürte seine Füße nicht mehr. Als sie von der Klinikwand abzugleiten drohten, stieß er sich mit den Händen von der Wand hinter ihm ab, schnellte mit dem Oberkörper nach vorn und griff mit den Fingern nach den Seiten der Öffnung. Für einen entsetzlichen, dumpfen Sekundenbruchteil fürchtete er, 217
er würde ins Leere greifen, aber dann fanden die Finger der rechten Hand die Kante der Öffnung. Er baumelte jetzt in der Luft, nur gehalten von vier Fingern – und sie drohten abzurutschen… Aber dann, nach ewig erscheinenden Sekunden, fanden auch die Finger der linken Hand die Kante der Öffnung. Banzai! Und jetzt? Seine Beine waren nutzlos. Mehr als das. Sie baumelten an seinem Unterkörper wie schwere Gegengewichte zu seinen Armen… Und die Arme waren alles, was er einsetzen konnte. Wenn sie anfingen, wie seine Beine zu versagen… Er zog sich hoch, Zentimeter für Zentimeter, und klammerte die Finger immer fester um die Kanten der Öffnung. Sie schmerzten höllisch, aber er ließ nicht nach, bis er einen Ellbogen in die Öffnung stemmen konnte. Danach ging es schneller. Er brachte den Kopf und die Schultern durch die Öffnung und schob dann, sich windend wie eine in ihre Höhle kriechende Schlange, den Rest des Körpers nach. Schließlich lag er auf dem Boden des Speichers, schnappte nach Luft, massierte die Beine. O Gott, er spürte sie immer noch nicht. Sie waren totes Fleisch. Was war da los? Er kämpfte gegen eine aufsteigende Panik an. War der Erfolg der Operation nur zeitlich begrenzt gewesen? Wurde er wieder zur lebenden Leiche? Bitte nicht jetzt. Bitte nicht gerade jetzt, wo er seine Bewegungsfähigkeit brauchte, um Angel zu retten. Er beruhigte sich ein wenig, atmete tief durch, und die vertrauten Gerüche nach Staub und altem Holz drangen ihm in die Nase. Er kämpfte gegen einen Hustenanfall an. Und während er leise hüstelte, bewegte sich sein rechtes Bein. Er versuchte, spontan das Knie zu biegen. Es gehorchte, wenn auch nur ein kleines Stück. Auch das linke Knie reagierte auf den Befehl. Und dann setzte das Prickeln in beiden Beinen ein. Die Bewegungsfähigkeit kam zurück. Jake hörte einen seltsamen Laut und merkte dann, daß er gerade laut aufgeschluchzt hatte. 218
Okay, reiß dich zusammen. Mach weiter. Ein verdrecktes Fenster zur Straßenseite ließ soviel Licht herein, daß er sich auf dem Speicher zurechtfinden konnte. Gehen war noch nicht möglich, also mußte er kriechen. Er schob sich auf den Unterarmen zur Tür. Auf dem Weg dorthin hielt er bei dem ausgestopften Hund an und strich ihm über das Fell. Wünsch mir Glück, bat er ihn in Gedanken. Er ließ sich so leise wie möglich die Speichertreppe hinuntergleiten und machte dann auf der obersten Etage eine Verschnaufpause. Er hörte Schritte unten im Erdgeschoß. Das mußte Graham sein. Jake wartete noch ein wenig, überprüfte seine Beine. Sie erholten sich schnell, waren aber immer noch ziemlich wacklig. Er traute ihnen nicht zu, daß sie ihn schon trugen, also kroch er zum Rand des Treppenhauses und schaute durch die Geländerstäbe nach unten. Graham saß in der Diele neben dem Telefon. Das Problem war jetzt, seine Aufmerksamkeit zu erregen, ohne daß er erschrak und irgendeinen Laut der Überraschung ausstieß. Die Gangster hatten an mindestens zwei wichtigen Stellen im Haus Wanzen eingebaut, und das Telefon war bestimmt eine davon. Ideal wäre, wenn er sich von hinten an Graham heranschleichen und ihm die Hand auf den Mund legen könnte… Aber mit diesen Beinen konnte er sich an niemanden heranschleichen. Jake legte einen Finger auf die Lippen und räusperte sich dann leise. Graham zuckte zusammen und starrte hoch zu ihm. Dann ließ er erleichtert die Schultern sinken. Jake gab ihm ein Zeichen, er solle zu ihm kommen. Als Graham bei ihm war, legte Jake die Hände um den Mund und flüsterte ihm ins Ohr: »Meine Beine haben mir den Dienst versagt. Helfen Sie mir hoch auf den Speicher.« Graham zuckte zurück und starrte Jake alarmiert an. Er wollte et219
was sagen, aber Jake legte ihm schnell die Hand auf den schon geöffneten Mund. Er flüsterte ihm ins Ohr: »Wanzen!« Grahams Augen weiteten sich entsetzt. Dann beruhigte er sich offensichtlich wieder, half Jake auf die Beine und stützte ihn, während sie hoch zum Speicher stiegen. Als sie die oberste Treppenstufe erreicht hatten, setzte Jake sich hin. Seine Beine hatten sich fast ganz wieder erholt, aber das beschäftigte ihn jetzt nicht mehr an erster Stelle. »Haben die Kerle bei Ihnen angerufen?« fragte er. »Nein.« Graham setzte sich neben Jake, starrte aber immer wieder nervös über die Schulter in das Halbdunkel des Speichers, als ob er fürchtete, hinter den dunklen Silhouetten der Schaukelstühle und alten Trimmgeräten könnte sich einer von Fredos Männern versteckt haben. »Wenn mein Telefon abgehört wird«, sagte er, »und Sie scheinen ja davon auszugehen – dann haben diese Leute unser erstes Telefongespräch verfolgt und warten jetzt darauf, daß Sie sie anrufen. Haben Sie das getan?« »Nein.« »Warum nicht? Und was wollen Sie hier?« »Ich brauche Ihre Zusage, daß Sie die Polizei aus dem Spiel lassen, was auch passiert.« »Kommt nicht in Frage. Ich bin nicht bereit, tatenlos hier rumzusitzen und darauf zu hoffen, daß Sie das Unheil, das Sie angerichtet haben, wieder aus der Welt schaffen und…« »O doch, das werden Sie«, unterbrach ihn Jake. »Oder was? Oder Sie bringen mich um?« Jake schloß die Augen. Warum machte dieser Mann es ihm so schwer? »Dr. Graham, Sie haben mir mein Leben zurückgegeben, aber jetzt geht es darum, Angel zu retten, und wenn Sie irgend etwas tun, um das zu torpedieren – ja dann werde ich Sie töten.« Graham starrte ihn an, und seine Augen glänzten im Halbdunkel wie bleiche Mondsicheln. »So wie Sie versucht haben, den Se220
nator zu töten, nicht wahr?« »Wir werden jetzt nicht über meine Vergangenheit sprechen«, sagte Jake, »in keiner Weise. Ich war ein Wachmann, das ist alles.« »So ist das also. Ein Nachtwächter, der jetzt meine Nichte aus den Klauen von Gangstern retten will… Mein Gott, Mr. Nacht, ausnahmsweise einmal hoffe ich, daß Sie uns tatsächlich angelogen haben. Wenn ich zulasse, daß Sie sich an die Rettung Angels machen, dann kann ich nur hoffen, daß Sie genauso … genauso gefährlich sind wie diese Gangster. Sind Sie es?« »Ich wäre es, wenn ich mich auf meine Beine verlassen könnte.« Jake erklärte Graham, was passiert war. »Ein neuronaler Erschöpfungszustand, nehme ich an«, meinte Graham. »Sie haben mit dieser Anstrengung Ihre unteren Gliedmaßen überstrapaziert. Die Neuronen Ihres motorischen Nervensystems waren überfordert. Mehr kann ich nicht sagen, ohne Sie untersucht zu haben. Wie steht es jetzt um Ihre Beine?« Jake hielt sich am Endpfosten des Geländers fest und zog sich auf die Füße. Seine Beine waren noch wacklig, trugen ihn aber. »Ich kann gehen, aber sicher nicht sehr weit. Werden die Beine wieder ganz in Ordnung sein, wenn ich mir Fredo vorknöpfe?« »Das kann ich nicht sagen. Sie sind schließlich mein erster menschlicher Fall.« Graham seufzte in die Dunkelheit hinein. »Ich hätte Ihnen niemals die Bewegungsfähigkeit wiedergeben dürfen. Und als ich es dann doch tat, hätte ich die Staatsanwaltschaft verständigen müssen.« »Aber Sie hatten Angst, Sie würden damit Ihre ganze Forschungsarbeit ruinieren.« »Das ist nicht wahr, und ich…« »Sie wußten ganz genau, was Sie da taten, Doc, Schritt für Schritt. Sie waren bereit, mich als Versuchskaninchen zu benutzen, weil Sie mein Leben als wertlos betrachteten, nicht höher einzustufen als das eines lebenslangen Sträflings. Aus den Erfahrungen mit Ihren Ratten-Experimenten mußten Sie schließen, die Operation könne eine schwere Psychose bei mir auslösen, und dennoch haben Sie 221
sie durchgeführt – weil ich in Ihren Augen nichts als eine weitere Ratte war. Wie fühlen Sie sich dabei? Das frage ich mich manchmal.« Jake wußte, er war zu hart zu Graham, aber er hatte keine andere Wahl. Graham sagte einen Moment nichts und fragte dann: »Warum sind Sie so vehement dagegen, die Polizei einzuschalten? Haben Sie Angst davor, man würde Sie zusammen mit Fredo verhaften?« Ja, dachte Jake. Aber das war unbedeutend und ganz bestimmt nichts, das Graham zu wissen brauchte. »Wenn Sie die Polizei anrufen, werden die Cops auf Fredos Bestechungsliste ihn schon verständigen, noch ehe Sie aufgelegt haben. Und dann wird er tun, was er angedroht hat: Er wird Angel töten. Ob Sie es glauben oder nicht, ich bin nicht so wie Fredo.« Nicht mehr. »Aber ich kenne diese Leute. Ich weiß, wie sie denken, wie ihre Logik funktioniert. Wenn Sie die Polizei einschalten, wird Angel sterben.« Ein Seufzer stieg tief aus Grahams Kehle auf. »Okay… Aber ich gehe mit Ihnen.« Jake starrte ihn an. »Das kommt gar nicht in Frage.« »Sie brauchen mich.« »Haben Sie jemals eine Waffe abgefeuert, Doc?« »Ich habe in Vietnam gedient.« Okay, dachte Jake, mein Einwurf ist entkräftet. »Was aber wichtiger ist als Schießkünste«, fuhr Graham fort, »ist die Tatsache, daß ich einem Querschnittsgelähmten die Bewegungsfähigkeit wiedergegeben habe. Wie habe ich das Ihrer Meinung nach geschafft, Mr. Nacht? Indem ich grell gefärbte Chemikalien zwischen zwei Teströhrchen hin und her gegossen habe?« Jake wartete. »Ich habe es mit meinem Denkvermögen geschafft. Und ich glaube, das ist ein Gebiet, auf dem Sie ein wenig Hilfe gebrauchen könnten.« Jake wollte zornig reagieren, ließ sich dann aber Grahams Wor222
te noch einmal durch den Kopf gehen. Der Mann war zweifellos ein Genie. Und nur Ignoranten glaubten, daß Genialität etwas mit Einseitigkeit zu tun hatte und nur im Labor oder am Zeichentisch nützlich war. Er wußte nicht, wo Fredo Angel versteckt hielt. Und er wußte nicht, wie er es herausfinden konnte. War es möglich, daß Graham ihm da mit seinem scharfen Verstand helfen konnte? Aber ich muß den Kopf einziehen, dachte Jake, und dieser Mann hat weder Erfahrung darin, wie man sich versteckt oder heimlich an jemanden heranschleicht, noch irgendwelche körperlichen Fähigkeiten, die in einer kritischen Situation von Vorteil wären. Er würde mehr Schaden anrichten, als eventuell nützlich sein. »Nein, das kommt nicht in Frage«, wiederholte Jake. »Okay, dann sagen Sie mir doch mal, Mr. Nacht, wie Sie hier wieder rauskommen wollen.« »Wie meinen Sie das?« »Fredos Männer bewachen den Vorder- und den Hinterausgang. Ich wundere mich, daß Sie überhaupt reingekommen sind.« »Ich verlasse die Klinik auf demselben Weg, auf dem ich reingekommen bin«, sagte Jake. »Durch die Lüftungsöffnung da drüben.« Seine Beine begannen aus Protest zu pulsieren, und bedrückt wurde ihm klar, daß sie ihm zwischen den Mauern den Dienst versagen würden. »Wir beide wissen, daß Sie das nicht schaffen«, sagte Graham prompt. »Würden Sie es unter diesen Umständen nicht vorziehen, auf dem Rücksitz meines Wagens liegend von mir rausgefahren zu werden?« Jake versuchte vergeblich, den Sinn dieser Worte zu verstehen. »Ich habe dieses Gebäude genau erkundet, und ich habe nirgends ein Garagentor gesehen.« Graham lächelte matt. »Das konnten Sie auch nicht, weil es nicht mehr zu sehen ist. Aber die Garage zwischen diesem Backsteingebäude und dem nebenan gehört zur Klinik. Und in dieser Garage, in die gut und gerne zwei Wagen hintereinander passen, steht ein 1975er Chrysler mit gerade mal achttausend Meilen auf dem Tacho. 223
Es war der letzte Wagen meiner Tante Hanna, der das Haus früher gehörte. Sie war kurz vor ihrem Tod eine so miserable Fahrerin geworden, daß ich ihr den Autoschlüssel weggenommen habe. Und um sicherzugehen, daß sie auch mit einem Reserveschlüssel nicht rückfällig wurde, ließ ich zur Straßenseite hin eine Backstein-Attrappe aus Sperrholz in den Torbogen vor das Garagentor setzen. Von außen kann man das nur bei näherem Hinsehen erkennen. Ich brauche bei Ausfahrten mit dem Chrysler, die ich hin und wieder mache, nur die beiden Torflügel nach innen aufzuziehen, die Attrappe aus ihrer Halterung zu heben und an die Garagenwand zu lehnen… Nach meiner letzten Fahrt stand der Spritanzeiger fast auf null, aber wir brauchen nicht weit zu fahren. Sechs Blocks von hier ist eine Tankstelle.« Jake überlegte. Er durfte den Wagen nicht selbst fahren, auch wenn Graham ihm den Schlüssel gab. Zu riskant, daß Fredos Aufpasser ihn hinter dem Steuer erkannten. Er mußte sich auf den Rücksitz legen, so wie Graham es vorgeschlagen hatte. Das könnte klappen, dachte er. Fredo interessiert sich nicht für Graham, sondern nur dafür, ob ich wieder gehen kann und hier auftauche. Die Aufpasser werden Graham nur verfolgen, wenn sie meinen, er könne sie zu mir führen, und in dem Telefongespräch mit Graham habe ich seine Frage, wo ich mich aufhalte, nicht beantwortet. Sie werden denken, Graham fahre zum Krankenhaus oder mache einen verzweifelten Versuch, Angel irgendwo zu finden… Angel… Schreckensvisionen von ihr zuckten durch seinen Kopf: in einem von Fredos ›sicheren Häusern‹ im Keller eingeschlossen, vielleicht sogar an einen Stuhl gefesselt. Vermutlich irgendwo in Atlantic City – Fredo wollte sie sicher dort haben, wo er sich die meiste Zeit aufhielt. O Gott, Jake, wie viele Häuser hat Atlantic City? Er konnte ein anderes Bild von ihr nicht unterdrücken – vielleicht lag sie gefesselt und geknebelt auf einem Bett… Er konnte spüren, wie sich ihr Entsetzen mit seinem vermischte. Sie war nicht die Frau, die ihre Lage passiv hinnahm. Sie würde versuchen zu entkommen, und wenn sie dabei erwischt wurde, würde Fredo sie bestrafen. Und 224
Fredo war ein Sadist… Jede Minute zählte jetzt, und mit seinen geschwächten Beinen und dem verbrannten Fuß war es nicht möglich, die Wand hinunterzuklettern. »Holen Sie die Autoschlüssel, Doc«, sagte er. »Mir gefällt das nicht, aber es sieht so aus, als ob Sie in dieser Stadt der einzige wären, der mir helfen kann.«
21 Der Sadist
A
ngel war fest entschlossen, sich nicht ihrer panischen Angst zu überlassen. Sie stand steif wie ein Stock da, den Rücken gegen die kalte, feuchte Wand des Kellers gedrückt. Diese Haltung reichte zwar nicht, den Eisenkragen um ihren Hals daran zu hindern, sich in den Unterkiefer zu graben, aber sie ermöglichte ihr zumindest ein ungestörtes Atmen. Der Kragen war mit einer Kette an einem über ihrem Kopf in die Wand getriebenen Haken befestigt. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie den Unterkiefer vom harten Druck des Kragens befreien, aber dann begannen nach kurzer Zeit die Waden zu schmerzen, und sie mußte sich wieder auf die Fußsohlen herunterlassen, was die Kette erneut anspannte und Druck am Hals erzeugte. Sie war noch geschwächt von den Drogen und ein- oder zweimal eingedöst, jedoch sofort wieder hochgefahren, da ihr Gewicht den Kragen so fest gegen ihren Hals drückte, daß sie zu ersticken drohte. Sie hatten die Glühbirne unter dem mittleren Balken an der Decke brennen lassen, aber das war kaum eine Erleichterung. Der Kellerraum war kahl und fensterlos. Wände und Boden bestanden aus Beton. 225
In die Mitte des Bodens war ein rostiges – oder etwa von eingetrocknetem Blut überzogenes? – Abflußgitter eingelassen. An der Wand gegenüber hingen, soweit sie das sehen konnte, ohne sich die Luft abzudrücken, nebeneinander eine zusammengerollte Peitsche, ein Polizei-Schlagstock, eine spitze Kneifzange und ein Stromkabel. Eine Autobatterie stand neben einem großen Kohlebecken auf dem Boden. Daran lehnte ein schwarzer Schürhaken. Sie sah keine Holzkohle, roch aber den Äther eines Brandbeschleunigers. Ein Rauchabzug in der Decke, geschwärzt vom Rauch früherer Feuer, verriet ihr, daß man das Kohlebecken schon öfter benutzt hatte – und sie nicht als erstes Opfer an der Wand angekettet war. All das bedeutete, daß der wahre Horror noch nicht begonnen hatte. Angel stöhnte leise, hoffte, dadurch ein wenig von ihrer Angst los zu werden. Warum tat man ihr das an? Jake. Er hat einen von ihnen getötet – wahrscheinlich Fredo. Ich bin das Objekt ihrer Rache. Sie ging in Gedanken die vergangenen Stunden durch. Sie meinte, alles hätte vor rund acht Stunden begonnen, war sich aber nicht sicher. Die beiden Männer hatten Skimasken getragen. Sie hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, einen Schrei auszustoßen. Der Schock – wahrscheinlich von einer Betäubungsspritze – hatte ihr Gehirn gelähmt und ihren Körper starr wie eine Leiche werden lassen. Sie erinnerte sich nur noch an Dunkelheit und den muffigen Geruch eines Teppichs – sie hatten sie anscheinend in einen Teppich eingerollt aus der Klinik getragen. Sie war hin und wieder dösend aus der Bewußtlosigkeit aufgetaucht, aber das erste, an was sie sich richtig erinnern konnte, war, daß die beiden Männer sie die Treppen zu diesem Kellerraum hinuntergetragen und dann wieder und wieder im Kreis herumgeführt hatten, bis sie sich ohne Hilfe auf den Beinen halten konnte. Schließlich hatten sie den Eisenkragen um ihren Hals zuschnappen lassen. Keiner der Männer hatte etwas gesagt, aber die Erinnerung an die Hand, die nach ihrer Brust gegrapscht hatte, war schlimmer als jedes böse Wort, das die Mistkerle hätten 226
sagen können. Sie hatten ihr wenigstens die Kleider am Leib gelassen. Wie gnädig! Ein würgendes Lachen drängte sich aus ihrer Kehle, ging dann in Schluchzen über. O Jake… Sie stellte sich vor, er käme zu ihrer Rettung herbeigeeilt. Aber nein. Er war weggegangen, ohne ihr Hoffnung auf so etwas zu lassen. Sie konnte es immer noch nicht verstehen. Er liebte sie, sie war sich dessen ganz sicher gewesen. Sie hatte es in seinen Augen gesehen, jedesmal, wenn er sie angeschaut hatte. Und trotzdem hatte er sie verlassen, war zurück in die Vergangenheit gegangen, aus der er gekommen war. Ein Killer? Es hatte keine Rolle gespielt, während sie beisammen waren, weil sie die Veränderung bei ihm wahrgenommen hatte, und sie hatte sich entschlossen, sich nicht darum zu kümmern, solange er seine Vergangenheit wirklich hinter sich ließ. Wenn er aber Fredo erschossen hatte… Schritte polterten die Kellertreppe herunter, und sie hörte sie mit einer Mischung aus Angst und Erleichterung. Jetzt würde hoffentlich jemand mit ihr reden, ihr alles erklären. Das Gesicht, das in der Tür auftauchte, war das von Fredo. Jake – Gott sei Dank, du hast ihn nicht getötet! Ein Hoffnungsschimmer stieg in ihr auf. »Na, wie geht's denn so?« fragte Fredo. »Es ging mir schon mal besser.« Sie versuchte einen Sinn hinter der Sache zu erkennen. Warum ließ Fredo es zu, daß sie sein Gesicht sah, während seine Helfershelfer, die Kidnapper, ihre vermummt hatten? Weil auf dem Weg hierher noch die Möglichkeit bestand, daß ich irgendwie entkommen konnte. Jetzt gibt es diese Chance nicht mehr. Ich werde nicht lebend hier rauskommen. Panisches Entsetzen erfaßte sie plötzlich. Fredo lächelte, und Zorn mischte sich in ihr Entsetzen. Er will, daß ich Angst habe, dachte sie. Die einzige Möglichkeit, gegen ihn anzukämpfen, ist, keine Angst zu zeigen. Wie kann ich das schaffen? Ich bin völlig verängstigt – 227
ich komme nicht dagegen an. Aber vielleicht kann ich Angstlosigkeit vortäuschen. »Also, jetzt sag mir mal eines, Angel – ist Jake tatsächlich gelähmt?« Jetzt erkannte sie den Sinn hinter der Sache. Es ging hier nicht um Rache, es ging um Fredos Paranoia, seine Angst vor Jake. Jake hatte niemanden getötet. Eine irrationale Freude erfaßte sie. Es gab noch Hoffnung für Jake und sie. Wenn ich das hier überlebe… »Natürlich ist er gelähmt«, sagte sie. »Niemand wird nach einem durchtrennten Rückenmark wiederhergestellt.« »Es gibt immer ein erstes Mal«, sagte Fredo sanft. »Nein, bei so was nicht.« »Du würdest mich doch niemals anlügen, Angel, oder doch?« »Natürlich würde ich Sie anlügen, wenn es sein müßte, aber doch nicht bei einer so offensichtlichen Sache. Es wäre eine Lüge, wenn ich sagen würde, ein Querschnittsgelähmter mit durchtrenntem Rükkenmark könnte plötzlich wieder gehen. Aber es wäre eine dumme Lüge, weil niemand, der auch nur ein wenig von medizinischen Dingen versteht, mir glauben würde. Es ist so unmöglich, wie Schweinen das Fliegen beizubringen.« Fredo starrte sie an, und sie zwang sich, nicht wegzuschauen, obwohl der Anblick seines Gesichts sie mit Abscheu erfüllte. Ihre Gedanken rasten. Sie versuchte sich vorzustellen, was auf sie zukam. Was es auch war, sie würde Jake nicht verraten, würde niemals zugeben, daß er wieder gehen konnte – und mehr als das. Sie würde Jake schützen, und vielleicht konnte sie Fredo irgendwie einlullen. Wenn sie ihn überzeugen konnte, daß Jake keine Gefahr für ihn bedeutete, würde er sie vielleicht noch eine Zeitlang am Leben lassen – bis möglicherweise einmal gute Nachrichten eintrafen. Es war sicher zuviel, von Fredo zu erwarten, daß er sie laufen ließ – er würde ihr niemals glauben, daß sie ihm nicht die Cops auf den Hals hetzen würde –, aber es kam darauf an, noch eine Weile zu überleben. Onkel Joe hatte inzwischen festgestellt, daß sie entführt worden war, und er würde Fredo im Verdacht haben. Onkel 228
Joe hatte bestimmt die Polizei verständigt. Man würde nach ihr suchen. Sie brauchte nur solange am Leben zu bleiben, bis man sie gefunden hatte. »Warum hat Jake eure Klinik verlassen?« Angel erinnerte sich, was Jake ihr als Antwort auf diese Frage nahegelegt hatte. »Er hatte Angst, sie würden zurückkommen und ihn noch mal verletzen.« »Verletzen? Er kann also Schmerzen spüren?« Angel erschrak. »Ich meine verletzen im Sinne von ›eine Verletzung zufügen‹. Daß er keinen Schmerz spürt, heißt noch lange nicht, daß es nicht ungesund und gefährlich für ihn wäre, wenn ihm die Haut an den Füßen verbrannt wird.« Fredos Augen waren jetzt sehr wachsam. »Ich habe einen meiner Männer hingeschickt, nur um noch mal zu prüfen, ob er auch brav und unbeweglich im Bett liegt«, sagte Fredo. »Aber er liegt überhaupt nicht mehr in der Klinik. Und jetzt frage ich mich, ob er sich nicht einfach nur schnell ins Bett gelegt hat, als ich kam – ob der alte Jake nicht vielleicht einfach nur robust genug war, den Marlboro-Test zu bestehen.« »Wenn Sie damit meinen, er hätte nur vorgetäuscht, er sei gelähmt, während Sie ihm die Zigarette an die Fußsohle gedrückt haben, dann kann ich nur sagen, daß kein Mensch so robust sein könnte.« Fast kein Mensch. »Er hat einen Krankenwagen gemietet und sich in sein Haus in New Jersey fahren lassen. Dort wollte er sich von angemietetem Pflegepersonal weiter betreuen lassen.« »Sieh mal einer an… Es ist nur so, daß wir daran auch gedacht und das Haus überprüft haben. Er ist nicht dort. Warum sagst du mir nicht einfach, wohin er wirklich verschwunden ist.« »Ich weiß doch nur das, was er mir erzählt hat. Er sagte, er würde sich zusammen mit dem Pflegepersonal ein paar Bodyguards anheuern – er hat ja, wie Sie sicher wissen, eine Menge Geld als Schadenersatz bekommen. Wenn er nicht in seinem Haus ist, weiß ich nicht, wohin er sich bringen ließ. Er hatte jedenfalls wirklich Angst vor Ihnen.« 229
Ein Ausdruck von Genugtuung glitt über Fredos Gesicht, und Angel wußte, daß sie die richtige Richtung eingeschlagen hatte. Sie sagte: »Vielleicht meinte Mr. Nacht, es sei die beste Möglichkeit, Ihnen aus dem Weg zu gehen, wenn er irgendwohin verschwunden ist, wo Sie ihn nicht vermuten, und dort unterzieht er sich jetzt der häuslichen Pflege.« Aufhören, wenn du einen Vorsprung hast. Nicht übertreiben. »Okay, aber willst du mir etwa weismachen, Jake hätte seiner bisherigen Pflegerin nicht seine neue Adresse gegeben? Seiner so toll aussehenden Schwester, die ihn monatelang aufopfernd gepflegt hat? Er war doch sicher ganz scharf auf dich, oder?« Angel erinnerte sich an die letzte Nacht, die sie mit Jake zusammengewesen war – an das wunderbare Gefühl seiner Hände auf ihrem Gesicht, an seinen an sie gedrückten Körper. »Ich weiß nicht, was Jake für mich gefühlt hat«, sagte sie. »Ich glaube nicht, daß er überhaupt etwas für mich empfunden hat. Welchen Zweck hätte das auch gehabt?« Fredo lehnte sich ein Stück zurück und sah sie ungläubig an. »Willst du sagen, bloß weil er keinen hochkriegte, hätte er nicht mal daran gedacht?« »Würden Sie das?« Fredo kräuselte die Lippen. »Darauf kannst du wetten. Wenn du meine Krankenschwester wärst, würd' ich dauernd daran denken. Ich wollte es vielleicht selbst nicht, aber ich würd' es.« »Das ist … sehr schmeichelhaft. Aber Sie können sich nicht richtig in Jakes Lage versetzen. Sein Körper ist absolut gefühllos. Er ist chronisch depressiv. Seine Gedanken kreisen hauptsächlich um den Tod.« »Wäre schön, wenn ich dir glauben könnte, Angel.« Das kann ich mir denken. »Aber es wäre noch schöner«, fuhr Fredo fort, »wenn ich Jake mal in seiner neuen Behausung besuchen könnte. Ich gebe dir ein wenig mehr Zeit zum Nachdenken, vielleicht fällt dir dann seine Adresse doch noch ein.« 230
»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich sie nicht kenne.« »Wie geht's mit dem Kragen? Ist er nicht ein bißchen eng?« Angel schluckte. »Könnten Sie ihn mir nicht abnehmen? Ich komme doch aus diesem Raum sowieso nicht raus.« »Ich denke, wir sollten ihn noch ein wenig länger dranlassen.« »Meine Knie geben dauernd nach. Wenn ich ersticke, bin ich für Sie nicht mehr von Nutzen.« Fredo legte den Kopf schräg. »Nützlich für was? Meinst du, du könntest dich vielleicht doch noch erinnern, wo Jake steckt? Oder willst du mir ein anderes Angebot machen?« »Ich kann nur noch mal sagen: Ich weiß nicht, wo Jake ist.« Angel zögerte, erkannte, daß sie sich jetzt auf gefährlichem Terrain befand. Fredo war zwar ein primitiver Mensch, aber sicher nicht dumm. Er würde ihr niemals abnehmen, daß sie bereitwillig Sex mit ihm haben wollte. »Es gibt nichts, was ich Ihnen geben kann«, sagte sie, »aber wenn ich sterbe, können Sie ganz sicher nicht mehr viel mit mir anfangen, meinen Sie nicht auch?« Fredos Augen wurden feucht vor Gier, und Angel unterdrückte einen Schauder. »Da hast du was Richtiges gesagt«, knurrte er. Er griff über ihren Kopf, machte irgend etwas an der Kette, und sie spürte, daß sie nachgab. Sie sank sofort nach unten, hörte, wie die Kettenglieder durch den Ring über ihr ratterten. Die Erleichterung für ihre Beine war wunderbar, aber als sie sich hinsetzte, hörte die Kette auf zu rattern und spannte sich straff an. Statt sehr aufrecht stehen zu müssen war sie jetzt gezwungen, sehr aufrecht zu sitzen. »Könnten Sie der Kette nicht noch ein bißchen mehr Spielraum geben, damit ich mich hinlegen kann?« Fredo schüttelte den Kopf. »Ein bißchen Spannung ist gut für dich, hilft dir beim Nachdenken. Ich glaube, wir beide kommen noch ins Geschäft miteinander, Süße, und ich vermische niemals das Geschäft mit dem Vergnügen. Sei ein gutes Mädchen und erzähl mir, was ich wissen will, dann kannst du dich auch hinlegen.« Angel spürte, daß ihr Tränen in die Augen stiegen. Er sah es, und eine neue, krankhafte Gier in seinem Blick drückte ihr vor Ekel die 231
Kehle zu. Er kniete sich vor sie hin. »Ein kleiner Vorgeschmack kann sicher nicht schaden.« Seine Stimme war heiser. Er grub seine Finger in ihr Haar, preßte sein Gesicht gegen ihres, seine Lippen auf ihre, biß dicht über dem Kragen in ihren Hals. Instinktiv ließ Angel alles reglos über sich ergehen, hatte Angst, das Raubtier in ihm zu wecken. Ihre Passivität schien zu wirken. Er ließ ihr Haar los, und ihr Kopf prallte gegen die Wand. »Du meinst, ich wär' ein schlechter Kerl?« zischte er. »Ich will dir sagen, wer schlecht ist. Dein Jake. Weißt du, es war nicht nur Senator Weingarten. Der war nur der einzige, den er verfehlt hat. Dein Patient hat seinen Lebensunterhalt als Profikiller verdient. Geld für eine Leiche. Soviel ich weiß, siebzehn Leichen. Vielleicht waren es auch mehr. Das nenne ich wirklich schlecht.« Alles Entsetzen, das sie bisher unter Kontrolle hatte halten können, schien sie zu überfluten. Es war also wahr. Jake war ein Mörder. Siebzehn Morde. O mein Gott! NEIN… Sie merkte, daß Fredo sie durchdringend ansah, in ihren Augen erkennen wollte, ob sie sich etwas aus Jake machte, ihn vielleicht sogar liebte, und sie wußte, wenn er das bestätigt fand, würde er alles, was sie gesagt hatte, verwerfen. Mit einer energischen Anstrengung brachte sie es fertig, ihr Gesicht ausdruckslos zu halten. Aber als Fredo gegangen war, weinte Angel, bis sie keine Tränen mehr hatte.
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22 In Bewegung
S
ie können sich jetzt aufrichten«, sagte Graham vom Fahrersitz aus. Jake hob den Kopf und schaute aus dem Rückfenster des Wagens. Die Straße hinter ihnen war dunkel und leer. »Ich will verdammt sein«, sagte Jake. »Es hat geklappt! Die Kerle scheinen kein Interesse daran zu haben, wo Sie hinfahren.« »Damit kann ich gut leben«, sagte Graham. »Und wo fahren wir jetzt hin?« Jake hatte sich das überlegt, während er auf der Rückbank lag. »Bringen Sie mich zum Krankenhaus und dort zu einem Telefon, damit ich Fredo anrufen kann.« »Warum zum Krankenhaus?« »Sie können darauf wetten, daß er über eine Anrufernummer-Identifikation verfügt. Er weiß also, von wo ich anrufe, und er soll erkennen, daß es von einer medizinischen Einrichtung aus geschieht.« »Sie sind in Sorge, daß er Ihren Anruf zurückverfolgen kann?« fragte Graham und griff in seine Jackentasche. »Dann soll er es doch damit mal versuchen.« Er reichte einen länglichen Gegenstand nach hinten. Als er ihn in die Hand nahm, erkannte Jake, was es war – ein Handy. »Großartig! Warum haben Sie mir nicht früher gesagt, daß Sie so was haben?« »Warum haben Sie nicht gefragt? Ich glaube nicht, daß es irgendeinen Arzt in unserem Land gibt, der kein Handy hat.« Das war die perfekte Lösung. Handys waren zwar kaum abhörsicherer als das Geschrei zweier Leute, die sich über eine Straße hinweg etwas zuriefen, aber wenn Jake zwischen den Anrufen das Handy abschaltete, würde Fredo ihn niemals aufspüren können. 233
Jake wußte, wie man Fredo erreichen konnte. Er wählte die Nummer von Mr. Cs Lieferfirma für Restaurantbedarf in Atlantic City. Die Aufsichtsbehörde für den Betrieb von Spielcasinos in New Jersey achtete sehr darauf, daß niemand, dem der Ruf der Verbindung zu Gangsterkreisen anhing, auch nur den kleinsten Anteil an einem Casino in AC besaß. Aber das änderte nichts daran, daß AC das profitträchtigste Zentrum der Aktivitäten der Lucanza-Familie war. Mr. C und seine Jungs sorgten dafür, daß jedes Tischtuch, jede Bettdecke, jeder Eßhappen in den Casinos von der Firma First Class Restaurant Supplies, Inc. geliefert wurde – zu stark überhöhten Preisen natürlich. Falls ein Casino nicht mitspielen wollte, ereigneten sich in seinen Räumlichkeiten alle möglichen unglücklichen Zwischenfälle – Rohrbrüche bei Gas- oder Wasserleitungen, Ausfälle von Klimaanlagen, Brände, Stromausfälle … alles schädlichere Zwischenfälle für den Spielbetrieb als das brutale Zertrümmern Hunderter von Spiegeln. Das Büro von First Class diente zugleich als Kontrollzentrum für die Aktivitäten der Lucanza-Familie auf den Gebieten des Drogenhandels und der Prostitution in Fun City, wie AC sich stolz nennt. Dort würde Fredo zu finden sein. Jake wählte die Nummer, und sofort meldete sich eine barsche Stimme: »Hallo, hier First Class.« »Geben Sie mir Fredo.« »Wen?« Die Stimme klang jetzt sehr vorsichtig. »Welchen Fredo?« »Fredo Papillardi.« Jake wußte, daß Fredo zu dieser Zeit nicht im Büro war, aber seine Leute würden sehr wohl wissen, wo und wie sie ihn erreichen konnten. »Und wer will ihn sprechen?« »Sagen Sie ihm einfach, ein Mann mit einer Brandwunde am Fuß. Und er kann mich unter dieser Nummer erreichen.« Jake gab die Nummer des Handys durch und brach das Gespräch ab. »Wird nicht lange dauern«, sagte er zu Graham. »Lassen Sie uns inzwischen meinen Jeep holen.« Die nächsten fünfzehn Minuten verbrachten sie damit, in den Jeep 234
umzusteigen und in Richtung New Jersey zu starten. Jake ließ Graham ans Steuer, während er sich überlegte, wie er mit Fredo umgehen sollte. Dieses Gespräch mußte sehr trickreich geführt werden. Seine Aussagen mußten überzeugend sein, und er durfte keinen Fehler im Ablauf machen. Das Handy zirpte, als sie die nach Westen führende Auffahrt der Verrazano Narrowa Bridge erreichten. Graham steuerte schnell eine Haltebucht an und stellte den Motor ab. Jake riß sich zusammen, damit er ja nicht losbrüllte, sobald er die Stimme des ›Wiesels‹ hörte. Er mußte kalt und leidenschaftslos bleiben. Er ließ es dreimal klingeln und drückte dann den Sprechknopf. »Hallo, Fredo.« »Jakey!« meldete sich Fredo mit aufgesetzter, falscher Jovialität. »Ich vermisse dich, Buddy! Wo zum Teufel steckst du?« »Wo zum Teufel denkst du? Im Bett natürlich … und jemand hält mir den Hörer ans Ohr.« »Das muß ja sehr unbequem sein. Gib mir deine Adresse, und wir führen ein nettes Gespräch von Angesicht zu Angesicht, wie in den guten alten Tagen.« »Und du brennst mir ein weiteres Loch in die Fußsohle? Kommt nicht in Frage. Du hättest das nicht tun sollen, Fredo.« »Hey, ich wollte dich doch nur testen.« »Habe ich den Test bestanden?« »Ja. Meinte ich zunächst jedenfalls. Aber dann habe ich einen meiner Jungs zu dir geschickt, um mich über deinen Zustand auf dem laufenden zu halten, und da warst du verschwunden. Du hast einfach die Kurve gekratzt, Jakey, und keine Nachsendeadresse hinterlassen.« Ärger klang jetzt in seiner Stimme mit. »Du hättest das nicht tun sollen.« »Hey, Fredo, ich war dir gegenüber im Nachteil. Und das mag ich gar nicht. Also habe ich die Kurve gekratzt, ja. Und jetzt habe ich mich an einem anderen Ort niedergelassen.« »So? Wo?« Jake zwang sich zu einem Lachen. »Ha-ha-ha. Das ist mein Ge235
heimnis. Ich habe dich nur angerufen, um dir zu sagen, daß es ein großer Fehler von dir war, mich so zu behandeln.« »Was? Du winselst immer noch wegen diesem kleinen ZigarettenTest rum? Du tätest besser…« »Nein, Fredo. Es geht nicht um diese kleine Sache. Ich meine die große vom vorigen Jahr.« »Jetzt wart' mal einen verdammten Moment! Ich hatte nichts damit…« »O doch, Fredo«, sagte Jake leise. »Und jetzt ist die Zeit gekommen, dir das zurückzuzahlen.« »Da fang' ich aber an zu zittern!« Das Lachen klang gezwungen. »Du kannst höchstens in deine Windel scheißen!« »Natürlich kann ich mir dich nicht persönlich vorknöpfen. Aber ich hab' ja ne ganze Menge Geld. Ich werde notfalls alles für meine Rache an dir ausgeben. Ich kaufe mir ein paar gute Leute – ein paar Dominikaner, ein paar Kolumbianer, alles Typen, die sowieso ein Stück von eurem Kuchen haben wollen –, und die setze ich auf dich an.« »Tatsächlich? Als ob du mich vorher warnen würdest…« Jetzt kam der schwierige Teil. Er würde das Gespräch abrupt abbrechen. »Oh, ich will, daß du es weißt, Fredo. Ich will, daß du dauernd über deine Schulter schaust. Und ehe du verreckst, will ich dich auf dem Boden rumkriechen sehen. Du wirst schlecht aussehen, bevor du dich schlecht fühlst. Es kommt auf dich zu, Fredo. Mach's gut.« Er drückte auf den ›Ende‹-Knopf, lehnte sich zurück – und betete… Graham starrte ihn an. »Was um Himmels willen machen Sie denn da? Sie haben nichts rausgefunden über…« »Warten Sie's ab – und hoffen Sie wie ich, daß er gleich wieder zurückruft. Und was auch immer Sie mich dann sagen hören – egal was! –, geben Sie ja keinen Ton von sich.« Das Handy zirpte wieder. Jake schloß die Augen und biß sich auf die Oberlippe. Es hatte geklappt. 236
Er wartete diesmal nur zwei Ruftöne ab, drückte auf den Sprechknopf und sagte: »Du wirst meine Meinung nicht ändern, Fredo. Und damit Schluß jetzt.« »Hey, warte doch!« sagte Fredo. »Willst du nichts über das Mädchen wissen?« »Welches Mädchen?« »Deine Freundin! Willst du nicht wissen, wie's ihr geht?« »Was soll das, Fredo? Schluß jetzt…« »Deine Krankenschwester, du Arschloch! Angel Wie-auchimmer.« »Angel?« Jake hielt nur mühsam seine Stimme unter Kontrolle. »Was ist mit ihr?« »Sie ist, ähm, zu Besuch bei mir.« Guter alter Fredo – immer in Sorge, abgehört zu werden. »Hat ihr Onkel es dir nicht gesagt?« »Das ist doch unwichtig. Jedenfalls ist es mir ein Rätsel, warum du meinst, du würdest ein Druckmittel gegen Graham brauchen…« »Nicht gegen Graham, du Blödmann – gegen dich.« »Gegen mich? Das kapier' ich nicht, Fredo.« »Red keinen Scheiß, Mann. Ich weiß, daß du scharf auf sie bist.« »Scharf auf sie? Die Zeiten, als ich scharf auf Frauen war, sind für mich vorbei. Sie war gut zu mir, und der Gedanke, es könnte ihr was Böses zustoßen, gefällt mir nicht, aber ich kenne dich, Fredo. Sie ist wahrscheinlich schon längst Fischfutter. Was soll das also?« »Nein, hör zu, es geht ihr gut. Wenn du willst, kannst du mit ihr sprechen.« »Dann gib sie mir mal.« »Sie ist im Moment nicht hier. Sie ist in einem der Casinos, aber ich kann es regeln, daß sie dich anruft. Noch besser, sie kommt dich besuchen. Sie will dich sehen. Und ich weiß, daß du sie auch gern sehen willst.« »Ich will dir sagen, was ich will«, sagte Jake und ließ jetzt seinen echten Emotionen freien Lauf, »ich will deinen Kopf haben. Das ist alles, was ich vom Leben noch erwarte. Du hast mich vom Hals abwärts zur Leiche gemacht, und jetzt werde ich dich vom Hals auf237
wärts zur Leiche machen lassen. Und wenn man mir deinen Kopf gebracht hat, wird mein Leben vollendet sein. Ich werde mich von meinen Leuten in einen Sessel setzen und mir deinen Kopf in den Schoß legen lassen, und dann wird mir einer der Jungs eine Kugel in den Schädel jagen. So wird man dich finden, Fredo – und so wird man sich an dich erinnern: mit dem Gesicht nach unten auf Jake Nachts Schoß.« Er unterbrach die Verbindung, schaltete das Handy aus und lehnte sich zurück. Er schwitzte. »Sind Sie denn total übergeschnappt?« schrie Graham. Er fuhr los und raste mit sechzig Meilen schlingernd die Auffahrt zur Interstate 278 hinauf. »Passen Sie auf, daß wir nicht in den Graben fahren«, sagte Jake. Graham ging ein wenig vom Gas, schrie aber weiter: »Das war absolut idiotisch! Sie haben ihn absichtlich provoziert! Weiß Gott, was er Angel jetzt antut!« »Bleiben Sie ganz ruhig, Doc. Wir wissen jetzt, daß sie noch lebt, und…« »Sie wird nicht mehr lange leben, und Sie sind schuld daran! Warum um Himmels willen haben Sie das getan?« »Um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.« Jake mußte sich Mühe geben, geduldig zu bleiben. »Sehen Sie, Fredo weiß jetzt nicht mehr, was er denken soll. Bluffe ich ihn nur, oder habe ich tatsächlich ein paar Scharfschützen auf ihn angesetzt? Er wird sich in seine Wagenburg zurückziehen, aber er wird sich nicht wohl dabei fühlen. Es gefällt ihm nicht, den Eindruck zu erwecken, er würde sich aus Angst vor einem Krüppel in die Hose scheißen, aber man kann erwarten, daß er voll damit beschäftigt ist, seinen Schutz zu organisieren, und deshalb Angel zunächst einmal nicht viel Aufmerksamkeit schenken kann. Ich habe sie sozusagen aus dem Mittelpunkt seiner Überlegungen genommen. Er kann es kaum glauben, daß ich nichts für Angel fühle, aber er ist sich nicht sicher, und diese Zweifel werden seinen Plänen, Angel als Druckmittel zu benutzen, um an mich ranzukommen, zunächst einmal die Grundlage nehmen. 238
Aber er wird sie sich in der Hinterhand behalten, und zwar lebend, machen Sie sich da keine Sorge. Er ist zu clever, um diese Option zum jetzigen Zeitpunkt aufzugeben.« »Das hoffen Sie.« Grahams Stimme hatte inzwischen ein wenig an Lautstärke verloren. »Ich kenne Fredo – verdammt besser, als ich möchte, auf jeden Fall aber besser als Sie. Ich sage Ihnen, er wird Angel nicht töten – noch nicht.« Jake wünschte, er könnte sich so sicher sein, wie er klang. »Noch nicht«, wiederholte Graham. »Das ist keinesfalls beruhigend. Was meinen Sie denn, wie lange Sie diesen Bluff aufrechterhalten können?« »Wer sagt denn, es sei ein Bluff? Und es gibt keine schlechte Lage, die nicht noch schlimmer werden könnte – ich werde mich gegen Angel eintauschen.« Seine eigenen Worte erschreckten ihn. Woher hatte er das denn genommen? Und dennoch, er hatte es ernst gemeint. Er würde es tun. Mein Gott, es war verrückt – genauso verrückt wie die Tatsache, daß er sich in Angel verliebt hatte. Würde er sich tatsächlich den Händen des Mannes überlassen, den er mehr haßte als jeden anderen, es zulassen, daß dieser Mann ihn folterte, sich an seinen Qualen weidete und ihn dann tötete? Ja. Er würde es tun. Ohne Zweifel. Erstaunlich – und beängstigend. Graham starrte ihn an. »Sie würden Ihr Leben für das von Angel opfern?« Jake zuckte mit den Schultern. »Warum nicht?« Der prüfende Blick Grahams war ihm unangenehm. Wieso war ihm plötzlich die Rolle des Helden zugefallen, der bereit war, sein Leben für einen anderen Menschen zu opfern? Er war kein Held. Es war einfach nur so, daß er es nicht zulassen konnte, daß Angel etwas Böses geschah. Der Jeep begann wieder leicht zu schlingern. »Ich werde gar nichts unternehmen können, wenn Sie mir wieder das Genick brechen. Ich meine, ich möchte lebend aus Staten 239
Island rauskommen, okay?« Graham konzentrierte sich wieder auf die Straße und nahm die Abfahrt zum West Shore Parkway. »Wieso kommen Sie auf so eine Idee… Ein Mann wie Sie?« »Ist mir selbst ein Rätsel«, sagte Jake trocken. »Vielleicht liegt es daran, daß Sie so verzweifelt sind, und ich bin nun mal die einzige Hoffnung für Angel.« »Es gibt immer noch die Polizei…« »Vergessen Sie die Polizei, ich bitte Sie noch mal darum. Ich sagte Ihnen schon, sobald Sie anrufen, erfährt Fredo davon.« »Auch in Atlantic City?« »Ganz speziell in AC.« »Aber was geschieht mit Angel, wenn Ihr Plan nicht funktioniert?« »Oh, ich werde dafür sorgen, daß er funktioniert. Ich werde ihn in die Tat umsetzen. Und früher oder später wird er uns dann zu Angel führen.« Graham schwieg eine Weile, überließ Jake den Gedanken, wie er weiter vorgehen sollte. Der Plan, sich selbst gegen Angel einzutauschen, stand ziemlich weit unten auf seiner Prioritätenliste – als Plan X. Plan A war, zusammen mit Angel ungeschoren aus AC wegzukommen. Er fragte sich, ob es eine echte Chance dafür gab. Seine Beine schienen wieder in Ordnung zu sein, aber ihr Versagen beim Hochklettern an den Wänden beunruhigte ihn doch sehr. Handelte es sich um eine ›neuronale Ermüdung‹, wie der Doc diagnostiziert hatte, oder war es etwas anderes? Etwas Schlimmeres? Ein regelrechter Zusammenbruch, der ihn wieder ans Bett fesseln konnte…? »Sie werden Hilfe brauchen«, sagte Graham, als sie gerade Outerbridge Crossing hinter sich ließen und nach New Jersey einfuhren. »Ich meine, wenn Sie Fredo davon überzeugen wollen, daß Sie wirklich ein paar Leute für den Kampf gegen ihn angeheuert haben…« »Darüber habe ich gerade nachgedacht – wie ich mich in ein paar Männer aufteilen kann.« »Ich werde Ihnen helfen.« 240
Jake sah zu Grahams spitzem Gesicht hinüber. Der Arzt starrte verbissen durch die Windschutzscheibe, und das Licht der Straßenlampen spiegelte sich in den Gläsern seiner Drahtbrille. »Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen, wie?« »Ich meine es ernst. Ich will es tun. Angel ist für mich mehr als eine Nichte. Ich betrachte sie fast als meine Tochter. Wie kann ich jemals meiner Schwester wieder in die Augen schauen – zum Teufel, wie kann ich jemals wieder mit mir selbst klarkommen, wenn ich nicht alles tue, um sie aus dieser Lage zu befreien?« »Können Sie schießen?« »Ich sagte Ihnen schon, ich war in Vietnam. Und was ist schon dabei – man zielt, drückt den Abzug durch…« »Und sollte natürlich dann das Ziel auch treffen. Haben sie in letzter Zeit mal Schießübungen gemacht?« »Nein, aber…« »Kein aber. Vergessen Sie's. Sie würden mir nur im Weg sein.« »Ich kann einen Abzug durchdrücken, verdammt noch mal! Dazu braucht man kein besonderes Geschick oder besondere Übung. Schauen Sie sich doch die Idioten an, die auf unseren Straßen rumlaufen und aufeinander schießen. Was für eine Ausbildung brauchten sie dazu? Was die können, kann ich auch. Wenn ich was treffe, um so besser. Aber selbst wenn ich nichts treffe, ich kann immer noch für eine Menge Krach sorgen. Ich kann als einer der Killer auftreten, die sie auf Fredo angesetzt haben. Er wird dann glauben müssen, daß Sie tatsächlich ernst machen.« Jake dachte darüber nach. Gar keine schlechte Idee. Mit Graham konnte er Fredo von zwei Seiten angreifen. Ihn wirklich in Angst versetzen. »Eigentlich eine recht gute Idee, Doc. Vielleicht können Sie mir bei einem Scheinangriff helfen – Sie ballern von der einen Seite los, ich von der anderen –, und dann verschwinden wir schleunigst wieder. Zuschlagen und abhauen. Viel Krach, wenig Präzision. Genau das Gegenteil von dem, was Fredo von mir erwartet.« »Wie ich Ihnen schon mal gesagt habe, ich verfüge über ein gut 241
funktionierendes Gehirn.« »Und es ist eine schlechte Sache, ein solches Gehirn aufs Spiel zu setzen.« Jake unterbrach sich. Er wollte nicht, daß Graham die Angelegenheit zu leicht nahm. »Fredos Leute werden zurückschießen. Ich hoffe, Sie sind sich darüber im klaren.« Graham warf ihm einen schnellen Blick zu, schaute dann wieder auf die Straße. Er atmete tief durch. »Wollen Sie es immer noch?« fragte Jake. Graham nickte. Jake war im Zweifel über den Doc. Konnte er sich darauf verlassen, daß er tatsächlich den Abzug drückte, auf einen Menschen schoß, wenn sich die Notwendigkeit dafür ergab? Oder würde er in einer solchen Situation versagen und dann selbst getötet werden? Es wäre eine Schande, wenn einer von Fredos Jungs dieses medizinische Genie auslöschen würde. Aber wenn das dazu beitrug, Angel zu retten… Bin ich, fragte sich Jake, wirklich bereit, den Doc für Angel zu opfern? Theoretisch ja, lautete die Antwort.
23 Laden und Sichern…
J
ake gähnte und schaute in der Dunkelheit auf die Leuchtziffern seiner Uhr. Achtundzwanzig lange Stunden waren vergangen, seit er von Angels Entführung erfahren hatte. Graham neben ihm auf dem Fahrersitz sah auf die Pistole in seiner Hand hinunter. 242
»Haben Sie nicht gesagt, Sie hätten ›eine kleine Waffensammlung‹?« fragte Graham. »Ich würde eher sagen, es ist ein kleines Waffendepot.« »Was soll ich da antworten, Doc? Ich bin von Natur aus bescheiden.« Graham schüttelte den Kopf. »Ich kann immer noch nicht glauben, daß ein einzelner Privatmann sich eine solche Ansammlung von Feuerkraft zulegen darf. Ich meine, wir haben doch Gesetze, die…« Jake mußte lachen. Diese braven Bürger waren wirklich zum Schreien naiv. »Die Gesetze hindern Sie daran, Waffen zu kaufen. Aber nicht mich. Dabei habe ich nie auch nur eine einzige Patrone bei einem lizensierten Waffenhändler gekauft. Ich will auf keinen Fall zu mir führende Spuren in einem Waffenladen hinterlassen.« »Großartig«, knurrte Graham verdrossen. »Sie können es Waffenkontrolle nennen, wenn Sie wollen, aber ich nenne es Entwaffnung der potentiellen Opfer – denn wenn das so weitergeht, werdet nur ihr gesetzestreuen Bürger nicht mehr an Waffen rankommen.« »Schließt das auch frustrierte Postbeamte ein?« Jake starrte ihn erstaunt an. Der Mann hatte doch tatsächlich einen Witz gemacht! »Für diese Bemerkung dürfen Sie sich eine Eins gutschreiben, Doc.« Er gähnte erneut – ein schwerer Tag lag hinter ihnen. In den frühen Morgenstunden hatten sie sich ein Zimmer in einem namenlosen Motel an der Route 9 südlich von Absecon genommen und sich hingelegt, aber er hatte nur schlecht schlafen können. Danach war er mit Graham zu seinem Waffenversteck in den Pine Barrens gefahren – einem großen Fiberglasbehälter mit Sarges Waffensammlung, den er tief in den Wäldern vergraben hatte. So tief in den Wäldern, daß er den Platz nur mit Hilfe seines GPS-SatellitenOrientierungsgerätes wiedergefunden hatte. Er hatte Graham eine Glock-Pistole gegeben, ihm die Handhabung erklärt und ihn Übungsschüsse abfeuern lassen. Der Mann war ein 243
großartiger Neurochirurg, aber mit ziemlicher Sicherheit der schlechteste Schütze, der Jake je über den Weg gelaufen war. Wenn man ihn in den Wäldern aussetzte und mit Jakes gesamtem Waffenarsenal plus einem unbegrenzten Munitionsvorrat ausstattete, würde er dennoch den Hungertod sterben. Aber er gab sich Mühe, das mußte man ihm zugestehen. Und nach mehreren Magazinen mit je fünfzehn 9mm-Patronen verlor er zumindest die Angst vor dem Knall und dem Rückstoß der Waffe. Der nächste Schritt hatte darin bestanden, einen fahrbaren Untersatz für ihr Vorhaben zu beschaffen. In AC herrschte daran kein Mangel. Die Casinos hatten mehrstöckige Parkhäuser für die Wagen ihrer Besucher aus New York, Philly, Wilmington, Baltimore und dem District of Columbia gebaut. Es war kein Problem gewesen, sich einen Wagen ›auszuborgen‹. Zwischen den Hits hatte Jake sich immer wieder in der hohen Kunst des Autodiebstahls geübt. Man konnte ja nie wissen, ob man nicht schnell mal einen Wagen brauchte. Es dauerte nur eine Minute, um die Wagentür aufzubrechen, den Anlasserzylinder rauszureißen, durch den mitgebrachten eigenen zu ersetzen, und Bingo! – man hatte ein neues Auto. Nun ja, diesmal nicht ›neu‹ im üblichen Sinn. Jake hatte sich ein älteres Modell ausgesucht, einen 1985er Riviera, weil er – zu Recht, wie sich herausstellte – davon ausging, daß dieser Wagen keine Alarmanlage hatte. Jetzt saßen sie in diesem Wagen zwei Blocks vom Büro der Firma First Class Restaurant Supplies entfernt und warteten. First Class lag an der Mediterranean Road im vornehmlich von Schwarzen bewohnten Nordwesten ACs, zwischen dem Eisenbahn-Terminal und dem White Horse Pike. Ein Gemisch aus Lagerhäusern, Großhandelsgeschäften, heruntergekommenen Reihenhäusern, Bars – wie in der Bronx, aber reduziert auf die Höhe von zwei Stockwerken. »Wieso sind Sie so sicher, daß er hier auftaucht?« fragte Graham. »Fredo? Oh, er wird kommen. First Class ist der Ort seiner Geschäfte, und er muß die Dinge in der Hand behalten. Wenn er was vermasselt, 244
tritt ihm Mr. C in den Arsch, Neffe hin, Neffe her.« In diesem Moment fuhr Fredos Limousine vor dem Eingang des First-Class-Gebäudes vor. »Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Jake. Die Limousine hielt vor dem Eingang an. Vito Cangemi stieg aus, dann folgte Fredo. Die beiden gingen über den Bürgersteig, Cangemi hielt Fredo die Eingangstür auf, dann verschwanden sie im Gebäude. Die Limousine fuhr wieder los. »Entschuldigen Sie den Befehlston«, sagte Jake, »aber folgen Sie diesem Wagen.« »Warum? Fredo ist doch im Büro.« »Wir wollen nichts von Fredo. Noch nicht. Aber es wird Zeit, daß wir unsere Anwesenheit demonstrieren.« Graham startete den Motor des Riv und bog in die Mediterranean ein. »Bleiben Sie dicht hinter ihm«, sagte Jake und kletterte auf die Rückbank. »Machen Sie sich bereit, neben der Limousine aufzufahren, wenn ich es sage.« Er ging davon aus, daß der Fahrer des Wagens entweder ein paar Runden drehen oder ein Café ansteuern würde, bis man ihn über einen Funkruf-Pager zurückbeordern würde. Sehr clever von Fredo; die vor dem Eingang von First Class geparkte Limousine wäre wie ein Neonschild, das flackernd verkündet: Ich bin hier! … Ich bin hier! Die Limousine bog rechts in die South Carolina Avenue ein. Sah aus, als ob sie zum White Horse Pike gesteuert würde. Das wäre nicht gut. Zu viele Autos dort. Aber der Wagen bog wieder ab, in die North Carolina Avenue, und fuhr zurück in Richtung Mediterranean. Fuhr der Chauffeur nur einen großen Kreis? Vielleicht hatte Fredo nicht vor, lange im Büro zu bleiben. Wenn es so war, mußte Jake seine Aktion in den nächsten Sekunden starten. Er zog die Decke von der Ingram-Mac-10 auf dem Sitz neben sich, führte das 30-SchußMagazin ein und lud durch. Primitive Waffe, diese Maschinenpistole. Setzte keinerlei besonderes Geschick voraus. Das Schießen da245
mit war wie das Sprühen mit einem Wasserschlauch – und ungefähr so treffsicher. Aber die Kolumbianer mochten diese Dinger, und Fredo war das sicher bekannt… »Maske aufsetzen, Doc«, befahl Jake. Er streifte seine Skimaske über, richtete die Augenschlitze aus und vergewisserte sich, daß Graham seine Maske übergezogen hatte. Alles okay… Er schaute sich um. Dieser Teil der North Carolina Avenue war hauptsächlich von Lagerhäusern gesäumt, und außer den beiden Wagen war kein anderes Fahrzeug zu sehen. »Okay, es ist soweit. Fahren Sie neben ihm auf!« Während Graham Gas gab und den Wagen neben die Limousine setzte, ließ Jake das Fenster herunter, lehnte sich hinaus und eröffnete das Feuer. Die Mac-10 röhrte los, bebte in seinen Händen, und die hinteren Seitenfenster der Limousine zersplitterten in zahllose Scherben, die in einem glitzernden Kondenzstreifen hinter dem Wagen herwehten. Jake feuerte zwei Salven von je einer Sekunde seitlich in das Polster der Rückbank, die Minibar, den kleinen Fernsehschirm und achtete darauf, den Fahrer nicht zu treffen. Dann war das Magazin leer. Die Limousine schlingerte und prallte gegen die am Bordstein abgestellten Wagen. »Abhauen!« schrie Jake Graham zu. Graham gab Gas, und Jake lehnte sich aus dem Fenster und zeigte dem Fahrer der Limousine noch schnell den Stinkefinger, ließ mit dieser Demonstration keinen Zweifel daran, daß nicht nur ein einzelner Mann diese Attacke durchgeführt hatte. »Ich … ich kann es nicht glauben, daß ich bei … bei so was mitmache!« keuchte Graham, während Jake sich wieder auf den Sitz fallen ließ und den Fensterheber betätigte. »Doch, Doc, Sie können es glauben«, sagte er. »Ich muß total verrückt sein! Man könnte mich verhaften! Ich würde meine Approbation verlieren!« »Sie könnten bei so was auch Ihr Leben verlieren, Doc.« »Ja«, sagte Graham leise. »Ich könnte auch getötet werden. Und wofür? Was wollten Sie denn mit dieser Ballerei bezwecken?« 246
»Es beweist, daß Jake Nacht nicht geblufft hat, als er sagte, er hätte ein paar Leute auf Fredo angesetzt.« »Na gut, aber Fredo war ja gar nicht in der Limousine. War das dann nicht ziemlich dumm?« Jake legte die Ellbogen auf die Rückenlehne des Vordersitzes. »Doc, es spielt keine Rolle – die Revolvermänner, die wir eben gespielt haben, scheinen tatsächlich ziemlich dumm zu sein, aber Fredo wird trotzdem vor Wut fast aus der Haut fahren. Er wird wahrscheinlich große Töne spucken und lachend rumtönen, wie doof diese Leute – wir – sind, aber er wird sich auch anschauen können, was dreißig Stahlmantelgeschosse vom Kaliber .45 an dem Platz angerichtet haben, auf dem er wenige Minuten vorher noch gesessen hat. Er wird ganz schön Schiß in der Hose haben. Und er wird noch mehr Schiß kriegen, wenn wir ein paar weitere stümperhafte Attacken starten. Seine Angst wird so groß werden, daß er sich an einen Ort zurückzieht, an dem er sich sicher fühlt.« »An den Ort, wo er Angel festhält?« »Sie haben es erfaßt.« »Und was dann?« »Dann ist es vorbei mit den stümperhaften Attacken. Dann machen wir Ernst.« Jake schaltete das Handy ein, sobald sie zum Jeep zurückgekehrt waren. Schon ein paar Minuten später kam der Anruf. »Hallo?« meldete sich Jake. Ein Strom englisch-italienischer Obszönitäten ergoß sich aus der Hörmuschel. Jake wartete, bis Fredo sich ausgetobt hatte. Und sagte auch dann noch nichts. Das war anscheinend zuviel für Fredo. »Hey, du Arschloch!« schrie er. »Hast du mich verstanden?« »Fredo, bist du das?« fragte Jake sanft. »Ich freue mich kein bißchen, deine Stimme zu hören.« Fredo lachte, aber es klang gezwungen. Wahrscheinlich hatte er bei dem Anruf eine Zuhörerschaft um sich versammelt. »So? Das 247
kann ich mir vorstellen. Deine Jungs haben miserable Arbeit geleistet, Jakey. Total beschissene Arbeit. Was hast du denn da für Amateure angeheuert? Einen Haufen blutiger Anfänger, würd' ich sagen.« Wieder ein Lachen. »Ich nehme an, du hast sie geschnappt, oder?« Fredo gab keine Antwort. »Du hast sie geschnappt, nicht wahr, Fredo? Denn wenn es nicht so ist, mußt du sehr bald mit einem nächsten Besuch von ihnen rechnen. Vielleicht noch heute abend.« »Niemand springt so mit mir um, Nacht! Wenn ich dich in die Finger kriege…« »Was machst du dann? Mir die Beine brechen? Mir die Finger abschneiden? Ich würde nichts davon spüren. Du mußt dir schon was anderes ausdenken, irgendwas Schlimmeres als das, was du bereits mit mir angestellt hast, Fredo.« Fredo reagierte nicht, also fuhr Jake fort – und genoß es. »Wie fühlst du dich, Fredo? Ich weiß, wo du bist, aber du kannst mich nicht finden. Ich kann dir an den Kragen, aber du kannst mir kein Härchen krümmen. Du bist Geschäftsmann, hast eine bestimmte Reputation, ein Familienleben … viel zu verlieren, Fredo. Ich aber habe gar nichts zu verlieren.« »Du kannst dein Leben verlieren, Nacht!« »Darauf bin ich ja aus. Ich sehne mich geradezu danach. Das habe ich dir doch schon gesagt. Und ich habe dir auch gesagt, wie ich mir meinen Tod vorstelle, nicht wahr?« »Deine Freundin würde sicher gerne noch ein paar Jahre leben«, sagte Fredo. »Hast du darüber mal nachgedacht?« Jake schloß die Augen, und er mußte sich anstrengen, seine Stimme ruhig zu halten. Danke Fredo, daß du das Thema von dir aus aufgebracht hast. »Ich nehme an, du redest von Angel.« Graham auf dem Nebensitz richtete sich ruckartig auf, als er den Namen hörte. »Du willst mir sicher sagen, daß sie noch am Leben ist.« »Am Leben und wohlauf.« 248
Gnade dir Gott, wenn es nicht so ist, dachte Jake. Wie sollte er sich jetzt verhalten? Zeigen, daß ihm Angels Schicksal durchaus ein wenig am Herzen lag – oder gar keine Regung zeigen? Ein wenig … er mußte ein klein wenig Anteilnahme zeigen… »Sie war gut zu mir, Fredo, und ich bin kein herzloser Mensch. Wenn sie tatsächlich noch am Leben ist, könnte ich mir denken, daß du für ihre Freilassung was einhandeln kannst.« Wieder ein Lachen – greller, natürlicher als vorher. »So! Du hast also Interesse an ihr! Das hab' ich doch gewußt!« »Schraub deine Hoffnungen nicht zu hoch, Fredo. Wenn ich erfahre, daß sie zurück in der Klinik in Brooklyn ist, könnte ich mich dazu durchringen, auf deinen Kopf in meinem Schoß, Gesicht nach unten, zu verzichten und dich einfach nur umlegen lassen. Aber rechne nicht damit, daß du dir dein Leben gegen ihres erkaufen kannst. Du kannst dein Leben gegen nichts erkaufen, Fredo. Dein Leben gehört mir. Ich will es haben, und ich werde es bekommen. Mach's gut…« Jake unterbrach die Verbindung und schaltete das Handy aus. Keine Gespräche mehr mit Fredo heute. Laß ihn schmoren. »Glauben Sie wirklich, daß sie noch lebt?« fragte Graham. Jake nickte. »Dieser Teil über Angels Freilassung – das haben Sie gut gemacht.« Jake hob die Augenbrauen. »War das ein Kompliment?« »Ja…« Graham schien genauso erstaunt zu sein wie Jake. »Ja, ich glaube, es war tatsächlich als Kompliment gemeint.« »Donnerwetter!« »Dieses Erstaunen teile ich… Aber im Ernst, am Telefon eben haben Sie genau die richtige Balance gehalten. Sie haben ihm gerade genug Futter gegeben, daß er weiterhin auf der Hoffnung rumkauen kann, Angel wäre als Druckmittel zu benutzen… Nicht genug, um sicher zu sein, er könnte Angel gegen Sie eintauschen, aber doch genug, um es als Vorteil für sich anzusehen, wenn er sie am Leben läßt.« 249
»Richtig – und wir müssen weiterhin die Oberhand behalten. Dürfen Fredo nicht einmal ein Zehntel davon wissen lassen, wieviel Angel mir bedeutet… Wenn er es rausbekäme, wäre er plötzlich am Drükker.« Er merkte, daß Graham ihn aufmerksam ansah. »Sie machen sich wirklich was aus ihr, nicht wahr?« fragte er. »Ja«, bestätigte Jake, und wieder einmal fühlte er sich durch Grahams prüfenden Blick unangenehm berührt. »Sie meinen also auch, es hätte funktioniert?« Graham rieb sich die Augen und seufzte. »Ich bete, daß es so ist. Denn wenn es nicht so ist, wäre alles umsonst.« »Nicht ganz, Doc. Ich meinte, was ich sagte… Aber wie auch immer, Fredo wird sterben.« »Haben Sie nicht gesagt, Sie wären ein anderer Mensch geworden?« »Ich bin ein anderer Mensch. Aber ich kann das Leben dieses veränderten Mannes nicht leben, solange Fredo ihm im Weg steht. Die Konsequenz ist sehr einfach: Fredo muß sterben.«
24 Tricks
S
tatt nach der Attacke auf Fredos Limousine zurück ins Motel zu fahren, klaute Jake einen weiteren Wagen – einen ziemlich heruntergekommenen Honda Accord. Graham und er fuhren getrennt nach Norden, Jake im Honda, Graham im Jeep. Sie ließen den Jeep in Jersey City stehen und fuhren mit dem Honda in den Süden Manhattans. In den frühen Morgenstunden umkreisten sie den Fulton Fish Market, bis Jake einen Lastwagen der Firma First Class sichte250
te. Das war das Problem der Gangster, wenn sie sich als legitime Geschäftsleute ausgaben – sie mußten auch nach außen hin zeigen, daß sie legitime Geschäfte betrieben. Sie warteten, bis der Lastwagen beladen war, und folgten ihm dann durch den fast leeren Holland Tunnel. Als der LKW die langgestreckte Rampe zur Mautstation hochfuhr, durchsiebte Jake mit der Mac10 seinen Aufbau und die Hinterreifen. Der LKW schleuderte hin und her, kam schließlich zum Stehen, aber Jake schoß weiter. Er sah, daß der Fahrer und der Beifahrer auf der anderen Seite aus der Kabine sprangen und irgendwo in Deckung gingen. »Halten Sie neben der Fahrertür«, befahl er Graham. Als der Honda neben der Tür mit dem zersplitterten Fenster auffuhr, zündete Jake eine Magnesiumfackel und warf sie in die Kabine. »Abhauen!« rief Jake, und Graham raste die Rampe hinauf. Kurz vor dem höchsten Punkt der Rampe schaute Jake zurück. Flammen schlugen aus den Fenstern der Fahrerkabine. »Kratzer Nummer eins an Fredos rollenden Liefergütern.« Als Jake den Jeep auf den Parkplatz des Motels steuerte, war die Sonne schon seit einer Stunde aufgegangen. Den Morgen über versank er in einen unruhigen Halbschlaf, und wenn er aufwachte, sah er jedesmal, daß Graham nicht schlafen konnte. Der Mann fand offensichtlich keine Ruhe, warf sich unaufhörlich im Bett hin und her, und als Jake einmal von leisen Schritten geweckt wurde, sah er durch den kleinen Spalt der geöffneten Lider, daß Graham in dem engen Raum zwischen dem Fußende des Bettes und der Wand hin- und herlief. Das war kein gutes Zeichen, aber Jake wußte, daß es nichts bringen würde, wenn er an ihm herumnörgelte oder ihm gut zusprach. Man konnte ja auch nicht erwarten, daß der Mann nach so aufregenden Tagen die Gnade des Schlafes fand. Nach Sonnenuntergang beschaffte Jake einen neuen Wagen – ei251
nen 1988er Oldsmobile Ciera –, und mitten in der Nacht, um zwei Uhr, fingen sie an, auf der Stadtautobahn von AC herumzukreuzen. Sie fanden kein Zielobjekt, also fuhr Jake zum nach Norden führenden Parkway. Schon nach wenigen Minuten stießen sie auf das gesuchte Opfer. Vor ihnen auf der rechten Fahrspur fuhr wieder einer der Lieferwagen der Firma First Class Restaurant Supplies, offensichtlich auf dem Weg, irgendwo Nahrungsmittel abzuholen – entweder in Hunt's Point oder in Fulton. Spielte aber keine Rolle. Der Wagen würde dort nicht ankommen. Jake schloß zu dem LKW auf. »Man wird uns erwischen«, jammerte Graham vom Rücksitz. »Wir können so was nicht dauernd machen, ohne irgendwann einmal erwischt zu werden.« »Wer könnte uns erwischen? Cops von der Staatspolizei? Ich glaube nicht, daß Fredo Wert darauf legt, daß sie in seinen Geschäften rumschnüffeln. Er transportiert mehr als Fisch und Gemüse in diesen Lastwagen.« »Sie fahren aber Streife auf dem Parkway. Ich habe sie schon oft gesehen.« »Natürlich. Aber sie sind hinter Leuten her, die die vorgeschriebene Geschwindigkeit überschreiten. Entspannen Sie sich, Doc. Sie sind übermüdet, haben heute nacht wahrscheinlich zu wenig geschlafen.« »Ich bin mehr als übermüdet. Ich bin todmüde.« »Ja, wir haben anstrengende vierundzwanzig Stunden hinter uns, nicht wahr?« Jake schaute kurz über die Schulter, sah Graham an, und er versuchte sich seine Besorgnis nicht anmerken zu lassen. Der Mann war wie eine überdrehte Uhr. Über kurz oder lang würde er nur noch ein Nervenbündel sein. Zusammenfahren, wenn man ihn ansprach… Aufschreien und gegen die nächste Wand rennen, wenn man ihm von hinten auf die Schulter klopfte… Der Doc war für solche Unternehmen nicht geschaffen. Aber er riß sich zusammen, und man mußte seine Haltung insgesamt bewundern. Hoffentlich hielt er ohne Nervenzusammenbruch durch, bis sie Angel fanden. 252
»Hören Sie zu«, sagte Jake, »wir kümmern uns noch um diesen Lastwagen da, dann betrachten wir diese Phase der Operation als beendet. Wir fahren zurück zum Motel und nehmen eine große Mütze voll Schlaf.« »Und was dann?« »Morgen starten wir Phase drei.« »Wie sieht die aus?« »Ich habe den Plan noch nicht vollständig ausgearbeitet.« In Wirklichkeit wußte Jake genau, wie Phase drei ablaufen sollte, aber er wollte nicht, daß Graham sich zu früh aufregte… Jake schaute in den Rückspiegel. Kein Wagen hinter ihnen in Sicht. Er ging auf die Überholspur. Auch vor ihnen nur zwei leere Asphaltbänder. Was man zu dieser frühen Morgenstunde auch erwarten konnte. »Okay, wir machen das so: Sie schießen auf die Reifen, ich ballere ein paar Schuß in den Laderaum, und dann hauen wir ab. Alles klar?« »Okay.« Grahams Stimme zitterte ein wenig. »Alles klar.« »Konzentrieren Sie sich. Sie müssen wenigstens einen der Reifen treffen.« »Ich sagte: Alles klar! Bringen wir es endlich hinter uns!« O ja, dachte Jake. Die Spiralfeder des Mannes ist bis zum Anschlag gespannt. Er wünschte, Graham säße hinter dem Steuer und nicht er, aber er hatte nicht viel Vertrauen in die Hochgeschwindigkeits-Fahrkünste seines Partners. Der Plan war, ein paar Löcher in den Lastwagen zu donnern, einen oder zwei Reifen zu zerschießen und dann davonzurasen, bis zur nächsten Ausfahrt, wo sie auf dem Parkplatz eines Kinozentrums den Jeep abgestellt hatten. Alles hing vom richtigen Timing ab. Wenn sie die Ausfahrt verpaßten, würden sie meilenweit nicht vom Parkway abbiegen können, und dann waren sie leichte Beute für Troopers von der Staatspolizei, die über Funk etwas von einem nach Norden fahrenden Ciera hörten, der auf einen Lastwagen geschossen hatte. 253
Grahams Schießkünste waren minimal, aber Jake würde so nahe an die Reifen heranfahren, daß selbst er sie nicht verfehlen konnte – mit der Glock-Pistole. Jake hielt nichts davon, ihm die Mac10-Maschinenpistole anzuvertrauen. »Okay«, sagte Jake. »Auf geht's. Laden Sie durch und machen Sie sich bereit!« Er hörte, wie Graham das Gleitstück der Pistole zurückzog, es losließ und damit eine Patrone aus dem Magazin in den Lauf einführte. Jake machte dasselbe bei der Tokarev und nahm sie in die linke Hand. Noch ein letzter Blick in den Rückspiegel und nach vorn – alles klar. Dann gab er Gas. Er setzte den Ciera neben den Lastwagen und schrie: »Jetzt!« Grahams Glock bellte vom Rücksitz auf, und Jake streckte den Arm aus dem Fenster und feuerte über das Dach des Ciera auf den Lastwagen. Er war kein Linkshänder, aber es ging hier nicht um Treffsicherheit, sondern nur darum, ein paar Löcher in den Aufbau des LKW zu schießen. »Getroffen!« schrie Graham. »Ich habe den Reifen getroffen!« »Zielen Sie auf den nächsten!« Aber es war bereits zu spät. Der LKW rollte auf das Bankett, blieb schnell hinter ihnen, als der Fahrer auf die Bremse stieg und das Fahrzeug auf dem Gras zum Stehen brachte. »Gute Arbeit!« lobte Jake. »Ende der Phase zwei.« »Ich hab's geschafft! Ich habe den Reifen getroffen…« Seine Stimme verebbte. »Und wo kommt der plötzlich her?« Jake zuckte zusammen und sah in den Rückspiegel. Ein Wagen kam ohne Licht von hinten auf sie zugerast. Verdammt gute Frage – wo kam er her? Und wer saß drin? Jake entspannte sich ein wenig, als der Wagen unter einer Laterne hindurchkam und er sah, daß es ein Firebird war. Gut. Keine Marke, die von ›den Jungs‹ bevorzugt wurde. Sie zogen im allgemeinen… Und dann sah er kleine Flammenblitze an der Beifahrerseite des Firebird aufzucken. »Deckung!« 254
Er ließ sich nach unten sinken, bis er gerade noch die Straße im Auge behalten konnte. Dann hörte er das gedämpfte Rattern einer Maschinenpistole, aber es schlugen keine Geschosse in den Ciera ein. Er drückte das Gaspedal voll durch. »Die schießen auf uns!« schrie Graham. »Das muß Fredo sein!« Nein, nicht Fredo. Der ist irgendwo in AC. Hat ein paar seiner Jungs hinter dem LKW hergeschickt, falls jemand versuchen sollte, ihn unter Beschuß zu nehmen wie den Lastwagen gestern. Sie waren die ganze Zeit mit ausgeschaltetem Licht weit hinter dem LKW hergefahren und hatten abgewartet, ob es tatsächlich jemand wagen würde. Und jetzt rasten sie heran, um sie abzuknallen. Jake schaute dicht über dem Armaturenbrett nach vorn. Er streckte die Hand aus und stellte den Rückspiegel nach. Der Firebird war näher gekommen – viel näher. Keine fünfzig Meter mehr hinter ihnen. Er schaute wieder nach vorn – um gerade noch die Ausfahrt vorbeiflitzen zu sehen. »Verdammt!« Was zum Teufel sollte er jetzt machen? Diese Cowboy-Aktion würde eine Menge Aufmerksamkeit erregen, und das war schlecht für beide Seiten. Er mußte vom Parkway runter. Wieder Flammenblitze aus dem Firebird, aber wieder keine Einschüsse im Ciera. Der Schütze da hinten benutzte vermutlich eine M-11 – leicht genug, sie in einer Hand zu halten, aber auch so treffsicher wie Graham, wenn er einen schlechten Tag hatte. Der Typ wäre besser dran mit einer… Das Rückfenster implodierte. »O Gott!« schrie Graham. »O Gott o Gott o Gott!« »Sind Sie verletzt?« »O Gott o Gott o Gott!« Jake begann in Schlangenlinien zu fahren. »Um Gottes willen, Doc, sind … Sie … verletzt?« »Nein!« »Dann schießen Sie doch endlich zurück!« 255
»Geht nicht, das Magazin ist leer!« »Neben Ihnen liegen doch Reservemagazine! Sie wissen, wie man sie einführt. Also laden Sie nach und schießen schleunigst zurück!« »Die erschießen mich!« Ein weiterer Blick in den Rückspiegel zeigte, daß der Firebird bis auf dreißig Meter an sie herangekommen war. »Das war doch nur ein Glückstreffer. Und betrachten Sie's mal so: Wenn Sie ihn noch näher rankommen lassen, sind wir beide tot.« »O Gott!« jammerte Graham wieder. »O Gott o Gott o Gott.« Jake hörte, wie er an der Waffe und einem Magazin herumfummelte. Im Rückspiegel sah er, daß der Firebird näher und näher kam, und er hätte Graham am liebsten angeschrien, er solle sich beeilen, aber er wußte, daß das die Fummelfinger nur noch zittriger machen würde. Wenn sie doch nur die Plätze tauschen könnten… Der Firebird war jetzt nur noch zwanzig Meter hinter ihnen, aber der Schütze hatte das Feuer eingestellt. Wartete wahrscheinlich, bis er noch näher heran war und jeder Schuß ein Treffer sein mußte. Und Jake konnte aus dem Ciera nicht mehr Geschwindigkeit herausholen. Hundert Sachen schienen seine Höchstgeschwindigkeit zu sein. Dann sah er ein Schild: Mautstelle – 1 Meile. Zahlschalter für die Straßengebühr! Verdammt, was sonst ging noch schief? Er konnte sich mit dieser Geschwindigkeit nicht durch einen Zahlschalter schlängeln. Er mußte vom Gas gehen. Und dann würde die M-11 aus dem Ciera einen Schweizer Käse machen. »Ich hab's geschafft!« rief Graham. »Dann sitzen Sie nicht tatenlos rum! Schießen Sie durch's Rückfenster, so schnell Sie können, und wenn das Magazin leer ist, laden Sie wieder nach!« Graham schaute vorsichtig über die Lehne der Rückbank, streckte den Arm aus und begann zu feuern. Jake sah, daß Funken aus der Motorhaube des Firebird stoben. Der Wagen begann leicht zu schleudern und fiel dann auf fünfzig Meter Abstand zurück. 256
»Treffer! Schnell nachladen!« Die M-11 ratterte wieder los. »Treffer? Tatsächlich?« »Ja, verdammt, Abpraller auf der Motorhaube. Nachladen! Die nächsten Schüsse müssen ebenfalls wieder sitzen!« Während Graham ein neues Magazin in die Pistole einführte, tauchte die hell erleuchtete Mautstation vor Jake auf. Er drückte das Gaspedal weiter bis zum Anschlag durch. »Los, Doc, Sie müssen doch wieder schußbereit sein!« »Das Magazin ist drin.« »Gut. Und jetzt … sobald ich durch den Zahlschalter da vorne gefahren bin, schießen Sie los. Machen Sie's genauso wie vorhin.« Ein einziger richtiger Treffer, fuhr es Jake durch den Kopf. Kein Abpraller wie vorhin … der Firebird muß wieder ins Schleudern geraten … und dann auf Wiedersehen Zahlschalter und auf Wiedersehen Firebird… Die Verfolger feuerten erneut, und Jake sah gerade noch, wie sich eine Reihe von Löchern in das Glas der Zahlkabine bohrte, bevor er durch die Gasse mit der Kennzeichnung ›Nur Gebührenmünzen‹ raste. Er erhaschte gerade noch einen Blick auf das schreckensbleiche Gesicht eines Kassierers, der sich zwei Gassen weiter nach rechts hinter sein Pult duckte. »Jetzt, Doc!« schrie er, als sie wieder im Freien waren. »Schießen Sie!« Graham machte genau das. Und schaffte es, alle fünfzehn Schuß danebenzusetzen. Der Firebird schoß durch die Mautgasse und kam schnell näher. »O Gott, Doc, Sie haben sämtliche Mautkabinen getroffen, nur nicht den Firebird.« »Tut mir leid.« Ja. Tut mir leid. Und was jetzt? War da nicht irgendwo vor ihnen eine Tank- und Raststätte? Richtig – er war schon oft daran vorbeigekommen. Und eine Station der State Troopers, der Verkehrspolizei des Staates New Jersey, gab es dort auch, wenn er sich recht erin257
nerte. Vielleicht kommen wir ja doch noch mal davon. »Laden Sie nach, Doc. Und schießen Sie weiter. Halten Sie uns die Kerle noch ein paar Minuten vom Leib, dann haben wir eine Chance.« Er sah die Reklameschilder von Burger King und TCBY- und Mobil-Kraftstoff am Straßenrand. Sekunden später kam er über eine Anhöhe und sah die Gebäude der Raststätte zwischen den beiden Richtungsfahrbahnen der Schnellstraße vor sich liegen. Die Polizeistation befand sich am anderen Ende. Jake behielt die Geschwindigkeit bei, solange er es wagen konnte, stieg dann auf die Bremse und bog im letzten Moment in die Auffahrt der Raststätte ein. Er hoffte, der Firebird würde vorbeirasen, aber der Bastard am Steuer kriegte gerade noch die Kurve und blieb hinter ihm. Sein Kumpel hatte das Schießen eingestellt. Zumindest im Moment. Jake raste mit Vollgas über den Parkplatz zur gegenüberliegenden Seite und bog dann auf die nach Süden führende Fahrbahn des Parkway ein. Es ging also wieder zurück. Wenn diese Aktion auch sonst nichts einbrachte, sie würde höchstwahrscheinlich einen Alarmanruf bei den Troopers auslösen, und diese würden bei einer Verfolgung als erstes auf den Firebird stoßen. Bis dahin gab es nur eines zu tun – am Leben zu bleiben. Die Mautstation tauchte wieder vor ihnen auf. Jake wollte Graham noch einmal zurufen, doch endlich wieder zu schießen, unterließ es dann aber. Es brachte ja doch nichts ein. Der Doc würde nicht treffen. Munitionsverschwendung. Mehrere Geschosse aus der M-11 schlugen in den Kofferraum. Der Firebird kam näher, und Angst verkrampfte Jakes Magen. Keine Troopers in Sicht. Seine Hoffnung schien sich nicht zu erfüllen. Er raste durch eine Gasse der Mautstation. Dann tauchte auch schon das Hinweisschild für die Ausfahrt auf, an der sie den Jeep abgestellt hatten. Wenn er vom Parkway abbog, mußte es hier sein. 258
Wie vorhin wartete er bis zum letzten Augenblick, stieg dann auf die Bremse und riß das Steuer herum. Mit quietschenden Reifen schlitterte der Ciera in die steil abfallende, fast rechtwinklige Kurve der Ausfahrt, dicht gefolgt von dem Firebird. Guter Fahrer da hinten am Steuer. Aber der Schütze hatte wenigstens das Feuer eingestellt, wartete wohl darauf, bis sie die Kurve hinter sich hatten. Graham aber tat das nicht. Jake zuckte zusammen, als die Glock losbellte und Graham durch das Rückfenster auf den Firebird feuerte. Jake wollte ihm gerade zurufen, er solle keine Munition vergeuden, als er im Rückspiegel sah, daß sich Spinnennetze über die Windschutzscheibe des Firebird auszubreiten schienen. Der Wagen schlingerte nach rechts, prallte gegen den Bordstein – und hob vom Boden ab. »Sie haben ihn erwischt!« schrie Jake. »Ich kann's kaum glauben, Doc! Sie haben ihn tatsächlich erwischt!« Der Firebird schwebte anmutig wie ein Schwan über den Straßendamm und drehte sich im Flug auf die linke Seite. Dann prallte die vordere Stoßstange auf dem Rasen auf. Der Wagen stellte sich senkrecht, überschlug sich und landete auf dem Dach. »Ich … ich kann's auch nicht glauben!« rief Graham. »Gott sei Dank! Ich dachte schon, wir wären erledigt!« Dann machte der Firebird seinem Namen alle Ehre: Der Tank explodierte, und der Nachthimmel wurde von einem Feuerball erhellt. Einzelteile des Wagens flogen in die Dunkelheit. Während Jake den Ciera auf den Highway steuerte und zum Jeep fuhr, hörte er, wie Grahams Stimme von Euphorie in Verzweiflung umschlug: »Um Gottes willen! Was habe ich da gemacht?« »Sie haben unsere Ärsche gerettet, Doc.« »Ich habe gerade zwei Männer umgebracht! Ich habe zwei Männer getötet!« »Die versucht haben, Sie zu töten, Doc. Machen Sie sich keine Gedanken darüber. Wenn es anders ausgegangen wäre, würden die 259
beiden sich in diesem Moment strahlend beglückwünschen.« Keine Reaktion von der Rückbank. »Sie waren doch in Vietnam, nicht wahr? So was ist doch nichts Neues für Sie, oder?« »Ich war als Arzt für Allgemeinmedizin drüben. Habe in einem Zentralkrankenhaus versucht, unsere Jungs wieder zusammenzuflicken. Ich habe Leben gerettet. Ich habe niemals…« Jake hörte einen anderen Laut vom Rücksitz. Er klang wie ein Schluchzen. Jake schaute nicht nach hinten.
25 Täuschungsmanöver
I
ch glaube nicht, daß ich das fertigbringe.« Sie saßen in einem verbeulten gelben Kombiwagen, einem Ford Country Squire – Jake kannte das Baujahr nicht, da diese verdammten Dinger alle gleich aussahen. Sie parkten in der Virginia Avenue unterhalb des White Horse Pike, drei Blocks von Fredos First-Class-Büro entfernt. Jake saß auf dem Beifahrersitz. Er biß sich auf die Unterlippe und sah zu Graham hinüber, der zitternd, wie ein Mann auf einem Wasserbett bei einem Erdbeben, hinter dem Lenkrad saß. »Sie müssen durchhalten, Doc. Es ist das letzte Mal. Wir ziehen das noch durch, dann brauchen Sie keine Waffe mehr in die Hand zu nehmen.« »Sind Sie sich da sicher?« »Ja, völlig sicher.« Jake versprach nicht, daß der geplante kleine Stunt die Probleme lösen würde, aber er wußte, er würde Graham danach nie mehr dazu 260
bewegen können, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Er widerstand dem Drang, den Kopf zu schütteln, und starrte durch die Windschutzscheibe hinaus in die Dunkelheit. Graham war seit der vergangenen Nacht ein totales Wrack. Wenn Jake ihm im Motel nicht vier harte Drinks zur Beruhigung eingeflößt hätte, wäre es eine weitere schlaflose Nacht für den Mann geworden. »Was ist, wenn ich wieder jemanden erschieße?« fragte Graham mit gepreßter Stimme. »Das werden Sie nicht. Und wenn doch, wäre es kein Verlust für die Menschheit. Es würde die Welt eher von Ungeziefer befreien. Eine besondere Art der Umweltsäuberung. Wirklich, Doc, Sie sollten wegen dieser Bastarde im Firebird keine Gewissensbisse haben.« »Sagen Sie mir nicht, welche Gefühle ich haben sollte«, brauste Graham auf. »Ich weiß selbst, daß ich froh sein sollte, zwei von den Bestien getötet zu haben, die Angel gekidnappt haben. Aber ich bin nicht froh. Ich habe mein ganzes Leben damit zugebracht, die Gesundheit anderer Menschen wiederherzustellen und ihr Leben zu retten, nicht, es zu beenden. Und ich weiß auch, daß es Notwehr war, aber irgendwie rechtfertigt das nicht die obszöne Euphorie, die mich erfaßt hat, als ich meine Kugeln in die Windschutzscheibe des Firebird einschlagen sah. Ich fühle mich dreckig. Macht das irgendeinen Sinn für Sie? Können Sie das verstehen?« Jake war selbst überrascht, daß er es tatsächlich verstand. Vor einem Jahr hätte Graham ihm ebensogut in Chinesisch diese Frage stellen können. Aber jetzt, nachdem er Angel kennengelernt hatte, nach dem täglichen Kontakt mit all den Menschen, die sich aufopferungsvoll um die Wiederherstellung seiner Motorik gekümmert hatten – Menschen, die nicht nur an ihm, sondern mit ihm gearbeitet hatten –, verstand er irgendwie, was Graham gesagt hatte. Aber Verstehen war nicht dasselbe wie Zustimmung. Bei allem Verständnis – wenn jemand dein Leben bedroht oder das Leben eines geliebten Menschen, muß er sterben. Wie konnte man das anders sehen? 261
»Ich will nicht wieder jemanden töten«, sagte Graham leise. »Das brauchen Sie ja auch nicht. Ich verspreche es Ihnen. Sie sollen nur eines tun: Krach machen. Schießen Sie aufs Pflaster, schießen Sie in die Luft, es ist mir egal. Ich schicke Sie nicht dahin, um jemanden auch nur zu verletzen, Doc. Alles, was ich von Ihnen erwarte, ist, daß Sie die Aufmerksamkeit der Gangster auf sich lenken.« Ich werde die Rolle dessen übernehmen, der anderen Verletzungen beibringt, dachte er. Graham nickte, wirkte aber nicht sonderlich überzeugt. »Ich nehme an, ich kann es schaffen.« »Es muß mehr als ›annehmen‹ sein, Doc. Sie müssen es tun. Für Angel.« Grahams Nicken war jetzt etwas resoluter. »Für Angel.« Jake klopfte ihm auf die Schulter. »Gut so.« Aber seine Bedenken im Hinblick auf Graham schwanden nur ein wenig. Der Mann stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Seine Einbeziehung in das Unternehmen bedeutete zugleich, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Jake wollte auf keinen Fall, daß der Mann getötet wurde, aber er brauchte ihn für ein Ablenkungsmanöver, damit der Plan funktionierte. Es gab also keine anderen Optionen. Graham hatte so was wie ein Schußtrauma, aber es gab sonst niemanden, der Jake helfen konnte. »Okay«, sagte er. »Sie haben Ihr Funkgerät, Sie haben Ihre zuverlässige Glock…« »O ja.« Graham schluckte. »Wirklich zuverlässig.« Jake unterdrückte ein Stöhnen, dachte daran, daß Graham die Pistole nicht einmal mehr hatte anfassen wollen. Bevor sie heute abend losgefahren waren, hatte Jake den Doc zwanzig Minuten beschwatzen und anflehen müssen, ehe er ihm die Pistole in die Hand drücken und ihn überreden konnte, sie solange festzuhalten, bis seine Abscheu zumindest halbwegs verflogen war. »Es ist doch nur ein Stück Metall, Doc«, sagte er. »Und heute abend ist sie nur ein Krachmacher. Das ist alles.« 262
Graham schluckte und nickte leicht. »Sehr gut… Gehen wir alles noch mal durch: Sie bleiben hier zurück, während ich in Position gehe. Lassen Sie den Motor laufen. Warten Sie auf mein Startkommando über Funk. Sie erledigen dann Ihren Part des ›Vorbeifahrens und Rumballerns‹. Dann stellen Sie den Kombi ab und warten am Treffpunkt auf mich. Alles klar?« Graham nickte. »Alles klar.« »Ich hoffe es, Doc. Es hängt viel von Ihnen ab.« Jake stieg aus und ging um die Straßenecke. Bei der Hälfte des Blocks blieb er bei einem weiteren ›ausgeborgten‹ Wagen stehen – einem blauen Torino, den er vor einem Komplex heruntergekommener, leerstehender, mit Brettern vernagelter Reihenhäuser abgestellt hatte. Er schaute sich um, sah niemanden, öffnete den Kofferraum und holte sein Colt-Gewehr, ein AR-15 A2 Kaliber 57 mm heraus. Er brauchte ein halbautomatisches Gewehr für diesen Hit, und das AR-15 war zu diesem Zweck so gut geeignet wie jedes andere Gewehr. Normalerweise hätte er es mit einer zusätzlichen Wangenstütze und einem Tasco-Zielfernrohr ausgestattet, aber da er es zurücklassen würde, wollte er nicht, daß es mit Scharfschützen-Zubehör aufgefunden wurde. Kein Zielfernrohr heute abend – ein Hit mit nacktem Auge. Er ging die Stufen zum nächstgelegenen Reihenhaus hoch und zog die Sperrholzplatte vor der Eingangstür zur Seite. Er hatte sie vorhin losgehebelt, und sie bereitete keinerlei Probleme. Dann stieg er zu seinem Ansitz im zweiten Stock hoch, den er sich zuvor ausgesucht hatte, und schaute durch die zerbrochenen Scheiben eines der Fenster an der Frontseite des Hauses. Er hätte einen höher gelegenen Ansitz vorgezogen, zum Beispiel das Flachdach des Hauses, aber er traute der Tragfähigkeit der Dächer dieser Abbruchhäuser nicht – selbst der Boden dieser Rattenfalle, auf dem er jetzt stand, war ihm nicht ganz geheuer. Aber es würde schon gutgehen… Er setzte sich im Schneidersitz vor dem niedrigen Fenster auf den Boden, legte das AR-15 quer über den Schoß und nahm sein Fernglas zur Hand. Der Eingang zum Büro von First Class Restaurant Sup263
plies tauchte in der Optik auf. Zwei schwarze Lincoln-Wagen standen davor. Fredo war im Gebäude, das wußte Jake. Er hatte seinem großen Auftritt bei der Ankunft vor etwa einer Stunde zugesehen. Die Autos waren vorgefahren, beide dicht hintereinander. Die Türen des hinteren Wagens waren zuerst aufgeflogen, und fünf bullige Männer, alle wie der Gußform für Verteidigungsspieler der National Football League entsprungen, waren herausgestürzt. Jake hatte sich ihre kleine Show angesehen. Die Männer hatten mit finsteren Blicken nach links und rechts die Straße überprüft, die Hände in den Jackentaschen an den Waffen, Pokergesichter vortäuschend. Wahrlich harte Burschen… Idioten. Als ob sie eine Kugel abschrecken könnten, die aus einer Entfernung von etwa der Länge eines Football-Feldes abgefeuert wird… Was für eine hübsche, enge kleine Gruppe sie doch gebildet hatten. Wenn Jake beabsichtigt hätte, das Feuer auf sie zu eröffnen, wären drei von ihnen bereits tot gewesen, ehe die beiden übrigen auch nur den ersten Schuß gehört hätten. Zwei weitere Revolvermänner waren aus dem ersten Wagen gesprungen, und alle sieben hatten nunmehr einen Halbkreis um die hintere Tür des ersten Wagens gebildet. Von seinem Beobachtungspunkt aus hatte Jake Fredo nicht sehen können, als seine Bodyguards einen Kreis um ihn gebildet und zum Eingang eskortiert hatten. All diese Arme und Beine – wie ein großer, plumper Käfer… Drei der Bodyguards waren mit Fredo im Gebäude verschwunden, die anderen vier vor dem Eingang stehengeblieben. Jake hatte Fredo unbehelligt gelassen. Er wollte ihm den geplanten Schreck einjagen, wenn er wieder herauskam. Er nahm jetzt das Fernglas von den Augen, lehnte sich an die Fensterbank und lächelte vor sich hin. Fredo mußte inzwischen kurz davor sein, aus der Haut zu fahren. Und er hatte allen Grund dazu. Seine Limousine war hier in AC beschossen worden; einer seiner Lieferwagen war im Norden New Jerseys in Flammen aufgegangen, ein anderer auf dem Parkway aus dem Verkehr gezogen worden; die 264
beiden Revolvermänner, die er in Marsch gesetzt hatte, sich des Problems anzunehmen, waren als Bratfleisch auf der Strecke geblieben. Fredo mußte glauben, eine kleine Armee sei auf dem Kriegspfad gegen ihn. Inzwischen würde er sich wahrscheinlich jedesmal vor Schreck in die Hose pinkeln, wenn ein Wagen in seiner Nähe eine Fehlzündung hatte. Wie passend, daß Fredo, der ihn wegen des Katheters verhöhnt hatte, als er hilflos im Bett lag, jetzt den kathetensierenden Effekt der Angst zu spüren bekam… Jake beschäftigte sich weiter genüßlich mit diesem Gedanken, bis er kurz nach Mitternacht durch einige Aktivitäten am Eingang aufgeschreckt wurde. Die vier Bodyguards versammelten sich auf dem Bürgersteig und steckten sich Zigaretten an. Sie gaben sich Mühe, den Eindruck von Gelassenheit zu vermitteln, aber sie waren schlechte Schauspieler: Immer wieder schauten sie zur Eingangstür oder unruhig die Straße hinauf und hinunter. Irgendein Ereignis stand bevor, und Jake wußte, was es sein würde. Er drückte auf den Sendeknopf des Walkie-talkie. »Hallo Doc. Er kommt gleich raus. Fahren Sie los, aber langsam. Geben Sie erst Gas, wenn ich es Ihnen sage.« Grahams Antwort quakte aus dem Kopfhörer: »Ver…ver…verstanden.« Jake starrte auf das Funksprechgerät in seiner Hand. Verververstanden? Er schüttelte den Kopf. Halt um Gottes willen dieses eine Mal noch durch, Doc, dachte er. Hilf mit, das durchzuziehen, dann darfst du dir deinen Nervenzusammenbruch leisten. Da drüben waren inzwischen zwei weitere Muskelmänner zu den anderen auf dem Gehweg vor dem Eingang zu First Class gestoßen. Sie gaben sich so, als machten sie eine Pause. Eine Pause von was? Von einer Überstunde, wie man mit Eispickeln Menschen verstümmelt? Jake drückte erneut auf den Sendeknopf. »Fahren Sie jetzt ein bißchen schneller, Doc. Es geht gleich los. Machen Sie es so, wie ich es Ihnen gesagt habe: Geh'n Sie runter 265
mit dem Kopf, lenken Sie mit der linken Hand, schieben Sie die rechte mit der Pistole aus dem Beifahrerfenster, ballern Sie los, brausen Sie davon.« Er ließ den Sendeknopf los und fügte vor sich hinmurmelnd hinzu: »Und kommen Sie mir ja unverletzt davon.« Drüben streckte jemand den Kopf aus der Eingangstür und sagte etwas. Die Muskelmänner traten hastig in Aktion. Sie formten wie bei Fredos Einzug eine schmale Gasse, die Gesichter nach außen, die Hände in den Jackentaschen. Einer von ihnen öffnete die hintere Tür des ersten Wagens. Jake drückte wieder auf den Sendeknopf. »Es geht los, Doc. Geben Sie Gas!« Er hörte das Aufheulen des Achtzylinder-Motors des Country Squire, als Graham aufs Gaspedal stieg. Dann sah er den Wagen um die Ecke kommen, ohne Licht, immer schneller werdend. »Laß mich jetzt nicht im Stich, Doc«, flüsterte Jake vor sich hin. Drüben wurde die Eingangstür von First Class aufgestoßen. Vito Cangemi streckte den Kopf heraus und vergewisserte sich, daß die Truppen in Stellung gegangen waren. Jake nahm das AR-15 an die Schulter und schob die Wange am Schaft hin und her, bis er die richtige Schußposition gefunden hatte. Der Country Squire beschleunigte immer noch, rollte vor Jakes Ansitz vorbei und ließ eine dünne Rauchfahne hinter sich. Cangemi drehte sich um und nickte jemandem hinter sich zu. Und dann erschien Fredo, hastete mit gesenktem Kopf auf die offene Wagentür zu. Jake richtete das Visier auf die Gruppe der Muskelmänner vor dem Wagen. Und Graham hatte die Gruppe fast erreicht. Er war eine Sekunde zu spät dran, aber das war nicht schlimm. Wenn er nur zur richtigen Zeit die Glock einsetzte. Jetzt war Graham auf Höhe der Gruppe. Die Muskelmänner entdeckten ihn, waren sofort alarmiert – alter Wagen ohne Licht… Was hat der vor? Cangemi stieß Fredo in den Wagen und zog seine Pi266
stole. Die anderen Bodyguards machten es ihm nach… »Komm schon, Doc!« sagte Jake laut vor sich hin. »Jetzt, verdammt! Jetzt!« Aber es fielen keine Schüsse. Es geschah gar nichts. Der Country Squire rumpelte ohne jeden Zwischenfall vorbei. Die Muskelmänner grinsten erleichtert, zuckten mit den Schultern, steckten ihre Waffen wieder weg und glätteten die Jacketts. Die Bastarde dachten, sie kämen ungeschoren davon… Jake verdrängte den Ärger über Graham und betätigte den Abzug. Er feuerte schnell hintereinander drei Schüsse in die zusammengedrängten Körper. Er war zwar stinksauer auf die Mistkerle da drüben, dennoch aber nicht auf tödliche Schüsse aus. Es galt allerdings, die gegen ihn aufgebotene Mannschaftsstärke zu reduzieren. Er vermied daher Kopfschüsse und zielte statt dessen auf Arme und Beine. Die Züge im Lauf des AR-15 gaben den Geschossen nur einen geringen Drall, was beim Auftreffen enorme Schäden hervorrief. Bei einem solchen Drall gab es keine einfachen Fleischwunden. Die Kugeln verursachten Knochenbrüche und sehr häßliche Ausschußlöcher. Zwei Bodyguards gingen bei der ersten Salve zu Boden, sofort danach zwei weitere, noch ehe ihnen dämmerte, daß sie unter Beschuß lagen. Dann aber sprangen und krochen sie nach allen Richtungen in Deckung. Zwei Männer duckten sich hinter den ersten Lincoln, dachten wohl, dort in Sicherheit zu sein – bis der Wagen mit quietschenden Reifen davonraste und sie deckungslos zurückließ. Sie starrten mit weit aufgerissenen Augen um sich, wie Hirsche im Scheinwerferlicht eines herankommenden Autos. Jake setzte sie mit zwei Schüssen außer Gefecht und jagte dann ein paar weitere Kugeln in den Kofferraum des Lincoln, nur damit Fredo nicht auf den Gedanken kam, er sei allzu leicht entwischt. Der Lincoln raste um die Kurve, verschwand in Richtung Osten. Fredo machte sich aus dem Staub. Gut so. Das war ja der Zweck der Übung gewesen: Daß er Schutz suchte, und Jake herausfand, wo das war. Ein Ort, an dem Fredo sich absolut sicher fühlen konn267
te – vielleicht sicher genug, um dort für längere Zeit eine Geisel unterzubringen? Jake rannte hinunter ins Erdgeschoß, sprang von der Veranda, warf das AR-15 auf den Beifahrersitz des Torino und fuhr los. Als er am Büro von First Class vorbeiraste, leerte er den Rest des Magazins in den Lincoln der Bodyguards, paßte auf, daß er die beiden Reifen zur Straßenseite erwischte. Einige der Muskelmänner erwiderten das Feuer, aber zu spät. Sie zerschossen das Rückfenster des Torino, einige Kugeln fuhren in den Kofferraum, aber dann war Jake auch schon um die Ecke verschwunden. Auf der Tennessee Avenue sah er die Rücklichter des Lincoln vor sich. Sie bogen in die Atlantic Avenue ein, ACs Hauptstraße. Er folgte ihnen, blieb aber stets weit dahinter. Er behielt die Gehwege im Auge. Der Plan sah vor, Graham hier an dieser Straße aufzunehmen, nachdem er den Country Squire irgendwo in einer Seitenstraße abgestellt hatte, aber es war fraglich, ob Graham überhaupt angehalten hatte – oder noch mit dem Wagen in der Gegend herumirrte. Mein Gott, Graham hätte nur ein paar Blindschüsse abzugeben brauchen, um die Fiktion aufrechtzuerhalten, eine ganze Bande von Revolvermännern sei hinter Fredo her. Aber nein… Es würde ihm ganz recht geschehen, wenn… Der Motor des Torino begann zu stottern, fing sich wieder, stotterte aufs neue – und starb ab. Jake fluchte, schaute auf den Spritanzeiger. Der stand auf halb voll, aber Jake kannte die Anzeichen eines durstigen Motors. Der Sprit war alle. Und vor ihm wurden die Rücklichter von Fredos Lincoln immer kleiner. Verdammte Scheiße! Jake sprang aus dem Wagen und sah sich um. Er brauchte ein anderes Auto – und zwar schnell, selbst wenn er den nächsten vorbeikommenden Wagen mit Waffengewalt anhalten mußte… Also los! Er öffnete den Kofferraum und nahm die Tragetasche mit seiner ganzen Waffenausstattung heraus. Dann zuckte er zusammen. Dicht 268
hinter ihm jaulte eine Hupe auf. Er fuhr herum und starrte auf den verbeulten alten Country Squire. »Darf ich Sie mitnehmen?« fragte Graham. Noch vor wenigen Sekunden hatte er Graham nie mehr wiedersehen wollen, aber jetzt war er überglücklich. Er sprang auf den Beifahrersitz und deutete die Straße hinunter. »Geradeaus weiter. Und geben Sie Gas! Hoffentlich haben wir sie nicht verloren …« »Wenn die nicht riskieren wollen, bei Rot über die Kreuzung zu fahren und von den Cops angehalten zu werden, holen wir sie wieder ein. Hier ist ja eine Ampel nach der anderen.« Der Country Squire setzte sich mit quietschenden Reifen in Bewegung. »Panne?« fragte Graham nach einigen Blocks. »Der Spritanzeiger hat mich angelogen… Was war mit Ihnen los?« Graham gab noch mehr Gas und starrte auf die Straße. »Ich habe kalte Füße gekriegt.« Er hob die Schultern. »Dann wurden sie wieder ein bißchen wärmer. Aber nur fürs Autofahren. Ich kann einfach keine Waffe mehr abfeuern. Tut mir leid.« »Vergessen Sie's. Von nun an erledige ich das Schießen alleine. Finden Sie jetzt diesen verdammten Lincoln!« »Ich tue mein Bestes… Hey!« Grahams Augen weiteten sich, und er zeigte nach vorn, als sie gerade das Denkmal auf der Albany Avenue umrundeten. »Ist er das nicht? Drei Blocks vor uns? Sieht aus wie ein Lincoln.« Jake holte sein Nachtglas aus der Tasche, schaltete es ein und schaute nach vorne. Ein schwarzer Lincoln mit Einschußlöchern im Kofferraum. »Das ist er«, sagte Jake zutiefst erleichtert, während Graham ein wenig näher zu dem Lincoln aufschloß. Fredo hätte auch landeinwärts fahren können, wäre in diesem Fall von der Albany Avenue abgebogen und über die Route 40 verschwunden. Jake behielt den Lincoln im Auge. »Okay«, sagte er, »er fährt in Richtung Ventnor…« »Was ist das? Eine Straße? Beim Monopoly habe ich oft eine Stra269
ße mit diesem Namen besessen.« »Es ist die südlich an AC anschließende Stadt. Viel schöner als AC.« Die Türme der Spielcasinos und Hotels blieben schnell zurück, und sie kamen auf die von Bäumen und großen, stattlichen Wohnhäusern gesäumten Straßen von Ventnor. Von hier aus konnte man in wenigen Gehminuten den Meeresstrand erreichen. Aber je weiter sie AC hinter sich ließen, um so dünner wurde der frühmorgendliche Verkehr, und Jake befürchtete, Fredo und seine Leute könnten sie entdecken. »Schalten Sie die Lichter aus«, befahl er Graham. »Und wenn die Cops uns erwischen? Sie würden uns anhalten.« »Das Risiko müssen wir in Kauf nehmen.« Sie blieben so weit hinter dem Lincoln zurück, wie sie es wagten, ohne ihn aus den Augen zu verlieren. Der Lincoln bog von der Hauptstraße ab, fuhr kreuz und quer durch dunkle Straßen, bis schließlich seine Bremslichter aufleuchteten und er in die Einfahrt eines Hauses einbog. »Halten Sie hier an«, sagte Jake und griff nach Grahams Arm. »Schau'n wir uns mal an, was jetzt passiert.« Graham fuhr an den Bordstein, ließ den Motor aber laufen. Sie saßen im Dunkeln da und starrten angespannt nach vorne. »Worauf warten wir?« fragte Graham. »Wir warten darauf, ob er wieder rausfährt.« »Warum sollte er das tun?« »Ein alter Trick, Doc – Fredos Jungs nennen dieses Verhalten ›chemische Reinigung‹. Man biegt in eine fremde Einfahrt ein und wartet, ob ein verdächtiges Fahrzeug vorbeikommt. Wenn man dann wieder losfährt, weiß man ziemlich genau, ob man verfolgt wurde und welche Fahrzeuge man gegebenenfalls im Auge behalten muß.« »Meinen Sie denn, er käme tatsächlich wieder da raus?« Jake schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, Fredo ist zum Übernachten in dieses Haus gekommen… Drehen Sie um und fahren Sie einen Halbkreis, so daß wir von der anderen Seite an dem Haus vor270
beikommen.« Einige Minuten später fuhren sie mit eingeschaltetem Licht und exakt fünfundzwanzig Meilen an dem Gebäude vorbei. Es erinnerte an ein vornehmes Landhaus. Jake starrte durch die Dunkelheit auf die weiß schimmernden Säulengänge und stuckverzierten Wände. Das Haus stand auf einer etwa zehn Meter hohen Erhebung inmitten eines dicht mit Bäumen und Büschen bewachsenen Gartens. Hinter dicken Vorhängen schimmerte Licht durch die Fenster und Schiebetüren. Mindestens zwei Männer bewachten den Garten, wie Jake feststellte. Ein Gefühl hoffnungsvoller Erleichterung durchströmte ihn. Er wußte, wo Fredo offiziell wohnte, und das war weit weg von hier. Fredo würde Angel niemals in einem Haus gefangenhalten, das als sein Besitz bekannt war, also war dieses Haus hier ein guter Kandidat… Und da war auch noch etwas anderes… »Komisch, daß das Haus so hoch liegt«, sagte Graham. Jake fragte sich, ob sein Partner hellseherische Fähigkeiten besaß. »Genau«, sagte er. »Die Erhebung ist künstlich angelegt. Der Grundwasserspiegel ist hoch in dieser Gegend. Man baut ein Haus wie dieses nur aus einem Grund auf eine künstliche Anhöhe: Man will einen Keller haben.« Graham atmete tief durch. »Angel… Wir haben sie gefunden.« »Die Chance ist zumindest groß. Fahren Sie zwei Blocks weiter, biegen Sie dann links ab und suchen Sie uns dann einen dunklen Platz zum Parken.« Als Graham den Wagen im Schatten eines großen Ahornbaumes abgestellt hatte, schob Jake die Hände in seine Tragetasche. »Was haben Sie vor?« fragte Graham. »Reingehen.« »Nein, nein!« sagte Graham und krallte die Finger in Jakes Arm. »Das wird Angel das Leben kosten! Ich lasse es nicht zu!« »Sie lassen das nicht zu…?« Jake starrte ihn an. »Sie machen wohl einen Witz, wie?« »Ich sehe eine andere Möglichkeit. Hören Sie zu: Wir wissen jetzt, 271
wo er Angel gefangenhält. Wir rufen die Polizei an, sagen, daß Fredo Papillardi eine Frau gekidnappt hat und sie als Geisel hier versteckt hält. Sie werden…« »Doc, hören Sie mir zu: Wir hatten das eigentlich schon hinter uns. Was meinen Sie, wie lange es dauert, bis Fredo von unserem Anruf erfährt? Ich wette, höchstens zehn bis fünfzehn Minuten.« »Ich hoffe, es sind nur fünf Minuten. Es ist doch so – sobald er von unserem Anruf hört, muß er Angel aus dem Haus schaffen. Und vor dem Haus warten wir auf ihn. Verstehen Sie denn nicht? Wir brauchen nicht zu ihm reinzugehen, er bringt Angel zu uns raus.« Für einige Sekunden fragte sich Jake, ob der Doc da auf eine gute Idee gekommen war, aber dann erkannte er den fatalen Fehler in der Rechnung. »Nein«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Zu riskant. Wenn wir der Polizei melden, Angel werde von Fredo als Geisel festgehalten, wird sie von einem möglichen Druckmittel gegen mich zu einer gefährlichen Zeugin gegen Fredo. Und ich weiß, wie Fredo in solchen Fällen handelt. Er wird Angel aus dem Haus bringen, ja, aber als Leiche.« Graham schauderte, sagte nichts mehr, als sich Jake die GlockPistole von ihm geben ließ und sie zu den beiden anderen und der Tokarev-Maschinenpistole in die Tragetasche legte. Diese vier Waffen gaben ihm eine sofortige Feuerkraft von rund sechzig Schuß. Er begann die Magazine der Glocks zu entleeren. Graham sah ihm verständnislos zu. »Sie gehen mit leeren Waffen zu ihm rein?« Jake ließ ein bellendes Lachen aus. »In Fredos Träumen vielleicht. Ich tausche nur die Munition aus.« Er holte eine Schachtel mit Patronen aus der Tragetasche und schob sie Graham zu. »Gegen diese.« Graham las die Beschriftung auf der Schachtel. »Zerleger-Geschosse? Was heißt das?« »Es heißt, daß ich keinen zweimal zu treffen brauche.« 272
26 Der Pool
S
o, du Miststück – jetzt ist es vorbei mit der Freundlichkeit!« Angel drückte sich verängstigt gegen die Wand, als Fredo in Begleitung zweier seiner Männer durch den Kellerraum auf sie zukam. Einer der Männer trug wie Fredo einen Anzug, der andere ein Sweatshirt. Sie sah die lodernde Wut in Fredos Augen, und sie wurde von Furcht gepackt, denn sie wußte, er würde diese Wut an ihr auslassen. »Was soll das?« fragte sie und versuchte ihre Stimme ruhig zu halten. »Was soll das?« Fredo deutete auf den Kragen um ihren Hals. »Macht sie von der Wand los, aber laßt die Kette am Kragen.« Ein eisiges Lächeln zuckte über sein Gesicht, als der Mann im Anzug dem anderen einen Schlüsselbund übergab. »Wie 'ne Hundeleine.« Angel kämpfte sich auf die Beine. Sie war so schrecklich schwach. Sie hatten ihr nur einmal am Tag etwas zu essen gegeben – Reste von ihrem Abendessen –, und sie hatten sie nur zur Toilette gehen lassen, wenn ihnen danach zumute war. Sie schaute auf ihre Hände, ihre Arme, ihre Kleidung – alles völlig verdreckt. Sie fragte sich, ob sie sich jemals wieder warm fühlen würde – wieder sauber fühlen würde, innen und außen… Was sie da durchmachte, war die entsetzlichste, demütigendste Erfahrung in ihrem… »Los, beweg dich!« Fredo nahm das Ende der Kette in die Hand und zerrte daran, zwang sie, auf die Tür zuzutaumeln. Seine beiden Kumpane folgten. Brachte man sie nach oben? Würde man sie aus diesem Keller in einen anderen Raum bringen? »Wo gehen wir hin?« »Nicht ›wir‹«, sagte Fredo. »Du. Du gehst zu einem kleinen 273
Schwimmvergnügen.« »Wie … wie meinen Sie das?« Er gab keine Antwort, aber das bösartige Kichern der beiden Männer hinter ihr verkrampfte ihren Magen. Angel wußte, daß es irgendwo auf der Kellerebene einen Pool geben mußte – sie hatte manchmal den Chlorgeruch wahrgenommen und ein leises Plätschern gehört, als ob jemand in ein Wasserbecken springen würde. Man führte sie durch den Flur, an einem Treppenaufgang vorbei, und dann wurde der Chlorgeruch stärker, als sie auf eine Glastür zukamen, hinter deren geriffelter Scheibe Licht schimmerte. Fredo zerrte sie in einen großen, warmen, von Dunst erfüllten Raum mit weißgekachelten Wänden und einem in der Mitte eingelassenen Pool. Im ersten Moment dachte sie, die Decke sei schwarz gestrichen, dann aber erkannte sie, daß sie aus Glas bestand und darüber der Nachthimmel zu sehen war. Aber während des Tages… Sie stellte sich vor, wie schön und warm es sein mußte, wenn die Sonne hereinschien und… Sie zuckte zusammen, als sich etwas um ihre Handgelenke schloß und in die Haut grub. Wilde Panik überfiel sie, als sie nach unten schaute und sah, daß es zwei Paar Handschellen waren – mit je einem Band um ihre Handgelenke, das jeweils andere um die Griffstangen von zwei Eisenhanteln geschlossen. Mr. Sweatshirt ließ die Hanteln nach unten, so daß sie neben ihren Beinen hingen und an ihren Armgelenken zerrten, als würden sie Tonnen wiegen. »Was … was machen Sie da?« »Was wir machen?« Fredo grinste sie bösartig an. »Man könnte sagen, wir schicken dich auf eine Fischfang-Expedition.« Fredos Kumpane kicherten zustimmend. Eine Gänsehaut kroch ihr über den Rücken. »Wir haben diese Methode schon oft angewendet«, sagte Fredo, »und wir haben festgestellt, daß sie sehr überzeugend ist. Ich werde ein für alle Male herausfinden, was du über den Aufenthaltsort deines Freundes wirklich weißt.« 274
»Aber ich habe Ihnen doch gesagt, daß…« »Ich weiß, was du mir erzählt hast.« Das Lächeln auf seinem Gesicht war verschwunden. »Aber ich glaube nicht, was du da gesagt hast. Und jetzt kriegst du die Gelegenheit, mich zum Glauben an dich zu bekehren. Es wird so ablaufen: Wir tauchen dich ein paarmal unter, und dann wirst du uns alles sagen, was du über Jake Nacht weißt.« »Aber ich weiß doch keinerlei…« Er schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht, und Angel zuckte zurück. Ihre Wange brannte. »Unterbrich mich nicht, wenn ich rede!« fauchte er. Er wandte sich an den Mann im Anzug. »Vito, zieh sie aus.« Entsetzt wollte Angel davonrennen, aber es ging nicht – der Eisenkragen, die Gewichte an den Armen… Sie wand sich, als einer der beiden sie festhielt und der andere den Rücken ihres T-Shirts aufschlitzte. »Geht leicht und glatt mit dem Rasiermesser«, sagte der Mann im Anzug. »Wir wollen doch diese teuren Sachen nicht zu sehr beschädigen.« »Nein!« schrie Angel. »Bitte nicht!« »Was ich noch sagen wollte«, schaltete Fredo sich wieder ein, »wenn ich den Eindruck habe, daß du mir nach dem Tauchbad nicht alles gesagt hast, werde ich dich an die Jungs übergeben, damit sie was Hübsches zum Spielen haben. Es sind ein paar ganz scharfe Typen darunter, und seit du hier bist, machen sie mir die Hölle heiß, ich soll sie doch mal an dich ranlassen. Bis jetzt war ich dir gegenüber sehr freundlich. Ich habe dich in Schutz genommen. Aber wie ich eben schon gesagt habe, es ist vorbei mit der Freundlichkeit. Wenn du mich nicht überzeugst, gebe ich den Jungs grünes Licht. Und wenn sie sich eine ganze Nacht lang mit dir beschäftigt haben, und zwar so, daß dir Hören und Sehen vergangen sein wird, bringen wir dich wieder her und lassen dich erneut ein paar Tauchübungen machen. Und wenn ich danach immer noch nicht überzeugt bin, geht's wieder zurück zu den Jungs. Und so machen wir weiter, wieder und 275
wieder, bis du mir alles sagst, was ich von dir wissen will.« Angel krümmte sich, als man ihr die zerfetzten Überreste des TShirts vom Leib riß und sie oberhalb der Hüfte nur noch mit dem dünnen Büstenhalter bekleidet war. Dann wandten die Männer sich ihrer Hose zu. »Aber ich habe Ihnen doch schon alles gesagt, was ich weiß! Wie könnte ich Ihnen etwas sagen, von dem ich keine Ahnung habe?« »Gute Frage«, knurrte Fredo. »Ich denke, wir werden die Antwort darauf gleich wissen.« Angel spürte, wie ihr die Hose heruntergerissen wurde, und sah, wie Fredos Blick gierig über ihren Körper glitt. Als sie Finger am Verschluß ihres Büstenhalters spürte, drehte sie den Oberkörper schnell zur Seite. Bei der plötzlichen Bewegung glitten ihre Füße auf den nassen Fliesen aus, und sie taumelte, stürzte… Sie traf mit der Seite auf dem Wasser auf und sank sofort nach unten … immer tiefer. Und noch tiefer. Die Hanteln an ihren Handgelenken ließen keine Bewegung mit den Armen zu, und mit dem Strampeln der Füße kam sie nicht gegen das zusätzliche Gewicht an. Sie sank nach unten bis auf den Boden des Pools. In den ersten Sekunden überkam sie in dem warmen Wasser seltsamerweise eine friedliche Stimmung. Ich werde sterben, dachte sie. Es war egal, was sie Fredo sagte, er würde sie niemals lebend aus diesem Haus lassen. Es war also besser, hier unten zu sterben, als das durchmachen zu müssen, was er für sie geplant hatte. Aber als die Luft knapp wurde, als Luftblasen von ihren Lippen perlten und zur Oberfläche rasten, verlor sich das friedliche Gefühl, ging in Qual über, dann in Panik. Gegen ihren Willen strampelte sie mit Armen und Beinen und versuchte verzweifelt, diesen Blasen zu folgen, die der nach Luft schreienden Lunge den Weg zur Erlösung zeigten. Aber die Gewichte hielten sie am Boden fest. Schwarze Flecken zuckten vor ihren Augen, wurden stetig größer, explodierten, als sie 276
immer hektischer strampelte. Luft! O Gott, gib mir Luft! Und in genau diesem Moment, als ihre Glieder erschlafften und ihre Brust zu explodieren schien, spürte sie, wie der Eisenkragen sich in die Haut über ihrer Kehle bohrte und sie zur Oberfläche gezogen wurde. Aber so entsetzlich langsam! Sie brauchte Luft – sofort! Die schwarzen Flecke drangen in ihr Gehirn, lähmten den gesamten Körper. Nein, sie kämpfte nicht gegen den Druck des Kragens an, hätte es nicht gekonnt, selbst wenn sie gewollt hätte. Sie ließ es zu, wollte es sogar mit aller Macht, daß man sie zur Oberfläche zog – wie ein Stück Holz, das einem Angler an den Haken geraten war … wie ein lebloses Ding… Und dann spürte sie, daß ihre Knie irgendwo anstießen… Treppenstufen! Die Stufen am flachen Ende des Pools! Sie schob mühsam die Arme mit den Gewichten nach vorne und stemmte die Hände auf die unterste Stufe, dann auf die nächste, die nächste… Und dann endlich geschah es – ihr Kopf durchstieß die Wasseroberfläche, und sie würgte, hustete, keuchte. Es war wie ein Alptraum – sie spürte die Luft um ihren Kopf, konnte sie aber durch die zusammengedrückte Kehle nicht einatmen. Ein letztes Husten – dann endlich bekam sie Luft, und ihre wilden Atemzüge in die ausgehungerte Lunge hallten von den Wänden und dem Glasdach wider. Einer, zwei, drei Atemzüge – gab es etwas Köstlicheres auf dieser Welt als Luft? Und dann war da wieder ein Zerren am Halsband. Man zog sie zurück ins Wasser. Sie hatte keine Zeit zu schreien, kaum genug, noch einmal tief einzuatmen, ehe sie wieder nach unten sank. Wie lange würden sie das mit ihr machen? Wie lange konnte sie es durchstehen? Bitte, Jake! Wo bist du? Laß es nicht zu, daß sie mir das antun!
277
27 Die Entscheidung
J
ake beobachtete die beiden Wachposten im Garten, bis er ihre Routinegänge herausgefunden hatte. Der mit der Baseballmütze der New York Jets und der Shotgun bewachte die Nordseite, der andere, der keine Kopfbedeckung trug, die Südseite. Beide schlugen jedesmal denselben Weg ein. Sie trafen sich an der Veranda vor dem Haupteingang, rauchten und plauderten ein wenig und trennten sich dann wieder zu ihren Patrouillengängen. Jake entschloß sich, den Mann mit der Mütze zuerst außer Gefecht zu setzen. Er schlich den Hang hinauf hinter eine Eiche, an der der Nordseiten-Wachposten regelmäßig vorbeikam. Während er wartete, bemerkte er eine erleuchtete Glasfläche an der Rückseite des Hauses. Er fragte sich, was sich darunter befand. Das Glasdach ragte nur etwa einen Meter aus der Erde heraus – zu niedrig für ein Gewächshaus. Aber vielleicht bot sich hier eine Möglichkeit, in das Haus hineinzukommen. Er mußte sich das nachher näher ansehen. Aber zunächst mußten die Wachposten ausgeschaltet werden. Als die beiden ihre Zigaretten geraucht hatten und wieder zu ihrer Runde starteten, zog Jake einen Dreiviertelpfünder-Totschläger aus der Tasche und hob ihn hoch über den Kopf. Als er die schlurfenden Schritte des Mannes näher kommen hörte, schloß er die Hand fest um den Ledergriff. Er durfte jetzt keinen Fehler machen. Mußte den Mann geräuschlos erledigen, damit niemand gewarnt wurde… Die Schritte kamen näher … abwarten … abwarten… In dem Moment, als der Mützenschirm neben dem Baumstamm auftauchte, schlug Jake zu, legte sein ganzes Gewicht in den Schlag, knickte das Handgelenk ruckartig ein, um ihm noch ein wenig mehr 278
Durchschlagskraft zu geben. Mr. Jets-Mütze sank auf die Knie, verharrte einige Sekunden in dieser Stellung, als ob er ein Gebet sprechen würde – lange genug, daß Jake die Shotgun auffangen konnte, die ihm aus den Händen glitt –, und sackte dann mit dem Gesicht nach unten auf den Boden. Jake riß ihm die Jets-Mütze vom Kopf, ehe sie zu blutig wurde, zog ihm die Jacke aus, schlüpfte hinein und setzte die Mütze auf. Dann marschierte er auf der Route, die der Mann eingeschlagen hatte, weiter. Falls jemand von innen den Garten im Auge behielt, würde Jake nicht sofort auffallen. Als er zur Veranda kam, kauerte er sich hin. Einige Minuten später hörte er den zweiten Posten hinter sich herankommen. »Hey, Joey, was ist los?« Jake drehte sich nicht um, winkte den Mann zu sich heran und deutete vor sich unter die Bäume. »Hast du da was gesehen?« fragte der Mann mit gedämpfter Stimme und kam eilig auf Jake zu. Jake wartete, bis er sich links neben ihn hingekauert hatte, rammte ihm dann mit voller Wucht den Kolben der Shotgun ins Gesicht und ließ sofort einen Babe-Ruth-Schwinger mit dem Lauf gegen die Schläfe folgen. Wachposten Nummer zwei sank ohne einen Laut auf den Boden. Jake zog ihn in den Schatten neben seinen Kumpel. Mit der Shotgun in der Hand schlich er zu dem erleuchteten Glasdach hinter dem Haus. Je näher er kam, um so mehr sah es aus wie das Dach eines niedrigen Gewächshauses, aber als er durch die Scheiben schauen wollte, stellte er fest, daß sie von innen mit Wasserdampf beschlagen waren. In regelmäßigen Abständen waren Scheiben mit dikkeren Rahmen in das Dach eingelassen. Er ging zur nächst gelegenen und sah, daß sie mit Scharnieren versehen war und sich wie die Ausstellfenster öffnen ließ. Er zog die Scheibe hoch und starrte nach unten. Kein Gewächshaus – ein Pool, rund fünf Meter unter ihm. 279
Und jemand schwamm anscheinend darin herum… Jake blinzelte, als er sah, daß es eine Frau in Unterwäsche war … eine Frau mit einer langen Kette an einem Eisenkragen um den Hals … unter Wasser … drei Männer stehen neben dem Pool … der mit dem Sweatshirt hat das Ende der Kette in der Hand, zieht die Frau zu den Stufen des Beckens… Jakes Magen verkrampfte sich. Nein! Er konnte es nicht glauben… Selbst Fredo konnte doch nicht so… Dann brach der Kopf der Frau durch die Wasseroberfläche. Sie hustete, keuchte, schnappte nach Luft… Er sah jetzt ihr Gesicht, und was er bereits geahnt hatte, wurde Realität. »Angel!« Er schob, noch während er ihren Namen herausschrie, den Lauf der Shotgun durch die Fensteröffnung, zielte auf den Bastard, der die Kette in der Hand hielt, drückte ab. Das Gesicht des Mannes zerplatzte in einem roten Sprühregen. Er wirbelte den Lauf herum, wollte ihn auf die beiden anderen Männer richten, aber diese rannten bereits davon, verschwanden durch die Tür. Er schoß trotzdem hinterher, in der Hoffnung, ein paar Schrotkugeln würden doch noch ihr Ziel finden. Wie er sah, hatte sich Angel inzwischen die Stufen hinaufgezogen, klammerte die Finger an den Beckenrand, würgte, keuchte – aber sie lebte… Er wollte durch das Fenster nach unten springen, bei ihr sein, aber er würde dort nur eine Zielscheibe für die Gangster abgeben – und das wäre weder für Angel noch für ihn von irgendeinem Vorteil. Dann sah er die an ihren Handgelenken festgezurrten Hanteln. Und eine irre Wut raubte ihm fast die Sinne. Sein Blut gefror zu Eis. Er wollte ihr zurufen, sie solle durchhalten, er würde sie hier rausholen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Er richtete sich auf und rannte zur Vorderseite des Hauses. Der Glasdeckel eines Stromzählers ragte an der Ecke aus der Wand. Er pumpte zwei Schüsse hinein und zog den Kopf zurück, als grelle elektrische Blitze aufzuckten. Alle Lichter im Haus gingen aus. 280
Seine Gedanken rasten ihm weit voraus, und er wußte, was er jetzt zu tun hatte. Er rannte um die Ecke der Veranda und feuerte auf ihren Stufen einen Schuß in die obere Hälfte der gläsernen Eingangstür. Schüsse bellten hinter der Tür, zerfetzten den Rest der Scheibe. Jake warf sich nach vorn, knallte mit dem Steißbein gegen den Rahmen der Tür. Er verlor die Jets-Mütze und zerfetzte den Stoff der Jacke an den Glasscherben, als er blitzschnell in das stockdunkle Wohnzimmer hechtete. Er rollte sich mehrmals ab, schoß dabei wild um sich, bis die Shotgun leer war, zog dann zwei seiner Pistolen aus dem Hosenbund. Schreie und Stöhnen hallten durch die Dunkelheit, untermalt vom Mündungsfeuer in wilder Panik abgegebener Schüsse. Jake drückte sich flach auf den Boden und beobachtete, wie sie ihre Pistolen auf Stellen leerschossen, an denen er sich längst nicht mehr befand. Mein Gott, die legen sich gegenseitig um! Ihm wurde plötzlich klar, daß er viel besser sehen konnte als sie. Er kam aus dem Dunkeln, sie aber waren noch vor Sekunden in hellem Licht gewesen. Grobe Schätzung: drei Schützen ausgeschaltet am Boden, vier noch in Aktion… Als zwei von ihnen das Feuer einstellten und nach den Reservemagazinen griffen, schaltete Jake mit gezielten Schüssen zuerst die beiden aus, die noch herumballerten, und dann die beiden Nachlader, noch ehe sie die Magazine in ihre Waffen einführen konnten. Vier Schüsse, vier Gegner ausgeschaltet – diese Zerlegermunition war einfach großartig… Ein hysterisches Lachen brannte in Jakes Kehle, aber er schluckte es runter und rollte sich wieder ein Stück nach links ab. Im selben Augenblick krachten von oben Schüsse, von der Treppe zum ersten Stock, und die Geschosse fetzten in die Stelle, wo er gerade noch gelegen hatte. Jake stieß einen lauten Schrei aus und kroch hinter ein Sofa. Wieder eine Serie von Schüssen von der Treppe, aber Jake erwi281
derte das Feuer nicht. Er wartete ab. »Hey, Eddie«, rief jemand, »ich glaube, ich hab' das Schwein erwischt.« »Ja?« reagierte eine zweite Stimme. »Hey, Jungs, was ist bei euch da unten los?« Das Stöhnen der Verwundeten war die einzige Antwort. »Verdammte Scheiße, Mann«, sagte die erste Stimme. »Die sind doch nicht etwa alle erledigt?« Einige Sekunden Stille, dann ein Knarren auf den Stufen… Jake kniff die Augen zusammen, um die Sicht in der Dunkelheit noch zu verbessern. Der helle Fleck eines Gesichts schob sich um die Ecke des Treppenabsatzes, gleich danach ein weiterer. »Ich kann keinen verdammten Scheiß erkennen, Mann. Hast du irgend'n Licht?« »Ich hab' 'ne Minilampe am Schlüsselbund.« Ein dünner Lichtstrahl aus einer zitternden Hand zuckte durch die Dunkelheit. Vielen Dank, dachte Jake. Er schoß, und Eddie und sein Freund stürzten den Treppenabsatz hinunter und schlossen sich ihren Kumpanen auf dem Fußboden an. Jake horchte auf weitere Schritte auf der Treppe, aber es blieb still. Er biß sich auf die Unterlippe. Die Entscheidung war fällig: Sollte er das obere Stockwerk links liegenlassen? Riskant, aber immer noch besser, als von einem dort lauernden Schützen auf der Treppe abgeknallt zu werden. Und die Zeit drängte. Das Licht war jetzt seit rund zwei Minuten aus. Bald würde er nicht mehr der einzige sein, dessen Augen an die Dunkelheit angepaßt waren. Er mußte diesen Vorteil unbedingt noch ausnutzen. Er sprang auf, riß einen der am Boden liegenden Männer hoch, hielt ihn als Schutzschild vor sich und schob sich zur Tür des nächsten Zimmers vor. Als er um die Türecke kam, sagte er: »Hey, nicht schießen, ich bin's – Eddie.« 282
Schüsse dröhnten, und zwei Kugeln fuhren in die SchutzschildLeiche. Entweder hatte man seinen Täuschungsversuch erkannt – oder man machte sich nicht viel aus Eddie. Jake gab zwei Schüsse auf die Mündungsblitze ab, und das Feuer erstarb. Vor sich und halb rechts hörte er hastige Schritte. Sie polterten die Kellertreppe hinunter. Er schob sich weiter vor, kam in einen Flur und schließlich zu einer offenstehenden Tür, hinter der die Kellertreppe lag. Er warf sie zu, und sofort zerfetzte eine Salve von Schüssen das Holz der Tür. Gleichzeitig wurde er von der Tür am Ende des Flurs unter hastiges Feuer genommen – ein Badezimmer? Wieder bewahrte ihn sein Schutzschild davor, getroffen zu werden. Er schob sich schnell rückwärts aus dem Flur, ließ die SchutzschildLeiche fallen und zog seine Tokarev, die noch mit den Stahlmantelgeschossen geladen war, die er auch in der vergangenen Nacht bei der Attacke auf den First-Class-LKW eingesetzt hatte. Er streckte den Kopf gerade so weit um die Ecke, daß er mit dem rechten Auge die Tür am Ende des Flurs, von der aus auf ihn geschossen worden war, sehen konnte. Sie war jetzt geschlossen. Er streckte den Arm um die Ecke und drückte auf den Abzug der Tokarev. Die erste Salve traf die getäfelte Tür in der Mitte, an der dicksten Stelle, und sie flog auf. Dann setzte er in einer Höhe von rund anderthalb Metern zwei weitere Feuerstöße links und rechts neben die erste Salve. Eine dunkle Gestalt sank aus dem Türrahmen, stürzte polternd auf den Fußboden. Jake hörte das Geräusch mit großer Befriedigung. Jake ersetzte die Tokarev wieder durch die beiden Glock-Pistolen. Er überprüfte schnell die anderen Türen im Flur und drückte sie dann zu, was auch den geringsten Lichtschimmer von außen fernhielt; im Flur war es jetzt stockdunkel. Dann schlich er zurück in Richtung auf die durchlöcherte Kellertür. Seine Gedanken rasten. Der Pool lag im Kellergeschoß, und die Kellertreppe war der ein283
zige Weg dorthin. Angel war eben allein im Pool zurückgeblieben, hatte nach Luft geschnappt, war offensichtlich unfähig gewesen, sich irgendwo zu verkriechen. Er mußte so schnell wie möglich zu ihr. Aber wie? Wer auch immer die Kellertür in Schweizer Käse verwandelt hatte – Jake mußte davon ausgehen, daß sich noch mehrere Männer da unten befanden. Er tastete herum, bis seine Finger gegen einen der toten Männer stießen. Die Ich-bin's-Eddie-Masche würde nicht zweimal ziehen, aber vielleicht fiel ihm eine Variation dazu ein. Er zog den Körper in den Flur bis zu der durchlöcherten Kellertür. Er hielt sich seitlich, drehte den Kopf und stieß die Tür auf. Sofort dröhnte von unten eine neue, ohrenbetäubende Salve. Als sie endete, feuerte er schnell hintereinander drei Schüsse die Treppe hinunter und duckte sich dann wieder aus dem Schußfeld. Aber er hatte im Mündungsfeuer seiner Schüsse einen Blick auf die Treppe werfen können. Diesmal hielt das Gegenfeuer sekundenlang an, bis eine bekannte Stimme losbellte: »Hört auf, ihr Arschlöcher! Verdammte Scheiße! Merkt ihr denn nicht, was die bezwecken wollen? Daß uns die Munition ausgeht! Also hört auf zu schießen, bis was auftaucht, auf das es sich zu schießen lohnt!« Fredo! Jake spürte, daß ein wildes Grinsen sein Gesicht verzog. Tapferer Fredo – hatte es abgelehnt, beim Begrüßungskomitee im Erdgeschoß dabei zu sein. Jake schlüpfte aus seinen Schuhen und hielt sich noch einmal vor Augen, was er beim Aufflammen der Mündungsfeuer seiner Pistole von der Kellertreppe gesehen hatte: ein Handlauf an der rechten Seite und rund zehn Zentimeter breite Simsmauern, die zu beiden Seiten der Treppe in Höhe des Erdgeschoßbodens geradeaus verliefen. Die Decke des Treppenhauses fiel schräg nach unten ab, bis sie beidseitig in etwa drei Metern Entfernung auf die Simse stieß. Jake wußte plötzlich, wie er es anstellen konnte. »Hey, Fredo!« rief er. 284
Eine fast unerträgliche lange, angespannte Stille folgte. Dann kam Fredos Antwort. »Nacht! Ich hab's doch gewußt!« »Ein Stehaufmännchen als Geschenk für den fetten Freddie… Ja, ich bin's. Und jetzt ist die Stunde der Rache gekommen!« »Vito«, sagte Fredo mit leiserer Stimme, »geh zum Pool und bring mir das Miststück her.« Jake biß sich so fest auf die Zähne, daß sie knirschten. Du wirst hier nicht lebend rauskommen, Fredo. Er steckte die Pistolen in den Hosenbund zurück, zog die Leiche des Gangsters hoch auf ihre Knie und wartete darauf, daß Fredo erneut sein feistes Maul aufmachen würde. Er wußte, Fredo würde eine längere Stille nicht aushalten können und bald wieder losplappern. Nach einem kurzen Augenblick kam tatsächlich seine Stimme von unten: »Wir sind ein Dutzend Männer, Nacht, und du bist allein.« Trotz des prahlerischen Tonfalls klang Fredos Stimme nicht sehr zuversichtlich. Während er fluchend und höhnend weiterredete, nutzte Jake den Wortschwall, um die Geräusche seiner eigenen Bewegung dahinter zu verbergen. Er schob sich durch die Tür, setzte die Füße auf die Simse zu beiden Seiten, stand somit breitbeinig über der Treppe. Mit einer Hand stützte er sich an der Wand ab, mit der anderen zog er die Leiche an den Haaren hinter sich her. Er befand sich jetzt in einer äußerst gefährlichen, exponierten Situation. Wenn einer der Männer da unten auch nur das leiseste Scharren oder Knarren hörte und auf Verdacht ein paar Schüsse nach oben feuerte und hoch genug zielte, war er erledigt. Glücklicherweise liebte Fredo den Klang seiner Stimme. »Du kannst uns nicht alle erwischen, Jakey. Wir brauchen nur die Treppe hochzustürmen, und einer von uns wird dich ganz bestimmt umlegen.« Jake schob die Füße, breitbeinig über den Stufen stehend, Zentimeter für Zentimeter voran und mußte sich dann bücken, als die abfallende Decke ihn dazu zwang. Wie viele Männer hatte Fredo da unten am Fuß der Treppe? Ein halbes Dutzend? 285
»Wo bleibt die verdammte Nutte?« Fredo sprach wieder leiser. Jake hörte die Antwort nicht, aber wie sie auch lautete, sie schien Fredo nicht besonders glücklich zu machen. »Scheiße!« schrie Fredo, offensichtlich von Wut gepackt. »Du da – los, die Treppe hoch! Wir kommen dicht hinter dir her! Los! Mach schon!« Stille, dann eine andere Stimme vom Fuß der Treppe: »Ich sag' dir was, Boß – geh du als erster, und wir kommen dann hinterher.« Jake hätte beinahe aufgelacht, aber dann durchzuckte ihn kaltes Entsetzen – seine Beine begannen zu zittern. Er stand jetzt tief gebückt da, befand sich kurz vor dem spitzen Dreieck, das von der abfallenden Decke und dem Ende der gerade verlaufenden Simsmauern gebildet wurde. Die Leiche baumelte unter ihm, war verdammt schwer, das Haar des Toten drohte, ihm aus den schmerzenden Fingern zu gleiten – und dann ein noch stärkeres Zittern in den angespannten Beinen… Selbst bei dem erhöhten Adrenalinspiegel waren seine Beinmuskeln einer solchen Anstrengung nicht gewachsen. Sie konnten jede Sekunde nachgeben, ihm den Dienst verweigern. Er mußte sofort handeln. Er drückte den Kopf gegen die abfallende Decke des Treppenhauses, griff mit der jetzt freien zweiten Hand in die Haare der Leiche, zog sie vorwärts und zugleich hoch. Die Füße prallten auf die Treppenstufen, dann schwang sie frei unter ihm. »Stirb, Fredo!« schrie er und schleuderte den Toten nach vorne. Eine wilde Serie von Schüssen ließ den Keller erzittern, Mündungsfeuer blitzte auf, und die Leiche schien zu zucken und zu zappeln, als sie mitten zwischen Fredos Revolvermänner segelte. Jake stützte sich noch für den Bruchteil einer Sekunde mit dem Kopf ab, zog seine Pistole, ließ sich von den Simsmauern auf die Treppenstufen fallen, sprang blitzschnell hinter der Leiche her in den Keller, schoß nach allen Seiten, die Unterarme stützend gekreuzt… Er hechtete auf den Boden, rollte sich ab, blieb liegen. Fredo und seine Männer schossen in wilder Panik weiter, aber nach 286
einigen Sekunden stellten sie schließlich das Feuer ein. Jake blieb reglos liegen. In seinen Ohren hallten die Schüsse nach. Er atmete mit offenem Mund, damit man ihn nicht hörte. »Haben wir ihn erwischt?« schrie jemand. »Hat jemand irgendein Licht?« Fredos Stimme. Jake orientierte sich in Richtung der Stimme und zielte. Der Mündungsblitz eines Schusses würde sein Todesurteil bedeuten… »Ich hab' ein Feuerzeug«, sagte jemand. »Mach's an«, befahl Fredo. »Halt es hoch, damit wir sehen können, was hier los ist.« »So'n Scheiß mach ich nicht, Mann. Meinst du etwa, ich soll mit der Flamme in der Luft rumwedeln wie bei 'nem verdammten Springsteen-Konzert?« Jake grinste vor sich hin. Die Moral der Leute war im Eimer, die Kommandokette durchbrochen… Nicht mehr lange, und sie würden sich in die Wolle kriegen und gegenseitig umlegen. Aber darauf konnte er nicht seine Hoffnung setzen, konnte nicht darauf warten – nicht, solange Angel noch irgendwo da vorne war, sich wahrscheinlich immer noch an den Rand des Beckens klammerte… »Jake?« Eine Stimme von oben, vom Erdgeschoß. »Jake, sind Sie da unten?« »Wer zum Teufel ist das denn?« flüsterte Fredo. Doc Graham. Jake unterdrückte ein Stöhnen. Um Gottes willen, was wollte der denn hier? »Halten Sie sich bereit, Jake«, rief Graham. »Ich mache jetzt dieselbe Sache wie bei dem Lastwagen in Jersey City…« Dieselbe Sache wie bei dem Lastwagen in Jersey City? Und dann erinnerte sich Jake. Er schloß gerade noch rechtzeitig die Augen, bevor eine Magnesiumfackel die Treppe heruntergeflogen kam und über den Kellerboden rollte. Jake öffnete die Augen einen kleinen Spalt, blinzelte, sah vier Männer in dem grellen roten Schein – zwei, die sich die Augen zuhielten, zwei weitere, die sich abwandten und ihre Köpfe mit den Armen schützten, als ob sie die Fackel für eine Dynamitstange hiel287
ten. Er erschoß sie alle – sie taumelten unter dem Aufprall der Kugeln zurück und krachten auf den Boden. Aber wo war Fredo…? Da – er rannte davon, durch einen Flur zum rückwärtigen Teil des Kellers … zum Pool! Ihr Beine, laßt mich jetzt ja nicht im Stich! Er sprang auf und lief hinter Fredo her. »Bleiben Sie, wo Sie sind, Doc!« schrie er Graham noch über die Schulter zu. Er hoffte, daß Graham ihn hörte und erkannte, daß der Kampf noch nicht zu Ende war. Ein Mündungsblitz zuckte am Ende des Flurs auf, und eine Kugel streifte seine Hüfte. Die immer noch brennende Fackel beleuchtete ihn jetzt von hinten, und er rannte an ihr vorbei zurück zum Fuß der Treppe. Ein zweiter Schuß bellte, die Kugel prallte vom Boden ab und surrte dicht an ihm vorbei. »Scheiße!« hörte er Fredo fluchen. Dann hörte er, daß Fredo den Gleitverschluß seiner Pistole betätigte. Leergeschossen oder Ladehemmung? Keine Zeit, die Antwort auf diese Frage abzuwarten. Er sprang vor, griff nach der Fackel, schleuderte sie den Flur hinunter und hechtete dann auf den Boden in Schußposition. Er erhaschte gerade noch einen Blick auf Fredos Rücken, der durch eine Tür – vermutlich der Eingang zum Pool – verschwand. Zu kurz, um noch einen Schuß abzugeben. Dann hörte er Cangemis Stimme in der Dunkelheit hinter dem von der Fackel erleuchteten Flur. Er schrie irgend etwas, und die Stimme klang hohl, wie in einem großen Raum – der Pool! Cangemi war also derjenige, der auf Fredos Befehl Angel holen wollte. Jake rannte los, durch den Flur, auf den Eingang zum Pool zu. »Hey«! hörte er Cangemi jetzt rufen. »Wer ist da? Sagt dem Boß, daß ich sie gefunden habe. War nicht so einfach in der verdammten Dunkelheit hier!« Angel! Die Fackel lag vor ihm auf dem Boden. Er nahm sie im Vorbeilaufen in die Hand, stieß die Tür auf, warf die Fackel hindurch. Der grellrote Schein zuckte im Bogen durch die Luft, landete mit einem 288
Platschen auf dem Wasser… Und brannte weiter… Jake schlüpfte gebückt um die Ecke der Tür, die Pistolen schußbereit in den Händen. Wo war Fredo? Der Schein der auf dem Wasser schwimmenden Fackel verwandelte den Raum in ein Gruselkabinett. Ein wirres Netz roter Linien zuckte über die Wände, das Glasdach, durch das Wasser, über den Boden des Pools. Wo bist du, du verdammter Bastard? Ich weiß, daß du hier drin bist! Rechts von ihm, am gegenüberliegenden Ende des Pools, sah er Cangemi neben Angels reglosem Körper stehen. Der Mann blinzelte ins Licht der Fackel. »Verdammt, Fredo, bist du das? Ich hab' sie. Was soll ich mit ihr anfangen?« »Du rührst sie nicht an«, flüsterte Jake. Er schoß. Das Gesicht des Mannes explodierte, und der Aufprall des Geschosses warf ihn gegen die Wand. Sein Hinterkopf hinterließ einen breiten dunklen Streifen auf den Kacheln, als er langsam in eine sitzende Position nach unten sank. Angel bewegte sich immer noch nicht. Eisige Kälte ließ Jakes Blut erstarren. O Gott, war sie etwa tot? Er mußte zu ihr. Wiederbelebung hatte bisher nicht zu seinem Repertoire gehört – eher das Gegenteil –, aber er hatte gesehen, wie es gemacht wurde, und er war im Moment der einzige, der sich um sie kümmern konnte. Aber zuerst mußte er sich noch um Fredo kümmern. Wo zum Teufel steckte er? Er schaute sich um, sah aber lediglich Angel und zwei Leichen – Cangemi und den Kerl, den er vorhin durch das Ausstellfenster von oben erschossen hatte. Ansonsten nur weiße Kacheln und zuckendes rotes Licht… Fredo hatte einen dunklen Anzug getragen, als er heute abend sein Büro verlassen hatte. Er mußte bei all dem Weiß hier doch auffallen… Jake war zutiefst beunruhigt, als er daran dachte, daß Fredo mög289
licherweise entkommen war. Wenn das der Fall war, würde Angel ihres Lebens nie mehr sicher sein können. Mach dir später Gedanken darüber. Schaff Angel hier raus! Er wollte zu ihr laufen, aber da prallte ein schweres Gewicht gegen seinen Rücken, und ein harter Gegenstand krachte auf seinen Schädel. Funken sprühten plötzlich vor seinen Augen, das Bewußtsein schien ihn zu verlassen, in tausend Fetzen zu zerplatzen. Mit äußerster Willensanstrengung kämpfte er den Schwächeanfall nieder. Er hat dich von hinten erwischt! Lauf weg! Aber noch ehe dieser Befehl seine Beine erreichte, ging Fredo erneut von hinten auf ihn los. Jake ließ die Pistolen fallen, griff hinter sich, erwischte einen Arm, zog Fredo im Fallen mit sich. Kühles Wasser schockte Jake, als sie in den Pool stürzten, aber es wirkte auch belebend, fegte die Verwirrung in seinem Gehirn hinweg. Er strampelte sich frei, kam mit dem Kopf über die Wasseroberfläche, schaute sich nach Fredo um. Nichts von ihm zu sehen… Sein Blick fiel auf die dunkle Eingangstür, auf den breiten Holzsims darüber. Fredo mußte auf diesen Sims geklettert sein, hatte sich dann von dort auf ihn gestürzt. Er hörte ein Plätschern neben sich und fuhr gerade noch rechtzeitig herum, um Fredos wutverzerrtes Gesicht aus dem Wasser auftauchen zu sehen – und darüber die erhobene Hand mit der Pistole, bereit zum endgültigen K.-o.-Schlag. Jake blockte den Schlag mit dem Unterarm ab, krallte die Finger in den Arm, und beide sanken im Kampf um die Waffe wieder nach unten. Es gelang Jake, sie Fredo aus der Hand zu winden, aber er konnte sie nicht ergreifen. Die Pistole sank auf den Boden des Pools. Jake wollte nach ihr tauchen, aber seine Lunge schrie nach Luft. Beide durchbrachen gleichzeitig die Wasseroberfläche. Es kam jetzt auf das Durchhaltevermögen an. Die Kleidung war inzwischen mit Wasser vollgesogen und erschwerte die Bewegungen. Jake hob die Arme aus dem Wasser und versuchte Fredo zu packen, aber der wehrte alle Griffe ab. Es kam zu einem wilden Gerangel. Sie traten unter Wasser aufeinander ein, und Jake versuchte, Fredo irgendwie fas290
sen und unter Wasser ziehen zu können – ein bizarres, plumpes Ballett, aber ein Blick in Fredos Augen bestätigte Jake, daß es um Leben und Tod ging, daß es für einen von ihnen beiden der letzte Kampf sein würde… Und dann, ganz plötzlich, begann Jake zu ermüden. Er mußte sich gegen Fredo zur Wehr setzen und zusätzlich gegen das Gewicht der durchnäßten Kleidung ankämpfen, das ihn unter Wasser zu ziehen drohte. Das Wasser stieg ihm bis zum Kinn, drang dann in seine Nase. Er mußte Fredo zur Seite manövrieren, ins flachere Wasser, wo er auf dem Boden stehen konnte und eine bessere Chance hatte, die Oberhand zu gewinnen. Der nächstgelegene Rand des Bekkens war rund vier Meter hinter ihm. Bei Angel… Sein Herz machte einen Satz, als er sah, daß Angel den Kopf hob. Sie starrte einen Moment benommen zu ihnen herüber, ließ dann den Kopf wieder auf die Fliesen sinken. Sie lebt! Sie wird es schaffen! Und das werde ich auch, verdammt noch mal! Plötzlich war Fredo über ihm. Jake wehrte sich gegen den Angriff, und als beide wieder untertauchten, strampelte Jake mit den Beinen, um in Angels Richtung zu kommen. Dann spürte er wieder dieses taube Brennen in den Beinen. Ein Schrei zuckte durch seinen Kopf: Nicht jetzt! O Gott, bitte nicht jetzt! Er benutzte Fredos Körper als Leiter und stieß sich hoch, drückte Fredos Kopf noch einmal kräftig nach unten, ehe er die Wasseroberfläche durchbrach. Panik packte ihn mit eisiger Faust – seine Beine waren nicht nur taub, sie waren wie abgestorben. Er mußte jetzt dringender denn je den Beckenrand erreichen, von Fredo wegkommen. Ohne den vollen Einsatz seiner Beine würde er sich kaum über Wasser halten können. Wenn Fredo ihn jetzt in die Finger bekam… Fast nur mit der Kraft seiner Arme steuerte er auf den Beckenrand zu. Noch drei Meter … noch zwei… Er spürte, wie seine Beine nach 291
jedem Meter schwächer wurden. Noch anderthalb Meter… Er mußte die Beine ausruhen, nur für eine oder zwei Minuten… Er hörte Fredos wildes Platschen hinter sich. O Gott, ich schaffe es nicht! Er drehte sich um, schwang einen Arm aus dem Wasser und schlug Fredo mit der flachen Hand gegen die Nase. Fredos Kopf zuckte zurück, und er drehte sich von Jake weg, hielt sich mit einer Hand die blutende Nase. Keine Zeit, diesen Vorteil auszunutzen – in wenigen Sekunden würde er sich nicht mehr an der Wasseroberfläche halten können… Noch ein Meter … noch ein halber Meter… Mit einem schluchzenden Keuchen der Erleichterung warf er die Arme nach vorn und griff nach dem Beckenrand. Gerettet. Jetzt mußte er nur noch schnell aus dem Wasser kommen. Er klammerte sich mit beiden Händen an den Rand, wollte sich hochstemmen. Aber seine Arme waren kraftlos, die nassen Jakkenärmel waren schwer, und ohne ein Abstoßen vom Boden mit den Sandsäcken, die einmal seine Beine gewesen waren, würde er es nicht schaffen. Er hörte ein Plätschern hinter sich, aber nicht sehr nahe. Es schien sich eher zu entfernen. Wollte Fredo abhauen? O Gott, Jake hoffte es. Laß ihn laufen – wenn Fredo ihn jetzt noch einmal zwischen die Finger bekam, war das Jakes Ende, nicht Fredos… Aber jetzt mußte er schleunigst aus dem verdammten Becken! Er versuchte erneut, sich hochzustemmen, schaffte es, einen Ellbogen auf dem Beckenrand aufzusetzen, dann auch den anderen. Jetzt brauchte er nur noch irgend etwas, an dem er sich festhalten und aus dem Wasser ziehen konnte. Aber da waren nur glatte Fliesen … nichts als glatte Fliesen… »Was ist los, Jakey?« fragte eine Stimme über ihm, und zwei nackte Füße unter tropfenden Hosenbeinen schoben sich vor seine Augen. »Hast du Schwierigkeiten mit den Beinen?« 292
Ehe Jake zurückweichen konnte, krallten sich Finger in sein Haar und drückten seinen Kopf nach hinten. Er schaute in das Gesicht eines Irren – weit aufgerissene, wild glitzernde Augen, breites Grinsen, auf der Stirn klebendes Haar, aus der aufgeplatzten Nase rinnendes Blut, das über die Lippen in den Mund lief, die Zähne rot färbte… »Sieht so aus, als ob die Behandlung kein voller Erfolg war«, sagte Fredo. »Wirklich schade.« Jake versuchte sich mit einem Handkantenschlag aus Fredos Griff zu befreien – wenn seine Beine ihm nicht den Dienst versagt hätten, hätte er sich von der Beckenwand abstoßen und Fredo mit ins Wasser reißen können –, aber auch seine Arme schienen jetzt immer schwächer zu werden. Fredo höhnte weiter. »Jetzt wollen wir doch mal sehen, ob Scheiße schwimmt.« Er kniete sich hin und drückte Jakes Kopf unter Wasser. Jake stieß die Arme hoch, schlug um sich, hoffte auf einen Zufallstreffer, aber Fredo hatte jetzt auch die Finger der zweiten Hand in seine Haare gekrallt und hielt ihn eisern fest. Jakes Lunge schrie nach Luft, aber seine Arme waren nicht stark genug, gegen Fredos Druck und das Gewicht seiner nassen Kleidung anzukommen. Jetzt ist es aus mit mir! fuhr es durch seinen Kopf. Aber viel schlimmer – er stand als einziger zwischen Fredo und Angels Tod. Wenn Fredo ihn umbrachte, würde Angel als nächste sterben… Dieser Gedanke erfüllte ihn mit wilder Verzweiflung, und er machte einen letzten Versuch, Fredos Finger aus seinen Haaren zu reißen – aber er war zu schwach. Er spürte, wie seine Finger kraftlos an Fredos fleischigen Handgelenken abglitten. Ihm wurde schwarz vor Augen … immer schwärzer… Und plötzlich war er frei. Fredos Finger lösten sich aus seinem Haar. Mit einem wilden Schlängeln des Körpers schaffte er es, die über den Kopf gestreckten Hände an den Beckenrand zu legen. Er zog sich weiter hoch, und langsam, viel zu langsam stieg er nach 293
oben. Halt durch – nur noch eine Sekunde… Sein Gesicht durchbrach die Oberfläche, und Luft – herrliche, wundervolle Luft – drang in seine Lungen. Er sog sie keuchend ein, fuhr herum, suchte nach Fredo, wartete darauf, daß der sadistische Bastard ihn wieder unter Wasser drückte. »Du Schwein!« Angels Stimme. Irre Angst durchströmte ihn. Fredo hatte sich Angel zugewandt, und er würde sie jetzt… »Du Schwein!« Und dann war plötzlich Fredos Gesicht vor ihm – nicht über ihm, sondern direkt vor ihm auf den Fliesen am Beckenrand. Fredos Körper lag ausgestreckt auf dem Boden wie ein gestrandeter Wal… Und über ihm kniete Angel. Sie hielt die an ihre Handgelenke geketteten Hanteln umklammert, hob sie hoch und schmetterte sie auf Fredos Kopf, erst die rechte, dann die linke, benutzte sie als Totschläger… »Du Schwein!« In ihren Augen lag ein abwesender, leerer Blick, sie hatte die Zähne zusammengebissen, die Lippen verzogen. Sie schlug weiter zu, und in ihrer irren Wut brachte sie nur diese beiden Worte zustande, ließ sie bei jedem Schlag durch die Zähne aus. »Du Schwein!« Und dann war plötzlich Graham bei ihr, hielt ihre Arme fest, zog sie sanft zur Seite. »Angel, hör auf! Er ist erledigt, er kann dir nichts mehr tun!« Angel starrte ihren Onkel an, schien ihn nicht zu erkennen. Dann aber verlor sich der leere Blick, und sie begann leise zu wimmern. Sie ließ die Hanteln los und sank schluchzend gegen Graham. Jake hing am Beckenrand, mußte zusehen, wie sie weinte, wünschte, sie in die Arme nehmen und trösten zu können. Aber seine Beine waren noch nicht kräftig genug, um aus dem Wasser zu kommen. Sie schienen sich jedoch zu erholen, fingen an zu zucken, und er konnte sie im Wasser bewegen. »Geben Sie mir Ihre Hand, Doc, bitte.« 294
»Gleich.« Graham sah ihn stirnrunzelnd über die Schulter seiner weinenden Nichte an. »Geben wir ihr noch eine Minute.« »Wir haben vielleicht keine Minute mehr. Wenn die Cops nicht schon auf dem Weg hierher sind, sind sie es sicher sehr bald. Wir können ihnen unmöglich erklären, was hier passiert ist, ohne schweren Zeiten entgegenzusehen.« Die Augen des Docs weiteten sich – wahrscheinlich fielen ihm die beiden Toten auf der Parkway-Ausfahrt ein. Er löste sich von Angel und streckte Jake die Hand entgegen. Er ergriff sie, und mit Grahams Hilfe und ein wenig Unterstützung durch die sich langsam erholenden Beine schob er sich aus dem Wasser. »Angel«, sagte er, »bitte, Angel, hör mir zu: Wer hat die Schlüssel zu den Handschellen? Und zu diesem Kragen um deinen Hals?« Mein Gott, ein Eisenkragen… Du sollst ewig in der Hölle schmoren, Fredo. Angel richtete sich auf und sah sich um. Ihre Augen waren gerötet, und ihr Blick fuhr umher, als ob sie jeden Augenblick damit rechnen müsse, daß jemand mit einer Waffe in der Hand auf sie zustürzte. Schließlich deutete sie auf den Gangster, den Jake als ersten erschossen hatte. Er lag etwa fünf Meter entfernt auf dem Boden. »Der da.« Als Graham zu dem Mann hinlief, sah Jake, daß eine weitere Fackel in seiner Gesäßtasche steckte. Er schaute sich Fredo genauer an, ob irgendein Lebenszeichen bei ihm zu erkennen war. Nichts. Mit einem flauen Gefühl im Magen erkannte er, daß Fredo nicht mehr atmete. Angel hatte ihn getötet. Jake betete, daß Angel dies nicht ebenfalls erkannte. Graham kam mit einem Schlüsselbund in der Hand zurück. »Das könnten sie sein – sehen jedenfalls nicht wie Autoschlüssel aus.« Ein paar Versuche, ein paar weitere Sekunden, und Angel war von den Handschellen samt Hanteln und dem Kragen befreit. »Bringen Sie sie raus, Doc«, drängte Jake. »Benutzen Sie Ihre Re295
servefackel und suchen Sie eine Decke oder so was für sie.« »Und was ist mit Ihnen?« »Ich muß meine Beine noch ein wenig ausruhen, dann komme ich nach. Bringen Sie Angel erst mal raus hier.« Sobald Graham und Angel verschwunden waren, überprüfte Jake, ob an Fredos Hals ein Puls zu fühlen war. Nichts. In seinen Augen stand dieser starre, ins Jenseits gerichtete Blick. Dann schaute er auf Fredos Hinterkopf – und zuckte zusammen. Die Schädeldecke war eingeschlagen, völlig zertrümmert. Angel hatte wieder und wieder zugeschlagen … und offensichtlich stets auf dieselbe Stelle… Jakes Magen verkrampfte sich – o Gott, Angel! Das würde sie nie im Leben verkraften… Mein Gott, was sollte, was konnte er tun? Und dann wußte er es… Er schob die Beine unter seinen Körper, richtete sich in eine kniende Stellung auf, grub die Finger beider Hände in Fredos nasses Hemd und zog ihn dann ins Wasser. Er sah noch einen Moment zu, wie Fredos Leiche mit dem Gesicht nach unten zur Mitte des Pools trieb, kämpfte sich dann auf die Beine und bewegte sich langsam und unsicher, die Wand als Stütze benutzend, zur Tür. Obwohl er nur sehr langsam vorankam, war er fast an der Tür, als Angel zurückkam, plötzlich aus der Dunkelheit des Flurs in das flackernde Licht der Fackel trat. Als sie ihn sah, verflog ihr besorgter Gesichtsausdruck, und sie lächelte ihn an. »O Jake! Ich war in Sorge um dich. Gott sei Dank bist du…« Ihre Stimme verebbte, als sie den Blick an ihm vorbei auf den Pool richtete. »Komm«, sagte er schnell, und sein Herz schmerzte, belastet von schwerwiegenderen Dingen als der Anstrengung, seine Beine zum Gehorsam zu zwingen. »Wir müssen verschwinden…« »Nein, warte, Jake … das ist doch Fredo, oder?« Er nickte. »Ja.« 296
»Aber er lag da drüben … am Ende des Pools … auf den Fliesen.« »Er nimmt ein Abschiedsbad im Pool.« Er sah den Blick in ihren Augen – Schock, Abscheu, und, am schmerzlichsten, tiefe Enttäuschung. Plötzlich war da eine Distanz zwischen ihnen, und Jake spürte sie wachsen, spürte, wie Angel sich mental und emotional von ihm entfernte, dann vor ihm zurückwich, ihn anstarrte, als sei er ein Fremder. Und es gab nichts, was er hätte sagen können, um die Sache klarzustellen – nichts, was nicht noch größeres Leid heraufbeschworen hätte… Licht zuckte hinter ihnen auf, und Graham kam angelaufen, die Fackel in der Hand, das Gesicht in Panik verzerrt. »Ich habe eine Sirene gehört!« Graham packte Angel am Arm, wollte sie in den Flur ziehen, blieb dann aber stehen, als sein Blick auf Fredos Leiche im Pool fiel. Jake wappnete sich gegen seine Fragen, aber Graham warf ihm nur einen undefinierbaren Blick zu, drehte sich um und ging in den Flur. Jake folgte dem Schein seiner Fackel bis ins Erdgeschoß. Er war froh über den Handlauf an der Treppe – so konnten seine Arme die Beine beim Hochsteigen unterstützen. Er blieb ein Stück hinter den beiden zurück. Als Angel und Graham vor ihm durch das Wohnzimmer gingen, hörte Jake ihre Stimme: »O Gott, o Gott… O mein Gott…« Jake rief nach vorne: »Werfen Sie die Fackel auf den Boden, Doc, und laufen Sie mit Angel zum Wagen. Wenn die Cops eintreffen, ehe ich bei Ihnen angekommen bin, fahren Sie los.« Weder Graham noch Angel reagierten, aber als er um die Ecke ins Wohnzimmer kam, lag die Fackel in einem sich schnell ausbreitenden Flammenmeer auf dem Teppich. In der Ferne war eine Sirene zu hören. Jake konzentrierte all seine Kraft auf die Beine, stolperte hastig durch die Eingangstür, dann den Hang hinunter zur Straße, dorthin, wo Graham vermutlich vorgefahren war, als die Schießerei be297
gonnen hatte. Mehrere Sirenen jetzt, und sie kamen schnell näher… Einen kurzen Augenblick fürchtete er, die beiden könnten ohne ihn losgefahren sein, aber nein – der Kombiwagen stand mit laufendem Motor und geöffneter Beifahrertür am Bordstein. Jake schob sich schnell auf den Beifahrersitz. »Zwei Blocks ohne Licht geradeaus, dann wieder anhalten«, sagte er. Als Graham losfuhr, drehte sich Jake zu Angel um. Sie hatte eine Wolldecke um sich geschlungen. »Alles okay mit dir?« fragte Jake. »Nein«, antwortete sie mit leiser, heiserer Stimme. Er wünschte, er könnte ihr im Schatten liegendes Gesicht deutlicher sehen. »Angel…«, begann er. »Ich möchte jetzt nicht mit dir sprechen«, unterbrach sie ihn mit demselben Tonfall in der Stimme. »Über gar nichts.« Jake drehte sich wieder um, starrte auf die Straße, und eine eisige Leere breitete sich in seinem Inneren aus. Gab es denn keine Möglichkeit, ihr die Wahrheit schonend beizubringen…? Nein. Es durfte nicht sein. Graham fuhr an den Straßenrand, wie Jake ihn angewiesen hatte. »Was jetzt?« »Wir warten«, sagte Jake. Eine kurze Wartezeit. Sekunden später zuckten vor Fredos Haus mehrere Rotlichter von Streifenwagen auf. Als die letzte Sirene verstummt war, deutete Jake nach vorn. »Okay. Lassen Sie die Lichter aus, fahren Sie zwei Blocks weiter, biegen Sie dann rechts ab und schalten Sie die Scheinwerfer ein.« Sie kamen zum Black Horse Pike, fuhren dann über die Route 9 zum Motel, stellten den Kombi ab und stiegen in Jakes Jeep. Und Angel hatte immer noch kein Wort gesagt. Sie starteten in Richtung Brooklyn. Eine zweistündige Fahrt lag vor ihnen, aber Jake wußte, sie würde ihm wie eine Fahrt von zwei 298
Tagen vorkommen.
28 Wieder zu Hause
I
ch möchte zu meiner Wohnung«, sagte Angel. Die ersten Worte, die sie seit Ventnor sprach… Graham hielt vor der Klinik in Brooklyn an. Dann drehte er sich um und sah Angel an. »Nein, Angel. Ich möchte, daß du hier bei mir bleibst. Ich brauche dir ja wohl nichts vom posttraumatischen Streß-Syndrom zu erzählen. Du solltest jetzt nicht allein sein.« Angels Schweigen bedeutete soviel wie eine Einwilligung. Jake räusperte sich. Sein Mund war trocken. Er hatte beinahe Angst, irgend etwas zu sagen. »Haben Sie auch für mich ein Bett für den Rest der Nacht, Doc?« Er konnte sich nicht vorstellen, daß er unter normalen Umständen eine solche Bitte ausgesprochen hätte, aber er wollte Angel nicht aus den Augen verlieren. Wenn es sein müßte, würde er sich zusammengerollt als Wachposten auf einen Teppich hinter die Haustür legen, falls Fredos Männer, die die Klinik beobachteten, noch nicht erfahren hatten, daß ihr Boß tot war, und etwas Böses im Schilde führten. »Nein«, sagte Angel. »Ich will nicht, daß er hierbleibt. Wenn er es tut, gehe ich.« Es ist, als ob ich nicht hier wäre, dachte Jake. »Angel«, sagte er, »ich will nur…« »Jake … bitte.« 299
Sie wandte ihm bei diesen Worten das Gesicht zu, und im Schein einer Straßenlaterne sah er, daß sie die Augen geschlossen hatte. Sie will mich nicht einmal ansehen. »Ich weiß, ich stehe in deiner Schuld«, sagte sie mit angespannter Stimme. »Ich wäre jetzt, die ganze Nacht hindurch, das Opfer einer endlosen Vergewaltigungsfolter durch diese Gangsterbande, wenn du nicht gekommen wärst. Und wahrscheinlich wäre ich morgen oder übermorgen tot – wünschte mir sicher, tot zu sein. Du hast mir also das Leben gerettet. Ich werde dir dafür ewig dankbar sein. Aber was davor zwischen uns war…« Ihre Stimme erstarb, und Jake sah mit dumpfem Entsetzen, daß eine Träne eine glänzende Spur über ihre Wange zog. »Angel…« »Nein. Laß mich zu Ende sprechen. Es kann zwischen uns nie mehr so sein, wie es vorher war, und deshalb meine ich, wir sollten hier und jetzt klare Verhältnisse schaffen.« »Aber warum?« Jakes Herz schmerzte, als er die Farce weitertrieb. »Warum?« Sie öffnete jetzt die Augen und starrte ihn an. »Warum? Das ist ja das Erschreckende – du erkennst es nicht einmal…« »Wegen Fredo?« fragte Jake. »Was sonst hätte ich tun sollen? Ihn am Leben lassen, damit seine Anwälte ihn rausboxen und er auf freien Fuß kommt und zu Ende bringen kann, was er mit dir angefangen hat? Gott weiß, wie viele andere Männer ich heute nacht getötet habe…« »Ich habe fünfzehn Leichen gezählt«, schaltete Graham sich ein. Besten Dank, Doc. »…aber du gerätst wegen diesem einen, der der schlimmste Verbrecher von allen war, aus der Fassung.« »Die anderen sind mir nicht wichtig«, sagte Angel. »Ich kann ihren Tod akzeptieren, weil sie versucht haben, dich zu töten, als du mich retten wolltest. Du hast dich verteidigen müssen. Du hast nur mit gleicher Münze zurückgezahlt. Es ist entsetzlich, daß du eine so effiziente Tötungsmaschine bist, aber ohne diese Fähigkeit wäre ich jetzt dem Tod ausgeliefert. Fredo hat mir gesagt, daß du ein Be300
rufskiller warst, bevor man dich zum Krüppel geschossen hat. Ich glaube, ich hätte einen Weg gefunden, selbst das zu akzeptieren, weil ich mir sagen konnte, daß du dich inzwischen geändert hast, daß der Mann, der diese schrecklichen Dinge getan hat, nicht mehr existiert. Aber was du mit Fredo getan hast, sagt mir, daß du dich nicht geändert hast.« »Warum machst du einen Unterschied zwischen Fredos Tod und dem der anderen Männer?« »Wegen der absoluten Kaltblütigkeit, mit der du dabei zu Werke gegangen bist. Die Polizei hätte ihn festgenommen. Ich hätte gegen ihn ausgesagt, und er wäre für immer hinter Gitter verschwunden. Aber du hast einen bewußtlosen, völlig hilflosen Mann ins Wasser geworfen. Ich weiß, du hast es für mich getan, und wie ich schon sagte, ich werde dir für alles, was du heute nacht für mich getan hast, ewig dankbar sein. Aber ich kann nicht mit einem Mann Zusammensein, der so etwas fertigbringt. Verstehst du denn nicht? Was du heute nacht getan hast, ist etwas, das auch Fredo getan haben könnte.« Jakes Kehle zog sich zusammen. Seine neu aufgebaute Welt stürzte zusammen, alle Hoffnung auf ein neues Leben zerfiel in Trümmer. Und er fand immer noch keine Worte, die Dinge zurechtzurücken… Angel wandte sich an ihren Onkel. »Bitte laß uns gehen … ehe ich zusammenbreche.« Graham gab ihr einen Schlüsselbund. »Geh du schon vor. Ich komme gleich nach.« Sie wandte Jake wieder ihr Gesicht zu, und er sah, daß jetzt Tränen über ihre Wangen strömten. »Jake … ich habe dich so sehr geliebt…« Er hätte am liebsten die Arme ausgestreckt und ihr Gesicht in seine Hände genommen, aber er wußte, daß sie nicht von ihm berührt werden wollte. Schluchzend stieg Angel aus dem Wagen und wankte zur Eingangstür. 301
Jake griff nach dem Türöffner, wollte ihr nacheilen, aber Graham legte ihm die Hand auf den Arm. »Nein. Machen Sie das nicht – nicht jetzt. Geben Sie ihr Zeit.« Als Jake die Bedeutung dieser Worte erkannte, starrte er Graham fragend an. »Ich verstehe Sie nicht, Graham. Was meinen Sie mit ›Geben Sie ihr Zeit‹? Für Sie ist das doch eine großartige Lösung. Es ist genau das, was Sie immer wollten: daß Angel und ich nicht zusammenkommen.« »›Gewollt haben‹ wäre richtiger – ja, es ist das, was ich gewollt habe, das muß ich zugeben. Aber jetzt, nachdem ich gesehen habe, was Sie da zum Schluß am Pool getan haben… Ich kann selbst nicht glauben, wie sehr ich … wie sehr ich mich bisher in Ihnen getäuscht habe.« »Was soll ich mit dieser nebelhaften Andeutung anfangen?« »Lassen Sie doch dieses Spielchen«, sagte Graham. »Ich bin Arzt, erinnern Sie sich? Angel hat keine Ahnung, was sie mit Fredos Hinterkopf angestellt hat – sie hatte zu diesem Zeitpunkt eine Bewußtseinstrübung, sie hat unbewußt gehandelt –, aber ich weiß Bescheid. Ich kenne mich mit Kopfverletzungen aus, Jake, und es ist völlig ausgeschlossen, daß Fredo mit einem derart eingeschlagenen Schädel noch am Leben war. Und Sie wußten das ebenfalls. Sie wußten, daß er tot war, als Sie ihn in den Pool schoben.« »Sie dürfen ihr nicht erzählen, daß sie ihn getötet hat«, sagte Jake alarmiert. »Niemals.« »Das ist mir klar. Aber es erstaunt mich sehr, daß es auch Ihnen klar ist und daß Sie bereit sind, die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, auf sich zu nehmen – selbst auf die Gefahr hin, Angel zu verlieren. Mein Gott, Sie lieben sie tatsächlich…« Jake spürte, daß sich Tränen unter seinen Lidern sammelten. »Ja, ich liebe sie. Aber was sie da über mich gesagt hat – ich sei nicht besser als Fredo…« Die Worte wollten ihm im Hals steckenbleiben, aber er zwang sie heraus. »Ich fürchte, Angel könnte recht haben. Ich habe mich wahrscheinlich nicht geändert.« »Nein, das stimmt nicht. Sie haben sich wirklich…« 302
»Hören Sie, Doc… Wenn Fredo noch am Leben gewesen wäre, hätte ich genau dasselbe getan: ihn mit dem Gesicht nach unten ins Wasser geschoben.« »Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Wir werden es nie erfahren. Aber sagen Sie mir eins: Hätte der alte Jake das, was er mit Fredos Leiche gemacht hat, auch getan, wenn er gewußt hätte, daß er dadurch etwas verliert, das für ihn von großer Wichtigkeit ist?« Jake sagte nichts, aber die Antwort auf diese Frage war ihm klar. Vielleicht würde ihm diese spitzfindige Unterscheidung eines Tages ein Trost sein. »Sie haben sich geändert«, sagte Graham. »Und jetzt müssen Sie an dieser Änderung festhalten. Nähren Sie sie in Ihrem Bewußtsein. Das wird sich auf lange Sicht ganz sicher für Sie auszahlen.« »Ja…« »Noch etwas, Jake, und hören Sie mir gut zu, damit Sie in vollem Umfang verstehen, was ich Ihnen sage: Sie sind noch nicht vollständig von der Lähmung geheilt, und als Ihr Arzt will ich natürlich wissen, warum das so ist. Es bedeutet weitere Untersuchungen und Tests in nächster Zukunft, und das wiederum bedeutet, das Sie immer wieder in die Klinik kommen müssen. Verstehen Sie? Inzwischen warte ich noch eine Weile ab, dann fange ich langsam an, Angel ein wenig zu bearbeiten. Ich kann natürlich nicht versprechen, daß ich eine Meinungsänderung bei ihr bewirke, aber ich werde sie auf jeden Fall besänftigen können. Der Rest ist dann Ihre Sache – wenn Sie sie dringend genug zurückgewinnen wollen.« O ja, das will ich, dachte Jake. Wie ich noch nie in meinem Leben etwas gewollt habe… Er war zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin- und hergerissen. Gab es überhaupt noch eine Liebesbeziehung zwischen ihm und Angel? Nach dem, was sie gesagt hatte, konnte er es nicht mehr wirklich glauben. Aber er war auch nicht bereit, alle Hoffnung einfach aufzugeben. »Okay, Dr. Graham. Ich werde noch eine Weile Ihr Versuchskaninchen sein. Lassen Sie uns sehen, was dabei herauskommt.« »Sehr schön«, sagte Graham. »Kann ich Sie irgendwo absetzen?« 303
»Nein danke, ich laufe noch ein bißchen herum.« »Sind Ihre Beine denn dafür wieder kräftig genug?« Jake stieß die Wagentür auf und stieg aus. »Sie werden mich jedenfalls tragen.« Als er die Tür zuschlagen wollte, sah er, daß Graham ihm die Hand entgegenstreckte. Er ergriff sie. Grahams Händedruck war fest, und er ließ Jakes Hand nicht los. »Wo werden Sie jetzt hingehen, Jake?« »Weiß ich noch nicht. Ich habe keine Ahnung, wie Mr. C den Verlust seines Neffen aufnehmen wird. Vielleicht wird er auf Rache aus sein, vielleicht wird er mir aber auch danken wollen, daß ich ihn von diesem unzuverlässigen Großmaul befreit habe. Ich denke also, ich werde mich erst einmal verkrümeln und still verhalten und abwarten, wie sich die Dinge entwickeln.« »Was Sie auch tun, ich möchte Sie bitten, in zwei Wochen zu mir zu kommen. Bis dahin habe ich eine ganze Serie von Tests vorbereitet.« »Werde ich dann Angel treffen?« »Wenn es nach mir geht – ja.« »Dann also bis in zwei Wochen.« Graham gab schließlich seine Hand frei, und Jake schlug die Wagentür zu. Er drehte sich um, und als er losmarschierte, schaute er zu den Fenstern von Grahams Wohnung hoch. Er meinte zu sehen, daß sich ein Vorhang bewegte – als ob jemand zu ihm heruntergeschaut hätte und zurückgetreten war, als er sich umgedreht hatte. Oder war das nur Wunschdenken? Er wandte sich ab und ging weiter. Wo soll ich jetzt hingehen? fragte er sich. Was soll ich tun? Das Killer-Spiel habe ich hinter mir. Was sonst habe ich gelernt? Er würde sich später Gedanken darüber machen. Jetzt wollte er erst einmal nichts anderes tun als gehen. Denn Gehen war etwas, das er nie mehr in seinem Leben als selbstverständlich betrachten würde. 304
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