Gestern, heute, morgen Diana Palmer
Micahs zauberhaftes Anwesen auf den Bahamas lässt die junge Callie fast die Gefahr ...
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Gestern, heute, morgen Diana Palmer
Micahs zauberhaftes Anwesen auf den Bahamas lässt die junge Callie fast die Gefahr vergessen, aus der er sie gerettet hat. Aber dennoch ist es nicht leicht für sie, jeden Tag mit Micah in diesem Paradies zu leben: Callie glaubt, dass er sie verachtet. Das sie jetzt zum ersten Mai offen miteinander reden offenbart ihr allerdings eine ganz neue Seite von Micah. Er spricht über seine Vergangenheit, seine Hoffnungen für die Zukunft. Und obwohl Callie denkt, er sei mit der schönen Lisse zusammen, lieben sie sich zärtlich und leidenschaftlich… BIANCA erscheint 14-täglich in der CORA Verlag GmbH 8. Co. KG, 20.350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1
Redaktion und Verlag:
© 2001 by Diana Palmer
Originaltitel: „The Last Mercenary“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto in der Reihe: SPECIAL EDiTION
Übersetzung: Stefanie Rudolph
1. KAPITEL Callie Kirby war so in Gedanken versunken, dass sie die dunkle Limousine, die ihr auf der sonst völlig freien Landstraße beharrlich folgte, überhaupt nicht bemerkte. Die Unterhaltung, die sie vor einigen Minuten mit ihrem Stiefbruder Micah Steele geführt hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Vier Jahre lang hatte sie ihn nicht gesehen und nur über Dritte von ihm gehört. Und doch behandelte er sie immer noch so geringschätzig und kühl wie früher. Er hasste sie, das war ganz offensichtlich. Nicht so sehr natürlich, wie er Callies Mutter Anna hasste. Er gab ihnen beiden die Schuld daran, dass sein eigener Vater ihn verstoßen hatte. Als Jack Steele seinen einzigen Sohn in den Armen seiner Frau, Callies Mutter, fand, kam es zu einer hässlichen Szene, und Jack warf beide aus dem Haus. Micah war damals mitten in seinem Praktikumsjahr als Assistenzarzt am örtliche i Krankenhaus gewesen. Jetzt lebte er auf den Bahamas. Der Eklat war lange her. Callie war inzwischen 22 und lebte immer noch mit ihrem Stiefvater Jack zusammen. Der sprach selten von Micah, und das war ihr nur recht. Sein Name rief zu viele schmerzliche Erinnerungen hervor. Doch als er ihr auf dem Parkplatz vor dem Bürogebäude, in dem sie arbeitete, so unverhofft begegnet war, hatte ihr Herz schneller zu schlagen begonnen. Er sah so unverschämt gut aus! Mit seiner Größe und seinem athletischen Körperbau hatte er sie damals schon tief beeindruckt. Jetzt war er auch noch sonnengebräunt, was sein dichtes blondes Haar noch besser zur Geltung brachte, und er trug einen Armani-Anzug. Aber natürlich hatten sie beide die Demütigungen nicht vergessen. Deshalb war es kein besonders herzliches Wiedersehen, zumal sich Callie alle Mühe gab, distanziert und beherrscht zu wirken. „Micah? Was führt dich denn zurück in unsere langweilige texanische Kleinstadt?“ hatte sie mäßig überrascht hervorgebracht. Zum Glück zitterte zumindest ihre Stimme nicht. „Ich bin hier, um dich zu warnen“, hatte er geantwortet. Kein Wort der Begrüßung, keine Erklärung. Aber so war er immer schon gewesen, auch als er noch zu Hause lebte – zurückhaltend und verschlossen. Callie blickte ihn irritiert an. „Wieso warnen? Was ist denn passiert?“ Ungeduldig schüttelte Micah den Kopf. Callie war verwundert, in seinen dunkelbraunen Augen einen Ausdruck der Besorgnis zu sehen. Oder täuschte sie sich? Wenn er sich Sorgen machte, dann bestimmt nicht um sie, sondern um seinen Vater. Aber da sie nach Jacks Schlaganfall die Einzige war, die sich um ihn kümmerte, war er vielleicht aus diesem Grund zuerst zu ihr gekommen. „Habt ihr hier denn nichts von der Lopez-Sache gehört?“ „Natürlich. Die Zeitung war ja voll davon. Die beiden Privatdetektive Cy Parks und Eb Scott haben den Drogenring von Lopez gesprengt und werden hier zurzeit als Helden gefeiert, auch wenn sie sich jetzt zur Ruhe setzen und eine Ranch betreiben wollen. Aber was hat das mit dir zu tun?“ „Lopez hat ihnen Rache geschworen – und allen, die ihnen geholfen haben.“ „ja, und?“ Micah runzelte die Stirn. Eigentlich war es Callie ganz gleich, warum er hier war, wenn sie ihn nur noch einige Augenblicke länger anschauen konnte. Aber natürlich wollte er die Unterhaltung mit ihr so schnell wie möglich beenden. Für ihn war sie ein Nichts. Er konnte jede attraktive Frau haben, die er wollte, und musste sich nicht mit unreifem Gemüse wie ihr abgeben. Das hatte er ihr zumindest überdeutlich klar gemacht, nach jenem peinlichen Zwischenfall an ihrem letzten gemeinsamen Weihnachtsfest. Callie hatte zu viel getrunken und sich ihm in für sie völlig untypischer Kühnheit an den Hals geworfen. Noch bevor
sie ihn küssen konnte, stieß er sie allerdings wütend von sich. Außerdem warf er ihr und ihrer Mutter vor, nur hinter Jacks Geld her zu sein. Schmarotzerin hatte er Callie genannt. Es tat heute noch weh. „Callie, hör mir zu, verflucht noch mal!“ Seine Stimme riss sie aus ihren trüben Gedanken. „Ich habe Informationen an die Behörden weitergegeben, mit deren Hilfe sie einen von Lopez’ Drogenumschlagplätzen dichtmachen konnten“, sagte Micah. „Lopez will Rache, und er ist bekannt dafür, dass er sich dabei an Familienangehörige hält.“ „Wie bitte?“ Callie konnte sich nur schwer vorstellen, dass ihr kultivierter, stets beherrschter Stiefbruder in eine so gefährliche Angelegenheit verwickelt war. Trotz seines athletischen Körperbaus lag seine Stärke eindeutig auf der intellektuellen und feingeistigen Ebene. Er sprach fünf Sprachen fließend und war ein hervorragender Koch. Mit Cy und Eb, die als Privatdetektive für Geld internationale Verbrecher jagten, hatte er nichts gemeinsam. Er war kein Mann, der Gewalt anwandte, und er hatte hohe Prinzipien. Callie erinnerte sich daran, dass es einmal ein Gerichtsverfahren gegen ihn gab, weil er sich als Assistenzarzt geweigert hatte, eine bestimmte Operation durchzuführen. Näheres hatte er ihr und seinem Vater allerdings nie darüber erzählt. „Callie, das ist eine sehr ernste Angelegenheit“, sagte Micah eindringlich. „Es besteht die Gefahr, dass Lopez seine Leute auf euch ansetzt.“ „Und was soll ich dagegen tun?“ Micah betrachtete sie abschätzend. „Sei einfach besonders vorsichtig, ja? Bleib unter Leuten und halt die Augen offen. Sobald du etwas Verdächtiges bemerkst, wende dich an die Polizei.“ Callie überlief ein kalter Schauer. Micah schien es wirklich ernst zu meinen. Obwohl sie ihre Zweifel daran hatte, dass jemand es tatsächlich auf sie abgesehen hatte. Sie war ein Niemand. Mit ihrem dunklen, kurzen Haar, ihren hellblauen Augen und der schlanken Figur sah sie zwar passabel, aber auf keinen Fall außergewöhnlich aus. Männer schenkten ihr selten Beachtung, und Micah hatte sie seit ihrer ersten Begegnung keines zweiten Blickes gewürdigt. „Hast du Anna in letzter Zeit gesehen?“ fragte sie. Micah runzelte die Stirn. „Was?“ Dann zuckte er die Schultern. „Seit Jahren nicht, nein.“ Callie schluckte. Ihre Mutter hatte nie abgestritten, dass sie ein Verhältnis mit Micah hatte. Und schließlich hatten die beiden sich leidenschaftlich geküsst, als Jack sie erwischte. Natürlich war es albern, aber Callie fühlte sich dadurch betrogen und verhielt sich Micah gegenüber seitdem feindselig. Dabei sorgte doch schon allein der Altersunterschied dafür, dass Micah unerreichbar für sie war. Mit ihren zweiundzwanzig Jahren war sie für ihn viel zu jung. Er war sechsunddreißig, und schon damals, als er noch zu Hause lebte, hatte sie atemberaubend schöne Frauen an seiner Seite gesehen. Micah griff ungeduldig nach ihrem Arm und schüttelte sie leicht. „Hast du das verstanden, Callie? Nimm die Sache bitte ernst. Ich bin nicht zum Vergnügen hier.“ Mechanisch nickte sie. Micah ließ sie wortlos stehen und ging zu seinem Wagen zurück, einem schwarzen Porsche-Cabriolet. Jack hatte ihr gegenüber erwähnt, dass Micah von seiner verstorbenen Mutter einen Treuhand-Fonds geerbt hatte, der allerdings niemals ausgereicht hätte, um seinen luxuriösen Lebensstil zu finanzieren. Woher Micah die Mittel nahm, um sich jedes Jahr einen neuen Sportwagen und die teuersten Anzüge zu leisten, war ihnen beiden ein Rätsel. Callie seufzte und beobachtet, wie Micah mit einer lässigen Handbewegung die
Wagentür öffnete, einstieg und mit quietschenden Reifen davonbrauste. Er ließ sie verwirrt und unruhig zurück. Seine eindringliche Warnung hatte ihre Wirkung nicht verfehlt, wenn Callie auch für sich selbst nichts befürchtete. Um Jack allerdings hatte sie Angst. Wenn sie nach Hause kam, würde sie sofort die Waffe laden, die Jack im Haus aufbewahrte. Und wenn es hart auf hart käme, würde Callie nicht zögern, sie auch zu benutzen. Erst als Micahs Wagen um die Ecke verschwunden war, wandte sich Callie ihrem eigenen kleinen, gebraucht gekauften gelben VW zu, stieg ein und machte sich auf den Weg zu Jack. Obwohl die Kreuzung ganz offenbar völlig frei war, hielt Callie vorschriftsmäßig an dem einzigen Stoppschild auf ihrer Strecke. Tagsüber war ihr Stiefvater in einem etwas außerhalb von Jacobsville gelegenen Tagespflegeheim untergebracht, und sie war auf dem Weg zu ihm, um ihn wie jeden Nachmittag dort abzuholen. Plötzlich schoss die dunkle Limousine, die Callie bis jetzt nicht bemerkt hatte, an ihr vorbei und scherte direkt vor ihr wieder ein. Sie schrie überrascht auf, trat auf die Bremse, vergaß aber, die Kupplung zu treten, so dass der Motor ausging. Voller Panik lehnte sie sich über den Beifahrersitz, um die Tür zu verriegeln, als drei schlanke, dunkelhaarige und erstaunlich gut aussehende Männer sich dem Wagen näherten. Der größte von ihnen riss die Fahrertür auf und zerrte Callie grob aus dem Auto. Sie wehrte sich mit aller Kraft, doch dann presste ihr jemand ein Taschentuch auf Mund und Nase. Die Chloroformdämpfe wirkten sofort. Callie sank in sich zusammen, und es wurde dunkel um sie. Micah fluchte halb laut, als er mit Höchstgeschwindigkeit durch die Stadt raste. Die Unterhaltung mit Callie hätte er sich sparen können. Er hatte nicht den Eindruck, dass sie seine Warnung ernst genommen oder überhaupt richtig zugehört hatte. Dabei bot sich Callie einem skrupellosen Killer wie Lopez als geradezu ideale Zielscheibe an. Mit ihrem weichen Herzen und dem großen Mitgefühl für andere war Callie ja schon im normalen Leben leichte Beute für Trickbetrüger und sonstige dunkle Gestalten. Sie wünschte niemandem Böses und hätte niemals absichtlich jemanden verletzt. Micah dachte nicht gern daran, wie schlecht er sie in der Vergangenheit behandelt hatte. Auf dem Weg zu seinem Motel hielt er an einem Fastfood-Restaurant und aß ein Sandwich. Erst vor wenigen Tagen hatte er zusammen mit Eb Scott, Cy Parks und dem Drogendezernat Lopez’ neuesten Plänen einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Das Land, auf dem der Drogenhändler einen neuen Umschlagplatz eingerichtet hatte, sämtliche Fahrzeuge und die HightechAusrüstung waren beschlagnahmt worden, seine Handlanger wanderten ins Gefängnis. Micah selbst hatte dafür gesorgt, dass die Küstenwache auch von der Schiffsladung Kokain erfuhr, die auf dem Weg nach Texas war. Lopez würde Schwierigkeiten haben, den Verlust von Kokain im Wert von fünf Milliarden Dollar seinen Drogenbossen in Kolumbien zu erklären. Und deshalb hatte er Rache geschworen. Da er an Micah aber nur schwer herankam, waren Callie und Jack sein am nächsten liegendes Ziel. Der Gedanke daran verursachte Micah Übelkeit. Im Motel streckte er sich auf dem Bett aus, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke. Wie konnte er die beiden schützen? Ein privater Bodyguard würde in einer Kleinstadt wie Jacobsville viel zu sehr auffallen. Wenn er selbst die Rolle übernahm, lockte er Lopez erst recht damit her. Solange die Gefahr bestand, dass dieser Mann Callie oder Jack etwas antun könnte, durfte Micah auf keinen Fall auf die Bahamas zurückkehren, doch der Gedanke, länger hier zu bleiben, gefiel ihm auch nicht sonderlich. Er hatte zwar seine Jugend in Jacobsville verbracht, aber keine zehn Pferde konnten ihn auf Dauer in so einem
Kaff halten.
Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken.
„Steele?“ meldete er sich gähnend.
„Hier ist Eb. Ich habe gerade einen Tipp von unserem Informanten in Aruba
bekommen.“
„Was ist los?“ Schlagartig war Micah wieder hellwach.
„Hast du Callie heute gesehen?“
„Ja, vor etwa zwei Stunden. Wieso?“
„Unser Informant hat über drei Ecken gehört, dass Lopez vorhat, sie zu
kidnappen, und zwar schon recht bald. Du solltest besser ein Auge auf sie
haben.“
„Deshalb habe ich mich ja mit ihr getroffen – um sie zu warnen.“
„Eine Warnung hilft da nicht viel“, gab Eb düster zurück. „Du kennst doch Lopez.
Selbst wenn sie bewaffnet wäre, hätte sie gegen seine Leute keine Chance.“
„Ich finde raus, wo sie ist, und ruf dich wieder an“, sagte Micah, legte auf und
fluchte halb laut. Wieso hatte er nicht gleich entsprechende Maßnahmen
ergriffen?
Die Schwester im Tagespflegeheim informierte ihn, dass Callie bereits seit zwei
Stunden überfällig war und Jack begann, sich Sorgen zu machen. Micah
versprach, sie so bald wie möglich zurückzurufen, stieg in seinen Wagen und fuhr
die Strecke zum Pflegeheim ab.
Als er die Kreuzung erreichte, blieb ihm fast das Herz stehen. Callies gelber VW
parkte auf dem Seitenstreifen, die Fahrertür stand weit offen.
Micah stieg aus und biss sich auf die Lippen, als er sah, dass der Schlüssel
steckte und ihre Handtasche auf dem Beifahrersitz lag. Dafür gab es nur eine
Erklärung: Lopez hatte Callie gekidnappt.
Der Schock lähmte Micah für einige Augenblicke, und ihm war plötzlich kalt.
Dann riss er sich zusammen. Er wählte auf seinem Handy Ebs Nummer.
„Okay, was soll ich tun?“ fragte Eb sofort, nachdem Micah berichtet hatte.
„Gar nichts“, erwiderte Micah. Er musste sich konzentrieren, um wieder klar
denken zu können. Nervös fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. „Du hast
gerade geheiratet, und ich will nicht noch mehr Frauen in Gefahr bringen. Ich
übernehme die Sache selbst.“
„Was ist mit den anderen?“
„Der Rest des Teams hat Urlaub, aber ich kann sie zusammentrommeln und mich
morgen mit ihnen in Belize treffen.“
Eb schlug vor, auch den örtlichen Polizeichef zu informieren. Micah hatte nichts
dagegen einzuwenden. Allerdings würde er sich nicht auf die Behörden verlassen
– er hatte vor, Callie zu befreien, solange sie noch lebte.
„Und denk dran, dass Lopez irgendwo bei den Behörden einen Informanten hat“,
warnte er Eb. „Ich muss mich noch um meinen Vater kümmern, dann fahre ich
sofort los.“
„Okay. Tut mir Leid, dass es so gekommen ist, Micah.“
„Das ist alles meine Schuld!“ stieß er hervor. „Ich hätte sie nicht eine Sekunde
lang aus den Augen lassen dürfen!“
„Hör auf damit“, sagte Eb ruhig. „Du kannst Callie nur helfen, wenn du einen
klaren Kopf behältst. Wenn du Hilfe brauchst, was auch immer, lass es mich
wissen. Ich habe Kontakte in Mexiko.“
„Ich brauche Ausrüstung“, erwiderte Micah prompt.
„Kein Problem. Was genau?“
Micah beschrieb in groben Zügen, was er vorhatte und welche Ausrüstung dafür
nötig war. Darunter befand sich unter anderem auch eine alte DC-3, ein
langsames, aber zuverlässiges Flugzeug, aus dem er mit seinen Männern mit
Fallschirmen abspringen würde. „Ich habe eine Kontaktperson in Lopez’ Organisation, die euch von da aus weiterhelfen kann“, sagte Eb. „Ruf mich an, wenn ihr in Cancun angekommen seid. Und nimm ein Satelliten-Peilsystem mit.“ „Geht klar. Danke, Eb.“ „Dafür sind Freunde schließlich da. Viel Glück.“ „Danke.“ Micah legte auf. Er wollte Callies Wagen nicht mit offener Tür stehen lassen, doch wenn er ihre Handtasche mitnahm, würden die Behörden ihn beschuldigen, Beweismaterial entfernt zu haben. Schließlich schlug er die Tür zu und schloss den Wagen ab. Die Polizei würde früher oder später vorbeikommen und den ganz normalen Dienstweg einhalten. Solange Micah nicht wusste, wer der Verräter auf Behördenseite war, hinterließ er besser keinerlei Spuren. Als Micah das Tagespflegeheim erreichte, erwog er einen Augenblick lang, selbst mit seinem Vater zu sprechen. Doch das würde den alten Mann nach all den Jahren nur aufregen, vor allem, wenn er erfuhr, dass Callie entführt worden war. Die Gefahr, dass er einen zweiten Schlaganfall oder Herzinfarkt erlitt, war zu groß. Also zog Micah die Leiterin des Pflegedienstes ins Vertrauen. Sie würde Jack erklären, dass eine entfernte Tante von Callie einen Unfall gehabt hatte und Callie nach Houston gefahren war, um nach ihr zu sehen. Eine Schwester würde Jack abends nach Hause bringen, Nachtwache halten und ihn am nächsten Morgen wieder ins Heim fahren. Vom Büro des Heims aus engagierte Micah einen seiner Männer als zivilen Leibwächter. Er sollte als Pfleger auftreten, so dass Jack keinen Verdacht schöpfte. Den Rest der Nacht verbrachte Micah damit, von seinem Motelzimmer aus per Telefon sein in der Welt verstreutes Team zusammenzurufen. Als die Sonne aufging, hatte er die ganze Aktion organisiert. In der kommenden Nacht würden ihn die anderen in Belize treffen. Von dort aus wollten sie dann mit der DC-3 zur Yucatan-Halbinsel fliegen, wo Lopez in der Nähe von Cancun sein Hauptquartier unterhielt. Der Gedanke daran, was Callie in der Zwischenzeit aushalten musste, verursachte ihm Übelkeit, aber wenn sie Erfolg haben wollten, war ein Minimum an Planung nötig. Micah war in all den Jahren, die er sie nicht gesehen hatte, stets über Callie informiert gewesen. Sie war mit einem auswärtigen Geschäftsmann und einem jungen Hilfssheriff ausgegangen, doch es hatte sich keine längere Beziehung entwickelt. Sie schien sich für Männer nicht sonderlich zu interessieren, was Micah verwirrte. Schließlich hatte er ihr an jenem denkwürdigen Weihnachtsfest vorgeworfen, dass sie einen genauso lockeren Lebenswandel habe wie ihre Mutter. Anderseits schien es da wirklich keine Männergeschichten zu geben, denn in einer Kleinstadt wie Jacobsville ließ sich kaum etwas vertuschen. Der Gedanke, dass seine Worte von damals sie verletzt haben könnten, beschämte ihn. Sie hatte ihm niemals etwas getan, es war ihre Mutter gewesen, die die Familie zerstört hatte. Doch Callie war immer die Zielscheibe seiner Wut gewesen. Und jetzt trug er die Schuld daran, dass sie Lopez ausgeliefert war. Micah fuhr zum Flughafen, überreichte einem Angestellten der Mietwagenfirma die Autoschlüssel des Porsche und checkte ein. Seine Aufträge waren immer gefährlich gewesen, doch diesmal ging es um mehr als Leben und Tod. Callie kam auf dem Rücksitz einer Limousine zu sich. Sie war an Händen und Füßen gefesselt, ein Knebel steckte in ihrem Mund. Die drei Männer, die sie entführt hatten, unterhielten sich in einer Sprache, die sie nicht verstand, die aber in ihren Ohren wie Arabisch klang. Als einer der Männer sich zu ihr umwandte, schloss sie schnell die Augen. Wenn sie vorgab, noch bewusstlos zu sein, hatte sie vielleicht eine Chance zu
entkommen. Vorsichtig testete sie die Stärke ihrer Fesseln. Es waren Stricke, die sich tief in ihre Haut schnitten. Callies Armbeuge fühlte sich heiß und geschwollen an, offensichtlich hatte man ihr etwas gespritzt. Das erklärte ihre lange Bewusstlosigkeit. Als die Männer sie überfallen hatten, war es Nachmittag gewesen, jetzt sah sie durch das Autofenster die Sonne aufgehen. Wenn sie nur nicht so durstig wäre… Callie erinnerte sich undeutlich an ein Flugzeug. Die Landschaft draußen schien aus formlosen Schatten zu bestehen. Erst als sich ihre Sicht langsam klärte, erkannte sie, dass es Bäume waren. Ein ganzer Dschungel. Ihre Gedanken verwirrten sich, kehrten dann aber wieder in die Gegenwart zurück. Was hatten ihr diese Kerle bloß verabreicht? Als sie ein lautes Lachen hörte, riss Callie die Augen auf. Einer der Männer deutete auf sie, was den anderen zu einem schmierigen Grinsen veranlasste. Callie blickte an sich herunter und sah, dass bei dem kurzen Kampf ihre Bluse zerrissen war und nun den Blick auf ihren BH freigab. Ihr wurde übel. Sie brauchte die Sprache nicht zu verstehen, um zu wissen worüber die Männer sprachen. Bis jetzt war sie Jungfrau, doch das würde sich schnell ändern. Traurigkeit überkam sie. Wenn nur Micah sie an jenem Weihnachtstag nicht abgewiesen hätte… Jetzt war es zu spät. Ihre einzige Erfahrung mit Männern würde ein Albtraum sein, den sie wahrscheinlich nicht mal überlebte. Die Fahrt kam Callie wie eine Ewigkeit vor, doch das konnte auch daran liegen, dass sie vor Hunger und Durst fast umkam. Ihre Arme und Beine waren bleischwer und schmerzten. Dennoch erschien ihr die ganze Situation völlig unrealistisch. Entführungen waren etwas für die Reichen und Berühmten. Wieso sollte sich jemand mit ihr abgeben wollen? Micah würde bestimmt kein Lösegeld für sie zahlen, und sonst hatte sie keine Verwandten. Ging es wirklich um Rache, wie Micah gesagt hatte? War es Lopez, der hinter all dem steckte? Ihr Mut sank. Gegen einen international gesuchten Drogengangster hatte sie niemals eine Chance. Kurze Zeit später passierte der Wagen ein großes Stahltor, das sich hinter ihnen wieder schloss. Die lange Zufahrt führte zu einer mediterranen Villa, die sich über einer kleinen Bucht erhob. Der parkartige Garten stand in voller Blüte. Callie erkannte Hibiskusbüsche und hätte beinahe hysterisch gelacht. Als wäre sie kurz entschlossen zu einem Kurzurlaub aufgebrochen, um dem kühlen Novemberwetter in Texas zu entkommen! Als der Wagen anhielt und die Tür von einem dunkelhäutigen Mann geöffnet wurde, der eine Maschinenpistole auf sie richtete, war ihr allerdings mehr zum Weinen zu Mute. Die Männer nahmen keine Rücksicht auf ihre Fesseln und zerrten Callie grob aus dem Wagen. Sie zuckte zusammen, als man sie auf die Beine stellte, dann knickten ihr die Knie ein. Die Männer ergriffen grob ihre Oberarme, um Callie auf das Haus zuzustoßen. In der Eingangshalle blieben sie endlich stehen, und Callie blickte sich benommen um. Der Boden war schwarzweiß gefliest, wie ein Schachbrett. Im Hintergrund sah sie eine elegant geschwungene Freitreppe, und hoch über ihr glitzerte ein Kronleuchter. Während sie versuchte, sich zu orientierten, kam ein untersetzter, kahlköpfiger Mann auf sie zu. Er hielt die Hände in den Hosentaschen vergraben und umrundete sie, als wäre sie ein Pferd, das er kaufen wollte. Seine kleinen, dunklen Augen glitzerten, und seine vollen Lippen hatte er zu einem abschätzigen Grinsen verzogen. Mit einem Ruck riss er ihren Knebel herunter. „Miss Kirby“, sagte er halb laut. Er sprach mit einem starken Akzent. „Willkommen in meinem bescheidenen Heim. Ich bin Manuel Lopez. Sie werden mein Gast sein, bis ihr aufsässiger Stiefbruder Ihnen zu Hilfe eilt.“ Er blieb direkt vor ihr stehen, und sein Grinsen wurde noch breiter. „Und wenn er
hier eintrifft, werde ich ihm zeigen, was meine Männer von Ihnen übrig gelassen haben, bevor ich ihn eigenhändig töte!“ Noch niemals hatte Callie einen Ausdruck von solch willkürlicher Grausamkeit gesehen. Sie war vor Angst wie gelähmt. Beiläufig streckte Lopez die Hand aus und riss ihre Bluse weiter auf, so dass ihre kleinen Brüste in dem verschlissenen Baumwoll-BH voll zu sehen waren. „Ich hatte eine etwas attraktivere Frau erwartet“, sagte Lopez und schürzte die Lippen. „Zu schade, dass Sie nichts haben, was Sie uns anbieten könnten, nicht? Kleine Brüste und eine magere Figur wie Ihre verschaffen einem Mann keine Befriedigung. Aber Kalid ist da nicht so wählerisch“, fügte er nach einem Augenblick hinzu. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf einen schlanken, dunkelhaarigen Mann, der an der Tür stand. „Wenn ich Informationen aus jemandem herausholen will, verlasse ich mich ganz auf ihn. Und da Sie nichts wissen, was mir nützlich sein könnte, wird er sie einfach als Übungsobjekt benutzen, was den Spaß verlängern dürfte.“ Callie hörte hinter sich einen Schwall Worte in der Sprache, die sie im Auto schon gehört und nicht verstanden hatte. „Redet Spanisch!“ fuhr Lopez die Redner an. „Ihr wisst genau, dass ich Arabisch nicht mag!“ „Die Frau“, wiederholte einer der Männer, jetzt auf Spanisch. „Können wir sie haben, bevor Kalid sie bekommt?“ Lopez betrachtete die drei Männer, die Callie entführt hatten, nachdenklich und ließ schließlich wieder sein böses Grinsen sehen. „Warum eigentlich nicht? Ich schenke sie euch. Es wird ihren Stiefbruder noch mehr ärgern, wenn er sie geschändet vorfindet. Aber nicht, bevor ich es euch erlaube“, fügte er kalt hinzu. „Bringt sie vorerst in das leere Dienstbotenzimmer im zweiten Stock. Und sorgt dafür, dass sie still ist. Ich erwarte wichtige Gäste und möchte nicht durch Lärm gestört werden.“ Die Aussicht, wieder geknebelt zu werden, riss Callie aus ihrem benommenen Zustand. „Mein Stiefbruder kommt ganz bestimmt nicht selbst hierher“, sagte sie, erschrocken, wie heiser ihre Stimme klang. „Er ist kein Mann der Tat. Werden Sie denn kein Lösegeld fordern?“ Lopez blickte sie an, als wäre sie von Sinnen. „Wieso glauben Sie, dass Steele nicht selbst kommt?“ „Er ist Arzt, nicht Rambo. Er hat keine Ahnung von Rettungsaktionen!“ Lopez schien das unglaublich erheiternd zu finden. „Außerdem“, fügte Callie schnell hinzu, „hasst er mich. Er wird wahrscheinlich froh sein, wenn er erfährt, dass Sie mich geschnappt haben. Dann muss er sich nicht mehr mit mir abgeben.“ Lopez runzelte die Stirn, doch nach einem Augenblick hob er gleichgültig die Schultern. „Unwichtig“, sagte er schlicht. „Wenn er kommt, schön. Wenn nicht, wird er um seinen Vater umso besorgter sein. Der ist nämlich der Nächste auf unserer Liste.“ Callie öffnete den Mund, um noch etwas zu fragen, doch bevor sie dazu kam, schnippte Lopez mit den Fingern, und die drei Männer zerrten sie zur Treppe. 2. KAPITEL Noch nie hatte sich Callie in so großer Gefahr befunden. Die Männer hatten sie in dem kleinen Raum im Obergeschoss eingeschlossen und sich selbst überlassen. Hunger und unerträglicher Durst quälten sie, außerdem schmerzten ihre Glieder von den engen Fesseln. Sie schloss die Augen.
Von unten erklangen manchmal Geräusche, die darauf schließen ließen, dass Lopez’ Gäste eingetroffen waren. Draußen hörte sie leise die Wellen rauschen. Sie fragte sich, was Lopez wohl mit ihrer Leiche machen würde. Sie den Haien zum Fraß vorwerfen? Als es völlig dunkel geworden war, döste Callie vor lauter Erschöpfung hin und wieder ein. Sie wusste nicht, wie viel Zeit dabei verging, doch es mussten Stunden sein. Dann war sie plötzlich nicht mehr allein. Die Tür öffnete und schloss sich, und die drei Männer aus dem Wagen standen vor ihr. Sie hatte kurz die Vision, die Beute eines Rudels von Raubtieren zu sein, dann fielen sie auch schon über sie her. Einer hielt sie fest, während der andere ihr mit dem Messer die Hosenbeine aufschnitt und ihr die Reste ihrer Bluse vom Leib riss. Ihr Handy fiel aus der Hosentasche, und der Dritte hob es auf, um es dann lachend in die Luft zu werfen. Callie schloss die Augen und betete um Kraft, das Kommende durchzustehen. Wenn doch nur Micah der erste Mann in ihrem Leben gewesen wäre, und nicht diese brutalen Wilden! Einer von ihnen machte in gebrochenem Spanisch spöttische Bemerkungen über ihren Körper und ihre kleinen Brüste. Die Szene brachte die Erinnerung zurück an jenen Moment, als Callie in einer Pflegefamilie vom Sohn des Hauses beinahe vergewaltigt worden war. Danach hatte man sie in eine andere Pflegefamilie gesteckt. Damals war sie gerade noch davongekommen, doch diesmal konnte sie nicht auf Rettung in letzter Minute hoffen. Verzweifelt versuchte Callie, sich abzulenken. Ihre Großmutter fiel ihr ein, die Mutter ihres leiblichen Vaters, eine warmherzige, liebevolle Frau. Sie hatte immer eine wundervolle Zeit bei ihr verbracht, wenn ihre Eltern auf Reisen waren. Als die alte Frau ganz unerwartet starb, war Callie wieder allein gewesen. Jeder, der sie je geliebt hatte, war entweder tot oder hatte sie verlassen. Niemand würde sie noch vermissen, außer Jack vielleicht… Ein scharfes Kommando riss sie aus den Gedanken. Die Männer verließen den Raum, und sie taumelte zitternd rückwärts, bis sie an einen alten Korbstuhl stieß, der am Kamin stand. Stöhnend ließ sie sich hineinsinken. Der Aufschub würde nicht lange währen, das war ihr klar. Wenn sie sich nur befreien könnte! Doch die Stricke gaben keinen Millimeter nach. Die Männer hatten Callie nur die Unterwäsche gelassen, einen Baumwollslip und ihren alten BH. Sie trug die Sachen, weil sie bequem waren, nicht, um Männer zu beeindrucken. Tränen des Zorns und der Scham traten ihr in die Augen. Jede Minute würden die Männer zurückkommen, um ihren Spaß mit ihr zu haben. Dazu mussten sie sie jedoch losbinden, und das war ihre einzige Chance. Wenn sie schnell genug war, gelang es ihr vielleicht, in den Dschungel zu fliehen. Die Tür öffnete sich wieder, und einer der Männer kam allein zurück. Er zog ein Taschenmesser hervor, ließ es aufschnappen und durchtrennte beiläufig einen Träger ihres BHs. Es gelang ihr, trotz des Knebels ein verständliches spanisches Schimpfwort auszustoßen. Wenn sie ihn wütend machte, verlor er vielleicht die Beherrschung und löste die Fesseln, um sie gleich zu vergewaltigen… Sie wiederholte die Beschimpfung. Der Mann fluchte, doch anstatt sie loszubinden, fasste er sie hart an der Schulter, stieß sie in den Stuhl zurück und drückte die Messerspitze in das weiche Fleisch oberhalb ihrer Brust. Callie stöhnte leise, als die Klinge eindrang. „Wir werden dir erst mal Manieren beibringen müssen“, stieß der Mann auf Spanisch hervor. „Du machst, was ich dir sage!“ Grob riss er ihr den BH halb
herunter und lachte höhnisch, als er ihre nackte Brust sah. Callie biss die Zähne zusammen. Die Wunde schmerzte. Was hatte sie sich bloß gedacht! Jetzt würde er sie foltern. Sie fühlte sich sterbenselend und blickte, still um Gnade flehend, zu ihm auf. Das brachte ihn noch mehr zum Lachen. Ihre Angst und ihr Scham stachelten ihn nur noch weiter an. Er ging zur Tür und schloss von innen ab. „Wir wollen doch ungestört sein, oder?“ Das Messer in der Hand, kam er wieder auf sie zu. „Seit Texas freue ich mich auf diesen Moment…“ Etwas in Callie gab nach. Sie schloss die Augen und wartete ergeben darauf, dass er zustach. Vor der Tür wurde es unruhig. Callie blinzelte und hoffte, dass die Geräusche den Mann ablenken würden, doch er war viel zu beschäftigt damit, sich an ihrem Elend zu weiden. Er stützte sich mit der einen Hand neben ihrem Kopf auf der Stuhllehne auf, mit der anderen richtete er die Messerspitze direkt auf ihre Brust. „Na los, fleh mich an, es nicht zu tun. Mach schon.“ Callie blickte ihm in die Augen, und der Ausdruck darin ließ sie erstarren. Dieser Mann war ein Sadist. Er würde sie nicht töten, vorerst jedenfalls nicht. Wenn es endlich so weit war, würde sie den Tod mehr als willkommen heißen. „Sag .bitte’!“ verlangte er und drückte die Klinge fester in ihr Fleisch. Plötzlich ertönten Schüsse. Gleichzeitig zersprang das Fenster hinter ihrem Peiniger, und Callie hörte, wie Kugeln in seinen Körper schlugen. Mit einem gurgelnden Laut fiel er zu Boden und blieb regungslos liegen. Um ihn herum breitete sich eine Blutlache aus. Callie schrie auf, als sich ein Mann über sie beugte, dessen Gesicht völlig von einer schwarzen Maske verborgen war. Nur für die Augen und den Mund waren kleine Schlitze frei gelassen. Er war ganz in Schwarz gekleidet und hielt in der einen Hand eine Maschinenpistole, in der anderen ein Messer. Als sein Blick auf die Schnittwunde in ihrer Brust fiel, stieß er einen Fluch aus. Mühelos zog er Carrie hoch und durchtrennte geschickt ihre Fesseln. Sie hatte keinerlei Gefühl in den Gliedern und knickte in sich zusammen. Wortlos beugte er sich vor, hob sie sich über die Schulter und ging zum Fenster. Nachdem er die restlichen Scherben entfernt hatte, zog er ein schwarzes Seil zu sich heran, das am Dach befestigt zu sein schien. Der Mann war groß und offensichtlich sehr stark. Callie war viel zu erschöpft, um irgendetwas zu tun oder zu sagen. Sie dachte nicht mal daran, den Knebel zu entfernen, den sie noch immer trug. Wenn dies hier ein Bandenkrieg war, und ein anderer Drogenboss sie entführte, dann wahrscheinlich, um Lösegeld zu fordern. Vielleicht würde er seinen Leuten nicht erlauben, sie zu foltern. Müde schloss sie die Augen und wunderte sich, dass ihr der Geruch des Mannes, über dessen Schulter sie lag, vertraut war. Ob er dasselbe Aftershave benutzte wie Jack oder ihr Chef? Immerhin war sie für den Moment in Sicherheit. Die Schnittwunde auf der Brust schmerzte, als sich der raue Stoff seines langärmligen T-Shirts dagegen rieb, doch das war Callie im Augenblick egal. Wenn sie nur Lopez oder seine Männer nie wieder sehen musste… Ohne sie abzusetzen, sprang ihr geheimnisvoller Retter auf die Fensterbank, legte eine behandschuhte Hand um das Seil und ließ sich mit ihr daran hinuntergleiten. Sie hielt die Luft an, als sie mit ihm in die Tiefe stürzte, und klammerte sich an ihm fest. Doch er ließ sie weder fallen, noch schien das zusätzliche Gewicht ihn im Geringsten zu behindern. Offensichtlich hatte er Übung in solchen gefährlichen Aktionen. Als sie unten ankamen, gab der Mann in Schwarz einige Handzeichen, und Callie erkannte, dass sie nicht allein waren. Mehrere schwarze Gestalten rannten auf
den Dschungel zu, verfolgt von Lopez’ Leuten, die auf sie feuerten. Auf dem Zufahrtsweg wartete mit laufendem Motor ein Geländewagen, dessen hintere Tür offen stand. Callies Retter warf sie auf den Rücksitz, sprang neben ihr in den Wagen und zog die Tür zu. „Fahr los!“ rief er dem Fahrer zu. Endlich kam Callie genügend zu sich, um den Knebel zu entfernen. Ihre Hände waren noch immer taub. Mit quietschenden Reifen raste der Wagen los. Kugeln schlugen in die Karosserie, und die Männer im Wagen erwiderten das Feuer. Der Mann auf dem Beifahrersitz trug einen kurzen Bart und einen schmalen Schnauzer und war mindestens ebenso gut gebaut wie ihr Retter. Der Fahrer war offenbar ein echter Profi, der geschickt dem Gewehrfeuer auswich und gleichzeitig den Vorsprung zu dem Wagen, der sie verfolgte, weiter vergrößerte. All das überzeugte Callie davon, dass es sich nicht um eine rivalisierende Drogenbande handelte. Dies sah eher nach einer Spezialeinheit der Polizei aus. Oder sollte Micah etwa Eb, Cy und deren Leute zu ihrer Rettung ausgesandt haben? Der Gedanke ließ ihr Herz schneller schlagen. Wenn es so war, dann hatte sicherlich Jack ihn dazu überredet. Niemals hätte Micah aus eigenem Antrieb so viel Geld für sie ausgegeben. Sie zitterte vor Erschöpfung und Kälte. Ihr Retter hatte die Überreste ihrer Kleidung im Haus zurückgelassen, und Callie machte sich so gut wie möglich unsichtbar. Im Wagen war es zum Glück dunkel, und sie schloss die Augen. Noch immer schlugen hin und wieder Kugeln in den Wagen, doch es war ihr gleichgültig, ob sie getroffen wurde. Alles war besser, als wieder in Lopez’ Gewalt zu sein. Nach einigen hundert Metern machte die Straße eine Kurve. Callies Retter ließ den Wagen halten, griff nach einem Rucksack und sprang hinaus, wobei er sie mit sich zog. Dann befahl er dem Fahrer, weiterzufahren. Wieder hob er Callie auf die Schulter und trug sie in das dichte Unterholz des Urwalds, wo er sie absetzte und ihr bedeutete, sich hinzulegen. Er drückte sich neben sie in das Gestrüpp und wartete darauf, dass der Jeep, der sie verfolgt hatte, vorbeifuhr. Vor Angst wie gelähmt, hielt Callie den Atem an. Die dornigen Zweige stachen ihr in die nackten Arme und Beine, doch sie gab keinen Laut von sich. Plötzlich kam der Jeep in Sicht. Er bremste vor der Kurve ab, hielt jedoch nicht an. Sekunden später wurden seine Rücklichter von der Dunkelheit verschluckt. Callie atmete auf. Bis hierher hatten sie es geschafft. Die Nähe des Mannes neben ihr vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Sie hoffte nur, dass die beiden Männer, mit denen sie im Wagen gesessen hatten, davonkamen. Wenn sie Callies wegen verletzt oder getötet würden, würde sie sich das nie verzeihen. „Das hat ja gut geklappt“, bemerkte ihr Retter zufrieden und stand auf. Er holte ein elektronisches Gerät aus dem Rucksack und drückte einige Knöpfe, peilte damit offenbar die Richtung. „Kannst du laufen?“ fragte er Callie. Seine Stimme kam ihr bekannt vor. Sicherlich lag es an ihren überreizten Nerven. Sie stand mühsam auf. „Ja. Aber ich habe keine Schuhe an“, sagte sie, noch immer ganz benommen. Er richtete seine Taschenlampe auf sie und betrachtete sie von oben bis unten. Als er ihren zerschnittenen BH sah, fluchte er halb laut. „Was zum Teufel haben sie mit dir angestellt?“ fragte er. Seine tiefe Stimme schien eine beruhigende Wirkung auf sie zu haben. Ihre Stimme zitterte kaum, als sie antwortete. „Dank Ihnen nicht das, was sie vorhatten. Es ist keine tiefe Wunde, nur ein oberflächlicher Schnitt. Aber wenn wir laufen, brauche ich wohl Schuhe. Und Sie haben nicht zufällig ein T-Shirt oder so was dabei?“ Wortlos zog er ein schlichtes schwarzes T-Shirt aus dem Rucksack und streifte es
ihr üben Sogar an eine Hose hatte er gedacht. Sie hatte ein Tarnmuster und war zu lang, passte aber ansonsten überraschend gut. Zum Schluss reichte er Callie ein Paar Ledermokassins und zwei Paar Socken. „Sie sind wahrscheinlich zu groß, deshalb die Socken“, erklärte er. „Beeil dich. Lopez’ Leute sind überall, und wir müssen rechtzeitig am Treffpunkt ankommen.“ Nicht mehr halb nackt zu sein, gab Callie ein großes Stück ihres Selbstvertrauens zurück. Schnell schlüpfte sie in die Socken und Schuhe. Der Urwald war dicht, aber nicht undurchdringlich. Ihr Retter ging mit der Taschenlampe voraus, das Messer in der linken Hand. Er ist Linkshänder, wie Micah dachte Callie zusammenhangslos. „Bleib dicht hinter mir und sei leise“, zischte er ihr über die Schulter gewandt zu. „Achte auf meine Bewegungen und bleib sofort stehen, wenn ich es tue.“ „In Ordnung“, flüsterte sie. „Ich kümmere mich um die Verletzung, wenn wir in Sicherheit sind.“ Callie schwieg. Viel wichtiger wäre ihr ein Schluck Wasser gewesen, doch ihr war klar, dass sie dafür keine Zeit hatten. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, lauschte dabei angestrengt in die Dunkelheit. Ihre größte Angst bestand darin, dass plötzlich einer von Lopez’ Leuten nach ihr griff. Ein Rascheln im Unterholz ließ sie erstarren, doch als ihr Begleiter die Taschenlampe darauf richtet, war es nur ein großer Leguan. Erleichtert lachte sie auf, was ihr ein Stirnrunzeln ihres Retters einbrachte. Er sagte jedoch nichts, blickte kurz auf sein elektronisches Gerät und ging weiter. Manchmal schlugen sie Haken, einmal gingen sie sogar ein ganzes Stück auf dem Weg zurück, den sie gekommen waren, wobei ihr Retter absichtlich deutliche Spuren hinterließ. Callie schwieg zu allem und folgte ihm gehorsam. Das schien ihn zu irritieren. Mehrmals wandte er sich zu ihr um, als wolle er sich dabei vergewissern, dass sie noch da war. Zwei Stunden später hielt er an einem kleinen Wasserlauf an. „Wir können hier eine Pause machen, der Vorsprung ist groß genug“, sagte er, öffnete den Rucksack und warf Callie eine kleine Wasserflasche zu. „Du hast bestimmt Durst.“ Callie öffnete die Flasche mit zitternden Händen und trank die Hälfte in einem Zug leer. Ihr Begleiter stellte eine kleine Lichtquelle auf und beobachtete stirnrunzelnd, wie Callie den Rest des Wassers mit großen, gierigen Schlucken trank. „Wann hast du das letzte Mal etwas getrunken?“ fragte er. „Vorgestern“, stieß Callie zwischen zwei Schlucken hervor. Erneut stieß er einen Fluch aus und zog sich mit einer fließenden Bewegung die Maske vom Gesicht. Callie ließ die Wasserflasche fallen. Vor ihr stand ihr Stiefbruder Micah. „Ich dachte mir, dass es dich überraschen würde“, sagte er düster und bückte sich, um die Flasche aufzuheben. „Du bist selbst gekommen?“ fragte Callie fassungslos. „Aber warum? Und wie?“ „Irgendwo in der Polizeibehörde gibt es einen Verräter, der für Lopez arbeitet“, erwiderte Micah. „Da wollte ich kein Risiko eingehen. Außerdem sind die Behörden nicht besonders schnell.“ Er warf ihr ein Aluminiumpäckchen zu. „Das hier ist eine Instant-Mahlzeit“, erklärte er. „Schmeckt nicht überragend, aber wenn man Hunger hat, gehts.“ „Danke“, flüsterte Callie. Als er sah, wie hungrig sie das karge Mahl verzehrte, runzelte er die Stirn. „Haben sie dir auch nichts zu essen gegeben?“ Sie schüttelte den Kopf. „Das hielten sie wohl für Verschwendung, da sie ja sowieso vorhatten, mich zu töten.“
Er erstarrte. „Was?“
Kauend blickte sie zu ihm auf. „Er überließ mich dreien seiner Männer und sagte,
sie könnten mit mir machen, was sie wollten, bevor sie mich töteten. Als einer
von denen allein mit mir war, versuchte ich, ihn wütend genug zu machen, dass
er mich losbinden würde, aber stattdessen ging er mit dem Messer auf mich los.“
Das Essen half ihr, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. „Als du hereinkamst,
war er gerade kurz davor, mich weiter zu bearbeiten.“
„Ich sollte mir die Wunde besser mal ansehen. In diesem tropischen Klima gibt
es schnell eine Infektion.“ Micah holte einen Erste-Hilfe-Kasten aus dem
Rucksack und ging den Inhalt durch, nahm Callie dann das Essen aus der Hand
und zog ihr das T-Shirt über den Kopf.
Sie presste die Lippen zusammen, als sie an ihren zerschnittenen BH dachte,
doch sie ließ Micah gewähren.
„Ich weiß, dass es schwer für dich ist, nach allem, was du durchgemacht hast“,
sagte er. „Aber denk dir einfach, dass ich Arzt bin. Immerhin stimmt das ja auch
fast.“
Sie schluckte und schloss die Augen. „Wenigstens machst du dich nicht über
meine Figur lustig, während du mich verarztest“, sagte Callie matt.
„Wie bitte?“
„Schon gut“, gab sie zurück. „Ich bin so müde!“
„Kann ich mir vorstellen.“
Micah beugte sich vor, um den Verschluss des BHs im Rücken zu öffnen, und sie
drückte den Stoff unwillkürlich an sich.
Micahs Gesicht verfinsterte sich. „Ich würde dir das gern ersparen, aber es geht
nicht anders.“
Callie holte tief Atem und schloss die Augen, während er ihr den BH vom Körper
streifte. Der Anblick der Messerwunde machte ihn unglaublich wütend. Sie hatte
hübsche kleine Brüste, fest und wohl geformt, mit dunklen Brustwarzen. Er
spürte deutlich seine männliche Reaktion darauf und kämpfte mit dem plötzlichen
Verlangen, das ihn überfiel. Energisch verbat er sich, an etwas anderes als die
Wunde zu denken.
Um die Verletzung zu säubern, musste er Callies Brust berühren, und sie zuckte
zusammen. „Ich werde so vorsichtig wie möglich sein“, sagte er beruhigend, da
er dachte, sie hätte Schmerzen. „Beiß die Zähne zusammen.“
Das tat sie, doch es nützte nichts. Als sie seine großen, warmen Hände auf der
Haut spürte, sog sie scharf die Luft ein. Ein Gefühl der Erregung überkam sie. Sie
wollte ihn, wollte ihn schon so lange. Aber das würde er nie erfahren.
Micah legte eine Kompresse auf die Wunde und klebte ein Pflaster darüber.
„Meine Güte, ich habe ja schon allerhand miese Typen kennen gelernt, aber der
Kerl, der das getan hat, ist eine Klasse für sich.“
Die Erinnerung an den Mann ließ Callie schaudern. Micah zog ihr das T-Shirt
wieder an. „Ich hatte unglaubliches Glück“, flüsterte sie.
Er blickte ihr in die Augen. „Die Wunde ist nicht tief und muss nicht genäht
werden. Wahrscheinlich bleibt nicht mal eine Narbe zurück.“
„Und wenn, wäre es auch egal“, sagte Callie leise.
„Ganz und gar nicht.“ Micah stand auf und zog sie mit sich hoch. „Jetzt kennen
wir uns schon so lange, und trotzdem bist du in meiner Nähe furchtbar
angespannt.“
Sie wandte den Blick ab. „Du magst mich nicht.“
„Ach, du lieber Himmel!“ rief er aus und ließ sie los. „Hast du denn keine Augen
im Kopf?“
Sie fragte sich, was er damit meinte, aber sie war zu erschöpft, um darüber
nachzudenken. Stattdessen hob sie ihr Essenspäckchen auf und machte sich
hungrig über den Rest her. Nachdenklich betrachtete sie die Hose, die er ihr
gegeben hatte.
„Von wem sind die Kleidungsstücke?“ fragte sie. „Dir wären sie viel zu klein.“
„Maddie hat sie mir mitgegeben“, sagte er kurz angebunden. Er war wieder mit
dem elektronischen Gerät beschäftigt.
„Was machst du da eigentlich?“
„GPS, das ist ein Satelliten-Peilsystem“, erklärte er. „Damit kann ich meinen
Männern unsere genaue Position durchgeben. Da drüben ist eine Lichtung, wo sie
mit dem Hubschrauber landen können.“
Callie runzelte die Stirn. „Wer ist Maddie?“
„Mein Beschaffungsdienst. Sie kümmert sich darum, dass wir bei einer Aktion
alles haben, was wir brauchen. Sie ist erstklassig. Und sie sieht dir sogar ein
bisschen ähnlich.“
Eine Welle von Eifersucht überfiel Callie. Das klang, als ob Micah und Maddie eine
Beziehung hätten. Aber warum auch nicht? Callie hatte keinerlei Rechte auf ihren
Stiefbruder.
„Ist sie hier?“ fragte sie. Noch immer konnte sie sich keinen Reim machen auf
Micahs Rettungsaktion.
„Nein, wir haben sie in den USA zurückgelassen. Sie versucht derzeit, etwas über
den Verräter bei den Behörden herauszufinden, und kümmert sich schon mal um
die Sachen, die wir in Miami brauchen.“
Callie schüttelte verwirrt den Kopf. „Du sagst immer wir.“
Micah betrachtete sie ernst. „Callie, womit, glaubst du, verdiene ich mein Geld?“
Das Mondlicht ließ sein Haar silbern schimmern. Seine Gesichtszüge wirkten in
diesem Licht wie gemeißelt. Sie blinzelte. Die Drogen, die die Gangster ihr
verabreicht hatten, schienen immer noch zu wirken. Es fiel ihr schwer, klar zu
sehen und zu denken.
„Deine Mutter hat dir Geld hinterlassen.“
„Zehntausend Dollar“, erwiderte Micah. „Damit könnte ich nicht mal einen neuen
Motor für den Ferrari kaufen, den ich in Nassau fahre.“
Callie legte den Kopf schräg. „Dann hast du also deine Assistenzzeit
abgeschlossen und eine eigene Praxis aufgemacht?“
„Nein, Medizin war nicht mein Ding.“
„Aber was machst du dann?“
„Callie, denk doch mal nach“, sagte er ungeduldig. „Wie viele Männer kennst du,
die erfolgreich in das Hauptquartier eines Drogenbosses eindringen und eine
Geisel befreien können?“
Sie hielt den Atem an. „Dann arbeitest du für ein Sonderkommando der Polizei?“
„Liebe Güte!“ Er stand auf und griff nach dem Rucksack. „Du hast wirklich nicht
den leisesten Schimmer, was?“
„Ich weiß nicht viel über dich, Micah“, erwiderte sie schüchtern. „Du hast es
selbst so gewollt.“
„Manchmal ist es eben nicht ratsam, zu viel auszuplaudern“, gab er zurück. „Ich
habe früher mit Eb Scott und Cy Parks gearbeitet, aber jetzt habe ich mein
eigenes Team. Wir erledigen für Regierungen in aller Welt Sonderaufträge.“
Micah betrachtete Callies überraschtes Gesicht. „Einige Jahre war ich als Ermittler
für die Justizbehörde tätig, aber jetzt bin ich mein eigener Chef. Mit wesentlich
mehr Profit, aber auch mehr Risiko.“
Callie schwieg erschüttert. Schließlich fragte sie leise: „Weiß dein Vater davon?“
„Nein“, erwiderte Micah. „Und ich will auch nicht, dass er es erfährt. Es würde ihn
nur aufregen, selbst wenn er nicht viel für mich übrig hat.“
„Er liebt dich über alles“, sagte Callie, bemüht, seinem Blick auszuweichen. „Er
würde so gerne alles wieder gutmachen, aber er weiß nicht, wie. Jack macht sich
bittere Vorwürfe, dass er dir die Schuld gab für etwas, das meine Mutter getan hat.“ Micah zog eine weitere Instant-Mahlzeit aus dem Rucksack und öffnete sie für sich selbst. „Du hast mich auch beschuldigt.“ Callie schlang die Arme um ihren Oberkörper. „Eigentlich nicht. Meine Mutter ist sehr attraktiv. Sie hat als Model gearbeitet, bevor sie meinen… ihren ersten Mann heiratete.“ Micah runzelte die Stirn. „Du wolltest meinen Vater sagen.“ Ein Schauer rieselte ihr über den Rücken. „Er hat behauptet, ich sei nicht seine Tochter, nachdem er sie mit einem anderen im Bett erwischt hat, als ich sechs war. Er setzte uns beide vor die Tür. Als ich mich an ihn klammerte und bettelte, bei ihm bleiben zu dürfen, stieß er mich von sich und schrie mich an, ich solle ihm nie wieder nahe kommen. Ich sei ein Bastard, sagte er, ganz bestimmt nicht sein Kind. Damals begriff ich nicht, warum er mich nicht trotzdem lieben konnte, aber heute kann ich seine Gefühle verstehen. Danach gab mich Anna weg.“ Micah blickte Callie entsetzt an. „Sie… weis hat sie getan?“ Callie schluckte. „Sie gab mich zur Adoption frei, weil sie angeblich nicht für meinen Unterhalt aufkommen konnte. Ich kam ins Waisenhaus und von dort aus in verschiedene Pflegefamilien. Bis ich fünfzehn war, habe ich sie nur einmal gesehen, und dabei gab es einen Zwischenfall… Es ging jedenfalls nicht gut.“ Hartnäckig blickte Callie auf das Stückchen Boden vor ihr. „Nachdem sie deinen Vater geheiratet hatte, überzeugte er sie davon, mich zu euch zu holen. Sie erzählte, ich hätte bei meiner Großmutter gelebt, damit er nicht dachte, sie sei keine gute Mutter.“ Callie lachte bitter. „Ich hatte sie zwei Jahre lang nicht gesehen. Sie drohte mir, dass sie mich wegen Diebstahls anzeigen würde, wenn ich nicht die liebende Tochter spielte. Sie sagte, wenn ich noch mal ihr Leben zerstörte, würde ich nicht mehr in eine Pflegefamilie kommen, sondern direkt ins Gefängnis.“ 3. KAPITEL Micah schwieg. Nur die Art, wie er mit abgehackten Bewegungen seinen
Rucksack packte, verriet, was in ihm vorging. Er vermied es, Callie dabei
anzublicken.
„Micah?“
„Was?“
„Wenn sie uns finden oder es so aussieht, als ob Lopez uns wieder erwischen
könnte, dann erschieß mich bitte. Ich will lieber sterben, als noch einmal…“
Micah ließ sie nicht ausreden. „Lopez wird dich nicht bekommen. Das verspreche
ich dir.“
„Danke.“ Sie zupfte an ihrer Hose. „Und danke, dass du gekommen bist.“
Plötzlich riss sie erschrocken die Augen auf. „Oje, Micah, wir müssen so schnell
wie möglich zurück nach Texas! Lopez sagte, dein Vater sei der Nächste auf
seiner Liste. Was, wenn sie schon hinter ihm her sind?“
„Beruhige dich, Callie“, sagte Micah. „Ich habe dafür gesorgt, dass er in
Sicherheit ist. Du liebst ihn wirklich, nicht wahr?“ fügte er leise hinzu.
„Er ist der Einzige in meinem Leben, dem ich je etwas bedeutet habe“, flüsterte
sie.
Micah stand unvermittelt auf und begann, ihren Aufbruch vorzubereiten. Er
benutzte eine Art Mobiltelefon, um mit seinem Team Kontakt aufzunehmen, und
drehte sich danach zu Callie um. „Sie sind auf dem Weg hierher. Tut mir Leid,
dass es so lange gedauert hat.“
„Keine Ursache“, antwortete Callie.
Er streifte sich den Rucksack über und deutete jenseits des Wasserlaufs. „Die Lichtung ist am anderen Ufer. Es ist nicht tief, aber ich kann dich tragen…“ „Ich wate lieber“, sagte sie und stand auf. Noch immer waren ihre Glieder steif und geschwollen, doch sie hätte sich eher die Zunge abgebissen als das vor Micah zuzugeben. „Du hast schon genug für mich getan.“ „Das bezweifle ich“, murmelte er. Am Ufer reichte er ihr die Hand, doch Callie ergriff sie nicht. Schließlich wusste sie, wie abstoßend er sie fand. Das hatte er sogar ihrer Mutter erzählt, die sie immer wieder damit aufzog. „Die Steine sind glitschig“, sagte er kurz angebunden. „Tritt daneben, nicht drauf.“ „Okay.“ Während sie durch den Wasserlauf wateten, blickte Micah sie über die Schulter hinweg an. „Wenn man bedenkt, was du in den letzten zwei Tagen durchgemacht hast, bist du ziemlich gelassen“, bemerkte er. Sie lächelte nur müde. „Du hast keine Ahnung, was ich vorher schon alles erlebt habe.“ Er biss sich auf die Lippen und ging weiter. Callie folgte ihm gehorsam, vor Kälte zitternd. Am anderen Ufer drehte er sich kurz zu ihr um. „Alles in Ordnung?“ Sie nickte nur. Mit dem Messer bahnte er ihnen einen Weg durch dichtes Buschwerk, dann lag die Lichtung vor ihnen. Der Hubschrauber wartete in der Luft schwebend, mit offener Tür. „Sie haben uns auf dem Radar entdeckt!“ rief jemand ihnen zu. „In zwei Minuten sind sie hier. Beeilt euch!“ „Lauf um dein Leben!“ stieß Micah hervor und gab ihr einen Stoß. Sie brauchte keine zweite Aufforderung. Die Angst, doch noch von Lopez’ Männern gefasst zu werden, mobilisierte ihre letzten Reserven. Sie hielt beinahe mit Micah mit, der nur kurz vor ihr den Hubschrauber erreichte, hineinsprang und die Hand nach ihr ausstreckte. Callie landete flach auf dem Bauch und lachte vor Erleichterung, als der Hubschrauber sofort abhob. Micah schlug die Tür zu. Sekunden später war von draußen Lärm zu hören. „In Filmen klingen Schüsse nie so“, murmelte Callie. „Wie Feuerwerkskörper…“ „Sie verstärken den Klang in Filmen, Mademoiselle.“ Jemand half ihr vorsichtig, sich auf dem Sitz im hinteren Teil des Hubschraubers niederzulassen, während Micah und zwei andere Männer zurückschossen. Trotz des Halbdunkels erkannte sie einen kurzen Bart und Schnauzer. „Oh, dann haben Sie es also geschafft“, rief sie erleichtert aus. „Ich bin so froh. Ich habe mir schon Vorwürfe gemacht, dass Sie meinetwegen in Gefahr waren.“ „Ach, das war doch kein Problem.“ Der Mann lächelte ihr verschwörerisch zu. „Aber jetzt ruhen Sie sich erst mal aus, Mademoiselle. Sie sind in Sicherheit. Das hier ist ein Apache-Helikopter, einer der besten Armee-Hubschrauber der USA.“ „Gehört er Ihnen?“ Der Mann lachte. „Sagen wir lieber, wir können ihn uns ausleihen, wenn wir ihn brauchen. So wie einige andere Fluggeräte.“ „Langweil sie nicht zu Tode mit deinen Fliegergeschichten, Bojo“, rief eine jüngere Stimme aus dem Hintergrund. „Das musst du gerade sagen“, gab Bojo gut gelaunt zurück. „Du kannst doch stundenlang über deine Computertricks erzählen, Peter, ob es jemand hören will oder nicht.“ Ein dunkelhaariger, drahtiger junger Mann trat näher. Callie fielen seine makellos weißen Zähne auf. „Computer sind mein Spezialgebiet“, sagte er grinsend. „Sie sind also Callie? Mein Name ist Peter Stone. Ich stamme aus Brooklyn. Das hier ist Bojo, er ist aus Marokko. Micah kennen Sie ja schon. Und hier haben wir Smith.“ Er deutete auf den vierten Mann im Hubschrauber. „Er führt zusammen
mit Maddie ein Fischrestaurant in Charleston. Die anderen scheinen wir irgendwo
verloren zu haben…“
„Sie warten mit der aufgetankten DC-3 auf uns. Jemand war so freundlich, uns
seine private Startbahn zur Verfügung zu stellen.“
„Aber… wir sind doch jetzt in Mexiko… müssen wir hier gar nicht durch die
Passkontrolle?“ fragte Callie.
Alle lachten.
Sie wurde rot, als sie begriff, dass weder ihre Entführer noch ihr Rettungsteam
sich mit solchen Formalitäten abgegeben hatten. „Okay, schon klar“, sagte sie
schnell. „Aber wie komme ich in die USA zurück? Ich habe keinen Pass…“
„Aber eine Geburtsurkunde“, sagte Micah. „Sie liegt bereits in Miami für dich
bereit. Zusammen mit einigen deiner eigenen Kleidungsstücke und Schuhe. Hat
Maddie für dich eingepackt“, fügte er zufrieden hinzu.
„Miami?“ fragte Callie entgeistert. „Wieso fliegen wir denn nicht nach Texas?“
„Ich nehme dich mit auf die Bahamas, Callie“, erklärte Micah. „Du stehst jetzt
ganz oben auf Lopez’ Abschussliste. Er will Rache. Deshalb werden wir alle
gemeinsam auf dich aufpassen.“
Sie blickte ihn verständnislos an. „Aber Jack…“
„Ist in guten Händen. Genau wie du. Jetzt ruh dich aus, und mach dir keine
Sorgen.“
Callie biss sich auf die Lippen. Sie war zu müde, um über all das nachzudenken.
Fröstelnd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper.
„Sie frieren ja“, sagte Bojo sanft. „Hier.“ Er griff nach einer Decke und legte sie
ihr um die Schultern.
Diese mitfühlende Geste erreichte, was Lopez’ Männer nicht geschafft hatten:
Callie begann zu weinen. Ihre ganze Angst und Anspannung lösten sich, und
heiße Tränen liefen ihr über das Gesicht, während nicht ein Laut über ihre Lippen
kam. Micah warf ihr einen Blick zu, und seine Gesichtszüge verhärteten sich.
Callie wandte sich ab. Sie war es gewöhnt, ihre Tränen zu verbergen, und
wischte sie nur manchmal verstohlen mit einem Zipfel der Decke ab. Erschöpft
lehnte sie den Kopf an die Wand. Das gleichmäßige Rotorengeräusch wirkte
beruhigend und einschläfernd, und sie schloss dankbar die Augen.
Ein flaues Gefühl im Magen weckte Callie. Der Hubschrauber setzte zur Landung
an, doch weit und breit war kein Flughafen zu sehen. Nur ein einziges, ziemlich
betagt aussehendes Flugzeug stand auf einer Startbahn, die lediglich ein
Asphaltstreifen mitten im Dschungel zu sein schien.
Zahlreiche Männer in Tarnkleidung waren um das Flugzeug verteilt, das mit
laufenden Motoren auf sie wartete. Ein dunkelhäutiger Mann mit einem
schwarzen Schnurrbart kam auf sie zu, schüttelte Micah die Hand und wechselte
einige Worte mit ihm. Danach fiel sein Blick auf Callie, und er lächelte ihr zu.
Micah winkte sie heran.
„Wir müssen abheben, bevor Lopez hier auftaucht“, sagte er. „Steig ein. Danke,
Diego!“
„De nada“, sagte der Mann grinsend. Keine Ursache.
„Wer war das?“ fragte Callie im Flugzeug.
„Einer meiner Lehrmeister“, antwortete Micah. „Er ist jetzt im Ruhestand und lebt
mit seiner Frau und seinen Kindern hier, bewacht von einer kleinen Privatarmee.
Nicht mal die Drogenbosse wagen es, ihn anzugreifen.“
„Ihm und seiner Familie wird doch unsertwegen nichts passieren, oder?“
„Nein“, sagte Micah. Er blickte sie forschend an, und schließlich wandte Callie
verlegen den Kopf ab.
Sie wollte sich in den erstbesten Sitz fallen lassen, doch Micah nahm ihren Arm
und führte sie nach hinten, wo er sich neben sie setzte. Es überraschte sie, doch
sie wehrte sich nicht dagegen. Als er sich über sie beugte, um ihren Sicherheitsgurt zu schließen, streifte er ihre Schnittwunde. Callie zuckte zusammen und biss sich auf die Lippen. „Oje, entschuldige, ich habe nicht daran gedacht“, sagte Micah sofort und legte ihr wie selbstverständlich schützend die Hand auf die Brust. „Tut es sehr weh?“ Callie spürte, dass sie errötete. Es war ihr peinlich, mit welcher Vertraulichkeit er sie berührte. Doch dann dachte sie daran, wie gut sich seine Hände auf ihrer Haut angefühlt hatten. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und ihr Atem beschleunigte sich. Micah strich zärtlich mit den Fingerspitzen über die sanfte Rundung ihrer Brust. „Wenn wir in Miami sind, bringe ich dich zu einem Freund von mir, der eine Arztpraxis hat. Er wird sich die Wunde ansehen, bevor wir weiterfliegen.“ Er ließ seine Hand aufwärts wandern und hob sanft Callies Kinn an. „Weiche Haut“, flüsterte er heiser. „Ein weiches Herz. Weiche, süße Lippen…“ Zögernd beugte Micah sich tiefer und streifte ihren Mund mit seinem, fuhr mit der Zungespitze spielerisch über ihre Oberlippe. Dann richtete er sich auf und blickte Callie in die Augen. „Eigentlich müsstest du mich hassen“, flüsterte er. „Du hast niemals jemandem etwas Böses getan, und ich habe dich immer nur verletzt.“ Sie seufzte. „Ich konnte dich ja verstehen. Meine Mutter und ich haben sich einfach in euer Leben gedrängt. Kein Wunder, dass du uns nicht ausstehen konntest.“ „Das gilt vielleicht für deine Mutter, für dich aber nicht. Niemals“, sagte er. Seine dunkelbraunen Augen wirkten vor Bitterkeit und Ärger fast schwarz. „Ich weiß nicht, wie ich dich das fragen soll und ob ich es überhaupt wirklich wissen will…“ begann er zögernd. „Haben Lopez’ Männer dich vergewaltigt?“ „Nein“, sagte Callie leise. „Aber sie hatten es vor. Und ich habe immer nur denken können: Wenn an diesem Weihnachtsfest damals die Dinge doch nur anders gekommen wären…“ Sie konnte nicht weitersprechen. „Ich weiß“, sagte Micah ernst. „Daran habe ich auch schon gedacht. Wenn ich mich nicht wie ein absoluter Dreckskerl benommen hätte, hättest du zumindest zuerst die schönen Seiten erlebt.“ Die Erinnerung schien ihn wütend zu machen. Er presste die Hand so hart auf Callies Gesicht, dass es schmerzte. „Hey“, flüsterte sie und zupfte an seinen Fingern. Sofort ließ der Druck nach. „Tut mir Leid“, sagte er heiser. „Ich bin noch immer angespannt. Die ganze Sache war ein Albtraum.“ „Ja.“ Callie blickte ihm in die Augen, in der Hoffnung, seine Gedanken lesen zu können. Sanft strich er ihr mit dem Daumen über die Lippen. „Ich werde nicht zulassen, dass Lopez dir jemals wieder wehtut“, sagte er. „Das verspreche ich dir.“ „Glaubst du wirklich, dass er mich noch einmal entfuhren wird?“ „Ich bin ziemlich sicher, dass er es versuchen wird“, antwortete Micah ehrlich. „Das Schlimmste war, dass ich mich so hilflos gefühlt habe.“ Ein Schauer überlief sie. „Ich habe auch schon so etwas Ähnliches erlebt“, gab er überraschenderweise zurück. „Einmal wurde ich bei einer Aktion gefangen genommen und sollte hingerichtet werden. Ich war gefesselt und wurde gefoltert. Ich weiß also, wie man sich dabei fühlt.“ Callie war entsetzt. „Wie bist du entkommen?“ „Bojo und die anderen haben mich rausgehauen. Die Chancen dafür standen ähnlich schlecht wie diesmal.“ Micah lächelte, zum ersten Mal, seit sie ihn wiedergesehen hatte. Callie war überrascht, wie sehr es sein Gesicht veränderte.
„Meine Leute hatten es wohl vermisst, von mir angeschrieen zu werden.“
Callie erwiderte das Lächeln vorsichtig. Es war ungewohnt für sie, sich in Micahs
Gegenwart zu entspannen, einmal nicht vor seinen zynischen Bemerkungen auf
der Hut zu sein.
Er berührte ihre Wange. „Für dich muss diese Erfahrung besonders schrecklich
gewesen sein. Du hast ja niemals Gewalt erfahren.“
Sie verzichtete darauf, ihn über ihre Vergangenheit aufzuklären. „Ich habe nicht
damit gerechnet, dass jemand mich retten würde“, sagte sie. „Ich dachte nicht
einmal, dass du bereit wärst, Lösegeld für mich zu zahlen.“
Micah runzelte die Stirn. „Aber wieso denn das nicht?“
„Du magst mich nicht“, entgegnete sie schlicht.
Ihre Worte schienen ihn aufzuwühlen. „So einfach ist die Sache nicht, Callie.“
„Danke jedenfalls, dass du mir geholfen hast“, fuhr sie fort. „Du hast dein Leben
für mich riskiert.“
„Das ist mein Job“, sagte er automatisch, während er sie eindringlich anblickte.
Sie war so blass. „Warum versuchst du nicht, ein bisschen zu schlafen? Wir
haben einen langen Flug vor uns.“
Offensichtlich hatte er genug davon, mit ihr zu reden. Aber sie sehnte sich
tatsächlich nach Schlaf. „Okay“, sagte sie lächelnd. Sie lehnte sich in den Sitz
zurück und schloss die Augen. Die Anspannung der letzten Tage forderte ihren
Preis. Fast augenblicklich schlief sie ein.
Als Callie aufwachte, ruhte ihr Kopf auf einem harten, warmen Kissen. Sie
öffnete die Augen und stellte überrascht fest, dass sie halb auf Micahs Schoß lag,
den Kopf an seine Brust gebettet.
„Zeit zum Aufwachen“, sagte er belustigt. „Wir sind gerade gelandet.“
„Wo?“ fragte sie, noch halb verschlafen.
„Miami.“
„Oh. Auf dem Flughafen?“
„Na ja, nicht auf dem offiziellen. Dieser hier ist auf keiner Karte verzeichnet. Bist
du bereit? Wir haben noch eine ganze Menge zu erledigen.“
Folgsam kletterte sie hinter ihm aus dem Flugzeug. Micahs Team war bereits
ausgestiegen. Waffen und Ausrüstung hatten sie zurückgelassen.
„Nehmt ihr eure Sachen nicht mit?“ fragte Callie ihn.
Er legte ihr einen Finger auf den Mund und lächelte verschwörerisch.
„Sie gehören uns nicht“, erklärte er mit gespieltem Flüstern. „Siehst du das
Gebäude dort und die Männer, die gerade herauskommen?“
„ja.“
„Nein“, widersprach er. „Da steht gar kein Gebäude, und die Männer existieren
nicht. Das ist alles nur Einbildung, ganz besonders das Flugzeug.“
Callies Augen weiteten sich. „Ach herrje. Wir arbeiten also für die CIA?“
Micah lachte laut auf. „Frag mich nicht, wer sie wirklich sind. Ich musste
schwören, ihre Namen niemals zu erwähnen. Aber nun lass uns losfahren, wir
haben zu tun.“
Sie stiegen in einen Geländewagen, der neben dem Rollfeld geparkt war. „Zuerst
zu Dr. Candlers Praxis“, befahl Micah. „Er wird sicherstellen, dass die Wunde gut
verheilt“, erklärte er Callie. „Wir haben zusammen studiert.“
„Ist er auch… ich meine, gehört er zu deinem Team?“
„Nein, er ist ein Spezialist für Unfall-Chirurgie und leitet eine Klinik hier.“
Callie nickte erleichtert. „Also ist er ein ganz normaler Mensch.“
Micah gab ihr einen vorsichtigen Rippenstoß, während die anderen in lautes
Lachen ausbrachen.
In der Klinik wechselte Micah einige Worte mit der Empfangsdame, dann wurde
Callie sofort in einen Untersuchungsraum geführt. Zu ihrem Unbehagen blieb
Micah bei ihr, auch als der Doktor eintrat.
„Ich muss Jerry erklären, wie ich die Wunde behandelt habe“, sagte Micah, als
sie zögerte, ihr T-Shirt auszuziehen. „Außerdem habe ich dich ja schon mal so
gesehen.“
Dr. Candler maß ihren Puls und Blutdruck, entfernte dann die Kompresse und
begutachtete die gerötete Wunde.
„Wie ist das passiert?“
„Einer von Lopez’ Männern musste sein Messer an einer hilflosen Frau
ausprobieren“, sagte Micah uns zog eine finstere Miene.
„Ich hoffe, er hat dazu jetzt keine Gelegenheit mehr“, murmelte der Arzt und
begann, die Wunde zu säubern.
„Kein Kommentar“, erwiderte Micah.
Callie schaute ihn überrascht an. Er warf ihr einen verschwörerischen Blick zu,
schwieg aber.
„Ich geben Ihnen vorsichtshalber eine Tetanus-Spritze“, sagte Dr. Candler, als
wäre nichts gewesen. „Aber Micah hat die Wunde gut versorgt, und sie wird
problemlos heilen. Allerdings würde ich Sie gerne gründlich untersuchen. Micah,
würdest du so lange draußen warten?“
Als Micah gegangen war, seufzte Callie erleichtert.
„Sehr schön“, sagte Dr. Candler und lächelte ihr aufmunternd zu. „Und jetzt
erzählen Sie mir, was passiert ist.“
Es tat Callie gut, über alles zu sprechen. Dr. Candler hörte zu, ohne sie zu
unterbrechen. Erst am Schluss fragte er: „Und was ist mit dem Mann passiert,
der Sie mit dem Messer angegriffen hat?“
„Keine Ahnung“, sagte sie mit Unschuldsmiene.
Dr. Candler schüttelte den Kopf. „Sie und Micah sind mir ein Paar. Kennen Sie
ihn schon lange?“
„Seit ich fünfzehn bin“, antwortete Callie. „Meine Mutter und sein Vater waren
kurz verheiratet.“
„Ach, dann sind Sie also Callie!“ rief der Arzt erfreut aus.
4. KAPITEL Callie blickt den Arzt überrascht an. „Woher kennen Sie meinen Namen?“
Dr. Candler lächelte versonnen. „Micah erwähnt Sie oft.“
„Ich dachte immer, es sei ihm lieber, wenn keiner weiß, dass ich existiere“,
entgegnete Callie staunend.
Der Arzt wiegte den Kopf hin und her. „Na ja, sagen wir mal, er ist sich über
seine Gefühle für Sie nicht ganz im Klaren.“
Das war höflich ausgedrückt. In Wahrheit konnte er sie nicht ausstehen. Wieder
lächelte Dr. Candler sie an.
„Es ist alles in Ordnung. In ein paar Tagen sind Sie so gut wie neu.“
„Dann kann ich ja nur hoffen, dass das auch so bleibt“, gab sie zurück. „Wenn
Lopez mich noch einmal zu fassen bekommt…“
„Micah wird gut auf Sie aufpassen“, sagte der Arzt. „Bei ihm sind Sie in den
besten Händen.“
„Höre ich da meinen Namen?“ rief Micah von der Tür her. „Wir gehen jetzt
besser, Callie, bevor Jerry hier meine intimsten Geheimnisse ausplaudert.“
„Du bist ja bloß froh, dass du heute nicht auf meinem OP-Tisch gelandet bist“,
gab Dr. Candler gut gelaunt zurück.
„Nichts wie weg hier“, lachte Micah, nahm Callies Hand und zog sie zur Tür. Sie
drehte sich noch einmal um.
„Danke für alles!“ rief sie dem Arzt zu.
„Gern geschehen. Und passen Sie auf sich auf!“
„Was ist mit der Rechnung?“ fragte Callie Micah, als er sie durch eine Seitentür
zurück zum Wagen führte.
„Alles erledigt. Wir fahren jetzt zum Flughafen.“
„Aber ich habe nichts dabei, keine Papiere, nichts anzuziehen…“
„Verlass dich ganz auf Maddie. Sie hat sich um alles gekümmert. Dein Koffer
wartet am Flughafen auf dich, genau wie unsere Tickets.“
„Und wenn Lopez’ Leute uns dort auch auflauern?“ Callie war noch nicht
beruhigt.
„Wir haben Wachen postiert“, sagte Bojo, der vorne saß. „Miami ist unser
sicherster Flughafen in den Staaten.“
„Oh, gut“, sagte sie und lächelte ihm zu.
Er erwiderte ihr Lächeln strahlend, bis er Micahs Blick auffing. Danach blickte er
starr auf die Straße und schwieg den Rest der Fahrt über. Callie begriff. Micah
wollte nicht, dass seine Leute zu freundlich zu ihr waren. Es machte ihr nichts
aus. Nach all den Jahren war sie Zurückweisung gewöhnt. Sie wandte sich ab
und blickte aus dem Fenster.
Auf dem Flughafen herrschte Hochbetrieb. Micah nahm Callies Arm und zog sie
direkt zur Sicherheitskontrolle.
„Aber müssen wir nicht erst einchecken?“ fragte sie.
„Vertrau mir. Geh einfach durch den Metalldetektor.“
Die Kontrolle verlief ereignislos, bis eine der Sicherheitsbeamtinnen Micah mit
einem tragbaren Detektor abtastete, der mit lautem Piepen reagierte. Die Frau
betrachtete Micah argwöhnisch, doch er lächelte sie offen an.
„Ich bin auf dem Weg zu einem regionalen Wettbewerb im Tontaubenschießen“,
log er ohne Zögern. „Meine Waffen habe ich mit einem Express-Service
vorausgeschickt, zerlegt natürlich. Heutzutage kann man in diesen Dingen nicht
vorsichtig genug sein.“ Er griff nach Callies Hand und zog sie an sich. „Nicht
wahr, Schatz?“
Callie glaubte, jeden Moment ohnmächtig zu werden. Die unerwartete Berührung
ließ ihr Herz schneller schlagen, und das Blut rauschte ihr in den Ohren.
Die Sicherheitsbeamtin schien seine Geschichte zu glauben, denn sie erwiderte
Micahs Lächeln. „Dann einen guten Flug.“
Anstatt Callie loszulassen, legte Micah einen Arm um sie und ging mit ihr
langsam durch die Abfertigungshalle. Er sah, wie heftig ihre Halsschlagader
pulsierte, und lächelte Callie zu.
„Du kannst dich wirklich gut auf schwierige Situationen einstellen“, lobte er sie.
„Das ist mir schon in Lopez’ Villa aufgefallen. Du hast dich nicht gesträubt, keine
Diskussionen angefangen, sondern einfach gemacht, was ich sagte, und dich fast
so schnell bewegt wie ich. Das ist in Krisensituationen wirklich wertvoll.“
Sie zuckte die Achseln. „Ich wusste ja nicht, wer du bist und warum du kommst.
Zuerst dachte ich, du wärst ein rivalisierender Drogenboss. Ich hatte die
Hoffnung, du würdest mich gleich töten, statt mich erst zu foltern.“
Micah drückte sie fester an sich. „Seltsame Einstellung.“
„Nicht unter den Umständen, und schon gar nicht für mich“, gab sie zurück. Als
sie weit genug von der Sicherheitskontrolle entfernt waren, fragte sie: „Was hat
der Detektor eigentlich aufgespürt?“
„Nitrat“, erklärte Micah. „Ein Bestandteil von Schießpulver. Damit stellen sie fest,
ob jemand innerhalb der letzten Tage in Kontakt mit Waffen oder Bomben war.“
Noch immer hielt er sie im Arm. „Dann kannst du mich jetzt ja loslassen“,
erwiderte sie. „Wir sind außer Sichtweite.“
„Schau nicht hin, aber da drüben steht ein Sicherheitsbeamter mit einem
Funkgerät.“ Micah lächelte ihr verschwörerisch zu. „Dreimal darfst du raten, mit
wem er jetzt wohl spricht.“
„Wir führen sie also gerade an der Nase rum?“
Er blieb stehen und blickte Callie einige Sekunden tief in die Augen, dann auf ihre
vollen, weichen Lippen.
„Ja, könnte man so sagen“, murmelte er, bevor er sich zu ihr hinunterbeugte, um
sie zu küssen.
Seine Lippen waren warm und fest. Im ersten Augenblick stand Callie wie
erstarrt da, versuchte, den Ausdruck in seinen dunkelbraunen Augen zu lesen.
Doch als Micah nicht aufhörte, sondern sein Kuss stattdessen drängender,
fordernder wurde, schloss sie einfach die Augen und stellte sich vor, dass er es
wirklich genoss, ihre Lippen mit seiner Zungenspitze zu liebkosen, dass dies nicht
nur eine Vorstellung für die Sicherheitsbeamten war.
„Boss?“
Sie bemerkten den Mann, der sich Micah näherte, überhaupt nicht. Auch das
dezente Räuspern und etwas lautere Husten nahmen sie nicht wahr.
Callie hatte sich mittlerweile auf die Zehenspitzen gestellt und klammerte sich an
Micahs muskulösen Oberarmen fest. Ihre einzige Befürchtung war, dass er den
Kuss irgendwann beenden würde.
„Micah!“ Die Männerstimme klang ungeduldig.
Micah löste sich mit einem Ruck von Callie und schien für einige Augenblicke
ebenso desorientiert zu sein wie sie. Der Mann hielt ihm einen kleinen Koffer hin.
„Ihre Papiere, Kleidung, Schuhe“, sagte der Mann, nickte Callie zu und räusperte
sich wieder. „Schöne Grüße von Maddie.“
„Danke, Pogo.“
Der große dunkelhäutige Mann lächelte. „Gern geschehen.“ Er blickte Micah
fragend an und deutete mit einer Kopfbewegung auf Callie.
„Das ist Callie Kirby“, sagte Micah knapp. „Sie ist meine Stiefschwester.“
Pogo hob die Augenbrauen. „Wow. Ich meine, wie gut, dass sie nicht deine
wirkliche Schwester ist. So, wie du sie geküsst hast…“ Er lachte verlegen, als
Micah ihm einen finsteren Blick zuwarf. Callie war rot geworden.
„Du verpasst noch deinen Rückflug“, bemerkte Micah spitz.
„Was? Ach so. Ja.“ Pogo wandte sich wieder Callie zu. „Ich bin Pogo, aus Saint
Augustine. Ich habe früher mit Krokodilen gekämpft, bis Micah mich eingestellt
hat. Jetzt arbeite ich für ihn, als eine Art Bodyguard, wissen Sie.“
„Und wenn du nicht sofort verschwindest, bist du arbeitslos“, knurrte Micah.
„Ja, natürlich. Wiedersehen.“ Pogo zwinkerte Callie zu.
Sie schenkte ihm ein freundliches Lächeln. Der Mann wirkte wie ein übergroßer
Teddybär, und sie fand es schade, ihn nicht näher kennen zu lernen.
„Hör auf damit“, sagte Micah kühl.
Sie blickte verständnislos zu ihm auf. „Womit?“
„Meine Männer zu becircen. Sie sind so was nicht gewöhnt. Ermutige sie nicht
auch noch.“
„Wieso Männer? Wen meinst du denn?“
„Bojo und Peter und Pogo.“ Rastlos trat Micah von einem Fuss auf den anderen.
„Komm jetzt.“ Er nahm ihre Hand und zog Callie daran weiter. „Und mach dir
keine falschen Vorstellungen wegen dem, was gerade passiert ist“, fügte er
hinzu.
„Wieso sollte ich? Es war eine Show für die Sicherheitsbeamten. Ich weiß doch,
was du für mich empfindest.“
Unvermittelt blieb Micah stehen und blickte ihr in die Augen. Ihre Gefühle waren
nur zu deutlich darin zu lesen. Er wünschte sich plötzlich, sie beschützen zu
können. Wie seltsam, dass jemand so verletzlich sein und gleichzeitig in
Krisensituationen so unerschütterlich wirken konnte. „Du hast keine Ahnung, was ich für dich empfinde.“ Das hatte er gar nicht sagen wollen, aber jetzt war es zu spät. Er drückte ihre Hand fester. „Ich bin sechsunddreißig, du gerade zweiundzwanzig. Mich interessieren Frauen mit Erfahrung, die Sexualität genießen. Du dagegen bist auf dem Stand eines Teenagers.“ Callie errötete. „Es stimmt schon, ich habe keine Verabredungen“, gab sie offen zu. „Ich kann Jack abends nicht allein lassen. Außerdem erinnern sich zu viele Männer in Jacobsville an meine Mutter und glauben, ich wäre wie sie.“ Callie senkte den Kopf. „Genau wie du.“ Micah schwieg, weil er von einem plötzlichen Schuldgefühl überwältigt wurde. Ja, er hatte ihr an jenem Weihnachtsfest vorgeworfen, sie sei genau so berechnend und lüstern wie ihre Mutter. Jetzt tat ihm das Leid, aber es war nun einmal geschehen. Wieso beließ er es nicht einfach dabei? Weil ihm seine Gefühle für Callie ständig in die Quere kamen. „Du weiß nicht, was damals wirklich geschehen ist, Callie“, sagte er schließlich leise. „Dann ist es vielleicht Zeit, dass du es mir sagst?“ Micah spielte abwesend mit ihren Fingern. „Ja, warum nicht. Du bist jetzt wohl alt genug, es zu hören.“ Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie einigermaßen ungestört waren, zog er sie auf eine Plastikbank in einer Nische. „Du hast damals dieses smaragdgrüne Samtkleid getragen, dasselbe, das du auch auf deiner Geburtstagsfeier anhattest. Jack und deine Mutter haben sich gerade im Obergeschoss einen Film angeschaut, während du den Tannenbaum geschmückt hast.“ Micahs Blick war in weite Ferne gerichtet. „Als ich hereinkam, hast du dich gerade gebückt, um eine Kugel aus der Schachtel zu nehmen. Das Kleid war tief ausgeschnitten, und du trugst keinen BH. Ich konnte deine Brüste sehen, bis zu den Knospen. Als du mich anschautest, wurden deine Brustspitzen plötzlich hart.“ Callie blickte ihn verblüfft an. Wieso erzählte er ihr das so ausführlich? „Ich wusste gar nicht, dass man so viel sehen konnte!“ „Das wurde mir erst später klar.“ Micah drückte ihre Hand fester. „Dann bist du plötzlich auf mich zugekommen, und ich konnte dein Parfüm riechen. Du hast dich auf die Zehenspitzen gestellt, so wie gerade eben, und versucht, mich zu küssen.“ „Und dann hast du diese furchtbaren Sachen zu mir gesagt“, vollendete sie die Geschichte leise. Doch er war noch nicht fertig. „Dein Anblick und deine Berührungen haben mich sehr erregt“, gab Micah offen zu. Callie sah ihn überrascht an, und er nickte zur Bestätigung. „Genau so war es. Und das durftest du nicht erfahren. Ich wollte sichergehen, dass du auf Distanz bleibst, was angesichts deines angetrunkenen Zustands schwer genug war. Nachdem ich dich abgewiesen hatte, verließ ich das Zimmer und traf auf dem Flur deine Mutter. Sie erkannte sofort, dass ich körperlich erregt war – was du nicht mal bemerkt hattest – und dachte, es sei wegen ihres engen Kleides. Sie zog mich in ihre Arme und küsste mich.“ Micahs Stimme klang jetzt wütend. „Bevor ich mich noch wehren konnte, hat uns mein Vater entdeckt. Und ich konnte ihm nicht die Wahrheit sagen, denn schließlich warst du erst achtzehn.“ Er hat mich begehrt, ohne dass ich es wusste! dachte Callie. Sie wagte kaum zu atmen. „Warum hast du es mir nie gesagt?“ „Du warst doch noch ein halbes Kind, Callie. In mancherlei Hinsicht bist du heute noch eins. Ich wollte deine Unschuld nicht ausnutzen.“ Vom Durcheinander ihrer Gefühle wurde ihr ganz schwindelig. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Seufzend stand Micah auf und zog sie mit sich hoch. „Komm, wir müssen uns beeilen, sonst verpassen wir unseren Flug.“ Er drückte ihr den Koffer in die Hand und deutete auf die Damentoilette. „Zieh dich um. Ich warte hier.“ Callie nickte. Tief in Gedanken versunken, zog sie Jeans und Sweatshirt aus dem Koffer, ohne sich um den weiteren Inhalt zu kümmern. Auch an Socken und Turnschuhe hatte Maddie gedacht. Callie warf einen Blick in den Spiegel und war froh, dass ihr kurzes Haar pflegeleicht war. Eine Bürste und Kosmetika würde sie später kaufen müssen. Micah nickte ihr zu, als sie wieder in die Halle trat, und drückte ihr eine kleine Plastiktüte in die Hand. Sie enthielt Bürste und Zahnbürste, Zahncreme und ein Deo. „Danke“, sagte Callie. Dass er so einfühlsam an ihre Bedürfnisse gedacht hatte, rührte sie. Micah zog ihre Tickets aus seiner Hemdtasche. „Hast du deinen Führerschein und deine Geburtsurkunde?“ „Wie denn? Mein Führerschein ist in der Handtasche in meinem Auto, das irgendwo am Straßenrand steht, und meine Geburtsurkunde habe ich zu Hause abgeheftet…“ Er legte ihr einen Finger auf den Mund. „Dein Auto parkt in der Garage, deine Handtasche ist im Haus, und beides ist gut abgeschlossen. Maddie hat sich um alles gekümmert und die Dokumente in den Koffer gelegt. Hast du sie denn nicht gesehen?“ „Nein, aber ich habe auch nicht darauf geachtet…“ Callie legte den Koffer auf die Bank und öffnete ihn. Tatsächlich steckten die Dokumente in einer Seitentasche, zusammen mit ihren Kosmetika. Callie war dankbar für Maddies Aufmerksamkeit, wollte jedoch Micah nicht enttäuschen, indem sie ihn wissen ließ, dass sein Mitbringsel von eben ganz überflüssig gewesen war. Schnell schloss sie den Koffer und schob die Dokumente in ihre Hosentasche. Ohne Schwierigkeiten gelangten sie an Bord des Flugzeugs. „Wo bleiben denn die anderen?“ fragte Callie, als von Bojo und Peter noch immer nichts zu sehen war. „Sie nehmen das Boot“, lächelte Micah. „Ich hatte es hier am Anleger gelassen, als ich nach Jacobsville geflogen bin.“ „Und wieso fliegen wir?“ „Weil du immer seekrank wirst“, erwiderte er prompt. Die Antwort beschäftigte sie für eine Weile. Nur ein einziges Mal hatten sie damals einen Bootsausflug gemacht, auf einem Flussdampfer. Damals war ihr sterbenselend gewesen, und Micah hatte sich um sie gekümmert. Bis heute hatte sie nicht mehr daran gedacht. „Außerdem sind wir im Flugzeug sicherer vor Lopez’ Leuten“, fügte Micah hinzu. „Er würde keinen Linienflug entführen, nur um an eine entlaufene Geisel zu kommen.“ Callie war überrascht, als Micah sie in die erste Klasse führte. Belustigt fing er ihren Blick auf. „Ich hasse es, eingepfercht zu sein“, erklärte er mit einem Augenzwinkern und streckte demonstrativ seine langen Beine aus. Doch Callies Gedanken waren immer noch bei Lopez. „Wie soll es denn weitergehen, wenn wir angekommen sind?“ fragte sie. „Ich lebe auf einer kleinen Insel der Bahamas-Gruppe. Wir haben die modernsten Überwachungsanlagen und ein Team von hoch trainierten Leuten, die auch Lopez nicht einfach so angreift. Immerhin weiß er, dass ich früher mal für die CIA gearbeitet habe.“ Callie blickte überrascht zu ihm auf. „Sie haben mich angeheuert, als ich noch im College war. Damals sprach ich schon fließend Französisch und Holländisch und hatte gerade mit Deutsch
angefangen. In einem arabischen Land falle ich zu sehr auf, aber ich war ideal für Nordeuropa. In den Ferien bin ich oft für den Verein gereist. Es waren gefährliche Aufträge, viel aufregender, als Medizin es jemals sein könnte. In meinem Assistenzjahr wurde mir dann klar, dass ich mit einer Arztpraxis niemals ausgefüllt sein würde. Ich liebe das gefährliche Leben. Deshalb habe ich das Studium dann an den Nagel gehängt.“ „Ja, dein Vater und ich haben uns gefragt, was passiert ist.“ „Mir wurde einfach klar, dass ich kein sesshafter Mann bin. Heirat und Kinder interessieren mich nicht, also brauchte ich auch keinen sicheren Beruf. In gewisser Weise bin ich wohl abhängig von den Adrenalinstößen, die meine Aufträge mir verschaffen.“ „Darauf wären wir nie gekommen“, sagte Callie abwesend. Micahs Bemerkung über Heirat und Kinder hatte ihr einen tiefen Stich versetzt. „Ich liebe mein Leben, so wie es ist“, betonte er und streckte sich genüsslich in dem weichen Ledersitz aus. Das Hemd spannte sich über seinem muskulösen Oberkörper. Eine Stewardess kam vorbei und wäre beinahe gestolpert, weil sie sich von seinem Anblick nicht losreißen konnte. Callie betrachtete die makellose Figur, die langen blonden Haare und tiefblauen Augen der Frau und seufzte. Wenn sie selbst doch nur attraktiv genug wäre, um Micah für mehr als nur einen Show-Kuss zu interessieren! Die Stewardess erinnerte sich endlich an ihre Aufgaben und fragte nach ihrem Getränkewunsch. Nachdem sie gegangen war, sagte Micah beiläufig: „Ach, übrigens, in meinem Haus wirst du auch Lisette Dubonnet kennen lernen. Ihr Vater ist der französische Konsul. Lisette und ich kennen uns seit einigen Jahren und sind sehr gute Freunde.“ Callie blickte starr aus dem Fenster, weil sie nicht sicher war, ob ihre Gefühle angesichts dieser neuesten Eröffnung nicht zu deutlich zu sehen waren. Also hatte Micah auf den Bahamas eine attraktive, erfahrene Freundin, die sich auf dem internationalen Parkett zweifellos mit angeborener Eleganz bewegte. „Du verstehst dich bestimmt gut mit Lisette“, fügte Micah hinzu. „Ich werde sie bitten, mit dir einkaufen zu gehen. Du brauchst ein paar Sachen. Und sie hat einen ausgezeichneten Geschmack.“ Womit er im Grunde sagte, dass Callie keinen hatte. Sie spürte einen Stich in der Magengrube. „Das wäre bestimmt nett“, sagte sie und lächelte gezwungen. „Aber ich brauche nicht viel.“ „Du bleibst aber länger als nur ein paar Tage“, widersprach er. „Und schließlich kannst du nicht ständig dieselben Sachen tragen. Außerdem“, fügte er eine Spur leiser hinzu, „wird es Zeit, dass du lernst, dich wie eine junge Frau zu kleiden, und nicht wie eine Gouvernante!“ 5. KAPITEL Callie konnte ihren Ärger nicht mehr unterdrücken. „Das musst du gerade
sagen“, stieß sie hervor. „Deinetwegen habe ich doch damit angefangen!“
„Meinetwegen?“ Micah hob fragend die Augenbrauen.
„Du hast damals gesagt, dass ich rumlaufe wie ein Flittchen. Wie meine Mutter“,
fügte sie bitter hinzu. „Du hast mir vorgeworfen, ich würde meinen Körper zur
Schau stellen…“ Sie unterbrach sich und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ist ja auch egal“, murmelte sie.
Micah fühlte sich, als hätte sie ihm eine Ohrfeige versetzt. Sie hatte so
wunderbar ausgesehenen dem grünen Samtkleid, und nur der Ärger über sein
eigenes unstillbares Verlangen hatte ihn zu den unbedachten Äußerungen
getrieben. Zu erfahren, dass Callie nicht zuletzt deswegen ein gestörtes
Verhältnis zu ihrem Körper entwickelt hatte, erschütterte ihn zutiefst. Allerdings
hatte sie angedeutet, dass sie auch davor schon unangenehme Erfahrungen
gemacht hatte.
„Callie“, sagte er leise, legte ihr eine Hand unter das Kinn und zwang sie, ihn
anzublicken. „Dir ist etwas Schlimmes zugestoßen, als du in einer Pflegefamilie
warst, oder?“
Sie biss sich hart auf die Unterlippe und schloss die Augen.
Micah stöhnte leise. Verlegen wandte sie das Gesicht ab.
„Möchtest du darüber sprechen?“
Heftig schüttelte sie den Kopf.
Wut stieg in ihm auf, als er daran dachte, dass ihre eigene Mutter für all das
verantwortlich war. „Zur Hölle mit deiner Mutter“, sagte er. Callie antwortete
nicht.
Als sie in Nassau landeten, war es bereits dunkel, und sie nahmen ein Taxi zum
Yachthafen, wo das Boot auf sie wartete. Callie zog sich sofort unter Deck
zurück, ließ sich auf einer bequem gepolsterten Sitzbank nieder und blickte aus
dem Bullauge.
„Alles klar bei dir?“ fragte Micah und setze sich neben sie.
„Ja“, gab sie zurück. „Der Hafen sieht schön aus, mit all den beleuchteten
Schiffen.“
Micah goss sich einen Whisky ein und ließ die Eiswürfel im Glas klingeln.
„Möchtest du was trinken?“
Callie schüttelte den Kopf.
„Wir müssen uns unterhalten“, sagte Micah.
„Worüber?“
„Über Lopez. Ich werde dich rund um die Uhr bewachen lassen“, erklärte er
ernst. „Wenn ich nicht selbst in Rufweite bin, dann einer meiner Männer. Selbst
wenn du mit Lisette einkaufen gehst, wird einer von uns dabei sein. Und geh auf
keinen Fall jemals allein an den Strand.“
„Aber was soll dabei denn passieren?“
Micah beugte sich näher zu ihr herüber. „Callie, Lopez hat Waffen, die deine
Körperwärme aufspüren und aus einem Kilometer Entfernung eine Granate auf
dich abschießen können.“
Erschüttert blickte sie ihn an. „Aber das bedeutet ja, dass ich euch alle in Gefahr
bringe.“
„Da hast du was falsch verstanden, Schatz“, sagte Micah. Der Kosename kam
ihm so selbstverständlich über die Lippen, dass er es gar nicht bemerkt hätte,
wenn Callie nicht errötet wäre.
„Es ist genau umgekehrt. Du bist meinetwegen in Gefahr. Wieso wirst du
eigentlich rot, wenn ich Schatz zu dir sage?“
„Ich bin nicht daran gewöhnt.“
„Irgendein umwerfend gut aussehender Junggeselle wird dich doch schon mal so
genannt haben, oder?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Verabredungen.“
Micah hatte vorher niemals daran gedacht, dass ihr zurückgezogenes Leben
etwas mit ihm zu tun haben könnte. „Mir war nicht klar, wie tief ich damals dein
Selbstwertgefühl verletzt habe, Callie. Es tut mir wirklich sehr Leid.“
„Ich war ja selbst schuld“, gab sie zurück. „Wenn ich mich nicht wie eine
betrunkene Prostituierte auf dich gestürzt hätte…“
„Callie!“ Ihre Worte schockierten ihn. Er stellte das Glas ab, kniete sich vor sie
und legte ihr die Hände um die Taille. „Ich habe dich nur abgewiesen, weil ich
dich so sehr wollte“, sagte er offen. „Ich hatte Angst, dass ich mich nicht mehr
zurückhalten könnte, wenn ich nicht sofort etwas unternahm. Später wollte ich
dir alles erklären, aber dann kam deine Mutter dazwischen und zerstörte die
Familie!“
Callie legte ihm zögernd die Hände auf die Schultern und war sich dabei fast
sicher, dass er sie abwehren würde.
Sein warmes Lächeln überzeugte sie vom Gegenteil. Außerdem begann er, ihr
mit den Daumen sanft über den Bauch zu streichen. „Es ist schön, berührt zu
werden“, murmelte Micah. „Ich habe nichts dagegen.“
„Ich bin nicht daran gewöhnt“, gab sie scheu zurück.
„Das merke ich.“ Er stand auf und zog sie mit sich hoch. Sie reichte ihm gerade
bis zum Kinn. Sanft legte er die Hände um ihr Gesicht und hob ihren Kopf leicht
an. „Würdest du mich küssen?“
Da war sie sich nicht so sicher. Ihre Hände lagen jetzt auf seiner Brust, und unter
seinem Seidenhemd spürte sie sein dichtes Haar.
„Entspann dich“, flüsterte Micah. Er beugte sich über sie und begann, zart an
ihrer Oberlippe zu knabbern. Mit der Zungenspitze erkundete er dabei den Spalt
zwischen ihren Lippen, mit den Händen streichelte er ihren Rücken. Callie jedoch
versteifte sich in seinen Armen.
Er unterbrach den Kuss und blickte sie forschend an. „Was ist los? Du brauchst
keine Angst vor mir zu haben, Callie, ich werde dir nicht wieder wehtun.“
„Das ist es nicht“, erwiderte sie fest. „Aber ich habe nicht genügend Erfahrung,
um diese Art von Spiel zu spielen.“
„Es ist kein Spiel, Callie“, sagte Micah ernst. „Nach allem, was du durchgemacht
hast, würde ich dir das niemals antun.“
Callie holte tief Atem. „Was ist mit dieser Lisette?“ fragte sie. „Ist sie wichtig für
dich?“
„Wir sind gute Freunde“, antwortete er zögernd. „Du wirst sie mögen. Sie ist
aufgeschlossen und gerne unter Menschen. Sie hat bestimmt Spaß daran, mit dir
einkaufen zu gehen.“
„Ich kann mir keine teure Kleidung leisten“, protestierte Callie. „Kannst du ihr
das vielleicht vorher sagen, damit ich es nicht zu tun brauche?“
Micah lächelte schelmisch. „Kann ich. Aber warum lässt du nicht einfach mich
zahlen?“
„Weil du nicht für mich verantwortlich bist, auch wenn wir einige Zeit zusammen
verbringen. Ich kann sehr wohl für mich selbst aufkommen.“
Keine Frau, die er kannte, hatte jemals so etwas zu ihm gesagt. Er runzelte die
Stirn. „Du kannst es mir ja später zurückzahlen, wenn dich das beruhigt.“
„Danke, aber ich zahle lieber gleich selbst.“
„Du warst immer schon unabhängig“, erinnerte Micah sich.
„Gezwungenermaßen. Nachdem mein Vater uns hinausgeworfen hatte, musste
ich sehen, wo ich blieb. Falls er überhaupt mein Vater war.“
„Warum hat er keinen DNA-Test machen lassen?“
Callie löste sich aus Micahs Armen. „Vor fünfzehn Jahren gab es so was noch
nicht.“
„Aber jetzt. Hast du jemals wieder mit ihm gesprochen?“
„Er hat mir vor kurzem eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen,
aber ich habe nicht zurückgerufen.“
„Warum lasst ihr den Test nicht einfach jetzt machen?“
Callie blickte traurig zu Micah auf. „Das würde womöglich beweisen, dass ich
tatsächlich nicht seine Tochter bin. Und außerdem kommt es nach all den Jahren
wirklich nicht mehr darauf an. Bitte, lass die Sache einfach ruhen, ja?“
Micah seufzte, gab aber nach.
Callie verschränkte die Arme vor der Brust und blickte gedankenverloren aus
dem Bullauge hinaus. „Ich habe mir immer gewünscht, irgendwo dazuzugehören“, sagte sie leise. „Aber ich war immer die Außenseiterin, bis meine Mutter deinen Vater heiratete. Zuerst hatte ich Angst, dass er wie die anderen wäre, entweder völlig gleichgültig oder auf ungesunde Weise interessiert, aber es lag ihm offenbar wirklich etwas an mir. Er umarmte mich zur Begrüßung und zum Abschied, einfach so. Über seine gutmütigen Scherze konnte ich immer lachen, und er brachte mir manchmal kleine Geschenke mit. Es ist so einfach, Jack zu lieben.“ Sie drehte sich zu Micah um. „Kein Wunder, dass du so wütend warst.“ „Ich habe deine Mutter gehasst, nicht dich“, erwiderte Micah heftig. „Meine Gefühle dir gegenüber sind viel komplizierter. Und du wirst niemals so sein wie deine Mutter. Du wirst einmal eine große, liebevolle Familie gründen.“ „Ach, du liebe Güte“, lachte Callie. „Was ich über ein normales Familienleben nicht weiß, füllt ganze Bücher. Aber dafür kenne ich alle Unsicherheiten des Lebens. Ich würde es nicht wagen, ein Kind in die Welt zu setzen.“ Micah vergrub die Hände in den Hosentaschen. Er hatte niemals über eigene Kinder nachgedacht. Aber zu Callie schien ein Baby wunderbar zu passen. Sie würde an ihm alles wieder gutmachen, was sie selbst erlebt hatte. „Außerdem steht das Heiraten, wenn überhaupt, ganz am Ende der Liste der Dinge, die ich noch vorhabe“, erklärte sie. „Da sind wir schon zu zweit“, murmelte er. Das war eigentlich seine StandardBehauptung, doch diesmal fühlte sie sich irgendwie falsch an. Er fragte sich, wieso. Callie wandte sich wieder dem Bullauge zu. „Wann sind wir da?“ fragte sie. „In etwa zwanzig Minuten. Es gefällt dir dort bestimmt. Und die ganze Truppe wird dafür sorgen, dass Lopez nicht an dich herankommt.“ „Jeder hat eine eigene Aufgabe, nicht?“ fragte Callie. „Ja. Bojo ist ein Experte für alle Arten technischer Ausrüstungen. Außerdem hat er Verwandte in den meisten muslimischen Ländern, so dass er auch oft ganz bestimmte Informationen einholt. Peter ist neu im Team. Er ist ein Sprachgenie und geht glatt als Araber oder Israeli durch. Rodrigo hast du noch nicht kennen gelernt, er hat das Flugzeug geflogen. Don, der blonde Copilot, ist ein Waffenexperte. Außerdem gehört noch Cord Romero zu uns, aber er hatte einen Unfall und pausiert gerade.“ „Hattest du nicht gesagt, du lebst in Nassau?“ fragte Callie weiter. Es war selten, dass Micah bereit war, so viel von sich preiszugeben. „Ja. Aber vor drei Jahren bekam ich das Angebot, die Insel zu kaufen, und der Gedanke, einen Wohnsitz zu haben, der so einfach zu verteidigen ist, gefiel mir. Du wirst dich dort sicher fühlen, es ist wie eine Festung.“ „Bestimmt gibt es auch viele Blumen“, sagte Callie hoffnungsvoll. „Tausende. Hibiskus, Orchideen… für dich als alte Gärtnerin ist es ein wahres Paradies.“ „Woher weiß du…“ „Ich habe viel mehr mitbekommen, als du denkst. Deine Mutter hat nie einen Finger gerührt, immer warst du es, die sich um alles kümmerte. Einschließlich des guten Essens.“ „Ich habe in meiner letzten Pflegefamilie kochen gelernt. Dort war es in Ordnung, die Mutter mochte mich. Sie hatte Arthritis und war wirklich dankbar, wenn ich ihr etwas abnahm. Sie wirkte aber immer sehr überrascht, wenn ich ihr half.“ „So geht es den meisten Menschen, die lieber geben als nehmen“, entgegnete Micah. „Wie du. Was hat sie dir sonst noch beigebracht?“ fragte er schnell. „Häkeln.“ Callie lächelte bei der Erinnerung daran. „Es vertreibt mir die Zeit, wenn ich mit deinem Vater zu Arztterminen gehe.“
Was eigentlich meine Aufgabe wäre, dachte Micah bitter. Die ich auch gerne übernehmen würde, wenn Anna unser Verhältnis nicht zerstört hätte. „Der Gedanke an deinen Vater tut dir immer noch weh“, sagte Callie leise. Es überraschte und beunruhigte ihn, wie leicht sie ihn durchschaute. „Ich vermisse ihn“, gab er widerwillig zu. „Es tut mir Leid, dass er kein Interesse an einer Versöhnung hat.“ „Wie kommst du denn darauf?“ Micah zögerte. „Ich habe ihn vor einigen Tagen angerufen, kurz bevor du entführt wurdest. Er hörte eine Weile zu, dann legte er auf.“ „Was für ein Wochentag war das?“ „Samstag. Wieso ist das wichtig?“ „Welche Uhrzeit?“ „Mittags, aber warum willst du das wissen?“ Callie lächelte. „Ich gehe immer samstags mittags in den Supermarkt, und solange leistet Mrs. Ruiz deinem Vater Gesellschaft. Sie spricht nur gebrochen Englisch und hat furchtbare Angst vor dem Telefon. Sie geht zwar ran, aber wenn ich es nicht bin, legt sie auch gleich wieder auf.“ Micah schwieg. „Dann würde Dad also mit mir reden, wenn ich noch einmal anriefe?“ brachte er schließlich hervor. „Micah, er liebt dich“, rief Callie. „Du bist sein einziges Kind. Natürlich wird er mit dir reden. Er hat keine Ahnung, was wirklich zwischen dir und meiner Mutter vorging, aber ihm ist inzwischen klar geworden, dass sie ihn irgendwann sowieso betrogen hätte. Das hat sie ihm bei der Scheidung an den Kopf geworfen.“ „Warum hat er dann niemals versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen?“ „Weil es einige Zeit gedauert hat, bis er über die ganze Sache hinwegkam. Und er fürchtet, dass du nicht mit ihm reden würdest, nach allem, was er dir an den Kopf geworfen hatte.“ „Und wieso hat mich niemand informiert, als er den Herzinfarkt hatte?“ „Ich habe die einzige Nummer gewählt, die ich von dir hatte, aber es kam nie ein Rückruf.“ Das war alles? Micah runzelte die Stirn. „Das war das alte Haus in Nassau. Die Nummer ist seit drei Jahren abgemeldet, und jetzt habe ich eine Geheimnummer.“ Callie lächelte traurig. „Ich habe dir auch geschrieben, aber der Brief kam weder zurück, noch hast du dich gemeldet.“ „Ich habe nie einen Brief bekommen“, sagte Micah erschüttert. „Dann sollte es wohl so sein. Aber Jack liebt dich über alles“, wiederholte sie. „Wenn du ihn anrufst, wird er dir mehr als auf halbem Weg entgegenkommen.“ Micah setzte zu einer Antwort an, doch im selben Augenblick verlangsamte sich die Yacht. „Wir legen gleich an“, sagte er. „Komm mit an Deck. Es wird herrlich sein, heute Nacht in einem richtigen Bett zu schlafen.“ Callie nickte und stieg hinter ihm die schmale Treppe hinauf. Vor ihr lag die Insel, und auf einer kleinen Erhebung in der Mitte stand das Haus. Es war nur eingeschossig, aber lang gestreckt, und hell erleuchtet. Auch der gewundene Weg zum Haupteingang wurde von runden Gartenlampen in freundliches Licht getaucht. Das Grundstück war ein Blumenmeer. Callie hielt den Atem an. So ein Haus hatte sie einmal als Kind in einer Zeitschrift gesehen und in ihren Tagträumen sogar bewohnt. Und nun stieg in ihr das seltsame Gefühl auf, nach Hause zu kommen… 6. KAPITEL
„Weis ist das für ein Geräusch?“ fragte Callie verwundert, als sie zusammen den
Kiesweg hinaufgingen.
Micah schien belustigt. „Mein Frühwarnsystem.“
„Wie bitte?“
Sein Lächeln wurde breiter. „Ich halte eine Schar von Gänsen. Sie sind besser als
jeder Wachhund.“
Bevor sie noch mehr Fragen stellen konnte, öffnete sich die Eingangstür und ein
großer, breitschultriger Mann mit welligem, grau meliertem Haar kam ihnen
entgegen. In einer Hand hielt er eine Maschinenpistole.
„Willkommen zu Hause, Boss“, sagte er und warf Callie einen kurzen Blick zu. „Es
hat also geklappt?“
„Jawohl, und wir haben keine Verluste zu verzeichnen“, erwiderte Micah stolz.
„Wie gehts dir, Mac?“
Der Mann verzog leicht das Gesicht. „Es geht so.“
„Immerhin trägst du jetzt die Prothese“, murmelte Micah, als er Callie an Mac
vorbei ins Haus führte.
Mac folgte ihnen langsam. „Hey, willst du uns nicht bekannt machen?“
Callie lächelte und streckte ihm die Hand hin. „Ich bin Callie Kirby.“
Sein Händedruck war kräftig und herzlich. „Mein Name ist MacPherson. Bei
unserer letzten Mission wurde ich von einer Granate getroffen, deshalb habe ich
jetzt hier Küchendienst, bis ich mich an die Prothese gewöhnt habe.“
„Damit beeilst du dich aber besser, sonst wirst du noch ein Fünfsternekoch“,
sagte Micah mit freundlichem Spott. „Jetzt zeige ich erst mal Callie ihr Zimmer.
Sie muss sich ausruhen.“
Micah führte sie in einen großen Raum mit Panoramablick aufs Meer. Wenn man
von den dicken Eisenstäben vor dem Fenster einmal absah, wirkte das Ganze wie
ein luxuriöses Hotelzimmer.
Während Callie sich umsah, kamen Micah verspätete Bedenken, ob Lisette
wirklich so gut mit Callie auskommen würde, wie er vorausgesagt hatte. Die
Diplomatentochter war extrem eifersüchtig, und Callie hatte schon genug
durchgemacht.
„Ach, übrigens,“ sagte er beiläufig, „ich habe Lisette und Mac nicht erzählt, dass
wir nicht blutsverwandt sind. Dabei sollten wir es im Augenblick belassen.“
Callie zuckte die Schultern. „Wie du meinst. Ich will im Moment nur noch
schlafen.“
„Maddie hat dir bestimmt auch ein Nachthemd eingepackt“, sagte Micah.
„Ich habe keins“, murmelte sie abwesend, während sie den Koffer öffnete.
„Na, dann einen Schlafanzug.“
„Habe ich auch nicht.“
Micah zog die Augenbrauen hoch. „Worin schläfst du denn dann?“
Ihre Wangen röteten sich leicht. „Vergiss es einfach. Meine Tür hier hat doch ein
Schloss, oder? Ich bin es einfach so gewohnt.“
„Ja, natürlich. Aber ich hoffe, du fühlst dich hier sicher. Meine Männer sind
absolut vertrauenswürdig.“
„Das meinte ich nicht.“
„Und falls du Angst bekommst, ich bin gleich nebenan, wir teilen uns das
Badezimmer zwischen den Räumen.“
Callie legte den Kopf schief und blickte Micah kritisch an.
„Keine Sorge, ich werde Schlafanzughosen tragen, solange du hier bist“, sagte er
trocken, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
„Danke, und danke noch mal, dass du mich gerettet hast.“
Er zuckte die Achseln. „Du gehörst doch zur Familie.“ Als er zur Tür ging, fügte er
hinzu: „Es ist immer jemand in Rufweite, Tag und Nacht.“
Callie wandte den Kopf ab, damit er nicht sah, wie tief die Bemerkung davor sie getroffen hatte. Er sah sie also als familiäre Verpflichtung, nicht als Frau. „Okay“, erwiderte sie leise. Dann war sie allein. Obwohl Callie furchtbar müde war, konnte sie lange nicht einschlafen. Nur mit ihrem schlichten Baumwollslip bekleidet, starrte sie an die Decke, während die Erlebnisse der letzten Tage immer wieder an ihr vorbeizogen. Erst nach Stunden fielen ihr endlich die Augen zu. „Callie? Callie!“ Ihr Albtraum verblasste, als die tiefe, wohl bekannte Stimme sie weckte. Micah hielt ihre Oberarme umklammert und schüttelte sie leicht. Ihr Hals fühlte sich wund an von dem Schrei, mit dem sie Micah offensichtlich geweckt hatte. Zitternd setzte sie sich auf. Er beugte sich über sie und schaltete die Nachttischlampe ein. Unvermittelt fiel sein Blick auf Callies feste kleine Brüste. Sie war jedoch zu verängstigt, um daran zu denken, dass sie unbekleidet war. „Du bist in Sicherheit, Baby“, sagte er sanft. „Es ist alles in Ordnung.“ „Ich saß wieder auf diesem Stuhl in Lopez’ Haus“, berichtete sie mit zitternder Stimme. „Er stach auf mich ein, immer wieder… Wenn sie kommen, um mich zu holen, dann erschieß mich bitte, ja?“ „Niemand wird dich holen“, beruhigte Micah sie. „Du bist hier vollkommen sicher.“ Sie seufzte und entspannte sich ein wenig. „Natürlich. Es war nur ein Traum. Aber es kam mir alles so wirklich vor! Sobald ich eingeschlafen war, habe ich alles noch einmal erlebt!“ Ein Schauer überlief sie. „Könntest du mich festhalten? Nur einen Augenblick lang?“ „Bist du verrückt geworden?“ fragte Micah ungehalten. Sie versuchte, nicht auf seine muskulöse, dicht behaarte Brust zu schauen, doch der Anblick sandte ihr seltsam erregende Empfindungen durch den Körper. „Aber wieso?“ „Weil…“ Mit einer kleine Kopfbewegung deutete er auf ihre Brüste, deren Spitzen sich aufgerichtet hatten. Er biss die Zähne zusammen und schloss die Hände um Callies Handgelenke, so dass sie schmerzten. Callie atmete hörbar ein. „Oje, ich hatte völlig vergessen… Tut mir Leid.“ Sie versuchte, sich zu bedecken, doch Micah hielt sie unbarmherzig fest. Sie räusperte sich und verzog das Gesicht. „Das tut weh“, sagte sie mit einem nervösen Lachen. Er lockerte den Griff nur ein wenig. „Hast du die Schlaftabletten genommen, die ich dir gegeben habe?“ fragte er. „Ja, aber sie helfen nicht“, erwiderte sie schläfrig. Sie fühlte sich frei und war zum ersten Mal nicht verlegen, weil er ihre Brüste sehen konnte. Im Gegenteil, sie genoss es sogar. Langsam bog sie den Rücken durch und beobachtete, wie Micah die Augen zusammenkniff und sein Körper sich anspannte. Sie lachte leise auf. „Du lässt dir nichts entgehen, nicht wahr?“ fragte sie. Unterschwellig war ihr bewusst, wie gewagt sie sich gerade benahm, doch sie hörte nicht auf die warnende innere Stimme. „Ja“, gab Micah offen zu. „Und mir gefällt, was ich sehe.“ „So wollte ich mich dir zeigen, seit ich sechzehn bin“, erzählte Callie freimütig. „Ich wollte deinen Blick auf mir spüren. Mein ganzer Körper stand in Flammen, als du mich damals zu Weihnachten betrachtet hast. Ich habe mir so sehr gewünscht, dass du mich küsst, ganz intensiv und fordernd. Dass du dein Hemd aufknöpfst und mir das Kleid über die Schultern streifst und mich an dich presst.“ Die Schauer, die ihr jetzt über den Rücken liefen, hatten mit Angst nichts zu tun. „Du bist so sexy“, flüsterte Callie heiser. „So attraktiv. Und ich bin eine graue Maus mit einem kleinen Busen. Kein Vergleich zu den Rassefrauen, mit denen du
sonst ausgehst. Ich hatte keine Ahnung, dass du mich genauso sehr willst wie ich
dich.“
Micah schüttelte sie leicht. „Callie, um Himmels willen, sei still!“ Es kostete ihn
große Kraft, dem Verlangen, das sie mit ihren Bildern heraufbeschworen hatte,
zu widerstehen.
Doch die Tabletten, die Callie eingenommen hatte, leisteten ganze Arbeit. „Bis
dahin hatte ich Männer immer abstoßend gefunden. Habe ich dir schon erzählt,
dass einer der Liebhaber meiner Mutter versuchte, mich zu verführen? Als ich vor
ihm weglief, stieß er mich die Treppe hinunter, und ich brach mir den Arm. Meine
Mutter gab mir die Schuld dafür und schickte mich zurück in die Pflegefamilie. Sie
sagte, ich sei eine Lügnerin und schwer erziehbar.“
„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“ rief er aus.
„Danach bin ich Männern so gut es ging aus dem Weg gegangen. Aber als ich zu
euch ins Haus kam, wusste ich, dass ich keine Angst mehr zu haben brauchte.
Ich begann mir zu wünschen, dass du mich berühren würdest… aber du hattest
ja mehr Interesse an meiner Mutter.“
„Nie im Leben!“ widersprach Micah mit echtem Abscheu. „Ihre Vorstellung von
Weiblichkeit ist, totale Kontrolle über einen Mann zu haben. Sie ist berechnend,
eiskalt und eine Schmarotzerin.“
Callie blickte ihn fragend an. „Aber genau das hast du damals zu mir gesagt.“
„Es tut mir Leid. Ich wusste damals nicht, wie ich dich sonst auf Abstand halten
sollte. Aber nichts davon war wirklich für dich bestimmt.“
Ihr Seufzen ließ ihren Busen leicht erzittern, und Micah wusste nicht, wohin mit
seinem Blick.
„Ich fühle mich so seltsam“, murmelte sie.
„Wie?“ fragte er unvorsichtigerweise.
Callie lachte leise. „Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Es ist wie ein
leises Pochen und als ob alles geschwollen wäre.“
Er atmete tief durch und ließ ihre Arme los. Wenn sie noch weiter ihre sexuelle
Erregung beschrieb, konnte er für nichts mehr garantieren.
„Es ist so traurig“, seufzte Callie. „Du hast mich bloß ein einziges Mal berührt,
und das nur, weil ich medizinische Hilfe brauchte…“
„Hör auf damit, bitte“, sagte Micah mit rauer Stimme.
„Womit?“ fragte sie unschuldig.
Er zog ihr die Decke bis zum Kinn hoch und hielt sie dort fest.
Als er aufstand, warf Callie ihm einen empörten Blick zu. „Na, das ist ja
wunderbar“, stieß sie hervor. „Bist du etwa so ein Typ, der bei einem Striptease
.Anziehen, anziehen’ ruft?“
Wider Willen musste er lachen. „Nein, normalerweise nicht. Aber ich gehe jetzt
lieber wieder in mein Zimmer. Ich lasse auch die Verbindungstüren offen. Dann
bin ich schneller bei dir, wenn der Albtraum zurückkehrt.“
„Meine Güte, bist du mutig“, sagte Callie. „Hast du denn gar keine Angst, was
passieren könnte, wenn du deine Tür offen lässt? Ich könnte mich in dein
Zimmer schleichen und dich im Schlaf vernaschen.“
„Keine Sorge, ich trage einen Keuschheitsgürtel“, gab Micah zurück, ohne eine
Miene zu verziehen.
Callie blickte ihn einen Augenblick lang verdutzt an, brach dann in helles Lachen
aus.
„Schon besser“, sagte er zufrieden. „Jetzt leg dich wieder hin, versuch zu
schlafen, und hör auf, mich zu verführen. Wenn du dich morgen an ein einziges
Wort erinnerst, das du heute zu mir gesagt hast, wirst du mich nie wieder
ansehen können, ohne rot zu werden.“
Callie zuckte die Schultern. „Schon möglich. Was waren das eigentlich für
Tabletten?“
„Ein Beruhigungsmittel. Offensichtlich wirkt es bei dir etwas anders als sonst“,
fügte er belustigt hinzu. „Oder ich habe ein brandneues Aphrodisiakum
entdeckt.“
„Ach was, es ist doch überhaupt alles deine Schuld. Du hast mir schließlich deine
nackte Brust präsentiert.“
„Aha, und was ist mit deiner Brust?“ entgegnete Micah. „Morgen besorgen wir
gleich ein paar Nachthemden, und solange du hier bist, wirst du sie auch tragen.
Ich habe nämlich keine Kondome hier.“
„Micah Steele!“ rief Callie entrüstet aus.
„Tu nicht so, als hättest du noch nie was davon gehört. Ich will weder eine
Ehefrau noch Kinder, sollte ich also jemals so gewissenlos sein, mit dir zu
schlafen, dann nur mit Schutz!“
„Du hast mich doch unter Drogen gesetzt, damit ich dir meine Brüste zeige“, gab
sie empört zurück.
Er unterdrückte ein Lachen. „Punkt eins: Es war ein ganz leichtes
Beruhigungsmittel. Punkt zwei: Deine Brüste sind hinreißend. Aber ich bin völlig
ungeeignet für die Aufgabe, eine süße Jungfrau in die Freuden der Liebe
einzuführen. Falls du an so etwas dachtest.“
Callie hörte nur das Kompliment. Er fand ihre Brüste nicht zu klein, sondern
mochte sie! Aber sie würde niemals zugeben, wie sehr sie seine Bemerkung
berührte.
„Es gibt jede Menge Männer, die gerne Sex mit mir hätten“, sagte sie stattdessen
so hochmütig sie konnte.
„Zu schade, dass du ausgerechnet mich willst.“
„Wolltest du nicht wieder ins Bett gehen?“ fragte Callie spitz.
Er seufzte. „Wenn du damit fertig bist, dich für mich auszuziehen…“
„Habe ich ja gar nicht. Ich schlafe immer so!“
„Aber erst, seit du bei uns im Haus wohnst, stimmts?“
Ihr Erröten verriet Micah, dass er ins Schwarze getroffen hatte.
„Und dort hast du auch nie deine Tür abgeschlossen“, fügte er hinzu.
„Hat aber leider zu nichts geführt“, sagte sie mürrisch.
„Meine Güte, Callie, du warst doch noch ein Teenager! Jetzt bist du viel
interessanter.“ Gleichzeitig hob er abwehrend eine Hand. „Nicht, dass ich
vorhätte, nachzugeben. Du bist eine Frau, die in ein hübsches Haus mit Garten
gehört.“
„Und du magst sowieso lieber die muskulösen mit Kämpferqualitäten“, sagte sie.
„Oder vollbusige Rasseweiber mit blonder, wallender Mähne.“
„Wenn ich jemals heiraten wollte, wärst du meine Wunschkandidatin, Callie. Du
hast ein weiches Herz, einen wachen Verstand und bist sehr mutig. Ich war sehr
stolz auf dich im Dschungel.“
Sie lächelte erfreut.
„Schlaf jetzt“, sagte Micah und strich ihr sanft über die Wange. „Du kannst ja
davon träumen, leidenschaftlichen Sex mit mir zu haben.“
„Ich weiß ja nicht mal, wie das aussehen würde“, erinnerte sie ihn. „Du bist
wahrscheinlich unheimlich gut im Bett.“
„Allerdings“, erwiderte er ohne falsche Bescheidenheit. „Aber du bist noch
Jungfrau. Das erste Mal ist schmerzhaft und peinlich und hat keinerlei Ähnlichkeit
mit den heißen Szenen in Liebesromanen.“
„Das dachte ich mir“, sagte Callie gleichmütig.
Es wurde Zeit, dass er ging. Seine Erregung ließ sich kaum noch verbergen. Er
tippte Callie leicht auf die Nasenspitze. „Schlaf gut.“
„Micah, kann ich dich noch etwas fragen?“
„Nur zu.“ „Woran hat meine Mutter bemerkt, dass du erregt warst, als sie dachte, es sei ihretwegen?“ „Willst du das wirklich wissen? Ich kann es dir nämlich zeigen.“ Ihr Herz begann, schneller zu schlagen, und das Atmen fiel ihr plötzlich schwer. Doch sie blickte ihn unerschrocken an. „Ja, ich will das wirklich wissen.“ „Okay, wie du willst.“ Mit einem Ruck öffnete Micah die Druckknöpfe seiner Schlafanzughose und ließ sie nach unten gleiten. „Sie hat das hier gesehen.“ Vorsichtig ließ Callie den Blick von dem Stoff um seinen Füßen nach oben wandern. Natürlich hatte sie schon einmal Fotos gesehen, doch das hier war ganz anders. Micahs Beine waren muskulös und ebenso tief gebräunt wie sein Oberkörper. Und als sie seine Männlichkeit sah, hielt sie unwillkürlich den Atem an. Er war beeindruckend. „Begreifst du, was du da siehst, Callie?“ fragte er leise. „Ja“, flüsterte sie. „Du bist erregt, oder?“ Er nickte. „Als ich dich damals zu Weihnachten zurückgewiesen habe, ging es mir so wie jetzt.“ „Ich wusste nicht, dass es so… beeindruckend sein kann“, sagte sie. „Nun ja, andere Männer beneiden mich hin und wieder.“ Es gelang ihm nicht ganz, sein Lachen zu unterdrücken. Schnell zog er die Schlafanzughose wieder hoch und schloss die Druckknöpfe. Der Wunsch, sich auf sie zu legen und ihre nackte Haut auf seiner zu spüren, wurde übermächtig. Callie hatte ja keine Ahnung, wie sehr ihn ihre unschuldige Neugier erregte. „Ich gehe jetzt lieber, bevor es zu spät ist“, kündigte Micah heldenhaft an. „Gute Nacht!“ Callie lächelte und streckte sich mit einem kleinen Gähnen. Es freute sie, dass er daraufhin die Lippen aufeinander presste, doch sie war jetzt wirklich müde. „Ich werde jetzt bestimmt gut schlafen“, murmelte sie undeutlich. „Gute Nacht…“ Sie schloss die Augen, und ihr Körper entspannte sich. Micah betrachtete sie noch einen Moment lang. Natürlich lag es nur an dem Beruhigungsmittel, doch ihre unschuldige Offenheit hatte ein Verlangen in ihm ausgelöst, das nicht so schnell verlöschen würde. „Da bin ich ja froh, dass wenigstens einer von uns schlafen kann“, sagte er und seufzte. Dann warf er noch einen letzten bedauernden Blick auf Callie und verließ ihr Zimmer. Am nächsten Morgen erwachte Callie mit bester Laune, bis sie sich an die Ereignisse der letzten Nacht erinnerte. Entsetzt suchte sie in ihrem Koffer nach möglichst unauffälliger Kleidung, doch Maddie hatte nur eine einzige Garnitur eingepackt. Callie verzog das Gesicht und schlüpfte in die Sachen vom Vortag. Sie bürstete ihr kurzes Haar und verzichtete auf Make-up. In der Küche traf sie auf Micah, der vor einer Tasse Kaffee und einigen Papieren saß. Als sie bei seinem Anblick errötete, lächelte er wissend. „Guten Morgen“, sagte er genüsslich. „Hast du gut geschlafen? Bist du bereit für eine weitere Runde?“ Sie presste die Lippen aufeinander, während sie sich eine Tasse Kaffe eingoss. „Ich stand unter Drogen!“ verteidigte sie sich und setzte sich zu ihm an den Tisch, ohne Micah dabei anzublicken. „Ja, ich werde mir den Namen des Mittels gut merken“, gab er augenzwinkernd zurück. Callie trank einen Schluck Kaffee und räusperte sich. „Gibt es hier irgendetwas für mich zu tun? Ich bin es nicht gewohnt, untätig rumzusitzen.“ „Ich habe gerade mit Lisette telefoniert“, antwortete Micah. „Sie wird gegen zehn
hier sein und mit dir einkaufen gehen.“
„So bald schon?“
„Du brauchst doch etwas zum Anziehen, oder?“
Callie schüttelte trotzig den Kopf.
„Nimm einfach meine Kreditkarte…“
„Meine war im Koffer. Ich kann für mich selbst bezahlen.“
„Callie, ich erwarte keine Gegenleistung, falls du das befürchtest.“
„Ich weiß. Aber ich will nicht noch mehr in deiner Schuld stehen, als ich es
ohnehin schon bin.“
„Wir müssen alle mal lernen, Hilfe anzunehmen“, sagte Micah schlicht.
„In hundert Jahren könnte ich nicht wieder gutmachen, was du für mich getan
hast“, erwiderte sie leise. „Du hast dein Leben für mich riskiert.“
„Gern geschehen, Schatz“, sagte er lächelnd. „Und außerdem hatte ich mit Lopez
sowieso ein Hühnchen zu rupfen.“ Sein Gesichtsausdruck wurde hart und
entschlossen. „Es ist aber noch nicht vorbei. Ich werde ihn endgültig zur Strecke
bringen, bevor er sich auch noch an meinem Vater vergreift!“
7. KAPITEL Callie lief es heiß und kalt den Rücken hinunter. „Aber du hast doch gesagt, Jack
sei in Sicherheit!“
„Im Moment, ja. Aber wenn Lopez sich mit all seinen Leuten auf ihn konzentriert,
dann kann auch der Leibwächter nichts ausrichten, der auf ihn aufpasst. Deshalb
habe ich Lopez eine Nachricht zukommen lassen, in der ich damit prahle, dass
ich dich befreit habe“, antwortete Micah grimmig.
„Aber das wird ihn doch noch mehr reizen!“
„Soll es ja auch. Wenn er seine Wut auf mich konzentriert, lässt er meinen Vater
solange in Ruhe.“
„Hoffentlich“, erwiderte Callie. „Aber was soll ich denn in der Zwischenzeit tun?“
Micah nahm einen Schluck Kaffee. „Was du möchtest. Du bist hier Gast.“
„Aber ich will nicht tatenlos hier rumsitzen!“
„Tust du ja auch nicht. Heute gehst du mit Lisette einkaufen, und morgen zeige
ich dir die Gegend, wenn du magst. Natürlich werden meine Männer immer in der
Nähe sein, aus Sicherheitsgründen.“
Callie nickte.
„Und kauf bitte keine tief ausgeschnittenen Oberteile oder superkurzen Röcke“,
fügte er hinzu. „Wir haben sonst keine Frauen hier auf der Insel, und ich will
nicht, dass meine Männer abgelenkt werden.“
„Ich trage keine aufreizende Kleidung!“ sagte Callie entrüstet.
„Das sah letzte Nacht aber ganz anders aus“, grinste Micah. „Ich habe auch
überhaupt nichts dagegen, dich so zu sehen, aber ich teile den Anblick mit
niemandem, klar? Außerdem bist du offiziell meine Schwester, verstanden?“
„Und warum das? Nur wegen der schönen Lisette?“ fragte Callie bitter.
„Genau. Lisette und ich sind ein Paar, und ich habe nicht die geringste Lust auf
Eifersuchtsszenen.“
Immerhin gelang es Callie, keine Miene zu verziehen. „Träumte weiter“, sage sie
kühl. „Ich weiß, dass du furchtbar enttäuscht bist, dass ich dir noch keinen
Heiratsantrag gemacht habe, aber du musst einfach damit fertig werden.“
Einen Augenblick lang blickte er sie erschrocken an, brach dann aber in Lachen
aus. Er hatte noch nie so viel gelacht wie mit ihr. Gleichzeitig war sie eine Frau,
auf die man sich in gefährlichen Situationen verlassen konnte.
„Zu schade, dass du dich immer in einem Nest wie Jacobsville vergraben hast“,
bemerkte Micah. „Du verschwendest dein Talent in der Anwaltskanzlei, in der du arbeitest, weißt du.“ Callie zuckte mit den Schultern. „Mir machts Spaß, und ich verstehe mich gut mit meinem Chef“, sagte sie. „Du hast Jacbosville nie gemocht, aber ich bin anders. Ich will dort irgendwann ein kleines Haus mit Garten, Nachbarn, mit denen ich mich über den Zaun hinweg unterhalte, und ein paar Kinder.“ Sie zögerte einen Moment lang. „Irgendwann.“ „Liebe Güte, allein der Gedanke ans Heiraten macht mich ganz kribbelig“, erwiderte Micah. „Die meisten Frauen heiraten um des Geldes willen und die meisten Männer wegen Sex. Aber was kann die Heiratsurkunde daran schon ändern?“ „Wenn du es nicht selbst weißt, kann ich es dir auch nicht erklären“, gab Callie zurück. „Ich nehme an, du willst vermutlich keine Kinder.“ Ein Motorengeräusch an der Anlegestelle ersparte ihm die Antwort. „Lisette ist da“, sagte er und stand auf. „Komm mit.“ Callie beobachtete, wie Micah einer großen, fabelhaft aussehenden Blondine in einem dünnen Sommerkleid aus dem Boot half, sie ungestüm an sich zog und leidenschaftlich küsste. Errötend wandte Callie den Blick ab. Offensichtlich befürchtete Micah, dass sie die Ereignisse der letzten Nacht überbewertete, und wollte ihr so zeigen, dass sie keinerlei Chancen bei ihm hatte. Er und Lisette schienen einiges zu besprechen zu haben, denn sie standen eine ganze Weile auf dem Pier und steckten die Köpfe zusammen. Schließlich nahm Micah Lisettes Hand und führte sie zu Callie herüber. Auch aus der Nähe war sie einfach perfekt. Ihr Teint war makellos, und ihr Lächeln gab den Blick auf eine Reihe schneeweißer Zähne frei. „Ich bin Lisette Dubonnet, aber jeder nennt mich einfach Lisette“, stellte sie sich vor und streckte Callie die Hand hin. „Ich bin Callie…“ „Meine Schwester“, unterbrach Micah eilig. „Sie macht hier Urlaub, und ihr Koffer ist nicht angekommen. Ich wollte dich bitten, mit ihr einkaufen zu gehen.“ „Oh je, das ist mir auch schon mal passiert“, lachte Lisette. „Dann machen wir uns am besten gleich auf den Weg. Micah, kommst du mit?“ Micah verneinte. „Ich habe hier zu tun, aber Bojo will in der Stadt etwas erledigen und wird mit euch fahren.“ „In Nassau gibt es jede Menge schicker kleiner Boutiquen“, sagte Lisette, als sie im Boot saßen. „Da finden wir schon was Passendes für dich.“ „Das ist sehr nett von dir…“ Lisette hob abwehrend die Hand. „Nicht der Rede wert. Micah spricht sonst nie von dir. Versteckt er dich normalerweise im Schrank?“ „Wir verstehen uns nicht sehr gut“, antwortete Callie und war froh, dabei nicht einmal lügen zu müssen. „Das ist ja erstaunlich. Normalerweise kommt er mit Frauen sehr gut aus.“ „Aber Sie sind ja auch nicht mit ihm verwandt.“ „Na, zum Glück!“ Lisette ließ ihr glockenreines Lachen hören und wandte sich dann ihrem Kapitän zu. „Mach hin, wir haben es eilig. Mein Vater und ich sind heute Abend auf einem Botschaftsball!“ „Wenn es heute für dich ungünstig ist, können wir auch ein andermal fahren“, bot Callie an. „Nicht nötig. Ich habe sowieso immer einen vollen Terminkalender. Und ich versuche, Micahs Wünsche stets zu erfüllen. Dafür ist er mir immer so dankbar“, fügte sie lasziv hinzu. Ich kann mir auch lebhaft vorstellen, wie er seine Dankbarkeit ausdrückt, dachte Callie, schwieg aber. Bojo jedoch fing ihren Blick auf, machte ein Kopfbewegung
zu Lisette hin und grinste boshaft. Es kostete Callie all ihre Willenskraft, nicht laut zu lachen. Nassaus Hafen war ein Erlebnis. Callie wusste nicht, wohin sie zuerst schauen sollte. Die Markthallen, die Fischerboote, sogar die Möwen, die versuchten, im Sturzflug Fischabfälle zu erbeuten – alles war neu und aufregend schön. „Nun benimm dich nicht wie eine Touristin, Liebes“, rügte Lisette sie. „Das ist doch nur Nassau. Bist du denn noch nie hier in der Gegend gewesen?“ Callie lächelte verlegen. „Eigentlich nicht.“ Sie versuchte, ihr Interesse zu verbergen, und folgte Lisette durch das Hafengewirr. Als sie an einem kleinen Laden vorbeikamen, in dessen Schaufenster Sommerkleider, Jeans, T-Shirts und Sandalen ausgestellt waren, blieb sie stehen. „Hier gibts alles, was ich brauche“, sagte Callie. „Es dauert nur einen Moment…“ Besonders beruhigte sie die Tatsache, dass ihre Kreditkarte hier akzeptiert wurde und die Preise erschwinglich waren. „Ach, du liebe Güte, Schätzchen, hier doch nicht!“ rief Lisette entgeistert aus. „Das ist so ein billiger Touristenladen! Micah hat mir seine Kreditkarte mitgegeben. Er will, dass du Kleider kaufst, mit denen er sich nicht für dich schämen muss.“ Rasch schlug Lisette sich die Hand vor den Mund. „Oh je, das hätte ich ja gar nicht sagen dürfen.“ Sie verzog das Gesicht. „Na ja, jedenfalls…“ „Jedenfalls werde ich hier einkaufen, und zwar mit meiner eigenen Karte“, unterbrach Callie sie. „Du kannst mit reinkommen oder hier draußen warten, ganz wie du willst.“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und ließ Lisette einfach stehen. Während sie zwei Jeans, zwei Sommerkleider, ein Paar Sandalen, ein Paar Turnschuhe und vier T-Shirts aussuchte, fragte sie sich, ob sie zu Micahs Freundin zu unhöflich gewesen war. Doch deren arrogante, aufgesetzte Freundlichkeit ging ihr einfach auf die Nerven. Als sie mit zwei großen Tüten wieder auf die Straße trat, sagte sie knapp: „Ich habe jetzt alles, was ich brauche. Vielen Dank für deine Hilfe. Wir können zurückfahren.“ . Lisette zog eine Schnute. „Es tut mir Leid, wenn ich deine Gefühle verletzt habe. Aber Micah hat mir genau gesagt, was ich tun soll. Jetzt wird er wütend sein.“ So ein Pech, dachte Callie. Laut sagte sie: „Na ja, er kann seine Wut ja an mir auslassen. Ich kann sehr gut für mich selbst aufkommen. Ich bin kein arbeitsloser Parasit und brauche keinen Mann, der mich aushält.“ Lisette, die hinter ihr ging, reagierte nicht. „Oh je, das tut mir Leid. Habe ich etwa deine Gefühle verletzt?“ fragte Callie unschuldig und drehte sich um. Zufrieden registrierte sie, dass Lisette vor Wut fast schäumte. Im Boot beugte Callie sich zu Bojo hinüber und sagte leise: „Sobald wir anlegen, sollten wir so schnell wie möglich aus ihrer Nähe verschwinden.“ Er grinste. „Was haben Sie angestellt?“ „Ich habe sie als Parasitin bezeichnet. Jetzt ist sie ziemlich sauer, glaube ich.“ Es gelang Bojo gerade noch rechtzeitig, sein Lachen zu unterdrücken. Als sie anlegten, half er Callie zuerst aus dem Boot und griff dann nach ihren beiden Einkaufstüten. Gemeinsam rannten sie aufs Haus zu. Micah blickte ihnen verwundert nach, bis Lisette ebenfalls ausgestiegen war. Ihre Stimme war bis zum Haus zu hören. „Sie hat Manieren wie ein Brauereipferd und nicht für einen Cent Geschmack!“ wütete die Diplomatentochter. „Um nichts auf der Welt gehe ich mit ihr noch mal irgendwohin, nicht mal auf eine Müllhalde!“ Callie konnte sich nicht mehr beherrschen. Sie warf Bojo einen kurzen Blick zu, und sie brachen beide in gedämpftes Lachen aus. Es dauerte nicht lange, bis Micah Callie die Leviten las. Sie trug gerade eines ihrer neuen Kleider, ein einfaches blau-weißes Baumwollkleid mit einer Korsage
und breiten Trägern, und genoss im Schatten eines Baumes den Blick aufs Meer.
„Bist du immer so unausstehlich?“ fragte Micah, die Hände in die Hüften
gestemmt.
„Mein Chef ist ganz hingerissen von mir“, gab Callie zurück.
Micah runzelte die Stirn. „Du hast Lisette ganz schön verärgert, dabei wollte sie
dir nur einen Gefallen tun.“
„Und du glaubst, ich bin nicht fähig, ohne sie Kleider zu kaufen? Du musst ja
seltsame Frauen kennen.“
„Du hast sie als Parasitin bezeichnet!“ rief er ärgerlich.
„Als was arbeitet sie denn?“ fragte Callie spitz.
„Sie ist die Gastgeberin, wenn ihr Vater Bankette gibt“, antwortete Micah
zögernd.
„Ich habe nicht nach ihrem sozialen Status gefragt, sondern nach ihrem Beruf.
Aber augenscheinlich hat sie keinen.
Jedenfalls prahlte sie damit, dass du sie großzügig belohnst, wenn sie dir einen
Gefallen tut.“ Callie legte den Kopf schief. „Das kann man wohl auch einen Beruf
nennen… oder vielleicht eher ein Gewerbe?“
Micah blickte Callie finster an.
„Sie hat eben einen luxuriösen Lebensstil“, sagte er knapp.
„Natürlich“, entgegnete Callie ironisch. „Ich bin sicher, dass ich mich in ihr
täusche. Wenn du morgen alles verlieren würdest, stünde sie dir treu zur Seite,
um dir mit ihrer eigenen Hände Arbeit zu helfen.“
Micah presste die Lippen zusammen.
„Oder etwa nicht?“ setzte Callie zuckersüß nach.
„Aber du hättest ruhig meine Karte benutzen können, um dir…“
„… Sachen zu kaufen, mit denen du dich nicht für mich schämen musst“,
vollendete Callie. Sie stand auf, klopfte ihr Kleid ab und wandte ihm den Rücken
zu, so dass sie seinen entsetzten Gesichtsausdruck nicht sah. „Es ist mir völlig
gleichgültig, ob du dich für mich schämst oder nicht“, sagte sie kühl. „Sag mir
einfach rechtzeitig Bescheid, wenn du Gäste hast, dann bleibe ich in meinem
Zimmer.“
„Ja, von wegen, du würdest wahrscheinlich reinkommen und ihnen an den Kopf
werfen, dass sie Parasiten sind!“
Callie zuckte die Schultern. „Ich lasse mich von niemandem herumschubsen,
schon gar nicht von blondierten Lebedamen.“
„Lisette ist keine…“
„Es ist mir völlig egal, was sie ist oder nicht ist“ sagte Callie ärgerlich. „Wenn sie
mich beleidigt oder sich sonst wie aufspielt, werde ich ihr noch ganz andere
Dinge an den Kopf werfen.“
„Was hast du ihr über unser Verhältnis erzählt?“ fragte Micah. Auch er war jetzt
wütend.
„Gar nichts, es geht sie nämlich nicht das Geringste an“, gab Callie zurück. „Aber
wenn du wirklich mein Bruder wärst, würde ich dafür sorgen, dass dein Vater dir
den Hintern versohlt!“ Sie drehte sich um und ging ins Haus zurück. Er rief ihr
etwas nach, doch sie blieb nicht stehen.
Callie beschloss, Micah für den Rest des Tages aus dem Weg zu gehen, und blieb
zum Abendessen auf ihrer Terrasse. Mac bereitete ein Sandwich und eine Pina
Colada für sie zu. Als Callie sich gerade zurücklehnte, um den Sonnenuntergang
zu genießen, kam Micah, ohne anzuklopfen, in ihr Zimmer gestürmt. Er trug
einen Smoking über einem glänzenden weißen Seidenhemd und sah so
umwerfend gut aus, dass es ihr für einen Augenblick den Atem verschlug.
„Gehst du zu einer Beerdigung, oder jobbst du jetzt als Kellner?“ fragte sie
spöttisch, damit er ihr ihre Bewunderung nicht anmerkte.
„Ich gehe mit Lisette zu dem Ball“, sagte er kühl. „Ich wollte dich eigentlich auch einladen, aber du hast ja nichts zum Anziehen.“ Gelassen prostete Callie ihm mit der Pina Colada zu. „Das ist wohl auch besser so. Ich würde das Ende des Abends wahrscheinlich nicht erleben.“ „Lisette ist eine Lady“, gab Micah ärgerlich zurück. „Aber das ist für dich wohl ein Fremdwort. Manieren hast du jedenfalls keine.“ „Tja, in den Pflegefamilien, in denen ich lebte, waren Manieren nicht eben gefragt.“ „Zu schade“, sagte er eisig. „Vielleicht solltest du Unterricht nehmen.“ „Brauche ich nicht. Wenn ich mich mit einer Frau streiten will, schubse ich sie in den Schlamm und kämpfe mit ihr.“ „Das ist von einer kleinen Wilden wie dir auch nicht anders zu erwarten“, murmelte Micah sarkastisch. Diese Bezeichnung weckte furchtbare Erinnerungen in ihr. Sie verlor die Beherrschung, sprang auf und blickte ihn fuchsteufelswütend an, die Pina Colada in der Hand. „Noch ein Wort, und du brauchst eine Dusche und eine Schnellreinigung, bevor du zum Ball gehst“, fauchte Callie. „Ach, du magst es also nicht, wenn man dich eine kleine Wilde nennt?“ Micah hob das Kinn, als sie mit dem Glas ausholte. „Du wagst es doch nicht…“ Das klebrige Getränk traf ihn mitten ins Gesicht, von wo aus es in kleinen Bächen über sein blütenweißes Hemd und den Smoking lief. Callie runzelte die Stirn. „Oh je, jetzt habe ich leider den Trinkspruch vergessen.“ Mit einem Lächeln hob sie das leere Glas. „Salud y pesetas!“ wünschte sie ihm auf Spanisch. Gesundheit und Wohlstand. Micah ballte die Hände zu Fäusten, schwieg jedoch und blickte Callie nur böse an. Sie zwinkerte ihm zu. „Sieh es einfach als Abenteuer! Lisette wird es schon ablecken. Dann hat sie wieder etwas für dich getan und kann einen Einkaufsbummel… Micah!“ Mit langsamen, bedrohlichen Bewegungen kam er auf Callie zu, und sie erkannte sofort, dass er über alle Maßen wütend war. Erschrocken wich sie vor ihm in den Garten zurück. Er^sah aus, als wollte er sie umbringen. Vielleicht war sie ja doch etwas zu weit gegangen… Der ungewohnte Alkohol hatte ihr wohl die Zunge gelöst. „Lass uns vernünftig sein“, sagte sie. „Es tut mir Leid, dass ich überreagiert habe.“ Micah blieb immer noch nicht stehen. „Wirklich, es tut mir Leid“, wiederholte sie. Abwehrend hob sie die Hände. Er würde sie doch nicht schlagen? „Und ich verspreche, dass ich nie wieder… ahhh!“ Mit einem lauten Platschen fiel sie ins Wasser, von dem sie gleich mehrere Mund voll schluckte. Mühsam paddelte sie zur Leiter am Beckenrand und versuchte hinaufzuklettern, was durch ihren triefnassen Rock erschwert wurde. „Ich glaube dir kein Wort“, sagte Micah wütend und versuchte, sie ins Wasser zurückzustoßen. Instinktiv hielt sie sich an ihm fest, wobei er die Balance verlor und kopfüber selbst im Pool landete. Als Micah auftauchte, schossen seine Augen Blitze. Nervös strich sich Callie die nassen Haare aus dem Gesicht. „Es tut mir wirklich Leid“, keuchte sie. Er holte tief Atem. „Vielleicht könntest du mir mal erklären, warum du ohne Grund zur Furie geworden bist?“ Es kostete Callie Konzentration, nicht unterzugehen. Schwimmen war nie ihre Stärke gewesen. Aber sie schuldete Micah wohl die Wahrheit. „Als der Liebhaber meiner Mutter mich die Treppe hinuntergestoßen hatte, erzählte er meiner Mutter, ich sei eine verlogene kleine Wilde und gehöre in ein Heim“, sagte sie,
ohne Micah anzublicken.
Er schwieg, schwamm dann langsam zur Leiter und blickte sich von dort aus
nach Callie um. Doch sie war müde und emotional erschöpft. Sie ging unter.
Sekunden später fühlte sie sich von starken Armen gehalten, und sie konnte
wieder atmen. Micah hob sie auf den Beckenrand, kletterte aus dem Pool und
half ihr auf.
„Ich kann morgen abreisen“, bot sie ihm an.
„Kannst du nicht“, sagte er. „Lopez weiß, wo du bist.“
Müde blickte sie ihn an. „Du Armer wirst mich einfach nicht los.“
Micah schüttelte langsam den Kopf. „Du hast nichts davon verarbeitet, oder?“
forschte er leise nach. „Deine Kindheit verfolgt dich immer noch.“
„Geht es nicht allen so?“ fragte sie mit einem Seufzen. „Es tut mir Leid, dass ich
deinen Anzug ruiniert habe. Und ich werde mich auch bei Lisette entschuldigen,
wenn du willst.“
„Du magst sie nicht.“
Callie hob die Schultern. „Ich kenne sie ja kaum. Ich habe nur keine sehr hohe
Meinung von Menschen, die denken, dass es im Leben nur um Geld geht.“
Micah runzelte die Stirn. „Aber um was geht es denn?“
Sie blickte ihm lange in die Augen. „Schmerz“, sagte sie schließlich mit rauer
Stimme. „Ich gehe jetzt ins Bett. Gute Nacht.“
Als sie schon fast in ihrem Zimmer war, rief er sie zurück. „Was ist?“ fragte sie,
ohne sich umzudrehen.
Er wollte sie um Verzeihung bitten, doch ihm fiel keine Entschuldigung ein. In
diesen Dingen fehlte ihm die Übung.
Callie lachte leise. „Ich weiß schon. Du wünschst dir, dass du mich nicht
hergebracht hättest. Glaub es oder nicht, aber mir gehts genauso.“
„Wenn du mir den Namen von dem Laden verrätst, in dem du eingekauft hast,
lasse ich die Rechnung auf meine Karte übertragen.“
„Da kannst du lange warten, Steele“, sagte Callie und ging durch die Tür.
8. KAPITEL In dieser Nacht lag Callie lange wach, schlief dann jedoch glücklicherweise tief und traumlos. Am nächsten Morgen zog sie ihr zweites, farbenfrohes Sommerkleid an und ging barfuß an den Strand, um Muscheln zu sammeln. Auf dem Weg dorthin kam ihr Bojo entgegen, der ihr zuzwinkerte. „Der Boss musste sich gestern Abend in der Stadt einen neuen Smoking besorgen“, berichtete er. „Wie ich hörte, sind Sie mit ihm schwimmen gegangen?“ Callie lachte. „War keine Absicht. Wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit, und er hat leider verloren.“ „Tja, er ist es einfach nicht gewohnt, dass seine Frauen ihm die Meinung sagen. Die anderen scharwenzeln um ihn herum, reden ihm nach dem Mund, befriedigen sein Ego und kassieren dafür teure Geschenke“, grinste Bojo. „Ich bin ja auch seine Schwester“, sagte Callie vorsichtig. „Sind Sie nicht“, gab er gleichmütig zurück. Callie blickte ihn überrascht an, und er lächelte. „Ab und zu vertraut mir der Boss seine Geheimnisse an. Die SchwesterGeschichte dient nur dazu, Sie vor Lisette zu schützen. Sie ist unglaublich eifersüchtig, und man sollte sie besser nicht zur Feindin haben, zumal sie einflussreiche Freunde und kein Gewissen hat.“ „Dann bin ich wohl geliefert“, seufzte Callie, während sie mit den Zehen eine
hübsch geformte Muschel aus dem Sand grub. „Schließlich habe ich es mir gleich von Anfang an mit ihr verdorben.“ „Keine Sorge, hier sind Sie sicher, auch vor Lisette“, lachte Bojo beruhigend. „Was tun Sie da?“ „Ich sammle Muscheln, um sie mit nach Hause zu nehmen“, erklärte Callie. „Ich habe immer im Landesinneren gelebt. Das ist das erste Mal, dass ich das Meer sehe. Es ist faszinierend!“ Sie blickte von ihrer Suche auf. „Sie sind aus Marokko, sagten Sie. Dort liegt doch die Sahara?“ „ja, aber ich stamme aus Tanger, weit nördlich der Wüste.“ „Aber es ist auch trocken und öde?“ Bojo lachte. „Tanger ist ein Seehafen, Mademoiselle. Es sieht dort ein bisschen aus wie in Nassau. Deshalb fühle ich mich ja so wohl hier.“ „Oh“, sagte Callie verlegen. „Ist es nicht seltsam, wie wir uns Vorstellungen von weit entfernten Ländern machen, die völlig anders sind als die Wirklichkeit? Ich habe schon Postkarten von den Bahamas gesehen, aber ich dachte, das Wasser auf den Bildern hätte man nachträglich eingefärbt, damit es schöner aussieht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das Meer tatsächlich solche Farben haben kann…“ „Bojo!“ Der Marokkaner wandte sich zu Micah um, der mit großen Schritten auf sie zukam. Callie erkannte am Ton seiner Stimme, dass er ärgerlich war. „Bis nachher“, sagte sie lächelnd zu Bojo. „Wer weiß“, antwortete der geheimnisvoll und ging Micah entgegen. Ein paar Minuten später gesellte sich Micah zu ihr. Sie kniete im Sand und wusch die gesammelten Muscheln im seichten Wasser. Micah trug sandfarbene lange Hosen, ein Seidenhemd und einen leichten Mantel. Um zu verhindern, dass er ihre Bewunderung bemerkte, wandte sie schnell den Blick ab. „Kommst du, um dich zu entschuldigen?“ fragte sie. Obwohl ihr Herz wild schlug, gelang es ihr, ihre Stimme ruhig zu halten. „Ich bin hier, um dich abzuholen. Ich wollte dir die Gegend zeigen, schon vergessen?“ Es überraschte Callie, dass er nach ihrem gestrigen Streit überhaupt darauf zurückkam. Sie schaute kurz zu ihm hoch, dann sah sie wieder auf ihre Muscheln. „Danke für das Angebot, aber wenn es dir nichts ausmacht, würde ich lieber weiter Muscheln sammeln.“ Micah steckte die Hände in die Taschen und blickte finster auf sie hinunter. Er fühlte sich schuldig wegen der hässlichen Bemerkungen, die er gestern gemacht hatte, und sein Lebensstil kam ihm nach dem, was Callie über Lisette gesagt hatte, plötzlich fragwürdig vor. Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, musste er zugeben, dass die meisten Frauen in seinem Leben materialistisch eingestellt waren. Ihnen lag nichts an Gefühlen, dafür umso mehr an teurem Schmuck, eleganten Restaurantbesuchen und Segeltouren auf seiner Yacht. Callie dagegen nahm nicht mal ein Kleidungsstück von ihm an. Micah betrachtete das Kleid, das sie trug, mit unverhohlenem Missfallen. Lisette hatte den ganzen Abend über endlos über Callie, ihren texanischen Akzent und ihren schlechten Geschmack hergezogen. Es war einer der unerfreulichsten Bälle seines Lebens gewesen, und als er schließlich ihre Einladung ablehnte, die Nacht in ihrem Apartment zu verbringen, hatte sie ihm auch noch eine „unnatürliche“ Beziehung zu seiner Schwester vorgeworfen. Schließlich hatte er Lisette die Wahrheit über ihre Verwandtschaftsverhältnisse gestanden, was sie erst recht in Rage brachte. „Ich habe euch wohl ziemlich den Abend verdorben, was?“ fragte Callie kleinlaut. „Tut mir wirklich Leid.“
Micah gab eine Art Schnauben von sich, sagte aber nichts. Erst als auch Callie
eisern schwieg, fragte er: „Warum willst du dir nicht Nassau mit mir anschauen?“
Sie stand auf und streckte ihm ihren nackten Fuß entgegen. Neben dem großen
Zeh war eine beachtliche Blase zu sehen. „Weil die Sandalen, die ich gekauft
habe, nicht sehr bequem sind. Ich bin diesen Riemen zwischen den Zehen nicht
gewohnt. Und Turnschuhe passen nicht zu meinem Kleid.“
„Als ob es darauf ankäme“, sagte Micah verächtlich. „Die Hälfte der Frauen in
Nassau läuft in so was rum.“
Callie blickte ihn fassungslos an. „Ich kann mir nun mal keine Designersachen
leisten. Und es tut mir Leid, wenn ich damit deine luxusverwöhnten Augen
beleidige. Aber das lässt sich ja leicht beheben, indem du einfach gehst und mich
weiter Muscheln sammeln lässt. Nur zu gerne erspare ich dir die Peinlichkeit, dich
mit mir und meinen ,Lumpen’ in der Öffentlichkeit zu zeigen!“
„Nun ist aber gut!“
Sein Ärger ließ Callie erkennen, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
„Außerdem bin ich auf deiner Insel doch sowieso viel sicherer, oder nicht?“ fügte
sie versöhnlicher hinzu. „Deine Männer können hier viel besser auf mich
aufpassen.“
„Ja, besonders zu Bojo scheinst du dich ja sehr hingezogen zu fühlen“, bemerkte
Micah mit schneidender Stimme.
Callie hob die Augenbrauen. „Ich mag ihn. Es ist nett, mal zur Abwechslung nicht
kritisiert oder ignoriert zu werden.“
Es fiel Micah schwer, sich zu beherrschen. Noch nie hatte ihn eine Frau so zur
Weißglut getrieben wie Callie.
„Warum schaust du dir nicht mit Lisette die Sehenswürdigkeiten an?“ fragte
Callie, während sie klugerweise zurückwich. „Ihr könntet mit dem teuersten
Juwelier in Nassau anfangen und Euch dann langsam zur teuersten Boutique
vorarbeiten… Micah!“
Mühelos hob er sie hoch und ging mit ihr aufs Wasser zu. Sie schlug ihm mit den
Fäusten gegen die Brust. „Wag es nicht, Micah, wag es…“
Als er sie gerade noch ein Stück höher hob, um sie mit Schwung in die Wellen zu
werfen, hörten sie den Schuss! Der Stamm einer Palme in der Nähe zersplitterte.
„Bojo!“ rief Micah.
Der Marokkaner kam bereits angerannt, eine Maschinenpistole in der Hand. Am
Horizont war eine Yacht zu sehen, die langsam auf die Insel zu hielt. Wieder
krachte ein Schuss.
Micah hielt Callie noch fester und rannte mit ihr den Strand entlang.
„Hierher!“ rief Bojo, der ihnen Feuerschutz gab.
Auch die anderen Männer waren nun am Strand aufgetaucht. Peter trug ein
langes Rohr. Bojo rief ihm etwas zu und schüttelte den Kopf. Der andere Mann
seufzte, stützte das Rohr auf seiner Schulter ab und feuerte. Sekunden später
schlug ein Geschoss kurz vor der Yacht ins Wasser ein.
„Das wird sie für kurze Zeit ablenken“, sagte Micah. „Lasst uns verschwinden!“
Ohne Callie abzusetzen, rannte Micah aufs Haus zu. Die Männer folgten. Erst
drinnen ließ er sie los.
„Was war das denn?“ fragte sie entsetzt. „Was ist passiert?“
„Lopez ist passiert, wenn ich mich nicht sehr täusche“, sagte Micah grimmig.
„Meine Schuld, ich war unvorsichtig. Wird nicht wieder vorkommen.“ Dann drehte
er sich um und ging. Sprachlos blieb Callie zurück.
Kurz darauf traf Micah auf Bojo.
„Die Yacht ist jetzt natürlich weg“, sagte Bojo ärgerlich. „Und Peter ist sauer,
dass ich ihm verboten habe, sie abzuschießen.“
„Damit würde selbst ich nicht durchkommen“, erwiderte Micah. „Aber glaub mir,
es hat mich sehr in den Fingern gejuckt. Lopez weiß jetzt jedenfalls, dass Callie hier ist. Er wird es noch einmal versuchen. Wir dürfen sie keine Sekunde aus den Augen lassen.“ „Schon klar“, gab Bojo zurück. „Micah, weiß sie eigentlich, dass du sie als Köder benutzt?“ „Um Himmels willen! Und wag es ja nicht, ihr gegenüber auch nur die kleinste Andeutung in diese Richtung zu machen!“ „Auf keinen Fall. Aber du musst zugeben, dass du dich nicht gerade wie jemand verhältst, dem wirklich etwas an ihr liegt.“ Micah blickte ihn unwillig an. „Sie gehört zur Familie, und ich passe auf sie auf. Aber sie ist nur deshalb meine Stiefschwester, weil mein Vater unbedingt ihre Mutter, diese Schlampe, heiraten musste. Callie hat es geschafft, das Herz meines Vaters zu erobern, und es würde ihn umbringen, wenn ihr etwas zustieße“, sagte Micah kühl. „Ich werde nicht zulassen, dass Lopez meinen Vater angreift. Hier auf der Insel bin ich Lopez gegenüber im Vorteil. Zum einen lenkt es ihn von meinen Vater ab, zum anderen bekomme ich ihn hier besser zu fassen. Und Callie ist der ideale Köder dafür.“ „Wie du meinst“, seufzte Bojo. „Wenigstens weiß sie nichts davon.“ Micah nickte. Keiner von beiden bemerkte, wie Callie sich hinter ihnen leise zurückzog. Sie schaffte es bis in ihr Zimmer, bevor sie in Tränen ausbrach. Es war nicht ihre Absicht gewesen zu lauschen, doch als sie ihren Namen hörte, war sie stehen geblieben. Jetzt hätte sie alles dafür gegeben, nichts davon erfahren zu haben. Micah hatte sie von Anfang an belogen. Seine Versprechen, dass er sie beschützen, dass Lopez sie niemals wieder in die Hände bekommen würde – alles Lügen. Offensichtlich ging er sogar das Risiko ein, dass ihr etwas zustieß, wenn er damit nur seinen Vater schützen konnte. Noch niemals in ihrem Leben hatte sie sich so verraten gefühlt. Sie durchquerte das Zimmer und setzte sich in den Stuhl neben dem Fenster. Nervös suchte sie das Meer ab. Die Yacht war nirgends zu sehen, aber Lopez war bestimmt in der Nähe. Micahs bewaffnete Männer würden ihn nicht davon abhalten, das Haus anzugreifen. Schließlich hatte auch er Waffen und gut ausgebildete Kämpfer. Callie dachte an den Mann, der sie in Lopez’ Haus gefoltert hatte, und schlang zitternd die Arme um ihren Oberkörper. Sie war nicht nur allein und in Gefahr, sondern hatte auch keinerlei Möglichkeit, sich zu verteidigen, wenn Micah sie im Stich ließ. Sie hatte ihm vertraut, und es war ein bitterer Fehler gewesen. Nun wurde es Zeit, dass sie sich wieder um sich selbst kümmerte. Sie würde Bojo bitten, ihr eine Waffe zu geben und ihr das Schießen beizubringen. Wenn sie hier schon ganz auf sich gestellt war, dann wollte sie wenigstens eine faire Chance. Vielleicht würde Micah sie ja sogar an Lopez ausliefern, wenn der ihm dafür versprach, seinen Vater in Ruhe zu lassen. Callie steigerte sich immer weiter in ihre panischen Gedanken hinein. Als Micah hereinkam, gelang es ihr jedoch, sich nichts anmerken zu lassen. Er erkannte allerdings sofort, dass ihre Augen den gewohnten Glanz verloren hatten. Hoffnungslos und gequält blickte sie ihn an. Micah runzelte die Stirn. „Was ist los? Du bist doch in Sicherheit. Lopez wollte uns nur zeigen, dass es ihn auch noch gibt. Glaub mir, wenn er dich hätte töten wollen, wärst du jetzt nicht hier.“ Callie schluckte. „Ja, das dachte ich mir. Und was jetzt?“ „Wir warten einfach ab. Wenn wir so tun, als hätten wir die Warnung nicht ernst genommen, wird er einen zweiten Versuch starten. Dabei kriegen wir ihn dann.“
Sie blickte Micah in die Augen. „Warum schickst du mich nicht allein nach Nassau? Das wäre wohl der schnellste Weg.“ „Nein, dabei ist das Risiko zu groß, dass du ihm wieder in die Hände fällst.“ Mit bitterem Lachen wandte sie sich wieder dem Meerblick zu. „Ist das nicht sowieso dein Plan?“ Micah schwieg einige Sekunden lang. Schließlich fragte er mit rauer Stimme: „Würdest du mir bitte erklären, was du damit meinst?“ „Wenn man in Afrika einen Löwen fangen will, bindet man eine lebendige Ziege an einen Pfahl, um ihn damit anzulocken. Wenn die Ziege es überlebt, lässt man sie frei, aber wenn der Löwe sie zuerst bekommt, ist es auch nicht weiter schlimm. Was ist schon eine Ziege mehr oder weniger?“ Widerstreitende Gefühle stiegen in Micah auf, das deutlichste von ihnen war Scham. „Du hast mein Gespräch mit Bojo gehört?“ Callie nickte. Er holte tief Atem. „Callie…“ begann er. Ihm fehlten die Worte, mit denen er den Schaden hätte wieder gutmachen können. „Ist schon in Ordnung“, sagte sie, wandte sich aber immer noch nicht zu ihm um. „Ich hatte nie Illusionen darüber, welcher Platz mir in deiner Familie zusteht.“ Micah biss sich auf die Lippe. Wieso tat es bloß so weh, sie das sagen zu hören? Er hatte seinen Vater verloren, weil ihre Mutter sich zwischen sie gedrängt hatte. Warum also sollte er sich also Callie gegenüber schuldig fühlen? Außerdem hatte er nicht alles, was er zu Bojo gesagt hatte, wirklich so gemeint. Im Grunde störte es ihn nur, dass sie dem Marokkaner gegenüber so freundlich war, während sie ihn selbst mit eisiger Verachtung strafte. „Gut, ich werde dein Spiel mitspielen“, sagte sie schließlich. „Aber ich will eine Waffe.“ Callie stand auf und drehte sich zu Micah um. „Dann kann ich mich wenigstens selbst verteidigen. Oder verhindern, dass Lopez mich lebend bekommt.“ Micah zuckte zusammen. „Er wird dich überhaupt nicht bekommen“, sagte er. „Besser doch mich als deinen Vater, oder?“ gab sie kühl zurück. Mit einem Knall schloss Micah die Tür hinter sich und ging auf sie zu. Auf ihrem Gesicht waren noch Tränenspuren zu sehen. „Glaubst du wirklich, ich würde dich opfern, um meinen Vater zu retten?“ stieß er hervor. „Wofür hältst du mich eigentlich?“ „Keine Ahnung“, gab Callie offen zu. „Du bist ein Fremder für mich.“ Ungeduldig schüttelte er den Kopf. „Das ist der Grund, warum ich Frauen wie Lisette bevorzuge“, sagte er, ohne nachzudenken. „Du bist mir einfach zu anstrengend.“ „Danke. Ich liebe Komplimente.“ „So, wie du dich benimmst, könnte man eher glauben, dass du auf Beleidigungen aus bist“, gab Micah zurück. „Tja, man gewöhnt sich mit der Zeit an alles“, erwiderte Callie schlicht. „Aber ich bin hart im Nehmen, Micah. Tu dir also keinen Zwang an. Binde mich an eine Palme und warte im Hinterhalt, bis Lopez auftaucht und mich erschießt. Es ist mir egal.“ Micah durchschaute ihre Lüge nur zu leicht. Ein Blick in ihre blauen Augen genügte, um zu sehen, dass sie mit ihrem Sarkasmus nur den Schmerz zu verbergen versuchte, der sie erfüllte. Es verletzte sie, dass Micah sie benutzte, und das konnte nur bedeuten… Micahs Herzschlag setzte einen Moment lang aus. Sie liebte ihn. Und versuchte mit aller Macht, es vor ihm zu verbergen. Er dachte daran, wie willig sie seinen Kuss erwidert hatte. Einer Frau mit ihrer Vergangenheit fiel es sicherlich schwer, einen Mann an sich heranzulassen, doch sie war bereit gewesen, sich ihm hinzugeben. Was sie jetzt gehört hatte, musste
sie bis ins Innerste verletzen.
„Ich schwöre dir, ich werde nicht zulassen, dass Lopez dich zu fassen bekommt.“
„Ich will eine Waffe, Micah.“
„Nur über meine Leiche. Du wirst dich gefälligst nicht umbringen.“
Ihre Unterlippe begann, leicht zu zittern. Callie wirkte hilflos, wie ein Tier in der
Falle. Das war zu viel für Micah. Er riss sie in die Arme und küsste sie stürmisch,
bevor sie auch nur ahnte, was er vorhatte. Diesmal hatte er keine Zeit für
zärtliche Spiele. Sein Kuss war tief und leidenschaftlich. Das Gefühl, von ihr
geliebt zu werden, steigerte seine Leidenschaft noch. Als er spürte, wie prompt
sein Körper reagierte, stöhnte er leise.
Schließlich bemerkte er, dass Callie versuchte, sich von ihm loszumachen. Er
blickte sie fragend an. „Ich werde dir nicht wehtun“, sagte er leise.
„Du bist wütend“, gab sie atemlos zurück. „Jetzt willst du mich bestrafen, indem
du…“
„Um Himmels willen, nein.“ Wieder beugte er sich über sie, küsste diesmal
zärtlich ihre Augenlider. Sanft strich er ihr über das Haar und den Rücken, dann
drückte er sie leicht an sich.
Callie zuckte zusammen, als sie spürte, wie erregt er war.
Leise lachend erklärte er: „Die meisten Männer wären froh und glücklich, wenn
sie so eindeutig auf eine Frau reagierten. Aber das weißt du wahrscheinlich
nicht.“
„Du solltest nicht…“
Micah hob ihr Kinn leicht an und betrachtete amüsiert ihr entsetztes Gesicht. „Du
glaubst doch wohl nicht, dass ich das mit Absicht tue?“
Callie errötete.
„Tut mir Leid, Schatz, aber darauf habe ich keinerlei Einfluss.“ Er rückte ein
Stück von ihr ab, um ihr weitere Verlegenheit zu ersparen.
„Ich möchte, dass du in den nächsten Tagen im Haus bleibst“, sagte Micah
schließlich, als wäre nie etwas vorgefallen. „Geh nicht auf die Terrasse und bleib
von den Fenstern weg.“
„Aber wenn Lopez mich nicht sieht…“ begann sie.
„Er weiß, dass du hier bist, aber nicht, wo genau du dich versteckst. Das
bedeutet, dass er sich weit auf mein Gebiet vorwagen muss. Meine Männer sind
über das ganze Grundstück verteilt. Lopez kommt nicht an dich heran.“
Zitternd legte Callie ihren Kopf an Micahs Brust. „Du kannst dir nicht vorstellen,
wie furchtbar es war…“ begann sie leise. „Bitte, gib mir eine Waffe.“
Er schlang die Arme um sie, hielt sie ganz fest. Wie hatte er nur so kaltblütig sein
können! Natürlich, in seinem Job waren Gefühle nicht gefragt. Zu leicht entschied
ein Zögern, hervorgerufen von Gewissensbissen, über Leben und Tod. Aber
immerhin ging es hier um Callie. Ihre Albträume hätten ihm sagen müssen, wie
traumatisch ihre Gefangenschaft gewesen war.
„Es tut mir Leid“, sagte er leise. Ob sie überhaupt ahnte, wie viel ihn diese Worte
kosteten?
Ungeduldig wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen. „Schon gut,
schließlich willst du nur deinen Vater schützen. Ich liebe ihn ja auch und würde
alles tun, damit ihm nichts passiert.“
Micah schloss die Augen und stöhnte leise. „Und ich werde alles tun, damit dir
nichts passiert“, wiederholte er.
„Ich weiß. Danke.“
Besorgt suchte er in ihrem Gesicht nach Anzeichen dafür, ob sie ihm wirklich
glaubte. Noch nie zuvor hatte er die leichten Sommersprossen bemerkt, die sich
auf ihrer perfekt geformten kleinen Nase ausbreiteten. Auch die dunklen
Sprenkel in ihren hellblauen Augen sah er zum ersten Mal. Wenn Callie lächelte,
zeigte sich auf ihrer linken Wange ein bezauberndes Grübchen. Zart berührte
Micah ihre vollen Lippen mit den Fingerspitzen. Ihr Haar war von seinem Überfall
etwas zerzaust, und es stand ihr ausnehmend gut.
„Du bist hübsch“, murmelte er mit einem abwesenden Lächeln.
„Bin ich nicht. Du brauchst mir keinen Honig um den Bart zu schmieren.“
„ Es ist die Wahrheit“, sagte er schlicht. Er zog Callie näher an sich und berührte
ihren Mund sanft mit den Lippen. Sie erstarrte und blickte ihn aus großen Augen
an.
„Du bist nicht leicht zu erobern, was?“ fragte Micah lächelnd. „Wahrscheinlich ist
es ziemlich schwer für dich, jemandem zu vertrauen, nach all den schlimmen
Erfahrungen, die du gemacht hast.“
„Ich vertraue deinem Vater“, gab sie zurück.
„Aber nicht mir, oder?“
„Kein bisschen“, erklärte sie und löste sich von ihm. „Und du brauchst mich auch
nicht zu küssen, nur damit ich mich besser fühle.“
„War nicht meine Absicht“, sagte Micah leichthin. „Ich habe dich geküsst, damit
ich mich besser fühle* Und es hat auch geholfen.“
Überrascht trat Callie einen Schritt zurück. Dabei drückte sie den Rücken durch,
und Micah konnte unter dem dünnen Stoff ihres Kleids ihre Brustspitzen sehen.
Unter der zarten Haut an ihrer Halsgrube pochte eine Ader. Ja, sie wollte ihn.
Als Callie seinem Blick folgte, verschränkte sie die Arme vor der Brust. Sie spürte
selbst, dass etwas in der Luft lag, aber sie hatte keine Ahnung, was es war.
„Ich habe übrigens Lisette niemals gesagt, dass ich mich für dich schäme“, sagte
Micah plötzlich.
Callie wurde rot. „Schon gut“, gab sie zurück. „Ich weiß, dass ich nicht besonders
modisch bin. Ich ziehe einfach irgendwas an.“
„Das bin ich nicht gewohnt. Die Frauen, die ich kenne, haben einen
ausgezeichneten Geschmack. Sie wählen immer das Teuerste und lassen mich
dafür bezahlen.“
Das klang irgendwie verbittert, und Callie betrachtete ihn überrascht. „Kommst
du dir deshalb betrogen vor?“
„Kann man so sagen. Welcher Mann mag schon die Vorstellung, dass er für Sex
bezahlt?“
„Warum suchst du dir dann immer Frauen aus, die dafür bezahlt werden wollen?“
fragte sie geradeheraus.
„Keine Ahnung.“
„Wirklich nicht?“ Ihre Stimme war sanft. „Du hast gesagt, dass du auf keinen Fall
heiraten willst, also hältst du unbewusst nach Frauen Ausschau, die daran
ebenfalls nicht interessiert sind“, sagte Callie. „Aber die bleiben eben nur,
solange genügend Geld da ist. Oder nicht?“
Es beunruhigte Micah, wie leicht sie diese Dinge durchschaute. „Ich nehme an,
du bist die Sorte Frau, die sich in einen armen Schlucker verliebt und einen
zweiten Job annimmt, um seine Schulden zu bezahlen“, sagte er.
Callie lächelte verlegen. Seinen Sarkasmus schien sie nicht zu bemerken. „Die
meisten Männer haben Angst vor mir, weil es mir egal ist, was für ein teures
Auto sie fahren oder ob sie mich in ein exklusives Restaurant ausführen. Ich
gehe gern spazieren und pflücke Wiesenblumen.“ Sie hob abwehrend eine Hand
und fuhr dann fort: „Ich will nichts von dir, Micah, ehrlich nicht. Mir ist klar, dass
du keine Wiesenblumen magst und Lisette deine Traumfrau ist“, sagte sie. „Ich
habe keinerlei romantische Absichten.“
„Wirklich nicht? So, wie du mich gerade geküsst hast, könnte man aber das
Gegenteil annehmen“, bemerkte Micah trocken.
Sie räusperte sich und bemühte sich, möglichst entschlossen zu klingen.
„Wirklich nicht.“
„Komm, lass uns Mac suchen und ein paar Sandwiches bei ihm bestellen“,
wechselte Micah schnell das Thema. „Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich
habe Hunger.“
„Ja, Essen wäre prima.“
An der Tür blieb er noch einmal stehen. „Es ist mir übrigens ernst damit“,
betonte er noch einmal. „Lopez wird dich nicht bekommen.“
„Danke“, sagte Callie ohne Überzeugung.
Wie hatte er nur Bojo gegenüber so kaltherzig über sie reden können! Er hatte es
nicht so gemeint, aber das wusste sie nicht. Nun würde sie ihm nie wieder
vertrauen!
Als sie an ihm vorbeiging, streifte ihn ein leichter Rosenduft. Wie gut dieses
Parfüm zu ihrem zarten, liebevollen Wesen passte. Immer war sie bereit, mit
vollen Händen zu geben. Als er daran dachte, wie sie Bojo angelächelt hatte, biss
er sich auf die Lippe.
„Und lass die Finger von Bojo“, sagte Micah leise. „Wir wollen hier keine
Komplikationen!“
Callie drehte sich um und blickte ihn anklagend an. „Du bist ja nur eifersüchtig,
weil ich dir noch keinen Heiratsantrag gemacht habe!“ Hoch erhobenen Hauptes
stolzierte sie den Flur entlang.
Micah öffnete den Mund, um etwas zu sagen, musste jedoch stattdessen
unwillkürlich lachen.
9. KAPITEL Das Mittagessen, das sie zusammen mit Micahs Männern einnahmen, verlief schweigend. Callie war sich bewusst, dass die anderen ihr verstohlene Blicke zuwarfen, doch niemand richtete das Wort an sie. Nach dem Essen sprach Bojo sie darauf an, während sie mit ihm am Strand spazieren ging. „Die Männer mögen Sie“, versicherte er ihr. „Aber niemand hat Lust, es sich mit Micah zu verderben, weil er Ihnen zu nahe kommt.“ „Außer Ihnen.“ Bojo grinste. „Tja, ich bin für Micah ziemlich unersetzlich, deshalb würde er mich nicht einfach feuern. Die anderen aber schon.“ Callie runzelte die Stirn. „Er würde einen Mitarbeiter nur deswegen feuern, weil er mit mir redet? Das kann ich mir nicht vorstellen. Micah mag mich nicht mal besonders. Ich habe gehört, wie er zu Ihnen sagte, ich sei nur ein Köder.“ Bojos Lächeln vertiefte sich. „Ja, und dem Mann, der das ursprünglich vorschlug, hat Micah dafür beinahe die Zähne ausgeschlagen.“ „Aber Micah hat doch Ihnen gegenüber genau das gesagt!“ „Er wollte, dass ich einen falschen Eindruck bekomme“, erklärte Bojo freimütig. „Micah ist eifersüchtig auf mich. Sie und ich, wir kommen gut miteinander aus, reden wie Freunde. Aber Sie wollen nichts von mir – oder von Micah. Damit kommt er nicht klar. Er ist es gewöhnt, Frauen teure Geschenke zu kaufen, damit diese Frauen ihm dafür zu Füßen liegen. Aber Sie, Callie, nehmen nicht mal das Notwendigste von ihm an.“ Bojo zuckte die Achseln. „Dass weder sein Aussehen noch sein Reichtum irgendeinen Eindruck auf Sie macht, kann er einfach nicht begreifen. Und dann musste er auch noch anordnen, dass stets einer der Männer in Ihrer Nähe ist. Von Peter oder Rodrigo hat er nichts zu befürchten, meint er, aber mich sieht er als Bedrohung.“ Bojos jungenhaftes Grinsen ließ seine makellos weißen Zähen aufblitzen. „Und damit hat er natürlich Recht. Ich bin weltgewandt, gut aussehend, großzügig,
intelligent… Lassen Sie mich nachdenken. Nicht, dass ich eine meiner zahllosen guten Eigenschaften vergesse.“ Callie begriff, dass er versuchte, sie aufzuheitern, und ging auf das Spiel ein. „Nur zu, aber hoffen Sie nicht auf einen Heiratsantrag!“ „Warum nicht?“ „Männer sind mir einfach zu anstrengend. Micah nimmt es ja schon furchtbar schwer, dass ich ihm nicht schon längst einen Antrag gemacht habe, und jetzt fangen Sie auch noch damit an. Sogar Lopez ist hinter mir her! Glauben Sie mir, es ist nicht leicht, mit so viel Sexappeal zu leben.“ Bojo brach in lautes Lachen aus. Callie war einfach köstlich. In ihrer hübschen Schale steckten großer Mut und ein unvergleichlicher Charakter, und eine so genannte Lady wie Lisette konnte ihr niemals das Wasser reichen. Wieso erkannte Micah das nur nicht? Dabei hätte er Lisette ohnehin nur herbeizitiert, um Callie auf Abstand zu halten. Im letzten Jahr war sie nur zwei Mal auf der Insel gewesen. Während des ganzen Gesprächs hatte Bojo beständig den Horizont nach Anzeichen von Lopez’ Yacht abgesucht. Der Drogenboss würde nicht ewig warten. Mit jedem Tag stieg die Gefahr eines weiteren Angriffs. „Haben Sie eigentlich Erfahrung in Selbstverteidigung?“ fragte Bojo unvermittelt. „Ein wenig“, antwortete Callie. „Ich habe mal einen Kurs besucht, aber Lopez’ Männer waren so schnell, dass ich gar keine Zeit hatte, mich überhaupt zu wehren.“ „Zeigen Sie mir doch mal, woran Sie sich erinnern“, bot Bojo an. „Dann bauen wir darauf auf. Es kann nie schaden, gut vorbereitet zu sein.“ Die Übungen gaben Callie mehr Selbstbewusstein. Wenn sie genügend Zeit hatte, etwas von dem Gelernten anzuwenden, konnte sie vielleicht entscheidende Sekunden herausholen, bis Micah oder seine Männer ihr zur Hilfe kamen. Sie wagte allerdings nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn alles, wie beim ersten Mal, viel zu schnell ging. Insgeheim hatten sie wohl alle mit einem Sturmangriff gerechnet. Als Callie mitten in der Nacht aufwachte, weil jemand ihren Kopf festhielt, wurde ihr schlagartig klar, dass sie sich getäuscht hatten. Der Mann, den sie nur als dunkle Silhouette erkannte, hatte es offenbar geschafft, an sämtlichen Sicherheitsvorkehrungen vorbeizukommen. Zum Glück schlief sie nicht sehr fest. Sie war sofort hellwach und erinnerte sich an die Tricks, die Bojo ihr am Nachmittag gezeigt hatte. Als der Mann ihr ein chloroformgetränktes Tuch auf Mund und Nase drücken wollte, wandte sie ruckartig den Kopf, so dass sie noch einmal tief Luft holen konnte, bevor sie für die nächste Minute den Atem anhielt. Als der Mann sie aus dem Bett hob und zur Terrasse trug, erschlaffte sie, als hätte sie das Narkotikum eingeatmet. Dann hob sie beide Arme und schlug ihm so hart sie konnte auf die Ohren. Er schrie auf und ließ sie fallen. Callie traf mit der Hüfte und dem Oberschenkel zuerst auf dem Steinboden auf und stöhnte unwillkürlich, als ihr der Schmerz durchs Bein schoss. Doch die Angst war stärker. Es gelang ihr, auf die Füße zu kommen und nach einer Schaufel zu greifen, die der Gärtner achtlos an einem Blumenkübel hatte stehen lassen. Der Entführer hatte sich von seinem Schreck bereits erholt und kam erneut auf sie zu. In ihr stieg eine Wut auf, wie sie sie noch nie zuvor erlebt hatte. Callie holte weit aus und ließ die Schaufel mit aller Kraft auf seinen Kopf krachen. Er gab einen erstickten Laut von sich und sank in sich zusammen. Callie blickte wild um sich und entdeckte am Strand ein kleines Boot, in dem ein zweiter Mann wartete. Sie hob die Schaufel über den Kopf. „Komm mich doch holen, du Mistkerl!“ schrie sie. „Wenn ich eine Waffe hätte, wärst du jetzt schon
tot!“
Inzwischen waren auch Micah und seine Männer zur Stelle. Zwei von ihnen
rannten auf das Boot zu, das sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit und äußerst
leise entfernte.
Micah trug nichts als Boxershorts aus schwarzer Seide und eine
Maschinenpistole. Sein Blick durchbohrte Callie förmlich. Sie war sich nicht
bewusst, dass ihre Brüste unter dem dünnen Nylon-Nachthemd deutlich zu sehen
waren.
„Alles okay bei dir?“ fragte Micah knapp.
„Mir gehts jedenfalls besser als ihm“, sagte sie. Jetzt, wo es vorbei war, begriff
sie erst richtig, in welcher Gefahr sie sich befunden hatte. „Er hatte Chloroform,
aber ich konnte mich befreien. O Micah, ich hatte solche Angst!“ Zitternd ging sie
auf ihn zu und schlang die Arme um ihn. Ihre kleinen, festen Brüste wurden
dabei gegen seinen nackten Bauch gedrückt. Als sie völlig unbewusst begann,
seinen Rücken zu streicheln, atmete er scharf ein. Seine sonstige Reaktion ließ
sich nur schlecht verbergen.
Callie spürte den Schauer, der ihn durchlief, und hob den Kopf. „Was ist los?“
Micah atmete tief durch und löste sich etwas von ihr. „Nichts. Wir sperren diesen
Kerl erst mal ins Bootshaus und schauen dann, ob er nicht ein paar
Informationen für uns hat.
Das ersparst du dir besser. Du solltest jetzt zurück in dein Zimmer gehen und…“
„Und was?“ unterbrach sie ihn. „Glaubst du etwa, ich kann jetzt schlafen?“
„Natürlich nicht“, murmelte Micah, darauf bedacht, dass sie seine Erregung nicht
bemerkte. „Ich könnte ja Lisette anrufen und sie bitten, bei dir zu bleiben.“
„Danke, nicht nötig.“ Callie hob das Kinn und blickte ihn trotzig an. „Ich ziehe mir
erst mal etwas über, und dann kann Bojo mir ja Gesellschaft leisten.“
„Kommt überhaupt nicht in Frage!“ stieß Micah hervor. „Ich halte selbst bei dir
Wache!“
„Danke, aber das ist zu viel der Ehre“, erwiderte Callie . „Gib mir einfach eine
Waffe und zeig mir, wie man sie abfeuert, dann werde ich mich allein sehr wohl
fühlen.“
Micah unterdrückte einen Fluch. Trotz ihrer Worte war deutlich zu sehen, dass sie
unter Schock stand. Und er bot ihr momentan denkbar schlechte Unterstützung.
Statt sich um ihre Sicherheit zu kümmern, konnte er immer nur daran denken,
wie es wohl wäre, ihre Haut an seiner zu spüren. Aber genau das würde er nie
erleben. Callie war eine Frau zum Heiraten. Noch unberührt. Er hatte keine
Chance bei ihr.
Und nun war sie beinahe wieder entführt worden, ausgerechnet, als er Wache
hatte. Müde von ihrem täglichen Kleinkrieg und der Anstrengung, sein Verlangen
zu unterdrücken, war er dabei eingeschlafen. Sein ausgeklügeltes
Sicherheitssystem hatte kläglich versagt.
Micah suchte den Horizont ab. Weit draußen begann das kleine Boot zu sinken,
und jemand versuchte an den Strand zu schwimmen.
„Peter, fang ihn ab!“ rief Micah.
Peter legte seine Waffe ab, zog die Stiefel aus und tauchte in die Brandung. Nach
kurzem Kampf überwältigte er Lopez’ Mann und zog ihn ans Ufer.
Zur gleichen Zeit kam Callies Angreifer stöhnend zu sich. „Zu schade, dass ich
ihn nicht besser erwischt habe“, murmelte sie.
Micah warf ihr einen schrägen Blick zu. „Na, wer wird denn gleichen morden
wollen“, sagte er mit gespielter Strenge.
Doch Callie war nicht zu Scherzen aufgelegt. „Reine Notwehr“, sagte sie kalt.
„Wenn ich eine Waffe gehabt hätte, statt einer Schaufel, könntest du ihn jetzt an
die Haie verfüttern.“
Rodrigo kam auf die Terrasse und erstattete Meldung. Micah zog ihn zur Seite und erteilte ihm halblaute Befehle. Als er zu Callie zurückkehrte, fragte sie: „Was hast du vor?“ „Nichts weiter“, sagte er. „Lass uns reingehen, du frierst bestimmt.“ Er führte Callie zurück in ihr Schlafzimmer und legte seine Maschinenpistole auf einem kleinen Beistelltisch ab. „Bist du verletzt?“ erkundigte sich Micah. „Er hat mich fallen lassen“, sagte sie. „Meine Hüfte tut ziemlich weh. Micah, nicht!“ rief sie entsetzt, als er nach ihrem dünnen Nachthemd griff. „Ich habe schon viel mehr von dir gesehen“, erinnerte er sie. „Aber…“ Kurzerhand hob er Callie hoch und trug sie zum Bett, wo er sie vorsichtig absetzte. Als er ihren rosafarbenen Baumwollslip sah, lächelte er. „Dachte ich’s mir doch“, murmelte er. „Praktisch, nicht sexy.“ „Niemand sieht meine Unterwäsche, außer mir“, fauchte sie. „Wirst du jetzt wohl aufhören?“ Micah dachte gar nicht daran. Stattdessen schob er ihr Nachthemd bis zur Taille hoch und verzog das Gesicht, als er den Bluterguss sah, der sich bereits über ihre ganze Hüfte und den Oberschenkel ausbreitete. „Das sieht ganz schön böse aus“, sagte er leise und zog den Bund ihres Slips ein Stück herunter. „Tut es sehr weh?“ Callie war sich sicher, dass er es nicht absichtlich tat, doch während er ihre Verletzung untersuchte, strich er mit dem Daumen der anderen Hand immer wieder leicht über die zarte Haut rund um ihren Bauchnabel. Ihr Körper reagierte ganz von selbst darauf. Unruhig bewegte sie sich hin und her, während ihr kleine Schauer durch den Körper rieselten. „Ein blauer Fleck ist besser, als wieder in Lopez’ Gewalt zu sein“, sagte Callie mit zitternder Stimme. „Ich hatte solche Angst!“ „Ging mir genauso, als ich dich schreien hörte“, entgegnete Micah. Seine Hand lag warm und fest auf ihrer Hüfte. „Ich gebe dir jetzt besser ein Beruhigungsmittel“, sagte er schließlich und stand unvermittelt auf. „Du musst schlafen.“ Kurz darauf kam er mit seiner Arzttasche zurück und zog mit geübten Bewegungen eine Spritze auf. Callie beobachtete besorgt, wie er ihre Armbeuge desinfizierte. Er fing ihren Blick auf. „Es ist kein starkes Mittel, aber so wirkt es schneller“, erklärte er, während er ihr die Injektion verabreichte. „Und es macht dich nicht bewusstlos, nur ruhiger.“ Sekunden später setzte die Wirkung ein. Callie fühlte sich auf einmal sehr entspannt. Aus großen Augen blickte sie Micah an. „Ich wünschte, du würdest mich mögen“, gestand sie. „Tue ich doch.“ „Aber nicht richtig. Du bist nicht gern mit mir zusammen. Ich bin nicht so schön wie sie.“ „Sie?“ „Lisette.“ Callie seufzte und räkelte sich wohlig. Ihr Nachthemd rutschte dabei weiter nach oben. „Sie sieht aus wie ein Model, mit ihren großen Brüsten und den langen Haaren. Mein Busen ist winzig, und ich habe nichts Besonderes an mir.“ Micah blickte verwirrt auf die leere Spritze in seiner Hand. „Das Zeug wirkt auf dich wie ein Wahrheitsserum, was?“ murmelte er. Wehmütig lächelnd setzte Callie sich auf und streifte die Träger ihres Nachhemds ab. Der dünne Stoff glitt an ihr herunter und gab den Blick auf ihre Brustspitzen
frei, die sich aufgestellt hatten. Micahs Verlangen, sie zu berühren, wurde immer unerträglicher. „Siehst du?“ sagte Callie. „Meine sind wie Eicheln, ihre wie Melonen.“ . Es war hoffnungslos. Seine Erregung zeichnete sich nur zu deutlich auch unter seinen dünnen Boxershorts ab. „Deine sind aber schöner“, sagte er leise. Er konnte den Blick nicht mehr von ihr abwenden. „Sind sie nicht. Es gefällt dir nicht mal, wenn ich dich berühre. Vorher, auf der Terrasse, da hast du… Micah, was machst du da?“ rief sie aus, als er sich über ihre rechte Brust beugte und begann, hungrig an ihrer Spitze zu saugen. „Oh, das ist schön!“ Sie bog sich ihm entgegen. Ihre überraschende Reaktion heizte sein Verlangen noch mehr an. Sie grub ihre Finger in sein Haar und zog ihn noch näher an sich. „Das gefällt mir, wirklich!“ flüsterte sie. „Es ist schön, so schön!“ „Dafür gehöre ich erschossen“, murmelte Micah. „Aber ich will dich. Ich kann es nicht ändern, ich will dich so sehr!“ In blinder Leidenschaft ließ er Callie seine Zähne spüren. Sie zuckte zurück und blickte ihn fragend an. Sein Herz raste, und er wusste, es gab kein Zurück. Dafür war es schon lange zu spät. „Du magst nicht gebissen werden“, flüsterte er. „Schon gut, keine Angst. Wir probieren etwas anderes.“ Mit den Fingerspitzen massierte er zärtlich die Stelle, wo er sie gebissen hatte, und beugte sich über sie, um sie zu küssen. Callie leistete keinen Widerstand, sondern schlang ihm die Arme um den Hals und kam seinen Lippen hungrig entgegen. „Lass nicht zu, dass ich das tue, Callie“, stöhnte er, während er sich hastig die Boxershorts abstreifte. „Kann ich nicht“, gab sie schlicht zurück. Sie folgte unbeirrt den Instinkten ihres Körpers. Ihr Verstand war offenbar vollkommen mit der Verarbeitung des Beruhigungsmittels beschäftigt. Statt sich Micah zu widersetzen, zog sie ihn fester an sich. „Ich will, dass du es tust“, flüsterte Callie wild. „Ich will deine nackte Haut auf meiner spüren. Ich will mit dir schlafen!“ „Callie, süße Callie!“ brachte er heiser hervor. Dann strich sie langsam über seinen flachen Bauch, bis sie das Zentrum seiner Erregung gefunden hatte. Als sie ihn berührte, war er verloren. Er schob sich auf sie und küsste sie hart und leidenschaftlich. Callie bäumte sich unter ihm auf, um ihn noch besser zu spüren. Es tat so gut, ihn endlich zu berühren. So lange schon hatte sie davon geträumt. Er fühlte sich herrlich an. Überall, wo sie seine Hände spürte, schien ihre Haut augenblicklich heiß zu werden. Deshalb störte es sich auch nicht, als ihr Nachthemd und ihr Slip plötzlich verschwunden waren. Es war viel angenehmer so. Und dann berührte Micah sie an einer Stelle, an der sie noch nie berührt worden war. Callie hielt den Atem an, und ihr Körper versteifte sich, doch gleichzeitig schob sie sich seiner Hand entgegen und presste ihr Gesicht an seine Brust, als die ungewohnten Empfindungen ihr ein hilfloses Stöhnen entlockten. Seine Haut fühlte sich heiß und ein wenig feucht an, und sein Atem ging stoßweise, so dass sie ihn wie einen Lufthauch in ihrem Haar fühlte. Irgendwo in ihrem Unterbewusstsein hörte sie eine Stimme, die behauptete, es sei falsch, ihn gewähren zu lassen. Doch wie konnte etwas falsch sein, das sich so gut anfühlte? Instinktiv bewegte Callie die Hüften, drängte ihn, sich weiter vorzuwagen. Ungeduldig spreizte sie schließlich die Beine und bohrte ihm gleichzeitig die Fingernägel in den Nacken. „Ist schon gut“, flüsterte er. „Ich höre nicht auf. Es wird schön für dich, dafür
sorge ich.“ Callie erzitterte unter seinen Fingerspitzen, mit denen er ihre intimsten Stellen berührte. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie feucht sie war, dort, wo er sie streichelte. Sofort versteifte sie sich. „Keine Sorge, das soll so sein“, flüsterte Micah ihr ins Ohr. „Es ist ganz normal.“ „Aber findest du es nicht schrecklich?“ „Es ist das Aufregendste, was ich jemals erlebt habe“, erwiderte er. Er lag jetzt ganz auf ihr und erkundete mit der Zunge ihre Lippen, während er sie weiter liebkoste. Wie in Trance begann Callie, rhythmisch zu atmen und im gleichen Takt ihre Hüften zu heben und zu senken, jedes Mal spürte sie dabei eine kleine genussvolle Explosion. Micah nahm nun ihren langsamen Rhythmus auf und ließ die Zunge immer wieder tief in ihren Mund gleiten. Ihre Brüste fühlten sich straff und prall an und reagierten auf den kleinsten Hautkontakt. Als er Callies Namen flüsterte, öffnete sie die Augen und blickte ihn direkt an. Erstaunt stellte sie fest, dass er keinerlei Kontrolle mehr über seinen Körper zu haben schien. Er zitterte, und sein Atem ging stoßweise. Es gefiel ihr. Lächelnd drückte sie den Rücken durch, so dass ihre Brustspitzen ihn streiften. Micah stemmte die Hände neben ihrem Kopf auf und hob den Körper ein wenig an. „Schau nach unten“, flüsterte er heiser. „Siehst du, wie sehr du mich erregst?“ Sie ließ den Blick über seinen breiten Brustkorb und den flachen Bauch wandern, bis zu seinen dichten blonden Locken, wo… du lieber Himmel! Es war gar nicht seine Hand gewesen, die die kleinen lustvollen Explosionen in ihrer Mitte ausgelöst hatte. Und er war riesig… Plötzlich kamen Callie Zweifel, und sie fühlte sich auf einmal sehr klein und verletzlich. Doch Micah wollte sie, und ihr ging es nicht anders. Selbst wenn dies das einzige Mal war, dass er sie so berührte, würde sie für den Rest ihres Lebens von der Erinnerung daran leben können. Sie würde mit ihm schlafen, dieses eine Mal. Nichts anderes zählte. Callie zog ihn fester an sich. Angst und Erregung hielten sich die Waage. Ihr Körper schien in Flammen zu stehen. Erneut schob Micah ihr die Hand zwischen die Schenkel und drang diesmal noch tiefer in sie ein. Obwohl sich die angenehmen Empfindungen steigerten, spürte sie auch einen kleinen, unangenehmen Stich. „Ich kann es fühlen“, flüsterte Micah, und sein Blick brannte vor Verlangen. „Es ist hauchdünn, wie ein Spinngewebe.“ Nun zog er die Hand fort, und etwas anderes trat an ihre Stelle. Langsam und vorsichtig begann er, sich in Callie zu bewegen. Dabei beobachtete er aufmerksam ihren Gesichtsausdruck. „Willst du es wirklich, Callie?“ fragte er leise. „Was?“ „Dass ich der Erste bin.“ Er senkte langsam die Hüften und bewegte sich immer vorsichtiger, als er spürte, wie sich ihr Jungfernhäutchen spannte. Seine Hände neben ihrem Kopf waren zu Fäusten geballt, und sein Körper schien mit jeder Bewegung seiner Hüften zu erschauern. „Ich will dich, Callie!“ stöhnte er verzweifelt. „Callie, Baby, lass mich der Erste sein! Lass mich dir zeigen, wie schön es ist…“ Fast schien es, als hätte er Schmerzen. Diesen Anblick konnte sie nicht ertragen. Sie spreizte die Beine weiter und schlang sie um seine Unterschenkel. Micah stöhnte laut und bewegte sich langsam vorwärts. Als Callie zusammenzuckte, zögerte er, wartete einen Moment und tastete sich dann
vorsichtig weiter. Sie biss sich auf die Lippe und erstarrte, als er sich in ihr bewegte. Dann entspannte sie sich so unvermittelt, dass er sie mit einer einzigen weiteren Bewegung völlig erfüllen konnte. Es ist einfach unglaublich, dachte Micah erstaunt, als er vorsichtig das Gewicht verlagerte und dabei in Callies weit geöffnete Augen blickte. Sie fühlte sich warm und seidig an, und jede kleinste Bewegung sandte Impulse durch seinen ganzen Körper. Noch mehr erschütterte ihn jedoch, wie vollständig sie sich ihm hingab. Als er sich ein Stückchen zurückzog, stöhnte sie unwillkürlich auf, doch es war Verlangen, nicht Schmerz. Micah schob ihr die Hände unter den Kopf und nahm ihren langsamen Rhythmus wieder auf. Callie öffnete sich ihm instinktiv noch weiter und drängte sich an ihn. „Ich hätte nie gedacht, dass du es sein würdest“, flüsterte sie atemlos. „Ich wusste immer, dass es niemand anderes sein würde“, gab er zurück und lächelte, als sie ihn überrascht ansah. „Ich habe dich die ganze Zeit angesehen, als ich in dich eindrang“, gestand er. „Jetzt sieh mich an. Ich werde nichts vor dir verbergen. Meine Gefühle gehören dir.“ Callie erschauerte, als seine Bewegungen an Intensität zunahmen und immer erregendere Empfindungen in ihr auslösten. Micah griff nach ihrer Hand und führte sie zu seiner Mitte, stöhnte auf, als sie ihn berührte. Vertrauensvoll folgte sie ihm in seinen zärtlichen Lektionen. Es war so wunderbar, nackt in seinen Armen zu liegen und sein Gesicht zu beobachten, während er sie verwöhnte. Er ließ ihr alle Zeit der Welt, bevor seine Küsse drängender und seine Bewegungen schneller wurden. Auf seinem Gesicht spiegelten sich seine Gefühle. „Schließ bitte nicht die Augen“, stöhnte er. „Ich will dich ansehen, wenn es so weit ist!“ Die Worte waren ebenso erregend wie die immer schneller werdenden Bewegungen seiner Hüften. Es fühlte sich an, als würde er sie noch mehr ausfüllen. Er ließ ihren Blick nicht los, bis sie den Gipfel erreichte und überwältigt aufschrie. Callie Verlor völlig die Kontrolle, bewegte sich zuckend unter Micah und bohrte die Fingernägel in seine muskulösen Oberarme. Er folgte ihr nur Sekunden später. Sein lautes, heiseres Stöhnen hörte sich in ihren Ohren genauso fremdartig an wie ihr eigener Schrei. Sie schlang die Arme um ihn und hielt ihn fest, während sein eigener Höhepunkt ihn erbeben ließ. Nach endlos wirkenden Sekunden entspannte er sich schließlich und ließ sich mit einem leisen Stöhnen auf sie sinken. „Du hast mich angesehen, als es passiert ist“, flüsterte sie ehrfurchtsvoll. „Und ich habe dich angeschaut.“ Sie rieb sich an ihm, und die kleine Bewegung sandte ihr erneute Freudenschauer durch den Körper. „Mach es noch mal“, bat sie. „Bis ich vor Lust schreie!“ „Um Himmels willen, nein“, stöhnte Micah. „Halt still!“ Er drückte sie fest auf das Bett und kämpfte dabei mit all seiner Vernunft gegen das Verlangen an, ihren Wunsch umgehen und zu erfüllen. Dann schloss er die Augen und löste sich von ihr. Callie versuchte noch, ihn festzuhalten, doch er stand bereits neben dem Bett und griff nach seinen Boxershorts. Nur am Rande nahm sie wahr, dass er verhalten fluchte. Sie selbst fühlte sich großartig, herrlich entspannt und warm. „Du bist ärgerlich“, sagte sie langsam. „Was ist los?“ „Was los ist?“ Micah blickte auf sie hinunter. Sie war sich ihrer Nacktheit nicht bewusst und hielt die Beine noch immer lässig gespreizt. Sein wildes Verlangen ließ ihn beinah in die Knie gehen. Sie lächelte abwesend und gähnte. „Das war so gut!“ Ihr fielen die Augen zu, und sie rollte sich bequem zusammen. „Sogar noch besser als letztes Mal!“
„Was für ein letztes Mal?“ fragte er entgeistert. Wieder gähnte sie. „Der andere Traum. Ich habe in letzter Zeit diese erotischen Träume. Aber das hier war der beste überhaupt…“ Ihre Stimme verlor sich, und ihm wurde klar, dass Callie eingeschlafen war. Die ganze Zeit hatte sie unter dem Einfluss des Beruhigungsmittel geglaubt, alles sei nur ein Traum! Kein Wunder, dass sie ihn hatte gewähren lassen. „Lieber Himmel, was habe ich bloß getan“, flüsterte er. Auf dem weißen Laken war ein kleiner Blutfleck zu sehen. Micah verfluchte sich für seinen Mangel an Beherrschung. Er hatte schon seit langem keinen Sex mehr gehabt, und Callie begehrte er, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Aber das war keine Entschuldigung dafür, ihren wehrlosen Zustand auszunützen. Micah ging ins Badezimmer, holte einen Waschlappen und wusch sie mit warmem Wasser. Sie schlief so fest, dass sie sich nicht einmal rührte. Danach zog er ihr den Slip und das Nachthemd wieder an und deckte sie sorgfältig zu. Er konnte nur hoffen, dass sie am nächsten Morgen den Blutfleck nicht entdeckte. Voller Selbsthass verließ er ihr Zimmer, zog sich an und überprüfte die Sicherheitsvorkehrungen. Da draußen wartete immer noch Lopez’ Yacht auf ihn. Und er, Micah, konnte an nichts anderes denken als an Callie. Was, wenn ihre leidenschaftliche Begegnung Folgen hatte? 10. KAPITEL Nachdem Micah einen ihrer Gefangenen über die Anzahl von Lopez’ Männern und die Gegebenheiten auf seiner Yacht ausgefragt hatte, überprüfte er seine Tauchausrüstung und ging zum Strand, wo Rodrigo die Stellung hielt. „Hast du die Position?“ fragte Micah. Rodrigo nickte. „Aber ich denke immer noch, dass es allein zu gefährlich ist, Boss“, sagte er. „Ich komme lieber mit.“ „Du kannst nicht tauchen“, erwiderte Micah. „Außerdem ist das ein Solo-Job. Wenn es nicht klappt, kannst du mit Bojo übernehmen. Aber was immer auch passiert, lasst nicht zu, dass Lopez Callie bekommt.“ Rodrigo nickte ernst und blickte Micah forschend an. „Du hast nur ein paar Minuten, nachdem du den Sprengstoff angebracht hast, und die Yacht liegt weit draußen. Wie willst du es rechtzeitig zurück an Land schaffen? Du siehst sowieso schon ziemlich erschöpft aus.“ „Ich war Schwimmmeister am College“, erinnerte ihn Micah. „Mach dir keine Sorgen. Aber falls doch etwas schiefgehen sollte…“ Er zögerte kurz. „Sag Bojo, dass er in Zukunft auf Callie aufpassen soll. Auf meinem Schweizer Bankkonto liegt genügend Geld, um ihr und meinem Vater einen sorglosen Lebensstil zu ermöglichen. Bojo soll euren Anteil davon abziehen und dafür sorgen, dass sie den Rest bekommt. Versprich mir das!“ „Natürlich“, sagte Rodrigo. Er blickte Micah prüfend an. „Ist etwas Besonderes geschehen? Du siehst so verändert aus.“ Ach, ich habe nur eine Jungfrau verführt, die dachte, sie hätte gerade einen erotischen Traum, dachte Micah, konnte aber seinen schwarzen Humor nicht lustig finden. Laut sagte er: „Es war eine lange Nacht, und ich mache mir Vorwürfe, dass Lopez so nahe an Callie herankommen konnte. Aber das werde ich jetzt wieder gutmachen.“ Er blickte auf seine teure Armbanduhr, eine Spezialanfertigung, ohne die er niemals eine Aktion durchführte. „Also los.“ „Dios te protege“, murmelte Rodrigo. Gott schütze dich. Micah lächelte und legte das Mundstück an. Sekunden später tauchte er in die Brandung und schwamm auf die Yacht zu, die über einen Kilometer entfernt war.
Unruhig beobachtete Rodrigo den Horizont. Micah hatte sehr müde ausgesehen und war nicht so konzentriert gewesen wie sonst. Aber dafür hatte er schließlich ein Team von Männern, auf die er sich verlassen konnte. Sie würden ihm schon den Rücken freihalten. Micah brauchte lange, um die Yacht zu erreichen. Seine Begegnung mit Callie hatte ihn Kraft gekostet. Es war unvernünftig gewesen, sich vor einer gefährlichen Aktion dazu hinreißen zu lassen, doch er hätte die Erinnerung daran auf keinen Preis missen wollen. Wie hungrig sie ihn geküsst hatte, wie zart ihre Haut war… genug. Mit all seiner Willenskraft zwang er sich, nur noch an die vor ihm liegende Aufgabe zu denken. Vorsichtig schwamm er zu der großen Schiffsschraube am Bug. Im Moment arbeiteten die Motoren nicht, und die Yacht dümpelte ruhig im Wasser. Doch jeden Moment konnte sie Fahrt aufnehmen, und wenn Micah dann in der Nähe der Rotorblätter war, würde er in Stücke geschnitten. Aber dieses Risiko musste er in Kauf nehmen. Er schwamm näher. Aus dem Beutel am Gürtel, der neben seinem Messer hing, holte er die Taschenlampe und die Sprengladung. Vorsichtig platzierte er den Plastiksprengstoff an der Bugwand und verband ihn per Draht mit dem Antriebssystem. Es war eine mühsame Arbeit, aber es gelang ihm schließlich doch, die Verbindung herzustellen, so dass die Ladung gezündet wurde, sobald der Motor ansprang. Als er die Taschenlampe in den Beutel zurückschob, wurde ihm klar, dass er zu müde war, um sofort zurückzuschwimmen. Andererseits konnte Lopez jeden Moment die Entscheidung treffen, das Boot in Fahrt zu bringen, und dann war Micah besser weit genug entfernt. Er stieß sich vom Bug ab und schwamm darum herum. Auf der anderen Seite der Yacht hing eine Leiter ins Wasser. Er griff nach einer der Metallstreben und hielt sich daran fest, ließ seinen Körper treiben und versuchte so, sich etwas zu erholen, bevor er an Land zurückschwamm. Als er zufällig aufblickte, sah er den Mann, der von Bord aus eine Maschinenpistole auf ihn gerichtet hielt. Micah war zu erschöpft, um einen Fluchtversuch zu wagen, und auf diese Entfernung wäre das sowieso Selbstmord gewesen. Tja, das wars dann wohl, dachte er. Immerhin hatte er sein Ziel erreicht. Wenn er Lopez davon überzeugen konnte, dass er vorgehabt hatte, ihn höchstpersönlich mit dem Messer anzugreifen, würden sie nie daraufkommen, dass er in Wirklichkeit eine Sprengladung am Boot angebracht hatte. Micah löste den Beutel an seinem Gürtel, der dank des Gewichts der Taschenlampe sofort unterging. Vielleicht bekam er ja sogar eine Chance, tatsächlich auf Lopez loszugehen. Der Drogenboss war bekannt dafür, dass er seine Opfer niemals sofort tötete. Micah kletterte die Leiter hoch und gehorchte, als die Wache ihm befahl, die Flossen und das Atemgerät abzulegen. Der Mann schien nervös zu sein. Micah überlegte kurz, ob er einen Angriff wagen sollte, doch da tauchte bereits Lopez mit zwei weiteren bewaffneten Männern auf. Der Gangsterboss blickte Micah einige Sekunden lang an, dann breitete sich ein schmieriges Grinsen auf seinem Gesicht aus. „Micah Steele, höchstpersönlich“, rief er. Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und ging um Micah herum. „Und so ein dilettantischer Versuch“, fuhr er hämisch fort. „Wolltest du mich mit diesem Messer hier im Schlaf angreifen?“ Er zog die Waffe aus Micahs Tauchgürtel. „Hübsches Souvenir“, sagte Lopez, strich beinahe zärtlich über den Elfenbeingriff und drückte die Spitze dann auf Micahs Brust. „Ich werde dich wohl für deine Unvorsichtigkeit bestrafen müssen. Aber wir warten besser, bis deine Stiefschwester hier auftaucht, damit ich euch gemeinsam für eure Aufsässigkeit bezahlen lassen kann.“ Micah lachte. „Deine Männer sitzen gefesselt und geknebelt im meinem
Bootshaus, Lopez, und warten darauf, dass die Polizei sie abholt.“ Lopez erwiderte sein Lachen. „Deine Ablenkungsversuche nützen dir nichts, Steele. Gerade eben erhielt ich einen Anruf, dass sie das Mädchen haben und sich in einiger Entfernung am Strand verstecken, bis die Luft rein ist und sie mit dem Boot ablegen können.“ Micah dachte blitzschnell nach. Offensichtlich hatte Rodrigo das Mobiltelefon des Entführers benutzt, um Lopez in Sicherheit zu wiegen. Die Idee war genial und hätte tadellos funktioniert, wenn er selbst sich nicht wie ein Anfänger hätte einfangen lassen. „Und diesmal werde ich deine Schwester nicht meinen Männern überlassen“, fuhr Lopez genüsslich fort. „Ich werde sie mir selbst vornehmen und ihr Streifen für Streifen die Haut abziehen.“ Micah betrachtete den Drogenboss voller Verachtung. „Du bist ja so schweigsam, Steele“, sagte Lopez und kniff die Augen zusammen. „Ich dachte nur gerade daran, dass du der bösartigste Mensch bist, der mir jemals untergekommen ist“, erwiderte Micah ruhig. „Ein Mann ohne Skrupel und Gewissen.“ Lopez zuckte die Schultern. „So bin ich nun mal. Aber deine moralischen Reden nutzen dir auch nichts. Du willst nur Zeit gewinnen, was? Das lässt sich einrichten. Ich möchte doch nicht, dass deine Schwester etwas verpasst. Carlos!“ Einer der Männer trat vor. „Sag dem Kapitän, dass wir starten und etwas näher an die Insel heranfahren.“ Micah gelang es, sich den Schreck nicht anmerken zu lassen. Er atmete tief durch und wartete auf die Explosion. „Warte!“ rief Lopez, der ihn beobachtet hatte. „Ich traue dir nicht, Steele. Vielleicht willst du ja gerade das erreichen, so dass wir in den Zielbereich deiner Waffen kommen. Pech gehabt. Du solltest dir ein Pokerface zulegen, Steele. Wer seine Gefühle so offen zur Schau stellt, ist in deinem Beruf fehl am Platze!“ Über die Schulter sagte er zu Carlos: „Bring ihn unter Deck und fessle ihn. Wir warten auf Ramon und Jorge.“ „Okay, Boss“, erwiderte Carlos und drückte Micah den Lauf seiner Waffe in den Rücken. „Vorwärts!“ Micah gehorchte widerstandslos. Wenn sie ihn fesselten und allein ließen, hatte er eine letzte Chance. Carlos schubste ihn in eine kleine Kabine, drückte ihn auf einen Stuhl und band ihm mit Nylonschnur die Hand- und Fußgelenke zusammen. Das dünne Seil schnitt sich in seine Haut und unterbrach die Blutzufuhr, doch Micah gab keinen Laut von sich. „Genieß die letzten Minuten deines Lebens“, sagte Carlos, als er ging, und spuckte verächtlich aus. Sobald die Tür hinter ihm zugefallen war, bewegte Micah die Hände in den Fesseln und drückte einen Knopf an seiner Armbanduhr. Aus dem Gehäuse sprang eine kleine, aber äußerst scharfe Klinge, mit der er die Schnur mühelos durchtrennen konnte. Was jetzt? Das Schiff war voller bewaffneter Männer. Sein einziger Vorteil lag darin, dass das Deck kaum beleuchtet war. Schritt für Schritt tastete sich Micah in den Korridor vor. Schräg vor ihm lag die Kombüse, und er hörte jemanden summen. Micah schlich sich näher heran und sah einen schwarz gekleideten Mann mit einer weißen Schürze in einem großen Topf rühren. Der Koch war nicht schwer zu überwältigen. Micah zog dem bewusstlosen Mexikaner die schwarzen Sachen aus und seinen eigenen Tauchanzug an. Die Haarfarbe stimmte nicht, aber in der Dunkelheit würde die Täuschung hoffentlich lange genug funktionieren. Micah warf sich den Koch über die Schulter und stieg vorsichtig an Deck. Lopez sprach mit zwei seiner Männer und beachtete ihn nicht.
Mit einer Ohrfeige brachte Micah den Koch zu Bewusstsein und warf ihn an der landabgewandten Seite über Bord. „Steele ist entkommen!“ rief Micah auf Spanisch. „Er ist ins Meer gesprungen!“ Lopez stieß einen wutentbrannten Schrei aus und brüllte seinen Männern Befehle zu, Micah folgte ihnen ein Stück und lief dann zur anderen Seite der Yacht. Kurz bevor er die Reling erreichte, stand plötzlich eine Wache vor ihm. Der Mann zögerte, da er in der Dunkelheit Micah nicht erkennen konnte. „Worauf wartest du?“ rief Micah auf Spanisch. „Steele ist auf der anderen Seite!“ Mehrere unerträgliche Sekunden vergingen, dann waren von der anderen Seite des Schiffes laute Rufe zu hören. Jeden Moment würden sie entdecken, dass der Mann im Wasser der Koch war. „Mach schon!“ drängte Micah die Wache. Er stieß noch eine spanische Beleidigung aus, die beschrieb, was er von Steele hielt. Endlich setzte die Wache sich in Bewegung. Sekunden später kletterte Micah über die Reling, sprang ins Wasser und schwamm mit kräftigen Stößen in Richtung Land. Dabei verfolgte er einen Zickzackkurs, der es Lopez’ Leuten erschwerte, ihn zu treffen, selbst wenn sie ihn entdeckten. Alle paar Meter tauchte er ab und änderte die Richtung. Kurz darauf hörte er laute Stimmen und sah den Lichtkegel eines Suchscheinwerfers über das Wasser gleiten. Mit etwas Glück würden sie ihn in seinen schwarzen Kleidern übersehen. Dann jedoch ertönten Schüsse. Micah biss sich auf die Lippe und tauchte wieder ab. Seltsam, dass die Schüsse aus so großer Nähe zu kommen schienen… Als er wieder auftauchte, um Luft zu holen, stieß er beinahe mit seinem eigenen Motorboot zusammen. Bojo steuerte es und feuerte gleichzeitig in Richtung der Yacht. „Steig ein, Boss!“ rief der Marokkaner. „Erinnere mich daran, dir eine Gehaltserhöhung zu geben“, keuchte Micah, während er sich über die Bordwand hangelte. „Gute Arbeit. Nun lass uns hier verschwinden!“ Bojo wendete das Boot und hielt in einem Zickzackkurs auf den Strand zu. „Lopez ist jetzt fuchsteufelswütend“, bemerkte Micah. „Mit etwas Glück wird er uns mit der Yacht verfolgen.“ „Hoffen wir’s“, sagte Bojo ernst. „Zeit, für deine Verbrechen zu zahlen“, murmelte Micah, während er die Yacht beobachtete. „Du hast genügend wehrlose Opfer gefoltert und getötet. Jetzt bist du dran, du gewissenloser…“ Bevor er aussprechen konnte, was er von Lopez hielt, explodierte die Yacht in einem gewaltigen Feuerball. Schwarzer Rauch stieg zum Himmel, und kurz darauf fielen im weiten Umkreis Trümmer ins Wasser. Micah und Bojo duckten sich und hielten nun direkt auf die Insel zu. Als sie anlegten, kamen die anderen aus allen Richtungen angerannt. „Das wars für Lopez“, sagte Micah und deutete mit einer Kopfbewegung aufs Meer hinaus, wo der Teil des Rumpfes, der noch intakt war, langsam versank. Niemand jubelte oder machte einen Witz. Menschen waren gestorben, und selbst wenn ihr Anführer ein Verbrecher wie Lopez war, gab es keinen Grund zum Feiern. Rodrigo kam auf Micah zu. „Gut, dich zu sehen, Boss.“ Micah nickte. „Das war knapp. Sie haben mich geschnappt, aber ich konnte in letzter Sekunde entkommen. Bringt unsere beiden Gäste jetzt nach Nassau und übergebt sie den Behörden.“ Einer der Männer stöhnte. „Dann wird die Polizei hier morgen jeden Stein umdrehen!“ Micah schüttelte den Kopf. „Die Aktion war genehmigt. Niemand wird Fragen
stellen, und das erwarte ich auch von euch. Jetzt lasst uns ins Bett gehen.“ Obwohl Micah völlig erschöpft war, folgte er selbst seinem eigenen guten Rat nicht. Stattdessen nahm er eine heiße Dusche und goss sich danach einen Whisky ein, um ihn mit in sein Zimmer zu nehmen. Als er an Callies Tür vorbeikam, zögerte er und ging schließlich hinein. Callie schlief tief und fest, eine Hand an ihre Wange geschmiegt. Die Bettdecke hatte sie weggestrampelt, und Micah bedachte ihre langen Beine mit einem wehmütigen Blick. Allein die Erinnerung an ihre Begegnung ließ seinen Körper heftig reagieren. Micah beugte sich über sie, strich ihr zärtlich die Haare aus dem Gesicht und deckte sie vorsichtig zu. Callie war nicht im herkömmlichen Sinne attraktiv, aber sie besaß eine innere Schönheit, die den Frauen, mit denen er sich normalerweise abgab, fehlte. Ihr melodisches, ungekünsteltes Lachen, ihre unbekümmerte Art, sich zu kleiden, ihre Ehrlichkeit und ihr Mut schlugen eine Saite in ihm an, die ihm bisher unbekannt war. Und genau das machte ihm Angst. Seit dem Tod seiner Mutter war er ein Einzelgänger gewesen, zumindest seit Callies Mutter ihm auch noch den Vater genommen hatte. Aber jetzt war Callie ein Teil seines Lebens geworden, ein Teil von ihm. Und dank seiner Unvernunft hatten sie ungeschützten Sex gehabt. Was, wenn sie schwanger wurde? Micah hielt den Atem an. Callie trug jetzt vielleicht sein Kind. Er hatte niemals Kinder gewollt. Aber nun wurde er die Vorstellung nicht los, wie Callie wohl aussehen würde, mit einem Baby auf dem Arm. Seinem Baby. Nur, dass sie ihre Begegnung für einen Traum hielt. Er nahm einen Schluck Whisky und lächelte. Möglicherweise stand er kurz davor, seine Freiheit, seinen Job und seinen Lebensstil zu verlieren. Aber es machte ihm auf einmal nichts mehr aus. Viel aufregender war der Gedanke, dass Callie vielleicht schwanger war und er als Einziger davon wusste. 11. KAPITEL Callie wachte auf, weil ihr die Sonne warm ins Gesicht schien. Was für ein herrlicher Traum! Sie hatte in Micahs starken Armen gelegen, und er hatte ihr in die Augen geblickt, als er sie zum Höhepunkt brachte. Es war so realistisch gewesen, so intensiv… Sie streckte sich und setzte sich auf, verwundert, dass sogar ihre intimste Stelle sich etwas wund anfühlte. Unglaublich, wie wirklichkeitsnah ein Traum sein konnte! Als sie aufstand und das Bett machte, entdeckte sie den kleinen Blutfleck auf dem Laken. Eigentlich hätte sie ja noch zwei Wochen Zeit bis zu ihrer nächsten Periode gehabt, aber wahrscheinlich hatte die Aufregung der letzten Tage ihren Rhythmus beeinflusst. Erst als ihr im Bad klar wurde, dass ihre Periode nicht eingesetzt hatte, begann Callie sich Sorgen zu machen. Es war das erste Mal, dass sie eine Zwischenblutung hatte. Wenn sie wieder zu Hause war, sollte sie deswegen vielleicht zum Arzt gehen. Unter der Dusche fielen ihr Stück für Stück die Ereignisse der letzten Nacht wieder ein. Die Blutergüsse auf Hüfte und Oberschenkel taten weh, behinderten sie aber nicht zu sehr. Callie war stolz darauf, dass sie sich allein verteidigt hatte. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war die Beruhigungsspritze, die Micah ihr gegeben hatte. Hoffentlich hatte das Mittel nicht wieder so eine Wirkung gehabt wie beim letzten Mal. Aber da Callie keine peinlichen Begebenheiten einfielen, musste sie wohl sofort eingeschlafen sein.
Sie zog sich Shorts und ein Top an und schlüpfte in ihre neuen Turnschuhe. Im
Haus war es ungewöhnlich still. Ob Micah die Wachen draußen verdoppelt hatte,
um sie vor Lopez zu schützen? Sie ging in die Küche, um zu sehen, ob Kaffee da
war.
Bojo begrüßte sie mit einem Lächeln und goss ihr eine Tasse ein. „Sie haben
ganz schön lange geschlafen“, sagte er.
„Ich war todmüde. Und die Beruhigungsmittel, die Micah mir gibt, bin ich einfach
nicht gewohnt“, lachte sie. „Wo sind die anderen alle?“
„Micah hat noch etwas in Nassau zu erledigen“, erklärte Bojo. „Lopez scheint
über Nacht verschwunden zu sein, mitsamt seiner Yacht und seiner Crew. Das
hat einigen Staub aufgewirbelt.“
„Er ist weg?“ fragte Callie aufgeregt.
„Sehr weit weg sogar“, bestätigte Bojo grinsend.
„Aber er kommt bestimmt zurück“, murmelte sie, und ihr Lächeln verschwand.
„Das glaube ich kaum“, gab der Marokkaner zurück. „Dieses Kunststück hat noch
keiner geschafft.“
Callie blickte ihn verwirrt an. „Was meinen Sie damit?“
Er stellte die Tasse vor sie hin und setzte sich zu ihr an den Tisch. „Seine Yacht
ist gestern Nacht explodiert“, sagte er beiläufig. „Erstaunlich, dass Sie den Knall
nicht gehört haben.“
„Und er ist mit untergegangen?“ fragte Callie ungläubig.
„Ganz bestimmt, wir haben es alle gesehen“, bestätigte Bojo. „Sie können jetzt
nach Hause zurückkehren, es besteht keine Gefahr mehr für Sie. Ich werde Sie
vermissen.“
„Ich Sie auch, Bojo“, sagte sie automatisch, doch in Gedanken war sie immer
noch mit den unglaublichen Neuigkeiten beschäftigt. Wenn sie nach Hause fuhr,
würde sie Micah nie wiedersehen…
Bojos Mobiltelefon klingelte, und er nahm den Anruf entgegen. „Ja“, sagte er.
„Sie ist hier und trinkt gerade Kaffee. Ich werde sie fragen.“
Zu Callie gewandt, sagte er: „Micah isst mit Lisette in Nassau zu Mittag. Wenn
Sie wollen, kann ich Sie auch hinbringen.“
Lisette. Natürlich. Wie hatte Callie glauben können, dass sich zwischen ihr und
Micah etwas geändert hatte? Mühsam lächelte sie. „Sagen Sie ihm danke, aber
ich muss anfangen zu packen. Es wird Zeit, dass ich wieder nach Hause komme.“
Bojo gab ihre Worte an Micah weiter und lauschte dann stirnrunzelnd.
„Schlechte Nachrichten?“ fragte Callie, nachdem er das Gespräch beendet hatte.
„Micah bringt Lisette zum Essen mit hierher“, antwortete Bojo widerwillig.
Callie ließ sich ihre Gefühle nicht anmerken. „Warum auch nicht? Sie ist eine
Traumfrau.“
„Sie ist eine Hexe“, gab Bojo zurück und schnitt eine Grimasse. „Lassen Sie sich
von ihr nichts gefallen.“
„Keine Sorge“, beruhigte Callie ihn. „Wenn die beiden zum Essen kommen, sollte
ich wohl besser mit dem Kochen anfangen?“
Bojo zögerte. Mac, der sich sonst um das Essen kümmerte, war ebenfalls in
Nassau, und Bojo selbst hätte höchstens belegte Brote zubereiten können.
„Ich backe Brötchen und einen Kuchen“, verkündete Callie munter. Sie stand auf,
überprüfte die Vorräte in der Küche und machte sich an die Arbeit, froh über die
Ablenkung.
Zwei Stunden später betraten Micah und Lisette lachend das Esszimmer. Callie
begrüßte sie von der Küche aus. „Wenn ihr euch hinsetzt, habe ich in zwei
Minuten das Essen auf dem Tisch“, sagte sie fröhlich.
Micah blickte sie entgeistert an. Mac hätte längst zurück sein sollen. Weis tat
Callie in der Küche? Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich, als hinter ihr Bojo
auftauchte.
„Hatte ich nicht gesagt, dass du den Funkverkehr abhören sollst?“ fragte Micah
kühl.
Bojo zuckte die Schultern. „Tue ich ja, Boss. Ich habe Callie nur gerade gebeten,
noch eine Kanne Kaffee aufzusetzen. Die letzte haben wir gemeinsam
ausgetrunken“, fügte er hinzu.
Micahs Blick verfinsterte sich, doch er schwieg, als Bojo Lisette höflich zunickte
und wieder im Funkraum verschwand.
„Setz dich“, sagte Micah und bot Lisette einen Stuhl am Esstisch an, der bereits
gedeckt und mit frischen Blumen geschmückt war.
„Hoffentlich hat sie was Leichtes gekocht“, sagte Lisette. „Ich esse mittags nie
viel.“
Micah antwortete nicht. Er war Lisette in der Stadt über den Weg gelaufen, und
sie hatte auf das gemeinsame Essen bestanden. Der einzige Weg, Callie so bald
wie möglich zu sehen, war gewesen, Lisette mitzubringen. Insgeheim hoffte er,
dass Callie sich an die letzte Nacht erinnerte. Doch ein Blick in ihre Augen
genügte, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
„Hallo“, sagte sie fröhlich, als sie an den Tisch kam. „Ich habe geschlafen wie ein
Murmeltier. Ich hoffe, ihr habt Hunger. Es gibt selbst gebackene Brötchen, Steak,
Salat und einen Kuchen.“
„Lisette wird wahrscheinlich nur Salat wollen“, murmelte Micah. „Aber ich liebe
Kuchen.“
„Weiß ich doch“, erwiderte Callie. „Setz dich, ich bringe sofort das Essen.“
„Du hast aber nur für zwei gedeckt“, sagte er leise.
Callie zuckte die Schultern. „Ich bin bloß die Köchin. Ihr wollt doch bestimmt
lieber ungestört sein… Micah!“
Unvermittelt hob er sie hoch und trug sie aus dem Zimmer. Der erste freie Raum
war ein Bad, und dort schloss er die Tür hinter ihnen. „Du bist hier nicht das
Dienstmädchen“, sagte er, ohne Callie dabei loszulassen. „Wir, haben schon
einen Koch.“
„Aber ich koche gern“, protestierte sie. „Und wenn du mich nicht runterlässt,
wird alles kalt.“
Micah hörte nicht zu. „Ich will kein Essen“, sagte er nur, bevor er ihr die Lippen
auf den Mund presste und mit der Zunge zärtlich, aber drängend Einlass
begehrte. Als Callie instinktiv die Arme um ihn schlang, stöhnte er leise auf.
Dann gab sie nach, öffnete die Lippen und erwiderte seinen Kuss leidenschaftlich.
Die Liebkosung fühlte sich so vertraut an, als ob ihr Körper sich dabei an etwas
erinnerte…
Der Kuss schien ewig zu dauern. Micah zitterte leicht, als er sie schließlich
freigab. Es machte ihn fast wahnsinnig, dass sie nichts von letzter Nacht wusste,
während jede ihrer kleinsten Bewegungen die Erinnerung für ihn schmerzhaft
zurückbrachte.
„Wie lange hast du dich mit Bojo unterhalten?“ fragte er streng.
„Nur kurz“, antwortete sie. Kleine Schauer liefen ihr über den Rücken, wo Micahs
Hände sie berührten. Impulsiv reckte sie sich auf die Zehenspitzen, um ihn
erneut zu küssen. Zu ihrer Überraschung erwiderte er den Kuss.
„Micah!“ Im Flur war das Klappern von Lisettes hohen Absätzen auf dem
Fliesenboden zu hören.
Er hob den Kopf, reagierte jedoch nicht.
„Lisette sucht dich“, flüsterte Callie.
„Ja.“ Zärtlich strich er mit den Lippen über ihre Wange.
„Sie will ihr Mittagessen.“
„Ich will dich“, murmelte er in ihr Haar.
Die Worte erschreckten Callie. „Ich kann nicht!“ flüsterte sie. „Warum nicht?“ „Weil ich noch nie…“, begann sie. Letzte Nacht. Beinahe hätte Micah es laut ausgesprochen. Doch er durfte ihr noch nichts davon sagen. Es war zu früh. Zuerst musste er ihr beweisen, dass es für ihn nicht nur das Abenteuer einer Nacht gewesen war. Vor allem aber musste er sich selbst überzeugen, dass er wirklich sesshaft werden und ihr Sicherheit und Stabilität geben wollte. Er lächelte und küsste sie auf die Augenlider. „Aber wenn ich es unbedingt will?“ sagte er leise. „Und dich verführen würde?“ „Ich würde dich dafür hassen“, entgegnete Callie, aber das war natürlich gelogen. Sie liebte ihn über alles. „Ja, das könnte sein“, sagte er langsam. „Und das will ich auf jeden Fall verhindern.“ „Micah!“ Lisettes Stimme klang jetzt näher. Er legte Callie einen Finger auf den Mund. „Sie wollte unbedingt mit mir essen“, knurrte er. „Jetzt muss sie eben warten.“ Zärtlich knabberte er an Callies Lippen, ließ die Zungenspitze spielerisch immer wieder in ihren Mund gleiten. Erst nach einer ganzen Weile hob er den Kopf und löste sich widerwillig von Callie. „Wir gehen besser zurück, bevor sie anfängt, ernsthaft nach mir zu suchen.“ Micah strich ihr sanft die Haare aus dem Gesicht. „Du siehst aus, als hätten wir mehr getan, als uns nur geküsst“, sagte er lächelnd. „Das solltest du besser in Ordnung bringen, bevor du Lisette begegnest.“ Seine Zärtlichkeit überraschte Callie, noch mehr jedoch ihre eigene Reaktion darauf. Etwas in ihr drängte sie, sich an ihn zu pressen, sich ihm zu öffnen, sich ganz zu geben… Sie senkte verlegen den Blick. Micah legte ihr eine Hand auf die Wange und zog Callie wieder an sich, als hätte er keine Wahl. Der Kuss war langsam und genussvoll, doch er hatte einen Rhythmus, der in Callie ungeahnte Gefühle auslöste. „Micah!“ Lisettes Stimme überschlug sich jetzt beinah. Er seufzte. „Lass uns das Essen hinter uns bringen, bevor sie ihre Stimme verliert“, sagte er und verzog das Gesicht. Dann öffnete er die Tür und vergewisserte sich, dass draußen die Luft rein war. „Bis gleich!“ flüsterte er und trat in den Flur hinaus. Während Callie ihr Haar bürstete und ihre geschwollenen Lippen mit kaltem Wasser wusch, fragte sie sich, was die Veränderung in Micahs Verhalten herbeigeführt hatte. Er benahm sich, als wäre sie plötzlich wichtig für ihn. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu. In ihrem Leben war plötzlich die Sonne aufgegangen. Sie ging in die Küche zurück, vergewisserte sich, dass die Steaks noch warm waren, und servierte das Essen. Micah hatte inzwischen ein drittes Gedeck aufgelegt. „Du isst hier mit uns“, sagte er. „Okay.“ Sie stellte den Brotkorb auf den Tisch und setzte sich. „Micah, würdest du bitte den Dank sagen?“ „Dank?“ Lisette blickte entgeistert von Callie zu Micah. Micah warf Lisette einen missbilligenden Blick zu und sprach ein kurzes Tischgebet. Dann griff er herzhaft zu, während Lisette noch immer mit offenem Mund dasaß. „Wir haben unsere Traditionen zu Hause“, erklärte Callie. „Ja, das ist wichtig für eine Familie“, fügte Micah hinzu. „Aber du hast doch gar keine echte Familie, Liebling“, widersprach Lisette, während sie ein paar Blättchen Salat auf ihren Teller legte. „Die Brötchen haben bestimmt Tausende von Kalorien, besonders mit Butter, Liebling“, bemerkte sie,
als er erneut in den Korb griff.
„Callie hat sie für mich gebacken“, gab Micah gelassen zurück. „Sie sind wirklich
lecker.“
Callie zuckte die Schultern. „Ich bin froh, dass ich wenigstens etwas Kochen
gelernt habe. Meine Mutter konnte nicht mal Wasser heiß machen, ohne es
anbrennen zu lassen.“ Das war ihr so herausgerutscht, und sie blickte Micah
erschrocken an.
„Micah möchte bestimmt nicht ständig an deine schreckliche Mutter erinnert
werden, Liebes“, sagte Lisette hochmütig. „Er hat schon genug unter ihr gelitten.
Hat sie dich nicht wegen dieses britischen Earls verlassen, Liebling?“
„Sie hat mich überhaupt nicht verlassen, ich war nie mit ihr zusammen“, sagte
Micah warnend.
„Aber sie war doch letztes Jahr hier?“
Callies Herzschlag setzte einen Moment lang aus. Sie stand auf und warf ihre
Serviette auf den Tisch. „Ist das wahr?“
„Ja, aber nicht so, wie du denkst“, antwortete Micah. „Callie, lass es mich dir
bitte erklären.“
Doch Callie drehte sich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Zimmer.
„Warum hast du das getan?“ fragte Micah Lisette wütend.
„Du hast deine kleinen Geheimnisse, nicht wahr?“ gab sie boshaft zurück. „Das
ist gefährlich. Hast du mit ihr geschlafen, Liebling?“
Micah stand abrupt auf, wobei sein Stuhl umfiel. „Bojo!“ rief er. Der Marokkaner
war sofort zur Stelle.
„Bring Lisette zurück nach Nassau. Es war ihr letzter Besuch hier“, sagte er eisig.
Lisette legte ihr Besteck hin und wischte sich den Mund ab, bevor sie langsam
aufstand. „Du benutzt die Menschen“, warf sie ihm vor. „Es geht immer nur
darum, was du willst und was du brauchst. Du manipulierst und kontrollierst sie.
Ich habe dich geliebt“, sagte sie mit rauer Stimme. „Aber das war dir völlig egal.
Ich kam gerade recht, wenn du jemandem im Bett brauchtest, aber als ich dir
langweilig wurde, hast du mich einfach zur Seite geschoben. Und diesmal hast du
mich nur eingeladen, damit du deiner kleinen Schwester zeigen konntest, dass
du mehrere Eisen im Feuer hast.“ Lisette lächelte ihn kühl an.
„Jetzt hast du mal gemerkt, wie man sich fühlt, wenn man so behandelt wird,
Micah. Ich wünschte, ich könnte sehen, wie es weitergeht. Sie scheint mir nicht
der verständnisvolle Typ zu sein, zumindest nicht, wenn es um andere Frauen
geht.“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und folgte Bojo nach draußen. Micah
blieb schweigend zurück.
Mit zitternden Händen packte Callie ihren Koffer. Micah stand im Türrahmen und
beobachtete sie düster.
„Fällt dir nichts ein, was du sagen könntest?“ fragte sie kühl.
„Du würdest mir ja doch nicht zuhören“, gab er zurück. Er zuckte die Schultern.
„Lisette hat mir gerade ihre Meinung gesagt. Sie hat Recht, ich benutze
Menschen. Aber das war bei dir niemals meine Absicht.“
„Du hast gesagt, dass du kein Verhältnis mit meiner Mutter hattest“, sagte Callie
vorwurfsvoll.
„Hatte ich auch nicht. Weder damals noch heute.“ Er seufzte. „Aber du würdest
mir nicht zuhören, wenn ich es dir erklären würde, nicht wahr, Baby?“
Sie runzelte die Stirn. Wann hatte er sie zuletzt so genannt? Es fiel ihr nicht ein.
„Jedenfalls bist du jetzt in Sicherheit“, fuhr er fort. „Das ist das Wichtigste. Lopez
und seine Männer sind tot. Sie werden weder dir noch meinem Vater jemals
wieder Schwierigkeiten machen.“
„Ja, das war ein glücklicher Zufall, diese Explosion“, sagte sie abwesend.
„Das hatte nichts mit Zufall zu tun“, widersprach Micah, „aber es stimmt, ich
hatte Glück. Ich bin zur Yacht rausgeschwommen und habe eine Sprengladung angebracht.“ Entsetzt drehte Callie sich zu ihm um, ließ sich dann aufs Bett sinken, während er ihr die ganze Geschichte erzählte. „Du hättest selbst dabei sterben können“, sagte sie tonlos, als er fertig war. Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Micah kniete sich neben ihr nieder und zog sie in die Arme. „Es war eine schreckliche Woche für dich, Callie“, sagte er leise. „Aber es ist vorbei.“ Er hob sie hoch, trug sie zu einem bequemen Rattansessel und ließ sich dort mit ihr auf dem Schoß nieder. Beruhigend strich er ihr übers Haar, während ihr Schluchzen langsam leiser wurde. „Wenn du mir nur etwas davon gesagt hättest“, murmelte sie schließlich. „Ich hätte nicht zugelassen, dass du etwas so Gefährliches tust.“ Er küsste ihren Scheitel. „Wenn du erst wieder zu Hause bist, wird dir das alles bald wie ein böser Traum vorkommen“, versprach er. Sie wischte sich mit beiden Händen die Tränen ab. Seltsam, wie sicher und geborgen sie sich in Micahs Armen fühlte. Dabei war er ein Playboy, dem seine Freiheit über alles ging. „Du bist bestimmt froh, mich endlich los zu sein“, sagte sie. „Es war bestimmt nicht leicht mit mir, vor allem Lisette gegenüber.“ Er lachte leise. „Ich habe gelogen.“ „Was?“ „Lisette und ich sind schon seit einem Jahr nicht mehr zusammen. Ich habe sie nur hergebracht, um mich vor dir zu schützen.“ Callie blickte ihn ratlos an, und wieder lachte er. „Junggesellen haben panische Angst vor Jungfrauen, weißt du.“ Er drückte sie fest an sich. „Du hast ein riesengroßes Herz, lässt niemals jemanden im Stich, nimmst jeden Streuner mit nach Hause und bist der Liebling aller Kinder. Das hat mir Angst gemacht.“ „Und jetzt?“ „Ich gewöhne mich dran“, sagte Micah. Unvermittelt stand er auf und zog Callie mit sich hoch. „Du solltest deinen Koffer fertig packen“, sagte er. „Ich habe einen Linienflug für dich gebucht.“ Es fiel ihr schwer, Micahs Hand loszulassen, doch es gab nichts mehr zu sagen. Ihre Gefühle waren deutlich in ihren Augen zu lesen. „Tu das nicht“, sagte er mit rauer Stimme. „Ich versuche, deine Abreise so leicht wie möglich zu machen.“ Sie verstand nicht, was er meinte, doch es war auch nicht so wichtig wie die Frage, die ihr immer noch auf der Zunge lag. „Warum war meine Mutter hier?“ „Ihre Mann hatte Krebs“, erklärte Micah. „Sie bat mich um Hilfe. Offensichtlich ist der Earl, mit dem sie jetzt zusammen ist, mittellos, und sie scheint ihn tatsächlich zu lieben. Ich habe dafür gesorgt, dass er in einer alternativen Klinik auf den Bahamas behandelt wurde, und sie waren während ihres Aufenthalts hier meine Gäste.“ Micah steckte die Hände in die Hosentaschen. „Es fällt mir schwer, das zuzugeben, doch sie scheint sich verändert zu haben. Während sie hier waren, rief sie deinen Vater an und sagte ihm die Wahrheit.“ „Welchen Vater? Welche Wahrheit?“ fragte Callie mit zitternder Stimme. „Der Vater, den du nicht zurückgerufen hast.“ Nervös wandte sich Callie wieder ihrem Koffer zu. „Ich habe ihm nichts zu sagen.“ „Er weiß jetzt, dass du seine Tochter bist“, fuhr Micah fort. „Deine Mutter hat ihm deine Geburtsurkunde zugeschickt. Er will sich wahrscheinlich bei dir
entschuldigen. Er hat nie wieder geheiratet und hat auch keine Kinder, außer
dir.“
„Also hat er überhaupt keine Kinder“, sagte Callie kalt.
Micah schwieg betroffen. Schließlich sagte er: „Ich kann verstehen, dass du so
empfindest. Niemand kann dich zwingen, ihn anzurufen. Ich wollte nur, dass du
die ganze Wahrheit kennst. Was du damit anfängst, ist deine Sache.“
Callie faltete ein letztes T-Shirt zusammen und legte es in den Koffer. „Danke,
dass du es mir erzählt hast. Lisette wollte also nur Unfrieden stiften.“
„ja, und sie hatte sogar einen triftigen Grund dafür. Ich habe sie benutzt und ihr
wehgetan. Dank deiner Mutter hatte ich lange Zeit ein sehr schlechtes Bild von
Frauen und habe sie wohl dementsprechend schlecht behandelt. Es hat lange
gedauert, bis sich meine Sicht geändert hat.“
Callie schloss den Koffer. „Ich wünschte nur, du wärst damals freundlicher zu mir
gewesen. Es hätte mir so viel bedeutet.“
„Das habe ich nicht gewagt, Callie“, sagte Micah ernst. „Du warst doch noch so
jung, und ich habe dich so sehr begehrt.“
„Wir hätten Freunde sein können.“
Er schüttelte den Kopf. „Du weißt genau, dass es dabei nicht geblieben wäre.“
Sie verzog das Gesicht. „Bei dir dreht sich alles um Sex, oder?“
„Nein, nicht mehr“, sagte er leise. „Die Zeiten sind vorbei. Jetzt habe ich eine
Zukunft, um die ich mich kümmern muss.“
Gefährlichere Aufträge und noch mehr Geld, dachte Callie. Sie lächelte traurig. Er
würde seinen freien Lebensstil niemals aufgeben.
„Ich wünsche dir alles Gute“, sagte sie schlicht, nahm den Koffer in die Hand und
blickte sich noch einmal im Zimmer um. „Danke, dass du mir das Leben gerettet
hast. Zwei Mal sogar.“
„Gern geschehen.“ Micah nahm ihr das Gepäckstück ab und blickte ihr dabei
lange in die Augen. „Ich kann es noch immer nicht fassen“, sagte er leise, „dass
ich so lange gebraucht habe.“
„Wovon redest du?“ fragte Callie verwirrt.
„Schon gut“, murmelte er. „Du wirst es bald selbst herausfinden. Komm, ich
bring dich zum Flughafen.“
„Bojo würde sicher…“
Micah legte ihr einen Finger auf den Mund. „Das mache ich lieber selbst“, sagte
er ernst.
Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Mit der Fingerspitze fuhr er ihr sanft über
die Lippen, und die leichte Berührung ließ ihr die Knie weich werden.
„Ist gut“, sagte sie.
Hand in Hand gingen sie zum Anleger.
12. KAPITEL Der Abschied von Micah war Callie schwer gefallen. Er hatte sie zärtlich geküsst und gesagt, er würde sie bald wiedersehen, doch das war natürlich eine Floskel gewesen. Obwohl sie zum ersten Mal in einer Linienmaschine flog, konnte sie den ganzen Flug über nur daran denken, dass sie sich jede Minute weiter von Micah entfernte. Micahs Vater hatte vor Freude geweint, als er sie wiedersah. Teilnahmsvoll fragte Jack sie bei ihrem ersten gemeinsamen Abendessen, wie es ihrer Tante ging, und Callie beschloss, ihm reinen Wein einzuschenken. Sie erzählte ihm, womit Micah sein Geld verdiente, wie er sie vor Lopez gerettet hatte, dass er Jack hatte beschützen lassen und ihn sehr vermisste. Und schließlich wagte sie sich sogar
an das heikle Thema selbst und ließ ihn wissen, was an jenem Weihnachtsfest wirklich vorgefallen war. „Und ich habe ihn nicht angehört, als er versuchte, mit mir darüber zu reden“, sagte Jack fassungslos. „Dabei hatte er mich vorher nie angelogen. Na ja, jedenfalls nicht direkt. Offensichtlich hat er uns ja verschwiegen, was er in seiner Freizeit so trieb. Darauf wäre ich nicht im Traum gekommen!“ fügte Jack mit einem Seufzen hinzu. „Ich auch nicht“, gestand Callie lachend. „Und es bedeutet leider auch, dass er nie hier leben wird. Er hat mir gesagt, dass er nicht daran denkt zu heiraten und an Kindern kein Interesse hat.“ „Du liebst Micah, nicht wahr?“ fragte Jack leise. „Ja“, sagte sie und seufzte. „Schon immer. Aber Micah interessiert sich für einen ganz anderen Typ Frau. Da kann ich einfach nicht mithalten.“ Callie zögerte einen Moment, gab sich dann aber doch einen Ruck. „Es gibt noch etwas, das du wissen solltest“, fuhr sie fort. „Meine Mutter hat Micah letztes Jahr auf seiner Insel besucht.“ Jacks Gesichtsausdruck verhärtete sich sofort. „Nicht, was du denkst. Sie kam, um Micah um Hilfe zu bitten. Offensichtlich ist sie jetzt mit einem verarmten britischen Adligen verheiratet, und der hatte Krebs. Ich glaube, dass Micah für die Behandlung aufgekommen ist, auch wenn er es mir gegenüber nicht zugegeben hat. Jedenfalls sagt er, dass es meiner Mutter diesmal wirklich ernst ist. Sie scheint ihren Mann aufrichtig zu lieben. Sie würde gerne mit uns Frieden schließen, glaubt aber nicht, dass das möglich ist.“ „Mit mir ganz bestimmt nicht“, erwiderte Jack. „Sie hat unsere Familie zerstört und mir meinen Sohn genommen, ganz zu schweigen von dem, was sie dir angetan hat.“ „Ja, ich weiß“, sagte Callie. „Aber man kann einen Menschen nicht bis in alle Ewigkeit hassen. Am Ende verletzt man sich damit nur selbst. Wenn die Vergangenheit jemals enden soll, muss man verzeihen können.“ „Wie kann man in deinem Alter nur so weise sein?“ fragte Jack halb scherzhaft. „Ich habe eben früh gelernt, wie zerstörerisch Hass sein kann“, erwiderte Callie schlicht. Sie stand auf, um den Tisch abzuräumen, doch Jack hielt sie zurück. „Ich habe dir auch etwas zu sagen“, erklärte er. „Ich bin mehr als bereit, mich mit Micah auszusöhnen, aber dann musst du auch etwas für mich tun.“ „Was?“ fragte sie verwundert. Jack bat sie selten um einen Gefallen. „Du solltest Frieden schließen mit deinem Vater.“ Callie schüttelte heftig den Kopf. „Ich will nichts von ihm wissen.“ „Ich dachte mir, dass du so reagieren würdest. Aber er hat fast jeden Tag hier angerufen, während du fort warst. Auch ihn hat deine Mutter ständig belogen. Er hat erst vor kurzem über einen Privatdetektiv herausgefunden, dass sie dich in Pflegefamilien gesteckt hat, nachdem er euch hinausgeworfen hatte, und er war entsetzt und gibt sich die Schuld dafür.“ Nervös spielte Callie mit den Krümeln auf der Tischplatte. „Ich habe dich als Vater, das ist mehr als genug.“ „Du verlierst mich deswegen ja nicht. Aber gib dem Mann wenigstens eine Chance, okay? Vielleicht hat er ja, wie deine Mutter, seine Fehler eingesehen und will einfach nur um Verzeihung bitten. Du hast mir doch gerade erklärt, wie wichtig es ist, verzeihen zu können.“ Callie zuckte die Achseln. „Na gut, ich kann ihn ja mal anrufen.“ In den folgenden Wochen ging es Callie allerdings nicht besonders gut, und sie kam nicht dazu, sich bei ihrem Vater zu melden. Sie arbeitete wieder, fühlte sich jedoch meistens müde und schwach. Morgens war ihr oft übel, und außerdem war ihre Periode ausgeblieben, was ihr im Zusammenhang mit der Blutung in
Micahs Haus Sorgen bereitete. Die einzige positive Entwicklung war, dass Jack sich seit ihrem Gespräch so viel besser fühlte, dass er tagsüber nicht mehr in das Tagespflegeheim musste. Callie dagegen machte sich mittlerweile wegen ihrer Gesundheit so große Sorgen, dass sie für den nächsten Tag in der Mittagspause einen Termin bei ihrer Ärztin Lou Coltrain vereinbarte. Sie hatte gerade aufgelegt, als ihr Chef einen seiner Klienten zur Tür brachte. „Ja, er hat mich vor ein paar Tagen angerufen“, sagte der Mann. „Damals konnte er nicht schnell genug aus Jacobsville wegziehen, was die ganze Sache noch seltsamer macht. Wir sind alle überrascht.“ „Genau“, antwortete ihr Chef. „Er hat die Insel verkauft, nicht wahr? Und er scheint große Pläne für die Colbert Ranch zu haben. Offensichtlich hat er auf den Bahamas einige teure Rassepferde gehalten, die er jetzt hierher bringen lässt. Er sagt, er will einen der besten Rennställe in Texas aufbauen.“ „Er hat auch gesagt, dass er seinen Job an den Nagel hängt“, fuhr der andere Mann fort. „Das verwundert mich am meisten. Schließlich ist er einer der Besten im Geschäft.“ Die beiden Männer standen nun vor Callies Schreibtisch, und der Besucher zwinkerte ihr zu. „Ja, Callie, ich spreche von Ihrem Stiefbruder. Jack und Sie wussten wahrscheinlich noch gar nichts davon, oder?“ Sprachlos vor Erstaunen schüttelte Callie den Kopf. Sie erkannte den Klienten jetzt als Eb Parker, Micahs Freund und Kollegen. „Micah will wirklich hierher ziehen?“ vergewisserte sie sich ungläubig. Eb nickte. „Ja. Aber sagen Sie ihm bloß nicht, dass Sie es von mir wissen. Ich will nicht derjenige sein, der ihm die Überraschung verdirbt.“ „Versprochen“, gab Callie zurück. „Und danke für die Neuigkeiten.“ „Micah ist übrigens ganz beeindruckt von Ihnen“, sagte Eb ernst. „Er hat mir erzählt, wie tapfer Sie sich im Dschungel verhalten haben.“ Callie wurde rot. „Ich hätte nicht gedacht, dass er überhaupt von mir spricht.“ Eb lachte. „Hm, da gibt es anscheinend einiges, was Sie von Micah nicht wissen“, bemerkte er. „Ich muss gehen. Wir sehen uns bestimmt bald wieder, Callie. Bis dann.“ Die Männer gingen hinaus, und Callie blieb wie betäubt zurück. Micah hatte seine Insel verkauft und kam nach Jacobsville. Würde er Lisette mitbringen? Vielleicht hatten sich die beiden ja versöhnt, und er wollte Lisette heiraten und mit ihr auf die Ranch ziehen? Wenn das stimmte, würde Callie selbst Jacobsville verlassen müssen. Sie konnte zwar viel ertragen, aber das war zu viel. Sie fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. In letzter Zeit brachte sie jede Kleinigkeit zum Weinen. Was war nur mit ihr los? Seufzend griff sie nach einigen Dokumenten und begann zu tippen. Am besten, sie dachte einfach nicht mehr darüber nach. Als Callie am Abend nach Hause kam, stand in der Auffahrt vor Jacks Haus ein schwarzes Porsche-Cabrio. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und sie rannte die Treppen hinauf. Im Esszimmer saßen Micah und Jack und tranken Kaffee. „Micah!“ rief sie. Wie üblich gelang es ihr nicht, ihre Gefühle zu verbergen. Glück und Freude standen ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Micah stand auf und kam ihr entgegen. Er sah sehr ernst aus. „Hallo Callie“, sagte er leise. „Ich dachte… ich meine, ich hatte nicht geglaubt, dass…“ Alles schien sich um sie zu drehen, vor ihren Augen begann es zu flimmern, dann wurde es schwarz um sie. Micah fing sie auf. „Ihr Schlafzimmer ist da drüben“, sagte Jack. „Sie fühlt sich in letzter Zeit nicht
sehr wohl. Ich mache uns noch eine Kanne Kaffee.“
„Danke, Dad.“
Micah trug Callie in ihr Schlafzimmer und legte sie vorsichtig auf das Bett. Ihre
Hände waren eiskalt. Zärtlich strich er ihr das Haar aus der Stirn. Wie sehr er sie
vermisst hatte!
Sie stöhnte und öffnete die Augen. „Ich fühle mich schrecklich, Micah“, flüsterte
sie. „Aber ich bin so froh, dich zu sehen!“
„Ich auch“, erwiderte er. Er legte ihr eine Hand auf den Bauch, beugte sich über
sie und küsste sie auf die Lider, auf die Wangen und schließlich auf die Lippen.
„Callie“, flüsterte er, und seine zärtliche Berührung wurde drängender. Wie
selbstverständlich schlang Callie ihm die Arme um den Hals und zog ihn fester an
sich. Gleichzeitig öffnete sie die Lippen und erwiderte seinen Kuss
leidenschaftlich.
Schließlich hob Micah den Kopf und begann, sanft ihren Bauch zu streicheln. Es
war noch nichts zu sehen, doch er war sich fast sicher, dass Callie sein Kind trug.
„Warum tust du das?“ fragte sie leise.
„Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll“, gab er zurück. „Erinnerst du dich an
die Nacht, als Lopez’ Männer zum zweiten Mal versuchten, dich zu entführen? An
die Beruhigungsspritze, die ich dir gab?“
„Ja“, sagte sie nervös.
„Und du hattest einen erotischen Traum“, fuhr Micah zögernd fort.
„Ja. Aber ich möchte lieber nicht darüber reden.“
„Aber es muss sein, Callie. Ich habe…“
„Möchte jemand frischen Kaffee?“ Jack steckte den Kopf durch die Tür.
„Ja, gerne“, rief Callie. „Und Hunger habe ich auch.“
„Ich mache ein paar belegte Brote“, sagte Jack und verschwand wieder.
„Micah, wieso bist du hier?“ fragte Callie leise, als Jack außer Hörweite war. „Ist
es wegen Lopez? Sind wir wieder in Gefahr?“
„Nein, er wird dir nie wieder etwas tun“, sagte Micah beruhigend. „Ich bin privat
hier. Ich habe mir hier eine Ranch gekauft und werde Pferde züchten. Das hat
mich schon immer interessiert.“
Obwohl sie vorgewarnt war, konnte sie es erst jetzt, als sie es von Micah selbst
hörte, wirklich glauben.
„Du ziehst wirklich hierher?“
„Ja. Vielleicht beende ich sogar mein Medizinstudium. Jacobsville kann bestimmt
noch einen Arzt gebrauchen.“
„Wahrscheinlich“, sagte Callie müde. Diese Neuigkeiten waren fast zu viel für sie.
Noch immer schien sich alles in ihrem Kopf zu drehen. „Ich habe morgen einen
Termin bei Dr. Coltrain. Eine Frauengeschichte, denke ich. Sag Jack nichts
davon, ich will nicht, dass er sich Sorgen macht.“
Micah strich ihr übers Haar. Wie konnte er ihr die Wahrheit sagen, ohne sie zu
verletzen? Sie sollte auf keinen Fall glauben, dass er sich zu seiner Entscheidung
gezwungen fühlte.
Callie blickte ihn besorgt an. „Du siehst müde aus, Micah.“
Er lächelte. „Ich konnte nicht richtig schlafen, seit du die Insel verlassen hast.
Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“
„Mir gehts gut“, sagte Callie schnell. „Ich hatte nicht mal mehr Albträume.“ Sie
zögerte. „Kommt Lisette auch mit hierher, Micah?“
„Es gibt keine Lisette mehr in meinem Leben, das habe ich dir doch schon auf der
Insel gesagt.“
„Aber sie ist so schön“, widersprach Callie.
Micah runzelte die Stirn und legte ihr eine Hand unters Kinn. „Du bist schön,
Callie. Weißt du das nicht? Du hast ein riesengroßes Herz und denkst immer
zuerst an andere Menschen. Du bist großzügig und liebevoll und strahlst von
innen heraus. Das ist wahre Schönheit, Callie, und die kann man in keinem
Kosmetiksalon kaufen. Für mich bist du die einzige und schönste Frau auf der
ganzen Welt.“
Niemals hätte sie erwartet, diese Worte von ihm zu hören. Sie blickte ihn an und
versuchte, den Ausdruck in seinen Augen zu deuten.
„Kaffee?“ fragte Jack von der Tür her. Sie fuhren auseinander wie Teenager, die
man erwischt hatte, und mussten beide lachen. Micah nahm Callie bei der Hand
und führte sie ins Esszimmer, wo Jack Kaffee und belegte Brote servierte.
„Fühlst du dich jetzt besser?“ fragte er Callie.
„O ja“, erwiderte sie. Vor Aufregung konnte sie kaum still sitzen. „Viel, viel
besser!“
Micah blieb bis spät in die Nacht bei ihnen. Callie kochte noch eine richtige
Mahlzeit, war aber selbst viel zu aufgeregt, um viel zu essen. Sie konnte kaum
glauben, dass Micah so sehr um sie bemüht war. Immer wieder blickte er sie
liebevoll an, berührte sie zärtlich. Ihr ganzer Körper schien von Glück erfüllt zu
sein. Als Micah sich von seinem Vater verabschiedet hatte, brachte sie ihn zum
Auto.
„Warum schläfst du nicht hier?“ schlug sie vor.
„Das Sofa ist viel zu klein für mich, und Dad hat nur ein Einzelbett. Bietest du mir
vielleicht einen Platz in deinem schönen Doppelbett an?“ fragte er neckend.
Callie wurde rot. „Hör auf damit.“
Zärtlich strich er ihr über die Wange. „Ich wollte dich noch etwas fragen, aber ich
weiß nicht, wie.“
„Fang einfach an. Du kannst mich alles fragen“, sagte Callie leise.
Micah beugte sich zu ihr hinunter und streifte mit dem Mund ihre Lippen. „Nein,
es ist noch zu früh. Komm, küss mich.“
„Aber die Nachbarn…“ protestierte sie halbherzig.
„… können was dazulernen“, lachte er, zog Callie an sich und begann, sie
leidenschaftlich zu küssen. Sie schlang die Arme um ihn und erwiderte den Kuss,
als wäre es der letzte, den sie jemals bekommen würde. Zwei Jungs auf
Skateboards ließen schrille Pfiffe hören.
Micah hob den Kopf und warf ihnen einen drohenden Blick zu. „Unreifes
Gesindel“, murmelte er.
„Beachte sie einfach nicht“, flüsterte Callie. „Komm her…“
Er erfüllte ihren Wunsch und löste sich dann widerwillig von ihr. „Gib mir eine
Chance, Baby“, stöhnte er. „Wenn du nicht willst, dass ich dich hier auf der
Motorhaube vernasche, sollten wir uns etwas zurückhalten.“
Mittlerweile waren sie von mehreren Zuschauern umgeben. Spaziergänger waren
stehen geblieben und die Nachbarn blickten aus ihren Fenstern oder kamen
sogar in den Vorgarten.
„Wer ist die Dame dort drüben?“ fragte Micah neugierig.
„Das ist Mrs. Schmidt. Sie züchtet Rosen.“
„Ja, sie scheint sie gerade zu beschneiden.“ Er blickte auf seine Armbanduhr.
„Macht sie das immer mitten in der Nacht?“
„Nein, sie will nur nicht, dass es so aussieht, als ob sie uns beobachtet“, erklärte
Callie. „Wahrscheinlich denkt sie, dass du mir den Hof machst.“
Micah wickelte sich eine von Callies dunklen Haarsträhnen um den Finger. „Tue
ich das denn?“
„Mir den Hof machen?“ fragte sie atemlos.
Er nickte. „Du bist sehr altmodisch, Callie, und ich bin es in gewisser Weise auch.
Also solltest du auch wissen, was meine Absicht ist.“
„Du hast mir ja bereits gesagt, dass du kein Interesse an einer Familie hast, und
ich respektiere das“, gab sie zurück.
„Das meinte ich nicht.“
„Was meintest du denn?“
„Hallo, Callie!“ rief eine Frau, die gegenüber aus ihrem Auto stieg. „Herrliche
Nacht, was?“
„Wunderbar.“
„Gehört dieses Prachtexemplar von Mann dir, oder ist er noch frei?“
„Tut mir Leid, ich bin schon vergeben“, sagte Micah ernst.
„Schade“, seufzte sie. „Gute Nacht!“
Callie lachte. „Das war Maria, die Nichte von Mrs. Ruiz, die manchmal Jack
Gesellschaft leistet.“
Micah zog Callie wieder in die Arme und küsste sie. „Du schmeckst so süß wie ein
Rose“, flüsterte er. Als sein Körper sofort auf sie reagierte, überlief ihn ein
Schauer, und Micah stöhnte leise. Callie gab nach und gab sich seinem
drängenden Kuss hin, bis auch sie vor Erregung zitterte.
„Callie, ich will dich“, flüsterte Micah ihr ins Ohr. „Ich will dich sosehr!“
„Es tut mir Leid“, sagte sie heiser. „Ich kann nicht!“
Er atmete tief durch und versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen.
„Ich werde dich nicht drängen“, sagte er leise. „Aber es gibt etwas, das du
wissen musst, und ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.“
„Ist es etwas Schlimmes?“
„Nein, etwas Magisches.“ Er hielt sie zärtlich im Arm und dachte an das Baby,
das sie trug. „Das Wunderbarste, was ich jemals erlebt habe.“
Callie wollte ihn so gerne fragen, was er für sie empfand, doch sie wagte es
nicht. Wenn sie ihn nicht drängte, würde er sie vielleicht mit der Zeit immer
mehr mögen. Lächelnd drückte sie sich an ihn. Die Anzeichen seiner Erregung
machten sie nicht einmal verlegen. Im Gegenteil, sie liebte es, die Ursache dafür
zu sein. Er strich ihr zärtlich übers Haar, und es überraschte ihn nicht, dass seine
Hand zitterte. Die Zeit ohne sie war die Hölle gewesen.
„Bald“, sagte Micah geheimnisvoll. „Sehr bald.“
„Was?“
Er küsste ihren Scheitel. „Nichts. Ich mache mich besser auf den Weg, bevor
Mrs. Schmidt ihre Rosen massakriert. Sie scheint gerade die Knospen
abzuschneiden.“
Callie blickte über ihre Schulter und kicherte wie ein Schulmädchen.
„Normalerweise gewinnt sie Preise für ihre Rosen, aber dieses Jahr wird es wohl
nichts damit werden.“
Micah legte eine Hand auf Callies Rücken und drückte sie fest an sich. „Wenn ich
nicht bald losfahre, bekommt sie mehr zu sehen, als sie jemals zu hoffen wagte“,
sagte er. „Und du auch.“
„Ach, ja?“
Er küsste sie noch einmal. „Ganz bestimmt. Geh jetzt rein.“
Callie löste sich von ihm, drehte sich aber noch einmal um. „Was wird aus Bojo
und Peter und den anderen, wenn du hierher ziehst?“
„Bojo übernimmt die Gruppe“, antwortete Micah. „Ich habe ihm alles
beigebracht, was ich weiß, und die anderen akzeptieren ihn als Anführer, wenn
ich nicht da bin. Ab und zu werde ich noch als Berater auftreten.“
„Aber warum diese plötzliche Veränderung?“ fragte Callie verwirrt. „Und wieso
kommst du ausgerechnet nach Jacobsville zurück? Dir hat doch das
Kleinstadtleben nie gefallen.“
„Wenn du bereit für die Antwort bist, werde ich es dir erklären“, sagte er
lächelnd. „Aber nicht heute Nacht. Schlaf gut.“
Bevor sie etwas sagen konnte, war er ins Auto gestiegen und losgefahren.
Kopfschüttelnd, aber mit einem glücklichen Lächeln ging Callie ins Haus. 13. KAPITEL Micah betrat Dr. Lou Coltrains Praxis durch die Hintertür, bevor die ersten
Patienten eintrafen. Sie schüttelte ihm die Hand und deutete auf einen
bequemen Lederstuhl, bevor sie sich selbst hinter ihrem Schreibtisch niederließ.
Die blonde, attraktive Ärztin lächelte Micah an.
„Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mich heute Morgen zu sehen“,
sagte Micah. Er bemerkte ihr amüsiertes Grinsen und fügte hinzu: „Habe ich
mein Hemd schief zugeknöpft?“
„Nein“, gab sie zurück, und ihre Augen blitzten. „Aber ich glaube, ich weiß
bereits, warum Sie hier sind. Mindestens zwei Leute haben mir erzählt, dass
Callie zurzeit morgens oft unter Übelkeit leidet.“
Micah seufzte und lächelte zugleich. „Ja.“
„Und Sie sind daran wohl nicht ganz unschuldig, wenn ich mich nicht irre. Aber
Sie sind doch wohl nicht hier, um etwas dagegen zu unternehmen, oder?“ fragte
sie, plötzlich ernst.
„Um Himmels willen!“ rief er aus. „Ich wünsche mir das Kind so sehr wie Callie –
wenn sie erst davon weiß.“
Die Ärztin machte große Augen. „Soll das heißen, sie hat keine Ahnung?“
Micah verzog das Gesicht. „Tja, das heißt es wohl. Haben Sie die Geschichte mit
Lopez gehört?“ Als Dr. Coltrain nickte, fuhr er fort: „Nachdem seine Männer
Callie zum zweiten Mal angegriffen haben, konnte sie nicht einschlafen, und ich
gab ihr eine Beruhigungsspritze.“ Er wurde rot. „Das Mittel wirkte aber eher
aufmunternd auf sie, jedenfalls in gewisser Hinsicht, und ich war sowieso
ziemlich angespannt und… Na ja, jedenfalls habe ich die Kontrolle verloren.“
„Und dann?“ fragte die Ärztin mit unverhohlener Neugier.
Micah rutschte auf seinem Stuhl hin und her, ohne sie anzublicken.
„Callie denkt, es war nur ein erotischer Traum. Sie erinnert sich an nichts.“
„Wow“, sagte die Ärztin. „In all meinen Jahren in der Praxis…“
„Ich habe selbst Medizin studiert und auch noch nie von so einem Fall gehört.
Jedenfalls bin ich sicher, dass sie schwanger ist, aber wenn sie es von Ihnen
erfährt, bekommt sie einen Schock. Ich möchte es ihr selbst erklären, aber erst,
nachdem ich ihr einen Heiratsantrag gemacht habe. Ich will nicht, dass sie sich
den Rest unseres gemeinsamen Lebens fragt, ob ich sie nur geheiratet habe, weil
sie schwanger war. Das ist nämlich nicht der Grund“, fügte er hinzu. Nervös rieb
er über einen nicht vorhandenen Fleck auf seiner Hose. „Sie bedeutet alles für
mich. Alles.“
Lou Coltrain lächelte. Wahrscheinlich war es schwer für ihn, die berühmten drei
Worte auszusprechen, aber sie wusste auch so Bescheid. Micah liebte Callie.
„Was soll ich also tun?“ fragte die Ärztin.
„Ich möchte, dass Sie einen Bluttest machen und herausfinden, ob sie wirklich
schwanger ist. Aber wenn es stimmt, dann halten Sie sie noch ein wenig hin. Sie
könnten ihr sagen, dass die Ergebnisse nicht eindeutig sind, ihr Vitamine
verschreiben und ihr einen neuen Termin in zwei Wochen geben.“
„Dann wird sie befürchten, dass es etwas Ernstes ist“, gab Lou zu bedenken.
„Sagen Sie ihr, dass es eine Reaktion ist auf den Stress, dem sie in den letzten
Wochen ausgesetzt war. Bitte“, fügte Micah hinzu. „Ich brauche nur ein wenig
mehr Zeit.“
„Na, wunderbar“, murmelte die Ärztin. „Wenn die Ärztekammer mich ausschließt,
kann ich ja immer noch Heiratsvermittlerin werden.“
„Es ist doch Ihr Ziel, Leben zu retten“, erinnerte er sie. „Hiermit retten sie gleich
drei.“
„Ich habe gehört, Sie wollen wieder nach Jacobsville ziehen?“
„Ja, ich werde hier Pferde züchten“, sagte er. „Und meiner alten Truppe beratend
zur Seite stehen, wenn sie mich brauchen. Auf die Art und Weise bekomme ich
genug von meinem alten Leben mit, dass es mir hier nicht zu langweilig wird.
Vielleicht beende ich sogar mein Medizinstudium und bewerbe mich bei Ihnen
und Ihrem Mann um einen Job.“
„Jederzeit gern“, sagte Lou. „Ich hatte seit zwei Jahren keinen freien Tag mehr.
Ich würde gerne mal mit meinem Sohn in den Zoo gehen, ohne dass ich nach
einer halben Stunde zu einem Notfall gerufen werde.“
Micah lachte. „Na, das wird sich sicherlich einrichten lassen.“
Lou Coltrain stand auf und schüttelte Micah noch einmal die Hand. „Ich hatte Sie
mir ganz anders vorgestellt, Mr. Steele“, sagte sie. „Im Stillen hatte ich
befürchtet, dass Sie ihr altes Leben niemals aufgeben und von Callie verlangen
würden, etwas wegen des Babys zu unternehmen.“
„Will ich ja auch“, sagte er lächelnd. „Ich will, dass sie es bekommt. Und noch ein
paar mehr, wenn wir Glück haben. Callie und ich waren Einzelkinder. Ich hätte
gerne mehrere, Jungs und Mädchen.“
„Geht uns genauso“, gab Lou Coltraine zu. „Aber im Moment hält uns unser Sohn
allein ganz schön auf Trab. Wenn Sie allerdings einen Teil der Praxis übernehmen
würden…“ sagte sie und zwinkerte ihm zu.
Micah lachte. „Ist wohl ansteckend.“
Die Ärztin nickte. „Sehr. Nun raus mit Ihnen. Ich werde Callie gegenüber kein
Wort erwähnen.“
„Danke. Das ist wirklich wunderbar von Ihnen.“
„Für einen zukünftigen Kollegen tue ich doch alles“, sagte sie und schob ihn
hinaus.
Callie machte sich den ganzen Vormittag über Gedanken wegen ihres
Arzttermins, doch als Dr. Coltrain ihr Blut abgenommen und sie untersucht hatte,
fühlte sie sich schon besser.
„Ich glaube, es sind die Auswirkungen Ihrer traumatischen Erfahrung“, sagte die
Ärztin. „Kommen Sie in zwei Wochen wieder, dann sehen wir weiter. In der
Zwischenzeit verschreibe ich Ihnen Vitamine, die Sie etwas aufbauen werden.“
„Und die Testergebnisse bekommen Sie erst in zwei Wochen?“ fragte Callie.
„Ja, es kann so lange dauern. In erster Linie sind Sie erschöpft, Callie. Sie sollten
früh ins Bett gehen und auf eine ausgewogene Ernährung achten. Gehen Sie oft
an die frische Luft. Und machen Sie sich keine Sorgen. Es ist nichts Ernstes, da
bin ich mir ganz sicher.“
Erleichtert strahlte Callie sie an. „Danke, Dr. Coltrain! Vielen Dank!“
„Ich habe gehört, dass Ihr Stiefbruder wieder in die Stadt zieht?“ fragte die
Ärztin, als sie Callie zur Tür begleitete. „Dann werden Sie ihn jetzt wohl öfter
sehen?“
Callie wurde rot. „Ja, es sieht so aus.“ Ihre Augen leuchteten. „Er ist ganz anders
als früher. Ich hätte nie gedacht, dass er in einer Kleinstadt leben will.“
„Männer stecken voller Überraschungen“, gab Lou zurück. „Man weiß vorher nie,
wozu sie fähig sind.“
„Ja, das stimmt. Dann komme ich also in zwei Wochen wieder.“
„Genau“, sagte die Ärztin und drückte Callies Schulter. „Ruhen Sie sich aus, und
nehmen Sie die Vitamine“, fügte sie hinzu und gab Callie das Rezept.
Callie schwebte wie auf Wolken. Um ihre Gesundheit brauchte sie sich keine
Sorgen zu machen, und dann hatte auch noch Micah angerufen und sie
eingeladen, sich seine neue Ranch anzuschauen.
Er holte sie vom Büro ab. „Ich habe Dad die Ranch heute Morgen schon gezeigt“,
erzählte er. „Er zieht am Wochenende dort mit mir ein.“
„Dieses Wochenende schon?“
Micah nickte. „Wenn du willst, könntest du auch dort wohnen.“
Callies Herz begann schneller zu schlagen, doch sie wusste, dass er es nicht auf
diese Weise meinte. „Ich lebe gerne in der Stadt“, log sie.
Micah lachte in sich hinein. Er konnte sich vorstellen, dass sie nicht bereit war,
mit ihm „in Sünde“ zu leben. Jedenfalls nicht in einer Kleinstadt wie Jacobsville.
Er griff nach ihrer Hand und drückte sie. „Warst du bei deiner Ärztin?“
„Ja. Sie hat gesagt, es ist nur Stress. Jedenfalls nichts Ernstes.“
„Zum Glück.“
„Ja.“ Micah bog von der Landstraße in einen langen, kurvenreichen Schotterweg ab. Einige Minuten später standen sie vor einem großen weißen Haus im Viktorianischen Stil. „Es ist etwas altmodisch, und wir brauchen neue Möbel“, sagte Micah, als er Callie aus dem Wagen half. „Aber wir können etwas draus machen. Hinter dem Haus gibt es auch jede Menge Platz für die Kinder. Wir werden eine Schaukel aufstellen und eine Sandkiste und…“ Callie blickte ihn entgeistert an. „Du hast Kinder?“ „Nein, bis jetzt noch nicht“, gab er zu. „Aber das kommt schon noch. Magst du keine Kinder?“ „Doch“, antwortete sie. „Aber du hast doch gesagt, du machst dir nichts aus ihnen.“ „Nun ja, meine eigenen werde ich lieben“, sagte er und drückte ihre Hand. „Und du auch.“ „Ich werde deine Kinder lieben?“ fragte Callie. Was meinte er nur? Micah vermied es, sie anzusehen, und blickte stattdessen auf den grünen Rasen vor dem Haus. „Hast du schon mal daran gedacht, mit mir ein Kind zu haben?“ Callie glaubte, ihr Herz müsse zerspringen vor Freude. Als er sie endlich anblickte, brauchte er auf eine Antwort nicht mehr zu warten. Was sie empfand, stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, und die Tiefe ihrer Gefühle nahm ihm den Atem. Es war mehr, als er je zu hoffen gewagt hatte. „Ich möchte ein Kind von dir, Callie“, flüsterte er. Zärtlich nahm er ihren Kopf zwischen die Hände und küsste sie auf die Augenlider. Seine Finger zitterten, während er kleine, atemlose Küsse auf ihr Gesicht hauchte. „Das wünsche ich mir so sehr“, sagte er. „Du wärst eine so wunderbare Mutter. Ich könnte nachts mit dir zusammen aufstehen, wenn das Baby schreit, und wir könnten uns dabei abwechseln, mit ihm herumzugehen. Später werden wir dann Mitglied im Schulbeirat. Und wenn wir alt sind, schwelgen wir in Erinnerungen. Wir wären eine richtige Familie, du und ich und ein kleiner junge oder ein kleines Mädchen.“ Callie legte die Arme um ihn und hielt sich an ihm fest, da ihre Knie nachgaben. Es war ihm ernst damit, er machte keine Witze. Sie schloss die Augen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Micah spürte die Nässe durch den dünnen Stoff seines Seidenhemds und zog lächelnd ein frisches Taschentuch aus der Hosentasche. Zärtlich tupfte er ihr die Tränen ab und küsste die letzten Spuren fort. „Wir bauen hier einen richtigen Spielplatz“, fuhr er fort. „Zwei oder drei Kinder wären schön, wo wir doch beide Einzelkinder waren. Und Dad hat bestimmt Spaß daran, Großvater zu werden. Wenn er hier mit uns wohnt, werden ihn die Kinder wieder jung machen.“ „Das wäre herrlich“, flüsterte Callie. „Aber ich hätte nie gedacht, dass du das jemals sagen würdest. Im Gegenteil, du warst so überzeugt, dass du nie…“ ‘ Micah unterbrach sie mit einem Kuss. „Freiheit ist nur ein Wort, Callie. Es
bedeutete mir nichts mehr, als ich erfuhr, dass Lopez dich in seiner Gewalt hat.“ Die Erinnerung daran spiegelte sich auf seinem Gesicht. „Ich hatte keine Ruhe, bis ich wusste, wo er dich gefangen hielt. Normalerweise plane ich eine Aktion mindestens eine Woche im Voraus, doch diesmal dauerte es nur eine Nacht. Und dann habe ich dich selbst befreit, weil ich niemand anderem zutraute, dass er dich lebend dort herausholt.“ Unwillkürlich schloss er die Hände um ihre Schultern. „Als ich sah, was dieser Schuft dir angetan hatte… Callie, wenn er dich getötet hätte, hätte ich ihn mit diesem Messer in Stücke geschnitten, bei lebendigem Leibe. Und dann hätte ich dich in die Arme genommen und wäre mit dir vom Balkon gesprungen. Weil ich nicht in einer Welt leben könnte, in der du nicht bist. Callie, ich kann nicht ohne dich leben. Nie mehr.“ In Micahs Augen standen Tränen. Sie unterdrückte selbst ein Schluchzen, als sie ihm antwortete. „Ich liebe dich, Micah. Du bist mein Leben. Aber ich habe nie zu hoffen gewagt, dass ich dir auch etwas bedeute.“ Er zog sie in die Arme und wiegte sie sanft hin und her. Sie liebte ihn. Glücklich schloss er die Augen. Nach all den Jahren, in denen er sie so schlecht behandelt hatte, nach all den bitterbösen Worten, die er ihr entgegengeschleudert hatte, liebte sie ihn. Offensichtlich konnte die Liebe wirklich alles verzeihen. „Ich wünschte, ich könnte jedes böse Wort zurücknehmen, das ich zu dir gesagt habe“, flüsterte eh Callie lächelte unter Tränen. „Es ist alles gut, Micah. Willst du wirklich Kinder?“ fragte sie verträumt. „Mehr als alles andere auf der Welt!“ „Ich werde nicht mir dir schlafen, bevor wir verheiratet sind“, sagte sie bestimmt. Er lachte leise. „Ich heirate dich so bald wie möglich.“ Dann atmete er tief durch. „Aber für das andere ist es schon zu spät, fürchte ich.“ Sie hob die Augenbrauen. „Was meinst du damit?“ Micah zog mit dem Zeigefinger ganz sanft die Form ihrer vollen Lippen nach. „Callie, dieser erotische Traum, den du hattest…“ Nun wurde er tatsächlich rot. „Na ja, es war kein Traum“, fügte er dann mit einem verlegenen Lächeln hinzu. Callie riss die Augen auf. All das, was sie gesagt und getan hatte, was er getan hatte, der Blutfleck auf dem Laken, das Ausbleiben ihrer Periode… „Du liebe Güte, ich bin schwanger!“ rief sie, und ihre Stimme überschlug sich dabei. „Ja, das stimmt, du unglaubliche Frau!“ erwiderte Micah überglücklich. „Es tut mir Leid, aber ich habe Lou Coltrain dazu überredet, dir nichts zu sagen, bevor ich dir einen Heiratsantrag machen konnte. Ich hatte Angst, du würdest sonst einfach verschwinden.“ Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Noch nie in meinem Leben wollte ich etwas so sehr wie dieses Kind – außer dir, natürlich. Ich kann ohne dich nicht leben, Callie“, fügte er leise hinzu. „Ich will es nicht einmal versuchen.“ Micah machte eine Handbewegung, die das Haus, den Garten und die Ställe umfasste. „Hier werden wir anfangen. Du und ich, ein neuer Beruf, ein neues Leben… und noch ein neues Leben“, sagte er und legte ihr die Hand zärtlich auf den Bauch. „Ich weiß, dass ich noch vor kurzem etwas ganz anderes gesagt habe. Aber ich hätte mich niemals dafür entschieden, hierher zu ziehen, wenn ich nicht ganz sicher wäre, dass ich mich hier wohl fühle. Du bist mir wichtiger als mein aufregender Job und meine Freiheit. Ich liebe dich von ganzem Herzen. Genügt dir das?“ Callie lächelte ihn so strahlend an, dass sein Herz einen Schlag lang aussetzte. „Das ist mehr als genug“, sagte sie leise. Endlich schien Micah sich zu entspannen, als ob er die ganze Zeit den Atem angehalten hätte. „Gott sei Dank“, sagte er leise und schloss die Augen.
„Du hast doch nicht etwa befürchtet, dass ich Nein sage“, fragte sie erschrocken.
„Liebe Güte, der attraktivste Mann in Texas macht mir einen Heiratsantrag, und
ich lehne ab?“
„Du findest mich also attraktiv, ja?“
„Genau, und sexy.“
„Sexy?“
„Du hast mich verführt“, erinnerte Callie ihn. „Dazu muss ein Mann schon sehr
sexy sein.“ Sie runzelte die Stirn. „Allerdings hast du mich vorher unter Drogen
gesetzt“, fügte sie schelmisch lächelnd hinzu.
„Weil du völlig aufgelöst warst.“
„Verliebt, nicht aufgelöst“, widersprach sie. „Und so stark war das Mittel nun
auch wieder nicht.“ Sie errötete leicht. „Aber ich dachte wirklich, ich träume nur.
Schließlich hatte ich immer denselben Traum, seit ich sechzehn war.“
„So lange schon?“
Callie nickte. „Ich habe mich nie für einen anderen interessiert.“ Sie legte ihre
kleine Hand über seine auf ihrem Bauch. „Ich bin so glücklich. Aber ich habe
auch Angst. Für Babys gibt es keine Gebrauchsanweisung.“
„Wir haben ja Lou Coltraine“, beruhigte er sie. „Hast du die Vitamine schon
abgeholt, die sie dir verschrieben hat?“
„Nein, noch nicht.“
„Es ist alles drin, was eine werdende Mutter braucht“, lachte Micah. „Damit wirst
du dich bald besser fühlen. Und zum Glück hast du ja einen Ehemann, der genau
weiß, wie eine Schwangerschaft abläuft.“ Er küsste sie zärtlich. „Wenn das Baby
da ist, werde ich mein Studium abschließen und bei den Coltrains in der Praxis
mitarbeiten.“
Callie begriff sofort: Dies war ein weiteres Zeichen dafür, dass er wirklich sein
altes Leben für sie aufgeben wollte. Wie viele wunderbare Erinnerungen sie hier
in diesem alten Haus sammeln würden! Sie schmiegte sich enger an ihn. „Auf
Regen folgt Sonnenschein“, flüsterte sie.
„Was war das?“
„Ach, nur etwas, was ich gehört habe, als ich noch klein war“, erwiderte sie. Es
war ihr Vater, der das gesagt hatte, doch darüber wollte sie jetzt nicht reden.
Damit würde sie sich später befassen.
Auf dem Rückweg fuhren sie bei der Apotheke vorbei und holten die Vitamine ab.
Die Apothekerin lächelte ihnen verschwörerisch zu.
„Ich nehme an, Sie wissen, wofür die Vitamine gut sind?“ fragte sie Callie.
Die blickte zu Micah auf und erwiderte das Lächeln. „O ja“, sagte sie leise.
Er zog sie an sich und gab der Apothekerin seine Kreditkarte. „Wir heiraten am
Sonntag, um zwei Uhr in der Kirche“, fügte er hinzu. „Sie sind alle eingeladen.“
Die Apothekerin zwinkerte ihm zu. „Tja, das haben wir schon vom Pfarrer
gehört“, sagte sie mit einem Räuspern.
Micah lachte, als er Callies Gesichtsausdruck sah. „Du hast doch selbst gesagt,
dass man in einer Kleinstadt nichts geheim halten kann“, erinnerte er sie
neckend.
„Aber ich wusste noch gar nichts davon!“ rief sie entrüstet.
„Na ja, ich konnte dir ja schlecht von dem Termin erzählen, bevor du meinen
Antrag angenommen hattest. Komm, wir müssen noch ein Kleid für dich kaufen.
Und diesmal lässt du mich bezahlen, ja?“
Callie nickte. „Ausnahmsweise“, sagte sie und stellte sich auf die Zehenspitzen,
um ihn zu küssen.
Jack Steele war überglücklich über die Neuigkeiten. Es ging ihm jeden Tag
besser, und die Aussicht auf ein Enkelkind gab ihm neue Lebensfreude. Zunächst
sträubte er sich dagegen, mit Callie und Micah auf die Ranch zu ziehen, weil er
sich nicht in ihre Beziehung einmischen wollte, doch als sie ihm versicherten, dass sie ihn liebten und seine Gegenwart schätzten, gab er nach. Er hatte nicht nur seinen Sohn zurückbekommen, sondern würde teilhaben können am Glück der beiden Menschen, die er am meisten liebte. Er fühlte sich reich beschenkt. Callie erhielt in der Zwischenzeit einen Anruf von ihrem Vater, der gerade aus Europa zurückgekehrt war. Sie willigte ein, ihn in ihrer Mittagspause in der Stadt zum Essen zu treffen. Nervös und neugierig betrat sie das Lokal. Ihr Vater hatte die gleichen blauen Augen wie sie, nur einen Ton dunkler. Sein schwarzes Haar war von silbernen Fäden durchzogen, und er blickte ihr ernst entgegen. Sie sprachen kaum, bis die Bedienung ihre Bestellung aufgenommen hatte. Schließlich sagte er: „Du hast große Ähnlichkeit mit meiner Mutter. Sie hatte genauso feine Gesichtszüge, und du hast ihre Augen geerbt.“ Callie blickte kurz auf. „Ich erinnere mich nicht gern an sie“, sagte sie leise. Ihr Vater stütze die Ellenbogen auf den Tisch und beugte sich näher zu ihr. „Callie, ich habe mich wie ein Idiot benommen. Wie kann ich mich bloß für das entschuldigen, was du meinetwegen durchmachen musstest? Ich habe die ganze Wahrheit erst erfahren, als deine Mutter mich anrief und ich den Bericht von dem Privatdetektiv zurückbekam. Ich schäme mich so, Callie. Ich hätte dich niemals gehen lassen dürfen. Selbst wenn es gestimmt hätte, dass du nicht mein leibliches Kind warst, hätte ich dir ein Zuhause geben können, Liebe und Schutz.“ Er blickte starr auf die Tischplatte. „Es war nur mein verletzter Stolz. Ich konnte es nicht ertragen, dass du angeblich das Kind eines anderen Mannes warst. All die Jahre hast du für meine Dummheit und Grausamkeit bezahlt.“ Er holte tief Luft und blickte sie traurig an. „Jetzt weiß ich, dass du meine Tochter bist, und habe dich doch verloren. Ich verdiene dich nicht. Wenn du nichts mit mir zu tun haben willst, kann ich das nur zu gut verstehen. Ich habe als Vater völlig versagt.“ Callie erkannte den echten Schmerz in seinen Augen. Ihre Mutter hatte auch ihn mit ihren Lügen tief verletzt. Die Erinnerung an ihre einsame, schwere Kindheit würde immer ein Teil von ihr sein. Doch jetzt hatte sie Micah, ein eigenes Kind und Jack. Trotz allem war sie auf den Füßen gelandet, hatte sich ein erfülltes Leben aufgebaut. Und hatte nicht sie selbst Jack einen Vortrag darüber gehalten, wie wichtig es war, mit der Vergangenheit abzuschließen und jemandem zu verzeihen? Sie lächelte ihrem Vater zu. „Du wirst bald Großvater“, sagte sie schlicht. „Micah und ich heiraten am Sonntag um zwei in der Kirche in der Stadt. Wenn du möchtest, kannst du mich zusammen mit Jack Steele zum Altar führen.“ Ihr Lächeln wurde breiter. „Dann sorgen wir wenigstens weiter für Gesprächsstoff in der Stadt.“ Ihr Vater war zu überrascht, um etwas zu sagen. Schließlich wandte er den Kopf ab, wischte sich über die Augen und blickte Callie an. „Ja, das würde ich sehr gerne. Aber vor allem hätte ich dich so gerne wieder als Tochter, Callie. Es tut mir so Leid.“ Langsam stand sie auf, ging um den Tisch herum und nahm ihn in die Arme. Sie zog ihn an sich, legte die Wange an seinen Kopf und fühlte, wie er zitterte. „Es ist gut, Papa“, flüsterte sie. Papa. Das letzte Mal, als sie dieses Wort ausgesprochen hatte, war sie sechs gewesen. Tränen liefen ihr über die Wangen. „ES wird jetzt alles gut.“ Er hielt sie fest, und auch er weinte jetzt völlig offen. Niemals hatte er wirklich gehofft, sie wieder seine Tochter nennen zu dürfen. Es war wie ein neues Leben. Die Hochzeit war das Ereignis des Jahres in der Stadt. Callies Kleid hatten sie in Paris anfertigen lassen, und es war trotz des knappen Termins rechtzeitig angekommen. Bojo und die anderen waren ebenfalls
gekommen, sogar Pogo und Maddie, die Callie noch nicht kennen gelernt hatte,
und viele andere von Micahs Freunden und Kollegen. Offensichtlich hatten sie alle
das Gerücht, dass Micah heiraten würde, nicht glauben können und wollten selbst
sehen, ob es stimmte.
Die Zeremonie war kurz, aber sehr bewegend. Micah hob Callies Schleier und
küsste sie zum ersten Mal als seine Ehefrau.
„Wenn wir zu Hause sind, musst du die Inschrift in deinem Ring lesen“, flüsterte
er ihr zu.
„So lange kann ich nicht warten“, sagte sie lächelnd. „Verrat es mir, bitte.“
Er nahm ihre Hand und drückte sie an seine Brust. „Ich habe ,für immer’
eingravieren lassen, Callie, und so meine ich es auch. Ich werde dich lieben bis
zum letzten Atemzug – und darüber hinaus.“
Als Micah sie küsste, begann sie zu weinen. Es war das Schönste, was er jemals
zu ihr gesagt hatte.
Rosenblätter und Reis regnete auf sie nieder, als sie aus der Kirche kamen und
zu dem Wagen gingen, der sie zum Flughafen bringen würde. Mac hatte ihnen für
die Hochzeitsreise sein Ferienhaus im schottischen Hochland überlassen.
Jack Steele blieb mit Micahs neuem Vorarbeiter und dessen Frau auf der Ranch.
Zusammen mit Callies Vater winkte er ihnen zu, als sie einstiegen. Die beiden
Männer waren bereits Freunde geworden. Sie liebten beide Poker und alte
Western.
„Bist du sicher, dass du deine Leute nicht vermissen wirst?“ fragte Callie leise.
„Ganz sicher“, gab er zurück. „Ich bin so glücklich mit dir. Wink deinen beiden
Vätern noch mal zu, dann lass uns losfahren. Ich kann es nicht erwarten, mit
Ihnen allein zu sein, Mrs. Steele.“
Sie lachte und errötete leicht. „Dann sind wir schon zu zweit.“
Als der Wagen anfuhr, jubelte ihnen die Schar der Gäste zu. Drinnen zog Micah
Callie in die Arme und war insgeheim dankbar, dass sie ihm eine zweite Chance
gegeben hatte. Er erinnerte sich an ihre Worte: Auf Regen folgt Sonnenschein.
Von jetzt an würde es für Callie nur noch Sonnenschein geben.
-ENDE