Klaus Schlichte
Der Staat in der Weltgesellschaft Politische H~rrschaft in Asien, Afrika und Lateinamerika
Campus Verl...
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Klaus Schlichte
Der Staat in der Weltgesellschaft Politische H~rrschaft in Asien, Afrika und Lateinamerika
Campus Verlag Frankfurt/New York
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-593-37881-7 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere fiir Vervielfältigungell, Übersetzungen, l'vlikroverfihnwlgen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright© 2005 Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main Druck und Bindung: BoD, Norderstedt Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei geble.ichtem Papier. P1·imed in Gcrm:1ny Besuchen Sie WlS im Internet www.campus.de
Inhalt
Vorwort ....................................................................................................................... 7
Einleitung .................................................................................................................. 10
1. Kritik der Internationalen Beziehungen ..................................................... 20 1.1 Die Entwicklung der Theorie in den Internationalen Beziehungen .... 22 1.2 Ausgangspunkte einer Theorie globaler Vergesellschattung ................ 32 1.2.1 Die Geschichtlichkeit der Politik in der Weltgesellschaft .......... 33 1.2.2 Die Gesellschaftlichkeit der Politik in der Weltgesellschaft ....... 37 1.2.3 Zum Begt.-iff der Weltgesellschaft .................................................. 40 1.2.4 Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen .................................... 45 1.2.5 Methodische lmplikationen ............................................................ 47 1.3 Macht und Herrschaft in der Weltgesellschaft ....................................... 58
2. Zur Theorie staatlicher Herrschaft .............................................................. 62 2.1 2.2 2.3 2.4
Begriffe der Macht und Begriffe der Herrschaft .................................... 65 Die moderne Staatsidee und ihre Genese ............................................... 84 Zur Dynamik des Staates ......................................................................... 102 Die Formation des Staates in der Dritten Welt .................................... 111
3. Dynamiken der Gewalt .................................................................................. 126 3.1 Militär und Polizei- zur Dialektik von Gewalt und Organisation .... 129 3.1.1 Das Militär ....................................................................................... 131 3.1.2 Die Polizei ........................................................................................ 137 3.2 Ixier Staat der Dritten Welt« Gegenstand einiger Debatten gewesen, doch Aufwand, theoretisches Niveau und wissenschaftliche Akribie der politikwissenschaftlichen Forschung zu diesem Thema können mit den Ergebnissen der wissenschaftlichen Bemühungen um die staatlichen Organisationen der OECD-Welt nicht konkurrieren. Die Debatten um den Staat der Dritten Welt können auch nicht als Ergebnis zusammenhängender Forschungen betrachtet werden, deren Ergebnisse sich in der theoretischen Diskussion gleichsam verdichten. Das Material fW:
EINLEITUNG
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solche theoretischen Bemühungen ist lückenhaft, verstreut und nicht einheitlich organisiert. So liegen vergleichende, regional übergreifende Arbeitet~ zur politischen Herrschaft in der Dritten Welt, die sich auf dem aktuellen Stand der Sozialtheorie bewegen, bis auf wenige Ausnahmen nicht vor. Zahlreiche Aspekte staatlicher Herrschaft, die für die Staaten des Westens GegenS'tand gan?.er Forschungsbereiche darstellen, sind in der Politikwissenschaft kaum je auf die Dritte Welt bezogen worden: Vergleichende Untersuchungen zur Fiskalpolitik, zu Steuersystemen, Verwaltung oder Polizei sind ausgesprochen selten. Monographische Arbeiten kommen in der Regel ohne methodische Explikationen und theoretische VerortwJgen aus. Ursächlich für die Lückenhaftigkeit und den Mangel an Zusammenhang der politikwissenschaftlichen Dtitte-Welt-Forschung dürften vor allem Hintergtundeinstellungen des wissenschaftlichen Forschungsbetriebes sein, die ihren Grund nicht in der Sache haben. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Staat ist fast ausschließlich auf den Staat des Westens konzent1iert. Aus der Genese und den Formen des bürgerlichen Staates hat sie ihre Kategorien und Problemstellungen gewonnen, während die in den Sozialwissen- · schaften marginale Auseinandersetzung mit staatlicher Herrschaft außerhalb; Europas und Nordamerikas vor allem von einem normativen Motiv gespeist. ist, nämlich dem Ziel der »Entwicklung«. Die Formeln und Konzepte intelnationaler Agenturen, die technischen Debatten um die »richtigen Strategien« zur Erreichung des schimärenhaften Fernziels »Etttwicklung«, haben die Versuche, davon unabhängig theorftisch zum Staat der Dtitten Welt zu arbeiten, fast vollständig verdrängt. Zu Beginn der achtziger Jahre lief in der deutschen Politikwissenschaft die Debatte um den Charakter des Staates in den Regionen der Dritten Welt aus, um erst in den neunziger Jahren, in Zusammenhang mit Diskussionen neuer Arrangements politischer Institutionen; eine Wiederbelebung zu erfahren. Schlag- und Stichworte wie global governattce, der »Rückzug des Staates« oder p11blicptivate pattnership machen auch den Staat wieder zum Thema: In der ganzen Periode davor ist ))der Staat der Dtitten Welt« fast Anathema der deutschen Politikwissenschaft. Hmtmut Elsenhans' Beitrag (1981) setzt den Schlusspunkt uttter eine Diskussion, deren vorige Heftigkeit ein solches Ende nicht hatte vermuten lassen. Selbst das einschlägige, von Politikwissenschaftlern veranstaltete Hmrdbllch der Dritten W"elt (Nohlen/Nuscheler 1993), dessen erster Band Gmndprobleme, Theorim, Strategien betitelt ist, enthält keinen Beitrag zum Staat oder politischer Herrschaft allgemein, setzt sich aber typisch für das Paradigma des Developmentalismus - ausführlich mit sustarirable devdopment, dem Verschuldungsproblem und Migrationsbewegwtgen auseinander.
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In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Staat in der Dritten Welt sind zudem große Unterschiede der Konjunkturen zwischen Sprachräumen zu beobachten. Während die Debatte in Deutschland Mitte der 1980er Jahre abebbt, beginnt sie in den USA erneut (vgl. Evans et al. 1985; Migdal 1988). Der in Frankreich wenig später einsetzende Versuch, unter Rückgriff auf neuere sozialtheoretische Entwicklungen wie den Poststrukturalismus den developpmmtalis1ne hinter sich zu lassen (vgl. Latouche 1986; Bayart 1989) erreichte erst in den letzten Jahren die deutsche w1d US-amerikanische DiskusSion.
Der überwiegende Teil der Beiträge zum Staat in der Dritten Welt jedoch befasst sich bis heute in normativer Absicht mit Entwürfen über zukünftige Arrangements, in denen eben auch der Platz staatlicher Institutionen zu bestimmen ist. Die empirische, vergleichende Analyse der Entwicklung konkreter Formen staatlicher Herrschaft dagegen ist dadurch nicht wieder belebt worden. Nach dem Ende der Kontroverse zwischen klassischer Modernisierungstheorie und Dependenztheorie fehlt eine Sprache, mit der die Wandlungsprozesse staatlicher Herrschaft außerhalb Europas beschrieben werden könnten. Wie sich dort politische Herrschaft etabliert und wie sie sich verändert, ist in der wissenschaftlichen Behandlung in die Untersuchung unzähliger einzelner Zusammenhänge zerfallen. Theoretische Versuche, diese Wandlungen begrifflich zu fassen, sind vereinzelt und unzusammenhängend oder sie beschränken sich auf einzelne >>Regionen«. Die vorliegende Arbeit soll diesem Missstand abhelfen. Sie stellt einen theoretischen Ansatz vor, mit dem die Wandlungen und Bestin1mungsgründe staatlicher Herrschaft außerhalb der OECD nach 1945 beschrieben und erklärt werden können. Zum andem versucht sie, wesentliche Elemente der Erklärungen dieser Dynamiken an zentralen Aspekten staatlicher Herrschaft in der ))Dritten Welt« selbst herauszuarbeiten. Die Bezeichnung ))Dritte Welt« ist nun selbst problematisch. Denn sie suggeriert eine Einheitlichkeit der Verhältnisse, die nicht gegeben ist.1 Die Kritik an Vorstellungen, wonach sich die Welt aufteilen ließe in soziale Räume, die der Gliederung von Staaten folgen, ist ein zentrales Anliegen dieser Arbeit. Davon unberührt bleibt, dass es politische Gebilde gibt, die sich Staaten nenI Die Geschichte der Gesellschaften Afrikas, Lateinamerikas und Asiens und die Geschichte ihrer politischeil Formen bilden zwar einen notwendig zu berücksichtigenden Hintergrund für die Analyse der Prozesse der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit, doch die Histmizität staatlicher Herrschaft, die sich in jedem Fall konkret machen lässt, wird in dieser Arbeit zugunsten allgemeiner Thesen vemachlässigt. Im Folgenden wird auch auf An- und Abführungen bei der Benutzung des Begriffs Dritte Welt verzichtet.
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nen, deren empirische Wirklichkeit aber in einem eigenartigen Kontrast zur Vorstellung von Staatlichkeit steht, die diese Redeweise gemeinhin begleitet. Mit Staaten der Dritten Welt sind jene Staaten gemeint, in denen der moderne Kapitalismus nicht als umfassende Lebenswirklichkeit entfaltet ist, wie in Nordamerika, Westeuropa und Japan, in denen sich nicht Kapital und Arbeit organisiert gegenüberstehen, und deren politisches Hauptmerkmal nicht bürokratische Herrschaft ist. Moderne Staaten sind in jedem Lebensbereich ihrer Bürger präsent, sie haben die Gesellschaft durchstaatlicht. Zugleich hat sich ihnen über Recht und Öffentlichkeit eine Kontrolle der Herrschaft etabliert, also eine die Verstaatlichung der Gesellschaft komplementäre Vergesellschaftung des Staates ergeben. Das ist, so ein zentraler Befund dieses Buches, au- \ ßerhalb der »OECD-Welt« in weitaus geringerem Umfang der Fall als in 1 Nordamerika oder Westeuropa. Nun sind auch die Staaten der Dritten Welt gesellschaftlich eingebettet. Deshalb muss eine Theorie staatlicher Herrschaft in der Dritten Welt ihren Ausgangspunkt dort suchen, wo auch der Staat beginnt: in der Gesellschaft. Weil aber die »Externität« staatlicher Institutionen im Verlauf der Ausbildung staatlicher Herrschaft in der Dritten Welt so bedeutsam ist, sind The01ien, die sich allein mit dem Innenleben des Staates befassen - wie etwa das Staatsrecht und weite Teile der Staatstheorie- dafür nicht geeignet. Stattdessen dient hier die Theorie der Weltgesellschaft als Ausgangspunkt. Worin nun eine solche Theorie besteht und wie sie sich zu den geläuftgen Positionen der Theorie der Internationalen Beziehungen und des Staates verhält, ist das durchgängige Thema des ersten Teils dieser Arbeit. Darin wird diese Theorie zunächst ins Verhältnis gesetzt zu den gängigen Auffassungen der >>Internationalen Beziehungen«. Im selben Teil wird dann die Idee staatli-~ eher Herrschaft historisch und ideengeschichtlich eingebunden und in eine Auffassung des Staates eingebettet, die es erlauben soll, die konkrete Dynamik I des Staates zu erfassen, ohne durchweg dessen Sprache zu sprechen. In einem) zweiten Teil wird die Bedeutung staatlicher Herrschaft in den gesellschaftlichen Bereichen untersucht, in denen dem Staat, allen gängigen theoretischen Auffassungen zufolge, eine besondere Bedeutung zukommt. Dabei beziehen sich die Analysen dieser Arbeit nur auf den Zeitraum nach 1945. Der Versuch der theot-etischen Behandlung staatlicher Herrschaft in der Dritten Welt muss daher kombinieren und fortentwickeln. Denn die fachinternen, auf diesen Gegenstand bezogenen Diskurse reichen dafür nicht aus. Die wesentlichen Elemente für den hier vorgelegten Entwurf speisen sich aus zwei Quellen. Die >>Klassiker« der deutschen Sozialtheorie, von Hegel, Marx, Weber f und Elias sind eine Hauptquelle der hier eingenommenen theoretischen Posi-
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rion und Ausarbeitungen.2 Besonders die lange unterbliebene Zusammenführung von Karl Marx und Max Weber ist für diese Perspektive essentiell. Viel zu lange haben äußere Umstände der Wissenschaft die Gemeinsamkeiten des Blicks von Weber und Marx auf den modernen Kapitalismus und seine Vorgeschichte versperrt. Außerdem wurden Elemente der Sozialtheorien von Pierre Bourdieu und ivlichel Foucault flir die Analyse der Dynamik von Macht und Herrschaft aufgenommen. Die grundlegenden OrientierWigen dieser theoretischen Position lassen sich demnach so umreißen: Die Theorie globaler VergesellschaftWlg speist sich aus einem Verständnis der kapitalistischen Modeme als einem distinkten Ensemble von Formen der Vergesellschaftung. Kapitalistische Produktion, moderne Staatlichkeit und die symbolischen Welten der Modeme unterscheiden sich von den Formen vorgängiger gesellschaftlicher Welten. Die historische VerankeiWlg der Theorie globaler VergesellschaftWlg bezieht sich vor allem auf ein Verständnis von Geschichte als Strukturgeschichtc. Die Ausbildung der heute in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften gültigen VergesellschaftWlgsformen, aber auch ihre konfliktive Begegnung mit traditionalen Formen, bilden das Grundgerüst dieses Verständnisses von Geschichte. Der Begriff der Weltgesellschaft bezeichnet das Resultat dieses Prozesses, das Ganze des globalen sozialen Raumes. Ihre Herausbildung, die mit der europäischen Expansion ihren Ausgang nahm, hat zur Einbindung aller zuvor geschiedenen Geschichten und gesellschaftlichen Räume in denselben Funktionszusammenhang geführt. Dabei ist die Auflösung, Integration und Transformation älterer sozialer Formen ein bis heute unabgeschlossener Prozess. Dieser Prozess der globalen VergesellschaftW1g ist das Ganze des Sozialen, auf den alle Einzelheiten bezogen bleiben. Zwar lassen sich einzelne Geschichten, Teilprozesse, Ereignisse und Aktionen analytisch scheiden und untersuchen. Ihre theoretische Bedeutung liegt indes immer in ihrem Bezug auf das Ganze. Das Hauptinteresse nun einer politischen Soziologie der Weltgesellschaft, die sich auf diese theoretische Sichtweise bezieht, gilt der Dynamik von Macht und Herrschaft. Die InstitutionalisierWigen von Machtbeziehungen zu staatlicher Herrschaft, aber auch il1re Auflösung, sind der Gegenstand dieser Arbeit. Zum Aufbau dieses Buches: Innerhalb der Politikwissenschaft sind traditionell die »Internationalen Beziehungen« für alles zuständig, was über die Grenzen von Staaten hinweg passiert. Deshalb enthält Kapitel 1 zunächst eine Skizze der theoretischen Entwicklung der »Internationalen Beziehungen«, die :! Die •.Ubeit knüpft damit an ein Forschwtgsprogramm an, das in den \'ergangenen zwölf J:thre•l als »Hamburger Ansatz« der Kriegsursachenforschwtg entwickelt wurde, vgl. Jung/Schlichte/Siegelberg (2003); Schlichte (1996, l998a, b, c,);Jwtg (l99S, 1998) wtd Siegelberg (1994).
sich in der Soziologisieroog ihres Gegenstands, ihrer Methoden und Leittheorien als eine Konvergenzbewegung bezeichnen lässt. Mehr ood mehr hat diese politikwissenschaftliche Subdisziplin ihre klassische Beschränkung auf zwischenstaatliche Beziehoogen hinter sich gelassen. Diese Debatten, so eine erste These dieses Buches, drängen auf den Begriff der Weltgesellschaft. Um diesem neuen, erweiterten Gegenstand gerecht zu werden, sind indes zwei wichtige Voraussetzoogen in der Theorie zu berücksichtigen: Die Gescbicbtlichkeit ood die Gese//schaftlichkeit der Politik in der Weltgesellschaft werden deshalb in diesem Kapitel einschließlich ihrer methodischen Konsequenzen in aller gebote- { nen Kürze diskutiert. Das zweite Kapitel behandelt die zentralen Begriffe Macht, Herrschaft und Staat. Die Machttheorien von Max Weber, Norbet"t Elias, Pierre Bourdieu ut1d Michel Foucault dienen zooächst dazu, das theoretische Vokabular zu etablieren, das fortan in dieser Arbeit Verwendung f111det. Dies gilt besonders für die Begriffe Macht und Herrschaft, wobei, so eine zweite These, bei den anderen Autoren ein zu den Webersehen Definitionen analoges Verständnis gefunden werden kann: Herrschaft ist immer institutionalisierte Macht. Für die Verstetigoog von Machtbeziehungen, wie sich in der Geschichte des europäischen Staates beobachten lassen, decken sich bei diesen vier Autoren die Befunde. Modeme Staatlichkeit ist demnach immer angewiesen auf die Verregeloog der Gewalt, sie beruht auf langfristigen Wandlut1gsprozessen utld der Differenzierung von eigengesetzlichen Handlungsfeldem, und sie bedeutet die Ausbildoog eigener Apparate ood einer eigenen Semantik. Der Begriff des Staates ist schwietiger zu bestimmen. Zum einen dient in Kapitel 2 eine Rekonstruktion der deutschen Begtiffsgeschichte dazu, Kernelemente des modernen Staatsvet-ständnisses zu destillieren, die ut1serem stets schwankendem Verständnis doch immer zugrunde liegen. Demnach sind das Gewaltmonopol, Souveränität, Territmialität und Apparatscharakter diese Kemmerkmale. Ein solches Verständnis ist jedoch für die Analyse· konkreter empirischer Staatlichkeit nur eingeschränkt nützlich, denn es kann· inu_ner nur Grade der Abweichung benennen, aber das, was Staat empirisch ist, tlicht recht erfassen. Deshalb ist ein wesentlicher Gehalt des zweiten Kapitels eine neue Deftnition des Staates, die diesen-als ein Machtfeld begreift, auf dem das mit den Kernmerkmalen erfasste Ideal von Staatlichkeit beständig durch Praktikm staatlicher wie nicht-staatlicher Akteure umkämpft ist. Diese Dy1.1amik ist der zentrale Gegenstand dieses Buches. Ein kurzer Abriss der vorkol01ualen und kolonialen Geschichte des Staates in Afrika, Asien und Lateinamerika schließt das Kapitel 2 ab. Die drei folgenden Kapitelootersuchen zentrale Fooktionen von Staatlichkeit und die Dynamik, die sich um diese Aufgaben der Staaten in Afrika, Asien
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und Lateinamerika in der nachkolonialen Zeit ergeben hat. In Kapitel 3 geht es um das Grundproblem der Verregelung der Gewalt in den nachkolonialen Staaten. Polizei und Militär, die eigentlichen »Hüter« der Gewalt, haben sich dort nicht von Partikularinteressen emanzipiert oder sie haben sich soweit verselbständigt, dass sie sich politischer Kontrolle entziehen. In den nachkolonialen Staaten konnte der massive soziale Wandel deshalb auch nicht durch Institutionen aufgefangen werden. Phänomene physischer Gewalt, vor allem innerstaatliche Kriege, durchziehen deshalb diese Geschichte. Dabei zeigen sich unterschiedliche Phasen der Internationalisierung dieses Geschehens, einst über den Export von Expertise und Organisationsformen von Gewalt, dann durch den geopolitischen Wettbewerb des Ost-West-Konflikts und nunmehr durch »humanitäre Interventionen« und den »Krieg gegen den Terrorismus«. Die Chancen einer Monopolisierung der Gewalt durch die Staaten scheinen demgegenüber eher zu sinken. Was ausgreift, ist die Internationalisierung von Herrschaft. Staatliche Herrschaft braucht aber auch Geld, und dem Fiskus, genauer den staatlichen Einnahmen, ist Kapitel 4 gewidmet. Nach einer kurzen Übersicht über die Begrifflichkeilen und die Geschichte der Staatseinnahmen beginnt das Kapitel mit einer groben Übersicht über die Formen und Strukturen der Einnahmen der nachkolonialen Staaten. Das zentrale Ergebnis dieses Kapitels ist, dass die Möglichkeiten der Einnahmen der Staaten Afrikas, Asiens und L1teinamerikas in erster Linie erstens von den historisch gewachsenen Einbindungen in den Weltmarkt abhängen und zweitens von politischen Präferenzen. Auch hier lässt sich eine wachsende Internationalisierung von Herrschaft beobachten. Denn es waren nicht allein die Vorstellungen nationaler Eliten oder 'Bevölkerungen, sondern Machtkonstellationen im politischen System der Weltgesellschaft, die über diese Präferenzen bestimmten oder diese erst formierten. Allerdings setzen auch lokale Praktiken und Entscheidungen der Fiskalität Grenzen, so vor allem bei der Besteuerung von Vermögen und Einkommen. In fast allen nachkolonialen Staaten ist deshalb das enge Band zwischen steuerzahlenden Staatsbürgern und leistendem Staat nicht entstanden. Stattdessen hat die Politik der Liberalisierung und Privatisierung seit den 1980er Jahren die Informalisierung der Wirtschaft und die Kriminalisierung der Politik befördert. In Kapitel 5 geht es um ein ~eiteres zentrales Aufgabenfeld des Staates, nämlich um seine Kompetenz, als souveräne Instanz Regeln zu setzen und durchzusetzen. Die grundlegende Idee dieses Kapitels ist dabei die »Semantik des Staates«. Die Autonomie staatlicher Instanzen muss sich auch in Formen der Sprache und des Wissens ausformen, um schließlich als staatliches Recht Geltung zu erlangen. Differenzen zwischen dem Ideal des Staates und beob-
achtbaren Praktiken zeigen sich nun schon bei diesen Fotmen der Sprache w1d der Organisation des Wissens. Sie setzen sich in der teilweise widersprüchli- \ chen Überlagerung von Legitimitätsformen fort. Dynamiken, die sich hier beobachten lassen, betreffen zun1 Beispiel die Versuche patrimonialer Figura- J tionen, staatliche Herrschaft durch die symbolische UmJ?eidung klientelistischer Bünde zu festigen. In den Erzählungen der Staaten von sich selbst, in Gründungsmythen, nationalen und religiösen Symboliken, in Nationalismus und auch in Formen des religiösen Fundamentalismus äußern sich diese Dynamiken von Versuchen, die Macht staatlicher Agenturen durch Symbolstrategien in Herrschaft zu verwandeln. Eben deshalb sind diese Symbolwelten politisch so umstritten. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch erklären, warun1 die Verstaatlichung des Rechts und seine soziale Verwirklichung in Afrika, Asien und Lateinamerika erst begonnen haben. Weite soziale Räun1e sind nach wie vor nicht bloß von Formen des Rechtspluralismus gekennzeichnet, sondern sie zeigen große Ungleichzeitigkeiten der moralischen Codes. Diese Konflikte betreffen also nicht nur Interessen, sondern hier steht der Rechtspositivismus moderner Staatlichkeit materialen Rechtsauffassungen gegenüber und muss sich mit diesen vermitteln. Der sich anseWiessende Exkurs über die Dilemmata des ugandischen Präsidenten Yoweri Museveni soll einem Mangel abhelfen, der allen Versuchen eigen ist, über eine große Zahl von politischen Gebilden etwas Allgemeines sagen zu wollen, nämlich der Mangel an Anschauung. Der Exkurs ist ein Versuch, die konstatierten Widersprüche und Dynamiken staatlicher Herrschaft noch einmal aus einer anderen Perspektive darzustellen. Dazu dient der hermeneutische Kunstgriff, aus der Sicht des Präsidenten Ugandas, dem man mit Recht eine »realpolitische« Haltung unterstellen darf, die Probleme der Staatsbildung in einem internationalisierten Kontext zu analysieren. Diese Dynamiken staatlicher Herrschaft in drei verschiedenen Feldern werden im Schlußkapitel noch einmal resümiert. Die Befunde über die Dynamik staatlicher Herrschaft, so die zentrale Ergebnisthese der Untersuchung, sind uneindeutig. Der Prozess der Institutionalisierung staatlicher Macht, ilire Umwandlung in Herrschaft, ist in Afrika, Asien und Lateiname~1ka unabgeschlossen. Überall lassen sich Unzulänglichkeiten, Brüche und Prekru:itäten staatlicher Herrschaft· ftnden, und oft löst sich bei näherer Betrachtung die behauptete Herrschaft in bloße Machtbeziehungen auf. Doch daraus kann, wie eine Reilie von Dynamiken zeigen, nicht geschlossen werden, dass das Projekt der Annähetw1g an das Ideal des modernen Staates endgültig gescheitert ist. Diese Befunde machen aber auch deutlich, dass die Politik des Interventionismus un1 das Problem der failed states ebenfalls problematisch ist. Eine kurze
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Analyse der damit zusammenhängenden Probleme leitet den zweiten Teil dieses Schlusskapitels ein, der der Zukunft des Regierens und den diesbezüglichen Lehren dieser Untersuchung gewidmet ist. Ein kurzes Resümee ihrer theoretischen Erträge und Herausforderungen steht am Ende dieses Schlusskapitels. Grundlage für die hier vorgenommenen theoretischen Ausarbeitungen ist ·: die Überzeugung, dass die vorliegenden Theorien Internationaler Beziehungen : wegen ihrer überwiegend ahistorischen und auf westliche Verhältnisse fixierten ! Orientierung für die Erklärung der Dynamik staatlicher Herrschaft ebenso ~ungeeignet sind, wie staatstheoretische Konzeptionen, die sich allein auf ent: wickelte moderne Verh.'il.tnisse beziehen und die Internationalität der Prozesse von Herrschaftsbildung nicht thematisieren. Die Theorie globaler Vergesellschaftung soll diese Mängel überwinden, indem sie Brauchbares und Gültiges aufgreift \llm ausarbeitet. Der vorliegende Entwurf will zunächst an seiner ~·eigenen Zielsetzung gemessen werden, einen theoretisch zusammenhängen·:. den, empirisch plausibilisierbaren und logisch konsistenten Erklärungsrahmen Uür die Dynamik staatlicher Herrschaft in der Dritten Welt formuliert zu ha.f;ben. Gleichwohllassen sich einige weitere Kriterien nennen, die für die theoretische Arbeit gelten. Dazu zählt erstens die Frage nach der Reichweite der empirischen Plausibilisierbarkeit. Jeder theoretische Beitrag tritt in dieser Hinsicht in Konkurrenz zu seinen Alternativen. Er muss das verfügbare Material in seiner 1beoriesprache plausibel interpretieren können, und diese Plausibilisierungen müssen gegenüber anderen in Reichweite und in theoretischem Ertrag überlegen sein. Zweitens gilt das Kriterium des theoretischen Zusammenhangs. Nicht allein die erklärende Kraft einzelner allgemeiner Sätze, sondern auch der logische und systematische Zusammenhang dieser Sätze ist ein Kriterium der Qualität theoretischer Beiträge. Zwar muss dieser innere Zusammenhang nicht die F01m einer rigiden Hierarchie annehmen, er sollte aber die Unterscheidung verschiedener Angerneinheitsgrade und die Erkennung von Vorrangigkeiten erlauben. Annahmen über die Existenz großer geschichtlicher Prozesse sind etwas anderes als Aussagen über die politische Rolle des Militärs in bestimmten Weltgegenden zu bestimmten historischen Zeiten. Schließlich ist die Frage des äußeren Zusammenhangs, der Anschlussfahigkeit an bewährte theoretische Bestände ein weiteres Kriterium der.Kritik theoretischer Beiträge. Theorien gleicher Erklärungskraft bzw. gleicher Reichweite der Plausibilisierbarkeit lassen sich danach wertmäßig unterscheiden, ob sie Vokabular und Konstruktionsweise an etablierte theoretische Bestände anknüpfen können und in welchem Maße dies der Fall ist.
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EINLEITUNG
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Die Gepflogenheiten moderner Wissenschaft machen es üblich, die Wahl des Materials wissenschaftlicher Betrachtungen und Analysen offen zu legen und zu begründen. Für den Fall dieser Arbeit ist das kein einfaches Unterfangen. Zu vielfältig, zu lückenhaft und gelegentlich zu erratisch sind die Materialien, die in diese Arbeit Eingang gefunden haben. 3 Themenspezifische Literatur ist besonders in die Kapitel 3 bis 5 behandelten Aspekten der Staatlichkeit in der Dritten Welt eingeflossen. Dabei sind vorrangig allgemeine, zusammenfassende Darstellungen berücksichtigt worden, Einzelstudien nur in einer n.icht systematisch begründeten Auswahl. Die Einarbeitung aller fallspezifischen Befunde für über 150 Staaten durch eine Einzelperson ist heute nicht mehr zu leisten. Ergebnisse eigener Feldforschungen sind direkt nur in den Exkurs eingeflossen. Sie bilden darüber hinaus aber auch eine kontinuierlich mitbetrachtete Kontrollmasse bei der Behandlung allgemeiner Aspekte. Durch das Material haben sich allerdings auch einige Beschränkungen ergeben. So hätten die theoretischen Ausarbeitungen eigentlich eine Analyse der Verwaltung in den untersuchten Staaten erforderlich gemacht. Die Suche nach einschlägiger, soziologisch auskunftsreicher Literatur verlief indes ausgesprochen fruchtlos. Hier wie in vielen anderen Feldern bleibt das Wesentliche noch zu leisten.
3 Unterblieben ist in dieser Arbeit vor allem eine eingehende Auseinandersetzung mit den Strukturen und Entwicklungen in der VR China, die vom Umfang der zur Kenntnis genommenen Literatur nahezu unberücksichtigt ist. Sie ist folglich nur mit Abstrichen unter die 'Thesen der Kapitel 3 bis 6 zu subsumieren.
1. Iscientific community< auf außerwissenschaftliche sozioökonornische und/oder soziapolitische Krisenerscheinungen der eigenen Gesellschaft und des internationalen Systems« (Meyers 1993: 54). Soziale und politische Vet-änderungen setzen sich nicht einfach in Theorie um, denn die geistige Bearbeitung des Weltgeschehens ist selbst reflexiv und hat ihre eigenen Gesetze. Die Entwicklung der Theorie ist offenbar weder eindeutig noch rein rational. l\1it deimethodischen Umorientierung in der Disziplin ging jedoch nur ein begrenzter Wandel der Auffassung des Gegenstandes einher. Insbesondere in der OS-amerikanischen Theoriegeschichte lässt sich eine breite Kontinuität der gegenstandskonstituierenden Auffassungen konstatieren: Thema der Internationalen Beziehungen war und blieb bis in die 1990erJahre das Verhältnis zwischen Staaten, die, als ttnits gefasst, selbst nicht Gegenstand eingehender Analyse wurden. Als Aufgabe der Disziplin wurde es allgemein angesehen, auf der Grundlage differierender Rationalitätsbegriffe Strategien und Handlw1gsoptionen staatlicher Akteure in unterschiedlichen Situarionslogiken bezogen auf unterschiedliche Problemlagen herauszuarbeitenP Diesem Ziel blieb die deutliche Mehrheit der Wissenschaftsgemeinde der Internationalen Beziehungen verpflichtet, ohne dass die damit verbundenen politischen und sozialen Bedingtheiten dieser Unternehmung diskuriert oder gar durch eine plurale Orientierung ausbalanciert worden wären. Bis in die jüngere Vergangenheit hinein ist das Verhältnis zwischen der Entwicklung des Faches Internationale Beziehungen und staatlicher Politik ungemein eng, wie sich nicht nur an den Inhalten, den Themen und Fragestellungen, ablesen lässt, sondern auch an der Methodik. Inhaltlich bilden die Fragen der Sicherheit der Einzelstaaten, vor allem der westlichen Welt, den n
l\Ian muss sich nicht der Charakterisierung wenigstens der deutschen aktuellen Politikwissenschaft als »Betriebswirtschaftslehre politischer Regime« (Greven 1999: 110) :mschließen, um zu erkennen, dass die Internationalen Be2iehungen zu weiten Teilen einfach »Staatswissenschaft« und damit Teil der staatlichen Projekts sind, der aktuellen gouvemementaliti im Sinne Foucaults, (s.u., Kap. 2.1).
KRITIK DER !NTERNA1'IONALEN BEZIEHUNGEN
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Hauptgegenstand der Disziplin. In methodischer Hinsicht zeigt sich dies im szientifischen Ideal der Forschung als Korrelat des sozialtechnologischen Staats, für den Wissenschaft eine notwendige Grundlage seines auf Steuemng ausgelegten Selbstverständnisses und Betriebes ist. Wiederum nicht frei von außerhalb der Disziplin wirkenden Veränderungen und Dominanzen hat sich in den Internationale Beziel1ungen ein Wissenschaftsideal-etabliert, das sich an naturwissenschaftlichen Konzeptionen orientiert.l4 Kennzeichen dieser Grundhaltung sind das Bekenntnis zum Vorrang der formalen Logik, die Annahme einer beobachtungsunabhängigen Realität, die Ausrichtung an einem deduktiv-nomologischen Erklärungsbegriff und die Zielsetzung einer Theoriebildung im Sinne einer systematischen Sammlung allgemeiner Gesetze. Diese gleichsam offizielle Orientierung steht jedoch in offenem Kontrast zum tatsächlichen wissenschaftlichen Geschehen in der Disziplin. Dies gilt für alle genannten Eckpunkte des positivistischen WlSsenschaftsideals. Weder dient die Sprache der formalen Logik faktisch als Korrektiv der Verknüpfung von Aussagen innerhalb der theoretischen Konstruktionen der Disziplin, noch zeichnet sich die Disziplin durch große Bemühungen der Quellenkritik aus, um eine distanzierte und reflektierte Beziehung zu ihren Gegenständen aufzubauen. Auch ist die Zahl der »Gesetze«, die deduktiv-nomologischen Erklärungen dienen könnten, in den Internationalen Beziehungen ausgespt"Ochen gering. Die theoretische Entwicklung folgt insgesamt keineswegs einer kohärenten, strikt an der Untersuchung des Gegenstands orientierten und kumulativ arbeitenden Forschung. Viehnehr konturiert, wie sich an allen theoretischen Debatten der Internationalen Beziehungen der letzten Dekaden nachweisen lässt, eine Reihe von außerwissenschaftlichen Einflüssen und theoretischen Bewegungen in Nachbardisziplinen die Linien und Themen der theoretischen Diskussion der Internationalen Beziehung~n. In den gängigen Strömungen der Internationalen Beziehw1gen sind dagegen Grundeinsteilungen erhalten geblieben, die nur teilweise explizit werden. Der Gegenstand der Disziplin wird nach wie vor als »ßeziehungslehre von Staaten« aufgefasst, deren Geschichte in der Regel keine Bedeutung beigemessen wird. Der Sonderfall des westlichen 11ation-state ist darin zum Allgemeinmodell der Analyse geworden. Die Akteure des aus staatlichen Verbänden und 14 Entsprechende Charakterisierungen der wissenschaftstheotetischen Grundlagen der Internationalen Beziehungen oder der Politikwissenschaft allgemein fmden sich etwa bei Züm (1992), King/Keohane/Verba (1994) oder bei Scharpf (2000). Die Orientierungen wld die Kritik dara.11 haben sich seit dem Positivismusstreit in der deutschen Soziologie offenbar nicht verändert vgl. Adon10 (1987) und, bezogen auf die jüngeren Entwicklungen in den Internationalen Beziehungen, Smith (1996).
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ihren organisierten Untereinheiten konstituierten internationalen Systems handeln, so die gängige Auffassung, gemäß einer utilitaristischen Rationalität. 15 Aufgabe der Theorie ist es dieser dominanten Vorstellung zufolge, gesetzesälmliche Aussagen über die Interaktionen zwischen diesen Akteuren zu generieren und am empirischen Material zu »prüfen«. Ein Ort der Kritik wird in diesen Darlegungen des wissenschaftlichen Selbstverständnisses nicht mehr angegeben. In den 1970er und frühen 1980er Jahren bleibt der Konsens weitgehend erhalten. In der Diskussion zwischen Neorealisten und Neoliberalen, die sich um die Möglichkeit von Integration und Kooperation zwischen Staaten dreht, zeigen sich dieselben hergebrachten Gnmdelemente: die Verwendung einfacher Rationalitätsmodelle (vgl. Keohane 1984) und eine positivistische Methodologie und Staatszentriertheit (vgl. Smith 1995:23). Erst in den 1980er Jahren häufte sich die Kritik an dieser Dominanz- die Soziologisierung der Internationalen Beziehungen begann. Neue Gegenstände und neue Positionen dieser Soziologisierung haben sich als »dritte Theoriedebatte« bemerkbar gemacht. Im deutschen Sprachraum als die Kontroverse zwischen »konstruktivistischen« und traditionellen Ansätzen charakterisiert, gilt die Debatte im englischsprachigen Raum als die zwischen traditionellen und »post-positivistischen« Positionen (Lapid 1989). Insgesamt verbirgt sich hinter der Vielzahl der Charakterisierungen das Aufkommen von Positionen, die unter Selbstkennzeichnungen wie »kritisch«, »post-strukturalistischkonstruktivistisch« fit:mieren, und die eine grundlegende Kritik der hergebrachten Fassung der Theorien intetnationaler Beziehungen versuchen. Aus der Kritik der das Fach dominierenden positivistischen Position ist zwar noch kein einheitlicher Gegenentwurf im Sinne einer positiven Theorie hervorgegangen. Die Orientierungen unterscheiden sich stark in ihren erkenntnistheoretischen Grundhaltungen ebenso wie in ihren bevorzugten Themenstellungen und methodischen Orientierungen (vgl. Smith 1996). Die neuen Beiträge teilen aber das Bemühen, eine andere, diesmal gesellschaftstheoretische Grundlage der Internationalen Beziehungen zu finden. Durchweg fmden neuere, theoretisch innovative Beiträge ihren Ausgangspunkt in det Kritik der vermeintlichen Gewissheiten der Disziplin. Zu ihren 'Themen gehören die Konstruktion von Realitäten und Identitäten in der Außenpolitik (Campbell 1992), die Genealogie von Grundbegriffen wie Staatlichkeit (Devetak 1995) und Souveränität (Bartelson 1995) oder der gender-biasvon
I:; In der Konzeptionalisierung von Akteuren entlang der utilitaristischen Anthropologie treffen sich sich sonst so Wlterschiedlichen Positionen wie die von Waltz (1993), Züm (1992), Scharpf (.2000: 74, I 10-122) oder Keohane (1984:8).
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'Themen und Fragen der Internationalen Beziehungen (Sylvester 1994) und die Rolle transnationaler Akteure (Risse 1995, 2002). Vereinzelt fmden sich auch Bezüge oder bewusste Positionierungen zur ))Frankfurter Schule«, mit der die dort schon früher geleistete Kritik des Positivismus, etwa die Kritik der Korrespondenztheorie der Wahrheit, der Idee der Einheitswissenschaft und des Postulats der Wertfreiheit, ebenso geteilt wird wie das »Interesse an Emanzipation«.16 Die »postmodernen« Beiträge zur Theoriediskussion der Internationalen Beziehungen lassen sich drei Feldern zuordnen (vgl. Albert 1994). Neben von der Foucaultschen Genealogie inspirierten Arbeiten, die sich vor allem der Kritik des Neorealismus widmen, sind dies poststrukturalistische Beiträge, die semiotische Elemente einführen, und schließlich solche, die sich im Gefolge der Arbeiten von Jean Beaudrillard und Paul Virilio mit Simulationen und Inszenierungen der internationalen Politik beschäftigen. Alle diese Beiträge zeichnen sich durch ihre kritische Haltung gegenüber der Standardversion d~r Internationalen Beziehungen aus: Sie versuchen entweder die Konstruktionsprinzipien der gedachten Ordnung der lnten1ationale Beziehungen offen zu legen, oder aber sie stellen der Selbstbeschreibung des Politischen, die in vielen Beiträgen der Internationale Beziehw1gen durchscheint, eine andere Beschreibung, eine andere Ontologie gegenüber. Wenn auch nicht alle diese Versuche überzeugen, so zeugt die mittlerweile erlangte Breite der Diskussion doch von einer allgemeinen Unzufriedenheit mit der Standardauffassung des Fachs. Dennoch ist aus den Beiträgen, die sich an den Referenzautoren des Poststrukturalismus orientieren, kein Programm geworden, teils, weil dies nicht intendiert wurde, teils vielleicht auch, weil die Strömung insgesamt zu schwach ist, um die Ressourcenflüsse auszubilden, die nötig sind, um sich zu einer solchen Programmbildung zu sedimentieren (vgl. Ruggie 1998, Finnemore/ Sikking 2001 ). So hat zwar innerhalb der Internationalen Beziehungen eine selbstreflexive Bewegung eingesetzt. Doch die jüngeren theoretischen Beiträge haben die alten Orientierungen noch nicht durch alternative Entwürfe ersetzt. Zudem hat die theoretische Unruhe nur Randbereiche der Disziplin ergriffen, eine wirkliche theoretische Umwälzw1g hat in den Internationalen Beziehungen nicht stattgefunden.
16 Dabei wird indes nie zwischen der älteren Kritischen Theorie und der von Jürgen Habennas vollzogenen kommunikationstheoretischen Wende unterschieden - typisch hier etwa Neufeld (1995). Bislang ist aber keine auf einen konkreten Gegenstand bezogene »Anwendung« der älteren Denkrichtung in den Internationale Beziehungen entstanden. Die Beiträge dieser Richtung beschränken sich auf so genannte metatheoretische Punkte der Theoriedis!,:ussion.
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An diese Kritiken kann hier dennoch angeknüpft werden. Die Themen dieser Diskussion - die Ontologie des Sozialen als Grundlage der Politik, das Problem des Verstehens sowie Begriffe von Rationalität - sind sämtlich Punkte von Debatten, die in der Sozialtheorie bereits früher ausgetragen wurden. Erinnert sei nur an die Methodenstreits der deutschen Geschichtswissenschaft und der frühen Soziologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder den Positivismusstreit (Adorno et al. 1987) in der deutschen Soziologie. Eine DistanzienJng der dominanten Positionen kann also auf ältere wieneuere theoretische Diskussionen und Einsichten aufbauen. Sie muss zugleich nicht in postmoderne Progranunverweigerung münden. Der Begriff der Theorie wäre seines modernen Sinns entkleidet, wenn damit die Ansprüche auf Systematik und auf Referenz auf Nicht-Theoretisches aufgegeben würden. So ist der Begriff der Theorie der Gesellschaft mit dem Ziel verbunden, soziale Phänomene in ihrem systematischen - aber auch vermittelbaren - Zusammenhang darzustellen. Die Negierung der Zusammenhänge und der Verzicht auf positive Konstruktion verstärkt nur die ohnehin überwiegende Tendenz der Vereinzelung der Forschung und der Segmentierung der Theorie. Eine synthetisierende Theorie wie die Theorie globaler Vergesellschaftung setzt positive Formulierungen voraus, sie kann sich nicht auf negative Bestimmungen beschränken.
1.2 Ausgangpunkte einer Theorie globaler Vergesellschaftung Über den realen Anfang der Wissenschaft von den Internationale Beziehungen weiß man, dass er stattfand, als aus internationalen Beziehungen globale wurden (Krippendotff 1987: 25). Globalität und Interdependenz erzwangen das Denken in internationalen Zusammenhängen seit dem Beginn der europäischen Expansion. Aus dieser Entwicklung ist die Wissenschaft der Internationalen Beziehungen historisch het-vorgegangen, darin hat sie ihren realen Anfang. Damit ist indes das logische Anfangsproblem noch nicht überwunden, die Frage nämlich, worin eine Theorie ihren Anfang nehmen soll, wenn ihr Gegenstand sich als historisch erweist. Dieses Problem lässt sich auch radikal formulieren: Kann eine Theorie der Internationalen Beziehungen mehr sein als ihre Geschichte? Diese Frage lässt sich auch auf die Gegenwart bezogen reformulieren. Denn wenn das Vergangene in der Politik lebendig ist, dann gilt dies auch für das Gesellschaftliche. Geschichte und Gesellschaft umgreifen und durchdringen das Politische. Der Anfang einer Theorie der Weltpolitik
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kann also nur in einem historisch infonnierten Begriff der Weltgesellschaft liegen.
1.2.1 Die Geschichtlichkeit der Politik in der Weltgesellschaft Bis heute beschränkt sich die Thematisierung der Geschichte innerhalb der Internationalen Beziehungen meist auf den Gebrauch historischer Ereignisse und des historischen Wandels als Beispielmasse fiir die IDustration von lbeorien, die die Historizität des Gegenstandes selbst nicht theoretisch berücksichtigenP Auch aus der Geschichtswissenschaft, die das Problem der Historizität seit jeher theoretisch bewegt, liegen bisher nur wenige Beiträge vor, die sich dem Gegenstand der Internationalen Beziehungen unter diesem Gesichtspunkt in theoretischer Absicht widmen. 18 Historiker sind überwiegend an einer dem Realismus nahe kommenden Theorie orientiert. So fehlt den meisten Darstellungen der Geschichte des internationalen Systems ein theoretischer Bezugsrahmen, der über die Zyklizität von Mächten hinausginge. 19 Die vergessene Geschichtlichkeil der internationalen Beziehungen und die theoretische Vernachlässigung gesellschaftlicher Prozesse ist auch ein Gt"Und dafiir, dass die etablierten Theorien internationaler Beziehungen an Überzeugungskraft verloren haben und neue theoretische Richtungen in den vergangenen Jahren einen großen Aufschwung erlebt haben (vgl. Gaddis 1992). Unter der Sammelbezeichnung »Konstruktivismus« entwickeln sich theoretische Ansätze, von denen viele historischen Wandel im internationalen System mit in den Blick nehmen. 20 So begrüßenswert diese Ansätze sind, so bieten sie doch noch keine hinreichende Antwort auf die Frage nach der Geschichtlichkeit des Gegenstandes. Denn die für den Gegenstand der Internationalen Beziehungen als Wissenschaft eigentlich konstitutiven Fragen, nämlich die nach den Ursprüngen und Wandlungen des internationalen Systems, nach den Veränderungen des Verhältnisses zwischen ökonomischen, politischen und kulturellen Strukturen, sind aus diesen theoretischen Perspektiven bisher nicht behandelt worden~ In den Internationalen Beziehungen wie in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen dominiert der »Rückzug auf die Gegenwart«
17 Dns gilt für die Werke, die sich aus realistischer Sicht mit dem Wechselspiel der »großen Mächte« beschäftigen (vgl. z.B. I<ennedy 1987), aber auch fl.ir reflektiertere Positionen, die sich mit strukturellem Wandel im intemationalen System beschäftigen, vgl. Buzan/Little (2001), Little (1994) und Wendt (1999). 18 Diese DisJ..:ussion hat jedoch begonnen, vgl. Osterhammel (2003) und Conze et al. (2004). 19 Das gilt etwa für I<ennedy (1987) ebenso wie für Kleinschmidt (1998). 20 Vgl. die Übersichtsartikel vonJachtenfuchs (1995) und Adler (1997, 2002).
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(Elias 1983b). Die Gnmdfrage, wie die Geschichtlichkeit des Gegenstands der Internationalen Beziehungen theoretisch angemessen zu berücksichtigen sei, ist damit nach wie vor offen. Idee, Aufgabe und Inhalt einer Theorie der Internationalen Beziehungen, die der Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes gerecht würde, lassen sich wenigstens umreißen. Zunächst würde die Anerkennung der Geschichdichkeit des Gegenstandes nicht bedeuten, dass die Einheit des Gegenstandes in eine . Vielzahl von unverbundenen Geschichten zu zerlegen wäre. Die Vorstellung von einer Vollständigkeit der Erklärung der Genese und des Funktionszusammenhanges des internationalen Systems muss vielmehr eine regulative Idee bleiben, um diese Einheit zu gewährleisten. Ohne diese Vorstellung zerfiele der Gegenstand >>in ein planloses Aggregat menschlicher Handlungen« (Kant 1784/1973: 18). Die Idee der Einheit des Gegenstandes ist auch ein notwendiges Regulativ um den Gegenstand vor der fachwissenschaftliehen Zerfaserung zu retten, denn ohne das akkumulierte Wissen der Geschichtswissenschaft und den begrifflichen Reichtum der Soziologie ist eine Analyse der historischen Konstitution von Herrschaft im internationalen System nicht möglich. Eine historisch orientierte Wissenschaft der internationalen Beziehungen hätte weder die Aufgabe, das Ganze der Geschichte resdas zu ergründen, noch historische Differenzierungen im Interesse einer glatten Darstellung einzuebnen oder aber in eine Sammlung unendlicher Verschiedenheiten aufzulösen. Ihr nächstes Ziel wäre vielmehr, Globalität und Staatlichkeit in ihrer Entwicklung zu rekonstruieren und damit die wesentlichsten Etappen und Fmmen des Wandels politischer Organisation begrifflich differenziert zu fassen. So wenig dies ohne Verbindung zu den aus geschichdicher Forschung geronnenen Sozialtheorien möglich sein dürfte, so unverzichtbar wird dafür der Blick in das Innere der zu geschlossenen Einheiten verdinglichten Staaten und Gesellschaften sein, denn Staat und internationales System stehen in einem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis und beide sind in den Kontext breiterer sozialer Entwicklungen eingebettet. Die Genese und die konstituierenden Zusammenhänge des internationalen Systems in konkreten Analysen auseinanderzulegen, wäre der vordringliche Inhalt einer historisch orientierten Forschung in den Internationalen Beziehungen. Sie müsste von allgemeinen Begriffen hinabsteigen in die Untersuchung konkreter Zusammenhänge und Entwicklungen und bereichert um diese aus Konkretionen gewonnenen Einsichten zur Synthese theoretischer Aussagen zurückkehren, die sich dann weder im Banalen erschöpfen würde, noch mit Begriffen ungewissen Inhalts operierte. An einzelnen Gegenständen wie den Prozessen der frühen Institutionalisierung zwischenstaadicher Beziehungen, der Genese und semantischen Bewegung zentraler politischer Termini
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oder der Intemationalisierung von Herrschaftszusanunenhängen in lokalen Vettnittlungen lassen sich Ungleichzeitigkeiten, funktionale Zusanunenhänge und die Genese von widersprüchlichen Geltungen samt ihrer konfliktiven Bedeutung rekonstruieren. Der Gewinn einer historischen Perspektive erschöpfte sich nicht in der größeren Trennschärfe der Einsichten und in einer größeren Differenziertheit der Begriffe. Ihr Gewinn wäre es auch, zu ermöglichen, dass Epochen und Geltungsräume von theoretisch formulierten Zusanunenhängen bestimmt und abgegrenzt werden könnten. Eine Theorie der internationalen Beziehungen? die die Historizität ihres Gegenstandes etnst nimmt, braucht folglich nicht in einen undifferenzierten H~lismus zu münden. Die Analyse der Zusanunenhänge zwischen staatlicher Verfasstheit und den formenden Kräften und Konstellationen des internationalen Systems würde in die Bestinunung der Entstehungs- und Geltungszusanunenhänge des Vokabulars seiner Bescht-eibung münden. Dass dies auch den Geltungsbereich allgemeiner theoretischer Aussagen einschränken wfu:de, muss nicht als Verlust empfunden werden. Mit einer bloßen Chronologie der internationalen Beziehungen oder einer bloßen Erzählung des Geschehenen wäre es folglich nicht getan. Die chronologische Reihung von Ereignissen ruht nicht auf einer theoretischen Position auf, sondern hat bloß den Formalismus der gleichen Einheiten übemonunen (vgl. Kaselleck 2000: 306ff} Ebenso wenig kann eine Erzählung, die ihre leitenden Konstruktionsprinzipien theoretisch nicht begründet, als angemessener Umgang mit der Geschichtlichkeit des Gegenstandes angesehen werden. Eine theoretisch reflektierte Form muss Kriterien für die Beurteilung von Dauer und Wandel, für Kontinuität und Umbruch entwickeln, um die Mannigfaltigkeit der Empirie ordnen zu können. Die Theorie globaler Vergesellschaftung beansprucht, für eine angemessene Betiicksichtigung der Geschichtlichkeit des Gegenstandes der Internationalen Beziehungen hinreichende Voraussetzungen zu bieten. Die Grundelemente dieser theoretischen Konzeptionierung lassen sich folgendetmaßen umreißen: Erstens lässt die Geschichtlichkeit des Gegenstands der Internationalen Beziehungen sich in der Auffassung der U'7e/tge.rellscbaft alr Prozess begt-ünden. Dieser Prozess besteht vor allem im globalen Ausgreifen der Formen bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftungsformen über ihren Entstehungskontext hinaus. Die erste dieser Einheiten, die sich in unterschiedlichem Tempo und in jeweils unterschiedlicher Form hergestellt haben, ist der Weltmarkt. Es war die Zirkulation von Gütern, über die sich Weltgesellschaft zuerst verwirklicht hat. Die Zusammenführung von Produktionen und Diensten ·ist demgegenüber eine jüngere Erscheinung. Sie ist gegenwärtig noch nicht abgeschlossen, son-
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dern bildet den Haupthintergrund der Debatten, die gegenwärtig unter dem Schlagwort der ))Globalisierung« geführt werden. Die Epochen des Imperialismus und Kolonialismus haben dieser Einheit auch eine politische Prägung gegeben. Der Export des europäischen Staatsmodells ist der wichtigste Vektor politischer Weltordnung. Mit den Verbindungen des Weltmarkts und über die politischen Projekte ging der Zusammenschluss auch der symbolischen Welten einher. Das Hauptresultat dieser Prozesse ist die Verbindung der zuvor getrennten oder nur lose verbundenen sozialen Räume zu einem globalen Zusammenhang. Dabei sind die Zeitpunkte und Temporalitäten dieser Verbindungen nicht in allen Zonen der Weltgesellschaft einheitlich. Zweitens ist das in dieser Theorie hervorgehobene Kernmerkmal der Gleichifiligkeit des Ungleichifiligen zugleich ein wichtiges heuristisches Prinzip seiner Analyse. Denn der Zusammenschluss des zuvor nur lose verknüpften Geschehens äußert sich in vielf.iltigen Überlagerungen und widerstreitenden Geltungen. Diese fmden sich in den sozialen, politischen und ökonomischen Formen ebenso wieder wie in Habitus und Mentalitäten der Akteure.21 Eine Hauptaufgabe ist daher die Aufdeckung und Entschlüsselung der Gemengelagen, die sich aus der Überlagerung historischer Schichten ergibt. Drittens erlaubt es die Theorie globaler Vergesellschaftung, Epochen mit unterschiedlichen Logiken abzugrenzen. Solche Abgrenzungen haben immer idealtypischen Charakter. Sie reduzieren unterschiedliche soziale und politische Wirkungszusammenhängen und unterschiedliche Diskurse, indem sie Fomiationen unterscheidet, die sich nach ihren Funktionsprinzipien differenzieren lassen. Viertens hat die Geschichtlichkeit des Gegenstandes auch Konsequenzen für das Vokabular der Analyse und Beschreibung. Die Bedeutung von Begriffen wandelt sich mit historischen Zeiten. Solche semantischen Verschiebungen müssen im theoretischen Gebrauch mitreflektiert werden. Die Trennung von Epochen und die Analyse der Bedeutungswelten und der unterschiedlichen sozialen Logiken ermöglichen es, die Grenzen der Geltung und Verwendung von Begtiffen offen zu legen. Voraussetzung für das Erkennen dieser Grenzen ist jedoch die Kenntnis der übergreifenden Zusammenhänge, die sich nur aus
21 Die erste Berücksichtigung des sozialen G1'U11dsachverhalts der »Gleichzeitigkeit des UngleichzeitigenER WELTGESELLSCHAfT
nämlich der Staaten.23 Hier wird ein weitergehender Standpunkt vertreten: Politisches Geschehen ist soziales Geschehen. Weil Politik im sozialen Raum abläuft, weil politische Akteure zunächst soziale Akteure sind und weil politische Strukturen, in denen dieses Handeln geschieht, vor allem sozial bestimmt sind, ist das Politische dem Sozialen nachgeordnet. Zwar wirkt politisches Handeln auf das Gesellschaftliche zurück, aber die entscheidenden konstituierenden Verhältnisse des Politischen sind, je geringer die lnstitutionalisierung von Macht in eine Organisation staatlicher Herrschaft gelungen ist, um so stärker von sozialen Bedingungen, Institutionen und Verhaltensmustern geprägt. Aber auch in entwickelten bürgerlich-kapitalistischen Verhältnissen sind die Sinnbezüge und Strukturen des Politischen und des Sozialen unauflöslich ineinander verwoben. Eine Wissenschaft des Politischen, die sich nicht von vornherein auf den Standpunkt des Staates stellen will, muss die soziale Konstituierung des Politischen allgemein in den Blick nehmen, von der der Staat immer nur ein Teil ist. 24 Die Trennung von Staat und Gesellschaft, die dem gängigen Verständnis des Politischen als Dichotomie zugrunde liegt, ist daher nur eine mögliche, aber noch nicht für alle Verhältnisse zureichende analytische Unterscheidung. Weitere begriffliche Differenzen sind notwendig, um das Politische im Sozialen und das Soziale im Politischen aufzufinden. Das gilt auch für hochgradig differenzierte Verhältnisse. Der moderne Staat und die moderne Gesellschaft sind zugleich auch dadurch gekennzeichnet, dass der Prozess der Verstaatlichung der Gesellschaft und der der Vergesellschaftung des Staates weit fortgeschritten sind. Es gibt in modernen Verhältnissen keinen Bereich der Lebens23 Liberale A'nsät2e etwa betonen den Einfluss von sozialen Gruppen und Verbänden auf die Prozesse der internationalen Politik zwischen Staaten (Moravcsik 1992). Für eine formale, auf di~: Logik der Verhandlungen zwischen Staaten konzentrierte Richtung der Internationale Beziehungen resultiert daraus das Problem der »Politik auf zwei Ebt.~1en·· Die Entpersonalisierung der Geltungsgründe politischer Herrschaft geht ~udem einher mit der Entstehung und allgemeinen Verbreitung des modernen ·Beamtmt11ms (vgl. Weber 1920/1985: 551ff.). Aufbau und Verfahrensregeln des Verwaltungsstabes unterscheiden sich im rationalen Staat radikal von früheren Formen. Die Herausbildung des Betriebscharakters der Behörden bedeutet vor allem eine Zunahme von formal rationalen Zusanunenhängen. Für sie ist kennzeichnend, dass es sich um Vorgänge handelt, bei denen »Handlungen
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47 Hier zeigt sich die Parallele der Entwid
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Die besonderen Eigenschaften der Gewalt als Machtmittel machen eine Einhegung ihres Gebrauchs für jede Herrschaft notwendig. Ob in der Form der Blutrache, in der Verregelung von Razzien oder über große Apparate - alle Formen der Herrschaft sind darauf angewiesen, Gewaltdynamiken w1ter Kontrolle zu bringen, um Organisation aufzubauen. In der Geschichte des europäischen Staates ist die Antwort auf dieses Problem die Monopolisierung des Gewaltgebrauchs durch den Staat gewesen. Die Dauerhaftigkeit staatlicher Herrschaft ist auf die Stabilität dieser Funktion rückfi.ihrbar. Dabei zeigen sich in der staatlichen Fotm der Verregelung der Gewalt zwei grundlegende Vorgänge, nämlich zum einen die Befriedung der »Gesellschaft« als das Objekt des Staates, und zum andem die Disziplinierung derselben Gesellschaft im Sinne der dauerhaften Einübung von Verhaltensmustern, die die Ausübung und Innehabung des Gewaltmonopols routinisieren. Beide Vorgänge sind, wie an Elias' und Foucaults Analysen erkennbar wit-d, untrennbar miteinander verknüpft. Beide Seiten zeigen sich auch in dem allgemeinen Muster aller Lösungen der Gewaltproblematik durch Herrschaft. Immer ist es ein Apparat, ein abgesonderter Personenkreis, in dessen Zuständigkeit die Ausübung der Herrschaftsgewalt fällt. Die Gewaltapparate entwickeln regelmäßig eine eigene Lebenswelt, sie erhalten im sozialen Feld der Heuschaft eine Sonderstellung und sind durch besondere Grenzen vom sonstigen sozialen Raum geschieden. Die Gewaltspezialisten unterliegen einer besonderen Disziplinierung, üben aber zugleich disziplinierende Funktionen aus. Die hier nur kurz zusammenfassend behandelten theoretischen Beiträge. heben bezogen auf die Frage nach den Wegen der Institutionalisierung vofi..1 Macht auf die Bede1111111g langfristiger Wandlung.rprozesse ab. Unter den Stichworten wie Rationalisierung, Bürokratisierung, Individualisierung usf. werden die prägenden Wirkungen langfristiger Strukturveränderungen für den Bereich politi- • scher Herrschaft thematisiert. Auch die Dynamik staatlicher Herrschaft ist also eingebettet in größere Zusammenhänge. Sie ist in der europäischen Geschichte Teil der Entstehung der modernen kapitalistischen Gesellschaft, deren Gesamtzusammenhang durch Staatswerdw1ge.t1 in einzelne, institutionell geschiedene politische Räume geteilt wird. Die Staatsbildung in Europa ist folglich ein Teilprozess der Entstehung des modemen Kapitalismus. An verschiedenen Stellen zeigen sich die kausalen Zusammenhänge und gegenseitigen Bedingtheiteil dieser Einbettung. Während der Zerfall der mittelalterlichen Ordnw1g etwa die Voraussetzung zur Ausbildung zentralstaatlicher Herrschaft schuf, und während allein über den Bedarf der neuen politischen Verbände über den Merkantilismus w1d spätere Formen der »Wirtschaftspolitik(< zu einer Rückwirkung der politischen Gestalt auf die
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Formen des Wirtschaftens und der sozialen Organisation insgesamt führte, lässt sich in anderen Fällen eine Gleichgerichtetheit des strukturellen Wandels erkennen, ohne dass kausal eindeutige Zurechnungen möglich wären. Die Ausformung der Bürokratie und des Betriebscharakters etwa sind solche Entwicklungen, die sich gleichzeitig auf verschiedenen Feldern vollzogen, ohne dass sich dabei ein wirkendes Zentrum bestimmen ließe. Ein ähnlich übergreifender Charakter ist der Individualisierung zuzuschreiben, die sich einerseits als Resultat von Regierungstechniken auffassen lässt, andererseits aber ein notwendiges Moment des Vordringens bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung ist. Das reflexive Subjekt ist einerseits geformt durch institutionalisierte Praktiken, die es zum Staatsbürger, zum Rechtsträger, zum Schüler und zum Soldaten machen, andererseits aber auch heraus getrieben aus alten Sozialverbänden, deren Reproduktionseinheit durch kapitalistische Inwertsetzung aufgelöst wurden. \.' · Teil dieser strukturellen Wandlungsprozesse ist die Dtfferm~m~ng von Htmdlrmgsjeldern, die zwar auch den Staat, diesen jedoch nicht allein betreffen. Das i\useinandertreten von »Politik« und »Wirtschaft« oder »Ökonomie« tritt bei Weber und Bourdieu jedoch stärker in den Vordergrund als bei Foucault, für den beide integrale Teile desselben Konstitutionsprozesses von Herrschaft sind. Damit behaupten weder Bourdieu noch Weber oder Foucault eine Verselbständigung von Subsystemen, sondern nur ein Auseinandertreten von Handlungsfeldern, das sich vor allem in sprachlichen Formen, in Codes und Praktiken verfestigt. Die neuen Differenzen, wie zwischen »Politik und Wirtschaft«, aber auch zwischen »legal und kriminell« oder »öffentlich und privat« unterscheiden sollen, sind gegenüber den faktisch fortdauernden Zusammenlhängen und gegenseitigen Bedingungen sekundär. Nicht in der Praxis der Akteure, sondern nur der abstrakt behaupteten Geltung nach sind diese Diffe·~enzierungen Teil des Prozesses der Herausbildung staatlicher Herrschaft. Die wirklichen Grenzen bestimmen sich über die Praxis der Herrschaft. Die Tauschmuster unterschiedlicher Kapitalsorten, quasi-patrimoniale Praktiken und das Ineinandergreifen der »Techniken des Selbst« mit den Techniken des Regierens - all dies sind praktische Verschiebungen dessen, was Herrschaft ausmacht, denn sie sind Veränderungen der in ihr verwendeten MachtmitteL Der Übergang von Macht zu Herrschaft und die Dynamik von Herrschaft selbst gehen also offenbar einher mit der Entstehung und Erweiterung von weiteren Differenzen. d) Die Institutionalisierung von Macht zur Herrschaft geht mit der Ent:wicklung von Apparaten einher. Für den Bereich der politischen Herrschaft gehen zudem alle vier Autoren von der Herausbildung eigener Apparate aus, deren Funktionsweise und Bedeutung sie gleich wohl in unterschiedlicher Sprache
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und mit unterschiedlichen Interessen analysieren. Gemeinsam ist ihnen jedoch das Augenmerk für die Ausbildung von Eigenlogiken dieser Apparate. In diesem Prozess verschränken sich unterschiedliche Elemente, nämlich die Ausbildung von berufsständischen Eigenethos, professionellen Habitus, das einfache zweckrationale Interesse an der Fortdauer der Laufbahn und schließlich die Ausbildung übergreifender Projekte der Herrschaft als Gouvemementalitäten, in die sich Handlungen und Funktionslogiken einzdner Elemente des staatlichen Apparates einfügen. Damit ist keineswegs ausgeschlossen, dass die Teile des Apparates untereinander in Wettbewerb treten oder Überschneidungen und Überlappungen von Hierarchien auftreten. Die Ausweitung der Handlungskontexte staatlicher Herrschaft und das bloße Wachstum der staatlichen Apparate machen solche Phänomene sogar wahrscheinlich. e) Ahnliebes gilt für die Ausbildung einer spezifischen S]mbolik der Hen-· schaft. Jede institutionalisierte Macht, die nicht nur für den Augenblick existieren will, sondern auf Dauer ausgerichtet ist, bedarf jenseits der Zwangsgewalt zusätzlicher Bindw1gen an die Objekte der Herrschaft. Auch das materielle oder sonstige Interesse, selbst im Verein mit der »Übereinstimmung« mit der Sitte, ist nach Webers Herrschaftstheorie nicht zureichend, eine entsprechende Bindung het-zustellen. Staatliche wie nichtstaatliche Herrschaft ist darauf angewiesen, eine spezifische Symbolik zu entwickeln, in der die Ansprüche der Herrschaft formuliert und als berechtigt dargestellt werden können. Historisch hat wohl jede konkrete politische Herrschaft dabei zunächst auf andere, vornehmlich religiöse Symbolbestände, Ideen und Vorstellungen zurückgegriffen. Die Symbolik der Herrschaft erschöpft sich jedoch nicht in den drei von Weber unterschiedenen Idealtypen von Legitimität. Im Falle staatlicher Herrschaft umfasst sie ebenso die Ft;lder Recht und Wissen und lässt sich als Ver= staatlichung der Semantik beschreiben. Die Kodifizierung von Regeln W: Recht, die Schaffung von Katastem und Archiven und die simple Schaffung von Begriffen, mit denen Dinge und Verhältnisse bezeichnet werden, si11d Teil dieser neuen Semantik, die den Staat nicht nur als fremde Entität erscheinen lässt, sondern in tief in Alltagspraktiken und die Weisen ihrer Vergegenwärtigung einsenkt. Diese Theoreme und Begriffe sind ein erstes Rüstzeug für die Analyse von Macht und Herrschaft, im und um den Staat. Damit ist ein soziologisches Verständnis des Staates möglich, das sich nicht auf dessen Sdbstbeschreibl.U1g und auch nicht auf verbreitete populäre Vorstellungen stützen muss. Mit den Begrifflichkeiten und analytischen Kategorien, die aus den herrschaftssoziolo: giseben Arbeiten von Weber, Bourdieu, Elias und Foucault gewiJ.lnen lassen, ist es möglich, Prozesse der Machtdynamik und der Institutionalisie111ng von
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Macht zu Herrschaft näher zu beschreiben, ohne sich auf die Sprache des Staates selbst einzulassen. Die Vorstellungen, die mit dem Begriff des Staates gängigerweise verknüpft sind, beziehen sich jedoch nicht auf dieses soziologische Verständnis des Staates. Weder das Selbstbild des Staates noch die populären Redeweisen berufen sich auf soziologische Kategorien. Ihnen liegt vielmehr eine idealisierte Vorstellung des Staates zugrunde, die im Folgenden näher analysiert werden muss. Diese An~lyse ist keine leere Übung, sondern sie ist zugleich Teil der Untersuch1.mg des Gegenstands. Denn das Ideal des modernen Staates, das auf historischen Erfahrungen aufruht und dann für weite Bereiche politischen Handeins leitend geworden ist, hat sich global verallgemeinert. Ganz unabhängig von den konkreten Gestalten, die staatliche Heuschaft annimmt, von den Differenzen in Zuständigkeiten und Aufgabenzuschreibungen von empirischen Staaten, lassen sich die Elemente des Ideals moderner Staatlichkeit in den Äußerungen und Diskursen und fast immer auch in den Praktiken der staatlichen wie nicht-staatlichen Akteure nachweisen. Die begriffsgeschichtliche Analyse dieses Ideals (2.2) ist deshalb Teil der Analyse des Gegenstands. Wie anschließend zu erläutern sein wird (2.3), ist die Spannung dieses Ideals zu den von den Akteuren tatsächlich eingeübten Praktiken die zentrale Dynamik staatlicher Herrschaft in der Dritten Welt. Diese Dynamik ist ein Erbe der Geschichte des Staates in der Dritten Welt, die in diesem Kapitel abschließend resümiert wird (2.4).
2.2 Di~ moderne Staatsidee und ihre Genese Für seine Penon war Se. Erlaucht, der reichsunmittelbare Graf, >lnichts als Paniot«. Aber der Staat besteht nicht nur aus der Krone und dem Volk, dazwischen die Verwaltung, sondern es gibt in ihm außerdem noch eins: den Gedanken, die Moral, die Idee!
RDbertlvlnsi4 Der Mann ohne Eigens•'hajien
Das Bild moderner Staatlichkeit wie auch seine Genese ist nicht homogen. Im Ideal selbst, das hier vereinfachend gezeichnet wird, sind zahllose Widersprüche und Gegensätze eingelagert, weil sich die realen Konflikte um politische Geltungsansprüche in die Welt der Vorstellungen und Theorien hinein verlängern. Die Unschärfe des Staatsbegriffs hat ihre Ursache in dieser Mehrdeutigkeit der realen Verhältnisse.
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Das Problem, dass mit dem Wort Staat höchst Unterschiedliches gemeint sein kann, ist nicht neu. Jede Epoche der deutschen Sprachgeschichte hatte mit dem Wort Staat ihr spezifisches Multivalenzproblem (Weinacht 1968: 241). In den Abspaltwlgen und Entwicklungen der Bedeutungsvarianten spiegeln sich jeweils geschichtliche Wandlungen und ihre interpretatorische Verarbeitung. Über diese allgemeinen, an einzelsprachliche Kontexte gebundenen Wandlungen der Bedeutungen legten sich vor allem nach der Französischen Revolution politisierende Aufladungen des Vokabulars. Sie sind in die Geschichte der einzelsprachlichen Bedeutungszuweisungen der Worte »Staat«, Etat und state eingegangen (Koselleck 1990: 2). Mit den »national« geschiedenctt, durch spezifische historische Erfahrungen und institutionelle Formen unterschiedlich ausgeformten Bedeutwlgen des politischen Vokabulars verschränken sich also politische Ideen und Haltungen, die sich über transnationale Diskurse in Europa herausgebildet haben. Diese Ideen und Haltungen und die theoretischen Versuche, Formen, Gründe und Praktiken politischer Herrschaft auf den Begriff zu bringen, stehen also in einem Verweisungszusammenhang, der sich nicht national eingrenzen lässt. In der folgenden Skizze der wesentlichen Elemente der Idee des modemen Staates kann kein wirklich umfassender Überblick geboten werden. Die Darstellung muss sich auf solche Themen konzentrieren, die für die fortlaufende Diskussion in dieser Arbeit von besonderer Bedeutung sein werden. Methodisch wird dabei versucht, ideengeschichtliche Einsichten mit Erkenntnissen über die reale Entwicklung von Staatlichkeit, vor allem in der europäischen Neuzeit, zu verbinden. Und dieses Verfahren erlaubt die distanzierte Rekonstruktion des Ideals moderner Staatlichkeit. Diese Rekonstruktion ist nötig, weil nur so eine Selbstverständigung über die Entstehungs- und Geltungsbedingungen dieses Ideals möglich ist. Das Ideal moderner Staatlichkeit, das sich in diesem historischen Kontext ausgebreitet hat, hat sich mittlerweile global verallgemeinert. Es dient überall als Maßstab für die Ambitionen der Herrschenden, es ist die leitende Vorstellung für die externen und internen Beobachter, die das »Zurückbleiben Staatliche Herrschaft in der Dritten Welt ist deshalb hybrid, denn die !:Strukturen nachkolonialer Herrschaft bauen eben nicht nur auf das koloniale Erbe auf, sondern auch auf jene älteren politischen und sozialen Traditionen, die weit in die Zeit vor der kolonialen Herrschaft zurückreichen. Die Varianz ~der Resultate dieser historischen Konstellationen ist deshalb beträchtlich. Sie Iunterscheiden sich je nach dem, mit welcher Art von Gesellschaft der Koloni1alismus sich verband und wie lange und intensiv der colonial impact die vorge!fundenen Strukturen umformte. An zwei Beispielen lässt sich das veranschaulichen: r-·'1'\ . , Die britische Eroberung des heutigen ~igerijstieß in den letzten Jahren ~des 19. Jahrhunderts ganz im Norden des GeBietes auf eine hoch entwickelten ,•islamischen Staat, das Kalifat von Sokoto. Statt nun dieses politische Gebilde aufzubrechen, stellte man den lokalen Machthabern britische Berater zur Seite, .. die das Gebiet im Laufe der Jahrzehnte in einen Teil der Kolonie überführten. pie politischen Strukturen wurden so nach ).md nach verformt, aber nicht
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aufgelöst. Entsprechend spielen die traditionellen Herrschaftsformen im Norden Nigerias noch heute eine bedeutsame Rolle. Sie bilden die entscheidenden Strukturen der lokalen Politik. Nicht die zentralstaatliche Bürokratie, sondern die Erben der traditionellen Machthaber beherrschen die Verwaltung der Städte in Nordnigeria (vgl. Kanya-Forstner 1994). Eine militärische Eroberung und Absetzung aller traditionalen Autoritäten in den neuen Kolonien hätte auch die Ressourcen des Britischen Empire schnell erschöpft. Die Integration dieser Strukturen in das System kolonialer Herrschaft war unve1meidbar und musste zur Folge haben, dass ein Großteil der vorkolonialen Strukturen modifiziert bis in die nachkoloi.J,i,ale, unabhängige Staatlichkeit erhalten blieb. Im späteren.:~~dvietn~)iingegen führte die koloniale Unterwerfung zu einer viel tiefer ~~ifende;;:- Umwälzung der sozialen und politischen Verhältnisse. Die Kolonialmacht Frankreich schuf in der Dekade zwischen 1887 und 1897 die Union Indochinoise, zu der auch die Region Cochinchina gehörte .. Die Kolonialmacht unterstützte eine schon ältere Migrationswelle aus dem Norden und befördette aus protektionistischen Erwägungen den großflächigen Reisanbau. Eine ganze Bürokratie und eine neue Großgrundbesitzerschicht wurden im Süden geschaffen, während die Mehrheit der Bevölkerung in Schuldknechtschaft geriet (vgl. Albertini 1987: 159-183). Die neue soziale und politische Konstellation war also vor allem das Ergebnis der massiven kolonialen Intervention, die sich eine vorgefundene Dynamik zunutze gemacht hatte. Die erheblichen sozialen Verwerfungen, die diese Veränderungen mit sich brachten, wurden schließlich mit ursächlich für einen der blutigsten Dekolonisationskriege, der unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts eine ganze Region für Jahrzehnte politisch prägte (vgl. Frey 1998). Der vietnamesische Staat jedenfalls war weitgehend ein Pmdukt des französischen Kolonialismus. Möglich war diese Kreation, weil der Kolonialismus in diesem Fall eine völlige Umwälzung der vorigen Lebensverhältnisse bedeutete und die sich neu formierende politische Klasse diese Dynamik zu ihrem Vorteilnutzen konnte. Doch nicht die Frage, welche Kolonialmacht das jeweilige Ten:itoti.um eroberte und umzugestalten versuchte, ist für die Verschärfung oder Neuschaffung von Unterschieden und die Art der in Gang gesetzten Dynamik entscheidend gewesen. Andere Faktoren waren hier weitaus bedeutsamer. Besonders' die Art der Weltmarktintegration spielte eine viel größerer Rolle als die Natio-,1 nalcharaktere der Kolonialmächte. Die Einführung der großflächigen Plantagenwirtschaft etwa in Ceylon oder in der Kati.bik hat für die dortigen sozialen und politische Entwicklung eine viel größere Bedeutung gehabt als die Frage, ob die dazugehörige Metropole Paris oder London hieß. In anderen Regionen sind die ökonomischen Umbrüche durch den Kolonialismus eher gering ausgefallen. In der Sahara etwa, aber auch in weiten
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Teilen des tropischen Afrika ist während der Kolonialzeit kein Generalschema der wirtschaftlichen Inwertsetzung verwirklicht worden (vgl. Iliffe 1997: 285ff.). Die koloniale Umwälzung der ökonomischen Verhältnisse beschränkte sich auf die enklavenartige oder selektive Förderung bestimmter Agrarprodukte wie Kaffee, Kakao, Tee oder Baumwolle. Zu einer umfassenden Umgestaltung der afrikanischen Ökonomien fehlten den Kolonialmächten schlicht die Mittel. Häufig mündete die koloniale Unterwerfung, wie im Fall des »Kongostaats« Leopolds II., lediglich in eine ungeregelte Raubwirtschaft (vgl. Gann /Duignan 1979). , Trotz aller philanthropischen Rhetorik und aller politischen Maßnahmen ~~r der Kolonialismus dennoch vorrangig ein Projekt der wirtschaftlichen Erschließung. Ob es um die Eroberung von Siedlungsgebieten, die Extraktion mineralischer Vorkommen oder die Inwertsetzung von Ländereien durch agrarische Produktion im großen Maßstab ging, immer diente die Errichtung des Kolonialstaats, sein Gewaltmonopol ebenso wie seine Infrastrukturmaßnahmen, der Beförderung der mise en valeur, der Inwertsetzung. Dies gilt, a Ia longue, auch für jene Kolonialsysteme, die wie das deutsche, ihren ursprünglichen Impuls nur aus den partikularen Interessen von Handelshäusern und dem diffusen Gefühl der Konkurrenz zu anderen imperialistischen Mächten bezogen (vgl. Westphal1991: 100ff.), in denen also die politische Macht zunächst einzelnen politischen Interessen, nicht gesamtwirtschaftlichen Motiven folgte. Die europäische Kritik des Kolonialismus auf Seiten der Lieberalen und Sozialisten führte indes schnell dazu, dass sich Haltung durchsetzte, Kolonien dürften »nichts kosten«. Dieser Beschluss zur fiskalischen Selbstversorgung der eroberten Gebiete erzwang ein lVIindestmaß an kapitalistischer Inwertsetzung. Hinzu trat dann das Vorhaben, aus den Kolonialreichen »arbeitsteilige«, protektionistisch geschützte Wirtschaftsräume zu formen. Ein solches Projekt setzte die Verschränkung von Fremdherrschaft mit lokalen Institutionen voraus, und so wurde in den meisten Kolonialgebieten der Einfluss der stljets, der Kolonisierten, auf die Struktur des kolonialen Staates größer als der der Regierungen in den europäischen Metropolen. Beide, die soziale Logik der Kolonialmacht wie die der Kolonisierten, haben deshalb den :E,Colonialstaat von Anfang an geprägt. Die koloniale Unterwerfung produzierte ein paradoxes Resultat: Denn der Versuch der Etablierung und Aufrechterhaltung kolonialer Herrschaft führte zu weitreichendem sozialen Wandel, der die soziale Ordnung und die Stabilität des kolonialen Staates stets aufs Neue in Frage stellteP Die koloniale Herr-
73 Eine musterhafte Studie zu der im Kolonialstaat einsetzenden Dynamik und den daraus resultierenden Dilemmata für die Herrschaft liefert Middleton (1971).
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schaft unterminierte ihre Voraussetzw1gen, indem sie lokale Herrschaftsfmmen aufhob, die für sie zugleich notwendige Vermittlw1gsglieder waren. Nur dadurch, dass in1 kolonialen System neues Personal in Herrschaftszusanunenhänge rekrutiert wurde, ließ sich dieser Widerspruch vorübergehend still stellen. Vorübergehend deshalb, weil gerade aus dem Milieu der Akkulturierten die bedeutsamste politische Opposition der kolonialen Ordnung erwuchs. Selbst dort, wo der Kolonialismus sozial ein oberflächliches Phänomen geblieben ist, hat er die weitere Entwicklung nachhaltig geprägt. Denn inlmer hat sich die koloniale Erfahrung tief in die Symboliken und Vorstellungswelten der Kolonisierten eingesenkt. Durch ihn haben die politischen Ideen und religiösen Bekenntnisse des Westens in den unterworfenen Gesellschaften Einzug gehalten und sich mit lokalem Erbe vermengt. Das Ergebnis war inuner etwas Neues: synkretistische Kirchen, auf Verwandtschaft und regionale Abkunft gegründete politische Parteien mit nationalistischer Ausrichtung, die Akkultu- , ration der kolonialen Elite an den westlichen Lebensstil. All dies sind Erschei~ ' nungen, die die Verschiebungen, aber auch die Anpassungs- und Rezeptions- , fähigkeit der kolonisierten Gesellschaft gegenüber global dominanten: Symboliken und Inhalten demonstrieren. Entsprechend komplexe Mischungen lagen den;;__f'()!~Pen .der LegiJ:imität; zugrunde, die der antikoloniale Widerstand für sich in Anspruch nehmen' konnte: Die Berufung auf das westliche Konzept der »Selbstbestinlmung der Völker« spielte darin ebenso eine wichtige Rolle wie die »Wiedererfmdung der Tradition« (Hobsbawm/Ranger 1983) vergangener Reiche und Dynastien. Gerade aus jenen Kreisen, die in das koloniale System integriert worden waren, aus den lokalen Eliten des Kolonialismus, den Beamten des Kolonialstaats und den neureichen Schichten der Kolonialökonomien, formierte sich der entscheidende Widerstand gegen die Fremdherrschaft. Eben diese vom kolonialen System geformten Gruppen sollten den dekaionisierten Staat übernehmen. Die Mischungen unterschiedlicher Logiken prägten schon den kolonialen Staat. Sein hybrider Charakter sollte über das Ende der Koloniall1errschaft hinaus existieren: Die Solidarverbände, die inmitten staatlicher Bürokratien entstanden, erschienen Außenstehenden als »Vetternwutschaft« oder »Klientelismus«. Sie lassen sich nur begreifen als Transformationen traditionaler verwandtschaftlicher Zusammenhänge in den Kontext moderner Anstaltsstaatlichkeit. Aber nicht nur in den politischen Strukturen und wirtschaftlichen Formen, sondern auch in den Lehren, Ideologien und Weltsichten haben sich lokales Erbe und kolonialer Import vermischt. Diese Vermengwig der politischen Strukturen des Kolonialstaates mit lokalen politischen Verhältnissen lässt sich in allen Regionen beobachten; in den feudalen Strukturen auf den Philippinen ebenso wie an den Handelsnetzen Westafrikas oder auf dem indi-
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sehen Subkontinent. Die Strukturen des indischen Staates zum Beispiel sind nicht eine reine britische Erfmdung, aber auch mehr als eine rein il1digene Struktur: Neben das traditionale Element des dynastischen Prinzips, das sich noch heute in der indischen Politik wiederfmdet - zu denken wäre an die Bedeutung der Familie Nehru/Gandhi (vgl. Brass 1994) -,treten dort eine differenzierte staatliche Bürokratie und eine moderne Armee, eine l\fischung also, die sich weder nur aus dem Kolonialismus noch allein aus der indischen Tradition erklären lässt. Diese hybri.de11 Formen sind auch nicht notwendig konfliktiv, sandem diese Gleichzeitigkeit kann legitime Staatlichkeit auch konstituieren. Der koloniale Staat war ein Staat mit einer externen Machtbasis. Die Notwendigkeit, lokale Machtbeziehungen aufzubauen oder bestehende in den kolonialen Zusantmenhang zu integrieren, fand ihre Grenze in der Möglichkeit, auf den extern verankerten Erzwingungsstab zurückzugreifen, auch wenn dieser nur punktuell einsetzbar war. Sein eigentümliches Herrschaftsmodell, die Verknüpfung bürokratischer Elemente mit lokal-personalen Instanzen, blieb deshalb unvollendet. Immer war es das in lokalen Beziehungen eingelagerte Wissen, das das Rückgrat der Macht und der Möglichkeiten ihrer Institutionalisierung bot. An diesem Verhältnis fanden die Realisierungen der kolonialen Gouvemementalität der Modernisierung, ein Imitat europäischer Gestaltungen, ihre Grenzen, hier öffneten sich Möglichkeiten für die Manipulationen und schließlich die Übernahme des kolonialen Projekts durch Einzelinteressen. _. Der postkoloniale Staat ist deshalb nur eingeschränkt das geworden, was das Ideal moderner Staatlichkeit verheißen hatte: ein Handlungsfeld mit dominanter'Eigengesetzlichkeit. Er wurde anderen Imperativen untergeordnet. Q._er postkoloniale Staat. ist eine so~le W'iederaneignung. Die nachkolonialen Staaten ..... -..... .. . ... sind also weder bloße Kreationen der Kolonialmächte noch lediglich an der Oberfläche modern erscheinende Fonnungen vormoderner Verhältnisse. In den Regionen der Dritten Welt fmdet sich vielmehr eine Vielzahl von politischen Organisationsweisen, deren spezifischer gemeinsamer Charakte~ eben darin besteht, dass sich büro~ratisch-moderne und lokal-tra~itic>nale Momente in ihnen verschränkt .............. haben. Die Ungleichzeitigkeiten, die sich durch die Integration dieser Gesellschaf~n in das internationale System ergaben, wirkten in den Staatsbildungsprozessen nach dem Ende des Kolonialismus fort. Auf der Basis dieser aus der Kolonialzeit erfahrenen Modifikationen ihrer traditionellen Strukturen haben die Staaten ein~_Eigenleben entwickelt. Dieses Eigenleben ist indes nicht weniger ~-~eltgesellschaftliche Zusammenhänge eingebunden als die koloniale Herrschaft es war. So wie der Kolonialismus bei den Kolonisierten immer beide Reaktionsformen hervorbrachte,
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Kooperation und Widerstand, so durchzieht auch die Epoche der Dekaionisation und die Beziehungen zwischen den nachkolonialen, unabhängigetl Staaten und den ehemaligen Kolonialmächten eine Uneindeutigkeit: Mit der Dekaionisation verschwanden nicht alle Bande. Über Kirchen, Handelsverbindungen, Migrationen, Organisationen der Entwicklungshilfe und klassische lnstiturü): nen der Beziehungen zwischen Staaten blieben viele Beziehungen erhalten und setzten teils neue Verbindungen in Gang. Die Dekaionisation bedeutete deshalb nur eine neue Differenz, aber keine Trennung. Sie lässt sich am ehesten auffassen als das Ende »einer Form der Kooperation« (Wesseling 1997: 119, Hervorh. i. Org.). Sie hat die lange Kontinuität der durch die europäische Expansion ins Werk gesetzten Integration anderer Erdteile in ein sich verdichtendes internationales System nicht unterbrochen, sondern nur in eine neue Form überführt.74 Wie stark interne Dynamiken sich mit Umbrüchen im internationalen System verschränken und zu umfangreichen Verschiebungen der politischen Ordnungen führen können, wird im Phänomen der Dekaionisation selbst vielleicht am deutlichste11. Die Schwächung der europäischen Kolonialmächte durch den Zweiten Weltkrieg, das Drängen der neuen Hegemonialmacht CSA auf Öffnung der protektionistisch geschützten Wirtschaftsräume, aber auch der sich radikalisierende Antikolonialismus und die Demonstrationseffekte der ersten, teils gewaltsam erlangten Dekolonisationen bildeten den Hintergrund der formellen Staatsgründungen, die sich von den vierzigerbis in die siebziger Jahre hiiizogen. Wie bedeutsam gleichzeitig die internationale Entwicklung ftir die Prozesse staatlicher I Ierrschaft in Afrika und Asien gewesen ist, zeigte sich in den Zielen und Gestalten der neu geschaffenen Institutionen: Die Ptojekte der nachkolonialen Staatsbildung in der Dritten Welt fanden, im Unterschied zur europäischen Geschichte, mit bekannten Vorbildem statt. Das Ideal des Staates war durch die koloniale Erfahrung bereits präsent und wurde von den Führern der Unabhängigkeitsbewegung auch nicht in Frage gestellt. Ihr Ziel war nicht die Rückkehr zu traditionalen Formen, sandem der Anschluss an die Moderne. Die Ära der Dekaionisation in den 1950er und 60er Jahren war zugleich die Zeit, in der in Europa und anderswo eine enorme "Ausweitung der Staatsaufgaben stattfand und zunächst unwidersprochen blieb. Kontinuitäten lassen sich also auch in den Gouvemementalitäten fmden. Das erweiterte Verständnis der 74 In dieser Allgemeinheit gilt diese Aussage fiir alle Dekolonisationen, die gcnau genommen mit dem nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg beginnen tmd über die Zwischenetappen der Verselbständigung Lateinamerikas und die Loslösung der britischen Kolonien in Asit!tl in den vierziger Jahren bis ans Ende der großen Dekolonisationswelle in den SOer tmd 60er Jahren reichen.
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:~~des Staates reichte bis in die Kolonialzeit zurück, denn seit dem Zweiten -·Weltkrieg waren zahlreiche kolonialstaatliche Agenturen entwickelt worden, die den Ausbau der Infrastruktur, des Bildungs- und Gesundheitswesens bek~~~ern sollten. >.~.'~
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75 Unter dem Konzept des »Entwicklungsstaats(( sind diese Prozesse Gegenstand breiter wissenschaftlicher Kontroversen geworden. An der Debatte lässt sich übrigens die Rolle historischer Vorbilder für staatliche Politik anschaulich demonstrieren. Zur Übersicht über die Diskussion vgl. Simonis (1985) sowie die Beiträge in Woo-Cummings (1999).
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kratien, aber auch die Struktur der Ökonomien wenn nicht gänzlich bestimmt so doch entscheidend mitgeprägt. In manchen Kontexten mag_.Q.~ Eigendynat?Jk. de~ nachkolonialen Staaten dies~ Pr~~ger:;. -~~fgelöst haben. Oft aber haben sie sich verstärkt. Gerade am Beispiel der ökonomischen Strukturen~ zeigt sich, dass die großen extetnen Einflüsse auf die Staatsbildung in der Dritten Welt mit der Dekaionisation nichtvorbei waren.· i Zugl~ch-~b~r 'f~~d·in de~ n~chkolonialen Staaten eine Vergesellschaftung des Staat~; statt, die vom Modell dieses Vorgangs in der ~~~päischen Ge- , schichte abwich. Hatten dort seit dem 19. Jahrhundert die Öffnung der staatli-. chen Apparate und die Schübe der Demokrati.sierung auf einem wirtschaftlich erstarkenden Bürgertum und einer rasch ausgreifenden sozialen Differenzierung beruht, so fand in den postkolonialen Staaten die Vergesellschaftung des Staates auf informelle Weise statt. Von wenigen demokratischen Fällen abgesehen, ereignete sie sich in der Art des langsamen Wirksamwerdens sozialer' Logiken innerhalb der staatlichen Apparate. Soziale Praktiken, die ihren Ur-' sprung in Verwandtschaftssystemen, feudalen Abhängigkeiten oder vorkolonialen Herrschaftsform.en hatten, h.ielten in modifizierter Fmm in den Staat .J Einzug. Die Verges'!.J!~chaftung des Staates fand in der nachkolonialen Gcs.c_~~ht~.l!lso nicht d~ch\Terbfum~~-durch »Zweckvereine« in Wc:~rsc~e.r Ii Diknon, statt, sondert1 ~urch yergememschaftete Gruppen. 1t1! ( (, l ·. ' ' : Dernachkoiöß.1äi~ Staat wird also nicht von einer bürokratischen Eigenlogik dominiert (vgl. Bourdieu 1997a), sondern ist verschiedenen sozialen Logik.en untergeordnet. So lässt sich trotz aller Verschiedenheiten der Entwicklungspfade für nachkoloniale Staaten übergreifend formulieren, dass ihnen Vlj~~~.!:t:tteme Differenzie~!?-gen. feh}en: Staat und Gesellschaft, Privat und Öffentlich, politische und ökonomische Herrschaft sind nicht wirklich distinkte Sphären mit verschiedenen Geltungslogiken. Staaten der Dritten Welt zeigen aber W1terschiedlich . starke Ansätze zu solchen Differenzierungen,. Endang des Ausmaßes dieser Ausprägungen ist eine grobe Typisierw1g det·( nachkolonialen Staaten möglich.7 6 . ·· · . Der erste dieser Typen ist deüroße Entwicklu11gsstaat71 Wie ~~~_ien, ~lgerien, Mexiko, Brasilien, -~~~~-~~-J:~~c:i.:~·Seiii' "Mei:'kinal ist. die im Vergleich fortgeschrittene Institutionalisierung des Staates: Es gibt eine flä~_hendeckende Verwa1tung und einen großen öffentlichen Sektor, weil der Staat sich als Haupt-
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76 Zugrunde liegt den folgenden Ausfiihrungen die Annahme, dass den Ähnlichkeiteil der institutioneUen Form höhere Bedeutung :.ukorrunt als die räumliche Nachbarschaft von Staaten, Für eine detailliertere Darstellung, die Unterschiede in der Dynamik staatlicher Herrschaft entlang~ folgenden Typologie behandelt, vgl. Schlichte {1998c). 77 Die Ausprägung und Problematik der politischen Ökonomie dieser Entwicklungsstaaten wird am schlüssigsten von Waterbury {1993) behandelt.
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agent der Entwicklung begreift. St~~~h~ ~11teiilehmen beschäftigen eine große Zahl von Arbeitnehmern, aber Patr.na~, das heißt persönliche Beziehungen im weitesten Sinne, spielt für Anstellungen oder öffentliche Aufträge eine entscheidende Rolle. Zugleich gibt es einen bedeutsamen Binnenmarkt ; und eine vergleichsweise etablierte Position im_ intern~ti"o~~en Wirts~hajt~ge , füge. Der Staat mag zwar von den Einkünften aus dem Export we~e; Güter . abhängig sein, er hat aber eine im Vergleich zu anderen Staaten der Dritten 'Welt enge Beziehung zu den ökonomischen Aktivitäten seiner Bürger. :Zugleich finden sich hier bedeuts~e M!l~htg:ruppen, die ~~6hä.ngig vom S~_aat agieren. Sie sind auch die Träger einer politischen Ö_f.fe_I:!~C::hkeit, ht der der Staat und seine Politik thematisiert werden können. Grundlage dafür ist [das er~~!>.M~J:!:~--~~srnaß sozialer Differenzierung: In diesen Entwicklungsstaa! ten konkurrieren Inlands- und Auslä~dskapital, das l\filit~r als korporativer Akteur und ande~_Statusgruppen um Machtchancen, die über den Staat vermittelt werden, so dass sich in diesem Wettbewerb eine gewiss'?. ..~ta_atliche ,:{\l.l~~.f.lomie herausbilden konnte. / . Diese Teilautonomie ist im zweiten Typ, de~trimonialen__-!_!~qynicht entwickelt.78 Alles hängt hier vom Staat ab oder aber 1St vonliiillvöllig losgelöst. Beispiele hierfür sind die überwiegende Mehr~~_!_d~J; ... S!aaten...Af.rikas südlich d~r. S@~a, aber auch Staaten in anderen Regionen wie die _Philippinen, N_i~lil::~g\:1~ .U.Vt~t: Somoza ode!.. H~-t~-~t~r d.~J:..J:!~rrschaft der Duvaliers. In diesen Staaten fand die s~~i.a!~. Wie~er,~11eign:1.1t1g des Staates als Patrimonialisierung der kolonialen Hinterlassenschaften statt. Auch bei diesem Typ ist der 1\öf~~11~c-~~ S_e~t()r von großer ökonomischer Bedeutung. Nur ist hier all~s dem Pr~s!~C:l1t.~t:_l-~-~erge()~t:_let. Der nachkoloniale S!~ll:~. ist ZWI1 .. P~~qqjum seines Inhaöers geworden. Der Präsident macht keinen Unterschied zwischen '~etttem Piivätkonto und dem Staatshaushalt, er entscheidet über die großen pffentlichen Investitionen, und - typisch für diese Staatsform - auch über die jgeringsten Details. Po.g!lk wird üJ:,eJ:. kliet}telis~ische r\[e~erke betrieben, und die Hauptaufgabe des Präsidenten besteht darin, den Ressourcenfluss des Staates so zu lenken, dass er die konkurrierenden Netzwerke ausbalancieren kann. Ökonomisch sind diese Staaten von ihren Bevölkerungen relativ abgeschnitten: Direkte Steuern spielen in den Einnahmen cles Fiskus k~!1:!~.. !?:enne~s;:erte. Roll~;· ~~~wärtige Hilfe und die Einnahmen aus der Besteuerung ~~~ I;-p~~ ~d Export bilden die Haupteinkünfte des Staates. Das hat zur Konsequenz, dass weite Teile det: Bevöl.kenw.g,_gerade in peripheren Gebieten, von staatlichen Instihitionen und staatliche~ Politik kaum ~!~~ic~t-~c:~en.
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78 Zur inneren Struktur neopatrimonialer Staaten vgl. Eisenstadt (1973), Medard (1991), und die Beiträge in Clapham (1982).
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Der ddtte Typ schließlich ist de{petiphere soxjaf!f!i_s:.k~ :!ta_q,t/Ru~~~~~t~•. Albanien, aber auch manche Teil~~!?~ -~e~ __ früheren Swjetunion lassen sich . iliesei: Form zuordnen.79 Gemeinsam ist ihnen, dass es in diesen Staaten in der Ära des so genannten Sozialismus eine weitreichende Regulierung gab. Der Staat besaß ein faktisches Monopol des Außenhandels und kontrollierte alle bedeutsamen wirtschaftlichen Institutionen. Diese Rigidität wurde aber ausgeglichen durch die Flexibilität paralleler Institutionen wie den Schwarzmärkten und der Patronage im politischen Bereich. In diesen Staaten sind vor allem die achtziger Jahre eine Zeit der Stagnation gewesen, so dass auch hier die ökonomische Krise der Staaten einsetzte, die mit dem Ende der Sowjetunion in einer politischen Wende kulminierte. Die Dynamiken um die Formen und Grenzen staatlicher Herrschaft sind - in all diesen Staaten noch nicht zum Ende gekommen. Die soziale Dynamik in diesen Staaten, aber auch die Projekte staatlicher Herrschaft selbst liefem [ fo " end Impulse, die die Strukturen des Politischen verändern. Zugleich ve~dichte sich die weltgesellschaftlichen Zusammenhänge, in die die Staaten der Dritten Welt eingebettet sind. Es ist die Aufgabe der folgenden KapitelL, diese Dynamiken und ihre bisherigen Resultate unter drei Aspekten zu untersuchen. Dabei geht es nicht um ein lückenloses Bild all dessen, was der Fall ist, sondern vor allem um den Aufweis, dass die Theode globaler Vergesellschaftung und die Art und Weise, in der hier Macht, Herrschaft und Staat konzeptionalisiert wurden, eine überzeugende Möglichkeit sind, diese Dynamiken zu erfassen und abzuschätzen.
79 Die Lage der vergleichenden Fotschung zu dieser Gruppe ist besonders prekär, weil die regionale Aufgliederung der Wissenschaft hier besonders ausgeprägt ist. Zur Entwicklung in Albanien vgl. Hensell (1999), zur Kaukasus-Region Gordadze/Mouradirul (1999), zu Zetltralasien Roy (1995) w1d zu Jugoslawien Allcock (2000) und Woodward (1995). Zum patrimonialen Sozialismus allgemein vgl. Hensell (2004).
3. Dynamiken der Gewalt
Im Frühjahr 1925 ist die Stadt Shanghai in Aufruhr: Schon seit Februar streiken Arbeiter in den Baumwollfabriken eines japanischen Konzerns. Als bei Demonstrationen ein chinesischer Arbeiter von japanischen Vorarbeitern erschossen wird, spitzen sich die Dinge zu. Die junge Kommunistische Partei Chinas gewinnt an Unterstützung, sie organisiert weitere Demonstrationen. Am 30. Mai 1925 erschießen chinesische Polizisten und indische Sikhs, die unter britischem Kommando stehen, weitere vier Demonstranten. Dieser Vorfall wird zu Geburtsstunde der Chinesischen Revolution (vgl. Osterhammel1997). Zwanzig Jahre nachdem das brasilianische Militär den Weg zu einer Demokratisierung des Landes freigab, ist es in gewissem Sinne immer noch in einer privilegierten Position. Während die Verschuldung Brasiliens auch 2005 noch schwindelerregende Höhen erreicht, gelingt es dem Militär auch weiterhin, Erhöhungen seines Budgets durchzusetzen. Brasilien hat seit mehr als 130 ] ahren keinen Krieg geführt. Seine Armee ist dennoch über 300.000 Mann stark und konsumiert drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der Armeeführung ist es auch gelungen, die Beschaffung von Rüstungsgütern ohne Ausschreibung auf der Grundlage präsidentieller Dekrete durchzusetzen (Flemes 2004). >>Apac-Mob tötet Soldaten« meldet die ugandische Tageszeitung New Vision am 23. März 1999 und berichtet: »Ein wütender Mob steinigte am 19. März in Inomo-Subcounty einen Soldaten zu Tode, der verdächtigt wurde, den Hausmeister der Abolo Primary School ermordet zu haben. Der Gefreite Jimmy 0., der bei der Brigade 503 in Pajule im Distrikt Kitgum stationiert war, wurde gelyncht, weil er angeblich] .C. Ogwang am 6. März erschossen hatte. Polizeiquellen zufolge wurde 0. angegriffen, während er in Polizeigewahrsam war.« Kriminelle oder politische Gewalt erscheint immer als Gegenteil des Staates. Ganz so eindeutig liegen die Dinge aber meist nicht: Aus der Guerilla kann, wie im Falle der Kommunistischen Parteien Chinas, eine Regierung werden, und Lynchjustiz wird von staatlichen Organen oft toleriert. Dennoch: Die Monopolisierung des legitimen Gewaltgebrauchs ist wohl das unumstrit-
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tene Kerrunerkmal moderner Staatlichkeit. Die Apparate des Staates siche1'11 den i.tmeren und den äußeren Frieden, und diese basale Ordnung ist zugleich Bedingung der Möglichkeit jeder weiteren politischen Gestaltung dut-ch den Staat. Die Gewalt ist im doppelten Sinne der Grund des Staates. Die Frage danach, inwieweit der Anspruch auf Monopolisierung des legi- · timen Gewaltgebrauchs durch den Staat tatsächlich erreicht wird, gilt deshalb als Gradmesser jeder Staatlichkeit. Dem Ideal des Staates nach ist diese Monopolisierung flächendeckend erreicht. So wie das Militär erfolgreich die territoriale Integrität des Staates sichert, so verfolgt die Polizei erfolgreich jede Herausforderung des staatlichen Gewaltmonopols im lnnem. Die Realitäten in den Staaten der Dritten Welt sind andere. Die Praktiken entsprechen diesem Ideal nicht. Wie in diesem Kapitel gezeigt werden soll, sind die Befunde über den Grad der Monopolisierung der Gewalt durch die Staaten der Dritten Welt uneinheitlich. Die wesentliche Absicht ist dabei, die Dynamiken offen zu legen, die über die Chancen der Gewaltmonopolisierung durch den Staat entscheiden.so In den meisten Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ist der Anspruch des Gewaltmonopols als Kernelement staatlicher Herrschaft wesentlich ein Erbe des Kolonialismus. Zwar wiesen auch die vorkolonialen politischen Verbände ihnen eigene Formen der Gewal~erwaltung auf, die sich, soweit sie staatliche Form annahm, dem Anspruch nach ebenfalls als Gewaltmonopole ausbildeten. Die der Idee moderner Staatlichkeit inhärente Vorstellung einer alle außerhäusliche Gewalt monopolisierenden Institution entstanunt jedoch der Geschichte des neuzeitlichen europäischen Staates. Die globale Ausbreitung dieser Staatsauffassung ist historisch zunächst mit dem europäischen Kolonialismus identisch. Als Ergebnis der europäischen Expansion legte sich über die lokalen Herrschaftszusammenhänge eine neue, weitere Herrschaftsidee, die der Monopolisierung der Rechtmäßigkeit des Gewaltgebrauchs durch staatliche Organe. Die Durchsetzung staatlicher Herrschaft wird in den nachkolonialen Staaten überall konflikriv, weil die Monopolisierung der Gewaltmittel eine notwendige Voraussetzung und das reale Korrelat zentralstaatlicher Suprematie ist. Sie ist jedoch nur gegen den Widerstand anderer sozialer und politischer Organisationsformen durchsetzbar.
80 Nicht alle für diese Abschätzung wichtigen Aspekte der Gewaltordnungen in den Staaten der Dritten Welt können hier überblicksartig dargestellt oder untersucht werden. Diese Einschränl..-ung ist einerseits einem Mangel an Material geschuldet. Über wesentliche Aspekte dieses Themas liegen keine oder nicht hinreichend aufgearbeitete Info,mationen vor. Dies gilt etwa für die Praxis der Strafverfolgung und die Wirklichkeit de1· polizeilichen Arbeit in den Regionen außerhalb der OECD.
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Dabei traten die »Agentenberufliche« Spezialisierung. Allein wegen dieser Institutionalisierungen hat das 1\filitär der jungen Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas lange den Ruf genossen, ein besonders geeigneter Agent der politischen und sozialen Modemisierung zu sein (vgl. Huntington 1968). Geteilte Bewertungen der politischen Entwicklungen sind in vielen Fällen die wesentlichen Grundlagen für die Militarisierung des Politischen, die nicht immer die Form der offenen Machtübernahme angenommen hat. In der Geschichte Lateinamerikas, aber auch in Algerien oder in der Türkei gibt es lange Perioden, in denen der Einfluss des Militärs über arretierte Etwartungen und informelle Machtmechanismen gesichert wurde. Ein Hauptmotiv für den In: terventionismus des Militärs blieb neben den subjektiv empfundenen »politischen Krisen« auch immer die Wahrung des eigenen Status, die Abwehr des drohenden Verlusts der eigenen Privilegien. Häufig ist das letztgenannte Motiv· der unmittelbare Anlass für Usurpation der politischen Macht gewesen. Von der Form der offenen Militärherrschaft ist nach Erlangung der Unabhängigkeit kaum ein Staat der Dritten Welt verschont geblieben. Befördert auch durch die Militarisierung der internationalen Politik in den Zeiten der Blockkonfmntation übernahm das Militär in nahezu allen Staaten der Dritten Welt mindestens für einige Jahre, wenn nicht Jahrzehnte die politische Macht. Allein wegen seines Gewichts als korporativer Akteur und seiner Gewaltkompetenz wurde
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der militärische Apparat - und nicht die polizeiliche Überwachung - z~ Rückgrat der staatlichen Herrschaftsansprüche in der Dritten Welt. Die faktische Übernahme von Regierungsfunktionen erfolgte aber durchaus nicht immer in der Fonn eines offenen Putsches. Auch die Übertragung von Fachministerien an Offiziere, der Einsatz der Streitkräfte zur Bekämpfung städtischer Unruhen oder bei Naturkatastrophen bis hin zur Abwicklung des Grenzverkehrs gehört zu den Formen der Militarisierung staatlicher Herrschaft (Kukreja 1991: 48ff.). Die korporativen Interessen des Militärs können auch durch Fonnen der indirekten Herrschaft zur Geltung gebracht werden, indem zivile Regierungen durch die konstante, gar nicht explizit zu machende Drohung ihrer Absetzung auf die Beachtung dieser Interessen verpflichtet werden (Finer 1988: 149ff.). Ebenso sind Mischformen möglich, indem Staatsoberhäupter, die ihre Position einer militärischen Intervention verdanken, ihre Herrschaftsposition durch die Schaffung einer politischen Partei legitimieren, gleichzeitig jedoch erhebliche Aufmerksamkeit auf die Kontrolle der Dynamik in den gewaltkompetenten Staatsteilen verwenden. Der offene militärische Putsch ist dagegen eine bes ndere Form der Intervention, die an eine Grenze stößt. Einmal ist die Üb rnahme wirklich aller staatlichen Funktionen durch das Militär auch in Extr mfällen nicht zu denken. Immer bleiben die Interventen auf die Zuarbeit d Loyalität der zivilen Teile des Staates angewiesen. Mit zunehmender Ausdi ferenzierung nicht nur des Inneren des Staates, sondern auch seiner sozialen Umwelt, erhöhen sich die Anforderungen, die an militärische Entscheidunigsäger gestellt werden. Die Abgabe der Macht an eine erneute zivile Regie ng ist deshalb häuf1g genug von der Sicherstellung des erreichten Bestandes . korporativer Interessenerfüllung und dem Entzug des unmittelbaren poli sehen Drucks diktiert, der sich in komplexer werdenden Konstellationen einst t. Die Internationalisierung der Herrschaftszusammenhänge, die sich etwalim Gefolge der »Verschuldungskrise« einstellte, ist dafür ein prominentes Bfispiel. Die häufig von außen durch Kredite fm~zierte Militarisierung schuf 9amit zugleich eine Bedingung ihres Endes, als nach dem Ende des Ost-West-1>Schattenwirtschaft((. Insofern sind die Möglichkeiten der Besteuerung eine Funktion der formalen Rationalisierung der Wirtschaft. Steuersysteme sind außerdem abhängig von der ;;Stärker< der staatlichm Herr..!f.~(![!:_Nur ein Staat, der über großes bürokratisches Wissen und geschultes, hinreichend entlohntes Fachbeamtenturn mit professioneller Ethik verfügt, kann wirksam Steuern erheben. Die Qualität des Apparates darf sich dabei nicht auf die Finanzbehörden beschränken. Ein efftzientes und kalkulierbares Rechtssystem gehört ebenso dazu, etwa um Forderungen durchzusetzen und Sanktionen glaubhaft machen zu können. Grundvoraussetzung der Besteuerbarkeit ist zudem eine hinreichende Autonomie st.'latlicher Agenturen in der Entscheidung über Form der Steuern und die Bestimmung der betroffenen Personsenlu-eise. Wo die staatliche Macht von einzelnen Gruppen usuqJiert ist oder zu starke politische Einflüsse existieren, ist die Möglichkeit der Besteuerung von vomherein begrenzt: Oligarchen zahlen keine Steuern. Weiterhin haben politische Prlferenzen einen Einflms auf die Gestalt eines Steuersystems. Genereli"donlioierende. Vorstellungen datüber, welche Srcucm und welche Steuersätze geeignet sind, bestimmte Staatsziele zu erreichen. hc· einflussen die konkrete Ausformung eines Steuersystems cbcn~o ..,.,c :,:.~ Die historischen Wurzeln dieser Kreditbeziehungen reichen natürlich viel weiter. Die Geschichte der Verschuldung des Osmanischen Reiches und Ägyptens unter Ali im 19. Jh. ist das bekannteste Beispiel (vgl. Kindleberger 1984: 25lff.). Bei der Auflös1.n1g des Osmanischen Reiches hat die Verschuldung der Hohen, Pforte und der lok.'llen Machthaber, etwa im Maghreb (vgl. Anderson 1987), eine entscheidende Rolle gespielt.
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internationale Institutionalisierung des Zusammenhangs von Kreditmärkten ' und Staatsfmanzierung zu ergeben, nämlich durch die Weltbankgruppe und : den Internationalen Währungsfond. ' Am Beginn der Verschuldung stand jedoch die politische Rahmenbedingung des Ost-West-Konflikts, die die Konkurrenz zwischen den Supermächten um Unterstützung und Verbündete in den südlichen Erdteilen einleitete. Teil der werbenden Maßnahmen waren auch Kredite und militärische Hilfe (Spero 1990: 161). Eingekleidet in die euphorischen Annalunen der Modernisierungstheorie sollte die Kapitalhilfe zugleich dazu dienen, eine Expansion der Weltmärkte und entsprechende soziale Entwicklung in den gerade dekolonisierten Staaten einzuleiten. Erst in den frühen sechziger Jahren schufen auch jene westlichen Staaten ihre Entwicklungsagenturen, die nicht schon durch die koloniale Tradition über entsprechende, nun umbenannte Institutionen verfügten. Internationale Kredite und Zuschüsse als »Entwicklungshilfe« sind . somit ein Produkt der historischen Situation der Nachkriegsordnung. Die Verteilung und der Fluss der Mittel blieben jedoch ungleichmäßig und erratisch. Neben strategischen Interessen waren es besondere Beziehungen zu ehemaligen Kolonien oder singuläre wirtschaftliche Interessen, die über die Zuweisung von Mitteln und die Gewährung von Krediten entschieden. Das Engagement der USA etwa konzentrierte sich bald auf wenige Länder: In Indien, Südvietnam und Indonesien, später Ägypten, Israel und Zentralamerika (Spero 1990: 163). Einen Generalplan der Entwicklung gab es ebenso wenig wie eine Koordination der eingesetzten Mittel. Vielmehr trafen sich das Angebot an liquidem Kapital, das Interesse an seiner Vexwertung und die Nachfrage nach mindestens kurzfristig günstigen Entlastungen der fiskalischen Probleme in den nachkolonialen Staaten. Ähnlich unabhängig von den konkreten Erfordernissen der »Entwicklung« oder Modernisierung in den Zielländern der Kapitalhilfe entwickelte sich der zunehmend private Kapitalstrom ab den siebziger Jahren. Hintergrund dieser Verschiebung hin zu privaten Krediten waren sowohl durch die Rezession der westlichen Staaten freiwerdende Mittel wie die auflaufenden Vermögen aus den Erdöl exportierenden Rentierstaaten. »Metrodollarsi< und »Petrodollars« suchten Anlagemöglichkeiten und schufen günstige Kredite (Altvater/Hübner 1987: 20). Die unwirtschaftliche Vexwendung der Mittel 154 und das Ausbleiben der erhofften makroökonomischen Effekte führten Anfang der 1980er Jahre zur 154 Es ist ein bis heute unentschiedener Streit, in welchem Verhältnis wessen Großzügigkeiten, Täuschungen, Illusionen und Nachlässigkeiten die »Schuldenkrise>Staatskultur« betrieben (vgl. Bourdieu 1998: 106f.).t66 Nicht alle diese Symbolwelten staatlicher Herrschaft können in diesem Kapitel behandelt werden. Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen nach ein paar Überlegungen zur Frage der staatlichen Kodietung des Wissens einige Ausführungen über die Bemühungen und Grenzen staatlicher Herrschaft in der Dritten Welt, mit symbolischen Strategien Legitimität zu bilden (5.1). Mythen, Riten und Religion stehen dabei im Mittelpunkt. Umfangreicher sind die Befunde, die sich aus der Betrachtung der staatlichen Rechtspraxis ergeben (5.2). Sie setzen indes noch eine engere theoretische Vergewisserung datiiber voraus, wie sich staatliches Recht von nicht-staatlichem unterscheidet (5.2.1), bevor diese theoretischen Thesen mit der Wirklichkeit des Rechts in der Dritten Welt abgeglichen werden können (5.2.2). Dabei wird sich zeigen, dass die Befunde über die Rolle staatlichen Rechts keineswegs einheitlich sind. Recht und Verwaltung, der Alltagsfall vo11 Herrschaft, sind zugleich an Sprache und Wissen gebunden, zwei Formen der Repräsentation, deren soziale Realität in der Dritten Welt hier nicht untersucht werden kann. Nur einige kursorische Bemerkungen über ihre Beziehung zur Dynamik staatlicher Herrschaft sind hierzu möglich. Modeme, bürokratische Formen des JVissens sind typisch für die »Betriebslogik« des modernen Kapitalismus, denn die Parallele zwischen modernem Staat und modernem Unternehmen besteht ja auch darin, dass beide strukturgleiche modi operandi haben, die Max Weber als >>Betriebscharakter« zusammengefasst hat. Schriftlichkeit und Aktenmäßigkeit der Vorgänge, klare Hierarchien und Kompetenzen, Inspektionen und korliftzierte Wissensordnungen sind solche Elemente bürokratischer Herrschaft, die sich in den westlichen Gesellschaften vor allem seit dem 19. Jahrhundert verallgemeinert haben (vgl. Raphael2000: 76-93). Eine funktionierende Bürokratie ist ausgesprochen voraussetzungsreich. Sie setzt nicht nur zureichende Personalzahlen und Ausstattungen voraus, sandem auch Ausbildungen und Routinen. Sie bedarf außerdem einer auf sie
166 In seinem Werk Seeing like a s/ale hat James C. Scott (1998) diesen Unterschied zwischen staatlicher Wtd sozialer WirklichkeitsauffassWtg analysiert. Dort wird er freilich unter entwickiWlgstheoretischen GesichtspWlkten diskutiert.
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eingestellten Umwelt. Nur wenn zum Beispiel die staatlichen Normen des Zählens und Messens verbreitete soziale Praxis sind und sich daher ins :\lltagsbewusstsein eingesenkt haben, ist die Produktion und Organisation aggregierten Wissens, Grundlage jeder Verwaltung und damit der Herrschaft des ·modernen Staates, überhaupt möglich. Die Umstellung der Organisation v011 • Wissensordnungen als Teil der Verwandlung von staatlicher Macht in Herrschaft nimmt also kaum einen Lebensbereich aus. Sie umfasst den Raum ebenso wie die soziale Zeit, die Codierung von N01men und Abweichungen ebenso wie die Sprache und Symbolik des Alltags. Beispielhaft an der Geschichte der Kartographie lässt sich die Staatlichkeit der Codierung des Raumes ablesen (vgl. Lindgren 1990). Aus den spezifischen Sonderinteressen einzelner staatlicher Agenturen, allen voran des J\!Iilitärs, entstand in Europa die Praxis der Vermessung und Codierung der Flächen, so wie die Regelung der bürgerlichen Eigentumsordnung von Grund und Boden die Kataster und Grundbücher hervorbrachte. Aber auch in der Organisation der sozialen Zeit haben sich in den westlichen Staaten der Staat und seine symbolische Registratur mit dem Alltagsleben verschränkt. Die Zeiten der Schule, des Militärs, des Ruhestands und der Arbeit ruhen auf staatlich gesetzten Regelungen auf und strukturieren den Alltag. Voraussetzung für solch fundamentale Verschränkungen ist indes, dass staatliche Herrschaft ihre ))Bevölkerung« als Objekt erst einmal konstituiert. Erst dann kann sie deren Eigentum, Vermögen und Erwerbsleben, ihre Nutzungen und Organisation von Raum und Zeit beeinflussen und gestalten. In den meisten Staaten der Dritten Welt ist die Bürokratisierung staatlicher Herrschaft ausgesprochen lückenhaft, in vielen Fällen stagniert sie schon lange auf dem Niveau enklavenartiger Zusammenhänge. 167 Die mangelhafte Qualität der nationalen Statistiken bezeugt die Probleme, das staatliche Wissen zu etablieren und zu organisieren. In den Staaten der Dritten Welt sind große Teile des Herrschaftswissens lokal und personal organisiert. 168 Nicht amtliche Register und Enqueten sind Grundlage von Entscheidungen, sondern das in den Köpfen und Zirkeln der beteiligten Einzelpersonen eingelagerte konkrete Wissen. Spätestens an ihm finden die Ambitionen zentralstaatlicher Macht ihre Grenze. Verwaltungshandeln vor Ort besteht eher in Praktiken des Aushan-
167 Dabei scheinen die Regionen, die direkt den großen Strömungen der Weltmärkte angegliedert sind, vorzugsweise solche Enklaven zu werden. Auf dem Lande hingegen sind die Impulse und Energien, die die Bürokratisierung vorantreiben, selten und schwach. Zur Rolle der Städte in diesem Zusammenhang vgl. Sassen (1996). 168 Vgl. die Schilderungen in Adamold:um (1999), Koehn (1990) und Asmeron (1993). Interessant sind die Parallelen und Unterschiede zur frühen kolonialen Verwalnu1g, vgl. Trotha (1994).
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delns und Vennittelns, des Anregens, Kriti.sierens oder aber der Willkür. Strikte bürokratische Herrschaft, wie sie in Webers Herrschaftssoziologie begrifflich auseinandergelegt wird, ist dies nicht. An diesen Schranken stoßen sich die Staatsexperten, Missionare und Militärs, Berater und Händler, Gouverneure und Polizisten seit jeher. Die semantische Codierung durch den Staat hat aber auch noch eine an,dere Seite, die mit der Vielsprachigkeit der meisten unabhängigen Staaten zusammenhängt: die gesprochene Sprache. Denn entgegen der Erwartungen, die über das Ende der Kolonialherrschaft existierten, haben fast alle postkolonialen Staaten die Sprachen der Fremdherrschaft als Amtssprache beibehalten, in vielen Fällen sind sie die gängigen Verkehrssprachen geblieben. Das hat seinen tieferen Grund darin, dass jede Herrschaft auf eine standardisierte Kommunikation angewiesen ist und sie deshalb durchzusetzen sucht. So ist in den nachkolonialen Staaten die Sprachpolitik als ein umstrittenes Feld entstanden. Denn auf kaum einem anderen Feld ragen die Bestrebungen des Staates weiter in die Alltagswelt der Praktiken. Nur selten zeigen sich aber auch die Grenzen des Staates so eindeutig wie auf diesem Gebiet, in dem die Praktiken - die tatsächlich gesprochenen Sprachen - weit von den staatlichen Programmen der Sprachpolitik abweichen (vgl. Reh 1981). Kein kolonialer und auch kein postkolonialer Staat hat darauf verzichtet, die Sprachpolitik als Vehikel zur Errichtung nationaler Legitimität zu benutzen.l69 Das damit immer verknüpfte Exklusionsproblem, das sich in multilingualen Staaten schnell in ein Politikum verwandelt, hat die Konfliktivität dieser Versuche schnell deutlich werden lassen. Schulen und die staatlichen Medien, vor allem das Radio, wurden in fast allen Staaten zu den Hauptagenroren für die Verbreitung möglichst standardisierter Sprachen. Zwar ist in den Staaten der Dritten Welt eine allgemeine Tendenz wachsender Schulbesuchsquoten zu beobachten. Doch weder geben diese Zahlen Auskunft über die Sprachpraktiken, noch sind die Wirkungen vierjähriger Grundschulbesuche auf den Spracherwerb abzuschätzen. Teils wegen abwehrender Reaktionen, teils wegen unzureichender Kapazitäten der staatlichen Agenturen sind die Erfolge der sprachlichen Homogenisierung und der Kodif12:ierung der Kommunikation durch den Staat begrenzt geblieben. Die Politisierung der Sprache hat stattdessen die Teilung der staatlichen Institutionen endang der Verbreitung von Sprachgemeinschaften gefördert, weil Sprachkompetenz zur Ausschluss- oder Partizipationsbedingung wurde. Die Proliferation binnenstaatlicher Gliederung in vielsprachigen Län-
169 Vgl. hierzu z.B. für Indien King (1997), für Zentralasien unter sowjetischer Herrschaft Rzehak
(2001) und filr das subsaharische Afrika Banghose (2000).
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dem wie Indien nnd Nigeria sind dafür die prominentesten Beispiele. Doch nicht nur in Indien und Nigeria, sondern in den meisten Staaten der Dtitten Welt ist Sprachkompetenz ein Mechanismus sozialer und politischer Exklusio~. Wo Amt~sprachen, .die Spra~he ~er ~arlam.~nte w~d Gesetz,e weiten! Tet!en der Bevolkerung rucht verstandlieh slnd, wachst dte Macht der Inter-··: mediärc, die zwischen den Sphären des Populären und des Offiziellen vetmit- i teln und makeln. Dieses Verhältnis ist ein Hauptgrund für die Persistenz per- i sonaler Herrschaftsverhältnisse in der Dritten Welt. Der Mangel an Generalisierung universaler Codes ist die Machtquelle des Lokalen. Auch in diesen Bereichen staatlicher Herrschaft wird der weltgesellschaftliche Charakter schnell deutlich. Die Standards und Methoden, mit denen die Etablierung staatlicher Wtssensordnungen geschieht und an denen sie sich orientiert, sind seit langem international. Denn die Internationalität der Normen und Regeln, die aus Wahlen demokratische machen, gibt es in gleicher Weise fur Schulabschlüsse, Maße und Gewichte, Bilanzierungsmethoden und Budgetführung. Ihre Rationalitäten hielten mit der Kolonialisierung Einzug oder W\lrden imitiert. Sie werden jedoch zugleich seit Jahrzehnten durch die Arbeit der »Experten« im internationalen Großprojekt der Hilfe gestützt und eingefordert. Die Amts- und Nationalsprachen sind weltgesellschaftlich nicht nur, weil sie Hinterlassenschaften des Kolonialismus sind, sondern auch, weil sie das Medium der Kommunikation der globalen Politik sind. Kompetenz in einer der wenigen weltpolitischen Sprachen ist die Zugangsvoraussetzung für bestimmte soziale und politische Räume, die für die Akkumulation von Machtmitteln unentbehrlich sind. Ähnlich wie die ökonomische Rolle des Rentier-Staats, der zwischen lokaler Produktion und globalem Malkt vermitteln muss, so vermittelt der Staat der Dritten Welt auch symbolisch zwischen der bürokratischen Sprache moderner Politik und dem Lokalen, dessen Repräsentanten er nicht überwinden kann, weil er für jede Kommunikation auf sie angewiesen ist. Weil sein Wissen begrenzt ist, ist es auch seine Macht. An den Legitimierungsstrategien der postkolonialen Staaten kann man ablesen, wie das Aufbrechen dieser intermediären, vermittelnden Machtbeziehungen versucht wurde. Differenzen zwi-: sehen dem Ideal des Staates w1d beobachtbaren Praktiken zeigen sich nun : schon bei diesen Formen der Sprache und der Organisation des Wissens. Sie setzen sich in der teilweise widersprüchlichen Überlagerung von Legitimitäts- · fOrmen fort. Dynamiken, die sich hier beobachten lassen, betreffen zum Bei-, spiel die Versuche patrimonialer Figurationen, staatliche Herrschaft durch di~: ~!WJnbolische Umkleidung klientelistischer Bünde zu festigen. J
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5.1 Mythos und Legitimität Alle Inhaber staatlicher Macht und staatliche Agenturen in der Dritten Welt haben versucht, den postkolonialen Formen politischer Herrschaft eine erweiterte Legitimität zu verleihen als ihnen aus ihren historischen Formationen zukam. Dafür ist zunächst auf die Formen von Legitimität zu schauen, die sich für die postkolonialen Staaten gewissermaßen von selbst, also über ihren geschichtlichen Ort und ihr Verhältnis ~u ihren sozialen Kontexten ergaben. Den Versuchen, über Gründungsmythen, Riten und andere symbolische Strategien weiteres symbolisches Kapitel zu erzeugen, waren allerdings unterschiedliche Erfolge beschieden. Formen der Legitimität sind an Kosmologien gebunden. Weil sich Weisen der Weltauffassung global stark unterscheiden, hat es am Sinn einer vergleichenden Betrachtung der symbolischen Formen des Politischen immer Zweifel gegeben. 170 Stärker noch als die Formen der materiellen Reproduktion oder der politischen Herrschaft scheinen sich die symbolischen Formen von sozialen und politischen Figurationen zu unterscheiden. Doch so groß die Unterschiede zwischen Kosmologien, zwischen grundlegenden Weisen der Auffassung von Raum, Zeit und Welt sein mögen, spätestens seit durch die europäische Expansion bestimmte Modelle der politischen Herrschaft ihren Eingang in die politischen Formen aller Weltgegenden gefunden haben, ist die Vergleichbarkeit hergestellt. Auch in den Staaten der Dritten Welt lassen sich »Gründe legitimer Geltung«17 1 von Herrschaft finden, wie sie von Max Weber idealtypisch differenziert wurden. Für die Behandlung des Themas Legitimität ist es gleichwohl unerlässlich, den ideattypischen Charakter der Webersehen Begriffe zu berücksichtigen. Denn Personenkreise und Institutionen lassen sich fast nie eindeutig bestimmten Legitimitätstypen zuordnen, sondern befinden sich zumeist selbst in der Spannung unterschiedlicher Geltungen. Solche Ungleichzeitigkelten finden sich auch in den Mentalitäten der Beamten und in den Erwartungen der Subjekte, in denen sich im Umgang mit Staatsvertretern die ttaditionale Logik der 170 Die bekannteste Versi01t dieser Kritik stammt von Clifford Geertz (1980: 16ff.). Doch seine Argumente wiederholen nur die des Kulturrelativismus, und die von ihm angebotene alternative Metaphorik ist kein Ersatz für komparative Begrifflichkeiten (vgl. Rarnilton 1989:167). 171 Herrschaftsordnungen werden fraglos zusät-.dich gestützt durch zwei weitere Mechanismen, die Max Weber explizit neben seine Typologie der Gründe legitimer Gdtt111g stellt, nämlich die Erfüllung des materiellen Interesses »mindestens des Verwaltungsstabes« und die »Übereinstimmung mit der Sitte«. In beiden Hinsichten ist staatliche Herrschaft in der Dritten Welt geHihrdet geblieben. Weder ist die Besoldung des staatlichen Stabes durchgängig gewährleistet wtd zur Reproduktion hinreichend, noch ist die Übereinstimmung mit der Sitte fiir den modernisierenden Staat immer einzuhalten gewesen.
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Reziprozität und die Ausrichtung an legal-rationaler Verfahrenskorrektheit verbinden. Überall in Asien, Afrika und Lateinamerika finden sich nicht nur auf lokaler Ebene, sandem noch in den höchsten Ämtern des Staates klassische Elemente traditionaler Legitimität, wie ihre personale Gebundenheit, ihre religiöse Einkleidung oder die Abkunft vo11 traditionellen Herrschaftsschichten. Das gilt mit Einschränkungen und Modifikationen selbst für China und die Sowjetunion, in denen das nachlassende Charisma der Revolution durch patrimoniale Praktiken und die für sie typische traditionale Legitimität aufgefangen werden musste.172 Auch charismatische Elemente sind in den Legitimitäten von Regimen unübersehbar. Das gilt nicht nur für prominente Fälle wie das religiöse Charisma des Ayatollah Khomeini oder das Kriegscharisma des Warlords Charles Taylor, sondern auch für populistische Führer und die Träger des Amtscharismas. In unzähligen Revolutionen, Staatsstreichen und Kriegen haben Politiker der Dritten Welt in den Augen ihrer Bevölken1ngen Charisma erlangt, auch werm diese Erfolge zu einem großen Teil Inszenierungen, Ritualen und kreierten Mythen zu verdanken sind.m Elemente der legal-rationalen Herrschaft sind nicht nur in den Resten kolonialer Anstaltsstaatlichkeit zu finden, sondern ebenso Teil älterer und auch späterer eigenständiger Dynamiken. Denn die Verbreitung des Ideals der Staatlichkeit hat in allen Weltgegenden Bemühungen in Gang gesetzt, staatliche Herrschaft diesem Ideal anzunähern. Selbst in den Fällen, in denen vielen Einschätzungen zufolge den staatlichen Charakter der politischen Figuration grundsätzlich in Frage zu stellen ist - zu denken wäre an Somalia, Afghanistan oder Zaire/Kongo -sind teils auf Initiative der politischen Führungen, teils als Resultate einzelner Agenturen und Funktionsträger solche Bemühungen nachweisbar. Bei aller gebotenen Differenzierung verweist die Schwäche staatlicher Herrschaft in den Regionen der Dritten Welt jedoch allgemein auf große Le!,>itimitätsdefizite. Von einer globalen Verbreitung der Legitimität staatlicher Herrschaft kann nicht die Rede sein. Diese Hoffnung der frühen Modernisierungstheorien hat sich nicht erfüllt. Fast immer hat zwar die Form des Staates allgemeine Akzeptanz gefunden. Die Le!J.timität des Staates, der, im Sinne des
172 Vgl. hierzu Roth (1987: 122f.), Harnilton (1989) und Hanson (1997). 173 Eine klassisch zu nennende Studie über solche Strategien ist die vo11 Toulabor (1990) vorg~· legte Analyse zur Herrschaft Gnassingbe Eyademas in Togo. In diesem Fall gehörten Mythen um das Überleben eines Flugzeugabsturzes, der erfolgreiche Staatsstreich und das Geschick als Staatsmann bei der Vennittlung fremder Konflikte zu den geschaffenen Mythen, die das Charisma begründen sollten.
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oben geschilderten Ideals oberste Suprematie der Regdsetzung beanspruchen kann, ist jedoch in Asien, Afrika und Lateinmerika unvollständig.174 Aus der Perspektive einer Theorie globaler Vergesellschaftung bietet sich dafür eine Erklärung an. Das Legitimitätsdefizit hängt demnach damit zusammen, dass es keinen Automatismus im Wandel der Legitimitätsformen gibt. Die Auflösung traditionalet· Vergesellschaftungsformen führt zwar zum Nachlassen traditionaler Legitimität, auf der staatliche Herrschaft in der Dritten Welt über ihre lokalen Vermittlungen wesentlich aufruht. Traditionale Legitimität formt sich aber in Modertlisierungsprozessen nicht gleichsam automatisch in legal-rationale um, weil das Ausgreifen kapitalistischer Vergesellschaftungsformen nicht notwendig auch Verbürgedichung bedeutet. Die Auflösung traditionaler Verhälttlisse ist nicht durch eine Funktionslogik mit der Etablierung neuer ebenso tragfähiger Ordnungen verknüpft. Die Le~:,ritimitäts krise der Staaten der Dritten Welt ist daher wesentlich ein Problem des Wandels: Die Auflösung alter Formen der Sozialintegration durch das Ausgreifen bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftungsformen ist der strukturelle Hintergrund der Legitimitätskrise des nachkolonialen Staates. Der politische Wettkampf um Machtpositionen und die Vielzahl von Gelegenheiten und sich eröffnenden Machtquellen haben in den Staaten der Dritten Welt gleichwohl eine hohe Varianz der Praktiken hervorgebracht, mit denen politisch Handelnde Machtpositionen in legitime Herrschaft zu verwandeln suchten. Dabei vermischen und verschränken sich, wie in anderen politischen Kontexten auch, individuelle Motive der Konsolidierung der eigenen Position und die Dynamik um staatliche Institutionen.I1S Zu den Praktiken dieser Konsolidierungsversuche gehören vor allem die des Klientelismus w1d der Patronage. Sie sind teils aus der Not geboren, gehorchen aber in ihren Wandlungen nicht den Wünschen der Beteiligten, sandem sind von vielen Faktoren dynamisierte Beziehungen. Ihnen wohnt jedoch immer das Moment
174 Da.~ schließt einzelne Erfolge von Regimen und zeitweise lange amtierenden Regierungen nicht aus, die in diese Richtung auf wnfangreichere Erfolge verweisen können. Über solche »Ausnahmen« und die Autonomie staatlicher Agenturen, die auf dieser Grundlage möglich war, vgl. Evans (1995). 175 Diese Einsicht muss nicht als Bekenntnis zwn Funktionalismus aufgefasst werden. Doch ähnlich wie in Elias' Theorem des Königsmechanismus oder der Verhöflichung des Adels lassen sich auch in den politischen Zentren langfristig 1..-umulierende Effekte kurzfristigen politischen Handeins beobachten. Diese Effekte sind nicht immer gleichgerichtet und nicht immer konstruktiv. Die persönlichen Bemühungen um die Konsolidierung individueller Positionen im staatlichen Apparat wirken jedoch langfristig erkennbar auf eine Institutionalisierung staatlicher Macht, also ihre Umwandlung in Herrschaft, hin.
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inne, dass Patrone versuchen, mit der Etablierung, Festigung und Expansion solcher Bindungen soziales und ökonomisches Kapital zu akkumulieren. 176 Die Persistenz der Praktiken, die summarisch als »Klientelismus« bezeichnet werden, ergibt sich aus der großen Anpassungsfahigkeit dieser Beziehungsmuster an sich verändernde institutionelle Rahmen. Vom Zentrum der Person des Staatschefs, vom »Patrimonialherrn«, gehen die Hauptstränge der klientelistischen Netze aus. Ihre Struktur, der gegenseitige Austausch von Diensten zwischen Personen mit ungleicher Ressourcenausstattung, ist kein irrationaler Rest vorbürgerlicher Vergesellschaftungsformen. Diese Beziehungen sind häufig genug ebenso rational kalkuliert eingesetzte Herrschaftspraxis (Kasfu 1983: 13) innerhalb eines staatlichen Feldes, wie ein auch in internationalen Beziehungen vorkommende Praxis (vgl. Schlichte 1998d). Die Praktiken des Klientelismus sind eher als Antwort, als rationale Reaktion auf unsicher oder fehlende Institutionen zu sehen und zugleich ein Anzeichen für Legitimitätslücken. Der Klientelismus ist das klassische Phänomen der Auflösung traditionaler Vergesellschaftung unter modernen Bedingungen. In seinem an familiale Bindungen erinnernden Gepräge (vgl. Medard 1976: 106), in seinem vertikalen, personalistischen Aufbau und in seiner zentralen Norm der Reziprozität, kommt zwn Ausdruck, dass er die politische Fassung der Gesellschaft als Gemeinschaft ist. Im Klientelismus hat die erweiterte Familie, eine Grundform kollektiver Reproduktion, ihre politische Gestalt. Freilich sind auch die Formen des Klientelismus nach Epoche und historischer Entwicklung zu unterscheiden. Der klassischePatron verfügt in erste Linie über eigene Ressourcen, vornehmlich Land, dagegen der »moderne Patron ist ein >Mittelsmannbroker«< (Spittler 1977: 62), der über die individuell gebundene Verteilung öffentlicher Ressourcen seine Machtposition zu stabilisieren sucht. Die Verfügung über diese Ressourcen ist indes nicht gesichert. Deshalb sind moderne Klientelbindungen chronisch instabil. Umso wichtiger werden für den Patron Versuche, Klientelbindungen mit weitet-en legitimatorischen Elementen zu verstärken, die über das normative Gerüst der Reziprozität hinausgehen. Für die Klienten ist die Beziehung indes überlebensnotwendig, um in ungesicherten Zeiten des Wandels -oder der Stagnation - Zugriff auf Ressourcen zu erhalten und um vor der Willkür des Staates Schutz zu fmden (Spittler 1977: 73ff.). 176 Beide Begriffe, Klientelismus und Pattonage, sind analytisch unscharf. Sie bezeichnen in der Literatur eine große Varianz von so2ialen Beziehungen, die durch Reziprnzität zwischen Ungleichen gekennzeichnet sind. In der sozialen Realitiit sind diese Beziehungen in anderer Hinsicht ausgesprochen unterschiedlich. Sie ließen sich nach Grad der Monemrisienu1g, der sozialen Einbettung, ihrer symbolischen Umkleidung u.v.a. mehr w1terscheiden. Einen neueren Überblick über die weite Literatur bietet Howard (1994).
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Vom ländlichen Klientelismus des Grundherrn und Notabeln ist der im bürokratischen Apparat zu unterscheiden, der wesentlich auf Amterpatronage beruht. Wahrend der ersten nachkolonialen Dekaden half die Expansion des öffentlichen Sektors in den postkolonialen Staaten noch, die Akzeptanz der Regime und die Legitimität der Staaten durch Patronage als Integrationspolitik zu erhöhen. Die Bfuokratie mag ineffiZient gewesen sein, aber sie war systemstabilisierend. :Mit den Maßnahmen zur Verschlankung des Staates schwanden diese Möglichkeiten. Die Praxis des »jobs for the boys« (Sankbrook 1985: 94) fiel dem Ressourcenschwund und den Auflagen der internationalen Kreditgeber zum Opfer. Klientelistische Strukturen lassen sich in allen Erdteilen finden. Vom »Big Man« als politischen Unternehmer in Afrika (vgl. M&lard 1992) über den »Boss« der Politik auf den Philippinen (Sidel 1999) bis zur traditionellen Figur des Caudillo und Populisten in Lateinamerika (vgl. Eickhoff 1999) lässt sich der phänomenologische Bogen spannen. In diesen Typen und ihren Beziehungen zur Klientel mischen sich wiederum unterschiedliche Formen der Legitimität. Tradition, Charisma, aber auch die für moderne Verhältnisse charakteristische Legitimität durch Verfahren sind in den Praktiken dieser Beziehungen anzutreffen. Denn die Big Men beherrschen auch die Bürokratien, in denen sie fonneUe wie informelle :Mittel einsetzen. Nicht zuletzt gegenüber dem eigenen Stab - für Weber die zentrale Beziehung für die Frage der Legitimität von Herrschaft- sind Fonneu bürokratischer Herrschaft gängige Praxis auch in den Staaten des Südens. Die formelle Bürokratisierung der Herrschaft, und damit die Tendenz zur Legitimität legal-rationalen Typs werden indes auch von außen gefordert und geföl:dert. Die internationale Umwelt, und keineswegs nur die Staaten, fordern eine strukturgleiche Funktionsweise staatlicher Herrschaft ein, wie sie sie aus ihren jeweiligen Urs-prungskontexten kennen. Internationale Rechtsnormen, die Normen des zwischenstaatlichen Verkehrs, aber auch der Statistik und des allgemeinen Warenverkehrs sorgen im Zuge der Internationalisierung von Herrschaftsbeziehungen für einen dauerhaften Druck in Richtung bürokratische Rationalisierung. Je nach der Widerstands- oder Beugekraft der konkret geltenden Logiken schreitet die Bürokratisierung fort, wird abgebogen oder aber obstruiert. In allen Sta~te11 Afrikas, Asiens nnd Lateinamerikas sind also Dynamiken und Praktiken der Legitimierung beobachtbar, sie haben aber die Legitimationsdefizite der nachkolonialen Ordnung nicht beseitigen könnep.. Zwar gilt auch für die Staaten der Dritten Welt, dass allein die Herstellung von Sicherheit gegenüber gewaltsamen Übergriffen ihnen eine »Basislegitimität« verschafft (vgl. Trotha 1994: 7ff.). Sie beruht auf der Anerkennung von Eviden-
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zen, die Herrschaft sichtbar vorteilhaft machen. Diese Basislegitimität kam selbst dem kolonialen Staat zu. Aber auch überall dort, wo nach Gewalterfahrungen eine auch nur prekäre Gewaltordnung etabliert werden konnte, ist den nachkoloniale~ Staaten diese zugeschrieben worden. Doch der Schutz des postkolonialen Staates ist nicht verlässlich und nicht stetig. An der Vielzahl bewaffneter Konflikte lässt sich erkennen, dass die postkolonialen Staaten wie ihre Vorgänger Erfahrungsräume der Gewalt geblieben sind (lVfl)embe 2000: 219). Patronage und Klientelismus bleiben zumeist eingebettet in soziale Zusammenhänge, die das staatliche Feld übergreifen. Eben weil der Staat nur selten als wenigstens teil-autonomes Handlungsfeld ausgeformt ist, müssen alle Beteiligten auf Ressourcen außerhalb des Staates zurückgreifen. Damit halten andere soziale Logiken in den Staat Einzug und behindern die Rationalisierung von Herrschaft. 177 Die Legitimität staatlicher Herrschaft in der Dritten Welt ist deshalb durch solche Bünde gebrochen und umstritten geblieben. In der Realität der postkolonialen Staaten findet sich deshalb eine Reihe von Strategien, die diese Legitimationsdefizite ausgleichen sollen. Um diese soll es im Folgenden gehen. Unter ihnen spielt die Konstruktion von »großen Erzählungen« eine herausragende Rolle. Sie beginnen fast immer mit Gründungsmythen. Im Griindungs11fYihos verbinden sich Ethnos und Revolution. Das Ethnos, das Kollektivsubjekt, das im Staat vorgeblich seine Form findet, wird verzeitlicht, auf eine Mission geschickt (vgl. a. Diner 1999: 83ff.). Im empirischen Einzelfall verdichtet sich die Gründung eines Staates im Gründungsmythos zum Geburtsmoment einer Erzählung. Solche begründenden Mythen berufen sich auf unterschiedlichste Ereigtlisse, auf »Revolutionen« ebenso wie auf ))Befreiungen von Ftemdhenschaft«, auf »nationale Bewusstwerdungen« wie auf entscheidende Taten ))großer Männer«. 'Die erbrachten Opfer der »Märtyrer«, die Härten des Kampfes und der Ruhm des Sieges sind in diesen Erzählungen die erbrachten Vorleistungen. Im Gründungsmythos verknüpft sich die Geschichte der Ethnos als Kollektivsingular mit familialer Logik. Der Pr1bident legitimierte sich als ))gerechter geistiger Vater«, berechtigt zur autOLitären Fortschrittspolitik Diese Vorstellung entstand im Maghreb (Abun-Nasr 1999: 204) genauso wie in Thailand und Indonesien (Young 1997), in Togo (vgl. Taulabor 1986: 221ff.) und in der Türkei (vgl. Groc 2000: 289ff.). 177 Das bedeutet indes nicht, dass eine rationalisierte bürokratische Herrschaft gegen klientelistische Machtbeziehungen immun wäre. Nur sind solche »Seilschaften«, die sich in modemen Organisationen, wie etwa Universitäten, heranbilden, nicht von außen durch Rückgriffe auf weitere Machtmittel gestützt und ihre Macht reicht auch nicht über das bürokratische Handlungsfeld hinaus. Das unterscheidet sie von der Mafia.
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Die politisch legitimatorische Wirkung dieser Gründungsmythen ist jedoch Veränderungen unterworfen. Für die historisch beteiligte Generation bleibt er unhinterfragt und gültig, sicher nicht zuletzt, weil er auch als Folie für das Erleben und Erzählen des eigenen Lebens dient. Wachsen indes Generationen heran, die den »Moment der Offenbarung« nicht miterlebt haben, sondern ihn nur aus wiederholten Erzählungen kennen, dann lässt die bindende Kraft des Mythos nach. Die Veralltäglichung des Charismas der Revolution erweist sich als ebenso schwierig wie die des Charismas des Propheten (vgl. Vayssiere 1994). Um diesen Effekt abzufangen, gibt es politische Ri111a/e. Sie sollen die Zeitlichkeit des Staates und der in ihm verkörperten Gemeinschaft transzendieren. Ernst Cassirer hat in seiner Analyse des deutschen totalitären Staates die mythische Seite des Staates betont. Demnach ist der Mythos keine mit fortschreitender Modernisierung verschwindende symbolische Fo1m. Gerade in Umbruchszeiten, die mit starken existentiellen Verunsicherungen einhergehen, sind auch moderne Gesellschaften für mythische Auffassungen empfänglich. Der Mythos als Bild, als Verdichtung von Gefühlen in bildhaften Symbolen ist Cassirer zufolge eine symbolische Form wie andere: Auch er ist eine Synthese, die eine Weltordnung impli2iert, auch der Mythos differenziert, indem er etwa zwischen dem Heiligen und dem Profanen unterscheidet. Und so tendieren auch Staaten dazu, von der legitimierenden Wirkung mythischer Auffassungen zu profitieren. Praktiken, die sich auf Mythisches beziehen, lassen sich in fast allen Staaten beobachten. In manchen Fällen reichen sie bis zur völligen Mythologisierung des Staates. In solchen totalitären Systemen werden Politiker, wie Cassirer (1969 /1988: 397) ausführt, zu einer Doppelexistenz genötigt: Sie sind homo faber und homo ma~s zugleich, als moderne Priester verkünden und insistieren sie auf der Durchsetzung der neuen Religion des Staates, dessen Praktiker sie zugleich sind. Aber auch die Kreation und Kombination von Riten sollen der Steigerung der Legitimität staatlicher Herrschaft dienen. Riten dienen der Veranschaulichung und der Aktualisierung symbolisch vermittelten gesellschaftlichen Wissens.t78 Denn in Riten kombinieren sich die Referenzen an das Alte mit modernen Prozeduren. Die Agenten der Staatlichkeit versuchen sich durch diese Formen der Angliederung an alte Gehalte traditionale Legitimität anzueignen. Riten und symbolische Handlungen stellen Bezüge zu vorherigen Ord-
178 Diese Praktiken sind nicht auf Staaten der Dritten Welt beschränkt. Der Anthropologe Mare Abeles (1991) hat in einer Analyse des Tagesprogramms von Franc;ois ~Iitterand auf die hohe Bedeutung symbolischer Handlungen im »Alltag des StaateS(( hingewiesen.
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nungen her, zur longue durie der Gesellschaft. Sie sollen Herrschaft in den hergebrachten Bedeutungswelten verankern, und unterscheiden sich darin in nichts von den Ritualen der vorgeblich primitiven Gemeinschaften (vgl. Turner 1989). Diese symbolischen Strategien umfassen auch den Gebrauch der Spr:{che. Unzählig sind die teils bewussten, teils unbewussten Entlehnungen von Metaphern, mit denen das Geschehen der Politik, die Aktionen des Staates beschrieben werden. Weil politisches und staatliches Handeln meist »unbildlich und farblos« ist, werden Metaphern dazu verwandt Zweck und Mittel, Wert und Ziel »sinnhaft zu integrieren«, das »Unanschauliche anschaulich, das Vieldeutige eindeutig« (Münkler 1994: 126). Solche Metaphern wie der »große Steuermann«, der »Vater der Nation«, das »Land der Aufrechten«, der Staat als Maschine, als Organismus, als »institutionalisierte Revolution« und jüngst auch als »dienstleistendes Unternehmen« bezeugen die Vielfalt der Bestrebungen, das Image des Staates mit Zusatzwerten auszustatten, um das Anliegen der Herrschaft in historische Kontinuitäten zu stellen oder durch besondere »Modernität« zu legitimieren. An der Ikonographie und der Inszenierung der Macht lassen sich diese Bemühungen direkt ablesen. Staatsmänner wie Hassan II, Muhammar Ghaddafi oder Yoweri Museveni präsentieren sich wechselnd in religiösen Gewändern, in legerer Freizeitkleidung, in Uniformen, in traditionellen Gewändernoder eben im Anzug des Staatsmanns. Die rituelle Freigabe von Autobalmen, die Reden an symbolischen Orten, die Riten der staatlichen Organe - all diese »Spektakel« des Staates dienen der rituellen Veranschaulichung seiner Ansprüche. In der Erzählung der »Nation« sollen die Kämpfe, die Gewalt, die Willkür in der Genese Machtfigurationen vergessen werden (Renan 1992: 41). Die Idee der Nation kann sich nur zum Schein durch Religion, Sprache, Interessen oder die Natürlichkeit von Grenzen definieren (ebd.: 52). Das Aufkommen und die Verbreitung dieser Vorstellung ist selbst ein Resultat von Modernisierung, des Aufbrechens der alten Verhältnisse. Die Versuche, über Erzäl1lungen der »Nation« Legitimität für die postkolonialen Ordnungen zu entwickeln, sind deshalb wie in der europäischen Geschichte reaktiv. In den Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas sind die Erfolge dieser V ersuche jedoch begrenzt durch die alternativen symbolischen Ordnungen, in denen soziale Verhältnisse und ihre Veränderungen begriffen werden.
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5.2 Die Nation und die Religion In der kolonialen Geschichte, aber auch über diese hinausgehend, sind zwei Ideologien von besonderer Bedeutung für die Dynamik staatlicher Herrschaft gewesen, nämlich Nationalismus und Fundamentalismus. Nationalismus und religiöser Fundamentalismus haben unter anderem gemeinsam, dass ihre Genese und ihre Entfaltung von staatlichen Projekten nicht getrennt betrachtet werden kann. Beide wurden zu Feldern der symbolischen Strategien politischer Macht, für die Agenten der Staatlichkeit wie für ihre Herausforderer. In allen Regione11 der Dritten Welt lässt sich beobachten, dass n.'ltionalistische Reaktionen auf imperiale und koloniale Expansionen sehr früh einsetzen. Jenseits der allgemein wahrgenommenen Konjunkturen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und nach dem Zerfall der Sowjetunion hat der Nationalismus, der als Dekolooisation »erfolgreich« war, seine Wurzeln in den Diskursen des Widerstands, der mit der kolonialen Unterwerfung einsetzt. Er ist seit diesen Zeiten ein »globales Phänomen« (Schoch 2000: 170), auch wenn er seine volle Schwungkraft erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts entfaltete. Denn die Schulen der Missionen ebenso wie die säkularen Bildungsinstitutionen, aber auch die Medien der Kolonialgesellschaften waren die Foren der Ausbreitung der okzidentalen Normen und der Figuren ihrer politischen Diskurse. Über diese Foren breitete sich die Normwelt europäischer Ideen aus, um sich mit lokalen Symboliken und Ansprüchen zu je eigenen Projekten zu verschmelzen. Der Nationalismus der Dritten Welt - und auch der ehemaligen »Zweiten« - ist nur teils volkstümlich. Er entstand als intellektuelle Reaktion auf koloniale Situationen und wurde dann vor allem ein Legitimierungsdiskurs derjenigen, die die Macht in den neuen Staaten als et-ste usurpierten. Seine Verankerung in der Tradition ist scheinbar, denn seine historischen Wurzeln reichen fast immer nur in die Zeiten von Fremdherrschaft in der sich »nationale« Bezüge und Vorstellungen reaktiv entwickelten.1 79 In zahllosen Fällen, wie etwa in den segmentären Gesellschaften Afrikas, aber auch in weiten Teilen der ehemaligen Sowjetunion, sind die Gemeinschaften, auf die sich Nationalismen beziehen, Resultate der kolonialen und imperialen Praktiken.l80
179 Die allgemeine Literatur zum Thema Nationalismus ist ebenso umfangreich wie mittlerweiie verbreitet. Schoch (2000) führt alle relevanten Arbeiten an. Zu den hier interessierenden Regionen vgl. Davidson (1992) zu Afrika, Stölt.ing (1991) und Baberowski (2000) zur ehemaligen Sowjetunion. 180 Deshalb trifft die »Eisschrank-These!Jana Sangh« (vgl. Jaffrelot 1996: 23f.), wie die Inklusion islamistischer Parteien in Pakistan unter Zia Ulhaq (vgl. Nasr 1994: 188ff.). Vgl. a. die musterhafte Studie Eiekeimans (1985) über den marokkanischen Notabien Hajj Abd ar-Rahman, an der der Niedergang der unabhängigen islamischen Bildungsinstitutionen unter französischer Kolonialherrschaft und ihre Indienstnahme durch den unabhängigen Staat exemplarisch deutlich werden.
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die anti-moderne Kritik der religiösen »Fundamentalisten« wird von sozialen Gruppen formuliert, denen der Zugang zu den Zentren moderner Macht verschlossen ist und den sie nun mit einem Programm einfordern, das von westlichen Idealen mitbestimmt ist (Eisenstadt 1998:122ff.). So ist den Islamisten Algeriens (Martinez 1998) und den Hindu-Nationalisten in Indien Qaffrelot 1996; Eckert 2005) gemeinsam, dass sie von politischen Institutionen Wohlfahrtsleistungen und soziale Sicherheit verlangen. Dass die staatlichen Leistungen in dieser Hinsicht immer defizitärer werden, gerät fundamentalistischen Bewegungen zum Vorteil. Weil sie organisieren, was staatliche Agenturen immer weniger leisten können, nämlich Ansätze und Wege zu Sicherheit und Wohlfahrt, kommt ihnen Basislegitimität zu_184 Mit dem Rekurs auf die Ideenwelt des Nationalismus und der Religion haben die nachkolonialen Staaten also ihre Legitimität nicht direkt erhöhen können, sondern nur neue Felder symbolischer Kämpfe eröffnet und neue Parteiungen geschaffen. Diese verneinen indes nicht das Ideal der Staatlichkeit. Auch sie beziehen sich darauf, ohne allerdings über ein Programm zu verfügen, das die Strukturprobleme staatlicher Herrschaft lösen könnte. Fundamentalistische Bewegungen werden so zu organisierten politischen Akteuren, die neben den staatlichen Agenturen bedeutsame Macht akkumulieren können, die aber gegenüber den lnklusions- und Kooptationsbemühungen des Staates nicht resistent sind. Weil ihre innerweltlichen Heilsversprechen nicht einlösen können, sind sie zugleich nur temporäre Erscheinungen. So lange sie ihre Wirkkraft besitzen, entfalten sie widersprüchliche Effekte, in denen sich ihre Geschichte fortsetzt. Sie sind ein Produkt der postkolonialen Ordnung, fordern sie heraus und bestätigen sie zugleich. Die Geschichte der fundamentalistischen Regime, des Iran nach 1979 wie Indiens nach dem Wahlsieg der Bharatrya Janata Parry (1998) zeigt, dass diese in ihrem Außenverhalten durchaus alten Mustern folgen und sich von der staatlicher Handlungslogik keineswegs emanzipiert haben. An der prekären Grundlage der Legitimität staatlicher Herrschaft in der Dritten Welt hat sich durch die Strategien staatlicher Akteure wenig geändert. Bis heute vermischen sich legal-rationale Elemente mit den traditionalen und .·charismatischen, ohne dass eine eindeutige Verschiebung zu beobachten wäre. Auch die Welle der Demokratisierung, die zahlreiche Staaten der Dritten Welt seit den 1980er Jahren erfasst, hat an diesen Gewichtun~n keine grundlegende Änderung bewirkt. Nur dort, wo diese neuere Form der Vergesellschaftung
184 Zu den »frommen \Verken«, die natürlich auch von säb:ularen Interessen beeinflusst sind, vgL z. B. Jaffrelot (1994) zu Indien allgemein, Medani (1997) zu Sudan und Eckert (2003) zur Politik der Shivsena in Bombay.
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des Staates mit einer starken sozialen Differenzierung einherging, haben sich Effekte auf die Praktiken des Regierens bemerkbar gemacht, auch wenn sich an den Formen der »Herrschaft auf dem Lande« und an den autoritären Praktiken der staatlichen Gewaltapparate (vgl. 3.1) damit noch kein Wandel ergeben hat. Die Verrechtlichung des politischen Wettbewerbs im politischen Zentrum ist eben nicht gleichbedeutend mit dem Wandel der Praktiken staatlicher Herrschaft, sondern dieser Wandel ist ein viel langfristigerer Prozess, der auf weiteren Entwicklungen aufruht. Gerade der Erwerb legal-rationaler Legitimität ist rückgebunden an weitere Verände1'Ungen der sozialen und politischen Strukturen. Zu ihnen gehören die Entmachtung traditionaler Autoritäten, die Rationalisierung nicht nur des Staates, sondern der »Wirtschaft« ebenso, mit ihren Elementen des »Betriebscharakters« der Organisation und der reinen Geldrechnung. Monetarisierung und die Individualisierung zum »vereinzelten Einzelnen« (Marx 1939/1983: 406) sind solche großen Prozesse, die historisch mit der Entstehung legalrationaler Legitimität verschränkt sind. Zu den Voraussetzungen moderner Legitimitätsformen gehört nicht zuletzt die Erfahrung, dass die legitimitätssstiftenden Verfahren tatsächlich stattfinden. Deshalb kommt dem Recht, seiner sozialen Wirklichkeit und seiner Durchsetzung, eine zentrale Bedeutung für die Legitimität moderner staatlicher Herrschaft zu.
5.3 Das Recht des Staates Dass Recht staatlich ist, und dass in den Staaten des Westens die Verstaatlichung des Rechts erreicht ist, gilt als unhintergehbare Tatsache. Die Vorstellungen über Souveränität, Herrschaft und Verfahren sind mit der Idee der Staatlichkeit des Rechts untrennbar verwoben. Ebenso wie die Apparate, die das staatliche Gewaltmonopol umsetzen, und die, die die dafür notwendigen Mittel erheben, sind auch jene Einrichtungen ein elementarer Bestandteil moderner Staatlichkeit, die sich mit der Kodifizierung und Durchsetzung der Regeln beschäftigen, die den Staat in seinem lnnern wie nach außen abgrenzen. Mit dem Kollektivsingular Recht werden die Gesamtheit dieser Codes und die mit ihm verbundenen Praktiken bezeichnet. Ein weitreichender Konsens der Sozialwissenschaften geht von der Überlegenheit des staatlichen Rechts wie auch von seiner faktischen Universalisierung aus. Modemisierungstheorien jedenfalls behaupten, dass auch in nichtwestlichen Kontexten die Tendenz zu einer Verstaatlichw1g des Rechts zu beobachten ist und sich durchsetzen wird. Doch sind diese Annahmen wirk-
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lieh angemessen? Wenn es sich nicht so verhält, welche Prozesse und Normenordnungen lassen sich stattdessen beobachten und wie lassen sie sich beschreiben? Dieser Abschnitt soll über die wesentlichen Bestimmungsgründe der Entwicklung des Rechts in den Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas Auskunft geben. Dabei sollen indes nicht die so häufig behandelten Fragen von Verfassung und Menschenrechten betrachtet werden, sondern in erster Linie die für das Alltagsleben wichtigere Frage der Regulierungsfunktion von staatlichem Recht im gesellschaftlichen Alltag. Bürokratisches Wissen und gesatztes Recht sind in entwickelten Gesellschaften die wichtigsten symbolischen Ressourcen für staatliches Handeln. Voraussetzung für diese Funktionen sind nicht nur Schriftlichkeit und fachmäßige Schulung der handelnden Einzelnen, sondern ebenso die Bereitschaft, sich den praktischen Konsequenzen der Entscheidungen einer Bürokratie zu unterwerfen und das eigene Leben daran auszurichten. Die soziale und politische Relevanz der in Rechtsordnungen kodifizierten normativen Ordnungen ist daher unmittelbar abhängig davon, inwiefern diese Kodifikationen sich mit den tatsächlich gültigen vergesellschaftenden Regeln decken: Im Extrem der totalen Deckung entspricht die in juristischen Begriffen formulierte Selbstbeschreibung des politischen Systems den tatsächlichen Verfahren. Im Extrem der völligen Diskrepanz sind die kodifizierten Regeln bloßer Buchstabe, während die politische und soziale Praxis ganz anderen als clen geschriebenen Regeln folgt. Diese Extreme lassen sich modernisierungstheoretisch verorten: Im rationalen Anstaltsstaat, dem politischen Korrelat einer entfalteten kapitalistischen Wirtschaft, ist die Deckw1g der rechtlichen Beschreibung von Verfaluen und der tatsächlichen Funktionsweise institutionalisierter Verfahren hoch. In Ordnungen, in denen Formen des modernen Rechts nur oktroyiert sind, weicht die faktische Regelung sozialer Konflikte unter Umständen radikal davon ab, weil andere, traditionale Formen diese Regelungsfunktion übernehmen. Die Kodifikation, Systematisierung, die Rationalisierung und schließlich die Verselbständigung des Rechts als »Sphäre« mit eigenem Berufsstand, Sprache und Code sind jedoch selbst Resultate von Modernisienmgsprozessen. Damit im modernen Staat staatliche Gewalt als souverän, einheitlich und vor allem als »berechenbar« gedacht und erfahren werden kann, sind Prozesse nötig, die nicht allein den Staat betreffen, sondern die Umwälzung von Lebensverhältnissen bedeuten. Erst wenn diese Umwälzung der Lebensverhältnisse stattfindet, können Recht und Geld die formbestimmenden allgemeilmr i\ledien werden, in denen sich moderne Gesellschaften und moderne Staaten wcchsclseltl.g vermitteln. Nicht nur soziale Beziehungen sind darin üben\ricgcnd rechrst(>r· mig oder monetär vermittelt, sondern auch die Beziehungen 7.w1sch~:n 'ie:1
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Agenturen des Staates und den vereinzelten Einzelnen wie den sozialen Verbänden. Diese Allgemeinheit der Rechtsgültigkeit ist also ein Speziftkum der bürgerlichen Gesellschaft. Sie geht einher mit der Ausbreitung des Warenverkehrs und der Verselbständigung der sich als Eigentumsträger gegenübertretenden Rechtssubjekte. Und auch wenn bürgerlichen Gesellschaften der Widerspruch zwischen postulierter politischer Gleichheit und fortdauernder ökonomischer Ungleichheit immanent wird, so ist doch auch festzuhalten, dass die Freisetzung des einzelnen aus personalen Abhängigkeiten die Voraussetzung für die Möglichkeit der Gültigkeit rationalen Rechts als allgemeines Medium ist: Nur dort, wo auch die Ware Arbeitskraft über die Form der freien Lohnarbeit von alten Bindungen gelöst ist, ergibt sich die Chance, »ohne Ansehen der Person« kodifizierte Regeln als Regulationsmechanismus zu allgemeinen zu machen. Aber Kapitalismus heißt noch nicht Rechtsstaat, sondern dieser muss immer in politischen Kämpfen errungen werden. Wie die Entwicklung gerade in sich schnell modernisierenden Gesellschaften zeigen, ist rascher sozialer Wandel und rasche kapitalistische Inwertsetzung durchaus über lange Zeiträume ohne rechtliche Einhegung möglich. Politisch-rechtlich kann Kapitalismus so lange faktisch Klassenjustiz bedeuten, bis die Verrechtlichung der Politik und die Rechtsstaatlichkeit von konfliktfähigen sozialen Gruppen durchgesetzt werden kann. Das staatliche Recht muss, wie das Gewaltmonopol, vergesellschaftet werden. Beide Prozesse, die Verstaatlichung des Rechts und seine Vergesellschaftung, haben in Asien, Afrika und Lateinamerika erst begonnen und si11d unterschiedlich weit fortgeschrittel.l. Die Dynamiken des Rechts in der Dritten Welt sind jedoch mit diesen allgemettien Einsichten noch nicht erfasst. Denn auch wenn sich bürgerlichkapitalistische Vergesellschaftungsformen noch nicht wirklich verallgemeinert haben, so ist das Recht in der Dritten Welt weder inexistent, noch für die Entwicklung staatlicher Herrschaft irrelevant. Es lassen sich vielmehr Entwicklungen aufzeigen, die in unterschiedliche Richtungen weisen. Die zentralen TI1esen, über die Dynamik und die Tendenzen der Verstaatlichung der normativen Ordnung in Lateinamerika, Afrika und Asien lassen sich wie folgt zusammenfassen: Erstens ftndet der Prozess der Verstaatlichung des Rechts zwar statt, aber er vollzieht sich anders, als es der verbreiteten Vorstellung vom Staat als der zentralen Normsetzungsinstanz entspricht. Kernmerkmale dieses Prozesses sind seine Internationalität, die konfligierendc Überlappung unterschiedlicher Rechtsordnungen und eine deutlich spezifische Historizität der Entwicklung. Zweitens ist der Prozess der Verstaatlichung des Rechts gewaltgeladen. Die Etablierung staatlicher Herrschaft setzt zunächst Machtbildungen voraus. Der
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physischen Gewalt kommt dabei eine Schlüsselstellung zu. Der Prozess führt drittens nicht umstandslos zu einer mle oj law, sandem ist durch Ungleichzeitigkeiten und Ungleichheiten geprägt, die Gesellschaften und ihre politischen Formen gleichermaßen durchziehen.
5.3.1 Zwn theoretischen Ort des Rechts In den Sozialwissenschaften ist es gängig, die normativen Ordnungen traditionaler Gesellschaften als »Sitte«, die moderner, funktional differenzierter Gesellschaften hingegen als »Recht« zu bezeichnen. Dieser Unterscheidung kann hier nicht gefolgt werden, weil sie eine wesentliche Entwicklung, nämlich die Verstaatlichung einer normativen Ordnung, nicht in den Blick nehmen kann. Aus der ethnologischen Forschung lässt sich mit guten Gründen argumentieren, dass die Reduzierung des Rechtsbegriffs auf normative Ordnungen und Verfahren eines zentralisietten Staates nicht zwingend ist (vgl. Sigrist 1979: 106ff.). Für die hier verfolgte Fragestellung ist es daher angebrachter, nur zwischen nicht-normativen Regclmäßigkeiten und normativen Regeln zu unterscheiden.185 Diese Unterscheidung lässt die Möglichkeit offen, den spezifischen Prozess der Monopolisierung der Normsetzung durch den Staat zu verfolgen.l86 Gerade die Rechtsethnologie hat auf den Einschluss nichtstaatlichen Rechts in den Begriff des Rechts immer Wert. gelegt, um ihren Gegenstand zu erhalten, auch wenn die Verständigung auf einen gemeinsamen Rechtsbegriff dennoch nicht gelang (vgl. Benda-Beckmann 1976: 357f.). f\.1it dieser Auffassung ist auch ein Verständnis des Rechts kompatibel, wie es Niklas Luhmann für eine Theorie sozialer Systeme entwickelt hat. Demnach lässt sich Recht begreifen als >>Struktur eines sozialen Systems, die auf kongruenter Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen beruht« (1980: 105). Mit dieser funktionalen Definition des Rechts werden vorstaatliche Gesellschaftsformen nicht ausgeschlossen, denn sie erkennt den Umstand an, dass jede soziale Gruppe, die sich als Gesellschaft konstituiert, über einen normativen Kanon verfügt.
185 Dies entspricht etwa Malinowskis Unterscheidung zwischen »rules df custom« und »rules of laW«, wobei nur den letzteren eine »definite binding obligation« zu Eigen sei (1926: 30). 186 Dieser Rechtsbegriff umfasst also »Konvention« und »R~cht« im Sim1e von Max \'Veb~rs "Soziologischen Grundbegriffen«, und fasst dessen Definition von llBrauch« und llSitte« zusammen, vgl. Weber (1920/1985: 15ff.). Die Gegenposition fmdet sich bei 1l1eodor Geiger: >>Recht ist insofern: ein von einer Zentralmacht monopolisierter Ordnungsmechanismus« (1964: 133).
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Solch eine breitere Rechtsauffassung ennöglicht es, den Prozess in den Blick zu nehmen, auf den es hier ankommt: das Streben des Staates nach Monopolisierung oder wenigstens Dominanz bei der Produktion und Durchsetzung dieser »normativen Verhaltenserwartungen«. Dies, die Verstaatlichung des Rechts, ist auch die entscheidende Differenz, die von allen Theorien geteilt wird, die sich aus sozialwissenschaftlicher Sicht mit dem Recht befassen und dabei langfristige Prozesse in den Blick nehmen. Ihnen allen ist die Idee einer Modem.isierung, einer Differenz zwischen traditionalen und modernen Formen der Vergesellschaftung gemeinsam. Im Falle moderner Staatlichkeit kommt ein weiteres Merkmal hinzu, das von nahezu allen Rechtstheorien betont wird: die Positivität des Rechts. Von Beginn an begleitet etwa die ethnologische Auseinandersetzung mit dem Recht die evolutionäre These der Entwicklung des Prinzips nonnativer Ordnungen jrom stahls to contract, der Ersetzung der Sitte durch staatlich gesatztes Recht (Nader 1965: 8). Max Weber (1920/1985: 503-513) etwa fasst diese Entwicklung als den Übergang von der >>Charismatischen Rechtsoffenbarung durch >Rechtspropheten«< über Rechtsschöpfung durch Rechtshonoratioren bis zur fachmäßigen Rechtspflege durch ausgebildete Fachjuristen. Dieser Verschiebung entspricht die innere Rationalisierung des Rechts zur >>Technik«. Die europäische Rechtsentwicklung wird dabei zunächst als Loslösung von traditionalen Prinzipien und schließlich durch die Entwicklung des juristischen Berufstandes und wirtschaftlichen Bedingungen bedingte Verselbständigung des Rechts gefasst. Recht wird im Verlauf dieses Prozesses zunehmend ))gesatzt«, es wird zur Entscheidung, zu einem >>Produkt und technische(m) Mittel eines Interessenkompromisses« (ebd.: 502), dessen Formulierung berufsmäßig geschultem Personal überantwortet wird. Staatliches Recht in diesem modernen Sinne ist, so betont Weber, eine historische Ausnahmeerscheinung (ebd.: 443). Niklas Luhmann hat den Kern dieser Veränderung, der Entstehung des positiven Rechts, in der »Legalisierung von Rechtsänderungen« gesehen (1980, Kap. IV). Funktional differenzierte Gesellschaften entwickelten ein Bewusstsein ihrer Kontingenz, so dass die Geltung des Gesetzes nicht mehr auf ein Jenseits der Gesellschaft verlegt werden kann, sondern an das Verfahren seiner Entstehung gekoppelt werden müsse. Damit verbunden sei außerdem die Erweiterung des Rechts, in sachlicher und sozialer Hinsicht: Immer mehr Bereiche würden justiziabel, und immer mehr Personen würden von diesen Regelungen erfasst. Eine ähnliche Sicht auf die Entwicklung des Rechts in modernen Staaten entwickelt auch Jürgen Habermas. Erst in moden1en Gesellschaften träten Recht und Moral auseinander. Der Unterschied zwischen Legalität und Mora-
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lität präge sich darin aus, dass jedermann seiner privaten Ethik anhängen könne, solange er abstrakten Rechtsgehorsam leistet, auf dem das Recht ruhe (1987: 261 ). Auf individueller Ebene sei ein ))post-kotwentionelles« moralisches Bewusstsein das notwendige Korrelat des modernen Rechtssystems. Die »Ausdehnung und Verdichtung« des Rechts lässt sich Habermas -zufolge in der Geschichte der westlichen Staaten in vier großen Schüben der Verrechtlichung beobachten, die deren Wandlung vom frühen bürgerlichen Staat zum demokratischen Rechtsstaat begleiten (1987: 534ff.). In modernen Gesellschaften haben Rechtsinstitutionen zwar noch eine materielle Rechtfertigung in der Lebenswelt, grundsätzlich aber wird das Recht zu einem Stcuerungsmedium. Es ist ein Teil der Systemintegration, ein Mittel der Subsysteme Wirtschaft und Verwaltung und der von diesen Systemen ausgehenden »Kolonialisierung der Lebenswelt« (ebd. 539). Allen diesen theoretischen Behandlungen des Rechts ist gemein, dass sie die Produktion und Verwaltung des Rechts beim Staat ansiedeln. Zwar wirken zahllose soziale Akteure an der Bedarfsartikulation, an der Formulierung, und - in geringerem Maße - auch an der Durchsetzung des Rechts mit. Es ist jedoch der Staat, der mit dem >>Steuerungsmedium« Recht in Subsysteme und Lebenswelten hineinregiert, an den Beschwerden gerichtet werden, von dessen Stäben die nötigenfalls gewaltsame Durchsetzung des Rechts erwartet wird und der der soziale Ort der Fassung und KodifiZierung des Rechts ist. Die historischen Pfade, auf denen diese Staatlichkeit des Rechts erlangt wird, sind sehr verschiedenartig. Für den Prozess der Verstaatlichung des Rechts lassen sich gleichwohl allgemeine, übergreifende Merkmale formulieren, wie sie für moderne westliche Staaten unter dem Stichwort der »Verrechtlichung« diskutiert werden, nämlich Parlamentarisierung, Bürokratisien.mg und Justizialisierung (vgl. Voigt 1983: 36).187 Der Prozess der Verstaatlichung des Rechts betrifft zunächst die Frage nach der Produktion des Rechts. Typischerweise fmdet diese in modernen Staaten in Parlamenten statt, soweit sie nicht einfache administrative, von Behörden zu erstellende Fragen von geringerer gesellschaftlicher Reichweite betrifft. Ein Ausgreifen der Parlamentarisimmg der Rechtsproduktion kann damit als Indikator der Verstaatlichung des Rechts angesehen werden. Auf die Rechtspraxis des Staates bezieht sich die Frage nach der Biirokratisierung der faktischen Rechtsvorgänge. Nur insofern als die staatlichen Organe 187 NI!Ch Jürgen Habeanas' Analyse besteht ein wesentlicher Gnmdzug der Verrechtlichung ist auch die Kodifizierung der Regeln, nach denen Politik stattfinden soll. Die >>Gesetznüilligkeit der Verwaltung im Sinne einer >Herrschaft des Gesetzes«< (Habermas 1987: 528) und schließ· lieh auch die »Verrechtlichung des Legitimationsprozessesbjektivität« gesellschaftlicher Widersprüche berührt wird. Denn unabhängig von der Frage, ob diese Widersprüche »an sichide Überwachung der Finanzbehörden haben zu einem deutlichen Zuwachs des Steueraufkommens geführt. Dazu gehört eine Umstellung der Steuerpolitik. Gemäß den Empfehlungen der internationalen Finanzinstitutionen versucht der ugandische Staat eher Einkommen und Verbrauch zu besteuern anstelle von Produktion und Handel.206 Dieser Politikwandel hat zur Abschaffung der Exportsteuern geführt, mit der der ugandische Staat zuvor in erster Linie die Rente aus dem Kaffee-Export abgeschöpft hatte. An die Stelle dieser wichtigsten Steuer sind nun die Steuern auf Importe wie Benzin und Akzisen auf Zigaretten, Bier und andere Produkte der formellen Ökonomie getreten. Die Besteuerung der Einkommen ist hingegen gescheitert. Lediglich von den Angestellten der formellen Ökonomie, allen voran von denen des Staates, wird eine Lohnsteuer einbehalten. Die männlichen Erwachsenen bekommen eine graduated tax auferlegt, deren höchster Satz sich Ende der 90er Jahre auf das Äquivalent von 5 US-$ belief. Diese spärlichen Einnahmen, die kaum die Kosten ihrer Erhebung decken, fallen allein der lokalen Verwaltung zu. Die Mitglieder der Staatsklasse und die Vermögenden bleiben von höheren Steuersätzen ebenso verschont wie das spärlich ins Land tröpfelnde InvestitionskapitaL Deshalb und weil den Steuern keine Leistungen des Staates gegenüber stehen, weil der Staat nicht als »leistender« empfunden wird, ist das Steueraufkommen gering geblieben. Während in anderen subsaharischen Staaten die inländischen Steuern im Durchschnitt rund 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, erreichte Uganda noch dreizehn Jahre nach Ende des Krieges gerade acht Prozent (Kasumba 1996: 22). Der zweite Teil der Lösung des Fiskalitätsdilemmas besteht deshalb in Wahrheit in beträchtlichen Zuwendungen von außen, in gra11ts a11d loans, die ungefähr ein Drittel des staatlichen Budgets ausmachen. Gegenwärtig decken die laufen Einnahmen des Staates, also Zölle und Steuern, nur die laufenden Personal- und Sachkosten des Staates. Ein Drittel des zentralstaatlichen Budgets ist bilateraler und internationaler Zuschuss oder Kredit. Aus diesen Mit-
206 Quelle: Gespräche mit Amtsträgem im Ministry of Finance and Economic Planning,
Kampala, März 1999.
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teln werden sämtliche öffentliche Investitionen fmanziert. Dieser Mittelzufluss hat Uganda zu einem stetig steigenden Schuldendienst gezwungen. Im Fiskaljahr 2004/2005 mussten rund ein Viertel des Budgets der Zentralregierung dafür aufgewendet werden. Umso wichtiger ist die Fähigkeit und Umtriebigkeit des Präsidenten- aber auch der gesamten Apparate- die Unterstützung des Westens zu sichern. Sonst können Straßen und Schulen nicht gebaut werden. !. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, wie weit die Bedeutung auswärti,ker Akteure in die politische Figuration Ugandas hineinreicht. Ihre Relevanz lässt sich an jeder einzelnen bedeutenden Entscheidung ablesen: keine große öffentliche Investition ohne Zustimmung der donors aus dem Westen, keine Reform oder Implementierung ohne muf(!lngu, einem weißen Mann oder einer weißen Frau als >>beratendem Experten«. Mit dieser Lösungsform ist indes die Problematik nur verlagert. Denn mit der Abhängigkeit von äußerer Hilfe und der Aufgaben-Aufgabe des Staates entstehen neue Dilemmata, um die es im Folgenden gehen soll, nämlich das Inklusions- und das Kommunikationsdilemma. Denn die Anforderungen, die von außen an den Staat het"llngetragen werden, stehen in mehreren Hinsichten in Widerspruch zu den Erwartungen, die an die Machthaber im Staat von innen herangetragen werden. t~ ... Das Inklusionsdilemma: Museveni will einen Staat und auch eine Gesellschaft modernisieren, die noch nicht modern sind. Dieses Modetnitätsdeflzit gilt zunächst für die existierenden staatlichen Institutionen in einem abstrakteren Sinne. Denn in Uganda, wie in anderen afrikanischen Gesellschaften auch, ist das soziale Gedächtnis nicht in Archiven und Dokumenten eingelagert, sandem in den persönlichen Beziehungen und den einzelnen Gedächtnissen der Beteiligten. Das Wissen des Staates über »seine« Gesellschaft, über Wohnorte, Beschäftigungen und Einkommen der Bürger ist nicht »bürokratisch~07 , sondern personalisiert. Das Modetnitätsdeflzit gilt aber auch für das Personal des Staates und die Mitglieder der politischen Klasse. Für die Moden1isierung des Staates muss der Präsident auf Personal zurückgreifen, das übetwiegend selbst nicht modern, also wie in einem »rationalen Staat« handelt. Denn die weit übetwiegende Mehrheit der Staatsbeamten entspricht nicht Max Webers Typ des modernen Fachbeamten, der unabhängig von persönlichen Erwägungen einem klar definierten Regelset entsprechend arbeitet und der persönlichen Verfügung über die Verwaltungsmittel beraubt ist. 207 Die Rolle des »bürokratischen WISsens« für die Entstehung eines leistungsstarken Staates ist ein bisher nicht hinreichend beleuchtetes Feld der Forschung. Grundsätzliche Überlegungen hierzu und Ausführungen über die preußische Entwicklung in dieser Hinsicht finden sich bei
Spi.ttler (1982).
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In ähnlicher Weise entspricht auch der Politiker nicht dem, was im idealt)'pisch westlich-modernen Sinne darunter verstanden wird. So ist der Rückgriff auf Gewalt im Grenzfall immer eine Handlungsmöglichkeit für das politische Personal. Tatsächlich spielt physische Gewalt oder wenigstens die Drohung, sie anzuwenden, im politischen Kampf in Uganda nach wie vor eine bedeutende Rolle, nicht nur in den Kriegsgebieten im Norden und Westen. Das Inklusionsdilemma besteht nun darin, dass die Einbeziehung problematischer Gruppen ebenso systemgefährdend sein kann wie deren r\usschluss. Lokale Machthaber, korrupte Beamte, radikale Politiker - all diese Gruppen sind für die Staatsbildung zugleich notwendig und gefährlich. Das gilt zunächst für den Fall der Inklusion: Zur Verbreiterung der Machtbasis ist der Einschluss einer möglichst großen Zahl von politischen Fraktionen und Einzelpersonen wünschenswert. Denn je mehr Zirkel und Klientelketten in Regierung und Vetwaltung vertreten sind, desto stabiler ist grundsätzlich die Position des Präsidenten. Diese Inklusion hat aber die wahrscheinliche Folge, dass durch all das, was diffus »Korruption« genannt wird, erhebliche Kosten entstehen - Kosten im Sinne von Ineffizienz und Schwund, Kosten aber auch im Sinne von Le~-,>itimitätsverlust. Notwendig und gefährlich ist aber auch die Alternative, die Exklusion problematischer Gruppen, denn je stärker exkludiert wird, desto höher ist die Gefahr des -unter Umständen gewaltsamen- Widerstands gegen die Regienmg. Die Inklusion problematischer Gruppen ist also mittel- und langfristig politisch kostenträchtig, ihre Exklusion kann direkt systemdestabilisierend wirken. Die praktizierte Lösung, oder besser der faktische Umgang mit dem Dilemma besteht darin, Korruption in gewissem Ausmaß zu denunzieren. Im politischen Diskurs wird also eine kontrollierte Öffentlichkeit hergestellt, öffentliche Kritik an bestimmten Praktiken ist daher zugelassen und wird teils selbst in den Regierungsdiskurs übernommen. Im konkreten politischen Tagesgeschehen bedeutet dies, dass Minister, denen »korrupte« Praktiken nachgewiesen werden können, durchaus vom Parlament abgemahnt werden. Dem Präsidenten bleibt indes das verfassungsmäßige Recht der Personalentscheidung vorbehalten. Weil nun die öffentlich Gebrandmarkten zugleich lokal oder regional bedeutsame Machtträger sind, muss im Einzelfall abgewogen werden, ob die Kosten der weiteren Amtsinnehabung eines bloßgestellten korrupten Ministers höher sind als der Verlust politische! Unterstützung, - und das heißt in diesem Kontext auch immer Verlust von . Systemlegitimität - der mit einer Absetzung einherginge. Das Inklusionsdilemma besteht auf dem Lande in ähnlicher, aber doch anderer Weise. Amtsmissbrauch und unzulässige Bereicherung wird auf dem
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Lande schneller ruch- und sichtbar und führt deshalb eher zu Personaldebatten. Das für die Absetzung der lokalen Funktionäre zuständige zentralstaatliche .Ministerium entkommt dem lnklusionsdilemma gleichwohl ebenso wenig: Immer gilt es abzuwägen, ob der politische Gewinn eines »sauberen Images« den Verlust direkter Unterstützung aufwiegt, wenn ein korrupter politischer Amtsträger ins Zwielicht gerät. Auch in Uganda fallt die Entscheidung nicht immer zugunsten der »Sauberkeit« aus. Der Bürgermeister Kampalas geriet in den USA in Haft und wurde im Februar 1999 wegen versuchten Scheckbetrugs zu einer mehrmonatigen Haftstrafe verurteilt. Dennoch ist er als Bürgermeister nicht abgesetzt worden. Das für die Amtsenthebung zuständige Ministry for Local Government zögerte diese Entscheidung hinaus, denn Bürgermeister Sebagallas Popularität blieb durch seine Vergehen vollkommen unberührt. Auf öffentlichen Veranstaltungen zogen seine politischen Freunde sogar Parallelen zum Schicksal Nelson Mandelas. In Wirklichkeit funktioniert die Lösung der selektiven Korruptionsbekämpfung und der kontrollierten Öffentlichkeit nicht. Weder wird die Disfunktionalität, die die »problematischen Gruppen« im Staatsapparat erzeugen, wirksam bekämpft, noch hat die Inklusion ausgereicht, bewaffnete Konflikte zu verhindern. Denn sowohl im Norden wie im Westen des Landes wird das Regime gewaltsam herausgefordert. Das Inklusionsdilemma beruht also auf einem Widerspruch zwischen einerseits den Erwartungen nach mehr accountability der Staatsgeschäfte, eine Erwartung, die vorwiegend- aber nicht nur- von außen an das Regime herangetragen wird, und auf der anderen Seite durch die Notwendigkeit der Loyalitätserzeugung durch Patronage, eine Notwendigkeit, die sich aus der inneren Verfassthtit der ugandischen Gesellschaft ergibt. Darin besteht der Zusammenhang zu einem weiteren Dilemma, das ebenfalls zentral mit dieser InnenAußen-Differenz zu tun hat. kt', •Das Kommunikationsdilemma: Die große politische Außenabhängigkeit des ~,.ugandischen Staates hat eine zunächst ganz banal anmutende Konsequenz: Der Präsident muss mindestens zwei Diskurse beherrschen, einen globalen, &_er die Argumente und Denkfiguren der westlichen Politik aufgreift, und einen t,internen, der durchaus anderen Imperativen unterliegen kann. Der Präsident muss nach außen liberaler Modernisieret sein und sich glaubhaft als der 'machtvolle, aber verständigungsorientierte Gleiche unter anderen Staatsoberhäuptern präsentieren. Nach innen aber muss er die Sprache des Ressentiments und des Volkes sprechen können und sich als der mächtige und allwissende Patriarch wirkungsvoll in Szene setzen. Der Präsident steht folglich in einem Kommunikationsdilemma: Wählt er den internen Diskurs, dann droht
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·:er die externen Unterstürzer zu entfremden, wählt er den externen Diskurs, . dann droht ihm der Verlust der heimischen Unterstüt:r.ung. . Faktisch bleibt der Widerspruch vermieden, weil der Präsident beide, : kommunikationsräume weitgehend getrennt halten kann. Das betrifft im Falle. :. Musevenis, aber sicher ebenso anderer afrikanischer Präsidenten, auch dil ·Sprache im linguistischen Sinne. Es gibt einen englischsprachigen Außendis., kurs und einen ugandischen, der sich vorwiegend an die ländliche Bevölkerung '· richtet. Eine Möglichkeit des Umgangs mit dem Kommunikationsdilemma • ergibt sich also aus linguistischen Differenzen. Diese Lösung beruht auf dem · Umstand der Existenz unterschiedlicher Sprach';Velten mit unterschiedlichen Bedeutungswelten. Ein Beispiel hierfür ist das politisch brisante Thema Kor:·rilption: In der Sprache des Westens ist Korruption der Sammelbegriff für , aJlemand extra-legale Praktiken, denen gemeinsam ist, dass sie einen nichtitegelhaften Vorteil aus dem Überschreiten von Grenzen schaffen. In Uganda : ist die populäre Defmition von Korruption dagegen nicht so abstrakt-legalis;.tisch. In diesem populären Sinne ist man korrupt, wenn man zuviel ))ißt«. Mafotamingi- die, die schnell fett wurden - das war der Ausdruck für jene Bereicherungsklasse, die in den Amin-Obote-Jahren entstand. »He ate too much« ist . auch heute noch die gängige Beschwerde über einen Funktionsträger, der sich • über die Maßen der öffentlichen Ressourcen bedient hat, wie überhaupt Fette, , Öle und Leibumfange in der politischen Symbolik eine bedeutende Rolle spielen.20s Auch dieser Umgang mit dem Kommunikationsdilemma ist natürlich eine brüchige Lösung, auch wenn sie im Vergleich zu den Lösungen der anderen Dilemmata noch relativ stabil ist. Denn es gibt natürlich Überlagerungen der , kommunikativen Räume. Bisher hat dies allerdings noch nicht dazu geführt, dass die Widersprüchlichkeit des präsidentiellen Diskurses öffentlich diskutiert worden wäre. Zugleich gibt es ein gewichtiges Argument, das für die Beendigung dieses Zustands spricht. Denn was sich ftir den Innen-Außen-Diskursunterschied als , Vorteil erweist, der Sprachunterschied nämlich, erweist sich im Innem als ·Nachteil. Die Indienstnahme der Sprache als Medium der politischen lntegra, tion stößt sich an der Vielzahl der linguistischen Differenzen innerhalb der ··ugandischen Gesellschaft. 208 Ausführlich behandelt wird diese Metaphorik der politischen Sprache in Afrika von Jean· Frant;:ois Bayart in L'Eitzl enAfriq~~e. 1..ß politiqm dllt'tllfrl (1989). Es wäre eine Untersuchung wert, inwieweit sich hier Parallelen etwa zur Wirtschaftswunderphase Westdeutschlands oder ähnlichen historischen Momenten herstellen lassen. Wiederaufbau-phasen scheinen Jie Ernährungsmetaphorik im Reden über Reichtum Wld Macht mindestens zu begl'mstigen (vgl. Engler 1999).
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An diese kommunikative Grundsituation ist natürlich eine Frage dil:ekt angelagert: die der Sprachpolitik, also die Frage nach den Möglichkeiten, wie sich ein einheitlicher Kommunikationsraum innerhalb Ugandas herstellen lässt. Musevenis Initiative zielt auf die Wahl des Swahili- eine problematische Wahl, denn Swahili hat in der Bevölkerung den historisch begründeten Ruf, die Sprache der Soldaten zu sein. Als Bantusprache ist sie den Sprachen im Norden des Landes zudem nicht besonders nahe. Die Wahl des Swahili könnte dort durchaus mit Ressentiments aufgenommen werden, auch wenn Swahili, Amtssprache in Kenia und Tansania, Vorteile im Verkehr mit den Nachbarländern bieten würde. ..-·· Das Militarisierun.gsdi/emma: Dieses Dilemma besteht grob gesprochen darin, .., dass eine kleine Armee -zwar kostengünstig ist, aber nicht zur Kontrolle der zahlreichen bewaffneten Herausforderer des Regimes ausreicht. Erweiterung und Ausbau der Armee hingegen bergen ebenso Gefahren, denn mit der Größe der Armee wächst ihre Tendenz, sich zu verselbständigen209 oder zu zersplittern. Abgesehen von den hohen Kosten, die unter Umständen so hohe Aufwendungen nötig machen, dass andere Projekte der Machtstaatsentwicklung gefährdet werden. Diese Problematik betrifft nun natürlich nicht allein die Armee, sondern alle staatlichen Agenturen, die im weitesten Sinne mit der Verwaltung der Gewalt befasst sind. Polizei und Geheimdienste sind also in diesem Zusammenhang mitzubetrachten. Der faktische Umgang mit diesem Dilemma besteht in Uganda darin, dass eine Tendenz zur Privatisierung der Gewaltkontrolle eingesetzt hat. Der staatliche Sicherheitsapparat wird kleiner und ineffizienter gehalten, als es zur Regelwlg der Gewaltprobleme eigentlich nötig wäre. Stattdessen greifen private !.Akteure ein und übernehmen die im deutschen Verständnis »hoheitliche« Aufgabe der Herstellung öffentlicher Sicherheit. Diese Privatisierung der Sicherheit hat mehrere Erscheinungsformen, von denen hier nur zwei kurz genannt sein sollen: Alle Betriebe, Büros, Wohnhäuser und Anwesen, die dem fmmellen, dem offiziellen Uganda zugehören, werden von privaten Sicherheitsdiensten geschützt. Leichte Ironie liegt darin, dass das Personal dieser Sicherheitsdienste zu einem großen Teil aus ehemaligen Soldaten besteht, die im Rahmen der Demobilisierung Anfang der neunziger Jahre aus der Armee ausgeschieden sind. Die Unternehmen dieser Branche 209 Das Militarisierungsd.ilemrna lässt sich auch als Variante des von Joel Migdal (1988) analysierten Agentur-Dilemmas auffassen, das sich auf die Gefahr der Verselbständigung der zur Überwindwtg politischer Probleme geschaffener Agenturen bezieht. Im Unterschied zu dem von Migdal behandelten Fall Ägypten unter Nasser stellt sich dieses Problem in Uganda nur für die Armee, denn die sonstigen staatlichen Agenturen sind schlichtweg zu klein, wn eine hinreichende Dynamik zu entfalten.
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sind fast durchweg internationale joint-vent11res, in denen sich südafrikanische, britische und US-amerikanische Unternehmen lokale Partner, meist aus der politischen Klasse, suchen (vgl. Schlichte 2005c). Diese Kommerzialisierung von Sicherheit wird ergänzt durch zwei Formetr von Kommunalisierung der Gewalt. Beide, die Milizenbildung wie die mob}tlstice, sind gleichermaßen problematisch. Hier sind es nur leicht entlohnte Hilfstruppen, die den lokal gewählten Gremien der lokalen Verwaltung zugeordnet werden, um polizeiliche, gelegentlich auch militärische Aufgaben zu übernehmen. Diese, in vie1wöchigen Lehrgängen von der Armee ausgebildeten Hilfstruppen, dienen als Gewaltexperten auflokaler Ebene. Faktisch entgleiten sie jedoch regelmäßig der lokalen politischen Kontrolle. Ihre Übergriffe werden für die lokalen Gemeinden regelmäßig zum Problem.210 Die Praxis der mob-justice rührt angeblich aus den Jahren der politischen Unruhe unter Amin und Obote, in denen die Untätigkeit der Polizei und der Zusammenbruch der Justiz das Ende der Gewaltkontrolle bedeutete. In Wandegeya, einem populären Viertel Kampalas, registrierte die Polizei zwar 1984 noch 600 Anzeigen und verhaftete 113 Personen, von denen indes nur zwanzig den Richtern vorgeführt wurden, in allen anderen Fällen war »Verlust der Akten« der Grund für die Einstellung der Verfahren (Mugisha 1986: 70). An der Unzuverlässigkeit der staatlichen Agenturen hat sich wenig geändert. Noch 1999 wurden führende Polizeioffiziere verdächtigt, mit Kreisen des organisierten Verbrechens direkt zu kooperieren.2ll Die Praktiken der mobj11stice sind die spontanen Reaktionen auf Regelverletzungen unter den Bedingungen disfunktionaler Staatlichkeit. Diebstähle, sexuelle Gewalt und bloße Verdächtigungen können zu Lynchpraktiken bis zur kollektiven Hinrichtung führen. Die Praktiken der mobjttstice sind freilich zugleich offen für Manipulationen im Kampf um lokale Ressourcen. Auch diese Lösungen des Militarisierungsdilemmas sind also nicht kostenlos. Faktisch führt sie zu einer Kommerzialisierung und Entregelung der Versorgung mit öffentlichen Gütern. Sicherheit wird eine Funktion ökonomischer 210 Interviews im Criminal Invcstigation Department, Kampala Police, März 2001. Vgl. auch die laufende Presseberichterstattung, z.B. »Mobs lynch the innocent«, Monitor 26.3. 1999; »Student dies«, Monitor, 9. 10. 2004; »Mukono chief lynched«, New Vision, 5. 10. 2004; »Whip defilers«, Monitor, 10.3.1999, »Suspected murder lynched«, Monitor, 10. 2. 2001; »lt's not who you are, it's what you steal«, EliSt African, 31. 5. 1999; »Masaka >thiefi buried alive«, Monitor 14.2.1999; »Suspect buried alive in Mnsaka«, New Vision, 18.2.1999; »Nine K~rimojong burnt to dcath«, Monitor, 16.3.1999; »Students lynch thief«, Monitor 12.2.1999. 211 Vgl. ».Amls Racket Inqwry Targets Senior Police Officer«, The East African (Nairobi), 15. Februar 1999; »Traffic cops are most corrupt«, Sunday Vision (Kampala) 14.2.1999; »Two cops held over bribe«, Monitor (Knmpala), 4.10. 2004; »RDC condemns graft in police«; Monitor, 11. 10. 2004.
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Macht- eine Entwicklung, die in Uganda allgemein bekannt und bisher auch noch politisch unkontrovers geblieben ist. Kritik indes entzündet sich daran, dass die Armee nicht in der Lage ist, die bewaffneten Konflikte im Norden und Westen zu einem Ende zu bringen. Beide Konflikte haben in den letzten Jahren eine beträchtliche Zahl von Opfern gefordert. 212 Das Andauern dieser Konflikte belegt, dass das Gewaltmonopol auch fast zwanzig Jahre nach der Machtübernahme noch nicht konsolidiert ist. Es franst nicht nur an den territorialen Grenzen aus, auch andere Entwicklungen belegen, dass eine Erosion des Gewaltmonopols nicht ausgeschlossen werden kann. Die Lösungen, die das Regime für die Überwindung des Militarisierungsdilemmas entwickelt hat, könnten ihre eigene regimegefährdende Dynamik entfalten. Vor einigen Jahren schon hat die ugandische Regierung begonnen, die halbnomadischen Karimojong zu bewaffnen, um diese an der Grenze zu Kenia und Sudan lebende Bevölkerungsgruppe als unregulierte Hilfstruppen gegen die im Norden operierende Lord's Resistance Amry (LRA) einzusetzen. Als Dürreperioden und eine Verschiebung ihrer Weidegründe die Karimojong in Not brachten, haben diese halbstaatlichen Hilfsmilizen die Waffen indes genutzt, sich durch Überfälle auf weiter südlich gelegene Dörfer zu bereichern. Die eskalierende kommunitäre Gewalt konnte von der Regierung nicht wieder unter Kontrolle gebracht werden. Die Dynamik des Militarisierungsdilemmas zeigt sich auch in Ugandas Beteiligung am Krieg im Nachbarland DR Kongo, vormals Zaire. Ugandas Intervention diente offtziell nur der Sicherung des Hinterlands der Grenze. Über die Grenze hinweg führten die Rebellen der ADF ihre Angriffe auf ugandische Dörfer aus. Die Intervention zwischen 1998 und 2003 setzte schnell typische Interessenkoalitionen und -kollisionen in Gang, die sich in zeitgenössischen innerstaatlichen Kriegen entwickeln (vgl. GenschellSchlichte 1997). Offiziere wie einfache Mannschaften entdeckten die Bereicherungsmöglichkeiten, die ihnen ihre bewaffnete Anwesenheit in der DR Kongo bot. Die Grenzgebiete Ugandas zur DR Kongo erlebten nach 1998, dem Jahr der Intervention, durch ihre Verbindung mit der Kriegsökonomie eine wirtschaftliche Blütepetiode.213 Wenn diese wirtschaftlich profitablen Beziehungen des Militärs nach einem
212 Die Hintergründe der meisten bewaffneten Konflikte unter der Herrschaft Musevenis sind noch nicht durch umfangreichere, systematische Forschung bekannt. Behrends Arbeit (1993) über das Holy Spirit Movement der Alice Lakwena ist die Ausnahme. Zum Konflikt mit den halbnomadischen Karimojong vgl. Mamdani et al (1992), über das Rwenzori-Movement, dem Vorläufer des aktuell kämpfenden >>Allied Democrarie Forces« (ADF), vgl. Syahuka-Muhindu (1991). 213 Quelle: Lokale Presse und Gespräche im Distrikt Karamoja, Februar/März 1999; vgl. a. Prunier (1999).
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Ende der Gewalt in reguläre ökonomische Aktivitäten umgeformt werden sollen, wird dies nicht ohne eine Beteiligwtg auch an der politischen Macht möglich sein. Wie aus dieser nur groben Skizze bereits klar wird, hat die Erfolgsgeschichte des Weltbank-Musterschülers Uganda noch wtgeschriebene Kapitel. Die lnstitutionalisierwtg des Gewaltapparats ist noch nicht so weit fortgeschritten, dass das Gewaltmonopol wirklich als konsolidiert gelten kann. Die Prekarität der bisherigen Löswtgen berührt die Kernmerkmale der Staatlichkeit. Das Demokt'atisierrmgsdilemma: Demokratisierung heißt Öffnwtg der Appropriationschancen, tendenziell' in unkontrollierbarem Ausmaß. Dies aber bedeutet Verlust der gezielten Ink.lusionskapazität. Die auf inneren wie äußeren Druck zustande kommende Demokratisierung führt folglich ebenfalls in ein Dilemma: Wird das politische System nicht geöffnet, steigt der - unter Umständen auch gewaltsame - Widerstand gegen das bestehende Arrangement. Öffnet man hingegen das politische System, dann bedeutet dies für den Präsidenten nicht nur einen erheblichen Verlust an Verfügwtgsgewalt über politische Machtrnittel, sondern auch eine Gefährdung des Modernisierungsprojektes, das nach seiner Einschätzwtg nur von ihm kompetent geleitet werden kann. Den gegenwärtig an der Macht Beteiligten muss nämlich eine Fortdauer des bestehenden, für sie vorteilhaften Arrangements garantiert werden. Denn sie leisten nur Gefolgschaft, solange ihnen die Fortdauer der Freude an den Pfründen wahrscheinlich erscheint.214 Den nicht oder noch nicht an der 1\Iacht Beteiligten muss hingegen glaubhaft gemacht werden können, dass ihre Inklusion prinzipiell möglich, jedenfalls nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist. Dieses Dilemma beruht kausal letztlich auf der überragenden ökonomischen Rolle des Staates, mindestens im modernen Sektor. Der wenn auch schwache Staat ist die bedeutendste Quelle ökonomischer Chancen geblieben, nämlich in Form von Ämtern wtd öffentlichen Aufträgen. Vielfach wird übersehen, dass es bei der Frage der Demokratisierung nicht nur um >)die Macht((, nicht nur um Partizipation wtd Repräsentation geht, sondern auch um Laufbahnen und Privilegien, und um die Chancen, politische Unterstützung überhaupt erst zu generieren und dann zu erhalten: Nur wenn Amter- und .\uftragsvergabe als Ressourcen zur Verfügung stehen, nur dann kann übcrhaup1 eine dauerhafte politische Machtposition eingenommen werden. 214 Hier zeigt sich die Berechtigung von Max Webers Einlassung, d3ss gc\xn Jc-:c ··•·r. ,·:·:· genannten Gründen der legitimen Geltung auch die banale »ErfiilllUlg J.::·s m•:c.,.,:-:,.-.,., ;,--.:::~:· · ses mindestens des Verwaltungsstabes« von grundlegender Bcdt:un~'f; :'~: _;,,, ;;,:,.;,_-,,,, · ,.,.. politischen Ordnung ist.
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Die Lösung dieses Dilemmas besteht in Uganda gegenwärtig darin, dass nur ein beschränkter demokratischer Wettbewerb zugelassen wird. Das von Museveni geschaffene und favorisierte Movement-System, eine faktische Einparteienherrschaft, dient diesem Zweck. Das Movement steht allen offen, aber es w1terliegt der Kontrolle von oben, und zwar je höher die Position, desto stärker ist der Zugriff des Präsidenten. Nur auf unterster Ebene, bei der lokalen Wahl- und bei der Wahl des Präsidenten- ist eine direkte demokratische Partizipationsmöglichkeit gegeben. Diese Lösung des Problems trägt natürlich nicht, denn sie erlaubt nur ein geringes Ausmaß politischer Partizipation. Ihr Hauptmangel ist indes, dass sie den politischen Wettbewerb nur in ein und dieselbe Partei verschoben hat. Innerhalb des Movement bildeten sich Fraktionen nach regionaler Abkunft und nach politischen Positionen. Starmch movementists waren in der Regel ehemalige Kriegsteilnehmer und Profiteure des gegenwärtigen Arrangements, während nmltipar!Jism von jenen im Movemenl vertreten wird, die sich von einem Mehrparteiensystem auch höhere Positionen versprechen. Das Movemenl hat indes in Uganda noch eine andere Lösw1g erlaubt: die Abschaffung der chie.ftaincies, die in den meisten afi.i.kanischen Staaten als Residuen des Kolonialstaats immer noch die Hauptinstitution lokaler Herrschaft sind und der Zentralgewalt g1:oße Widerstände entgegensetzen. Die dörfliche Bevölkerung ist nicht mehr dem Inhaber eines Erbamts untergeordnet, sondern wählt ihre lokale Herrschaft in freien Wahlen selbst. Dieses System der Local Council crstreckt sich über indirekte Wahlen bis hinauf zur DistriKtsebene (vgl. Bertrand/Kauzya 1994; Banegas 1998). Diese institutionelle Innovation hat die Legitimität des Regimes - und des Staates - auf dem Lande wesentlich erhöht, auch wenn Local Councils nur über ein bescheidenes Budget und wenig Befugnisse verfügen. Sie sind jedoch überwiegend zu funktionierenden Institutionen der lokalen Konfliktregelung geworden. Die Bemühungen, auf das Dilemma der Demokratisierungen eine Lösung zu finden, haben also eher zu einer Proliferation von Widersprüchen geführt, denn das Local Councii-System kann in zweierlei Richtung interpretiert werden. Es ist zugleich Instrument staatlicher Kontrolle und Medium demokratischer Partizipation, weil es exekutive und repräsentative Funktionen vereint. Die Widersprüche, die zur Erfmdung des Movement-Systems geführt haben, finden sich nun in diesem selbst. Eine Reihe der aufgelisteten Befunde verweist auf Zusammenhänge, die in der politischen Zukunft, für die Zukunft des Regierens in afrikanischen Staaten von zunehmender Bedeutung sind. Das gilt zum einen für den Grundtatbestand der Widersprüchlichkeit der Entwicklung. So kostenträchtig und konfliktreich der Weg zum starken Staat ist, so widersprüchlich und konfliktiv ist
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auch die Demokratisierung der politischen Systeme Afrikas. In diesem widersprüchlichen Ganzen werden Faktoren bemerkbar, die nicht lokaler Natur sind, auch wenn sie meist einlokales Gesicht tragen. Globale Faktoren, äußere Bedingungen, schlagen in den relativ schwach institutionalisierten Staaten des subsaharischen Afrika natürlich stärker durch als in anderen Regionen. Interes~ saaterweise sind die Wirkungen dieser Faktoren aber in anderen Gegenden nicht grundsätzlich anders, wie man an Tendenzen wie der Privatisienu1g von Sicherheit oder an den ungewollten Ergebnissen ökonomischer Liberalisierung erkennen kann. An der Dynamik des Staates in Uganda kann man aber auch erkennen, dass diese kein linearer Prozess ist. Es hängt von der Länge der Betrachtungszeiträume ab, ob das Schicksal eines Staates als Zerfalls- oder Erfolgsgeschichte interpretiert werden kann. Die Durchstaatlichung der ugandischen Gesellschaft, die gegenwärtig durch das uca/ CoiiJICii-System stattfindet, geht mutmaßlich weit über das hinaus, was in der kolonialen und postkolonialen Geschichte des Landes in dieser Hinsicht erreicht worden war. Zugleich Hillt ein Zweites auf: Die Durchstaatlichung der Gesellschaft in der einen Hinsicht kann mit massiven Deft.Ziten und Rückschritten in anderer Hinsicht einhergehen. An der Frage des Gewaltmonopols werden die fortexistierenden Widersprüche des Staates Uganda sichtbar. Ähnliches gilt für die Frage der Besteuerung. Über die Ausweitung indirekter Steuern sind mutmaßlich größere Teile der ugandischen Bevölkerung in die Finanzierung staatlicher Herrschaft eingebunden, als dies je zu Zeiten der Finanzierung des Staates aus Kaffee-Exporten oder zu Kolonialzeiten aus der Kopfsteuer der Fall war. Doch diese Expansion des Steuerstaates geht nicht mit einem Aus bau seiner Kapazitäten einher. Politische Mobilisierung und Integration können mit institutioneller Unzulänglichkeit einhergehen. Der ugandische Staat ähnelt heute weit mehr einem Flickenteppich als einem einheitlichen C':rewebe. Herrschaft wird in Uganda von einem konfliktiven Ensemble von lokalen, nationalen und internationalen Agenturen ausgei.ibr. Die staatlichen Agenturen sind auf diese konkurrierenden Instanzen angcwi.:sen und zugleich durch sie in ihrer Entfaltung beschränkt. Eine eingcb ...::c Notwendigkeit, dass staatliche Herrschaft in dieser Konstellation Jic :O:·.;;p~-, matie erlangen wird, gibt es nicht.
6. Macht und Herrschaft in der Weltgesellschaft
Umbildungen von Macht in Herrschaft hängen immer mit größeren Prozessen zusammen. Mit dem Begriff der globalen Vergesellschaftung ist ein allgemeiner Ausdruck für jene anwachsenden Interdependenzen und Zusammenführungen gefunden, die die Dynamiken staatlicher Herrschaft heute bestimmen. Das Ausgreifen der Weltmärkte, die Auflösung traditionaler Formen sozialer Integration und die Entstehung neuer sozialer Räume sind Teilmomente dieses großen sozialen Prozesses. Mit diesen Bewegungen im Prozess globaler Vergesellschaftung sind Dynamiken von Macht und Herrschaft verbunden, und damit auch die Dynamiken der Staaten in Asien, Afrika und Lateinamerika. Die Ergebnisse der drei Betrachtungen in den vorangegangenen Kapiteln, die sich der Dynamik staatlicher Herrschaft unter drei verschiedenen thematischen Blickwinkeln gewidmet haben, sollen im Folgenden noch einmal resümiert werden. Die Befunde über die Dynamik staatlicher Herrschaft, so die zentrale Ergebnisthese der Untersuchung, sind uneindeutig. Zwar lassen sich überall in Asien, Afrika und Lateinamerika Unzulänglichkeiten, Brüche und Prekaritäten staatlicher Herrschaft finden, und oft löst sich bei näherer Betrachtung die behauptete Herrschaft in bloße Machtbeziehungen auf. Aber dat-aus kann, wie eine Reihe von Dynamiken zeigen, nicht geschlossen werden, dass das Projekt der Annäherung an das Ideal des modernen Staates endgültig gescheitert ist. Diese Befunde machen aber auch deutlich, dass die Politik des Interventionismus problematisch ist. Eine kurze Analyse der damit zusammenhängenden Fragen leitet den zweiten Teil dieses Schlusskapitels ein, der der Zukunft des Regierens und den diesbezüglichen Lehren dieser Untersuchung gewidmet ist. Ein kurzes Resümee ihrer theoretischen Erträge und Herausforderungen steht am Ende dieses Schlusskapitels.
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6.1 Zur Realität von Macht und Herrschaft in der Weltgesellschaft In ihren Beiträgen zur Dynamik von Macht und Herrschaft ze4:,ren Weber, Elias, Bourdieu und Foucault große Gemeinsamkeiten. Sie betreffen die Ver~ regelungder Gewalt, die Einbettung der Dynamik von Macht und Herrschaft in größere stmkturelle Wandlungsprozesse, die Differenzienmg von Handlungsfeldem, die Herausbildung von Herrschaftsapparaten, und die symbolische Seite der Herrschaft. Zu all diesen Aspekten lassen sich in der Dynamik staatlicher Herrschaft in postkolonialen Staaten starke Unterschiede zur in der Sozialtheorie geronnenen europäischen Erfahmng feststellen. Die Überformung traditionaler Herrschaft durch die koloniale Fremdherrschaft, die lokale Aneignung des kolonialen Staates und die veränderten globalen Umstände dieser Prozesse der Staatsbildung haben zu fast durchgängig anderen Dynamiken und Resultaten geführt. Überdies gibt es zwischen den Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas große Unterschiede. Die Dynamiken der Gewalt unterliegen nicht denselben Bedingungen wie die Finanzierung von Staatlichkeit, und von beiden ist wiederum die Dynamik der symbolischen Seite staatlicher Herrschaft unterschieden. Dennoch lassen sich übergreifende Dynamiken und Tendenzen erkennen. Das Dilemma von Ot;ganisation und Gewalt ist für die meisten Staaten der Dritten Welt ungelöst. Davon zeugt das nach wie vor hohe politische Gewicht der staatlichen Gewaltapparate, die nur in wenigen Staaten einer wirklichen zivilen Kontrolle unterliegen, und davon zeugt auch das nach wie vor hohe Ausmaß politischer Gewalt, das sich in den Regionen der Dritten Welt beobachten lässt. Die These der gegenseitigen Begründung von Staatsbildung und Kriegsführung, wie sie erstmals von Otto Hintze formuliert und dann von Charles Tilly prägnant auf den Begriff gebracht wurde, ist für die nachkolonialen Staaten der Dritten Welt allenfalls eingeschränkt gültig. Die zahlreichen inneren Kriege und militarisierten Konflikte haben zwar eine I'vlilitarisierung des Politischen bewirkt und zu einem enormen Wachstum staatlicher Gewalt. apparate geführt. Eine Lösung der Dialektik von Gewalt und Organisation, wie sie in der europäischen Geschichte durch die Veröffentlichung des Gewaltmonopols erlangt wurde, konnte damit indes nicht erreicht werden. Der .\usbildung und Expansion militärischer Kapazitäten entspricht keine wirkliche \lo· nopolisierung des »legitimen Gebrauchs physischer Gewalt1< nach innen: Polizeiliche Gewalt bleibt meist lokalen Interessen untergeonlnet oder sie vol!ztcht , sich ohne wirksame öffentliche Kontrolle. Willkür und Repression krnnzt'"'.ch~- nen die Praxis der Polizei in Afrika, Asien und Lateinamerika \Jtcit ~Tirkt:r Ah ["ihre Leistung als Sicherheitsgarant.
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Ähnliches gilt für die militärischen Apparate, deren direkte politische Herrschaft zwar in den vergangen zwei Jahrzehnten deutlich nachgelassen hat, die aber in kaum einem Land einer wirklichen Kontrolle durch zivile Institutionen unterliegen. Das Wachstum der staatlichen Gewaltapparate hat, statt Staatlichkeit zu konsolidieren, eine Militarisierung des Politischen bewirkt, die die Legitimität staatlicher Herrschaft nachhaltig geschwächt hat. Diese Militarisierung ist durch die hohe Zahl vorwiegend innerstaatlicher Kriege weiter verstärkt worden. Die unvollendeten Lösungen von Kriegen, die von ihnen verursachten politischen w1d sozialen Verwerfungen und die zunehmende Internationalisierung von Herrschaft in Nachkriegssituationen lassen es zunehmend unwahrscheinlich erscheinen, dass sich aus den durch kriegerische Gewalt auslösten Dynamiken Tendenzen der Konsolidierung staatlicher Herrschaft ergeben. Durch die Internationalisierung der Zusammenhänge haben sich zudem für alle Akteure, staatliche wie nicht-staatliche, so viele apportunitäten eröffnet, dass eine der europäischen Geschichte analoge Abschließw1g von »national-staatlichen« Handlw1gsräumen wenig wahrscheinlich wirkt. Zur Militarisierung des Politischen kommt eine weitere Tendenz, die sich übergreifend in vielen Kontexten der Dritten Welt beobachten lässt, und die zugleich ebenfalls international eingebettet ist: die Privatisierung von Sicherheit. An der im Exkurs veranschaulichten Tendenz der Bifurkation von Sicherheitssystcmen in einen kommerzialisierten und einen kommunitären Bereich wird deutlich, wie groß die Schwierigkeiten für die Errichtung eines staatlichen Gewaltmonopols unter stärker internationalisierten Kontexten geworden ist. Herrschaftspositionen lassen sich im Rentenstaat heute über die Anmi~tung von Sicherheitsdiensten lange halten. Nur noch die Absicherung der für die Rentenproduktion unmittelbar relevanten Gebiete ist in diesem Modell nötig. Dadurch mindert sich zwar die Gefahr der Verselbständigung staatlicher Gewaltapparate. Doch eine Verschränkung von staatlicher Sicherheit, ökonomischer Vernetzung und öffentlicher Kontrolle, wie sie für moderne Staaten kennzeichnend ist, wird nicht das automatische Resultat dieser Konstellationen sein. In ähnlicher Weise wirkt die wachsende Rolle privater Sicherheitsdienste, die in vielen Staaten der Dritten Welt mittlerweile Polizeifunktionen für die wohlhabenderen Schichten wallinehmen, so dass diese den Antrieb verlieren, vom Staat entsprechende Dienste einzufordern. Die Tendenz der Privatisierung wird indes keine stabile Lösung erbringen, weil sich der TransfOlmationsprozess der Gesellschaften in der Dritten Welt unverändert fortsetzt. Überall dort, wo damit verbundenen Verwerfungen nicht in geeigneten Institutionen prozessiert werden; wird sich dieser Wandel auch gewaltsam äußern.
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Die Proliferation der Sicherheitsakteure wird diese Gewalt zwar mutmaßlich weniger sichtbar machen, denn sie bedeutet eine Diffusion der Gewaltptaktiken, die dann immer weniger als Konfrontationen zwischen großen Verbänden erscheinen werden. Am Ausmaß des politischen Problems der Gewalt und ihrer Einhegung verändert dies indes nichts. · Zwei jüngere Tendenzen lassen es wahrscheinlich erscheinen, dass die Ptivatiserung der Gewalt sich noch fortsetzen wird, wenn auch in einer anderen Form, als dies die Theoretiker der >>neuen Kriege« antizipierten. Da ist zum einen der anwachsende Markt der global tätigen, privatwirtschafdichen Gewalt- und Kriegsdienstleister. 215 Der Rückgriff auf solche, immer in wenigstens informeller Weise an meist westliche Staaten gekoppelte Unternehmen für die Kriegsführung der Gegenwart macht deudich, dass die Tendenzen der Infor· malisierung des Politischen nicht nur innerhalb Grenzen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas zu fmden ist. Der einmal entstandene Markt für diese Form der Gewaltorganisation wird seine eigenen Dynamiken und Beharrungskräfte entwickeln. Zum anderen ist seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 eine neue Interpretation politischer Gewalt an Plausibilität gewonnen, die für viele Manipulationen offen ist: Demnach werden tendenziell alle nicht-staadichen Kriegsakteure als Teile oder Kollaborateure eines globalen Terrornetzwerkes denunziert. Dass an dieser Interpretation vor allem staadiche Gewaltapparate ein korporatives Eigeninteresse haben, bedarf keines Nachweises, lässt aber eben auch eine weitere Militarisierungswelle und gewaltsame Eskalationen befürchten. Beide Tendenzen werden somit die Etablierung gesellschaftlich kontrollierter Gewaltmonopole erschweren und die wahrgenommene Illegitimität staatlicher Gewalt erhöhen. Auch in diesem Fall verschränken sich also »externe« Dynamiken mit lokalen Strategien: Die Dynamik des Staates internationalisiert sich zusehends. An der schwindenden fiskalischen Basis zeigt das geringe Eigengewicht des nachkolonialen Staates. In der Mehrheit der Staaten der Dritten Welt liegt der Anteil der direkten Steuern an den Einnahmen des Staates weit unter den Raten, die in den Staaten des Westens erreicht werden. Die Staaten der Dtittcn Welt leben von indirekten Steuern, Renten, Krediten und »Hilfe«. In kaum einem Staat ist in den vergangeneo dreißig Jahren ein Wachstum des .\mc:h direkter Steuern an den fiskalischen Einnahmen zu beobachten gewesen. Die Grenzen der Besteuerbarkeit sind immer ein Ausdruck dafür.,,.~ ~.r-.o-~~ die Macht des Staates, wie groß seine Autonomie ist. In Staattl. in~~~ 4~~t politischen Entscheidungen in den Händen vermögender ( >lig.uc.i:.x~ . , , , wird die Macht der staatlichen Organe bewusst begrenzt. Sta.;uc::. -'~ '~r der nicht in der Lage, oder werden politisch daran gchinder.. ~~lit 1Ef!!ik:~
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men zu besteuern. Auch die Besteuerung von Grundbesitz und anderen Vermögensformen ist in den meisten anderen Staaten Afrikas und Asiens nicht entwickelt. Grundsätzlich gilt dabei, dass die Möglichkeiten der Finanzierung staatlicher Herrschaft von zwei Dynamiken abhängen, nämlich einerseits von der Art der Einbindung in die Weltmärkte und andererseits von den Arten der internen sozialen Differenzierung. Zum einen ist das Erbe der kolonialen Inwertsetzung in zahlreichen Staaten insofern kaum gebrochen wirksam, als sich an der Art und Weise der Integration in die Weltmärkte nur wenige Veränderungen ergeben haben. Exportorientierte wirtschaftliche Differenzierung stieß immer auf das Problem, dass Märkte bereits vermachtet waren. So sind die Eroberung von Anteilen an anderen als den hergebrachten Märkten und der Aufbau eng vernetzter Binnenmärkte in der nachkolonialen Geschichte die Ausnahme geblieben. Die Extraversion ihrer Ökonomien hat die Dritte Welt seit der kolonialen Phase geprägt. Zum anderen hat diese ökonomische Entwicklung nur in wenigen Fällen von staatlicher Patronage unabhängige, wirtschaftlich konfliktfähige soziale Gruppen hervorgebracht, die in der Lage gewesen wären, grundlegende Veränderungen der Finanzierung des Staates politisch einzuklagen und durchzusetzen. Die bedeutsamen Machtgruppen in den betrachteten Staaten sind entweder selbst direkt in den staatlichen Apparat integriert oder profitieren von der - nach westlichen Maßstäben - sozial unausgewogenen, arbiträren und prekären Form der Finanzierung politischer Herrschaft. Die Monopolisierung der Abgaben durch staatliche Agenturen wie die Durchstaatlichung der Gesellschaft, so das Argument des Kapitels 4, sind in Afrika,'Asien und Lateinamerika unabgeschlossene Prozesse. In einigen Fällen hat die Unterordnung des Staates unter die Interessen partikularer Machtgruppen die Ausbildung der dafür nötigen Agenturen verhindert. Die oligarchischen Ordnungen in lateinamerikanischen Staaten sind dafür beredtes Beispiel. In anderen Fällen sind staatliche Sphäre und gesellschaftlicher Raum so ineinander geschoben, wie dies von entwickelten kapitalistischen Verhältnissen gesagt werden kann. Entweder fehlt das nötige Maß an staatlicher Handlungsautonomie oder aber die Legitimität staatlicher Herrschaft reicht nicht aus, um eine so enge Kontrolle zu erreichen, wie dies die Erhebung personenbezogener Steuern voraussetzen würde. Zugleich fehlen den meisten Staaten der Dritten Welt die bürokratischen Voraussetzungen fur die Erhebung solcher Steuen1. Zur direkten Besteuerung gab und gibt es zu viele Alternativen, als dass die Finanzierung des Staates zu einem vergleichbaren Konflikt zwischen sozialen Gruppen wie in der europäischen Geschichte gekommen wäre.
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Ein analoger Prozess zum Wachstum des Steuerstaates wie in der europäischen Geschichte ist in den Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas also deshalb nicht eingetreten, weil die andere Form der Einbindung in Weltmärkte und in ein anders internationales System für staatliche wie nicht-staatliche Akteure andere Opportunitäten und Beschränkungen bot. Die Staaten haben andere Wege der Bedarfsdeckung eingeschlagen. Die Betonung indirekter Steuern, die Finanzierung aus Staatsbetrieben, die Aneignung von Rente11 aus dem Export von Rohstoffen und schließlich die Aufnahme von externen Krediten sind die Hauptwege dieser Alternative gewesen. Für die Gestalt und Reichweite staatlicher Herrschaft war dies nicht folgenlos. Die beiden Hauptergebnisse sind die lnformalisierung und die Internationalisierung der politischen Ökonomien der Dritten Welt. Wie in Kapitel 5 gezeigt werden konnte, ist auch die Verstaatlichmrg des Rechts in den Staaten der Dritten Welt prekär geblieben. Zwar ist überall der Staat mit seinem Recht präsent, aber er kann Codes und Praktiken nicht überall durchsetzen, sondern diese stoßen auf konkurrierende Ensembles, die ihrerseits in soziale Zusan1menhänge eingebettet und mit anderen Machtbeziehungen verknüpft sind. Die Staaten der Dritten Welt unterscheiden sich wohl im Grad der Durchsetzung staatlicher Rechtscodes. Nur dort, wo die Kapitalisierung der ökonomischen Verhältnisse veränderte Verhältnisse wirklich etabliert hat, ist die mit ihr einhergehende Bürokratisierung der Herrschaft und die »Verstaatlichung der Semantik« fortgeschritten. Die Versuche einzelner Regime, die Legitimität ihrer eigenen Positionund damit langfristig kumulierend auch die der Staaten - zu erhöhen, haben keinen grundlegenden Wandel an der prekären symbolischen Position des Staates bewirkt. Die Mythologisierungen des Staates verblassen, und jene Ideologien, die staatliche Herrschaft teils produzierte und teils kooptierte, haben sich in ihren Wirkungen als widersprüchlich erwiesen. Die Legitimität staatlicher Herrschaft ruht bis heute wesentlich auf patrimonialen Praktiken auf, deren integrative Wirkung sich indes durch den Rückgang staatlicher Ressourcen vermindert. Der soziale Wandel und die jüngeren Veränderungen Yon Staatlichkeit sorgen zugleich für Dynanliken, die der Staat selbst nicht einh.:gen kann. Deshalb verstetigt sich das Legitimitätsdefizit staatlicher Herrschaft_ und die gewaltsamen Herausforderungen staatlicher Herrschaft dauern :m. Staatliches Recht ist in Afrika, Asien und Lateinamerika umstritten unJ :;:l~ sehr eingeschränkt gesellschaftlich »wirklich«. Ihm stehen tradierte Rcf:,_·i:-r.·.:cter, lokale Autoritäten und widerstreitende Moralcodizes entgegen. Der PS":n · lismus von Rechtsformen und Rechtssystemen ist zwar keine hisrori•..:~c ~: sonderheit. Überall wo staatliches Recht entsteht, tritt es in Knk~-:"X'!~l :· . : . ·,_ populären Haltungen, zu privaten Moralvorstellungen wtd auch 7'u ;.'.c:-!! "\. · '!
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men der internationalen Rechtswnwelt. Der Rechtspluralismus durchzieht die Geschichte der Weltgesellschaft und findet sich in jedem ihrer »national« abgegrenzten Rechtsräume wie in ihrer Gesamtheit. In der Gegenwart der Dritten Welt ist nur nicht absehbar, auf welcher Grundlage eine nationalstaatliche Ausformung der Rechtsräume stattfmden sollte. Gleichzeitig ist die Rechtsproduktion in diesen Staaten ungebrochen und nimmt mutmaßlich zu. Sie ist allerdings eingebettet in einen anderen internationalen Zusammenhang, als er zur Zeit der Verrechtlichung der Politik etwa in Westeuropa gegeben war. Über die nationalen und lokalen Prozesse, in denen Recht produziert wird, wölben sich die globalen Diskurse des soft law, der Standardisierung von Rechtsnormen und die moralischen Erwartungen der >>internationalen Gemeinschaft«. Weil die staatliche Rechtsproduktion zugleich auf starke äußere Anforderungen reagieren muss, wird ihre Flexibilität gegenüber lokalen Bestrebungen geringer. In den Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas stößt dieser Prozess auf eine faktische Herrschaftslücke: Der nachweisbaren Produktion von Recht stehen erhebliche Beschränkungen seiner Durchsetzungsmöglichkeit entgegen. In diesem Sinne lassen sich auch Zweifel an der Realisierbarkeit internationaler Verträge und Abkommen formulieren, wenngleich diese für die Frage, welches Recht überhaupt gesatzt werden kann, eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Rechtsordnungen entwickeln sich also nicht allein aus dem Zusammenspiel lokaler Machtkonstellationen, sondern auch dieser Prozess ist in hohem Maße internationalisiert. Staatlicher Rechtssetzung und -durchsetzung sind durch diese Internationalisierung höhere Grenzen gesetzt, als dies während der vergleichbaren Prozesse in der europäischen Staatsbildung der Fall war. Obwohl das staatliche Recht eine Suprematie anstrebt, wird seine Geltung auch weiterhin durch andere Logiken überlagert und eingeschränkt. Anders als in der europäischen Geschichte sind diese Überlagerungen aber nicht nur lokalen Ursprungs, sondern sie sind zugleich selbst globale Phänomene. Darin zeigt sich die veränderte Einbettung von Staatlichkeit als sozialer Organisationsform. Die Internationalisierung von Herrschaft bei gleichzeitig nachlassender Institutionalisierungsdynamik staatlicher Macht ist die wichtigste Tendenz, die die Betrachtungen dieser Arbeit ergeben haben. Diese Internationalisierung von Herrschaftszusammenhängen vollzieht sich aber konkret nicht als Machtpolitik einzelner Staaten, sondern sie geschieht hinter dem Rücken der Akteure. Hauptbedingungen dieser Entwicklung sind die Persistenz lokaler Herrschaft, die sozial desintegrativen Tendenzen der Auflösung traditionaler Formen der Vergesellschaftung und die - im Vergleich zur Bildungsphase europäischer Staaten - veränderten globalen Bedingungen.
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Der Prozess der globalen Vergesellschaftung ist nicht neu, aber er hat an Intensität gewonnen. Das ließ sich an der historischen Dimension der Dynamik staatlicher Herrschaft erkennen. Ökonomisch haben sich der Zusa1!unenhang der Produktionen, das Tempo der Zirkulation und die Muster der Konsumtion verdichtet und bilden nun einen engeren Zusa1lllUenhang als die's' in früheren Epochen der Fall war. Auch politisch sind die Kausalitätsstränge zwischen Ereignissen an unterschiedlichen Orten dichter und vielfältiger geworden. Im Grunde seit der Zeit der kolonialen Herrschaft, besonders aber in der postkolonialen Geschichte der Staaten der Dritten Welt, haben sich die Bedingungshorizonte und damit auch die Handlungsräume der staatlichen wie nicht-staatlichen Akteure immer stärker verschränkt. Damit stellt sich die Frage nach der Zukunftsfähigkeit staatlicher Herrschaft. Die Tendenzen der Informalisierung der Reproduktion, von der auch die politische Herrschaft in Afrika, Asien und Lateinamerika erfasst wird (vgl. 4.3) und die Internationalisierung von Herrschaftszusa1lllUenhängen lassen eine weitere Entwicklung in Richtung der Annäherung der empil:ischen Staatlichkeit an das Ideal des Staates w1wahrscheinlich wirken. Eher, so scheint es, entwickelt sich eine »Vielfalt von Formen und regulierenden Institutionen, die weder kohärent noch kompatibel sind oder Synergie-Effekte erzeugen« (Altvater/Mahnkopf 2002:25). Doch es lassen sich ebenso weithin unbeachtete Tendenzen aufzeigen, die unerwartet in die Gegenrichtung deuten. Die historische Tiefe der bereits erreichten Staatlichkeit könnte sich als entscheidend fiir die Zukunft der Formen politischer Herrschaft in der Dritten Welt erweisen. Dort, wo sich das Bewusstsein von Staatlichkeit verallgemeinert hat, bleibt es lange eine Folie des Politischen. Die Rekonfiguration staatlicher Herrschaft in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion gelang dieser These gemäß deshalb einfacher als in vielen dekaionisierten Staaten Afrikas zu Beginn der sechziger Jahre, weil die Erfahrung moderner Staatlichkeit bereits viell..1.ngere Zeiträume tunfasst hatte. Diese Beobachtung lässt auch den Schluss zu, dass eine rasche Entstaatlichtulg der Welt w1wahrscheinlich ist. Selbst an den Protesten, die sich gegenwäni~ gegen den Umbau sozialstaatlicher Arrangements oder gegen Liberalisicnlll!{cr: :'~ verschiedenen Weltgegenden entwickeln, bleiben die erfahrende :S:.u:I:d~.···"·::· und das Ideal des Staates als Norm politischer Herrschaft immer !'::l.>nahenden Anarchie« (Kaplan 1994) - Annahmen, die zwar nicht in offenem Widerspruch zu den Ergebnissen dieser Arbeit stehen, für die es aber darin andererseits keine besonderen Anhaltspunkte gibt
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- ftgurieren in diesem Feld Thesen über den Formwandel staatlicher Herrschaft, der sich aus den veränderten internationalen Bedingungen und den Strategien lokaler Akteure ergibt. Unter ihnen ist besonders Hibous Interpretation (1999a, 2005) hervorzuheben. Demnach lässt sich in den gegenwärtigen Veränderungen staatliclier Herrschaft eine Tendenz der ))Privatisierung des Staates« erkennen, die dmin bestünde, dass mehr und mehr Funktionen und Aufgaben des Staates in nichtformalisierte und nicht-öffentliche Bereiche übertragen würden. Diese dichn':?,e des Staates sei jedoch nicht allein das Resultat auswärtigen politischen Dmcks zur Verschlankung des Staates, sondern ebenso so sehr gewählte Strategie der Machtgruppen, die die postkolonialen Staaten dominierten. Faktisch entwickele sich durch diese Strategien eine Delegation staatlicher Macht an einzelne Machtttäger, eine Flexibilisierung der Herrschaft, die an Stetigkeit und Berechenbarkeit verliere, aber deshalb nicht mit dem Ende von Herrschaft überhaupt gleichzusetzen sei. In ähnlicher Weise sieht auch Trutz von Trotha (1999; 2000a) das Ende des klassischen Staatsmodells gekommen. In den postkolonialen Staaten Afrikas wenigstens sei die Zenttalisierung und lnstitutionalisierung staatlicher Macht nicht mehr zu erwarten. Stattdessen würden Formen der »Para-Staatlichkeit« dominant, in denen lokale Herrschaft immer mehr Funktionen übernähme. Die Interpretation der beiden Autoren stützt die Thesen über die lnfonnalisierung von Ökonomie und politischer Herrschaft in Asien, Afrika und Lateinarnerika und die damit einhergehende Herrschaft intermediärer Instanzen (Schlichte/Wilke 2000). In dem Maße, in dem sich Modemisierungsprozesse informell und ungeregelt vollziehen, werden dem staatlichen Zugriff immer mehr ökonomische Flüsse entzogen. Wenn die Ressourcenflüsse aber nicht mehr über staatliche Institutionen laufen, dann kehrt sich der Prozess der »politischen Enteignung« (Weber 1985: 824) um: Nicht mehr die Agenturen einer- im Prinzip- zentral kontrollierbaren Staates haben die \'erfügunw-gc· walt über die Verteilung der Mittel, sondern diese gelangt in die Hände p:u"'!:· kularer Netzwerke, die grenzüberschreitend operieren.21s Dieses Muster führt zur Herrschaft der Intermediäre. Sie bedeutcr. ~" :.,,~, kale Big Mm die ökonomischen und politischen Chancen nutzen. 4.-i:lc ~!~ ,~WJ der nachlassenden Kontrolle übergeordneter Agenturen. aus dt.-r.t '"'""~lll:'lltl!t Rückzug des Staates und auf dem Markt der »Hilfe« ergebe~- ~ ~ Fragmente der einst den Staat durchziehenden Kli&.'11tc:llc-1~ -"->r. l:...l'i!..._
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218 Es gibt jedoch auch Fälle, in d~'tlen die lniom"l..l.b•~-""'i1. ·"""" f•"~\\';\ .--:·~-'Ii.,.,.,. ,,.,,,,, -'-'•-' _.,,.,,,.. Interpretation nahelegt.
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liehe Ausblendung auch fahrlässig. Andere Architekturen, die dem Staat keine zentrale Rolle zuweisen, müssen für die Zusammenhänge, die sich an der Dynamik staatlicher Het-rschaft gezeigt haben, ebenfalls Alternativen entwickeln. Die Geschichte staatlicher Herrschaft zeigt etwa, dass sich nur an der leistenden Institution Legitimitäten heranbilden. Wo Staaten verteilen, bilden sich Interessen an ihrer Fortexistenz heran. Auch Alternativen zum Staat bräuchten Stäbe, deren materielles Interesse erfüllt werden müsste, auch diese Gebilde wären auf die Heranbildung von Legitimität angewiesen, für die sie eine Symbolik benötigen.
6.3 Zur Theorie: Von den Internationalen Beziehungen zur politischen Soziologie der Weltgesellschaft Aus der Perspektive der Theorie globaler Vergesellschaftung konnte die Dynamik staatlicher Herrschaft in Umrissen dargelegt we1'lntemationale Bcnchungen« nennen könnte, oder aber eine andere, neue Disziplin würde.
Verzeichnis der Tabellen und Schaubilder
Tab. 1: Veränderwtgen der Staatsquote in ausgewählten Staaten ................ 194 Tab. 2: Die Steuerstärke von Staaten ................................................................. 195 Tab. 3: Staatengruppen nach Steuerstärke ........................................................ 196 Tab. 4: Zu- und Abnahme von Steuerstärken .................................................. 197 Tab. 5: Entwicklwtgshilfebezüge ausgewählter Länder .................................. 214
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