Klappentext: Joyce Summers ist tot. Spike ist zwischen die Fronten geraten und hat sich seinen Tod selbst zuzuschreiben...
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Klappentext: Joyce Summers ist tot. Spike ist zwischen die Fronten geraten und hat sich seinen Tod selbst zuzuschreiben. Auch Faith, die bis zuletzt erbittert gekämpft hat, lebt nicht mehr. Südkalifornien ist das Königreich der Vampire geworden, und Rupert Giles ist ihr König. Buffy fühlt sich verantwortlich für diese schrecklichen Ereignisse. Sie hat Fehler gemacht, die nicht wieder rückgängig zu machen sind. Oder doch? Sie muss all ihre Kräfte sammeln, um ihren ehemaligen Wächter, der jetzt der grausame Herrscher der Vampire ist, zu vernichten. Doch damit nicht genug. Um diese furchtbare Zukunft zu verhindern, muss Buffy in ihren Körper der Vergangenheit zurückkehren und herausfinden, welcher Fehler ihrerseits zu diesen Grausamkeiten geführt hat. Wird sie es schaffen, die finstere Zukunft doch noch abzuwenden?
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Christopher Golden
Die verlorene Jägerin Viertes Buch Herrschaft der Vampire Aus dem Amerikanischen von Antje Görnig
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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Buffy, im Bann der Dämonen. – Köln: vgs Die verlorene Jägerin / Christopher Golden. Aus dem Amerikan. von Antje Görnig Buch 4. Herrschaft der Vampire. – 1. Aufl. – 2001 ISBN 3-8025-2885-9
Das Buch »Buffy – Im Bann der Dämonen. Die verlorene Jägerin. Viertes Buch. Der König der Toten« entstand nach der gleichnamigen Fernsehserie (Orig.: Buffy, The Vampire Slayer) von Joss Whedon, ausgestrahlt bei ProSieben. © des ProSieben-Titel-Logos mit freundlicher Genehmigung der ProSieben Television GmbH Erstveröffentlichung bei Pocket Books, New York 2001. Titel der amerikanischen Originalausgabe: Buffy, The Vampire Slayer. The Lost Slayer. Part four. Original Sins. TM und © 2001 by Twentieth Century Fox Film Corporation. All Rights Reserved. 1. Auflage 2001 © der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH Alle Rechte vorbehalten. Lektorat: Sabine Arenz Umschlaggestaltung: Sens, Köln Titelfoto: © Twentieth Century Fox Film Corporation 2001 Satz: Kalle Giese, Overath Druck: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-8025-2885-9
Besuchen Sie unsere Homepage im WWW: www.vgs.de
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Was bisher geschah... Eine neue Sorte Vampire ist in Sunnydale aufgetaucht, schneller und stärker als alle anderen und in Besitz einer besonderen magischen Energie. Kakchiquels heißen sie, diese Blut saugenden Diener des alten Maya-Dämonengottes Camazotz. Buffy ist zu der Überzeugung gelangt, sie könne nur dann ein zufriedenes Leben führen und gleichzeitig eine effektive Jägerin sein, wenn sie die beiden Hälften ihres Lebens völlig voneinander trennt, als wären Buffy und die Jägerin zwei verschiedene Personen. Daher versucht sie, ihre besten Freunde aus ihrem Leben als Jägerin herauszuhalten und ihre Aufgaben ganz allein zu bewältigen. Aber schon bald stellt sich heraus, dass es viel schwieriger ist als erwartet, das Beste aus ihren beiden Leben herauszuholen. Nachdem Buffy einiges über Camazotz und die Kakchiquels in Erfahrung gebracht hat, versucht sie, das Versteck des Dämonengottes in Sunnydale ausfindig zu machen. Da bekommt sie Besuch von dem Geist der früheren Jägerin Lucy Hanover, die ihr eine Warnung überbringt. Ein Wesen aus der Geisterwelt, genannt die Seherin, hatte vorausgesagt, dass Buffy schon bald einen Fehler mit katastrophalen Folgen begehen würde. Buffy hat jedoch keine Zeit, sich über Lucys Warnung den Kopf zu zerbrechen, denn bei der Suche nach Camazotz mehren sich die Hinweise auf ein Schiff, das im Hafen von Sunnydale vor Anker liegt. Entgegen Buffys Wunsch, die Sache allein durchzuziehen, findet es Giles angesichts der ernsten Bedrohung, die von den Kakchiquels und ihrem Meister ausgeht, besser, wenn Willow Camazotz mit Hilfe der Magie ausfindig macht und sie dann alle gemeinsam als Gruppe angreifen. 5
Willow soll die nötigen Zutaten für die Beschwörung besorgen und sich dann mit Giles und Buffy in Docktown treffen, dem heruntergekommenen Hafenviertel von Sunnydale. Aber als Buffy Oz anruft, um sich mit Willow zu verabreden, ist die junge Hexe nicht da. Buffy erzählt Oz nichts von der Beschwörung, den Zutaten und der geplanten Verabredung. Sie hofft, Giles würde die Suche wenigstens für diese Nacht ruhen lassen, wenn Willow nicht verfügbar ist. Buffy hat vor, allein nach Camazotz zu suchen. Aber Giles lässt sich nicht davon abhalten, sie zur Hafenmeisterei zu begleiten, um Genaueres über das Schiff zu erfahren, auf dem Camazotz sich versteckt hält. Vor Ort besteht Giles darauf, dass Buffy im Wagen warten soll. Wie sich herausstellt, ist der Hafenmeister ein Vampir, der in Camazotz’ Diensten steht. Während Giles vor der Tür wartet und Buffy im Wagen immer ungeduldiger wird, setzt der Hafenmeister den Dämonengott über ihre Ankunft in Kenntnis. Als Buffy schließlich erkennt, dass etwas falsch läuft, stürmt sie das Büro des Hafenmeisters. Und dort befindet sich ihr ehemaliger Wächter bereits in der Gewalt dieses Vampirs. Zudem taucht Camazotz mit einer Gruppe seiner Kakchiquels auf, und die Jägerin sieht sich mit einer schrecklichen Entscheidung konfrontiert. Lässt sie sich auf einen Kampf ein, wird Giles vermutlich getötet. Ergibt sie sich, stirbt Giles genauso sicher wie sie selbst. Und da die erste Regel für die Jägerin lautet, unbedingt am Leben zu bleiben, und sie davon ausgeht, Camazotz lasse Giles am Leben, um ihn später als Köder zu benutzen, flieht sie erst einmal. Als sie mit ihren Freunden versucht, Camazotz’ Schiff zu orten, um Giles zu retten, bevor es zu spät ist, beschwört Willow den Geist von Lucy Hanover herauf. Wie der Geist berichtet, sind die Visionen der Seherin drastischer geworden. Da Buffy befürchtet, die schrecklichen Prophezeiungen hätten etwas mit den aktuellen Schwierigkeiten zu tun, bittet sie Lucy, 6
die Seherin zu fragen, ob sie einmal mit ihr direkt sprechen kann. Als die finstere Erscheinung, bekannt als die Seherin, tatsächlich auftaucht, offenbart sie, dass Buffy den Fehler bereits begangen hat und die düstere Zukunft, die sie vorausgesagt hat, nicht mehr verhindert werden kann. Die Seherin behauptet, sie könne Buffy einen Blick in diese Zukunft ermöglichen, wenn sie ihr Zugang zu ihrer Seele gewährt. Aber die sogenannte Seherin ist nicht das, was sie zu sein vorgibt. In Wahrheit ist sie Zotzilaha, Camazotz’ Frau, die in Gestalt eines Geistes vor ihrem Mann auf der Flucht ist und nach einem starken Wirtskörper sucht, der ihr helfen soll, sich gegen ihren Mann zur Wehr zu setzen. Zotzilaha war nach Sunnydale gekommen, um sich den Körper der Jägerin zu holen, und Camazotz war seiner abtrünnigen Gattin gefolgt. Zotzilaha berührt Buffy, dringt in ihren Körper ein und vertreibt Buffys Seele. Mit Hilfe einer Magie, deren Wesen noch zu erforschen ist, katapultiert Zotzilaha Buffys Seele fünf Jahre weiter – in jene albtraumhafte Zukunft, vor der sie die Jägerin gewarnt hatte. Die Seele der neunzehnjährigen Buffy vermischt sich mit der Seele ihres älteren zukünftigen Ichs. Und Buffy findet sich in der finsteren Zukunft in Gefangenschaft wieder. Die Kakchiquels halten sie bereits seit Jahren gefangen, töten sie jedoch nicht, um den Aufstieg einer neuen Jägerin zu verhindern. Als Buffy schließlich entkommen kann, findet sie heraus, dass die Vampire mittlerweile ganz Sunnydale und Umgebung unter ihrer Kontrolle haben und ihr Einfluss täglich wächst. Sie fährt Richtung Süden, wo sie sich mit Vertretern des Rats der Wächter trifft. Der Rat hat eine Basis und eine große Truppe Einsatzkräfte bereitgestellt, um die Herrschaft des Vampirkönigs zu beenden, von dem auch Buffy schon gehört hat. Unter diesen Einsatzkräften trifft sie ihre alten Freunde 7
Willow, Xander und Oz wieder, die sich in den schwierigen Jahren, seit sie Buffy zuletzt gesehen haben, sehr verändert haben. Und dann offenbart Willow die furchtbare Wahrheit dieser schrecklichen Zukunft: Rupert Giles ist der König der Vampire. Buffy schließt sich der Operation des Rates an, obwohl es sich als schwierig herausstellt, die Beziehungen zu ihren alten Freunden wieder aufzubauen. Zu dieser Zeit infiltriert Spike das Hauptquartier. Er wurde von Giles als Attentäter und Vollstrecker engagiert. Auf sein Geheiß hatte Spike unter anderem bereits Buffys Mutter und Anya umgebracht. Spike hegt den Verdacht, der Vampirkönig greife Buffy seit ihrer Befreiung immer wieder unter die Arme, weil er sie offenbar lieber auf seine Seite ziehen will, statt sie zu vernichten. Als Spike Giles mit diesem Verdacht konfrontiert, weil er wütend auf ihn ist, da er ihm die Schuld am Tod seiner geliebten Drusilla gibt, wirft ihn der Vampirkönig aus dem Fenster ins Sonnenlicht. Spike, der Kalifornien verlassen will, setzt sich wütend mit Buffy in Verbindung, um ihr alles über Giles’ große Eroberungspläne zu verraten. Auf diese Weise hoffte er, sich doch noch an dem Vampirkönig rächen zu können. Buffy und die anderen nehmen Spike daraufhin in die Mangel, verhören ihn und entlocken ihm alle Informationen. Anschließend pfählen sie ihn. Angesichts der Schnelligkeit, mit der Giles seine Pläne vorantreibt, sieht sich der Rat gezwungen, die eigenen Aktionen ebenfalls zu beschleunigen. Die Streitkräfte werden in Einheiten aufgeteilt, um bereits in den frühen Morgenstunden einen gewaltigen Angriff auf Sunnydale zu starten. Buffys Einheit hat eine besondere Aufgabe: Sie soll in Giles’ Versteck im Rathaus eindringen, alle dort befindlichen 8
Vampire eliminieren und ihren König ein für alle Mal vernichten...
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1. »Also gut, dann los!« Buffy führte die anderen über den langen Flur zur Treppe in den Keller des Rathauses. Sie war aufs Äußerste angespannt und registrierte jedes Detail der Umgebung. Von all den Gräueln, die sie als Jägerin schon erlebt hatte, stellte Rupert Giles als Vampir möglicherweise die größte Gefahr dar – nicht wegen seiner scharfen Intelligenz, sondern weil Buffy ihn liebte. Draußen dämmerte es bereits, und im Licht der Morgensonne griffen mehrere Kampfeinheiten des Rates diverse Schlupflöcher der Kakchiquels an, die Giles loyal ergeben waren. Seit die Operation einige Minuten zuvor begonnen hatte, gab es keine Kommunikation mehr zwischen den Einheiten. Da Buffy bei der Planung der Aktion geholfen hatte, kannte sie die Devise: Möglichst alle Schlupfwinkel sollen in Brand gesteckt und die Vampire nur im Notfall einzeln ausgeschaltet werden. Zahlenmäßig waren ihnen nämlich die Einsatzkräfte des Rates unterlegen, denen allerdings die Sonne den kleinen Vorteil verschaffte, auf den sie dringend angewiesen waren. Wenigstens hofften sie auf diesen Vorteil. Buffy beschlich jedoch ein ungutes Gefühl. Vermutlich ging die Sache knapper aus, als sie und die anderen sich eingestehen wollten. Nur wenn es ihr gelang, Giles zu pfählen, war das Spiel zu Ende. Ohne den Vampir, zu dem sie als ihrem König aufsahen, verloren die Kakchiquels bestimmt ihren Zusammenhalt, und dann würde wieder jeder Blutsauger für sich selbst kämpfen – wie sie es getan hatten, bevor Giles ihr König war. Nach der Stürmung des Rathauses hatte Willow mithilfe der Magie einige Kakchiquels verbrennen können. Die Flammen hatten die Sprinkleranlage im ersten Stock des Gebäudes 10
aktiviert, und Pater Christopher Lonergan – Agent des Rates und römisch-katholischer Priester in einer Person – verwandelte mit einem Bußritus die herabregnenden Wassertropfen in Weihwasser. Die Vampire waren schreiend in alle Richtungen gerannt, aber vor dem Wasser gab es kein Entrinnen, und ihre Haut schlug Blasen und verdampfte, bis sie schließlich zu Staub zerfielen. Lonergan verfügte über besondere Psi-Fähigkeiten und konnte Vampire mit seiner übersinnlichen Wahrnehmung aufspüren. Er führte gerade den Rest der Truppe durch den ersten Stock des Rathauses, durchsuchte ihn Raum für Raum und rottete sämtliche Vampire aus. Die Gruppe wollte sich dann weiter nach oben vorarbeiten und Buffy sofort informieren, wenn Giles ausfindig gemacht werden würde. In der Zwischenzeit befassten sich Buffy und ihre Freunde mit dem Keller. Sie waren nur zu viert – Buffy, Willow, Xander und Oz – aber das war in Ordnung. Es war noch gar nicht lange her, da hatte Buffy angenommen, sie müsse ganz allein operieren, um eine gute Jägerin zu sein. Mittlerweile hatte sie jedoch erkannt, wie dumm dieser Gedanke gewesen war. So wie jetzt, dachte sie, soll es sein; so ist es richtig. Die Alarmsirenen heulten, und die Sprinkleranlage versprühte Wasser, als sie an den Fahrstühlen vorbei zu einer Tür mit einem roten Ausgang-Schild kamen, die in den Keller führte. Buffy hielt sich erst gar nicht damit auf, am Türknauf zu rütteln. Sie verpasste der Stahltür einen kräftigen Tritt gleich neben dem Schloss, das Metall verzog sich knirschend, und die Tür schlug auf. Sie warf rasch einen Kontrollblick die Treppe hoch und stieg die Stufen hinunter. Oz folgte ihr als Erster. Der Werwolf hob schnüffelnd die Nase. Nach ihm kam Willow, und Xander bildete die Nachhut. An einem Lederriemen trug er eine Armbrust über der Schulter, und er zog die 9mm-Glock aus 11
seinem Hüftholster. Am Fuß der Treppe befand sich eine weitere Tür. Ein großes »B« war an die Wand gepinselt, aber ansonsten gab es keine Schilder. Keine Hinweise. Überhaupt nichts Außergewöhnliches. Buffy blieb auf der letzten Stufe stehen und spürte den warmen Atem des Werwolfs in ihrem Nacken. Oz schnupperte in rascher Folge mal hierhin, mal dorthin und stieß ein bedrohliches Knurren aus. Buffy nickte. »Ich rieche es auch«, sagte sie. »Was?«, fragte Willow. »Ich weiß gar nicht, wie ich es nennen soll«, entgegnete Buffy. »Reibungselektrizität oder so. Wie bei dem Insektenvernichter in Xanders Garten.« »Elektrizität«, wiederholte Willow im Flüsterton. »Ganz genau.« Willow kam an Oz vorbei, betrachtete die Tür einen Augenblick lang und sah dann über die Schulter zu Xander. »Ich bin schon ein bisschen erschöpft«, sagte sie zu ihm. »Fang mich auf, wenn ich umkippe.« »Natürlich«, entgegnete Xander ohne besondere Regung, als wäre dies eine ganz alltägliche Bitte. »Hey«, sagte Buffy. »Ich kann es machen, wenn es zu viel...« »Nein«, fiel ihr Willow rasch ins Wort. »Wir brauchen dich an der Spitze. Halt dich einfach bereit!« Ein leises Lächeln umspielte Buffys Lippen. »Allzeit bereit! Dann lasst uns mal loslegen.« Willow holte tief Luft, zeichnete Muster in die Luft und murmelte ein paar Worte, die wie Griechisch klangen. Buffy spürte, wie eine furchtbare Kältewelle über sie hinwegfegte, und sie fing an zu zittern. Die Tür verwandelte sich in Eis, und es knackte und knisterte, als die magische Energie, die in sie eindrang und sie umgab, wieder versiegte. Willow schwankte leicht, riss aber den Arm hoch und stützte sich an der Wand ab. Buffy und 12
Xander sprangen herbei, um sie zu halten, aber sie wehrte nur ab. Oz kam nach vorn zur Tür und knurrte immer lauter und bedrohlicher. »Oz!«, rief Buffy nur. Der Werwolf drehte sich um und bleckte die glänzenden Zähne. Es war keine menschliche Intelligenz in seinen Augen zu erkennen, aber sie wusste, er bekam wenigstens teilweise mit, was um ihn herum vorging. »Giles gehört mir«, sagte sie. Und dann holte sie tief Luft, stellte sich vor die gefrorene Tür und sprang zu einem hohen Dropkick ab. Das Eis zersprang in eine Million kleiner Splitter, und damit war die Tür aus dem Weg geräumt. Sie waren drin. Im Keller war es bis auf den gelben Schein der Notbeleuchtung an den Wänden stockfinster. Hier befand sich Giles’ Versteck offensichtlich nicht. Weitere Flure führten in diesen großen Kellerraum, und auf der gegenüberliegenden Seite gab es mehrere Türen. Dieser zentrale Teil des Kellers musste einmal als Lager für irgendetwas gedient haben. Und auf gewisse Weise traf das immer noch zu. Ein halbes Dutzend Kakchiquel-Wachen, deren Augen orangefarben in dem dunklen Raum leuchteten, sahen auf und knurrten alarmiert, als sie hereinkamen. Allerdings konnten sie Buffy und ihre Freunde nicht daran hindern zu entdecken, was sich in diesem Keller verbarg. An den Röhren, die an der Decke entlangliefen, hingen unzählige Fledermäuse. Darunter hockte, an Eisenringe gefesselt, die im Beton verankert waren, der Gott der Fledermäuse, der Dämon Camazotz. Sein grüner, pockennarbiger Körper war ekelhaft aufgedunsen wie bei einem Blutsauger, der sich bis zum Platzen gelabt hatte. Die zerfledderten Flügel des Dämonengottes waren hinter seinem grotesk dicken Leib kaum zu sehen. In das faulige Fleisch des aufgequollenen, aufgeblähten Dämons hatten sich sieben 13
Vampire festgebissen und saugten an ihm wie neugeborene Kätzchen. Sie knisterten vor Energie, die sie offenbar dem gefangenen Dämon absaugten. Buffy erschauderte und ihr wurde speiübel. »Das ist aber wirklich krass!« Schon drehten sich die saugenden Vampire nach ihr um, deren Münder mit Dämonenblut verschmiert waren. Die Wachen umzingelten die Eindringlinge. Camazotz stieß ein hohes, klagendes, einsames Wimmern aus, das Buffy einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Der Gott der Fledermäuse musste verrückt geworden sein. Xander trat an ihre Seite. »Giles ist nicht hier unten. Lasst uns kurzen Prozess machen!« Die Vampirwachen gingen mit blitzenden Augen und gebleckten Zähnen auf sie los. »Du kannst echt Gedanken lesen«, bemerkte Buffy. Sie wollte ihn noch warnen, sie alle warnen, dass die Kakchiquels durch die Energie des Dämons stärker und schneller waren als gewöhnliche Vampire, aber sie besann sich eines Besseren. Das wussten die anderen ja bereits! Sie kämpften schließlich schon seit Jahren gegen Giles’ Untertanen. »Ihr wagt es?«, knurrte einer der Wachmänner sie an und stürzte sich auf sie. »Ja«, entgegnete Buffy knapp. »Wir wagen es.« Auf dem Rücken trug sie das Schwert, das sie einmal im Kampf gegen Angel benutzt hatte. Erst kürzlich war Giles in das Hauptquartier des Rates angedrungen und hatte ihr das Schwert geschenkt – als hätte er es darauf angelegt, von ihr persönlich damit getötet zu werden. Buffy beschloss, es vorerst nicht zu ziehen und erst dann zu benutzen, wenn es so weit war. Nun brauchte sie es noch nicht. Sie duckte sich unter den ausgestreckten Armen des Vampirs, zwängte sich hindurch und verpasste ihm einen Tritt 14
ans Kinn. Ihr Absatz traf, und der Aufprall erschütterte sie bis ins Mark. Der Vampir strauchelte leicht, und seine Augen blitzten und funkelten noch heller. Buffy bewegte sich elegant und kraftvoll, sie trat einen Schritt zurück und schwang das Bein zu einem weiteren Tritt. Sie traf den Vampir am Schädel, und er klappte zusammen. Dann stieß sie ihm den Pflock mit so großer Kraft in den Rücken, dass er durch die Rippen bis in sein Herz drang. Der Vampir explodierte zu einer Staubwolke. »Wir wagen es«, sagte Buffy leise zu sich selbst. Ringsum traten ihre Freunde mit einer Professionalität in Aktion, die Buffy in Hochstimmung versetzte und gleichzeitig beschämte. Die vier kämpften alle so gut, und sie musste an die Zeiten denken, als sie versucht hatte, die anderen aus ihrem Jägerinnenleben herauszuhalten. Ihr kam es vor, als habe sie an einer Art Persönlichkeitsspaltung gelitten. Wie hatte sie nur allen Ernstes annehmen können, Buffy und die Jägerin seien trennbar? Ironischerweise war es genau dieses Bestreben gewesen, das zu der augenblicklichen Zwangslage geführt hatte; dazu, dass die Seele ihres neunzehnjährigen Ichs in die Zukunft geschleudert worden war und nun in dem Körper der fünf Jahre älteren Buffy steckte. Mittlerweile war sie sehr stolz auf ihre Freunde. Sie konnte sich kaum vorstellen, ohne sie in einen größeren Kampf zu ziehen. Willow zeichnete Muster in die Luft und sprach kurze Beschwörungsformeln in alten Sprachen. Sie tat es mit einem Selbstvertrauen, um das Buffy sie beneidete. Das rote Haar hatte sie zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden, der anmutig hin und her hüpfte. Eine Kältewelle fuhr durch den Raum, als einer der Wachen sich in eine Eisskulptur verwandelte. Ein anderer ging in Flammen auf, die gierig und mit einem feurigen Brüllen an seiner Kleidung leckten. Die sieben Vampire, die an Camazotz’ pockennarbigem Körper gesaugt hatten, wachten allmählich aus ihrem 15
zufriedenen Dämmerzustand auf. Sie waren nun selbst bis zum Platzen angefüllt mit der Energie, die sie ihrem früheren Meister abgesaugt hatten, der ihnen jetzt nur noch als Batterie diente. Buffy hatte sich schon lange gefragt, welchen Ursprung die dämonische Energie hatte, die diese Kakchiquels derart stark und schnell machte und ihnen das orangefarbene Glühen in ihren Augen gab. Nun hatte sie es selbst mitansehen können. Gesättigt mit der Energie des Fledermausgottes und strotzend vor dunkler Macht, schlossen sich die Sauger den Wachen im Kampf gegen die Eindringlinge an. Schüsse hallten durch das Kellergeschoss, und Buffy spürte die leichten Luftdruckschwankungen auf ihrer Haut und am Trommelfell. Die Fledermäuse an den Röhren unter der Decke kreischten auf, und manche flatterten aufgeregt los, ließen sich aber wenige Augenblicke später wieder nieder. Buffy wirbelte auf dem Absatz herum und sah, wie Xander wieder und wieder mit seiner Glock auf zwei Wachen schoss. Die Kugeln konnten sie nicht töten; er setzte das Kanonenfeuer lediglich ein, um sie zu verletzen und zu zermürben. Dann steckte er die Pistole in das geölte Lederholster und griff zu der Armbrust, die über seiner Schulter hing. Ein mächtiges Brüllen zu ihrer Linken ließ Buffy in Erwartung eines Angriffs herumfahren. Aber es war keiner der verbleibenden Vampire, der so heftig brüllte, sondern Oz. Er riss einem der Wachleute den Kopf ab, Knochen und Fleisch zerfetzten mit einem Ekel erregenden Geräusch, und dann war nur noch ein Häufchen Staub von dem Vampir übrig. Schon ging der Werwolf auf die anderen Vampire los, die sich an Camazotz gelabt hatten. Zwei der Sauger sprangen auf Buffy zu, die sich blitzschnell duckte. Noch nie in ihrem Leben war sie in besserer körperlicher Verfassung gewesen. Ihre Muskeln spannten sich, während sie sich mit der tödlichen Präzision eines Skalpells bewegte. Mit einem ganzen Hagel von Schlägen brachte sie 16
beide Gegner für mehrere lebenswichtige Sekunden aus dem Gleichgewicht. Einer von ihnen, eine blasse blonde Frau, wurde so wütend, dass sie einfach nach Buffys Hals greifen wollte. Die Jägerin ließ sie kommen und spürte bereits die Finger der Vampirin an ihrem Hals, die versuchte, ihr die Luft abzudrücken. In diesem Augenblick stieß sie der KakchiquelVampirin auch schon lächelnd den Pflock zwischen die Rippen, und die Kreatur riss die Augen auf, als sie der Verletzung gewahr wurde. Dann zerfiel sie zu Staub. Der andere, ein kahlköpfiger Mann mit kupferfarbener Haut, zog Buffy an den Haaren. Buffy wehrte sich nicht, sondern nutzte seine Kraft. Als er sie nach hinten riss, beugte sie sich noch weiter zurück und machte einen Salto rückwärts. Überrascht ließ er sie los. Allerdings nicht schnell genug. Buffy verspürte einen schmerzhaften Ruck und dann lief ihr Blut über die Stirn. Der Vampir hielt eine Haarsträhne von ihr noch in den Händen, als sie hinter ihm auf dem Boden landete. Der kahlköpfige Vampir drehte sich mit einem verdutzten Gesichtsausdruck zu ihr um, und Buffy verpasste ihm zwei Schläge in rascher Folge ins Gesicht, schlug seine Arme aus dem Weg und rammte ihm dann den Pflock in die Rippen und mitten ins Herz. Als er zu einem kleinen Wirbelwind aus Staub und Asche explodierte, gab es einen Knall, als sei die Energie, die er Camazotz ausgesaugt hatte, auf einen Schlag freigesetzt worden. Als Buffy sich wieder umdrehte, sah sie, wie Xander einen Bolzen mit der Armbrust abfeuerte. Er traf und pfählte damit einen seiner Widersacher. Der zweite war nirgends zu sehen. Offenbar hatte Xander ihn auch schon erwischt. Die Kampfgeräusche hallten durch den Keller, aber das Echo wurde immer leiser. Buffy spürte, dass es bald vorbei sein würde. Sie war entschlossen, auch noch die restlichen Vampire zu erledigen, als sie sah, wie Oz und Willow zwei Kakchiquels 17
in die Zange genommen hatten, die hinter dem korpulenten, sich windenden Körper von Camazotz kauerten. Der an den Boden gekettete Dämonengott stieß erst ein katzenähnliches Miauen aus, dann ein finsteres Kichern, das Buffy zu der Überlegung veranlasste, dass er vielleicht doch nicht so durchgedreht war, wie sie geglaubt hatte. Oz sprang über den Dämon hinweg auf einen der Kakchiquels zu und schlug ihm seine Klauen mitten durch die Fledermaus-Tätowierung im Gesicht, als er ihn zu Boden warf. Willow baute sich vor dem anderen auf, hob die Hände, und ihre Kleider raschelten in dem unsichtbaren Wind, der ihre Zauberei oft begleitete. Buffy begann sich zu entspannen und an die nächsten Schritte zu denken. Für die weitere Suche nach Giles mussten sie sich wieder mit Lonergan und den anderen zusammenschließen. Sie wollte sich gerade zu Xander umdrehen und ihn bitten, über sein Headset Funkkontakt mit Lonergan aufzunehmen. Doch plötzlich fingen in ihrem Kopf sämtliche Alarmglocken an zu läuten, und sie warf einen raschen Blick über die Schulter zu Willow. Der letzte Kakchiquel versuchte, hinter Camazotz Schutz vor der Magie der Zauberin zu suchen. Willow schien die Luft mit ihren Fingern zu zerschneiden, als sie mit der Beschwörung begann. Buffy sah voraus, was geschehen würde und schrie auf, aber zu spät! Der Vampir sprang über Camazotz’ dicken Arm. Willow beendete ihre Zauberformel. Sie verfehlte jedoch den Kakchiquel und traf stattdessen die dicke Eisenkette, mit der Camazotz’ rechter Arm an den Boden gefesselt war. Die schwere Kette wurde zu Eis, und der Dämonengott stieß ein grauenhaftes, nervtötendes Lachen aus, als das Eis zersplitterte. Mit dem befreiten Arm stützte sich der Dämon ab, setzte sich auf und riss an den Ketten. 18
»Verdammt!«, murmelte Buffy. »Für so was haben wir jetzt wirklich keine Zeit!« Vom Bronze war nur noch eine Ruine übrig. Explosionen hatten die gesamten Außenwände zum Einstürzen gebracht, überall häuften sich Schutt und Geröll, und die Bühne war auf einer Seite eingestürzt. Der Zusammenbruch der Außenmauern hatte dem Sonnenlicht freie Bahn gegeben, und es waren in schneller Folge sieben oder acht Vampire verbrannt. Anna Kuei, die Jägerin, hatte nicht einmal genau mitzählen können. Das Bronze galt als vergleichsweise kleiner Schlupfwinkel, aber die Kakchiquels waren im ganzen Gebäude verstreut, in der Küche, im Lager und im Büro. Jedenfalls waren sie das bis vor kurzem noch gewesen. Nun kletterte Anna unter der wackeligen Bühne hervor und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Als sie aufsah, bemerkte sie Wesley, der mit seiner alten Repetierarmbrust in den Händen auf sie zurobbte. Die übrigen Einsatzkräfte des Rates durchsuchten die ganze Ruine, sahen hinter der Bar und unter den umgestürzten Tischen nach. Als Wesley Anna entdeckte, war ihm seine Erleichterung deutlich anzumerken. »Oh Anna!«, rief er und eilte auf sie zu. »Als ich dich draußen nicht gesehen habe...« Er brach ab, als er die Schnittwunde auf ihrer Stirn sah. »Hast du gedacht, ich wäre tot?« Er sah verlegen zu Boden. »Ich gestehe, ich habe das Schlimmste befürchtet.« Der jungen Jägerin lief es kalt den Rücken hinunter. Hatte Wesley etwa kein Vertrauen in sie?, wunderte sie sich, aber diese Frage wollte sie lieber nicht laut stellen. Sie fürchtete sich vor der Antwort. Trotz seiner manchmal recht amüsanten Eigenheiten war Wesley ein äußerst fähiger Kämpfer und ein brillanter Stratege mit einem wahrhaft phänomenalen Wissen, was das Übernatürliche betraf. Und er war nicht nur ihr Wächter. Zuvor war er für die verlorene Jägerin Buffy 19
Summers zuständig gewesen und für Faith. »Anna?«, fragte Wesley nun und sah sie besorgt an. Er betastete vorsichtig den Schnitt an ihrer Stirn, und sie zog die Luft durch die Zähne ein. »Bist du sicher, dass es dir gut geht? Ist dir schwindelig?« »Nein«, entgegnete sie rasch. »Sorry, alles in Ordnung. Ich hab’ nur...« Sie zeigte auf die Bühne. »Ich habe gehört, wie sich etwas in der Dunkelheit hinter der Bühne bewegte. Als ich erst einmal darunter war, war es ganz einfach... Ihre Augen haben sie verraten. Aber es ist recht eng dort, und einen Augenblick lang hab’ ich geglaubt, sie hätten mich.« Wesley nickte anerkennend. »Aber jetzt stehst du hier vor mir. Gut gemacht, Anna!« Die junge Jägerin schob den Holzpflock zurück in das Lederfutteral an ihrer Hüfte. Die anderen Mitglieder ihrer Einheit durchforsteten immer noch die dunklen Ecken im ganzen Club, und sie bahnte sich ihren Weg nach hinten, um ihre Hilfe anzubieten. Etwas zu tun war besser, als ständig an Tod, Kampf und das Böse zu denken. Anna hatte zwar viel trainiert, aber bislang kaum Erfahrungen in der Praxis sammeln können. Die vier Vampire, die sie in den vergangenen Minuten gepfählt hatte, waren mehr, als sie je zuvor gleichzeitig auf einem Haufen gesehen hatte. Und nun musste sie bei einer Aktion, die eines der Ratsmitglieder als die größte Anti-Vampir-Operation seit Jahrhunderten bezeichnet hatte, ins kalte Wasser springen. Obwohl sie es sich vor Wesley nie anmerken lassen würde, hatte Anna Angst. Aber Faith hatte an sie geglaubt. Und Wesley glaubte ebenfalls an sie. Anna Kuei wollte die beiden nicht enttäuschen. Auf der Galerie, von der man ins Erdgeschoss des Clubs blicken konnte, raschelte etwas im Dunkeln. Zwei Einsatzkräfte waren zwar schon dort oben gewesen, aber Anna 20
wusste, was sie gehört hatte. Das Rascheln von Kleidern, verstohlene Bewegungen in einem Versteck, wie eine Schlange im Wüstensand. Annas Körper spannte sich, und ihre Muskeln spielten unter der Haut. Ihr Blick wanderte zur Treppe, und sie zog rasch den Holzpflock aus dem Futteral. Ruhe kehrte im Bronze ein, als der Wächter und die anderen Einsatzkräfte bemerkten, was sie vorhatte. »Anna?«, fragte Wesley. Die Jägerin schlich an den Fuß der Treppe. Erneut nahm sie das Geräusch wahr. Vielleicht kauerte irgendeine dunkle Kreatur unter einem der Tische, um sich vor der bedrohlichen Sonne zu schützen. »Komm herunter!«, rief Anna mit harter und kalter Stimme, obwohl jeder einzelne Nerv in ihrem Körper vor Angst und Hochstimmung zugleich zu kribbeln schien. Krachend schlug ein Tisch auf der Galerie um. Eine dunkle Gestalt stand auf, warf sich eine verstaubte Tischdecke über die Schultern, sprang erst auf einen Stuhl, dann auf die Brüstung und stieß sich zu einem großen Satz über den schuttbedeckten Boden des Bronze ab. Mit der Decke über dem Kopf landete er mitten im Sonnenlicht in der Hocke. Wesley feuerte einen Bolzen aus seiner Repetierarmbrust ab, aber er ging daneben. Das Ziel war in Bewegung. Ein anderer feuerte ein paar Schüsse aus seiner Pistole ab, und der Vampir keuchte vor Schmerz, als er von einer Kugel an der Schulter getroffen wurde. Aber letztendlich beschleunigte der Schuss nur die Flucht des Vampirs, der in dem verzweifelten Versuch zu entkommen, durch das Geröll Richtung Ausgang schlitterte. Anna sprintete los, sprang auf einen Tisch und führte im Flug einen Dropkick aus, der den Fliehenden am Hinterkopf traf. Der Kakchiquel geriet ins Stolpern, verlor das Gleichgewicht, stürzte durch das riesige Loch in der Wand und landete auf dem Gehsteig vor dem Bronze. 21
In der Sonne. Er versuchte, sich unter der Tischdecke zusammenzurollen, aber sein Bein stand bereits in Flammen. Stöhnend versuchte er, sich aufzurappeln. Als Anna ihm das Tischtuch wegriss, knurrte er und bleckte in blinder Angst und Wut die Zähne. Die Sonne ließ das Schwarz der Fledermauszeichnung um seine Augen glänzen. Der Vampir ging in Flammen auf, das Feuer breitete sich über die Kleidung aus, und sein Haar loderte auf wie eine ölgetränkte Fackel. Das Feuer verschlang ihn, und der Vampir explodierte zu Staub. Wie Konfettiregen in der Silvesternacht. Einen Augenblick lang beobachtete Anna die flirrenden Körnchen in der Sonne und sah zu, wie der Wind die Überreste der Kreatur über den Gehsteig trieb und davontrug. Nun begann sie zu zittern. Dies war ihre alleinige Bestimmung: die Vernichtung von Vampiren und anderen Kreaturen der Nacht. Aber das Ergebnis war schrecklich anzusehen. Wesley kam auf sie zu. Seine Schritte knirschten auf dem Schutt, und er hatte sich sein Headset wieder auf die Ohren gesetzt. »Ja, Miss Haversham, wir kommen sofort«, sagte er in das kleine Mikro. Dann sah er Anna an. »Ich glaube, wir sind hier fertig, Anna. Was meinst du?« Die anderen Einsatzkräfte strömten allmählich zu beiden Seiten aus dem Gebäude. Die Mission sah als Nächstes vor, in den angrenzenden Gebäuden nach Ausläufern des Hauptverstecks zu suchen. Aber Anna hatte den Eindruck, das Wesentliche sei bereits erledigt, und so nickte sie Wesley zu. »Wie Miss Haversham mich informierte, ist die Einheit im Hotel Pacifica auf Schwierigkeiten gestoßen. Die anderen sollen mit der nächsten Aufgabe weitermachen, aber die Gruppe im Pacifica würde eine Unterstützung von uns beiden sehr zu schätzen wissen.« Annas Herz klopfte immer noch wild von der Anspannung, 22
dem Chaos und dem Grauen, das sie gerade erlebt hatte. Aber sie musste zugeben, dass ihr dieses Gefühl irgendwie gefiel. »Gehen wir!«, sagte sie. Gemeinsam kletterten sie in einen der Uni-Mogs, die der Einheit zur Verfügung standen. Das Gefährt schaukelte heftig, und Anna spürte die Vibration des starken Motors bis in die Knochen. Auf dem Weg in das Industriegebiet nördlich der Stadt berichtete ihr Wesley von den Mitteilungen, die er über Kopfhörer empfing. Offenbar waren von den fünf am Einsatz beteiligten Einheiten bereits zwei zu ihrem nächsten Angriffsziel aufgebrochen. Ihre eigene Einheit würde das schon bald auch tun. Aber es gab zwei – eine an der neuen High-School und eine im Hotel Pacifica – die an ihren ersten Einsatzorten auf massive Gegenwehr gestoßen waren. Alles nur leere Worte, bis sie auf den Parkplatz vor dem Pacifica kamen, der von weitläufigen Rasenflächen umgeben war. Das Gebäude selbst war im spanischen Stil gehalten, wie viele andere in dieser Gegend, aber es bestach durch seinen monströsen Charakter: Es war fünf Stockwerke hoch und apricotfarben angestrichen. Von Rechts wegen hätte es schon vor Jahren abgerissen werden sollen, aber wie Wesley erzählte, wurde es so lange benutzt, bis die Vampire Sunnydale übernahmen. Nun residierten hier nur noch die Vampire. In dem großen Loch, das in den Eingangsbereich geschlagen worden war, steckte ein grauer Uni-Mog fest; seine Karosserie war nur noch eine ausgebrannte Hülle, die immer noch rauchte. Zahlreiche weiße Sonnenschutzanzüge, die von den Vampiren tagsüber getragen wurden, waren auf dem Boden verstreut und flatterten leer im Wind, nachdem ihre Träger vermutlich zu Staubwolken explodiert waren. Die Kampfeinheit des Rates war nirgends zu sehen, bis auf einen Mann und eine Frau, die hinter einem grünen Truppentransporter standen und in die Mikros ihrer Headsets 23
brüllten. Als Wesley auf sie zuhielt, blickten ihnen die beiden dankbar entgegen. Rumpelnd hielt der Uni-Mog an. Anna sprang heraus, Wesley folgte ihr kurz darauf, und sie rannten auf das Paar zu. Die Frau war Terry Blum, aber den Mann kannte Anna nicht. »Was ist passiert?«, fragte Anna schnell. Der Mann starrte sie nur an, und Terry sah zu ihm hinüber. »Die Jägerin«, erklärte sie. »Gott sei Dank!« Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und taxierte Anna und Wesley. »Die Lage ist folgendermaßen: In diesem Schlupfwinkel waren viel mehr Vampire als erwartet, und es sieht so aus, als hätten sie mit uns gerechnet. Sie haben sich im ganzen Hotel verteilt und sind uns zahlenmäßig absolut überlegen. Meine Einheit ist da drin, aber wir haben mindestens drei Männer verloren, wahrscheinlich mehr.« Erwartungsvolle Blicke ruhten auf Anna. Nach einer Weile sah sie Wesley in die Augen. Das Letzte, worauf sie Lust hatte, war ein Rundgang durch dieses Gebäude. Sie mochte es sich nicht einmal von außen ansehen. Aber dann sah sie vor ihrem geistigen Auge, wie die Männer und Frauen dort in der Dunkelheit nach Vampiren suchten, dachte an die leuchtenden Augen der beiden Kakchiquels unter der Bühne im Bronze – und wusste, sie musste hinein. »Also gut«, sagte sie und lief auf das knallig angestrichene Hotel zu. Nach ein paar Schritten drehte sie sich zu Wesley um. »Kommst du mit?« »Das lasse ich mir doch nicht entgehen!«, entgegnete er grinsend.
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2. Die Kette riss, und Camazotz war frei. Für einen Augenblick herrschte Schweigen in dem feuchten Keller. Nur der rasselnde Atem aus dem Rachen des Dämonengottes war zu hören, und noch etwas: Von den Röhren unter der Decke tropfte es. Buffy wurde auf das leise Tropfen aufmerksam und sah zu den Röhren auf. Dutzende, vielleicht Hunderte kleiner Fledermäuse hingen oder klebten immer noch an den Metallröhren, schwarz glänzende Körper überall. Buffy hatte die Tiere fast vergessen. Während sie und ihre Freunde gegen die Vampire zu Felde gezogen waren, hatten sich die fliegenden Säugetiere kaum gerührt. Nun allerdings, aufgerührt von den Bewegungen und der Wut des Dämons, begannen sie leise, schrille Töne auszustoßen. Camazotz war schließlich der Gott der Fledermäuse. »Du!«, donnerte der Dämon mit belegter, kratzender Stimme. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, aber Camazotz schien nicht nur noch fetter als bei ihrer letzten Begegnung, sondern offenbar auch größer geworden zu sein. Die Kellerdecke war an die vier Meter fünfzig hoch, und Camazotz fehlte vielleicht noch ein halber Meter, um mit dem Kopf an die Röhren zu stoßen. Sein Kopf hing gebeugt zwischen seinen Schultern, die Lippen hatte er geöffnet zu einer Art ewigem Schandfleck, und von den nadelspitzen Zähnen in seinem Maul tropfte gelber Speichel. Wie Buffy sich von Willow und den anderen Einsatzkräften des Rates berichten ließ, hatte der Gott der Fledermäuse einen schrecklichen Fehler begangen, als er einen seiner Kakchiquel anwies, Giles zum Vampir zu machen. Camazotz hatte seine Vampirdiener mit seinem eigenen Blut genährt und sie so mit einer grauenhaften dämonischen Energie versorgt, ihre 25
Fähigkeiten verbessert und sie gefährlicher als ihre Brüder gemacht. Aber wie nun die Lage in diesem Keller offenbarte, schien Camazotz, nachdem Giles einmal die Kontrolle übernommen hatte, zur Batterie degradiert, zu einem Wesen, das allein wegen der Energie verehrt wurde, mit der er die Kakchiquels versorgte. Es gab zwar keinen Hinweis darauf, wie lange Giles Camazotz nun schon in dem Keller gefangen hielt, aber die wabbelige, verfaulende Kreatur schien nur noch eine Mitleid erregende, irrsinnige Karikatur ihrer selbst zu sein. Der Dämon bewegte sich nur einige wenige Schritte von der Stelle fort, wo er angekettet gewesen war. Der letzte Überlebende der Vampire, der an ihm gesaugt hatte, als sie in den Keller gekommen waren, zog sich in eine dunkle Ecke zurück, und Camazotz beachtete ihn nicht weiter. Ebenso wenig schien der Dämon Willow und Oz zu bemerken, die nur ein paar Meter vor ihm standen. »Willow, Oz, kommt zurück!«, winkte Buffy sie herbei, und Willow wich sofort vor dem Dämon zurück. Der Werwolf knurrte bedrohlich und schnüffelte, als messe er Camazotz’ Größe allein mithilfe seines Geruchsinns ab. Dann wandte er angewidert von dem ekelhaften Gestank des Dämonengottes die Schnauze ab. Der Wolf trottete zu Buffy und Willow hinüber, und auch Xander gesellte sich dazu. Camazotz bewegte sich langsam, fast schwankte er. Aus seinen wässrigen Augen blickte er auf Buffy nieder, und sie hatte den Eindruck, als nehme er die anderen kaum wahr. »Du...!«, brüllte der Dämonengott wieder, und Speichel spritzte von seinen Lippen. »Jägerin! Sieh, was du mir angetan hast! Ich bin in diese Gestade gekommen, um meine Frau zu holen, und dank deiner Einmischung bin ich nun in dieser Lage. Wenn du nicht gewesen wärst... hätte Zotzilaha keinen so starken Wirtskörper gefunden, der mir hätte trotzen können. Ich hätte sie zu mir zurückholen und sie adäquat bestrafen 26
können. Aber mit dir als Wirt... hatte ich keine andere Wahl als sie zu vernichten!« Buffy wurde einen Augenblick ganz starr, griff dann nach hinten und zog ihr Schwert aus dem Futteral auf ihrem Rücken. »Bla, bla, bla... Willow hat mir die traurige Geschichte schon erzählt. Wie du deine Frau getötet hast... zweimal! Und dafür willst du mir die Schuld geben?« Mit gezücktem Schwert stand sie der grauenhaften Bestie gegenüber und lachte ungläubig. »Da bin ich aber anderer Meinung.« Camazotz fing an, schrille Schreie auszustoßen, die Buffy wie Nägel ins Trommelfell stachen, und der Dämonengott baute sich zu seiner ganzen Größe auf und fing an zu zittern. In Reaktion auf sein Geschrei fingen auch die Fledermäuse an der Decke an zu kreischen. Sie flatterten in einer schwarzen Wolke aus raschelnden Flügeln und scharfen Krallen durch den Keller, umschwärmten Buffy und ihre Freunde und zerkratzten ihnen Gesichter und Arme, als sie sich gegen die Tiere zu wehren versuchten. Mit gezücktem Schwert stürzte sich Buffy auf Camazotz, dessen Augen vor magischer Energie glühten. Buffy schwang das Schwert in einem niedrigen Bogen und schlitzte dem Dämonengott eine klaffende Wunde in den Leib. Blut und übel riechender Schleim spritzten auf den Boden. Willow und Xander kämpften gegen die Fledermäuse, aber Oz schlug sie nur fort und stürzte sich in den Kampf. Knurrend sprang er auf den Gott der Fledermäuse und fing an, ihm das Gesicht zu zerfetzen. Er riss ihm eins seiner spitzen Ohren ab, als er mit den Krallen tiefe Furchen in den verrotteten Kopf des Monsters zog. Camazotz schrie vor Schmerz laut auf und stieß Oz von sich, um ihn durch den ganzen Raum zu schleudern. Buffy schwang das Schwert erneut und wollte gerade die Klinge auf ihn niederfahren lassen, da zeigte Camazotz auf sie und schickte 27
einen orangeroten, flammenden Energiestrahl aus. Als er Buffy traf, blieb sie wie angewurzelt stehen und fing an zu schreien. Die Schmerzen ließen sie am ganzen Körper erzittern. Aber dann stürmte sie mit lautem Gebrüll auf ihn los. Obwohl sie das Gefühl hatte, gegen einen Hurrikan zu Felde zu ziehen, drang sie weiter vor. Die Arme wurden ihr schwer, und die starken Schmerzen erschöpften sie, aber dennoch hob sie das Schwert und hieb ihm eine Klauenhand ab. »Da hast du’s!«, zischte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Der Stummel passt ganz gut zu deinen kleinen verkümmerten Flügeln!« Camazotz grunzte. Buffy trieb ihm das Schwert in den Leib und zog es nach oben. Aber während sie das tat, schloss sich die erste Wunde bereits wieder, die sie dem Monster zugefügt hatte. »Was muss man tun, um dich zu töten?«, schrie sie verzweifelt. »Buffy!«, rief Willow. »Zurück!« Die Jägerin drehte sich nicht um, zögerte aber auch nicht lange. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hätte sie sich erst selbst vergewissert und nicht einfach auf Willow gehört, obwohl sie ihr sehr zugetan war. Aber nun wusste sie, das war ein Fehler. Jetzt vertraute sie Willow vollkommen, und das lag nicht an der Autorität und Bestimmtheit in ihren Worten. Als Camazotz nun mit der ihm verbliebenen Hand nach der Jägerin griff und seine Finger vor Energie knisterten, duckte sie sich und wich rasch zurück. Die Schwertspitze hielt sie argwöhnisch auf Camazotz gerichtet. Schüsse hallten durch den Keller, und die Brust des Dämonengottes wurde mit vier Einschusslöchern verziert. Xander!, dachte Buffy. Auf der anderen Seite des Kellers knurrte Oz tief und bedrohlich und setzte zu einem erneuten Angriff auf den Dämon an. »Oz, warte!«, befahl Willow. 28
Der Werwolf blieb wie angewurzelt stehen und starrte Camazotz aus seinen gelben Augen an. Als Buffy wieder bei Willow war, sah sie, dass die Zauberin Xanders Armbrust in den Händen hielt. Überall auf dem Boden lagen erschlagene Fledermäuse oder ihre verkohlten Überreste herum. Aber einige lebten noch und stürzten sich kreischend auf Xander, der aus unzähligen kleinen Wunden blutete. Er schlug sie jedoch ohne große Mühe aus dem Weg und zielte auf Camazotz. »Ich hab’s jetzt, Xander«, sagte Willow. »Camazotz ist zwar schwer zu töten, aber eine Schwäche hat er doch. Obwohl ich ein paar Jahre dafür gebraucht habe, soll niemand behaupten können, ich hätte meine Hausaufgaben nicht gemacht.« »Was denn?«, fragte Buffy. Willow lächelte grimmig. »Hast du dich schon mal gefragt, warum in all den Kulturen des Altertums so viele Dinge aus Gold hergestellt wurden?« Sie verzog das Gesicht, als hätte sie Schmerzen, legte einen Finger auf den Bolzen, der in die Armbrust eingelegt war, und flüsterte eine Formel in einer Sprache, die sich wie Französisch anhörte. Der Bolzen verwandelte sich in Gold. »Alchemie«, erklärte Willow, hob die Armbrust und zielte. »Das Geheimnis ist, es funktioniert nur, wenn man die Formeln nicht zu seiner persönlichen Bereicherung einsetzt.« Xander schoss auf eine Fledermaus, und sie spritzte in blutigen Fetzen auseinander. »Also, das ist ja wirklich Mist«, sagte er. »Wer hat sich das denn ausgedacht?« Camazotz schlurfte brüllend auf die Gruppe zu, und sein ganzer Körper knisterte nun vor dämonischer Energie. Buffy hob erneut das Schwert, aber sie hätte unbesorgt sein können, denn Willow feuerte mit der Armbrust, und der goldene Bolzen bohrte sich tief in die mit Blasen überzogene Brust des Dämonengottes. Anna hatte Staub in den Augen. 29
Sie gestattete sich nicht darüber nachzudenken, dass es sich um Überreste von Vampiren handelte, von wandelnden Leichen, als sie sich übers Gesicht wischte und die Asche aus ihren Haaren schüttelte. Das Hotel Pacifica hatte zunächst recht verlassen gewirkt, aber kaum hatte sie mit Wesley das Treppenhaus betreten, wurden sie bereits von zwei Vampiren angegriffen. Für einen Augenblick, als sie den einen gerade mit dem Pflock in der Hand auf der Treppe zu Boden gezwungen hatte, und der zweite sie von hinten ansprang und an ihrem pinkfarbenen Haar riss, hatte sie bereits gedacht, ihr letztes Stündlein habe geschlagen. In Gedanken hatte sie schon angefangen, sich bei den Leuten zu entschuldigen, die sie nun zu enttäuschen glaubte. Aber da hatte Wesley einen Bolzen aus seiner Repetierarmbrust abgefeuert, und der Vampir auf ihrem Rücken war zu Staub explodiert. Eine Sekunde später rammte sie bereits dem anderen, der unter ihr auf den Stufen lag, den Pflock ins Herz, und dann war es vorbei. Anna verfluchte sich dafür, dass sie in Gedanken nur allzu bereitwillig die Niederlage hatte akzeptieren wollen. »Alles in Ordnung?«, flüsterte Wesley ihr zu und sah sich blitzartig nach Anzeichen für weitere Angriffe um. Anna nickte. Sie straffte die Schultern und stieg die Treppe weiter hinauf. Wesley folgte ihr. Im zweiten Stock des modern eingerichteten Gebäudes ging es vom Treppenabsatz hinaus in einen breiten, mit Teppich ausgelegten Korridor. An den Wänden hing moderne Kunst, und auf dem Boden waren überall Leichen verstreut. »Allmächtiger Gott!«, flüsterte Wesley. Als sie an den Aufzügen vorbeikamen, blieb Anna stehen. Von oben waren Stimmen zu hören. Rufe. Kampfgeräusche. »Hör mal!«, sagte sie zu Wesley. Auch er blieb stehen, legte ein Ohr an die Tür des Aufzugs und kniff die Augen zusammen. »Oberstes Stockwerk. Laut 30
Einsatzplan gibt es da oben einen Ballsaal.« Anna drückte auf den Aufzugknopf. Wenig später ertönte ein leises Klingeln, und die Türen öffneten sich. Auf alles gefasst spähten sie hinein, aber der Aufzug war leer. Als sie ihn betraten und Wesley den Knopf für den fünften Stock drückte, wurden die Geräusche von oben lauter. »Und wenn sie merken, dass der Aufzug nach oben kommt?«, fragte Anna. Dritter Stock. Wesley rückte sein Headset zurecht, um jederzeit dem Einsatzleiter draußen oder Miss Haversham in der Operationszentrale ihre Lage durchgeben zu können. Er antwortete nicht, drückte sich nur mit dem Rücken an die Wand des nach oben gleitenden Aufzugs und hob seine Armbrust. Wie Anna mit einem prüfenden Blick bemerkte, befanden sich nur noch vier Bolzen im Magazin. Vierter Stock. Leise Musik rieselte aus den Lautsprechern über ihren Köpfen. Fünfter Stock. Nach dem Klingelzeichen gaben die Türen den Weg ins Chaos frei. Mit einem einzigen Blick erfasste Anna die Lage: drei Einsatzkräfte lagen tot oder bewusstlos auf dem Boden, an die zwanzig Vampire oder mehr standen unter dem facettierten Licht des Kronleuchters sieben weiteren mit Äxten, Armbrüsten und Pistolen bewehrten Einsatzkräften am anderen Ende des Raumes in die Enge getrieben gegenüber. Flammenwerfer!, dachte Anna. Wo waren nur die... Dann fiel es ihr wieder ein. Einer der toten Männer im Erdgeschoss hatte einen Flammenwerfer auf dem Rücken gehabt. Und im Epizentrum des Ballsaals lag der zweite der Kämpfer der Einheit, der mit einem ausgerüstet war. Er war ebenfalls tot. »Wesley, der Flammenwerfer«, flüsterte Anna. 31
Als sie und Wesley verstohlen aus dem Aufzug traten, stürzten sich die noch lebenden Einsatzkräfte auf die Vampire. Äxte hackten, der Bolzen einer Armbrust pfiff in eine Horde Vampire, und einer von ihnen wurde gepfählt. Jemand warf ein Glasgefäß mit Weihwasser, und es fügte den Blutsaugern Verbrennungen zu, aber keiner wurde heftig genug getroffen, um völlig vernichtet zu werden. Anna sah sich rasch um. Die Glaswand zu ihrer Rechten war fast vollständig mit Brettern vernagelt. Die Tür in der Mitte war jedoch zum Schutz gegen das Tageslicht nur mit schwarzer Farbe angepinselt. Anna griff den nächsten Vampir von hinten an. Obwohl sie viel kleiner war als er, sprang sie ihm auf den Rücken und schlang die Beine um ihn. Sie packte ihn an den Haaren, riss seinen Kopf zurück, und er kippte mit ihr nach hinten. Bei der Landung lag er auf ihr, und Anna griff nach vorn und trieb ihm den Holzpflock in die Brust. Der Vampir explodierte, aber sie lag am Boden. Da kamen sie auch schon über sie, fünf oder sechs, sie konnte sie nicht zählen. In dem unwirklichen Licht des Kronleuchters unter der Decke flackerten ihre Augen vor überirdischer Energie. Sie stürzten sich mit gebleckten Zähnen auf Anna, und die Fledermauszeichnung in ihren Gesichtern, die ihnen ihre Individualität raubte, ließ sie alle noch bedrohlicher aussehen. Anna stützte sich am Boden ab und schwang den Fuß zu einem Tritt, mit dem sie einem von ihnen die Zähne ausschlug. Er spuckte Blut. Sie versuchte, sich dem Griff der anderen zu entziehen, aber da waren sie schon bei ihr und griffen nach ihren Haaren und ihrem ganzen Körper. Einer von ihnen packte sie am Kopf und stieß sie mit dem Gesicht voran zu Boden. Trotz des Teppichs war Anna einige Augenblicke völlig benommen. Als sie aufsah, erblickte sie Wesley. Er hatte sich den 32
Flammenwerfer geholt und feuerte damit auf die angreifenden Vampire. Zwei von ihnen fingen sofort Feuer und schafften es noch, schreiend zur Treppe neben den Aufzügen zu rennen, bevor sie zu zwei Wolken aus Rauch und Asche verpufften. Anna versuchte, sich von ihren Angreifern zu befreien, und sah, wie ein Kakchiquel Wesley von hinten packte und seine Zähne in den Hals des Wächters grub. Blut spritzte hervor und befleckte seinen Kragen. Wesley kniff die Augen zu. Der Vampir jedoch starrte Anna mit weit aufgerissenen, blitzenden Augen an. »Nein«, flüsterte sie. Die lautlosen Killer drehten sich um. Einer von ihnen, eine asiatische Frau, die noch sehr jung gewesen sein musste, als sie gebissen wurde, war ein Spiegelbild von Anna selbst. Dieser Anblick erschütterte sie zutiefst. »Nein!«, schrie sie. Mit letzter Kraftanstrengung schwang sie ihre Linke zu einem erbarmungslosen Schlag, mit dem sie der Vampirfrau die Rippen brach und sie auf die Bretter schickte. Obwohl die anderen Vampire immer noch dicht an ihr dran waren, fürchtete Anna sich nicht mehr. Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Rasch nahm sie mit ihren Beinen einen der Vampire in die Zange, ließ ihn straucheln und schleuderte ihn gegen einen dritten. Ein kräftiger Kakchiquel, der Anna vom Aussehen her an einen Troll erinnerte, packte sie bei den Schultern und versuchte, sie auf den Boden zu drücken. Anna schob ihm die Hände ins Maul, wobei sie sich an seinen spitzen Zähnen verletzte, und riss ihm ruckartig den Kiefer nach unten. Er brach mit einem lauten Krachen. Dann gelang es ihr irgendwie aufzustehen und sich von ihren Angreifern zu entfernen. Sie wirbelte herum und machte sich auf den nächsten Angriff gefasst, aber die Kakchiquels zögerten und kamen nicht gleich auf sie zu. Die anderen 33
Einsatzkräfte riefen nach ihr, während sie tapfer gegen ihre Widersacher kämpften. Zwei Bolzen, aus Armbrüsten abgefeuert, schossen durch die Luft, aber nur einer traf sein Ziel, und die Vampire waren immer noch in der Überzahl. Nur vier Einsatzkräfte des Rates waren noch am Leben, außer ihr und... »Wesley!« Anna schrie seinen Namen und drehte sich nach ihm um. Er hing schlaff in den Armen seines Angreifers. Seines Mörders. Nein, er durfte Wesley nicht töten! Zwei Meter vor Anna lag ein totes Mitglied der Ratsoffensive mit einem Gewehr in den Händen. Sie lief hin, stieß dem Vampir, der sie daran hindern wollte, den Ellbogen ins Gesicht, schnappte sich die Waffe und richtete sie auf die schwarz bemalte Glastür auf der anderen Seite. Anna feuerte, und das Glas zersplitterte. Sonnenlicht flutete in den Raum. Es erfasste zwar nur drei Vampire, die sich in unmittelbarer Nähe aufhielten, aber das genügte Anna für den Augenblick. Die Vampire schrien in ihrer Todesangst auf, fingen an zu brutzeln und schleppten sich in die dunkleren Teile des Raums. Auch Wesley und der Blutsauger, der ihn in seiner Gewalt hatte, wurden in Licht getaucht. Der Vampir grunzte und ließ seine Beute widerstrebend zu Boden fallen. Sein Gesicht verkohlte, als er sich zurückzog. Anna rannte zu ihrem Wächter, beugte sich über ihn und fühlte seinen Puls. Er war noch am Leben – aber wie lange noch? Anna sah sich wieder im Raum um. Niemand bewegte sich. Für den Moment befanden sie sich in einer Pattsituation, obwohl die Kakchiquels den Kräften des Rates zahlenmäßig immer noch eins zu vier oder fünf überlegen waren. Schließlich begann der Vampir mit dem Trollgesicht, dem Anna den Kiefer gebrochen hatte, zu summen, tief und kehlig. Es klang wie ein ritueller Gesang aus uralten Zeiten, und die anderen Vampire stimmten mit ein. Die dämonische Magie in ihren Augen 34
leuchtete heller, eine Unheil verkündende Ruhe kam über sie, und sie rückten ganz allmählich näher. Die Jägerin sah auf Wesley hinunter. Er war ganz blass, und seine Augenlider flatterten unter den zersprungenen Brillengläsern. Da kam eine merkwürdige Ruhe über sie. Sie stand auf und stellte sich den Blutsaugern ohne Waffe. Die Angst und die Furcht, gegen die sie die ganze Zeit angekämpft hatte, verschwanden, und eine Gewissheit in ihr wuchs. Anna Kuei war die Jägerin, und sie würde es nicht zulassen, dass an diesem Tag noch mehr von ihren Leuten starben. »Dann kommt doch! Versucht es mal mit mir!« Die Vampire summten weiter, und der mit dem Trollgesicht lachte sogar, und seine Augen glühten magisch und bedrohlich. Dann wich das Funkeln jedoch plötzlich aus seinen Augen. Er grunzte und blinzelte überrascht, als das orangefarbene Leuchten völlig verschwand. Anna zuckte zurück und sah sich um. Alle Kakchiquels schienen regelrecht unter Schock zu stehen. Offenbar spürten sie, wie die Energie sie verließ und ihre Augen wieder normal wurden. Der Gesang erstarb. Anna lächelte. Was immer den Kakchiquel ihre Stärke gegeben hatte, war nun verschwunden. »Also, das ist ja interessant«, sagte sie. Sie stand mit gespreizten Beinen über Wesley und sah zu den vier noch lebenden Einsatzkräften des Rates hinüber. Waren sie zuvor noch voller Panik gewesen, zeigte sich nun Wut und eine Art düstere Befriedigung auf ihren Gesichtern. Sie hoben ihre Waffen und rückten näher. Armbrustbolzen trafen zwei der Vampire und vernichteten sie. Die junge Jägerin bewegte sich auf die anderen Vampire zu, die sich in einer Ecke zusammengerottet hatten und sie anstarrten. Mit ihren schwarzen Tattoos über der Augenpartie erinnerten sie doch sehr an ein Rudel Waschbären, die man beim Durchwühlen von Mülleimern erwischt hatte, fand Anna. 35
»Lasst keinen von ihnen entwischen«, befahl Anna den anderen Einsatzkräften. »Auf keinen Fall«, entgegnete Tom Canty grimmig. Die Vampire rannten los und die Einsatzkräfte hinterher. Canty brüllte in das Mikro seines Headsets, dass die Kakchiquels auf wundersame Weise ihre zusätzliche Energie verloren hatten. Das Blatt hatte sich eindeutig gewendet. Anna hob Wesley auf, schulterte ihn nach Feuerwehrmann-Manier und folgte den anderen so schnell sie konnte zur Treppe. Als sie im zweiten Stock ankam, spürte Anna, wie Wesley sich bewegte. »Was ist passiert?«, krächzte er schwach. »Ich weiß es nicht. Was immer sie verzaubert hat, ist verschwunden.« »Meinst du, wir könnten unterwegs mal auf ‘ne Cola anhalten?«, fragte er. Anna lachte, verlagerte sein Gewicht auf ihren Schultern und marschierte weiter in den ersten Stock. »Ich bringe dich ins Krankenhaus. Ich dachte, du wärst halb tot.« »Ganz gewiss nicht«, protestierte er. »Und ich weiß deine Sorge ja sehr zu schätzen, aber du kannst mich jetzt ruhig absetzen.« Sie ließ ihn herunter, aber da er sehr wacklig auf den Beinen war, musste Anna ihn stützen. »Du hast verhindert, dass der Rüpel mir zu viel Blut aussaugen konnte. Ganz bestimmt nicht mehr, als das Rote Kreuz genommen hätte. Aber ich werde immer ohnmächtig, wenn ich Blut spende. Wenn ich danach eine Cola und ein paar Kekse bekomme, geht’s mir gleich viel besser.« Er hatte einen Arm um Annas Schulter gelegt, und sie schleppte ihn an dem Uni-Mog und dem Geröllhaufen, der den Hauptausgang versperrte, vorbei, und dann waren sie auch schon draußen in der Sonne. Anna warf Wesley einen fragenden Seitenblick zu. 36
»Willst du einen Keks?« Wesley lächelte amüsiert, und seine Augen leuchteten. »Wenn es nicht zu viele Umstände macht.« Camazotz starb. Mit einem letzten Keuchen übel riechenden Atems verdrehte der Gott der Fledermäuse die Augen und kippte mit einem solchen Schlag nach hinten, dass der Boden bebte. Einen Augenblick später fing sein Fleisch an zu kochen und zu brutzeln, als hätte man ihn in Säure getaucht. Dann zerplatzte sein Körper zu einer Lache schleimigen Sekrets, und die darin zischelnde dunkle Energie erstarb. »Lass dir ruhig Zeit, Willow!«, murmelte Xander. »Hättest du das nicht gleich machen können, als wir reingekommen sind?« »Nun«, entgegnete die Zauberin verteidigend. »Er wirkte ja zuerst recht hilflos – okay, bis auf die Fledermäuse.« »Und sein gemeingefährlicher dämonischer Zorn«, ergänzte Buffy. »Du hast ja Recht«, pflichtete ihr Willow bei. Etwas bewegte sich ganz hinten in einer dunklen Ecke, und erst in diesem Augenblick fiel Buffy ein, dass noch ein Kakchiquel übrig war. Seine funkelnden Augen verrieten ihn. Er starrte sie an, und die Fledermauszeichnung in seinem Gesicht glänzte schwarz in dem spärlich beleuchteten Raum. Der Vampir versuchte, sich an der Wand entlang zum Ausgang zu schleichen. Oz hatte wieder menschliche Gestalt angenommen, obwohl er immer noch etwas Raubtierhaftes an sich hatte. Er kam zu dem Rest der Gruppe und blickte die anderen fragend an. »Glaubt der, wir sehen ihn nicht?« »Den erledige ich«, entgegnete Buffy. »Wir haben schon zu viel Zeit verschwendet.« Während sie auf ihn zuging, steckte sie das Schwert wieder in das Futteral auf ihrem Rücken und zog einen Holzpflock 37
heraus. Der Vampir fing an zu zischen. Und dann erstarb das schmutzigorangene Licht in seinen Augen ganz einfach. Verwundert blinzelte der Vampir einige Male und blickte dann wieder zum Ausgang. »Vergiss es! Schaffst du sowieso nicht!«, spottete Xander. Wie Buffy an den Augen des untoten Wesens ablesen konnte, hatte es seine ausweglose Lage erkannt. Wenigstens besaß es so viel Ehrgefühl, nicht wegzulaufen. Stattdessen stürzte sich der Vampir auf Buffy. Auch ohne die Kraft, die er Camazotz ausgesaugt hatte, war er sehr schnell. Schnell genug, um Buffy noch am Hals zu packen, bevor sie ihn pfählen konnte. Noch während die Asche zu Boden rieselte, gesellte Buffy sich wieder zu ihren Freunden. Oz stand wie ein unbeteiligter Zuschauer neben Willow. Kaum zu glauben, wie wild er kurz zuvor noch gewesen war. Sein weites Hemd schlabberte an ihm herunter, und er hatte die Hände in die Taschen gesteckt, als langweile er sich. Xander bestückte seine Waffe mit neuer Munition. Erwartungsvoll blickte Willow Buffy an. »Du bist echt ‘ne richtige Hexe!«, sagte Buffy. Ein schüchternes Lächeln umspielte Willows Mundwinkel. »Das bin ich wirklich.« Mit Buffy an der Spitze eilten sie zur Tür hinaus zurück ins Treppenhaus. Der Ekel erregende Gestank der Überreste des Dämonengottes begleitete sie noch, als sie die Treppe wieder nach oben stiegen. Im ersten Stock angekommen, traten sie in den Hauptkorridor. Die Alarmsirenen heulten nun nicht mehr, und die Sprinkleranlage war abgestellt. Zwei Einsatzkräfte des Rates bewachten den vom Feuer zerstörten Flur. Sie waren allein. Die restliche Etage hatte man bereits geräumt. »Ich frage mich, ob man die Sprinkleranlage im ganzen Gebäude auf einmal einschalten kann«, wunderte sich Buffy laut. 38
»Wir haben doch die Pläne gecheckt«, entgegnete Willow. »Das System ist nicht darauf eingestellt.« »Giles hat bestimmt die Wasserzufuhr für das Gebäude komplett abgestellt«, sagte Xander. »Sicherheitshalber.« Buffy nickte bedächtig. Natürlich hatte Giles das Wasser abgedreht! Oder wahrscheinlich jemanden damit beauftragt. Ihr Magen zog sich jedes Mal schmerzhaft zusammen, wenn sie über ihn nachdachte. Sie wusste, ihr Wächter agierte als Monster genauso schlau wie als Mensch. Zwar war nun der erste Stock geräumt, und sie hatten bereits einen Großteil der Gegner eliminieren können, aber der Sieg war ihnen noch längst nicht sicher. »Melde dich mal zurück«, sagte Buffy zu Xander. Er drückte auf einen Knopf an seinem Headset. »Lonergan, hier ist Harris. Wir haben den Keller geräumt, vierzehn Gegner ausgeschaltet. Einer davon war Camazotz.« Buffy hörte nicht, was Lonergan antwortete, aber Xander runzelte besorgt die Stirn. »Machen wir«, sagte er. »Wir treffen euch dann da.« Er sah Buffy, Willow und Oz an. »Gehen wir!« Nun übernahm Xander die Führung, als sie zurück ins Treppenhaus gingen und in flottem Laufschritt die Stufen nach oben stiegen. »Lonergan und seine Leute wollten gerade in den vierten Stock«, berichtete Xander. »Sie haben ein paar Nachzügler gepfählt, keine Verluste auf unserer Seite, aber auch kein Hinweis auf Giles oder ein größeres Kontingent Kakchiquels. Das Büro des Bürgermeisters ist leer. Lonergan spürt mit seinem sechsten Sinn immer noch die Anwesenheit von Vampiren da oben, aber nun ist er auf einen Widerstand gestoßen. Eine Art magische Barriere. Wir treffen uns mit ihnen in der vierten Etage, helfen beim Aufräumen und überprüfen dann, was dahinterstecken könnte. Oh, und nun, da Camazotz tot ist, sieht es so aus, als verlören 39
die Vampire ihre Energie. Die letzten, die sie gepfählt haben, hatten kein Leuchten mehr in den Augen. Das berichten auch die anderen Einheiten. In der ganzen Stadt geschieht überall das Gleiche.« Willow grinste. »Eine Kettenreaktion. Wenn sie jetzt alle nur noch gewöhnliche Vampire sind, hat sich unsere Arbeit praktisch von selbst erledigt.« »Nein«, entgegnete Buffy mit grimmiger Miene. »Noch nicht.« Sie waren am Treppenabsatz des zweiten Stocks vorbeigekommen und waren schon halb auf dem dritten, als hinter ihnen ein tiefes Knurren ertönte. Buffy warf einen Blick über die Schulter. Oz war dabei, sich wieder zu verwandeln. Diesmal jedoch nicht vollständig. Er stand gebeugt da, und trotz des Fells, das auf seinem Kopf wuchs, blieb sein Gesicht menschlich. Die Hände hatten sich schon halb zu Pfoten mit Krallen geformt. »Was ist denn, Oz?«, fragte Willow knapp und sehr autoritär. Seine Worte waren nunmehr ein kehliges Grollen. »Hab einen Geruch aufgeschnappt, der mir irgendwie bekannt vorkommt. Zuerst war ich nicht sicher, aber jetzt weiß ich, was das ist.« »Was denn?«, fragte Buffy. Oz sah sie einen Augenblick lang an. Dann schnüffelte er wieder. »Das ist Angel.«
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3. Der Uni-Mog rumpelte durch die Straßen von Sunnydale, und Anna dachte daran, wie oft sie schon in Nachrichtensendungen Reportagen aus städtischen Kriegsgebieten gesehen hatte. Sie umklammerte das Lenkrad fest mit beiden Händen und sah sich während der Fahrt immer wieder um. Am Horizont hinter der Stadt stiegen drei schwarze Rauchsäulen in den Himmel; dort hatten Einsatzkräfte des Rates Vampirschlupflöcher ausgeräuchert. Sie entdeckte ein paar Dämonen, die eilig ihre Taschen in einen alten Thunderbird luden. Offenbar wollten sie die Stadt verlassen, bevor der Rat die vollständige Kontrolle übernahm. Ein gutes Zeichen, fand Anna. »Du hast dich heute wirklich tapfer geschlagen«, bemerkte Wesley zufrieden und knabberte seine Kekse. Sie hatten einen kleinen Lebensmittelladen gefunden, dessen Besitzer noch im Geschäft war, weil er mit den Kakchiquels kooperierte. Er hatte die Tür verschlossen und sich innen versteckt, aber nachdem sie eine ganze Weile geklopft hatten, öffnete er widerstrebend die Tür. Der Mann hatte ihnen keine einzige Frage gestellt, noch sonst ein Wort an sie gerichtet, und als Wesley für seine Pepsi und die Tüte Oreos bezahlen wollte, hatte der Mann nur abgewinkt. »Nehmt sie einfach mit. Und jagt das Ungeziefer zum Teufel!« Diese Worte hatten Anna überrascht. Der Mann war das, was man gemeinhin einen Kollaborateur nannte. Als sie jedoch darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass er wohl alles verloren hätte, wenn er sein Geschäft geschlossen hätte. Und ohne diese Leute, die bereit waren, mit den Vampiren zu kooperieren, wären diejenigen, die in der Stadt gefangen waren und in großer Angst lebten, schon längst verhungert. 41
»Wir arbeiten dran!«, hatte Wesley dem Ladenbesitzer geantwortet. Nun stand die kleine Tüte Oreos neben ihm auf dem Sitz, und er futterte sie zufrieden auf. Als Anna am Hammersmith Park vorbeifuhr, sah sie ihn an. »Ich hatte Angst«, räumte sie leise ein. »Das hat man dir aber nicht angemerkt«, entgegnete Wesley bestimmt. »Im Ernst! Du warst großartig. Faith wäre sehr stolz auf dich!« Anna wurde es ganz warm ums Herz, und sie strahlte über das ganze Gesicht. Sie wollte gerade antworten, als Wesley einen Finger hochhielt und sich leicht nach vorn beugte. Ein leises Summen drang aus seinem Kopfhörer und Wesley nickte, während er lauschte. »Ja, natürlich. Ausgezeichnet. Wir sind unterwegs«, sagte er. »Unterwegs wohin?«, fragte Anna. Wesley schob sich den Kopfhörer von den Ohren und grinste sie an. Er wirkte immer noch ein bisschen schwach, aber langsam kehrte wieder Farbe in sein Gesicht zurück. Anna vermutete, den Oreos wohnte ein Zauber ganz besonderer Art inne. »Unsere Einheit hat gerade den zweiten Schlupfwinkel der Vampire unter ihre Kontrolle gebracht. Miss Haversham bittet uns, zum Rathaus zu fahren und den Leuten dort zu helfen«, erklärte ihr Wächter mit großer Zufriedenheit. »Sieht so aus, als würden wir doch noch gebraucht.« In dem Lichtkegel, der durch das zerbrochene Fenster am Ende des Korridors im vierten Stock fiel, stand Pater Christopher Lonergan so unbeweglich wie möglich und streckte seine inneren Fühler aus. Er wusste, dass noch mehr Vampire da waren. Normalerweise verrieten sie sich durch ihre üblen Absichten, aber nun spürte er nur noch die Anwesenheit zweier oder dreier einzelner Vampire. Er kam einfach nicht weiter. Er hatte zunächst einige Minuten gebraucht, um sich zu 42
orientieren, und dann war ihm klar geworden, dass ihn eine Art übernatürliche Barriere davon abhielt, die Vampire in den angrenzenden Räumen aufzuspüren. Sie musste die Quelle der elektrischen Spannung sein, die er deutlich wahrnahm. Giles hatte sich hinter einem magischen Schild versteckt, und das konnte nur eins bedeuten: Er wusste, dass Lonergan bei dieser Einheit war. Offenbar hatte der König der Vampire seine eigenen Spione. Ein schauderhafter Gedanke! »Okay, also«, rief Lonergan barsch. »Sonst ist hier oben nichts zu finden. Mir nach!« Da Harris, Rosenberg, Osborne und die Jägerin zu einer anderen Mission aufgebrochen waren, bestand Lonergans Einheit nun noch aus fünfzehn Einsatzkräften, zehn Männern und fünf Frauen. Wenige Minuten zuvor, als die Einheit ausgeschwärmt war, um den vierten Stock zu säubern, hatte ihn Harris angefunkt und angekündigt, dass seine kleine Schwadron verspätet dazustoßen würde. Lonergan hatte natürlich mehr Details erfahren wollen, aber weder Harris noch Rosenberg wollten sie ihm geben. Sie versprachen nur, so schnell wie möglich nachzurücken. Das gefiel dem Priester nicht. Wozu war es gut, die Jägerin dabeizuhaben, sogar einen Werwolf und eine Hexe, wenn man ihre Fähigkeiten nicht nutzen konnte! Er führte also in äußerster Alarmbereitschaft seine Einheit die Treppe hinunter. Er trug eine Armbrust aus Stahl mit einem Pistolengriff. Die moderne Waffe hatte er derart modifiziert, dass er Holzbolzen laden konnte. Den antiken Waffen, die von vielen Einsatzkräften und Wächtern bevorzugt wurden, traute er nicht. Zusätzlich trug er eine schwere Doppelaxt in einem Lederfutteral auf dem Rücken. Und dann waren da noch die Pistolen. Alle Männer trugen welche, aber Lonergan hatte seine bis jetzt noch nicht benutzt. Nützlicher war da schon der Flammenwerfer, den Hotchkiss auf dem Rücken trug und dessen Düse schon spuckte, als wäre 43
sie voller Vorfreude. Im zweiten Stock schwärmte die Truppe in den Korridor aus. Alle Augen waren auf Lonergan gerichtet. Als er die Hand hob, blieben seine Leute wie angewurzelt stehen und warteten weitere Befehle ab. Es war zwar nur eine schwache Spur, aber Lonergan spürte die Anwesenheit eines Vampirs nicht weit entfernt in dem westlichen Korridor. In allen anderen Richtungen stieß er gegen die übernatürliche Barriere. Es war sehr verführerisch, den Korridor zu wählen, aber der Verstand sagte Lonergan, dass es sich bei einer solch schwachen Ausstrahlung unmöglich um Giles handeln konnte. Plötzlich nahm der Priester aus dem Augenwinkel eine Bewegung hinter sich wahr, zwei Gestalten, die aus dem offenen Treppenhaus kamen. Ein Adrenalinstoß durchfuhr ihn, und ihm schoss die Frage durch den Kopf, wie die Vampire so dicht hatten herankommen können, ohne dass er sie gespürt hatte. »Runter!«, rief er und hob seine Armbrust. Die Einsatzkräfte in der Schusslinie ließen sich zu Boden fallen und rollten zur Seite, um ein Stück weiter in Kampfstellung wieder aufzuspringen. Andere, die nicht in der Schusslinie waren, zielten mit ihren Waffen, einige zogen die Pistolen aus den Holstern, und mehr als einer hielt ein Gewehr im Anschlag. Lonergan legte die Armbrust an, und sein Finger spannte sich um den Abzug. Da entdeckte er ein wohl bekanntes Gesicht: Wesley Wyndam-Pryce. Der Wächter hielt die Hände hoch, als würde er ausgeraubt, und seine antike Repetierarmbrust zielte unter die Decke. Hinter ihm stand die Jägerin Anna Kuei. Ihr zunächst angespannter Gesichtsausdruck wich einem erleichterten Grinsen. »Wesley«, sagte der Priester müde. »Nächstes Mal warnen Sie uns freundlicherweise, bevor Sie sich um die Ecke anschleichen.« 44
»Nun ja, wir dachten, es wäre gut, wenn wir uns so leise wie möglich verhalten. Ich wollte Sie gerade anfunken, als wir die Einheit hier oben gehört haben. Wie eine Herde Elefanten, ehrlich! So viel zum Thema List und Tücke.« Der Vorwurf nagte an Lonergan, und er wollte schon eine böse Antwort geben, als er die frischen Einstiche im Hals des Wächters erblickte. Sein Respekt für Wesley wuchs sprunghaft. Stirnrunzelnd sah er den Mann an. »Miss Haversham hat Sie über die aktuelle Lage in Kenntnis gesetzt?«, fragte er. Wesley nickte kurz. »Also dann! Tun wir unsere Pflicht, Jungs und Mädels«, rief Lonergan. »Packen wir’s an!« Wesley war zwar vollkommen erschöpft und kraftlos, aber bevor er sich das vor Lonergan anmerken ließ, wollte er lieber auf der Stelle tot umfallen. Sogar vor Anna verbarg er nach Leibeskräften, wie sehr ihn der Biss des Vampirs geschwächt hatte. Als nun die Einsatzkräfte des Rates alle den östlichen Korridor hinunterliefen und nach rechts abbogen, rannte er ihnen hinterher. Der Hass trieb ihn an. Er biss die Zähne fest zusammen, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, und die Bartstoppeln kratzten auf seiner Haut. Obwohl Rupert Giles ihn nie vollends akzeptiert hatte, war er für Wesley immer eine Art Held gewesen, was er natürlich niemals offen zugegeben hätte. Giles hatte sich in der Rolle als Buffys Wächter dem Rat gegenüber nie völlig linientreu verhalten und nicht so vor ihm den Kopf eingezogen, wie es die Leitung gern gesehen hätte. Wesley hatte sich damals gewünscht, ebenso viel Rückgrat zu besitzen. Und nun wünschte er sich so sehr wie nichts anderes auf der Welt, einen Pflock durch das Herz des Wesens zu stoßen, das Giles’ Körper befallen hatte. Die anderen mochten vielleicht Schwierigkeiten haben, die beiden zu trennen, aber ihm 45
bereitete die Unterscheidung keine Probleme. Rupert Giles war faktisch gesehen tot. Das Wesen, das sie mit seinem Namen nannten, war sein Mörder. Wesley fühlte sich schwach, seine Kehle war trocken, und er schwankte leicht, als er mit den anderen durch die Überführung lief, die das Rathaus und das Gerichtsgebäude auf der anderen Straßenseite miteinander verband. »Wesley?«, fragte Anna und stützte ihn mit festem Griff. »Ich bin in Ordnung«, erwiderte er rasch und straffte die Schultern. Er prüfte die Bolzenkammer der Armbrust. Im Pacifica waren ihm die Geschosse beinahe ausgegangen, und er hatte im Wagen nur eine Hand voll neue gefunden. Aber er war überzeugt, das würde genügen. Da nun die geheimnisvolle Kraft, oder was auch immer den Kakchiquels ihre dämonische Energie gegeben hatte, verschwunden war, glaubte er in seinem tiefsten Innern daran, dass es ihm sogar gelingen würde, Giles zu vernichten. Am anderen Ende der Überführung standen die Türen zum Gericht weit offen. Wesley glaubte nicht an einen Zufall. Es war entweder eine Einladung oder ein Hinweis darauf, dass man sie nicht als Bedrohung betrachtete. Er schauderte, und er fragte sich, wann Willow und die anderen wohl endlich eintreffen würden. Lonergan blieb stehen und zeigte nach oben Richtung Treppe. Offenbar hatten sich die Vampire in einer der oberen Etagen des Gebäudes verschanzt. Im dritten Stock führte Lonergan die Gruppe über den Korridor zu einer massiven Flügeltür, dem Eingang zu einem der großen Gerichtssäle im Gebäude. Er spürte etwas Bedrohliches in der Luft liegen. Es war wie die Vorahnung eines Gewitters. An den Bewegungen und den nervösen Blicken der Einsatzkräfte ließ sich ablesen, dass sie es eben46
falls spürten. Der gesamte Korridor war leer, und aus dem Raum hinter den Flügeltüren drang kein Laut. Lonergan wies Hotchkiss und Bianchi mit einer Geste an, sich mit den Flammenwerfern vor der Tür aufzustellen. Dann baute sich zwischen ihnen Quinones mit seinem Gewehr auf. Als Lonergan das Zeichen gab, donnerte Quinones in Höhe der Klinken ein großes Loch in die Türen. Gemeinsam mit einem Kollegen öffnete Lonergan sie mit ein paar gezielten Tritten. Hotchkiss und Bianchi warfen sich als Erste durch die Tür und entzündeten mit dem Feuer, das in gierigen Bögen aus ihren Flammenwerfern schoss, drei... fünf... sechs Vampire, die auf sie zustürzten. Die Blutsauger brüllten vor Schmerz, aber zwei von ihnen stolperten brennend weiter, bevor ihnen Quinones die Köpfe abschoss. Der Gerichtssaal war an die hundert Quadratmeter groß, die hohen Fenster hatte man mit schweren Gardinen zugehängt. Die schwache Beleuchtung gab dem Ganzen einen fast zweidimensionalen, surrealen Anstrich. Aber die bösartigen Bestien in diesem Raum, die zahlreichen Vampire, die sich hier zusammengerottet hatten, waren nur zu real; absolut dreidimensional. Obwohl in ihren Augen nicht länger der schmutzige Funke alter Magie glühte, boten sie mit ihren schwarzen Fledermaus-Tattoos in den verzerrten Gesichtern, den gebleckten Zähnen und der Art, wie sie zischend, als vereinigte grauenhafte, ausgehungerte Meute näher kamen, einen Furcht erregenden Anblick. Der Kampf war eröffnet. Wesley drang gemeinsam mit den anderen Einsatzkräften in den Raum ein. Er stieß einem Vampir den Ellbogen in die Rippen, um ihn aus dem Weg zu räumen. Ein stechender Schmerz fuhr ihm dabei durch den Arm. Als sich der Nächste vor ihm aufbaute, feuerte er ihm einen Bolzen in die Brust und wurde zu seinem Ärger von einer Staubwolke eingehüllt. Aus 47
dem Augenwinkel nahm er wahr, dass ringsum der Kampf tobte. Die Einsatzkräfte des Rates stellten sich mit den Rücken zueinander und bildeten einen lockeren Kreis. »Den Feind kommen lassen« lautete die Devise. Ein Vampir schlug Lonergan die Armbrust aus der Hand, und der Kneipenschläger, der zum Priester geworden war, verpasste seinem Gegner einen Kopfstoß, schnappte sich die Axt von seinem Rücken, warf das Lederfutteral fort und schwang sie in einem großen Bogen. Die glänzende Klinge köpfte einen Kakchiquel und schlug in die Schulter des nächsten ein. Ein weiblicher Vampir, fast ganz nackt bis auf ein buntes Ganzkörper-Schlangentattoo, stürzte sich auf Wesley. Mit den langen, klauenartigen Nägeln kratzte sie ihm durchs Gesicht und schlitzte ihm die Haut unter seinem Bart auf. Fachmännisch feuerte der Wächter einen weiteren Bolzen ab, und sie zerfiel zu Staub. Wesley sah, wie Bianchi zu seiner Linken von einer Horde Blutsauger niedergeschlagen wurde, und es schmerzte ihn, dass er nichts für ihn tun konnte. Quinones war eine Sekunde später zur Stelle und feuerte mit dem Gewehr auf die Vampire. Es wurde zwar keiner vernichtet, aber sie liefen verwundet auseinander und ließen Bianchis Leiche liegen. Wesley fühlte sich wieder schwächer, der Schweiß tropfte ihm vom Gesicht, und Blut verklebte seinen Bart. Seit er den Raum betreten hatte, hielt er in allen Richtungen nach Giles Ausschau. Ganz hinten im Gerichtssaal öffnete sich eine Tür, die in das Richterzimmer führte. Ein schlanker, dunkelhäutiger Vampir mit strahlend weißem Fledermauszeichen kam heraus. Es war Jax, wie Wesley aus den Beschreibungen der Akten schloss. Und einen Augenblick später folgte ihm Giles. Er trug zwar keine Brille, aber ansonsten sah er ganz genauso aus wie der gutmütige Mann mit dem trockenen Humor, der er einmal gewesen war. Giles erspähte Wesley ebenfalls sofort. Mit hochgezogener 48
Augenbraue warf ihm der Vampirkönig ein ironisches Grinsen zu und winkte ihm. »Schön, dass du gekommen bist, Wesley!«, rief Giles ihm über die zersplitterten Bänke, die Leichen und das Blut hinweg zu. Seine Stimme erhob sich über das ganze Szenario und übertönte sogar die Pistolenschüsse. Bitterkeit stieg in Wesley auf. Seine Aufmerksamkeit wurde jedoch von einem weiteren Angreifer in Anspruch genommen, den er mit dem letzten Bolzen in seiner Armbrust pfählte. Nun war er ohne Waffe, erschöpft und verwundbar. Aber er wollte nicht aufgeben. Mit einem hasserfüllten Knurren bewegte er sich durch den Gerichtssaal. Ein Vampir packte ihn an der Schulter, und Wesley schüttelte die Kreatur einfach ab, drehte sich um und knockte ihn mit drei schnellen Hieben aus. Der Wächter schwankte zwar, hielt sich aber auf den Beinen. Dann war Anna an seiner Seite. An einem Arm hatte sie sich eine lange Wunde zugezogen, aber die schien sie gar nicht zu bemerken. Sie wedelte mit ihrem Holzpflock. »Höchste Zeit, ihn zu erledigen«, sagte sie. Wesley nickte und ging mit ihr gemeinsam auf das Podium zu, auf dem normalerweise der Richter thronte. Die Tür zum Richterzimmer befand sich direkt dahinter, und Jax stand immer noch im Türrahmen. Aber der Vampirkönig hatte im Kampfgetümmel entkommen können. Giles war verschwunden. Buffy bekam kaum Luft. Wieder einmal wirbelten die beiden Seelen in ihrem Körper umeinander; Gedanken, Gefühle und Erinnerungen vermischten sich und machten es fast unmöglich, die beiden voneinander zu unterscheiden. Die neunzehnjährige Buffy wusste, dass zu ihrer Zeit Angel noch am Leben gewesen war und in Los Angeles für seine Erlösung kämpfte. Sie hatte akzeptiert, dass sie nicht zusammenbleiben konnten, aber die Liebe, die sie für ihn empfand, bereitete ihr in ihrem 49
tiefsten Innern einen Kummer, der nie wirklich vergehen wollte. Die vierundzwanzigjährige Buffy erinnerte sich entfernt an dieses Gefühl, aber sie spürte auch die langen Jahre ihrer Gefangenschaft, in denen sie sich so oft gefragt hatte, wann Angel sie befreien würde, warum er es nicht tat und was wohl aus ihm geworden war. Gemeinsam waren die beiden Seelen in ihrem Körper nach der Flucht aus El Suerte zu dem Schluss gekommen, dass Angel nicht mehr lebte. Das Einzige, was ihn hindern konnte, zu ihr zu kommen, war der Tod. Die wenigen Informationen, die Willow ihr hatte geben können, schienen dies nur zu bestätigen. Angel war hinter Giles her gewesen, um sie zu befreien, und war niemals wiedergekehrt. Aus Liebe zu ihr – einer Liebe, die sie beide dem Wohle der Menschheit geopfert hatten – hatte Angel sein Leben und seine Chance auf Erlösung riskiert. Und nun sollte Buffy gleich entdecken, was aus ihm geworden war. Mit Xander und Willow an ihrer Seite folgte sie Oz über einen Seitenkorridor im zweiten Stock des Rathauses. Oz war wieder zum Werwolf mutiert und schlich über den Teppich, schnupperte und folgte dem Geruch, den er zuvor aufgenommen hatte. Angels Geruch. Das konnte nur bedeuten, dass Angel lebte. »Hey«, sagte Willow sanft, und nahm Buffy an der Hand, um rasch mit ihr hinter Oz herzulaufen. Buffy sah sie an und erkannte die Sorge in ihren Augen. »Wenn er es ist und er hier ist... und er noch lebt«, meinte Willow zögernd, »dann müssen wir damit rechnen, dass er böse geworden ist.« »Ich weiß«, entgegnete Buffy nur und bedachte Willow mit einem traurigen, schiefen Lächeln. Sie griff an das Heft des Schwertes, das sie sich um den Rücken geschnallt hatte. »Das habe ich schon einmal gegen ihn benutzt, und ich werde es auch wieder tun, wenn ich muss.« »Ich könnte das übernehmen«, bot Willow an. »Wenn du 50
möchtest.« »Sehen wir uns erst mal an, was überhaupt los ist.« Xander hatte die beiden inzwischen überholt und stand nun mit dem Werwolf vor der Tür am Ende des Korridors. Oz schritt gierig hin und her und schnüffelte an der Tür. Xander blickte Buffy und Willow erwartungsvoll an. »Guckt euch das mal an!«, sagte er. An der Tür war ein rot-weißes Schild mit der Aufschrift »Zutritt verboten!« angebracht. Buffy runzelte die Stirn. So ein Schild sah man in den Hinterräumen eines Restaurants. Sie erinnerte sich auch, eins an der Tür zum Heizungsraum damals in der High-School in Sunnydale gesehen zu haben. Aber in den oberen Etagen des ordentlich ausgestatteten Verwaltungsgebäudes wirkte es komisch und irgendwie fehl am Platz. Außer am Kellereingang hatten sie nirgendwo ein solches Schild gesehen. Buffy betrachtete das Schild, dann sah sie Oz an. »Angel?«, fragte sie. Der Werwolf knurrte tief und schnappte in die Luft. Die Jägerin interpretierte dies als Bestätigung. Sie straffte die Schultern und wollte schon die Tür eintreten, als Willow sie zurückhielt. Buffy sah sie neugierig an. Die Zauberin wedelte schwungvoll mit den Händen vor der Tür. »Munimentum prodeo!«, befahl sie. Bei diesen Worten fegte aus dem Nichts ein starker Wind durch den Raum. Ein elektrisches Knistern lag in der Luft, und plötzlich wurde eine dunkelviolett schimmernde magische Barriere vor der Tür sichtbar. Der Geruch von Schwefel lag in der Luft. »Wow, wer immer dieses Schild aufgehängt hat, hat es verdammt ernst gemeint«, raunte Xander den anderen zu. Willow sah Buffy an. »Eine Verteidigungsbarriere. Sie bietet nicht nur Schutz vor Eindringlingen, sondern sendet auch sehr starke zerstörerische Magie aus. Hättest du die Tür berührt, 51
Buffy, hätten wir dich von der Wand kratzen können. Ganz zu schweigen von dem Blut an deinen Klamotten. Du weißt doch, solche Flecken gehen niemals raus!« Die dunkle Energie der Barriere knisterte vom Boden bis zur Decke vor der Tür. Buffy studierte sie einen Augenblick. »Mensch, gut dass du dich eingeschaltet hast«, sagte sie dann zu Willow. »Wegen der Rechnungen für die Reinigung und so...« Mit einem dünnen Lächeln im Gesicht sah sie ihre Freundin bewundernd an. »Woher wusstest du das?« Willow zuckte mit den Schultern. »Hab’ ich irgendwie gespürt.« »Oz aber nicht«, bemerkte Xander und zeigte auf den Werwolf, der sich ein paar Schritte zurückgezogen hatte. »Dabei hat er eine Wolfsnase. Ziemlich cool, Willow!« »Kannst du uns da durchschleusen?«, fragte Buffy. Die Zauberin betrachtete nachdenklich das Funken sprühende magische Kraftfeld, das ihnen den Weg versperrte. Nach einer Weile schloss sie die Augen und flüsterte ein paar Worte. »Perfringo contego.« Willow öffnete die Augen und zog eine abschätzige Grimasse. Einige Minuten vergingen, in denen sie einfach nur die Tür anstarrte. Zweimal bewegte sie noch ihre Hände und malte Symbole in die Luft, aber dann brach sie ab und schüttelte den Kopf. »Ich kann das Ding einfach nicht zerstören«, sagte sie. »Ich habe versucht, eine Formel anzuwenden, die uns so gut schützt, dass wir die Barriere durchqueren können, aber so erfahren ich auch auf gewissen Gebieten der Magie bin – hier kann ich nichts ausrichten.« Obwohl Buffy enttäuscht war, hatte sie Willow nichts vorzuwerfen. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätten sie ja nicht einmal gewusst, dass die Barriere überhaupt da war. Buffy hätte schon tot sein können. Aber trotzdem wollte sie nicht 52
einfach im Korridor stehen bleiben und Däumchen drehen. »Wir könnten später noch mal wiederkommen«, schlug Xander vor. »Vielleicht brauchen die anderen unsere Unterstützung.« »Dann hätte uns Lonergan schon längst angefunkt«, entgegnete Willow, die unverwandt zur Tür blickte. »Dafür sind ja die Headsets da, und deins funktioniert doch wohl noch, oder?« Xander klopfte an das Mikro und nickte. »Soweit ich das beurteilen kann, ja.« Buffy zog erneut das Schwert und ging ein paar Schritte den Korridor hinunter. »Wie lange brauche ich wohl, wenn ich direkt durch die Wand gehe?« Willow starrte auf das Schwert. »Ach, warte mal, mir ist gerade was eingefallen!« Sie trat zu Buffy und untersuchte die mit Gravuren verzierte Klinge. »Dieses Schwert ist doch schon irgendwie verzaubert, und das könnte uns helfen. Vielleicht kann ich das Schwert mit einem ähnlichen Schutzbann wie dem vor der Tür belegen.« »Ich verstehe«, sagte Xander. Als er nachdenklich die Augen zusammenkniff, knitterte die sichelförmige Narbe in seinem Gesicht und schien fast zu glänzen. »Das, was die Tür versperrt, ist so was wie Elektrizität. Du willst eine Art Kurzschluss verursachen, indem du ein ähnliches Energiefeld dagegenhältst.« Willow grinste. Oz kam zu ihnen, sah sie der Reihe nach an und trottete dann an seinen Platz im Korridor zurück. Er schnupperte immer wieder aufmerksam, und Buffy wurde klar, dass er Wache hielt. »Wie groß sind meine Chancen, dass ich explodiere, wenn ich das mache?«, fragte sie Willow. »Minimal.« Buffy packte das Schwert mit beiden Händen. »Dann los!« 53
Willow nickte und studierte konzentriert die Klinge. Sie legte beide Hände darüber, die Finger vielleicht einen Zentimeter von dem Metall entfernt, und begann leicht zu schwanken, als sie Worte in einer kehligen, alt klingenden Sprache sagte, die Buffy für Altnordisch oder etwas Ähnliches hielt. Nie war sie sich ihrer Grenzen auf sprachlichem Gebiet so bewusst wie in solchen Momenten. Ein Licht schien nun um Willows Gesicht zu leuchten, als sie sprach, und dann wanderte dieses merkwürdige Licht über ihre Arme in die Finger bis zu dem Schwert. Eine Art grünlich getönte Aura umgab die Klinge. Sie funkelte vor Energie wie die Barriere vor der Tür, jedoch sanfter und nicht so bedrohlich. Das Heft des Schwertes vibrierte in Buffys Händen, und ihre Haut kribbelte. Sie sah ihre Freunde an. »Tretet zurück!« Die beiden gesellten sich sofort zu Oz. Buffy holte aus und schlug das Schwert in die magische Barriere. Als die Klinge das knisternde Energiefeld durchschlug, zischte und summte es im Raum. Grüne und schwarze Blitze zuckten, und dann löste sich die Barriere auf. Das »Zutritt verboten«-Schild fiel herunter und schlug auf dem Boden auf. Dahinter kam ein kleines, einfaches Schild mit der Aufschrift »Städtischer Planungsstab« zum Vorschein. Im Korridor blieb alles ruhig. Buffy streckte die Hand aus und rüttelte an dem Türknauf. Aber die Tür war nicht verschlossen und ließ sich leicht aufschieben. Die Fenster in dem Raum waren zugemauert, aber aus dem Flur fiel Licht hinein. Im Büro des Planungsstabes herrschte Chaos, die massiven Aktenschränke waren umgestürzt, und überall flogen Papiere herum. Ein Tisch war umgeworfen worden, und ein Computermonitor lag zersplittert auf dem Boden. Eine Lichtquelle gab es jedoch in dem Raum: ein überirdisches Leuchten in derselben dunkelvioletten Farbe wie 54
die Barriere vor der Tür. Wo genau es herkam, war von der Schwelle aus nicht zu sehen. Buffy betrat vorsichtig den Raum, und die anderen folgten ihr. Und dann erblickte sie mitten in dem Bild der Verwüstung Angel. »Oh Gott«, flüsterte sie. Angel hing in einer Kugel aus dunkler magischer Energie in der Luft, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt, als wäre er gekreuzigt worden. Er war ganz in Schwarz gekleidet, und sein zerrissener Mantel schlabberte an ihm herunter. Auf der Wange hatte er eine lange Schnittwunde. Aber es war die Art, wie er da schwebte, die Buffy so fassungslos machte, denn alles war wie in ihrem Traum, in dem Angel ihr Ratschläge zum Umgang mit Giles erteilt hatte. Es gab allerdings einen großen Unterschied. Nun ragte ein Holzpflock aus seiner Brust, exakt in der Position, dass er eigentlich in sein Herz eingedrungen sein musste. Und doch war Angel seltsamerweise am Leben.
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4. »Angel?«, flüsterte Buffy. Oz trat neben sie und verwandelte sich in Sekundenschnelle vom Wolf zurück in einen Menschen. Sein Gesicht nahm die vertrauten Züge an, und das Fell verschwand, als wäre so eine Metamorphose die leichteste Sache auf der ganzen Welt. »Ist er es wirklich?«, fragte sie und starrte ihren ehemaligen Geliebten an, wie er da in der schimmernden magischen Kugel mitten im Raum schwebte. »Sein Geruch ist es auf jeden Fall«, bestätigte Oz und fuhr sich mit den Händen durch das widerspenstige Haar. »Aber ob er es wirklich ist, kann ich nicht sagen.« Die Augen des Vampirs waren geschlossen, und er sah so friedlich aus, als läge er in einem Beerdigungsinstitut im Sarg. Buffy verdrängte diesen Gedanken rasch wieder. Obwohl sie es am liebsten geleugnet hätte, war sie absolut überzeugt davon, dass er es wirklich war. Das entschlossene Kinn, die Stärke in seinen gemeißelten Zügen. »Willow?«, fragte sie. »Ist das derselbe Zauber wie draußen?« »Ich glaube schon, Buffy, aber...« Willows Stimme erstarb. Da merkte Buffy, dass ihre drei Freunde gar nicht mehr Angel ansahen, sondern sie. Willows Brust hob und senkte sich unregelmäßig. Sie schien sehr aufgebracht. Oz zog eine Augenbraue hoch. Xander blickte zu Boden und trat von einem Bein aufs andere, dann sah er sie wieder an. »Was ist denn?«, fuhr sie auf. »Ich will ja nicht unnötig darauf herumreiten, Buff, aber... der Pflock ist dir wohl auch schon aufgefallen?«, fragte Xander. Buffy seufzte und sah Willow an. »Er ist danebengegangen. Ich meine, muss er ja wohl, oder? Angel ist ja immer noch da.« 56
»Das ist irgendwie logisch«, entgegnete Willow. Oz räusperte sich. »Blut. Da ist auch Blut.« Buffy sah ihn durchdringend an. »Und?« »Er ist seit fünf Jahren verschwunden«, bemerkte Xander und setzte mit ernster Miene die Armbrust auf seiner Schulter ab. Nun kam der Soldat in ihm zum Vorschein; der Mann, zu dem er sich entwickelt hatte. »Wenn er die ganze Zeit hier war... Ich weiß nicht. Ich finde, du solltest einfach vorsichtig sein.« »So vorsichtig wie möglich«, antwortete Buffy. Sie hielt Willow das Schwert entgegen. »Also, los jetzt, verzauber mich!« Aber als Willow gerade ihre Hände über die Klinge rührte und mit der Beschwörung begann, hörte Buffy ein leises Keuchen hinter sich; eine Stimme, die ihren Namen rief. Überrascht ließ sie das Schwert fallen und merkte erst jetzt an ihren verkrampften Fingern, wie fest sie es zuvor umklammert hatte. Dann drehte sie sich um. Angels Augen waren offen. Ein schwaches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Ich hab’ dich gefunden«, krächzte er wie eine Stimme aus einem alten Radio. Es knisterte und knackte, als seine Worte durch die Kugel drangen, die sein Gefängnis war. »Eigentlich haben wir dich gefunden«, korrigierte ihn Xander. »Alles eine Frage der Auslegung«, bemerkte Oz. Buffy hörte kaum, was die anderen sagten. Willow fasste sie am Arm und flüsterte ihr zu, sich von der Kugel fern zu halten, aber sie konnte nicht anders. Vorsichtig, den Blick fest auf Angel gerichtet, kam Buffy näher. Sie spürte, wie sich, aufgrund der elektrischen Spannung, die von der Kugel ausging, ihre Haare aufrichteten. »Angel.« Sie hatte das Gefühl, ihr Herz gefriere zu einem Eisklumpen, 57
und für einige Augenblicke vergaß sie zu atmen. Wie sehr sie ihn auch liebte, wusste sie doch seit vielen Jahren, dass es ihnen nicht bestimmt war, zusammen zu sein. Wie es schien, hatte das Schicksal etwas anderes für sie vorgesehen. Aber nun... Er war die ganze Zeit ein Gefangener gewesen, genau wie sie. Er war losgezogen, um sie zu suchen, sie zu retten; und nun schien es an ihr zu sein, ihn zu retten. »Ich habe geträumt, ich hätte deine Stimme gehört«, krächzte er und sein Lächeln wurde breiter. »War wohl doch kein Traum.« »Halt aus, Angel! Wir holen dich da raus!« Buffy drehte sich um und hielt Willow wieder das Schwert entgegen. In seinem Gefängnis, das seinen Todeskampf gleichsam eingefroren hatte, stieß Angel ein kurzes, leises Lachen aus. »Ich wünschte, ihr könntet es«, sagte er. »Aber, Buffy, es geht nicht!« Sie zögerte. Liebend gern hätte sie ihm widersprochen und ihm erzählt, dass sie ihn sehr wohl von dieser Magie befreien konnten, da es ihnen auch gelungen war, die magische Barriere vor der Tür zu durchbrechen. Aber davon hatte Angel offenbar gar nicht gesprochen, wie sie in ihrem tiefsten Innern erriet. Langsam und mit trockener Kehle, es fröstelte sie am ganzen Körper, drehte sie sich wieder zu ihm um. »Der Holzpflock?« Angels Lächeln erstarb. Auch sein Blick wurde trüber. »Ich habe dich gesucht. Ich weiß nicht, wie lange das her ist. Hier drin treibt die Zeit ein merkwürdiges Spiel. Ich habe ihn gestellt... Giles. Wir haben gegeneinander gekämpft. Deshalb sieht es hier so aus. Sorry, dass ich nicht mehr aufräumen konnte.« Er lachte leise, aber sein Gesicht war immer noch ganz ernst. »Er hat dich besiegt?«, fragte Xander ungläubig. »Eigentlich nicht«, entgegnete Angel stumpf und runzelte die Stirn. »Ich habe ihn fertiggemacht. Aber dann hat er diese Zauberformel gesprochen, und ich bin mitten in diese magische 58
Bärenfalle getappt. Er hat mich einfach überrumpelt. Ich habe noch versucht zu entkommen, als sie sich um mich schloss, aber vergeblich.« Mit einem Nicken wies Angel auf den Pflock, da er die Arme nicht bewegen konnte. »Obwohl er nicht wirklich Giles ist, verfügt er über Giles’ gesamte Erinnerungen und seine Persönlichkeit. Auch der alte Groll ist noch da. Er wollte mir heimzahlen, dass ich ihn einmal gefoltert habe. In dieser Kugel ist die Zeit sozusagen eingefroren. Wenn ihr versucht, mich zu befreien, bin ich tot.« Buffy schüttelte ungläubig den Kopf und kämpfte gegen die Tränen an, die ihr in die Augen schossen. Die beiden Seelen in ihrem Körper waren in ihrem Kummer und Gram vereint. In diesem Augenblick dachte sie, es wäre besser gewesen, wenn sie Angel nie gefunden hätten. Dann hätte sie sich weiter vorstellen können, dass er noch lebte, an irgendeinem Ort. Ihn in einer so ausweglosen Lage zu sehen, konnte sie nicht ertragen. »Es muss doch eine Möglichkeit geben«, sagte sie mit fester Stimme. »Vielleicht finden wir eine Methode, wie wir den Holzpflock rausholen können, bevor wir den Bann brechen, der dich gefangen hält.« »Aber Buffy«, entgegnete Angel. »Sieh mich doch an!« Das tat sie. Als sie Angel in die Augen sah, hätte sie sich am liebsten gleich wieder abgewandt, aber das konnte sie ihm jetzt nicht antun. Wirklich nicht. »Der Schaden ist bereits angerichtet«, erklärte Angel. Willow trat zu ihr, und Buffy nahm ihre Freundin fest in die Arme und suchte Trost in der vertrauten Umarmung, dem Geruch ihres Haars, der Sorge in ihren Augen. Die Jägerin hielt immer noch ihr Schwert, aber seine Spitze zeigte zu Boden. »Es muss doch etwas geben, was wir tun können, Will«, sagte Buffy. »Wann ist es endlich genug? Giles, meine Mutter, deine Eltern, Anya, Faith. Wann gelangen wir an den Punkt, an 59
dem wir genug verloren haben?« Buffy sah an Willow vorbei zu Xander und Oz. Xanders gestähltes Äußeres war nun völlig verschwunden, und sie erkannte, dass er ihren Schmerz teilte. Oz jedoch sah sie überhaupt nicht an. Er wirkte so täuschend normal, so menschlich. Aber da runzelte er die Stirn und schnüffelte. Dann weiteten sich seine Augen. »Leute?«, rief er. Buffy und Willow drehten sich gleichzeitig zur Tür um. Dort lehnte Giles lässig an der Wand. Es war ein absolut surrealer Moment. Er trug schwarze Schuhe, graue Hosen und einen blauen Baumwollsweater, der ein wenig verknuddelt war. Als Buffy ihn so ansah, völlig überrascht von seinem Auftauchen, hatte sie fast den Eindruck, gleich greife er zu einem Buch oder einer Tasse Tee. Ihm schien die plötzliche Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, peinlich. »Hmmm?«, brummelte er geistesabwesend, als wäre er tief in Gedanken gewesen. Dann richtete er sich auf, steckte eine Hand in die Hosentasche und kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Ja, hm, tut mir Leid. Hatte mich ganz in das Schauspiel vertieft. Und was den Punkt angeht, wann ihr genug verloren habt, so glaube ich nicht, dass einer von euch ihn schon erreicht hat. Nicht, wenn man bedenkt, dass ihr ja noch lebt. Aber ich versichere euch, ich arbeite bereits an Abhilfe, während wir hier stehen und reden.« Die Illusion zerbrach, zusammen mit Buffys Herz. Nun stand sie ihm zum zweiten Mal gegenüber, hörte seine Stimme und musste erkennen, dass das Böse, dessen Bekämpfung sie sich verschrieben hatte, ihn verdorben und sich seiner bemächtigt hatte. Und wie beim ersten Mal, einige Tage zuvor, schmetterte die Erkenntnis sie nieder und machte sie gleichzeitig stärker. »Es ist aus mit dir!«, sagte Buffy mit lauter Stimme und hielt das Schwert bereit. »Dein kleines Königreich ist am Ende.« 60
»Ts, ts«, machte er. »Wie wäre es erst mal mit ein bisschen Wiedersehensfreude? Hast du mich denn gar nicht vermisst?« »Du bist nicht Giles!« »Oh doch, Buffy, das bin ich«, entgegnete der Vampirkönig und klang dabei, als amüsiere er sich sehr über die eigenen Worte. »Ich habe diesen Umwandlungsprozess immer unterschätzt, weißt du. Meine Seele ist ganz gewiss verschwunden. Aber ob es dir gefällt oder nicht, ich bin Giles. Wenn ich es nicht wäre, wenn ich dich nicht lieben würde wie meine eigene Tochter, wärst du dann noch am Leben? Wärst du so weit gekommen? Ich habe dir das Leben gerettet, Buffy. Ich habe dir geholfen, aus Sunnydale rauszukommen, aber nur weil ich überzeugt war, du würdest zurückkehren. Sie haben Faith ›die Verlorene‹ genannt. Sogar der Rat. Aber du bist die wahre Verlorene, nicht wahr? Und nun bist du zu mir zurückgekehrt.« Die Jägerin schüttelte angewidert den Kopf und umklammerte das Heft ihres Schwertes ganz fest. Die Augen des Vampirkönigs wanderten zu der Klinge. »Du weißt es doch, nicht wahr? Sonst hättest du mein Geschenk nicht angenommen. Du hättest es nicht mitgebracht. Hat Angel es wiedererkannt, das Schwert, mit dem du ihn getötet und zur Hölle geschickt hast? Die Waffe, mit der einer von uns, mein liebes Mädchen, meine Tochter, den anderen schon sehr bald töten kann?« »Ich sage es dir ein letztes Mal«, knurrte Buffy. »Ich bin nicht deine Tochter. Ich habe es nur mitgebracht, um es dir zurückzugeben. Und zwar mit der Klinge voran.« »Wie du es damals mit dem Messer gemacht hast, als Faith dich umbringen wollte?«, entgegnete Giles. Buffy blinzelte und zögerte. »Du bist überrascht?«, fragte der Vampirkönig. »Das solltest du nicht sein. Du kannst es leugnen wie du willst, aber ich bin Giles. Ich habe dich zu dem gemacht, was du bist. Du konntest 61
Faith nicht töten, und du wirst auch mich nicht töten können, wenn der Moment gekommen ist. Ich will, dass du dich mir anschließt, Buffy, und dich deiner wahren Bestimmung ergibst. Gemeinsam werden wir unschlagbar sein.« Buffy schüttelte energisch den Kopf, richtete sich auf und hob das Schwert. »Da haben wir den Beweis. So blöd war Giles nie und auch nicht so arrogant.« »Ich fand ihn eigentlich immer ziemlich eingebildet«, bemerkte Xander. Giles starrte ihn an. »Ich bin erstaunt, dass du noch lebst, Junge.« Als Antwort feuerte Xander einen Bolzen aus seiner Armbrust. Giles trat behände zur Seite, und das Geschoss schlug hinter ihm in die Wand ein. Mit einem tiefen, bedrohlichen Knurren verwandelte Oz sich erneut, und Buffy fragte sich, wie viel Kraft ihn das kosten mochte, wie unglaublich gut er seinen Körper unter Kontrolle haben musste, um sich so hin und her zu verwandeln. Der Werwolf trat vor und bleckte seine glänzenden Zähne. Von hinten drang Angels schwache Stimme aus der magischen Kugel. »Seid vorsichtig!«, mahnte er. »Denkt daran, was er geschafft hat. Unterschätzt ihn nicht!« »Das haben wir noch nie«, entgegnete Willow leise. Sie hob die Hände, und ein grünes Licht begann zwischen ihren Fingern zu tanzen. »Ich dich auch nicht, Zauberin«, erklärte der Vampirkönig. »Aber ich kenne Buffy. Das hier ist zu persönlich für sie. Sie hat bestimmt schon Anspruch auf meinen Kopf erhoben, wette ich.« Buffy zögerte erneut. Natürlich hatte er Recht. Aber wenn er so sicher war, wie sie vorgehen würde, dann war es vielleicht das Beste, ihn ordentlich zu überraschen. »Wisst ihr was, Jungs?«, sagte sie zu den anderen. »Niemand mag Besserwisser leiden. Wer immer ihn umlegt, kriegt 62
nachher ein Eis spendiert!« Zum ersten Mal in dieser Begegnung schien Giles verunsichert und runzelte die Stirn. Er war beunruhigt, weil sie nicht so handelte, wie er es erwartet hatte. Vielleicht war er auch angesichts ihrer Einstellung besorgt. Wie es sich auch verhielt, Buffy war jedenfalls froh. »Verdammt!«, murmelte Xander. An seinem Gesicht waren widersprüchliche Gefühle abzulesen, und er drückte sich den Kopfhörer fester ans Ohr und lauschte. Als er den Blick hob und Buffy ansah, wusste sie bereits, es gab Schwierigkeiten. »Lonergan«, erklärte Xander. »Sie brauchen dringend Verstärkung, sonst sind sie alle tot.« Buffys Blick wanderte zu Giles. Er hatte ein breites GarfieldGrinsen im Gesicht, und ihr wurde klar, dass er genau das vorhergesehen hatte. Vielleicht hatte er es sogar selbst inszeniert. »Sie sind im Gerichtsgebäude«, berichtete Xander. »Wesley und Anna sind schon da, aber sie haben es mit zu vielen Gegnern zu tun.« Buffy wandte ihren Blick nicht von Giles. »Geht!«, befahl sie. »Buffy, nein!«, protestierte Willow. Oz kroch knurrend näher an den Vampirkönig heran, der ihn wie ein Hinterhof-Rowdy zu sich lockte. »Mach das nicht allein«, rief Angel mit gedämpfter Stimme, die ein summendes Echo im Raum warf, das wie ein Radio klang, das jemand vergessen hatte abzustellen. »Geht!«, wiederholte Buffy ruhig. »Camazotz ist tot. Das Pestproblem in Sunnydale ist gelöst. Ihr müsst Lonergan dabei helfen, seinen Job zu Ende zu bringen! Ich komme schon allein klar.« Sie sah keinen ihrer Freunde noch einmal an, denn sie befürchtete, sie würden die Zweifel in ihrem Blick erkennen; 63
die Zweifel, ob es ihr gelingen würde, dieses Wesen zu töten, das in dem toten Körper ihres Mentors, ihres Wächters und Freundes wohnte. Buffy bewegte sich äußerst angespannt zur Tür, bereit, sich zu verteidigen, und nahm Giles ins Visier. »Aus dem Weg!« »Aber selbstverständlich«, entgegnete er und ging auf die andere Seite des Raumes, weg von Angel. Xander und Oz flitzten rasch in den Korridor, aber Willow blieb zurück und sah Buffy eindringlich an. Die Jägerin nickte ihr nur ausdruckslos zu. Nach einer Weile erwiderte Willow das Nicken und ging mit Oz und Xander den Korridor hinunter. Buffy hoffte nur, sie kamen rechtzeitig, um Lonergan und die übrigen Einsatzkräfte retten zu können. Und dann war sie, abgesehen von Angel, allein mit Giles. Angel, der nur zusehen konnte, gekreuzigt, gefangen und auf ewig nur einen Lidschlag vom Tod entfernt. Durch ein hohes zerbrochenes Fenster fiel Sonnenlicht in den Gerichtssaal. Der Staub tanzte auf den Lichtstrahlen, und der Spritzer Tageslicht im Raum mutete an wie ein rettendes Leuchtfeuer. Inmitten des Kampfgetümmels versuchten die untoten Blutsauger immer wieder, die Sonnenstrahlen zu umgehen. Selbst wenn sie ihnen den Rücken zuwandten, schienen sie beim Näherkommen die Wärme zu spüren und wichen dann rasch wieder in eine andere Richtung aus. Anna duckte sich elegant unter dem Angriff eines Vampirs. Ihre rechte Hand schnellte nach oben, und der Pflock drang mit einem befriedigenden Knirschen in die Brust ihres Gegners ein. Als er sich gerade in eine Staubwolke verwandelte, die zu Boden rieselte, verpasste sie bereits dem nächsten einen Tritt und brach ihm das Knie. Hinter ihr rief Wesley wütend: »Verdammt, nein!« Alarmiert wirbelte sie herum und sah, wie Jax, dem ein Auge fehlte und Blut über das weiße Tattoo in seinem Gesicht lief, seine Axt aus Lonergans Brust riss. Lonergan war tot und 64
starrte mit blinden Augen zu seinem Mörder auf. Der Kampf hatte Anna gestählt. Tod, Blut und die ständige Bewegung ihrer prügelnden Fäuste und tretenden Beine waren zu einer Melodie geworden, die in ihr anschwoll und den Kummer hinwegfegte, den sie eigentlich angesichts des Verlustes von Menschen hätte spüren müssen, die ihre Kameraden und sogar ihre Freunde gewesen waren. Angesichts des Todes von Pater Lonergan konnte sie die Trauer jedoch nicht verdrängen. Kummer überflutete ihr Herz, und heiße salzige Tränen schossen ihr in die Augen. Fast gleichzeitig schwoll jedoch auch ihr Zorn an. Nur ein paar Tränen liefen ihr über die Wangen, bevor die kalte Wut in ihrem Herzen sie wieder trocknete. Da die Kakchiquels wussten, dass sie die Jägerin war, wurden sie und Wesley von den anderen vier Einsatzkräften weggedrängt, die ebenfalls am Kampf beteiligt waren. Hotchkiss und Fuchs rangen an der Seite zweier Kollegen, die Anna nicht kannte. Sie hatten im Kampf gegen die Vampire einen Kreis gebildet und waren vermutlich nur noch am Leben, weil Fuchs sich von einem toten Kollegen den Flammenwerfer geholt hatte. Flüssiges Feuer stieß heraus wie aus einem Drachenmaul, und die Vampire wichen zurück. Einer der Blutsauger hatte ein Pistole, feuerte aber nur einen Irrläufer ab, bevor Fuchs ihn anzündete. Dann arbeiteten sich die vier Einsatzkräfte auf das Sonnenlicht zu, das durch das hohe Fenster hereinfiel. Wesley stieß erneut einen Fluch aus, und Anna sah zu ihm hinüber. Er hatte eine Pistole in der Hand, die in der letzten Minute zweimal den Besitzer gewechselt hatte – von einem Mitglied des Teams zu einem Vampir und nun zu Wesley. Er schoss einem Kakchiquel in den Hals und durchtrennte ihm damit das Genick. Er explodierte zu Asche, als der Wächter dem Vampir dahinter den Pistolengriff ins Gesicht schlug. Anna steckte einen rechten Haken von einem gut 65
aussehenden Vampirjungen mit blonden Haaren und strahlend blauen Augen ein. Das kostete sie einen Sekundenbruchteil, in dem es dem Vampir gelang, die Hände um ihren Hals zu legen. Wütend über ihren Fehler langte Anna nach seinem Kopf, packte ihn an den Haaren und rammte seinen Kopf auf ihr Knie, das sie blitzschnell anzog. Der Vampir ging zu Boden, und schon saß sie mit dem Pflock in der Hand auf ihm. Als er zu Staub zerfiel, rollte Anna sofort zur Seite und sprang auf die Füße. Sie stand nun Seite an Seite mit Wesley, und eine neue Welle Vampire rollte auf sie zu. Als sie kurz zu den anderen hinüberschaute, war Fuchs bereits tot, zertrampelt unter den Schritten der Vampire, die Jagd auf die drei verbliebenen Einsatzkräfte machten. Aber Hotchkiss und die anderen waren bereits im Sonnenlicht angekommen und somit keine leichte Beute mehr. Jax tollte herum, tänzelte fröhlich mit der Axt über der Schulter und schloss sich den anderen Vampiren an, die Wesley und Anna langsam umzingelten. Mit seinem blutverschmierten Grinsen und dem weißen Brandzeichen im dunklen Gesicht war Jax eine Furcht erregende, albtraumhafte Kreatur, dürr wie eine Vogelscheuche und zugleich anmutig wie ein Tänzer. Die Jägerin straffte die Schultern. Sie war entschlossen, dafür zu sorgen, dass Lonergan und die anderen ihr Leben nicht umsonst gegeben hatten. »Lass sie kommen«, flüsterte Wesley ihr zu. »Und dann pfähle Jax, so schnell du kannst. Das verunsichert die anderen.« Anna nickte, aber ihre neu geschöpfte Zuversicht schwand. Es waren noch sehr viele Gegner übrig. Wahrscheinlich zu viele. Jax blieb stehen, legte den Kopf schräg und lächelte. Anna schauderte es beim Anblick der klaffenden schwarzen Höhle, in der sein Auge gesessen hatte. »Macht sie fertig!«, befahl Jax fröhlich. 66
Als die Kakchiquels sich auf sie stürzen wollten, veranlasste ein unvermitteltes Knurren sie plötzlich innezuhalten. Und in diesem Augenblick war Oz auch schon mitten unter ihnen. Hoffnung keimte in Anna auf, als der Werwolf die Vampire attackierte und einem von ihnen den Arm abriss, bevor er den nächsten mit seiner urgewaltigen Wut und den scharfen Krallen erledigte. »Wesley!« Die junge Jägerin und ihr Wächter sahen zur Tür. Willow und Xander kamen in den Gerichtssaal gerannt. Jax und die anderen Vampire drehten sich ebenfalls um, und Wesley nutzte diesen Moment zum Angriff. Mit einem triumphierenden Brüllen, das tief aus seiner Brust kam, stürzte er sich auf sie, und zog Jax den Griff seiner Pistole durchs Gesicht. Der verletzte Vampir krachte in die erste Bankreihe, stürzte und ließ die Axt fallen, die klappernd zu Boden fiel und unter die Bank rutschte. Einige Kakchiquels versuchten, ihm zu helfen, und Anna wusste, das war das Stichwort für ihren Einsatz. Sie pfählte einen von hinten, trat den nächsten aus dem Weg und verdrehte dem dritten den Arm und hielt sie so von Wesley fern. Der Wächter bot einen wilden Anblick mit seinem Bart, den zersprungenen Brillengläsern und dem vor Anstrengung geröteten Gesicht. Er schob Jax den Lauf seiner Waffe gegen den Hals und drückte ab. Lediglich ein Klicken ertönte, denn Wesley hatte keine Munition mehr im Magazin. Jax grinste, packte die Waffe an ihrem Lauf und rang Wesley zu Boden. Anna wollte schreien, aber es kam kein Laut über ihre Lippen. Ihre Augen waren groß vor Angst, und sie fühlte sich plötzlich ganz schwach, als sie Wesley von hinten am Hemd packte und versuchte, ihn aus dem furchtbaren Zirkusalbtraum zu zerren, der ihn umgab. Jax legte die Hände um Wesleys Kopf und brach ihm mit 67
einer ruckartigen Bewegung das Genick. Das Knacken hallte durch den ganzen Raum. Anna öffnete den Mund, und das Grauen explodierte in ihr wie ein Feuerwerk, aber sie konnte immer noch nicht schreien. Derart abgelenkt war sie nicht schnell genug, um die drei Vampire zu stoppen, die nach ihr griffen und sie gegen das Podium schleuderten, auf dem der Richter zu sitzen pflegte. Jax kam zu ihr geschlendert und leckte sich die Lippen. »Ich habe schon so viele Gerüchte über die Qualität von Jägerinnenblut gehört«, sagte er. »Also, nicht nur Gerüchte, um ehrlich zu sein. Ich wünschte nur, ich hätte unter denen sein können, die sich an Faiths Blut gelabt haben.« Endlich schrie Anna. Sie rammte einen Kakchiquel zur Seite und versuchte, Jax mit dem Holzpflock zu erwischen, aber er schlug ihn ihr aus der Hand. Sie war geliefert. Willow verließ der Mut, als sie mit Xander in den Gerichtssaal rannte. So viele Tote und nur eine Hand voll Überlebende. Mindestens zwei Dutzend Vampire standen noch im Raum, und Oz hatte drei von ihnen in eine Ecke gelockt, wo sie mit ihm wie Sparringspartner kämpften, als wäre alles nur ein Spiel. Aber das war es ganz und gar nicht. Willow hatte Angst um Oz, aber da sie wusste, wie schwer es war, ihn umzubringen, verdrängte sie diese Sorge zunächst. Oz würde die Vampire bestimmt vernichten. Aber es waren mehr da als nur die drei. Vielleicht zu viele. Willow entdeckte Anna und Wesley weiter hinten im Raum, von Lonergan jedoch fehlte jede Spur. Sie zwang sich, ihren Kummer beiseite zu schieben und trat in Aktion. Drei Einsatzkräfte zu ihrer Rechten hielten sich in einem Lichtstrahl auf, der durch ein zerbrochenes Fenster hereinfiel. Sie waren jedoch von acht oder neun Vampiren eingekreist worden, die immer wieder vor- und zurücksprangen und sich bei den Versuchen, die drei zu fassen, die Finger verbrannten. Offenbar 68
war die einzige Waffe der Einsatzkräfte nun der Flammenwerfer, und auch mit dem Sonnenlicht auf ihrer Seite gelang es ihnen nur mühsam, die Vampire in Schach zu halten. Willow rannte auf die Gruppe zu. Zwei der Vampire spürten sie oder sahen sie aus den Augenwinkeln und drehten sich mit gebleckten Zähnen zischend zu ihr um. Ihr tat der ganze Körper weh von den vielen magischen Kunststücken, die sie an diesem Tag schon vollbracht hatte, und stillschweigend sprach sie eine viel geübte Formel. Die beiden Vampire gingen in Flammen auf. Ein anderer versuchte, Willow zu packen, und sie verwandelte ihn im Kampf zu Eis. Als sie ihre Hände von ihm löste, zersplitterte er. Neben ihr feuerte Xander einen Bolzen aus seiner Armbrust, und einer der Kakchiquels, von denen die drei überlebenden Einsatzkräfte bedroht wurden, verwandelte sich in Staub. Vorsichtig rückten Xander und Willow vor. Da schrie Anna auf. Der qualvolle Schrei hallte Willow noch in den Ohren, als sie entdeckte, was geschehen war. Jax und die anderen Vampire hatten die junge Jägerin in ihrer Gewalt und Wesley... »Wesley ist tot«, flüsterte Xander mit hohler Stimme. Dann warf er Willow einen raschen Blick zu. »Rette die anderen!« Und damit sprintete er den Gang zwischen den Sitzreihen hinunter. »Xander, warte!«, rief Willow. »Ich kann...« Nein, sie konnte nicht, denn bevor sie den Satz beendete, schloss sich eine kräftige Hand um ihren Pferdeschwanz und riss daran. Willow stolperte rückwärts und schrie vor Schmerzen laut auf. Es war ein weiblicher Vampir mit einer wilden roten Mähne und Piercings im ganzen Gesicht. Sie zog so fest, dass Willow das Gleichgewicht verlor und mit dem Kopf auf den Holzboden aufschlug. Einen Augenblick lang wurde alles schwarz. Dann schlug sie die Augen auf und spürte das borstige Haar 69
der Frau im Gesicht, als sie sich zu ihrem Hals hinunterbeugte. In diesem Augenblick bekam Willow Panik. Ihr gesamtes magisches Wissen schien gelöscht; sie konnte sich nicht an die Formeln erinnern, die sie brauchte, um dieses Wesen zu vernichten. Als sie nadelspitze Einstiche an ihrem Hals spürte, schloss Willow erneut die Augen. »Geh weg!«, schrie sie und in diesen Worten lag die ganze Verzweiflung, die sich in den vergangenen fünf Jahren in ihr angesammelt hatte. Das Gewicht wich von ihr. Auch die kratzenden Haare an ihrer Wange. Das Stechen der Zähne an ihrem Hals. Alles verschwunden. Willow öffnete die Augen und sah sich um. Die Vampirfrau mit den Piercings war einfach nicht mehr da, aber die anderen, die sich um die drei noch verbleibenden Einsatzkräfte scharten, starrten Willow nun entsetzt und mit aufgerissenen Mündern an. Sie boten einen lächerlichen Anblick, diese erschreckten Monster. Langsam wichen sie vor ihr zurück. Willow spürte, wie ihr Blut aus der Nase tropfte. Ihre Beine zitterten. Sie wusste zwar nicht genau, was sie getan hatte, aber es forderte auf jeden Fall seinen Tribut. Als sie aufsah, erblickte sie Oz, der einem fliehenden Vampir nachsetzte. Xander hob gerade die Streitaxt vom Boden auf. Die junge Jägerin mit ihrem grellpink leuchtenden Haar und dem hübschen Puppengesicht schrie auf, als Jax ihr mit den Krallen über den Hals fuhr. Xander holte schnell und leise zu einem kraftvollen Schlag mit der Axt aus. Mit einem sauberen Hieb durchtrennte er dem Vampir den Hals, und sein Kopf schlug auf dem Boden auf, bevor er wie sein Körper zu Staub zerfiel. Wütend wandten sich die vier Vampire, die Anna angegriffen hatten, Xander zu. Willow schrie alarmiert auf, aber es war zu spät. Sie stürzten sich auf ihn, schlugen und traten ihn, und Willow sah Xanders Fäuste durch die Luft fliegen. 70
So schnell sie konnte sprintete sie zu ihm. Anna folgte ihr und riss einen der Vampire von Xander herunter. Sie bekam große Augen, als sie erspähte, was unter ihm lag; was aus Xander geworden war. Willow erstarrte, ihr Herz zog sich krampfartig zusammen, und sie fröstelte am ganzen Körper, als sie sah, was die Jägerin für ein Gesicht machte. »Nein«, flüsterte sie. »Die Fenster!«, rief Anna, während sie einen Kakchiquel abwehrte. »Es sind zu viele. Wir müssen die Fenster einschlagen!« Am liebsten hätte sich Willow auf der Stelle in Luft aufgelöst. Die Vampire, die Xander angegriffen hatten, erhoben sich nun; sie waren fertig mit ihm. Fertig mit ihm! Immer noch war ihr der Blick versperrt auf diesen Jungen, der zum Mann geworden war. Er war ihr bester Freund gewesen und hatte ihr die Barbie-Puppen geklaut. Und er hatte sich einst draufgängerisch einen Kuss von ihr erobert. Und nun lag er ganz still da. Anna hatte Recht. Oz war eingekreist und nahm sich einen Vampir nach dem anderen vor, aber es waren immer noch fünfzehn, vielleicht zwanzig von ihnen übrig. Dagegen standen nur Willow, Anna, Oz und die drei anderen Einsatzkräfte. Xander. Oh Gott, Xander! Er hatte Anna das Leben gerettet, Rache für Wesley genommen, und nun starben sie alle vielleicht trotzdem. »Nein!« Es war keine bloße Weigerung, die Willow da aussprach, sondern ein magischer Befehl. Das Blut floss ihr nun stärker aus der Nase, und sie fühlte sich schwach, als fiele sie jeden Moment in Ohnmacht. Dann kam ein Wind im Raum auf; ein Wind, der aus der Magie geboren wurde, die Willow nun herbeirief. Sie streckte die Hände aus, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. »Die höchsten Wände, die dicksten Wände und die stärksten 71
Wände – wie Wasser sollen sie zerfließen!«, rief sie mit zusammengebissenen Zähnen und schenkte den Tränen keine Beachtung, die ihr über die Wangen liefen. »Keine Tür kann sie aussperren, kein Bolzen sie zur Umkehr bewegen. Wie ein Sturm durchdringen sie alles. Söhne von Eng, kommt zu mir!« Ihre Stimme wurde mit jedem Wort lauter, und während sie sprach, wuchs die Energie in ihrem Innern an. Willow sammelte sie und stieß sie dann urplötzlich von sich weg, aus sich heraus. Mit geschlossenen Augen visualisierte sie den Raum und die Fenster mit ihren schweren Vorhängen und stieß die Energie in ihre Richtung. Stieß noch einmal fester. Und die Fenster zerbrachen, die Vorhänge verbrannten und die Sonne strahlte durch die hohen Fenster. Die Vampire verbrannten und starben, und der Wind fegte herein und wirbelte ihren Staub durch den Raum. Es war vollbracht. Im Gerichtssaal herrschte das absolute Chaos. Überall waren Leichen verstreut. Das Sonnenlicht wirkte fast frevelhaft, die Wärme so süß und rein und so völlig fehl am Platz. Dass dergleichen überhaupt unter dem Licht der Sonne geschah, während die Erde sich weiter drehte... Willow Rosenberg glaubte im Prinzip an die Magie, und sie übte sie mit einer Souveränität aus, die sie selbst überraschte. In diesem Augenblick jedoch verließ sie der Glaube an die einfache Alltagsmagie. Langsam ging sie durch den Raum auf Xanders Leiche zu. Sie ignorierte die anderen Einsatzkräfte, die hinter ihr her kamen, und hörte nur, wie Hotchkiss über Funk mit Haversham oder jemand anderem sprach und Bericht erstattete, aber die Worte klangen für sie ganz fremd. Willow sah zu Anna hinüber, die neben Wesleys Leiche kniete und darum bemüht war, die zerbrochene Brille auf seinem Nasenrücken zurechtzuschieben. 72
»Oh nein«, flüsterte Willow und sah auf den geschundenen, zerfleischten Körper ihres Freundes hinab. »Was haben sie dir angetan, Xander?« Tausende Bilder rasten ihr durch den Kopf. Sie konnte sich ein Leben ohne Xander gar nicht vorstellen, und die Schmerzen in ihrem Innern waren unendlich, als ihr klar wurde, dass sie nun ohne ihn weitermachen musste. Er war immer ihre Kavallerie gewesen, ihr Rettungsanker. Nun nicht mehr. Oz, jetzt in menschlicher Gestalt, legte Willow eine Hand auf die Schulter. Sie erstarrte, griff nach seinen Fingern und ließ sich dann von ihm in die Arme nehmen. Ein Schluchzer entfuhr ihr, aber nur einer. Ein einziger. »Er hatte tatsächlich Recht«, flüsterte sie. »Wenn man es am dringendsten braucht, öffnet sich die Erde auf gar keinen Fall, um einen zu verschlingen.«
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5. Angel wand sich in höllischen Qualen. Gefangen in der erdrückenden magischen Kugel, die sein Leben konservierte, rang er mit seinem Schicksal. Jahre hatte er bereits in diesem schrecklichen Gefängnis verbracht, und doch hatte er in der Vergangenheit schon Schlimmeres überstanden. Was diese Tortur allerdings so schrecklich machte, war der Holzpflock in seiner Brust; das Wissen, dass es kein Entkommen gab, denn in dem Moment, in dem der Bann aufgehoben wurde, war er Asche. Mehr als einmal, mehr als tausend Mal in diesen fünf Jahren hatte er sich das Ende herbeigesehnt, um es endlich hinter sich zu haben. Sein Tod war ohnehin unvermeidbar. Aber noch nie hatte er sich den Tod so sehr gewünscht wie in diesem Augenblick. In dem Raum, der so lange sein Gefängnis gewesen war, hielt Buffy das lange Schwert vor sich, dessen Runengravuren sich im Laufe der Jahre schwarz verfärbt hatten. Angel kannte dieses Schwert nur allzu gut, denn Buffy war bereits einmal gezwungen gewesen, ihn damit aufzuspießen. Nun wünschte Angel, sie würde es noch einmal tun. Wie er sich auch anstrengte, konnte er sich kaum bewegen, nicht einmal die Arme senken. Er schwebte dort wie eine Vogelscheuche mit dem Pflock in seinem Herzen. In all den Jahren hatte er nicht damit gerechnet, Buffy noch einmal wieder zu sehen. Nun sah er sie an und war erstaunt, wie erwachsen sie geworden war. Traurigkeit überkam ihn. Vor ihm stand eine Kriegerin. Der blonde Pferdeschwanz war ganz zerzaust, der Körper muskulös und straff. Ihr Gesicht hatte sich verändert, die Wangenknochen und das Kinn waren nun viel markanter. Irgendwie war in ihr aber immer noch das Mädchen zu erkennen, das sie früher gewesen war. Zugleich hatte die Kriegerin, die in dieser Frau steckte, zu der sie 74
herangewachsen war, schon immer in ihr geschlummert und auf ihren Auftritt gewartet. Aber früher war da noch etwas gewesen, Leidenschaft und Liebe nämlich. Sie hatten sie erst zu der außergewöhnlichen Jägerin gemacht, zu dem faszinierenden Mädchen, in das Angel sich verliebt hatte. Und nun wünschte er, er könnte ihre Gefühle auslöschen, denn er befürchtete in diesem Augenblick, sie könnten ihr zum Verhängnis werden. Denn sie verspürte immer noch Liebe für ihn. »Buffy, hör nicht auf ihn, egal was er sagt!«, rief er ihr zu, obwohl er wusste, dass seine Stimme außerhalb der magischen Zelle nur gedämpft zu hören war, denn er selbst vernahm die Stimmen der anderen ebenfalls nur als entferntes Raunen. Ihre Stimmen. Buffys Stimme und die von Rupert Giles. Oder wenigstens von dem Monster, in das er sich verwandelt hatte. Nun betrachtete Giles ihn mit einem Gesichtsausdruck, der die intellektuelle Neugier nachahmte, die er zu Lebzeiten so oft gezeigt hatte. Jetzt mischte sich jedoch auch Belustigung in seine Züge; ein grausamer Humor, der den Mann verhöhnte, der er einmal gewesen war. Sogar mit seiner Art, sich zu kleiden, imitierte er den Mann, der Giles als Wächter gewesen war. Sicherlich kein Zufall. Das Monster wusste, es konnte die Gegner umso mehr verunsichern, je besser es Gutartigkeit vortäuschte. »Auf jeden Fall, Buffy«, sagte Giles mit leiser und sanfter Stimme. »Tu, was Angel sagt. Hör nicht auf mich!« Der Vampirkönig – so menschlich in seinem weichen Baumwollsweater, so normal, so Giles – schlenderte auf Angel zu und starrte eine ganze Weile zu ihm nach oben. Buffy hätte ihn angreifen können, hätte ihn mit dem Schwert erreichen können, bevor er sich umdrehte, aber sie tat es nicht. Sie zögerte. 75
»Töte ihn!«, schrie Angel. »Das könntest du«, pflichtete ihm Giles bei und sah sie nicht einmal an. »Oder du könntest dich mir anschließen, wie ich es vorgeschlagen habe. Du spürst doch, dass es richtig ist, Buffy. Ich weiß es.« Buffy trat einen Schritt vor und hob das Schwert. »Für einen Typen, der schon bald zu Katzenstreu verarbeitet wird, bist du ziemlich anmaßend.« Giles lächelte und kicherte leise. »Du hast dich kein bisschen verändert!« Er kam Buffy so vertraut vor, und Angel bemerkte, wie seine Tour bei Buffy anschlug. In seinem Kopf begannen die Alarmglocken zu läuten. Sie musste doch erkennen, warum er an ihre Gefühle für ihn appellierte. Dennoch funktionierte es. »Buffy!«, rief Angel wieder. Schließlich drehte sich Giles zu ihr um und wandte Angel, der zum Zusehen verdammt war, den Rücken zu. »Gib dich mir hin«, drängte Giles sanft, vertraulich. »Es ist das Richtige, Buffy. Werde meine Tochter, wie wir beide es uns immer gewünscht haben, und ich verspreche, dann lasse ich Angel gehen.« Buffy ließ das Schwert sinken. »Du wirst ihn einfach gehen lassen? Und was ist mit dem Pflock, du Schwachkopf?« »Ich habe ihm das angetan. Denkst du wirklich, ich könnte es nicht wieder rückgängig machen? Du müsstest mich doch besser kennen! Natürlich könnte es sein, dass du, wenn du bei mir bist, deine Meinung über Angels Freilassung änderst, aber versprochen ist versprochen. Ich lasse ihn gehen, selbst wenn du es dann gar nicht mehr willst.« Angel sah mit Grauen zu, wie Buffy den Blick senkte, an der Unterlippe nagte und über das Angebot nachdachte. »Nein!«, schrie er. »Tu es nicht, Buffy. Er kann mich nicht mehr retten! Er lügt. Sobald ich frei bin, bin ich tot. Das 76
Einzige, was du noch für mich tun kannst, ist, ihn zu töten!« Giles wirbelte wütend herum, und seine Gesichtszüge verkrampften sich in dem Bemühen, das Antlitz der Bestie zu verbergen, das wahre Äußere des Vampirs. Es war der Illusion nicht zuträglich. »Ach, halt doch den Mund!«, knurrte der Vampirkönig. Hinter ihm erhob Buffy erneut das Schwert. Angel jubelte innerlich. Buffy trauerte. Es zerriss ihr das Herz, vor diesen beiden Männern zu stehen, die ihr mehr bedeutet hatten als fast alle anderen Menschen auf der Welt, und zu wissen, dass sie tot waren. Ihr Kummer wallte aus ihrem tiefsten Innern auf, aus so großer Tiefe, dass er aus einem bislang unentdeckten Herzen zu kommen schien. Beide in ihr verschlungenen Seelen, die der neunzehnjährigen Buffy und die der vierundzwanzigjährigen, wanderten in ihrer Erinnerung zurück zu dem Augenblick, der zu alldem geführt hatte. In der Hafenmeisterei. Camazotz hielt Giles fest in seinem Griff, sein Leben in der Waagschale. Der Dämonengott hatte ihr befohlen, sich zu ergeben... wie Giles es gerade auch getan hatte. Camazotz hatte ihr angeboten, Giles zu verschonen, wenn sie ihr Leben opferte. Buffy hatte gewusst, das Monster log. Wenn sie sich ergab, war Giles tot; seine einzige Chance lag in ihrem Überleben und der Hoffnung, dass Camazotz ihn am Leben lassen würde, um ihn später als Köder einzusetzen. Also war Buffy weggelaufen, durch das Fenster gesprungen und geflohen. Sie hatte geschworen, zurückzukehren und Giles zu retten. Ihn den Klauen des Fledermausgottes zu entreißen. Aber ihre Gedanken waren von den ominösen Warnungen getrübt gewesen, die sie von Lucy Hanovers Geist erhalten hatte. Sie waren Lucy von der Seherin übermittelt worden, und es ging um einen Fehler, den Buffy begehen und der schreckliche Konsequenzen haben würde. 77
Die Seherin hatte Buffy einen Einblick in diese Konsequenzen versprochen, ihr aber stattdessen den Körper geraubt und ihre Seele in diese furchtbare Zukunft verstoßen. Denn in Wahrheit hatte sich Zotzilaha hinter der Seherin verborgen, die auf der Flucht befindliche Frau von Camazotz. Und nun waren Camazotz und seine Gattin tot – wie so viele andere. Wie Angel zum Beispiel; wenn nicht in dieser Sekunde, so doch in der nächsten. Und Giles ebenfalls. Irgendwie musste Buffy es schaffen, die beiden Seelen in ihrem Körper voneinander zu trennen. Ihr jüngeres Ich musste in die Vergangenheit zurückkehren und so weit zurückreisen, bis es das Eintreffen dieser Zukunft verhindern konnte. Aber um das tun zu können, musste sie wieder einmal auf die allererste Regel der Jägerin zurückgreifen: Sie musste am Leben bleiben. Was es auch kostete, wie sehr es ihr auch das Herz brach, musste sie sich eindringlich klarmachen, dass die Kreatur vor ihr nur ein Dämon war, der die Maske der Zuneigung trug. Dennoch verfehlten Giles’ Worte ihre Wirkung nicht; seine Worte und der vertraute Blick aus seinen sanften, lächelnden Augen. Das Schwert in Buffys Händen zitterte. Alles war still, sie hörte nur ihren eigenen Atem und das Knistern der Magie, die Angel sowohl gefangen als auch am Leben hielt. Und dann rief Angel ihr wieder etwas zu und sie wusste, dass er Recht hatte. »Ach, halt doch den Mund!«, fuhr Giles auf. Buffy spürte, wie die Kälte seiner Stimme sie traf und jede Illusion, die der Vampirkönig bisher hatte aufrecht erhalten können, zerbrach. Er war nur ein paar Meter von ihr entfernt und hatte ihr den Rücken zugewandt. Angel schwebte über ihm in der Kugel aus violettem Licht, und die Augen ihres ehemaligen Geliebten leuchteten, als Buffy das Schwert hob und ausholte. 78
Zischend schnitt die Klinge durch die Luft. Giles bewegte sich so rasch, dass sie ihre Bewegungen nicht mehr korrigieren konnte. Er ging rasch vor ihrem Angriff in die Knie, und das Schwert fegte über seinen Kopf hinweg, als er bereits nach ihr trat. Sein Fuß traf sie in den Magen, brach ihr eine der unteren Rippen, und sie stolperte rückwärts. Fast wäre sie gestürzt, taumelte ein paar Schritte und kam gerade rechtzeitig wieder ins Gleichgewicht, um den weiteren Angriffen des Vampirs auszuweichen. Sie duckte sich vor dem nächsten Schlag und hob erneut das Schwert. Nun war er ganz gewiss nicht mehr Giles. Die vorgewölbte Stirn, die Raubtieraugen, die hochgezogenen Lippen und die spitzen Zähne – das war der Vampir. Die Maske war verschwunden und mit ihr jeder trügerische Anschein. »Und ich hatte solche Hoffnungen in dich gesetzt«, bemerkte Giles traurig. »Ich freue mich, dich enttäuschen zu können«, entgegnete Buffy. Sie schob Hass, Wut und Kummer beiseite und konzentrierte sich völlig auf ihn, auf den Kampf, auf das Überleben. Angel feuerte sie aus seinem magischen Gefängnis an, aber Buffy hörte nicht mehr, was er sagte. Für sie existierte nur noch die Spannung, der Augenblick zwischen ihr und dem Feind, der vor ihr stand, der eine Herzschlag, bevor sie wieder aufeinander losgingen. »Na, dann komm!«, knurrte Giles. »Wenn du schon sterben willst, dann mach schnell. Ich habe deine Aufsässigkeit satt.« Buffy lächelte zufrieden über seinen Groll. »Das nervt dich jetzt aber, nicht wahr? Du hast wirklich gedacht, ich würde aufgeben und mich ergeben? Das beweist doch letztendlich, dass gar kein Giles mehr in dir ist. Nur noch das Böse, die Logik eines Vampirs. Vielleicht besitzt du noch Giles’ Gerissenheit, aber seinen Verstand hast du nicht!« Ihre Worte trafen, und Buffy stieß pfeilschnell vor, hieb mit 79
dem Schwert zu und trennte ihm die linke Hand ab. Der Vampir schrie auf. »Du Schwachkopf!« Sie verpasste ihm einen Tritt gegen das Kinn, der ihn straucheln ließ. Er stolperte und hielt sich den blutüberströmten Armstummel. Buffy umklammerte das Schwert fest und griff erneut an. Sie ächzte vor Anstrengung, als sie die Klinge niederfahren ließ. Mit gebleckten Zähnen und gelb leuchtenden Augen sprang Giles sie an und machte ihren Angriff zunichte. Er verpasste ihr einen Stoß ins Gesicht, rammte ihr das Knie in die Eingeweide und entriss ihr das Schwert. »Buffy, nein!«, schrie Angel, und seine Stimme klang so weit entfernt. Der Vampirkönig hob einhändig das Schwert und schwang es mit dem Geschick des erfahrenen Fechters, der Giles einst gewesen war. Buffy wich zurück und sah sich rasch zwischen den umgekippten Tischen und Schränken im Raum nach einer Waffe um, nach irgendetwas, womit sie sich verteidigen konnte. »Weißt du«, sagte Giles ruhig. »Ich glaube, ich bin wirklich traurig, dass ich dich töten muss. Komisch, findest du nicht?« Er kam näher und schlug mit dem Schwert zu. Buffy machte einen Satz rückwärts und rannte nach links. Sie hechtete über einen Tisch, und Giles folgte ihr rasch und siegesgewiss. Buffy zersprang fast das Herz in der Brust, aber nun waren ihre Gefühle ganz klar. Es gab nun eine einzige Notwendigkeit. Sie durfte nicht sterben. So lautete die Regel. Nur das Überleben zählte. Ob es nun ihrem jüngeren Ich je gelingen sollte, diese albtraumhafte Zeit auszulöschen oder nicht, es gab nichts, was sie für Angel oder Giles tun konnte. Sie konnte nur für sich selbst einstehen und für all diejenigen, die unter dem Vampirkönig gelitten hatten. Das Schwert sauste herab und hieb ein großes Stück aus 80
einem Holzschrank, an dem Buffy vorbeisprintete. Sie schenkte dem keine Beachtung und rannte zu Angel hinüber. Sie sah zu ihm auf, zu diesem guten, anständigen Wesen, das einen so langen Krieg in seinem eigenen Herz geführt hatte. Angel schien zunächst beunruhigt, aber dann entdeckte er wohl etwas in ihrem Blick, denn er lächelte. »Ich habe dich immer geliebt«, sagte er so leise, dass sie die Worte von seinen Lippen ablesen musste. Ihr Körper war völlig angespannt, die Sinne bis aufs Äußerste geschärft. Sie spürte jeden Luftzug im Raum und hörte die Kleider des Vampirkönigs rascheln, als er das Schwert erneut schwang. Fünf Jahre lang hatte diese Kreatur Buffy gefangen gehalten, in denen sie jeden Tag an ihrem Körper gearbeitet hatte. Sie war viel schneller als früher. Die Klinge durchschnitt die Luft und sauste auf ihren Kopf zu. Da sprang Buffy zur Seite. Das Schwert krachte durch das Funken sprühende Energiefeld, von dem Angel umgeben war, und die magische Elektrizität zischte über das Schwert, als wäre es eine Zündschnur. Giles zitterte, als sich der Bann, den er gesprochen hatte und der mächtig genug war, einen Menschen zu töten, gegen ihn selbst kehrte. Aber diese Bestie war kein Mensch. Mit einem Knall zerplatzte die Kugel und verblasste, als wäre sie nie da gewesen. Im selben Augenblick streckte Angel, befreit aus seinem jahrelangen Gefängnis, seine Hände nach Buffy aus. Sie sah ihm in die Augen und reichte ihm die Hand. Aber ihre Finger berührten sich nicht mehr, denn Angel explodierte zu einer Wolke aus Rauch und Asche, und der Holzpflock fiel klappernd zu Boden. Buffy fing ihn auf, diesen geschnitzten Holzstab, mit dem der Vampirkönig Angel getötet hatte. Giles war zwar von den Auswirkungen seiner Magie benommen, aber als Buffy sich 81
ihm zuwandte und den Pflock erhob, versuchte er sie mit dem Schwert abzublocken. Sie kickte seine Hand zur Seite, mit der er die Waffe umklammert hielt und kam näher. Sein Gesicht veränderte sich, und sie blickte wieder in das Antlitz ihres früheren Wächters. »Buffy«, sagte er sanft. »Bitte...« »Das ist mein persönlicher Saustall«, flüsterte sie. »Zeit zum Ausmisten!« Und dann pfählte sie ihn und sah ihm dabei in die Augen. Seine Asche regnete auf sie hernieder und rieselte zu Boden, und Buffy ließ sich auf die Knie fallen, dort in den Trümmern eines Kampfes, der schon Jahre zuvor begonnen hatte und nun erst ein Ende fand. Sie wusste noch genau, wann alles begonnen hatte. Und eigentlich wusste sie ebenso genau, dass es noch nicht ganz vorbei war. »Buffy?« Das war Willows sanfte Stimme. Die Jägerin ließ den Holzpflock fallen, den sie umklammert hielt, und sah auf in das Gesicht dieser mutigen Frau, dieser Zauberin, die immer weniger an das Mädchen erinnerte, das sie einmal gewesen war. Oz war hinter ihr. Xander nicht. Als sie Willows tränenüberströmtes Gesicht studierte, begriff Buffy auch warum. Und sie fing an zu weinen. Willow kam zu ihr, kniete sich neben sie, und sie hielten sich in den Armen. Oz stand im Türrahmen. Er hatte ganz rote Augen. Ausnahmsweise ließ er sich seine Gefühle einmal anmerken. Nach einer Weile strich Buffy Willow über den Kopf und flüsterte ihr zu: »Ich muss das in Ordnung bringen. Ich muss dafür sorgen, dass das hier verschwindet, und du musst mir helfen. Ich weiß nicht, was es für Konsequenzen haben wird, 82
aber...« »Pssst«, machte Willow nur, nickte ihr zu und versprach zu helfen. Buffy drückte ihre Freundin ganz fest. »Ich muss das in Ordnung bringen«, wiederholte sie.
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6. An dem Tag, als Xander beerdigt wurde, hatte es schon den ganzen Morgen geregnet. Der Himmel hing tief über der Erde; ein durchhängendes graues Wolkendach, das zum Greifen nahe schien. Es drohte jeden Moment einzustürzen und die Erde mit nasser Verzweiflung zu überfluten. Aber es war eine leere Drohung; die Verheerung blieb aus. Da war nur der Regen. Nur der Regen. Buffy und Willow standen während der Grabrede des Priesters nebeneinander. Keine von beiden hatte einen Schirm dabei. Der Regen durchnässte ihnen Haar und Kleidung, und Buffy spürte, wie sie mit den Absätzen in dem aufgeweichten Boden einsank. Ihr war alles egal, sie wischte sich nicht einmal das nasse Haar aus dem Gesicht. Der Regen wusch zwar die Farben aus der Welt und hüllte alles und jeden in graue Schatten, aber Buffy wusste, die Farbe würde wiederkehren. Und noch fester glaubte sie daran, dass dieser Regen letztlich auch die Spuren wegwaschen würde, die Giles, Camazotz und die Kakchiquels in Sunnydale hinterlassen hatten. Dafür war möglicherweise ein ganzes Jahr voller Regenstürme nötig, aber es war ein Anfang. Der Priester war Pater Luis Vargas, ein Militär-Kaplan. Geistliche gab es in Sunnydale keine mehr, aber auch sie würden irgendwann wiederkehren. Die Bundesregierung hatte – nun, da der Rat die schwere Arbeit erledigt hatte – eine Geheimoperation eingeleitet, um die Stadt wieder in Stand zu setzen. Man bot Kaufleuten und Hausbesitzern, die verjagt worden waren und zurückkehren wollten, wie auch allen anderen, die sich wieder in der Stadt ansiedeln wollten, finanzielle Unterstützung an. Vampire wurden zu keinem Zeitpunkt erwähnt. Von Gangs war die Rede. Sunnydale war das unglückliche 84
Opfer eines lang andauernden Bandenkriegs geworden, der die Bürgerschaft in Angst und Schrecken versetzt, die Wirtschaft der Stadt zerstört und viele Bewohner zur Flucht gezwungen hatte. Dieser Bandenkrieg hatte offenbar auch in umliegenden Gemeinden wie zum Beispiel El Suerte Schaden angerichtet. Nun waren, wie berichtet wurde, dank des verdienstvollen Einsatzes der Polizei die Gangs auseinander getrieben und die Anführer inhaftiert worden. Mithilfe von Soldaten wirkte man Plünderungen entgegen, während die einheimische wie auch die Bundespolizei dafür sorgte, die Ordnung in der Stadt wiederherzustellen. Überall waren Soldaten in den Straßen, die den Dank derer annahmen, die in Angst und Schrecken gelebt hatten, aber auch derjenigen, die mit den Vampiren kooperiert hatten. Es waren allerdings Soldaten der Regierung, keine Einsatzkräfte des Rates. Nach all den Verlusten, nach all den Opfern war der Rat nicht einmal in der Lage, die Dankbarkeit derer zu empfangen, die er befreit hatte. Buffy starrte auf den Holzsarg, und ihr lief eine Träne über die Wange, die sich im Regen verlor. »Es ist nicht fair«, flüsterte sie Willow zu. »Er hat so viel gegeben, und niemand wird es je erfahren. Seine Eltern sind nicht mal nach Sunnydale zurückgekehrt. Sie sollten wissen, was er getan hat, und dass er entgegen ihrer Meinung so ein tapferer, guter Kerl war.« Willow nickte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Wir wissen es. Das wird vermutlich genügen müssen.« Der Priester hielt seine Rede, die ewig zu dauern schien, obwohl Buffy fand, dass er sich ziemlich beeilte. Und warum auch nicht! Er war zwar ein Mann der Kirche, aber für ihn war diese Beerdigung nur ein Job. Dies war nicht seine Stadt, und sie waren nicht seine Herde. Pater Vargas versah den Dienst nur aus einem einzigen Grund: Auf diese Weise gelang es der Regierung, die Aufräumarbeiten so unauffällig wie möglich zu 85
gestalten. Eine kurze Gedenkfeier war am Abend zuvor abgehalten worden für alle, die in der Schlacht von Sunnydale gefallen waren und deren sterbliche Überreste zum Begräbnis in ihre Heimat überführt wurden. Miss Haversham hatte die Liste der Namen vorgelesen, und ihre Stimme kippte, als sie bei Pater Christopher Lonergan ankam, und dann noch einmal, als sie den Namen Wesley Wyndam-Pryce vorlas. Giles und Angel standen auch auf dieser Liste. Außer dem Verlesen ihrer Namen blieb nichts von ihnen, kein Grab, keine Gedenkstätte, denn außer ihren Namen und der Erinnerung an ihre Taten war nichts von ihnen übrig. Wesley und Lonergan wurden zu ihren Familien überführt und dort beerdigt, aber von Angel und Giles gab es keine Leichen, die man hätte beerdigen können. Der Priester hob die Hand und machte über Xanders Sarg das Zeichen des Kreuzes. Buffy beobachtete, wie der Regen über das Holz perlte und versuchte, sich nicht vorzustellen, wie Xander zu ihr aufsah. Rechts von dem Priester stand Miss Haversham mit einer Hand voll Ratsvertreter, alle mit schwarzen Schirmen und Trauerkleidung. Links von Buffy, gleich neben Willow, stand Oz und hielt einen Schirm über Anna Kuei. Er sah aus, als wolle er das Mädchen nicht nur vor dem Regen schützen, sondern vor der ganzen Welt. Buffy beobachtete Anna und verspürte tiefes Mitleid für die junge Jägerin. Sie erinnerte sich, wie sie selbst sich gefühlt hatte, als sie in so jungen Jahren herausfand, welches Schicksal ihr bestimmt war. Anna hatte ihren Wächter sterben sehen. Buffy war dabei gewesen, als ihr erster Wächter – Merrick – getötet wurde, und nun war auch Giles tot. Das war so eigentlich nicht vorgesehen. Jägerinnen hatten eine recht niedrige Lebenserwartung, weshalb es in der Regel die Wächter waren, die zurückblieben und trauerten. Anna spürte Buffys Blick, sah zu ihr herüber, und ihre Blicke kreuzten sich. Obwohl das Mädchen weder lächelte noch 86
nickte, spürte Buffy eine Art stummes Einverständnis und den Beginn einer neuen Seelenverwandtschaft. »Das würde ihm ziemlich stinken«, flüsterte ihr Willow zu. Buffy sah sie an. »Was meinst du?« Willow zeigte verstohlen auf den Grabstein, den der Rat hatte aufstellen lassen. Darauf waren sein Geburts- und Todesdatum eingraviert und sein voller Name: Alexander LaVelle Harris. »Alexander«, flüsterte sie. »Das würde ihm stinken.« Da begriff Buffy. »So hat ihn nie jemand genannt.« »Nicht in seinem ganzen Leben«, sagte Willow und ihre Stimme brach. »Außer den Lehrern am ersten Schultag. Es ist einfach nicht richtig. Es ist einfach alles...« Ihre Hände flatterten an ihr Gesicht, als wisse sie nicht, was sie mit ihnen tun sollte, und dann strich sie sich nasse Haarsträhnen aus der Stirn. »Nicht richtig«, wiederholte Buffy. Sie starrte den Priester grimmig an, der seine Rede beendet hatte und sich verabschiedete. Miss Haversham kam zu Anna herüber, redete leise mit dem Mädchen und führte es dann weg. Der grellpinke Schopf der jungen Jägerin war der einzige Farbklecks an diesem grauen Tag. Oz blickte eine ganze Weile auf den Sarg und kam dann zu Willow und bot ihr, ganz Gentleman, seinen Arm an. »Hey«, sagte er und grüßte sie beide mit diesem einen Wort und seinen Augen, die immer am meisten darüber aussagten, was er fühlte. »Hey«, entgegnete Willow leise. Er sah ihr ganz ruhig in die Augen. »Irgendwie fühle ich mich, als wären wir die ganze Zeit in diesem großen Haus gewesen, das aus unseren Leben gebaut ist und aus allem, was wir bisher durchgemacht haben, und plötzlich sind wir aus irgendeinem Grund draußen, und die Tür fällt hinter uns ins Schloss, und wir können nicht zurück.« 87
Ein Schauder durchfuhr Buffy, und sie rieb sich die Arme. Nun spürte sie die Kälte des Regens, der sie bis auf die Haut durchnässt hatte. Sie fragte sich, ob sie jemals von Oz eine so lange Rede gehört hatte. Er war normalerweise immer recht reserviert. Wenn er sprach, dann, um eine trockene Bemerkung zu machen oder um zu trösten, und auf gewisse Weise hatte er nun mit seinen Worten beides getan. Willow verzog das Gesicht, wischte erneut die Tränen fort und schüttelte den Kopf. Die freie Hand legte sie auf ihr Herz. »Aber ich will wieder hinein.« »Können wir aber nicht«, entgegnete Oz. Er zog die Augenbrauen hoch und studierte Willow mit schiefem Kopf. »Ich glaube, die Tür ist nun verschlossen. Aber was soll’s! Es gibt ja noch den ganzen Rest der Welt.« Und dann drehte sich dieser merkwürdige, liebenswerte Mann, den Buffy nun schon so lange kannte und doch nie wirklich gekannt hatte, zu ihr um und verzog die Mundwinkel zu etwas, das einem Lächeln sehr ähnlich war. »Am Ende fing er wieder an, Xander zu sein, als hätte er es zuvor vergessen und wäre von jemandem daran erinnert worden. Wenn mich einer fragt, würde ich sagen, das warst du.« Da wurde Buffy von Trauer überwältigt. Sie brachte kein Wort heraus. Mit einem schmerzerfüllten kleinen Lächeln hakte sie sich auf der anderen Seite bei Willow unter, und dann verließen die drei gemeinsam Xanders Grab. »Wir werden das alles ändern«, sagte Buffy, als sie durch das Friedhofstor traten. »Ich glaube, ich weiß auch schon wie«, entgegnete Willow. Oz gab ein undefinierbares Schnauben von sich. »Ich frage mich, ob wir etwas spüren werden.« Drei Tage später saß Willow an einem großen Eichenschreibtisch, um den sich Bücher und Notizen in ihrer 88
Handschrift stapelten. Obwohl die Morgensonne bereits ihre Strahlen durch die Fenster hinter Willow schickte, war die grüne Schreibtischlampe noch seit der Nacht eingeschaltet. Willow hatte nicht geschlafen. Fast eine Woche war vergangen seit der Rückeroberung Sunnydales und der Ausrottung der Vampire, die das Rathaus besetzt hatten. Bei der Durchsuchung des Gebäudes waren drei Räume voller Bücher im dritten Stock gefunden worden – Giles’ Bibliothek. Aus diesen alten Büchern hatte er all sein Wissen über die Magie, und Willow wusste, wenn sie herausfinden wollte, wie die zwei Seelen in Buffys Körper voneinander zu trennen waren, dann an diesem Ort. Sie hatte noch am selben Abend ihr Lager in dem ersten der Räume aufgeschlagen. Oz und Buffy hatten ihr abwechselnd etwas zu essen gebracht, aber meistens ließ sie es stehen. In den frühen Morgenstunden des Tages, an dem Xander beerdigt worden war, hatte sie das Gefühl, sich allmählich einer Lösung zu nähern. Drei Tage später war sie sicher, dass sie sie gefunden hatte. Sie war vollkommen erschöpft, und sie wollte sich nach den Tagen ohne ausreichende Versorgung mit Schlaf und Essen lieber nicht ihr Gesicht im Spiegel ansehen. Dennoch verspürte sie eine gewisse Aufregung. Sie nahm zwei Bücher vom Tisch, deren Seiten vor Alter schon ganz vergilbt waren und auseinander zu fallen drohten. Zuvor hatte sie sich eine Stunde zum Duschen gestattet – in dem ehemaligen privaten Badezimmer des Bürgermeisters. Sie hatte sich frische Kleider angezogen und fühlte sich gut. Es war kurz nach sieben Uhr morgens, als Willow an Buffys Tür klopfte. Sie wartete ab und klopfte wieder. Beim dritten Mal hörte sie, wie Buffy sich drinnen rührte, und einen Augenblick später öffnete sich die Tür. Bis auf die Bücher auf dem Boden neben der Lampe war der Raum spartanisch eingerichtet, eine einfache Matratze und eine kleine Tasche mit 89
Klamotten waren alles, was Buffy geblieben war. Sie streckte sich in ihrem hellblauen Tanktop und den Pyjamahosen und winkte Willow herein. »Tut mir Leid, dass ich dich geweckt habe«, sagte Willow. »Schon in Ordnung«, entgegnete Buffy. »Ich bin schon längst wach, hab’ mit Anna trainiert. Sie ist wirklich gut.« Während sie redete, wanderte der Blick der Jägerin zu den Büchern in Willows Händen, und dann kreuzten sich ihre Blicke. »Ist es das?« Willow nickte. »Ich bin schon vor ein paar Tagen darauf gekommen, aber ich habe lange dafür gebraucht herauszufinden, was ich mit dem neu gewonnenen Wissen anstelle.« Beide zögerten. Nach einer Weile zuckte Buffy mit den Schultern. »Was hast du gefunden?« Willow kam herein, legte ihre Bücher auf den Tisch und lehnte sich dagegen. »Vieles davon weißt du schon, manches hast du vielleicht geahnt. Manches habe ich ehrlich gesagt auch geahnt, nach alldem, was du mir erzählt hast. Den Rest habe ich mir mithilfe der Bücher zusammengereimt. Also, Camazotz und Zotzilaha waren Gottheiten der Maya, Herrscher der Unterwelt, so was in der Richtung. Manche Gelehrte haben sie miteinander verwechselt, was auch nicht schwer ist, denn sie waren immerhin ein Paar. Mann und Frau, obwohl nicht verheiratet im eigentlichen Sinne. Er war der Gott der Fledermäuse, und sie waren beide mächtiger als bloße Dämonen. Alte Wesen, die seit Anbeginn der Zeit existierten und Kraft gewannen aus der Verehrung durch die Menschen. Die Zerstörung der Maya-Kultur schwächte beide beträchtlich. Jahrelang konnten sie sich auf unserer Ebene nicht einmal manifestieren. Zotzilaha war das egal, aber Camazotz brauchte seine Verehrer. Irgendwie ist es ihm in den späten 90
vierziger oder frühen fünfziger Jahren unserer Zeitrechnung gelungen, ein Portal zu unserer Welt zu öffnen. Zotzilaha wollte nicht mitkommen, aber Camazotz zwang sie dazu. Ihr ging es hier nicht gut. Sie hasste es, auf der Erde zu sein. Schließlich hasste sie auch ihn, so sehr, dass sie ihn eines Nachts angriff und ihm erheblich die Flügel verstümmelte. Camazotz tötete ihre körperliche Hülle, aber ihre Seele konnte ihm entkommen, bevor er sie ebenfalls zerstören konnte. Als Geist – falls eine Gottheit überhaupt ein Geist werden kann – floh sie und suchte nach einem Wirtskörper, der stark genug war, um Camazotz zu entkommen oder ihn sogar zu vernichten. Die Dämonen hatten natürlich schon von der Jägerin gehört. Also zog der Geist von Zotzilaha aus, um dich zu suchen. Sie versteckte sich hinter der Maske der Seherin und benutzte Lucy Hanover, um dich zu warnen, dass du einen Fehler mit furchtbaren Konsequenzen begehst. Als Camazotz Giles nahm, bist du verzweifelt, und sie versprach, dir die Auswirkungen deines Fehlers zu zeigen. Bis hierher stimmt alles noch. Aber dann stellte sich heraus, dass Zotzilaha es nur tat, damit du dich ihr öffnest, damit sie in dein Bewusstsein vordringen und deine Seele aus deinem Körper vertreiben konnte.« Willow holte tief Luft. Es war stickig im Zimmer, und allmählich machte sich ihr Schlafmangel bemerkbar. Sie brauchte dringend ein Glas Wasser. Die verdunkelten Fenster waren eine herbe Erinnerung an die Anwesenheit des Bösen, das dieses Gebäude überfallen hatte, und das gefiel ihr gar nicht. Als Buffy sie erwartungsvoll ansah, sprach Willow eine Zauberformel, um die Fenster wiederherzustellen und die schwarze Farbe von den Scheiben zu entfernen. Dabei löste sich zwar auch die Farbe von den Rahmen, aber Willow fand, das war ein akzeptabler Preis für das Sonnenlicht. »So ungefähr habe ich mir das auch vorgestellt. Aber woher 91
weißt du das über die jüngste Vergangenheit?«, fragte Buffy und wies auf die Bücher. »Über den Streit der beiden hast du ja sicher nichts aus den Büchern vom neunzehnten Jahrhundert erfahren.« Willow lächelte. »Giles war als Vampir zwar böse, aber er hatte immer noch ein paar alte Gewohnheiten. Er hat es alles von Camazotz erfahren und aufgeschrieben.« Ein trauriges Lächeln huschte über Buffys Gesicht. Nach einer Weile trat sie ans Fenster und blickte auf die Straße. »Weißt du, was ich nicht verstehe? Die Seherin – oder wie auch immer sie heißt – hat Recht gehabt. Ihre Prophezeiung stimmte. Okay, statt mir die Zukunft zu zeigen, hat sie meine Seele einfach fünf Jahre vorgespult. Aber um das zu tun, musste sie das auch wirklich voraussehen können. Die Zukunft, meine ich.« »Exakt«, pflichtete ihr Willow bei. Buffy schüttelte den Kopf und sah die Freundin strafend an. »Nein. ›Exakt‹ solltest du nun wirklich nicht sagen. ›Exakt‹ ist ganz schlecht. Du solltest es mir lieber erklären.« »Das hast du doch selbst schon getan. Zotzilaha hatte die Fähigkeit, in die Zukunft zu schauen, Buffy. Sie sah die Zukunft, sah, was kommen würde, und sie zeigte es dir, wie sie versprochen hatte. Aber gleichzeitig benutzte sie eine Formel zur Übertragung, um deine Seele an den Ort zu bewegen, den du vor deinem inneren Auge sahst. Als du mir zuerst davon erzählt hast, habe ich nicht begriffen, wie das möglich sein kann. Ich habe nicht erkannt, wie einfach es eigentlich ist. Wenn sie dir schon die Welt aus der Perspektive deines zukünftigen Ich zeigen konnte, dann war es zu der Formel, die dich genau in diese Zukunft katapultiert, nicht mehr weit. Auf gewisse Weise ähnelt das einer Astralprojektion; sie hat dich nur mit Hilfe der Magie dazu gezwungen, und du hast deinen Körper nicht freiwillig verlassen, um durch das Geisterreich zu wandern.« 92
»Dann hat sie es wissen müssen«, entgegnete Buffy. »Zunächst, in den ersten Tagen, als ich... als ich auf einmal zu zweit war, war es verwirrend. Aber wir haben uns daran gewöhnt, denn obwohl es zwei Seelen in meinem Körper gibt, bin ich immer noch ich. Als die Seherin mich also in die Zukunft geschubst hat, hat sie spüren müssen, dass das ältere Ich auch wirklich ich bin. Dass sie nach all den Jahren nicht mehr meinen Körper als Wirt benutzt. War ihr denn nicht klar, dass sie vernichtet werden würde?« Willow konnte nur mit den Schultern zucken. »Du weißt doch, wie arrogant solche Gottheiten sein können. Vermutlich hat sie deine zukünftige Seele berührt, aber als Grund, warum du in der Zukunft wieder du selbst bist, ist ihr nur eingefallen, dass sie sich wohl in der Zwischenzeit einen anderen Wirtskörper gesucht hat oder wieder in ihre eigene Dimension zurückgekehrt ist. Dass Camazotz sie in der Zwischenzeit umgebracht haben könnte, ist ihr wahrscheinlich niemals in den Sinn gekommen.« Buffy verschränkte die Arme vor der Brust, und ihre Muskeln spannten sich, als sie Willow ansah. Irgendwie brachte sie es fertig, sogar in Schlafanzughosen beeindruckend auszusehen, dachte Willow neidisch. »Kannst du mich zurückbringen?« »Ich glaube, ich kann den Bann brechen«, bestätigte Willow lächelnd. Sie war stolz und hocherfreut, helfen zu können. »Aber das ist nicht das Schwierigste an der Sache.« Argwöhnisch zog Buffy eine Augenbraue hoch. »Was denn?« »Wenn ich den Bann gebrochen habe, trennen sich die beiden Seelen in dir. Du... das Du, das hier bleiben soll, wird hier bleiben. Dein jüngeres Ich wird automatisch zurückversetzt und kehrt in deinen Körper vor fünf Jahren zurück – zu dem Zeitpunkt, als Zotzilaha dich in Gestalt der Seherin in unserem Zimmer aufgesucht hat. Aber wir beide 93
wissen noch, wann das war.« Buffy lehnte sich gegen die Wand. »In der Nacht, bevor ich gefangen genommen wurde«, sagte sie ernst. »Da war Giles schon tot. Und das bedeutet, du musst einen Weg finden, mich noch weiter in die Vergangenheit zurückzuschicken, damit ich erst einmal verhindern kann, dass er getötet wird.« »Ex-akt«, sagte Willow wieder mit Nachdruck und wurde immer aufgeregter. »Und ich glaube, ich weiß auch schon wie. Wir müssen nur den genauen Zeitpunkt wissen. Was immer du für einen Fehler gemacht hast, wir müssen genau an diese Stelle zurück. Und dann müssen wir entweder verhindern, dass du diesen Fehler machst, oder eben die Konsequenzen verhindern. Wir haben über diese Nacht in der Hafenmeisterei gesprochen, als Giles erledigt wurde und du...« Willow brach ab und sah zur Seite. Sie war so erfreut über ihre Entdeckungen, so aufgeregt angesichts der plötzlichen Erkenntnis, dass sie weitergeplappert hatte, ohne an Buffys Gefühle zu denken. Diese Erinnerung, dass sie ihren Wächter dem Tod überlassen hatte und aus diesem Grund auch Tausende andere getötet worden waren, war nun wirklich das Letzte, woran sie denken wollte. Aber Buffy überraschte Willow, indem sie den Gedanken zu Ende führte. »Ich bin weggelaufen«, sagte sie. »Also... vielleicht ist ›weggelaufen‹ nicht so ganz...« »Okay, ich hab’ mich aus dem Fenster gestürzt und einen Haufen Vampire getötet und wäre fast auf der Flucht ertrunken.« Willow errötete. »Ich habe viel darüber nachgedacht, Will«, fügte Buffy hinzu. »Und ich glaube nicht, dass es daran lag. Ich glaube, ich habe den Fehler schon vorher gemacht.« Obwohl die Morgensonne hereinschien und die Wärme sich gut anfühlte, bekam Willow eine Gänsehaut. Sie wartete 94
darauf, dass Buffy fortfuhr, aber die Jägerin kam nur lächelnd auf sie zu und nahm ihr die Bücher ab, die sie mitgebracht hatte, um einen Blick darauf zu werfen. »Ich glaube, ich habe damals gar nicht begriffen, wie glücklich ich war, Leute zu haben, die mich um meiner selbst willen liebten, die Teil meines normalen Buffy-Lebens waren und völlig entschlossen, auch an meinem Jägerinnen-Leben teilzunehmen«, sagte sie. Nach einer Weile sah sie zu Willow auf, und ihr Lächeln war nicht länger fröhlich, als sie der Freundin die beiden Bücher zurückgab. »Die Jägerin sein zu dürfen und solche Fähigkeiten zu haben, halten viele für ein Geschenk. Wie ich es sehe, wurde jedoch jeder Jägerin, die je gelebt hat, diese Last aufgebürdet, auf die sie gar nicht vorbereitet war. Alle kämpften sie ein paar einsame Jahre lang gegen die Mächte der Finsternis, ziemlich allein gelassen bis auf ihre Wächter, und dann starben sie. – Und ich? Ich habe euch. Und ich habe früher nicht begriffen, dass das mein Geschenk ist.« Willow grinste verlegen, und plötzlich war alle Traurigkeit aus Buffys Gesicht verschwunden, gerade so wie die schwarze Farbe auf magische Weise von den Scheiben gewischt worden war, die die Sonne aus dem Raum gesperrt hatte. In diesem Augenblick, in Tanktop und Pyjamahosen, sah Buffy trotz der Zeit, die inzwischen vergangen war, für Willow einmal mehr aus wie die Neue an der High-School von Sunnydale, die so freundlich zu ihr gewesen war. »Was tun wir also jetzt?«, fragte Buffy. »Willst du mit dem Rat sprechen oder so, bevor wir es machen?« »Die werden uns nicht glauben«, entgegnete Willow. »Und, okay, mal angenommen, sie glauben uns – dann werden sie unser Vorhaben dennoch auf keinen Fall bejubeln.« Buffy runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Willow sah ihr in die Augen und fragte sich insgeheim, ob irgendwie beide 95
Buffys dann zu sehen waren. »Und was, bitte, soll ihnen nicht daran gefallen, wenn wir sagen, wir wollen die ganze Armee von Vampiren und die Massenmorde ungeschehen machen?« »Das ist es nicht«, erklärte Willow. »Sieh es mal so: Aus ihrer Perspektive haben sie doch gewonnen. Und was, wenn wir, indem wir in der Zeit zurückgehen, diesen glorreichen Sieg verhindern? Was, wenn du es noch schlimmer machst? Und manche der Ratsmitglieder denken vielleicht ganz egoistisch daran, dass sich ihre Gegenwart vielleicht auf unangenehme Weise verändert, wenn du in die Vergangenheit eingreifst.« Buffy schüttelte den Kopf. »Was könnte denn noch schlimmer sein?« »Sterben. Wenn du die Vergangenheit änderst, sind vielleicht später einige von uns nicht mehr am Leben.« »Das habe ich nicht bedacht«, räumte Buffy ein. »Was tun wir also?« »Nun«, meinte Willow. »Wir könnten eine Befragung der Weltbevölkerung durchführen und herausfinden, ob es den Leuten was ausmacht, wenn du mit der Vergangenheit herumspielst, um Sunnydales kleinen Vampirholocaust zu stoppen. Oder wir könnten es einfach für uns behalten.« »Ich bin für Vorschlag B.« Willow umklammerte die Bücher vor ihrer Brust. »Das dachte ich mir. Komm bitte in einer Stunde in mein Büro!« Kurz nach halb neun ging Buffy den Korridor im dritten Stock des Rathauses entlang. Es wimmelte nur so von Einsatzkräften des Rates und Regierungsangestellten, sowohl Militärs als auch Zivile, die damit beauftragt waren, die Ordnung in Sunnydale wiederherzustellen und die Umstände zu vertuschen, die ihren Einsatz nötig gemacht hatten. Nur ein, zwei Leute erkannten Buffy, als sie an ihnen vorbeiging, aber das war in Ordnung. Sie selbst kannte fast niemanden. 96
Nach einer Dusche hatte sie Jeans, Boots und ein grünes Seidenhemd angezogen, das fast zu vornehm für sie war. Aber das war eigentlich egal. Ihr war in den Sinn gekommen, sich bei Oz und Anna zu verabschieden, hatte dann aber festgestellt, wie überflüssig das war. In ihr wohnten zwei Seelen, und die Buffy, deren Seele in diese Zukunft gehörte, würde nirgendwohin gehen. Wenn es ihr nicht gelang, in die Vergangenheit einzugreifen, änderte sich hier gar nichts. Und wenn es ihr gelang, dann würde keiner davon wissen. Sie kam an die Tür des Büros, das Willow belegt hatte, und klopfte. Der Raum befand sich mittlerweile in einem aufgeräumten Zustand, und die Bücher waren zu beiden Seiten aufgestapelt. Überall flackerten weiße Kerzen, die in dem taghellen Raum seltsam fehl am Platz wirkten. Ein leichter Wind strömte durch die offenen Fenster herein, und die Kerzenflammen zitterten, erloschen aber nicht. Buffy hatte das Gefühl, sie konnten gar nicht ausgehen, nicht einmal in einem Orkan. Willow trug immer noch dieselben zerknautschten Kleider, sah aber trotz ihres Schlafmangels nicht mehr so müde aus. In der letzten Stunde war sie sehr beschäftigt gewesen, und der Schreibtisch, auf dem sich Bücher und Papier gestapelt hatten, war nun leer geräumt bis auf zwei kleine Metalltellerchen mit brennendem Weihrauch und einem kleinen Bündel Zweige, das mit einem roten Band verschnürt war – und mitten auf der Holzplatte lag das mit Gravuren verzierte Schwert, das Buffy in ihrem letzten Gefecht gegen Giles benutzt hatte. »Bin ich zu spät?«, fragte Buffy. »Du kannst gar nicht zu spät sein«, entgegnete Willow mit einem schiefen Lächeln. »Ist ja deine Party!« Eine ganze Weile sahen sich die beiden nur an. Dann stand Willow auf und griff nach dem Schwert. Sie erhob es und winkte Buffy zu sich. »Ich muss dich schneiden.« 97
Buffy zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Nicht, dass ich dir nicht vertraue, aber... warum?« Willow setzte die Schwertspitze auf dem Boden ab. »Seelen sind eine Art Energieform. Und alle Arten von Energie hinterlassen Spuren. Seelen hinterlassen ein Zeichen im Universum, wenn du so willst. Wäre die Zeit sichtbar, würde die Energie jeder Seele eine Spur hinterlassen. Zotzilaha hat dich mit einem Fluch belegt, der deine Seele auf der BuffySeelenschiene vorwärts getrieben hat... Das klingt cool, aber du weißt schon, was ich meine.« Buffy lächelte. »Ich kann dir folgen.« »Der Trick ist, wenn ich den Fluch breche, kannst du nicht auf derselben Schiene zurück, denn dann könntest du nichts verändern. Glücklicherweise bist du aber anders als die anderen. Die Macht einer Jägerin ist eine Urgewalt, eine uralte Kraft, die einer Auserwählten nach der anderen zuteil wird. Die Kraft selbst verschwindet jedoch nie. Wenn eine Jägerin stirbt, existiert die Kraft weiter.« »Sie hat ihre eigene Schiene«, sagte Buffy und begann zu verstehen. Willow hob erneut das Schwert und legte es auf Buffys Schulter. »Du bist echt clever!« Der Wind blies wieder, und die Kerzenflammen tänzelten nervös, ohne zu erlöschen. Willow machte plötzlich ein sehr ernstes Gesicht, aus dem jede Spur von Humor verschwunden war. Die Zeit des Zögerns, auch des Fragenstellens, war vorbei. »Ich werde dich an diese Kraft binden, Buffy«, erklärte sie. »Ich muss dir einen kleinen Schnitt verpassen und dich mit deinem eigenen Blut salben. Mit dem Blut der Jägerin, weißt du? Auch wenn es dein eigenes ist, für den Zweck des Zaubers sollte es funktionieren. Die Formel ist genau genommen nicht dafür... Eigentlich ist sie dafür gedacht, Zauberer durch die Augen ihrer Ahnen blicken zu lassen. Aber sie sollte auch dafür sorgen, dass der Zug der Urkraft der Jägerin stärker ist, 98
als der Sog deiner körperlichen Hülle, wenn du am Ziel der Reise ankommst. Du musst dich also auf den Augenblick in der Vergangenheit konzentrieren, zu dem du zurückkehren willst. Meditiere über ihn mit absoluter Konzentration! Wenn du dann das erledigt hast, was immer du tun musst, um all das hier zu verhindern, erinnerst du dich vielleicht nicht einmal mehr daran. Denn es wird so sein, als wäre es nie geschehen.« Es lief Buffy kalt den Rücken hinunter, als sie Willow ansah. »Ich will aber nicht vergessen«, sagte sie. »Ich glaube, ich muss mich an dies hier erinnern.« Willow zuckte mit den Schultern. »Was soll ich sagen? Ich fungiere hier nur als Reisebüro.« Buffy holte tief Luft. »Wo willst du mich also schneiden?« »Für so was nimmt man gern die Handfläche.« Die Jägerin straffte die Schultern und streckte ihre Hand aus. Willow ergriff sie, hielt sie fest, hob das Schwert und legte es auf Buffys Handfläche. »Konzentrier dich auf diesen bestimmten Augenblick, auf den Zeitpunkt, zu dem du zurückkehren willst«, befahl Willow. Dann fuhr sie mit dem Schwert zwei, drei Zentimeter zurück, und die Klinge schnitt in Buffys Hand. Sie zog die Luft durch die Zähne ein. Willow zuckte zusammen und schaute sie entschuldigend an. »Sieh, wie ich dir sieben Blutstropfen entnehme; Blut, das deine Vorfahren für dich vergossen haben.« Blut strömte in Buffys Handfläche. Willow ließ das Schwert fallen und nahm die Hand der Jägerin. Sie hielt sie fest, tauchte die Fingerspitzen der rechten Hand in das Blut und betupfte damit Buffys Stirn und Wangen, dann ihre Handgelenke. »Öffne deinen Mund«, befahl Willow mit schwacher Stimme. Buffy tat, wie ihr geheißen, und Willow beschmierte auch ihre Lippen und Zähne, sogar ihre Zunge. Der 99
Kupfergeschmack ihres eigenen Blutes war sehr intensiv. »Mit deinem Herzen, dem Blut deiner Ahnen, mit der Quelle deines Geistes und der Stärke all derjenigen, die vor dir waren, binde ich dich an die alte Saat der Ersten unter euch; der Ersten, die den Namen Jägerin trug; und an alle Herzen und Seelen zwischen hier und dort. Nun seid ihr miteinander verbunden, die Macht und die Seele.« Willow machte eine Pause, und für einen Augenblick dachte Buffy, es ginge noch weiter. Dann schlich ein schüchternes Lächeln über die Züge der Zauberin, und sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe es ein wenig umgewandelt, um es den Erfordernissen anzupassen, aber es sollte klappen.« Buffy lächelte. »Es war großartig!« Mit zu Boden gerichteten Fingern begann Willow ihre Hände kreisförmig zu bewegen. Der Rauch der Kerzen und des Weihrauchs schien plötzlich in die Raummitte gezogen zu werden, sammelte sich um Buffy und begann, langsam zu kreisen. »Das war der schwierige Teil«, bemerkte Willow. Sie sah Buffy an, ging an den Tisch und nahm das kleine Bündel Zweige zur Hand. Der Rauch tanzte weiter um Buffy herum, obwohl der Wind, der zu den Fenstern hereinwehte, deutlich zu spüren war. Willow hielt ihr das Bündel hin, und Buffy nahm es. »Wenn ich nicke, mach das Band ab und lass sie fallen«, wies die Zauberin sie an. »Viel Glück!« Buffy spürte die stacheligen Zweige und Kräuter in ihrer Handfläche und die Schnittwunde brannte. Von ihren Fingern tropfte Blut. »Im Namen des Lichts und der Dunkelheit, im Namen der Erde und der Luft, im Namen der Welt und des Schleiers befehle ich dir: Zieh deinen Fluch und deinen Stachel aus diesem Herzen!« 100
Willow sah Buffy eine Weile lang an. Dann nickte sie, und die Jägerin sah auf das Bündel in ihren Händen. Sie zog an dem roten Band, spürte den seidigen Stoff, und es löste sich. Buffy sah, wie die Zweige zu Boden fielen..... und fielen.. Und sie fiel. Doch schon bald war es gar kein Fallen mehr. Buffy hatte eher den Eindruck, als wäre sie tief unten in einem roten pulsierenden Meer und rase mit einem Strom unvorstellbarer Stärke dahin. Aber sie spürte keinen Widerstand, keinen Druck, während sie durch den Ozean getrieben wurde. Sie war kein Eindringling, sondern ein Teil dieser Weite, dieser Leere, dieses Meeres. In der Schwärze um sie herum flackerten Lichter auf. Seelen. Funken und Gedanken und Gefühle. Der Busbahnhof, an dem Willow, Xander, Oz und Anya gegen die Kakchiquels gekämpft und verzweifelt versucht hatten, Buffy zu stoppen. Nein, nicht Buffy, sondern Zotzilaha in Buffys Körper. Da war Camazotz. Und auch die Bestie in Giles’ Körper, das Monster, der Vampir. Der Wächter war bereits tot. Der Gott der Fledermäuse riss den Geist seiner Dämonenbraut aus Buffys Körper... und in der leeren Höhle in ihrem Körper entstand ein Vakuum. Diese Leere zog an ihr und lockte ihr Herz und ihre Seele, an ihren rechtmäßigen Ort zurückzukehren. Nein. Buffy konzentrierte sich auf einen früheren Zeitpunkt. Sie saß in ihrem Zimmer am College und telefonierte mit Oz. Giles hatte sie gebeten, Willow ausfindig zu machen, damit sie eine Beschwörung zur Ortung von Camazotz durchführen konnten. Willow besaß eine Liste der Zutaten, die er dafür brauchte. Aber als Oz ihr sagte, Willow sei gerade nicht da, hatte Buffy nicht weiter nachgefragt. Obwohl sie wusste, dass Giles wütend sein würde, hatte sie die Sache absichtlich nicht weiterverfolgt. 101
Denn in ihrem tiefsten Innern hatte Buffy weder Willows Hilfe gewollt, noch die von Giles oder sonst jemandem. Sie war zu der Überzeugung gelangt, dass es möglich sei, die beiden Leben, die sie führte, voneinander zu trennen. Nicht nur möglich, sondern auch besser. Sie hatte das Gefühl, es verwische die Grenzen, wenn sie ihre Freunde an ihrer Mission beteiligte, und es schmälere ihre Effektivität ah Jägerin, wie auch die Freiheit und den Spaß, die ihr als neunzehnjährige Collegestudentin zustanden. Nun hatte sie erkannt, wie egoistisch und dumm die Idee gewesen war, ihr übriges Leben von ihren Pflichten als Jägerin trennen zu wollen. Aber in diesem Augenblick hatte sie sich von ihren Gefühlen den Verstand vernebeln lassen. Zwischen ihr und Willow hatte es zuvor ein dummes Missverständnis gegeben, und die Stimmung war sehr angespannt gewesen. Willow hatte sie gemieden, und in diesem einen, kurzen Moment hatte Buffy sich gestattet, kleinlich zu sein, und hatte Willow meiden wollen. Und sie hatte sich von so einer kleinen Missstimmung davon abhalten lassen, Willow um Hilfe zu bitten. Das war also der Augenblick gewesen! Buffy spürte, wie sie ihm näher kam, diesem Moment, als sie in ihrem Zimmer gesessen hatte und mit Oz telefonierte; dieser Moment, in dem sie den Fehler machen würde... den Fehler, der zu Giles’ Gefangennahme und schließlich zu seinem Tod geführt hatte und zu den anderen Gräueln der Zukunft, die sie gerade erlebt hatte. Sie wollte nach diesem Moment greifen, sich wieder mit sich selbst vereinen, um alles zu ändern und zu verhindern, was sonst kommen sollte. Buffy konzentrierte sich. Aber da begannen die Bilder plötzlich in der Leere ringsum zu verschwimmen, und für einen Zeitraum, der ewig schien, jedoch ebenso gut nur eine Sekunde gedauert haben mochte, 102
roch sie das Meer und hörte das Läuten einer entfernten Heulboje. Sie sah die Hafenmeisterei. Camazotz schaute zu, wie der Vampir Giles in seinen Klauen hielt, um ihm das Leben zu nehmen. Einen Augenblick später würde sie durch das Fenster springen und fliehen, und Giles würde dahingerafft werden, um unter den Zähnen eines der Handlanger des Fledermausgottes zu sterben. Das musste sie verhindern! Instinktiv streckte Buffy die ganze Seele aus. Aber dies war nicht der richtige Augenblick. Sie wusste es. Wenn sie hier stoppte, wiederholten sich nur dieselben Ereignisse. Wenn sie sich Camazotz ergab, starb sie ebenso sicher wie Giles. Nur indem sie floh und überlebte, hatte sie eine Chance, ihn zu retten und zu sehen, was die Zukunft dann bringen würde. Buffy wich zurück und versuchte weiterzusegeln und einen anderen Moment zu ergreifen, nämlich den, als sie mit Oz telefoniert hatte, Stunden früher an demselben Abend. Aber ihre Konzentration war dahin. Jede Faser ihrer Seele schrie alarmiert auf, als sie an der bestimmten Stunde, an dem Tag, dem Jahr vorbeiraste... In einem Augenblick, der ihr wie eine Ewigkeit vorkam, griff Buffy in den Äther, in die schwarz-rote Leere und versuchte, ihr eigenes Fleisch zu fassen, den Körper der Jägerin. Ein wahrer Bilderhagel prasselte auf sie hernieder, und in diesem ewigen Augenblick hatte sie das Gefühl, mit den Augen einer jeden Jägerin sehen zu können, die je gelebt hatte. Dämonenarmeen marschierten über eine eisige Tundra. Dörfer brannten. Unvorstellbar grauenhafte Wesen starben unter ihrem Schwert, ihrem Pflock, ihrem Knüppel, ihren bloßen Händen. Männer in Umhängen hielten die Magie umklammert. Frauen in viktorianischer Kleidung lagen blutend in den Straßen. Die Morgendämmerung zog über dem alten Rom auf, und Dunkelheit fiel über die Französische Revolution. 103
Sie war alle in einem einzigen Augenblick. Sie hasste ihre Feinde und liebte ihre Gefährten, sie spürte ihre Schmerzen und teilte ihr Glück, und mit jedem Augenpaar sah sie Vampirzähne, Vampirgesichter und Staubwolken. Fast drohte das Erlebnis sie innerlich zu zerreißen und ihre Seele in den Äonen zu verteilen, diesen tausenden Jahren der Jägerinnen. Nein!, dachte sie, und das Echo hallte Millionen Tage lang, unendliche Augenblicke. Ich bin die Jägerin! Augenblick für Augenblick, Leben für Leben, hangelte sie sich entlang – in einem Moment oder einem Sekundenbruchteil oder einer ganzen Ewigkeit. Von ganzem Herzen und mit der Kraft ihrer Seele griff sie nach der Rettungsleine, der Urkraft der Jägerin, und sie fand sich selbst wieder, griff hinauf in die Zeit und sah mit ihren eigenen Augen den Moment, als sie ihren ersten Wächter Merrick kennen lernte. Den Augenblick, als er starb. Den Augenblick, als sie Angel begegnete und die Nacht, in der sie sich geliebt hatten. All die Augenblicke, in denen sie mit Xander gelacht und mit Willow geweint hatte, und die vielen Gelegenheiten, zu denen dies ihr ohne große Worte seine Stärke und sein Vertrauen geschenkt hatte. Und dann war sie da, in ihrem Zimmer. Als Geist blickte sie auf sich selbst herab, auf Buffy Summers am Telefon, die mit Oz redete und dabei war, einen schrecklichen Fehler zu begehen. Sie streckte die Hand nach ihrem Gesicht aus, um endlich wieder Ordnung zu schaffen und sich mit ihrem eigenen Körper zu vereinen. Sie prallte ab. Buffy konnte nicht hinein. Willow hatte zwar den Bann gebrochen, den Zotzilaha gesprochen hatte, aber die Beschwörung hatte erst später stattgefunden. Und nun – weiter zurück in der Zeit, konnte Buffy nicht in ihren Körper gelangen, denn in ihm wohnte ja bereits eine Seele. Sie konnte nur zusehen, wie Buffy... die Buffy aus Fleisch und 104
Blut... sich verabschiedete und den Hörer auflegte. Der Augenblick war vergangen. Es war vorbei. Sie war verloren. Und dann rief plötzlich aus dem Nebel um sie herum, der teilweise ihr Zimmer war und teilweise immer noch die unendliche Leere, eine Stimme ihren Namen. Langsam fügten sich die Nebelschwaden zu einem vertrauten Gesicht zusammen, das Zuneigung verriet, aber auch tiefe Sorge. »Lucy!«, rief Buffy. Vor langer Zeit war dieser Geist selbst einmal eine Jägerin gewesen. Nach ihrem Tod war sie auf den Geisterstraßen gewandelt, auf denen die Seelen zu ihrer letztendlichen Bestimmung reisten. Lucy war ihnen eine Führerin, eine Laterne, die den Verirrten den Weg wies. »Wie ist das nur möglich?«, fragte der Geist von Lucy Hanover. Und Buffy, die froh war, nicht länger allein zu sein, erklärte es ihr.
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7. Willow saß bei Oz, der mit mehreren Jungs ein Haus gleich neben dem Collegecampus bewohnte, und war heftig darum bemüht, den Käse nicht von dem Pizzastück laufen zu lassen, das sie in den Händen hielt. Lange Fäden spannten sich zwischen ihrem Mund und der Pizza. Als es ihr endlich gelang, sie abzubeißen, rutschte der restliche Käse fast vollständig von dem Stück, und sie musste ihn mit der freien Hand hochziehen und wieder darauf legen. Als sie erneut einen Bissen nahm, merkte sie, wie Oz sie beobachtete. Er zog die Augenbrauen zusammen und machte ein neugieriges und gleichzeitig belustigtes Gesicht. »Du könntest es zusammenklappen«, schlug er vor. Willow sah, dass er selbst genau das gemacht hatte. »Ich lebe gefährlich«, entgegnete sie. »Schlage alle Warnungen in den Wind. Das Zusammenklappen von Pizzastücken aus Gründen der eigenen Sicherheit ist verabscheuungswürdig.« Oz nahm einen Schluck von dem Grapefrucht-Soda, das Willow ihm mitgebracht hatte, und zeigte dann mit der Dose auf sie. »Und da ist auch ein dicker Stapel Servietten.« »Stimmt«, pflichtete sie ihm bei und nahm sich eine. »Aber... auch wenn keine Servietten da sind, würde ich mich dem Drang widersetzen, die Pizza zusammenzuklappen.« Oz nickte. Er war eindeutig beeindruckt. »Leben ohne Netz und doppelten Boden.« »So bin ich eben«, erklärte Willow zufrieden. Sie nahm sich ihr Pizzastück und biss hinein. Das war genau das, was Willow brauchte – einfach ein bisschen Zeit mit ihrem Freund. Buffy war ihre beste Freundin und ihre Mitbewohnerin, aber sie wirkte in letzter Zeit sehr angespannt, und Willow hatte das Gefühl, von ihr 106
zurückgewiesen zu werden. Das machte sie traurig und ein wenig wütend zugleich, und mit Oz rumzuhängen und Pizza zu essen war genau die richtige Therapie. In einer Ecke des – für ein Jungenzimmer überraschend ordentlichen – Raumes standen Oz’ Gitarre und der Verstärker. »Spielst du mir, wenn wir fertig gegessen haben, den neuen Song vor, an dem du gerade arbeitest?«, fragte sie zwischen zwei Bissen. »Eher ein Riff als ein Song, aber wenn du darauf bestehst...« »Das tue ich.« »Buffy hat angerufen, als du draußen warst.« Überrascht legte Willow das Stück Pizza weg und wischte sich die Hände mit einer Serviette ab. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?« »Ich wollte deine Schlemmerei nicht stören. Sie arbeitet mit Giles an dieser Camazotz-Sache und wollte dich fragen, ob du ein bisschen recherchieren könntest. Schiffe, die in Sunnydale angelegt haben, Güterverzeichnisse und so weiter.« Sofort begannen in Willows Kopf die Rädchen zu rattern. »Hat sie gesagt, wie schnell sie die Informationen braucht? Wenn es ihnen hilft, Camazotz ausfindig zu machen, ist es bestimmt wichtig.« »Mag sein. Hat sie nicht gesagt.« Willow nahm einen Schluck Soda und überlegte. Nachdem sich Buffy in letzter Zeit sehr zurückhaltend gegeben hatte – sie hatte alles allein machen wollen – kam ihre Bitte um Hilfe nun überraschend. Also musste es wichtig sein, schlussfolgerte Willow. »Ich sollte sie zurückrufen.« Aber als sie es tat, bekam sie Buffy nicht an den Apparat. Da sie angerufen hatte, als Willow Pizza holen war, konnte es nicht länger als zwanzig, dreißig Minuten her sein. Besorgnis stieg in Willow auf, als der Anrufbeantworter ansprang, und sie legte auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Eine Weile 107
starrte sie nur auf das Telefon, dann nahm sie den Hörer erneut ab und wählte Giles’ Nummer. Plötzlich drang ein Quietschen aus dem Verstärker in der Ecke. Willow zuckte bei diesem Angriff auf ihr Trommelfell zusammen und sah zu dem Gerät. Seltsamerweise brannte das rote Lämpchen neben dem ON-Schalter nicht. Verwirrt sah Willow Oz an, der gleichermaßen verblüfft schien. Er stand auf und ging zu dem Verstärker – und Willow musste auflegen und neu wählen, da sie mittlerweile den Faden verloren hatte. Das Licht im Raum wurde plötzlich dunkler, als versiege die Stromzufuhr. Aus den Augenwinkeln nahm Willow eine Bewegung wahr. Am anderen Ende der Leitung begann das Telefon zu klingeln. Sie drehte sich um und da, mitten im Raum, gerade über der Pizzaschachtel und dem Abfall ihres kleinen Picknicks auf dem Teppich, schwebte der Geist von Lucy Hanover in der Luft, und ihre durchsichtige, schimmernde Gestalt leuchtete ätherisch. Willow legte wieder auf. Das ernste Gesicht des Geistes ließ sie erschaudern. »Ich wusste gar nicht, dass wir noch Besuch bekommen«, meinte Oz ruhig. »Lucy?«, fragte Willow. »Was ist los?« »Guten Abend, Freundin Willow«, fing der Geist an. »Ich bedaure die Störung, aber die Zeit ist knapp, und ich habe hier jemanden, der dringend mit dir sprechen muss.« Willow wollte Lucy gerade fragen, wovon sie überhaupt redete, da bemerkte sie, dass sich eine weitere Gestalt im Dämmerlicht formte. Willow hielt gespannt die Luft an. Wer mochte der zweite Geist sein? Er nahm neben Lucy Gestalt an, und noch bevor die Züge dieses Geistes deutlicher zutage traten, spürte Willow in ihrem tiefsten Innern eine dunkle Vorahnung, und sie schüttelte den Kopf. »Nein...«, flüsterte sie. »Das kann nicht sein. Du... du kannst nicht...« 108
Oz trat zu ihr und legte ihr einen Arm um die Taille. Willow war ihm dankbar dafür, denn sie befürchtete, ohnmächtig zu werden. »Willow«, sagte der Neuankömmling, und die Stimme raschelte wie der Wind in den Bäumen. Es war Buffy. Willow war plötzlich eiskalt, und sie fühlte sich innerlich ganz leer. »Bitte, nein! Buffy, sag mir, dass du nicht...« »Es ist nicht so, wie du denkst, Will«, sagte der Geist. Ein seltsam blechernes, knisterndes Echo kam aus dem nicht eingeschalteten Verstärker in der Ecke. »Ich bin ich... sozusagen... aber ich habe einen großen Fehler gemacht, und nun droht alles den Bach runterzugehen. Ich brauche deine Hilfe, um das zu verhindern.« »Ich verstehe nicht.« »Als ich anrief, sollte ich dich eigentlich bitten, mich und Giles zu treffen, um eine Beschwörung zur Ortung von Camazotz durchzuführen... Du solltest die Zutaten besorgen, aber ich...« Buffys Erscheinung wurde immer aufgeregter. »Sieh mal, ich erkläre dir das alles später, aber jetzt musst du erst mal Xander und Anya anrufen. Sie sind bei Giles. Hol sie ab und komm mit ihnen zur Hafenmeisterei in Docktown. Und bringt Waffen mit! Schwere Waffen. Die Kakchiquels sind stärker und schneller als durchschnittliche Vampire, und es werden viele sein. Ein paar Molotow-Cocktails könnten auch nicht schaden.« Willows Herz raste. Sie sah Oz an. »Ich übernehme die Mollis«, sagte er nur. »Wir werden da sein«, versicherte Willow der Phantomversion ihrer besten Freundin, die in ihrem Erscheinungsbild dem Geist von Lucy Hanover beunruhigend ähnelte. Es fiel ihr sehr schwer, den Gedanken abzuschütteln, dass es sich bei beiden um Geister handelte und Buffy eigentlich tot sein müsste. »Ist wirklich alles in Ordnung mit 109
dir?« »Wenn ihr mir zu Hilfe kommt, ja«, sagte Buffy mit dieser merkwürdigen Stimme. »Aber ihr müsst euch beeilen, oder es wird genauso wie beim letzten Mal.« Willow runzelte die Stirn. »Beim letzten Mal?« »Da ist Giles gestorben«, erklärte die Jägerin. »Und das war erst der Anfang.« Das pulsierende Meer am Rot und Schwarz war nun einer neuen Leere gewichen, einem grauen, wirbelnden formlosen Nebel. Dieser Ort war Buffy vertraut. In diesen Gefilden war sie früher einmal gereist, nicht als Geist, sondern in ihrem Körper. Sie befand sich auf den Geisterstraßen. Silhouetten flimmerten durch das sie umgebende Nichts, und von überall riefen leise Stimmen, manche verzweifelt und manche voller Verwunderung. Lucy ging durch den Nebel voran, und Buffy folgte ihr so schnell wie möglich. Sie beeilte sich, obwohl sie wusste, dass das Gehen in diesem Geisterreich eine rein subjektive Empfindung war. »Bleib bitte bei mir«, sagte der Geist der toten Jägerin. »Wir können es uns nicht leisten, dass du dich verirrst, wenn wir die Ereignisse verhindern sollen, die du mir geschildert hast.« Sie streckte eine ätherische Hand nach hinten. Buffy ergriff sie, und dann liefen sie Seite an Seite. Die Reise jagte ihr eiskalte Schauer über den Rücken. Obwohl alle Seelen die Zeit nach dem körperlichen Tod unterschiedlich erlebten, wanderten doch viele von ihnen auf diesen Pfaden, und einige verirrten sich. Den Glücklichen unter ihnen wies Lucy den Weg. »Wie du berichtet hast, habe ich offenbar auch eine Rolle dabei gespielt, als Zotzilaha dich ausgetrickst hat«, fuhr Lucy fort. »Dafür entschuldige ich mich.« »Für etwas, das du niemals tun würdest?«, entgegnete Buffy und versuchte die Gestalten zu ignorieren, die durch das Grau 110
schlitterten. »Ist schon vergessen! Wenn du es schaffst, mich wieder zurück in meinen Körper zu bringen, sind wir quitt.« Lucy, deren bleiches Antlitz von dunklen Haaren umrahmt war, drehte sich zu ihr um und lächelte. »Das wird letztlich nicht mein Verdienst sein, Buffy. Ich kann dir zwar dabei helfen, deinem körperlichen Ich gegenüberzutreten, aber dann wird es deine Aufgabe sein, deinen Körper davon zu überzeugen, dich hineinzulassen. Auch Zotzilaha brauchte ja deine innere Zustimmung, um deine Seele berühren zu können.« Bevor Buffy eine Antwort fand, teilte sich der Nebel, und die Welt nahm wieder Farbe an. Alles schien zweidimensional, falsch und dünn, wie der gemalte Hintergrundprospekt in einem alten Spielfilm. Eine Straße in Docktown, vielleicht einen Block von der Hafenmeisterei entfernt. Irgendwo bellte ein Hund, und unterschwellig war das Tosen der Brandung zu hören. Giles’ in die Jahre gekommener Citroën parkte nur ein paar Meter weiter. Obwohl es dunkel war, sah Buffy sich selbst auf dem Beifahrersitz hocken. »Komm mit«, sagte Lucy und ging zu dem Wagen. Buffy folgte dem Geist, und je näher sie kam, desto deutlicher konnte sie sich selbst sehen. Es war ein komisches Gefühl, sich selbst so von außen zu betrachten – als stehe die Welt Kopf. Ihre Seele bebte, und sie sehnte sich nach der Sicherheit ihres eigenen Körpers; der Sicherheit, mit ihren eigenen Augen zu sehen. Nun war sie nah genug, um den Gesichtsausdruck der im Wagen sitzenden Buffy zu erkennen, gelangweilt und frustriert, und sie überlegte offenbar gerade, warum Giles sich so lange vor der Hafenmeisterei herumdrückte. Giles. Sie drehte sich um und blickte die Straße hinunter zu dem kleinen Gebäude, in dem nur ein Licht brannte. Auf der Treppe davor stand Giles, die Arme hatte er ungeduldig vor der Brust verschränkt. Ihn lebendig und wohlauf zu sehen, 111
versetzte Buffy in große Aufregung, aber sie wusste, es war keine Zeit zu verlieren. Jeden Augenblick konnte der Hafenmeister Giles in sein Büro zerren, in dem Camazotz bereits wartete. Lucy ging durch das Auto hindurch, als wäre es gar nicht da, aber Buffy zögerte. Sie konnte es nicht fassen, dass so etwas möglich war. Sie war zwar nun ein Geist, und ihre neunzehnjährige Seele war befreit von den Beschränkungen des Körpers, aber das war schwer vorstellbar. Lucy packte sie jedoch einfach am Ärmel und zog sie hinter sich her in den Wagen, und dann saß sie auch schon auf dem Rücksitz des Citroën und blickte sich selbst auf den Hinterkopf. »Buffy«, sagte Lucy mit klarer, strenger Stimme. Gleichzeitig wandten sich die körperliche und die ätherische Buffy dem Geist zu. Auf dem Beifahrersitz riss Buffy alarmiert die Augen auf und beruhigte sich dann sichtlich, als sie sah, dass Lucy Hanover hinter ihr saß. Dann wanderte ihr Blick nach rechts, und sie sah sich selbst. Buffy erkannte den Schock und die dämmernde Erkenntnis in ihren eigenen Augen. »Und wer bist du?«, fragte die Buffy aus Fleisch und Blut forsch. Ihr geistiges Ich erkannte allerdings, wie verunsichert sie war. Niemandem sonst wäre das natürlich aufgefallen, aber sie selbst kannte sich natürlich sehr gut. »Der Weihnachtsmann«, entgegnete sie. »Lucy sagte mir... sie sagte dir... dass etwas Schreckliches geschehen wird und es dein Fehler sein wird. Das ist wahr, aber ich kann es verhindern, wenn du mich lässt.« Auf dem Vordersitz kniff Buffy die Augen zusammen. »Wie denn?« »Vertrau mir!« Einen Augenblick lang befürchtete sie, es würde nicht funktionieren. Dann hätte sie all die Anstrengungen vergeblich unternommen. Wenn Buffy es bezweifelte, wenn sie es für eine 112
Art dämonische List hielt, war die Sache gelaufen. Aber als Buffy eine Geisterhand ausstreckte, um ihr eigenes Gesicht zu berühren, sah sie wieder dieses Verstehen in ihren eigenen Augen, und sie wusste, diesmal würde sie nichts daran hindern, in ihren Körper zu gelangen. Ihre Finger drangen in ihre Haut ein. Und erneut verschmolzen im Körper der Jägerin zwei Seelen zu einer. Die Erinnerungen an die Tage, die vor ihr lagen, und die albtraumhafte Zukunft, in der sie eine Weile gelebt hatte, stießen mit dem Bewusstsein einer Buffy zusammen, für die all diese Dinge vollkommen fremd waren. Vollkommen verwirrt sank sie stöhnend auf dem Beifahrersitz zusammen und spürte das raue Polster an ihrer Wange. Sekunden vergingen, aber nicht mehr. Sie konzentrierte ihren Blick auf die Einstellskala des Radios, dann setzte sie sich auf. Das Gefühl, auf einmal zwei Seelen zu haben, verunsicherte Buffy, aber da wenigstens ein Teil von ihr das bereits einmal erlebt hatte, war es nicht ganz so schwierig. Vom Rücksitz aus beobachtete sie der Geist von Lucy Hanover neugierig, der in dem dunklen Wagen weniger durchsichtig erschien. »Alles in Ordnung?« »Das wird sich noch herausstellen«, erklärte Buffy. »Kümmere dich bitte darum, dass Willow und die anderen auf dem schnellsten Wege herkommen.« Und dann war der Geist verschwunden. Buffy beugte sich vor und spähte durch die Windschutzscheibe zur Hafenmeisterei. Giles stand immer noch vor der Tür; gerade klopfte er noch einmal an. Buffy riss die Wagentür auf und sprang heraus. Sie ließ sie offen stehen und sprintete auf Giles zu. Sie wollte ihm gerade eine Warnung zurufen, als die Tür der Hafenmeisterei aufflog und eine Hand herausschoss, um Giles in das Büro zu ziehen. Fluchend beschleunigte Buffy. Ihr saß das Wissen im 113
Nacken, wie die Situation ausgehen würde. Auf dem Wasser ertönte die Glocke einer Heulboje, und sie befürchtete, es würde ihr nicht gelingen, den Augenblick entscheidend zu verändern. Bisher war jeder Schritt genauso wie beim ersten Mal eingetreten. Mit dem einzigen Unterschied, dass sie nun wusste, was sich hinter der Tür verbarg und wie viele Kakchiquels in den Schatten rings um das Gebäude lauerten und sich bereitmachten, es zu umzingeln. Und einen weiteren Unterschied gab es, dachte Buffy. Hilfe war schon unterwegs, und diesmal waren die anderen besser auf das vorbereitet, was sie erwartete. Xander saß hinten in Oz’ Van auf dem Boden und hielt die Kiste mit den Molotow-Cocktails fest, als sie um eine Kurve schleuderten. Glas klapperte in der Kiste, und er zuckte zusammen. »Gibt es einen Grund dafür, dass ausgerechnet ich die Sprengkörper zwischen den Beinen stehen habe?«, fragte er empört. Willow saß neben Oz auf dem Beifahrersitz und drehte sich zu Xander um, wobei sie sich mit einer Hand am Armaturenbrett abstützte, als der Van im Eiltempo schlitternd eine weitere Kurve nahm. »Sie gehen ja nur dann hoch, wenn du sie anzündest und wirfst«, versuchte sie Xander zu beruhigen. »Das weiß ich«, entgegnete der. »Aber trotzdem nicht gerade das schönste Gefühl auf der Welt.« Niemand reagierte, denn alle waren innerlich sehr angespannt. Kein Wunder! Xander fand die ganze Geschichte von dem Buffy-Mysterium, die Willow ihm erzählt hatte, ziemlich verwirrend, aber er hatte schon Seltsameres erlebt, seit die Jägerin nach Sunnydale gekommen war. Ihm bereitete viel mehr Sorgen, wie verzweifelt Willow und Oz Buffys Bitte, sich zu beeilen, nachkamen. Das gefiel ihm überhaupt nicht. Er sah sich hinten in dem Van um, mit dem Oz oftmals die Ausrüstung seiner Band durch die Gegend karrte. Nun war das 114
Fahrzeug voll geladen mit Waffen. Keine riesigen Hämmer allerdings, und keine Holzpflöcke. Offenbar kam es darauf an, den Kakchiquels effektiv zu Leibe zu rücken, ohne ihnen jedoch zu nahe zu kommen. Es gab zwei Armbrüste, eine antike und eine modernere Version, ein langes Schwert, eine Streitaxt und ein Krummschwert mit gebogener Klinge. Wenn diese Kerle so schnell waren, wie Buffy gesagt hatte, würden die Armbrüste nur einmal Verwendung finden, und dann würde das Ganze wirklich eklig werden. Anya saß ihm mit besorgtem Gesicht gegenüber. Er liebte sie, aber er hatte sie eigentlich nicht mitnehmen wollen. »Wir haben doch das Feuerzeug dabei, oder?«, fragte Willow unvermittelt. Xander geriet einen Augenblick in Panik, bevor Anya stolz das silberne Feuerzeug aus der Tasche zog, es aufklappte und anmachte. Die Flamme war hoch und stark und nur ein paar Zentimeter von den Mollis entfernt. Xander wollte gerade protestieren, als sie es auch schon wieder zuklappte. »Ich bin eine große Hilfe«, erklärte sie. »Ist das nicht aufregend!« »Oh ja«, entgegnete Xander. Er warf einen Blick auf die Kiste mit den Schnapsflaschen zwischen seinen Beinen. Oz hatte die Molotow-Cocktails von dem Vorrat hergestellt, den er und seine Mitbewohner herumstehen hatten. Und der musste ganz beträchtlich sein, denn er hatte offenbar genug Flaschen mit Hochprozentigem auswählen können, ohne die die kleinen Feuerbomben nicht funktionieren würden. Dann hatte er ein altes Bowlinghemd zerrissen und Stoffstreifen in die Flaschenhälse gesteckt. Gute Arbeit, fand Xander. Zwölf Flaschen. Er fragte sich, wie viele Vampire sie wohl erwarten würden. Als plötzlich der Geist in dem Van auftauchte, schrie er alarmiert auf. Er stand direkt zwischen ihm und Anya, und doch konnte er seine Freundin noch durch die durchscheinende 115
Gestalt der toten Jägerin sehen. »Es hat schon begonnen«, sagte Lucy Hanover. »Ihr müsst euch beeilen.« Zu Xanders großem Missfallen beschleunigte Oz tatsächlich. Sie bogen um eine weitere Kurve und fuhren dann über die gerade Straße mitten durch Docktown auf das Meer zu. Am Ende der Straße lag die Hafenmeisterei. Die Nähe des Geistes des toten Mädchens bereitete Xander zwar Unbehagen, aber die kritische Situation, die vor ihnen lag, hatte Priorität. Xander stellte die Kiste mit den Mollis zur Seite und beugte sich nach vorn zu Oz und Willow. »Keine Cops, keine Cops, keine Cops!«, skandierte er. Und es waren auch keine Cops im Hafen. Am Ende der Straße, wo das Meer begann, war alles dunkel, aber Xander erspähte Giles’ Wagen auf der linken Seite, als sie näher kamen. Und dahinter... »Buffy!«, rief Willow. »Sie ist gerade in das Büro gegangen.« Xander jedoch hatte gar nicht die Hafenmeisterei im Visier. Seine Aufmerksamkeit galt den Schatten zu beiden Seiten des kleinen Häuschens. Von überall tauchten Kakchiquels auf, ihre Augen leuchteten orangefarben in der Dunkelheit, aber dank der dunklen Tattoos waren ihre Gesichter kaum zu erkennen. Sie schlichen um das Gebäude und versammelten sich in einem Halbkreis vor der Tür. »Und da sind auch schon die restlichen Partygäste«, bemerkte Xander. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, flüsterte der Geist. Xander fröstelte, aber als er sich zu ihr umdrehte, war Lucy bereits verschwunden. »Armbrüste!«, rief Willow von vorn. Xander schnappte sich die beiden Waffen, vergewisserte sich, dass genügend Bolzen geladen waren, und reichte sie Willow. Sie hielt eine in jeder Hand, als Oz den Van direkt auf 116
das Gebäude zusteuerte. »Anya!« Xander schob ihr mit den Beinen die Kiste mit den Molotow-Cocktails zu. »Bereite dich darauf vor, ein paar anzuzünden. Wir müssen die Vampire ein bisschen anlocken, damit sie sich um uns scharen.« »Das wird wohl nicht schwer sein«, meinte Oz nur. Dann legte er eine Hand auf die Hupe. »Jetzt informieren wir Buffy über unsere Ankunft.« Der Motor heulte auf, die Hupe hallte durch die Nacht, und alle Vampire drehten sich zu dem Wagen um. Oz hielt stramm auf sie zu und mähte zwei von ihnen direkt nieder. Xander hoffte, dass sie sich ordentlich was gebrochen hatten, damit es eine Weile dauerte, bis die Verletzungen heilten – wenigstens so lange, bis der Kampf vorbei war. Willow reichte Oz eine Armbrust, nachdem er angehalten hatte, und sie feuerten gemeinsam durch die offenen Fenster. Xander hörte einen Triumphschrei von Willow und wusste, die beiden hatten getroffen. Zwei Kakchiquels gingen in Staub auf. Rasch kurbelten Oz und Willow vorn die Fenster hoch, denn die Vampire fingen an, von allen Seiten auf den Van einzudreschen. Das Blech der rückwärtigen Türen verbog sich und quietschte, aber das Schloss hielt. Xander hielt Anya zwei Molotow-Cocktails hin, und sie zündete die alkoholgetränkten Hemdstreifen an, die aus den Flaschenhälsen hingen. Sobald sie wie Fackeln aufloderten, reichte er ihr eine Flasche und rutschte nach hinten. »Anya, Tür!«, befahl er. »Oz, ich brauche gleich ein bisschen Platz.« Oz legte den Gang ein. »Verstanden.« Xander spannte den ganzen Körper an und hob die Beine. »Aufmachen!« Sofort zog Anya den Hebel hoch. Die Kakchiquels waren offenbar so versessen darauf, den Wagen kurz und klein zu schlagen, dass sie nicht sofort reagierten. Die Türen öffneten 117
sich, und Xander trat mit ganzer Kraft zu. Als die beiden Flügel aufsprangen, schlugen sie mehrere Vampire aus dem Weg. Gleichzeitig mit Anya schleuderte Xander die brennenden Flaschen in die Menge hinter dem Van, und die Vampire brüllten vor Schmerz, als die Molotow-Cocktails explodierten und sich brennender Alkohol über sie ergoss. Vier von ihnen standen sofort in Flammen, ihre Kleider und Haare fingen Feuer. Indem sie sich auf den Boden warfen und herumwälzten, versperrten sie den anderen den Weg und behinderten sie beim Angriff. Das Beifahrerfenster zersplitterte, und Hände versuchten, nach Willow zu greifen. Xander brauchte Oz nicht dazu auffordern, schnell loszufahren. Der Van schoss vorwärts, rollte zehn Meter und blieb dann abrupt wieder stehen. Xander reichte Oz die Streitaxt und Willow das Krummschwert. Das lange Schwert nahm er selbst, obwohl er nur wenig Erfahrung im Umgang mit dieser Waffe hatte. Die rückwärtigen Türen standen offen, aber nach dem, was ihren Kameraden widerfahren war, zögerten die Vampire erst einmal. Als Willow und Oz mit den Waffen im Anschlag ausstiegen, sprang Xander hinten aus dem Wagen. Anya folgte ihm und zog die Kiste mit den Mollis bis an die Kante vor. Sie holte eine Flasche heraus und zündete sie an, als die Vampire ihren Angriff starteten. Anya warf die Flasche, und ein weiterer Kakchiquel brannte. Oz und Willow gingen Seite an Seite mit Xander und hackten auf die Monster ein. Xander beobachtete, wie ein Vampir mit fettigen Haaren seine Krallen über Oz’ Schulter zog und dieser vor Schmerz aufstöhnte. Bevor er ihm zu Hilfe eilen konnte, war Willow da und hieb dem Vampir mit dem Krummschwert den Kopf ab. Mollis zerplatzten ringsum, und die Vampire gingen in Flammen auf und explodierten zu Staubwolken. Xander schlug zwar einige von ihnen nieder, sie zu töten 118
gelang ihm jedoch nicht, und er fluchte über seinen ungeschickten Umgang mit dem Schwert. Aber er hatte sie kampfunfähig gemacht. Und das war erst mal das Wichtigste. Eine Hand packte ihn von hinten an der Schulter, und Finger gruben sich in sein Fleisch. Xander riss sich los, wirbelte herum und diesmal traf er richtig. Knochen und Muskeln knirschten, aber die Klinge ging nicht ganz durch das Genick des Vampirs. Blassoranges Licht flackerte in seinen Augen. Obwohl Xander so einen Vampir schon einmal gesehen hatte, bekam er beim Anblick des Fledermaus-Tattoos in seinem Gesicht immer noch weiche Knie. Und dann verwandelte sich der Kakchiquel in Staub. Xander hatte ihm zwar nicht ganz den Kopf abgetrennt, aber es hatte offenbar genügt. »Und da sagt man, dicht dran nützt nur beim HufeisenWerfen und bei Handgranaten«, spottete er. Hinter ihm schrie Anya auf. Als er sich umdrehte, griffen gerade zwei Kakchiquels nach ihr. Einer von ihnen war eine Frau mit olivfarbener Haut, kurz geschnittenen Haaren und mörderischen Beinen in Lederhosen. Der andere war ein drahtiger Kerl mit Pferdeschwanz. Die Frau riss Anya den angezündeten Molotow-Cocktail aus der Hand. Xander eilte seiner Freundin zu Hilfe, aber er wusste, er kam zu spät. Vor seinem geistigen Auge sah er bereits, wie Anya das Genick gebrochen wurde. Da trat die Vampirin ihrem Gefährten unvermittelt in die Eingeweide, er stolperte rückwärts, und sie warf den Molli auf ihn. Er entzündete sich sofort, und der Vampir versuchte, das Feuer auf seiner Brust auszuklopfen, als auch sein Pferdeschwanz wie eine Fackel aufloderte. Er rannte los, als könne er dem Feuer entkommen, und explodierte dann zu einem wahren Ascheregen. »Was zum...«, begann Xander und die Vampirin in 119
Lederhosen lächelte ihn an. »Ich sagte doch, ich versuche zu helfen«, sagte die Kakchiquel, und da erkannte er sie erst an ihrer unheimlichen Stimme wieder. Anya wollte die Vampirin schon angreifen, aber Xander hielt sie zurück. »Nein!«, rief er. »Das ist Lucy Hanover.« »Wie geht das denn?«, fragte Anya. »Keine Ahnung, aber sie kommt ganz gelegen.« Alle drei wandten sie sich wieder dem Kampf zu. Flammen loderten auf, und Klingen fuhren hernieder, und Vampire starben, und plötzlich wurde Xander gewahr, dass sie im Begriff waren zu gewinnen. Die Hafenmeisterei bot ein Bild der Verwüstung. Der riesige Eichenschreibtisch in der Ecke war übersät mit Akten und Papieren. Neben einem Telefon, dessen Kabel aus der Wand gerissen war, lag eine zerbrochene Lampe auf dem Boden. Beides war offenbar vom Tisch geworfen worden. Ein altes, gerahmtes Bild von einem Schoner, der kurz davor war, neben einem Leuchtturm auf einen Felsen aufzulaufen, hing fast verkehrt herum an der Wand. Das Bücherregal war umgekippt. Zwei schwache Lampen brannten, aber das Licht reichte aus, damit Buffy die schreckliche Szene mitbekam, die sich vor ihr abspielte. Exakt dieselbe Situation hatte sie schon einmal erlebt. Exakt dieselbe. Giles lag in dem schmalen Flur, der in einen anderen Raum der Meisterei führte. Seine Hosenbeine waren zerrissen, und Blut sickerte durch den Stoff und färbte ihn rot. Er versuchte, sich aufzusetzen, schüttelte verwirrt den Kopf, sah sich mit glasigen Augen um und blinzelte mehrmals. Sein Gesicht wies zahlreiche Beulen und Schnitte auf, Blut rann ihm aus dem Mundwinkel und tropfte am Kinn herunter. Der Hafenmeister beugte sich über ihn und packte ihn am 120
Hemdkragen. Mit der anderen Hand griff der graubärtige Vampir nach Giles’ Hals und knurrte Buffy an. Exakt dieselbe Situation. Aber da hörte Buffy plötzlich draußen lautes Gehupe und quietschende Reifen, und sie wusste, ihre Freunde waren gekommen. Sie war nicht allein. »Lass ihn gehen«, verlangte sie. Der Vampir lachte heiser. »Und wenn nicht? Wirst du mich dann töten? Und wenn ich ihn freilasse, was dann? Lässt du mich dann gehen? Wir sind nicht so dumm, wie du vielleicht glaubst!« Worte, die sie schon kannte. Ächzend hievte die Kreatur Giles hoch, drehte ihn um und hielt seine Geisel wie einen Schutzschild vor sich. »Buffy... du musst gehen...«, krächzte Giles. Und schon rammte der Vampir seine Stirn in Giles’ Hinterkopf. Der Aufprall war laut, Knochen krachten und zersplitterten. Buffy erschauderte, und das Verlangen aufzugeben überkam sie. Diesen Augenblick hatte sie vergessen, dieses Geräusch. Giles verdrehte die Augen und erschlaffte in den starken Händen des Vampirs. Jetzt!, dachte Buffy. Sie hielt ihren Blick auf Giles und den Hafenmeister gerichtet, während sie sich nach rechts von der Tür weg bewegte. Augenblicke später erschien eine Furcht erregende Silhouette im Türrahmen. Dieser Camazotz war nur ein schwacher Abklatsch jener aufgequollenen, Mitleid erregenden Bestie, die Buffy in der Zukunft wieder getroffen hatte. Mit nacktem Oberkörper und lauerndem Blick kauerte die Kreatur vor ihr. Aus seinem Rücken ragten zerfetzte, knochige Flügel, und auf seiner Brust klaffte eine riesige Narbe, in deren Mitte eine offene Wunde prangte, die nur halb verheilt zu sein schien. Buffy hatte das zuvor nicht verstanden, aber nun wusste sie, dass die Wunde 121
von den an ihm saugenden Kakchiquels verursacht wurde. Sie hatte fast vergessen, wie er bei ihrer ersten Begegnung ausgesehen hatte, bevor ihn der Verstand verließ. Sein Haar war schwarz und bestand aus einer einzigen verfilzten Masse, ebenso wie sein langer Bart. Er hatte eine kurze hässliche Schnauze und feuchte Schlitze als Nüstern, und seine kalkige grünlich-weiße Haut war über und über mit Pockennarben bedeckt. Die Stirn lag in tiefen Furchen, ähnlich wie bei einem Vampir. Aus dem Maul ragten Reihen von Zähnen, die wie Eiszapfen aussahen, und seine Finger waren länger und dünner als die eines Menschen und so weiß wie die Hände eines Skeletts. Seine Augen strahlten orangefarben. »Willkommen zur Party, Camazotz«, sagte Buffy freundlich. Sie stand mit dem Rücken zur Wand, um den Dämonengott und den Vampir, der Giles’ Leben in seinen Händen hielt, gleichzeitig im Auge zu behalten. Das Monster runzelte angesichts ihrer vertrauten Ansprache die Stirn. »Du kennst mich?« »Besser als du glaubst.« Die kümmerlichen Flügel auf seinem Rücken flatterten und knisterten. Camazotz kniff die funkelnden Augen zusammen. »Diese Kinder da draußen sind wohl Freunde von dir, was? Sie werden sterben, ist dir das klar?« Natürlich hatte er beim Hereinkommen Willow, Xander und die anderen gegen die Kakchiquels kämpfen sehen. Und vermutlich unterschätzte er sie. Sie waren ja nur Menschen und jung dazu. »Ich glaube eher, sie werden dich überraschen«, meinte Buffy. Sicherheitshalber behielt sie die ganze Zeit über den Hafenmeister im Auge. Camazotz bemerkte das. »Der Mann bedeutet dir etwas«, stellte der Dämonengott fest und zeigte auf Giles. »Ist er dein Wächter?« 122
Dieselben Worte. Seine Stimme klang belegt, wie in Treibsand gefangen. Buffys Blick wanderte zu Giles, der immer noch bewusstlos war, und wieder zurück zu Camazotz. »Nein, nicht mein Wächter. Ein Freund«, erwiderte sie. Sie wog den Holzpflock in der rechten Hand und richtete die Spitze auf Camazotz. Obwohl sie nicht dazu beitragen wollte, dass die Szene sich wiederholte, musste sie ihn einfach provozieren. »Du bist also der Gott der Fledermäuse, hm? Wenn du deinem Namen alle Ehre machen willst – und das nehmen wir doch mal an – dann sind das aber ziemlich erbärmliche Flügel!« Camazotz zuckte zusammen. »Tut bestimmt weh, oder?« Mit ihrem Pflock wies sie auf seinen Rücken. »Da hat dich aber jemand ganz schön in die Mangel genommen. Kannst du damit überhaupt noch fliegen?« Camazotz verlor die Beherrschung, und ein primitives Knurren kam über seine Lippen. Seine Augen glühten und funkelten. »Ich wusste, dass ich dich töten muss, wenn ich den Höllenschlund erreichen will, du Miststück. Ich bin bereit. Meine Kakchiquels sind von mir persönlich verwandelt und aufgezogen worden. Sie fürchten dich nicht, Mädchen, denn sie haben noch nie von dir gehört. Sie werden dich allesamt ohne zu zögern angreifen – ganz einfach, weil sie nicht wissen, was eine Jägerin ist.« »Ja, ja, das hab’ ich alles schon einmal gehört«, entgegnete sie patzig und festigte ihren Griff um den Holzpflock. Sie sah ihn unverwandt an, und ihr Schweigen schien die Luft mit knisternder Energie aufzuladen. Dann lächelte sie. Vielleicht gelang es ihr nicht, ihn zu einem Angriff auf sie zu provozieren, aber sie musste es einfach probieren. »Dann mal los, du Krüppel!« 123
Der Körper der alten Kreatur wogte förmlich vor Wut. Er erbebte, seine Nüstern zitterten, dann fletschte er die langen, scharfen Zähne und erhob sich zu seiner vollen Größe, um sich auf sie zu stürzen. Camazotz lächelte. Buffy seufzte leise. Sie betete innerlich, dass die kleinen Veränderungen, die sie an diesem Abend bewirkt hatte, genügten, um ihr den dringend nötigen kleinen Zeitvorteil zu verschaffen. »Du willst mich tatsächlich zu einem direkten Zweikampf herausfordern, und du glaubst, du kannst mich besiegen und deinen... Freund retten«, sagte Camazotz ungläubig. »Und vielleicht würde es dir sogar gelingen, Jägerin. Vielleicht. Aber ich...« »Bin schon lange genug auf Erden gewandelt, bevor der menschliche Bazillus... Bla bla bla. Ich erinnere mich. Mach schnell weiter!« Camazotz starrte sie an. Es brachte ihn offensichtlich ziemlich aus der Fassung, dass sie ihm die Worte buchstäblich aus dem Mund nahm. Seine Brust hob und senkte sich schwer, während er sie taxierte. Dann wies er auf den Hafenmeister. »Wenn sie mir nicht auf der Stelle gehorcht, tötest du ihn. Trinkst ihn!« Camazotz leckte sich über die Zähne und glotzte Buffy an. Jede Spur von Humor war nun aus seinem scheußlichen Antlitz gewichen. »Lass den Pflock fallen! Auf die Knie! Kriech zu meinen Füßen!«
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8. Auf die Knie! Kriech zu meinen Füßen! Da war es. Derselbe Augenblick, dieselbe Situation. Und während die Sekunden auf diese Worte zugetickt waren, auf diesen Augenblick, hatte Buffy hin und her überlegt, die Situation analysiert und versucht zu erkennen, an welcher Stelle sie etwas hätte anders machen können. Wäre sie nicht in das Büro eingebrochen, wäre Giles schon tot. Hätte sie den Hafenmeister angegriffen, wäre Giles vermutlich auch schon tot. Und wenn sie Camazotz angegriffen hätte, als er hereinkam, hätte der Hafenmeister Giles sofort getötet. Und nun... Wenn sie sich Camazotz’ Befehl beugte, würden sie und Giles beide getötet werden. Wenn sie ihn angriff, würde Giles verwundet, wahrscheinlich getötet werden, bevor sie ihm zu Hilfe eilen könnte. Und mittlerweile wusste sie auch, dass sie nur sich selbst rettete, wenn sie floh. Camazotz hielt Giles noch am Leben, um sie manipulieren zu können, aber da sie diesen Abend schon einmal erlebt hatte, war ihr bereits bekannt, dass Giles sich nach ihrer Flucht in eine noch schrecklichere Kreatur verwandeln würde als der Gott der Fledermäuse. Buffy wollte sich nicht wirklich ergeben, aber sie musste ein bisschen Zeit schinden und darauf hoffen, dass ihre Freunde ihr zu Hilfe kamen. Sie musste einfach auf sie vertrauen. Im Würgegriff des alten Vampirs stöhnte Giles leise und erlangte allmählich wieder das Bewusstsein. Camazotz starrte Buffy an, als wolle er sie zum Angreifen provozieren. Als sie auf dem Holzboden vor ihm auf die Knie fiel, verzog sich sein grauenhaftes, monströses Gesicht zu einem Grinsen, das einmal mehr die nadelspitzen Zähne in seinem Maul enthüllte. Ein dünner Speichelfaden lief in den verfilzten Bart an seinem Kinn. 125
»Und jetzt krieche!«, höhnte der Dämonengott. Buffy sah zu ihm auf. Ihr Herz klopfte in einem schnellen, ungleichmäßigen Rhythmus, und sie hielt die Luft an. Sekunden verstrichen, und die magische Energie, die in Camazotz’ Augen aufglomm, schien immer heller zu leuchten, je wütender er wurde. »Krieche!« Buffy wollte nicht kriechen. Sie legte den Pflock erst einmal ab, betete aber, ihn später noch benutzen zu können. Widerwillig begann sie, auf Camazotz zuzukrabbeln. Aus dem Augenwinkel sah Buffy, wie sein Lakai, der Hafenmeister, seinen Griff um Giles lockerte. »Buffy, nein...«, murmelte Giles schwach. Der Gott der Fledermäuse fing an zu lachen. Von der offenen Tür schwang plötzlich die Klinge eines Krummschwerts auf seinen Hals zu. Im letzten Moment spürte oder hörte er den Angriff, drehte sich um, und die gebogene Klinge versank in seiner Brust. Willow hatte die Augen weit aufgerissen – vor Angst und von der eigenen Tat schockiert – und versuchte, die Klinge wieder aus Camazotz’ Körper herauszuziehen, aber sie steckte fest. Der Dämonengott schrie vor Wut laut auf und schüttelte sie ab. Willow stolperte zwei Schritte rückwärts. Der weißhaarige Vampir starrte mit offenem Mund auf das Schauspiel. Taumelnd versuchte sein Meister, sich das Krummschwert aus der Brust zu ziehen. Buffy schnappte sich den Pflock vom Boden und sprang beherzt auf ihn zu. Giles sah sie kommen und wollte sich wegducken, aber der Vampir hielt ihn fest. Im letzten Augenblick sah der Hafenmeister zu Buffy auf, aber da hatte sie ihn auch schon. Mit einem gezielten Tritt brach sie ihm einen Arm, und Giles gelang es, sich zu befreien. Er war ziemlich wackelig auf den Beinen. Der Hafenmeister sah sie erschüttert an, als sie ihn am Hals packte und ihm den Holzpflock ins Herz rammte. Er löste sich 126
in eine Staubwolke auf, als Buffy sich wegdrehte. Sie sah gerade noch, wie Camazotz das Krummschwert aus seiner Brust riss. Brüllend stürzte der Dämonengott auf Willow zu. »Hey!«, rief Buffy. Als Camazotz sich zu ihr umdrehte, zögerte er. Die Wunde, die Willow ihm zugefügt hatte, machte ihm offenbar zu schaffen. »Wo waren wir?«, fragte Buffy. »Ach ja, du wolltest kriechen, nicht wahr?« Der Gott der Fledermäuse sah sie hasserfüllt an, und Buffy erschauderte. Aber das Flackern der dämonischen Energie in seinen Augen war trüber geworden. Er war aus dem Gleichgewicht, angeschlagen und legte offenbar keinen Wert darauf, sich ernsthaft mit der Jägerin anzulegen. »So war das aber nicht gedacht«, murmelte Camazotz. Buffy ging auf ihn zu. »Du bist das Letzte!« Da drehte sich Camazotz plötzlich um, und sie und Willow sahen überrascht zu, wie er mit neuerlicher Stärke auf den Schreibtisch sprang, durch das Fenster krachte und nach draußen auf die Straße sprang. »Nein!«, schrie Buffy und lief zum Fenster. Aber als sie in die dunkle Gasse vor dem Gebäude blickte, waren da nur Glasscherben und Teile des Fensterrahmens. Camazotz war verschwunden. »Ich muss sagen«, ließ sich Giles schwach vernehmen und trat hinter sie, »für einen Augenblick glaubte ich...« Buffy drehte sich kopfschüttelnd zu ihm um und lächelte ihn an. Giles hatte lange Kratzer auf Gesicht und Nacken, einen kleinen Schnitt an der Stirn, der etwas geblutet hatte, und er zog die Luft durch die Zähne ein, als sie vorsichtig die Stelle an seinem Hinterkopf betastete, wo ihn der Hafenmeister getroffen hatte. »Sie sind ganz schön ramponiert«, stellte Buffy fest. »Allerdings. Wirklich nicht sehr komisch«, entgegnete Giles 127
müde. Er sah sich um. »Hast du meine Brille irgendwo gesehen?« Sie lag ein paar Meter vor ihm auf dem Boden. Buffy hob sie auf und reichte sie ihm. »Buffy! Draußen!«, schrie Willow plötzlich. Gemeinsam rannten sie zur Tür. Zu ihrer großen Überraschung standen Xander, Oz und Anya oben an der Straße an dem Van und schauten erstaunt den sechs oder sieben Kakchiquels hinterher, die in der Dunkelheit davonliefen. Xander nahm die Jagd auf. Er hatte am ganzen Körper blaue Flecken und war völlig blutverschmiert. »Kommt schon!«, rief er. »Ist doch nur ein kleiner Piekser!« Aber nach ein paar Schritten ging ihm die Puste aus, und er beugte sich vor, stemmte die Hände auf die Knie und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. »Kommt zurück und kämpft, ihr feigen Gelbhäute!«, krächzte er. »Gelbhäute?«, fragte Oz. Xander zuckte mit den Schultern. »Ist so’n John-WayneDing.« Buffy stützte Giles, als sie gemeinsam mit Willow die Treppe hinunterstiegen. Auf der Straße versammelten sich die anderen um sie. Anya warf ihre Arme um Xander und küsste ihn leidenschaftlich, bis er zusammenzuckte und vorsichtig seine Rippen abtastete. »Camazotz ist entkommen«, vermeldete Willow. »Na, das ist ja großartig«, entgegnete Anya. »Und dafür haben wir uns so beeilt. Xander und ich hatten nicht mal Zeit, Giles’ Bett zu machen. Wir sind hierher gerast, haben unser Leben aufs Spiel gesetzt, all diesen Alkohol für Mollis verschwendet, und jetzt habt ihr ihn entkommen lassen!« »Nun ja, ›lassen‹ ist vielleicht etwas unglücklich ausgedrückt«, brachte Willow zu ihrer Verteidigung hervor. Anya verschränkte die Arme vor der Brust und sah die 128
anderen ernst an. »Allerdings ist Willows Timing unübertrefflich. Wahrscheinlich hat sie mir und Giles das Leben gerettet – falls das jemanden interessiert«, erklärte Buffy. Aber Giles hörte gar nicht richtig hin. Er starrte Anya nur völlig verdutzt an. »Was ist mit meinem Bett?« »Also!«, lenkte Xander ab. »Wie machen wir diesen Kerl jetzt ausfindig?« »Ich glaube«, entgegnete Buffy, »ich kenne genau die richtige Person, die wir fragen müssen. Aber dazu brauchen wir Lucys Hilfe.« »Oh, sie war großartig!«, berichtete Willow aufgeregt. »Sie ist in einen der Vampire geschlüpft, in dieses trashige Mädel in Lederhosen, und hat uns geholfen.« Sie sah sich um. »Wo ist sie überhaupt hin?« Xander und Anya schauten Oz erwartungsvoll an. Er stand da mit den Händen in den Taschen und zog die Augenbrauen hoch, als habe er nun wirklich keine Ahnung, warum die anderen ihn alle ansahen. »Oz?«, fragte Giles. »Er hat sie gepfählt«, erklärte Xander. »Du hast sie getötet?«, fragte Willow erschreckt. Oz zuckte mit den Schultern. »War keine Absicht. Und es tut mir natürlich Leid, aber so viel ich weiß, sind Geister sowieso ziemlich tot.« »Ja, schon, aber trotzdem...« Buffy fröstelte und schaute ihre Freunde der Reihe nach an. Ohne sie hätte sie es nicht geschafft, diese Nacht ein zweites Mal zu überleben. Was hätte sie nur ohne sie getan? Aber noch war die Nacht nicht vorbei. »Kommt!«, rief sie und marschierte auf Giles’ Auto zu. »Wir haben noch was zu erledigen.« Giles lag auf der Couch und sah sich in seiner Wohnung um. Sie war ihm noch nie so klein vorgekommen. Die Uhr an der Wand tickte laut, und sein Blick wanderte immer wieder zu ihr. 129
Es war viertel nach zwölf in der Nacht, und er glaubte, Buffy und ihre Freunde noch nie so ruhig gesehen zu haben. Die Stille machte einen fast glauben, der Kampf mit Camazotz sei vorbei. Aber die letzte Schlacht musste noch geschlagen werden. Sie waren anderthalb Stunden zuvor heimgekehrt und hatten eine ganze Weile gebraucht, um ihre Wunden zu versorgen. Oz hatte einen tiefen Kratzer auf dem Rücken, der vielleicht genäht werden musste. Giles hatte seine eigenen Blessuren mit Alkohol desinfiziert und sich sehr zusammenreißen müssen, um dabei nicht zu laut zu wimmern. Von dem ersten Angriff des Hafenmeisters würde er wahrscheinlich eine kleine Narbe an der Stirn zurückbehalten, aber das war keine große Sache. Alle hatten sich Prellungen und Wunden zugezogen, die ihnen noch tagelang zu schaffen machen würden, aber ernstlich verletzt war zum Glück niemand. Xander und Anya hatten sich auf dem Boden aneinander gekuschelt. Besser hier als in meinem Bett, dachte Giles. Xander schnarchte ganz leise. Willow und Oz saßen am Tisch und durchforsteten einige Bücher, um die Bestätigung dafür zu finden, dass die geplante Beschwörung kraftvoll genug für ihre Zwecke war. Aber eine hundertprozentige Sicherheit gab es nicht. Buffy hatte im ganzen Zimmer Kerzen aufgestellt. Weil nicht genügend weiße da waren, hatte sie mit einer kleinen Schachtel Geburtstagskerzen improvisieren müssen. Nun ging die Jägerin schweigend mit dem silbernen Feuerzeug, das Anya ihr gegeben hatte, von Kerze zu Kerze und zündete sie an. Mit dem Hemdzipfel putzte Giles die Gläser seiner Ersatzbrille – die andere war kaputt – und setzte sie auf. Er trat zu Buffy, als sie die letzte Kerze angezündet hatte. Sie drehte sich zu ihm um, und ihre Augen leuchteten auf. Ihre offen gezeigte Zuneigung wärmte ihm das Herz, aber irgendwie kam ihm die Sache auch merkwürdig vor, denn Buffy benahm sich, 130
als hätte sie ihn monatelang nicht gesehen. »Du verschweigst mir doch eine Menge«, sagte er leise zu ihr. Buffy nickte. »Eine ganze Menge.« »Du wirkst so verändert.« »Älter?« Merkwürdig, dachte Giles. »Eigentlich wollte ich sagen, du bist wieder wie früher. Dein Verhalten heute Abend... Also, du wirkst so ungeduldig und unbesonnen.« Die Jägerin zog nur die Augenbrauen hoch. »Ja. Sind Sie fertig?« Giles war frustriert und wollte sich nicht so abfertigen lassen. »Woher weißt du all das? Über Zotzilaha und Camazotz? Glaubst du allen Ernstes, Willow ist in der Lage, innerhalb von ein paar Stunden die gesamte Alchemie zu begreifen? Wie kannst du so überzeugt davon sein, dass man Camazotz tatsächlich mit einer goldenen Waffe töten kann?« Sein Mund klappte erneut auf, aber Giles verstummte. Ihm war sein Ausbruch peinlich. Traurigkeit glitt über Buffys Züge, aber nur für einen kurzen Augenblick. »Sie müssen mir einfach vertrauen. Und an Willow glauben.« Ihre Worte verwirrten ihn. »Das tue ich doch. Ich vertraue euch beiden. Aber Alchemie? Bestimmt gibt es einen anderen, einfacheren Weg, etwas Gold aufzutreiben, das wir gegen Camazotz verwenden können.« Buffy zog eine Augenbraue hoch. »Haben Sie hier zufällig einen goldenen Dolch?« »Also, nein, aber...« »Sollen Willow und ich etwa unseren Müttern die Schmuckschatullen stehlen oder irgendwo bei einem Juwelier einbrechen?« »Natürlich nicht! Aber wenn wir genug Gold zusammenkriegen, das wir schmelzen können, um einen Dolch 131
einfach nur damit zu umhüllen – oder einen Holzpflock –, dann brauchen wir gar keine Waffe, die ganz aus Gold ist.« »Wir wissen ja gar nicht, ob es mit einer Waffe, die nicht ganz aus Gold ist, funktioniert, aber nehmen wir mal an, es wäre so. Bei welcher Temperatur schmilzt Gold denn?« Giles blickte zu Boden. »Bei 1064 Grad Celsius.« »Und kennen Sie irgendwo in der Nähe vielleicht eine Gießerei, wo wir mal eben an den Hochofen dürfen? Jetzt sofort?« »Nein, ganz gewiss nicht. Aber sieh es mal mit meinen Augen, Buffy. In all den Jahren, die ich mich nun schon mit dem Übernatürlichen beschäftige, ist mir noch nie jemand begegnet, der mit Erfolg ein alchemistisches Verfahren durchgeführt hat.« »Das überrascht mich nicht«, entgegnete Buffy. »Aber ich weiß, dass Willow es kann.« Die Jägerin lächelte sanft, und die Schatten der flackernden Kerzen tanzten über ihr Gesicht. Giles glaubte, sie noch nie so müde gesehen zu haben. Buffy drehte sich um und klatschte in die Hände. Xander und Anya setzten sich auf, und Willow und Oz sahen sie erwartungsvoll an. »Also, dann wollen wir mal die MayaGottheiten aus Sunnydale vertreiben, damit wir endlich ins Bett kommen! Und später muss ich mir noch überlegen, wie ich Professor Blaylock davon überzeuge, mich nicht durchfallen zu lassen. Willow, sind wir bereit?« Die junge Hexe nickte. »Giles hat alles da, was wir für die Beschwörung brauchen. Ich kann es nicht versprechen, aber ich glaube, für diese dreckige hellsehende Lügnerin wird es wohl genügen.« »Sie kanalisiert ihren Zorn«, ergänzte Oz. »Und wir sind alle dankbar«, sagte Buffy ernst. »Falls Lucy nicht zu verstimmt ist, nachdem du sie gepfählt hast, könnte es vielleicht sogar funktionieren.« 132
Wieder einmal hatte Buffy das Gefühl, alles wiederhole sich, obwohl die Umstände nicht exakt dieselben waren. Sie saßen in Giles’ Apartment, und es war Nacht. Und vor allem war diesmal Giles bei ihnen, gesund und wohlauf, bis auf ein paar Kratzer und Beulen am Kopf. Er hatte einen harten Schädel, ihr Wächter. Er hatte schon zahlreiche Schädeltraumata überlebt. Ihre Freunde waren alle tougher, als sie ihnen zugestanden hatte. Und sie waren alle da und am Leben. Giles. Xander. Anya. Irgendwo lag Faith immer noch im Koma. Und in Los Angeles... Angel. Was auch immer das Schicksal bereithalten mochte, die Zukunft lag vor ihnen. Und für den Augenblick hatte Buffy das Unglück abgewendet, das ihnen allen gedroht hatte, der ganzen Welt. Sie hatte ihre Freunde wieder. Aber es gab noch viel zu tun. Die Kerzen, die sie im Kreis aufgestellt hatte, brannten mit weißorangenen Flammen, die in einem Wind, der von nirgendwo zu kommen schien, flackerten. Buffy und Willow saßen sich an Giles’ Tisch gegenüber. Xander, Anya, Oz und Giles verteilten sich zwischen ihnen und schlossen den Kreis. Es war eine recht schluderige Seance oder Beschwörung oder wie auch immer man es nennen wollte, aber sie hatten keine Zeit, sich über Feinheiten den Kopf zu zerbrechen. Buffy wollte die Sache noch in dieser Nacht zu Ende bringen. »Klärt euer Bewusstsein!«, forderte Willow die anderen auf. Ihre Stimme erschien Buffy nun anders, tiefer, überzeugter. Rasch begriff sie, dass es bereits die Stimme der älteren Willow war, der zukünftigen Zauberin, die souverän und würdevoll mit ihrer Autorität und der Magie umzugehen verstand. Willow schlug die Augen auf und sah Buffy strafend an. »Ich sagte: Klärt euer Bewusstsein!« »Oh«, machte Buffy verlegen. »Sorry!« Dieselben Worte, aber nicht mehr dieselbe Situation. Nun hatte Buffy die Vergangenheit verändert und damit auch auf 133
die Zukunft eingewirkt, aber sie wollte nicht ruhen, bis Camazotz endgültig vernichtet war. Erst dann war es für sie wirklich vorbei. Mit geschlossenen Augen holte Buffy nun tief Luft, behielt sie kurz in den Lungen und ließ sie dann wieder entweichen, als wäre es ihr letzter Atemzug. Diese meditative Reinigungstechnik hatte Giles ihr bereits im zweiten HighSchool-Jahr beigebracht. Und sie funktionierte. »Mit Hoffnung, Licht und Mitgefühl öffnen wir all denjenigen unsere Herzen, die zwischen den Welten wandern und meine Bitte hören, uns in dieser dunklen Stunde zu Hilfe zu kommen«, begann Willow und sprach dabei ganz langsam. Buffy wurde links von Xander und rechts von Oz an den Händen berührt. Es war, als schaffe Willow mit der ihr angeborenen Kraft, dem Frieden und den geheimnisvollen Eigenschaften in ihrem Herzen und ihrer Seele, die sie für das Übersinnliche empfänglich machte, eine Art elektrische Ladung, die alle erfasste. Ein Stromkreis gutartiger Magie sozusagen, ein Leuchtfeuer für die Seelen, zu denen Willow nun sprach. »Geister des Äthers, hört meine Stimme auf den Pfaden der Toten, flüstert meine Botschaft jeder verlorenen Seele und jedem Wanderer zu«, fuhr Willow fort und senkte ihre Stimme. »Ich brauche dringend den Rat von Lucy Hanover, die einst Jägerin war und euch nun euren Weg auf der Reise zwischen den Welten weist.« Nach einer halben Minute Schweigen sprach Willow weiter, und diesmal flüsterte sie. »Lucy, tragen dir die Verlorenen meine Stimme zu?« Die Antwort kam unmittelbar. »Das hat wehgetan!« Buffy öffnete die Augen, die anderen ebenfalls. Da war Lucy Hanover, schwebte mitten über dem Tisch und sah Oz giftig an. 134
Oz schaute leicht verdrossen zur Seite. »Sorry!« Die Kerzen im Raum flackerten, und die Schatten tanzten – an den Wänden und durch den Geist hindurch. Einige Teile ihrer nebligen Gestalt erschienen transparenter als andere. Die in der Regel so reservierte Lucy lächelte. »Es sei dir vergeben. Ist schließlich in der Hitze des Gefechts mit all diesen Vampiren passiert. Um ehrlich zu sein, tat es nicht über die Maßen weh. Ich habe diese Kreatur eher beherrscht, nicht in ihr gelebt.« Buffy verspürte Mitleid mit Lucy. Sie war selbst eine ganze Weile ohne Körper gewesen, eine verlorene Seele auf gewisse Weise, aber sie hatte immerhin einen Körper, in den sie zurückkehren konnte. Sie vermochte sich nicht vorzustellen, wie es war, wirklich tot zu sein. »Nochmals guten Abend, Willow«, sagte Lucy. »Es freut mich, dich unverletzt zu sehen.« Dann richtete der Geist die dunklen Augen auf Buffy. »Und auch wir sehen uns wieder, Jägerin. Ich glaube, ich weiß, warum du mich noch einmal gerufen hast. Ich soll die Seherin hierher bringen, sie in die Irre führen und dir helfen, sie in die Falle zu locken.« »Wenn du nichts dagegen hast«, entgegnete Buffy. »Oh, das ist in Ordnung«, erklärte Lucy mit einem Lächeln in ihrem Geistergesicht. »Mehr als in Ordnung. Diese Kreatur hat eine schreckliche Grausamkeit an dir begangen und zu einer furchtbaren Zukunft beigetragen. Wir haben die Möglichkeit, diese abzuwenden, und sie für ihr böses und betrügerisches Tun zu bestrafen.« »Die Worte einer Jägerin. Danke!« Buffy ließ ihren Blick über den Tisch schweifen, auf dem eine Glaskugel lag. Giles hatte sie von jemandem aus Aspen geschenkt bekommen, ein augenscheinlich harmloser Gegenstand. Um die Kugel hatte Willow spiralförmig einen schwarzen Faden gelegt und das Ende darunter geschoben. »Ich denke, sie wird dir keine Probleme machen«, erklärte 135
Buffy dem Geist der anderen Jägerin. Das Kerzenlicht spiegelte sich in der Glaskugel, in der alles still war. »Zotzilaha kommt gerne.« »Sie will deinen Körper«, bemerkte Xander fröhlich. Buffy bedachte ihn mit einem strafenden Blick und sah dann zu Lucy hinüber. Die schien sich zu verbeugen; vielleicht war es aber auch nur ein Aufwallen der rätselhaften ätherischen Substanz ihres Körpers. »Ich werde sie suchen.« Und dann verschwand Lucy so urplötzlich, wie sie gekommen war. Oz unterbrach als Erster den Energiekreis. Er ließ Buffys Hand los, und dann ließ Buffy Xander los. Besorgt blickte sie unter den Tisch, um sich zu vergewissern, dass der Kreis aus Salz, den Willow und Anya ausgelegt hatten, immer noch intakt war. Buffy war zwar sehr erleichtert über Giles’ Rettung und daher recht ruhig und gelassen, aber je näher der große Augenblick rückte, desto nervöser wurde sie. Sie konnte sich immer noch sehr gut an den Schmerz erinnern, den Zotzilahas Berührung verursacht hatte; an die Angst, die sie verspürt hatte, als der Fluch offenbar wurde, den das Wesen über sie gebracht hatte. Sie fröstelte, und ihr Magen zog sich zusammen. Zotzilaha war die Kreatur, die alles angezettelt hatte. Sie hatte Buffys Körper gestohlen. Sie war auf gewisse Weise viel heimtückischer als Camazotz, der an sich schon ein furchtbares Wesen war und gestoppt werden musste. Zum ersten Mal seit Giles’ Rettung bemerkte Buffy, dass es kein Echo mehr in ihr gab, keine zweite Seele mehr. Sie war wieder sie selbst, ganz und vollständig und allein in ihrem Körper. Aber sie konnte die kalte Berührung dieses Wesens immer noch spüren, das sie nun erneut heraufbeschworen, und sie fühlte sich davon regelrecht befleckt. Sie war die Jägerin, und sie hatte all ihre Freunde um sich 136
geschart, und doch verspürte sie tief in ihrem Innersten Angst. Oz brach das Schweigen. »Also«, sagte er. »Das war doch sehr belebend.« »Was nun?« Xander sah Buffy an und nickte ihr zu, um sie zu einer Antwort zu drängen. Zur Betonung zog er noch die Augenbrauen hoch. »Buff?« »Wir warten...« Ein plötzlicher Windstoß jagte durchs Zimmer und scheuerte regelrecht die Wände entlang. Die Kerzenflammen zischten, gingen jedoch unglaublicherweise nicht aus. Doch dann erloschen plötzlich innerhalb eines Sekundenbruchteils alle Kerzen im Raum. Der Wind fing an, sich im Kreis zu drehen. Schließlich spürten sie ihn gar nicht mehr, denn er wirbelte wie ein Miniaturtornado auf dem Tisch. Dann sah es aus, als liefe öliges, schwarzes Blut aus dem Wind. Es breitete sich aus und nahm in der Luft schwebend Form an. Der Wind ließ nach. Eine Gestalt zeichnete sich ab. »Sie ist bereit, mit dir zu sprechen.« Buffy sah rasch zum Fenster. Dort schwebte wachsam der Geist von Lucy Hanover. Argwöhnisch. Wissend. Als sie zurückblickte, war der Wind vollkommen abgeflaut, und die schwarze Masse über dem Tisch formte sich zu einer weiblichen Silhouette. Zotzilaha hatte kein sichtbares Gesicht, auch keinen Körper, nicht einmal diesen durchsichtigen Nebel, der Lucy Gestalt gab. Stattdessen manifestierte sich die Seherin als ein weiblich geformtes Loch im Raum, eine schwarze Höhle, die in der Luft schwebte wie Ruß aus einem Schornstein. Aber es sprach. Sie sprach. »Jägerin, du hast mich gerufen. Was kann die Seherin für dich tun?« Ihre Stimme klang wie die eines Kettenrauchers, dessen Hals von Krebs zerfressen war. Schmerzerfüllt und zerfetzt und sich 137
der Perversität der Frage bewusst. Jetzt hab’ ich dich!, dachte Buffy. »Du sagst mir jetzt, wo Camazotz steckt, und dann darfst du wieder verschwinden – und zwar am besten für immer, Zotzilaha.« Das Wesen zuckte zusammen, und die schwarze Gestalt schwebte schimmernd im Raum wie eine Wunde zwischen den Welten. »Ich weiß nicht, wie du darauf gekommen bist«, sagte der Dämonengeist. »Aber nun bist du nicht mehr von Nutzen für mich. Du hast Glück gehabt. Ich werde gehen.« Willow erhob sich vom Tisch. »Das glaub’ ich aber nicht!« Buffy schreckte alarmiert auf, als die Schwärze auf Willow zusegeln wollte. Es war bedrohlich anzusehen, wie sie die Realität um sie herum zu verschlingen schien. Aber dann stieß sie mit der unsichtbaren Barriere zusammen, die von dem Salz unter dem Tisch und dem Bann, den Willow und Giles gesprochen hatten, geschaffen wurde. Wie man sah, konnte sie sie nicht überwinden. »Was hast du getan?«, donnerte die Dämonin. »Sie haben dich gefangen, du falsche Seherin, du böser Geist«, sagte Lucy Hanover und segelte auf den Tisch zu. Buffy erhob sich ebenfalls. »Wo ist er? Es muss noch eine Verbindung zwischen euch geben, sonst könnte er dich nicht verfolgen. Wie weit kannst du vor jemandem weglaufen, an den du für alle Zeiten gefesselt bist?« Die Schwärze erzitterte und schien endlich eine menschlichere Form anzunehmen. Man hatte sogar den Eindruck, ein Gesicht zu erkennen, mit unscharfen Konturen und auf gewisse Weise schön in seinem Hass. »Camazotz ist im Bauch eines Schiffes, das Quintana Roo heißt, in eure Gestade gesegelt. Dieses Schiff hat im Hafen nicht weit von hier festgemacht. Mir ist egal, was aus ihm wird. Und nun lass mich frei, Jägerin!« 138
Buffy runzelte die Stirn. »Träum weiter!« Der Dämonengeist fing an zu protestieren, aber Willow und Giles sprachen wieder eine Beschwörungsformel. Ihre Worte überschnitten sich, als Zotzilaha sie wütend anschrie. Erneut begann diese heimtückische formlose Schwärze zu wirbeln, ein Tornado aus Öl und Teer, der sich über dem Tisch um sich selbst drehte, schneller und immer schneller. Über der Glaskugel. Die kleinen weißen Flocken darin begannen zu tanzen, und die Schwärze wickelte sich immer fester um sich selbst und folgte dem immer kleiner werdenden Kreis des schwarzen Fadens. Es zischte, als tropfe Öl auf glühendes Metall, und dann war Zotzilaha verschwunden. Das Innere der Glaskugel war nun völlig schwarz, wie mit Tinte gefüllt. Ein interessanter Briefbeschwerer für den Schreibtisch, fand Buffy. Sie starrte die Kugel an. »Das hast du wohl nicht kommen sehen«, spottete sie. »Du bist eine verdammt schlechte Seherin!«
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9. Zum zweiten Mal in dieser Nacht saß Willow auf dem Beifahrersitz, und Oz steuerte den Wagen Richtung Hafen, und wieder fuhren Xander und Anya mit. Manche Kommilitonen am College, die aus einem anderen Bundesstaat kamen, waren immer wieder überrascht, wie kühl es abends in Südkalifornien werden konnte, aber Willow hatte schon ihr ganzes Leben hier verbracht. Sie waren kurz bei Xander vorbeigefahren, um ein paar Dinge zu holen, aber es war keine Zeit geblieben, auch bei ihr Halt zu machen. Das bedauerte sie nun. Ein kalter Wind blies durch das zerstörte Fenster und sie zitterte, während sie gedankenverloren nach draußen blickte. »Wer von euch findet denn auch, dass Buffy sich irgendwie merkwürdig verhält?«, fragte Xander unvermittelt von hinten. »Schwer zu sagen. Ich fand sie immer schon etwas verrückt«, entgegnete Anya. »Merkwürdig habe ich gesagt«, korrigierte Xander. Anya drehte den Kopf zur Seite und schwieg. Der Van rumpelte auf den Hafen zu, und niemand sagte mehr etwas. Normalerweise hätte das Xander nicht abgehalten, aber in dieser Nacht schon. Auch er schwieg, und Willow war sehr froh darüber. Natürlich hatte sie selbst sich auch schon Gedanken über Buffys Verhalten gemacht, aber sie wollte eigentlich nicht darüber reden. Es war alles so seltsam. Woher wusste Buffy so viel über Camazotz und Zotzilaha? Wie hatte sie als Geist bei Oz auftauchen können? Und wie hatte sie den Moment vorausahnen können, in dem Giles’ Leben in Gefahr war, und dass Camazotz und seine Kakchiquels im Hafen gelauert hatten? Fragen über Fragen gingen ihr durch den Kopf, als sie am Kai ankamen. Oz hielt ein Stück davon entfernt an, damit man den Wagen nicht von den Schiffen aus sehen konnte, die dort 140
im Hafenbecken lagen. Giles brauste einen Augenblick später mit Buffy auf dem Beifahrersitz heran. Alle stiegen rasch aus, so leise wie möglich. Als die anderen ihre Waffen aus Oz’ Van und aus dem Kofferraum von Giles’ Wagen holten, stellte sich Willow vor den Van und blickte hinüber zum Meer, das zwischen den großen Lagerhallen zu erkennen war. Das Meer war dunkel und hob sich fast nicht von der Finsternis ab, aber auch mit verbundenen Augen hätte Willow gewusst, wo es war. Das Brausen der Brandung und der Geruch des Meeres, die kühle, salzige Feuchtigkeit, die in der Luft hing, waren unverkennbar. Während Willow diese Eindrücke in sich aufnahm, hörte sie ein Schlurfen hinter sich. Buffy kam mit einem schweren Bogen bewaffnet auf sie zu. Der Köcher mit den Pfeilen baumelte neben dem Schwert auf ihrem Rücken. »Hey«, sagte Buffy ernst. Das ansteckende Hochgefühl, das sie zuvor verbreitet hatte, war verflogen, und nun wirkte sie so angespannt wie selten zuvor. »Hey«, entgegnete Willow und sah ihre Freundin besorgt an. »Alles bereit für die Beschwörung?« Eine Welle der Unsicherheit überkam Willow, und sie zuckte leicht mit den Schultern. »Ich habe dieses alchemistische Buch von Saint Germain gelesen und die Formel auswendig gelernt, die dem entsprach, was du beschrieben hast. Aber wie ich bereits sagte, Buffy, ich habe es schon mal probiert, und es hat nicht funktioniert. Und Giles glaubt auch nicht daran, dass es klappen wird.« Willow hörte die Meeresbrandung und das Knarren des hölzernen Kais. Ihr Blick fiel auf das blinkende Licht einer Boje, aber sie zwang sich, Buffy anzusehen. Wenn die Jägerin Recht hatte und Gold die einzig wahre Schwäche von Camazotz war, hing der Erfolg der Aktion allein von ihrer Fähigkeit ab, die Beschwörung richtig durchzuführen. »Giles irrt sich«, sagte Buffy nur. »Du kannst es. Wenn du 141
das Geheimnis kennst.« Panik stieg in Willow auf, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. »Kenne ich nicht«, sagte sie. »Ich bin dafür, Camazotz in kleine Stücke zu zerschlagen. Ich habe ihn ja schon einmal ziemlich gut erwischt. Und da war Blut! Kleine Stücke ist ein guter Plan.« Willow würde das wissende Lächeln nie vergessen, das ihr Buffy in diesem Moment zuwarf. Obwohl es sie einerseits verwirrte, half es ihr doch, die aufsteigende Panik zu bekämpfen. »Kleine Stücke ist Plan B«, meinte Buffy. »Camazotz ist kein gewöhnliches Monster, Will. Der König der Fledermäuse, schon vergessen? Alte Maya-Gottheit. Die Kleine-StückeStrategie würde ihn zwar für den Augenblick vertreiben, aber später könnte er jederzeit wiederkommen.« »Was er wohl auch tun würde«, räumte Willow ein. »Hauptsächlich, weil es Gottheiten ziemlich auf den Wecker geht, in kleine Stücke gehackt zu werden.« »In der Tat«, pflichtete ihr Buffy bei. »Du kannst es schaffen, Will. Du kannst es.« »Wenn ich das Geheimnis kenne, das ich nicht kenne.« »Aber ich kenne es.« Willow sah sie ungläubig an. »Der Zauber funktioniert nicht, wenn du ihn zu deiner persönlichen Bereicherung einsetzt«, erklärte Buffy. »Das macht Sinn«, fand Willow. »Aber bei Giles habe ich es doch auch nicht für mich getan. Ich habe es getan, weil du es gesagt hast.« »Aber du hast unbewusst wohl doch daran gedacht, wie viele Hüte und Schuhe du mit so einem Klumpen Gold kaufen könntest.« Willow fühlte sich schuldig. »Und Bücher. Vergiss die Bücher nicht! Aber das ist nicht fair. Ich meine, ich habe es wirklich nicht aus persönlichen Motiven getan. Wie soll man 142
denn nicht daran denken, wie viel das Gold wert ist, wenn man dabei ist, Gold herzustellen!« Buffy lächelte. »Jetzt verstehst du, warum niemand an Alchemie glaubt.« »Und wie soll ich nun die Beschwörung schaffen?« »Wenn der Moment gekommen ist, wird es dir gelingen.« »Ich freue mich ja über dein Vertrauen, aber was, wenn du dich irrst?« Buffy sah an ihr vorbei zu den Fahrzeugen. »Wenn ich mich irre, dann müssen wir wohl zu Plan B übergehen.« Die anderen waren mittlerweile fast vollständig ausgerüstet. Alle trugen schwarz bis auf Oz, der immer noch sein Trikot von den New York Yankees trug. Xander hatte einen vollgestopften Kopfkissenbezug über der Schulter, mit dem er aussah wie ein verdammt großer Junge, der an Halloween durch die Nachbarschaft läuft. Anya hielt zwei Armbrüste, als wären sie Babys mit vollen Windeln. Oz und Giles trugen die Waffen, die sie schon vorher benutzt hatten. Buffy hatte jedoch ein anderes Schwert als zuvor dabei. In der Dunkelheit hatte Willow es erst nicht erkannt, aber nun sah sie, es war das Schwert, mit dem Buffy Angel erstochen hatte. »Ich dachte, du wolltest dieses Schwert nie wieder benutzen.« »Es erschien mir für heute Nacht genau richtig. Und es passt zu meinen Klamotten.« Die Jägerin wollte sich schon umdrehen, da rief Willow ihren Namen, und Buffy drehte sich zu der Freundin um. »Da ist einiges, was ich nicht verstehe«, meinte Willow. »Und ich weiß, es gibt einen Grund, warum du dich so bedeckt hältst. Aber eines musst du mir sagen: Woher kennst du das Geheimnis der Alchemie?« Buffy lächelte. »Du hast es mir selbst verraten!« Von der Hafenmeisterei aus war die Quintana Roo am entgegengesetzten Ende des Kais vertäut. Sie ankerte vor 143
einem alten Lagerhaus, das fünf Jahre zuvor ausgebrannt und nie wieder in Stand gesetzt worden war. Das Frachtschiff war in Mexiko registriert, gehörte aber einer guatemaltekischen Reederei, die im Vorjahr Pleite gegangen war. Das alles hatte Willow mit einer schnellen Internet-Recherche herausgefunden. Buffy hatte keine Ahnung, ob Camazotz das Schiff gekauft oder Eigentümer und Crew abgeschlachtet hatte, aber zu diesem Zeitpunkt war die Frage müßig. Obwohl der Rumpf voller Kratzer und in vielen Reparaturen beplankt worden war, und das Schiff kaum seetüchtig wirkte, hatte es die Quintana Roo mit dem bösen Prinzen der Maya-Unterwelt und seinen Günstlingen an Bord bis nach Sunnydale geschafft. Der Sage nach stand der Dämonengott einem Fledermausgeschlecht vor, und Buffy konnte sich noch an das Bild aus der dunklen Zukunft erinnern, wie Camazotz in dem feuchten Keller mit den Fledermäusen unter der Decke gehockt hatte. Sie vermutete, wenn Camazotz sich an Bord versteckte, um seine Wunden zu lecken, dann hielt er sich im Frachtraum auf. Sie war vorbereitet. Die Wellen klatschten an die Pfeiler unter dem Dock, und das Tau, mit dem das Schiff festgemacht war, schlug mit dem Wind gegen den Schiffsrumpf. Die Quintana Roo rieb sich knarrend am Kai, als tausche sie mit ihm Geflüster über die Altersbeschwerden aus. Der Himmel war mittlerweile fast wolkenfrei, und die Sterne funkelten, der Mond jedoch war nur als schmale Sichel zu sehen, ein Riss im nächtlichen Vorhang. Obwohl die Quintana Roo als Frachtschiff angemeldet war, standen neben dem Schiff keine Kisten auf dem Kai. Es fehlte jeder Hinweis darauf, dass überhaupt etwas ein- oder ausgeladen werden sollte. Das überraschte Buffy nicht. Camazotz mochte vielleicht ein archaisches Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit sein, aber er war schlau genug gewesen, den Hafenmeister von einem seiner Kakchiquels in 144
einen Vampir verwandeln zu lassen, statt ihn einfach zu töten. Mit ihm auf seiner Seite musste er gar keine Fracht ausladen. Er musste nicht einmal so tun als ob. Nun war der Hafenmeister jedoch längst Staub. Und was Buffy anging, sollte die Quintana Roo am nächsten Morgen nicht mehr als eines der vielen Mysterien für die örtlichen Behörden darstellen. Im Schatten eines anderen Schiffes, der Sargasso Drifter, versammelte Buffy ihre Truppe – ihre Freunde. Mit einem einzigen Blick ließ sie alle wissen, dass nun Schweigen angesagt war. Vorsichtig schlüpfte sie zwischen den Kistenstapeln neben der Sargasso Drifter hindurch und sah zur Quintana Roo auf. Wie erwartet waren Wachen zu beiden Seiten des Landungsstegs postiert, der vom Deck hinunter aufs Dock führte. Sie standen mit verschränkten Armen da, wacker und aufrecht. Einer von ihnen blickte in Buffys Richtung. Sie erstarrte in ihren Bewegungen, um sich nicht zu verraten, und der Wachmann drehte den Kopf wieder weg. Er hatte sie nicht gesehen, aber Buffy hatte ihn erkannt. Den Kerl mit dem Mopsgesicht und dem kahlen Schädel hatte sie einst als Bulldogge tituliert. Die andere Wache war eine Frau, und Buffy erkannte nun auch ihr Gesicht. Bis auf das schwarze Fledermaus-Tattoo um die Augen war es ganz weiß. Clowngesicht, dachte Buffy. Und Bulldogge. Die beiden hätte ich ja fast vergessen! Sie wurde ganz starr. Wie gern hätte sie diese beiden Kakchiquels auf der Stelle erledigt. Aber das gehörte nicht zum Plan. Und in der düsteren Zukunft hatte sie die Gestalten schließlich schon einmal gepfählt. Buffy schaute an dem Kistenstapel vorbei zu ihren Freunden, die sie erwartungsvoll ansahen. Da Giles und Willow neben Buffy die besten Schützen waren, trugen sie die Armbrüste. 145
Anya führte das Krummschwert, das Willow zuvor benutzt hatte, Oz eine Axt und Xander ein Schwert. Mit etwas Glück mussten sie die Waffen vielleicht gar nicht benutzen. Leise zog Buffy sich ein paar Schritte zwischen die Kistenstapel zurück und gab Willow und Giles ein Zeichen. Wie geplant schlüpften die beiden zwischen dem aufgetürmten Frachtgut hindurch und schlichen auf die ausgebrannte Lagerhalle zu. Dann winkte Buffy die anderen heran, und sie kamen näher. Es gab keine Witze von Xander und keine Proteste von Anya. Niemand gab einen Mucks von sich. Buffy schob sich wieder zwischen den Kisten nach vorn und spähte um die Ecke. Clowngesicht und Bulldogge standen immer noch am Landungssteg. An Bord der Quintana Roo war alles ruhig. Buffy griff sich an den Rücken und zog einen Pfeil aus dem Köcher. Meistens hatten Pfeile Spitzen aus Metall, aber diese waren ganz aus Holz. Sie legte den Pfeil mit der Kerbe an die Sehne des Bogens, zielte und wartete ab. Geduld lautete das oberste Gebot des Abends. Geduld und Stille. Da ertönte in der Ruine der Lagerhalle plötzlich ein lauter Knall. Bulldogge und Clowngesicht blickten sofort hektisch in alle Richtungen. Sie berieten sich flüsternd, und dann ging Bulldogge langsam auf eine mit Brettern vernagelte Tür in dem zerstörten Gebäude zu. Er bewegte sich wie ein Raubtier, zum Angriff bereit. Als Bulldogge vielleicht noch fünf Meter von der alten Lagerhalle entfernt war, stieß Buffy einen schrillen Pfiff aus. Clowngesicht drehte sich ruckartig zu den Kistenstapeln um, hinter denen Buffy und die anderen sich versteckten, und sah dann zu Bulldogge hinüber. Unsicherheit machte sich auf ihrem Gesicht breit. Dann drehte sie sich zu Buffy um. Auf diesen Moment hatte die Jägerin gewartet. Sie zog an der Sehne des Bogens und ließ den Pfeil mit solcher Kraft fliegen, 146
dass er durch den Körper der Vampirin drang und in einen Holzpfosten hinter ihr einschlug. Ihre weiß bemalten Augen weiteten sich, und sie blickte auf das kleine Loch in ihrer Brust, und dann zerfiel sie auch schon, und ihre Asche wurde vom Wind davongetragen. Buffy sah, dass Bulldogge nun noch zwei Meter von der Tür entfernt war. Bei dem dumpfen Einschlag ihres Pfeils hatte er leicht den Kopf gehoben. Bevor er sich jedoch umdrehen konnte, schlug ein Armbrustbolzen in der Brettertür ein, und Bulldogge löste sich ebenfalls in Staub auf. »Jawoll!«, flüsterte Xander triumphierend. Grinsend legte Buffy einen Finger an die Lippen und führte die anderen aus dem Schutz der Kistenstapel über das Dock zur Quintana Roo, Obwohl das knarrende Reiben des Schiffs am Kai jedes Geräusch übertönte, schlichen sie auf Zehenspitzen. Einige Augenblicke vergingen, bevor Willow und Giles aus der alten Lagerhalle kamen. Als sie die anderen am Landungssteg warten sahen, legten sie einen Schritt zu. Die Jägerin ging den anderen voran an Bord und nahm Xander den Kopfkissenbezug ab, den er die ganze Zeit getragen hatte. Obwohl sie sich sehr bemühten, leise zu sein, verursachten ihre Schritte auf dem Stahlboden des Landungsstegs beträchtlichen Lärm. Buffy hoffte, die Geräusche würden eher den Wachen zugeschrieben als Eindringlingen. Camazotz hatte seine Kakchiquels zur Furchtlosigkeit erzogen, aber das hatte sie auch arrogant gemacht. Das Deck des alten Frachtschiffes lag verlassen da. Buffy hob eine Hand und dirigierte Xander, Anya und Giles auf die gegenüberliegende Seite. Sie blieb mit Willow und Oz stehen, bis die anderen Position bezogen hatten, und reichte Oz den merkwürdigen Sack. Er schüttete ihn aus, und ein Dutzend kleiner runder Kugeln flog heraus, deren lange Dochte sorgfältig aneinander geknotet waren. Buffy zog das silberne 147
Feuerzeug aus der Tasche und gab es Oz. Dann zog sie einen weiteren Pfeil aus dem Köcher. Wieder pfiff sie. Ein Ruf hätte die Vampire sofort angelockt; mit dem Pfiff wollte sie träge Neugier wecken. Nach einer Weile, als es überhaupt keine Reaktion gab, pfiff sie erneut. Längsschiffs führten Türen unter Deck. Wie Willow in Erfahrung gebracht hatte, ging bei diesem Schiffstyp jeweils eine Tür in die Kombüse und die Quartiere der Crew und die andere in den Frachtraum. Endlich zeigte sich in der Tür zur Linken das Gesicht eines Kakchiquels. Giles war ihm am nächsten und feuerte sofort einen Bolzen aus der Armbrust ab. Der Vampir explodierte zur Aschewolke. Ein weiterer tauchte Sekunden später aus der Tür zum Frachtraum auf, und Willow schaltete ihn aus. Buffy hatte gesehen, wie viel Kraft hinter ihrem Bogen steckte, und so hielt sie sich zurück, um nicht zu viel Krach zu schlagen. Im Laufe der nächsten paar Minuten wurden auf dieselbe Weise fünf weitere Kakchiquels gepfählt. Buffy merkte, wie Xander ungeduldig herumzappelte. Neun Tote. Es ließ sich nicht abschätzen, wie viele Lakaien Camazotz auf dem Schiff untergebracht hatte, und auch ein langer, lauter Pfiff brachte keine neuen Erkenntnisse. Buffy warf Giles einen Blick zu, und er nickte. Die Jägerin zeigte auf die Kombüsentür, damit die anderen sie im Auge behielten, und wies Oz an, die dicke Zündschnur an dem Bündel Rauchbomben zu zünden. Die waren Xander vom Feuerwerk beim letzten Unabhängigkeitstag übrig geblieben. Buffy zielte mit dem Bogen auf die Tür zum Frachtraum und nickte. Oz legte seine Axt ab und rannte los. Die zischelnde Zündschnur sprühte Funken. Er warf die Rauchbomben die Treppe hinunter in den Frachtraum. Buffy hielt die Luft an. Sie mussten nicht lange warten. Aufgeregte Schreie drangen von unten herauf, als der Rauch sich ausbreitete. Den Rufen 148
folgte ein schreckliches Kreischen und das Schlagen hunderter kleiner lederner Flügel. Einige Fledermäuse tauchten fast augenblicklich wütend flatternd auf, dann folgte der Rest in einer einzigen dunklen Wolke. Auf der anderen Seite des Decks erkannte Buffy sogar in der Dunkelheit Giles’ überaus besorgten Gesichtsausdruck. Die anderen standen alle in Bereitschaft und blickten erschrocken den Fledermäusen entgegen. Oz zündete ein Paket Chinakracher an und warf sie mit zischender Zündschnur aufs Deck. Die Fledermäuse kreisten über dem Schiff, wütend und neugierig zugleich, und zumindest teilweise getrieben von den finsteren Absichten ihres Gottes Camazotz. Als die Kracher explodierten, zuckte Willow, die neben Buffy stand, erschrocken. Die Fledermäuse flatterten kreischend in der Dunkelheit über dem Meer davon, auf der Suche nach einem ruhigeren Plätzchen. Aber um diese Viecher machte sich Buffy noch die wenigsten Gedanken. Während die Kracher losgingen und kleine Explosionen durch die Nacht hallten, begann der Kampf. Zahlreiche Kakchiquels kamen aus dem Frachtraum gestürzt. Ihre Fledermauszüge hatten sich in schreckliche Vampirfratzen verwandelt. Sie brauchten keine Atemluft, und so stellte der Rauch nur eine Belästigung und kein wirkliches Problem für sie dar, und da sie ihren Meister schützen mussten, strömten sie mit mörderischer Rage an Deck. Andere kamen durch die gegenüberliegende Tür aus den Quartieren der Crew. Sechs, zehn, fünfzehn. Weit mehr als Buffy gedacht hatte. Die Jägerin fluchte tonlos und schoss dem nächstbesten Vampir einen Pfeil durchs Herz. Er explodierte und zersplitterte in brennende Aschepartikel. Der Pfeil drang sogar noch in die Schulter des Kakchiquels ein, der hinter ihm gestanden hatte und nun vor Schmerz und Überraschung laut aufschrie. 149
Das Schiff schaukelte schwerfällig auf dem wogenden Meer, und der kalte Wind pfiff über das Deck. Im Licht der Sterne bot das Gefecht einen surrealen Anblick. Man hatte den Eindruck, es handele sich um einen geheimen Krieg, der in einem düsteren Niemandsland zwischen Realität und Albtraum tobte. Und auf gewisse Weise stimmte das ja auch. Es kam ein Augenblick der Stille, in dem nichts zu hören war außer einer Heulboje draußen auf dem Wasser und dem entfernten Kreischen der Fledermäuse hoch am Himmel. Dann stimmten die Kakchiquels den Gesang in ihrer alten Sprache an, der Buffy zuvor so irritiert hatte. Diesmal ignorierte sie ihn. Ein weiterer Pfeil flog, ein weiterer Vampir wurde gepfählt. Auf dem ganzen Deck tobte der Kampf. Willow feuerte mit der Armbrust einen Bolzen auf einen narbenübersäten weiblichen Kakchiquel in einem schmutzigen Leinenhemd. Der Bolzen verfing sich in dem flatternden Stoff, und der Vampir stürzte auf Willow zu. Oz trat jedoch dazwischen und köpfte die Kreatur, bevor sie Hand an die Hexe legen konnte. Giles erledigte einen weiteren Kakchiquel mit der Armbrust, aber dann wurde sie ihm aus den Händen gerissen. Xander und Anya verteidigten sich, indem sie gnadenlos auf ihre Angreifer eindroschen. Ein halbnackter Vampir mit glänzender Bronzehaut und orange leuchtenden Augen sprang Buffy an. Die Jägerin hatte einen weiteren Pfeil aus dem Köcher gezogen, aber ihr blieb keine Zeit, ihn einzuspannen. Stattdessen zog sie dem Vampir mit dem Bogen eins über den Schädel. Irritiert von der Wucht ihres Schlages stolperte er rückwärts, und Buffy nutzte die Gelegenheit, ihm mit einem einzigen Stoß den Pfeil in die Brust zu rammen. Ein weiterer Vampir wurde zu Staub. Aber immer noch waren mindestens neun übrig, und ihre Freunde standen in diesem Augenblick nicht allzu gut da. Sie waren vollauf damit beschäftigt, sich selbst zu verteidigen, und 150
hatten Mühe, am Leben zu bleiben. Buffy ließ den Bogen fallen und zog das Schwert aus dem Futteral auf ihrem Rücken. Oz und Willow schlugen sich gerade recht tapfer, und so rannte sie über das Deck auf einen Haufen Vampire zu, von denen die anderen bedroht wurden. Xander schlug auf einen von ihnen ein und riss ihn vom Hals bis zum Bauch auf, aber damit war er noch nicht aus dem Schneider. Als Buffy auf ihn zurannte, rangen ihn die anderen Vampire zu Boden. Anya schrie etwas, aber Buffy konnte sie nicht verstehen, weil sie selbst so laut brüllte. Eine schreckliche Angst lag in Anyas großen Augen, und der Meereswind blies ihr die Haare aus dem Gesicht, als sie wieder und wieder mit dem Krummschwert zuschlug und auf Hals und Schultern des Vampirs herumhackte, der versuchte, ihren Freund auseinander zu nehmen. Aber die Ex-Dämonin war nun ein ganz normaler Mensch, und es fehlte ihr die Kraft, um einem Kakchiquel den Kopf abzuschlagen. Giles trat einem von ihnen mit voller Wucht gegen den Kopf, packte ihn an den Haaren und am Kragen und beförderte ihn mit einem kräftigen Stoß über die Reling ins Meer. Der Vampir, auf den Anya einprügelte, warf sich mit Gebrüll auf sie. Aber da köpfte ihn Buffy bereits mit einer schwungvollen Bewegung. Durch den Staub sah sie, wie Giles einen der Vampire von Xander wegriss, der gerade einem anderen das Schwert in die Eingeweide getrieben hatte. Die Spitze ragte aus dem Rücken des Vampirs hervor. Buffy wollte ihm gerade helfen, als sie zu Anya hinüberschaute und sah, dass sie ganz bleich geworden war. »Oh, oh«, machte Anya mit großen Augen. Buffy drehte sich um, als Camazotz gerade geduckt aus dem Frachtraum trat. Eine finstere orangefarbene Energie knisterte um seinen ganzen Körper. Sie strömte aus seinen Augen und der Wunde in seiner Brust, die Willow ihm zugefügt hatte. Sein grünes pockennarbiges Fleisch sah im Sternenlicht schwarz 151
aus, als er sich zu seiner ganzen Größe aufrichtete – bestimmt an die vier Meter. Buffy wollte sich gar nicht vorstellen, wie furchtbar stark er in der Blüte seines Lebens gewesen sein mochte. Der Gott der Fledermäuse, der Schattenprinz. »Jägerin!«, krächzte der Dämonengott und spähte zu ihr herüber. Seine lange Zunge glitt über die spitzen Zähne in seinem Maul und seine Schweinsnase glänzte feucht. Sein Bart und die Haare waren verfilzt, und sie fand, er hatte noch nie so primitiv ausgesehen. Er strahlte so viel Energie aus, dass man den Eindruck hatte, er habe einen Riss in den Stoff der Realität gerissen und eine Leitung in die dämonische Heimatdimension gelegt. Einmal abgesehen von den übel zugerichteten Flügeln und der Wunde auf seiner Brust bot Camazotz einen schrecklichen Anblick. Buffy konnte sich gut vorstellen, dass allein das Gesicht des Fledermausgottes die Mayas furchtbar verängstigt hatte. Wahrscheinlich hatten sie ihn aus diesem Grund angebetet. Der Wind flaute ab. Mit ohrenbetäubendem Geschrei kehrten die Fledermäuse zurück. Buffy zog einen Holzpflock aus dem kleinen Futteral an ihrem Gürtel. Sie sah zu Willow und Oz. Sie wurden zwar gerade von zwei Kakchiquels bedroht, aber bei Camazotz’ Ankunft schienen alle Kämpfer an Bord der Quintana Roo zu Salzsäulen erstarrt zu sein. »Willow!«, rief Buffy. Rasch warf sie den Pflock so auf den Boden, dass er bis vor Willows Füße rollte. Die Hexe schnappte ihn sich und sah zu Buffy. »Jetzt wäre ein passender Moment«, erklärte Buffy. Willow schüttelte unsicher den Kopf, und sie hielt den Pflock mit beiden Händen fest und flüsterte ganz leise einige Worte. Nichts geschah. Die Fledermäuse tauchten aus dem Himmel herab, und Willow schrie auf. Sie versuchte, sie zu 152
verscheuchen, aber da hatte sich bereits eine in ihren Haaren verfangen. Auch Oz musste sich gegen die Biester zur Wehr setzen. Die Kakchiquels kamen näher. »Plan B!«, rief Willow. Nein, dachte Buffy. Sie kann es schaffen. Aber da ihr in diesem Moment keine andere Wahl blieb, raste sie mit erhobenem Schwert auf Camazotz zu. Der Dämonengott holte mit seinem langen Arm aus und erwischte sie an der Schläfe. Buffy ging zu Boden, rollte über das Deck und stand bereits wieder auf den Beinen, als Camazotz nach ihr greifen wollte. Sie duckte sich unter seinem Arm weg und verpasste ihm einen Tritt in die wunde Stelle in seinem Bauch, wo die Kakchiquels an ihm saugten. Camazotz schrie auf, so sehr schmerzte ihn der Schlag in die empfindlichen Regionen, und nun war Buffy vollends davon überzeugt, dass er verwundbar war. »Du verbirgst es ganz gut, Camazotz, aber eigentlich gehörst du schon lange ausgemustert«, sagte Buffy und blickte dem Dämonengott ins Gesicht. Sein heißer, übel riechender Atem schlug ihr entgegen. Buffy sprang ab, drehte sich in der Luft und verpasste dem Fledermausgott einen Tritt gegen das filzbärtige Kinn. Einige Zähne brachen, und Camazotz heulte auf. »Du warst so ein beschissener Ehemann, dass dir deine Frau die Flügel verstümmelt hat und abgehauen ist«, sagte sie voller Hass auf diese Kreatur. »Du hättest sie laufen lassen sollen. In Ruhe lassen sollen.« Lederne Flügel flatterten um Buffy, und eine Fledermaus riss ihr an den Haaren. Buffy schlug einige der fliegenden Soldaten weg und ignorierte die anderen, sogar als eine ihr die spitzen Krallen in den Hals schlug. Camazotz versuchte, nach Buffy zu schnappen, aber er taumelte, und sie war zu schnell für ihn. Sie duckte sich unter seinen Armen durch und stieß das Schwert 153
tief in die Wunde, die Willow ihm bereits zugefügt hatte, drehte die Klinge und lenkte sie nach oben, um dem alten Dämonengott alle möglichen Organe zu zerreißen. Camazotz stolperte brüllend rückwärts. Buffy riss ihm das Schwert aus dem Körper und schlug zwei Fledermäuse in Stücke, die auf sie zugeflogen kamen. Sie löste eine von ihrem Hals und trampelte auf ihr herum. Von überall ertönten die Rufe ihrer Freunde, die immer noch lebten, immer noch kämpften, aber ihr blieb keine Zeit, sich umzudrehen und nach ihnen zu sehen. Denn Camazotz hatte sich wieder aufgerappelt. Mit einer Krallenhand hielt er sich die blutende Wunde. Geschwächt hob er die andere und zeigte auf Buffy. Dabei stoben Funken von einer Klaue zur anderen. Buffy hatte schon einmal erlebt, wie er seine dämonische Macht einsetzte. Ob sie jedoch magischer Natur oder ihm angeboren war, wusste sie nicht. Aber das war auch egal. Als ein Strahl dunklen elektrischen Feuers aus seiner Hand stieß, wich Buffy ihm aus, und das Schiffsdeck versengte und verkohlte an den Stellen, wo die Flammen einschlugen. Camazotz brach vor Anstrengung fast zusammen. Buffy hob das Schwert und ging in Kampfstellung, um der Sache ein Ende zu bereiten. Der Dämonengott sah sie an. »Dass du mich so weit gebracht hast, ist beschämend, denn meine Kakchiquels sind wie meine Kinder. Aber Camazotz muss überleben – und du, Jägerin, musst vernichtet werden!« Die zerfledderten Flügel auf seinem Rücken zuckten, als wolle er fliegen. Dann streckte Camazotz erneut die Hand aus. Magische Energie durchfuhr ihn und strahlte aus seinen Augen, nicht aber aus seinen Fingern. Ganz im Gegenteil: Die sechs Kakchiquels, die noch am Leben waren, erstarrten und brüllten gequält, als dünne Strahlen orangefarbenen Lichts aus ihren Körpern in den Körper ihres Meisters schossen. Sie zuckten wie unter Elektroschock. 154
Und dann gingen sie in einer einzigen Staubwolke auf. Der Wind trug die Überreste von Camazotz’ Günstlingen über das Meer. Am Himmel kreischten die Fledermäuse und flatterten davon. Offenbar waren sie nun von der Herrschaft ihres Gottes befreit. Auf dem Deck halfen Anya und Xander dem erschöpften, blutenden Giles auf die Beine. Oz umarmte Willow. Ihr Adrenalinspiegel sank wieder, und die Befürchtung, sie müssten alle sterben, wich einer plötzlichen Erleichterung. Stille breitete sich aus. Alle schienen zu denken, dass es bereits vorbei sei. Dann drehten sie sich einer nach dem anderen zu Buffy um. Sie sahen sie an und sahen an ihr vorbei. Und Buffy wusste, es war noch nicht vorbei. Die Energie, die Camazotz den Kakchiquels ausgesaugt hatte, war nun wieder zu ihm zurückgekehrt. Der Gott der Fledermäuse stand ganz aufrecht, und sein ganzer Körper schien in ein knisterndes orangefarbenes Licht getaucht. Sein Maul war aufgerissen zu einem andauernden Zischen, die Augen bloße Feuerbälle in seinem Schädel. Haare und Bart des Dämonen waren steif und standen aufrecht in der magischen Aura, die ihn umgab. Furchtbarerweise waren seine Wunden verheilt, und auch seine Flügel schienen in einem besseren Zustand zu sein, weniger zerfetzt, obwohl sie immer noch verstümmelt und nicht wirklich zum Fliegen zu gebrauchen waren. Langsam und in Einklang mit seinen Atemzügen bewegten sie sich auf seinem Rücken hin und her. Der finstere Gott bewegte sich mit der Anmut und Schnelligkeit eines Reptils und wiegte sich in freudiger Erwartung, als er über das Deck der Quintana Roo walzte. Seine Schritte schienen das ganze Schiff zu erschüttern. Aus den Augenwinkeln sah Buffy, dass die anderen auf ihn zulaufen wollten, um ihr zu helfen. 155
»Stopp!«, rief sie. Alle blieben stehen. »Buffy, du brauchst unsere Hilfe«, drängte Giles. Darüber musste Camazotz lachen. Es klang wie das Zischeln einer Kobra. »Ich brauche euch lebendig«, erklärte Buffy ihm mit todernster Miene. »Sind wir jetzt wieder an diesem Punkt angekommen?«, fragte er. »Nein«, entgegnete sie so ruhig wie möglich. »Aber es gibt noch so viele Gelegenheiten, bei denen ihr helfen müsst. Zurück jetzt!« Die anderen zögerten, während Camazotz langsam auf Buffy zukam und die Gruppe neugierig beäugte. »Das Einzige, was du nun noch für sie tun kannst, Jägerin, ist, als Erste zu sterben«, sagte der Dämon. Buffy hob das Schwert auf Hüfthöhe und lief auf ihn zu. Ein ganzes Stück vor ihm sprang sie zu einem Salto ab, mit dem sie sich vier, fünf Meter vom Deck in die Luft katapultierte. Ohne goldene Waffe bestand zwar immer die Möglichkeit, dass Camazotz noch einmal wiederkehrte, aber dann konnte sie ihn ja immer noch vernichten. Sie schwang das Schwert und ließ die Klinge auf Camazotz’ Schädel niederfahren. Hätte sie getroffen, wäre sein Schädel in zwei Hälften auseinander geklappt. Aber Camazotz wich schlangengleich zur Seite aus. Seine Arme schossen nach oben und pflückten Buffy aus der Luft. Mit einer Hand packte er sie am Hals und mit der anderen um den Bizeps ihres rechten Arms. Die Jägerin fing bei der Berührung an zu zittern, denn die dämonische Energie schoss durch ihren Körper. Schmerzwellen fluteten über sie hinweg, ihre Arme und Beine zuckten, und sie biss die Zähne zusammen. Sie hing meterhoch kopfüber in der Luft und nahm das Schwert in die linke Hand, um erneut auf den Gott der 156
Fledermäuse einzudreschen. Die Klinge drang tief in Camazotz’ Schulter ein und kam erst zum Stillstand, als sie auf Knochen stieß. Mit einem wütenden Aufschrei ließ der Dämonengott Buffys Hals los und schlug ihr das Schwert aus der Hand. Dann knallte er sie einige Male auf das Deck, als wäre sie eine Puppe. Etwas knackte in ihrem Mund, und sie biss sich in die Backe. Blut trat über ihre Lippen, das nach Metall schmeckte. Sie hörte, wie Giles und Willow aufschrien. Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie sah gerade noch, wie Xander mit erhobenem Schwert auf Camazotz zurannte. Sie wollte ihn auffordern zurückzubleiben, aber da schlug sie erneut auf das Deck auf und brachte kein Wort mehr heraus. Camazotz verpasste Xander mühelos einen Schlag, der ihn über das Deck kugeln ließ. Schließlich warf der Dämonengott Buffy einfach zur Seite. Da sie mit dem Kopf aufschlug, wurde sie ein paar Herzschläge lang ohnmächtig. Als sie die Augen wieder aufschlug, kniete Willow mit dem Holzpflock in der Hand neben ihr. Buffy setzte sich auf, und ihre beste Freundin fing an, eine Formel auf Französisch zu sprechen. Buffy erkannte die Worte für Gold und Feuer, aber das war auch schon alles. Dann klappte Willow nach hinten, als wäre sie geschlagen worden, und der Pflock fiel mit einem metallenen Klimpern zu Boden. Er war aus Gold! »Das war... Ich hab’... Hast du das gesehen?«, fragte Willow aufgeregt. Buffy hob den schweren, spitzen Goldstab auf und schüttelte verblüfft den Kopf. Sie warf Willow einen Seitenblick zu. »Danke. Genau wie die Jägerin befohlen hat.« »Aber... wie?«, fragte Willow ungläubig. Buffy ging grinsend auf Camazotz zu. »Ich glaube, du wirst dich noch wundern, wozu wir fähig sind.« 157
Die junge Hexe sah ihr erstaunt nach. Immer noch trat ein knisternder Energiestrahl aus Camazotz’ Körper. Buffy taten alle Knochen weh, und sie hatte das Gefühl, ihr Schädel wäre gespalten. Sie hatte blutige Schrammen im ganzen Gesicht. Das stank ihr gewaltig. Wieder ruckte Camazotz’ Kopf vor und zurück, als sie näher kam. Buffy hielt den Pflock seitlich hinter ihrem Bein verborgen, damit der Dämonengott ihn nicht sehen konnte. Sie ging ganz dicht an ihn heran, um ihn zum Angriff zu provozieren. Sie wollte nicht wieder den ersten Schritt machen. Sie kam näher, beobachtete ihn und wartete ab. »Du trittst mir unbewaffnet gegenüber?«, fragte Camazotz. »Das ist dein sicherer Tod.« »Warum nicht?«, meinte Buffy. »Zeit, die Sache zu Ende zu bringen.« Camazotz stieß einen Schwall übel riechenden Atems aus und schwang sich mit den knochigen Flügeln flatternd nach links, um sie seitlich anzugreifen. Buffy wich kaum aus, und seine Krallen trafen sie an der Hüfte. Sie packte seinen Arm mit der linken Hand und zog ihn zu sich heran. Ihre rechte Hand schoss nach oben, und sie stach ihm den schweren Goldstab in eines seiner leuchtend orangenen Augen. Es gab einen Knall, als sie den Pflock wieder herauszog. Camazotz schrie auf und schlug die Klauenhände vors Gesicht. Die Jägerin sprang ihn an, schlang die Beine um seinen Oberkörper und warf ihn nach hinten. Mit beiden Händen stieß sie den spitzen Goldpflock in seine Rippen und durchbohrte sein dämonisches Herz. Als er mit Buffy auf seinem Bauch auf dem hölzernen Deck der Quintana Roo aufschlug, war er bereits tot.
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EPILOG Mit weichen Knien rappelte Buffy sich mühsam wieder auf. Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen, und betrachtete die Leiche des Gottes der Maya-Unterwelt. Seine Augen waren nun eingesunkene Höhlen, eines davon mit dem goldenen Pflock ausgestochen. Die Energie, die in ihm gebrannt hatte, war verschwunden, aufgelöst im Äther oder zurückgezogen in das dunkle Reich, das ihn hervorgebracht hatte. Camazotz war tot, und wenn man den Schriften eines despotischen Vampirkönigs glauben durfte, der nun niemals zum Leben erweckt werden würde, war der Gott der Fledermäuse ein für alle Mal vernichtet. Der tote Körper hatte schon begonnen, sich zu zersetzen. Buffy kehrte Camazotz den Rücken zu und sah, wie Xander ihren Bogen holte und Oz die Teile der zerstörten Armbrust aufsammelte. Giles, Anya und Willow schauten Buffy entgegen, als sie auf sie zukam. Giles lächelte sie müde an. Er war über und über mit Blut beschmiert. Buffy ging zu ihm und nahm ihn fest in die Arme. »Aua!«, rief er. »Ich hab’ bestimmt eine Rippe gebrochen. Wenn nicht im Kampf, dann jetzt.« Der Mann wand sich ein bisschen, ihm war eine solch offensichtliche Zuneigungsbekundung wahrscheinlich unangenehm. Aber das war Buffy egal. Tausend Dinge gingen ihr durch den Kopf; Gefühle, die sie gern ausgedrückt hätte – wie viel ihr Giles bedeutete zum Beispiel, und wie es sie gequält hatte, ihn in jener finsteren Zukunft in so grauenhafter Verwandlung zu erleben. Stattdessen lächelte sie ihn nur an. »Wir sind ein gutes Team«, sagte sie. »Wir alle zusammen.« Als sie Giles losließ, schwankte er ein bisschen, als brauche er eine Stütze, dann straffte er aber die Schultern. »Ich gestehe, 159
ich habe das Schlimmste befürchtet«, sagte er. »Ich meine, in der Hafenmeisterei. Du hättest weglaufen sollen, weißt du. Mich da lassen. Er hätte mich bestimmt nicht getötet; er brauchte doch was zum Verhandeln. Die erste Regel für die Jägerin ist...« »Nicht zu sterben«, beendete Buffy den Satz. »Ich weiß. Aber manchmal muss man auch mal Regeln brechen.« »Entschuldigt bitte!«, rief Xander und kam mit Oz herüber. Beide hatten die Arme voll mit Waffen. »Ich will euch ja nicht in eurer Überlebensfreude stören, aber wie wäre es mit ein bisschen Applaus? Denn ich finde, das hat doch wie am Schnürchen geklappt. Heute Nacht haben wir ein richtiges Fass aufgemacht. Das war ja Vampirvernichtung am Fließband! Wir waren spektakulär!« »Man wird Lieder darüber singen«, bemerkte Oz ganz ernst. »Wir waren die glorreichen Sechs!«, fügte Xander hinzu. Oz zog die Augenbrauen hoch. »Waren das nicht sieben?« Xander war indigniert. »Heute Nacht doch nicht.« »Ach ja.« Oz nickte weise. Buffy lächelte. So war es richtig. Xander wohlauf und mit einem Lachen im Gesicht, Anya an seiner Seite. Oz mit klugen, freundlichen Augen ohne Wildheit darin. Giles, Willow, alle versammelt. Buffy dachte daran, rasch einmal in Los Angeles anzurufen, nur um Angels Stimme zu hören. Sie musste ja nicht unbedingt etwas sagen, konnte schnell wieder auflegen, aber dann wusste sie wenigstens, dass er da war. »Wir waren ziemlich klasse«, pflichtete sie den anderen bei. »Danke, Leute! Wirklich. Ihr habt es alle voll gebracht.« Anya war stolz. »Ich wurde einige Male fast getötet und habe noch geholfen, Xander das Leben zu retten. Ich hab’s echt gebracht! Unser Triumph versetzt mich geradezu in Ekstase.« »Du warst großartig«, versicherte ihr Buffy. »Ihr alle! Und Willow bekommt den Preis der Magiervereinigung für einen Zaubertrick, an den Giles überhaupt nicht geglaubt hat.« 160
Giles blinzelte und wollte protestieren. »Ach, das war doch kinderleicht«, bemerkte Willow mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Dann wurde sie ernst. »Wartet mal!« Sie ging zu der Leiche des alten Dämonengottes. Mit beiden Händen riss sie ihm den goldenen Pflock aus der Brust. Sie zuckte zurück, als könne er noch einmal lebendig werden, aber Camazotz war wirklich und wahrhaftig tot. Willow lief auf die andere Seite des Decks und warf den schweren Goldstab über Bord. Sie alle hörten das Platschen, als er im Wasser aufschlug, um sogleich auf den Meeresboden zu sinken. »Hört mal, wer spinnt jetzt hier eigentlich?«, protestierte Xander. »Will, was zum Teufel soll das? Hast du eine Ahnung, wie viel das Ding wert ist?« »So lautet die Regel«, entgegnete Willow und ihr Blick wanderte zu Buffy, dann wieder zu Xander. »Alchemie funktioniert nur, wenn man dabei nicht die persönliche Bereicherung im Auge hat.« »Also, das ist ja wirklich Mist«, regte sich Xander auf. »Wer hat sich das denn ausgedacht?« Buffy erschauderte. Die Worte kamen ihr bekannt vor – das Echo einer Zukunft, die es nun nie geben würde. Ihr Blick verharrte auf Xander und Anya, die Arm in Arm vor ihr standen, und eine fast Schwindel erregende Leichtigkeit überkam sie. Aber es war nur ein Echo, mehr nicht. Diese Zukunft war nun für alle Zeiten ausgelöscht. Unmöglich. Anna und August wurden nun vielleicht nie Jägerinnen. Das existierte nur in Buffys Erinnerung. Und diese Erinnerung verblasste bereits, aber ganz würde sie nie wohl niemals ausgelöscht. Manches wollte Buffy auch gar nicht vergessen, denn sie wollte nie wieder die schönen Seiten des Lebens als selbstverständlich ansehen, wie sie es früher getan hatte. Kurze Zeit hatte sie gedacht, sie müsse sich zweiteilen, um Zufriedenheit zu 161
erreichen und dennoch ihre Pflicht erfüllen zu können. Sie hatte Buffy Summers von der Jägerin trennen wollen. Aber nun wusste sie, dass die Jägerin ohne all das, was Buffy Summers einzigartig machte, und ohne die Leute, denen sie nicht egal war, gar nicht überleben konnte. Sie stützten einander und schleppten die Waffen, die nun viel schwerer als zuvor schienen, und verließen die Quintana Roo. Erschöpft trotteten sie über den Kai zurück zu den Autos. Buffy blieb hinter den anderen zurück; nicht weil sie müder als ihre Freunde war, sondern weil sie sie beobachten wollte. Willow bemerkte es und wartete auf sie. »Du hast mir noch einen ganzen Haufen zu erklären, das weißt du hoffentlich«, sagte die junge Hexe. Buffy lächelte. »Tut mir sehr Leid, dass ich so kryptisch war. Und wenn es dir nichts ausmacht, würde ich auch gern möglichst wenig darüber reden. Sagen wir einfach, ich hatte eine Vision... eine Art Prophezeiung oder so. Und daher weiß ich, was ich weiß.« »Wie viel davon ist wahr geworden?«, fragte Willow. Der Abstand zu den anderen war nun noch größer geworden. Buffy warf Willow einen schrägen Seitenblick zu und sah sie scharf an. Es dauerte eine Weile, bis sie antwortete. »Nur die guten Sachen«, entgegnete sie. »Weißt du, du bist schon eine richtige Hexe.« Willow hakte sich bei Buffy unter. »Du bist auch nicht schlecht. Aber seit wann hast du denn – und ich will das überhaupt nicht kritisieren – so eine positive Einstellung?« Buffy lachte leise. »Wir leben, Will! Das kann sich zwar jederzeit ändern, aber in diesem Augenblick leben wir. Und wenn wir vorsichtig sind und durchdacht vorgehen und uns gegenseitig unterstützen, dann wird sich daran so bald auch nichts ändern.« Sie gingen schweigend weiter und trafen die anderen bei Oz’ Van. Buffy fand, man konnte sich durchaus ein schöneres 162
Leben vorstellen als das, über das sie gerade mit Willow gesprochen hatte – ein Leben im Kriegszustand unter der ständigen Bedrohung durch die Mächte der Finsternis. Aber es war in Ordnung. Nach allem, was sie erlebt hatte, war es ziemlich in Ordnung. ENDE
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