ERNST KÄSEMANN
Das Neue rfestament als Kaiion
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ERNST KÄSEMANN
Das Neue rfestament als Kaiion
Das Neue Testament als Kanon Dokumentation und kritische Analyse zur gegenwärtigen Diskussion
Herausgegeben von Ernst Käsemann
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Schutzum~ebl.ag: Karlgeorg Hoefer. OVandenhoeck&Ruprecht, Göttingen 1970. - Prlnted 1n Germany. Alle Rechte vorbehalten. Ohne aUJdriickllche Genehmigung det Verlage• bt es nicht gellattet, du Buch oder Teile daraut auf foto- oder aktutomechanitehem Wege zu vervielfältigen. Satz und Druck: Gulde-Druck, Tüblngen. Bindearbeit: Hubert & Co, Göttingen
Der theologischen Fakultät an der Universität Oslo in Freundschaft und Dankbarkeit !
Inhalt 9
Einführung I. Awgewählte Aufsätze
13
GBRHARD GLOEGE, Zur Geschichte des Sduiftverständnisses .
13
HEBMANN
STRA~,
Die Krisis des Kanons der Kirdte
WERNER GEORG KÜMMEL, Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Karions
41 62
ÜSIW\ CULLMANN, Die Tradition und die Festlegung des Kanons durch
die Kirche des 2. Jahrhunderts
.
1-IANs FRHR. v. CAMPENHAUSEN, Die Entstehung des Neuen Testaments
98 109
ERNST las~, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?
124
KURT .Al.ANo, Das Problem des·neutestamentlichen Kanons .
1M
HERMANN DmM, Das Problem des Schriftkanons
159
HANs KÜNG, Der Frühkatholizismus im Neuen Testament als kontroverstheologisches Problem
175
PETER LENGSFELD, Katholische Sicht von Schrift, Kanon und Tradition 005 lhRBERT BRAUN, Hebt die heutige neutestamentlich-exegetische For219 schung den Kanon auf? . WILLI MARxsEN, Das Problem des neutestamentlichen Kanons aus der Sicht des Exegeten 233 CARL HEINZ RATScHow, Zur Frage der Begründung des neutesta-
mentlichen Kanons aus der Sicht des systematischen Theologen
247
WILFRIED JoEST, Erwägungen zur kanonischen Bedeutung des Neuen Testaments
258
GEIUIARD EDELING, "Sola scriptura" und das Problem der Tradition 282
11. Kritische Analyse .
336
lll. Zusammenfassung
399
Einführung Uber die Entstehung und Geschimte des neutestamenttimen Kanons sind wir vortrefflim informiert•. Seine theologisme Relevanz ist dagegen heftiger denn je zuvor umstritten. Die Diskussion darüber wird heute nicht nur in der gelehrten Zunft, sondern auch in der Gemeinde leidenschaftlich, und zwar in allen Konfessionen und Denominationen und infolgedessen aum ökumenism, geführt. Der Streit wurde durch die aus der Aufklärung resultierende historischkritische Bibelerklärung ausgelöst, die, sich ständig radikalisierend, bei den Experten überall mehr oder weniger selbstverständlim vorausgesetzt, im liberalen Christentum methodisch anerkannt, von nichtfundamentalistischen Kird:l.en und Gemeinschaften wenigstens im wissensmaftlichen Bereid:l. toleriert wird. Sie hat inzwisd:l.en selbst im römischen und orthodoxen Katholizismus, wenngleich in verschiedenen Gebieten mit ungleid:l.em Gewimt, immer stärkeren Eingang gefunden. Dem entspricht allerdings eine Kehrseite, von weld:l.er her erst die Heftigkeit und Weite des Kampfes begreiflirh werden. Die Frage der historisch-kritisrhen Auslegung der Schrift ist, wenn sie das früher einmal gewesen sein sollte, gegenwärtig nirht länger primär die einer wissensrhaftlimen Methodik und ihrer Bedeutung für die Exegese. Unüberhörbar verbinden sirh mit ihr Urteile über das Wesen des mristlichen Glaubens, die normative Geltung der Bibel, Grenzen und Einheit konfessioneller, kirchlirher, ökumenischer Gemeinschaft, welche die Christenheit im ganzen herausfordern. Man hat sim diesem Samverhalt entschlossen zu stellen und benötigt dazu dringlich einer Bestandsaufnahme, welche wünsrhenswerter Weise die Problematik zumal aus der geschichtlichen Entwicklung des vorigen Jahrhunderts quer durm alle Kirchen darstellen sollte. • Vgl. dazu vor allem H. Frhr. von Campenhausen, Die Entstehung der duist· liehen Bibel, 1968. Uber die Diskussion innerhalb des römischen Katholizismus in· formiert besonden eingehend N. Appel, Kanon und Kirche. Die Kanonkrise im heutigen Protestantismus als kontroventheologisches Problem, 1964. Neben der durchlaufenden Seitenzählung dieses Bandes ist bei den in ihn übernommenen Beiträgen auch die Seitenzählung der maßgeblichen Encheinungsorte übernommen worden, damit nach dieser zitiert werden kann. Die Literaturverweise in den Beiträgen von Cullmann und Lengsfeld wurden nach den bibliographischen Angaben in den Buchausgaben ergänzt. -Den Verlagen, bei denen die hier übernommenen Beiträge entmalig erschienen, sei für die freundliche Genehmigung des Wiederabdrucks gedankt.
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Einführung
Ein sold:ter Entwurf würde jedoch ein ungewöhnlich hohes Maß von Spezialkenntnissen in der allgemeinen Geistes- und Theologiegeschichte voraussetzen, langjährige Arbeit erfordern, wenn ein Einzelner sich dazu anschicken wollte, und den Rahmen eines einzigen Buches sprengen. In ein Dilemma würde aber auch der Versuch führen, die heutigen Äußerungen zu unserm Thema systematisch zusammenzustellen und wenigstens fragmentarisch von da aus immer wieder in die Vergangenheit zurückzublenden. Der unbefangene Leser würde dem Chaos differierender und gegensätzlicher Meinungen aus dem Widerstreit von Theologie und Gemeindefrömmigkeit, Konfessionen und Denominationen, Exegese und Dogmatik, amtlimer Verlautbarungen, individueller Äußerungen und von Gruppen abgegebener Bekenntnisse hilflos ausgeliefert. Der Sammler würde zu einer Auswahl gezwungen sein, die ihn auch bei bestem Willen des unzureichenden Überblicks und mangelnder Objektivität beschuldigen ließe. Wie vielfach in unserer Situation wird man sich notgedrungen konzentrieren, den Vorstoß in geschichtliche Tiefe und ökumenische Weite äußerst reduzieren und verzichten müssen, auf den Altären wissenschaftlicher Vollständigkeit oder traditionell dogmatischer Fragestellungen opfern zu wollen. Ein exemplarischer Ausschnitt aus der Diskussion, der Dokumentation und kritische Analyse verbindet, ist möglich, sinnvoll und vielleicht am hilfreichsten. So werden im folgenden 13 Aufsätze zum neutestamentlichen Kanonproblem aus dem deutschsprachigen Bereich und dem Gesichtsfeld historischer Bibelkritik wiedergegeben und anschließend auf ihre Prämissen und Konsequenzen hin erörtert. Ein geraffter Oberblick über die Rezeption und die Auslegung der Schrift in den verschiedenen Epochen der Kirchengeschichte wird vorangestellt, um in die gegenwärtige Problematik einzuführen. Den Abschluß bildet eine hermeneutische Besinnung zum Thema "Schrift und Tradition" aus reformatorisch orientierter Sicht, welche in außerordentlicher Gründlichkeit und Schärfe zum Ausgang des konfessionellen Streites um die Bibel zurücklenkt, damit zugleich in das ökumenisd:te Gespräch eingreift und die historische Kritik auf den ihr gebührenden Platz eines Hilfsmittels in der Verständigung und Scheidung der Geister verweist. Die Gesamtkird:te kann und darf sie nicht übersehen. Sie kann und darf ihr aber auch nicht das letzte Wort überlassen, weil ihre Einsichten und begründeten oder unbegründeten Folgerungen wie der von da aus bestimmte Streit um den Kanon nur ein Aussd:tnitt, eine Konsequenz und die heutige Signatur des Streites um das Evangelium sind. Man hat dieses Evangelium nie ein für alle Male, wenn daraus nicht eine religiöse Tradition unter andem werden soll. Jede christliche Generation muß es neu für sich und die Welt
Einführung
11
entdecken, wobei Irrwege wie im menschlichen Leben überhaupt nicht zu vermeiden sind. Wahrheit gibt es nicht ohne Preis und Risiko, und das spiegelt sich sogar noch in den jeweils angewandten Methoden wieder, die sich selbst ad absurdum führen können. Philologische und historische Arbeit ist hier notwendig, weil das Evangelium seinen Niederschlag in Schriften gefunden hat, welche wie alle andern ständiger Interpretation und wissenschaftlicher Untersuchung bedürfen. Anders ließe sich ihr exakter Sinn schon deshalb nicht erfassen, weil sie aus der Antike stammen, ihr Text aus unzähligen überlieferungsvarianten nur in annähernder Genauigkeit rekonstruiert werden kann und ein Prozeß von Ubersetzungen, welche stets neue Möglichkeit des Verständnisses erschlossen haben, unser eigenes Urteil vorherbestimmt. Wir haben unablässig in Richtung auf das Ursprüngliche vorzustoßen, ohne dabei den unmittelbaren Zugang zu ihm uneingeschränkt gewinnen zu können. Der Faktor des Irrtums im einzelnen und ganzen ist nie auszuschließen. Umgekehrt vermag historisch-philologische Arbeit, die immer traditionskritisch erfolgt, herrschende Vorurteile zu durchbrechen und zu einem dem Ursprünglichen angemesseneren Verständnis zu führen, wobei kirchliche Systematik ebenso gestört werden wie profitieren kann. Die Schriften, mit denen wir uns beschäftigen, sind kanonisch zusammengefaßt und besitzen insofern dogmatisches Gewicht in der Christenheit auch dann noch, wenn kritische Wissenschaft es nicht mehr anerkennen oder respektieren sollte. Die Exegeten stehen jedenfalls nicht allein auf dem Plan. Sie müssen sich isolieren und würden von der Wirklichkeit abstrahieren, wären sie sich nicht der dogmatischen Tragweite ihres Tuns bewußt und wollten sie den Dialog mit den Systematikern abbrechen, welche die Stimme der kirchlichen Tradition reflektieren und, in welcher Weiterführung und Umgestaltung auch immer, lebendig erhalten. Gerade auf dieses Wechselspiel zwischen Exegeten und Systematikern kommt es in unserm Bande an. Fragestellungen, Ergebnisse und Kontroversen der neutestamentlichen Kritik lassen sich in den sogenannten Einleitungen dieses Faches, dogmatische Positionen und Probleme in entsprechenden Lehrbüchern nachlesen. Hier sollen Exegeten auf ihre systematischen Voraussetzungen und Leitbilder hin befragt werden und Systematiker Antwort auf die exegetische Herausforderung geben. Weil im deutschsprachigen Bereich die Auseinandersetzung um den Kanon zwischen diesen Kontrahenten am radikalsten vor sich geht, ist die Begrenzung auf die vorgelegten Beiträge sinnvoll. Sie bietet wenigstens ein Modell des stattfmdenden theologischen Dialogs, an dem man sich orientieren kann. Die Auswahl im einzelnen war schwierig. Auszüge aus Kompendien sind vermieden worden.
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Einführung
Ein Höchstmaß an Information sollte mit besonders charakteristischen und provozierenden Stellungnahmen verbunden werden. Das ließ sich ohne schmerzliche Verzichte nicht erreichen. Immerhin ist der Horizont weit genug gespannt, um der Mannigfaltigkeit und dem Widerstreit der Stimmen Raum zu geben, welche die Kanonkritik grundsätzlich bejahen und nicht vorschnell apologetischen Vermittlungsversuchen huldigen. Lust und Qual des Wählens habe ich reichlich ausgekostet. Ich wäre zufrieden, wenn selbst der nicht unmittelbar beteiligte Leser das Gefühl hätte, Zeuge eines noch anhaltenden Erdbebens zu sein, bei dem die Betroffenen damit beschäftigt sind, Trümmer zu beseitigen, das Erhaltene zu retten, den Wiederaufbau zu diskutieren oder als unmöglich zu erklären. Auch in der Kirchengesdrichte sind Erdbeben zuweilen nötig, um aus morschen Häusern herauszuholen und in eine sicher unbequeme, jedenfalls ungewisse Zukunft zu zwingen. Wer dieser etwas verwegenen Meinung ist, mag sogar nicht ohne Hoffnung zuschauen und mittun. Stabilitas loci ist uns geistig und christlich weder verheißen noch bekömmlich. Konservative wie liberale Theologie werden nur erschreckt sich ins freie Feld neuer Erfahrung wagen. Die Unangefochtenen stellen sich nicht der Selbstbesinnung. So bitter diese sein mag, so ist sie doch fruchtbar, wenn sie uns aus Trägheit, Selbstgefälligkeit und
Verstockung aufrüttelt und uns dazu nötigt, noch einmal gleichsam von vom zu beginnen. Meinem Assistenten F. Lang schulde ich großen Dank für vielerlei Hilfe in der Sichtung und Auswahl des Materials wie bei der Korrektur. Ich bedauere, daß seine Vorarbeit nur in einigen Zitaten aus älterer oder ökumenischer Literatur verwertet werden konnte. Doch hat gerade sie mir gezeigt, daß ich mich zu äußerster Reduktion zu entschließen hatte. Tübingen, 1. April1970
Ernst Käsemann
Ausgewählte Aufsätze
GERHARD GLOEGE
Zur Geschichte des Schriftverständnisses • I. Die Schrift in der Alten Kirche 1. Voraussetzungen Der Umgang mit der Bibel setzt den Kanon voraus. Dieser hatte sich als zweiteiliges Werk- bestehend aus dem Neuen und dem Alten Testament - in Auseinandersetzung mit der Gnosis und vor allem in der Abwehr Mareions durchgesetzt. Mit der Einheit des Kanons war der Gedanke der einheitlichen Heilsgeschichte grundlegend gegeben: in letzterer verwirklicht sich der Heilsratschluß des einen Gottes, der die Welt schafft und erhält, erlöst und der Vollendung entgegenführt. Alles Verstehen der Bibel war daher von vornherein heilsgeschichtlich • Deutsche Fassung des Artikels "Bible use", in: The Encyclopedia of the Lutheran Church, ed. 1. Bodensieck (Minneapolis/USA), I, 249-262, erstmals veröffentlicht in: G. Gloege, Verkündigung und Verantwortung. Theologische Traktate II, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1967, ~292. Literatur zum Ganzen: M. Kiihler, Art. Bibel, in: RE1 11, 686--691; G. Rietschel, Art. Bibellesen und Bibelverbot, ebd. 700-713; G. Heinrici, Art. Hermeneutik, ebd. VII, 718-750; W. Schweitzer, Das Problem der Biblischen Hermeneutik in der gegenwärtigen Theologie, in: ThLZ 75 (1950), 467--478; 0. Weber, Art. Hermeneutik, in: EKL II, 120-126; G. Gloege, Art. Bibel 111. Dogmatisch, in: RGG1 I, 1141-1147; C. Kuhl, Art. Bibelwissenschaft I. Altes Testament, ebd. 1227-1235; W. G. Kümmel, Art. Bibelwissenschaft 11. Neues Testament, ebd. 1236-1251; G. Ebeling, Art. Hermeneutik, ebd. 111, 242-262 (besonders wichtig); M. Elzel H. Liebing, Art. Schriftauslegung IV, ebd. V, 1520-1535; A. Bea, Art. Biblische Hermeneutik, in: LThK1 II, 435--439; R. Simon, Histoire critique du Vieux Testament (1678); ders., Histoire critique des principaux commentaires du Nouveau Testament (1693); L. Diestel, Geschichte des Alten Testaments in der christlichen Kirche (1869); 1. Wach, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert, 1-111 (1926-1933); B. Smalley, The Study of the Bibel in the Middle Ages (Oxford [194{)] 1 1952); M. 1. Scheeben, Handbuch der katholischen Dogmatik I (1 1948), §§ 16-20 (Lit.); H. Grass, Die katholische Lehre von der heiligen Schrift und von der Tradition (1954); E. G. Kraeling, The Old Testament since the Reformation (London 1955); H.-1. Kraus, Geschichte der hist.-krit. Erforschung des Alten Testaments von der Reformation bis zur Gegenwart (1956); W. G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, Orbis 111, 3 (1958); H. Beintker, Die evangelische Lehre von der heiligen Schrift und von der Tradition (1961).
14
GEI\BAlU) GLOEGE
[263/264)
orientiert, bzw. mußte sich mit der heilsgeschichtlichen Orientierung auseinandersetzen.- Der Anspruch der Bibel, in Gestalt literarischer Urkunden das Wort Gottes zu enthalten, stellte jede Generation neu vor die Aufgabe, zwischen der Aussage (ß) des jeweiligen Textes und I seinem Sinn (a) zu unterscheiden. So war der Kirche und ihren Lehren vonAnfang an als Grundproblem jeder Bibelauslegung dieFrage nach dem Verhältnis von Buchstabe (littera: ß) und Geist (spiritus: a) mitgegeben. Die Ausleger und Benutzer der Bibel können wir je nach dem, ob das eine oder das andere Moment stärker hervortritt, als Lit· teralisten (ß) oder Spiritualisten (a) unterscheiden. Dabei wird auch stets die jeweilige Stellung zur Autorität der Kirche deutlich.
2. Die alexandrinische Schule Zu den wirksamsten Voraussetzungen des weiteren (insbesondere mittelalterlichen) Schriftverständnisses1 gehören die Werke der großen Alexandriner. In ihnen begegnet uns im Gefolge (neu-)platonischer Oberlieferung (u. a. auch Philos) die spiritualistische Form der Bibelauslegung in klassischer Ausprägung (a). Für Clemens von Alexandrien (t vor 216) ist die Bibel ein großes zusammenhängendes Ganzes, in dem jeder Teil gleich wichtig ist. Sie ist die einzige Quelle der Erkenntnis (yvooo~). Als solche ist sie Gottes Wort. überall spricht in ihr der Herr durch seine Werkzeuge: die Apostel und Propheten. Ihre innere Einheit wird durch den Geist (mreü11a) begründet und verbürgt. Da die Bibel ein vom Geist durchwaltetes Gefüge ist, ist auch das Alte Testament cluistologisch zu deuten. Die Einheit der Schrift wird auf Kosten der Verschiedenheit ihrer Teile behauptet: es gibt nur einen Bund, der sich den einzelnen Phasen des göttlichen Heilsplanes anpaßt. Will man die Bibel recht verstehen, so bedarf man eines Maßstabes (xavoov): der kurzen Zusammenfassung der biblischen Hauptlehren, wie sie summarisch im kirchlichen Glaubensbekenntnis vor1 P. Heinisch, Der Einfluß Philos auf die älteste christliche Exegese (1908); E. v. Dobschütz, Vom vierfachen Schriftsinn. Die Geschichte einer Theorie, in: HamackEhrung (1921), 1-13; G. Zimmermann, Die hermeneutischen Prinzipien Tertullians (Diss. Leipzig, 1937); W. den Boer, De Allegorese in het Werk van Clemens Alexandrinw (Leiden 194{)); J. Danielou, Origene (Paris 1948); H. de Lubac, Histaire et espriL L'intelligence de l'Ecriture d'apres Origene (Paris 1950); Fr. L. Ripke, Paradoxe Einheit durch Interpretation bei Klemens von Alexandrien (Diss. Göttingen 1955); vgl. ThLZ 81 (1956), 631 f.; H. Karpp, Schrift und Geist bei Tertullian. BFChTh 47 (1955); P. Brunner, Charismatische und methodische Schriftauslegung nach Augustins Prolog zu De doctrina christiana, in: KuD 1 (1955) 5969, 85-103; R. Lorenz, Die Wissenschaftslehre Augustins, in: ZKG 67 (1955/56), 29-60; 21~251; G. Strauß, Schriftgebrauch, Schriftawlegung und Schriftbeweis bei Augustin, BGH 1 (1958).
[264/265]
Zur Geschimte des Sduiftverständnisses
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liegen. So vermag die Bibel, die große Erzieherin, Stütze des Lebens zu sein. AlsUrheberinder Wahrheit ist sie Quelle für die Verkündigung wie auch Hilfe zur Ausformung des ethischen Ideals. - Neben die I Bibel tritt als zweite Quelle der Erkenntnis die Tradition (xaQ..6yo~ (zusammengesetztes Zitat aus Paulus) nebeneinander (s. R. M. Grant, The Bible of Theophilus of Antioch, JBL 66, 1947, S. 173 ff.); der Gnostiker Ptolemäus (s. A. v. Hamack, Ptolemäus, Brief an die Flora, 1912) zitiert den xueLo~ und Ilaü>..o~ 6 ci1t6'toA.o~ in gleicher Weise (II, 4; III, 15; IV, 5). Andererseits stellen die Märtyrer von Scili (um 180, s. Preusdten, Analeeta II, S. 17) neben die libri, zu denen zweifellos auch die Evangelien zu rechnen sind, die epistulae Pauli viri iusti.
72
WERNER GEORG KÜMMEL
[238/239)
senen Kanons der Markioniten hat die schon im Gang befindliche Entwicklung zweifellos beschleunigt. Nun mußte die Entwicklung dahin gehen, eine bestimmte Zahl von Evangelien als allein maßgebend zu bezeichnen und die Sammlung der Paulusbriefe, die Markion schon vorgefunden hatte, zu einer Sammlung aller Zeugnisse der Apostel zu erweitern, wobei auch die Apostelgeschichte einbezogen28 und der von Papias und Justin schon so hoch geschätzten Johannesapokalypse der Weg zur Anerkennung als "Schrift" bereitet wurde. Markion hat also schwerlich die Kanonsbildung der Kirche angeregt, wohl aber beschleunigt und in Nebenpunkten beeinflußt29 . Wir sehen denn auch, daß sich die in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts fortgebildeten Ansätze zur Bildung des Vierevangelienkanons und zur Gleichstellung einer Sammlung von Apostelschriften mit diesem Evangelienkanon am Ende des 2. Jahrhunderts weitgehend konsolidiert haben. Den drei großen Theologen, die am Ende des 2. Jahrhunderts die Traditionen des Westens und Ägyptens repräsentieren, steht die Vierzahl der Evangelien ebenso fest wie die Wertung von 13 Paulusbriefen, der Apostelgeschichte und des 1. Petrusbriefes als Bestandteile der "Heiligen Schrift". Und doch bestehen noch erhebliche Unterschiede. Irenäus, der die Vierzahl der Evangelien als providentiell nachzuweisen sucht30 , führt keine von ihm zitierten I Apostelschriften ausdrücklich als "Schrift" an31 ; Clemens von
Alexandrien dagegen stellt noch apokryphe Schriften wie Bamabas und 1. Clemens den späteren kanonischen Schriften des Neuen Testaments gleich, verrät überhaupt noch kein Wissen um eine feste 18 Die Apostelgeschichte wird vor dem letzten Drittel des 2. Jahrhunderts nirgendwo sicher zitiert (s. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 195 f.; die Benutzung durch lgnatius hat W. L. Knox, The Acts of the Apostles, 1948, S. 1 f. nicht wirklich bewiesen). Sie ist auch relativ lange nicht als kanonisch betrachtet worden, wie die große Breite der Varianten im 2. Jahrhundert beweist (s. M. Dibelius, The Text of Acts, JR 21, 1941, S. 421 ff.). Aber das beweist nicht, daß die Apostelgeschichte erst im Zusammenhang mit einer kirchlichen Bearbeitung des Lukasevangeliums im Gegensatz zu Markion verfaßt worden sei (so J. Knox, Marcion, S. 126 ff.), sondern nur, daß die Apostelgeschichte erst spät im 2. Jahrhundert kanonisiert wurde, als man daran ging, auch über den Umfang des Apostelteils des neuen Kanons sich Gedanken zu machen. 11 Die Kirche hat nicht nur die markionitischen Prologe zu den Paulusbriefen, sondern auch den markionitischen Laodizenerbrief, ja teilweise auch markionitische Textformen (Doxologe des Römerbriefs) unbemerkt übernommen (s. die Nachweise bei A. v. Hamack, Marcion, S. 127• ff., 134• ff. und Studien zum NT I, 1931, s. 184 ff.). 10 Die theologische Unmöglichkeit dieses Versuchs betont mit Recht 0. Cullmann, Die Pluralität der Evangelien als theologisches Problem im Altertum, ThZ 1, 1945, s. 23 ff. (38 ff.). 31 Nur haer. 111, 12, 12 (II, 65 Harvey) werden einmal die Paulusbriefe im Vorbeigehen zu den scripturae gerechnet.
[239]
Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons
Grenze des Kanons 32 ; und T ertullian, der als erster ausdrücklich vom Alten und Neuen Testament redet (deres. cam. 39), weiß, daß überdie normative Geltung bestimmter Apostelschriften verschiedene Meinungen herrschen33 • Man kennt also im Westen und in Ägypten am Ende des 2. Jahrhunderts einen neuen Kanon, der unbestrittenermaßen aus vier Evangelien und einem Apostelteil besteht, wobei der Apostelteil noch keineswegs einheitlich begrenzt wird. Dieser Sachverhalt wird bestätigt durch das älteste vorhandene Kanonsverzeichnis, das Muratarische Fragment, das zweifellos den römischen Kanon vom Ende des 2. Jahrhunderts wiedergibt34 • Auch hier zeigt sich das Bewußtsein, daß die Christen einen neuen Kanon besitzen {vgl. den Gegensatz der nach der Zahl vollständigen Propheten zu den apostoli in fine temporum, Z. 79 f.); auch hier zeigt sich die Tatsache, daß es neben den für den Verfasser unumstritten kanonischen Schriften noch solche gibt, die darum kämpfen, "in die katholische Kirche aufgenommen zu werden" (Z. 66), wozu der angebliche Laodizenerbrief des Paulus (aus der markionitischen Kirche stammend) und der Hirt des Hermas gehören, während an der Zugehörigkeit der Petrusapokalypse zum Kanon der Verfasser im Gegensatz zu anderen Christen nichts auszusetzen hat (Z. 71/3). Wichtiger aber ist, daß wir hier zum erstenmal in die Motive bewußter Kanonsabgrenzung einen Einblick erhalten: als kanonisch werden nur Schriften anerkannt, die von einem Apostel stammen bzw. unter dessen Autorität geschrieben sind und die für die ganze catholica ecclesiabestimmt sind. Damit ist von Anfang an als maßgebendes, aber nicht streng durchführbares Motiv für die Zulassung zum Kanon die Abfassung einer Schrift durch einen "Apostel" zur Anwendung gekommen, das Neue Testament ist also durch einen nach einem bestimmten Maßstab sich vollziehenden Ausleseprozeß abgegrenzt worden, ohne daß die Abgrenzung des Apostelteils Ende des 2. Jahrhunderts schon endgültig vollzogen gewesen wäre. So ging denn in den beiden folgenden Jahrhunderten der Kampf weitgehend um die Frage der endgültigen Abgrenzung des Apostelteils des neuen Kanons; doch war auch die Vierzahl der Evangelien u S. J. Ruwet, Clement d'Alexandrie, canon des ~critures et apocryphes, Biblica 29, 1948, s. 77 ff., 240 ff., 391 ff. 13 Er nennt den von ihm auf Bamabas zurückgeführten Hebräerbrief nur receptior apud ecclesias im Verhältnis zum Hirten des Hennas (de pud. 20, 2); nennt er diese Apokalypse hier als apocryphus pastor moechorum und führt dieses Urteil auf Gemeindebeschlüsse zurück (de pud. 10, 12), so hatte er diese Schrift früher als kirchlicher Theologe zur scriptura gerechnet (de orat. 16, s. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 36 f.). 14 M.-J. Lagrange hält mit guten Gründen Hippolyt für den Verfasser (Le canon d'Hippolyte et le fragment de Muratori, Rev. Bibi. 1933, S. 161 ff.). Der Text des Fragments bei Preuschen, Analeeta II, S. 27 ff.
74
WERNER GEORG KüMMEL
(239/~]
noch nicht endgültig überall anerkannt. Origenes hat noch das apokryphe Hebräerevangelium zu den in ihrer kanonischen Geltung Ivon manchen umstrittenen Schriften geredmet35 , und Ende des !2. Jahrhunderts mußte der Bischof Serapion von Antiochien in seiner Diözese das Petrusevangelium wegen seiner doketischen Ansichten verbieten, ohne daß das Buch darum aus dem kirchlichen Gebrauch verschwunden wäre38 ; in der syrisch sprechenden Kirche hat gar bis zum 5. Jahrhundert nur das Diatessaron Tatians in kirchlichem Gebrauch gestanden, und die syrischen Bischöfe des 5. Jahrhunderts konnten auch dann nur unter Schwierigkeiten das Diatessaron durch den Vierevangelienlmnon verdrängen37 • Doch sind das nur Einzelfälle, die zeigen, daß das Bewußtsein noch längere Zeit nicht verlorenging, daß der Vierevangelienkanon nicht von jeher bestanden hat und erst im Laufe einer, wenn auch relativ kurzen, Entwicklung Anerkennung gefunden hatte. Dagegen blieb die Frage der Abgrenzung des Apostelteils des neuen Kanons noch lange der eigentliche Gegenstand der Diskussion, auf derenEinzelheitenhier nicht eingegangen zu werden braucht. Das Kriterium, mit dem die Auseinandersetzung in erster Linie um die kanonische Geltung des Hebräerbriefs, der Johannesapokalypse, des !2. Petrus-, !2. und 3. Johannes-, Judas- und Jakobusbriefes geführt wurde, ist auch weiterhin die Anerkennung oder Bestreitung der Abfassung einer Schrift durch einen Apostel (vgl. Origcnes bei Eus. h. e.
VI, !25, 10), aber man sieht sich immer wieder zu dem Zugeständnis gezwungen, daß über diese Frage in manchen Fällen verschiedene Urteile möglich sind, und stellt darum letztlich auf das Urteil der Mehrheit über diese Fragen ab (so besonders Euseb selber, z. B. h. e. 111, !25, 3 ff.). Diese Unsicherheit in der Abgrenzung des Apostelteils des Kanons, die in Syrien besonders groß gewesen zu sein scheint38, war unvermeidlich, wenn als maßgebendes Kriterium für die kanonische Geltung einer Schrift die apostolische Abfassung angewandt wurde, eine Entscheidung über den Verfasser aber in manchen Fällen 15
M.-J. Lagrange, Histoire ancienne du canon du Nouveau Testament, 1933,
s. 96 f.
• Eus. h. e. VI, 12, 2 ff.; über den weiteren Gebrauch des Buchs in Syrien s. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 177 f. 17 S. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 165 ff. und J. Schäfers, Evangelienzitate in Ephräms des Syrers Kommentar zu den paulinischen Schriften, 1917. 18 Die antiochenischen Väter des 4. Jahrhunderts anerkannten teilweise nur drei, teilweise gar keine katholischen Briefe als kanonisch und lehnten alle die Apokalypse ab (s. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 91 f., 247 f.). In der nationalsyrischen Kirche finden sich vor der Peschitta (Anfang des 5. Jahrhunderts) keine katholischen Briefe und keine Apokalypse im Kanon, und auch dort fehlten noch 2. Petr, 2. und 5. Job, Jud, Apk, die erst in die Philoxeniana (6. Jh.) zur Angleichung an den Kanon der Griechen eingefügt wurden (s. W.Bauer, Der Apostolos der Syrer, 1903).
[240/241)
Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons
75
(etwa beim Hebräerbrief oder der Apokalypse) nur durch dogmatische Überlegungen oder überhaupt nicht sicher möglich war. So bedurfte es denn eines autoritativen Entscheids, um hier eine endgültige Regelung zu treffen. Er geschah in der griechischen Kirche durch den bekannten 39. Osterfestbrief des Athanasius von 36739 , der das Neue Testament in seinem heutigen Umfang festlegte und erreichte, daß nur noch in ganz vereinzelten Fällen im griechischen Kirmengebiet an der Zahl dieser 27 Schriften des Neuen Testaments gerüttelt wurde. Im Westen hat Papst Innozenz I. 405 in einem Brief an einen französischen Bischof ebenfalls den Kanon Ides Athanasius vertreten40 , und an dieser Entscheidung ist von amtlicher Seite nicltt mehr gerüttelt worden, mochten auch vereinzelte Handschriften noch eine Zeitlang älteren Anschauungen folgen. Die endgültige Abgrenzung des Neuen Testaments in der Alten Kirdie ist also durch einen nicht weiter begründeten autoritativen Entscheid vollzogen worden. Das Mittelalter hat sich einfach an diesen Entscheid gehalten, und erst durch den Humanismus wurden die von Hieronymus überlieferten Bedenken der Alten Kirche gegen die apostolische Herkunft der im 3. und 4. Jahrhundert umstrittenen Schriften wieder belebt. Cajetan ging so weit, einige dieser Schriften als nicht apostolisch und darum nicht im vollen Sinne kanonisch zu bezeichnen41 • Dieser Kritik gegenüber verwarf das Decretum de canonicis scripturis des tridentinischen Konzils42 jede Abstufung innerhalb des Kanons und bezeichnete ausdrücklich alle Schriften des Apostelteils des Kanons als Werke von Aposteln, stellte darüber hinaus aber die ungeschriebene Tradition den geschriebenen Büchern gleich. Damit war nicht nur die Grenze des neutestamentlichen Kanons unwiderruflich gezogen, sondern auclt diese Grenzziehung zugleich relativiert, weil die veritas ja nur zu einem Teil im Kanon enthalten ist. Es ist darum unvermeidlich gewesen, daß das Vaticanum noch weitergehend die Kirche der Schrift und der Tradition überordnete und die letzte Autorität dem ex cathedra lehrenden Papst zuschrieb 43 . Damit ist die Grenze des Kanons für die katholische Theologie letztlich unwesentlich geworden, und das Problem der sachlich richtigen Abgrenzung des Kanons kann sich gar nicht mehr stellen. Dieses Problem dagegen mußte in der Reformation notwendiger" Abgedruckt bei Prewchen, Analeeta II, S. 42 ff. 40 S. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 230 Anm. 3. 41 S. J. Leipoldt, Geschichte II, S. 33 ff. Vom Hebräerbrief sagt Cajetan: "qUDniam nisi sit Pauli, non perspicuum est canonicam esse" I u C. Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, 19244 , S. 291 f. 43 C. Mirbt, aaO, S. 458, 16 ff.; S. 465, 24 ff. Vgl. dazu H. Strathm.ann, Heilige Schrift, Tradition und die Einheit der Kirche, ThBl 21, 1942, S. 33 ff. (36 ff.).
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WERNER GEOI\G KüMMEL
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weise aufbrechen. Luther war ausgegangen von der Überzeugung, daß die ganze Bibel einen einheitlichen Sinn habe, hatte aber schon bald bemerkt, daß nicht alles im N eueruTestament mit dem von ihm als zentral erkannten paulinischen Evangelium in Übereinstimmung seiu.. Diese Einsicht fand ihren Niederschlag in den Vorreden zum Septembertestament von 1522cs. Hier betont Luther einerseits, daß es nur ein Evangelium gibt, weil alle Schriften von Christus reden 48 , unterscheidet aber andererseits die besten Bücher von denen, die weniger Predigt Christi enthalten, und stellt daneben dann noch die Bücher, die nicht zu den "rechten, gewissen Hauptbüchern des Neuen Testaments" gehören (Hebräerbrief, Jakobus- und Judasbrief, Apokalypse)47, und die er darum ohne Numerierung ans Ende seiner Übersetzung stellte. I Die Anfechtung der vollen kanonischen Geltung dieser vier Schriften begründet Luther einerseits mit der Bestreitung ihrer apostolischen Herkunft in der Alten Kirche und führt selber Gründe gegen die Abfassung der Schriften durch einen Apostel an 48 ; andererseits treibt Luther eine sachliche Kritik an Hebräer, Jakobus und Apokalypse mit dem Hinweis darauf, daß sie mit Paulus in Widerspruch stehen, und mit der Feststellung, daß sie nicht "Christum predigen und treiben" 49 • Luther ist in der Verbindung dieser beiden Forderungen für die kanonische Geltung einer neutestamentlichen Schrift dabei so weit gegangen, daß er apostolisch nennen möchte,
"was Christum predigt, wens gleych Judas, Annas, Pilatus und Herodes thett" 50 • Die konsequente Anwendung dieses Grundsatzes würde bedeuten, daß nicht die Abfassung durch einen Apostel, sondern die Obereinstimmung mit dem apostolischen Christuszeugnis der entscheidende Maßstab für die Zugehörigkeit zum Kanon sei. AberLuther hat diesen zweifellos richtigen Grundsatz nicht konsequent durchführen können, weil ihm letztlich im Anschluß an die altkirchliche und humanistische Fragestellung doch die Abfassung durch einen Apostel das entscheidende Kriterium blieb. So bleibt sein Urteil über den kanonischen Charakter der von ihm angefochtenen Schriften doch un" K. Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I, 19231 - 1 , S. 549, 560 f.; G. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, 1942, S. 402 ff. 4$ Lutlzer, Weimarer Ausgabe (WA), Deutsche Bibel (DB), Bd. 6 und 7. 41 "Vorrede an das NT", WA, DB 6, S. 2 und 6. 47 "Welches die rechten und edelsten Bücher des NT sind" (WA, DB 6, S. 10 f.); "Vorrede auf die Epistel zu den Hebräern" (WA, DB 7, S. 344). 48 Die altkirchlichen Bedenken gegen die apostolische Abfassung des 2. Petrusbriefes und des 2. und 3. Jobarmesbriefes scheint Lutlzer nicht zu kennen oder übersieht sie, obwohl Erasmus diese Nachridlten im Anschluß an Hieronymus weitergegeben hatte (s. J. Leipoldt, Geschichte II, S. 17 f.). •• Vorreden zu Hebr, Jak und Jud, Apk (WA, DB 7, S. 344, 384, 404). 60 "Vorrede auf die Episteln Sanct Jacobi und Judas" (WA, DB 7, S. 584).
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sicher-5 1, aber an dem unevangelischen Charakter des Jakobus- und Judasbriefes hat Luther immer festgehalten 52 • Diese kanonkritischen Urteile Luthers haben freilich kaum weitergewirkt: die andem Reformatoren und die spätere reformatorische Theologie haben keinen Zweifel an der vollen Kanonizität der 27 neutestamentlichen Schriften zugelassen, und wenn z. B. J. Brenz die sieben von der Alten Kirche umstrittenen Schriften zu den libri apocryphi zählte und nicht zum dogmatischen Beweis zulassen wollte53 , so haben die späteren Dogmatiker diese rein historisch gemeinte Unterscheidung als unnötig wieder aufgehoben5• und darin die richtige Einsicht gezeigt, daß die Frage nach dem dogmatischen Normcharakter einer Schrift durch die unsichere Antwort auf die Frage nach ihrem Verfasser nicht entschieden werden kann. Als dann die Theologie der Aufklärung den Nachweis führte, daß der neutestamentliche Kanon eine geschichtlich gewordene Größe sei, da löste sich dieser nur mit historischen Argumenten abgegrenzte Kanon als dogmatischer Begriff völlig auf, wie wir gesehen haben, und so kam es zu der Kanonskrise, die bis heute andauert und eine Gefahr für eine biblisch begründete Theologie bedeultet. Es muß darum im folgenden unsere Aufgabe sein, unter voller Berücksichtigung der geschichtlichen Tatbestände die Frage nach der Notwendigkeit und der Grenze des neutestamentlichen Kanons zu beantworten.
III Nach katholischer Anschauung hat die Kirche die neutestamentlichen Bücher als von Gott inspirierte Schriften anvertraut bekommen und nur diese ihr anvertraute Wahrheit durch Aufstellung eines Verzeiclmisses dieser Bücher autoritativ verkündet, so daß der treue Sohn der Kirche auf deren Autorität hin diese Wahrheit glauben kann55 • Die Geschichte des Kanons beweist, daß diese Anschauung unrichtig ist. Der Gedanke einerneuen Schriftautorität ist erst im Laufe des 2. Jahrhunderts aufgekommen, und die Kirche hat nicht nur mit Einige der schärfsten Urteile über den Jakobusbrief und die Apokalypse hat Lut.her in den späteren Ausgaben der deutschen Bibel gestrichen (s. J. Leipoldt, Geschichte II, S. 79 f.). 51 Zum Jakobusbrief vgl. bes. WA, Tischreden, Nr. 5443 (aus dem Jahr 1542); noch 1543 wies Luther eine Berufung auf Jakobus gegenüber der übrigen Schrift zurück (K. Roll, Gesammelte Aufsätze I, 1gz)!-1, S. 561 Anm. 6). Zum Judasbrief vgl. die Zitate aus WA 14, S. 75 ff. bei J. Leipoldt, Geschichte II, S. 75 Anm. 1. 51 S. J. Leipoldt, Geschichte II, S. 127 ff. 14 Siehe K. Barth, Kirchliche Dogmatik, I, 2, 1938, S. 528 f. 16 M.-J. Lagrange, Histoire ancienne du canon, S. 5. 171 ("La verite qu'elle [sc. die Kirche] a definie touchant les livres canoniques doit se trouver dans le depöt de Ia revelation, scelle a la mort du dernier des Apötres"). 61
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Hilfe der Tradition die später aufgekommenen Zweifel an der apostolischen Herkunft der neutestamentlichen Schriften widerlegt18, sondern die Kirche hat nach langem Hin und Her deklariert, was allein als Bestandteil der Heiligen Schrift zu gelten und darum normative Bedeutung hat. Die Kirche hat bei dieser Deklaration in der Hauptsache die Abfassung der einzelnen Schriften durch einen Apostel als letztes Kriterium für die Zugehörigkeit zum neutestamentlichen Kanon angewandt; doch galt dieses Prinzip in der ältesten Zeit der Kanonsbildung noch nicht ausschließlich, andernfalls wären die Evangelien des Markus und Lukas und die Apostelgeschichte überhaupt nicht in den Kanon gekommen 57 • Der Kanon ist also in seiner abgeschlossenen Form zweifellos eine bewußte Schöpfung der Kirche; im Verhältnis zum Kanon als geschlossener Größe ist also die organisierte Kirche primär. Und als die Kirche durch autoritative Entscheide festlegte, welche Schriften endgültig zum Kanon gehören dürften und welche nicht, hat sie die in den Gemeinden da und dort herrschende kanonische Schätzung einer Schrift immer wieder außer Kraft gesetzt, sich aber auch da und dort überzeugen lassen, daß eine andere kirchliche Gruppe eine richtigere Anschauung über die apostolische Herkunft einer bestimmten Schrift vertrete58 • Es ist also das Urteil der Kirche gewesen, das bestimmte Schriften als kanonisch und damit als normativ I deklarierte, ohne daß diese Schriften selber auf solche Geltung Anspruch erhoben hätten (vgl. nur den Jakobusbrief!); aber das bedeutet nicht, daß der Kanon des Neuen Testaments überhaupt M.-J. Lagrange, aaO, S. 179. Schon Justin hat festgestellt, daß die "Memoiren" verfaßt seien v1t0 'tÖ>V O:tocno>.wv a\hoüxal 'tÖ>V btdvouc; naQaxoAoui'r)aanwv (Dial. 103, 8); Papias hat das Markusevangelium unter die Autorität des Petrus gestellt (Eus. h. e. 111, 39, 15), und der antimarkionitisme Lukasprolog (abgedruckt bei Huck-Lietzmann, Synopse der drei enten Evangelien, 1936', S. VIII) bezeid:met Lukas als Schüler der Apostel und des Paulus. Für die Apostelgeschimte betont smon das Muratorisme Fragment, es handle sim um acta omniwn apostolorwn, und das Buch habe den gleichen Verfasser wie das Lukasevangelium. Man hat also die zweifellos nicht von "Aposteln" verfaßten Schriften unter die Autorität von "Aposteln" gestellL 11 So ist Ende des 4. Jahrhunderts der bis dahin im Westen nur gelegentlich als Bamabasbrief bekannte Hebräerbrief durch den Einfluß der östlimen Theologen als 14. Paulusbrief stufenweise in den Kanon aufgenommen worden; so hat man im Osten im Laufe des 4. und 5. Jahrhunderts die Apokalypse auch dort als kanonism anerkannt, wo man sie vorher völlig abgelehnt hatte. So stand andereneits die Petrusapokalypse nach dem Muratorismen Fragment am Ende des 2. Jahrhunderts im Kanon der römismen Gemeinde und wurde von Giemens von Alexandrien ausgelegt (Eus. h. e. VI, 14, 1), geriet aber dann fast völlig in Vergessenheit, während der Bamabasbrief und der 1. Clemensbrief, die von Giemens von Alexandrien als kanonism angesehen worden waren und in den Codex Sinaiticus bzw. Alexandrinus des Neuen Testaments aufgenommen wurden, nie in ein Kanonsverzeichnis gelangt sind. H
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eine bewußte Schöpfung der Kirche gewesen sei. Vielmehr hatten sich die Worte des Kyrios und die apostolische Verkündigung schon im apostolischen Zeitalter als neue Norm über das Alte Testament gestellt, und aus dieser zunächst nur im lebendigen Wort sich äußernden Norm mußte beim sich vergrößernden Abstand von der Apostelzeit notwendigerweise vom Anfang des 2. Jahrhunderts an die Norm des geschriebenen Wortes des Kyrios und der geschriebenen Apostelverkündigung werden. Daß es zur Bildung eines neuen Kanons überhaupt kam, war darum die einfache Folge aus der Tatsache, daß die Kirche begründet ist auf das durch die Apostel bezeugte Christusgeschehen und ohne dieses Zeugnis nicht sein kann. Ist so die Entstehung eines neuen Kanons Teil der Formwerdung der Kirche und nicht bewußte Schöpfung, so ist dieser Kanon doch durch die Jahrhunderte nur dadurch bewahrt worden, daß die Kirche ihm durch einen bewußten Akt eine Begrenzung gab. Dieser Tatbestand, der sich aus der Kanongeschichte eindeutig ergibt, stellt uns nun vor die doppelte Frage, ob diese Bildung eines Kanons eine auch für uns maßgebende Tatsache ist und ob die autoritative Abgrenzung dieses Kanons durch die Alte Kirche berechtigt sei bzw. wie wir die Grenze des Kanons zu beurteilen haben. Wenden wir uns zunächst der Beantwortung der ersten Frage zu, so müssen wir ausgehen von dem ganz einfachen Tatbestand, daß wir als Christen mit der für unsern Glauben in irgendeiner Weise wesentlichen geschichtlichen Gestalt Jesu nur dann in Berührung kommen und bleiben können, wenn uns von Jesus etwas überliefert wird, wenn uns ein irgendwie gearteter Bericht über ihn zugänglich ist. Eine Uberlieferung über die geschichtliche Gestalt Jesu ist uns aber erhalten fast ausschließlich in den Schriften des Neuen Testaments, und darum kann kein christlicher Theologe bestreiten, daß die Evangelien des Neuen Testaments als grundlegende Quelle für unsere Kenntnis der geschichtlichen Gestalt Jesu für uns unentbehrlich sind59 • Aber diese Uberlegung führt nicht weiter als bis zu der Feststellung, daß die Christen ohne die geschichtlichen Nachrichten über Jesus in den Evangelien keine I Jünger Jesu sein können, wie es keine Platoniker hätte geben können, bestünde keine Uberlieferung über 11 Ob wir aus außerduistlichen Quellen etwas über die Penon Jesu erfahren und ob wir in späteren christlichen Schriften geschichtlich braudlbare Oberlieferungen über Worte und Taten Jesu fmden, die nicht in den Schriften des Neuen Testaments enthalten sind, darf in diesem Zusammenhang beiseite gelassen werden. Beides ist sehr wahrscheinlidl der Fall (s. einerseits H. Windisch, Das Problem der Geschichtlichkeit Jesu: Die außercbristlidlen Zeugnisse ThR N. F. 1, 1929, S. 266 ff., andererseits 1. leremias, Unbekannte Jesusworte, 1948); aber die Frage nach der geschichtlichen Zuverlässigkeit dieser doch vereinzelten Nachrichten kann ja nur von den kanonischen Evangelien her beantwortet werden.
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die Lehre Platos. Der Kanon des Neuen Testaments enthält aber nicht nur Worte Jesu und Berichte über Jesus, sondern in seinem Werden wie seinem endgültigen Bestande nach eine Zusammenstellung von EuayyH.lov und lm6otoAo~. Und der Kanon ist nicht als Sammlung geschichtlicher Oberlieferungen entstanden, sondern aus dem Bedürfnis, die Kunde von Jesus und das Zeugnis für Jesus als Norm für die christliche Verkündigung weiterhin zur Verfügung zu haben. Worin aber besteht diese nonnative Verkündigung des Neuen Testaments? Nicht in einer unbeteiligten oder doch in der Hauptsache einfach berichtenden Überlieferung von Jesus, da ja durch die formgeschichtliche Arbeit an den Evangelien klargestellt worden ist, daß auch die synoptischen Evangelien als ganze und in ihren wesentlichsten Bestandteilen kerygmatischen Charakter tragen60. Vielmehr besteht die grundlegende Verkündigung des Neuen Testaments in EuayyEAlOV und lm6otoÄo~ in gleicher Weise in dem Zeugnis, daß der Mensch Jesus von N azareth der Messias, der Menschensohn, der Gottessohn sei, weil Gott den ans Kreuz Geschlagenen von den Toten auferweckte und "sichtbar werden ließ nicht dem ganzen Volk, sondern den von Gott vorher ausgewählten Zeugen" (Apg 10, 40 f.). Und die Schriften des Neuen Testaments wollen im Leser diesen Glauben wecken und stärken. Der Kanon des Neuen Testaments ist darum seinem wesentlichen Inhalt nach nicht geschichtliche Mitteilung, sondern zeugnishafte Aussage über ein geschichtliches Faktum. Solche zeugnishafte Aussage über Gottes Tat in Jesus Christus ist aber auch das Wesen der Verkündigung der Apostel und ihrer Schüler und Helfer gewesen, und nur auf Grund solcher zeugnishaften Aussagen ist die Kirche entstanden61. Diese Verkündigung der Apostel und ihrer Schüler war zunächst mündliche Verkündigung, aus dieser mündlichen Verkündigung erwuchs der Glaube der ersten Christengemeinden. Nur wo dieses Zeugnis gehört werden konnte, konnte Glaube und damit Kirche entstehen, der Glaube war gebunden an die Zuverlässigkeit der Verkündigung der apostolischen Zeugen. Nun konnte dieses Zeugnis gehört werden, solange es Christen der ersten und zweiten Generation gab, die am Christusgeschehen noch persönlich Anteil genommen oder direkt aus • Siehe dazu M. Dibelius, Gospel Criticism and Christology, 1935; K. L. Schm.idt, Fondement, but et limites de la methode dite la "Formgeschichte" appliquee aux Evangiles (in "Le Probleme du Christianisme primitif", 1938, S. 7 ff.); H. W. Bartsch, Die theologischen Konsequenzen der formgeschichtlichen Betrachtung der Evangelien, ThBl 19, 1940, S. 301 ff. 11 "Das Apostelwort gehört selbst in die Offenbarung Gottes durch Jesus Christus hinein. Der Akt der geschichtlichen Gottesoffenbarung ist erst dort vollendet, wo er im Apostel zum sprachlichen \Vort ... und zum Glauben schaffenden Zeugnis wird" (E. Brunner, Offenbarung und Vernunft, 1941, S. 121).
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dem Munde der ersten Zeugen davon gehört hatten62 • Dieses Zeugnis konnte aber nach dem Aussterben der Christen der ersten und zweiten Generation nur noch weiter gehört werden, wenn es in schriftlicher Form niedergelegt und weitergegeben wurde. So trat völlig notwendigerweise im Laufe des I 2. Jahrhunderts an die Stelle des mündlichen Zeugnisses der ersten Christenheit das schriftliche Zeugnis aus der Apostelzeit als die Botschaft, an der allein der Glaube sich entzünden und auf die allein der Glaube sich mit guten Gründen stützen konnte, weil nur hier in ursprünglicher Weise von Jesus berichtet und von Jesus Christus Zeugnis abgelegt wurde. Dieses ursprüngliche Zeugnis aber mußte für die Kirche erhalten bleiben, weil der christliche Glaube nur möglich ist, wenn er Kunde hat von dem geschichtlichen Heilshandeln Gottes, das das Wirken Jesu Christi ebenso in sich befaßt wie die Schaffung der Gemeinde durch die Auferweckung Jesu Christi. Die Kunde von diesem Heilshandeln Gottes, die nie anders denn als Zeugnis von diesem Heilshandeln ausgesprochen werden konnte, war aber als menschliches Zeugnis Menschenwort und damit selbst eine geschichtliche Größe, die vor ständiger Umbildung und damit Auflösung des Ursprünglichen nur bewahrt werden konnte, wenn sie fixiert und dadurch vor Vermehrung, Verminderung oder Veränderung geschützt wurde. Weil die Heilstat Gottes sich in der Geschichte vollzog, war die Bildung einer neuen schriftlichen Norm notwendig, die die Berichte von Jesus und die Bezeugung der Wirklichkeit des Auferstandenen und seiner Gemeinde enthielt. Nicht deswegen mußten den Christen des 2. Jahrhunderts die schriftlichen Zeugnisse der apostolischen Zeit maßgeblich sein, weil in diesen schriftlichen Zeugnissen die ursprüngliche Ergriffenheit und Glaubenstärke der neuen Bewegung zu spüren war, sondern weil die Männer der apostolischen Zeit die ersten Zeugen waren, die darum dem Heilsgeschehen zeitlich am nächsten standen, und weil so ihr Zeugnis der Verderbnis durch Mißverständnis oder Umbildung am wenigsten ausgesetzt war83 • Weil die Apostel die Zeugen der ersten Zeit waren, die das Heilsgeschehen als einmaliges geschichtliches Ereignis in sich barg, ist das Amt und die Funktion der Apostel, wie immer man diesen Begriff begrenzen mochte, auch einmalig geblieben und in der späteren Kirche mit Recht nicht fortgeführt worden64 • 11 Vgl. noch Papias' Prooemium (bei Eus. h. e. III, 39, 4): "\Venn aber irgendwo ein Nachfolger der Ältesten kam, so forschte ich nach den Worten der Ältesten ... Denn im glaubte nicht von dem, was aus Büchern stammt, so viel Nutzen zu haben als von dem, was aus lebendiger, bleibender Stimme (ertönt)." 11 "Der Vorrang des apostolischen Zeugnisses ist nicht ein inhaltlidter, sondern ein geschichtlicher, der der heilgeschichtlichen Ordnung" (P. Althaus, Die christliche Wahrheit I, 1947, S. 179). 14 Siehe dazu besonders Ph.-H. Menoud, L'Eglise et lcs ministeres selon le Nou-
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Darum konnte aber auch nur eine Sammlung der schriftlich niedergelegten Äußerungen der Männer der Apostelzeit in der Form eines nicht mehr abzuändernden Kanons die apostolische Botschaft von Gottes Heilstat späteren Generationen so unverfälscht wie möglich weitergeben und so in die Nachfolge der Apostel eintreten81 , damit auch die späteren Generationen die Möglichkeit hätten, ihren Glauben auf die ursprüngliche Kunde von Gottes Heilstat aufzubauen und ihre Glaubenserkenntnis an der apostolischen Botschaft zu messen. Die Schätzung bestimmter urchristlicher Schriften als der alttestamentlichen Norm gleichgestellt, ja übergeordnet, ist so notwendigerweise in der frühen Kirche entstanden, und die Abgrenzung gegen die Irrlehre, besonders gegen Markion, hat die Kirche nicht erst veranlaßt, einen Kanon zu schaffen, sondern nur das Bewußt!werden der Kanonsbildung beschleunigt. Der Glaube, daß Gott sich in Jesus Christus einmalig offenbart hat, geht also der Einsicht in die Notwendigkeit und den normativen Charakter des neutestamentlichen Kanons von Anfang an voraus, zieht aber diese Einsicht notwendigerweise hinter sich her. Nur der Glaube, der im Zeugnis der im Kanon enthaltenen urchristlichen Schriften der Botschaft von Jesus Christus begegnet ist, kann darum die Berechtigung und Notwendigkeit eines neutestamentlichen Kanons für die christliche Kirche erkennen und bejahen; wo Jesus nls Religionsstifter angesehen und das Urchristentum als eine Zeit besonders lebendiger Religiosität gewertet wird, muß die Notwendigkeit einer solchen Norm bestritten werden. Ist so mit dem Glauben an die Einmaligkeit und Geschichtlichkeit der Christusoffenbarung die Anerkennung der Notwendigkeit eines neutestamentlichen Kanons gegeben, so kann auch die Notwendigkeit nicht bestritten werden, daß dieser Kanon abgegrenzt sein muß. Es ist geschichtlich nicht ganz sicher zu erkennen, wann und aus welchen Motiven sich die Notwendigkeit einer genauen Begrenzung des neuen Kanons zuerst ergeben hat. Die älteste uns bekannte Kanonsliste, das Muratorische Fragment, erhebt den Anspruch, diejenigen Bücher aufzuzählen, die in der Gemeinde dem Volk sich kundtun dürfen (se publicare in ecclesia populo ... potest Z. 77 f.), betrachtet also die als kanonisch anerkannten Bücher allein als diejenigen, die im Gottesdienst vorgelesen werden dürfen; und wenn dann weiter gesagt wird, daß ein nichtkanonisches Buch weder unter den zahlenmäßig abgeschlossenen Propheten noch unter den "Aposteln am veau Testament, 1949, S. 25 ff. und H. v. Campenhau.sen, Der urchristliche Apostelbegriff, Studia Theologica I, 1947, S. 96 ff. (bes. 121 f.). 111 Vgl. die Bemerkungen von H. v. Cam.penhau.sen, aaO, S. 127 ff. und G. Ebeling, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche, ZThK 47, 1950, S. 1 ff. (13 f.).
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Ende der Zeiten" vorgelesen werden dürfe (Z. 78/80), so zeigt sich hier deutlich das Bewußtsein, daß auch die Schriften der Apostel eine grundsätzlich geschlossene Größe darstellen, ohne daß über den Umfang dieser Größe schon allgemeine Obereinstimmung herrschte. In dieser Kanonsliste ist also am Ende des 2. Jahrhunderts die Vorstellung deutlich vorhanden, daß das Neue Testament eine klare Abgrenzung haben müsse. Und dieses Bewußtsein ist wohl auch schon etwas früher zu erschließen, wenn Melito von Sardes (um 180) eine Liste der alttestamentlichen Bücher aufstellt und sie bezeichnet als "die Bücher des Alten Bundes" (Eus. h. e. IV, 26, 13 f.), wobei der Liste der Bücher des Alten Bundes doch wohl eine aufzustellende Liste der Büdler des Neuen Bundes entspricht. Völlig eindeutig ist diese Vorstellung vom geschlossenen Kanon dann bei Tertullian vorhanden, der die ganze Bibel als "totum instrumenturn utriusque testamenti" (adv. Prax. 20) bezeichnet. Vor Melito können wir dieses Bewußtsein, daß die neue Offenbarungsurkunde eine feste Grenze haben müsse, aber nicht sichernachweisen68 • Die Annahme, daß die Kanonsbildung Markions die Kirche mehr oder weniger gezwungen habe, den Kanon Markions durch einen umfangreicheren abgeschlossenen Kanon zu überbieten67 , hat sich uns als unwahrscheinlich erwiesen, weil die Kirche schon aus Iinneren Gründen auf dem Weg war, mehrere Evangelienschriften und eine Sammlung von Apostelschriften zu einer zweiteiligen schriftlichen Norm zusammenzuschließen, deren Sinn als Bewahrung der Stimme der apostolischen Verkündigung notwendigerweise zur Ausschließung späterer Schriften und damit zu einer gewissen Abschließung dieser Norm führen mußte. Markions Vorbild hat die innerkirchliche Entwicklung aber zweifellos beschleunigt und bewußter gemacht. Wenn auf der anderen Seite A. v. Hamack die These vertrat, daß der Kampf gegen die montanistische These vom Weitergehen der Offenbarung im Parakleten allererst die Kirche veranlaßt habe, den Kanon als instrumenturn novum ideell abzuschließen68, so ist auch diese Vermutung unwahrscheinlich, weil sich schon bei Justin die Tendenz zeigt, neben die als Norm gewerteten Evangelien Apostelschriften zu stellen, und weil man es andererseits zur Zeit des beginnenden Montanismus gerade noch nicht gewagt hat, den Apostelteil des neuen Kanons als wirklich abgeschlossen hin.. Zwischen Melito und Tertullian ist das Zeugnis des antimarkionitischen Anonymus (Polykrates von Ephesus?, so W. Kühnert, ThZ 5, 1949, S. 436 ff.) bei Eus. h. e. V, 16, 3 anzusetzen, der von der Gefahr der Zufügung zum "Wort des neuen Bundes des Evangeliums" redet, was zweüellos auf "Schriften des Neuen Bundes, und zwar nicht nur Evangelien führt" (so A. v. Harnack, Die Entstehung des NT, 1914, s. 27). 17 So J. Kno:r, Mareion and the New Testament, S. 32 ff. • A. v. Hamack, aaO, S. 24 ff.
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zustellen, und sich über die Art der zu vollziehenden Abgrenzung noch keineswegs im klaren war. Es spricht vielmehr alles dafür, daß die Notwendigkeit, den Kanon als Schutz des apostolischen Kerygmas grundsätzlich als abgeschlossen zu denken, sich der Kirche im Laufe der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts aufdrängte, weil mit dem Fernerrücken der apostolischen Zeit die Möglichkeit immer geringer wurde, daß noch unbekannte apostolische Schriften auftauchten, die Gefahr des Eindringens späterer Fälschungen oder umfangreicher Veränderung des apostolischen Schrifttums aber immer größer wurde. Freilich hat dieses Bewußtsein, daß die für den neuen Kanon in Betracht kommenden Schriften grundsätzlich beschränkt sein müßten, zunächst keineswegs zur Folge gehabt, daß man diese Schriften in ihrem Wortlaut als unantastbar ansah. Denn es kann keine Frage sein, daß zwar die Aufnahme einer Schrift unter die kanonischen Schriften ihren Text vor der völligen Verwilderung schützte18 ; aber ebenso ist sicher, daß der große Variantenreichtum gerade auch der am frühesten zum Kanon gezählten Schriften (synoptische Evangelien, Paulusbriefe) zum allergrößten Teil bis in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann, als diese Schriften bereits gottesdienstlich gebraucht und als Norm gewertet wurden70 • Die Anschauung, daß der Kanon grundsätzlich als abgeschlossen zu denken sei, hat also nicht zu einer sklavischen Fixierung des Textes der kanonischen Bücher geführt. Damit ist aber auch schon gesagt, warum der Kanon des Neuen Testaments seijnem Wesen nach abgegrenzt sein muß, wenn er die Aufgabe erfüllen soll, um derentwillen er geschaffen wurde. Begegnet die Kirche im Kanon dem Zeugnis der geschichtlichen Heilstat Gottes, wie es die Männer der apostolischen Zeit allein unverfälscht verkünden konnten, und kann dieses Zeugnis von späteren Generationen nur gehört, nicht aber neu gegeben werden, so kann dieses Zeugnis gegen eine Verderbnis nur dann geschützt werden, wenn es in seiner geschichtlichen Gegebenheit erhalten und darum unverändert bleibt. " Auffallend starke Variantenbreite zeigen die erst spät im 2. Jahrhundert kanonisierte Apostelgeschichte (s. M. Dibelius, The Text of Acts, JR 21, 1941, S. 421 ff.) und die pericope adulterae (Job 7, 53-8, 11), die erst im 4. Jahrhundert aus der apokryphen Oberlieferung in den kanonischen Text eingedrungen ist (s. Th. Zahn, Das Evangelium des Johannes 1921 1-., S. 723 ff.). 70 So sind z. B. die sachlich bedeutsamen Varianten Job 1, 13 (lS; ... lyEvvi)atJ, s. die Erörterung der Bezeugung bei F.-M. Braun, Qui ex deo natus est, Aux sources de la tradition chretienne, Melanges offerts a M. Goguel, 1950, S. 11 ff.), Mt 27, 16 f. ('l11ooii'v BaQaßßäv, s. A. Merx, Das Evangelium Matthaeus, 1902, S. 400 f. und B. H. Streeter, The Four Gospels, 19365, S. 87, 101), Gal2, 5 (Fehlen des ouöt, s. H. Schlier, Der Brief an die Galater, 1949, S. 40 Anm. 2) genauso sicher für das ausgehende 2. Jahrhundert bezeugt wie ihre breiter bezeugten Gegenlesarten.
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Diese Erkenntnis zieht aber zwei wichtige Folgerungen nach sich. 1. Enthält der Kanon die apostolische Botschaft, die die Kirche begründet hat und auf die sich der Glaube allein immer wieder gründen kann, so muß sich die im Kanon enthaltene Verkündigung selber als Wahrheit erweisen und kann nicht erst durch die Kirche als Wahrheit erwiesen werden. Die Kirche übermittelt uns wohl den Kanon, aber sein Inhalt muß sich uns selbst in seinem Sinn erkennbar machen71, kann also seinen Sinn nicht von der Kirche vorgeschrieben erhalten. Jegliches kirchliche Bekenntnis kann nur als aktuelle Interpretation des Neuen Testaments berechtigt sein und muß sich immer vom Neuen Testament her prüfen und korrigieren lassen. 2. Der Kanon kann der Kirche das unverfälschte Kerygma der Apostelzeit und dadurch den Zugang zum geschichtlichen Heilsereignis nur dann sichern, wenn der geschlossene Kanon nicht dadurch überflüssig gemacht wird, daß eine mündliche oder schriftliche Tradition sich neben oder über ihn stellt72 . Die Notwendigkeit, daß der Kanon grundsätzlich geschlossen sein müsse, kann nur dort eingesehen und bejaht werden, wo die Einmaligkeit des geschichtlichen Heilshandeins Gottes nicht in Frage gestellt wird durch die Gleichstellung der späteren Kirche mit dem apostolischen Zeugnis. Diese Einsicht macht das Christentum nicht zur Buchreligion73 , nimmt dagegen die Unwiederholbarkeit und den begründenden Charakter der christlichen Urgeschichte ernst. Das der Kirche verheißene Zeugnis des Geistes (Joh 14, 16 f.; 16, 12 f.) schafft nicht neue Offenbarung, sondern ermöglicht nur die immer neue lebendige Begegnung mit der geschichtlichen Offenbarung. IV Ist so mit der Entstehung eines neuen Kanons das Wissen darum gegeben, daß der Kanon auf das apostolische Zeugnis beschränkt und "Da die Autorität des Neuen Testaments keine andere als die des Evangeliums ist, beglaubigt sie sich auch nicht anders als so, daß das Evangelium sich mit seiner Wahrheitsmacht bezeugt, d. h. Jesus Christus durch das Zeugnis von ihm Glauben an sich wirkt. Es kann nicht die Autorität der Schrift vor und unabhängig von der Autorität des Evangeliums begründet werden" (P. Althaus, Die christliche Wahrheit I, 1947, S. 200). 71 So schon eindeutig die Professio fidei Tridentinae von 1546 (s. C. Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums ..., S. 339, 32 ff.). 71 Wo die geschichtliche Einmaligkeit des Heilshandeins Gottes verkannt wird, weil das Urchristentum nur als "Zeitalter des Enthusiasmus" angesehen wird, muß der Gedanke des Abgeschlossenseins des Kanons als bedauerliche Fehlentwicklung beurteilt werden: "Das Zeitalter des Enthusiasmus ist geschlossen und für die Gegenwart der Geist wirklich- um mit Tertullian zu reden (adv. Prax. 1) - verjagt; er in in ein Buch gejagt!" (A. v. Hamack, Die Enstehung des NT, 1914, S. 25). 71
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darum grundsätzlich geschlos!sen sein müßte, so stellt sich nun die letzte Frage nach der richtigen Abgrenzung des Kanons und nach der Handhabung der Kanonsgrenze. Da der Kanon uns von der Alten Kirche überliefert, und zwar in einer durch autoritativen Entscheid der Kirche abgegrenzten Form überliefert ist, kann es nicht unsere Aufgabe sein, eine Grenze des Kanons überhaupt erst zu ziehen. Wir fmden uns vielmehr dem Kanon der Alten Kirche gegenüber und stehen vor der Frage, ob dieser Kanon sachgemäß begrenzt worden ist oder nicht bzw. ob wir diese Abgrenzung in dem Sinne beibehalten müssen und können, wie sie von der Alten Kirche gemeint war. Diese Frage ist aber durchaus notwendig, ja ihre rechte Beantwortung für die Grundlegung einer wirklich biblisch begründeten Theologie unerläßlich. Wir sahen ja, daß die Entstehung des Kanons ein notwendiger Vorgang beim Übergang von der Urkirche zur frühkatholischen Kirche war und daß der Kanon seine Funktion nur erfüllen kann, wenn er grundsätzlich für jede spätere Erweiterung geschlossen ist. Nun hat die Kirche zwar nicht den Kanon durch einen bewußten Akt geschaffen, wohl aber im 4. Jahrhundert nach zweihundertjährigem Schwanken eine endgültige Begrenzung des Kanons dekretiert, die als Werk der Kirche notwendigerweise der immer erneuten Nachprüfung bedarf. Hat doch die Betrachtung der zur endgültigen Kanonsabgrenzung führenden Auseinandersetzungen deut-
lich gezeigt, daß die Kirche bei der endgültigen Festlegung des Apostelteils des Kanons nicht einfach einen vorhandenen Tatbestand festgestellt, sondern für bestimmte, nicht in allen Teilen der Kirche anerkannte Anschauungen über die Herkunft einzelner Schriften allgemeine Anerkennung gefordert und durchgesetzt hatn. Das Motiv für 7& Wenn K. Barth sagt: "Die Kirche konnte und kann sich den Kanon in keinem Sinn dieses Begriffes selber geben ... Sie kann ihn nur als schon geschaffenen und ihr gegebenen Kanon nachträglich nach bestem Wissen und Gewissen, im Wagnis und im Gehorsam eines Glaubensurteils, aber auch in der ganzen Relativität einer menschlichen Erkenntnis der dem Menschen von Gott eröffneten Wahrheit feststeHen ... Irgend einmal und in irgendeinem Maß ... haben gerade diese Schriften kraft dessen, daß sie kanonisch waren, selbst dafür gesorgt, daß gerade sie später als kanonisch auch anerkannt und proklamiert werden konnten" (Kirchl. Dogmatik I, 2, 1938, S. 524 f.), so ist das angesichts des Verlaufs der Kanonsgeschichte in der Alten Kirche falsch. Die Kirche hat sich ganz gewiß den Kanon nicht gegeben; aber sie hat bei der endgültigen Grenzziehung nicht einfach festgestellt, was kanonisch war, weil es sich schon als kanonisch erwiesen hatte, sondern sie hat die gegen die apostolische Herkunft bestimmter Schriften bestehenden Bedenken ganzer Teile der Kirche durch autoritativen Entscheid beiseite geschoben und damit diese Schriften für große Teile der Christenheit erst kanonisch gemacht. K. Barths Behauptung entspricht zwar der katholischen Anschauung (s. S. 243), übersieht aber, daß der Kanon in seiner endgültigen Form eine zufällige geschientliehe Größe ist und darum an der Kontingenz jeder geschichtlichen Größe Anteil hat. Wenn die Kirche wirklich nur festgestellt hätte, was kanonisch schon war,
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die Ausschließung einiger Schriften, die da und dort als normative angesehen worden waren (Petrusapokalypse, Bamabas- und 1. Clemensbrief, Hirt des Hermas usw.), ganz besonders aber für die endgültige Aufnahme der längere Zeit umstrittenen Schriften (Hebräer-, Jakobus-, Judas-, 2. und 3. Johannes-, 2. Petrusbrief, Apokalypse) war fast aus!schließlich die Frage, ob diese Schriften durch einen Apostel abgefaßt sein könnten; bei dieser Diskussion über die apostolische Herkunft der einzelnen Schriften haben dann in geringerem Maße auch sachliche Motive eine Rolle gespielt, freilich nur in dem Sinn, daß die Erörterung inhaltlicher Fragen bei der Entscheidung über die apostolische Abfassung mit zur Entscheidung beitrug75 • Die Folge dieser Anschauung, daß die kanonische Autorität einer Schrift abhängig sei von ihrer Abfassung durch einen Apostel, war zunächst in der Alten Kirche, daß mit der Anerkennung der apostolischen Abfassung einer urchristlichen Schrift deren volle Zugehörigkeit zum neutestamentlichen Kanon als gesichert erschien; wo sich eine solche Sicherheit nicht gewinnen ließ wie etwa beim Hebräerbrief78, mußte die kanonische Geltung einer solchen Schrift unsicher bleiben. Und als man auf Grund der historischen Fragestellung der Aufklärung die traditionellen Angaben über die Verfasser aller neutestamentlichen Schriften grundsätzlich einer geschichtlichen Prüfung unterwarf, da brachte die traditionelle Verkoppelung von apostolischer Abfassung und kanonischer Geltung es mit sich, daß die Frage nach dem Verfasser einer neutestamentlichen Schrift aus einer rein gedürfte auch K. Barth nicht nachher fordern, daß die Kirche "sich gegen weitere Belehrung auch hinsichtlich des Umfangs dessen, was ihr als Kanon tatsächlich anvertraut ist, nicht zum vomherein verschließen" dürfe (aaO, S. 532, s. auch S. 526). Der endgültig abgeschlossene Kanon muß vielmehr ohne Umschweife als der Nachprüfung bedürftiges Werk der Kirche auf Grund des geschichtlichen Sachverhalts anerkannt werden. 71 So ist in der nationalsyrischen Kirche des 3. und 4. Jahrhunderts der Philemonbrief als unerbaulich dem Paulus abgesprochen oder wenigstens als nicht inspiriert aus dem Kanon ausgeschlossen worden (s. J. Leipoldt, Geschichte I, S. 209 ff.); so hat Dionysius von Alexandrien die Apokalypse dem Evangelisten Johannes hauptsächlich aus stilistisch-sprachlichen Gründen abgesprochen, aber daneben auch die irdisch-ausmalende Eschatologie gegen die Herkunft vom Evangelisten angeführt (Eus. h. e. VII, 25, 3 f.); und der Bischof Serapion von Antioc:hien hat am Ende des 2. Jahrhunderts die zunächst gegebene Erlaubnis zur gottesdienstlichen Verlesung des Petrusevangeliums zurückgezogen, nachdem ihm der doketisc:he Charakter der Schrift durch eigene Lektüre deutlich geworden war (Eus. h. e. VI, 12, 3 ff.). J. Leipoldt, Geschichte I, S. 267 hat darauf verwiesen, daß auch ganz gelegentlich einmal Kanonizität trotz fehlender Apostolizität behauptet worden ist. 71 Origenes (bei Eus. h. e. VI, 25, 13 f.) stellt fest, daß die Gedanken des Hebräerbriefs paulinisc:h seien, die Sprache aber nicht; er will darum zulassen, daß man man den Brief als Paulusbrief betrachte, wo man es bisher tat; "wer aber den Brief geschrieben hat, weiß in Wahrheit Gott".
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schichtliehen zu einer eminent theologischen Frage wurde: was "unecht" und darum nicht von einem "Apostel" geschrieben war, konnte nicht kanonisch sein, und was kanonisch sein sollte, mußte als "echt" erwiesen werden77 • Bei allen diesen Argumentationen wurde aber ein grundlegender Fehler gemacht: man arbeitete mit einem auf bestimmte Personen beschränkten Begriff des "Apostels", ohne zu beachten, daß dieser Begriff durchaus nicht streng faßbar ist. Denn der bei Paulus erkennbare älteste Apostelbegriff der Urkirche bezeichnet mit diesem Titel eine nicht genau begrenzte Zahl von Christus selbst berufener Auferstehungszeugen und Missionare, zu denen auch Paulus sich rechnet; schon bei Lukas dagegen wird der Begriff, freilich nicht ganz konsequent, auf die Zwölf beschränkt, während Paulus diesen Titel nicht erhält (Apg 14, 4 ist die Ausnahme, die I die Regel bestätigt); und vom Ende des 1. Jahrhunderts an wird Paulus zwar fast ausnahmslos auch zu den Aposteln gerechnet, dagegen mehr oder den Aposteln gesehen78 • weniger in Abhängigkeit von den Zwölfen Wird so der Apostelbegriff im Neuen Testament selber mehrdeutig gebraucht, so ist darüber hinaus nicht einmal sicher, daß das Neue Testament für die Verfasser des Jakobus- und Judasbriefes, die nach der ältesten Tradition von den Herrenbrüdern dieses Namens stammen sollen, überhaupt den Aposteltitel gebraucht hat79 • Es ist also
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völlig unmöglich, den Begriff des "Apostels" geschichtlich scharf zu 77 Das hat schon F. C. Baur deutlich formuliert: "Die Einleitungswissenschaft hat zu untersuchen, ob diese Schriften auch das an sich sind, was sie nach der dogmatischen Vorstellung, die man von ihnen hat, sein sollen ... Thre erste Aufgabe ist die Beantwortung der Frage, mit welchem Recht sie sich für apostolische Schriften ausgeben"; er redet dementsprechend von "jeder mit den besten kritischen Gründen aus dem Kanon verwiesenen Schrift" (Theol. Jahrbücher 1850, S. 478 und 472; auf diese Äußerung verweist H. Strathmann, aaO, Sp. 306 f.). 78 Siehe W. G. Kümmel, Kirchenbegriff und Geschichtsbewußtsein in der Urgemeinde und bei Jesus, 1943, S. 5 ff. und besonders H. v. Campenhausen, Der urchristliche Apostelbegriff, Studia Theologica I, 1947, S. 96 ff. und für die spätere Zeit J. Wagenmann, Die Stellung des Paulus neben den Zwölf in den ersten drei Jahrhunderten, 1926, S. 55 ff. 78 Die Zurückführung des Jakobusbriefes auf den Herrnbruder begegnet zum erstenmal bei Eus. h. e. II, 23, 24, aber schon Origenes hatte den Verfasser ö än6a"toAO~ genannt, ohne über dessen Identität sich im klaren zu sein (s. A. Meyer, Das Rätsel des Jakobusbriefes, 1930, S. 51 ff.); und so heißt der Verf. denn "Apostel" in den abschließenden Kanonsverzeichnissen der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts (Athanasius, s. Preuschen, Analeeta II, S. 44, und die römische Synode von 382, s. Th. Zahn, Grundriß der Geschichte des neutestamentlichen Kanons, 19041, S. 85). Es ist aber äußerst fraglich, ob Paulus den Jakobus zu den Aposteln gerechnet hat (s. W. G. Kümmel, aaO, S. 45 Anm. 15), und im übrigen Neuen Testament erhält Jakobus nirgendwo diesen Titel. - Der Judasbrief wird schon von Tertullian (de culL fern. I, 3) auf einen Apostel, von Giemens von Alexandrien (adumbr. in epistula Judae, Werke hrsg. von 0. Stählin 111, 1909, S. 206) auf den Herrenbruder zurückgeführt; aber im Neuen Testament wird Judas nirgends Apostel genannL
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defmieren, und schon darum ist die Anschauung, daß die Abfassung durch einen "Apostel" Vorbedingung für die kanonische Geltung einer neutestamentlichen Sduift sei, unhaltbar. Und wenn sich darüber hinaus aus den Diskussionen in der Alten Kirche ebenso wie aus der modernen Einleitungswissenschaft ergibt, daß in mehreren Fällen überhaupt nicht sicher festgestellt werden kann, wer eine bestimmte neutestamentliche Schrift geschrieben hat, so ist es erst recht unmöglich, die Entscheidung über die Zugehörigkeit einer urchristlichen Schrift zum Kanon von ihrer Abfassung durch einen "Apostel" abhängig zu machen. Die Abgrenzung des neutestamentlichen Kanons mit Hilfe der Rückführung jeder einzelnen Schrift auf einen Apostel als Verfasser muß darum völlig aufgegeben werden. Muß man so die Verkoppelung der Fragen nach der apostolischen Abfassung und der Kanonizität einer neutestamentlichen Schrift aufgeben, so ergibt sich ebenso unausweichlich die Folgerung, daß die Frage nach der Grenze des neutestamentlichen Kanons nicht mehr unter Weiterführung der Diskussionen des 3. und 4. und des 16. Jahrhunderts gestellt werden kann. Denn dort ging es ja fast ausschließlich um die Frage, ob die sogenannten Antilegomena (Hehr, Jak, Jud, 2. Petr, 2. und 3. Job, Apk) auch wie die 20 unbestrittenen Schriften des Neuen Testaments als kanonisch anzusehen seien oder nicht, und die Entscheidung über diese Frage wurde, mit der einzigen Ausnahme Luthers, letztlich nur von der Frage nach der apostolischen Herkw#\ dieser Schriften her zu entscheiden gesucht. Im Anschluß an diese altkirchlich-humanistische Fragestellung sucht auch heute noch die Dogmatik immer wieder die Richtigkeit der letzten altkirchlichen Kanonsbegrenzung zu begrünlden oder in Frage zu stellen80 • Sucht man aber von dieser Fragestellung aus die Grenzen des neutestament81 So redetE. Brunner, Offenbarung und Vernunft, 1941, S. 131 von einer "Kanonsperipherie", "innerhalb deren etwa der 2. Petrusbrief, der Judasbrief, der Jakobusbrief und die Apokalypse liegen". Und W. Elert, Der christliche Glaube, 194{), S. 221 ff. behauptet, die Theologie sei immer erneut vor die Frage nach der Geltung der Antilegomena gestellt, und nennt für die Entscheidung der Kanonsfähigkeit zwei Kriterien: "erstens, ob sich in ihrem Zeugnis die Verheißung erfüllt, die Christus an die Sendung des Pneumas knüpfte, zweitens, ob es ursprüngliches oder, anders gesagt, ob es kein abgeleitetes Zeugnis ist". Nun ist das erste Kriterium durchaus berechtigt, das zweite aber schwerlich durdtführbar, da literarische Abhängigkeit, auch wo sie sicher nachweisbar ist, kein Argument gegen kanonische Geltung zu sein braucht. Elert will denn von hier aus nur den Judasbrief als "nicht ursprüngliches Zeugnis" gelten lassen, weil sein Inhalt fast ganz im 2. Petrushrief enthalten sei. Aber wenn man schon dieses Kriterium der "Ursprünglichkeit" im literarischen Sinne aufstellt, darf man die Frage der literarischen Priorität zwischen 2. Petrus und Judasbrief nicht offen lassen, wie Elert es tut, weil ja bei der wahrscheinlicheren Annahme der Abhängigkeit des 2. Petrusbriefes vom Judasbrief diese aus anderen Gründen so problematische Schrift gerade als "ursprüng-
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liehen Kanons zu bestimmen, so müßte sich die Folgerung ergeben, daß die Entscheidung der Kirche des späteren 2. Jahrhunderts betreffs der unbestritten kanonischen Schriften unantastbar sei, nicht aber die der Kirche des 4. Jahrhunderts betreffs der umstrittenen Bücher. Und überdies müßte man dann zugeben, daß die Pastoralbriefe eine unanfechtbare kanonische Autorität besäßen, nicht aber der Hebräerbrief. Diese theologisch unmöglichen Folgerungen beweisen, daß die Frage nach der Grenze des neutestamentlichen Kanons nicht mehr von der Fragestellung aus gelöst werden kann, ob auch die letzte Entscheidung der Alten Kirche auf Grund ihrer Fragestellung nach der "apostolischen" Herkunft der noch umstrittenen Schriften bindend sei oder nicht. Vielmehr müssen wir entschlossen von dem Tatbestand ausgehen, daß der von der Alten Kirche uns überlieferte Kanon uns nicht nur durch bestimmte seiner Schriften, die aus mehr zufälligen Gründen länger umstritten waren als andere, sondern als ganzer vor die Frage stellt, ob er sachgemäß abgegrenzt sei oder nicht. Gehen wir bei der Antwort auf diese Frage von der grundlegenden Einsicht aus, daß die Kirche einen neutestamentlichen Kanon darum haben muß, weil das Zeugnis der ersten Christenheit von der geschichtlichen Heilstat Gottes in Jesus Christus, seiner Auferstehung und der Gründung seiner Gemeinde weitergegeben und vor Auflösung und Umbildung bewahrt werden mußte, so ist klar, daß Schriftep., die nach einem bestimmten Zeitpunkt, also etwa nach dem ersten Viertel des 2. Jahrhunderts, abgefaßt worden sind, nicht mehr als ursprüngliche Zeugnisse angesehen und darum auch nicht mehr zum Kanon gerechnet werden können. Insofern ist der Ausschluß des Hirten des Hermas aus dem Kanon durch das Muratorische Fragment durchaus richtig damit begründet worden, daß er erst neuestens geschrieben worden sei81 • I Freilich läßt sich dieses chronologische Argument nicht als positives Kriterium verwenden, denn der 1. Giemensbrief z. B., der noch von Giemens von Alexandrien zu den kanonischen Schriften gerechnet wurde, liegt zeitlich schwerlich weit vom Johannesevangelium ab, müßte also nach diesem rein chronologischen Maßstab ebensogut in den Kanon aufgenommen werden wie das 4. Evangelium. Und von den lgnatiusbriefen, die zweifellos noch ins erste Viertel des 2. Jahrhunderts gehören, wohin etwa auch die lid:J." und damit als in höherem Maße kanonisd:J. ersd:J.einen müßte! Die Frage der literarischen Ursprünglichkeit kann ebensowenig kanonskritische Bedeutung haben wie die Frage der "apostolischen" Abfassung der sogenannten Antilegomena. 81 "Den Hirten aber, den neuerdings zu unsem Zeiten Hermas in der Stadt Rom verfaßte, als auf dem Stuhl der Stadt Rom sein Bruder Bisd:J.of Pius saß, soll man deshalb zwar lesen, aber er kann nid:J.t in der Gemeinde dem Volk öffentlid:J. verkündigt werden, weder unter den Propheten, die der Zahl nach vollständig sind, noch unter den Aposteln am Ende der Zeiten" (Z. 73 ff.).
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Pastoralbriefe oder der 2. Petrushrief zu verlegen sein werden, wissen wir nicht, daß sie je als kanonisch gewertet worden seien. Der chronologische Maßstab läßt sich also nur negativ anwenden, indem man feststellt, daß Schriften aus der Zeit der ältesten Apologeten (etwa Barnabasbrief, Papias, Polykarpbrief) nicht mehr zum Kanon gehören können. Weitere formale Kriterien für die Zugehörigkeit einer urchristlichen Schrift zum neutestamentlichen Kanon gibt es aber nicht. Ist es der Sinn der Bildung und Abschließung des neutestamentlichen Kanons, das Zeugnis der ältesten Christen über das geschicl:Itliche Heilshandeln Gottes gegenüber späteren Veränderungen und Zufügungen abzuschließen, so muß die Möglichkeit zugegeben werden, daß ein derartiges urchristliches Schriftstück heute noch auftaucht: und der Kirche muß das Recht zugestanden werden, ein solches erst jetzt gefundenes Dokument der Apostelzeit auch heute noch in den Kanon aufzunehmen, wenn es sich bei Prüfung nicht nur als urchristlicl:I, sondern auch als in Obereinstimmung mit dem grundlegenden neutestamentlichen Kerygma erwiese82 • Und umgekehrt muß die Kirche das Recht haben, ein zum endgültigen Bestand des Neuen Testaments gehöriges Dokument aus dem Kanon wieder auszuscheiden, falls sicher erwiesen werden könnte, daß eine solche Schrift erst jenseits der chronologischen Grenzen des apostolischen Kerygmas entstanden ist. Aber dazu ist einschränkend doch einerseits zu sagen, daß ein solcher den altkirchlichen Kanon abändernder Akt nur dann mehr als ein weiteres historiscl:I zufälliges Ereignis sein könnte, wenn die Gesamtheit der Christenheit sich dazu verstehen könnte, was kaum denkbar istss. Und andererseits könnte, wie schon das Beispiel des 1. Giemensbriefes beweist, die Frage, ob eine neu gefundene Schrift aufzunehmen oder eine bisher als kanonisch angesehene auszuscheiden wäre, doch auf keinen Fall nur nach dem chronologischen Diese Frage wäre heute etwa zu stellen gegenüber der pericope adulterae, die nicht zum Johannestext gehörte, als das 4. Evangelium kanonisiert wurde, die aber wahrscheinlich in "apokrypher" Oberlieferung bis in die Zeit des Urchristentums zu verfolgen ist; die Frage wäre auch zu stellen gegenüber einzelnen apokryph überlieferten Worten und Taten Jesu; doch läßt sich deren Alter weniger sicher erweism (s. J. Jeremias, Unbekannte Jesusworte, 1948). Auf alle Fälle müßten dabei die kanonischen Evangelien der Maßstab sein. 81 "Es ist klar, daß eine solche Veränderung des Kanonbestandes ... sinnvoll und legitim nur als ein kirchlicher Akt, d. h. in Form einer ordentlichen und verantwortlichen Entschließung eines verhandlungsfähigen Kirchenkörpers Ereignis werden könnte" (K. Barth, Kirchliche Dogmatik I, 2, S. 530). Eine chronologische Umordnung und Ergänzung des Kanons durch Apokryphen, um dadurch "eine dem Stande der Wissenschaft entsprechende Neugruppierung und Ergänzung des Kanons zu erreichen" (das fordert E. Platzhoff-Lejeune, Schweiz. Theol. Umschau 19, 1949, S. 108 ff.), könnte nur Ausdruck subjektiver Willkür sein. 81
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Gesichtspunkt entschieden, sondern müßte I in entscheidender Weise durch Besinnung auf den sachlichen Gehalt der betreffenden Schrift geklärt werden. Damit sind wir aber bei der Erkenntnis angelangt, daß wir den von der Alten Kirche durch autoritativen Entscheid abgeschlossenen Kanon als gegebene Tatsache anerkennen müssen, ohne seinen Umfang als notwendig begründen zu können. Damit ist nicht gesagt, daß der Entscheid der Alten Kirche über den Umfang des Kanons für uns den Charakter einer bindenden Norm haben könne, schon darum nicht, weil dieser Entscheid ja bis ins 16. Jahrhundert nicht allerseits anerkannt worden ist, ganz besonders aber darum nicht, weil wir wissen, daß dieser Entscheid mittels des sachlich unhaltbaren Maßstabs der "apostolischen" Herkunft der einzelnen Schriften gefällt worden ist84 • Der Entscheid der Alten Kirche über den Umfang des Kanons ist vielmehr für uns der einzig mögliche Ausgangspunkt für die notwendige Besinnung über die Frage, was nun wirklich innerhalb des gegebenen Kanons Norm für den Glauben sein kann und muß. Denn der Kanon ist, wie wir sahen, Norm ja nicht auf Grund einer kirchlichen Autorität, die uns seinen normativen Charakter garantiert, sondern er ist Norm auf Grund des nns aus dem Kanon selber entgegentönenden und unsem Glauben weckenden Zeugnisses von Gottes Heilshandeln in Jesus Christus. Und das kann ja nur heißen: der Kanon
ist Norm für die Verkündigung der Kirche und damit für den Glauben, insoweit und nur insoweit er solches Christuszeugnis ist. Es kann also gar keine Frage sein, daß Luthers Grundsatz völlig richtig ist, daß kanonisch sei, "was Christum prediget und treibet" 85 • Nur bleibt die Frage zu beantworten, wie dieser Grundsatz konkret angewandt werden könne. Suchen wir aber auf diese Frage eine wirklich zuverlässige Antwort, so müssen wir mit der schon genannten Erkenntnis Ernst machen, daß die Frage nach dem "apostolischen" Verfasser in diesem Zusammenhang völlig aus dem Spiele bleiben muß. Aber ganz genauso müssen wir uns darüber im klaren sein, daß es eine durchaus unberechtigte Voraussetzung ist, daß das Christuszeugnis in den älteren Schriften am unverfälschtesten zu finden sein müsse, so daß also 84 Es ist darum falsch, daß man die einst gefallenen Entscheidungen der Kirche "wie hinsichtlich des Dogmas so auch hinsichtlich des Kanons als in Kraft und Geltung stehend ansehen müssen" werde (so K. Barth, aaO, S. 530). K. Barth zitiert darum zustimmend die in der Confessio Gallicana von 1559 erfolgte Festlegung des Umfangs der Heiligen Schrift auf den altkirchlichen Kanon (aaO, S. 525), während die lutherischen Bekenntnisschriften mit Recht keine solche Festlegung vorgenommen haben (s. P. Althaus, Die christliche Wahrheit I, S. 199 und W. Eiert, Der christliche Glaube, S. 221). ea S. oben S. 242.
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etwa die Synoptiker infolge ihrer größeren Nähe zum geschichtlichen Jesus dem völlig vom Christusbekenntnis der Urkirche her redenden Johannesevangelium in jeder Hinsicht überlegen sein müßten. Wir haben ja das Zeugnis von Jesus Christus in allen Schriften des Neuen Testaments nur in menschlicher Form, und die menschliche Irrtumsfähigkeit und das menschliche Unverständnis der göttlichen Wahrheit gegenüber ist angesichts der älteren Schriften ebenso in Rechnung zu stellen wie angesichts der jüngeren. Es ist darum ganz gewiß möglich und sogar wahrscheinlich, daß der zeitllich größere Abstand von der Geschichte Jesu auch eine sachliche Entfernung von der ursprünglichen Offenbarung Gottes in Jesus Christus mit sich bringt; aber wenn wir nicht bewußt im Gegensatz zum ganzen Neuen Testament die Offenbarung auf den geschichtlichen Jesus vor Ostern und Pfmgsten einschränken, so kann die frühere oder spätere Entstehung einer urchristlichen Schrift innerhalb der für den Kanon in Betracht kommenden Zeit (sog. apostolisches und nachapostolisches Zeitalter) an sich noch nichts über ihr sachliches Verhältnis zum apostolischen Kerygma aussagen88 • Wir kommen zu einer nicht rein subjektiven, aber auch nicht rein historisierenden Bestimmung der Grenze des neutestamentlichen Kanons nur dann, wenn wir den uns von der Alten Kirche überlieferten Kanon von dem Wissen her prüfen, daß hier von der geschichtlichen, endgültigen Offenbarung Gottes die Rede ist. Und das heißt ja nicht nur, daß die urchristliche Verkündigung der geschichtlichen Person Jesu und den geschichtlichen Ereignissen nach seinem Tode eine für immer gültige göttliche Bedeutung beimißt, sondern daß diese Verkündigung selber eine in der vergangenen Geschichte sich vollziehende und darum nicht zeitlose und unwandelbare Verkündigung ist. Das Zeugnis des Neuen Testaments ist seinem Wesen nach ein vielfältiges und sich entwickelndes, und gerade darum kann nur eine Sammlung der verschiedenartigen Zeugnisse, d. h. der Kanon, uns in ausreichender Weise mit dem urchristlichen Kerygma der Apostelzeit in Verbindung bringen87 • Dieses vielgestaltige Zeugnis hat aber seine für alle Zeiten normative Bedeutung nicht deswegen, weil es im Kanon steht, sondern darum, weil es in einem zeitlich ee Die Forderung von P. Althaus (Die christliche Wahrheit I, S. 195), "die Nähe einer Schrift zur Offenbarungsgeschichte, zu dem ursprünglichen missionarischen Zeugnis der Apostel" müsse durch historische Untersuchung festgestellt werden, ehe über die Kanonizität einer Schrift entschieden werden könne, ist nur dann richtig, wenn man sie auf die historische Feststellung beschränkt, daß eine Schrift vor etwa dem zweiten Viertel des 2. Jahrhunderts entstanden sei. 87 0. Cullmann, Die Pluralität der Evangelien als theologisches Problem im Altertum, ThZ 1, 1945, S. 23 ff. (40 ff.) hat mit Recht die Mehrzahl der kanonischen Evangelien mit der notwendigen Beschränktheit des einzelnen Christuszeugnisses begründet.
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und sachlich nahen Verhältnis zur geschichtlichen Christusoffenbarung steht. Daraus ergibt sich, daß eine Schrift des Neuen Testaments, aber ebenso auch nur ein Abschnitt einer neutestamentlichen Schrift, um so sicherer zum normativen Kanon gerechnet werden muß, je eindeutiger der Text auf die geschichtliche Christusoffenbarung hinweist und je weniger er durch außerchristliche Gedanken oder durch spätere christliche Fragestellungen verändert ist88 • Was aber von dieser Christusoffenbarung und ihrer Bedeutung für den Glauben nicht redet, hat nur in einem beschränkten oder auch in gar keinem Maße Anteil am normativen Charakter des Kanons89 • I Wie aber finden wir, ob eine Schrift oder Schriftstelle eindeutig auf die geschichtliche Christusoffenbarung hinweist oder nicht? Wir haben diese Christusoffenbarung ja nicht außerhalb ihrer Bezeugung im Neuen Testament, können das normative Zeugnis über sie also nur durch kritische Zusammenschau der verschiedenen Formen der neutestamentlial vorausgesetzt. Diese theologische Arbeit der Prüfung des Kerygma auf seine Einheit in der Schriftengemäßheit führt zur schriftlichen Kommentierung und Erweiterung jener fixierten Stücke des Kerygma. All das dient zunächst nur dem gottesdienstlichen Gebrauch, denn die Sammlung der Gemeinde durch das apostolische Kerygma geschieht in dessen mündlichem Vollzug. Das wird auch dadurch nicht grundsätzlich anders, daß das Evangelium, in Fortsetzung jener theologischen Kommentierung des Kerygma immer mehr auch literarisch ausgebildet wird. Auch die Briefe des Paulus und die übrigen Schriften gehen in die Schriftlesungspraxis ein, wie sie in der Fortsetzung des synagogalen Gottesdienstes in der Kirche geübt wird, und die Rezeption von Evangelien nnd Briefen besteht letztlich eben in der Aufnahme in den gottesdienstlichen Gebrauch. Dieser Sammhmgs- und Ausscheidungsprozeß begann lange, bevor eine zentrale kirchliche Autorität da war, die ihn hätte lenken können. Trotzdem stand der Kanon in seinen Hauptschriften schon um die Mitte des 2. Jahrhunderts ziemlich fest, während die Rezeption einzelner Schriften an seinem Rande noch bis in die Mitte des 4. Jahrhunderts un1stritten blieb. Erst als der Streit auch um diese Sclniften so ziemlich ausgetragen war und I Athanasius in seinem Osterbrief 367 zum ersten Mal die 27 Bücher des jetzigen N. T. als normative Sammlnng aufgestellt hatte, wurde dieser Kanon von einigen Provinzialsynoden für ihr Gebiet bestätigt. Ein entsprechender Beschluß eines allgemeinen Konzils liegt nicht vor. Die römisch-katholische Kirche hat den Kanon dann später im Florentinum und Tridentinum aus der Tradition in ihre Lehrentscheidungen aufgenommen. Das Subjekt in diesem Rezcptionsprozeß ist also die Kirche. Handelnd in Erscheinung tritt sie dabei zunächst in einzelnen Gemeinden und Gemeindeverbänden, und schließlich in ihrer Gesamtheit durch dazu autorisierte Vertreter, welche den vorhandenen Consensus fixieren und vollends durchsetzen. Fragt man hinterher, nach was für Maßstäben die Kirche in diesem Ausscheidnngsprozeß handelte, so lassen sich keine bestimmten Prinzipien feststellen, nach welchen die eine Schrift hätte rezipiert und die andere ausgeschieden werden mii.ssen. Eine ganze Menge der umlau-
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fenden Literatur sind Christuslegenden der frommen Dimtung oder gnostisme Traktate. Andere sind im Verhältnis zu den kanonism gewordenen Schriften sekundäre Sammlungen, die zwar auch solmen Oberlieferungsstoff enthalten, der in diesen nicht aufgenommen ist. Dabei kann man aber auch nicht sagen, daß die Rezeption unter dem Gesimtspunkt des historischen Quellenwertes zur Rekonstruktion der Geschichte Jesu erfolgt wäre. Sonst hätte mindestens eine Harmonisierung der vier Evangelien erfolgen müssen, zu der sim zwar immer wieder Ansätze fmden und die zum Beispiel Tatian mit seinem Diatessaron durchführte, das aber schließlich gerade nicht im Kanon verblieb, obwohl es die syrische Kirche noch bis ins 5. Jahrhundert im gottesdienstlichen Gebrauch behielt. Auch eine Harmonisierung der theologischen Aussagen wurde wohl versucht, aber ebenfalls nimt durchgehalten, wie zum Beispiel der Gegensatz von Lukas und Paulus oder von Paulus und Jakobus und manche andere sehr tiefgehende Gegensätze zeigen, welche die kanonisierende Kirche bestehen ließ. Die Kanonsgeschichte zeigt jedenfalls nirgends den Sieg eines theologischen Purismus irgendwelcher Art, sondern verrät im Gegenteil eine I mitunter erstaunliche Weitherzigkeit, so daß sich innerhalb des Kanons manche Stellen finden, die man heute vielleicht lieber in die Apokryphen verwiesen sehen würde, während es umgekehrt manche apokryphen Jesusworte gibt, die man sich ganz gut im Kanon denken könnte. Ein bestimmtes theologisches Ausscheidungsprinzip läßt sich also aus der Entstehungsgeschichte des Kanons nicht entnehmen. Wir erfahren auch nicht, daß in den damaligen Auseinandersetzungen um die Rezeption bestimmter Schriften mit einem solchen Prinzip argumentiert worden wäre. Dagegen wurde sehr früh mit einem historischen Gesichtspunkt, nämlich mit der apostolischen Verfasserschaft als Norm, gearbeitet. Aber auch dieser Gesichtspunkt ließ sich nicht rein durchführen, weil die Verfasser der kanonisch gewordenen Schriften zum Teil überhaupt nicht bekannt, zum Teil jedenfalls nicht als solche bekannt waren, die sonst im N. T. Apostel genannt werden. Man mußte sich mit den Bemühungen begnügen, möglichst die früheste Uberlieferung zu sammeln; und die historische Forschung kann hinterher mit einiger Wahrscheinlichkeit feststellen, daß die in den Kanon aufgenommenen Schriften tatsächlich auch die ältesten der noch vorhandenen Schriften sind. Wenn man trotzdem nach dem Abschluß des Kanons die apostolische Verfasserschaft seiner Schriften betonte, so ist das historisch nicht zu rechtfertigen. "Apostel" kann dabei nicht mehr im Sinn von Acta 1, 21 ff. der Augenzeuge der Auferstehung des Herrn sein, obwohl doch gerade an dieser Historizität alles gelegen sein müßte: sondern über die apostolische Autorität des Verfassers entscheidet nun 11 Käsemann, Kanon
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umgekehrt die Aufnahme in den Kanon: Um die Autorität des Kanons zu sichern, wird dieser durch die angebliche apostolische Verfasserschaft historisch begründet. Das wären in Kürze die wichtigsten Ergebnisse, welche uns die historische Forschung über die Entstehungsgeschichte des Kanons liefert. Besonders erstaunlich oder gar anstößig ist für den Historiker an diesem Ergebnis eigentlich nichts. Was er feststellen kann, ist eine Art von Wechselwirkung zwischen dem sich selbst durchsetzenden Schriftkanon und der durch die Verlkündigung dieses Kanons konstituierten und diesen umgekehrt wieder autorisierenden Kirche. Das Ganze ließe sich religionspsychologisch und -soziologisch sehr wohl erklären als ein Erstarrungsprozeß, bei welchem der ursprüngliche Enthusiasmus durch schriftlich festgelegte Normen für die Verkündigung abgelöst wurde, mit welchen die entstehende und immer mehr anwachsende religiöse Gemeinschaft der christlichen Kirche ihren Bestand gegen alle Bedrohungen von innen und außen sicherte. Problematisch wird die Sache erst dort, wo die Kirche für den Kanon den offenkundig nicht gelingenden historischen Beweis der apostolischen Verfasserschaft führen will. Jener historische Beweis für die Gültigkeit des Kanons hat freilich schon in der frühkatholischen Kirche und dann vollends im späteren Katholizismus keine eigentlich tragende Bedeutung, sondern wir haben es hier mit einer eigenartigen Kombination von historischem und dogmatischem Urteil zu tun. Machen wir uns das klar an dem bekannten Wort von Augustin: Ego vere Evangelio non crederem, nisi me ecclesiae catholicae commoveret auctoritas. Das Wort könnte seinen guten Sinn haben, wenn es nur auf jenen Zirkel zwischen Kirche und Kanon hinweisen wollte, in welchem die im Ereignis ihrer Verkündigung sich selbst durchsetzende Schrift sich selbst als kanonisch erwiesen hat und darum von der Kirche als kanonisch proklamiert wurde. Dann würde es nichts anderes sagen, als daß man dem Zeugnis des Evangeliums nur glauben kann, indem man zugleich die Kirche glaubt, welche von der Verkündigung dieses Wortes lebt und durch ihr Dasein für dessen Gültigkeit zeugt. Das würde also heißen, daß die Frage nach der Gültigkeit des Kanons außerhalb des Ereignisses von Verkündigung und Glaube sachgemäß weder gestellt noch beantwortet werden kann, daß also der nach dieser Gültigkeit Fragende an die Verkündigung der Kirche in deren konkretem Vollzug verwiesen werden muß, in der die Schrift sich selbst legitimiert. So könnte Augustin selbst das Wort noch verstanden haben, denn ihm war dabei noch nicht das Lehramt widttig, sondern die Verlängerung der Stimme Christi in die Reihe der Zeugen hinein. In der katholischen Kirche I bekommt das Wort dann aber den Sinn, daß man die
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unsichere Autorität der Schrift durch die sichere Autorität der Kirche ersetzt und stärkt und die Auslegung der Schrift durch die Kirche garantiert. Damit hat sich ein scheinbar kleiner, aber äußerst folgenschwerer Bedeutungswandel vollzogen: Die Frage nach der Gültigkeit der Schrift kann jetzt auch gestellt und beantwortet werden außerhalb jenes Ereignisses von Verkündigung und Glaube. Der nach jener Gültigkeit Fragende wird darum statt an den konkreten Ort der Predigt jetzt an die Kirche als eine geschichtlich gewordene Institution verwiesen, die durch ihr Lehramt verbindlich redet. Für den Ausweis der Gültigkeit dieses Redens verläßt sich diese Kirche nicht mehr darauf, daß ihr Wort sich durch den Heiligen Geist im Glauben des Hörers selbst als wahr bekundet. Sie garantiert vielmehr vor und außerhalb dieses Ereignisses die Wahrheit ihres Redens durch die Vollmacht ihrer kirchenamtlichen Organe. Diese Vollmacht aber begründet sie eben mit jener eigenartigen Vermischung von historischer und dogmatischer Beweisführung: Die Heilige Schrift ist als die summa veritatis ein Kompendium der Offenbarungswahrheit, in welchem virtuell und implizit schon alles deponiert ist, was die Kirche dann im Verlauf ihrer Geschichte aus der Schrift wie aus einem juristischen Grundgesetz oder einer philosophischen Prinzipienlehre an einzelnen Wahrheiten deduzieren wird. Da diese Wahrheit auf einer übernatürlichen Offenbarung beruht, ist ihre Gültigkeit der Nachprüfung durch die Wahrheitskriterien der natürlichen Vernunft grundsätzlich entzogen. Insofern ist sie eine dogmatische Wahrheit. Da die Quelle der Schrift aber zugleich das historische Zeugnis der Apostel ist, in welchem diese offenbarte Wahrheit ihre geschichtliche Trägeringefunden hat, ist sie zugleich historisch legitimiert. Und die Kirche, die selbst eine dogmatische und eine historische Größe zugleich ist, verbindet diese doppelte Legitimierung der Schrift dadurch, daß sie durch die dogmatischen Entscheidungen ihres Lehramtes je und je die in diesem geschichtlichen Ausscheidungsprozeß rezipierten Wahrheiten und ausgeschiedenen Irrtümer dogmatisiert oder anathematisiert. Das gilt ebenso I für das Dogma des Schriftkanons als ganzem wie für die daraus gefolgerten Einzeldogmen. Dabei kann es gar nicht störend wirken, daß dieser Dogmatisierungsakt in bezugauf den Kanon erst tausend Jahre nach dessen tatsächlichem Absd:lluß durch das ökumenische Konzil von Florenz (1458-1445) erfolgte. Der Schriftkanon kann ja faktisch längst die Norm für die Dogmen der Kirche gebildet haben, und die eines in gewissem Sinn zufälligen Tages erfolgte Dogmatisienmg des Kanons ist nur die nachträgliche Bestätigung dafür, daß das in der Tat geschehen ist und weiterhin geschehen soll. Wie für jedes einzelne aus dem Kanon abgeleitete Dogma gilt ja auch für den Kanon selbst, daß die Kirche ihn
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nicht selbst geschaffen haben will, sondern nur eines Tages mit seiner Feststellung das proklamierte, was die Kirdte von jeher virtuell und implizit geglaubt hat. Diese Kombination von historischer und dogmatischer Beweisführung kann die Entstehungsgeschichte des Kanons ruhig der historischen Forschung freigeben, ohne fürchten zu müssen, daß durch deren Ergebnisse die Wahrheit des Kanons je in Frage gestellt werden könnte. Dogmatisch "wahr" ist ja das in diesem geschichtlichen Ausscheidungsprozeß Gewordene. Aber daß es so werden und gerade diese Wahrheit sich eines Tages herauskristallisieren mußte und etwas anderes gar nicht herauskommen konnte, das kann nidtt der Historiker feststellen, sondern nur die das Ergebnis dogmatisierende K.irdte, die sich mitallihren Organen und Institutionen selbst als das dogmatisdte Ergebnis dieses geschichtlichen Prozesses versteht und ihn damit in seiner Gesamtheit als notwendig legitimiert. Daß dieser Prozeß, der im Grunde einfach eine Fortsetzung und Verlängerung der Offenbarung in die Gesdtichte der Kirche hinein bedeutet, so zu verstehen ist, das kann durch keine einzelnen historischen Tatbestände begründet oder in Frage gestellt werden, sondern das ist eine Glaubensaussage über das Selbstverständnis der Kirche, die wiederum nur geglaubt werden kann. Diesem Glauben ist aber zugleich ein erkennbares historisches Merkmal gegeben in der apostolischen Sukzession, welche die Identität der Kirche aller Zeiten mit der apostolischen Kirche I verbürgt und als historisch aufweisbares Kriterium die Wahrheit und Unverfälschtheit der kirchlichen Lehren sichert. Steht diese apostolische Sukzession als Ganzes fest, dann kann die historische Frage nach der apostolisd:ten Verfasserschaft der kanonischen Schriften im Einzelnen dogmatisch irrelevant werden. Der Kanon ist im ganzen und in allen seinen Teilen auf alle Fälle ein Moment in jenem Prozeß der Lehroffenbarung, die von Christus über die Apostel und ihre Schüler quasi per manus tradiert und continua successione in der katholischen Kirche konserviert wurde, wie das Tridentinum sagt (Denz. 783). Dabei kann die Schrift für die Lehrverkündigung der Kirche wohl eine relativ große, aber in keinem Sinn eine exklusive Bedeutung bekommen. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil der Tradition, aber es besteht unter den katholischen Voraussetzungen schlechterdings keine Möglichkeit, sie zur Norm für die dogmatische Rezeption dieser Tradition zu machen. Darum nimmt auch das Tridentinum die Rezeption der Heiligen Schrift und der apostolischen Tradition ausdrücklich zusammen, wenn es lehrt, daß die von Christus und den Aposteln verkündigte Wahrheit enthalten sei in libris scriptis et sine scripto traditionibus, quae ab ipsius Christi ore ab Apostolis acceptae, aut ab
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ipsis Apostolis Spiritu Sancto dictante quasi per manus traditae ad nos usque pervenerunt (Denz. 783). Man sollte deshalb auf evangelischer Seite nicht so erstaunt sein, daß die römische Kirche die Begründung für ein Dogma, wie zum Beispiel bei der leiblichen HimmeHahrt Mariae, auch einmal nur der kirchlichen Tradition entnehmen und auf den Schriftbeweis verzichten bzw. diesen nur in Form eines für uns nichtssagenden Konnivenzbeweises führen kann. Wo setzt nun der reformatorische Protest gegenüber diesem geschlossenen katholischen System ein, das keine qualitative Unterscheidung von Schriftkanon und kirchlicher Tradition zuläßt? Das geschieht überraschenderweise nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, mit einerneuen Schriftlehre, um jene dort unmöglich gewordene Unterscheidung von Schrift und Tradition durchzuführen. Der entscheidende Einwand gegen die römische I Kirche ist vielmehr der, daß sie nicht mehr predigen kann. Die Stimme Christi ist durch die Schrift und ununterscheidbar von dieser in die Tradition der Kirche eingegangen, und sie kann jetzt bloß noch durch den Mund der Kirche, aber nicht zu der Kirche reden. Die Verkündigung durch das kirchliche Lehramt, das Christus und den Heiligen Geist sich selbst einverleibt hat, kann nur noch von einem Selbstgespräch der Kirche mit ihrer Tradition Zeugnis geben, aber dieses nicht durchbrechen. Darum muß sich das ganze Interesse der Reformation darauf konzentrieren, durch die Predigt den echten Vorgang der Verkündigung wieder herzustellen. Die viva vox evangelii, welche die Stimme Christi selbst ist, muß wieder in der Kirche gehört und von deren eigenem Reden unterschieden werden können. Das geschieht aber nur im Ereignis der Predigt. Es ist vielleicht doch nicht zufällig, daß die Conf. Aug., mit welcher auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung der reformatorische Glaube bekannt wird, überhaupt keine Lehre von der Schrift hat und nur in Art. V davon redet, daß das vom Predigtamt verkündigte Wort des Evangeliums den Glauben schaffe. Es ging dabei primär um die Verkündigung als ein Ereignis, bei welchem das Wort des Evangeliums als ein ZU hörendes verbum extemum dem Menschen begegnet, der immer in der Versuchung des Schwärmers ist, daß er "ohne das leiblich Wort des Evangelii den heiligen Geist durch eigene Bereitung, Gedanken und Werk erlangen" will. Die Front gegen die Schwärmer ist aber dieselbe wie gegen Rom. Es gilt, jenes sachliche Gefälle wiederherzustellen, in welchem das der Kirche vorgegebene Wort von deren eigenem Reden unverwischbar unterschieden bleibt. Ganz klar zeigt das wiederum der Art. VII De ecclesia, wobei man nicht oft genug darauf hinweisen kann, daß dieser Artikel von dem deutschen Text her verstanden werden muß, in dem es heißt, die Kirche sei "die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das
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Evangelium rein gepredigt" wird usw., während der lateinische Text mit seinem pure docetur und consentire de doctrina evangelii nicht nur dem späteren Mißverständnis der Kirche als einer Schule der reinen Lehre ganz bedenklich Vorschub geleistet hat, sondern im Zusam.lmenhang damit auch allerlei falschen Ansätzen in der Lehre von der Schrift. An diesem Ereignis des gepredigten Wortes der Schrift hängt für die Conf. Aug. schlechterdings alles, nicht nur der wahre rechtfertigende Glaube, sondern auch das Stehen in der Einheit und Kontinuität der Kirche Christi auf Erden. Erst wo das verstanden ist, daß das Ereignis der Predigt die Kirche schafft und erhält und wo weiterhin darüber Klarheit herrscht, daß es sich dabei darum handelt, das Wort Gottes im Reden und zugleich gegen das Reden der Kirche zu Gehör zu bringen, kann die theologische Aufgabe, vor welche die reformatorische Theologie in bezug auf den Schriftkanon legitimerweise gestellt ist, richtig gesehen werden. Die Predigt verkündigt die für uns geschehenen "großen Taten" Gottes sowohl in ihrem Geschehensein als in ihrer Bedeutsamkeit. Der Prediger ist dabei aber nicht mehr in derselben Lage wie der Apostel, der als unmittelbarer Augen- und Ohrenzeuge dieser Taten Gottes redet. Er braucht darum für seine Predigt einen Text. Ein solcher Text kann eine bloße historische Quellenschrift nicht sein, denn sie kann ihm für die Wahrheit des Bezeugten in dem doppelten Sinn des Geschehenseins und der Bedeutsamkeil nicht einstehen. Das kann der Text nur tun als ein Dokument, in welchem die Kirche aufgrund dessen, daß sie der Verkündigung dieses Zeugnisses glaubte, es zu weiterem Verkündigtwerden autorisierte. Nicht als historische Quelle, sondern als dogmatisches Dokument der Kirche steht die Schrift als Text dem Prediger für die Wahrheit seiner Verkündigung ein, und so hat auch die kanonisierende Kirche die Schrift ursprünglid::t verstanden. Die Reformatoren haben sich deshalb auch nur sehr a.m Rande, verleitet durch die humanistische Nachbarschaft und deren Parole "ad fontes", gelegentlich auf das Argument der historischen Priorität des Schriftkanons gegenüber der späteren Tradition der Kirche berufen. Daß man mit dem bloßen Rückgang auf die Quellen in der römismen Kirche immer noch besser bedient war, hat nicht bloß ein Mann wie Erasmus sehr bald eingesehen. Als Text für die Verkündigung mußte der Kanon etwas anderes sein und eine andere Autorität haben als die bloße historische Priorität. I Das zeigt sich aum in der auffallenden Tatsame, daß gerade auf reformatorischer Seite die Grenzen des Kanons zunächst einmal ins Smwimmen gerieten, indem man einen Teil der alttestamentlimen Schriften als Apokryphen ausschied und auch innerhalb des N. T. bestimmte Schriften an den Rand des Kanons verwies. Dagegen war es
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gerade die römische Kirche, welche daraufhin im Tridentinum die traditionellen Grenzen des Kanons wieder neu einschärfte. Diese Freiheit gegenüber dem Kanon auf evangelischer Seite wäre unmöglich gewesen, wenn man ihn bloß als historische Quelle bzw. als ein durch ein dogmatisches Urteil ausgegliedertes und bevorzugtes Stück der kirchlichen Tradition angesehen hätte. Diese Freiheit, die ja dann schließlich doch nicht zur Ausscheidung jener umstrittenen Stücke aus dem Kanon führte, läßt sich vielmehr gerade nur aus jener dokumentarischen Bedeutung des Kanons als Predigttext begründen, so widerspruchsvoll das auf den ersten Blick erscheinen mag. Wenn wir sagten, daß der Text dem Prediger für dieWahrheitseiner Verkündigung einstehen muß, so kann das nicht heißen, daß die kanonisierende Kirche mit ihrer Autorität, etwa im Sinne jenes Augustinwortes, diese Wahrheit garantiert. Die Kirche hat ja den Kanon nicht eigentlich geschaffen, sondern sie hat nur das, was sich selbst als kanonisch durchgesetzt hatte, nachträglich als kanonisch verkündigt. Deshalb muß der Kanon auch weiterhin den Beweis für seine Kanonizität selber führen, einfach indem er sich weiterhin predigen läßt und weiterhin die Zustimmung des Glaubens in der Antwort der Kirche findet. Nun kann offenbar der Fall eintreten, daß jemand einen bestimmten Bibeltext nicht zum Reden bringen kann, wie es etwa Luther mit dem Jakobusbrief oder Calvin mit der Jobarmesapokalypse ergangen ist, und er deshalb diesen Text nicht auslegen und über ihn nicht predigen kann. In dieser Lage wird dem Ausleger keine Theorie von der Verbalinspiriertheit der ganzen Schrift etwas helfen, weil der Glaube an sie den für ihn stummen Text nicht zum Reden bringen kann. Und wenn der letzte Grund für die Kanonizität der Schrift nur darin liegt, I daß sie sich predigen läßt, dann muß der die Schrift auslegende Theologe die Freiheit haben, zu sagen, wo das jedenfalls für ihn nicht der Fall ist. Die Frage wird nur sein, welche Konsequenzen er daraus in bezug auf die Schrift ziehen soll und darf. Der nächstliegende Weg wird in diesem Fall sein, daß der Ausleger die für ihn dunklen Stellen der Schrift durch die hellen zu interpretieren versucht und, um seiner Zurückstellung bestimmter Stellen oder Bücher das subjektiv Willkürliche zu nehmen, sich um einen objektiven Maßstab zur Feststellung eines "Kanons innerhalb des Kanons" bemüht, so wie es etwa Luther getan hat, wenn er die Schrift an dem zu messen versuchte, was in ihr "Christum treibt". Das würde also heißen, wenn wir von dem Begriff des "Kanons" als Regel, Maßstab und Richtschnur ausgehen, daß man eine bestimmte Regel zur richtigen Handhabung dieses Maßstabes zu gewinnen sucht. Luther hat daraus aber aus guten Gründen nicht etwa ein Ausscheidungsprinzip zur Feststellung eines neuen Kanons des N. T. gemacht, son-
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dem hat scliließlich doch den alten stehen lassen. Er hat aber auch nicht aus dem solus Christus oder dem sola gratia als "Materialprinzip", so wie man das heute da und dort mit Berufung auf ihn versucht, ein "hermeneutisches Prinzip" gemacht, um mit Hilfe dessen den Kanon oder vielmehr einen Kanon im Kanon zu begründen und damit das "Formalprinzip" des sola scriptura zu ersetzen. Wir können die überaus verwickelte Geschichte des Kanonsverständnisses und die damit aufs engste zusammenhängende Geschichte der Hermeneutik in der evangelischen Kirche seit der Reformation nicht in extenso behandeln, sondern beschränken uns auf die Frage, was es zu bedeuten hat, daß die evangelische Theologie sowohl das Formalprinzip des sola scriptura als auch das Materialprinzip des solus Christus und sola gratia in ihrer Lehre von der Schrift festgehalten hat. Dabei wollen wir nicht vergessen, daß sowohl das Formal- wie das Materialprinzip nur in strenger Bezogenheil auf das Ereignis der Verkündigung der Schrift durch die Kirche verstanden werden kann. Für das sola scriptura ist damit jede Auffassung ausgeschlossen, I welche die Schrift dogmatisch als ein Kompendium von Offenbarungswahrheiten betrachtet, als das Grunddogma, aus welchem die einzelnen dogmatischen Wahrheiten analog deduziert werden können wie philosophische Sätze aus einer Prinzipienlehre. Dabei ist es gleichgültig, ob das in der Weise der römischen Theologie oder derjenigen der altprotestantischen Scholastik geschieht, da auf beiden Seiten der notwendige Weg über das Ereignis der Verkündigung ausfällt, und Christus und der Heilige Geist in ein System von Wahrheiten eingegangen und darin gefangengencmmen worden ist. Ausgeschlossen ist aber auch jene Auffassung des sola scriptura, welche die Schrift historisch als die authentische Quellensammlung betrachtet, welche wegen ihrer Ursprünglichkeit die Norm für die spätere Verkündigung zu bilden hat. Auch das gilt gleicherweise gegenüber den entsprechenden Versuchen der römischen Theologie wie denjenigen des neueren Protestantismus. Auch hier fällt der Umweg über die Verkündigung aus und wird, so wie im ersten Fall, durch ein dogmatisches, hier durch ein historisches Urteil ersetzt. Ausgeschlossen ist aber auch die Kombination dieser beiden Möglichkeiten, wie sie in klassischer Form in der römisch-katholischen Theologie, in manmerlei Spielarten aber auch auf protestantischer Seite versucht wird. Demgegenüber bedeutet das sola scriptura zunächst einmal das: Nur diejenige Verkündigung der Kirche hat die Verheißung, daß durch sie Christus selbst reden und durch den Heiligen Geist den Glauben wirken will, welche das in dem Kanon der Schrift enthaltene Zeugnis weiterverkündigt. Positiv gewendet heißt diese Abgrenzung, daß der Kanon der Schrift die ganze Wahrheit von Christus enthält, wie das mit
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der Lehre von der sufficientia der Schrift zum Ausdruck gebracht wird. Dafür gibt es keinen aus Prinzipien und keinen aus historischen Gründen zu führenden Beweis. Vielmehr ist die einzige Begründung dafür das dogmatische Urteil der Kirche, das dafür einsteht, daß die Kirdle exklusiv in diesen Zeugnissen das Wort Gottes gehört hat und daß es durch diese Verkündigung weiter gehört werden kann, oder anders ausgedrückt, daß die Kirche glaubt, daß diese I Schriften sich deshalb als kanonisch durchgesetzt haben, weil sie kanonisch waren und sind. Mehr kann dieses Formalprinzip des sola scriptura nicht sagen wollen, denn jedes Mehr an prinzipieller oder historischer Begründung wäre hier dogmatisch ein Weniger. Man wird also mit dem sola scriptura nie eine prinzipielle, sondern immer nur eine faktische Geschlossenheit des Kanons behaupten dürfen. Prinzipiell bestünde darum immer die freilich wenig wahrscheinliche Möglichkeit, daß die Kirche sich durch neue Schriftfunde veranlaßt sehen würde, ihren Kanon zu erweitern. Dabei müßte diese Erweiterung auf genau dieselbe Weise legitimiert werden wie der bisherige Kanon, und sie dürfte ferner die sufficientia der Schrift in ihrem bisherigen Umfang in keiner Weise in Frage stellen. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, die seit Luthers Minderbewertung einzelner biblischer Schriften gestellt ist, ob die Kirche dann nichtgenauso eines Tages auch die Grenzen des Kanons verengem könnte und bestimmte kanonische Schriften oder Teile von diesen ausscheiden. Diese Frage ist durch die neuesten Ergebnisse der neutestamentlichen Forschung, welche die großen theologischen Gegensätze innerhalb des Kanons aufgezeigt haben, noch sehr viel dringender geworden. Jene Zumutung ist zwar von diesen neutestamentlichen Forschern noch kaum explizit gestellt worden; aber das könnte ja auch nur darum unterlassen worden sein, weil sie jenes Formalprinzip des sola scriptura ohnehin für theologisch erledigt halten und darum ihr ganzes Interesse nur noch auf das Materialprinzip des sola gratia oder solus Christus konzentrieren. Auf diesem Punkt liegt ohne Zweifel heute das Schwergewicht der theologischen Diskussion. Fragen wir daher, was in jener von uns festzuhaltenden Bezogenheit auf das Ereignis der Verkündigung unter jenem Materialprinzip verstanden werden soll. Es kann dabei jedenfalls nicht primär darum gehen, einen Maßstab für die Ausscheidung des Kanons innerhalb des Kanons oder weiterhin eine hermeneutische Regel für seine Auslegung zu gewinnen. Auch das mögen sekundär wichtige theologische Fragen sein. Wo ihnen aber das primäre theologische Interesse I gilt, besteht die Gefahr, daß das Materialprinzip an die Stelle des vermeintlich unhaltbar gewordenen Formalprinzips tritt, und damit praktisch der
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Kanon selbst in seiner, wenn auch nur faktischen Geschlossenheit als dogmatische Größe für die theologische Besinnung einfach ausfällt. Demgegenüber ist zu beachten, daß es bei dem Formalprinzip wie bei dem Materialprinzip um ein und dasselbe Interesse geht und beide deshalb nicht getrennt oder gar gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Das sola gratia bedeutet nicht primär eine bestimmte Lehre von der Rechtfertigung, die als theologisch gereinigte etwa von der Lehre des Tridentinums zu unterscheiden und als solche zu glauben wäre, sondern es will, genau so wie das Formalprinzip des sola scriptura, den Verkündigungsvorgang dogmatisch defmieren. Die justi.ficatio impü perfidem sola gratia geschieht dadurch, daß dem Hörer die Gerechtigkeit zugesagt wird, die nicht in seiner eigenen Gläubigkeit, sondern in dem Christus extra nos liegt. Und die in dem Verkündigungsvorgang durch das Predigtamt gesicherte Externität des Wortes schützt diese in dem Christus extra nos liegende Gerechtigkeit davor, zu einem dem Menschen verfügbaren Habitus zu werden. Fiele aber das sola scriptura als die der Verkündigung vorgegebene und darum von dieser selbst zu unterscheidende Norm aus, oder kurz gesagt: fiele damit der Text der Predigt aus, wie in der römischen Kirche, so müßte auch das sola gratia in dem Verkündigungsvorgang ausfallen. Damit könnte dann auch das solus Christus nicht mehr die der Regie der Kirche entzogene Stimme Christi im Ereignis der Verkündigung sein. Insofern gehören das Formal- und das Materialprinzip unlösbar zusammen. Erst wenn dies alles als die primäre theologische Aufgabe in der Besinnung auf den Schriftkanon anerkannt ist, kann dann auch als sekundäre Aufgabe die theologische Besinnung auf das Materialprinzip, also die Bemühung um einen Kanon innerhalb des Kanons im Blick auf die hermeneutische Frage in Angriff genommen werden. Diese unumkehrbare Reihenfolge der Probleme ist sachlich, wie wir sahen, darin begründet, daß das historische Gefälle von dem im Kanon vorliegenden Schriftjzeugnis über das verbum externum des Predigtamtes der Kirche zu der von dem Hörer zu vernehmenden Stimme Christi und damit dem Wort Gottes selbst nur so und nicht anders theologisch zu entfalten ist. Die theologische Entfaltung dieses historischen Gefälles wäre verhältnismäßig einfach, wenn in dem Schriftkanon selbst jenes Formalund Materialprinzip in dem von uns gebrauchten Sinn explizit enthalten wäre. Das ist aber in dieser Eindeutigkeit kaum der Fall. Die für uns so wünschenswerte exklusive Unterscheidung der Stimme Christi von derjenigen der kirchlichen Tradition ist innerhalb des N. T. keineswegs rein durchgeführt. Wir haben es vielmehr schon innerhalb des N. T. weithin mit einem beginnenden Kirchenturn zu tun, das geneigt
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ist, sich gegenüber den Imponderabilien der stets neuen Verkündigung an die kirchliche Tradition als einen festen Halt zu klammem. Und in bezug auf das Materialprinzip wird man sagen müssen, daß es im N. T. genug Stellen gibt, aus denen man ohne weiteres jene Habituslehre herauslesen könnte, welche zu dem Glauben an die eigene Gläubigkeit verführt und jener in Conf. Aug. V abgelehnten Rechtfertigung "durch eigene Bereitung, Gedanken und Werke" Vorschub leistet. Die Entwicklung zum Frühkatholizismus beginnt keineswegs erst nach Abschluß des Kanons, wie man immer wieder gemeint hat. Man könnte bereits aufgrunddes kanonischen Befundes feststellen, daß die anima christiana offenbar schon naturaliter catholica ist. Diesen historischen Tatbestand wird man vor allem einmal unvoreingenommen sehen und jeden Versuch vermeiden müssen, ihm auszuweichen. Ein solcher Versuch wäre jenes Harmonisierungsstreben, welches durch die Auslegung der Schrift nach der Konkordanzmethode die Konturen der einzelnen biblischen Zeugnisse und Zeugen in ihrer Konkretheit verwischt und nivelliert. Wo man das versucht, verkennt man den historischen Charakter der Schrift als eines kirchlichen Dokumentes, macht aus der faktischen Abgeschlossenheit des Kanons eine prinzipielle und ersetzt die Stimme Christi, welche durch diese historischen Zeugen in ihrer Mannigfaltigkeit zu uns reden will, durch ein I Wahrheitskompendium. Damit hätten wir die Schrift gerade nicht sich selbst interpretieren lassen, wie wir es doch nach unserem Begriff des Schriftkanons unbedingt tun müssen. Die Fähigkeit der Schrift, sich selbst zu interpretieren, liegt nicht in einem verborgenen und durch eine Synopse der einzelnen Stellen zu erhebenden Einheitsprinzip, auf das alle ihre Aussagen als ihren Generalnenner zurückgeführt werden könnten und müßten. Sie liegt vielmehr in der Lebendigkeit des im Wort der Verkündigung gegenwärtigen Christus, den alle diese Zeugnisse bezeugen und dessen Stimme die Kirche in diesen Zeugnissen zu hören glaubt. Dann ist aber das erste Erfordernis der rechten Auslegung nicht die Gewinnung eines allgemein gültigen hermeneutischen Prinzips, sondern die erste Aufgabe ist, daß wir uns um eine möglichst profilierte Kenntnis dieser Zeugen und dessen, was jeder von ihnen in seiner Besonderheit uns sagen will, bemühen. Wir können dann vielleicht mitunter erstaunt sein, daß die kanonisierende Kirche eine solche Mannigfaltigkeit und auch theologische Gegensätzlichkeit der Zeugen ertrug. Aber wir haben mit der Tatsache zu rechnen, daß sie das tat, ohne die Zeugnisse zu harmonisieren, und also auch uns dasselbe zumuten zu können glaubte. Das hat eine mitunter polemische Auseinandersetzung der einzelnen Zeugen untereinander schon innerhalb des N. T. nicht ausgeschlossen. Dieser Polemik ist durch das "Formalprinzip" des Kanons insofern
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eine Grenze gesetzt, als jeder dieser Zeugen von dem andem anerkennt, daß sich diesem das Geheimnis der Offenbarung Gottes durch den Heiligen Geist so erschlossen hat, daß er davon reden kann, was im neutestamentlichen Sinn bedeutet, daß er als ein "Inspirierter" geredet hat, und darum sein Zeugnis in seiner konkreten Einmaligkeit und Besonderheit als ein die Verkündigung der Kirche mitkonstituierendes Zeugnis zu respektieren ist. Die Auseinandersetzung zwisd:ten den Zeugen und dann weiterhin zwischen den ihr Zeugnis auslegenden Theologen wird dann darin bestehen müssen, die einzelnen Zeugnisse, die jeweils durch die historische Situation, die Begriffswelt und die Individualität des Zeugen bestimmt sind, zu vergleichen, sie auf ihre Ubertragungsfähigkeit I in andere Konkretionen kritisch zu prüfen und auf diese Weise einen Maßstab für das Allgemeingültige im Konkret-Einmaligen zu gewinnen. Aber ebenso wie dieses Bemühen um den Kanon im Kanon nicht durch harmonisierende Nivellierung der konkreten einzelnen Zeugnisse, sondern gerade umgekehrt nur durch deren möglichst scharfe Erfassung in ihrer profilierten Konkretheil geschehen kann, so darf aud:t der Ausleger nicht von seiner eigenen historischen Situation absehen wollen. Diese wird ihn ganz von selbst veranlassen, bestimmte Zeugnisse in deren besonderer Gezieltheil zu bevorzugen und andere zurückzustellen. Das kann in einer besonders polemisd:ten Situation, wie etwa in der Reformationszeit, so weit gehen, daß er versucht ist, gewisse Zeugnisse wegen ihrer aktuellen Gefährlichkeit sogar auszuscheiden bzw. seine Kirche zu veranlassen, das zu tun. Wenn diese recht beraten ist, wird sie das aber unterlassen, denn mit dem Bemühen um die rechte Auslegung und Verkündigung des Kanons der Schrift bemüht sie sich zugleich in aller Freiheit um das Stehen in der Einheit und Kontinuität mit der Kirche Christi auf Erden an allen Orten und zu allen Zeiten. Diese Einheit, die ihr vorgegeben ist in dem einen Christus, kann freilich nicht durch den Schriftkanon begründet und in dem Sinne garantiert werden, daß sich durch den Rückgang auf die Schrift die Einheit der Kirche von selbst realisieren müßte. Aber umgekehrt wird man jedenfalls sagen müssen, daß eine Kirche, welche die ganze Mannigfaltigkeit des biblischen Kanons nicht mehr ertragen könnte und ihn, vielleicht durchaus im Wissen um die Mitte der Schrift und aus der Sorge um deren rechte Bezeugung, vielleicht aber auch nur aus einem gewissen theologischen Purismus heraus verengern würde, damit die rechteFreiheil zu demRingen um die Einheit der Kirche verloren hätte und so, möglicherweise aus den theologisch respektabelsten Gründen, bereits auf dem Weg zur Sekte wäre. Man wird darum auf alle Fälle den Kanon selbst stehen lassen müssen und sich damit begnügen, daß bei unserer Aufgabe, in seiner
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Auslegung die Stimme Christi gegenüber der kirchlichen I Tradition zu Gehör zu bringen, je nach unserer kirchlichen Situation und unserer theologischen Erkenntnis die Akzente anders gesetzt werden müssen. Es gibt keinen für alle Zeiten gültigen Maßstab für die Feststellung des Kanons im Kanon, und wenn es der Gesichtspunkt wäre, "was Christum treibt". Denn die Frage, wo in der Schrift Christus getrieben wird oder wo der fromme Mensch sein eigenes Wesen treibt, ist für die Auslegung nicht nur immer wieder neu, sondern aud:l immer wieder ganz anders gestellt und erfordert darum eine immer neue Antwort durch die immer bessere Erkenntnis der Zeugnisse in ihrer konkreten Textgestalt, durch die sie zu uns reden, und gewiß auch ein immer neues Bemühen um das Verständnis des Hörers in seiner jeweiligen kirchlichen und menschlichen Situation. Damit ist bereits auch das Wesentliche zu dem heute so vielverhandelten hermeneutischen Problem gesagt. Wir sahen, daß es keinen bestimmten und für alle Zeiten gültigen Maßstab zur Feststellung des Kanons im Kanon gibt, sondern daß sich aus unsem Bemühungen um das rechte Hören der Stimme Christi in der Schrift immer wieder neu ein Maßstab für die rechte Auslegung des Kanons ergeben wird. Darum mußten wir uns auch eine Verengerung des Schriftkanons nach den Maßstäben einer bestimmten Erkenntnis von dem ihm immanenten Kanon verboten sein lassen. Nur so konnten wir die Freiheit der Schrift, sich selbst zu interpretieren, respektieren. Hätten wir dagegen versucht, durch einen solchen Kanon im Kanon das rechte Verständnis sicherzustellen, so hätten wir damit gerade die Freiheit des Redens Christi durch die Schrift und damit deren Freiheit, sich selbst zu interpretieren, durchkreuzt und unterbunden. Und wir hätten damit zugleich uns selbst der Freiheit begeben, die ganze Schrift, auch in deren uns vielleicht jetzt noch dunklen Teilen zu hören. Das schließt nicht aus, daß wir uns immer wieder um die bestmögliche hermeneutische Methode bemühen müssen. Im Gegenteil: diese Aufgabe wird für jede Zeit immer wieder neu gestellt sein. Aber auch hier wird immer wieder die Gefahr bestehen, daß man sich mit Hilfe eines unfehlbaren hermeneutischen Prinzips der Stimme Christi zu I bemächtigen und die rechte Auslegung sicherzustellen sucht. Weil es schon wegen der Mannigfaltigkeit der biblischen Zeugnisse einen solchen "Hauptschlüssel", der das Verständnis aller Stellen gleicherweise ausschließt, nicht gibt, ist man gezwungen, ihn zunächst dort anzuwenden, wo er zu passen scheint, und erhält so einen kritischen Maßstab zur Auslegung der übrigen Zeugnisse. In gewisser Weise wird das jeder Ausleger tun, da der Zugang zur Schrift für ihn immer über die schon hellen zu den noch dunklen Stellen geht. Aber er wird sehen müssen, daß er dabei stets in Gefahr ist, die einzelnen bib-
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lischen Zeugnisse gerade nicht mehr in ihrer historischen Mannigfaltigkeit reden zu lassen, sondern sie durch ein bestimmtes Auslegungsprinzip zu vergewaltigen. Vor eben dieser Gefahr aber will ihn die Kirche durch die Kanoni.. sierung der Schrift schützen. Es ist für den Ausleger bei seinen Bemühungen um das rechte hermeneutische Verfahren geradezu der entscheidende Prüfstein, ob er sich in dieser Weise durch den Kanon vor der Gefahr der eigenmächtigen Sicherung mit Hilfe eines hermeneutitischen Prinzips geschützt weiß und sich sichern lassen will. Wenn auch die Konkordanzmethode für die Auslegung der Schrift nichts taugt, so gibt es doch eine Art von notwendigem Konkordanzhören, das heißt ein Mithören der ganzen Schrift bei der Auslegung der einzelnen Bücher und Zeugnisse. Lehnt der Ausleger diese ihm im Kanon gegebene Hilfe und diesen Schutz gegen seine Eigenmächtigkeit ab und sieht er dagegen im Kanon nur eine mehr oder weniger fatale Hemmung für die Freiheit seiner Auslegung, mit der er nur dadurch fertig werden kann, daß er sie ignoriert, dann ist er mit dieser Auslegung sicher auf einem falschen Weg. Er wird dann, auch wenn sein Auslegungsprinzip das sola gratia selbst wäre, das wirkliche Geschehen des sola gratia an uns handelnden Christus in doktrinärer und darum unmenschlicher und humorloser Weise einengen und verkürzen müssen. Denn nach dem Zeugnis der Kirche, das sie uns mit dem Kanon der Schrift gegeben hat, will dieses Handeln Christi in der ganzen Weite und Fülle, aber auch in der ganzen Menschlichkeit der Verkündigung aufgrund der ganzen Schrift an uns geschehen. I Mit all dem wird deutlich geworden sein, daß ich eine prinzipielle Begründung für den Schriftkanon nicht gegeben habe und nicht geben konnte. Ich habe vielmehr nur jenes historische Gefälle der Verkündigung theologisch zu entfalten versucht. Dabei sind wir aber doch auf eine Begründung des Schriftkanons gestoßen, nämlich auf die Selbstevidenz der Heiligen Schrift im Ereignis ihres Verkündigtwerdens. Diese letzte Begründung, mit der die Heilige Schrift selbst ihre Autorität begründet, dadurch, daß sie sich predigen läßt, hat die Kirche mit dem Dogma von dem Kanon der Heiligen Schrift zum Ausdruck bringen wollen. Sie muß dabei wissen, daß sie mit jedem Versuch, diese Autorität auch ihrerseits noch zusätzlich zu begründen, dieselbe nur in Frage stellen kann. Hat der Theologe dies, in Erfüllung seiner wissenschaftlichen Aufgabe klargestellt, dann kann er darüber hinaus nur noch bezeugen, daß ein stetes Überschießen der Helligkeit der Schrift über ihre dunklen Stellen die Kirche bisher am Leben und beim Glauben erhalten hat. Aber das kann er dann nicht mehr theologisch begründen, sondern nur noch als Prediger des Evangeliums und als Glied der Kirche bezeugen.
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Der Frühkatholizismus im Neuen Testament als kontroverstheologisches Problem• Es gab eine Zeit, da die katholische Theologie- durch eine radikal von der Schrift her denkende evangelische Theologie vielfach in die Enge getrieben - sich in entscheidenden Punkten hinter die Schutzwälle kirchlicher Tradition meinte zurückziehen zu müssen. Diese Zeit ist vorbei. Nicht nur, weil die heutige katholische Theologie - die Dogmatik etwas langsam und zaghaft, aber bei allem vorsichtigen Abstandhalten doch entschlossen ihrer (in allen äußeren und inneren Schwierigkeiten) mutigeren Schwester, der Exegese, folgend - wieder neu in der Heiligen Schrift heimisch wird und manche evangelischen Forderungen heute ebenso entschieden vertritt wie die evangelische Theologie1• Nicht nur weil die heutige evangelische Theologie -und keineswegs nur die Dogmatik, sondern auch und gerade die durch die Formgeschichte gegangene Exegese- sich der Bedeutung der Uberlieferung in neuer und ungeahnter Weise bewußt geworden ist2 und auch die kirchengeschichtliche Forschung die Vorzeit der reforma torisehen Kirche und Theologie wieder mehr als deren eigene Zeit ernstzunehmen gewillt ist3 • Sondern auch und vor allem, weil ge• Aus: H. Küng, Kirche im Konzil (Herder-Bücherei 140), ~.• erw. Aufl., Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1964, S. 125-155 (Erstveröffentlichung in: ThQ 142, 1962, 5.~24).
Man vergleiche - um nur ein Symptom zu nennen - die Artikel zu zentralen theologischen Begriffen in der zweiten Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche (Freiburg i. Br. 1957 ff.) mit denen der ersten Auflage (1930 ff.). 1 Vgl. P. Lengsfeld, Oberlieferung. Tradition und Schrift in der evangelischen und katholischen Theologie der Gegenwart (Paderbom 1960). • Bei der nicht so ganz selbstverständlichen Gedenkfeier, die das Evangelische Stift zur Gründung des Tübinger Augustiner-Eremiten-Klosters vor 700 Jahren veranstaltete, hat der Tübinger Reformationshistoriker H. Rückert in seinem Festvortrag: Das evangelische Geschichtsbewußtsein und das Mittelalter, in: Mittelalterliches Erbe - Evangelische Verantwortung (Tübingen 1962) 13-23, eindringlich von der "historischen Kontinuität" zwischen Reformation und mittelalterlicher Kirche (den "Vätern", 13) gesprochen: Das evangelische Bekenntnis zum Mittelalter könne gewiß nicht unkritisch, "vorbehaltlos", "ungebrochen" katholisch (17) sein, müsse aber mit den Reformatoren davon ausgehen, "daß es niemals eine Zeit gegeben hat, in der die Kirche Christi nicht in der Welt war" (20). Auch mit der mittelalterlichen Kirche stehe die Reformation "in einem ununterbrochenen Traditionszusammenhang" (21). Daraus ergibt sich die Aufgabe evangelischer Theologie: "Daß sich der Protestantismus des 16. und der folgenden Jahrhunderte vom 1
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rade die heutige I evangelische Theologie - jedenfalls die Exegese, auf deren oft unbequeme Befunde die evangelische Dogmatik wird eingehen müssen - die katholische Theologie in überraschender Weise unterstützt, insofern sie- wie die katholische Theologie schon immer - den "Katholizismus" im Neuen Testament selbst entdeckt hat. Die kontroverstheologische Diskussion ist gerade dadurch nicht leichter, sondern schwieriger und gerade so erregender geworden. Es ist auffällig, wie die evangelische Theologie unter dem Druck der Ergebnisse der historischen Forschung gezwungen war, den Beginn des "Katholizismus" (verstanden als "katholische Dekadenz", als Abfall vom ursprünglichen evangelischen Christentum) immer weiter zurückzuverschieben. Die Reformatoren fühlten sich noch eins mit der alten Kirche des ersten Jahrtausends, der "Katholizismus" in der Kirche beginnt für sie- entscheidend wenigstens - mit dem Mittelalter. Der spätere Protestantismus fühlt sich nur noch eins mit der Kirche der ersten Jahrhunderte, der "Katholizismus" fängt für ihn schon nach dem "consensus quinquesaecularis" oder, noch früher, nach der konstantinischen Wende an. Zu Beginn unseres Jahrhunderts läßt A. von Harnack die apostolische Kirche mit dem ersten Jahrhundert enden, der "Katholizismus" ist im zweiten Jahrhundert mit dem Einströmen des griechischen Geistes in das ursprüngliche apostolische Christentum gegeben: "Das Einströmen des Griechentums, des griechischen Geistes, und die Verbindung des Evangeliums mit ihm ist die größte Tatsache in der Kirchengeschichte des zweiten Jahrhunderts, und sie setzte sich, grundlegend vollzogen, I in den folHumanismus - nicht von der Reformation - dasjenige Geschichtsbild hat aufdrängen lassen, das im Schema der Wiederankniipfung an die Antike eine mittelalterliche Zwischenzeit entgottet und als ein kirchliches Vakuum wertet, das ist ein schon längst bei uns passierter Verlust an evangelischer Substanz, genauso schlimm wie jener andere, den wir vorhin als die drohende Gefahr für die evangelische Kirche bezeichneten und der eintreten würde, ·wenn wir die Kritik der Reformation am Mittelalter entschärften. Hier gilt es, verlorenes Terrain wiederzugewinnen, die Verbundenheit mit der Kirche des Mittelalters wiederherzustellen, unser Geschichtsbewußtsein davon durchdringen zu lassen, daß wir ebensosehr Söhne und Brüder der mittelalterlichen Christen sind wie die Glieder der heutigen katholischen Kirche. Ob das gelingen wird, davon wird viel abhängen. Es gibt eine positive reformatorische, eine evangelische Deutung der mittelalterlichen Epoche der Kirchengeschichte, die ebensoviel Berechtigung hat wie die katholische; denn in dieser mittelalterlichen Epoche ist als eine ungeschiedene Einheit von Möglichkeiten noch beides drin, was nachher in den beiden Konfessionskirchen auseinandergetreten ist. Eine solche Betrachtung des Mittelalters ist eine Aufgabe für die evangelische Theologie, die noch kaum in Angriff genommen ist und von der noch niemand sagen kann, wie ihre Lösung im ganzen und im einzelnen wird aussehen müssen. Sie wird, wie gesagt, kritisch-reformatorische Schärfe und katholiache Weite in sich vereinigen müssen" (22 f.). - Von katholischer Seite her wäre anzumerken, daß auch das katholische Verhältnis zur mittelalterlichen Kirche keineswegs "unkritisch", "vorbehaltlos", "ungebrochen" sein kann.
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genden Jahrhunderten fort."' Im zweiten Jahrhundert also schon stellen wir fest: "Die christliche Religion in ihrer Entwicklung zum Katholizismus. " 5 Von daher wird denn jetzt und in den folgenden Jahrzehnten viel geredet von diesem hellenistisch-katholischen Sündenfall, der nach der apostolischen Periode den "Frühkatholizismus" einleitet. In diese frühkatholische Periode fällt auch die Entstehung des typisch katholischen Amtsverständnisses: "Der Kampf mit dem Gnostizismus hat die Kirche genötigt, ihre Lehre, ihren Kultus und ihre Disziplin in feste Formen und Gesetze zu fassen und jeden auszuschließen, der ihnen nicht Gehorsam leistete ... Bezeichnet man unter ,katholisch' die Lehr- und Gesetzeskirche, so ist sie damals, im Kampf mit dem Gnostizismus, entstanden. " 8 War man aber mit dieser weiteren Vorverschiebung des "Katholizismus" nicht faktisch bereits beim Neuen Testament angelangt? Waren nicht schon für Hamack die Grenzen zwischen den neutestamentlichen und den nach-neutestamentlichen Schriften fließend geworden? Es ist das Verdienst insbesondere der Bultmannschul~, das hier vorliegende Problem - unter Bestätigung mancher Ergebnisse der liberalen Exegese- in aller wünschenswerten Deutlichkeit ausgesprochen zu haben: der "Katholizismus" beginnt schon früher: der "Frühkatholizismus" findet sich schon im Neuen Testament selbst. Um den Fortschritt zu ermessen, vergleiche man nur die Beurteilung der Kirchenordnung der Pastoralbriefe in der "Theologie des Neuen Testaments" von Paul Feine7 und in der "Theologie des Neuen Testaments" von Rudolf Bultmann8 • Der "Frühkatholizismus" im Neuen Testament stellt die evangelische Theologie vor schwere Entscheidungen. Die katholische Theologie muß diese neue Problemlage, die ja zugleich ihre eigene ist, genau sichten. Wir haben dies bereits bei anderer Gelegenheit versucht9 • Dieselbe Problematik soll hier aufgerollt werden in einer etwas anderen Perspektive. Man möge mir während dieses ökumenisch ausgerichteten zweiten Vatikanischen Konzils gestatten, in besonderer Weise aus dem Blickwinkel jener theologischen Fakultät zu sprechen, in der mit Johann Adam Möhler und seinen Kollegen zum ersten Mal von katholischer Seite her konstruktive ökumenische Theologie I getrieben wurde. Die Problematik möge in Auseinandersetzung mit • A. von Hamack, Das Wesen des Christentums (Leipzig 1920) 125. A. von Hamack, aaO 119. • A. von Hamack, aaO 129. 7 P. Feine, Theologie des Neuen Testaments (Leipzig 7 1936) 319-325. 1 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (Tübingen 11958) ..02-463; vgl. W. Schmitluili, Art. Pastoralbriefe, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (Tübingen 11961) V, 144-148. 1 Vgl. H. Küng, Strukturen der Kirche. Quaestiones disputatae 17 (Freiburg- Basel-Wien 1962) Kap. VI, 3b. 1
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zwei repräsentativen evangelischen Tübinger Kollegen geschehen, von denen der erste aus der Schule Rudolf Bultmanns und der zweite aus der Schule Karl Barths kommt. Doch sei nicht verschwiegen, daß dabei nicht wenig zur Sprache gebracht wird, was zum Verständnis der glücklich unterbrochenen Konzilsdebatte über die Offenbarung wie erst recht zum Verständnis der Debatte "de Ecclesia" von höchster Bedeutung ist. Es wäre schon viel erreicht, wenn man sich in der katholisd::ten Theologie und auf dem Konzil der ungeheuren Smwierigkeiten gerade der neutestamentlichen Problematik voll bewußt würde und von dort her den Mut aufbrächte zu Zurückhaltung und Bescheidenheit in allen lehramtliehen theologischen Äußerungen. Wir möchten in einem ersten Abschnitt einsetzen mit der Frage:
Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? Mit Schärfe hat diese Frage ausdrücklich gestellt der evangelische Tübinger Neutestamentler Ernst Käsemann; mit gleicher Sd::tärfe hat er sie verneint10 . Welches sind seine Gründe? Käsemann führt drei an, die er mit zahlreichen Beispielen, die wir nur andeuten können, belegt: 1. Die Variabilität des neutestamentlichen Kerygmas selbst: Das offensichtlid::tste Zeichen dieser Variabilität ist nach Käsemann die Tatsache, daß der neutestamentliche Kanon nicht ein Evangelium, sondern vier Evangelien bietet, die alle "in ihrer Ordnung, Auswahl und Darstellung erheblich divergieren" 11 • Und zwar nicht nur wegen der versd::tiedenen Eigenart der Evangelisten, nicht nur wegen der versd::tiedenen jeweils benützten Tradition, sondern insbesondere wegen der "verschiedenen theologisd::t-dogmatischen Haltung der Evangelisten"12. So wird Jesus vom erhöhten und geglaubten Kyrios her verschieden gesehen13 ; ebenso wird auch das gemeinsame Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu je nach theologischer Tendenz verlschieden interpretiert14 . Auf Grund dieses Tatbestandes können die Evangelisten einander auch unbefangen kritisieren 15• 10 E. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, Exegetische Versuche und Besinnungen I, 1960, S. 214-223. 11 AaO 214. 11 AaO 216. 11 AaO 215: "Schematisch formuliert: Zeigt Markus mit seinen vielen Wundergeschichten die geheime Epiphanie dessen, der zu Ostern seine volle Glorie erhält, so Matthäus den Bringer der messianischen Thora, Johannes den Christus praesens, während Lukas historisierend und die Heilsgeschichte als Entwicklungsprozeß schildernd zum ersten Male ein sogenanntes Leben Jesu schreibt." 1• AaO 215.
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2. Die außerordentliche und das Neue Testament übergreifende Fülle theologischer Positionen in der Urchristenheit: Die Schriften des neutestamentlichen Kanons geben uns "eine unabsehbare Fülle von ungelösten und teilweise wohl unlösbaren historischen und theologischen Problemen" 18 auf. Das liegt einerseits am "fragmentarischen Charakter" 17 unseres Wissens von der Geschichte und Verkündigung der Urchristenheit: Gerade durch die große Masse der verschiedenen Überlieferungen wird es uns z. B. außerordentlich erschwert, die authentische Jesusüberlieferung aus dem Neuen Testament zu eruieren 18 • Das liegt andererseits am "Gesprächscharakter" 11 der meisten neutestamentlichen Aussagen: Sie konstituieren keine Summe von dicta probantia, sondern wollen Antwort auf konkrete Fragen, wollen Mahnungen und Tröstungen konkreter Menschen, wollen Abwehr konkreter Irrtümer sein; sie setzen so bestimmte Prämissen voraus und lassen mancherlei Konsequenzen offen. Die Stimmen, die im neutestamentlichen Kanon zu Worte kommen, bilden "eine verschwindende Minorität den vielen gegenüber, welche die Botschaft weitertrugen, ohne einen schriftlichen Niederschlag und damit ein bleibendes Gedächtnis zu hinterlassen. Was berechtigt uns zur Annahme, daß die vielen nichts anderes zu sagen wußten und gesagt haben als die Schriftsteller des NT?" 20 Der neutestamentliche Kanon gibt uns "nur Fetzen des in der Urchristenheit geführten Gespräches" wieder 1.l J. Die teilweise zutage tretende Unvereinbarkeit der theologischen Positionen im Neuen Testament: Die Variabilität ist im Neuen Testament so groß, "daß wir nicht nur erhebliche Spannungen, sondern AaO 215 f.: "Matthäus nimmt z. B. Anstoß an der drastischen Weise, mit welcher Mk. 5,27 ff. die Heilung der Blutflüssigen erzählte. Daß die Gewandung des Wundermannes göttliche Kraft mitteilt, die bei Berührung überspringt und zu heilen vermag, ist eine vulgär hellenistische Vorstellung, die genauso im Bericht vom heilenden Petrussehatten und den wunderwirkenden Schweißtüchlein des Paulus Apg 5,15; 19,12 erscheint und später den Reliquienkult bestimmt. Matthäus korrigiert diese grob magische Anschauung, indem er die Heilung nicht mehr durch die Berührung des Gewandes als solche, sondern durch Jesu Machtwort erfolgen läßt. Er reduziert überhaupt die breite Ausmalung der Wundergeschichten bei Markus, in der sich novellistische Erzählerfreude bekundet und selbst Motive profaner Erzählungstechnik angeschlagen werden, aufs äußerste, um die geheimnisvolle Hoheit J esu stärker herauszustellen." 11 AaO 218. 17 AaO 216. 11 AaO 216: "So gewiß man sagen darf, daß die große Masse dieser Oberlieferung uns nicht den historischen Jesus gewahren läßt, so erlauben uns alle noch so vervollkommneten Methoden historischer Wissenschaft an diesem Punkt nur ein mehr oder minder zutreffendes Wahrscheinlichkeitsurteil, wie man aus den vielen höchst disparaten Darstellungen des Lebens und der Botschaft Jesu und der großartigen Geschichte der Leben-Jesu-Forschung von A. Schweitzer erkennen kann." 1• AaO 217. 18 AaO 218. 11 AaO 218. 11
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nimt selten aum unvereinbare theologische Gegensätze zu konstatieren haben" 22 • Dies gilt smon für die Evangelien23 und erst recht für die übrigen neutestamentlichen Schriften24 • Schon die Evangelien zeigen nicht nur eine Kontinuität, sondern ebenso eine Diastase von Jesus und Jüngern: "Bereits die älteste Gemeinde ist teils verstehende, teils mißverstehende Gemeinde. Die Hoheit ihres Herrn wird von ihr zugleich bezeugt und verdunkelt. Auch ihr Glaube barg sich im tönernen Gefäß ihrer Menschlichkeit, und ihre Rechtgläubigkeit war genau so zweifelhaft, wie Orthodoxie es stets ist. " 25 Was folgt für Käsemann aus den drei aufgewiesenen Sachverhalten? Unmißverständlich zieht Käsemann die Konsequenzen: "Der neutestamentliche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche. Er begründet als solcher, d. h. in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfmdlichkeit dagegen die Vielzahl der Konfessionen." 28 Die gegenwärtigen verschiedenen Konfessionen berufen sich alle auf den neutestamentlichen Kanon- mit Recht; denn schon in der Urchristenheit gab es eine Fülle verschiedener Konfessionen nebeneinander, miteinander, gegeneinander. Vertritt also Käsemann einen aufklärerischen Indifferentismus? Das Gegenteil: die Unterscheidung der Geister! "Man wird die Zusammengehörigkeit und den Unterschied von Buchstaben und Geist zu beachten haben. Was Paulus in 2Kor 3 dem AT gegenüber geltend macht, darf nicht auf das AT beschränkt werden, sondern gilt genauso für den neutestamentllichen Kanon. " 27 Denn auch im neutestamentlichen Kanon hat man Gott nicht dingfest; in seiner bloßen Vorfindlichkeit, als tötender Bumstabe genommen, ist der neutestamentliche Kanon nicht mehr Gotteswort. Dies wird und ist er nur, wenn durch den Bumstaben hindurch (den man ebensowenig schwärme~~
11 AaO 219 f. AaO 218. AaO 220 f.: z. B. Gegensatz zwischen paulinischer und jakobeischer Rechtfergungslehre, Urteil über das paulinische Apostolat in Apg und in Gal, Eschatologie von Joh und Apk usw. II AaO 219 f. Als Beispiel führt Käsemann u. a. an, daß ndas Jesuswort Mk 2,27, der Sabbat sei um des Menschen willen geschaffen, in V. 28 durch den Zusatz eingeschränkt wird, der Menschensohn sei des Sabbats Herr. Ihrem Meister konnte die Gemeinde zubilligen, was sie für sich selbst nicht in Anspruch zu nehmen wagte. Ihr einschränkender Zusatz beweist, daß sie vor der durch ihn gegebenen Freiheit erschrak und in ein christianisiertes Judentum zurückflüchtete. Mit ihrer Polemik gegen den Pharisäismus als eine Heuchelei- man denke nur an Mt 231hat sie umgekehrt Jesu Angriff auf den Pharisäismus verflacht, der in Wahrheit ja das Trachten nach der eigenen Gerechtigkeit und deshalb jede Leistungsfrömmigkeit und faktisch jeden Menschen trifft. Wo man den Pharisäer durchgängig zum Heuchler macht, gilt Jesu Kritik noch der Unmoral, ist die Bahn zur christlichen Leistungsfrömmigkeit freigegeben, welche Jesu Angriff auf den wirklichen Pharisäismus versperrt hatte." (AaO 219 f.) 11 AaO 221. 11 AaO 221. 1'
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risch auflösen darf) der Geist sich manifestiert und immer neu und gegenwärtig in alle Wahrheit führt. Nur in dem nach dem Geist verstandenen Kanon redet Gott an und manifestiert er sich gegenwärtig. Das bedeutet, "daß der Kanon nicltt einfaclt mit dem Evangelium identisch und Gottes Wort nur insofern ist, als er Evangelium ist und wird. Insofern begründet dann auch er Einheit der Kirclte. Denn allein das Evangelium begründet die eine Kirche in allen Zeiten und an allen Orten" 28 • Dies also bedeutet die Unterscheidung der Geister: Verstehen der Schrift von ihrer sachlichen Mitte her, von der Botscltaft her, deren Niederschlag sie ist29 • Also kritisches Verstehen der Schrift vom "Evangelium" her, das weder von der Schrift getrennt noclt mit ihr einfach identifiziert werden darf. Es gilt, von dieser Mitte her den reformatorischen Weg der Mitte zu gehen zwischen dem schwärmerischen Enthusiasmus links (zu dem auch die protestantische Aufklärung gerechnet werden muß), der sich des Evangeliums über die Schrift hinweg zu bemächtigen versucht, und dem katholischen Traditionalismus rechts (zu dem auch weithin die protestantische Orthodoxie gehört), der das Evangelium einfach in der Schrift vorfmdbar und verfügbar wähnt, ohne die Schrift immer wieder an der kritisclten Instanz des Evangeliums zu messen. Schrift und Evangelium, Kanon und Evangelium stehen in einer dialektischen Spannung, die für die evangelisclte Theologie eine dauernde Aufgabe bedeutet: als stete Neubesinnung auf das Evangelium in der Schrift, das dieser Schrift, die an skh nur eine ehrwürdige historische Urkunde ist, die Autorität für den Glaubenden verleiht30 .1 Was ist nach Käsemann das "Evangelium"? Diese Frage kann nach ihm nicht der Historiker allein beantworten, sondern nur der Aa0223. Vgl E. Käsemann, Zum Thema der Nichtobjektivierbarkeit, in: E:~:egetisc:he Versuche und Besinnungen I (Göttingen 1960) 224-236, bes. 229-232. • Vgl. auch W. G. Kümmel, Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons, ZThK 47 (1950), S. 311 f. [ = o. S. 96): "Die eigentliche Grenze des Kanons läuft also durch den Kanon mitten hindurch, und nur wo dieser Sachverhalt wirklidl erkannt und anerkannt wird, kann die Berufung katholischer oder sektiererischer Lehren auf bestimmte Einzelstellen des Kanons mit wirklich begründeten Argrunenten abgewehrt werden." H. Braun, Hebt die heutige neutestamentlichcJ:egetische Forsdlung den Kanon auf?, Fuldaer Hefte 12 (1960), S. 23 [ = u. S. 231]: "Die E:~:egese, die auf die Botschaft merkt, paralysiert die Sdllakken im Kanon und macht die Begrenzung des Kanons, was das Einzelne anlangt, fraglich. Sie sagt also nicht Ja zum Kanon als ganzen, nicht Ja, weil es der Kanon ist. Sie nimmt ihn kritisch, aber unter Verwendung jenes Sadlkriteriums, das dem Neuen Testament selber entstammt. Und darum hängt sie am Kanon, was seine Mitte, was das neutestamentliche Grundphänomen betrifft. Sie hat dies ja nur im Kanon, später doch schon gar nimt; wenn auch im Kanon nicht rein und unvermischt." 18 11
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Glaubende, sofern er vom Geist überführt auf die Schrift hört. Der Glaubende vernimmt das Evangelium, das sich ihm kundtut, ihn trifft als Rechtfertigung des Sünders. Die Rechtfertigung des Sünders ist die Mitte der Schrift: "Die Bibel ist weder Gottes Wort im objektiven Sinn noch das System einer Glaubenslehre, sondern Niederschlag der Geschichte und Verkündigung der Urchristenheit. Die Kirche, welche sie kanonisierte, behauptet jedoch, daß sie eben auf diese Weise Trägerin des Evangeliums sei. Sie behauptet das, weil sie die hier festgehaltene und sich bekundende Geschichte unter den Aspekt der Rechtfertigung des Sünders gestellt sieht, und kann es nur insofern behaupten. Da ihre Behauptung jedoch Zeugnis und Bekenntnis ist, ruft sie zugleich damit auf, uns selber mit unserer eigenen Gesdlichte ebenfalls unter das Geschehen der Rechtfertigung des Sünders zu stellen. Damit werden wir in eine Entscheidung nicht nur darüber geführt, ob wir dies letzte annehmen wollen oder nicht, sondern ebenso darüber, ob mit solchem Bekenntnis die Mitte der Schrift richtig erfaßt sei. " 31 Das also ist Käsemanns Antwort auf die Frage "Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?" Eine Antwort, die für den tiefen Ernst und die radikale Ehrlichkeit dieses Exegeten zeugt. Es wäre falsch und ungerecht, wenn man bei ihm das in die Augen springende Kritisch-Destruktive als das eigentliche Anliegen ansähe, wie dies inquisitorische Glaubensbrüder (es gibt auch eine Inquisition von unten!) getan haben. Sich-betroffen-sein-Lassen vom Evangelium ist das zentrale Anliegen dieses Theologen, der seinen evangelischen Glauben nicht nur im vieljährigen Pfarrdienst, sondern auch in der Verfolgung bewährt hat. Von seinen Erfahrungen in der Bekennenden Kirche her dürfte es kommen, daß Käsemann in der Bultmannschule sich durch ein besonderes Interesse an der Ek.klesiologie auszeichnet31 • Dabei ist sein I theologisches Anliegen nimt etwa die II AaO 232; vgl. die beiden AufsätzeE. Käsemanns: Zum Verständnis von Römer 3,2+-26, ebd. I, ~100; und: Gottes Geredttigkeit bei Paulus, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 58 (1961) 367-378. Gerade dieser letzte Aufsatz, ein Kurzvortrag auf dem Oxforder Kongreß über "The New Testament to-day" am 14. 9. 1961, kommt einem vertieften katholischen Verständnis der Rechtfertigung des Sünders außerordentlich nahe. 11 Daß Käsemann die Leistungen der neueren katholischen Exegese zur Kenntnis genommen hat, sei hier nur am Rande vermerkt. Vgl. E. Käsemann, Neutestamentliche Fragen von heute, in: Zeitsdtrift für Theologie und Kirche 54 (1957) 2: .,Gerechtigkeit verpflichtet uns zuzugeben, daß die moderne katholische Exegese zum mindesten in Deutsdtland und seiner näheren Umgebung ebenfalls ein Niveau erreicht hat, das dem der protestantischen Arbeit im allgemeinen nicht mehr nachsteht, sie an Sorgfalt sogar nicht selten übertrifft. Dieser Vorgang beweist, daß die historisch-kritische Methode grundsätzlich Allgemeingut geworden isL Sie kennzeichnet nicht mehr ein theologisches Lager der Exegese, sondern sdteidet fak-
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Vielheit der Konfessionen, sondern die Einheit der Kirche. Allerdings die Einheit der Kirche, die auf dem Evangelium ruht und die es als solche nie vorfmdlich, sondern immer nur für den Glauben gibt: "Die Einheit der Kirche wird wie das Evangelium nicht von den beati possidentes, sondern von den Ungesicherten und Angefochtenen in und trotz den Konfessionen, mit und gegenüber auch dem neutestamentlichen Kanon bekannt, sofern sie die das Evangelium Hörenden und Glaubenden sind. " 33 Doch kann uns Käsemanns Antwort befriedigen? Auch von ernst· zunehmender evangelischer Seite wird Widerspruch angemeldet. "Die Einheit der Schrift": unter diesem Titel hat der evangelische Tübinger Dogmatiker Hennann Diem nicht nur einen wichtigen Pa· ragraphen seiner Dogmatik zusammengefaßt, sondern auch eine Aus· einandersetzung mit Käsemann angestrebt34 •
Die Einheit der Schrift H. Diem hat Verständnis für die Fragestellung seines Kollegen im Neuen Testament. Er bejaht auch zu einem großen Teil Käsemanns Antwort. Denn dies ist für Diem sicher: Die im neutestamentlichen Kanon zusammengefaßten Schriften bilden keine "Lehreinheit" 35 • Nicht die Reformatoren, erst die lutherischen und reformierten Konfessionskirchen haben eine Lehreinheit der Schrift, ein aus der ganzen Schrift- sei es auf mehr biblizistische, sei es auf mehr dogmatische Weise - abgelesenes Lehrsystem der Schriftaussagen gelehrt, die Schrift statt als Predigttext als "Prinzip" und "Summe" der Theologie verstanden und konsequenterweise die Verbalinspiration und Göttlichkeit der Schrift behauptet. Erst sie haben sich so nicht mehr mit dem faktischen Gegebensein des Schriftkanons begnügt, sondern seine prinzipielle Geschlossenheit gelehrt. Predigt und Glauben haben darunter Schaden gelitten38 .j tisch nur noch Wissensmaft von Spekulation oder PrimitivitäL Die Angleichung der verschiedenen Fronten ist vielleicht das charakteristische Merkmal unserer Epoche." aa E. Kiisemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, aaO 223. 14 H. Diem, Theologie als kirchliche Wissenschaft. Bd. li: Dogmatik. Ihr Weg zwischen Historismus und Existentialismus (München 1955, 1 1957) 196-208. 11 AaO 197 f. • AaO 198 f: "Mit dieser Schriftlehre bat sich die evangelische Kirche aber vor allem ihr eigentliches Fundament, nämlich die Predigt verdorben: Aus der Verkündigung der Schrift als einem bezeugenden Weitergeben ihrer Zeugnisse im konkreten Vorgang der Predigt wurde ein dozierendes Explizieren und Andemonstrieren ihrer Aussagen als Wahrheiten und Tatsachen. Darüber mußte sich auch
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Es ist von daher nach Diem durchaus zu begrüßen, daß die historisch-kritische Wissenschaft Kirche und Theologie gezwungen hat, ihre Schriftlehre zu überprüfen. Für das heutige Stadium der Diskussion "ist bedeutsam, daß die in dieser Sache heute besonders aktiv gewordenen neutestamentlichen Historiker nicht so leicht als von außen kommende Eindringlinge in die Theologie angesehen werden können, wie das früher vielleicht gelegentlich nahelag. Das liegt einmal daran, daß die neutestamentliche Wissenschaft heute auf Grund ihrer Forschungsergebnisse allgemein den Verkündigungscharakter der neutestamentlichen Schriften betont und damit bei den Reformatoren steht und deren Schriftgebrauch bestätigt. Dazu kommt, daß ihr Haupteinwand gegen den herrschenden Schriftgebrauch die dogmatische Bevormundung der Schriftauslegung ist, also gerade an dem Punkt einsetzt, wo wir den Abfall der Reformation zur altprotestantischen Dogmatik feststellten. Man wird daher jedenfalls prüfen müssen, ob hier der reformatorische Schriftgebrauch nicht besser gewahrt wird als von den nachreformatorischen Dogmatikem" 37 • Aber so entschieden Diem die These vertritt: "Kein einheitliches neutestamentliches Lehrsystem!", so entschieden die andere: "Kein Kanon im Kanon!" Hier bricht der Konflikt Diems mit Käsemann auf, bzw. hier wird der Konflikt von neuem sichtbar, der den Kirchen der Reformation immanent ist und in jeder Phase ihrer Geschichte beobachtet werden kann. "Käsemann hat hier in prägnanter Weise auf den Begriff gebracht, was heute vielen Neutestamentlern in der Abwehr jener nachreformatorischen Dogmatiker als die neue Lösung der Kanonsfrage vorschwebt: die Gewinnung eines Kanons im Kanon mit Hilfe der Rechtfertigung als hermeneutischem Maßstab. Damit will man aber im Grunde nichts Neues bringen, sondern beruft sich auf Luther, der die Schrift daran gemessen haben wollte, was in ihr ,Christum treibt', womit er letztlich ja auch das sola gratia und sola fide verstanden hat. Man meint also, zu dem reformatorischen Schriftgebrauch vor dessen Entartung durch die altprotestantische Dogmatik zurückgekehrt zu sein. Ist das richtig?" 38 NachDiemist das nicht richtig. Gewiß ist I die Rechtfertigung des Sünders keine Lehre, sondern ein Geschehen, in welchem der Hörer durch die Verkündigung des Evangeliums die Gerechtigkeit in Christus zugesprochen wird. Wenn Käsemann aber forder Glaube im Verhältnis zur Schrift wandeln: Es wurde nicht mehr auf Grwul der verkündigten Schrift dem von ihr bezeugten Geschehen in seiner Heilsbedeutung geglaubt, sondern es mußte primär in einem Akt des Glaubens als fides quae creditur an die Göttlichkeit der Schrift und alle daraus sich ergebenden oder dazu für notwendig gehaltenen Prädikate der Schrift geglaubt werden." 18 AaO 202. n AaO 199.
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dert, daß wir uns selber mit unserer eigenen Geschichte unter das Geschehen der Rechtfertigung des Sünders stellen, so ist Diems Frage, "ob er (Käsemann) sich denn eigentlich dieser Verkündigungsgeschichte tatsächlich noch stellt und stellen kann, oder ob er dieses in der Verkündigung der Schrüt auf ihn zukommende Geschehen nicht in seinem ihn verpflichtenden Geschehensein dadurch paralysiert und paralysieren muß, daß er es erst durch seine Zustimmung in kritischer Sichtung zu einer für ihn verbindlichen Geschichte macht" 39 • Die Verkündigungsgeschichte muß als verpflichtendes Geschehen ernstgenommen werden, gerade dadurch, daß die von der Kirche anerkannte faktische Grenze des Kanons beachtet wird: "Dieses uns verpflichtende Geschehen der Verkündigungsgeschichte besteht darin, daß die Kirche exklusiv in der Verkündigung dieser Zeugnisse das Wort Gottes gehört hat und wir es darum ebenfalls exklusiv durch diese Zeugnisse weiterverkündigen und hören sollen. Dieses Faktum kann man nur anerkennen, aber auf keine Weise prinzipiell rechtfertigen. Die einzige hier mögliche theologische Rechtfertigung besteht darin, daß man von dem Schriftkanon sachgemäßen Gebrauch macht, indem man ihn im Vertrauen auf seine Selbstevidenz predigt. In diesem faktischen Gebrauch der Schrift liegt auch ihre theologisch einzig mögliche Abgrenzung gegen die kirchliche Tradition. Damit stehen wir wieder bei der Reformation. uco Nur auf diesem Hintergrund läßt sich nach Diem die Einheit der Schrift richtig sehen. Diese liegt nicht in einer einheitlichen Lehrgestalt, sondern in der Selbstevidenz der verkündigten Schrift, in deren Zeugnissen Jesus Christus sich selbst verkündigt und als solcher von der Kirche gehört wirdu. Gewiß sind die Unterschiede der einzelnen Zeugnisse innerhalb der Einheit der neutestamentlichen Verkündigung beträchtlich. Diese Unterschiede ergeben sich aus der je verschiedenen Verkündigungssituation: die neutestamentlichen Zeugnisse sind Zeugnisse bestimmter Menschen in bestimmten Situationen mit bestimmten Zielrichtungen42 • Eine Um-, Weiter- und Neubildung der Botlschaft drängte sich damals ebenso auf, wie sich heute eine je neu vollzogene Ubersetzung dieser Zeugnisse in die heutige Verkündigungssituation hinein aufdrängt. Die konkrete Verkündigungssituation kann erfordern, daß in einer bestimmten Situation bestimmte Zeugnisse bevorzugt und andere zurückgestellt werden, wobei jedoch • AaO 205 f.; zu Diems Begriff der "Verkündigungsgeschichte", nach welchem in der Verkündigung der Gemeinde die Geschichte des sich selbst verkündigenden
Juus Christus als eine geschehene und immer neu geschehende Geschichte verkündigt wird und gerade so die verkündigte iustificatio impii per fidem sola gratia gesdlleht, vgl. bes. aaO 102-151. •• AaO 204. •• AaO 204 f. •• Vgl. aaO 128 f.
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die Grenze des Kanons zu beachten ist, die auch den von uns zurückgestellten Zeugen als echten Zeugen der Botschaft Christi anerkennen läßt: "Es wird hier eben alles darauf ankommen, daß jene situationsbedingte Wertung nicht zu einer prinzipiellen wird, daß also der Kanon der Schrift der Text ist, der auf alle Fälle stehen bleiben muß, und alle unsere Auslegungsversuche dagegen nur Kommentare sind, die sich mit ihren stets wechselnden Ergebnissen nicht an die Stelle des Textes setzen können."" Gerade so hat der Kanon nicht nur eine prohibitive, sondern zuerst eine positive Bedeutung: er schützt den Ausleger vor dessen eigener subjektiver Willkür". Diem wendet sich also mit Käsemann gegen die Schrift als einheitliches Lehrsystem, hält a her gegen Käsemann an der Einheit der verkündigten Schrift fest, um von daher - gegen alle Willkür des einzelnen Auslegers - die Einheit der Kirche zu verstehen. Es muß anerkannt werden, daß sich Diem durch sein ganzes dogmatisches Werk hindurch eine für einen Systematiker keineswegs gewöhnliche Mühe gibt, sich mit den Problemstellungen der heutigen Exegese auseinanderzusetzen. Er tut dies nicht vorwiegend apologetisch, sondern unter Verwertung mancher Ergebnisse der Exegese durchaus konstruktiv. Die Uberbrückung der gegenwärtigen Kluft zwischen Exegese und Dogmatik ist eines seiner zentralen theologischen Anliegen. Doch Diems und Käsemanns theologische Grundansätze stehen sich -oder täuschen wir uns?- unversöhnlich gegenüber: Wie für Käsemann Diems "Kanon" nie zum "Evangelium" werden wird, so für Diem Käsemanns "Evangelium" nie zum "Kanon". Auch der katholische Kollege vermag kaum zu ihrer Versöhnung beizutragen, vielleicht aber zur Klärung der Standpunkte. Dies, und nur dies, soll jetzt - auf knappem Raum - versucht werden.
Die Katholizität in der Interpretation des Neuen Testaments 1. Eingrenzung des Diskussionsfeldes: Worin kann der katholische Theologe, wenn er am exegetischen Befund nicht einfach I vorbeigeht, mit E. Käsemann übereinstimmen? Er kann zustimmen: a) bezüglich des Faktums der Uneinheitlichkeit des neutestamentlichen Kanons; b) bezüglich der Faktoren, die diese Uneinheitlichkeit bestimmen: eine Variabilität des neutestamentlichen Kerygmas selbst, die nicht nur in der Eigenart der Evangelisten und der benutzten Traditionen, sondern in der verschiedenen theologischen Haltung der Evangelisten begründet ist; eine über das Neue Testament hinausgreifende Fülle theologischer Positionen in der Urchristenheit, die unser dicsbezüg43
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u AaO 206.
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liebes Wissen (gerade auch im Hinblick auf den Gesprächscharakter der meisten neutestamentlichen Zeugnisse) höchst fragmentarisch erscheinen läßt; eine teilweise zutage tretende Unterschiedenheil der verschiedenen theologischen Positionen sowohl in den Evangelien wie im übrigen Neuen Testament, die nicht einfach harmonisiert werden kann; c) bezüglich des glaubenden Hörens des den Sünder rechtfertigenden "Evangeliums" (nach dem Geist, nicht nach dem Buchstaben, auf die Mitte hin, verstanden) innerhalb des uneinheitlichen neutestamentlichen Kanons. Worin kann der katholische Theologe, wenn er gerade das eben Käsemann Zugegebene berücksichtigt, mit H. Diem übereinstimmen? Er kann zustimmen: a) bezüglich der Ablehnung eines neutestamentlichen Lehrsystems: Das Neue Testament ist keine intendierte summa theologiae; deshalb ist eine Harmonisierung der Texte, welche die Verschiedenheiten auf gewaltsame Weise auflöst, als dem Neuen Testament unangemessen ebenso abzulehnen, wie das dozierende Andemonstierenvon dicta probantia statt des bezeugenden Weitergehens der neutestamentlichen Zeugnisse in der Verkündigung; deshalb ist der Glaube nicht einfach auf eine göttliche Schrift gerichtet, sondern auf Grund der verkündigten Schrift auf den von ihr bezeugten Herrn Jesus Christus und seinen Gott und Vater; b) bezüglich der Bedeutung der Verkündigungssituation, und dies in zweifacher Hinsicht: Die neutestamentlichen Zeugnisse stammen von verschiedenen Menschen in verschiedenen Situationen mit verschiedener theologisch-dogmatischer Zielrichtung, und die neutestamentlichen Zeugnisse müssen wieder für verschiedene Menschen mit verschiedenen Zielrichtungen in verschiedene Situationen hineingesprochen und aus der damaligen Verkündigungssituation in die neue Verkündigungssituation übertragen werden: eine Ubersetzung des neutestamentlichen Kerygmas, bei der je verschiedene Zeugnisse und Aspekte im Vordergrund und andere im Hintergrund stehen können; c) bezüglich der Faktizität des neutestamentlichen Kanons und seiner Einheit: Die Einheit der Schrift kann nicht aus einer prinzipiellen, systematischen Geschlossenheit abigeleitet werden, sondern sie ist eine faktische Gegebenheit; die Kirche hat in der Verkündigung gerade dieser Zeugnisse des neutestamentlichen Kanons das Wort Gottes gehört, und exklusiv gehört, und sie gibt diese Zeugnisse in ihrer Verkündigung auch exklusiv als Wort Gottes weiter. Erst wenn man im kontroverstheologischen Gespräch wagt, ohne Angst verständnisvoll die Obereinstimmung mit dem Partner zu sehen und nicht zu verleugnen (die Angst vor dem Konsensus ist bei Theologen, wie bei Politikern, oft größer als die vor dem Dissensusl}, wird man fähig, die Diskussion auf die eigentlichen Kontroverspunkte
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zu konzentrieren. Und diese liegen nicht in der Rechtfertigungslehre, auch nicht- wie man künstlich zu konstruieren sucht - in Christologie oder Pneumatologie, sondern in der Ekklesiologie. In der Lehre von der Kirche und in ihr allein gehtes-vorläufig wenigstens- nom hart auf hart. Und so ist es gerade hier Aufgabe ökumenisch denkender Theologie, nach neuen konstruktiven Lösungen zu suchen - auch wenn es zunächst durch scharfe Konfrontation geschieht. 2. Der Grund der Vielzahlder Konfessionen: Derneutestamentliche Kanon bildet die Voraussetzung für die Vielzahl der Konfessionen. Dies muß Käsemann zugegeben werden; denn a) es gibt eine Verschiedenheit christlicher Konfessionen; b) die verschiedenen christlichen Konfessionen berufen sim auf den neutestamentlichen Kanon und führen sich auf den neutestamentlichen Kanon zurück; c) diese verschiedenen Berufungen auf den neutestamentlichen Kanon haben ein fundamenturn in re, haben ein Fundament in der beschriebenen Komplexität, Vielfalt und Gegensätzlichkeit theologischer Positionen im neutestamentlich.en Kanon selbst. Insofern bildet also der neutestamentliche Kanon die Voraussetzung für die Verschiedenheit der Konfessionen. Wie aber entsteht unter der Voraussetzung der Uneinheitlichkeit des Kanons die Vielzahl der Konfessionen? Diese Frage ist mit dem Hinweis auf die Uneinheitlichkeit des Kanons noch nicht beantwortet. Denn bei aller Uneinheitlichkeit ist der neutestamentlich.e Kanon doch einer und von der Kirche- in einer gewiß außerordentlich wechselhaften Geschich.te - offenkundig als einer rezipiert worden, wobei man die verschiedenen Zeugnisse nicht nur etwa als lehrreiches negatives Kontrastprogramm zum Evangelium, sondern als positiv angemessenen Ausdruck und Niederschlag des Evangeliums verstanden hat. Die Frage also: Wie kommt es bei diesemtrotzaller Uneinheitlichkeit einen neutestamentlimen Kanon zur Vielzahl der Konfessionen? I Die Antwort ist nicht zu umgehen: durch Auswahl. Indem man nämlim nimt den bei aller Uneinheitlichkeit einen Kanon des Neuen Testament ernstnimmt und -bei allen entgegenstehenden Smwierigkeiten - ein umfassendes Verständnis anstrebt. Sondern indem man die Uneinheitlichkeit des einen Kanons benützt, um aus dem einen Kanon eine Auswahl zu treffen. Dadurch erreimt man unter Umständen eine imponierende Konzentration des Kerygmas, aber zugleim eine Reduktion dieses Kerygmas, die auf Kosten des Neuen Testaments und der Einheit der Kirche, die hinter diesem Kanon steht, geht. Was bedeutet dieser grundsätzlich.e Verzicht auf ein umfassendes Verständnis und Ernstnehmen des ganzen Neuen Testaments zu
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Gunsten einer konzentrierenden Auswahl? Nichts anderes als der grundsätzliche Verzicht auf "Katholizität" im Schriftverständnis zu Gunsten der "Hairesis". Genau gesehen muß man also sagen: Der neutestamentliche Kanon ist in seiner Uneinheitlichkeit zwar eine Voraussetzung, ein Anlaß der Vielzahl der Konfessionen, nicht aber im strengen Sinn der Grund, die Ursache. Das brennbare Material, das Gebälk des Hauses, das ein Haus trägt, kann zwar Voraussetzung, Anlaß sein für den Brand des Hauses; Grund, Ursache des Brandes ist aber der an das Holz Feuer legende Brandstifter. Die eigentliche Ursache der Vielzahl der Konfessionen ist nicht der neutestamentliche Kanon, der in seiner Einheit "katholisch" (kath·olou) verstanden, Voraussetzung für die Einheit der Ekklesia ist, sondern die Hairesis, die die Einheit der Ekklesia auflöst45 • Auswahl in der Interpretation des Neuen Testaments ist auf zwei Weisen möglich: als prinzipielle oder als faktische. I J. Prinzipielle Auswahl: Das ist die Auswahl, die in der Interpretation des Neuen Testaments ein formales Deutungsprinzip anwendet, das sich zugleich als materiales Selektionsprinzip erweist. Beispiel für diese Art der Auswahl ist E. Käsemann. Selbstverständlich will Käsemann nicht gewisse Texte oder gar Bücher aus dem neutestamentlichen Kanon einfach eliminieren; sie sollen vielmehr im Kanon bleiben und auf ihre Weise ernst genommen werden. In diesem Sinne vertritt Käsemann keine Auswahl. Aber Käsemann will die Geister " Vgl. H. Schlier, Art. utQtaL; im Theologischen Wörterbuch zum NT (Stuttgart 1955, 11957), I, 182: Der im Christentum von vomherein suspekte Begriff "verdankt sein Dasein also nicht erst der Entwicklung einer Orthodoxie, sondern der Grund für die Bildung des duistlichen Begriffes utQtOL!i liegt in der neuen Situation, die durch das Auftreten der christlichen bxl.'lalu geschaffen wurde. ~XxA'lalu und utQtaL; sind sachliche Gegensätze. Jene verträgt diese nicht, und diese schließt jene aus. Das deutet sich schon in Gal 5,20 an, wo die utQtaL; zu den IQya 'rilli au{)X6; neben IQL;, lxt(l(ll, t;.ijl.o;, hJ,Lol, IQLteiuL, lhxoatualuL gerechnet werden. u'tQeaL; bat dabei, wie übrigens überhaupt im NT, noch nicht technischen Sinn. In t.Kor 11,18 f. tritt die Unmöglichkeit der ut(IEOL!i innerhalb des Christentums noch offener heraus. Paulus greift bei der Erwähnung der kultischen Versammlung, in der die Gemeinde als bxl.'lalu zusammenkommt, zurück auf die axlaJ.UltU von t.Kor 1,10 ff. axlaJ.Latu sind die durch persönlich motivierte Streitigkeiten verursachten Risse in der Gemeinde. Paulus glaubt einen Teil der Naduichten, die ihm von den Spaltungen der Gemeinde bekannt wurden. Und zwar deshalb, weil ja sogar (xul) u[QtaEL!i tv uJ.Liv sein müssen, damit die Erprobten offenbar werden (können). Gleichgültig, ob Paulus hier ein apokryphes Herrenwort benützt (vgl. JusDial55,5; Didask 118,35) oder nicht, es ist für ihn ein eschatologisch-dogmatischer Satz (vgl. Mk 15,5 f. par; Apg 20,29 f.; 2.Petr2,1; t.Joh2,19), und ul(lem; ist, als eschatologische Größe verstanden. Dabei ist utQem; gegen axlaJ.Ul deutlich abgehoben und bedeutet diesem gegenüber eine Steigerung. Die Steigerung besteht aber darin, daß die alQtau; das Fundament der Kirche berühren, die Lehre (2.Petr. 2,1) und zwar in so fundamentaler Weise, daß daraus eine neue Gemeinschaftsbildung neben der bxl.'lata entsteht."
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des Neuen Testamentes "unterscheiden". Er wendet die paulinische "Unterscheidung der Geister" - die Paulus selbst nie auf den (alttestamentlichen) Kanon angewendet hat - auf den (neutestamentlichen) Kanon an, um hier nicht zwischen den verschiedenen guten Geistern, bzw. den (von der Kirche durch den Kanon anerkannten) guten Zeugen, zu unterscheiden, sondern um auch im Neuen Testament - mit antidoketischer Berufung auf die Ungesichertheit und Anfechtbarkeil alles Menschlichen- zwischen guten und bösen Geistern zu unterscheiden. Von diesen als böse erklärten Geistern des Neuen Testamentes her will Käsemann das "Evangelium" nicht hören. Nur in den von ihm als "gute Geister" anerkannten Zeugnissen hört er das "Evangelium". In diesem Sinne vertritt Käsemann eine Auswahl. So kommt es bei ihm zu einem mittleren Weg zwischen Enthusiasmus und Frühkatholizismus. Er nimmt im Neuen Testament grundsätzlich nur die Zeugnisse positiv ernst, die "Evangelium" werden können und sind, die "Rechtfertigung des Sünders" ankünden. Das bedeutet einen prinzipiellen - auch wenn man nicht von "Prinzip" sprechen will- und von Käsemann bewußt als "evangelisch" akzeptierten Verzicht auf Katholizität im Schriftverständnis. Doch hier wird der evangelische Exeget vom evangelischen Dogmatiker desavouiert: H. Diem macht Käsemann den Vorwurf, daß er das neutestamentliche Verkündigungsgeschehen "dadurch paralysiert und paralysieren muß, daß er es erst durch seine Zustimmung in kritischer Sichtung zu einer für ihn verbindlichen Geschichte macht" 46 • Gewiß geht es Käsemann nicht um die Rechtfertigungslehre (nicht um einen "Glaubensgegenstand", ein "Grunddogma", ein theologisches "Prinzip"), sondern um das Rechtfertigungsgeschehen; und dieses kann nicht nur in Röm oder Gal, sondern auch z. B. in einem Logion Jesu, in einer Seligpreisung usw. angekündigt werden; in jedem neutestamentlichen Zeugnis, auf Grund dessen Rechtfertigung des I Sünders geschieht, geht es um "Evangelium". Aber sicher ist, daß es für Käsemann nicht im ganzen Neuen Testament um "Evangelium" geht und daß er selberwissen kann, wo es nicht um Evangelium geht. Demgegenüber gibt Diem zu bedenken, daß hinter dem neutestamentlichen Kanon damals und heute die Kirche steht, "daß die Kirche exklusiv in der Verkündigung dieser Zeugnisse das Wort Gottes gehört hat und wir es darum ebenfalls exklusiv durch diese Zeugnisse weiterverkünden und hören sollen" 47 : " ••• das Faktum des Kanons bezeugt, daß die Kirche tatsächlich in diesen Zeugnissen einhellig die Verkündigung von Jesus Christus gehört hat und wir sie darum hier ebenfalls hören können und hören sollen " 48 • Gewiß dürfen und sollen "AaO 203 f.
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AaO 204.
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bestimmte Zeugnisse des Neuen Testaments situationsbedingt gewertet, die einen bevorzugt und andere zurückgestellt werden49 • "Aber bei jeder solchen situationsbedingten Wertung der einzelnen Zeugen ist die durch das Faktum des Kanons gesetzte Grenze zu beachten. Diese verlangt die Anerkennung, daß auch jener von uns zurückgestellte Zeuge - in seiner historischen Bedingtheit, denn wie sollte er es anders tun? - das Zeugnis von Christus ausgerichtet und darum bei der Kirche Gehör gefunden hat, und d. h. daß er als ein vom Heiligen Geist Inspirierter geredet hat. " 60 Ohne die Bindung an den Kanon verfällt der Exeget "seiner eigenen subjektiven Willkür, die ihn stets in Gefahr bringt, daß er, anstatt die Texte in ihrer jeweiligen konkreten Profiliertheitreden zu lassen, sie in ihrer historischen Einmaligkeit durch ein vorgefaßtes Auslegungsprinzip vergewaltigt und eben dadurch auch in ihrem Zeugnischarakter als Predigttext verfehlt"51. Käsemann würde sich selbstverständlich gegen den Vorwurf der subjektiven Willkür zur Wehr setzen. Er wählt ja nicht in eigener Wahl, sondern betroffen vom "Evangelium" aus. Gegen die Bestimmung einer "Mitte" des Evangeliums ist nichts einzuwenden. Aber gefragt werden darf: Woher begründet Käsemann, daß er nur von diesen Texten und von anderen nicht betroffen ist, daß er nur diese und andere Texte nicht als "Evangelium" zu hören vermag? Dies läßt sich zweifellos nicht vom Neuen Testament her begründen; denn das Neue Testament besagt auch nach Käsemann mehr als nur sein "Evangelium". Auch nicl:J.t einfach vom "exegetisd:J.en Befund" her, nad:J. welchem sich die "paulinistische Mitteljlinie" als "Evangelium" aufdrängte. Das Problem wäre nur verschoben, wenn es eine anders bestimmte "Mittellinie" wäre. Denn die Frage ist ja gerade die, warum Käsemann nur diese "Mittellinie" als "Evangelium" zu sehen vermag. Kann sicl:J. da Käsemann auf mehr berufen als auf irgendein (vielleicht durch philosophische Prämissen oder durch wenig glaubwürdige Darstellung des Katholischen in Geschichte und Gegenwart unbewußt verursachtes) protestantisches Vorverständnis? Oder, tiefer, auf irgendeine letzte Option, in der man sich vielleicht mehr vorfindet {lutherische Tradition?), als in die man sich selber gestellt hat? Also jedenfalls eine Entscl:J.eidung vor aller Exegese? Ist das nicl:J.t eine Position, in der man auch kaum mehr Gründe angeben kann, die einen anderen abhalten könnten, eine andere Option zu treffen und auf Grund eines anderen traditionellen Vorverständnisses eine andere Mitte und ein anderes Evangelium exegetisd:J. zu entdecken? Auf das " Diem erläutert dies im Anschluß an G. Eichholz am Beispiel der Rechtfertigungslehre des Paulus und der des Jakobus: aaO 206-208. 11 AaO 205. 11 AaO 206.
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Neue Testament als Ganzes kann man sich ja, nachdem man seine Katholizität preisgegeben hat, nicht mehr berufen. Was übrig bleibt, ist - gegen den Willen derer, die sie übendodt die mehr oder weniger große subjektivistische Willkür: "Für Luther war diese Mitte, von der her er alles beurteilte, wohl Paulus oder, noch enger, dessen Rechtfertigungslehre. Andererseits war für Luther das Johannesevangelium das einzige ,zarte rechte Hauptevangelium'. Ebenso beurteilte und verteidigte F. Schleiermacher dieses gleiche Evangelium ob seines geistigen Gehaltes als das wesentliche Evangelium. In der historisch-kritischen Theologie zu Beginn unseres Jahrhunderts waren die Herrenworte in der Synopse das Maß des Echten. Für R. Bultmann ist wohl das Jobarmesevangelium das Zeugnis des gültigen Evangeliums als Evangelium des Wortes allein und jetziger existentieller Entscheidung, wenn angebliche spätere kirchliche Zusätze über die Sakramente und die künftige Eschatologie ausgeschieden werden. Müßte man nicht vielmehr, als das NT von einer solchen Norm her zu messen, die kritische Norm am Reichtum des NT messen und ihr darnach allenfalls ein relatives Recht zuerkennen ?" 52 Das kühne Programm "Kanon im Kanon" fordert nichts anderes als: biblischer zu sein als die Bibel, neutestamentlicher als das Neue Testament, evangelischer als das Evangelium und sogar paulinischer als Paulus. Radikales Ernstmachen ist die Absicht, radikale Auflösung die Folge. Im Gegensatz zu aller Hairesis, die in ihrer Selbstverabsolutierung, ohne es zu wollen, zur Hybris wird, versucht katholische Haltung, sich die volle Offenheit und Freiheit für das Ganze des Neuen Testaments zu I bewahren. Das scheint oft weniger konsequent und imponierend zu sein als das kraftvoll-einseitige Herausstellen einer Linie; Paulus allein kann ja unter Umständen konsequenter und imponierender wirken als das ganze recht vielfältige Neue Testament, und der (von "Sakramentalismus" und "Mystizis· mus" purifizierte) paulinistische Paulus unter Umständen wiederum konsequenter und imponierender als der ganze Paulus. Aber der wahre Paulus ist der ganze Paulus, und das wahre Neue Testament das ganze Neue Testament. 4. Faktische Auswahl: Das ist die Auswahl, die in der Interpretation des neutestamentlichen Kanons ein formales Deutungsprinzip, das sich als materiales Selektionsprinzip erweist, grundsätzlich ablehnt, faktisch jedoch einzelne Zeugnisse des neutestamentlichen Kanons (durch. übersehen oder Unterinterpretieren) nicht emstnimmt. Beispiel für diese Art der Auswahl ist H. Diem. Diem geht durch seine ganze Dogmatik hindurch zur Abgrenzung gegenüber der katholi61 K. H. Schelkle, Die Petrushriefe (Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament XIII, 2. Freiburg-Basel-Wien 1961) 245.
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sehen Kirche von der Voraussetzung aus, daß der Frühkatholizismus mit seiner spezifischen Auffassung von kirchlichem Amt, insbesondere Lehramt, und apostolischer Sukzession erst sehr viel nach dem Neuen Testament seinen Ursprung habe: an jenem "Einschnitt in der Kirchengeschichte ... , welcher das nachapostolische Zeitalter absmließt und allgemein als der Beginn der altkatholischen Kirche bezeichnet wird" 53 • Hier erst fmden sich der spezifisch katholische "Episkopat" und die "mit rechtlicher Vollmacht begabten Ämter" 54 ; hier erst versucht man, "die Autorität durch eine historische Kontinuität mit den Aposteln und dadurch mit dem menschgewordenen Herrn zu sichern durch die Einführung der mit der Bischofsweihe übertragenen ,apostolischen Sukzession' als dem historisch äußeren Kennzeichen des rechten Bischofs" 55 • Von daher kann Diem die "Entwicklung zum Frühkatholizismus" ohne weiteres "als Abweg vom Neuen Testament" verstehen58 • Er setzt überall voraus, daß das Neue Testament mit dem Frühkatholizismus nichts zu tun habe. Doch hier wird der evangelische Dogmatiker vom evangelischen Exegeten desavouiert: E. Käsemann stellt mit aller Nüchternheit fest: "Die Zeit, in der man die Schrift als ganze I dem Katholizismus entgegenhalten konnte, dürfte unwiederbringlich vorbei sein. Mit dem sogenannten Formalprinzip kann Protestantismus heute nicht mehr arbeiten, ohne sich historischer Analyse unglaubwürdig zu machen. Der neutestamentliche Kanon steht nicht zwischen Judentum und Frühkatholizismus, sondern gewährt in sich wie dem Judentum so auch dem Frühkatholizismus Raum und eine Basis." 57 Was dies nach Käsemann bedeutet, wird besonders klar aus seiner Abhandlung über Amt und Gemeinde im Neuen Testament58 • Dort arbeitet er scharf antithetisch die unterschiedliche Kirchenordnung in den paulinischen Briefen einerseits und in den Pastoralen und bei Lukas (Apostelgeschichte) andererseits heraus. Die Gemeindeordnung sowohl in den Pastoralen ·wie bei Lukas ist im Gegensatz zu den charismatisch bestimmten paulinischen Gemeinden frühkatholisch bestimmt. II H. Diem, Theologie als kirchliche Wissenschaft (München 1951) I 154; vgl. den ganzen§ 15 über die Entstehung der altkatholischen Kirche. "AaO 137. 11 AaO 138. 11 AaO 163; in Band II ist Diem auf das Problem des Frühkatholizismus im NT an bestimmten Punkten aufmerksam geworden (vgl. 152-157), ohne es aber als grundsätzliches Problem emstzuneh.men; der Beginn des Frühkatholizismus wird bei Tertullian bzw. den Apologeten angesetzt (vgl. 296-314). 67 E. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, aaO 221. 68 E. Käsemann, Amt und Gemeinde im Neuen Testament, in: Exegetische Versuche und Besinnungen (Göttingen 1960) I, 109-154.
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In den Pastoralen ist nach Käsemann die Gemeinde besonders durch die gnostischen Häresien schwer in die Defensive gedrängt. Der Widerstand wird geleitet von einem einzigen Zentrum aus: vom apostolischen Delegaten und dem ihm verbundenen Presbyterium. Ein Presbyterium wird in den paulinischen Briefen nie angeredet, obwohl es zur Bekämpfung der Häresien das einzig Richtige gewesen wäre. Es gab eben in den paulinischen Gemeinden ein solches Presbyterium, wie es wahrscheinlich auch in den Gemeinden der Pastoralen eingerichtet worden war, gar nicht. Aus juden-christlicher Tradition ist vermutlich auch die Ordination (1 Tim 4, 14; 5, 22; 2 Tim 1, 6) in die paulinischen Gemeinden gekommen. "Sie hat denn auch den gleichen Sinn wie im Judentum, ist nämlich Geistmitteilung und bevollmächtigt zur Verwaltung des depositum fidei von 1 Tim 6, 20, worunter genauer die paulinische Lehrtradition verstanden werden darf. Das besagt jedoch, daß ein der übrigen Gemeinde gegenüberstehendes Amt zum eigentlichen Geistträger geworden ist und die urchristliche Anschauung, wonach jeder Christ in der Taufe den Geist empfängt, zurücktritt, ja faktisch verschwindet. Ebenso deutlich ist, daß sich das nicht mehr mit der paulinischen Charismenlehre verträgt. Jüdisches Erbe verdrängt das paulinische zum mindesten an einer zentralen Stelle der Verkündigung. So erscheint das Wort Charisma denn auch nur noch 1 Tim 4, 14 und 2 Tim 1, 16, also höchst aufschlußreich im Zusammenhang von Aussagen über die Ordination. Bezeichnet wird damit der Ordinationsauftrag und die Bevollmächtigung zur Verwaltung des I depositum fidei. Unschön, aber völlig sachgemäß mag man vom Amtsgeist sprechen. "69 Im apostolischen Legaten (Titus, Timotheus) ist somit nach Käsemann faktisch niemand anders als der monarchische Bischof angeredet. "Seine Aufgabe ist die Fortführung des apostolischen Amtes in nachapostolischer Zeit. Er steht mit andem Worten in der apostolischen Sukzession, genauso wie der Rabbi in der Sukzession des Moses und Josua die Lehrtradition und Rechtsprechung erhält und jure divino, nämlich durch die Geistmitteilung bei der Ordination bevollmächtigt, handhabt. Damit ist jener Amtsbegriff gebildet, der die Folgezeit bestimmen wird. Zum mindesten faktisch gibt es nun die Unterscheidung von Klerikern und Laien. Ein Traditions- und Legitimationsprinzip sichert unausgesprochen, aber als unverkennbare Grundlage der gesamten Gemeindeordnung die Autorität des institutionellen Amtes, das sich in Presbyterium, Diakonat und WitwenInstitut mit ausführenden Organen umgibt. " 80 Diese ganze Um" AaO I, 128 f. • AaO I, 129; vgl. auch zu 1 Tim 6,11-16 Käsemanns Aufsatz: Das Formular einer neutestamentlichen Ordinationsparänese, aaO I, 101-108.
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wandlung war notwendig, weil nur so der ungeheuren Gefahr des gnostischen Schwärmerturns die Stirne geboten werden konnte. Ganz Ähnliches wie von den Pastoralen läßt sich von der Kirche der Apostelgeschichte sagen. Auch hier überall Bischöfe, Presbyterien, Ordination sowie das Traditions- und Legitimationsprinzip. "Lukas hat zum ersten Male, soweit wir zu sehen vermögen, die frühkatholische Traditions- und Legitimitätstheorie propagiert. Auch er hat es zweifellos nicht mutwillig, sondern in Abwehr der Kirclle drohender Gefahren getan. Der Historiker kann nicht anders als zugeben, daß sich die hier vorgetragene Theorie dem Enthusiasmus gegenüber als wirksamstes Kampfmittel erwiesen und das junge Christentum davor beschützt hat, im Schwärmerturn unterzugehen. Die Kanonisierung der Apostelgeschichte ist insofern als Dank der Kirche verständlich und verdient. " 81 Von daher verwundert es denn nicht mehr, daß auch die vermutlich späteste Schrift des neutestamentlichen Kanons, der zweite Petrusbrief, wie Käsemann in einem anderen Artikel ausführt, frühkatholisch geprägt ist: "Der zweite Petrushrief ist vom Anfang bis zum Ende ein Dokument frühkatholischer Anschauung und wohl die fragwürdigste Schrift des Kanons. " 82 Als bezeichnendste Aussage des ganzen Briefes darf 1, 20 angesehen werden, die bedeutet: "Persönlicll, vom einzelnen vorlgenommene, vom kirchlichen Lehramt nicht autorisierte und vorgezeichnete Exegese ist nicht gestattet."" Oder wie Käsemann schließlich in der Abhandlung: "Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?" ausführt: "Hier (in 2 Pet) wirkt der Geist ja nicht mehr auch durch die Uberlieferung, sondern hier geht er in der Tradition auf, ist deshalb wie bereits in den Pastoralen und der Apostelgeschichte das kirchliche Lehramt Besitzer des ,Amtsgeistes', kann, wie geradezu klassisch in 2 Pet 1, 20, jede nicht autorisierte Exegese und Interpretation der Schrift verboten werden. Hier gilt die Ordination als Index eines Legitimitäts- und Sukzessionsprinzips, kurz: ist die Grenze des Urchristentums überschritten und der Frühkatholizismus etabliert. " 84 Diem würde sich gegen manche Interpretationen Käsemanns zur Wehr setzen85 • Andererseits wird sich der katholische Theologe keineswegs mit jeder, oft recht überspitzt "frühkatholischen" Interpretation Käsemanns identifizieren wollen86 • Aber was unbestreitbar sein " AaO I, 152. a E. Käsemann, Eine Apologie der un:hristlimen Eschatologie, aaO I, 155. 11 AaO I, 155 f. N E. Käsemann, Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?, aaO I, 220 f. 11 So in seiner Dogmatik 155-155 bezüglich 2 Pet 1, 20 f. M So in: Amt und Gemeinde im Neuen Testament, aaO I, 109-127, bezüglich lJ•
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dürfte: Das Katholische (im Verständnis des Amtes, der apostolischen Sukzession, der Ordination, der Lehre usw. 87 ) findet sich bereits im Neuen Testament88. Daß wegen des Katholischen des Neuen Testaments die Position eines evangelischen Theologen, der grundsätzlich das ganze Neue Testament ernstnehmen und doch nicht katholisch werden möchte, recht schwierig geworden ist, kann nicht verheimlicht werden. Im Vergleich mit Diems Position erscheint diejenige Käsemanns klarer, konsequenter, überzeugender. I Gegenüber dem Katholischen des Neuen Testaments sind im Grunde nur zwei Haltungen letztlich überzeugend: diejenige Käsemanns (mit seinen Freunden), der das Katholische des Neuen Testaments konsequent durch "Unterscheidung der Geister" für unevangelisch erklärt, oder dann die katholische, die das Katholische des Neuen Testaments als evangelisch, als Ausdruck des Evangeliums ernst zu nehmen versucht. Bei Diem spielt weder im ersten noch im zweiten Band seiner "Theologie" das Katholische {Episkopenamt, Lehramt, Petrusamt, Ordination, Sakramente usw.) die Rolle, die es nach dem Neuen Testament spielen sollte. Vor der Schrift, die für das Katholische zeugt, bleibt auch Diem89 nur das zu der rein charismatischen Gemeindeordnung der großen Paulinen sowie allgemein bezüglich der scharfen Entgegensetzung Paulus-Lukas. Käsemanns forciert frühkatholische Auslegung von !2 Pet vgl. mit der ausgeglichenen katholischen Auslegung von K. H. Schellde, Die Petrushriefe (Freiburg-Basel-Wien 1961). n Dies wäre auch bezüglich anderer Fragen zu überlegen, etwa bezüglich der Gotteserkenntnis auf Grund der Schöpfung, die sehr wohl auch nicht im Sinne autonomer, evidenter, unabhängig von Gottes Gnade gegebener "natürlicher Theologie" verstanden werden kann. Auch bezüglich der Gotteserkenntnis auf Grund der Schöpfung wäre die Frage nach dem "Frühkatholizismus" im Neuen Testament nicht nur in Apg, sondern auch in Röm- ohne falsche Voreingenommenheit - zu stellen. 18 Vgl. zur Problematik des Frühkatholizismus im Neuen Testament neben den Aufsätzen von Käsemann: Ph. Vielhauer, Der Paulinismus der Apostelgeschichte, in: Evangelische Theologie 10 (1950/51) 1-15; G. Harbsmeier, Unsere Predigt im Spiegel der Apostelgeschichte, in: Evangelische Theologie 10 (1950/51) 35!2--368; H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas (Tübingen 1954, 1 1960); W. Mansen, Der ,.Frühkatholizismus" im Neuen Testament (Neukirchen 1958); F. Mußner, "Frühkatholizismus", in: Trierer Theologische Zeitschrift 68 (1959) 237-!245; H. Braun, Hebt die heutige neutestamentlich-exegetische Forschung den Kanon auf? 18 Vgl. z. B. Theologie als kirchliche Wissenschaft I (München 1951) 11!2-116, 134-139. Zur Deutung des Petrusbekenntnisses vgl. von katholischer Seite: F. Obrist, Echtheitsfragen und Deutung der Primatstelle Mt 16, 18 f. in der deutschen protestantischen Theologie der letzten dreißig Jahre. Ntl. Abh. XXI, 3-4 (Münster/W. 1961). - Für Diems Vernachlässigung des kirchlichen Amtes ist seine Stellung zur Entstehung des Kanons besonders aufschlußreich. V gl. Dogmatik (München 1955, 1 1957) 171-195, bes. 179. Gegen Diem macht f/. Braun, Hebt die heutige neutestamentlich-exegetische Forschung den Kanon auf? (Fuldaer Hefte 1!2, Berlin 1960, 11 [ = u. S. 221 ]) geltend, daß sich die Kanonabgrenzung nicht ein-
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tun übrig, was in der evangelischen Theologie oft getan wird: neutestamentlichen Sätzen die Spitze abzubrechen und das Katholische des Neuen Testaments entweder zu übersehen70 oder unterzuinterpretieren71. Das Katholische des Neuen Testaments kann nur der Katholik ernst nehmen. f. Das Protestantische und das Katholische: Käsemann und Diem nehmen, so sahen wir, in der entscheidenden Frage des Katholischen im Neuen Testament diametral entgegengesetzte Standpunkte ein. Sie sind in einer gewissen, wenn auch verschiedenen Hinsicht- Käsemannbezüglich des "Frühkatholizismus" im Neuen Testament, Diem bezüglich des verpflichtenden neutestamentlichen Kanons- dem Katholiken näher, als sie sich gegenseitig sind. Aber dieser Gegensatz ist nicht zu dramatisieren. Wir machen uns keine Illusionen: Worin stimmen Diem und Käsemann nun doch zutiefst überlein? Sie stimmen darin überein, daß sie nicht gewillt sind, das Neue Testament kath·olou zu verstehen. Es fehlt ihnen die volle Freiheit und Offenheit für das Ganze der neutestamentlichen Botschaft. Ihr stillschweigendes, aber selbstverständliches Apriori ist - bei allem ernsten und intensiven Bemühen um das Neue Testament - das Protestantische. Und das heißt: Es gibt in ihrer Exegese und Theologie von vomeherein keinen Weg nach "Rom". Viele und recht gegensätzliche Wege sind einem Protestanten offen; eine Freiheit und Offenheit für einen Weg nach "Rom" aber gibt es nicht. Was bleibt also zu tun übrig, wenn man - was für einen Katholiken keine überraschung bedeutet fach selbst in der Kirche durchgesetzt habe, sondern in den letzten Abgrenzungen (Heb, ein Teil der katholischen Briefe und Apk) von der Kirche dekretiert wurde: "Der definitive Charakter dieser Abgrenzung ist kirchliches Dekret." " Ein bezeichnendes Beispiel liefert P. Feine, der die obengenannten drei klassischen Stellen für die Ordination in den Pastoralbriefen durch seine ganze Theologie des Neuen Testaments hindurch nicht nur nicht erklärt, sondern nicht einmal erwähnt. Und bezüglich 2 Pet sagt E. Käseman.n: "So möchte man es fast symptomatisch nennen, daß, von der pflichtgemäßen Behandlung in den Kommentaren abgesehen, über unsern Brief zumeist geschwiegen wird" (Eine Apologie der urchristlichen Eschatologie, aaO I, 135). 71 So bedeutet das Verbot der "eigenen Interpretation" in 1 Pet 1,20 für R. Krwpf nur:"Mit Ehrfurcht, mit Zurückhaltung und Bescheidenheit sollen also die Christen an die Prophetien des AT gehen", und für G. Wahlenberg und A. Sc:hlatter: die Weissagung erfährt ihre Auslegung und Erfüllung aus der Geschichte heraus (nach E. Käsemann aaO I, 152). Ein Beispielliefert auch W. Fürst, Kirche oder Gnosis? Heinrich Schliers Absage an den Protestantismus (München 1961) 36: "So wird man etwa die Pastoralen nicht behaften bei ihrem zweifellos ,katholischen' Amts- und Traditionsbegriff, sondern wird in ihnen hören auf den Anspruch des Wortes, unter den eine in solchen Entwicklungen stehende und ruhende Christenheit gerufen wird." Zu W. Mar:rsens Unterinterpretation katholischer Texte im Neuen Testament vgl. F. Mußner, "Frühkatholizismus", in: Trierer Theologische Zeitschrift 68 (1959) 237-245.
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- feststellen muß, daß sogar im Neuen Testament alle Wege schließlich und endlich- nach "Rom" führen? Diem, Käsemann und der katholische Theologe gehen vom seihen Neuen Testament aus. Aber bei Käsemann sind für die Interpretation die Weichen- durch grundsätzlime Auswahl- von vomeherein so gestellt, daß wichtigste neutestamentliche Linien nicht ernsthaft in Betracht kommen, daß insbesondere der Weg des "Frühkatholizismus", der unweigerlich zum "Spätkatholizismus" führen muß, von vomeherein gesperrt ist und im Grunde nur noch in der einen (paulinistischen) Richtung gefahren werden kann. Bei Diem umgekehrt sind die Weichen der Interpretation nicht von vomeherein gestellt. Es besteht grundsätzlich die Freiheit, allen Linien des Neuen Testaments nachzugehen. Doch dann, wenn beim "Frühkatholizismus", von ferne wenigstens, "Rom" in Sicht kommt, dann leuchtet das rote Licht auf (das bei Käsemann schon am Anfang des Weges warnte): die Interpretation stockt, man weigert sich weiterzuinterpretieren. Man bleibt- unter faktischer Auswahl- mit Protest auf der Strecke: bis hierher und nicht weiter72 .1 Katholische Haltung ist es, grundsätzlich nach allen Richtungen offen zu sein, die das Neue Testament freigibt, keine neutestamentliche Linie grundsätzlich oder faktisch auszuschließen. Katholische Haltung versucht, unvoreingenommen das Neue Testament nach allen Seiten hin ernstzunehmen: katholisch zu sein, offen und frei zu sein für die ganze, umfassende Wahrheit des Neuen Testaments. Man hat die katholische Kirche oft eine complexio oppositorum genannt, in keinem guten Sinn, insofern man der Kirche Unwesen (als der Kirche aus Menschen, und sündigen Menschen) mit ihrem Wesen (als der im Heiligen Geiste heiligen Kirche) verwechselte. Was aber oft als Vorwurf gedacht war, kann auch einen guten Sinn haben: Käsemann hat aufgezeigt, daß das Neue Testament selbst eine complexio oppositorum ist; die katholische Kirche ist also neutestamentlich ausgerichtet, wenn sie versucht, die opposita (nicht alle, sondern diejenigen, die auch die des Neuen Testaments sind!) in einem guten Sinn zu umfassen und das ganze Neue Testament als Evangelium zu verstehen. 71 ., Wo bei der Auslegung der Schrift auch nur etwas übersehen wird, was eben auch geschrieben steht, wo man genötigt ist, zur Durchführung seiner Auslegung auch nur etwas, was auch geschrieben steht, abzusmwächen oder gar fallen zu lassen, da droht die Möglichkeit, daß die Auslegung das Eine, von dem die Schrift in ihrer Ganzheit zeugt, auch da, wo sie es gefunden zu haben meint, in Wirklichkeit verfehlt hat. Eine Auslegung ist in dem Maß vertrauenswürdig, als sie nicht nur den gerade vorliegenden Text, sondern mindestens implizit auch alle anderen Texte auslegt, in dem Maß als sie mindestens den Ausblick auf die Auslegung auch aller anderen Texte eröffnet" (K. Barth, Kirchliche Dogmatik (Zürich 1 1948] 1/2, 537).
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Nimt das ist das Verhängnisvolle an der Theologie Käsemanns, daß sie eine (wie immer des näheren zu bestimmende) "Mitte der Schrift" annimmt, sondern daß sie die "Mitte" in protestantischer Exklusivität das "Ganze" sein läßt und alles übrige durch "Untersmeidung der Geister" aussmeidet. Nimt das ist das Verhängnisvolle an der Theologie Diems, daß sie je nam der konkreten Verkündigungssituation den einen oder anderen Zeugen zurücktreten läßt, sondern daß sie gewisse Zeugen in protestantismer Exklusivität gar nimt ausreden läßt und sie in ihren Anliegen nicht genügend ernst nimmt. Der Protest gegen den Frühkatholizismus ist Protest gegen das Katholisme überhaupt. Käsemann und Diem wären die letzten, die dies bestritten. Dieser Protest- wahrhaftig nimt einfach unbegründetrichtet sich gegen die katholische Kirche. Aber nicht nur gegen das Unkatholische der katholischen Kirme; das wäre katholisch. Sondern auch gegen das Katholische der katholischen Kirche; das ist protestantism. Der Protest gegen die Katholizität der Kirche wird jedoch als protestantischer Protest zwangsläufig zum Protest gegen die Katholizität der Schrift, auf die er sich in seinem Protest gegen die Katholizität der Kirche ausschließlich stützen wollte. Der Protest wird aus dem Korrektiv (so meinte es Luther ursprünglich) zum Konstitutiv (so meint es der Protestantismus in seinen verschiedenen Ausprägungen). Der Protest erstarrt in sim und hebt sim selber auf, indem er das Fundament, auf das er sim stellte, selbst auflöst. Jede protestierende Auswahl aus dem Neuen Testament widerlegt die je anderen und wird von ihnen widerlegt. Das falsch verstandene sola scriptura führt zu einem I sola pars scriptura und dies wiederum zu einem sola pars Ecclesiae, kurz: zu einem verheerenden Chaos in Verkündigung und Lehre und einer progressiven Aufsplitterung des Protestantismus73. 73 Auch W. Fürst gesteht in seinem Versuch einer protestantischen Antwort an Heinrich Schlier freimütig zu: "Unsere eigene Gespaltenheil dürfte der wunde Punkt sein, an dem uns Schliers Anfrage als Infragestellung am empfindlichsten trifft. Sind wir uns untereinander, wie wir es nach reformatorischem ,Prinzip' doch sein müßten, wenigstens darin einig, worin wir mit Schlier, dem Anschein nach, einig sein können: daß das Neue Testament für die Entscheidungen maßgebend ist? Schlier glaubt uns nicht, daß das Hören auf die eine Schrift hinter den so versd:tiedenen Auskünften steht, die wir geben, und man kann ihm das kaum verübeln. Hätte uns seine Konversion, die so bedrohlich an allen Grundlagen unserer Tradition rüttelt, nicht längst nötigen müssen, die unter uns immer wieder aufgesdlobenen Bereinigungen schleunigst nachzuholen? Solange wir sie nicht angehen, werden wir kaum in der Lage sein, Schliers Herausforderung erfolgreich zu parieren. Der hier zu unternehmende Versuch steht unter der Last des Unerledigten und muß sich seiner Vorläufigkeit auch in dieser Hinsicht bewußt sein" (Kirche oder Gnosis? Heinrich Schliers Absage an den Protestantismus (München 1961] 7).
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6. Katholizität als Aufgabe: Bevor aber ein Katholik bei dieser Lage der Dinge selbstbewußt und überheblich frohlockt, möge er bedenken: Gewiß, nur katholische Haltung vermag die protestantische Auflösung vom Evangelium her zu überwinden. Gewiß, die Katholizität in der Interpretation des Neuen Testaments ist ein großartiges Programm. Aber ist sie mehr als ein Programm? Die Aussage: "Das Katholische ist das Evangelische", kann im Formelhaften stecken bleiben, kann in der kritischen Situation der gegenwärtigen Exegese und Dogmatik als träge beschwichtigender Indikativ statt als die Ausführung des Programms fordernder Imperativ verstanden werden. Unsere Darlegungen haben nicht den Zweck, die katholischen Theologen vor der aufgebrochenen neutestamentlichen Problematik zu beruhigen, sondern sie zur entschiedenen Inangriffnahme der katholischen Aufgabe aufzurufen. Dadurch, daß man nur behauptet, das Katholische sei das Evangelische, hat man die außerordentlich schwierigen exegetischen und dogmatischen Probleme noch nicht gelöst, die uns die gegenwärtige neutestamentliche Forschungslage aufgibt. Das katholische Programm hat sich in der gründlichen, ernsthaften, ehrlichen exegetischen wie dogmatischen Durchführung bis in die ungezählten Einzelprobleme hinein zu bewähren. Man wird nicht behaupten können, daß wir Katholiken die Katholizität in der Interpretation des Neuen Testaments genügend vorgelebt hätten. Wer von uns wagte zu behaupten, daß bei uns jene katholische Freiheit und Offenheit für das ganze Neue Testament den anderen Christen glaubwürdig ad I oculos demonstriert worden sei? Wäre es sonst möglich gewesen, daß sich die katholische Exegese der letzten Jahrhunderte dauernd im Schlepptau der evangelischen Exegese befunden hätte, daß sie sich im Grunde dauernd ihre Probleme, Methoden und Lösungen von der evangelischen Exegese geben ließ, daß grundlegende exegetische Werke wie das "Wörterbuch zum Neuen Testament" meist Werke evangelischer Exegese sind? Man wird sich hüten, den einzelnen katholischen Exegeten deswegen Vorwürfe zu machen; wer käme auf die Idee, katholische Exegeten seien weniger intelligent oder arbeitsfreudig. Sicher ist, daß unseren Exegeten die volle katholische Freiheit und Offenheit für das ganze Neue Testament oft nicht gelassen wurde74 • Nicht in einer Atmosphäre der 7• Was viele leise sagen, spricht der Tübinger Alttestamentler H. Haag offen aus: "Mit größter Besorgnis wird in Kreisen der Exegeten beobachtet, daß die Freiheit, die das Rundschreiben ,Divino afflante Spiritu' der katholischen Bibelwissenschaft einräumte, von neuem bedroht zu sein scheint. Wieder kommt es vor, wie es in den letzten fünfzig Jahren nur zu oft vorgekommen ist, daß ein Exeget wegen Äußerung einer Auffassung, die in Rom als irrig oder sehr oft auch nur als inopportun angesehen wird, seines Amtes enthoben und mit Rede- und Schreibverbot belegt wird, und dies ohne daß er in der Sache gehört worden wäre und auch ohne daß
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Angst, der totalitaristischen Uberwachung und der daraus folgenden Heudtelei und Feigheit, nur in einer Atmosphäre der Freiheit, der nüdttemen theologisdten Redlichkeit und der unerschrockenen Sachlichkeit und gerade so der loyalen Kirchlichkeit können Exegese und Dogmatik ihre große katholische Aufgabe erfüllen. Man wird audt nicht behaupten können, daß wir Katholiken die Katholizität in der Interpretation gerade der neutestamentlichen Ekklesiologie genügend glaubwürdig dargestellt hätten. Man kann nicht bestreiten, daß die katholische Ekklesiologie schon des Mittelalters und besonders der gegenreformatorischen Zeit die Pastoralbriefe (und die Apostelgeschichte) gerade gegenüber der mehr charismatisch strukturierten Gemeindeordnung der großen Paulinen stark überbewertet hat und so faktisch aus der Ekklesiologie weitgehend eine Hierarchologie gemacht hat. Noch heute tragen wir schwer an diesem Erbe, und die zu lösenden Aufgaben sind zahlreich75 • Es ist allerdings sehr viel schwieriger, das Ganze statt nur einen Teil exegetisch emstzunehmen. Nicht nur weil jeder Theologe als Mensch in Gefahr ist, im Neuen Testament gerade das nicht zu vernehmen, was er vernehmen sollte, sondern weil auf diesem katholischen Weg die hohe exegetische Kunst der Differenzierung und Nuancierung in besonderem Maße erforldert ist. Also einerseits keine Harmonisierung und Nivellierung der gegensätzlichen ekklesiologischen Aussagen des Neuen Testaments aus systematischer Bequemlichkeit heraus, die zu träge ist, den verschiedenen Gegensätzen auf den Grund zu gehen. Andererseits keine Dissozüerung und Reduzierung dieser Aussagen aus einer rein statistisch sammelnden und entgegensetzenden Hyperkritik heraus, die am Aufstöbern von Gegensätzlichkeilen mehr Gefallen hat als am Aufspüren einer tieferen Einheit im Gesamtkontext der Schriften, die doch schließlich alle in irgendeiner Form von Jesus Christus und seinem Evangelium reden wollen. Jedes Zeugnis des Neuen Testaments ist ein Niederschlag der Verkündigungsgeschichte, in der Verkündigung und Taten Jesu auf mannigfache Weise überliefert werden, damit Jesus als der Herr geglaubt werde. Jedes ekklesiologische Zeugnis des Neuen Testaments muß deshalb auf dem Hintergrund der gesamten Verkündigungsgeschichte, muß aus seiner bestimmten Verkündigungssituation heraus verstanden werden, in die es hineinsprechen will. Besteht dann aber die Befürchtung Käsemanns nicht zu Recht, daß die letzte Schrift dieser Verkündigungsgeschichte die gesamte vorausihm mitgeteilt würde, worin er geirrt habe." (Was erwarten Sie vom Konzil? in: Wort und Wahrheit 10 [1961] 600.) 76 Vgl. die Diskussion der Probleme bei H. Küng, Strukturen der Illidle (Freiburg-Basel-Wien 1962) 161-195.
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gegangene Geschichte als letztes Zeugnis interpretiert und somit entscheidend bestimmt? Wohl muß in katholischer Sicht auch dieses neutestamentliche Zeugnis ernstgenommen werden. Als frühkatholisches vermittelt es gerade die für die spätere Kirche notwendige Kontinuität zwischen der apostolischen Kirche des Neuen Testaments und der Kirche der "apostolischen Väter" und der alten Kirche überhaupt. Trotzdem kann dies nicht heißen, daß 2 Petdie Interpretation des gesamten Neuen Testaments als die entscheidende Schrift zu bestimmen hat. Ist doch sehr wohl zu beachten, daß es bei 2 Petnicht einfach um ein ursprüngliches, sondern um ein abgeleitetes Zeugnis innerhalb des Neuen Testaments geht. Wie etwa Jud und Jak setzt auch 2 Pet andere neutestamentliche Schriften voraus, und diese setzen unter Umständen wieder andere, so dieses oder jenes Logion Jesu, voraus. Die je neue Verkündigungssituation zwang zu steter Umbildung und Neubildung der ursprünglichen Botschaft, in der auch die menschliche und theologische Eigenart des je neuen Verkünders ihre große Rolle spielte. Eine gegensätzliche Verschiedenheit war von daher innerhalb des Neuen Testaments selbstverständlich gegeben, wie uns ja auch bezeichnenderweise nicht nur ein Evangelium oder eine Evangelienharmonie oder gar ein Leben-Jesu, sondern verschiedene, oft recht gegensätzliche Evangelien überliefert wurden. Aber in dieser ganzen komplexen (und nicht nur einlinigen) Entwicklung versteht es sich, daß den ursprünglichen Zeugnissen vor den abgeleiteten ein Vorrang I zukommt. Geht es doch beim Neuen Testament nicht um einen festschriftartigen Sammelband gleichberechtigter (wenn auch nicht immer gleich wertvoller) Beiträge, geht es doch bei der Botschaft des Neuen Testaments nicht um die Botschaft eines Schriftstellerkollegiums, zu der ein jeder seinen selbständigen Forschungsbeitrag liefert, sondern um die Botschaft Jesu Christi, von der alle späteren Zeugnisse nur Interpretationen sein können und wollen. So sehr also auch die abgeleiteten Zeugnisse des Neuen Testaments ernstzunehmen sind, so sehr sind sie zugleich als abgeleitete und nicht als ursprüngliche ernstzunehmen. Dabei hat nicht nur die äußere zeitliche Nähe zur Botschaft J esu eine Bedeutung, sondern auch die innere sachliche Nähe zur Mitte des Evangeliums. Über die zeitliche Nähe hinaus darf Röm im Vergleich zu Jak auch eine größere sachliche Nähe zugeschrieben werden. Je abgeleiteter ein Zeugnis ist, um so mehr werden Exegeten wie Dogmatiker darauf zu achten haben, auf welche Weise dieses Zeugnis vom Heilsgeschehen in Jesus Christus handelt: welche Faktoren bei je verschiedenen Verkündern in der je verschiedenen Verkündigungssituation mitspielen, fördernd oder hemmend, bekräftigend oder abschwächend, verschärfend oder verharmlosend. So muß jedes Zeugnis im Gesamt des Neuen Testaments
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von der Botschaft J esu und den ursprünglichen Schwerpunkten her verstanden werden. Es darf also nicht so sein, daß die späteren Zeugnisse die früheren, die Pastoralbriefe etwa die Bergpredigt oder die Korintherbriefe überspielen. Die Kirche als das neutestamentliche Gottesvolk ist es, die uns das Neue Testament in einer gewiß wechselvollen Kanongeschichte, aber eben doch das Neue Testament als Ganzes überliefert hat. Ohne die Kirche gäbe es kein Neues Testament. Dabei war die Kirche durchaus der Meinung, daß alle Teile des Neuen Testaments durchaus als positive Zeugnisse vom Christusgeschehen (und nicht nur als z. T. negative Kontrastprogramme) in den neutestamentlichen Kanon aufgenommen wurden. Gewiß, es war die frühkatholische Kirche, die uns den Kanon überliefert hat. Aber ihre Katholizität bekundete diese frühkatholische Kirche gerade dadurch, daß sie Paulus nicht ausschloß, wie es eine im Sinne evangelischer Exegeten konsequent frühkatholische Kirche an sich hätte tun müssen. Sondern darin, daß sie Paulus mit der Apostelgeschichte, Paulus mit dem Jakobusbrief, kurz, daß sie das ganze Neue Testament zwn Kanon erhob. Dadurch hat sie die Unterscheidung der Geister vollzogen. Katholische Theologie ist der Meinung, daß sie sie gut vollzogen hat und wir sie heute nicht besser vollziehen können. Der einzelne Exeget kann seine eigene Unterscheidung der Geister nicht besser treffen als im Vertrauen auf Idie von der alten Kirche vollzogene und von der späteren Kirche weitergetragene Unterscheidung der Geister, die uns das Neue Testament als solches überlieferte. Das konkrete Verhältnis zur Kirche wird auch heute vielfach den Ausschlag geben, ob ein Theologe das von der Kirche überlieferte und verbürgte ganze Neue Testament vertrauensvoll und kritisch zugleich anzunehmen vermag oder nicht. Wir Katholiken sind der Uberzeugung, mit der alten Kirche gut daran zu tun, das Ganze des Neuen Testaments als ein zutreffendes Zeugnis des Offenbarungsgeschehens in Jesus Christus anzusehen und dabei jedes einzelne Zeugnis wahrhaft, aber differenziert in seiner Ausrichtung auf dieses Heilsgeschehen in Christus gelten zu lassen und theologisch wie praktisch ernstzunehmen. Ist es so ganz ein Zufall, daß in Tübingens katholischer Fakultät das Wort des Systematikers vom Exegeten nicht desavouiert, sondern bestätigt wird? "Katholische Theologie wird naturgemäß Zeugnisse des Frühkatholizismus im NT grundsätzlich anders werten als protestantische Theologie. Ist es möglich, die wahre ntl. Botschaft auf die eine Stunde, ja den mathematischen Punkt etwa des Römerbriefes oder des (entmythologisierten) Johannesevangeliums zu begrenzen? In seiner Ganzheit ist das NT Zeugnis der umfassenden, d. h. katho-
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lischen, Wahrheit in der Fülle. Nur einen Teil gelten zu lassen, ist Wahl, d. h. Häresie. Und wenn dieses NT in seinen späteren Teilen zum Frühkatholizismus überleitet, dann wird katholische Exegese sich bemühen, zu zeigen, bei wahrhaft geschichtlichem Verstehen geschehe hier nicht Verkehrung des Ursprünglichen und Wahren, sondern echte und gültige Entwicklung. Das wird nicht hindern, das Spätere mit dem Früheren zu vergleichen und jenes an diesem zu messen, so wie dies alle echt kritische Theologie- auch katholische- unternimmt. " 78 Gibt es auch in der Ekklesiologie, wo alle Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Evangelischen sich scharf zuspitzen und zuspitzen müssen, einen Weg zur Wiedervereinigung? Es gibt ihn. Er besteht darin, daß die katholische Theologie das Neue Testament in evangelischer Konzentration, die evangelische Theologie das Neue Testament in katholischer Weite immer mehr ernstzunehmen versuchen. In diesem Sinne können Katholiken, die oft von einem Zuviel belastet sind, und Evangelische, die oft unter einem Zuwenig leiden, voneinander lernen und einander helfen. Ist es nicht das, was im Grunde bei aller Kontroverse heute immer wieder geschieht I und immer deutlicher geschieht? Ziel unserer Ausführungen und ihrer deutlichen Konfrontation war nicht, eine Diskussion abzuschließen, sondern auf die dahinterliegende große gemeinsame, ökumenische Aufgabe so eindringlich als möglich aufmerksam zu machen. Und ist es nicht ein hoffnungsvolles Zeichen, daß man in Tübingen, hat man sich gründlich auseinandergesetzt, sich immer wieder friedfertig, einträchtig und gut gelaunt zusammensetzt? Postskriptum 1970 Seit 1962- vor dem Vatikanum II- ist viel Wasser nicht nur den Tiber, sondern auch den Neckar hinuntergeflossen. Die katholische Polemik von damals gegen - ebenfalls polemisch bestimmte - protestantische Einseitigkeiten, Engführungen, Exklusivitäten war notwendig. Vieles wäre heute anders zu sagen, einiges hat sich, von beiden Seiten her, erledigt. Wie indessen die damals anvisierten Probleme nicht nur kritisch verschärft, sondern positiv und konstruktiv gelöst werden können, versuchte ich nicht nur durch ein erneutes Bedenken der hermeneutischen Grundfragen, sondern durch eine vom Neuen Testament und seiner christologischen Mitte (!) her begründete und durchgeführte ökumenische Ekklesiologie - gewiß "nur" programmatisch- zu begründen; dabei wird die katholische Tradition nur als nonna nonnata zur Geltung gebracht (vgl. Die Kirche 1967). Zum Primat der Christologie vgl. neuerdings: Menschwerdung Gottes. Eine Einführung in Hegels theologisches Denken als Prolegomena zu einer künftigen Christologie (1970). 71
K. H. Schelhle, Die Petrushriefe (Freiburg-Basel-Wien 1961) 245.
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Katholische Sicht von Schrift, Kanon und Tradition• Ohne auch nur den Versuch einer nach allen Seiten abgerundeten katholischen Darstellung zu machen, sollen nur die Gesichtspunkte herausgestellt werden, die uns in der gegenwärtigen Kontroverse besonders wichtig erscheinen. Zunächst soll die theologische Bedeutung jenes Ereignisses erörtert werden, das wir unter dem Titel "Die Schriftwerdung der neutestamentlichen Paradosis" (Kap. 111 § 1) beschrieben haben. Daraus I ergibt sich dann die Frage nach einer dogmatischen Beurteilung der Entwicklung zum Kanon und nach den Kriterien der Kanonizität und schließlich das Problem des formalen und inhaltlichen Verhältnisses von kanonischer Schrift und Tradition.
1. Die theologische Bedeutung der Schriftlichkeil der Schrift Obgleich katholischerseits immer wieder mit einem gewissen Recht darauf hingewiesen wird, daß Christus seine Jünger ja nicht zum Schreiben, sondern zur mündlichen Verkündigung ausgesandt hat und daß viele Schriften des Neuen Testaments den Charakter von Gelegenheitsschriften haben1, daß also nur eine mündliche Weitergabe der göttlich-apostolischen Paradosis für alle Zeiten durchaus hätte möglich sein können, so muß doch der katholische Theologe mit Schee• Aus: P. Lengsfeld, Uberlieferung. Tradition und Schrift in der evangelischen und katholischen Theologie der Gegenwart (Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien 3), Bonifacius-Druckerei, Paderbom 1960, S. 104-118. 1 Vgl. M. J. Scheeben, Handbuch der katholischen Dogmatik I. Theologische Erkenntnislehre (Gesammelte Schrüten 111), hg. von M. Grabmann, Freiburg 19481, n. 290, 291; L. Lercher SJ, Institutiones Theologiae Dogmnticae I (ed. Schlagenhaufen), Barcelona 19454 , 314; J. Franz.elin SJ, Tractatus de divina traditione et scriptura, Romae 1896', 22; H. Schmidt, Brückenschlag zwischen den Konfessionen, Paderbom 1951, 47-49; M. Schmaus, Katholische Dogmatik (5 Bde., 5. Aufl. München 1953 ff.) I, 107-109, der allerdings an der Beweiskraft dieses Arguments für das kath. Traditionsprinzip Zweifel anmeldet, und zwar mit Recht; denn an der Notwendigkeit und dem Vorrang mündlicher Weitergabe zweifelt protestantischerseits niemand: vgl. Georg Prater in ELKZ 11 (1957), 389, oder P. Althaus, Grundriß der Dogmatik, Gütersloh-Berlin 1952, 234--242, sowie H. Diem, Dogmatik. Ihr Weg zwischen Historismus und Existentialismus, München 19571, 190 bis 192, und K. Barth, KD I, 1, 57 ff. u. a.
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ben2 von einer "relativen Notwendigkeit" der scbriftlichen Fixierung der Paradosis sprechen. Das läßt sich a priori feststellen und hat mit dem nicht hoch genug zu schätzenden Wort-Gottes-Charakter der Schrift noch nichts zu tun. Seheeben sieht die "relative Notwendigkeit" der Schriftwerdung der Paradosis darin, daß "die Urkunde ... überhaupt Vorteile bietet, welche die mündliche Überlieferung nicht bieten kann, und die letztere selbst ohne urkundliche Basis und Anhalt nicht so natürlich, leicht und vollkommen sich forterhalten und geltend machen könnte wie mit derselben". Abgesehen von der lnspiration, besteht "der eigentümliche Wert" der Schrift darin, "daß sie als urkundlicher Bericht über die ganze Geschichte der Offenbarung durch die Details der diese selbst und ihren Inhalt berührenden Tatsachen und die reiche Entwicklung und mannigfache erhabene Darstellung vieler Wahrheiten uns die Offenbarung konkreter und lebendiger vor Augen führt und uns inniger mit derselben vertraut macht, als die mündliche Überlieferung es vermöchte" 3 • Man könnte also sagen, daß die Schriftwerdung der Paradosis gerade um ihrer selbst, um der reinen, konkreten und innig-lebendigen Überlieferung willen notwendig ist, und zwar deshalb, weil es sich hier um eine Oberlieferung handelt, I die nicht einfach im (gewiß defektiblen) Glaubensbewußtsein der einzelnen Gläubigen aufgehen darf. Freilich muß die göttlich-apostolische Paradosis in das Glaubensbewußtsein der Kirche eingehen, aber sie geht nicht ununterscheidbar darin auf. Sonst könnte die Kirche immer nur auf sich selbst reflektieren und nicht mehr auf die ihr gegebene, von einem anderen gegebene Offenbarung. Söhngen unterscheidet mit Recht zwischen Inhalt und Gegenstand der Überlieferung'. Dem Inhalt ( = Bild, Begriff und Erzeugnis) eines intentionalen Aktes entspricht das kirchliche Glaubensbewußtsein, durch das etwas überliefert wird- die traditio activa. Dem Gegenstand des intentionalen Aktes ( = der an sich seiende Gegenstand, der dem Akte vorgegeben ist) entsprächen die gegenständlichen Aussagen der göttlich-apostolischen Glaubenshinterlage, des depositum fidei: das, was überliefert wird - die traditio passiva. Jene Paradosis-Aussagen sind Gegenstand der Überlieferung und löM. 1. Sc:heeben, Dogmatik I, n. 291, 292. M. 1. Sc:heeben, Dogmatik I, n. 292 (Hervorhebung von uns). • G. Söhngen, Oberlieferung und apostolische Verkündigung, in: ders., Einheit in der Theologie, München 1952, 305 ff. (321). Weder Söhngen noch uns ist hier daran gelegen, eine umfassende Darstellung des Verhältnisses von Überlieferung und Glaubensbewußtsein sowie Inhalt und Gegenstand beider zu bieten. Uns genügt die Feststellung der Möglichkeit, daß in jenem (im Raum des menschlichen - und nicht ohne den göttlichen Geist- sich ereignenden) Geschehen der Oberlieferung das aus göttlichem Ursprung Oberlieferte grundsätzlich unterscheidbar ist von dem Menschlichen, wodurch und womit es überliefert wird. 1
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sen sim "nicht einfach in das kirchlid:te Glaubensbewußtsein auf", sondern bleiben der "an sid:t seiende Gegenstand, der als sold:ter (!) den Inhalt des gläubigen Bewußtseins bildet (I) und mithin dem Bewußtsein gegenübersteht" (ebd.). Gerade die Gegenständlichkeit der göttiim-apostolischen (Verbal-)Tradition im Raum der Kird:te, weld:te ein formuliertes Aussprechen und Niederschreiben (sei es in der Heiligen Schrift, sei es in den Schriften der Väter und der "Tradition") möglich macht, gerade diese Gegenständlichkeit bewahrt die Kirdie davor, im Blick auf ihre Schätze immer nur sich selbst zu sehen und nicht ihren Ursprung aus Gott; diese Gegenüber-Ständlichkeit5 bewahrt sie davor (menschlid:t gesprochen), daß die Rück-Besinnung auf ihren Ursprung nicht bloß (sie ist es auch) eine Innenschau in sich selbst, sondern eine wirkliche Rück-Besinnung auf den nicht von I ihr selbst hervorgebrachten Grund ihres Daseins und auf ihre nicht aus Eigenem erzeugte Mitgift ist. Die göttlich-apostolische Tradition ist zwar in das Leben der Kirche eingegangen - insofern umschließt die kirchlid:te Tradition die Paradosis Christi, und die Kirche als solche lebt ja ganz davon-, aber sie bleibt unterscheidbar von ihrem Eigenleben und muß möglichst sorgfältig gerade von jenen Mißbildungen und Verkehrtheiten ihres Eigenlebens (die Schwäd:ten ihrer Glieder sd:tmerzen niemanden mehr als die Kirche selbst) unterschieden werden, die den zum Glauben Berufenen den Zugang zur göttlich-apostolischen Paradosis ersd:tweren oder versperren könnten. Die göttiimapostolische Paradosis (und damit die göttlid:te Wesensbegründung der Kirche) ist unterscheidbar und unterschieden Yon dem sich gewiß auch sehr menschlich gestaltenden Eigenleben der Kird:te, genauer von der menschlichen Seite des kirchlichen Eigenlebens mit all seinen geschid:ttlichen oder anachronistischen, vernünftigen oder auch unvernünftigen Darstellungen. Für den einzelnen und im konkreten Fall mag die Unterscheidung schwierig vorzunehmen sein, grundsätzlich 1 Vgl. H. Schüssler, Wahrheit und Oberlieferung zwischen den Konfessionen: Festgabe Joseph Lortz I, hrsg. von E. lserloh und P. Manns, Baden-Baden 1958, 109-134 (111). -Darum wird auch eine Identifikation von Tradition und kirchlichem Lehramt, wie sie H. Dieckrnt~n.n SJ (De ecclesia Il, Freiburg 1925, n. 669 ff.) und A. Deneffe SJ (Der Traditionsbegriff [Münstersche Beiträge zur Theologie 18], Münster 1931, 160 f.) vertreten, von den meisten Theologen abgelehnt. Vgl T. Zapelena SJ, Oe ecclesia Christi II, Romae 19541, 275-283; ders., Problema theologicu.m 111: Gregorianum 25 (1944), 38-73; J. Salaverri, De ecclesia Christi, Matriti 1950, n. 805; J. Filograssi SJ, De Sanctissima Eucharistia, Romae 19531, 19ff.; ders., Traditio divino-apostolica et Assumptio B. Mariae Virginis: Gregorianum :30 (1949), 443-489 (453); ders., Tradizione divino-apostolica e magisterio della Chiesa: Gregorianum 32 (1952), 135-167 (144-147); J. Temus SJ, Beiträge zum Problem der Tradition: Divus Thomas 16 (1938), 31-56; 197-229; 0. Müller, Zum Begriff der Tradition in der Theologie der letzten hundert Jahre: MThZ 4 (1953), 164 bis 186 (167 f.).
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aber ist sie allein schon auf Grund dessen gegeben, daß die göttiimapostolische Oberlieferung nicht erzeugter Inhalt (im Sinne Söhngens), sondern Gegenstand des kirchlichen Glaubensbewußtseins ist. Von daher muß die bei Möhler anscheinend ungebrochene Identifikation von Kirche-Leib Christi und Offenbarung, wie sie sich im folgenden Satz findet, kritisiert werden: "Die Kirche ist (!) der Leib des Herrn, sie ist ( !) in ihrer Gesamtheit seine sichtbare Gestalt, seine bleibende, ewig sich verjüngende Menschheit, seine ewige Offenbarung" (Symbolik S. 356). Gerade im Hinblick auf die "Tradition im subjektiven Sinn des Wortes" wird man so nicht gut reden können, da ja der "eigentümliche, in der Kirche vorhandene und durch die kirchliche Erziehung sich fortpflanzende christliche Sinn" (357) nidtt unbedingt immer den ganzen Gehalt der göttlich-apostolischen Paradosis zum Bewußtseinsinhalt hat. Wenn Möhler gerade hier von dem "kirchlichen Bewußtsein" (356) spricht und in diesem Zusammenhang die Kirche als "sichtbare Gestalt" des Herrn und als "seine ewige Offenbarung" bezeichnet, so kann das leicht zu dem Mißverständnis führen, das Karl Barth zu seiner so ungeduldig und scharf klingenden Kritik in KD I, 2, 624-628 herausgefordert hat8 • In der seit Irenäus verfolgbaren Entwicklung des katholischen Traditionsprinzips (bis hin zu Möhler) sieht Karl Barth einen Prozeß, der in I zunehmendem Maße alle ursprünglich der Kirche gegenüberstehende Autorität in Kirchenautorität verwandelt (KD I, 2, 629/630). Im Blick auf Möhler glaubt er die katholische Theologie der "Gleichsetzung der Kirche, ihres Glaubens und ihres Wortes mit der siebegründenden Offenbarung" (627) anklagen zu können, wobei sich in dieses kircheneigene Wort nicht nur menschliche Instanzen wie Vernunft, Philosophie und Geschichte hinterrücks einschleichen, sondern durch Möhler und das Vatikanum sogar noch auf den Thron gehoben werden. Bereits im Tridentinum stand hinter der Definition der Tradition jene verhängnisvolle "Identifikation von Schrift, überlieferung, Kirche und Offenbarung" (KD I, 2, 613), welche die Gehorsamshaltung der Kirche unter Gottes Wort aufhebt und die Kirche in einem unkontrollierbaren, unfruchtbaren Selbstgespräch (KD I, 1, 107; I, 2, 651 u. öfter) befangen sein läßt. Nicht so sehr die Mündlichkeil der Tradition bildet das Ziel der Barthschen Kritik, sondern dies, daß eine derart mündlich-geistige Größe, die schließlich "das Ganze 1 Zum Verständnis Möhlcrs vgl. J. R. Geiselmann, Lebendiger Glaube aus geheiligter überlieferung, Mainz 1942, 449-479, besonders 450, und ders., Der Einfluß der Christologie des Konzils von Chalkedon auf die Theologie J. A. Möhlers: Chalkedon 111, 341-420, vor allem 404 ff. -Mähler selbst schränkt bereits in seiner Symbolik (Regensburg 1882 [dritter Abdruck], S. 300) die scheinbare Identifikation ein, indem er sagt, daß die Kirche nur "von einer Seite betrad1tet, auf eine abbildlim-lebendige Weise" Christus sei.
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des kirchlichen Lebens ... für mit Gottes Offenbarung identism erklärt" (KD I, 2, 607), nun nodl Kanon, Regel, Richtschnur und Maßstab des Glaubens eben dieserKirmesein könnte. "Man wird nicht bestreiten können, daß es etwas Derartiges (sei. ungeschriebene prophetisch-apostolische Tradition) in der Kirche außer dem wirklichen Kanon gibt. Man wird aber sagen müssen: Sofern es Gott gefallen hätte, diese ungesdlriebene geistig-mündliche Oberlieferung zum Kanon seiner Kirche zu machen, dann wäre der Kanon vom Leben der Kirche selbst so wenig zu unterscheiden, wie wir etwa das in unseren Adern rollende Blut unserer Väter von unserem eigenen Blut zu unterscheiden vermögen, d. h. aber, die Kirche wäre dann doch wieder mit sich selbst allein und auf sich selber, auf ihre eigene Lebendigkeit angewiesen" (KD I, 1, 107). Dazu ist zunächst zu sagen, daß Barth den Einfluß Möhlers auf die Theologie der Gesamtkirche und auf die Vorbereitung des Vatikanums und damit die repräsentative Bedeutung Möhlers wohl sehr überschätzt (die Konzeption Scheebens als Schüler von Franzelin und beider Einfluß auf die Gesamtkirche war sicherlich größer und repräsentativer und würde überdies dieses Mißverständnis bei Barth nicht geweckt haben). Zweitens hat die Kirche sich niemals in dieser Weise mit der Offenbarung identisch erklärt, deren Hüterio und Verkündigerio, Bewahrerio und Auslegerio sie ja ist; das zeigt jede Dogmatik in der Erklärung von "depositum fidei", Lehramt, Kirche und Offenbarung sowie die Definition des Vatikanums (D 1836 "traditam per Apostolos revelationem ... sancte custodire et fideliter exponere" nicht "novam doctrinam patefacere" ist Aufgabe der Kirche). M. Schmaus: "Die göttliche Seihstierschließung wird über Christus hinaus nicht verlängert; sie wird weder wiederholt noch fortgesetzt. " 7 Drittens bleibt die Kirche immer Werkzeug in der Hand Christi: "Nur im Hinblick auf die lebendige Wahrheit zwischen Christus und der Kirche, nicht aber im Sinne einer formalen Einheit, wie sie zwischen Seele und Leib besteht, kann Christus als Seele der Kirche bezeichnet werden. Sonst würde man die Kirche direkt vergöttlichen. Sie würde statt Werkzeug in der Hand Christi geradezu die Verkörperung Christi sein, so daß auch all ihr Tun unabhängig von einer positiven Anordnung des Herrn göttlichen Charakter haben müßte. " 8 Pius XII. drückt diesen Gedanken so aus, daß er vor einem falschen Mystizismus warnt und das Bild der Kirche als mystischen ( = "translata tantummodo significatione") Leib Christi ergänzt wissen will M. Schmaus, Geschichtliches Ereignis und übergeschichtliche Wahrheit im Christentum: Stud. Gen. 4 (1951), 558-364 (360). 8 So B. Paschmann in dem die dogmatischen Grundlagen darstellenden 1. Teil seines Werkes "Die katholische Frömmigkeit", Wünburg 1949, 61. 7
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durm jenes andere von der Kirme als Braut Christi: Hier ist das Gegenüber von Kirche und Christus deutlim ausgespromen. Paulus "alterum tarnen alteri, ut Sponsum Sponsae, opponit", cf. Eph 5,22-231. Viertens: Wenn schon ein anthropologismer Vergleim herangezogen werden soll, dann nimt der von der Ununtersmeidbarkeit des überkommenen zum eigenen in den Adern kreisenden Blut. Man könnte sagen: Die göttlim-apostolisme Paradosis steht der Kirche "gegenüber" ähnlim wie der Mensm, einmal als Mensch geboren, seinem menschlimen Wesen gegenübersteht und darin die Norm für sein Handeln vorgezeichnet findet; er kann sein Wesen verwirklichen10 oder aum nimt, während die Kirmeder ihr vorgegebenen Wesenskonstitution stets entsprimt. Sie verwirklicht ihr Wesen "im wesentlichen" immer, kann gar nicht "unkirchlich" handeln (wie der Mensch ja unmenschlim handeln kann, aber sein Wesen verleugnet dabei), da eben gerade dazu ihr der göttliche Beistand gegeben ist, daß sie ihrem- vorgegebenen!- Wesentreu bleibe. Der Vergleich gilt also nur soweit, wie wir sagen, der einzelne Mensch "ist" nicht sein Wesen, nimt seine Natur, sondern hat sie zu verwirklichen11 .1n diesem I Sinne ist die Kirche nicht Offenbarung, Paradosis etc., sondern hat sie in sich, trägt sie durch die Zeit, schützt sie, bewahrt sie und verkündet
sie. - Damit haben wir im Grunde nur einen anderen Vergleim herangezogen, der die gleime Konsequenz wie Söhngens Unterscheidung zwischen Inhalt und Gegenstand eröffnet: Die Kirche kann der ihr übergebenen Paradosis wirklich gehorsam sein, da diese ihr gegenübersteht und nimt unterschiedslos und ununterscheidbar in ihrem Eigenleben aufgegangen ist. In der grundsätzlichen Unterscheidbarkeit des kirchlich-menschlichen Eigenbewußtseins (und Eigenlebens als soziologischem Gebilde) von der ihr anvertrauten Paradosis zeigt sich bereits die Bedeutung der Tatsache, daß die göttiim-apostolische Oberlieferung • Enzyklika "Mystici corporis", n. 85. Vgl. art. "Anfang" (A. Darlapp): LThK 11, 5~ ff., und art. "Anthropologie" (1. ScJunid, A. Halder, K. Rahner), ebd., 604 ff. 11 Man könnte wohl auc:h sagen, daß Gott allein im strengen Sinne "ist". Der Mensch "wird", indem er ständig darauf aus ist, sein Wesen zu verwirklic:hen. Erst im Endzustand des Seins in Gott kann man sagen: Auc:h der Mensc:h "ist". Ahnlimes kann man von der Kirc:he sagen: Sie "ist" eigentlic:h noc:h nid:lt, sondern sie streckt sic:h ständig darauf aus, einmal in Vollgestalt die zu "sein", die Christus will als Braut ohne Fehl und Makel. Mensch und Kirche stehen unter dem Gesetz des Werdens, da sie ihr vorgegebenes Wesen noc:h zu verwirklimen haben und es noc:h nic:ht ohne Rest "sind". Damit ist nichts gegen die Göttlic:hkeit der Institution oder gegen das schon jetzt (analog, aber wirklim) realisierte "Sein" der Kirc:he gesagt: ein in der Zeit noc:h werdendes, aber auch sc:hon wirklimes Sein. Sie "ist" Leib Christi, indem sie stets neu und immer mehr Leib Christi "wird", um (im Telos) dann nur noc:h Leib Christi zu sein. 11
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nicht als ständig neu erzeugter Inhalt (im Sinne Söhngens) des in der Kirche waltenden Glaubensbewußtseins weitergetragen wird, sondern als vorgegebener, stets anzueignender und bis zum Zeitenende nie allseitig und völlig (bewußtseinsmäßig) angeeigneter Gegenstand überliefert wird. Daraus ergibt sim als weitere Folge jene Funktion der schriftgewordenen Paradosis gegenüber der mündlichen Tradition, die Söhngen so beschreibt: "Das apostolische Lehrwort (hier gleich: die apostolische Verkündigung) als bewußtseinsunabhängiger Gegenstand der kirchlichen Oberlieferung macht uns den tiefsten Grund sichtbar, warum wir außer der mündlichen Oberlieferung noch eine zweite und ebenfalls selbständige Quelle für unsere Erkenntnis der Offenbarung besitzen in der Heiligen Schrift. Ohne das Schriftwort würde das Gegenübersein des apostolisd:ten Lehrwortes in die reine Bewußtseinsgegebenheit der Oberlieferung aufgehen ... Das Schriftwort ist vergegenständlid:ttes Apostelwort, objektiviertes, nicht nur objektives wie das mündlid:t überlieferte ... Oberlieferung bedarf der Vergegenständlid:tung durd:t Geschriebenes, damit die Gegenständlichkeit des überlieferten klar und deutlich werde. Was wäre auch Oberlieferung ohne klare und deutliche Gegenständlid:tkeit?" 12 Was hier ein Bedürfnis der Oberlieferung genannt wird, meint denselben Sachverhalt wie Scheebens Rede von der relativen Notwendigkeit der Schrift. Gerade um der Reinerhaltung der mündlichen Oberlieferung willen ist die Schrift nötig13 - I immer noch abgesehen von 11 G. Söhngen, Oberlieferung und apostolische Verkündigung: Einheit in der Theologie, 322. 11 Eine aufschlußreiche Ansicht finden wir bei Job. Chrysostomus vertreten: Einerseits legt er den Hörern seiner Predigten dringend ans Herz, doch die Heilige Schrift zu lesen, nicht nur oberflächlich, sondern mit Eifer, ja als "Heilmittel für eure Seele"; wenigstens das NT sollen sie sich anschaffen oder den Apostel, denn die Schrift sei wie eine gute Hausapotheke, in der für die Seele Trost, Mut, Kraft, Heilung und das wichtigste Hilfsmittel zum Oberstehen der Drangsal zu finden ist (Kolosserkommentar, 9. Homilie; MG 62 [Chrys. XI], Sp. 359-361); "Die Heilige Schrift macht den Sünder gerecht ... " (Zu Ps. 49; MG 55 [Chrys. V], Sp. 251, zit. bei Soiron, Das hl. Buch, Freiburg 1928, S. 7), verscheucht seine Bosheit und bringt die Tugend zur Reife etc. Andererseits sieht er die lD. Schrift nur als einen Notbehelf an: Eigentlich müßte das von Gottes lD. Geist in unsere Herzen geschriebene Gesetz genügen zu einem christlichen Leben. Ent als die Juden in den Abgrund der Sünde gestürzt waren, "da gab Gott ihnen Schriften und Gesetztafeln zur mahnenden Erinnerung". Auch die Apostel erhielten nichts Geschriebenes, sondern die Gnade des lD. Geistes. "Nachdem aber die Christen im Laufe der Zeit auf Abwege geraten waren, die einen in Glaubenssachen, die anderen in ihrem Lebenswandel, da bedurfte es wiederum der Ermahnung durch das geschriebene Wort" (Matth. Komm., 1. Homilie; MG 57 [Chrys. 7, 1], Sp. 1~14). So sieht also ein Kirchenvater die "relative Notwendigkeit" der Schrift als Schrift begründet in dem Faktum der Bosheit des menschlichen Herzens, das nicht, de facto nicht imstande ist, die göttliche Paradosis unverfälscht zu bewahren und rein und lauter weiterzugeben: eine Mahnung für uns Katholiken, die Bedeutung der Trad. als
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ihrem inspirierten Charakter. Auf keine Weise kann besservor Augen geführt werden, daß die Kirche im Gesamt ihrer Lebensvollzüge, Verwirklichungen und (der in ihr webenden) Bewußtseinsinhalte nicht einfach identisch ist mit der ihr vertrauten Paradosis als eben durch die Tatsame, daß diese Paradosis in eine schriftliche Gestalt eingegangen ist, die wegen ihrer Schriftlichkeit besonders deutlich das Gegenübersein von Kirche und Paradosis manifestiert1'. Wir sehen, wie unlösbar die schrift.lime Paradosis mit der mündlichen verbunden ist, wie sehr einerseits die Selbständigkeit beider betont werden mußU und wie sehr andererseits auch ihre Zusammengehörigkeit zu berücksichtigen ist. Wie die Oberlieferung der Vergegenständlimung durm Geschriebenes bedarf, so bedarf auch die Schrift "der Verlebendigung durm das gesprochene Wort der Uberlieferung, damit der vergegenständlichte Geist des Schriftwortes gleid:l.sam. aus seiner Vergegenständlichung heraustrete und wieder gegenwärtig redender Geist werde. Denn was wäre die Schrift, wenn der ursprüngliche Geist ihrer Worte nicht mehr lebendig gemacht würde?" 1' Dies alles gilt unter vorläufigem Absehen von der Inspilration der Schrift, allein auf Grund der inneren Zusammengehörigkeit von Mündlichem und Schriftlichem, wenn es sich um Oberlieferung han-
delt. Was aber hat es nun zu bedeuten, daß jenes "Schriftliche" die Gestalt eines Kanons angenommen hat? selbständiger Glaubensquelle nicht so weit zu übertreiben, daß die Schrift dann für uns keinerlei "Beweiskraft" zu tragen scheint, wie uns von H. Diem vorgeworfen wird (Dogm. 41, 187; Grundfragen der biblischen Hermeneutik [ThEx-NF 24], München 1950, 5 ff.; Der irdische Jesus und der Christus des Glaubens, Tübingen 1957, 4). Die Paradosis wird in der Kirche weder bewahrt noch weitergeleitet ohne die Schrift. Sie wird auch nicht ohne die Schrift erkannt als göttliche Paradosis. Vgl art. Biblische Theologie: LThK 111, Abschn. m Biblische Theologie und Dogmatik in ihrem wechselseitigen Verhältnis (K. Rahner). lt Daß die Kirchetrotz allem mit Recht "Fortsetzung der Inkarnation" und sichtbare Darstellerin der Offenbarung, Leib Christi und Hort der Offenbarung genannt werden kann, ist damit nicht geleugnet, sondern gerade behauptet und dogmatisch ermöglicht: Weil ihre eigenen Lebensvollzüge, die gewiß auch menschlicher Art sind, nicht mit der ihr anvertrauten Offenbarung identisch sind, ihre eigene Tradition nicht schlechthin die göttlich-apostolische Paradosis ist, kann die Kirche die Oberlieferung darstellen, verkörpern, Aussagen über sie machen, sie predigen und Menschen durch sich selbst zu ihr hinführen. Sonst wäre die in ihr lebendige Paradosis nur ihre Tradition, die Tradition der Menschen, aus denen sie sich zusammensetzt. So aber repräsentiert kirchliche Tradition die göttliche Paradosis und kann mit ihr in gewissem Sinn (indirekt) "identisch" genannt werden: insofern sie jene repräsentiert und wirklich ausdrückt, "ist" sie die göttlich-apostolische Tradition im dargestellten Sinn. 11 Das berühmte "et" des Tridentinums D 783, Zeile 12, findet hier eine dogmatische Begründung: Es driickt das notwendige Gegenüber aus. 1• G. Söhngen, Oberlieferung und apost. Verkündigung: Einheit in der Theologie, 323.
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2. Der Kanon der Schrift und der Kirche Die relative Notwendigkeit der schriftlichen Darstellung der göttlich-apostolischen Paradosis, zu deren Ausbreitung die Kirche sich gegründet weiß, läßt - angesichts der Tatsache, daß ja auch Schriften verfaßt werden konnten und wurden, die nicht jene Paradosis zum Ausdruck bringen- die auf Leben und Tod zielende Frage entstehen, ob und wie sich denn die Kirche gegen eine Verfälschung ihres vorgegebenen Wesens abzugrenzen vermag. Wie kann sie jene Schriften, welche die ihr mit auf den Weg gegebene Paradosis rein darstellen, eindeutig scheiden von anderen, welche pseudo-kirchliche und pseudochristliche Phänomene (wie sie bereits zu apostolischer Zeit etwa in Karinth, Thessalonich, Kleinasien und Jerusalem auftauchen) propagieren wollen? Und vor allem: Wie kann die Kirche zur Erkenntnis der in ihrem Raum maßgeblichen, ihre Paradosis rein darstellenden und ihre Verkündigung für alle Zukunft bindenden Schriften überhaupt kommen? Und wenn jenen Schriften der Charakter eines verbindlichen Kanons, diesem Kanon folglich der Rang eines Dogmas zukommen soll, auf welche Weise mag dann die Kirche erkennen, daß auch dieses Dogma ihr von Gott geoffenbart worden ist? Was sich historisch ausmachen läßt, haben wir kurz zusammengefaßt (§ 2). H. Diem drückt das so aus: "Man kann hier historisch nichts anderes feststellen als eine Wechselwirkung zwischen dem sich selbst durchsetzenden Schriftkanon und der durch die Verkündigung dieses Kanons konstituierten und diese umgekehrt wieder autorisierenden Kirche. " 17 Dogmatisch müssen wir etwas weiter ausholen: Gott offenbart sich den Menschen innerhalb einer bestimmten raumzeitlichen Spanne und stiftet eine ebenso raumzeitlich greifbare Kirche zu dem Zweck, diese einmalige Offenbarung allen Zeiten und allen Landstrichen unverfälscht, rein, ohne Zutaten und Abstriche weiterzugeben. Dieses Handeln Gottes ist (heils-)geschichtlicher Art und bringt bestimmte die Kirche konstituierende Verwirklichungen hervor, deren letzter und eigentlicher Urheber er selbst ist, obgleich er dabei auch Menschen in Dienst nimmt, die in jener Stiftungszeit leben. Dieses Stiftungshandeln Gottes begründet "ein einmaliges, I qualitativ nicht weitergehendes Verhältnis zur ersten Generation der Kirche, das er (Gott) nicht im selben Sinn zu anderen Perioden hat (oder besser: nur durch jene zu diesen)" 18 • "Der Akt derStiftungder Kirche ist also (terminativ) qualitativ anders als der der Erhaltung" (ebd.). Späterhin 17
18
H. Di.em., Dogmatik, 180-181. So Karl Rohner in: Ober die Sc:hriftinspiration: ZKTh 78 (1956), 153, siehe
dort auch die ausführlichere Begründung. Der Artikel erschien in erweiterter Form als Heft 1 der Reihe "Quaestiones disputatae" (Freiburg 1958) und wird nun nach dieser Ausgabe zitiert (obiges ZitatS. 51).
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erhält Gott das, was er einmal gestiftet hat, und er erhält es darum, weil er es einmal so und nicht anders stiften wollte. Von uns aus gesehen: Die Urkirche (deren Stiftung selbstverständlim innerweltlim nicht auf einmal, an einem Datum, geschah, sondern eine gewisse "Zeit" beanspruchte; daher: Urkirche = Kirche im Werden, im Entstehen ihrer konstitutiven Elemente) ist nicht nur die zeitlich erste Periode der Kirchengeschichte, sondern jener allmählich (auctore Deo) alle wesentlichen Elemente herausbildende Grund, jenes maßgebende Fundament, jener Maßstab ("Kanon"), auf dem alles Spätere gründet und an dem es gemessen werden muß. "Zu den Konstitutiven dieser Urkirche als des qualitativ einmaligen Werkes Gottes und als des bleibenden ,kanonischen' Ursprungs für die spätere Kirclle gehört nun auch die Scllrift. " 111 Diese Schrift, in der die göttlich-apostolische Paradosis bleibend fixiert ist, gehört einerseits mit zu den durch Gottes Urheberschaft gesetzten (Deus auctor!) VerwirklichUDgen seines Stiftungswillens (darin gründet die Tatsache der Inspiration), und ist doch andererseits ein Lebensvorgang der Urkirche selbst, die ihren Glauben, ihre Predigt, ihre mitgegebene Paradosis, ihre (wenn auch noch so "zufälligen") Lebensäußerungen dorthinein ausdrückt - und darum vermag die spätere Kirche jene Schriften der Urkirche auch als ihren Kanon zu erkennen. "Indem die Kirche (gemeint ist die Urkirche) ihre Paradosis, ihren Glauben und ihren Selbstvollzug schriftlich konkretisiert, also Schrift in sich bildet, wendet sie sich als die maßgebende Urkirche an ihre eigene Zukunft, und umgekehrt: indem sie sich als das maßgebende Gesetz, nach dem alle Zukunft der Kirche angetreten ist, für diese Zukunft konstituiert, bildet sie Scllrift" (Rahner, ebd. 56-57). Da die Urkirche als solche Maß, Richtsmnur und eben "Kanon" für alle künftige Kirche istweil ja Gottes Handeln hier heilsgeschimtliche Konktretheiten ein für allemal neu hervorbringt -,können überhaupt die sich damals herauskristallisierenden konstitutiven Elemente der Kirche jenen für alle Zukunft maßgebenden, also kanonischen Charakter haben. Neben anderen Elementen (Sakramente, Prielstertum, Sukzession, Paradosis, Geistempfang, göttliches Recht, gesellschaftliche Struktur der Kirche und Primat z. B.) gehört nun dazu "unbeschadet des Vorrangs der mündlichen Paradosis in der noch werdenden Urkirche, welche mündliche und doch autoritative, also unfehlbare Paradosis der Scluift vorausgeht, nach dem freien, aber sachlim verstehbaren Willen Gottes auch die Schrift" (Rahner, ebd. 55). Weil es die Schrift der Urkirche ist, diese Urkirche aber in besonderem Maß die Garantie der reinen Selbstdarstellung und der reinen Darstellung ihrer Paradosis hatte, darum ist diese Scluift Kanon schlechthin. 11
K. Ralmcr, über die Sduiftinspiration, 55.
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Uns bleibt die Frage, wie die spätere Kirche diesen Kanon erkennen konnte. Denn die apostolischen Schriften, die um ihrer Verfasser willen Geltung in der Kirche hatten, und die Schriften ihrer Schüler, die um der inhaltlidlen Obereinstimmung mit der überlieferten Glaubenspredigt in der Kirche Ansehen genossen, waren ja nicht von vomherein zum Kanon zusammengefaßt, noch war die Kanonizität der einzelnen Schriften jederzeit unbestritten. Die Kirche konnte zur Erkenntnis der Kanonizität (und lnspiriertheit) dieser Schriften nur durdl Offenbarung!O gelangen. Eine explizite, satzhafte Mitteilung ist uns nicht bekannt21 , bleibt also nur eine implizite Offenbarung. Daß diese vorliegen muß, dafür bürgt dem Katholiken das Lehramt, das ja sonst den Kanon nicht hätte definieren könnenn. Aber wie ist sie (historisch und dogmatisch) einsichtig zu machen? Nach Rahnen These, der wir auch hier folgen wollen, können wir so sagen: "Diese (ursprüngliche, noch nicht reflex satzhaft gewordene) Offenbarung geschieht einfach dadurch, daß die betreffende Schrift als echter Wesensvollzug der Urkirche entsteht ( ... ). Die sich selbst darlbietende Tatsache (die durch ein übernatürliches heilsgeschichtliches Wirken Gottes gesetzt ist) kann dann auch in nadlapostolischer Zeit noch reflex erfaßt und ausgesprochen werden, ohne daß dadurch eine neue Offenbarung geschieht ( ... ). Die vom Geist erfüllte Kirche erlaßt in "Konnaturalität" etwas unter den Schriften als das ihr Wesensgemäße. Ist es dann noch gleichzeitig "apostolisch", d. h. ein Stück des Lebensvollzugs der Urkirche als solcher und als solches erlaßt, dann ist es unter den in unserer Theorie gemachten Voraussetzungen eo ipso inspiriert" und kanonisch (174 f.). M Alle historisdlen Urteile und Kriterien, die protestantisdlerseits vorgetragen werden- sei es ein Rechnen mit Generationen, sei es Rede von Ursprünglichkeit, Originalität, zeitlicher Frühe etc. -, können ja doch nur eine hütorüche Vorordnung dieser Sduiften gegenüber später entstandenen herausbringen, nie aber eine dogmo.tische, mit Absolutheitsanspruch Glauben fordernde und das Künftige resolut beurteilende Kanonizität. 11 Zumal es "historisdl wahrscheinlich" ist, daß ein Apostel von seiner eigenen Inspiriertheit, beim Philemonbrief etwa, nichts wußte; wie wäre eine Mitteilung über einzelne Schriften und ihre Kanonizität zu denken, geschweige denn für den ganzen Kanon? Vgl. Rahner, ebd. 55. 11 B. Brinkmann SJ meint, daß die kirchliche Kanonfeststellung nur die Konstatienmg einer dogmatisdlen Tatsache (wie es etwa die Rechtmäßigkeit eines Konzils aum ist) und kein Dogma sei, also gar nicht (auch nicht einsdllußweise) auf Offenbarung zurückgeführt werden muß. Er unterscheidet die Zugehörigkeit einer Sdlrift zum Kanon (darüber entsdleidet die Kirche kraft ihrer Unfehlbarkeit als über eine dogmatische Tatsame = Kanonizität in actu secundo) und der Inspiration und der (mit ihr) gegebenen Kanonizität (in actu primo): die Erkenntnis der letzten Eigenschaften einer Sduift führt auch er auf Offenbarung zurück. Vgl. B. Brinkmann SI, Inspiration und Kanonizität der ID. Schrift in ihrem Verhältnis zur Kin:he: Scholastik 33 (1958), 208--233, bes. 214 f., 230 ff.
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In unserer (in Kap. li § 6 dargestellten) Terminologie können wir noch genauer bestimmen: Die Kirche hat zu der ihr mitgegebenen und in ihr durch göttliche Setzung stets weitergetragenen Realtradition, zum Gegenstand des in ihr dadurch lebendigen Glaubens, einen unrefle:x:en oder bewußten, jedenfalls aber wirklichen Sachbezug23. Sie "hat" also in gewissem Sinn die Sache selbst, ihr Wesen und ihre Paradosis. Sie hat dies alles gewiß auch durch die in ihr gebrauchten, gültigen Formulierungen der Verbaltradition (Glaubensformeln, regula fidei etc.), aber dadurch hat sie einen wirklichen Bezug zu dem, was wir Realtradition nannten. Und daraus vermag sie zu erkennen, was diesem ihrem Wesen gemäß ist, was dieses ihr Sein wahr, rein, lauter, ungetrübt und eben "sachgemäß" ausdrückt, was ihrer "Natur" gleidtsam "konnatural" ist. Darum kann sie den Kanon als die ihrem gottgesetzten Wesen gemäße, ihre empfangene und weiterzugebende Paradosis richtig darstellende Ausdrucksweise erkennen, so wie sie sich selbst eben durch die in diesem Kanon dargestellte göttlich-apostolische Paradosis von Gott gegründet weiß. Endigt damit die von Diem historisch und von uns nun audt dogmatisch konstatierte Wechselwirkung zwischen Kirche und Kanon in einem circulus vitiosus? Sind wir damit in einen ähnlichen Zirkel geraten,
den Karl Barth für seine Konzeption "die Bibel ist das Wort Gottes" als eines analytischen Satzes zugegeben hat (KD I, 2 S. 595)? Nein; denn es handelt sich ja nicht nur um eine Wechselwirkung zwischen Kirche und Kanon allein, sondern zwischen Kirche, Kanon und dem beide, eins durch und in dem anderen setzenden Gott. J. Görres hat eine gute Formulierung dieses Problems gegeben: "So wäre daher auch die katholische Kirche in einem falschen, logischen Schluß der Art wirklich verstrickt, wenn sie sagte: Ich habe mich I gesetzt, um durch mich die Schrift zu bewähren, und mich setzend, habe ich die Schrift gesetzt, um an ihr meine Gewähr zu finden. Da sie nun aber sagt: Gott hat mich gesetzt, und durch mich äußerlich die Schrift, in der Schrift aber innerlich mich; so schwebt dies Wechselzeugnis keineswegs grundlos im Leeren, in einem nichtigen Hin und Her Fristung suchend, sondern es ist auf dem höchsten und obersten Erkenntnisgrundfest begründet, und die Kirche drückt damit die prinzipienhafte Natur ihres Wesens in treffendster Weise aus. " 2' Auf den Kanon bezogen: Gott ist es, der die Kirche gesetzt, und durch die Kirche 11 Vgl. K. Rahner, Schriften zur Theologie I, Einsiedeln 195+, 61. 64. - Der recht gegenständlich-objekthafte Ausdruck sollte nicht vergessen lassen, daß es sich im Gnmde um die Beziehung zu einer Person (Logos, Pneuma) handelt. Es ist aber weniger die psychologische und reflexe Seite dieses Bezuges, sondern zuerst die reale, ontische und - insofern "sachliche" - Seite anvisiert. 14 J. von Görres, Die Triarier, Regensburg 1838,69-70 (Hervorhebung von mir).
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setzt er äußerlich den Kanon25 , und in dem Kanon ist wieder das Zeugnis der Urkirche über die Kirche enthalten, im Kanon setzt Gott die Kirche. -Sobald diese Dreiheit (Gott-Kirche-Kanon) um ein Glied verringert wird, muß ein logisch und dogmatisch verfänglicher Zirkelschluß herauskommen: Wird die Kirche (Urkirche und spätere Kirche) ausgeschieden, dann erscheint die Schrift (dogmatisch- trotz der historischen Mitwirkung von Menschen) als ein schier unverstehbar vom Himmel gefallenes und nun rein menschlicher Nutzung (und Willkür) preisgegebenes "bonum derelictum." 28 Wird dagegen Gottes Kirche und Kanon durch- und ineinander setzende Funktion übersehen, dann müßte das "Wechselverhältnis" so gesehen werden, daß die Kirche erst den Kanon hervorbringt und dann anerkennt, sich selbst aber nur durch den von ihr erzeugten und mit Autorität versehenen Kanon beglaubigen und ausweisen kann27 • Nur die ungekürzte und (wie oben) differenzierte Dreiheit von Gott-Kanon-Kirche (und Gott-Kirche-Kanon, gemäß der Görres'schen Unterscheidung innerlicher und äußerlicher Setzung) scheint eine dogmatisch befriedigende Bestimmung der "Wechselwirkung" zu ermöglichen. - Gerade daraus ist nun auch erklärlich, daß es sich bei der Aufstellung des Kanons durch die I Kirche und ihrer Erkenntnis des Kanons vermittels der ihr eingebildeten göttlich-apostolischen Tradition (Verbal- und Realtradition) nicht um eine für den Kanon lebensgefährliche Umklammerung durch kirchliche Tradition handeln kann. Was tut die Kirche, wenn sie den Kanon aufstellt? Sie erlaßtreflexund ausdrücklich, promulgiert und bekennt sich zu den unter Gottes Autorschaft in ihr entstandenen Schriften als zu dem ihre Paradosis gültig aussprechenden Kanon. Sie registriert den von Gott (implizit dmch die de-facto-Entstehung dieser Schriften in derbereits "Kanon" seienden Urkirche) offenbarungsmäßig gegebenen Kanon als das von 11 Indem er Vertreter der Urkirche zu den menschlichen Verfassern seiner Schrift mamt, die Kirche aber diese Schriften als ihre Wesensäußerungen und damit als Kanon erkennen läßL " Scheeben, Dogmatik I, n. 257; man kommt auch bei Barth nicht ganz um diesenEindruck herum: Er übertreibt das Gegenüber so sehr, daß die Schrift nach ihm zwar die Kirche "begründet", "begrenzt" und "konstituiert" (KD I, 2, 600), aber gleichsam als ein der Kirche nur gegenüberstehendes, immer außerhalb ihrer bleibendes Prinzip. Mit Bultmanns Worten müssen wir ihn fragen, wie er denn den historischen Befund, daß die Bibel auch eine "original christliche Schöpfung" (Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 19571, 398) ist, dogmatisch zu verwerten vermag. 17 Dann bestünde auch das von protestantischen Augen gesehene Zerrbild der katholischen Position zu Recht, wonach die Kirche (mit ihrer Tradition) erst die Schrift garantiert, um sich dann von der Schrift beglaubigen zu lassen - und umgekehrt; vgl. Barth, KD I, 2, 595 (Kleindruck); H. Rückert, Schrift, Tradition und Kirche, Lüneburg 1951, 8; vgl. dagegen Scheeben, Dogm. I, n. 414, u. a.
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nun an auch explizit gültige Gesetz, nach dem sie für alle Zukunft angetreten ist18• Und nochmals: Woher weiß die Kirche das? Wie vermag sie das zu erkennen? Sie bezeugt und erkennt den Kanon als ihren Kanon a) aus dem lebendigen Sachbezug, den sie zu der in ihrem Schoß und mit ihr selbst geschehenen "Sache" der göttlichapostolischen Paradosis, der Realtradition, hat, und b) aus der in ihr bis dahin bereits gültigen, normativen göttlich-apostolischen Verbaltradition (Glaubensformeln, regula fidei, Credo). In diesem Sinne ist richtig, daß die Kanonfeststellung der Kirrhe ein (authentisches) Registrieren des sich aufdrängenden, sich imponierenden Kanons ist und daß es sich dabei um ein "Glauhenszeugnis" der Kirche im "Glaubensgehorsam" gegenüber Gottes Wort handelt". So verstanden, können wir auch E. Kinders Satz bejahen: "Die Umgrenzung des Kanons ist eine Glaubensentscheidung der Kirche, ein Bekenntnisakt der Kirche aus innerer Verbundenheit mit dem Sachgehalt der Schrift. " 30 Auf unserem Hintergrund läßt sich auch Otto Weber akzeptieren: Die Kirche "hat für das, was in der Fülle der überlieferten Schriften ,original' war (wir: ihre ,origo' wesensgetreu wiedergibt), ein eigentümlich sicheres Gemerk besessen31 ". Aber wohlgemerkt: Jenes "eigentümlich sichere Gemerk" und jene "innere Verbunden-
heit mit dem Sachgehalt der Schrift", welche der den Kanon festlegenden Kirche eigen ist, wird man auf protestantischer Seite wohl nicht hinreichend erklären können ohne die Anerkennung einer normativen Glaubenstradition, auf welche die Kirche gleidlsam reflektierend zurückgreifen kann, wenn sie sichangesichtsder (durm Jahrhunderte hindurch um Ansehen ringenden) Kanonizität begehrenden Schriften vor die Frage nach ihrem Kanon, nach I ihrem Grundgesetz gestellt sieht31• Wer die historische Entwicklung im Auge hat und nicht von vornherein auf eine dogmatische Verbindlichkeit des Kanons verzichten will, muß das wohl zugestehen.
K. Rahner, Ober die Schriftinspiration, 57. K. Barth, KD I, 2, 532 sowie 525; vgl. auch I, 1, 110. 11 E. Kinder, Ein Wort lutherischer Theologie zur Entmythologisierung, München 1952,42. 11 0. Weber, Grundlagen der Dogmatik I, Neukirchen 1955, 285. 11 Unserer Auffassung sehr nah scheint Peter Brunner zu stehen: Das NT "repräsentiert" die apostolische Quellgestalt des Evangeliums. Die Bildung der Schriften gesdlieht nicht "in einem verkündigungsleeren Raum". "Nur die Kirche, in der das mündliche Zeugnis der Apostel tatsächlich weitergegeben wurde, konnte ein Urteil über den kanonischen Charakter einer der in Frage stehenden Schriften fällen." Kanon- und Dogmenbildung sind analoge Vorgänge: beide Male "wirkt der Geist durch das Mittel des apostolischen Evangeliums"; Umrisse einer Lehre v. d. Autorität der Hl. Schrift: ELKZ 9 (1955), 136. II
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Hebt die heutige neutestamentlich-exegetische Forschung den Kanon auf?• I
Die Relativierung des Kanons zu Beginn unseres Jahrhunderts ging nicht von der Exegese des Neuen Testaments, sondern von der Kanonsgeschichte und von der Einleitungswissenschaft aus. Die damals erarbeiteten und seither nicht wesentlich modifizierten Erkenntnisse müssen mitbedacht werden und daher eingangs hier wenigstens lrun zur Sprache kommen, wenn der heutige, speziell exegetische Aspekt der Kanonsfrage nachher ausführlich behandelt werden soll. Die Ergebnisse der Kanonsgeschichte sind folgende 1• Der Kanon des Neuen Testamentes ist allmählich entstanden. Gegen Ende des 2. Jahrhunderts gelten unsere 4 Evangelien als Schrift; aber noch Clemens Alexandrinus, behutsamer Origenes, benutzen auch apokryphe Evangelientexte. Neben den 4 Evangelien steht um 200 p. mit gleicher Autorität ein Corpus von Briefen, die hauptsächlich dem Paulus zugeschrieben werden und die als apostolisch gelten. Aber diese Autorität ist jüngeren Datums als die der Evangelien, sie ist dem Briefcorpus erst in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts zugewachsen. Das zeigt sich aum darin an, daß bei dieser zweiten Autorität die Zahl der Schriften noch umstritten ist: der zweite Petrusbrief, der zweite und dritte Johannesbrief kommen erst allmählich, zwischen Clemens Alexandrinus und Origenes, bei den Antiochenern noch viel später, als Schrift hinzu, und der syrische Kanon nimmt die katholischen Briefe zögernd erst nach 400 p. auf. Die Apokalypse des Johannes verliert nach Origenes, also seit der Mitte des 3. Jahrhunderts, im Osten ihr Ansehen I und gewinnt es erst seit dem Ende des 4. Jahrhunderts schrittweise zurück. Dem kirchlichen Westen dagegen gilt der Hebräerbrief, auch • Aus: H. Braun, Gesammelte Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1962, S. 310-324 (Erstveröffentlichung in: Fuldaer Hefte 12, 1960, 9-24). 1 Für die Kanonsgeschichte s. die diesbez. Arbeiten von Zahn, Harnack, Leipoldt und Lietzm.ann sowie die kanonsgeschichtlichen Abschnitte in den Einleitungen; instruktiv auch die historisdlen Rmunes in dem Aufsatz von W. G. K.üm.mel, Notwendigkeit und Grenze des neutestamentlichen Kanons, ZThK 47 (1950), S. '1:17 bis 313.
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wenn er gelegentlich bekannt ist, bis zum Ende des 4. Jahrhunderts nicht als Schrift, weil man nicht Paulus als Verfasser annimmt; erst Hieronymus und Augustin erklären den Hebräerbrief als paulinisch und damit als Schrift. Der 39. Osterbrief des Athanasius aus dem Jahre 367 p., der als erstes Kanonsverzeichnis alle unsere 27 neutestamentlichen Bücher nennt, beschreibt also nicht den allgemeinen damaligen Status, sondern weist einen Weg, der in den nächsten Jahrzehnten erst allmählich begangen wird. Die Kräfte, welche hinter diesem allmählichen Werden des Kanons stehen, sind bekannt. Das Neue Testament selber kennt die Apostel und Prediger als geistbegabt. Aber ihren schriftlichen Äußerungen wird im Neuen Testament keine besondere Dignität zugeschrieben; sie werden gesammelt und immer wieder verlesen, wie es auch mit den Herrenworten geschieht, deren Form bis tief ins 2. Jahrhundert sehr frei behandelt wird. Ehe Evangelien und apostolische Schriften kanonisch werden, sind sie also regelmäßig gebrauchte und beliebte Vorlesungstexte; natürlich nicht alle in allen Teilen der Kirche. Das gilt auch von den apostolischen Briefen, die ihre Autorität neben den Evangelien zwar zögernder, aber eben auch auf Grund des praktischen Gebrauchs gewinnen. Mareions zweiteiliger Kanon hat die offizielle kirchliche Entwicklung, d. h. die Autorität von Kyrios und Apostolos, zwar beschleunigt, aber nicht überhaupt erst eingeleitet; hier ist Harnachs These zu modifizieren. Der allmähliche Übergang im Gebrauch der neutestamentlichen Schriften von Vorlesungsbüchern zu kanonischen, Schriftdignität besitzenden Büchern bringt eine Ausscheidung mancher Texte mit sich, welche verlesen wurden, welche aber die höhere Dignität nicht erreichten. Dieser Übergang vollzieht sich in den verschiedenen Gebieten in verschiedenem Tempo; noch der Sinaiticus, in Ägypten in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts geschrieben, enthält hinter den 27 Büchern des Neuen Testaments den Barnabasbrief und den Pastor Hermae. Das große Kriterium für jenen Ausscheidungsprozeß ist die apostolische Verfasserschaft einer Schrift; auch wenn man in diese apostolische Verfasserschaft die Apostelschüler einbezog, so war damit eine gewisse zeitliche Nähe zur ersten und zweiten Generation für die Verfasser postuliert. Dieser Ausscheidungsprozeß gewinnt schließlich seine Dringlichkeit in den Auseinandersetzungen mit der häretischen Gnosis. I Man wird also resumieren müssen: der Kanon ist in seinen Hauptblöcken, den Evangelien und dem Corpus Paulinum, altesVorlesungsgut, das schon im 2. Jahrhundert gottesdienstlich verwendet wurde; hier hat die Kanonisierung seitens der Kirche Vorhandenes nur bestätigt. Das gilt aber nicht von den Randstücken, dem Hebräerbrief, einem Teil der katholischen Briefe und der Apokalypse; hier hat die
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Kirche im 4. und 5. Jahrhundert dekretiert, hier hat nicht, wie Diem2 in Anlehnung an Barth meint, die Kanonsabgrenzung sich selber durchgesetzt. Der Kanon ist also allmählich entstanden; seine Abgrenzung in den Randstücken war bis ins 5. Jahrhundert umstritten; der definitive Charakter dieser Abgrenzung ist kirchliches Dekret. Geradeangesichts dieses unbestreitbaren Ergebnisses der Kanongeschichte meinte man, einer Relativierung des Kanons in der Theologie zu Beginn unseres Jahrhunderts nur wehren zu können, wenn man den leitenden Gesichtspunkt, unter dem die Kirche seit dem zweiten Jahrhundert die Schriften gesammelt, ausgeschieden, als Vorlesungsliteratur benutzt und dann kanonisiert hat, um so stärker herausstellte: die apostolische Verfasserschaft. Die Einleitungswissenschaft jenerJahrzehntesteuerte dem Relativierungsprozeß, in den der Kanon hineingezogen war, durch den Versuch des Nachweises, die 27 Bücher seien "echt", d. h. sie stammten von den apostolischen Verfassern, deren Namen sie tragen, und sie gehörten somit in die älteste Zeit. Th. Zahn z. B. hat sein Werk in dieser Sicht getrieben. Man muß sich den Ernst dieser alten Konservativen klarmachen. WaretwaJohannes als derZebedaideund Augenzeuge nicht der Verfasser des vierten Evangeliums, so war, wie Kähler, der diesen Standpunkt nicht teilt, mit Recht sagt, die Glaubensgrundlage beträchtlich getroffen. Von daher erklärt sich die Leidenschaft jener Generation in den Einleitungsfragen um die Echtheit; so müssen in der Sicht jener Grundhaltung viertes Evangelium und Apokalypse vom Zebedaiden, die Pastoralbriefe von Paulus stammen. In der heutigen Beliebtheit der Sekretärshypothese etwa für die Pastoralbriefe und den ersten Petrusbrief, in der Zuschreibung des J akobusbriefes an den Herrenbruder wirkt jene damalige Grundposition immer noch nach. Im Gegensatz zu dieser konservativen Grundhaltung I hat die liberale Forschung alten Stils im wesentlichen die apostolische Verfasserschaft der neutestamentlichen Schriften bestritten. Zwar nicht in allen Punkten hat sie dabei recht behalten. So hat sich z. B. die liberale Ansetzung des vierten Evangeliums in das erste Viertel des 2. Jahrhunderts durch die Auffindung von P 52 (Roberts) und von P Egerton als falsch erwiesen; das vierte Evangelium muß um 100 p. schon vorhanden gewesen sein. Aber im großen und ganzen ist jener konservative Versuch, die apostolische Herkunft aller Schriften des Neuen Testamentes nachzuweisen, durchaus gescheitert. Niemand mehr unternimmt ihn heute ernsthaft. Zwar ist damitnicht gesagt, daß deswegen heute der Kanon grundsätzlich als bedeutungslos gilt; aber H. Diem, Theologie als kirdiliche Wissenschaft, n. Dogmatik, 1955,8.179. M. Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblisc::he Christus', 1896, S. 8. I 1
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auf die apostolische Herkunft der Schriften wird man sich heute bei der Verteidigung des Kanons nidtt einmal mehr für die Evangelien, gesdtweige denn für die katholische Briefliteratur ernsthaft beziehen können. So nimmt denn audt ein so grundsätzlicher Befürworter des streng abgegrenzten Kanons wie H. Diem die Kanonsgesdlichte ruhig zur Kenntnis; nur läßt er im letzten Abschnitt mit dieser Gesdtichte, im 4. und 5. Jahrhundert, die dekretierende Willkür der Kirdte in den Hintergrund treten". Er kämpft auch nicht mehr- auf dem Boden der Einleitungswissensdtaft - streng für die apostolische Herkunft der einzelnen Schriften, sondern er betont- für historisch-kritische Argumente offen - bei der apostolischen Herkunft besonders die Einbeziehung der Apostelschüler5; was historisch-kritisch freilidt nur angeht, wenn man "Apostelschüler" sehr weit einfach als Glieder der 2.-4. Generation der Kirche faßt. Er gibt schließlich - historisdtkritisch gesehen mit Recht - jenen Gesichtspunkt der Alten Kird:J.e von der apostolischen Verfasserschaft grundsätzlich ganz auf, wenn er - sachlich ridttig - erwägt, die Abfassungszeit einer Schrift lasse sich als Kriterium für die Kanonizität überhaupt nicht verwenden, weil ältere Schriften unkanonisch geblieben, jüngere kanonisch geworden seien8 • Gerade die Argumentation dieses jüngsten Befürworters eines streng abgegrenzten Kanons macht deutlich: die Frage nadt dem Kanon ist eine Frage nach dem Inhalt des Kanons und nadt der Einheit dieses Inhalts geworden. Nicht mehr die Einleitungswissensdtaft, die Exegese hat nun in Fragen des Kanons das erste Wort. Hier stehen wir heute. I
II War für jene eben behandelte liberale Generation der Kanon letztlich deswegen unwesentlidt geworden, weil man den Gegensatz von Geist und Buchstaben fälschlicherweise als den Gegensatz der Innerlichkeit, des Herzensglaubens und der Äußerlichkeit der religiösen Autorität verstand und mit der ersten Seite das Rechte zu wählen meinte, so brachte das Inführunggehen der Exegese ein erneutes Hören auf die Inhalte des Neuen Testaments und zerstörte die lllusion, als lebte der Glaube vom Enthusiasmus des Herzens und nidtt von der Botsdtaft. Dies erneute Wichtigwerden neutestamentlicher lnhalte rückte für Jahrzehnte die formalen Fragen der Einleitung und der Kanonsgeschichte an den Rand des allgemeinen Interesses. Und doch ist das nur der täusdtende Außenaspekt der Lage. Das "Merken auf das Wort" triebes-in der religionsgesdtichtlichen Vergleichung und in der formgesdtichtlichen Analyse- im "Merken" nämlich so • H. Diem, aaO, S. 179.
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H. Diem, aaO, S. 175.
• H. Diem, aaO, S. 175.
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weit, daß das Neue Testament aus seiner Einheit sich in eine Vielheit von Schichten und Aspekten zerlegte. Diese Schichten und Verschiedenheiten betreffen gleichzeitig Schilderungen von Tatsächlichem wie auch theologische Aussagen. Die einzelnen Dinge fügen sich allermeist nicht, wie Mosaiksteine, zu einem bereicherten Ganzen zusammen, sondern bergen Gegenstände untereinander, welche, wird jede Seite für sich betrachtet, sich ausschließen. Das Neue Testament- so stellt es sich heraus - hat in zentralsten Stücken weder eine AussageEinheit hinsichtlich der tatsächlichen Vorgänge nom eine Lehr-Einheit hinsichtlich der Artikel des Glaubens. Die Frage des Kanons ist somit erneut aufgebrochen; diesmal nicht wie in der früheren Etappe von außen her in den formalen Fragen nam Verfasser und Abfassungszeit; sondern gefährlicher, von innen her, unter dem Gesimtspunkt der nicht vorhandenen Einheit, der unvereinbaren Gegensätze. Besteht die Behauptung der Uneinheitlichkeit des Neuen Testamentes zu Recht? 7 Der Sinn dieser meiner Ausführungen kann hier nicht der sein, daß ich nur eine Synopse über die Meinungen der heutigen Neutestamentler liefere. Hier kann nur jeder, den andern mithörend, in seinem Verstehen des Neuen Testamentes den eigenen Weg zu gehen versumen.l In den Ausführungen über das Gesetz, über die letzten Dinge, über Kirme und Amt, über die Christologie und über die Sakramente scheint es mir ausgeschlossen, eine wirkliche Einheit des Neuen Testamentes zu behaupten. Die folgenden Zusammenfassungen können in diesem Rahmen natürlich nur skizzieren, nicht detailliert beweisen. Die Lehre vom Gesetz. Jesus von Nazareth hat die üblichen Taraforderungen verschärft. Einige dieser seiner Verschärfungen sprengen den Rahmen des in der Tora Gebotenen: die Ablehnung jedes Schwurs und der Wiedervergeltung, das Gebot der Feindesliebe, das Verbot der Ehescheidung und der Besitzverzimt. Er hat die rituelle Reinheit vergleichgültigt. Er hat herausfordernd den Mitmenschen über den Kulttag gestellt; auch damit wird die Tora in ihren rituellen Teilen von Grund auf getroffen. Das alles wird bei ihm freilich nicht grundsätzlich als neues Lehrsystem proklamiert: die jüdische Konzeption vom Taragehorsam als dem Wege zum Lebensmeint bei ihm erhalten geblieben zu sein. Von innen her ist diese Konzeptiondom entscheidend angetastet: wenn gerade die Tarakorrektheit dazu führen kann, Gottes nicht mehr zu bedürfen, wenn J esus als Freund von Zöllnern und Sündern den religiös Deklassierten die Aufnahme ins Hier ist vor allem zu verweisen auf die Arbeiten von E. Käsemann, Begründet der neutestamentlühe Kanon die Einheit der Kirche?, EvTh 11, 1951/52, S. 13 bis 21; Eine Apologie der urchristlichen Eschatologie, ZThK 49, 1952, S. 272--296; Zum Thema der Nichtobjektivierbarkeit, EvTh 12, 1952/53, S. 455--466. 7
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Reich verspricht und den korrekten Pharisäern das Gericht ansagt, so ist de facto die Toraals Heilsweg im innersten getroffen8 • Paulus ist in seiner Rechtfertigungslehre vom historismen Jesus nicht abhängig; denn er benutzt eine völlig andere theologisme Nomenklatur. Seine Re