MIRANDA MILLER
SMILES UND DAS NEUE JAHRTAUSEND Roman
Aus dem Englischen übersetzt von ALFONS WINKELMANN
Deutsche Ers...
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MIRANDA MILLER
SMILES UND DAS NEUE JAHRTAUSEND Roman
Aus dem Englischen übersetzt von ALFONS WINKELMANN
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/4956 Titel der englischen Originalausgabe SMILES AND THE MILLENNIUM Deutsche Übersetzung von Alfons Winkelmann Das Umschlagbild malte Gerrit Ahnen & Jan Solterbeck, Design Team, Hamburg
Redaktion: Wolf gang Jeschke Copyright © 1987 by Miranda Miller Erstveröffentlichung by Virago Press, London Copyright © 1992 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1992 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Technische Betreuung: Manfred Spinola Satz: Rudolf Schaber, Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-453-06197-7
Der Sozialismus hat ausgespielt. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. Die Begüterten haben sich in ihre Festungen zurückgezogen, gesichert durch Elektronik und bis an die Zähne bewaffnete Söldner. Der Rest ist ein Slum, in dem Hygiene ein unbekannter Luxus und die Cholera endemisch ist. Trotzdem gibt es junge Menschen wie Simon und Christy, die es vorziehen, im Elend, aber in Freiheit dahinzuvegetieren als abgeschieden von der Welt im Luxus begraben zu sein.
FÜR TIM UND JUDITH HYMAN
KAPITEL 1 Ich verblute, dachte Simon. Maden des Elends haben sich in meinen Eingeweiden eingenistet, und sie errichten Reiche in mir. Bald werden sie schleimig aus meinen Poren kriechen, und die Kinder werden von ihrer Ekelhaftigkeit entzückt sein. Die winzigen Toiletten mit den defekten Schlössern waren die einzig mögliche Zufluchtsstätte vor der Einsamkeit, mit der Simon erwacht war, und ihm war bewußt, wie rasch er verkommen würde, wenn er nicht jeden Tag nach Smiles käme. Er wollte, daß sein Leben etwas Nützliches und Energisches widerspiegelte: Ein Mann auf dem Rad, der den Fluß im Morgengrauen des frühen Tags überquerte. Simon dachte an das Holz, das er mitgenommen hatte; er hatte es von einem der Gerüste an den Häusern in seiner Nachbarschaft auf der anderen Seite des Flusses mitgehen lassen, wo noch immer Restaurierungsarbeiten durchgeführt wurden. Der Raum unten wurde von dem altmodischen schwarzen Eisenofen beherrscht. Christy und er hatten ihn dorthin gezerrt, weil sie befürchtet hatten, er könne durch den Fußboden der oberen Räume brechen. Sein verrostetes Wirrwarr aus Türchen, Hebeln, Knöpfen und Kochplatten war ein Altar, wo man jene Zeiten anbetete, da die Leute wußten, was es hieß, arm zu sein. War der Bauch gefüllt mit Holz und Lumpen, sorgte der Ofen den ganzen Tag über für Wärme; er erhitzte die Milch für die Kinder, kochte ihnen das Essen und wurde für sie Ungeheuer, ein Schloß oder ein Vulkan. Simon fand ihn schön und behandelte ihn mit Respekt; jeden Nachmittag fegte er ihn aus und legte nach, und alle paar Monate schwärzte er ihn wieder ein. Er hatte das Gefühl, der Ofen sei das wirkliche Gebäude; stark und würdig inmitten der fadenscheinigen,
leckenden Hülle der anderen. Der Ofen ließ zerfetzte Bücher und zerbrochenes Spielzeug erbarmungswürdiger erscheinen. Selbst als die orangefarbenen Zungen auf der anderen Seite des durchsichtigen Türchens flackerten, fühlte sich Simon alles andere als behaglich. Er wünschte sich, Christy möge kommen, am liebsten in ihrer herrschsüchtigsten Laune, und herumpoltern. Wenn er dort kniete und elend aussähe, nähme sie ihn vielleicht in die Arme. Wenn ihn nicht bald jemand küßte, dachte er, würde er sich in seine Bestandteile auflösen. Aber natürlich nahm sie niemals jemanden in den Arm, der älter als elf Jahre war, und die Vorstellung fiel schwer, sie habe viel körperlichen Kontakt mit ihrem Freund. Simon dachte, daß ihr, wie den meisten heroisch veranlagten Menschen, die Fähigkeit zum Privatleben fehlte. Im Kampf gegen Schmutz, Chaos, Kälte, Hunger, Kindertränen und die Apathie der Erwachsenen war Christy von einer Mauer aus Betriebsamkeit geschützt. Doch sah sie stets so aus, als könne sie die Mauer zu seinem unwürdigen kleinen Garten mit Unkräutern und Würmern überspringen. Ihre Turnschuhe schlappten den Betonfußboden des Korridors herab, und er hörte, wie sich ihr Schlüssel im einzigen nicht defekten Schloß des Gebäudes drehte. Mit der heiseren Stimme, in der eine Spur Enttäuschung mitschwang, sagte sie: »Simon? Oh, schön. Sie haben die Vorräte unten an der Straße angeliefert; wir gehen besser los und holen sie, ehe sie geklaut werden.« »Hast du einen Platz gefunden, wo die neuen Kinder letzte Nacht haben schlafen können?« »Was? O ja, sie sind in der Garage unter Edith Cavell.« »Ist’s da sicher?« »Ist’s irgendwo sicher? Einer der Rahmen des Schiebefensters beult nach außen. Ist mir gestern aufgefallen.«
»Ich werde nachher raufgehen und es mir ansehen.« Der Schlamm reichte ihm knöchelhoch an den Gummistiefeln herauf und erinnerte ihn erneut an die Maden. Christys Füße mußten immerzu feucht sein. Ich frage mich, warum sie sich nicht ein Paar geeigneter Stiefel besorgte. Ich schätze, ihre Freiwilligen-Marken reichen noch nicht mal zum Kleiderkaufen. Ich könnte allein mit ihnen nicht zurechtkommen, wenn ich nicht die Wohnung hätte und Bernard, der für mich die Rechnungen bezahlt. Er setzt mich wohl einfach von der Steuer ab. Christy marschierte voran, fast militärisch in ihrer Selbstdisziplin. Simon fiel auf, wie dünn sie unter ihrem Pullover war und wie fleckig und müde sie aussah. Er nahm an, daß sie in einem dieser Wohnwagen lebte, die allmählich jeder für sich im Schlamm versackten. Sie war zu lange hier gewesen, um noch immer in einem Zelt zu leben, und die korrodierten Wellblech-Baracken waren nur für Familien. Überall standen Eimer und Schüsseln herum, um den Regen aufzufangen, der in jenem Frühjahr seit Wochen fiel. Rings um das Waschhaus, wo die Eltern manchmal versuchten, Schulstunden für die älteren Kinder zu organisieren, tanzte auf Leine neben Leine traurig die zerlumpte Wäsche. Ein paar Leute liefen herum, insbesondere jene, die es eilig hatten und die Menschenmengen während der Rush-Hour abfangen wollten. Die sechsjährige Sarah, die jedoch nur selten Zeit hatte, zur Spielgruppe zu kommen, schob ihren beinlosen Großvater in einem selbstgefertigten Rollstuhl über den Schutt. Sie waren auf dem Weg nach Sloane Square, wo sie zur Musik seines Akkordeons tanzte, bis die Polizei sie vertrieb. Mick, der Clown, und Donald, der Schwertschlucker, waren in ihrem verdreckten Putz auf dem Weg zu ihrem üblichen Stand in Covent Garden. Ein halbes Dutzend Lumpensammler schoben lautstark ihre Schubkarren in Richtung Wandsworth Bridge.
Sie suchten Pappkartons, die sie am Abend an Neuankömmlinge auf den Straßen verkaufen würden. Ted traf mit seinem Lastwagen ein und errichtete auf dessen hinterem Teil den einzigen Laden von Smiles. Bargeld war illegal, aber die Regierung drückte bei kleineren Geschäften ein Auge zu. Da Ted Bargeld und Tauschwaren akzeptierte, waren die meisten Menschen von Smiles gezwungen, seine verschrumpelten Äpfel, zermatschten Tomaten und vor Trieben nur so strotzenden Kartoffeln zu akzeptieren. Seine zerbeulten Konservendosen hatten das Haltbarkeitsdatum längst überschritten, und er führte eine unappetitliche Auswahl von Unterwäsche und T-Shirts, die aus Hochwasserschäden stammten oder von sogar noch zweifelhafteren Lastwagen herabgefallen waren. Ted wußte, daß ihn die Menschen von Smiles haßten, und er weigerte sich, aus einer Mischung von Verachtung und Selbstschutz heraus, dort zu leben. Er schlief in dem Laster auf einem Haufen schmuddeliger Bettwäsche neben einem Ofen, auf dem er sich Fritten, Tee und Kaffee zubereitete, in einer düsteren Schneise tief in dem Wald aus Kartons und Kisten. Er war ein kleiner, bleicher, wieselhafter Mann mit sandfarbenem Haar und Wimpern, ziemlich jung, jedoch rasch alternd aufgrund schlafloser Nächte, während derer er in seinem mit einem Vorhängeschloß gesicherten Lastwagen lag. Sein Ehrgeiz bestand darin, genügend Geld zu sparen, daß er sich Eigentum und Anspruch auf eine Britcard kaufen konnte, und sei es auch nur eine grüne, so daß er nicht mehr länger Opfer der Schwarzgeld-Wirtschaft sein mußte, die er für sich ausnutzte. Er hatte den Versuch unternommen, sich bei der True Brit Information Agency auf der anderen Seite der Wandsworth Bridge einzuschmeicheln, indem er große Menge Neuropepsi in Kommission nahm und sie für ein paar Pence billiger als andere Getränke verkaufte. Die meisten Kinder trafen in Christys Spielgruppe mit leeren Bäuchen ein – oder
träge und rülpsend nach einer Dose Neuropepsi. Viele der Mütter glaubten, es helfe den Kindern beim Einschlafen, und es helfe am folgenden Morgen, sie ruhigzustellen. Die meisten Menschen klammerten sich verzweifelt an die kurzfristige nicht-kalte und nicht-feuchte Dunkelheit innerhalb der Zelte und Baracken. Simon hielt vor einem der Zelte inne und versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, sich eine jede Nacht dort mit nur einer Plane aus Kunststoff zwischen sich und dem gefrorenen Schlamm einzurollen. Er würde das Unbehagen niemals verstehen, ehe er’s nicht erfahren hatte, und er würde es niemals erfahren, ehe es nicht sein mußte. Und wer wollte das schon? Die Leute, die in Smiles lebten, waren keine Märtyrer; sie hielten ihn für wahnsinnig, wenn er seine Zentralheizung und sein Federbett aufgäbe, um zu ihnen zu stoßen. Dennoch war ihm bewußt, daß ein jeder der Tage, die er hier verbrachte, unter anderem eine Sühne für Tausende von warmen, trockenen, satten Nächten war. In gewisser Hinsicht war Simon froh darum, daß sie ihm seine Britcard abgenommen hatten, nachdem er seinen Beruf aufgegeben und sich geweigert hatte, sich nach einem anderen Beruf umzusehen; dadurch fühlte er sich weniger abgeschnitten von den Menschen in Smiles. Christy stand an der Stelle, wo der Schlamm zur Hauptstraße hinabrutschte. Dort hatte der UN-Laster Mehl, Reis, Eipulver, Milchpulver und Orangensaft abgeladen. Auf der anderen Seite des Kreisverkehrs saßen ein Dutzend Gestalten zusammengekauert in einer Höhle aus Zeitungen, Pappkartons und Plastiktüten. »Halt dich nicht damit auf, die Einheimischen zu beobachten. Diese Schweine auf der Verkehrsinsel haben schon wieder eine Kiste Orangensaft stibitzt – ich hab dem Fahrer gesagt, er soll nicht so früh anliefern.«
»Wenn sie sie genommen haben, werden sie ihn brauchen, nehme ich an.« »Wir alle brauchen ihn, verdammt noch mal. Guck mal, jetzt trinken sie ihn. Schlabberiger Orangensaft statt NeuropepsiDosen…« »Das kannst du von hier aus doch überhaupt nicht erkennen.« »Ich habe Adleraugen. Im Hinterkopf und tief in der Magengrube kann ich was zu essen auf eine Meile Entfernung erkennen, insbesondere vorm Frühstück. Da!« Christy lachte, als eine leere Flasche einen vorüberfahrenden Lastwagen traf. Simon beobachtete sie bei einem ihrer seltenen Augenblicke des Triumphs, wie ihre Augen grün aufleuchteten aus Freude darüber, recht gehabt zu haben, und aus Feindseligkeit den Inselleuten gegenüber. In Unmengen genossen verwandelte das Allheilmittel der Regierung die Menschen in hirnlose, hingebungsvolle Idioten, willkürlichen Gewaltausbrüchen unterworfen (obgleich die True Brit Medical Research Institution das ableugnete und darauf beharrte, es sei möglich zu beweisen, daß, statistisch gesehen, mehr Glück nur desto besser sei). In ihren passiven Phasen saßen die Zonkies tagelang in ihren Hütten aus Abfall. Sie waren Opfer der eher aggressiveren Junkies, Alkoholiker und der verbitterten ehemaligen geisteskranken Patienten, die noch immer darauf warteten, daß sich die Gesellschaft um sie kümmerte. Während ihrer seltenen Ausbrüche von brutaler Euphorie prügelten sich die Zonkies oder plünderten Geschäfte. Vor einigen Wochen war eine Horde von dreißig Zonkies über Smiles hergefallen; sie hatten mehrere Zelte zerstört und zehn kostbare Dosen UN-Fertigsuppen gestohlen. Arme Christy, dachte Simon, sie will sich nicht gestatten, die Menschen von Smiles nicht zu mögen, und sie machte aus ihren Gefühlen Politikern gegenüber keinen Hehl, weil sie so weit entfernt waren. Es amüsierte Simon, daß Christy die
Inselleute aus den gleichen Gründen verachtete, aus denen heraus die schlimmsten Freiwilligen – jene, die nach ein paar Stunden verschwanden – Smiles verachteten: Dort gebe es nur Faulenzer, Zonkies, Diebe. Christy wandte sich wieder der schwierigen Arbeit zu, die Kisten und Säcke über den Schlamm zur Spielgruppe zu zerren, ehe die Kinder eintrafen. Simon half ihr dabei, und obgleich er an diesem Morgen unbestimmter denn je erschien, arbeiteten sie doch gemeinsam in schweigender Harmonie. Er wirkte so höflich und unkörperlich, aber auch so zuverlässig. Er hatte keinen Sinn für Formlosigkeit; als ihn im Januar die Grippe erwischt hatte und er eine Woche lang nicht erschienen war, hatte er eine Frau mit einer Nachricht hergeschickt. Mit einer Entschuldigung, weil er sich nach zwei Jahren wie ein ganz normaler Freiwilliger verhalten hatte. Die Frau stammte aus seiner wirklichen Welt und hatte die Augen hinter den dunklen Gläsern vor Überraschung weit geöffnet, während die kleinen grünen Lederpumps sich voll Schlamm sogen. Spaßig der Gedanke, daß er mit diesem aufwachen konnte und es vorzog, zu jenem zu kommen. In gewisser Hinsicht wollte Christy ihn dazu bringen, nicht mehr zu kommen, denn das hätte aus ihm das gemacht, was Sean stets von ihm behauptet hatte: einen Mittelklasse-Tugendbold, der auf eine gute Stelle wartete. Ohne feste Stellung brachte Simon einen aus der Fassung. Aber er war unentbehrlich, dachte Christy, während sie ihn dabei beobachtete, wie er das Frühstück für die Kinder zubereitete, aus dem Brot von gestern, in klumpiger Milch zermanscht. Sobald die Kinder einmal eingetroffen waren, sprachen sie und Simon kaum noch miteinander. Sie hatten so lange zusammengearbeitet, daß die täglichen Arbeiten peinlich genau zwischen ihnen aufgeteilt waren, und die Kinder nahmen das, was sie für sich brauchten, und teilten sie beide
auf wie Süßigkeiten. Dimelza kam halb schlafend herein, stolperte hinüber zu Simon, schlang die Arme um ihn und fiel erneut in Schlaf. Er fuhr damit fort, das altbackene Brot in leere Joghurtbecher zu bröseln, wobei er nur die Unterarme bewegte, um sie nicht zu stören. Manische Personen aller Art wurden von seiner Ruhe angezogen, die sie, wie er hoffte, fälschlicherweise als Stärke interpretierten. Die irischen Zwillinge trafen ein und versuchten, Christy einen Füller zu verkaufen, den sie in der Woche zuvor verloren hatte. »Woher habt ihr den?« »In ‘nem Geschäft gekauft.« »So ein Quatsch! Ihr habt ihn mir aus der Handtasche geklemmt, stimmt’s?« »Leck uns doch am Arsch.« »Ich würde eure Ärsche nicht mal mit der Kneifzange anfassen, ihr stinkenden kleinen Ratten. Gebt ihn zurück!« Sie ließen sich von ihr jagen, warfen ihn einander zu und fielen schließlich in einem Haufen aus Gekicher und Umarmungen übereinander. Den ganzen lieben langen Tag über peitschten sich die Zwillinge gegenseitig hoch, bis ihre Vitalität am späten Nachmittag Fieberhitze erreichte und man sie niederbrüllen mußte. Christy bewunderte sie, weil sie nicht unterzukriegen waren. Die weißen Kinder waren viel zu weiß, und die schwarzen litten unter Erkrankungen der Haut, aufgrund fehlenden Sonnenscheins und fehlender Vitamine. Sie verbrachten die erste Stunde damit, alle zu füttern, aufzuwärmen und bis hin zu jenem Punkt aufzupäppeln, da sie sich zu spielen getrauten. Organisierte Aktivitäten waren nahezu unmöglich, weil die Altersspanne von sechs Monaten bis hin zu elf Jahren reichte. Ursprünglich, als die Menschen noch in ihren Wohnungen lebten, war die Spielgruppe für Kinder zwischen zwei und fünf
Jahren eingerichtet worden. Als dann die Gebäude unbewohnbar geworden waren und die Menschen in Baracken und Zelte umzogen, verweigerten die Schulen den Kindern von Smiles oftmals freie Plätze, weil sie zerstörungswütig und unpassend gekleidet waren. Jene, die nicht zur Spielgruppe kamen, arbeiteten wie Sarah oder spielten bei Ebbe unten am Fluß. Ein paar einsichtige Eltern hatten versucht, im Waschhaus Schulklassen zu organisieren. Christy war außerstande, das Interesse an Kindern zu verlieren, die sie schon als Baby gekannt hatte, nur weil sie jetzt fünf Jahre alt waren, und sie ließ die Kinder kommen, so lange sie es wollten. Die meisten von ihnen verließen die Gruppe abrupt in der Zeit der Pubertät, die die Kinder von Smiles grausam traf; jäh blickten sie über ihre Kindheit hinaus auf die übrige Stadt, die sie ausschloß. Sobald ihnen aufging, daß sie niemals den Werten entsprechen würden, die in ihrer Umgebung galten, haßten sie alle Werte mit einer schrecklichen und klaren Intensität. Dann gingen sie fort und lebten in den TeenieCamps – in Smiles gab es kaum irgendwelche Heranwachsenden, lediglich Kinder und rasch alternde Erwachsene. An diesem Tag kam wegen des Regens mehr als sonst zusammen. Sie konnten nicht im Hinterhof spielen, also schwärmten sie über die beiden Räume aus, die Simon am frühen Morgen so höhlenartig vorgekommen waren. Er dachte, an Christys Räumlichkeiten sei etwas Nautisches – draußen all das Wasser, und drinnen all die hin- und hergestoßenen Kinder, umgeben vom Mief aus Körperwärme, Lärm, Gerüchen und schrillem Kreischen. Nur daß Simon kein Kapitän war, sondern eher ein Mast, der insektenhaften Menschen passiv gestattete, an ihm hinauf- und hinabzurutschen, ihn mit Dingen zu behängen, ihn umzustoßen und sich draufzusetzen. Er brachte es fertig, das Tun der
Zwillinge zu unterbinden, die die beiden kleinsten Babies kopfüber hielten. Dimelza war erwacht und verlangte nach Geschichten, die er herausbellte, während ihm ein kleines Mädchen Handschellen anlegte und ein Zweijähriger ihm an den Haaren zog. ›Die Schöne und das Tier‹, oder ›Die Schöne und das Ungeheuer‹, wie sie sie nannte, war Dimelzas Lieblingsgeschichte. Er hatte ihr gesagt, die Schöne sei schwarz, aber sie sah, daß das Buch sie als rosiges und goldhaariges Mädchen vom Rhein abbildete. »Siehsse! Ich hab dia’s gesagt, nich waah, Prinzessinnen sin niemals schwaaz.« »Warum glaubst du dem Buch, anstatt mir?« »Du weiß nix. Du erfinds das einfach, damit wia ruhich sin.« »Na ja, das gelingt mir aber nicht sehr gut, hm? Ich hab noch nie im Leben soviel Lärm gehört.« »In Afrika gibt’s schwarze Prinzessinnen«, sagte Lily. Sie war sechs Jahre alt, groß, und hatte Zöpfe, die wie kurze Stricke abstanden, und traurige Augen, die zum Bersten erfüllt waren von Visionen eines phantastischen Afrika. Sie lebte mit einer Tante in einem Zelt und wartete darauf, daß ihre Mutter nach ihr schickte. Lily war zu groß und zu traurig zum Spielen, aber sie liebte Geschichten und Dimelzas heftige, wahnsinnige Behendigkeit und Anmut. Jemand hatte ein Radio mitgebracht, das krächzend im Hintergrund plärrte. Dimelza begann zu tanzen und wirbelte herum und warf dabei Arme und Beine umher, als wolle sie aus ihrem Körper heraus. Lily stand stumm ihr gegenüber und schüttelte steif die Arme. Noch für Stunden wäre sie glücklich, denn sie hatte mit Dimelza getanzt. Simon spürte, daß er mehr mit Lily gemein hatte; tatsächlich wurde er, während er ihr zusah, unangenehm an seine sklavische Abhängigkeit von Jessica erinnert, als sie sehr jung war. Einige von uns werden einfach voller Hemmungen
geboren, dachte er und fuhr daraufhin herum, als sich ein einzelner Schrei über alle anderen erhob. Hamid, der nur mit Krücken gehen konnte, war die Treppe herabgefallen. Es sah so aus, als sei er vielleicht von Martha gestoßen worden, eines der älteren Mädchen, die oben auf dem Treppenabsatz saß und herabfunkelte. Andererseits jedoch sah sie stets verschlagen und mißmutig drein, also hätte sie möglicherweise doch nicht… Simon nahm den schluchzenden Jungen in die Arme, außerstande, sich einer Konfrontation zu stellen. Christy war der Ansicht, er gehe viel zu nachgiebig mit ihnen um. Sie führte oben ein straffer geordnetes Regiment, was vielleicht der Grund dafür war, daß die Kinder zu ihm hinab in das Pandämonium strömten. Mit einem Team von Helfern, die sie nach der Sauberkeit der Hände ausgewählt hatte, knetete sie gerade den Teig für das mittägliche Brot. Weder sie noch Simon waren besonders gut im Brotbacken (in ihrem lagen stets Salzklumpen, und seines ging niemals richtig auf), aber sie fuhren unbeirrt damit fort. »Ich hab’s gesehen«, sagte sie zu Martha. »Was?« »Er hätte sich das Rückgrat brechen können bei diesem Sturz!« »Er hat sich doch sowieso schon alles gebrochen.« Christy mußte die Hand in die zähe Mischung stecken, damit sie nicht auf dem Mädchen landete. »Raus! Zieh Leine! Raus in den Regen, wenn du nicht nett zu kleinen Kindern sein kannst! Du bist schon seit Wochen nicht mehr bei uns gewesen, du bist bloß hier, weil du Hunger hast. Wenn du zu alt zum Spielen bist, bist du wohl alt genug, dich nützlich zu machen, also heb deinen faulen Arsch!« Die ganze Zeit über, während sie diese Worte hinausschrie, starrte Christy Martha ins Gesicht, ein stumpfes Gesicht, jedoch
vertraut, ein Gesicht, das sie abgewischt und geküßt und gefüttert hatte. »Du brauchst dich nicht wie ein Flegel zu benehmen!« »Leicht, süß zu sein, wennste klein bis.« »Wart mal, bis du so alt bist wie ich! Du bist so sauer, daß dich niemand haben will, selbst wenn du mit ‘nem Sack Zucker ankommst. Also geh jetzt und wechsle Jack die Windeln, er stinkt!« Die anderen Kinder waren verstummt, sie warteten ab, welche Form ihr Ärger annehmen würde. Wenn sie Glück hatten, war er jetzt verschwunden, eine kurze vergossene Träne am Morgen. Andernfalls weitete er sich zu einem gähnenden Loch mit fadenscheinigen Kanten aus, und der Aufenthalt hier bei Christy wäre ebenso traurig wie zu Hause zu bleiben. Sie kämpfte mit sich, aber alle Ursachen für ihren Ärger kamen hoch und trafen sie zwischen den Augen, wo es bereits schmerzte: Marthas Boshaftigkeit, Simons absurde Nettigkeit, der Regen, der klumpige Teig, der verstopfte Abfluß und Seans Sucht nach Versammlungen. Eines Tages, dachte Christy, wird der schwarze Eiter meines Ärgers durch Hals und Nasenlöcher und Ohren geschossen kommen, und ich werde daran sterben, was eine Erleichterung sein wird. Zur Mittagszeit verteilten sie Brot und Orangensaft und kleine Plastiktuben mit Käse aus kondensierter Milch. »Alles so wäßrig.« »Sieht ekelhaft aus.« »Mein Brot is klitschig.« »Mag keine Kaatoffeln.« »Sind keine Kartoffeln, Dummerchen.« Aber sie aßen hungrig und stießen und drängelten, um an den Ofen zu kommen. Christy und Simon saßen oben auf dem Treppenabsatz, von wo aus sie wie Schiedsrichter die Katastrophen mit einigem Abstand beobachten konnten.
Dimelza sah immer wieder in der Runde, um sich zu vergewissern, daß Simon da war. »Wie geht’s deinem Kind? Das mit dem komischen Namen?« »Ganz gut. Glaube ich. Ich werde ihn heute abend sehen.« »Ich wette, er ist absolut höflich und sauber. Nicht so wie diese Bande hier.« »Nein.« »Du lebst nicht mit ihm zusammen, oder? Vermißt du ihn?« »Jeden wachen Augenblick.« Und weil er sich diesen Schmerz für den Abend aufheben und ein wenig davon Christy aufbürden wollte, die unverwundbar schien, fragte er: »Was ist mit dir? Hast du nicht irgendwann mal Kinder haben wollen?« Sie sah ihn ungläubig an. »Noch mehr Kinder?« Wir kennen einander zu lang, dachte er, um auf einmal Fragen über unser Privatleben zu stellen. »Was hast du mit Martha gemacht?« »Habe sie bloß angeschrien. Dennoch hätte ich sie beinahe geschlagen. Tief im Innern habe ich den Verdacht, ein Mörder zu sein.« »Sind wir alle.« Erneut diese unangenehme persönliche Note, die er nicht anklingen lassen wollte. »Nein, sind wir nicht. Du zum Beispiel nicht, um damit anzufangen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß du jemanden schlägst, selbst wenn du provoziert wirst. Selbstmord wäre mehr deine Sache.« »Ich möchte nicht darüber reden…« »Nun, solltest du aber. Würde dir guttun.« Sie stand behende auf und ging hinab zum Fenster. Im Profil hatte ihr Gesicht etwas Schweinchenhaftes an sich, dachte er, diese dicke Nase, die wie eine Schnauze hervorsticht, und die breiten flachen Wangen. Das Schöne daran ist, daß die Nase stets nach oben zeigt, darum wirkt Christy niemals niedergeschlagen, obgleich sie die meiste Zeit über erschöpft
ist. Mit dem krausen Haar sieht sie aus wie ein Pharao mit Dauerwelle. »Es hat aufgehört!« rief Christy. Die Kinder hüpften hinüber zur Tür, und sie entriegelte sie und ließ die Kinder auf den Spielplatz hinaus. Ehe sie zu den Kindern lief, wandte sich Christy um und warf Simon einen letzten Blick zu. Sie hatte große, grünlich-braune Augen, trüb, wenn sie ruhig war. Jedesmal jedoch, wenn sie ärgerlich oder erregt war – die meiste Zeit über also –, leuchteten sie auf und öffneten sich unnatürlich weit. Alle Zäune, die die alten Gärten voneinander getrennt hatten, waren entfernt worden, so daß es sich jetzt um ein einziges großes Gelände handelte, einstmals grasbewachsen, jetzt jedoch ein matschiger Sumpf, von allen Seiten umgeben von den hohen düsteren Ruinen der alten Häuser. Ziegelsteine und Fensterrahmen waren auf den Spielplatz hinabgefallen, wenn auch bislang niemand getroffen worden war. Eines Morgens, vor Jahren, hatte Christy den Leichnam einer Frau über der Rutschbahn hängend vorgefunden. Sie war vielleicht vom Dach eines der alten Wohntürme gesprungen, aber die Polizei hatte keinerlei Nachforschungen über ihren Tod angestellt, da sie eine Kartenlose gewesen war. Christy und Simon führten laienhafte Reparaturen durch, um die offensichtlichsten Gefahren zu verhüten; sie stützten die bebenden Mietskasernen ab. Eines Tages, dachte Simon, werden sie schließlich zusammenstürzen, nach innen auf den Spielplatz und nach außen auf die Baracken und Zelte. Sie waren gleich von vornherein in Billigbauweise errichtet worden, nicht im geringsten für diese Welt gedacht, sondern für die reinere Welt maßstabsgetreuer Modelle, wo drahtige Bäume wie erbsengrüne Petersilie sprossen und es in Fußgängerzonen, auf die es niemals regnete und die niemals verwüstet wurden, von pedantischen Menschen nur so wimmelte. Die Hochhäuser
mochten jäh über einer riesigen Menge Menschen zusammenstürzen, wie der Wohnblock in World’s End, dachte Simon, oder noch jahrelang wanken und einzelne Teile herabschütteln. Wenn ich vom Bauen mehr verstünde, könnten wir sie nach und nach entkernen und das Material dazu benutzen, unsere eigene Barackenstadt neu zu errichten, wie es die Römer mit den Überbleibseln ihres Imperiums getan hatten. Während er zu den zernarbten roten Hochhäusern hinaufsah, suchte er nach dem gefährlichen Fenster, das Christy erwähnt hatte, und fand es in der neunten Etage des Baden-Powell-Blocks, dem am meisten altersschwachen Hochhaus, das in den Sechzigern hochgezogen worden war. Den Samuel-Smiles-Block, wo sich die Spielgruppe aufhielt, hatte man als letzten errichtet und verlassen. Simon holte sein Werkzeug und löste den Rahmen eines Fensters zu ebener Erde vom Betting Poll, gerade als die Kinder dessen Namen riefen. Betting Poll, Smelly, Eden Call und Liver Stone waren die vier Punkte, die sie während ihres Fangen-Spiels berühren mußten. Im Innern blühte die Feuchtigkeit auf den Schlackenstein-Wänden, und Lachen von Urin, Regen und Bier standen auf den Betonfußböden. Noch immer suchten die Leute in dem Gebäude Schutz, trotz der großen Warntafeln, mit denen die vernagelten Türen und Fenster überall gepflastert waren. Simon stieß die Tür mit dem zerbrochenen Glas auf und stieg die Beton-Wendeltreppe hinauf. Die Wände strotzten nur so von Graffiti – Obszönitäten, Schwärmereien, Daten für Rendezvous. Oberhalb der achten Kehre vereinfachte sich das Leben auf Treffen zwischen Wichsern und Liebespärchen. Anschließend führten weitere zerbrochene Glastüren zu einem zugigen Balkon und zwei klaffenden Eingängen, wo die Wohnungstüren herausgehebelt worden waren. In der Wohnung klebte noch immer eine Tapete mit orangefarbenem
und braunem Spiralmuster, im Wohnzimmer allmählich zerfleddernd, wo ein schwarzes Kunststoffsofa seine Schaumstoffeingeweide herausquellen ließ. Er stand an dem ausgebeulten Fenster und sah auf die Kinder herab, die in ihrem schlammigen Tal spielten, vor allem geschützt, nur nicht vor den Lawinen der Berge selbst. Der Alurahmen hatte sich an drei Seiten aus dem Beton gelöst. Simon schlug den Beton auf der vierten Seite ab, bis er den Rahmen herausnehmen konnte. Daraufhin, als habe sich die Tür auf dem Deck eines Schiffs geöffnet, strömte frische Luft in die Wohnung. Der Wind war belebend; er vertrieb die Gerüche einer verrotteten Häuslichkeit und rüttelte an den restlichen Türen und Fenstern. Den ganzen Weg hinauf zum vierzehnten Stockwerk drückte der Wind die Nase an die bebenden Wände und wartete darauf, sein Territorium wieder in Anspruch nehmen zu können. Als Simon wieder die ebene Erde erreichte, war er so durchgefroren, daß er hineingehen und sich an den Ofen setzen mußte. Lily war dort, mit Hamid und den drei Babies, die in Pappkartons schliefen. Lily blickte auf die rote Glut hinter den durchsichtigen Türen, die Augen groß beim Nachdenken über Geheimnisse, erleichtert, nicht mehr länger so zu tun, als sei sie noch ein Kind. Hamid genoß das Nichtstun gleichfalls, er saß besänftigt auf seinem Stuhl, und die Füße baumelten etwa zehn Zentimeter über dem Boden. Er hatte die Krücken neben sich stehen. Wenn das Kreischen der Kinder näherrückte, nahm sein schmales Gesicht einen wachsamen Ausdruck an, für den Fall, daß er sich verteidigen mußte. Bei Simons Eintritt war er enttäuscht und erwartete Vorschläge für irgendein sinnloses Unternehmen. Simon erinnerte sich daran, wie er und Rose, als sie etwa im gleichen Alter gewesen waren, vor den Spielen, die sie nach der Erwartung der anderen hätten spielen sollen, in ein Schweigen entflohen waren, das aus irgendwelchen Gründen geheimgehalten werden mußte.
»Erzähl mir eine Geschichte!« sagte Simon zu Lily. Ihr hämmerte das Herz. Das war das einzige, was sie mit Sicherheit tun könnte, wenn sie nur sprechen könnte. Sie schloß die Augen und quetschte hervor: »Einmal in Afrika, als meine Mama noch lebte, da war da ein großes Feuer. Wie das hier, nur viel, viel größer, groß wie das Haus hier, und es brannte jeden Tag in einem Berg. Wenn sie es warm haben wollten, öffneten all die Löwen und Elefanten und Schlangen und auch die Menschen eine Tür in dem Berg und gingen da rein und setzten sich hin. Und sie kochten sich ihr Essen darüber, ihr Brot und ihre Bananen, und an Sonntagen gab es Hähnchen. Aber in dem Feuer waren magische Gerüche…« »Sprüche…«, korrigierte sie Hamid. »Nein, Gerüche. Du konnts alles riechen, was du wolltest, wie es im Bett mit deiner Mama gerochen hat, als du noch klein wars, und teure Parfüms und Fritten. Und du konnts auch alles sehen, was du wolltest, in den Flammen drin. Hübsche Häuser und Spielzeug und Parties mit Leuten, die in wunderschönen Gärten am Tanzen waren, und Schokolade und große runde Monde.« »Dann is was passiert?« fragte Hamid. »Nix. Alle war’n glücklich, also sin sie da geblieben.« Simon sagte: »Jetzt Hamid.« Lily wollte unbedingt, daß er ihre Geschichte lobte, aber er tat’s nicht, weil er glaubte, es würde sie verlegen machen. Sie glaubte, sie habe ihm nicht gefallen. »Ich kann nich.« »Natürlich kannstes, jeder kann das, gibt Millionen von Geschichten«, sagte Lily geringschätzig. »Nein, kann ich nicht, ich bin nicht so gut wie du.« »Lily kann sehr gut erzählen«, sagte Simon, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Na, also gut. Es war einmal dieser Junge da mit Namen John, der sehr gut laufen und schwimmen und Fußball spielen konnte. Dann ging er eines Tages allein ins Schwimmbad, und er fiel rein und ertrank. Und seine Mama war sehr traurig. Das war ‘ne blöde Geschichte, nich?« »Ziemlich kurz«, sagte Simon. »Du hättstse nich so schnell erzähl’n soll’n«, wies ihn Lily an. Hamid wandte sich an Simon. »Müssen wir unbedingt reden?« Also saßen sie da und teilten das Schweigen, ein Luxus, den niemand von ihnen erwartet hatte. Die Tür schottete sie gegen den Lärm und den Wind ab, die Hitze des Ofens lag schwer in der Luft und legte sich ihnen wie ein Schal übers Gesicht. Die Babies schliefen, und Hamid sog die Hitze in sich ein; es war das letzte Mal an diesem Tag, daß er’s wirklich warm hatte. Später gab es nur die feuchten Decken und den Ölofen, der einem die Nase und Hände und Knie verbrannte und alles übrige von einem ausdörrte. Er durfte sich nicht darüber beklagen, weil sein Vater sonst sagte, er sei ein Schwächling, und er war bereits in so vielen Dingen ein Schwächling. Als er seiner Mutter gesagt hatte, ihm sei stets kalt und er habe stets Hunger, außer bei Christy, hatte sie geschluchzt, daß sie nach Karatschi zurückkehren sollten, wo es heiß genug sei, Fische auf dem Bürgersteig zu braten. Aber sie war ebenfalls nie dort gewesen; sie wußte das nur von ihren Eltern, die in Clapham ein großes Lebensmittelgeschäft gehabt hatten. Dort war Hamids Mutter dick geworden, sie hatte Datteln gegessen, als sie klein gewesen war. Die Regierung hatte ihnen das Geschäft weggenommen und sie nach Smiles verfrachtet, wo sich, wie seine Mutter sagte, der Abschaum herumtrieb. Lily saß mit geschlossenen Augen und fest verschränkten Armen da, als schmerzten ihr die Rippen. Sie ging ins Feuer
hinein, schritt durch die scharlachroten und goldenen Zungen, um mit Dimelza im Park zu spielen. Lily-im-Feuer war klein und flink, mit geschmeidigen Armen, wie Streichhölzer, und sie konnte die Leute zum Lachen bringen. Lily-der-Ballon trieb über die glitzernden roten Bäume dahin. Als Christy hereinkam mit den anderen, durchschaute sie sie einen Augenblick lang – drei Eidechsen. Sie hatte Simons Gesicht niemals so nackt gesehen, voller zerstörter Träume. Sie wandte sich ab und hob absichtlich die Stimme und lachte und weckte die Babies. Es war fast an der Zeit fürs Heimgehen; die meisten Kinder wollten nicht gehen. Christy freute sich auf die Zeit, da sie alle verschwunden waren, jedoch nicht auf den restlichen Abend in ihrem Wohnwagen – mit oder ohne Sean. Rita, die Mutter der Zwillinge, klapperte mit ihren rosa Wildlederpantoffeln die Treppe herab. »Und wie haben sie sich heute benommen, die kleinen Racker? Irgendwelche gebrochenen Knochen oder umgedrehte Hälse?« Die Zwillinge, ebenso ausgelassen und fröhlich veranlagt wie sie, liefen zu ihr hinüber. »Jesses, wen haben wir denn hier? Hast du den Laden wieder zurückgekauft, Beatrice?« Dimelza starrte in die Luft, als ihre Mutter wiegenden Schritts die Treppe herabkam, die Sirene von Smiles. Unten näherten sich die Kinder, um die Seide ihrer orangefarbenen Bluse zu befühlen und ihr wundervolles Parfüm einzuatmen, während Rita und Beatrice ihre tägliche Komödie spielten. »Biste auffem Weg zur Arbeit?« »Hab gedacht, ich müßte erst den Kindern ihren Tee kochen.« »Mach dir dabei deine Bluse nich dreckig. Die hab ich übrigens noch nich gesehn, is die neu?«
»Du solltest dir mal selbst was Neues kaufen, Rita, ‘n Trödelladen ist nicht der richtige Schönheitssalon für ‘ne Frau.« »Und wo soll ich das Geld herkriegen?« »Ich hab dir schon gesagt, in Brixton kannste ‘ne ganze Menge Kohle machen.« »Ich bin eine ehrbare Frau, Beatrice.« »Vielleicht machste ‘nen großen Fehler.« »Vielleicht hab ich meinen Stolz.« »Stolz ist was, wenn du alt und häßlich bist. Du hast noch immer schönes Haar, Rita. Ich werd mir schon recht bald eine Wohnung besorgen.« »Wo, Mami?« Dimelza blickte aufgeregt lächelnd zu ihr hoch und drückte ihr die eleganten Finger. »Du hast dir heute die Hände gewaschen?« »Wo?« fragte Rita und schluckte. »In der Nähe der Railton Road. Komm, Dimelza!« Jeder sah ihr zu, wie sie die Treppe hinaufstieg, denn Beatrice zuzusehen, war ein Vergnügen. Sie war schön, mit zarten Knochen unter rötlich-schwarzer Haut, und das Haar war zu vielen kleinen Zöpfen geflochten, wie die Pflanzen in einem Terrarium. Ihr Gehabe war eine Mischung aus Eleganz, Furchtlosigkeit und Gleichgültigkeit, wofür man sie bewunderte. Jeden Abend ließ sie Dimelza allein mit ihrer kleinen Schwester und dem älteren Bruder, Douane, und verschwand, um erst gegen vier oder fünf Uhr morgens wieder aufzutauchen. Als Gegenleistung kochten die Kinder für sie und neideten einander das Privileg, ihr die Kleider herauszulegen. Ihre Liebhaber tauchten oftmals mit Geschenken und nervös um sich blickend in Smiles auf. Sie hatte sie nach einer oder zwei Stunden fallengelassen, aber sie folgten ihr durch den Schlamm und boten ihr das Herz, wo sie doch nur ihr Geld wollte.
Nachdem sie Beatrice amüsiert betrachtet hatte, seufzte Christy, als sie verschwunden war. Angesichts von Beatrice fühlte sie sich selbst ernst und unbeholfen. Beatrice war für den Feminismus das, was Hitler für den Liberalismus gewesen war. Und es hatte keinen Zweck, ihr zu sagen, daß sie ausgebeutet wurde, da das sichtlich nicht zutraf: Beatrice war die Ausbeuterin und gedieh dabei. Christy sah, wie Simon sie mit soviel Mitgefühl betrachtete, daß sie zurücklächeln mußte.
KAPITEL 2
Der lange Tag und die Fahrt mit dem Rad quer durch London hatten Simon beruhigt. Er trug noch immer seine Arbeitskleidung, hatte sich jedoch als Tribut an den Geburtstag seiner Mutter gewaschen und ihr sogar ein Geschenk gekauft, ein Buch über Porzellan-Sammlungen in französischen Schlössern. Er bog an der St. John’s Wood High Street ab und strampelte hinein in Klaustrophobie und Unwirklichkeit. Die Hecken waren sauber geschnitten, die alleinstehenden Ziegelbauten so perfide georgianisch, die Wagen so neu. Von ein paar bewaffneten Wächtern und einigen Heliports auf den Dächern abgesehen, hatte sich seit seiner Kindheit nichts geändert. Draußen vor dem Haus seiner Eltern warnten ihn die zahllosen Wagen in der Auffahrt und die Lichter im Innern, daß eine Party im Gange war. Freeman Castle hatten es Rose und er stets genannt, und jetzt wurde es ihrem alten Witz gerecht. Simon wurde von psychosomatischen Schmerzen gepackt – er brüstete sich damit, die eigenen Neurosen zu kennen – und mußte seine Beine zur Eingangstür zwingen. Die wurde von einem Mann im weißen Anzug geöffnet. Entweder hatte seine Großmutter nun endgültig nicht mehr alle Tassen im Schrank, oder Madge erlaubte sich jene Extravaganzen, von denen sie stets geträumt hatte. Ja, die Anzeichen dafür waren überall sichtbar: Seit seinem letzten Besuch neue Teppiche, Champagnerflaschen und Platten mit Lachs, die von weiteren Fremden in weißen Anzügen ins Gesellschaftszimmer getragen wurden. Sein Vater, Bernard Freeman, trat heran, Jovialität und Aftershave verströmend. Sein Gesicht sah mit der Zeit immer
mehr wie poliert aus, brauner und knorriger, wie gut abgelagertes Holz. Jedesmal, wenn Bernard ihn sah, wirkte Simon schmaler, grauer; bald würde er sich in eine dämmrige Ansammlung senkrechter Linien auflösen. Der Junge aß nicht richtig, kleidete sich nicht angemessen, man mußte auf ihn achtgeben. Und dennoch sah er stets so gut aus, so ansehnlich und aufrecht. »Mein lieber Junge! Freu mich so, daß du kommen konntest! Mit dem Rad? Ausgezeichnetes Training. Genügend Geld?« fügte er laut flüsternd hinzu. »Ja ja.« Bernard legte zwei Finger auf Simons abgeschabten Ärmel und führte ihn in das goldfarben und blau gehaltene Gesellschaftszimmer. Geschäftsfreunde, die Bernard noch nicht lange kannten, glaubten, jemand käme, einen Abfluß zu reparieren. »Wie geht’s Merlin?« »Glänzend. Erfreulicher kleiner Bursche, wird bald runterkommen.« »Liebling!« Ihr Kuß klebte von Lippenstift. »Haben ‘ne Menge heißes Wasser, falls du baden willst«, flüsterte sie. »Rieche ich?« Seine Mutter und sein Vater tauschten ein schiefes Lächeln aus. Mein Gott, ich mache schon wieder einen auf rebellischen Sohn, dachte Simon. Sei charmant, sei ausgeglichen, sei zweiunddreißig. Irgendwie jedoch kamen stets dieselben Phrasen heraus, wenn er dort war, alles an ihnen war eine implizite Kritik seiner Lebensweise, und er war niemals alt genug, das einfach hinzunehmen. Er lächelte seine Mutter an und überreichte ihr das Geschenk. »Wie nett, daß du daran gedacht hast! Oh, all diese prachtvollen Orte an der Loire – vielen Dank, mein Lieber!« »Du wirst bald einen davon kaufen.«
»Ja, uns geht’s ganz gut.« Bernard strahlte in dem unbezweifelbaren Erfolg, der ihn endlich heimgesucht hatte. »Hast du’s ihm gesagt, mein Lieber?« »Was? Ach ja.« Er beugte sich mit seinem vertraulichen Flüstern vor. »Was sehr Aufregendes. Komm ins Erdgeschoß. Wir werden ein bißchen miteinander plaudern, wenn alle weg sind.« »Worüber?« Madge und Bernard waren jedoch in verschiedene Richtungen davonstolziert, wie die vergoldeten Figuren in barocken Uhren, die herauskommen und sich verbeugen, wenn ihre Stunde schlägt. »Sie sind der Architekt, nicht wahr?« Eine Frau mit kurzgeschorenem schwarzen Haar und einem sehr roten Gesicht stand vor ihm und grinste. »Nein. Das war ich mal«, fügte er etwas zugänglicher hinzu, als er sah, wie verzweifelt ihr Grinsen war. »Ich bin Thora Wainwright, ich arbeite im Freizeitministerium, wissen Sie. Wir sind völlig aus dem Häuschen wegen dem, was Ihr Vater für die Erwerbslosen tut.« »Tatsächlich?« »O ja! Die Idee, jenen Menschen eine Möglichkeit zur Entspannung zu bieten und sie dabei gleichzeitig zu erziehen, zeugt von soviel Phantasie.« »Warum suchen Sie nicht einfach Jobs für sie?« »Wenn das nur so einfach wäre! Was tun Sie jetzt, da Sie nicht mehr als Architekt arbeiten?« »Ich bin gleichfalls erwerbslos. Ich bin Freiwilliger in einer Spielgruppe in Wandsworth, einer der Gemeindesiedlungen, die zusammengebrochen sind, als sich die Gemeinde auflöste.« »Wie tapfer! Ich wüßte nicht, wie diese Stadt ohne Menschen wie Sie funktionieren könnte.«
»Sie funktioniert nicht. Weil es keine richtige Verwaltung und kein Geld gibt, übertünchen Menschen wie ich lediglich die Risse.« »Da muß es schrecklich verwahrlost sein.« »Kann man Wohl sagen.« Er schluckte, wollte ihr sagen, wie es in Smiles war. Es widerstrebte ihm jedoch, Christy und die übrigen ihren kühlen wißbegierigen Augen auszuliefern. »Dennoch, mit Ihren Qualifikationen«, sie blinzelte ihm verschwörerisch über den Rand ihrer Brille zu, »hätte Ihr Vater doch wohl etwas Besseres für Sie finden können, nehme ich mal an.« »Ich will nichts Besseres«, sagte Simon, ließ sie stehen, ging zu einem kleinen Sessel in Scharlachrot und Gold und fand dort heraus, daß er vor Ärger kochte. Hier, in seiner Ecke, wäre er imstande, auf Rose und Merlin zu warten, den beiden einzigen Menschen im Haus, die er tatsächlich sehen wollte. Er merkte, daß er sich über seine Mutter ärgerte, weil sie diese gräßliche Party gab; wenn er das gewußt hätte, wäre er an einem anderen Abend gekommen. Warum konnten sie nicht einmal zusammen über wirkliche Dinge sprechen? Arme Frau. Er beobachtete sie. An Madge war nichts arm, selbst als sie arm gewesen war, hatte sie die allergrößten Anstrengungen unternommen, die Armut zu übertünchen, und jetzt war sie endlich die Gastgeberin, die zu sein sie vor fünfunddreißig Jahren geträumt hatte, als sie Bernard geheiratet hatte. Es waren Träume von Großzügigkeit und Reichtum gewesen, und da sie ihnen so lange nachgehangen hatte, da sie all jene Biographien von Lady Cunard und Lady Londonderry gelesen hatte, fand sie sich jetzt darin ganz gut zurecht. Sie drehte die Runde und umarmte und hielt die Gläser gefüllt, sie lachte viel und wirkte aufrichtig erfreut, die Leute zu sehen, und schritt majestätisch in ihren Saphir-Rüschen einher, sah matronenhaft aus, jedoch nicht
betont traurig. Unter dem Make-up, das ihr Gesicht hart aussehen ließ, lag ein Ausdruck der Freude, eine mumifizierte Unschuld. Ebenso sein Vater; all die Niedergeschlagenheit der Jahre der fehlgeschlagenen Video- und Kabel-TVUnternehmen war verschwunden, und er war fester, größer daraus hervorgegangen, mit einer wohltönenderen Stimme. Meine Eltern machen sich, dachte Simon, sie verschmelzen allmählich mit den Gußformen, die sie vor so langer Zeit von sich hergestellt hatten. Er schnappte genügend Gesprächsfetzen auf, um davon überzeugt zu sein, daß dies hier diejenigen Leute waren, mit denen Madge und Bernard stets zu tun haben wollten. »Gewerkschaften endlich da, wo sie hingehören.« »In der Gosse.« (Gelächter) »Haben die Ökonomie wieder auf die Füße gestellt.« »Haben’s diesen Makkaronis mal gezeigt.« »Schrecklich, das mit Portugal.« »Was?« »Haben weiteres Öl gefunden. Haben uns vergangenes Jahr schon wieder mit ihrem Bruttosozialprodukt überholt.« »Sie glauben doch wohl nicht deren Statistiken, oder? Vergangene Woche sind wir in einem portugiesischen Restaurant gewesen, ekelhaftes Zeugs, können noch nicht mal kochen.« »Indisch ist das einzige ausländische Essen, das ich riskiere. Vorzügliche Köche, diese Inder, obwohl sie ein bißchen über die Stränge schlagen. Predigen von Abrüstung. Wir haben ihnen doch die einzige Zivilisation gegeben, die sie jemals hatten.« »Curry? Na ja, mir ist es lieber, wenn alles in einer blitzblanken und sauberen schweizer Küche zubereitet wird und ich die Zutaten sehen kann. Aber wenn’s von unseren
lieben Freunden, den Indern, gekocht ist, hab ich einfach kein Vertrauen dazu.« »Haben Sie ein paar von den Aktien erwerben können?« »Nur ein paar tausend. Hab sie in der folgenden Woche abgestoßen und einen ganz guten Schnitt dabei gemacht.« »Oh, wie schön!« Das sind Stimmen der Zuversicht, dachte Simon. Madge und Bernard singen in vollendeter Harmonie damit. Trillern ihren Patriotismus als Erweiterung ihrer Selbstliebe, improvisieren ganze Arien zum Lob des Profits. Sie stehen dort oben und nehmen Blumenstrauß nach Blumenstrauß in Empfang, Dividende nach Dividende, während ich – hinabkrieche in die Spinnweben unter der Bühne und dünn und kritisch und voller Zweifel verwelke. Wie in Harmonie mit seinen Gedanken tauchte Rose im Eingang auf, bemerkenswert schlank und abschätzend, jedoch cool und schick genug, um damit zurechtzukommen. Er rief sie beim Namen, und sie kam direkt zu ihm herüber. »Ich hab gedacht, du würd’st überhaupt nicht mehr kommen!« »Ist’s schrecklich?« »Eine Orgie aus alter Korruption und vornehmtuendem neuen Faschismus.« »Na ja, schließlich haben sie’s geschafft.« »Was?« »Was es auch immer gewesen sein mochte, da sie soviel Angst hatten, es nicht zu schaffen. Jetzt verströmen beide Zufriedenheit. Madge ruft mich nicht mehr an, nicht einmal an ihrem Hochzeitstag, um mich daran zu erinnern, was ich gerade vergessen habe.« »Bernard hat Pläne mit mir.« Er imitierte die Stimme seines Vaters. »Komm runter ins Erdgeschoß.«
»Meiner Ansicht nach könntest du’s mit ein wenig Vetternwirtschafterei wirklich schaffen.« »Was wolltest du damit sagen?« Sein Stolz war an einem der wenigen Punkte verletzt, wo er verletzbar war. »Machst du noch immer diese Freiwilligen-Arbeit?« »Ja.« »Aber das ist ein so deprimierender Ort.« »Nicht für mich. Der Job hat mich wirklich über Wasser gehalten, weißt du, nach Jessicas Tod. Diese Party deprimiert mich weit mehr.« Rose sagte nichts weiter, weil sie wußte, daß ihr Bruder von Grund auf wahrhaftig war, so merkwürdig manchmal einige seiner Wahrheiten auch waren. Sie blickte sich einen Hauch abschätzend im Raum um, nicht moralisierend, wie er’s getan hatte, sondern abwägend und einordnend. »Ich hatte gedacht, Sir Maverick Pearson hier zu finden. Ich bin schon seit Wochen hinter ihm her, versuche, einen Artikel über ihn zu bringen. Aber er bewegt sich anscheinend nicht in diesen Kreisen. Noch nicht.« »Weißt du, was Bernard vorhat?« »Aber ja. Er wird Millionen mit Brot und Spielen verdienen. Er wird eines der alten Fußballstadien in holographische Vergnügungsstätten verwandeln. Man stopft sich mit JunkFood und Neuropepsi voll (clever, das, nichts von wegen Vandalismus). Dann gewinnt man persönlich die Schlacht von Trafalgar oder irgendeinen anderen ausgewählten ruhmreichen Augenblick unserer Geschichte. Die Erwerbslosen werden freien Eintritt haben.« »Aber woher wird das Geld dafür kommen?« »Staatliche Subventionen. Sir Maverick ist einer der leidenschaftlichsten Befürworter, darum hoffte ich, ihn hier zu sehen.« »Gerissener alter Gauner.«
»Ja, ich muß zugeben, wir haben ihn unterschätzt.« Simon blickte seinen Vater mit jener Distanz an, die er stets gefühlt hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern, daß es jemals irgendein stärkeres Gefühl als Zuneigung oder Abneigung auf beiden Seiten gegeben hatte. »Sie haben sich verändert, nicht wahr?« »Macht und Geld. Du wirst nie begreifen, was für Aphrodisiaka das sind.« Rose, offiziell seine jüngere Schwester, lächelte ihn an, wie ein alter Zuhälter eine Jungfrau anlächeln mochte. Aber er wußte sie auf seiner Seite. Madge jonglierte mit zwei Gesprächen gleichzeitig, während sie ihre sensibelste Antenne direkt auf ihre Kinder gerichtet hielt. Sie war so verärgert, daß es sich binnen kurzem zeigen mußte. Sie brauchte sie nicht zu hören; endlose Jahre ihres Heranwachsens hatte sie über das arrogante, überlegene, klugscheißernde Geschwätz der beiden hinweggehört. Nicht, daß sie etwa besser geworden wären; sie waren lediglich gegangen. Wenn sie zuließe, daß die beiden sie aus dem Gleichgewicht brachten, würden sie ihr die wunderschöne Party verderben, das glückliche Monument zerstören, an dessen Errichtung sie so hart gearbeitet hatte. Am Abend ihrer Tage. Wie hatte es sie geschmerzt, sie allesamt immer wieder zu drängen und zu zerren, insbesondere Bernard, schließlich jedoch hatte er etwas Wertvolles zustande gebracht. Erneut richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die beiden, wie sie in ihrer geheimen Ecke hockten, blind gegenüber den allmählich steifer werdenden Rücken rings um sie her. Rose hatte aus ihrer Taktlosigkeit und Grobheit einen Beruf gemacht: wie es aussah, wurde sie dafür bezahlt, häßliche Dinge über die Leute zu schreiben. Genügend bezahlt, um sich diese eigenwilligen, unfemininen Kleider zu leisten und in einer Wohnung zu leben, die aussah wie ein interstellares Iglu, wohin sie einmal zu einem ungenießbaren Mahl eingeladen
worden waren. Eine Karrierefrau. Na ja, sie hatte zumindest ihren Job. Simon, einstmals ihr Liebling, hatte Madge am viel empfindlicheren Nerv getroffen. Seine Weise, sie fallenzulassen, war viel raffinierter gewesen, sie war darauf angelegt, ihr das Herz zu brechen. Ein solch brillanter netter Junge, voller Leben, der nichts anderes tun wollte als wunderbare Gebäude zu errichten, schon mit den Legosteinen. Die ersten Anzeichen von Schwierigkeiten hatte es gegeben, als er dieser dummen Gans verfiel, verfiel nicht auf die normale gesunde Weise, sondern Hals über Kopf, mit Leib und Seele. Simon verstrickte sich stets zu sehr in die Dinge. Selbst in die Architektur, obgleich da wenigstens Geld zu holen war. An jedem Weihnachten und zu jedem Geburtstag wollte er Bücher darüber; wenn sie in Ferien fuhren, hatte er lediglich Blick für alte Kirchen, und er verbrachte seine gesamte Freizeit mit diesen Modellen. Das war in Ordnung, der wahre Simon. Brillante Menschen waren stets besessen. Jessica war jedoch nicht das richtige Mädchen für ihn gewesen. Äußerst hübsch und charmant, wenn sie es sein wollte, ansonsten mit einer Macke und tatsächlich ziemlich durchgedreht. Jeder, der so etwas tat, mußte das sein. Sie kam mit dem Kind nicht zurecht: Einmal, als er zwei Jahre alt gewesen war, hatte Madge zufällig in ihrer trübseligen Wohnung vorbeigeschaut und hatte Merlin pudelnackt im Garten herumlaufend vorgefunden, über und über mit Schmutz bedeckt und kreischend vor Lachen. Und Jessica hatte Simon gegen sie aufgehetzt. Hatte ihm das Hirn vergiftet, hatte das Kind vernachlässigt und sich selbst zugrunde gerichtet. Durch und durch verantwortungslos. Schrecklich für das Kind und für Simon, aber sowas kommt halt vor, man muß sich halt bloß am Riemen reißen. Simon kam allmählich herunter; zunächst war’s nicht so offensichtlich gewesen, weil er so ruhig geworden war. Dann
jedoch hatte sie eines Tages mit einem Schinken und etwas Eiercreme bei ihnen vorbeigeschaut und ihn im abgedunkelten Schlafzimmer liegend vorgefunden, mit dem Kind, um drei Uhr nachmittags. Er hatte seinen Job aufgegeben und Merlin seit Wochen nicht mehr zur Schule geschickt. Daher hatte sie das Kind mit zu sich genommen; es machte ihr nichts aus, denn er war ein netter kleiner Junge, obgleich er wie Jessica aussah und ihre Unbestimmtheit an sich hatte, nicht im geringsten brillant war. Sie hatte Simon gesagt, er könne gleichfalls vorbeikommen, aber er hatte es vorgezogen, sich völlig von ihnen zu trennen. Sie hatte ihn kaum zu Gesicht bekommen, außer wenn er wegen des Kinds vorbeigekommen war, und er hatte ihnen niemals gesagt, was er tat. Nichts, hatte sie den Verdacht, außer diesem sogenannten Job in einem Zigeunerlager. Madge hatte jetzt aufgegeben so zu tun, als nehme sie an der Unterhaltung ringsum teil. Obgleich es weit wichtigere Leute dort gab, zog sie irgend etwas zu ihren Kindern. Blutsbande. Sie sahen bei ihrem Kommen auf, als würde sie ein Kriegsbeil schwingen. Von nahem gesehen waren sie noch weniger zufriedenstellend – Rose so aufgedonnert und aggressiv in ihren Stiefeln und den Wildlederhosen, Simons Gesicht viel zu fein für das eines Mannes. Für diese Kleidung hatte er wohl Mülltonnen durchwühlt. »Meine Lieben, ihr hockt da in einer Ecke zusammen wie Verschwörer! Wollt ihr nicht ein paar Leute treffen?« Dann, zu Simon, wie nebenbei: »Willst du nicht Merlin begrüßen?« Der saß in einer Ecke auf der entgegengesetzten Seite, sehr still auf einem mit Samt bespannten Sessel. Er sah nirgendwo hin, hielt die Hände fromm auf den langen grauen Hosen gefaltet, und er wartete, als sei das ein Dauerzustand, nicht, als warte er auf etwas Schönes. Wenn sich die Erwachsenen zu ihm herabbeugten, um ihn anzulächeln oder ihre Drinks über
ihm zu verschütten, blickte er ohne jedes Anzeichen von Neugier zu ihnen auf. Zu Simons Entsetzen sah ihn Merlin, als es ihm schließlich gelungen war, dessen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, mit demselben verschleierten Blick an. Ehe er recht darüber hatte nachdenken können, erhob sich Simon und öffnete die Arme, wie er es getan hatte, als Merlin zwei Jahre alt gewesen war und auf ihn zugelaufen kam mit dem Ruf: »Ihich!« Jetzt war’s Simon, der sich seiner selbst vergewissern mußte, während er zwischen den gutgepolsterten wohlriechenden Körper durchstolperte und sich dann neben seinem Sohn niederhockte. Aus Augenhöhe gesehen war Merlins Gesicht erlesen in seinen Rundungen und Vertiefungen, frösteln machend in seiner Gleichmut. Simon konnte es einfach nur als Jessicas Gesicht sehen, umrahmt von den gleichen hellbraunen Wellen, geschnitzt aus dem gleichen verzierten Stück Alabaster und ohne jedes Anzeichen von Vitalität. Beide wußten noch nicht einmal, wie sie einander ansprechen sollten. »Ich habe dich nicht gesehen. Wann bist du gekommen?« »Ich weiß nicht.« Er hatte jetzt eine kleine Vorschulstimme, die zu seinem frischen weißen Hemd und der roten Krawatte paßte. »Ich habe ein Geschenk für dich.« Simon überreichte ihm eine Laserlampe, die kaleidoskopartige Muster in die Luft projizierte. Die Zwillinge waren jedesmal verrückt vor Verlangen danach, wenn sie sie in dem Schaufenster eines Geschäfts in Wandsworth liegen sahen. Merlin schüttelte sie und starrte die Regenbogenformen an, die das Gesicht seines Vaters verdunkelten, ehe er das Spielzeug auf den GoldbronzeTisch neben sich legte. »Vielen Dank für das Geschenk.« »Schon gut. Du hast noch keine, oder?«
»Ich hab die mit der Geschichte von der Schatzinsel, und man kann auch die Stimmen hören.« »Oh! Gefällt dir die Schule?« »Ganz gut.« »Würdest du gern wieder in deine alte Schule gehen?« »Ich glaube nicht. Es ist ein langer Weg dahin, und ich könnte müde werden.« »Ich bin auch in die Schule gegangen, wo du jetzt hingehst.« »Ich weiß.« »Haben sie noch immer türkisfarbene Blazer?« »Ja. Und man muß sechs Paar Schuhe haben. Soll ich dir sagen, wofür die sind? Eins für draußen, eins für drinnen, eins für Fußball, eins für Kricket, eins für Tennis und eins für Turnen.« »Ich habe nicht gern eine Uniform getragen.« »Ich ja. Ich finde sie hübsch. Großmama hat alles neu gekauft, alles im selben Geschäft zur selben Zeit. Wir hatten so viele Pakete, daß wir sie gar nicht alle tragen konnten, und so mußte man sie schicken.« Madge war niemals beeindruckender, als wenn sie durch ein Kaufhaus stromerte und auf Schnäppchenjagd ging. Simon erinnerte sich solcher Szenen aus der eigenen Kindheit, denen stets Vaters Wutausbrüche wegen der Rechnungen gefolgt waren. Jetzt, mit einer Platin-Britcard, war Madge ziemlich fürstlich in ihren Extravaganzen. »Erinnerst du dich daran, wie wir in den Second-Hand-Laden gegangen sind?« »Ich hasse Second-Hand-Läden. Alles ist schmutzig und stinkt, und man weiß nie, wo die Sachen herkommen. Hast du diese Hosen aus einem Second-Hand-Laden?« »Ja, habe ich. Ganz prosaisch.« »Hast du noch einen Job?«
Simon sah ihn ungläubig an. Gebt mir ein Kind die ersten sieben Jahre, hatten diese herumpfuschenden Jesuiten gesagt. Madge hatte aus seinem Kind, einem schmuddeligen kleinen Anarchisten, in lediglich zwei Jahren einen tadellosen Konformisten gemacht. Die Füllung aus ihm herausgeklopft. Aber diese Füllung war so liebenswert gewesen, und weil sie noch immer irgendwo sein mußte und darauf wartete, zurückgepackt zu werden, antwortete Simon milde: »Ich habe immer einen Job gehabt. Du meinst wohl, ob ich Lohn dafür erhalte?« »Und?« »Nein. Lediglich eine Freiwilligen-Beihilfe. Das würde für eine Schule und eine Uniform nicht reichen, falls du bei mir wohnen wolltest.« Merlins Gesicht furchte sich vor Konzentration, als habe er gerade ein Geräusch gehört, wonach er gehorcht hatte. Simon vermochte jedoch nicht zu sagen, ob er in Furcht oder Hoffnung gehorcht hatte. »Würdest du gern mitkommen und wieder bei mir wohnen?« »Möchtest du das?« »Ja. Ich vermisse dich, Merlin. Ich wünschte, ich hätte dich nicht gehen lassen, obwohl ich weiß, daß Großmutter und Großvater sehr nett zu dir gewesen sind. Aber wenn du mitkommst, wirst du dich wieder daran gewöhnen müssen, in eine gewöhnliche Schule zu gehen und keine neuen Sachen zu haben…« Simon flüsterte jetzt, denn er sah Madge auf sie zukommen, und er wußte, er war dabei, seinen Sohn zu bestechen. »Du kannst so viele Tiere haben, wie du möchtest, und wir werden Ferien mit dem Zelt machen und im Garten Würstchen über dem Feuer grillen.« »Kann ich einen Tropenfisch haben?« flüsterte Merlin zurück.
»Ja.« »Zeit für einen Kakao?« fragte Madge mit dem Glockengeklingel, das jedesmal dann in ihrer Stimme lag, wenn sie mit Kindern sprach. Sie war rot im Gesicht und strahlte, ein Ohrring war abgegangen, und der Reißverschluß an ihrem blauen Kleid hatte sich auf zwei Zentimeter Länge gelöst, und es zeigte sich jetzt rötliche Haut und rosa Nylon. »Gib Papi einen Gutenachtkuß!« Merlin wandte ihm passiv das Gesicht zu. Simon wurde klar, daß er ihn den ganzen Abend über nicht hatte lachen sehen, und er konnte sich auch nicht daran erinnern, wann das zuletzt der Fall gewesen war. Er umarmte den Jungen fest, vergrub die Lippen in dem weichen Haar und küßte ihn auf die Stirn, drückte ihn heftig, damit es ähnlich war wie bei den bärenhaften Umarmungen, als Merlin klein gewesen war. Aber der schmale Körper war eckig und widerstrebend. Simon stand also auf. »Sonntag in einer Woche gehen wir in den Zoo. Ich werde ihn um die Mittagszeit herum abholen.« »Wunderbar! Das wird dir doch Spaß machen, nicht, Merlin?« Aber er hatte den Raum verlassen, um sich dem Gutenachtkuß seiner Großmutter zu entziehen. Vol-au-vents, gefüllte Weinblätter und Erdbeeren mit Schlagsahne wurden für diejenigen hereingebracht, die noch nicht gegangen waren, und die Party bewegte sich auf die Mitte des Raums zu. Bernard sprach mit seinem alten Freund Sammy, einem Buchhalter, den er seit jenen theatralischen Tagen kannte, da er nicht sonderlich erfolgreiche Stücke im West End gesponsort hatte. Sammy bevorzugte eine Kombination aus soliden Finanzen und einem Hauch von Showbiz-Glamour; er liebte Schauspielerinnen und Kasinos und hatte eine Heidenangst davor, als langweilig zu gelten.
Während er Bernards laut geflüsterten Schätzungen über die Summe Geldes zuhörte, die er im ersten Jahr erwartete, blinzelte Sammy Simon zu, und Rose, die er bewunderte, seitdem sie zwölf Jahre alt gewesen war. Damit wollte er beiden zeigen, daß er kein vertrockneter alter Geldmensch sei. Madge saß mit Joan, Sammys Gattin, auf dem Sofa aus goldfarbenem Samt. Wie Bernard hatte Sammy eine Goy, eine Nicht-Jüdin, geheiratet, um sich völlig zu verweltlichen. Madge und Joan waren beide aufblühende Blondinen gewesen, und selbst jetzt vermittelten sie noch einen Hauch von rosaund orangefarbener Reife. Madge beklagte sich gerade über ihre Schwiegermutter. »Sie will mich nicht sehen. Natürlich ist sie auf jeden Fall senil, lächelt jedoch gelegentlich Bernard und den Jungen an. Wenn ich hinaufgehe, verkriecht sie sich in der Ecke und grinst höhnisch. Sie ist richtig bösartig. Und sie will nicht diese schrecklichen schwarzen Kleider wechseln. Dieser Gestank, meine Liebe!« »Sehr schwierig. Meine Schwiegermutter ist vergangenen Sommer gestorben, wissen Sie?« »Wirklich? Ach ja, in diesem Alter ist das für sie das Beste.« »Haben Sie versucht, sie in einem Heim unterzubringen?« »Bernard will das nicht zulassen. Denn, sehen Sie, das hier ist ihr Haus, sie hat es uns niemals überschrieben, obwohl sie das natürlich hätte tun sollen, schon vor Jahren. Und wie Bernard sagt, hört man heutzutage so viele schreckliche Dinge über Heime, selbst über die privaten Heime.« »Meiner Ansicht nach ist das die beste Lösung. Wenn sie über achtzig sind, haben sie nur noch so wenig vom Leben. Schließlich ist es eine Sache der Barmherzigkeit, sie nicht einfach so abkratzen zu lassen.« »Haben Sie sowas…?« »Na ja, wissen Sie, das Heim arrangiert alles.«
»Oh!« »Sie erhalten einen Steuernachlaß.« »Oh, wirklich?« Die beiden männlichen Staatsbeamten saßen ebenfalls auf dem Sofa und wünschten sich, sie wären heimgegangen, ehe die Party intimer wurde. Sie waren zu beiden Seiten der Frauen gestrandet, außerstande, sich um sie herum zu unterhalten. Auch war es nicht zu vermeiden, das Gespräch mit anzuhören. Sie aßen langsam ihre Erdbeeren und warfen einander verstohlene Blicke zu. Sie waren der Ansicht, vielleicht auf derselben Schule gewesen zu sein. Auf dem gegenüberliegenden Sofa versuchten ein Computerbonze und der geschäftsführende Direktor einer Hotelkette zu entscheiden, ob der Liefervertrag an Chichi Kebab oder Scrummy-Burger gehen sollte. Madge spülte ihre Erdbeeren mit einem Gläschen Kirschwasser hinunter und überdachte die merkwürdige Angemessenheit der Dinge. Man heiratete den falschen Mann, verschwendete seine Zuneigung an undankbare Kinder und arbeitete hart, anscheinend für nichts und wieder nichts, bis sich jäh die häßlichen grauen Klumpen der Enttäuschung zu einem verwirrenden Mosaik zusammenfügten. Und dann wurde man auf den Thron in der Mitte des Mosaiks gesetzt, und der eigene Glanz wurde schließlich sichtbar. Wie des Kaisers neue Kleider, nur andersherum. Simon und Rose blickten nervös auf, als Madge schwankend aufstand. »Ihr habt meinen kleinen Mann noch nicht gesehen. Ich will euch allen meinen kleinen Mann zeigen. Bernard schenkte ihn mir für ein glückliches neues Jahrtausend.« Für ein paar Sekunden verließ sie das Zimmer. Simon sah Rose an. »Meinst du, sie hat sich einen Miniatur-Liebhaber gekauft, und Bernard ist zu zerstreut gewesen, um’s zu bemerken?« flüsterte er.
Es folgte ein surrendes Geräusch, das Simon an die mechanische Affen-Band erinnerte, die er als Kind bekommen hatte. Ein Humanoide betrat das Zimmer; er war ungefähr einen Meter fünfzig groß, mit langen, ineinander verschränkten Armen, einem rechteckigen Körper und einem Gang, der zu steif war, um ihn insgesamt zu einem guten Gesellschafter machen zu können. Aber er war eine Präsenz, wie ein Kellner mit einem nervösen Tic, dachte Simon. Sie sahen zu, wie er die schmutzigen Teller auf den Geschirrwagen stapelte, die Aschenbecher leerte und Zigaretten und Süßigkeiten anbot. Madge stand hinter ihm und kreischte vor Lachen. »Ist er nicht prächtig? Er zieht morgens die Vorhänge zurück, läßt das Bad einlaufen und holt Milch und Zeitung herein. Er wird Heros Zehn genannt, schrecklich griechisch und romantisch. Man kann viel kleinere Modelle bekommen, die aussehen wie Elefantenkörper, aber ich finde es so süß, einen richtigen kleinen Mann zu haben – und er macht alles sauber. Laß dir mal von ihm über die Schuhe gehen, Simon!« Schweigend gestattete er, daß seine beiden Füße von einer Metallzange ergriffen wurden, die Schuhcreme auftrugen und heftig rieben. Er wartete darauf, daß die Schuhe, die schon von vornherein nicht neu gewesen waren, unter dem Zug auseinanderfielen. »Er macht wirklich alles. Tauscht Sicherungen aus, saugt Staub, poliert – Frau Thompson kommt jetzt nur noch an einem Morgen pro Woche. Im Garten ist er ein wenig unsensibel, er neigt dazu, die Pflanzen zu beschädigen. Und bei meinem Kristallgeschirr kann ich ihm auch nicht ganz über den Weg trauen.« »Wunderbar!« brummte Sammy in den allgemeinen Chor der Bewunderung.
»Wißt ihr, die Leute machen die moderne Technologie herunter, aber denkt doch nur mal an all die kleinen langweiligen Arbeiten, die wir nicht mehr zu tun haben.« »Er war ein bißchen teuer. Aber er ist sein Geld wert.« Madge lächelte dem Computerbonzen zu, und der lächelte zurück. Simon blickte auf seine glänzenden Schuhe hinab, während Heros Zehn die Mäntel holte.
KAPITEL 3
Nachdem die anderen verschwunden waren, ging Madge auf unsicheren Beinen hinauf ins Bett, und Bernard deutete Simon mit lautem Geflüster und heimlichtuerischen Gesten an, daß ihr kleines Geplauder beginnen sollte. Sie gingen in sein Arbeitszimmer, einen Raum, der viele Veränderungen gesehen hatte. Jahrelang war er schäbig gewesen, voller ungelesener und vergilbender Manuskripte und eingerollter Plakate, die für Stücke warben, die sein Vater gesponsort hatte, und Titel trugen wie ›Once More Unto the Breeches‹ und ›Popping the Question‹. Dann, Mitte der achtziger Jahre, hatte Bernard einen Sekretär eingestellt, der ihn mit elektronischen Medien bekannt gemacht hatte, und er, der sich stets seiner zwei linken Hände gebrüstet hatte, hatte entdeckt, daß er nicht nur einen Taschenrechner bemeistern konnte, sondern auch Videogeräte und Computer. Jetzt war der Raum in einem kühlen Blau gehalten und erinnerte an eine Kriegs-Kommandozentrale, mit Karten, worauf mögliche Grundstücke für Freizeitparks abgesteckt waren und die aufleuchteten, dem Arbeitsmodell eines holographischen Spiels und zahllosen Verwandten von Heros Zehn. Sein Vater wies ihm strahlend einen Sessel und setzte sich ihm gegenüber, die Hände unter dem Kinn zu einer Art Finanzgebet verschränkt. Simon wünschte sich inbrünstig, er wäre für den Charme seines Vaters empfänglich; alle anderen waren es, und solchermaßen ausgeschlossen, fühlte er sich unbehaglich. Es war so vertraut, dieses Gefühl, ein Argwohn, der weit in die frühe Kindheit zurückreichte – daß sein Vater
nämlich in einem kitschigen Propagandafilm lebte und versuchte, ihn dort mit hineinzuziehen. »Sieht alles ganz gut aus, nicht wahr? Wie mein alter Freund Joe Schneer zu sagen pflegte – es gibt keinen Grund, weshalb man nicht hier wieder gutmacht, was man dort verloren hat. Und weil wir gerade von der Unterhaltungsbranche sprechen: Wie gut weißt du in der Theater- und Kinoarchitektur Bescheid?« »Warum?« »Na ja, ich sag dir’s, weil du gefragt hast.« Bernard lachte. Das Unvermittelte seines Sohnes machte ihn stets nervös. »Wie du weißt, ist Sammy so etwas wie ein alter Theaterfan, und er ist auf die Idee gekommen, wir sollten jede historische Schlacht in ein Gebäude aus der entsprechenden Zeit versetzen. Gefühl für Geschichte undsoweiter, du weißt, wie sehr ich Geschichte auf der Schule geliebt habe. Also, du gehst zum Beispiel durch dieses Art-Deco-Foyer, und da ist Dünkirchen. Ich glaube, da ist was dran. Natürlich dürfen wir’s absolut nicht übertreiben, oder es wird uns ein Vermögen kosten. Meiner Ansicht nach jedoch können wir’s mit ein paar Plastiksäulen und so einem Kram festmachen. Na?« Bernards Stimme klang ein wenig aufgebracht, als warte er darauf, daß jemand, der schwer von Begriff war, ihn verstünde. Simon flüchtete sich, wie stets, in Unverbindlichkeiten. »Ja, hört sich an wie ‘ne gute Idee.« »Aber merkst du denn nichts? Ist gleich bei dir oben an der Straße. Du mußt lediglich ein paar von den Dingern entwerfen, einfach nur Hangars. Einer von den Plätzen ist gleich bei dir um die Ecke, der alte Chelsea Fußballplatz. Du kannst von Zuhause aus arbeiten, wenn du möchtest. Du wirst freie Hand haben, Unmengen von Geld und Publicity – nur ein Dummkopf würde hier ablehnen!« »Nein, danke, Bernard. Tut mir leid.«
»Warum nicht? Nicht intellektuell genug für dich?« »Ich bin kein Architekt mehr.« »Du hast, verdammt noch mal, die Qualifikationen dafür, oder? Wir haben genug ausgegeben, um dich auf dieses College zu schicken.« Simon bemerkte, wie sehr Bernard es schmerzte, daß ihm jeglicher Ehrgeiz abging, und wie sehr er dadurch vom eigenen Triumph abgelenkt wurde. Die Augen seines Vaters waren vor Ärger und Hilflosigkeit blutunterlaufen; er bot Simon keine Sinekure an, sondern er bat ihn, einen Gefallen anzunehmen. »Nein, ich möchte es wirklich nicht.« »Deine Mutter macht sich sehr um dich Sorgen.« »Das hat sie schon immer getan.« »Ihrer Meinung nach hast du die Nerven verloren. Du mußt an dich selbst glauben, Simon, wenn’s sonst niemand tun will. Laß dir das von mir gesagt sein! Sechs Jahre lang habe ich für diese Freizeitpark-Nummer getrommelt. Habe versucht, meine Bank zu überzeugen, die hohen Tiere zu überzeugen, habe die Idee verkauft, habe mich verkauft – wenn du lediglich herumsitzt und Grimassen schneidest, wirst du’s nie zu was bringen.« »Ich versuche nicht, es zu was zu bringen.« »Ich verstehe dich einfach nicht.« »Das weiß ich. Macht nichts. Ich verstehe dich«, fügte er hinzu, eher, um ihn aufzumuntern, als gönnerhaft. »Es freut mich wirklich, daß du soviel Geld machen wirst.« »Es ist nicht das Geld, Simon. Es ist die Vision, dieses kleine Stück Jerusalem im Hier und Jetzt, das ich helfe zu erschaffen. Ich möchte den Menschen Freude ins Leben bringen – ich mag von Computern umgeben sein, aber in Wirklichkeit bin ich ganz schön altmodisch. Hab ‘n bißchen was von einem Dichter. Daher hast du das. Nein, ich glaube kaum, daß du mich auch nur im geringsten verstehst.«
Sie sahen einander eigensinnig ins Gesicht, stolz darauf, mißverstanden zu werden. »Alles, was ich sagen will, ist, mach nur weiter und erschaffe viele… öh… Visionen und mach dir keine Sorgen um mich. Mir geht’s gut.« »Aber du bist mein Sohn. Es ist meine Aufgabe, mich um dich zu sorgen.« »Nun, wir können nicht alle Erfolg haben wie Rose.« »Sie ist ein Mädchen, das ist nicht dasselbe. Im übrigen verkörpert sie nicht gerade das, was ich mir unter Erfolg vorstelle. Ich mag Frauen mit etwas Charme. Rose ist viel zu halbgebildet, und sie trinkt zuviel. Kein Wunder, daß sie keinen Gatten bekommt.« »Sie will keinen.« »Ich hab schon immer gesagt, ihr beide solltet eure Geschlechter tauschen.« Simon erhob sich. »Vielleicht zahlst du für unsere Operation, wenn du dein Jerusalem errichtet hast.« »Jetzt lauf doch nicht weg! Laß mich zu Ende sprechen. Schön und gut, wenn man so überlegen ist, aber wer bezahlt den Preis dafür? Merlin ist damit nicht geholfen, oder? Ich meine, wie wird er sich fühlen, wenn ihm klar wird, daß er einen Vater ohne jede Karte hat? Was ist, wenn dir etwas zustößt? Soll ich dir nicht wenigstens eine grüne Karte besorgen?« »Nein. Geradeheraus gesagt, ich fühle mich ziemlich mies wegen Merlin. Ich hätte ihn nicht so lange im Stich lassen sollen. Ich versuchte wirklich, mir Klarheit zu verschaffen.« »Was willst du damit sagen? Schieb das Kind um Gottes willen nicht hin und her, wenn es gerade dabei ist, ein wenig Sicherheit und Ordnung ins Leben zu bekommen. Nein, ich beklage mich nicht. Ich weise lediglich darauf hin, daß es so etwas gibt wie ein Gefühl für Verantwortlichkeit. Entweder du
hast’s, oder du hast’s nicht. Ich persönlich war darin immer stark. Meine Frau, meine Kinder, alles für euch. Natürlich bist du zu sensibel und intellektuell für sowas. Ich frage mich manchmal, ob dir aufgefallen ist, daß du einen Sohn hast.« »Ich hoffe wirklich, daß er und ich, wenn er einmal erwachsen ist, mehr Respekt voreinander haben als du und ich gegenwärtig.« »Das wird nicht der Fall sein, mach dir keine Sorgen, das wird nicht der Fall sein.« In einem fürchterlichen Durcheinander aus Schuld und Zorn verließ er das Zimmer. Rose traf ihn in der Halle, und sie gingen in die leuchtend gelbe Küche. Da der Mond jetzt sein Licht streifenartig durch die Jalousien goß, hatte sich die grelle Farbe verändert. Sie saßen am Tisch, ohne die Neonlampe einzuschalten, die sie beide nicht mochten, und genossen das Gefühl, Einbrecher im Haus ihrer Eltern zu sein. Sie konnten das Ge sicht des anderen nicht sehen, lediglich in Zebrastreifen aus Hell und Dunkel; nichtsdestoweniger kannten sie das Gesicht des anderen in- und auswendig. Rose hielt einen Cognacschwenker, der in dem seltsamen Licht ebenso glitzerte und glänzte wie ihr stachelschweinartiger Schmuck. »Du siehst zerschlagen aus. Nimm einen Schluck!« »Ich werd mir gleich einen Kakao machen.« »Immer so abstinent!« »Ich brauche Ruhe, keine Stimulantien. Davon hatte ich genug.« »War er gehässig?« »Ja, aber natürlich übertüncht mit viel Lächeln. Er wollte, daß ich für seine gräßlichen Spiele Kitschkinos entwerfe. Zweitausend Jahre echte britische Träume.« »Das habe ich schon vor Monaten kommen sehen.« »Warum hast du mir nichts davon gesagt?«
»Ich sehe, was vor sich geht, weil ich ein fieses, kalkulierendes Hirn habe. Das hast du nicht, also hättest du mir eh nicht geglaubt – du hast ihm doch hoffentlich gesagt, wohin er seine Spiele stecken kann?« »Ich war nicht wirklich grob, bis er mit diesem Geschlechtertausch-Scheißdreck kam.« »Bei uns? Wie pathetisch! Diesen Witz erzählt er bereits ein Vierteljahrhundert lang.« Rose hatte ihren Namen aus der Selbstverständlichkeit heraus erhalten, daß sie, wie ihre Mutter, rosig und blond und taufrisch sein würde. Als sie noch sehr klein gewesen war, hatte diese andere Rose halbherzig in einer Vase in ihrem Kopf geblüht. Sie hatte sich ihrer zunehmenden Intelligenz widersetzt und sich, für und durch sie, mit einer Anzahl langweiliger, gehorsamer Kinder befreundet. Dann, in der frühen Pubertät, hatte sie sich wie eine Sommerschwalbe auf die Blume gestürzt, hatte sie zerrissen und zerfetzt und ihr einen letzten Stoß versetzt, um sicherzugehen, daß sie auch wirklich abgestorben war. Ihre Eltern hatten mit den sardonischen Bemerkungen über sie begonnen; sie hatte mit den sardonischen Bemerkungen über ihre Eltern begonnen. Sie hatte Examina bestanden, sich Frauengruppen angeschlossen, sie hatte sich betrunken und war ausfällig geworden, wenn sie auf den Parties ihrer Eltern hätte bescheiden und reizend sein sollen, und schließlich hatte sie ihr Elternhaus mit einem Dichter, der in den Fünfzigern war, verlassen, von dem Madge noch immer als ›jenem schmuddeligen alten Kerl‹ sprach. Rose hatte härter kämpfen müssen als Simon, und die Kämpfe wurden offener ausgetragen. Sie hatte nicht mit dem zweifelhaften Vorsprung eines Hätschelkinds angefangen, als der Junge, der alles hatte und den Ruhm der Familie vergrößern würde. Für ihre Eltern war völlig klar gewesen, daß
Rose lediglich clever und schwierig war, wo Simon brillant war. Obgleich sie gegeneinander ausgespielt worden waren, hatten die beiden stets zusammengehalten. Ehe Rose acht und ihr Bruder zehn Jahre alt war, hatten sie verstanden, daß in Madges Kosmos die Jungen hart und gut im Fußball waren und Türen für kichernde hübsche kleine Mädchen öffneten, und daß dieser Kosmos nichts mit ihnen gemein hatte. Roses Verdacht, ihre Mutter habe von nichts eine Ahnung, hatte sich verfestigt, als sie zu menstruieren begonnen und Madge sie zu Bett gebracht und ihr gesagt hatte, sie habe die Grippe; sie erzählte ihrem Bruder von jenem mysteriösen Virus, der keinerlei Einfluß auf ihre Nase habe, sondern einen blutigen Fluß dort hervorrief, was Madge ihr ›das da unten‹ nannte. Sie brüteten gemeinsam über der Encyclopedia Britannica, um herauszufinden, was mit ihrem Körper vonstatten ging. Sie kamen zu dem Schluß, daß das jeden Monat geschähe und bedeutete, sie könne ein Baby bekommen, wenn auch Rose niemals ein Baby hatte haben wollen, weder damals noch später. Sie halfen einander über die Pubertät hinweg, und als Jungen und Mädchen auf verschiedene Schulen aufgeteilt wurden, um sich lediglich auf Parties gehemmt und unsicher zu mischen, war ihnen das Gefühl verblieben, von der gleichen Art zu sein. Roses Feminismus war von der Vorstellung gemildert, Männer seien, so lange sie ihre Männlichkeit nicht zu sehr in den Vordergrund spielten, Freunde und Verbündete. Simon zog im allgemeinen die Gesellschaft von Frauen der Gesellschaft von Männern vor, obgleich ihn der leiseste Hinweis auf Madgeismus – ein übersteigertes Interesse an Essen oder Kleidung oder einer Tendenz, in Tränen auszubrechen – zum Verstummen bringen konnte. Gegenwärtig fanden ihre fruchtbarsten Begegnungen stets im Haus ihrer Eltern statt, ein- oder zweimal im Jahr, wenn
gemeinsame Wunden aufgedeckt, geleckt und überdacht werden konnten. Mit niemandem sonst vermochten sie ihre Kindheit und Pubertät zu bereden. Draußen begegneten sie einander steif, in diesem Haus jedoch mästeten sie sich freudig an der Vergangenheit, pickten Rosinen und fette Bissen heraus, die nur spät in der Nacht genießbar waren. »Erinnerst du dich noch daran, wie du Jessica zum erstenmal hierher zum Essen mitgebracht hast? Sie hatten sie schon seit Monaten eingeladen, und du hast stets Ausflüchte gesucht und schließlich nachgegeben. Sobald sie zum Klo ging und du ihr gefolgt bist, ist Madge über sie hergezogen. Sie sei ein bißchen übergeschnappt und nicht seriös genug für dich, und Bernard hat ängstlich die Stirn gerunzelt und gesagt, er wolle versuchen, etwas mit Rowena zu arrangieren.« »Was ist mit Rowena passiert?« »Sie hat den Sohn von Sammys Anwalt geheiratet.« »Perfekt. Nein, an diesen Abend erinnere ich mich nicht besonders.« »Ihr seid beide für eine halbe Stunde verschwunden, und Madge war stinksauer, weil das Essen kalt wurde, zumindest hat sie das gesagt. Was sie dachte, war vielleicht weit skurriler.« »Gott, ja, es muß dieser Abend gewesen sein. Ich kniete vor der Tür zum Bad, bis sie mich hineinließ und mir erlaubte, ihr die Beine zu streicheln. Jetzt ist anscheinend nichts mehr wirklich erotisch, nicht so wie damals. Alles war in Sex gebadet.« »Nicht für mich. Ich habe hübsche junge Männer niemals genügend leiden können, um mit ihnen zu schlafen, und Männer, mit denen ich mich gerne unterhielt, waren gewöhnlich fett und gräßlich, so daß ich’s für netter gehalten habe, ihre Körper nicht zur Kenntnis zu nehmen. Wie bei George.«
»Das habe ich nie verstanden.« »Ich habe nie was Junges und Zartes haben wollen, wie du und Jessica. Ich habe das für schmalzig gehalten. Ich wollte jemanden, der Bernard auf seinem eigenen Grund und Boden bekämpfte, und George hat das ganz gut gemacht.« »Sie haben einander gehaßt. Weißt du, daß ihm George eine Menge Geld abgeschwindelt hat? Er hat ‘ne Geschichte von einem Musical erfunden, das ein Freund von ihm geschrieben haben sollte, über König Artus, der wieder lebendig wurde und die Briten zu ihrem einstigen Ruhm zurückführte. ›Ring-aDing King‹ hatte es heißen sollen – ich erinnere mich daran, wie er Songs daraus gesungen hat und Bernards Fußspitzen sich dazu im Takt bewegten. Er hat ihm tatsächlich einen Scheck ausgestellt. Aber das solltest du nicht wissen, falls du ihn heiraten würdest.« »Ach, in Wirklichkeit hab ich alles gewußt. Ich habe ihm dabei geholfen, die Songs zu schreiben. Ich habe diese Seite an George gemocht. Es hat mir überhaupt nichts ausgemacht, daß er so skrupellos war, bis er damit bei mir angefangen hat. Ich habe ihn neulich gesehen.« »In einem Pub?« »Nein. Er kam gerade von einer dieser freakigen Sekten. Das Geheiligte Tabernakel des Milleniums, Ravenscourt Park, wurde sie genannt. In einer alten Kirche. Und George war da, in einer langen grünen Robe, umgeben von jungen Mädchen. Er ist sowas wie ein Hoher Priester – ich schätz mal, das gibt ihm Gelegenheit zu monologisieren, ohne daß ihn jemand unterbricht. Er hat praktisch alles aufgegeben, wie er behauptet: das Trinken, Tabak, Sex, den Versuch, veröffentlicht zu werden. Er hat mir einen Kaffee spendiert und mir dann eine Lektion darüber erteilt, wie schlecht er für mich sei. Wir haben uns gut unterhalten. Ich habe ihm
angeboten, einen Artikel über sie zu bringen, aber er hat ziemlich nervös gewirkt.« »Du hast aber auch eine ätzende Feder.« »Einen Word-Prozessor. Ich halte sie für übermütig, diese Sekten. Und ich bin mir nicht sicher, wie ernst George die Sache überhaupt nimmt, wirklich. Er hat sich die ganze Zeit darüber lustig gemacht, wie zerlumpt und zerfetzt er sei. Er sagte, wir alle müßten rein an Körper und Geist sein, um die nächsten tausend Jahre wert zu sein. Ich habe ihn gefragt, wie viele dafür qualifizierte Menschen es gebe, und er hat geantwortet, sechzehn. Der ganze übrige Rest von uns sei dazu prädestiniert, von Krieg und Krankheit vernichtet zu werden – was nur zu wahrscheinlich ist, wirklich –, dann bliebe nur noch dieser kleine Garten Eden in Ravenscourt Park, George und seine Mädchen. Was ist los?« »Alles saure Trauben. Ich habe nur gerade darüber nachgedacht, wie wundervoll es wäre, meine erste Liebe so zu treffen, mit ihr zu reden und freundlich zu sein und einfach wieder wegzugehen.« »Aber falls Jessica… hier… wäre, lebtest du mit ihr zusammen, also könntest du das sowieso nicht tun.« »Ich weiß nicht.« »Aber es war eine solch große Leidenschaft, völlig vereinnahmend und non-stop-romantisch. Nicht wie ich und George, wir waren Pyramus und Thisbe. Macht’s dir was aus, über Jessica zu reden?« »Mit dir nicht. Als sie starb, da mußte ich sowas wie eine Heilige aus ihr machen, weißt du. Es war die einzige Weise, wie ich damit zurechtkommen konnte. Kürzlich jedoch habe ich mich an all unsere Streitereien erinnert, und wie ungeduldig sie mit Merlin war – ich bin mir nicht im geringsten sicher, ob wir zusammengeblieben wären. Am meisten schmerzt der Gedanke, daß ich niemals mehr mit ihr
reden kann. Das hat in der Vorstellung von mir selbst dieses klaffende Loch zurückgelassen; zwölf Jahre, anscheinend stabil, sind zwiespältig und voller Fragen, die ich niemandem stellen kann. In dieser großen Leidenschaft war eine Menge Unsinn, und sie war vorüber, wirklich, lange bevor sie starb. Aber nichts anderes hat jemals soviel bedeutet.« »Was wird mit Merlin geschehen?« »Ja. Ja, das ist die Frage, nicht wahr? Er wird wohl zu mir kommen und bei mir leben.« »Oh, prima! Sollen wir ihn heute nacht entführen?« »Sei nicht so melodramatisch!« »Für mich war’s mehr eine Farce, wirklich. Er ist so ein netter kleiner Junge, obwohl ich die Wände hochgehen könnte beim Gedanken, wie an ihm herumgepfuscht wird. Du kannst einem Kind nicht einen solchen Namen aufbürden und es dann einfach vergessen.« »Ich hab ihn niemals vergessen, nicht einen Augenblick lang«, log Simon. »Aber die letzten paar Jahre war ich meiner selbst so wenig sicher, daß ich wirklich geglaubt habe, Madge käme besser mit ihm zurecht.« »Simon! Sieh doch, was sie uns angetan haben!« »Ich weiß, aber sie hat’s mit soviel Selbstvertrauen getan.« »Das ist die schlimmste Art von Beeinflussung. Du kannst ihr niemals gänzlich entrinnen – mir ist’s nie gelungen. Ich höre diese ewigen Kommentare von Madges Wertmaßstäben, die mir sagen, der Weg zum Herzen eines Mannes führe durch seinen Magen, und Männer mögen keine klugen Frauen, und Bernard, wie er sagt, es liege im Blut…« »Es sieht nicht so aus, als habest du dich von diesen Stimmen zurückhalten lassen.« »Dennoch ist’s ein beständiger Kampf, so eine Art wahnsinniger innerer Bürgerkrieg. Nein, Madge ist ein
Saboteur. Du hättest ihn für eine Weile zu mir schicken sollen.« »Was für ein widerlicher Vorschlag! Ihn allen deinen versoffenen schwulen Freunden und deinem schlampigen Haushalt auszusetzen!« »Siehst du! Dieselben Stimmen, du hörst sie auch!« Wie stets lächelten sie am Ende einander zu. Die Differenzen zwischen ihnen sorgten selten für Streit zwischen ihnen; es war eine solche Erleichterung, über alte Liebhaber und weggeworfenes Selbst reden zu können. Auf dem Treppenabsatz vor seinem Zimmer hörte Merlin ihnen zu. Er konnte die einzelnen Worte nicht verstehen, empfand jedoch die langen auf- und niederwogenden Sätze, von kurzen Ausbrüchen durchsetzt, beruhigend wie ein Tennisspiel. Er vertraute Simon und Rose, wenn er auch nicht von ihnen als Vater und Tante dachte. Seine Mutter war die einzige Person, an deren Verwandtschaft mit ihm selbst er völlig glaubte, und als sie gestorben war, hatte er sich dazu entschlossen, Waisenkind zu sein. Dabei fühlte er sich tapfer und romantisch. Es war etwas so Naheliegendes, zwei Elternteile zu haben oder sogar nur eines, und obgleich Simon viel ehrenwerter war als die meisten Erwachsenen, war er wirklich nicht herausragend genug, sein Vater zu sein. Merlin fühlte sich zwischen Stil und Charakter zerdrückt. Er wußte, daß man auf seine Großeltern nicht zählen konnte, aber er war zutiefst beeindruckt von deren Geld und Unabhängigkeit und Optimismus. In diesem Haus, das so viele Zimmer hatte, die überhaupt nicht benutzt wurden, kam er sich viel wichtiger vor als in der engen und schäbigen Wohnung, wo er bis zu seinem siebten Lebensjahr gelebt hatte. Hier fühlte er sich, als lebe er in einem Schloß, wie ein Prinz, umgeben von Festen und frisch duftender Kleidung und hübschen Streitereien um seine Erziehung. Gestritten wurde
die ganze Zeit über, darüber, was er zum Frühstück bekommen und was er jeden Tag tragen und wie er zur Schule gebracht und was er zur Teezeit haben sollte. Das verlieh ihm das Gefühl, von gewaltigem Interesse zu sein, und er absorbierte es durstig durch alle Poren, wie eine berühmte Schönheit teure Lotions in sich einsog. Er liebte sein großes Zimmer, das über den Garten blickte, mit den hellen Wänden und dem hellen Mobiliar, und daß sein Spielzeug und seine Bücher stets ordentlich aufgeräumt waren, wenn er von der Schule zurückkehrte, gleich, welches Chaos er hinterlassen hatte. Die alte Hexe oben war eine Versicherung, daß etwas Magisches in sein Leben getreten war; oftmals des Nachts hörte er sie im Zimmer über sich brummein, und vergangenen Sommer, als er erhöhte Temperatur gehabt hatte, hatte er sie in ihrem langen schwarzen Kleid im Flur gesehen, mit einem Gewehr, und sie hatte damit seine Großmutter erschießen wollen. So etwas konnte in einem Schloß vorkommen. Simons Haltung, nichts davon sei jemals wirklich geschehen, rückte entweder seinen Vater oder ihn selbst ins falsche Licht. Wieder bei Simon zu wohnen, bedeutete, einem außergewöhnlichen Ausblick den Rücken zu kehren, den er gerade erst entdeckt hatte, und zuzugeben, er sei nicht vorhanden. Nein, vielen Dank, heute möchte ich es nicht bequem oder schön haben, ich lebe einfach nur in meinem düsteren kleinen Loch und trage schreckliche Kleidung und esse braunen Reis. Das schien Simon die ganze Zeit über zu sagen, und Merlin war verwirrt. Simon tat stets so, als seien diese Fahrräder hübscher als große schnelle Wagen und als schmeckten angebrannte selbstgemachte Plätzchen besser als klebrig-süße gekaufte Kuchen und als sei billiges Spielzeug, so etwas, wie er ihm vorhin gegeben hatte, den großartigen Apparaten überlegen, die ihm seine Großmutter gekauft hatte. Dennoch konnte er Simon nicht der Lüge beschuldigen. Er
schwenkte die Wahrheit wie einen Flammenwerfer umher, verzerrend und zerstörend. Dieses Schloß wäre nicht annähernd so aufregend, wenn nicht Simon da wäre, dem es nicht gefiel. Merlin wußte, er hatte jetzt einen Pakt geschlossen, in die düstere Wohnung zurückzukehren, und er war erfreut und überrascht darüber, daß man ihn gefragt hatte. Aber er war sich nicht sicher, daß er ginge. Als letztes an diesem Abend, wenn er im Bett läge, erzählte er Simon die Ereignisse des Tages; seine Großeltern sollten eine zensierte Version davon erhalten, weil sie in Wirklichkeit nur Wachsfiguren waren, wenn auch sehr realistische. Er hörte Rose und Simon unten umhergehen, und er stand auf und wollte in sein Zimmer stürzen, ehe sie die Küchentür öffnen und ihn oben auf der Treppe erblicken würden. Dann hörte er die andere Tür, die Tür der Hexe, und stand wie erstarrt vor Furcht. Sie war keine böse Hexe, aber sie war häßlich und stank und verfolgte ihn die ganze Zeit über. Er glaubte, sie schnüffelte während seiner Abwesenheit in seinem Zimmer herum: manchmal konnte er ihr Alter und ihr Parfüm riechen, wenn er aus der Schule zurückkehrte. Er konnte sich darüber bei seinen Großeltern nicht beklagen, denn sie waren allen Geschehnissen im Schloß gegenüber taub, verstockt und blind, und außerdem haßte Madge die alte Frau, und Merlin wollte sie nicht in Schwierigkeiten bringen. Gefangen zwischen zweierlei nächtlichen Geräuschen wußte er, jemand würde ihn erwischen. Die Stufen über ihm knarrten, er schloß im Dunkeln die Augen und getraute sich nicht, sich umzuwenden. Jetzt konnte er sie riechen, lange bevor sie die spindeldürre Hand ausstreckte und ihn mit dieser heiseren, krächzenden Stimme ansprach.
»Mein Schatz? Kleiner? Würdest du deiner alten Vorfahrin einen Drink besorgen, ehe ich vor Langeweile sterbe? Ich kann nicht schlafen.« »Was für einen Drink?« »Brandy mit Soda.« »Rose und Simon sind da unten.« »Also lade sie ein, heraufzukommen. Wir wollen eine Party in meinem Zimmer geben, meine Totenwache∗ ein paar Monate früher feiern.« »Wie kannst du aufwachen*, wenn du nicht einschlafen kannst?« »Geh schon, hol mir einen Drink und stell keine Fragen!« Sie saß auf den Stufen über ihm und atmete schwer, ihr Atem war trocken und raschelte wie zusammengeknülltes Zeitungspapier, das aufs Feuer wartete. Sie hatte eine lustige, nasale Stimme, mit einer Spur jenes Cockney-Akzents, von dem Madge sagte, er habe ihn in seiner alten Schule aufgeschnappt. Jetzt, sagte sie, habe er eine hübsche kleine Stimme. Widerstrebend, sich dabei an der Wand festhaltend, huschte Merlin hinab ins Gesellschaftszimmer und tastete sich den Weg hinüber zum Tisch, wo die Drinks standen. Er mußte eine Stehlampe anknipsen, um die widerliche Ansammlung protziger Flaschen zu erleuchten. Es gab keine mit dem Etikett ›Brandy‹, nur eine hübsche rote Flasche, ›Cherry Brandy‹. Die Likörgläser standen in jenem mit Seide ausgeschlagenen Schränkchen mit der klemmenden Tür. Es widerte ihn an, was er jetzt tat, und er dachte darüber nach, wie blöde er aussähe, falls er ertappt würde. Merlin öffnete vorsichtig die Tür des Schränkchens, holte das Glas heraus, füllte es halb mit der wie ∗
Wortspiel: Wake – wake (Wachen, auch: Totenwache – aufwachen) – Anm.d. Übers.
Hustensaft aussehenden Flüssigkeit und fügte einen Schuß aus dem Sodasyphon hinzu. Er hörte Simon und Rose auf der anderen Seite der Halle. Er ließ die Lampe brennen, damit sie ihm den Weg zur Tür wiese, obgleich Bernard das am nächsten Morgen auffiele. Er beklagte sich noch immer über die Rechnungen. Auf dem Treppenabsatz ergriff Connie das Glas und spuckte. »Was ist ‘n das für ‘n Zeugs?« »Was du gesagt hast. Cherry Brandy.« »Mein Gott! Selbst das Kind versucht, mich zu vergiften.« »Ist das nicht richtig?« Aber sie verschwand über den Flur, und ihr Schmuck klickte, und das schimmernde schwarze Kleid, das sie stets trug, raschelte.
KAPITEL 4
Während sie ihre Party gaben, spielte Connie ihre alten Platten, und dabei war sie so unruhig geworden. Das Cover der einen Platte zeigte ein Photo von ihr, das Photo, welches sie im schönsten und lebendigsten Augenblick eingefangen hatte, ein Bild von einer Perfektion, die aufgeblitzt und sogleich gestorben war, nachdem die Kamera aufgehört hatte zu blinken. Stundenlang hatte sie sich in ihrem Sessel zu den Tangos, Black Bottoms, Congos, Rumbas und Cha-Cha-Chas gewiegt. Seit dem Cha-Cha-Cha war es mit ihrer Karriere bergab gegangen; sie war zu rätselhaft für jene kurzen heftigen Silben gewesen. Ihre Augen waren so groß und grün, mit wunderbarem Make-up, jede Wimper wie eine Feder, ihre Stimme heiser, jedoch melodiös. Bei den Songs für die Truppenbetreuung war ihre Stimme angeschwollen, um all jene Jungs mit ihren Teetassen und erhobenem Kinn zu bemuddeln. Ihre anderen Hits waren verlockend, verführerisch; obgleich sie in Hove geboren worden war, hatte sie ein instinktives Wissen um das Geheimnis. Darum waren die fünfziger Jahre, mit all diesem Mädchen-von-nebenan-Unsinn, eine schlechte Zeit für sie gewesen. Connie hatte oftmals in Betracht gezogen, einen ausländischen Akzent zu kultivieren, aber Bernards Vater war dagegen gewesen. Die Dietrich hatte es schrecklich übertrieben, mit diesen Beinen. Beim erneuten Blick auf dieses Gesicht überkam sie die Nostalgie, sie griff ihr ans Herz wie die Erinnerung an eine Liebe. Es war ihre Liebe, keiner ihrer Männer hatte sie auch nur halb soviel bewegt. Zarte Knochen, wie bei einem schneeweißen Vögelchen, das herzförmige Gesicht
durchbrochen von hohen Wangenknochen und umrahmt von den tiefroten Wellen ihres wunderbaren Haars. Eine atemberaubende Schönheit, jeder hatte das gesagt, nicht bloß nur hübsch oder attraktiv. Augenbrauen sorgfältigst gezupft, Apostrophe über ihren außergewöhnlichen Augen. Nicht diese riesigen Büsche, womit die Frauen jetzt herumliefen, über Nasen, die derart glänzten, daß man dachte, sie hätten sie sich poliert. Dieses Natürlich-Sein zu kultivieren war lächerlich; für Schönheit mußte man leiden, man mußte sie erschaffen, man mußte für sie leben und sie anschließend anbeten. Als junges Mädchen hatte sie Übungen vollführt, damit sich dieser lange geneigte Hals zu den weißen Schultern hinabschwang. Kein Anzeichen eines Doppelkinns hatte es gegeben, bis sie weit über fünfzig war. Und die Kleidung. Es hatte sie geschmerzt, als Bernard eine Frau geheiratet hatte, die Knitterstoffe und Kunststoffhandtaschen trug. Während des Kriegs waren Connies Stoffe und Parfüms ausgesprochen sinnlich gewesen. Sie pflegte mit der Hand über ihre Seide und ihren Satin und den harten kalten Flitter zu fahren, nachdem sie zuvor ein halbes Dutzend Kleider anprobiert hatte, ehe sie sich dafür entschied, welches sie am Abend tragen wollte. Einstmals hatte sie fünfzig Bühnenkostüme besessen, alle nach dem gleichen Schnittmuster, das ihr so sehr schmeichelte: Ärmellos, mit tiefem Rückenausschnitt, der Rock lang, raffiniert geschlitzt von jener kleinen Frau in der Nähe des Leicester Square. Das gleiche Kleid, in Seide und Spitze und Satin und Glitter, in Purpurrot und Grün und Schwarz. Die Frau auf dem Photo hielt eine türkische Zigarette in einer langen elfenbeinernen Spitze nebst einem Glas Brandy mit Soda. Es war sogar echter Brandy gewesen; sie war mit diesem Photographen ziemlich gut ausgekommen. Am meisten vermißte sie, nicht mehr von Leuten umgeben zu sein, die sich um sie bemühten – Schneiderinnen, Friseusen, Photographen,
Oberkellner, die sie zu ihrem Liebling machten. Bernards Vater Maurice hatte sich sehr gut um sie bemüht, wirklich, bis sie verheiratet gewesen waren, als seine Forderungen unvernünftig wurden. Das war der Anfang vom Ende gewesen. In der Stille zwischen den Platten hörte sie die Geräusche der Party von unten, einer Party, die, wie sie durch mehrere Wände hindurch wußte, quälend langweilig war. Alle waren sie aus geschäftlichen Gründen eingeladen, nicht ein einziger, weil er oder sie lustig oder schön oder talentiert war. Diese Madge versuchte, den Stil der Parties zu kopieren, die sie gegeben hatte, als Bernard ein Junge gewesen war, Parties, auf denen Madge normalerweise die trostloseste Person im ganzen Zimmer war. Schreckliche, schlaff herabhängende Kleider trug sie, mit Spangen aus Kunststoff im schlaffen gelben Haar und deutlich erkennbarer Qual im Gesicht, wann immer Bernard mit einer anderen Frau sprach. Das wirklich und wahrhaftige Mädchen von nebenan, nur daß sie in Wirklichkeit aus Epping stammte. Eine Unterhaltung mit ihr fiel Connie gewöhnlich so schwer, daß sie vorgab, vom Wald fasziniert zu sein, und ihr endlose Fragen über die Bäume, die angeblichen wilden Tiere, die Blumen stellte. Sie wollte das Mädchen nicht in Verlegenheit bringen, sie wollte sie lediglich durch einen Hauch von Romantik besser erscheinen lassen, die Tochter des Holzfällers statt der Nichte des Bürgermeisters. Das Haus damals, ehe die meisten der echten Antiquitäten verkauft wurden, um die Schulgebühren der Kinder zu bezahlen und Bernard durch die langen Phasen zu helfen, als es ihm an Glück und Urteilsvermögen mangelte. Connie erinnerte sich an ihre Wut, als sie eines Tages hinabgegangen war und ihre Louis-Quinze-Stühle und die florentinische Kommode mit den Einlegearbeiten gefehlt hatten. Die harsche Weise, wie Madge und Bernard vorgaben, nichts zu bemerken. Als ob die schäbigen Streichholzschachtel-Reproduktionen, die
sie gekauft hatten, ein echter Ersatz seien, als habe Connie zwanzig Jahre damit verbracht, sich glänzend einzurichten, nur um dann zu vergessen, was sie da hineingesteckt hatte. Sie hatten niemals verstanden, daß sie wegen des Hauses und der Kinder geblieben war, nicht wegen ihnen. Sobald Maurice gestorben war – sein Tod ebenso zurückhaltend wie sein Leben –, war das Haus für sie zu groß geworden. Es war jedoch überhaupt keine Frage, daß sie etwa umziehen oder daß Bernard in dem dürftigen Vorstadthaus leben würde, das alles war, was er sich hätte leisten können. Er war zu unfähig, um Maurices Kette von Wettläden zu übernehmen, also hatten er und seine Mutter einfach das Einkommen geteilt; über die Jahre hinweg immer weniger. Connie hatte ihnen sowohl Geld als auch Raum zur Verfügung gestellt, ihnen und ihren lärmenden Kindern, ihren geldgierigen Freunden, die niemals genügend Geld hatten, das zu tun, was sie tun wollten, und dem Königreich aus Plastik, das sie mit sich brachten: Geräte für die Küche, Spielzeug, schweißtreibende geblümte Gartenmöbel, Badezimmer-Installationen, Koffer, Mülleimer, Garderobenhaken, Bestecke und Steingutgeschirr. Madge mußte in ganz London eingekauft haben; wann immer sie etwas hatte haben wollen, das eigentlich aus Holz oder Metall oder Leder hätte sein sollen, mußte sie statt dessen nach Kunststoff verlangt haben. Bei heißem Wetter stank’s im ganzen Haus danach, ein kränklicher, Kopfschmerzen verursachender Geruch, der den Geruch nach Politur und Geißblatt überdeckte. Es war unzerbrechlich, erklärte Madge, so, als lägen alle übrigen Gegenstände im Haus zerbrochen herum. Als sie noch klein gewesen waren, hatten die Kinder tatsächlich eine beträchtliche Zerstörungswut entwickelt. Sie gehörten nicht der gleichen Spezies an wie der nette, umhegte Bernard, aber sie hatte sie weit mehr gemocht. Einige Jahre
lang erfreute sie sich an ihnen mehr als an allem anderen, mehr als an ihren noch lebenden Freunden, die gedankenlos alt und häßlich geworden waren. Freudig hatte sie ihren Haushalt um ihre leuchtenden unersättlichen kleinen Gesichter kreisen lassen, und sie hatte sie, zur eigenen Überraschung, kritiklos geliebt, wenn sie schmutzig und krank und schlechter Laune und gehässig gewesen waren. Sie hatte Madge für viel zu streng und besitzergreifend gehalten und hatte ihr das gesagt, was eine Menge Schwierigkeiten verursachte. Es war schier unglaublich, daß solch entzückende Wesen aus einer derartigen Wischi-Waschi-Heirat hervorgegangen sein sollten. Als sie Großmutter geworden war, hatte Connie zum erstenmal seit dem vernichtenden Zusammenstoß mit dem Cha-Cha-Cha wieder an sich geglaubt. Jetzt nannte sie niemand Großmutter. Simon und Rose kamen sie selten einmal besuchen, obgleich sie stets wußte, wann sie sich im Haus aufhielten. Dieser drollige Kleine unten fürchtete sich vor ihr. Es war ihre Sprache, sie sagte das Falsche, obgleich sie fix in Gedanken war, zu fix vielleicht, denn die Gedanken wirbelten in ihr wie Kugeln auf einem Billardtisch. Sie hatten ihr das Haus gestohlen, während sie Großmutter gespielt hatte. Sie aus diesem Zimmer gedrängt und so, immer wegen der Kinder, wo es doch in Wirklichkeit um sie selbst und ihre öden Freunde gegangen war. Sie hatten damit begonnen, mehr Parties zu geben; zunächst hatten sie sie eingeladen, aber nur so lange, bis sie die Gelegenheit ergriffen hatte, ihren Freunden zu sagen, was vor sich ging. Wie Madge sie aus der Küche fernhielt und ihr sagte, sie sei schmutzig, und wie sie ihre Photos aus dem Gesellschaftszimmer verschwinden ließ. Brandy und Soda waren nur zum Durchhalten dagewesen, dazu, in den Spiegel blicken zu können. Vor Jahren schon hatten sie ihre Trinkerei unterbunden, wegen dieses
Dingsbums da in ihrem Hals, Krebs, aber dafür hatten sie jetzt eine neue Bezeichnung. Die Dunkelheit war durchtränkt vom Aroma von Courvoisier, Zigarren, marinierten Walnüssen, den Geistern vergangener Genüsse. Das miese klebrige Zeugs, das Merlin ihr gebracht hatte, wäre vor wenigen Jahren noch ein Witz gewesen, sie hätte gelacht und hätte Sympathie empfunden für den Fehler des Kindes. Jetzt jedoch machte sie das Unerwartete wütend. Eine neue Toilettenpapier-Marke oder ein seltsamer Wagen draußen vor der Tür erinnerten sie daran, daß man sie nicht mehr länger zu fragen hatte. Die Lichter an den Zimmerwänden waren klein und unauffällig, unter dunkelroten, halbkreisförmigen Schirmen versteckt. Mit den Gesten einer sehr jungen Künstlerin, die sich für den Auftritt vorbereitet, überprüfte Connie ihr Makeup, ließ die Finger durch das schüttere Haar gleiten und berührte die ebene Stelle, wo ihre Haut auf den mit schwarzem Flitter besetzten Kragen ihres Kleides traf. Dann trug sie das Glas hinüber zu ihrem Publikum, dem großen, schwenkbaren Spiegel im Edward-Stil. Die Parodie auf ihre Photographie war vollständig. Nur ihre Farben, das Rot und Weiß und Schwarz, erinnerten an den Verlust ihrer Schönheit. Das Rot jedoch war das clowneske Orange zu vieler Hennabehandlungen ihres weißen Haars, das Weiß hatte den gelblichen Stich von Teig, und das Schwarz war überzogen von einem schwammartigen Grün; sie starrte auf ein Rechteck aus Abwasser, worin zerknülltes Papier trieb und worüber staubige Herbstgräser hingen. Die zerbrechlichen Knochen warteten jetzt lediglich darauf, zum Skelett zu werden, sie waren mit einer schäbigen Plane aus Haut überzogen. Mit ihren Augen war es die vergangenen Jahre schlimmer geworden, aber noch waren sie nicht kurzsichtig genug, den Schock abzumildern. Die kleinen Phrasen, die sie so lange Zeit aufgemuntert hatten – hübsche Figur, sieht viel
jünger aus, hätte sich nicht so früh zurückziehen sollen –, tönten ihr jetzt flach und unaufrichtig im Ohr. Niemals mehr wäre sie noch imstande, ihnen Glauben zu schenken. Sie stahl sich vom Spiegel weg, wollte nicht die ganze Nacht über bei diesem grotesken Bild sitzenbleiben. Als Simon drei Jahre alt gewesen war, hatte sein Lieblingsvorwurf in den Worten bestanden: Ekelhafte alte Bananenhaut. Connie brummte die Worte laut vor sich hin, eine Anrufung gegen die bösartige alte Hexe. Die Leute verstanden nicht, daß man um Jahre hinter seiner Haut leben konnte. Während sie dahinwelkte, errötete und zitterte die eigene Seele weiter. Kein Partylärm mehr, überhaupt keine Geräusche, sie wankte wieder allein durch die Nacht. Die Schwärze draußen vor dem Fenster war ebensosehr mit Ungeheuern bevölkert, wie sie’s damals als Kind empfunden hatte. Ihre hübschen Lampen drangen nicht durch die Schatten von Enttäuschung, Verlust und Verrat, die sie erfolgreich verbannt hatte, bis sie das eigene Fleisch betrog. Jemand anderer war noch wach, Simon, ihre letzte Liebe, der im Zimmer unten herumpolterte. Einen Augenblick lang hoffte Connie, er bumse dort unten eins von den Partyvögelchen. Schrecklich, wie sexlos er geworden war, nachdem dieses launische Mädchen (die Connie ziemlich gemocht hatte) gestorben war. Es war jedoch kein rhythmisches Wummern, nur das Gepolter und Geschiebe, womit die Möbel umgestellt wurden. Ein weiterer Zappelphilipp in der Nacht. Connie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie sich zum letztenmal wirklich wohlgefühlt hatte.
KAPITEL 5
Dick lag die Vergangenheit in jener Nacht über dem Haus, bedeckte die frisch gestrichenen Wände mit dem Staub einer Zeit, die durchlebt, aber nicht absorbiert war. Simon, der törichterweise zum erstenmal seit Jahren in seinem alten Kinderzimmer schlief, wurde gleich nach dem Öffnen der Tür klar, daß er keine Chance hatte; das gierige Untier seines unvollendeten Werks war dort und flüsterte Verheißungen. Ein prähistorisches Untier, Prä-Jessica, Prä-Smiles, dessen Fänge unter dem bestickten Tuch verborgen waren, eine Art Altartuch, das seine Mutter über das Modell auf dem Tisch vor seinem Bett geworfen hatte. Seitdem er zuletzt daran gearbeitet hatte, mit achtzehn Jahren, war er außerstande gewesen, es näher in Augenschein zu nehmen. Als Fundament hatte es den größeren Teil einer Hartfaserplatte, die Madge zerschnitten und sich daraufhin entschlossen hatte, sie nicht zu benutzen. Simon war zu dieser Zeit zehn Jahre alt gewesen. Schon damals hatte er alles gehortet; er hatte die Platte in sein Zimmer hinaufgezerrt und sie als Basis für Plastilinfiguren benutzt. Schlangen, Elefanten, Bäume, eine Hexe, Dinosaurier, Riesen, Soldaten, eine Meerjungfrau und einen Clown, allesamt schmutzig gesprenkelt, weil er sie jede Nacht zu einem Ball zusammengeknetet hatte. Nachdem er sie fest auf die Platte gesetzt hatte, entsprossen Beziehungen zwischen ihnen – die Meerjungfrau wandte den Kopf einem der Soldaten zu, und die Bäume wuchsen rings um die Hexe, um die anderen vor ihr abzuschirmen. Als Simon damit begann, auf der glänzenden braunen Ebene, die sich zwischen seinen Wesen erstreckte, zu
bauen, wurde die Siedlung anspruchsvoller. Im Zentrum errichtete er eine Kathedralen-Moschee, wie diejenige, die er in Cordoba gesehen hatte, mit spitzen Türmchen aus Gold- und Silberpapier und einer Kuppel aus Murmeln. Damit die Basis das Gewicht des Daches tragen konnte, mußte sie aus Bausteinen bestehen, die Rose weggeworfen hatte. Für die Türen und Fenster hatte er Papierfüllungen ausgeschnitten und sie mit Onyx-Säulen und goldenen Altären bemalt, um einen echten Innenraum vorzutäuschen. Rings um den Marktplatz standen feste, dunkle Gebäude in allen Arten, die ihn jemals beeindruckt hatten; flache, gedeckte Rechtecke mit Stufen an der Außenseite und einem Innenhof, wo in seiner Vorstellung die jüdischen Ahnen seines Vaters mit ihren gestreiften Gewändern gelebt hatten, Strohhütten, um einen Dorfanger gruppiert, ein französisches Schloß mit tütenförmigen Einwegbechern oben drauf, eine mittelalterliche Burg mit einem Graben und einer höhlenartigen Klause mit Einsiedler. Sobald er damit begonnen hatte, die Stadt zu bevölkern, interessierte sich Rose dafür. Sie entschied kategorisch, Plastilin sei zu weich, man hinterließ überall Fingerabdrücke auf den Menschen, wenn man sie bewegte, also formten sie tönerne Einwohner. Es gab Bauern mit Sensen, eine Schloßherrin, Ungeheuer, Nonnen, Kobolde, die Jungfrau von Orleans, Elton John und Julius Cäsar. Nichts war überflüssig; alle Menschen hatten Namen und Charaktere, und sie bewegten sich zu ausgeklügelten Zwecken durch die zerbröselnden Straßen. Schmale Sträßchen wanden sich wie Gräben dahin, wo sie die Plastilinunterlage fest auf die Platte gedrückt hatten. Die ganze Zeit über schwebte die Stadt am Rande des Zusammenbruchs; sie wankte und drohte wie Wachs zu schmelzen, und dieser Zustand hatte in Simon einen angenehmen Sinn für Vergänglichkeit erweckt. Es kam ihm heute so vor, als habe er mehr Zuversicht verspürt, während er
die zerbrechlichen Figuren herumgeschoben hatte, als jemals danach. Rose hatte Geschichten und Theaterstücke über die Fehde zwischen den großnasigen Aristokraten im Schloß und dem Jungen und Mädchen in einer der Hütten geschrieben. Sie versuchten stets, die Sklaven zu befreien und der Jungfrau von Orleans dabei zu helfen, dem Scheiterhaufen zu entrinnen. Rose und Simon war ziemlich froh darüber, ihre Abenteuer delegieren zu können. Ihre eigene Kindheit war städtisch, seßhaft und voller Habgier. Die Stadt beanspruchte den größten Teil ihrer Freizeit und ihres Taschengeldes, ebenso, wie jene andere Stadt ihren Vater so sehr beanspruchte, der stets über rosa und mit Zahlenkolonnen bedecktem Papier seufzte. Drei Jahre lang war sie ihr Ventil, und selbst ihre Streitereien waren aus zweiter Hand, wilde Kämpfe zwischen dem Jungen und dem Mädchen in der Hütte. Über deren Köpfe hinweg funkelten Simon und Rose einander an. Während der Schulferien wurde ihre Saga lediglich von den Forderungen des Alltags, wie Milkshakes trinken, Zungenwurst- und Salat-Sandwiches und Großmutters Weihnachtskuchen essen, unterbrochen. Simon fragte sich, ob Rose all diese Geschichten aufbewahrt hatte, und er kam zu dem Schluß, daß es ihr die Mühe wohl nicht wert gewesen war. Nachdem sie beide ihr Geplauder um zwei Uhr morgens beendet hatten, hatte sie sich ein Taxi gerufen, das sie zurück in die Gegenwart bringen sollte. Rose verstand es besser als er, sich von etwas zu lösen. Bei ihr konnte es auch kaum anders sein. Wann immer Simon glaubte, er sei beladen mit einer harten, unleugbaren Wahrheit – unglückliche Kindheit, tragischer Tod der Frau –, drehte und wand sie sich und wurde vom Abgrund seiner Aufrichtigkeit verschlungen. Die erste Stadt war jetzt nichts mehr weiter als etwas verschmiertes Plastilin in einer Ecke der Platte, aber er konnte sich jedes einzelnen Details davon erinnern, und auch,
wie er sich dabei gefühlt hatte: seines Talents und eines unverbrüchlichen Versprechens sicher. Mit dieser Stadt hatte er lediglich für all die großartigen Gebäude geübt, die er außerhalb der Stadt errichten wollte. Schon damals war Madge eine größere Bedrohung gewesen als sonst jemand. Stets mußte man ihre Wutausbrüche fürchten, ihre Enttäuschungen meiden. Der ganze Haushalt drehte sich anscheinend darum. Dann jedoch war da ihr Essen, das man zu essen hatte, ihre Bewunderung, worin man sich suhlen konnte. Später hatte er den größten Teil des Unglücklichseins für wirklich genommen, als seine Eltern Jessica gedemütigt hatten, und dann erneut, als er spürte, er würde bei der Anstrengung explodieren, das Leben in Smiles mit dem Leben in St. John’s Wood zu versöhnen. Nur dann konnte er in beiden zugleich festen Boden unter den Füßen behalten, wenn er seinen Eltern deren Blasiertheit vorwarf, deren Einstellung, daß nämlich jeder, dem’s nicht so gut ging wie ihnen, daran nur selbst schuld war, und daß jeder, dem es besser ging, ein Schwindler war. Er hatte diese unglückliche Kindheit geformt und gestaltet, dachte jetzt jedoch schmerzerfüllt, daß sie viel geborgener und leichter als die Kindheit seines Sohnes gewesen war. Eines Tages, nach einem Blick in ein Buch mit Modellen vom alten Rom, hatte er die Plastilin-Stadt zerstört. Jahre eines inneren Lebens zu einem schmutzigen Klumpen geformt und geknetet und weggeworfen. Rose hatte wütend geheult, als sie sah, was er getan hatte. »Es war auch meine Stadt!« »Sie stand in meinem Zimmer.« »Ich hab all die Leute und die Geschichten gemacht – was hast du mit den Leuten getan?« »Ich hab sie für dich in einen Schuhkarton gelegt. Von der Jungfrau von Orleans ist was abgebröckelt, tut mir leid.«
»Du hättest sie in mein Zimmer stellen können, wenn du sie nicht mehr haben wolltest. Es war schrecklich, was du getan hast. Als hättest du eine Bombe fallen lassen. Du hättest mir was sagen können.« »Sie war schrecklich kindisch, Rose, plump und matschig. Ich werde eine viel bessere machen. Sieh mal her, ist das nicht wunderschön? Du kannst alle Türen und Fenster sehen, alle Einzelheiten sind vollkommen. Du kannst mir helfen. Wenn du magst, stellen wir die gleichen Gebäude hin, nur richtig aus Holz und Kunststoff und im richtigen Maßstab.« »Sie ist langweilig. Sieht aus wie sowas in ‘nem Museum. Und sie ist leer, und was für einen Zweck hat eine Stadt ohne Menschen?« »Du kannst kleine Figuren kaufen und sie hineinstellen, auch hübsche fedrige Bäume. Am Samstag nehm ich dich zu einem Modellgeschäft mit.« »Ich will keine verdammten Federn! Ich will meine Stadt zurück, und ich will keine winzig kleinen Häuser wie die da, ich möchte etwas, wo sich die Menschen drin bewegen können!« Fest hatte sie den Schuhkarton gepackt, und er erinnerte sich überrascht an ihren leidenschaftlichen Kummer. Rose war sehr klein für ihr Alter gewesen, mit einem bleichen, gelblichen Gesicht, das sie stets vorstreckte, wenn sie etwas verstehen wollte. Als Kind war ihr Haar gleichfalls langweilig, kurze sandfarbene Locken, und der einzige Farbtupfer in ihrem Gesicht waren die grünen Flecken in den braunen Augen, die ihn so bitter angesehen hatten, und ihre Tränen hatten die eine Ecke des Schuhkartons durchweicht. Sie war so oft wütend gewesen. Ihre Kindheit bestand darin, Boshaftigkeiten auszubrüten, und sie wartete darauf, daß sie endete, um sich endlich auf eigene Füße stellen zu können.
Wie um sich jetzt an ihr zu rächen, hatte die zweite Stadt ausgesehen wie eine ziemlich wertlose Ausstellung in einem Provinzmuseum. Nett, auf Biegen und Brechen modern, keine Anachronismen und keine Überraschungen; die Vision des Mannes, der später der Welt ein unterirdisches Parkhaus in Kuwait und eine öffentliche Toilette in Aberdeen schenken sollte. Auf brutale Weise illustrierten die beiden Städte jenen Punkt, der Simon stets getroffen hatte, wenn er Kunstausstellungen von Kindern besuchen ging. Die jüngeren Altersgruppen brachten Werke voller Vitalität und Mut hervor, sie brachen freudig jegliche Gesetze der Perspektive und benutzten schreiend bunte Farben, wie Rot und Grün und Gelb. Dann, etwa mit zwölf Jahren, entdeckten die Kinder, die ›gut in Kunst waren‹, die Tyrannei des Realismus und versuchten bewußt, das zu reproduzieren, was sie rings um sich her erblickten. Wände mit artigen, stummen, akkuraten Bildern von Weinflaschen und Bananen, sehr, sehr tote Natur, getötet vom Verlangen, die Erwachsenen nachzuahmen. Das machte ihn zu einem sehr gewöhnlichen Kind mit einer Vorstellungskraft gerade groß genug für eine Hartfaserplatte. Doch an Abenden mit größerem Selbstvertrauen – nicht am heutigen Abend – spürte Simon noch immer, wie in seinem Kopf Kirchturmspitzen und Marktplätze und eklektische 21.Jahrhundert-Boulevards herumschwirrten. Er deckte das Modell wieder zu, stellte den Tisch weiter weg, hinüber zum Fenster, knipste das Licht aus und tastete sich den Weg hinüber zum Bett. Sein Körper erinnerte sich noch immer an die Anordnung der Gegenstände im Zimmer. Sein Fuß mied den Stuhl, und seine Hand stellte das Glas Wasser, das er mit sich getragen hatte, auf den Nachttisch neben dem Bett. Sein Kopf war schwer und schmerzte von einem Zwanzig-Stunden-Tag und vom genossenen Alkohol. Er würde sich gestatten, auszuschlafen.
Die Laken waren kühl und frisch, wie es die eigenen niemals waren. Er legte sich auf den Rücken und ließ sich behaglich treiben. Simon träumte, er und Christy würden sich lieben. Auf einem kahlen, unpersönlichen Flur klammerten sie sich aneinander, küßten sich, streichelten sich, leckten, saugten, umarmten sich, fickten, fingerten, verschmolzen das Innerste miteinander. Das alles war so eindringlich gewesen, daß er sich später nicht mehr daran erinnern konnte, ob das Licht gebrannt hatte oder ob sie bekleidet oder nackt gewesen waren. Er hatte sie nicht sehen müssen, um zu wissen, daß es Christy gewesen war, Christy und er, selbstvergessen glücklich auf dem Fußboden eines Traumwürfels. Er wachte auf und war schockiert, daß die Bettlaken vollgesogen waren von Sperma und Schweiß, wie es vor zwanzig Jahren manchmal gewesen war. Irgend etwas mußte da fehlerhaft sein, ein Teil seines Bewußtseins versuchte, den anderen zu maßregeln, Christy und ich halten Abstand. Er war sogar stolz auf ihre funktionierende Freundschaft gewesen. Seit Jessicas Tod war er sexuell überhaupt nicht mehr aktiv gewesen, und das war gleichfalls eine Quelle des Stolzes: wie sauber wäre das Leben, wenn er unverheiratet bliebe und sich Smiles und Merlin hingäbe. Ein weltlicher, väterlicher Priester. Jetzt lag er in einer Lache aus kaltem Verlangen und brennender Neugier. Statt zu schrumpfen und zu vergehen, war seine sexuelle Kraft in ihm gereift und hatte diese unwahrscheinliche Konstellation aufgenommen und zur Blüte gebracht. Es war eine solch alte Gewohnheit, in diesem Bett zu liegen und sich wegen sexuellem Verlangen schuldig zu fühlen. Aber er fühlte sich nicht schuldig, war lediglich überrascht und dankbar. Der Traum schwebte über ihm, während er in dem luxuriösen Badezimmer in der Wanne lag und anschließend das
großzügige Freeman-Frühstück genoß. Erfreut darüber, ihn zu dieser Stunde zu sehen, traktierte ihn Madge mit Champignons und Rührei und getoasteten Wecken, während ihr kleiner Mann um den Tisch surrte. Christy war der Traum, und der Traum war Christy. Der Duft ihre Traumhaut haftete an ihm, und ihr amüsierter Blick beobachtete seinen dekadenten Morgen. Er wurde von dem versonnenen Starren Merlins ersetzt, der nichts sagte, sondern in erstarrter Erwartung dasaß. »Kommst du mit rauf zu Großmama?« fragte Simon mit gezwungener Jovialität. »Nein. Ich mag ihr Zimmer nicht, es riecht.« Madge lächelte zufrieden. »Wir alle riechen, wenn wir so alt sind wie sie. Komm für ein paar Minuten mit rauf, und dann wollen wir in den Park gehen.« »Ich komme mit, wenn du zum Mittagessen bleibst.« Connie vermochte kaum zu glauben, daß sie das Ende ihrer Nachtwache waren. Sie standen im Türrahmen und sahen so fesch und englisch aus, und sie war froh, daß ihre Nachkommen mehr wie Nazi-Offiziere aussahen als deren Opfer; man konnte ja nie wissen, wann das alles wieder von vorn anfing. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter kurz vor dem Krieg einen Brief bekommen und gejammert hatte: »Alle sind in ein Konzentrationslager gebracht worden.« Eine der wenigen Taten Bernards, die ihre volle Zustimmung genossen hatte, war die Änderung ihres Namens von Friedstein zu Freeman gewesen. Sie hatte ihn einmal in einem Buch über alte englische Familiennamen nachgeschlagen: »Herkunft von ›Freier Mann‹. In angelsächsischen Siedlungen ein üblicher Name.« »Meine kleinen britischen Prinzen«, sagte sie und barg beider rosige Hände in den eigenen trockenen gelben Händen.
Merlins Blick schweifte umher, wie stets, wenn ihn Erwachsene so verlegen werden ließen, daß er es nicht ertragen konnte, sie anzusehen. Aber es gefiel ihm, dort neben seinem Vater zu stehen, vor ihr, denn es war, als wären sie Brüder, die Kluft des Alters zwischen ihnen schloß sich vor jemand so Uraltem. Der Gestank alter Kleider, schalen Make-ups und verschrumpelter Haut war entsetzlich. Simon mußte ihm einen Stoß geben, ehe er ihr einen Kuß geben wollte. »Ich habe mir überlegt, daß du dir eine andere Freundin suchen solltest«, sagte sie zu Simon. Sie wollte an allen wichtigen Angelegenheiten beteiligt sein, weil sie ihn vielleicht niemals mehr sähe. »Das habe ich auch schon oft gedacht.« Er lächelte, hörte jedoch aus seiner Stimme jene aufgesetzte Fröhlichkeit heraus, die er für die außergewöhnliche Offenheit eines Irren oder Betrunkenen reserviert hatte, wenn er ihnen den Wind aus den Segeln nehmen wollte. »Deine Mutter versucht, mich loszuwerden.« »Oh! Ich bin mir sicher, du irrst dich da.« »Ja. Werfen mich weg wie ein benutztes Taschentuch, genau das tun sie.« »Ich glaube wirklich nicht…« »Doch. Keine Diskussionen, dafür ist keine Zeit. Aber ich möchte, daß du es bekommst, nicht sie. Mit all ihrem Plastik und ihrem fetten gierigen Gesicht möchte ich sie aus dem Haus jagen. Bring mich zu einem Notar!« »Was – jetzt? Es ist Sonntag!« »Bernards Vetter war sehr gut. Hieß Spencer. Lebt er noch?« Simon spürte, wie sich die Kraft ihres Willens, anständig zu sterben, über all die Gerüche im Zimmer hob. Mehr konnte ein Wille nicht sein, und warum sollte man ihr nicht ihren Willen lassen? Er wollte das Haus nicht, aber er verdiente es, oder
verdiente es auch nicht, ebensosehr wie seine Eltern. Vielleicht konnte er’s dazu benutzen, Merlin zu helfen. »Also gut. Bist du dir sicher, Großmama, daß du rausgehen kannst? Wie lang ist’s her, seitdem du dieses Zimmer verlassen hast?« »Ich werde meinen Nerz tragen, und mein aufreizendes Tangokleid. Ich werde dich nicht blamieren. Du bist ein guter Junge. Aber sie wollen mich nicht rauslassen.« »Ach, komm schon, sie schließen dich nicht ein, oder?« »Wie diese Frau in Jane Eyre.« Merlin glühte vor Aufregung. Plötzlich war sie erschöpft und mußte sich setzen. »Die haben schon längst die Schlüssel verkauft. Ich habe seit fünf Jahren nicht geschlafen, und niemandem fällt’s auf.« Die beiden standen noch immer über sie gebeugt, aber sie waberten und wichen zurück, und sie wußte nicht, ob es ihre Körper bewirkt hatten oder ihr Mitgefühl. »Jack Buchanan hat gesagt, ich hätte Filme machen sollen.« Sie war sich nicht sicher, ob sie noch immer da waren. Sie hielt die Augen weiterhin geschlossen, und in den Augenwinkeln zuckte es, und sie hatte wirklich keine Ahnung, was ihre Zunge sagen wollte. »Ich mache auf jeden Fall einen Termin, Großmama, und wir werden hingehen, wenn du nicht zu erschöpft bist.« »Er hätte diese Krankenschwester heiraten sollen.« Ihr Kopf war wie ein Spielzeug, das um einen Stock herumgeschleudert wurde. Er neigte sich in den unmöglichsten Winkeln, während ihre Gedanken aus dem Schlaf in waches Durcheinander schlingerten. Merlin hielt es für bösartig, so häßlich zu sein, und er zupfte Simon am Arm, um ihn nach unten zu bringen, wo die Leute wenigstens wußten, wie man den Kopf auf dem Hals hielt. »Auf Wiedersehen, Großmama. Komme bald wieder vorbei.« Zu Merlins Ekel küßte er sie.
Sie hörte sie nicht gehen. Sie war auf dem Dach des Gargoyle während des Blitzkriegs, überall Hitlers kleine Feuerwerker, und sie wirbelte zu den Klängen von Bunny Haskins und seiner Band umher und hielt nur inne, um sich die Nase vor ihrer Perlmuttdose zu pudern. Den ganzen Weg nach unten hielt Merlin den Arm seines Vaters fest im Griff, so daß sich Simon vorkam wie unter der Überwachung eines sehr kleinen Polizisten. Und die Spinnenfrau oben in ihrem Glitterkleid spann ihre Netze, sie alle darin zu fangen: wenn das Haus das seine wäre, wäre er irgendwie festgenagelt. Also trug er jetzt Handschellen, ein nettes hinterhältiges Netz aus Gefühlen der Familie gegenüber fesselte seinen Torso, und Christys Traumhände griffen nach ihm, um ihm Herz und Hoden zu streicheln. Als sie Madge, unten an der Treppe stehend, zum Essen rief, eine große, überreife Mangofrucht, ertappte sich Simon dabei, wie er das Leben genoß. Freude und Liebe, wogegen er so lange Zeit immun gewesen war, waren jäh wieder in greifbare Nähe gerückt. Sie überfluteten das Treppenhaus mit verführerischen Farben, und ihre Energien stiegen aus allen vier Ecken seines Wesens auf und ließen ihn vor Überraschung auflachen.
KAPITEL 6
Dreißig Menschen saßen in dem alten Container, Smiles’ Versammlungsraum. Es waren mehr Frauen als Männer, und alle trugen sie Mäntel – Pelzmäntel, Armeemäntel, schwere Tweed-Mäntel, die aussahen, als sei man darin einstmals über die schottischen Hochmoore gerobbt. Eine kleine schwarze Frau mit rasiertem Kopf trug eine Decke mit drei hineingeschnittenen Löchern und umklammerte einen Einkaufswagen voller sorgfältig verknoteter Lumpen. Die Aprilnacht war kalt, so daß der Atem der Sprechenden Dampfwolken in der Luft bildete. Heiße Luft, dachte Christy traurig, erschöpfter Dampf. Sie hatte ihren Bericht bereits abgeliefert, nervös und sich wegen des eigenen Pessimismus entschuldigend; nein, die Kinder lernten ganz und gar nichts, sie wurden lediglich ein paar Stunden am Tag aus der Gefahrenzone gehalten, und sie erhielten auch keine ausgewogene Kost, gerade eben genügend, daß die meisten von ihnen keine Rachitis bekamen. Jetzt sprach gerade die Frau aus der Ansiedlung in der alten County Hall in jener distanzierten, ausgewogenen Weise, die sich alle anzueignen versuchten. Ihre Stimme zitterte, als sie berichtete, vergangene Woche sei ein Kind ertrunken, als es bei Ebbe im Schlamm spielte. Die Polizei hatte gesagt, sie sollten besser auf die Kinder aufpassen. »Dort leben jetzt dreitausend Menschen, vielleicht mehr, ich weiß es nicht. Wenn ein Zimmer frei wird, geben wir’s einer Familie. Was sollten wir sonst tun? Mehr als die Hälfte sind Kinder, und die Schulen wollen sie nicht aufnehmen, also spielen sie natürlich am Fluß. In den Gärten gibt es jetzt wegen
der Zelte keinen Platz mehr zum Spielen. Ich unterrichte so viele, wie ich nur eben kann, aber eine Menge wollen nicht zu den Stunden kommen. Sobald sie elf oder zwölf sind, verschwinden sie und gehen in ein Teenie-Camp, vergangene Woche sagte meine Tochter, sie sähe keinen Sinn darin zu bleiben.« »In einem von diesen Kinder-Camps drüben in North Kensington hat es vergangene Nacht ein Feuer gegeben«, warf jemand ein. »Ordnung, nicht unterbrechen!« sagte Sean, als sich die Frau in Tränen aufgelöst hinsetzte. »Ordnung ist ‘ne lustige Bezeichnung für das, was wir hier haben.« »Gesetz und Ordnung, das haben sie uns versprochen.« »Mit diesem Mittelklassen-Gelaber werden wir weder das noch sonstwas kriegen. Wir sollten dort draußen auf den Barrikaden stehen und Pflastersteine ausgraben!« »Wir kämpfen bereits«, sagte Christy. »Nur nicht mit Gewalt.« Der Mann mit seiner Vorliebe für Pflastersteine kicherte. Sean hatte die ruhige Autorität eines Menschen, der mehr Zeit in Versammlungen verbrachte als für sich selbst. »Ich sagte Ordnung, nicht weil es da draußen welche gibt, sondern weil wir verhungerten, wenn wir hier drinnen nicht welche hätten. Wer ist der nächste?« Ein wahrer Schrank von einem Mann, schon etwas älter, stand auf. Christy, die ihn noch nie zuvor gesehen hatte, war überrascht von seiner Beredsamkeit, obwohl sein Mund aussah wie eine zerquetschte Pflaume. »Jim Stearne, vom ehemaligen St. John’s Hospital, in der Nähe von Clapham Junction. Und falls ihr euch das fragt – ich bin kein Arzt, sondern genauso ein Rausgeworfener wie ihr alle, nur daß ein paar von uns reden können und ein paar nicht
reden können. Ehe ich euch jetzt meinen Bericht abliefere, möchte ich etwas anderes sagen: Ich bin zum allererstenmal hier, und es macht mir nichts aus, euch zu sagen, daß ich so meine Zweifel hatte zu kommen. Reden ist gut und schön, und ich erledige mehr als meinen Anteil dabei, aber meiner Ansicht nach sind Diskussionsrunden nicht das, was wir gegenwärtig brauchen. Ich war Mitglied der alten Seefahrer-Gewerkschaft, ehe sie für illegal erklärt wurde, ebenso der Druckergewerkschaft, bevor die gleichfalls für illegal erklärt wurde, und wenn ich für jede Versammlung, wo ich dran teilgenommen hab, ‘n Hot Dog fressen würd, wär ich noch fetter, als ich sowieso schon bin. Sei’s, wie es sei, ich bin heute abend nicht gekommen, um euch fertigzumachen, und weil ich gerade die Gelegenheit habe, möchte ich euch sagen, wie sehr mir das gefällt, was ihr tut. Es ist nicht einfach, und es ist nicht dankbar, aber es dient uns allen, wenn wir einen Ort haben, wo wir hingehen und andere treffen können, die wie wir selbst am Boden zerstört sind, und zwar aufgrund politischer Entscheidung jenseits unseres Einflusses und auch jenseits des Einflusses von denen da, wenn ihr mich fragt. Es hat mich, Brüder und Schwestern, bestärkt, euch heute abend hier zu hören, und Mut ist etwas, das ich in diesen dunklen Zeiten nicht eben häufig habe.« Seine Zuhörer hatten sich vor Ungeduld gewunden. Sie alle waren müde, ihnen war kalt, und sie wollten heimgehen; auf dieser Versammlung immer weiter zu reden, war das schlimmstmögliche Verbrechen. Aber seine gewandte dröhnende Stimme beruhigte sie; es war wie bei einem Pianisten, von dem man wußte, er schlüge keinen falschen Ton an. »Um von vorne zu beginnen, die Dinge da, wo ich herkomme, standen schlecht, und sie waren rasch von schlechter zu noch schlechter geworden. Am Anfang – vor
etlichen Jahren, jetzt – waren da nichts weiter als Stacheldraht und Wachhunde. Das Konzentrationslager, wie man’s dort nannte. Nun dauerte es nicht lange, bis diejenigen ohne Zuhause sahen, daß es hinter all dem Stacheldraht ein gutes Zuhause gab, das nach Bewohnern förmlich schrie. Also zerschnitten wir den Stacheldraht und versorgten die Hunde mit Arsen – vernünftig, nicht brutal. Aber ich will verflucht sein, wenn ich einsehen sollte, warum Hunde in Luxus leben sollten, wo es Leute gab, die bei Regen und Schnee im Freien schliefen. Sobald wir einmal drin waren, blieben wir drin. Meine Erfahrung hat mir gezeigt, daß einem, sobald man das Gesetz einmal gebrochen hat, und öfter als nur einmal, das Gesetz piepegal wird. Und was will das Gesetz auch mit ‘nem verfluchten großen leerstehenden Krankenhaus? Also blieben wir da, und es war auch ganz angenehm, Abteilungen voller Betten und sauberem Bettzeug, frisch wie an dem Tag, als das nationale Gesundheitssystem endgültig den Bach hinunter ging. Da waren Küchen, groß wie Kathedralen, und Klos, wie für den König zum Scheißen gemacht, wenn ihr den Ausdruck entschuldigen wollt. Ich hab gesagt, das Gesetz war uns schnurz, aber das war, ehe wir Gas und Elektrizität in Schwung gesetzt hatten. Hat man ein paar hundert Leute und Gott weiß wie viele Kinder an einem Ort versammelt, ist das ‘n ziemlicher Mist, wenn alles unplombiert und unverbunden ist. Also haben wir uns selbst drangesetzt, wir haben’s gut gemacht und uns ruhig verhalten. Bis zu jenem Augenblick, da die Lichter angingen und das heiße und kalte Wasser floß, hätte man glauben können, wir existierten gar nicht. Dann sind auf einmal überall Burschen in Overalls rumgeschwärmt und haben alles abgedreht und irgendwas von Vorsichtsmaßnahmen erzählt. Also gut, haben wir gesagt, wir zahlen wie alle anderen auch. Ihr seid ‘ne Bande von Nassauern und Saufköppen, haben die gesagt, wie
wollt ihr denn zahlen? Das laßt unsere Sorge sein, haben wir gesagt, ihr sorgt für den Service und überlaßt uns die Rechnungen. Das Ende vom Lied war, wir blieben in dem Gebäude, aber die schnitten uns von allem Komfort ab, und über die letzten beiden Jahre ist es schrecklich verkommen. Gestank, Feuchtigkeit, undichte Dächer überall, zerbrochene Fensterscheiben, alte Kerle, die mitten in der Nacht wegen der Kälte abkratzen. Die Zonkies sickern jetzt bei uns ein, unten, und wir können sie nicht davon abhalten. Jede Nacht Schlägereien. Ich wüßte nicht, wo man mit ‘m Saubermachen anfangen sollte, und was Reparaturen betrifft, so müßte man das Ding im Grunde neu aufbauen. Meine Frau is im März gestorben, nur sechsundvierzig war sie. Sie hat schon immer Bronchitis gehabt, aber das hätte sie nicht umgebracht, wenn wir irgendwo im Warmen und Trockenen gewesen wären. Die ganze Zeit über, während ich sie gepflegt hab, hab ich gedacht, ich kann mir nich helfen, aber die Hurensöhne in Westminster bringen sie ebenso sicher um, als würden sie sie direkt mit ‘ner Axt verfolgen. Also, es is nich gerad das Hilton, da, wo wir wohnen. Issen Schweinestall, aber wir haben ‘n Dach überm Kopf, und wie ihr alle hier heute abend zugeben werdet, in einer arschkalten, verdammten, schlammigen Nacht, da ist das ein gewaltiger Unterschied. Als ich noch im Druckereigewerbe angestellt gewesen bin, da bin ich jeden Morgen über die Charing Cross Bridge gegangen, etwa fünfzehn Jahre lang. Ich hab diese armen Schlucker da mit ihren Pappkarton-Schachteln gesehen, und die verzweifelten Augen, damals hat’s noch nich so viele davon gegeben wie heutzutage, aber es war’n niemals weniger als ‘n paar hundert da. Und ich hab mir immer so gedacht, das muß verdammt furchtbar sein, so wie die da draußen zu schlafen. Ich hab mich gefragt, warum besorgen die sich nich
‘ne Arbeit, waren junge Kerls drunter, alles wär besser als das, was sie haben. Schrecklich, was Schnaps und Drogen mit den Leuten anstellen.« »Ich fürchte, ich muß dich hier unterbrechen«, sagte Sean. »Laß ihn weitermachen!« sagte Christy scharf. Jim blickte sich in der Gruppe um und sah die meisten Augen mit Mitgefühl auf sich gerichtet. »Heute wünsch ich mir, ich hätt sie mir was genauer angeguckt. Ich wünsch mir, ich hätt sie studiert, hätte herausgefunden, wie man menschlich, ganz zu schweigen von anständig, bleiben kann, wenn man in ‘nem Pappkarton von Brot und Tee lebt. Und ich sag euch, warum, weil ich nämlich zu denen stoßen werd. Am Montagmorgen hat uns ‘n fesch aussehender Kerl besucht und uns mitgeteilt, daß unsere Gegenwart nicht mehr länger erwünscht ist, nicht, daß sie’s je gewesen wär. Hat uns ‘nen amtlichen Schrieb gegeben, überall mit Unterschriften und Siegel, das uns darüber informiert hat, daß das Unternehmen Freiheit – schöner Name, nich? – unser Grundstück übernimmt und daß nächste Woche die Bulldozer kommen. Also werden ich und einige Hundert weitere in Pappkartons investieren. Einige von uns saufen, wenn sie an was rankommen, einige von uns nicht. Aber red mal in einem Jahr mit mir, und dann kommen mir vielleicht Neuropepsi und Drogen aus den Ohren. Ich bin nich jemand, der rasch verzweifelt, und ich bin auch keiner von euch Revoluzzern. Aber es is meine Meinung, daß eine Minderheit der Mehrheit der Menschen in diesem Land ihre Rechte klaut – und wenn die Mehrheit, und das sind wir, nicht ihren Arsch hochkriegt und aufpaßt, werden wir’s alle verpennen. Es geht nicht nur um die Annehmlichkeiten, obwohl Unannehmlichkeiten dem Gehirn schreckliche Dinge antun. Nehmt mich, vor sieben Jahren hatte ich ein billiges kleines
Häuschen unten in der Fulham Palace Road, mit einer guten Arbeit, und ich hab für die Rente geklebt, hab ich geglaubt. Dann haben sie sich rangemacht und die MietpreisBeschränkung aufgehoben, und ehe wir uns recht umgesehen haben, haben wir bei unserem Sohn und unserer Schwiegertochter gewohnt und was anderes gesucht. Nun, es gibt nichts anderes, es sei denn, man kauft es, und wer wird mir mit Neunundfünfzig noch so ‘ne verdammte hohe Hypothek geben? Wie aus heiterm Himmel bin ich alt und arm, und meine Frau is krank. Aber sie kann nich ins Krankenhaus, weil wir keine Britcard haben, dreißig Jahre haben wir geklebt, aber das zählt nich. Also ist es immer schlimmer mit ihr geworden, und Dave und Annie hatten von uns die Schnauze voll, was ich ihnen nich übelnehmen kann. Von Morgen zu Morgen fällt das Aufstehen schwerer, oder das Heimkommen, aber ich geh weiter zur Arbeit, weil das alles is, was da is, und es is nur noch ein Jahr hin, bis ich Rente kriege. Dann kommt das Gerücht auf, der KGB würde die Druckergewerkschaft infiltrieren, sie haben irgendein neues Gesetz auf uns angewendet, und wir haben auf der Straße gesessen und haben um zwanzig Mäuse die Woche verhandelt. Verhandelt, wohlgemerkt, weil wir als kommunistische Agitatoren unsere Ansprüche an die Rentenkasse verloren haben. Die Menschenrechte verlieren, darauf läuft’s am Ende hinaus, wenn man kein Eigentum und keine Arbeit hat. Zwei Jahre. So lang braucht’s, bis man nich mehr im Auto rumfährt und mal zum Essen ausgeht, sondern in Abfalleimern rumstochert. Stimmt. Ich hab mich vorgestellt, und ich darf wohl sagen, ich hab’s ein bißchen übertrieben. Ich werd mich jetzt hinsetzen, aber ich werd zurückkommen, und ich bedanke mich für eure Aufmerksamkeit.« Christy spürte das Elend in dem langen Schweigen, das auf Johns Rede folgte. Man traf sich einmal im Monat und redete,
genoß es in gewisser Hinsicht, obgleich man genau wußte, daß sich beim nächsten Treffen nichts geändert hatte, außer daß es mehr von seinesgleichen gab. Nach und nach gingen die Leute nach Hause. Die Teezeit war vorüber, und es regnete; die meisten hatten einen langen Fußmarsch vor sich, und an dessen Ende lag kein warmer oder trockener Ort zum Schlafen. Christy und Sean waren allein im Container zurückgeblieben und saßen sich in dem leeren Kreis von Metall- und Segeltuchstühlen gegenüber. Sie beobachtete ihn, wie er das Protokoll abschloß, und sie wußte, er hielte so lange wie möglich die Augen auf die Seite gerichtet, wiche ihrem Blick aus. Was jetzt zwischen ihnen vorging, war eher eine Sache des Verbergens der Gedanken, nicht des Austauschs. Sie wünschte sich, er wäre nicht so mager und ausgemergelt unter seinem Pullover und den Jeans. Mit dem kleinen Gesicht mit der weichen Haut, das zerfurcht war vor Angst, und seiner grau werdenden Mähne wirkte er eher wie eine alte Frau. Wir werden noch immer hier sein, wenn wir beide alte Frauen sind, dachte sie ärgerlich. Christy gähnte. »Willst du’s für den Prodigal Bum schreiben, oder soll ich’s tun?« »Ich werd’s tun.« Sean stellte sich stets als Freiwilliger für Aufgaben zur Verfügung und tat dann so, als habe er sich geopfert. »Es ist wirklich nicht viel zu sagen. Hast du den Cartoon in der letzten Ausgabe gesehen?« »Den über Neuropepsi?« »Ju. Meinst du, er stimmt?« »Vielleicht. Ich rühr das Zeugs nicht an, ich möchte es nicht in der Spielgruppe haben. Aber die Kinder kriegen’s die ganze Zeit über zu Hause. Gott, bin ich müde! Aber es hat keinen Zweck, jetzt in dem Regen nach Hause zu wetzen. Wenn ich jetzt naß werde, werd ich die ganze Nacht nicht wieder
trocken. Der Regen kommt schon wieder unter meiner Tür durch.« »Kommt auch durch meine Fenster. Nassester Mai seit 1837.« »Na ja, so lang es historisch bedeutsam ist.« »Schade, daß dieser Kerl die Versammlung so dominiert hat.« »Jim Stearne? Ich fand ihn wunderbar. Ich hoffe, er kommt wieder. Ich wünschte mir, die Leute täten das öfter, einfach aufstehen und über ihre eigenen Erfahrungen und Gefühle reden, statt so zu tun, als seien wir Bürokraten, die irgend jemanden vertreten.« »Aber wir sind Delegierte.« »Und delegieren was für wen? Das ist ein Zerrbild des alten Systems: ‘s ist traurig genug, wie wir an Anträgen und Tagesordnungen und Protokollen kleben.« »Jetzt zieh nicht schon wieder über mein armes altes Protokollheft her!« Es stimmte, sie ärgerte sich über das zerfledderte Protokollheft, als wäre es ein Mandarin in einem makellosen Gewand, der sie mit einem roten Faden strangulierte. Sie stand auf und setzte sich neben Sean, so daß sie mitlesen konnte, was er mit seiner kleinen, einem Mandarin nicht unähnlichen Handschrift niederschrieb. »Das ist genau das, was ich meine. Du hast das Leben dieses Mannes auf einen Satz reduziert: ‘Der Delegierte vom St. John’s Hospital in Clapham hat sich unendlich lang vorgestellt.« »Na ja, er hat endlos geredet.« »Und zehn Minuten lang hab ich vergessen, daß ich hier gewesen bin.« »Wir kommen nicht hierher, um uns in die Unterhaltung zu flüchten, Christy.«
»Warum nicht, um Gottes willen? Ist die einzige Abwechslung, die ich bekomme.« Sean sah zu ihr auf und lächelte. »Bet gibt heute Abend eine Party im Waschhaus. Sie sagt, sie geht wieder, wird bei ihrer Schwester in Sunderland leben, vielleicht wird sie’s tun. Würde dich das etwas aufheitern?« Selbstgebrannter Schnaps, Tanzen im Schlamm, Pärchen, die einander vor korrodierten Eisenwänden befummelten, Bets vierzig Jahre altes Gesicht, zahnlos und eingefallen. Sean und Christy hatten für Stimmung zu sorgen und Schlägereien vorzubeugen… »Nein, ich werde nach Hause gehen. Ich denke daran, bald meine Mutter zu besuchen. Wirst du eine oder zwei Wochen nach den Kindern sehen, während ich weg bin?« »Wenn’s sein muß, obwohl, ich sollte die Geschäfte und die Verwaltung nicht so lang im Stich lassen. Kann Simon nicht allein damit zurechtkommen?« »Ist zuviel für eine Person, und er ist Freiwilliger.« Sie verschlossen die Tür, obgleich fast jede Nacht im Container eingebrochen und dort geschlafen wurde, und wappneten sich gegen die Kälte; Kragen hoch, Köpfe gesenkt, Hände in den Taschen vergraben, während sie mit bleischweren Füßen durch den knöcheltiefen Matsch stapften. Noch ein paar Wochen Regen, überlegte Christy, und der Matsch wird tief genug sein, darin zu ertrinken, wie in Passchendaele, dann werden wir alle in Zelten oder Baracken leben. Geräusche hoben sich über das Geprassel des Regens und dem unter ihren Fußstapfen quietschenden Matsch. Ein Kind heulte, eine Frau kreischte, und ein Mann stieß einen Schwall Obszönitäten aus. Als sie ihre Wohnwagen erreichten, die mit einer Zeltplane verbunden waren, gaben sie einander in der Dunkelheit die kalten Hände, ehe sie sich ihren leckenden Schutzhütten
zuwandten. Es kam jetzt nur noch selten vor, daß sie des Nachts zu einem von ihnen gingen, sie hatten nur noch so wenig zu bereden, und es war einsamer, wenn auch wärmer, schweigend beieinander zu liegen. Christy zündete ihren Ölofen an, zog sich die nassen Sachen aus, legte sie auf einen Stuhl neben die übelriechenden flackernden blauen Flammen und schlüpfte rasch in den viel zu großen Pullover und die dicken Socken, in denen sie schlief. Sie wußte, es war gefährlich, den Ofen brennen zu lassen, während sie in einem geschlossenen Raum lag; jede Woche brach in Smiles ein Feuer aus. Die Dämpfe würden ihr Kopfschmerzen verursachen – aber die Schuhe mußten beim Erwachen trocken sein, selbst wenn sie nur für ein paar Minuten trocken blieben. Sie putzte sich mit ein wenig Wasser, das sie im Kessel übriggelassen hatte, die Zähne und ging zu Bett. Es war so schmal wie ein Sarg. Ihre Füße im Schlafsack hingen über das Ende hinaus, und über ihr prasselte der Regen aufs Dach, während sich der Wohnwagen in dem See aus Schlamm wiegte. Langsam erwärmte und entspannte sich ihr Körper, sie schloß die Augen und war dankbar, daß der Tag vorüber war. Christy erlebte ein Gefühl des Wohlbehagens, die Abwesenheit von Unannehmlichkeiten, und die Gewißheit, die Nacht für sich allein zu haben. Sie legte sich auf den Rücken, die Arme an den Seiten, wie eine steinerne Plastik, und die grobe Wolle des Pullovers und der Socken kratzte wie Sackleinen. Während sie jetzt in den Schlaf fiel, zuckte Christy konvulsivisch zusammen, woraufhin sie erneut einige hundert Meter hinabstürzte. Sie sah sich selbst als Leichnam, nicht aus Marmor, sondern aus ineinander verwickelten Venen und Muskeln und zerfetzter Haut, der in ein feuchtes Grab hinabgelassen wurde. Sie lag auf einer hölzernen, aus Holzabfällen zusammengenagelten Bahre, ein schlammiges
Braun in der nassen matschigen Landschaft. Niemand sah zu, während die Seile den zerbrechlichen Sarg in den Schlamm hinabließen. Die Seile schwankten im Wind, eine Holzlatte löste sich und katapultierte den Leichnam in den kalten Schlick. Glitschiger Dreck legte sich ihr über die Augen und Ohren und die Nasenlöcher… danach traute Christy dem Schlaf nicht mehr so recht über den Weg. Sie stand auf, obgleich sie die meisten Dinge in ihrem Wohnwagen vom Bett aus hätte berühren können, und bereitete sich eine Tasse Kaffee aus dem UN-Pulver, das weder Geruch noch Geschmack an sich hatte; Kaffeepulver, Milchpulver, pulverisierte Ochsenschwanzsuppe. Während sie ihre zitternde Hand dabei beobachtete, wie sie das Wasser aus dem Kessel eingoß, fragte sie sich, warum das Bild sie so schockiert hatte. Sie und Sean hatten sich oftmals über pompöse Hochzeits- und Beerdigungszeremonien lustig gemacht. Weil weder Mann noch Frau noch Kind zugesehen hatten. Christy kniete neben dem Ofen, mit dem Gesicht auf dem Bett, und sie schluchzte vor Einsamkeit. Nicht zu laut, weil Sean sie ansonsten hätte hören und noch hereinkommen können, und das war wirklich das letzte, was sie wollte. Mit noch immer verschwollenem und mürrischem Gesicht blickte sie auf den Streifen nackter Haut zwischen dem Pullover und den Socken. Zwei dünne, harte Linien, malvenfarben in dem wabernden Öllicht. Sie hätten ebensogut Tischbeine sein können, soviel Verbindung spürte sie zu ihnen. Sie hatte in dem Wohnwagen keinen Spiegel und hatte seit Monaten das eigene Spiegelbild nicht mehr gesehen. Christy berührte das schwarze Schamhaar, das noch immer hoffnungsvoll sproß, obgleich man hätte glauben sollen, es habe aufgegeben und fiele aus, und befühlte das taube Gummikügelchen ihrer Klitoris. Sie hatte in ihrem Körper keinerlei Lustgefühle mehr verspürt, seitdem sie sich im
vergangenen September der Schlange am Vasektomobil angeschlossen hatte. Wie die meisten anderen war sie nicht wegen des Freßkorbs hingegangen (Baked Beans, eine Dose Kekse, ein Glas Marmelade und ein Lymeswold-Käse). Sie hatte sicherstellen wollen, nicht ein weiteres ungewolltes, ungeliebtes Kind zu produzieren. Als professionelle Hüterin – Seans Ausdruck, nicht der ihre – fühlte sie sich dazu berechtigt zu wählen, wen sie hüten wollte. Und die Möglichkeit, einer ihrer halbherzigen Anfälle von Kopulationsbereitschaft könne in einem zitternden unterernährten Smiles-Baby resultieren, war unerträglich. Die Schlange war lang und ausgelassen. Die Männer witzelten von Kastration, Impotenz sowie darüber, nun Gummis sparen zu können, während sich die Frauen über ihre Schwangerschaften und Kinder beklagten und den Gedanken genossen, daß es nun vorüber war. Beatrice war dort; sie stolzierte am anderen Ende hinaus und strahlte und ging direkt zur Arbeit! Dimelza sah, wie ihre Mutter die Hüften noch zuversichtlicher als sonst wiegte, und sie fragte sich, gemeinsam mit den anderen Kindern, was in dem großen Wohnwagen vor sich ging, wo sie den Erwachsenen Geschenke gaben. »Keine weiteren blöden Kinder mehr«, hatte ihre Mutter auf die Frage geknurrt. Daraufhin glaubten die Kinder, man wolle sie mit den geisterhaften, weißbekittelten Nahrungsspendern fortschicken, und flohen über den Schlamm. Christy war froh darum, daß die Kinder gingen, denn Kinder in Dimelzas Alter waren ihre Schwäche. Sie schämte sich nicht, sie zu lieben, aber sie spürte, es wäre Verschwendung, ein eigenes Kind zu lieben, wenn es so viele andere gab, die einen brauchten. In ihrer Schlange war sie die einzige Frau, die nicht bereits wenigstens ein Kind gehabt hatte, und sie wurde immer nervöser bei den Geschichten von Fehlgeburten und
Abtreibungen und vom Ausschlafen in Winternächten mit winzigkleinen Babies. Erinnerungen, die sie niemals hätte, grausame Erinnerungen vielleicht, aber Christy spürte, wie sich ihre Erfahrungen nun auf die weiße, undurchsichtige Tür verengten. Sie hatte Sean nicht gesagt, daß sie es sich ›machen‹ ließe, ein Wort, wie sie sich erinnerte, das ihre Mutter vor Jahren benutzt hatte, als sie ihre Katze zum Tierarzt gebracht hatte. Sterilisierung war ein häßliches Konzept, das Euphemismen und Ausflüchte benötigte – wie dem auch sei, Sean und sie waren übereingekommen, sie wollten keine Kinder. Gerade bevor sie an der Reihe war, ging die Frau vor ihr abrupt davon. Christy erinnerte sich an bittere Scherze bei den Delegiertenversammlungen über Gaskammern und durchlebte einen Augenblick der Panik, ehe sie die Tür öffnete. Dahinter war, natürlich, ein neutraler weißer freundlicher Ort, tadellos sauber und schmerzfrei. Machen. Reißen ihr mit sympathischen Gesichtern das Leben heraus und überreichten ihr ein Blättchen, Notwendigkeiten einsehen. Es brüstete sich damit, die Regierung habe drei Jahre hintereinander ihr Bevölkerungsziel erreicht. ›Unser Inselkuchen ist groß genug für alle, so lange es nicht zu viele von uns gibt‹, begann es. Christy zerknüllte es, warf es in den Dreck und stolperte weinend über die Fahrrinnen, den Müll und den Schutt, die ihr Stückchen vom Kuchen erstarren ließen. Sie hatte den Kindern einen Vormittag frei gegeben, weil sie ihnen nicht ins Gesicht sehen konnte, also ging sie direkt zu ihrem Wohnwagen und starrte traurig auf den Freßkorb. »Ich hoffe, es hat nicht weh getan?« fragte Sean, als er sie dort fand. »Nicht körperlich.« Er setzte sich neben sie auf das Bett und hielt ihr entschuldigend die Hand. »Meiner Ansicht nach hast du völlig richtig gehandelt.«
»Warum hast du’s dann nicht getan?« »Hatte heute morgen zuviel zu tun. Ich geh das nächste Mal, wenn sie kommen.« Sie funkelte ihn an, und der Gedanke machte sie fuchtig, er könne ein Kind zeugen, bis er senil wäre. An einem besseren Ort und zu einer besseren Zeit mit… »Oh, sie werden zurückkehren. Sie können doch nicht zulassen, daß sich so ‘n Abschaum wie wir vermehrt.« »Du bist viel zu wertvoll, um in einem Morast aus Babies zu verschwinden.« »Das wären deine Babies gewesen, Sean.« »Ja, doch sieh mal, wie sie die Frauen aussaugen! Sieh Ellen an! Bis zur Geburt des Kindes war sie aktiv wie wir alle, fuhr Versorgungslaster und reparierte Dächer und koordinierte alle Lager in Süd-London – eine wirklich praktische Frau. Jetzt sitzt sie nur mit diesem schreienden Kind herum, und sie kann noch nicht mal die Löcher im eigenen Zelt reparieren.« »Der Kleine ist immerzu krank, darum schreit er, ihm ist immerzu kalt, er ist immerzu hungrig, und sie auch, schätze ich.« »Wie dem auch sei, du willst doch nicht so sein, oder?« »Nein. Darum hab ich’s getan.« Sean bezweifelte niemals, daß eine rational bewiesene Sache eine bewiesene Sache war. Christy war, wie er bewundernd beobachtet hatte, einer rationalen Argumentation fähig. Insgeheim jedoch hatte sie die rationale Argumentation oftmals verabscheut. So war’s mit dem Verlust ihrer Fruchtbarkeit; sie nahm ihn hin, aber eine jede Nacht, acht Monate lang, hatte sie darum getrauert. Sie hatte die Berührung zum Körper verloren und zu irgendeinem inneren Garten, wo ein Eimer Unkrautvertilger, lächelnd ausgeschüttet, dreißig Jahre des Wachstums vernichtet hatte. Sie arbeitete
hart, wurde dünner und fürchtete sich vor dem Alleinsein des Nachts. Diese Nacht jetzt war besonders lang. Die dicke schwermütige Atmosphäre war wie der Druck eines öligen Fingers hinter den Augen und Nasenlöchern. Sie schaltete den Ofen ab, kroch zurück ins Bett, unter einen Haufen Decken, und wartete darauf, daß die Kälte sie traf. Wenn sie jetzt nicht einschliefe, spürte sie, wie die klamme Aprilnacht durch die fadenscheinigen Wände in sie einsickerte, hörte sie den Regen, wie er traurig in den Eimer im Waschbecken tröpfelte, hörte den verschwommenen Lärm des Verkehrs von der Autobahn und das Kreischen und Rufen der Menschen, die von einem nächtlichen Ausgang zurückkehrten. Aber wenn sie nicht schliefe, wäre sie außerstande, morgen zu arbeiten, zumindest nicht ohne unkontrollierte Wutausbrüche. Manchmal war’s eine Erleichterung, sich von ihrem Spleen überwältigen zu lassen, aber der Preis, den sie dafür zu zahlen hatte, war zu hoch; ihre eigenen Schuldgefühle, die Enttäuschung der Kinder, Simons furchtbare Toleranz. Nun, er und Sean könnten einander einige Wochen lang tolerieren und sehen, wie ihnen das gefiele. Ich bin schlecht drauf, sagte sie sich und versuchte, im Kopf eine Liste aufzustellen: Kann nicht schlafen Kann mich nicht konzentrieren Kann mich nicht entspannen Kann die Kinder oder sonstwen nicht lieben Kann meine Kopfschmerzen nicht loswerden Ich brauche… Ich bin mir nicht wirklich sicher, aber meine Mutter wird helfen. Das tut sie immer.
KAPITEL 7
Rachel goß Ziegenmilch über ihren Porridge und aß ihn neben dem Feuer, das sie gerade entzündet hatte. Ihre morgendlichen Rituale füllten zumindest die ersten beiden Stunden des Tages. Es behagte ihr, wie die Zeit langsam und stetig verstrich, allein so vermochte sie ihre Einsamkeit zu adeln. Rachel wußte um ihre Gabe, ihren Lebensstil vor sich selbst zu rechtfertigen, gleich, welchen Lebensstil sie führte, denn sie war hier ebenso glücklich gewesen, als das Haus noch eine FischfarmKooperative gewesen war, und, vor langer Zeit, als Martin und Christy sie noch umgaben. Ihr charakteristischster Zug war eine beharrliche Weigerung, sich zu beklagen oder bitter zu werden, und sie wußte, warum ebendies die Menschen zugrunde richtete. Rachel sammelte die sechs Eier ihrer Hennen ein, erntete ein wenig Salbei, Petersilie, Karotten und Kartoffeln für ihre Mittagssuppe und ging zum Forellenteich. Die letzte Forelle war schon vor Jahren eingegangen, sie war, aufgedunsen von einer schrecklichen Fischkrankheit, an die Oberfläche getrieben. Sie hatten zuviel gefüttert, oder zu wenig oder das falsche Zeug, keiner von ihnen verstand wirklich, was schiefgelaufen war, und da die Fischkooperative einige Monate vor dem Tod des Fischs auseinandergebrochen war, waren die Leute nach und nach zur Küste abgewandert. Sie waren alle jünger als sie gewesen, Pärchen; sie hatte beobachtet, wie sicher sich die anderen ihres jeweiligen Partners gefühlt hatten, während sie zusammenlebten und – arbeiteten. In gewisser Hinsicht war es leichter, sie nicht mehr beobachten zu müssen oder die Kinder dort spielen zu hören, wo Christy gewöhnlich
gespielt hatte. Rachel wünschte sich, sie hätte mehr Freundschaften geschlossen, aber jetzt war’s zu spät, jetzt hatte sie kein Transportmittel oder Geld, und es ermüdete sie, mehr als einige wenige Meilen zu Fuß zu gehen. Die Leute konnten zu ihr kommen, aber das taten sie nicht. Die Atmosphäre um das isoliert stehende, schäbige Gebäude war nicht düster, sondern freundlich. Christy fing sie sogleich auf, als sie in Sichtweite des Hauses kam, das hingeduckt auf seinem Hügelchen lag und auf das Dartmoor-Wetter wartete, von dem es gepeinigt wurde. Rachel hatte den Laster über den Weg rumpeln hören; in der Stille hatte sie sogar vernommen, wie der Motor abgestellt wurde und die Tür zuschlug. Sie hatte angenommen, er würde Vorräte zu einer abgelegenen Farm bringen. Als sie ihre Tochter auf sich zumarschieren sah, versteckt unter einem Hut und bauschiger Kleidung, aber unmißverständlich als Christy erkennbar an ihrem eckigen Gang und der schnauzenähnlichen Nase, da hatte ihre Mutter einen Freudenschrei ausgestoßen und war auf sie zugelaufen. So rasch sie nur konnten, liefen beide über die Furchen und Löcher, die noch vor einem Monat von Schnee bedeckt gewesen waren. Sie trafen sich, umarmten einander und starrten sich voller Erstaunen an. Die Überraschung für Christy bestand darin, daß sich ihre Mutter niemals veränderte, und für Rachel darin, daß es sich bei ihrer Tochter um so viele Menschen hätte handeln können. Jetzt wirkte sie müde und blaß. »Hast du mir geschrieben, daß du kommst? Heutzutage tragen sie nicht mehr oft Post aus.« »Nein. Ich habe mich erst vorgestern abend zum Kommen entschlossen. Ich habe mich gestern nachmittag auf den Weg gemacht – eine ziemlich reibungslose Fahrt, wirklich.« »Du bist den ganzen Weg per Anhalter gekommen?«
»O Rachel! Du bist selbst per Anhalter gefahren. Du bist meine Mutter, und nur deshalb hast du das Gefühl, so etwas mißbilligen zu müssen.« »Scheinheiligkeit gehört zum Kinder-Haben. Das wirst du noch herausfinden.« »Werde ich nicht. Es ist so sauber hier oben, selbst der Schlamm sieht nicht so dreckig aus wie unser Schlamm.« »Rein und leer. Du wirst dabei helfen, ihn zu füllen. Bist du auf dem Weg irgendwohin?« »Ich wollte dich einfach sehen. Kannst du mich für ein paar Wochen ertragen?« »Ich glaube schon. Wenn du eine Diät aus Eiern und Karotten ertragen kannst.« Ihre Worte waren leicht und rasch im frühmorgendlichen Sonnenschein, sie hielten die Arme fest umeinander geschlungen, während sie weitergingen, warm und energiegeladen, beide spürten, um wie vieles es leichter war, füreinander da zu sein. Zwei große starke Frauen, eine mit verwuseltem dunklen Haar, und die andere mit einem straffen grauen Knoten, der ihr die Gesichtshaut nach hinten zog. Sie gingen durch die Hintertür in die Küche, hungrig nach einem Gespräch. Während Rachel Tee und Toast zubereitete, schaute sie sich ständig um, nur um sicherzugehen, daß Christy noch immer vorhanden war, und die grünlich-braunen Augen der Tochter folgten allen geschickten Bewegungen der Mutter. Der Ofen mit Holzbefeuerung war vor einer Stunde entzündet worden und hatte den kleinen Raum mit der niedrigen Decke erwärmt. Das Mobiliar bestand einzig in dem hölzernen Tisch, woran sie saßen, einem großen Küchenschrank und einer durchgesessenen Couch, angekratzt und besabbert von seit langer Zeit toten Katzen und Hunden. Schwere Decken hingen über der Tür und dem Fenster, um Zugluft abzuhalten, so daß selbst am Morgen die Luft im Zimmer muffig und nächtlich
war. Christy zog Schuhe und Socken aus und legte sie auf den Ofen. »Manchmal glaube ich, alles hat sich gegen mich verschworen, so daß meine Füße immerzu naß bleiben.« »Ich erinnere mich, daß in Greenham nichts jemals richtig trocken wurde. Gummistiefel mit dicken Socken sind die einzige Antwort. Ich werde dir welche kaufen. Und jetzt lebst du also in einem Zelt.« »Wohnwagen. Warum kommst du mich niemals besuchen?« »Ich halt’s in London nicht mehr aus. Dieser ganze Verfall und diese Armut – mir bricht es das Herz, und ich fühle mich schuldig, weil ich nichts dagegen unternehme. Abgesehen davon, wie könnte ich hinkommen? Meine Rente reicht knapp, die Raten zu bezahlen und Holz zu kaufen.« »Komm per Anhalter, wie ich. Dann kann ich mir Sorgen um dich machen.« Rachel entschloß sich, ein wenig an der Oberfläche jener Krise zu kratzen, die sie im Leben ihrer Tochter spürte. »Wirst du in Smiles bleiben?« »Ich glaube, ja. Ich kann nirgendwo sonst hin, und ich weiß auch nicht, wie ich fortgehen könnte. Es ist kein gewöhnlicher Job, es ist mehr so, als hätte ich ein paar Dutzend Kinder adoptiert.« »Bezahlen sie dich dafür?« »Ich habe freies Wohnen – ein löcheriger Wohnwagen – und Essens- und Kleidermarken. Ich spare ein paar davon. Ich weiß nicht, wofür. Du hast dafür gesorgt, daß ich mir das Sparen angewöhnt habe. Ich schätz mal, Sean und ich sind die reichsten Leute dort.« »Wie ist er so?« Christy war vor drei Jahren einmal mit ihm hier aufgetaucht, und Rachel erinnerte sich an einen trockenen, puritanischen Mann, in jeder Hinsicht kleiner als ihre Tochter.
»Er ist schon in Ordnung. Er und Simon kümmern sich während meiner Abwesenheit um die Spielgruppe.« »Wer ist Simon?« »Er ist ein erstaunlicher Bursche. Du würdest ihn mögen. Er ist jetzt seit zwei Jahren Freiwilliger, er hilft mir bei den Kindern – ich könnte ohne ihn nicht zurechtkommen. Er ist sehr traurig und tut geheimnisvoll mit seinem Leben. Ich glaube, er ist verheiratet, spricht jedoch niemals über seine Frau, und er hat einen Sohn, der nicht bei ihm lebt, und er war mal Architekt. Mehr weiß ich über ihn nicht, wirklich. Das Wundervolle ist, er taucht immer auf, und er wird niemals ungeduldig. Anders als ich. Sean kann ihn nicht ausstehen.« Ihre Augen waren so grün und durchscheinend wie zwei ovale Glasstücke, die von der See gewaschen waren, bemerkte Rachel, und ihre Wangen glühten vor Wärme und Interesse. Christy mußte sich immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen, daß es ringsumher Zeit und Platz gab. Sie kam sich vor wie ein räudiges Tier, das aus einem dunklen Käfig in einem sonnendurchfluteten Wald freigelassen worden war. Nach dem Essen gingen sie spazieren, direkt hinauf ins Moor, wo es lediglich sandfarbene Ponies, Schafe und wilde Blumen zu sehen gab. Für Christys städtischen Blick war nicht so sehr die Schönheit der Landschaft spektakulär, sondern die Leere, das Fehlen von Menschen, Schmutz und Lärm. Sie hatte die Zeit zwischen ihrem zehnten und achtzehnten Lebensjahr hier verbracht und sich dabei zumeist gewünscht, an einem weniger unbequemen Ort zu leben. Jetzt jedoch vermochte sie die Großartigkeit ihrer Mutter zu sehen, die wie ein großer Vogel über all dieser grünen Zartheit schwebte. Nachdem sie ins Haus zurückgekehrt waren, setzte sich Christy ans Fenster ihres Schlafzimmers und starrte hinaus, während ihre Mutter unten las. Stunden ohne auf die Uhr zu sehen oder diese angstvolle Spannung im Herzen zu spüren,
weil sie eigentlich etwas anderes zu tun hatte. Nach Einbruch der Dunkelheit würden sie wieder miteinander plaudern, und dann gäbe es Milch und Honig in einem geräumigen Bett nebst dem außerordentlichen Vergnügen ungestörten Schlafs und eines Aufwachens in der Stille. Ich möchte wie sie sein, wenn ich alt bin, dachte Christy, aber bis dahin sind’s noch dreißig Jahre voller Turbulenzen und Häßlichkeit. Beim Gedanken daran, daß ihre Mutter tot wäre, wenn sie selbst so alt war, umklammerte sie die Furcht. Und wer würde sie dann liebhaben? Nach dem Abendessen sanken sie auf das zerfetzte Sofa mit den zerbrochenen Sprungfedern. »Ein so gemütlicher Raum«, murmelte Christy, schläfrig vom Gewicht des selbstgemachten Brots und Pfirsichlikörs. »Im Winter lebe ich die ganze Zeit über hier. Ich bin gerade erst in mein Schlafzimmer zurückgezogen. Der Schnee hat mich von Januar bis vor wenigen Wochen abgeschnitten – zu Ostern habe ich Stühle verbrannt.« »Und du hast die ganze Zeit über niemanden gesehen?« »Niemand hätte ohne einen Schneepflug hierher kommen können, und es war sowieso niemand da, der hätte kommen können.« »Das hätte ich wissen müssen.« »Ich war nicht unglücklich dabei. Ich habe zu Weihnachten auf einem Flohmarkt Dutzende von Büchern erstanden, und ich hatte meine Bänder und das Radio. Ich habe eine Menge Gedichte geschrieben – es war wieder wie als Heranwachsende, jene nachsichtige, luxuriöse Einsamkeit. Ich hatte genug zu essen, und ich nährte mich auch von Erinnerungen. Ich muß wohl jedes wichtige Ereignis meines Lebens wieder durchlebt haben. Oh, und ich habe dir eine Menge Briefe geschrieben. Ich habe sie nicht abgeschickt,
natürlich, weil ich nicht zur Post durchkam, und als ich sie hinterher gelesen habe, erschienen sie mir zu… schwer.« »Ich würde sie jetzt gerne sehen. Darf ich?« »Wenn du magst.« Rachel holte einige Umschläge aus einer Schublade im Küchenschrank. »Und hier ist dein Geburtstagsgruß von Martin.« »Will zeigen, daß er sich sorgt.« »Das tut er, auf seine Weise.« »Wo ist er jetzt?« »Der letzte Brief, den ich erhielt, kam aus Indien. Schrecklich mystisch. Ich habe den Eindruck, er hat wieder geheiratet, aber er hat nicht den Nerv, das offen auszusprechen.« »Spielt mit orientalischer Religion, nehm ich mal an. Wie vorhersagbar. Ich komme mir stets älter vor als er.« »Er ist im ursprünglichen Sinne alterslos, darum beneide ich ihn ziemlich. Er hat uns beide für ziemlich lange Zeit geliebt, weißt du. Ich glaube, er liebt dich noch immer.« »Ist so verdammt einfach, jemanden zu lieben, wenn man Tausende von Meilen weg ist und die Betreffende niemals siehst.« »Hasse ihn nicht, mach mich nicht zur Märtyrerin. Das ist eine beschämende Rolle für mich, und außerdem denke ich oft, ich habe ihn davongetrieben.« »Wie?« »Weil ich ihn nicht genügend brauchte. Lies meine Briefe, da steht ziemlich viel drin über mich und Martin!« »Na ja, ich habe ihn gebraucht.« Während sie mit ihrer Mutter so dasaß, erinnerte sich Christy der Abende, nachdem Martin sie verlassen hatte. Sie war damals zwölf Jahre alt gewesen. Eines stürmischen Herbsttages war er aus dem Haus gerannt und hatte die Tür hinter sich zugeschlagen, nachdem man sie zu oben zu Bett
gebracht hatte. Sie hatte ihrem Streit zugehört. Rachel wie immer ruhig und von oben herab, Martin mit lärmender Dramatik. Jedesmal, wenn eine Tür oder ein Fenster bebte, hatte sie Angst, daß sie mit Sachen um sich warfen, wie sie’s manchmal taten. Christy war auf keiner Seite, sie wollte lediglich hören, wie beider Schritte die Treppe heraufkamen, so daß sie wußte, beide waren da, und sie war von beiden in diesem Haus beschützt. Sie hörte folgendes: Laufen, Türenschlagen, jemand polterte die Stufen wieder hinab, mit etwas Schwerem. Am nächsten Morgen sagte ihre Mutter: »Martin und ich sind zu dem Schluß gekommen, daß wir nicht mehr länger zusammenleben können. Aber wir haben dich noch immer lieb.« Sechs Jahre lang, bis sie selbst ihr Zuhause verlassen hatte, hatte Christy jeden Abend aus dem Küchenfenster gesehen und auf sein knorriges schwarzes und weißes und scharlachrotes Gesicht gewartet. Als seien seine absurden Reisen lediglich Phantastereien, und er wartete in Wirklichkeit noch immer auf der anderen Seite der Tür, durch die er hinausgegangen war. »Lies mir Die Schneekönigin vor!« sagte Christy. Sie hatte sich neben ihrer Mutter zusammengerollt. Die Augen traten ihr aus den Höhlen, und sie waren rot, weil ihre zwölf Jahre alten Gefühle an ihr zerrten. Sie war so erleichtert, in Wirklichkeit nicht mehr zwölf Jahre alt zu sein. Rachel holte das Buch mit dem Seidenpapier zwischen dicken cremefarbenen Seiten und durchscheinenden sentimentalen Illustrationen von Menschen, wie in einem Buntglasfenster. Alle waren sie wunderschön, Gerda hatte Haar wie ein goldenes Kettengeflecht und ein kantiges elfenhaftes Gesicht. Kai war ein marmorner Page, und die Schneekönigin in ihren heidnischen Pelzen auf phantastische Weise elegant. Oftmals während der langen stillen Abende, wenn sie eingeschneit waren, hatte Christy gehofft, die
Schneekönigin käme zu ihr, weil ein magisches Schloß in den nördlichen Eiswüsten weit lustiger wäre als ihr hingeducktes Nirgendwo-Haus. Und die Schneekönigin wäre bezaubernd schön, wohingegen Christy, in ihrem intolerant urteilenden Alter, ihre Mutter schäbig und fett in ihren muffigen Kleidern fand. Sie war Kai gewesen, verführt von Eis und Feuer, und dann, eher als nachträglicher Einfall, war sie ebenfalls Gerda gewesen, weil sie ein Mädchen war und man die Guten zu mögen hatte. Ganz für sich jedoch hielt Christy Gerda für hündisch ergeben und traurig, wie sie Kai folgte, der doch offensichtlich nichts von ihr wissen wollte, und ihn von jener faszinierenden Garboesken Hexe wegzerrte. Jetzt erweckte die Geschichte einen anderen Widerhall in ihr; sie wußte, daß einem Eissplitter in Auge und Herz dringen konnten, ohne daß es irgendwelche Hexen gab, die das eigene Sehvermögen sogar steigerten. Rachel betrachtete über den oberen Rand des Buchs hinweg ihr melancholisches Gesicht. Sie wußte die Geschichte noch immer in- und auswendig und fand Kai noch immer verachtenswert. Es war lange her, daß sie zuletzt mit ihrer Tochter mit so wenig Spannung in diesem Zimmer gesessen hatte. Christy wollte nicht mehr länger fliehen, und Rachel war froh, da sie nie Gefängnisaufseherin hatte sein wollen und sie mit achtzehn praktisch hinausgeworfen hatte, nur damit sie aufhörte, sich über das Haus zu beklagen. Zehn Jahre danach war Christy verkrampft zurückgekehrt, was wohl besagte, daß ihr die Flügel gestutzt worden waren und daß es sie danach verlangte, sie wieder zu schlagen, irgendwann. Rachel wußte, dieser Besuch war kein Pflichtbesuch. Christy wollte wirklich bei ihr sein und würde nur widerstrebend wieder gehen. Rachel triumphierte im Innern, aber sie fürchtete um das Leben ihrer Tochter dort draußen.
In jener Nacht hielt Christy im Bett die Briefe in Händen. Sie wollte sie jetzt noch nicht lesen, sie wollte sie aufheben, und wenn sie nach Smiles zurückkehrte, würden sie in jene Schachtel mit Seans ersten Worten an sie wandern, Martins neunzehn Geburtstagskarten, Gedichten, die ihre Mutter für sie geschrieben hatte, als sie ein Kind gewesen war, und die Zeichnungen, die ihr die Kinder geschenkt hatten. Sie redete sich ein, sie täte dies, weil sie keinen Raum habe, Besitztümer zu horten. Warm, trocken, auf der sinnlich wahrnehmbaren Vorstellung von der Schneekönigin treibend, fiel Christy in Schlaf. Aber sie erwachte, und das Zimmer war noch immer dunkel. Der Gedanke an Martin, oder vielleicht ein Traum von ihm, hatte sie aus dem Schlaf gerissen, und ihre Gedanken sprudelten. Sie setzte sich auf, schaltete die Nachttischlampe ein und öffnete seinen Umschlag. Eine Karte mit Blümchen und Teddybären; er fand sie überall auf der Welt und würde ihr vermutlich noch solche Karten schicken, wenn sie fünfzig war. Weil sie für ihn stets zwölf Jahre alt war, genau, wie er für sie stets jung und kräftig war. Sie stellte sich vor, wie er quer durch Asien mit seinem Rucksack voller saccharinsüßer Karten reiste. Meine liebe Christina, Du schreibst mir nicht. Weil Du mich haßt, oder weil Du meine Anschrift nicht weißt? Ich werde tatsächlich einige Jahre in Delhi seßhaft bleiben. Vielleicht möchtest Du kommen? Rachel sagte mir, Du seist Sozialarbeiterin, also nehme ich an, daß Du es mit noch lahmeren Enten zu tun haben wirst, als ich eine bin. Im März werde ich in London sein und einen Film für das indische Fernsehen drehen. Ich werde vom siebten bis zwölften in St. James’ Towers sein, und ich würde Dich
gerne sehen. Aber nur, wenn Du es willst. Nach all dieser Zeit erwarte ich keine Freudenausbrüche. Ich habe Dich stets lieb gehabt, obwohl allein Gott weiß, wo Du bist. Dein Dich liebender und unvollkommener Vater Martin Er war vor sechs Wochen gekommen und wieder gefahren. Und was tat er in einem solchen Hotel, war er reich? Die Möglichkeit, ihr verantwortungsloser Vater habe etwas erreicht – gemessen an den Werten, über die sie, wie ihre Eltern sie gelehrt hatten, lachen sollte –, machte Christy wütend. Wut beim Anblick einer dieser Karten war jedenfalls eine fast reflexartige Reaktion. Daraufhin, wegen der Unterhaltung mit ihrer Mutter, stellte sie den Ärger in Frage. Was sollte er denn ansonsten sein? Ein Schwall Worte strömte hervor: beschützend, interessiert, ermutigend… dann schottete sie den Schwall ab, weil die Worte gleich so herausströmten. Na ja, er hätte zumindest da sein sollen. Doch so viele Väter, die sie kannte, waren nichts in der Richtung, und sie konnte Rachel und ihm nicht wirklich dafür die Schuld geben, sich getrennt zu haben, wenn sie nicht mehr länger miteinander leben konnten. Urplötzlich identifizierte sie sich mit ihnen statt mit sich selbst. Wie tödlich wäre es, in diesem abgelegenen Haus mit jemandem festzuhängen, den man so wenig liebte, wie sie Sean und ein Kind liebte, das dabei war, so abscheulich zu werden, wie sie selbst es mit zwölf Jahren gewesen war. Man konnte nicht Jahre in Smiles verbringen und glauben, harmonische Familien seien die Norm. Harmonische Familien waren die Auswüchse der menschlichen Natur, fast immer bloß temporär, und für die ersten zwölf Jahre ihres Lebens hatte sie das unglaubliche Glück gehabt, in einem geschützten
Bereich zu leben. Sie wünschte sich, sie hätte Martin in London besucht. Statt der selbstmitleidigen Unterhaltung, worauf sie sich stets eingerichtet hatte, vernahm sie ein freundschaftliches Geplauder. Im Geiste entwarf Christy den Brief, den sie ihm schriebe, falls er wirklich eine Adresse hätte: Lieber Martin, Deinen Brief habe ich erst gestern erhalten. Wenn ich ihn rechtzeitig gelesen hätte, wäre ich Dich besuchen gekommen. Ich hasse Dich nicht mehr länger, allerdings könnte ich auch nicht sagen, daß ich Dich liebe, aber Du stellst einen großen Teil meiner Kindheit dar. Ich schätz mal, ich sehe Dich als eine romantische Gestalt, jemand, der in die Nacht verschwunden ist. Vielleicht möchtest Du so gesehen werden. Rachel finde ich nicht romantisch, allerdings kenne ich sie wiederum. Sozialarbeiterin ist ein bißchen großkotzig für das, was ich tue: Ich lebe und arbeite in einer Barackensiedlung in Wandsworth, kümmere mich um die Kinder. Ich kann wohl sagen, daß Du eine derartige Armut in Indien gesehen hast. Für gewöhnlich glauben die Leute, sie bliebe dort. Ich bin gerade per Anhalter Rachel besuchen gefahren, also wird’s wohl kaum wahrscheinlich sein, daß ich in der Lage wäre, nach Delhi zu fliegen und Dich zu besuchen. Vielleicht schickst du mir ein Flugticket? Oder vielleicht kommst Du wieder nach London? Rachel sendet – ich bin mir nicht sicher, was. Ich wäre Dir wirklich gerne ein Freund, falls Du mir die Möglichkeit dazu gibst. Sie war zufrieden mit diesem Entwurf und kritzelte ihn nieder, für den Fall, daß er am Morgen noch immer gut aussähe. Er
wirkte beherrscht und bitter, ohne kleinlich zu sein. Christy sah nicht ein, weshalb sie um ihren so lange verschollenen Vater zuviel Aufhebens machen sollte. Er wollte verschollen sein, und sie war in Wirklichkeit die Verliererin gewesen. Seitdem hatte sie keinem Mann mehr vertraut. Zum ersten mal gab sich Christy die tieferliegende Furcht zu, Martins Verschwinden habe ihr einen Geschmack an Männern gegeben, die schwer faßbar waren, und daß darum Simon sie soviel mehr beschäftigte als Sean. Es fiel leichter, ehrlicher den Eltern gegenüber zu sein als dem Kuddelmuddel ihres eigenen Gefühlslebens. Christy wandte sich den Briefen ihrer Mutter zu.
KAPITEL 8
Es waren ein Dutzend Briefe, auf liniertem Papier geschrieben, das aus einem billigen Notizbuch gerissen und zusammengefaltet in braune Umschläge gesteckt worden war. Rachels runde geschwungene Handschrift bedeckte jeden Zentimeter von beiden Seiten, um kein Papier zu verschwenden. Die Briefe berührten Christy, noch ehe sie sie las, weil sie aussahen wie das geheime Tagebuch eines sehr jungen Mädchens. Sie stellte sich ihre Mutter vor, wie sie, die ganze Zeit über allein, unten neben einem unzureichenden Feuer saß und versuchte, aufrichtig ihrer Tochter gegenüber zu sein. Vieles von dem Geschriebenen war Konversation, Bemerkungen, die hätten ausgetauscht werden können, wenn man in einem Zimmer beisammen gesessen hätte; wie kalt es war, was sie gerade las, daß es sowohl gemütlich als auch zum Verzweifeln war, so vom Schnee abgeschnitten zu sein, und wie sehr sie Kartoffeln und Linsen überhatte. Ihre Mutter hatte jede Woche einen langen Brief geschrieben, mit täglichen Einträgen. Sie hatte sich Christy den ganzen langen Winter als eine mitfühlende Gefährtin vorgestellt, während Christy ihrerseits kaum an sie gedacht hatte. Im allgemeinen war der Tonfall der Briefe freudig, in einigen Passagen jedoch mußte Rachel Schwächen zugeben, von denen sie nicht hatte sprechen können. Obgleich ihr die Mutter die Briefe übergeben hatte, spürte Christy doch, daß sie eine Art heimlicher Lauscherin war. Sie mußte sich dazu zwingen, dieses neue intime Verhältnis anzunehmen.
»… oftmals lese ich diese Briefe laut, oder sage Gedichte auf, oder singe, nur um das Schweigen zu brechen. Ein absichtliches Lärmen, weniger absurd, als mit sich selbst zu reden. In Wirklichkeit könnte ich natürlich kreischen und schreien und vierundzwanzig Stunden am Tag auf Mülleimerdeckel schlagen, niemand wüßte oder kümmerte es. Aber ich bin unheilbar gesund, ich war niemals in der Lage, mich gehen zu lassen, selbst als ich jung war und einiges intus hatte. Ich bewundere deinen Vater, weil er so gut darin war, lustig und dumm und leichtfertig zu sein. Er wußte wohl kaum, daß ich ihn bewunderte, ich hab’s ihm niemals gesagt, und ich starrte ihn sogar mißbilligend an, wenn er betrunken war oder ständig kicherte. Dann wiederum, wenn wir uns liebten, waren wir imstande, einer den anderen zu betreten, allerdings nur sehr selten. Ich übernahm etwas von seiner Fröhlichkeit, und er wurde ernst, wie ich ihn mir so verzweifelt wünschte. Dann waren wir glücklich…« »… ich werd Dir etwas sagen. Ich fühlte mich erst dann nicht mehr schuldig, weil ich Dir keinen Vater gegeben hatte (oder nur für kurze Zeit), als ich sah, daß Du gleichfalls Probleme mit Männern hattest. Jetzt kann ich Dir wohl endlich sagen, was geschehen war, und Du wirst mich nicht zu hart beurteilen, oder auch ihn. Sie war nicht zufällig oder jäh, unsere Trennung, obgleich es Dir so vorgekommen sein muß. Wir haben siebzehn Jahre zusammen gelebt – fünf vor deiner Geburt –, und wir hatten geglaubt, alles Umwälzende hinter uns zu haben. Weißt Du, wer wir gewesen waren, als wir einander begegneten? Ich frage mich, ob Du uns erkannt hättest. Ich war ein wenig jünger, als Du es jetzt bist. Ich war Bibliothekarin an einer Universität in Surrey, die eben gegründet worden war. Sie hat schon vor Jahren dichtgemacht, weil ihr das Geld ausgegangen
war. Martin saß gerade an einer Doktorarbeit über die Rolle der Frau bei Dostojewski, und wir führten in der Kneipe große Diskussionen. Ich beschuldigte ihn, die Frauen zu passiv zu machen. Er hatte sich seit Jahren mit diesem Thema beschäftigt und hatte keine Absicht, es zu beenden, er kam mit dem bißchen Geld seiner Eltern und aus ein paar Nachhilfestunden aus. Oftmals glaube ich, wir wären völlig glücklich gewesen, wenn es uns gelungen wäre, so wie bisher weiter zumachen; nahe beieinander zu leben, jedoch nicht zu nah, zu arbeiten, jedoch nicht zu hart, ohne langfristige Pläne oder Verantwortung. Tut mir leid, das ist nicht sehr schmeichelhaft für Dich. Zu jener Zeit sah Martin selbst ein bißchen wie Dostojewski aus, mit brennenden schwarzen Augen, mit gelocktem schwarzen Haar und einem Bart, und dazu diese sehr dramatisch weiße Haut mit den roten Lippen. Er hatte eine lustige Nase, die zu weit hervorstach; wenn ich jetzt daran denke, dann hast Du sie auch. Selbst mit neunzig wird diese Nase noch immer so aussehen, als stäche sie aus dem Gesicht eines Kindes hervor. Wenn er diskutierte, war’s wie der Kampf eines Epileptikers, er raste und stampfte mit den Füßen und beharrte auf seinem Standpunkt, und es war schrecklich aufregend, zurückzuschreien und gegen ihn die Stellung zu halten. Das war, ehe die Leute dem Sex gegenüber aufgeschlossener wurden. Er war noch immer ein Geheimnis, das wir gegen den Willen unserer Eltern entdeckten. Und ich war damals attraktiv, wenn Du Dir das vorstellen kannst. Ich bin mir nicht sicher, daß ich’s noch kann. Ich war aktive Gewerkschaftlerin, was damals legal war, und wir gingen auf Protestmärsche und Kundgebungen gegen nukleare Bewaffnung und Vietnam und Apartheid. Wir verachteten die Ehe, und ich wollte niemals ein Kind haben, weil ich kein Recht dazu hatte, eines in eine Welt zu setzen,
wo es einen nuklearen Holocaust geben mochte. Meine lebhaftesten Erinnerungen an jene drei ersten Jahre unserer Bekanntschaft rühren von einem Marsch zum Trafalgar Square mit umeinander gelegten Armen her. Ein Gefühl von Wärme und Großartigkeit. Dann zwangen sie ihn dazu, Farbe zu bekennen, und er mußte sein Thema beenden, das sehr exzentrisch und Martin sehr ähnlich war, voller Bezüge zum Manichäismus und Marxismus und den albigenser Häretikern – ich glaube, er hat fast jede religiöse und politische Idee seit Plato hineinverwurstet. Diejenigen Vorzüge, die ihn einen solch charmanten Redner sein ließen, machten aus ihm einen launischen Akademiker, obgleich seine Vorlesungen stets Spaß machten. Wie dem auch sei, schließlich erhielt er einen Lehrauftrag – davon gab’s damals noch massenhaft – an einem Polytechnikum in der Nähe von Coventry. Ich erhielt eine Stelle als Bibliothekarin in derselben Stadt, und wir zogen schließlich formal zusammen. Meine Eltern betrachtete das noch immer als einen ziemlichen Skandal; sie waren Methodisten aus Yorkshire. Sie machten fast alles herunter, was ich tat, und sie sind, glaube ich, der Grund dafür, daß ich Dir das alles schreibe: Ich möchte Dich alles über sie wissen lassen, was ich über sie nicht wußte. Wir wohnten in einem ziemlich häßlichen neuen Haus und nahmen an Gewicht zu. In der Straße gab’s eine Menge Kinder, und ich entdeckte meine Liebe zu ihnen. Der Holocaust schien doch noch nicht so unmittelbar bevorzustehen, also heirateten wir, heimlich, und Du wurdest geboren. Du warst die große Liebe meines Lebens, und Martin war sehr eifersüchtig auf Dich. Wir beide stritten uns wegen Dir, bewunderten Dich, konnten weder Augen noch Hände von Dir lassen. Du bist wohl das am meisten photographierte und auf Band aufgenommene Baby der Geschichte. Doch war da
stets dieser versteckte Vorbehalt auf seiten Martins, ich mußte Dich anscheinend immerzu verteidigen, wenn er behauptete, Du seist verdorben oder eine Drahtzieherin oder selbstsüchtig. Er sah Dich nicht als kleines Baby, sondern als gleichgestellt und Rivalin. Wir waren offenbar niemals imstande, eine Familie zu werden, vielleicht, weil wir vor deiner Geburt soviel Zeit damit verbracht hatten, Familien im NuklearZeitalter zu kritisieren. Damals hörte ich auf zu arbeiten, wodurch ich ruhelos wurde. Ich gewöhnte mir an, die Wohnzimmerfenster derjenigen Leute anzustarren, die ich für Omo-Familien hielt, und mich dabei zu fragen, wie die das wohl hinkriegten. Wir alle liebten einander, aber irgendwie war das nicht synchron zu bekommen…« »… als Kind hattest Du schreckliche Launen, Du hast gekreischt und geschrien und mich getreten. Ich hielt Dich an den Armen fest, bis Du Dich beruhigt hattest, damit Du Dich nicht verletztest. Martin jedoch verlor die Geduld mit Dir, weil Du diese fürchterlichen Wutanfälle hattest. Ich habe ihm gesagt, er sei nicht erwachsen genug, um Vater zu sein, und er brüllte vor Wut und sagte, wie arrogant es von den Frauen sei zu behaupten, sie seien die einzigen erwachsenen Menschen im Universum. Dann verliebte er sich in eine seiner Studentinnen. Und ich bin gleichfalls mit jemandem losgezogen, einem seiner Kollegen, wirklich nur aus einer Laune heraus. Wir waren erschreckend offen, wir erzählten einander alles, und es hat Zeiten gegeben, da waren wir so beschäftigt damit, uns gegenseitig zu zerstören, daß wir Dich kaum bemerkten. Du bist daraufhin eine Weile bei meinen Eltern geblieben. Damals mußt Du etwa drei Jahre alt gewesen sein. Erinnerst Du Dich an irgend etwas davon?
Irgendwie haben wir einander nicht zerstört, auch nicht verlassen, wir kamen uns, wenn überhaupt etwas, dann noch näher. Jetzt kommt’s mir so vor, als seien wir stets der Gnade des Geistes unseres jeweiligen Zeitalters ausgeliefert: Man absorbiert ihn aus der Luft um einen herum; wenn man dafür empfänglich ist, pustet er einen richtig durch und verändert die Konturen dessen, was man für seine Persönlichkeit gehalten hat. Ich glaube, das war mit uns passiert, als die heißen Winde von Drogen und Sex in den späten Sechzigern Richtung Coventry bliesen. Jäh gab es Spätvorstellungen im Kino und nächtliche Parties an einem Ort, wo bislang als einziges das Steakhouse noch bis Mitternacht geöffnet hatte. Es war lustig. Schwierig war einzig und allein Dein Vorhandensein, eine ständige Mahnung daran, daß wir nicht mehr so jung waren, auch war ich niemals besonders gut im Fröhlichsein. Ich arbeitete schwer daran, trug Miniröcke und betrank mich und machte Trips, aber je frivoler ich zu sein versuchte, desto ernster wurde ich. Ich grübelte, und mein Grübeln wurde zum Feminismus, ein Protest Martins Haltung mir gegenüber und gegen die Haltung der meisten mir bekannten Männer ihren Frauen und Freundinnen gegenüber. Ich wurde immer aggressiver, schloß Freundschaften auf eigene Faust und kehrte zur Arbeit zurück. Wieder eine verdammte Bibliothek. Ich glaube, ich habe Dich absichtlich gegen Martin aufgebracht, und das war falsch von mir. Ich rutschte in ein Verhältnis zu ihm hinein, das beschämend für uns beide war: Ich schmollte, wenn er um vier Uhr morgens nach Hause kam, stellte jedoch keine Fragen. Ich haßte ihn dermaßen, daß ich mich Dir anvertraute, ich wollte, daß er zu uns zurückkehrte, diesem Gruppenbild von Dir und mir, wie wir uns aneinander klammerten. Damals schlief ich oft bei Dir, statt mit ihm…«
»Er trank und schluckte Pillen wie ein Neunzehnjähriger, und sein Körper machte da natürlich nicht mit. Er wurde fett und schwammig, die Farbe seiner Haut wandelte sich von elfenbeinern zu der Farbe von altem Zeitungspapier, und er bekam ein Magengeschwür. Er kam zu spät zu den Vorlesungen und nahm sich eine Menge Freizeit. Nach und nach, über mehrere Jahre hinweg, wurde er ziemlich schäbig und lächerlich, ein leichtes Ziel für Hohn und Verachtung. Ich wollte ihn verachten. Ich benahm mich ihm gegenüber viel schlimmer, als er sich mir gegenüber benommen hatte. Ich drohte ihm, ihn zu verlassen und Dich mitzunehmen, und er war von all unseren Unternehmungen ausgeschlossen. Doch gab es noch immer Nächte, da wir uns am Ende alle gemeinsam als Haufen in einem Bett wiederfanden, erschrocken einander umarmend – zumindest waren Martin und ich erschrocken. Die Anspannung, das Gefühl, daß das Feuer ausgebrochen war, wir jedoch den Rauch nicht riechen oder die prasselnde Hitze aufspüren konnten, wurde so unerträglich, daß ich froh darum war, als er hinausgeworfen wurde. Das verhieß eine Bewegung, ein sichtbares, deutliches Zeichen statt all der schmerzlichen Veränderungen, von denen wir so getan hatten, als bemerkten wir sie nicht. Martins Reaktion war so charakteristisch: Da er die Akademie dazu gezwungen hatte, ihn zurückzuweisen, wies er sie nun heftigst zurück, samt aller Jobs, aller Hypotheken, samt allem städtischen oder vorstädtischen Leben. Dieser rührselige romantische Zug, den er stets an sich gehabt hatte, er wurde deutlicher. Natürlich wurde er auch wieder attraktiver, und er und ich waren glücklicher, als wir’s seit Jahren gewesen waren. Wir bekamen Geschmack daran, gemeinsam Schiffbrüchige zu sein. Ich gab eine Menge häßlicher Wahrheiten vor mir zu, die ich seit deiner Geburt unterdrückt hatte: mir war unser häßliches,
fadenscheiniges Haus zuwider, die Stadt dahinter, mein Job, vieles dessen, was Martin geworden war, die Geschäfte, in die wir gingen, die Parties, die wir gaben. Das war alles so falsch, so gezwungen und unbehaglich. Aber ich hätte mit einem vagen Gefühl der Unzufriedenheit weitermachen können, jener stillen erbärmlichen Neurose, womit es den meisten unserer Freunde zu leben gelang, wenn Martin nicht einfach über Bord gesprungen wäre. Ich folgte ihm noch immer, widerstrebend. Ich machte mich daran, eine verlassene Gegend zu finden. Du hattest gesagt, Du wolltest auf dem Land leben und reiten. Mir waren die Midlands ein Greuel, und ich hatte trübe Erinnerungen an den Norden, wo ich aufgewachsen war. Aber ich verspürte ein Verlangen nach den Wanderungen, die ich als Kind in den Mooren unternommen hatte, ein Gefühl unbegrenzter Weite und Möglichkeiten, das ich Dich erfahren lassen wollte. Jenen Sommer verbrachten wir einen Monat damit, in Devon umherzufahren, und wir erstanden diesen Ort billig auf einer Versteigerung. Du mußt Dich an diesen Urlaub erinnern, wir waren euphorisch. Wir hatten wirklich das Gefühl, das Leben wieder unter Kontrolle zu haben, da wir aus einer schmutzigen Welt in eine reinere Welt entflohen, die wir uns selbst erschaffen würden. Vielleicht gibt’s keine verlockendere Vorstellung. Das Dumme dabei ist, die Verlockung beruht darauf, beachtet zu werden. Bald nachdem wir hierher gezogen waren, war’s klar, daß uns niemand beachtete; ein paar wenige Freunde drohten, im nächsten Sommer herzukommen und hierzubleiben, aber die meisten schrieben einfach witzige Briefe über das einfache Leben. Bald schrumpfte meine Korrespondenzliste zusammen. Der erste Sommer machte dennoch Spaß. Wir zelteten hier draußen, während wir Sachen anpflanzten, und renovierten fast das ganze Haus. Wie sich herausstellte, hatte ich eine unerwartete Begabung für
Zimmermannsund Installateursarbeiten. Ich genoß es wirklich, Arbeiten zu erledigen, die von unmittelbarem Nutzen waren. Du hast geholfen, bist umhergerannt und hast ein ganz schönes Stück gesünder ausgesehen, obgleich Du einsam gewesen sein mußtest. Aber der arme Martin, der seine Zukunft aufs Spiel gesetzt hatte, um ein Sohn der harten Arbeit zu werden, langweilte sich zu Tode. Er konnte sich nicht genügend konzentrieren, um die Arbeit richtig zu machen, er schlug die Nägel krumm und fütterte die Hühnchen mit einer Überdosis an Vitaminen, wodurch sie fast krepiert wären, und hätte sich fast den Daumen mit einer Kreissäge abgeschnitten. Wir haben natürlich gelacht, er jedoch war gekränkt. Er hat stets erwartet, alles zu können. Ich habe ihm stets gesagt, es sei noch soviel Zeit zu lernen, aber er wollte nicht wirklich lernen, nicht auf eine solch schweißtreibende, unangenehme Weise, er hatte das Gefühl, derlei Aufgaben seien eine Verschwendung seiner Intelligenz. Und es blieb nicht viel Zeit. Ab September wurde es des Nachts allmählich kalt, und das Dach war noch immer nicht dicht. Ich arbeitete den ganzen Tag über daran, das Haus für den Winter wetterfest zu bekommen, aber ich wußte wirklich nicht, was ich da tat. Wir konnten es uns nicht leisten, einen Helfer zu bezahlen. Doch Du warst immer noch glücklich, erinnerst Du Dich? Du hattest Ställe gefunden, wo man Dich jeden Morgen reiten ließ, wenn Du als Gegenleistung halfst, und am Nachmittag hattest Du mir geholfen, Du reichtest mir die Werkzeuge, und Du hattest ein grünes Händchen beim Pflanzenzüchten. Martin hing gewöhnlich herum, also mußten Du und ich mal wieder wie ein Team von Verschwörern gewirkt haben. Als Deine Schule begann, fuhr er Dich hin und zurück, was eine Menge Zeit des Tages füllte. Wir entschieden uns dafür, den Jeep nicht zu verkaufen, obgleich wir das Geld gebraucht hätten. Wir waren zuvor noch
niemals arm gewesen, und Martin hatte es noch niemals richtig kalt gehabt. Mir erscheinen die Winter hier milder als diejenigen, an die ich mich als Kind in Yorkshire erinnere. Der Schnee wirkt wärmer und sanfter, die Luft weniger grimmig, selbst wenn ich jetzt allein bin. Aber Martin war in London aufgewachsen, für ihn war der Winter eine Zeit, da stellte man die Zentralheizung an, trug ein paar Pullover mehr und verbrachte mehr Zeit im Pub. Was unsere wunderbare Abgeschiedenheit für uns bedeutete, erfuhren wir erst mit dem ersten Schnee. Mir wurde klar, wie sehr wir das Polster mit Jobs und Freunden gebraucht hatten, wie sehr wir es gebraucht hatten zu sagen: ›Ich hab soviel zu tun!‹, wann immer wir uns trafen. Von Angesicht zu Angesicht, monatelang in diesem Haus gefangen, gab es keine Illusionen und keine Trivialitäten mehr. In jenem ersten Winter breiteten wir uns beide in den zeitlosen Raum um uns herum aus. Kleine Launen warfen monströse Schatten auf die Wände, und kleine Meinungsverschiedenheiten wurden zu Schismen. Du hast das gleichfalls gespürt, an vielen Tagen lag der Schnee zu hoch, als daß Du hättest zur Schule fahren können, und Martin unterrichtete Dich zu Hause. Er genoß das, er hatte ein Händchen dafür, und es gab ihm etwas zu tun, Du jedoch spürtest den Druck im Haus und wurdest hysterisch. Ich verbrachte ganze Tage eingeschlossen in einem Zimmer, lesend und schreibend, jedes Geräusch vor der Tür zurückweisend. Martin war wie erstarrt. Er konnte nicht nach draußen und jemanden treffen, und all die Jahre, während derer er Literatur gelehrt hatte, hatten ihn offensichtlich vom Lesen abgebracht. Wir freuten uns auf den Frühling, ganz pathetisch, als brächte uns der Anblick von Gras und Blumen das Vertrauen zueinander wirklich zurück. Ein halbes Dutzend Mal in jenem Winter wäre Martin fast aus dem Haus ausgebrochen. Wir wußten beide, er würde nicht zurückkehren, wenn er
ginge. Ich glaube, darum warst Du so bestürzt, als er schließlich doch ging. Es war nichts, das jählings an einem Abend geschehen wäre, schon seit Jahren war es unausweichlich gewesen, glaube ich. Aber wie erklärt man das einer Zwölfjährigen?« »… ich frage mich jetzt, warum mir niemals der Gedanke gekommen ist, ich könne diejenige sein, die ginge. Ich hätte Dich mitgenommen, wir hätten zu meinen Eltern gehen können, die damals noch am Leben waren, und sie wären erfreut darüber gewesen, daß meine Ehe in die Brüche gegangen war. Mein Vater war ein großer Pessimist, den es lediglich aufheiterte, wenn alles schief ging und er somit recht behalten hatte. Sie haben mir niemals verziehen, daß ich in den Süden gegangen war. Ich hatte auch andere Freunde, mehr als Martin, der Freundschaften zu leichtfertig schloß und brach. Ich glaube, ich war bereits soweit, daß ich dieses Haus liebte, und ich wußte, ich hätte hier zusammen mit Dir glücklich sein können. Martin war das Hindernis, und er benahm sich auch allmählich wie eines: eine halsstarrige, ungehobelte, schmollende Gegenwart am Küchentisch, der sich am hausgemachten essigsauren Wein besoff. Dann kam das Tauwetter, und es wurde besser. Es war wundervoll zu sehen, wie das Land wieder lebendig wurde. Für Dich und Martin war das alles neu, ihr gingt umher und hieltet den Atem an beim Anblick von Lämmern und Schneeglöckchen und Regenbögen, Dingen, von denen ihr bislang nur gelesen hattet. Meiner Meinung nach sah Martin in ihnen lieber literarische Symbole, er fand die Realität banal und durchsichtig. Wir verdienten ein wenig Geld damit, daß wir das Feld an Camper vermieteten, wir schlossen einige Freundschaften in der Stadt, fühlten uns allmählich wieder angenommen. Aber nicht voneinander.
Leute kamen und blieben. Wir fuhren an die See, und Du kümmertest Dich wieder um Deine Pferde. Wir erzählten einander die Geschichte dieses schrecklichen Winters so viele Male im Sonnenlicht, daß sie fast zur harmlosen Anekdote wurde. Daraufhin folgte der zweite Winter, und er war schlimmer als der erste, länger und kälter, mit mehr Gelegenheiten zu Streitereien…« »… vor jener Nacht, da Martin so betrunken war, daß er unempfindlich gegenüber der Kälte wurde, war es monatelang eine ausgemachte Sache gewesen, daß er ginge. Wir hatten darüber diskutiert, hatten Listen darüber geführt, hatten einander Hunderte von Malen gesagt, daß wir Aspekte des anderen noch immer liebten und daß wir immer Freunde bleiben würden. Es war allmählich wie am Bahnsteig bei einem Zug, der nicht abfahren wollte, obgleich man sich verabschiedet hatte und endlich in Ferien fahren wollte. Es waren Ferien voneinander, all der Haß wäre verschwunden, sobald er, Martin, aus dem Haus wäre, und ich würde ihn sogar vermissen. Ich vermisse ihn noch immer – auf angenehme Weise.« »… erst dann, in meinen Vierzigern, entdeckte ich ein ausgesprochenes Vergnügen an der Einsamkeit. Kein negatives, steriles Gefühl, obwohl es von außen vielleicht so aussehen mag, könnte ich mir denken. Das Schlimmste an jenen Jahren waren meine Schuldgefühle Dir gegenüber, weil ich nicht dafür gesorgt habe, daß Du an einem Ort ein normales Leben führen konntest, wo Deine einzige Möglichkeit eines sozialen Lebens im Kontakt mit sehr normalen Leuten bestanden hätte. Eines halte ich Dir zugute: Obgleich Du Pferde liebtest, wolltest Du doch niemals eines
dieser schrecklichen kleinen Jagd- und Gymkhana∗ -Mädchen werden. Deine Sympathien lagen auf Seiten der Pferde, nicht deren Besitzer, und das gefiel mir. Ich mochte Dich so, wie Du warst, ich war stets mehr oder weniger unkritisch Dir gegenüber. Es kommt mir so vor, als hätten wir bereits über alles geredet – nur nicht über Martin, das Wichtigste von allem. Es war meine Schuld, daß er sich in Deiner Vorstellung als finstere und mysteriöse Macht aufgebaut hat, wo er doch in Wirklichkeit nichts dergleichen war, eine weit offenere Natur als ich selbst. Wenn Du jetzt also noch weitere Fragen hast, dann stelle sie bitte…« »… eines der schlimmsten Dinge an diesen Wintern ist das Gefühl, als ob mein Bewußtsein schrumpfte. Da bin ich, nur schwach verbunden über die dürren Äste der Erinnerung und des Gefühls Dir gegenüber, gegenüber Martin, gegenüber bestimmten Büchern und Musikstücken, gegenüber einigen wenigen Freunden, die ich ein- oder zweimal im Jahr sehe. Der ganze übrige Rest ist Schnee, erbärmliches Feuer und Essen, das mir zum Hals heraushängt. Ich denke viel an Greenham, das einzige Mal, da ich mich im Zentrum des Geschehens gefühlt habe. Ich vermisse dieses Gefühl des Dabei-Seins und der Kameradschaft wirklich, den Glauben, ich könne einen Einfluß auf das Weltgeschehen nehmen. Das mag eine Illusion gewesen sein, aber es war eine großartige Illusion. Die wenigen Freundschaften, die ich noch immer aufrechterhalte, die mit Liza und Marie und Stephen, schloß ich alle während dieses Jahres. Ich frage mich stets, warum ich dorthin gegangen und warum ich wieder weggegangen bin. Keine der beiden Handlungen hat offenbar irgend etwas mit meinem sonstigen Leben zu tun. Ich bin wohl wegen Dir hingegangen. Nachdem ich Dich ∗
Gymkhana: Geschicklichkeitswettbewerb für Reiter – Anm. d. Übers.
schließlich hinausgeworfen hatte, vermißte ich Dich schrecklich und wünschte mir, sechs Kinder zu haben. Ich bewunderte Dich, weil Du direkt ins Herz des Geschehens gegangen warst, ich verstand nicht, woher Du eine derart klare Vision haben konntest. Du verließest dieses Haus hier mitten im Nirgendwo, wie ihr beide, Du und Martin, stets geklagt habt, und gingst direkt mitten hinein nach London, um den Menschen zu helfen. Du hast dafür gesorgt, daß mir klar wurde, es gibt nur zwei Dinge, die wirklich zählen: Menschen sterben vor Hunger und Kälte (und das bereits hier in England, obgleich es die Regierung nicht gern zugibt). Und wir verwenden den größten Teil unserer Intelligenz, unseres Geldes und unserer Ressourcen dazu, unser Universum zu zerstören, und wir haben dafür offenbar auch noch eine gute Hand. Zuvor hatte ich dieses Universum niemals als ›mein‹ Universum betrachtet; es war ›ihres‹ gewesen, von Mächten besessen und beherrscht, die weit jenseits meines Zugriffs lagen. Ich hatte das Gefühl, meinen Anteil erledigt zu haben, als ich vor Deiner Geburt an den merkwürdigen Märschen teilnahm. Aber weil Du dort draußen warst, öffneten sich jäh die Stränge der Kommunikation zwischen mir und den Menschen, die auf Londons Straßen vor Kälte zitterten, und den Massenvernichtungsmitteln, dazu geschaffen, das ganze Land wegzuwischen. Sogar mich. Ich begann damit, zweimal die Woche per Anhalter nach Bodmin zu fahren und die dortigen Versammlungen des CND∗ zu besuchen. Ich stellte mich freiwillig für Aufgaben zur Verfügung – ich hatte mehr Zeit und Raum als sonst jemand. Das war jedoch nicht genug; Ich fühlte mich jämmerlich, während ich wie meine Mutter beim Fraueninstitut auf dem jährlichen Trödelmarkt für den ∗
CND: Campaign for Nuclear Disarmament – Bewegung für nukleare Abrüstung – Anm. d. Übers.
Frieden stand. Als daher jemand bei einer Versammlung vorschlug, wir sollten nach Greenham gehen, ging ich für ein Wochenende hin und blieb für ein ganzes Jahr. Das war die einzige Zeit meines Lebens, daß ich das Gefühl hatte, Teil einer großen Macht zu sein. Darum wohl waren Kälte und Widrigkeiten so leicht hinzunehmen, zunächst jedenfalls. Die meiste Zeit meines Lebens hatte ich es erbärmlich kalt gehabt und war einsam gewesen, auf verschiedene Weise. Jetzt kam ich mir nützlich vor, mutig, umgeben von Kameraden. Wir waren selbstgerecht, schätz ich mal, aber damals hatten wir recht. Meine Vorstellungen vom Feminismus, die bislang sehr vage gewesen waren, verfestigten sich, als ich sah, wie großmütig dort die Frauen handelten. Wir teilten alles und halfen einander und kamen ohne Anführer zurecht. Dann polarisierten sich die Standpunkte wegen der schrecklichen Beispiele von Männlichkeit, die wir erlebten: Die höhnisch grinsenden, sich über uns lustig machenden brutalisierten Soldaten auf der anderen Seite der Barrikade, die dämlichen Bullen, die uns an den Haaren durch den Schlamm zerrten, die gereizten Richter, die uns weder sehen noch hören konnten und Gefängnisstrafen wie Almosen verteilten. Es fiel leicht, sie zu verachten, und vielleicht beruhen alle großen Bewegungen auf der Annahme, deine Gegner seien blöd oder verrückt oder beides. Sicherlich berauschte mich der starke Wein des Heroismus, mit seinem bitteren Bodensatz, daß nichts, was man tut, je ausreichen wird. Mehr und mehr brauchte ich Ermutigung. Als sie mich in das komische kleine Gefängnis in Kent brachten – sie versuchten, uns voneinander zu trennen, damit wir nicht zu viele Besucher und Unterstützer anzögen –, bemerkte ich, wie müde ich war. Ich schlief zwölf Stunden am Tag in meiner Zelle, wachte auf und lag mit einer zufriedenen Benommenheit da, trocken und warm unter meiner Decke. Nachdem ich
meiner Zellengenossin, einer Prostituierten, einige GreenhamSongs beigebracht hatte (sie lehrte mich einige schmutzige Limericks), brachten sie mich in eine Einzelzelle. Das war prächtig. Es gelang mir, an Papier und Feder und Bücher zu kommen, dort ging es ziemlich lasch zu. Alle paar Stunden gab es was zu essen, und die Hitze war geradezu tropisch. Nach einigen Tagen fiel mir auf, daß ich mein altes Leben von daheim wieder aufgenommen hatte, und ich fühlte mich vollkommen glücklich und gesund. Zum erstenmal in diesem Jahr hatte ich keine Erkältung, und meine Gelenke knirschten nicht mehr. Natürlich fühlte ich mich mies bei diesem Gefühl des Wohlbehagens, und vielleicht erinnerst Du Dich an Deinen Besuch bei mir, wie ich mich höchst gläubig benommen und die Fäuste geballt habe. Bald darauf verließ ich das Lager und ging heim, mit einem schrecklichen Gefühl eines Anti-Höhepunkts. Einige von uns wären erfreut darüber gewesen, wenn der Staat, dem sie den Rücken gekehrt hatten, sie härter behandelt hätte. Absolute Standpunkte sind etwas Feines. Statt dessen waren wir zehn Minuten lang berühmt und wurden anschließend ignoriert, alle außer den Stärksten (nicht ich) waren von den Widrigkeiten und dem Gezänk am Boden zerstört. Es war, als habe der Zeitgeist mich wie ein riesiges warmes, vielköpfiges Untier ins Maul genommen, mich kräftig durchgeschüttelt und dann wieder fallengelassen. Seitdem habe ich mich niemals mehr so lebendig und kraftvoll gefühlt. Nicht, daß ich das Interesse an Abrüstung verloren hätte. Aber meine Interessen nahmen wieder kleinere, partiellere Formen an; ich ging zu Versammlungen und organisierte Filmvorführungen und schrieb Pamphlete. Die Hälfte der Überschüsse aus der Fischfarm sollten an die CND gehen – nur daß es keine Überschüsse gab.«
»… ich habe eine Art Stolz auf die Einsamkeit entdeckt, darauf, diese langen schweigenden Winter durchzuhalten. Ich könnte es nicht, wenn nicht Du da wärst, und Liza, die im Mai kommt, und Martin in Indien, der eines Tages mit neuer Frau und Kindern auftauchen wird, wie ich erwarte. Ein bißchen ist es so, als sei man tot, hielte jedoch schwach Verbindung zu den Menschen von drüben. Natürlich hatte ich jetzt die Nase voll, ich hätte mich hinausgeschaufelt, wenn ich nur irgendwo hätte hingehen können. Wenn es noch immer ein Lager in Greenham gäbe, wäre ich dorthin gegangen. Aber es gibt nur noch Lager wie Deines, und ich halte mich nicht für geduldig oder asketisch genug, um dort irgendwie von Nutzen zu sein. Gehen diese Dinge im geheimen vor sich, hörst Du irgend etwas? Ich hatte Gerüchte gehört, nachdem sie die CND für illegal erklärt hatten, seitdem jedoch nichts mehr. Ich denke oft an jene Geschichten, die wir über Rußland gelesen haben, all diese armen Leute, denen man nicht gestattete, Gewerkschaften zu gründen oder zu streiken, all diese verfolgten Intellektuellen. Nun, die Wahrheit lautet ganz einfach, es gibt niemals sehr viele Intellektuelle, und sie lavieren sich entweder so durch oder verschwinden still und heimlich, wie James und Catherine, die noch immer wegen Volksverhetzung im Gefängnis sitzen. Wir anderen wissen gar nicht so recht, daß wir unterdrückt werden, wir passen uns einfach an und machen aus unserer Isolation eine Tugend, wir zerreißen die Sachen, die wir schreiben, weil sie niemals jemand lesen oder veröffentlichen wird… Ich tagträume eine Menge. Mein ganzes Leben über habe ich die Finger von Schundromanen gelassen, weil es soviel zu lesen gab. Meine Tagträume jedoch sind äußerst banal, Vicki Baum und Barbara Cartland, Du wirst Dich nicht an sie erinnern. Soll ich Dir einen Tagtraum erzählen? Eines Morgens sehe ich aus dem Fenster, und ein Lastwagen kommt
den Feldweg herauf, beladen mit Kisten und Kästen. Du lenkst ihn, mit einem gesichtslosen Mann neben Dir und kleinen Kindern, die über die Kisten krabbeln. Du bist mit diesem Mann glücklich, gleich, wer er sein mag. Du hältst vor dem Haus an, hebst die Kinder herunter, und sie laufen auf mich zu. Schrecklich, nicht wahr? Du wirst aufjaulen, wenn Du das liest. Aber der Drang nach Enkeln ist fast so stark, wie der Drang gewesen war, Dich zu haben. Du hast mich in meiner Rolle als Erwachsene bestätigt, und jetzt brauche ich diese Enkel, um mich in meiner Rolle als alte Frau zu bestätigen. Manchmal gehe ich bei den Parkers babysitten, er holt mich mit dem Wagen ab, und einen ganzen Abend lang berühre ich diese Kinder, rieche sie und rede mit ihnen. Ich bin ziemlich verlegen, weil ich so eifrig etwas tun möchte, das als einfache Hausarbeit angesehen wird. Dieses Baby zu baden und dem Älteren seine Gute-Nacht-Geschichte zu erzählen, sind die Höhepunkte meiner Monate! Aber ich schätze, die Gefühle, die ich in Dich hineingelegt habe, sind von Deiner Arbeit aufgebraucht worden. Du mußt fünfzig Kinder statt eines einzigen lieben, und der Vorrat wird endlos sein. Ich bin lediglich ein bourgeoises Relikt (Martins Lieblingsvorwurf) mit einer Besessenheit für meine Tochter und meinen Enkel. Doch sind sie sehr mächtig, diese Gefühle. Ich frage mich, ob Du sie überhaupt hast? Jetzt muß ich aufhören, sonst denkst Du, ich werde weich oder wolle mich einmischen, was schlimmer wäre.«
KAPITEL 9
Als Christy den letzten Brief gelesen hatte, blickte sie auf und blinzelte überrascht, weil das Tageslicht ins Zimmer strömte. Sie hatte noch immer Tränen in den Augenwinkeln, wegen der Enkel, die sie niemals hervorbringen würde. Es war ein Schock, als der lange Monolog abbrach, sie wollte mehr, wollte etwas von sich selbst zurückgeben, wollte sich vergewissern und Fragen stellen. Aber sie war jetzt wieder allein. Beim Anblick des kahlen Zimmers, vor langen Jahren weiß getüncht, jetzt gräulich, mit den staubigen nackten Dielenbrettern, die strahlenförmig vom Bett ausgingen, fühlte sie sich im Stich gelassen. Ihre Decken lagen versteckt unter den blauen und weißen Blättern; als sie mühsam aufstand, schwebten und tanzten sie im Schein der frühen Morgensonne, der durch die dünnen weißen Stores fiel. Christy zog sich die Schuhe an und ging ganz leise auf Zehenspitzen, über die quietschenden Dielen zum Schlafzimmer ihrer Mutter. »Bist du’s?« »Darf ich hereinkommen?« »Natürlich.« Rachel trug, wie ihre Tochter, im Bett einen Pullover. Das graue Haar, das ihr um die Schultern hing, ließ sie älter aussehen, wie eine Hexe in ihrem großen Bett unter einer Flickendecke. Christy setzte sich aufs Bett und drückte sich unter die Decke, um sich vor dem kalten Wind zu schützen, der durch das Haus und über Dartmoor hinwegfegte. »Ich habe deine Briefe gelesen. Ich habe die ganze Nacht darüber gesessen.« »Ich bin froh, daß ich dabei nicht dein Gesicht sehen mußte.«
»Sie sind wundervoll. Ich freue mich so darüber, daß ich sie lesen durfte. Die ganze Zeit über habe ich gedacht, das hier sind Papiere von der Sorte, wie man sie gewöhnlich nach jemandes Tod findet, wenn’s zu spät zum Reden ist. Ich bin so froh, daß du hier bist und lebst.« »Sie haben dich nicht in Verlegenheit gebracht?« »Manchmal ist’s gut, wenn man in Verlegenheit gebracht wird. Wenn man all seine Gedanken für sich behält, frieren sie ein und setzen sich in einem fest. Ich bin so froh, mehr von Martin zu wissen.« »Das ist alles, was ich dir sagen kann. Mir ist während des Schreibens klargeworden, daß es nicht so ist, daß wir lügen, sondern daß uns vielmehr die Wahrheit stets entschlüpft. Ich habe nie sehr viel von ihm gewußt, wirklich. Du mußt ihn eines Tages nach mir fragen.« »Vielleicht. Er hat mir letzten März geschrieben, ich solle mich mit ihm in London treffen.« »Wärst du hingegangen?« »Möglich. Aus Neugier heraus. Aber mir ist’s lieber, ihn zu treffen, nachdem ich gelesen habe, was du über ihn und dich zu sagen hattest.« »Ich nehme an, ich hätte seinen Brief nachsenden sollen. Er hat mir gleichfalls geschrieben, aber ich habe ihm zurückgeschrieben und gesagt, ich sehe nicht ein, weshalb ich die ganze Fahrerei auf mich nehmen sollte, wo ihm doch Autos und Flugzeuge zur Verfügung standen.« »Na ja, warum solltest du?« »Er ist offenbar sehr beschäftigt und distinguiert geworden. Oder er konnte es vielleicht auch nicht ertragen, sich in diesem Haus zu treffen, wollte sich auf neutralem Boden treffen. Wie dem auch sei, so nahe sind wir uns seit zwanzig Jahren nicht mehr gekommen.« »Du weißt, was du über Enkel gesagt hast?«
»Jeden Augenblick, seitdem ich dir jene Briefe übergeben habe, habe ich mir gewünscht, diese Passagen zu vernichten. Das geht mich nichts an.« »Es geht dich was an. Ich habe keine Lust mehr auf diese schreckliche Zurückhaltung. Ich möchte zur Abwechslung mal jemanden was angehen. Ich hab’s nur Sean erzählt, und er sah dabei aus, als sei das die langweiligste Nachricht, die er seit Monaten gehört hatte – na ja, vergangenen September wurde ich sterilisiert. Es wird also keine Enkel geben.« Sie saßen Seite an Seite im Bett, berührten einander nur beinahe, sahen einander mit ausgesprochener Vorsicht an, fürchteten, sie könnten den falschen Ton anschlagen und in ihre alte Formalität zurückfallen. »Nun, es ist natürlich dein Körper«, sagte Rachel behutsam, erstaunt über den Schmerz, den sie verspürte. »Mein Körper entsprang deinem.« »Das ist lange her.« »Du bist mir nicht böse?« »Christy, was gibt es denn da zu entschuldigen! Niemand außer dir kann darunter leiden.« »Darum war’s so schwer. Das Gefühl, daß mir keine mögliche Verbindung zu jemand anderem bliebe. Darum wollte ich dich wohl hineinziehen.« »Ich bin froh darüber, daß du mir’s gesagt hast, aber ich kann kein Urteil abgeben. Ich hab ‘ne Menge Zeter und Mordio geschrien, weil ich dich hatte, und das war in einer viel stabileren Welt. Ich glaube, in deiner Lage hätte ich vielleicht dasselbe getan.« »Oh, schön.« »Dann liebst du Sean nicht?« »Jetzt nicht mehr. Meinst du, ich müsse unbedingt ein Kind mit ihm haben wollen, falls ich’s täte, ihn lieben?«
»Ich glaube nicht. Nur ein weiteres meiner bourgeoisen Relikte. Ich verstehe nicht sehr viel von deinem Leben – wohnst du mit ihm zusammen?« »In benachbarten Wohnwagen.« »Das ist komisch. Martin pflegte zu sagen, wir hätten ganz gütlich miteinander in benachbarten Wohnungen leben können.« »Gütlich ist ein bißchen viel gesagt.« »Wem bist du dann nah?« »Den Kindern. Dir, obgleich wir so wenig voneinander haben. Und Simon, mit dem ich zusammenarbeite – weißt du, wenn ich an Smiles denke, ist er der einzige Erwachsene, den ich wirklich vermisse.« Rachel wartete. »Hast du dich jemals jemandem nahe gefühlt, den du überhaupt nicht richtig gekannt hast?« »Aber ja. Ich hatte mich halb bis dreiviertel in Martin verliebt, während ich ihm an seinem Schreibtisch in der Bibliothek beim Arbeiten zugesehen habe. Er hatte eine solch auffallende Art, sich bescheiden im Hintergrund zu halten, und er hat immer diesen endlosen Vorrat an Marsriegeln und Bananen aus seiner Tasche geholt. Mir war die Stille des Ortes zuwider geworden, also genoß ich seine Geräusche.« »Sie sind so blöd, diese Dinge, die dich an jemandem anziehen. Simon ist sehr ruhig und ziemlich langsam, nicht beschränkt, überhaupt nicht, aber du hast niemals das Gefühl, er wäre als Ganzes zusammen mit dir im Zimmer. Als lebte er im Kopf in einem Trappistenkloster und lauschte immerzu auf die Glocke, die ihn von seinem Gelübde erlöste. Er wird lediglich dann richtig lebendig, wenn er mit den Kindern spielt – ich, schätze ich mal, auch –, wir ertappen uns gegenseitig dabei, hören auf und sind erneut gehemmt.«
»Hört sich sehr interessant an. Vielleicht bringst du ihn mal hierher?« »Ich habe ihn niemals außerhalb von Smiles gesehen, kaum einmal außerhalb der Spielgruppe. Ich weiß nicht, was er mir bedeutet. Die vergangenen paar Wochen war ich mir seiner derart bewußt, daß ich kaum zu atmen vermochte, dennoch arbeitete ich einfach weiter. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, also tat ich gar nichts.« »Na, dann geh jetzt zurück und tu etwas! Es gibt nicht so viele Leute, die dich dermaßen anziehen, Blut zu Blut, und ich halte es für Blasphemie, sowas einfach wegzuwerfen. Enthaltsamkeit ist was anderes, aber warum solltest du dich seiner enthalten? Hört sich nicht so an, als schuldetest du Sean sehr viel. Ist er verheiratet?« »Simon? Ich glaube, ja.« »Find’s heraus! Warum ekeln dich deine eigenen Gefühle so sehr an? Tu dir doch zur Abwechslung mal was Gutes!« »Ich fühle mich nicht dazu berechtigt, ein kompliziertes Privatleben zu führen. Sean ist schon in Ordnung, er ist halböffentlich.« Rachel lachte und legte die Arme um ihre Tochter, was sie schon die ganze Zeit über, seit deren Eintritt, hatte tun wollen. Christy lehnte den Kopf gegen die rauhe Wolle über dem noch immer hervorspringenden Busen ihrer Mutter und verharrte dort. So nahe hatte sie sich schon seit langer Zeit keiner Person mehr gefühlt, und so mußte sie auch nicht die Ironie in Rachels Augen sehen. »Ich lache nicht deshalb, weil du deine Arbeit so ernst nimmst. Ich glaube, du hast recht. Was dich jedoch für Smiles so wertvoll macht, ist deine Energie, und damit du mehr davon kriegst, gibt’s nichts Besseres als eine glückliche Liebe. Im Augenblick hast du offenbar nicht viel Energie. Laß dich nicht
aus irgendeinem Sinn für Pflicht heraus ausdörren, das könnte ich nicht ertragen!« »Meinst du, wir werden weiterhin so wie jetzt reden und einander schreiben?« »Nichts kann uns daran hindern, solange jeder von uns beiden an einem Ort lebt, wo man die Post regelmäßig zustellt.« »Das ist das erste richtige Gespräch seit Monaten.« »Auch für mich.« »Geh nicht weg.« »Laß uns hinuntergehen und frühstücken.« Rachel bereitete Brötchen aus Hafermehl und Zimt und Rosinen, ein absichtlicher Versuch, gewisse Gerüche aus Christys Kindheit wiederzuerwecken. In der warmen duftenden Küche fühlte sich Christy wie eine Kranke, die sich auf die Genesung freut. Sie war müde, jedoch sehr erleichtert zu spüren, daß sie wieder ein Zentrum hatte. Sie dachte, ich kann die Häßlichkeit von Smiles nur mit dem Wissen ertragen, daß es Rachel gibt, zu der ich fliehen kann. Und Sean kann sich die soziologischen Implikationen in den… aber der Gedanke an Seans Hintern war lediglich eine langweilige Fagottnote in ihrem Flötenduett dieses Morgens. »Ich werde bald zurückgehen. Nächste Woche.« »Vielleicht werde ich dich mal besuchen. Würd’s dir was ausmachen? Ist doch absurd, daß ich nur so wenig darüber weiß, was du tust!« »Du kannst kommen, wenn du magst, aber ich käme lieber hierher zurück.« Sie aßen die heißen, krümeligen Brötchen. »Kochst du immer noch gern?« »In meinem Wohnwagen habe ich sowas wie einen Bunsenbrenner. Vielleicht solltest du mal kommen, nur um einen Blick drauf zu werfen.«
Sie unternahmen einen Spaziergang durch die rauhe hügelige Landschaft, über die Christy während ihrer Pferdezeit hinweggaloppiert war. Schrillgelbe Büschel von Stechginster drangen wie die Köpfe gelbsüchtiger Ungeheuer aus dem schütteren, blaßgrünen Gras. Zwei Ponies mit einem Fell von der Beschaffenheit des Grases, woran sie knabberten, sahen sie an, und Christy umarmte sie, atmete ihren stechenden, heftigen, freundlichen Geruch ein. Als sie noch allein hier geritten war, hatte sie sich vor den Gefangenen gefürchtet. Wildäugige, kahlgeschorene bärtige Männer, die Kettensägen schwangen, hatten in ihren Phantasien eine größere Rolle gespielt. Und wann immer sie eine Warnung erhielten, ein Mann sei entkommen, war Christy gewöhnlich mit dem Totschläger ihres Großvaters unterm Bett schlafen gegangen. Jetzt, dachte sie, kenne ich vielleicht ein paar von den armen Kerlen, die da drüben eingesperrt sind. Wenn ich einen treffe, werde ich ihm helfen, ihn verstecken und mit mir nach Smiles zurücknehmen. »Sieht alles anders aus?« »Nein, es hat sich nichts verändert, obwohl ich mich vermutlich verändert habe. Sollen wir nach Princetown hinübergehen?« »Ist ein langer Weg.« »Na und?« Der Himmel schwamm vor Regen, schluckte ihn dann jedoch hinunter wie ein Kind die Tränen. Die Sonne kam heraus und blinzelte schwach. Ein paar größere Tropfen fielen, dann jagten zerrissene weiße Wolken zur Küste, um dort die ersten Touristen durchzuweichen. Christy und Rachel schritten rasch über die Landschaft, die abwechselnd bedrohlich und bunt gesprenkelt aussah.
»Gott, wie ich mich an dieses Wetter erinnere! Die Warterei an der Bushaltestelle, wenn man es dazu bringen wollte, daß es nicht regnete, ehe der Bus eintraf!« »Du hast diese Tour gehaßt, stimmt’s?« »Jedesmal anderthalb Stunden, das reichte aus, um jedem die Schule madig zu machen.« »Ich habe immer geglaubt, ich könnte einmal genügend von der Miete sparen, die die Camper im Sommer zahlten, um einen Lieferwagen kaufen zu können. Es hat nie gereicht.« »Busse hasse ich noch immer. Ich nehme nie einen, wenn es sich eben vermeiden läßt.« Beim Weitergehen halfen sie einander über schwierige Stellen und lachten, als es schließlich doch regnete. Rachel war glücklich, sie dachte an all die Male, da sie allein hier heraufgegangen war und über ihre schlechte Beziehung zu Martin und Christy gegrübelt hatte. Jetzt kam sie sich nicht mehr länger wie eine verrückte alte Frau vor, Königin Lear, die in den Wind heult. Sie faßte Christy am Arm, als sie in die hübsche, wohlhabende, schmucke kleine Stadt kamen. »Sind wir nicht zu schmutzig, um da reinzugehen?« fragte Christy ängstlich auf dem Bürgersteig vor dem Tea Room. »Ist schon gut. Sie nehmen Bargeld.« Sie boten den vergoldeten Pferden und den karierten Tischtüchern mutig die Stirn und traten ein. »Alles so üppig«, flüsterte Christy heiser über ihr Ingwerbrot hinweg. »Ich habe vergessen, wieviel Geld es außerhalb Londons noch immer gibt.« »Dieses kleine ländliche Ghetto liegt im Zentrum. Aber natürlich fürchten sie sich vor den Menschen draußen, in den Wohnblöcken, die man in den sechziger Jahren errichtet hat. Dort haben sie 75 Prozent Arbeitslosigkeit, und dort liegt auch eine Zeltsiedlung. Der Farmer, dem das Feld gehört, ist ständig hinter ihnen her, kann sie jedoch nicht loswerden.«
»Selbst hier! Tja, warum freut es mich so, das zu hören?« »Weil es heutzutage eine Schande ist, in seinem kleinen umfriedeten Bereich zu leben und nicht wahrzuhaben, was draußen vor sich geht.« »Ein Teil von mir will am Fenster sitzen und Sahnetorten auf all diese Range Rover und Reithosen schmeißen. Der Rest will den Earl Grey-Tee samt dem georgianischen Haus gegenüber genießen.« »Wie ich annehme, spenden sie alle für die hungernden Kinder in Afrika.« »Verhungernde Kinder in England sind so geschmacklos, nicht wahr? Vergangenen Winter ist erneut die Rachitis ausgebrochen.« »Oh, sieh mal! Da ist Steven!« Er bestellte Hunderte von Hektar in der Nähe des Hauses ihrer Mutter, ein massiger, freundlicher Mann in teurer, praktischer Kleidung. Er winkte und trat zu ihnen an den Tisch. Sean hätte ihn aus Prinzip gehaßt, Christy war von ihm jedoch einfach bezaubert. Er war damit einverstanden, sie am kommenden Dienstag zur Autobahn mitzunehmen. Am Morgen ihres Aufbruchs kam Christy herab und fand ihre Mutter dabei, wie sie das Frühstück bereitete. Sie sah bewundernd, daß der Stapel Bücher und die Notizblöcke auf dem Tisch neben der Teekanne bereitlagen; sobald sie verschwunden wäre, nähme Rachel die eigene Lebensweise wieder auf. Sie waren beide ein wenig schüchtern, wußten nicht so recht, wie sie ihre altneue Freundschaft besiegeln sollten. Christy folgte ihrer Mutter auf Schritt und Tritt und half, wo es nichts zu helfen gab. »Setz dich doch hin, um Gottes willen!« Ehe sie das tat, blickte Christy sie an, und Rachel starrte zurück. Aus ein paar Zentimetern Entfernung sah Christy die Linien und Runzeln und das gekräuselte graue Haar, das auf
sie zukäme, und die Ungeduld, die, mit etwas Glück, gleichfalls auf sie zukäme. Rachel erblickte sich selbst zum Zeitpunkt gerade nach der Geburt ihrer Tochter, hart und ernst und nach einer Rückversicherung verlangend, die ihr niemand gab. »Du kommst bald zurück, nicht wahr?« »Sehr bald. Und du schickst ein paar von diesen Briefen?« »Alle.«
KAPITEL 10
Wie so viele Winkel Londons erweckte auch der Friedhof in Simon Erinnerungen an verschiedene Abschnitte seines Lebens. Und weil es ihm gefiel, von Geistern heimgesucht zu werden, suchte er ihn heim. Oftmals radelte er nach der Arbeit hindurch, und an den Wochenenden verstärkte er seine Einsamkeit mit einsamen Spaziergängen dort; halb mit den Gedanken in der Vergangenheit, halb in der Gegenwart, wo sich die Schwulen trafen, Zonkies und Säufer auf den Bänken saßen und vor sich hinstarrten, und Leute aus den Katakomben gekrochen kamen, den solidesten und makabersten Lagern, die ihm bislang zu Gesicht bekommen waren. Er wußte, daß sich seine Fähigkeit zu sorgen, wie Rose sie sarkastisch nannte, am Freitagabend abrupt abschaltete und er imstande war, Armut und Elend bis Montag nicht wahrzunehmen. Simon lenkte die Schritte vom Hauptweg ab, der nur zum Teil überwuchert war, und wandte sich zielstrebig ins Innere mit seinem üppigen Gestrüpp, wo Rosenbüsche, Butterblumen, dürre Blätter, hüfthohes Gras und stachelige Bäume auf zusammengebrochenen Gräbern zu einem reichen Kompost verrotteten. Der Geruch des frühen Sommers und des viktorianischen Todes drang ihm ins Bewußtsein. Hierhin pflegte er mit Jessica zu gehen, vor zwölf Jahren, wenn ihre Mitbewohnerin am Wochenende das einzige Schlafzimmer mit ihrem Freund beschlagnahmte. Wie dem auch sei, sie beide hatten die Liebe unter den alten Knochen romantisch gefunden. Damals waren auf dem Friedhof noch Wächter und Polizisten patrouilliert. Auf einigen der Gräber hatten Blumen gestanden, Gerüchten zufolge lebten Füchse in den
Katakomben, die heutzutage von menschlichen Wesen so geschätzt wurden, und über dem Ort hatte so etwas wie eine dahingegangene Aura des neunzehnten Jahrhunderts gelegen. Jetzt, da der Niedergang so vollkommen war, berauschte er Simon weit mehr. Der Wald von Dornen war rings um die Prinzessin gewachsen, nur daß die Prinzessin nicht schlief, sondern tot war. In Wirklichkeit lag Jessica nicht hier begraben. Man hatte sie wie einen Kuchen oder wie Ton gebacken, ihre Asche in eine Urne geschüttet und die Urne hoch oben in eine wabenartig durchlöcherte Wand gestellt, wo überall die lieben Verstorbenen standen. Jener andere Friedhof wurde sorgfältig gepflegt, kilometerweit erstreckten sich Rasen und Blumenbeete in irgendeiner südlichen Vorstadt, Mortlake oder Morden oder Mortown. Seit ihrer Beerdigung war er nicht wieder dort gewesen, und der Ort erweckte in ihm keinerlei Assoziationen. Wie er wußte, hätte Jessicas scharfer Geist einen so geschmacklosen Aufbewahrungsort mit Hohn und Spott bedacht und wäre zielstrebig zurück zu ihrem Friedhof getrieben. Simon war sich völlig darüber im klaren, daß er seinen Kummer als Ersatz fürs Nachdenken benutzte. Über zwei Jahre lang hatte das gut funktioniert. Es war die rechte Zeit, jene verlorene, schwerfällige Stunde nach dem sonntäglichen Mittagessen, und die Hitze verschmolz die Vegetation zu einem dicken Kloß, der ihm das Gehirn verstopfte. Irgendwo da drin, dachte er, hatten unsere Körper eine Grube geformt, mein Sperma hinterließ eine Spur, auf der die Würmer noch immer entlangrutschen. Sie hatte jene weißen Baumwollhosen mit einem leuchtend roten T-Shirt getragen, sie trug stets weit grellere Farben, als sie vom Wesen her war. Und sie schloß die Augen, als ich sie küßte, ebenso wie ich, an einer versteckten, kratzigen Stelle sanken wir zusammen zu Boden, und dort roch es nach Feuchtigkeit und Haar und Brombeeren. Äußerst
ungewöhnlich, so eingequetscht zwischen den Gräbern. Während er mit erneut geschlossenen Augen dort kniete, versuchte Simon, sie wiederum zu besitzen, wie er es an anderen Sommernachmittagen getan hatte. Dies war sein Heiliger Schrein. Aber Jessica war verschwunden; er dachte lediglich die Worte seiner Erinnerung und sah ihrer beider Gestalten auf dem Gras, nicht hier neben sich, sondern weit entfernt und klein und dumm. Simon öffnete die Augen, zitterte, erhob sich und trat in das Gewirr aus Steinen und Blättern. Die Dinge ringsumher nahmen eine stumpfe Härte an, und der Friedhof selbst wurde hart, war nicht länger mehr ein Aufbewahrungsort für seine Nostalgie. Unten, zwischen überwucherten Wegen, erblickte er die verfallenen, enthaupteten Engel und Löwen, Kreuze lagen im Gras, Grafittis auf all den kleinen Tempeln und Pyramiden, die für die Ewigkeit errichtet worden waren und sich so bald in Miniaturslums verwandelten. Simon schritt durch einen der grünen Tunnel, bückte sich und las die Inschriften, die ebenso exotisch waren wie Hieroglyphen einer anderen Zivilisation: ›Jo hua Whi Esp‹; ›De ly be ved ife‹, ›Sq re f Ke in on‹; ›Ga f is li Ki & co ry‹. Laute Stimmen von Menschen, fest verankert, sogar in ihren stakkatohaften gedämpften Stimmen zuversichtlicher, als er selbst es je gewesen war. Jessicas Stimme jedoch, tief, monoton und ein wenig nasal, war verschwunden. Rechts von sich vernahm Simon ein Rischein und Rascheln und hielt es für eines der Kaninchen oder Biber, die in so viele Londoner Parks zurückgekehrt waren, weil sie jetzt so überwuchert waren. Simon näherte sich dem Geräusch, leise, wie er hoffte, obgleich unter seinen schweren städtischen Schritten Blätter und Zweige brachen wie unter einem Bulldozer. Hinter einem Vorhang aus Gesträuch erblickte er zwei menschliche Torsi unbestimmten Geschlechts, die
inmitten eines Haufens Kleider, deren Geruch sogar den Geruch der Vegetation überdeckte, heftig fickend gegeneinander stießen. Simon zog sich zurück, schockiert davon, daß die Materialisation seiner Erinnerung so herb war. Er lief den Weg hinab, der zur entgegengesetzten Seite des Friedhofs führte, vorüber am flüchtigen Ausblick auf einen Kreuzgang und ein rundes, kuppelgedecktes Gebäude, wo verschiedene Familien wohnten. Hinter einer Wand ertönte aggressiver Baulärm, obgleich es Sonntag war. ›Unternehmen Freiheit‹ machte Überstunden zur Verwirklichung der Träume seines Vaters, die robuster und lukrativer waren als die eigenen. Über eine Wand hinweg sah er Pagoden, Minarette und zinnenartige Ornamente, die sich neben der Haupttribüne erhoben, wo die Menge früher Beifall geklatscht und getrampelt und sich zusammengerottet und getötet hatte. Diese zukünftigen Menschenmassen würden vermutlich passiver sein, obgleich er den Grund dafür nicht einsah, handelte es sich doch um die gleichen Menschen. Er fragte sich, ob es zutraf, daß das so heftig von der Regierung propagierte Neuropepsi einen Tranquilizer enthielt, der den Drang nach Gewalttätigkeiten unterdrückte, nebst allem übrigen, was an Drang vorhanden war. Diese Kinder da auf den Bänken mit den Stapeln von roten und schwarzen Dosen neben sich sahen aus, als hätten sie seit Jahren nicht gelebt, so, wie sie grinsten, schweigend, begeisterungsfähig für nichts. Er starrte sie an und beobachtete daraufhin einen Kran, der eine große Kuppel an ihren Platz hievte. Ein Bohrer trieb ein Loch in den Boden, um die Geldbäume seines Vaters einzupflanzen. Dutzende von Stimmen gaben Befehle, pfiffen, murmelten, fluchten, tratschten, höhnten, sangen; Hände sägten, hämmerten, nagelten, gruben, leimten, malten, pflasterten, verdrahteten und hoben Teebecher. Er
hörte fast seine Eltern am anderen Ende der Stadt, wie sie sich über den britischen Arbeiter beklagten, der sich gegen sie verschwor, um sie in den Ruin zu treiben. Der große FreemanZirkus erhob sich in ein paar Metern Entfernung, und er war zwischen Verlegenheit, Widerstreben und Familienstolz hinund hergerissen. Heute in einhundert Jahren wäre Bernards Dummheit ein architektonischer Schatz wie die Albert Hall. Oftmals hatte er Befriedigung darin gefunden, ein- oder zweihundert Jahre in die Zukunft oder in die Vergangenheit zu wandern. Er fragte sich, was Christy dächte, wüßte sie, daß er der Sohn eines Freizeit-Unternehmers war. Sie sollte ihn für einen Rebellen halten, der tapfer alle Brücken zur Familie abgebrochen hatte. Selbst die Illusionen meiner selbst sind zehn Jahre veraltet, dachte er bitter. Eher nähme sie an, ich wolle sie beschützen, sicherlich sagt ihr Sean das, oder ich wolle für meinen Vater spionieren, um herauszufinden, was die Massen wollten… je weniger er Christy sah, desto mehr sorgte er sich darum, was sie von ihm dachte. Als er eines Morgens zur Arbeit gekommen war und sie nicht angetroffen hatte, war er voller Panik umhergestolpert, und die Panik war angestiegen, als ihm aufgegangen war, daß er sie zu verbergen hatte. Sean hatte sie bestimmt bemerkt. Er war allen Fragen Simons einsilbig und mit funkelnden Blicken begegnet. Die Kinder hatten die Spannung zwischen den beiden erfaßt, und sogar den Grund dafür, wenn man den fünf Millionen Mal nach urteilen sollte, da sie fragten, wo denn Christy sei und wann sie zurückkehrte. ›Zu Hause‹ und ›bald‹ waren die einzigen Antworten, die aus Sean herauszuholen waren, und am Freitag waren nur noch halb so viele Kinder erschienen. Eine Katastrophe, dachte Simon mit echtem Schmerz. Er fühlte sich wie ein entlarvter Verbrecher. Die ganze Woche über hatten Sean und er einander bekämpft, wortlos eine leidenschaftliche Eifersucht ausgetragen. Trotz allen
Verdrängens kamen die Dinge doch offen zutage. Simon war sich jetzt sicher, daß Sean sie liebte, obwohl das aus Christys Benehmen niemals sicher zu schließen gewesen war. Und seine eigenen Gefühle, die Simon oftmals als zu nebulös zurückgewiesen hatte, verwirrten ihn in ihrer Intensität. Smiles ohne Christy war so grausam und eintönig, und er mußte sich selbst zugeben, daß er ohne sie nicht zwei Jahre lang dort gearbeitet hätte. Er mußte sich noch immer von diesem Schlag gegen seine Eitelkeit erholen: Die ganze Zeit über hatte er geglaubt, er gehe nach Smiles, weil er helfen müsse. Vielleicht war’s zu Anfang so gewesen. Am Freitag, nach der Spielgruppe, hatte er herumgehangen, bis Sean die Türen verschlossen und Simon, mit endlich offener Grobheit, sein Fahrrad in die Hand gedrückt hatte. Die letzten paar Tage hatte sich Simon lediglich noch ausgesprochen erbärmlich gefühlt, eine Karikatur von Seans schlimmstem Bild von ihm. Er hätte das ganze Wochenende vor der verschlossenen Tür sitzen und sabbern wollen: »Tut mir leid, tut mir ja leid, aber bitte, bitte sag mir, wo sie ist!« Er tat’s nicht, natürlich. Es fiel ihm so schwer, sich schlecht zu benehmen. Statt dessen sah er Sean direkt an, der seinem Blick auswich, und fragte: »Weißt du, ob Christy am Montag zurück ist?« »Keine Ahnung.« »Hast du was von ihr gehört?« »Nein. Tschüs. Ich treff mich mit jemandem.« Er verließ Simon auf dem schlammigen Hügel, an der Mündung der Zeltstraßen, die hinab zur Hauptstraße verliefen. Hier, genau vor einer Woche, hatte er sich von ihr auf lächerlich unangemessene Weise verabschiedet. »Schönes Wochenende, Simon!« »Tschüs, und auf dein Wohl!«
Er wand sich jetzt bei dem albernen Echo dieses Ausdrucks. Er hatte ihn stets gehaßt, tönten in ihm doch Cocktail-Parties und falsche Fröhlichkeit nach; warum hatte er ihn gebraucht? Was wäre, wenn das die unwiderruflich letzte Gelegenheit gewesen wäre, mit ihr zu reden? Das ist Liebe, dachte er, man leidet, weil man das falsche Wort benutzt hat. Das ist Liebe, und peinlich ist sie auch noch. Für so etwas bin ich zu alt. Noch immer gegen das Rad gelehnt, hatte Simon dagestanden und war nicht in der Lage gewesen, ihr Revier zu verlassen. Hier spürte er zumindest ein Echo und das Versprechen ihrer starken, warmen, ehrlichen Persönlichkeit. Was jedoch, wenn es kein Versprechen gäbe, wenn sie die Nase voll hatte von der Schufterei und dem finsteren Wohnwagen-Mitbewohner, oder was er auch immer sein mochte? Als ihm bewußt wurde, wie wenig er von ihrem Leben wußte, lösten sich Simons Eingeweide zu heißem Wasser auf, das ihm in die Kehle stieg. Er hatte niemals gefragt, sich niemals drum gekümmert; zwei Jahre lang hatte er jede Gelegenheit versäumt, sie besser kennenzulernen. Während er dort mit dem Rad stand, überkam es ihn, daß er auf sie wartete, auch wenn er wußte, daß sie natürlich nicht kommen konnte. Sein Blick war dabei, jede in Sichtweite kommende Gestalt zu jemand Dünnem mit zuviel schwarzem gewellten Haar umzuformen. Er sagte sich, ich kann nicht heimkehren, ehe ich sie nicht gesehen habe. Wahnsinn, fügte er hinzu und wiederholte das Wort, um sicher zu gehen. Es muß andere Leute geben, die wissen, wo sie sich aufhält. Ellen. Wenn ich es wüßte, könnte ich wenigstens hingehen oder ihr schreiben. Ich war so vorsichtig wie ein Eichhörnchen gewesen, habe meine Eicheln der Leidenschaft gehortet. Ich wette, ihr Freund ist ihr niemals irgendwohin nachgelaufen. So bestärkt schloß Simon sein Rad an einen Laternenpfahl und machte sich über den Schlamm auf den Weg. Als er
zwischen den Zelten dahinging, wurde Simon klar, daß ihn Smiles ohne Christy ängstigte. Stets war er direkt zu ihr und den Kindern gegangen und ebenso direkt wieder heim. Während er also selbstzufrieden geglaubt hatte, er sei ein notwendiger Teil ihrer Gemeinschaft, kannten ihn die meisten Menschen des Lagers kaum besser, als er sie kannte. Die ersten drei Leute, die er nach Ellen fragte, blickten ihn schweigend an. Er ging einen Trampelpfad von etwa einem halben Meter Breite entlang, der sich zwischen ungleichmäßigen Zeltreihen, Wohnwagen und korrodierten Wellblechhütten dahinwand. Die Oberfläche des Schlamms, dort, wo er zu gehen versuchte, war trocken, aber obwohl es eine Woche lang nicht geregnet hatte, quietschte der Matsch in den kleinen Tälern der Fahrrinnen. Aus dem Geruch schloß er, daß es sich um eine Mischung aus Scheiße, Pisse und Müll handelte. Im Waschhaus und in den verlassenen Wohntürmen gab es Toiletten, aber die meisten davon waren die meiste Zeit über verstopft. Mindestens einmal am Tag mußten Christy und er gewöhnlich die Toilette der Spielgruppe wieder freibekommen. Welch ein romantisches Liebeswerben; Simon lächelte und weigerte sich, sich vom Gestank und der Feindseligkeit entmutigen zu lassen. Sie hatte damit gelebt; es täte ihm nicht weh, auch einmal eine halbe Stunde darin zu verbringen. Er wußte, er würde vor Einbruch der Dunkelheit gehen. Eine Menge Leute saßen draußen im warmen Sonnenschein des Nachmittags, aber keiner davon sah ihn an, bis er an ihnen vorüber war, zumindest glaubte er das. Er sah sich selbst mit ihren Augen von hinten, das lose herabhängende Chinahemd und die neuen braunen Baumwollhosen, die an einem Hintern klebten, der lediglich saubere, funktionierende Toiletten gekannt hatte. Die Toiletten in St. John’s Wood mit der Ablage, worauf kleine verpackte Handtücher lagen, Luftverbesserer und eine musikalische
Klopapierrolle mit dem Union Jack darauf. Der hielt den Kopf wie ein Pelikan in die Luft und schnüffelte angeekelt. Ja, er würde ihn gleichfalls hassen. Lilys Kopf erschien in einer der Zeltöffnungen. »Mein Lehrer, Tante!« »Wirklich? Was woll’n Se? Woll’n Se was Tee?« Die Frau, das Kind und der kochende Kessel füllten das Zelt offenbar vollständig aus, also hockte sich Simon draußen hin, dankbar dafür, daß ihn jemand erkannt hatte. »War se ‘n böses Mädchen inner Schule? Müsse Se se den Hintern versohlen. Oder schicken Se se zu mir. Ich versohl ihr den Hintern.« »Lily ist niemals böse, sie ist eine große Hilfe. Sie erzählt uns Geschichten und kümmert sich um die Kleinen. Wenn sie jemals nach Afrika geht, werden wir sie vermissen.« »Was soll dieser Afrika-Scheißdreck? Du has schon wieder diese Lügen da von Afrika erzählt?« Da er befürchtete, Lily in Schwierigkeiten gebracht zu haben, überhäufte Simon sie mit weiterem Lob. In dem dunklen Zelt glänzten die schwarzen Teiche der Augen des Kindes vor Freude. »Also die Lily macht wirklich keine Schwierigkeiten?« beharrte die Tante. Sie war gerade etwa dreißig, jedoch vernarbt und verwüstet. »Nein. Niemals. Vielen Dank für den Tee. Wir sehen uns am Montag, Lily.« Simon ging auf, daß er, wohin er auch immer ging, eine Gestalt von Autorität war. Er kam sich dabei vor wie ein Heuchler. Während er noch immer Ausschau nach Ellen hielt, ging er die Hauptstraße hinab bis in die Nähe der Zonkie-Insel. Unter ihm hatten sich eine Menge Leute um Teds Lastwagen geschart. Er vernahm Geschrei und das Geräusch zerbrechenden Glases und erkannte einige der Mütter von
Kindern aus der Spielgruppe wieder, Beatrice und Rita eingeschlossen. Zunächst dachte Simon, sie protestierten, wie üblich, wegen der Länge der Schlange, die nach Teds muffigem, überteuertem Brot anstand. Dann sah er, wie Beatrice und eine der anderen Mütter auf den Wagen sprangen und damit begannen, Kisten herabzuwerfen. Teds Gesicht erschien im Profil, er fuhr wie ein Kasper mit dem Stock herum und schrie hysterisch, während die Frauen lachten und ihn verhöhnten. Simon wandte sich um und erblickte Ellen, die er von der Spielgruppe her kannte, wo sie manchmal aushalf. Sie stand genau hinter ihm, das Baby eng an sich gedrückt, und beobachtete die Szene. Sie war eine kleine nette Frau, vorzeitig gealtert, wie jeder in diesem Lager. Ihr Gesicht war voller Runzeln, unter den Augen lagen Tränensäcke, und sie drückte ihren sechs Monate alten Sohn Jack an sich, als sei er ihr einziger Schild. Sie kämpfte so heftig um ihn, wie sie stets für sich selbst gekämpft hatte. Dennoch war das Baby immerzu krank; es hatte sie die ganze Nacht über mit Fieber und Durchfall wachgehalten. Ellen grinste Simon an, und er grinste zurück, wobei er dachte, wie anziehend unverwüstlich sie war. Er versuchte, sich die Freundschaft zwischen ihr und Christy vorzustellen. »Tag, ich habe Sie gesucht. Worum geht’s denn da unten?« »Das war schon lange vorauszusehen. Ich würd mich ja beteiligen, wenn ich Jack irgendwo lassen könnt. Sie haben versucht, Ted zu veranlassen, seine gesamten NeuropepsiVorräte in den Fluß zu schmeißen, und er wollte das nicht, also schlagen sie sie kaputt.« »Aber warum? Ich habe es für ihr Lieblingsgetränk gehalten!« »Es is das billigste Getränk gewesen, was er verkauft hat. Und ich geb zu, daß es einige Frauen dazu benutzt haben, die
Kinder ruhigzustellen. Beatrice hat das selbst jahrelang getan. Aber da hat’s neulich zu viele Gerüchte gegeben, dann war da so ‘n Artikel im Prodigal Bum…« »Worum ging’s da?« »Haben gesagt, die Kinder entwickeln sich nich richtig, die Zähne wer’n faul, und es wirkt sowas wie ein Beruhigungsmittel, weil es Millionen von Gehirnzellen tot macht. Haben Tests mit Ratten gemacht oder sowas. Ich weiß nich, ich trink das Zeug nie, und ich geb’s auch nie Jack. In den vergangenen paar Wochen haben sich die meisten Leute geweigert, es zu trinken. Ted is ins Flattern geraten, also hat er die Preise wieder gesenkt, und das hat sie noch mißtrauischer gemacht. Was tun Sie übrigens hier?« »Bin auf der Suche nach Christy.« »Sie is ihre Mutter besuchen, nich wahr?« »Ich weiß es nicht. Ich versuche, es herauszufinden.« »Da müssen Sie Sean fragen. Er wohnt…« »Ich weiß, wo er wohnt. Er will mir nicht sagen, wo sie ist.« »Oh!« Sie sah neugierig und amüsiert drein. »Sie sin Simon?« »Ja. Warum?« »Hab mich nur gerad gefragt. Egal, ich schätz mal, sie is bei ihrer Mutter.« »Haben Sie die Adresse?« »Nein. Devon oder Cornwall, irgendsowas. Sie wird wohl Montag wieder zurücksein. Machen Sie sich keine Sorgen.« »Werden Sie mich anrufen, wenn sie wieder auftaucht?« Er schrieb ihr seine Telefonnummer auf einen Fetzen Papier. Sie lachte. »Also gut. Ich hoff dennoch, Sie wissen, um was Sie mich da bitten. Is ‘ne halbe Meile bis zum nächsten Telefon, isses glatt.«
Simon scherte sich nicht darum, daß sie ihm seine Verzweiflung ansah. Er mochte sie, und jetzt, da er sich dazu entschlossen hatte, ein Liebender zu sein, versenkte er sich, mit einiger Erleichterung, ganz in diese Rolle. Später, während er über die Wandsworth Bridge radelte, hörte Simon innerlich die Worte einer Diskussion um Unterkunft, die er mit seinen Eltern vor Monaten geführt hatte: MADGE: Ich sehe nicht ein, warum sie an solch schrecklichen Orten leben müssen, mein Lieber. Jeder mit nur einem Fünkchen Initiative kann sich ein hübsches Haus kaufen, zum Beispiel hier in der Gegend, oder irgendwo weiter draußen in den Vorstädten. SIMON: Initiative wozu? Zu einem Bankraub? BERNARD: Sie könnten sich, verdammt noch mal, das Geld leihen. Und arbeiten gehen, um’s wieder abzuzahlen. Zu viele Leute meinen, der Staat schulde ihnen den Unterhalt. MADGE: Wenn die Leute in diesen schrecklichen Lagern leben müssen, warum kümmert man sich dann nicht richtig um sie? Sogar Rose war von dem Zustand des Orts schockiert, wo du arbeitest. SIMON: Das ist keine Frage davon, wo die Leute wohnen wollen, der springende Punkt ist der, daß es nicht genügend Wohnraum gibt. Und es wird keiner gebaut. MADGE: Also wirklich, mein Lieber, jetzt übertreibst du aber. Da ist dieses hübsche Gebäude, das sie in Heath bauen, wo die Dobsons hinziehen werden, und die Finchley Road ist voll von Baugrundstücken. SIMON: Ich rede von armen Menschen, um Gottes willen! Menschen, die keine Jobs oder Kapitalanlagen oder freundliche Bankmanager oder überhaupt nur irgend etwas haben. Wo, zum Teufel, sollen die nachts schlafen?
MADGE: ES besteht kein Grund dazu, so zu sprechen wie der Abschaum der Menschheit, nur weil du es vorziehst, soviel Zeit unter denen zu verbringen. BERNARD: Wie mein lieber alter Vater zu sagen pflegte: Die Armen sind stets unter uns, wir können lediglich versuchen, sie uns vom Halse zu halten. Und er mußte es wissen. Hat mit neun Pence die Woche als Zeitungsjunge angefangen, die Schule mit zehn verlassen. Wenn du in jenen Tagen nicht ganz schön hart gearbeitet hast, bist du verhungert. SIMON: ES gibt heutzutage auch Leute, die verhungern, das wird dich freuen zu hören. Kinder, die an Unterernährung und Kälte sterben, nur ein paar Meter von Harrods entfernt. In den Parks. MADGE: Unsinn, mein Lieber. Du bist so leichtgläubig. Diese Leute erhalten Unterstützung in Form von Marken und Gutscheinen und was weiß ich nicht noch alles. Darüber habe ich neulich im Morning Glory gelesen.
Simon erinnerte sich an die Unterhaltung mit Rose in jener Nacht, in der Küche seiner Eltern. Ja, es stimmte, ihre Stimmen waren stets in seinem Kopf. Den gesamten Freitagabend und den ganzen Samstag hatte Simon auf Ellens Anruf gewartet. Es war, als wäre er außerstande, etwas anderes zu tun, nachdem er sich dazu entschlossen und sich gestattet hatte, Christy zu lieben. An jenem Nachmittag hatte er sich aus dem Netz von Einsamkeit freikämpfen müssen, um zum Friedhof zu gehen, und jetzt, da er hier war, hämmerte Christy noch immer in seinem Kopf. Wenn er zur Wohnung zurückginge, lägen noch sieben Stunden vor dem Schlafengehen, fünfzehn, ehe er sie möglicherweise sehen könnte… Simon verließ den Friedhof und trieb sich in der Nähe der Telefonzellen draußen vor den
Toren herum, in der Fulham Road. Wen könnte er anrufen? Rose. Chris, seinen einzigen verbliebenen Schulfreund. Daniel, seinen Ex-Kollegen. Das wären die einzigen drei Menschen, die, da war er sicher, erfreut wären, von ihm zu hören. Wiederum vernahm er Madge: Das Problem ist, du läßt dich viel zu weit hineinverstricken. Es stimmte, er liebte zu wenig Menschen zu sehr. Beide Apparate waren aus der Rückwand gerissen worden, also war ihm die Entscheidung aus den Händen genommen. Er würde sich auf den Weg machen und Daniel und Frankie besuchen, die innerhalb von Fußreichweite wohnten. Beider Wohnung lag in dem denkmalgeschützten Gebiet in der Nähe der Boltons, zwei große, sonnige Etagen oben in einem weißen stuckverzierten mittelviktorianischen Haus. Die Gärten vor und hinter dem Haus waren riesig, und Äste stießen an beiden Seiten des Wohnzimmers gegen die Fenster und warfen spitze Schatten auf den hellen Teppichboden. Die Wohnung war Daniels und Franks Lebenswerk, sie hatten sie umgebaut und dekoriert und hielten sie mit Geldspritzen aus ihrer beider Full-Time-Jobs in Schuß. Stolz saßen sie darin, Teil des sorgfältig geplanten Dekors. Daniel war groß und dunkel, mit einem großen spitzen Gesicht, das von wallendem Haar umrahmt wurde, und Frankie sah ihm bemerkenswert ähnlich. Simon hatte das stets als Zeichen dafür angesehen, daß beide miteinander zufrieden waren. Sie liehen sich gegenseitig die Kleidung und vollendeten die Sätze des anderen. Sie lebten ihr gemeinsames Leben mit einer Intelligenz und Fähigkeit, angesichts derer sich Simon völlig unzulänglich vorkam. Doch er liebte es, die fremdartige Atmosphäre dieses Hauses einzuatmen. Unten im Garten spielten ruhig und besonnen ihre Kinder. Daniel und Frankie saßen auf einem scharlachroten Sofa unter dem Fenster, und ihre Köpfe umgab ein Halo aus
Verträglichkeit. Simon saß ihnen gegenüber auf der Kante eines Lehnstuhls, und zu den Büchern, Zeitungen und Spielzeugen auf dem niedrigen Tisch mit der Marmorplatte war eine Flasche Weißwein hinzugekommen. Simon schluckte den Wein hinab und bereitete sich auf die Fragen vor, die sie stets stellten. »George hat mich gefragt, was du am Freitag getan hast. Ich weiß nie, was ich sagen soll.« Daniel lächelte verteidigend. »Das weiß ich auch nicht.« »Wie ich annehme, gehst du eines Tages zurück zur Architektur?« fragte Frankie, für die die Welt außerhalb ihres Berufslebens nichts weiter war als ein widerlicher verwischter Fleck. »Nein. Ich sehe einfach keinen Sinn in jenen Gebäuden, die ich zu bauen hatte, und diejenigen Gebäude, an die ich glaube, würden jetzt niemals gebaut werden.« »Hast du noch immer deine Modelle?« fragte Daniel. »Ein paar. Was ist mit eurer Arbeit?« Simon sah nicht ein, warum stets er derjenige sein sollte, der ins Kreuzverhör genommen wurde. Daniel entwarf gerade ein Hotel in Tokio, und Frankie machte Werbung für ein Buch über Spielzeugsoldaten. Sie zeigte ihm einen Artikel aus dem Sunday Hope-Magazin. Bald jedoch kehrten sie zu Simon zurück: Er hatte keine Arbeit und war daher öffentliches Eigentum. »Aber was ist mit Merlin?« fragte Frankie. Da erst bemerkte Simon, daß er das ganze Wochenende über nicht an ihn gedacht hatte. Sein Schuldgefühl zeigte sich auf seinem Gesicht, und seine Freunde stürzten sich sofort darauf. »Oh, er ist noch immer bei meinen Eltern.« »Wie konntest du ihn einfach so fallen lassen? Ich meine, anfangs konnte ich das ja verstehen, so direkt nach Jessicas… aber das ist Jahre her. Und es ist ja nicht so, als verstehst du
dich gut mit deinen Eltern. Wer weiß, was die ihm so erzählen… ich weiß, wenn Daniels Mutter Lisa und Toby in die Finger bekäme, dann ließe sie einige Katzen aus dem Sack.« Daniel wollte sie zum Schweigen bringen, aber Simon begrüßte ihre brutale Offenheit. »Ich möchte ja, daß er wieder zu mir kommt. Aber ich hab’s halt so lange hinausgezögert, bis meine Angelegenheiten wieder in Ordnung wären, und irgendwie ist das niemals dazu gekommen.« »Das wird auch nie dazu kommen. Mittlerweile ist er sich bewußter, kreidet dir alles an, gibt dir die Schuld – wie kannst du das ertragen, Simon?« »Weil ich nicht viel von ihm zu Gesicht bekomme. Bis jetzt habe ich ehrlich geglaubt, er sei oben im Castle besser aufgehoben.« »Vermißt du ihn nicht?« »Sehr.« »Bringst du ihn wenigstens mal zum Spielen mit den Kindern mit?« »Werde ich. Nächsten Sonntag?« »Schön! Und du wirst zum Abendessen bleiben?« Sie spürte, daß sie vielleicht zu tief gebohrt hatte, wollte jedoch noch weiterbohren. Während Frankie unten mit den Kindern spielte, unterhielten sich Daniel und Simon zivilisiert und neutral über Gaudi∗ und Lutyens∗∗. Dann setzte sich Frankie zu ihm, während Daniel kochte, und eröffnete sofort das Feuer.
∗
Antonio Gaudi y Cornet, span. Architekt, 1852 – 1926;
∗∗
Sir Edwin L. Lutyens, engl. Architekt, 1869 – 1967. – Anm. d. Übers.
»Neulich nachts habe ich von Jessica geträumt. Sie sah echt sauer und gehässig aus, und sie sagte unentwegt, wir würden sie betrügen.« Warum kann ich, fragte sich Simon, nur mit Frauen über mich selbst reden? »Hast du wirklich diesen Traum gehabt, oder hast du ihn erfunden?« »Ja, ich habe ihn wirklich geträumt. Ich träume oft von ihr, und stets mit einem Schuldgefühl. Ist merkwürdig, denn als sie noch lebte, hatte ich das Gefühl, sie wickelte uns alle um den kleinen Finger.« »Das ist nur ihre Art, es von… wo auch immer her… zu tun.« »Simon! Wie zynisch! Und das von dir, dem Witwer mit dem gebrochenen Herzen!« »Man kann nicht ewig mit gebrochenem Herzen herumlaufen, oder man könnte ebensogut tot sein.« »Kein wahreres Wort! Oh, das freut mich! Wollen wir noch was trinken?« Dann, als sie das Glas vollgoß: »Weißt du, daß mich Daniel die vergangenen beiden Jahre immer wieder daran hindern mußte, dich zum Abendessen einzuladen, damit du diverse Frauen triffst?« »Es hätte nicht funktioniert. Obwohl – gegen das Abendessen hätte ich nichts gehabt.« »Oh, schön zu hören, daß du auch Witze machen kannst. Ich hatte schon geglaubt, du würdest niemals mehr lächeln. Wirst du sie mal mitbringen?« »Frankie, sei nicht so unverblümt!« dröhnte Daniel aus der Küche. »Bin ich nicht, das ist einfach nur Neugier. Wie heißt sie denn?« »Christy. Aber das ist noch nicht wirklich…« »Wenn du mit ihr zusammenziehst – wirst du Merlin dann wieder deinen Eltern wegschnappen?«
»Das ist eine unmögliche Frage!« Daniel kam mit einer Anrichte voller Nudeln und einer Schüssel Salat herein. »Du stellst nichts als unmögliche Fragen, Frankie.« Er fragte sich, warum beide so entspannt wirkten.
KAPITEL 11
Halb betrunken, mit vollem Magen und wohlig erwärmt von der erneuten Befestigung ihrer Freundschaft, schloß Simon spät in dieser Nacht seine Wohnung auf. Das Schweigen war weniger bedrückend, wenn man gerade von einem Gelächter kam. Er ging über den Linoleumboden im Flur, ein schmutziges Schachbrettmuster, und legte Faurés Requiem auf Band auf. Daraufhin schaltete er im Wohnzimmer alle Lichter an, zog die Vorhänge vor (Jessica hatte die Gewohnheit, sich in einen Zweig zu verwandeln und am Fenster zu kratzen) und legte sich aufs Sofa. Er wußte, ehe er völlig von ihr loskäme, müßte er umziehen. Dies hier war weniger eine Wohnung als vielmehr ein Museum des Aberglaubens und der Nostalgie. Jessicas Kleider und Bücher, Merlins Spielzeug und die eigenen Modellbauten – alle so wenig aufregend wie diejenigen im Haus seiner Eltern – füllten die Zimmer. Jeder Schritt, den er hier tat, jede Geste, die er vollführte, war ein Echo auf Handlungen seiner Vergangenheit. Als er zwanzig und Rose achtzehn Jahre alt gewesen waren, hatte ihr Vater jedem von ihnen eine Wohnung in diesem Haus gekauft, und zwar mit Geld, das ihnen ihr Großvater zu treuen Händen hinterlassen hatte. Alle hatten sie eingesehen, Madge und Bernard stillschweigend, die Kinder geräuschvoll, daß sie nicht mehr länger beisammen bleiben konnten. Rose hatte bald genügend verdient, um sich eine andere, schönere Wohnung zu kaufen, aber Simon war geblieben, hatte sich seiner zunehmend schäbigeren Erwachsenen-Hülle angepaßt, zu arm
und, in gewisser Hinsicht, zu ehrlich, um sich entwurzeln zu lassen. Abgesehen davon liebte er das Zimmer, in dem er sich jetzt gerade aufhielt. Es war länglich, grün gehalten und öffnete sich wie eine Unterwasserhöhle zum Ende des schmuddeligen Flurs hin. Auf der gegenüberliegenden Seite des Sofas, worauf er saß, führte eine Tür zu den Steinstufen, die, allmählich zerbröckelnd, in den von Gras überwucherten Garten führten. Daneben war ein großes Fenster sowie ein kleineres, einem Kirchenfenster ähnliches, eingelassen. Zu seiner Rechten befand sich ein offener Kamin, den er noch immer einschwärzte und polierte und benutzte. Das Zimmer war stets ein Refugium gewesen; sobald er es betrat, atmete er eine so vertraute Luft, so abgestanden und schwer, daß sich die Tore der Furcht hinter ihm schlossen. Auf dem Sofa liegend streckte er Arme und Beine und spürte die Größe und Kraft seines noch immer jungen Körpers. Verlangen mochte etwas Lästiges sein, war jedoch gleichfalls ein überzeugender Beweis für Vitalität. Seine Hände schlüpften zum Hosenschlitz hinab, zogen seinen harten Schwanz heraus, und er starrte ihn an. Es war kein vertrauter Anblick. Aber unter dem Griff seiner Hände überflutete das Gefühl seine innere Gleichgültigkeit, Erleichterung und Freude, als seine Nervosität herausbrach und sich auflöste. Oh, Materie über Bewußtsein, Fleisch zu Fleisch, Simon zu Christy! Keuchend schloß er die Augen, sein Gesicht zeigte Qual, als sein Vergnügen explodierte, wieder rief er sie beim Namen. Und in der darauffolgenden kalten und schleimigen Erschlaffung bemerkte er, daß er gerade eine Art Exorzismus und Vollzug der Ehe durchgeführt hatte. Simon entzündete mit den Lumpen und Zeitungen, die er in einem Papierkorb in der Ecke aufbewahrte, ein Feuer. Daraufhin holte er, immer wieder hin- und hergehend, Jessicas
Besitztümer aus dem Schlafzimmer und häufte sie auf den Teppich vor das Feuer. Das Schlafzimmer war ein trostloser Ort, ein wahrhaftigeres Monument für Simon und Jessica als das liebenswerte Hinterzimmer. Dort lagen die zugeschnittenen Regale, die er halb zusammengebaut hatte, ehe er das Interesse daran verloren hatte, der hohe Spiegel, worin sich Jessica mit wachsender Unzufriedenheit betrachtet hatte, und der Ankleidetisch, der unter den Flaschen mit Schlaftabletten und Beruhigungsmitteln förmlich verschwunden war. Jedesmal, wenn Simon das Zimmer betrat, erblickte er Jessica an jenem Morgen, wie sie dalag, das weiße Nachthemd spannte sich um die Oberschenkel, das lange braune Haar hing ihr, verklebt vom Erbrochenen, im Gesicht. Er war von einer Party bei seinen Eltern zurückgekehrt. Er hatte Jessica angerufen, um ihr zu sagen, wo er war, aber sie hatte ihm nicht geglaubt, sie hatte ihm niemals geglaubt, sie hatte einen unersättlichen Leidenshunger gehabt – und jetzt wischte jenes Bild alle anderen erotischen, zarten, ärgerlichen oder glücklichen Erinnerungen beiseite, die er an jenes Zimmer gehabt haben mochte. Für immer lag sie tot auf dem Bett, und die erbärmliche Vergeudung, die ihr Tod darstellte, hatte alles vergiftet, was er an ihr geliebt hatte, als sie noch lebendig gewesen war. Im Krankenwagen war er verlegen geworden, weil sie keinen Slip getragen hatte. Merlin war ihm ins Schlafzimmer gefolgt. »Ist Mutti betrunken?« »Sie muß ins Krankenhaus!« »Im Krankenwagen? Werden sie mit Tatü-Tata kommen? Kann ich mitfahren?« »Ja, du kannst mitfahren.« Simon hatte gewußt, daß sie tot war, obgleich er’s nicht hatte aussprechen können, nicht einmal sich selbst gegenüber. Zum
erstenmal hatte er’s am folgenden Tag Merlin gegenüber ausgesprochen, weil er die üblichen Euphemismen wie ›von uns gegangen‹ nicht ausstehen konnte. Madge war anwesend; sie war vorbeigekommen, sobald sie die Neuigkeit gehört hatte. »Wie kannst du so brutal sein?« Sie schluchzte und drückte Merlin an sich. »Spuck mich nicht an, Oma!« »Mein armer kleiner Junge! Er weiß noch nicht einmal, wie man weint.« »Kann ich jetzt zur Schule gehen, Simon?« »Ich bring dich hin, wenn du willst.« Simon dachte an Merlin, als er ihre schönsten Kleider mitnahm, diejenigen, die er so an ihr geliebt hatte und die er nicht hatte weggeben können, tränkte sie mit Petroleum und warf sie ins Feuer. Der Rauch verursachte ihm Kopfschmerzen, machte seine Augen tränen; er öffnete die Hintertür und setzte sich oben auf die Steinstufen und blickte hinaus über die dunklen Gärten. Konzentrier dich auf Merlin! Ich habe seitdem nicht wirklich über ihn nachgedacht. Jessica war wie ein Schleier zwischen uns gewesen, als habe es meine Tragödie sein sollen, nicht die seine. An dem Tag, da ich ihm sagte, sie sei tot, habe ich ihn zum letztenmal richtig gesehen, gespürt. Ich habe ihn ins Castle geschickt, um dem Blick seiner Augen zu entgehen, weil er wußte, wie gemischt meine Gefühle waren. Als hätte ich gewünscht, beide sollten tot sein, als hätte ich seine Wahrnehmungen in der fettigen Luft von St. John’s Wood ersticken wollen. Nichts wird in Ordnung sein, ehe er nicht wieder hier ist. Ruf ihn an, dann wär’s so einfach. Nicht um eins in der Nacht. Simon hatte Merlins Zimmer unberührt gelassen, den Raum in der Mitte, zwischen ihrem Schlafzimmer und dem Bad. Gott
mochte wissen, was durch die dünnen Wände gedrungen war. Aber an den Wänden hing eine lustige Tapete, Pu der Bär, der in seinem Ballon davonfliegt, und das kleine Zimmer war voll mit verstaubten Legokartons, einem Schaukelpferd, einem Tischfußballspiel… Merlin hatte nicht viel Spielzeug mitnehmen müssen, weil Madge ihm so viel geschenkt hatte. Sie hatte ihn nicht auf seinen Geburtstag oder auf Weihnachten warten lassen, sondern hatte ihn einfach mitgenommen und mit ihrer Britcard behext. Kein Wunder, daß Merlins Gefühle wegen seiner Rückkehr ebenso komplex waren wie Simons Gefühle, ihn wieder hier zu haben. Während der beiden vergangenen Jahre hatte Simon oftmals überlegt, das zweite Schlafzimmer zu vermieten, was sein Einkommen erhöht hätte. Es hätte jedoch auch bedeutet zuzugeben, daß Merlin nicht zurückkehrte. Abgesehen davon hätte es niemanden gegeben, mit dem Simon hätte zusammenleben können; es war sogar Monate her, da er einen Freund in die Wohnung eingeladen hatte. So lange war sie seine ureigenste Warze gewesen, hatte seine Gerüche und Geister angesammelt und neue, eher lederne Schichten von Haut sprießen lassen. Ein Messer zu nehmen und sie herauszuschneiden, wäre so grob, so vieles andere würde verderben. Er konnte sie nicht entfernen; er konnte lediglich seine Vergangenheit verbrennen. Vielleicht kehrte Christy morgen zurück. Simon hatte zu Bett gehen wollen, aber beim Gedanken daran, sie am Morgen sehen zu können, sie zum erstenmal offen zu lieben, blieb er zusammengerollt am Feuer liegen. Das Feuer schickte jetzt weniger Rauch aus, nährte sich ruhig von der Asche aus Jessicas Büchern. Er hatte ihre Kinderbücher für Merlin zurückbehalten, hatte jedoch ohne Reue die Gedichte und Romane verbrannt, die Bücher über Astrologie und Kräuter und Katzen und große Gebäude der Welt. Zu sehr waren es
ihre Bücher gewesen, viele davon Geschenke von ihm, mit Widmungen auf dem Deckblatt. Er erinnerte sich der leicht gönnerhaften Stimmung, worin er sie gekauft hatte. Er hatte gut anzuschauende Bücher ausgesucht, weil Jessica nicht wirklich las, sondern Bilder betrachtete. Sie war nicht imstande, einen ernsthaften Gedanken zu fassen, sondern absorbierte Ideen irgendwie. Eine davon war ein fast blinder Respekt vor Kunst gewesen. Sie hatte ihn zunächst als Künstler geliebt und hatte jeden bewundernd und mit großen Augen angestarrt, den sie in einem Pub oder auf einer Party getroffen hatte und der verkündete, er oder sie schriebe oder malte. Sie war überzeugt davon, daß es viel bewundernswerter sei, ein unveröffentlichtes Gedicht zu produzieren als einen Autoverleih zu organisieren (ihr Job bis Merlins Geburt). Ihr Traum war’s gewesen, von einem ›großen Künstler‹ gemalt oder gezeichnet zu werden, denn sie wußte, ihr Gesicht war bemerkenswert, eine Prä-Raffaelitische Maus hatte Simon sie einmal genannt. Er hatte sie enttäuscht, weil er ihr nicht zur Unsterblichkeit verholfen hatte, und sie hatte, in mehr oder minder bekleidetem Zustand, für ziemlich viele EndzeitGenies posiert. Er hatte ihre Anbetung der Kunst oftmals belacht; vielleicht jedoch hatte dies seinen Ehrgeiz genährt, der geschwunden war, fast unmittelbar nachdem sie… wie war sie ins Zimmer zurückgekehrt? In gewisser Hinsicht war’s Jessicas unkritische Hinnahme des sogenannten Artistischen gewesen, das sie umgebracht hatte. Sie waren nahe daran gewesen, sich zu trennen, und so hatte sie einen opernhaften Tod gewählt. Nur daß es statt anschwellender Stimmen und wunderbaren Bühnenbildern lediglich einen kalten weißen Leichnam gegeben hatte, der unanständig dalag, eine häßliche Fahrt in einem Krankenwagen, ein Krankenhaus, wo Selbstmorde durch die Flure geschoben wurden wie Autos auf einem Fließband.
Es sind die Lebenden, die zählen. Merlin, o Merlin, erfülle den Raum, worin sie sich so gierig ausgedehnt hat! Langsam materialisierte sich das Kind im Schein des Feuers, vorsichtig zunächst, der blasse, schmale, überhöfliche Junge von Madges Party. Dann rief sich Simon seine Gegenwart zurück, als er glücklich gewesen war, ehe ihn die schmutzigen Tragödien der Erwachsenen paralysiert hatten. Merlin lachte, rief, rannte, spielte im Garten, planschte in der Wanne und zog sich in seinem Zimmer an. Sein Vater taute auf, lächelte. Und Christy käme auch hierher, bald, wenn die dummen Barrieren zwischen ihnen gefallen waren. Dann wäre das Zimmer wieder warm und stark; endlich wäre er gegen seine Vergangenheit gewappnet. Es tat so gut, einen Traum zu haben. Im schwindenden Feuerschein legte sich Simon unter eine Decke auf das Sofa, ihn zu träumen.
KAPITEL 12
Als Rose die Landstraßen von Somerset zu Sir Maverick entlang fuhr, war sie nervös, obgleich Gerry neben ihr auf dem Beifahrersitz niemals etwas bemerkt hätte. Rose war sich im klaren, daß sie als Bernards Tochter dorthin ginge, eine Identität, die sie verabscheute, und daß sie sich als arbeitslos betrachten könne, wenn sie Sir Maverick mißfiele. Er hatte Einfluß auf die beiden Zeitungen, für die sie arbeitete, und darüber hinaus gab’s nur eine weitere. Roses Instinkt, mächtige Männer zu verärgern, war so stark und lag so sehr außerhalb ihrer Selbstkontrolle, daß sie es aufgab, sich eine weitere Zigarette anzuzünden, weil ihre Hände beim Fahren zu sehr zitterten. »Du willst doch gar nicht bei diesen Großkopfeten vorbei. Das sind Mähdrescher, die dich ummähen, sobald sie dich sehen – schon wieder verfahren?« Roses Blick irrte über das Meßtischblatt, über das wenig hilfreiche Gewirr aus arthurischen Namen: Mount Guinevere, Knight’s Bridge, Morganswood. Irgendwo hier in der Gegend mußte es ein Denkmal des armen kleinen Merlin geben. »Eigentlich solltest du das machen. Du bist der Beifahrer.« »Tut mir leid, meine Liebe. Wenn ich nüchtern bin, habe ich kein Gefühl für Richtungen. Im letzten Ort sind wir an ‘nem Pub vorbeigekommen…« »Da drüben, da, durch die Bäume, sehe ich ein paar Türmchen. Wollen mir doch mal einen Blick drauf werfen.« Hinter einem georgianischen Pförtnerhaus voller unmalerisch bewaffneter Wächter erstreckte sich ein Park zu einem Haus, das einzigartig und sehr berühmt war, obgleich es erst sechs
Monate alt war. Ein kleines mittelalterliches Schloß mit Graben wurde zur Rechten von einem neoklassizistischen Herrschaftshaus und zur Linken von einem Tudorhaus flankiert. »Ausweise?« fragte einer der Wächter und überprüfte ihre Britcards. »Macht ‘ne hübsche Show draus. Ich werd drinnen ‘n paar Photos schießen, wenn du nichts dagegen hast anzuhalten.« »Wenn sie uns reinlassen. Ich find’s entsetzlich, wie ‘ne Filmkulisse.« »Aber das ist echt, Mensch.« »Haben ein Disney-Land draus gemacht.« Nach einem Anruf winkte sie der Wächter weiter. Gerry sprang mit der Kamera heraus, kniete sich hin und robbte mit jenem Gehabe eines Schauspielers weiter, das ihm das halbe Honorar einbrachte. In Wirklichkeit sollte das hier kein Interview werden, sondern eine Hochglanz-Beilage über den unkonventionellen, kontroversen, geschmackvollen, exzentrischen (der Morning Glory hatte all diese Adjektive schon bis zum Erbrechen benutzt, sie würde ein neues finden müssen: extravaganten) Sir Maverick. Da er es müde geworden war, sich zwischen fünf Häusern hin- und herzubewegen, hatte er sich dazu entschlossen, drei davon zu vereinen, also hatte er Jermyn House in Berkshire und Tendall End in Suffolk ausgebuddelt und beide auf den Landsitz von Lancelot’s Keep transportiert. Bei den Denkmalschützern hatte es einen Aufschrei gegeben, im Oberhaus waren Fragen gestellt und glatt von ihm beantwortet worden, eine Fernsehdokumentation hatte jedes Stadium des Abbruchs und Wiederaufbaus festgehalten, und Millionen von Lesern würden sich, wie Rose wußte, begeistern über Gerrys Bilder mit den angenehm prickelnden Unterschriften: Nash’s Nordflügel jetzt wieder sicher am Ort.
Kosten: 3 Millionen Pfund. Jeder Kommentar, der ihr unterliefe und nicht bewundernd wäre, würde herausgestrichen. Der Morning Glory hatte keine Zeit für Mehrdeutigkeiten; Sir Maverick war in leitender Position, Direktor von Zeitungs- und Fernsehgesellschaften und ein Patron der Künste. Man hatte Rose gestattet, ihm einen Spiegel vorzuhalten, worin er glänzen konnte, der jedoch auf keinerlei Weise sein großartiges Spiegelbild trüben durfte. Wie gewöhnlich würde sie zwei Artikel schreiben, einen im Kopf und einen mit den Fingern. Dieses Zwiedenken war ihr so sehr zur Gewohnheit geworden, daß es ihr nur noch sehr wenig Unbehagen bereitete. Während der Fahrt durch den ergrünenden Park überwältigte mich der Mumm und die Entschlossenheit dieses Mannes, der nicht damit zufrieden war, ein prächtiges Heim sein eigen zu nennen, sondern Himmel und Erde und die Nationalstiftung in Bewegung gesetzt hatte, um deren drei zu bekommen. Sir Maverick, der in seiner braunen Mönchskutte – Erinnerung an seinen kürzlich erfolgten Übertritt zur katholischen Kirche – größer wirkte, schritt über die Zugbrücke aus dem zwölften Jahrhundert auf uns zu. Die Pfauen kreischten… Er beugte sich zum Wagenfenster herab und küßte sie. »Rosie? Ich habe gerade mit Ihrem Vater gesprochen. Bin so froh, daß Sie uns gefunden haben. Sie können Ihren Wagen im Kreuzgang abstellen.« Gerry hüpfte wie ein Spatz umher, der mit seiner Kamera nach Sir Mavericks menschlichem Interesse pickte. Rose ließ den Wagen auf dem Rasen in den Ruinen des romanischen Kreuzgangs stehen und kehrte zu den beiden zurück, wobei sie sich wie eine Vandalin vorkam. Sir Maverick war
stehengeblieben, so daß er sich in voller eleganter brauner Größe im Burggraben spiegelte. Rose roch mit der Haut den Duft, den Charme und die Grausamkeit, die er verströmte. Ein heißes, blühendes Gesicht, das rasch rot vor Ärger werden konnte. Seine Frau Pandora saß in einem niedrigen, sonnigen Zimmer auf einem Stuhl am Fenster. Sie trug ein grünes Leinengewand. Sie ist so schön, dachte Rose, daß sie jede andere Frau meilenweit im Umkreis aussticht. »Ich glaube, hier ist’s. Wissen Sie, ich verirre mich noch immer, weil wir jetzt nach Süden statt nach Westen blicken – hier sind wir, Pandy! Dies hier ist Rose, Bernards Tochter.« Rose erhielt erneut einen Kuß. Gerry, der viermal soviel verdiente wie sie, wurde als ihr Anhängsel betrachtet. Sie hatten seine Eltern nicht getroffen. Pandora Clough Whittyng gab eine erfolgreiche Karriere als Photomodell auf, um jenen Mann zu heiraten, der im Jahre 1979 lediglich der flotte Tory-Kandidat für West Thorgmonton war. Jetzt ist sie eine strahlende Schloßherrin und politische Gastgeberin, fröhliche Mutter von fünf Kindern und eine vollendete Köchin. Wir ließen uns ihre Wildpastete und Himbeercreme schmecken und spülten beides mit Samuel Beckford’s Lieblingswein hinab… Aus der Nähe betrachtet wirkte Pandoras milchweiße Haut straff. Sie hatte dunkelblondes gewelltes Haar, eine reizend geformte Nase, hohe Wangenknochen, einen Schlafzimmerblick und einen Körper wie ein Windhund. Falls Oberklassen-Schönheiten jemals geklont werden, dachte Rose, wird sie das Modell werden. Zu Edwards Zeiten wäre sie als Lady des Hauses noch glücklicher gewesen, dann hätte sie völlig unnütz sein und den ganzen Tag über Blumen
arrangieren können. Die Jahre des Flirtens mit der Kamera und des Gebrauchs der Ellbogen, um Maverick nach oben zu bringen, hatten sie erschöpft, hart gemacht, als wäre ein wunderbarer Schwan darauf trainiert worden, wie ein Papagei Limericks zu kreischen. Was ist denn los mit mir, dachte Rose verärgert, während ihr der Alkohol durch den Kopf kreiste, auf die meisten Leute wirke ich ebenso unnahbar und verwöhnt wie sie. Nur weil ich mit Mädchen wie Pandora zur Schule gegangen bin, kann ich sie so klar durchschauen – Rose konzentrierte sich auf das, was Sir Maverick über seinem zweiten Glas Portwein sagte. »… den Menschen das Gefühl des Stolzes zurückgeben. Es ist das Natürlichste auf der Welt, das eigene Land zu lieben, sich besser vorzukommen als der Rest der Welt, das ist nichts, wessen man sich schämen müßte. Ich war während der Zeit in Oxford, die ich das liberale moderne Zeitalter nenne – währte nicht lang, Gott sei’s gedankt, weil sie viel zu verdammt liberal waren, um sich behaupten zu können, haha.« Pandora kicherte. »Ich hatte mir eine Union Jack-Weste anfertigen lassen, trug sie überall. Sie würden nicht für möglich halten, mit welchen Anschuldigungen ich klarkommen mußten Faschist war noch das geringste. Jetzt hat sich das alles geändert. Wir haben gesagt, wir würden Großbritannien seine Größe zurückgeben, und das haben wir getan. Die Ideen Ihres Vaters, zum Beispiel, sind großartig, das wird den Menschen ein Gefühl für ihre Wurzeln und Traditionen zurückgeben. Eine Menge dieser schwarzen Kinder wissen nicht, woher sie kommen, darum hatten wir all diese Rassenkrawalle. Da sie nun einmal hier sind, sollten wir sie willkommen heißen, Blenheim und die Schlacht um England mit uns teilen lassen, sie Lieder darüber schreiben lassen, statt all dieser Feindseligkeit und dieses Hasses.«
»Ich halte Haß für etwas Furchtbares, nicht wahr, Rose?« sagte Pandora ernst. »Man hat Sie oftmals des Rassismus beschuldigt. Würden Sie sich als Rassisten betrachten?« »Natürlich nicht. Wenn mein Urgroßvater nicht eine Zuckererbin mit sehr dunklem Teint geheiratet hätte, säßen wir jetzt nicht hier. Vielleicht in Battersea oder sonstwo. Und ich habe nichts als Bewunderung für die Juden übrig, wie für Ihre Familie, meine Liebe, die vor Generationen hierher kam, hart gearbeitet, ihre Kinder erzogen und es zu ihrer Aufgabe gemacht hat, sich zu integrieren.« Vor sechzig Jahren hättest du mich nicht zum Essen eingeladen, dachte Rose, während sie ihn anstarrte. »Das braucht jedoch alles Zeit, kluge Köpfe, und, frei herausgesagt, Geld. Dieses Land ist von Menschen unterschiedlichster Rassen überschwemmt worden – am armen alten Enoch ist schon was dran, wissen Sie –, und nicht alle davon sind mit den von mir erwähnten Tugenden ausgestattet. Also müssen wir ihnen helfen, ihnen ein Gefühl dafür verleihen, einer großen Zivilisation anzugehören. Alle paar Jahre eine kleine Kampagne starten, so daß sich ihre Gemüter in die richtige Richtung erheben. Je mehr man den Feind draußen hält, desto behaglicher ist’s drinnen – bin ich indiskret?« »Ja«, sagte Pandora, auf einmal nicht mehr lächelnd. »Nichts für ungut. Wer ist gegenwärtig Ihr Chefredakteur, Rosie?« »Johnny West.« »Was ist mit Duncan geschehen? Jemand hat mir gesagt…« »Er ist vergangene Woche an die Luft gesetzt worden.« »Ich werde… öh… Johnny nachher anrufen. Der Morning Glory ist in Ordnung.«
Gerry kniete vor Pandora und erwischte sie im zerbrechlichsten Augenblick, hinter ihr Weiden und der Burggraben. Sie lächelte wieder; es gefiel ihr, Männer vor sich auf Knien zu sehen. Maverick saß in seinem Queen Anne-Sessel am einen Ende des langen polierten Tischs, trommelte mit den Fingern darauf, die grauen Tunnelblick-Augen schossen ungeduldig von einer Idee zur nächsten. Alles Ego und Energie, dachte Rose, eine Kraft, die darauf wartet, losgelassen zu werden. Sie saß sehr aufrecht da, war nicht mehr nüchtern, hatte Gedanken und Worte jedoch völlig unter Kontrolle. »Eine Menge Menschen haben die Regierung für ihren Bericht über die Wohnsituation kritisiert. Einer Schätzung zufolge schlafen in London jede Nacht fünfzigtausend Menschen auf der Straße.« Als sie später das Band abhörte, war Rose vom Ärger in ihrer Stimme selbst überrascht. »Wirklich? Von wem? Es stimmt schon, wir müssen unsere öffentlichen Ausgaben beschneiden. Aus meiner Sicht heraus ist das ein notwendiger Schritt auf dem Weg zur Entwicklung eines großen Volkes. Der gewöhnliche Mann muß im gegenwärtigen Vater Staat nichts für sich selbst tun: Er wird kostenfrei im Krankenhaus geboren, lebt in einem Gemeindehaus, geht kostenfrei zur Schule. Dann besteht er entweder das Examen, erhält eine Stelle und wird Mitglied einer Gewerkschaft, die das Land dazu zwingt, sich von ihr loszukaufen, und die ihre Mitglieder erpreßt und betrügt, oder er liegt für den Rest seines Lebens auf der faulen Haut, während er riesige Summen vom Steuerzahler einstreicht. Ist das etwa ein Leben? Ich glaube kaum. Das ist nicht meine Vorstellung eines Engländers. Die Menschen müssen eben ein wenig kämpfen, sie müssen sich selbst weiterhelfen, und sie erhalten, was sie hineinstecken. In einigen Fällen nichts. In anderen Fällen die Befriedigung zu wissen, daß ihr gesamter
Besitz die Frucht der eigenen Anstrengung ist. Die Menschen müssen ihren Stolz zurückbekommen, und sie können jetzt nicht mehr zu Vater Staat laufen, weil er nicht mehr für sie da ist!« Maverick füllte Rose das Glas und dann sich selbst und trank sich selbst zu. Rose trank nicht. Sie erinnerte sich gerade jenes Morgens, da sie das Lager besuchte, wo Simon arbeitete. Es drängte sie, ihm von Kälte und Hunger und Schmutz zu erzählen, seine parteipolitische Propaganda in ein Gespräch zu verwandeln. »Haben Sie je eine der Barackenstädte besucht, die die Heimatlosen errichtet haben? Leute, die ohne Elektrizität oder sanitäre Anlagen in Zelten leben, die meiste Zeit des Jahres knietief im Dreck?« »Natürlich habe ich vor der letzten Wahl eines besucht, in den Außenbezirken von Birmingham. Ja, es war erbärmlich. Die Menschen finden ihr eigenes Niveau. Aber mein Gott, was für Gesichter habe ich da gesehen! Glänzende, echt englische Gesichter, wie etwas von Hogarth!« »Zahnlos und betrunken, meinen Sie?« »Ich spreche vom Geist, Rosie, dem Willen zu kämpfen und zu überleben. Einer der alten Knaben trat an mich heran und schüttelte mir die Hand und sagte: ›Is ‘ne bittere Medizin, Sir, aber es is die richtige, und das Land weiß es.‹« »Hat man sie nicht angegriffen?« fragte Rose ungläubig. »An einer Stelle hatten wir ein wenig Ärger mit einer Bande Halbstarker, aber die Polizei hat sie herausgeholt. Nein, im großen und ganzen ist den Leuten jetzt klar, daß wir die einzige Alternative sind.« Rose seufzte. Es fiel so leicht, sich vorzustellen, wie er fröhlich durch ein Sperrfeuer aus Eiern, Tomaten, Steinen und Dreck schritt. Er hielte das alles für Opfergaben von Bewunderern oder irgendeinen merkwürdigen englischen Brauch, der wiederbelebt worden war.
»Vielleicht sind sie aufgrund der Diät aus Neuropepsi und Fritten zu sehr verblödet, um sich gegen Sie erheben zu können. Wissen Sie, viele Menschen glauben, Neuropepsi enthalte ein Beruhigungsmittel, und die Regierung hielte den Preis absichtlich niedrig. Warum haben Sie sich dazu entschlossen, es in den Freizeitparks umsonst abzugeben?« »Es ist ein sehr angenehmes Getränk. Bei jungen Leuten sehr populär.« »Sie selbst trinken es nicht, oder, Sir Maverick?« »Nein, persönlich gebe ich einer hübschen Flasche Château Lafitte den Vorzug.« »Und bevorzugen geistige Klarheit?« »Das ist eine sehr schwerwiegende Behauptung, die Sie da aufstellen. Und zugleich eine paranoide. Insbesondere, wenn Sie daran denken, daß Ihr eigener Vater diese Freizeitparks vom Stapel läßt. Ich hoffe, Sie werden nichts von diesem Unsinn über Neuropepsi bringen? Alles in Ordnung da drüben, Pandy?« »O ja, wir kommen furchtbar gut miteinander zurecht. Ich werde Gerry das übrige Haus zeigen, Liebling, er möchte noch ein paar Photos schießen.« Pandora blitzte ihnen ihr allgegenwärtiges Lächeln zu und rauschte hinaus, gefolgt von Gerry, der aussah wie ein Hund mit der Zeitung im Maul. Rose wußte, wie erfolgreich Gerrys Mischung aus Schmeichelei und Lust bei Frauen sein konnte, und sie war erstaunt. Mavericks Augen jedoch glänzten noch immer im Licht zukünftiger Welten, und er zeigte keine Bedenken. In gewisser Hinsicht, dachte Rose, steht er über solchen Dingen, überhaupt über menschlichen Beziehungen. Oder, anders ausgedrückt, er war blind und taub, jedoch nicht dumm.
Sir Mavericks Lebensstil ist nicht modern. Vielleicht verkörpert er, wie er selbst sagte, viele Perioden unseres nationalen Erbes; er ist ein mittelalterlicher Mönch, der in seinem Kloster sinnt, ein Ritter, der sich seiner Dame ergeben hat, ein Herr in einem Roman von Peacock, der gutes Essen und guten Wein und ein gutes Gespräch genießt. Was ist mit der Zukunft? Sir Maverick sieht sie als eine Blume, die den kräftigen Wurzeln unserer gemeinsamen Vergangenheit entsprießt. Er glaubt, sein geliebtes England wird der Welt einmal mehr zeigen, was Größe ist und aus welchem Stoff wir gebildet sind: hartem Stoff, starkem Stoff, großem Stoff. Erschöpft schaltete Rose erneut das Bandgerät an. Mavericks Aussprache war jetzt eindeutig verschliffen, und sie selbst hätte sich freudig auf den Fußboden zum Schlafen gelegt. Er stolperte von seinem Sessel zu einer großen hölzernen Truhe, legte sich bäuchlings darauf und begann mit Liegestützen. »Durchhaltevermögen, Rosie, darum geht’s. Man darf nicht schlaff oder konfus oder weich werden. Fünfzehn Minuten, und ich werde bereit sein, heute abend das Haus niederzureißen. Ein sogenannter Sozialist wäre dazu nicht in der Lage.« Die Worten kamen zwischen einzelnem Keuchen, in stakkatoartigen Ausbrüchen, aber sie kamen. »Haben Sie von der letzten Oppositionspartei gehört, die sie gegründet haben? Die Anti Powerty Front∗. APF. Jetzt frage ich Sie: Wer wird denn für einen Zungenbrecher wie so etwas stimmen? Es ist nicht so, als habe die Opposition keine Chance gehabt. Wir hatten einige Jahre lang eine Koalition mit ihnen, und was haben wir erreicht? Die Arbeitslosigkeit blieb auf dem gleichen Stand, und die Inflationsrate schoß in die Höhe. Wir haben sie für sich werben lassen und haben den öffentlichen ∗
Anti-Armut-Front
Dienst dezentralisiert, und was ist geschehen? Ein Sieg auf der ganzen Linie im ganzen Land. Politik bedeutet das Überleben des Leistungsstärksten, meine liebe Rosie, und die Überlebenden sind zu uns gestoßen. Wie alle müssen sie an ihre Karriere denken, und was ist das für eine Karriere, wenn man jahrelang auf der falschen Seite des Hauses steckenbleibt und Leute bejammert, die noch nicht einmal das Wahlrecht haben? Darum ist das eine solche Wischi-Waschi-Bande. Fünfzehn Parteien, und noch nicht einmal ein einziger überzeugender Führer darunter.« »Eine Menge ihrer Anführer sitzen im Gefängnis.« »Sie haben das Gesetz gebrochen.« »Sie machen die Gesetze. Und Sie haben den Kartenlosen das Wahlrecht genommen, nachdem Sie ihnen alles andere genommen haben.« »Ich hoffe, Sie werden nicht irgend etwas Dummes schreiben, Rosie.« »Ich werde dafür bezahlt, dummes Zeug zu schreiben.« Sofort wünschte sie sich, nicht so offen gewesen zu sein. Das brachte eine falsche Note ins Spiel. Er jedoch sah zufrieden aus. »Alle Jobs beruhen auf ein wenig Gewäsch.« »Selbst Ihrer?« Er keuchte vor Lachen, gab den Versuch auf, so zu tun, als trainierte er, setzte sich auf den Rand der Truhe und lachte erneut. Sein Blut brannte heiß unter der Haut des Gesichts mit den schweren Hängebacken, und sein Bauch wabbelte unter der Robe. Rose entschied, daß er ihr auf einer Tribüne stehend lieber war, und kehrte ernst zum Geschäft zurück. »Einige Beobachter haben den Eindruck, Sie hätten uns durch Ihre britische Abschottungspolitik von zu vielen Dingen abgeschnitten. Unsere Exporte sind um 50 Prozent gesunken,
und es ist oftmals zu hören, daß uns einzig die Regierung der Vereinigten Staaten noch wohlgesonnen ist.« »Ich verstehe nichts von den Yankees. Persönlich halte ich sie für eine Nation liebenswürdiger Barbaren, da lobe ich mir doch die Russen. Die sind zumindest gebildet und halbwegs stabil, zu stabil, natürlich. Andererseits: Wenn man einen der Knaben in diesem Jahr trifft, kann man sich ziemlich sicher sein, daß man es zehn Jahre später mit demselben Burschen zu tun hat. Bedenken Sie, daß es hier bei uns ähnlich zugeht, wie mich freut zu sagen. Und was die Wirtschaftsgemeinschaft betrifft, so wird sie von einer Anzahl Franzmännern dominiert, die mit ihrem Einfluß und ihrem Wein um sich werfen. Sehen Sie doch, was die mit unseren Äpfeln gemacht haben! Blicken Sie einmal aus dem Fenster dort, dann sehen Sie eine Plantage mit Pippinäpfeln. Dort, jenseits der Mauer da! Der beste Apfel der Welt. Ich gebe Ihnen ein paar mit nach Hause. Diese Scheußlichkeiten, die uns die Franzosen andrehen wollen, sind nichts weiter als Baumwolle, umhüllt von giftgrünem Plastik. Nein, glauben Sie mir, all das Gerede, Europa sei eine Nation, ist dummes Zeug. Wir haben unsere nationalen Unterschiede, und wir sollten stolz darauf sein, sollten sie hegen und pflegen. Die Deutschen waren schon immer eine humorlose Bande von fressenden Kulturbanausen, sie können nichts dafür, und sie wollen’s auch nicht ändern. Ich bin dafür, die Leute in Ruhe zu lassen und sie als Individuen zu akzeptieren. Ich war niemals ein Vereinsmeier. Ich betrachte diese Insel als Schiff, als hübsches kleines sicheres Schiff. Wir waren ein größeres Schiff, und wir sind über stürmischere Meere gesegelt, fürs erste jedoch machen wir uns ganz gut in unserem eigenen Hafen.« Bei den letzten beiden Worten hob sich seine Stimme in jenem triumphierenden, zuversichtlichen Ton, den sie von seinen Besuchen im Unterhaus her wiedererkannte. Er hat
seine Ansprache gehalten, und er möchte mich loswerden, dachte sie, und sie spürte augenblicklich, daß sie ihre Zeit vergeudet hatte. Ein Dutzend Fragen lagen ihr gleichzeitig auf der Zunge. »Wie bringen Sie Ihren Kampf fürs private Unternehmertum mit den letzten Steuererhöhungen in Einklang?« »Sieben Millionen Menschen in diesem Land können oder wollen nicht arbeiten. Für die muß jemand bezahlen.« »Aber das tun Sie nicht, Sir Maverick. Während der vergangenen zehn Jahre ist die Arbeitslosenunterstützung gekappt worden, während die Zahl der Arbeitslosen um…« »Rosie, vergeben Sie mir, aber ich muß in drei Stunden im Oberhaus sein. Ich muß mich waschen und umziehen. Die Engländer mögen vielleicht einen Lord lieben, aber sie werden niemals einen Mönch lieben.« »Man hat in den italienischen Zeitungen berichtet, Ihrem Übertritt zur römisch-katholischen Kirche sei eine riesige Investition in ein vatikanisches Telekommunikationsunternehmen gefolgt, das Verbindungen zur Mafia…« »Wenn Sie mehr über meinen Glauben wissen wollen, lesen Sie das Buch, das ich darüber schreiben werde. Es wird kommende Ostern in einem neuen kleinen Verlag erscheinen, den ich gründen werde, Bulldogg Press.« Ein breites Gähnen durchbrach die Glätte seines Gesichts und zeigte eine gräulich-rosige Höhle mit gelblicher Umzäunung. Er war ziemlich alt und sehr müde. Er drückte sich zur Tür, aber Rose folgte. Sie starrten sich an; er war nervös, als sie sich auf einmal in all ihrer Entschlossenheit, ihrer Harte und Kälte zeigte. Frauen wie sie waren ihm ein Greuel. Sie überlegte, ob er wohl den Rausschmeißer/Butler riefe. »Als Irland im vergangenen Jahr das Vereinigte Königreich verließ, berichtete man, Sie hätten gesagt, dies sei die einzige Möglichkeit, nach fünfhundert Jahren unser Problem mit den
Iren zu lösen. Empfinden Sie irgendein Bedauern darüber, daß in dem darauf folgenden Bürgerkrieg sechstausend Menschen getötet wurden?« »Tut mir so leid, muß mich beeilen. Schön, Sie gesehen zu haben. Grüßen Sie Bernard ganz herzlich!« Er warf die Tür fast zu, und sie hörte seine Sandalen den Marmorkorridor entlangschlappen. Rose setzte sich in die Fensternische, wo Pandora um so vieles dekorativer posiert hatte, und suchte krampfhaft, die wunderschöne Aussicht zu meiden. Wie sie genau wußte, fände Sir Maverick die Zeit, ihren Herausgeber anzurufen, ehe er nach London führe. Oder würde er warten, bis er den Artikel gelesen hatte, der so höflich und einschmeichelnd sein würde? Rose spürte, sie hatte seinen guten Willen verspielt, ohne die eigene Integrität zu schützen. Virago intactus. Kaum, sie hatte ihm nur halbherzig die Zähne gezeigt, und sie würde ihm in den Arsch kriechen. Wenn’s ihr nur andersherum gelungen wäre! Verstört, mit verwundetem Profi-Stolz, wartete Rose auf Gerry. Als er die Tür öffnete, sah er gleichfalls wie ein geprügelter Hund aus. Sie lächelte schwach und schwieg; mit bemerkenswert wenigen Küssen und Aufforderungen, wiederzukommen, gingen sie zum Wagen. »Gastlicher alter Furzknoten«, sagte Gerry auf halbem Weg die Auffahrt hinab. »Äußerst.« »Eins muß man ihnen lassen – sie wissen zu leben. Mobiliar, Kleidung, Wein – das nenne ich Stil.« »Ich würd’s Geld nennen.« »Gute alte Rose. Bist ihm an die Kehle gesprungen. Wirst du sie aufreißen?« »Ich glaube, eher wird er mir die Kehle aufreißen.«
»Mein Gott, der Portwein hatte es in sich. Bin ich froh, daß ich nicht fahren muß. Ich hab ‘n paar gute Schnappschüsse gemacht.« »Von ihr?« »Phantastischer Körper! Und das Gesicht! Dennoch sind sie schon komisch, weißt du, diese Frauen aus der Oberklasse, irgendwie sind die Signale nicht die gleichen.« »Hast du sie auch gevögelt?« »Unpassender Ausdruck.« »Während wir durch die liebliche Landschaft davonfuhren, die Sir Mavericks Familie generationenlang liebevoll gepflegt hatte, wußten wir, daß wir mehr als nur ein architektonisches Monument verließen. Der Mann selbst ist ein Monument, ein Monument der Geschichte, der Zukunft, des Stolzes und der Exzentrik. Meiner Ansicht nach hat er für die meisten von uns gesprochen, als er in seiner wallenden Robe an seinem mittelalterlichen Handschriftenpult saß und jungenhaft lächelnd sagte: ›Ich bin kein Vereinsmeier.‹« »Ein monumentaler Langweiler. Kein Wunder, daß er so erfolgreich ist.« »Ist er wirklich ein Freund deines Vaters?« »Im Augenblick scheffeln sie ‘ne Menge Geld voneinander.« »Kommst du mit deiner Familie nicht zurecht?« »Nur mit meinem Bruder.« Wurzel und treibende Kraft ihres Ehrgeizes war das Verlangen, nicht deren Tochter zu sein. Da Bernard nach jahrzehntelangen Fehlschlägen jener distinguierte Mann geworden war, der zu sein er stets vorgegeben hatte, war Roses Stellung jetzt kompliziert geworden. Als Journalistin war es ihr Job, sich über seinen Ruhm auf dem laufenden zu halten, als Tochter jedoch fand sie ihn peinlicher denn je. Dennoch
spräche sie außer mit Simon von ihm nicht mit Verachtung, ebenso wie Bernard seine Kinder nur ihnen selbst oder Madge gegenüber kritisierte. Freeman’sche Loyalitäten waren merkwürdig, aber stark. »Hast du’s eilig, Gerry?« »Was hast du denn zu bieten?« »Hier in der Gegend gibt’s einige hübsche Straßen. Ich war in der Nähe von Wells auf der Schule – hast du etwas dagegen, wenn wir sie statt der Autobahn nehmen?« »Okay. Haben versucht, aus dir ‘ne junge Lady zu machen, stimmt’s?« »Sie haben’s versucht.« Von einer Leidenschaft für nicht mehr so ganz aktuelle Schulgeschichten verführt, hatte Rose verlangt, in ein Internat zu gehen, als sie elf Jahre alt gewesen war. Man hatte sie hingeschickt, weil sie zäh genug war, um es durchzustehen, und weil Madge gehofft hatte, die Disziplin, womit sich die Prospekte brüsteten, könnte Roses Zunge die Schärfe nehmen. Sie spürte, daß ihre Tochter dafür bestraft werden müßte, sarkastische, beleidigende Dinge zu sagen, hatte jedoch keinerlei Vorstellung davon, wie sie es anstellten sollte. Irgendwer, gewöhnlich Simon oder Großmutter, lachte stets. Der sensible Simon war auf seiner Londoner Tagesschule geblieben, und Rose bemerkte voller Eifersucht, daß der Haushalt ohne sie glatter ablief. Ihre Schule hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den Schulen in ihren Geschichten. Sie war klein, nicht streng, mit Zentralheizung in allen Räumen und ohne Uniform. Rose wurde nicht zur Schnecke gemacht, wie es Bernard vage angedroht hatte. Sie dominierte rasch die Schulzeitung und mehrere weniger entschiedene Freundinnen; als ihre Eltern am Tag der Offenen Tür gekommen waren, war ihnen zum
erstenmal aufgegangen, daß andere Leute unerklärlicherweise von ihr beeindruckt waren. Rose kurbelte das Fenster herab, so daß sie die ausgedörrte Vegetation riechen konnte. Heiße Erde. Üppige Bäume und Blumen drängten sich am Rand der schmalen Straße, Äste und Blätter wölbten sich darüber. Wie diese üppigen grünen Tunnel sie an ihre Schulzeit erinnerten! Und an ihre zwiespältige Haltung zum Land, als sie dort gelebt hatte. Auf den Spaziergängen vermochte sie sich niemals an die Namen der Pflanzen zu erinnern und schrieb ›blaue Blume‹ oder ›gelbe, grasähnliche Blume mit kleinen weißen bepelzten Bommeln‹ in ihr Naturkundeheft, das sie führen sollten. Pferde ängstigten sie, und wenn sie Volleyball oder Tennis spielte, war es ihr erster Impuls, den Ball zu fliehen. Die einzigen Aktivitäten, die sie im Freien genoß, waren Spaziergänge, Schwimmen und Sonnenbaden. In der Schule fraß sie die Bücher in sich hinein. Durch ihre Unfähigkeit, das gesunde, kräftigende Leben im Freien zu führen, wozu die Schule ermutigte, fühlte sie sich wie eine Fremde. Es herrschte kein Antisemitismus dort, denn die Mädchen aus reichen jüdischen, katholischen und protestantischen Familien fanden, daß Geld eine große Verbindung war. Aber die Mädchen sollten eine gewisse Färbung annehmen, eine robuste, vergnügte Leichtigkeit, die es ihnen ermöglichte, ein Leben in großen Häusern, auf Ausflügen zu Pferd und auf Bällen zu genießen. Und zwischen den sozialen Begegnungen einen kleinen Job in einer Kunstgalerie anzunehmen, wo sich interessante Leute versammelten. Für alles das war Rose zu städtisch, sarkastisch und redselig. Als sie die Schule verließ, war Bernard sichtlich enttäuscht davon, daß sie die Brüder ihrer Schulfreundinnen nicht mehr mochte als die sie. Er hatte sein Auge auf eine exklusive
Enklave des englischen Lebens geworfen, die für ihn stets außer Reichweite gelegen hatte, und er war davon ausgegangen, daß die unverschämt hohen Schulgelder das Eintrittsgeld in diese Welt gewesen waren. Sie jedoch wollte nicht dort hinein. Sie war nicht häßlich oder linkisch, aber sie redete über Feminismus und Proudhon und kehrte mit dem Taxi von Bällen zurück, allein und nüchtern und unendlich gelangweilt. Einige Jahre lang war Rose eine Außenseiterin geblieben, die jene Mädchen verachtete und beneidete, die damit besser zurechtkamen als sie. Wie sie wußte, warteten ihre Eltern darauf, daß sie ihnen einen strahlenden jungen Sunny-Boy mitbrächte. Sie hatte stets – selbst jetzt noch – einen Drang verspürt, ihnen zu gefallen sowie einen Gegendrang, ihnen soviel Ärger wie möglich zu bereiten. George hatte unweigerlich zu letzterem gepaßt. Er war ein alter Frosch gewesen, der sich gerne im Schlamm wälzte und keinerlei Absichten hegte, zu einem Prinzen zu werden. Er hatte ihr die Augen dafür geöffnet, wie fade Prinzen waren. An seinen schwimmhäutigen schleimigen Fingern haftend, war Rose auf eine Universität gesprungen. Bernard und Madge hatten Frauen, die zur Universität gingen, noch immer Blaustrümpfe genannt, und die meisten der Mädchen, mit denen sie zur Schule gegangen war, hatten zu Privatschulen für junge Mädchen zum Erlernen der feinen Lebensart gewechselt oder Kurse im Kochen oder dem Verständnis des Chinesischen besucht. Also war der Besuch der Universität seltsamerweise ein Akt der Rebellion. Dann war George, der bei Lesungen seine schreckliche Lyrik betrunken herausbrüllte, allmählich immer weniger liebenswert geworden. Rose hatte sich jüngeren und appetitlicheren Männern zugewandt, obgleich keiner davon in ihr soviel Leidenschaft hatte erregen können wie jene betrügerische,
schurkische alte Kröte. Vielleicht hatte Bernard in ihr den Geschmack an alternden Scharlatanen erweckt. »Hast du die Story am Dienstag fertig, Rose?« »Ich werd sie noch heute abend schreiben, wenn wir jetzt direkt durchfahren.« »Gehst du nicht zu Bills Party?« »Vielleicht schau ich später noch vorbei, falls ich sie fertigkriege. Obwohl mein Bedarf an Leuten für heute gedeckt ist.« »Tschüs, alte Passionsblume«, sagte Gerry später, als sie ihn bei Hammersmith herausließ.
KAPITEL 13
In der Nacht vor der Eröffnung träumte Madge, sie sei wieder ein kleines Mädchen, eine blonde Porzellanpuppe in rosafarbenem gerüschten Kleid, die jeder streichelte und zwickte, was sie in der Tat gewesen war. Der Traum wurde vom Gefühl der Wärme und des Triumphs erhellt, von der Sicherheit, daß sie hübsch und bewundernswert war. Es war so lange her, seit man um sie den ihr zustehenden Wirbel veranstaltet hatte, daß sie weinend erwachte, als habe sie von einem toten Geliebten geträumt. Bernard sah sie, schloß jedoch rasch die Augen und drehte sich um. Sie weinte zuviel. Dies sollte ein Tag ohne Klagen und Vorwürfe sein; er würde vollkommen werden, weil er nichts Unvollkommenes zuließe. Bernard hörte den dumpfen Schlag von oben, als ihr gezähmtes Ungeheuer Großmutter das Tablett vor die Tür stellte. Sie wollte diesen verkrüppelten Zombie, wie sie ihn nannte, nicht ins Zimmer lassen. Heros Zehn klapperte die Treppe hinab und klopfte metallisch an der Tür. Bernard war ihm einmal auf der Treppe begegnet, wie er drei Tabletts übereinander balancierte, und die Parodie auf die menschlichen Bewegungen hatte ihn angewidert, als Heros Zehn ruckartig aus dem Weg hüpfte. Dennoch war er um so vieles verläßlicher als jeder menschliche Diener. Der Tisch unter dem Fenster erbebte, als das Tablett darauf plumpste, die Vorhänge bauschten sich, die Wasserhähne im Bad rauschten mit einem fröhlichen Strom. Man mußte sich noch nicht einmal bedanken; die Morgen verliefen mit einer wundervollen Geschmeidigkeit. Madge pflegte zu sagen, man benötige einen gewissen ›human touch‹, weil es zu unheimlich wäre, wenn
sich die Dinge von selbst an- und abstellten. Bernard genoß den Duft von Kaffee, frischer Farbe und sauberer Bettwäsche, ehe er ein Croissant vom Tisch nahm und in sein wohlriechendes Bad stieg. Merlin klopfte an die Tür, weit weniger sicher als Heros Zehn. Er starrte das aufgedunsene Gesicht seiner Großmutter an und fragte sich, ob es den Erwachsenen jemals gelänge, daß er sich nicht verlegen vorkam. Erst dann, wenn ich selbst erwachsen bin und andere Kinder verlegen mache. »Liebling! Auf dem Weg zur Schule?« »Kann ich nicht mitkommen?« »Das würde der Schule aber gar nicht gefallen, fürchte ich. Es wäre viel zu offensichtlich. Unsere Photos werden in allen Zeitungen zu sehen sein.« Madge setzte sich auf und übte strahlendes Aussehen für die Photographen. Ja, sie wurde unterschätzt und war ungeliebt, aber das Leben ging weiter, und sie würde das italienische Kleid mit dem verführerischen Rückenausschnitt tragen. »Aber ich möchte all diese neuen Spiele sehen. Und Papi wird auch da sein, ich habe ihn seit Wochen nicht gesehen.« »Wir werden am Wochenende zusammen hingehen. Auch Simon, wir werden alle zusammen hingehen, und du kannst alle Spiele ausprobieren. Hast du dein Müsli gegessen?« »Ja. Du könntest eine Entschuldigung schreiben und sagen, daß es eine nationale Veranstaltung ist. Wir haben den ganzen Nachmittag sowieso nur Tennis und Schwimmen.« »Sei jetzt ein guter Junge. Und gib mir einen Kuß, um mir zu zeigen, daß du mich lieb hast.« In Wirklichkeit hatte er sie nicht lieb, obgleich sie jetzt fester wirkte, weniger wabbelig. Er küßte sie zaghaft und ging die Treppe hinab zum wartenden Wagen. Merlin war nicht überrascht von seinem Fehlschlag, seine Großmutter zu überreden. Er trug sowieso schon die Uniform, weil er wußte,
er würde zur Schule gehen. Die hübsche, dunkelgrüne Geometrie der Uniform schnitt seinen schmalen Körper zu Kreisen, Quadraten, Würfeln und Rechtecken, die draußen im Sonnenlicht tanzten. Er scheint zu treiben, dachte Connie, während sie ihn vom Fenster aus beobachtete, er ist zu leichtgewichtig. Gegen zehn wurden Madge und Bernard eingekleidet, um der Öffentlichkeit zum Fraß vorgeworfen zu werden. Madge trug einen pinkfarbenen Seidenmantel über einem orangefarbenen Anzug mit Kaskaden von Rüschen um den Hals. Ihr weißer Hut hing geheimnisvoll über einem Auge, und diese neue Creme, die sie gekauft hatte, hatte ihr die vielsagenden Falten mit liebender Hand geglättet. Oder täte es zumindest, so lange sie nicht lächelte, und sie hatte nicht die Absicht, zuviel zu lächeln. Sie übte sich darin, huldvoll zu erscheinen, triumphierend, jedoch nicht herrisch. Einen weichen Zug um die Augen, vielleicht, jedoch nicht soviel, daß die Tränensäcke sichtbar wurden. Sie wäre der Schwan gegenüber der zerrupften alten Gans oben. »Ich sag Großmutter eben auf Wiedersehen, Liebling. Sie möchte diesen Augenblick mit uns teilen.« Bernard hatte da seine Zweifel, folgte ihr jedoch nervös. Madge klopfte an, die langen roten Nägel kratzten an der Tür. Alte Musik, und bald würde dieser schreckliche Gestank sie umwerfen. »Großmutter! Connie, Liebes! Können wir reinkommen?« »Wer ist da?« »Ich bin’s, Liebes, Madge. Mit Bernard.« »Er hat das Tablett bereits heraufgebracht.« »Wir möchten dich sehen!« »Wozu? Tut doch sonst keiner.« »Sei nicht kindisch, Mutti.«
»Du bist niemals kindisch genug gewesen, das war dein Problem.« »Wir müssen gleich gehen. Dies ist ein sehr wichtiger Tag für Bernard. Willst du ihm nicht gratulieren?« »Wozu? Verläßt er dich?« Ihre Bösartigkeit drang hörbar verletzend durch die Tür. Madge trat einen Schritt zurück und spürte, wie ihr der Ärger heiß und feucht das makellose Gesicht herablief. Ihre Absätze stachen in den Läufer auf der Treppe, als sie in den Ankleideraum hinabging, um sich das Gesicht wieder herzurichten. Bernard folgte brummend. »Weiß nicht immer so genau, was sie sagt.« »Die weiß genau, was sie sagt. Darum halten wir auch immer Abstand zu ihr. Ich hätte nur angenommen, daß sie am heutigen Tag…« »Wir haben so hart gearbeitet…« »Ein Meilenstein für dich…« »Manche Mutter wäre stolz…« »Ich wünschte, ich hätte einen Sohn, der ebensoviel erreicht hätte wie du.« »Wird er dort sein?« »Nehme ich an. Ist doch gleich um die Ecke, und er hat sonst nichts zu tun. Und Rose hat gesagt, sie käme ebenfalls.« »Vielleicht können wir alle zusammen auf die Tribüne gehen. Wie diese amerikanischen Politiker…« »Das wäre sehr schön, mein Lieber. Nützlich. Wir werden etwas wegen Großmutter unternehmen müssen.« »Ich fürchte, es wird jetzt nicht mehr sehr einfach sein, sie im Haus zu haben.« »Nein. Sie wird in ein Heim müssen. Joan kennt ein gutes.«
»Wie mein alter Freund Binkie Topham zu sagen pflegte: ›Gott gab uns unsere Verwandten, danken wir Ihm dafür, daß wir uns unsere Freunde aussuchen können.‹« »Sie hätte wirklich ein bißchen sensibler sein können. Besonders heute.« »Laß dich von ihr nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Nicht heute.« Connie kroch in das Erkerfenster zurück, um ihnen zuzusehen, wie sie Arm in Arm zu dem offiziell aussehenden Wagen gingen. Fett, pink, zu protzig gekleidet, nicht einmal mehr jung. Und Bernard verdiente sie; er war so ölig glatt wie ein in Vaseline getauchtes Marmorei. Im Wagen, in einem Nebel aus Parfüm, Aftershave und Aufregung, lehnten sie sich aneinander. Madge reichte ihm die juwelengeschmückte Hand, und er hielt sie vorsichtig. Sie glitten durch London, und die Stadt war warm und strahlte; sie war reif für ihn. Die Fulham Road glänzte mit Hüten, geblümten Kleidern, kleinen roten und silbrigen Wagen, rosafarben und grün gepuderten Perücken, orangefarbenen Togen, türkisfarbenen Blusen, dreißig Zentimeter hohen Zylinderhüten und PseudoKronen. Die Farben wurden verstärkt durch das majestätische Schwarz der Limousinen und die schwarz-weiß gestreiften Embonpoints der Bürokraten. Es gab Schwarzhändler, und zu kaufen gab es Souvenir-Ballons, Poster, Abzeichen, Krüge und Puppen, während Dutzende von Kameras die Menge verschlangen. Eine französische Fernsehgesellschaft filmte die Ankömmlinge, und eine Persönlichkeit des englischen Fernsehens interviewte einen amerikanischen Nachrichtensprecher. Im Innern hopsten kreischende Kinder auf einem aufblasbaren Londoner Tower herum, und MorrisTänzer hüpften und keuchten.
Oberhalb des breiten Eingangs stand in goldenen Lettern, die im Sonnenschein ein wenig verblaßten, geschrieben: GREAT TIME FUN PALACE. Und darunter auf einer riesigen schwarz-weißen Fahne: HEUTE ERÖFFNUNG. EINTRITT FREI. Bernard stellte sich verzückt vor, wie diese Lettern in der Nacht blitzen und funkeln und den Sehnerv betrügen und die Leuten hineinziehen würden; das hatte irgend etwas mit Lasern zu tun, hatte ihm dieser Ingenieur gesagt. Ihr Wagen kam nicht durch die Menge, sie steckten zehn Minuten lang im Tor fest, während Kinder, die jene Dosen umklammerten, auf die Maverick so scharf war, grinsende Gesichter ans Wagenfenster drückten, vor ihrem Wagen umhersprangen und mitten auf der Straße tanzten. »Sie stehen doch nicht unter Drogen?« fragte Madge und wich vor den gepuderten, geschlechtslosen Gesichtern mit den glitzernden Ringen in Ohren und Nasenlöchern und dem Flitterkram auf den Augenlidern zurück. »Sind einfach glücklich, Liebes. Sie werden sich bald beruhigen. Wir werden diesen jungen Menschen zeigen, wie schön das Leben sein kann.« »Wie schön.« Aber Madge starrte noch immer die weißen, lüsternen, unnatürlichen Gesichter an. Sie hatte gelesen, daß die Selbstmordrate unter ihnen erschreckend hoch war, sie konnte sich niemals an die Statistiken erinnern, sie waren jedoch furchterregend. Sie überlegte, wie man wissen konnte, daß sie tot waren, sahen sie doch jetzt schon wie Leichen aus, während sie da in ihrem Danse macabre herumwirbelten. Sie hatte den Blick noch nicht abgewendet, als einige von ihnen abrupt aufhörten, umherzuspringen, sie setzten oder legten sich mit glasigen Blicken dort hin, wo sie gerade waren. Beruhigt, wie Bernard gesagt hatte, nur daß das nicht im geringsten etwas mit Ruhe zu tun hatte. Na ja, wenigstens würden sie nicht
Bernards hübschen Vergnügungspark verwüsten. Rose und Simon waren in diesem Alter ebenfalls unmöglich gewesen, doch hatten sie, Gott sei’s gedankt, nicht so ausgesehen. Wie jemand im Zirkus, jedoch ständig, nicht nur zu Weihnachten; sie mußten jeden Tag Stunden vor dem Spiegel damit verbringen, sich selbst diese außergewöhnlichen Dinge anzutun. Na ja, der Zirkus machte die Leute glücklich, und das war alles, was Bernard wollte, die Mission seines Lebens. »So was muß es halt auch geben«, sagte er nachdenklich, sie gleichfalls anstarrend. Er hatte sie noch nie zuvor aus unmittelbarer Nähe gesehen. Die Polizei, in großer Zahl anwesend lediglich für den Fall der Fälle, räumte den Weg frei für die wartenden Wagen. Sie fuhren am römischen Pavillon, dem Turnierplatz, der Bonk der Eroberer-Arkade und dem Chaucer-Zimmer vorüber. »Es ist so riesig! Ich hatte mich an diese lustigen kleinen Modelle gewöhnt, die wie Spielzeuge aussahen.« »Und unser nächstes in Brixton wird sogar noch größer sein. Es wird die Zeitspanne vom Neandertaler bis zu den Briten auf dem Mars umfassen.« Sie gingen über einen roten Läufer, der zu einer Tribüne führte, die zwischen der Nelson-Nische und der On the Beaches Shooting-Galerie errichtet worden war. »Überall Narzissen! Wie hübsch, Liebster!« »Ich habe sie angewiesen, alles ganz einfach zu halten.« Im Schatten des ziemlich abgerissenen und schäbigen Hinterbühnenbereichs schüttelten sie Hände und nahmen Drinks entgegen. Sir Maverick war anwesend, darüber hinaus eine Schauspielerin, ein populärer Historiker, ein Popstar und ein typischer jugendlicher Erwerbsloser, der vom Freizeitministerium unterstützt wurde. Sie mußten warten, bis sich eine entsprechend große Menschenmenge versammelt hatte und alle Kameraleute eingetroffen waren. Madge konnte
den Blick nicht von Hieronymus Gunk abwenden, dem Gründer von Scraphead Rock, der aussah wie die Kinder an den Toren, jedoch mindestens vierzig Jahre alt war, in tadelloser Aufmachung. Er verbrachte seine Zeit damit, überall sein Autogramm auf die nackten Arme und Beine der ausgewählten Jugendlichen zu stempeln. Sir Mavericks Sekretär flüsterte ängstlich, daß eine weitere Frau auf der Tribüne sein sollte; sie hätten eine weibliche Arbeitslose heranschaffen sollen, aber es war jetzt zu spät, ihn noch mal loszuschicken. Bernard und der populäre Historiker fanden heraus, daß sie ihre Söhne in dieselbe Vorschule geschickt hatten. Madge versuchte, sich daran zu erinnern, wo sie die Schauspielerin schon einmal gesehen hatte, und die Schauspielerin versuchte, sich daran zu erinnern, wo sie Madge schon einmal gesehen hatte. Als das Zeichen kam, daß die letzte Fernsehkamera in Position war, knipste Sir Maverick auf seinem Gesicht einen freundlichen, mitleidigen Ausdruck an, betrat die Tribüne und zerschnitt die symbolischen roten, weißen und blauen Bänder. Sie konnten seine Stimme kaum hören, da sie in der mächtigen Verstärkung fast unterging. Bernard wollte die übrigen Reden nicht hören. Er war als dritter an der Reihe und benötigte verzweifelt diese letzten paar Minuten, um sich die Worte seiner Rede ins Gedächtnis einzuprägen. Er wollte keine Notizen benutzen, weil er, obgleich kein erfahrener Redner, das Gefühl hatte, in seinem Alter sollte er einer sein. Madge sah ihm seine Panik an und fühlte Mitleid mit ihm. »Gib mir deine Notizen. Ich werde dir einsagen, falls du etwas vergißt.« »Tust du das? Ich kann mir nicht vorstellen, warum ich… nur ein paar Minuten… und da hört doch sowieso keiner zu.« Er
schwitzte aus allen Poren, und die Augen traten ihm aus den Höhlen. Sie nahm ihn bei der Hand. In Wirklichkeit liebte sie seine Schwäche, auch wenn sie vorgeben mußte, er sei ein starker Mann. »Das ist deine schönste Stunde«, flüsterte sie. »Wie Churchill. Wir sind alle so stolz auf dich.« »Wo sind sie?« Er sah sich nach seinen Kindern um. »Sie haben gesagt, sie wollten uns hier treffen. Du weißt doch, wie sie sind. Du bist jetzt an der Reihe. Hinauf also, und viel Glück!« Sie gab ihm einen Stoß, und er stieg zitternd die Stufen hinauf. Sie war froh darum, daß die Kinder nicht hier waren und herumalberten und sich lustig machten. Ganz hinten in der Menge, bereit zur Flucht, waren Rose und Simon tief in eine im Flüsterton geführte Unterhaltung verstrickt. Die Leute um sie herum, von der Störung irritiert, wichen zurück, bis die beiden isoliert zusammenstanden. Simon sagte gerade: »… also geht man durch diese malvenfarbenen fliegenden Plastikstreben, und Laserstrahlen hüllen einen in Kettenhemden. Daraufhin galoppieren viele Männer auf Pferden zu einem herab. Wenn man den richtigen Knopf drückt, weichen sie zurück, und wenn man’s nicht tut, erscheint diese aufblasbare Axt und schlägt einem auf den Kopf.« »Ich bin auf einem Karussell gewesen, das in raschem Tempo ›The British Grenadiers‹ spielte. Man saß auf Löwen und Einhörnern, und während man herumkreiste, sah man eine holographische Karte der Welt, die gegen die Mitte zu nach und nach pinkfarben wurde. Dann brach die Musik ab, und Stanley, Clive und Rhodes standen auf und hielten kleine Ansprachen. Es hat mir ganz gut gefallen.« »Ja, es hat so ein gewisses Kitsch-Appeal an sich. Ich bin mir sicher, es wird ein großer Erfolg werden. Ich war ein bißchen
verlegen, weil ich weit und breit die einzige Person über zwanzig Jahren war.« »Die ganze Idee besteht darin, die Kinder glücklich zu machen, damit es keinen Aufruhr gibt. Sie können jeden Tag umsonst hinein, wenn sie wollen, sie müssen lediglich ihre Lebensmittelkarten vorzeigen.« »Warum trinken sie alle Neuropepsi? Ist das ungefährlich? Es hat offensichtlich einen merkwürdigen Effekt auf sie.« »Ich weiß, aber das ist völlig legal, es wird in der Tat im ganzen Land umsonst verteilt.« »Jetzt ist er dran!« Simon verspürte die übliche Verlegenheit in Gegenwart seines Vaters. Selbst auf diese Entfernung hin verströmte er anscheinend Unaufrichtigkeit. Nicht mehr als jeder andere Mann auf der Tribüne, ermahnte er sich selbst, als die Menge applaudierte und Hochrufe ausstieß. Bernard war als der Mann vorgestellt worden, ›der das freie Unternehmertum zurückgebracht hatte‹. »Psst. Ich will hören, was er sagt«, sagte Rose fest. Innerhalb weniger Minuten jedoch wandten sie sich einander mit einem Lächeln des geheimen Einverständnisses und der Scham zu. Das Geflüster begann erneut. »Er ist auf einen Ritterschlag aus«, flüsterte Rose. »Jedermann würde glauben, er habe die Belgano mit einer Hand versenkt.« »Ich meine, einen von Madges Hüten dort im Hintergrund herumhüpfen zu sehen.« »Ich schätze mal, wir sollten zu ihnen gehen. Merlin könnte da sein, ich habe ihn seit einer Ewigkeit nicht gesehen.« »Nun, warum denn nicht, zum Teufel noch mal?« Plötzlich ärgerte sich Rose auch über ihn und wandte sich ab. »Ich kann sie heute morgen einfach nicht sehen. Ich werd zum Pressezelt gehen und einen trinken. Kommste mit?«
Er folgte ihr, wünschte jedoch fast sofort, er hätte es nicht getan. Roses Kollegen überraschten ihn immer wieder mit ihrer unnötigen Brutalität, ihrem Alkoholkonsum und ihrer Unflätigkeit. Es gefiel ihm gar nicht, wie gut sie mit ihnen zurechtkam. Aber er lächelte, gab Antworten und leerte Weingläser. Ich werde wieder aggressiver, bemerkte er erleichtert. Während Rose die Einzelheiten ihres VaterTochter-Stücks besprach, stand Simon im Zelteingang und beobachtete die Menge. Abgesehen von einem gelegentlichen Helfer in Zivil oder einem Geschäftsmann waren sie alle sehr jung, mit den runden glatten Gesichtern von Kindern, jedoch ohne deren Offenheit. Viele von ihnen hatten schreckliche Pickel, Pustel und andere entzündliche Hautausschläge, die durch das dicke Make-up sichtbar waren und, möglicherweise, davon hervorgerufen wurden. Ihre Kleidung war anrührend in ihrer barocken Protzigkeit. Dies war die Altersgruppe, die er in Smiles niemals sah: Die Kinder gingen mit elf oder zwölf in die Teenie-Camps, die er sich jetzt als lange Reihen von Spiegeln im Schlamm vorstellte, wo unterernährte, pickelige Kinder malten und wischten und drückten und versuchten, ihr Spiegelbild zu mögen. Sie mußten Lumpen sammeln für die leuchtenden Stoffe und daraufhin Stunden mit Zuschneiden, Abstecken und Nähen ihrer tapferen pathetischen Verkleidungen zubringen. Eltern, die versuchten, ihre Kinder in diesen Lagern zu besuchen, kehrten schockiert zurück und erzählten Geschichten von Banden und Ritualen, von Drogen und Gewalt. Smiles hielt sich für ein respektables, gutgeführtes Lager mit einer niedrigen Kriminalitätsrate. Simon glaubte den Horrorgeschichten über die Jungen nicht recht, denn er ergriff von vornherein Partei gegen die Eltern, weil er es nicht akzeptiert hatte, selbst Vater zu sein. Er starrte sie weiterhin an, bis ein Mädchen in Merlins Alter auf ihn zukam, ihm die
Arme um die Schultern legte, zu denen sie kaum hinaufreichen konnte, und ihn fragte, ob er sie nicht zu sich mit nach Hause nehmen wolle. Simon kehrte ins Zeltinnere zurück, wo Rose noch immer redete, eindringlich und gereizt, denn sie hatte nicht die Absicht, neun Millionen Lesern mitzuteilen, was sie wirklich von ihrem Vater dachte. Ihr Artikel sollte die Form eines wechselseitigen Interviews haben, aber die Fragen, die sie und Bernard einander stellten, mußten mit dem Chefredakteur abgesprochen werden. »Gerade hat ein neunjähriges Mädchen versucht, mich anzumachen.« »Kinderprostitution ist nichts Neues, vor zwei Jahren haben wir einen zweiseitigen Artikel darüber gebracht. Also, Rose, hättest du etwas dagegen, wenn dein Vater dich fragte, ob du dich von seinem Erfolg überwältigt fühlst?« »Er ist lediglich erst etwa fünf Minuten lang erfolgreich.« Rose lächelte Simon zu. »Doch ist er stets wohlhabend gewesen, du mußt davon beeinflußt worden sein.« Rose war verwirrt. »Du hättest hören sollen, wie er sich übers Geld beklagt hat. Jedesmal, wenn eine Rechnung kam, herrschte Panik.« »Wirklich? Können wir das benutzen?« »Ja. Mach schon, Rose, hau ihm eine rein, während er oben schwebt. Erzähl ihnen was über deine Schuluniform!« »Halt’s Maul, Simon!« Der Chefredakteur bot Simon einen weiteren Drink an.
KAPITEL 14
Martha und ihre Freundin Dawn trafen erst nach den Ansprachen ein. Sie kamen zu spät, weil Martha Stunden dazu brauchte, die Schichten von schwarz-weißem Make-up und weißen Lippenstift aufzutragen und grüne falsche Augenwimpern, silberne Sterne und glitzernde Nasenringe anzubringen. Ihr juckte die Kopfhaut unter der Perücke mit den langen purpurfarbenen Haaren, und die Perücke juckte unter dem grünen Samtturban, obgleich eine Perücke, dachte sie, eigentlich nicht jucken konnte. Ihr Gesicht brannte unter dem Fett, als habe jemand eine Kerze darunter entzündet. Aber Martha sah großartig aus, ebenso wie Dawn, die ähnlich aussah, sich jedoch wohler fühlte. Martha brannten die Augen, weil ihr etwas Klebstoff hineingelaufen war; sie hoffte, sie wären nicht gerötet, weil sie dann noch kleiner aussahen. Sie war sich schmerzlich bewußt, daß ihre Augen zu klein und alles andere an ihr zu groß war. Sie machte nur kleine Schritte, damit die engen gelben Brokathosen nicht platzten, die sie am Abend zuvor geschneidert hatte. Die Hosen hätten eigentlich bauschig und von orientalischem Schnitt sein sollen, irgendwie jedoch bauschte niemals etwas bei ihr, gleich, wieviel Stoff sie auch benutzte. Dawn ging voraus, schlank und hübsch und durchtrieben. Martha folgte ängstlich, wie stets, seitdem sie Smiles vor zwei Wochen verlassen hatte. Sie war zu nervös, um etwas von ihrer Umgebung aufzunehmen, sie hielt einfach die Augen auf Dawns kleines, festes, selbstsicheres Hinterteil gerichtet. Dawns bauschige Hosen waren großartig geworden. Ein Mann reichte jeder von ihnen ein Dosengetränk, und sie
lächelten, erleichtert darüber, daß jemand Notiz von ihnen genommen hatte. Martha trank ihres sehr rasch und spürte, wie das kalte, saccharinsüße Gas ihr den Magen aufblähte. Sie hatten zum Trinken innegehalten, und Martha sah sich zum erstenmal um. Es war so etwas wie ein Rummelplatz, voller Exhibis wie sie selbst; sie erblickte kaum welche von diesen Grufties oder Schlampies. Martha sah sich nach Hieronymus Gunk um; wie sie gehört hatte, sollte er anwesend sein. Sie hatte erwartet, er hielte sich auf einer Drehbühne hoch über allen anderen auf. Sie senkte den Blick, zusammen mit der Höhe ihrer Erwartungen, und sah Simon, der draußen vor einem Zelt auf der anderen Seite des Menschenmeeres stand. Er blickte zurück, ohne jegliches Anzeichen, daß er sie erkannte, und sie spürte eine merkwürdige Einsamkeit, weil sie nicht mehr die Martha war, der er Geschichten erzählte, die von Christy angebrüllt wurde, die in dieser blöden Spielgruppe herumgehangen hatte, bis sie viel zu alt zum Spielen geworden war, und das nur, weil sie und ihre Mama sich im Zelt auf die Nerven gegangen waren. Sie würden nicht nach ihr suchen, weil Kinder dieses Alters ständig verschwanden, außer diesem Stümper wie Peter, der bei diesem ekelhaften alten Mann blieb und noch nicht einmal gehen konnte. Vielleicht ändere ich meinen Namen, viele Kinder im Lager hatten das getan, und mir hat Martha niemals gefallen. Klingt schwer und lahm. Jackie, Linda. Ein zierlicher Name. Dann, zum erstenmal seit Monaten, hörte Martha auf, sich Sorgen zu machen. Sie war Dawn in eine Art Zelt gefolgt, an dessen Wänden überall Bilder von großen Schiffen hingen, die an einem Ufer landeten, und viele Soldaten strömten heraus. In dem flackernden Licht sah sie, daß Dawn eine schmutziggrüne Uniform trug, und als sie an sich selbst hinabsah, bemerkte Martha, daß sie gleichfalls eine Uniform trug. Das war
urkomisch, und sie fing an zu lachen, und sie konnte sich nicht mehr halten, und sie vernahm ihr schrilles Gelächter über das Geräusch der Wogen und der Gewehre und der Möwen hinweg. Sie mußten auf Knöpfe drücken, um sich die Soldaten vom Leib zu halten, aber die Soldaten strömten unablässig heran, und Martha lachte weiter. Dawn stieß sie an, sie sollte sich anschnallen, grinste und kicherte jedoch selbst dabei. Zwei Typen starrten sie an, in Scrapheap-Kleidung. Sie trugen Wikingerhelme und hatte überall auf Gesicht, Armen und Beinen Spiegel. Martha fragte sich, wie sie die Spiegel befestigt hatten. Durch ihre grünen Uniformen sah man die langen bleichen mageren Gliedmaßen funkeln. Im Sonnenlicht mußten sie großartig aussehen, echte Exhibis. Sie stellten sich neben Dawn und Martha und fingen an, dieselben Knöpfe zu drücken, dann verließen alle zusammen das Zelt und gingen in ein anderes, wo Männer auf galoppierenden Pferden saßen. Martha sah, daß sie und Dwan und die beiden Jungen Rüstungen trugen. Sie tranken weitere prickelnde Getränke, und Martha war richtig glücklich, sie lächelte den beiden Typen und Dawn zu. Freunde, jetzt hatte sie Freunde. Einer der Typen sah phantastisch aus, mit blauen Augen und einer hübschen Nase und einem kleinen Mund, wie sie sich’s schon immer gewünscht hatte. Er sah sie unentwegt an, und als sie einmal zu einem anderen Zelt gingen, küßte er sie auf den Nacken. Das gefiel ihr. Es gefiel ihr, wie er seine Spiegel angesteckt hatte, sorgfältig. Er bohrte sich nicht die ganze Zeit über in der Nase oder kratzte sich die Eier, wie eine Menge Burschen im Lager. Seit die beiden Jungen zu ihnen gestoßen waren, war noch kein Wort zwischen ihnen gefallen. In einem kurzen Augenblick des Tageslichts lächelten Martha und Dawn einander im Wissen zu, daß sie beide die Typen mochten. Sie würden für einige Tage ins Lager zurückkehren. Sie tauschten
die Namen aus, die beiden Typen hießen Ron und Dave, und Martha sagte, ihr Name sei Jeanette. Vielleicht wären sie ja nett, dachte Martha, wie dieser reiche alte Kauz, der sie vergangene Woche zu sich ins Haus genommen, ihnen zu essen gegeben und Filme gezeigt hatte. Die meiste Zeit über hatten eine Frau und einige kleine Kinder im Haus gelebt. Während er schlief, waren sie und Dawn umhergegangen und hatten alle Türen geöffnet. Ein Zimmer war übersät von Spielzeug, wie ein Spielzeugladen, und in einem anderen Zimmer standen ein goldenes Bett und pinkfarbene Schränke voller Kleider in Plastiktüten. Zerknitterte Kleider, aber wirklich teuer, und auch etwa tausend Paar Schuhe. Dawn hatte sie anprobieren wollen, aber Martha hatte zuviel Angst gehabt, es fröstelte sie in dem Haus. Es war so groß und sauber und still; sie wollte es sowieso nicht mehr mit diesem Kerl machen, er war fett und behaart und ließ sie widerliche Dinge tun. Selbst nach einer Stunde in seinem türkisfarbenen Bad fühlte sie sich noch nicht sauber. Also nahmen sie zwei Flaschen Parfüm und eine Schachtel Schokoladenkekse und verließen das Haus. Ron und Dave hatten bestimmt nicht so ein Haus oder gutes Essen, sie lebten sicherlich wie sie in einem Zelt. Aber sie waren wenigstens jung und schlank, und Dave hatte wunderschöne Augen. Sie fragte sich, ob er die Spiegel abnähme, wenn er ins Bett ging. Es gefiel ihr nicht, was er mit ihr täte, wenn sie die Kleider auszog. Dawn behauptete, diese Sache da mit dem Sex gefiele ihr, aber Martha glaubte ihr nicht. Ihre Mama hatte immer über die Männer gebrummelt, hatte Martha jedoch nicht wirklich etwas gesagt, vielleicht wußte sie’s auch nicht. Dawn sagte, es wäre alles in Ordnung, wenn man die Männer das machen ließe, so lange man zu einem dieser Lastwagen ginge und sich innen drin alles regeln lasse, so daß man keine Babies bekäme. Dieses Mädchen
neben Dawns Zelt hatte ein Baby, es schrie die ganze Zeit über, und sie konnte nicht ausgehen, mußte wie ein Dildo herumsitzen, und keiner der Kerle gab was um sie. Martha entschloß sich, bei Dave zu bleiben, bis er sie hinauswerfen würde, dann wollte sie zu einem dieser Lastwagen gehen. Rose und Bernard saßen über Erdbeeren, Gin und Tonic im Chaucer-Zimmer und machten sich Notizen für das Interview. Madge saß daneben und hörte zu, bereit, als Schiedsrichter zu agieren, während Simon versuchte, nicht zuzuhören. Bernard studierte mißtrauisch Roses Notizen. »Was soll das heißen? ›Schuluniform‹?« »Ich war mir nicht sicher, ob ich’s erwähnen sollte oder nicht. Aber ich werd’s wohl tun. Als ich das erste Mal nach Hedgley ging, hast du dir die Uniformliste angesehen und gesagt, das sei Unsinn, eine einzige Geldverschwendung. Du hast gesagt, ich benötige nicht die Hälfte von dem Zeug. Also hatte ich niemals die richtige Kleidung, ich mußte beim Turnen und beim Volleyball meine Tenniskleider tragen, und ich mußte meine Winteruniform tragen, bis ich kochte, weil ich nur ein Sommerkleid hatte.« »Mir blutet das Herz«, meinte Bernard ätzend. Madge spürte, wie ihr der Ärger in Ohren und Stirn hochstieg, ein angenehmes Gefühl, als sei man leicht angeheitert. »Meinst du wirklich, daß Millionen von Leuten die trivialen Details dessen wissen wollen, was du getragen oder nicht getragen hast, als du dreizehn warst?« »Ja. Das ist genau das, worüber die Leute gerne etwas lesen.« »Sie wollen überhaupt nichts von dir wissen, mein Mädchen. Dein Vater hat sich herausgemacht, nicht du.« »Nun, sie werden’s erfahren, weil ich’s gerade aufgenommen habe. Und den Artikel schreibe ich.« Bernard blickte nervös auf ihre Tasche.
»Wie ich annehme, möchten sie auch gerne etwas über deine Extravaganzen lesen.« Madge sah ihre kühle smarte Tochter voller Widerwillen an. »Ich habe nichts zu verbergen. Außerdem bin ich so extravagant wie eine tote Klapperschlange.« »Und etwa ebenso warmblütig«, sagte Madge hitzig. »Und weil wir gerade beim Thema ›Schuluniform‹ sind – wir mußten gerade ein Vermögen für eine andere hinauswerfen. Ich habe nichts davon mitbekommen, daß der in Merlin vernarrte Vater oder die Tante etwas dazu beisteuern wollten.« Alle sahen sie Simon erwartungsvoll an, der jedoch weigerte sich, mitten im Sommer in dieses Weihnachts-Drama hineingezogen zu werden. »Ich muß zurück an die Arbeit. Ich freue mich auf deinen Artikel.« Er grinste Rose an, die nicht zurücklächelte. Sie dachte, er vergißt stets, auf wessen Seite er steht. »Tschüs! Ich werd mich bald wegen Merlin melden. Gut gemacht, Bernard!« Sie alle seufzten, als er sich davonmachte, kurzfristig vereint in ihrer Abneigung gegen seine Unbestimmtheit. Simon spürte eine nagende, schreckliche Einsamkeit, die ihn von Bernards Vergewaltigung der Zeit zurück zum Friedhof führt. Als er jedoch auf der Bank vor dem zerbröselnden steinernen Säulengängen saß, die sich durch einen Wald aus Gras, Unkräutern und eingesunkenen Gräbern wanden, ging ihm auf, daß der Friede, den er für gewöhnlich dort fand, auf immer zerschmettert war. Über die Mauer winselte eine elektronische Orgel Militärmärsche herüber, tönten Rufe und Kichern und ein aufgeregtes Kreischen, untermalt von einem surrenden maschinenhaften Geräusch im Hintergrund. Im Raum oberhalb der Mauerkrone, ehemals so angenehm kahl, erblickte er wehende Fahnen in Rot, Weiß und Blau, die
Spitzen pinkfarbener und gelber Türme, Kirchturmspitzen und blitzende Neonlichter. Simon zwang Augen und Ohren nach innen. Er hatte zur Arbeit gehen wollen, wie er’s gesagt hatte. Aber jetzt war’s dafür zu spät, es wäre Zeit zum Mittagessen, ehe er dort einträfe. Montag und Dienstag waren so demütigend gewesen, er hatte auf Christy gewartet. Ebenso demütigend war die anschließende Heimkehr und die Warterei auf Ellens Anruf gewesen. Müde, sagte er sich, ja, meine Eingeweide sind buchstäblich erfroren, ineinander gekrallt vor Verlangen. Auf ihre Ankunft warten und darauf, daß sie mich auftaut. Eher jedoch wird sie mich anbrüllen, weil es den Kindern ohne uns beide so mies gegangen war. Sean ist für sie kaum die reine Freude, er stapft lediglich herum und sieht beschäftigt aus. Jetzt wird sie wohl kaum vor Montag zurücksein, denke ich. Vier und ein halber Tag. Ich wünschte mir, ich hätte mehr getrunken, als es nichts kostete, dann hätte ich vielleicht den restlichen Tag verschlafen können. O Gott! Warum lerne ich nichts dazu? Jessica hat mich darauf reduziert, auf diesen zitternden Wackelpudding von Liebe. Als ich dann gesehen habe, wie widerlich sie das fand, habe ich mich verfestigt, verhärtet, wurde am Ende tatsächlich ziemlich hart. Mein allergrößter Ehrgeiz ist’s zu lieben, und von Christy wiedergeliebt zu werden. Liebe ist einfach nicht als Vollzeitbeschäftigung gedacht. Nicht für einen Mann, würde Madge sagten. Und sicherlich nicht für eine Frau wie Rose. Doch bei mir ist’s irgendwie wie eine Besessenheit. Bis ich mich ihrer sicher fühle, kann ich überhaupt nichts tun.
Später an diesem Abend klingelte das Telefon. Eine atemlose Frauenstimme, eine Party oder ein Pub im Hintergrund. »Simon?«
»Wer ist da?« »Ich bin’s, Ellen. Sie ist zurück. Willst du sie sprechen?« »Nein. Ich meine, wo ist sie?« »Hier, bei mir. Wir sind einen trinken.« »Du hast ihr nicht gesagt…?« »Sei nicht so schüchtern. Bist du dir sicher, daß du sie nicht sprechen willst?« »Nein. Ja, ich möchte sie sprechen.« »Hallo? Wie geht’s, Simon?« »Ganz gut. Wirst du morgen zur Arbeit kommen?« »Ja. Ich habe dich vermißt.« »Wirklich? Tatsächlich? Nun, ich habe dich auch vermißt.« »Bis morgen dann.« »Ja. Tschüs!.« Später, im Bett, während das Gespräch zum zwanzigsten Mal in ihm widerhallte, dachte Simon, das war wohl der flachste Höhepunkt einer wochenlang unterdrückten Leidenschaft. Dennoch fühlte er sich aufregend glücklich.
KAPITEL 15
In der Morgendämmerung kämpfte sich Martha unter Dave hervor, zog die klammen gelben Brokathosen und die roten Clogs an und schlich durch den zerrissenen Zelteingang hinaus an die frische Luft. Selbst hier draußen stank es, aber nicht so schlimm wie im Zeltinnern, wo sich alle vier im eigenen Schmutz umherwälzten, ekelhaft, wirklich. Kalt und klamm und hungrig stürzte Martha blindlings aus dem Lager. Sie wollte nicht zurückkehren, nicht einmal wegen Dawn, die ihre Freundin sein wollte, sich bei Kerlen jedoch wie ein Tier benahm und es sich von ihnen machen ließ, wann immer sie dazu Gelegenheit hatte. Martha fühlte sich so elend, daß sie sogar dachte, sie könnte nach Smiles zurückkehren, zu Mama; aber dort war es ebenfalls widerlich, und einsam. Ich wünschte, ich wäre bei diesem reichen Kauz geblieben, sagte sie sich, ein richtiger Platin-Typ. Sie war in South Kensington, war den ganzen Weg von Daves Lager in Fulham gerannt. Muß schön sein, das Leben hier. Sahnefarbene Häuser, wie wundervolle Kuchen voller Steaks, Wein, Schmuck, Parfüm, Heißwasser, Schokolade, Zentralheizungen. Die Wagen draußen alle blitzblank poliert und glatt. Martha begann zu weinen, weil das Leben hier so glänzend war. Ihr war die Perücke heruntergefallen, ihr Kopf fühlte sich schmierig an, und ihre Augen waren von verdorbenem Make-up verklebt. Vielleicht, wenn ich mich auf eine ihrer Türschwellen setze und warte, bis sie die Tür öffnen, dann nehmen sie mich mit der Milch rein. Ich hab mal ‘ne Geschichte von ‘nem Mädchen gehört, die das getan hat, in einem von den Häusern hier leben konnte, natürlich als Dienstmädchen, aber man wacht doch
immer noch jeden Morgen hier auf, kriegt saubere Kleider und satt zu essen. Natürlich keinen Lohn, weil man legal keine Kartenlosen beschäftigen konnte. Martha schmerzten von der ganzen Rennerei die Beine. Vorsichtig setzte sie sich auf die Türschwelle eines hellen Hauses in einem wundervoll gepflasterten halbmondförmigen Straßenzug. Aber sie hatte Angst, ein Polizist oder ein Wachmann könnte sie ergreifen, also sprang sie nach ein paar Minuten wieder auf. Sie starrte die aufgereihten Milchflaschen an. Ich bin so hungrig. Aber man kann eingesperrt werden, wenn man Milch klaut, nun ja, vielleicht wäre das gar nicht so schlecht. Dann erblickte Martha ein schwarzes Rechteck zwischen den Rädern eines der wundervollen Wagen. Sie blickte sich erneut um, um sicherzustellen, daß sie niemand beobachtete, bückte sich, packte es und sprang wieder auf, wobei sie sich nicht getraute, einen Blick darauf zu werfen. Es mußte eine Brieftasche sein, und sie war hart, also war etwas darin. Hysterisch kichernd steckte Martha sie in die Hosentasche und sah sich nach einem Ort um, wo sie sie untersuchen konnte. Sie überquerte die Straße, ging zu einem feinen Kaffeegeschäft, das noch immer geschlossen hatte – hier oben schlief niemand in den Eingängen –, wandte der Straße den Rücken zu und sah nach. In der schwarzen Lederbrieftasche befand sich ein goldenes Plastikrechteck. Und die Geheimzahl? Martha stülpte die Brieftasche um, schüttelte sie, und ein Papierfetzen mit einer darauf gekritzelten Zahl fiel heraus: 62007542. Bis zu 20K, sobald die Geschäfte öffneten. Essen, Kleider, ein Wagen, eine Wohnung in einem dieser Häuser. Sie stopfte die Brieftasche in die Hosentasche zurück und rannte eine Seitenstraße hinab, muß in Bewegung bleiben, ist erst sieben. Leute wie die hier stehen nicht so früh auf. Ich könnte in ein Hotel gehen, aber so, wie ich jetzt aussehe, würden die mich nicht reinlassen. Ich
muß zum Friseur, sobald die aufmachen, brauche eine Gesichtspflege, eine Maniküre, neues Make-up, Kleider, aber erst Frühstück, was nur reingeht. Vielleicht kaufe ich meiner Mama Geschenke, fahre mit dem Taxi hinüber, sehe aus wie eine Scrapheap-Prinzessin. Nee, dann werden sie’s ahnen. Besser, überhaupt nichts mit Smiles oder mit Dawn oder mit irgendwas da zu tun haben. Ich hab schon immer gewußt, daß ich was Besonderes bin, darum hab ich niemals dazugehört. Jetzt werde ich Freunde finden. Platin-Typen, sie werden alle hinter mir her sein. Martha getraute sich nicht, die Britcard zu zeigen, bis sie nicht selbst auch entsprechend glänzend aussah. Zwischen acht und neun schlich sie um Hotels, Brasserien und Cafes umher, und ihr lief das Wasser im Mund zusammen beim Duft von Toast, Schinken und Kaffee. Sie unternahm einen Spaziergang im Hyde Park, wo sie voller Verachtung auf die verschrumpelten schmutzigen Bündel blickte, die auf den Bänken schliefen, und voller Bewunderung auf die Männer in schnittigen Anzügen und die Frauen in hübschen Kleidern, die durch den Park schlenderten. Sie wußte, sie konnten sie nicht sehen, sie existierte noch nicht, sie wartete darauf, geboren zu werden. Sobald die Boutique in Knightsbridge öffnete, ging Martha hinein. Sie glauben, ich seh mich bloß um, sie haben Angst, mich etwas anprobieren zu lassen, weil ich vielleicht Flöhe hab. Hab ich vielleicht, aber jetzt werd ich sie loswerden. Das ist echt Exhibi, und so weich, muß Seide sein, ich weiß nich, was ich für ‘ne Größe hab. Ich hab noch nie zuvor neue Kleider gekauft. Ich hätt noch nich mal was dagegen, ihren Job zu haben: Hübsche Kleider, jeden Tag hierher kommen, wo nichts schmutzig ist und niemand stinkt. Martha beobachtete eine andere Kundin. Leicht. Man reicht einfach die Karte rüber und tippt die Nummer ein. Sie kaufte
sechs Kleider, vier Pullover, zwei Blusen, zwei Röcke, einen Gürtel, eine Handtasche und drei Paar Schuhe. Immer und immer wieder probierte Martha die Sachen an, sie tanzte dabei vor dem Spiegel. Verdorben wurde ihr das Ganze bloß durch ihr schmutziges Gesicht und das Haar, das und die sauren Mienen der Verkäuferinnen. »Soll ich die Kleider in eine Tüte packen?« »Nee, verbrennen Sie sie!« Sie hatte alles ausgezogen, war völlig nackt unter ihrem grün getupften, im Rücken tief ausgeschnittenen Mini-Fummel. Das Mädchen, nur wenige Jahre älter als Martha, fragte ausdruckslos: »Kann ich bitte Ihre Karte haben?« Martha zog sie schwungvoll aus ihrer neuen schwarzen Samttasche. Einen Augenblick lang, beim Eintippen der Nummer, war ihr hundeelend. Was, wenn es lediglich eine Telefonnummer wäre? Aber die Karte wurde akzeptiert, sie nahm ihre Pakete und ging aus dem Geschäft direkt in ein benachbartes Cafe, wo sie Kaffee, Rührei, Toast und Marmelade, Pfannkuchen mit Ahornsirup und Schokoladenkuchen bestellte. »Wie ich sehe, haben Sie keine Sorge um Ihre Figur«, sagte der Kellner, ein affektiert grinsender magerer Junge, der ihr ziemlich gefiel. Martha grinste ihn zwischen einigen Bissen an, streckte die Beine und hielt in dem grünen Kleid, das über den Hüften zu sehr spannte, den Atem an. Sie wünschte sich, sie hätte eine Wohnung, um ihn dorthin einzuladen. Aber sie wollte die Morgensonne auf dem nackten Rücken spüren: Sie war verschwunden und hatte den Schokoladenkuchen zurückgelassen, um zu zeigen, daß sie’s sich leisten konnte. Sie hatte so viele Tüten, daß sie kaum gehen konnte – warum jedoch sich beklagen? Sie hatte alte Tippelbrüder gekannt, mit Hunderten von Plastiktüten, und in keiner was drin. Sie hätte so enden können.
Der Schönheitssalon war der herrlichste Ort der Welt. Er war, wie Sex sein sollte, jedoch nicht war, oder vielleicht war, wenn man reich war. Weiche Hände liebkosten, massierten, wachsten, wuschen, färbten, zupften, drückten, kämmten, glätteten, verteilten, sprühten und malten ihr die Schönheit auf. Sie saß zurückgelehnt auf einem der Stühle, die in abgedunkelten Nischen nebeneinander standen, während die Hände ihr opferten und sie bedienten. Martha suhlte sich in ihrer Halbnacktheit, fragte sich, ob sie bemerkt hatten, daß sie keinen Slip trug. Doch sowas zählte jetzt nicht mehr, ich kann tun, was mir gefällt. Der ganze Schmutz war aus ihr herausgelockt worden, niemals mehr würde sie stinken. Die Gesichter über den Händen waren freundlich, respektvoll. Sie sagten, sie habe hübsche Haut und schönes Haar. Sie sagte, sie habe eine Wohnung unten an der Straße und einen Freund in Scrapheap Rock. Am Ende ihrer rituellen Reinigung starrte sich Martha eine volle Minute lang im Spiegel an, ehe sie zahlte. Ihre Haar war sehr kurz, stufig geschnitten und wie ein Art Fontäne, im Nacken einen Schatten von purpur- bis malvenfarben, Brauen und Wimpern orangefarben, und sie hatte eine Bräunungsbehandlung bekommen. Es zeigte sich viel braune Haut, zuviel. Sie fragte sich, ob sie in einen anderen Schönheitssalon gehen könnte, wo die Hände sie schlank machen würden. Sie legte die goldene Karte erneut wie ein Kind nieder, das Schnippschnapp spielt, und tippte die Geheimnummer ein. Die Nummer blitzte auf dem Bildschirm auf, und die Karte sprang aus dem Schlitz zu ihr zurück. Martha wollte allen ein Trinkgeld geben, hatte jedoch kein Bargeld. Sie lächelte sie in der Runde an; ihre Hände mühten sich jetzt bei anderen jungen Frauen. Sie wollte sich bedanken, wollte sagen, ihr habt mich gemacht, ihr habt mir gegeben, was ich stets gewollt und niemals geglaubt hatte zu bekommen.
Aber es war wohl das beste, nicht zu sprechen, außer wenn es sein mußte. Ihre Stimme verriet sie. Statt dessen lächelte sie erneut. Ihre Zähne verrieten sie gleichfalls, ganz gelb und verrottet, wie sie waren. Sie übte das Lächeln mit geschlossenem Mund. Martha stolperte, schwebte, trieb über die Straße hinüber in ein Hotel. Ein alter Knabe in Uniform begrüßte sie, in einer Tür wie ein Karussell wäre sie fast mit ihren Tüten steckengeblieben, eine Marmorhalle, mit Blumen übersät, empfing sie. Eine Passage von Luxusgeschäften verlor sich im Hintergrund, ein wundervoller Ausblick auf Parfüms und tolle Kleider. Sie konnte es kaum erwarten, sie zu betreten; zunächst jedoch mußte sie ihre Tüten loswerden. Ein Mann beugte sich über den Tresen zu ihr herüber, und sie starrte zurück, nicht mehr länger voller Furcht. »Ich möchte ein Zimmer.« »Für wie viele Nächte?« »Eine Woche.« »Darf ich bitte Ihre Britcard haben, Miss…?« »Smiles.« Sie reichte ihm die Karte hinüber, und eine Reihe von Kicheranfällen packte sie. Sie legte sich die Hand über den Mund, konnte die Wogen von Gelächter jedoch nicht unterdrücken. Sie hatte Miss Kensington sagen oder sogar den Namen Peabody, ihrer Mutter Namen, benutzen wollen. Martha versuchte, das Gekicher in einem Husten zu ersticken, aber es brach als heftiger Schluckauf erneut aus ihr hervor. Der Mann hinter dem Tresen schenkte ihrem Anfall keine Beachtung, gab ihr die Karte zurück und reichte einem Jungen in ihrem Alter einen Schlüssel, und der Junge trug ihre Tüten zu einem Aufzug. Martha hatte ihre Würde zurückgewonnen; sie biß sich auf die Zunge, um sich zu bestrafen, sah direkt durch den Pagen hindurch und drängte hinter ihm ins Zimmer. Es war riesig, weiß, hatte eine Kuppel wie das Innere einer
Eierschale. Sobald der Page verschwunden war, wirbelte sie im Zimmer umher und ließ sich immer wieder auf das runde weiße Bett fallen, bis sie sich fast den Kopf an der PlexiglasNachttischlampe gestoßen hätte. Sie verteilte ihre Kleidungsstücke in der Garderobe und in den Schubladen und atmete dabei die teuren Düfte neuen sauberen Leders, von Baumwolle, Seide und Wolle ein. In dem schwarzen Marmorbad fand sie Seife, Schaumbad, eine Zahnbürste und Handtücher vor. Als habe man gewußt, daß sie ohne Gepäck einträfe. Im Kühlschrank, der wie ein Safe in die Wand eingelassen war, fand Martha Champagner, Käse, Salami und Fruchtsaft. Sie konnte den Champagner nicht öffnen, wanderte jedoch nackt im Zimmer umher und mampfte das Essen. Das alles für eine Person, für mich, für immer. Ich brauche keine Wohnung, hier macht es mehr Spaß. Wenn ich den Knopf da neben dem Bett drücke, kann ich Videos sehen, soviel ich mag. Ich könnte den ganzen Tag über im Bett liegen und zuschauen, essen, soviel ich mag, und niemals hinausgehen. Dann fahre ich eines Tages mit einem Taxi rüber und hole Mama, bringe sie nur für eine Nacht hierher, verwöhne sie. Nee, sie würde bloß anfangen herumzunörgeln, mich eine Diebin, eine Hure und sowas nennen. Sie würden sie sowieso nicht zur Tür hereinlassen. Selbst die Mädchen auf dem Flur sehen adretter aus als sie, sie sind sauber, haben gepflegtes Haar. Dies Leben da ist ekelhaft, ich hasse es. Ich will niemals zurück. Es ist blöde, so wie da zu leben, wie Tiere im Dreck, wenn es das alles hier für diejenigen gibt, die clever genug sind, es sich zu schnappen. Es brauchte sie eine Weile herauszufinden, wie die Wanne funktionierte. Daraufhin stand sie im Bad und sah zu, wie das Wasser auf den weißen wogenden Schaum stürzte. Sechs Bäder am Tag, wenn man wollte. In Smiles einmal die Woche, wir gingen mit einem feuchten Handtuch und einem
schmierigen Stück Seife hinüber zum Waschhaus, standen zitternd unter ein paar kalten schäbigen Wasserfäden. Der Geschmack vom Knoblauch aus der Salami mischte sich mit dem Duft des heißen Pinienschaumbads. Martha stellte die Hähne ab, befingerte erstaunt das Gold. Mit dem Fuß durchbrach sie den Schaum, wie Schnee, aber so warm, und ließ sich in die Wanne, bis die weichen Bläschen sie im Nacken kitzelten und das Wasser ihren Körper sanft umhüllte, alle Flecken und Gerüche wegspülte. Es spülte gleichfalls ihr Make-up davon, das wunderbare Bräunungsmittel; sie sah, wie der Schaum in Inselgruppen aufbrach und sich dann im Wasser auflöste, das jetzt leicht bräunlich war. Sie getraute sich nicht, sich zurückzulegen, hatte Angst zu ertrinken, saß statt dessen kerzengerade aufrecht, das Gesicht wieder weiß, die kleinen braunen Augen wie hypnotisiert vor Behagen. Alle paar Minuten ließ sie etwas Wasser ab- und heißes Wasser zulaufen. Sie starrte die Toilette an, schwarz und golden, wie der Hut eines Zauberers. Ein Bad für Leute, die niemals schmutzig wurden. Als sie eine Hand hob, sah sie die Furchen auf ihren Fingern und setzte sich eilig auf; vielleicht hatte Mama doch recht gehabt, es ist nicht gut, sich zu häufig zu waschen. Ich trockne aus, schmelze. Sie griff nach dem weichen weißen Handtuch. Kleine Fetzen von Grau und Braun fielen von Armen und Beinen ab, als sie sie abrieb. Ich hab mich selbst weggewaschen. Noch zehn Minuten länger da drin, und große Teile wären von mir abgefallen. Ich frag mich, was man vom Fenster aus sehen kann. Bäume, Springbrunnen, Blumen, Gras. Zieh mich besser an, falls es eine richtige Prinzessin da draußen gibt, sie wird mich bestimmt nicht nackt sehen wollen. Ich hab immer noch keinen Slip. Dieses rote Kleid ist Klasse, ich könnte der Prinzessin zuwinken, und sie würden den Unterschied niemals bemerken.
Verfluchte Scheiße, diese Rollos, Mist, so geht’s nicht, o Gott… Das Zimmer wurde vom nachmittäglichen Sonnenlicht überflutet, als eine Kordel riß und das Rollo zur Decke hochsauste. Drei Stockwerke tiefer kreiste der Verkehr in einem Schleier von Hitze, und gutgekleidete Menschen schlenderten an wunderschönen Geschäften vorüber. Gegenüber erblickte sie das Cafe, wo sie gefrühstückt hatte, die Boutique und den Schönheitssalon. Ich muß davor keine Angst mehr haben, ich kann jederzeit hinuntergehen und sie betreten, so, als gehörten sie mir. Martha kniete am Fenster und atmete die Schönheit ihrer sauberen Haut ein, ihres neuen Kleids, ihrer neuen Welt. Unten an der Rezeption begann der Mikrochipalarm von P. E. Marshalls Britcard zu biepen. Das Biepen wurde sofort von der South Kensington True Brit Information Agency aufgefangen, und zehn Minuten später hielt ein gepanzerter Wagen voller Männer in Sturmausrüstung mit kreischenden Bremsen vor dem Hotel. Sie eilten, drohend die Schilde und Tränengasgranaten schwingend, hinauf zu Zimmer 205 und brachen die Tür auf, die gar nicht abgeschlossen war.
KAPITEL 16
Der letzte Wagen hatte Christy bis zur Putney Bridge Road mitgenommen. Es war früher Abend, Mittwoch; wie sie sich erinnerte, war es der Abend, an dem Ellen, Beatrice und die anderen ihr wöchentliches Besäufnis in einem Pub nahe Smiles hatten. Sie hatte keine Lust, direkt zu ihrem Wohnwagen zurückzugehen und Sean oder der Wand gegenüberzusitzen, und entschied sich daher, direkt zum Pub zu gehen. Sie war einige Monate lang nicht mehr dort gewesen, und er war in der Zwischenzeit aufgemöbelt worden: Ein neuer Raum mit holographischen Spielen und ein Disco-Barbecue-Bereich im Hintergrund. Der Kellner hinter der Theke funkelte sie an, als bedeuteten ihr Rucksack und die verdreckten Jeans eine Bedrohung für die hellen Sommerkleider und die leichten Jacketts seiner Klientel. »Wir wollen euch Pack nicht mehr hier haben.« »Was meinen Sie damit? Was für Pack?« »Nehmen kein Bargeld mehr. Zuviel Ärger.« Gedemütigt schlich Christy hinaus. Aller Schwung der Ferien war verpufft, der Abend fühlte sich öde und sauer an. Während sie auf die Themse zuging, warf die späte Abendsonne betörende Schönheit über den Fluß, Streifen von Gold und Flamingorot. Ärgerlich rief sie sich ins Gedächtnis zurück, daß diese Schönheit nichts als Illusion war; der Fluß war ein ebenso häßliches Symbol der Teilung, wie es Stacheldrahtzäune waren. Nördlich lag das Ghetto der Reichen, mit nur wenigen Ecken für Kartenlose. Hier jedoch, im südlichen London, verlängerte sich die Kette der Lager stetig – Putney Common, Smiles, Clapham Common, County Hall Gardens, Southwark
Park, Ruskin Park, Blackheath. Sie berührten einander fast, sie wuchsen rasch, und dies ängstigte die Leute, die dazwischen Grund und Boden erworben hatten und darum kämpften, in die Oberschicht zu kommen. Die Bürgerinitiativen der Anwohner unterzeichneten Petitionen, um die Lager loszuwerden, die Schulen wiesen ihre ›gestörten Kinder‹ zurück, und die Pubs und Geschäfte verweigerten die Annahme von Bargeld. Man braucht keine Gesetze, um Gesetzlose zu schaffen, dachte Christy bitter. Dann grinste sie erleichtert, als sie Ellen, Beatrice und Rita Arm in Arm auf sich zukommen sah, mit Ellen in der Mitte. Sie sah selbstbewußt drein, denn einmal wenigstens war sie Jack los. Wie Rita, die sie überragte, trug Ellen Hosen ohne jede Form und eines von Teds AusverkaufsT-Shirts. Beatrice wirkte elegant in ihrem weißen, rückenfreien Seidenkleid. Die übrigen drei Frauen sahen aus – und fühlten sich auch so – wie gekochte Kartoffeln neben einer exotischen, sich wiegenden Blume. Beatricens Glanz wäre unverzeihlich gewesen, wenn das Feuer, das ihre Sinnlichkeit entflammte, nicht zugleich einen glühend roten Ärger über die Bedingungen geschürt hätte, unter denen sie alle lebten. Aber sie wußten – und Beatrice wußte es auch –, daß sie Smiles verlassen und seine Existenz vergessen würde, sobald sie die Gelegenheit dazu bekäme. Und sie erhielte die Gelegenheit dazu, dachte Christy, während sie die zarten Knochen ihres Rückgrats unter der rötlich-schwarzen Haut beobachtete, wir jedoch nicht. Sie hörte halb hin, wie sich Rita und Beatrice stritten. »Fürs Geschäft angezogen, wie ich sehe.« »Wofür genau bist du angezogen, Rita? Zum Gepriesen seist du, Maria-Beten? So wie du aussiehst, wird dich sonst niemand preisen.« »Ich hab gehört, du gibst deinen Kindern kein Neuropepsi mehr. Stimmt das?«
»Dieses Gesöff ist ein Teil dieser ganzen verwichsten Verschwörung gegen uns. Wenn du’s weitertrinkst, hast du die Absicht, hundert weitere Jahre zu pennen. Hoffe, dein Prinz kommt bald.« »Ohne das Neuropepsi komm ich mit den Zwillingen einfach nicht zu Rande. Und sie mögen’s wirklich, weißt du? Es beruhigt sie anscheinend.« »‘türlich beruhigt’s sie, so wollen sie uns doch haben, oder? Mit meinen Kindern war’s genauso. Jetzt is Douane regelrecht hyper, hat überall in den Geschäften was mitgehen lassen. Sie werden ihn wieder in Verwahrung nehmen. Christy, ich wollt dich fragen, ob du mir dabei hilfst, ihn rauszuholen?« »Ich werde sehen, was ich tun kann. Morgen früh.« Sie ging mit Ellen hinterher. »Wo dürfen wir dann noch trinken?« »Wir gehen zu diesem Pub da in Battersea. Ist ‘n langer Marsch, is aber der einzige, wo man uns noch reinläßt. Wie waren deine Ferien?« »Gut. Scheint lange herzusein.« »Da hat ‘n Typ nach dir gefragt.« »Wer?« »Simon. Ist das der, von dem du mir erzählt hast?« »Wahrscheinlich.« »Er is wirklich nett. Ein Gentleman von Natur aus, ‘n bißchen weich, aber es gibt Schlimmeres. Hier is seine Nummer. Is was durchgeweicht, hab sie seit Tagen mit mir rumgetragen.« Christy entrollte den kaum lesbaren Papierfetzen und merkte sich die Nummer. London, das so abweisend gewirkt hatte, erschien auf einmal wärmer und realer, wie eine Photographie, die sich vor ihren Augen entwickelte. Zwei Stunden später saßen die vier Frauen auf Bänken in einem Pub so bar jeder Behaglichkeit, daß er wirkte wie ein ausgebombter Wartesaal. Der Wirt, außerstande, die Mittel zur
Renovierung aufzubringen, verdiente sich nebenbei einiges auf dem Schwarzgeld-Markt. Zonkies, kleine Gauner und Prostituierte trafen sich dort, Junkies verpaßten sich einen Schuß auf den Toiletten, die ebenso scheußlich stanken wie die Toiletten in Smiles. Alle paar Monate kam es hier zu wilden und oftmals tödlichen Schlägereien, die mit zerbrochenen Gläsern, mit Flaschen und Messern ausgetragen wurden und über die der Morning Glory voller Ekel berichtete. Gelegentlich verkehrten hier auch Journalisten und Touristen, die einen Blick auf die ›wahren Menschen‹ erhaschen wollten. Christy fühlte sich angenehm beduselt, ihre Wangen brannten, und ihre Blase schwoll an von lauwarmem Bier. Sie hatten sich mit ein paar Soleiern versorgt, die wie anämische Kaninchenkötel in einem riesigen Glas auf der Theke umhertrieben. Proteine, dachte Christy hoffnungsvoll, als sie in das wabbelige saure Zeugs biß. Sie tratschen über Marthas Verhaftung, und Beatrice erzählte ihr eine neue, ausgeschmückte Version des Kampfes gegen Teds Neuropepsi-Vorräte. »Es war vorauszusehen gewesen, bei diesem kleinen Scheißkerl. Nächstes Mal schnappen wir uns den ganzen Laster, ihn selbst und sonst alles, und fahren ihn direkt in den Fluß. Haben genug davon, herumgestoßen zu werden.« Beatricens Augen waren erbarmungslos, geladen vor Zorn. Christy sah sich um und erblickte bei Rita und Ellen den gleichen Haß, der sich in ihren weniger ausdrucksvollen Gesichtern widerspiegelte. Es war nicht nötig, die Stimmen zu senken, alle hier waren Kartenlose. Selbst der Wirt war so etwas wie ein Außenseiter, der Kopien des Prodigal Bum auf allen Tischen liegen ließ und dem ärgerlichen Gesumm mit einem grimmigen Lächeln zuhörte. An jenem Abend waren keine Voyeure zu Besuch, sie wurden von einer besonders
heftigen Schlägerei, von der in der vergangenen Woche berichtet worden war, vom Kommen abgehalten. In einer Ecke des Pubs stand ein altmodisches, kastenförmiges Farb-TV-Gerät, das noch immer funktionierte. Jemand schaltete es für die Nachrichten ein, und alle hörten ein paar Minuten lang auf zu reden, sie lachten höhnisch und spuckten, als Felicitas, der computerisierte Liebling der Nation, durch einen Vorhang von orangefarbenen Haaren und Wimpern verkündete, im Zoo sei ein Schimpansenbaby geboren worden. Die Bilder zeigten Felicitas, wie sie das kleine Wesen streichelte, das von ihrer elektronischen Zärtlichkeit völlig entnervt war. »Aaah! Ist er nicht prächtig? Morgen kehre ich in den Zoo zurück, um zu sehen, wie sich Clarence, das Kamel, herausmacht. Und wie es aussieht, werden wir morgen wieder so schönes Wetter haben wie heute, ist das nicht toll? Ich fürchte jedoch, wir haben einige etwas weniger schöne Nachrichten. Hier ist Bill, der euch mehr davon berichten wird.« Felicitas winkte ein affektiertes ›auf Wiedersehen‹ und William, eine Gereifte-Vaterfigur-Computersimulation mit wohltönender Baritonstimme, richtete die freundlichen Glubschaugen auf die Kamera. »Ja, Felicitas hat recht. Jene von euch daheim, die Mütter und Väter sind, werden wissen, daß Kinder nicht immer das tun können, was ihnen gefällt. Nun ja, das Vereinigte Königreich mag nicht so vereinigt sein, wie es einst gewesen war, aber wir halten es alle für eine einzige glückliche Familie. Erkennt ihr diesen Ort?« Auf dem Bildschirm erschien ein Bild der Isle of Man. »Wie ich annehme, haben viele von euch dort glückliche Ferien verbracht. Ich bin traurig darüber, sagen zu müssen, daß sie ihre Unabhängigkeit erklärt haben. Hier ist ein Meinungsbild aus dem Unterhaus…«
Das Keifen und das Gebrüll von Parlamentsmitgliedern hob sich über das Miauen und das kreischende Gelächter im Pub. Christy konnte das Folgende kaum verstehen, und bald schaltete der Wirt den Fernseher ab. »Muß bald gehen«, sagte Beatrice. »Haste mal wieder jemanden auf dem Klo aufgegabelt, was?« höhnte Rita. »Möchte noch nich mal als Leiche mit dem Pack zusammen gesehen werden. Ich hab unten in Brixton ein Date mit einem Typen, wirklich erste Sahne, stinkreich. Er wird mir ein Essen bezahlen, Wein, Steaks – wollt ihr mitkommen?« »Du wärst weniger widerlich, wenn du nicht so tun würdest, als würdest du’s genießen. Erniedrigend, das ist dein Leben.« »Rita, manchmal frag ich mich, wie deine beiden Zwillinge geboren werden konnten. War das ‘ne unbefleckte Empfängnis oder sowas? ‘natürlich genieß ich’s, und ich sag dir noch was, ich genieß es verteufelt noch mal viel mehr, seitdem ich aufgehört hab, dieses Neuropepsi zu trinken.« Lachend verließ Beatrice den Pub, und die anderen drei kamen sich langweilig und alt vor. Christy dachte bitter, sie ist die einzige, die herausfindet, ob Sex mit oder ohne Neuropepsi besser ist. »Ruf ihn an!« sagte Ellen und blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an. Und am Ende war’s Ellen, die Simons Nummer wählte, während sie draußen neben Christy in dem klammen, stinkenden Flur vor den Toiletten stand. Draußen vor dem Pub hatte eine Schlägerei angefangen. Als ein Ziegelstein durchs Fenster flog, nahmen die drei Frauen das als Signal zu gehen. Sie schoben sich durch die Menge und um die streitenden Männer und Frauen herum und gingen nach Smiles zurück, wo Ellen ihr schlafendes Kind aus Ritas Zelt
mitnahm. Die Zwillinge, Dimelza und Beatricens Baby waren wie junge Hunde zu einem Knäuel zusammengerollt. Christy starrte neidisch auf das weiche, warme Bündel und wünschte sich, sie hätte nur etwas halb so Behagliches, woran sie sich des Nachts festhalten könnte. Die drei Frauen küßten einander, noch immer aufgedreht und angeheitert von ihrem Abend draußen. Christy wandte sich um und ging über den Schlamm nach Hause, wobei sie versuchte, auf die harten Stellen zu treten, die von der Sonne des Tages zusammengebacken worden waren. Die matschigen Furchen waren noch immer faulige Gräben voller Müll, Seifenwasser, Urin und Scheiße, worin die Ratten schwärmten. Bei ihrer Mutter war Christy kurzzeitig von dem Durchfall erlöst gewesen, eine der Belohnungen für das Leben in Smiles. Die Lichter des Pubs und das Verlangen in Simons Stimme schwanden rasch dahin, als das Lager sie wieder verschluckte. Eine Party in der Nähe des Waschhauses endete mit einer Schlägerei; sie vernahm Gekreisch, als Flaschen zerbrachen, und eine Frau schluchzte. Die Zelte rumpelten von Husten, Wimmern, Gegrummel, Seufzer, raspelndem Atem, Flüchen, sogar im Schlaf weinenden Kinder. Wenige Menschen schliefen gut oder gleichmäßig. Die zerbrechlichen Wohnwagen schaukelten, wenn sich die Menschen darin wanden, um es sich auf dem unebenen Boden ein wenig gemütlicher zu machen, wenn sich Paare für einige wenige Sekunden des Vergessens liebten und die Kinder voller Anspannung auf die fremdartigen Grunzer und Pruster der Erwachsenen lauschten. Weil elektrisches Licht fehlte, waren die Nächte über Smiles dunkler, überhaupt kein Londoner Himmel. Christy sah auf und erblickte den glatten, selbstzufriedenen Knopf des vollen Mondes, der ihrer beider wachsende Leidenschaft regulierte.
In ihrem Wohnwagen war es hell, obgleich sie ihn abgeschlossen hatte. Entweder hatte ein Freund das Licht als Begrüßung für sie angelassen, was gefährlich war, oder Sean wartete auf sie. Sie hatte keine Angst. Ihr Gesicht trug bereits die Maske einer städtischen Abgebrühtheit, hinter der sie allein durch unbeleuchtete Straßen gehen, auf tote Ratten treten und sich ihren Weg durch eine betrunkene Menge bahnen konnte. Christy bewegte die Schultern, um den Rucksack abzustreifen, und schwang ihn gegen die Tür, um sie zu öffnen. Seans Gesicht war verschlossen, mürrisch und elend, ein Ausdruck, der sie einmal sehr bewegt hatte. »Hallo! Danke, daß du das Licht angemacht hast«, wehte ihre Stimme gegen seine steinernen Ruinen. »Du bist lange geblieben.« Sie setzte sich auf den Boden, so weit von ihm entfernt, wie es an diesem winzigen Ort nur möglich war. »Es war wundervoll, ich fühle mich wirklich so, als hätte ich Ferien gehabt. Wunderbare Spaziergänge und lange Gespräche mit meiner Mutter – möchtest du einen Apfel?« Sie reichte ihm einen kleinen verschrumpelten Winterapfel, einen von denen, die er mochte, die nach einem Winter außerhalb des Hauses prächtig dufteten. Es war alles, was sie ihm geben konnte. Er glaubte das ebenfalls, während er den Apfel mit fünf Bissen aufaß und wartete. »Nun, was ist hier losgewesen?« »Die Spielgruppe ist ohne dich auseinandergefallen, es wird dich also freuen zu hören, daß du unersetzlich bist. Die meisten Kinder haben unten am Fluß gespielt, und dein Freund Simon ist seit Tagen nicht aufgetaucht.« »Wirklich? Was ist los mit ihm?« »Ihm ist seine Vorliebe für Philantropie und Elendsviertel abhanden gekommen. Ich nehme an, er wird jetzt zurückkehren.«
Sie sah zu Boden, weg von seinem verbitterten Gesicht. Es war klar, daß er so über mich herfallen würde, dachte sie, mir Schuldgefühle wegen der Kinder einpflanzen würde, ohne irgendwelche Gefühle zu erwähnen, die er mir gegenüber vielleicht hat. Er würde niemals sagen, ich vermißte dich. Sie begann sehr rasch zu sprechen, über alles andere, nur nicht über Simon. »Ich habe im Pub in den Nachrichten was Lächerliches gehört. Die Isle of Man hat ihre Unabhängigkeit erklärt! Zunächst habe ich gedacht, das wär ein Jux, aber dann haben sie all diese Auszüge aus Reden im Unterhaus gebracht, weißt du, der Feind im Innern und der Verräter vor den Toren, obwohl, wie jemand beides sein kann, versteh ich nicht. Und dann ein wunderbarer Mann, der sich gegen etwas mit Namen Tynwald ereiferte, es ging um Tyrannei und den Kampf um ihre angestammten Rechte… Sean? Find’st du das nicht auch komisch?« »Es macht dir nichts aus, daß ich reingekommen bin?« »Natürlich nicht. Es war ziemlich nett, daß das Licht gebrannt hat.« »Du hast niemand anderen erwartet?« »Wen?« »Ellen. Oder Simon.« Der Name schwirrte wie ein Moskito in seinem Kopf. Und die einzige Möglichkeit, wie er die juckenden, roten, häßlichen Stöße abmildern konnte, bestand darin, über ihn nachzudenken, zu brüten. Sean hatte nicht die Absicht gehabt, ihn zu erwähnen, aber der Moskito hatte ihm gerade frisches Gift injiziert. »Natürlich habe ich geglaubt, daß du es bist.« Er legte die Hand auf ihre knochigen braunen Finger. Jede Nacht, seitdem sie gegangen war, hatte er von ihr geträumt. Sie sah ihn fest an, ermunterte ihn jedoch nicht. Auf dem Rückweg
von Devon hatte sie sich entschlossen, daß es kein Verrat wäre, wenn sie mit Simon schliefe, so lange sie nicht mit Sean schliefe. Ihr Körper hatte diesen Vertrag bereits abgeschlossen und versteifte sich in nervöser Abwehr. Sean fühlte sich zur entferntesten Ecke des schmalen Betts zurückgeschleudert, jenes Bett, in das sie so viele Male mitten in der Nacht gefallen waren. Nicht nur der Verlust ihres sexuellen Interesses an ihm schmerzte, das war eine alte Geschichte. Sondern daß sie diesen unfähigen, diesen schlaffen Mittelklassen-Windhund haben wollte – eines baldigen Tages würde sich ihr Wohnwagen unter ihrer beider Lust wiegen, und er würde allein dort drüben liegen und ihnen zuhören… Sean dachte an die Kämpfe zwischen Männern und Frauen, die er seit Jahren jede Nacht gesehen und gehört hatte. Manchmal war er dazwischengetreten, seit längerem jedoch nicht mehr, nicht, seitdem das Gekreisch vor Wut und Enttäuschung etwas im eigenen Herzen heraufrief. Er wußte, er sollte heimgehen, konnte jedoch keinen Finger rühren. Christy beobachtete die verwaschene Wand seines Gesichts. Sie fühlte sich roh, zur Abwechslung einmal begierig, froh darüber, daß er nur so geringe Fähigkeit hatte, seine Gefühle auszudrücken. Im Vakuum seiner Gefühle blühten die ihren; sie wollte in großen Räumen umherstreifen und die ganze Nacht über reden. Erneut hatte sie die Fäuste geballt, die Furchen hatten sich wie von selbst wieder in ihre Stirn gegraben, und sie zog unentwegt die Lippen zwischen die Zähne und ließ sie wieder los. O ja, sie war zurück. »Sean?« »Christy?« »Ich bin so müde. Laß mich bitte schlafen!« Früher haben wir bis vier Uhr morgens geredet, dachte er, als sie ihm zum Trost eine Tüte mit Äpfeln reichte.
Eingeschnappt, aber nicht das Herz gebrochen, dachte Christy erleichtert, als sie unter die Decken schlüpfte, vollkommen bekleidet und ungewaschen. Der nächste Morgen war blau und golden vor Optimismus. Kristallenes Sonnenlicht wärmte und umschmeichelte die Straßen, die unter Simons Fahrrad dahinschnurrten. Blasse Gesichter spürten, wie die Sonne das Blut unter der Haut erweckte, und wandten sich wie Blumen dem gütigen Himmel zu. Vom Markt der North Road roch Simon den süßen Duft, den ganze Wagenladungen von Erdbeeren ausbluteten. Fenster glitzerten, und der Fluß war durchschossen von Silber und flüssigem Türkis. Möwen kreischten und lachten spöttisch, zynische Stadtvögel, die auf den eiligen Strom von Müll und toten Fischen niederstürzten. Der Fluß starb, obgleich er im richtigen Licht noch immer gut aussah. Simons Füße tanzten auf den Pedalen, seine blauen Augen strahlten, und er verspürte ein festes Hämmern in der Brust, das ihm so unvertraut war, daß er sich fragte, ob er einen Herzanfall bekäme. Nein, dachte er, ich werde dem Glück begegnen, ich werde Christy sehen und ihr sagen, daß ich sie liebe. Seine plötzlich jungenhaften Augen stöberten jede Einzelheit dieser Szene auf, um das Bild der Hoffnung aufzuzeichnen. Selbst in diesem Licht glänzte Smiles nicht, obwohl der Schlamm, das korrodierte Blech und die grauen Zeltbahnen ein paar Stufen heller aussahen, und die zerlumpte Wäsche auf den Leinen zwischen den Zelten ein bißchen wie Flaggen. Er radelte direkt zur Spielgruppe und ließ die vier Kinder ein, die draußen gewartet hatten. Die Säcke der UN hatte jemand bereits zur Tür gezogen, was er als Anzeichen dafür ansah, daß Christy hier war. Er mischte das Milchpulver in dem großen roten Plastikkrug, und die Kinder sahen ihm dabei zu. Simons Blick war schärfer geworden, entweder aus Liebe, Hunger oder aufgrund seiner mehrtägigen Abwesenheit. Er
sah, wie unangemessen die Kinder bekleidet waren, sie trugen eingelaufene T-Shirts und Unterhosen voller Löcher. Nur Lilys Füße waren bedeckt, von weichen gelben Hausschuhen, die aussahen wie Kähne. Die übrigen gingen barfuß durch den Schlamm, der gespickt war von Glasscherben und Nägeln. Von allen Kindern war lediglich Dimelza, die noch nicht eingetroffen war, normalerweise sorgfältig in schreiend bunte Nylonsachen gekleidet. Auf den vier kleinen Gesichtern rund um den Tisch klebten noch immer die Überreste der letzten Mahlzeit vor dem Zubettgehen, und die Augen waren bedeckt vom Staub des Schlafs, ihre Haare ein einziges Wirrwarr. Als ihn Lily anlächelte, fielen Simon zwei verrottete Zähne auf. Man würde die Kinder bald entlausen müssen. Der Raum, der den Kindern im Vergleich zu ihren Zelten wie ein Palast erschien, wirkte auf Simon im grellen Sonnenlicht verfallen. Zeichnungen und Gemälde der Kinder bedeckten die Hälfte der riesigen feuchten Flecken auf den Wänden, und der verrottete Linoleumboden war verkrustet von Farbe, Essensresten, Erbrochenem und Urin, obgleich er täglich mit einem Desinfektionsmittel geschrubbt wurde. Der Verfall war wie ein unersättlicher Schwamm. Jedes einzelne Möbelstück und jedes improvisierte Spielzeug war zerbrochen, zwischen den Pappen und dem Klebeband vor den zerbrochenen Scheiben klafften Lücken, und die offenen Stufen waren eine Todesfalle für die kleineren Kinder. Christy kam herein, während er sich noch immer im Zustand erhöhter Aufmerksamkeit befand, und ihr Gesicht war das Lebendigste von allem. Ihre Haut war glatt und klar von ihren Ferien, und ihre grünlichen Augen waren unendlich freundlich, als sie seinem Blick begegnete. Dann umringten sie die Kinder, und sie war nur noch von der Hüfte aufwärts sichtbar. Sie verteilte Brot und Streicheleinheiten und Befehle. Noch
lange, nachdem sie weggesehen hatte, hielt er den Blick auf sie gerichtet. Es gab eine Zeit, da hätte der warme Blick, als sie eintrat, ausgereicht, daß er tagelang nicht mehr erschienen wäre. Jetzt verlangte es ihn nach weit mehr, er war bereit, ihr den ganzen Morgen über zu folgen, genau wie die Kinder, zwar ruhiger, doch nicht weniger beharrlich. Simon wand sich aus dem winzigen Holzstuhl und ging zu ihr hinüber. Er wollte das Vergnügen genießen, ihr nahe genug zu sein, daß er ihr Haar riechen, ihre Nasenlöcher und die dunklen Wimpern sehen konnte. Sie wirkte amüsiert, trat daraufhin einen Schritt zurück. Sie war ebenso groß wie er. So nah waren sie sich noch nie gewesen, stets hatte eine Schicht von Kindern zwischen ihnen gelegen. Christy war verlegen. Sie wußte, er starrte sie die ganze Zeit über an, und sie versuchte zu vermeiden, ihn ihrerseits anzublicken. Sie spannte den Körper an, als sie an ihm vorüberging, doch immer lag der Blick seiner blauen Augen unverwandt auf ihr, und er lächelte. Er sah jünger, runder, glücklicher aus. Sein Gesicht war wie ein Planet, der Licht ausstrahlte, das Energiezentrum ihres Raums, ihre begierigen Augen wurden immer und immer wieder zu ihm zurückgezogen. Simon öffnete die Tür unten, und die Kinder, dreißig an der Zahl, jetzt, nachdem sich herumgesprochen hatte, daß Christy zurückgekehrt war, strömten wie ein kreischender Wirbelsturm hinaus. Das große Rechteck inmitten der Wohntürme war eine einzige zusammengebackene Schlammfläche, mit gelblichen Grassprößlingen, die in den Schlamm getreten worden waren. Es sah aus wie ein Kopf, der vorgab, nicht kahl zu sein, dachte Christy, während sie auf einem Betonbrocken saß, der von einem der Gebäude herabgefallen war. Sie rückte beiseite, um Platz für ihn zu machen, denn sie wußte, daß er käme.
Seite an Seite saßen sie da und beobachteten die Kinder und, verstohlen, einander. Sie hielten die Beine ausgestreckt, vier schäbige blaue parallele Baumwollinien. Es war seltsam, so dazusitzen, in Berührungsnähe zu einer Frau, die er einmal für unnahbar gehalten hatte. Um das zu überprüfen, nahm Simon ihre dünne braune Hand und spreizte sie in der eigenen schwereren Hand, um die viereckigen Fingerspitzen mit den schmutzigen Nägeln zu untersuchen. Sie lehnte sich zurück und beobachtete ihre Hand, als handele es sich dabei um ein Spielzeug, das er gerade reparierte. Sie wollte ihm nicht hier in aller Öffentlichkeit ihre Zuneigung zeigen, vor den Kindern und den unbekannten Augen in den leeren Fenstern. Ihn zu berühren, war jedoch so natürlich, daß sie einen Arm um ihn legte und durch das Hemd spürte, wie sein muskulöser Rücken schwitzte. »Wie ich am Telefon gesagt habe, ich habe dich wirklich vermißt.« »Ich habe eine Menge über dich nachgedacht, während ich weg war.« »Wo bist du gewesen?« »Meine Mutter besuchen, in Devon. Hat Sean dir nichts gesagt?« »Er hatte offenbar keine Lust, und Ellen hatte deine Adresse nicht. Ich hatte soviel Angst, du könntest nicht zurückkehren.« »Es fällt gar nicht so leicht, von Smiles wegzugehen.« »Möchtest du’s?« »Nicht wirklich. Ich wüßte nicht, wo ich sonst hingehen sollte. Bei meiner Mutter war’s idyllisch, ein paar Tage lang, aber dann entdeckte ich, daß ich die ganze Zeit über diesen Ort hier nachdachte. Über dich. Also habe ich mir gedacht, ich könnte ebensogut zurückkommen.« »Ich möchte mehr von dir sehen, Christy, nicht nur deine Mutter Erde-Seite.«
»Das wohl kaum. Eher die alte Mutter Hubbard.« »Ist ja auch egal. Ohne die Kinder um dich rum.« »Darüber habe ich auch nachgedacht, aber ich weiß nicht, wo wir hingehen können. Wir können nicht in meinen Wohnwagen, weil Sean nebenan alles mithören wird, was wir tun – durch diese dünnen Wände kannst du alles hören. Und ich kann nicht zu dir nach Hause mitkommen.« »Na ja, müssen wir eben halt – ausgehen.« Ferne Erinnerungen rührten sich, von Frauen, die man mit ins Kino oder ins Restaurant nahm. Er konnte sich Christy in keinem von beiden vorstellen. »Überhaupt, warum können wir nicht in meine Wohnung gehen?« »Wegen deiner Frau, natürlich. Und deinem Sohn – er lebt doch bestimmt manchmal bei dir?« Sie glaubte, er führe vielleicht eine dieser legendären, qualvollen offenen Ehen. Diese Frau mit der kleinen runden Brille, die sie in ein hübsches Schlafzimmer bäte. »Aber meine Frau ist tot, und Merlin lebt noch immer bei meinen Eltern.« »Wann ist sie gestorben? Sie ist doch vergangenes Jahr hergekommen.« Noch immer war Simon genügend von Jessicas Fähigkeit beeindruckt, die Hand niederfallen zu lassen und zuzudrücken. »Oh! Du meinst Rose, meine Schwester. Ich habe sie gebeten, hierher zu kommen und zu sagen, daß ich krank bin.« »Schrecklich schick und mit scharfem Blick?« »Das ist sie.« »Also besteht kein Grund für Zurückhaltung, und man muß auch nicht die ganze Zeit über deine Schultern sehen und sich schuldig fühlen?« »Na ja, da ist Sean.« »Oh, ihm gegenüber fühle ich mich nicht schuldig.«
Christy küßte ihn voller Begeisterung und hielt dabei die Augen geöffnet, um zu sehen, wie er’s aufnähme. Ein lautes Wolfsgeheul ertönte aus einem der verlassenen Gebäude. »Ich könnte nicht behaupten, daß ich mich hier völlig wohl fühle.« Aber er ließ sie nicht los. Dimelza kam zu ihnen. Das Schreckliche bei ihr ist, dachte Christy oftmals, daß sie mit drei vielleicht schon alles gesehen hat. »Is das jetz dain Froiind? Wird er jetz die Hosen runterziehen?« Simon seufzte, als Dimelza auf seine Knie kletterte und er und Christy sich wieder in ihre eigenen Körper zurückzogen. »Was ist denn los?« Dimelza weinte, heiße salzige Tränen tropften ihr das Kinn herab auf die Brust. »Sie haben Douane wieder mitgenommen.« »Oh. Hat er wieder was aus einem Geschäft mitgehen lassen?« »Nur Bonbons. Sie haben ihn ins Gefängnis gesteckt.« »Nein, das ist kein Gefängnis. Es ist wie ein großes Haus mit vielen Spielsachen und Kindern. Ich werde dich zu ihm mitnehmen.« »Sie werden ihn windelweich prügeln, sagt meine Mami.« »Nein. Sie werden sehr nett zu ihm sein, er ist erst sieben.« »Jaa? Sie ham ‘ne Menge Spielsachen da?« »Millionen.« »Sie schicken mich dahin, wenn ich das nächste Mal Bonbons klaue?« »Du kannst nicht weggehen, wir würden dich vermissen. Aber ich nehme dich in ein paar Tagen zu Douane mit.«
Sie rannte davon. Christy runzelte die Stirn. »Ein reiches Kind könnte die halbe Spielwarenabteilung von Harrod’s ausräumen, ohne in Gewahrsam genommen zu werden.« »Ich weiß.« »Seine Mutti und sein Papi würden einfach für ‘ne Analyse zahlen.« »Ja«, sagte Simon und erinnerte sich daran, wie Madge Rose fast dazu gezwungen hatte, zu einem Psychiater zu gehen, als sie zwölf Jahre alt gewesen war und ihrer Mutter ständig gesagt hatte, sie könne sie nicht ausstehen. »Ist ‘ne Ausrede, um Kinder von Müttern wie Beatrice wegzubekommen.« »Sie ist nicht so schlimm. Sie schlägt sie nicht viel, und sie ernährt sie und hält sie ziemlich sauber, wenn sie da ist.« »Was nachts niemals der Fall ist.« »Wenn sie eine Oberklassen-Hure mit einem Appartement in Chelsea wäre, würde das die Behörden nicht im geringsten scheren.« »Wir sind die Behörde. Ich rufe Jill an, sehe zu, was ich tun kann. Sage, es ist besser, wenn die drei Kinder beisammen sind.« »Dann werden sie sie alle drei einbuchten. Kinderheime sind im Augenblick die einzige wachsende Industrie. Ich habe vergangenen Monat einen Bericht darüber gelesen; die Regierung fürchtet, in den Lagern wird eine Generation von Kriminellen und Subversiven ausgebrütet, also pferchen sie die Kinder in Heimen zusammen, um ihnen die traditionellen Werte einzutrichtern, was das auch immer sein mag.« »Es würde viel helfen, wenn man sie einfach in die Schule ließe.« »Können nicht zulassen, daß sie Herz und Hirn der wahren kleinen Briten infizieren. Wie geht’s übrigens deinem Sohn?« »Das war aber eine ganz fiese Assoziation, Christy!«
»Kann ich nichts dafür. Wenn ich mir diese Bande ansehe, beginne ich mich stets über die zukünftige Elite zu wundern, privilegierte kleine Fiffis wie er.« »Er ist’s, und er ist’s nicht. Privilegiert.« »Ich schätze mal, er kann es sich leisten, emotionale Probleme zu haben.« Sie saßen schweigend da, weiter voneinander entfernt als zuvor. Christy verspürte Bitterkeit, und Simon war erschöpft bei der Aussicht, wofür er sich ihr gegenüber alles rechtfertigen müßte. In gewisser Hinsicht wollte er sich vor ihr niederlegen und sie über sich richten lassen. Aber das fiele so schwer… er spürte erneut ihre Hand auf der seinen und umklammerte sie. »Ich wappne mich gerade gegen dein Mißfallen.« »Weswegen?« »Oh, fast alles, was ich bin.« »Ich kenne dich noch nicht einmal. Wann wollen wir uns richtig treffen?« »Komm doch heute nachmittag mit zu mir nach Hause.« »Ich habe um vier Uhr Versammlung. Wegen dieser lächerlichen Antiquitäten da auf der Isle of Man, jeder ist echt sauer darüber.« »Was geht da eigentlich genau vor sich? Ich hab’s nicht weiter verfolgt.« »Ich habe heute morgen zum erstenmal seit Monaten den Morning Glory gekauft. Du weißt, die Insel ist Kronbesitz, hat jedoch ein eigenes Parlament und hat stets ihre eigenen Gesetze gemacht und die eigenen Steuern erhoben. Nun, die Regierung hat ihre Rechte rückgängig gemacht und versucht, deren Parlament zu schließen, das Tynwald. Sind schrecklich reich, da. Wenn sie die üblichen Steuern zahlen müßten, wäre für die Regierung einiges zu holen. Wie dem auch sei, vor einigen Tagen hielten sie im Tynwald eine große Zeremonie ab
und erklärten ihre Unabhängigkeit. Sie hatten da ein Bild von all den ehrwürdigen Männern, wie Druiden, die draußen vor einem Zelt auf einem Hügel saßen. Sie haben die Schiffahrtsstraßen von Peel und Douglas vermint und den Flughafen Ronaldsway geschlossen, alle Ferienbuchungen storniert und den Gouverneur und alle Nicht-Einheimischen deportiert. Sie haben Vollbeschäftigung und eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen in Europa, also, sagen sie, wer braucht da Britannien?« »Großartig«, sagte Simon und ließ vage Zustimmung erkennen. »Nur daß es vielleicht einen Krieg geben wird. Die Regierung droht mit Entsendung der Flotte.« »Du machst Witze!« »Na ja, in Wahrheit besitzt die Navy bloß noch zwei Schiffe, aber man redet davon, beide hinzuschicken, mit ein paar netten Lenkwaffen, die sie für ihr Leben gern ausprobieren möchten.« »Ich komme mit dir zur Versammlung«, sagte Simon eilig, als sie Schmerzensschreie vernahmen. Einer der Zwillinge war auf einen häßlichen Nagel getreten, und Simon mußte den Erste-Hilfe-Kasten holen.
KAPITEL 17
Als er sie zusammen, als Pärchen, den Container betreten sah, zuckte Sean zusammen und blickte Christy so vorwurfsvoll an, daß sie sich wünschte, sie hätte sich nicht dazu entschlossen, die Sache bis auf die Spitze zu treiben. Aber natürlich war er Versammlungsleiter, und er war viel zu sehr ein professioneller Redner, um sich auch nur mehr als einen Augenblick durcheinanderbringen zu lassen. Er hatte das, was Martin – der’s gleichfalls gehabt hatte –, ein flottes Mundwerk nannte, dachte Christy, während sie jenes elastische und ausdrucksvolle Gehabe beobachtete. »… schaut euch diese Schlagzeile hier vom heutigen Evening Hope an: X-BEINER: WIR X-EN EUCH AUS, IHR SCHWEINE!. Und ein Bild von ein paar Leuten, die alte Gewehre und Stöcke und Brotmesser in Händen halten. Dann, hier, auf Seite fünf, schreiben sie einen Wettbewerb aus. Man bekommt ein ›Britannia Rules The Tynwald‹∗-T-Shirt, wenn sie deinen Witz über die Mangy Manxies abdrucken, wie sie sie beharrlich nennen. Wißt ihr, wieviel ihre KanonenbootPolitik kosten wird? Selbst wenn sie keine Invasion starten oder sie mit Atombomben angreifen, wie es manche Leute außerhalb des Unterhauses beim Mittagessen verlangen? Genug, um uns allen wieder ein Dach über dem Kopf zu verschaffen und uns für den Rest unseres Lebens zu ernähren…« ∗
Anspielung auf die Hymne: Britannia Rules the Waves (Britannien beherrscht die Meere) – Anm. d. Übers.
Simon war von dem Zorn überrascht, den er rings um sich her sah und spürte. Die Apathie in Smiles hatte ihn stets bekümmert. Wenn die Menschen imstande waren, solche Bedingungen hinzunehmen, geschwächt, nicht jedoch wirklich an Körper und Geist zerbrochen – wie sollten die Dinge dann jemals besser werden? Aber heute lag ein Brand in der Luft, er roch es erleichtert und starrte den Mann an, der ihn entfacht hatte. Die Rivalität einmal beiseitegeschoben, hätte er von Sean, der privat so sauertöpfisch war, niemals erwartet, daß er ein derart machtvoller Redner sein konnte. Am Fenster waren Gesichter aufgetaucht, und weitere Menschen versammelten sich vor dem Eingang. Aller Augen waren weit geöffnet, in jener fiebrigen Vitalität, die Menschen überkommt, wenn ihnen jäh aufgeht, daß es etwas gibt, das sie tun können. Als er sah, wie viele Menschen dort waren, bat Sean sie mit gekonnter Schauspielermanier nach draußen, wo er sich auf einen Tisch stellte und sich von ihnen umringen ließ. Er war erregt, er fühlte sich leicht, in Hochstimmung aus Freude darüber, daß er zurecht entrüstet sein konnte. Er sah, wie er sie beeinflußte, selbst jene beiden, die sich heimlich umschlungen hielten. Die Worte pochten rasch und rhythmisch in seinem Kopf, wie Hufschläge. »… ich sehe neue Gesichter um mich her. Ihr seid aufgewacht, stimmt’s? Nun, werdet ihr euch wieder schlafen legen, werdet ihr wieder schnarchend im Bett liegen, wenn euch die Regierung erneut einen Tritt versetzt und Millionen dafür vergeudet, ein paar Menschen auf einer winzigen Insel in Angst und Schrecken zu versetzen?« »Nein!« »Sollen wir dann also zum Unterhaus gehen und denen sagen, was wir denken? Überall in London wird marschiert, von Squattery und Eel Brook Common und Tent City. Sie halten den Verkehr auf und blockieren die Straßen, sie erinnern
diese fetten Politiker daran, wie die Armut aussieht. Erinnern sie daran, daß auch wir eine Meinung haben und daß wir nicht deshalb mit Schmutz und Ratten und leeren Bäuchen leben, weil es uns so gefällt, und wenn das Geld, das für uns ausgegeben werden sollte, für einen dummen, sinnlosen, hysterischen Krieg ausgegeben wird, wissen wir, was wir da zu tun haben. Sollen wir ihnen das zeigen?« »Ja!« Während sie mit den übrigen zusammen brüllte, dachte Ellen, wir hören uns an wie kleine Kinder im Theater. Wir sind so daran gewöhnt, daß man mit uns spielt, daß wir jeden Anführer akzeptieren, mochte es Sean sein oder irgendein Kriecher aus dem Freizeitministerium, der mit Neuropepsi und Mitleid um sich wirft. Ellen sprang auf, ermuntert von Christy, Beatrice und Rita. Sie wirkte sehr klein und verloren. Während sie sprach, drückte sie Jack an sich und spielte mit seinen Fingern. »Ich halte es für keine gute Idee zu marschieren. Es ist denen egal, was wir denken, diesen Platinscheißern da im Unterhaus, jedem einzelnen von ihnen. Wir können nicht wählen, wir haben keine Karte, wir haben keine Rechte. Bis wir Britcards bekommen, bis wir wieder Menschen sind, können wir sie nicht bekämpfen. Das hat man zuvor schon versucht, ich hab’s gesehen, ich bin länger hier als jeder einzelne von euch, seit ich zehn war. Als es mit den Lagern losging, in den späten Achtzigern, hat es die ganze Zeit über Märsche und Brände und Aufruhr gegeben. Mein Vater ist in einem davon umgekommen. Daraufhin haben sie Rationen und Neuropepsi und Britcards eingeführt, und wir alle sind ganz still geworden.« »Was sollen wir also tun? Weiterhin hier rumsitzen wie die Idioten?« Sean spürte, wie ihre Energien und ihr Ärger wieder diffuser wurde; einige Leute wanderten bereits ab, er wollte sie zurückzerren und in ihnen den Funken für Tat und Gewalt
entzünden, nach denen es seine Seele verlangte. Sein rascher Verstand und sein Zorn standen in völligem Gegensatz zu Ellens langsamer Zähigkeit. »Nein. Aber diesmal sollten wir clever sein und genau wissen, was wir wollen. Ich halte diesen Krieg für ein Ablenkungsmanöver, sie würden das Geld sowieso nicht für uns ausgeben. Wenn wir jetzt nach Westminster marschieren, wird’s Straßenkämpfe geben, Gefängnis, morgen werden wir wieder hier zurück sein, und sie werden uns völlig vergessen haben. Meiner Ansicht nach sollten wir das Lager dorthin versetzen.« »Was?« fragte Sean ungläubig. Ein paar Leute lachten, andere traten näher heran, um zu hören, was sie zu sagen hatte. »Anders werden sie’s niemals mitbekommen, wie das so ist, oder? Wir sollten unsere Zelte, Kinder, Krüppel und Babies mitnehmen.« Sie drückte Jack an sich und lächelte über ihre Idee, von der sie ebenso überrascht war wie alle anderen. »Baut sowas wie ein zweites Smiles! Direkt vor dem Parlamentsgebäude, was ist mit diesen Gärten am Fluß? Geht still und heimlich dorthin, immer nur ein paar auf einmal, so daß sie nicht zu mißtrauisch werden.« »Benutzt Teds Lastwagen, um die Zelte und Babies und die alten Knacker hinzubringen, die nicht laufen können«, rief Beatrice übermütig. Sie hatte die Nase voll von Ted, nachdem sie jahrelang sein verfaultes Gemüse und Obst gegessen hatte, und sie führte ein halbes Dutzend Frauen über den Schutt zu seinem Laster. Ted hatte das ungewohnte Geschrei und die Aufregung vernommen; er hatte Angst, seitdem sie seine Neuropepsi-Vorräte vernichtet hatten, und als er sie jetzt auf sich zueilen sah, versuchte er, davonzufahren. Einige waren jedoch bereits hinten in den Laster eingebrochen. Er sah im Rückspiegel, wie sie plünderten und zerstörten. Sie waren offenbar mehr an seinem Wagen als an ihm selbst interessiert,
und obgleich der Laster die einzige Quelle seines Lebensunterhalts war, wußte er, daß er Glück hatte, wenn er entkommen konnte. Die sind hart, diese Frauen von Smiles, dachte er, als er aus der Fahrerkabine sprang und davonrannte. Kastrieren dich mir nichts, dir nichts. Und er lief auf die Brücke zu und überhörte dabei das Hohngelächter der Frauen. Er wollte die True Brit Information Agency am Fulham Broadway warnen, daß im Lager unter den Kartenlosen subversive Dinge vor sich gingen. Sie würden ihm den Lastwagen zurückholen und ihm Entschädigung wegen Plünderung zahlen. Hemmungslos lachend warfen die Frauen Teds verrottete Waren hinaus und füllten die Ladefläche mit Zelten, Schlafsäcken und Leuten, die zu alt oder zu jung zum Gehen waren. Beatrice schmierte mit einem Filzschreiber ›Huren gegen den Krieg‹ an die Seite des Lastwagens. Sie schrien alle vor Lachen und Triumph, weil sie dabei waren, sich an ihren Feinden zu rächen, sie hatten sich endlich in Bewegung gesetzt, sie würden’s ihnen zeigen. Als Sean sah, wie die Dinge liefen, hob er die Schultern und stellte sich zu einer Gruppe, die um ein Radio herumstand, das ein Ex-Ingenieur zusammengebastelt hatte. Sie hatten sich darum versammelt, um Ausschnitte aus einer Manx-Debatte im Unterhaus zu verfolgen, die immer wieder von Bekanntmachungen unterbrochen wurden, es habe Verhaftungen und Verkehrsstaus gegeben. Obgleich man von einer Debatte sprach, gab es offensichtlich keine Meinungsverschiedenheiten zwischen der Regierung und der Opposition. Beider Stimmen hoben sich gemeinsam zu einem Crescendo von Chauvinismus. »… Die Lords von Man waren englisch gewesen, seitdem Edward der Dritte die Insel im Jahre 1333 erobert hatte…« »Kronbesitz…«
»… unsere Bekannten und Freunde wenden sich gegen uns…« »… unverfrorene und unbegründete Forderungen…« »… im Interesse der nationalen Sicherheit…« »… haben ihre eigene schäbige Diktatur über fünfundsechzigtausend Menschen eingerichtet…« »… haben Hitler damit auch nicht durchkommen lassen…« »Wir unterbrechen die Live-Debatte, um Ihnen mitzuteilen, daß die Victoria Street und Whitehall noch immer unpassierbar sind. Und nun zurück ins Unterhaus, wo der Ehrenwerte Abgeordnete von Chalk Farm East dem Haus von seinen Erfahrung als Tank-Fahrer in Tobruk berichten wird.« »Ruhe bitte! Bitte Ruhe!« »… und da nun die Flotte von Llandudno in See sticht, sollen unsere Herzen mit ihr fahren…« »… vergessen wenigstens die Differenzen zwischen unseren Parteien…« »… eine Nation…« »… Verräter…« »… Defätismus…« »… wir benötigen keine Nachhilfestunden in Patriotismus…« »… Britanniens Entschlossenheit.« Irgendein mutiges Unterhausmitglied (Sean konnte weder seinen Namen noch seine Parteizugehörigkeit verstehen) appellierte mit gebrochener Stimme, Ruhe zu bewahren. »Ich bin kein Unilaterist oder Defätist oder irgend so etwas, aber wir sollten meiner Ansicht nach wegen einer solchen Lappalie nicht gleich einen Krieg führen. Es ist doch nicht so, als sei das nationale Überleben gefährdet. Töten ist falsch, und es werden Menschen sterben, wenn diese Schiffe auf der Insel landen.« Ein Bellen und Knurren und Stampfen, als habe ein Rudel Jagdhunde Blut gerochen, drang aus dem Lautsprecher. »… verbreiten Angst und Zaghaftigkeit…«
»… leichtgewichtige liberale Intellektuelle…« »… kein Krocket-Spiel!« (Und, alles andere übertönend:) »Sie sind eine Schande für Ihre Schule, Ihr Regiment und Ihr Land!« Einige weitere Stimmen erhoben sich gegen die Invasion. Die Debatte wurde zu einem unverständlichen Tumult, gelegentlich durchsetzt von einer Stimme, die nach Ordnung rief. Jemand schaltete das Radio ab, und Sean fand sich aus den Korridoren der Macht in den Brunnen der Eifersucht versetzt. Er sah ihnen dabei zu, wie sie sich vorgeblich um etwas zankten, nur um diese Karikatur eines Streites dazu zu benutzen, einander zu berühren und zu lachen. Als er das nächste Mal hinsah, hatten sie die Arme umeinander gelegt. Sie waren von ihm abgeschnitten, als befänden sie sich in einer hellerleuchteten Blase. So hat sie mit mir niemals geflirtet. Das Problem mit dem Verlangen liegt darin, daß es wunderbar für die Teilnehmer, jedoch brutal und häßlich für die Zuschauer ist. Das Problem als Zuschauer besteht darin, daß man zuviel sieht, man ist stets im Weg, während man auf den scharfen, rutschigen Felsen von verletzter Würde und Selbstmitleid zappelt. Sean wandte sich ab und stolperte davon. Nach dem nassen Frühjahr war es wochenlang trocken und sonnig gewesen; Blumen und schmucke Wildkräuter sprossen in Smiles an allen Ecken und Enden, und die Menschen hielten sich weit öfter als sonst im Freien auf. Simon dachte, diese Stimmung hat sie befallen, seitdem die vom Neuropepsi verursachte Schläfrigkeit wie ein Fluch von ihnen genommen worden ist, seitdem die Sonne herausgekommen ist. Die Blumen und die lebhaften Gesichter gaben Smiles einen neapolitanischen Anstrich. Obgleich ich mir nicht vorstellen kann, warum ein Slum im südlichen Italien attraktiver sein
sollte als ein Slum im südlichen London. Er hielt Christy mit den Armen umschlungen, und Christy glaubte noch immer, sie seien diskret gewesen. Sie war sich Sean bewußt, der nur ein paar Meter von ihnen entfernt über dem Radio hockte, und irgend etwas in ihr triumphierte angesichts seiner Niederlage. Sie war froh darum, daß die Menschen des Lagers schließlich selbständig handelten, froh für sie und auch froh deshalb, weil Seans Pseudo-Bürokratie lange genug geherrscht hatte. Er blickte zu ihr auf, sah die Melancholie in ihrem Gesicht, zuckte zurück und nahm rasch wieder Zuflucht beim Radio. Christy war erleichtert, als er weglief und aufhörte, sie zu beobachten, sie zu richten wie Gott. Viele Menschen waren bereits über die Wandsworth Bridge gegangen. Kinder mit Plastiktüten voller Kleider und zerbrochenem Spielzeug liefen herum, als gingen sie in Ferien. Dimelza und Lily waren vom Lastwagen gesprungen, als er sich dem Fluß näherte, und folgten jetzt Mick, der sein ClownKostüm trug und eine melancholische Melodie auf der Trompete blies. Sarah stand hinter ihrem Großvater, der in seinem schwerfälligen Rollstuhl saß. Sie war erschöpft, hatte sie ihn doch bereits zum Sloane Square geschoben, und jetzt nörgelte er, sie solle ihn in die Gegend nördlich des Flusses zurückbringen, das habe etwas zu tun mit der Regierung. Sarah wußte nicht, und es kümmerte sie auch nicht, wovon er redete, wünschte sich jedoch innigst, er hätte den Gebrauch der Stimme statt des Gebrauchs der Beine verloren. Dann sah sie den Laster, der erneut angehalten hatte, und lief hinüber und bat, den Großvater mitzunehmen. Hände griffen von der Ladefläche zu und hoben den erstaunten Großvater in seinem Rollstuhl hoch. Er war eine weitere Wunde, die man vor Westminster zur Schau stellen konnte. Sarahs erstarrtes kleines Gesicht taute auf, als sie ihn verschwinden sah, sie drehte sich
um und lief hinüber zu Dimelza und Lily, tanzte mit beiden zusammen über die Brücke. In der anarchischen, karnevalistischen Ausgelassenheit befangen, wanderten Christy und Simon gleichfalls zur Brücke. Rings um sie her tanzten die Menschen, liefen, gingen, wogten in Richtung aufs Zentrum. Christy dachte, es ist, als seien wir, wie Sean gesagt hat, tatsächlich aufgewacht, nur um uns sofort einem weiteren Traumschlaf zu überlassen, einem spontaneren und aktiveren Traumschlaf. Auf jeden Fall ist es so unwirklich, so mit Simon zusammen zu gehen. Die Arme umeinander geschlungen; ich kann den einen Traum nicht vom anderen unterscheiden. Es ist gefährlich dort oben, es muß gefährlich sein, Polizei und Straßenkämpfe. Ich fürchte mich vor Gewalt, ich bin mir sicher, in irgendeine Falle zu gehen. Aber die Stadt ist in Bewegung, es ist meine Stadt, ich muß hingehen. Auf der Brücke wandte sie sich um und blickte auf das jetzt leere Smiles, das im späten Sommernachmittag erglänzte. Sogar die Zonkies hatten ihre Insel verlassen. Auf der anderen Seite der Brücke kamen sie an Teds Laster vorüber, der wiederum angehalten hatte. Beatrice winkte Christy zu und bot ihr an, sie mitzunehmen, aber Christy schüttelte den Kopf. Nach einer langen Diskussion darüber, wie man den Laster fahren mußte, welchen Weg man benutzen und was man tun sollte, wenn man angekommen war, hatten sich die Entführer dazu entschlossen, durch das südliche London zu fahren und so nah wie möglich an der Lambeth Bridge anzuhalten. Rita, die Fahrerin, vollführte eine wüste Wendung und fuhr schlingernd zurück über die Brücke. Alle Geschäfte in der Wandsworth Bridge Road hatten früh geschlossen, und aus den Wohnungen der Mittelschicht in den oberen Stockwerken spähten erschrockene Gesichter herab. Autos waren mitten auf der Straße verlassen worden, als ihre Besitzer im Radio die Nachrichten von den Horden von
Dieben, Zonkies und Kartenlosen gehört hatten; die in die Londoner Innenstadt einfielen. Simon fragte sich, ob es zum Ende des römischen Imperiums, als die Franken und Westgoten die letzten imperialen Villen und dekadenten Städte bedroht und zerstört hatten, Menschen gegeben hatte, deren Sympathien geteilt gewesen waren: Vielleicht die Sprößlinge römischer Matronen, die von fränkischen Kriegern vergewaltigt worden waren. Menschen, die die ausrangierten Relikte einer erschöpften Zivilisation verachteten, gleichfalls jedoch die destruktiven Kräfte des neuen Bluts fürchteten. Menschen wie er, die sich eigentlich unter den erbarmungslosen Wogen der Geschichte wegducken wollten, statt dessen jedoch in die offene See geschwemmt und dort von verborgenen Klippen zerschmettert wurden. Simon ertappte sich bei der Überlegung, ob seine Fensterscheiben wohl von dieser Menge eingeworfen werden würden, deren Teil er war. Genau vor ihm ging Arm in Arm eine Gruppe von Männern, die er aus Smiles her kannte, und sang: »Auf wessen Seite steht ihr, Jungs, auf wessen Seite steht ihr?« Die rohen, spöttischen Stimmen erinnerten Simon daran, daß es an diesem Nachmittag nur zwei Seiten gab. Der Marsch verlief unorganisiert, und man rief auch keine Parolen, und, was das merkwürdigste war, es tauchte auch keine Polizei auf, obwohl sie in der Ferne Sirenen hörten. Sie bogen in die New King’s Road und trafen dort auf einen weiteren menschlichen Fluß Richtung Osten. Als sie Eel Brook Common erreichten, eilten die Menschen aus ihren Zelten und Hütten, um sich ihnen anzuschließen, und auch hier waren die Geschäfte und Häuser verschlossen, verbarrikadiert gegen eine Macht, die bislang noch niemals losgelassen worden war. Alle
diese Menschen bewegten sich in ruhiger Eile, die Gesichter von einem Zorn entpersönlicht, dessen sie sich noch nicht einmal bewußt waren. Viele trugen Eisenstangen, Flaschen und Stöcke bei sich. Christy dachte, wenn jetzt jemand stolpert, wird er sofort niedergetrampelt, und niemand von uns würde die zerquetschte Masse unter den Füßen bemerken. Nichts kann uns jetzt mehr aufhalten. Ein Polizeihubschrauber schwebte über ihren Köpfen; Infrarotkameras überwachten die lange Schlange, die sich von der Putney Bridge nach Westminster wand, und photographierten die von Furcht und Haß verzerrten Gesichter, die zu ihnen hinaufblickten. Die Straßen waren leer, schließlich besaßen sie die Straßen. Ein Jeep kam mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu, er hupte unentwegt die ersten vier Noten von ›Rule Britannia‹. Er strotzte nur so vor Union Jacks und wütenden Männern, die auf den Sitzen standen, mit den Armen winkten und irgend etwas durch Megaphone brüllten. Die ihnen im Weg stehenden Menschen bemerkten gerade noch rechtzeitig, daß der Jeep nicht ausweichen würde, und rannten kreischend auf die Bürgersteige. Als der Jeep auf sie zukam, hörte Christy die schrille Stimme eines Mannes rufen: »Abschaum! Verräter! Wir spucken auf euch! Wir scheißen auf euch! Geht in die Gosse zurück, aus der ihr kommt! Vermehrt euch wie Ratten in euren schmutzigen Slums…« Der Jeep der Patrioten riß ein Loch in die Menge, er fuhr so rasch direkt durch sie hindurch, daß keine Zeit dazu blieb, etwas anderes zu tun, als ihm aus dem Weg zu gehen. Daraufhin folgte ein allgemeines Gerenne und Durcheinanderrufen, um sicherzustellen, daß niemand verletzt war. Später erschien Christy dieser Vorfall der einzige glückliche zu sein; das Blutbad hätte leicht da beginnen können. Die Patrioten hätten gewiß liebend gern ein paar
Verräter plattgewalzt, und einige der Marschierer hätten sie dann aus dem Jeep gezerrt und totgeschlagen, falls Zeit dafür gewesen wäre, sie zu packen. Die breite leere Straße vor ihnen war nicht mehr länger tröstlich, da sie jetzt alle irgendeinen Hinterhalt erwarteten. Ihre Schritte dröhnten auf dem heißen Asphalt. Simon war überrascht davon, wie viele Geschäfte verrammelt waren. Wie hatten die Behörden wissen können, daß sie kämen, wenn sie’s noch nicht einmal selbst gewußt hatten? Die stehende Hitze des frühen Abends barg in sich eine Bedrohung, ein Vorwissen von Gewalt. Er wünschte sich, es würde dunkel werden, so daß sie sich verbergen, sich zerstreuen konnten. Am Sloane Square vereinigten sie sich mit einer weiteren riesigen Menschenmenge, die aus dem nördlichen London kam. Der gesamte Verkehr nach Westminster war umgeleitet, Londons Innenstadt war zur Bühne für sie geworden, ein verlassenes, künstliches Szenario für ihr Drama. Da sie jetzt so zahlreich waren, drängten sie dichter zusammen und bewegten sich eine Weile lang wie in einer Prozession. Gerüchte zischten wie Feuerwerkskörper durch die Menge: bewaffnete Polizei wartete bei Victoria auf sie, sie kämen niemals bis Westminster durch, der Hubschrauber über ihren Köpfen sei dabei, Granaten mit Tränengas abzufeuern. Ohne Anführer, die Befehle brüllten oder ihnen ein Gefühl der Identität verleihen konnten, baute sich die Spannung bis ins Unerträgliche auf. Dann, bei Pimlico, teilte sich der menschliche Fluß erneut in viele Arme, als die Menschen zum Embankment, durch die Royal Hospital Gardens und die Seitenstraßen nach Westminster liefen. In Belgravia standen draußen vor den Häusern bewaffnete Wächter, bereit, beim ersten Anzeichen von Gewalttätigkeit seitens des Mobs zu feuern. Christy und Simon folgten dem Hauptstrom von Menschen die
Hauptstraßen zur Victoria Street hinab. Die Menge drängte auf die Bürgersteige, war sich ihrer Macht bewußt, schwieg nicht mehr länger. Einzelne Männer und Frauen kreischten Schlachtrufe, die rasch von den Menschen ringsumher aufgenommen wurden: »Britcards, Shitcards!« »Verbrennt die Schweine!« Verbale Gewalt schwemmte sie voran, ließ ihre Herzen pochen, die atemlosen Stimmen verschluckten sich vor Aufregung und Furcht. Einige wenige Straßen entfernt hörten sie Gekreisch und das Splittern von Glas. Sie wußten, die Polizei erwartete sie. Ihr Ärger wurde entfacht beim Anblick von Menschen, die zusammengedrängt in Geschäften und an der Victoria-Station standen, aus höhergelegenen Fenstern auf sie herabstarrten und angstvoll darauf warteten, daß der Sturm des kollektiven Hasses vorüberging. Christy war fast erleichtert, als die Zerstörung begann. Oberhalb der Victoria-Station hing eine riesige holographische Werbetafel für Neuropepsi. Kinder umringten eine gigantische Dose Neuropepsi und streckten die Hände aus, sie lachten und tanzten zum Himmel hinauf, sie sangen vierundzwanzig Stunden am Tag ihren engelhaften, schwachsinnigen Singsang: »Wir sind die Neuropepsis, voll Freude und voll Pep.« Die Menge hielt so abrupt unterhalb der Werbetafel an, daß Christy und Simon fast erdrückt wurden. Dann begannen die Menschen damit, ihre Waffen zu dem Bild im Himmel hinaufzuwerfen, obgleich sie gewußt haben mußten, daß es unzerbrechlich war. Die Licht- und Tonquelle lag irgendwo versteckt, vielleicht auf dem Dach eines gegenüberliegenden Gebäudes. Ihnen gingen die Geschosse aus, sie drehten einen Obstkarren um und warfen Äpfel und Tomaten. Die meisten davon trafen die Zuschauer, die in der Station Schutz gesucht
hatten, und die kreischten auf und drängten weiter ins Innere. Die schrillen Stimmen der Neuropepsis trällerten weiter, ein unbefriedigendes Ziel. Die Menschen sahen sich nach etwas Handfesterem um, woran sie ihren Ärger abladen konnten. Die restlichen Früchte wurden herumgereicht, und Christy und Simon aßen Äpfel, wie sie, nur wenige Minuten zuvor, gekreischt hatten: »Verbrennt die Schweine!« Ringsumher liefen die Menschen davon, um die Geschäfte in den Arkaden der Victoria Street zu plündern. Jene, die sich im Glauben, es handele sich um neutrales Gebiet, dorthin zurückgezogen hatten, zerstreuten sich voller Entsetzen. Als die Menge auseinanderbrach, fühlte sich Christy wieder klar im Kopf. Es war, als sei ihr eigener Wille von der Ansteckungskraft der Gewalt gelähmt worden. Sie wandte sich an Simon, der gleichfalls benommen wirkte. »Wir müssen nach Westminster. Nachsehen, ob die anderen dort sind, ihnen dabei helfen, das Lager zu errichten, wenn sie das wollen. Ich möchte nicht in diese Plünderei verwickelt werden, die ist sinnlos.« »Wir kommen jetzt nie bis Westminster durch. Ebensogut können wir nach Hause gehen – kommst du mit zu mir?« »Jetzt nicht. Wir müssen die anderen finden.« Noch während sie sprach, flog ein Helikopter ganz tief über ihren Köpfen dahin, und eine Wolke Tränengas ließ sie erblinden, kehrte ihnen Magen und Innereien von innen nach außen. Mit der Übelkeit kamen hitzige Kopfschmerzen. Blindlings rannten sie in Richtung Victoria Street, wo sie weiteres Tränengas, Gekreisch, Sirenengeheul, Gejammer, Dröhnen, zersplitterndes Glas und das stetige Gebrumm eines Helikopters erwartete, der herabschoß und weiteres Tränengas abfeuerte. Christy war sich fast sicher zu hören, wie Kugeln aus den neuen Gewehren der Polizei durch die Luft peitschten, und einige Schreie stammten wohl von deren Opfern.
Daraufhin rannten sie bloß noch, wollten lediglich noch dem akuten Unbehagen des eigenen Körpers entkommen. Manchmal ist die Blindheit dauerhaft, erinnerte sich Christy, während sie Arm in Arm mit Simon rannte. Sie liefen gemeinsam gegen parkende Autos, Laternenpfähle, andere umherstolpernde, sich übergebende Gestalten. Überall lag der Gestank von Erbrochenem in der Luft, sie hatte ihn in der Nase. In ihren blicklosen Augäpfeln war das Bild von Sean eingebrannt, wie er eingesperrt und zusammengeschlagen wurde, ein Häufchen Elend in einer Zelle. Vor dem Hauptzugang des Unterhauses umringte ein Kreis aus Abgeordneten und Polizisten die Babies und Krüppel von Smiles, die in einem schmutzigen Haufen auf dem heißen Asphalt lagen. Die meisten der Babies weinten, die älteren Schandflecke starrten jedoch bloß zurück. Sarahs Großvater genoß die Aufmerksamkeit und den Ortswechsel, und er fragte sich, ob man ihnen etwas zu trinken anbieten würde. Sie waren zu jung oder zu alt, um eingesperrt zu werden. Einige Zuschauer widerstanden dem Impuls, die Babies aufzunehmen und zu hätscheln, da sie an die Gefahr einer Ansteckung dachten.
KAPITEL 18
Als sich Sehvermögen und Gleichgewichtssinn wieder erholt hatten, lehnten sie an der Ufermauer am Embankment, die Arme umeinander gelegt. Der Spruch ›sie wußten nicht, was sie tun‹ hatte Christy stets irritiert. Sie war vielmehr der Ansicht, daß sie genau wußte, was sie tat, und daher weder eine Entschuldigung noch ein ernsthaftes Schuldgefühl nötig hatte. Diesmal hatte sie Sean, der vielleicht ihre Hilfe benötigte, mit Simon verlassen; mit Simon, den sie liebte und begehrte. Sie waren dabei, ihr Verlangen in seiner Wohnung zu stillen, einer Wohnung, die sie sich noch immer als die eines reichen Mannes vorstellte, eine Zweitwohnung, das war der Ausdruck. Mit einem riesigen Lotterbett, einem blitzblanken Bad, wo alles funktionierte, und einer Unzahl neuer teurer Möbel. Nichts an ihrem Gefährten (mit Sicherheit nicht seine Kleidung) wies auf einen solch geschmacklosen Lebensstil hin. Vielleicht war’s etwas, das sie sich als Schülerin vorgestellt hatte, von einem reichen Mann verführt zu werden. Oder es hatte vielleicht mit der Tatsache zu tun, daß er Architekt gewesen war und die zuversichtliche Aura eines Mannes um sich verbreitete, der niemals im Freien geschlafen hatte oder hungrig gewesen war oder diese Zustände niemals anders als ein Thema von Anekdoten betrachtet hatte. Sie war sich sicher, daß er eine Britcard besaß, zumindest eine mit Goldrand, obwohl er darüber niemals etwas hatte verlauten lassen oder sie herumgezeigt hatte. Doch all die Zeit, da er in Smiles geholfen hatte… gerade jetzt durfte man nicht an Smiles denken. Christy unternahm
einige Anstrengungen, sich auf den wirklichen Simon neben sich zu konzentrieren. Trotz ihres entschiedenen Entschlusses, sich zu verlieben, stellte die Nacht ihre eigene Rechnung auf. Sie gingen am Fluß entlang, wo wattige weiße Wolken, die aussahen wie Pflastersteine aus silbrigem Licht, die schimmernden Risse in den dunklen Fluten bedeckten, und sie schmiegten sich an der Mauer gegenüber vom Battersea Park aneinander. »Die Kinder betteln ständig, ich solle sie in diesen Freizeitpark mitnehmen, den sie in den alten Gaswerken errichtet haben.« Christy war überrascht davon, wie schwer es fiel, nicht über Smiles zu reden oder daran zu denken. »Hast du nicht gesagt, dein Vater baut solche Dinger?« »Habe ich das gesagt?« Bislang hatte er mit Sicherheit nicht die Absicht gehabt, ihr soviel zu sagen – noch nicht. »Nun, tut er’s?« »Ja. Er hat dieses neue da im alten Chelsea-Stadion errichtet. Fast gleich um die Ecke bei mir.« »Guck nicht so verlegen. Du kannst nichts dafür, was dein Vater tut, aber meiner könnte sogar ein Mörder sein.« »Wirklich?« fragte er hoffnungsvoll. »Er hat sich davongemacht, als ich zwölf war. Ich weiß wirklich nicht, was er seitdem angestellt hat.« Sie standen da und sahen auf den Fluß. Es war Flut, und das Wasser hatte den höchsten Stand erreicht, es leckte am Fuß der Mauer und rauschte wild zur Stadt hinaus. Er blickte Christy an und wollte herausfinden, was sie fühlte, wenn sie etwas fühlte – sie starrte mit äußerster Konzentration auf den Fluß hinab. Ihr dichtes schwarzes Kraushaar verdeckte ihre Augen, also schob er’s zurück, damit er sie sehen konnte. An jenem Abend waren sie sehr dunkel, grün mit braunen Flecken, und nur eine Spur von grün, wenn die Straßenbeleuchtung darauf
fiel. Sie schwammen wie schwanzlose Fische über dem plumpen Pier ihrer Nase. »Ist’s in Ordnung, wenn wir jetzt zurückgehen?« »Ja. Gehen wir.« Aber ihr Gesicht, und sogar ihr großer ausdrucksvoller Mund, war unnatürlich still. »Machst du dir Sorgen, weil du Sean dort gelassen hast?« »Ja. Er hat recht behalten, siehst du. Schon gut. Wir gehen jetzt.« Sie wandte sich von der Mauer ab, nahm ihn bei der Hand, und sie gingen langsam am Ufer entlang. Christy blickte weiterhin in die schattigen Tiefen hinter dem letzten Hausboot, in Richtung auf Wandsworth. Alles übrige an ihr war bei Simon, und es war froh darum, dort zu sein. Christy war überrascht von der Schäbigkeit seiner Wohnung und erleichtert darüber. Sie war eine natürliche Erweiterung seiner Person, abgetragen, freundlich und ein wenig vernachlässigt. Ihr gefiel das Wohnzimmer, das über den Garten blickte, insbesondere, als Simon der warmen Nacht keine Beachtung schenkte und ein Feuer entzündete. Aber sie konnte dort nicht sitzenbleiben, sie nahm das Glas Wein, das er ihr eingeschenkt hatte, und wanderte, Türen öffnend, den Korridor hinab. »Wonach suchst du?« fragte Simon nervös. »Nach Blaubarts Frauen.« »Es hat nur eine gegeben.« »Und wo ist sie?« »Im Garten. Meistens.« »Darum werden wir uns noch kümmern.« Sie starrte in Merlins Zimmer, wie vor den Kopf geschlagen von dem teuren Spielzeug. Seit ihrer Kindheit, noch ehe Martin sie verlassen hatte, hatte sie kein Zimmer mehr gesehen, das soviel Gemütlichkeit und Sicherheit und Verwöhntheit ausstrahlte. Dann wurde sie traurig, weil es nicht wirklich so war, noch nicht einmal für dieses Kind. Einige
Jahre lang war er der kleine Prinz auf dem Schaukelpferd gewesen, mit der Pu der Bär-Tapete. Dann war seine Mutter gestorben, und sein Vater hatte ihn fallengelassen; wer weiß, was er jetzt durchmachte? Simon schaltete das Licht aus. »Du hältst das Zimmer für ihn instand?« »Er wird bald zurückkehren. Wenn ich die Dinge auseinandersortiert habe.« »Wann wird das sein?« »Nicht heute abend.« Er führte sie ins Schlafzimmer. Sie war die erste Frau, die seit Madges Besuch kurz nach Jessicas Tod dort stand. Für ihn war es das am meisten von Geistern heimgesuchte Zimmer, in ihren Augen war es absolut düster, auf seine Art ebenso trostlos wie die Hütten in Smiles. Eine der Türen des Schränkchens klaffte auf, auf dem Ankleidetisch lag eine dicke Schicht Staub; die Vorhänge ließen sich nicht richtig zuziehen, weshalb trübes gelbes Licht von der Straße hereinsickerte. Seine zerknitterten Kleider hingen in einem halbfertigen Schrank, wie Leichen, die an einem improvisierten Galgen schwangen. Feierlich setzten sie sich aufs Bett und küßten sich. Ein wenig bitter dachte Christy, es wird alles mit der üblichen Fummelei und Eile enden. Kleider runter und aufeinander drauf. Eine Sache beklagte sie stets bei den Männern, und das war, daß ihr diese niemals Zeit genug ließen, den Sex zu genießen. Sie hatte stets das Gefühl gehabt, Sean habe sie zwischen seinen Versammlungen eingeplant, und jetzt, mehr denn je, brauchte sie Zeit, ihre Eindrücke von Simons Wohnung, seinem Körper und seiner Seele und der merkwürdigen neuen Welt, die sie in dieser Nacht gemeinsam betraten, zu filtern. Sie wollte sie nach und nach betreten, nicht mit einem Turnwettkampf.
Zu ihrer Überraschung zog er ihr bloß die Schuhe aus, zog dann die eigenen Schuhe aus und legte sich neben sie auf das Kissen. »Ich bin aus der Übung.« »Laß uns einfach nur reden. Gibt’s eine Möglichkeit, dieses widerliche Licht abzuschalten? Du siehst darin aus wie ein Skelett mit Gelbsucht, und ich mag gar nicht darüber nachdenken, wie ich wohl aussehe.« »Wie ein Engel aus Licht, erschienen, das Grab zu säubern. Ich zünde ein paar Kerzen an.« »Können wir nicht in das andere Zimmer gehen? Es wirkt… freundlicher«, sagte sie, nachdem er vier Kerzen entzündet und sie in den Messingleuchter auf dem Ankleidetisch gesetzt hatte. »Sieht jetzt aus wie ein Altar. Du bist religiös, oder?« »Nicht im orthodoxen Sinne. Aber ich habe einen starken Sinn für Rituale.« »Ich weiß nicht so recht, ob ich so sehr ein Kultgegenstand sein möchte. Bist du etwa katholisch?« fragte sie argwöhnisch. »Ich bin Halbjude, aber darüber werden wir uns ein andermal unterhalten. Ist das Licht jetzt weniger störend?« »Ich habe das Gefühl, aus einem Leichenschauhaus in eine Kapelle geraten zu sein.« Sie legten sich wieder Seite an Seite hin. Flüchtlinge, dachte sie. »Sei unbesorgt, ich bin kein religiöser Fanatiker. Aber ich brauche das alles, ehe ich mit dir reden kann. Dies ist das Zimmer, in dem meine Frau gestorben ist. Ich kann dich nicht lieben, ehe du nicht mehr von ihr weißt.« »Wann ist sie gestorben?« »Vor zweieinhalb Jahren, ein paar Monate bevor ich zum erstenmal nach Smiles gekommen bin.« »Wie?« »Sie hat eine Überdosis Schlaftabletten genommen und eine halbe Flasche Brandy getrunken.« Es überraschte ihn, daß sie
noch immer nicht den Brandygeruch in den Laken riechen konnte. Er konnte ihn riechen. »Wo warst du da?« »Bei meinen Eltern, sie hatten eine Party gegeben, und ich bin die Nacht über dageblieben. Sie hatte mir nicht geglaubt, sie hat gedacht, ich habe eine Affäre, sie hat stets gewollt, daß ich mich in jemand anderen verliebe.« »Und? Hast du?« »Während meiner Ehe mit Jessica habe ich ein einziges Mal mit einer anderen Frau geschlafen. Eine sehr kluge junge Architektin, Dicken, ich hatte sie auf einer Konferenz in Bath getroffen. Aber das war nichts… Ernstes.« »Wäre es etwas Ernstes gewesen, wenn Jessica sowas getan hätte?« »Ich weiß es nicht. Ich konnte es ihr dennoch nicht sagen, sie hätte überreagiert.« Christy seufzte. Und Simon wäre beinahe aufgestanden und hätte das Licht wieder eingeschaltet, er fand ihren Tonfall so unsympathisch und professionell. Aber sie kämpften sich weiter. »Warum war sie nicht auf der Party?« »Sie haben sie stets eingeladen, aber es gefiel ihr dort nicht. Sie hielt sich für gönnerhaft behandelt. Vielleicht war’s auch so. Sie war stets sehr still und nervös dort.« »Was ist mit deinem Sohn?« »Oh, der ist mit mir gekommen, er ist stets gut mit ihnen zurechtgekommen. Es sind gute Großeltern.« »Hat sie zuvor schon einmal versucht, sich umzubringen?« »Ich glaube nicht. Aber sie hat viel darüber gesprochen, es war ihre Art, dem Leben gegenüber zurückzuschlagen. Und, komisch genug – ich meine, es ist nicht komisch, aber du weißt schon, was ich meine –, es kommt mir jetzt so unausweichlich vor. Sie war der Typ, der jung stirbt. Sie hat sich niemals
darum bemüht, aus der Erfahrung zu lernen, als habe sie gewußt, daß sie’s nicht nötig hätte.« »Der Tod eines Menschen erscheint stets unausweichlich, weißt du, wenn sie tot sind. Wer hat sie gefunden?« »Ich. Ich bin früh am nächsten Morgen mit Merlin zurückgekehrt, um ihn zur Schule zu bringen.« »Also hat er die Leiche gesehen?« »Ja.« »Und wie lange danach haben ihn deine Eltern weggenommen?« »Zwang hat da keine Rolle gespielt. Ich glaube, er ist froh gewesen, dorthin gehen zu können – in einen so behaglichen, ordentlichen Haushalt –, und frei heraus, ich bin’s gleichfalls gewesen. Ich bin damals nicht mit mir klargekommen, allein mit einem Kind. Meine Schwester Rose hat gesagt, ich bin wie ein verdorrter Baum gewesen, der jedoch noch immer stand. Im Zeitraum von einem Monat ist Jessica gestorben, Merlin zu meinen Eltern gegangen, und ich habe meinen Job aufgegeben.« »Warum hast du das getan?« »Ich hatte schon seit Jahren das Interesse daran verloren. Mein Idealismus hatte seinen Höhepunkt erreicht, als ich Student war; sobald ich angefangen hatte zu arbeiten, war der Job keine so wunderbare Berufung mehr. Vorzugeben, Städte zu verschönern und zu verbessern, wo ich sie doch in Wahrheit noch häßlicher machte, niemals die Gelegenheit zu erhalten, ein originelles Haus zu bauen, oder, das andere Ende der Skala, Häuser für Menschen zu erbauen, die sie wirklich benötigten. Niemals etwas zu bauen, worauf ich stolz war.« »Also bist du nicht zufällig nach Smiles gekommen?« »Allein konnte ich nicht hier leben, ohne Arbeit, also bin ich zu einer Freiwilligen-Agentur gegangen. Sie haben mich gefragt, worin meine Interessen bestünden, und ich habe
gesagt, in Architektur und Kindern. Ich habe Merlin so schrecklich vermißt. Also haben sie mich dorthin geschickt – sehr phantasievoll von ihnen, wirklich. Tatsache, in den ersten drei Monaten hatte ich die verrückte Idee, den Platz neu zu bauen, eine Gemeinschaft zu führen und zu organisieren, die von den Leuten selbst errichtet und deren Geschicke von ihnen selbst gelenkt würden. Dann habe ich gesehen, daß ich nicht die Fähigkeit dazu hatte und daß niemand mir folgen würde, selbst wenn ich gewußt hätte, worauf ich hinauswollte. Also bin ich der Kinder wegen geblieben. Und später wegen dir.« Ihr Schweigen war schrecklich. Er fürchtete allmählich, seine Selbstentblößung habe sie dazu gebracht, daß sie ihn verachtete. Sie berührte ihn nicht, sie lagen parallel nebeneinander und sehr voneinander getrennt. »Befragst du auf diese Art deine Fälle?« »Normalerweise liege ich nicht mit ihnen im Bett.« »Ich meine die coole, objektive Art.« »Nicht völlig objektiv. Ich halte deine Geschichte für traurig, aber solche Geschichten höre ich jeden Tag. Dein Sohn tut mir leid.« »Jetzt erzähl mir etwas, wobei du dich schuldig fühlst, irgendeine Erinnerung, bei der du dich windest. Los schon!« Sie sah, wie er sie anfunkelte, und die Leidenschaft in seinem Blick ließ schließlich etwas in ihr aufsteigen. »Also gut. Ich erzähle dir etwas, das ich niemals jemandem erzählt habe. Als ich das erste Mal nach London kam, war ich achtzehn, ich war sehr einsam, und ich hatte kein Geld. Meine Mutter hatte auch keins, also konnte ich sie nicht um Unterstützung bitten. Außerdem wollte ich ihr auch verzweifelt gern zeigen, daß ich für mich selbst sorgen konnte. Bald genug endete ich in einem Wohnheim in der Nähe von King’s Cross, einem großen Betonschuppen mit riesigen Schlafsälen. Jeder Raum stank nach Desinfektionsmitteln, und die Lichter wurden
niemals abgeschaltet, so daß der Heimleiter rasch kommen konnte, wenn er Schreie hörte. Man sollte in dem Wohnheim eigentlich nur einen Monat lang bleiben, aber wenn man einen Job gefunden hatte, schickten sie einen zu einer anderen Organisation, die einem ein eigenes Zimmer vermittelte. Ich und sechs andere standen gewöhnlich jeden Tag zur Morgendämmerung auf, um uns für einen der Küchenjobs in den Restaurants am West End anzustellen. Sie heuerten uns lediglich für einen Tag an, man bekam acht Pfund, was die Kosten für das Heim und die Mahlzeiten deckte und einem etwas für den folgenden Tag übrigließ, falls man nicht wieder genommen wurde. Obgleich wir alle die Arbeit haßten, jeder in diesen dreckigen Küchen haßte sie, würdest du kaum glauben, was für abfällige Sprüche über die Besucher fielen. Wenn sich jemand übers Essen beschwerte, spuckten wir darauf und ließen es wieder servieren. Wie dem auch sei, gewöhnlich arbeitete ich an vier Tagen in der Woche. Wir sind überall zu Fuß hingegangen, um das Fahrgeld zu sparen, wir waren so viele, daß es sich anhörte wie eine Herde von Pferden. Wenn ich abends ins Heim zurückkehrte, mußte ich auf der Stelle zum Heimleiter, damit der das Geld in den Safe tat, ehe es mir jemand stehlen konnte. Es war wirklich ganz schön hart dort, viel schlimmer als in Smiles. Bei irgendwelchen Schlägereien wurden dort mehrere Menschen getötet. Es lag wohl daran, daß wir alle Einzelgänger waren, die meisten standen unter Alk oder Drogen, oder was sie auch immer kriegen konnten. Am schlimmsten war’s nachts. In unserem Schlafsaal lagen zwanzig Frauen, ich und vier andere Mädchen, die versuchten zu arbeiten, sowie eine Menge älterer Frauen. Einige müssen etwa in dem Alter gewesen sein, in dem ich jetzt bin, wirkten jedoch wie klapprige, uralte, stinkende Lumpenbündel, die
nichts aßen, sondern bloß tranken und sich mit Pillen vollstopften und husteten und fluchten. Sie haßten uns, und wie ich jetzt sehe, haßten wir sie gleichfalls, weil wir uns davor fürchteten, so zu werden wie sie. Ständig baten wir den Leiter, uns in einem separaten Schlafsaal zu verlegen, aber es gab keinen Platz, und natürlich wurden wir, je mehr wir uns beschwerten, nur um so mehr gehaßt. Nirgendwo gab es einen Privatbereich, weder bei der Arbeit noch im Heim. In den meisten Nächten kamen die Männer in den Schlafsaal. Wir sollten eigentlich getrennt bleiben, aber es gab ja bloß einen Leiter, der völlig erschöpft gewesen sein mußte. Wir schrien nicht, wir hatten zuviel Angst. Also schätze ich mal, es war keine Vergewaltigung. Alle diese Männer waren brutal, ich habe sie unten in der Kantine kämpfen sehen. Ich lag gewöhnlich bloß da und hoffte, es wäre ein jüngerer, der nicht zu sehr stinken würde oder zu schwer wäre. Sie fickten uns reihum. Jede Nacht ein anderer. Und man konnte sich noch nicht einmal in der Dunkelheit verbergen, weil die Lichter ja immerzu brannten. Ich glaube, wenn es im Dunkeln geschehen wäre, hätte ich so getan, als wäre nichts geschehen. Aber alles unter den Neonlampen, in völligem Schweigen, außer dem Grunzen und Schnaufen und Stöhnen. Und eine dieser Frauen kreischte gewöhnlich vor Lachen. Am Morgen frühstückten wir gemeinsam. Jene Mädchen waren meine Freundinnen, aber darüber redeten wir niemals. Es konnte vorkommen, daß man ein Brötchen schmierte und dabei dem Mann gegenübersaß, der einem in der vorherigen Nacht den Schwanz in den Mund gesteckt hatte, und er würde noch nicht einmal guten Morgen sagen. Der Leiter sagte, ich könne einen weiteren Monat bleiben und dann mein eigenes Zimmer bekommen, wenn ich eine Vollzeitstelle erhielte. Ich wollte nicht dort bleiben, aber ich wußte nicht, wohin ich sonst hätte gehen sollen. Ich hatte wohl
sowas wie einen Nervenzusammenbruch. Die ganze Zeit über zitterte ich und weinte, und ich konnte nicht richtig essen oder schlafen. Ich konnte nicht aufstehen und zur Arbeit gehen, also sagte der Leiter, ich müsse gehen. Eines Nachts war ich völlig elend, als einer der Männer zu mir ins Bett kam und mich zusammenschlug, nachdem er mich genommen hatte. Am nächsten Morgen stand ich auf, stopfte meine Kleider in eine Einkaufstüte und fuhr per Anhalter zu meiner Mutter. Ich hatte ein Messer dabei, und ich war wild entschlossen, es zu benutzen, falls mich jemand anrührte. Meine Mutter sah sehr wohl, daß es mir nicht gutging, sie fütterte mich und beruhigte mich. Ich erzählte ihr diese Geschichten über die Armut in London, jedoch so, als habe ich das alles aus der Entfernung gesehen. Sie hat mir geglaubt und immer und immer wieder gesagt, wie wundervoll ich sei, weil ich den Menschen helfe. Allmählich glaubte ich selber an dieses großartige Mädchen, das wir da zusammen erfanden. Ich glaubte sogar, nach London zurückgehen zu können, so lange ich wüßte, daß Rachel noch immer da sei, die mir einredete, ich sei glücklich und ein gutes Mädchen. Sie ist sehr puritanisch, und vielleicht bin ich’s auch. Dann, nach zwei Wochen in Devon, war eine Periode überfällig. Ich hätte es ihr nicht sagen oder zu unserem Hausarzt gehen können, der mich von Kindesbeinen an kannte. Also bat ich sie um etwas Geld für einen Abendkurs in der Sozialarbeit, obgleich ich wußte, daß sie nichts hatte. Sie borgte sich etwas von einem Freund und gab es mir, natürlich. Das meiste davon ging für die Abtreibung drauf. Das war eine große Erleichterung, es war, als habe man damit die Nächte in dem Heim aus mir herausgehackt. Ich erhielt eine Vollzeitstelle als Bedienung in einem Restaurant am Strand, und es gelang mir, ein Zimmer zu mieten und die Gebühren für einen Kurs für Teilzeit-Spielgruppenleiter aufzubringen. Ich kam mir reich vor. Außerdem nahm ich Judostunden, ich
wurde wirklich gut und benutzte meine Kenntnisse bei jedem Mann, der mich begrapschte. Als sie die Heime schlossen und sich nach und nach die Lager bildeten, hatte ich genügend zu tun. Ich leitete eine Spielgruppe in einem Lager in Southall, ehe ich nach Smiles ging. Ich habe verdammt hart gearbeitet, jeder hat gesagt, wie hingebungsvoll ich wäre, und es ist die Wahrheit gewesen. Aber ich habe bloß deshalb so arbeiten können, weil ich von meiner Angst getrieben worden bin, wieder da hinabzusinken, wieder wie die Menschen zu sein, denen ich eigentlich helfen sollte.« Simon sah sie an, wie sie wußte, mit weit mehr Wärme und Mitgefühl, als sie ihm geschenkt hatte. Ihr Gesicht war rot und tränenüberströmt, wie er sah. Sie hatten sich schließlich einander geöffnet, empfänglich und verwundbar wie zwei Muscheln, deren Schalen sich gerade geöffnet hatten und jetzt das nackte, bebende Innere zeigten. Er blies die Kerzen aus, entkleidete sich und schlüpfte ins Bett. Christy zog sich aus und wandte sich ihm zu, und sie hielt ihn sehr fest, vergrub den Mund in der glatten salzigen Haut seiner Schulter. Er ist so warm, dachte sie, mir wird niemals mehr kalt sein.
KAPITEL 19
Sie schliefen kaum. Die ganze Nacht über fuhren sie immer wieder auf, zurück ins Bewußtsein, denn die Zeit war zu kostbar, um sie mit Schlafen zu vergeuden, jetzt, da es jemand anderen gab, mit dem man sie teilen konnte. Immer wieder liebten sie sich, murmelten Worte der Liebe, erzählten sich Geschichten einer alten Liebe. Sogar in ihren jähen Anfällen von Schlaf drehten sie sich zueinander, schlangen die Gliedmaßen besitzergreifend um das erstaunliche Faktum ihrer Liebe. Draußen im Garten ging Jessica davon und löste sich in den Gräsern auf. In ihrer Furcht davor, den anderen loszulassen, benutzten sie nur ein Drittel des Doppelbetts. Am nächsten Morgen erwachte Christy ebenso steif, wie sie gewöhnlich nach einer Nacht auf ihrem schmalen Lager aufwachte. Hier jedoch war zuviel Platz rings um sie her, ihr war zu warm, und sie verspürte Schmerzen und Absonderungen in längst vergessenen Winkeln ihres Körpers. Sie öffnete die Augen und erblickte Simons Gesicht friedlich neben sich, schmal, mit einem graublonden Stoppelbart. Er hielt sie noch immer an der Schulter. Sie wußte, sie konnte ihn nicht verlassen, und sei es auch nur, um eine Tasse Kaffee zuzubereiten, und sie fühlte eine Woge der Hilflosigkeit. Als sei die Härte ihrer Einsamkeit eine Art Boden unter ihr gewesen, der jäh nachgegeben hatte. Die Kinder warteten auf ihr Frühstück. Dann, und sie mußte sich gewaltig anstrengen beim Nachrechnen – denn die vergangene Nacht hatte wenigstens zehn Jahre gewährt, und vielleicht eine Ewigkeit lang –, erinnerte sie sich daran, daß es
Samstagmorgen war. Gewöhnlich arbeitete sie am Wochenende, war jedoch nicht dazu verpflichtet. Zwei Tage lagen wie ein ungeheurer Luxus vor ihnen. Sie schotteten sich von allem ab, getrauten sich kaum hinauszugehen, für den Fall, daß sie eine Zeitung sähen oder einen Freund träfen. Schließlich latschten sie zum Geschäft an der Ecke, um Croissants und Kaffee zu kaufen. Sobald sie aus dem Haus waren, erschien es Simon nötig, mit ihr alle seine Assoziationen zu jener Gegend von London zu teilen: Der Friedhof, der Freizeitpark, die Jahre mit Jessica und Merlin und seine Zeit allein. Sie hörten Musik, redeten, liebten sich, redeten, saßen in dem überwucherten Garten und kümmerten sich nicht um eventuelle Augen in den umliegenden Fenstern. Zwischendrin aßen sie von einem niemals endenden Vorrat aus seinem Kühlschrank. Christy erschien sein Leben unvorstellbar angenehm. »Verbringst du so deine Wochenenden?« fragte sie später am Nachmittag, als sie auf dem ungepflegten Rasen saßen, den Rücken an eine alte und sehr robuste Platane gelehnt. Ihre Blätter warfen breite grüne Schatten über drei Gärten und verliehen ihnen dadurch eine Art unterirdisches Licht und eine ebensolche Atmosphäre. »Nein, weil du nicht hier bist. Das hier alles allein zu tun, ist eine ziemliche melancholische Angelegenheit.« »Aber so ruhig und kultiviert. Erinnert mich daran, wie meine Mutter lebt, nur daß sie keine Abwechslung und kaum einmal Gesellschaft hat. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, zwei Tage so zu verbringen und dann am Montag aufzustehen und nach Smiles zurückzugehen.« »Wir werden’s schon tun. Und das ist auch gut so, denn wenn wir zu lange hier herumsitzen, werden wir uns so teuer, daß wir gegenseitig in unseren Arschlöchern verschwinden
werden. Meinst du, ich könnte mir keinen besseren Ort zum Verschwinden vorstellen… was tust du an den Wochenenden?« »Dasselbe wie unter der Woche. Die Kinder kommen weiterhin. Mehr Leute betrinken sich am Freitag- und Samstagabend – ich weiß nicht, warum, wo die meisten von ihnen sowieso nicht arbeiten, aber der Brauch hält sich am Leben. Also werden mehr Kinder herumgestoßen und manchmal wirklich verletzt. Wenn jemand an meiner Tür hämmert, kann ich nicht sagen, hau ab, heute ist geschlossen!« »Ist es eine Bedingung für den Job, daß du in Smiles lebst?« »Ich glaube, den Agenturen, die uns anheuern, ist es kaum jemals in den Sinn gekommen, daß wir das nicht tun. Wir könnten auch gar keine Miete bezahlen.« »Aber du möchtest dort leben?« »Nein. Ich wäre wahnsinnig, wenn ich behaupten würde, ich genieße es, dem Elend der Menschen ausgesetzt zu sein, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche, in einen Eimer zu pissen in einem Wohnwagen, der leckt und so dünne Wände hat wie eine Keksdose. Solche Bedingungen würde ich nicht freiwillig in Kauf nehmen. Wer täte das schon! Es liegt nur daran, wie sich der Job entwickelt hat. Es macht mir nicht wirklich etwas aus, weil es um so vieles besser ist als das Leben, das ich zuvor in London geführt habe. Anstrengend, jedoch nicht erniedrigend. Und wenn ich die ganze Zeit über dort lebe, kann ich bessere Arbeit leisten, als wenn ich irgendwo anders ganz gemütlich wohne und nur zu bestimmten Sprechzeiten anwesend wäre.« »Wie ich.« »Ja. Und da wir unser Gespräch über dieses Thema beendet haben, werde ich morgen hinübergehen und nachsehen müssen, was Sean und den anderen zugestoßen ist. Soweit wir wissen, sind sie alle eingesperrt worden, und die Bulldozer
haben das Lager niedergewalzt. Wie sie es bei den Wiedergeborenen Engeln in Mile End getan haben, weißt du, als sie alle örtlichen Kirchen besetzten und sagten, sie hätten mehr Rechte darauf als sonst jemand.« »Aber morgen ist Sonntag«, sagte er töricht. Er begrüßte ihre Fähigkeit, ihn aufzuwühlen, obgleich er sich dagegen auch sträubte. Er wartete darauf, daß sie alle losen Fäden in seinem Leben packte, daran zog, sie untersuchte und sauber abschnitte, was ihm bislang nicht gelungen war. Die schönsten Augenblicke mit ihr, dachte er, sind die, wenn ihre unbarmherzige schneidende Härte ins Wanken gerät. Wie es geschehen war, als sie ihm von dem Heim erzählt hatte. Im Bett war Christy zunächst passiv und vorsichtig, horchte auf einen gewissen Widerhall. Er wußte nicht, ob er sie befriedigt hatte oder nicht, und er konnte nur vermuten, daß sie andernfalls aufgestanden wäre, sich angezogen hätte und gegangen wäre. In jener Nacht schlief sie fest bis zum Mittag des folgenden Tages. Simon stand früh auf und werkelte herum, hielt gelegentlich inne, um sie zu betrachten. Wenn sie schlief, wirkte sie wie in der Defensive. Der Arm schützte Augen und Mund, als träume sie stets vom Kampf. Der Körper, an die Beschränkungen eines schmalen Bettes gewöhnt, bewegte sich so wenig, daß sie noch nicht einmal entspannt aussah. Simon wollte, sie solle bleiben; der Gedanke an die Rückkehr in ein leeres Haus erschien unerträglich. Von den Geistern zweier Frauen statt bloß einer verfolgt. Nach ein paar Stunden nahm Simon ihr den Schlaf allmählich übel, denn er beanspruchte über Gebühr das, was vielleicht ihre letzten gemeinsamen Stunden sein konnten. Im Wohnzimmer legte er eine Platte von Telemann auf, sehr laut, und als die schmetternden Trompeten sie geweckt hatten, brachte er ihr ein Festmahl aus Eiern, Mais und Toast, das er zubereitet hatte.
Sie wunderte sich erneut über die Behaglichkeit seines Lebens. Sie fühlte sich bereits dicker, glatter, sauberer. »Wie oft siehst du deinen Sohn?« fragte sie, als er sich auf den Rand der Badewanne setzte, worin sie gerade schwelgte. »Nicht regelmäßig.« »Ich möchte ihn gerne sehen.« »Ja. Ich werde nachher anrufen, wir werden was fürs nächste Wochenende arrangieren.« Aber er bat sie nicht, zu ihm zu kommen und bei ihm zu wohnen. Er wußte wirklich nicht, ob sie’s wollte, und er spürte, es wäre ein Fehler, in irgendeiner Hinsicht Druck auf sie auszuüben. Wenn sie an diesem Nachmittag nach Smiles zurückkehren wollte, würde er keinen Protest einlegen. Aber sie ging nicht, und er rief Merlin nicht an. Nach und nach wurde ihm klar, daß dies ihre Art war, glücklich zu sein, daß sie beide unermeßlich glücklich waren und Angst vor einer Veränderung hatten. Als an diesem Abend das Telefon schrillte, sahen sie sich mit der Paranoia frisch Verliebter an. Es läutete fünfmal. »Niemand weiß, daß ich hier bin«, sagte sie nervös. »Geh also ran!« Sie tat so, als sehe sie sich seine Platten und Kassetten an und hörte eifersüchtig seiner Hälfte der Unterhaltung zu. BERNARD: Hallo, mein Junge! Ist das nicht wunderbar, das mit der Cronk? SIMON: Oh, hallo! Was für eine Cronk? BERNARD: Hast du keine Nachrichten gehört? Wir haben seit Freitagmorgen vor der Kiste geklebt. Die Excalibur hat die Cronk versenkt, diese abgewrackte kleine Fähre, worauf die Manxies so stolz gewesen sind. Wir erwarten jetzt jeden Augenblick, daß sie sich ergeben, sie haben jetzt keine Chance mehr. Und wir haben Chicken Rock eingenommen.
SIMON: Willst du damit etwa sagen, wegen dieser blöden Sache kommen Menschen ums Leben? BERNARD: Ich hab gewußt, daß du diesen Standpunkt einnehmen würdest. Rose ist genauso. Ich schätze mal, ihr hättet euch von Hitler überrennen lassen. Ich find’s phantastisch, zeigt, wir haben noch immer was vom rechten Geist in diesem Land. Ich werde morgen zu einem Designer gehen und ein Chicken Rock-Zelt entwerfen lassen. Ich nehme nicht an, daß du…? SIMON: Nein. BERNARD: Auf jeden Fall ist’s ein großer Durchbruch für deine Großmutter. SIMON: Tatsächlich? Werden sie sie aus einem Kampfflugzeug werfen? BERNARD: Jetzt versuche doch nicht, mich zu veräppeln. Nächsten Freitag geben sie ‘ne große Show im Palladium. Tribut des Showbusiness an unsere Jungs draußen auf See. SIMON: Aber sie werden dann sicherlich zurücksein? Es ist ja nur ein paar Stunden von Llandudno. BERNARD: ZU deiner Information: Sie halten die Insel besetzt. Wenigstens einen Monat lang. Und sie haben Connie gebeten, einige ihrer alten Songs zu singen. Sie ist völlig aus dem Häuschen. Sie läßt sich ein neues Bühnenkostüm anfertigen, ich höre sie jetzt gerade üben. Es ist wie ein neues Leben für sie. SIMON: Madge muß stinkwütend sein. BERNARD: Was? Ja, es wird ein einmaliger Abend werden. Wir werden königlichen Besuch haben – wir wissen noch nicht, wen –, und Dickie Diamante wird moderieren. Die Brighton Beiles kommen, eine der Schwestern ist vergangenes Jahr abgekratzt, aber Yvonne und Vera werden alte Sachen bringen. ›Taken a Shine to my Sunshine Boy‹, daran mußt du dich doch erinnern? Und ein paar von diesen
Popknaben, ein paar Komiker. Vielleicht Mustafa Brown, obwohl er kein echter Brite ist und einige seiner Witze für einen königlichen Besuch reichlich dreckig sind – also, wirst du kommen? SIMON: Kann ich einen Freund mitbringen? BERNARD: Männlich oder weiblich? SIMON: Öh… weiblich. BERNARD: DU scheinst dir ja nicht sicher zu sein. Haha. Ja, natürlich, toll, wir freuen uns drauf – Rose wird auch kommen. SIMON: Schön. Kann ich jetzt bitte mit Merlin sprechen? BERNARD: Was, jetzt? Ist ein bißchen spät… ich frag deine Mutter… einen Augenblick, bitte. Er kommt gerade aus dem Bad. Madge wickelt ihn in ein Badetuch, damit er sich nicht erkältet – o je, sein Ovomaltine war zu heiß, der arme kleine Kerl hat sich den Mund verbrannt… SIMON: Hallo? Merlin? MERLIN: Hallo. SIMON: Würdest du gern zu mir kommen und bei mir bleiben? MERLIN: In Ordnung. Wann? SIMON: DU kannst nach dieser Show, an der Connie teilnimmt, zu mir kommen, wenn du magst. Freitagabend. MERLIN: Werde ich dann bei dir wohnen? SIMON: Wenn du möchtest. Ich fänd’s schön. MERLIN: In unserer alten Wohnung leben und in meine alte Schule gehen? SIMON: Na ja, klar. Wir werden das schon hinkriegen, wenn du kommst. In Ordnung? MERLIN: Ja. MADGE: Was soll das alles, Simon? Du bringst das Kind ja ganz durcheinander. Du weißt doch, wie sensibel er ist, er wird jetzt überhaupt nicht schlafen. Gerade, als er sich
eingewöhnt hatte. Du hättest herüberkommen und uns fragen sollen, was wir davon halten, du hättest dich ruhig hinsetzen und es durchsprechen sollen. Daß du aber auch immer gleich diese Bomben platzen lassen mußt! SIMON: Ich habe Merlin gefragt, ob er zu mir zurückkommen will, und er kommt zurück. So steht’s. MADGE: Oh, wirklich? Es spielt wohl absolut keine Rolle, was wir wollen, dein armer alter Vater und ich. Wir sind lediglich die Dummen, die ihn zwei Jahre lang zu sich genommen haben, als es dir in den Kram paßte. Da du jetzt also eine neue Freundin gefunden hast, wirst du sie als Babysitter benutzen. Wer ist es? SIMON: Bis Freitag. Bring Merlins Schlafanzüge mit, bitte, wir werden an einem anderen Tag rüberkommen und sein restliches Zeug holen. Geht das in Ordnung? BERNARD: Nein, tut’s nicht. Madge ist jetzt in Tränen aufgelöst, und Merlin völlig durcheinander – warum kannst du nicht taktvoller sein? SIMON: Ich habe mir schon über ein Jahr Gedanken darüber gemacht, wie ich Merlin zurückhole, und das ist das Beste, was ich tun kann. BERNARD: Nun, das ist’s nicht – Oh, meine Liebe, Madge – Merlin, Zeit zum Schlafengehen… SIMON: Tschüs! Bis Freitag. Christy stand jetzt neben ihm und hatte das Ohr so nah an den Hörer gelegt, wie sie sich’s getraute, sie sah und hörte voller Erstaunen zu. Simon sah aus wie kurz vor dem Durchdrehen, und die Stimmen am anderen Ende der Leitung hörten sich hysterisch an. Sie schenkte zwei Gläser trockenen Weißweins aus der Flasche im Kühlschrank ein. »Komm her und setz dich! Ist das immer so, wenn dein Vater anruft?«
»O Gott – ich habe nicht gewußt, daß ich’s tun würde. Es ist alles falsch rausgekommen. Tut mir leid.« »Warum sollte dir das leid tun? Es ist dein Sohn, oder? Warum sollte er nicht herkommen und hier leben?« »Aber es hätte nicht so passieren sollen.« »Es war schon ziemlich erstaunlich, es übers Telefon zu regeln.« »Pure Feigheit. Der einzige Weg, ihnen die Stirn zu bieten, bestand darin, ihnen nicht ins Gesicht zu sehen.« »Deine Mutter hat ‘ne Stimme wie ein Büffel, ich konnte sie drüben beim Feuer hören.« »Wirst du diese schreckliche Show am Freitag durchstehen können? Du mußt ihnen allen gegenübertreten.« »Ich fange wohl mal besser damit an, meine Judokenntnisse aufzufrischen.« »Und Merlin? Es ist abscheulich, soviel von dir zu verlangen…« »Ich werde schon zurechtkommen.« Als der Schreck, der stets bei solchen Szenen mit seiner Mutter in ihm aufstieg, wieder verblaßte, spürte Simon einige Erleichterung darüber, sich vor Christy so vollständig entblößt zu haben. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht, weil ich überhaupt nichts von dir gewußt habe«, sagte sie nachdenklich.
KAPITEL 20
Da Christy kein Fahrrad hatte, gingen sie am Montagmorgen zu Fuß nach Smiles. Es war seltsam, die Route des Marschzugs zurückzuverfolgen, Straßen zu sehen, die noch wenige Tage zuvor für immer geprägt worden schienen und die jetzt ruhig und unverändert aussahen. Sie waren überrascht und enttäuscht davon, daß das Lager dasselbe wie am Freitag zuvor war: als fordere ihr Egoismus, daß die Revolution in ihrem Innern von der äußeren Welt reflektiert werden müsse. Als sie die Wandsworth Bridge überquerten, lösten sie die Arme voneinander und marschierten in einem offiziösen Arbeitsrhythmus weiter. »Ich werde nachsehen, ob Sean nichts zugestoßen ist.« »Ich hole die Vorräte.« Simon blieb an der Bürgersteigkante stehen, wo der UNLaster noch immer Säcke und Kisten ablud. Er würde sich nicht umdrehen und ihr nachsehen oder sie fragen, ob sie an diesem Nachmittag mit zu ihm nach Hause käme, obgleich ihm die Ode des Morgens das Herz gefrieren ließ. Das Lager sah so grimmig und häßlich aus, und sie gehörte viel mehr dazu, als er je dazugehören würde.
Christy ging direkt zu Seans Wohnwagen und klopfte an. »Ja?« »Ich bin’s. Ich wollte mich vergewissern, daß sie dich nicht eingelocht haben.«
Er öffnete, wie üblich in Jeans und dunklem Pullover, die Tür, während er dabei war, den Gürtel zu schließen. »Dafür hast du dir ja ganz schön Zeit gelassen!« »Was ist am Ende des Marschs passiert? Uns hat das Tränengas erwischt, und so konnten wir nicht bis Westminster durchkommen. Dein Gesicht sieht ja wüst aus!« »Die ganze Victoria Street war ein einziges Schlachtfeld. Sie wollten uns ohne Britcard nicht ins Krankenhaus bringen, also haben wir einander hier zusammengeflickt. Es ist ganz schön geplündert worden, und Hunderte von uns wurden in Polizeiautos verfrachtet. Sie haben uns drüben beim Crystal Palace allesamt in diese gigantischen Käfige gequetscht, aber sie mußten uns ein paar Stunden später wieder laufenlassen, weil sie den Platz für eine große Bande von Jugendlichen brauchten, die Britcards gefälscht hatten. Sie werden sich vielleicht noch nicht mal die Mühe machen, uns mit ‘ner Geldstrafe zu belegen, weil sie uns, wenn wir nicht zahlen – und keiner von uns könnte das – wieder einsperren müßten. Oh, und ich verliere vielleicht meine Freiwilligen-Lizenz. Aber mir ist das so oder so scheißegal. Ich bin’s leid, sowas wie eine autoritäre Position zu haben, wenn ich keine Macht habe, sie auch zu gebrauchen.« Während sie ihm zuhörte, fühlte sich Christy auf kindische Weise ausgeschlossen und, viel schmerzlicher, beschämt wegen des gemütlichen Wochenendes. Dieses Gefühl ließ sie Sean gegenüber aggressiv werden und untergrub ihr Glück mit Simon. Sehr angespannt stand sie vor ihm, in Kleidung, die einmal wenigstens sauber roch (Simon hatte eine Waschmaschine), und sie weigerte sich, auf Seans ganz zerkratztes und zerschrammtes Gesicht zu blicken. »Was ist mit Ellen und Beatrice und den übrigen? Haben sie sich zu ihren Gärten durchschlagen können?«
»Haben sie, erstaunlich genug. Haben ihre Kinder und ihre bewegungsunfähigen Angehörigen vor das Unterhaus gelegt – sie wollten sie in der Vorhalle lassen, aber das ist ihnen nicht gestattet worden. Dann haben sie die Zelte aufgeschlagen und die Nacht in den Gärten verbracht. Es waren so viele Kameras und Journalisten da unten, die sich auf diese Verwahrlosung gestürzt haben, daß die Polizei sich wohl kaum getraut hat, sie davonzujagen. Du hättest die Schlagzeilen sehen sollen: ›Slum-Mütter setzen Babies aus!‹ In gewisser Hinsicht jedoch haben sie ihr Ziel erreicht, das muß ich ihnen neidlos lassen.« »Wo sind sie jetzt?« »Sie sind vergangene Nacht mit dem Laster zurückgekommen, sehr zufrieden mit sich. Zumindest liegt jetzt ein bißchen Kampfgeist hier in der Gegend. Und wie war dein Wochenende?« »Gut. Ich bin bei Simon gewesen.« »Ah ja. Wo ist er?« »Bei der Spielgruppe. Ich werde meine Sachen aus dem Wohnwagen holen.« »Du legst dich jetzt ins gemachte Bett, hm?« »Geh, sei doch nicht so altmodisch!« »Geld stinkt nicht. Hat er eine hübsche Wohnung? Voller Antiquitäten und Topfpflanzen? Und eine Britcard mit Goldrand?« »Das Problem mit dir ist, du nimmst die Stereotypen ernst. Du siehst jeden mit einem Einkommen von mehr als zwanzigtausend pro Jahr mit Zylinderhut und Schwalbenschwanz herumlaufen und mit der Peitsche knallen.« »Wann wirst du kündigen?« »Gar nicht. Ich muß nicht im Lager leben. Ich kann meinen Job perfekt erledigen, wenn ich nur jeden Tag herkomme. Jemand anderer kann den Wohnwagen haben.«
»Also gut. Ich werde dann die Grundstücksmakler anrufen und ihnen sagen, daß er zur Verfügung steht.« »Ich habe mir das ganze Wochenende über um dich Sorgen gemacht.« »Ich habe jede Polizeistation in London angerufen, um herauszufinden, was euch zugestoßen ist. Obgleich ich hätte wissen können, daß ihr um alles, was nach Schwierigkeiten riecht, einen großen Bogen schlagen würdet. Er hat bestimmt einen guten Anwalt, da bin ich mir sicher.« Christy drehte sich auf dem Absatz herum und ging, indirekt ziemlich froh darum, daß er so fies war. Sie wollte nicht so tun, als könne es eine Freundschaft zwischen ihnen dreien geben. Sean hatte ein Anrecht darauf, gekränkt zu sein, und sie mochte ihn dafür, daß er’s zeigte. Aber sie wollte ihn aus der Distanz mögen, ihm bei Versammlungen den Rücken stärken und dann mit Simon nach Hause gehen. Als sie die Tür zur Spielgruppe öffnete und ihn dort sitzen sah, mit Dimelza auf den Knien, spürte Christy soviel Liebe zu ihm, daß es fast wie der Anfall einer Krankheit war; die Beine wurden ihr schwach, und das Herz vollführte einen Satz. Sie hielt sich an einem Tisch fest und lachte, weil die Symptome so absurd waren, um so vieles heftiger, als sie’s sich jemals hätte träumen lassen. Für ihr Nervenkostüm war’s ein solcher Schock, glücklich zu sein. Diese ganze Woche über genossen sie ihr Doppelleben. Während des Tages gaben sie sich gelassen und widmeten den Kindern mehr Aufmerksamkeit als üblich. Christy nahm an fast jeder Versammlung im Lager teil, nur um sicherzustellen, daß ihr niemand in den Rücken fallen würde. Aber niemand zeigte sich an ihrem Privatleben interessiert, außer Sean, der ihr niemals über den Weg traute.
An den Abenden kehrten sie in Simons Wohnung zurück, aßen und tranken und redeten und schliefen miteinander, und sie waren noch immer erstaunt darüber, die Freiheit zu haben, alles das zu tun.
KAPITEL 21
Connie saß in ihrer Garderobe und sog die Gerüche ein. Nicht altes, schmieriges Puder-Make-up, sondern ein federleichter, künstlicher Duft; er umschmeichelte einfach die Haut und schmolz nicht unter den Scheinwerfern. Und überall Blumensträuße, so viele wie bei einer Beerdigung und vielleicht sogar mehr. Und Telegramme, darunter eines von Dolly, die sie seit Jahren für tot gehalten hatte und die vielleicht überrascht war, daß sie, Connie, auch noch immer lebte. Stark. Sie nahm einen kräftigen Schluck Brandy mit Soda, niemand hatte ihr gesagt, sie dürfe das nicht, und sie überlegte, wie stark sie wäre, wenn man sie das hier jeden Abend tun ließe. Der Brandy brachte ihr den dunklen Samt in die Stimme zurück, nicht zu warm, etwas Rätselhaftes blieb an jenen lang ausgehaltenen Tönen. Die Truppen waren aus dem Häuschen gewesen, als sie den Song in Kairo gesungen hatte. Sie beugte sich vor, um ihr Spiegelbild zu mustern. Sie hatten sie’s nicht selbst tun lassen. Sie war mit ihrem alten LeichnerKasten aufgetaucht, und sie kannte jeden Strich an ihrem Bühnengesicht, obgleich sie ein wenig zittrig war. Dieses Mädchen hatte gute Arbeit geleistet; sie sah nicht einen Tag älter aus als neunundsechzig, und ziemlich lasziv, so insgesamt gesehen. Niemals bin ich weniger als eine Stunde vorher eingetroffen. Das Theater ist noch völlig verlassen, außer den Journalisten draußen, und niemand treibt sich auf den Fluren herum. Heutzutage steigen die Stars wahrscheinlich direkt aus dem Taxi auf die Bühne, zumindest sehen sie so aus. Ursprünglich hatte Bernard Champagner versprochen, aber es sähe ihm ganz
ähnlich, wenn er ihn vergäße. Immerhin hatte er die Blumen geschickt. Sie werden bald hier sein, aber mir geht’s nicht um sie, mir geht’s um die jüngeren, die haben mich niemals als echte Frau gesehen. Zeige ihnen, daß nicht alle Frauen wandelnde Nylon-Puddings sind wie ihre Mutter. Stehvermögen, das braucht man, vielleicht wird das hier der Beginn einer neuen Karriere. Talent altert nicht. Und stell dir vor, dieser überkandidelte Hitler wäre noch immer am Leben und würde wieder Krieg gegen uns führen, also, eines mußte man dem alten Hund ja lassen, Mumm hatte er, müßte jetzt bestimmt längst über die Hundert hinaus sein. »Sollen wir dann jetzt das Kleid anziehen, meine Liebe?« Diese Garderobiere ist ein Fehlgriff, sie redet wie eine Krankenschwester. Und sie schüttet zuviel Soda rein. Ah, dieses glänzende Schwarze, ist wie Schlangenhaut, paßt vollkommen, obwohl die Verarbeitung nicht die gleiche ist. Es wird nach dem heutigen Abend auseinanderfallen. Nicht, daß das etwas ausmachte. Ich war mir nicht sicher mit den Schlitzen, aber es sind noch immer dieselben Beine, sogar dünner. Ich muß ihnen das geben, woran sie sich erinnern, und sie werden sich erinnern, das weiß ich, ich erhalte noch immer Briefe. Da war vor einigen Jahren dieser Brief von dem Mann da in Worthin, der eine neue Art von Delphinarium nach mir benannt hat. »Bring mir das Haar nicht durcheinander!« Es glänzte in kupferfarbenen Löckchen. »Schon gut, meine Liebe, gleich richten wir’s noch mal her. Da, sehen wir nicht hübsch aus?« Tust du nicht, du fette verrunzelte Alte! Der Reißverschluß rutschte zum Nacken hinauf. Maurice pflegte zu sagen, sie habe einen Rücken wie ein schneebedeckter Felssturz; er hatte gelegentlich Geistesblitze. Connie starrte verzückt und bewundernd das Spiegelbild ihrer
großartigen Erscheinung an, ehe sie sich den Vorboten der Langeweile zuwandte. Madge flüsterte der Garderobiere hinter den Blumen zu: »Wie geht’s ihr, Caroline?« »Der Blutdruck ist ein bißchen hoch, aber nicht zu hoch. Wir bringen sie am besten sofort ins Bett, wenn sie ihre kleine Vorstellung beendet hat.« »Was in aller Welt trinkt sie da?« »Lediglich einen Schluck Brandy, mit Soda verdünnt. Diese Flasche da, die Ihr Mann hält, ist das nicht…?« »De Luxe Apfelschaumwein. Meinen Sie wirklich, Sie könnten zurückkommen und sich um sie kümmern? Das wäre eine solche Hilfe. Wir versuchten, sie ins Altersheim zu bringen, aber die Warteliste ist endlos lang.« Bernard, einen Union Jack im Knopfloch, öffnete affektiert die Flasche und schenkte acht ziemlich kleine Gläser voll. »Auf die legendäre alte Dame! Und auf unsere tapferen Jungs in Douglas!« Connie spie aus. »Wirklich, Bernard, kannst du dir keinen guten Champagner mehr leisten? Katzenpisse!« Simon und Rose küßten ihr die glänzenden Wangen und schoben Merlin nach vorn. »Du siehst gut aus, Großmama. Ich möchte dir Christy vorstellen.« »Wer ist das? Das Kindermädchen?« Merlin kicherte, und Christy dachte, hoffentlich sterbe ich, ehe ich das Alter erreiche, wo ich’s für komisch halte, alles zu sagen, was mir gerade durch den Kopf geht. Altes Ungeheuer. Christy hatte ihren einzigen Rock angezogen, und der war durch das Bügeln auch nicht besser geworden. Sie war verlegen. Simon legte den Arm um sie, und Connie wurde klar, daß sie sowas wie eine Freundin sein mußte. »Besser als nichts«, murmelte sie.
Neben seinem Vater stehend, versuchte Merlin zu glauben, daß er in dieser Nacht in seinem alten Zimmer schlafen würde. Er fragte sich, ob die Frau mit den schrecklich alten Kleidern auch dort wohnte. Er hatte seinen Vater anscheinend niemals ganz für sich allein. Aber sie lächelte ihn ziemlich nett an; versuchsweise lächelte er zurück. Die alte Hexe schnitt schreckliche Grimassen und berührte seinen neuen Anzug mit ihren Klauen, die am heutigen Abend purpurrote Krallen hatten. »So mußt du dich an mich erinnern, mein Kleiner. Verstehst du? Nicht als muffig riechende alte, in einem Zimmer eingeschlossene Hexe.« »Niemand hat dich je eingeschlossen, Mutter«, sagte Bernard und blickte dabei Caroline nervös an. Christy dachte, wenn sie nicht soviel Geld hätte, würde sie in Hauseingängen krakeelen und sich an alten Zeitungen festhalten. Die Reichen können stilvoll verblöden. Sie war dankbar über Roses Erscheinen. Christy gefiel ihr gedrungenes, intelligentes Gesicht, das gerade jetzt freundlich dreinblickte. Connie sprang auf. Ihre Verwandten küßten sie voller Enthusiasmus und klopften ihr auf den Rücken, als Caroline sie wegführte. Christy dachte, das ist alles sehr seltsam. Soviel Höflichkeit, so viele Küsse und soviel offensichtliche stumme Abneigung. Simons Mutter sah sie unentwegt an, als sei sie eine Küchenschabe, die an Herpes litt. Wann immer sie jedoch Christys Blick auffing, lächelte sie strahlend. Christy hielt sich an Simon und an Rose, die offenbar wirklich vertrauenswürdig war. Der kleine Junge blickte sie gleichfalls unentwegt an. Christy wollte ihn an die Hand nehmen, war sich jedoch unsicher, wie man mit einem so wohlerzogenen Kind umgehen müsse. Er sah aus wie die Miniaturausgabe eines Bankmanagers.
»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Rose, während sie zu ihren Plätzen gingen. »Wie ich gehört habe, gibt es dort draußen Menschen, Kinder und Erwachsene, die sich ihren Lebensunterhalt damit verdienen, daß sie bei Ebbe die Abwasserkanäle und das Flußufer absuchen.« »Stimmt. Schlammlerchen und Filzer. Einige davon leben in Smiles. Vergangenen Monat ist ganz bei uns in der Nähe ein kleines Kind ertrunken, als es ein Gewitter gegeben hat und die Kanäle überflutet worden sind. Es ist schrecklich gefährlich.« »Ich möchte gerne darüber schreiben. Würden Sie mich bitte einmal dorthin führen, so daß ich mit ihnen reden kann?« »In Ordnung.« »Vielen Dank. Und werden Sie und Simon kommende Woche einmal zum Abendessen zu mir kommen? Und Merlin?« »Ja, gerne.« Jemand rief, Frankie habe sie gleichfalls eingeladen. Simon zieht einen Rattenschwanz von Folgen nach sich, dachte Christy erschöpft. Innerhalb weniger Tage hatte sie eine Wohnung bekommen, ein Fahrrad, verschiedene honorige Freunde und eine Art Stiefsohn. Das Theater war mit Ballons, Flaggen und Wimpeln geschmückt, die Gott daran erinnerten, auf wessen Seite Er stand. Eine Militärkapelle spielte einen Medley aus Prunkmärschen. Der Manager des Hauses hielt eine kurze Ansprache, worin er verkündete, daß der Verkaufserlös aus dem breitgefächerten Souvenirangebot bereits zehntausend Pfund betrage. Fast jeder war in Abendrobe erschienen und kannte jeden anderen. Zumindest kam’s Christy so vor. Sie fielen unter Kreischen und Wiehern übereinander her. In der ersten Reihe, nur wenig von ihnen entfernt, hielten sich die Rücken militärisch steif und gerade. Die königliche Loge über ihr war unmißverständlich von Scheinwerfern erleuchtet. Sean
hätte, äußerst heftig und anarchisch, gesagt, daß man sie jetzt mit einer einzigen Bombe alle auf einmal kriegen könne. Es war so unpassend, hier zu sitzen und mit Rose über Abwasserkanäle zu reden. Lange ehe sich der Vorhang (für diese Gelegenheit mit Löwen, Einhörnern und Manx-Katzen dekoriert) hob, waren die Gespräche erstorben, als sei die Spannung dieser zeitlich begrenzten und teuren Allianz zwischen dem Königshaus, dem Militär und den Medien unerträglich. Es war eine Erleichterung, als sie für die Nationalhymne aufstehen mußte. Connie lag auf ihrer mit blutrotem Brokatstoff bezogenen Chaiselongue in den Seitenkulissen. Bei den Proben hatte es eine Debatte gegeben, ob sie einen Tango quer über die Bühne zur Chaiselongue tanzen oder ob sie hereingefahren werden und bereits verführerisch darauf liegen sollte. Sie war bei ihrem zweiten Versuch, Tango zu tanzen, gestürzt, also hatte man eine andere Lösung gefunden. Dickie Diamante würde sie als Frau einführen, die Millionen von Tommies das Herz gebrochen hatte. Daraufhin würde er die Arme heben, ein Signal für Caroline, der Chaiselongue einen kräftigen Stoß zu geben. Sie sollte auf Rollen zur Mittelbühne gleiten. Das war der einzige Augenblick ihrer Vorstellung, der Connie nervös werden ließ. Was, wenn sie nicht ganz bis dahin käme, oder wenn sie die Markierung überschritte und in den Orchestergraben stürzte? Doch das Mädchen war wohl muskulös genug. Dickie tauchte auf, in seinem birnenförmig geschnittenen weinroten Samtanzug. »Alles klar, meine Liebe?« »Alles klar. Ich habe mir nur gedacht, ich werde hier warten – ich stehe doch nicht im Weg, oder?« »Mrs. Freeman sollte nicht zuviel herumgeschoben werden«, flüsterte Caroline vernehmlich.
»Hübsche Atmosphäre hier. Wie in Dünkirchen«, murmelte Connie und schloß wieder die Augen. »Können Sie sie nicht zurück in die Garderobe bringen? Sie ist erst in vierzig Minuten dran, wir werden alle über sie stolpern.« »Es wäre nicht sehr gescheit, sie jetzt wegzubringen.« »Verdammt, diese alten Wracks. Wir haben noch eins davon, das hat man in der Öffentlichkeit nicht mehr gesehen seit Waterloo. Fragt unentwegt nach türkischen Zigaretten. Da lobe ich mir doch die Zeitgenossen, die die Würde besitzen abzukratzen, ehe sie zu Museumsstücken werden. Da, jetzt spielen sie die Hymne!« Er zitterte vor Nervosität, erinnerte sich selbst daran, sich der königlichen Loge gegenüber von der besten Seite zu zeigen. Connie verspürte angesichts seiner Boshaftigkeit einen Schlag von Nostalgie. Aber sie würde nicht zurückknurren, weil er noch immer einen großen Namen hatte, und man konnte ja nie wissen. Sie winkte Caroline zu sich, und die beugte sich zu ihr herab. Connie krächzte ihr ins Ohr: »Vor Jahren, als er sich das Gesicht zum erstenmal liften ließ, nannte man ihn gewöhnlich die Diamantenkönigin.« Es ist so schön, einfach nur hierzusein, umgeben von lustigen, prächtig ausstaffierten Leuten (prächtig auf jeden Fall im unergründlichen Sinne des heutigen Standards), mit Hunderten von anderen, die dort draußen in der Dunkelheit warteten. Niemals hätte es so etwas wie Schlaflosigkeit oder Krankheit oder Schwierig-Sein gegeben, wenn ich hätte weitermachen können. Hier ist jeder schwierig, also spielt’s keine Rolle, wir spucken und kratzen und trinken dann zusammen. Als ich jung war, war ich niemals allein. Stets ausgegangen nach der Show, in ein Restaurant oder in den Club, und alle Kellner liebten mich. Ein gekochtes Ei mit Horlicks, falls Madge ihren großzügigen Tag hat.
»Connie!« »Delilah!« Sie stürzten sich lärmend in die Arme, und der Abendregisseur, der von keiner der beiden je gehört und gedöst hatte, seitdem Connie auf ihrer Chaiselongue aufgetaucht war, sagte ihnen, sie sollten ‘ne Fliege machen, woraufhin sie sich gleich um Jahre jünger fühlten. Von ihren Garderobieren begleitet, gingen sie in Delilahs Garderobe, die kleiner als Connies Garderobe war, und wo auch weniger Blumen standen. Sie setzten sich auf ein Sofa und musterten einander, verglichen einander gierig. »Ich gehe nur eben ein Sandwich essen, Mrs. Freeman«, sagte Caroline und verschwand. »Es war Angmering.« »Nein, Brighton. Die Royal Albion.« »Maurice ist gestorben, nicht? Auch Terry, vor langen Jahren.« »Vielleicht werden wir jetzt ja wieder heiraten.« Beide lachten. Als sie einen Blick in den hell erleuchteten Spiegel warf, sah Connie zwei glückliche Gesichter, eine Brünette und einen Rotschopf, wirklich alterslos. Delilah sah überhaupt nicht schlecht aus. »Trinkst du noch immer?« fragte Connie hoffnungsvoll. »Wenn ich an was drankommen kann. Brandy?« Sobald ihr das köstliche Feuer die Kehle hinablief, wußte Connie, daß das echt war und daß sie’s seit Jahren nicht mehr geschmeckt hatte. Dieses Mädchen hatte sie übers Ohr gehauen. Sie kippte es in zwei Schlucken runter und hielt das Glas hin. »Du alter Teufel! Haben sie dich noch nicht auf den Wagen gesetzt?« »Was für einen Wagen? Oh, du erinnerst dich an ›Bandwagon‹?«
»War das nicht riesig? So romantisch. Welche Nummer bringst du?« »Ich bringe drei. ›Eine andere Frau‹, ›Quäl mich nicht‹ und ›Fascination Tango‹. Und du? Ich weiß, sag’s nicht, ›RSVP in Heaven‹.« Das war Dalilahs einziger großer Hit gewesen, schrecklich schmalzig. »Völlig richtig. Was meinst du, erinnern sie sich noch an uns?« »Wie könnte uns jemand vergessen?« Connies Strebertum und Zuversicht, jene unbarmherzige Art, stets zu wissen, was sie wollte, waren jetzt weniger widerlich. Delilah erinnerte sich, und war schockiert darüber, daß sie sie vor vierzig Jahren gehaßt hatte. Connie war ihr stets voraus gewesen, war berühmter gewesen, reicher, besser gekleidet und auf aggressive Weise bereit, das auch deutlich zu zeigen. Ihr Stil, wenn auch überwältigend, war überhaupt nicht englisch gewesen. Delilah erinnerte sich an eine Situation, als Connie mit einem neuen schwarzen Kleid in ein Restaurant geschritten war und den Pianisten – war’s Bunny Haskins gewesen? – so lange angestarrt hatte, bis er für ihren Auftritt aufgehört hatte zu spielen. »Was ist aus deinem Jungen geworden?« »Bernard? Oh, er steht jetzt draußen im Rampenlicht. Verheiratet, zwei Kinder, hat niemals Geld gemacht, erst vergangenes Jahr. Seine Frau macht mir das Leben zur Hölle.« »Du siehst aber nicht sehr angebrannt aus, Connie.« Zwanzig Minuten lang belebte ihre Vitalität alle beide. Sie sprühte, allein mit einem Spiegel und einer Frau, die sie stets hatte überflügeln können. Und die, da war sie sich jetzt ziemlich sicher, eine Perücke trug, wie einen schwarzen Nylonbesen hatte man sie ihr auf den Kopf gesetzt. Die Gläser wurden eifrig nachgefüllt, bis Caroline zurückkehrte und sie daran erinnerte, daß es an der Zeit war, loszugehen.
Die beiden alten Frauen blickten sich erschrocken und angeheitert an, küßten sich und tauschten Telefonnummern aus. Als Caroline sie zur Chaiselongue führte, roch sie den Brandy. Verdammt, dachte sie, jetzt wird mir ihre Schwiegertochter keine Empfehlung schreiben. Wie Caroline wußte, würde Mrs. Freeman kaum noch eine oder zwei Wochen machen, und sie wollte sich für einen Job als Kindermädchen für die fünf Kinder von Hieronymus Gunk in Eaton Square bewerben. Sie hatte die Nase voll von diesen Senilen. Connie lag keuchend auf der Chaiselongue. Mein Herz hämmert wie eine Flakkanone, sagte sie sich. Meine Stimme wird eine halbe Oktave hinuntergerutscht sein, verdammt, ich frage mich, ob ich wohl irgendwelche Kritiken bekomme. Ein Star ist wiedergeboren, solche Texte schreibt man nicht mehr, eine lebende Legende beehrte vergangenen Abend die Bühne des Palladium mit ihrer Anwesenheit. Mein Gott, wie das hämmert… es will nicht aufhören… lächle… »Zunächst möchte ich Ihnen einen Song singen, an den sich manche von Ihnen noch erinnern und den einige von Ihnen zum erstenmal hören werden. Ich habe diesen Song zum erstenmal im Jahre 1939 gesungen: Eine a-handere Frau Streichelt dies braune Haar Hä-hält deine Hand, mein Lieber Doch kümmert’s mich nicht. Ich kenne die and’re Das bin i-hi-hiiich. Ich bin bei dir, wenn du wachst Ich bin bei dir, wenn du weinst Ich helfe dir mit deinem Gewehr
Und deiner glänzenden Montur. Du kennst diese andere Frau Das bin i-hi-hiiich. Wenn Hitler eines Tages geschlagen Wie werden wir glücklich sein Zwei Turteltäubchen in einer Hütte Und später vielleicht auch drei-eieiii. Bis dahin die andere Frau Das bin i-hi-hiiich.« Während der Ausschnitte aus Heinrich V. Hieronymus Gunks Scrapheap Rock-Version von Land of Hope and Glory und Mustafa Browns Anspielungen auf die Potenz der Manxies hatten Christy, Simon und Rose miteinander getuschelt und waren unruhig auf ihren Sesseln hin- und hergerutscht. Dort im Dunkeln beieinander zu sitzen und sarkastische Bemerkungen zu flüstern, hatte sie einander nähergebracht. Dann schoß Connie auf die Bühne, rot und weiß und schwarz, und sie brachte ihren Song in einer Art Sprechgesang, arrogant und gelangweilt, fast einen Schlag hinter der Begleitmusik zurück. Auf der Bühne hatte sie noch immer Präsenz. Simon und Rose wurde klar, daß sie vor Jahrzehnten ein echtes Talent gewesen sein mußte. Sie hatten diesen Song das ganze Leben gehört, knisternd und knackend hinter einer verschlossenen Tür, von Bernard gesummt oder gepfiffen, wenn er glaubte, seiner Sohnespflicht nachkommen zu müssen. »Großartig, für fünfundneunzig«, murmelte er jetzt. »Sie hat getrunken.« Madge machte im Geiste eine Notiz, Caroline zu feuern. Christy fand Gesicht und Stimme grotesk, ein Skelett, das ein paar Tricks vorführte. Die runzlige Haut am Hals warf sich fürchterlich, und am Schluß des letzten, sich hinziehenden ›ihi-hiiich‹ erfolgte ein kratzendes, krächzendes Geräusch wie…
»Warum steht sie nicht auf, und warum winkt sie mit den Armen?« fragte Merlin, als Connie weiterhin auf ihrer Chaiselongue liegenblieb. Der Applaus wurde zögerlich. Bernard versuchte ein schwaches ›Bravo!‹, und der Orchesterleiter reichte ein Bukett zu Connie hoch. Aber sie nahm es nicht. »Undankbare alte Schachtel«, sagte Madge, die genau wußte, wie sie lächelte, wenn sie ein Bukett im Empfang nahm. »Nein, Liebes, ich glaube, da stimmt was nicht.« »Vom Rausch benebelt, schätze ich mal.« »Ich glaube, sie ist tot«, sagte Christy, die eine Menge Menschen hatte sterben sehen. Bei diesem Wort kreischte Madge auf, die militärisch aussehenden Leute in der ersten Reihe drehten sich um und funkelten sie pikiert an, und Bernard hoffte, Simons neue Freundin würde sich nicht als Störenfried entpuppen. »Na ja, die Menschen sterben nun mal«, sagte Christy entschuldigend. Der Vorhang senkte sich. Dickie Diamante und Mustafa Brown kamen als Sergeant und Corporal verkleidet heraus und rissen ein paar Witzchen. Ein Platzanweiser stolperte die Reihen entlang und hielt Ausschau nach jemandem. »Ist Mr. B. Freeman hier?« »Ich sach ich sach ich sach hasse heute schon diese Stiefel da jeputzt?« »Sind Sie Mr. B. Freeman?« »Nein, bin ich nicht. Setzen Sie sich hin!« »Wat issen der Unterschied zwischen ‘nem Paar dreckiger Stiefel unnem Manxie-Kahn?« »Hier bin ich. Was ist los?« »Der eine stinkt, und der annere auch.« (Gelächter.) »Würden Sie bitte mit auf die Hinterbühne kommen? Es ist Ihre Mutter.«
»Hallo, wer da?« »Douglas.« »Douglas wer?« »Douglas Wer-einigt-das-Königreich.« (Tosender Applaus und ›Hört! Hört!‹-Rufe in Richtung auf die königliche Loge.) Man hatte Connie in ihre Garderobe gebracht, noch immer auf der Chaiselongue. Ein Arzt untersuchte sie, und Madge bemerkte irritiert, daß sie nicht im geringsten friedlich aussah. Ihr stand der Mund offen, als wolle sie schnarchen oder noch einmal diesen schrecklichen Song singen, und ihre Augen schimmerten voller Erstaunen. Bernard kniete knarrend neben ihr nieder. Madge wandte sich an Caroline. »Wie viele Drinks haben Sie ihr gestattet?« »Ich bin nur mal eben zum Abendessen weggegangen. Mir steht eine halbe Stunde Pause zu, hat die Agentur gesagt. Als ich zurückgekommen bin, hat sie mit ihrer Freundin da getrunken.« »Mit wem? Sie hatte keine Freundin.« »De Lulu hieß sie, glaube ich. Eine der Künstlerinnen. Etwa im gleichen Alter wie Ihre Schwiegermutter.« »Delila Potzenberg. RSVP in Heaven«, sagte Bernard, noch immer kniend. »Hör schon auf mit der Beterei und steh auf! Wir sind nicht religiös, um Gottes willen!« »Respekt, Madge!« »Möchten Sie jetzt den Totenschein, Mr. Freeman?« »Na dann, auf Wiedersehen, Mrs. Freeman… Mr. Freeman. Tut mir leid…« »Nichts da, sich hier einfach verdrücken wollen! Ich werde morgen früh die Agentur anrufen. Es ist fast so, als hätten Sie sie umgebracht!« An der Tür begegnete Caroline einer Menge von Journalisten.
»Irgendein Verdacht, daß etwas faul ist?« »Tut mir so leid, Ihren privaten Kummer zu stören, Mr. Freeman, aber könnten Sie Ihre Gefühle in diesem Augenblick beschreiben?« »Würden Sie sagen, Ihre Mutter war eine zutiefst patriotische alte Dame?« »Guten Abend, Mr. Freeman, Mrs. Freeman. Mein Beileid. Nicht gerade im engsten Familienkreis dahingegangen. Vielleicht hätte es die von uns allen Geliebte so gewollt? Ich weiß, sie war ein sehr großer Star. Hätte sie Ihrer Ansicht nach Teak oder Pinienholz bevorzugt? Wir haben draußen eine Auswahl. Teak? Satin oder Kunstseide? Aber natürlich. Ein Abendanruf kostet zusätzliche Gebühr. Tut mir schrecklich leid, daß ich Sie so zur Eile dränge, aber hier in der Gegend gibt es eine Menge Krematorien. Vielleicht sollten wir morgen früh zu Ihnen kommen, um das Arrangement für die Beerdigung durchzusprechen? Wenn die ersten Scharten Ihres Kummers geheilt sind, um’s so auszudrücken.« »Scharten können nicht heilen«, sagte Madge scharf. »Natürlich nicht, Mrs. Freeman, diese Wunden gehen sehr tief.« Später versammelten sie sich alle auf dem Bürgersteig vor dem Theater. »Zumindest wird sie ein paar Nachrufe bekommen«, sagte Rose, ehe sie sie küßte und ein Taxi rief. Merlin stand zwischen Simon und Christy und hielt beide fest an der Hand. Madge wurde in einem Anfall von Einsamkeit klar, daß sie und Bernard in ein leeres Haus zurückgingen. »Nicht weinen!« sagten Bernard und Simon gleichzeitig, als sie damit anfangen wollte. »Armes altes Ding. Sie war wirklich sehr tapfer. Ich werde sie vermissen… und jetzt geht Merlin auch noch…« »Warum weint Großmama?«
»Der Tod ist etwas Trauriges«, sagte sein Vater. »Auch im Krieg? Wenn in diesem Krieg auf der Isle of Man Soldaten sterben, ist das dann traurig?« »Das ist kein Krieg, das ist eine Krise«, sagte sein Großvater und bückte sich, um ihn affektiert zu küssen, ehe er Madge in ein Taxi bat.
KAPITEL 22
Am Samstagmorgen kam Merlin zu ihnen ins Zimmer und setzte sich auf ihr Bett. Christy umarmte ihn schlaftrunken, wie sie stets die Kinder in Smiles umarmt hatte, wenn sie zu ihr in den Wohnwagen gekommen waren. Steif, mit geschlossenen Augen, als habe es Angst, wälzte sich das Kind ins Bett und in ihre Arme. Bei seinen Großeltern war er sich niemals sicher gewesen, ob er das tun sollte oder nicht. Er hatte sich gewöhnlich angekleidet, ehe er deren Schlafzimmer betreten hatte, und er war auf jeden Fall verlegen gewesen, wenn er die riesigen Delphinen ähnlichen Monumente im Bett hatte liegen sehen. Ihr Haus war zu groß gewesen, nichts zum Knuddeln. Mit den Ausmaßen dieser Wohnung, und denen seiner neuen Eltern, kam er besser zurecht. Und eine Stiefmutter war fast so gut wie eine Hexe in einem Schloß, obwohl sie nicht besonders böse erschien. »Jetzt sind wir also eine Familie«, sagte Christy beim Frühstück, nach einem steifen und etwas peinlichen Morgen. Alle fühlten sie sich mehr oder minder wie eine Fehlbesetzung, zu einer Intimität gedrängt, die sich über Jahre hätte entwickeln sollen. Dennoch bestand kein Zweifel daran, daß sie einander brauchten. Es waren seltsame Augenblicke, wenn sie sich das zugaben, wenn sie einander jäh streichelten oder in dreifaches Gelächter ausbrachen. Sie hatten noch nicht genügend Vertrauen zueinander gefaßt, daß sie den anderen alleingelassen hätten, also aßen, redeten, spielten sie den ganzen Tag über gemeinsam und kauften auch gemeinsam ein, strapazierten dabei ziemlich ihre jeweiligen Persönlichkeiten.
Christy stand auf der Schwelle zu Merlins Zimmer und sah ihm zu, wie er auf seinem Schaukelpferd ritt, vorsichtig, als könne es jeden Augenblick durchgehen oder ihn abwerfen. Schließlich hat Rachel doch noch ihren Enkel bekommen, dachte sie. Dann hatte sie eine Idee und rannte ins Wohnzimmer. »Simon! Laß uns zu meiner Mutter fahren! Wir alle. Wir haben dort genügend Platz und ein bißchen Zeit zum Nachdenken.« »Wird sie uns wollen?« »Ja.« »Aber du bist gerade erst in Ferien gewesen.« »Ich weiß. Ich werde sagen müssen, sie sei krank. Ich weiß, es ist gelogen, aber einer von uns wird’s bald sein, wenn wir so weitermachen.« »Wie weitermachen?« »Uns wie eine vorgestanzte Molekülfamilie abschotten.« »Also gut. Wir werden fahren.« »Ich gehe morgen nach Smiles und versuche, es zu arrangieren.« »Soll ich auch mitkommen?« »Nein. Du bist Freiwilliger, du mußt nicht um Erlaubnis fragen, für eine Woche wegbleiben zu können.« Also ließ er sie am Sonntagnachmittag gehen und versuchte, sich nicht mit der Vorstellung abzuquälen, was für eine Szene zwischen ihr und Sean abliefe. Merlin nahm die Aussicht auf Ferien sehr ernst. »Ich habe nichts anzuziehen. Meine Sachen hier sind alle zu klein, und die anderen sind bei Großmama.« »Nimm einfach das mit, was du jetzt anhast.« »Aber das ist mein bester Anzug!« »Merlin, das macht nichts. Kleidung zählt nicht.« »Wie werden wir hinkommen?«
»Per Anhalter.« »Aber das ist Betteln. Großmama hat gesagt…« »Sieh mal, du wirst jetzt bei uns leben. Wir alle müssen einander achten. Und wir gehen hier anders mit den Dingen um.« Später, als ihn Simon zu Bett brachte, meinte Merlin: »Es macht mir wirklich nichts aus, arm zu sein.« Es war noch immer hell. Er sollte sich um sie keine Sorgen machen, bis es dunkel wäre. Sie muß eine lange Unterredung mit… Die Türklingel ging, in jenem schrillen schweren Tonfall, den nur Bernard oder die Polizei hervorrufen konnten. Simon ging in Merlins Zimmer, nachsehen, ob er gestört worden war, dann ins eigene Zimmer, das zur Straße hinausging. Er spähte durch die Vorhangritzen hinaus. Er hatte diese Technik, nicht zu Hause zu sein, während der Monate nach Jessicas Tod perfektioniert, und er schämte sich darüber, wie leicht er sie jetzt wiederbelebte. Wenige Meter rechts von ihm stand Madge auf den Stufen, mit einem großen Korb und einem Koffer, und sie sah aufgedunsen und verletzt aus. Bernard stand neben ihr und hielt sie beim Arm, er runzelte die Stirn und blickte mißbilligend auf die Tür. Beide senkten die Stimmen, aber Simon konnte sie dennoch durchs Fenster verstehen. »Ausgegangen«, grunzte Bernard. »Ich hoffe, sie haben ihn nicht alleingelassen.« »Er wird wieder in diese primitive Schule zurück müssen.« »Na ja. Wir haben getan, was wir konnten. Lassen wir den Koffer hier auf den Stufen stehen.« »Aber jemand könnte… ist hier nicht wie bei uns, weißt du?« Wovor habe ich jetzt Angst? dachte Simon ärgerlich und öffnete die Vordertür. »Hallo! Tut mir leid, daß es gedauert hat, ich habe gerade Merlin zu Bett gebracht.«
»Wir haben seine Sachen mitgebracht. Und in dem Korb hier ist Hähnchen mit Bananencreme, sein Lieblingsessen.« »Danke, Madge. War es schwer, Großmamas Begräbnis zu arrangieren?« »Es war alles sehr quälend für deine arme Mutter. Aber sie haben uns morgen dazwischengequetscht, Golder’s Green Krematorium, um Viertel nach neun. Früh, fürchte ich. Werdet ihr alle…?« »O ja, wir werden kommen.« »Sehr traurig.« Und einen seltenen Augenblick lang verlor Bernards Gesicht seine Patina und wirkte schrecklich traurig. Simon sah, daß ihn der Tod seiner Mutter getroffen hatte. Fast sofort jedoch gewann er seinen Optimismus zurück. »Doch, was ist mit Giant’s Grave, hm?« »Was soll damit sein?« »Kaufst du dir eigentlich nie eine Zeitung, oder siehst du nie fern? Sie hissen dort einen Union Jack. Und in Oghaminschrift ∗ wird drauf stehen ›Rule Britannia‹. Wie ich jedoch annehme, wirst du das für Blödsinn halten.« »Ja. Für häßlichen, schändlichen, gefährlichen Blödsinn. Auf jeden Fall werden wir euch morgen sehen. Danke dafür, daß ihr Merlins Sachen gebracht habt.« Madges beleidigter Kuß war eine Rüge dafür, daß er sie nicht hineingebeten hatte. Ein paar Minuten später schloß Christy auf und erwischte ihn an den Vorhängen. »Simon! Was tust du da?« »Ich warte auf dich.« Sie umarmten sich in dem dunklen Zimmer. Sie wollte über seine Leidenschaft lächeln, war jedoch davon gerührt. »Ich habe meine freie Woche.«
∗
altirische Schrift – Anm. d. Übers.
»Gut. Dann werden wir morgen fahren. Ich fürchte, zunächst werden wir zur Begräbnisfeier meiner Großmutter müssen… du mußt natürlich nicht mitkommen.« Aber sie erschienen alle, in Anoraks, mit Rucksäcken und Blumen. »Nicht viele Trauergäste. Nur drei der sieben Zwerge«, sagte Madge ätzend zu dem Mann, der sie in die mit glattem Pinienholz ausgelegte weltliche Kapelle ließ. Man konnte jede religiöse Form bekommen oder keine, und Connie hatte keine bestimmt. Sie waren lediglich zu zehnt, über die Bänke verteilt, Bernards Anwalt Sammy, dessen Frau und Delilah eingeschlossen, die noch immer schluchzte. Sie war schockiert, weil Connie letztlich doch unterzukriegen gewesen war. Ununterbrochen dachte sie daran, daß die arme alte Connie acht Jahre älter als sie gewesen war. Alle Frauen außer Christy trugen schwarz, und alle Männer außer Simon trugen dunkle Anzüge. Ein Mann, der ihr niemals begegnet war, rief salbungsvoll Connies Vorzüge ins Gedächtnis zurück, ihre betörende Schönheit, ihre Freundlichkeit und Fähigkeit als Frau und Mutter, ihr langer Kampf mit einer schmerzhaften Krankheit und nicht zuletzt ihre heroische Beharrlichkeit dabei, dem Land, das sie liebte, zu dienen. Rose und Simon versuchten, den Blick des anderen zu meiden, aber Rose entfuhr ein Kichern, als der Mann von Connie sagte, sie habe ›ihre Tage am Busen einer ihr nahestehenden und sie liebenden Familie beendet‹. Madge wandte sich um und funkelte sie an. Dann warteten sie alle und starrten nervös auf die Schiebetüren aus Pinie, die in die Wand vor ihnen eingelassen waren. Von irgendwoher unterhalb des Fußbodens ertönte ein schleifendes Geräusch, das in schrecklicher Weise an die Vorgänge in der Hölle eines mittelalterlichen Gemäldes erinnerte, dachte Simon. Als sich die Türen schließlich
öffneten, schoß Connies Sarg heraus und erinnerte sie alle dabei an ihre Chaiselongue vor ein paar Tagen. Sie gingen hinaus ins trübe Sonnenlicht, und Christy roch den Rauch, der den Vorgang so unangenehm irdisch werden ließ, wie beim Kochen. Hunderte von Tausenden von Urnen, alle hübsch aufeinandergestapelt. »Wir geben zu Hause eine kleine… öh… Party, wenn jemand von euch mitkommen möchte.« Madge starrte Sohn und Tochter hart an. »Ich muß zur Arbeit zurück, fürchte ich«, sagte Rose. »Und wir fahren in Ferien.« Simon hob seinen Rucksack und schwang ihn sich auf die Schulter. »Per Anhalter«, fügte Merlin verteidigend hinzu. »Ferien? Wohin?« wollte Madge wissen. »Wir fahren nach Devon, meine Mutter besuchen.« »Wo denn genau in Devon?« fragte Madge mißtrauisch. »In die Nähe von Bodmin. Sie hat ein etwas alleinstehendes Haus am Rand von Dartmoor.« »Vor Jahren habe ich mal einen alten Schauspieler namens Oliver Pointing gekannt, der ein wunderbares Haus in den Außenbezirken von Exeter hatte. Hat sich dort zu Tode getrunken«, sagte Bernard nachdenklich. »Schrecklich öde, Dartmoor.« Madge konnte Leute nicht leiden, die mitten im Nirgendwo lebten. »Ich nehm euch bis zur Cromwell Road mit«, bot Rose an. Sie tauschten alle Küsse aus – erneut wunderte sich Christy über die Menge Küsse, die an diesem Morgen zwischen ihnen hin- und hergingen – und trotteten zum Parkplatz. »Jessica war wenigstens hübsch und hatte einen gewissen Sinn für Kleidung«, kommentierte Madge, während sie Christy nachsah.
»Sie sind alle gleich«, meinte Joan, Sammys Frau und Madges Busenfreundin. »Bei Ruthies Hochzeit ist Alex mit einem kurzen roten Hemd, weißen Balletthosen und einem Jadehalsband aufgekreuzt. Und er war so ein netter Junge!«
KAPITEL 23
Im Bett liegend horchte Rachel auf die seltsamen morgendlichen Geräusche von unten: Türen knallten, ein Kind machte Entdeckungen und verlangte nach Aufmerksamkeit, Geschirr und Besteck klapperten auf dem hölzernen Tisch. Es war wie eine kleine Bandaufzeichnung aus der eigenen Vergangenheit, nur daß sie sich viel fröhlicher anhörten. Vielleicht deshalb, weil sie nicht mit dabei war, sie, mit ihrer Abneigung gegen die anstrengende und enervierende Hausarbeit. Es war wunderbar, wie ein Gott hier über allem zu liegen und alle viere von sich zu strecken. Ihr Gefühl des Glücks angesichts Christys neuer Situation war fast ein Schuldgefühl. Sie war niemals eine Frau gewesen, die gesagt oder gedacht hatte, daß Christy einen Mann und Kinder brauchte; sie war sogar stolz auf Christys Unabhängigkeit gewesen. Aber Rachel mochte Simon und konnte einfach nicht übersehen, wie sehr Christy im Vergleich zu früher aufgeblüht war. Sie paßte zu dem verlassenen Kind in Merlin, wie er zu der Mütterlichkeit in ihr paßte. Wenn ich sterbe, laß es so sein, im Wissen um Christys Geborgenheit, dachte sie. Sie hörte Merlin übertrieben vorsichtig mit ihrer Tasse Tee nach oben schlurfen. Ein Geklapper an der Tür. »Kann ich reinkommen?« Er wußte nicht, wie er diese beiden neuen Frauen nennen sollte, obwohl er sie beide mochte. »Vielen Dank, Merlin. Nimm dir einen Keks!« Es traf ihn als die Höhe der Dekadenz, daß sie unter ihrem Bett eine Keksdose stehen hatte. Dort, in der staubigen, staubflockigen Dunkelheit zwischen Bettfedern und den Fußbodendielen lagen gleichfalls Schuhe, Bücher, Federhalter,
Bleistifte, Notizbücher, Socken, Tassen, Gläser, Zeitungen und Decken, die still vor sich hinrotteten. In gewisser Hinsicht war sie ebenso verwahrlost wie die alte Hexe, aber sie thronte mitten darin, groß, weiß, stark, wie der Mond. Er nahm sich zwei Schokoladenkekse und setzte sich zu ihr aufs Bett. »Soll ich ihn in die Tasse zurückschütten?« »Von mir aus kann er auf der Untertasse bleiben. Wohin wollt ihr heute gehen?« »Irgendwas wie Princetown.« »Ich werde mitkommen. Ich muß meine Rente abholen.« »Was ist das?« »Geld, das sie mir geben, weil ich alt bin.« Den größten Teil des Wegs ging er mit Rachel zusammen. Hinter ihm küßte sein Vater Christy, wie er wußte, und legte die ganze Zeit über den Arm um sie. Merlin schämte sich für sie. Manchmal nahm ihn Rachel bei der Hand, auf eine feinfühlige Weise, um ihm über einen Graben zu helfen. Sobald sie die Stadt betreten hatten, war der Krieg über ihnen. In vielen Fenstern hingen Plakate mit der Aufschrift ›Pax! We only want your tax‹∗ sowie Ankündigungen von Konzerten, Flohmärkten und Wein- und Käseparties, um Geld für ›unsere Jungs‹ zu sammeln. Nachdem sie sich ihre Rente abgeholt hatte, bezahlte Rachel in einem Pub allen ein Sandwich und etwas zu trinken. Sie überhörten geflissentlich eine lautstark geführte Unterhaltung über die strategische Weisheit, Chicken Rock eingenommen zu haben. »Diese Länder in Südamerika«, sagte Simon zu Christy, »sind vielleicht deshalb Militärdiktaturen geworden, weil die Menschen Uniformen so sehr bewundern.« »Ich weiß nicht, was los ist«, meinte Rachel traurig. »Ehe ihr gekommen seid, bin ich meilenweit zu Angies Haus gegangen, um mir die Fernsehnachrichten anzusehen, damit ∗
Frieden! Wir möchten lediglich eure Steuern!
ich auf dem laufenden wäre. Aber sie haben alle Nachrichten zensiert, ich habe lediglich irgendwelche Standphotos von altertümlich aussehenden Kriegsschiffen und Postkarten von der Isle of Man und ein paar Druiden gesehen. Für mich ist das alles ein ziemlicher Wahnsinn.« »Ist es auch. Da gibt’s nichts weiter zu verstehen.« Christy lächelte einem Mann zu, der ihnen zuhörte und über seinem Bier allmählich in Rage geriet. Sie verspürte einen Drang, Menschen wie ihn in Raserei zu versetzen, damit sich deren Haß und Chauvinismus zeigte, der sich als edler Patriotismus tarnte. Vielleicht, weil sie während des Konzerts im Palladium so ruhig dagesessen hatte. Sie hob die Stimme: »So lange ich zurückdenken kann, herrschte in diesem Land nostalgische Stimmung, wenn es um den Krieg ging. Seht euch doch nur mal diese Fernsehprogramme an, die Gefangene in Kriegs- und Konzentrationslagern romantisieren, diese Bestseller mit Hochglanz-Photographien von Waffen, die Kriegsfilme, die auch heute noch immer produziert werden, ein halbes Jahrhundert danach. Damals haben sich die Menschen in England zum letztenmal auf der richtigen Seite gefühlt. Und es ist stets ›Der Krieg‹, als habe es seitdem nicht schon Dutzende von Kriegen gegeben. Die Erinnerung daran ist auch nicht gestorben, sie ist über die Generationen weitergereicht worden, wie bei deiner Großmutter, die noch immer ihren Song gesungen hat, Simon. Also ist ein kleines Blutvergießen wie dieses blöde Isle of Man-Abenteuer alle paar Jahre notwendig, um das nationale Phantasiegebilde aufrechtzuerhalten, wir seien Helden, und nur die ganze übrige Welt habe unrecht. Außerdem schätze ich, daß die Truppen, die in Irland gelegen haben, unruhig geworden sind.« Innerhalb von Minuten teilte sich der Pub wie ein Rotes Meer aus Bier, und sie fanden sich in einer sehr kleinen Minderheit wieder.
»Viel zu jung, verdammt noch mal, um sich an den Krieg erinnern zu können.« »Wenn wir Hitler nicht geschlagen hätten, wärst du in einem Konzentrationslager geboren worden, mein Mädel, wenn überhaupt!« »Bist du überhaupt hier geboren worden? Siehst sehr ausländisch aus.« »Das ist heutzutage fast das ganze Problem. Diese ganzen Kanaken da mit britischen Pässen, aber die denken nicht wie wir Briten.« »Könnten ebensogut in Kalkutta leben.« »Sind jetzt auch Schwarze in der Armee.« »Diese Manxies, die sind auch keine echten Briten.« »‘ne Menge französisches Blut.« Rachel war jetzt als Mitglied der alten CND-Gruppe erkannt worden. »Noch immer am Marschieren?« »Ich würd’s tun. Ich würde gegen diesen idiotischen Krieg marschieren, wenn sich jemand daran beteiligte.« Eine junge Frau sagte: »Ich bin völlig Ihrer Meinung. Wir sollten wenigstens eine öffentliche Versammlung für diejenigen abhalten, die ihn für falsch halten.« Inmitten des allgemeinen Gelächters spottete ein Mann: »Ich stelle dir meine Besenkammer zur Verfügung.« »Ich komme zu deiner Versammlung. Ich habe nichts am Hut mit Kämpfen und Töten. Wenn jeder, der seine Steuern nicht bezahlt hat, in den Krieg ziehen müßte, wären wir bald am Ende«, sagte der Wirt. »Ich bin Drucker«, sagte ein Mann mittleren Alters. »Wenn wir uns auf Datum und Uhrzeit einigen können, werde ich ein paar Plakate aushängen.« »Sie werden nicht lange hängenbleiben«, sagte der Mann, der den schweinischen Witz gemacht hatte.
»Ihr könntet den Raum oben haben, montags oder mittwochs«, bot der Wirt an, ungerührt von der Geschwindigkeitsrate, mit der sich sein Pub leerte. »Dann nächsten Montag um sieben«, sagte Rachel, die ihr altes Organisationstalent wiedererweckt hatte. »Wir werden’s ›Kämpft nicht gegen die Insel, kämpft gegen den Krieg!‹ nennen. Ich werde versuchen, ein paar Redner aufzutreiben.« »Ich bin ganz gut im Reden«, sagte der schweinische Mann. »Es wird eine öffentliche Versammlung sein«, sagte Rachel gelassen und verabredete sich mit dem Drucker für den folgenden Nachmittag. »Aber wenn wir nicht kämpfen, werden die Russen kommen«, erklärte Merlin Rachel, als sie den Pub verließen. Rachel lächelte ihn an. Christy war überrascht von der Kraft, die in ihre Mutter zurückgekehrt war. Ihre Haut war straffer, ihre Augen zeigten ein leuchtendes Grün statt eines matten Olivs. Sie glänzten so, weil Rachel nahe daran war zu weinen; Christy sah, daß es sie bewegte und daß sie erstaunt darüber war, in dieser Stadt Menschen zu finden, die ebenso dachten wie sie. Vor dem Maklerbüro blieb Rachel auf dem Bürgersteig stehen und stellte sich auf die Zehenspitzen. »Was tust du da, Mam?« »Nur gucken. Da, drei Schlafräume mit Nebengebäuden und einem Hektar, das ist weniger, als ich habe.« »Du willst doch nicht etwa umziehen?« »Na ja, es ist doch lächerlich, dieser viele Platz nur für mich, und ich lebe deshalb von Karottensuppe. Außerdem habe ich von der Isolation die Nase voll. Ich denke daran, eine Wohnung in der Stadt zu kaufen, es wird viel billiger sein, und ich bin näher an… den Dingen.« »Natürlich ist das deine Entscheidung.« Christy war überrascht davon, wie bestürzt sie war.
»Ihr könnt noch immer zu mir kommen und auch bleiben.« Rachel blickte alle an, fühlte sich unerklärlicherweise verantwortlich für sie, insbesondere für das Kind. Merkwürdig, wie man ganz glücklich jahrelang in völliger Selbstzufriedenheit dahinleben konnte, und dann, plötzlich – peng! – zählten die Menschen wieder. Jetzt war sie keine Privatperson mehr. »Was wirst du mit deiner netten Ziege tun?« fragte Merlin ängstlich. »Kannst sie haben, wenn du möchtest. Ekelhaftes altersschwaches Stinktier.« Sentimentalität Tieren gegenüber war die letzte Zuflucht der Einsamen. Ihre Worte entfachten eine Diskussion darüber, ob man Ziegen in Londoner Gärten halten könne und ob eine Ziege das Reisen per Anhalter erleichterte. Während sie an der Haltestelle auf den nur selten fahrenden Bus warteten, der bis auf eine Meile an Rachels Haus heranfuhr, hielt ein Landrover an. Christy erkannte Steven wieder, den Farmer, der sie bei ihrem letzten Besuch mitgenommen hatte. »Kann ich euch irgendwo rauswerfen?« Unterwegs fragte er: »Ist es im Phoenix zu einer Auseinandersetzung gekommen?« »Ich habe dich da nicht gesehen«, sagte Rachel. »War auch nicht da. Hab’s gerade von Jim gehört.« »Ach nein. Wie schnell das die Runde macht!« »Du lebst nicht hier, du weißt nicht, wie das an einem so kleinen Ort wie diesem hier mit dem Tratsch ist.« »Das werde ich bald wissen. Ich denke daran, in die Stadt zu ziehen.« »Gute Idee. Meine Frau wird wohl zu deiner Versammlung kommen.« »Wirklich?«
»Ich halte sie für verrückt, aber was will man machen? Hat was mit ihrer christlichen Einstellung zu tun. Seid vorsichtig damit, wie ihr euch nennt, ja?« »Was meinst du damit?« fragte Rachel. »Ich meine damit, wenn ihr eine Gruppe bildet, konsultiert vorher einen Anwalt, ehe ihr einen Namen wählt. Nichts Politisches, Subversives, so was wie ›Für Frieden‹, ›Gegen Krieg‹, ›Kampagne‹ – sie haben kürzlich die ›Freunde der Erde‹ aufgelöst, haben gesagt, ›Erde‹ habe so eine bäuerliche, anarchische und antisoziale Nebenbedeutung.« »Da bleibt einem keine große Wahl«, sagte Rachel. »Nennt euch den ›Strickkreis‹«, schlug Simon vor. »Seid bloß vorsichtig!« sagte Steven erneut, als er vor ihrer Tür hielt. An diesem Abend, während Merlin Rachel bei der Zubereitung des Abendessens half, unterhielten sich Christy und Simon auf ihrem Zimmer. Es war so lange Christys Zimmer gewesen, daß es ihr jetzt seltsam vorkam, es mit jemandem zu teilen, selbst mit Simon. »Deine Mutter ist eine unternehmungslustige Frau.« »Magst du sie?« »Sollte ich das? Was ist los?« Er saß neben ihr auf dem Bett. »Ich muß immer wieder daran denken, daß ich diesmal vielleicht zum letzten Mal hier sein werde. Ich habe mich so an den Gedanken gewöhnt, daß meine Mutter und dieses Haus immer da sind, eine dauerhafte Zufluchtsstätte. Und ich schätze mal, es gefällt mir gar nicht, daß sie sich verändert, in gewisser Hinsicht habe ich das Gefühl, sie sollte dieselbe bleiben, einfach bloß meine Mutter, nur dann existieren, wenn ich hier bin. Ist das nicht schrecklich?« »Ziemlich empörend. Schließlich hast du dich geändert.«
»Schade, daß wir am Sonntag schon wieder zurück müssen, ich wäre gerne zu ihrer Versammlung gegangen. Ich frage mich, was geschehen wird.« »Nichts, vermutlich. Viel Gerede, und sie findet vielleicht ein paar Mitstreiter.« »Du bist ein Zyniker, was politische Aktivitäten betrifft. Meiner Ansicht nach ändern sich die Dinge so: Kleine Gruppen von Menschen im ganzen Land kommen zusammen und sind einer Meinung, daß falsch ist, was die Regierung tut. Sobald man einmal damit begonnen hat, diese Farce da auf der Isle of Man zu kritisieren, kann man nicht einfach aufhören. Denk doch nur an all die unzufriedenen Menschen, die sich einer Gruppe wie der da anschließen würden. Bei unseren Versammlungen in Smiles habe ich mir oft gedacht, die Leute würden gern mehr sagen oder tun, wenn sie nur nicht so müde und hungrig und eingeschüchtert wären. Viele der Menschen hier in der Gegend haben ein bißchen Zeit, volle Mägen und das Selbstvertrauen zu sagen, was sie denken. Da beginnt die Veränderung.« »Na ja, ich hoffe, du hast recht. Ich bin kein Zyniker«, fügte er verletzt hinzu. »Nicht, wenn es um Smiles geht, oder um uns. Aber sobald die Dinge anfangen, sich zu organisieren, mit Versammlungen und Abgeordneten und so, verliere ich das Interesse.« »Du bist auf deine Weise ein Idealist. Du wärst in einem aristokratischen Zeitalter völlig glücklich gewesen, hättest für einige reiche Männer wundervolle und sinnlose Prachtbauten errichtet. Wie’s jetzt steht, mußt du dich in einer Zivilisation durchschlagen, die auf dem letzten Loch pfeift.« »Ich habe dich.« »Mich und Merlin, deine Prachtstücke.« Als sie herabkamen, sahen sie Rachel und Merlin gemeinsam übers Radio gebeugt.
»Ich versuche, die Nachrichten reinzubekommen«, sagte Rachel. »Deins muß das letzte Radio in England sein, das man einstellen muß.« »Dein Vater und ich haben es aus zweiter Hand gekauft, als wir hierhergezogen sind. Er wollte keinen der neuen Apparate kaufen, weil das die Ökonomie des Konsums unterstützt hätte, also hat nichts jemals funktioniert. Aha, da haben wir sie.« Sie waren eifrig damit beschäftigt, den Tisch zu decken, während sie mit halbem Ohr der gediegenen, vernünftigen Stimme zuhörten, bis die Worte sie alle jäh aufschreckten: »Vor einer Stunde wurde zwischen den britischen Truppen und den Guerillas der Isle of Man eine Feuerpause vereinbart. Ein Sprecher der Downing Street sagte, daß die Insel von jetzt an als normaler Teil des United Kingdom betrachtet und daß die Bevölkerung die Steuern in voller Höhe von 45 Prozent zahlen würde. Ab morgen früh wird der Fährverkehr zwischen Douglas und Liverpool, Adrossan, Fleetwood und Llandudno wieder aufgenommen, ebenso der Flugverkehr von und nach Ronaldsway. Auf dem Trafalgar Square feiert heute abend die Öffentlichkeit. In militärischen Kreisen betrachtet man das zehntägige Unternehmen als Erfolg, und nur zweiundvierzig britische Soldaten werden als vermißt gemeldet. Siebenundvierzig Guerillas der Isle of Man kamen in den Gefechten ums Leben, und Douglas erlitt ernstliche Schäden durch einige Raketen. Gute Nachrichten für einen unserer tapferen Jungs auf der Insel – vor zwei Stunden schenkte Sergeant Pete Murphys attraktive Frau Valerie in einem Krankenhaus in Liverpool Zwillingen, Mädchen, das Leben. Der Sergeant wird mit einem Hubschrauber ausgeflogen und soll sich…« Als Rachel das Radio abstellte, sahen sie einander an, zuckten die Achseln und hoben die Gläser.
»Haben wir gewonnen?« fragte Merlin. »Niemand hat gewonnen«, sagte Simon. »Aber sie haben damit aufgehört, einander umzubringen.« »Soviel für deine Versammlung.« Christy lächelte Rachel an. »Aber nein. Wir werden nur was anderes aufs Plakat schreiben – eine öffentliche Versammlung, die ihrer ernsten Sorge über das kürzlich erfolgte Unternehmen Isle of Man Ausdruck verleiht.« »Wenn ihr euch regelmäßig trefft«, sagte Christy. »können wir euch einen monatlichen Bericht aus Smiles schicken. Nur um den Leuten zu sagen, wie’s da so ist.« »Wir könnten Besichtigungstouren arrangieren«, schlug Simon vor. »Ihr könntet eine für mich organisieren. Könntet ihr mich irgendwo unterbringen, wenn ich in den nächsten paar Wochen nach London käme?« »Du kannst mein Zimmer haben«, sagte Merlin. »Vielen Dank, Merlin. Dann werde ich bald kommen.« Wann immer sie zusammen in einem Zimmer hockten, planten sie. Sie waren von einem wilden Optimismus angesteckt, der alles möglich erscheinen ließ. Es war, als hätten sie, abgeschottet in ihren vier einsamen Leben, jahrelang Energie angesammelt, die nun in unwiderstehlicher Aktivität zum Ausbruch kam. Simon spürte sie, wenn sich er und Christy wild in ihrem schlichten Zimmer liebten, wann immer sie allein waren, in der Weise, wie Merlin herumlief, in Rachels neu entfachten politischem Feuer. Alle hatten sie seit Jahren geschlafen, und alle waren von demselben promiskuitiven Prinzen wachgeküßt worden. Am letzten Morgen erwachte Christy früh. Sie lag in dem blassen Licht und versuchte, sich in die Stimmung einer stillen Melancholie zu versetzen, die sie normalerweise überkam, ehe sie dieses Haus verließ. Aber selbst mit geschlossenen Augen
wollte sich diese Melancholie nicht einstellen. Simon lag zwischen ihr und der Stille. Innerhalb weniger, hektischer Stunden waren enorme Veränderungen in ihr vonstatten gegangen, sie hatte gewisse Bewußtseinszustände verloren und zum erstenmal andere Zustände erlebt. Sie war ein wenig Gattin, ein wenig Mutter, jene Frauenrollen, die stets so unnötig und ziemlich absurd erschienen waren. Diese Furcht davor zu planen, jedes Gespräch in ein Manifest zu verwandeln, rührte aus ihrem Verlangen her, daran zu glauben, daß die Veränderung dauerhaft sein möge. Simon verhielt sich ebenso, und Merlin fragte immer wieder wann und wo und warum, wie ein viel jüngeres Kind. Mit jeder Antwort, die sie ihm gab, fühlte sie sich mehr verbunden mit ihm, was er natürlich so haben wollte. So wenig Zeit stand zur Verfügung, wo es doch zuvor stets zuviel Zeit gegeben hatte. In gewisser Hinsicht wünschte sich Christy, die Dingen würden aufhören zu geschehen, so daß sie wieder dahintreiben könnten, jedoch gemeinsam; pausieren und nachdenken und einander absorbieren. Dieses Haus war einer verlassenen Insel so nah wie möglich, und es erschöpfte einen – nun, wozu bin ich denn da? dachte sie ungeduldig. Fast immer hatte sie geglaubt, für die Arbeit dazusein, für den Kampf, in einem Leben, das nicht zu ichbezogen war. Von unten vernahm sie Stimmen. Sie zog ihre alten roten Hausschuhe an und ging zu ihnen hinab.
KAPITEL 24
Die ganze Woche über hatte sich Simon auf das Essen mit Daniel und Frankie gefreut. In seiner Vorstellung waren sie fest als perfektes Paar verankert; das beste, das er kannte. Er wollte sie Christy vorführen, und er wollte ihnen Christy vorführen. Er legte seinen ganzen Stolz in den Versuch, ebenfalls ein perfektes Paar zu werden. Dann wollte er, daß Merlin mit ihren netten Kindern spielte, vielleicht zu Parties eingeladen werden würde, oder worin auch immer der soziale Verkehr zwischen Kindern dieses Alters dort bestand. Sein letzter Besuch bei ihnen war so tröstlich gewesen. Oftmals stellte er sie sich in ihrem schönen Zimmer vor, kräftig und gesund. Immer und immer wieder versuchte er, sie Christy zu beschreiben, die skeptisch dreinschaute, und Merlin, nach dessen Ansicht ihre Kinder abstoßend waren; oftmals war er, als Einzelkind, in Familien zum Spielen eingeladen worden, wo ihn die Kinder gegeneinander ausgespielt oder ihn von ihren Spielen ausgeschlossen hatten. Simon eilte Christy und Merlin voraus. Zunächst dachte Simon, Daniel müsse krank sein. Als er die Tür öffnete, war sein Gesicht aufgedunsen und weiß, die Züge waren anscheinend geschrumpft, und er begrüßte sie barsch, ohne Wärme. Simon hatte ihn so lange gekannt, daß der Verlust von Charme und Frische unerklärlich war. Aber natürlich mußte es dafür eine Erklärung geben, also marschierten sie hinauf in das riesige helle Zimmer, das mit einemmal schäbig und unordentlich wirkte. Frankie, angespannt und mit Säcken unter den Augen, wo zuvor keine gewesen waren, saß wie gewöhnlich auf dem Sofa, flankiert
von ihren Kindern. Das Licht, das so großzügig ins Zimmer strömte, spielte ihrem Gesicht häßliche Streiche. Aber Simon wurde geküßt und mit Drinks versorgt, Christy wurde als jemand begrüßt, den sie gern hatten kennenlernen wollen, und Merlin als alter Freund. Dann folgte ein langes Schweigen. Die Kinder waren zu alt, um weggeschickt zu werden. Sie saßen neben ihren jeweiligen Eltern und tauschten apathisch Listen von Besitztümern aus. »Warum zeigst du Merlin nicht deinen Computer, Toby?« Schließlich trotteten die drei nach oben. »Nun?« Simon sah die beiden auf dem Sofa an. Heute thronten sie nicht dort, sondern drückten sich auf irgendeinen unbekannten Trümmerhaufen. Er brachte es nicht fertig, einen gereizten Tonfall aus seiner Stimme herauszuhalten, weil sie nicht dem hohen Standard seiner Vorstellung von ihnen entsprachen. »Ich habe meinen Job verloren, das ist alles«, sagte Daniel. »Ich habe meinen noch immer. Aber es bedeutet, wir müssen ausziehen.« »Wir müssen die Wohnung kommende Woche zum Verkauf anbieten. Ich fürchte, wenn unser Einkommen zu sehr absackt, werden wir unsere Karte mit dem Goldrand verlieren, sie werden uns nur noch eine grüne Karte zugestehen, und du weißt, wie schwer es dann ist, überhaupt noch etwas zu tun.« Christy und Simon, von denen keiner eine Britcard irgendeiner Farbe hatte, sagten nichts. Frankie fuhr fort: »Auch für die Kinder bringt es alles durcheinander. Sie müssen diese riesigen Gärten verlassen und die Schule wechseln. Sie müssen sich vielleicht ein Zimmer teilen.« »Ich werde keinen anderen Job mehr bekommen, zumindest nicht in England.«
»Und wenn wir ins Ausland müssen, werde ich meinen Job verlieren. Oh, meine Lieben, entschuldigt, nehmt doch noch einen Drink!« Frankie sprang auf, rot vor Scham darüber, sich selbst klagen statt andere beruhigen zu hören. Christy fand sie netter als Simons Beschreibung von ihr. Trotzdem war es ihr ein Rätsel, daß alle diese MittelklasseLeute davon überzeugt waren, arm zu sein. Sicherlich bestand der Unterschied nur im Besitz einer geräumigen Wohnung und einer mittelgroßen, zwischen Ferien in Indien und in Devon, zwischen gutem Wein jeden Abend und einer gelegentlichen Flasche Essigwasser. Aber sie versuchte mitzufühlen und ihnen ihre Erwartungen nachzusehen. »Sie denken wohl, wir machen viel Aufhebens um nichts?« Der Kummer hatte Frankies Wahrnehmungsvermögen nicht getrübt. »Ja, wenn ich an die Menschen in dem Lager denke, wo ich arbeite«, gab Christy zu. »Ich kann mir ein Zimmer wie das hier wohl nicht ansehen, fürchte ich, ohne daran zu denken, wie es aufgeteilt werden und als Herberge für vier Familien benutzt werden könnte.« Daniel zuckte zusammen. Sie sprach in der Hauptsache mit Frankie, während Simon Daniel sanft dazu überredete, ihm zu sagen, was geschehen war. In einem Winkel ihres Gehirns war sich Christy unbehaglich des Ärgers des dunklen Mannes bewußt, seiner bitteren Ungläubigkeit, aus einem Club ausgestoßen worden zu sein, dem anzugehören wie ein Geburtsrecht gewesen war. Er hatte jene täppische Unbeholfenheit eines Mannes an sich, der gerade verwundet und aus dem Gleichgewicht gebracht worden war. Christy dachte, wie sicher muß er sich seiner Stellung in der Welt gewesen sein, daß er sich jetzt so furchtbar fehl am Platz fühlte. Simon war schockiert davon zu sehen, daß die monumentale Zuversicht seines Freundes auf derart tönernen Füßen gestanden hatte.
»Es ist nicht nur der Job, obgleich das schon eine Menge ausmacht. Ich habe mich für nichts anderes als Architektur interessiert, seitdem ich – o Gott! – etwa achtzehn war. Und es ist nicht so, als könnte man einfach loslegen und Architekt sein, nicht ohne einiges Kapital. Na ja, du kennst das ja alles. Ich glaube wirklich nicht, noch einen anderen Job bekommen zu können. Siehst du, während der vergangenen Jahre hat es immer weniger für mich zu tun gegeben. Und letztes Jahr bin ich nicht ihr Partner geworden, obgleich ich’s erwartet hatte, niemand hat etwas gesagt, also dachte ich… na ja, ich habe getan, was ich tun mußte, habe gute Arbeit geleistet. Ich weiß, außerhalb Englands gibt es mehr Möglichkeiten, aber wir müssen Frankies Job gleichfalls berücksichtigen. Hierzulande wird einfach nicht mehr gebaut. Seitdem ich dort arbeitete, hat die Firma von fünfzehn auf sechs Stellen abgebaut.« Die Kinder kehrten zum Essen zurück. Christy sah, wie Frankies Blick Toby und Lisa folgte, obgleich sie eifrig redete und zuvor froh gewesen war, sie loszuwerden. Sie fragte sich, ob sie sich Merlin jemals so nah fühlen würde. Merlin zeigte seine übliche Gelassenheit. Er hatte sich bislang in jeder Lage behauptet, worin sie ihn erlebt hatte. Sie dachte, er mußte eine Menge durchgemacht haben, damit er mit neun diese Gelassenheit wahren konnte. Als er an ihr vorüberging, griff sie nach ihm, so daß er halb zwischen ihren Knien zu sitzen kam. Sie spürte die Rippen unter dem gestreiften T-Shirt, die Knochen lang und zerbrechlich, wie sie sich die Knochen seines Vaters vorstellte, ein wenig zu zerbrechlich. Sie war sich bewußt, daß diese öffentliche Umarmung zum Teil um Frankies willen geschah, doch Frankie war fast blind vor Enttäuschung. »Dieser Junge möchte wissen, ob du meine Stiefmutter bist.« »Sein Name ist Toby. Nein, bin ich nicht.« »Was bist du dann?«
»Das weiß ich nicht. Was soll ich denn sein?« »Ich bin mir nicht sicher.« Er befreite sich und lief davon. »Schön, daß ihr so gut miteinander zurechtkommt«, sagte Frankie abwesend. Sie erinnerte sich an die Zeit, als ihr Simons und Merlins Glück ziemlich wichtig gewesen war. Jetzt jedoch verbarg sie ein dichter Nebel aus Demütigung vor ihren Blicken. »Er ist ein netter Junge. Und er mag offenbar Ihre Kinder. Wenn Sie in der Gegend bleiben, können sie ja vielleicht wieder einmal miteinander spielen.« »Wir werden uns hier nichts leisten können.« »Ist eine nette Wohnung«, sagte Christy, obgleich sie wußte, daß sie einen taktlosen Kurs einschlug. »Solch große Zimmer habe ich in London noch nie gesehen. Und diese originellen Kamine und der Stuck und die Fensterläden – haben Sie die in allen Zimmern?« Sicherlich, dachte Christy, muß sie sich darüber freuen, daß ihr Haus wunderschön ist. Es ist ein Privileg, in solchen Zimmern zu wohnen, selbst nur für wenige Jahre. Ein Haus oder eine Wohnung ist nur wie ein Hotelzimmer, wo man hindurchgeht und seine Spuren hinterläßt. Dann ärgert sich der nächste durchziehende Besitzer über die Spuren und versucht, sie auszutilgen. »Wir haben alles renoviert. Hier waren Gaskamine drin, wir haben die Kamine auf das ursprüngliche Marmor entkleidet und sie wieder aufgemacht. Der größte Teil des Stucks war ziemlich zerbröselt, wir haben jemanden geholt, der ihn wieder hergestellt hat. Sehen Sie diese Efeuranke da in der Mitte der Decke? Das hat eine Woche gebraucht. Und die Fensterläden waren in einer Mülltonne unten an der Straße, pinkfarben übermalt und von Holzwürmern durchlöchert.« Diese Menschen sind von der Vergangenheit besessen, dachte Christy, Simon ist genauso schlimm. Als brächte das
Wohnen in Zimmern aus dem neunzehnten Jahrhundert ihnen die Sicherheit zurück, die ihre Klasse damals hatte; doch sie blickte Frankie mit aufrichtigem Mitgefühl an, was einen Ausbruch hervorrief: »Ich habe einfach nicht mehr die Energie, das alles noch mal durchzumachen, Herz und Seele in den Ausbau eines neuen Hauses zu stecken! Sich über einen Türknauf zu streiten – niemals mehr werden wir soviel so gut proportionierten Raum wiederfinden. Ich nehme an, Toby und Lisa werden sich ein Zimmer teilen müssen… o ja, ich mache lieber das Abendessen.« Christy folgte ihr in die Küche, ein weiterer großartiger Raum, der den rückwärtigen Garten überblickte. Ein Tisch mit Marmorplatte, überall Fliesen, eine Sammlung guter Küchenmesser sowie Brettchen, Mühlen und Mixer. »Auf wen sind Sie sauer?« fragte sie Frankie. Die schabte aufgebracht die Bratkartoffeln auf Platten, schwenkte das Gemüse und hackte auf das Hühnchen ein. »Nicht auf Daniel, natürlich, ist nicht seine Schuld. Obwohl wir’s vielleicht hätten kommen sehen müssen. Ist so vielen unserer Bekannten passiert. Ich fühle mich nur einfach verarscht. Jedesmal, wenn jemand im Fernsehen davon redet, daß sich harte Arbeit lohne und wie wertvoll einheimische Köpfe seien, möchte ich einen Ziegelstein in den Bildschirm werfen. Und ich komme mir wie eine Heuchlerin vor, wenn ich den Kindern sage, sie sollen ihre Hausarbeiten machen und ihr Abitur bestehen und zur Universität gehen. Wozu? Ich hoffe nur, sie sind robust und fallen nicht auf dieselben dummen Träume herein wie wir.« Christy blickte ihr kräftiges Gesicht mit der großen Nase an, ihren schlanken, energischen Körper, und sie dachte, eine Frau wie die wird sich immer durchschlagen. In gewisser Weise war sie froh darum, Frankie in diesem Augenblick
uncharakteristischer Schwäche getroffen zu haben. Andernfalls wäre es schwierig für zwei so starke Frauen wie sie, einander zu benötigen. Im Wohnzimmer, wo sie auf den Knien aßen, hatte sich die Spannung zwischen Simon und Daniel zu einem explosiven Schweigen aufgebaut. So lange Zeit hatten sie es sich in der Rolle als unwiderruflicher Außenseiter und beispielhafter Vater und Ernährer der Familie gemütlich gemacht. Jetzt spürte Simon, daß er seinem Freund die Leviten lesen mußte, und da er nicht wußte, wo er anfangen sollte, hatte er’s falsch angepackt. Alle sieben beugten sich unbehaglich über ihr Essen. »Simon meint, ich solle sein Lager besuchen, Liebling.« Der Gebrauch von Koseworten zwischen beiden war zu Simons Gefühl der Unangemessenheit stets noch hinzugekommen. Es war ihm niemals möglich gewesen, Jessica oder Christy Liebling oder Liebes zu nennen, obgleich sie’s waren. Doch jetzt hörte es sich gereizt an. »Gute Idee. Ich würde gern mitkommen«, sagte Frankie fest zu Christy. »Ich entwickle mich allmählich noch zum Manager für Besichtigungstouren durch Londons Unterwelt. Ich habe versprochen, Simons Schwester nächste Woche durch die Abwasserkanäle zu führen.« »O ja, das liegt genau auf Roses Wellenlinie, oder vielleicht sollte ich sagen, Abwasserlinie.« Frankie lachte. »Farbphotos von Scheißhaufen, Ratten, Leuten, die bis zum Hals in der Scheiße stecken, natürlich alle hervorragend reproduziert.« Daniel lächelte, und die Kinder kicherten aus Freude darüber, daß die Eltern unanständige Worte benutzten. »Können wir mitkommen?« fragte Lisa. »Natürlich nicht. Ihr Kinder steckt noch genügend in der analen Phase«, sagte ihre Mutter.
»Wo sind sie?« Merlin hielt diese Leute für ziemlich interessant. »Mit unserem Hintern beschäftigt«, erklärte Toby, und die drei brachen in hilfloses Gelächter aus. »Magst du sie?« fragte Frankie Daniel, als sie gegangen waren. »Ja, ich glaube schon. Sie ist sehr sauber und direkt und hat Simon offenbar wieder auf die Beine geholfen. Erstaunlich, wie sie sich auf das Kind eingelassen hat.« »Er hat Segelohren«, sagte Lisa, auf einen weiteren Lachanfall hoffend. »Sie trägt fürchterliche Kleider«, fügte Toby hinzu. Frankie wünschte sich manchmal, sie hätte ihre Kinder nicht dazu ermutigt, eitel zu sein. »Ich halte sie für die ehrbarste Frau, der ich seit Jahren begegnet bin, ich möchte sie öfter sehen. Wenn es uns gelingt, in der Londoner Innenstadt zu bleiben.« Dann packte sie wieder das heulende Elend, denn in den Außenbezirken Londons drohten die Wüsten der Freundlosigkeit, des Spießbürgertums, des schlechten Weins und der mageren Kost.
»Magst du sie?« fragte Simon später an jenem Abend, nachdem sie sich sanft geliebt hatten und nun nackt im warmen Bett lagen. »Viel mehr, als ich erwartet hätte. Doch ich glaube kaum, daß ich Daniel vorher gemocht hätte, als er noch jene Selbstzufriedenheit des Berufstätigen an sich gehabt hatte.« »Er ist ein sehr talentierter Architekt.« »Da bin ich mir sicher, aber das ist sowas wie sich eine Würde anzumaßen, das Beste an sich reißen, so, als habe man ein unveräußerliches Anrecht darauf. Das tun sie alle«, sagte sie unbestimmt.
»Du hast ebenso viele Klassenvorurteile wie ich.« »Vielleicht mehr. Ich fühle mich nicht schuldig dabei. Aber Frankie mag ich wirklich, sie ist sehr warmherzig und großzügig.« »Schön.« Auf einer Wolke von Sicherheit trieb Simon in den Schlaf. Er hatte sich niemals so geliebt gefühlt. Christy lag hellwach im Dunkel, das durchsetzt war von dahintreibenden amöbengleichen Formen, das brodelte von schattenhaften, ziellos umherwandernden Inseln des Bewußtseins; Erinnerungen an den Nachmittag, an all die Veränderungen der letzten paar Wochen, die sich langsam zu einem Mosaik zusammensetzten, an Simons Leidenschaft inner- und außerhalb des Betts. »Ich liebe dich«, flüsterte sie in die Dunkelheit hinein. Er hörte sie nicht, aber sein Körper hörte sie, denn er wälzte sich zu ihr hinüber und hielt sie fest. Sie blieb in seiner Umarmung liegen, obgleich seine Schulter knochig war und ihr Bewußtsein tanzend wachte.
KAPITEL 25
»Mach’s nicht zu pessimistisch und deprimierend, Rose!« sagte ihr Chefredakteur und hielt inne, um einem Untergebenen einige Obszönitäten zuzubrüllen, der einem Photo die falsche Unterschrift unterlegt hatte. »›Das Klo im Wandel der Zeiten‹, sowas in der Art, einfach und ein bißchen humorvoll.« »Ich wollte mich eigentlich mehr darauf konzentrieren, was zwischen ihnen abläuft. ›Leben in der Tiefe‹?« »Großartig. Ich erwarte es also am Dienstag. Bist du sicher, daß Gerry in Ordnung ist?« »Er sprüht nicht gerade vor Begeisterung. Er hat sich gestern so eine Art Taucheranzug mit eingebautem Geruchsvertilger gekauft.« »Ich könnte dir diesen Typen überlassen, der den Krieg in Südafrika gemacht hat. Er hat ‘nen starken Magen. Muß jetzt los.« »Ich auch. Tschüs!« Das frühe Morgenlicht vom Fluß verlieh dem cremefarben gehaltenen Zimmer scharfe Konturen. Rose hingen die Lider wie bei einer Katze herab, und sie spürte, wie ihre Haut in dem reflektierten Sonnenlicht glühte, daraufhin schenkte sie sich noch eine Tasse schwarzen Kaffee aus der blauen Emaillekanne auf dem niedrigen Glastisch vor sich ein. Ihre Wohnung war geräumig und komfortabel; sie gab selten Parties, aber wenn sie welche gab, waren sie spektakulär. Das riesige Wohnzimmer war so angelegt, daß es gut aussah, wenn sich viele Leute darin aufhielten. Dennoch fühlte sie sich am
wohlsten allein hier drin, wenn sie schrieb oder ganze Morgen, wie jetzt, mit Telefonieren verbrachte. Sie fragte sich, ob man an Christy dort näher herankäme, was Rose als ihr eigenes Territorium vermutete. Im Theater hatte sie, zu ihrem Vorteil, einen ernsten und kompromißlosen Eindruck gemacht. Rose stellte sich vor, wie sie durch die Abwasserkanäle streifte und ihr mächtiger Haarschopf hochstand, wenn das Gasgemisch nicht mehr zu ertragen war. Rose war sie ein Rätsel. Sie konnte die Idee, für andere Leute zu leben, so gerade eben begreifen, aber Christy hatte nichts von der Aura einer Heiligen an sich. Und jetzt hatte sie sich auf Simon eingelassen, einem alten Solipsisten, wenn es denn je einen gegeben hatte. Rose war noch immer der Ansicht, ihr Bruder sei sozusagen als Beschäftigungstherapie über Smiles gestolpert und nur zufällig dort hängengeblieben. Rose hoffte, an diesem Morgen gäbe es mehr Zeit, mit Christy zu sprechen. Öfter und öfter hatte sie sich dabei ertappt, daß ihre Freunde aus dem Kreis der Leute stammten, mit denen sie zusammenarbeitete, und daß ihre Interessen entweder von der Arbeit aufgesogen oder erloschen waren. Ein Journalistenkollege hatte einmal zu ihr gesagt: »Ich bin das Gegenteil eines Alchemisten; ich nehme das Gold anderer Menschen und verwandele es in Blei.« Blei, Bindemittel, dreckiges Zeitungspapier, das am folgenden Morgen weggeworfen wurde. Doch alles hatte seinen Wert, wenn auch vielleicht nur als Weg, ihre eigene brennende Neugier zu kanalisieren, wie die Dinge funktionierten und die Menschen waren. Wenn ich nicht schriebe, sagte Rose oftmals, wüßte ich nicht, was ich denke. Sie wußte, sie konnte besser schreiben, hatte jedoch nicht die Zeit dazu; Bücher wurden so schlecht bezahlt, und so viele Gebiete mußten gründlich beackert werden. Jetzt hatte ihre leidenschaftliche Neugier, was Christy und Simon betraf, ihre Antennen auf Smiles gerichtet. Rose
wußte, sie würde früher oder später hinab ins Lager gehen, mit ihrem Bandgerät, einem Photographen und ihrer mitfühlendsten Art, und sie würde versuchen, den letzten Tropfen menschlichen Interesses dort herauszuwringen. Am Mittag packte sie die hüfthohen Gummistiefel, die sie bei Lillywhites gekauft hatte, in eine schicke rote Segeltuchtasche, zusammen mit kunststoffbeschichtetem, chemisch behandeltem Papier und einer Sicherheitslampe. Es war Teil der Abmachung, daß sie ihnen zunächst ein Essen bezahlte. Sie trafen sich vor einem Pub in Battersea. Fünf Männer zwischen achtzehn und sechzig sowie eine Frau in den Vierzigern und Christy, die erheitert und distanziert wirkte. Sie stellte alle vor und wandte sich fast sofort zum Gehen. »Willst du nicht mit uns essen?« »Nein. Ich muß zur Spielgruppe zurück.« »Aber du kommst Montagabend mit Simon?« »Abgemacht.« Rose war enttäuscht. Sie hatte gehofft, in Christy eine Verbündete zu finden, ebenso wie eine Führerin durch den Hades und eine neue Freundin. Im Pub setzte sich Gerry an einen anderen Tisch, mit einer Flasche Wein und einem Hackfleischauflauf, während er die riesige Tasche mit seiner Ausrüstung zwischen den Beinen festhielt. Rose bezahlte den Filzern die Getränke und das Essen, schaltete ihr Bandgerät ein und handelte einen Preis für die Story aus. Sie hatte gehofft, Christy würde dies für sie tun; jetzt würde sie ihnen am Ende vermutlich zuviel bezahlen. Ganz offensichtlich würde der größte Teil des Gesprächs mit Steve bestritten werden, einem schwarzen Cockney in den frühen Zwanzigern mit dünnen, scharfen Zügen, und mit Bridget, dem Spaßvogel der Gruppe, die ein rundes Gesicht von blühender Farbe und einen hünenhaften, muskulösen Körper hatte.
»Ihr seht alle sehr gut aus«, bemerkte Rose. »Oh, die Luft da unten is großartig«, sagte Bridget, während sie ihre Makkaroni in sich hineinschlang. Rose lachte. »Näh, wirklich. Du wirs niemals ‘n kranken Filzer zu Gesicht kriegn. Wir kriegn hier entweder ganz früh das Rattenpisse-Fieber oder die Gelbsucht, oder wir leben für ewig, zumindest verdammt nah dran – wie lang is dein Vater runtergegangen, George?« »Neunundsechzig. Und ich bin vierundsechzig. Bin runtergegangen, seitdem ich sechzehn war. Hab da jetz achtundvierzig Jahre gearbeitet.« George trank eine Pinte auf einen Sitz, um zu zeigen, wie kräftig seine Lungen waren. »Da is eins, was mer zunächs mal klarstelln wolln. Is alles gegen das Gesetz, das weißte, oder nich?« Steve starrte sie mit flinkem, mißtrauischem Blick an. »Ich weiß. Also werden wir keine Photos machen, wo man was wiedererkennen kann, oder Namen erwähnen oder unseren Treffpunkt. Warum ist das illegal?« »Filzen is illegal. Kanäle säubern nich«, sagte George rätselhaft. Bridget senkte die Stimme, die jedoch noch immer dröhnte. »Vor fünf Jahren waren wir Kanalreiniger. Haben die Abwasserkanäle saubergemacht und den Dreck in Tonnen gekippt, alles legal und sauber, obwohl die Bezahlung beschissen war. Dann haben sie uns rausgeschmissen, siehste? Haben kein Geld mehr für die Kanäle ausgeben, auch nich für was anderes. Damals war George unser Vorarbeiter, wir haben, wie die anderen Kanalreiniger, in einem Team von fünf Leuten gearbeitet, wegen die Ratten. Ganz zu schweigen von den wilden Schweinen.« »Den was?«
»Bis vor ‘n paar Jahren haben se ‘n ganzes Vermögen da unten reingesteckt. Verdammt große Plastikkugeln aus Durex, überall da in den Tunnels.« »Mach mal halblang, Bridget«, sagte George. »Dann hat alles aufgehört. Keine Fernsehüberwachung mehr, keine Reparaturen und keine Jobs mehr für uns. Und ‘n paar von uns – ich und George – ham nie was anderes gemacht.« »Also haben wir weitergemacht, auf eigenes Risiko«, sagte Steve fröhlich. »Haben in Metalldetektoren investiert – noch gar nich lang her, da hab ich ‘ne römische Münze gefunden, und George ‘nen Ring aus der Zeit von Königin Elizabeth. Der Alten, fuffzehnhundert irgendwas. Wenn wir so wertvolles Zeugs wie das kriegen, teilen wir’s auf. Weil, da unten sind schon immer Filzer gewesen. Wir sin sozusagen auf der anderen Seite gewesen, haben sie an die Polizei verpfiffen. Ich sag dir noch was: Seitdem die da unten nichts mehr tun, sin überall Tunnels eingestürzt.« »Die ganze verfluchte Stadt wird bald in der Scheiße stecken«, sagte Jamie mit offensichtlicher Zufriedenheit. »Macht das eure Arbeit nicht sehr gefährlich?« fragte Rose formell. »Is gefährlich«, stimmte Bridget zu. »Und ekelhaft. Meine Blagen haben ihren Freunden niemals erzählt, was ich am Tun bin. Mein Schwiegersohn glaubt noch immer, ich bin ‘n Ingenieur. Aber sie hat so ihre gewissen Momente und Erfolgserlebnisse. Diese römische Münze, wovon Steve gesprochen hat, die haben wir an ‘n Sammler in Knightsbridge für zweitausend verkloppt. Außerdem könnten wir noch schlimmer dran sein.« »Wie die Schlammlerchen«, sagte Steve verächtlich. »Als ich noch ‘n kleines Kind war, bin ich mit denen bei Ebbe runter ans Ufer gegangen. Meine Mam is an AIDS gestorben, und Paps is irgendwohin verduftet. Wir sin vier Kinder gewesen,
die da in Smiles inner Wellblechhütte gelebt ham. Wir ham immer am Fluß unten gespielt, und als wir gehört ham, da kammer Geld machen, simmer sechs, sieben Stunden bei Ebbe dageblieben, ham Jagd auf Antiquitäten und Geld und alte Metallsplitter gemacht, wie sie da angespült wern. Ham aber nie mehr verdient, als wassen Hamburger kostet.« »Schlammlerchen würden so ‘n Kunstdingsbums noch mich ma erkennen, wenn es sie beißen würd. Nur ‘ne Bande von Kindern und alten Weibern.« George stand, nach seiner dritten Pinte, schwerfällig auf. Rose war der Ansicht, sie sollten wohl besser gehen, solange sie noch immer ziemlich nüchtern waren. Sie folgte den Filzern bis zu einem verlassenen Wohnblock zwischen Battersea Bridge und Wandsworth Bridge. Der Parkplatz vor dem Wohnblock war zu einem kleinen Lager geworden, wo Jamie lebte, und die Filzer benutzten einen Raum zu ebener Erde im Block als Lagerraum für ihre Arbeitskleidung und Ausrüstung. »Das hier klaut anscheinend nie jemand«, bemerkte Bridget, als sie ihren steifen Overall mit den riesigen Taschen und die schlammbespritzten Handschuhe nebst Gummistiefeln überstreifte, eine Bekleidung, die aussah, als könne sie von selber gehen. Gerry verfrachtete nervös seine Kleidung in die Ledertasche. Seit den Zusammenstößen beim Fußballspiel in Hackney hatte ihm kein Auftrag mehr so wenig behagt. Rose lächelte ihm immer wieder zu, wie eine Stewardess, die einen schwierigen Gast aufmuntert. Als er in seiner schimmernden schwarzen Umhüllung steckte, setzte sich Gerry auf seine Tasche und bugsierte schmollend seine Kamera in ihre wasser- und, wie er hoffte, auch ratten- und wildschweindichte Tragetasche. »Hauteng«, bemerkte Bridget mit einer Stimme, als wollte sie einen Schwulen lächerlich machen.
Die Männer kicherten. Im Pub hatten sie es sich verkniffen, Witze über den Photographen zu reißen, jetzt jedoch befanden sie sich nahe an ihrer eigenen Welt. Rose wünschte sich, Gerry hätte sich nicht zu einem solchen Hampelmann gemacht. Draußen vor dem Wohnblock hob George den Deckel zu einem Einstieg und ließ sich schwerfällig in den Gulli hinab. Alle trugen sie zwei Meter lange Stäbe mit Haken an den Enden und entweder Metalldetektoren oder Stablampen, was das Klettern erschwerte. Nachdem der Deckel wieder auf seinen Platz geschoben worden war, konnte Rose zunächst nichts erkennen. Sie war blind, an einem kalten dunklen Ort, watete knietief in eisigem Wasser, und ihre Füße wurden trotz der Gummistiefel und der dicken Socken kalt. Die Stiefel versanken in einer Schicht aus Sand, Kies und Sedimenten. Seltsamerweise fühlte sich das an, als ginge man über einen Strand. Sie erinnerte sich an einen Urlaub am Meer, in Italien, sie war acht Jahre alt, und Madge rief sie und Simon immer wieder zurück, wenn sie in der Nähe der offenen Abwasserkanäle schwammen. Als sich die Schwärze zu einem dunstigen Grau hob, sah Rose, daß sie sich in einem Tunnel mit Ziegelsteinwänden aufhielten. Sie und Gerry konnten aufrecht stehen, aber alle Filzer außer Jamie mußten sich bücken. Sie hielten ihre Lampen sehr tief und beleuchteten damit das Mauerwerk, wo sich oftmals Münzen in den Ritzen verfingen. Ihre sechs Gestalten warfen in dem gelben Licht der Lampen groteske Schatten auf das Mauerwerk und den glänzenden Schlamm ihnen zu Füßen, wie in einer Halluzination. Die Filzer benutzten ihre Stäbe, um den Boden vor sich zu prüfen und den Schlamm nach Objekten aufzuwühlen. Gerry zitterten die Beine, und er wünschte sich, er wäre oben in Sicherheit geblieben. Rose hätte selbst ein paar Photos schießen können, sie war hart wie ein Fingernagel und
zweimal so scharf. Der Gestank war nicht ganz so entsetzlich, wie er erwartet hatte, aber einzig und allein die Tatsache seines Hierseins – Gerry war sich fast sicher, daß ihm übel würde. Seine Gedanken kreisten immer wieder um den Text eines Lieds, das er vor Jahren gehört hatte: »I’ve been livin’ in this river of shit For nearly twenty years and I’m gettin’ tired of it.«∗ George war und blieb der Boss. Rose und Gerry waren froh darüber, daß er voranging; sie hatten sich niemals auch nur um ein paar Zentimeter von den Filzern entfernt, und deren Anweisung, ganz dicht bei ihnen zu bleiben, war unnötig gewesen. Sie gingen im Gänsemarsch. Georges Stimme war laut und vertrauenerweckend. »Also, da sinnen paar Regeln hier unten zu beachten, und ihr hört besser zu, denn das sind Sicherheitsregeln. Nummer eins, das Mauerwerk bröckelt an allen Ecken und Enden, und wenn ihr nur die Wölbung oben berührt, könnt ihr ‘ne Lawine auslösen. Nummer zwei, das Gesetz mag uns nich. Sie sagen, sie wollen uns nich hier ham, damit wir hier unten nich ersticken und sie dafür verantwortlich machen. Rührend, nich? Is scheißegal, daß se dafür verantwortlich sin, daß wir verhungern. Wenn wir also an Schächten und Gullis und sowas vorbeikommen, knipst die Lampen aus. Ich sag euch, wenn sowas kommt. Dann, Nummer drei, das Wetta. Wir kriegen keine Vorhersage mehr wie als noch der Laster oben war und das Stereoradio und die Sendungen. Das war ‘n Luxus, obwohl wir das damals nich gewußt ham. Wenn ‘n Gewitter kommt, wer’n wir – flusch –
∗
»Fast zwanzig Jahre lang hab ich in diesem Fluß aus Scheiße gelebt. Und jetzt hab ich die Schnauze voll davon.«
runter zum Fluß geschwappt, tolle Kameras und alles. Nich laut sprechen.« In völliger Stille trotteten sie weiter. Das Mauerwerk zog sich meilenweit dahin, und der Schlamm veränderte sich kaum in der Tiefe. Kälte und Nässe fraßen sich Rose tief in die Knochen, und jeder Abdruck im Matsch sah aus wie eine Ratte. Noch getraute sie sich nicht, nach den Schweinen zu fragen. Die Filzer bewegten sich sehr langsam, hatten die Arme bis zu den Ellbogen eingetaucht und tasteten nach verlorenen Objekten und kratzten über die Risse in den Mauern. Jeder Fund wurde wortlos untersucht und entweder nach hinten geworfen oder in eine der geräumigen Taschen gesteckt. Rose hatte nichts weiter zu tun, als die Unannehmlichkeiten zu überstehen und die Atmosphäre aufzunehmen, wovon sie bald die Nase voll hatte. Sie schaltete das Bandgerät in ihrer Tasche ab und hörte sich ihren Artikel noch einmal an, den sie im Kopf zum Teil schon geschrieben hatte. Einmal wenigstens tröstete sie der geschwätzige Plauderton ihrer eigenen Schreibe. Das mittelalterliche London wußte den Wert derjenigen, welche die Jauchegruben säuberten, sehr wohl zu schätzen und bezahlte sie gut. Vielleicht hatten sie recht! Wenn man meinem Freund Alf (wie ich ihn nennen werde) Glauben schenken darf, so sind unsere Abwasserkanäle aufgrund von Vernachlässigung kurz vor dem Zusammenbruch. Haben Sie sich jemals gefragt, wer das Wasserklosett erfunden hat? Es war Sir John Harrington, ein Cousin der Königin Lisbeth. Er hat im Jahre 1596 zwei davon gebaut und ein Buch geschrieben, das ein Tudor-Bestseller gewesen sein muß: The Metamorphosis of Ajax, a New Discourse on a
Stale Subject∗. Es hat Cousine Lisbeth dermaßen gefallen, daß sie es in ihrem eigenen WC in Hatfield an einer Kette hielt. Hier ein Teil eines Ratschlags, der mit Sicherheit noch nicht muffig geworden ist: »Item, daß Kinder oder Eilige, es nicht in Unordnung bringen, oder die Sperre öffnen, indem sie ihre Hände, ohne einen Schlüssel, es solle ein Knöpfchen bekommen, oder ein Töpfchen, um es mit einem Haltestift festzubinden, damit sie ohne den Schlüssel nicht geöffnet werden möge.« Harrington jedoch erlitt das Schicksal so vieler großer Erfinder, und seine Idee wurde zweihundert unhygienische Jahre lang nicht kommerziell verwertet. Der arme alte Pepys hätte es gut gebrauchen können, als er im Jahre 1660 von seinem Haus in (wirklich!) Seething Lane schrieb: »Als ich in meinen Keller hinabstieg… trat ich mit dem Fuß in einen großen Haufen Scheiße, woraus ich schließen konnte, daß Mr. Turners Abtritt voll war und in meinen Keller überlief, was mich wirklich ärgert, aber wogegen ich etwas unternehmen will…« Steve und Bridget richteten ihre Lampen auf die beiden Fremden, um zu sehen, ob es ihnen, wie sie hofften, vor Angst die Sprache verschlagen hatte. In dem grellen Licht wurden ihre eigenen Gesichter erleuchtet, ein blasser runder und ein schmaler schwarzer Schild. Auf beiden las Rose einen Funken von Spott und Triumph darüber, daß sie jetzt, hier unten, obenauf waren. »‘türlich ist das hier einer von den saubersten, nich wahr, Steve?«
∗
etwa: Die Metamorphose des Ajax, ein neuer Traktat über ein muffiges Thema – Anm. d. Übers.
»Stimmt. Da sin mittelalterliche Kanäle unterhalb der Stadt, die sin seit Jahrhunderten nich gesäubert worden. Alte Bögen stürzen ein, das is, wo wir diese römische Münze gefunden ham. In der Gegend da sin eure Büros, nich?« »Da waren sie«, sagte Rose. »Jetzt sind sie in den Docklands, aber ich wohne in der Innenstadt.« Niemals mehr würde sie dasselbe für ihr elegantes graues Marmorbad empfinden. »‘ne halbe Million Gallonen kommen hier jeden Tag runter.« Bridget kicherte, und alle Filzer schüttelten den Kopf und schnalzten mit der Zunge, als nähmen sie das Verdienst für diese wundervolle Tatsache für sich in Anspruch. Der düstere Tunnel öffnete sich jäh in einen gewaltigen Raum, wie eine Kathedrale. Überall Gewölbe, Streben, Säulen, und hoch über ihren Köpfen schossen Wassernadeln aus einem metallischen Wehr in einen weiteren Tunnel hinab. Es war sowohl mystisch als auch industriell, eine Reminiszenz daran, daß Religion und Technik einstmals aneinander geglaubt hatten. Rose dachte, ich muß Simon danach fragen. Sie fror noch immer an den Füßen, aber sie fühlte sich beschwingt, als habe sie gerade einige tiefe Atemzüge auf einem Berggipfel getan. Vielleicht hatten sie ja recht mit der gesunden Luft? Oder war es vielleicht eine spontane Freude darüber, entweder weit über der Welt zu sein oder in deren Abgründen, ein Himmel-und-Hölle-Zustand – Rose lächelte Steve zu, der neben ihr ging und noch immer versuchte, sie zu beeindrucken und zum Fürchten zu bringen. Gerry erholte sich und schoß ein paar Aufnahmen. Bridget tauchte neben einer Mauer den Arm ins Wasser, und die anderen Filzer halfen ihr dabei, eine gewaltige Ansammlung von Metall herauszuziehen. Es war wie ein großer Satellit aus verlorenen Nägeln, Münzen, Eisenstangen, Ringen, Ofenröhren, Schlüsseln, Messern, Gabeln, Löffel und Schraubschlüsseln; eine höllische Skulptur von einem Meter
Durchmesser, und so schwer, daß sie alle sechs sie kaum eine Minute lang tragen konnten. Sie hievten sie sich wie Sargträger auf die Schultern und posierten, und Gerry knipste begeistert. Anschließend lag kurzfristig so etwas wie die Atmosphäre bei einem Picknick über ihnen, als er eine Flasche Brandy aus der Tasche zog und sie dann kreisen ließ. Dann bogen sie in einen anderen Tunnel ab, erneut im Gänsemarsch, obgleich diesmal alle aufrecht stehen konnten. Alle Geräusche von draußen, außer das Platschen der eigenen Schritte und das Echo ihrer eigenen Stimmen, schotteten die Mauern ab. Also, dachte Rose, würde uns da draußen niemand kreischen hören, wenn eine Flutwelle oder irgendeine verborgene Gefahr uns davonschwemmte… »Sin jetz unterhalb von Nine Elms Market«, sagte Georg gutgelaunt und fügte im selben Tonfall hinzu: »Und hier ham die Ratten Charlie erwischt.« »Nä, war der nächste links«, sagte Bridget. »Ganz schön bescheuert, so allein loszuziehen. War schon immer ‘n blöder Hund, der Charlie.« Jamie hörte sich an, als habe ihm schon vor langer Zeit die Rattenpisse das Blut vergiftet. Er war der einzige Filzer, den Rose nicht leiden konnte. An die Langeweile, daran würde sie sich erinnern. Sie bewegten sich so langsam, in jedem öden Abschnitt der Mauer gab es so viele Spalten, die man durchsuchen mußte, und in dem dunklen Styx gab es so viele Schlammlöcher, worin man stochern und graben mußte. Ein ungeheuerlicher Job, dachte Rose, schrecklich und poetisch und faszinierend, in den Einzelheiten jedoch sich wiederholend, wie bei den meisten Jobs. Meinen eingeschlossen. Im achtzehnten Jahrhundert hatte Sir John Harringtons glänzende Idee noch immer nicht Fuß gefaßt. All diese
eleganten, kultivierten Menschen mit ihren gepuderten Perücken hatten sich zu ducken, wenn sie die Straßen entlanggingen, sobald sie den Ruf vernahmen ›Gardez l’eau‹. Dann, am Ende dieses Jahrhunderts, baute man die ersten Wasserklosetts. Und ihre Sickergruben überfluteten die Abwasserkanäle und verseuchten das Trinkwasser der Stadt. London stank immer mehr, bis zum ›Great Stink‹ im Sommer des Jahres 1858, als die Vorhänge des Unterhauses mit gelöschtem Kalk getränkt werden mußten und sowohl das Unterhaus als auch die Gerichtshöfe fast in die Provinz evakuiert wurden. Der Bootsverkehr auf der Themse, dem ›aqua mortis‹, kam zum Erliegen. Dann tauchte Joseph Bazelgett auf, ein brillanter Ingenieur, der Hunderte von Kilometern Abwasserkanäle baute und dem viktorianischen London die Expansion ermöglichte, ohne daß es zusammenbrach. Wir benutzen noch immer seine Kanäle. Wie ›Alf‹ sagt, verrotten sie jedoch allmählich, und der kürzliche Versuch der Regierung, die städtischen Abwasserkanäle zu privatisieren und eine Aktiengesellschaft zu gründen, war nicht von Erfolg gekrönt. Komm wieder, Bazelgette! Wieder in der Dunkelheit, ging Steve hinter Rose her und flüsterte: »Siehste diesen Tunnel? Führt nach Norden. Wir gehn da nich rauf, nich weiter als bis St. John’s Wood.« »Oh, ich bin mir sicher, daß St. John’s Wood in Ordnung ist«, sagte Rose mit einem heimlichen Kichern. »Von Hampstead hörste so die Geschichten«, sagte Bridget, ohne sich umzuwenden. Rose konnte keines ihrer Gesichter erkennen und wußte wirklich nicht, ob sie sich über sie lustig machten oder nicht. »Was für Geschichten?«
Sie blieben alle stehen, und George beugte sich herab, um die Mauer abzukratzen. »Weniger ‘ne Geschichte als ‘ne Legende. Wie König Arthur. Mein Vater hat mit ‘nem Typen gearbeitet, der einen davon gesehen hat, und der hat zuerst von seinem Vater davon gehört…« Rose schaltete das Bandgerät in ihrer Tasche ein, und George erfreute sich nun ihrer Aufmerksamkeit. »Die Leuten sagen, als erstes sin se in Highgate reingekommen, als da noch überall Felder und Höfe waren. Da war da diese trächtige Sau, nich, is in die Kanäle entwischt, als die offen waren. Na ja, wie du weißt, fressen die Schweine alles, also hatte se genuch zu fressen, hat sich dann innen Schlamm gelegt und ausgeschütt. Nur, den Kleinen, die sich schnell dran angepaßt ham, sin bald Borsten wie Dornen gewachsen und Schuppen und Augen wie Katzen. Ham wie Bullen in den Tunnels rumgejagt, ham von Ratten und Fröschen gelebt. Hat den Ratten gar nicht gefallen, und ‘n paar von denen sin fast zwei Meter lang gewesen. Also ham se ‘ne Armee gebildet. Ratten sin hochintelligent, verstehste. Dann hat’s da ‘ne schreckliche Schlacht zwischen den Ratten und den wilden Schweinen gegeben. Als sie die U-Bahn gebaut ham, ham sie die Schreie und das Kreischen gehört, ‘n Dutzend von den alten Filzern sin drin verwickelt gewesen, und die Ratten ham ihre Knochen gefressen. Nun, danach is natürlich keiner mehr hier runter gekommen. Dann, nach einem Jahr oder so, sin se wieder runter gekommen – mein Großvater hat das gehört, als er ‘n kleines Kind gewesen is –, und es is so ruhig wie immer gewesen. Aber alle paar Monate oder so is hier unten ‘n Mann verlorengegangen, und die Leiche is weggespült worden. Und da is dann entweder ‘n weißes’ Skelett gewesen – das hat geheißen, die Ratten ham ihn erwischt – oder nur ‘n Loch im Nacken und ‘n anneres Loch, wo das Herz gewesen is. Zuers ham se geglaubt, hier
unten war ‘n Mörder, sowas wie Jack the Ripper cum Dracula. Sie ham ‘n berühmten Naturforscher runtergeschickt, um mal nachzugucken. Na ja, was also dann passiert is, is das. Nach der großen Schlacht zwischen den Ratten und den Keilern, was se dann geworden sin, hatten se die Tunnels unter sich aufgeteilt. Die Keiler sin im Norden gesteckt, und die Ratten ham den Rest haben können, weil es Millionen von denen gegeben hat. Die Keiler ham sich nicht so rasch vermehrt, aber sie sin schrecklich gewesen. Die Ratten greifen ‘n Menschen nur an, wenn er allein is, aber die Keiler sin nach zwei Generationen so groß wie Bullen und zweimal so gefährlich geworden. Niemand, der einen getroffen hat, hat überlebt, um was zu berichten.« »Wie kommt’s dann, daß du uns das erzählen kannst?« fragte Gerry skeptisch. »Oh, man hat se oft genuch gehört und gesehen. Ich hab oft große schuppige Wesen gesehen, die am Ende von ‘nem Tunnel langgaloppiert sin«, sagte Bridget selbstzufrieden. »Man hört se oft«, stimmte Steve zu. »Brüllen und schnaufen.« »Hört mal!« George hob unheilvoll die Arme. Zu ihrer Rechten, auf der anderen Seite der Mauer, rumpelte etwas, bellte, grunzte und schnüffelte. Es war kein menschlicher Laut, der da durch den Tunnel hallte. »Die U-Bahn!« schrie Rose furchterfüllt. Gerry faßte sie beim Arm. »Findest du’s nicht ziemlich merkwürdig, daß in all diesen Jahren – wie ihr sagtet, fast zwei Jahrhunderte lang – niemals eines dieser Schweine den Fluß hinabgespült worden ist?« »Sie ham flußabwärts gemußt, nich? Und Schweine können nur gegen den Strom schwimmen.«
»Na ja, ich halte das für absurd. Und, wie George zu Beginn gesagt hat, es ist eine Legende, warum also erzählt ihr uns das wie eine wahre Geschichte?« »Is beides, nich wahr?« fragte Steve. »Aber ich sehe nicht…« Gerry argumentierte weiter und weiter, aber die Filzer hoben bloß die Schultern. Bald danach machten sie kehrt und gingen zurück, ziemlich schnell, weil die Filzer ihre Taschen, die sich wie Körbe ausbeulten, prall gefüllt hatten. Rose stellte ihnen ein paar letzte Fragen, aber durch ihre Gedanken rasten die wilden Schweine, und sie waren noch immer da, als sie sich durch das runde Loch in den irgendwie unpassenden Sommernachmittag hinaufzogen.
KAPITEL 26
Am gleichen Tag, als Simon den Brief eines Anwalts erhielt, worin ihm mitgeteilt wurde, Connie habe ihm Freeman Castle hinterlassen, rief Bernard an. »Ich werde dir wohl besser mal gratulieren.« »Wegen dem Haus? Ja, das war nett von ihr.« Sie waren gerade nach einem langen heißen Tag in Smiles zurückgeradelt. Ein Baby war tags zuvor im Lager an der Cholera gestorben, und ein arbeitsloser Arzt, der dort lebte, hatte zwei weitere Fälle diagnostiziert. Ein Laster war vorbeigekommen und hatte kostenlose Impfungen angeboten. Simon und Christy waren hingegangen und hatten auch Merlin impfen lassen, von dessen Schularzt. Aber viele Menschen im Lager hatten sich geweigert, aus Apathie heraus oder einem automatisch sich einstellenden Mißtrauen Ärzten gegenüber – und Lastern, die behaupteten, irgend etwas kostenlos abzugeben. Die Panik hatte begonnen; einige Menschen mit Kindern hatten das Lager bereits verlassen. Der Brief des Anwalts, mit dem geprägten Briefkopf und dem pompösen Neureich-Gehabe, war wie ein gepolstertes Ledersofa, das man auf einem Ruinengrundstück zurückgelassen hatte. »Das ist Ansichtssache. Für deine Mutter und für mich ist das nicht besonders nett. Einige Leute könnten in Betracht ziehen, daß wir ein moralisches Anrecht auf das Haus haben.« »Wirklich? Wer?« »Wir haben seit unserer Heirat hier gewohnt. Ich habe hier gelebt, seitdem ich drei Jahre alt war. Tatsache!« »Nicht schlecht, so ohne Miete.« »Hast du etwa die Absicht, Miete von uns zu verlangen?«
Aus dem Hintergrund vernahm Simon ein unterdrücktes Kreischen. Also mal wieder, dachte er, hysterische Szenen am Telefon. Christy trat heran, griff ihn beim Arm und versuchte, die Unterhaltung mitzuhören. Merlin hob den Hörer des Nebenanschlusses im Schlafzimmer seines Vaters auf. »Nein. Ich hatte angenommen, ihr wolltet ausziehen.« »Wirklich? Diese Annahme paßt zu dir. Hat angenommen, wir wollten umziehen«, hörte ihn Simon entsetzt und sarkastisch für Madge wiederholen. »Deine Mutter möchte gern ein Wörtchen mit dir reden. Ja. Hier ist sie.« Christy fragte sich, wie viele Leute an diesem Gespräch teilnahmen. Zweifellos schwebte die habgierige alte Ziege gleichfalls hier und genoß den Aufruhr, den sie mit ihrem letzten Willen entfacht hatte. »Simon? Ich hoffe jetzt, daß du dir das nicht zu Kopf steigen läßt. Ich meine, keine Frage, daß du und Christine hier nicht wohnen könnt…« »Sie heißt Christy. Und warum nicht?« »Na ja, es ist einfach kein Haus für euch, das ist alles, auch die falsche Gegend. So weit weg von diesem Zigeunerlager.« »Ich habe wirklich nicht geplant, dort zu wohnen. Vermutlich werde ich’s verkaufen. Ich werd’s euch wissen lassen, wenn ich mich entschieden habe.« Unter Schluchzen und Gezisch fand eine lautstarke Beratung statt. »Hallo? Simon? Ich meine, wir sollten – wie Madge sagt – wir sollten eine Zusammenkunft deswegen einberufen, mit Rose.« »Aber Bernard, nur in viktorianischen Romanen berufen Familien eine Zusammenkunft über einen letzten Willen ein. Was gibt’s da zu bereden?« »Du wirfst uns aus unserem Haus, und du fragst, was es da zu bereden gäbe?«
»Ich wünschte mir, du würdest aufhören, so zu reden, als wäret ihr die ansässigen Pächter und ich der skrupellose Gutsherr. Ihr könntet euch jedes Haus in London kaufen, wenn ihr wollt.« »Liebling?« »Ja, Madge?« »Warum kommst du nicht am Sonntag zum Essen, und wir reden darüber? Nur wir drei und Rose. Merlin ist daran nicht weiter interessiert, nicht wahr, und ich bin mir sicher, deine Freundin möchte nichts weiter von unseren schmutzigen kleinen Affären hören.« »Ja. Einverstanden. Bis dann.« Simon legte den Hörer auf und brach erschöpft auf einem Stuhl zusammen. Merlin kam den Flur herabgelaufen. »Werden wir jetzt in Großmamas Haus wohnen?« »Nein. Weißt du, es ist das erste Mal seit Jahren, daß es Madge gelungen ist, uns alle zusammenzubekommen, allein, um einen Tisch. Es heißt, Geld treibt die Menschen auseinander, aber meiner Ansicht nach ist es in unserer Familie das einzige, was uns beisammenhält.« Simon sah Merlin entschuldigend an, weil er Madge und Bernard nicht vor seinen Ohren hatte beleidigen wollen. Sei’s auch nur, um sich selbst zu schützen, wenn ihm Merlin ebenso kritisch gegenüberstünde, wie er jetzt seinen Eltern gegenüberstand. »Also wirst du reich werden«, sagte Christy nachdenklich. Merlin blieb trotzig. »Na ja, ich halte Geld für was Gutes. Wir könnten ein Auto und ein paar neue Kleider kaufen und richtig in Ferien fahren, in ein Hotel mit Swimmingpool. Und jeden Tag im Restaurant essen.« »Dann gehst du wohl besser wieder zu deinen Großeltern, wenn du das alles willst«, sagte Simon traurig.
»Nein. Das habe ich nicht gesagt. Aber wenn wir was Geld bekommen haben, warum können wir’s dann nicht genießen? Dir gefallen wohl diese armen Leute in der Zeitung, die sagen, sie haben fünf Milliarden Pfund im Bingo des Morning Hope gewonnen, aber das würde ihr Leben nicht verändern. Großmama hat uns immer solche Geschichten vorgelesen, sie fand das ebenfalls schrecklich.« »Ich habe diese Leute immer ziemlich bewundert.« Simon dachte, das Geld treibt wie grünes Miasma durchs Zimmer und verzerrt und verwirrt alles. Christy war sehr still geworden. Sie war sich jäh bewußt, daß ein Simon mit Geld andere Bedürfnisse und Erwartungen hätte. Am Samstag nahm ihn Rose im Wagen mit nach St. John’s Wood. Sie jubilierte, als sei der unerklärte Krieg zwischen den Generationen endlich ausgebrochen, und sie hätten ihn am Ende gewonnen. »Ich hatte überhaupt nichts davon gewußt, bis ich sie am Donnerstag angerufen habe. Madge war von irgend etwas fürchterlich beleidigt, zunächst dachte ich, mein Artikel über die Abwasserkanäle habe sie derart angewidert. Dann ist sie mit der Sprache rausgerückt – ich habe gebrüllt vor Lachen.« »Also sind wir beide in Ungnade gefallen.« »Warum ist Christy nicht mitgekommen?« »Sie war nicht eingeladen.« »Ich habe nie Gelegenheit, mit ihr zu reden. Trotzdem mag ich sie, warum gehen wir nicht mal alle gemeinsam aus? In den Zoo, und nehmen Merlin mit oder sowas.« »Er haßt den Zoo, er war unser regelmäßiges Ausflugsziel, als er bei Madge und Bernard gelebt hat. Aber ja, natürlich, wir müssen uns öfter treffen.«
»Ich nehme an, sie mag mich nicht. Hält mich für eine gräßliche Medientante. Was hat sie zu dem Artikel über die Filzer gesagt?« »Nicht viel. Sie schaut selten in die Zeitung.« Wie es aussah, wollte Christy Distanz zu dieser Familie wahren, außer zu ihm und zu Merlin, und Simon ermutigte sie dabei, weil er seine Freundschaften fest in getrennten Abteilungen versiegelt halten wollte. Jetzt, da die Barrieren zu bröckeln begannen, kam er sich überdehnt und zerteilt vor. Bernard öffnete ihnen die Tür, und er trug seine Liebenswürdigkeit wieder wie eine Blume im Knopfloch. »Freue mich so darüber, daß ihr beide kommen konntet… nur die Familie meine liebe Rose, wie hübsch und sommerlich du aussiehst! Habe gedacht, wir setzen uns in den Garten. Also«, zu Simon, »was für eine Überraschung! Sie war schon immer eine unvorhersagbare Frau gewesen.« Bernard war stets erstaunt vom Leben, was ihm viel seines jungenhaften Charmes bewahrt hatte. »Ich nehme an, es war eine Überraschung?« fragte Madge mißtrauisch, als sie sich auf dem Rasen rund um den schmiedeeisernen Tisch niederließen. »Warum fragst du?« Im Zweifelsfalle beantwortete Simon eine Frage mit einer Gegenfrage. »Na ja, ein außergewöhnlicher Zufall. Was für eine kleine Welt! Wir haben neulich im ›Carcassone‹ gegessen, da haben wir Ronny Saffron getroffen.« Bernard traten vor Erstaunen die Augen aus den Höhlen. »Partner von Connies altem Anwalt, wißt ihr. Und er hat beiläufig erwähnt, er habe dich und Merlin im Büro gesehen, mit Connie, vor ein paar Monaten. Ich hoffe wirklich, nicht indiskret zu sein.« »Laßt uns doch alle mal indiskret sein!« sagte Rose, während sie Simons Gesicht im Schein der erleuchteten Pilze beobachtete, die Madge auf den Rasen gesetzt hatte.
»Ja, wir haben da vorbeigeschaut.« »Und ihr Testament geändert?« fragte Madge wie aus der Pistole geschossen. »Das stimmt.« »Ich hab’s mir gedacht.« Sie summte tonlos vor sich hin und fummelte mit dem Glas herum, das ihr kleiner Mann ihr gebracht hatte. »Na ja. Prost!« »Ich erinnere mich stets daran«, kicherte Bernard, »als Merlin noch ein kleines Kerlchen war, kaum älter als zwei, da haben wir immer ›Prost!‹ gesagt, wenn er im Zimmer war, und er ist davongerannt, um alle Klappstühle hereinzubringen. Schrecklich süß.« »Er ist immer so oft hiergewesen«, sagte Madge kalt. »Wie geht’s ihm?« »Gut.« »Hat sich an die Wohnung gewöhnt? Und die Schule? Und an die neue… Stiefmutter ist sie wohl?« »Wir haben nicht die Absicht zu heiraten. Ja, er ist anscheinend ziemlich glücklich.« »Heutzutage müssen Kinder so anpassungsfähig sein. Ich erinnere mich daran, als du etwa fünf Jahre alt warst, da hast du nicht in einem fremden Bett schlafen wollen. Du hast eine absolut strenge Routine gebraucht, jeden Abend dieselben Geschichten – und du, Rose, du hast dein Töpfchen förmlich angebetet. Ein kleines blaues, aus Kunststoff, mit einem Teddybären darauf. Du hast es überallhin mitgenommen, und auf nichts sonst hättest du es getan. Ich schätze, du hast dich nicht wirklich geändert.« »Meinst du damit etwa meinen Artikel vom vergangenen Sonntag?« »Na ja, Liebes, der war ja auch ein bißchen drastisch.«
»Ich wußte, daß du so denken würdest. Der Gedanke hat mich beim Gang durch all diese unheimlichen stinkenden Tunnel angespornt.« »Ich weiß nicht, warum es euch beiden soviel Spaß macht, mich in Verwirrung zu versetzen.« Madge war nahe daran, in Tränen auszubrechen, und sie alle setzten sich ängstlich auf. »Ihr macht ein Spiel daraus, nicht wahr? Na, ich halte es für sehr kindisch und selbstsüchtig.« »Es ist kein Spiel«, sagte Rose leise. »Was ist mit ein paar Avocados? Lachs und Erdbeeren. Ein richtiges Festmahl. Madge hat den ganzen Morgen eingekauft.« Bernard stand auf und schwang die Arme, um seinen Rücken zu entlasten, einziges Leiden mit seinen siebenundsechzig Jahren. »Setz dich hin, Bernard! Ich stelle die Zeituhr ein, und mein kleiner Mann wird das Tablett gleich bringen.« Eine Sekunden lang blickte sie zu dem Fenster hinauf, von wo aus Connies perverser und unbeugsamer Wille sie noch immer überwachte. »Also, das habe ich sagen wollen.« Sie stockte, wie eine selbsternannte Königin, die dabei war, abzudanken. »Wir können nicht länger bleiben. Das Haus gehört dir, Simon, und deine alternden Eltern sollen dir nicht im Weg stehen. Es war wohl dumm von mir anzunehmen, wir könnten hierbleiben…« »Am Abend unserer Tage«, unterstützte sie Bernard. »Halt’s Maul, Bernard!« »Entschuldige, meine Liebe.« »Aber jetzt müssen wir umziehen. Wir werden uns einige Monate lang eine Wohnung mieten, während wir uns nach etwas anderem umsehen. Natürlich werden wir uns ein so großes Haus wie dieses hier nicht leisten können…« »Warum nicht?« fragte Simon. Rose stieß gleichfalls nach. »Ja, warum nicht, Bernard? Neulich waren deine Gewinne des ersten Jahres im Financial
Hope abgedruckt, und für mich hat’s so ausgesehen, als sei ‘ne Menge Geld da, um damit ein Haus zu kaufen.« »Mein liebes Mädchen, das ist nicht so einfach. Wir haben uns finanziell übernommen. Diese Sache muß erst ins Rollen kommen. Außerdem haben wir auch Probleme mit Bargeld, mit Steuern, schrecklich hohe Spesen, du weißt schon. Die Zahl, die du da gesehen hast, fließt nicht in meine Tasche.« »Aber einiges davon doch«, meinte sein Sohn. »Mir ist aufgefallen«, sagte Rose, »daß die Reichen niemals zugeben, reich zu sein.« »Tatsächlich beklagen sie sich viel mehr wegen des Geldes als Leute, die keines haben«, pflichtete ihr Simon bei. Seine Mutter sah ihn mit wachsender Abneigung an. »Na ja, du wirst ja jetzt nicht mehr so verdammt scheinheilig tun können, nicht wahr? Dir ist doch hoffentlich klar, wieviel dieses Haus wert ist?« »Ja.« Er hatte ungläubig in die Schaufenster einiger Makler geblickt. »Ich frage mich, was sie da unten in deinem Zigeunerlager davon halten? Du wirst doch jetzt wohl mit einem Sportwagen zur Arbeit fahren und nicht mehr mit einem Fahrrad aus dritter Hand, wie ich annehme?« »Schreibtisch-Sozialisten«, brummte Bernard. Simon wurde rot; im Schein der Pilze war sein Gesicht von einem kranken Orange. »Das macht meine Lage ziemlich kompliziert. Aber kompliziert war sie ja eigentlich schon immer. Wann zieht ihr aus?« fragte er, während der Roboter geräuschvoll das Essen von einem Tablett austeilte. Madge knallte die Teller auf das wackelige Tischchen. »Du kannst es wohl gar nicht mehr erwarten, uns loszuwerden, was? Und ich hatte immer geglaubt, du seist von Natur aus netter als Rose.«
»Wir sind beide nett, auf unsere jeweilige Art«, verteidigte sich Simon. »Was verlangst du eigentlich von ihm, Madge?« fragte Rose, zutiefst verwirrt. »Sein legales Recht auf das Haus zu widerrufen? Es euch mietfrei zu überlassen, bis ihr in den großen Freizeitpark im Himmel eingeht?« »Apropos«, sagte Bernard scharf, »ich erinnere mich daran, wie sehr sich mein lieber alter Vater um seine Eltern gekümmert hat, als sie alt wurden. Hat ihnen ein Haus gleich um die Ecke gekauft, so daß sie nicht einsam wären, und er hat am Ende ein Vermögen dafür bezahlt, daß seine Mutter ins Altersheim ging. Er pflegte zu sagen: ‘Wenn sie nicht hier wären, wäre ich auch nicht hier!’ Dieses Haus hier sollte stets ein Haus für die Familie sein. Na ja, sowas nennt man heutzutage bloß noch sentimental.« »Keiner von euch versteht was.« Madge verschränkte die Hände im Schoß und spielte mit ihrer Gingham-Serviette. »Ich kann nichts zu mir nehmen.« »Nimm doch was Lachs, Liebling!« Bernard ließ es sich schmecken. »Die Kartoffeln sind verdammt gut. Von Cassidy’s?« »Ich werde mich etwas hinlegen. Ich weiß nicht, wie ihr alle so gefühllos sein könnt!« Madge ging über den Rasen davon, zum Leiden entschlossen. Die übrigen spürten ein gewisses Schuldgefühl, aber das war so vertraut, daß sie damit fertigwerden konnten und sich gefühllos das Essen schmecken ließen. »Also geht’s dir gut, Bernard?« fragte Simon. »Kann mich eigentlich nicht recht beklagen. Könnte viel schlimmer sein. Wir erweitern tatsächlich das eine bei dir in der Nähe.« »Wirklich?«
»Ja, wir haben diesen verfallenen Friedhof direkt neben dem alten Fußballplatz aufgekauft. Die Bulldozer sollten am Montag dort sein, man muß eine Menge Müll wegräumen, ehe wir mit dem Bauen beginnen können. Alte Gräber und so, ziemlich morbide.« »Ich habe viel Zeit auf diesem Friedhof verbracht.« Eigentlich hätte er Schmerz verspüren sollen, oder zumindest jene Woge von Melancholie. Aber seine Seele hatte sich von dieser Gegend seiner Vergangenheit gelöst. Er stellte sich lediglich noch vor, wie sich Bernards Spielpaläste auf den Schädeln und Knochen eines Establishments aus dem neunzehnten Jahrhundert erheben würden. »Wirklich?« Bernard hörte sich besorgt an. Er hatte Nachdenklichkeit stets mit mangelnder Gesundheit assoziiert. »Ich hoffe, diese Aussteiger-Sache wird jetzt ihr Ende finden, da du jetzt etwas an den Füßen hast. Ich meine, du kannst jetzt mit den eigenen Geschäften beginnen. Wir suchen natürlich noch immer Leute, die das Ganze unterstützen – bring’ dich doch auf der unteren Etage ein! Damit könnte man die Kosten für Merlins Ausbildung bestreiten… hast du schon einmal darüber nachgedacht, wohin du ihn schicken wirst? Sammy hat gesagt, Westminster habe einen sehr guten neuen Leiter bekommen, falls du ihn nicht auswärts unterbringen willst.« Seine Kinder sahen einander an, seufzten und lachten. »Du hast gut lachen, Simon, aber das wenigste, was du für das arme Kind tun kannst, ist, sicherzustellen, daß er eine angemessene Ausbildung erhält. Du kannst ihn nicht auf eine dieser Gesamtschulen schicken, von denen ich neulich gelesen habe. Sie werden von bewaffneten Banden terrorisiert – Kindern von zwölf oder dreizehn, die ihre Lehrer mit Messern und Gewehren bedrohen. Und überall Drogen!« »Paps, wir werden nie einer Meinung sein, was eine gute Ausbildung ist.«
Es war lange her, seit ihn Simon das letzte Mal Paps genannt hatte. Während sie so im Garten beim Kaffee saßen, war Bernard ziemlich stolz auf sie beide. Natürlich waren sie rüde und undankbar, aber sie könnten schlimmer sein. Und während Simon einerseits nicht hinter ihrem Rücken Connie hätte in den Arsch kriechen sollen, so zeigte das andererseits jedoch, daß der Junge mehr Gespür dafür hatte, als ihm Bernard je hätte zugestehen wollen. Das war ein hübsches Haus hier, und sie würden es vermissen, aber die letzten Zahlen waren sehr ermutigend gewesen. Vielleicht könnten sie sich sogar ein noch netteres Haus leisten. Firmenhäuser wurden bevorzugt aus Gründen der Steuererleichterung errichtet, hatte Sammy gesagt. Wie schade, daß sich Madge so darüber aufgeregt hatte! Als der Abend zu Ende war, gingen sie auf Zehenspitzen durchs Haus. »Sollen wir raufgehen und ihr ›Auf Wiedersehen‹ sagen?« fragte Simon. »Sie könnte schlafen – kein guter Einfall. Meiner Meinung nach wäre es diplomatischer, sie morgen früh anzurufen. Nur um zu zeigen, daß man nicht nachtragend ist.« »Wirklich nicht?« fragte Rose. »Da fließt noch einiges Wasser die Themse hinunter. Sowas kommt halt vor. Das Leben ist zu kurz.« Er geleitete sie strahlend zum Wagen. Madge sah ihnen vom Schlafzimmerfenster aus zu, wie sie abfuhren. Später, als Bernard hinaufkam, sagte sie: »Ich komme mir vor wie König Larry.« »Wie wer, meine Liebe?« »Du weißt schon, dieses Stück von Shakespeare, worin Tommy so gut war. Das über den alten Mann, dessen Kinder sich so schrecklich benommen hatten, was ihn betraf, und ihn im heulenden Sturm auf die Heide hinausgeworfen haben.«
»König Lear, meine Liebe. Sollten wir etwas auf der Heide suchen?« »Ich weiß nicht, warum sie mir gegenüber so unfreundlich sind. Ich habe immer zuerst an sie gedacht.« »Sie sind Raffer, fürchte ich, und du bist eine Geberin des Lebens.« »Ich habe mich so bemüht…« »Ich fürchte, wir waren zu nett zu ihnen. Vielleicht mit ein bißchen mehr an Disziplin… weißt du, daß er Merlin auf eine dieser Gesamtschulen schicken wird?« »Absolut widerwärtig!«
KAPITEL 27
Am Ende radelten sie in einer Reihe nach St. John’s Wood. Merlin, der unsicher zwischen ihnen fuhr, rief bei jeder Ampel, sie hätten ein Taxi nehmen sollen. Wir sehen aus wie bei einem munteren Sonntagsausflug, dachte Christy, ein Familienpicknick mit braunem Reis und Linsen. London wurde immer prächtiger; cremefarben gepflasterte Plätze und Terrassen, die eher wie vom Zuckerbäcker geformt aussahen als von einem Architekten, köstliche Gärten, Balkone, von einem Baldachin überdacht, Parks wie Samt, Fleischereien und Geschäfte wie kleine hübsche Restaurants und Restaurants wie Paläste. Sie nahmen Abkürzungen durch Nebenstraßen, um die Hauptstraßen zu umgehen, wo Merlin noch immer nervös wurde. »Das ist ein schönes Haus«, sagte er immer wieder. »Sollen wir nicht da wohnen?« Vorüber an der 18.-Jahrhundert-Anmut von Mayfair zu den Nash-Terrassen um den Regent’s Park herum, angelegt, den Höflingen eines Palastes zu gefallen, den es niemals gab. In dem klaren Licht der Morgensonne glänzte das alles in der Zuversicht und der Schönheit von Geld, das Zeit gehabt hatte, sich in etwas anderes zu verwandeln. Sie hielten in einem Park, so daß Merlin zu einem Spielplatz gehen konnte, setzten sich auf eine Bank und sahen ihm zu, wie er schaukelte und im Sandkasten spielte und an den Geräten herumkletterte. Simon war wie betrunken von seiner Stadt. »Wenn der Prinzregent nicht so unpopulär gewesen wäre, hätte er aus London die schönste Stadt der Welt gemacht. Hast du mal
Stiche von seiner Regent Street gesehen? Dagegen sieht unsere aus wie eine Scheibe Hackbraten. Diesen wundervollen Bogengang hat man errichtet, um Carton House mit einem neuen Palast zu verbinden, den Nash für ihn hier erbauen wollte. Den Piccadilly Circus und den Oxford Circus – erster und zweiter Regent-Circus – säumten halbrunde Gebäude. Kannst du dir etwas Verführerischeres vorstellen? Große Auffahrten mit Balustraden, weißes Pflaster, Säulengänge, wunderbar proportionierte Räume – aber natürlich konnte er sich das nicht leisten. Als Regent und König haßte man ihn als extravagantes Ungeheuer und Wüstling. Die Briten hatten stets ein Faible für ihre SexSkandale. Nash war gleichfalls verhaßt, als sein Architekt, und man hatte einen Spottvers auf ihn verfaßt: ›Augustus at Rome was for building renowned, And of marble he left what of brick he had found. But is not our Nash too a very great master He finds us all brick and he leaves us all plaster.‹∗ Siehst du, das ist das Problem bei der Architektur. Man kann große Visionen haben, aber es ist nahezu unmöglich, sie zu materialisieren.« Christy sah sich um. »Mir kommt’s so vor, als habe er dennoch schrecklich viel gebaut. Es ist so eitel, einer Stadt für immer und alle Zeiten seinen unauslöschlichen Stempel aufdrücken zu wollen.« ∗
auf deutsch etwa: Augustus von Rom war berühmt für seine Bauten Er hinterließ uns in Marmor, was er in Ziegelstein vorgefunden hatte. Aber ist unser Nash nicht auch ein großer Meister Er hat alles in Ziegelstein vorgefunden und hinterläßt alles gepflastert.
»Du wirst gleich wieder moralisch. Siehst du nicht, wie hinreißend schön das gewesen wäre? Meilen der Eleganz, der Heiterkeit und des Lichts…« und Simon, der seit seinem fünfzehnten Lebensjahr Nashs großartigem Plan von London verfallen war, seufzte. »Wir haben schon genug davon«, sagte Christy fest. »Die ganze verdammte Stadt von Chelsea bis Hampstead ist lediglich ein einziges Reichen-Ghetto, ein exklusiver Club, zugänglich nur den Reichen. Und davon gibt’s soviel, und das schockiert mich. Überleg doch mal, jedes einzelne dieser Häuser ist für eine Million oder zwei gekauft und wiederverkauft worden.« »In keinem davon möchte ich leben. Ich sehe sie mir einfach nur gern an. Das kann jeder tun.« »Ja, aber du kommst dir dabei vor wie ein Aussätziger. Und so sind sie auch entworfen – die Schlüssel zu den privaten Gärten, die bewaffneten Wächter vor den großen Wohnblocks, das richtige Essen und der richtige Wein, der Akzent, die Kleidung, das Mobiliar – alles Paßworte. Sie brauchen keine Mauer drumherum zu bauen.« »In gewisser Hinsicht hast du recht. Seitdem ich hier großgeworden bin, hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich um ein Beträchtliches verbreitert. Ich finde das schrecklich, natürlich – aber rein optisch gesehen ist es ein Festschmaus.« »Ich habe vergessen, daß du jetzt mit einem Bein drinsteckst.« »Und mit dem anderen in Smiles, vergiß das ja nicht!« »Wirklich?« Christy ließ ihrem Ärger und dem heulenden Elend freien Lauf; beides hatte sie seit Wochen hinuntergeschluckt. Vor ein paar Tagen war Lily an der Cholera gestorben, ein kleiner Leichnam in einem Zelt, der am folgenden Tag in dem öffentlichen Massengrab beerdigt worden war, das sie gegraben hatten. »Meiner Ansicht nach
bist du wie eine von diesen Wohltätigkeits-Schnepfen, die Gefängnisse und Slums besuchen. Jeder nennt sie Engel, aber in Wirklichkeit ist’s nur ihre Weise, reich und wohltätig zu sein.« »Ich habe mich schon gefragt, wann du mir das unter die Nase reiben würdest. Während der vergangenen paar Wochen habe ich ebensoviel Zeit in Smiles verbracht wie du.« Sie stand auf. »Du bist ein wenig zu gut darin, alles miteinander auszusöhnen, Simon, und ich muß es ausbaden. Es ist doch schade, nicht, daß es Kinder gibt, die sterben, aber wie dem auch sei, es ist doch auch ein Glück, daß es genügend Geld gibt, all diese wunderschönen Häuser zu erhalten, oder? Heiterkeit und Licht. Für Leute, die in der eigenen Scheiße und Kotze liegen, gibt’s keine Heiterkeit und kein Licht!« »Du hast kein Recht, mir das vorzuwerfen, als würde ich wunderschöne Straßen lieben und wäre gleichzeitig dem Leiden gegenüber gleichgültig. Manchmal bist du ein fürchterlicher Moralapostel, Christy.« »Und du bist so fade und blasiert wie diese Häuser da, die du so sehr bewunderst.« Als wollte er ihren Angriff widerlegen, geriet er in Panik, auch weil er sah, daß sie dabei war, ihn zu verlassen. Er hätte es nicht ertragen, allein mit Merlin nach Freeman Castle zu gehen. Nur zusammen mit Christy wäre es eine offenstehende Tür in die Zukunft, statt einer Tür, die vor der Vergangenheit zugeschlagen wäre, und er wäre mit eingeschlossen. Simon nahm sie bei den Händen und begann zu betteln, er wußte kaum, was er sagte. »Geh nicht! Komm mit mir, bitte! Ich brauche dich dort, wirklich, ebenso wie sie dich in Smiles brauchen. Wenn du magst, gehen wir später hin, mit Merlin, ich weiß, wir sollten’s tun. Vertrau mir!«
Beide weinten; Simon, weil er fürchtete, sie würde ihn wegen seiner Unentschiedenheit aus all jenen Gründen verachten, aus denen heraus er sich selbst verachtete, und Christy, weil sie einen Augenblick lang wirklich soweit gewesen war, davonzuradeln und ihn für immer zu verlassen. Doch war das keine Möglichkeit, die sie ergreifen wollte. Oben von der Rutschbahn beobachtete sie Merlin, und er fragte sich, warum die Leute mit zunehmendem Alter immer blöder und peinlicher wurden. »Alle sehen mich an. Kommt endlich!« Und er zog sie weg. Es war ein großer Ziegelsteinbau, der vorgab, älter zu sein, als er in Wirklichkeit war. Es gab eine eigene Auffahrt und einen Garten. Eine solche Abgeschiedenheit mitten in London war für Christy ein phantastischer Luxus. Merlin lief direkt in den Garten, nachsehen, ob noch ein paar Himbeeren übrig waren, und Simon streifte durch die Zimmer. Bernard und Madge hatten fast alles mitgenommen, vermutlich in der Hoffnung, in ein ähnlich großes Haus zu ziehen. In Christys Augen hatten die wenigen zurückgebliebenen Sachen jenen unpersönlichen Ausdruck, den die Häuser der Reichen für sie stets hatten: schwere Querbehänge, verzierte Wandleuchter, Spiegel mit verdeckter Beleuchtung, Radiatoren in schmiedeeisernen Käfigen, viel rosa- und muschelfarbene Seide, die dem Haus, wenn es bewohnt war, den Anstrich eines High-Class-Puffs gaben. Sie mußte sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, daß es Simon gehörte, Teil von ihm war, ebenso wie das Haus ihrer Mutter Teil von ihr war, eine ewige Landschaft in ihrem Bewußtsein. Die leeren Hüllen des Schlaf- und Badezimmers seiner Eltern oben waren eine Orgie in Rosa. Aus den Fenstern blickte sie auf den ungepflegten Garten, wo die Blumen und Blätter einen herbstlichen Anstrich bekamen, und auf Merlin, glücklich auf seiner Schaukel. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, wußte
jedoch, daß er hier zu Hause war, geschützt, mit genügend Raum, darin zu träumen. Je eher wir ihn nach Smiles mitnehmen, und je früher er sieht, wie das wirkliche Leben ist, desto besser, dachte sie bitter. Er war das Abbild einer wohlbehüteten Kindheit. Dann fiel ihr ein, daß er schon eine Menge durchgemacht hatte, für jemanden mit neun. Leiden der Mittelklasse waren stets psychologisch. Christy folgte Simon in ein anderes Zimmer, ein merkwürdiges Zimmer, denn es war voll; voller Möbel, Bücher, Schallplatten, Bilder, sogar das Bett war bezogen. Sie hob ein besticktes Tuch von einem Pult und fand darunter ein Modell. Als sie sich hinkniete, um es näher zu betrachten, sah sie eine nette kleine Fingerübung in Rechtecken, Würfeln und diagonalen Linien. »Du warst dabei, die Leute in Wohnblöcke zu stecken.« »Ich weiß.« »Eine Blaupause für Smiles.« Sie war enttäuscht. Sie hatte angenommen, wenn er schon Architekt war, daß er dann auch ein guter Architekt sein müsse. »Nash hätte sich an einem solchen Ort noch nicht mal begraben lassen.« »Er war bereits tot, das war das Problem. Du kannst eine Geisteshaltung, die gestorben ist – Eleganz und Witz-, nicht in moderner Kunst ausdrücken. Unsere Haltung ist… öh… hart, kantig, groß, nostalgisch, paranoid – selbst Gebäude, die keine Festung sein müssen, müssen wie eine Festung aussehen. Dieses unterirdische Parkhaus, das ich gebaut habe, sah exakt genauso aus wie ein Atombunker, von außen jedenfalls. Es bräuchte einen sehr großen Architekten, um daraus etwas Ansprechendes zu machen, und ich fürchte, ich war keiner.« Während sie da Seite an Seite knieten, berührte sie ihn an der Hand und fühlte sich ihm näher denn je. Madge hatte Connies Zimmer unberührt gelassen. Die Vorhänge waren noch immer zugezogen, und über allem lag
ein überwältigender Gestank nach Nikotin, Krankheit und Alter. Christy starrte voller Entsetzen auf das kunterbunte Durcheinander aus ungewaschener Kleidung, schmutzigen Aschenbechern, Tassen, Gläsern, alten Zeitungen und Illustrierten. Auf allen zurückgelassenen Tischen und Schallplatten lag eine dicke Schicht von Staub. Eine Familie von Küchenschaben vergnügte sich unter einem fleckigen Lehnstuhl an einem Schokoplätzchen. »Aber warum haben sie sie so leben lassen?« »Sie hat sie nicht hineinlassen wollen.« »Und nach ihrem Tod? Da hätten sie doch sicherlich aufräumen können?« »Sie waren wohl zu wütend über ihr Testament. Wollten wohl alles mir überlassen.« »Wir kommen ein andermal her und räumen auf. Heute möchte ich nicht lange bleiben.« »Simon? Papi? Christy? Wo seid ihr?« Christy war zusammengefahren, denn er hörte sich genauso an wie ein verschrecktes Kind. Fand das Haus unheimlich, wie sie auch. »Wir sind hier oben, in Connies Zimmer!« Merlin stand auf der Schwelle. »Puh! Wenn man sich vorstellt, ein Geist sein zu müssen und an einem Ort wie dem hier zu spuken!« »In alle Ewigkeit Tango zu tanzen«, sagte Simon nachdenklich vom Fenster her. Was für einen wundervollen Ausblick mußte sie an jenem Abend auf uns alle im Garten gehabt haben, dachte er. »Armes Ding«, fügte er hinzu, falls sie zuhörte. Christy und Merlin hatten sich hinaus auf den Treppenabsatz verdrückt. Simon sagte schweigend seinen Abschied und folgte ihnen aus dem Haus. »Was wirst du damit anfangen?« fragte Christy. »Ich weiß es nicht.«
»Wir werden also reich sein?« fragte sein Sohn. »Ich möchte eigentlich bloß ein paar Sandwiches mit Kasseler und einen Käsekuchen von einem Geschäft in der High Street, das ich da kenne.« Christy war froh darum, dem Haus den Rücken kehren und davonradeln zu können. Sie spürte, wie ihr Einfluß auf ihn anstieg, jetzt, da er sein Zuhause endgültig verlassen hatte. Merlin schmerzten schrecklich die Beine, als sie die Wandsworth Bridge überquerten. Er wünschte sich, sie hätten ihn auf der Schaukel gelassen, statt ihn durch ganz London zu zerren und ihn dabei einem ihrer Tests zu unterziehen, bei denen er, seinem Gefühl nach, üblicherweise durchfiel. Wenn er Madge gesagt hatte, er sei erschöpft, hatte sie ihn gefüttert und zu Bett gebracht, hatte ihn fast stets in ein großes weiches Federbett aus Anbetung und Mitgefühl gehüllt. Jetzt fuhr er erneut hinterdrein; zwei schwere Lastwagen trennten ihn von Christy. Ich hoffe, einer von denen überfährt mich, und dann wird es ihnen leid tun, dachte er, trat jedoch wütend in die Pedale, um Anschluß zu halten. »Das hier ist Smiles, Merlin.« Simon fuhr neben ihm, als sie von der Hauptstraße in ein scheußliches Gewirr aus Wellblechhütten, Wäscheleinen, Zelten und Müllhalden abbogen. Ein paar schmutzige Kinder spielten auf den Schutthaufen, sie warfen mit Steinen, und Merlin sah voller Entsetzen, daß sie keine Schuhe trugen. Es war wie auf den Bildern in seinem Schulbuch über ethnische Kulturen – ›Ein Slum in Bombay‹. Die Kinder eilten auf Christy und seinen Vater zu. Ein kleines Mädchen umschlang Simon so fest, daß er lachend vom Fahrrad steigen mußte. Merlin hielt sich im Hintergrund, neben seinem glänzenden Fahrrad, und ihm war, als habe sein Vater einen Käfig im Zoo geöffnet und damit begonnen, eine Anzahl kleiner Krokodile zu hätscheln.
Die Freude seines Vaters über die Gesellschaft dieses lärmenden Schwarms von Kindern entsetzte ihn. Merlin liefen die Tränen über die staubigen, verschwitzten Wangen. »Sie wollen ein bißchen mit deinem Rad fahren. Was ist los?« Sein Vater hörte sich wie gewöhnlich sanft und freundlich an. So schwer, ihn zu hassen. »Ich bin kaputt. Kann ich bitte was zu trinken haben?« »Ach du je – daran hätte ich denken sollen. Das Wasser hier ist momentan verseucht. Es gibt abgekochtes Wasser, aber das ist strikt rationiert. Du wirst warten müssen.« Hundeelend war Merlin, als er sich auf einen Betonbrocken setzte und zusah, wie sich drei Jungens auf sein Fahrrad setzten und darauf herumhopsten wie auf einem Pferd. Es würde schrecklich zerkratzt sein. Er war überrascht, als sich sein Vater neben ihn setzte und den Arm um ihn legte. »Als du bei deinen Großeltern gelebt hast, habe ich dich sehr vermißt, und ich bin diesen Kindern hier sehr nahe gekommen.« »Oh!« »Vergangene Woche sind drei davon an Cholera gestorben, eine Krankheit, die man sich durch schmutziges Wasser holt.« »Ist sie ansteckend?« »Ja. Aber du bist letzte Woche dagegen geimpft worden, erinnerst du dich nicht?« »Ich möchte nach Hause.« Simon zitterte bei der Anstrengung, diese beiden Welten zusammenzubringen. Sie wollten sich nicht mischen, und er selbst hatte gemischte Gefühle dabei gehabt, Merlin mit herzunehmen. Was, wenn sich das Kind ›etwas holte‹, würde sich sein Vater dann nicht schuldig fühlen – und schuldig sein? Dann wiederum würden wir’s meinen Eltern sagen, und sie würden ihn schleunigst in ein gutes Krankenhaus bringen,
dachte Simon ungeduldig, auf Bernards Britcard. Gott, sie würden mir jetzt wieder eine geben. Merlin beobachtete eine alte schwarze Frau – alle Erwachsenen hier waren alt –, wie sie weinend seinen Vater umarmte. »Es tut mir leid.« Simon drückte Lilys Tante an sich, überrascht vom Ausmaß ihres Kummers. Sie war stets sehr grob mit dem Kind umgesprungen. Ein Mann mit einer Kamera sprang hinter einer Hütte hervor. »Sagen Sie mir, Mrs. Oki – wie sprechen Sie Ihren Namen aus? –, was für Gefühle hatten Sie, als Ihre Nichte gestorben ist?« »Was hättest du für Gefühle, wenn ich deine Kamera in den Graben da reintreten würde?« »Ist das eine Drohung? Sie sind Bernard Freemans Sohn, nicht wahr? Rosies Bruder? Ich bin Stephen Rossdale vom Evening Glory.« »Was tun Sie hier?« »Wir machen die Cholera-Story. Der kleine Engel der Slums. Sie sind jetzt Sozialarbeiter, oder? Meinen Sie nicht, Sie hätten was dafür tun können, die arme kleine Lily zu retten?« »Wenn Sie diesen Kindern hier helfen wollen, organisieren Sie eine Kampagne zur Errichtung geeigneter sanitärer Anlagen und zum Bau von Kliniken. Wir sind hier nichts besonderes, rings um London gibt’s Dutzende solcher Lager wie Smiles, und in der Hälfte davon wütet die Cholera. Die Stadt ist voll von verfluchten kleinen Engeln.« »Sind Sie der Ansicht, fluchen wäre in einer Situation wie dieser hier hilfreich, Mr. Freeman?« »Ich arbeite jetzt seit zweieinhalb Jahren hier. Jeden Sommer bricht die Cholera aus, und die Leute sterben auch im Winter wie die Fliegen. Warum sind wir plötzlich eine Nachricht wert?«
Stephen Rossdale hatte jedoch Lilys Tante eine ZwanzigPfund-Note in die Finger gedrückt und war auf dem Weg, das Zelt des kleinen Engels zu photographieren. »Riecht das hier immer so?« fragte Merlin. »Ist jetzt schlimmer, weil es Sommer ist und weil es seit einer Weile nicht geregnet hat. Hier ist das Gebäude, wo wir die Spielgruppe abhalten. Im Augenblick sind alle Kranken da drin, es war die Idee, die Seuche an der Ausbreitung zu hindern, aber es hat anscheinend nichts genutzt. Heute morgen hat es zwei weitere Fälle von Cholera gegeben. Babies.« »Wirst du da reingehen?« »Ja. Du kannst hier draußen bleiben, wenn du magst.« »Ist sie auch da drin?« »Christy? Ich nehme es an. Wir müssen vielleicht die ganze Nacht über bleiben.« Er wünschte bereits, er hätte seinen Sohn nicht hergebracht. »Ich möchte auch reingehen.« Er wollte es nicht, aber er fürchtete sich davor, mit all den wilden Kindern hier draußen alleinzubleiben. Merlin hielt inne, stapfte dann mit geballten Fäusten hinüber zu seinem Fahrrad, ein Weihnachtsgeschenk von Madge. Sie hatten es in den Dreck geworfen, der glänzende rote Rahmen war zerkratzt, und Schmutzstreifen waren darauf. Er barg es und schob es zu Simon zurück, als ihn eine Stimme fragte, ob er ein Bonbon haben wolle. Merlin sah auf und erblickte ein uraltes, verfilztes Wesen. Es hatte stinkende Lumpen um die Beine geschlungen, und eine schmutzige Hand bot ihm eine Packung Polos an. »Nein!« rief Merlin und stolperte hinüber zu seinem Vater, mit blutigen Knien, und weitere Tränen strömten ihm die Wangen herab, und überall ringsumher das dämonische Gelächter der Kinder. An diesem Nachmittag hatten Rita und Beatrice bei Ellen vorbeigeschaut und waren dort geblieben. Dann war Lilys
Tante gekommen, außer sich vor Schmerz, und gegen sieben Uhr saßen ein Dutzend Menschen, zumeist Frauen, auf dem festgebackenen Schlamm draußen vor Ellens Zelt. Sie saß mit gekreuzten Beinen im Eingang und präsidierte, mit Jack auf den Knien. Obgleich sie ihnen außer etwas dünnem schwarzen Kaffee, der aus UN-Pulver hergestellt worden war, nichts weiter anbieten konnte, freute sich Ellen darüber, daß sie hergekommen waren. Sie spürte, sie hatte eine Rolle im Lager, wie früher, als sie dabei geholfen hatte, Vorräte und Schulstunden im Waschraum zu organisieren, und Gemüsebeete anzupflanzen, die lange, bevor sie das Lager hätten autark machen können – ihr Wunschtraum –, von Hunden und Kindern umgegraben worden waren. Sie waren gerade darin übereingekommen, im Herbst weiteren Samen zu säen; Lilys Tante hatte etwas von den zwanzig Pfund beigesteuert, derer sie sich schämte, und sie alle waren ganz aufgeregt und voller Hoffnung und Vorfreude, im Frühjahr eigenes Gemüse ernten zu können. Ted war nicht zurückgekehrt, und sie waren froh darüber, obgleich ihre schmalen Rationen ohne seine vergammelten Vorräte karger denn je waren. Seit Jacks Geburt hatte sich Ellen als seine Mutter abgeschrieben gefühlt. Die Leute fragten, wie es dem Baby ginge, sie fragten jedoch nicht mehr länger, was sie selbst tat, und sie war tatsächlich monatelang zu erschöpft gewesen, um irgend etwas zu tun. Jetzt spürte sie, wie ihre Energien zurückkehrten, wie genährt vom Ärger, nichts anderes ringsum konnte sie nähren. Seit der Demonstration hatte sich die Atmosphäre im Lager verändert: Marthas Verhaftung und Lilys Tod waren Schreie des Aufruhrs gewesen, obgleich bislang keiner von ihnen wußte, wogegen man einen Aufruhr anzetteln sollte. Sie waren wie gelähmt vor Furcht, so zu enden wie Martha oder Lily. Aber, dachte Ellen, wir sind jetzt wenigstens lebendig. Sie blickte an den
Gesichtern der Freundinnen vorbei auf die Hütten, Zelte, Wäscheleinen, auf die von Fliegen umschwirrten Müllhaufen und die stinkenden Gräben mit Ufern aus getrocknetem Schlamm, wo purpurrote und gelbe Unkräuter wie verschrumpelte Optimisten hervorlugten. Jack soll nicht hier groß werden, dachte Ellen und fuhr mit den Lippen über die Linie, wo sich sein wolliges weißes Haar mit der fahlen Stirn traf. Es war dunkel draußen, als Christy ihre Arbeit beendete. Das Licht der Kerzen und Petroleumlampen drinnen war zu schwach, um hilfreich sein zu können. Die Nacht draußen vor dem Fenster drückte sich samtschwarz durch die Risse in den Pappkartons. Christy verlangte es, dort draußen zu sein. Überall lagen die Kranken aufgereiht, auf Matratzen und Schlafsäcken und Kleiderhaufen. Einige der Mütter lagen neben ihren Kindern, hielten sie fest, so daß sie nicht in den Äther des Todes treiben konnten. Viele der Kranken schliefen jetzt, aber stets war auch jemand wach und verlangte nach Hilfe, wenn er oder sie sich übergab oder gräulichen Wasserreis-Stuhl entleerte, wie ihn John nannte. Dimelza, die Lily schreckerfüllt beobachtet hatte, hatte es lebendiger beschrieben: Suppe aus ihrem Arsch. John war ein Arzt, der seit dem Zusammenbruch der nationalen Gesundheitsorganisation nicht mehr in seinem Beruf gearbeitet hatte. Als schweren Trinker hatte es ihn aus Gleichgültigkeit seiner Umgebung gegenüber nach Smiles verschlagen. Wann immer er nüchtern war, tat er, was er tun konnte, um ohne geeignete Medikamente oder Gerätschaften zu helfen. Er wußte, daß man die schweren Fälle nur retten konnte, wenn man ihnen eine Kochsalzinfusion anlegte. Es gab jedoch keine Infusionen, also hatte er einen befreundeten Chemiker dazu überredet, die Lösung zu mischen, und wenn es nötig war, flößte John sie seinen Patienten mit Gewalt ein. Es
gab keine Antibiotika und keine ausgebildeten Helfer. John hatte seit zwei Nächten nicht geschlafen. Unten an der Treppe fiel Christy fast über Merlin, der sich auf dem Boden zusammengerollt hatte und schlief. Sie war verzweifelt gewesen, als er an jenem Nachmittag das erste Mal hereingekommen war, schluchzend wegen seines Rads, und sie war wütend auf Simon gewesen, der darauf bestanden hatte, Merlin mitzubringen. Christy hatte ihm einen Mop und einen Pott mit Desinfektionsmittel in die Hand gedrückt und ihn daraufhin prompt vergessen. Eine Stunde später hatte sie ihn vorgefunden, wie er verbissen wischte, ausspülte, ausdrückte, scheuerte; er widmete sich seiner ekligen und undankbaren Aufgabe mit niedergeschlagenen Augen und einem Ausdruck derart würdevoller Melancholie, daß sie kaum zu glauben vermocht hatte, es handle sich um ein und dasselbe Kind. Christy zog sich die Baumwolljacke aus und breitete sie über ihn. Ihre Beine fühlten sich an wie Pfeifenreiniger, und ihre Kehle war wie ausgedörrt. In ihrem Kopf zuckten Flammen des Schmerzes und der Übelkeit. Simon trat zu ihr. Sie flüsterten miteinander, um die Schlafenden nicht zu wecken. »Lilys Tante ist mit Rita eingetroffen. Sie bleiben die ganze Nacht über, also können wir uns getrost ausruhen.« »Merlin schläft da drüben.« John folgte ihnen nach unten und ging hinaus in den Garten, um den dort wartenden Menschen zu sagen, daß diese Nacht niemand gestorben sei. Kalte, harte Luft brach durch die geöffnete Tür, blies einige Kerzen aus und klärte die schmerzenden Köpfe. Daraufhin gingen alle drei nach oben, setzten sich ans Fenster und öffneten eine der letzten Flaschen mit sterilisiertem Wasser.
»Es wird mehr davon geben, wenn morgen früh der Nachschub kommt«, sagte Christy. »Vergangene Woche habe ich um Wasser und Antibiotika gebeten.« Simon trank einen großen Schluck Wasser. »Heute hat hier ein Journalist herumgeschnüffelt. Wenn wir ein bißchen Publizität bekommen, wird die Regierung dazu gezwungen sein, etwas zu unternehmen.« »Sie haben den Laster mit den Impfstoffen hergeschickt. Das ist mehr als letztes Jahr.« John erwartete oder forderte nicht mehr. »Wir haben schon früher Publizität genossen, aber stets ziemlich miese. Schmutzige Faulenzer, die sich im eigenen Dreck suhlen und sich nicht um die Kinder kümmern.« Christy gähnte. »Was hatte das Gesinge und Geleiere vorhin zu bedeuten?« »Die Flagellanten«, bemerkte John. »Die was?« fragte Simon. »Eine von diesen verschrobenen Sekten. Sie kommen, glaube ich, vom Clapham Common-Lager. Sie tragen Schwarz und stehen im Kreis, säubern einander und singen miserable Lieder. Hast du den Text nicht verstanden? Bei unsrem Blut kehrt ab vom Tod Fegt unsre Zeit hinab ins Grab Die Reue für Tod ist Liebe.« Simon zitterte. »Waren sie schon mal hiergewesen?« »Seitdem die Cholera ausgebrochen ist. Sie sind wie Geier, sie schnüffeln in ganz London nach dem Tod.« John ließ den Kopf auf die Knie fallen, legte sich daraufhin auf die Seite, die Stirn gegen das kühle Fensterglas gepreßt, und sank auf das Linoleum. Als sie das nächste Mal hinsahen, schlief er fest.
Christy und Simon saßen im Schneidersitz und hatten die Arme umeinander gelegt. Wenn einer von beiden sich auch nur ein wenig bewegt hätte, wäre er oder sie gegen John oder das Fenster oder einen der Kranken gestoßen. Der Raum war ein Ozean aus hilflosen Körpern. Simon schloß die Augen und tastete mit den Händen Christys Gesicht ab, die Rundung ihres Nackens und ihre breiten Schultern, wo seine Finger liegenblieben. Der Blinde, der eine Blinde liebt, dachte er, nein, sie sieht, ich bin derjenige, der hilflos im Dunkeln tappt. Dann öffnete er die Augen und begegnete ihrem Blick, der fragend war und freundlich. Erneut verspürte Simon seine Furcht vor Smiles, vor dem Elend und der Armut, angesichts derer er sich so schuldig und so unbedeutend vorkam. Christy hat mich aus der Einsamkeit gelockt, aber noch immer bin ich verkrüppelt, noch immer kann ich mich bei den Dingen, auf die es ankommt, nicht entscheiden. Jeder Gedanke und jedes Gefühl hat seine zwei Seiten, so daß beides manchmal fast überhaupt nicht vorhanden ist. Darum sind Lieb und Leid ein solcher Trost, darum bringt es Christy fertig, daß ich mir lebendiger denn je vorkomme. Christy dachte, ich brauche diese animalische Nähe zu Simon. Wir sind uns hier näher als in diesem protzigen Haus. Wann immer wir jetzt gehen werden, werden wir uns unseren eigenen Raum um uns herum schaffen. Wenn wir jede Nacht in den Armen des anderen einschlafen, werden wir uns bis zum Morgen wieder aufladen, werden die Energie finden, zu arbeiten und herumzuwuseln und empört zu sein. Mitten in der Nacht erwachte Merlin halb auf dem harten kalten Boden. Ein Besen stach ihm ins Rückgrat, und der rechte Ellbogen rutschte ihm in eine Lache aus Desinfektionsmittel. Er sah sich nach Simon um, sah jedoch lediglich schreckenerregende Ungeheuer, vernahm lediglich
das Grunzen und Wimmern der Kranken, während sie ins wache Bewußtsein hinein- und wieder hinaustorkelten. Merlin stand auf und stolperte über sie hinweg. Mit einem Teil seines Bewußtseins folgte er seiner alten barfüßigen Reise: Aus meinem Bett, über den Teppich, meine Tür öffnen und dann ihre, in ihre riesigen Betten versinken und dort so warm und beschützt liegen, und der schlafende Körper meiner Mutter macht mir Platz… Merlin stieg die Treppe hinauf und erblickte Simon drüben beim Fenster. Er saß wie ein Buddha dort, mit jener Frau, die nicht seine Mutter war. Bestimmt konnten sie so nicht schlafen. Aber Merlin konnte überall schlafen; er legte sich quer über sie, den Kopf in Simons Schoß.