Geschichte und Ideologie Kritische Analyse bundesdeutscher Geschichtsbücher
Arbeitsgruppe Geschichtsbuchanalyse Marbur...
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Geschichte und Ideologie Kritische Analyse bundesdeutscher Geschichtsbücher
Arbeitsgruppe Geschichtsbuchanalyse Marburg: Reinhard Assling, Jürgen Burger, Horst Hagemann, Michael Kern, Rainer Klebe, Reinhard Kühnl, Amélie Methner, Uwe Naumann, Gerhard Schäfer, Sylvia Schöningh, Gerd Wayand
Herausgegeben von Reinhard Kühnl Überarbeitete zweite Auflage
Rowohlt
rororo aktuell - Herausgegeben von Freimut Duve ERSTAUSGABE
1 . - 2 5 . Tausend Juli 1 9 7 3 2 6 . - 3 5 . Tausend September 1 9 7 4
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Juli 1 9 7 3 © Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 2973 Umschlagentwurf Werner Rebhuhn (Foto: Kai Greiser, Hamburg) Alle Rechte vorbehalten Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck/Schleswig Satz Baskerville IBM-Composer Reprosatz Herbert Kröger, Hamburg Printed in Germany ISBN 3 499 11656 1
Inhalt
Einleitung von Reinhard Kühnl
7
Erstes Kapitel: Untersuchung der Geschichtsbücher
11
A. Die Französische Revolution 1. Ursachen der Revolution 12 2. Wirtschaftliche und politische Ursachen der Französischen Revolution 32 3. Zweiteilung der Revolution 36 Schlußbemerkung 51 B. Reformation und Bauernkrieg in Deutschland C. Die Arbeiterbewegung l. Die historische Entstehung der Arbeiterklasse 64 2. Die «Soziale Frage» des 19. Jahrhunderts und ihre Ursachen 70 3. Erste Lösungsversuche der «Sozialen Frage» 75 4. Die Entstehung der Arbeiterorganisationen 76 5. Bismarck - mit Zuckerbrot und Peitsche 80 6. Die «Lösung» der «Sozialen Frage» von der Weimarer Republik bis zur BRD 82 7. Die «Soziale Frage» im «Bolschewismus» 86 8. Die Arbeiterbewegung als «Soziale Frage» - eine Reduktion der realen Geschichte 88 9. Die «Soziale Frage» - heute wirklich gelöst? 90 D. Russische Oktoberrevolution und Novemberrevolution in Deutschland 1. Oktoberrevolution 97 2. Novemberrevolution 107 E. Das Ende der Weimarer Republik F. Der Kalte Krieg 1. Der Ost-West-Konflikt 128 2. Die Entstehung der Volksdemokratien 135 3. Die Spaltung Deutschlands 136 G. Kolonialismus und Entkolonisierung - Imperialismus und Dritte Welt 1. Anspruch und Wirklichkeit 141 2. Der Kolonialismus 144 3. Entkolonisierung - Dritte Welt 148 H. Die Darstellung des Wissenschaftlichen Sozialismus 1. Die Bedeutung der Auseinandersetzung mit dem Marxismus für das bürgerliche Denken 151 2. Ontologisierung 155 3. Anthropologisierung - Enthistorisierung 163 4. Personalisierung 171 5. Die «Widerlegung» des Marxismus in den Schulbüchern und ihre Funktion 178
11
52 62
97 114 127
141
151
Zweites Kapitel: Systematisierung
183
A. B. C. D.
184 186 187 194
Ontologisierung / Anthropologisierung Verabsolutierung der Ideen Personalisierung Schichttheorie
E. Sozialpartnerschaftstheorie F. Totalitarismus-Theorie G. Manipulation durch Sprache
197 203 209
Drittes Kapitel: Zum Ideologiebegriff
213
Der Staatsfetisch Schlußbemerkung
233 244
Viertes Kapitel : Schule im Kapitalismus der BRD
246
A. Zur ökonomischen Funktion von Ausbildung und Bildung im Kapitalismus 1. Die historische Entwicklung des Verhältnisses von Arbeitsprozeß und Qualifikationsstruktur der Ware Arbeitskraft 247 2. Die Funktion des Staates für den Ausbildungssektor 249 3. Die Entwicklung der Hierarchie im Ausbildungssektor unter dem Aspekt des Widerspruchs von Bildung und Ausbildung 252 B. Gesellschaftlich-geschichtliche Voraussetzungen in der Entwicklung des bürgerlich-kapitalistischen Schulwesens C. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und die Veränderung der Qualifikationsstruktur der Ware Arbeitskraft 1. Das Problem der Bewältigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in der BRD 258 2. Widersprüchliche Tendenzen in der Entwicklung der Qualifikationsstruktur des Arbeitsvermögens 260 3. Zur Funktion von Bildungsökonomie und Unterrichts technologie 264 D. Geschichtsunterricht - Medium der Kontrolle und Steuerung ideologisch-affirmativer Integrationsprozesse 1. Zur Entwicklung bürgerlicher Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert 266 2. Der Vermittlungszusammenhang von Geschichtswissenschaft und Geschichtsbuch 269 3. Die Stellung des Geschichtsbuches im Geschichtsunterricht 272 4. Der Lehrer 273 5. Der Schüler 282 E. Zur Funktion des Geschichtsunterrichts
246
254 258
266
287
Fünftes Kapitel: Gesamtgesellschaftliche Voraussetzungen eines kritischen Geschichtsunterrichts
296
Anmerkungen Auswahlbibliographie A. Schulbücher B. Ausgewählte Literatur zu den behandelten Themen Die Autoren
304 345 345 347 349
Einleitung Im Geschichtsunterricht lernen die Schüler keineswegs nur, wie es — angeblich — gewesen ist. Sie erfahren hier zugleich, wie die vergangenen Formen von Staat und Gesellschaft aufzufassen und welche Konsequenzen daraus für Individuen und soziale Klassen in der Gegenwart abzuleiten seien. Der Schüler erhält also ein — durch den historischen Stoff vermitteltes — Orientierungsschema für die Gegenwart, das seine politischen Denk- und Verhaltensformen beeinflußt. Diese politische Komponente des Geschichtsunterrichts existiert unabhängig davon, ob der Geschichtslehrer oder der Geschichtsbuchautor bewußt darauf abzielt oder nicht. Welches Geschichtsbild in unseren Schulen vermittelt wird, ist also auch politisch bedeutsam. Gerade die deutsche Vergangenheit hat gelehrt, daß durch den Geschichtsunterricht autoritäre Denk- und Verhaltensformen begünstigt werden können, die es den Herrschenden erlauben, das Volk abhängig und unmündig zu halten und für ihre Zwecke einzusetzen — bis hin zum Einsatz für ihre imperialistischen Kriegsziele. Schon von hier aus ist erkennbar, wie dringlich eine Analyse der Geschichtsbücher ist. Selbst wenn man berücksichtigt, daß insbesondere jüngere Geschichtslehrer auch andere Materialien in ihrem Unterricht verwenden, kann davon ausgegangen werden, daß die Geschichtsbücher noch einen maßgeblichen Einfluß auf den Unterricht haben. Ich habe deshalb im Sommer-Semester 1972 am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Marburg zusammen mit 90 Studenten der Politikwissenschaft ein Seminar mit dieser Aufgabenstellung durchgeführt. In einer Arbeitsgruppe, die daraus hervorging, haben wir dieses Thema weiterverfolgt, die Materialien des Seminars aufgearbeitet und die Fragestellung erweitert. Das Resultat legen wir hier als Buch vor — in der Annahme, daß es für Schüler, Studenten und Geschichtslehrer, darüber hinaus aber für alle, die daran interessiert sind, daß unsere Kinder im Geiste der Humanität und der Demokratie erzogen werden, eine Orientierungshilfe geben kann. Gemäß einem Beschluß des Seminars wird das Honorar der ersten Auflage nach Abzug der Unkosten der Vietnam-Hilfe überwiesen. Was das für die Studenten dieser Arbeitsgruppe, die größtenteils Stipendienempfänger sind und also am Rande des Existenzminimums leben, bedeutet, braucht nicht näher ausgeführt zu werden. Die Solidarität der fortschrittlichen Studenten mit dem um seine Freiheit kämpfenden vietnamesischen Volk drückt sich in vielen Formen aus; dies ist eine davon. Wir untersuchen im ersten Kapitel, wie die Geschichtsbücher, die für unsere Epoche bestimmenden Ereignisse, Kräfte und Kämpfe darstellen: Die bürgerliche Revolution mit der Großen Französischen Revolution als Schwerpunkt, die Arbeiterbewegung samt ihren theoretischen Grundlagen und ihren politischen Konsequenzen und die Be7
freiung der ehemaligen Kolonialvölker. Dabei wird die Darstellung der Geschichtsbücher sowohl auf ihre innere Stimmigkeit überprüft als auch mit den historischen Tatsachen, dem wirklichen historischen Geschehen konfrontiert. Als „Modellfall", der besonders ausführlich untersucht wird, haben wir die Französische Revolution von 1789 gewählt, weil hier die Grundlagen für den parlamentarisch-rechtsstaatlich verfaßten bürgerlichen Staat, der auch die politische Struktur der kapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart noch bestimmt, gelegt worden sind; andererseits ist die historische Distanz genügend groß, um mit der Kritik am herrschenden Geschichtsbild nicht gleich Emotionen zu wecken, die aus aktuellen Konfrontationen resultieren. In diesem Kapitel werden auch die wichtigsten Grundkategorien unserer Kritik schon entwickelt, und zwar aus dem historischen Prozeß selbst. Bei der Untersuchung der Geschichtsbücher zeigen sich Verzerrungen und Verfälschungen verschiedener Art, die sich bei näherer Betrachtung als keineswegs zufällig erweisen: Es sind gewisse ideologische Grundlinien erkennbar, die wir im zweiten Kapitel deutlicher herausarbeiten. Zugleich ist zu fragen, welche Funktion diese haben, d. h. welche politische Wirkung sie hervorrufen und wem sie nützen. Obgleich die verschiedenen Ideologeme unterschiedliche Argumentationsreihen enthalten, ergänzen sie sich doch wechselseitig und fügen sich tendenziell zu einer einheitlichen Ideologie zusammen. Ihre Kurzformel lautet: So, wie es ist, so muß es bleiben; die Geschichte beweist, daß es anders weder sein kann noch sein darf. Dies führt zu der Frage nach den Ursachen dieser Geschichtsideologie, der wir im dritten Kapitel nachgehen. Die naheliegende Ansicht, es handle sich dabei um die wissenschaftliche Unzulänglichkeit der Geschichtsbuchautoren oder um bewußte Manipulation, greift nämlich zu kurz. Eine sozialwissenschaftlich befriedigende Erklärung liegt erst dann vor, wenn diese Ideologie selbst aus der Gesellschaft heraus abgeleitet wird, in der sie entstanden ist und gedeihen kann. Der Ideologiebegriff, wie ihn Marx entwickelt hat, bietet für eine solche Erklärung einen guten Ansatz. Dieses Kapitel ist, was den Abstraktionsgrad betrifft, das schwierigste. Nach alledem ist die Frage unumgänglich, welche Funktion der Geschichtsunterricht in der gegenwärtigen Gesellschaft eigentlich hat. Das versucht das vierte Kapitel zu klären. Dabei mußte zunächst einmal die Funktion der Schule überhaupt bestimmt werden, bevor der Geschichtsunterricht in seinem Stellenwert innerhalb der Ausbildung dargestellt werden konnte. Da der Schulunterricht im allgemeinen und die Geschichtsbücher im besonderen sich — vom Standpunkt der Demokratie und der Selbstbestimmung des Menschen aus — als unbefriedigend erwiesen, ist nach den Möglichkeiten von Veränderung zu fragen. Damit befaßt sich das letzte Kapitel. Dabei kam es uns nicht darauf an, der gegenwärtigen Gesellschaft eine andere, die soziale Gerechtigkeit und Selbstbestimmung optimal gewährleistet, abstrakt gegenüberzustellen, sondern in 8
der gegenwärtigen Gesellschaft konkrete Ansatzpunkte, Möglichkeiten und Tendenzen für Veränderung aufzuzeigen. Daß eine solche politische Praxis ohne eine klare Zielvorstellung orientierungslos bleiben muß, ist allerdings — wie die Politik derer, die sich Pragmatiker nennen, tagtäglich beweist — selbstverständlich. Diese Zielvorstellung ist für die Autoren dieses Buches eine sozialistische Demokratie, d. h. eine Gesellschaft, in der alle Mitglieder in geplanter Kooperation über alle gesellschaftlich bedeutsamen Fragen frei entscheiden, auch und vor allem im Bereich der Herstellung und Verteilung der gemeinsam produzierten Güter. Da in unserer Arbeitsgruppe fortschrittliche Studenten verschiedener Richtungen vertreten waren, kamen deren wissenschaftliche und politische Kontroversen auch während unserer Arbeit zur Geltung. In einer Reihe von Streitpunkten konnte nach längerer Diskussion Übereinstimmung erzielt werden; für andere konnten Formulierungen gefunden werden, die sozusagen unterhalb der Streitebene verblieben. Nur die Kontroversen, bei denen weder das eine noch das andere möglich war und auch eine Ausklammerung nicht in Betracht kam, wurde durch Mehrheitsvotum entschieden. In Hinsicht auf den Inhalt des Buches handelt es sich also um eine wirkliche Kollektivarbeit. In der sprachlichen Form allerdings weisen die verschiedenen Teile noch beträchtliche Unterschiede auf; hier zielte die Überarbeitung nicht auf eine vollständige Angleichung. Gegenstand der Untersuchung waren hauptsächlich Geschichtsbücher, die für die Mittel- und Oberstufe der Gymnasien verfaßt wurden. Zur Ergänzung wurden einerseits Didaktiken herangezogen, weil durch sie der Geschichtslehrer Anweisungen erhält, zu welchen Resultaten sein Unterricht führen soll, und andererseits Geschichtsbücher der Hauptschule, der Unterstufe der Gymnasien und der Berufsschule, in denen die zentralen Geschichtsideologien in ziemlich plumper Form vorgetragen werden. Sie auf dieser Stufe aufzuzeigen, wäre recht leicht gewesen, hätte aber den Einwand zugelassen, daß die Schüler in diesem Alter zu differenzierten Einsichten in das historische Geschehen noch nicht in der Lage seien, daß dies dann in der Oberstufe aber nachgeholt werde. Es kam uns deshalb darauf an, nachzuweisen, daß die Bücher, die das Geschichtsbild der Abiturienten bestimmen, zwar scheinbar objektiver und kritischer sind, in Wahrheit aber die gleiche Ideologie in subtilerer Form vermitteln. Auch bei der Auswahl der historischen Probleme haben wir als Schwerpunkte nicht solche gewählt, bei denen Verzerrungen und Verfälschungen in den Geschichtsbüchern besonders evident sind, weil ein ganz unmittelbares Interesse am Werke ist, also Faschismus, Kalter Krieg, D D R und UdSSR. Obgleich wir auch einige dieser Probleme mit einbezogen haben, kam es uns doch hauptsächlich auf den Nachweis an, daß das herrschende Geschichtsbild insgesamt ideologische Züge trägt, also auch die Darstellung scheinbar ferner liegender Probleme wie Bauernkrieg oder Französische Revolution so beschaffen ist, 9
daß damit beim Schüler unpolitische und tendenziell antidemokratische und autoritäre Denkformen erzeugt werden. Unterschiede zwischen den verschiedenen Geschichtsbüchern sind erkennbar, aber keineswegs so bedeutend, daß etwa von einem wirklichen Pluralismus der Lehrmeinungen die Rede sein könnte. Bis in die 60er Jahre hinein war auch die Geschichtswissenschaft an den Hochschulen der B R D — wie im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und in der Periode des Faschismus — geprägt von einer konservativen Ideologie und frei von gesellschaftskritischen Tendenzen. Seit der Studentenrebellion 1 9 6 7 / 6 8 konnte hier jedoch die Kritik an der traditionellen Geschichtswissenschaft nicht mehr unterdrückt werden, wenn auch bisher nur wenige kritische Wissenschaftler auf Professorenstellen gelangten; die freie Konkurrenz der Argumente bleibt auch hier ein Ziel, das erst noch erkämpft werden muß. Bemerkenswert aber ist, daß von all diesen scharfen und fruchtbaren Kontroversen im Bereich von Hochschule und Wissenschaft die Geschichtsbücher fast gänzlich frei geblieben sind. Auch die neuesten dieser Bücher weisen nur wenige neue Aspekte auf, die überdies noch teilweise als Scheinkonzessionen zu erkennen sind. Im Bereich einer ideologiekritisch verstandenen Analyse von Lehrinhalten bleibt noch vieles zu leisten. Das vorliegende Buch begreift sich als Versuch einer Ideologiekritik an konkretem Gegenstand und zugleich als eine Aufforderung an Lehrende und Lernende, Schulbücher kritischer als bisher zu betrachten, hinter den Ideologien die gesellschaftlichen Interessen zu erkennen, die von der Unmündigkeit der Massen profitieren und praktische Schritte zu unternehmen, damit in unserer Gesellschaft Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit verwirklicht werden. Sicherlich ist dieses Buch in mancherlei Hinsicht verbesserungsbedürftig. Für kritische Hinweise sind wir deshalb jedermann dankbar. Marburg, im Februar 1 9 7 3
Reinhard Kühnl
Erstes Kapitel Untersuchung der Geschichtsbücher
A. Die Französische Revolution Die Französische Revolution ist die einzige Revolution, die in der öffentlichen Meinung dieses Landes mit dem Titel „groß" belegt, also als positiv und bedeutend bewertet wird. Dies hat seine Ursache fraglos darin, daß diese Revolution tatsächlich gewissermaßen den Grundstein der bürgerlichen Gesellschaft in Europa gelegt und die Voraussetzung für die bestehenden parlamentarischen Demokratien geschaffen hat. Dies wird auch in einigen Schulbüchern betont: „Die Verfassung, die Erklärung der Menschenrechte und die Herstellung einer modernen Gesellschaftsordnung sind die eigentlichen Leistungen der Französischen Revolution." (Diesterweg VIII, S. 22)*) „Die Bedeutung der Französischen Revolution liegt . . . in der neuen, der Zeit gemäßeren Gesellschaftsordnung, die sie geschaffen hat . . . Der Durchbruch zu einer neuen Zeit war erfolgt." (Schroedel/Schöningh IV, S. 82) Aber bereits von diesen Zitaten aus Schulbüchern läßt sich eine eigentümliche Oberflächlichkeit der Betrachtung ablesen. Eine bürgerliche Revolution, die durch den gewaltsamen Sturz der alten Feudalordnung die bürgerliche Gesellschaft ins Leben rief, erscheint hier ganz abstrakt als „der Durchbruch zu einer neuen Zeit", als „Herstellung einer modernen Gesellschaftsordnung". Statt gesellschaftsanalytischer Begriffe (Feudalismus, bürgerliche Gesellschaft) werden inhaltsarme Worte wie „neu" und „modern" benutzt, Worte, die außerdem noch suggerieren, daß eine grundlegende Umgestaltung (Aufhebung im Hegeischen Dreifachsinn: beseitigen, bewahren, auf ein höheres Niveau heben) des seither bestehenden gesellschaftlichen Systems völlig auszuschließen ist: was modern, also zeitgemäß ist, braucht nicht mehr wesentlich verändert zu werden. Die Darstellung der Französischen Revolution in den Schulbüchern ist für uns also deshalb von besonderem Interesse, weil hier die bürgerliche Gesellschaft (in diesem Fall in ihren Schulbüchern) ihre eigene historische Genesis beschreibt. Die Analyse muß erweisen, inwieweit die Schulbücher dieser historisch-gesellschaftlichen Dimension gerecht werden.
* Die benutzten Schulbücher sind in der Auswahlbibliographie vollständig aufgeführt. 11
1. Ursachen der R e v o l u t i o n
Geistesgeschichtliche Aufklärung
Erklärung
der
Französischen
Revolution:
die
Alle Schulbücher weisen darauf hin, daß die ,geistige Welt' seit dem 17. Jahrhundert, insbesondere im 18. Jahrhundert, ,in Bewegung geriet'. „Diese erfaßte alle Bereiche des Lebens und setzte an die Stelle traditioneller Vorurteile und Gewohnheiten neue Einsichten." (Schroedel/Schöningh III, S. 44) Woher aber kommen diese Ideen? Warum treten sie gerade jetzt auf? Jedem Leser dürfte sofort auffallen, daß die Schulbücher auf diese sich unmittelbar aufdrängende Frage gar nicht eingerichtet sind. Wenn man sämtliche Schulbücher daraufhin durchforscht, ergeben sich nur spärliche Ansätze einer Antwort: Die geistige Bewegung ist auf zweierlei zurückzuführen: 1. auf die Auflösung mittelalterlicher Bindungen 2. auf die neue Naturwissenschaft. ad 1. Die neuen Ideen der Aufklärung, die sich in Begriffen wie ,Freiheit' und .Vernunft' manifestieren, seien Momente einer geistesgeschichtlichen Entwicklung, die mit der Herauslösung aus den verkrusteten Strukturen des mittelalterlichen Weltbildes einsetzte. Am Anfang stand ein „Umbruch des Weltbildes" (Diesterweg VIII, S. 6 ) , die Auflösung der mittelalterlichen Ordo. Folgendes Zitat kann als repräsentativ gelten: „Seit der Renaissance hatten sich die Menschen mehr und mehr aus den Bindungen gelöst, die sie im Mittelalter umschlossen; sie fühlten sich allmählich nicht mehr in einem Ordo geborgen, nicht mehr als Glied einer kirchlichen und ständischen Gemeinschaft, sondern empfanden sich als ab-solute (von absolvere) Wesen. Die Folge davon war, daß die Ideen der autonomen Persönlichkeit und der Rechtsgleichheit im Abendland emporkamen. Sie standen in krassem Widerspruch zur Gesellschaftsordnung, die noch weithin feudale Züge trug . . ." (Klett I, S. 160) Der Ansatz eines gesellschaftlichen Bezuges, die Bemerkung nämlich, daß sich, „die Menschen aus den Bindungen" lösten, „die sie im Mittelalter umschlossen", bleibt in dieser Kürze eine nichtssagende Floskel, wenn im Nachsatz nur noch von ,Gefühlen' und .Empfindungen' der Menschen die Rede ist: „sie fühlten sich allmählich nicht mehr in einem Ordo geborgen . . ., sondern empfanden sich als ab-solute . . . Wesen." Als „Folge" dieser psychischen Bewegung in den Menschen erscheinen die „Ideen", die dann näher beschrieben werden. Aus dem Widerspruch zwischen aufklärerischen Ideen und feudal gebliebener gesellschaftlicher Wirklichkeit sei „letzten Endes die Revolution erwachsen". (Klett I, S. 163) Dieser Gedanke findet sich in fast allen Schulbüchern. 12
ad 2. Der wesentliche Anspruch der Aufklärung, die Welt mit Hilfe der Vernunft in den Griff zu bekommen, wird mit dem Aufschwung der Naturwissenschaften in Verbindung gebracht: „Die Naturwissenschaften, die während des Mittelalters am Rande des geistigen Lebens gestanden hatten, traten im 16. und 17. Jahrhundert mehr und mehr in seinen Mittelpunkt." (Schroedel/Schöningh IV, S. 2) „Immer mehr Gelehrte beschäftigten sich mit der Erforschung der Natur." (Diesterweg V, S. 71) So richtig beide Erklärungsversuche (1. u. 2.) sind, so wenig können sie wirklich erklären. In beiden Fällen werden Beziehungen zu zeitlich vorhergehenden Entwicklungen benannt, die selbst wiederum erklärt werden müßten. Die eingangs gestellte Frage (woher kommen die neuen Ideen? ) ist tatsächlich nur zeitlich zurückverschoben. Sie müßte jetzt lauten: Wie ist jene Auflösung der mittelalterlichen Ordo zu erklären? Hätte sie auch früher oder später oder gar nicht vonstatten gehen können? Warum standen die Naturwissenschaften im Mittelalter „am Rande des geistigen Lebens", warum gewannen sie ausgerechnet seit dem 16. Jahrhundert rasch an Bedeutung? Ein erneutes Durchforschen der Schulbücher erweist sich diesmal als fruchtlos. Nirgendwo findet sich ein Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der ,neuen' Vorstellungen, Methoden und Ideen. Man begnügt sich mit dem bloßen Feststellen ihres Vorhandenseins. Es wird lediglich beschrieben (z. B. das ,Auftauchen' der Naturwissenschaft und des neuen Weltbildes), nicht erklärt (nämlich die gesellschaftliche Genesis dieser Phänomene). Bemerkungen
zur
historischen
Genesis
der
bürgerlichen
Aufklärung
Wesen des Feudalismus Wie diese Genesis des ,neuen' Weltbildes darzustellen wäre, kann hier nur in einer knappen Skizze angedeutet werden: Der Begriff Mittelalter bezieht sich auf einen Zeitabschnitt von rund tausend Jahren — von 5 0 0 bis 1500 — und gibt, wie der jahrhundertealte Streit der Historiker um den Anfangs- und Endtermin beweist, inhaltlich kaum etwas her. Ergiebiger ist der sozialhistorische Begriff Feudalismus. Darunter ist, entsprechend der Definition Werner Hofmanns , ein „bodenvermitteltes Herrschaftsverhältnis" zu verstehen, das auf der Aneignung gesellschaftlicher Mehrarbeit — also die Arbeit, die über die Erzeugung der unbedingt notwendigen Lebensbedingungen einer Gesellschaft hinausgeht — „kraft Herrengewalt am Boden" beruht: Die unmittelbaren Produzenten, die Bauern, waren in dem Maße an ihre Scholle gebunden wie sie von dem Grundherrn, dem ein Obereigentum am bewirtschafteten Boden zustand, persönlich abhingen. Insofern war die persönliche Abhängigkeit des Bauern von seinem Grund1
2
13
herrn bzw. dessen Herrschaft durch den Boden vermittelt. Dieses Verhältnis stellt sich am deutlichsten in den Frondiensten dar: Der Bauer hatte einige Tage in der Woche auf dem Lande des Herrn (Fronhof, Salland) unentgeltlich Arbeit zu verrichten. Diese sogenannte Arbeitsrente wurde allmählich von der Produktenrente (Naturalabgaben) und schließlich von der Geldrente abgelöst. In allen diesen Fällen bleibt aber das Grundverhältnis des Feudalismus, die bodenvermittelte Herrschaft des weltlichen und geistlichen Adels über mehr oder weniger unfreie Produzenten (die Bauern) bestehen. Die feudale Gesellschaft war eine Agrargesellschaft, d. h. der Lebensunterhalt der Gesellschaft wurde überwiegend oder ausschließlich durch agrarische Produkte bestritten. Daher war die Produktionsweise durchweg reine Bedarfsdekkungsproduktion. Die einzelnen Haushalte stellten alle notwendigen Lebensmittel selbst her (auch Kleidung, Werkzeuge usw.). Da die über die Befriedigung der unmittelbaren Lebensbedürfnise hinausgehenden Erträge (Mehrprodukt) vom Grundherrn angeeignet wurden, fehlten Anreiz und Möglichkeit zum Tausch. Der feudale Produktions- und Herrschaftsverband stellte zunächst einen autarken und autonomen Wirtschaftskreis dar. Die Produktionstechniken blieben wenig entwickelt, da kaum ein Anreiz zur Erhöhung der Produktion bestand. Deshalb ist der Feudalismus durch die einfache Reproduktion gekennzeichnet, d. h. die einfache Wiederholung des Produktionsprozesses (es wird immer wieder so viel produziert wie vorher auch), der sich auch über einen längeren Zeitraum kaum merklich ausweitete. Das Fehlen wirtschaftlicher Kalkulation und Planung, die unentwickelte Naturbeherrschung, die lokale Begrenztheit sowie die relative Statik der Lebensformen hatte eben das zur Folge, was die Schulbücher unabgeieitet mit „mittelalterlichen Bindungen" umschrieben: Neben dem sich aus dem Leben im autarken Dorf-, Einzelhofs- und Fronhofsverband unmittelbar ergebenden Kollektivismus , der aus der Produktionsweise entspringenden Vorstellung einer festen Schicksalsgemeinschaft, seien zwei Grundelemente des feudalen Weltbildes genannt: 3
Traditionalismus: Der Traditionalismus machte das Wesen des gesamten feudalen Weltbildes aus. Da sich ohnehin kaum etwas änderte, dominierte das Weltverständnis: es müsse so sein und bleiben, wie es war. Man orientierte sich an der Vergangenheit. Was recht war, konnte man nicht beschließen, sondern nur ,finden': Das Recht war mit Tradition, Sippe, Brauch und althergebrachter Billigkeit identisch. Das älteste Recht war zugleich das beste: „Denn das allerälteste Recht ist auch das gottnächste, stärkste R e c h t . " Erst später, bei der Auflösung der feudalen Verhältnisse, insbesondere dann in der Aufklärung, sollte sich zeigen, daß dieser Traditionalismus die denkbar beste Form darstellte, das Bestehende im Interesse des herrschenden Teils der Gesellschaft als Gesetz zu heiligen. Irrationalismus: Der Irrationalismus des feudalen Weltbildes war Ausdruck des geringen Entwicklungsstandes des Produktivkräfte (Anbaumethoden, Werkzeuge), d. h. der unentwickelten Form der Naturbe4
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herrschung. Die Anbetung von Bäumen, Steinen, Quellen usw. war trotz der offiziellen Religion weit verbreitet. Aber auch diese Staatsreligion selbst konnte nur deshalb eine derartig umfassende Bedeutung für das mittelalterliche Weltbild gewinnen, weil sie der feudalen Gesellschaft entsprach: die Vorstellung vom Menschen als sündiges Geschöpf Gottes, dem im diesseitigen Leben die erstrebte Gnade und Erlösung nicht vergönnt sei, heiligte im nachhinein die politische Ohnmacht der ausgebeuteten Produzenten; wo das Feudalsystem mit seinen Zwangs- und Gewaltmitteln nur als Ausdruck der Sünde und des Abfalls von Gott gilt, ist Auflehnung des Teufels und Unzufriedenheit gottlos. Auch die Religion hatte also eindeutige Legitimationsfunktion: die Heiligsprechung des Feudalsystems. Ihre Institution, die Kirche, war vollkommen in die gesellschaftliche Welt des Feudalismus eingegliedert (Kirche als Grundherr). Allgemeines Postulat war das Primat des Glaubens vor dem Wissen: was wahr ist, kann man nicht erkennen, sondern nur glauben. „Die engen Grenzen, die der Feudalismus mit der Hilfe der Kirche dem Denken und Wollen der Zeit setzte, erklären den Absolutismus des metaphysischen Systems, das im Gebiet der Philosophie gegen alles Besondere und Individuelle ebenso rücksichtslos war, wie das bestehende Gesellschaftssystem gegen alle Freiheit im eigenen Bereiche, und das im geistigen Kosmos die gleichen Prinzipien der Autorität und Hierarchie walten ließ, die in den gesellschaftlichen Herrschaftsformen des Zeitalters zum Ausdruck kamen." 5
6
Umwälzung der Feudalverhältnisse Die Auflösung des Feudalismus war wirtschaftlich bedingt. Sie vollzog sich gewissermaßen als Austragung der der feudalistischen Gesellschaftsformation immanenten Widersprüche: so waren die feudalen Produktionsverhältnisse einerseits durch die Zersplitterung der Produktion in einzelne nahezu autarke (wirtschaftlich selbständige) Hauswirtschaften charakterisiert — was die Entwicklung von Ware-Geld-Beziehungen behinderte (wenn jeder seinen Lebensunterhalt selbst erzeugt, bedarf es keines Tausches, keines Marktes) —, so bedeutete aber andererseits die Zentralisation des vor allem agrarischen Mehrprodukts in den Händen der parasitären Feudalherren die Bedingung eines Warenverkehrs. Dieser Warenverkehr besaß zunächst nur die Form des Fernhandels, also des Austausches zwischen verschiedenen Ländern und Landschaften (z. B. Handelsverkehr mit dem Orient) und war auf Luxusartikel beschränkt (die notwendigen Lebensmittel wurden ja auf den Fronhöfen selbst produziert). Auf dieser Stufe der Entwicklung partizipierte also nur eine dünne Oberschicht, die großen Grundherren, an den Handelsbeziehungen. Deren Voraussetzung war wiederum die Existenz eines agrarischen und zum Teil gewerblichen Mehrprodukts, das von dieser Klasse angeeignet wurde. Die durch die Fern15
handelsangebote geweckten Bedürfnisse der herrschenden Oberschicht konnten nur durch einen Zuwachs an Quantität bzw. Qualität dieses Mehrprodukts befriedigt werden. Dieses Verlangen nach erhöhter Arbeitsleistung der abhängigen Bauernschaft setzte eine Bewegung in Gang, die die Feudalverhältnisse stark modifizierte bzw. tendenziell auflöste (nach einzelnen Ländern verschieden). Mit der Verbesserung der Arbeitsmittel (verstärkte Nutzung von Wasser-, Wind- und Tierkraft; verbesserte Werkzeuge: insbesondere von eisernen Geräten wie Sense, Dreschflegel, schwerem Wendepflug, Mühlen usw.), der Anbaumethoden (Dreifelderwirtschaft, verbesserte Düngung usw.) und Neulandgewinnung (Rodung, Entsumpfung, Ostkolonisation usw.) ging die Arbeitsteilung (Spezialisierung zunächst nach Grundherrschaften: landschaftlich bedingt, dann auch innerhalb der Grundherrschaftsverbände: landwirtschaftlicher wie vor allem auch handwerklicher Art, bis zur Verselbständigung des Handwerks) einher. Beides bedingte sich wechselseitig und bildete die Grundlage des nun entstehenden inneren Marktes, wobei Fern- und Lokalmärkte sich wechselseitig förderten sowie auf den Prozeß der Arbeitsteilung (die sich auch räumlich in das Verhältnis Stadt — Land auseinanderlegte) zurückwirkten. All diese Momente sind wiederum Resultat und Antrieb der strukturellen Veränderung auf dem Lande wie der tendenziellen Auflösung des Fronhofsystems und der Leibeigenschaft sowie der allmählichen Umwandlung der Naturalabgaben in Geldrente bzw. Geldpacht. Im Zuge dieser Entwicklung wurden die Bauern in die Ware-Geld-Beziehungen einbezogen: sie verkauften ihr Mehrprodukt auf dem städtischen Markt. Die hier skizzierte innere Umwälzung der Feudalverhältnisse war ein langwieriger und sehr allmählicher Prozeß, der schon vor der Jahrtausendwende einsetzte und sich über Jahrhunderte hinzog, ohne die dem Feudalismus zugrunde liegenden Produktionsverhältnisse (Aneignung des gesellschaftlichen Mehrprodukts kraft Herrengewalt am Boden), bereits zu beseitigen. Andererseits schälten sich mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die sich in den um sich greifenden Ware-Geld-Beziehungen ausdrückte, Bedingungen heraus, die die Entstehung einer ganz neuen, zukunftsträchtigen Produktionsweise ermöglichten. Die Erweiterung der Märkte schuf das gesellschaftliche Bedürfnis nach Massenproduktion, die wiederum die Verdrängung der handwerklichen durch die kapitalistisch betriebene gewerbliche Produktion voraussetzte. Die kapitalistische Produktionsweise, die in einer zunächst noch unbedeutenden Zahl von Manufakturen innerhalb einer feudalen Umwelt heranwuchs, stellte etwas qualitativ Neues gegenüber der feudalistischen Produktionsweise dar: Zweck der Produktion war nicht mehr vorwiegend die Sicherung des relativ feststehenden Eigenbedarfs bzw. eines monopolisierten Lokalmarktes, die Gebrauchswertproduktion, sondern ausschließlich die Produktion für den Verkauf, die Tauschwert- oder Warenproduktion, die keine Grenzen kannte und deshalb auf die schließliche Beseitigung der Feudalverhältnisse hinarbeiten mußte (darüber später). 16
Diese Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft im Schöße der alten Feudalgesellschaft war die Basis der Auflösung der ,mittelalterlichen Bindungen'. Wie die entstehende Warenproduktion die feudalen Produktionsverhältnisse modifizierte und die Lebensverhältnisse dynamisierte , so bewirkte sie auch die Zerstörung des alten Weltbildes. Auch hier können nur wenige Stichworte gegeben werden: Mit der Auflösung der selbständigen Wirtschaftseinheiten durch die WareGeld-Beziehungen geht die Auflösung des mittelalterlichen Kollektivismus, der Vorstellung einer festgefügten Schicksalsgemeinschaft, einher. Die Produktion für den anonymen Markt war privat (individualistisch; Freiheitsgedanke!) und dem Konkurrenzprinzip unterworfen. Sie bedurfte rationaler Kalkulation (Berechnung, Planung) und ständiger Verbesserung der Produktionsmethoden. Hier entstand das Bedürfnis nach Naturwissenschaft, nach Wissen überhaupt. Francis Bacons berühmte Feststellung: „Wissen ist Macht" ist eine eindeutige Absage an die Herrschaft des Glaubens und des Irrationalismus im Mittelalter. 7
Die in den Schulbüchern konstatierte ,neue Naturwissenschaft' ist also ein Moment der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Erst durch die Umwälzung der Produktionsmethoden entstanden gesellschaftliche Verhältnisse, in denen Mathematik und Naturwissenschaft allgemeine Bedeutung erlangen konnten: eine ausschließlich für den Markt produzierende Großproduktion verlangt die weitgehendste Ausnutzung nicht nur der menschlichen Arbeitskraft, sondern auch der Naturkräfte. Bereits vorliegende naturwissenschaftliche Erkenntnisse, die in der selbstgenügsamen Feudalwirtschaft ungenutzt blieben und deshalb in den Gelehrtenstuben verstaubten (entsprechend gering war die Bedeutung der Naturwissenschaft im Gegensatz etwa zur — spekulativen — Theologie und Philosophie), wurden jetzt in Praxis umgesetzt. Die kapitalistische Warenproduktion machte die Indienstnahme der Wissenschaft nicht nur möglich, sondern sie bedurfte ihrer als Voraussetzung ihrer eigenen Entfaltung. Theoretische Erkenntnisse (Naturwissenschaft) und praktische Neuerungen förderten sich wechselseitig. Die durch die Erfindung des Buchdrucks ( 1 4 5 0 ) ermöglichte massenhafte Verbreitung der Produktionserfahrungen sowie neuer wissenschaftlicher Entdeckungen gab dieser Entwicklung einen zusätzlichen und kaum zu überschätzenden Antrieb. Die Verschmelzung von mathematischer Naturwissenschaft und kapitalistischer Großproduktion (,groß' gemessen an der Werkstatt des Zunfthandwerkers) ermöglichte nun die Lösung historisch entstandener praktischer Probleme, denen sich die Gesellschaft gegenübergestellt sah, die aber mit dem herkömmlichen Handwerk nicht bewältigt werden konnten: Nun konnten neue Befestigungsanlagen gebaut werden, die auch den durch die Erfindung des Schießpulvers gestiegenen Anforderungen genügten, und man machte sich an den durch die Ausweitung des Handels notwendig gewordenen Bau von Brücken, Kanälen, größeren und schnelleren Schiffen — mit der Entwicklung der Handelsschiffahrt hängen die Erfindung und Verbesserung des Kompasses und des 17
Fernglases sowie die Ausbreitung der Astronomie unmittelbar zusammen — usw. Die der Naturwissenschaft zugrunde liegende Annahme, daß die Welt der Natur deshalb mathematisch-rational erfaßbar sei, weil es in ihr vernünftig zugehe, wurde zur Grundlage auch der rationalistischen Philosophie. Descartes, der ,Vater des Rationalismus', war nicht zufällig Mathematiker und Verehrer Galileis. Der Rationalismus leitet seine Schlüsse aus unmittelbar einleuchtenden Axiomen ab, verfährt also deduktiv. Descartes betrachtet die Axiome als angeborene Ideen, d. h. von unmittelbarer, vom Wahrnehmungsbereich unabhängiger Evidenz. Durch Schlüsse aus diesen könne der Mensch sichere Erkenntnis gewinnen. Die Sinneserfahrungen seien trügerisch, weil durch die Eigenart der menschlichen Sinne bestimmt. Die menschliche Denkkraft, die Vernunft, wird einerseits als eine außerhalb der Materie existierende geistige Substanz begriffen, andererseits aber auch als Instrument zur Erkenntnis der objektiven Welt. Rationale Erkenntnis ist aber nur von etwas möglich, in dem bereits Ratio steckt, die man nur noch herausholen muß. Nicht der Wissenschaftler macht aus einem wüsten Chaos die Welt, sondern diese ist immer schon vernünftig gegliedert. Der vor allem auf die Natur gerichtete mathematische Rationalismus gewinnt, auf die feudale Gesellschaft angewandt, eine gesellschaftskritische Note, da er in ihr die der Natur innewohnende Vernünftigkeit vermissen muß. Vernünftig ist für ihn eine Gesellschaft, die dem natürlichen Menschen adäquat ist. Der natürliche Mensch ist das Axiom, aus dem jeder Staat deduktiv ableitbar sein muß, soll er vor dem Richterstuhl der Vernunft bestehen. Die Naturrechtstheorie ist der auf die Gesellschaft angewandte Rationalismus. So machte sich Hobbes „ausdrücklich Galileis Methode zu eigen und wandte sie nachher auf seine Staatskonzeption an". 8
Gesellschaftliche Inhalte der Aufklärung Allgemeine Grundbedingungen der bürgerlichen Revolution Allen Schulbüchern gemeinsam ist die weitgehende Gleichsetzung von Aufklärung und ,Vernunftdenken': „Die Aufklärung glaubte (!) an die weltdurchdringende und weltverwandelnde Kraft der Vernunft." (Diesterweg II, S. 90) So richtig diese Feststellung in ihrer Pauschalität auch ist, so wenig sagt sie inhaltlich aus. Was heißt hier Vernunft? Wessen Vernunft ist gemeint? Oder gibt es eine Vernunft schlechthin? Die Verwendung des Vernunftbegriffs in den Schulbüchern läßt darauf schließen, daß die Schulbuchautoren den unhistorischen Vernunftbegriff der Aufklärung unkritisch übernehmen, da sie die oben gestellten Fragen in keiner Weise berühren. In Wirklichkeit kann von der Existenz einer absoluten Vernunft — die von den Aufklärungsphilosophen gewissermaßen vom Himmel heruntergeholt wurde — nicht die Rede sein. 9
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Jede Gesellschaftsformation hat ihren eigenen Begriff von Vernunft. Es hat niemals eine herrschende Klasse gegeben, die ihre eigene Herrschaft als unvernünftig hingestellt hätte. Wenn die Aufklärung das feudale Weltbild vor den ,Richterstuhl der Vernunft' stellte und aburteilte, dann machte sich die bürgerliche Vernunft zum Richter über die feudale Vernunft. Wie sah diese bürgerliche Vernunft der Aufklärung aus? Worin bestand ihr bürgerlicher Charakter? Das Axiom, auf dem die rationalistische Naturrechtstheorie ruhte, der natürliche Mensch, war nichts anderes als der bürgerliche Privateigentümer. (Unter Privateigentum ist hier im Unterschied zu persönlichem Eigentum — Eigenheim, Lebensmittel, Gebrauchsgegenstände — ein zum Zweck ständiger Vermehrung eingesetzter Vermögensbestand, also: Erwerbsvermögen , zu verstehen, z. B. Mietwohnung, verpachtetes Land usw. —; eine besondere Form des Privateigentums ist das kapitalistische Eigentum: Besitz von Fabrikanlagen usw.) In ihm fand die Vernunft ihre Grenze. Alles, was dem Privateigentümer nützte, war vernünftig. Freiheit galt als vernünftig, soweit es die Freiheit für das Privateigentum war. Gleichheit galt als vernünftig, soweit es sich um die juristische und politische Gleichheit aller Privateigentümer handelte. Diese Ideale wurden zur Parole der Französischen Revolution; sie werden im Zusammenhang mit der Darstellung Rousseaus und der J a kobiner in den Schulbüchern noch kritisch zu untersuchen sein. In gewisser Weise haben die Schulbuchautoren durchaus recht, wenn sie die Französische Revolution aus dem Widerspruch zwischen aufklärerischen Ideen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit erklären, doch bleibt diese Aussage für sie ohne Folgen, weil sie den Inhalt dieser Ideen nicht analysieren. Hinter dem verbalen Pathos des Rufs nach Freiheit stand ein sozialer, ein ökonomischer Inhalt: Freiheit als Befreiung des bürgerlichen Unternehmers, des Bourgeois, von den seine wirtschaftliche Entfaltung hemmenden Schranken der feudalen Gesellschaftsordnung — Befreiung z. B. von dem feudalen Zollsystem, das lediglich die finanziellen Bedürfnisse des feudalabsolutistischen Hofes und der oberen Stände (Klerus und Adel) befriedigte, durch die Aufsplitterung des Landes und die hohen Abgaben aber den Binnenhandel und die Produktion schwer schädigten; Befreiung auch von den hohen Steuern, die den ganzen Dritten Stand schwer belasteten und den Gewinn der bürgerlichen Unternehmer einerseits direkt reduzierten, andererseits die Ausweitung der Produktion erschwerten, weil die Kaufkraft der Bevölkerung durch die Verbrauchssteuern wesentlich eingeschränkt war; Befreiung von den stadtbeherrschenden Zünften, die notwendige Betriebsvergrößerungen, die Verbesserung der Produktionsmethoden, technische Neuerungen usw. behinderten und den Absatz für bestimmte Gebiete monopolisierten; Befreiung der privaten Manufakturen von der lästigen staatlichen Reglementierung. 10
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Die Weiterentwicklung der Produktion, nach der ein gesellschaft19
liches Bedürfnis bestand, wurde also durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, die nach wie vor wesentlich auf Naturalwirtschaft abgestimmt und durch bodenvermittelte persönliche Herrschaftsbeziehungen (die sich in Privilegien darstellten) gekennzeichnet waren, auf immer augenfälligere Weise behindert. Die wirtschaftlichen Potenzen, die Produktivkräfte (Produktionsmethoden, Produktionsmittel) standen im Widerspruch zu der Möglichkeit ihrer gesellschaftlichen Realisierung: die feudale Gesellschaft, ihre Produktions- und Eigentumsverhältnisse, waren zu Fesseln des Fortschritts geworden, zu Fesseln der Produktivkräfte.
Die mittelalterliche Zunft als Beispiel für den historischen Funktionswandel von Produktionsverhältnissen Wie die feudalen Produktionsverhältnisse, die ursprünglich die Entwicklung der Produktivkräfte gefördert hatten, allmählich zu Fesseln ihrer Weiterentwicklung wurden, sei am Beispiel der Zünfte verdeutlicht. Die Zunftordnung ist die dem Feudalismus entsprechende Organisationsform des Handwerks. Ihre Hauptfunktion war, das zu unterbinden, was die kapitalistische Gesellschaft (und nur diese!) wesentlich kennzeichnet: die Konkurrenz. Der Ausschaltung der Konkurrenz dienten die Festsetzung der Preise und der Betriebsgröße, das Verbot der Werbung und das Verbot eines möglicherweise konkurrenzfähigen ländlichen Handwerks im Einzugsbereich des Zunfthandw e r k s . Diese Einschränkung der Konkurrenz war zu dieser Zeit ( I L —13. J h . ) deshalb notwendig, weil eine gewerbliche Produktion für den anonymen Markt mit seinen Preis- und Nachfrageschwankungen bei dem damaligen Stand der Produktivkräfte, d. h. der geringen Spezialisierung und der primitiven Werkzeuge, über kurz oder lang den Ruin vieler Handwerker zur Folge gehabt hätte. Im ,Treibhausklima' der Zunftordnung, die den Absatz regelte, konnte sich das Handwerk dagegen zu einer nie dagewesenen Blüte entwickeln. Unter diesem Schutz vor den ,Gefahren des M a r k t e s ' konnte sich der städtische Handwerker von seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit lösen, auf ein bestimmtes Handwerk konzentrieren und immer weiter spezialisieren. 13
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Etwa seit dem 16. Jahrhundert kam diese Entwicklung zu einem Stillstand, da die Weiterentwicklung der mittlerweile stark spezialisierten Produktion einen Kapitalaufwand erforderlich machte, der die Potenzen des zünftigen Kleinhandwerks überstieg. Da die Zünfte Betriebsvergrößerungen, die Anstellung einer größeren Zahl von Gesellen usw. (s. o.) untersagte, entstanden die ersten Manufakturen außerhalb der von Zünften beherrschten Städte. Aus dem einstigen Geburtshelfer des städtischen Handwerks war eine Zwangsjacke für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt geworden." Ein ähnlicher Umschlag vollzog sich nur auf einer höheren Stufe, auch bei der Entwicklung der Manufakturen. Hier trat der feudalabsolutistische 20
Staat durch Vergabe von Exklusivprivilegien (sogenannten Monopolen), Produktions- und Absatzregulierungen usw. als Geburtshelfer auf, bis er dann bei einer bestimmten Entwicklungsstufe der Produktivkräfte zum Hemmnis des weiteren Fortschritts w u r d e . Der Widerspruch zwischen den vorwärts drängenden Potenzen und den in der politischen und gesellschaftlichen Struktur begründeten Hemmnissen machte eine Umwälzung des ohnehin zerrütteten Feudalsystems (so war die Finanzkrise des französischen Absolutismus vor Ausbruch der Revolution nur ein Symptom) notwendig. Träger dieser Umwälzung mußte eben jene Klasse sein, die gewissermaßen als Personifizierung der neuen Potenzen gelten konnte: das Bürgertum, insbesondere die Manufakturbourgeoisie. In diesem Sinne war die Französische Revolution eine bürgerliche Revolution. Sie resultierte nicht aus dem Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Realität und der Ideenwelt der Aufklärung, wie sie von den Schulbuchautoren verstanden und dargestellt wird, sondern aus dem Widerspruch zwischen der feudalen Gesellschaft und den in Ideen wie Freiheit usw. gekleideten ökonomischen Interessen des Bürgertums (in gewisser Weise auch der feudalabhängigen Bauern), allgemeiner und in marxistischen Kategorien ausgedrückt: aus dem Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den zu Fesseln gewordenen feudalen Produktionsverhältnissen. Dieser Widerspruch erscheint auf ideeller Ebene als Widerspruch zwischen dem emanzipatorischen Anspruch des Bürgertums (und der anderen unterdrückten Klassen) und dem reaktionär gewordenen feudalen Weltbild. Diese zunächst auf ideeller Ebene ausgefochtene Kontroverse mußte schließlich in der politischen Revolution entschieden werden, die alle feudalen Relikte hinwegfegte. Wir hatten oben bereits angeschnitten, daß die geistige Offensive des Bürgertums, die Aufklärung, wesentlich dadurch gekennzeichnet war, daß sie den ,natürlichen Menschen' mit dem bürgerlichen Privateigentümer identifizierte. Sie projizierte also unbewußt das bürgerliche Individuum der sich herausbildenden kapitalistischen Gesellschaft zurück in einen fiktiven ursprünglichen Naturzustand (womit der Kapitalismus hinterrücks zum natürlichen Zustand verklärt wäre). Dies ließe sich sehr leicht im einzelnen beweisen. Als Beispiele seien erwähnt: die verblüffende Ähnlichkeit der Hobbesschen Konzeption des ,Kampfes aller gegen alle' im Naturzustand mit dem Konkurrenzkampf in der bürgerlichen G e s e l l s c h a f t , die Lockesche Konstruktion des Staates aus einem Gesellschaftsvertrag zwischen Privateigentümern zur Sicherung ihres E i g e n t u m s und die Painesche Identifizierung der natürlichen Rechte des Menschen mit den Gesetzen des Warenverkehrs. Die gesellschaftskritische Note der Naturrechtskonzeption (und damit der gesamten Aufklärung) liegt also allgemein darin, daß die bestehende feudale Gesellschaft am Bilde des privat produzierenden und als Gleicher auf dem Markt Waren tauschenden bürgerlichen Privateigentümers (insbesondere des kapitalistischen Eigentümers) gemessen und 16
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verurteilt wird. Ihr ,Richterstuhl der Vernunft' ist demnach im wahrsten Sinne des Wortes der Standpunkt des Bürgertums (s. o.). Seit seinen Anfängen ist bürgerliches Denken dadurch gekennzeichnet, daß — wie Karl Marx einmal über J o h n Locke bemerkte — es den bürgerlichen Verstand zum menschlichen Normalverstand schlechthin stilisierte. Der ,Umbruch des Weltbildes', den alle Schulbücher konstatieren und zur Voraussetzung der Französischen Revolution erklären, wird also getragen von der im Schöße der alten Feudalgesellschaft heranwachsenden bürgerlichen Gesellschaft. Die Aufklärung ist nicht abstrakt zu verstehen als eine bestimmte Epoche in der Ideengeschichte der allmählich zur Vernunft kommenden Menschheit (so verstand sie sich selbst!), sondern als das Selbstverständnis des revolutionären Bürgertums, als die Bewegung, in der die aufsteigende Bourgeoisie ihre sich vollziehende ökonomische Emanzipation gegenüber der Feudalgesellschaft geistigen Ausdruck verlieh und gewissermaßen die Theorie ihrer politischen und ökonomischen Emanzipation ausformte: die Theorie der bürgerlichen Revolution. In der Aufklärung formulierte das Bürgertum sein Klasseninteresse notwendigerweise als allgemeines Menschheitsinteresse gegenüber dem bornierten feudalen Partikularismus, vertrat die Nation gegenüber dem feudalen Standesbewußtsein. Dieses spezifische Charakteristikum der Aufklärung, nämlich Selbstverständnis des Bürgertums zu sein (ohne daß dieses sich allerdings dessen bewußt war: sie glaubte, das allgemeine Menschheitsinteresse zu vertreten), kommt in keinem der Schulbücher zum Ausdruck. So bleibt dem Leser auch völlig unverständlich, wieso die Aufklärer ausgerechnet in den Niederlanden, England und Frankreich (in dieser Reihenfolge) zu Hause waren und nicht etwa in Italien, dem Mutterland der Renaissance, in Spanien, Griechenland oder Rußland. Kein Wort davon, daß der aufklärerische Geist dort geboren wurde, wo die kapitalistische Produktionsweise sich am ungehindertsten entfalten konnte (und damit das Selbstbewußtsein des Bürgertums): In den Niederlanden und England, den Ländern nämlich, in denen die bürgerliche Revolution sich bereits ein Jahrhundert vor der Französischen Revolution v o l l z o g . Kein Wort davon, daß die Theorie eines kündbaren Gesellschaftsvertrages von den bürgerlichen Hugenotten ausging (Althusius) usw. 20
Ihrem eigenen Selbstverständnis nach war die Aufklärung eine geistige Bewegung, die die überkommenen gesellschaftlichen Verhältnisse und das ihnen entsprechende sie stabilisierende und legitimierende Weltbild an der — freischwebenden — menschlichen Vernunft maß und als überlebt entlarvte. Die Aufklärer waren mit Kant davon überzeugt, daß sich die Vernunft im Zuge der Aufklärung der Menschen durchsetzen und diese aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit heraustreten könnten in eine freie Gesellschaft. Eine politische oder soziale Revolution wurde von der Mehrheit der Aufklärer nicht ins Auge gefaßt. Paradoxerweise wurde die dem bürgerlichen Klassenin22
teresse dienende Revolution dann ausgerechnet von jenen Gesellschaftsschichten getragen, die von den meisten Aufklärern herablassend als der Aufklärung gar nicht zugängliche dümmliche Volksschichten angesehen worden waren: den Bauern, Handwerkern und Arbeitern. Die Schulbuchautoren vernachlässigen den sozialen Inhalt der Aufklärung und verabsolutieren ihre Erscheinungsform. Sie beurteilen die frühbürgerliche Ideologie also nach dem, was sie sich selbst dünkt. Wirklicher Wissenschaft aber muß es darum gehen, eben diese ideellen Erscheinungsformen als Erscheinungsformen bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse zu begreifen: „In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen . . . Formen, worin sich die Menschen dieses Konfliktes bewußt werden, und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dieses Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen e r k l ä r e n . " 21
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Voltaire und Rousseau oder Wie die Freiheit die Gleichheit erschlägt Als die Vertreter der französischen Aufklärung erscheinen in nahezu allen Schulbüchern Voltaire, Montesquieu als „Gemäßigte" auf der einen, Rousseau als „Radikaler" auf der anderen Seite. In ,Zeiten und Menschen 3' (Schroedel/Schöningh IV) stehen Voltaire und Montesquieu unter der Überschrift „Freiheit", Rousseau unter „Gleichheit". In einem Schulbuch war es Voltaire ganz allein, „der die Aufklärung im Kampf gegen die Kirche in dem katholischen Frankreich durchsetzte". Seinen besonderen Gaben ist es offenbar zu verdanken, daß sich der Antiklerikalismus schließlich in der Revolution entladen hat: „Durch seinen sprühenden Geist, den Glanz seiner Sprache und seinen sarkastischen Witz beeinflußte er das Geistesleben des 18. Jahrhunderts tief und verbreitete in weiten Kreisen die Feindschaft gegen die Kirche, die sich in der Französischen Revolution entlud." (Diesterweg VIII, S. 7) „Durch seine zersetzende Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen rüttelte er an den Grundlagen des alten Staates." (Klett I, S. 162) Geschichte wird nach diesen Schulbüchern offenbar von einzelnen großen Männern, unter ihnen Philosophen (also reinen Theoretikern!) über die Bühne gebracht — eine unsinnige Vorstellung, die längst in die Mottenkiste der Geschichte gehörte. Würde man das Schulbuch beim Wort nehmen, dann müßte man glauben, daß die Kirchenfeindschaft großer Teile der französischen Bevölkerung in jener Zeit allein dem 23
„sarkastischen Witz" eines Voltaire geschuldet war. In Wirklichkeit fand Voltaires „sprühender Geist" nur deshalb überall Anklang, weil er eine allgemein verbreitete Aversion gegen die Kirche nun auch literarisch aussprach (und dadurch allerdings das Selbstbewußtsein der unterdrückten Schichten stärkte). Die Aversion gegenüber einer Institution, die in Gestalt des hohen Klerus (Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte und Domherren) die den Bauern abgepreßten Naturalabgaben (Kirchenzehnt, außerdem zusätzliche Abgaben auf den 10 % des Landes ausmachenden Kirchenbesitz) am Hof verpraßten , einer Institution ferner, die die feudale Gesellschaft auch noch mit dem Heiligenschein kirchlicher Weihe ausstattete, ergab sich aus ihrer realen Ausbeutungsund Unterdrückungsfunktion und bedurfte wohl kaum noch der Erweckung durch die Feder eines Philosophen. Genauso nichtssagend bzw. falsch ist das andere Schulbuchzitat, wonach Voltaire an den Grundlagen des alten Staates gerüttelt habe. Wie Hartig, Scheider und Meitzel jüngst nachgewiesen haben, ist Voltaire als Vertreter „jener großbürgerlichen Fraktion" zu begreifen, „die hofft, die bürgerlichen Interessen im Kompromiß mit der feudalen Klasse unter der Schirmherrschaft der Monarchie durchzusetzen" . Voltaires Kritik richtete sich nicht gegen die Feudalrechte, sondern lediglich gegen feudale Mißbräuche. „Voltaire blieb sein Leben lang befangen von der Vorstellung, die Politik der Fürsten beeinflussen zu müssen, um sie vernünftig zu lenken. Er hat es immer verstanden, aus den Mißbräuchen, die er kritisierte, Profit zu schlagen, als Pazifist an der Heeresversorgung zu verdienen, als Fürsprecher für die Schwarzen dennoch aus dem Sklavenhandel zu profitieren; er hat dazu beigetragen, die Monarchie zu verklären." Wenn diesem Zitat also zu entnehmen ist, daß Voltaire eine recht zwielichtige Erscheinung war, wenn man sich ferner der bekannten Voltaireschen Verachtung der Volksmassen erinnert, die der Aufklärung gar nicht wert seien — „Für das Gesindel ist der dümmste Himmel und die dümmste Erde gerade r e c h t " —, dann fällt ein bezeichnendes Licht auf die positive Bewertung Voltaires unter dem Titel „Freiheit" auf der einen und die Ablehnung der Rousseauschen Gleichheitsidee auf der anderen Seite durch die Schulbücher. Ein Voltaire, der die unteren Gesellschaftsschichten verächtlich als „Gesindel" abtut und die Aufklärung nur dem oberen Teil der gesellschaftlichen Stufenleiter vorbehalten wissen möchte, kann unter Freiheit nur die Freiheit eben dieser Oberschichten verstehen. 23
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Voltaires Freiheitsbegriff meint wie der fast aller Aufklärungsphilosophen die freie Verwendung des bürgerlichen Privateigentums, insbesondere des kapitalistischen Eigentums an den Produktionsmitteln. Eben dies beruht aber auf der Mehrarbeit von Menschen, denen diese bürgerliche Freiheit gerade nicht vergönnt ist, weil sie auf Grund der existierenden Ungleichheit nur noch über die Freiheit verfügen, ihr einziges Eigentum, ihr Arbeitsvermögen, zu verkaufen. Die Freiheit der Kapitalbesitzer setzt die Existenz der Lohnabhängigen voraus. Wenn die Schulbuchautoren hervorheben, daß „die Gleichheit die 24
Freiheit erschlagen" (Schroedel/Schöningh IV, S. 4 7 ) könne, dann sprechen sie die Wahrheit aus, daß die Freiheit der Bourgeoisie die Ungleichheit zur Voraussetzung hat. Voltaire war sich dessen sehr wohl bewußt. Im Artikel „Eigentum" des „Philosophischen Wörterbuchs" erklärt er: „Man braucht Leute, die nur ihre Arme und guten Willen besitzen . . . Sie werden frei sein, ihre Arbeit dem zu verkaufen, der am meisten bezahlt. Diese Freiheit soll für sie Eigentum s e i n . " Voltaire nennt damit das Grundverhältnis der kapitalistischen Gesellschaft beim Namen: Die Freiheit der Kapitalisten, Profite zu machen, beruht auf der ,Freiheit' des Arbeiters, seine Arbeitskraft (Voltaire sagt falsch: „Arbeit") „dem zu verkaufen, der am meisten bezahlt". Diese Freiheit der Arbeiter, die man bestenfalls im ironischen Sinne als „Freiheit" bezeichnen kann, beruht wiederum auf dem Frei-sein der Arbeit von den objektiven Bedingungen ihrer Verwirklichung. Während noch die feudale Produktionsweise durch die Einheit von Arbeit und Produkt, d. h. dem Besitz der Produzenten an ihren Produktionsmitteln gekennzeichnet war, so ist die historische Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise die Trennung der Arbeit von ihrem eigenen Produkt, d. h. die Enteignung der Produzenten und ihre Unterwerfung unter das K a p i t a l . Der in fast allen Schulbüchern erwähnte Abbé Sieyès, der Verfasser der berühmten Flugschrift „Was ist der Dritte Stand? " (Januar 1 7 8 9 ) , verkündete am 7. September 1789 vor der Nationalversammlung die Trennung der Menschheit in eine Minderheit von Besitzern der Arbeits- und Lebensmittel und eine „Mehrzahl" von Besitzern allein der Arbeitskraft als Gesetz der neuen bürgerlichen Gesellschaft: „Wir sind . . . gezwungen, in der Mehrzahl der Menschen nichts als Arbeitsmaschinen zu s e h e n . " Es wird aus der Formulierung deutlich, daß hier ein Vertreter jener erwähnten Minderheit spricht: es ist der Standpunkt der Bourgeoisie — einer Minderheit, deren Freiheit gerade darin besteht, die Opfer der sozialen Ungleichheit, die „freien Arbeiter" als Arbeitsmaschinen zu benutzen. 28
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Die Schulbuchautoren, die den Vorrang der Freiheit gegenüber der Gleichheit betonen, vertreten somit — wie Voltaire, Sieyes und die meisten Aufklärer — den Standpunkt der Bourgeoisie, der identisch ist mit dem Standpunkt des Kapitals. Von diesem Standpunkt aus ergibt sich zwangsläufig eine Ablehnung Rousseaus, Marats, Robespierres, Marxens, Lenins usw., kurz — all derer, die Freiheit nur auf der Grundlage sozialer Gleichheit zu denken vermochten. Von diesem Standpunkt aus ergibt sich nicht weniger zwangsläufig die Diffamierung revolutionärer Massenaktionen, die sich zum Ziel gesetzt haben, das zweite Prinzip der Französischen Revolution, die Gleichheit, gesellschaftlich zu verwirklichen, nachdem das Bürgertum nicht einmal seine politische Verwirklichung schaffte: Die nachrevolutionäre Verfassung von 1795 band das Wahlrecht genauso an den Besitz, wie es alle liberalen Verfassungen anderenorts vorher und nachher getan haben. Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts kam — wie sich schon in der Französischen Revolution zeigte — nur auf massiven 31
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Druck der Arbeiterschaft zustande: „Im lebhaften Gegensatz zu der entwickeltsten Idee der Aufklärung ist die Praxis des bürgerlichen Parlamentarismus, sich selbst überlassen, niemals zur Demokratie vorgestoßen; der Parlamentarismus sollte begrenzt bleiben auf die Interessengruppen des Bürgertums. Die Parlamente Englands und Frankreichs waren, bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, reine Honoratiorenversammlungen. J e d e Erweiterung des Wahlrechts über das Bürgertum hinaus ist im Kampf der arbeitenden Klasse den Herrschenden abgerungen worden — von der machtvollen Chartistenbewegung im England der dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts bis hin zum Kampf gegen das Drei-Klassen-Wahlrecht in P r e u ß e n . " Die Schulbuchautoren von heute — also zu einer Zeit, in der eine gewisse von der Arbeiterschaft erkämpfte Demokratisierung der Gesellschaft, insbesondere der politischen Sphäre realisiert ist (z. B. allgemeines Wahlrecht) — vollziehen genau dieselbe Identifizierung des bürgerlichen Privateigentümers mit dem Menschen schlechthin wie ihre ideologischen Väter vor und in der bürgerlichen Revolution. Dementsprechend wird die Verfassung von 1791 positiver als die demokratischere von 1 7 9 3 (die das allgemeine Wahlrecht verwirklichte) beurteilt. Die auf den Druck der sansculottischen Massenbewegung hin von den Jakobinern erarbeitete Verfassung von 1 7 9 3 , die die bürgerlichen Schranken mit der Verkündung des allgemeinen Wahlrechts bereits durchbrach, wird als ,radikal' abgewertet: 32
„Unter dem Druck des Kampfes um Sein und Nichtsein (!) schritt die Revolution von ihren liberalen Anfängen zur radikalen Demokratie, d. h. die Freiheit wurde der Gleichheit untergeordnet." (Klett I, S. 171) „Die Gleichheit war jetzt Grundlage der Verfassung; die Freiheit, 1791 Mittelpunkt der Verfassung, trat dagegen zurück." (Schroedel/Schöningh IV, S. 80) Das Privateigentum und die mit ihm gesetzte Ungleichheit steht für diese Autoren ganz offensichtlich höher als das demokratische Prinzip. Während die Gleichsetzung des bürgerlichen Privateigentümers mit dem Menschen schlechthin im frühbürgerlichen Kampf gegen den Ständestaat des Feudalismus noch eine progressive Funktion besaß, ist ihre heutige Wiederaufnahme offen reaktionär. Wie sich diese reaktionär gewordene bürgerliche Ideologie in den Schulbüchern durchsetzt, sei kurz an der Darstellung Rousseaus exemplifiziert. Rousseau erscheint in allen Schulbüchern als radikaler Demokrat, wobei meistens seine Radikalität besonders betont und in Zusammenhang mit Begriffen wie ,Diktatur' oder ,Totalitarismus' gebracht wird. „Gestützt auf Rousseaus Lehre konnte die Gleichheit die Freiheit erschlagen. Aus der Demokratie konnte eine Diktatur werden." (Schroedel/Schöningh IV, S. 47) „Daß zwischen den Forderungen nach politischer Gleichheit und Freiheit ein tiefer Gegensatz besteht, ist oft übersehen worden, namentlich unter dem Eindruck der historischen Tatsache, daß politische Freiheit im Kampf gegen Standesprivilegien, also auch zugunsten von Gleichheit, erfochten werden mußte. 26
Rousseau hat den Weg der radikalen Demokratie in den egalitären Totalitarismus vorgezeichnet." Zweimal die gleiche Argumentation. Der Unterschied ist rein formaler Art: Das zweite Zitat stammt aus einem Zeitungsaufsatz des in bürgerlichen Kreisen renommierten Soziologen Helmut Schelsky. Bürgerliche Wissenschaft und bürgerliches Schulbuch reichen sich die Hände. Mit entwaffnender Offenheit spricht Schelsky von einem Gegensatz zwischen politischer Gleichheit und Freiheit. Selbst im Bereich der politischen Mitsprache — geschweige denn im gesellschaftlichen Bereich, etwa im Betrieb, Schule usw. — hält er Gleichheit für ein Übel, das bedauerlicherweise im Kampf gegen die Feudalordnung mit abgefallen sei! Im folgenden erklärt Schelsky dann auch unumwunden: „da ein Ubermaß an Demokratie in die Diktatur ums c h l ä g t " , bedeute „Politisierung" der Bevölkerung immer „IrratioUnd „ein bestimmter Prozentsatz an freiwilligen nalisierung". NichtWählern in einem hochzivilisierten Lande (ist) ein Anzeichen politischer Stabilität" und deshalb einer Weckung politischen Engagements in der Bevölkerung vorzuziehen. Eine solche Argumentation, die die Politik an die dafür angeblich zuständigen Fachleute verweist, ist zentrales Moment auch der meisten Schulbücher und ein weiteres wichtiges Zeichen für die Demokratiefeindlichkeit bürgerlicher Ideologie. Tatsächlich kann bürgerliche Wissenschaft auf Grund ihrer formalen und unhistorischen Betrachtungsweise allerdings auch gar nicht zu anderen Schlußfolgerungen gelangen. Ihre Ergebnisse sind immer schon durch die Methode ihrer Findung vorstrukturiert. Dies geht unmittelbar aus der Analyse der Behandlung Rousseaus im Schulbuch hervor. Welche Bedeutung ihr beigemessen wird, zeigt eine besonders symptomatische Stelle einer Mittelstufendidaktik: 3 3
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„Die Einführung der Schüler in die Auffassungen Rousseaus erscheint auf dieser Klassenstufe etwas schwierig, dennoch dürfte sie aber als Vorbereitung des Verständnisses mancher Züge des Jakobinertums, des Nationalsozialismus, des Kommunismus und der heutigen APO wie vieler jugendlicher Rebellion notwendig sein." (Schroedel/Schöningh, VII, S. 47) Man muß diese Worte ganz sorgfältig lesen. Hier manifestiert sich eine totale Geschichtslosigkeit. Wie es der in der heutigen bürgerlichen Geschichts- und Gesellschaftswissenschaft in hohen Ehren gehaltene Max Weber dank seiner bewußt formalen Betrachtungsweise fertigbrachte, Perikles, Jesus, Napoleon und Hitler ohne Anstrengung unter den Idealtypus „charismatische Herrschaft" zu subsumieren, so schreckt die bürgerliche Wissenschaft auch heute nicht davor zurück, Robespierre, Lenin und Hitler unter Abstraktion von ihrer völlig verschiedenen historisch-gesellschaftlichen Bedingtheit und Funktion in den Topf der Geschichte des Immergleichen zu werfen — in diesem Fall des immergleichen Totalitarismus. Die Lehre soll sein: eine radikale Theorie (Rousseau, Marx) führt unweigerlich zum totalitären Staat (Jakobinerherrschaft, Sowjetunion usw.). Da auch noch der gar nicht radikale (radikal = die Gesellschaft an der Wurzel, radix, packend = re27
volutionär) Nationalsozialismus mit hinzugenommen wird, bezeugt nur die absolute Begriffslosigkeit der Autoren. Bezeichnenderweise findet sich eben diese Theorie auch in dem von Wissenschaftlern des Otto-Suhr-Instituts an der Freien Universität Berlin verfaßten Arbeitsbuch zur Sozialkunde „Politik im 20. J a h r h u n d e r t " , in dem es heißt: „Auf Rousseaus Lehre von der volonté générale konnten sich daher alle Tyrannen (!) berufen, die behaupteten, im Namen des unfehlbaren Volkswillens zu handeln: Robespierre, Lenin, Stalin, Hitler." 37
Es erübrigt sich fast, darauf hinzuweisen, daß weder Lenin, Stalin noch Hitler sich auf Rousseau beriefen. Und auch „die APO" hat keineswegs den alten Rousseau zu ihrem Ahnherrn erkoren. Warum konstruieren die Autoren dann dennoch diesen Zusammenhang? Das liegt, kurz gesagt, an dem der bürgerlichen Ideologie immanenten Absolutheitsanspruch, d. h. an ihrem Axiom, daß die bürgerliche Gesellschaft die dem Menschen adäquate sei. Alles, was die bürgerliche Gesellschaft als Ganze kritisiert, ist von vornherein verwerflich. Der erste in ihren Augen ernstzunehmende Denker, der in bestimmten Punkten über die bürgerliche Gesellschaft hinausdachte, war — Rouss e a u . Wirklich radikal neu war bei Rousseau die Auffassung, daß der Mensch in der bürgerlichen Gesellschaft seiner wahren Natur entfremdet sei. Der Egoismus des bürgerlichen Individuums, den Hobbes noch zu dem Wesensmerkmal des Menschen erklärte („homo homini lupus"), den spätere Naturrechtler wie Locke illusorisch im bürgerlichen Staat aufgehoben wissen wollten, wird von Rousseau als mit dem Eigentum historisch entstanden aufgefaßt: „Der erste, der ein Stück Land umzäunte und auf den Einfall kam zu sagen, dies gehört mir, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Welche Verbrechen, wie viele Kriege, Morde und Greuel, wieviel Elend hätten dem menschlichen Geschlecht erspart bleiben können, wenn einer die Pfähle eingerissen, den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ,Glaubt diesem Betrüger nicht!' Ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte euch allen, der Boden aber niemandem g e h ö r t ! " In dieser berühmten Stelle aus dem Traktat „Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen" kritisiert Rousseau zusammen mit dem feudalen Grundbesitz zugleich auch schon das bürgerliche Privateigentum an Grund und B o d e n . Im Contrat Sociale wendet sich Rousseau explizit gegen den Grundtatbestand der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die infolge der Trennung von den Produktionsmitteln entstandene Notwendigkeit für die Produzenten, ihre Arbeitskraft an die Produktionsmittelbesitzer zu verkaufen: „Kein Staatsbürger (darf) so reich werden, um sich einen anderen kaufen zu können, noch so arm sein, um sich verkaufen zu müssen." Rousseaus Sensibilität gegenüber Widersprüchen des kaum entwickelten Kapitalismus ließ ihn von einem republikanischen Kleinstaat von Kleinbauern und Kleinhandwerkern träu38
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men, wo weder kapitalistische Konkurrenz noch größere Eigentumsunterschiede existieren. Auf dieser Vorstellung einer formellen wie substantiellen Gleichheit (Gleichheit vor dem Gesetz bzw. wirtschaftliche Gleichheit) gründet seine Konzeption der volonté générale, des allgemeinen Willens. Damit hatte Rousseau den Schleier der rein formellen (juristischen) Gleichheit, die allen bürgerlichen Naturrechtlern genügte, zerrissen — der Gleichheitsruf der Französischen Revolution hatte ja von Anfang an einen bürgerlich begrenzten Inhalt: formales staatsbürgerliches Recht als Gleichheit aller Individuen vor dem Gesetz, das primär der Erhaltung des bürgerlichen Eigentumsinteresses zu dienen h a t t e . Diese Tendenz der Rousseauschen Theorie, über das unmittelbare Klasseninteresse der Bourgeoisie hinauszugehen, machte sie geeignet als Theorie der Jakobiner, die sich auf die kleinbürgerlich-frühproletarische Massenbewegung der Sansculotten (Handwerksmeister, Gesellen, kleine Ladenbesitzer sowie Lohnarbeiter in steigender Zahl) stützten. Die besondere historische Rolle der Jakobinerdiktatur liegt gerade in der Ambivalenz von bürgerlichem Klasseninhalt der Revolution einerseits und sansculottischer Massenbasis andererseits. Mit anderen Worten: die eigentümliche Rolle Robespierres in der 2. Phase der Revolution, die ihn zuerst erhob und dann stürzte, war seine Gratwanderung am Rande der bürgerlichen Gesellschaft. Obwohl er gemäß dem Klasseninteresse der Bourgeoisie die Institution des individuellen Eigentums nie in Frage stellte, stand er doch mit seiner (Rousseau entliehenen) Forderung nach Umverteilung des Eigentums bereits mit einem Fuß außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Mit diesem Fuß stützte er sich auf die Pariser Massen, die Sansculotten, die ihrerseits — als Vor- oder Frühform des Proletariats — tendenziell auch über den bloßen Ausgleich ökonomischer Besitzverhältnisse hinausstrebten. Bevor diese Tendenzen zum Durchbruch kommen konnten, gelang der Bourgeoisie der Sturz des J a k o b i n e r t u m s . Von all dem erfahren wir in den Geschichtsbüchern nichts. Kein Wort von Rousseaus differenzierter Einstellung zum Privateigentum im allgemeinen und zum kapitalistischen Eigentum im besonderen, kein Wort auch von der an die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft stoßenden Massenbewegung der Sansculotten und der skizzierten Rolle des Jakobinertums. 42
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Die Kritik der Schulbuchautoren an Rousseau bezieht sich nur implizit auf dessen Vorbehalte gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft. Die Auseinandersetzung wird auf eine abstrakte Ebene verlagert. „Rousseau, der das Recht des natürlichen Menschen gegen die entartete (!) Zivilisation proklamierte, entfesselte (!) eine Gefühlsströmung (!), die alle Schichten (!) mit einem sentimentalen Glauben (!) an die Güte des natürlichen Menschen erfüllte." (Klett I, S. 163) Hier ist exemplarisch vorgeführt, wie man mit einem Theoretiker umgehen muß, wenn man ihn „erledigen" will. Zugleich gibt dieses Zitat schon einen Vorgeschmack vom Umgang der Geschichtsbuchautoren mit Marx, Lenin und anderen sozialistischen Theoretikern. 29
Wir lassen hier einmal beiseite, daß diese Darstellung Rousseaus historisch falsch ist und beschränken uns auf eine ideologiekritische Analyse: Rousseau wird hier mit einer Handbewegung als potentieller Gesprächspartner disqualifiziert. Als Grund dafür wird sein ,sentimentaler Glaube an die Güte des natürlichen Menschen' angeführt. Auch in anderen Schulbüchern findet sich diese Argumentation: Rousseau ist deshalb ein gefährlicher Spinner, weil er davon ausgeht, daß alle Menschen von Natur aus gut seien. Die bereits zitierte Didaktik spricht es direkt aus: es geht darum, den Schülern klarzumachen, „daß es zum Wesen des Menschen gehöre, zunächst an sich zu denken" (Schroedel/Schöningh V I I , S. 47 — Hervorhebung von uns). Um die ganze Infamie der ideologischen Ausrichtung der Schüler — man kann es auch Einübung in den Antikommunismus nennen — mittels der Schulbücher zu demonstrieren, sei hier weiter zitiert: „Um die Schüler bewußt in Verlegenheit zu bringen (!), kann man die Frage aufwerfen, ob daran (also am .menschlichen' Egoismus) nicht eine falsche Erziehung, bestimmte ,unglückliche' Verhältnisse, die soziale Lage, die Klassengegensätze (!) etc. schuld sein könnten . . . " (Schroedel/Schöningh VII, S. 47) Schon die Art der angebotenen ,Alternativen' nehmen die Beantwortung der Frage bereits vorweg. Die Schüler werden in ihrer Verlegenheit auf den unwandelbaren egoistischen Menschen zurückgreifen müssen, womit sie ,von sich aus' dorthin gelangt sind, wohin man sie haben wollte. Daß der empirisch feststellbare Egoismus der Menschen notwendiger Ausdruck des in der warenproduzierenden Gesellschaft erheischten privaten Erwerbsstrebens sein könnte, wird wohlweislich gar nicht zur Diskussion gestellt. Kurzes Fazit: Die bürgerliche Theorie kennt offensichtlich nur zwei Möglichkeiten, die Denkweisen der Menschen zu erklären: entweder leitet sie sie ideengeschichtlich her, womit das Problem nicht gelöst, sondern lediglich verschoben wird, oder aber sie werden als mit dem Menschen ,gegeben' betrachtet: egoistisches und individualistisches Denken ist danach der menschlichen Natur als unabänderliches Merkmal immanent. Damit wäre erneut ein Strukturprinzip bürgerlicher Ideologie benannt, auf das wir schon an mehreren Stellen stießen: die Hypostasierung des bürgerlichen Privateigentümers zum Menschen schlechthin (Anthropologisierung). Sie muß notwendig zur Ablehnung aller Emanzipationsbewegungen der unteren Gesellschaftsschichten führen — einer Ablehnung wirklicher Demokratie, die mit der berühmten Argumentation, die Gleichheit erschlage die Freiheit, ideologisch abgesichert wird. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich dann wiederum die Uminterpretation Rousseaus, des Philosophen der Volkssouveränität, in einen Philosophen des Totalitarismus. Die Begründung klingt zunächst ganz überzeugend: Rousseaus Konzeption der volonté générale widerspreche dem liberalen Prinzip der Gewaltenteilung (Montesquieu) und sei deshalb besonders verdammenswert, denn die Ablehnung der Gewal30
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tenteilung führe unweigerlich zur totalitären Einparteienherrschaft. Die Fragwürdigkeit dieser Argumentation liegt in der Fragwürdigkeit ihres wissenschaftlichen Vorgehens. Diese liegt in der von Anfang an gesetzten Beschränkung auf die politische Ebene, der Abstraktion von den sozialen Inhalten. In dem Buch: „Politik im 2 0 . Jahrhundert" heißt es: „Machtstreuung, d. h. Verteilung der politischen Macht auf mehrere selbständige Machtträger, ist die Voraussetzung für die Beschränkung und Kontrolle der Macht und damit für gesicherte Freiheit. Gibt es nur einen einzigen Machtträger, so ist die Gesellschaft seiner Willkür hilflos ausgeliefert. Gibt es dagegen mehrere selbständige Machtträger, so ist es möglich, ein System von gegenseitigen Hemmungen und Kontrollen einzurichten und Machtmißbrauch zu verhindern." 46
Dies klingt recht einleuchtend und ist es auf dieser Ebene auch. Sie schließt aber eine Voraussetzung ein, die gar nicht mehr reflektiert wird: das System einander begrenzender, kontrollierender und korrigierender Einrichtungen hat einen Interessenausgleich zum Ziel, d. h. es ist nur dann sinnvoll, wenn die Interessen ausgleichbar sind. Ein Interessenausgleich ist aber immer nur innerhalb einer Klasse, also hier innerhalb des Bürgertums denkbar, nicht aber etwa zwischen Kapitaleignern und Lohnarbeitern, da deren Verhältnis auf einem Widerspruch beruht (einen Widerspruch aber kann man nicht ausgleichen, sondern nur aufheben). Er drückt sich — wie schon gezeigt — beispielsweise darin aus, daß die Freiheit der einen auf der Unfreiheit der anderen gründet, daß das Kapital-Eigentum der einen die Eigentumslosigkeit der anderen zur Bedingung hat, daß der Reichtum der einen auf der relativen — auf den Reichtum bezogen — Armut (nicht nur materieller, sondern auch geistiger Art) der anderen fußt. Hier besteht also kein bloßer Interessenunterschied, sondern ein Interessengegensatz (präziser: -widerspruch). Dies ist übrigens vielen frühbürgerlichen Staatstheoretikern durchaus bewußt gewesen, sahen sie doch den Hauptzweck des Staates im Schutz des Eigentums. Die Nichteigentümer waren aus dem Staatsleben von vornherein ausgeschlossen. Die bürgerliche Gesellschaft schuf sich ihren bürgerlichen Staat. „So bleibt auch der moderne Verfassungsstaat seinem Inhalt nach von Anfang an politischer Exponent sozialer Teilgewalt" , also der Herrschaft nur eines Teiles der Gesellschaft: des Bürgertums. Die Gewaltenteilung enthüllt sich damit als Machtstreuung innerhalb bürgerlicher Institutionen, d. h. innerhalb der herrschenden Klasse. Mit der Gewaltenteilungstheorie verhält es sich also genauso wie mit der Vorstellung, die Freiheit habe Vorrang gegenüber der Gleichheit: sie beruht auf der Hypostasierung des bürgerlichen Privateigentümers zum Menschen schlechthin. Von daher ist festzustellen, „daß die formale Aufteilung der Macht auf verschiedene Instanzen wenig fruchtet, wenn diese Instanzen von jenen sozialen Kräften beherrscht werden, die Demokratie als Bedrohung ihrer gesellschaftlichen Privilegien betrachten. Daß der bürgerliche Rechtsstaat in seiner Geschichte vielfach zu autoritären oder faschistischen Herrschaftssystemen übergeleitet wurde, 47
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spricht hier eine deutliche Sprache. Ihrem politischen und sozialen Inhalt nach bedeutet Gewaltenteilung, daß Exekutive und Judikative dem Volkswillen weitgehend entzogen, daß Demokratie und Volkssouveränität auf einen relativ engen Bereich beschränkt werden. In den meisten bürgerlichen Demokratien der Gegenwart, die alle auf dem Prinzip der Gewaltenteilung beruhen, ist es deshalb bis heute nicht gelungen, Militär, Verwaltung und Justiz einer wirksamen Kontrolle der demokratischen Öffentlichkeit zu unterwerfen." Der Vorwurf der Schulbuchautoren gegen Rousseau fällt auf sie selbst zurück. Die Konzeption der volonté générale durchbricht bereits den begrenzten Klasseninhalt von Freiheit und Gleichheit, wie sie die Französische Revolution ins Leben rief: Freiheit der Kapitalbesitzer auf Ausbeutung der Lohnabhängigen; bloße Gleichheit aller Warenbesitzer ,vor dem Gesetz', die den „riesigen Rest sonstiger Ungleichheit" nicht zuzudecken v e r m o c h t e . Rousseau, der als Voraussetzung der volonté générale auch eine ökonomische Gleichheit der Menschen ansah, war sich sehr wohl darüber im klaren, daß — wie Bloch sagt — „die Unterschiede von arm und reich . . . durch formaljuristische . . . Gleichheit nicht verfälscht werden" können: „Sofern und solange also Freiheit nicht aufs engste mit Gleichheit verknüpft ist, bleibt sie C h i m ä r e " . 49
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2. Wirtschaftliche und politische Ursachen der Französischen Revolution
Die primäre Ursache der Revolution, der Widerspruch zwischen den vom Bürgertum repräsentierten ökonomischen Potenzen und der Feudalordnung, die deren Entfaltung (Freiheit!) hemmte, wird in keinem Schulbuch deutlich dargestellt. Statt dessen werden neben den .neuen Ideen' als Ursachen 1. der Widerspruch zwischen der wirtschaftlichen und der politischen Macht des ,Bürgertums' und 2. die Wirtschaftskrise angeführt. Das Ganze ist durchweg so kurz gehalten, daß es dem Schüler völlig unmöglich ist, die Genesis sowie die wechselseitige Beziehung dieser Phänomene zu begreifen oder sie gar in den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang einzuordnen. ad 1 „Obwohl der Fortschritt in Handel und Industrie fast ausschließlich der Tatkraft (!) des Bürgertums zu verdanken war, verweigerten die adligen Stände dem Dritten Stand sein entsprechendes politisches Mitbestimmungsrecht." (Diesterweg II, S. 126) „Die wesentliche Ursache der Französischen Revolution lag darin, daß das französische Bürgertum politisch mündig wurde." (Diesterweg VIII, S. 19) „Der Dritte Stand, die Masse der Franzosen, war politisch einflußlos." (Schroedel/Schöningh IV, S. 70) „Bürger und Bauern (hatten) im Staat nichts zu sagen." (Diesterweg V, S. 80) 32
Da die Schulbuchautoren keinen Begriff des Feudalismus besitzen, können sie auch nicht erklären, wieso einem wirtschaftlich immer stärker werdenden Bürgertum die entsprechende politische Macht versagt blieb. Der Widerspruch zwischen einer im Schöße des Feudalismus heranwachsenden bürgerlichen Gesellschaft (bzw. des kapitalistischen Wirtschaftssystems) und der Feudalordnung selbst, dieser objektive Widerspruch wird von den Autoren entsprechend der herrschenden Vorstellung von den Geschichte machenden Persönlichkeiten in die subjektive Sphäre verlagert: „Der schwache König war unfähig, irgendwelche Maßnahmen zügig zu ergreifen." (Schroedel/Schöningh IV, S. 7 0 ) ; er „schwankte und zögerte" (Diesterweg V, S. 8 2 ) . „Das absolute Königtum ist am Ende seiner Kraft und Weisheit." (Diesterweg V, S. 8 0 ) „So bahnte das absolute Königtum wider Willen der Revolution den Weg." (Klett I, S. 161) Als entscheidende revolutionäre Triebkraft erscheint hier also „das absolute Königtum", da es, unfähig, den Wandel der Zeit zu erfassen, an der überkommenen Gesellschaftsordnung festhält. Nach unserer Analyse der Aufklärungsideen müßte deutlich werden, daß auch diese ,Erklärung' der Revolution gar nichts erklärt, da die Frage unbeantwortet bleibt, wodurch diese offenkundige Befangenheit des Königtums ihrerseits bedingt war und warum überhaupt die althergebrachte Politik sich nun plötzlich als überholt erwies. „Doch die Nachfolger Ludwigs XIV. vollendeten das Werk Richelieus, Mazarins und Colberts nicht. Dadurch behielt der absolute Staat zu viele Reste des Althergebrachten und trug den Keim der Zersetzung in sich. Die aufbauenden Kräfte des französischen Absolutismus ließen nach." (Klett I, S. 161) Diese in den Schulbüchern unbegriffenen Phänomene sind Ausdruck einer historischen Entwicklung, in der der feudalabsolutistische Staat durch seine merkantilistische Wirtschaftspolitik das Bürgertum aufpäppelte, bis es ihm schließlich über den Kopf zu wachsen begann. Die absolute Monarchie war die Staatsform, mit der die Feudalklasse versuchte, unter gewissen Zugeständnissen gegenüber der unaufhaltsam um sich greifenden Warenproduktion (mit anderen Worten: des Bürgertums) ihre eigenen Privilegien zu erhalten. Dies ging so lange ohne schwerwiegende Erschütterungen vonstatten, solange das Bürgertum Absatz für seine ständig steigende Produktion fand. Um die Mitte des 18. J h . wurde aber in Frankreich deutlich, daß die Grenzen der gesellschaftlichen Kaufkraft erreicht waren. Der Grund lag im Feudalsystem selbst. Die feudale Aneignung des landwirtschaftlichen Mehrprodukts behinderte die Ausweitung der bäuerlichen Produktion. Die geringe Produktionssteigerung in der Landwirtschaft mußte bei wachsender industrieller Produktion und zunehmender Bevölkerungszahl zu einer Verteuerung der Nahrungsmittel führen. Die Nahrungsmittelkrise hatte eine Absatzkrise für Manufakturwaren zur Folge: „So wurde nicht nur das Einkommen der Parzellenbauern durch feudale Aneignung geschmälert, sondern auch das der städtischen Massen in Ge33
werbe, Handwerk und Manufakturindustrie, die einen steigenden Teil ihres Einkommens buchstäblich für Brot . . . ausgeben mußten. Dadurch wurden die Ausgaben für Manufakturwaren eingeschränkt, die Manufakturunternehmer durch die ständig schwelende Nahrungsmittelkrise direkt betroffen, da ihre Waren keinen Absatz f a n d e n . " Die kapitalistische Warenproduktion war an die Grenzen der Feudalordnung gestoßen; der Widerspruch zwischen der kapitalistischen Produktionsweise und den feudalen gesellschaftlichen Verhältnissen trat offen in Erscheinung. Die Schulbuchautoren können den Anachronismus des Feudalsystems zwar konstatieren, aber nicht erklären: „Adel und Geistlichkeit hatten ihre geschichtliche und sittliche Berechtigung verloren, . . . Aus begründeten Rechten waren Vorrechte geworden." (Klett I, S. 161) Moralische Urteile können freilich die Kausalanalyse nicht ersetzen. Oder: „Die Verwirrung in der französischen Gesellschaft trieb einer gewaltsamen Entladung entgegen." (Schroedel/Schöningh IV, S. 70) „Die tiefen sozialen Spannungen entluden sich mit elementarer Gewalt." (Diesterweg VIII, S. 20) 52
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Unbegriffene Geschichte wird zum Schauplatz rational nicht mehr faßbarer Naturgewalten mystifiziert. Verständlich ist eine derartige, so merkwürdige Assoziationen weckende Geschichtsdarstellung allerdings schon. Tatsächlich erschien die plötzlich hervorbrechende Wirtschaftskrise — die ihrerseits wiederum die Revolution auslöste — damals den Betroffenen wie ein Naturereignis. Tatsächlich vollzog sich der Zusammenbruch der Feudalordnung quasi naturwüchsig, ungeplant, über die Köpfe der Beteiligten hinweg, obwohl sie die Revolution schließlich selbst machten. Die Absatzkrise hielt dem Bürgertum die Notwendigkeit des Kampfes gegen die alte Gesellschaftsordnung, gegen das Ancien regime vor Augen. Aber sie stand nicht allein: die Teuerung der Nahrungsmittel traf den Großteil der städtischen Bevölkerung; vor allem die Lohnarbeiter wurden schwer getroffen. In den Jahren 1 726 bis 1 789 stiegen die Preise um 62 Prozent, die Löhne dagegen nur um knapp 26 Proz e n t . Hinzu kam als Massenerscheinung ein neues Phänomen, das der in die Zunftorganisation eingebundene Handwerksgeselle nicht kannte: die Arbeitslosigkeit. Diese städtischen Massen entpuppten sich — vor allem in Paris — im Verlauf der Revolution als ,Motor der Revolution'. Der zentrale Punkt aber, an dem sich die bürgerliche Revolution in Frankreich entschied, war wohl das Bündnis des Bürgertums mit den B a u e r n . Die Landbevölkerung, die in ihrer Mehrzahl aus Kleinbauern (Parzellenbauern) bestand, stellte von Anfang an das entscheidende antifeudalistische Potential, waren sie es doch, die von den infolge der Staatsverschuldung ständig steigenden Feudallasten (Geldzins, Kirchzehnt als Naturalabgabe, Frondienste) am unmittelbarsten betroffen w u r d e n — was sie in einer Zeit als besonders 54
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schmerzlich empfinden mußten, in der eine sich entwickelnde Industrie die Bedürfnisse der Menschen erheblich ansteigen ließ. Ihre Lage verschlechterte sich in den letzten Jahren vor der Revolution erheblich. Da die Industrie in Frankreich noch nicht so weit entwickelt war, um nach einer Revolution massenhaft bäuerliche Arbeitskräfte zu verschlingen, konnten die Bauern in der Revolution tatsächlich großenteils ihre eigenen Interessen mitverwirklichen. Es war diese weitgehende antifeudalistische Interessenidentität des gesamten Dritten Standes, d. h. von etwa 98 Prozent der französischen Bevölkerung, die der bürgerlichen Revolution einen so ,schlagenden Erfolg' bescherte. 58
ad 2: Die Wirtschaftskrise erscheint in den meisten Schulbüchern als Finanzkrise des absolutistischen Regimes einerseits und als Ernährungskrise als Folge von Mißernten (und Feudallasten) andererseits (Diesterweg V, S. 80/Diesterweg II, S. 126/Klett I, S. 162 usw.). Die soeben aufgezeigten Zusammenhänge fallen völlig unter den Tisch. Es ist zwar nicht zu leugnen, daß sowohl die Mißernten, die die gesamtwirtschaftliche Krise noch verschärften, wie insbesondere auch die finanziellen Schwierigkeiten der Monarchie, die teilweise auf die verschwenderische Lebensweise am Hof, vor allem aber auf die aus dem amerikanischen Krieg entstandenen Schulden zurückzuführen waren, die allgemeine Krise des Feudalsystems weiter zuspitzten; aber dies sind nur Momente einer gesamtgesellschaftlichen Tendenz, die aus vereinzelten Mängeln nicht zu erklären ist. Der französische Historiker Mathiez schrieb in seinem Werk über die Französische Revolution: „Das Elend, das manchmal Unruhen hervorbringt, kann keine großen sozialen Umwälzungen verursachen. Diese entstehen immer infolge des erschütterten Gleichgewichts der K l a s s e n . " Die in den Schulbüchern weit verbreitete These, die Revolution sei nur deshalb ,hereingebrochen', weil die Regierung unfähig war, energischere Reformen durchzuführen, erweist sich nach dem Gesagten als richtig und falsch zugleich. Richtig ist, daß die absolute Monarchie die Revolution nicht durch ihre Regierungsmaßnahmen hat verhindern können. Falsch ist die implizite oder explizite Behauptung, die Revolution hätte durch energische Reformpolitik des Königs verhindert werden k ö n n e n . Eine solche Annahme reißt die absolute Monarchie Ludwigs X V I . aus dem historischen Kontext heraus und tut so, als handle es sich bei ihr um eine neutrale, über den gesellschaftlichen Kämpfen schwebende Instanz, die nach freier Vernunft und Willkür Entscheidungen fällt. Solche freischwebenden Instanzen oder Persönlichkeiten weist die menschliche Geschichte jedoch nicht auf. Die absolutistische Monarchie des 18. Jahrhunderts in Frankreich war die Staatsform des Spätfeudalismus, d. h. eines Feudalsystems, in dessen Schöße sich die bürgerliche Gesellschaft zu entwickeln begann. Die subjektive Unfähigkeit des Königs ist nur die Erscheinungsweise der gesellschaftlich bedingten 59
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Unmöglichkeit aus, Maßnahmen durchzusetzen, die die Krise behoben hätten, ohne gleichzeitige Privilegien und Gewinne seiner eigenen Klasse (der geistlichen und weltlichen Grundherrschaft) substantiell anzutasten. Da eine herrschende Klasse das Feld nicht freiwillig zu räumen pflegt, stand der revolutionäre Kampf des Bürgertums sozusagen auf der Tagesordnung. Die Wirtschaftskrise war die unmittelbare Ursache der R e v o l u t i o n , die finanziellen Schwierigkeiten der Monarchie brachten schließlich die gesellschaftlichen Widersprüche zum Ausbruch. Schließlich hat sich die bürgerliche Revolution in allen entwickelten europäischen Ländern durchgesetzt und überall die absolute Monarchie hinweggefegt, gleichgültig, ob der Monarch dumm oder klug, reformwillig oder störrisch war, zuletzt in Österreich und Deutschland. Wenn trotz alledem in einer Didaktik sogar als „Unterrichtsziel" die Erkenntnis formuliert wird, daß die revolutionäre Lage erst „infolge der Unfähigkeit des absolutistischen Systems zu einem Sieg des Dritten Standes führte" (Schroedel/Schöningh V I I , S. 6 5 ) , dann ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß es sich hier um gezielte Manipulation handelt: es soll den Schülern suggeriert werden, daß revolutionäre, von den Volksmassen getragene gesellschaftliche Veränderungen, 1. von Übel und 2. bei einer „anständigen" Regierung auch in jedem Fall überflüssig seien. 61
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Es wird sich im Verlauf der weiteren Analyse herausstellen, daß dieser Verdacht begründet ist.
3. Z w e i t e i l u n g der R e v o l u t i o n
Die Unfähigkeit der Schulbücher, die Revolution als Klassenkonflikt zu begreifen, gibt auch ihrer Darstellung des Revolutionsverlaufs eine eigentümliche Note, die den wirklichen Geschehnissen kaum gerecht werden kann. Die Revolution erscheint als die lediglich politische Auseinandersetzung zwischen Vertretern der Stände, bzw. der Kampf der politischen Anschauungen dieser Ständevertreter: „Man fürchtete oder hoffte, diese Versammlung (die Ständeversammlung, d. Verf.) werde eine Staatsordnung nach dem Gedanken der Aufklärung schaffen." (Diesterweg II, S. 127) Die Etablierung der Herrschaft des Bürgertums im Zuge der Revolution erscheint als bloße Verwirklichung von Ideen: „Der Gedanke der Volkssouveränität hatte einen Sieg . . . errungen." (Klett I, S. 164) Da, wie gezeigt, die „Gedanken" der Aufklärung in den Schulbüchern nicht in ihrer historischen und gesellschaftlichen Bedingtheit begriffen werden, muß der Sieg dieser Ideen offenbar in ihrer eigenen Qualität begründet sein: sie waren so gut, so vernünftig, daß sie viele Gebildete des Landes, unabhängig von ihrer „Standeszugehörigkeit", ergriffen. „Unter allen Gebildeten aller drei Stände bewog die Aufklärung viele zur Kritik am ancien régime." (Schroedel/Schöningh IV, S. 70) 36
In der dazugehörigen Didaktik wird der schließliche „Sieg der Revolution" in diesem Sinne explizit auf die Tatsache zurückgeführt, daß die oberen Stände von „den Aufklärungsideen" angekränkelt wurden: „Ihre Selbstsicherheit war durch die Beschäftigung mit den Aufklärungsideen empfindlich gestört." (Schroedel/Schöningh VII, S. 66) Nachdem auf diese Weise die Klassengegensätze durch den Kampf der Ideen ersetzt worden sind, kann auch die Revolution (als Austragung eines Klassengegensatzes) zur Staatsreform verdünnt werden: „Von Änderungen, Reformen erhoffte man alles. An Revolution, Umsturz dachten die wenigsten." (Schroedel/Schöningh IV, S. 70) Mirabeau, „ein Freund der Aufklärung" (Diesterweg II, S. 128), „wollte eine echte Staatsreform durchsetzen, aber die Revolution verhindern." (Diesterweg V, S. 82) Man muß den nächsten, fett gedruckten Satz, dazulesen: „Die Massen stehen auf." (ibid.) Hier entscheidet sich die Frage von Reform und Revolution: „Während man (d. h. die freischwebenden ,Gebildeten', d. Verf.) in Versailles über die neue Verfassung verhandelte . . . stürmten die revolutionären Massen auf ein Gerücht hin mit Piken und Flinten die Bastille." (Klett I, S. 165) Der mit so anschaulichen Worten sinnfällig gemachte Unterschied zwischen einer „echten Reform" des Staates, die angeblich von den gebildeten Politikern der Nationalversammlung vorangetrieben wurde, und dem Umsturz, der Revolution, die von den unruhigen, unvernünftigen und gewalttätigen Volksmassen ausgelöst und getragen wurde, findet sich in fast allen Büchern in nahezu identischen Formulierungen: „Während in Versailles die Nationalversammlung tagte ... wuchs in Paris und im ganzen Land die Unruhe." (Schroedel/Schöningh IV, S. 73) „Während die Nationalversammlung beriet, wurden sowohl die Bauern als auch das Proletariat in den Städten, besonders in Paris, immer unruhiger." (Diesterweg VIII, S. 20) Das Volk „lähmte die Tätigkeit der Behörden von Paris und zerstörte . . . die Bastille", (ibid.) „Das Geschrei des Volkes auf der Straße drang immer wieder in den Sitzungssaal der Nationalversammlung, die im Herbst 1789 nach Paris übergesiedelt war. Die schwierigen Beratungen einer Verfassung konnten nicht in Ruhe stattfinden." (Diesterweg II, S. 132) Im zuletzt zitierten Buch ist der Gegensatz von Reform und Revolution auf einen — fettgedruckten — Nenner gebracht: „Die Nationalversammlung unter dem Druck der Straße." (ibid.) Die Vertreter der Vernunft und des Sachverstands, d. h. der Reform sowie der „Ordnung", geraten schließlich in den Strudel einer chaotischen Massenbewegung. Diese Art der Geschichtsdarstellung hat den Boden der Wissenschaft offensichtlich verlassen und steht eindeutig im Dienste der Propaganda von Ruhe und Ordnung. Ein Buch des Klett-Verlages schießt in diesem Zusammenhang wieder den Vogel ab: „Sechs Wochen Anarchie genügten, um die gesamte Verwaltung des Staates zusammenbrechen zu lassen, es gab keine Autorität mehr." (Klett I, S. 165) Hier ist die Position ganz deutlich, die letztlich alle Schulbücher 37
kennzeichnet: Die Revolution wird so lange positiv bewertet, solange sie auf die Beratungen und Beschlüsse einer ordnungsgemäß gewählten staatlichen Körperschaft beschränkt ist; revolutionäre Volksmassen werden von Anfang an als unvernünftig, gewalttätig und als den ordnungsgemäßen Ablauf störend denunziert. Als Reizwörter fungieren Begriffe wie „Straße", „radikal", „Massen" und das im Gegensatz zu „Reform" gesetzte Wort „Revolution". Insbesondere bei dem zuletzt genannten, dem Revolutionsbegriff, verrät sich die Widersprüchlichkeit bürgerlicher Geschichtsschreibung. Einerseits ist sie gezwungen, die bürgerliche Revolution, also quasi die Geburtsstunde „unserer" parlamentarischen Demokratie, positiv zu bewerten, andererseits hat sie ein Interesse daran, den revolutionären Charakter der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft zu verbergen, da mit dessen Akzeptierung logisch die Möglichkeit einer revolutionären Aufhebung auch dieser bürgerlichen Gesellschaft gesetzt ist — was sie nun wiederum nicht akzeptieren kann. Es ist der Widerspruch zwischen der Tatsache, daß die bürgerliche Gesellschaft nicht durch Reformen, sondern durch eine Revolution entstand, und der Verunglimpfung all derer, die auch heute von Revolution reden und dabei die Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaft meinen. Die Erkenntnis, daß es unlogisch wäre, zwar die revolutionäre Aufhebung des Feudalismus zu feiern, die revolutionäre Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft jedoch vorab als des Teufels zu verurteilen, führt zu einem paradoxen Ergebnis: der Denunzierung der Genesis einer Gesellschaft, die man gleichzeitig absolut setzt. Dies geschieht dadurch, daß man die Revolution zweiteilt. In den Schulbüchern stellt sich das wie folgt dar: Die Französische Revolution erscheint deshalb als historisch notwendig und bedeutend, weil sie den Grundstein zum heutigen demokratischen Rechtsstaat legte. „Die Verfassung, die Erklärung der Menschenrechte und die Herstellung einer modernen Gesellschaftsordnung sind die eigentlichen Leistungen der Französischen Revolution." (Diesterweg VIII, S. 22) Bezeichnenderweise steht diese Bilanz der Revolution an der Stelle, wo die Verfassung von 1791 erläutert wird. Die eigentliche Revolution hat demnach bereits mit der Konstituierung der Nationalversammlung gesiegt (vgl. auch Schroedel/Schöningh IV, S. 8 2 ) und findet dann in der Verfassung von 1791 ihren krönenden Abschluß. Dann lassen die Schulbücher eine neue Phase der Revolution beginnen, die durchweg in viel trüberem Licht erscheint als die helle Zeit der gemäßigten Mirabeau und Montesquieu. Im Grunde habe sich eine radikalere, vor allem von den Volksmassen bestimmte Strömung seit Beginn nicht verhindern lassen, wenn in der ersten Phase die skeptischen und weitblickenden Führer des Dritten Standes auch noch die Oberhand behalten konnten. Diese Zweiteilung der Revolution — die gleichermaßen eine chronologische (zwei Phasen), eine soziologische (Gegensatz Elite/Masse) wie auch eine ideologische (Montesquieu/ Rousseau = Rationalismus/Irrationalismus) Zweiteilung ist — wird 38
in allen Schulbüchern deutlich, in einem Buch sogar bildlich veranschaulicht (Schroedel/Schöningh IV, S. 7 2 / 7 3 ) . Der Kommentar der dazugehörigen Didaktik lautet: „An Hand der beiden zeitgenössischen Gemälde auf den S. 72 und 73 könnten einerseits der revolutionäre Schwung, von dem die Vertreter des Dritten Standes unter Führung Mirabeaus, andererseits die stark emotional bestimmte Haltung der Menge bei ihrem Marsch auf die Bastille sinnfällig gemacht werden." (Schroedel/Schöningh VII, S. 67, Hervorhebung von uns) In diesem Zitat wird „revolutionär" in positivem Sinne gebraucht, gleichzeitig aber auf die Beschlußfassungen der gebildeten Volksvertreter beschränkt. Geschichte wird demnach nur in dieser Sphäre der Entscheidungen der gemäßigten, weil sachkundigen Politiker „gemacht". Die „stark emotional bestimmten" Aktionen der „Menge" erhalten dabei einen völlig überflüssigen und außerdem störenden Charakter (im übrigen ist aus dem Vergleich der beiden Gemälde eher das umgekehrte Verhältnis herauszulesen: leidenschaftliches und pathetisches Gebaren der Volksvertreter im Ballhaussaal — Abwesenheit jeglicher Emotionalität der in Marschordnung heranrückenden Massen). Geschichte wird nach einem festen Beurteilungsschema zurechtgebogen. So heißt es in der zitierten Didaktik weiter: „In kritischer (!) Beurteilung des Sturms auf die Bastille könnten die Schüler feststellen: Der Sturm auf die Bastille war eine Folge des Ballhausschwurs, durch den die Vertreter des Dritten Standes sich verpflichtet hatten, den königlichen Anordnungen im Interesse ihres Standes zu trotzen; . . . ohne ihn wäre nicht einmal der Marsch auf die Bastille möglich gewesen." (Schroedel/Schöningh VII, S. 67) Ein kurzer Blick auf die tatsächlichen Geschehnisse genügt, um eine derartige Verabsolutierung der politischen Entscheidungssphäre dem Verdikt der Geschichtsklitterung zu überantworten. Die politisch und ideologisch treibende Kraft der Revolution des Großbürgertums war rein zahlenmäßig (etwa 8 Prozent der Bevölkerung) viel zu schwach, um derartig tiefgehende soziale Veränderungen durchzusetzen. Dies bestätigt am sinnfälligsten die Tatsache, daß erst ein allgemeiner Aufstand der Bauern notwendig war, damit die Nationalversammlung in der vielgerühmten und bestaunten „Nacht der Entsagungen" vom 4 . / 5 . August 1789 auch nur die Abschaffung der Frondienste beschloß. In den Schulbüchern sieht auch dies ganz anders aus: Die „freiwillige" (Klett I, S. 165) Aufgabe gewisser feudaler „Vorrechte" — Geschichte vollzieht sich eben nur in der staatlich-rechtlichen Sphäre! — von seiten der Vertreter der beiden Stände wird zur Zerschlagung des Feudalsystems hochstilisiert. „In der Nachtsitzung vom 4./5. August 1789 wurden alle Vorrechte des Adels abgeschafft. Als Folge der Bauernbefreiung verlor die feudale Gesellschaft ihre Grundlage." (Schroedel/Schöningh II, S. 22) „Die Menschen sind gleich. Was in Jahrhunderten an Rechten und Gewohnheiten entstanden war, hier wurde es in einer Nacht beseitigt." (Diesterweg V, S. 83) 39
„Damit war in einer Nacht die ständisch gegliederte und gestufte Gesellschaft durch den Entschluß der Privilegierten selbst beseitigt worden." (Diesterweg II, S. 132, Hervorhebung von uns) „So wurde der Feudalismus abgeschafft. Mirabeau sprach erschrocken von einer Bartholomäusnacht des Eigentums." (Klett I, S. 165) Derartige Behauptungen erweisen sich angesichts des wirklichen Geschichtsablaufs als dreiste Verdrehungen: in Wirklichkeit vollzog jene Nachtsitzung nur das offiziell, d. h. juristisch nach, was durch die Massenaufstände im ganzen Lande faktisch bereits vollzogen war. Der englische Historiker Hobsbawn schreibt: „Drei Wochen nach dem 14. J u l i lagen die Sozialstruktur des französischen Feudalismus auf dem flachen Land und der Staatsapparat des königlichen Frankreich in Scherben . . . Die Bourgeoisie und die Aristokratie fügten sich sofort in das Unabänderliche." Im übrigen verzichteten die Grundherren in dieser Nachtsitzung nicht auf die feudalen Abgaben, die den Feudalismus gerade wesentlich ausmachen. Seine offizielle Todesstunde schlug erst 1 7 9 3 , also mitten in der in den Schulbüchern so geschmähten ,radikalen Phase' der Revolution . . . Genauso wie die Nachtsitzung ohne einen allgemeinen Aufstand, so war auch der zur eigentlichen Revolution hochstilisierte Ballhausschwur ohne vorhergehende Massenaktionen nicht zu denken. Unmittelbarer Anlaß der Revolution war der allgemeine Brotaufruhr in ganz Frankreich, der 1788 begann und zunehmend eine politische Richtung b e k a m . Allein im bereits erwähnten Oberstufenbuch von Schroedel/Schöningh wird der Zusammenhang von Massenaktionen und bürgerlicher Revolution angesprochen: „Die Revolution entsprang also nicht nur aus dem Protest des Dritten Standes gegen die Privilegien des Adels und der Geistlichkeit, sondern entwickelte und radikalisierte sich auch aus dem Hunger jener städtischen und ländlichen Massen, die diesen um so härter empfanden, als der Lebensstandard unter Ludwig XV. verhältnismäßig hoch gewesen war. Während die höheren Stände kaum betroffen waren, hatten Wirtschaftskrise und Bevölkerungsanstieg die niederen mit voller Wucht getroffen." (Schroedel/Schöningh II, S. 22) 63
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Es handelt sich um die beiden Seiten derselben Sache: die Krise des Feudalsystems, Ausdruck des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und der weiterhin vorherrschenden feudalen Produktionsverhältnisse, äußerte sich zugleich als Ernährungskrise auf Seiten der Volksmassen und Absatzkrise auf Seiten des Bürgertums. Die Vereinigung beider Seiten zum revolutionären Kampf gegen das Ancien régime machte den Sieg der bürgerlichen Gesellschaft erst möglich: „Der Dritte Stand . . . konnte diesen Erfolg erreichen, nicht weil er die Ansichten einer gebildeten und kämpferischen Minderheit ausdrückte, sondern weil er sich auf weit mächtigere Kräfte stützen konnte: auf die arbeitenden Massen der Städte, besonders in Paris, und . . . auf die revolutionierende Bauernschaft." So war weder der Ballhausschwur der „eigentlich revolutionäre Akt", noch war der Sturm 65
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auf die Bastilie dessen Folge. Im Gegenteil: Der Ballhausschwur war nur möglich auf Grund allgemeiner Unruhen im ganzen Land, und er wäre vollends wirkungslos geblieben, wenn die Pariser Massen nicht durch revolutionäre Aktionen wie den Sturm auf die Bastille die Konterrevolution verhindert hätten. Da der Fall der Bastille zur Initialzündung des bereits erwähnten allgemeinen Bauernaufstandes wurde, der die Feudalordnung wirklich in ihren Grundfesten erschütterte (es waren also die revolutionären Bauern, nicht der sprühende Geist eines Voltaire, s. o.), wäre eher noch der Sturm auf die Bastille mit seiner ungeheuren Symbolfunktion — und nicht der Ballhausschwur der Abgeordneten! — zum ,eigentlich revolutionären Akt' zu erklären (wenn man schon bestimmte Einzelmomente eines gesellschaftlichen Prozesses herausheben will). Übrigens wurde dies auch von der Weltöffentlichkeit der damaligen Zeit so verstanden. Nachdem die Schulbuchautoren auf diese Weise von den wirklichen Vorgängen Abschied genommen haben, schreitet die Geschichtsklitterung bis zum Ende der Revolution fort. Hier sei nur das Wesentliche angesprochen. Als repräsentativ für die Darstellung der Französischen Revolution in den Schulbüchern kann der folgende Satz des Klett-Buches „Grundriß der Geschichte" gelten: „Von Anfang an spielte sich die Revolution in zwei verschiedenen Gesellschaftsschichten, sozusagen auf zwei verschiedenen Bühnen ab: auf der oberen, politischen rangen jetzt König, Adel und Dritter Stand um die Verfassung (Constitution), auf der unteren regierten die Masseninstinkte. Die Vorgänge auf der unteren Bühne trieben die Revolution immer weiter vorwärts und radikalisierten sie." (Klett I, S. 165) Hier ist die alle Schulbuchgeschichte durchziehende Dichotomie von Elite und Masse gewissermaßen auf den Begriff gebracht. Die Gesellschaft wird in zwei Teile zerschnitten, von denen der obere, die Ebene der hohen Politik, von hinsichtlich Sachkenntnis und Moral in der Regel hochstehenden Persönlichkeiten bestimmt wird, während unten die mehr oder weniger gelenkten, von Natur aus irrationalen und chaotischen Massen brodeln. Nach diesem ganz offensichtlich hierarchisch-autoritären Gesellschaftsbild wird in den meisten Schulbüchern Geschichte umgemodelt. Die Verachtung des Volkes und aller demokratischen Prinzipien verbindet sich mit einer maßlosen Uberschätzung der Philosophen und Agitatoren. Die Massen selbst — so formuliert der konservative Psychologe und Kulturpessimist Le Bon in seiner „Psychologie der Massen" — sind von Natur träge und konservativ, dafür aber „leichtgläubig" und „beeinflußbar": 66
„Bisher wurden die Zivilisationen stets nur von einer kleinen intellektuellen Aristokratie geschaffen und geleitet, niemals von den Massen. Die Massen haben nur Kraft zur Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Phase der B a r b a r e i . " Dieser Theorie entsprechend werden die Massen in den Schulbüchern entweder von positiv bewerteten Staatsmännern zur Erhaltung des jeweils Bestehenden geführt oder von radikalen Demagogen zu 67
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Umsturz und Zerstörung verführt. In Revolutionen, die nun einmal von Massen getragen werden, ist stets das Letztere der Fall. „In den Straßen von Paris aber (nach dem Ballhausschwur, d. Verf.) gerieten die Massen immer mehr unter den Einfluß radikaler Revolutionäre." (Schroedel/Schöningh IV, S. 73) Die Didaktik von Schroedel/Schöningh formuliert es sogar als Unterrichtsziel: „Die Schüler sollen erkennen, wie sich unter dem Einfluß jakobinischer Demagogen die Massen des städtischen Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft radikalisierten . . . " (Schroedel/Schöningh VII, S. 69/70) Die Schüler sollen aber nicht nur hinsichtlich der Französischen Revolution etwas ,erkennen', sondern sie sollen ja auch und vor allem aus der Geschichte lernen. D. h. für diesen Fall: sie sollen lernen, daß die Volksmassen von Natur leichtgläubig sind und dazu neigen, sich von Demagogen und ,Fanatikern' aufwiegeln zu lassen (Klett I, S. 1 6 7 ) , instinkthaft und gewalttätig zu handeln und deshalb zur Teilnahme am politischen Geschehen absolut ungeeignet sind. Sie sollen ferner lernen, daß diese Volksmassen allzu leicht radikalen Tendenzen anheimfallen, die unweigerlich in eine egalitäre Demokratie (Gleichheit erschlägt Freiheit) führen, die ihrerseits im Totalitarismus endet. Wer dem Schüler auf diese Weise suggeriert, Geschichte werde von ,denen da oben' gemacht, von den Politikern, die etwas davon verstehen, und das sei auch gut so, wer also Geschichte nach solchen autoritären Bildungszielen zurechtstutzt, muß sich dem Vorwurf aussetzen, Teil an jener Manipulation zu haben, die die Menschen unmündig und abhängig hält. Eine Geschichtsschreibung, die a priori die Schlechtigkeit der Masse postuliert und zugleich nach der Ordnung verlangt, die diese im Zaum hält, ist selbst ein Mittel der Verführung und antidemokratisch. Auch das hinsichtlich der Darstellung der Französischen Revolution noch brauchbarste Schulbuch, der bereits erwähnte Oberstufenband von Schroedel/Schöningh, kann einer abwertenden Beurteilung der revolutionären Volksmassen nicht entraten: die Massen werden zum bloßen Instrument ihrer Führer degradiert: „Diese Pariser Entwicklung .. entsprach den Vorstellungen der radikalen Jakobiner, deren bürgerliche Führungselite (Robespierre, Marat, Danton) mit den revolutionären Sansculotten (Handwerksmeister und deren Gesellen, abhängige Arbeiter waren anfangs nur schwach, später stärker vertreten) gemeinsame Sache machten (Terminologie! d. Verf.) und als Bergpartei (nach ihrem Sitz in der gesetzgebenden Versammlung) die Girondisten an Radikalität übertrumpften (Terminologie, d. Verf.). Seit Januar 1791 benutzten die erfahrenen Kader der Jakobiner die Massen als Motor der Revolution." (Schroedel/Schöningh II, S. 24 — Hervorhebung von uns) Derartige Formulierungen erscheinen vor allem in einem eigentümlichen Licht, wenn man bedenkt, daß die Autoren dieses Bandes sich an anderer Stelle explizit auf die wissenschaftliche Autorität des französischen Historikers A. Soboul berufen, der — genauso wie andere Forscher — gerade nachgewiesen hat, daß eben nicht „erfahrene Kader 42
der Jakobiner die Massen als Motor der Revolution benutzten", sondern im Gegenteil solche Bestrebungen scheiterten und stets ein klassenspezifisch bedingter Trennstrich zwischen bürgerlich-jakobinischer Führung und sansculottischer Volksbewegung bestehenblieb. „Daraus entstehen die spezifischen Fragestellungen und Konflikte der Französischen Revolution, die als Folge des sozialen Gegensatzes zwischen der Bourgeoisie (selbst der montagnardischen) und dem sansculottischen Volk anzusehen s i n d . " Wissenschaftliche Ergebnisse werden in den Schulbüchern offenbar in dem Moment beiseite geschoben, wo sie bestimmte ideologische Schranken übersteigen. Man braucht dabei gar nicht unbedingt anzunehmen, die Schulbuchautoren hätten solche Geschichtsklitterung immer ganz bewußt durchgeführt. Die Annahme, daß die Volksmassen der Französischen Revolution durch Ideologen verführt wurden, ergibt sich ganz konsequent aus der schon hervorgehobenen Unfähigkeit bürgerlicher Wissenschaft, die Revolution als Klassenauseinandersetzung zu begreifen. So muß ihr natürlich auch entgehen, daß die Pariser Sansculotten auf Grund ihrer sozialen Lage ein revolutionäres Potential darstellten, das bereits den bürgerlichen Klasseninhalt der Revolution tendenziell sprengte. Das Großbürgertum hatte bereits mit der ersten Phase der Revolution seine Interessen weitgehend verwirklicht. So hatte die verfassungsgebende Versammlung die Ständeordnung beseitigt, die erblichen Adelsprädikate aufgehoben, die Zünfte und die staatliche Reglementierung der Manufakturen abgeschafft, die Binnenzölle beseitigt u. a. m. Aber die Volksmehrheit hatte nur geringe konkrete Vorteile von all diesen R e f o r m e n . Das Wahlrecht blieb auf die eigentumsbesitzenden „aktiven" Bürger beschränkt, und die Volksgesellschaften (Société populaires, später: Société sectionaires — die Sektion), die politische Organisation der Sansculotten, sollten zu selten einberufenen Wählerversammlungen degradiert werden. Der Abgeordnete Robespierre hatte von Anfang an diese Unterdrückung der demokratischen Volksbewegung bekämpft und ihr das Programm der radikalen Demokratie entgegengehalten: ständige Kontrolle über die gesetzgebende Körperschaft und direkte demokratische Aktion von Seiten des Volkes. Der Wille der Volksmehrheit sei jeder parlamentarischen Mehrheit oder Minderheit übergeordnet. Die demokratische Bewegung setzte sich nach heftigen Kämpfen schließlich durch: im Juli 1792 erklärten sich die Sektionen für permanent. Sie konnten gegenüber der aus Zensuswahlen hervorgegangenen gesetzgebenden Versammlung mit einigem Recht die wirkliche Legitimation durch das Volk für sich in Anspruch nehmen. 68
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Die durch die Einführung der freien Marktwirtschaft hervorgerufenen höheren Schwankungen der Lebensmittelpreise spornten die revolutionäre Aktivität vor allem der Pariser Volksmassen immer wieder a n . Diese bedurften keineswegs irgendwelcher jakobinischer Einflüsterer, um einen Zusammenhang zwischen ihrer wirtschaftlichen Lage und der großbürgerlichen Regierung zu entdecken. Allerdings wurden 71
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ihre politischen wie wirtschaftlichen Interessen (allgemeines Wahlrecht, Festsetzung von ermäßigten Zwangspreisen durch das Volk) von den Jakobinern vertreten. In den Schulbüchern wird die Sachlage erwartungsgemäß auf den Kopf gestellt: „Die radikalen Klubs bearbeiteten das Volk gegen die Monarchie." (Diesterweg VIII, S. 22; vgl. Schroedel/Schöningh IV, S. 76) „Mit dem Umbau des französischen Staates schien die Revolution beendet zu sein." Aber es kam anders. Es traten Männer auf den Plan wie „Danton, Robespierre und Marat . . . , die als leidenschaftliche Redner das Volk lenkten und ihre politischen Gegner mit aufgehetzten Massen schreckten." (Diesterweg V, S. 86) Die Frage, wieso solche Männer mit solchen Ideen überhaupt bei den Volksmassen wirken konnten, wird mit der Überredungskunst der Redner erklärt. Auf diese Weise werden die Wurzeln der Revolution von den realen Bedürfnissen und Interessen der Massen abgelöst und hinter die Hirnrinde einzelner Demagogen verpflanzt; gleichzeitig werden die Massen nach bewährtem Schema zu interessen- und willenlosem Werkzeug gewitzter Ideologen degradiert. Eine derartig geschichtslose Geschichtsschreibung muß vollends außerstande sein, ein so diffiziles Problem wie die Jakobinerdiktatur zu begreifen. Hier machen wieder Männer (Robespierre) und Ideen (Rousseau) Geschichte. Alles, was sich ihnen entgegenstellt, wird niedergewalzt. Gesellschaft findet nicht mehr statt. Es herrscht nur noch die sich überschlagende Idee, die über Leichen geht. Bei dieser Thematik finden sich die bisher aufgezeigten Ideologeme, die in die Geschichtsdarstellung eingegangenen Bestandteile bürgerlicher Ideologie, in besonders konzentrierter Form. Diffamierung der Massen, die Stilisierung der radikalen Demokraten zu brutalen Unterdrückern und Mördern, Personalisierung, Ideen als Motor der Geschichte, Gleichheit, die die Freiheit erschlägt, Psychologisierung usw. Einige Beispiele mögen genügen: „Robespierre war überzeugt, daß die revolutionären Ideale nur durch Gewalt zum Sieg geführt werden könnten. Dabei wollten er und seine Gesinnungsgenossen alles vernichten, was ihren Ideen widersprach." (Diesterweg II, S. 139 — Hervorhebung von uns) „Es gab in ihren Augen nicht länger verschiedene politische Meinungen, sondern nur noch eine richtige und eine falsche Gesinnung. Die falsche Gesinnung bekämpfte Robespierre mit der Guillotine." (Schroedel/Schöningh IV, S. 81 — Hervorhebung von uns) Schon die Begrifflichkeit erweckt den Eindruck, als habe die Diktatur des einzelnen Robespierre dazu gedient, seine subjektive Meinung gegenüber anderen Meinungen mit Gewalt durchzusetzen; ja selbst die Gewalt sei lediglich ein Produkt der Robespierreschen „Überzeugung". Ein außerhalb der Gesellschaft stehender Robespierre formte die Gesellschaft nach seiner privaten, abwegigen Meinung. Hier wird die o. a. Psychologisierung gesellschaftlicher Konflikte auf die Spitze getrieben. Reale Interessengegensätze bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, Schichten oder Klassen werden zu subjektiven Meinungen von Einzelindividuen atomisiert. Ein Verständnis der sozialen Bedingt44
heit und Funktion der Jakobinerdiktatur ist bei einer derartigen Geschichtsbetrachtung natürlich von vornherein ausgeschlossen. Im folgenden soll stellvertretend für alle Schulbücher die Behandlung der ,Jakobinerherrschaft" in der Didaktik des Schroedel/Schöningh Verlages etwas genauer beleuchtet werden. Wir wählen die Didaktik, weil hier die Intention der Schulbuchautoren ausgesprochen ist, die in den Schulbüchern immer nur zwischen den Zeilen steht. Die Autoren der Didaktik verstehen die Jakobinerdiktatur als eine Form des Totalitarismus , und setzen folgende Schwerpunkte: 1. Dem Lehrer wird der „wichtige Versuch" empfohlen, „Schülern einsichtig zu machen, auf welche Weise das Bestreben, eine Ideologie zu verwirklichen, zu totaler Herrschaft mit der Konsequenz der physischen Vernichtung des Gegners führen kann" (Schroedel/Schöningh VII, S. 7 2 ) . Kritik: Hier wird noch einmal deutlich ausgesprochen, was die gesamte Geschichtsdarstellung der Schulbücher kennzeichnet: das Herauslösen von Ideen aus ihrem historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang und die damit verbundene Überschätzung der Ideen als geschichtswirksame Mächte. Wir haben an einigen Parolen der Aufklärung (Vernunft, Freiheit u. a.) darzulegen versucht, daß die Ideen der Menschen immer die Ideen konkreter, in einem historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang stehender Menschen sind und von diesem sozialen Inhalt nicht losgelöst werden können. Es stellte sich bei der Untersuchung heraus, daß diese sozialen Inhalte stets an soziale Interessen, und das heißt zugleich: an soziale Klassen gebunden waren (Freiheit = Freiheit für das Bürgertum, s. o.). Demnach ist es niemals in der Geschichte darum gegangen, Ideen — so wie sie in den Schulbüchern auftauchen, abstrakt gefaßt — zu verwirklichen, sondern als sozialen Inhalt, als Interesse. Das Bürgertum kämpfte in der Französischen Revolution nicht um Freiheit schlechthin, um Freiheit als abstrakte Idee, sondern es kämpfte um die Freiheit von feudaler Behinderung ihrer wirtschaftlichen und politischen Entfaltung. Die Behauptung der Didaktik, das Bestreben, eine Ideologie zu verwirklichen, könne zu totaler Herrschaft führen, ist demnach oberflächlich und unwissenschaftlich, da die Art der Durchsetzung eines bestimmten Klasseninteresses nicht von irgendwelchen subjektiven Vorstellungen abhängt, sondern von den jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Umständen des Kampfes. 72
2. „Man würde noch einmal davon ausgehen, daß Rousseau glaubte, wissenschaftlich beweisen zu können, daß die volonte generale immer gerecht, gut und vernünftig sei (Kriterium der Ideologie: sie gibt vor, Wissenschaft zu sein) . . . Die wichtigste Tugend ist die Gerechtigkeit im Sinne der totalen Gleichheit; ihr gleichgesetzt ist die absolute Identifikation des eigenen Willens mit dem Volkswillen, wie die Jakobiner ihn verstanden. Wer dies nicht will, versündigt sich gegen das Volk und ist als Schädling zu vernichten." (S. 72/73) Kritik: Die Autoren zielen hier offenbar auf den Absolutheitsanspruch ab, der sich ihrer Meinung nach stets mit einer Ideologie verbindet: Der Ideologe behauptet von sich, die Wahrheit gepachtet zu 45
haben. So wird der Jakobinerterror schließlich aus dem Absolutheitsanspruch Robespierres erklärt: „Die falsche Gesinnung bekämpfte Robesspierre mit der Guillotine" — heißt es in dem dazugehörigen Schulbuch (Schroedel/Schöningh IV, S. 8 0 ) . Eine derartige „Erklärung" ist zwar in sich durchaus schlüssig, muß sich aber den Vorwurf gefallen lassen, historisch-gesellschaftliche Konflikte zu psychologisieren. Auf diese Weise können reale Interessenkonflikte natürlich leicht hinweggeredet werden. Deshalb ist die Psychologisierung ein weit verbreitetes Mittel der Herrschenden, den gesellschaftlichen Status quo vor Veränderungen zu bewahren. Adorno konstatiert (auf die B R D bezogen): „Nach der Phrase, es käme allein auf den Menschen an, schieben sie alles den Menschen zu, was an den Verhältnissen liegt, wodurch dann wieder die Verhältnisse unbehelligt b l e i b e n . " Im übrigen bleibt die Feststellung der Didaktik, die „wichtigste Tugend" sei nach Robespierre „die Gerechtigkeit im Sinne der totalen Gleichheit" rein formal und für den unvorbereiteten Leser unverständlich. Was heißt hier „totale Gleichheit"? Zunächst einmal muß dazu bemerkt werden, daß dieser Begriff weder bei Rousseau noch bei Robespierre auftaucht. Sie sprechen stets nur von Gleichheit. Mit seiner Forderung nach Gerechtigkeit und Gleichheit ging es Robespierre darum, „das ungeheure Mißverhältnis der Vermögen" auszugleichen, „ehrliche Prinzipien des Eigentumsrechtes" aufzustellen. Hier wird wieder deutlich, daß dasselbe Wort, dieselbe Idee ganz unterschiedliche Inhalte haben kann: Während das Großbürgertum unter Gleichheit lediglich die juristische Gleichheit verstand und diese Forderung gegen die Privilegien der Aristokratie wandte, verstand Robespierre unter Gleichheit bereits volle politische Gleichheit (Abschaffung des Wahlzensus usw.) und relative Eigentumsgleichheit; die Jakobiner und Sansculotten setzten ,Gleichheit' als Kampfbegriff auch gegen das Großbürgertum ein. 73
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Genauso verhält es sich mit der ,Freiheit'. Das Großbürgertum verstand darunter wirtschaftliche und politische Freiheit für sich selbst; auch diese Forderung richtete sich gegen das Feudalsystem. Robespierre, die Jakobiner und die Sansculotten forderten die Freiheit für jeden Bürger, unabhängig von seinem Besitz; und sie gingen noch einen Schritt weiter: sie fragten nicht nur ,Freiheit für wen? ' sie fragten bereits ,Freiheit w o z u ? ' und antworteten: Freiheit zur politischen Selbstbestimmung des Volkes. Robespierre sprach es aus ( 1 7 9 1 ) : „Es ist von entscheidender Wichtigkeit für die Freiheit, daß die Unabhängigkeit bestehe, über die Handlungen der gesetzgebenden Körperschaft eine vernünftige Zensur auszuüben. Die Nationalversammlung selbst ist dem Allgemeinwillen unterworfen und wenn sie ihm widerspricht, kann die Versammlung nicht länger b e s t e h e n . " Robespierres Begriff der Freiheit, die erst für das gesamte Volk zu verwirklichen sei, sprengte — wie Frank Deppe zu Recht hervorhebt — den Begriff der Revolution als einer bloß politischen Verfassungsumwälzung, wie er von der Mehrheit der Nationalversammlung bis dahin 75
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verstanden worden w a r . So hieß es in einem Bericht, der dem Verfassungsausschuß der Nationalversammlung im September 1791 vorgelegt wurde: „Es gibt keine Autoritäten außer denen, die das Volk delegierte; es dürfen keinerlei Aktionen stattfinden, außer den Aktionen der mit öffentlichen Ämtern bekleideten Beauftragten des Volkes." Dieses Verbot außerparlamentarischer Aktivitäten, das sich gegen die Volksgesellschaften der Pariser Stadtsektion richtete, mutet geradezu aktuell an. Tatsächlich spricht es genau das aus, was die Schulbücher meinen. Indem die Autoren die Forderungen der Jakobiner nach Verwirklichung von Demokratie (=Volksherrschaft) mit Begriffen wie „totale Gleichheit", „Ideologie" und „radikal" zu diffamieren suchen, legen sie ein deutliches Zeugnis ab von ihrem eigenen Demokratieverständnis bzw. dem, was sie den Schülern anempfehlen. Damit weben sie weiter an dem Gesellschaftsbild mit, das Demokratie als die Herrschaft der Eliten mißversteht und all jene als radikal denunziert, die die Verfassung (Grundgesetz) beim Wort nehmen. „Demokratie hat nicht derart sich eingebürgert, daß sie die Menschen wirklich als ihre eigene Sache erfahren, sich selbst als Subjekte der politischen Prozesse w i s s e n . " Von dem der Schulbuchgeschichtsschreibung zugrunde liegenden Demokratieverständnis aus muß die Diktatur der Jakobiner natürlich ein willkommener Anlaß sein, mit ihr zugleich auch die radikale Demokratie zu verdammen; denn augenscheinlich haben gerade diejenigen, die immer die demokratische Volksbewegung beschworen (die volonté generale), schließlich die Diktatur errichtet, die sich dann anmaßte, den Volkswillen zu kennen. So heißt es in der Didaktik weiter: 7 7
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„Wer ,Volksfeind' war, bestimmten jene, die sich mit der ,volonté générale' auf Grund höherer Erkenntnisse in Übereinstimmung wußten (Hinweis: ,Die Partei hat immer recht' als Grundsatz des Bolschewismus und Nationalismus); eine solche Auffassung mußte zu einem Willkürregiment führen." (S. 7 3 )
Ganz abgesehen von den geschichtslosen „Hinweisen" (von denen es in der Didaktik nur so wimmelt), die auf der bewährten Methode beruhen, bestimmte Erscheinungsformen von ihrem sozialen Inhalt abzuziehen, diese aus dem historischen Zusammenhang herauszuklauben und dann an heutigen Zuständen zu m e s s e n , ist diese Behauptung historisch falsch. In Wirklichkeit hatten sich die Jakobiner vor der Errichtung der Diktatur — wie bereits erwähnt — stets für die Demokratie der Volksmassen eingesetzt (Unterstützung der Volksgesellschaften), vor allem im Kampf gegen die durch und durch großbürgerliche Verfassung von 1791 und gegen die Girondisten, die diese verteidigten. Daß die Jakobiner jemals den Anspruch erhoben hätten, „auf Grund höherer Erkenntnisse" den Volkswillen zu kennen, ist von den Schulbuchautoren zum Zweck der Diffamierung frei erfunden. Noch im J u l i 1 7 9 3 erließ der Konvent ein Dekret mit folgendem Wortlaut: , , J e d e Behörde, jede Einzelperson, die sich erlauben sollte, ganz gleich unter welchem Vorwand, die Volksgesellschaften bei der Abhaltung 79
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ihrer Versammlungen zu stören und sie durch irgendwelche Mittel aufzulösen, wird des Anschlags auf die Freiheit für schuldig erklärt und dementsprechend bestraft w e r d e n . " Einen Monat vorher hatten die Jakobiner die „konsequenteste, demokratisch-republikanische Verfassung, welche die Revolution hervorgebracht h a t " , vollendet. Sollte das alles nur Tarnung gewesen sein, um dann um so eifriger die Diktatur zu errichten, die „alles vernichtete, was ihren Ideen widersprach"? (Diesterweg II, S. 139) In Wirklichkeit bestand ein offener Widerspruch zwischen den „Idealen" der J a kobiner und ihrer terroristischen Praxis. „Der Zwang der Dinge führt uns vielleicht zu Resultaten, die wir selbst nicht erwartet h a b e n " , sagte der Jakobiner Saint-Just im Frühjahr 1794 und spielte damit zweifellos auf die diktatorischen und terroristischen Praktiken der Revolutionsregierung an. Der „Zwang der Dinge" lag vor allem in der die Revolution gefährdenden Extremsituation, in der sich das soeben vom Feudalismus befreite Frankreich in jenen Kriegsjahren befand. Die innere und äußere Bedrohung der Republik hatte derartige Maßnahmen und damit die Suspendierung der demokratischen Verfassung notwendig gemacht — und nicht etwa die Philosophie Rousseaus, die nun plötzlich vom Himmel herabstieg und zur schlechten Realität sich mauserte. Die folgenden nüchternen Zeilen Hobsbawns klingen wie eine Anmerkung zu der bluttriefenden Darstellung der Schulbücher. „Die Konservativen haben eine dauerhafte Vorstellung vom Terror der Diktatur und dem entfesselten hysterischen Blutdurst geprägt. Aber nach den Maßstäben des 20. Jahrhunderts und auch verglichen mit den konservativen Repressionen sozialer Revolutionen, etwa den Massakern, die auf die Pariser Kommune von 1871 folgten, war die Zahl der Opfer verhältnismäßig gering: 17 0 0 0 offizielle Hinrichtungen in 14 Monaten. Revolutionäre — vor allem französische Revolutionäre — sahen im J a h r II die erste Volksrepublik, ein Vorbild für alle kommende Auflehnung. Für alle war dies eine Zeit, die nicht nach den Maßstäben des menschlichen Alltags zu beurteilen ist. Und das ist wahr. Für den soliden Franzosen aus dem Mittelstand, der hinter diesem Terror stand (es war also nicht nur Robespierre allein, der das Fallbeil gegen Andersdenkende schwang! — d. Verf.), war dieser jedoch weder pathologisch noch apokalyptisch, sondern in erster Linie die einzig praktische Methode, sein Land zu retten. Dies gelang der jakobinischen Republik in der Tat, und ihre Leistung war übermenschlich. Im J u ni 1793 befanden sich 60 der 80 Departments im Aufstand gegen Paris; die Armeen der deutschen Fürsten drangen von Norden und Osten ein; die Briten griffen im Süden und Westen an — das Land war hilflos und bankrott. Vierzehn Monate später befand sich ganz Frankreich unter der Herrschaft einer zentralen Regierung, die fremden Heere standen wieder jenseits der Grenzen, die französischen Armeen hatten Belgien besetzt und eröffneten die zwanzigjährige Epoche beinahe ununterbrochener französischer Triumphe . . . für die Mehrheit des Nationalkonvents, der im Grunde die Kontrolle über die Ereignisse 80
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während dieser ganzen heroischen Periode behielt, war die Wahl einfach: entweder der Terror mit allen Mängeln und aller Grausamkeit, die er vom bürgerlichen Standpunkt aus gesehen haben mochte, oder die Vernichtung der Revolution, die Zersetzung des Nationalstaats und wohl auch — wie das Beispiel Polens zeigte — das Ende der staatlichen E x i s t e n z . " Die Jakobinerdiktatur entsprach in dieser Hinsicht in vollem Sinne dem Klasseninteresse der Bourgeoisie: „Auch vom engsten Klassenstandpunkt aus gesehen, hingen die Aussichten der Bourgeoisie vom Bestehen eines geeinten, starken, zentralisierten Staates a b . " Die Politik der Revolutionsregierung war eine Gratwanderung zwischen den Interessen des Großbürgertums und den der sansculottischen Massen. Dies war zugleich ihr Dilemma und ihre Tragödie. In dem Moment, wo sie sich ihrer sansculottischen Massenbasis entfremdete, mußte sie stürzen. Zunächst ließen sich die Jakobiner durch massiven Druck der Volksbewegung zum Gesetz über das Allgemeine Maximum (19. 9. 1 7 9 3 ) bewegen, das die Lebensmittelpreise festsetzte und eine Der revolutionäre Terror — es gab Lohnerhöhung b e s t i m m t e . durchaus auch einen konterrevolutionären! — wurde vor allem gegen Spekulanten, Aufkäufer und alle jene angewandt, die das Gesetz über das Maximum verletzten und die Versorgung der Städte und der Armee störten; er richtet sich nicht — wie die Schulbücher demagogisch suggerieren — gegen alle, deren Nase dem allmächtigen Robespierre nicht paßte. Bald offenbarte sich die Interessengebundenheit der jakobinischen Politik an das Großbürgertum. Anfang 1794 ging sie gegen die frühsozialistischen Hebertisten vor, deren Einfluß bei den sansculottischen Massen (vor allem den Lohnarbeitern) stark war, und lokkerte das System der Überwachung und des Terrors auf wirtschaftlichem Gebiet, um dem Handel Auftrieb zu geben und damit die zuverlässige Unterstützung des Großbürgertums zu gewinnen: 83
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„Nun änderte die Revolutionsregierung ihre Haltung: Am 22. März fielen die Hebertisten, die die Commune von Paris beherrscht hatten, unter die Guillotine; kurz danach wurden die Revolutionsarmeen aufgelöst, die Kommissare zur Bekämpfung des Wuchers abgeschafft und die Volksgesellschaften der Sektionen praktisch verboten. Ein neues Maximum für die Lebensmittel erschien: Es setzte höhere Preise fest und konnte nur ,die Kaufleute, nicht das Volk begünstigen' . . . Dieser Umschwung ging zu Lasten der Arbeiter und der kleinen Verbraucher." Indem die Jakobinerdiktatur die autonome demokratische Massenbewegung der Sansculotten unterdrückte und eine Wirtschaftspolitik zugunsten der Großerzeuger und Besitzenden und auf Kosten der Armen und der Kleinverbraucher einschlug, entfremdete sie sich ihrer eigenen Massenbasis. Rüde schildert diese eigentümliche Lage der Revolutionsregierung wie folgt: „Die Revolutionsregierung des Jahres II, die mit Hilfe der Sansculotten zur Macht gekommen war, hing, . . . wenn sie sich behaupten 8 6
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und den patriotischen Krieg siegreich zu Ende führen wollte, ebensosehr von einem Teil des Großbürgertums ab, dessen Vertreter zwar meist still, aber um so zahlreicher im ,Sumpf' des Konvents saßen. Der Wohlfahrtsausschuß — sein robespierristischer Kern — hat also dieses Bündnis nicht aufgeben können, um sich ganz auf die Sansculotten zu stützen. Noch viel weniger hätte er sich zum Verfechter der Sonderinteressen der Lohnarbeiter machen können, die zwar in Paris sehr zahlreich, auf dem Lande und in den meisten Provinzstädten jedoch in einer geringfügigen Minderheit waren. Als es darauf ankam, gab auch der robespierristische Flügel des Ausschusses unter dem Druck der Bourgeoisie nach und opferte die Interessen der Arbeiter, die Interessen eines großen Teils der Sansculotten. Diese Entscheidung, aus der paradoxen Situation geboren, in der sich der Ausschuß befand, rettete ihn nicht vor dem Untergang: seine Führer erwartete das S c h a f o t t . " Diese gesellschaftlichen Widersprüche, Konflikte und Kämpfe, d. h. alle Inhalte, um die es wirklich ging, werden in den Schulbüchern völlig ignoriert. In ihnen erscheint Geschichte — wie das bereits zitierte Bild veranschaulicht — als ein politisches Schauspiel zwischen Einzelcharakteren. Als interessanteste Bühnenfigur der Revolution wird überall Robespierre angesehen, der zum Inbegriff des Ideologen herausgeputzt wird, einem Mann, der für seine Ideologie über Leichen geht. Einige Beispiele: „Man hat Maximilien de Robespierre den merkwürdigsten Diktator der Geschichte genannt. Stärker als der Drang nach Macht war ihm der Glaube an seine Ideen." (Diesterweg VIII, S. 25) „Kein Menschenopfer war ihm zu hoch, um dieses erträumte Ziel zu erreichen." (Schroedel/Schöningh IV, S. 81) „Er war bedürfnislos, linkisch, fanatisch, ein überspannter Advokat, im Grunde ein kleiner Mann (läßt sich etwas Verächtlicheres denken als ,im Grunde ein kleiner Mann' zu sein? — d. Verf.), ein blinder Anhänger des Republikanismus . . . " (Klett I, S. 172) Durch eine derartige Verlegung des Wesens der revolutionären Diktatur von 1 7 9 4 in die Psyche eines Individuums (der oberen Bühne) entledigt man sich gleichzeitig der Mühsal, die gesellschaftlichen Bedingungen zu analysieren. Was sich unterhalb der politischen Bühne abspielt, also das, was die obere als ihre Erscheinungsseite erst hervorbringt, ist für die Autoren dieser Bücher weitgehend irrelevant und wird höchstens sporadisch und durchweg herablassend („Straße", „Lärm", „Anarchie", „Masseninstinkte") behandelt. Zusammenhänge zwischen den beiden Bühnen werden niemals deutlich. Als Quintessenz dieses Abschnitts zur Darstellung der Französischen Revolution in den Schulbüchern sei das hier besonders symptomatische Zitat noch einmal dargeboten: „Von Anfang an spielte sich die Revolution in zwei verschiedenen Gesellschaftsschichten, sozusagen auf zwei verschiedenen Bühnen ab: auf der oberen, politischen, rangen jetzt König, Adel und Dritter Stand um die Verfassung, auf der unteren regierten die Masseninstinkte." (Klett I, S. 165) 87
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Schlußbemerkung
Die Analyse hat gezeigt, daß die Schulbücher der anfangs von uns angesprochenen historisch-gesellschaftlichen Dimension der Französischen Revolution nicht gerecht werden. Die Verabsolutierung von Ideen läßt die Revolution vor allem als mehr oder weniger gelungene Verwirklichung der Aufklärungsideale erscheinen. Die Personalisierung reduziert gesellschaftliche Konflikte auf den Meinungsstreit führender Männer. Die alle Schulbücher kennzeichnende Begriffslosigkeit (formale Betrachtungsweise, Gleichsetzung des bürgerlichen Individuums mit dem Menschen schlechthin = Anthropologisierung) verhindert den Einblick in gesellschaftliche Widersprüche und Interessen. Allgemein ist die Darstellung gekennzeichnet durch Vernachlässigung von gesellschaftlichen Zusammenhängen, d. h. durch den Verlust der gesellschaftlichen Totalität, also dem Verlust der Einsicht, daß Wirtschaft, Staat, Ideen usw. „nicht für sich bestehende, sich selbst genügende Gegebenheiten . . . sind, sondern dialektische Funktionselemente innerhalb ein und derselben Sache, nämlich innerhalb der jeweiligen gesellschaftlichen Totalität darstellen, wobei das Phänomen der Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse die Rolle des primären, alle Einzelerscheinungen innerhalb der Totalität vereinheitlichenden ,Anfang' (im logischen wie im sachlichen Sinne) ausmachen, von dem aus sich erst das Wesen und der historische Charakter der Totalität und damit alle in ihr auftretenden Erscheinungen erklären und verstehen l a s s e n . " Dies drückt sich in der formalen Behandlung der Ideen und Denkmethoden aus, die sowohl ihre historische Formbestimmtheit wie auch ihren sozialen Inhalt außer acht läßt. Es schlägt sich außerdem nieder in der Aufspaltung der Gesellschaft in zwei Bühnen (Dichotomie Elite-Masse), von denen die untere durchweg mit Verachtung behandelt wird. Durch die offensichtlich undemokratische Verunglimpfung jeglicher politischer Aktivität des Volkes, soll der Schüler dahin gebracht werden, die Politik den dafür zuständigen Politikern zu überlassen, also jede eigene Initiative — sei es durch kritische Gedanken oder durch politisches Handeln — zu unterlassen. Die Maxime des alten Obrigkeitsstaates „Es ziemt Euch, stets das Maul zu halten" wird durch die Geschichtsbücher weiterverfolgt — in sehr verfeinerter Form, aber in der Sache konsequent. Schließlich wird der revolutionäre Charakter der Genesis der bürgerlichen Gesellschaft aus dem Geschichtsbild getilgt: dem Schüler soll verborgen bleiben, daß die gegenwärtige Gesellschaft durch das Eingreifen der Volksmassen selbst erkämpft wurde, damit er nicht auf den Gedanken kommen kann, diese Volksmassen könnten auch heute ihr Geschick in die eigenen Hände nehmen. 88
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B. Reformation und Bauernkrieg in Deutschland Georg Lukács hat einmal gesagt, die Tragödie des deutschen Volkes bestehe darin, daß es in der modern-bürgerlichen Entwicklung zu spät gekommen s e i . Damit ist der Wesenszug der deutschen Sonderentbenannt. Sie ist gekennzeichnet durch starke politische wicklung und damit wirtschaftliche Zersplitterung, die bis ins 19. Jahrhundert eine nationale Entwicklung — wie sie sich etwa in England und Frankreich schon Jahrhunderte vorher unter der absolutistischen Monarchie vollziehen konnte — verhinderte. Diese Zersplitterung hatte die jahrhundertelange Schwäche des deutschen Bürgertums zur Folge. Aus diesem Grunde kam die deutsche bürgerliche Revolution erst im 19. Jahrhundert, zu einem Zeitpunkt also, wo sich bereits ein neuer Klassengegensatz herausgebildet hatte: der zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse. Das Bürgertum schreckte zurück und ließ seine Revolution scheitern. Dieses ständige Zuspätkommen Deutschlands (d. h. hier: des deutschen Bürgertums) hat seinen Ursprung vor allem in der Verlagerung der großen Handelswege von Mitteleuropa an die an den Atlantik angrenzenden Staaten (seit dem 15. Jahrhundert), die aus der Entdeckung Amerikas und des Seeweges nach Indien resultierte und den Transit durch Deutschland vernichtete. Dies „versetzte der deutschen Wirtschaft einen schweren Schlag und ließ die deutschen Städte stagnieren. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges warfen die deutsche Wirtschaft nochmals zurück, so daß das Bürgertum schwach blieb und sich gegenüber dem Feudaladel nicht als selbständige politische Kraft formieren konnte. Sowohl Folge wie verstärkendes Element dieser sozialökonomischen und politischen Rückständigkeit war die Zersplitterung des Reiches in eine Fülle von Kleinstaaten, die mit dem Westfälischen Frieden 1648 gleichsam völkerrechtliche Weihe erhielt — während sich andere europäische Völker wie Frankreich und England zu Beginn der Neuzeit als Nationen konstituierten, mit Hilfe der absoluten Monarchie ein einheitliches nationales Territorium herstellten und die Entfaltung von Handel und Gewerbe damit wesentlich beschleunigten." 8 9
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Wie später die 48er Revolution, so zielten auch die Kämpfe der Bauern und der mit ihnen verbündeten Schichten (vor allem des kleinen und mittleren Bürgertums) in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf die Errichtung eines einheitlichen deutschen Nationalstaates ab. Vor allem wegen dieser Perspektive — die ganz im Sinne der vom Bürgertum getragenen ökonomischen Potenzen lag — wird der Bauernkrieg von sozialistischen Historikern als „frühbürgerliche Revolution" bezeichnet — eine wohl etwas überspitzte Formulierung, da ein revolutionäres Bürgertum (Manufakturbourgeoisie) zu dieser Zeit in Deutschland kaum vorhanden war. Das entwickeltere Handelsbürgertum war wirtschaftlich eng mit dem Feudaladel verbunden und deshalb überwiegend konservativ. Auch das städtische Zunftbürgertum konnte kein Interesse an einer revolutionären Umgestaltung der gesell52
schaftlichen Verhältnisse haben. Lediglich die Handwerksgesellen, die durch die Zünfte daran gehindert wurden, Handwerksmeister zu werden, und deren Stellung sich immer mehr der eines Lohnarbeiters anglich, bildeten neben den Bauern ein antifeudalistisches Potential. Hinzu kamen vor allem Knechte, Heimarbeiter und Bergleute. Der Aufstand dieser Schichten, die unter dem Feudalsystem am stärksten zu leiden hatten, mußte schließlich an der finanziellen und militärischen Übermacht der wirtschaftlich und politisch Mächtigen (einschließlich des Großbürgertums) sowie an der mangelnden eigenen Organisiertheit (Zersplitterung!) scheitern. Die dem Bauernkrieg vorangehende Reformation war eine durch und durch bürgerliche Geistesbewegung und trug alle Kennzeichen deutsch-bürgerlicher Halbheit. Sie konnte nur deshalb den Anstoß zum antifeudalen Kampf der Bauern und armen Gewerbetreibenden werden, weil sie sich — wenn auch vorwiegend nur mit theoretischen (theologischen) Argumenten — gegen den Hauptträger der feudalen Unterdrückung, die katholische Papstkirche, wandte. Ein Vergleich zwischen dem Calvinismus, der reformatorischen Bewegung in den fortgeschritteneren westeuropäischen Ländern, und der deutschen Reformation, dem Luthertum, macht den unterschiedlichen Entwicklungsstand dieser Länder deutlich. Da weitere Ausführungen den Rahmen dieses Buches sprengen würden, seien hier nur einige zusammenfassende Bemerkungen zweier großer Historiker der bürgerlichen Gesellschaft zitiert. Georg Lukács schreibt in dem Kapitel über die „Eigentümlichkeiten der Entwicklung Deutschlands" in seinem Werk „Die Zerstörung der Vernunft": „Überhaupt ist es für Deutschlands damalige Lage bezeichnend, daß die religiös-ideologische Strömung des Übergangs des Mittelalters zur Neuzeit gerade hier das stärkste Übergewicht über den weltlichen Humanismus gewinnt, und zwar — und dies ist außerordentlich wichtig — in ihrer sozial rückständigsten Form. Denn es ist nicht nur für Marxisten, sondern seit Max Weber und Troeltsch auch für die bürgerliche Soziologie fast ein Gemeinplatz, daß die Entstehung der Reformationsbewegung mit der des Kapitalismus aufs engste verknüpft ist. Ihre wesentliche, calvinistische Form wurde jedoch zum Banner der ersten großen bürgerlichen Revolutionen in Holland und England, zur herrschenden Ideologie der ersten Periode des kapitalistischen Aufschwungs, während das in Deutschland ausschlaggebend gewordene Luthertum die Unterwerfung unter den Kleinstaatsabsolutismus religiös verklärte und einen geistigen Hintergrund, eine moralische Unterlage für die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rückständigkeit Deutschlands a b g a b . " 92
Leo Kofler arbeitet in seiner „Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft" die spezifische ,Halbheit' des Luthertums als Pendant des unentwickelten Zustands der deutschen Verhältnisse deutlich heraus: „Dem Bürgertum kommt Luthers Auffassung zwar in manchem entgegen, etwa wenn er mit der mittelalterlichen Vorstellung von der Ver53
werflichkeit des Erwerbstriebes bricht und die berufliche Arbeit als menschliche Pflicht und gottgefälliges Werk erklärt. Aber von der individualistischen Handelsfreiheit des ungehemmt sich auslebenden Renaissancebürgers Italiens erweist sich bei näherem Zusehen diese Auffassung ebenso weit entfernt wie vom calvinistischen Radikalismus der subjektiven Bewährung durch beruflichen Erfolg. Es ist im Grunde ein Sichzufriedengeben mit der Ordnung, wie sie ist, mit ihrer ständischen Schichtung und der Fesselung des Individuums an seinen Platz, mit aller Anerkennung der überkommenen Obrigkeit. So sagt Luther ausdrücklich, daß der Leibeigene dem Herrn gehört ,wie ein Stück Vieh oder eine andere H a b e ' . " „Im Luthertum ist die Idee der passiven Unterordnung unter den Glauben allein, also nicht die Bewährung durch den individuellen Kampf, sondern gläubige Resignation, nicht die Neugestaltung, sondern Anpassung an die gegebenen ständischen Zustände das leitende Motiv, das ihn zum Determinismus hinführt. Im Calvinismus ist es der neue kräftige, manufakturelle Individualismus, der aus der vorherbestimmenden, gleichzeitig willensbindenden wie den Willen anfeuernden Gottgewolltheit des wirtschaftlichen Erfolges den Grund der Überlegenheit des bürgerlichen Individualismus über den feudal-adeligen, aber auch bereits über den bloß humanistisch-ästhetisch durchgebildeten Menschen ableitet. Luther ,befeuerte durch sein ganzes Wesen mehr den Glauben als den Willen, während Calvins Persönlichkeit seine Anhänger zur Tätigkeit r e i z t e ' . " „Die Halbheiten, bei denen Luther stehenbleibt, werden durchaus als den Bedürfnissen angemessen empfunden. Nur das untere Volk mißversteht Luther und schlägt die Trommel des längst fälligen Aufruhrs, dessen kräftigstes Kind der Bauernkrieg i s t . " Das Scheitern des großen Bauernaufstandes besiegelte die weitere Entwicklung Deutschlands. An die Stelle der rein feudalen Zerstückelung (Vorherrschaft des mittleren und niederen Adels) trat ein .modernisierter Feudalismus': die kleinen Fürsten, die Sieger und Nutznießer der Kämpfe, stabilisierten die Zerrissenheit Deutschlands und damit die feudale Struktur auf lange Zeit. Diese Gesichtspunkte der Bedeutung von Reformation und Bauernkrieg werden in den Schulbuchdarstellungen jedoch kaum angesprochen. Ein bezeichnendes Beispiel ideologischer Geschichtsschreibung bietet folgende Einleitung des Reformationskapitels in einem Buch des Klett-Verlages: „Seit dem 13. Jahrhundert zerfiel nach und nach die christlich-abendländische Ordnung, die jedem Menschen seinen festen Platz zuwies. Zuerst wurde die Ein93
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heit der germanisch-romanischen Völker abgelöst durch die Vielheit nationaler
Staaten, deren Wesen Macht war, und die deshalb widereinander um die größere Macht stritten. Dann begann sich der Staatsbegriff zu ändern: Der Staat wurde nicht mehr als göttliche Einrichtung verstanden, sondern als das Ergebnis eines Vertrages zur Förderung des gemeinsamen Nutzens'. Der Feudalismus, der das Rückgrat der Gesellschaftsordnung gebildet hatte, verlor allmählich an Bedeu-
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tung. An die Stelle des Treueverhältnisses trat immer mehr das Untertanenverhältnis, bei dem grundsätzlich dem Herrscher alle Befehlsgewalt zustand. Dadurch wurden die sittlichen Grundlagen, auf denen die Vorrechte der gehobenen Stände beruhten, erschüttert. In der breiten Masse des Volkes wurden die ersten Stimmen laut, die bezweifelten, daß ihre mindere Rechtsstellung in einer gottgewollten Ordnung begründet sei. In derselben Zeit stieß der einzelne Mensch in geistiger Autonomie vor. Das Individuum suchte eigene Wege des Denkens und setzte sich eigene Ziele. Das führte äußerlich zur Erweiterung des Weltbildes. Menschen und Staaten Europas brachen auf, sich die Länder der Erde Untertan zu machen. Der Staatsmann und der Kaufmann lernten, in Räumen von früher nie geahnter Ausdehnung zu denken. Aber der denkende Mensch machte auch vor dem Glauben nicht halt. Noch gelang es der Kirche, den neuen Geist in ihr System einzuschmelzen, noch wurden ihre Lehren nicht verworfen, sondern nur von einzelnen Denkern umgedeutet. So war der gemeinsame Glaube das letzte Band, das die abendländische Menschheit zusammenhielt. Erst als auch dieses Band zerriß, als das unruhige Individuum aus eigener Verantwortung eine neue Ordnung seines Verhältnisses zu Gott suchte, war das Mittelalter endgültig vorüber. Noch einmal fiel seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts Deutschland eine führende Stellung in der politischen und geistigen Entwicklung der abendländischen Geschichte zu. Das Haus Habsburg sucht durch die Zusammenfassung seiner Besitzungen die weltliche Universalmonarchie zu erneuern. Es geriet dadurch für Jahrhunderte in einen Kampf an zwei Fronten, gegen Frankreich und gegen die Türkei. Zugleich aber entstand aus dem innerlichen Erlebnis eines unbekannten Mönches eine religiöse Bewegung, die zunächst in Deutschland, dann aber auch in den anderen Ländern Mittel- und Westeuropas die kirchliche Einheit auflöste und damit für das gesamte geistige Leben dieser Völker einen neuen Ausgangspunkt schuf, von dem aus mit tiefem Ernst um die Wahrheit gerungen wurde. Dieses Ringen um die Verwirklichung neuer politischer und geistiger Gedanken, verflocht sich zu einer geschichtlichen Entwicklung, in deren Mittelpunkt in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Persönlichkeit Kaiser Karls V. stand." (Klett III, S. 178 — Hervorhebungen von uns) Der Anfang des Zitats klingt recht unverdächtig. Die drei Begriffe „christlich", „abendländisch" und „Ordnung" haben bei allen, die für die Erhaltung des politischen Status quo eintreten, einen guten Klang. Wenn wir davon absehen, was in der Geschichte im Namen dieser Begriffe schon alles geschehen ist, und nur vom Begriff ausgehen, wäre wohl kein Anlaß zur Sorge. Die positiven Assoziationen, die mit dem Begriff als solchem verbunden sind, führen hier zu einer entsprechenden Beurteilung des realgeschichtlichen Gegenstands. So wird verhindert, daß die „christlich-abendländische Ordnung" als das erkannt wird, was sie real war: Herrschaft des feudalen Adels und Klerus über Bauern, Plebejer und — teilweise — Zunftbürgertum. Die Verwendung des Begriffes „Ordnung" zur Beschreibung eines konkreten gesellschaftlichen Zustandes dient — wie immer — dazu, die Unterdrückung und Ausplünderung der großen Mehrheit des Volkes durch die Minderheit — in diesem Falle die Eigentümer des Bodens, des wichtigsten Produktionsmittels — zu verdecken. In der politischen Situation zur Zeit der Reformation war nun die katholische Kirche mit ihrem Zentrum in Rom als größter Grundei55
gentümer in einer so mächtigen Position, daß dadurch auch die weltlichen Feudalherren in ihren Interessen entscheidend beeinträchtigt waren. Auch Luther hatte Kenntnis von diesen politisch-ökonomischen Verhältnissen, wie seine Kritik in der Schrift ,,An den christlichen Adel deutscher Nation" beweist: „Wie kommen wir Deutschen dazu, daß wir solch Räuberei, Schinderei unserer Güter von dem Papst leiden müssen." Die Auflösung der alten Herrschaftsordnung durch eine neue wird von den Geschichtsbüchern negativ gefaßt: sie „zerfällt". Dies ist um so mehr zu bedauern, als sie jedem einen „festen Platz" zuwies und so vor den Gefahren eigenen Denkens und autonomer Selbstbestimmung bewahrt wird. Dazu paßt die Verklärung von Herrschaftsbeziehungen zum „Treueverhältnis" — eine Methode, die bis hin zum Faschismus und der Theorie von der Sozialpartnerschaft ihre herrschaftsverschleiernde und damit herrschaftsstabilisierende Kraft bewiesen hat. Worum es beim mittelalterlichen Treuebegriff wirklich ging, wird unterschlagen: „Der Herr einer Sache, eines Stückes Grund und Boden, übt Schutz und Schirm, er hat ,dominium quod protectinem'; so ist der Grundherr nicht einfach ein Grundeigentümer oder Grundbesitzer, sondern ganz buchstäblich und wörtlich ein Grundherr." „Grundherrschaft ist in erster Linie Verfügungsrecht, Herrschaft über Grund — und damit natürlich auch über die, die den Boden und B o d e n " bearbeiten und von ihm leben. Im folgenden Satz lernt der Schüler, daß „Vorrechte" durch „sittliche Grundlagen" gerechtfertigt sein können, und gleich anschließend, daß es nicht gut ist, wenn das kritische Denken nicht bestimmte Grenzen respektiert, nämlich die des Glaubens: „Aber der denkende Mensch machte auch vor dem Glauben nicht halt . . . " Dann folgt die unvermeidliche Personalisierung, d. h. die Reduzierung der Geschichte auf das Wirken großer Persönlichkeiten: Das „innerliche Erlebnis eines unbekannten Mönches" soll eine Massenbewegung wie die Reformation hervorgerufen haben. Da müssen offensichtlich überirdische Kräfte am Werk gewesen sein — es sei denn, man würde annehmen, daß Luther nur das artikulierte, was den Vorstellungen und Bedürfnissen der Massen entsprach und daß eben darauf seine Wirkung beruhte. Dann würde die Bedeutung des „innerlichen Erlebnisses" freilich erheblich schrumpfen, und außerdem müßten die neuen Vorstellungen und Bedürfnisse der Massen ihrerseits erklärt werden. Diese Personalisierung bestimmt auch die Darstellung der anderen Schulbücher. Eines redet von der ,,Reformation Martin Luthers" (Klett I, S. 5 3 ) , und in einem anderen Geschichtsbuch tritt die überwältigende Größe des Reformators schon in den Kapitelüberschriften in Erscheinung: 97
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„Luthers Elternhaus und Schule" — „Luther tritt ins Kloster ein" — „Luther gewinnt eine neue Auffassung von der Kirche" — „Luther schlägt die Thesen an" — „Kardinal Kajetan verhört Luther" — „Luther wird gebannt" — „Luther
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auf dem Reichstag zu Worms" — „Luther wird geächtet" — „Luther übersetzt die Bibel" (Schroedel/Schöningh III, S. 142-150). In den Geschichtsbüchern, die keine extreme Personalisierung aufweisen, bleibt es bei einer rein geistesgeschichtlichen Erklärung der Reformation: „Ihre Wirkung (der Reformation, die Verfasser) ist ohne die Bereitschaft der geistig-unbefriedigten Menschen nach Reform der Kirche nicht hinreichend zu erklären." (Schroedel/Schöningh I, S. 112, Hervorhebung von uns). Daß das geistige Bedürfnis (was immer es sei) eine wesentliche Ursache in den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen hatte, war Luther — im Unterschied zu den Geschichtsbuchautoren — offenbar durchaus klar, wie das Lutherzitat belegt. Auch Vertreter der bürgerlichen Geschichtswissenschaft erkennen mittlerweile den sozial-ökonomischen Faktoren der Reformation eine maßgebliche Rolle zu. Hinter diesem Diskussionsstand bleiben die Schulbücher weit zurück, wenn sie die Reformation als bloß religiöse Erscheinung deuten. Der bekannte bundesrepublikanische Historiker Nipperdey schreibt: „Die Kurve der sozialen Konflikte steigt an: Es kommt seit 1 4 7 6 , seit der Bewegung um den Pfeifer von Nikiashausen, zu einer Reihe von Massenbewegungen und Aufstandsversuchen, wie den Bundschuh am Oberrhein und den armen Konrad in Württemberg. . . . In den Städten nehmen die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen politisch-sozialen Gruppen, zwischen Zünften und Patriziat . . . zu. Die Proteste gegen die großen Kapital- und Handelsgesellschaften, etwa die Fugger, und die Konflikte um ihre Praktiken gewinnen an Bedeutung. Fürsten, Ritter, Bürger und Bauern stehen so in vielfältig sich überschneidenden Gegensätzen z u e i n a n d e r . " Er räumt auch ein, „daß die sozialen und politischen Beziehungen der einzelnen Gruppen der Gesellschaft, der Mächte und Herrschaftsinstitutionen und auch die kirchlichen Verhältnisse wesentlich von der zunehmenden Bedeutung des Geldes und seiner revolutionierenden Macht mitbestimmt w e r d e n . " Was nun die Ursachen des deutschen Bauernkrieges von 1524—1526 betrifft, so finden sich in den Schulbüchern hauptsächlich zwei Erklärungen. 1: Die Ausbeutung und Unterdrückung der Bauern war sehr groß, und deshalb brach eine Art Hungerrevolte aus; 2. ihre wirtschaftliche Lage war nicht schlecht, doch sie führten einen Kampf um „soziale Gerechtigkeit": „Es gärte schon lange unter den deutschen Bauern. Sie litten neben den Rittern und kleinen Bürgern am stärksten unter der Entwertung des Geldes und der landwirtschaftlichen Produkte." (Diesterweg IV, S. 188) „Die Bauern trugen hart genug daran, daß sie ihren Grundherren dienstbar waren ... Auf den Dörfern tauchten fürstliche Amtmänner auf und begannen ungewohnte Steuern und Zölle zu verlangen." (Klett IV, S. 20) „Die Lage der Bauern war um 1500 nicht mehr so schlecht wie früher. Manche hatten in nahe gelegenen Städten feste Abnehmer für ihre Erzeugnisse und brachten es deshalb zu einem bescheidenen Wohlstand. Dennoch wurden sie von 100
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Rittern und Bürgern wegen ihres niederen Standes und ihrer Unbildung mißachtet." (Schroedel/Schönningh III, S. 151) „Den stärksten Widerhall fanden Luthers Gedanken bei den Bauern. Sie sahen in der Lehre von dem allgemeinen Priestertum der Gläubigen und von der Freiheit des Christenmenschen die Bestätigung ihres alten Kampfes für soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde." (Klett I, S. 57) Diese Begründungen enthalten zweifellos richtige Elemente, doch können sie nicht erklären, warum gerade in dieser Periode der Bauernkrieg ausbricht: Hungeraufstände hatte es nämlich in den Jahrhunderten davor auch schon gegeben. Zu bedenken ist, daß die soziale Lage der Bauern im Deutschland des 16. Jahrhunderts nicht nur in jeder Region, sondern auch innerhalb jedes Bezirks sehr unterschiedlich war. So war die Leibeigenschaft in vielen Ländern zu dieser Zeit bereits aufgehoben. Die Lage der Bauern hatte sich vor allem dort verschlechtert, wo die Märkte ihren Einfluß geltend machten. Es kam jetzt nicht mehr — wie früher — darauf an, daß der Boden möglichst viele Menschen ernährte; jetzt, mit der Entwicklung des Marktes, waren die Grundherren daran interessiert, mit möglichst wenig Leuten auf wenig Land die höchsten Erträge zu erzielen, um diese dort umzusetzen. Das hatte auch die Vertreibung der Bauern von ihrem Pachtland zur Folge, die Entwicklung der sogenannten zweiten Leibeigenschaft: „Denn aller Schutz und Schirm tendiert zur Ausnutzung der Herrenrechte, zur Steigerung der Herrengewalt . . . der Herr versuchte nun, die unter seinem Schutz und seiner Gebotsgewalt stehenden Bauern zu bewegen, ihm ihr Eigengut zu übertragen und von ihm gegen Zins zur Leihe zu nehmen, er versuchte die Stellung seiner Grundholden anzugleichen, das Besitzrecht zu verschlechtern, die Leistung zu steigern, endlich das Eigentum an der Person des Holden zu erwerben, ihn zu seinem Leibeigenen zu machen." 1 0 2
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So trafen zu Beginn des 16. Jahrhunderts verschiedene Faktoren zusammen, die sowohl die Reformation wie den Bauernkrieg auslösten. Doch dieser Zusammenhang zwischen der religiösen und der sozialen Rebellion wird von den Schulbuchautoren nicht gesehen oder als ein Mißverständnis der Bauern aufgefaßt: „Luthers religiöse Anschauungen wurden von vielen mißverstanden. Deshalb brachen Unruhen aus . . ." (Schroedel/Schöningh II, S. 154) Das Mißverständnis bestand allenfalls darin, daß die Bauern Luther beim Wort nahmen und seine Lehre „von der Freiheit eines Christenmenschen" konkret auffaßten. Das aber lag weder im Sinne Luthers noch liegt es im Sinne der Schulbücher. Diese lassen in den meisten Fällen keinen Zweifel daran, auf welcher Seite sie in diesem Bauernkrieg stehen: auf der Seite der Sieger: „Die Sache der Reformation wurde durch den Bauernkrieg schwer geschädigt." (Klett III, S. 183) „Als ihre blutigen Ausschreitungen zunahmen, rief Luther . . . zum Kampf ,wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern' auf. Luther unterstützte die Landesherren gegen die drohende gesellschaftliche Revolution." (Schroedel/Schöningh I, S. 114) 58
Im letzten Zitat wird immerhin klar, welche Rolle Luther in diesem Krieg spielte. Sie beschränkte sich keineswegs auf innere Erlebnisse und Bibelübersetzungen im stillen Kämmerlein; Luther und seine religiöse Lehre fungierten vielmehr als politische Waffe im Interesse der Fürsten. Aufschlußreich ist sowohl der Raum als auch die Bewertung, die Luther, der Verbündete der Fürsten, gegenüber Thomas Müntzer, dem Vertreter der Bauern und Plebejer, erhält: „Luther konnte nicht lange auf der Wartburg bleiben. Kaum war das Wormser Edikt bekanntgeworden, so brach in Erfurt der ,Pfaffensturm' los, der sich in wüsten Plünderungen der geistlichen Stifter austobte. Gefährlicher wurden die Bilderstürmer in Wittenberg, da sie die ganze bisherige Ordnung des Gottesdienstes und jeden Schmuck in der Kirche verwarfen. Noch weiter gingen die ,Zwickauer Propheten', aus Zwickau vertriebene Handwerker. Unter dem Einfluß des Volkspredigers Thomas Müntzer lehnten sie auch die Autorität der Bibel ab . . . Luther befürchtete mit Recht, daß diese Ausschreitungen seinem Kampf um die Erneuerung der Kirche zur Last gelegt würden. So verließ er ohne Wissen und gegen den Willen seines Kurfürsten seinen Zufluchtsort und kehrte nach Wittenberg zurück. Hier stellte er in wenigen Tagen durch seine Predigten die Ordnung wieder her." (Klett I, S. 56) Während Thomas Müntzer als der Verantwortliche für die „Ausschreitungen" erscheint, der nicht davor zurückschreckt, „auch die Autorität der Bibel" anzufechten, wird Luther als Ordnungsfaktor gewertet. Die Tatsache der Parteigängerschaft Luthers für die Unterdrücker wird im Klett-Schulbuch zwar angedeutet, aber als bloß subjektive Meinung des „niederen" Volkes abgewertet: „ . . . seine (Luthers, die Verfasser) Anhänger im niederen Volk sahen in ihm einen Parteigänger der Herren und wurden irre an ihm." (Klett I, S. 57) Besonders deutlich wird die Einseitigkeit der Schulbücher bei der Darstellung des Bauernkrieges als Massenbewegung: „Sengen, Brennen, Grausamkeiten und Blutvergießen kennzeichneten seinen Weg (des Bauernkrieges, d. Verf.)." (Klett I, S. 57) „Der Bauernaufstand war die erste große Massenerhebung der deutschen Geschichte. Und doch brach er schnell und ruhmlos zusammen. Den wohlbewaffneten, geübten und einheitlich geführten Heeren, welche die Fürsten im Sommer 1525 ins Feld führten, konnten die ungeordneten bäuerlichen Haufen nicht widerstehen." (Diesterweg I, S. 197) „Sie (die Bauern, d. Verf.) zerstörten Burgen und Schlösser . . . und verwüsteten Klöster. Auch kam es zu einzelnen Bluttaten, so in dem schwäbischen Städtchen Weinsberg, wo die Bauern den Grafen von Helfenstein und 17 Adelige durch die Spießgasse trieben." (Diesterweg I, S. 197) In Diesterweg I und IV werden die Massenmorde an über 100 0 0 0 Bauern durch die Fürstenheere angeführt, aber der Zusammenhang zwischen den Gewalttaten der Bauern und denen der Fürsten bleibt unklar. Dem Schüler wird die Ansicht nahegelegt, daß 100 0 0 0 Bauern nicht umgebracht worden wären, wenn sie nicht selbst zuvor zu den Waffen gegriffen hätten. Die Tatsache, daß die Bauern zu den Waffen griffen, um sich gegen die unerträglich gewordene tagtägliche Ausbeutung zu wehren, geht auf diese Weise verloren. Die feudale Ausbeutung und Unterdrückung, die ansatzweise auch in 59
den Schulbüchern dargestellt wird, berechtigte die Bauern nach Meinung Luthers und der Autoren allenfalls zum Kampf um maßvolle Reformen. Die Unterdrückung des Leibeigenen, Hörigen oder Fronbauern durch seinen Herrn erscheint nicht als elementare Gewalt. Gewalt, die böse und unberechtigt ist und deshalb entsprechend bestraft wird, beginnt im Urteil der Schulbücher immer erst dort, wo die Unterdrückten zur Waffe greifen. Wer könnte den Respekt der Autoren vor den „wohlbewaffneten, geübten und einheitlich geführten Heeren" der Fürsten und die Verachtung der „ungeordneten bäuerlichen Haufen" übersehen? Hier drückt sich eine Parteinahme gegen jeden Volksaufstand und für dessen Niederwerfung durch jede staatliche Gewalt aus. Die aktuelle Nutzanwendung ist evident: Von Lateinamerika und Vietnam bis zur Rebellion der Farbigen in den USA. Im konkreten Fall hat diese Parteinahme allerdings auch inhaltliche Gründe, wie folgendes Zitat zeigt: „Thomas Müntzer verkündete in Thüringen ein kommunistisches Gottesreich." (Klett I, S. 57) Der Autor verläßt sich auf das in der Bundesrepublik herrschende antikommunistische Bewußtsein und projiziert es zurück in die Geschichte. Diese muß dem Schüler dann als ein ständiger Kampf gegen den Kommunismus erscheinen. So wird einerseits die gegenwärtige Form der Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus in die Geschichte hineininterpretiert, andererseits die Geschichte benutzt, um die Tradition der Verteidigung der bestehenden Ordnung zu belegen. Das Zusammenfügen von Kommunismus und Gott läßt Müntzer darüber hinaus als Wirrkopf erscheinen, dessen Ziele einer näheren Betrachtung nicht wert sind. In Wirklichkeit knüpfte Müntzer an das Urchristentum an und entwickelte daraus konsequent seine Lehre von der wirklichen Freiheit des Menschen — nicht bloß, wie bei Luther, der „inneren", die mit äußerer Sklaverei durchaus vereinbar ist. Ernst Bloch schreibt: „Müntzer . . . hieß die Bauern das Ihre zusammenlegen, er sprengte die kurzen Träume von Demokratie und Kaisertum, selbst Nationalismus war ihm fremd, an die Stelle des mystischen Volkskaisers trat völlig Christus, mystische Weltrepublik, Theokratie und Tieferes, er postulierte vollkommene Gütergemeinschaft, urchristliches Wesen, Beseitigung aller und jeder Obrigkeit, Zurückrückung des Gesetzes auf Moralität und Christbereitung." Das äußerste, was einige Geschichtsbücher in Übereinstimmung mit Luther konzedieren, ist, daß die Forderungen der Bauern berechtigt waren. Dafür kämpfen durften sie allerdings nicht. Vermutlich hätten sie an ihre Unterdrücker eine Petition einreichen sollen: „Auf Martin Luther und seine Lehre hatten sich die Bauern berufen. Er fand ihre Forderungen gerecht. Er ermahnte sie nur, von Gewalttaten abzusehen und das Evangelium nicht zu mißbrauchen." (Klett IV, S. 23) 104
Wie die politischen Fronten verliefen, bleibt unklar, so daß dem Schüler unbegreiflich bleibt, worum es eigentlich ging. Es werden zwar 60
neben Papst, Kaiser und Landesfürsten noch der Adel und die Geistlichkeit benannt, aber die Rolle der Zunftbürger, der Bergleute und Plebejer bleibt unerwähnt. So kann der Schüler nicht erkennen, daß in den einzelnen Phasen die Front quer durch die einzelnen Stände verlief, daß der hohe Klerus, die reichen Bürger und die Mehrheit des Adels auf der Seite der Fürsten standen, während die einfachen Pastoren, die nicht im Stadtrat repräsentierten Bürger und ein Teil der Adeligen zu den Bauern hielten. Die von Michael Gaismair entworfene Landesordnung, die bereits ein umfassendes und konkretes antifeudales Programm für die Errichtung einer bäuerlich-bergmännischen Volksrepublik e n t h i e l t und so dem Schüler eine Vorstellung vermitteln könnte, wofür die Aufständischen eigentlich kämpften, wird überhaupt nicht erwähnt. Dies stimmt mit der Berichterstattung unserer Massenmedien über aktuelle Aufstandsbewegungen überein und erweist sich damit als zentrales Motiv in der Formung der „öffentlichen Meinung". Die Darstellung von Reformation und Bauernkrieg in unseren Schulbüchern ist immer noch durch die deutsche Geschichtswissenschaft der Vorkriegszeit g e p r ä g t . Nach dem Krieg gewann die ökumenische Geschichtsschreibung an E i n f l u ß . In der Bundesrepublik gilt das Buch von G. F r a n z , der die Geschichte des Bauernkrieges 1933 für die politischen Ziele des Faschismus zurechtstutzte, unverändert als Standardwerk. Dort kann man nach wie vor lesen: „Die hunderttausend Toten gaben zudem ähnlich wie in Zeiten der Pest oder im Jahrhundert der Kolonisation den Zurückbleibenden größeren Lebensraum." Erst die Bemühungen der DDR-Geschichtswissenschaft, Reformation und Bauernkrieg als revolutionäre Etappe auf dem Weg zur Herausbildung eines deutschen Nationalstaates und der Befreiung von feudalen, kirchlichen und obrigkeitsstaatlichen Zwängen zu erweisen, veranlaßte die Historiker der B R D ab 1 9 6 7 , sich mit der Theorie der frühbürgerlichen Revolution auseinanderzusetzen. In dieser Auseinandersetzung dient der westdeutschen Geschichtsschreibung die Hervorhebung der Reformation einerseits und die Abwertung der bäuerlich-plebejischen Massenbewegung andererseits zur Festigung des herrschenden Geschichtsbildes. Die Reformation läßt sich bejahen, denn sie richtet ihre Kritik nicht grundsätzlich gegen die herrschenden Feudalklassen, sondern nur gegen das außerhalb Deutschlands gelegene Zentrum des klerikalen Feudalismus, und sie kann auf einen bloß religiösen, ideengeschichtlichen Vorgang reduziert werden, der zudem noch als das Werk der Persönlichkeit Luthers dargestellt werden kann. Nicht um soziale Interessen ging es also, sondern um Geistiges. Der Bauernkrieg dagegen richtete sich konkret gegen das herrschende Feudalsystem, in einem allgemeineren Sinne aber gegen soziale Privilegien der Herrschenden und also auch gegen das Privateigentum, auf dem diese beruhen. Deshalb wird er in der Geschichtswissenschaft und noch stärker in den Schulbüchern verzerrt 1 05
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C. Die Arbeiterbewegung Im Laufe der Französischen Revolution zeichneten sich keimhaft Klassengegensätze ab, die zu lösen sie gar nicht ausgezogen war. Die bürgerliche Revolution wurde von Bevölkerungsschichten getragen und vorangetrieben (vor allem den Sansculotten), deren Interesse über die Zerschlagung der Feudalordnung bereits eindeutig hinausging und sich tendenziell gegen die gerade etablierte bürgerliche Gesellschaftsordnung richtete. Das entstehende Proletariat mußte den dreifachen Ruf der Revolution, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", in ganz anderem, d. h. viel umfassenderen (substanzielleren) Sinne verstehen als von den bürgerlichen Revolutionstheoretikern ursprünglich intendiert war, denn deren Anspruch, die ganze Menschheit zu vertreten, stand im Widerspruch zum real erfahrbaren partikularen Herrschaftsinteresse des Bürgertums. Das emanzipatorische Menschheitspathos, mit dem die Revolution anhob, erwies sich sehr schnell als heroische Illusion: das Wahlrecht wurde 1795 wie schon 1791 an den Besitz gebunden; die Demokratie blieb auf die hohe politische Sphäre beschränkt: die demokratischen Volksgesellschaften wurden unterdrückt, die Gründung von Arbeiterorganisationen (Gewerkschaften) verboten usw. Hier wird der durch und durch bürgerliche Charakter der Revolution deutlich: er schlägt sich nieder in ihrer Halbheit, d. h. ihrer Beschränkung auf die politische Sphäre. Im Gegensatz zu einer wirklichen Revolution, die die ganze Gesellschaft ergreift, führte die politische Revolution (Umwälzung der Staatsform, Abschaffung der Vorrechte) nicht zur Emanzipation des ganzen Volkes, sondern nur zur Befreiung einer besonderen Klasse: der Klasse der Privateigentümer, insbesondere der Kapitaleigner. Der andere, ständig wachsende Teil der Gesellschaft, die Arbeiterschaft, kann nun mit einigem Recht die andere Hälfte der Revolution fordern: die politische Emanzipation der Eigentümer in eine gesellschaftliche Emanzipation vom Eigentum weiterzuführen; die beschränkt-politische Gleichheit („vor dem Gesetz") zur sozialen Gleichheit zu erweitern. Der Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ist noch unabgegolten; der beste Teil dieses Dreigestirns ist ,noch nicht heraus': „Die bürgerliche Revolution war zweifellos an den meisten Punkten mehr bürgerlich als Revolution, aber sie hat nicht nur — als Abschaffung der Klassenprivilegien — ein gewaltiges Stück Aufräumarbeit geschafft, sie hat eben auch jenes Versprechen und jenen utopisch-konkreten Gehalt eines Versprechens in sich, an das die wirk1
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liche Revolution sich halten k a n n . " Die Voraussetzung seiner Einlösung und die Aufgabe dieser Revolution ist die Abschaffung der Klassen selbst. In diesem Sinne hat die Arbeiterbewegung das Erbe der unvollendeten Revolution angetreten. Ihr erster großer Repräsentant war Babeuf, der sich am Ende der Französischen Revolution für die Verwirklichung der „wahren Gleichheit" durch die Gemeinschaft aller Güter und Arbeiten und die Wiederherstellung der politischen Demokratie nach dem Vorbild der Verfassung von 1793 einsetzte: „Die Französische Revolution ist nur der Vorbote einer anderen, noch viel größeren, viel feierlichen Revolution, die die letzte sein w i r d . " Die Primitivität seiner Theorie und der Verschwörungscharakter seiner Aktion entsprachen der Unentwickeltheit der damaligen Arbeiterbewegung: Die junge Arbeiterklasse („Klasse an sich") war erst gerade dabei, sich als „Klasse für sich", als bewußte Klasse zu konstituieren. Babeuf und seine Anhänger mußten scheitern. Wenn wir uns im folgenden der Darstellung der Arbeiterbewegung in den Schulbüchern zuwenden, dann vor allem deshalb, weil sich in ihr jene Emanzipationsbewegung fortsetzt, die in der bürgerlichen Revolution mit der Zerschlagung der Feudalordnung und der Errichtung eines bürgerlichen Staates zum Stillstand gekommen war. Interesse und Aufgabe der Arbeiterbewegung war es, die heroischen Illusionen der Französischen Revolution in eine konkrete historische Perspektive umzuwandeln. Die deutsche wie die internationale Arbeiterbewegung haben sich im 19. Jahrhundert organisiert, um Freiheit und Gleichheit für die Arbeiterklasse zu erkämpfen und so die Klassengesellschaft überhaupt abzuschaffen. Ihre bloße Existenz war also schon potentielle Negation und politische Bedrohung der kapitalistischen Eigentumsund Gesellschaftsverfassung. Allein aus der Tatsache, daß diese Arbeiterbewegung auch in der Gegenwart noch besteht, ist zu erkennen, daß ihre Ziele noch nicht realisiert sind (was ein Blick auf die Ungleichheit der Vermögens- und Einkommensverteilung und der Lebenschancen überhaupt bestätigt). Damit aber sind die in der B R D herrschenden Ideologien von der „Wohlstandsgesellschaft" (nach der das Hauptproblem heute nicht die Beseitigung von Armut und Ungleichheit, sondern die Regulierung von gesellschaftlichem Überfluß ist), von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft" (die behauptet, es gäbe keine wesentlichen sozialen Unterschiede mehr) und der „Sozialpartnerschaft" (die Lohnabhängige und Unternehmer als gleichberechtigte Partner betrachtet) grundlegend in Frage gestellt — und damit auch die Grundlagen dieser Gesellschaft selbst. Die Schulbücher sind hier also mit dem zentralen Konflikt unserer Gesellschaft konfrontiert, dem zwischen Lohnarbeit und Kapital. 1 1 4
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1. Die historische Entstehung der Arbeiterklasse
Um Inhalt und Ziel der Arbeiterbewegung beurteilen zu können, ist es erforderlich, wenigstens kurz darzulegen, wie sich die Arbeiterklasse mit der Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise gebildet hat. Die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise und der Arbeiterklasse stellt sich in den Schulbüchern durchweg dar als rein quantitative Umwälzung der Produktionsweise: an die Stelle der Kleinproduktion des Mittelalters und der frühen Neuzeit tritt im 18. Jahrhundert, vor allem im Zuge der industriellen Revolution, allmählich und dann zügig voranschreitend, die fabrikmäßige Massenproduktion. Die kapitalistische Produktionsweise unterscheidet sich von der feudalistischen demnach nur in der Größenordnung: Großproduktion mit Maschinen statt Kleinproduktion, die auf Handarbeit beruht. Auch die Arbeiterklasse tritt nur als Quantität in Erscheinung: Arbeiter werden massenhaft in großen Betrieben zusammengefaßt und wie Arbeitstiere behandelt; ihr Elend ist groß (quantitativ). Den Schulbuchautoren entgeht die historische Formbestimmtheit dieser Umwälzung (und damit auch des Elends der Arbeiter). Sie können deshalb nicht erklären, wieso die Entstehung von Massenproduktion mit soviel Elend der Produzenten verbunden war und warum sich plötzlich zwei „neue Klassen" gegenüberstanden: Lohnarbeiter und Kapitalisten. Eine bezeichnende Fehlinterpretation stellt die Identifizierung der industriellen Revolution mit dem Kapitalismus dar: „Seit der industriellen Revolution waren in England zwei neue Klassen entstanden: Arbeiter und Unternehmer." (Schroedel/Schöningh IV, S. 125, desgl. in Klett V, S. 47, Klett VIII, S. 37, Diesterweg VIII, S. 16, Schroedel III, S. 46, u. a.) Hier wird die Entstehung des Kapitalismus — und damit der zwei Hauptklassen: Lohnarbeiter und Kapitalisten — zeitlich gleichgesetzt mit der industriellen Revolution, und damit der Anschein erweckt, als ob Industrialisierung notwendig zur Entstehung einer Arbeiter- und einer Kapitalistenklasse führen müsse, als ob der Industrialisierungsprozeß immer ein kapitalistischer sein müsse. Aber erstens hatte sich die kapitalistische Produktionsweise schon viel früher in der alten, feudalistischen Gesellschaft herausgebildet; das Vorhandensein von Kapital und freien Lohnarbeitern bildete die historisch notwendige Voraussetzung des Industrialisierungsprozesses und war nicht etwa die bloße Folge desselben. Zweitens aber ist zu betonen, daß Industrialisierung (etwa in den Entwicklungsländern) sich auch in nicht-kapitalistischer Form vollziehen kann. Diese Abstraktion der Schulbuchautoren von den qualitativen Veränderungen, die die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise gegenüber der feudalistischen beinhaltete, führt sie zu historisch falschen Aussagen. Das Schulbuchzitat — „Seit der industriellen Revolution waren in England zwei neue Klassen entstanden: Arbeiter und Unternehmer" — müßte richtig lauten: 64
,Mit der kapitalistischen Produktionsweise waren zwei neue Klassen entstanden: Lohnarbeiter und Kapitalisten. Mit der industriellen Revolution, d. h. dem Einsetzen der maschinellen Produktion in großem Maßstab, und dem daraus resultierenden verbilligten Massenangebot von Waren begann die kapitalistische Produktionsweise die ganze Gesellschaft zu ergreifen.' Die industrielle Revolution stellte also nicht den Beginn der kapitalistischen Produktionsweise und damit der beiden neuen Klassen dar, sondern lediglich ihre zweite Phase, ihre Entfaltung auf einer höheren Stufe: der fabrikmäßigen, maschinellen Produktion. Die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise, die sich punktuell schon Jahrhunderte vorher inmitten feudaler Verhältnisse vollzog und zunächst in der Errichtung von Manufakturbetrieben resultierte, stellte eine qualitative Veränderung der Produktionsweise dar: sie war gegenüber der feudalistischen Produktionsweise etwas völlig Neues. Diese Umwälzung, die eine Umwälzung der historischen Formbestimmtheit der Arbeit ist, also der Auseinandersetzung der Menschen mit der Natur, stellt sich dar als Entstehung einer ausschließlich auf den Tauschwert gerichteten Produktion: sie beinhaltet die Verwandlung der Arbeitskraft in Ware und die Verwandlung der Produktionsmittel in Kapital. Schon im Feudalismus wurden in gewissem Maße Waren produziert und auf dem Markt getauscht, nur war die Warenform hier noch nicht — wie im Kapitalismus — die allgemeine Form des Produkts. Sie erfaßte durchweg nur den Überschuß, sie ergriff noch nicht die Produktion als ganze. Der Bauer im Feudalismus erzeugte zunächst seine eigenen Lebensmittel; nur das Mehrprodukt konnte auf dem Markt verkauft werden (wobei ihm der Erlös dann großenteils von seinem Feudalherrn genommen wurde). Die vorkapitalistischen Verhältnisse sind generell dadurch gekennzeichnet, daß die Tauschwertproduktion die Gebrauchswertproduktion zu ihrer Voraussetzung hatte: die Subsistenz, der Lebensunterhalt, war mehr abhängig vom unmittelbaren Gebrauch als vom Verkauf des Produkts. Wenn dies beim feudalen Bauern unmittelbar einsichtig ist, so trifft es auch noch für den zünftigen Handwerker in der mittelalterlichen Stadt zu: auch er produziert — hier allerdings schon durch das Geld vermittelt — für den Gebrauch, noch nicht für den „Handel im G r o ß e n " , noch nicht für einen unbegrenzten, anonymen Markt (dies verhinderte gerade die Zunftorganisation, siehe Abschnitt Französische Revolution): 1 1 6
„Bei dem städtischen Handwerk, obgleich es wesentlich auf Austausch beruht und Schöpfung von Tauschwerten, ist der unmittelbare, der Hauptzweck dieser Produktion Subsistenz als Handwerker, also Handwerksmeister, also Gebrauchswert; nicht Bereicherung, nicht Tauschwert als Tauschwert." Die historische Formbestimmtheit der Arbeit im Feudalismus war also die — mehr oder weniger durch Geld vermittelte — Produktion für 117
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den Gebrauch: konkrete, nützliche Arbeit (unmittelbar); als solche setzte sie die Einheit von Arbeit und Arbeitsmittel, von Arbeit und Arbeitsprodukt voraus: Boden- bzw. Rohstoffe und Werkzeuge befanden sich ebenso im Besitz der Produzenten wie der produzierte Gegenstand selbst. Demgegenüber setzt die den Kapitalismus bestimmende reine Tauschwertproduktion die Trennung der Produktionsmittel (und damit des Arbeitsprodukts) von den Produzenten voraus. Wie ist es dazu gekommen? Im Abschnitt über die Französische Revolution (vgl. S. 11 ff) wurde gezeigt, wie der von außen kommende und anfangs nur auf den Uberschuß beschränkte Tauschwert setzende Verkehr (in Gestalt des Handelskapitals) allmählich immer mehr die Produktion ergriff. Zunächst blieb die gesellschaftliche Arbeit jedoch in Kleinproduktion zersplittert. Dennoch bildete sich mit der einfachen Warenproduktion bereits eine Grundbedingung für die Entstehung der kapitalistischen Gesellschaftsformation heraus: die gesellschaftliche Arbeitsteilung. Waren produziert man nicht für sich selbst, sondern für andere. Dies setzt ein System gesellschaftlicher Arbeitsteilung voraus, in dem private Produzenten Arbeit für andere, also gesellschaftliche Arbeit verrichten. In der feudalen Gesellschaft war diese Gesellschaftlichkeit der Arbeit freilich nur rudimentär entwickelt. Immerhin setzte die Entstehung von ausschließlich Tauschwerte produzierenden Manufakturen einen gewissen Stand gesellschaftlicher Arbeitsteilung voraus, um ihre Waren überhaupt absetzen zu können. Eine weitere Vorbedingung für die Errichtung eines kapitalistischen Unternehmens ist die Anhäufung von Geld in den Händen von Unternehmern, das ausreicht, um den Ankauf der notwendigen Produktionsbedingungen (Großwerkstatt, Rohstoffe usw.) zu ermöglichen. Dieses Geld existierte im Feudalismus nur in Form von Wucher- oder Handelskapital, also Geldkapital, das nicht Resultat von Lohnarbeit war, sondern auf dem Wege des ungleichen Tausches (Übervorteilung, Raub) angeeignet w u r d e . Vor allem Anhäufung von Handelskapital im Zuge des Kolonialismus spielte für die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise eine wichtige Rolle. Durch Ausplünderung der Kolonien, Sklavenhandel usw. geschaffene Geldkapitalien konnten theoretisch in Produktionskapital verwandelt werden, d. h. zum Kauf von Produktionsinstrumenten, Fabrikanlagen, Rohstoffen (und Arbeitskräften!) usw. dienen. Damit war eine unmittelbare Vorbedingung der kapitalistischen Produktionsweise gegeben: die Verwandlung der Produktionsmittel in Kapital war theoretisch möglich. „Es unterliegt keinem Zweifel . . . , daß im 16. und im 17. Jahrhundert die großen Revolutionen, die mit den geographischen Entdeckungen im Handel vorgingen und die Entwicklung des Kaufmannskapitals rasch steigerten, ein Hauptmoment bilden in der Förderung des Übergangs der feudalen Produktionsweise in die kapitalistische. Die plötzliche Ausdehnung des Weltmarkts, die Vervielfältigung der umlaufen118
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den Waren, der Wetteifer unter den europäischen Nationen, sich der asiatischen Produkte und der amerikanischen Schätze zu bemächtigen, das Kolonialsystem, trugen wesentlich bei zur Sprengung der feudalen Schranken der P r o d u k t i o n . " Ob das Geldkapital allerdings eine neue Produktionsweise zu schaffen vermag, die nur noch für den „Handel im Großen" produziert, ob also der Kaufmann sich der Produktion unmittelbar bemächtigen kann, hängt von einem ganz anderen gesellschaftlichen Vorgang ab: der Trennung der unmittelbaren Produzenten von ihren Produktionsmitteln und ihrer Befreiung von feudalen Abhängigkeitsverhältnissen. Der Handelskapitalist hat es immer nur mit der Zirkulation der Waren, der Vermittlung der Tauschwerte — die sich im Geld manifestieren — zu tun. Ihre Produktion ist seiner Tätigkeit vorausgesetzt, sie geht ihn nichts mehr an. Wenn er sein angehäuftes Geldkapital nun in Produktionskapital umwandelt, so ergreift der im Geld materialisierte Tauschwert die Produktion, macht sie zur Tauschwertproduktion. Diese ist aber nur dann sinnvoll für den Kapitalisten, wenn die neu produzierten Tauschwerte größer sind als die Summe des vorgeschossenen Geldes. Dazu sind jedoch Arbeiter nötig, die erstens mit Produktionsmitteln arbeiten und Produkte erzeugen, die ihnen nicht gehören (sondern dem Kapitalisten) und sich zweitens gefallen lassen, daß der von ihnen geschaffene zusätzliche Wert vom Kapitalisten angeeignet wird. 119
Zu 1: Die Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln und Erzeugnissen — eine Trennung, die dem Arbeitsprozeß vorausgesetzt ist — kennzeichnet nur die kapitalistische Produktionsweise. Feudalabhängiger Bauer wie Zunfthandwerker waren Besitzer ihrer Arbeitsbedingungen und ihres Arbeitsprodukts. Die kapitalistische Großproduktion bedurfte einer ständig wachsenden Zahl freier Arbeiter, die bereitstanden, ihre Arbeitskraft gegen Lohn zu verkaufen. Arbeiter, die über ihr Arbeitsvermögen in dieser Weise frei verfügen konnten — um sie dann allerdings der Verfügungsgewalt der Kapitalbesitzer gegen Geld zu überlassen —, konnte es in einer Gesellschaft nicht geben, die durch persönliche Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse und der Gebundenheit der Produzenten an ihre zersplitterten Produktionsbedingungen gekennzeichnet war. Die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise mußte also einhergehen mit der Freisetzung der unmittelbaren Produzenten, d. h. ihrer „Befreiung" von Knechtschaftsbeziehungen einerseits und den Produktionsmitteln andererseits: ein Großteil der Bauern wurde von profithungrigen Grundherren enteignet und von ihrem Lande verjagt. Diese Entwicklung vollzog sich grundsätzlich in allen Ländern, in denen sich der Kapitalismus herausbildete. In England, wo sie gewissermaßen in klassischer Form ablief, setzte sie bereits im 15. Jahrhundert ein. Den Anstoß gab hier insbesondere das Aufblühen der flandrischen Wollmanufakturen. Das damit verbun67
dene Ansteigen der Wollpreise ließ den englischen Grundherren die Schafzucht vorteilhafter als die Bodenbestellung erscheinen. Die nun überflüssig gewordenen feudalabhängigen Bauern und Knechte wurden von ihrem Lande vertrieben und der Großgrundbesitz durch Einhegungen von Gemeindeland zusätzlich erweitert. Die gewaltsam ruinierten und ausgeraubten Bauern bildeten ein Heer von Besitzlosen, die auf der Suche nach Arbeit und Lebensmittel die Wege und Städte Englands übervölkerten. Diese vogelfreien Proleten stellten schließlich das Arbeitskräftereservoir für die neu entstehenden Manufakturen dar. Hinzu kamen die im Konkurrenzkampf mit den Manufakturen ruinierten Handwerker, denen nun ebenfalls nichts anderes übrigblieb, als ihre Arbeitskraft an einen Kapitalisten zu verkaufen. „Auf einem gewissen Höhegrad bringt sie (die feudale Gesellschaft, d. Verf.) die materiellen Mittel ihrer eigenen Vernichtung zur Welt. Von diesem Augenblick regen sich Kräfte und Leidenschaften im Gesellschaftsschoße, welche sich von ihr gefesselt fühlen. Sie muß vernichtet werden, sie wird vernichtet. Ihre Vernichtung, die Verwandlung der individuellen und zersplitterten Produktionsmittel in gesellschaftlich konzentrierte, daher des zwerghaften Eigentums vieler in das massenhafte Eigentum weniger, daher die Expropriation (Enteignung, d. Verf.) der großen Volksmassen von Grund und Boden und Lebensmittel und Arbeitsinstrumenten, diese furchtbare und schwierige Expropriation der Volksmasse bildet die Vorgeschichte des Kapitals . . . Das selbst erarbeitete, sozusagen auf Verwachsung des einzelnen, unabhängigen Arbeitsindividuums mit seinen Arbeitsbedingungen beruhende Privateigentum wird verdrängt durch das kapitalistische Privateigentum, welches auf Exploitation (Ausbeutung, d. Verf.) „Geld und Ware sind fremder, aber formell freier Arbeit b e r u h t . " nicht von vornherein Kapital, sowenig wie Produktions- und Lebensmittel. Sie bedürfen der Verwandlung in Kapital. Diese Verwandlung selbst aber kann nur unter bestimmten Umständen vorgehn, die sich dahin zusammenspitzen: Zweierlei sehr verschiedne Sorten von Warenbesitzern müssen sich gegenüber in Kontakt treten, einerseits Eigner von Geld, Produktions- und Lebensmitteln, denen es gilt, die von ihnen geeignete Wertsumme zu verwerten durch Ankauf fremder Arbeitskraft; andererseits freie Arbeiter, Verkäufer der eigenen Arbeitskraft und daher Verkäufer von Arbeit. Freie Arbeiter in dem Doppelsinn, daß weder sie selbst unmittelbar zu den Produktionsmitteln gehören, wie Sklaven, Leibeigne usw., noch auch die Produktionsmittel ihnen gehören, wie beim selbstwirtschaftenden Bauer usw., sie davon vielmehr frei, los und ledig sind. Mit dieser Polarisation des Warenmarkts sind die Grundbedingungen der kapitalistischen Produktion gegeben. Das Kapitalverhältnis setzt die Scheidung zwischen den Arbeitern und dem Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit voraus. Sobald die kapitalistische Produktion einmal auf eignen Füßen steht, erhält sie nicht nur jene Scheidung, sondern reproduziert sie auf stets wachsender Stufenleiter. Der Prozeß, der das Kapitalver1 2 0
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hältnis schafft, kann also nichts andres sein, als der Scheidungsprozeß des Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen, ein Prozeß, der einerseits die gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsmittel in Kapital verwandelt, andererseits die unmittelbaren Produzenten in L o h n a r b e i t e r . " 121
Zu 2: Weil der Arbeiter nicht Eigentümer der Produktionsmittel ist, kann er auch nicht Eigentümer seiner Arbeit und des Produkts seiner Arbeit sein. Er ist nur Eigentümer seiner Arbeitskraft — und eben diese verkauft er dem Kapitalisten, gegen Lohn, den er zur Erhaltung seiner Existenz braucht. Dieser Austausch zwischen Arbeitskraft und Lohn, der im Arbeitsvertrag besiegelt wird, ist ein Austausch von Äquivalenten: der Lohn entspricht dem Wert der Ware Arbeitskraft, d. h. ihren Reproduktionskosten, die identisch sind mit den gesellschaftlich bestimmten Unterhaltskosten des Arbeiters. Der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft besteht aber nun darin, mehr Wert hervorzubringen, als sie selbst besitzt. Der Arbeiter produziert mehr Wert als er in Form des Lohnes zurückerhält. Hierin liegt gerade der Sinn des Produktionsprozesses für den Kapitalisten. Der Mehrwert, also die Differenz zwischen dem vom Arbeiter geschaffenen Wert und dem Wert der zum Leben notwendigen Güter und Leistungen wird vom Kapitalisten unentgeltlich angeeignet. Hinter dem Äquivalententausch (Arbeitskraft — Lohn) vollzieht sich die Aneignung der Mehrarbeit: der Austausch in Gleichheit konstituiert ein Ausbeutungsverhältnis! Der Mehrwert wird im Verkauf der Waren realisiert in Form von mehr Geld. „In einer Gebrauchswerte erzeugenden Gesellschaft wird das gesellschaftliche Mehrprodukt, das sich eine besitzende Klasse aneignet, in direkter Weise angeeignet, sei es in der Form von (Fron-)Arbeit, sei es in der Form von Gütern (Grundrente, Tribut). In einer Waren produzierenden Gesellschaft eignet sich die besitzende Klasse das gesellschaftliche Mehrprodukt in indirekter Weise an, in der Form des Geldes, also durch den Verkauf von Waren, von deren Erlös die Unterhaltskosten der Arbeit und die restlichen Produktionskosten a b g e h e n . " 122
Diese neue Form privater Aneignung gesellschaftlicher Mehrarbeit erzeugt permanent den Interessenwiderspruch zwischen Lohnarbeitern und Kapitalisten: der Kapitalist hat ein objektives — die Konkurrenz zwingt ihn dazu — Interesse an der Erhöhung der Mehrarbeit, der Arbeiter an ihrer Verringerung, da eine Erhöhung der Mehrarbeit für ihn relativen Lohnschwund bedeutet. Einfacher gesagt: der Kapitalist strebt nach Ausweitung der unbezahlten Arbeit, der Arbeiter nach Ausweitung der bezahlten Arbeit. Dieser Interessenantagonismus nimmt in der Geschichte verschiedene Erscheinungsformen an: unmenschliche Ausplünderung der Arbeiter in der ersten Phase der Industrialisierung, Maschinenstürmerei, Koalitionsverbote für Arbeiter, Zensuswahlrecht, Arbeitslosigkeit, Streiks, Kampf um den 10-Stunden-Tag, faschistische Diktatur usw. 69
Die Schulbuchautoren machen ihren Begriff von „Arbeiterklasse" nur am Unterschied von Arm und Reich, politischer Ohnmacht und politischem Einfluß fest. Sie begreifen das große materielle Elend der Arbeiter in der ersten Phase der Industrialisierung nicht als notwendiges Moment der frühkapitalistischen Entwicklung, das in anderen Formen bis heute weiterlebt, sondern interpretieren es als vermeidbare Begleiterscheinung der Industrialisierung, zusammengefaßt unter dem Titel „Die Soziale Frage".
2. Die „Soziale F r a g e " des 1 9 . Jahrhunderts und ihre Ursachen
Die sozialen Folgen der industriellen Revolution (so die Terminologie der Schulbücher; wie im vorigen Abschnitt gezeigt wurde, müßte es richtiger heißen: die sozialen Aspekte der kapitalistischen Produktionsweise) werden in allen Schulbüchern geschildert. Im Mittelpunkt steht dabei die Beschreibung der Lage des neuen „Vierten Standes", der Arbeiter. Deren Situation war danach gekennzeichnet durch große soziale Not und gesellschaftliche Rechtlosigkeit: „Niedrige Löhne, lange Arbeitszeit, Kinderarbeit, Arbeitslosigkeit, Wohnungselend waren die typischen Kennzeichen proletarischen Schicksals." (Schroedel/ Schöningh II, S. 61) „Die Arbeitszeit wurde verlängert, die Löhne gedrückt. Oft waren Familienväter arbeitslos und mußten zusehen, wie Frauen und Kinder (ab 6 Jahren) zugrunde gerichtet wurden. 16stündige Arbeitszeit, Nachtarbeit, Unterernährung, Wohnungselend usw. kennzeichnen die erschütternde Lage." (Klett I, S. 210) „In der Gesellschaft hatten sie (die Proletarier, d. Verf.) ihren Standort noch nicht gefunden: sie waren ohne Anteil und Einfluß in der Politik und am kulturellen Leben." (Schroedel III, S. 48) „Der Arbeiter sah sich ausgestoßen aus der Volksgemeinschaft und verachtet von Adel und Bürgertum." (Diesterweg VII, S. 99) Diese Mißstände und die Notwendigkeit, sie zu beseitigen, werden in allen Büchern mit dem Begriff der „Sozialen Frage" gefaßt. Der Schulbuchbegriff „Soziale Frage" meint also nicht die Lage der Arbeiter in der bürgerlichen Gesellschaft allgemein, sondern nur einer bestimmten historischen Situation, in der sie durch soziales Elend und gesellschaftliche Rechtlosigkeit gekennzeichnet waren. Der Begriff impliziert also, daß es möglich sei, innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft soziale Gerechtigkeit herzustellen, d. h. er impliziert seine Aufhebung durch den Begriff der „Sozialpartnerschaft". Die Lage der Arbeiter wird überwiegend mit moralisch-wertenden Kategorien beschrieben: „Erschütternde Lage" (Klett I, S. 2 1 0 ) , „verachtet", „ausgestoßen" (Diesterweg V I I , S. 9 9 ) , „Lage der Arbeiter trostlos" (Schroedel III, S. 4 6 ) . Solcher Art moralisierende Begriffe können zwar Gefühle wie Mitleid wecken, sind aber kaum geeignet, die rationale Erkenntnis der Ursachen dieser Mißstände zu fördern. Bertolt Brecht schrieb in ähnlichem Zusammenhang: „Auch der Zweck unserer Untersuchungen war es nicht lediglich, moralische Be70
denken gegen gewisse Zustände zu erregen . . . , Zweck unserer Untersuchungen war es, Mittel ausfindig zu machen, welche die betreffenden schwer ertragbaren Zustände beseitigen konnten. Wir sprachen nämlich nicht im Namen der Moral, sondern im Namen der Geschädigten." Einige Bücher allerdings versuchen, über die rein moralisierende Beschreibung der Mißstände hinaus zu einer Analyse ihrer Ursachen vorzustoßen; sie verwenden dabei für die Darstellung der frühindustriellen Zeit Begriffe, die z. T. der Marxschen Theorie entstammen. Ein Beispiel: „Für den frühen Kapitalismus war der Arbeiter, ob Mann, Frau oder Kind, welchen Alters auch immer, eine Ware; der Warenwert wurde allein vom Nutzen bestimmt, den der Unternehmer aus ihr ziehen konnte; die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft als Ware war hemmungslos und von keiner staatlichen, kirchlichen oder anderen Organisation gehindert; als Folge bildete sich ein großer Reichtum weniger und eine Armut der großen Masse; daraus entwickelte sich der Klassengegensatz von Ausbeutern und Ausgebeuteten, Herren und Sklaven." (Schroedel/Schöningh VII, S. 113; Hervorhebungen von uns) Die Verwendung marxistischer Begriffe ist freilich unsystematisch. Dies führt zu einer Reihe von immanenten Widersprüchen und Inkonsequenzen. So wird in einem Satz zuerst der Arbeiter selbst, dann seine Arbeitskraft als Ware bezeichnet, als ob beide identisch wären. Der Begriff der Ausbeutung wird mit dem Attribut „hemmungslos" verziert und damit in eine moralische Kategorie umgefälscht, während er in seiner ursprünglichen Verwendung bei Marx ein rein analytischer Begriff ist, der ein gesellschaftliches Verhältnis bezeichnet: die vom Kapitalisten gekaufte Arbeitskraft schafft einen größeren Wert, als der Arbeiter an Lohn erhält; die Differenz — den Mehrwert — eignet sich der Kapitalist an — dies eben heißt bei Marx „Ausbeutung". (Diese Aneignung wiederum wird von Marx nicht als „Unrecht" angesehen, sondern als ein nach den immanenten Gesetzen der kapitalistischen Produktionsweise zwangsläufiger Vorgang; die Beseitigung dieser Aneignung und damit der Ausbeutung ist also nicht durch „weniger hemmungsloses" Verhalten der Kapitalisten möglich, sondern allein durch die Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise!) Der Klassengegensatz wird in dem Zitat als eine „Folge" (!) von Vermögensunterschieden erklärt, während doch vielmehr umgekehrt der Klassengegensatz als der grundlegende Widerspruch gesellschaftlicher Interessen zu Erscheinungen wie Armut und Reichtum führt! Wie wollen die Schulbuchautoren ihre These mit der Tatsache vereinbaren, daß es Unterschiede zwischen Arm und Reich schon Jahrhunderte vor der kapitalistischen Produktionsweise gab, während der von ihnen benannte „Klassengegensatz" zwischen Unternehmern und Arbeitern erst im Kapitalismus entsteht? Schließlich wird der Begriff des „Sklaven" in die „Analyse" der kapitalistischen Gesellschaft einbezogen, womit jede Differenzierung von Gesellschaftsformen innerhalb der Menschheitsgeschichte verwischt wird. Sklaven hat es schon im Feudalismus nur noch als Ausnahmeerscheinung gegeben; und mit der Her123
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ausbildung des Kapitalismus wurde auch die Leibeigenschaft aufgehoben. Die kapitalistische Produktionsweise setzt gerade die Existenz doppelt freier (frei von persönlicher Abhängigkeit sowie frei von den Produktionsmitteln) Arbeiter voraus. Die Lohnarbeiter sind rechtlich frei: freie Eigentümer ihrer Ware Arbeitskraft, die sie als gleichberechtigte Vertragspartner dem Kapitalisten verkaufen. Beinahe alle Bücher, die wie das eben zitierte derart gesellschaftsanalytische Begriffe verwenden, tun dies bezeichnenderweise nur bei der Darstellung der Lage der Arbeiter im 19. Jahrhundert — für das 20. Jahrhundert werden diese Begriffe ohne nähere Begründung fallengelassen und durch andere ersetzt (s. u.). In den wenigen Fällen, in denen ein wissenschaftlicher Begriff später noch einmal aufgenommen wird, verwickeln sich die Autoren in allerlei Widersprüche. Dafür ein Beispiel: bei der Beschreibung der „Sozialen Frage" im 19. Jahrhundert definieren die Autoren eines Buches den Begriff „Proletariat": „Zu den Proletariern rechneten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Lohnarbeiter, die ihre Arbeitskraft fortlaufend verkaufen mußten, weil sie ihre einzige oder für die Lebenshaltung entscheidende Einkommensquelle war." (Schroedel III, S. 48) Bei der Beschreibung der Arbeitsverhältnisse in der B R D wird in demselben Buch behauptet: „Von einem Proletariat im Sinne des 19. Jahrhunderts kann heute nicht mehr die Rede sein." (Schroedel III, S. 104) Nun dürften die Autoren aber Schwierigkeiten haben, nachzuweisen, daß die Lohnarbeiter in der B R D ihre Arbeitskraft nicht mehr verkaufen müssen. Wenden wir also das vom Schulbuch selbst benannte Kriterium für Proletariat — fortlaufender Verkauf der Arbeitskraft, um den Lebensunterhalt zu fristen — auf die B R D an, so ist die Konsequenz nicht zu umgehen: es gibt auch heute noch ein Proletariat. Für vergangene Perioden wird also manches zugegeben. Handelt es sich jedoch um Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft, so scheuen die Schulbuchautoren selbst die offensichtlichsten Konsequenzen ihrer eigenen D e f i n i t i o n e n . Bei dem Versuch, die Ursachen für das soziale Elend der Arbeiter zu ergründen, greifen die meisten Bücher auf bestimmte Ideen der Menschen zurück: die herrschenden Prinzipien des Liberalismus hätten das Eingreifen des Staates in den wirtschaftlichen Prozeß verboten: „Die Anhänger des ,Freihandels' forderten wie Adam Smith den Verzicht des Staates auf alle wirtschaftspolitischen Eingriffe . . . Zugleich lehnten die Unternehmer jede Hilfe des Staates für die Arbeiter ab. So galt das freie Spiel der Kräfte nicht nur auf dem Güter-, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt . . . die Proletarier — ohne Besitz an Produktionsmitteln und sozial ungeschützt — mußten in diesem freien Kräftespiel den kapitalistischen Unternehmern unterliegen." (Schroedel/Schöningh IV, S. 140/141) „Der Liberalismus kannte keinen Schutz der wirtschaftlich Schwachen und wollte keine soziale Gesetzgebung." (Klett I, S. 210) Die Erklärung des materiellen Elends aus ideengeschichtlichen Ursachen legt die Vorstellung nahe, daß eine Beseitigung der Mißstände 125
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möglich wird, sobald man sich nur andere „Ideen" einfallen läßt — z. B. die „Soziale Marktwirtschaft" (s. u.). Nur in einigen der Bücher wird zumindest angedeutet, daß Entstehung und Dominanz der liberalen Ideen ihrerseits Ursachen hatten, die in konkreten wirtschaftlichen Interessen begründet waren (z. B. Schroedel/Schöningh V I I , S. 1 1 4 ; Klett I, S. 2 0 9 ) . Wie unzureichend aber auch eine scheinbar „kritische" Herleitung der „Sozialen Frage" durch das Benennen wirtschaftlicher Interessen in den Schulbüchern ist, läßt sich an folgendem Zitat aus einer Didaktik zeigen. Dort wird vom Lehrer gefordert, es solle „darauf hingewiesen werden, daß zweifellos das ungehemmte Gewinnstreben der Kapitalisten das hervorstechendste Kennzeichen frühkapitalistischer Wirtschaftsweise war . . . " (Schroedel/Schöningh V I I , S. 115)
Eine richtige analytische Feststellung „Das Gewinnstreben der Kapitalisten ist das hervorstechendste Kennzeichen kapitalistischer Wirtschaftsweise" wird hier durch zwei kleine, aber entscheidende Attribute verfälscht. Der Vorsatz „früh-" (zusammen mit der Vergangenheitsform des Verbums) suggeriert, daß die Feststellung nur für eine historische Ubergangsphase des Kapitalismus gültig sei — daß also z. B. für die heutige Phase des Kapitalismus das Gewinnstreben nicht mehr „hervorstechendstes Kennzeichen" sei, daß vielmehr, wie ein anderes Schulbuch behauptet, „das heutige Unternehmertum ... mit neuen Maßstäben in die Betriebe hinein(geht)" (Diesterweg V I I , S. 1 0 8 ) . In derselben Richtung verzerrend wirkt auch die Einfügung des Attributs „ungehemmt" — als ob die Gegenwart durch das „gehemmte" Gewinnstreben der Kapitalisten charakterisiert sei. Die Statistiken sprechen allerdings eine andere Sprache: während in der B R D die Nettoeinkommen aus unselbständiger Arbeit von 1965 bis 1969 um 22,7 % gestiegen sind, erhöhten sich im selben Zeitraum die Nettoeinkommen aus Unternehmertätigkeit (die Profite) und Vermögen um 2 8 , 9 % . Nach einer anderen U n t e r s u c h u n g über die „Verteilung des westdeutschen Nationaleinkommens nach seiner Umverteilung durch den Staatshaushalt" ergibt sich, daß der Anteil der Nettolöhne und -gehälter der Arbeiter und Angestellten an dem Nationaleinkommen von 1950 bis 1968 in etwa stagnierte, obwohl sich der Anteil der Arbeiter und Angestellten an der Gesamtbevölkerung vergrößert hat, während die Profite erheblich gestiegen sind: 1 2 6
Jahr
1950 1960 1968
Nettolöhne und -gehälter
36,8 36,2 36,4
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Profit der Kapitalistenklasse 44,3 51,8 53,9
Nettoeinkommen d. kleinen Warenproduzenten (einschl. mithelfender Familienangehörige) 18,9 12,0 9,7
(Nationaleinkommen insgesamt = 100) 73
Von „gehemmtem" Gewinnstreben der Unternehmer in der B R D kann also keine Rede sein (vgl. dazu auch Punkt 9 dieses Abschnitts). Der Blick auf die Statistik stützt vielmehr unsere Behauptung, daß das „ungehemmte Gewinnstreben" der Kapitalisten nicht nur Kennzeichen frühkapitalistischer Wirtschaftsweise ist, sondern Kennzeichen kapitalistischer Produktionsweise überhaupt. Wodurch sollte es auch gehemmt sein, da doch die „freie Unternehmerentscheidung" als das unantastbare Prinzip auch des gegenwärtigen Kapitalismus gilt. Das Gewinnstreben ergibt sich als logische Konsequenz aus den Gesetzmäßigkeiten dieser Produktionsweise: „Kapital muß sich vergrößern, es muß akkumuliert werden. Hierzu nötigt das Verhältnis der Konkurrenz, in dem die Unternehmungen zueinander s t e h e n . " Ungehemmtes Gewinnstreben ist also nicht, wie das Schulbuchzitat nahelegt, dem maßlosen und finsteren Charakter des Kapitalisten aus dem 19. Jahrhundert geschuldet, sondern entspringt einer anderen Eigenschaft des Kapitalisten — nämlich der, Kapitalist zu sein. Diese Eigenschaft ist nicht subjektiv, sondern objektiv — in der Struktur dieser Gesellschaft begründet, in der jeder Unternehmer bei Stfafe des Untergangs im Konkurrenzkampf zum Herauspressen des maximalen Profits genötigt ist. Eine für ein Verständnis der Geschichte extrem unbrauchbare Darstellung der Ursachen der „Sozialen Frage" findet sich im Klettschen „Grundriß der Geschichte". Das soziale Elend des englischen Proletariats wird hier dem subjektiven Unvermögen des Staates angelastet: 1 2 8
„Der Regierung fehlte es an sozialem Verständnis; sie sah nicht, daß sich hier zum ersten Male in der neueren Geschichte riesenhaft eine soziale Frage erhoben hatte." (Klett I, S. 2 1 0 )
Eine Seite weiter heißt es: „Gleichzeitig (mit der Entstehung der Gewerkschaften, d. Verf.) erwachte im liberalen und noch mehr im konservativen Bürgertum eine Bereitschaft zu sozialen Reformen." (Klett I, S. 211)
Geschichtliche Prozesse werden hier nicht aus gesellschaftlichen Zusammenhängen heraus begriffen, sondern aus dem „Verständnis" bzw. Unverständnis der Handelnden, meist Herrschenden „erklärt" (Personalisierung). Wenn die großen Probleme unserer Zeit dadurch gelöst werden, daß Ideen „erwachen", so darf wohl gefragt werden, wer oder was sie denn aus ihrem Schlummer geweckt hat und warum sie vorher überhaupt schliefen. Zu der Ansicht schließlich, der Staat sei eine neutrale Instanz, die über allen gesellschaftlichen Interessenkonflikten steht und soziale Auseinandersetzungen durch „Verständnis" zum Ausgleich bringen kann, wird an späterer Stelle noch das Nötige zu sagen sein. 129
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3. Erste Lösungsversuche der „Sozialen F r a g e "
Die „Soziale Frage" — das besagt schon sprachlich der Ausdruck „Frage" — impliziert, daß es Antworten, Lösungsmöglichkeiten gibt, durch die die Lage der Arbeiter grundlegend verändert werden kann. Als die ersten Versuche, die „Soziale Frage" ihrer Lösung näherzubringen, werden in allen Schulbüchern die sozialen Maßnahmen einzelner Unternehmer und der Kirche angeführt. Genannt werden meist Owen, Krupp, Harkort und andere als „sozial denkende Unternehmer" (Hirschgraben II, S. 8 9 ) und als Vertreter der Kirche Kolping, von Ketteier, Bodelschwingh und andere. Stets wird aber auch die Begrenztheit dieser Ansätze betont: „Die Einzelmaßnahmen der Kirchen und der Unternehmer konnten die soziale Not nicht beseitigen. Sie hatten auch oft den Charakter von Wohlfahrtsmaßnahmen, während die Arbeiter soziale Gerechtigkeit forderten." (Hirschgraben II, S. 89) „Doch konnten die damals geschaffenen sozialen Einrichtungen nur die unglücklichsten Opfer der gesellschaftlichen Not aufnehmen, nicht aber das Übel mit der Wurzel beseitigen." (Diesterweg VII, S. 100) Die Didaktik zu „Zeiten und Menschen" argumentiert ebenso, wenn sie den Lehrern als Unterrichtsziel empfiehlt: „Die Schüler sollen erkennen, daß den ersten Lösungsversuchen der sozialen Frage kein durchschlagender Erfolg beschieden sein konnte, weil das Problem nicht an seiner Wurzel angefaßt wurde." (Schroedel/Schöningh VII, S. 114) Die Schulbücher plädieren also — wie es scheint — dafür, nicht nur einzelne soziale Verbesserungen durchzuführen, sondern das Problem an der Wurzel zu packen und wirkliche soziale Gerechtigkeit durchzusetzen. Die Stellungnahmen der gleichen Schulbücher zur Gesellschaftsordnung der Gegenwart werden allerdings zeigen, daß dort die Autoren alles vergessen haben, was ihnen bei der Behandlung des 19. Jahrhunderts noch klar war. Die in den Zitaten enthaltene Aufforderung, das Übel an der Wurzel anzupacken (Wurzel = lat. radix), ist, beim Wort genommen, die Aufforderung, die Lage der Arbeiter „radikal" zu verändern. Eben dieser Begriff aber fungiert in den Schulbüchern als Bezeichnung für alles Negative, Destruktive und Antidemokratische, für Faschisten wie für Sozialisten/Kommunisten (darüber später). In der Didaktik wird das Beispiel der „sozial denkenden Unternehmer" genutzt, um zu beweisen, daß bei „vernünftiger" Haltung von Unternehmern und Arbeitern beide Gruppen nicht Gegner sein müssen, sondern Partner (Sozialpartnerschaftsvorstellung!) sein können: „Die Haltung dieser Männer bewies, daß Unternehmungen wirtschaftlich (d. h. mit Gewinn) arbeiten konnten, wenn sie den Arbeiter nicht ausbeuteten; die Arbeiter dieser Unternehmen bewiesen, daß sie bei Mitspracherecht, relativ vernünftiger Arbeitszeit und ,auskömmlichen' Löhnen keineswegs grundsätzliche Gegner eines Unternehmers, sondern durchaus bereit und fähig sind, in der Zusammenarbeit mit dem Unternehmer das Wohl des ganzen Betriebes zu sehen, weil davon ihr eigenes Wohl abhängig ist." (Schroedel/Schöningh VII, S. 115) 75
Erst genaues Lesen zeigt, welche Vorstellungen die Autoren dieses Schulbuches von einer humanen Gesellschaft haben: da ist von „Mitspracherecht" die Rede — nicht aber von Mitwirkung oder Mitbestimmung, geschweige denn von Selbstbestimmung der Arbeiter. Die Arbeitszeit soll nicht etwa vernünftig, sondern nur „relativ vernünftig" sein. Wer entscheidet darüber, was vernünftig ist? Und vernünftig für wen? Die Löhne sollen „auskömmlich" sein — wer mit seinem Lohn „auskommt", also Essen, Trinken und Wohnung hat, hat demnach zufrieden zu sein und kein Recht, weitere Forderungen zu stellen. Von sozialer Gerechtigkeit unter Beseitigung des Übels „an der Wurzel" ist, wenn die Gefahr der Aktualisierung dieser Prinzipien besteht, nicht mehr die Rede.
4. Die Entstehung der Arbeiterorganisationen
Die Zusammenballung der Arbeiter in Fabriken war eine entscheidende Bedingung dafür, daß sie sich selbst ihrer gemeinsamen Lage und also gemeinsamen Interessen in der bürgerlichen Gesellschaft bewußt werden konnten, daß sie also Klassenbewußtsein entwickelten. Die Entwicklung von Klassenbewußtsein hatte zur Folge und wurde gleichzeitig gefördert dadurch, daß die Arbeiter sich organisatorisch zusammenschlossen, um solidarisch die gemeinsamen Interessen gegen das Bürgertum wahrzunehmen. Im Laufe der geschichtlichen Auseinandersetzungen entwickelten sie zwei Formen der Organisation: zur Durchsetzung von wirtschaftlichen und sozialen Forderungen schlossen sie sich in Gewerkschaften zusammen; für die Organisierung ihrer auf die Gesamtgesellschaft bezogenen politischen Kämpfe bildeten sie Arbeiterparteien. 130
Die sich im 19. Jahrhundert vollziehende Entstehung der Arbeiterorganisationen wird auch in den Schulgeschichtsbüchern behandelt; die Autoren betrachten die Selbstorganisation der Arbeiter durchaus als wichtigen Beitrag zur Lösung der „Sozialen Frage". Insbesondere die Gewerkschaften und die stets im Zusammenhang mit ihnen dargestellten Genossenschaften werden durchweg positiv bewertet, da sie wirtschaftlich-soziale Zugeständnisse von den Unternehmern auf nicht-revolutionärem Wege erzwangen: „Durch einen friedlichen Wirtschaftskampf ihrer Organisationen, der Gewerkschaften (Trade unions) und Genossenschaften, verbesserten die Arbeiter (in England, d. Verf.) allmählich ihre Lage." (Klett I, S. 211) „Diejenigen (englischen, d. Verf.) Arbeiter aber, die in den Gewerkschaften nicht auf den Staatsumsturz, sondern auf die allmähliche Verbesserung der sozialen und politischen Verhältnisse abzielten, blieben am Ende dennoch erfolgreich." (Diesterweg II, S. 233) „Die Gewerkschaft vertritt die gemeinsamen Interessen der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern (vor allem Arbeitsbedingungen, Lohn, Arbeitszeit). Durch diesen Zusammenschluß wird die Stellung des einzelnen Arbeiters erheblich gestärkt." (Schroedel III, S. 51) 76
Das letzte Zitat besagt richtig, daß die Arbeiter „gemeinsame Interessen" haben, und zwar „gegenüber" den Unternehmern — Arbeiter und Unternehmer stehen folglich in einem Interessengegensatz. Daß sie von den Schulbuchautoren bei der Darstellung des 19. Jahrhunderts als Vertreter gegensätzlicher Interessen bezeichnet werden, im 20. Jahrhundert aber als „Sozialpartner", ist ein offensichtlicher Widerspruch sowohl innerhalb der Darstellung als auch zur bundesrepublikanischen Realität, denn die Arbeiter haben ja nach wie vor „gemeinsame Interessen . . . gegenüber den Arbeitgebern (vor allem Arbeitsbedingungen, Lohn, Arbeitszeit)". Ein zweiter Widerspruch bleibt ungeklärt: was bedeutet „friedlicher Wirtschaftskampf?" Wie kann Kampf friedlich sein? Insgesamt legen die Zitate den Schülern nahe: angemessen und erfolgreich ist allein eine solche Politik, die auf „allmähliche Verbesserung" zielt. Schon hier ist erkennbar, daß die kurz vorher formulierte These von der Notwendigkeit, das soziale Problem an der Wurzel zu packen und also grundlegend umzugestalten, für die reale Politik der Arbeiterbewegung keine Geltung haben darf. Was die Geschichte der Arbeiterparteien betrifft, so haben sich zwei politische Richtungen herausgebildet, auf die die Geschichtsbücher auch eingehen: Marxisten und Reformisten. Zum Verständnis der beiden Richtungen ein kurzer Blick auf deren Genese. Beiden Richtungen gemeinsam war zunächst die allgemeine Zielsetzung: sie kämpften sowohl für die Beseitigung aktueller sozialer und politischer Mißstände (zum Beispiel für die Behebung der Wohnungsnot, für höhere Löhne, für die Einführung des allgemeinen Wahlrechts) als auch für die Beseitigung des grundlegenden Widerspruchs der bürgerlichen Gesellschaft zwischen Lohnarbeit und Kapital, d.h. für eine sozialistische Gesellschaft. Umstritten war in der Arbeiterbewegung von Beginn an der Weg, auf dem das langfristige Ziel, der Sozialismus, erreicht werden sollte. Die eine Richtung, deren theoretische Grundlagen vor allem durch Karl Marx erarbeitet wurden, forderte die Überwindung des Kapitalismus durch die nationale und internationale Revolution der Arbeiterklasse. Die Marxisten lehnten (und lehnen) Reformen keineswegs ab, hielten sie auch nicht für unwesentlich, verwiesen aber darauf, daß durch Reformen stets nur Symptome des Kapitalismus kuriert, nicht aber die Ursachen der Mißstände beseitigt werden können. Zum Beispiel setzten sich die Marxisten seit jeher für Lohnerhöhungen ein; sie betonten dabei aber immer, daß das langfristige Ziel nicht stets aufs neue erkämpfte Lohnerhöhungen sein können, sondern nur die Abschaffung des Lohnsystems selbst (das, wie gezeigt, ein Ausbeutungsverhältnis b e i n h a l t e t ) . Kämpfe um die Durchsetzung tagespolitischer Forderungen wurden darum von den Marxisten zwar einerseits als unmittelbare Verbesserung der Lage der Arbeiter für notwendig gehalten, andererseits aber in der längerfristigen Perspektive als Mittel zur Stärkung der eigenen Bewegung auf dem Weg zum Sozialismus betrachtet. 1 3 1
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Dagegen behauptete die zweite Gruppe, daß durch Reformen innerhalb des Systems — zum Beispiel die Einführung des allgemeinen Wahlrechts (Lassalle) — die Lage der Arbeiter grundlegend verändert werden könne; diese Richtung wird als die reformistische bezeichnet. Das sozialistische Ziel, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, hielten die Reformisten allerdings zunächst noch aufrecht. Während im 19. Jahrhundert bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts hinein die marxistische Richtung in der internationalen Arbeiterbewegung die Führung innehatte, erstarkte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg der Reformismus zusehends. Die Auseinandersetzungen zwischen beiden Richtungen und insbesondere die Zustimmung der Reformisten zu den Kriegskrediten 1 9 1 4 führte bis zum Beginn der 20er Jahre zur organisatorischen Spaltung der Arbeiterbewegung: die sozialdemokratischen Parteien verfochten weiter die These von der Reformierung des Kapitalismus und waren in der Praxis, zum Beispiel in Deutschland, sogar bereit, das sozialistische Ziel aufzugeben, um im Bündnis mit bürgerlichen Parteien an der Regierung beteiligt zu werden. Die Mehrheit der marxistisch orientierten Arbeiter sammelte sich in den nach 1918 neu entstandenen kommunistischen Parteien. Diese hier skizzierte Herausbildung der beiden Hauptrichtungen der Arbeiterbewegung wird als Faktum auch in den Schulbüchern erwähnt. Die Spaltung der Arbeiterbewegung in zwei Richtungen, insbesondere das Erstarken des Reformismus bis zum Ersten Weltkrieg, wird allerdings nicht aus der politischen und ökonomischen Entwicklung in Deutschland a b g e l e i t e t , sondern statt dessen in einigen Büchern personalisierend erklärt, nämlich mit den verschiedenen „Denkweisen" der Führer der Arbeiterparteien (Marx, Bebel, Liebknecht, Lassalle). Ein extremes Beispiel für derartige Personalisierung liefert einmal mehr der Klettsche „Grundriß der Geschichte": „Offensichtlich lebten in Marx selbst zwei Seelen: eine wissenschaftlich-evolutionistische, die abzuwarten mahnte, und eine agitatorisch-revolutionäre, die schon 1871 — mit der Pariser Kommune — den Anbruch der sozialistischen Weltordnung erhoffte. So konnten später zwei verschiedene Richtungen des Marxismus entstehen: Sozialdemokratie und Kommunismus." (Klett II, S. 60) Hier wird also die Ursache der Spaltung der Arbeiterbewegung in das Seelenleben von Marx selbst verlegt. Andere Bücher erklären das Erstarken des Reformismus dadurch, daß dieser — im Gegensatz zu den angeblich wirklichkeitsfremden Marxisten — eine realistische Einschätzung der Wirklichkeit entwickelt habe: Die Entwicklung der SPD „zur stärksten Partei des Reiches war innerparteilich mit zahlreichen Richtungskämpfen verbunden, die an den ursprünglichen Gegensatz von Marx und Lassalle erinnerten. Während die ,Revisionisten' unter Führung Eduard Bernsteins die Marxschen Theorien mit der tatsächlichen Lage verglichen, hielten Bebel, Kautsky und Rosa Luxemburg an den Lehren von Karl Marx fest und erstrebten den radikalen Umsturz in einer proletarischen Revolution. Den Revisionisten erschienen jedoch wie den Freien Gewerkschaften praktische Teilerfolge wichtiger als eine illusionäre chiliastische Heilserwartung." (Schroedel/Schöningh II, S. 62) 133
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Hier werden also die Reformisten, die um „praktische Teilerfolge" kämpften, den Marxisten gegenübergestellt, die vor lauter idealistischen Hirngespinsten den Blick für die Wirklichkeit längst verloren hätten. Den Marxisten wird damit fälschlich unterstellt, sie seien, in Heilserwartung erstarrt, gar nicht mehr zur Praxis vorgestoßen und hätten „praktische Teilerfolge" abgelehnt. Derartige Geschichtsverzerrungen dienen dazu, die Parteinahme der Schulbuchautoren für die reformistische Richtung der Arbeiterbewegung begründen zu können. Die sozialistische („radikale") Perspektive wird denunziert, weil ihre Verwirklichung die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft aufheben würde; „Teilerfolge" gelten als zulässig, solange sie Verbesserungen innerhalb der bestehenden Gesellschaft erreichen und diese selbst nicht in Frage stellen. Vom Anpacken der „Sozialen Frage" an der Wurzel ist jetzt nicht mehr die Rede. Daß überhaupt eine so abwegige Richtung wie der Marxismus in der Arbeiterschaft Anhang gewinnen konnte, bedarf allerdings einer Erklärung. Die Geschichtsbücher meinen: „Es war ein Verhängnis für das liberale Bürgertum, daß es seine politischen Anschauungen mit sozialer Rückständigkeit verband. Nur auf diesem Hintergrund ist zu verstehen, daß . . . in Deutschland . . . eine große ,marxistische' Arbeiterpartei entstand, in der sich der Gedanke des Klassenkampfes durchsetzte." (Klett II, S. 55) „Der Arbeiter sah sich ausgestoßen aus der Volksgemeinschaft und verachtet von Adel und Bürgertum. Es ist darum nicht zu verwundern, daß er in eine Kampfstellung gegenüber anderen Gesellschaftsschichten und dem von diesen getragenen Staat trat." (Diesterweg V I I , S. 9 9 )
Hinter der ersten Variante steht die Auffassung, daß der Revolutionsgedanke im allgemeinen und der Marxismus im besonderen nur dann eine Massenbasis findet, wenn wirtschaftliche Not das Volk am bestehenden System zweifeln läßt. Diese Ansicht durchzieht die Darstellung der gesamten Geschichte der Arbeiterbewegung, von der Russischen Revolution („Die soziale Lage dieser ,Proletarier' war schlecht. Revolutionäre Wortführer fanden bei ihnen viel Anklang." Schroedel/ Schöningh V, S. 7) über die Weimarer Republik („Die wirtschaftliche Notlage radikalisierte die Wählerschaft." Schroedel/Schöningh V, S. 113) bis zur B R D („Der steigende Lebensstandard bei Vollbeschäftigung hat dem Klassenkampfgedanken weithin den Boden entzogen." Schroedel III, S. 1 0 3 ) . Aus der Tatsache, daß ökonomische Krisen die Bereitschaft der Massen zu grundlegenden gesellschaftlichen Änderungen verstärken, indem sie nämlich die Widersprüche des bestehenden Systems in verschärftem Ausmaß erfahrbar machen, ziehen die Schulbuchautoren den falschen Schluß, daß der Marxismus grundsätzlich nur bei Arbeitslosen und Hungerleidern Anklang fände — was falsch und empirisch widerlegbar ist. Die zweite Variante erklärt den Marxismus zur Haltung der Ausgestoßenen. Da wäre freilich zu fragen, weshalb nicht Zigeuner, Landstreicher und Obdachlose seine vehementesten Vertreter sind. Mit der Darstellung der beiden Hauptrichtungen der Arbeiterbewe79
gung ist für die Schulbücher die weitere Behandlung der „Sozialen Frage" vorstrukturiert. Diese steht nämlich unter der übergreifenden Frage, welche der beiden Richtungen „Recht hat": ist es möglich, die „Soziale Frage" innerhalb des bestehenden Systems zu lösen oder muß eine sozialistische Umwälzung stattfinden?
5. Bismarck — m i t Z u c k e r b r o t und Peitsche
Für die Entwicklung in Deutschland war es nach Ansicht der Geschichtsbuchautoren von zentraler Bedeutung, daß der Staat die ihm von der liberalen Wirtschaftsauffassung diktierte passive Rolle im Wirtschaftsablauf aufgab und sich statt dessen „durch direkte soziale Maßnahmen" (Hirschgraben II, S. 6 3 ) der „wirtschaftlich Schwachen" (ebenda) annahm. Der erste Staatsmann, der auf diese Weise staatliche Sozialpolitik betrieb, war Bismarck: „Bismarck erkannte, daß der Arbeiter ein wichtiges und wertvolles Glied im Staate geworden war, dem vom Staat geholfen werden müsse." (Diesterweg V I I , S. 103)
Die unter Bismarck und seinen Nachfolgern bis zum Ersten Weltkrieg durchgeführten ersten Maßnahmen der Sozialversicherung werden in den Schulbüchern detailliert beschrieben. Dabei erweckt die Darstellung in den meisten Büchern den Eindruck, als wäre die Sozialpolitik das Produkt eines plötzlich erwachenden „sozialen Gewissens" einzelner Politiker (vgl. oben: „Bismarck erkannte . . . " ) und Unternehmer. Unterschlagen wird durch eine solche Darstellung, daß die sozialen Verbesserungen von der Arbeiterbewegung in harten Auseinandersetzungen erkämpft worden sind, daß zum Beispiel Bismarck die Sozialgesetzgebung genau zu dem Zweck durchführen ließ, um die immer stärker werdende Arbeiterbewegung zu befrieden und von weiteren Kämpfen abzuhalten. Nur einige der Schulbücher geben für die Zeit des Kaiserreiches zu, daß die Besserstellung der Arbeiter von ihnen selbst und ihren Organisationen erkämpft werden mußte; zum Beispiel: „Das Sozialistengesetz hatte . . . die Arbeiter in eine erbitterte Ablehnung des Bismarck-Reiches getrieben. Bismarck kannte diese Haltung der Arbeiterschaft und versuchte ihr ab 1881 . . . durch materielles Entgegenkommen zu begegnen." (Schroedel/Schöningh II, S. 6 2 )
Bei der Darstellung von Weimarer Republik und B R D aber unterschlagen die Schulgeschichtsbücher fast durchweg, daß die in dieser Zeit eingeführten sozialen Maßnahmen — wie z. B. Einführung der 5-Tage-Woche, Gewährung von bezahltem Urlaub usw. — Stück für Stück in zähen und langwierigen Auseinandersetzungen zwischen Arbeiterorganisationen und Unternehmern durchgesetzt werden mußten. Damit erscheinen die bürgerliche Klasse und ihr Staat als die handelnden Subjekte, die Masse der Bevölkerung dagegen als bloßes Objekt der Geschichte. Daß trotz der als „ungeheure Leistung Bismarcks und eine große so80
ziale T a t " (Klett II, S. 6 2 ) angepriesenen Sozialpolitik das damit verfolgte Ziel — die Integration der Arbeiter in die bürgerliche Gesellschaft — nicht erreicht wurde, lasten die Schulbuchautoren dem autoritären Regierungsstil Bismarcks, insbesondere dem Sozialistengesetz an: Da die „Soziale Frage" aus zwei Elementen bestanden habe, nämlich der Beseitigung der sozialen Not und der gesellschaftlichen Rechtlosigkeit, habe Bismarck sie nicht lösen können. Er habe zwar eine für die damalige Zeit vorbildliche Sozialgesetzgebung („Zuckerbrot") geschaffen, den Arbeitern aber die politischen Bürgerrechte verweigert und sie sogar unterdrückt, indem er mit dem Sozialistengesetz ihre Organisierung zu unterbinden suchte („Peitsche"): „Mit der Sozialversicherung war Deutschland der übrigen Welt um eine Generation voraus . . . Bezeichnend für die deutschen Verhältnisse aber war, daß diese Sozialversicherung nicht nach dem englischen Grundsatz der Selbsthilfe, sondern nach dem des Obrigkeitsstaates organisiert war: Staat und Bürokratie entwarfen das Werk, leisteten Beihilfe, behielten die obrigkeitliche Leitung. Gleichzeitig erweiterten sie ihre Autorität und verfolgten die selbständige Arbeiterbewegung." (Klett II, S. 62) „Die vom Reich vor dem Ersten Weltkrieg verfolgte Sozialpolitik hatte zu jener Zeit keine Parallele in irgendeinem Industriestaat der Welt. Dennoch erreichte sie nicht ihr Ziel, den deutschen Arbeiter mit seinem Staat zu versöhnen und seine Klasse in das gesellschaftliche Gefüge des Kaiserreiches einzuschmelzen. Das volle Koalitionsrecht wurde ihr versagt; in Preußen und Sachsen war der ihr zustehende Anteil am politischen Gestalten durch das Dreiklassenwahlrecht verwehrt; die Bildungschancen der Arbeiterklasse und damit ihre Aufstiegsmöglichkeiten waren gering . . . " (Schroedel/Schöningh III, S. 63) Der Arbeiter konnte also im Kaiserreich — trotz des konstatierten Mangels an Demokratie — „seinen Staat" erblicken. Das Kaiserreich als Arbeiterstaat, das ist in der Tat eine originelle Geschichtsauffassung. Zugrunde liegt offenbar die Ansicht, daß der Arbeiter sich mit dem jeweils bestehenden Staat zu identifizieren habe. Diese autoritäre Staatsauffassung kann ihre Verwandtschaft mit der faschistischen nicht v e r l e u g n e n ! Als Maßstab der Kritik des deutschen Obrigkeitsstaates dient in den Schulbüchern die parlamentarische Demokratie; da hier Koalitionsrecht, allgemeines Wahlrecht und — nach Meinung der Schulbuchautoren — offenbar auch „Bildungschancen der Arbeiterklasse" gegeben sind, hätte ein solches System die Forderungen der Arbeiter also erfüllt. Daß „die Bildungschancen der Arbeiterklasse und damit ihre Aufstiegschancen" in der bundesrepublikanischen Realität nach wie vor sehr gering sind, wird in den Geschichtsbüchern allerdings unterschlagen (einzige Ausnahme: Diesterweg V I , S. 2 5 2 ) . Die Vergangenheitsform des Verbs („war") suggeriert vielmehr das Gegenteil. Urs Jaeggi stellte dagegen 1969 mit Recht fest: „Am negativen Bildungsprivileg der unteren Schichten besteht kein Zweifel: sowohl bei den Abiturienten als auch bei den Studenten sind die Arbeiterkinder mit 5 bis 7 Prozent, gemessen an dem Arbeiteranteil der Bevölkerung, stark Und noch im Jahre 1973 beträgt unterproportional v e r t r e t e n . " 134
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nach einer von der GEW veröffentlichen Statistik der Anteil der Arbeiterkinder an den Studenten in der B R D nur 5,2 Prozent, obwohl die Arbeiter 4 9 , 8 Prozent der Gesamtbevölkerung a u s m a c h e n ! 136
6. Die „ L ö s u n g " der „Sozialen F r a g e " von der Weimarer R e p u b l i k bis zur B R D
Die Maßnahmen zur Lösung der „Sozialen Frage" in der Weimarer Republik werden in den Schulbüchern als Ausweitung der im Kaiserreich betriebenen Politik angesehen. Betont wird die Einführung der parlamentarischen Demokratie durch die Verfassung der Republik (vgl. auch den Abschnitt über den Untergang der Weimarer Republik in diesem Buch), aber auch die Fortführung und Weiterentwicklung sozialpolitischer Maßnahmen: „Über das Kaisserreich hinausgehend, fühlte sich die Politik der Republik für alle Lebensbereiche des Menschen sozial verantwortlich; das zeigte sich vor allem darin, daß die Sozialpolitik sich nicht allein auf den Arbeits-, sondern auch auf den Lebensraum des arbeitenden Menschen erstreckte . . . " (Schroedel/ Schöningh VIII, S. 88) „Gewachsen war der Einfluß der Funktionäre der großen Interessenvertretungen, der Gewerkschaften und der Industriellenverbände . . . Die Gewerkschaften konnten für die Arbeiter eine gewisse Anpassung der Löhne an die steigende Produktivität erreichen . . . Der Staat war bemüht, den Wirtschaftsaufschwung zugunsten breiterer Kreise des Volkes auszunutzen . . . Lohn und Arbeitsbedingungen verbesserten sich." (Schroedel/Schöningh II, S. 110—112) Die auch für die B R D angewandte formale Gleichsetzung von Gewerkschaften und Industriellenverbänden als „große Interessenvertretungen" verschleiert die Tatsache, daß die „Größe" der beiden Gruppen von sehr unterschiedlicher Qualität war und ist. Die Gewerkschaften vertraten die Interessen der großen Mehrheit der abhängig arbeitenden Menschen (über 70 Prozent der Bevölkerung waren lohnabhängig; heute sind es über 80 P r o z e n t ) . Allein die Mitgliederzahl des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) betrug 1971 über 6,8 MilDie Unternehmerverbände dagegen repräsentieren eine lionen. winzige Minderheit der Gesamtbevölkerung ( 1 9 6 8 besaßen 1,7 Prozent aller Haushalte der B R D 70 Prozent des Betriebs- und Kapitalverm ö g e n s ) ; ihre Macht („Größe") beruht auf den gewaltigen wirtschaftlichen und damit auch politischen Mitteln, die sich in den Händen der Großindustrie konzentrieren. Die Losung „Millionen gegen Millionäre" kommt daher den realen Machtverhältnissen in der B R D sehr viel näher als die nichtssagende bzw. die Realität verschleiernde Formel von den „großen Interessenvertretungen". Dies war im Prinzip auch in der Weimarer Republik schon der Fall. Im Kern war also nach Auffassung der Schulbücher die Lösung der „Sozialen Frage" in der Weimarer Republik bereits angelegt; die „Sozialpartnerschaft" von Lohnarbeit und Kapital war hier schon ansatzweise verwirklicht. Aber: 1 3 7
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„Trotz aller Bemühungen der Weimarer Republik konnte die soziale Frage nicht befriedigend gelöst werden . . . " (Schroedel/Schöningh VIII, S. 89) Als Gründe dafür werden zum einen der Mangel an „demokratischem Denken" (vgl. auch das Kapitel über den Untergang der Weimarer Republik), vor allem aber die Hilflosigkeit gegenüber dem Phänomen der Arbeitslosigkeit angeführt: „Die Zahl der Arbeitslosen nahm von 1925 — 1933 zu. Daraus erklärt sich auch die Zunahme der KPD-Stimmen." (Schroedel/Schöningh VIII, S. 89) Die der Weimarer Republik nachfolgende Epoche, die nationalsozialistische Diktatur, brachte nach Ansicht der Schulbuchautoren die schon recht weit fortgeschrittene Lösung der „Sozialen Frage" zeitweilig zum Stillstand bzw. warf sie sogar wieder zurück. Zwar führte auch Hitler einige sozialpolitische Maßnahmen durch (Wohnungsbau, Reisen, Teilnahme der Arbeiter am „kulturellen Leben" usw.), doch bedeuteten die Zerschlagung der Gewerkschaftsorganisationen, die Abschaffung des Streikrechts, die Aufhebung der Freizügigkeit u. a. einen gesellschaftspolitischen Rückschlag für die Arbeiter: „Trotz KdF und aller Reden von der ,Würde der Arbeit' fiel der Arbeiter auf den Stand zurück, den er überwunden zu haben glaubte: über ,Arbeitseinsatz' und Dienstpflicht wurde er Objekt der staatlichen Planungen . . . " (Schroedel/ Schöningh VIII, S. 119/120) Diese im Vergleich zum Durchschnitt der Schulbücher kritische Einschätzung der Lage der Arbeiter während des Nationalsozialismus wird selbst wieder unkritisch, weil die Autoren es dann später unterlassen, darauf hinzuweisen, daß mit den bundesrepublikanischen Notstandsgesetzen eine neue juristische Handhabe gegeben ist, mittels „Arbeitseinsatz" und „Dienstpflicht" den Arbeiter wieder zum „Objekt der staatlichen Planungen" zu machen. Die Kriterien für „Spannungszeiten" und „Verteidigungsfälle", in denen die Notstandsgesetze angewendet werden sollen, sind so weit gefaßt, daß ein ähnliches „Zurückfallen" (s. o.) der Arbeiter in der B R D zwar noch nicht Realität, aber immerhin eine dauernde latente Gefahr für die arbeitende Bevölkerung i s t . 1 4 0
Nachdem die nationalsozialistische Herrschaft abgehandelt ist, kommen die Schulbuchautoren sämtlich zu der Epoche, in der sie die Endlösung der „Sozialen Frage" als erreicht ansehen: zur Bundesrepublik Deutschland. Zwar gestehen die Autoren durchaus zu, daß es in der B R D noch ungelöste soziale Probleme gibt — z. B. die Bildungspolitik (vgl. Schroedel/Schöningh V I I I , S. 1 9 4 ) , das Gastarbeiterproblem (vgl. Schroedel III, S. 1 0 5 ) , die Vermögensverteilung (vgl. Schroedel/ Schöningh V I I I , S. 1 9 4 ) , u. a. m. — doch die grundsätzliche Problematik der „Arbeiterfrage" (Schroedel III, S. 1 0 3 ) sehen sie durch das behauptete hohe Ausmaß an politischer Demokratie sowie durch die Einführung der „Sozialen Marktwirtschaft" als erledigt an: „Abschließend muß man feststellen, daß es in den westlichen Ländern eine soziale Frage im Sinne von Marx und Engels nicht mehr gibt." (Diesterweg VII, S. 109) Hier wird also nicht nur behauptet, die „Soziale Frage" sei in der 83
B R D gelöst, sondern es werden als Zeugen für diese Behauptung sogar noch Marx und Engels herangezogen. Marx und Engels als (unbewußte) Vorkämpfer der „Sozialen Marktwirtschaft" — eine einzigartige Verdrehung, die ihren Sinn nur darin haben kann, dem Schüler weiszumachen, der Marxismus sei inzwischen völlig überholt. Im übrigen zu der angeblich nicht mehr existenten „Sozialen Frage" „in den westlichen Ländern" ein paar dürre Fakten: in den USA beträgt die Arbeitslosigkeit seit 20 Jahren zwischen 4 und 6 Millionen, von den elenden Lebensbedingungen der Farbigen ganz zu schweigen; in England, Italien, Kanada und anderen kapitalistischen Ländern gibt es je etwa 1 Million Arbeitslose; in Griechenland, der Türkei, Süditalien, Lateinamerika leben die Massen physisch wie geistig verelendet. Von alledem haben die Schulbuchautoren offenbar noch nichts vernommen. Einige Bücher stimmen einen emphatischen Lobgesang auf die „Soziale Marktwirtschaft" an: „Der sozialen Marktwirtschaft . . . ist der wirtschaftliche Wiederaufbau der BRD zu verdanken. Diese Wirtschaftsform wird heute von allen Parteien grundsätzlich bejaht und ist ein Kompromiß zwischen ihnen. Sie schuf einen Spielraum, in dem sich die Phantasie und Tatkraft der Unternehmer und der Leistungswille und die Fähigkeiten der Arbeitnehmer treffen und auseinandersetzen konnten." (Klett VI, S. 184) Die „Soziale Marktwirtschaft" „unterscheidet sich von der liberalen Wirtschaft alter Prägung dadurch, daß sie im freien Spiel der Kräfte Schutz für den wirtschaftlich Schwachen bieten will . . . So hat die soziale Marktwirtschaft die Vorteile der früheren Marktwirtschaft übernommen, ist aber bestrebt, ihre Nachteile zu vermeiden." (Hirschgraben II, S. 62/63) Das Idealbild ist also: Kapital und Arbeiterklasse sind „Sozialpartner"; der Staat ist die unparteiische Instanz über beiden, der „den wirtschaftlich Schwachen" schützt und Konflikte zwischen den „Partnern" schlichtet. Dieses harmonische Dreigestirn führt die Arbeiter nach Auffassung einiger S c h u l b u c h a u t o r e n in ein wahres Paradies: „Die Arbeiterschaft . . . hat die rechtliche und soziale Gleichstellung endgültig errungen. Der steigende Lebensstandard bei Vollbeschäftigung hat dem Klassenkampfgedanken weithin den Boden entzogen, und die Sozialversicherung gibt gegenüber den Wechselfällen des Lebens Schutz. Der Lohn des einzelnen . . . übersteigt durchweg das Existenzminimum, und die Arbeitszeit ist auf ein gesundes Maß gesunken . . . So sind dem Arbeitnehmer seine wesentlichen Forderungen erfüllt worden: Koalitionsrecht, Streikrecht, Versicherungsschutz, Mitsprache im Betrieb, starke Gewerkschaften, bezahlter Urlaub, gute Arbeits- und bessere Lebensbedingungen." (Schroedel III, S. 103/104; Hervorhebungen von uns) Auch hier zeigt erst genaues Lesen die Position der Schulbuchautoren. Die Gleichstellung der Arbeiter wird als „endgültig" bezeichnet — was nur heißen kann, daß weitere Forderungen überflüssig, maßlos und unzulässig sind. Die Arbeitszeit sei auf ein „gesundes Maß" gesunken. Weitere Senkungen der Arbeitszeit sind also „ungesund". Ungesund für die Arbeiter? Oder nicht vielmehr ungesund für die Profitra141
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te der Unternehmer? Die Forderungen nach Koalitionsrecht und Streikrecht seien „erfüllt". Tatsächlich sind diese Rechte durch partiell reaktionäre Gesetze wie das Betriebsverfassungsgesetz und durch die durchgängig reaktionäre Rechtsprechung der Arbeitsgerichte wesentlich eingeschränkt und selbst in dieser eingeschränkten Form vor allem durch die Notstandsgesetze permanent bedroht. Weiter behaupten die Verfasser, die Arbeiter hätten „Mitsprache im Betrieb" erreicht. Diese Behauptung ist ein Hohn, wenn man bedenkt, wie heftig die Unternehmer die Mitbestimmungsforderungen der Gewerkschaften abweisen. Die Schulbuchautoren sind also der gleichen Meinung wie die Unternehmer: eine weitere Einschränkung der „freien Unternehmerentscheidung" sei abzulehnen, hier habe Demokratie ihre Grenze. Führende Wirtschaftszeitungen sprechen die Unternehmerposition offen aus, wenn sie behaupten, Betriebe könnten ebensowenig demokratisiert werden wie Zuchthäuser und Kasernen. Welches Demokratieverständnis also haben die Unternehmer und die Autoren dieses Schulbuchzitats? Die „guten Arbeitsbedingungen" schließlich sind bestenfalls Postulat, nicht aber Realität. Die steigende Zahl der physischen und psychischen sogenannten Abnutzungskrankheiten in unserer „Leistungsgesellschaft" stehen in offensichtlichem Widerspruch zu dieser Schulbuchthese. „In der nüchternen Sprache der Statistik sieht das so aus: von 100 Sozialrentnern müssen 34 Rente beziehen, obwohl sie noch im arbeitsfähigen Alter stehen. Im Durchschnitt sind heutzutage die Arbeiter und Angestellten mit 55 Jahren — also zehn Jahre vor der gesetzlichen Altersgrenze — invalid. 78 847 Bergarbeiter erkrankten zwischen 1946 und 1 9 6 4 an Silikose, und 3 4 6 8 Bergleute mußten an dieser Krankheit sterben. Die Zahl der angezeigten Arbeits- und Wegeunfälle sowie der Berufskrankheiten beläuft sich bereits auf 3 Millionen pro Jahr. Sie kosteten seit 1 9 5 0 rund 128 0 0 0 Arbeiter und Angestellte das L e b e n . " 142
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Doch zurück zur Darstellung der Schulbücher. Daß sie die „Soziale Frage" in der B R D als gelöst ansehen, schlägt sich auch in den verwendeten Begriffen nieder: „Wie bezeichnet man die Kapitalisten heute? Unternehmer, Arbeitgeber, Sozialpartner'." (Klett VIII, S. 21, „Handreichungen für den Lehrer"!) Wenn das keine Indoktrination ist . . . „Die Klassengesellschaft der Zeit des Hochkapitalismus wird heute als eine Ubergangserscheinung angesehen, die das Auseinanderklaffen der Gesellschaft in zwei Gruppen aufweist, die durch Kapital und Arbeit, durch großen Reichtum und Ungesichertsein (Proletariat) bestimmt sind und einander feindlich gegenüberstehen." (Schroedel III, S. 109, Hervorhebungen von uns) Davon die auch (ebenda) S. 106) schaft.
abgesetzt wird die „moderne Industriegesellschaft" (ebenda), als „Wohlstandsgesellschaft" (ebenda), „Massengesellschaft" oder als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft" (Schroedel III, bezeichnet wird — nur eben nicht mehr als Klassengesell85
Nach dieser begrifflichen „Abschaffung" der Klassengegensätze durch die Schulbuchautoren muß in ihren Augen die Funktion der SPD als Arbeiterpartei überflüssig werden. Darum begrüßen alle Geschichtsbücher das Godesberger Programm, mit dem die deutsche Sozialdemokratie die Klassenkampfgedanken endgültig zu den Akten gelegt habe: Die SPD „hatte inzwischen mit ihrem Godesberger Programm ( 1 9 5 9 ) den Weg zu einer Volkspartei eingeschlagen, weg von marxistisch ideologischer Enge, und damit die Konsequenzen gezogen aus dem Verhalten der deutschen Wähler, deren Mehrheit sie nicht für ein marxistisches Programm hatte gewinnen können." (Klett II, S. 2 4 2 ) „Seit die SPD die Reste marxistischen Gedankengutes mit dem ,Godesberger Programm' ( 1 9 6 0 ) aufgegeben hatte, gelang es ihr, ihren Stimmenanteil zu vergrößern." (Schroedel/Schöningh V, S. 2 3 5 / 2 3 6 )
7. Die „Soziale Frage" im „Bolschewismus"
Während also die Geschichtsbücher einerseits an Hand der Geschichte der deutschen Arbeiter die schrittweise und heute angeblich ganz vollzogene Lösung der „Sozialen Frage" in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern zu zeigen versuchen, wollen sie andererseits durch die Darstellung der Geschichte und Gesellschaftsstruktur der bestehenden sozialistischen Länder beweisen, daß der dort beschrittene Weg — die „radikale sozialistische Lösung" (Diesterweg V I I , S. 1 0 4 ) — keine positive Lösung der „Arbeiterfrage" bietet. Die soziale Lage der Arbeiter in den sozialistischen Ländern sei systembedingt schlechter als in den westlichen Staaten; hinzu komme der „Verlust der Freiheit" (Hirschgraben II, S. 6 4 ) auf politischem Gebiet. Die Schulbücher entwerfen ein wahres Schreckensbild „bolschewistischer Wirklichkeit" (Schroedel/Schöningh V I I I , S. 6 6 ) . Die materielle Lage der Arbeiter und Bauern besonders in der Sowjetunion wird in den meisten Schulbüchern als hart und entbehrungsreich geschildert: „Die Arbeitslosigkeit wurde beseitigt, aber der Arbeiter in der U d S S R erlitt viel größere materielle Entbehrungen als der Arbeitslose in manchen ,kapitalistischen' Ländern . . . " (Klett I X , S . 2 8 ) „An die Stelle der Brüderlichkeit des internationalen Proletariats trat der nationale russische Machtstaat, für dessen Größe auch die russischen Bauern und Arbeiter durch Konsumverzicht Jahrzehnte währende Opfer zu bringen hatten . . . " (Schroedel/Schöningh V I I I , S . 6 6 )
Die Frage, zu welchem Zweck und in wessen langfristigem Interesse dieser „Konsumverzicht" in den sozialistischen Ländern geleistet worden i s t , wird entweder gar nicht gestellt oder aber mit plumper Geschichtsfälschung beantwortet. Für letzteres ein Beispiel: 1 4 4
„Von Anfang an dienten Wirtschafts- und Militärpolitik in erster Linie der Macht des Staates, d. h. der den Staat beherrschenden einen Partei, an deren Spitze ein Mann mit einer durch Terror abgesicherten unumschränkten Macht stand (Lenin, später Stalin) . . . " (Schroedel/Schöningh V I I I , S. 6 6 )
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Die Verfasser dieses Zitats dürften schwerlich Beweise für ihre Behauptung liefern können, daß die beschleunigte Industrialisierung der Sowjetunion allein im persönlichen Interesse Lenins und Stalins durchgeführt wurde und den Massen keine Verbesserungen brachte. Zumindest die neuesten Ausgaben der Schulbücher vermerken, daß die materielle Versorgung der Bevölkerung in den letzten Jahren kontinuierlich besser geworden ist. Um dennoch weiterhin die pauschale Denunzierung des Sozialismus aufrechterhalten zu können, behaupten daher einige Schulbücher, daß die materielle Lage ohnehin nicht so wichtig sei; es komme vielmehr auf die mangelnde „Freiheit" an: „Die wichtigste Frage bei der Beurteilung der Zentralverwaltungswirtschaft ist jedoch nicht die nach der Produktion. Vielmehr war und ist der Kommunismus . . . mit dem totalitären Staat verknüpft, der keine Grundrechte, keine freien Wahlen, keine Gewaltenteilung kennt. Solange die staatlichen und die wirtschaftlichen Aufgaben in einer Hand liegen, ist in der Zentralverwaltungswirtschaft keine politische Freiheit für den einzelnen möglich." (Klett V I , S. 182)
Einmal abgesehen von der Tatsache, daß hier ganz einfach Lügen in die Darstellung einfließen (daß es in den sozialistischen Ländern „keine Grundrechte" g ä b e ) , wird auch deutlich, an welchen Maßstäben die vielberufene „Freiheit" des einzelnen gemessen wird: z. B. an der Existenz der Gewaltenteilung. Diese aber ist ein Prinzip, das mit der bürgerlichen Gesellschaft entstanden ist und eines der wichtigsten Elemente bürgerlicher Demokratie darstellt; ein Prinzip, dessen einstige historisch progressive Funktion verlorenging und das heute nur noch als ein Absicherungs- und Verschleierungsinstrument der bürgerlichen Klassenherrschaft gelten kann (s. o.). Die sozialistische Arbeiterbewegung hat sich gerade zum Ziel gesetzt, die Gewaltenteilung wie überhaupt die für die bürgerliche Gesellschaft konstitutive Trennung von Staat und Gesellschaft aufzuheben durch die möglichst direkte Interessenvertretung nach dem R ä t e p r i n z i p . Die Schulbuchautoren aber messen die sozialistischen Länder nicht an diesem Anspruch, sondern an den historisch begrenzten Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft — denen die sozialistischen Länder logischerweise weder entsprechen noch entsprechen wollen. Die bürgerliche Gesellschaft wird damit von den Schulbüchern zum Maßstab von Geschichte überhaupt erkoren. Die Schulbuchautoren halten jedenfalls die „Soziale Frage" in den sozialistischen Ländern für ungelöst. Es ist darum nur konsequent, wenn sie den Klassenbegriff, den sie für die kapitalistischen Länder „abgeschafft" haben, für die Darstellung der sozialistischen Länder wieder benutzen. Im „Grundriß der Geschichte" (Klett II, S. 2 2 8 ) wird bei der Darstellung der UdSSR davon gesprochen, daß eine „gesellschaftliche Oberschicht" entstand, eine „Art Staatsbourgeoisie", eine „neue Klasse". 1 4 5
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8. Die Arbeiterbewegung als „Soziale F r a g e " - eine R e d u k t i o n der realen Geschichte
Kurz zusammengefaßt, stellen die Schulbücher die Geschichte der Arbeiterbewegung also etwa folgendermaßen dar: Im Zusammenhang mit der industriellen Revolution entsteht die moderne Industrie, die einen erheblichen Teil der bis dahin in der Landwirtschaft oder im Handwerk tätigen Menschen in Fabriken beschäftigt. Der dadurch entstandene „Vierte Stand" (die Arbeiterschaft) leidet in der Frühzeit des Industriezeitalters unvorstellbare soziale Not, er ist zudem politisch rechtlos. Diese Situation der Arbeiter wird als „Soziale Frage" bezeichnet. Die Lösung der „Sozialen Frage" des 19. Jahrhunderts wird zu einer Hauptaufgabe der Gesellschaft — wobei unter Lösung die Integration der Arbeiter in das bestehende System verstanden wird. Eine Lösung ist um so dringlicher, als die Arbeiter zur Selbsthilfe zu greifen drohen; sie entwickeln in Form der Gewerkschaften und Arbeiterparteien Organisationen, mit denen sie selbst die „Soziale Frage" lösen wollen. Dabei gibt es unter den Arbeitern verschiedene Auffassungen über die Art und Weise, wie diese Lösung aussehen und erreicht werden soll. Eine Gruppe vertritt die „Idee" des Klassenkampfes und strebt eine Revolution an, die in der Diktatur des Proletariats gipfeln soll. Eine andere Gruppe will, in Zusammenarbeit mit dem Staat, eine allmähliche Besserstellung der Arbeiter innerhalb der bestehenden Gesellschaft erreichen. Die Frage, welche dieser Gruppen denn nun „recht behalten hat", bestimmt die weitere Behandlung der „Sozialen Frage" in den Schulbüchern. Dabei versuchen die Schulbücher, an Hand der deutschen Entwicklung zu zeigen, wie in Deutschland durch staatliche Sozialpolitik, Einführung des parlamentarischen Systems und „verständiges" Verhalten der „Sozialpartner" (Arbeiter und Unternehmer) die „Soziale Frage" schrittweise gelöst worden ist; diese Darstellung gipfelt in der Behauptung, daß es in der B R D eine „Soziale Frage" im Sinne des 19. Jahrhunderts nicht mehr gäbe. Ergibt sich schon daraus, daß die reformistische Richtung der Arbeiterbewegung recht behalten hat, so wird diese Auffassung bestätigt durch die Darstellung der sozialistischen Länder. Dort kann nämlich von einer Lösung der „Arbeiterfrage" angeblich nicht die Rede sein. Das ist das Grundkonzept, das der Darstellung der Arbeiterbewegung in den untersuchten Schulbüchern implizit oder explizit zugrunde liegt. Notwendig ist die Anmerkung, daß die Grundkonzeption, die wir hier thesenartig aus allen untersuchten Schulbüchern entwickelt haben, nicht in der hier formulierten Geschlossenheit und Stringenz in den einzelnen Schulbüchern auftaucht. Vielmehr erfolgt die Behandlung der „Sozialen Frage" in einigen Büchern wesentlich unvollständiger und verkürzt. Ein extremes Beispiel für eine solche Verkürzung ist der „Grundriß der Geschichte" aus dem Klett Verlag (Klett I und I I ) . Die „Soziale Frage" beansprucht darin 1 / Seiten bei der Darstellung der englischen Entwicklung (Klett I, S. 2 1 0 f ) ; für Deutsch1
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land wird ihre Entwicklung auf 1 / Seiten unter „Bismarcks Innenpolitik" subsumiert (Klett III, S. 54 f ) ; es folgen immerhin 5 Seiten über „Bismarck und die Sozialdemokratie" (S. 56 ff), auf denen allerdings auch schon die ganze marxistische Theorie — falsch — dargestellt und kritisiert wird; schließlich noch 1 / Seiten über die „Sozialpolitik" Bismarcks (S. 61 f). Im weiteren Verlauf der Geschichte beansprucht die „Soziale Frage" im „Grundriß" meist nur noch den Umfang von Sätzen, bestenfalls von Absätzen. Dagegen verwenden die Autoren allein über 20 Seiten für eine detaillierte Schilderung des Ersten Weltkriegs! (Klett II, S. 85 ff) Insgesamt gesehen gibt aber auch eine vollständige Darstellung der „Sozialen Frage" im oben skizzierten Sinne bereits ein verkürztes und deshalb falsches Bild von der Geschichte der Arbeiterbewegung. Durch offene Parteinahme für die reformistische Richtung der Arbeiterbewegung sind insbesondere die Geschichte der marxistischen Richtung auf ein Minimum reduziert — und dieses Minimum wird dann noch verfälscht. Auch Aktionen der gesamten Arbeiterbewegung, die über das in Schulbüchern „erlaubte" Maß an Massenaktionen hinausgingen, werden unterschlagen oder verzerrt dargestellt. So finden sich z. B. in keinem der untersuchten Schulbücher die gemeinsamen Aktionen der deutschen Arbeiterklasse, die 1926 zum Volksbegehren über die „Fürstenenteignung" (Enteignung der ehemals regierenden deutschen Herrschaftshäuser) führten; eine Aktion, an der KPD und SPD beteiligt waren. Ausgelassen oder sehr verkürzt dargestellt wird zum Beispiel auch der Widerstand der kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeiter im Faschismus (der weitaus größte Teil der vom Faschismus aus politischen Gründen Ermordeten und Inhaftierten gehörte der linken Arbeiterbewegung an), und das, obwohl selbst bürgerliche Wissenschaftler wie Hilmar Toppe „die bis an die Grenze des Fanatismus und Heroismus heranreichende Entschlossenheit des kommunistischen Widerstandes" konstatieren. Dagegen werden die von Offizieren und Großbürgerlichen wie Beck und Goerdeler getragenen Widerstandsversuche in den letzten Monaten der faschistischen Herrschaft mit großer Ausführlichkeit geschildert, ebenso wie die Aktionen der vom „inneren Gewissen" getriebenen (und damit für die Schulbuchautoren vorbildlichen) Geschwister Scholl. Die Verdienste der Geschwister Scholl sollen keineswegs bestritten werden — es geht hier aber um die Frage der quantitativen und qualitativen Gewichtung der Darstellung: wer die opfervolle Geschichte von Hunderttausenden konsequenten Antifaschisten der Arbeiterbewegung nur in Nebensätzen erwähnt (vgl. z. B. Klett II, S. 1 8 8 ; Schroedel/Schöningh V, S. 1 8 1 ) , die Taten bestimmter Individuen aber ausführlichst schildert, der betreibt eindeutig Geschichtsklitterung. 2
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In keinem der Bücher schließlich ist eine zusammenhängende Darstellung über die deutsche Arbeiterbewegung nach 1945 zu finden. Vollständig ausgelassen wird der Widerstand breiter Bevölkerungs89
schichten gegen die Restauration der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, gegen die Wiederbewaffnung der B R D , gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr, gegen die Notstandsgesetze wie auch die heute noch anhaltenden Kämpfe um wirtschaftliche Mitbestimmung. Allenfalls wird in einigen Büchern erwähnt, daß verschiedene Parteien sich z. B. gegen die Wiederbewaffnung ausgesprochen haben; dabei werden aber soziale und politische Kämpfe der Arbeiter und Angestellten, die sich u. a. in riesigen Demonstrationen und Streiks ausdrückten, auf parlamentarische Auseinandersetzungen reduziert — der „Mann auf der Straße" (bzw. im Betrieb) taucht als handelndes Subjekt der Geschichte nicht auf. Würden die Kämpfe der Arbeiter in der bundesrepublikanischen Gegenwart in den Geschichtsbüchern zugegeben, so könnte die „Soziale Frage" allerdings auch nicht mehr als gelöst erscheinen; es müßten die Ursachen dieser anhaltenden Kämpfe der Arbeiter analysiert und damit die gegenwärtige Gesellschaftsordnung hinterfragt und kritisiert werden, was den Schulbuchautoren offensichtlich fernliegt. 1 5 0
9. Die „Soziale F r a g e " — heute w i r k l i c h gelöst?
Zu untersuchen ist hier, inwieweit die These der Schulbuchautoren, es gäbe in den westlichen Ländern keine „Soziale Frage" mehr, mit der bundesrepublikanischen Wirklichkeit übereinstimmt. Wir gehen hierbei von der Definition des Kapitalismus in einem Schulbuch (Schroedel III, S. 1 0 9 , vgl. o. S. 8 5 ) aus, die inhaltlich besagt: Die Klassengesellschaft der Zeit des Hochkapitalismus fiel in zwei Gruppen auseinander, „die durch Kapital und Arbeit, durch großen Reichtum und Ungesichertsein" bestimmt wurden und „einander feindlich" gegenüberstanden. Zunächst ist also zu fragen, wie der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit entstand und was er beinhaltet. Wir hatten in der Einleitung dargestellt, daß das entscheidend Neue der kapitalistischen Produktionsweise gegenüber der feudalistischen die Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln ist. Im Feudalismus befanden sich die Arbeitsmittel in der Regel im Besitz der unmittelbaren Produzenten, im Kapitalismus gehören sie jedoch nicht dem Lohnarbeiter, sondern dem Kapitalisten. Damit entwickelte sich ein tiefgreifender Widerspruch. Die Produktionsweise hatte mit der weitergetriebenen Arbeitsteilung in der Manufaktur und dann vor allem in der Fabrik eine neue Qualität erreicht: an die Stelle der privaten Produktion in der Einzelwerkstatt des Feudalismus war das Zusammenwirken von Hunderten und Tausenden von Arbeitern an einem einzigen Produkt getreten, d. h. die Organisationsform der Arbeit hat einen unmittelbar gesellschaftlichen Charakter erhalten. Die Aneignungsform der Produkte ist aber die gleiche geblieben wie im Feudalismus, nämlich privat; hatte der Besitzer der Arbeitsmittel sich bis1 5 1
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her das Produkt angeeignet, weil es in der Regel Ergebnis seiner eigenen Arbeit war, so fuhr der Besitzer der Arbeitsmittel, jetzt der Kapitalist, fort, sich das Produkt anzueignen, obwohl es nicht mehr sein Produkt, sondern Produkt fremder Arbeit war. Diesem Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion — ,gesellschaftlich' im Sinne der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung (vgl. S. 223 ff) sowie der unmittelbar ins Auge fallenden großbetrieblichen Organisationsform der Arbeit — und privater Aneignung entspricht der Gegensatz zwischen Lohnarbeitern und Kapitalisten. Wenden wir das vom Schulbuch genannte Kriterium (nämlich Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit) auf die heutige Gesellschaftsordnung an, so stellen wir fest, daß der Kapitalismus keineswegs eine „Übergangserscheinung" (Schroedel III, S. 109) war, sondern nach wie vor in seiner vollen Widersprüchlichkeit existiert. Die Arbeiter müssen auch heute noch „ihre Arbeitskraft fortlaufend verkaufen . . . , weil sie ihre einzige oder für die Lebenshaltung entscheidende Einkommensquelle" ist (Schroedel III, S. 4 8 , vgl. auch das Zitat von Paul J o s t o c k in Schroedel III, S. 1 0 3 ) . Diese theoretische Ableitung soll nun im folgenden mit der bundesrepublikanischen Wirklichkeit verglichen und untersucht werden, ob der Kapitalismus nicht auch als soziale Realität mehr als „nur ein Name" (Ludwig Erhard) ist. Die Schulbuchautoren bestreiten den Klassencharakter der B R D . Sie behaupten, unsere Gesellschaft sei heute eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft", in der die „Grenzen zwischen den ,Klassen' weithin verwischt" seien und in der „soziale Aufstiegs- und Abstiegsprozesse" die grundlegenden sozialen Unterschiede eingeebnet hätten (Schroedel III, S. 1 0 6 ) . Vergleichen wir diese These mit einigen Statistiken: Struktur des Realvermögens in der Bundesrepublik 1950—1965, in Prozent 1 52
Arbeitnehmer Rentner und Pensionäre Selbständige und Unternehmungen öffentliche Haushalte
1950
1955
1960
1965
34,7
18,2
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17,2
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2,5
2,6
45,7
46,8
49,3
46,6
14,5
32,3
32,6
33,6
„Der Anteil der Arbeitnehmer und Rentner am Gesamtvermögen ist von 1 9 5 0 bis 1965 um jeweils die Hälfte zurückgegangen, der der Unternehmer und Selbständigen leicht gestiegen, während sich der Anteil der öffentlichen Haushalte mehr als verdoppelt hat. Über 80 % des 91
realen Vermögens der Bundesrepublik konzentrierten sich 1965 bei Unternehmen und öffentlichen Haushalten, während die Massen derer, die durch Erwerbstätigkeit erst Vermögen schaffen, nämlich die mehr als 20 Millionen Arbeitnehmer sowie die früheren Erwerbstätigen, die Rentner, zusammen fast 20 % des gesamten Realvermögens besaßen. Wenn man hiervon noch die häuslichen Investitionen abzieht, die bei Arbeitnehmern 6 3 , 4 % und bei Rentnern 5 4 , 4 % ihrer Ersparnisse ausmachten, so erhält man als Restbetrag einen Anteil der Arbeitnehmer und Rentner am Gesamtvermögen (ohne häusliche Investitionen) von 8,9 % . " Es zeigt sich also, daß sich die Verteilung der Realvermögen in der B R D seit 1 9 5 0 erheblich zuungunsten der Arbeitnehmer und Rentner verschoben hat. Berücksichtigt man ferner, daß unter der Kategorie „Arbeitnehmer" (vgl. dazu den Abschnitt „Manipulation durch Sprac h e " in diesem Buch) sowohl Arbeiter mit einem Einkommen von 750,— DM als auch Manager mit einem Einkommen von 10 000,— DM monatlich subsumiert werden, so ergibt sich eine noch schlechtere Lage der Arbeiter und Angestellten, als es die Statistik ausdrückt. Auf der anderen Seite gehören zu der Kategorie „Selbständige" Hunderttausende von kleinen Handwerkern, Händlern und Bauern, die häufig nicht viel mehr verdienen als die Arbeiter und Angestellten, die aber in der gleichen Rubrik geführt werden wie millionenschwere Großaktionäre und Inhaber großer Konzerne. Die Kategorien „Arbeitnehmer" und „Selbständige" sind also rein juristische Begriffe, die für die Analyse von realen sozialökonomischen Abhängigkeiten kaum brauchbar sind, auf denen aber alle offiziellen Statistiken der B R D beruhen. 1 5 3
Als weitere Verzerrung der Statistik kommt hinzu, daß der Anteil der sogenannten Selbständigen sich erheblich verringert hat. „Sie, die im Jahre 1 9 5 0 immerhin noch 37 Prozent aller Erwerbstätigen ausmachten, verfügten damals über 47 Prozent des Volkseinkommens. Heute stellen sie nur noch etwa 20 Prozent der Erwerbstätigen, aber ihr Anteil am Volkseinkommen beträgt immernoch 41 P r o z e n t . " Umgekehrt hat sich der Anteil der „Arbeitnehmer" an der Gesamtbevölkerung erhöht. „Im Jahre 1950 teilten sich 13,9 Millionen Arbeiter und Angestellte samt ihren Familien in 52 Prozent des Volkseinkommens. Bereits im Jahre 1965 aber mußten sich 21,9 Millionen Arbeiter und Angestellte — das sind genau 8 Millionen oder rund 60 Prozent mehr — in einem nur in etwa 6 Prozent höheren Anteil am Volkseinkommen t e i l e n . " Daraus folgt: Von einer Angleichung der sozialen Unterschiede kann keine Rede sein. Statt dessen hat eine ungeheure Konzentration von Vermögen in der Hand einer winzigen Minderheit der Bevölkerung stattgefunden. „Selbst von der Bonner Regierung muß in ihrem sogenannten ,Sozialbericht 1 9 7 0 ' die bezeichnende Tatsache eingestanden werden, daß nur 1,7 Prozent der privaten Haushalte in der B R D über 70 Prozent 1 5 4
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des produktiv genutzten Vermögens in privater Hand b e s i t z e n . " Betrachtet man ferner den Rückgang der Selbständigen von 37 Prozent 1 9 5 0 auf 20 Prozent 1 9 6 6 , so verbirgt sich hinter dieser nüchternen Statistik die Enteignung und Proletarisierung von Millionen von kleinen Eigentümern, die unter dem enormen Konkurrenzdruck der Großkonzerne Bankrott gemacht haben. Diese Entwicklung ist mittlerweile mindestens in einigen Ansätzen durchaus ins Bewußtsein der Öffentlichkeit eingedrungen. Sie wird aber von den Unternehmern damit gerechtfertigt, daß eine permanente Steigerung der Unternehmergewinne die Voraussetzung für Investitionen sei, die vorhandene Arbeitsplätze sichern und vor allem neue Arbeitsplätze schaffen sollen und also den Arbeitern selbst wieder zugute kämen. Wie verhält sich diese Behauptung zur Realität? Investitionen haben die Funktion, durch Technisierung und Automatisierung der Produktion die Arbeitsproduktivität zu erhöhen (in der gleichen Zeit wird mit denselben Arbeitskräften ein größeres Produkt erzeugt) und damit das „Wirtschaftswachstum" voranzutreiben. Rationalisierung der Produktion bedeutet in der kapitalistischen Realität Senkung der Lohnkosten, und zwar durch Senkung der Lohnquote und Reduktion der Arbeitsplätze, also Verringerung der Beschäftigtenzahl („strukturelle A r b e i t s l o s i g k e i t " ) . Welches Ausmaß die dadurch erzielte Leistungssteigerung in der B R D erreicht hat, zeigt folgende Angabe: Allein in den Jahren von 1958 — 1965 ist die Arbeitsproduktivität um 50 Prozent gestiegen. Insgesamt konnte die Arbeitsproduktivität seit 1950 um 120 Prozent und die Produktion (Sozialprodukt) nominell um etwa 2 0 0 Prozent gesteigert w e r d e n . Diese Steigerungsraten sind aber nicht allein auf die Erhöhung der Arbeitsproduktiuität zurückzuführen; vielmehr ist auch die Arbeitsintensität erheblich g e s t i e g e n . Indizien dafür sind u . a . die hohe Zahl von Arbeitsunfällen, das erschreckende Ausmaß an Frühinvalidität wie auch die Zunahme von psychischen Störungen aller Art. 157
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Die ungeheuren Produktivitätssteigerungen sind — wie auch die Statistiken auf Seite 73 und Seite 91 zeigen — nicht in erster Linie den Arbeitern und Angestellten zugute gekommen (das, was sie überhaupt an Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen in den letzten Jahren errungen haben, mußten sie sich zudem gegen den heftigen Widerstand der Unternehmer erkämpfen); die enormen Zuwachsraten verblieben vielmehr größtenteils im Besitz der Kapitalisten, weil ihnen auf Grund des Besitzes der Produktionsmittel auch die Ergebnisse der Produktion zufallen — obwohl sie von den Arbeitern geschaffen wurden. Genau dieser Aneignungsprozeß stellt das Charakteristikum der kapitalistischen Wirtschaftsform dar. Nach dem Sachverständigengutachten von 1 9 7 0 / 7 1 wuchs die Arbeitsproduktivität der Industrie zwischen 1962 und 1969 um 5 3 , 0 Prozent, der Realarbeitslohn hingegen nur um 2 9 , 4 P r o z e n t . 161
Es zeigt sich also, daß Investitionen nicht einem abstrakten „Allgemeinwohl" dienen, sondern dem ganz konkreten Profitinteresse der 93
Unternehmer. Primäres Motiv der unternehmerischen Investitionstätigkeit ist weder die Schaffung von Arbeitsplätzen noch die Bewältigung eines angeblich autonomen technischen Fortschritts, sondern das Interesse an der Erhöhung der Profite, der Vergrößerung des Kapitals und der Festigung und Erweiterung der Machtposition der Konzerne. J e d e anderslautende Interpretation von Unternehmermotivationen läßt sich durch Statistiken widerlegen. Zu betonen ist allerdings, daß es nicht im Belieben des einzelnen Unternehmers steht, ob er investiert und Profit macht oder nicht. Der Konkurrenzkampf des kapitalistischen Systems zwingt ihn bei Strafe seines eigenen Untergangs dazu, immer weiter zu investieren und immer höhere Profite auf Kosten der „Arbeitnehmer" zu erzielen. Auch das Argument der Unternehmer, sie hätten das Risiko der Wirtschaftstätigkeit zu tragen und hätten also auch einen Anspruch auf hohe Gewinne, erweist sich bei näherem Zusehen als nicht stichhaltig. In der Krise 1 9 6 6 / 6 7 — wie auch bei jeder anderen Konjunkturschwankung — zeigte sich nämlich, daß gerade die „Arbeitnehmer" das Risiko der Unternehmertätigkeit zu tragen hatten, und zwar mit dem Verlust ihrer Existenzgrundlage, dem Einkommen und dem Arbeitsplatz. Der Sachverständigenrat verzeichnet für den Februar 1967 einen Anstieg der Arbeitslosenzahl auf 673 0 0 0 und eine Arbeitslosenquote von 4,5 P r o z e n t . Hinzu kommt noch, daß allein schon der Abbau von außertariflich gezahlten Überstunden für den Arbeiter und seine Familie oft eine ganz erhebliche Einbuße seines Einkommens darstellt, ohne daß diese in irgendeiner offiziellen Statistik auftaucht. Für die Großindustrie hingegen bedeuten Konjunkturschwankungen gewöhnlich nur Gewinnverminderungen, für Großkonzerne sogar oft noch eine Steigerung der Profite und der Machtstellung (durch den Bankrott kleiner Unternehmen und die verschärfte Arbeitsdisziplin). Außerdem: worin besteht eigentlich das „Unternehmerrisiko?" Schlimmstenfalls verliert der Unternehmer seinen Betrieb und wird selber zum Lohnabhängigen — ein sozialer Status, der ja angeblich keine wesentlichen Nachteile gegenüber dem des Selbständigen haben soll und den über 80 Prozent der Bevölkerung einzunehmen gezwungen sind. Überdies unterstützt der Staat die Großunternehmer bei Krisenerscheinungen mit „Konjunkturspritzen" und verhindert deren Bankrott. Aber auch sonst kann die Großindustrie einen Großteil der Investitionen per Abschreibungen, Subventionen, Staatsaufträge, Kredite usw. vom Staat finanzieren lassen: „Im Jahre 1 9 6 6 beispielsweise standen den Neuinvestitionen für Anlagen und Bauten in Höhe von 58,8 Milliarden DM Abschreibungen in Höhe von 5 2 , 2 Milliarden DM gegenüber. Das bedeutet: Die über die Abschreibungen finanzierten Investitionen waren kaum weniger groß wie die aus dem eigentlichen Gewinn und anderen Quellen gespeisten Neuinvestitionen." In diesem Zusammenhang stellt sich überhaupt die Frage, welche 1 6 2
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Rolle der Staat im Kapitalismus spielt. Ist er tatsächlich die neutrale Instanz, die über allen Interessengruppen steht und soziale Konflikte zwischen den „Sozialpartnern" zu schlichten sucht, wie die Schulbuchautoren glauben machen wollen? Schützt der Staat wirklich die „wirtschaftlich Schwachen" (so Hirschgraben II, S. 6 2 / 6 3 ) ? Wen sanierte der Staat z. B. in der Währungsreform 1 9 4 8 , als die Sachmittelbesitzer, also die ohnehin Privilegierten, ihre Fabriken behielten, während die kleinen Sparguthaben der Millionen von Arbeitern, Angestellten, kleinen Beamten und Rentnern entwertet wurden? In wessen Interesse handelte der Staat, als er in der Krise 1 9 6 6 / 6 7 die Sanierung der Großkonzerne auf Kosten der kleinen Selbständigen und Betriebe vollzog und damit den Zentralisationsprozeß innerhalb der Wirtschaft weiter vorantrieb? Und wer schließlich bezahlt die Subventionen, Abschreibungen, Kredite und Staatsaufträge, die alljährlich den größten Konzernen und Kapitalgesellschaften zufließen? — Sie werden aus Steuern bezahlt, die ihrerseits zum größten Teil von der Masse der Arbeiter und Angestellten aufgebracht werden. Seit 1 9 5 0 , vor allem aber seit 1 9 6 0 steigen die Steuern schneller als die Bruttolöhne und -gehälter. Der Zuwachs des Steueraufkommens geht damit vorwiegend zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung. Auch die Hauptlast der anderen Massensteuern (Mehrwert-, Mineralöl-, Tabaksteuer, Branntweinmonopol) wird von der arbeitenden Bevölkerung getragen. „ 1 9 7 1 entfielen von den Steuereinnahmen: 1 0 7 , 4 Mrd. DM (62,4 Prozent) auf Massensteuern und nur 47,5 Mrd. DM (27,6 Prozent) auf Steuern von Gewinnen und V e r m ö g e n . " Als Resultat kann festgehalten werden: Seit Entstehen der Bundesrepublik hat sich eine Verteilung und Umverteilung des Nationaleinkommens in riesigem Ausmaß zugunsten der Großwirtschaft vollzogen und auf der anderen Seite eine massenhafte und massive Enteignung und relative V e r e l e n d u n g von Millionen von arbeitenden Menschen. Die sozialen Unterschiede sind also nicht abgemildert, sondern sogar noch verschärft worden, und der Staat, das parlamentarische System haben nicht nur diesen Prozeß nicht verhindert, sondern den Unternehmern bei der Kapitalakkumulation massiv geholfen. In einer bekannten politischen Programmschrift wird diese Entwicklung so zusammengefaßt: „Ein wesentliches Kennzeichen der modernen Wirtschaft ist der ständig sich verstärkende Konzentrationsprozeß. Die Großunternehmen bestimmen nicht nur entscheidend die Entwicklung der Wirtschaft und des Lebensstandards, sie verändern auch die Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft: — Wer in den Großorganisationen der Wirtschaft die Verfügung über Millionenwerte und über Zehntausende von Arbeitnehmern hat, der wirtschaftet nicht nur, der übt Herrschaftsmacht über Menschen aus; die Abhängigkeit der Arbeiter und Angestellten geht weit über das Ökonomisch-Materielle hinaus. — Wo das Großunternehmen vorherrscht, gibt es keinen freien Wettbewerb. Wer nicht über die gleiche Macht verfügt, hat nicht die gleiche 1 6 S
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Entfaltungsmöglichkeit, er ist mehr oder minder unfrei. Die schwächste Stellung in der Wirtschaft hat der Mensch als Verbraucher. — Mit ihrer durch Kartelle und Verbände noch gesteigerten Macht gewinnen die führenden Männer der Großwirtschaft einen Einfluß auf Staat und Politik, der mit demokratischen Grundsätzen nicht mehr vereinbar ist. Sie usurpieren Staatsgewalt. Wirtschaftliche Macht wird zu politischer Macht. Diese Entwicklung ist eine Herausforderung an alle, für die Freiheit und Menschenwürde, Gerechtigkeit und soziale Sicherheit die Grundlagen der menschlichen Gesellschaft sind." Aufrüttelnde Worte — aus dem Godesberger Programm der S P D ! Alles Gerede von Reformen und „Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand", von „breiterer Streuung des Eigentums" und dergleichen waren nur der ideologische Schleier, hinter dem sich die Macht- und Eigentumskonzentration des großen Kapitals vollzog. Die offiziellen Pläne zur Vermögensbildung beziehen sich überdies ausschließlich auf die Verteilung des zukünftig zu erwartenden Gewinnzuwachses. Die bereits angesammelten riesigen Vermögen der Unternehmer und damit der vorhandene Unterschied der Vermögensverteilung wird in keiner Weise a n g e t a s t e t , ganz abgesehen davon, daß auch diese Pläne nach aller Erfahrung Pläne bleiben werden. Die Schulbuchautoren sagen dazu: „Zur Hilfe des Staates und der Arbeitgeber muß aber der Wille zum Eigentum und damit zum Sparen und Konsumverzicht bei den Arbeitnehmern hinzukommen." (Schroedel III, S. 105) Angesichts der Tatsache, daß „ 4 4 % aller Arbeiter weniger als 6 0 0 DM netto, und 80 % aller Arbeiter weniger als 8 0 0 DM netto verd i e n e n " , ist das der blanke Zynismus. Ziel der Arbeiter kann es auch gar nicht sein, durch „Sparen und Konsumverzicht" die ungleiche Vermögensverteilung zu überwinden, weil auf diesem Weg die Ursache der ungleichen Verteilung, nämlich der Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Produktion und der privaten Aneignung nicht gelöst wird. „Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand" müßte den Verteilungsschlüssel verändern, ist also nur auf Kosten der Unternehmergewinne durchzusetzen; vor allem die reale M i t b e s t i m m u n g im Sinne einer Kontrolle der unternehmerischen Wirtschaftstätigkeit durch Interessenvertretungen der Arbeiterklasse würde eine Möglichkeit schaffen, ihre gesellschaftliche Stellung zu verbessern. Dieses Ziel wird — genau das zeigt die lange Geschichte der Arbeiterbewegung, die in den Schulbüchern so arg verzerrt wiedergegeben wird — sich nicht im Selbstlauf realisieren noch durch das „soziale Gewissen" von Unternehmern und Staat gewährt werden, sondern es kann nur das Ergebnis ausdauernder Kämpfe der Arbeiterklasse selbst sein. Auf wessen Seite die Schulbuchautoren mit ihrer Geschichtsdarstellung in diesen Klassenauseinandersetzungen stehen, ist in diesem Kapitel hinreichend deutlich geworden. 1 6 8
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D. Russische Oktoberrevolution und Novemberrevolution in Deutschland 1. Oktoberrevolution
Kaum ein Ereignis der neueren Geschichte ist in der Geschichtswissenschaft so umstritten wie die Oktoberrevolution. Bei der Beurteilung der Oktoberrevolution und der Bolschewiki tritt die schärfste Polarisierung von nichtmarxistischer und marxistischer Geschichtswissenschaft ein. In dieser Polarisierung werden Grundzüge der Methode beider Geschichtsauffassungen deutlich (siehe unsere Anmerkung auf S. 2 0 8 ! ) . Führende westliche Historiker der Russischen Revolution begreifen die Oktoberrevolution wesentlich als Errichtung der Diktatur einer Minderheit. „Im Unterschied zu dem unvorbereiteten, ,zufällig' ausgebrochenen und nicht zentral gelenkten Februarumsturz (ähnlich wie später die deutsche Novemberrevolution 1 9 1 8 ) ist der bolschewistische Oktoberaufstand das klassische Beispiel für eine ,geplante Revolution', die Kombination von organisierter Verschwörung einer Minderheit mit einer machtvollen, aber unklaren und daher leicht zu maEntscheidend für diese Beurteinipulierenden Massenströmung." lung ist bei allen bürgerlichen Historikern die politische Form der Revolution (bewaffneter Aufstand, Räteprinzip, Auflösung der Konstituierenden Versammlung, Verbot bürgerlicher Zeitungen usw.), die im Widerspruch zu den Prinzipien „westlicher Demokratie" steht. 172
In der marxistischen Wissenschaft wird dagegen der soziale Inhalt der Revolution hervorgehoben. „Die große sozialistische Oktoberrevolution gab der Welt ein Modell für die Lösung der grundlegenden sozialen Probleme: Sturz der Macht der Ausbeuter und Errichtung der Diktatur des Proletariats; Verwandlung des Privateigentums, des Eigentums der Bourgeoisie und der Gutsbesitzer in gesellschaftliches, in sozialistisches Eigentum; gerechte Lösung der Agrarfrage zugunsten der Bauern; Befreiung der abhängigen Völker vom nationalen und kolonialen J o c h ; Schaffung der politischen und ökonomischen Voraussetzungen für den Ausbau des S o z i a l i s m u s . " Die politischen Formen, in denen sich der Übergang vollzog, werden in der marxistischen Geschichtswissenschaft jeweils im Zusammenhang mit diesem sozialen Inhalt gesehen, was vor allem bedeutet, daß die jeweiligen politischen Vorgänge aus den Interessen der am Umwälzungsprozeß beteiligten sozialen Gruppen (Klassen, Schichten) abgeleitet werden. 173
Diese Interessen werden verstanden als Gegenwarts- und Zukunftsinteressen, d. h., in der marxistischen Geschichtsauffassung wird zum einen davon ausgegangen, daß in der Oktoberrevolution die aktuellen Forderungen der Mehrheit der Bevölkerung verwirklicht wurden (Frieden, Arbeiterkontrolle über die Betriebe und Aufteilung der Adelsgüter unter die Bauern), zum anderen bedeutete die Revolution die Grundlegung einer neuen sozialen Ordnung, die der kapitalistischen 97
trotz der enormen, erst in einem langen Prozeß zu überwindenden Rückständigkeit Rußlands qualitativ überlegen ist. „Die große sozialistische Oktoberrevolution war der erste siegreiche Akt der sozialistischen Weltrevolution. Sie veränderte radikal das politische und sozialökonomische Antlitz eines riesigen Reiches, hob die internationale Befreiungsbewegung auf eine neue, höhere Stufe und ,hat der ganzen Welt', wie Lenin sagte, ,den Weg zum Sozialismus gewiesen und der Bourgeoisie gezeigt, daß es mit ihrer Herrlichkeit zuende geht' . . . " Die hier angedeutete internationale Bedeutung der Revolution wird auch in der nichtmarxistischen Wissenschaft, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, betont. „Darüber hinaus bedeutet die Revolution von 1917 die Entstehung einer Front der ,proletarischen Weltrevolution', der auf der Gegenseite durch den Kriegseintritt der USA die ,Weltdemokratie' e n t g e g e n t r i t t . " Für die Schulbuchautoren spielt dieses historische Ereignis jedoch offenbar eine geringere Rolle. Die meisten Darstellungen begnügen sich mit einer kurzen Chronologie und der unabgeleiteten Übernahme der zentralen Thesen der nichtmarxistischen Historiker. Schwerpunkte sind: — Die Tätigkeit der Provisorischen Regierung — Die Person Lenins — Die Auflösung der Konstituierenden Versammlung. Diese drei Schwerpunkte sollen im folgenden in bezug auf Inhalt und' ' Form der Darstellung knapp untersucht werden. 1 7 4
175
1
Vorgeschichte
—
Tätigkeit
der Provisorischen
Regierung
Ähnlich wie die erste Phase der Französischen Revolution wird die bürgerlich-demokratische Februarrevolution hinsichtlich ihrer unmittelbaren Ergebnisse (Abdankung des Zaren, Ansetzen einer Nationalversammlung) akzeptiert — zugleich werden auch hier die treibenden Kräfte der Revolution verdreht dargestellt und ihre „Begleiterscheinungen", d. h. die revolutionären Massenaktionen, negativ charakterisiert. Dies sei an einer Darstellung erläutert: „Deprimiert von der russischen Niederlage 1916 und unzufrieden über die lange Dauer des Krieges und die schlechte Ernährungslage, streikten im März 1917 die Rüstungsarbeiter von Petersburg. Sofort entstanden Straßenunruhen, das eingesetzte Militär ging zu den Arbeitern über. Keiner der russischen Generale, keine politische Partei oder Gruppe war bereit, die zusammenbrechende Monarchie zu schützen. Der Zar löste die Duma auf, sie aber berief in einem revolutionären Akt eine ,Provisorische Regierung' aus Linksliberalen und gemäßigten Sozialisten und nötigte den Zaren zur Abdankung. Gleichzeitig hatten sich in Petersburg und bald darauf auch in den größeren Städten und Garnisonen Arbeiterund Soldatenräte (Sowjets) gebildet, eine Folge der revolutionären Aufgewühltheit des Volkes, das seine Geschicke in die Hand nehmen wollte." (Klett II, S. 97)
Der Aufstand gegen den Zarismus erscheint als rein spontaner, be98
wußtloser Akt der Arbeiter, der besonders durch den Hunger hervorgerufen ist. Der eigentliche revolutionäre Akt wird durch die Duma vollzogen, also auf der parlamentarischen Ebene. In der Provisorischen Regierung sind „gemäßigte" Sozialisten beteiligt. Die gleichzeitig gebildeten Sowjets sind „eine Folge der revolutionären Aufgewühltheit des Volkes". Das Hauptcharakteristikum jeder Revolutionsdarstellung in den Schulbüchern, die Polarität von Masse und Elite, von gemäßigten und radikalen Kräften, ist hier aufs neue entwickelt. Die Frage nach dem Ausgang des Kampfes zwischen diesen Kräften spitzt sich im Verlaufe der Revolution immer mehr auf die Entscheidung zwischen „parlamentarischer Demokratie" und „Sowjetdiktatur" zu. „Das System der Doppelherrschaft von provisorischer Regierung und Sowjets spiegelte das gesellschaftliche und politische Kräfteverhältnis; hinter der ersteren standen das Bürgertum, der liberale Adel und die liberale Intelligenz, die von der Revolution eine energische Fortsetzung und siegreiche Beendigung des Krieges erwarteten; hinter den Sowjets standen die kriegsmüden Soldaten, das Industrieproletariat und die radikale sozialistische Intelligenz. Das Bauerntum verharrte unentschieden zwischen beiden Gruppen." (Klett II, S. 97) „Das Ziel der Revolution, die Demokratie, war zwar erreicht, aber die Autorität der demokratischen Regierung war durch die Räte und ihre Tätigkeit gefährdet; . . . " (Schroedel/Schöningh VIII, S. 46) Die beiden folgenden Schulbuchzitate zeigen exemplarisch, wie die Geschichtsdarstellung je nach Altersstufe der Schüler differiert. Im Klett-Unterstufen-Erzählband wird die Existenz von Sowjets überhaupt nicht erwähnt. Dort heißt es lakonisch: „Entmutigt legte der Zar am 15. März 1917 die Krone nieder. Demokraten bildeten eine ,Provisorische Regierung'. Sie bleibt den französischen und englischen Bundesgenossen treu und setzt den Krieg fort, dessen die Russen unendlich müde sind." (Klett X, S. 113) Dagegen kann man in einem Oberstufenband lesen: „Die Provisorische Regierung konnte sich nur an der Macht halten, weil die nach dem Vorbild der Revolution von 1905 in den Fabriken und militärischen Einheiten gewählten Arbeiter- und Soldatenräte (russisch Sowjets) dies Provisorium vorerst tolerierten." (Schroedel/Schöningh II, S. 82) Die in diesen Zitaten angedeutete Darstellungsweise der Februarrevolution und ihre Folgen nennt zweifellos die wichtigsten Ereignisse und Ergebnisse dieser Phase — den Aufstand der Arbeiter und Soldaten, die Bildung der Sowjets und der Provisorischen Regierung und die sozialen Kräfte, die hinter den beiden Institutionen standen. Dennoch bleiben entscheidende Fragen offen. Warum z. B. mußte gerade in der Situation des Jahres 1917 das zaristische System, das sich jahrzehntelang gegen alle demokratischen Bestrebungen behaupten konnte, der bürgerlichen-demokratischen Revolution weichen? Die genannten Gründe — Kriegsniederlagen, Volksbewegungen, parlamentarische Opposition — lagen auch schon 1905 nach dem russisch-japanischen Krieg vor. Ist es ein Zufall, daß die Revolution nicht schon 1905 siegte? Die Beantwortung dieser Fragen kann allerdings nicht von Schulbuchautoren erwartet werden, die die Gründe von Revolutionen auf Massenstimmungen, Meinungen, Zufälle, unfähige Regierungsführung 99
und ähnliche Erscheinungen zu reduzieren pflegen. Einer derartig oberflächlichen Betrachtungsweise muß entgehen, daß sich das zaristische Reich 1917 in einer tiefen revolutionären Krise befand. Die zaristische Regierung hatte im Verlaufe des Krieges 8 Milliarden Rubel Kriegsanleihe bei den Westalliierten aufnehmen müssen — ein Beweis für die ökonomische Unfähigkeit Rußlands, den Krieg gegen das kaiserliche Deutschland weiterzuführen. Die letzten ökonomischen Ressourcen mußten mobilisiert werden — auf Kosten der Bevölkerung. Schon 1916 brach in den Städten die Hungersnot aus. Gegen diese Verhältnisse regte sich breitester Widerstand. Nicht erst im Februar 1917, sondern schon über ein Jahr früher begann der Aufschwung der revolutionären Bewegung. Im Jahre 1916 waren mehr als 1500 Streiks zu verzeichnen, an denen über eine Million Arbeiter beteiligt waren. In Mittelasien und Kasachstan kam es zu nationalen Aufständen. Die Soldaten begannen zu desertieren. Auf dem Lande begannen Bauern, Adelsgüter in Brand zu stecken. Der in den Schulbüchern erwähnte Februarstreik der (zum größten Teil gewerkschaftlich und politisch organisierten) Arbeiter der Petrograder Putilow-Werke war erst der Höhepunkt einer allgemeinen Volksbewegung, deren Ziele klar erkennbar waren: Sofortige Friedensverhandlungen, Kontrolle der Produktion und Aufteilung der Adelsgüter an die armen Bauern. Daß die Arbeiter- und Soldatenbewegung keineswegs ,aufgewühlt' war, daß sie im Gegenteil durchaus zielbewußt handelte, beweist das von den Schulbuchautoren selbst genannte Faktum der Arbeiter- und Soldatenräte, der Sowjets, die als gewählte Organe der Mehrheit des Volkes dazu bestimmt waren, die Interessen ihrer Wähler zu vertreten. Die Schulbuchautoren verstricken sich selbst in unauflösbare Widersprüche, wenn sie auf der einen Seite behaupten, der wirklich revolutionäre Akt sei der Dumabeschluß zur Bildung einer Provisorischen Regierung gewesen, und andererseits zugeben müssen, daß diese Regierung von der Duldung der Sowjets abhängig war. Wenn man davon ausgeht, daß der Erfolg einer Revolution eine Machtfrage ist — und dies wird in bezug auf die Oktoberrevolution von den Autoren selbst betont —, müßte man eher zu dem Ergebnis kommen, daß der entscheidende revolutionäre Akt der organisierte Aufstand der Petrograder Arbeiter war. Welche Stellung nahm die Provisorische Regierung nun wirklich ein, wenn sie nicht der eigentliche Motor der Revolution war? Die Schulbuchdarstellung selbst gibt Aufschluß darüber. Hinter ihr „standen das Bürgertum, der liberale Adel und die liberale Intelligenz, die von der Revolution eine energische Fortsetzung und siegreiche Beendigung des Krieges erwarteten;" (Klett II, S. 97) „Die Provisorische Regierung hatte zwar eine gemäßigte Bodenreform versprochen, verschob aber die Wahlen zur Nationalversammlung immer wieder, die ein solches Reformgesetz hätte verabschieden sollen. Die allgemeine Friedenssehnsucht der Bevölkerung ignorierte sie und setzte den Krieg gegen die Mittelmächte fort." (Schroedel/Schöningh VIII, S. 83) 176
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„Im Mai 1917 hatte der gemäßigte Sozialist Kerenskij praktisch die Macht des Staates in der Hand. Er wünschte einen baldigen Frieden ohne ,Annexionen und Kontributionen', konnte aber die Entente nicht dazu bewegen und setzte deshalb den Krieg fort." (Klett II, S. 9 8 )
Hier wird also einerseits zugestanden, daß die Provisorische Regierung gar nicht Vertreter des ganzen Volkes, sondern lediglich des Bürgertums war, andererseits aber nicht erkannt oder nicht zugegeben, daß sie auch dessen spezifische Interessen vertrat. Abstrakte Haltungen wie „Ignoranz" und „Treue" werden als Gründe für die Weiterführung des Krieges und die Nichtdurchführung einer Bodenreform angegeben. Auf diese Weise wird ein Verständnis der wirklichen historischen Gründe für die Weiterführung des Krieges verhindert. Sie können im Rahmen dieser Schulbuchkritik nur angedeutet werden. Die schon erwähnte Kriegsverschuldung Rußlands bei den Westalliierten und der schon vor dem Kriege vorhandene starke Einfluß französischen und englischen Kapitals, die organisierte Tätigkeit amerikanischer und englischer Propagandisten in der Armee während der Kerenskij-Offensive (Sommer 1 9 1 7 ) und andere Indizien legen den Schluß nahe, daß nicht eine irgendwie geartete Nibelungentreue zur ,westlichen Demokratie', sondern handfeste ökonomische Interessen die Provisorische Regierung zur Weiterführung des Krieges gezwungen haben. Geht man von den in der Februarrevolution aufgestellten Forderungen der Arbeiter, Soldaten und Bauern aus — Frieden, Arbeiterkontrolle und Aufteilung des Bodens —, muß festgehalten werden, daß sich die Provisorische Regierung vor den Augen des Volkes als unfähig erwies, diese Ziele durchzuführen. Die Petrograder Massendemonstrationen im April, Mai und J u n i zeigen, daß das Volk sich dieser Tatsache zunehmend bewußt wurde. 1 7 7
Schulbuchautoren, die von den Interessen der Volksmassen abstrahieren, muß dieser Zusammenhang allerdings verborgen bleiben. Für sie muß das Entstehen einer neuen revolutionären Krise als bloßes Ergebnis einer klugen, Massenstimmungen ausnutzenden Taktik Lenins erscheinen.
Die
Rolle Lenins
Die Oktoberrevolution ist, kurzgefaßt, in der Darstellung der Schulgeschichtsbücher ein taktisch geschickt unter Lenins Führung vollzogener Staatsstreich einer Minderheit von Berufsrevolutionären, die auf Grund der Schwäche der demokratischen Kräfte in Rußland die Macht ergreifen und sie durch ein System totalitärer Herrschaft sichern konnten. Daß die Revolution der Staatsstreich einer Minderheit gewesen sei, wird in den Büchern mehrfach betont. „Sie (die Revolution, d. Verf.) ist das klassische Beispiel für eine geplante Revolution: Eine verschwindend kleine Gruppe von Berufsrevolutionären, die mit dem Wohlwollen oder wenigstens der Duldung der Massen rechnen konnte, machte den Aufstand." (Klett II, S. 9 9 )
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Ein Zusammenhang zwischen den politischen Zielen der Bolschewiki und den Interessen des Volkes ist für die Autoren also von vornherein auszuschließen. Es findet sich in den Schulbüchern dann sogar noch die alte, schon von der Provisorischen Regierung ausgestreute These, nach der Lenin im Grunde als Agent des deutschen Kaisers gehandelt habe: „Die Mittelmächte hatten von den Wirren in Rußland eine Entlastung der Ostfront erwartet. Der Sieg der gemäßigten Richtung enttäuschte sie. Deshalb wollten die deutsche Regierung und Heeresleitung durch das Einschleusen radikaler Politiker die Spannungen in Rußland vergrößern. Im April 1917 durfte eine Gruppe russischer Emigranten, die in der Schweiz Zuflucht gefunden hatte, durch Deutschland nach Schweden reisen; von dort gelangte sie über Finnland nach Petersburg. An ihrer Spitze stand Lenin, der Wortführer der radikalen, bolschewistischen Richtung der russischen Sozialisten." (Schroedel/Schöningh V, S. 31) Die von den Bolschewiki aufgestellte Forderung nach Frieden ist danach also im Grunde nichts anderes als die Verfolgung deutscher Kriegsziele in der russischen Innenpolitik. „General Ludendorff rechnet sich für Deutschland Vorteile aus, wenn die Russen in einem Bürgerkrieg übereinander herfallen." (Klett X, S. 114) Daß die Arbeiter und Bauern „über die Fortsetzung des Krieges enttäuscht" (ib.) waren, daß eine „allgemeine Friedenssehnsucht" (Schroedel/Schöningh II, S. 8 3 ) bestand, erscheint also nur als günstiger Boden, nicht als Grundlage für die Politik der Bolschewiki. Ebenso verhält es sich mit der Forderung nach Aufteilung der Adelsgüter, die ein geschicktes Aufgreifen, des „Landhungers" (Schroedel/Schöningh V, S. 3 2 ) der Bauern ist. Die Forderungen der Bolschewiki werden nicht als Programmforderungen im Rahmen einer Strategie der gesellschaftlichen Umgestaltung dargestellt, sondern erscheinen als taktische Tricks geriebener Machtpolitiker. „Ihm (Lenin, d. Verf.) gelang es, die über die Fortsetzung des Krieges enttäuschten Massen gegen die Regierung aufzuwiegeln. Seine Forderungen waren wirkungsvoll: Sofortige Friedensverhandlungen, Land für die Bauern, Kontrolle der Arbeiter über die Fabriken. Diesen Forderungen hatte die schwache, dazu noch von einer Gegenrevolution der Offiziere bedrohte Regierung nichts ebenso Schlagkräftiges entgegenzusetzen." (Schroedel/Schöningh V, S. 31) Eine Verführerelite, geprägt durch die Persönlichkeit Lenins, habe die Revolution durchgeführt, um anschließend eine „Schreckensherrschaft" (Klett X, S. 115) zu errichten. Den unmündigen Massen steht innerhalb dieses Geschichtsbildes — das zeigt sich am Beispiel der Russischen Revolution besonders deutlich — eine mit besonderen Qualitäten ausgestattete Führerpersönlichkeit gegenüber. In fast allen Darstellungen wird der Person Lenins — nur in wenigen auch seiner Theorie — breiter Raum gegeben. Dabei werden zwei Eigenschaften besonders betont: Seine Überzeugungskraft und seine Fähigkeit zur Durchsetzung seiner politischen Taktik. Diese beiden Fähigkeiten Lenins — gewissermaßen des personifizierten Radikalismus — werden grundsätzlich negativ, teilweise auch dämonisierend dargestellt. Dabei überwiegt die dämonisierende Darstellung in den Büchern für die unte102
ren Klassen und in den älteren Ausgaben, während in neueren Oberstufenbänden eine stärkere Auseinandersetzung mit der Theorie und Politik stattfindet. Zur Person Lenins: Im Exil „haust (!) er . . . mit seiner Frau in einem einfach möblierten Zimmer. Für sich selbst braucht der 47jährige Berufsrevolutionär wenig, weil er ,an nichts anderes denkt und von nichts anderem träumt als von der Revolution, und das 24 (!) Stunden am Tag'." . . . „In den Lesestuben und Bibliotheken erdachte Lenin in allen Einzelheiten einen Plan, wie man in Rußland nach den Gedanken (!) von Karl Marx eine ,Diktatur des Proletariats' errichten könnte." . . . „Nachdem sein Sieg feststeht, reißt er sich die Perücke vom Kopf und den breiten Taschentuchverband von der Backe, mit dem er sich unkenntlich gemacht hatte. Er ernennt sich selbst zum Ministerpräsidenten von Rußland und seine nächsten Freunde zu Ministern. Da ihm das Wort .Minister' zu .kapitalistisch' klingt, nennt er sie .Volkskommissare'." . . . „Der Justizminister erläßt ohne Lenins Wissen ein Gesetz, das die Todesstrafe abschafft. Als Lenin davon erfährt, schäumt er vor Ärger. ,Wie kann man eine Revolution ohne Hinrichtungen m a c h e n ? ' fragt er. Einer der Volkskommissare schlägt vor, daß Gesetz auf dem Papier ruhig bestehen zu lassen. Die Regierung könne ja trotzdem auch weiterhin unfolgsame (!) Bürger erschießen lassen. Lenin schmunzelt. Der listige (!) Vorschlag gefällt ihm." (Alle Zitate: Klett X, S. 113 ff - man beachte, daß es ein „Minister" ist, der die Todesstrafe abschaffen, ein „Kommissar", der sie wieder einführen will!) „Seine Rede klang abgehackt, überzeugte aber geradezu suggestiv; besonders die Arbeiter wurden mitgerissen vom Feuer seiner Rhetorik. . . . Überzeugend wie erschreckend wirkte sein kaum zu überbietender Radikalismus. ,Raubt das Geraubte', rief er. Und das Millionenheer der Unterdrückten und Entrechteten glaubte endlich einen Sprecher gefunden zu haben. Dabei ging es Lenin weder um das russische Proletariat noch um Rußland überhaupt, sondern allein um die marxistische Zukunftshoffnung, die beginnende Weltrevolution." (Klett II, S. 110) Zur Leninschen Theorie: „Lenin war der orthodoxeste Marxist seiner Zeit; er glaubte jedes Wort, daß Marx und Engels geschrieben hatten. Seine Gegner erschlug er mit Zitaten aus den Werken beider Autoritäten (,Zitatenschockbehandlung'). Das hinderte ihn aber nicht, Marx gelegentlich auf seine Weise zu deuten und eigene Theorien hinzuzufügen, um den Marxismus den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen anzupassen, die Marx noch nicht gekannt hatte." (Klett II, S. 110 — Hervorhebung im Original) Da der Marxismus in allen Schulbuchdarstellungen als unrealistische Heilslehre denunziert wird (vergl. Abschnitt „Marxismus" in diesem Kapitel), andererseits Lenin — der in der internationalen Vorkriegssozialdemokratie zum Flügel der sogenannten „orthodoxen Marxisten" gehörte — der praktische Erfolg in der Leitung der sozialistischen Oktoberrevolution bescheinigt werden muß, stehen die Schulbuchautoren vor einem Dilemma. Besonders in neueren Darstellungen wird hier argumentiert, daß Lenin eine „Anpassung" des Marxismus an russische Verhältnisse vollzogen habe. 103
„Lenin hat aber in der Zeit seiner Emigration die marxistische Theorie in wichtigen Punkten verändert . . . und im Anschluß an die konspirative und revolutionäre Tradition der russischen Intelligenz die heute noch geltende politische Theorie des Kommunismus geschaffen." (Klett X, S. 8 1 ) „Er bekennt sich zwar zu den entscheidenden Prinzipien der Marxschen Geschichts- und Gesellschaftstheorie, aber bei der Übernahme und Verarbeitung der Marxschen Gedanken gibt er ihnen zu einem erheblichen Teil eine Bedeutung, die nicht mehr mit dem übereinstimmt, was Marx vorgetragen hat." (Diesterweg I X , S. 2 6 0 )
In der vorgeblichen „Russifizierung" des Marxismus liegt gleichsam das Verbindungsglied zwischen den „orthodoxen Marxisten" und dem „geborenen Praktiker". (Klett II, S. 1 1 0 ) Eine Kritik der personalisierenden Darstellung in den Geschichtsbüchern kann natürlich nicht in einer kategorischen Leugnung des Einflusses von Persönlichkeiten auf den geschichtlichen Verlauf bestehen. Die nationale und internationale Bedeutung der Tätigkeit Lenins wird auch in der marxistischen Diskussion häufig hervorgehoben. Seine Bedeutung wird aber nicht aus irgendwelchen metaphysischen Qualitäten, z. B. einer nicht weiter abgeleiteten „Überzeugungskraft" oder ähnlichem erklärt; vielmehr ist Lenin Theoretiker und bedeutendster Repräsentant einer qualitativen Weiterentwicklung der sozialistischen Bewegung, die sich nach der Oktoberrevolution weltweit in der Konstituierung kommunistischer Parteien manifestierte. Lenins internationale Bedeutung besteht darin, daß er Fragen, die sich für die Sozialisten in allen Ländern stellen — Probleme der Analyse der Entwicklung vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum monopolistischen Kapitalismus, Fragen der Strategie der sozialistischen Revolution und des sozialistischen Aufbaus — theoretisch erarbeitet und praktisch in einem Lande wesentlich vorangetrieben hat. Kurz: Lenin ist nicht zu verstehen und historisch einzuordnen ohne Kenntnis seiner Theorie und seiner praktischen Tätigkeit innerhalb der Partei der Bolschewiki. Ein grober Überblick über die Geschichte der Partei der Bolschewiki und der internationalen Sozialdemokratie aber zeigt eindeutig, daß die Forderung nach Frieden kein kurzfristiger taktischer Trick war — wie die Schulbücher suggerieren —, sondern eine grundsätzliche Forderung (vgl. etwa das Baseler Manifest von 1 9 1 2 , das zum Kampf gegen die Kriegsgefahr aufruft und insbesondere von Lenin und Rosa Luxemburg unterstützt wurde). Ebenso verhält es sich mit der Forderung nach Aufteilung der Adelsgüter. Auch sie war schon 1905 Bestandteil des Kampfprogramms der Bolschewiki. Die Spezifik der Theorie und Praxis der Bolschewiki (wie sie etwa in Lenins ,Aprilthesen' von 1917 zum Ausdruck kommt) bestand allerdings darin, daß sie davon ausgingen, daß in Rußland, wo der Sturz der zaristischen Herrschaft auf der Tagesordnung stand, die Aufgaben dieser demokratischen Revolution vom Bürgertum nicht gelöst werden konnten, da diese Klasse inzwischen selbst einen reaktionären Charakter angenommen hatte und bereit war, sich im Bündnis mit dem Adel 104
gegen die Arbeiter und Bauern zu stellen. Auf der Basis dieser Erkenntnis und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Monopolisierung weiter Industriezweige entscheidende materielle Bedingungen für den Übergang zum Sozialismus vorhanden waren, entwickelte Lenin die Theorie des Hinüberwachsens der bürgerlich-demokratischen in die sozialistische Revolution, also eine Revolution nicht mehr unter Führung der Bourgeoisie, sondern unter Führung der Arbeiterklasse. „Die Frage läuft stets auf dasselbe hinaus: Die Herrschaft der Bourgeoisie ist mit wahrhaft revolutionärer, wirklicher Demokratie unvereinbar. Man kann im 2 0 . Jahrhundert in einem kapitalistischen Land nicht revolutionärer Demokrat sein, wenn man Angst hat, zum Sozialismus zu s c h r e i t e n . " Diese Auffassung der Bolschewiki fand in der Praxis in der Provisorischen Regierung ihre Bestätigung. Ist es unter diesen Umständen verwunderlich, daß die Arbeiter und Soldaten von J u n i 1917 an mehrheitlich Bolschewiki in ihre Räte wählten, um ihre Interessen zu vertreten? Die Bolschewiki waren die einzige Partei, die eindeutig ihre Forderungen vertrat. 178
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Revolution
und
Auflösung
der
Konstituierenden
Versammlung
Auf den unbestreitbaren Tatbestand, daß die Bolschewiki im Oktober die Mehrheit der Arbeiter- und Soldatendeputierten stellten, gehen die Schulbuchautoren offensichtlich nur widerwillig ein. In einigen Darstellungen wird nur der Petrograder Sowjet erwähnt, in einer anderen Darstellung wird unterstellt, daß die Mehrheit der Bolschewiki auf dem II. Gesamtrussischen Sowjetkongreß — der am 2 6 . Oktober nach dem bewaffneten Aufstand die Sowjetregierung bildete — manipuliert sei: „Viele Abgeordnete verließen aus Protest gegen den bolschewistischen Umsturz den am folgenden Tag zusammentretenden Rätekongreß. So gewannen die Bolschewisten und die mit ihnen verbündeten Vertreter der landhungrigen Bauern die Mehrheit in ihm." (Schroedel/Schöningh V, S. 32) Hier wird in der Argumentation deutlich, wie nicht sein kann, was nicht sein darf: daß das von der Gesamtheit der russischen Arbeiter und Soldaten demokratisch gewählte Interessenvertretungsorgan mehrheitlich aus einer angeblich kleinen, radikalen Minderheit von Berufsrevolutionären besteht (ca. 4 0 0 von 6 5 0 Delegierten). In den untersuchten Büchern zeigt sich insgesamt eine ambivalente Haltung der Autoren zum Gelingen des bewaffneten Aufstandes und zur Festigung der Sowjetmacht. Sie stehen vor dem Dilemma, einerseits zugeben zu müssen, daß die Provisorische Regierung nicht die Bevölkerungsmehrheit hinter sich hatte, andererseits aber darauf zu insistieren, daß die die Staatsmacht ergreifenden Bolschewiki nicht im Interesse der Mehrheit des Volkes handelten. An diesem Punkt muß 105
das Argument von der Unmündigkeit der Massen herhalten. Dieses Argument wird nicht offen ausgesprochen — in dieser Schärfe würde es dem bürgerlich-parlamentarischen Anspruch der Autoren widersprechen — aber es findet in subtiler Form in fast alle Darstellungen Eingang (s. o.). Ein wichtiger Rettungsanker ist für die Schulbuchautoren der Tatbestand der Auflösung der Konstituierenden Versammlung durch den Rat der Volkskommissare. Hier wird — losgelöst von der Frage, wer die wirkliche Mehrheit des Volkes repräsentierte — der antidemokratische Charakter der Bolschewiki festgemacht. „Die Revolution der Bolschewisten beendete eine Epoche. Zwar hatte eine Minderheit gesiegt, wie die letzten freien Wahlen Ende 1917 bewiesen, diese Minderheit hatte aber nach Lenins Wort ,zum entscheidenden Zeitpunkt, an der entscheidenden Stelle das ausschlaggebende Übergewicht' besessen. Über den Willen der Bevölkerungsmehrheit — von 707 Sitzen in der Konstituante erhielten die Bolschewisten nur 175 — setzte sich Lenin mit Gewaltmaßnahmen hinweg." (Schroedel/Schöningh II, S. 8 4 )
Diese Darstellung enthält Fehler und Verdrehungen, die symptomatisch sind. Die Formulierung „letzte freie Wahlen" ist falsch und trägt außerdem eindeutig demagogischen Charakter: Die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung waren nicht die letzten, sondern die ersten und einzigen Wahlen, die in Rußland unter den Bedingungen einer bürgerlichen Republik stattfanden. Implizit argumentiert das Schulbuch hier im Sinne des Zarismus, der auch nicht davor zurückgeschreckt hatte, die Wahlen zur zaristischen Duma (einem Scheinmitbestimmungsgremium) als „freie Wahlen" zu bezeichnen. Zum anderen ist die Behauptung, die Wahlen zu den Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten seien keine „freien Wahlen" gewesen, nicht zutreffend. Eine nähere Untersuchung erweist nämlich, daß die Zusammensetzung der Konstituierenden Versammlung im Januar nicht repräsentativ für den Willen der Bevölkerung war. In der Konstituante hatten die Kadetten und rechten Sozialrevolutionäre die Mehrheit. Auf dem fast zur selben Zeit Qanuar 1 9 1 8 ) tagenden III. Gesamtrussischen Sowjetkongreß dagegen gab es eine eindeutige Mehrheit der Bolschewiki und linken Sozialrevolutionäre. Wie ist dies zu erklären? Klar ist, daß bei der Beantwortung dieser Frage die politische Willensbildung der Bauern, also der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung, entscheidend ins Gewicht fällt. Außerdem muß berücksichtigt werden, daß die Wahlen zur Konstituante bereits am 12. November 1917 stattgefunden hatten. Zwischen November und Januar hatte sich jedoch eine entscheidende politische Wandlung vollzogen. Die klassische Bauernpartei, die Partei der Sozialrevolutionäre, die noch im Oktober einheitliche Kandidatenlisten für die Wahlen zur Konstituante vorgelegt hatte, war inzwischen endgültig in einen linken und einen rechten Flügel gespalten. Die Mehrheitsverhältnisse auf dem Kongreß der Bauerndeputierten (November/Dezember 1 9 1 7 ) machen deutlich, daß schon zu diesem Zeitpunkt etwa die Hälfte der Bauern die 106
linken Sozialrevolutionäre gewählt hatte. Auf den Kandidatenlisten zur Konstituante vom Oktober 1917 waren aber fast ausschließlich rechte Sozialrevolutionäre vertreten. Insofern kann durchaus nicht etwa der gesamtrussische Sowjetkongreß, sondern die Konstituierende Versammlung als Verfälschung des Wählerwillens bezeichnet w e r d e n . Trotz dieser Tatsachen sprach sich das Zentralexekutivkomitee der Sowjets ( Z E K ) zunächst für die Abhaltung der Konstituante aus und schlug dieser vor, ein Gesetz über Neuwahlen zu verabschieden. Erst als dieser Vorschlag von der konterrevolutionären Mehrheit abgelehnt wurde, beschloß das ZEK die Auflösung der Versammlung. Zwar wird man kaum verlangen können, daß ein Schulbuch diese komplizierten Zusammenhänge im einzelnen darstellt, man wird aber erwarten dürfen, daß die erzwungene Vereinfachung keine Verkehrung der historischen Realität bedeutet, sondern ihre richtige Zusammenfassung. Ohne Frage ist die falsche Vereinfachung der Geschichte in Schulbüchern nicht von zufälliger Art: Die Verdrehungen und Auslassungen haben Methode. Im übrigen werden die Schulbuchautoren — mit einigem Recht — davon ausgegangen sein, daß es bei der Denunzierung der Ereignisse der Oktoberrevolution kaum sonderlicher Mühe bedürfe: Sie können ja aufbauen auf einem Bewußtsein der Bevölkerung, das durch 50 Jahre massive antibolschewistische Propaganda der Herrschenden geprägt ist. 180
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2. Novemberrevolution
Die Novemberrevolution 1918 in Deutschland hat in unserem Zusammenhang insofern einige Bedeutung, als die Etablierung der bürgerlich-parlamentarischen Republik in Deutschland gegen den Widerstand einer sozialistischen Opposition, die weitergehende Forderungen hatte, unmittelbar im Zusammenhang mit der heutigen gesellschaftlichen Situation interpretierbar ist. Mit der sozialdemokratischen Führung unter Ebert ist hier zugleich ein hervorragendes Identifikationsobjekt (Vaterfigur) für die Schüler vorgegeben, die lernen sollen, daß es gilt, die „freiheitlich-demokratische Grundordnung" gegen alle „kommunistischen" und „totalitären" Angriffe zu verteidigen. „Die Schüler sollen erkennen, wie es den demokratischen Kräften in Deutschland unter Führung Eberts gelang, die Gefahr einer extremistischen Entwicklung zu bannen und den Übergang zu einer verfassungsmäßig gesicherten parlamentarischen Demokratie zu gewährleisten." (Schroedel/Schöningh V I I I , S. 72)
Diese Lernzielbestimmung der Didaktik liegt in Einzeldarstellungen aller Schulbücher inhaltlich zugrunde. Es werden dabei folgende Schwerpunkte gesetzt: Die revolutionäre Situation ergibt sich aus dem militärischen Zusammenbruch der Mittelmächte. Dieser Zusammenbruch resultiert in 107
den Schulbüchern hauptsächlich aus einer fehlerhaften Politik des kaiserlichen Regimes, aus dem Primat militärischer Überlegungen gegenüber politischen und der Machtstellung der Obersten Heeresleitung. Der drohende Zusammenbruch der Westfront wird aus der Materialüberlegenheit der Ententetruppen erklärt. Diese Überlegenheit ist vor allem ein Produkt des Kriegseintritts der USA, der als Resultat des von Deutschland begonnenen uneingeschränkten U-Boot-Krieges dargestellt wird. „Wieder hatte sich die politische Führung den militärischen Forderungen gebeugt." (Schroedel/Schöningh V, S. 30) Die Aufforderung der Obersten Heeresleitung an den Reichskanzler in sofortige Waffenstillstandsverhandlungen zu treten, wird als politisch unvertretbar charakterisiert. „Da verlor Ludendorff die Nerven; völlig kopflos verlangte er am 28. 9. von der Regierung sofort ein Gesuch um Waffenstillstand, denn er befürchtete täglich den Zusammenbruch der Westfront und den Marsch der Alliierten über die Donau gegen die SO-Flanke des Reiches. Kaiser und Reichsleitung hatten gerade den Plan einer ,Revolution von oben' gefaßt, um die in Auflösung begriffene Heimatfront noch einmal zusammenzufassen. Reichskanzler Hertling trat zurück, Deutschland wurde parlamentarische Monarchie, Preußen erhielt das allgemeine, gleiche Wahlrecht . . . . . . So ließ Prinz Max (v. Baden, d. Verf.) auf immer neues Drängen der OHL in der Nacht vom 3. zum 4. Oktober gegen seine Überzeugung die Note an den amerikanischen Präsidenten abgehen, die die deutsche Kapitulation einleitete. . . . Wilsons Notenwechsel erweckte immer mehr den Eindruck, als verlange er zur Sicherung der demokratischen Staatsform in Deutschland die Beseitigung der Monarchie. Prinz Max versuchte deshalb, Wilhelm II. rechtzeitig zur Abdankung zu bewegen, um wenigstens die Monarchie zu retten; aber der Kaiser war entschlußlos. Da begann mit einer Marinemeuterei in Kiel der innerdeutsche Zusammenbruch." (Klett II, S. 101 f.) In dieser Darstellung wird der Eindruck erweckt, der „Zusammenbruch" der Monarchie sei wesentlich Produkt einer unflexiblen Politik der Reichsregierung, die zuviel Rücksicht auf die Militärs genommen und die „Revolution von oben" nicht schnell genug durchgeführt habe. „Wilhelm II. schwankt in seinen Entschlüssen. Er zögert so lange, bis Anfang November 1918 in Kiel die Matrosen auf den Kriegsschiffen zu meutern beginnen." (Klett X, S. 112) „Die Bildung einer dem Parlament verantwortlichen Regierung war zu spät gekommen, um die über das Versagen der deutschen Führung erregten, kriegsmüden Volksmassen zu beschwichtigen." (Schroedel/Schöningh V, S. 36) In dieser Darstellung der Hintergründe der Novemberrevolution zeigt sich wiederum die Unfähigkeit der Schulbuchautoren, Revolutionen und andere große soziale Bewegungen aus den inneren Widersprüchen einer Gesellschaft zu erklären. Außenpolitische Faktoren und die subjektive Unfähigkeit von Regierungsvertretern werden zu Ursachen der Revolution ernannt. So muß offenbleiben, warum die Versuche der Herrschenden, durch Zugeständnisse — die Aufnahme von Friedensverhandlungen und die Einbeziehung von Sozialdemokra108
ten in die Regierung — ihre Herrschaftsposition zu retten, scheiterten. Die Autoren sind offensichtlich außerstande, beschleunigende Momente der Entwicklung einer revolutionären Situation (und um solche handelt es sich bei den angeführten „Ursachen") von den tieferen sozialen Wurzeln des Konflikts zu unterscheiden, über die sie kein Wort verlieren. Was für die Petrograder Arbeiter gilt, gilt auch für die Kieler Matrosen. Sie waren keine „wilden Haufen", sondern organisierte, gewerkschaftlich und politisch aktive Arbeiter. Sie waren nicht etwa „über das Versagen der deutschen Führung erregt" — eine solche Darstellung unterschiebt ihnen, letztlich seien sie ja mit der Kriegspolitik einverstanden gewesen, nur die miserable Führung habe sie unzufrieden gemacht —, sie befanden sich vielmehr in einer prinzipiellen Opposition zum kaiserlichen Regime. Dieselben Matrosen hatten schon im Juli/August 1917 gemeutert — allerdings erfolglos. Zwei ihrer Führer, die Matrosen Reichpietsch und Köbis, waren zum Tode verurteilt worden. Die Matrosenmeuterei vom November 1 9 1 8 ist nur im Zusammenhang mit den vielen Antikriegsaktionen zu verstehen, die seit 1 9 1 6 stattgefunden hatten (z. B. dem Berliner Munitionsarbeiterstreik vom Januar 1 9 1 8 ) . Daß diese Aktionen nicht schon eher erfolgreich waren, hat unter anderem seine Ursache darin, daß die Arbeiterbewegung seit 1 9 1 4 faktisch gespalten war. Die offiziellen Führer der Arbeiterbewegung, die sozialdemokratische Führungsspitze und die Parlamentsfraktion, hatten 1 9 1 4 mit dem kaiserlichen Regime gemeinsame Sache gemacht und entgegen allen Beschlüssen der sozialistischen Internationale die Kriegskredite bewilligt. Der innerparteiliche Widerstand gegen diese Politik manifestierte sich zunächst nur in der Bildung der oppositionellen Spartakusgruppe, dann, 1 9 1 7 , kam es endgültig zur Spaltung der Partei (Bildung der USPD). Es ist erwiesen, daß sowohl Ludendorff als auch die Reichsregierung relativ früh und klug kalkulierend die Einbeziehung der sozialdemokratischen Führer in die Regierungsgeschäfte geplant haben. So äußerte Ludendorff am 1. Oktober 1 9 1 8 : „Ich habe aber S. M. (den Kaiser, d. Verf.) gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise in die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu danken haben, daß wir so weit gekommen sind. Wir werden also diese Herren jetzt in die Ministerien einziehen sehen. Die sollen den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muß. Sie sollen die Suppe essen, die sie uns eingebrockt h a b e n . " Von einer Besprechung General Groeners mit den sozialdemokratischen Führern wird berichtet: „Nachdem alle Herren versammelt waren, besprach zunächst Ebert die Lage in kurzen Ausführungen. Es sei jetzt nicht die Zeit, nach den Schuldigen für den allgemeinen Zusammenbruch zu suchen. Die allgemeine Stimmung im Volk sähe aber im Kaiser den Schuldigen, ob mit Recht oder Unrecht, sei jetzt gleichgültig. Die Hauptsache sei, daß das Volk den vermeintlichen Schuldigen an dem Unglück von seinem Platz entfernt sehen wolle. Daher sei die Abdankung des Kaisers, wenn man den Übergang der Massen in 1 8 2
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das Lager der Revolutionäre und damit der Revolution verhindern wolle, unumgänglich notwendig. Er schlage vor, daß der Kaiser noch heute, spätestens morgen (7. November, d. Verf.) freiwillig seine Abdankung erkläre und einen seiner Söhne, vielleicht den Prinzen Eitel Friedrich oder den Prinzen Oskar, mit der Regentschaft b e t r a u e . " Ebert, Scheidemann und Noske waren bereit, mit den Vertretern der Generalität ein Bündnis für eine konstitutionelle Monarchie einzugehen — daß dieses gemeinsame politische Ziel nicht realisiert wurde, hat andere Gründe als ein Zögern des Kaisers. Offensichtlich half keine noch so kluge politische Taktik mehr, das Gefürchtete zu verhindern. Auch der rechte Flügel der Sozialdemokratie konnte die revolutionären Ereignisse nicht mehr aufhalten. Hierzu heißt es in demselben Bericht: „ . . . war der Staatssekretär Scheidemann ans Telephon gerufen worden. Nach wenigen Minuten kam er kreidebleich, vor Aufregung am ganzen Körper zitternd, wieder herein und unterbrach den Abgeordneten David mit den Worten: ,Die Abdankungsfrage steht jetzt gar nicht mehr zu Diskussion. Die Revolution marschiert.' . . . Als die Herren sämtlich das Zimmer verlassen hatten, äußerte ich (Oberst v. Haeften, d. Verf.) zu General Groener: ,Das bedeutet die Revolution — diese Führer haben die Massen nicht mehr in der Hand. Wenn sie deren Willen nicht tun, sind die Generäle ohne T r u p p e n . ' " In den Schulbüchern wird nicht deutlich, daß alle Gruppierungen des herrschenden Systems — OHL, Regierung und Kaiser — vor einem objektiven Dilemma standen: entweder durch schnelle Friedensbemühungen alle Kriegsziele aufzugeben oder durch weitere Kriegführung die Revolution zu beschleunigen. In dieser Situation suchten sie Rettung in der Übergabe der Regierungsgeschäfte an die Sozialdemokratie. „,Der Kaiser hat abgedankt', verkündet mittags (d. 9. Nov., d. Verf.) der Reichskanzler Prinz Max von Baden. Dann tritt er zurück und übergibt sein Amt dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert, dem Führer der stärksten Partei im Reichstag. ,Ich lege Ihnen das Deutsche Reich ans Herz', sagt der scheidende Kanzler mit bewegter Stimme. Ebert senkt den Blick. ,Ich habe für dieses Reich während des Krieges zwei Söhne geopfert', gibt er leise zur Antwort." (Klett X, S. 117) Es ist bezeichnend, daß die hier zitierte Darstellung der Übergabe der Regierungsgeschäfte an die sozialdemokratische Führung fast wörtlich — und kommentarlos — aus den Memoiren Prinz Max v. Badens abgeschrieben i s t . Hier erweist sich die Geschichtsschreibung der Schulbuchautoren buchstäblich als Geschichtsschreibung aus dem Blickwinkel der reaktionären, antidemokratischen Kräfte. Gleichzeitig verrät diese Vorgehensweise, daß die Schulbuchautoren auch bei der Darstellung der Novemberrevolution die Vorgänge personalisieren. Der Kaiser, der General, der Prinz und der Parteiführer sind die Hauptakteure. Dabei gewinnt die Person Eberts geradezu Symbolcharakter. Die Didaktik rät, die Person Eberts und seine Rolle in der Novem1 8 3
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berrevolution folgendermaßen zu behandeln: „Ebert traute den Deutschen einen revolutionären Umsturz nicht zu; er war davon überzeugt, daß der Appell an die Einsicht in die Notwendigkeit des Augenblicks und die dem einzelnen übergeordneten Interessen der Gemeinschaft erfolgreich sein würde; er selbst stellte das Ganze über den Teil (die Nation über die Klasse, das Volk über die Partei) . . . " (Schroedel/Schöningh VI I I , S. 7 3 )
Ebert verkörpert in den Schulbuchdarstellungen den über den Klassen und Parteien stehenden Repräsentanten der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie. Als sozial aufgestiegener Sohn eines Flickschneiders ist er ein Symbol, durch das auch die Arbeiterklasse als in das System integriert erscheint. , J e t z t am Ende des Weltkriegs, als die Großen versagen, soll er, der einfache Mann aus dem Arbeiterstand, über das künftige Schicksal Deutschlands entscheiden." (Klett X, S. 1 1 7 )
Nur Borniertheit und Kurzsichtigkeit hindern die Vertreter des alten kaiserlichen Regimes daran, ihn als Garanten auch ihrer Interessen zu akzeptieren. „Eberts Gegner auf der Rechten vermochten nicht, über die soziale und politische Herkunft des Präsidenten hinwegzusehen und sein staatsmännisches Geschick zu würdigen. Sie verfolgten ihn bis in den Tod mit Hohn und gemeiner Verleumdung als ,Landesverräter'. Für die Kommunisten blieb er bis heute ein ,Arbeiterverräter'." (Schroedel/Schöningh V, S. 7 0 )
Ebert ist also als Prototyp des „Mannes der Mitte" vorzustellen. Wer ihm vorwirft, er habe gegen die Interessen der Arbeiterschaft gehandelt, als er sich mit der Reaktion verbündete, macht sich demnach einer totalitären Anschauungsweise schuldig — wie durch die sprachliche Gleichsetzung rechter und linker Ebertgegner im zuletzt zitierten Schulbuch suggeriert wird. Eberts historische Leistung besteht in den Schulbuchdarstellungen vor allem darin, die Gefahr von links abgewendet zu haben. „Ebert wurde zum Reichspräsidenten gewählt. Damit zollten die Abgeordneten dem Politiker Anerkennung, der in entscheidender Stellung durch sein besonnenes Wirken den Ubergang vom Kaiserstaat zur Republik gelenkt und dabei die Gefahr der Bolschewisierung abgewehrt hatte." (Schroedel/Schöningh V, S. 6 9 )
Die linkssozialdemokratische und kommunistische Opposition gegen den Kurs der rechten Sozialdemokratie unter Ebert, Noske und Scheidemann, vor allem die Politik der neugegründeten KPD, die eine Sicherung der Ergebnisse der Revolution durch die Arbeiter- und Soldatenräte forderte, wird als „bolschewistisch" und somit „russisch" denunziert. „Die Herrschaft der Spartakisten war eine ,Schreckensherrschaft'." (Schroedel/Schöningh V I I I , S. 7 3 ) „Die ,Spartakisten' erstrebten unter Führung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs eine radikale Umwälzung, einen Rätestaat nach russischem Muster." (Schroedel/Schöningh V, S. 6 6 )
Auch in der Darstellung der Novemberrevolution wird wieder der unvermittelte Gegensatz von Demokratie und Diktatur konstruiert. Die Spartakisten firmieren als „antidemokratische Kräfte". (Schroedel/Schöningh V I I I , S. 73) 111
„Diese Entscheidung (Einberufung der Nationalversammlung durch Ebert, d. Verf.) erweckte wilden Haß bei den Kommunisten, wie sich Liebknechts Anhänger jetzt nach russischem Vorbild nennen. Bei freien Wahlen haben sie keine Aussicht, eine Mehrheit zu erringen. Daher plant Liebknecht vorher einen Gewaltstreich gegen die rechtmäßige Regierung." (Schroedel/Schöningh VIII, S. 118)
Der Druck der Linken auf die rechtssozialdemokratische Regierung stellt diese vor die Alternative, entweder Zugeständnisse gegenüber deren Forderungen zu machen, oder sich mit den Kräften des kaiserlichen Regimes zu verbünden. Der Januaraufstand wird nach diesem Schema erklärt: Links schaukelt rechts hoch. „Im Januar 1919 kam es erneut in Berlin zu schweren Straßenkämpfen. Die Regierung glaubte, dieser Bedrohung des Staates durch die radikale Linke nur dadurch Herr werden zu können, daß sie sich auf die Kräfte der Rechten stützte, die in der Mehrheit aber auch antidemokratisch eingestellt waren." (Schroedel/Schöningh V, S. 6 6 ) „Damit war es der Regierung gelungen, die parlamentarisch-demokratische Staatsordnung gegen die Anhänger des Rätestaates durchzusetzen. Sie hatte freilich wesentliche Machtbefugnisse an ihre Gegner von rechts übertragen müssen." (Schroedel/Schöningh V, S. 6 9 )
Diese Erklärungsweise der Anfänge der Weimarer Republik hat große Bedeutung im Zusammenhang mit der Darstellung des Endes der Republik und des sogenannten Totalitarismus. Die zentralen Thesen dieser Darstellung — daß die SPD mit Ebert an der Spitze einen konsequent demokratischen Kurs verfolgt habe, — daß die Entstehung der Räte und die Gründung der KPD sich „nach russischem Muster" vollzogen hätten, — daß das schließliche Bündnis Eberts mit der Reichswehr und den Freikorps eine Reaktion auf putschistische Aktionen der KPD sei — können nur auf Grund von Auslassungen und Verdrehungen der historischen Faktizität aufrechterhalten werden. Die Revolution breitete sich von Kiel aus über ganz Deutschland aus und schuf sich ihre Organe, die Arbeiter- und Soldatenräte. Selbst der konservative Historiker G. A. Ritter betont, daß die Bildung der Räte „spontan" vor sich ging. Insofern ist es einfach falsch, wenn in den Schulbuchdarstellungen gesagt wird, der Spartakusbund erstrebe eine Räteherrschaft nach russischem Muster. Liebknecht und Luxemburg forderten vielmehr nichts anderes, als die Anerkennung derjenigen Organe, die den Sturz der alten Ordnung in Deutschland herbeigeführt hatten, als rechtmäßige Institutionen einer neuen Staatsordnung. Sie forderten dies, obwohl die Kommunisten/Spartakisten in den Räten nur eine kleine Minderheit darstellten. Die Führer der rechten Sozialdemokratie konnten sich in den ersten Tagen der Revolution dieser Forderung, die offensichlich nicht nur von Liebknecht gestellt, sondern von der Mehrheit der Berliner Arbeiter unterstützt wurde, nicht ganz entziehen. Sie sahen sich gezwungen, sich als „Volksbeauftragte" vom Berliner Arbeiter- und Soldatenrat bestätigen zu lassen. 186
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Im Verlaufe der nächsten Wochen gelang es den Regierungssozialisten jedoch, ihre Position zu festigen, nicht zuletzt deshalb, weil sie durch die Einbeziehung von USPD-Mitgliedern in den Rat der Volksbeauftragten ihre Basis in der Arbeiterschaft festigen konnten. Der am 16. Dezember 1918 zusammengetretene Reichsrätekongreß entmachtete sich selbst zugunsten der Nationalversammlung. Der Kongreß betonte zwar: „Die Kommandogewalt über Heer, Marine und Schutztruppen üben die Volksbeauftragten unter Kontrolle des Vollzugsrats (der Arbeiter- und Soldatenräte, Hervorhebung v. d. Verf.) aus." Damit verkannte er jedoch die Situation. Intensive Vorbereitungen waren schon im Gange, „in Berlin die Gewalt den Arbeiterund Soldatenräten zu e n t r e i ß e n " . General Groener berichtet über die Pläne beim Truppeneinzug in Berlin am 10. Dezember 1 9 1 8 : „Wir haben für diesen Einmarsch, der gleichzeitig die Gelegenheit bringen sollte, wieder eine feste Regierung in Berlin aufzustellen — ich muß jetzt unter meinem Eid aussagen, die Herren haben mich gefragt, infolgedessen muß ich in Gottes Namen reden, was ich bisher immer aus guten Gründen nicht getan habe — ein militärisches Programm ausgearbeitet für die Einzugstage. In diesem Programm war tageweise enthalten, was zu geschehen hätte: die Entwaffnung Berlins, die Säuberung Berlins von Spartakiden usw. . . . Ich bin Herrn Ebert dafür dankbar und habe ihn auch, wegen seiner absoluten Vaterlandsliebe und restlosen Hingebung an die Sache überall verteidigt, wo er angegriffen w u r d e . " Gleichzeitig kam es zu Provokationen von der Seite der Gegenrevolution. Schon am 6. Dezember hatten Gardefüsiliere auf eine friedliche Spartakus-Demonstration geschossen, während gleichzeitig Soldaten versuchten, den Berliner Vollzugsrat zu verhaften und Ebert zum „Reichspräsidenten" zu e r n e n n e n . Diese Entwicklung fand ihren Höhepunkt im Januar 1919 mit der Absetzung des linkssozialistischen Berliner Polizeipräsidenten Eichhorn durch den — inzwischen nur noch aus Mehrheitssozialisten bestehenden — Rat der Volksbeauftragten. In Reaktion darauf kam es zum Versuch eines bewaffneten Aufstandes gegen Ebert und Scheidemann, zu den sogenannten Januarunruhen. Dieser Aufstandsversuch war keineswegs von der KPD geplant. Am 5. Januar kam es zu einer Protestdemonstration gegen die Entlassung Eichhorns, an der sich ca. 100 0 0 0 Berliner Bürger beteiligten. Die Führer der Berliner Arbeiterschaft, die „revolutionären Obleute", unter denen die KPD nur eine / -Minderheit stellte, entschlossen sich zum Aufstand. Die KPD schloß sich der Mehrheit an, obwohl sie noch vorher die Auffassung vertreten hatte, „daß es sinnlos sei, die ,Regierung' anzustreben. Nach ihrer Meinung hätte eine auf das Proletariat gestützte Regierung nicht länger als 14 Tage zu leben g e h a b t . " 1 8 7
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Insofern ist es absurd, wenn in einer Unterstufen-Schulbuchdarstellung von einem geplanten „Gewaltstreich" Liebknechts die Rede ist. (Klett X, S. 118) 113
Liebknecht selbst schrieb zu den Ereignissen in seinem letzten Artikel vor seiner und Rosa Luxemburgs Ermordung: ,„Spartakus niedergerungen!' . . . Jawohl, sie wurden geschlagen, und es war historisches Gebot, daß sie geschlagen wurden. Denn die Zeit war noch nicht reif. Und dennoch — der Kampf war unvermeidlich, denn das Polizeipräsidium, dieses Palladium der Revolution, den Eugen Ernst und Hirsch kampflos preisgeben, wäre ehrlose Niederlage gewesen. Der Kampf war dem Proletariat aufgezwungen von der Ebert-Bande; und elementar brauste es aus den Berliner Massen hervor — über alle Zweifel und Bedenken hinweg. Jawohl! Die revolutionären Arbeiter Berlins wurden geschlagen. Und Ebert-Scheidemann-Noske haben gesiegt. Sie haben gesiegt, denn die Generalität, die Bürokratie, die Junker von Schlot und Kraut, die Pfaffen und die Geldsäcke, und alles was engbrüstig, beschränkt, rückständig ist, stand bei ihnen: Und siegte für sie mit Kartätschen, Gasbomben und Minenwerfern." Nach der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg war es Ebert, der im aktiven Bündnis mit der Reaktion die militärische Besetzung Berlins geplant hatte, nach knapp zwei Monaten gelungen, das zu „gewährleisten", was die Schulbücher „den Übergang zur verfassungsmäßig gesicherten parlamentarischen Demokratie" nennen. 192
E. Das Ende der Weimarer Republik Mit der Weimarer Republik war als Ergebnis der Novemberrevolution die erste bürgerlich-parlamentarische Demokratie auf deutschem Boden entstanden. Bürgerlich war diese Demokratie darum, weil sie — ebenso wie das von ihr abgelöste Kaiserreich — auf bürgerlichen Eigentumsverhältnissen, also der kapitalistischen Produktionsweise beruhte. Politisch jedoch setzte die Republik an die Stelle des kaiserlichen Obrigkeitsstaates ein parlamentarisches System und war insofern ein wichtiger gesellschaftlicher Fortschritt in der deutschen Geschichte. Der Fortschritt währte aber nur wenige Jahre: Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre wurde die demokratische Verfassung zunächst durch eine Reihe von Präsidialdiktaturen ausgehöhlt (Brüning, Papen, Schleicher), bis schließlich 1933 die faschistische Diktatur die Republik vollständig vernichtete. Nach 1945 wurde in den Westzonen auf Betreiben der Besatzungsmächte ein politisches System geschaffen, das der Weimarer Republik ähnlich ist: Auch die B R D ist eine bürgerlich-parlamentarische Demokratie. Eine Untersuchung der für die Zerstörung der Weimarer Republik verantwortlichen gesellschaftlichen und politischen Kräfte ist daher von konkreter und aktueller Bedeutung. Aus der historischen Untersuchung ergibt sich nämlich die Antwort auf die Frage, welche 114
Kräfte in der B R D das erreichte Maß an Demokratie bedrohen oder eines Tages bedrohen könnten. Zunächst ein Blick in die Schulbücher. Die Weimarer Republik war auch nach Auffassung der Schulbuchautoren die erste deutsche Demokratie (die Bezeichnung „bürgerliche Demokratie" verwenden sie allerdings nicht — eine andere Form der Demokratie als die bürgerliche gibt es nach ihrer Meinung offenbar nicht). Während aber die Verfassung nach Ansicht der Schulbuchautoren ein Höchstmaß an Demokratie ermöglichte, war das Volk infolge der obrigkeitsstaatlichen deutschen Tradition an demokratische Denkund Verhaltensweisen noch nicht hinreichend gewöhnt. Zu dem Mangel an demokratischem Bewußtsein der Bürger kam — so die Darstellung in den Schulbüchern — die Weltwirtschaftskrise mit ihren verheerenden sozialen Folgen wie Massenarbeitslosigkeit, Kurzarbeit und Hungersnot. Diese beiden Faktoren ermöglichten es den radikalen Parteien von rechts und links (Nationalsozialisten und Kommunisten), die Wähler gegen die bestehende Demokratie aufzuhetzen; schließlich löste die nationalsozialistische Diktatur die demokratische Republik ab. Dies sind die Grundgedanken der Schulbuchautoren bei der Beschreibung des Untergangs der Weimarer Republik. Sie werden im folgenden zunächst mit Zitaten aus den Schulbüchern belegt. Im Anschluß daran wird kurz erläutert, welche aktuelle politische Funktion die These von der Zerstörung der Weimarer Republik durch die Extremen von rechts und links besitzt. Am Ende werden einige Einwände gegen diese Geschichtsinterpretation formuliert. Die Verfassung der Weimarer Republik wird — als „Beweis" für die demokratische Struktur der Republik — in allen Schulgeschichtsbüchern verhältnismäßig ausführlich dargestellt. Während einerseits die Verfassung insgesamt als sehr fortschrittlich, freiheitlich und demokratisch gewertet wird, betonen die Autoren andererseits die mangelnde inhaltliche Ausfüllung der Demokratie durch die Staatsbürger, denen es an demokratischem Bewußtsein gefehlt habe. „Allen Unruhen und Umsturzversuchen nach Kriegsende zum Trotz gelang es Ebert und seiner Partei, Deutschland auf den Weg zu einem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat zu führen . . . Es wurde eine sehr freiheitliche Verfassung . . . Eines aber konnte auch die beste Verfassung nicht schaffen: Genügend Menschen, die sich für den neuen Staat einsetzten . . . Was der deutschen Republik fehlte, um in guter Verfassung zu sein, waren bewußte Republikaner." (Klett VI, S. 29) „Da die alte Gesellschaftsordnung mit ihrer wirtschaftlichen und verwaltungstechnischen Machtverteilung im wesentlichen erhalten geblieben war, entsprach der demokratischen Verfassungsstruktur kein hinreichend starkes demokratisches Staatsgefühl . . . Die politische Einsicht der Bürger entsprach nicht ihrer Verfassung." (Schroedel/Schöningh II, S. 106) „Unter schwerer äußerer und innerer Bedrängnis war diese Verfassung geschaffen worden, die man im Hinblick auf die Freiheit und Einflußmöglichkeit, die sie den Bürgern gewährte, als die demokratischste der Welt bezeichnete. Sie setzte allerdings eine politische Reife voraus, die das deutsche Volk aufgrund der bisherigen obrigkeitsstaatlichen Verhältnisse noch nicht besaß. Ihre Bestimmun115
gen gewährten Freiheiten, die von den Feinden der Freiheit mißbraucht werden konnten." (Schroedel/Schöningh V, S. 72) Einerseits beklagen also die Schulbücher das mangelnde demokratische Bewußtsein der Massen und führen es zu Recht auf obrigkeitsstaatliche Traditionen zurück. Andererseits hat unsere Analyse an anderen Stellen gezeigt, daß die Massen überall, wo sie in der Geschichte selbständig zu handeln versuchen, von den Schulbuchautoren denunziert werden. Am Beispiel der Französischen Revolution, des Bauernkrieges, der Oktober- und Novemberrevolution ließ sich immer wieder zeigen, daß die z. T. gewaltsame Unterdrückung von Emanzipationsbestrebungen der Volksmassen in den Schulbüchern positiv als Wiederherstellung von „Ruhe und Ordnung" bewertet wird. Wie aber soll ein Volk demokratisches Bewußtsein entwickeln, wenn dessen Versuche, eine reale Demokratie zu errichten (1848er Revolution, Novemberrevolution 1 9 1 8 ) , stets von der jeweils herrschenden Klasse und ihrem Staat unterdrückt wurden? Die Darstellung der Schulbücher ist hier also schon in sich widersprüchlich. Ein ähnlicher Widerspruch liegt vor, wenn man das Weiterbestehen der „alten Gesellschaftsordnung" und „Machtverteilung" als Grund dafür nennt, daß die Demokratie nicht zu Kräften kam, andererseits aber gerade die Parteien, die dafür verantwortlich waren, als „demokratisch" bezeichnet, die Kräfte dagegen, die Gesellschaftsordnung und Machtverteilung verändern wollten, als „undemokratisch" diffamiert. Der Mangel an demokratischem Bewußtsein bildete jedenfalls — nach Auffassung der Schulbuchautoren — von Beginn der Republik an den Nährboden für die Wühlarbeit der „Radikalen von rechts und links". Nationalsozialisten und Deutschnationale einerseits, Kommunisten andererseits werden gemeinsam als „Radikale", „Extreme", „Antidemokratische Kräfte" oder „Republikfeinde" bezeichnet und den „demokratischen" Parteien der Weimarer Koalition gegenübergestellt. Die Gemeinsamkeiten von Rechts- und Linksradikalen bestehen dabei — angeblich — vor allem in ihren Zielsetzungen. Das einzige konkret benannte gemeinsame Ziel ist allerdings die Opposition gegen die parlamentarische Demokratie. Was an deren Stelle gesetzt werden soll, wird entweder überhaupt nicht gesagt oder durch negative Reizworte („Bolschewistische Diktatur") ausgedrückt, die eine inhaltliche Argumentation ersetzen sollen. „Von Anfang an bedrohten die extremen Parteien von rechts und links ihre (der Weimarer Republik, d. Verf.) Existenz. Die Rechtskreise wünschten die Rückkehr in die Monarchie, die Kommunisten eine Diktatur nach bolschewistischem Muster." (Klett II, S. 145) „Feinde der Republik waren vor allem die Rechtsradikalen, die ihr die Schuld am verlorenen Kriege gaben und zum alten Obrigkeitsstaat zurück wollten, und die kommunistischen Linksradikalen." (Klett VI, S. 37) Überschrift: „Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik". „Für eine Demokratie ist eine starke Opposition gut, für die Weimarer Demokratie aber war die Opposition lebensgefährlich, denn sie stand bald nicht mehr auf dem Boden der Verfassung, sondern wandte sich gegen den Weimarer Staat über116
haupt, gegen jede Demokratie oder zumindest gegen ihre parlamentarische Form. Die Kommunisten lehnten den bürgerlichen Staat und seine kapitalistische Wirtschaftsform ab. Die radikale Rechte verwarf die Demokratie als nüchtern-rationales Gebilde zugunsten eines Irrationalismus . . . " (Schroedel/Schöningh II, S. 1 1 1 )
Wenn man die im letzten Zitat enthaltene Behauptung, für eine Demokratie sei eine starke Opposition gut, für die Weimarer Demokratie aber sei sie „lebensgefährlich" gewesen, zu Ende denkt, offenbart sich, wie geschichtslos die Gesellschaftsauffassung der Schulbuchautoren ist. Es gibt nämlich danach eine „gute Opposition" — gemeint sind die Parteien, die den Status quo der Gesellschaft akzeptieren und nur innerhalb der bestehenden Ordnung divergierende Auffassungen haben — und eine „schlechte (lebensgefährliche) Opposition" — gemeint sind ohne Unterschied alle Kräfte, die eine ,grundlegende' Veränderung, was wiederum nicht genau definiert wird, der Verhältnisse wünschen. Die „schlechte" Opposition, so impliziert unausgesprochen das Schulbuch, sollte man nicht dulden, um das „Leben" der Demokratie nicht zu gefährden. In der Praxis heißt es: Alle systemkritischen Kräfte sind zu unterdrücken, jede Entwicklung der menschlichen Gesellschaft über den jeweils herrschenden Zustand hinaus ist zu verhindern. Die bestehende bürgerliche Gesellschaft wird damit willkürlich zum Endzustand der Menschheitsgeschichte e r k l ä r t . Außerdem wird durch die Gleichsetzung von links und rechts unter dem Oberbegriff „radikal" die historische Realität auf den Kopf gestellt — die politische Rechte, so extrem sie immer sein mag, ist niemals radikal, da ihre Kritik sich auf die Staatsform, die Sitten usw. beschränkt und die Gesellschaftsstrukturen niemals angreift — und damit die Emanzipation (die nur von links erkämpft werden kann) durch die krude Reaktion, mit der sie wesensgleich sei, diskreditiert. Wenn man die Geschichte auf diese Weise undeutlich gemacht hat, ergibt sich das Verschweigen der Tatsache, daß der antifaschistische Widerstand von Anfang an fast ausschließlich von der politischen Linken, insbesondere von den Kommunisten getragen wurde (s.u.), als notwendige Konsequenz. 193
Durch den Mangel an demokratischer Gesinnung im Volk war nach Ansicht der Schulbuchautoren die Möglichkeit für das Wirken der „Radikalen" gegeben. Damit aus dieser Möglichkeit geschichtliche Wirklichkeit wurde, mußten Umstände eintreten, die das Volk im verstärkten Maße in die Arme der „Radikalen" trieben. Diese Umstände sehen die Schulgeschichtsbücher vor allem in der Wirtschaftskrise mit ihren sozialen Folgen: der Massenarbeitslosigkeit und dem damit verbundenen Elend. 194
„In manchen Städten war jeder dritte Arbeitnehmer ohne Verdienst. Von morgens bis abends saßen kräftige, gesunde Männer in den öffentlichen Anlagen und spielten Karten oder standen in den Straßen herum und warteten . . . Die Kaufleute machten immer schlechtere Geschäfte. Kleinere Fabriken mußten reihenweise schließen, die Gewinne sanken allgemein . . . Das Elend wuchs. Die Unglücklichen und Unzufriedenen aber lauschten begierig jeder ,Weltanschauung',
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die behauptete, die Ursache der Krise einfach erklären zu können und vor allem — schnelle Hilfe zu bringen . . . Die antidemokratischen Parteien hatten wachsenden Zulauf, besonders diejenigen, die am lautesten schimpften und am meisten versprachen, die radikalen Parteien. ,Nur die Diktatur des Proletariats kann Euch helfen', predigte die radikale Linkspartei, die KPD. ,Die Juden, Marxisten und Demokraten sind schuld an Eurem Unglück', verkündete die radikale Rechtspartei, die NSDAP." (Klett, VI, S. 51). „Wirtschaftliche Not und schiere Angst verstärkten die sozialen Gegensätze. Vielen galt mit der freien Wirtschaft auch der demokratische Staat als überwunden. Besonders in Europa gewannen planwirtschaftliche Vorstellungen sozialistischer oder nationalistischer Art immer mehr Anhänger . . . Die Propaganda der Radikalen nutzte die Verelendung aus, um alle Zukunftshoffnungen auf ihre antidemokratischen Lösungen zu konzentrieren." (Diesterweg VI, S. 47) „Die Neuwahlen vom 14. 9. 1930 zeigten die politischen Auswirkungen der Krise. Die Nationalsozialisten zogen mit 107 (bisher 12) Abgeordneten als zweitstärkste Partei in den Reichstag ein, die Kommunisten wurden drittstärkste Fraktion. Nahezu 40 % aller Wähler hatten ihre Stimmen den Parteien gegeben, die offen ihre Staatsfeindschaft bekundeten." (Schroedel/Schöningh V, S. 102) Der „Mangel an demokratischer Gesinnung im V o l k " (Klett II, S. 154) und die sozialen Folgen der Weltwirtschaftskrise waren also nach Auffassung der Schulbuchautoren die entscheidenden Voraussetzungen für den Untergang der Weimarer Republik. Einen wesentlichen Anteil am Ende der Republik schreiben die Schulbücher zu Recht auch den Präsidialdiktaturen zu, die als Ubergang vom parlamentarischen System zum Führerstaat angesehen werden. Die Präsidialdiktatur Brünings allerdings wird in den meisten Schulbüchern positiv gegen die durchweg offen verurteilten Regierungen Papen und Schleicher abgesetzt. Während es in Diesterweg III immerhin noch heißt: „Die Politik, die Brüning machte, ist noch heute umstritten" (S. 5 0 ) , werden in anderen Büchern Brünings angeblich „gute Absichten" in den Vordergrund gestellt. „Das Ziel des aus der christlichen Gewerkschaftsarbeit kommenden Brüning war es, den Staat . . . durch die Krise zu steuern, nicht aber einer Diktatur den Weg zu bereiten." (Diesterweg VIII, S. 157) „Lauter und nüchtern ging dieser überzeugte Katholik den Weg harter Pflichterfüllung, bereit, den Ansturm des Nationalsozialismus abzuwehren, auch auf die Gefahr hin, daß seine Politik unpopulär sei." (Klett II, S. 152, Hervorhebung von uns). Wie es tatsächlich mit der „Lauterkeit" des Heinrich Brüning bestellt war, haben nicht zuletzt Brünings inzwischen veröffentlichte aufgedeckt. Darin wird in aller Offenheit, wenn auch Memoiren erst nachträglich, beschrieben, wie Brüning bereits seit Oktober 1930 durch Geheimabsprachen mit Hitler und anderen NSDAP-Führern die Seine grundzukünftige Entwicklung Deutschlands geplant h a t . legenden Ziele waren, und darin stimmte er mit Hitler überein, intensive Aufrüstung und Revision der im Versailler Vertrag festgelegten Differenzen zwischen Brüning und den NationalsoGrenzen. zialisten gab es allenfalls über die Methoden, mit denen obige Ziele erreicht werden sollten: „Gewalt oder ,Verständigung' nach außen, Zerschlagung oder Ausnutzung des Parlamentarismus und der Sozial195
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demokratie im I n n e r n . " Von einer Bereitschaft Brünings, „den Ansturm des Nationalsozialismus abzuwehren", kann jedenfalls überhaupt keine Rede sein. Die entscheidende Ursache für den Untergang der Republik sehen die Schulbuchautoren in den Aktivitäten der „Antidemokraten". Die Darstellung der Rechtsradikalen nimmt dabei einen relativ breiteren Raum ein als die der Kommunisten; letztere werden aber stets in einem Atemzug mit den Faschisten erwähnt, in einigen Büchern sogar explizit als Mitschuldige am Ende der Weimarer Republik benannt: „Das Untergraben der demokatischen Machtpositionen wurde erleichtert durch das Verhalten der KPD . . . " (Diesterweg V I , S. 5 3 ) . „Ihre Wühlarbeit schwächte entscheidend die Widerstandskräfte gegen den Nationalsozialismus, den die Kommunisten zwar auf der Straße bekämpften, mit dem sie aber oft gegen den Staat zusammenarbeiteten." (Schroedel/Schöningh V, S. 105)
Besonders die Kampfverbände von NSDAP und KPD werden in vielen Büchern auf eine Stufe gestellt: „In einem für frühere und heutige Zeiten unvorstellbaren Maße wurden die politischen Kämpfe auf der Straße ausgetragen . . . Am radikalsten waren die Nationalsozialisten und die Kommunisten. Sie hatten auch die größten Verluste. Beiden Parteien ging es vor allem um die Zerstörung der bestehenden Ordnung." (Schroedel/Schöningh V, S. 108) „Der systematische Straßenterror der nationalsozialistischen ,SA' (Sturmabteilung) sollte die Bürger zermürben und die Sehnsucht nach einem ,Führer' stärken. Die SA ging gegen die Republik und gegen die Kommunisten vor. Deren ,Roter Frontkämpferbund' setzte sich zur Wehr, bekämpfte seinerseits aber ebenso die Republik." (Schroedel/Schöningh II, S. 114)
Damit werden als zweite Gemeinsamkeit der „totalitären Parteien" — neben den angeblich gemeinsamen Zielen („Zerstörung der bestehenden Ordnung") — ihre politischen Kampfmethoden angegeben. Nun gab es allerdings in der Weimarer Republik auch Kampfverbände der sogenannten „demokratischen" Parteien, deren defensiver Charakter hervorgehoben wird: „Zu ihrer Verteidigung hatten die Parteien der Weimarer Koalition das ,Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold' gegründet." (Schroedel/Schöningh II, S. 1 1 4 )
Hier zeigt sich, daß die Schulbuchautoren sehr wohl unterscheiden können, zu welchem Zweck bestimmte Kampfmethoden (hier die Kampfverbände) eingesetzt werden; diese Unterscheidungsfähigkeit hat allerdings ein Ende, wenn faschistische und kommunistische Systeme bzw. Bewegungen verglichen werden: Bei diesen nämlich ist angeblich Gewalt gleich Gewalt (vgl. im Kapitel Systematisierung den Abschnitt über die Totalitarismustheorie). Nur in einem Schulbuch wird die Rolle der Kampfverbände der Weimarer Republik richtig wiedergegeben: daß nämlich allein die Faschisten bewußt und gezielt Gewalt angewendet haben, daß also auch der Rotfrontkämpferbund in erster Linie eine defensive Organisation war: „Aufgabe der SA war der Terror. In Saalschlachten und Straßenkämpfe, in Paraden und Aufmärschen sollten die ,Braunhemden' die Stärke der nationalsozialistischen Bewegung beweisen. Die Weimarer Republik kannte auch andere
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uniformierte Parteiorganisationen, den .Stahlhelm' . . . , den ,Roten Frontkämpferbund' . . . , das .Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold' . . . Das bewußte Ausüben von Terror blieb jedoch der SA vorbehalten. Sie war in erster Linie Schuld daran, daß in den letzten Jahren der Weimarer Republik politische Gewalttätigkeiten und Mordtaten im bedrohlichen Maße zunahmen." (Diesterweg V I , S. 4 8 )
Als ein entscheidendes Ereignis für den Untergang der Weimarer Republik werten fast alle Schulbücher die „Mehrheit" der „radikalen Parteien" im Reichstag: „Die Reichstagswahlen vom 3 1 . 7. 1932 brachten der NSDAP den erwarteten Erfolg. Sie erhielt 38 % der Parlamentssitze; da die Kommunisten auf 14 % kamen, konnten die Radikalen den Reichstag endgültig lahmlegen." (Schroedel/Schöningh V, S. 1 1 2 ) „Neuwahlen Ende Juli 1 9 3 2 ergaben eine negative Mehrheit der antidemokratischen Parteien (KPD, DNVP und NSDAP) von 3 5 9 Mandaten auf insgesamt 6 0 8 . Die Demokratie hatte nun auch im Parlament keine Stütze mehr." (Diesterweg III, S. 158)
Diese These von der Lahmlegung des Reichstags durch die „Radikalen" wird in einigen Büchern auch mit optischen Mitteln untermauert. In „Spiegel der Zeiten" (Diesterweg V I , S. 4 7 ) ist eine Tabelle enthalten, die die „Ergebnisse der Reichstagswahlen 1 9 2 8 — 1 9 3 2 " zusammenfaßt. Sie enthält vier Abteilungen: „Rechtsradikale und Verbündete" (NSDAP, DNVP), „,Mittlere' Parteien" (DVP, DDP, BVP, Zentrum, SPD), „Linksradikale" (KPD) „Radikale von rechts und links zusammen" (NSDAP, K P D ) ; Ziel der Tabelle ist es, das „Anwachsen der Radikalen" zu veranschaulichen. In „Zeiten und Menschen" (Schroedel/Schöningh V, S. 1 0 2 ) findet sich eine ähnliche, noch subtilere Graphik: die Wahlergebnisse 1919—1932 werden für jede Wahl in Form eines Spektrums, das die Sitzzahl der einzelnen Parteien ausdrückt, dargestellt; dabei werden die „mittleren" Parteien von den „extremen" nach beiden Seiten durch leicht verstärkte Querstriche getrennt. Auch diese Graphik suggeriert dem Betrachter, daß die „demokratischen" Parteien durch das Anwachsen der „antidemokratischen" gewissermaßen „erdrückt" worden sind (ebenso in Klett X, S. 2 2 ) . Zusammenfassend kann man also sagen, daß die Schulbücher die „antidemokratischen" Aktivitäten der „extremen" Parteien von rechts und links für das Ende der Weimarer Republik verantwortlich machen. Damit soll keineswegs geleugnet werden, daß die einzelnen Schulbücher (und Verlage) den hier beschriebenen Faktoren unterschiedliches Gewicht beimessen; solche Differenzierungen im Detail ändern aber nichts daran, daß insgesamt die hier beschriebene Argumentation für alle untersuchten Geschichtsbücher konstitutiv ist. Daß sich diese These in allen Geschichtsbüchern findet, verwundert nicht, wenn man sich ihre aktuelle politische Funktion vergegenwärtigt. Wenn nämlich die Behauptung der Schulbücher, daß die Weimarer Republik in erster Linie an ihren Gegnern von rechts und links (Faschisten und Kommunisten) zugrunde gegangen sei, der historischen Wahrheit entspricht, so ergibt sich daraus die Lehre, daß die 120
Bürger der Bundesrepublik das Aufkommen solcher Gegner (heute: Neofaschisten einerseits, sozialistische Bewegung andererseits) mit allen Mitteln und schon in den Ansätzen verhindern müssen. Konkret wird damit die These der Schulbücher zur historischen Rechtfertigung der Verfolgung der Linken in der B R D , wie sie sich in KPD-Verbot, den Berufsverboten für sozialistische und kommunistische Lehrer und anderen Maßnahmen äußert. Weil die historische These so große aktuelle politische Bedeutung hat, erscheint — in der gebotenen Kürze — eine grundsätzliche Kritik unumgänglich. Zunächst fällt auf, daß die Schulgeschichtsbücher der deutschen Industrie überhaupt keine oder nur eine sehr geringe Rolle beim Untergang der Weimarer Republik zusprechen. Nur in zwei der untersuchten Bücher wird wenigstens erwähnt, daß sich „einige Vertreter" von Großindustrie und Großgrundbesitz für Hitlers Reichskanzlerschaft eingesetzt haben (vgl. Diesterweg III, S. 5 4 ; Schroedel/Schöningh V, S. 112 f.). Dagegen haben eingehende empirische Untersuchungen erwiesen, daß die Republik von Weimar gerade auf Betreiben und im Interesse des Großkapitals durch die faschistische Diktatur ersetzt worden i s t . Es läßt sich nämlich im einzelnen nachweisen, daß eine wachsende Gruppe führender Großindustrieller, Bankiers und Großgrundbesitzer schon seit dem Ende der 20er Jahre die Zusammenarbeit mit der NSDAP gesucht hat, daß diese Gruppe mit den sich verschärfenden Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zunehmend eine faschistische Diktatur als Ausweg aus der Krise ins Auge gefaßt hat und daß schließlich die Repräsentanten der mächtigsten Konzerne und Banken Anfang 1933 die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler bewirkt haben. „Im November 1932 verlangten einflußreiche Industrielle, Bankiers und Großgrundbesitzer schriftlich vom Reichspräsidenten Hindenburg die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. So kam es nach einem Zusammenspiel der großen Konzerne und Banken mit Teilen des Staatsapparats und der Führung der NSDAP am 3 0 . Januar 1933 zur Bildung der Regierung Hitler-Hugenberg . . . In dieser Regierung . . . kommt in aller Klarheit zum Ausdruck, daß der faschistische Erfolg auf einem Bündnis der faschistischen Massenbewegung mit Teilen der Oberklasse beruhte. Um diesen Charakter noch zu unterstreichen, traf sich Hitler vier Tage nach der ,Machtergreifung' — am 3. Februar — mit den Führern der Reichswehr und zweieinhalb Wochen später — am 20. Februar — mit den Repräsentanten der mächtigsten Unternehmen, um ihnen sein Regierungskonzept darzulegen und um Unterstützung zu bitten, die er dann auch e r h i e l t . " 1 9 9
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Diese und viele weitere Fakten widerlegen die Behauptung einiger Schulbuchautoren, Hitlers Machtübernahme sei vor allem durch die Stimmen des Volkes und die sich daraus ergebende Sitzverteilung im Reichstag ermöglicht worden. Daß diese These falsch ist, zeigt schon die Tatsache, daß Hitler in einem Augenblick zum Kanzler gemacht 121
wurde, als seine Partei den Höhepunkt ihrer Erfolge bei den Wählern schon überschritten hatte: die NSDAP hatte nämlich bei den Reichstagswahlen im November 1932 gegenüber den Wahlen vom Juli 2 Millionen Stimmen weniger erhalten. Daß sie nicht schon im Juli zur Macht gekommen war, wie es doch der Argumentation der Schulbücher zufolge logisch gewesen wäre, lag vor allem daran, daß zu diesem Zeitpunkt die Mehrheit der führenden Großindustriellen noch die Kanzlerschaft Franz von Papens unterstützte. Eines der Schulbücher, hier allein auf weiter Flur als positive Ausnahme, deutet den wirklichen Sachverhalt ganz vorsichtig an: „Es war nicht die Mehrheit des Volkes, es waren andere Kräfte, die ihn (Hitler, d. Verf.) an die Macht brachten." (Schroedel/Schöningh V, S. 108)
Wer diese „anderen Kräfte" waren, hat der Hauptankläger der USA im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß am 27. 8. 1947 in aller Klarheit ausgesprochen: „Ohne die Zusammenarbeit der deutschen Industrie und der Nazipartei hätten Hitler und seine Parteigenossen niemals die Macht in Deutschland ergreifen und festigen können und das Dritte Reich hätte es nie gewagt, die Welt in einen Krieg zu stürzen." Grundsätzlich gilt für die Analyse p o l i t i s i e r Entwicklungen das methodische Prinzip, daß die hinter den politischen Gruppierungen stehenden gesellschaftlichen Interessen benannt werden müssen. So war das faschistische System nicht einfach eine politische Diktatur, sondern hat einen empirisch feststellbaren Klassencharakter, der sich in Struktur und Politik dieses Systems ausdrückt: die faschistische Diktatur ist ihrer sozialen Massenbasis nach eine überwiegend kleinbürgerliche Erscheinung, ihre gesellschaftliche Funktion aber besteht in der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse und der Verbesserung der Ausbeutungsbedingungen für die herrschende bürgerliche Klasse. Da nämlich im Faschismus die Organisationen der Arbeiterklasse (Gewerkschaften, Arbeiterparteien) vollständig zerschlagen, die erkämpften Rechte der Arbeiter (Tarifautonomie, Streikrecht, Mitsprache im Betrieb u. a.) beseitigt werden, können die Unternehmer die Profite erheblich steigern, ohne durch den Widerstand der Arbeiter daran gehindert zu werden. Zudem funktioniert die Gesellschaftspolitik des faschistischen Staates eindeutig im Interesse des Kapitals: „Sozialökonomisch ist die faschistische Politik zu bestimmen als eine gigantische Umverteilung des Volksvermögens durch Staatsaufträge, die die Massen der Lohnabhängigen und in zweiter Linie auch die kleinbürgerlichen Schichten ausplünderte und die Oberklasse b e r e i c h e r t e . " Die soziale Funktion des Faschismus ist auch schon daran zu erkennen, daß die Führer der Arbeiterparteien und Gewerkschaften in den Konzentrationslagern saßen oder ermordet wurden, während die Vertreter der großen Industrie- und Bankkonzerne zusammen mit den Führern der NSDAP in den Entscheidungszentren des Systems saßen. Der Faschismus ist darum nur als eine „Form bürgerlicher Herrschaft", als eine spezifische Staatsform auf kapitali2 0 3
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stischer Grundlage, wirklich zu verstehen. Wenn die Schulbücher den nachweisbaren Anteil der deutschen Industrie an der Zerstörung der Weimarer Republik verschweigen oder auf ein Minimum reduzieren, so verschleiern sie damit — bewußt oder unbewußt — deren reaktionäre geschichtliche Rolle, sie handeln also objektiv im Interesse eben dieser Großindustrie. Aus der — hier notwendig verkürzt formulierten — Auffassung über Entstehung und Wesen des Faschismus ergeben sich Konsequenzen für die Frage, welche gesellschaftlichen Kräfte die Verhinderung bzw. die Beseitigung des Faschismus — den antifaschistischen Kampf — am wirksamsten betreiben können. Wenn nämlich der Faschismus Klassencharakter besitzt, dann logischerweise auch der Antifaschismus. Es ist nach dem oben Gesagten offensichtlich, daß die den Faschismus bekämpfende Kraft in erster Linie die Arbeiterklasse mit ihren Organisationen sein muß — und daneben die Teile der Intelligenz, die an der Verteidigung des demokratischen Verfassungssystems, an der Demokratisierung von Staat und Gesellschaft und an der Erhaltung des Friedens interessiert sind. Das fundamentale Interesse der Arbeiterklasse an der Bekämpfung des Faschismus ergibt sich aus dem qualitativen Unterschied von bürgerlicher Demokratie und faschistischer Diktatur: „Zwar ist es richtig, daß es sich bei beiden Staatsformen um Varianten des bürgerlichen Staates handelt und daß beide darauf abzielen, Privateigentum und bürgerliche Gesellschaftsordnung zu erhalten; die qualitative Differenz aber liegt darin, daß die bürgerliche Demokratie die Entfaltung der Opposition grundsätzlich zuläßt (wenn sie sie auch im einzelnen behindert), während der Faschismus die Arbeiterbewegung unterdrückt und vernichtet. Eine realistische antifaschistische Strategie hat also davon auszugehen, daß die Linke ein elementares Interesse an der Verteidigung der bürgerlichen Demokratie gegen den Faschismus haben und daß sie im Augenblick der Bedrohung durch den Faschismus nach einem Bündnis aller antifaschistischen Kräfte streben muß, die an der Bewahrung der bürgerlichen Demokratie interessiert sind. Denn diese ist fundamentale Voraussetzung für die legale Existenz der Arbeiterbewegung — und damit auch die Bedingung für eine potentielle Weiterentwicklung zur sozialistischen D e m o k r a t i e . " 206
Entgegen diesem Interesse gelang es am Ende der Weimarer Republik aber nicht, eine gemeinsame Kampffront gegen den Faschismus aufzubauen — aus einer Reihe von Gründen, die hier nicht im Detail ausgeführt werden k ö n n e n . Im Gegenteil, SPD und KPD warfen sich gegenseitig vor, Bundesgenossen des Faschismus zu sein. Die SPD-Führung, die sich seit der Novemberrevolution vollständig mit der bürgerlichen Republik identifizierte und damit, im Gegensatz zu den Vorstellungen von erheblichen Teilen ihrer Mitglieder und Anhänger, das sozialistische Ziel in der Praxis aufgegeben hatte, denunzierte die Kommunisten — ebenso wie es heute die Schulbücher tun! — als Antidemokraten und lehnte die Zusammenarbeit mit der KPD grund2 0 7
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sätzlich ab. In der KPD dominierte in den letzten Jahren der Weimarer Republik die sogenannte Sozialfaschismustheorie, dergemäß die Politik der sozialdemokratischen Führung bereits seit 1929 „Faschismus in der Tat und Sozialismus in der P h r a s e " gewesen sei. Als Konsequenz aus der Sozialfaschismustheorie lehnte die KPD eine Zusammenarbeit mit der SPD-Führung ab und beschränkte sich auf die Überzeugungsarbeit bei einzelnen SPD-Mitgliedern. Erst in den allerletzten Monaten vor dem faschistischen Machtantritt wurde die Sozialfaschismustheorie der KPD in Ansätzen durch realistischere Einschätzungen der SPD ersetzt; man bemühte sich, buchstäblich in letzter Minute doch noch zu einem einheitlichen Vorgehen gegen den Faschismus zu gelangen. So richtete die KPD am 3 0 . Januar 1 9 3 3 , dem Tag, an dem Hitler Reichskanzler wurde, einen Aufruf an die Führungen der anderen Arbeiterorganisationen, in dem sie zur gemeinsamen Ausrufung des Generalstreiks aufforderte: „Die Kommunistische Partei Deutschlands wendet sich vor der gesamten proletarischen Öffentlichkeit mit diesem Aufruf zugleich an den ADGB, an den AFA-Bund, an die SPD und die christlichen Gewerkschaften mit der Aufforderung, gemeinsam mit den Kommunisten den Generalstreik gegen die faschistische Diktatur der Hitler, Hugenberg, Papen, gegen die Zerschlagung der Arbeiterorganisationen für die Freiheit der Arbeiterklasse durchzuführen. Die KPD appelliert an die Millionen der sozialdemokratischen, freigewerkschaftlichen, christlichen und Reichsbannerarbeiter in Stadt und Land wie an die unorganisierten Arbeitermassen! Führt gemeinsam mit euren kommunistischen Klassengenossen in allen Betrieben und Arbeitervierteln die Massendemonstration, den Streik, den Massenstreik, den Generalstreik d u r c h ! " 2 0 8
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Dieser Aufruf wird bezeichnenderweise in keinem der untersuchten Schulbücher auch nur erwähnt — er würde auch kaum mit der Schulbuchthese von den „antidemokratischen" Zielen und Kampfmethoden der KPD in Einklang zu bringen sein! Die reformistischen Führungen von SPD und ADGB gingen jedoch nicht auf den Aufruf ein; sie verzichteten damit darauf, das letzte und — wie die Erfahrungen der Arbeiterbewegung z. B. beim KappPutsch gezeigt hatten — wirksamste Kampfmittel der Arbeiterbewegung einzusetzen, sie handelten gegen den Willen und gegen die Kampfbereitschaft eines großen Teils ihrer Mitglieder. Sie lehnten die von der KPD vorgeschlagenen Maßnahmen mit eben derselben Begründung ab, mit der die Schulbuchautoren auch heute noch jede außerparlamentarische Aktion — vornehmlich der Linken — in der Weimarer Republik verurteilen: Der Kampf um die Verfassung könne nur mit parlamentarischen Mitteln geführt werden. Schließlich sei auch Hitler auf legalem Wege Reichskanzler g e w o r d e n . Hierin drückt sich jenes formale Demokratieverständnis aus, das bürgerlicher Denkweise seit je eigen ist. Diese Denkweise abstrahiert von dem notwendigen Zusammenhang zwischen Demokratie auf par2 1 0
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lamentarischer, politischer und gesellschaftlicher Ebene. Hinsichtlich der Weimarer Republik bedeutet das: die SPD konnte auf parlamentarischem Wege nur etwas erreichen, solange die Arbeiterbewegung stark war. Als die SPD eben auf Grund der ausschließlichen Fixierung auf den parlamentarischen Weg mit dazu beitrug, alle diejenigen außerparlamentarischen Kräfte niederzuschlagen, die erst die Voraussetzungen für den Erfolg reformistischer Politik geschaffen hatten, mußte auch diese Politik scheitern und die fortgesetzte — nun illusorische — Beschwörung der Verfassung auf einen gigantischen Massenbetrug hinauslaufen. Da die Schulbuchautoren heute diesen Zusammenhang ebensowenig sehen wie die SPD in der Weimarer Republik — und das trotz all des inzwischen zur Verfügung stehenden Dokumentenmaterials! —, reihen sie sich lückenlos ein in jene lange Ahnenreihe der Erzieher zur politischen Unmündigkeit, deren Früchte die deutsche Geschichte in besonderer Weise geprägt haben. Die konkrete historische Erfahrung vom ambivalenten Charakter der bürgerlichen Demokratie und die bereits lange vor Beginn des Faschismus von der Arbeiterbewegung herausgearbeiteten Konsequenzen — prinzipielle Notwendigkeit der antifaschistischen Einheitsfront; konkretes Nichtzustandekommen der Einheitsfront und die Ursachen davon — finden in den Schulgeschichtsbüchern überhaupt keinen Niederschlag. Nicht einmal der soziale Zusammenhang zwischen den beiden großen Arbeiterparteien — d. h. die Existenz einer zugleich einheitlichen und gespaltenen Arbeiterbewegung — wird in den Büchern dargestellt. Statt dessen existieren für die Schulbuchautoren, völlig isoliert voneinander, eine KPD (welche Rolle ihr zugesprochen wird, zeigen die Zitate im ersten Teil dieses Abschnitts) und eine SPD, die als „letzte(n) demokratische(n) Kraft von Bedeutung" (Schroedel/Schöningh II, S. 1 1 6 ) gekennzeichnet wird. Ziemlich alle Schulbücher erwähnen lobend die „tapfere" Haltung der SPD bei der Reichstagsabstimmung vom 2 3 . 3. 1933 über das faschistische Ermächtigungsgesetz, das von der SPD abgelehnt wurde — bezeichnenderweise —, während alle bürgerlichen Parteien zugestimmt haben. Unterschlagen wird die Tatsache, daß die SPD wesentlich zur Verschärfung der politischen Situation beitrug durch die Unterdrückung aller politischen Aktionen der Arbeiterbewegung. In diesem Zusammenhang ist z. B. besonders hervorzuheben der Schießbefehl des Berliner SPD-Polizeipräsidenten auf die Arbeiterdemonstration zum 1. Mai 1 9 2 9 . Unterschlagen wird ferner die Rolle der SPD bei den seit Ende der 20er Jahre einsetzenden Mobilmachungsvorbereitungen. Nicht problematisiert wird die Tatsache, daß die SPD im Winter 1932 sich für den reaktionären Kandidaten Hindenburg stark machte, der dann 9 Monate später Hitler die Vollmacht zur Errichtung seiner Diktatur gab; usw. Kurz: J e n e „Politik des kleineren Übels" bleibt weiter historisch unaufgearbeitet. 212
Unterschlagen wird die systematische Abwiegelung aller massenhaf125
ten antifaschistischen Aktionen, z. B. des Generalstreiks, von seiten der SPD. Ferner findet sich nirgends ein Hinweis darüber, daß die SPD-Fraktion im Reichstag noch am 1 7 . 5 . 1 9 3 3 einer verlogenen „Friedensrede" Hitlers zugestimmt h a t . Die Schulbuchautoren sehen die einzig legitime und erfolgversprechende Art, den Faschismus zu „bekämpfen", im „Zusammenhalten" der „gemäßigten" Parteien im Parlament. Ein Beispiel: 2 1 3
„Die wirtschaftliche und damit auch die innenpolitische Lage des Reiches wurde mit dem Ubergreifen der Weltwirtschaftskrise auf Deutschland . . . außerordentlich schwierig ... Die Republik geriet dadurch ... in eine politische Krise, aus der sie auf die Dauer nur die Einmütigkeit der Parteien der Mitte hätte retten können. Diese Solidarität war aber nicht vorhanden." (Diesterweg V I I I , S. 157)
Es wird also einerseits zugegeben (und partiell kritisiert), daß die „Parteien der Mitte" die Republik gegen die Bedrohung durch den Faschismus nur unzureichend verteidigt haben (z. B. erwähnen die Schulbücher durchweg die Zustimmung der bürgerlichen Parteien zum faschistischen Ermächtigungsgesetz). Andererseits können sie diese Zustimmung zur Hitlerschen Machtergreifung nicht erklären, weil sie nicht nach den gesellschaftlichen Interessen fragen, die hinter den politischen Gruppierungen standen: zu erwähnen wäre hier die partielle Interessenidentität zwischen den hinter der NSDAP stehenden Großindustriellen und Gruppen des Großbürgertums, die von den „Parteien der Mitte" repräsentiert wurden; beide waren an der Zerschlagung der Arbeiterbewegung, der Errichtung eines „starken Staates" und dem Versuch, das im Ersten Weltkrieg gescheiterte imperialistische Expansionsprogramm doch noch zu verwirklichen, interessiert. (Daß das Großkapital dann die Parteien der Mitte und der gemäßigten Rechten, mit deren Hilfe es in der Weimarer Republik seine Interessen durchgesetzt hatte, 1933 fallenließ, erklärt sich daraus, daß es jetzt in der NSDAP einen Bundesgenossen gefunden hatte, der das viel besser und durchgreifender tat.) In dem obigen Schulbuchzitat erscheint die mangelnde „Solidarität" der bürgerlichen Parteien und Politiker als ein mehr zufälliges Versagen, das im subjektiven Fehlverhalten einzelner Politiker begründet liegt (Ausnahme z. B . : Schroedel/Schöningh V, S. 1 0 0 ) . Ein extremes Beispiel dafür liefert einmal mehr der Klettsche „Grundriß der Geschichte": „Der Herrenreiter v. Papen . . . stand seinem Herzen nach weit rechts." (Klett II, S. 1 5 3 , Hervorhebung von uns) Außer einem Herzen hatte er allerdings auch noch umfänglichen Landbesitz, der seinen Drang nach rechts schon hinreichend erklärt. Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Behauptung der Schulbücher, die Weimarer Republik sei durch die Schuld der Faschisten und der revolutionären Arbeiterbewegung zugrunde gegangen, der historischen Wahrheit widerspricht. Vielmehr war es die ökonomisch und politisch herrschende Klasse, repräsentiert vor allem durch führende Männer aus Schwerindustrie und Bankkapital, die die zuneh126
mende Auflösung der Weimarer Republik betrieben und schließlich ihre Ablösung durch die faschistische Diktatur verschuldet hat. Diese Politik der herrschenden Klasse wurde unterstützt und ermöglicht durch das Verhalten der bürgerlichen Parteien, die sich der Machtübernahme des Faschismus nicht widersetzten, sondern diese tolerierten und teilweise sogar eine Koalition (DNVP) mit den Faschisten schlossen bzw. anstrebten (Zentrum). Daß auch heute die Gefahr für die Demokratie von den sozialen Kräften ausgeht, die bei der Verwirklichung von Mitbestimmung und sozialer Gerechtigkeit den Verlust ihrer Privilegien und ihrer Machtpositionen zu befürchten haben und daß es angesichts dieser Gefahr darauf ankommt, das einheitliche Vorgehen aller Devon r e c h t s mokraten und Sozialisten zu erreichen, ist also die wahre Lehre, die sich aus dem Untergang der Weimarer Republik e r g i b t . 2 1 4
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F. Der Kalte Krieg Die Darstellung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, besonders der Periode des Kalten Krieges, den man in seiner schärfsten Form von 1 9 4 7 / 4 8 bis 1 9 5 4 / 5 5 datieren kann, hat für den Geschichtsunterricht der B R D eine besondere Bedeutung — fällt doch in diese Zeit die Spaltung Deutschlands, die Gründung der B R D und der DDR und im internationalen Rahmen die Bildung der „ B l ö c k e " in Ost und West. Die Autoren der Schulbücher reflektieren bewußt oder unbewußt, daß die bloße Existenz der Bundesrepublik als Staat dem Kalten Krieg geschuldet ist. Die Zustimmung der Schulbuchautoren für den Staat ist zugleich die Bejahung der nach dem Krieg restaurierten kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Ein drittes Axiom, das mit den beiden anderen zusammenhängt, stellt die Funktion des neuen Staates (bis in die jüngste Gegenwart) als „Bollwerk gegen den Bolschewismus" dar. Da sich die Autoren mit der sozialen und wirtschaftlichen Struktur fällt für sie die Legitimation dieser Bundesrepublik identifizieren, der Bundesrepublik mit der der kapitalistischen Sozial- und Wirtschaftsordnung und den Interessen der US-amerikanischen Besatzungsmacht genauso zusammen wie die Ablehnung des Sozialismus und Kommunismus, der Politik der Sowjetunion und der Existenz der DDR. Von diesem von vornherein festgelegten Standpunkt aus ergibt sich ein relativ festes Interpretationsschema, das allen in den Schulbüchern behandelten Ereignissen dieser Zeit aufgepreßt wird. Daß dies mit erheblichen Auslassungen, Verzerrungen und Verdrehungen historischer Realität verbunden ist, wird im Folgenden zu zeigen sein. 216
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1. Der O s t - W e s t - K o n f l i k t
Das Grundmuster für die Erklärung der Entstehung des Kalten Krieges und des Ost-West-Konfliktes in den Schulgeschichtsbüchern lautet etwa so: Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Sowjetunion so stark, daß sie die Gelegenheit nützen wollte, ihren Machtbereich — gemäß der kommunistischen Ideologie — zu erweitern. Die USA mußten daher, um die gefährdeten Staaten vor der kommunistischen Diktatur zu retten, eine Politik der Eindämmung der Sowjetunion betreiben. Die Sowjetunion hatte also das Gesetz des Handelns an sich gerissen, und die USA, die sich am liebsten wieder in ihren Isolationismus zurückgezogen hätten, wurden gezwungen, zu reagieren. Dazu ein paar Fakten, die die ungeheuerliche Verdrehung der tatsächlichen Situation nach dem Krieg aufzeigen: „Die Sowjetunion war zwar als Sieger aus dem Krieg hervorgegangen, aber unter welchen Opfern: ,Auf Hunderte, auf Tausende von Meilen war nicht ein einziger aufrecht stehender Gegenstand zu sehen. Jeder Marktflecken, jede Stadt war dem Erdboden gleichgemacht. Es gab keine Schienen. Es gab keine Maschinen. Es gab keine Bahnhöfe, keine Wassertürme. In der weiten Landschaft war nicht ein einziger Telegraphenmast stehengeblieben. . . . Nach russischen Unterlagen waren zwischen 15 und 20 Mill. sowjetische Bürger getötet worden; die Deutschen hatten 15 Großstädte, 1710 Kleinstädte sowie 70 0 0 0 Dörfer völlig oder teilweise zerstört; sie hatten 6 Mill. Gebäude niedergebrannt bzw. verwüstet und 25 Mill. Menschen obdachlos gemacht; sie zerstörten 31 8 5 0 Industriebetriebe, 65 0 0 0 km Eisenbahnstrecke, 4 1 0 0 Bahnhöfe, 36 0 0 0 Post-, Telegraphen- und Fernsprechämter, 56 0 0 0 Meilen Hauptstraße, 90 0 0 0 Brücken und 10 0 0 0 Kraftwerke; sie vernichteten 1135 Kohlenbergwerke und 3 0 0 0 Ölquellen und transportierten nach Deutschland 14 0 0 0 Dampfkessel, 1 4 0 0 Turbinen und 11 3 0 0 Dynamomaschinen; sie plünderten 98 0 0 0 Kolchosen und 2 8 9 0 Maschinen- und T r a k t o r s t a t i o n e n ' . " 217
Selbst wenn man unterstellt, daß die Sowjetunion auf Expansion aus war, hätte sie dieses Vorhaben angesichts der Kriegschäden in Höhe von 6 7 9 Mrd. Rubel zurückstellen müssen. Wie George Kennan, der die Eindämmungspolitik mit konzipiert h a t t e , 1965 sagte, war es jedem, der das damalige Rußland auch nur annähernd kannte, „vollkommen klar, daß die sowjetischen Führer keineswegs beabsichtigten, ihre Angelegenheiten durch militärische Angriffe über die Grenzen hinweg vorwärtszutreiben." Er wies darauf hin, daß „eine solche Verfahrensweise weder den Erfordernissen der marxistischen Lehre entsprochen hätte, noch der für Rußland selbst dringlichen Notwendigkeit, sich von den Verwüstungen eines langen und erschöpfenden Krieges zu e r h o l e n . " Ganz anders war die Stellung der USA. Ihr Territorium war vom Krieg nicht berührt worden: „Drei Viertel des Anlagekapitals der Welt 2 1 8
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und zwei Drittel ihrer Industriekapazität waren in einem einzigen Land, den Vereinigten Staaten, konzentriert, der Rest verteilte sich auf die anderen 95 Prozent der bewohnten E r d o b e r f l ä c h e . " Der Krieg hatte außerdem die Folgen der Weltwirtschaftskrise beseitigen Durch die Aufrüstung und die dadurch stark gestiegene helfen. Nachfrage war es gelungen, die Arbeitslosigkeit einzudämmen, die durchschnittliche Arbeitszeit und die Industrieproduktion zu erhöhen. Doch trotz oder gerade wegen ihrer ökonomischen Stärke sah sich die US-Wirtschaft vor entscheidende Probleme gestellt. Ihre Struktur war nach dem Krieg von einer unaufhaltsam ansteigenden, überschüssigen Produktionskapazität geprägt, d. h. es wurde mehr produziert, als man absetzen konnte, zumal das Abnehmermonopol für die Rüstungsgüter, der Staat, die Aufträge jetzt einschränkte. Zwar ist die Umstellung von der Kriegs- zur Friedensproduktion in den USA nicht radikal durchgeführt worden („ungeachtet der Beendigung des Zweiten Weltkrieges wurde die riesige Rüstungsindustrie der USA beibehalten. Von den 1 9 0 0 Staatsbetrieben, die während des Krieges gebaut worden waren, wurde nicht einmal die Hälfte verkauft oder geschlossen, . . . " ) bedeutete aber dennoch eine Gefährdung der erreichten Positionen, zumal das US-Kapital die hohen Profite aus dem Rüstungsgeschäft (im Zweiten Weltkrieg 123 Mrd. D o l l a r ) nicht mehr rentabel investieren konnte. Weitere Investitionen hätten auf dem ohnehin übersättigten Markt das Angebot noch mehr erhöht, eine Entwicklung, die unausweichlich zu einer Senkung der Profite und zur Krise geführt hätte. Dazu kamen Lohnerhöhungen, die sich die Arbeiterklasse auf Grund ihrer angesichts der ,Vollbeschäftigung' gefestigten Stellung erkämpfen konnte. Aus all dem, was hier nur angerissen werden konnte, „ergibt sich zwangsläufig die Tendenz zum Massenexport von K a p i t a l " . 220
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Diese Kapitalexporte bringen nun, weil die Löhne in den übrigen Ländern niedriger sind, höhere Profite. Im Vergleich mit den USA sind auch Westeuropa, Japan und Kanada in diesem Sinne relativ unentwickelte Regionen. Damit ist ein entscheidender Faktor für die Entscheidung zur Restauration des Kapitalismus in der B R D und J a pan genannt. So kennzeichnete (und kennzeichnet) die Frontstellung der USA gegen das sozialistische Lager und die beginnende Kolonialrevolution auf Grund der immanenten Notwendigkeit der amerikanischen Wirtschaft die expansive Nachkriegspolitik der Vereinigten Staaten. Weiter trug zur herausragenden Machtposition der USA der anfangs alleinige Besitz von Atomwaffen bei. Im Vergleich zu diesem Atombombenmonopol sind alle anderen Faktoren sekundär, dennoch ist zu betonen, daß die angeblich einseitige radikale Abrüstung der USA, die in den Schulbüchern immer wieder behauptet wird, ein Märchen ist. Die Sowjetunion reduzierte ihre Streitkräfte um 25 %, die USA lediglich um 13 %. Bei den offenen Grenzen der UdSSR sind 2,9 Mill. Soldaten gegen 1,5 Mill. der USA, die zudem überwiegend eine Luft- und 129
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Seemacht sind, relativ w e n i g . Daß die am Boden liegende Sowjetunion ihrerseits gute Gründe hatte, sich verteidigungsbereit zu halten, ergab sich aus ihren bisherigen Erfahrungen mit den kapitalistischen Mächten. Schon unmittelbar nach der Oktoberrevolution 1917 hatten Interventionstruppen sowohl der Entente-Staaten (England und Frankreich) als auch des deutschösterreichischen Blocks, die weißrussischen Konterrevolutionäre unterstützt: „Die Hauptinitiatioren und -akteure der Intervention waren Großbritannien, Frankreich, Japan und die USA. In besonderem Maße aber beteiligen sich die USA an der Intervention — sie besaßen die größten materiellen Potenzen zur Unterstützung der antisowjetischen Kräfte . . . " Es handelt sich hierbei also um gemeinsame Aktionen von Staaten, die sich selbst in einem mörderischen Krieg gegenüberstanden (besonders Deutschland und Frankreich). Deutlicher kann das gemeinsame Interesse kapitalistischer Staaten gegen den ersten großen Versuch einer sozialistischen Umgestaltung wohl kaum dokumentiert werden. Nach der Niederlage der Interventen begann eine Politik der Isolierung der Sowjetunion, in den dreißiger Jahren setzte die direkte militärische Bedrohung durch die Anti-Komintern-Achse Deutschland und Japan ein, die in der militärischen Aggression 1941 gipfelte. Allein die Existenz einer sozialistischen Gesellschaft wurde in den kapitalistischen Staaten als Bedrohung aufgefaßt, der man mit entsprechendem Handeln zu begegnen habe. Der Krieg hatte das Bündnis mit der Sowjetunion notwendig gemacht, der Gegensatz zwischen Kapitalismus und Sozialismus war aber nur notdürftig überdeckt worden. Dies wurde an einer Reihe von Ereignissen deutlich. Einmal war die versprochene zweite Front im Westen, die der SU zur Entlastung bereits für 1942 zugesagt worden war, erst im Juni 1 9 4 4 aufgestellt worden, als die SU die faschistische Aggression schon zurückgeschlagen hatte. Selbst dann blieb die Hauptlast der Sowjetunion aufgebürdet. Churchill sagte dazu 1 9 4 3 , „daß die westlichen Alliierten mit lediglich sechs deutschen Divisionen ,herumspielten', während die Russen mit 185 deutschen Divisionen fertig werden m u ß t e n . " In ihrer ganzen Brutalität wurde die Politik der USA von dem späteren Präsidenten Truman 1941 charakterisiert, als er forderte: „Wenn wir sehen, daß Deutschland den Krieg gewinnt, sollten wir Rußland helfen, und wenn Rußland gewinnt, sollten wir Deutschland helfen und die Deutschen so viele wie möglich umbringen lassen . . . " In diesen Gesamteindruck ordnet sich dann die Tatsache, daß die Materiallieferungen der USA an die Sowjetunion nicht mehr als 10 % des sowjetischen Bedarfs ausmachten, nahtlos e i n . Die USA haben in Japan gezeigt, daß sie vor dem Einsatz von Atombomben mit ihrer verheerenden Wirkung in bestimmten Situationen nicht zurückschrecken. Die Vermutung, daß die Vereinigten Staaten den Abwurf der Atombomben — die eigentlich auf Deutschland hat2 2 7
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ten fallen sollen, aber nicht rechtzeitig vor der Kapitulation fertig geworden waren — als Drohung gegen die Sowjetunion meinten, liegt schon deshalb nahe, weil sie zu einem Zeitpunkt eingesetzt wurden, als die Japaner bereits (und zwar einen Monat vor dem Abwurf) um Kapitulationsverhandlungen nachgesucht h a t t e n . Diese Vermutung wird bestärkt durch die augenfällige Fragwürdigkeit der offiziellen Begründung für den Einsatz der Bomben. Man wollte angeblich den Krieg schneller beenden, um weitere Verluste unter den eigenen Soldaten zu verhindern und um „die Jungens heimzuholen" . Erstens war aber kein Landeplan, der das Leben amerikanischer Soldaten aufs Spiel hätte setzen können, vor dem 1. November 1945 vorgesehen (Abwurf der Atombomben am 6. und 9. August 1 9 4 5 ) und zweitens hätte nach dem Lagebericht der Bomberflotte ,Japan bestimmt noch vor dem 3 1 . 12. 1945 kapituliert, auch wenn die beiden Atombomben nicht abgeworfen worden wären, Rußland nicht in den Krieg eingetreten und die Invasion nicht geplant worden w ä r e " . Zu dem angegebenen militärischen Zweck hätte auch eine der Atombomben genügt; daß man dennoch innerhalb weniger Tage zwei Bomben abwarf, ist ein Indiz für die politische Stoßrichtung der Demonstration militärischer Macht. Unter diesem Gesichtspunkt — daß die Sowjetunion durch eine fürchterliche Waffe bedroht war, gegen die es keinen Schutz gab und die anzuwenden die Führung der Vereinigten Staaten offenbar bereit war — müssen alle Maßnahmen der beiden Staaten im folgenden gesehen werden. 2 3 1
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Als das Bündnis nach dem Kriege nicht mehr erforderlich war, konnte die antikommunistische Politik wiederaufgenommen werden und die UdSSR wieder die Zielscheibe der wiedervereinigten kapitalistischen Länder unter der Hegemonie der USA abgeben. Churchill hatte noch vor Ende des Krieges an Montgomery ein Telegramm geschickt, in dem er ihn aufforderte, die deutschen Waffen sorgfältig einzusammeln und sie aufzubewahren, damit sie im Fall einer sowjetischen Offensive an die deutschen Soldaten leicht zurückgegeben werden k ö n n t e n . Einer Reihe von diplomatischen Brüskierundarunter die Empfehlung, die SU im Rahmen des Marshallgen, plans zur natürlichen Kornkammer des Westens zu degradieren (was den Verzicht auf eine eigenständige Industrialisierung bedeutet und die SU in die Lage eines abhängigen Entwicklungslandes gebracht hätte), folgten Aktionen im Iran, in Griechenland und der Türkei bis hin zur Truman-Doktrin (12. März 1 9 4 7 ) und dem offenen Ausbruch des Kalten Krieges. Die Strategie der Eindämmung (Containment), hinter der als Bild ein Damm steht, der etwas zurückhält, und damit zumindest die Vorstellung von defensivem Verhalten hervorruft, entwickelt sich bis zum offen aggressiven Konzept des Zurückdrängens (Roll-Back), das den Status quo zugunsten der USA zu verändern versprach. 234
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Der Kalte Krieg entsprach somit den Interessen der kapitalistischen 131
Länder, besonders aber denen der USA. Er wurde von den USA bewußt begonnen. Horowitz hat nachgewiesen, „daß die Struktur des Kalten Krieges (als ,Kalter Krieg') durch eine Reihe politischer, in Washington zwischen 1945 und 1947 getroffener Entscheidungen bestimmt wurde, die ihre ,klassische' Formulierung in der Truman-Doktrin e r h i e l t e n " . Die Gefahr, die dabei von der Sowjetunion ausging, ist vom State Department, wie es später zugab, nicht in einer militärischen Expansion gesehen worden: vielmehr sah man „die kommunistische Gefahr in ihrer bedrohlichsten Form als ein inneres Problem, d. h. als ein Problem der westlichen Gesellschaftsordnung" an. Nach diesem verhältnismäßig ausführlichen Vorspann, der aber nötig war, um die Zusammenhänge aufzuzeigen, in die die folgenden Einzelprobleme einzuordnen sind — jetzt der Blick in die Schulbücher. Alle Schulbücher gehen von einseitigen Expansionsbestrebungen der UdSSR aus. So heißt es etwa: 2 3 7
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„Eine europäische Macht allerdings hatte trotz schwerster Kriegsverluste eine Position errungen, die für Mittel- und Westeuropa bedrohlich schien, weil sie von einer expansiven Ideologie unterstützt wurde: die Sowjetunion." (Schroedel/Schöningh II, S. 1 4 4 )
Noch häufiger findet sich die Reduktion der Expansionsbestrebungen auf das egoistische Nationalinteresse der Sowjetunion. „Die Sowjetunion versuchte auch über die von ihr besetzten Gebiete hinaus ihren Einflußbereich zu vergrößern." (Schroedel/Schöningh V, S. 1 9 6 )
Als Beleg für diese Behauptung werden die Gebietsgewinne der Sowjetunion angeführt. Außer den von der Roten Armee besetzten Gebieten werden als Paradebeispiel der Iran, Griechenland und die Türkei genannt. „Iran und Türkei wurden nach Kriegsende von ihr unter schweren diplomatischen Druck gesetzt." (Schroedel/Schöningh V, S. 1 9 6 ) „Von der Türkei forderte sie (die Sowjetunion, d. Verf.) die Rückgabe der 1918 abgetretenen transkaukasischen Gebiete . . . sowie die Einräumung von Stützpunkten an den Dardanellen. In Griechenland, wo ein Bürgerkrieg ausbrach, suchte die Sowjetunion dem Kommunismus zum Siege zu verhelfen." (Diesterweg III, S. 2 4 6 )
Was nicht gesagt wird, ist, daß die Sowjetunion den Iran, in dem sie über die vereinbarte Frist geblieben war, auf diplomatischen Druck hin geräumt hat und, noch wichtiger, daß die US-Amerikaner sofort nachzogen, nicht mit Truppen, „sondern auf leisen Sohlen mit Dollars zur Aufrechterhaltung des Status q u o " . Wenn die Ereignisse in Persien Beispiele für eine Expansion sein sollen, dann hinsichtlich der USA. In G r i e c h e n l a n d bestand die wirkliche expansionistische Einmischung darin, daß die britischen Truppen der EAM, der Nationalen Befreiungsfront, das Rückgrat brachen und der reaktionären Monarchie wieder auf den Thron v e r h a l f e n . „Die Sowjetunion wollte ihre Kriegskoalition nicht durch soziale und revolutionäre Bewegungen in Gebieten, die sie als Interessenbereich eines kapitalistischen Staates anerkannt hatte, b e l a s t e n . " 2 3 9
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Nachdem die Briten ihre Position in Griechenland wegen ihrer ökonomischen Schwierigkeiten aufgeben mußten, rückten auch hier die USA nach und unterstützten, wie auch im Iran, eine korrupte, reaktionäre R e g i e r u n g . Die Ereignisse in Griechenland nahm Truman zum Anlaß, die schon lange vorbereitete, nach ihm benannte Doktrin öffentlich zu verkünden. In einem Geschichtsbuch ist folgende Passage der Truman-Doktrin abgedruckt: 243
„Wir können keinen Veränderungen des Status quo (des gegenwärtigen Zustands) zustimmen, etwa durch Methoden des Zwanges oder durch politische Infiltration. Dadurch, daß die USA freien und unabhängigen Staaten helfen, ihre Freiheit aufrechterhalten, verwirklichen sie die Grundsätze der UN. Sollten wir in dieser schicksalschweren Stunde es unterlassen, Griechenland und der Türkei zu helfen, würden die Folgen für den Westen wie für den Osten weitreichend sein." (Schroedel/Schöningh V, S. 1 9 6 , ebenso etwa in Klett II, S. 2 0 2 )
Daß es den Vereinigten Staaten nicht primär um die Aufrechterhaltung von Freiheit und Unabhängigkeit ging, zeigt schon ihre Politik in anderen Teilen der Welt, die mit den gleichen Parolen gerechtfertigt wurde: Die Unterstützung der Diktaturen in Guatemala, Thailand, Formosa, Südvietnam, Südkorea, Pakistan und dem vorrevolutionären Kuba und die Zusammenarbeit mit Diktaturen oder Polizeistaaten in Iran, Saudi-Arabien, im Libanon, in Marokko, Südafrika, Nicaragua, Paraguay und Haiti sprechen eine zu deutliche Sprache, zumal einige der Regierungen durch CIA-Unterstützung erst an die Macht gekommen s i n d . Zwar scheint das Beispiel V i e t n a m s den oben gemachten Ausführungen über die Dominanz ökonomischer Interessen in der Außenpolitik der USA zu widersprechen, da der massive militärische Einsatz in keinem Verhältnis zur Profiterwartung des amerikanischen Kapitals in Vietnam steht. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber doch die letztlich ökonomische Funktion des „schmutzigen Krieges", nämlich in dem exemplarischen Charakter des versuchten Völkermords für alle im amerikanischen Einflußgebiet liegenden unentwickelten Staaten. Alle von den USA abhängigen Völker sollen wissen: Wie es Vietnam erging, wird es jedem Land ergehen, welches nach amerikanischem Selbstverständnis das Lager der „freien Völker" verlassen will. 2 4 4
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Es ist aber nicht erforderlich, nach Asien, dem Nahen Osten, Afrika oder Südamerika zu gehen, um zu wissen, was die USA mit „Freiheit und Demokratie" meinen. Auch heute werden diktatorische Regime in Griechenland, der Türkei und Portugal, die „zuverlässige Partner" der USA in der NATO und bei den Abstimmungen in der UNO sind, militärisch und wirtschaftlich unterstützt. In Westeuropa kam es nach dem Krieg darauf an, kapitalistische, bürgerlich-parlamentarisch verfaßte Systeme vor dem Sozialismus zu „schützen". Als Antwort auf die „Expansion" der Sowjetunion wurde laut den Schulbüchern die Marshallplanhilfe gewährt und die NATO gegründet. Im Zusammenhang mit den großzügig verteilten Marshallplan-Geldern weist nur eine Schulbuch-Didaktik darauf hin, daß die 133
Hilfe nicht uneigennützig war (Schroedel/Schöningh V I I I , S. 1 6 3 ) . Nur selten wird auf die politischen Konsequenzen für die Empfängerländer hingewiesen (Schroedel/Schöningh II, S. 1 4 9 ) . Frankreich und England gerieten wie alle anderen Staaten in politische Abhängigkeit, was sich besonders an der Preisgabe ihrer Vorstellungen zur Deutschlandpolitik zeigt. Hinsichtlich des „Ostblocks" wird nur behauptet, daß einige Staaten an der Hilfe teilhaben wollten, die Sowjetunion ihnen das aber untersagt hat. Kein Wort wird darüber verloren, daß die Sowjetunion an der Gewährung von Krediten stark interessiert war, einen Sechs-Milliarden-Dollar-Kredit wünschte und Molotow mit 89 Wirtschaftsexperten und Beratern zur Vorkonferenz nach Paris kam. Erst nachdem dort klargestellt wurde, daß die Sowjetunion zur „Kornkammer" und Ungarn zum „Fleischtopf" werden sollte und die politischen Implikationen klar wurden, lehnte die UdSSR ab. Daß der Westen nie an eine Gewährung von Hilfe für die Sowjetunion dachte, geht daraus hervor, daß Bevin und das britische Außenministerium besorgt waren, „daß Stalin zusagen würde, und machten nicht die geringsten Anstrengungen, für Molotow in Paris eine aufgeschlossene Atomosphäre zu s c h a f f e n " , weil man nämlich befürchtete, daß sonst der amerikanische Kongreß den Plan nicht finanzieren würde. 2 4 6
Da aber die ökonomische Gesundung nicht ausreiche, um sich vor der „aggressiven" Sowjetunion zu schützen, sei — so einige Schulbücher — die NATO gegründet worden. „Wirtschaftliche Maßnahmen allein genügten jedoch nicht. Um der Sowjetunion den vollen Ernst der amerikanischen ,Eindämmungspolitik' darzulegen, entschloß sich die amerikanische Regierung, ein militärisches Verteidigungsbündnis mit allen europäischen Staaten abzuschließen, die gewillt waren, einem sowjetischen Angriff Widerstand entgegenzusetzen." (Diesterweg V I I I , S. 2 1 6 , ebenso Diesterweg III, S. 2 4 8 )
Daß die NATO nur defensiven Charakter hat, wird selbstverständlich durchgängig vertreten. Um sich zu „verteidigen", hatten die USA noch 1946 in 56 Ländern und auf jedem Kontinent Truppen stationiert, einige der vielen Pazifik-Stützpunkte nahe den sibirischen Gebieten der UdSSR. Später wurde von Dulles ein „Verteidigungsring" geschaffen, der die UdSSR völlig einschließt. Außer der militärischen Expansion mußte die Sowjetunion eine damit zusammenhängende umfassende wirtschaftliche Durchdringung der Welt durch die USA hinnehmen. Es läßt sich leicht zeigen, daß die Absicherung der ökonomischen Interessen des US-Kapitals in aller Welt die Ursache für die militärischen und außenpolitischen Maßnahmen der Vereinigten Staaten Den Schulbuchautoren scheinen derartige Zusammenhänge sind. allerdings unbekannt zu sein. 247
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2. Die Entstehung der V o l k s d e m o k r a t i e n
In der geheimen Balkanabsprache zwischen Stalin und Churchill wurden die Interessensphären auf dem Balkan abgesteckt. Danach sollte nur Griechenland ganz westlich, der Einfluß in Jugoslawien aber zwischen beiden Mächten geteilt werden; Rumänien, Ungarn und Bulgarien sollten dem sowjetischen Einflußbereich vorbehalten bleiben. In J a l t a wurde das Abkommen bestätigt und der Sowjetunion freier Zugang nach Dairen, Port Arthur als Marinestützpunkt, die Südhälfte der Halbinsel Sachalin und die Kurilen zugesprochen. Später, am 2 6 . J u l i 1945, machten die Vereinigten Staaten jedoch den Sowjets diese vertraglich zugesicherten Gebiete wieder streitig, die größtenteils vor dem Russisch-Japanischen Krieg ( 1 9 0 5 ) in russischem Besitz gewesen waren. Die Rote Armee befreite die Balkanländer von der faschistischen Herrschaft und einige von Diktaturen der Zwischenkriegszeit. Daß die SU, die kurz hintereinander zweimal von Deutschland in mörderische Kriege verwickelt worden war, aus Sicherheitsgründen an einer Pufferzone zwischen dem eigenen Land und Deutschland interessiert war, ist verständlich. Entgegen der Darstellung in den meisten Geschichtsbüchern machte sich die Sowjetunion keineswegs daran, sofort nach der Besetzung in diesen Ländern eine sozialistische Umgestaltung durchzusetzen. Umgekehrt wurde ihr vom Westen unmißverständlich klargemacht, daß man eine Zusammenarbeit ablehne und außerdem nicht bereit sei, den Status quo in Osteuropa zu akzeptieren — d. h. sich vorbehielt, gegebenenfalls auch mit militärischen Mitteln einzugreifen. Dazu heißt es bei Horowitz: „Das angestrebte Mindestziel war es, der Sowjetunion den Einfluß streitig zu machen, den sie als Folge ihrer im Kriege errungenen Siege in Europa gewonnen hatte. . . . Das oberste Ziel der amerikanischen Führung, soweit es sich aus ihren Erklärungen und Handlungen ableiten läßt, ging über den einseitigen Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Osteuropa hinaus bis zum Zusammenbruch der Sowjetmacht selber und darüber hinaus der russischen R e v o l u t i o n . " In diesem Zusammenhang ordnete sich die schon erwähnte Kornkammerdiplomatie und die später erfolgte Propagierung eines atomaren Präventivkrieges ein. — Nichts davon in den Schulbüchern. Sie stellen die „Sowjetisierung" der „Satellitenstaaten" dagegen als Beweis für die Expansionsabsichten der Sowjetunion heraus, obwohl einige das Balkanabkommen oder J a l t a anführen (Diesterweg V I I I , III, IV und Klett V I ) . Ein Schulbuch erwähnt zwar, daß die Einflußnahme erst ab 1947 in größerem Ausmaß stattfand, findet dafür aber eine Begründung, die ins herrschende Schema paßt. „Erst als sich der Bruch der Kriegskoalition abzeichnete, und die sowjetische Regierung keine Rücksicht mehr auf die Angelsachsen zu nehmen brauchte, wurde die Sowjetisierung durchgesetzt." (Schroedel/Schöningh II, S. 154) 2 4 9
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Auch die Tatsache, daß es in diesen Ländern ähnlich wie in Westeuropa starke antifaschistische und kommunistische Parteien gab, und der sogenannte Staatsstreich in der Tschechoslowakei ( 1 9 4 8 ) eine „echte" von den Arbeitern getragene Revolution war, wird verschwiegen. Die Leugnung starker oppositioneller Bewegungen in Westeuropa und die Denunzierung der Revolution in der Tschechoslowakei als Umsturz oder Staatsstreich sind typische Beispiele für die Verlagerung von innergesellschaftlichen Konflikten in den A u ß e n r a u m : alles wird von Moskau gesteuert, Moskaus Agenten sitzen überall, planen Umstürze und führen sie auch durch. Die Einsicht, daß es innerhalb von Gesellschaften antagonistische (unversöhnliche) Widersprüche geben kann, die unabhängig von der Existenz und Hilfe der Sowjetunion sozialistische Tendenzen hervorbringen, übersteigt offensichtlich die Vorstellungskraft der S c h u l b u c h a u t o r e n . 251
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3. Die Spaltung Deutschlands
Die Erklärung der Spaltung Deutschlands führt die Schulbuchautoren in ein Dilemma. Sie sind zunächst gezwungen anzuerkennen, daß die Teilung Deutschlands von den USA ausging. „Sie (die Rede des US-Außenministers Byrnes vom 6. 9. 1946, d. Verf.) kündigte als Folge der gesamtpolitischen Lage die vorläufige Teilung Deutschlands an." (Schroedel/Schöningh II, S. 150/151) Und etwas weiter unten heißt es: „Es spricht viel dafür, daß die Westmächte bereits vor der Londoner Außenministerkonferenz (25. 11.—15. 12. 1947) die Errichtung eines Weststaates beschlossen hatten" (ib.). Begründet wird diese Entwicklung allerdings damit, daß die Sowjetunion einen Einfluß auf ganz Deutschland haben wollte, d. h. daß letztlich doch die UdSSR — auf Grund ihrer Unersättlichkeit — an der Spaltung Schuld sei. In diesen Kontext gehört auch der Vorwurf, daß die Sowjetunion in der SBZ schon 1 9 4 8 vollendete Tatsachen geschaffen habe. Wie mit taktischem Vorgehen das gewünschte Resultat erzielt werden kann, soll an der Argumentationsweise im „Grundriß der Geschichte III (Oberstufe)" exemplarisch dargestellt werden. Der Autor beginnt mit der Behauptung, daß „Stalin hoffte, ganz Deutschland in irgendeiner Weise dem sowjetischen Einflußbereich eingliedern zu können" (Klett II, S. 204). (Da der Autor Belege nicht angibt, muß angenommen werden, daß er Gelegenheit hatte, Einblick in Stalins Seelenleben zu nehmen und die dort im Verborgenen keimende Hoffnung zu entdecken.) Weil diese Auslegung aber offensichtlich der von den Autoren ansonsten vorgenommenen Einschätzung der sowjetischen Politik — wonach sie gerade auf die Spaltung hingearbeitet habe — widerspricht, 136
muß er anschließend das Gegenteil behaupten: Die Sowjetunion stellte zwar „die Einheit Deutschlands als ihr Ziel hin, leitete aber tatsächlich die Teilung Deutschlands ein." (ib.) Nachdem dann die Sowjetunion noch einmal ihr Interesse an einer Zentralverwaltung und einer internationalen Kontrolle des Ruhrgebiets betont hatte, stellten die USA — laut Schulbuch — die Reparationszahlungen ein und nahmen ab Mai 1946 zusammen mit Großbritannien die Westlösung in Angriff. Es folgt die Darstellung der Währungsreform und die Erwähnung der Tatsache, daß seit 1947 das Gesetz des Handelns auf den Westen überging und die SBZ lediglich nachzog. Schließlich wird auch noch der Vorstoß der UdSSR 1952 geschildert, der auf die Errichtung eines neutralen Gesamtdeutschlands abzielte. Diese Mischung von richtigen und falschen Informationen und Interpretationen, die sich teilweise widersprechen und den Schüler, der über die Geschehnisse nicht unterrichtet ist, gelinde gesagt, verwirren müssen, geht jedenfalls in die Richtung, daß letztlich die Sowjetunion doch wieder diejenige ist, die für die Spaltung verantwortlich zeichnet. Direkter, aber nicht weniger fadenscheinig geht ein anderes Schulbuch vor. „Dieser Zeitpunkt (der des Staatsaufbaus der DDR, d. Verf.) entsprach der Taktik der SED, entscheidende — längst vorbereitete — politische Maßnahmen einige Tage nach den entsprechenden Vorgängen in Westdeutschland durchzuführen, um damit den Anschein zu erwecken, daß die Spaltung Deutschlands vom Westen ausginge." (Schroedel/Schöningh V, S. 210/211) Ernst Richert, den man gewiß nicht der Apologie der sowjetischen Nachkriegspolitik bezichtigen kann, sagt dazu: , , . . . nichts spricht dafür, daß die Russen vor 1953 oder sogar 1955 von langer Hand im vorhinein aus eigener Initiative auf ein separates Sowjet-Deutschland hingezielt h ä t t e n . " Molotow hielt „eine Entwaffnung und Entmilitarisierung Deutschlands für mindestens 40 Jahre v o n n ö t e n " und fügte hinzu, daß die vorgesehenen Maßnahmen keine Sicherheitsgarantie böten. Auf Grund der vom deutschen Militär angerichteten Kriegsschäden war die SU außerdem mehr als die Westmächte an der Lösung der Reparationsfrage interessiert. Die Vereinigten Staaten stellten die der Sowjetunion laut Potsdamer Abkommen zustehenden Reparationen aus den Westzonen im Mai 1 9 4 6 ein und sperrten die G r e n z e . Als es dann nach dem Potsdamer Abkommen nicht zu einer Einigung über die Wirtschaftseinheit ganz Deutschlands kam, hielt der USAußenminister Byrnes am 6. 9. 1 9 4 6 jene Rede, die die Separatentwicklung der Westzonen einleitete. Wie ernst es der Sowjetunion war, eine Teilung zu verhindern, geht aus zahlreichen Versuchen hervor, die sie unternahm, um die Westintegration und Wiederbewaffnung der Westzonen zu verhindern. Der Vorstoß im Frühjahr 1 9 5 2 soll laut 2 5 3
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Horowitz so weit gegangen sein, daß der Führung der DDR „vom Kreml mitgeteilt wurde, daß ihre Regierung im Interesse einer Wiedervereinigung Deutschlands aufgelöst werden m ü s s e " . Im Oktober 1 9 5 4 erklärte sich die Sowjetunion bereit, den Plan des britischen Außenministers Eden für freie Wahlen zu prüfen, unter der Voraussetzung, daß Deutschland nicht der NATO b e i t r a t . Solche Verhandlungsangebote, besonders das von 1 9 5 2 , sind in fünf der untersuchten Schulbücher enthalten: drei von ihnen bedauern die Tatsache, daß der Westen damals keine Verhandlungen aufgenommen hat oder Doch es gibt auch verurteilen sogar die Haltung der W e s t m ä c h t e . Gegenbeispiele; unter Verfälschung der historischen Tatsachen heißt es in einem Klettbuch: „Alle Anläufe der Westmächte, sich mit der Sowjetunion über eine Friedensregelung für Deutschland und Österreich zu verständigen, scheiterten." (Klett II, S. 197) 2 5 6
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Einfach verschwiegen werden die Kämpfe der Arbeiterbewegung um eine ökonomische und gesellschaftliche Neuordnung in den Westzonen. Nur zwei der Geschichtsbücher nehmen überhaupt Bezug auf die Verhaltensweise der Bevölkerung; in dem einen heißt es dazu: , , . . . die deutsche Bevölkerung war mit den dringendsten Problemen des Überlebens beschäftigt und nahm die Ereignisse meist passiv hin." (Schroedel/Schöningh II, S. 149) Für die Zeit der Gründung der B R D heißt es in dem anderen, daß die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung mit der Gründung der B R D einverstanden war (Klett V I , S. 5 ) . In Wirklichkeit gab es in den Westzonen, wie auch in den anderen westeuropäischen Staaten, starke kommunistische und sozialistische Bewegungen, die sich besonders durch den antifaschistischen Widerstandskampf politische und prestigemäßige Positionen verschafft h a t t e n . Da damals offen zutage lag, daß es der Kapitalismus gewesen war, der den Faschismus hervorgebracht hatte, waren in den westlichen Zonen alle Gewerkschaftsgruppen und Parteien einschließlich der CDU (bis hin zum Ahlener Programm vom Februar 1 9 4 7 ) für eine Sozialisierung mindestens der Grundstoffindustrien und der Monopole. Ein Stahltreuhänder der IG-Metall erklärte 1 9 5 4 : , , . . . die amerikanischen Dienststellen in Deutschland waren überwiegend mit Repräsentanten der amerikanischen Großindustrie besetzt, deren SympaDer amerikanithien auf selten der deutschen Konzerne l a g e n . " sche Militärgouverneur General Clay und seine drei wichtigsten Berater Draper, Douglas und Murphy waren Vertreter dieser Kapitalgruppen, die sich gegen die kleinbürgerliche, reformkapitalistische „Linke", die unter Präsident Roosevelt in der New Deal-Phase dominiert hatte, nach 1945 rasch durchsetzten. Die Kapitalgruppe um General Clay war selbstverständlich gegen eine Sozialisierung; ihr war an einem ungehinderten Eindringen von amerikanischem Kapital gelegen, was nur die andere Seite der oben dargelegten Notwendigkeit von Kapitalexport der US-Wirtschaft dar2 5 9
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stellt. Die Arbeiter, die teilweise „ihre" Betriebe übernommen hatten, mußten sie an Treuhänder abgeben, die zum Teil während der faschistischen Herrschaft leitende Angestellte gewesen waren. Im Herbst und Winter 1 9 4 6 / 4 7 kam es im Ruhrgebiet wegen der Versorgungslage und der von den Arbeitern geforderten Sozialisierungen zu Massenstreiks, an denen sich mehrere 100 0 0 0 Arbeiter beteiligten. Mehrfach wurden von der britischen Militärverwaltung dabei Panzerwagen gegen die Streikenden eingesetzt. Als sich die Streiks über alle Westzonen ausbreiteten und verschärften, wurden unter Androhung der Todesstrafe alle weiteren Proteststreiks und Demonstrationen durch die Besatzungsmacht v e r b o t e n . Auch die Vorgänge um den Sozialisierungsartikel der Hessischen Verfassung (Nr. 4 1 ) , der von 72 % der Bevölkerung in einer Volksabzeugen von der Ohnmacht der Bestimmung gebilligt worden w a r , völkerung gegen eine auf konsequent kapitalistische und monopolistische Restauration ausgerichtete Politik der Westmächte. Als Antwort auf den Art. 41 der Hessischen Verfassung verfügte die amerikanische Militärregierung (am 6. 12. 1 9 4 6 ) die Herausnahme einer Reihe von Banken und anderer Betriebe, „so daß im Endeffekt nur noch wenig zu sozialisieren ü b r i g b l i e b " . Auch die anderen Landesverfassungen einschließlich der von CDU bzw. CSU regierten Länder hatten entweder Sozialisierungsermächtigungen oder sogar verpflichtende Sozialisierungsaufträge aufgenomMit der Begründung, daß Sozialisierungsmaßnahmen einer men. Zentral- und nicht einer Landesregierung überlassen werden müsse, wurden die beiden entsprechenden Gesetze des Landes NordrheinWestfalen (vom 2 5 . Januar 1947 und 6. August 1948) von der amerikanischen Militärregierung (am 1 . 1 . 1947 war bereits die Bizone entstanden) abgelehnt. Die Antwort auf den zweiten Anlauf enthielt die Mitteilung, daß die Militärgouverneure den Sozialisierungsbeschluß nicht anerkennen w ü r d e n . Die Besatzungsmächte verhinderten oder unterdrückten also sowohl Aktionen der Arbeiter wie auch Beschlüsse der demokratisch gewählten Parlamente, sobald sie sich gegen das kapitalistische System richteten. Von alledem ist in den Geschichtsbüchern mit keinem Wort die Rede. 261
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Geradezu zynisch angesichts dieser Entwicklung klingt folgendes Zitat aus einer Didaktik: „ . . . wobei dann gleichzeitig deutlich gemacht würde, was unter freier Entscheidung in Ost und West verstanden wurde. Als Ergebnis kann festgehalten werden: Abgesehen von einer staatlichen Neugliederung griffen die Westmächte in gesellschaftliche und Eigentumsverhältnisse wenig ein: . . . sie respektierten also die freie Entscheidung des Einzelnen." (Schroedel/Schöningh VIII, S. 173) Dazu paßt die Behauptung, daß die Entnazifizierung von den Amerikanern am gründlichsten durchgeführt worden sei. Tatsächlich wurden in den Westzonen allenfalls die Mitläufer bestraft, während die Hauptschuldigen, nämlich die Führungsgruppen aus Wirtschaft, Militär, Verwaltung, Justiz usw., sogleich oder spätestens nach 1951 als 139
„Fachleute" gebraucht wurden und ihre früheren Machtpositionen wieder einnahmen. Über die Wirtschaftsführer heißt es dementsprechend: „Sie waren keine Nazis, sie waren G e s c h ä f t s l e u t e . " Das waren sie in der Tat. Eben deshalb hatten sie sich mit der NSDAP verbündet und die Politik des faschistischen Systems wesentlich mitgestaltet. In dem „vom 1. Bundestag verabschiedeten ,Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 GG fallenden Personen' vom 11. 5. 1951 wurde die Wiedereinstellung aller nach 1945 im Zuge der Entnazifizierung entlassenen Personen zur Pflicht g e m a c h t . " So kann als Resultat der Nachkriegsperiode festgehalten werden, daß sowohl das Wirtschaftssystem als auch die Führungsschichten relativ unbeschadet aus dem Faschismus hervorgegangen sind. Die Zeche mußte von den „kleinen Leuten" in der Währungsreform bezahlt werden, die Sachmittelbesitzer erhielten Marshallplanhilfe und kamen in den Genuß von Abschreibungsgesetzen, die sie zeitweise von jeder Steuer befreiten und in kurzer Zeit enorm bereicherten — dies unter der Parole, daß es dann auch wieder Arbeitsplätze für jeden g e b e . Es hat sich gezeigt, daß die Autoren den wirklichen Geschichtsverlauf wesentlich verfälschen. Dabei bedienen sie sich sowohl der Unterschlagung und Verdrehung von Tatsachen als auch falscher Interpretationen von Tatsachen. Der Eindruck drängt sich auf, daß die Ergebnisse von vornherein feststehen nach dem Schema: USA und Bundesrepublik = gut, UdSSR und DDR = böse. Danach werden dann die Tatsachen zurechtgestutzt. Die Fülle der Verzerrungen läßt die Vermutung aufkommen, daß bei dem Thema „Kalter Krieg" wegen seiner Aktualität mehr bewußte Verfälschung vorliegt als bei weiter zurückliegenden Perioden. Wem eine solche Darstellung nützt, liegt auf der Hand. Wie schon in der Vorbemerkung zu diesem Kapitel gesagt, kommen dabei, vermittelt durch das konservative bis reaktionäre Bewußtsein der Schulbuchautoren, die Interessen der Herrschenden in der B R D , besonders der Produktionsmittelbesitzer zur Geltung. Von daher ergibt sich auch die positive Einschätzung der USA als der führenden kapitalistischen Macht, die Ablehnung des Sozialismus und als Bindeglied zwischen beiden der Antikommunismus nach innen und nach außen, dessen scharfe Ausprägung als Strukturmerkmal der Epoche des „Kalten Krieges" gelten kann. 266
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G. Kolonialismus und Entkolonisierung — Imperialismus und Dritte Welt 1 . Anspruch und W i r k l i c h k e i t
Die Kritik der Imperialismusdarstellung der Schulbücher hat zunächst aufzuzeigen, welche Bedeutung der Imperialismus in der Geschichte hatte und welche er für uns hat. Bei der Rezeption der Imperialismustheorien in den verschiedenen Schulbüchern wie auch wissenschaftlichen Werken sieht man sich jedoch vor eine Reihe von Schwierigkeiten gestellt. Durch die Verschiedenheit der Theorien drängt sich der Eindruck auf, daß viel Schindluder mit dem Begriff des Imperialismus getrieben wird. In den meisten Fällen wird der Begriff so entleert, daß er unbrauchbar wird, um einen bestimmten Teil der Geschichte in seinen wesentlichen Zügen zu erfassen. Entweder wird der Begriff zu einer ,universellen' Kategorie ge— dadurch wird er auf die ganze Menschheitsgeschichte anmacht wendbar und die qualitativen Unterschiede geschichtlicher Epochen oder er wird durch eine Vielzahl willkürlich werden verwischt — ausgewählter und einfach addierter Phänomene gekennzeichnet und zeitlich enger lokalisiert als die vorher selbst bestimmten Kriterien zulassen. Geht man nun davon aus, daß die Ideen der Menschen nicht wie ein ,deus ex machina' auftauchen oder aus sich selbst entspringen, sondern in einer kausalen Beziehung zur gesellschaftlichen Praxis stehen, ergibt sich aus der Tatsache, daß die Entstehung der Imperialismusdebatte auf die Jahrhundertwende zu datieren ist, der Hinweis auf entscheidende Veränderungen der geschichtlichen Lage in dieser Zeit. Dies wird von allen Geschichtsbüchern konstatiert, allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung. Den allgemeinsten Konsens — und dies scheint dann auch die entscheidende Veränderung zu benennen — findet man im folgenden Zitat am besten formuliert: 2 6 9
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„Die Erde als Ganzes wurde zum Schauplatz der Geschichte." (Klett II, S. 65) Damit ist die Variante „Imperialismus als universale Kategorie" schon in ihrer Unbrauchbarkeit bewiesen. Weit interessanter ist jedoch die andere Interpretation, die auf die strikte zeitliche Lokalisierung des Imperialismus hinausläuft. Dazu weiter unten mehr; nur eine Anmerkung an dieser Stelle: es ist zumindest auffällig, daß das Ende des Imperialismus von der Mehrheit der Schulbuchautoren just auf den Zeitpunkt festgelegt wird, an dem der erste sozialistische Staat in Gestalt der Sowjetunion entsteht. Der Einbezug der ganzen Welt in das „Spiel der Geschichte" hatte natürlich auch materielle Resultate, vor allem für die europäischen Länder: in dieser Zeit begann eine rücksichtslose Ausbeutung der 141
Rohstoffe und Arbeitskräfte in den ,unterentwickelten' Kontinenten. Hier trafen zwei Produktions- und Lebensweisen aufeinander, deren Abstand aus den unterschiedlichen Bedingungen der natürlichen Umgebung, der Kultur, der Tradition, kurz aus der total verschiedenen geschichtlichen Entwicklung resultieren. Dies stellt sich dar im unterschiedlichen Verhältnis der Menschen zur Natur und zueinander, was sich wiederum niederschlägt in den unterschiedlichen Staats- und Rechtsformen. Das Aufeinandertreffen zweier Stadien der menschlichen Entwicklung — hier die Beherrschung der Natur durch den Menschen, dort die naive Beziehung des Menschen zur Natur, von der er beherrscht wird — führte zur gewaltsamen Auseinandersetzung; das Konkurrenzprinzip, der „bellum omnium contra omnes" der abendländischen Welt mußte die auf Naturwüchsigkeit beruhende gemeinschaftliche Produktion (Dörfer, Stämme, Familien) zerstören. Die „unfaßbare Form", in der sich der als positiv verstandene Auftrag der westlichen ,zivilisierten' Welt durchsetzte (Gewalt, Zerstörung, Sklaverei) steht im eklatanten Widerspruch zu den bürgerlichen Idealen „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit". Selbst die ,konservativsten' (oder gerade diese) kommen nicht umhin, diese Form zu verurteilen. Die Schulbuchautoren geraten hier offensichtlich in Schwierigkeiten: einerseits sind sie entsprechend ihrer — im Laufe unserer Untersuchungen oft aufgezeigten — affirmativen Betrachtungsweise all dessen, was der Entwicklung des Kapitalismus nützt, genötigt, auch die Ausplünderung der Kolonien gutzuheißen — tatsächlich ermöglichte sie erst die Entwicklung des Kapitalismus in Westeuropa —, andererseits sind sie aber gezwungen, die ihrer eigenen Ideologie offen widersprechenden gewaltsamen Methoden dieser Ausplünderung abzulehnen. Sie versuchen, aus diesem Dilemma herauszugelangen, indem sie die wirtschaftliche Ausplünderung und Ruinierung der nichtkapitalistischen Länder — die, wie etwa Indien, durchaus eine bedeutende Industrie besitzen k o n n t e n — entsprechend der damaligen Propaganda als „Zivilisation" bezeichnen und die „unzivilisierte" Form dieser „Zivilisation" als zufällig und ihr äußerlich betrachten. Nachdem auf diese Weise der gesellschaftliche Inhalt (ökonomische Ausplünderung und Zerstörung nicht-kapitalistischer Wirtschaftsgebiete zum Zwecke der erweiterten kapitalistischen Akkumulation in den ,Mutterländern') und seine äußere Form (die barbarische Form, in der sich die ökonomische Ausbeutung vollzog: Ausrottung ganzer Volksstämme, Sklaverei usw.) auseinandergerissen worden sind, ist es ein leichtes, die ,schlechte' Erscheinungsform moralisch zu verurteilen und an ihre Stelle geschwind ein positives Gegenbild in Gestalt der angeblich nun wirklich humanen ,Entwicklungshilfe' von heutzutage zu sehen. Das weiterbestehende Problem, die barbarischen Methoden von Ko2 7 1
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lonialismus und Imperialismus irgendwie historisch erklären zu müssen, wird von den Schulbuchautoren mit Hilfe zweier altbewährter Hilfsmittel ,gelöst': der ideengeschichtlichen Betrachtungsweise (Imperialismus = Nationalismus, Sozial-Darwinismus, Sendungsbewußtsein usw.) sowie dem Rückgriff auf anthropologische Konstanten (Imperialismus = Machtdenken). In einem Band des Verlags Schroedel/Schöningh wird Imperialismus dementsprechend wie folgt bestimmt: „Machtdenken und nationalistische Überheblichkeit gingen eine gefährliche Verbindung ein. Jeder Großstaat wollte sein Herrschaftsgebiet erweitern." (Schroedel/Schöningh IV, S. 197) Durch eine derartige Geschichtsbetrachtung wird hinterrücks der Imperialismus als historisch gesellschaftlich formbestimmtes Phänomen (d. h. als notwendige Form kapitalistischer Entwicklung) vollständig ausgelöscht. Es existiert für die Schulbuchautoren nur noch der zivilisatorische Anspruch — also das, was angeblich in den Köpfen der Imperialisten vorging — und seine unzivilisatorische Verwirklichung. Das Wesen — der historisch gesellschaftliche Zweck — des Imperialismus hat sich in ideologische Verbrämung und äußerlich sichtbaren Vollzug — die Mittel — verflüchtigt. Dies läßt sich an den selbst erklärten pädagogischen Zielen ablesen, welche den Widerspruch durch eine Zweiteilung der didaktischen Vermittlung der Kolonialgeschichte zu lösen sucht, ihn aber nur reproduzieren kann: „Die Schüler sollen Ausmaß und Bedeutung der kolonialen Erschließung der Welt für Europa kennenlernen." (Schroedel/Schöningh VII, S. 162) „Die Schüler sollen durch die Interpretation der Quellenstellen die Ideologie des Imperialismus kennenlernen, sie auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiedlichkeiten bei den einzelnen imperialistischen Staaten untersuchen und sie in ihrer Gefährlichkeit erkennen." (ebenda, S. 165) Für die heutige „Dritte Welt" „können im wesentlichen nur Tatsachen und Entwicklungstendenzen dargestellt werden" (Schroedel/Schöningh VIII, S. 180), aber als sicher gilt: „Die nächsten Jahrzehnte werden erweisen, ob es gelingen wird, die Einwohner der Erde von Hunger zu befreien und allen ein menschenwürdiges Dasein zu sichern." (Schroedel/Schöningh V, S. 228) Und wem dieser Auftrag zufällt, bedarf ebenfalls keiner Diskussionen: „Versagt die westliche Welt . . . " (Klett II, S. 2 2 4 ) Auf diese Weise werden der ,positive' Inhalt der Kolonialbewegung und die ,negative' Form der Durchsetzung zusammenhanglos nebeneinandergesetzt, d. h. die bürgerliche Geschichtsdarstellung sieht keinen inneren Zusammenhang zwischen „Ausmaß und Bedeutung" für das imperialistische Europa und der „Gefährlichkeit imperialistischer Ideologien". Indem aber diese beiden Momente derselben Sache auseinandergerissen werden und als Phänomene beziehungslos nebeneinanderstehen, verstrickt sich die Darstellung in weitere immanente Wi143
dersprüche. Das stellt sich in der Unfähigkeit dar, zwei unterschiedlich bewertete Teilphänomene aus den gleichen gesellschaftlichen Bedingungen zu erklären, auf der anderen Seite aber doch Ursachen angeben zu müssen.
2. Der Kolonialismus
„Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, um 1890, begann ein neuer Abschnitt der Weltgeschichte, der wesentlich von den Massenkräften der modernen Demokratie und dem weltumspannenden Imperialismus bestimmt wurde. Die Epoche des Nationalstaates und des Bürgertums war zu Ende. Die sprunghafte Bevölkerungszunahme und die Ausweitung der Weltwirtschaft durch die fortschreitende Industrialisierung führten dazu, daß die Staaten nun auch politisch über den Rahmen des Nationalstaates hinausgriffen, um sich einen möglichst großen Teil der Erdoberfläche als Einflußgebiete zu sichern. Die Erde als Ganzes wurde zum Schauplatz der Geschichte." (Klett II, S. 66/12) In fast allen Geschichtsbüchern beginnt die Darstellung des Imperialismus und der Kolonialbewegung mit ähnlichen, dem Sinn nach gleichen Sätzen: deshalb kann hier exemplarisch — am Beispiel dieses Textes — verfahren werden. Wie schon in der Einleitung als Variante der Geschichtsinterpretation benannt, ist der erste Schritt jeder Schulbuchdarstellung die Festlegung eines Zeitraumes für einen bestimmten historischen Vorgang. Scheinbar vorgegebene feststehende Begriffe werden historisch lokalisiert. „ . . . Die Epoche des Nationalstaates und des Bürgertums war zu Ende . . . " Solche Aussage ergibt sich scheinbar zwangsläufig aus der zeitlichen Lokalisierung: Beginnt eine neue Epoche, muß eine alte zu Ende gehen. Ist die Epoche des Nationalstaates aber wirklich zu Ende? Ist, um zunächst nur die Frage aufzuwerfen, Nationalstaatlichkeit nicht gerade im Gegenteil eine notwendige Prämisse der imperialen Kolonialbewegung? Aufschlußreich ist die Verwendung des Begriffes Bürgertum in diesem Zusammenhang. An dieser Stelle ist noch einmal an unsere historische Ableitung der Französischen Revolution zu erinnern, in der dargelegt wurde, woraus sich das Bürgertum konstituiert (Besitzform, politische Macht, Geisteshaltung) und wie es sich historisch herausgebildet hat. Ist das entscheidende Kennzeichen aber der Besitz an Geld- und Produktivkapital (Produktionsmittel), welches das Bürgertum von allen anderen Gruppen innerhalb der Gesellschaft unterscheidet, so kann von seinem Ende in der Epoche des Imperialismus überhaupt keine Rede sein. Im Gegenteil: Es ist gerade das Bürgertum, das vor allem auf Grund der materiellen Voraussetzungen in der Lage ist, die Kolonialbewegung in Gang zu bringen. Als erstes sind es die großen Handelsunternehmungen, dann die Industriekonzerne, die ihren Fuß auf den Boden 144
der unterentwickelten Länder setzen. Ganz wesentlich sind die Motive, welche diese Politik als unumgänglich erscheinen ließen: Rohstoffquellen und Absatzmärkte — neue Anlagemöglichkeiten für die europäischen Kapitale (die, wie später zu zeigen ist, eine Notwendigkeit für diese Kapitalien waren). Man muß also gerade dieses Bürgertum als die treibende Kraft ansehen, und es waren die bürgerlichen Interessen, die eine Intervention der einzelnen Staaten erforderten und „fast regelmäßig den Soldat der Nation folgen ließen": zur Unterwerfung der Kolonialvölker und zur Sicherung gegen die konkurrierenden imperialistischen Mächte. Damit wird auch die Behauptung, das Zeitalter des Bürgertums werde von dem der „Massenkräfte" der modernen Demokratie „abgelöst" — denen das Schulbuchzitat den Imperialismus in die Schuhe schieben möchte — hinfällig. Ist die imperiale Bewegung von den Interessen des Bürgertums her ableitbar, so muß die Funktion der „Massenkräfte" hier eine andere sein. Die Fragwürdigkeit der Schulbuchdarstellung läßt sich schon daran ablesen, daß sich in keinem der Bücher auch nur der Versuch findet, die Eroberung von Kolonien wissenschaftlich stringent aus den Interessen oder dem Drang der Massen herzuleiten. Empirisch feststellbar ist allerdings, daß die wirtschaftlichen Expansionsinteressen sich auch geistig und publizistisch äußerten, z. B. im „Alldeutschen Verband", der mit seiner Propaganda wirklich Massen mobilisieren konnte, besonders im Kleinbürgertum. Als ein wesentlicher Mangel der Schulbuchdarstellung wurde bereits erwähnt, daß sie niemals eine bestimmte Gesellschaftsformation analytisch, d. h. in ihren Kausalbeziehungen erfaßt. Sie trägt empirisch jeweils nur eine Reihe von Phänomenen zusammen, die zeitlich zum gleichen Zeitpunkt auftauchen. So wird als erstes in allen Geschichtsbüchern das Phänomen der industriellen Entwicklung aufgegriffen: Die industrielle Revolution des 18. Jahrhunderts brachte eine gewaltige wirtschaftliche Entwicklung mit sich, und es war nur eine Frage der Zeit, „wann die Produktion den Eigenbedarf übertraf". (Schroedel/Schöningh V I I , S. 163) Und „um diese Massenproduktion in Gang zu halten, brauchte die Industrie billige Rohstoffquellen und neue Absatzmärkte. . . . Die Menschheit zerfiel in arme Rohstofflieferanten und reiche Produzenten." (Diesterweg V, S. 217) 274
(Daß jene „armen Rohstofflieferanten" durchweg erst mit Militärgewalt von Seiten der kapitalistischen Staaten dazu herabgedrückt wurden — indem nämlich das bodenständige z. T. hochentwickelte Gewerbe systematisch vernichtet wurde — sei hier nur am Rande vermerkt.) Nach dem ersten Zitat waren es also nicht die Ideen der großen Unternehmer, die den Anstoß gaben. Tatsächlich war es die erste große Wirtschaftskrise in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, die zu einem starken staatlichen Wirtschaftsprotektionismus führte und den direkten Anlaß zu kolonialen Expansion d a r s t e l l t e . 275
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Da aber die Antriebskräfte der „schrankenlosen" industriellen Massenproduktion nicht begriffen werden, kann auch nicht erklärt werden, warum die Industrie mehr produzieren sollte, als zum Eigenbedarf notwendig ist. Schon der Begriff Eigenbedarf ist fragwürdig. Tatsächlich hat er eine eindeutig verschleiernde Funktion: er erweckt nämlich den Eindruck, als seien die gesellschaftlichen Bedürfnisse im eigenen Lande vollständig befriedigt. Es genügt aber schon ein Hinweis auf die sogenannte „Soziale Frage" des 19. Jahrhunderts, also des materiellen Elends breiter Schichten, um das zu widerlegen. Die entscheidende wirtschaftliche Motivation kann also nicht die Bedürfnisbefriedigung der Gesellschaftsmitglieder sein, sondern muß in dem Prinzip gesucht werden, daß die Entscheidung jedes Unternehmers bestimmen muß, wenn er nicht Gefahr laufen will, im Konkurrenzkampf unterzugehen: der Profitmaximierung. Eben weil die Schulbuchautoren die „schrankenlose" Massenproduktion und die daraus entspringende Tendenz zum Weltmarkt nicht erklären können, greifen sie zu einem weiteren Phänomen, das quasi als unabhängig von den erstgenannten dargestellt wird. „Es ist klar, daß der Imperialismus eine hochentwickelte kapitalistische Wirtschaft zur Voraussetzung hat. . . . Betrachtet man (jedoch) vielmehr das verwickelte Zusammenspiel von triebhaften, geistigen und wirtschaftlichen Kräften, das den Imperialismus hervorruft, so kann man sein Wesen so umreißen: ,Imperialismus ist eine zugleich geistige und politische Bewegung mit dem Ziel einer Reichsgründung durch die Ausdehnung nationaler Herrschaft und Wirtschaftsmacht über einen Raum, der die Grenzen des betreffenden Nationalstaates überschreitet und fremde Völker dem Reichsverbande zu unterwerfen oder einzugliedern' (Hashagen)." (Zimmermann, Der Imperialismus, seine geistigen, wirtschaftlichen und politischen Zielsetzungen, Klett 1971, S. 3) Später heißt es in diesem Text, dem Vorwort einer Quellensammlung: „Bei dem ständigen Wachstum der Bevölkerung, der schnell fortschreitenden Industrialisierung und der Ausweitung des Ausfuhrhandels strebten die herrschenden Kreise danach, dem deutschen Volke die nötigen Rohstoffbasen zu sichern. Kann man diese Politik aber als echten Imperialismus bezeichnen? Es fehlten dem deutschen Nationalstaat, der erst so spät gegründet worden war, dazu gewisse natürliche Voraussetzungen. Es fehlte dem deutschen Volke vor allem ein unerschütterliches Sendungsbewußtsein . . . " (ibid. S. 34) Mit dem Sendungsbewußtsein ist nun ein offensichtlich besonders beliebtes Motiv dieser Imperialismusdarstellung angesprochen; dazu nur zwei Beispiele: „Der wirtschaftliche und politische Imperialismus fand einen starken Rückhalt im Selbstgefühl der Völker. . . . das Sendungsbewußtsein . . . " (Diesterweg V, S. 218) „Imperien sind Reiche, die ihre überschüssige Bevölkerung auf eigenem Boden ansiedeln und ihre Kapitalien dort anlegen wollen. Von Großbritannien ging die imperialistische Idee aus und erfaßte den Kontinent wie eine Modeströmung. Ein sich steigernder, die biologisch-naturwissenschaftliche Denkweise des Sozialdarwinismus, eine neue Wirtschaftsauffassung und ein ausgesprochenes Sendungsbewußtsein prägten die imperialistische Lehre." (Klett II, S. 66) 146
Viel Raum und Zeit wird aufgewendet, um das englische, französische, russische, nordamerikanische und auch das deutsche Sendungsbewußtsein im einzelnen darzustellen. Der Zusammenhang mit den Gesellschaften aber, in denen dieses „Sendungsbewußtsein" entsteht, wird zwar gelegentlich zaghaft angedeutet, das Wesentliche aber, die ,negative' Fortführung ideologischer Momente (Rassismus und religiöser Fanatismus) der Kolonialbewegung, wird nicht auf gesellschaftliche Ursachen zurückgeführt, sondern einigen wenigen Persönlichkeiten, meist Politiker oder Intellektuelle, zugeschrieben: Disraeli, Chamberlain, Rhodes, Caprivi, Wilhelm II. etc. So waren es der Engländer Rhodes und der Deutsche Wilhelm II., welche die Geschicke der Welt in ihren Händen hielten. Die ,Entscheidungssituationen' der Geschichte werden zu individuellen Ermessensfragen. Doch auch dies hat seinen Sinn. Auf diese Weise kann nämlich die Kolonialbewegung auseinandergerissen werden in eine angeblich rational begründete wirtschaftliche und politische Expansion einerseits und die irrationalen Ideologien andererseits. So also lösen die Geschichtsbücher den in der Einleitung dargelegten Widerspruch zwischen Inhalt und Form des Imperialismus. Identifiziert man die irrationalen ,negativen' Ideologien mit einigen Persönlichkeiten, die sich einem wissenschaftlichen Urteil entziehen und nur moralisch zu kritisieren sind, kann man auch die gewaltsame und unmenschliche Form, in der sich die koloniale Erschließung der Welt durchsetzte, moralisch verurteilen, ohne die Gesellschaftsordnung, die das alles hervorbrachte, irgendwie belasten zu müssen: „Jede Bedenkenlosigkeit (!) und jeder Gewaltakt bei der Besitzergreifung der Welt ließ sich mit den angeblichen ,Menschheitsaufgaben' der Großmächte rechtfertigen." (Diesterweg V, S. 2 1 8 ) « „Aber die deutsche Wirtschaft zog auch Profite aus den Kolonien. Schweren Schaden erlitt die einheimische Bevölkerung, denn sie verlor ihr Selbstbewußtsein . . . und fühlte (!) sich ausgebeutet." (Diesterweg V, S. 224) 2 7
Ob dieses Gefühl nicht auch eine reale Basis hatte? Die historische Eingrenzung, die den Imperialismus 1 9 1 4 oder 1 9 1 8 für abgeschlossen erklärt, und die moralische Verurteilung bestimmter personalistisch abgeleiteter Phänomene bewirkt, daß geschichtliche Kontinuität nicht begriffen werden kann: daß die Gesellschaftsordnung und also die treibenden gesellschaftlichen Kräfte bis heute die gleichen sind wie am Ende des 19. Jahrhunderts und daß Ausbeutungsverhältnisse in veränderten Formen fortexistieren, wird so mit methodischen Mitteln aus dem Geschichtsbild eleminiert. Es ist an dieser Stelle erforderlich, noch einmal auf das in der Einleitung erwähnte Zitat zurückzukommen: „Die Schüler sollen Ausmaß und Bedeutung der kolonialen Erschließung der Welt für Europa kennenlernen." Was im Zusammenhang mit der kolonialen Erschließung der Welt „Ausmaß und Bedeutung" heißt, ist wohl klar erkenntlich. Gemeint ist Fortschritt, der in jeder Hinsicht die Kolonialvölker ausschließt. Eine Quellensammlung zeigt, woran sich dieser Fortschritts147
begriff im bürgerlichen Bewußtsein festmacht: Landfläche und Bevölkerungszahlen der Großmächte, Bevölkerungsentwicklung und Berufsgliederung, Ausweitung der Produktion (Eisen, Stahl, Steinkohle), Ausdehnung des Welthandels, steigende Tonnengehalte der Handelsflotte, Ausbau des Eisenbahnnetzes. Aber nicht nur in Europa werden Ausmaß und Bedeutung sichtbar: „Die industrielle Überlegenheit des ,Weißen Mannes' erregte die Bewunderung in Japan ebenso wie in Afrika. Daher eiferte man überall dem europäischen und nordamerikanischen Vorbild nach." (Klett V, S. 1 1 6 ) 3. Entkolonisierung — D r i t t e Welt
Mit dem ,Ende des Imperialismus' und dem Beginn der Epoche der Weltkriege rückt die koloniale Frage bei allen Geschichtsdarstellungen in den Hintergrund. Die kommenden 30 Jahre liegen völlig im dunkeln. Die Kolonien rücken erst wieder mit dem „Erwachen der farbigen Völker" in den Gesichtskreis der o b e r f l ä c h l i c h e n , rein phänomenologischen Geschichtsdarstellung. Es hat den Anschein, als seien der koloniale Status quo der Jahrhundertwende und die Völker der unterentwickelten Länder für 30 Jahre eingeschlafen. Hierin liegt wahrscheinlich der Grund, weshalb der „Aufbruch der kolonialen Völker" und ihr Unabhängigkeitskampf wie ein deus ex machina auftauchen. Wiederum wird diese Bewegung nicht von ihren gesellschaftlichen Ursachen her erklärt; vielmehr wird unvermittelt festgestellt: 277
„Nach dem Krieg herrschte Verlangen nach Selbstverwaltung und Unabhängigkeit." (Klett V I , S. 193)
Woher dieses Verlangen plötzlich kommt, bleibt ungeklärt. Viel interessanter erscheinen den Autoren die Verhaltensweisen der Kolonialmächte. Im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung scheint sich nämlich — mit einigen Ausnahmen — eine neue Qualität der Beziehungen zwischen unterentwickelten und entwickelten Ländern herauszubilden: der Wandel vom Machttverhältnis zur Partnerschaft, eine neue Form der Durchsetzung des alten „humanitären Auftrags" der westlichen Welt. Die Geschichtsdarstellung unterscheidet im wesentlichen zwischen vier „kolonialen Verhaltensweisen": 1. Die Kolonialmacht verweigert die Selbständigkeit. Die Folge sind blutige Kriege, an deren Ende die Niederlage der Kolonialmacht und ein scharfer Gegensatz des befreiten Volkes zu den weißen Siedlern steht. 2. Die weiße Schicht sichert sich ihre Herrschaft durch politische und militärische Präventivmaßnahmen. 3. Die Kolonialmacht bereitet ihren Rückzug in Zusammenarbeit mit dem Kolonialvolk vor. Die Folge ist eine — angeblich — reibungslose Machtübernahme und weitere Zusammenarbeit mit den Weißen. 4. Die Kolonialmacht weicht überstürzt einem plötzlichen Druck des Kolonialvolkes. Das Resultat ist Chaos und Haß gegen die Weißen (Schroedel/Schöningh V I I I , S. 1 8 5 ) . 148
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Daß das englische B e i s p i e l das lobenswerteste ist, steht für die Geschichtsbücher außer Frage; dabei sieht man über eine Reihe von Aufständen in Indien und anderen Dominions, die blutig niedergeschlagen worden sind, gern hinweg. Sie würden das schöne Bild von der „reibungslosen Machtübernahme" hier nur stören. Für wichtiger als die Ursachen und der Hergang (empirisch und bewußtseinsmäßig) gelten die Folgen. So ist für die Schulbücher nicht die Verweigerung der Selbständigkeit oder das überstürzte Zurückweichen das eigentliche Übel der Entkolonisierung, sondern es sind die Gegensätze „zwischen Schwarz und Weiß" und der Haß gegen die Weißen. Denn eines gilt als sicher: „Die selbständig gewordenen Länder Asiens und Afrikas können nicht aus eigener Kraft die für ihre Existenz notwendigen wirtschaftlichen Grundlagen schaffen." (Klett II, S. 224) Sie sind auch weiterhin auf die Hilfe der nunmehr zum Partner gewordenen Industriestaaten angewiesen. Doch waren es nicht eben diese europäischen Staaten und die USA, welche durch ihre Kolonialpolitik die blutigen Unabhängigkeitskämpfe verursacht haben? War es nicht die rücksichtslose Ausbeutung der „Dritten Welt" an Rohstoffen und Arbeitskräften, welche die Unterentwicklung bewirkte und konservierte? Die zentrale Frage bleibt in den Büchern unbeantwortet: Woher resultiert die wirtschaftliche Rückständigkeit und die politische Unmündigkeit trotz des angeblich so segensreichen 50jährigen „weißen" Einflusses? Wie kommen die Schulbücher dazu, die Höherentwicklung dieser Länder von eben jenen Mächten zu erwarten, die die Unterentwicklung verursacht haben? Indem man von einem gegebenen Status quo ausgeht, ohne die Ursachen zu analysieren, entzieht man sich selbst theoretisch und praktisch die Möglichkeit, das Übel an der Wurzel zu packen. Hier ein Beispiel: 2
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„Auch in diesem Kapitel können im wesentlichen nur Tatsachen und Entwicklungstendenzen dargestellt werden. Es ist das Kennzeichen der ,Dritten Welt', daß sie sich in einem Stadium der Vorläufigkeit befindet, das ihr noch nicht erlaubt, trotz ihrer großen Bevölkerungszahl und ihres großen Anteils der bewohnten Erdoberfläche, eine aktive Rolle in der Weltpolitik zu spielen. . . . ; in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht sind sie noch sehr schwach; dadurch geraten sie leicht in eine gewisse (!) Abhängigkeit von wirtschaftlich oder militärisch überlegenen Mächten; auch ihre staatlichen Strukturen sind nicht gefestigt; zu deren Festigung benutzen sie häufig Ideologien (!), die sie aus Europa übernommen haben (Nationalismus, Marxismus-Leninismus) und stülpen diese ihrer Bevölkerung über ohne Rücksicht darauf, ob sie mit Tradition, Lebensweise, Religion etc. vereinbar sind. Es ist klar, daß Entwicklungshilfe mehr sein muß als Kapitalhilfe; . . . Bildungshilfe . . . Entwicklungshilfe ist keineswegs in erster Linie zur Eindämmung des Kommunismus notwendig, sie ist — abgesehen von humanitären und christlichen Erwägungen — der wirksamste Schutz gegen einen Aufstand der Armen gegen die Reichen und sichert als Folge die Erhaltung der Arbeitsplätze, denn je mehr die ,unterentwickelten Länder' ihren Lebensstandard erhöhen, um so mehr werden 149
sie versuchen, an der Produktion der Industrienationen teilzuhaben." (Schroedel/ Schöningh VIII, S. 180 ff) Zu Beginn steht also eine oberflächliche Konstatierung des Bestehenden, aus der abgeleitet wird, daß Entwicklungshilfe notwendig ist, und zwar in zweierlei Hinsicht: 1. Schutz des Reichtums gegen einen Aufstand der Armut. 2. Eindämmung des K o m m u n i s m u s . Die Forderung nach diesem „Schutz" erscheint als legitim, da in einer Gesellschaft, die auf Privateigentum basiert, der Schutz des Privateigentums eine unbedingte Notwendigkeit ist; ein Aufstand der Nichtbesitzenden würde es gefährden. Auch daß dieser Schutz wirksamer sein kann, weil sublimer als das Herrschaftsverhältnis der Vergangenheit, soll nicht bestritten werden. Mit geradezu brutaler Offenheit aber wird hier gesagt, worum es eigentlich geht: um den Schutz der Reichen gegen die Armen, also um die Erhaltung der Abhängigkeitsverhältnisse. Die unterentwickelten Länder sollen an der Produktion der Industriestaaten „teilhaben", nicht etwa selbst Industriestaaten werden. So betrachtet läßt sich von „humanitären und christlichen Erwägungen" in der Tat „absehen", auch wenn diese sonst zur ideologischen Verbrämung sehr nützlich sind. ,Kapitalistischer' dürfte man kaum noch argumentieren können. Hier haben wir den Standpunkt des Kapitals in nuce. Die „Eindämmung des Kommunismus" ist von daher allzu verständliches Nebenziel. 280
Da hilft es dann wenig, wenn man den Vorwurf verbal zurückweist, die Entwicklungs,,politik" versuche: „Abhängigkeiten und Ausbeutungsmechanismen des Kolonialzeitalters mit anderen, weniger auffälligen Mitteln zu konservieren und zu etablieren." (Eppler in Klett II, S. 225) „Entscheidend ist die Erkenntnis, daß die Entwicklungspolitik das Leben für alle auf dieser geschrumpften Erdkugel einigermaßen erträglich (!) zu machen hat, damit es nicht für alle unerträglich wird." (ib.) Das zweite „alle" kann sich eigentlich nur auf den „reichen Westen" beziehen, für die unterentwickelten Länder (vor allem für die breiten Volksmassen) ist es heute immer noch unerträglich. Und daß es in erster Linie nicht um die Eliminierung des Gegensatzes von arm und reich geht, zeigt auch folgendes Zitat: es ist vielmehr notwendig, die wirtschaftlich-technische Rückständigkeit und damit die geringe Produktivität der Arbeitskraft zu beseitigen; die Ausbildung von Fachkräften für die Wirtschaft, Technik und Verwaltung muß gefördert werden. Dadurch könnte sich auch in den Entwicklungsländern eine meist noch fehlende Mittelschicht bilden, die imstande wäre, die großen sozialen Unterschiede zwischen der kleinen, aber reichen Oberschicht und den armen, ungebildeten Volksmassen zu überbrücken." (Schroedel/Schöningh V, S. 228) J e t z t wird auch deutlich, warum die westliche Welt nicht versagen darf. Unterläßt sie die „Hilfe" für die „Dritte Welt" oder überläßt man sie gar dem Kommunismus (der ja offenbar eine andere Entwicklungshilfepolitik zu betreiben scheint), so geht in den unterentwickelten Ländern, dem größten Teil der bewohnten Erde, der kapitalistische Status quo verloren, und es entstünde eine weitere Gefahrenquelle für 150
die Industriemonopole. Tatsächlich handelt es sich um eine „weitere" Gefahrenquelle, denn auch die Widersprüche in den kapitalistischen Metropolen treten immer deutlicher zutage. Das ständige Betonen des Gegensatzes zwischen armen und reichen Ländern verschleiert, daß die „reichen" Länder selbst, ihrer sozialen Struktur nach, auf diesem Gegensatz beruhen. „Versagt die westliche Welt, so werden die Länder möglicherweise mit Auflehnung und Aggression gegen die Industrienationen reagieren, denn man empfindet heute die eigene Armut als vermeidbare soziale Ungerechtigkeit." (Klett II, S. 2 2 4 )
Die Gefahr für die „westliche Welt" wird also klar gesehen, doch zugleich wird eine Begründung geliefert, die an Infamie grenzt: nicht nur wird unterschlagen, wer an der „Armut" schuld ist, sondern die „soziale Ungerechtigkeit" wird von einer Tatsache in ein bloß subjektives Empfinden der Betroffenen verwandelt. Danach würde es also genügen, durch irgendwelche Tricks deren „Empfinden" zu verändern. So wird so manche gut gemeinte, von moralischen Erwägungen bestimmte Darstellung unversehens zur Apologetik des Kapitalismus, der bestehenden Verhältnisse. Nur ein einziges Buch gibt ein detailliertes Faktenmaterial über Produktions- und Sozialstrukturen der unterentwickelten Länder, enthält sich jeder Wertung, spricht nicht von Schutz oder Gefahren und schließt mit folgendem Satz: „In den geäußerten Ansichten (es handelt sich um Zitate von Fanon, einem algerischen Revolutionär und Sozialisten, und von U. Meinhof, d. Verf.) und in den Taten einzelner traten deutlicher als in der Zeit des Nachkrieges die gesellschaftlichen und politischen Gegensätze auch innerhalb der westlichen Demokratien hervor!" (Diesterweg V I , S. 184)
Diese Aussage verweist darauf, daß das Problem von Neokolonialismus und Entwicklungshilfe zunächst ein Problem der kapitalistischen Industrienationen und ihres gesellschaftlichen Systems selbst ist.
H. Die Darstellung des wissenschaftlichen Sozialismus I. Die Bedeutung der Auseinandersetzung m i t d e m Marxismus für das bürgerliche D e n k e n
„Der Marxismus ist jetzt mehr als 100 Jahre alt. Es scheint an der Zeit, eine moderne Darstellung und Kritik der Lehre zu versuchen, die heute auf einem Drittel der Erde Staatsreligion ist und ihren Schatten über die ganze Weltpolitik w i r f t . " Dies sind die ersten Zeilen aus dem Vorwort Walter Theimers in seinem Buch „Der Marxismus". Die letzten Zeilen des Vorworts lauten: „Nichts an dieser Kritik (am Marxismus, d. Verf.) soll so verstanden werden, als wäre es gegen die sozialen Bestrebungen der freiheitlichen Arbeiterbewegung gerich2 8 1
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tet." Die beiden Sätze kann man als die Klammern bürgerlicher Marxbeschäftigung bezeichnen. Aus ihnen läßt sich das Bedürfnis nach der Auseinandersetzung mit dem Marxismus sowie deren Funktion ablesen. Den bürgerlichen Autoren erwächst das Bedürfnis nach dieser Auseinandersetzung nicht aus den Problemen der eigenen Gesellschaft, in dem Sinne, daß der Marxismus für sie noch Gültigkeit besäße, sondern aus dem Faktum, daß ein Drittel der Welt schon von der ,roten' Religion beherrscht wird. Die unmittelbare Legitimation einer Beschäftigung mit dem Marxismus leiten die bürgerlichen Autoren also aus dem gesellschaftlichen Außenraum ab. Die innergesellschaftliche Funktion der Auseinandersetzung mit dem Marxismus hingegen: Nämlich die Abwehr sozialistischer Forderungen der Arbeiter in der kapitalistischen Gesellschaft, wird verschwiegen. Die besondere Versicherung — die Kritik am Marxismus impliziere keinesfalls eine Ablehnung der „sozialen Bestrebungen der freiheitlichen Arbeiterbewegung" — klingt wie ein Ausdruck schlechten Gewissens. Diese Art der Begründung für die Auseinandersetzung mit dem Marxismus, wie wir sie an Hand von Theimer andeuteten, kann als repräsentativ gelten, ebenso das Verschweigen der innergesellschaftlichen Implikationen. Daß es einen strukturellen innergesellschaftlichen Konflikt, einen Klassenwiderspruch gibt, darf gar nicht erst thematisiert werden. Der innergesellschaftliche Konflikt wird — wie Werner Hofmann zeigte — in einen außenpolitischen v e r w a n d e l t . Besonders offensichtlich wird dies angesichts des Rahmens, innerhalb dessen die Auseinandersetzung mit dem Marxismus in der Oberstufe der Gymnasien oft stattfindet. Diesen Rahmen bilden die „Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht, Beschluß der KMK vom 5. J u l i 1 9 6 2 " — ein typisches Produkt des Kalten Krieges. Es ist in der Tat erst die Existenz der sozialistischen Staaten, die die bürgerliche Wissenschaft und Schule veranlaßt, sich auch mit der Theorie des Marxismus auseinanderzusetzen. Solange der Marxismus wesentlich nur eine innergesellschaftliche Angelegenheit war, Ausdruck des Emanzipationskampfes der Arbeiterklasse, war es die vornehmste Aufgabe der bürgerlichen Gelehrten, den Marxismus mit Schweigen zu bedenken. Erst als man durch die Existenz der sozialistischen Staaten die wesentlich innergesellschaftliche Bedeutung des Marxismus in ein Problem der Auseinandersetzung mit dem Außenraum verwandeln konnte, wurde der Marxismus Gegenstand zahlreicher Darstellungen, Kritiken usw. seitens der bürgerlichen Wissenschaftler. 283
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Ist bei Prof. Theimer die innergesellschaftliche Funktion quasi nur aus seiner aufdringlichen Versicherung, in dieser Richtung nichts im Schilde zu führen, herauszulesen, so tritt sie in plumper Weise hervor bei Hampel/Seilnacht: „Wir erleben die Geschichte", einem Geschichtsbuch für die Volksschule aus dem Jahre 1 9 6 6 . Hier wird j e der der auch heute noch Kategorien von Marx benutzt, als unvernünf152
tig hingestellt: „Kein vernünftiger Mensch spricht im freien Teil Europas von Kapitalisten und Proletariern; man unterscheidet zwischen Arbeitgebern und A r b e i t n e h m e r n . " „Von Ausbeutung der Arbeiter ... in unserem Staat" kann ,keine Rede' sein. Hingegen ist es eine „Tatsache, daß die Arbeiter vor allem in den Staaten unterdrückt und ausgebeutet werden, die sich ,sozialistisch' n e n n e n . " Autoritäre Sprachregelung dekretiert, was vernünftig ist, was einfach ist, und was man zu sagen hat, will man nicht dem Verdikt verfallen, zu den Unvernünftigen, Unverbesserlichen zu gehören. Kritische marxistische Kategorien, wie Klasse, Klassenkampf, Ausbeutung etc., die für die Analyse und Beschreibung der kapitalistischen Gesellschaft — in der wir immer noch leben — entwickelt wurden, sollen für diese keine Geltung mehr besitzen, hingegen sollen sie für den gesellschaftlichen Außenraum, für die sie nicht entwickelt wurden, gelten. Dort ist der Gegner angesiedelt, innerhalb der eigenen Gesellschaft gibt es ja keine Gegner, sondern nur Partner, Sozialpartner. So heißt es in Heinz Beckers „Staatsbürger von morgen", einem Sozialkundebuch für die Volksschule aus dem Jahre 1 9 6 4 : „Das Verhältnis der Unternehmer zu den im Unternehmen beschäftigten Menschen beruht auf gegenseitige Achtung. Ein Klassenkampf ist durch die Entwicklung der sozialen Verhältnisse ü b e r h o l t . " Schwieriger wird die Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis des Marxismus in höheren Schulklassen, wo auch über die Existenz und die Vorstellungen der großen kommunistischen Parteien in westlichen Staaten (Italien, Frankreich) gesprochen werden muß. Hier hat Prof. Hugo Andreae in seinem Buch „Zur Didaktik der Gemeinschaftskunde" offensichtlich Mühe, ein Unterrichtsziel zu formulieren — „das Ziel eines Unterrichts über dieses Thema ist schwer formulierbar. Daß es sich, insgesamt gesehen, um eine unsere Existenz in jeder Richtung bedrohende Macht handelt, gegen die wir uns bis zur Aufbietung unserer letzten Kräfte wehren werden, muß deutlich werden. In diesem Punkte kann der Inhalt nicht zweifelhaft sem. " Dies wurde 1 9 6 8 geschrieben und nicht zur Zeit des Höhepunktes des Kalten Krieges, aus der der Totalitarismuserlaß datiert ( 1 9 6 2 ) . Steht dieser Erlaß auch seit Jahren unter Beschuß von Verfassern von Sozialkundebüchern (allen voran Kurt Gerhard Fischer) und Politikwissenschaftlern, ist es offensichtlich dennoch nicht so, daß er in den neueren und neuesten Unterrichtsbüchern, Didaktiken und Unterrichtshilfen generell abgelehnt würde. Vielmehr ist eine Tendenz zu beobachten, die die vorgebrachte Kritik an dem Schematismus der Totalitarismustheorie berücksichtigt, indem sie die Stoßrichtung der Kritik ins Gegenteil verkehrt. Hermann Meyer, der als Mitautor und Herausgeber von Geschichts-, Sozialkunde- und Lehrerhandbüchern sowie von Verlagsreihen fungiert, hat in der neuesten von ihm im Beltz-Verlag herausgegebenen Reihe „Unterrichtseinheiten", die er mit „Themen zur 285
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Politik" (gedacht für den Lehrer der Oberstufenklassen) eröffnete, die „pädagogische Zielsetzung" der Behandlung des Unterrichtsthemas „Totalitärer Staat und demokratische Grundordnung" so angegeben: „Sie ist eindeutig formuliert in den ,Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht', . . . welche bis heute nichts an ihrer Bedeutung verloren h a b e n . " Es folgt dann der Abdruck der Richtlinien. — Dieses Buch erschien nicht in den 60er Jahren, sondern 1971 (!). Natürlich konnte auch Herrn Meyer nicht die Kritik an solch unreflektiert übernommener Totalitarismustheorie verborgen geblieben sein. Er problematisiert daher den Totalitarismusbegriff und schlägt vor, daß dies auch im Unterricht selbst geschehen sollte. Liest man die Problematisierung, stockt einem der Atem. Da heißt es: „Dabei kann man zu seiner Ergänzung im Rahmen unseres Themas die Frage stellen, wie weit etwa Diktaturen wie diejenigen Nassers, der revolutionären (!!!) griechischen Obristen, Francos in Spanien und Salazars in Portugal entscheidende Merkmale des Totalitarismus fehlen . . . " War die Stoßrichtung der Kritik am Totalitarismus gewesen, daß man den Faschismus, dessen Ausgangspunkt schon inhuman sei, mit dem Sozialismus, auch in der pervertierten Form des Stalinismus nicht ohne weiteres identisch setzen könne, weil der Sozialismus in einer humanen Theorie seinen Ausgang nehme, so verkehrt Meyer diese Intention, indem er versucht, die faschistischen Staaten als weniger verwerflich zu retten. Denn alle Negativa faschistischer Diktaturen teilt — nach Meyer — der Kommunismus weiterhin mit diesen; er hat jedoch noch zusätzliche (so schafft er zum Beispiel das Privateigentum an den Produktionsmitteln ab). Er ist daher der Hauptfeind. Innerhalb dieses allgemeinen Rahmens, den die Totalitarismustheorie absteckt, muß die Darstellung des Marxismus in den Geschichtsbüchern, die wir im folgenden analysieren sollen, gesehen werden. Nur von hier aus erschließt sich die Funktion der Behandlung des Marxismus im Unterricht. Denn in den Geschichtsbüchern selbst wird der Marxismus nur gelegentlich unmittelbar in Verbindung gebracht mit der Totalitarismuskonzeption. Dennoch bestimmt die Atmosphäre des Kalten Krieges die Diktion der Darstellung des Marxismus. Allein der linkskatholische Iring Fetscher gesteht dies im Vorwort der Neufassung seines Schulbestsellers „Von Marx zur Sowjetideologie": „Bei der längst fälligen Neubearbeitung meines Buches habe ich eine Menge Details geändert. Eine Anzahl von Formulierungen, die von der Atmosphäre des Kalten Krieges geprägt waren, sind korrigiert worden . . . " 2 8 9
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Für die vorliegenden Geschichtsbücher kann man eine solche Revision nicht bestätigen.
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2. Ontologisierung
Ontologisierung wird jene grundlegende Tendenz des bürgerlichen Bewußtseins bezeichnet, welche darin besteht, Bestimmungen, die nur für eine spezifische historische Gesellschaftsformation Geltung besitzen und anwendbar sind zur Analyse eben dieser Gesellschaft, in Bestimmungen des menschlichen Lebens oder des Seins überhaupt zu hypostasieren. Im dritten Kapitel des Buches werden wir den Ursprung dieser Tendenz aufzeigen und die Ontologisierung als Aspekt oder Ideologem notwendig falschen Bewußtseins (bürgerliche Ideologie), wie es aus der kapitalistischen Warenproduktion entspringt, aufdecken. Hier gilt es hingegen nur, dieses Ideologem aufzuweisen und zu zeigen, wie es in die Darstellung des Marxismus einfließt und so ein Verstehen marxistischer Kategorien von vornherein verstellt. Die eigenen Vorstellungen und Kategorien gehen in die Darstellung des marxistischen Denkens ein und entstellen dieses bis zur Unkenntlichkeit, bevor es schließlich explizit einer Kritik vom eigenen „wissenschaftlichen" Standpunkt her unterzogen wird. Was dann der Kritik unterzogen wird, ist nicht mehr der Marxismus, sondern der durch die Hineintragung von Kategorien der bürgerlichen Wissenschaft verzerrte Marxismus. — Seine eigene Definition von ,Kapital', ,Eigentum', .produktiv' etc. dem Marxschen Denken unterschiebend, ist es leicht und auch richtig, Marx Unlogik nachzuweisen, seine Konsequenzen als Prophezeiungen, seine Angabe der historischen Tendenz des Kapitalismus als nicht zwingend, als Glaubenssache zu denunzieren. Es ist leicht, dies zu begreifen, wenn man sich nur einen Augenblick vorstellt, zu welcher Konfusion es führen würde, wenn man den Begriff der Masse, wie er im Alltagsverstand oder in der Soziologie verwendet wird, mit dem Begriff der Masse in der Physik identifizieren würde — nur weil es sich um das gleiche Wort handelt. Untersuchen wir nun die Darstellung grundlegender Kategorien des Marxismus unter dem Aspekt der Entstellung durch die Ontologisierung. In einem Lehrerhandbuch zur Sozial- und Gemeinschaftskunde schreibt der Autor L. Helbig: „Entscheidend für den Kapitalismus ist die Trennung von Arbeit und K a p i t a l . " Ein harmloser Satz, so scheint es, auf den ersten Blick. Doch man muß genau hinsehen! Helbig verwandelt Marx in einen seinesgleichen. In nuce läßt sich an diesem einen Satz sein ganzes Unverständnis gegenüber dem Marxismus darlegen. In Marxscher Terminologie würde der Satz heißen: Entscheidend für den Kapitalismus ist die Trennung der Produzenten von ihren Arbeitsmitteln; da diese Arbeitsmittel ihrerseits Produkte menschlicher Arbeit, vergegenständlichte Arbeit sind, kann dieser Tatbestand auch als Trennung der lebendigen Arbeit von ihren gegenständlichen Momenten gekennzeichnet werden. Helbig identifiziert schlicht die gegenständlichen Momente des Arbeitsprozesses — nämlich die Produktionsmittel — mit Kapital. 2 9 2
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Für Marx nun ist das Kapital keine Sache, sondern ein durch Sachen vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis von Personen. Genauso, wie ein Neger an sich kein Sklave ist, sondern dies erst in bestimmten Verhältnissen w i r d , sind Produktionsmittel an sich kein Kapital. „Eine Baumwollmaschine ist eine Maschine zum Baumwollspinnen. Nur in bestimmten Verhältnissen wird sie zu Kapital. Aus diesen Verhältnissen herausgerissen, ist sie so wenig Kapital, wie Gold an und für sich Geld ... i s t . " Für die bürgerlichen Autoren sind hingegen Produktionsmittel immer schon Kapital. Sie identifizieren die Momente des einfachen Arbeitsprozesses (lebendige Arbeit, Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstand), die in der Tat aller menschlichen Produktion gemeinsam sind, mit ihrer historisch-sozialen Formbestimmung; lebendige Arbeit = Lohnarbeit; Arbeitsmittel + Arbeitsgegenstand = Kapital. Kapital und Lohnarbeit erscheinen so als ontologische Grundgegebenheiten, deren Aufhebung — konsequent zu Ende gedacht — die Aufhebung des menschlichen Seins selbst bedeuten müßte. Wieso die stofflichen Elemente des Produktionsverhältnisses den bürgerlichen Autoren unmittelbar zusammenwachsen mit ihrer geschichtlich-sozialen Bestimmtheit, wird im dritten Kapitel des Buches noch zu klären sein. Die objektive ideologische Funktion kann aber jetzt schon aufgezeigt werden: „Die Eigenschaft bestimmter Produktionsmittel, als Kapital zu fungieren, erscheint als ihr natürliches Attribut. Der dingliche Charakter wird mit dem gesellschaftlichen Verhältnis identifiziert. Die soziale Eigenschaft wird als eine von den Dingen untrennbare Eigenschaft angesehen, als ein den Dingen notwendig zukommender immanent eingewachsener Charakter ... Es liegt auf der Hand, daß auf diese Weise die Vorstellung von der Naturgegebenheit und der ewigen Berichtigung der vorhandenen sozialen Wirklichkeit überhaupt erzeugt und befestigt w i r d . " Die gleiche entstellende Darstellung findet man in den „Quellen und Arbeitsheften zur Geschichte und Gemeinschaftskunde" bei K. Mielcke, „Historischer Materialismus — Die Lehren von Karl Marx." Mielcke verwechselt (wie übrigens die Sozialdemokraten in ihrem „Gothaer Programm" von 1 8 7 5 ) die Arbeit als Quelle des Wertes mit der Arbeit als Quelle des Reichtums, da Reichtum für ihn — wie in der kapitalistischen Gesellschaft tatsächlich, aber nicht in allen Gesellschaften — immer schon in Warenform oder als Kapital vorliegt. „Beide Gruppen von Menschen, sowohl die, die nur über die Quelle des Reichtums, die Arbeit, wie auch die, die nur über die vergegenständlichte Arbeit, den Reichtum verfügen, sind nicht mehr ganze Menschen . . . " Marx kritisiert diese Auffassung — die ihm hier unterschoben wird — in seinen „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei": „Die Arbeit ist nicht Quelle allen Reichtums. Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit . . . J e n e 2 9 3
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Phrase findet sich in allen Kinderfibeln und ist insofern richtig, als unterstellt wird, daß die Arbeit mit den dazugehörigen Gegenständen und Mitteln vorgeht . . . Nur soweit der Mensch sich von vornherein als Eigentümer der Natur, der ersten Quelle aller Arbeitsmittel und -gegenstände verhält, sie als ihm gehörig behandelt, wird seine Arbeit Quelle von Gebrauchswerten, also auch von R e i c h t u m . " Die kapitalistische Produktionsweise ist aber gerade dadurch gekennzeichnet, daß der Arbeiter nicht Eigentümer seiner Arbeitsbedingungen ist. Ihm gehört lediglich seine Arbeitskraft, die er dem Kapitalisten teilweise zur Verfügung stellt. Im Verlauf dieser Zeit — des Arbeitstages — vernutzt der Kapitalist die gekaufte Arbeitskraft, indem er sie mit seinen Produktionsmitteln arbeiten läßt. Die Arbeit und das Arbeitsprodukt, in dem sie sich vergegenständlicht, gehört von vornherein dem Kapitalisten. Sie interessiert ihn nur als wertbildende (genauer: Mehrwert bildende) Arbeit; sie ist Arbeit für den Verkauf auf dem anonymen Markt; sie ist Tauschwert — Warenproduktion. Der gesellschaftliche Reichtum liegt im Kapitalismus also in Warenform vor, d. h. er ist Produkt entfremdeter (fremdbestimmter) Arbeit, die auf der vorausgesetzten Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln beruht. 2 9 7
Diese besondere Formbestimmtheit des Reichtums im Kapitalismus (Warenform), die sich aus der Formbestimmtheit der Arbeit (Entfremdung) ergibt, wird in der Formel von der „Arbeit als Quelle des Reichtums" verschleiert. Die Arbeit ist die Quelle des Reichtums, aber es gibt weder ,die' Arbeit, noch ,den' Reichtum — genausowenig, wie es ,den' Menschen gibt. Marx: „Alle Produktion ist Aneignung der Natur von Seiten des Individuums innerhalb und vermittels einer bestimmten Gesellschaftsform." Dieses historisch-gesellschaftliche Vermitteltsein der Arbeit macht gerade die konkrete Form der Produktion aus. Produktion, Arbeit ,an sich' — in dieser Abstraktheit — ist ein Gedankending und hat keine reale Existenz. In der Wirklichkeit liegt sie immer in bestimmter historisch-gesellschaftlicher Form vor: „Es gibt allen Produktionsstufen gemeinsame Bestimmungen, die vom Denken als allgemeine fixiert werden; aber die sogenannten allgemeinen Bedingungen aller Produktion sind nichts als diese abstrakten Momente, mit denen keine wirkliche geschichtliche Produktionsstufe begriffen i s t . " Die besondere Leistung der bürgerlichen Ökonomie liegt nun darin, die kapitalistische Form der Arbeit in die Sphäre der „sogenannten allgemeinen Bedingungen aller Produktion" zu erheben, die Lohnarbeit (als konkret-historische Kategorie) in ein Abstraktum, in ,Arbeit überhaupt', ,Arbeit schlechthin' aufzulösen, zur universalhistorischen Kategorie auszuweiten. Auf diese Weise wird implizit die kapitalistische Produktionsweise zur ontologischen, seinsgegebenen Form der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur erklärt. Der Kapita2 9 8
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lismus wird zur ewig-menschlichen, naturgegebenen Daseinsweise verklärt und damit als unabänderlich hingestellt. Die apologetische Funktion dieser Sichtweise liegt auf der Hand. Marx: „Die Produktion soll ... als eingefaßt in von der Geschichte unabhängigen ewigen Naturgesetzen dargestellt werden, bei welcher Gelegenheit dann ganz unter der Hand bürgerliche Verhältnisse als unumstößliche Naturgesetze der Gesellschaft in abstracto untergeschoben werden. Dies ist der mehr oder minder bewußte Zweck des ganzen V e r f a h r e n s . " Aus dieser Betrachtungsweise, der Verklärung des Kapitalismus zur ,zweiten Natur', resultiert auch die oben gezeigte Unfähigkeit der Schulbuchautoren, die Entstehung des Kapitalismus (und der Arbeiterklasse) darzustellen. Da sie Kapitalismus als eine universalhistorische Kategorie verstehen, schneiden sie sich von vornherein die Möglichkeit ab, seine historische Genesis aufzuspüren. In dieser Ontologisierung eines bestimmten Stadiums des historischen Prozesses — eben des Kapitalismus — gründet die oft aufgezeigte Begriffslosigkeit der Schulbücher, die sie immer wieder daran hindert, historisch- isellschaftliche Prozesse zu begreifen. Mit ihrer ontologisierenden Betrachtungsweise machen die Autoren auch vor dem Marxismus nicht halt. Die Marxsche Kritik der bürgerlichen Ökonomie wird hemdsärmelig in die bürgerliche Ökonomie vereinnahmt. Die Verfälschung des Marxismus in den Schulbüchern ist die notwendige Konsequenz des Selbstverständnisses eben der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft, die sich als eine „Wissenschaft (versteht), die das menschliche Verhalten als eine Beziehung zwischen Zielen und knappen Mitteln, die alternativen Nutzen haben, s t u d i e r t . " Oder, wie Professor Karl Häuser es formulierte: „Die Wirtschaft umfaßt einen Bereich menschlichen Handelns, der durch begrenzte Mittel einerseits und einer Vielfalt von Verwendungsmöglichkeiten dieser Mittel andererseits gekennzeichnet i s t . " 300
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Daraus folgt für die Wirtschaftswissenschaftler, daß sie das ökonomische System „als eine Reihe von interdependenten, aber begrifflich getrennten Beziehungen zwischen Menschen und ökonomischen Gütern b e t r a c h t e n " . Subsumiert unter die Arbeitsteilung der Wissenschaften, hat die Volkswirtschaftslehre somit das Bewußtsein verloren, daß die Wirtschaft einen integralen Bestandteil eines gesellschaftlichen Ganzen darstellt und als solche von sozialen Beziehungen in ihrer historischen Formbestimmtheit handelt. Die Konsequenz ist das unvermittelte Gegenüberstellen von abstraktem Mensch und ökonomischen Gütern als reiner Sachenwelt! Der einfache Arbeitsprozeß wird so identisch mit dem kapitalistischen Produktionsprozeß, Produktionsmittel erscheinen immer schon als Kapital. 303
Betrachten wir noch einige weitere Bücher, in denen die ontologisierende Tendenz des bürgerlichen Bewußtseins sich in der Darstellung des Marxismus niedergeschlagen hat. In „Zeiten und Menschen", (Schroedel/Schöningh I X , S. 152,) heißt es: „Die herrschende Klasse besitzt die besten Produktionsmittel, den ,Unterbau',
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und beherrscht damit die wirtschaftlich schwächere Klasse." Fragen: 1. Welche Produktionsmittel besitzt die wirtschaftlich schwächere Klasse? (Sie muß vermutlich welche besitzen, da die herrschende Klasse nur die „besten" besitzt.) 2. Wer ist die wirtschaftlich schwächere Klasse? Antwort: „Bourgeoisie (Bürgertum) und Proletariat sind für Marx die Klassen in den Industriestaaten" (ib. S. 1 5 2 ) . Kommentar: Was soll die Formulierung die „besten Produktionsmittel"? Sie suggeriert, daß das Proletariat ebenfalls, wenn auch schlechtere Produktionsmittel besitzt, was falsch ist. Es besitzt keine. Wie -wird der Unterschied zwischen Bourgeoisie und Proletariat nach Marx beseitigt werden? „Es entspreche aber dem Gesetz der Geschichte, daß schließlich das Proletariat das Bürgertum beseitige, um dann als herrschende Klasse die sozialen Gegensätze aufzuheben und damit den Klassenkampf der Menschheit zu beenden." (ib. S. 152) An neuer Information enthält dieser Passus, daß es soziale Gegensätze gibt (vermutlich die zwischen Proletariat und Kapital). Dies ist neu gegenüber der ersten aus diesem Buch zitierten Passage, wo die Klassen nicht als gegensätzlich definiert wurden, sondern nur als unterschiedene. Denn zwischen schwächer und stärker besteht genausowenig ein Gegensatz wie zwischen 100 m und 2 0 0 m, lediglich ein Unterschied existiert hier. Verfehlt wird hier also das Wesentliche der Marxschen Klassenbestimmung: der Antagonismus. Wo findet man nun diese beiden Klassen (Bourgeoisie und Proletariat)? „In den Industriestaaten!!" Wenn dies stimmt, muß mit der sozialistischen Revolution, die das Bürgertum als Klasse aufhebt, die Industrie verschwinden. Denn nach Aussage des Buches sind die Klassen der Industriestaaten Bourgeoisie und Proletariat. Mit diesem muß also auch die Industrie verschwinden! Sozialismus/Kommunismus müßte demnach ein Rückfall in vorindustrielle Zustände bedeuten. Man sieht, wohin man gelangt, wenn man die Autoren beim Wort nimmt. Woher aber kommt dieser Unsinn? Einfach wieder dadurch, daß sie die industrielle Gesellschaft (also einen bestimmten Stand in der Entwicklung der Produktivkräfte) mit der kapitalistischen Gesellschaft (ihrer historisch-sozialen Formbestimmung) identifizieren. So auch in „Grundzüge der Geschichte" (Diesterweg), wo es heißt: „Zweifellos hat Marx das heraufkommende Maschinenzeitalter richtig erkannt." (Diesterweg II, S. 236. — Hervorhebung von uns) Des weiteren zeigt sich diese ontologische Auffassung in der Formulierung, daß die Produktionsmittel den „Unterbau" bilden. Daß der „Unterbau" oder die Basis bei Marx jedoch nicht die reine Sachenwelt bedeutet, sondern die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse (im engeren Sinne die Eigentumsverhältnisse) einschließt, übersteigt offenbar die Rezeptionsfähigkeit der im verdinglichten Begriffsapparat bürgerlicher Volkswirtschaftslehre befangenen Autoren. Produktion fällt für sie zusammen mit dem einfachen Arbeitsprozeß, wie er histo159
risch nie existierte, sondern nur im Denkakt — durch Abstraktion von allen Spezifika — existiert. Für sie drückt der Begriff der Produktion lediglich die Beziehung des Menschen zur Natur aus. Der rein technische Aspekt der Produktion dient den Autoren zur Klassifizierung einer Gesellschaft oder Epoche (Industrienation, Maschinenzeitalter). Der Begriff der Ökonomie wird rein technizistisch gefaßt. Dieses verkürzte Verständnis von Ökonomie (Produktion), welches — wie wir gesehen haben — der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre immanent ist, projiziert man in den Marxismus und kritisiert dann dessen angeblichen ökonomischen Determinismus, der zuwenig den „Menschen" berücksichtige . . . Setzt man den „Unterbau" gleich mit den Produktionsmitteln, ist es in der Tat unmöglich, eine Gesellschaft, ihren Staat etc. auf Grund ihrer ökonomischen Basis zu erklären; der Vorwurf der Einseitigkeit gegenüber dem Marxismus wäre voll berechtigt. Jedoch ist diese Gleichsetzung Resultat der bürgerlichen Auffassungsweise und damit der marxistischen Auffassung — die darzustellen sie angetreten war — diametral entgegengesetzt. Die ontologisierende Sichtweise der Schulbuchautoren, die sich in der Darstellung der Produktionsmittel als „Unterbau" niederschlägt, verfehlt die wesentlichste Seite des Marxschen Begriffs der Produktion, daß nämlich die Produktion immer historisch-sozial bestimmt ist, niemals als einfache, sachliche Beziehung zur Natur existiert. Marx schreibt: „In der Produktion beziehen sich die Menschen nicht allein auf die Natur. Sie produzieren nur, indem sie auf eine bestimmte Weise zusammenwirken und ihre Tätigkeiten gegeneinander austauschen. Um zu produzieren, treten sie in bestimmte Beziehungen und Verhältnisse zueinander, und nur innerhalb dieser gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse findet ihre Beziehung zur Natur statt, findet die Produktion s t a t t . " 3 0 4
Der Begriff des „Unterbaus" (Basis) umfaßt somit für Marx die Produktivkräfte (wovon die Produktionsmittel nur ein Teil sind) und die Produktionsverhältnisse. Wie stark die Fesseln des ontologischen Denkens sind, zeigt Stavenhagens Rezeption der Textstelle Marxens über das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen im „Herder-Staatslexikon". Stavenhagen ist unfähig — und diese Unfähigkeit ist nur zum Teil subjektiv, sondern, wie wir versucht haben deutlich zu machen, allgemeiner Ausdruck des ontologischen Denkens der Volkswirtschaftslehre — überhaupt noch Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse zu unterscheiden. Letztere gehen bei ihm in ersteren auf, ganz wie Produktionsmittel und Kapital identifiziert werden. Die Stelle, die Stavenhagen (auch noch zum größten Teil als direktes Zitat!) von Marx wiedergibt, lautet original: „Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses", bei der „die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte . . . zugleich
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die materiellen Bedingungen zur Lösung des Antagonismus bilden." Stavenhagen hingegen schreibt im Herder-Staatslexikon: „Die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft stellen die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses aar, bei der die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte . . . zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus s c h a f f e n . " Stavenhagen ersetzt einfach die Produktionsverhältnisse durch die Produktivkräfte und verwandelt das Ganze so in reinen Nonsens, wobei wir es uns ersparen, diese Verdrehung beim Wort zu nehmen und ad absurdum zu führen — was reizvoll wäre. Nach ihm stellen also die Produktivkräfte (!) die antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses dar. Die „Industrie" an sich wäre somit antagonistisch! Was bedarf es da noch des Begriffes „kapitalistisch", welcher das gesellschaftliche Produktionsverhältnis bezeichnet! „Industriestaaten" und „kapitalistische Staaten" sind eben identisch nach bürgerlichem Verstand! Der Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, welcher für Marx den Motor in der bisherigen Geschichte bildet, verschwindet völlig. Das Geschichtsbuch „Grundriß der Geschichte" (Klett) verwandelt daher (Folge der Identifizierung) notwendigerweise den Widerspruch in der Basis in einen Widerspruch zwischen der auf materielle Kräfte reduzierten Basis und dem „staatlichen Überbau": „indem nun die materiellen Kräfte sich entfalten und entwickeln, der staatliche Überbau dagegen starr bleibt, entsteht eine Spannung, ein Widerspruch, der zur sozialen Revolution führt." (Klett, Grundriß der Geschichte, Ausgabe A III, S. 122) 3 0 5
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Aus diesem — hier nun ungenügend dokumentierten-ontologischen Denken heraus, das in die Darstellung des Marxismus einfließt, erklärt sich auch die „Zwei-Seelen-Theorie" des Klett-Buches: „Ob das Ziel der Geschichte mehr durch Evolution oder mehr durch Revolution erreicht wird, bleibt unklar. Offensichtlich lebten in Marx selbst zwei Seelen: eine wissenschaftlich-evolutionistische . . . und eine agitatorisch-revolutionäre . . . " (Klett II, S. 60) Die ideologische Funktion dieses Satzes tritt ohne jegliche Kaschierung expressis verbis im „Herder-Staatslexikon" hervor. Stavenhagen betrachtet in seiner „Würdigung" des Marxismus jene Vermengung von „wissenschaftlichen Feststellungen" und „agitatorischen Phrasen einer geschichtsphilosophischen Prophetie" als besonders schlimm. Einen gar noch „unheilvolleren Niederschlag" jedoch finde Marxens gespaltenes Wesen in seinem „unwissenschaftlichen Beiwerk", der Klassenkampf — und Revolutionstheorie, welche „als reichhaltiges Arsenal zugkräftiger propagandistischer Schlagwörter nicht unwesentlich zur Vergiftung der sozialen Atmosphäre beigetragen" haben. „Diese Gedankengänge" sind nach der Ansicht Stavenhagens „von Marx' wissenschaftlichem Werk nicht nur scharf zu trennen, sondern auch aufs ent161
schiedenste abzulehnen, weil sie allen überkommenen politischen, sittlichen und religiösen Anschauungen abendländischer Kultur widersprechen. " Sehen wir von der ganz offensichtlich aus der antikommunistischen politischen Kampfstellung heraus formulierten Ablehnung der Klassenkampf- und Revolutionstheorie einmal ab und untersuchen die in beiden Textstellen vorgenommene Aufteilung des Marxismus in dem Kategorienpaar: Evolution (= wissenschaftlich orientierter Marx) — Revolution ( = agitatorischer Marx) unter dem Gesichtspunkt der Ontologisierung, von dem wir uns bisher leiten ließen. Die dokumentierte Aufspaltung des Marxismus (Evolution-Revolution) ist das konsequente Resultat der Projektion der ontologistischen Auffassungsweise der Autoren in den Marxismus. Da sie auf Grund ihrer bürgerlichen Begrifflichkeit von Ökonomie, Produktion, Kapital etc. außerstande sind, das historisch-soziale Moment in den Marxschen Kategorien zu erkennen, müssen für sie Klassenkampf und Revolution als „unwissenschaftliches Beiwerk" erscheinen. Da sie keine der Marxschen „ökonomischen" Kategorien — wie wir gezeigt haben — wirklich verstehen, projizieren sie ein Dilemma in Marx' Seele, welches lediglich das Dilemma ihres eigenen Nichtbegreifens ist. Denn für Marx ist der revolutionäre Akt nicht mechanistisch der ökonomischen Entwicklung gegenüberzustellen. Die Gewalt stellt vielmehr — in bestimmten historischen Situationen — selbst eine ökonomische P o t e n z dar, und zwar insofern, als sie die Produktivkräfte von den Fesseln der alten Produktionsverhältnisse befreit, d. h. die Voraussetzung für die volle Entfaltung der Produktivkräfte schafft. Marx kann daher schreiben: „Von allen Produktionsinstrumenten ist die größte Produktionskraft die revolutionäre Klasse s e l b s t . " Die abstrakte Gegenüberstellung von Evolution und Revolution, wie sie die bürgerlichen Autoren vornehmen, drückt ihren Verlust an historisch-gesellschaftlichem Denken oder, positiv ausgedrückt, das Vorwiegen ahistorischen-ontologischen Denkens aus. Marx hingegen faßt das Problem historisch-gesellschaftlich: „Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klasse und keinen Klassengegensatz gibt, werden die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören, politische Revolutionen zu sein." Die gewaltsame Trennung von Ökonomie und Gewalt führt die Autoren schließlich dazu, Marx einen faden ökonomischen Determinismus vorzuwerfen, der zuwenig die konkreten Menschen berücksichtige. In der Tat ist dies wiederum nur ihr eigenes Dilemma, Resultat des abstrakten Gegenüberstellens von reiner Sachenwelt und abstrakten Menschen. Marx' Votum für die revolutionäre Aktion kann ihnen so nur als Bruch mit seinen ökonomischen Analysen erscheinen, als voluntaristisch von außen hineingetragene Willkür: 3 0 7
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„Obgleich Marx von der Naturnotwendigkeit dieses Prozesses überzeugt war, wartete er nicht einfach ab, sondern suchte ihn durch revolutionäre Bewegungen
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zu beschleunigen." (H. Hilgenburg u. a. [Hg.] Unsere Geschichte, unsere Welt, Bd. 2, Bayerischer Schulbuchverlag, München, S. 280) Die Projizierung ihrer eigenen ontologisierenden Auffassungsweise in den Marxismus macht es den Schulbuchautoren unmöglich, diesen zu begreifen. Dies versuchten wir an Hand der Darstellung grundlegender Marxscher Begriffe nachzuweisen. Der Verdinglichung von Begriffen in ihrer historisch-sozialen Formbestimmtheit (wie Kapital, Produktion etc.) zur reinen Sachenwelt entspricht, wie schon angedeutet, eine ebenso ahistorische-ontologische Hypostasierung des Menschen. Der Ontologisierung korrespondiert daher eine Anthropologisierung und Psychologisierung, die es im nächsten Abschnitt aufzuweisen gilt.
3. Anthropologisierung - Enthistorisierung
Der enthistorisierenden Darstellung der menschlichen Produktionsweise entspricht eine ebenso ahistorisch-statische Auffassung des Menschen. Dies tritt besonders da zutage, wo man Marx blinde Fortschrittsgläubigkeit unterstellt: „Der Fortschritt ist das Gesetz der Geschichte, weil der materielle Egoismus den Menschen zwingt, fortschrittlich zu sein." (Klett II, S. 58) Hier wird Mark ein Begriff vom Menschen unterschoben, den dieser selbst in seinem ganzen Werk als idealistisch widerlegt hat. Marx faßt das menschliche Individuum gerade nicht als das den Angehörigen aller historischen Gesellschaftsformationen gleichermaßen innewohnende Abstraktum, sondern als „das ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse" , was von vornherein das Moment der Veränderung und Veränderbarkeit miteinschließt. Des weiteren wird hier auf Grund des Verlustes der historischen Dimension von den Autoren ein Spezifikum des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft, der „materielle Egoismus", zum Wesensmerkmal des Menschen überhaupt hypostasiert und außerdem noch Marx unterstellt, er haben diese anthropologische Konstante zum Motor der Geschichte erklärt — ein aufschlußreiches Beispiel bürgerlicher Ignoranz gegenüber der Marxschen Theorie. Auch dem folgenden Zitat liegt eine ähnliche Fehlrezeption zugrunde: Die Autoren projizieren ihre eigene Anschauung auf Marx, wenn sie schreiben: „Überhaupt ist das Marxsche Menschenbild, sowohl das des Arbeiters, als auch das des Kapitalisten in seiner Vereinfachung falsch." (Klett II, S. 60) Marx hat im Unterschied zu den bürgerlichen Autoren gerade kein Menschenbild von dem Arbeiter und dem Kapitalisten gezeichnet; vielmehr werden in der „Kritik der politischen Ökonomie" die Menschen als das behandelt, zu dem sie die verdinglichten gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus gemacht haben: als Personifikationen ökonomischer Verhältnisse. An dieser Stelle wird jedoch eine Tendenz deutlich, die sich in fast allen Schulgeschichtsbüchern wiederfinden läßt und die als ein zentraler Hebel zur Entstellung des 311
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Marxismus anzusehen ist; nämlich der durchgängige Versuch, den wissenschaftlichen Sozialismus als eine ethisch-anthropologische Heilslehre und Marx in die Schublade der „leidenschaftlichen Weltverbesserer" (Diesterweg III, S. 1 6 9 ) und Moralisten zu verbannen. „Bourgeoisie und Proletariat sind keine einander einfach gegenüberstehenden Klassen, sondern die einen sind die Kinder der Finsternis, die anderen die des Lichts. Das Proletariat wird von Marx mit allen guten Eigenschaften ausgestattet, so daß es im Grunde gar keine empirische Realität, sondern eine Idee, ein Mythos ist . . . Das Proletariat ist das Gute, die ,Ausbeuter' — an sich schon kein wissenschaftlicher Begriff, sondern ein moralisches Urteil — sind das radikal Böse." (Klett II, S. 60) Derartige Sätze bedeuten nicht nur eine grobe Fehlinterpretation: Sie verkünden Unwahres, resultierend aus Unkenntnis, die sich etwas zusammenreimt. Selbst oberflächlichen Kennern des Marxismus wird auffallen, daß dies mit der Theorie Marxens nichts zu tun hat. „Marx (hat, d. Verf.) den Kapitalismus nicht mit moralphilosophischen, sondern mit ökonomischen und soziologischen Kategorien analysiert. Das gilt übrigens auch schon für den ,frühen', ,philosophischen' Marx der Pariser Manuskripte, den sich das Bürgertum für seine Philosophiegeschichte retten m ö c h t e . " 3 1 2
Stellt man sich aber probehalber auf den Gut-Böse-Standpunkt der Schulbuchautoren, so kann man die Widersprüche, in die sie sich notwendigerweise bei einer aufrichtigen Analyse der marxistischen Theorie verwickeln müßten, leicht nachvollziehen. Wie z. B. sind von diesem Standpunkt aus die langen Ausführungen im Kommunistischen Manifest über die revolutionäre Rolle der Bourgeoisie in der Geschichte einzuordnen, wenn die Kapitalistenklasse für Marx nichts anderes wäre als die Inkarnation des Inhumanen und Reaktionären? Offensichtlich verwendet er zur Beurteilung der historischen Rolle einer Klasse Kriterien, die auf der ethisch-anthropologischen Ebene nicht zu fassen sind. Will man ihn dennoch auf dieser Ebene denunzieren und dabei den Schein von Logik aufrechterhalten, so ist ein gehöriges Maß an Ignoranz vonnöten. Sie drückt sich aus in dreisten Simplifizierungen, Unterschlagungen und Reduktionen der marxistischen Theorie. So heißt es beispielsweise in einem Buch: „Zweifellos hat Marx das heraufkommende Maschinenzeitalter richtig erkannt. Aber wirkungsvoller waren seine außerordentlich vereinfachte Darstellung der Menschheitsentwicklung und sein prophetisches Bild vom Endzustand der Welt. Nach . . . seiner Auffassung entwickelt sich die Menschheit vom paradiesischen Zustand der klassenlosen Urgemeinschaft über die lange Reihe der Sklavenhalter und Feudalstaaten bis zum Höhe- und Endpunkt der Klassenkämpfe in seiner eigenen Zeit. Durch eine Revolution, so lehrte er, wird der Kapitalismus gestürzt. Dann beginnt mit der Herrschaft des Proletariats im klassenlosen Kommunismus abermals eine paradiesische Zeit. Alle natürlichen und wirtschaftlichen Freiheitsberaubungen werden fallen, der Staat wird überflüssig, denn der Mensch, der Proletarier (!) ist gut." (Diesterweg II, S. 236) Hier verkommt der Historische Materialismus zum klassischen Mythos vom goldenen Zeitalter, dessen die Menschheit auf Grund ge164
heimnisvoller Selbstbewegung der Geschichte verlustig gegangen sein soll und das als abstrakte Setzung auf ebenso unerklärliche Weise eine Tages wieder eintreten werde. Dies hat nun mit Marxismus absolut nichts zu tun. Marx und Engels haben, gestützt auf die Erkenntnisse der bürgerlichen Natur- und Geschichtswissenschaft, gerade mit der Glorifizierung der Urgesellschaft aufgeräumt und letztere als einen Zustand des Mangels beschrieben, von dem sich die Menschheit fortentwickeln mußte. Diese historische Bewegung wiederum ist für den Historischen Materialismus keine ethische Setzung, wie das obige Zitat glauben machen will, sondern wird aus der jeweiligen historischen Stufe der Auseinandersetzung der Menschen mit der Natur und der damit einhergehenden besonderen Organisation ihrer eigenen gesellschaftlichen Beziehungen entwickelt. Die historische Möglichkeit wird also im Rahmen des jeweiligen Grades der Beherrschung von Natur und Gesellschaft selbst produziert. Die teleologische Betrachtungsweise (die Annahme einer Zielgerichtetheit der Geschichte), die Marx hier untergeschoben v rd, ist gerade ein typisch bürgerliches Phänomen (das Marx schon in seiner Jugend ad acta legte). So war z. B. die bürgerliche Auffassung gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie Geschichte als Verwirklichung des bürgerlichen Menschen auffaßte. Die frühbürgerlichen Philosophen gingen von der Konzeption einer im Kern unveränderlichen Wesensnatur des Menschen aus, die sich im historischen Fortschritt gleichsam immer reiner herausschält. Dieses verkehrte Bewußtsein, das die bürgerliche Gesellschaft (den Kapitalismus) affirmativ zum Absolutum erklärte — wir haben gesehen, daß diese Sichtweise auch die Schulbücher durchzieht —, hat Marx gerade kritisiert, anstatt daran teilzuhaben: „Vorsehung, providentielles Ziel, das ist das große Wort, dessen man sich heute bedient, um den Gang der Geschichte zu erklären. Tatsächlich Die Welt als Ganzes ist Marx zufolge erklärt dieses Wort n i c h t s . " gerade nicht (wie etwa bei Hegel) einer einheitlichen sinnverleihenden Idee unterworfen: „Alle in der Wirklichkeit auftretenden Ziele und Zwecke gehen zurück auf konkrete gesellschaftlich tätige Menschen, die ihren sich wandelnden Situationen gemäß handeln. Abgelöst von ihnen gibt es keinen S i n n . " 313
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Marx hat bekanntlich den größten Teil seines Werkes der Analyse der zu seiner Zeit beobachtbaren gesellschaftlichen Vorgänge gewidmet. Seine Aussagen über den Kommunismus sind nicht einer ethischen Wunschvorstellung nach einem „paradiesischen Zustand" entsprungen, sondern ergeben sich logisch aus der Analyse des Kapitalismus als diesem selbst innewohnende, über ihn hinausweichende Tendenzen. Unter diesen Tendenzen verstand Marx wiederum nicht die abstrakte Setzung des „neuen Menschen", schon gar nicht „des Proletariers", sondern die Möglichkeit einer Gesellschaft, in der die Menschen auf Grund größtmöglicher Beherrschung der Natur und vor allen Dingen ihrer eigenen gesellschaftlichen Beziehungen sich umfassender entfalten können als unter der Herrschaft des Kapitals. Beutler 165
hebt zu Recht hervor: , , . . . Gerade die Strenge der Analyse und sein Erkenntnisinteresse an der Wirklichkeit (haben Marx, d. Verf.) daran gehindert, konkrete Angaben zur Zukunft zu machen, oder gar ,das Zukunftsbild des paradiesischen Endzustandes' auszumalen, das ihm in christlichen Denkgewohnheiten steckende Apokalyptiker des Schulbuch-Genre anhängen w o l l e n . " Die Reduktion des Historischen Materialismus auf einen primitiven „Erklärungsversuch" der Selbstbewegung anthropologischer Konstanten („das Gute" und „das Böse" im Menschen) in der Menschheitsgeschichte führt somit für die Autoren notwendig zur Diffamierung des Marxismus als eine „religiösen Idee": „Die Marxsche Lehre ist eine eschatologische Botschaft, Marx selbst ist der Prophet. Für den Marxisten ist sie im Grunde Glaubenssache, religiöse Idee." (Klett II, S. 60) „Dieser heilsgeschichtliche Zukunftsglaube macht den Kommunismus zu einer Art diesseitiger Erlösungslehre." „Hier (in bezug auf Marx' Aussagen über die proletarische Revolution, d. Verf.) hat Marx den Boden der wissenschaftlichen Theorie verlassen und ist zum politischen Revolutionär geworden." (Diesterweg II, S. 236) Diese Darstellung des Marxismus als Heilslehre folgt getreu den „Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht", d.h. dem Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 5 . J u l i 1 9 6 2 . Dort heißt es: „Der Totalitarismus gründet sich auf eine Ideologie, die den Charakter einer Ersatzreligion und Heilslehre hat ..." Durch Begriffe wie „Zukunftsglaube", „Erlösungslehre", „Heilslehre" (Klett II, S. 6 0 ) wird Marx auf eben jenes Niveau gebracht, dessen sich die Schulbuchautoren selbst zu bedienen pflegen. So wird zum Beispiel in einem Klett-Geschichtsbuch der „Aufstieg des deutschen Volkes zu neuer Höhe" im 18. Jahrhundert auf eben solche irrationalen Kräfte zurückgeführt, deren angebliche Hypostasierung man Marx unterstellt. Man erfährt dort nämlich von folgenden Ursachen für die deutsche Entwicklung: „Widerstand gegen Rationalismus, Vernunftglauben und Verweltlichung (französische Aufklärung), durch die irrationalen Kräfte des Herzens und des Gefühls, . . . durch ein in der Irrationalität des deutschen Geistes begründetes Selbstbewußtsein." (Klett III, S. 242) Die Methode der Projektion eigener Vorstellungen auf den Marxismus zeitigt bei ihrer Analyse mehrere Aspekte. Ein Aspekt wird offenbar, wenn man diese Art der Behandlung des Marxismus vor dem Hintergrund der ideologischen Grundkonzeption der Schulbuchverfasser betrachtet, wie sie sich im obigen Zitat dokumentiert. Zunächst wird unterschoben, daß die Geschichte wesentlich durch irrationale Kräfte bestimmt sei, die sich selbst jeder rationalen Erklärung entzögen. So wird erst gar nicht der Versuch unternommen, die irrationalen Bewegungen und Ereignisse in der Geschichte aus den gesellschaftlichen Verhältnissen zu erklären. Beansprucht nun eine Theorie, wie der Marxismus, eine wissenschaftliche Methode zur Erklärung der Geschichte zu besitzen und zieht sie darüber hinaus auch noch Konse3 1 6
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quenzen für gesellschaftsverändernde Praxis, so ist es notwendig, um sie widerlegen und bekämpfen zu können, daß man sie auf das eigene Unvermögen reduziert. Nachdem man sie auf diese Weise in eine Religion verwandelt hat, verliert sie 1. ihre Überlegenheit gegenüber der eigenen Konzeption und verwandelt sich 2. in einen Inhumanismus, weil sie wesentliche Seiten des Menschen, nämlich das Irrationale, leugnet; 3. wird die eigene Erklärungsweise, welche sich auf das Irrationale stützt, zur wirklichen wissenschaftlichen Methode, 4. wird der Marxismus aus eben diesem Grunde unwissenschaftlich, 5. wird die marxistische „Heilslehre" zur Perversion der Religion, da sie die Hoffnungen der Menschen aufs Profane herunterzieht, 6. absorbiert der Marxismus die irrationalen Glaubenskräfte im Menschen und wird so zu einer Gefahr des wahren Glaubens, welcher der bürgerlichen Wissenschaft nicht widerspricht. — Der Marxismus erweist sich so als ein gigantischer Betrug (bewußt oder unbewußt) an den Menschen, indem er ihnen ein „irdisches Paradies" verspricht und im Namen dessen die Menschen sinnlos opfert. Die bürgerliche Auffassung hingegen weiß von den ontologischen Grundgegebenheiten des Menschen, die als solche in dieser Welt nicht transzendierbar sind. Der Mensch hat sich also mit den Übeln dieser Welt abzufinden, statt ständig dagegen aufzumucken. Da auch die irrationalen Kräfte in dieser Konzeption als vom konkreten historischen Sein losgelöst dennoch immer zu diesem dazugehören, ist es nur konsequent, ihre Einlösung im Irrationalen, im Jenseits als schlecht Transzendentem anzunehmen. Es wundert darum auch nicht, daß kein Buch die marxistische Religionskritik darstellt. Diese würde nämlich die Schüler instand setzen, den rationalen Kern der irrationalen Vorstellungen der Menschen zu verstehen. Der Marxismus leugnet nämlich keineswegs die Mächtigkeit irrationaler Kräfte. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Apologeten erkennt er sie jedoch an, indem er sie theoretisch und praktisch kritisiert. Er hypostasiert sie nicht wie jene zum Wesen der Menschen, sondern begreift sie als das Wesen in seiner Entfremdung, als — um es in der Sprache Blochs auszudrücken — Uneingelöstes, unbewußt Treibendes, welches nicht mit der schlechten Realität einfach zusammenfällt, sondern als noch nicht Begriffenes, nur Besseres Ahnendes, das nach seiner Verwirklichung drängt. Ein anderer Vorteil der Verwandlung des Marxismus in eine Religion ergibt sich daraus, daß er dann keinen Vorzug mehr vor der bürgerlichen Auffassung hat. Er, wie die christliche Lehre, fordern Opfer im Namen einer besseren Zukunft. Kann jedoch nachgewiesen werden, daß das „irdische Paradies" unrealisierbar ist, so bleibt nur die Hoffnung aufs Jenseits, und der gesellschaftliche Status quo ist befestigt; denn die Annahme eines besseren Lebens im Jenseits ist nicht empirisch zu widerlegen. Die objektive Funktion der Behauptung, der Marxismus verspreche ein „irdisches Paradies", wird erst recht verständlich, wenn man sie im Zusammenhang sieht mit der oben beschriebenen Funktion der Ontologisierung gesellschaftlich-historischer Tatbestände. Vor diesem Hin167
tergrund muß er dem Schüler notwendigerweise als utopisches Unterfangen, als „Irrlehre" erscheinen, die die Hoffnungen der Menschen enttäuschen muß. Daher ist der Marxismus in den Augen der Schulbuchautoren auch nicht Religion im bürgerlich-positiven Sinne, sondern Ersatzreligion, Pseudoreligion. Mit der Darstellung des Marxismus als „diesseitiger Heilslehre" schneiden Schulbücher ihre Leser objektiv von der wirklichen Antriebskraft des Marxismus ab. Ihr Ziel ist die Verschleierung des wesentlich revolutionären Charakters des wissenschaftlichen Sozialismus, welcher sich festmacht an den Klassenauseinandersetzungen innerhalb der schlechten Realität und nicht seine psychischen Energien aus dem Glauben an ein zukünftiges Paradies auf Erden gewinnt. Nachdem man den Marxismus zu seinesgleichen gemacht hat, gilt es jetzt nur noch, zwischen Richtigkeit und Falschheit der Religionen zu unterscheiden. Auf Grund der ganzen Darstellungsweise ist es klar, daß es der Marxismus ist, der den Schülern als falsch, widernatürlich erscheinen muß. Die Tendenz der Anthropologisierung und Ontologisierung von gesellschaftlich-historisch Gewordenem tritt auch besonders deutlich hervor bei der Darstellung der Marxschen Entfremdungstheorie. Da bei Marx allzu deutlich als Ursache der Entfremdung historischgesellschaftliche Tatbestände angegeben sind, werden diese von den Schulbuchautoren auch nicht gänzlich verschwiegen. Wenn der Begriff der Entfremdung so in Zusammenhang gebracht wird mit der Existenz von Kapital und Privateigentum, so erscheinen diese Begriffe jedoch nur als unvermittelte Einsprengsel, wie in der im folgenden zitierten Passage nachgewiesen werden soll. Die wirkliche Aussage hat weniger mit der marxistischen Herleitung des Entfrerndungsbegriffes zu tun, als vielmehr mit der anthropologisch-technizistischen Auffassung der entsprechenden Autoren. Das Resultat ist ein konfuses Konglomerat aus eigenen falschen Theoremen und Bruchstücken der Marxschen Theorie. Betrachten wir uns die Darstellung im einzelnen: „Der erste große Sündenfall der Menschheit war das Aufkommen des Privateigentums durch die Einführung der Arbeitsteilung. Sie brachte die Entfremdung des arbeitenden Menschen zu seiner Arbeit in die Geschichte." (Klett III B, S. 53) Der Gedanke vom Sündenfall entwirft das Bild eines ursprünglichen Zustandes der allseitigen Vollkommenheit der Menschheit, was nichts mit Marx zu tun hat, sondern nur als Niederschlag religiöser Nebelbildungen in den Köpfen der Geschichtsbuchschreiber verstanden werden kann. Die Autoren bedienen sich, wie Marx sagen würde, der Methode des Theologen, der „den Ursprung des Bösen durch den Sündenfall" erklärt, „das heißt, er unterstellt als ein Faktum, in Form der Geschichte, was er erklären s o l l " . Die Schulbuchautoren schrecken nicht davor zurück, dies, dem Marxismus gänzlich fremde Verfahren, ihm dennoch vorzuwerfen. 3 1 7
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Zum zweiten wird hier nicht das Privateigentum, sondern die Arbeitsteilung zur Ursache der Entfremdung gemacht. Damit wird Marx die Auffassung Iring Fetschers unterstellt, der ihn in seiner Schrift „Von Marx zur Sowjetideologie" in entstellender Weise malifiziert. „Aber die von Marx beschriebene Entfremdung hat weniger mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln als mit der technisch notwendigen Arbeitsteilung zu tun, und eine Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln ändert am Wesen der entfremdeten Arbeit im allgemeinen nicht v i e l . " Marx hingegen erklärt das Phänomen der Entfremdung gerade aus den Bedingungen der Warenproduktion im Kapitalismus, die ihre Ursache nicht in der technisch notwendigen Arbeitsteilung hat (das wäre eine Ontologisierung des Phänomens der Entfremdung), sondern notwendiges Resultat des Privateigentums an Produktionsmitteln ist. Die Entfremdung der Individuen voneinander ergibt sich daraus, daß sich im Kapitalismus ihr eigenes gesellschaftliches Verhältnis, ihr Aufeinanderbezogensein, in Form des Warenaustausches realisiert. Diese spezifische Formbestimmtheit hat zur Folge, daß ihr Verhältnis sich nicht bewußt, als von ihnen gemeinsam vorgesehenes und kontrolliertes vollzieht, sondern als ein von ihnen unabhängiges, auf das sie keinen Einfluß haben, das ihnen also fremd ist. Die Ursache für die Entfremdung liegt für Marx nicht in der Arbeitsteilung an sich, sondern in der planlosen, naturwüchsigen Form, in der sie sich im Kapitalismus vollzieht, da das Prinzip des sogenannten „freien Spiels der Kräfte" unabdingbare Voraussetzung für die Herrschaft des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln ist. 3 1 8
Die Schulbuchautoren schreiben weiter: „Die auf Privateigentum aufgebaute soziale Ordnung ist die Ordnung der entfremdeten, entäußerten Arbeit, in der das Wesen des Menschen, das er in das Produkt seiner Arbeit entäußert hat, nicht zurückgenommen wird." (Klett III B, S. 54) Damit machen auch sie plötzlich Entfremdung an der Existenz von Privateigentum (richtig wäre: Privateigentum an den Produktionsmitteln) fest, stellen sich damit aber in Widerspruch zu ihrem ersten Satz, wo sie die Arbeitsteilung als Ursache angaben. Wenn im übernächsten Satz ein aus dem Zusammenhang gerissenes Marxzitat gebracht wird, scheint jedoch Entfremdung wiederum als anthropologische Konstante aufgefaßt zu sein: „Die Entäußerung des Arbeiters in seinem Produkt hat die Bedeutung, . . . daß seine Arbeit . . . außer ihm, unabhängig, fremd von ihm existiert und eine selbständige Macht ihm gegenüber wird, daß das Leben, was er dem Gegenstand verliehen hat, ihm feindlich und fremd gegenübertritt." (Klett III B, S. 54) Mag auch das Nicht-Unterscheiden der Begriffe „Entäußerung" und „Entfremdung" durch den frühen Marx der „Pariser Manuskripte", den die bürgerliche Marxkritik so gern für sich aus der Geschlossenheit seines Gesamtwerkes herausbrechen möchte, die Anthropologisierung erleichtert haben, so findet sie auch dort inhaltlich jedoch keinen Boden. Marx macht die Entfremdung schon in diesem Werk geschicht169
lich-gesellschaftlich fest. Während für ihn die Entäußerung eine Eigenschaft der Arbeit generell ist, in der sich die menschliche Praxis mit der Umwelt vermittelt, ist die Entfremdung der Arbeit eine Folgeerscheinung vor allem der kapitalistischen Lohnarbeit: die kapitalistische Form der Produktion bedingt, daß die vergegenständlichte Arbeit in Gestalt des Kapitals über die lebendige Arbeit des Produzenten herrscht; diese Tatsache bedingt, daß die Resultate der Tätigkeit des Arbeiters und alle Eigenschaften der gesellschaftlichen Arbeit (Arbeitsteilung, Kooperation, Wissenschaft usw.) nicht als von den Arbeitenden selbst, sondern vom Kapital produziert erscheinen und daher den eigentlichen Produzenten entfremdet s i n d . Wenn Marx also die Entfremdung als ein Merkmal der kapitalistischen Produktionsweise beschrieb und ableitete (was hier nur angedeutet werden konnte), so erscheint auch eine scheinbar so objektive Quellenauswahl wie in dem Schulbuch „Zeiten und Menschen" (Ausgabe G, Band 2) in ganz anderem Licht. Aus dem Zusammenhang des Marxschen Gesamtwerkes, ja selbst der „Pariser Manuskripte" gerissen, suggeriert gerade diese unkommentierte Zitatauswahl, daß es Marx mit seinem Entfremdungsbegriff um ein ethisch-philosophisches Konstrukt gegangen sei. Indem in den aufgeführten Passagen der „Pariser Manuskripte" nur von der Entfremdung des Arbeiters schlechthin die Rede ist, Marxsche Aussagen über die historisch-sozialen Bedingungen, unter denen erst Entäußerung zur Entfremdung wird, jedoch weggelassen werden, kann der junge Marx und sein „humaner Ansatz" kurz und schmerzlos vom ganzen Marx abgetrennt und in die große Kiste der eigenen bürgerlichen Philosophietradition gesteckt werden: den übrigen Marx, vor allen den des „Kapitals", kann man dann unbesehen als absonderlich beiseite werfen. 3 1 9
Doch zurück zu jener Schulbuchpassage, von der wir ausgingen: „Die Zurücknahme des menschlichen Wesens wird nur möglich durch die Abschaffung des Privateigentums, das heißt durch den Kommunismus." (Klett III B, S. 54) Dies kann entweder bedeuten, daß die Arbeitsteilung nun doch nicht verantwortlich ist für die Entfremdung, sondern das Privateigentum, oder daß mit dem Privateigentum auch die Arbeitsteilung abgeschafft wird. Im ersten Falle widersprechen die Autoren ihrer oben gemachten Aussage, im letzten Falle ist impliziert, daß der Kommunismus in ein vorindustrielles Stadium der Produktion zurückfallen muß, wo noch keine Arbeitsteilung herrschte. Diese Annahme wird bestätigt durch den folgenden Satz: „Das (der Kommunismus, d. Verf.) ist die Beseitigung aller Selbstentfremdung und die Rückkehr des Menschen zum wahren menschlichen Leben." Hier wird, genauso wie oben bereits an Hand anderer Zitate nachgewiesen, unterstellt, Marx hätte mit dem Kommunismus die Rückkehr irgendeines Zustandes ursprünglicher Entfaltung des Menschen gezeichnet. Die gleiche Fehlinterpretation finden wir im folgenden Zitat aus einem anderen Schulbuch: 170
„Er (Marx, d. Verf.) warf Feuerbach vor, daß er sich bei seinem Bemühen, das eigentlich Menschliche des Menschen zu finden, zu sehr an den abstrakten Menschen schlechthin, nicht aber an den konkret in einer bestimmten Zeit und Gesellschaft lebenden halte, und gelangte zu der Überzeugung, daß der Mensch erst dann wirklich Mensch sei, wenn er über sich selbst und alles, was er schaffe, selbständig verfügen könne. Diese ,Selbstverwirklichung' sei dem Menschen im Laufe der Zeit als Folge eines Differenzierungsprozesses im Arbeitsvorgang abhanden gekommen und drohe immer mehr zu schwinden." (Schroedel/ Schöningh III, S. 56) Richtig wird hier im ersten Satz die Marxsche Kritik an Feuerbachs abstraktem Begriff vom Menschen wiedergegeben. Im zweiten Satz jedoch fallen die Autoren selbst auf die Feuerbachsche Ebene zurück und anthropologisieren nun ihrerseits wiederum Marx; sie unterlegen ihm einen Begriff vom Menschen, den er doch gerade kritisiert hat, wie die Autoren im vorangegangenen Satz schreiben. Marx behaupte, so wird hier impliziert, dieser habe sich von jener „Selbstverwirklichung" nur entfremdet (auf Grund der Arbeitsteilung!), Konsequenz ist die Aufhebung der Entfremdung durch die Rückkehr zu jenem ursprünglichen Zustand in Gestalt des Kommunismus. Marx dagegen: „Auf früheren Stufen der Entwicklung erscheint das Individuum voller, weil es eben die Fülle seiner Beziehungen noch nicht herausgearbeitet und als von ihm unabhängige gesellschaftliche Mächte und Verhältnisse sich gegenübergestellt hat. So lächerlich es ist, sich nach jener ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so lächerlich ist der Glaube, bei jener vollen Entleerung stehenbleiben zu müssen. Über den Gegensatz gegen jede romantische Ansicht ist die bürgerliche nie herausgekommen und darum wird jene als berechtigter Gegensatz sie bis an ihr seliges Ende b e g l e i t e n . " 320
4. Personalisierung
Beinahe alle Marxismus-Darstellungen in den von uns untersuchten Geschichtsbüchern beginnen mit mehr oder weniger detaillierten Aufführungen über die Biographie von Karl Marx, die sich allerdings zunächst auf ein beziehungsloses Aneinanderreihen von einzelnen Lebensdaten und Fakten beschränken. Besonders erwähnt wird durchgängig seine Herkunft aus der Familie des jüdischen Rechtsanwalts, was zunächst ein unwesentliches Fakt bleibt, bringt man es nicht in irgendeinen Zusammenhang mit Marx' späterer Entwicklung. Dem schließt sich eine Darstellung seines intellektuellen Werdeganges an, während dessen er sich mit der Wissenschaft und Philosophie seiner Zeit auseinandersetzte. In diesem Zusammenhang wird in mehreren Büchern zu Recht auf den großen Einfluß hingewiesen, den die Philosophie Hegels auf Marx ausübte. Über die Hintergründe von Hegels Einfluß auf Marx geben die Bücher allerdings keine Auskunft. Als weiteres entscheidendes Ereignis wird seine Begegnung mit Friedrich Engels angegeben, der „als Vertreter der väterlichen Firma 171
in England die furchtbaren Mißstände in den Fabriken kennengelernt und darüber ein Buch ,Über die Lage der arbeitenden Klasse in England' geschrieben" (Klett II, S. 5 6 ) hatte: Engels' Schriften waren „für Marx ein weiterer entscheidender Anlaß, sich mit der kapitalistischen Wirtschaft auseinanderzusetzen" (Klett V, S. 1 6 5 ) . Auch diese Begegnung Marx' mit Engels erscheint unter Aussparung der realen gesellschaftlichen Hintergründe, vor denen sie sich vollzog, auf die zufällige Berührung zweier Intellektueller reduziert. Auf Grund seiner politischen Ansichten — so referieren die Bücher weiter — sowohl in Deutschland als auch in Frankreich verfolgt, mußte Marx nach London flüchten. Dort lebte er dann in „bescheidenen Verhältnissen, nur auf seine Aufgabe gerichtet: die Untersuchung und Beurteilung der bestehenden Gesellschaft, die wissenschaftliche Begründung seiner Theorie einer neuen Gesellschaft und die Veröffentlichung von Aktionsprogrammen für Arbeiterbewegungen" (Diesterweg V, S. 1 6 9 ) . Marx wird als ein „hochintelligenter Mann, philosophisch gebildet, kritisch veranlagt" (ib.) und als eine „vielseitige Persönlichkeit" beschrieben. In diesen Lobesbekundungen erschöpfen sich allerdings die Aussagen über die historischen Wurzeln der marxistischen Theorie. Zu dem Lob seiner intellektuellen Fähigkeiten gesellt sich das seiner moralischen Größe: obwohl er aus bildungsbürgerlichem Milieu stammte, „widmete" er jedoch sein Leben der Arbeiterklasse. „Er kam zwar aus der Familie eines Rechtsanwaltes, war sogar mit einer Frau aus adligem Hause verheiratet, aber er hat sich ein Leben lang für die Arbeiterklasse, für die Proletarier, wie er sie nannte, eingesetzt." (Diesterweg II, S. 235) Er „verwendete sein Leben darauf, die Ursachen des Arbeiterelends zu untersuchen und herauszufinden, wie man die Verhältnisse ändern könnte." (Klett V, S. 52) Allein aus den oben angeführten Gründen habe er dann „in völliger Verborgenheit . . . ein System schwieriger und verwickelter Gedanken" (Klett II, S. 56) entwickelt, „die die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen im 20. Jahrhundert mehr bestimmen sollten als alle Kriege und Staatsaktionen." (Klett II, S. 56) Diese Darstellung des persönlichen Werdegangs Karl Marx' beschränkt sich also im wesentlichen auf die Aneinanderreihung wichtiger und für den Entwurf seiner Theorie durchaus relevanter Fakten. Die Kritik muß deshalb zunächst gerade an dem Punkt ansetzen, daß in der oben skizzierten, in ihren Hauptzügen in jedem untersuchten Schulbuch wiederzufindenden Darstellung wesentliche Zusammenhänge nicht enthalten sind. Es läßt sich zeigen, daß das Unvermögen der Schulbuch-Autoren, die wesentlichen Zusammenhänge sowohl hinsichtlich der Entwicklung Marxens als auch seiner Theoriebildung zu erkennen, notwendig zu deren Fehlrezeption führt. Das heißt: erst durch das, was die Autoren im Zusammenhang der Biographie Marxens nicht darstellen, wird das, was sie darstellen, falsch. Die oberflächliche und rein faktenmäßige Aussage wird durch Herstellung falscher Zusammenhänge ideologisch. Aus den ideologischen eigenen, die wirklichen Zusammenhänge entstellenden Verknüpfungen werden 172
schließlich folgenschwere Fehlschlüsse auf den Marxismus insgesamt gezogen. Im folgenden soll nun versucht werden, diese These an Hand der Texte zu belegen. Da die Schulbuchautoren den Marxschen Bildungsweg nicht als gesellschaftlich vermittelten begreifen, ihn herauslösen sowohl aus den realen gesellschaftlichen Bewegungen seiner Zeit im allgemeinen als auch aus der Entwicklung der Klasse, der er entstammt, im besonderen, muß ihnen die marxistische Theorie notwendig als etwas Zufälliges und allein in der besonderen — subjektiven — Veranlagung Marxens Begründetes erscheinen. Seine Herkunft aus der Familie eines jüdischen Rechtsanwalts bleibt entweder ein isoliertes Faktum oder fließt suggestiv zwischen den Zeilen ein als diffuser Nährboden seines „unruhigen Geistes", wie im folgenden Zitat: „Als Enkel von Rabbinern war Karl Marx von dem fanatischen Willen erfüllt, die bestehende Welt des Unrechts nicht nur zu deuten und zu kritisieren, sondern zu verändern." (Schroedel/Schöningh I X , S. 1 5 1 )
Hier wird — auf den unverkennbaren antisemitischen Unterton braucht wohl nicht näher eingegangen zu werden — die Marxsche Kapitalismus-Kritik also aus einer obskuren jüdischen Erbmasse, aus dem Blut seiner jüdischen Vorväter hergeleitet — ein wahrlich beredtes Zeugnis totaler Geschichtslosigkeit der Schulbuchverfasser. Zweifellos war seine soziale Herkunft entscheidend für die Entwicklung des jungen Marx zum Revolutionär, jedoch in einem ganz anderen als dem hier suggerierten (biologischen) Zusammenhang. Die Klasse, der er angehörte, die Bourgeoisie, befand sich zur Zeit seiner Jugend in einem heftigen Emanzipationskampf gegen die Feudalherrschaft in Deutschland. Marx stammte zudem aus einer Gegend Preußens, wo sich die aufstrebende Industriebourgeoisie konzentrierte und sich daher die feudalen Schranken am klarsten gezeigt und der Widerstand der Bourgeoisie am stärksten ausgeprägt hatten. Die revolutionäre Bewegung seiner Klasse gehörte also zur realen Lebenserfahrung des jungen Marx. Dieser Zusammenhang muß allerdings den Schulbuchautoren entgehen, da sie Marx — wie alle „großen Männer" der Geschichte — als über der Gesellschaft schwebendes Subjekt behandeln, das die Motive seines Handelns aus sich selbst (bzw. der Erbmasse) schöpft. Statt nach der realen gesellschaftlichen Erfahrung zu fragen, berufen sie sich auf eine obskure subjektive Veranlagung. Wenn sich bei der Darstellung der intellektuellen Entwicklung des jungen Marx die richtige Feststellung anschließt, daß dieser wesentlich von Hegel beeinflußt worden sei, so unterbleibt jedoch jede Erklärung für diese geistige Affinität. Es wäre hier allerdings notwendig festzustellen, daß sich beinahe die gesamte fortschrittliche bürgerliche Intelligenz zu jener Zeit der Philosophie Hegels verpflichtet fühlte, und das aus objektiven Gründen. Da sich auf Grund der spezifischen historischen Bedingungen die politische Entwicklung des deutschen Bürgertums verzögerte, vollzog sich dessen Emanzipation zunächst primär 173
ideell. In diesem Zusammenhang stellte die Hegeische Philosophie den fortgeschrittensten Ausdruck der bürgerlichen Klasseninteressen dar, und hieraus erklärt sich ihr Einfluß auf die junge (bürgerliche) Intelligenz, unter ihnen Marx. Auf der anderen Seite enthielt jedoch die Hegeische Philosophie den Keim jenes Klassenkompromisses zwischen Bourgeoisie und Adel in sich, der sich bereits vorder 1848er Revolution in der realen gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland abzuzeichnen begann und dann nach 1871 im Kaiserreich seinen Ausdruck fand. Hier liegen die realen Wurzeln der Marxschen Kritik an Hegel. Vor diesem — hier nur angedeuteten — Hintergrund enthält folgender Satz aus einem Schulbuch erst einen Sinn: ,,Zu Anfang war er begeisterter Hegelianer, doch dann empfand sein kritischer Geist, daß die von Hegel behauptete vollendete Versöhnung von Idee und Wirklichkeit im Staat im krassen Widerspruch zur Praxis in Staat und Gesellschaft stehe." (Klett II, S. 56) Da die Zusammenhänge zwischen den Widersprüchen des Hegelschen Systems und den erfahrbaren gesellschaftlichen Widersprüchen einerseits und dem Marxschen Lernprozeß andererseits nicht ins Blickfeld geraten, müssen die Autoren auf den „kritischen Geist" Marx' rekurrieren. Das Herausfallen des Zusammenhangs zwischen individueller Erfahrung und gesellschaftlicher Entwicklung führt so folgerichtig zu der Feststellung der Genialität des Individuums, ohne daß diese letztere abgeleitet werden kann (Personalisierung). Da Marx nicht als Vertreter der radikaldemokratischen deutschen Intelligenz gesehen wird, kann auch seine Weiterentwicklung über die Hegeische Philosophie hinaus nur aus seiner persönlichen „Genialität" heraus erklärt werden. Welche spezifischen Bedingungen es Marx ermöglichten, allen anderen fortgeschrittenen Denkern seiner Klasse so weit vorauszueilen, können wir hier nicht erörtern. Es soll nur festgestellt werden, daß in der Geschichte immer ein Zusammenhang zwischen dem Transparentwerden von wissenschaftlichen Problemen und dem realen gesellschaftlichen Prozeß nachweisbar ist, so vermittelt dieser auch im einzelnen sein mag. Die Nichtbeachtung dieses Problems hat dann auch bedeutsame Konsequenzen für die Ableitung des Marxschen Engagements für die Arbeiterklasse seitens der Schulbuchautoren. Zwischen Marx' sozialer Situation und seinem Verhältnis zur Arbeiterklasse wird in den Geschichtsbüchern ein Gegensatz konstruiert. Der Intellektuelle Marx, obwohl aus einer bürgerlichen Familie stammend, mit einer Frau adeliger Herkunft verheiratet, habe sich „ein Leben lang für die Arbeiterklasse eingesetzt". Auch sein Freund Engels, obwohl Fabrikantensohn, wie immer wieder hervorgehoben wird, habe „sein Leben den notleidenden Arbeitern widmen" (Klett V, S. 60) wollen. Damit wird suggeriert, daß Marx' eigene Entwicklung seiner Theorie widerspreche, da er doch selbst nur in der Arbeiterklasse das revolutionäre Subjekt gesehen habe. Diese Darstellungsweise läßt folgende entscheidende Tatsache außer acht: Das Bürgertum war zu dem Zeitpunkt, als Marx 174
seine Theorie entwickelte, diejenige Klasse, für die die revolutionäre Umwälzung der Feudalordnung auf der Tagesordnung stand, wie sie in Frankreich schon 1789 vollzogen war. Das Proletariat war um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland erst sehr schwach entwickelt. Darum begann Marx, wie oben schon erwähnt, als bürgerlicher Radikaldemokrat. Allerdings hatte sich der Klassengegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie auf Grund der deutschen Spätentwicklung schon so weit herausgebildet, daß eine gemeinsame Kampffront dieser beiden von der feudalen Unterdrückung gleichermaßen betroffenen Klassen — wie sie in der Französischen Revolution noch möglich gewesen war — nicht mehr zustande kam. Die Bourgeoisie schreckte vor dem zusehends anwachsenden Proletariat, in dem sie den zukünftigen „Totengräber" der bürgerlichen Gesellschaft sehen mußte, zurück und zog einem antifeudalen Bündnis den Klassenkompromiß mit dem Adel gegen das Proletariat vor. Marx erkannte bei seiner zunächst vorwiegend philosophischen Auseinandersetzung mit dieser gesellschaftlichen Situation, daß seine eigene bürgerlich-radikaldemokratische Ausgangsposition ebenso wie die aller anderen fortschrittlichen Bürger, die die revolutionären Forderungen ihrer Klasse beim Wort nahmen, auf einer Selbsttäuschung beruhte, da das Bürgertum seinen revolutionären Anspruch nicht einlösen konnte (bzw. wollte). Die Hinwendung zum Proletariat war nur die natürliche Konsequenz aus dieser Erkenntnis: das Proletariat war die einzige Klasse in Deutschland, welche in der Lage war, die Forderungen der bürgerlichen Revolution durchzusetzen und sie weiterzutreiben in eine wirkliche, gesellschaftliche Demokratie. Die Unterschlagung dieses hier angedeuteten Zusammenhangs wird von den Schulbuchautoren wiederum durch Personalisierung und Psychologisierung kompensiert. An die Stelle einer wissenschaftlichen Herleitung tritt die Erwähnung einer nicht weiter begründeten Neigung Marxens als „leidenschaftlicher Weltverbesserer", d. h. wohl aus moralischen Motiven, „die bestehende Welt des Unrechts" verändern zu wollen. Es wird suggeriert, daß er sich der Arbeiterklasse „gewidmet" habe, da sich in ihr eben die Ärmsten der Armen fänden. „Zu seiner Zeit sah Marx die Unterdrückten in den Arbeitern, den ,Proletariern', den von der herrschenden ,Bourgeoisie' alles vorenthalten wird, worauf sie durch ihre Arbeit Anspruch haben." (Diesterweg II, S. 235) Weil man hinsichtlich der wirklichen historischen Zusammenhänge begriffslos im dunkeln tappt, erscheint Marx in falschem, d. h. in dem Lichte, in das ihn die Autoren auf Grund ihres idealistischen Geschichtsbildes notwendig stellen müssen. Marx wird als Idealist gezeichnet. Er „verurteilt die egoistischen Motive der Besitzer von Kapital . . . und empört sich über die Hilflosigkeit derer, die kein Teil daran haben." (Klett VIII, S. 73) Der Philanthrop Marx, der zudem noch praktische Konsequenzen aus seiner humanitären Haltung zog, wird sodann nach bewährtem Schema feinsäuberlich vom Wissenschaftler Marx abgetrennt. 175
Zwischen beiden wird ein unauflösbarer Widerspruch konstruiert, der dann nur noch auf die gespaltene Psyche Marxens zurückgeführt werden kann: „Zwei Seiten seines Wesens gilt es zu erfassen: den kühlen, überkritischen Verstandesmenschen und den leidenschaftlichen Kämpfer, der gewillt war, die bestehenden Verhältnisse umzugestalten . . . " (Klett II, S. 57) Dieser Darstellungsweise liegt eine positivistische Trennung von Wissenschaft und Moral, Objektivität und Parteilichkeit zugrunde. Die Autoren vermögen noch nicht einmal nachzuvollziehen, in welchem Verhältnis Sachurteil und Werturteil innerhalb der marxistischen Theorie selbst gesehen werden. Letzteres sei hier nur kurz angerissen: Marx' Parteinahme für die Arbeiterklasse erklärt sich nicht aus einem kategorischen Imperativ, für den man sich in einem individuell voluntaristischen Akt entscheidet oder nicht. Dies ist vielmehr die Moralvorstellung des bürgerlichen Individuums, für das Einzel- und gesamtgesellschaftliches Interesse notwendig auseinanderfallen müssen und für welches Moral sich nicht herleitet aus objektiven gesellschaftlichen Tendenzen und Möglichkeiten, sondern aus je individuellen Setzungen. Marx kam auf Grund längerer historischer und ökonomischer Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß das Versprechen der bürgerlichen Revolution, die Gesellschaftsordnung auf das Allgemeininteresse zu gründen (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit), nicht in einer Gesellschaft eingelöst werden konnte, die weiterhin wesentlich durch die Ausbeutung der einen Klasse durch die andere bestimmt war. Solange das Profitinteresse der Kapitalisten Zweckbestimmung der gesellschaftlichen Produktion ist, muß der Anspruch dieser Gesellschaft, im Sinne des Allgemeininteresses zu funktionieren, eine Farce bleiben. Dieser Widerspruch verschärft sich im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus in dem Maße, wie die Zahl der Besitzer der Produktionsmittel immer mehr zusammenschrumpft. (Zentralisation des Kapitals, Monopole.) Die im selben Maße anwachsende Masse der Lohnabhängigen kann sich mit immer größerem Recht als Allgemeinheit empfinden. Wie in keinem Stadium der Menschheitsgeschichte vorher, kann die Arbeiterklasse mit vollem Recht ihr Klasseninteresse — Aufhebung der Ausbeutung — mit dem Allgemeininteresse identifizieren. Ihr Kampf um Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ist der Kampf um substantielle Freiheit, Gleichheit und Solidarität aller Menschen: die proletarische Revolution soll die Befreiung der Arbeit selbst ermöglichen, d. h. die Aufhebung dessen, was alle bisherige Geschichte kennzeichnete: der Herrschaft der Produktionsbedingungen über die Produzenten, die sich darstellte in den jeweiligen historischen Formen herrschaftsvermittelter Arbeit. In der bisherigen Geschichte — einer Geschichte von Klassengesellschaften — waren die unmittelbaren Produzenten — die arbeitende Klasse, sei es Sklave, Leibeigener oder Lohnarbeiter — stets die Beherrschten und Erniedrigten. Aller bisheriger Fortschritt mußte ein antagonistischer sein, da die fortschreitende Naturbeherrschung gesamtgesellschaftlich unbeherrscht blieb 176
und daher die Herrschaft über Menschen einschloß. Diese Entwicklung hat im Kapitalismus nach Marx ihren Höhepunkt (Entfremdung, Verdinglichung) und zugleich erstmals ein Stadium erreicht, das die wirkliche Emanzipation der Menschen objektiv möglich macht. Die Möglichkeit kann nur durch gesellschaftsverändernde Praxis, d. h. durch Aufhebung der Herrschaft der Produktionsbedingungen (des Kapitals) über die (entfremdete) Arbeit verwirklicht werden. Träger dieser Umwälzung muß notwendigerweise — Marx leitet das im einzelnen aus der spezifischen Struktur des Kapitalverhältnisses ab — der Träger der entfremdeten Arbeit sein: das Proletariat. Voraussetzung ist die Erkenntnis des Wesens der kapitalistischen Gesellschaft, ihrer Geschichtlichkeit und ihrer Veränderbarkeit. Von daher muß auch die Theorie der Arbeiterklasse der apologetischen Verklärung kapitalistischer Verhältnisse zur ewigen und natürlichen Seinsgegebenheit diametral entgegengesetzt sein. Im Gegensatz zu jeder Ausbeuterklasse, die ihre Situation zu verewigen und deshalb zu verschleiern trachtet, muß das Proletariat zu seiner Befreiung sich selbst als Klasse aufheben. Um die eigene Situation aufzuheben, muß sie jedoch erkannt und denunziert werden. Der Marxismus ist die theoretische Negation des Kapitalverhältnisses, wie die Arbeiterklasse potentiell seine wirkliche Negation darstellt. Tragender Gedanke Marxens war es deshalb — wie Alfred Schmidt zu Recht hervorhebt — „die bestehenden Strukturen als geworden und werdend transparent zu machen, mit — praktischer — Subjektivität zu v e r m i t t e l n " . Damit sind Zweck und Inhalt des wissenschaftlichen Sozialismus, des historischen Materialismus benannt. 321
Die Hinwendung Marxens zur Arbeiterklasse ist also letztlich auf sein emanzipatorisches Interesse zurückzuführen, das in seiner Theorie die erforderliche wissenschaftliche Begründung gefunden hat (Proletariat als Negation des Kapitalismus). In diesem Sinne fallen wissenschaftliche Objektivität und moralische Parteinahme für die Arbeiterklasse in eins. Der von den Schulbuchautoren zwischen dem Wissenschaftler und dem Moralisten Marx konstruierte Widerspruch ist nicht existent. Das Zurückführen beider Momente und ihres scheinbaren Widerspruchs auf die Gespaltenheit der Marxschen Psyche ist nicht nur konsequenter Ausdruck der Gedankenlosigkeit der Schulbuchautoren, sondern auch ein besonders typischer Fall von Personalisierung und Psychologisierung: eine Theorie, die gesellschaftliche Widersprüche aufzeigt, wird nicht etwa wissenschaftlich zu widerlegen versucht, sondern von vornherein zu einem psychologischen Problem des Menschen Marx erklärt. Die gesellschaftswissenschaftlichen Ergebnisse des Marxismus können auf diese Weise zu subjektiven Anschauungen eines „Weltverbesserers" verdreht werden. Sein Anspruch auf Synthese von Parteilichkeit und Objektivität wird dann noch gegen die Glaubwürdigkeit selbst seines Weltverbesserertums gewendet. Diese Reduzierung des historischen Materialismus auf frei erfundene Widersprüche der Marxschen Psyche führt zu tiefgreifenden Entstellungen der 177
marxistischen Theorie in den Schulbüchern. So heißt es in einem Schulbuch: „Für seine Lehre trat er in jedem Falle ein: wer andere ,falsche' Ansichten vertrat, den haßte, verachtete und verfolgte er. Von seinen Anhängern forderte er bedingungslosen Gehorsam. Mit selbständigen Naturen wie Lassalle und Bakunin . . . mußte es zum Bruch kommen. So beleidigend und überheblich er aber den meisten Menschen gegenüber auftrat, im Umgang mit Frau und Kindern war er liebenswürdig und rücksichtsvoll." (Klett II, S. 57) Hier ist die Psychologisierung der Theorie auf die Spitze getrieben. Parteilichkeit als wissenschaftliches Prinzip des Sozialismus erscheint als Objektivation der persönlichen Arroganz des Karl Marx; die Kampfansage des Marxismus gegen den bürgerlichen Wissenschaftspluralismus als Ausdruck von dessen despotischer Charakterstruktur. Die Differenz zwischen seiner Gesellschaftsanalyse und der Lassalles bzw. Bakunins und seine politische Abgrenzung gegen Reformismus auf der einen und Anarchismus auf der anderen Seite werden als Ausdruck des Marxschen Größenwahns sowie seiner Unduldsamkeit gegenüber ihm charakterlich gewachsenen Naturen dargestellt. Hier handelt es sich allerdings möglicherweise nicht mehr um eine aus objektiven Erkenntnisschranken der Autoren resultierende Fehlinterpretation, sondern um bewußte Diffamierung. — Insgesamt läßt sich zusammenfassen: Die oben beschriebene Darstellung der Marxschen Persönlichkeit erhält bei der Darstellung der marxistischen Theorie ihre Funktion. Der Marxismus erscheint jetzt nicht mehr als Ausdruck eines objektiven gesellschaftlichen Zusammenhanges, sondern immer schon als individuelles Gedankenkonstrukt der besonderen Persönlichkeit Karl Marx'. Dies findet ein ergänzendes Moment in der sprachlich erzeugten Distanz, in die alles „Marxistische" in den Schulbüchern gebracht wird. So wird der Marxismus entweder im Konjunktiv oder mit Verwendung von Formulierungen wie „Marx war der Überzeugung", „Marx glaubte", „nach Marx' Auffassung" oder auch „angeblich" dargestellt. Dadurch wird die marxistische Theorie als die persönliche Meinung ihres Begründers ausgegeben und ihr Anspruch auf Wissenschaftlichkeit von vornherein diskreditiert. Marx und Engels „werden als Außenseiter abqualifiziert, noch bevor ihre Argumentation auf den Leser Eindruck machen k ö n n t e " . Sie kann es allerdings sowieso nicht, da sie, wie oben darzulegen versucht, grundsätzlich gar nicht in den Schulbüchern auftaucht. 3 2 2
5. Die „ W i d e r l e g u n g " des Marxismus in den Schulbüchern und ihre Funktion
Die Widerlegungen des Marxismus seitens der Schulbuchautoren treffen — wie aus unserer obigen Untersuchung hervorgeht — nicht die Marxsche Lehre, sondern die Vorstellungen der Autoren von derselben. 178
Dies trifft auch auf das von den Widerlegungsstrategen bevorzugte Theorem — die Verelendungstheorie — zu. Da diese im Gegensatz zu anderen Teilen des mechanistisch zergliederten Marxismus (zergliedert in: Krisen-, Mehrwert- und Akkumulationstheorie etc.) in fast allen untersuchten Büchern behandelt und einheitlich beurteilt wird, sei dieser Punkt näher beleuchtet. Die Schulbuchautoren fassen Verelendung durchgängig als absolute Lohnverelendung auf. Dies sei zunächst dokumentiert: „Eine seiner Hauptthesen war, daß die Verelendung der Proletarier unaufhaltsam sei und immer weitere Schichten der Bevölkerung ergreifen werde." (Schroedel/Schöningh IX, S. 152) „Deshalb kauft der Kapitalist die menschliche Arbeitskraft zu so einem niedrigen Preis, das dieser gerade noch die Kosten der nackten Existenz des Arbeiters deckt . . . Die Verelendung des Proletariats ist unvermeidlich." (Schroedel/ Schöningh IV, S. 153) „Entscheidende Voraussagen von Karl Marx haben sich nicht erfüllt . . . Auch ist die große Mehrheit in den ,kapitalistischen' Ländern nicht verelendet." (Klett VIII, S. 166) „Hingegen ist die Verelendung des Proletariats nicht eingetreten . . . " „Als Kritik am Kapitalismus entwickelten Marx und Engels vor allem zwei Theorien . . . Die Theorie vom Mehrwert und die Verelendungstheorie." (Schroedel/ Schöningh II, S. 57) „ . . . das soziale Elend hat die Arbeiterklasse nicht zur Revolution getrieben." (Klett II, S. 60) „Es lag ihm gar nicht daran, eine allmählich fortschreitende Verbesserung der Lebensverhältnisse für die Arbeiter zu erreichen; er leugnete, daß dies in der Welt des Kapitalismus überhaupt möglich sei." (Diesterweg II, S. 236) Die Absicht ist klar: „Verelendung wird hier als durchgängige und gradlinige Lohnverelendung gedeutet; und in den Triumphruf, daß eine solche unter den Bedingungen der ,Wohlstandsgesellschaft' nicht mehr nachzuweisen sei, schwingt die stille Aufforderung mit, zusammen mit der Verelendungstheorie die Lehre vom Kapitalismus, von ,Ausbeutung' und ,Mehrwert' überhaupt ins Beinhaus der Denkgeschichte zu v e r w e i s e n . " Ist der Zweck der Unternehmung, den Werner Hofmann so treffend beschreibt, auch offensichtlich, so muß dennoch inhaltlich auf diese Kritik geantwortet werden. Hofmann hat dies in bezug auf die Verelendung in zweifacher Weise getan. Zum einen bestimmt er ihren Stellenwert innerhalb des Marxschen Systems. Ergebnis: nicht z e n t r a l . Zum anderen zeigte er eine, durch die veränderte gesellschaftliche Situation bedingte Verschiebung der Verelendung auf. Früher: mehr physisch-psychische Verelendung; heute: mehr psychisch-mentale Verelendung. Im Gegensatz dazu ist für die Schulbuchautoren die „Verelendungstheorie" zentral: „Eine seiner Hauptthesen", „Entscheidende Voraussagen" etc. Das Moment der psychisch-mentalen Verelendung wird überhaupt nicht in die Betrachtung einbezogen. Gibt es aber überhaupt bei Marx die „Verelendungstheorie", welche ausdrückt, daß der Lohn bis auf ein Minimum zur Erhaltung der „physiologischen" Exi323
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stenz gedrückt werde? „Mitnichten. Dagegen spricht schon die Tatsache, daß der Verfasser des ,Kapital' so energisch die Konzeption des physiologischen Existenzminimums' (und daher auch, das ,eherne Lohngesetz' Lassalles) bestritt. Ohne die Konzeption des ,physiologischen Existenzminimums' aber läßt sich die Theorie von der unvermeidlichen absoluten ,Verelendung' der Arbeiterklasse gar nicht denken. Eines von beiden also: Entweder gibt man zu, daß Marx die Konzeption des ,physiologischen Existenzminimums' ablehnte, und man darf ihm nicht die sogenannte Verelendungstheorie in die Schuhe schieben; oder aber man hält an der letzteren Annahme fest, und dann muß man Marx — wider besseres Wissen und Gewissen — zum Anhänger des ,ehernen Lohngesetzes' stempeln . . . Und gerade das ist es, was die Verkünder der Legende von der Marxschen ,Verelendungstheorie' tun und seit jeher t a t e n . " Im Gegensatz zu Roman Rosdolsky, der hier so energisch die „Verelendungstheorie" für den Marx des ,Kapitals' bestreitet, wollen wir den Schulbuchautoren (und auch sonstigen bürgerlichen Literaten) gar nicht erst „besseres Wissen" unterstellen, sondern nehmen einmal an, daß einfach schlichte Unkenntnis vorliegt. Da es sich bei der „Verelendungstheorie" um eines der meistgebrauchten „Argumente" handelt, die gegen die Marxsche Lehre ins Feld geführt werden, ist es notwendig, auf das Marxsche Werk selbst zurückzugreifen und aufzuzeigen, daß Marx und Engels spätestens ab Ende der 50er Jahre eine solche Auffassung (absolute Verelendung) nicht vertreten haben. In den „Grundrissen" von 1 8 5 7 / 5 8 , den Vorarbeiten zum ,Kapital', wird dies ganz offenkundig. Marx stellt hier fest, daß der ,Wert der Arbeitskraft' sich aus zwei Elementen zusammensetzt: einem mehr konstanten Element, des physischen, und einem variablen Element, dem historisch-gesellschaftlichen. Hier wird einer Theorie des Lohnes als physisches Minimum zur Erhaltung der Existenz der Boden entzogen. Für Marx bildet das physische Element lediglich die unterste Grenze (die logische Grenze), auf die der „Wert der Arbeitskraft" (Lohn) reduziert werden kann. In seinem Vortrag vor dem Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation ( 1 8 6 5 ) , in dem er für den ökonomischen Kampf der Gewerkschaften eintrat, sagte er: , , . . . Außer durch dies rein physische Element ist der Wert der Arbeit in jedem Land bestimmt durch einen traditionellen Lebensstandard. Er betrifft nicht das rein physische Leben, sondern die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse, entspringend aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, worein die Menschen gestellt sind und unter denen sie aufwachsen . . . " Die tatsächliche Höhe des Arbeitslohnes liegt zwischen diesem physischen Minimum und dem Maximum, welches seine Grenzen in dem Profitinteresse des Kapitals findet, das heißt dem Kapital noch so viel Profit erlaubt, daß es interessiert ist, Arbeitskraft zu dingen. Die faktische Höhe des Arbeitslohnes löst sich damit auf „in der Frage nach 3 2 6
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dem Kräfteverhältnis der Kämpfenden". Ihre Bestimmung erfolgt ,,durch . . . das unaufhörliche Ringen zwischen Kapital und Arbeit" . Es zeigt sich hier eindeutig, daß Marx in seinen späteren, wissenschaftlich reiferen Werken keine absolute Verelendungstheorie vertritt, lediglich eine relative, die darin besteht, daß die Löhne weniger rasch steigen als die Profite. Letzteres bestätigen die amtlichen Statistiken der Bundesrepublik für die Lohnentwicklung seit der Währungsreform. Marx kann daher im ,Kapital' schreiben: „Es folgt daher, daß im Maße wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muß." Und Friedrich Engels schließlich machte ( 1 8 9 1 ) zu dem Satz des Erfurter Programmentwurfs der deutschen Sozialdemokratie „Immer größer wird die Zahl und das Elend der Proletarier" folgende Bemerkung: „Dies ist nicht richtig, so absolut gesagt. Die Organisation der Arbeiter, ihr stets wachsender Widerstand wird dem Wachstum des Elends möglicherweise einen Damm entgegensetzen. Was aber sicher wächst, ist die Unsicherheit der Existenz. Das würde ich hineinsetzen." Dieser Satz Engels' bezeichnet auch zugleich den Wert, der den Ausführungen der ,Verelendungstheorie'-Widerlegern beizumessen ist, wenn sie als wichtigste Ursache für das Nicht-Eintreten einer zunehmenden (absoluten) Verelendung den Kampf der Organisationen der Arbeiter angeben — was richtig ist — und Marx vorwerfen, er habe durch seine Einseitigkeit dies nicht gesehen. Zunehmende Verbesserung der materiellen Verhältnisse (materielle Verhältnisse im Sinne der Schulbuchautoren verstanden) widerlegt die Marxsche Theorie nicht, ist vielmehr von ihr mitreflektiert. Was die Autoren nicht verstehen, ist die Marxsche Einsicht, daß mit der Verbesserung der materiellen Lage des Arbeiters eine Verschlechterung seiner gesellschaftlichen Situation einhergehen kann und auch einhergegangen ist . . . In Marx' Worten: „Die materielle Lage des Arbeiters hat sich verbessert, aber auf Kosten seiner gesellschaftlichen Lage. Die gesellschaftliche Kluft, die ihn vom Kapitalisten trennt, hat sich e r w e i t e r t . " Was Marx also alles nicht gesehen haben soll, hat er durchaus gesehen. Darüber hinaus hat er auch bereits beschrieben jene bürgerliche Ideologie, die er „Sozialismus der Bourgeoisie" bezeichnet hat, deren Hauptaufgabe darin besteht, alles zu tun, um die Arbeiterklasse von der Revolution abzuhalten — sei es durch Reformen, die das kapitalistische System in seiner Struktur unangetastet lassen, sei es durch Manipulation und Fälschung oder der politisch-moralischen Verurteilung von Revolutionen (besonders der proletarischen). Aller dieser Mittel — Manipulation, falsche Darstellung (beabsichtigt oder unbeabsichtigt), Verurteilung der Revolution — befleißigen sich die Autoren in ihrer Apologetik des „Bourgeoisiesozialismus", um, wie Marx im „Manifest" schreibt, „der Arbeiterklasse jede revolutionäre Bewegung zu verleiden durch den Nachweis, wie 3 2 9
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nicht diese oder jene politische Veränderung, sondern nur eine Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse ... ihr von Nutzen sein könne. Unter Veränderung der materiellen Verhältnisse versteht dieser Sozialismus aber keineswegs Abschaffung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse, die nur auf revolutionärem Wege möglich ist, sondern administrative Verbesserungen, die auf dem Boden dieser Produktionsverhältnisse vor sich gehen, also an dem Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital nichts ändern, sondern im besten Fall der Bourgeoisie die Kosten ihrer Herrschaft vermindern und ihren Staatshaushalt v e r e i n f a c h e n . " Kurzum: „Der Sozialismus der Bourgeoisie besteht eben in der Behauptung, daß die Bourgeois Bourgeois sind — im Interesse der arbeitenden K l a s s e . " Dies den Schülern in der Auseinandersetzung mit Marx zu vermitteln, ist die Hauptaufgabe der Schulbuchautoren. Damit dies aber gelingen kann, ist es notwendig, Marx gehörig zu präparieren, was den Autoren leichtfällt, da ihr verknöchertes bürgerliches Bewußtsein, wie wir gezeigt haben, es ihnen von vornherein unmöglich macht — vor jeder expliziten Kritik des Marxismus — diesen überhaupt zu verstehen. Sie treten daher mit bestem Gewissen, aber ohne Wissen vor die Schüler. Wie sollte man besser im Sinne der Kapitaleigner funktionieren? 334
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Zweites Kapitel Systematisierung Wer die Ergebnisse der bisherigen Analyse der Schulgeschichtsbücher noch einmal rekapituliert, wird schnell feststellen, daß die Untersuchung der verschiedenen historischen Epochen und Ereignisse nicht ständig neue Kritikpunkte erbracht hat. Vielmehr prägten bestimmte Denkmuster die Schulbuchdarstellung aller Epochen und Ereignisse — wenn auch in jeweils unterschiedlicher Intensität —, so daß auch unsere Kritik der Schulbücher immer wieder auf ähnliche ideologische Motive und methodische Mängel aufmerksam machte. Vor allem vier Denkmuster haben sich als durchgängig und konstitutiv für die Schulgeschichtsbücher erwiesen: die Vorstellung, daß Geschichte von einigen „großen" Individuen gemacht wird, denen die Volksmassen gefälligst die Staats- und Wirtschaftsgeschäfte zu überlassen haben (Personalisierung, damit verbunden: Psychologisierung); die Verabsolutierung von Ideen, die als treibende Kraft der Geschichte angesehen werden, losgelöst von der Gesellschaft, in der sie entstehen und den sozialen Interessen, denen sie nützen (Ideengeschichtliche Darstellung); die Annahme einer dem Geschichtsverlauf zugrunde liegenden unveränderlichen Menschennatur, die angeblich bestimmte Konstanten (Egoismus usw.) aufweist und dadurch Geschichte auf gewisse enge Entwicklungsmöglichkeiten begrenzt (Anthropologisierung) und andere Möglichkeiten als naturwidrig und unsinnig ausschließt; schließlich und in engem Zusammenhang mit der Anthropologisierung die Annahme bestimmter Konstanten auch der Gesellschaftsstruktur, was auf die Hypostasierung der bürgerlichen Gesellschaft zur einzig möglichen, natürlichen und somit unabänderlichen Form menschlichen Zusammenlebens zurückgeht (Ontologisierung). Für die aktuelle politische Funktion der Schulgeschichtsbücher ist es besonders wichtig zu untersuchen, in welche Vorstellungen bzw. Theorien über die gegenwärtigen gesellschaftlichen Systeme und Auseinandersetzungen die erwähnten grundlegenden Denkmuster — es wird noch zu zeigen sein, daß es sich dabei um Momente gesellschaftlich bedingten falschen Bewußtseins handelt (bürgerliche Ideologie) — münden. Die Untersuchung der Schulbücher hat ergeben, daß in bezug auf die Darstellung der B R D die Schulbücher ein Modell reproduzieren, nach dem die Gesellschaft aus einer Vielzahl qualitativ gleicher, nach quantitativen Kriterien (Einkommen etc.) allerdings verschiedener Individuen zusammengesetzt ist (Schichttheorie); die beiden Gruppen, die auch nach Schulbuchauffassung noch im 19. Jahrhundert den grundlegenden Interessengegensatz der kapitalistischen Gesellschaft bildeten (Arbeiter und Unternehmer), erscheinen in der Schulbuchdarstellung der B R D als (Sozial-)Partner . . . Die sozialistischen bzw. kommunistischen Länder und Bewegungen dagegen werden in den Schulbüchern mit faschistischen Kräften und Herrschafts183
systemen auf eine Stufe gestellt und als totalitär denunziert (Totalitarismustheorie). Im folgenden sollen die hier angesprochenen Ergebnisse der bisherigen Untersuchung, also sowohl die vier Grundmuster bürgerlichen Denkens als auch die Schicht-, Sozialpartnerschafts- und Totalitarismustheorie, noch einmal aufgegriffen und daraufhin überprüft werden, welchen Erkenntniswert sie für ein wirkliches Verständnis der Geschichte und der Gegenwart besitzen. Da im ersten Teil gelegentlich auch auf die Funktion bestimmter sprachlicher Elemente der Schulbuchdarstellung eingegangen wurde, sollen die Ergebnisse dieser Sprachkritik im folgenden ebenfalls in systematisierter Form dargelegt werden.
A . Ontologisierung/Anthropologisierung
Insbesondere im Abschnitt über die Darstellung des Marxismus in den Schulbüchern stießen wir immer wieder auf eine eigentümliche Vorgehensweise der Schulbuchautoren: bestimmte, einer ganz spezifischen historischen Formation angehörende gesellschaftliche Verhältnisse, konkret: Verhältnisse, die die kapitalistische Gesellschaftsformation — und ausschließlich diese — (Kapital, entfremdete Arbeit, Arbeitswerttheorie) ausmachen, werden von den Schulbuchautoren unreflektiert als seinsgegebene (ontologische), übergeschichtliche Kategorien verwandt. Wesentlich historisch Entstandenes wird als Ewig-Seiendes, Natürliches begriffen. Auf diese Weise kann Geschichte als Fortschreiten gesellschaftlicher Totalität nicht nur nicht erfaßt werden — denn es werden permanent die als natürlich betrachteten kapitalistischen Verhältnisse in frühere Epochen zurückprojiziert, wobei deren spezifische gesellschaftliche Qualität (etwa des Feudalismus) verlorengehen muß —, sondern Geschichte wird buchstäblich entgeschichtlicht: es gibt überhaupt keine wirkliche Geschichte mehr. Indem Geschichte als Fortschreiten des Immergleichen vorgestellt wird, ist ihre Liquidierung als Geschichte bereits vollzogen. So schroff diese Feststellung zunächst klingen mag, so leicht läßt sie sich an den Geschichtsbuchanalysen im ersten Teil dieses Buches erhärten. Es sei nur an ein Beispiel für diese Austilgung der Geschichtlichkeit erinnert: Im Abschnitt über die Französische Revolution konnte gezeigt werden, daß die Schulbuchautoren die unhistorischen Begriffe und Vorstellungen der Aufklärungsdenker vollständig übernehmen. Beispielsweise wurde der aus der großbürgerlichen Phalanx der Aufklärungsphilosophen (Locke, Voltaire usw.) offensichtlich herausfallende Rousseau mit Begriffen — z. B. Freiheit — abgewehrt und verurteilt, die jedweder historisch-gesellschaftlichen Bestimmung von vornherein entzogen zu sein scheinen: „die Freiheit wird durch die Gleichheit erschlagen." Es handelt sich offensichtlich um ewigmenschliche, also überhistorische „Werte", die von Rousseau, Robes184
pierre usw. verletzt werden. Tatsächlich besitzen die Schulbuchautoren jedoch eine ganz konkrete inhaltliche Vorstellung von diesen Begriffen, wie aus ihrer Anwendung — beispielsweise der Verurteilung Rousseaus, der republikanischen Verfassung von 1793 usw. — unzweideutig hervorgeht. Rousseau wird in den Schulbüchern nicht verurteilt, weil er gegen Freiheit schlechthin sei — er wollte ja gerade Freiheit verwirklichen —, sondern weil er darunter etwas anderes verstand als Voltaire, Locke und die Schulbuchautoren heute: Rousseau spürte die verhängnisvolle Verbindung zwischen der Freiheitsvorstellung der Aufklärung und der Freiheit der Kapitalisten, Arbeiter auszubeuten, und lehnte diese Freiheit ab. Eben deshalb verurteilen ihn die Schulbuchautoren, da sie die kapitalistische Form der Freiheit für die einzig denkbare, für die natürliche Freiheit halten. So können sie Rousseau guten Gewissens vorwerfen, er wolle „die Freiheit" erschlagen. Die Negation der Geschichte manifestiert sich auf jeder Schulbuchseite in Begriffen, die im Grunde bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse ausdrücken, hier aber zu Bezeichnungen seinsgegebener Tatbestände verdinglicht sind (etwa ,Kapital'). Die Begriffslosigkeit ist also gewissermaßen die Erscheinungsform der Ontologisierung kapitalistischer Verhältnisse. Sie führt notwendigerweise zur Unfähigkeit, revolutionäre Veränderungen zu erfassen. Es sei nur an die kläglich gescheiterten Versuche der Schulbuchverfasser erinnert, die Ursachen „neuer Ideen", der Französischen Revolution, der industriellen Revolution und der Entstehung der Arbeiterklasse anzuführen. In dieser Lage bleibt den Autoren nichts anderes übrig, als sich in Personalisierungen und Psychologisierungen zu flüchten. Grundannahme ist auch hier die Abstraktion von der realen Geschichte: die Vorstellung einer überhistorischen, ewiggleichen Menschennatur — die Hypostasierung des bürgerlichen Individuums zum Menschen schlechthin (Anthropologisierung). Auch hier treten die Schulbücher in die Fußstapfen der frühbürgerlichen — damals allerdings noch progressiven, weil antifeudalen! — Ideologie: schon bei Locke war der bürgerliche Privateigentümer der ,natürliche' Mensch. Kennzeichen dieses mit Seinesgleichen in Konkurrenz stehenden bürgerlichen Privateigentümers (insbes. des Kapitalisten) ist jener individuelle Egoismus, den die Schulbuchautoren infolge ihres verdinglichten Bewußtseins flugs zur menschlichen Wesensnatur erklären. Wir erinnern uns an die oben zitierte Stelle aus einer Didaktik, wo den Schülern unumwunden gegenüber der anderslautenden Argumentation Rousseaus eingeredet wird, „daß es zum Wesen des Menschen gehöre, zunächst an sich zu denken" (Schroedel/Schöningh V I I , S. 4 7 ) . Hier handelt es sich — wie aus dem Kontext, nämlich der Verurteilung der Rousseauschen Gleichheitsforderungen, unzweifelhaft hervorgeht — um die offene Rechtfertigung der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft, gegen die sich Rousseau wandte, mit Hilfe ihrer Erhebung in den Bereich der Naturnotwendigkeit. Die Anthropologisierung ist also ein bestimmtes Moment der Ontologisierung. Wie diese die historisch 185
entstandenen und durchaus aufhebbaren kapitalistischen Verhältnisse als ,Natur' erscheinen läßt, verabsolutiert jene den Menschen der kapitalistischen Gesellschaft zum natürlichen Menschen, zum Menschen schlechthin. Von diesem Standpunkt aus kann politischer Radikalismus, der sich gegen eben diese mit dem Glorienschein des Natürlichen umhüllten gesellschaftlichen Verhältnisse wendet, nur als gefährliche Verblendung abgewiesen werden. Der gesellschaftliche Status quo ist gegen jede grundlegende Veränderung gefeit. Wer wollte sich an der Natur vergreifen? ! Personalisierung, Psychologisierung, Verabsolutierung der Ideen (auf die dann ,Geschichte' reduziert wird: der Mensch bleibt wesensgleich, nur seine Ideen und die Ausprägung bestimmter Wesenszüge, wie Machttrieb usw., verändern sich) resultieren genauso aus dieser methodischen Grundkonzeption wie Totalitarismus-, Sozialpartnerschafts- und Schichttheorie (denen allen die Abstraktion von dem konkreten, historisch-gesellschaftlich bestimmten Lebensprozeß der Menschen, insbesondere von dem Verhältnis der Menschen zu den objektiven Bedingungen ihrer Arbeit gemeinsam ist) sowie das Unverständnis gegenüber der Marxschen Theorie. Die Grundlage ist die „Entgeschichtlichung des Gesellschaftsbildes." 1
B. Verabsolutierung v o n Ideen
„Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren . . . Lebensprozesses. Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen entwickeln mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens." (Marx/Engels) Über die eigentümliche Behandlung der menschlichen Vorstellungen als ihrer Entstehung nach übergesellschaftliche Phänomene, die nur aus anderen Ideen erklärt werden könnten, ist hier schon einiges gesagt worden. Die Unzulässigkeit der Annahme, es gäbe eine „reine Immanenz ideeller Abläufe" liegt auf der Hand, wenn man sich nur der Tatsache vergewissert, daß es eine durchgängige historische Kontinuität von Ideen gar nicht gibt. Die italienische Renaissance besann sich auf die Antike und legte den mittelalterlichen Klerikalismus, der die anthropozentrische Philosophie der Antike weitgehend erstickt hatte, beinahe über Nacht ad acta. Woher dieser plötzliche Umbruch, diese Rückbesinnung auf fast Verschollenes in der Geschichte des menschlichen Denkens? Warum ausgerechnet in den norditalienischen Städten und zu dieser Zeit? — Diese Fragen stellen, heißt, die Vorstel2
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lung einer reinen Immanenz ideeller Abläufe ablegen und sich einer wissenschaftlichen Erklärung zuwenden. Wenn es nicht den antiken Ideen immanent sein konnte, während des Hochfeudalismus großenteils in Vergessenheit zu geraten und mit dem Aufschwung der Handelsbourgeoisie in Norditalien seit dem 13. Jahrhundert neue Bedeutung zu erlangen, dann muß dieser Ideenumbruch etwas mit den gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun haben — in diesem Fall mit dem ökonomischen und politischen Aufstieg der norditalienischen Handelsbourgeoisie. Tatsächlich hat es etwa in Deutschland, wo es in dieser Zeit ein relevantes Bürgertum gar nicht gab, auch keine dem Nachbarland vergleichbare Renaissance gegeben. Derartige Zusammenhänge müssen einem Geschichtsbewußtsein äußerlich bleiben, das gerade durch die Abstraktion von der realen Geschichte gekennzeichnet ist, der Abstraktion vom materiellen Lebensprozeß der konkreten gesellschaftlichen Individuen. Diese Abstraktion ist eine doppelte: zum einen die Abstraktion des bürgerlichen Bewußtseins von der gesellschaftlichen Genesis und Funktion vergangener Ideen, zum andern die Blindheit des abstrakten bürgerlichen Bewußtseins gegenüber der eigenen gesellschaftlichen Genesis und Funktion. Da sich bürgerliche Geschichtswissenschaft als unabhängig von ihrer materiellen Grundlage versteht und die gesellschaftliche Form der Arbeit als immergleich, naturgegeben auffaßt (Identität von Ontologisierung und Idealisierung), muß sie Geschichte „nach einem außer ihr liegenden Maßstab" schreiben; „die wirkliche Lebensproduktion erscheint als urgeschichtlich, während das Geschichtliche als das vom gemeinen Leben Getrennte, Extra-Überweltliche erscheint. Das Verhältnis der Menschen zur Natur ist hiermit von der Geschichte ausgeschlossen . . . " Sie kann „daher in der Geschichte nur politische Haupt- und Staatsaktionen und religiöse und überhaupt theoretische Kämpfe sehen . . . und (muß) speziell bei jeder geschichtlichen Epoche die Illusion dieser Epoche teilen." 4
C. Personalisierung
Die Untersuchung der Texte im vorhergehenden Kapitel hat gezeigt, daß die Schulbuchautoren immer wieder dazu tendieren, den „großen Männern" als Gestalter der Geschichte die maßgebliche Rolle zuzuschreiben. Die „Darstellung historischer Sachverhalte an ,großen Persönlichkeiten', die nach einem Wort des preußischen Historikers Heinrich von Treitschke ,Geschichte m a c h e n ' " , wird im folgenden als Personalisierung bezeichnet. Bevor wir auf die Herkunft, Funktion und Bewertung dieser Art von Geschichtsbetrachtung eingehen, sollen ihre unterschiedlichen Ausdrucksformen noch einmal kurz dargestellt werden. Die extremste Form der Personalisierung finden wir dort vor, wo der geschichtliche Vorgang unmittelbar als Produkt der autonomen 5
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Handlung und Leistung eines einzelnen Menschen erklärt wird. „Zugleich erstand aus dem innerlichen Erlebnis eines unbekannten Mönches eine religiöse Bewegung . . . " (Klett III) „Überall im Lande richtete Robespierre Revolutionstribunale ein . . . Nach dem Tode Robespierre nahm der Terror ein Ende." (Diesterweg II) „Ihm (Lenin, Anm. d. Verf.) gelang es, die . . . Massen gegen die Regierung aufzuwiegeln." (Schroedel/Schöningh V) Die großen Persönlichkeiten, ob sie nun je nach dem politischen Standort der Schulbuchautoren positiv oder negativ gezeichnet werden, handeln scheinbar völlig unabhängig von den politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen ihrer Zeit. Ihre Fähigkeit, „Geschichte zu machen", resultiert entweder aus der Transzendenz oder demagogischer Begabung, Rücksichtslosigkeit oder Raffinesse. Für die Schüler — jedoch nicht nur für sie — ist nicht erkennbar, warum Luther, Robespierre und Lenin wirklich geschichtswirksam werden konnten. Diese Form der expliziten Erklärung geschichtlicher Ursachen aus dem Handeln von Individuen findet sich noch relativ häufig, wird aber zunehmend durch differenziertere Varianten ersetzt. Eine solche differenzierte Variante von Personalisierung ist zum Beispiel, daß die großen Personen durch den gesamten Text hindurch als die handelnden Kräfte auftreten, ohne daß sie ausdrücklich zu Urhebern und Gestaltern der Geschichte ernannt werden. Da jedoch nur sie zielstrebig agieren — in positiver Gegenüberstellung zu den chaotischen Verhaltensweisen der Massen —, entsteht der gleiche Eindruck wie in der ersten Variante. In erster Linie wird beschrieben, was die Hauptakteure jeweils dachten, meinten, sagten und taten. „Luther verkündete . . . " , „Luther sucht . . . " , „Luther vor Kaiser und Reich", „Wird Luther widerrufen? " (Klett IV) „Mirabeau arbeitete einen Plan aus, . . . " „Robespierre träumte . . . " (Schroedel/Schöningh IV) „General Ludendorff rechnete sich für Deutschland Vorteile aus. . ." (Klett X) „Kerenskij . . . wünschte einen baldigen Frieden ohne ,Annexionen und Kontributionen', konnte aber die Entente nicht dazu bewegen . . . " (Klett II) Das Wirken der großen Persönlichkeit wird so entweder über die gesamte Darstellung verteilt, oder es lösen sich mehrere große Männer im Auftritt ab, falls der Geschichtsablauf in seiner offensichtlichen Komplexität diese Reduktion ad absurdum führen würde (vgl. Franz. Revolution). Die Geschichte erscheint in beiden Fällen als ein Machtkampf der „Großen" unter sich. Die dritte Möglichkeit, geschichtliche Abläufe überwiegend aus dem Wirken der großen Männer zu erklären, bietet der biographische Abriß. Dieser wird fast immer durch ganzseitige Abbildungen markiger Charakterköpfe ergänzt. In diesen kürzeren oder längeren biographischen Ausführungen wird jeweils die Herkunft, der geistige und politische Lebensweg der betreffenden Persönlichkeit beschrieben und eine Charakterisierung vorgenommen. Soweit es sich um die Entwicklung 188
des politischen Bewußtseins handelt, wird erwähnt, durch welche Vorgänger eine Inspiration stattgefunden hat (Robespierre durch Rousseau, Marx durch Hegel, Lenin durch Marx etc.). Die ideologische Wirksamkeit dieser biographischen Darstellungen liegt vor allem darin, daß die Entwicklung der Persönlichkeit isoliert von ihren Beziehungen zur gesellschaftlichen Situation betrachtet wird. Die Entwicklung des Denkens und der Praxis von Luther, Marx und Lenin wird nicht begriffen als Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Problemen ihrer Zeit, wie wir zum Beispiel im Abschnitt „Wissenschaftlicher Sozialismus" (S. 151 ff.) exemplarisch gezeigt haben. Die Fakten, die etwas darüber aussagen konnten, warum es z. B. Marx möglich war, das Verhältnis von Proletariat und Bourgeoisie zu bestimmen und sich als Bürger auf die Seite des Proletariats zu stellen, fehlen in diesen Biographien. Letztere liefern allenfalls moralische Begründungen: „Der Advokat Maximilien Robespierre . . . war einer der Abgeordneten des Dritten Standes gewesen. Bald wurde er überzeugter Republikaner, der für den Tod des Königs stimmte und die Politik der Girondisten bekämpfte. Er war Mitglied der gesetzgebenden Nationalversammlung, dann des Konvents, der Pariser Kommune und vor allem des Wohlfahrtsausschusses. Bald war er in den Ruf des ,Unbestechlichen' gekommen. Er blieb unberührt von menschlichen Gefühlen und blind für den farbigen Glanz des Lebens. Tugend war eines seiner Lieblingsworte." (Schroedel/Schöningh IV)
Dieses Zitat verdeutlicht die Vorgehensweise der Schulbücher in exemplarischer Weise: Indem die Entwicklung Robespierres abgetrennt wird von der Entwicklung der revolutionären Situation in Frankreich, erscheinen die verschiedenen Stadien seiner individuellen Entwicklung eher als Ausdruck einer unberechenbaren fanatischen Persönlichkeit, denn als Reaktion eines Mannes — mit allerdings klarer politischer Konzeption — auf die je veränderte historisch-gesellschaftliche Situation. Die verkürzte Art und Weise, in der hier sein Eintreten für die Hinrichtung des Königs erwähnt wird, suggeriert gewiß eher die Annahme, es habe sich hier um eine voluntaristische Entscheidung gehandelt, deren Ursprung primär im Kopf des Robespierre zu suchen sei; auf keinen Fall vermag diese Darstellungsweise einen Zusammenhang herzustellen zwischen Robespierres Verhalten und der objektiven historischen Rolle des Königs und der Konterrevolution sowie deren Auswirkungen auf die Lage der Pariser Massen. Auch die Anführung des Beinamens „Unbestechlicher" trägt nicht zur Klärung bei, sondern isoliert die Person Robespierres vom Gesamtzusammenhang der historischen Konstellation. Die letzten beiden Sätze treiben die Moralisierung und Individualisierung vollends auf die Spitze: Wer sich mit dem „farbigen Glanz des Lebens" am Versailler Hof des 18. Jahrhunderts und der Lage der hungernden Massen zu dieser Zeit einmal eingehend beschäftigt hat, wird ziemlich schnell zu einer differenzierten Erklärung der Robespierreschen „Tugendhaftigkeit" gelangen, als sie in jenen Schulbuchphrasen zum Ausdruck kommt. Allzu eindeutig wird hier jedoch klar, daß Aufklärung über den Gang der Geschichte gar nicht intendiert ist, sondern die negative Mystifizierung einer 189
historischen Persönlichkeit im Sinne des Geschichtsbildes der Verfasser. Die bürgerliche Geschichtswissenschaft und Didaktik selbst versuchen, die Personalisierung mit unterschiedlichen Argumenten zu begründen. In der Geschichtswissenschaft reicht der Bogen derjenigen Historiker, die die großen Persönlichkeiten als Gestalter der Geschichte verteidigen, vom Engländer Thomas Carlyle über Friedrich Nietzsche, Heinrich von Treitschke bis zu Theodor Schieder und Golo Mann . Die Begründungen für diese Auffassung liegt bei Carlyle z. B. in der „intellektuellen Überlegenheit" und den „moralischen Qualität e n " der großen Männer. Dabei ist interessant, daß der gleiche Historiker ungewollt zugibt, daß „erst das Bedürfnis nach Heldenverehrung ,Helden' schaffe" . Der Frage, wodurch dieses Bedürfnis geweckt wird, ist diese Geschichtswissenschaft jedoch noch nicht nachgegangen. Die Begründungen anderer Historiker für die Notwendigkeit des personalisierenden Geschichtsbildes liegen auf der gleichen Ebene wie bei Carlyle: die großen Persönlichkeiten werden zu Persönlichkeiten durch ihre individuellen Fähigkeiten oder höhere Berufung; sie sind notwendiger Gegensatz zu den Massen, denen sie als immerwährendes Vorbild im positiven oder negativen Sinn vor Augen stehen sollen. An diese Vorstellungen knüpfen auch die bis heute noch gültigen Didaktiken und Richtlinien der meisten Bundesländer an. Die große Persönlichkeit und ihr Wert für die Geschichte und Erziehung in der Gegenwart, wird in ihrem Einfluß auf die „charakterliche Formung und sittliche H a l t u n g " des Jugendlichen gesehen. Diese allgemein gehaltenen Formulierungen müssen im Zusammenhang mit den inhaltlichen politischen Forderungen der Didaktiken gesehen werden, wenn die ihnen zugrunde liegenden Wertvorstellungen überprüft werden sollen. So soll der Geschichtsunterricht nicht nur Verständnis vorbereiten „für die außenpolitische Wirklichkeit, sondern auch für die innenpolitische, in Besonderheit für die demokratische Staatsform, die durch die Rivalität politischer Kräfte gekennzeichnet ist, die die Auseinandersetzung zwischen diesen, also den Kampf um Macht, zur Voraussetzung hat, die zugleich aber erlaubt, ungefährdet am politischen Machtkampf teilzunehmen und sich für die eigenen Ordnungsvorstellungen einzusetzen" . Daß allerdings der personalisierende Geschichtsunterricht in hervorragender Weise dazu geeignet ist, undemokratisches und autoritätsfixiertes Denken zu konstituieren, haben Friedeburg und Hübner bereits 1 9 6 4 in einer Auswertung von Schülerbefragungen gezeigt. Die Didaktiken versuchen, die Personalisierung unter anderem auch mit den Forschungsergebnissen der älteren Entwicklungspsychologie zu legitimieren. Diese hatte die biologische Entwicklung des Kindes und Jugendlichen in Phasen eingeteilt und damit auch die Entwicklung des Geschichtsbewußtseins für jede Phase festgelegt. So wird einem Dreizehnjährigen nicht zugetraut, „staatliche Ordnungen, nationale und politische Zusammenhänge" erkennen zu können. Deshalb seien, „entsprechend der seelischen 6
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Eigenart und Interessenlage des Schülers . . . die geschichtlichen Triebkräfte und Bedeutsamkeiten am handelnden Menschen, insbesondere an der bedeutenden Persönlichkeit, die ihre Epoche repräsentierte und den Gang des Geschehens entscheidend beeinflußte, einsichtig zu m a c h e n " . Diese Phasen- und Stufentheorie gilt jedoch inzwischen als durch die Ergebnisse der bürgerlichen Sozialisationsforschung selbst widerlegt, da sie von falschen Prämissen ausging und darum zu falschen Schlüssen gekommen ist. Dieser älteren Psychologie lag ein idealistisches Entwicklungsmodell zugrunde, das Entwicklung als Entfaltung von Anlagen begriff, die im Kinde bereits keimhaft angelegt sind und sich nur noch in bestimmten Entwicklungsphasen schubweise entwickeln. Demgegenüber hat die neuere Sozialisationsforschung festgestellt, daß postnatale soziokulturelle Faktoren die Entwicklung des Individuums wesentlich stärker beeinflußen als pränatale. Eine Entwicklungspsychologie, die die schlechte Praxis zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchung macht, indem sie die Bestandsaufnahme zur anthropologischen Konstante erhebt, trägt nur dazu bei, eben diese schlechte Praxis zu perpetuieren. Die Hervorhebung des Individuums, der großen Persönlichkeit, forderte nicht nur deren Gegensatz zu den sozialen Gruppen, Schichten und Klassen, sondern implizierte die Diskriminierung der Klassen, die die unterdrückte Mehrheit des Volkes ausmachten. Der Gegensatz von Individuum und Masse mit der entsprechenden Bewertung bestimmt auch den Demokratiebegriff. Demokratie wird dann nicht mehr im eigentlichen Sinne des Wortes (Volksherrschaft) verstanden, sondern auf ein System reduziert, in dem gewählte Repräsentanten die politischen Entscheidungen treffen, deren Kontrolle durch die Bevölkerung — die der Objektrolle verhaftet bleibt — letztlich unmöglich ist. Der gesamte Bereich außerhalb der politischen Willensbildung — Wirtschaft, Arbeitswelt —, der das wirkliche Leben entscheidend bestimmt, bleibt ohnehin außerhalb dessen, was hier unter Demokratie verstanden wird. 1 4
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Die Personalisierung im Geschichtsunterricht bleibt natürlich nicht ohne Auswirkung für das politische Bewußtsein der Schüler. Die Fixierung auf die scheinbar übermächtigen historischen und politischen Autoritäten verbaut den Einblick in die differenzierte gesellschaftliche Struktur. Die Bedingungen, die es erst ermöglichen, daß Persönlichkeiten hervortreten, sind nicht durchschaubar, denn sie werden „als subjektive Motive historisch Handelnder gefaßt, so daß Motiv und Ergebnis in der historischen Persönlichkeit zusammentreffen" . Praktische Konsequenz dieser Personalisierung ist, daß die Teilnahme der Mehrheit des Volkes an den politischen Entscheidungen auf die Stimmabgabe am Wahltag reduziert bleibt. Bei einer Meinungsumfrage waren u. a. 66 % der Befragten der Ansicht, daß „die ganze Politik (manchmal) so kompliziert (ist), daß jemand wie ich gar nicht richtig versteht, was v o r g e h t " . 64 % meinten: „Leute wie ich haben so oder so keinen Einfluß darauf, was die Regierung t u t " . 16
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„Wer ,denen da oben' . . . als Folgen auch eines falsch konzipierten Geschichtsunterrichts oder eines absichtlich so angelegten Geschichtsunterrichts Politik als Domäne überläßt und sie als spezialisierte und berufene Sachwalter relativ unkontrolliert wirken läßt, der wird zugleich mit Negation der eigenen Einflußmöglichkeiten jede Mitverantwortung für das politische Geschehen leugnen und in den ,großen Männern' ein Alibi für seine eigene politische Fehlhaltung suchen und finden." Personalisierung dient also der Entpolitisierung der Bevölkerung, ihrer autoritären Fixierung auf die Mächtigen. Indem die Herrschaft der Persönlichkeit nicht auf ihre gesellschaftlichen Bedingungen zurückgeführt wird, erscheint auch keine Möglichkeit für die Beherrschten, diesen Zustand zu ändern und wirkliche Volkssouveränität zu erkämpfen. Die ideologische Bindung an die großen Männer dient also der Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status quo und beläßt die Demokratie im Stadium der bloß bürgerlichen Demokratie. Aus der bisherigen Argumentation darf nicht gefolgert werden, daß die Persönlichkeit in der Geschichte keine Rolle spiele. Die Kritik zielte auf die Ansicht, daß die großen Persönlichkeiten die Schöpfer der Geschichte sind, d. h. faktisch aus dem passiven Material „Masse" die Geschichte gestalten. Die wirkliche Bedeutung der Persönlichkeit ist gerade aus ihrem Verhältnis zur sozialen Basis zu erklären. Damit das Individuum politische Problemstellungen und Lösungsmöglichkeiten formulieren kann, muß die Voraussetzung erfüllt sein, daß eine bestimmte Übereinstimmung zwischen seinen Vorstellungen und den Bedürfnissen und Interessen relevanter sozialer Gruppen und Klassen besteht. Diese Auffassung wird auch durch die Fakten belegt, die unsere Geschichtswissenschaft zutage fördert. Marx hätte nichts über das Verhältnis von Proletariat und Bourgeoisie und die geschichtliche Bedeutung dieses Verhältnisses sagen können, wenn diese beiden Klassen sich nicht als reale, gesellschaftsbestimmende Kräfte herausgebildet hätten. Seine Kritik der politischen Ökonomie konnte nur deshalb bei großen Teilen der Arbeiterbewegung auf fruchtbaren Boden fallen, weil er mit ihr die Theorie ihrer möglichen Interessenvertretung formulierte. Luthers Kritik hätte keine Wirksamkeit erzielen können, wenn er damit nicht die sozialpolitischen Interessen aller vom Papsttum geschädigten Klassen ausgedrückt hätte. Die gleiche Argumentation gilt — wie gezeigt wurde — für Männer wie Robespierre oder Lenin und sie ließe sich auch für Bismarck, Hitler usw. als richtig erweisen. 19
Die Rolle der politischen Führerpersönlichkeit beschränkt sich jedoch nicht darauf, nur reaktiv das auszudrücken, was relevante soziale Kräfte ohnehin wollen. Indem sie deren Wünsche und Interessen formuliert, Gegner und Bundesgenossen, Ursachen und Ziele benennt, kann sie deren Mobilisierung vorantreiben, umgekehrt aber auch zu deren Irreführung beitragen. Hiermit sei nur ein allgemeiner Rahmen abgesteckt, innerhalb des192
sen man die Rolle der historischen Persönlichkeit differenzierter untersuchen müßte, als dies in den von uns untersuchten Schulbüchern geschieht. Damit soll keineswegs einer Auffassung der völligen Bedeutungslosigkeit der historischen Persönlichkeit das Wort geredet werden. Im Gegenteil — erst aus dieser hier angedeuteten Perspektive ist eine wirkliche Analyse der Rolle des Individuums in der Geschichte möglich. Eine solche Verfahrensweise wäre allerdings der hier kritisierten diametral entgegengesetzt: Statt das übermächtige Individuum von vornherein zu hypostasieren, um von hier aus alle Bewegungen der menschlichen Geschichte ,abzuleiten' (bzw. zurechtzustutzen), müßte eine solche Geschichtsbetrachtung gerade ansetzen an den konkreten Bewegungen der jeweiligen historischen Situation, um unter Berücksichtigung aller sozialökonomischen, politischen und kulturellen Faktoren die Funktion und wirkliche Bedeutung der historischen Persönlichkeit zu bestimmen. Indem die Entscheidungsfreiheit der historischen Persönlichkeit nicht mehr als voluntaristische Setzung begriffen wird, sondern als jeweils mehr oder weniger sinnvolles Planen und Realisieren der historisch konkreten Möglichkeit (die immer eine begrenzte ist), kann der Anteil von einzelnen Personen an der Realisierung historischer Möglichkeit sehr viel präziser erkannt, gewürdigt oder kritisiert werden. Eine mögliche Identifikation mit der historischen Persönlichkeit hätte dann ganz anderen Charakter als den vom bisherigen Geschichtsunterricht intendierten, indem sie sich nicht mehr über irrationale, psychische Instanzen vermittelte, sondern über den Kopf. Abschließend sei hier Klaus Bergmanns Zusammenfassung der Kritik am personalisierenden Geschichtsunterricht zitiert: „Ein solcher Geschichtsunterricht birgt, indem er Geschichte als das Entscheidungs- und Handlungsfeld übermächtiger Subjekte darstellt und gesellschaftliche und ökonomische Prozesse biologisch auflöst, folgende Gefahren: 1. Er vermittelt Politik als Domäne von berufenen Spezialisten, als Geschäft dazu berufener Profis, kann zu einer Identifikation mit den Herrschenden führen und eine unreflektierte Untertanengesinnung begünstigen und dauernd reproduzieren. 2. Er wirkt einer Resignations- und fatalistischen Haltung in politicis nicht entgegen, fördert sie eher und ermöglicht Leugnung und Verdrängung einer Mit-Verantwortlichkeit. 3. Er lehrte Geschichte und Politik sehen als Feld eines politischen Darwinismus, auf dem nur das Bedeutung hat, was sich durchgesetzt und Erfolg hat. 4. Er verhindert den Blick auf gesellschaftliche Funktionszusammenhänge und auf den Selbstlauf dieser gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozesse und damit auf wichtige systemimmanente Strukturmomente, die historisch-politisches Handeln fremdbestimmen können. 5. Er fördert und verstärkt ein undifferenziertes Denken, das sich in pauschalen Schwarz-Weiß-Kontrastierungen, in der stereotypen Re193
produzierung einfachster sozialer Ordnungsschemata erschöpft. 6. Er löst historische und politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Prozesse durch Kategorien des privaten Lebens auf und verfehlt damit Historisch-Politisches. 7. Er entpolitisiert — soweit er ,große Wohltäter' isoliert ins Zentrum stellt — Geschichte. 8. Er verstärkt ein Geschichtsbild und ein politisches Bewußtsein, die beliebig manipulierbar sind: Vorbilder und Leitbilder sind austauschbar, totale Entmündigung ist eine unschwer anzielbare und erreichbare Konsequenz. 9. Er fördert ausgerechnet bei Kindern der Unterschicht, die von ihrem sozialen und familiären Milieu der ohnehin für einfache soziale Deutungsmodelle mit stark fatalistischer Tendenz (,die da oben' — ,wir hier unten') anfällig sind, ein personalisierendes Deutungsschema, zumal die schichtenspezifische Sprache der Unterschicht von ihrer Struktur her die Rezeption und den Gebrauch dieses einfachen und scheinbar plausiblen Deutungsschemas historisch-politischer Sachverhalte noch in besonderem Maße begünstigt." 20
D. Schichttheorie Wir haben oben gezeigt, daß bürgerliche Geschichts- und Gesellschaftswissenschaft nicht in der Lage ist, den Grundwiderspruch von Lohnarbeit und Kapital im Kapitalismus zu erkennen. Da ihre Betrachtung der Oberfläche, der Erscheinungsebene der Gesellschaft verhaftet bleibt, begreift sie die Gesellschaft als Summe qualitativ gleicher, nur quantitativ voneinander unterschiedener Individuen. Die soziale Struktur einer Gesellschaft wird also je nach der quantitativ-statistischen Häufigkeitsverteilung bestimmter Merkmale wie Berufstätigkeit, Einkommen, Bildung, Statusselbsteinschätzung oder Rollenverteilung in Form einer hierarchisch angeordneten Schichtungspyramide dargeBürgerliche Schichtkonzepte zur Analyse der Sozialstruktur stellt. der B R D sind immanenter Theoriebestandteil in den von uns untersuchten Schulgeschichtsbüchern: „Die Arbeitnehmer, die zur bei weitem stärksten Schicht wurden, sind als soziales Gebilde sehr differenziert . . . Lohngefälle . . . Grenzen zwischen den ,Klassen' weithin verwischt . . . soziale Aufstiegs- und Abstiegsprozesse . . . daß wir in den meisten Industriestaaten von einer .nivellierten Mittelstandsgesellschaft' sprechen können." (Schroedel III, S. 106) Im Rahmen der angesprochenen Schichtungstheorie wird eine sozialstatistische Pyramide aufgebaut, derzufolge es ein Oben und Unten, Arm und Reich, hohe und niedrige Einkommen gibt. Das Modell ergibt also durchaus ein partiell richtiges Bild der gesellschaftlichen Realität: die Masse der abhängig Arbeitenden wird — mit in sich stark differenzierter Sozialstruktur — als „stärkste Schicht" begriffen, über die sich eine relativ breite Mittelschicht und eine zahlenmäßig kleine 21
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Oberschicht erhebt. Aber diese Schichtungspyramide beschreibt nur die Oberfläche der Gesellschaft: Es läßt sich nämlich nachweisen, daß die Einkommensverteilung Erscheinungsform zugrunde liegender Verhältnisse ist. Die Basis ist das fortwährend sich reproduzierende Kapitalverhältnis: Dem ständigen Zwang zum Wiederverkauf der Arbeitskraft entspricht auf der anderen Seite die ständige Vergrößerung des Kapitals. Auf dieser Grundlage ist die Verteilung der Einkommen zwischen Lohnarbeitern und Kapitalisten zu entwickeln, die im einzelnen von dem jeweiligen Kräfteverhältnis zwischen den beiden Klassen modifiziert wird. Wenn bürgerliche Wissenschaft umstandslos bei den Individuen ansetzt, anstatt auf den zugrunde liegenden Klassengegensatz zurückzugehen, dann sitzt sie ungewollt dem realen Schein der Gleichheit von Warenbesitzern auf, wie er sich im Arbeitsvertrag zwischen Lohnarbeiterindividuum und Kapitalistenindividuum tatsächlich dem ersten Blick darbietet. Es wird nicht begriffen, daß rechtliche Gleichheit und Ungleichheit im Produktionsprozeß sich gegenseitig bedingende Momente kapitalistischer Produktion sind. (Vgl. S. 2 4 3 . ) Historisch entspricht die individualistisch-elemantaristische Betrachtungsweise dem Konkurrenzprinzip der klassisch-liberalistischen Ökonomie seit Adam Smith, demzufolge aus der individuellen Konkurrenz prinzipiell gleicher Warenproduzenten ein allgemeines, krisenfrei-harmonisches Interessengleichgewicht e n t s t e h t . ökonomisch-soziale Prozesse werden nur im Verhältnis von Individuum und Natur begriffen, die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zueinander im Prozeß der Aneignung der Natur hingegen nicht erfaßt. Die Sozialbeziehungen der Menschen erscheinen als mehr oder weniger zufällige interpersonelle Beziehungen, nicht aber als Resultat sozialer Klassenbeziehungen im Prozeß der Produktion und Reproduktion vergesellschafteten menschlichen Lebens. Im zweiten Teil des zitierten Satzes aus dem Schulbuch (Schroedel III) wird das Schichtungsproblem aus der statischen Momentaufnahme herausgeführt: Die sozialen Mobilitätsprozesse dynamisieren die Sozialbeziehungen und verwischen die Grenzen zwischen den ,Klassen'. Die Schulbuchautoren verwenden den Begriff der Klasse (wenn auch in Apostrophierung), kennzeichnen damit grundlegende Interessengegensätze, lösen aber diese Begrifflichkeit im gleichen Satz wieder auf: Die sozialen Auf- und Abstiegsprozesse konstituieren das Bild einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft". Die Theorie von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft" ist von dem einflußreichen konservativen Soziologen Helmut Schelsky in den 50er Jahren entwickelt worden, um den gesamtgesellschaftlichen Nivellierungsprozeß (soziale Mobilität) und die partielle Anhebung des Lebensstandards der Arbeitenden („Wirtschaftswunder") zu beschreiben. Die Einebnung der Klassengegensätze in dieser Formel widerspricht der historischen Realität: Die Ungleichheit der Bildungschancen, die Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung und in den Lebenschan22
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cen generell (z. B. in der Gesundheitsversorgung, im Wohnungswesen usw.) deuten eher auf eine Weiterexistenz der Klassengesellschaft in anderem Gewände h i n ; dies drückt sich auch aus in der wachsenden Bereitschaft der Arbeiterklasse in allen kapitalistischen Staaten, für ihre Interessen zu kämpfen. Wir haben also im Uberblick zu begründen versucht, warum gesellschaftliche Theorien, die als Schichtungstheorien konzipiert sind, das Wesen einer je konkreten Gesellschaftsformation nicht erkennen können. Nach dem Vorbild der Theorien bürgerlicher Soziologie entwickeln die Schulbuchautoren eine sozialstrukturelle Schichttheorie, die als „Ideologie der von der Häufigkeitsverteilung sozialer Merkmale abzuleitenden sozialen Schichtung der Bevölkerungsmitglieder" charakterisiert werden kann. Die Verabsolutierung der Distributionsebene gegenüber der Sphäre der materiellen Produktion, die mehr oder weniger zufällige Auswahl von Häufigkeitsmerkmalen und die auf der Grundlage rein subjektiver Elemente (die Statusselbsteinschätzung) vorgenommene Schichtungshierarchie machen den falschen Charakter aller Varianten aus. Der Rekurs auf subjektive Faktoren der Einschätzung der eigenen Soziallage (Fragebogentechnik) vergißt, daß das Bewußtsein der Befragten nicht mit deren wirklicher Soziallage übereinstimmen muß, sondern Resultat gesellschaftlicher Manipulation bzw. falschen Bewußtseins (Ideologie!) sein kann. Auf Grund solcher — durch die Fragestellung bereits im Ergebnis weitgehend festgelegten — Forschungsweisen kommen G. Gallup und andere in einer empirischen Untersuchung von 1939 zu dem Ergebnis, daß sich 88 % der Befragten zur Mittelklasse zählten, nur 6 % hingegen sich jeweils als Angehörige der unteren, bzw. oberen Klassen fühlten. In späteren Untersuchungen, z. B. der des amerikanischen Soziologen Centers von 1 9 4 0 , hatte sich das Ergebnis im Verhältnis von Mittelklassen und Unterklassen auf Grund unterschiedlicher Fragebogenformulierung erheblich verändert: die Anzahl der Befragten, die sich zur Mittelklasse rechnete, lag bei 43 %, die der Arbeiterklasse bei 51 %. Der Unterschied beider Analysen bestand darin, daß Gallup zwischen unteren, mittleren und oberen Klassen wählen ließ, Centers hingegen wählte den Begriff der arbeitenden Klasse („working class") als eine mögliche Antwort. 23
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Es ist also offensichtlich, daß die Methoden empirischer Sozialforschung in der bürgerlichen Soziologie der USA — im übrigen bis auf den heutigen Tag — von relativ willkürlichen theoretischen Begriffsinstrumentarien ausgehen. Die bürgerliche Soziologie in der B R D geht — wie bereits gezeigt — mit ähnlichen subjektivistisch-elementaristischen Methoden vor. Demgegenüber muß betont werden, daß es durchaus eine Möglichkeit gibt, die Sozialstruktur nach objektiven Kriterien zu analysieren. Eine solche Analyse der Sozialstruktur muß auf die Grundverhältnisse und die Entwicklungsformen des zu untersuchenden gesellschaftlichen Gesamtsystems bezogen s e i n . Der wirkliche Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung gesell26
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schaftlicher Verhältnisse gründet im Prozeß der Produktion und Reproduktion des vergesellschafteten menschlichen Lebens. In diesem Prozeß gehen die Menschen bestimmte Beziehungen zueinander ein und entwickeln ihre materiellen und ideellen Produktivkräfte. In der kapitalistischen Klassengesellschaft bestimmt sich das grundlegende Bewegungsgesetz durch den Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Produktion und der privaten Aneignung der Bedingungen und Ergebnisse des Produktionsprozesses. Der damit bezeichnete grundlegende Interessenantagonismus von Lohnarbeit und Kapital kennzeichnet die Hauptklassen dieser Gesellschaft: lohnabhängige Produzenten und kapitalistische Produktionsmittelbesitzer. Die Stellung der Zwischen- oder Mittelklassen kann nur im Zusammenhang des Grundwiderspruchs und dessen Entwicklung analysiert werden: die soziale Lage der Angestellten, Beamten, der wissenschaftlichen Intelligenz usw., kann daher nicht nach ihrer eigenen subjektiven „Statusselbsteinschätzung" ermittelt werden, sondern resultiert aus ihrer Stellung und Funktion im kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsprozeß. Die bürgerliche Schichttheorie und ihre politisch-ideologische Funktion — auf dem Hintergrund realer Klassenauseinandersetzungen — bestimmt sich in und durch ihre Auseinandersetzung mit der marxistischen Klassentheorie. Indem die verschiedenen Schichtkonzepte die tatsächlichen Sozialstrukturen durch subjektive oder andere willkürliche, weil sekundäre, Merkmale verschleiern, besteht ihre objektive politische Funktion in der Verschleierung der Klassengegensätze. 27
E. Sozialpartnerschaftstheorie In engem Zusammenhang mit der Schichttheorie und ihrer sozialintegrativen Funktion stehen weitere ideologische Varianten: die Pluralismustheorie und vor allem die Konzeption der Sozialpartnerschaft. Der Pluralismusbegriff hat seine Berechtigung in der Beschreibung der Existenz einer Vielfalt von Interessengruppen unserer Gesellschaft, leugnet aber zugleich die antagonistischen Interessenstrukturen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Pluralismus knüpft also — ähnlich wie der Schichtbegriff — an den Oberflächenerscheinungen objektiver gesellschaftlicher Prozesse an. Wie im Kapitel „Arbeiterbewegung" bereits eingehend dargestellt wurde, wird mit dem Begriff des Pluralismus der Eindruck erweckt, als ob die verschiedenen politischen, sozialen und weltanschaulichen Gruppierungen, darunter die Organisation der Lohnabhängigen und die der Unternehmer ebenso wie Kirchen, Berufsverbände und andere Vereinigungen, alle auf der gleichen Ebene lägen und die gleichen Chancen hätten, den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß zu beeinflussen. Die Geschichte der Arbeiterbewegung beweist, wie die ungeheure Konzentration und 197
Zentralisation des Kapitals seit 1870 in Deutschland immer zu einer entsprechenden politischen Konzentration der Macht — wenn auch sehr vermittelt über Parteien, Parlamente, Organisationen der Unternehmer, Staats- und Ministerialbürokratien — auf der Seite des Kapitals geführt hat. Pluralismus als der Wettstreit vieler Meinungen und Interessen ist jedoch nur möglich auf der Basis des bürgerlich-kapitalistischen Klasseninteresses und wird — wie die Abschaffung der Demokratie von Deutschland 1933 bis Griechenland 1967 zeigt — nur geduldet, soweit der Kapitalismus als System nicht gefährdet wird. Pluralismus erweist seinen ideologischen Stellenwert also in der Beschränkung auf den bürgerlichen Pluralismus: dieser faktische „Monopolpluralismus" (M. v. Brentano) der bürgerlichen Gesellschaft realisiert sich in allen gesellschaftlichen Teilbereichen von der Wissenschaft bis zum B e t r i e b . Während die Pluralismustheorie in den Schulbüchern mehr oder weniger im Zusammenhang mit der Herstellung des „Allgemeinwohls" auf der Grundlage eines „pluralistischen Interessenausgleichs" erwähnt wird (vgl. z. B. Klett II, S. 1 8 4 ; Diesterweg III, S. 2 7 4 , S. 2 7 5 ; Schroedel III, S. 5 9 ; Klett II, S. 2 2 6 ) , wird die Konzeption der „Sozialpartnerschaft" als Instrument der Versöhnung in den Klassenauseinandersetzungen stark hervorgehoben: „Das heutige Unternehmertum geht mit neuen Maßstäben in die Betriebe hinein. Nicht mehr der persönliche Vorteil, sondern vor allem das Wohl des Betriebes ist entscheidend. Den Werktätigen behandeln sie als geachteten Mitarbeiter." (Diesterweg VI, S. 108) In diesem Zitat wird die Fortschrittlichkeit des modernen Unternehmertums betont: im Gegensatz zum 19. Jahrhundert, wo der persönliche Vorteil im Betrieb vorherrschte, sei das heutige Unternehmertum vor allem auf das Wohl des Betriebes bedacht. Wie aber sehen die „neuen Maßstäbe" im Betrieb aus? Der einzelne Arbeiter wird als „geachteter Mitarbeiter" geschätzt, d. h. man respektiert seine betriebliche Mitarbeit im Rahmen der gesamtbetrieblichen Profitsteigerung. Die Produktionsbedingungen, die den vielgeachteten Mitarbeiter zum Objekt des Arbeitsprozesses machen, da er von einer realen Mitbestimmung ausgeschlossen ist, werden unkritisch als vorgegeben vorausgesetzt und damit auch der „persönliche Vorteil", d. h. der Profit des Unternehmers, der aus der Aneignung unbezahlter Mehrarbeit resultiert. Die Absolutsetzung der Unternehmerideologie bestimmt die inhaltliche Darstellungsweise der Schulgeschichtsbücher, wobei jeweils auf den entscheidenden Unterschied des 2 0 . Jahrhunderts gegenüber den industriekapitalistischen Ausbeutungsmethoden des 19. Jahrhunderts verwiesen wird. Dabei wird von dem unleugbaren Tatbestand abstrahiert, daß die Grundstruktur kapitalistischer Produktionsweise noch heute voll erhalten ist. Das Problem der Demokratie, besonders der innerbetrieblichen Demokratie wird durch die Behauptung aus der Welt geschafft, in den westlichen Ländern gäbe es keine soziale Frage mehr: 28
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„In Deutschland ist zur Zeit das Maß des Mitbestimmungsrechtes des Arbeiters in der Fabrikleitung hart umstritten. Auch in England versucht man diese Frage zu klären. Abschließend muß man feststellen, daß es in den westlichen Ländern eine soziale Frage im Sinne von Marx und Engels nicht mehr gibt." (Diesterweg V I , S. 109)
Es zeigt sich gerade in den Auseinandersetzungen um die Mitbestimmung zwischen Parteien, Gewerkschaften und Unternehmerverbänden, daß die „soziale Frage im Sinne von Marx und Engels" noch keineswegs gelöst ist. Der Diskussion um die Mitbestimmung kommt im Rahmen der Verwirklichung der vom Grundgesetz verlangten Demokratie (Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, soziale Demokratie) eine hohe Bedeutung zu. Bisherige Mitbestimmungsmodelle — vor allem in den 50er und den beginnenden 60er Jahren sahen nicht einmal die Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit vor. Demokratisierung meint in diesem Zusammenhang ein dreifaches: 1. Umfassende Information aller Beteiligten auf der Grundlage der Transparenz von Entscheidungsprozessen; 2. Kontrolle der Schaltstellen und Herrschaftsapparate, durch die jeweils Betroffenen selbst oder deren unmittelbar gewählten Interessenvertreter; 3. Teilnahme an den Entscheidungsprozessen auf allen Ebenen zur Durchsetzung der eigenen Interessen. Die hier umrissene Mitbestimmungskonzeption richtet sich nicht allein auf die Veränderungen von Herrschaftsformen, sondern auch deren Inhalte. Mitbestimmung darf deshalb auch nicht als ein isoliertes Element zur Durchsetzung betrieblicher Mitbestimmung angesehen werden: über die unmittelbare Mitbestimmung im Bereich der materiellen Produktion hinaus muß die Stellung der Massen, die als „ V o l k " nach dem Grundgesetz der Souverän sein sollen, in der Gesamtgesellschaft gestärkt werden; das bedeutet, Mitbestimmung als Strategie gesamtgesellschaftlicher Demokratisierung muß alle gesellschaftlichen Lebensbereiche erfassen. Es ist bezeichnend, daß die Schulbuchautoren das Mitbestimmungsproblem als ein überholtes Problem betrachten. Sie reihen sich damit ein in die große Schar der Unternehmerrepräsentanten, der Vertreter der Bundesregierung und der Massenmedien, die entweder Mitbestimmungsforderungen für überflüssig halten — weil sie angeblich schon längst verwirklicht sei — oder aber Mitbestimmung als Instrument der Kapitalistenklasse (vgl. Biedenkopf-Gutachten!) einsetzen wollen. Es wurde bereits betont, daß der Kampf um die Mitbestimmung der Arbeiterklasse nur ein Element im schrittweisen Kampf um die Erhaltung und Erweiterung demokratischer Positionen ist. Die Kontrolle großer Unternehmen darf nicht auf bloße Verbesserung der sozialökonomischen Lage der Arbeiter beschränkt bleiben, sondern muß über den Einfluß auf die Verteilungssphäre (durch Lohn- und Tarifpolitik) hinaus den Kampf um die Gestaltung der Produktionsbedingungen selbst - ihre Vergesellschaftung - führen. Mitbestimmungsfor199
derungen sind daher nicht isolierter Teil ökonomischer Machtkämpfe, sondern zielen ab auf die Erweiterung der politischen Rechte der Masse der Lohnabhängigen. In diesem Zusammenhang sind auch die Konzepte einer „qualifizierten Mitbestimmung" einzuordnen, die von der paritätischen Besetzung der Aufsichtsgremien die Institutionalisierung einer gewerkschaftlichen Gegenmacht erwarten. Die formale Gleichstellung von Kapital und Arbeit widerspricht der realen Ungleichheit: die über 80 % der Bevölkerung umfassenden Lohnabhängigen werden formal gleichgestellt mit den Repräsentanten des Kapitals, die bevölkerungsmäßig nur einen verschwindend kleinen Prozentsatz ausmachen. Es zeigt sich an diesem Beispiel, daß die scheinbar ungeheuer progressive Vorstellung von der „paritätischen Mitbestimmung" vom Prinzip der Demokratie, das gleiche Rechte voraussetzt, noch weit entfernt ist. Von einer realen Sozialpartnerschaft, wie dies die Ideologen der herrschenden Klasse zu suggerieren versuchen, kann also angesichts der realen Machtverhältnisse in Betrieb und Gesellschaft keine Rede sein. Eine Geschichtsdidaktik versucht deshalb, das Problem des objektiven Interessenantagonismus auf die Ebene des freundschaftlichen Miteinander zu verlagern: „Wie bezeichnet man die Kapitalisten heute? Unternehmer, Arbeitgeber, ,Sozialpartner'." (Klett VII, S. 21) Die begriffliche Fassung der Sozialpartnerschaft stellt den Versuch dar, den realen Interessengegensatz durch eine ideologische Formel aus der Welt zu schaffen: die antagonistischen Klassengegner werden einfach zu Partnern erklärt. Daß die Interessen gegensätzlicher Natur sind, zeigt sich in mehrfacher Hinsicht: 1. Für den Unternehmer bedeuten Löhne Kosten, die er möglichst niedrig halten muß, wenn er Profite erzielen und im Konkurrenzkampf bestehen will. Für den Arbeiter und Angestellten dagegen bedeuten sie die Existenzgrundlage; er ist also, um seine elementaren Bedürfnisse besser befriedigen zu können, auf höhere Löhne angewiesen. Bei jedem Lohnkampf und jedem Streik wird dieser Interessengegensatz offenbar. 2. Der Unternehmer ist generell daran interessiert, bei möglichst geringen Kosten möglichst viel aus der Arbeitskraft herauszuholen. Das betrifft die Kosten für sanitäre Einrichtungen und Sozialleistungen ebenso wie die Fließbandgeschwindigkeit, die Lehrlingsausbildung und die eventuelle Entlassung von Arbeitskräften. Der Arbeiter und Angestellte dagegen ist an der Erhaltung seiner Arbeitskraft, an der Sicherheit seines Arbeitsplatzes, an einer guten Ausbildung und an humanen Arbeitsbedingungen interessiert. Die hohen Zahlen der Unfälle am Arbeitsplatz, der Frühinvalidität und der Verletzung des Jugendschutz- und Ausbildungsgesetzes sprechen hier eine deutliche Sprache. 3. Selbstverständlich liegt das Interesse des Unternehmers darin, das kapitalistische System, das ihm die Ausbeutung fremder Arbeitskraft und damit politische und gesellschaftliche Macht und soziale Privilegien garantiert, aufrechtzuerhalten. Dagegen können Arbeiter und An200
gestellte soziale Gerechtigkeit und Sicherheit und die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit nur erreichen, wenn sie das System der Lohnarbeit überhaupt abschaffen. Politisch setzte sich diese Ideologie in der Geschichte der B R D nach der Restauration des westdeutschen Kapitalismus und dem Abschluß der Klassenkämpfe um das Betriebsverfassungsgesetz ( 1 9 5 2 ) allmählich durch und wurde dann Mitte der 60er Jahre von Ludwig Erhard in seinem Konzept der „Formierten Gesellschaft" ideologisch überhöht. Nach dem aus dem Obrigkeitsstaat übernommenen Muster „Wir sitzen alle in einem B o o t " wurden ständisch-korporative Gemeinschaftsideologeme entwickelt, die grundsätzliche Interessengegensätze zwischen verschiedenen sozialen Klassen und Gruppen leugn e t e n . Karl Schillers „Konzertierte Aktion" war eine konsequente, wenn auch gemilderte Weiterentwicklung dieser Vorstellungen; sie verstärkte darüber hinaus das staatliche Gewicht im Konzert der Sozialparteien zugunsten der Unternehmer. Konfrontiert man nun die gesellschaftliche Realität der 3undesrepublik mit der „Sozialpartnerschaftsideologie", so zeigt sich: „Der inhaltliche Kern der Konzertierten Aktion kommt in den Zahlen zum Ausdruck, die Schiller den Repräsentanten der Wirtschaftsverbände bei den ersten Gesprächen (nach dem Eintritt in die ,Große Koalition', d. Verf.) als Zielprojektionen der Bundesrepublik vorlegte. Nach dieser ,Wunschvorstellung' sollte 1967 das Volkseinkommen um 3 , 1 %, die Löhne und Gehälter um 2,4 %, Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen um 5,3 % und die nicht entnommenen Gewinne um 22 % steigen . . . Auch die nicht entnommenen Gewinne fallen hierbei den Unternehmern zu, da sie in den Betrieben bleiben und deren Vermögenssubstanz e r h ö h e n . " Die Erhöhung der Unternehmergewinne und die anteilsmäßige Erhöhung der Unternehmereinkommen am Volkseinkommen, auf der anderen Seite die relative Senkung der Löhne und Gehälter (bezogen auf den Anteil am Sozialprodukt), das macht den materiellen Inhalt der Konzertierten Aktion aus. Ausdruck dieser objektiven Entwicklungstendenz ist die zunehmende Streikbereitschaft unter der westdeutschen Arbeiterschaft. Septemberstreiks, Chemiearbeiterstreiks und Metallerstreik (Württemberg) deuten an, daß große Teile des Kerns der Arbeiterklasse — besonders angesichts der supranationalen Konzernbildungen in Europa — ein Bewußtsein von ihrer tatsächlichen Soziallage entwickeln und bereit sind, für diese Interessen praktisch einzutreten. Daran wird deutlich, daß die Sozialpartnerschaftsideologie durch die Arbeiter selbst nicht mehr anerkannt wird. Der konkrete politisch-ideologische Stellenwert der Sozialpartnerschaftsideologie läßt sich verdeutlichen am Beispiel der jüngsten Tarifauseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden. Von unternehmerfreundlichen Massenmedien z. B. wurde die Tarifpolitik der Gewerkschaften als „egoistisch", dem „Gemeinwohl abträglich" und als „übersteigert" bezeichnet. Demgegenüber muß festgestellt werden: Die im Frühjahr 1973 ausgehandelte 2 9
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8 / %ige Lohnerhöhung bedeutet kaum mehr als eine 6 %ige Reallohnerhöhung, da mit dem Ansteigen der Löhne auch die Sozialabgaben und Steuern progressiv steigen. Bezieht man die längerfristigen Laufzeiten der Tarifverträge zudem auf die 6 / %ige Inflationsrate, dann ergibt sich eine reale Senkung des Einkommens der Arbeiter — nicht nur relativ, bezogen auf den Anteil am Sozialprodukt, sondern auch absolut. Die bei oberflächlicher Betrachtung also ziemlich hoch erscheinende Lohnforderung von 11 / % war deshalb keineswegs „übersteigert", sondern hätte gerade die gegebene materielle Lage der Arbeiter erhalten. Hinzu kommt die Tatsache, daß jede Lohnerhöhung im Kapitalismus von den Arbeitern und ihren Organisationen hart erkämpft werden muß, ihnen also nicht als Geschenk des mächtigen Kapitalpartners großzügig gewährt wird. Die in der Öffentlichkeit weit verbreitete Vorstellung von der Lohn-Preis-Spirale, derzufolge fast ausschließlich die hohen Lohnforderungen der Gewerkschaften für das Anheizen der Inflation verantwortlich gemacht werden, bedarf also einer knappen Erläuterung und Widerlegung: 2
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1. Eine 10 %ige Lohnerhöhung zieht selbst nach der Rechnung des Unternehmers keine 10 %ige Kostenerhöhung nach sich, weil der Anteil der Lohnkosten an den Gesamtkosten relativ gering ist. D. h.: höchstens eine 2—3 %ige Preiserhöhung wäre gerechtfertigt; wenn man — wie der Unternehmer — voraussetzt, daß die Profite um keinen Preis angegriffen werden dürfen. 2. Preissteigerungen beziehen sich primär auf die Bereiche der Konsumgüterindustrie, während die Preise im Produktionsgütersektor relativ langsam steigen. Das bedeutet, daß die Lohnabhängigen ganz besonders zur Kasse gebeten werden, während die Unternehmer selbst relativ verschont bleiben. 3. Schon bei gleichbleibenden Preisen steigen normalerweise die Profite, nämlich durch Produktivitätssteigerungen, Rationalisierung e t c . 4. Während Lohnerhöhungen durch harte Kämpfe und gegen das Protestgeschrei in den Medien der veröffentlichten Meinung, die ja größtenteils in den Händen des großen Kapitals sind, durchgesetzt werden müssen, können die Unternehmer die Preise erhöhen, ohne irgend jemanden fragen zu müssen — und das tun sie dann auch ständig, weil sie damit ihre Profite leichter erhöhen können als z. B. durch Lohnsenkungen, gegen die die Arbeiter kollektiv kämpfen würden. 5. Daß die gegenwärtige Verteilung der Einkommen und Vermögen gerecht sei, wird niemand behaupten können. Die Lohnabhängigen aber können einen höheren Anteil am Sozialprodukt nur erkämpfen, wenn sie durchsetzen, daß die Löhne eindeutig schneller steigen als die Profite. Das setzt allerdings eine Mitbestimmung voraus, die ihnen auch maßgeblichen Einfluß auf die Preisgestaltung garantiert, sonst wälzen die Unternehmer — wie bisher — jede Lohnerhöhung durch Preissteigerungen auf die Massen ab, um ihre Profitrate zu halten. 3 3
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F. Totalitarismus-Theorie „Die Behandlung des 20. Jahrhunderts im politischen und historischen Unterricht steht folgerichtig unter dem Zeichen der Totalitarismus-Theorie. Ihre Spuren und Modifikationen im Schulgeschichtsbuch nachzuweisen, heißt im gewissen Sinne den archimedischen Punkt der Schulgeschichtsideologie gefunden zu haben, auf den alle didaktischen Bemühungen hinauslaufen." Die Totalitarismustheorie besagt in ihrer Kernthese, daß faschistische und kommunistische Gesellschaftssysteme durch gemeinsame „totalitäre" Züge wesentlich gekennzeichnet sind. Auch faschistische und kommunistische Parteien werden als „totalitäre" und „radikale" Parteien zusammengefaßt. Im ersten Teil dieses Buches wurde gezeigt, daß die Totalitarismustheorie große Teile der Schulbuchgeschichtsschreibung durchzieht. So wird sie auf die Darstellung der Französischen Revolution angewendet; die radikaldemokratische Phase der Revolution (die Jakobiner-Herrschaft) gilt in einigen Schulbüchern als die erste totalitäre Herrschaft, Robespierre als der erste Vertreter des Totalitarismus. Für den Untergang der Weimarer Republik machen die Schulbuchautoren die „radikalen Parteien von rechts und links" verantwortlich, beide werden als in gleicher Weise antidemokratisch dargestellt. Der deutsche und italienische Faschismus schließlich wird mit der Sowjetunion und den nach 1945 entstandenen sozialistischen Gesellschaften verglichen und unter dem Oberbegriff „Totalitarismus" gleichgesetzt. Eine Didaktik benennt die Totalitarismustheorie explizit als Unterrichtsziel: „Die Schüler sollen . . . durch einen Vergleich von Faschismus und Bolschewismus Wesensmerkmale des Totalitarismus erarbeiten." (Schroedel/Schöningh VIII, S. 67). Die Totalitarismustheorie liegt nicht nur den Schulbüchern zugrund e . Sie ist darüber hinaus offizieller Bestandteil der politischen Bildung in der Bundesrepublik. So existiert ein Beschluß der Kultusministerkonferenz aus dem Jahre 1 9 6 2 , mit dem „Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im U n t e r r i c h t " erlassen worden sind. In diesen Richtlinien, die auch heute noch uneingeschränkt gültig sind, heißt es programmatisch: „Die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus gehört zu den wesentlichen Aufgaben der politischen Bildung unserer Jugend. Die Lehrer aller Schularten sind daher verpflichtet, die Schüler mit den Merkmalen des Totalitarismus und den Hauptzügen des Bolschewismus und des Nationalsozialismus als den wichtigsten totalitären Systemen des 2 0 . Jahrhunderts vertraut zu m a c h e n . " Dieser Erlaß, der eine einzige, von Anfang an wissenschaftlich umstrittene Lehrmeinung für Lehrer zur einzig zulässigen erklärt, zeigt zugleich, wie die im Grundgesetz garantierte Lehr- und Meinungsfreiheit in der Praxis vom Staat eingeschränkt wird. Daß sich die Totalitarismustheorie in dieser Form nach wie vor in 34
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ministeriellen Erlassen und Schulbüchern findet, ist recht erstaunlich, wenn man die Haltung der neueren Gesellschafts- und Geschichtswissenschaft in der B R D gegenüber der Totalitarismustheorie untersucht. Es zeigt sich nämlich, daß die bürgerliche Wissenschaft selbst die Totalitarismustheorie in den letzten Jahren einer eingehenden Kritik unterzogen hat, und sie weitgehend durch andere Gesellschaftstheorien ersetzt. Die Totalitarismustheorie, die bereits in den 20er Jahren entstanden w a r , hat ihre eigentliche „Blütezeit" nach 1945 in der Zeit des Kalten Krieges erlebt. Zu Anfang der 50er Jahre wurden in den westlichen Ländern — vor allem in den USA und der BRD — zahlreiche Schriften über den Totalitarismusbegriff v e r f a ß t ; die Totalitarismustheorie wurde in diesen Jahren in der bürgerlichen Wissenschaft als Theorie zur Analyse der sozialistischen Staaten allgemein anerkannt. Parallel dazu setzte sie sich auch im Gedankengut und Sprachgebrauch der Politiker, der Massenmedien und der politischen Bildung durch. Die Totalitarismustheoretiker der 50er Jahre behaupteten in ihrer Mehrheit, daß Faschismus und Kommunismus grundsätzlich wesensverwandt seien. An dieser These erhob sich im Laufe der 60er Jahre in der Wissenschaft der westlichen Staaten zunehmend Kritik. Die Kritiker argumentierten von sehr verschiedenen wissenschaftstheoretischen und politischen Positonen, stimmten aber darin überein, daß das Totalitarismusmodell nicht in der Lage sei, die gesellschaftliche Wirklichkeit der sozialistischen Länder in ihrer Gesamtheit und Entwicklung zu erfassen. Heute kann man davon ausgehen, daß die „klassische" Totalitarismustheorie der 50er Jahre innerhalb der Wissenschaft der westlichen Länder als widerlegt bzw. unbrauchbar gilt, sei es, daß der Totalitarismusbegriff nur noch auf eine historisch begrenzte Phase der sowjetrussischen Geschichte, den „Stalinismus", angewandt w i r d , sei es, daß man die sozialistischen Länder zusammen mit den kapitalistischen unter den Begriff der „Industriegesellschaft" subsumiert , oder sei es, daß man grundsätzlich die formal bleibende Methode der Totalitarismustheoretiker a b l e h n t und als an bestimmte Herrschaftsinteressen gebunden e r w e i s t — die alte These, Kommunismus und Faschismus seien „in ihren wesentlichen Zügen gleich" (s. o.) vertritt heute in der B R D kein ernstzunehmender Wissenschaftler mehr. 39
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Nichtsdestoweniger beherrscht die Totalitarismustheorie aber, wie wir gezeigt haben, nach wie vor die Geschichtsschreibung in den Schulbüchern und Richtlinien; ebenso prägt die Gleichsetzung von „links-" und „rechtsradikal" auch heute noch die Denkweise und den Sprachgebrauch der „großen" politischen Parteien und der Medien der veröffentlichten Meinung in der B R D . Die offizielle politische Bildung weist offensichtlich einen eklatanten Rückstand zur wissenschaftlichen Forschungslage auf: „Eine wissenschaftliche Hypothese, die bekanntlich auch innerhalb der Politologie und Geschichtswissenschaft weitgehend aufgegeben wurde, hält sich weiterhin aufrecht und geht als der wesentliche Bestandteil in Lehrpläne und ministerielle Verord204
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nungen e i n . " Um die Totalitarismustheorie an dieser Stelle einer inhaltlichen Kritik zu unterziehen, wollen wir die programmatische Definition totalitärer Herrschaft in den erwähnten „Richtlinien . . . " zugrunde legen. Dort heißt es: „Bei der Darstellung des kommunistischen und des nationalsozialistischen Totalitarismus sind ihre verwerfliche Zielsetzung und ihre verbrecherischen Methoden deutlich zu m a c h e n " . „Verwerfliche Zielsetzung" und „verbrecherische Methoden" werden also als die zwei grundlegenden Gemeinsamkeiten von Faschismus und Kommunismus angesehen. Was die Autoren mit „verbrecherischen Methoden" meinen, haben sie an anderer Stelle in den Richtlinien erklärt: „Der Totalitarismus . . . herrscht mit systematischem, politischem, geistigem und seelischem Terror . . . " Der Terror oder, neutraler ausgedrückt, die systematische Anwendung von Gewalt wird nun nach Auffassung der Totalitarismustheoretiker in den Dienst einer „verwerflichen Zielsetzung" gestellt, sie diene der „Alleinherrschaft einer P a r t e i " und der Erlangung der „Welth e r r s c h a f t " . Der ganze Totalitarismus gründe sich schließlich „auf eine Ideologie, die den Charakter einer Ersatzreligion und Heilslehre hat" . Richtig an diesen Behauptungen ist zunächst, daß in den faschistischen Herrschaftssystemen und in bestimmten Phasen der sowjetrussischen Geschichte Gewalt als Herrschaftsinstrument angewandt wurde. Diese Feststellung allein besagt jedoch noch wenig, es muß vielmehr gleichzeitig gefragt werden, wer gegenüber wem in wessen Interesse und zu welchem Zweck zu Gewaltmitteln greift, d. h. es muß nach der historischen und sozialen Funktion der Gewaltanwendung gefragt werden. Nur wenn man prüft, in welchem Interesse Kommunisten und Faschisten Gewalt anwandten, ist es möglich, ein wissenschaftlich begründetes Urteil über die Gewaltanwendung zu fällen, denn „wer alle Demonstrationen nur nach ihren Methoden beurteilt, ohne nach ihrer Zielsetzung zu fragen, und so kritische Studenten nicht von der S.A. unterscheiden kann, wer Gewaltanwendung grundsätzlich als illegitim bezeichnet und so die Gewalt Hitlers und die Stauffenbergs gleich beurteilen muß, dokumentiert in anschaulichster Weise die Grenzen seines Differenzierungsvermögens" . Diese Frage nach der Funktion der Gewaltanwendung wird in den Richtlinien und Schulbüchern entweder ausgespart oder aber unter Verfälschung der realen Geschichte beantwortet — notwendigerweise, denn mit dieser Frage steht und fällt die Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus und damit die ganze Totalitarismustheorie. Es läßt sich leicht nachweisen, daß sowohl die programmatischen Zielsetzungen als auch deren Realisierung bei Faschisten einerseits und Kommunisten andererseits grundsätzlich unterschiedlicher, ja sogar entgegengesetzter Art waren. 4 6
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„Während die Kommunisten die Enteignung der Kapitalisten, die Überführung der Wirtschaft in der Verfügungsgewalt der Gesamtgesell205
schaft und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft verlangten, ging es dem Faschismus gerade um die Sicherung des Privateigentums und die Zerschlagung aller Organisationen, die es antasten wollten, um die Betonung der sozialen Hierarchie und des Führerprinzips — auch und gerade in der Wirtschaft." Der Nationalsozialismus ließ also die bürgerlichen Produktions- und Besitzverhältnisse und damit die Privilegien und Herrschaftsbefugnisse der Kapitalbesitzer gegenüber den Lohnabhängigen unangetastet und ersetzte die politischen Institutionen der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie durch seinen Führerstaat. Er handelte im Interesse der herrschenden Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, gegen die sozialen Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung, was sich „auch im sozialen Detail — Vermögensverteilung, Lohnentwicklung, Arbeitszeit, Ausbeutungsrate, Bildungschancen, Bildungsinhalte — aufzeigen l ä ß t " . Terror im Nationalsozialismus war also nicht „Mittel zur gesellschaftlichen Revolutionierung", sondern „bloßes Mittel der Oppression, der Herrschaftssicherung" . Der Faschismus erweist sich als ein System der Beharrung bzw. (vom Standpunkt der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie) sogar als historischer Rückschritt. Faschistischer Terror ist darüber hinaus nicht nur ein Instrument der Herrschaftssicherung einer Minderheit, sondern hat, wie die gesellschaftlichen Erfahrungen zeigen, die Tendenz, sich von seinem Zweck zu verselbständigen: die Faschisten üben Terror um des Terrors willen aus. Ein grausamer Beweis dafür ist die Geschichte der Judenverfolgung im Dritten Reich; die Millionen jüdischer Opfer lassen sich nicht allein mit ökonomischen und politischen Motiven erklären (wie dem erhöhten Profit aus der in den KZs geleisteten Zwangsarbeit), vielmehr spielten offensichtlich irrationale Ursachen wie Sadismus u. a. eine Rolle. 52
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Die Faschisten bedrohen also, um dies noch einmal festzuhalten, die bürgerliche Demokratie; an die Macht gelangt gehen sie dazu über, die bürgerliche Demokratie zu liquidieren. Die Kommunisten sind in gewissem Sinne ebenfalls eine „Bedrohung" der bürgerlichen Demokratie, sie wollen diese allerdings nicht liquidieren, sondern aufheben im Hegeischen Dreifachsinn: beseitigen, bewahren, auf ein höheres Niveau heben. Ziel der Kommunisten ist es, durch eine grundlegende Veränderung sowohl der ökonomischen als auch der politischen Ordnung die bürgerliche Demokratie zur sozialistischen weiterzuentwickeln. Sozialistische Demokratie beinhaltet dabei den Anspruch, sowohl die formale Gleichstellung der Individuen in der politischen Sphäre der bürgerlichen Demokratie als auch die offene Ungleichheit der Menschen im Bereich der materiellen Produktion der bürgerlichen Gesellschaft aufzuheben zugunsten einer schrittweise realisierten kollektiven Selbstbestimmung der Gesellschaftsmitglieder. Die Frage nach dem Grad sozialistischer Demokratie muß also lauten: „Inwieweit sind die Produzenten institutionell berechtigt und durch gesellschaftliche Maßnahmen qualifiziert und bereit, die Produktion und 56
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Reproduktion ihrer Lebensbedingungen in gemeinschaftlichem, gesamtgesellschaftlichem Zusammenwirken selbständig und bewußt zu organisieren und diesem bewußten Prozeß auch politisch Ausdruck zu verleihen? " Dies also ist das grundlegende Ziel kommunistischer Politik — wieso die Verfasser der „Richtlinien" von „verwerflicher Zielsetzung" (s. o.) der Kommunisten reden, bleibt ihr eigenes Geheimnis — es sei denn, sie sähen in der Abschaffung sozialer Vorrechte ein Verbrechen. Zu fragen bleibt, wie die an die Macht gelangten kommunistischen Parteien in der Praxis den eben formulierten Anspruch realisiert haben. Die Schulbuchautoren legen den Schwerpunkt ihrer Darstellung der sozialistischen Länder auf die Zeit des sogenannten Stalinismus. Daß sie dabei mit unzulässigen Maßstäben an die Betrachtung der sozialistischen Systeme herangehen, ist an anderer Stelle in diesem Buch bereits exemplarisch gezeigt worden (vgl. S. 86 ff). Die Schulbuchdarstellung trifft insofern zu — wobei sie sich, wie erwähnt, aber eben auf die Erscheinungsseite beschränkt —, als tatsächlich während der Phase des Stalinismus besonders in der sowjetrussischen Geschichte Herrschaftsmethoden praktiziert wurden, die dem Anspruch sozialistischer Demokratie widersprachen (zeitweiliger Fortfall der Kontrolle über die Staatsführung; physische Liquidierung innenpolitischer Gegner usw.). Während aber in der Totalitarismustheorie des Kalten Krieges die stalinistische Herrschaftsform zum Wesen jedes sozialistischen Systems erklärt wird, kommen differenziertere wissenschaftliche Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß der Stalinismus eine zeitweilige Fehlentwicklung beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft war, die auf konkrete Ursachen in Vorgeschichte und Struktur der jeweiligen Gesellschaft zurückzuführen i s t . 5 7
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Selbst im Stalinismus aber diente die Anwendung von Gewalt nicht wie im Faschismus dem sozialen Interesse einer kleinen herrschenden Minderheit, sondern beschleunigte die Entwicklung des Landes und schuf damit die materiellen Voraussetzungen für den innergesellschaftlichen Wandel, der seit dem Ende des Stalinismus die zunehmende Einlösung des sozialistischen Anspruchs beinhaltet. Eine differenzierte Betrachtung zeigt also, daß die Totalitarismustheorie die gesellschaftliche Realität der faschistischen und kommunistischen Systeme nicht zu erfassen vermag, weil sie im wesentlichen eine formale Betrachtungsweise ist. Die ihr zugrunde liegende Methode beruht darauf, „die Form für das Wesen der Sache auszugeben und den Inhalt zu verschweigen: Man weist auf Gemeinsamkeiten im Agitationsstil hin (Massenpropaganda, Massenaufmärsche) und verschweigt, daß dieser nur Mittel zu einem politischen Zweck und also nur von diesem her richtig einzuschätzen ist . . . man hebt formale Gemeinsamkeiten in den Herrschaftsmethoden hervor (z. B. Einparteiensystem, Propagandamonopol, Anwendung von Terror) und unterschlägt auch hier den politischen Zweck, in dessen Dienst solche Herrschaftsmethoden s t e h e n . " Die politische Funktion der Totalitarismustheorie in der BRD ist 59
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seit ihrer Blütezeit im Kalten Krieg grundsätzlich gleich geblieben. Neben der Verteufelung sozialistischer Länder dient sie vor allem der Denunzierung derjenigen, die die bürgerliche Gesellschaft als historisch überholte Klassengesellschaft begreifen und ihre Überwindung fordern. Mit der Totalitarismustheorie läßt sich aber auch die gesellschaftliche Struktur des Faschismus nicht adäquat erfassen; insbesondere die Kontinuität der bürgerlichen Eigentumsordnung vom Nationalsozialismus zur B R D wird durch die Totalitarismustheorie verschleiert; die Totalitarismustheorie ist darum eine Variante des „hilflosen Antif a s c h i s m u s " , der die herrschende Gesellschafts- und Geschichtswissenschaft in der B R D prägt. Die betont antisozialistische und antikommunistische Stoßrichtung der Totalitarismustheorie ist im übrigen von ihren Verfechtern mit aller Brutalität ausgesprochen worden. C. J. Friedrich z. B. hat offen gefordert, daß der Totalitarismus (gemeint ist — 1957 — vor allem dessen „kommunistische Variante") mit militantesten Mitteln bekämpft werden soll: „Es ist . . . sehr deutlich, daß die Möglichkeit friedlicher Koexistenz der Völker auf dieser Erde das Verschwinden totalitärer Diktatur zur Voraussetzung hat. Da nach ihren eigener laut verkündeten Erklärungen die totalitäre Diktatur insbesondere der Sowjets die ganze Welt umfassen muß, so bleibt denen, die den Kommunismus ablehnen, nichts anderes übrig, als auf den Untergang dieses Totalitarismus hinzuarbeiten." Durch solche Appelle zum gemeinsamen Kampf gegen den „Totalitarismus von rechts und links" (gemeint ist seit 1945 stets in erster Linie der von l i n k s ) wird zugleich eine integrierende Wirkung auf die eigene Gesellschaft ausgeübt: die innenpolitische Linke wird als antidemokratisch denunziert und verfolgt; innergesellschaftliche Widersprüche werden entweder gar nicht erst als solche erkannt, sondern, wie z . B . der grundlegende Klassengegensatz der bürgerlichen Gesellschaft, ideologisch auf eine „Klassenkampfidee", ein Hirngespinst, reduziert, bzw. als reine Propagandalüge der „totalitären" Staaten bezeichnet, oder aber gegenüber dem gemeinsamen Kampf gegen den Hauptfeind, den Totalitarismus, als sekundär betrachtet. Die Totalitarismustheorie wirkt damit herrschaftsverschleiernd und -stabilisierend; sie ist theoretisches Konstrukt bürgerlicher Ideologie. 60
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Anmerkung Wir müssen an dieser Stelle auf Meinungsverschiedenheiten innerhalb unserer Arbeitsgruppe hinweisen, die sich im Zusammenhang mit der Beurteilung der bisherigen Politik der sozialistischen Staaten Osteuropas, insbesondere der Sowjetunion, herausstellten. Da es an diesem Ort vor allem um die Kritik der Totalitarismustheorie ging, konnte die Argumentation oberhalb der kontroversen Ebene erfolgen. Die bürgerliche Einschätzung und Darstellung des Stalinismus nach dem Totalitarismusschema „rot = braun" ist bar jeder Wissenschaftlichkeit und 208
besitzt eindeutige Legitimations- und Integrationsfunktion für die bürgerliche Gesellschaft — daran ist nicht zu rütteln.
G. Manipulation durch Sprache Im ersten Teil dieses Buches, der konkreten Analyse der Schulgeschichtsbücher, wurde an zahlreichen Stellen auf die Funktion bestimmter sprachlicher Mittel der Schulbuchautoren eingegangen. Dort wurde gezeigt, daß die von uns ideologisch genannte inhaltliche Darstellung in den Schulbüchern durch sprachliche Mittel unterstützt wird. Sprache ist demnach kein von den jeweiligen Inhalten losgelöst zu betrachtendes Manipulationsinstrument, sondern gewinnt ihren Stellenwert erst im Rahmen eben dieser Inhalte. Darum soll hier auch nicht in erster Linie Sprachkritik betrieben werden, sondern Ideologiekritik, die die Kritik der Sprache als eines ihrer Elemente begreift. Sprache kann deshalb als Manipulationsinstrument fungieren, weil ihre Wirkung dem Leser des Schulbuchs im Normalfall nicht bewußt wird. Relativ unwichtig für die Funktion von Sprache ist dabei die Frage, ob den Verfassern der Schulbücher die manipulierende Wirkung ihrer Ausdrucksweise bewußt ist oder nicht. Manipulation meint hier also nicht unbedingt die bewußte „Steuerung" der Schulbuchleser; entscheidend ist vielmehr das Ergebnis, das durch die eingesetzten Mittel tatsächlich erreicht wird. Im folgenden soll an Hand einiger Beispiele zusammengefaßt werden, welche Typen sprachlicher Manipulation sich in den Schulbüchern finden. a) Ein wesentliches Mittel sprachlicher Manipulation sind Begriffsbildungen, die schon von sich aus, ohne Argumente zur Sache zu enthalten, bestehende gesellschaftliche Verhältnisse in ein rosiges Licht rücken. Diese Begriffsbildungen verschleiern oder verzerren die tatsächliche gesellschaftliche Realität. Ein — mittlerweile häufig kritisiertes — Beispiel dafür ist das in der B R D zum offiziellen Sprachgebrauch gehörende Begriffspaar „Arbeitgeber" — „Arbeitnehmer". Das Begriffspaar suggeriert, daß die Unternehmer = „Arbeitgeber" diejenigen sind, die den Arbeitern etwas geben (nämlich Arbeit), während scheinbar die Arbeiter = „Arbeitnehmer" die Arbeit von den Unternehmern nehmen; die Unternehmer scheinen damit als (großzügig) Gebende, was sie in ein positives Licht rückt, besonders für christlich sozialisierte Leser („Was du gegeben hast einem der Geringsten . . . " ) ; d i e Arbeiter dagegen bekommen etwas, haben also allen Grund, den Unternehmern dankbar zu sein. Tatsächlich verhält es sich so, daß in der kapitalistischen Produktionsweise die Klasse der Arbeiter aus „freien Lohnarbeitern" besteht, „frei" im doppelten Sinne: zum einen persönlich frei (z. B. von der Leibeigenschaft, von den Zunft- und Fronzwängen der feudalistischen 64
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Produktionsweise), zum anderen „frei" vom Besitz an Produktionsmitteln. Um leben zu können, müssen darum die Arbeiter ihre Arbeitskraft an die Klasse verkaufen, die die Produktionsmittel besitzt, die Kapitalisten. Der Kapitalist kauft also die Arbeitskraft des Arbeiters; im Arbeitsvertrag (heute in Form eines Tarifvertrages) wird festgelegt, welchen Kaufpreis (Lohn) der Kapitalist zahlt. Er erwirbt mit dem Kauf das Recht, die Arbeitskraft des Arbeiters mit seinen, des Kapitalisten, Produktionsmitteln arbeiten zu lassen, und zwar für eine bestimmte, vertraglich festgelegte Zeit. Der Arbeiter produziert in dieser Zeit mehr, als der Kapitalist ihm in Form des Lohnes zurückzahlt; er produziert ein Mehrprodukt, welches vom Kapitalisten angeeignet wird. „Arbeitgeber" im eigentlichen Sinne ist also der Arbeiter, denn er „gibt" seine Arbeitskraft; diese „nimmt" der Unternehmer, der sich zugleich den Mehrwert aneignet. Was dagegen der Kapitalist in der Tat gibt, ist nicht die Arbeit, sondern der Arbeitsplatz, oder besser gesagt die Produktionsmittel; „geben" allerdings in einem sehr eingeschränkten Sinne, denn wenn tatsächlich die Unternehmer den Arbeitern die Produktionsmittel geben würden („geben" im Sinne von „Gabe", d. h. als Besitzübertragung), würden sie sich selbst enteignen. Die Unternehmer „geben" also auch nicht die Produktionsmittel (Arbeitsplätze), sondern stellen sie den Arbeitern zur Verfügung bzw. lassen sie mit oder an ihnen arbeiten. Und zwar deshalb, weil die Produktionsmittel nur so ihren Zweck für den Kapitalisten erfüllen, also Profit bringen. Ganz konkret gesagt, „geben" die Kapitalbesitzer den Arbeitern lediglich den Lohn, wogegen sie die Arbeitskraft einhandeln, die sie nun ihrerseits in Form der mit den — kapitalistischen — Produktionsmitteln tätigen Arbeitsleistung vernutzen, um sie auszubeuten. Im Begriffspaar „Arbeitgeber"/ „Arbeitnehmer" ist das wirkliche Verhältnis also total auf den Kopf gestellt: derjenige, der sich für eine bestimmte Geldsumme (Lohn) von anderen ihre Arbeit — zwecks Ausbeutung — geben läßt, heißt „Arbeitgeber", derjenige, dem seine Arbeit für Lohn genommen wird, heißt „Arbeitnehmer" — ein besonders schlagendes Beispiel bürgerlicher Ideologie. So also verhält es sich mit der Bereitschaft der Unternehmer zu „geben", die der gängige Ausdruck „Arbeitgeber" suggerieren will. 65
Ein anderer Begriff, der die Erkenntnis realer gesellschaftlicher Verhältnisse von vornherein blockieren muß, ist das gängige Wortgebilde „Soziale Marktwirtschaft". Das Attribut „sozial" rückt von vornherein das, was mit dem Begriff bezeichnet werden soll — nämlich das kapitalistische Wirtschaftssystem der B R D —, in ein positives Licht: wer könnte etwas gegen ein Wirtschaftssystem haben, das sozial ist? Zugleich impliziert die Begriffsbildung „Soziale Markwirtschaft", daß es auch andere, nicht-soziale Formen der Marktwirtschaft gibt oder doch gegeben hat; gemeint ist, wie die Analyse der Schulbücher gezeigt hat, daß es im 19. Jahrhundert den Kapitalismus und als dessen Produkt die „Soziale Frage" gegeben habe, während im 210
20. Jahrhundert die „Soziale Marktwirtschaft" den Kapitalismus ersetzt und die „Soziale Frage" gelöst habe. Daß in beiden Jahrhunderten die Kontinuität der kapitalistischen Produktionsverhältnisse erhalten geblieben ist, wird mit den Begriffen der Schulbuchautoren ebenso verschleiert wie die Tatsache, daß von sozialer Demokratie und sozialer Gerechtigkeit in der B R D noch keine Rede sein kann. Der Begriff „Soziale Marktwirtschaft" gibt ideologisch vor, daß Unausgemachtes schon ausgemacht, Ungelöstes bereits gelöst sei. Genauso verhält es sich mit Begriffen wie „Freiheit", „Demokratie" usw. b) Ein zweites wichtiges Mittel sprachlicher Manipulation ist die Verwendung pejorativer und meliorativer Attribute und deren Häufung; d. h. die Benutzung von Beiwörtern, die den bezeichneten Gegenstand mit rein sprachlichen Mitteln, also ohne inhaltliche Argumentation, als negativ (pejorativ) oder positiv (meliorativ), als gut oder schlecht qualifizieren. Ein Beispiel dafür ist die Bezeichnung der Kommunisten als „antidemokratisch", der Effekt ist offensichtlich: wer als Feind der Demokratie hingestellt wird, von dem wird sich jeder Leser distanzieren. Entscheidend ist, daß die Denunzierung der Kommunisten nicht durch nachprüfbare inhaltliche Argumente aufgefüllt wird; die Schulbuchautoren verfahren vielmehr nach dem Motto: wenn die Beschuldigung, die sich als Sachaussage ausgibt, oft genug wiederholt wird, so wird sie ihre Wirkung nicht verfehlen. Im Kapitel über das Ende der Weimarer Republik z. B. haben wir versucht zu zeigen, wie verbreitet diese Methode in den untersuchten Schulbüchern ist. Eine besonders wirksame Form der hier gemeinten Manipulation liegt vor, wenn pejorative und meliorative Attribute in einem Satz als direkte Konfrontation von „guten" und „bösen" Kräften benutzt werden. Ein Beispiel: „Den Revisionisten erschienen jedoch . . . praktische Teilerfolge wichtiger als eine illusionäre chiliastische Heilserwartung (der Marxisten, d. Verf.)". (Schroedel/Schöningh II, S. 62) Auf der einen Seite also praktisches Handeln und Erfolge — auf der anderen Illusionen, Irrationalismus und bloßes Abwarten; auf wessen Seite sich der Leser zu stellen hat, ist offensichtlich. c) Als dritte sprachliche Manipulationsform findet man in den Schulbüchern die ahistorische Verwendung von politischen Begriffen, die nach dem herrschenden Sprachgebrauch mit negativen Assoziationen verbunden sind, obwohl diese „Reizwörter" ihrer eigentlichen Wortbedeutung und ihrer historischen Herkunft nach eher positive Inhalte bezeichnen. Der Begriff „radikal" ist dafür ein Beispiel. Er wird in den Schulbüchern, anknüpfend an den in der B R D in der Propaganda der großen Parteien und den Medien der veröffentlichten Meinung herrschenden Sprachgebrauch, zur Denunzierung der politischen Linken von Müntzer bis zur DKP gebraucht. Wer als „Radikaler" bezeichnet wird, ist von vornherein negativ abqualifiziert. 211
Im Gegensatz zu dieser Verwendung meint „radikal" seiner etymologischen Bedeutung nach solche, die einen gesellschaftlichen Mißstand mit der Wurzel (lat. radix = Wurzel) beseitigen wollen, die nicht nur die Folgen des Mißstandes beheben, sondern dessen Ursachen ausräumen wollen (s. o.). In dieser Weise, also positiv wertend, wurde der Begriff auch in der deutschen Geschichte gebraucht: Der scharfzüngige Humanist Walter J e n s hielt jüngst ein flammendes Plädoyer für den Radikalismus: „Als ob das verurteilenswert wäre: radikal zu sein! Als ob ,radikal' nicht ein Ehren-Wort der Aufklärer war und mit dem Begriff ,Radikaler' sich Bürger ausgezeichnet sahen, die dem Übel an die Wurzel gingen, statt nur Symptome zu heilen. ,Daher muß eigentlich ein jeder, welcher die Unvollkommenheit eines gegebenen Zustandes erkennt und auf Heilung derselben denkt, ein Radikaler sein': Zitat aus Brockhaus' Conversationslexikon von 1 8 3 6 , ein Satz aus einem Artikel, der, von bürgerlichem Freisinn zeugend, radikale Reform mit der Veränderung auf verfassungsmäßigem Weg identifiziert. So sprach man einst . . . und wenn man heute anders spricht und glaubt, sich von den Linken zu trennen, dann trennt man sich in Wahrheit von den fortschrittlichen Elementen bürgerlicher Überlieferung, zerschneidet den Faden, der zum Freiheitsdenken der Aufklärung führt, weil man fürchtet — und dies zu Recht —, daß in der sozialen Demokratie für alle verwirklicht werden könnte, was die liberale Einzelnen versprach!" 66
Drittes Kapitel Zum Ideologiebegriff Ideologiekritische Untersuchungen werden in der letzten Zeit immer zahlreicher. Dabei wird der Anspruch, Ideologiekritik zu betreiben, von Autoren ganz unterschiedlicher politischer und wissenschaftstheoretischer Provenienz erhoben, so daß es uns an dieser Stelle notwendig erscheint, unser eigenes Verständnis von Ideologiekritik, das unserer Schulbuchanalyse zugrunde liegt, ausführlicher darzustellen. Diese Darstellung kann — nach dem Vorbild Marxens — nur als Kritik falschen Bewußtseins, d. h. in diesem Zusammenhang als Kritik des falschen bürgerlichen Ideologiebegriffs, erfolgen. Schon im Abschnitt über die Französische Revolution stießen wir auf den Ideologiebegriff, der den meisten Schulbüchern zugrunde liegt: Ideologie als radikale Theorie mit Ausschließlichkeitsanspruch. Als solche ist sie ein entscheidendes Kriterium für die Bestimmung eines totalitären Systems. Entsprechend heißt es in der Didaktik von Schroedel/Schöningh (VII, S. 7 2 ) , dem Schüler müsse einsichtig gemacht werden, „auf welche Weise das Bestreben, eine Ideologie zu verwirklichen, zu totaler Herrschaft mit der Konsequenz der physischen Vernichtung des Gegners führen kann."
Ideologie wird hier also als eine Art Vision verstanden, für die fanatische Anhänger über Leichen gehen. Als Gegenbild fungieren die beiden bürgerlichen Kardinaltugenden Pragmatismus und Toleranz und die Vorstellung, daß ihre Träger — die Schulbuchautoren zählen sich deutlich dazu — grundsätzlich gegen Ideologieanfälligkeit gefeit seien. Es bedarf nach dem bisher Gesagten wohl kaum noch einer weiteren Erörterung, daß dieser Anspruch auf Ideologielosigkeit selbst ideologisch ist — ideolologisch hier zunächst nur verstanden als herrschaftsstabilisierend. Die aus dem Geist der ,Ideologielosigkeit' entsprungene Totalitarismustheorie verschleiert und stabilisiert die fortbestehende kapitalistische Klassengesellschaft. Wer sie grundlegend kritisiert, verfällt dem Verdikt der Radikalität und Ideologiegläubigkeit; er wird damit Opfer dessen, was die angeblich Ideologielosen den angeblichen Ideologen vorwerfen: Des Absolutheitsanspruchs. Berufsverbote für radikaldemokratische Lehrer und Professoren sprechen eine deutliche Sprache. Mit diesem Kampf gegen eine radikaldemokratische Emanzipationsbewegung im Namen der Ideologielosigkeit ist die spätbürgerliche Gesellschaft ihres ehemals emanzipatorischen Anspruchs, der sich in der radikalen Kritik der Aufklärung an der Feudalordnung und deren reaktionärem Weltbild manifestierte, gründlich verlustig gegangen. Heute werden gerade diejenigen als Ideologen abgetan, die das bürgerliche Bewußtsein derselben unbefangenen Kritik unterziehen, mit der sich das ehemals revolutionäre Bürgertum erst der feudalen Fesseln zu 213
entledigen vermochte. Bacons Parole „Wissen ist Macht" läutete einen jahrhundertelangen Kampf des fortschrittlichen Bürgertums ein gegen die verfestigten und der Irrationalität bezichtigten Gesellschafts- und Bewußtseinsstrukturen der Feudalität: Kampfmittel war die rationale Wissenschaft (s. o., S. 17 f.). Die frühbürgerliche Kritik des falschen feudalen Bewußtseins, so emanzipatorisch sie zweifellos war, verblieb jedoch dem spezifisch bürgerlichen Erkenntnisinteresse verhaftet und von vornherein auch methodisch so angelegt, daß sie nicht ohne weiteres in eine Kritik auch des falschen Bewußtseins einer bürgerlichen Gesellschaft hätte umschlagen können. Wir haben es oben angedeutet: Ihr Richterstuhl der Vernunft war bürgerlich. (Darin liegt die gesellschaftliche Formbestimmtheit jener ,Vernunft'.) Diese — klassenbedingte — methodische Beschränktheit manifestiert sich in den im vorigen Kapitel aufgezeigten grundlegenden Denkmustern bürgerlichen Denkens, die es von vornherein unmöglich machen, die historisch-gesellschaftliche Genesis des falschen Bewußtseins zu begreifen. Die aufklärerische Bewußtseinskritik erschöpfte sich zumeist darin, bestimmte Bewußtseinsinhalte der immanenten Fehlerhaftigkeit zu überführen, religiöse und metaphysische Vorstellungen lediglich als — subjektive — Irrtümer zu begreifen, die sich in dem Moment in ein Nichts auflösen, in dem sie sich als wissenschaftlich unhaltbar, d. h. ,vernunftwidrig' erwiesen. Einen Schritt weiter gingen die linken Enzyklopädisten Helvetius und Holbach, die Hauptrepräsentanten des bürgerlichen Materialismus in Frankreich. Sie gelangten zu der Einsicht, daß die Ursachen vernunftwidriger Vorurteile nicht allein in der Unkenntnis und Unwissenheit über die Wirklichkeit zu suchen seien, sondern daß die Hartnäckigkeit irrationaler Ideen noch in einem ganz anderen Tatbestand wurzelte, nämlich in dem apologetischen, auf Rechtfertigung der überkommenen feudalen Sozialstrukturen gerichteten Herrschaftscharakter des mittelalterlichen Weltbildes. Die Marxsche Erkenntnis, die herrschenden Gedanken seien stets die Gedanken der Herrschenden, findet sich im Keim schon bei Helvetius: „Die Vorurteile der Großen sind die Gesetze der Kleinen." An der Verbreitung der Vorurteile konnten nur Gruppen interessiert sein, die sich von einem verbreiteten falschen Bewußtsein eigene Vorteile erhofften. „Man kann nicht leugnen", schrieb Holbach, „ . . . daß dieses Dogma (des Fortlebens nach dem Tode, d. Verf.) für diejenigen von großem Nutzen war, die dem Volk Religionen gaben und sich zu Priestern machten; es wurde die Grundlage ihrer Macht, die Quelle ihrer Reichtümer und die beständige Ursache von Blindheit und Schrecken, in denen sie die menschliche Gattung festhalten wollten." Bürgerliche Kritik falschen Bewußtseins, die sich im wesentlichen auf Religionskritik beschränkte, da es vor allen Dingen die christliche Lehre war, die zur ideologischen Legitimation des herrschenden feu1
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dalklerikalen Systems diente, erhielt damit eine methodisch neue Variante, die ,Priestertrugstheorie', der die Vorstellung zugrunde -liegt, daß eine Verschwörung der Herrschenden mit den Priestern das Volk zwecks Aufrechterhaltung ihrer eigenen Macht durch systematische Verdummung in Unmündigkeit hielt. So eindeutig diese Theorie einen Fortschritt gegenüber der reinen Vorurteilstheorie darstellt — sie bezieht die Gesellschaft mit in die theoretische Kritik ein und erkennt den Rechtfertigungscharakter von Ideologie —, so deutlich bleiben ihre Schranken. Die Priestertrugstheorie reduziert gesellschaftlich notwendig bedingtes falsches Bewußtsein (Ideologie) auf eine raffinierte Manipulation der Herrschenden. Die „Einsicht in den objektiven Ursprung und die Objektivität sozialer Funktion von Ideologien" wird durchweg nicht erreicht. Die Religionskritik der Aufklärung beinhaltet also — das sei hier festgehalten — zwei grundlegende Fragestellungen und Antworten: 1. Frage: Ist die Religion usw. vernünftig? Antwort: Nein. Sie beruht auf Irrtümern und Vorurteilen. 2. Frage: Warum ist sie trotzdem weit verbreitet? Antwort: a) Weil ,der' Mensch zu Irrtümern und Vorurteilen neigt, solange er sich nicht um wissenschaftliche Genauigkeit bemüht (Bacon u. a.) — Anthropologisierung. b) Weil die Herrschenden das Volk manipulieren (franz. Materialisten) — interessenpsychologische Erklärung, die von der Annahme einer „prinzipiell unveränderlichen Struktur des Menschen" ausgeht (wie oben: Anthropologisierung). Eine neue (die höchste) Stufe bürgerlicher Religionskritik stellt die Philosophie Ludwig Feuerbachs dar. Feuerbach stellt die Frage nach der Genesis religiöser Vorstellung (und der idealistischen Philosophie) und kommt zu folgendem Schluß: „Das göttliche Wesen ist nichts anderes als das menschliche Wesen . . . abgesondert von den Schranken des individuellen, d. h. leiblichen Menschen, vergegenständlicht, d. h. angeschaut und verkehrt als ein anderes, von ihm unterschiedenes, eigenes Wesen." Die Religion erweist sich demnach als die Projektion des in der irdischen Wirklichkeit nicht zu realisierenden Eigenschaften, Potenzen und Wünsche in den Himmel, wo sie in einem menschlichen Idealbild scheinbar subjektive Gestalt annehmen (persönlicher Gott). Die Religion ist ein Produkt der Verdoppelung des Menschen in einen irdischen und einen himmlischen — wobei die himmlische Erscheinungsform seiner selbst dem weltlichen Menschen ein Trostpflaster für Not und Entbehrung im irdischen Dasein bieten soll. Diese Verdoppelung verhindert nach Feuerbach aber gerade die Verwirklichung des lebendigen Menschen (da er sich damit zufriedengibt, sich in der Phantasie zu verwirklichen); darum solle der Mensch sein in den Himmel projiziertes Wesen wieder in sich zurücknehmen und sich damit bereichern und befreien. Dies ist der entscheidende Anknüpfungspunkt für die Entwicklung 3
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des klassischen Ideologiebegriffs durch Karl Marx. Feuerbach erkennt die Form des religiösen Bewußtseins als Produkt der Selbstentfremdung des Menschen. Marx begnügt sich nicht mit dieser abstrakten Erkenntnis, sondern fragt weiter: Woher kommt diese menschliche Selbstentfremdung? Die Menschen produzieren ihre Hirngespinste selbst (dies hat auch Feuerbach erkannt, allerdings versteht er ,produzieren' allein als geistige Tätigkeit), aber sie tun dies nicht als außerhalb des wirklichen Lebensprozesses hockende menschliche Gattungswesen, sondern sie tun es als konkrete Individuen innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse, die ihrem Tun eine spezifische Form verleihen. Es geht also um die Ableitung der Form des entfremdeten Bewußtseins aus der Struktur der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die entfremdeten Menschen leben und die sie selbst reproduzieren. Während Feuerbach ,Entfremdung' als rein geistige Tätigkeit (Projektion) verstand, faßt Marx diesen Begriff als ,praktische Entfremdung', als ,Entfremdung der Arbeit'. Ihre Kritik muß deshalb eine praktische Kritik sein, d. h. die revolutionäre Aufhebung der Verhältnisse, in denen die reale Entfremdung herrscht. Die Religion ist nur die phantastische Zurücknahme der realen Entfremdung, ihre Verschleierung. Die Kritik der Religion erweist sich damit als Kritik eines Symptoms. Deshalb muß es darum gehen, das falsche Bewußtsein bei seinen gesellschaftlichen Wurzeln zu packen: Ideologiekritik muß in Gesellschaftskritik, diese in praktische Gesellschaftsveränderung umschlagen. Hierzu schreibt Marx: „Das Fundament der irreligiösen Kritik (Feuerbach, d. Verf.) ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt . . . , ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist . . . Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertals, dessen Heiligenschein die Religion i s t . " 7
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Diese emphatische Prosa des jungen Marx gibt das auf menschliche Emanzipation abzielende Erkenntnisinteresse an, das seinem gesamten wissenschaftlichen Werk zugrunde liegt. Vor allem im „Kapital" entwickelt Marx eine Methode, die es erlaubt, die jeweiligen Vorstellungen und Illusionen der Menschen aus ihrer konkreten Lebenstätigkeit, aus der Struktur der von den Menschen selbst produzierten gesellschaftlichen Verhältnisse, abzuleiten. Fassen wir zusammen: Der wirklich revolutionäre Neuansatz der Marxschen Ideologiekritik liegt in der Erkenntnis, daß es nicht ,der' Mensch — verstanden als überhistorisches abstraktes Gattungswesen — ist, der sich seine Vorstellungen qua geistiger Tätigkeit zulegt — von dieser Konzeption geht die gesamte bürgerliche Wissenschaft von Bacon über Feuerbach bis zu den Schulbuchautoren aus —, sondern daß jenes Bewußtsein vermittelt ist durch die jeweilige gegenständliche gesellschaftliche Tätigkeit der konkreten historischen Individuen (die historische Formbestimmtheit ihrer Arbeit). Die bürgerliche Anthropologie, die immer zugleich idealistisch ist — in dem Sinne, daß sie von der materiellen Praxis der konkreten Individuen abstrahiert —, erweist sich damit selbst als falsches Bewußtsein, als Ideologie. Auf Feuerbach bezogen: Die Feuerbachsche Ideologiekritik bleibt, da sie in der bloßen Anschauung verharrt, der Entfremdung verhaftet, die aufzulösen Feuerbach angetreten war. Ernst Bloch hat in seiner Interpretation der Marxschen Feuerbachthesen das Wesentliche der Marxschen Ideologiekritik wie folgt charakterisiert: „Marxens Fortführung der Feuerbachschen Anthropologie, als einer Kritik der religiösen Selbstentfremdung, ist daher nicht nur Konsequenz, sondern erneute Entzauberung, nämlich Feuerbachs selbst oder der letzten, der anthropologischen Fetischisierung. So führt Marx vom generell-idealen Menschen, über bloßen Individuen, auf den Boden der wirklichen Menschheit und möglichen Menschlichkeit. Dazu war der Blick auf die Vorgänge vonnöten, die der Entfremdung wirklich zugrunde liegen. Die Menschen verdoppeln ihre Welt nicht nur deshalb, weil sie ein zerrissenes, wünschendes Bewußtsein haben. Vielmehr entspringt dieses Bewußtsein, samt seinem religiösen Widerschein, einer viel näheren Entzweiung, nämlich einer gesellschaftlichen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse selber sind zerrissen und geteilt, zeigen ein Unten und Oben, Kämpfe zwischen diesen beiden Klassen und dunstreiche Ideologien des Oben, von denen die religiöse nur eine unter mehreren ist. Dieses Nähere der weltlichen Grundlage zu finden, war für Marx eben die Arbeit, die der Hauptsache nach noch zu tun blieb — selber ein Diesseits gegenüber dem abstrakt anthropologischen Diesseits von Feuerbach. Dafür hatte der geschichtsfremde, undialektische Feuerbach keinen Blick, aber die These 4 (d. h. Marxens 4. These über Feuerbach, d. Verf.) gewinnt ihn: ,Die Tatsache nämlich, daß die weltliche Grundlage sich von selbst 217
abhebt und sich, ein selbständiges Reich, in den Wolken fixiert, ist eben nur aus der Selbstzerrissenheit und dem Sich-selbst-Widersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muß also erstens in ihrem Widerspruch verstanden und sodann durch Beseitigung des Widerspruchs praktisch revolutioniert werden . . . ' Die Kritik der Religion verlangt also, um wahrhaft radikal zu sein, das ist, nach Marxens Definition: um die Dinge an der radix, der ,Wurzel' zu fassen, die Kritik der dem Himmel zugrunde liegenden Verhältnisse, ihres Elends, ihrer Widersprüche und ihrer falschen imaginären Lösung der Widersprüche." Hier ist das Hauptkriterium des Marxismus erneut benannt: Die Einheit von Theorie und Praxis. Wenn das falsche Bewußtsein Ausdruck einer falschen gesellschaftlichen Praxis der Menschen ist, dann muß es darum gehen, diese falsche Praxis selbst zu revolutionieren. „An dieser Stelle fügen sich Ideologien- und Revolutionslehre zu einem . . . Kreis, in dem wechselseitig eine die Voraussetzung der anderen liefert, zusammen . . . Was ist, läßt sich feststellen nur im Hinblick auf das, was möglich ist. Eine ihrem Gegenstand angemessene historische Theorie des Bestehenden ist Theorie seiner Veränderung." Nach den bisherigen Darlegungen kann man als These formulieren: Die Kehrseite der bürgerlichen Geschichtsfremdheit ist die bürgerliche Perspektiv- und Zukunftslosigkeit. Eine ihrem Gegenstand angemessene Aufarbeitung des Vergangenen, das zum Bestehenden führte, bedarf der Theorie der Veränderung des Status quo. Dies, weil erst durch die theoretische Auflösung des ideologisch erstarrten Bestehenden (Ontologisierung des Kapitalverhältnisses, s. o.) in Geschichte, in die historische Bewegung, Vergangenheit überhaupt erst als sich verändernde historisch-gesellschaftliche Praxis der Menschen erkannt werden kann. (Darauf ist im nächsten Abschnitt zurückzukommen). Es wurde bereits erwähnt, daß die Marxsche Ideologie- und Gesellschaftskritik immer Kritik der bürgerlichen Gesellschaft (des Kapitalismus) ist. Dennoch finden sich bei ihm auch einzelne Ausführungen zu den Ursachen falschen Bewußtseins vorkapitalistischer Gesellschaftsformationen. Grundlage für die Marxsche Betrachtungsweise ist auch hier sein perspektivistischer Blick auf die Aufhebung der die ganze bisherige Geschichte kennzeichnenden Herrschaft der Produktionsbedingungen über die Produzenten. Die Menschen haben ihre Geschichte selbst gemacht, aber unter einem „Überhang an gesellschaftlicher Obj e k t i v i t ä t " . So bemerkt Marx im „Kapital" zu den gesellschaftlichen Verhältnissen der älteren Geschichte: „Sie sind bedingt durch eine niedrige Entwicklungsstufe der Produktivkräfte der Arbeit und entsprechend befangene Verhältnisse der Menschen innerhalb ihres materiellen Lebenserzeugungsprozesses, daher zueinander und zur Natur. Diese wirkliche Befangenheit spiegelt sich ideell wider in den alten Natur- und Volksreligionen. Der religiöse Widerschein der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des praktischen Werkeltaglebens den Menschen tagtäglich durchsichtig 8
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vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen. Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, d. h. des materiellen Produktionsprozesses, streift ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht. Dazu ist jedoch eine materielle Grundlage der Gesellschaft erheischt oder eine Reihe materieller Existenzbedingungen, welche selbst wieder das naturwüchsige Produkt einer langen und qualvollen Entwicklungsgeschichte s i n d . " Ein wesentliches Merkmal dieser „qualvollen Entwicklungsgeschicht e " ist unter anderem die naturwüchsige Arbeitsteilung (die nicht identifiziert werden darf mit der planmäßigen Arbeitsteilung). Sie begünstigt die Verselbständigung der Teilgebiete gegenüber dem Ganzen, also z. B. der Ideologie gegenüber ihrer materiellen Grundlage. Innerhalb der naturwüchsigen Arbeitsteilung, wie sie die bisherigen Gesellschaftsformationen einschließlich der bürgerlichen beherrscht, spielt die Trennung von Kopf- und Handarbeit eine besondere Rolle. „Die Teilung der Arbeit wird erst wirkliche Teilung von dem Augenblick an, wo eine Teilung der materiellen und geistigen Arbeit eintritt. Von diesem Augenblick an kann sich das Bewußtsein wirklich einbilden, etwas anderes als das Bewußtsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen . . . " Damit ist prinzipiell die Möglichkeit für ideologisches Denken gegeben, d. h. für solches Denken, „dem die Fähigkeit, zur Einsicht in den unauflöslichen Zusammenhang seiner eigenen Bewegungen mit denen der sozialen Kräfte a b g e h t " . Solange also geistige und materielle Tätigkeit in einer Gesellschaft verschiedenen Individuen zufallen, d. h. so lange nicht allen Menschen gleichermaßen die Möglichkeiten universeller Bildung und damit die Voraussetzungen zur erkenntnismäßigen Durchdringung von Natur und Gesellschaft zur Verfügung stehen, muß die Masse der arbeitenden Bevölkerung die in der Gesellschaft herrschenden Gedanken ungeprüft übernehmen und für eine eigenständige Realität halten. 11
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Diese herrschenden Gedanken aber sind in allen bisherigen Klassengesellschaften einschließlich der bürgerlichen immer die Gedanken der herrschenden Klasse gewesen, denn „die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten, herrschenden materiellen Verhältnisse . . . " „Löst man nun bei der Auffassung des geschichtlichen Verlaufs die Gedanken der herrschenden Klasse von der herrschenden Klasse los, verselbständigt man sie, bleibt man dabei stehn, daß in einer Epoche diese und jene Gedanken geherrscht haben, ohne sich um die Bedingungen der Produktion und um die Produzenten dieser Gedanken zu kümmern, läßt man also die den Gedanken zugrunde lie1 4
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genden Individuen und Weltzustände weg, so kann man z. B. sagen, daß während der Zeit, in der die Aristokratie herrschte, die Begriffe Ehre, Treue etc., während der Herrschaft der Bourgeoisie die Begriffe Freiheit, Gleichheit etc. herrschten. Die herrschende Klasse selbst bildet sich dies im Durchschnitt e i n . " Sie sitzt diesem Selbstbetrug um so leichter auf, da sie und ihre Ideologen (d. h. diejenigen, die sich die Verbreitung der Ideologie berufsmäßig zur Aufgabe gemacht haben) von der Sphäre der materiellen Produktion abgeschnitten sind und keinen Kontakt mehr haben zu den Menschen, auf deren Schultern sie stehen und die die wahren Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums darstellen. Marx sah diesen Prozeß der Verselbständigung falschen Bewußtseins und ihrer Funktionalisierung im Interesse der herrschenden Klasse jedoch nicht als ein Wesensmerkmal des menschlichen Zusammenlebens schlechthin an. Mit der Offenlegung ihrer Ursachen, zeigte er zugleich den Weg zur Überwindung der Ideologie. Er ging von der prinzipiellen Möglichkeit aus, daß die Menschen mit steigendem Grad der Beherrschung von Natur und Gesellschaft immer mehr Teile der Wirklichkeit erkennen und sich nutzbar machen können. Die Vergesellschaftung des Produktionsprozesses drängt zur Entfaltung der menschlichen Produktivkräfte und bezieht eine stets wachsende Zahl von Individuen ein in den Prozeß der geistigen wie materiellen Aneignung der Natur. Damit entstehen aber auch die Voraussetzungen zur Überwindung falschen Bewußtseins. So macht die intellektuelle und praktische Aneignung der Natur die Herrschaft der Priesterkaste, die ursprünglich zur irrationalen Bannung der Naturgewalten notwendig erschien, zunichte. Die Erkenntnisse der Galilei, Newton, Kepler etc. schlagen den feudal-klerikalen Ausbeutern ihre scheinbar unantastbaren ideologischen Waffen aus der Hand. Die Vergesellschaftung der Produktion im Kapitalismus, d. h. die Kooperation einer stets wachsenden Zahl von Individuen in einem Großbetrieb vergrößert die Möglichkeit, die Gesellschaftlichkeit der Produktion sowie deren Widerspruch zur privaten Aneignung durchschaubar zu machen. Mit dem Kapitalismus entsteht diejenige Gesellschaftsformation, in der die materiellen Voraussetzungen zur Emanzipation von aller Ideologie historisch am weitesten entwickelt sind. In dem Maße aber, wie es dem Menschen der bürgerlichen Gesellschaft gelingt, die Natur immer umfassender in den Dienst der Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte zu stellen, gewinnt die Form ihrer gesellschaftlichen Kooperation, die Art und Weise, in der sie sich in Produktion und Austausch aufeinander beziehen, ein qualitativ neues Gewicht bei der Bildung ihres Bewußtseins. Diese gesellschaftlichen Beziehungen werden den Menschen der kapitalistischen Gesellschaft quasi zur zweiten Natur, die sie beherrscht, statt daß sie sie beherrschen. Die kapitalistische Form der Produktion und des Austausches produziert eine ganz neue Art des falschen Bewußtseins, die sich nun nicht mehr speist aus der unbegriffenen äußeren Natur, sondern aus dem spezifischen Charakter der gesellschaftlichen 15
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Verhältnisse, in denen sich die Naturaneignung vollzieht. Die gesellschaftlichen Beziehungen im Kapitalismus erzeugen den objektiven Schein, als seien sie bereits die Realisierung jenes vernunftregierten Gesellschaftszustandes, den die bürgerliche Aufklärung einst propagierte. Wo früher unmittelbare Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse herrschten, da werden jetzt Freiheit und Gleichheit etc. hochgehalten. Aber der Kapitalismus ist der größte Formalist. Was das heißt, hat Bertolt Brecht in seinem Gedicht „Drei Paragraphen der Weimarer Verfassung" sehr anschaulich ausgedrückt. Jedoch braucht man nicht erst zurückzugehen zum Alltag der Weimarer Republik; auf diesem Formalismus beruht das Leben in der B R D heute ebenso, da das Wesen des Kapitalismus heute wie in Weimar dasselbe ist. Diesen Formalismus nennen wir die bürgerliche Ideologie. Das Besondere an dieser Ideologie ist, daß der falsche Schein kapitalistischer Ratio, den diese im Wesentlichen beinhaltet, notwendige Voraussetzung und für den „gesunden Menschenverstand" auch notwendiges Resultat der kapitalistischen Produktionsweise selbst ist. Bürgerliche Ideologie wird demnach weniger bewußt erzeugt; vielmehr sind ihr alle Individuen in der kapitalistischen Gesellschaft gleichermaßen ausgesetzt. Die bürgerliche Ideologie entspringt also nicht mehr wie das falsche' Bewußtsein vorkapitalistischer Gesellschaftsformen aus der Befangenheit der Menschen im Verhältnis zur äußeren Natur, sondern aus einem objektiven Schein, der sich aus der besonderen Beschaffenheit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ergibt: „Die fertige Gestalt der ökonomischen Verhältnisse, wie sie sich auf der Oberfläche zeigt, in ihrer realen Existenz, und daher auch in den Vorstellungen, worin die Träger und Agenten dieser Verhältnisse sich über dieselben klarzuwerden suchen, sind verschieden von, und in der Tat verkehrt, gegensätzlich zu ihrer inneren, wesentlichen, aber verhüllten Kerngestalt und dem ihr entsprechenden B e g r i f f . " Bevor wir auf den verborgenen Entstehungsprozeß der Mystifikationen eingehen, die sich dem Betrachter der Oberfläche der kapitalistischen Gesellschaft unmittelbar aufdrängen, sei noch einmal in Umrissen auf den besonderen methodischen Stellenwert der Marxschen Vorgehensweise gegenüber dem Feuerbachschen Ansatz eingegangen. Feuerbach hat in den idealistischen und religiösen Bewußtseinsformen den in ihnen versteckten Inhalt entdeckt: das ,menschliche Wesen'. Er nennt sogar die Form beim Namen (und geht mit dieser Erkenntnis über alle Vorgänger hinaus): Entfremdung durch Projektion. Er unterläßt es jedoch, die Frage zu stellen, „warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich a l s o " das ,menschliche Wesen' in einem himmlischen Wesen (Gott) darstellt. Marx stellt diese Frage und leitet damit eine erkenntnistheoretische Revolution ein. Das ,Warum' der Form eines bestimmten Bewußtseins — hier also der Selbstentfremdung des Menschen — kann logischerweise nicht im Bewußtsein selbst 16
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gefunden werden, es sei denn, man wolle das Resultat (die Projektion) aus sich selbst als Voraussetzung erklären. Es muß in der materiellen gesellschaftlichen Praxis der entfremdeten Menschen aufgespürt werden, in deren Kontext sich Bewußtsein erst konstituiert. Die Praxis der Menschen muß so geartet sein, daß sie in den Köpfen der Beteiligten falsches, entfremdetes Bewußtsein hervorruft. Diese Überlegungen führen Marx zur Analyse des materiellen Lebensprozesses der Menschen der bürgerlichen Gesellschaft und damit der Grundverhältnisse dieser Gesellschaft selbst. Eine Analyse der Ursachen des eigentümlich falschen Bewußtseins, das sich allen Individuen der bürgerlichen Gesellschaft aufdrängt — wir haben Elemente dieses Bewußtseins in den vorangegangenen Kapiteln herausgearbeitet —, muß bei der unmittelbar ins Auge fallenden ,Oberfläche' der bürgerlichen Gesellschaft beginnen. Dieser zunächst selbstverständlich erscheinende Sachverhalt beinhaltet, wie die folgende Untersuchung zeigen soll, einen spezifisch historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang, von dem aus die verkehrte Form des der Warenwelt verhafteten bürgerlichen Bewußtseins (sie ist ihm eben selbstverständlich!) erklärt werden kann. Exkurs 1: Grundlegende Gemeinsamkeiten aller menschlichen Gesellschaften und Unterschied zwischen warenproduzierender Gesellschaft und anderen geschichtlichen Produktionsformen. Um zu leben, müssen die Mensehen arbeiten. Die Menschen einer Gesellschaft, die dieses grundlegende Gesetz — konsequent idealistischen Hirngespinsten folgend — auch nur für wenige Monate mißachten würde, würden ganz krude, ganz unidealistisch auf diesen irdischen Tatbestand gestoßen werden. Ausgangspunkt jeder realistischen Geschichtsbetrachtung hat daher die jeweilige Produktion einer Gesellschaft zu sein, wie man sie empirisch feststellen kann und nicht die Vorstellungen, die die Menschen sich über die Verhältnisse machen, in denen sie leben. Um das Spezifische einer historischen Gesellschaftsformation erkennen zu können — das, was sie von anderen historisch-sozialen Formationen unterscheidet —, ist es zunächst notwendig, das herauszustellen, was Sinn jeder menschlichen, das heißt gesellschaftlichen Produktion ist, die Reproduktion der Mitglieder der Gesellschaft auf gleichem oder gestiegenem Niveau. Dies impliziert, daß in jeder Gesellschaft ein Ausgleich zwischen den vorliegenden Bedürfnissen und der Arbeit, die auf die Produkte zur Befriedigung dieser Bedürfnisse aufzuwenden ist, hergestellt werden muß. Der Modus jedoch, wie eine Korrespondenz zwischen den Bedürfnissen und der Gesamtarbeitskraft einer Gesellschaft (worunter wir die Summe der Arbeitsvermögen der Einzelwesen einer Gesellschaft verstehen) erreicht wird, ist in den jeweiligen historischen Gesellschaftsformationen verschieden. Er hängt ab von dem Typ der Produktions222
weise. Zwei grundlegende Modi, wie in der Gesellschaft die Korrespondenz hergestellt wird, wollen wir hier kurz gegenüberstellen (wobei wir betonen, daß es in der Geschichte auch noch andere gab). Die erste Möglichkeit: Die Menschen produzieren nach Maßgabe ihrer Bedürfnisse auf Grund eines gemeinsamen Planes. Sie stellen fest, welche Arbeitszeit sie benötigen, um die verschiedenen Produkte (Gebrauchswerte) zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse herzustellen. Nach dieser Feststellung verteilen sie die Arbeitsplätze auf die einzelnen Produktionsbereiche (auf die verschiedenen Abteilungen der Landwirtschaft, Industrie etc.). Ausgangspunkt ist also die Gesamtarbeitskraft, das Gemeinwesen. Die Arbeit der einzelnen erscheint als konkrete Ausprägung dieser Gesamtarbeitskraft. Ihre Arbeit ist somit von vornherein gesellschaftlich, bewußt geplanter Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeitskraft. Die Beziehung des einzelnen zur Gesellschaft ist also unmittelbar durch die Form der Verausgabung der Arbeit gesellschaftlich, sein Produkt besitzt logischerweise den gleichen Charakter. Das Problem der Korrespondenz ist hier gelöst durch das bewußte, gemeinsame Vorgehen der Gesellschaftsmitglieder; Resultat eines gemeinsamen Planes. Anders bei der zweiten Möglichkeit: Diese Produktionsweise ist zwar ebenfalls gesellschaftlich, liegt aber in dieser Form nicht unmittelbar vor. Es handelt sich um die kapitalistische Produktionsweise, die den besonderen Gegenstand unserer Untersuchung darstellt. Die kapitalistische Produktionsweise ist gekennzeichnet — und dies unterscheidet sie spezifisch von anderen Produktionsformen — durch zwei Charakteristika: Erstens nehmen in ihr alle Produkte (tendenziell) die Form der Ware an. Zweitens geschieht die Produktion der Waren überwiegend unter einem bestimmten historisch entstandenen Herrschaftsverhältnis: dem Kapitalverhältnis; ist also die Produktion nicht nur Produktion von Wert, sondern von Mehrwert. Dieser Charakter der Produktion (kapitalistische Warenproduktion) beruht auf der besonderen Art der Gesellschaftlichkeit der Arbeit in dieser Gesellschaft. Im Gange unserer Untersuchung schließen wir zunächst das zweite Charakteristikum aus, betrachten also nur den Produktionsprozeß als Produktion von Wert, nicht von Mehrwert. Erst wenn die Begriffe: Ware, Wert, Tauschwert und Gebrauchswert geklärt sind und die Konsequenzen für das Ideologieproblem aus dieser spezifischen Produktion, der einfachen Warenproduktion, herausgearbeitet sind, wenden wir uns der kapitalistischen Warenproduktion zu. Exkurs 2: Der Warenfetisch Zunächst ist eine Ware ein beliebiger Gegenstand, der es vermag, irgendein menschliches Bedürfnis eines anderen Individuums zu befriedigen. Diese Eigenschaft bildet seinen Gebrauchswert. Betont haben wir, daß die Ware das Bedürfnis nicht des Produzenten, sondern irgendeines anderen Menschen befriedigen muß. Daraus resultiert, daß 19
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der Gebrauchswert der Ware — im Gegensatz zum Gebrauchswert überhaupt — immer gesellschaftlicher Gebrauchswert ist (weil er für andere Gebrauchswert sein muß). Ein Produkt wird also zur Ware, wenn es gegen ein anderes Arbeitsprodukt getauscht wird. Als Waren produzierende Gesellschaft bezeichnen wir die Gesellschaft, in der die Arbeitsprodukte allgemein für den Tausch bestimmt sind, also das Arbeitsprodukt generell nicht für den eigenen Bedarf bestimmt ist. Die Warenproduktion setzt also eine bestimmte Form der gesellschaftlichen Arbeitsteilung voraus, wo die besonderen, konkret-nützlichen Arbeiten als besondere Profession selbständiger Glieder erscheinen. Die Selbständigkeit der Produzenten drückt sich in der Einseitigkeit der konkreten Arbeit aus (der Schneider produziert nur Kleidungsstücke, der Bäcker Brot, der Leinenweber Leinen etc.). Auf dieser Einseitigkeit beruht die Selbständigkeit der Produzenten gegeneinander. Im Tausch drückt sich diese Selbständigkeit darin aus, daß der Tauschende Eigentümer des Produkts ist, welches er veräußern will. Andererseits aber bedingt die Einseitigkeit der Arbeit das allseitige Angewiesensein der Produzenten aufeinander. Denn im „System der Bedürfnisse" sind die verselbständigten Produzenten sinnlich-stofflich aufeinander verwiesen. Kein Schneider kann sich nur von Kleidungsstücken, kein Stecknadelproduzent nur von Stecknadeln sich reproduzieren. Das aber bedeutet, daß ihre Arbeit, wenngleich in der Form der Privatarbeit verausgabt, inhaltlich gesellschaftliche Arbeit ist. Sie produzieren nicht, um ihre Produkte selbst zu konsumieren, sondern für andere, für die Gesellschaft. Die Warenproduktion ist folglich die Produktion voneinander unabhängiger, isolierter, privater Produzenten, deren Gesellschaftlichkeit, d. h. allseitige, tatsächliche Abhängigkeit voneinander durch die private und nicht von der Gesellschaft geplante Form der Verausgabung der Arbeitskraft nicht unmittelbar positiv in Erscheinung tritt. Da aber, wie wir gesehen haben, die Individuen nur durch die Form der privaten Arbeit als unabhängig voneinander erscheinen, in Wirklichkeit jedoch ihre Arbeit gesellschaftlichen Charakter besitzt (Gebrauchswert der Ware für andere), stellt sich uns die Frage, wie dieser gesellschaftliche Charakter, der nicht unmittelbar vorliegt, sondern durch die private Form der Arbeit verdeckt ist, erscheint oder sich darstellt. Jeder Warenproduzent stellt Dinge her für andere, für den Markt. Auf diesem zeigt sich, ob und in welchem Maße er (der Warenproduzent) gesellschaftliche Arbeit geleistet hat. Da seine Arbeit nicht unmittelbargesellschaftliche Form besitzt, muß sich letztere an ihrem Produkt erweisen. Damit der Warenaustausch stattfinden kann, müssen alle Waren etwas Gemeinsames haben. Es ist offensichtlich, daß dieses gemeinsame Element nicht in ihren verschiedenen, qualitativ unterschiedlichen Gebrauchswerten liegen kann. Es bleibt so nur als Gemeinsames die Eigenschaft, daß alle Waren Produkte menschlicher Arbeit sind. Doch so verschieden, wie die vielfältigen Naturalgestalten 20
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der Waren sind, ist auch die in ihnen materialisierte Arbeit. Im Tauschakt aber wird real — in der Gleichsetzung zweier Waren, z. B. 20 E Leinwand gleich 1 Rock — abstrahiert von der Verschiedenheit der Gebrauchsgegenstände oder der Naturalform (Stofflichkeit) der Ware. Folglich wird die in ihnen vergegenständlichte menschliche Arbeit als gleiche angesehen. Die Arbeit also, soweit sie als Substanz des Wertes gilt, ist die von allen konkreten Formen ihrer Verausgabung abstrahierte, gleiche, allgemein menschliche Arbeit. (Die Verausgabung eines bestimmten Quantums an Muskel, Nerv, Hirn usw.) Als allgemein menschliche Arbeit, als Teil der Gesamtarbeitskraft einer Gesellschaft liegt die Arbeit in der warenproduzierenden Gesellschaft jedoch nicht vor, im Gegensatz zu der von uns oben beschriebenen Gesellschaft. Der „Wert" als kristallisierter gesellschaftlicher Arbeitsaufwand muß sich daher eine „eigene Erscheinungsform" geben. Diese „selbständige Darstellungsweise des in der Ware enthaltenen Werts" ist der Tauschwert. Der Tauschwert der Ware ist die Erscheinung des Wesens der Ware: des Werts. Warum treten aber Wesen und Erscheinung auseinander? — Implizit haben wir die Frage oben schon beantwortet: Die Arbeit in der warenproduzierenden Gesellschaft ist gesellschaftlich, wird aber in der Form der Privatarbeit verausgabt. Folglich liegen auch ihre Produkte nicht in unmittelbarer gesellschaftlicher Form vor, sondern müssen erst beweisen, daß sie als Werte durch gesellschaftlich notwendige Arbeit produziert sind. Der Beweis erfolgt im Tauschakt auf dem Markt. Der Markt entscheidet das Schicksal des Warenbesitzers. Auf ihm vollzieht sich, hinter dem Rücken der Produzenten, als Naturgesetz die Herstellung der Korrespondenz von gesellschaftlich notwendigem Arbeitsaufwand und den Bedürfnissen der Gesellschaftsmitglieder. Denn da „die Glieder des Systems der gesellschaftlichen Arbeitsteilung gegeneinander selbständige Warenproduzenten sind, so ist das Gleichgewicht dieses Systems mit den quantitativ wie qualitativ bestimmt gegliederten gesellschaftlichen Bedürfnissen . . . zufällig. Aber eine dem Umfang und Qualität nach den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechende proportionale Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit auf die besonderen als Privatgeschäfte betriebenen Arbeitszweige ist notwendige Bedingung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses. Für die individuellen Warenproduzenten jedoch, für die der gesellschaftliche Zusammenhang nur als äußerer Prozeß des Austauschs ihrer Produkte als Waren gegeben ist, kann diese Proportion nur außer ihnen liegende, sie in der Art eines Naturgesetzes beherrschende Notwendigkeit sein. Die regellose Willkür der Warenproduzenten kann der Regel der proportionalen Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit nur als einem post festum wirkenden äußeren Zwangsgesetz unterworfen werden. In der Tat wird das Gesetz der gesellschaftlichen Produktion vermittelst der anarchischen Aktion der individuellen selbständigen Produzenten aufeinander, als beständige Tendenz der verschiedenen Produktionssphä225
ren, sich ins Gleichgewicht zu setzen, d. h. die beständig auftretenden Warenproduzenten werden den Gesetzen ihres eigenen gesellschaftlichen Lebens unabhängig von und entgegen ihrem Willen und Bewußtsein unterworfen." Wollen wir also den Ursprung der bürgerlichen Ideologie aufdecken und sie als notwendig falsches Bewußtsein aufzeigen, müssen wir diesen besonderen Modus der Korrespondenzherstellung untersuchen, wie er sich vermittels des Warenaustausches vollzieht, d. h., wir müssen das Austauschverhältnis zweier Waren analysieren. Denn dies ist der einfachste Ausdruck, in welchem die Gesellschaftlichkeit der privaten Arbeiten erscheint. Die Analyse der einfachen Wertform der Ware: 20 E Leinwand = 1 Rock stößt zum Geheimnis des Waren- und Geldfetischs vor und entlüftet so das Geheimnis des Ursprungs der bürgerlichen Ideologie. In dieser Gleichung drückt sich der Wert der Ware A (Leinwand) in einer bestimmten Menge der Ware B (Rock) aus. Die Ware A drückt ihren Wert „relativ" aus, in dem sie sich auf die Ware B bezieht. Die Ware B dient ihr als „Äquivalent". In dieser Gleichung (auch wenn man sie umkehrt) spielt also jede Ware eine verschiedene Rolle. Entweder befindet sie sich in der relativen Wertform oder in der Äquivalentform. Der Wertausdruck drückt also nur den Wert einer Ware aus; die zweite Ware, die in der Form des Äquivalents vorliegt, spielt nur eine passive Rolle, dient der Ware A nur als Material. In der vorliegenden Gleichung, in welcher der Rock zum Äquivalent wird, drückt sich also der Wert (gesellschaftliche Substanz) der Leinwand im Gebrauchswert (Naturalform) des Rockes aus. Indem die Ware A ihren Wert im Gebrauchswert einer anderen Ware ausdrückt, scheint es, als besitze die Ware, die sich in Äquivalentform befindet, von Natur aus die Fähigkeit, den Wert irgendeiner Ware auszudrücken. Als käme ihr als Naturalgestalt, als Ding an sich, die Eigenschaft zu, „Wert" (gesellschaftliche Substanz) zu sein. Die Folge ist, daß die Gesellschaftlichkeit der Individuen als gesellschaftliche Beziehung der Sachen (Waren) erscheint, die unabhängig von ihnen besteht und daß das Verhältnis der Personen zueinander als sachliche, äußere Beziehung erscheint. 22
Mit dieser Herleitung der Genesis der Form, in der sich der Inhalt (die Arbeit) ausdrückt, überschreitet Marx den Erkenntnishorizont bürgerlicher Ökonomie: „Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich also die Arbeit im Wert . . . des Arbeitsprodukts d a r s t e l l t . " Indem Marx die Wertform des Arbeitsprodukts selbst noch ableitet aus der spezifischen Form, in der die Arbeit in einer warenproduzierenden Gesellschaft verausgabt wird, spürt er ihre Geschichtlichkeit (und damit Aufhebbarkeit) auf. „Die Wertform des Arbeitsprodukts ist die abstrakteste, aber auch allgemeinste Form der bürgerlichen Produktionsweise, die hierdurch als eine besondere Art gesellschaftlicher Produktion und damit zugleich historisch charakterisiert wird. Versieht man sie daher für 23
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die ewige Naturform gesellschaftlicher Produktion, so übersieht man notwendig auch das Spezifische der Wertform, also der Warenform, weiter entwickelt der Geldform, Kapitalform u s w . " Die Wertform der Ware beruht auf der spezifischen gesellschaftlichen Form der — warenproduzierenden — Arbeit, d. h. dem Tatbestand, daß gesellschaftliche Arbeit von isolierten Privatproduzenten geleistet wird. Die Arbeit ist in der bürgerlichen Gesellschaft zwar gesellschaftliche Produktion, aber keine bewußt gemeinschaftliche Arbeit. Der Warenform der Arbeitsprodukte steht, wie Marx kritisch anmerkt, „auf der Stirn geschrieben . . . , daß sie einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß b e m e i s t e r t " . Die spezifische Form dieser die bisherige Geschichte ausmachenden Herrschaft der Produktionsbedingungen über die Produzenten manifestiert sich in der warenproduzierenden Gesellschaft in der Vergegenständlichung des gesellschaftlichen Zusammenhangs gegenüber den isolierten Produzenten. Träger dieser ,Vergegenständlichung des gesellschaftlichen Zusammenhangs' sind die Arbeitsprodukte, an denen sich auf diese Weise der widersprüchliche Charakter der gesellschaftlichen Arbeit ausdrückt: in der Form des ,gegenständlichen Scheins der gesellschaftlichen Charaktere der A r b e i t ' . 24
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Marx hat diese Verkehrung und ihre Notwendigkeit wie folgt beschrieben: „Da die Produzenten erst in gesellschaftlichen Kontakt treten (in der warenproduzierenden Gesellschaft, d. Verf.) durch den Austausch ihrer Arbeitsprodukte, erscheinen auch die spezifisch gesellschaftlichen Bestimmungen ihrer Privatarbeiten erst innerhalb dieses Austausches. Oder die Privatarbeiten bestätigen sich in der Tat erst als Glieder der gesellschaftlichen Gesamtarbeit durch die Beziehungen, worin der Austausch vermittels derselben die Produzenten versetzt. Den letzteren erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind, d. h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der S a c h e n . " Es ist dieses „bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen a n n i m m t " . Das falsche Bewußtsein der Agenten dieser Gesellschaft korrelliert so dem objektiv gesetzten falschen Schein dieser bestimmten Produktionsweise. Es entspringt der Warenform selbst, deren Geheimnis darin besteht, „daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere der Arbeitsprodukte selbst als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dieses Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich-übersinnliche oder gesellschaftliche D i n g e . " Der Fetischismus der Warenwelt resultiert also daraus, daß die Erscheinungs27
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form des „Werts" die Eigenschaft hat, das Wesen des „Werts" zu verschleiern und genau als sein Gegenteil (als Natureigenschaft einer Sache) zu erscheinen. Befestigt ist dieser Schein, sobald eine Ware allgemeines Äquivalent (Geld) wird. Dem Geld scheint als Ding die Eigenschaft zuzukommen, „Wert" zu sein. „In der Tat bestätigt sich der Warencharakter der Arbeitsprodukte erst durch ihre Bestätigung als Wertgröße. Die letzteren wechseln beständig, unabhängig vom Willen, Vorwissen und Tun der Austauschenden. Ihre eigene gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu k o n t r o l l i e r e n . " Den Menschen werden so ihre eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse zu einer „zweiten Natur", deren Gesetze sie genauso äußerlich unterworfen sind, wie der ersten (Geschichte als Schicksal). Der westdeutsche Historiker Wolfgang Mommsen hat dieses Geschichtsbewußtsein so charakterisiert: Das „Gefühl nach ,Geborgenheit' im Gang der Geschichte" gehe verloren, an seine Stelle trete „das Gefühl des ,Geworfenseins', der Zufälligkeit unserer Existenz inmitten eines als chaotisch empfundenen geschichtlichen Geschehens. Geschichte tritt uns nicht mehr als ein von uns selbst hervorgerufenes . . . sondern weithin als blindes Faktum gegenüber." Universalisiert diese Auffassung die Organisationsform der bürgerlichen Gesellschaft, so daß alle geschichtlichen Verhältnisse immer schon als (mehr oder weniger) bürgerliche identifiziert werden, die als „natürliche" dem geschichtlichen Wandel transzendent sind, so bildet die Auffassung Rankes von der „Individualität" der Geschichtsepochen nur die Kehrseite der Medaille. Nach Ranke muß die Geschichtswissenschaft darauf bestehen, „daß jede Geschichtsepoche ,Gott gleich nahe ist', d. h. den gleichen Grad der Vollendung erreicht hat, daß es also eine Geschichtsentwicklung — aus entgegengesetzten Gründen — wiederum nicht g i b t " . Geschichte wird so, wie Lukäcs betont „ein — letzten Endes — vernunftsloses Walten blinder Mächte, das sich höchstens in ,Volksgeistern' oder ,in großen Männern' verkörpert, das also nur pragmatisch beschrieben, nicht aber als vernünftig begriffen werden kann. Es ist nur als eine Art Kunstwerk ästhetisch organisierbar" . In beiden Fällen schneidet sich die Geschichtswissenschaft methodologisch die Möglichkeit ab, das Entstehen gesellschaftlicher Gebilde zu begreifen. Tatsächlich drücken diese beiden Auffassungen nur verschiedene Seiten des durch die kapitalistische Warenproduktion gesetzten objektiven Scheins aus: Die angeblich seinsgegebenen Ohnmacht der Menschen gegenüber einem als Naturgesetz erfahrenen verdinglichten gesellschaftlich-ökonomischen Zusammenhang. Als Beispiel aus der Soziologie mag hier der Franzose Emile Durkh e i m stehen (vergl. auch Parson oder Pareto). Durkheim postuliert, man solle die sozialen Tatbestände wie Dinge behandeln. Seine „Regeln der soziologischen Methode" bewahren so 30
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die Hegeische Idee der Gesellschaft als „zweite Natur" auf. Gesellschaft ist dem einzelnen gegenüber das Nichtidentische, Zwang. Aus dieser Äußerlichkeit, wozu Gesellschaft im Kapitalismus — wie wir gezeigt haben — tatsächlich geworden ist, leitet Durkheim sein Postulat der Nichtverstehbarkeit (im Gegensatz zu Max Weber, der ebenso partikular die andere Seite — die Verstehbarkeit — verficht) ab. Richtig ist in seiner Theorie der „faits sociaux" die Konstatierung der Dinghaftigkeit der Gesellschaft insoweit, als sich das Besondere nicht im Allgemeinen wiederfindet. Das Unverständliche, das dem Individuum gesellschaftlich widerfährt, wird jedoch nicht Kernpunkt für die wissenschaftliche Erklärung, welche es erheischt, sondern wird in die methodische Maxime: Du sollst nicht verstehen, hypostasiert (bürgerlicher Agnostizismus als Resignation gegenüber der realen Verdinglichung). Wissenschaft, statt zu erklären, dupliziert die Undurchsichtigkeit der Gesellschaft, so daß sie als „unfaßliches" Schicksal erscheint. Durkheim leistet somit die Vorarbeit für die Geistlosigkeit der empirischen Soziologie, für welche das Allgemeine nichts anderes ist als die Extrapolation der Einzeldaten, des subjektiv Vorfindlichen, zum Durchschnittswert, wohingegen diese Daten immer schon ein durch die gesellschaftliche Allgemeinheit abstrakter Arbeit vermitteltes sind. Symptomatisch für die Geschichtslosigkeit auch des Historismus ist folgende Bemerkung Meineckes (einer der ,Päpste' der deutschen Geschichtswissenschaft): „Es gilt, sich in die Seelen der Handelnden dabei zu versetzen, von ihren Voraussetzungen aus ihr Werk und ihre Kulturleistung zu betrachten und letzten Endes durch künstlerische Intuition ihr vergangenes Leben neu zu beleben, was ohne Transfusion eigenen Lebensblutes nicht möglich i s t . " Nur so könne man, „denjenigen Grad von Objektivität erreichen, der überhaupt möglich i s t " . Die Auffassung, man betreibe ,objektive' Wissenschaft, wenn man sich als Historiker in die Persönlichkeiten der Vergangenheit hineinversetze, ihnen das eigene Lebensblut einspritze, ist nur der kärgliche Reflex der Tatsache, daß in der bürgerlichen Gesellschaft die Individuen als von jeder gesellschaftlichen Bestimmtheit losgelöst, als reine Privatpersonen erscheinen, die sich zudem nur hinsichtlich rein individueller Fähigkeiten unterscheiden. Die Individuen, die in der bürgerlichen Gesellschaft vor allem als Warentauschende (Geldbesitzer) in gesellschaftlichen Kontakt treten, erscheinen notwendigerweise als qualitativ Gleiche und nur quantitativ Unterschiedene (wie ihre Waren, als deren Repräsentanten sie erscheinen). Insofern kann jedes sich in ein anderes ohne weiteres ,hineinversetzen'. Der bürgerliche Historiker überträgt nun diesen aus der Sphäre der Warenzirkulation entspringenden Schein des abstrakten Individuums (als Träger vergegenständlichter abstrakter Arbeit) in die Geschichte und entdeckt alle historischen Persönlichkeiten als alter ego — versehen mit Schwächen und Stärken, wie sie nun einmal allen ,Menschen' in unterschiedlichem Ausmaß ge35
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mein sind. Zugrunde liegt die Vorstellung (die ebenfalls mit dem abstrakten Individuum der Warenzirkulation gegeben ist) des immergleichen Menschen: wie sehr sich auch die äußeren Umstände (Gesellschaft erscheint dem bürgerlichen Individuum ja tatsächlich als etwas ihm Äußerliches) verändern mögen, der Mensch ist und bleibt der ,alte Adam' (Anthropologie). Indem diese Vorstellungen vollständig von der historisch-sozialen Bestimmtheit der konkreten Menschen abstrahieren, reproduzieren sie nur den objektiven Schein des abstrakten Menschen in der Zirkulationssphäre. Sie fassen das Individuum „nicht als geschichtlich entstehendes, sondern von der Natur g e s e t z t e s " — eine Sichtweise, die dem dinglichen Schein der kapitalistischen Verhältnisse (zweite Natur) genauso aufsitzt, wie schon die frühbürgerlichen Naturrechtler mit ihrer Identifizierung des bürgerlichen Privateigentümers mit dem ,natürlichen' Menschen. „Ihr Irrtum besteht darin, daß sie im empirischen historischen Individuum (gleichviel ob es sich um einen Menschen, eine Klasse oder ein Volk handelt) und in seinem empirischen gegebenen (also psychologischen oder massenpsychologischen) Bewußtsein jenes Konkrete zu finden meint. Wo sie jedoch das Allerkonkreteste gefunden zu haben glaubt, hat sie es gerade am weitesten verfehlt: die Gesellschaft als konkrete Totalität; die Produktionsordnung auf einer bestimmten Höhe der gesellschaftlichen Entwicklung und die durch sie bewirkte Gliederung der Gesellschaft in Klassen. Indem sie daran vorbeigeht, faßt sie etwas völlig Abstraktes als Konkretes a n . " „Diese Verhältnisse", sagtMarx, „sind nicht die von Individuum zu Individuum, sondern die von Arbeiter zu Kapitalist, von Pächter zu Grundbesitzer usw. Streicht diese Verhältnisse, und ihr habt die ganze Gesellschaft aufgehoben . . . " 37
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„Ein Neger ist ein Neger. In bestimmten Verhältnissen wird er erst zum Sklaven. Eine Baumwollspinnmaschine ist eine Maschine zum Baumwollspinnen. Nur in bestimmten Verhältnissen wird sie zu Kapital. Aus diesen Verhältnissen herausgerissen ist sie so wenig Kapital wie Gold an und für sich Geld oder Zucker der Zuckerpreis ist." Auch die oben skizzierte soziologisch-gesetzmäßig orientierte Geschichtsbetrachtung teilt die Auffassung, daß das Individuum von der Natur gesetzt sei. Die ahistorische Hypostasierung gesellschaftlicher Verhältnisse korresponiert mit einer ebensolchen Hypostasierung des bürgerlichen egoistischen Individuums zur ,eweigen Menschennatur' (Ontologisierung/Anthropologisierung). Geschichte scheint im Kapitalismus zum Stillstand gekommen zu sein, ist zum quasi naturhaften Sein erstarrt. Der von Menschen gemachte historische Prozeß hat sich in den Kreis des Immergleichen verflüchtigt. Dieser Geschichtsverlust bürgerlichen Bewußtseins hat seine Grundlage in der objektiven Verdinglichung. „Die bürgerliche Gesellschaft steht universal unter dem Gesetz des Tauschs, des ,Gleich um Gleich' von Rechnungen, die aufgehen, und bei denen eigentlich nichts zurückbleibt. Tausch ist dem 4 0
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eigenen Wesen nach etwas Zeitloses . . . Wenn die Menschheit der Erinnerung sich entäußert und sich kurzatmig erschöpft in der Anpassung ans je Gegenwärtige, so spiegelt sich darin ein objektives Entwicklungsgesetz." Es wird nicht nur im Tauschakt die Zeit ausgelöscht, sondern, wichtiger noch: Im Tauschwert als Darstellungsweise abstrakter Arbeit ist die konkrete weltverändernde, eben historische Praxis der Menschen ausgelöscht. Das Sein ist immer schon Gewordenes, seine Genesis durch menschliche Praxis ist ihm genausowenig anzusehen wie seine mögliche praktische Aufhebung. Hier liegt die Wurzel jenes Positivismus, der alles Gewordene dadurch legitimiert, daß es ist und das unmittelbar Vorfindliche für das Ganze nimmt. „Die Denkform Ware ist selber die gesteigerte Denkform Gewordenheit, Faktum. Über diesem Faktum wird das Fieri besonders leicht vergessen und so über dem verdinglichten Produkt das Produzierende, über dem scheinbaren Fixum im Rücken der Menschen das Offene vor ihnen." Dieser bürgerlichen Geschichtslosigkeit (nach vorn und hinten) entspricht der rein beschreibende, nicht erklärende Charakter bürgerlicher Geschichtsschreibung. Stellt man sich, indem man sich „in die Seelen der Handelnden . . . selbst zu versetzen" sucht, auf den Standpunkt derjenigen also, deren Handlungsweise zu untersuchen ist, so ist es verständlich, daß keine Erklärung dieser Handlungsweisen möglich ist, daß die Handlungsweisen (oder Vorstellungen) nur verstanden werden können. Ein Psychoanalytiker, der sich in die „Seele" eines Geisteskranken versetzt, kann vielleicht verstehen, warum sich sein 1 atient für Napoleon hält, diesen Sachverhalt kann er so aber nicht erklären. Um diesen Sachverhalt erklären zu können, ist es notwendig, daß der Forscher die Ebene wechselt, also aus der realen Situation des Individuums (seinem „Kranksein") seine Vorstellungen ableitet. Für eine wirkliche Wissenschaft der Geschichte heißt das: „Es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen, um davon aus bei den leibhaftigen Menschen anzukommen; es wird von den wirklichen tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt." 41
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Die Unfähigkeit, die Genesis gesellschaftlicher Phänomene zu erfassen, ist ihrem Verhaftetsein an den Standpunkt der Zirkulationssphäre geschuldet. Wie sich die Gesellschaftlichkeit der privaten Individuen erst als in den Waren vergegenständlichte darstellt, somit also auf dieser Ebene die historische Formbestimmtheit der diese Mystifikationen erst erzeugenden Arbeit verdeckt ist, wie also vom Standpunkt der Zirkulationssphäre aus die eigene Genesis ausgelöscht erscheint, so erscheinen dem bürgerlichen Verstand die menschlichen Individuen von vornherein als losgelöst von der gesellschaftlichen Unterlage, auf die 231
sie dann nur noch rückwirkend einwirken können. „So wie in der Warenproduktion der gesellschaftliche Charakter der unabhängig voneinander betriebenen Privatarbeiten erst innerhalb des Austauschs, also post festum, im nachhinein, erscheint, so stellt die bürgerliche Ideologie den Zusammenhang von individuellem Handeln und gesellschaftlichem Resultat als Ursache-Folge-Beziehung dar . . . und fixiert die Gesellschaft in der Trennung vom Individuum . . . " Diese Konzeption des über der Gesellschaft schwebenden historischen Individuums, das auf Grund ihm unmittelbar eingewachsener besonderer Fähigkeiten Geschichte ,macht', ist der theoretische Ausdruck des ,abstrakten Individuums', wie es in der Warenzirkulation als realer Schein gesetzt ist: „Die Warenwelt produziert . . . ein abstraktes Denken, weil ihr die Abstraktion selbst i n n e w o h n t . " Diese realen Abstraktionen, die der Warenwelt anhaften und aus denen sich der Formalismus und Idealismus der bürgerlichen Wissenschaft speist, resultieren nicht aus einer angeblichen Natureigenschaft des Arbeitsprodukts ,überhaupt', sondern aus dem spezifisch gesellschaftlichen Charakter der warenproduzierenden Arbeit, der darin besteht, daß die Arbeit in dieser Gesellschaft nur in privater Form vorliegt und sich ihre Gesellschaftlichkeit deshalb in der abstrakten Eigenschaft der Arbeitsprodukte darstellen muß, Wert zu sein Die Gesellschaftlichkeit der Arbeit erscheint in verkehrter und mystifizierter Form; als Wertgegenständlichkeit. Der in der Arbeit angelegte Widerspruch (privat/gesellschaftlich, konkret/abstrakt) reproduziert sich in dem Doppelcharakter des Arbeitsprodukts, der Ware als ,sinnlich-übersinnlichem D i n g ' , d. h. in der Notwendigkeit des Werts (eines gesellschaftlichen Verhältnisses von Menschen), in verkehrter Form, im Tauschwert einer Sache zu erscheinen. „Der Tauschwert erscheint so als gesellschaftliche Naturbestimmtheit der Gebrauchswerte, als eine Bestimmtheit, die ihnen als Dingen z u k o m m t . " Im Geld, dem verselbständigten Tauschwert, hat der gesellschaftliche Zusammenhang isolierter Individuen ihren endgültigen sachlichen Ausdruck erhalten. Als materielles Substrat abstrakter Arbeit ist das Geld vergegenständlichte Abstraktion. „Im Geldverhältnisse, im entwickelten Austauschsystem . . . sind in der Tat die Bande der persönlichen Abhängigkeit gesprengt ... und die Individuen scheinen unabhängig . . . , frei aufeinander zu stoßen und in dieser Freiheit auszutauschen; sie scheinen so aber nur für den, der von den Bedingungen, den Existenzbedingungen (und diese sind wieder von Individuen unabhängige und erscheinen, obgleich von der Gesellschaft erzeugt, gleichsam als Naturbedingungen, d. h. von den Individuen unkontrollierbare) abstrahiert, unter denen diese Individuen in Berührung treten . . . Diese sachlichen Abhängigkeitsverhältnisse im Gegensatz zu den persönlichen erscheinen auch so . . . , daß die Individuen nun von Abstraktionen beherrscht werden, während sie früher voneinander abhingen. Die Abstraktion oder Idee ist aber nichts als der theoretische Ausdruck jener materiellen Verhältnisse, die Herr über sie sind . . . " Mit dem Geld ist der 4 4
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reale Idealismus gesetzt. Die weitverbreitete und auch die Schulbücher durchziehende Vorstellung einer ,reinen Immanenz ideeller Abläufe' ist nur der theoretische Niederschlag der in der Alltagspraxis der bürgerlichen Gesellschaft permanent vollzogenen Abstraktion von der materiellen Produktion. Die bürgerliche Geschichtsschreibung muß folglich, da sie vom abstrakten Individuum ausgeht, entweder psychologisieren (statischanthropologischer Ansatz) oder die Geschichte betrachten nach den Ideen, Vorstellungen etc., die die Individuen sich von ihrem Handeln machen, oder aber die äußerliche Gestalt in der sich die Gemeinschaftlichkeit der abstrakten Individuen ausdrückt, den Staat, zum eigentlichen Subjekt der Geschichte machen. Es muß ihr, da sie den wirklichen Lebensprozeß der Individuen naturalisiert und damit als ungeschichtlich ausklammert, das „Extra-überweltliche", „als das vom Leben getrennte" als das eigentlich geschichtliche erscheinen. Dem objektiv gesetzten dinglichen Schein, der durch die Warenproduktion den gesellschaftlichen Beziehungen anhaftet, aufsitzend, vermag sie nicht zu begreifen, daß auch der Staat nicht eine ,ewige' Form menschlichen Zusammenhalts ist, sondern die aus bestimmten Produktionsverhältnissen entsprungene, entfremdete politische Gestalt dieser Verhältnisse. Die Historiker sitzen so dem Staatsfetisch auf, wie die Ökonomen dem Geldfetisch, weil sie nicht in der Lage sind, den Staat als notwendiges Produkt bestimmter gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse zu begreifen, und der Staat ihnen so naturnotwendig erscheint, wie dem Ökonomen die bürgerliche Gesellschaft. Wieso aber ist der Staat ein notwendiges Produkt der bürgerlichen Produktionsweise? Wieso ist er, wie das Geld, eine entfremdete Gestalt des Allgemeinen? 49
Der Staatsfetisch
Aus dem bestimmten gesellschaftlichen Produktionsverhältnis, in dem die Arbeit der Menschen nicht in unmittelbar gesellschaftlicher Form vorliegt, haben wir die Notwendigkeit abgeleitet, daß sich ihre Produkte eine gesellschaftliche Form geben müssen. Das Geld, das die gesellschaftliche Bezogenheit der Arbeitsprodukte äußerlich herstellt als Verhältnis der Dinge selbst, resultierte aus dem Doppelcharakter der in der Ware eingeschlossenen Arbeit. Als Inkarnation konkreter Arbeit vereinzelter Individuen existieren die Arbeitsprodukte nur als nützliche Dinge und sind so inkommensurabel. Erst wenn sie als Materiatur abstrakter Arbeit, mit der eine Abstrakton von den konkreten Individuen einhergeht, sich darstellen, ist die in ihnen vergegenständlichte menschliche Arbeit als gesellschaftliche anerkannt und können sie in gesellschaftlichen Kontakt treten. Die Individuen werden so zu Prädikaten der abstrakten Arbeit. Dieser 233
Doppelcharakter der Arbeit, der den inneren Gegensatz von Gebrauchswert und Wert der Ware ausmacht, manifestiert sich sinnlich in der Verdoppelung der Ware in Ware und Geld. „Der Prozeß ist also einfach der: Das Produkt wird Ware, das heißt bloßes Moment des Austauschs. Die Ware wird in Tauschwert verwandelt. Um sie sich selbst als Tauschwert gleichzusetzen, wird sie mit einem Zeichen vertauscht, das sie als den Tauschwert als solchen repräsentiert. Als solcher symbolisierter Tauschwert kann sie dann wieder in bestimmten Verhältnissen mit jeder anderen Ware ausgetauscht werden. Dadurch daß das Produkt Ware, die Ware Tauschwert wird, erhält es erst im Kopfe eine doppelte Existenz. Diese ideelle Verdopplung geht (und muß dazu fortgehen), daß die Ware im wirklichen Austausch doppelt erscheint: als natürliches Produkt auf der einen Seite, als Tauschwert auf der andren. D. h. ihr Tauschwert erhält eine materiell von ihr getrennte Existenz . . . Der von den Waren selbst losgelöste und selbst als eine Ware neben ihnen erscheinende Tauschwert ist — G e l d . " So wie die Arbeitsprodukte der Menschen „ihre Gesellschaftlichkeit", ihre Allgemeinheit in einer äußeren Gestalt, dem Geld, ausdrücken müssen, da sie an dem einzelnen Arbeitsprodukt als Resultat privater Arbeit nicht unmittelbar vorliegt, so müssen auch die konkreten Individuen, die als einzelne so verschieden sind, wie ihre Produkte, ihrer Gemeinsamkeit eine äußere Gestalt geben, ihrer Gesellschaftlichkeit in einem äußeren Gebilde Ausdruck verleihen. In ihrem empirischen Sein sind sie nicht unmittelbar gesellschaftliche, gleiche, sondern private, isolierte Individuen. Gleich sind sie erst dadurch, daß ihre individuelle Arbeit als besondere Erscheinungsform der abstrakten gesellschaftlichen Totalarbeitskraft angesehen wird, sie also als abstrakte Individuen gesetzt sind. So wie aber ihre Arbeit sich in einer sachlichen, fremden Gestalt (Geld) darstellen muß, um ihren gesellschaftlichen Charakter zu bekunden, so müssen auch die abstrakten Individuen ihrer Gesellschaftlichkeit, Allgemeinheit eine solche äußerliche Gestalt geben. So wie sich ihre Arbeitsprodukte verdoppeln müssen, so auch die Individuen, die sie produzieren. „Der wirkliche Mensch ist erst in der Gestalt des egoistischen (unwahren, d. Verf.) Individuums, der wahre Mensch erst in der Gestalt des abstrakten citoyens (Staatsbürgers, d. Verf.) a n e r k a n n t . " Statt diesen Zustand als historisch entstandenen und zu kritisierenden zu fassen, überhöht die bürgerliche Geschichtsschreibung die entfremdete Gestalt (Staat) des menschlichen Zusammenhangs, in dem sie den Staat vergöttert. Der im „System der Bedürfnisse", der allseitigen Abhängigkeit der Individuen gründende Zusammenhang erscheint in der Verkehrung als Produkt des Staates. Der Staat wird so zum eigentlichen Subjekt, während er in Wirklichkeit aus der Verdoppelung der bürgerlichen Gesellschaft in bürgerliche Gesellschaft und Staat resultiert. Diese Verdoppelung der bürgerlichen Gesellschaft gründet in ihrer spezifischen Gesellschaftlichkeit der Arbeit, die, wie wir gezeigt 50
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haben, nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar vorliegt. Die „Gesellschaft" existiert in der kapitalistischen Produktionsweise nur als Aktion der einzelnen Warenbesitzer aufeinander. „Zwar ist jede besondere Privatarbeit vermittelt gesellschaftliche Arbeit, aber dies nur als Resultat eines außer den individuellen Teilproduzenten, aus denen die Gesellschaft besteht, vorgehenden anarchischen Prozesses. Alle Arbeiten, die apriori gemeinschaftliche sind in der Weise, daß sie direkt zur Erfüllung gemeinschaftlicher Aufgaben dienen, können daher nicht unter der Form der bloß vermittelt gesellschaftlichen Arbeit geleistet werden. Die gemeinschaftlichen Arbeiten werden also bedingt durch die Gesellschaftlichkeit der Produktion überhaupt und werden zugleich durch die spezifische Art der Gesellschaftlichkeit an der Ausführung gehindert. Der Widerspruch kann sich nur lösen, indem sich der Gesellschaft von Privaten die Gesellschaft als solche gegenüberstellt, indem also die Gesellschaft, das Allgemeine, worunter die besonderen Individuen subsumiert sind, eine selbständige, besondere Existenz neben und außer der Gesamtheit der die Gesellschaft konstituierenden Privaten gewinnt. Diese Verdoppelung der Gesellschaft bringt den Staat hervor. Da die notwendigen unmittelbar gesellschaftlichen Arbeiten nicht von den gesellschaftlichen Individuen, denen ihre Gesellschaftlichkeit äußerlich, entfremdet eine Sache ist, erfüllt werden können, müssen sie als von den Individuen getrennte, ihnen gegenübergestellte erfüllt werden. So werden alle gemeinsamen Interessen losgelöst von der Gesellschaft und ihr als allgemeines Interesse gegenübergestellt, als durch den Staat vertretenes und verfolgtes Interesse." 52
Alle gemeinsamen Aufgaben, die als Rahmenbestimmungen des Reproduktionsprozesses dienen — wie z. B. Herstellung allgemeiner Produktions- und Verkehrsbedingungen, Ausbildung der Arbeitskraft (Schule), usw. —, werden dem Staat übertragen, da sie für den Verwertungsprozeß des Kapitals notwendig sind, aber ihre Erstellung für das einzelne Kapital nicht profitabel genug ist. Der bürgerliche Staat, als gesellschaftliche Institution der abstrakten Individuen, ist realiter Garant und Sanktion gesellschaftlicher Verhältnisse, die durch die Unterworfenheit der Menschen unter ihren undurchschauten Produktionsprozeß gekennzeichnet sind, der Herrschaft der abstrakten Arbeit über die konkrete lebendige. Als solcher ist er Klassenstaat, „weiter nichts als die Form der Organisation, welche sich die Bourgeois sowohl nach außen als nach innen hin zur gegenseitigen Garantie ihres Eigentums und ihrer Interessen notwendig geben . . . , in welcher die Individuen einer herrschenden Klasse ihre Die besondere Form gemeinsamen Interessen geltend machen . . . " des bürgerlichen Staates als notwendige ,Ergänzung' der bürgerlichen Gesellschaft läßt ihn abstrakt als Sachwalter eines ,Allgemeininteresses' erscheinen — ,über den Parteien stehend' (vgl. etwa die Darstellung Friedrich Eberts in den Schulbüchern). Die objektiv gesetzte Illusion der im Staat inkarnierten allgemeinen Vernunft ist der ideologi5 3
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sehe Reflex der die Wertform der Waren konstituierenden abstrakten Arbeit. Sie entsteht dadurch, daß der Staat als Garant des die Individuen scheinbar gleichmachenden Tauschakts, als Resultat des dem volonté général entsprechenden Gesellschaftsvertrages (Projizierung des naturwüchsigen Tauschakts in der Willensebene) erscheint. Dieser objektive Schein verschleiert sein entgegengesetztes Wesen. „Durch die ökonomischen Klassen hindurch konstituiert sich der Staat als der mit Sanktionsgewalt ausgestattete Garant des implizit vertraglichen Gewaltverzichts durch den Tauschverkehr und ist doch ein die faktische Gewalt ständig reproduzierendes Herrschaftsinstrument der herrschenden Klasse, weil diese die materielle Ungleichheit nicht befriedigen und befrieden kann. Der Staat ist ein entfremdetes und verdinglichtes Produkt der in abstrakter Arbeit organisierten bürgerlichen Klassengesellschaft; er stellt die abstrakte Emanzipation dar, die vom sinnlichen Genuß abstrahierte Realität der allgemeinen Vernunft, die auf diese Weise zum objektiven Ungeist w i r d . " Diesen Zusammenhang von bürgerlicher Gesellschaft und Staat — der Staat als Produkt der „bürgerlichen Gesellschaft" und nicht umgekehrt — vermag die bürgerliche Historiographie nicht zu erfassen, da für sie, wie wir gesehen haben, die Sphäre der materiellen Produktion aus ihren Betrachtungen herausfällt, was wiederum seine Ursachen darin hat, daß die kapitalistische Warenproduktion ihnen auf Grund des mit dieser Produktionsweise einhergehenden objektiv gesetzten falschen Scheins, als natürliche erscheint und nicht als historische. 54
Konsequenterweise muß hier daher die entfremdete Gestalt des allgemeinen Zusammenhangs — Staat — als der eigentliche Agent in der Geschichte erscheinen. Dieser reale Schein, den die bürgerliche Gesellschaft produziert und die ihm entsprechenden von uns skizzierten ideologischen Auffassungen, verschwinden erst, „wenn der wirklich individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ,forces propres' als gesellschaftliche Kraft erkannt und organisiert hat . . . " — also erst mit dem Verschwinden der kapitalistischen Warenproduktion. Denn alle diese realen Verdinglichungen der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen und die ihnen korrelierenden Bewußtseinsformen wurzeln in der Erscheinungsweise des Arbeitsproduktes als Ware und sind mit der Warenproduktion daher unzertrennlich verbunden. Die Gemeinschaftlichkeit existiert für die Individuen der bürgerlichen Gesellschaft immer nur als von ihnen losgelöste, selbständige, äußere Macht, der sie ohnmächtig unterworfen sind. 5 5
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Exkurs 3: Der Kapitalfetisch Kapital ist zunächst einmal Geld. Aber nicht jedes Geld ist Kapital. 236
Damit sich Geld in Kapital verwandelt, muß es einen Profit abwerfen. In der von uns dargestellten einfachen Warenproduktion wird eine Ware A gegen ein bestimmtes Quantum der allgemeinen Ware (Geld) ausgetauscht, um damit eine andere Ware zu kaufen. Verkauf und Kauf dienen also dazu, daß ich mich in den Besitz einer von mir nicht produzierten Ware bringe, um deren Gebrauchswert zu konsumieren: W — G — W. In diesem Prozeß dient das Geld lediglich als Zirkulationsmittel. Anders, wenn das Geld als Kapital funktioniert. Hier wird das Geld ausgegeben, um eine Ware zu kaufen, um dann diese wieder zu verkaufen. Als: G — W — G . Dieser Prozeß wäre unsinnig für den Geldbesitzer, würde er am Ende genausoviel Geld in den Händen halten, wie er vorgeschossen hat. Der Sinn der Transaktion ist also, daß sich das Geld in mehr Geld verwandelt. G - W - G' oder G' = G + Δ G. Liegt bei der einfachen Warenzirkulation der Zweck (die Erlangung eines fremden Produkts zur Befriedigung der Bedürfnisse) außerhalb der Zirkulation, so scheint letztere Transaktion ihren Sinn in sich selbst zu haben: Die Verwandlung von Geld in Ware und von Ware in Geld. Der Wert „verwandelt sich so in ein automatisches Subjekt . . . In der Tat aber wird der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst abstößt, sich selbst verwertet. Denn die Bewegung, worin er Mehrwert zusetzt, ist seine eigene Bewegung, seine Verwertung also Selbstverwertung. Er hat die okkulte Qualität erhalten, Wert zu setzen, weil er Wert ist. Er wirft lebendige Junge oder legt wenigstens goldne Eier . . . " Hier, mit der Verwandlung des Geldes in Kapital, ist der Fetischismus endgültig befestigt. Die allgemeine Ware (Geld) scheint nicht nur von Natur aus die Eigenschaft zu haben, Wert zu sein, sondern auch diejenige, Wert zu setzen, sich selbst zu vermehren. Marx entschleiert den mystischen Schein des Geldes als Kapital, indem er den Ursprung des Mehrwerts erklärt. „Die Wertveränderung des Geldes, das sich in Kapital verwandeln soll, kann nicht an diesem Geld selbst vorgehen, denn als Kaufmittel und als Zahlungsmittel realisiert es nur den Preis der Ware, die es kauft oder zahlt . . . Ebensowenig kann die Veränderung aus dem zweiten Zirkulationsakt, dem Wiederverkauf der Ware, entspringen, denn dieser Akt verwandelt die Ware bloß aus der Naturalform zurück in die Geldform. Die Veränderung muß sich also zutragen mit der Ware, die im ersten Akt G — W gekauft wird, aber nicht mit ihrem Wert, denn es werden Äquivalente ausgetauscht, die Ware zu ihrem Wert bezahlt. Die Veränderung kann also nur entspringen aus ihrem Gebrauchswert als solchem, d. h. ihrem Verbrauch. Um aus dem Verbrauch einer Ware Wert herauszuziehen, müßte unser Geldbesitzer so glücklich sein, innerhalb der Zirkulationssphäre, auf dem Markt, eine Ware zu entdecken, deren Gebrauchswert selbst die eigentümliche Beschaffenheit besäße, Quelle von Wert zu sein, deren wirklicher Verbrauch also selbst Vergegenständlichung von Arbeit wäre, 1
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daher Wertschöpfung. Und der Geldbesitzer findet auf dem Markt eine solche spezifische Ware vor — das Arbeitsvermögen oder die Arbeitskraft." Wir haben die Stelle, daß im Austausch G — W, oder konkret jetzt: Lohn für Arbeitskraft, Äquivalente ausgetauscht werden, hervorgehoben, um dem Trugschluß vorzubeugen, daß hier ein Betrug am Arbeiter stattfindet. Der Mehrwert, den der Kapitalist sich aneignet, wurzelt in einer anderen Tatsache. Mit dem Verkauf der Arbeitskraft wird diese selbst in eine Ware verwandelt. Ihr Wert bestimmt sich, wie der jeder anderen Ware, durch die zu ihrer Herstellung gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Die Arbeitskraft existiert aber nur in der leiblichen Gestalt des Arbeiters. Ihr Wert wird bestimmt durch die Arbeitszeit, die gesellschaftlich-durchschnittlich notwendig ist, um die Waren herzustellen, die der Arbeiter braucht, um sich als Arbeiter (mit historisch-gesellschaftlich modifizierten Bedürfnissen) zu reproduzieren. Diese Zeit mag aber nur 4 Stunden täglich betragen. Der Kapitalist aber kauft die Arbeitskraft — sagen wir — für 8 Stunden. In den ersten 4 Stunden ersetzt der Arbeiter dem Kapitalisten somit den Lohn, in den nächsten 4 Stunden arbeitet er unbezahlt, produziert er Mehrwert. Verschleiert wird dieser Zusammenhang durch die Form des Lohnes, nach welcher es so aussieht, als bezahle der Kapitalist den Wert des durch die Arbeit produzierten Werts, während er nur den Wert seiner Arbeitskraft bezahlt. Der Äquivalententausch erweist sich somit als Schein. In Wirklichkeit eignet sich der Kapitalist fremde Arbeit „ohne Austausch, ohne Äquivalent, aber mit dem Schein des Austausches" a n . Denn der Arbeiter produziert ja auch den Wert der Waren, als dessen Äquivalent der Lohn erscheint. Der Arbeiter ersetzt dem Kapitalisten also auch die Ausgaben des Lohns. Vom Standpunkt des einzelnen Arbeiters ergibt sich der Schein, daß es sich um einen Äquivalententausch handelt, dadurch, daß es so scheint, als bezahle der Kapitalist den „Wert oder Preis seiner Arbeit". Was ist aber der „Preis der Arbeit? Wie wird er bestimmt? Wie der jeder anderen Ware! Aber was ist der Wert einer Ware? Gegenständliche Form der in ihrer Produktion verausgabten gesellschaftlichen Arbeit. Und wodurch messen wir die Größe ihres Wertes? Durch die Größe der in ihr enthaltenen Arbeit. Wodurch wäre also der Wert z. B. eines 12stündigen Arbeitstages bestimmt? Durch die in einem Arbeitstag von 12 Stunden enthaltenen 12 Arbeitsstunden, was eine abgeschmackte Tautologie i s t . " Diesen Zirkel, wonach — durch die Lohnform verzehrt — der Arbeit selbst ein Wert zufällt, welcher durch die Arbeit selbst bestimmt werden müßte, konnte die klassische Nationalökonomie nicht durchbrechen, ohne den Klassenstandpunkt der Bourgeoisie zu verlassen. 58
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Die Auflösung dieser Verkehrung und dieses Zirkels gelang Marx durch die Einführung einer neuen Kategorie: Der Arbeitskraft. Indem Marx zeigte, daß der Lohn den Wert der Arbeitskraft repräsentiert 238
und nicht den durch die Arbeit produzierten Wert, konnte er den Ursprung und die Natur des Mehrwerts erklären. Die Form des Arbeitslohnes oder der Ausdruck „Preis der Arbeit" verschleiert hingegen die Natur des Mehrwerts. Denn die Arbeit hat keinen Wert. Sie ist Wertbildner. Der Ausdruck „Wert der Arbeit" verwandelt den Wertbegriff in sein völliges Gegenteil. Der Wert erscheint als eine Natureigenschaft der Arbeit. „Preis der Arbeit" ist ein imaginärer Ausdruck wie etwa Wert der E r d e . Hier liegt die Ursache für die Mystifizierung der Produktionsfaktoren, die Verkehrung der kapitalistischen Form des Produktionsprozesses zur Naturalform schlechthin und den daraus resultierenden Geschichtskonzeptionen. Da in dem Ausdruck „Preis" oder „Wert der Arbeit" die Lohnarbeit nicht als einer spezifischen historischen Gesellschaftsformation eigen betrachtet wird, sondern alle Arbeit von Natur aus als Lohnarbeit erscheint, so fällt notwendigerweise auch die „bestimmte gesellschaftliche Form, worin die Arbeitsbedingungen der Arbeit gegenübertreten, zusammen mit ihrem stofflichen Dasein. Die Arbeitsmittel sind dann als solche Kapital, und die Erde als solche ist Grundeigentum. Die formale Verselbständigung dieser Arbeitsbedingungen gegenüber der Arbeit, die besondere Form dieser Verselbständigung, die sie gegenüber der Lohnarbeit besitzen, ist dann eine von ihnen als Dingen, als materielle Produktionsbedingungen untrennbare Eigenschaft, ein ihn als Produktionselement notwendig zukommender, immanent eingewachsener Charakter. Ihr durch eine bestimmte Geschichtsepoche bestimmter sozialer Charakter im kapitalistischen Produktionsprozeß ist ein ihnen naturgemäßer, und sozusagen von Ewigkeit her, als Elementen des Produktionsprozesses eingeborener dinglicher C h a r a k t e r . " 61
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Seinen Niederschlag findet dieser falsche Schein, wie wir gezeigt haben, in der Identifizierung der Produktionsmittel mit Kapital. Wir finden hier in ausgeprägter Form wieder, was wir schon beim Warenfetischismus beobachten konnten: Das Gesellschaftliche erscheint als Eigenschaft von Sachen. Dem Kapital (und zwar im bürgerlichen Sinne als Sache, Geld, gefaßt) fällt so die mystische Kraft zu, sich selbst vermehrender Wert zu sein. „Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und gerade sein Gegenteil zeigt, beruhen alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonom i e . " Es erscheint so als völlig berechtigt — und dies ist die Konsequenz der Erscheinungsform des Wertes der Arbeitskraft als „Wert der Arbeit", daß, wenn der Arbeitslohn mit dem durch die Arbeit geschaffenen Wert zusammenfällt, auch diejenigen Teile des Wertprodukts, die sich in anderen Formen darstellen, eigenständige Quellen von Wert haben müssen, daß also dem Besitzer dieser Produktionsfaktoren (Kapitalist und Grundeigentümer) zufällt, was eben den mitwirkenden Produktionsfaktoren entspringt. Die Zusammenfassung vieler Arbeiter als einheitlicher Gesamtkör6 4
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per in der Kooperation bringt eine spezifische gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit hervor, die Produktivkraft der vergesellschafteten Arbeit. Historisch entwickelt sich diese besondere Potenz der Arbeit durch die Zusammenfassung vieler Arbeiter unter die Regie des Kapitals. Der Kapitalist kauft und bezahlt die einzelnen Arbeitskräfte; die durch die Kooperation geschaffene besondere Produktivkraft der vergesellschafteten Arbeit kostet ihn nichts, sie entwickelt sich erst im Arbeitsprozeß. Im kapitalistischen Produktionsprozeß aber gehören die Arbeitskräfte bereits dem Kapitalisten und nicht mehr den Arbeitern. Der Zusammenhang ihrer Arbeiten tritt ihnen als fremder Wille gegenüber, der sie beherrscht. Daher erscheint die spezifische Produktivkraft der vergesellschafteten Arbeit als Produktivkraft des Kapitals; die tote Arbeit, personifiziert durch den Kapitalisten und vergegenständlicht durch die Produktionsmittel, wendet die lebendige Arbeit an, statt von ihr angewandt zu werden. Durch diese Verkehrung von Subjekt und Objekt wird das Kapitalverhältnis mystifiziert, erscheinen alle subjektiven Potenzen der Arbeit als Potenzen des Kapitals. Dieser durch den kapitalistischen Produktionsprozeß objektiv erzeugten Mystifikation entsprechen die Ideologeme der Sozialpartnerschaft und der Konvergenz der Systeme. Denn fließen die verschiedenen Revenues „aus ganz verschiedenen Quellen, die eine aus der Erde, die andere aus dem Kapital, die andere aus der Arbeit . . . stehen (sie) also in keinem feindlichen, weil überhaupt keinem Zusammenhang" und wirken sie dennoch in der Produktion harmonisch zusammen, so müssen auch die verschiedenen gesellschaftlichen Klassen als Partner (nicht als Gegner) gefaßt werden. Es ist dies nur die Konsequenz aus der durch die Lohnform verursachten Verschüttung der wirklichen Quelle des Werts und Mehrwerts, welche allein die Arbeit darstellt. Die verschiedenen Revenues sind nichts anderes als die verschiedenen Formen der Aufteilung dieses Werts unter die verschiedenen Klassen. Mit anderen Worten, die Kapital- und Grundeigentumseinkünfte sind nichts anderes, als unbezahlte Arbeitszeit. Da dieser Zusammenhang aber durch die Lohnform der Arbeit verkehrt wird, können Kapital und Arbeit als Partner erscheinen. Des weiteren entspringt aus dem irrationalen Ausdruck „Preis der Arbeit", welcher die Arbeit ihrer Natur nach als Lohnarbeit erscheinen läßt, die schon im Kapitel „Die Darstellung des Wissenschaftlichen Sozialismus" (S. 151 ff.) aufgezeigte Identifizierung von Produktionsmitteln und Kapital. Der kapitalistische Produktionsprozeß wird zu der „Wirtschaft" oder zu der „Industrie" überhaupt (auch in Reden von einigen Gewerkschaftsführern). Die Konvergenztheorie, deren wichtigster Begriff die „industrielle Gesellschaft" ist, gedeiht auf diesem Boden. Auf Grund der Verschmelzung des kapitalistischen Produktionsprozesses - im bürgerlichen Bewußtsein - mit seinen sachlichen Momenten als diesen natürlich eingewachsenen Charakter, wird der technische Aspekt (Indu65
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strie) zum Klassifizierungsbegriff von Gesellschaft. Sozialistische und kapitalistische Gesellschaften rangieren unter den „Industriestaaten" im Gegensatz zu unentwickelten Ländern. Der Gegensatz zwischen kapitalistischen und sozialistischen Ländern gründet daher nicht mehr in der Produktion, sondern findet sich auf der politischen Ebene. Am klarsten kommt dies in der Totalitarismustheorie zum Vorschein, welche sich als eine vergleichende Theorie politischer Systeme versteht. Insoweit fungieren Konvergenz- und Totalitarismustheorie vor dem gleichen Hintergrund. Beide basieren auf dem Kapitalfetisch, dem objektiv gesetzten falschen Schein. Da das Denken der Masse der Bevölkerung durch diesen falschen Schein geprägt ist, findet die Totalitarismustheorie ebenso wie die Konvergenztheorie und die Sozialpartnerschaftsideologie eine große Resonanz. Dem alltäglichen Denken, dem Alltagsverstand, scheinen diese Theorien evident, eben weil sie der gleichen Verhaftung an der Oberfläche der Gesellschaft unterliegen, wie dieses. Das aber eben auch disqualifiziert diese Theorien als wissenschaftliche, macht sie zu bürgerlichen Ideologien. Wie allgemeine bürgerliche Denkstrukturen in konkrete Ideologeme eingehen, soll hier exemplarisch an dem nach dem Zweiten Weltkrieg die Geschichts- und Sozialkundebücher beherrschenden, aus der aktuellen Situation des Kalten Krieges resultierenden Ideologem der Totalitarismuskonzeption und ihrem zunehmend beliebteren Surrogat, der Konvergenztheorie nachgewiesen werden. Die Totalitarismustheorie funktioniert auf Grund des objektiven Scheins, daß sozialistisches und nationalsozialistisches System wegen formaler Identität ihrer Machtausübungstechniken wesensgleich seien. Das Kriterium, an dem beide Systeme gemessen werden, ist der bürgerliche Rechsstaat, und seine obersten Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und des Rechtes auf Eigentum. In der Tat hält der Sozialismus die „Spielregeln" des bürgerlichen Rechtsstaates nicht ein. Zu fragen ist nur, was diese Begriffe, die hierzulande einen sehr allgemeinen Charakter und daher so breite Wirkung haben, bedeuten, wenn man sie mit historisch gesellschaftlicher Realität füllt. Freiheit, Gleichheit und Eigentum waren die Parolen, mit denen die bürgerliche Klasse die politische Macht eroberte und die sie mit einer gewissen historischen Berechtigung als das gemeinsame Interesse aller nichtfeudalen Klassen ausgeben konnte. Denn in der Tat stellten die bürgerlichen Menschenrechte einen gesellschaftlichen Fortschritt gegenüber den feudalen Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen dar. Bestand im Feudalismus ein unmittelbares persönliches Abhängigkeitsverhältnis und waren die Rechte der Bauern von der Willkür des jeweiligen Feudalherrn bestimmt, so funktioniert der bürgerliche Staat gerade auf Grund der Versachlichung der gesellschaftlichen Beziehungen einerseits und den Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Eigentum andererseits. Was aber hieß und heißt die Verwirklichung dieser Prinzipien für die Masse der arbeitenden Bevölkerung im Kapi241
talismus? Hierzu schreibt Marx: „Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum . . . Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer eigener Ware, z. B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine . . . Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres, Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen. Und eben weil so jeder für sich und keiner für den anderen kehrt, vollbringen alle, infolge einer prästabilierten Harmonie der Dinge oder unter den Auspizien einer allpfiffigen Vorsehung, nur das Werk ihres wechselseitigen Vorteils, des Gemeinnutzes, des Gesamtinteresses." So bedeutet Freiheit für den Arbeiter im Kapitalismus nichts anderes als die Tatsache, „daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als Ware verfügt, daß er andererseits andere Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen S a c h e n " . Die formale Freiheit des Arbeiters geht so einher mit der totalen Abhängigkeit von den von ihm getrennten Bedingungen der Arbeit, die ihm in Form des Kapitals als fremde Macht entgegentreten, von denen er abhängig ist und die ihn beherrschen. Je mehr sich also mit der allseitigen Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise das wahre Wesen des abstrakten bürgerlichen Freiheitsideals als die totale Unfreiheit der Individuen herausstellte, desto mehr trat der emanzipatorische Charakter dieses Ideals vor den blanken bürgerlichen Herrschaftsinteressen zurück. Im Rahmen der Totalitarismustheorie wird der liberale Freiheitsbegriff dann zur eindeutig antikommunistischen Beschwörungsformel, die die Frage nach der neuen gesellschaftlichen Qualität des sozialistischen Freiheitsbegriffs im Keim zu ersticken sucht. 66
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Zu ähnlichem Ergebnis kommt man, wenn man den Inhalt des bürgerlich-liberalen Gleichheitsbegriffs untersucht. Dieser unterscheidet sich im Kopfe der meisten Bürger unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung dadurch von „kommunistischer Gleichmacherei", daß gerade in der Gleichheit aller Personen vor dem Gesetz, in ihrer Rechtsobjektivität, die Wahrung ihrer je besonderen Individualität aufgehoben sei. Dieser Schein der Gleichheit hat seine objektiven Wurzeln im Austauschprozeß der Waren. In der Form, in der die Individuen im Kapitalismus miteinander verkehren und ihre Privatarbeiten als gesellschaftliche realisieren, besteht in der Tat kein Unterschied zwischen ihnen. Als Subjekte gleichen sie einander, sind sie nichts als Austauschende. Damit der Tausch stattfinden kann, müssen sie sich wechsel242
seitig als gleich anerkennen, d. h. von ihren wechselseitigen Besonderheiten abstrahieren. Trotzdem ist gerade die Besonderheit der auszutauschenden Waren, ihr jeweiliger Gebrauchswert, der Grund ihrer sozialen Gleichheit, sie liefert den Anlaß zum Austausch. „Die wechselseitige Befriedigung ihrer Bedürfnisse, vermittelst der stofflichen Verschiedenheit ihrer Arbeit und ihrer Ware, macht ihre Gleichheit zu einer erfüllten sozialen Beziehung und ihre besondere Arbeit zu einer besonderen Existenzweise der sozialen Arbeit überhaupt." So kann auch beim Verkauf der Ware Arbeitskraft der Schein eines Äquivalententauschs entstehen, der auch an der Oberfläche der Zirkulationssphäre real stattfindet. Nur indem von der Besonderheit der Ware Arbeitskraft gegenüber allen anderen Waren abstrahiert wird, können sich Arbeiter und Kapitalist auf dem Arbeitsmarkt als gleiche gegenübertreten und kann der Preis oder Wert der Ware Arbeitskraft als Lohn der Arbeit erscheinen. Der allgemeinen Wertform der Waren, die es ermöglicht, sie zu vergleichen, entspricht also die allgemeine Rechtssubjektivität, die alle Menschen als formell gleich, als rechtsfähig anerkennt. Hier wird kein Unterschied gemacht zwischen Produktionsmitteln oder Konsumtionsmitteln und der Ware Arbeitskraft. Wir sehen also, daß es gerade das Prinzip der bürgerlichen Gleichheit ist, das die Ungleichheit und die Ausbeutung der Individuen im Kapitalismus konstituiert. Historisch bedeutet die Rechtssubjektivität des einzelnen zunächst ein Fortschritt gegenüber dem Feudalismus, da die Individuen und ihre gesellschaftliche Interaktion vor dem Eingriff außerökonomischen Zwangs geschützt werden müssen, damit sich die bürgerliche Produktionsweise durchsetzen kann. Deshalb müssen alle organisch gewachsenen individuellen Beziehungen durch die rationelle rechtliche Organisation der Gesellschaft in Form des bürgerlichen Rechtsstaats ersetzt werden. Die Gleichheit der Menschen im Kapitalismus bedeutet aber in Wirklichkeit keineswegs die Anerkennung und Förderung ihrer Individualität. Der dem Tauschakt zugrunde liegenden Abstraktion von den konkreten Besonderheiten der individuellen Arbeit entspricht nämlich die Abstraktion von der konkreten Verschiedenheit der Individuen. Die Gleichbehandlung der Menschen im bürgerlichen Rechtsstaat ist nur möglich auf Grund der Reduktion jedes einzelnen, „ohne Ansehen seiner Person", auf eine einzige Eigenschaft, nämlich die, Besitzer von Ware zu sein. So wird gerade die rechtliche Organisation der Austauschbezithungen, bei der der bürgerliche Staat ja nur Überwachungsfunktion übernehmen soll, und der Verzicht auf unmittelbare Herrschaftsbeziehungen zur Garantie der gesellschaftlichen Ungleichheit und das „nicht Ansehen der Person" zum rechtlich sanktionierten Augenverschließen vor der Unterdrückung. Denn dort, wo die Einflußsphäre des bürgerlich-demokratischen Staates endet, um 68
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der „Initiative des Einzelnen" freie Hand zu lassen (frei zu planen, zu produzieren, zu verkaufen), beginnt der eigentliche Bereich der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens. In diesem Bereich allerdings herrscht im Kapitalismus das Prinzip der Ungleichheit. Die Form jedoch verschleiert diese inhaltliche Ungleichheit, Unfreiheit, Eigentumslosigkeit der Masse der Bevölkerung, da sie Ausdruck der Zirkulationssphäre ist, deren objektiver Widerschein. Es sind diese dargelegten und als ideologisch von uns denunzierten abstrakten Werte, die die Anhänger der Totalitarismustheorie als Wesensmerkmale der Demokratie dem Sozialismus als Widerpart gegenüberstellen („freiheitliche Demokratie — totalitärer S t a a t " ) . Auf dieser Ebene allerdings erscheint dann notwendigerweise der Sozialismus als ein System der Unfreiheit etc. Denn seine Aufgabe ist es gerade, jenseits der formalen Gleichheit, welche die wirkliche Unterdrückung verschleiert, Freiheit real einzulösen. Dies aber bedeutet konkret: Unterdrückung jener, die die Freiheit, Gleichheit etc. der Mehrheit des Volkes verhindern. Die Frage, die der Sozialist stellt, lautet daher: Freiheit für wen? Für den Ausbeuter, das Volk auszubeuten, oder Freiheit des Volkes von Ausbeutung? Der Sozialist fragt also, wenn er Freiheit sagt, immer wessen „Freiheit" folglich notwendigerweise eingeschränkt werden muß. Die bürgerlichen Literaten, Politiker etc. hingegen reden immer nur von der Freiheit, z. B. Freiheit auf dem Wohnungsmarkt. Was bedeutet das wirklich? Der Vermieter kann die Miethöhe relativ beliebig bestimmen! Für den Mieter hingegen hieße Freiheit, frei zu sein von den überhöhten Forderungen der Hausbesitzer. Die Freiheit der einen schließt also die Freiheit der anderen aus. Die leerformelhafte Verwendung der Vokabel „Freiheit" verschleiert dies, so daß die bürgerlichen Ideologen als die wahren Vertreter der Freiheit erscheinen, jene hingegen, die die Kehrseite mitbenennen, als Feinde der Freiheit. In der Tat können die bürgerlichen Ideologen die Kehrseite ihrer proklamierten Freiheit nicht mitbenennen, denn sonst würde offensichtlich, daß die formale Gleichheit, Freiheit etc. in Wirklichkeit (inhaltlich) nur Freiheit für eine Minderheit bedeutet. Daher auch ihr Fetisch der Wertfreiheit der Wissenschaft, Kunst etc. Die Sozialisten hingegen propagieren die Parteilichkeit. Sie können dies tun, weil ihre Parteilichkeit eine für die große Masse der Bevölkerung ist. Nizan hat im Pamphletstil dieses unterschiedliche Auftreten von bürgerlichen und sozialistischen Literaten beschrieben: , J e d e Literatur ist Propaganda. Die bürgerliche Propaganda ist idealistisch, sie versteckt ihr Spiel und verschleiert ihre Ziele, die sie insgeheim verfolgt: denn zu diesen Zielen kann man sich nicht bekennen. Die revolutionäre Propaganda weiß, daß sie Propaganda ist, sie veröffentlicht ihre Ziele in völliger Aufrichtigkeit. Die bürgerlichen Kritiker werden die Zartsinnigen spielen, Propaganda könne keinen Wert haben, man wisse zur Genüge, daß die Kunst unparteiisch sein muß. Über die plumpe Falle können wir nur lachen: die bürgerlichen Domestiken der Kritik wer244
den umsonst bellen. Die Kunst ist für uns das, was die Propaganda wirksam macht . . . " Diese klare Sprache kann das Bürgertum im Interesse der Sicherung ihrer Klassenherrschaft nicht sprechen. Es muß verschleiern. Die objektive Basis auf der die Verschleierung funktioniert — nämlich das notwendig falsche Bewußtsein — produziert, wie wir gezeigt haben, die kapitalistische Produktionsweise selbst. So wie die bürgerliche Gesellschaft als natürliche erscheint, so auch ihre Freiheit, ihre Gleichheit etc. Der Sozialismus als ihr „Totengräber" muß daher als gewaltsam, widernatürlich erscheinen, ebenso seine Bestimmung von Freiheit und Gleichheit. Nach diesem Mechanismus funktioniert die Totalitarismustheorie in der Auseinandersetzung mit den sozialistischen Staaten. 7 0
Schlußbemerkung
Gegenstand der bisherigen Untersuchung war die Analyse falschen Bewußtseins als notwendig aus den kapitalistischen Produktionsverhältnissen erwachsender Widerspiegelung einer verkehrten Realität. Als Ergebnis dieser Untersuchung kann festgehalten werden, daß massenhaft verbreitetes falsches Bewußtsein — z. B. die Vorstellung, Kapitalist und Arbeiter seien „Sozialpartner" — nicht als Ergebnis bloßer Manipulationstechniken der Kapitalistenverbände verstanden werden kann. Vielmehr muß hier berücksichtigt werden, daß der objektive Schein der Lohnform dieses falsche Bewußtsein spontan produziert. Allerdings kann eine solche Erklärung der gesellschaftlichen Genesis von bürgerlicher Ideologie nicht hinreichen, wenn es gilt, die konkreten Modifikationen, die diese Ideologie seit der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise erfahren hat, dingfest zu machen und sie auf ihre konkrete historische Bedeutung bei der Sicherung dieser Produktionsweise zu untersuchen. Es bleibt zu hinterfragen, wie einzelne Varianten bürgerlicher Ideologie zustande kommen, welche gesellschaftlichen Gruppen sie geistig produzieren, welche Gruppen der Lohnabhängigen besonders empfänglich sind für sie, welche ökonomischen und politischen Veränderungen im Kapitalismus für die Herrschenden die Suche nach neuen Varianten notwendig machen usw. — Es bleibt also zu untersuchen, unter welchen inneren und äußeren Zwängen (Konfrontation mit der DDR, Anwachsen der innenpolitischen Oppositionsbewegung) die Herrschenden konkrete Argumentationsmuster zur weiteren Legitimation der kapitalistischen Gesellschaft bewußt ausarbeiten; nur so können einzelne Ideologeme, wie sie in der Schule oder in den Massenkommunikationsmitteln verbreitet werden, konkret verstanden und damit auch bekämpfbar gemacht werden. Die Lösung dieser Probleme erfordert allerdings breite empirische und theoretische Arbeit und geht weit über den Rahmen einer Einführung in marxistische Ideologiekritik hinaus. 245
Viertes Kapitel Schule im Kapitalismus der BRD A. Zur ökonomischen Funktion von Ausbildung und Bildung im Kapitalismus Wie die allgemeine Ableitung des Ideologieproblems im vorangehenden Kapitel gezeigt hat, ist im Übergang von der feudalistischen zur kapitalistischen Produktionsweise die Voraussetzung dafür geschaffen worden, daß die Produzenten von ihren Produktionsmitteln getrennt werden. Damit tritt der antagonistische Widerspruch von Produktionsmittelbesitzern und Besitzern von nichts als ihrer eigenen Arbeitskraft hervor. Im Verlauf der kapitalistischen Produktionsweise ändert sich entsprechend den Veränderungen im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital die jeweils konkrete Arbeitsplatz- und Qualifikationsstruktur. Will man nun den Begriff der Qualifikation erfassen, muß man zunächst den allgemeinen Charakter, und das heißt den Doppelcharakter des kapitalistischen Arbeitsprozesses herausarbeiten. Auf der einen Seite bezeichnet er den dem gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklungsstand der Produktivkräfte (d. h. entsprechend dem Stand von Wissenschaft, Technik, Maschinen, Automatisierungsgrad, u. a.) entsprechenden Stoffwechselprozeß mit der Natur, d. h. die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur zum Zwecke der gesellschaftlichen Reproduktion. Andererseits ist der menschliche Arbeitsprozeß nicht nur verändernde Einwirkung auf die Natur, sondern zugleich vollzieht sich im Arbeitsprozeß selbst die Veränderung des Menschen als gesellschaftliches Wesen. Dieser Prozeß entwickelt sich jedoch widersprüchlich unter kapitalistischen Produktionsbedingungen, weil dort zwar gesellschaftlich produziert wird, die Bedingungen (d. h. das Privateigentum an Produktionsmitteln) und die Ergebnisse (d. h. die Produkte) dieser gesellschaftlichen Produktion jedoch privat angeeignet und verwertet werden. Deshalb bildet der kapitalistische Arbeitsprozeß die Grundlage für gesellschaftliche Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse, d. h. der Arbeitsprozeß ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung der Produktion von Werten und der Verfügung über diese Werte. Karl Marx hat den Doppelcharakter von Arbeit im Verhältnis von Arbeits- und Verwertungsprozeß analysiert. Demzufolge besteht das Spezifikum kapitalistischer Produktionsweise darin, daß der kombinierte Einsatz von menschlicher Arbeitskraft und Maschinerie zur Produktion von Gebrauchswerten, die unmittelbare gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigen, hinter die Produktion von Waren zurücktritt, die Eigentum des Kapitalisten sind und diesen ausschließlich nach ihrem Tauschwert interessieren. Allgemeine Bedingung dieses Verwertungsprozesses ist die Tatsache, daß die menschliche Arbeitskraft als Lohnarbeit selbst zu einer Ware wird, die den Gesetzen des Tausches unterliegt und also 1
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nur in ihrem Gebrauchswert für das Kapital zur Quelle von Mehrwert wird (vgl. Kapitel 3 zur Ideologieproblematik!). „Als Einheit von Arbeitsprozeß und Wertbildungsprozeß ist der Produktionsprozeß Produktionsprozeß von Waren; als Einheit von Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß ist er kapitalistischer Produktionsprozeß, kapitalistische Form der Warenproduktion." 3
I. Die historische E n t w i c k l u n g des Verhältnisses von Arbeitsprozeß und Q u a l i f i k a t i o n s s t r u k t u r der Ware A r b e i t s k r a f t
Wie sich das Problem des Verhältnisses von Arbeitsprozeß und Veränderung der Qualifikationsstruktur der Ware Arbeitskraft im konkrethistorischen Prozeß der Entfaltung kapitalistischer Produktionsweise durchsetzt, soll im folgenden knapp skizziert werden. Der Begriff der Qualifikation wird in diesem Zusammenhang unter doppeltem Aspekt gefaßt: analog zum Problem des Doppelcharakters der Arbeit meint Qualifikation zum einen die subjektive Bestimmung der Ware Arbeitskraft in ihrem technischen Verhältnis zu ihrem Objekt, den Gegenständen der Natur, andererseits das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zueinander innerhalb des Arbeitsprozesses. Qualifikation ist also in den Zusammenhang von subjektiven und objektiven Faktoren der Produktion eingebunden: die subjektiven Qualifikationsmerkmale des Arbeiters, d. h. seine Fertigkeit und Geschicklichkeit können immer nur im Zusammenhang mit den objektiven Produktionsbedingungen, d. h. den Produktionsmitteln und der Stellung der Produzenten zu diesen begriffen werden. 4
Ausgangspunkt der historischen Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise ist der handwerklich-zünftige Produktionsprozeß. „Die Produktionsmittel, die die handwerklichen Produzenten besaßen, waren immer besondere Produktionsmittel, die zur Produktion ganz bestimmter Produkte dienten. Das Handwerk fesselte die Produzenten an eine bestimmte konkrete Arbeit, die sich immer in einer ganz bestimmten Art von Gebrauchswerten niederschlug" (Hervorhebungen im Text, d. Verf.). In der handwerklichen Produktion stehen sich Meister und Gesellen, bzw. Lehrlinge im Verhältnis von Käufer und Verkäufer der Arbeitskraft gegenüber. Wenngleich der Meister Besitzer an Produktionsmitteln ist und der Geselle Lohn in Form von Geld zur Reproduktion seiner Arbeitskraft erhält, so ist entsprechend der relativen Unentwickeltheit des Kapitals dessen quantitative Verwertbarkeit eingeschränkt: die Zunftordnung wird zur Fessel der Weiterentwicklung des Kapitalismus, da sie durch die Beschränkung der Gesellenzahl, die ein einzelner Meister beschäftigen durfte, die Verwandlung des Handwerkmeisters in einen Kapitalisten verhinderte. „Die Arbeitsmittel sind noch ganz dem Subjekt der Arbeit untergeordnet. Ihre Effektivität ist direkt abhängig von dessen Qualifikation." 5
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Gerade der persönlich vermittelte Charakter des Arbeitsverhältnisses spiegelt sich in der Ausbildung der Gesellen und Lehrlinge, die sich unter der Aufsicht und Anleitung des Meisters in den je konkreten Fähigkeiten eines Schneiders, Schusters oder Schmieds vollzieht. Marx charakterisiert daher die Funktion des Meisters folgendermaßen: „Er hat zu seinen Lehrlingen ganz dasselbe Verhältnis wie ein Professor zu seinen Schülern. Sein Verhältnis zu Lehrlingen und Gesellen ist daher nicht das des Kapitalisten als solchem, sondern des Meisters im Handwerk, der als solcher in der Korporation und daher ihnen gegenüber eine hierarchische Stellung einnimmt, die . . . auf seine eigene Meisterschaft im Handwerk . . . (zurückgeht)" (Hervorhebungen im Text, d. Verf.). Die Ausbildungsform entsprach also weitgehend dem „künstlerischen Charakter" der Arbeit selber: es kam nicht darauf an, allgemeine Grundkenntnisse für besondere Arbeitsfähigkeiten zu vermitteln, sondern auf das unter Anleitung des Meisters sich vollziehende Anlernen spezifischer Qualifikationen im handwerklichen Arbeitsprozeß selbst. Im Ubergang zur Manufaktur wird die reelle Subsumtion (d. h. die Unterordnung und gesellschaftliche Abhängigkeit) der Arbeit unter das Kapital erst ansatzweise hergestellt. Die veränderten technischen Voraussetzungen des Arbeitsprozesses, d. h. die Verkürzung der Transport- und Kommunikationswege, Einsparung an Baulichkeiten und Energien etc. zwingen unter den Bedingungen der sich entwickelnden Kooperation und Arbeitsteilung zur „Leitung und Koordination der kooperierenden A r b e i t " , wodurch bereits eine Hierarchie der Funktionen in der betrieblichen Sozialstruktur und eine Differenzierung in der Qualifikationsstruktur festgelegt ist. In der Manufaktur — einer typischen Form der kapitalistischen Produktionsweise — werden entweder verschiedene Handwerke oder aber viele Handwerker des gleichen Handwerks zusammengefaßt. Die Qualität der Produkte ist zwar immer noch vom individuellen Geschick des Handwerkers abhängig, der Arbeiter verliert aber zunehmend die Fähigkeit, wegen der Aufsplitterung des Arbeitsprozesses in verschiedene Teiloperationen das Produkt als Ganzes herzustellen. Die Verminderung der persönlich-individuellen Qualifikation des Manufakturarbeiters bedeutet aber zugleich eine Erhöhung der gesellschaftlichen Produktivkraft des Gesamtarbeiters. Diese Produktivkraft des gesellschaftlichen Charakters der Arbeit ist jedoch zugleich Produktivkraft des Kapitals, da sie der kapitalistischen Kommandogewalt unterworfen ist, unter deren Regie sich die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit, d. h. die Trennung von Funktionen der Planung, Leitung und Koordination im Produktionsprozeß einerseits und der zur Teilarbeit entmündigten produktiven Einzelarbeiter andererseits vollzieht. In der entfalteten kapitalistischen Produktionsweise ist das Kapital nicht mehr an Zunftvorschriften gebunden, sondern folgt nur noch der Maxime, den höchstmöglichen Profit zu erzielen. Wie das Kapital selbst die Fesseln der bloß handwerklichen Produktion und ihrer Beschränkung durch 7
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die Zunftordnung durchbrochen hat, so ist die Lohnarbeit in Gestalt der Ware Arbeitskraft „frei" für die Subsumtion unter die Bedingungen des Kapitals. „Der bornierten Anwendungsfähigkeit in der handwerklichen Produktion steht nun die freie, flüssige, variable Anwendungsfähigkeit gegenüber, die es zuallererst ermöglicht, daß das Arbeitsvermögen sich allgemein auf verschiedene besondere Anwendungsformen beziehen kann, daß der Arbeiter allgemein ausbeutbar w i r d " (Hervorhebung im T e x t , d. Verf.). Im Zuge der weiteren Revolutionierung der Produktivkräfte (d. h. der „industriellen Revolution") gelingt es dem Kapital, alle Beschränkungen des Verwertungsprozesses durch die Einführung der Maschinerie abzustreifen. In der Manufaktur noch trat dem Arbeiter die geistige Potenz des Arbeitsprozesses entgegen in Form der Leitung, Planung, Koordination und Organisation; jetzt schlägt sich die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit auch stofflich nieder. Der Arbeiter verliert die Fähigkeit, den Inhalt seiner Arbeit selbst zu verwirklichen. In der Maschinerie tritt ihm die Maschine in Form vergegenständlichter Arbeit (d. h. Maschinen, technische Aggregate etc.) als eine im Eigentum des Kapitalisten befindliche, fremde Macht des Kapitals gegenüber. „Das Kapital aber entreißt dem Entäußerungsprozeß der konkreten lebendigen Arbeit zusehends technische Qualifikationen, ohne ihm in adäquater Form soziale, wissenschaftliche, ästhetische etc. Qualifikationen zurückzugeben." Die historische Entwicklung hat gezeigt, daß der Zusammenhang von Arbeitsplatz und Qualifikationsstruktur nur aus dem Gesamtzusammenhang der allgemeinen Produktionsbedingungen und der ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Beziehungen erklärbar ist. Während also im Handwerk der konkrete Produktionsprozeß noch abhängig war von der individuellen Qualifikation des Arbeiters, verkehrt sich in der Maschinerie das Verhältnis von Arbeitsplatz- und Qualifikationsstruktur zugunsten der Bedingungen des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses um. „Die Ausbildung der Masse der Lohnarbeiter muß sich ausrichten an den von der vergegenständlichten Arbeit gesetzten Bedingungen, d. h. an der durch die Maschinerie bestimmten Arbeitsplatzstruktur." 10
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2. Die F u n k t i o n des Staates für d e n Ausbildungssektor
Wie setzt sich nun die bereits weiter oben aus dem Kapitalverhältnis im allgemeinen abgeleitete Notwendigkeit der „Flüssigkeit oder Variabilität des Arbeitsvermögens" (Karl M a r x ) in der Sphäre des Ausbildungssektors, besonders gegenüber den auf spezifische Ausbeutbarkeit der Arbeitskraft erpichten Einzelkapitalen durch? Die allgemeinen Flüssigkeitsvoraussetzungen der Ware Arbeitskraft widersprechen unter den Bedingungen der Konkurrenz dem Interesse der Einzelkapitale an einer je besonderen Qualifikationsform. Sie entspricht zwar dem 1 3
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Interesse des Gesamtkapitals, d. h. sie sind notwendig zur langfristigen Sicherung der allgemeinen Produktionsbedingungen; sie entsprechen aber nicht der spezifischen kurzfristigen Notwendigkeit der maximalen Ausbeutung der Ware Arbeitskraft zum Zwecke der Steigerung des Profits. Dieses Problem kann offensichtlich nicht dadurch gelöst werden, daß die Ausbildung gänzlich den Interessen der Einzelkapitale untergeordnet wird. Gerade die im 19. Jahrhundert von Marx aufgezeigte rücksichtslose Ausbeutung der Arbeitskräfte durch das Einzelkapital wurde selbst zum Hindernis für die allgemeine Ausbeutbarkeit der Ware Arbeitskraft. Die allgemeine Grundausbildung als allgemeine Produktionsvoraussetzung und Garantie für die allgemeine Flüssigkeit der Ware Arbeitskraft muß also in einer von den Einzelkapitalen, d. h. von der unmittelbaren Produktion getrennten Form hergestellt werden. Es ist der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist" (Friedrich E n g e l s ) , der die allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen der Produktion zu sichern hat. Nur der bürgerlich kapitalistische Staat kann sicherstellen, daß die Arbeitskräfte auf der Grundlage einer allgemeinen Grundausbildung zugleich für verschiedene Einzelkapitale verwendbar sind. „Er selbst (d. h. der Staat, d. Verf.) ist der Ausdruck des Widerspruches, daß die Produktion zunehmend gesellschaftlich wird, ihre Träger jedoch ,privat' bleiben; denen die Gesellschaftlichkeit etwas Äußerliches, Fremdes ist. Sie selbst können daher die allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen der Produktion nicht h e r s t e l l e n " (Hervorhebung im Text, d. Verf.). Die so gefaßte Abtrennung der Ausbildung von der unmittelbaren Produktion vollzieht sich jedoch nicht losgelöst von der Entwicklung des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital: Die Abtrennung ist einerseits notwendiges Resultat der freien Konkurrenz der Einzelkapitale, zugleich aber auch Unterordnung der Ausbildung unter die Bedingungen der privaten Kapitalverwertung. Dem historischen Entwicklungsstand der Produktivkräfte gemäß verändern sich die Inhalte einer allgemeinen Grundausbildung. Neben allgemeinen technischen und naturwissenschaftlichen Kenntnissen gehören vor allem Rechnen, Lesen und Schreiben dazu. Hinzu treten noch spezifische Kommunikationstechniken sprachlicher und teilweise fremdsprachlicher Art, geographische und naturwissenschaftliche Detailkenntnisse. Generell haftet dieser Grundausbildung der Charakter des Allgemeinen an, „der als Abstraktion von den je besonderen Arbeitsbedingungen der Einzelkapitale zu fassen i s t " . Zur Reproduktion der Arbeitskraft gehört also neben der Auszahlung eines Lohnes, der den Kauf von Lebensmitteln und damit die physische Reproduktion ermöglicht, auch die Ausbildung der Arbeitskraft. Ausbildung der Ware Arbeitskraft schließt immer ein Doppeltes ein: die ökonomische Seite der Ausbildung zielt auf die konkrete Ausbeutung im Produktionsprozeß ab; gleichzeitig ist aber auch eine ge14
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wisse „ideologische Qualifikation" notwendig: Die ideologische Seite der Qualifikation soll garantieren, daß sich die Arbeitskräfte an die kapitalistische Gesellschaftsordnung anpassen, dies ist offensichtlich eine wesentliche Vorbedingung für ihre konkrete ökonomische Verwertbarkeit. Der unter dem Druck der Konkurrenz bestehende Zwang zur Einsparung von „faux frais" (d. h. unproduktiven Nebenkosten für das Kapital, d. Verf.) führt nun dazu, die Ausbildungskosten des Arbeiters möglichst niedrig zu halten. Der Staat nimmt ohnehin nur eine Re-Distributionsfunktion wahr, denn die Ausbildungskosten sind ja Resultat der staatlichen Verteilung des kollektiv, d. h. von allen Lohnabhängigen erarbeiteten Steuerfonds. Der Staat ist bestrebt, im Ausbildungssektor nur insoweit zu investieren, als es für die ökonomische und ideologische Qualifikation der abhängigen Produzenten in bezug auf die unmittelbare Verwertung im Interesse des Kapitals notwendig ist. Eine wirkliche Höherqualifizierung der Arbeitskraft durch die Steigerung von Ausbildungskosten hätte eine Wertsteigerung der Ware Arbeitskraft zur Folge. Dadurch würde aber zugleich die Profitspanne des Kapitalisten erheblich eingeschränkt, denn die Ware Arbeitskraft wird teurer. Der Arbeiter wird deshalb nur so weit qualifiziert, als seine Qualifikation unmittelbar notwendig wird für den kapitalistischen Verwertungsprozeß. Individuelle Kenntnisse außerhalb des beschränkten kapitalistischen Verwertungsrahmens haben für den Arbeiter insofern keinen direkten Tauschwert, als sie nicht gegen Geld eintauschbar sind. Qualifikation ist deshalb immer Qualifikation für das Kapital, nicht für den Arbeiter, selbst wenn die Qualifikation als „immaterielles Produkt" im Besitz des Arbeiters verbleibt. 18
Die immanenten Gesetze des Kapitalismus, möglichst viel Kapital zu verwerten und zu akkumulieren, zwingen also den Staat, die Bedürfnisse der Individuen nach allseitiger Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu negieren und ihnen gerade nur die allernotwendigste Ausbildung zukommen zu lassen. Da die Ware Arbeitskraft neben ihrer ökonomischen Bestimmtheit zugleich auch außerhalb der Produktionssphäre bestimmte Denk- und Verhaltensweisen entwickeln muß, die die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse festigen und stabilisieren (vermittels der „Konsumentenerziehung", „staatsbürgerlichen Erziehung" etc., d. h. Erziehung als Anpassung an vorgegebene gesellschaftliche Bedingungen), enthält die Qualifikation der Ware Arbeitskraft auch die ideologische Reproduktion ihrer selbst. Diese dem kapitalistischen Staat immanente Politik kann nur durch den permanenten Kampf der Lohnabhängigen um bessere Ausbildung teilweise modifiziert werden. Gerade in der Einheit von ökonomischen und ideologischen Qualifikationsmomenten liegt nämlich zugleich die Ambivalenz staatlicher Bildungspolitik: Die jeweils konkrete Qualifikation in Schule, Berufsschule und Hochschule muß nicht notwendig zur Anpassung der Auszubildenden führen, sondern kann auch — je nach Stand des gesamtgesellschaftlichen Klassenkampfes — zur kritischen Opposition werden, die sich gegen die herrschenden 251
Klassen und ihre Organisationen wendet (vgl. Lehrlings-, Schüler- und Studentenbewegung). „Da aber der Arbeiter aus verschiedenen objektiven Gründen, also beileibe nicht aus Menschenfreundlichkeit als ein zu bildendes Individuum betrachtet wird, wird die Qualifikation gespalten in Qualifikation für den Kapitalisten (Ausbildung als Investition in bezug auf die Arbeitszeit) und Qualifikation für den Arbeiter (Bildung als Konsumgut für die Freizeit)." Die Trennung von Ausbildung und Bildung spiegelt sich nicht nur in der Gegensätzlichkeit von Arbeit und Freizeit, sondern auch auf der Ebene der Gesamtgesellschaft und ihrer Sozialstruktur: nämlich in der „Bildung" für die herrschende Klasse und in der „Ausbildung" für die Arbeiterklasse. Die mit dem Kapitalismus sich entwickelnde Vergesellschaftung der Produktion, die zugleich ein Anwachsen des Anteils der Lohnarbeit mit einschließt gegenüber wachsender Monopolisierung, Zentralisierung und Internationalisierung des Kapitals, hat weitreichende Konsequenzen. Der Aufwand, der nötig ist, um die Lohnabhängigen im Arbeitsprozeß und in ihrer Freizeit von emanzipatorischen Aktivitäten abzulenken, nimmt ständig zu. Freizeitindustrie, Werbung und Massenmedien als Instrumente ideologischer Verschleierung der kapitalistischen Wirklichkeit erhalten daher einen immer größeren Stellenwert. Die inhaltliche Konkretisierung dieser ideologischen Unterdrückung soll in den Abschnitten D und E dieses Kapitels am Beispiel des Geschichtsunterrichts erfolgen. 19
3. Die E n t w i c k l u n g der Hierarchie im Ausbildungssektor unter d e m A s p e k t des Widerspruchs von Bildung und Ausbildung
Wir haben im vorigen Abschnitt festgestellt, daß die allgemeine Grundausbildung im Kapitalismus in den Grenzen des Widerspruchs von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung keine Erziehung zur allseitigen Entfaltung der individuellen Fähigkeiten im Sinne polytechnischer Ausbildung sein kann. „Der Bezug auf die besonderen Bedingungen und Anforderungen der Einzelkapitale an das Arbeitsvermögen muß aber direkt wieder hergestellt werden. Dies findet seinen Niederschlag darin, daß im Ausbildungsbereich neben dem allgemeinen Bezug auf die Produktion in der allgemeinen Grundausbildung zugleich der besondere Bezug auf die Produktion hergestellt werden muß. Dies geschieht in der Berufsausbildung, in die nicht mehr allgemeine, sondern die besonderen Verwertungsbedürfnisse der vielen Kapitale e i n g e h e n " (Hervorhebung im Text, d. Verf.). Die spezifisch berufsausbildenden Teile der gesamten Qualifikation des Arbeitsvermögens vollzogen ''sich realgeschichtlich zunächst auf der privaten Ebene der Einzelkapitale, wurden jedoch in dem Moment zur öffentlichen Angelegenheit des Staates, als systematische Berufsausbildung zur allgemeinen Produktionsvoraussetzung wurde. Wir verfolgen also 20
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im folgenden einige wesentliche Ausbildungsformen in der Zeit des voll entwickelten Kapitalismus, d. h. wir versuchen die Entwicklung des Schulwesens im Zusammenhang mit der hierarchischen Herausbildung verschiedener gesellschaftlicher Qualifikationen zu analysieren. Im Laufe der Weiterentwicklung des liberalen Konkurrenzkapitalismus des 19. Jahrhunderts wird durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht in Preußen ( 1 8 7 2 ) der Staat zum beherrschenden Träger des Schulwesens, während vorher die Kirche und die Stände einen starken Einfluß besessen hatten. Neben einigen wenigen Gewerbeschulen, die die berufsspezifische Ausbildung der Arbeiterklasse unter privater Aufsicht verwirklichen, besteht eine allgemeine Grundausbildung in Form des Elementarunterrichts (Volksschule). Im Zuge der fortschreitenden sozialökonomischen Entwicklung Deutschlands wurden zunehmend mittlere Berufsqualifikationen erforderlich,, vor allem im technischen und kaufmännischen Bereich. Die entscheidende quantitative Zunahme der Angestellten fällt in die Zeit des Übergangs vom Konkurrenzkapitalismus zum gegenwärtigen Kapitalismus: nach den Volkszählungen von 1882 und 1907 ergibt sich eine Erhöhung der Zahl der Angestellten von 5 1 6 0 0 0 auf 1 8 7 1 0 0 0 . Die Zunahme von Angestelltenfunktionen als vermittelnde Tätigkeit vor, neben und hinter dem Produktionsprozeß entspricht der Entwicklung im Realund Mittelschulwesen, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch außerhalb der staatlichen Ordnung vollzieht. Mit den „Allgemeinen Bestimmungen" des Ministeriums Falck von 1872 wird die gesetzliche Regelung einer gehobenen bürgerlichen Bildung ohne wissenschaftliche Grundausbildung verwirklicht. Der Staat muß die allgemeinen Grundbedingungen der Ausbildung der Ware Arbeitskraft sicherstellen, damit die nun allgemein gewordenen Voraussetzungen für die berufsspezifische Ausbildung der mittleren, d. h. vor allem der Angestelltenqualifikationen, nicht mehr vom Einzelkapital „privat" getragen werden müssen. 21
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Einvergleichbarer Verallgemeinerungsprozeß läßt sich für die zunächst ganz branchen- und berufsunspezifisch ausgerichteten Gewerbe- und Fachschulen konstatieren. „An der Entstehung und Entwicklung z. B. des industriellen Fachschulwesens läßt sich der Übergang von der am Handwerk orientierten (branchenspezifischen) Ausbildung zu einer allgemeinen, an den Bedürfnissen der Industrie ausgerichteten technischen Ausbildung aufzeigen. 1878 wird das gesamte technische Unterrichtswesen durch Erlaß dem Ministerium der geistlichen Unterrichtsund Medizinalangelegenheiten überwiesen." Aus diesen knappen Ausführungen geht hervor, daß sich mit der Durchsetzung von drei Ebenen in der Qualifikationshierarchie, nämlich elementarer Ausbildung für die Durchschnittsarbeitskraft, mittlere Qualifikation für die Vermittler zwischen allgemeiner Theorie und unmittelbarer Produktion sowie höhere Ausbildung für Träger von Wissenschaft und Forschung nicht gerade zufällig die traditionelle 23
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Dreigliedrigkeit unseres Schulwesens ergibt. Die in dieser Struktur verankerten Widersprüche einer Klassengesellschaft werden von Martin Baethge hinsichtlich der Hochschul- und Grundschulausbildung folgendermaßen interpretiert: „Die Reformen haben wesentlich im Bereich der Höheren Bildung und des Hochschulwesens stattgefunden; die Grundschulausbildung hat sich zwar verändert, aber nur geringfügig e r h ö h t . " Noch wichtiger ist die Verfestigung der Klassenunterschiede des dreigliedrigen Qualifikationstypus in den drei Schultypen herkömmlicher Art: die Ausbildung in der Volksschule, der Realschule oder des Gymnasiums legt die zukünftigen Lebensaussichten der Kinder — abgesehen von geringfügigen Veränderungen durch Auf- und Abstiegsprozesse einzelner Schüler — fest. Das bedeutet, daß die Kinder bürgerlicher Herkunft zu leistungsstarken und anpassungsfähigen Akademikern herangezogen, die Kinder der sozialen Mittelklassen zu gefügigen Angestellten ausgebildet und die Kinder der Arbeiterklasse zu fleißigen Industriearbeitern geformt werden. Besonders deutlich zeigt sich das Problem ungleicher Behandlung verschiedener sozialer Klassen am Beispiel der „Kopfsätze" für Unterrichtsmittel in einem der „fortschrittlichen" Länder der B R D , nämlich Hamburg: 24
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1971: Lehrmittel Volksschüler DM 6,50 Realschüler DM 10,30 Gymnasiast DM 2 2 , 9 0
Lernmittel 37,05 56,55 69,70
Summe 43,55 76,85 92,60
Damit zeigt sich, daß die im Grundgesetz versprochene allgemeine Chancengleichheit lediglich bürgerliche Chancengleichheit — also reale Ungleichheit — ist. Unter bestimmten Bedingungen kann diese jedoch tendenziell durchbrochen werden. D.h. z . B . , daß die Gesamtschule — trotz all ihrer Widersprüche — organisatorische Voraussetzungen für eine Verbesserung der Chancengleichheit auch für die sozialen Unterklassen implizieren kann.
B. Gesellschaftlich-geschichtliche Voraussetzungen der Entwicklung des bürgerlich-kapitalistischen Schulwesens Wir haben aus dem vorausgehenden Kapitel zur ökonomischen Funktion von Bildung und Ausbildung im Kapitalismus die Einsicht gewonnen, daß die Schule eine doppelte Funktion zu erfüllen hat: sie muß Arbeitskräfte für den kapitalistischen Arbeits- und Verwertungsprozeß ausbilden (ökonomische Funktion) und zugleich durch die Form der schulischen Sozialisation, d. h. durch die Vermittlung herrschender Normen, Werte und Ideologien die Anpassungsfähigkeit der späteren Produzenten an die vorgegebene Gesellschaft sicherstellen (ideologische F u n k t i o n ) . Der von uns allgemein hergeleitete Begriff der Qualifikation schließt also immer dieses doppelte Funktionsverhältnis ein, 26
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das auf die Sicherung und Stabilisierung der gesamtkapitalistischen Gesellschafts- und Produktionsstruktur ausgerichtet ist. Wenn wir nun im folgenden verschiedene frühbürgerliche und bürgerliche Gesellschaftstheorien und davon abgeleitete Bildungskonzeptionen auf dem Hintergrund der geschichtlichen Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft untersuchen, so erweist sich die ökonomische und soziale Bedingtheit allen pädagogischen Denkens und Handelns als eine methodologische Voraussetzung unserer Analyse. Diese Funktion ideologiekritischer Analyse ergibt sich, wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, aus dem Wesen von Ideologien in kapitalistischen Klassengesellschaften. Demzufolge sind bürgerliche Ideologien gesellschaftlich notwendig hervorgebrachtes falsches Bewußtsein, das herrschaftsstabilisierend wirkt. Ob nun Ideologien von ihren Vermittlungsträgern bewußt oder unbewußt verbreitet werden, ist in diesem Zusammenhang relativ belanglos. Besonders erweisen deshalb jene Konzeptionen, die eine relative oder absolute Autonomie pädagogischer Prozesse gegenüber gesellschaftlichen herausstellen, ihren ideologischen Charakter. Bürgerliche Gesellschaftstheorien können also nur aus ihrem spezifischen historisch-gesellschaftlichen Stellenwert begriffen werden; man kann also einerseits den Klassencharakter von Bildung und Erziehung im voll entwickelten Kapitalismus ideologiekritisch analysieren, andererseits aber auch die kritisch-progressiven Elemente von Bildungsprogrammen herauspräparieren. 21
Wendet man dieses methodologische Prinzip auf die geschichtliche Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft an, so könnte man z. B. an J o h n Lockes gentleman-education, Johann Pestalozzis Elementarbildung oder an Jean-Jacques Rousseaus antifeudalem Bildungsprinzip unter den je verschiedenen geschichtlichen Entwicklungsbedingungen in England, Preußen-Deutschland und Frankreich deren ambivalenten Charakter herausarbeiten: „progressiv im Interesse des gesamtgesellschaftlichen Fortschritts als antifeudale Bildungsprinzipien oder Erziehungskonzeptionen, ideologisch in der Fixierung auf das Interesse einer bestimmten Gesellschaftsschicht (hier besser: Klasse statt Schicht, d. Verf.), des Bürgertums . . . " . Wenngleich in allen frühbürgerlichen Konzepten die Forderungen einer sich politisch und ökonomisch von den Fesseln des Feudaladels emanzipierenden bürgerlichen Klasse durchschillern, erhält die kritisch-emanzipatorische Funktion doch zugleich eine affirmative Wendung: sowohl die in der Trikolore der Französischen Revolution versprochene allgemeine, d. h. gesamtmenschheitliche Emanzipation als auch die Elemente französischer Nationalerziehung und des preußisch-deutschen Neuhumanismus Humboldtscher Prägung bleiben auf die Mündigkeit des bürgerlichkapitalistischen Warenbesitzers fixiert. Mit dem 1791 erfolgten Verbot von Arbeiterberufsvereinigungen ist der kapitalistische Produktionsprozeß im nachrevolutionären Frankreich bereits rechtlich und politisch konsolidiert. „Die Parolen der revolutionären Klassen, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, gewinnen daraus freilich ihren 2 8
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spezifisch bürgerlichen Inhalt; Freiheit: primär private Verfügungsgewalt des bürgerlichen Wirtschaftssubjektes über sein Eigentum, Gleichheit: formales staatsbürgerliches Recht als Gleichheit aller Individuen vor dem Gesetz, das primär der Erhaltung des bürgerlichen Eigentumsinteresses dient, Brüderlichkeit: im kollektiven Pathos nationaler Verbundenheit als Resultat gemeinsamer antifeudaler Interessen" (Hervorhebung im Text, d. Verf.). Die idealistischen Motivationen einer „allgemeinen Menschheitsbildung" (Condorcet) schlagen — unter den Bedingungen der Verbindung von Staat und Bürgertum — in eine gegen die sich entwickelnde Arbeiterbewegung gerichtete antisozialistische Praxis um. Mit der Herstellung und Verwirklichung der sozialökonomischen Voraussetzungen kapitalistischer Produktionsweise, d. h. der nationalstaatlichen Zentralisierung vorher zersplitterter Territorien, Beseitigung der Binnenzölle, Ausbau der Verkehrssysteme, Entwicklung des Geld- und später des Bankenverkehrs sowie eines einheitlichen Schulsystems war das Interesse des Bürgertums im 19. Jahrhundert an der Revolution verschwunden. Die Herausbildung der kapitalistischen Produktionsw e i s e , in England bereits im 18. Jahrhundert voll ausgeprägt, in Frankreich und besonders in Preußen-Deutschland erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der agrarisch-feudalistischen Produktionsstruktur hervorgegangen, setzt die im Antagonismus zum Bürgertum stehende Klasse des Proletariats frei. Die bürgerliche Klasse ist darauf verwiesen, das von ihr erkämpfte Freiheits- und Gleichheitsprinzip gegenüber den politischen, sozialen und ökonomischen Aufstiegstendenzen des Proletariats zu verteidigen. Im Rahmen dieses historischen Kontexts von bürgerlich-kapitalistischer Herrschaftssicherung (repräsentiert vom bürgerlichen Staat und den ihn stützenden sozialen Klassen) und proletarisch-sozialistischer Aufhebungstendenz (Arbeiterbewegung) muß das Proletariat die Bourgeoisie beim Wort nehmen. Die Arbeiterbewegung drängt dazu, das Emanzipationsversprechen der bürgerlichen Revolution einzulösen, denn „Freiheit, Gleichheit, Bürderlichkeit, die versucht gewesene Orthopädie des aufrechten Ganges . . . , der Menschenwürde weisen über den bürgerlichen Horizont weit h i n a u s " . 32
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Bildungspolitisches Korrelat des kapitalistischen Arbeits- und Verwertungsprozesses ist die Konzeption und Verwirklichung eines einheitlichen Schulsystems. Einheitliche Bildungsangebote nach klassenspezifischen Kriterien in „Volksschule" und „Höhere Schule" sind das Äquivalent der ökonomischen und politischen Zentralisationsgewalt der Bourgeoisie. (In der Volksschule sind diejenigen Kinder konzentriert, die — perspektivisch betrachtet — körperliche, manuelle Arbeiten zu verrichten haben werden, in der Höheren Schule hingegen jene, die vorwiegend geistig-intellektuelle Tätigkeiten auszuüben bestimmt sind. Im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsformation sind die herrschenden Klassen jedoch dazu gezwungen, Schritt für Schritt bestimmte Bildungselemente und -güter für die allgemeine Ent256
wicklung der Produzenten freizugeben. Die ökonomische Notwendigkeit einer historisch je adäquaten Qualifikations- und Arbeitsstruktur verbietet den völligen Ausschluß der Arbeiterklasse von bürgerlichen Bildungseinrichtungen. Denn deren systematische Weiterentwicklung ist geradezu Bedingung disziplinierter, auf Identifikation mit den Normen und Werten bürgerlicher Sozialisation verwiesener kapitalistischer Arbeitsorganisation. Eine allgemeine und systematische Volksbildung, die zugleich die Ideologie der formalen Chancengleichheit liefert, vermittelt ebenfalls die der bürgerlichen „Leistungsgesellschaft" entsprechende Leistungs- und Aufstiegsideologie. Demzufolge hat jedes Individuum im Durchlaufen bestimmter Bildungseinrichtungen die Chance zum Aufstieg in eine führende Position. Die gesellschaftliche Realität spricht indes eine andere Sprache: Die durch die bestehenden Produktions- und Eigentumsverhältnisse sanktionierte Ungleichheit der Eigentums-, Vermögens- und Einkommensverteilung verhindert den allgemeinen Zugang zu weiterführenden Schulen und garantiert das akademische Bildungsprivileg für die Bourgeoisie und ihre Nachkommen. Auf diese Weise reproduziert die Struktur des Bildungssystems selbst den antagonistischen Widerspruch der gesellschaftlichen Klassenverhältnisse im gesamtgesellschaftlichen M a ß s t a b . „Das Bildungssystem des Kapitalismus krankt an dem Widerspruch, einerseits Bildung als Potenz kapitalistischer Entwicklung zu fördern und andererseits die ideologisch-politische Abhängigkeit der gebildeten' Produzenten zu bewahren. Die herrschenden Klassen müssen den werktätigen Menschen Bildungsgüter zuführen, und sie müssen zugleich deren Bildungsniveau so reduzieren, daß ihre Herrschaft möglichst wenig gefährdet i s t . " Die besonders im Stadium des gegenwärtigen Kapitalismus notwendig gewordenen Strukturreformen im Bildungs- und Ausbildungssektor, z. B. die Durchsetzung des Gesamtschulprojekts in Teilen der B R D , enthüllen jedoch tendenziell und potentiell die „Subversivität des Bildungssystems" (Gernot K o n e f f k e ) , d. h. die Möglichkeit einer kritischen Durchdringung des Schulwesens. Die formal gesetzten Ziele der bundesrepublikanischen Gesamtschule: Gewährleistung von Chancengleichheit, Individualisierung des Lernangebots, individuelle Begabungsförderung, die Erziehung zu individueller Autonomie und gleichzeitiger Ermöglichung sozialer Erfahrung entsprechen weitestgehend den immanenten Anforderungen der kapitalistischen Leistungsgesellschaft unter den Bedingungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts (vgl. dazu Abschnitt C des Kapitels „Schule . . . " S. 258 ff). Wenngleich auch die Gesamtschule — mit einigen geringfügigen Abstrichen — von den offiziellen Vertretern der deutschen Industrie als ein der „modernen Industriegesellschaft" und ihrer „Leistungsfähigkeit" entsprechendes Instrument der sozialen Integration breiter „Sozialschichten" angesehen w i r d , so ergeben sich dennoch — auf Grund organisatorischer Bedingungen der Gesamtschule — Ansatzpunkte für eine emanzipatorische Schulpraxis. (Näheres S. 2 9 6 ff.) 35
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Die Fähigkeit zu einer kritischen Durchdringung von Unterricht und Schule ist allerdings abhängig von der Entwicklung fortschrittlicher Tendenzen auf der Ebene eines sich gesamtgesellschaftlich verschärfenden Klassenkampfes. Verschiedene Formen gesamtgesellschaftlicher Klassenauseinandersetzungen, wie etwa auch die Rückwirkungen der antiautoritären Studentenbewegung gezeigt h a b e n , können zur Bedingung für einen kollektiven, d. h. von Lehrern und Schülern gemeinsam zu führenden Emanzipationsprozeß werden. Der Widerspruch von Bildung und Ausbildung, „Ausbildung und Herrschaft" (Martin Baethge) kann jedoch nicht durch Bewußtseinsänderung allein aufgehoben, sondern nur im Zusammenwirken der Unterdrückten und Entmündigten zur Aufhebung der Ursachen von Unterdrückung und Entmündigung vollzogen werden. Bewußtseinsveränderung und gesamtgesellschaftliche Strukturveränderungen müssen als einheitliches praktisch-kritisches Verhalten betrachtet werden. In der Schule ist deshalb die kollektive Organisation von Lehrern und Schülern — im Hinblick auf den Ausbildungssektor und seine gesamtgesellschaftliche Funktion — eine Voraussetzung für die doppelte Richtung praktischer Arbeit, nämlich Bewußtseinsveränderung im Prozeß kollektiver Solidarisierung von Schülern und Lehrern zu erzielen und zugleich Ansätze zu konkreter praktischer Veränderung im Ausbildungssektor durchzusetzen. 4 2
C. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und die Veränderung der Qualifikationsstruktur der Ware Arbeitskraft I. Das Problem der Bewältigung Fortschritts in der B R D
des
wissenschaftlich-technischen
Die grundlegenden Widersprüche des kapitalistischen Schulwesens sind nun in Beziehung zu setzen zur besonderen politökonomischen Entwicklung der B R D unter den Bedingungen des wissenschaftlich-technischen F o r t s c h r i t t s . Die Entwicklung des Kapitalverhältnisses in der B R D — besonders im Zeichen der seit Anfang der 50er J a h r e sich abzeichnenden Remilitarisierung — machte eine unmittelbare Verwertung von naturwissenschaftlichen und technischen Forschungsergebnissen für Bereiche der materiellen Produktion notwendig. Das Eindringen der Wissenschaft in Bereiche der unmittelbaren Produktion — besonders im Rüstungssektor — kennzeichnet eine neue Phase des Kapitalverwertungsprozesses in der sozialökonomischen Entwicklung der B R D . Für die Bundesrepublik markiert die strukturelle Veränderung der Kapitalverwertungs- oder „Wachstumsbedingungen" nach Abschluß der Rekonstruktionsperiode gegen Ende der 50er Jahre einen „ökonomischen W e n d e p u n k t " , an dem der quantitative Ausbau und die qualitative Reorganisation des gesamten Forschungs- und Ausbil43
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258
dungssektors zur zentralen Voraussetzung des Akkumulationsprozesses zu werden begannen. „Das ,Wirtschaftswunder' der fünfziger Jahre war also an einige besondere Voraussetzungen gebunden, zu deren wichtigsten die hohe Gewinnträchtigkeit von Investitionen in kriegsbedingten Engpaßsektoren und deren fiskalische Förderung, die staatliche Begünstigung der Unternehmergewinne und das durch hohe Arbeitslosenziffern (bis 1 9 5 2 ) sowie eine ,zurückhaltende' Gewerkschaftspolitik bedingte Zurückbleiben der Löhne gehörten. Das Ende des Wunders mußte eintreten, als mit Abschluß der Rekonstruktionsperiode diese Faktoren nach und nach wegfielen." Infolge struktureller Verknappung der Arbeitskräfte und wachsender Konzentration und Zentralisation des Kapitals stellten sich sowohl von der Entwicklung der „Kostenseite", d. h. steigender Löhne und Soziallasten, als auch von der Realisierungsseite her, d. h. unter schwierigen Exportbedingungen und monopolistischer Marktsituation, erhebliche Verwertungsprobleme e i n . Im Rahmen der Kapitalverwertungsprobleme erhielt der Staatsapparat immer mehr die Funktion, im wachsenden Umfang gesellschaftlichen Reichtum zugunsten der großen Kapitale umzuverteilen und zugleich die allgemeinen Bedingungen des kapitalistischen Produktions- und Verwertungsprozesses zu garantieren. 46
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4 8
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Die in unserem Zusammenhang nur angedeuteten Reproduktionsschwierigkeiten der westdeutschen Kapitale zwangen den bürgerlichen Staat zu Beginn der 60er Jahre bereits zu einer — wenn auch systemimmanenten — Planung und Koordination ökonomischer Prozesse, zu einer Reorganisation des Regierungs- und Verwaltungsapparates sowie zum Ausbau des wirtschafts- und finanzpolitischen Instrumentariums: 1 9 6 3 : Sachverständigenrat der Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung; 1 9 6 6 / 6 7 : Mittelfristige Finanzplanung/Stabilitätsgesetz/Konzertierte Aktion. Die besonderen Engpässe auf dem Arbeitsmarkt ließen schon Ende der 50er Jahre die Mängel im Schulund Hochschulbereich deutlich werden, was 1957 zur Errichtung des Wissenschaftsrates führte. Der systemimmanente Zwang zu einer planmäßigen staatlichen Förderung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, d. h. insbesondere der großen Forschungs- und Entwicklungspolitik fand seine Verwirklichung in dem 1962 gegründeten Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung. Das Schlagwort von der „deutschen Bildungskatastrophe" (Georg Picht) schließlich brachte das Problem in das öffentliche Bewußtsein, verstellte jedoch den Blick für die realen sozioökonomischen Veränderungen in der Arbeits- und Qualifikationsstruktur der Arbeitskräfte. 50
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Da offensichtlich das Arbeitskräftevolumen seit dem Ende der 50er Jahre das „Wirtschaftswachstum" begrenzte, mußte die weitere ökonomische Entwicklung davon abhängen, inwieweit es gelingen konnte, der Verknappung der Arbeitskraft durch eine Steigerung der Arbeitsproduktivität entgegenzuwirken. „Die Veränderung der Arbeitsplatzstruktur zum Zwecke der Produktivitätssteigerung erfordert demnach 259
nicht allein die korrespondierende Anpassung der Qualifikationsstruktur, sondern eine vorgängige Planung und ,Reform' des Ausbildungssektors, weil — wie auch der Sachverständigenrat betont — ,Investitionen in den Menschen nur langsam ausreifen'" (Hervorhebung im Text, d. Verf.). „Vorgängige Planung" im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Staatsapparates bedeutet nicht Planung der nationalen Volkswirtschaft nach gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen und unter demokratischer Kontrolle der Masse des Volkes, sondern eine von den Widersprüchen der Einzelkapitale sowie dem partiell widersprüchlichen Verhältnis von Einzelkapitalien und Staat bestimmte Planung. Wie widersprüchlich sich verschiedene Plankonzepte und gesellschaftliche Interessen im Bereich von Bildung und Ausbildung durchsetzen, zeigen exemplarisch die verschiedenen Bedarfsanalysen von Wissenschafts- und Bildungsministerium, KMK-Konferenz, Ministerpräsidentenkonferenz, Wissenschaftsrat und Unternehmerverbänden. 52
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2. Widersprüchliche T e n d e n z e n in der E n t w i c k l u n g der Qualifikationss t r u k t u r des Arbeitsvermögens
Seit dem 19. Jahrhundert haben sich die Qualifikationsanforderungen an den Arbeiter zwar erhöht, im Verhältnis zur Entwicklung von Wissenschaft und Technik sind sie aber im wesentlichen unverändert geblieben. Der spezifisch bürgerliche Charakter des Schul- und Hochschulsystems erweist sich gerade in der Verschiebung des Anteils von Wissenschaft und Bildung zugunsten eines kontinuierlichen Anstiegs der Wissenschafts- und Forschungsausgaben. Nach Angaben des Wissenschaftsrates von 1 9 7 0 sind die Nettoausgaben für Schulen prozentual von 8 4 , 9 % ( 1 9 5 0 ) auf 71,0 % ( 1 9 6 9 ) zurückgegangen, die der Hochschulen hingegen haben sich beinahe verdoppelt: von 15,1 % auf 29 %. Will man nun die Formen bildungspolitischer Reformmaßnahmen richtig einschätzen, so muß man den Zusammenhang von ökonomischer Gesamtentwicklung, Veränderungen in der Arbeitsplatz- und Qualifikationsstruktur der Arbeitskräfte und Bildungspolitik entwickeln. Im Zuge der Entwicklung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, d. h. der Entwicklung kapitalintensiver Produktion auf einer höheren Stufe der Mechanisierung und Automatisierung wird — der These bürgerlicher Ökonomen zufolge (vgl. Friedrich Edding, u. a.) — eine Reform des Ausbildungssektors insgesamt zum Zwecke der Höherqualifizierung der Ware Arbeitskraft notwendig. Aus der Notwendigkeit der Höherqualifizierung des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters läßt sich jedoch nicht unmittelbar die Höherqualifizierung eines jeden einzelnen Arbeiters ableiten. Sie muß konkretisiert werden auf die einzelnen Teile des Gesamtarbeiters und relativiert in bezug auf die Entwicklung von Wissenschaft und Technik. „Mit der zunehmenden Verwissenschaftlichung des unmittelbaren 54
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Produktionsprozesses sowie der der unmittelbaren Produktion vorund nachgelagerten Bereiche nimmt der absolute Umfang und das relative Gewicht von Arbeiten zu, die im wesentlichen geistiger Art sind. Für sie werden zunehmend Qualifikationen benötigt, die nur in Zusammenhang mit wissenschaftlicher Betätigung erworben werden können . . . Entsprechend sind zur wissenschaftlich-technischen Intelligenz alle jene Beschäftigten zu rechnen, die auf der Grundlage einer Ausbildung in Hochschulen und Fachhochschulen Tätigkeiten mit wissenschaftlich-technischen Qualifikationsvoraussetzungen verricht e n " (Hervorhebung von uns, d. Verf.). Die von Wulf D. Hund u. a. angegebenen Gliederungsprinzipien ergeben eine Dreiteilung der wissenschaftlich-technischen Intelligenz: die naturwissenschaftlich-technische Intelligenz, die sozialwissenschaftliche und die pädagogische Intelligenz (vgl. dazu auch das 4. Kapitel, Abschnitt D, zur Lehrerproblematik, S. 27 3 ff.). Die im Zusammenhang mit der Umwälzung der Produktivkräfte sich vollziehende Veränderung in der Struktur des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters ergibt also eine relative und absolute Zunahme wissenschaftlich-technischer Qualifikationen, die jedoch nicht mit einer entsprechenden Zunahme wissenschaftlich-technischer Arbeitskräfte einhergehen muß. Die Ersetzbarkeit dieser Arbeitskräfte hängt wiederum von den besonderen Interessen der Verwertung der Einzelkapitale ab: dieser Widerspruch drückt sich real in der Vergrößerung der Relationen von „einfachen" graduierten Ingenieuren und Diplomingenieuren sowie in der Differenzierung verschiedener Lehrerarbeiten aus. 5 5
Die verschiedenen Gruppen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz erfüllen einerseits das Kriterium der Lohnabhängigkeit und unterliegen andererseits — von ihren allgemeinen Lebens- und Arbeitsbedingungen her (Fremdbestimmung am Arbeitsplatz) — der historischen Tendenz einer Deprivilegierung, d. h. einer teilweisen Verproletarisierung und können damit teilweise zu dem erweiterten Begriff der Arbeiterklasse gerechnet werden. Aus der Differenz von elementarer, allgemeiner Grundausbildung der durchschnittlichen Arbeitskraft und höherer, wissenschaftlicher Ausbildung der Intelligenz ergeben sich jedoch immer noch Relikte eines ständischen, d.h. auf die Verteidigung von Sonderrechten erpichten Bewußtseins von Teilen der Intelligenz. Erhebliche Unterschiede gegenüber dem traditionellen „Kern" der Arbeiterklasse bestehen indes tatsächlich in bezug auf bestimmte kulturelle Lebensbedürfnisse, wie etwa Wohnung, Kleidung, Bildung, kulturelle Tätigkeiten, Reisen, u. a. m e h r . Wie verhält sich nun die oben beschriebene, relativ hohe Qualifikation der wissenschaftlich-technischen Intelligenz zu den Qualifikationsanforderungen der Industriearbeiter auf dem Hintergrund des veränderten Produktionsprozesses? Folgende Tendenzen ergeben sich für die Veränderung der Qualifikationsstruktur: 56
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„— Der Anteil der unmittelbaren Produktionstätigkeit geht, wenn diese auch noch die bedeutendste ist, zugunsten der Wartungs-, In261
standhaltung- und Überwachungstätigkeiten zurück. — Damit verschieben sich zugleich die Anteile von physischer, körperlich anstrengender Arbeit in Richtung mehr psychisch belastender Kontroll- und Meßwerttätigkeiten und solcher, die zumindest in den Aufbauphasen mehr technische Kenntnisse und Fähigkeiten zur Grundlage haben. — Dies ist zum Teil Ausdruck dafür, daß diejenigen qualifizierten Tätigkeiten, die in der Hauptsache durch einen branchenspezifischen Arbeitsplatz definiert werden, also vorwiegend eine Reihe von Facharbeiterberufen, zurückgehen. Einerseits werden sie auf angelernte Arbeiten reduziert, andererseits entstehen vorläufig spezialisierte, sogenannte ,prozeßunabhängige' Tätigkeitsbereiche. — Kennzeichnend für höhere Qualifizierung ist, daß sie als Spezialisierung entsprechend angelernt und am Arbeitsplatz vermittelt wird." Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die Tendenzen in der Qualifikationsstruktur der Industriearbeiter: 58
Leistungsgruppen
Facharbeiter Angelernte Arbeiter Ungelernte Arbeiter
Anteile in % 1951
1957
1960
1962
1965
1966
1967
1968
1969
47,6
44,8
40,6
41,6
42,5
43,4
44,6
43,7
42,8
28.0
32,4
36,4
36,6
36,5
36,7
36,3
36,6
36,9
24,4
22,8
23,0
21,8
21,0
19.9
19,1
19,7
20.0
Quelle: J. Marx, Arbeitskraft — Neue Technik — Monopolherrschaft. Die widersprüchliche Entwicklung der Arbeitskraft unter den Bedingungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und den kapitalistischen Produktionsverhältnissen in der BRD, in: DWI-Forschungshefte, Heft 4/1971, S. 27, hier nach W. D. Hund, u. a., a.a.O., S. 1 0 8 7 . 59
Daraus ergeben sich zwei Tendenzen: die Gruppen der Facharbeiter und der ungelernten Arbeiter nehmen prozentual ab, während die Gruppe der angelernten Arbeiter prozentual ansteigt. Was bedeutet diese Entwicklung nun für die Ausbildung der Ware Arbeitskraft? — Die Verwissenschaftlichung der materiellen Produktion bedeutet eine gewisse Zunahme allgemeiner Qualifikationsanforderungen. Die Notwendigkeit ständigen Neu-Erlernens und Umstellens auf neue technische Aggregate, d. h. der Zwang zu punktueller Spezialisierung erfordert eine gewisse, allerdings geringfügige Erhöhung der allgemeinen Qualifikation der Arbeitskräfte, die selbst bereits eine Ausweitung der unteren Stufen des allgemeinbildenden Schulwesens mit einschließt und voraussetzt. Die relativ gering qualifizierte Arbeitskraft indes ist geradezu die Bedingung der absoluten Mobilität und Flexibilität, d. h. ihrer freien Einsetzbarkeit am beliebigen Arbeitsplatz. Es läßt sich nämlich statistisch nachweisen, daß der Fluktuationsgrad für Nicht262
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Facharbeiter bedeutend höher ist als der der Facharbeiter. Aus dieser These läßt sich wiederum nicht die generelle Tendenz einer zunehmenden Dequalifikation ableiten, vielmehr bedarf es der Aufdeckung der widersprüchlichen Entwicklung der Qualifikation des Gesamtarbeiters und einer nur geringfügig erhöhten Qualifikation des größten Teils der Arbeiterschaft. Der reale Erklärungsgrund liegt darin, daß die prozentual zunehmende Qualifikation auf einen relativ kleinen Teil des Gesamtarbeiters, d. h. der wissenschaftlich-technischen Intelligenz konzentriert bleibt. „Die Entwicklung der Produktivkräfte bedeutet also insgesamt für die unmittelbaren Produzenten vor allem zweierlei. Eine schnellere Umwälzung der Produktionsmittel erfordert von ihnen erhöhte Mobilität. Die weitere Entwicklung der Produktivkräfte ist aber gleichzeitig gebunden an ein bestimmtes Qualifikationsniveau. Die Notwendigkeit einer höheren Qualifikation setzt sich indessen lediglich für gewisse Gruppen durch und gelangt nur dann zum Ausdruck, wenn sie unabdingbar für die Einführung technisch neuer Anlagen ist. Dies geschieht durch bloße Anpassung an bzw. punktuell durch Spezialisierung auf einen Arbeitsplatz. Wesentliches Kennzeichen dieses Prozesses ist also die Auflösung der Qualifikation der Arbeitskraft, die sich für sie als ihre Flexibilität darstellt, in Mobilität und punktuelle Spezialisierung, die durch die Weiterentwicklung der Produktivkräfte ständig wieder aufgehoben und entwertet w i r d . " 61
Die beiden wesentlichen Qualifikationsmerkmale, das der allgemeinen Mobilität und der je besonderen arbeitsplatzbezogenen Fähigkeit, bestimmen das Verhältnis von allgemeiner Grundausbildung und berufsbezogener Allgemeinbildung. D. h., daß eine auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes zugeschnittene Ausbildung erforderlich ist, die allgemeine Mobilität garantiert und zugleich elastizitätsorientierte Bestandteile für mögliche Spezialisierungen enthält. Neben der arbeitsmarktgerechten Arbeitsplatzbezogenheit des Ausbildungsprozesses in allgemeinbildenden Schulen dürfte damit die „Verlagerung eines erheblichen Teils der Gesamtausbildung von der Erstausbildungsphase auf spätere Umschulungs- und Weiterbildungsphasen" notwendig geworden sein. Wie die daraus erwachsende Zunahme der Lehrertätigkeiten durch unterrichtstechnologische Verfahren (technische Medien, objektivierte Testverfahren, u. a. m.) effektiviert und unter Kontrolle gebracht werden soll, wird im nächsten Abschnitt kurz erläutert. Ein relatives und absolutes Anwachsen des Haushalts für Bildung und Wissenschaft bedeutet deshalb durchaus nicht ein Ansteigen der Qualifikation der Durchschnittsarbeitskraft, sondern impliziert, daß ein Großteil der Ausgaben zur wachsenden Technisierung und Automatisierung technischer Aggregatsysteme im Produktionsprozeß eingesetzt wird. Qualifikation und deren Entwertung durch den Produktionsprozeß sind, auf die Struktur des Gesamtarbeiters bezogen, nur als einheitlicher Prozeß zu begreifen, der aus dem allgemeinen Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital resultiert. 62
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3. Zur
F u n k t i o n von Bildungsökonomie und Unterrichtstechnologie
Auf dem Hintergrund der widersprüchlichen Entwicklung der Arbeitsplatz- und Qualifikationsstruktur kommt der Ausarbeitung von Ansätzen zur Bildungs- und Wissenschaftsökonomie sowie zur Unterrichtstechnologie hervorragende Bedeutung zu. Das zeigen besonders der in der pädagogischen Diskussion durch Freerk Huiksen herausgearbeitete „Wandel von der bildungstheoretisch zur bildungsökonomisch orientierten D i d a k t i k " und die ersten systematischen Ansätze einer Bildungsökonomie von Friedrich Edding ( 1 9 5 8 / 1 9 6 3 ) . Die Bildungsökonomie und ihr Entstehen fällt also in jene Zeit des Endes des deutschen „Wirtschaftswunders", innerhalb deren sie sich als einen Versuch rationaler Planung und Aufhebung der Bildungskatastrophe versteht, d. h. des Mißverhältnisses von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitskräftemarkt. Entgegen der These von Adolf Kell, daß „bildungsökonomische Theoriebildungen und Forschungen vom jeweiligen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem weitgehend unabhängig" seien, ist festzustellen, daß die wissenschaftlichen Untersuchungen der exakten Prognostizierung des Bedarfs an Schul- und Hochschulabsolventen, sowie die in enger Beziehung dazu arbeitende Arbeitsmarktforschung geradezu ein Reflex der veränderten sozioökonomischen Bedingungen darstellen. „Bildungsinvestitionen Bildungsplanung werden unter und innere Ökonomie der Bildungsinstitutionen" dem Aspekt des direkt ursächlichen Zusammenhangs von „wirtschaftlichem Fortschritt" und der Entwicklung von Bildung und Wissenschaft als „unmittelbare Produktivkraft" gesehen. Die problematische Trennung von Mikro- und Makroökonomie, der auch zum Teil kritische Autoren wie F. Huisken verfallen, suggeriert die Planbarkeit bildungspolitischer Prozesse auf gesamtgesellschaftlichem Niveau wie auch auf der Ebene der „Betriebswirtschaft der Schule". Gleichzeitig wird in der Trennung verschleiert, daß beide Ebenen Teil der „Rationalität" des dem kapitalistischen Verwertungsprozeß unterworfenen Bildungssystems sind. 63
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Dieser Zusammenhang deutet darauf hin, daß die verschiedenen Ansätze zur Bildungsökonomie stillschweigend von den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise ausgehen, ohne diese selbst kritisch zu analysieren. Das Problem der Bildungsplanung im Rahmen der Bildungsökonomie wird auf einer doppelten Ebene gelöst: auf einer systembezogenen, d. h. die Gesamtgesellschaft betreffenden Ebene der Makroökonomie und einer stärker verhaltenswissenschaftlich orientierten MikroÖkonomie, d. h. auf der Ebene der Bildungsinstitutionen. „Makroökonomisch und systembezogen formuliert, lautet die Frage: wie hängen Stabilität des ökonomischen Systems und profitgarantierendes Wirtschaftswachstum mit der Qualifikationsstruktur der Arbeitskräfte zusammen, und wie wirken sich Investitionen im Bildungssektor auf das Sozialprodukt aus? Mikrookonomisch und verhaltensorientiert lautet die Frage: Wie müssen sich die Individuen 69
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als ,Haushalte' den makroökonomisch legitimierten Investitionen anpassen, um ihre eigenen Nutzen zu maximieren und den des Systems zu v e r g r ö ß e r n ? " Die kapitalistischen Produktionsbedingungen werden in diesen Modellen als gegebene vorausgesetzt und akzeptiert: die Bildungsökonomie ist primär daran interessiert, zur Erreichung der wirtschaftspolitischen Zielsetzung des sogenannten Wirtschaftswachstums möglichst exakte Planungsdaten zur Verfügung zu stellen. Der Ökonom erhält dabei die Funktion, wissenschaftliche Politikberatung wahrzunehmen, d. h. den Bildungspolitikern gesicherte Entscheidungshilfen an die Hand zu g e b e n . Was nun auf der Ebene der bildungspolitischen Systemplanung als Strategie der Anpassung an die spätkapitalistische Ökonomie sichtbar wurde, findet auf der Ebene der Schule und des Unterrichts ihre Entsprechung in den neuen Lehrplantheorien (Curriculumrevision) und einigen Versuchen der Unterrichtstechnologie. Da Ausgaben für Bildung und Ausbildung grundsätzlich faux frais für den Staat und die Einzelkapitale bedeuten, muß eine Strategie entwickelt werden, die die Loyalität der Produzenten absichert. Die Konzeptionen einer geisteswissenschaftlichen Didaktik in den 50er Jahren leiteten ihre Vorstellungen aus einem überzeitlichen „kategorialen Bildungsbegriff" (Wolfgang Klafki) ab, der die Bildungsinhalte auf das Leben hin orientieren sollte: Bewährung in der Welt und Einfügen in ihre innere Ordnung. Diese Inhalte gingen ein in die „didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung", die „selbst den irrationalsten Bildungsinhalt noch als kategorial und damit elementar auszuweisen verm a g " . Diese Form der Unterrichtsvorbereitung war losgelöst von jeglichen gesellschaftlichen Bezügen und rechtfertigte jeden pädagogischen Inhalt: damit war unter liberalem Deckmantel jedem reaktionären Inhalt Tür und Tor geöffnet. Seit Mitte der 60er Jahre wird nun von staatlicher Seite aus versucht, die Lehr- und Lernprozesse in der sogenannten Curriculum-Entwicklung (Lehrplanforschung) unter den Aspekten „Ziele", „Inhalte", „Methoden", „Organisationsformen" und „Kontrollverfahren" zu planen. Eine detaillierte Kritik der in der Curriculumentwicklung und -revision aufgestellten Zielvorstellungen wird im nächsten Abschnitt am Beispiel des Geschichtsunterrichts zu leisten sein. Wenngleich die gesellschaftlichen Grundlagen von Lehr- und Lernprozessen mitbedacht werden, so ist die Grenze der Kritikfähigkeit da abgesteckt, wo die einseitig von bürgerlichen Klasseninteressen aus interpretierte „freiheitlich-demokratische Grundordnung" aufhört. Bildungstechnologische Tendenzen laufen darauf hinaus, den konkreten Unterrichtsprozeß vermittels technischer Medien, objektivierbarer Leistungsmeßund Kontrollverfahren bis in alle Details hinein zu planen und zu steue r n . Bildungsökonomische Systemtheorie und unterrichtstechnologische Curricula sind — bleiben sie vor den skizzierten „Grenzen der Kritik" stehen — zwei Seiten ein und derselben Medaille, nämlich Versuche, den bildungs- und ausbildungspolitischen Planungsprozeß so zu 70
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7 2
73
265
effektivieren, daß ein minimaler Input (= faux frais) einen maximalen Output systemkonformen, sozialintegrativen Verhaltens erzeugt.
D. Geschichtsunterricht - Medium der Kontrolle und Steuerung ideologisch-affirmativer Integrationsprozesse 1. Z u r E n t w i c k l u n g 1 9 . Jahrhundert
bürgerlicher
Geschichtswissenschaft
seit
dem
Um die Kontinuität der bürgerlichen Ideologeme im Geschichtsbuch und in ihrer Wirksamkeit im Geschichtsunterricht verstehen zu können, bedarf es zunächst eines knappen Rückblicks auf die Entwicklungstendenzen der bürgerlichen Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert. Bürgerliche Geschichtswissenschaft erweist sich nämlich über die Ausbildung der Geschichtslehrer an den Universitäten und die dadurch bestimmten Inhalte in Geschichtsbüchern und Geschichtsunterricht als entscheidender Katalysator und Vermittlungsträger bürgerlicher Ideologie. Die Niederlage der 1848er Revolution und die bereits „drohende Gefahr" der aufsteigenden proletarischen Klasse (Weberaufstände 1 8 4 4 ) führte zum Verzicht des Bürgertums auf liberale und demokratische Reformansätze, wie sie noch bei großen Teilen der fortschrittlichen bürgerlichen Oppositionsbewegung, insbesondere der von den Burschenschaften getragenen Studentenbewegung im Vormärz vorhanden waren. Statt dessen vollzog das einst liberale Bürgertum bereits 1 8 4 8 , wie z. B. die Diskussionen auf der Frankfurter Nationalversammlung zeigen, die entscheidende Wendung und suchte den politischen Kompromiß mit der reaktionären Feudalkaste und der preußischen Monarchie. Zudem gelang es der bürgerlichen Klasse, unter Verzicht auf die politische Führung im deutschen Kaiserreich den ökonomischen Aufstieg und die Expansion des deutschen Kapitals voranzutreiben. Die generelle historisch-politische Interessenlage des deutschen Bürgertums wurde zur Grundlage für die an die bildungsbürgerlichen Vorstellungen Wilhelm von Humboldts (vgl. Kapitel 4, Abschnitt B) anknüpfende Geschichtsschreibung des Historismus. Unter Historismus soll im folgenden jene Hauptströmung der deutschen Geschichtswissenschaft und des politischen Denkens bezeichnet werden, die seit Leopold von Ranke über Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter bis in die jüngste Vergangenheit gewirkt hat: Die drei Säulen des Historismus, die Geschichtstheologie L. von Rankes, das Prinzip des unendlichen Verstehens bei J. G. Droysen sowie Fr. Meineckes subjektivistische Ideengeschichte bleiben — mit geringfügigen Modifikationen — feste Bestandteile bürgerlicher Historiographie seit dem Kaiserreich. „Der Historismus geht von folgenden Grundannahmen aus: daß in der Geschichte alles veränderlich ist, daß alle historischen Erscheinungen unwiederholbar sind und individuellen Charakter haben, daß alle historischen Ereignis74
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se ihren Wert in sich selber tragen, und daß alles Geschehen historisch bedingt, jedoch nicht determiniert ist, wobei der historische Prozeß sowohl durch natürliche Faktoren als auch durch den freien Willen der Individuen bestimmt wird." (Hervorhebung durch uns, d. V e r f . ) Rankes mystifizierende Geschichtstheologie, derzufolge ,jede Epoche . . . unmittelbar zu G o t t " ist und Geschichte in positivistischer Manier nach dem Prinzip „wie es eigentlich gewesen ist" geschrieben werden soll, verklärt die Vergangenheit zum Mythos und zur schicksalsbedingten, göttlichen Vorsehung. Die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich in einer fortschreitenden Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die bürgerlichen Klassen ausdrücken, werden auf diese Weise mit der Weihe einer geschichtsmystifizierenden Ersatzreligion versehen. Droysens Prinzip des unendlichen Verstehens, das die Vielfalt des historischen Materials nach subjektivistisch-moralischen Kriterien („Wirken der sittlichen Mächte", „Wirken der sittlichen Gemeinsamkeiten"), die selbst undefiniert bleiben, zu ordnen versucht, macht die zweite Säule aus. Das zentrale Prinzip der „sittlichen Gemeinsamkeiten" ist orientiert auf blutmäßige Verbindungen wie Familie, Stamm und Volk, an deren Spitze der Staat rangiert. Das ökonomische und politische Ziel der bürgerlichen Klasse nach einem einheitlichen Nationalstaat wird zum ethischen Prinzip allen menschlichen, d. h. sittlichen Seins hypostasiert. Nach der Konstitution des preußisch-deutschen Staates ( 1 8 7 1 ) waren Droysens Ziele erfüllt. Die Entwicklung zum Absolutheitsanspruch des imperialistischen Staates, die Entwicklung der antagonistischen Klassengesellschaft wilhelminischer Prägung wird unbefragt hingenommen und als geschichtliches Resultat verabsolutiert. 7 5
Am Beispiel Friedrich Meineckes läßt sich exemplarisch zeigen, wie sich die konservative Geschichtsideologie des Historismus in den verschiedenen Phasen des deutschen Kapitalismus den jeweiligen Veränderungen anzupassen versuchte und sich schließlich bis in die Anfänge der B R D hinüberretten konnte. Meineckes ideengeschichtliches und personalistisches Konzept („Die großen Staatspersönlichkeiten sind die größten unserer Erkenntnis erreichbaren Realitäten der geschichtlichen Welt.") setzt sich in dem Prinzip des Staates als „geschichtlich gewordener Individualität" fort, die nur aus ihrem tiefsten inneren Wesen heraus verstanden werden kann. Bis zum Ersten Weltkrieg begriff sich Meinecke als Apologet des Bismarckschen Staates und verwandelte seine Auffassungen erst während des Ersten Weltkrieges, da der Verlauf des Krieges den Klasseninteressen des Bürgertums zuwiderzulaufen schien. Das nun auftretende „Spannungsverhältnis zwischen Macht und Geist" begründete auch Meineckes Schranken zwischen alternativen Lösungsmöglichkeiten in der Politik. Doch bereits während des Faschismus befürwortete er 1938 die Annexion Österreichs und nahm schließlich 1 9 4 0 die Niederwerfung Frankreichs mit Begeisterung auf. Die Niederlage des Faschismus wurde in seinem 1946 erschienenen Buch „Die deutsche Katastrophe" als „Produkt des Zufalls und des Macchiavellismus der Massen" interpretiert. Beides entsprach 267
den Interessen des deutschen Bürgertums, das — durch das Dritte Reich tief enttäuscht — in dieser Begründung eine Rechtfertigungsideologie für sein eigenes Verhalten gegenüber dem Faschismus e r h i e l t . Die individualisierende Methode des Historismus hat sich als Grundzug bürgerlicher Geschichtswissenschaft bis heute erhalten. Darüber hinaus sind seit Beginn der 50er Jahre, verstärkt seit der Studentenbewegung und ihren Rückwirkungen auf den universitären Lehrbetrieb, aber auch angesichts der internationalen und nationalen Systemkonkurrenz zwischen bürgerlicher und marxistischer Wissenschaft, Ansätze zur einer Strukturgeschichtsschreibung, besonders zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte entwickelt worden. Es ist bezeichnend für die Entwicklung bürgerlicher Geschichtswissenschaft, daß die Institutionalisierung dieser Richtung nur mit großen Schwierigkeiten durchgesetzt werden konnte. Besonders im Zuge der Fischer-Kontroverse in der deutschen Geschichtswissenschaft sind die Diskussionen um den Stellenwert sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Forschungen im Rahmen bürgerlicher Geschichtswissenschaft weitergeführt worden. Jüngere Historiker, vor allem Fischer-Schüler wie Helmut Böhme, Imanuel Geiss, aber auch Klaus Hildebrand, Klaus Stürmer und vor allem Hans-Ulrich Wehler haben sich — bei aller methodologischen Begrenztheit ihres Ansatzes — von den reaktionären Geschichtslegenden traditioneller Historiographie abgewendet. Gerade angesichts der partiell unkritischen Rezeption bürgerlicher Soziologie — H.-D. Kittsteiner hat das jüngst exemplarisch am Beispiel der Max-Weber-Rezeption HansUlrich Wehlers gezeigt — ist eine verstärkte methodologisch und ideologiekritisch fundierte Auseinandersetzung mit diesen Repräsentanten erforderlich. Nur auf diese Weise kann die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte langfristig zu einem Teil kritischer Geschichtswissenschaft fortentwickelt werden, die tendenziell die Fächertrennung von Geschichte und Sozialwissenschaften aufzuheben in der Lage ist. Besonders Fragen zur Theorie und Geschichte der Arbeiterbewegung müßten in die Diskussion einbezogen werden. Die noch nicht abzuschätzenden Auswirkungen der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte auf die zukünftige Ausbildung der Geschichtslehrer dürfen nicht — vom gegenwärtigen Entwicklungsstand der Forschungsrichtung her — als bloß herrschaftsstabilisierend angesehen werden, zu einem erheblichen Teil hängt es von den kritischen Studenten und Lehrern ab, ob die Sozialund Wirtschaftsgeschichte die bisherige Eliminierung sozialer und ökonomischer Probleme aus dem Geschichtsbild aufheben und als potentiell materialistische Wissenschaft gesellschaftliche Emanzipationsprozesse einleiten kann. 76
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Am Beispiel des Historismus haben wir exemplarisch nachzuweisen versucht, welche politisch-ideologische Hilfestellung die bürgerliche Geschichtswissenschaft bei der Absicherung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse in der Vergangenheit und bis heute geleistet hat. Unter dem Druck linker Geschichts- und Sozialwissenschaft sind sozial- und wirtschaftshistorische Problemstellungen mittlerweile stärker 268
einbezogen worden: ähnlich wie in den Schulgeschichtsbüchern werden die Begriffe „Klassenstaat" und „Klasseninteresse" auf die Kritik des Kaiserreiches angewandt, für die aktuelle Gegenwart hingegen wieder eskamotiert. „In der Substanz aber hält sie (die Sozialgeschichte, d. Verf.) an allen Geschichtslegenden fest, die nach 1945 konzipiert worden sind, um die Kontinuität der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse seit dem Kaiserreich, die Verantwortung von Großkapital und preußischer Militärkaste für die beiden Weltkriege und die faschistische Diktatur, die Restauration der alten Sozialstruktur in der Bundesrepublik und die ideologische Hilfeleistung eben dieser Geschichtswissenschaft bei all diesen Vorgängen zu verschleiern." 79
2. Der V e r m i t t l u n g s z u s a m m e n h a n g von Geschichtswissenschaft Geschichtsbuch
und
Es wurde oben gezeigt, welch bedeutende Rolle die deutsche Geschichtswissenschaft bei der ideologischen Absicherung der jeweiligen Herrschaftssysteme des Kapitalismus gespielt hat. Genau diese bürgerliche Wissenschaft bildet aber die Voraussetzung für die bundesrepublikanischen Geschichtsbücher; ihr wissenschaftliches Niveau bestimmt deren Inhalt. Nun stellt sich die Frage, auf welche Weise die traditionellen Geschichtskonstruktionen der deutschen Geschichtswissenschaft — institutionell vermittelt — nach 1945 wieder Eingang in die Geschichtsbücher finden konnten. Folgende Faktoren sind für Qualität und Inhalt der Schulbücher ausschlaggebend: die Schulbuchautoren, die Richtlinien und Lehrpläne der einzelnen Länder, das Zulassungsverfahren der Kultusministerien und nicht zuletzt die privatkapitalistische Produktionsweise der Verlage. Die Schulbuchautoren sind in der überwiegenden Zahl Lehrer, die ihre Ausbildung in der unmittelbaren Nachkriegszeit erfahren haben, also in jener Restaurationsperiode des Kapitalismus, die mit dem „Kalten Krieg" und seinem militanten Antikommunismus in Westdeutschland zusammenfiel und deren Bewußtseinsstrukturen infolgedessen noch stark autoritäre bis faschistoide Züge aufweisen. Hinzu kommt, daß ca. 25 0 0 0 Flüchtlingslehrer aus der SBZ in die Westzonen kamen, weil sie in der SBZ auf Grund ihres Verhältnisses zur NSDAP aus ihren Positionen entfernt wurden, während man sie in den Westzonen alsbald wieder einstellte. Der Einfluß dieser faschistischen Lehrer auf die politische Atmosphäre in der B R D kann nicht unterschätzt werden, wenn man bedenkt, daß sie in ihren Ämtern ungehindert mit der Verbreitung autoritärer und faschistischer Ideologien fortfahren k o n n t e n . In der Regel sind Schulbuchautoren im „Schuldienst" beschäftigt. „Daß Vertreter der Universität selbst Schulbücher schreiben — wie der Freiburger Ordinarius A. Hillgruber oder der Berliner H. Herzfeld — ist eine Ausnahme. Der Schultyp, in dem ein Buch Verwendung finden soll, und Betätigungsfeld des Autors fallen jeweils zusammen." Nur in 80
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den seltensten Fällen sind die Schulbuchautoren hauptamtlich tätig, gewöhnlich werden Schulbücher neben der wissenschaftlichen oder schulpraktischen Tätigkeit produziert. Auf Grund der weitgehenden Trennung von Schule und Universität, vor allem der nicht institutionalisierten Kommunikationsbeziehungen zwischen Lehrern an Schulen und Hochschulen — also grundlegenden strukturellen Mängeln von bildungs- und gesellschaftspolitischer Relevanz — besteht nach wie vor ein generell ungelöstes 'Theorie-Praxis-Verhältnis im Bereich der Vermittlung von Wissenschaft und Schulbuch. Das lockere wissenschaftliche Beratungs- und Oberaufsichtsverhältnis verhindert eine systematische, d. h. langfristig konzipierte Kooperation zwischen Lehrern und Wissenschaftlern, die geeignet wäre, die ständige wissenschaftliche Weiterbildung der Lehrer wie auch die didaktisch-methodische Komponente in der wissenschaftlichen Arbeit selbst zu institutionalisieren. Eine derartige Möglichkeit ist jedoch bereits im Ansatz der neuen Bildungsreformen, z. B. der Gesamtschulkonzeption, von vornherein nicht vorgesehen: d. h., daß in der gegenwärtigen Gesellschaft institutionalisierte Schranken vorhanden sind, die eine systematische Wechselbeziehung von Wissenschaft und Schulpraxis verhindern. Die Folge ist eine ganz erhebliche Phasenverschiebung von etwa 5 — 10 Jahren, mit der der aktuelle Stand der Wissenschaft in die Schulbücher Eingang findet. 8 2
Eine weitere Schwierigkeit für die Vermittlung von Wissenschaft stellen die Lehrpläne und Richtlinien dar. Schulbuchautoren und Verlage müssen ihr Produkt durch die Zulassungsprüfung bringen — und zwar möglichst in allen Bundesländern. Um also möglichst ,richtig' zu liegen und die notwendige Erfolgsvoraussetzung zu schaffen, orientieren sie sich an den bestehenden Lehrplänen wie auch an den amtlichen Richtlinien und Empfehlungen, die selbst oft der Revision bedürfen und vor allem die politischen Schulbücher in stärkstem Maße prägen. Ein typisches Beispiel sind die schon erwähnten „Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht", die 1962 durch einen Beschluß der Kultusministerkonferenz erlassen worden sind. Obwohl die Totalitarismus-Richtlinien in den letzten Jahren durch die bürgerliche Wissenschaft selbst eingehend kritisiert worden sind (vgl. Kapitel 2, S. 203 ff.) und ihre Unwissenschaftlichkeit längst erwiesen ist, haben sie nachwievor ihre Gültigkeit für den Geschichtsunterricht behaltea Ganz abgesehen davon stehen diese Richtlinien, wie auch die Ostkunde-Empfehlungen und die mittlerweile von der Bundesregierung aufgehobenen Bezeichnungsrichtlinien (die die Demarkationslinie zwischen der B R D , der DDR und Polen festlegten) in einem offenkundigen Widerspruch zu Art. 5 Absatz 3 des Grundgesetzes, in dem die Freiheit von Wissenschaft und Lehre garantiert ist. Wie anders als ein Eingriff in dieses Grundrecht kann die Forderung gewertet werden, den Schülern müsse die Totalitarismusideologie aufoktroyiert werden. Dort heißt es u. a.: „Die Lehrer aller Schularten sind daher verpflichtet (sic!), die Schüler mit den Merkmalen des Totalitarismus und den 83
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Hauptzügen des Bolschewismus als den wichtigsten totalitären Systemen des 2 0 . Jahrhundert vertraut zu machen." Die Eingriffe der Kultusministerien üben also einen erheblichen Einfluß auf den Inhalt der Geschichtsbücher aus. Vor allem durch das Zulassungsverfahren der Kultusministerien werden die Schulbuchautoren gezwungen, private Vorzensur zu betreiben. Das Gutachterverfahren für die „Prüfung" der Schulbücher ist völlig undurchschaubar und demokratisch unkontrollierbar: Die Gutachter sind und bleiben anonym, die Kriterien für die Beurteilung werden ebenfalls nicht bekanntgegeben und sind also nicht überprüfbar, ganz abgesehen davon, daß die Gründe für die Ablehnung selten inhaltlich benannt w e r d e n . Andererseits konnte das Zulassungsverfahren nicht verhindern, daß eindeutig undemokratische Schulgeschichtsbücher zugelassen wurden (vgl. den „Grundriß der Geschichte" vom Klett-Verlag!). Dazu paßt, daß — wie mit Sicherheit anzunehmen ist — ausgezeichnete Schulbücher nicht zugelassen wurden und werden. Die Kontroverse um die Neufassung des Sozialkundebuches von Wolfang Hilligen „sehen-beurteilen-handeln" zeigt die momentanen Grenzen der Fortschrittlichkeit schon für liberal-demokratische Schulbücher a u f . Das bedeutet aber gleichzeitig, daß kritische Argumente und Tendenzen in der Geschichtswissenschaft im Prozeß der Schulbuchproduktion herausgefiltert werden und also der aktuelle Entwicklungsstand fortschrittlicher Ansätze der Geschichtswissenschaft (d. h. z. B. radikaldemokratischer bis marxistischer Färbung) in keiner Weise berücksichtigt wird. Was sich in den Geschichtsbüchern niederschlägt, ist normalerweise nur die konservativ-reaktionäre Komponente der wissenschaftlichen Diskussion. 85
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Einen weiter einschränkenden Faktor für die Qualität der Geschichtsbücher stellt die Tatsache dar, daß die Schulbuchverlage in der Regel nicht in der Lage sind, sich für jedes Fachgebiet einen Stab von Wissenschaftlern und Praktikern zu halten, der sich ausschließlich mit dem Inhalt der Schulbücher beschäftigt. Die Schulbuchverlage sind außerdem daran interessiert, ein Schulbuch — bei geringen Änderungen — so lange wie möglich im Programm zu behalten, um höhere Gewinne zu erzielen. Schulgeschichtsbücher, die in renommierten Verlagen publiziert werden, sind deshalb „Objekte mit hohen Gewinnerwartungen und niedrigen Selbstkosten ( z . B . A u t o r e n h o n o r a r e ) " . Die indirekte Subvention der Schulbücher durch Bund und Länder („Lernmittelfreiheit") sichert auf diese Weise die Marktposition von führenden Verlagen (vgl. Klett-Verlag, Hirschgraben-Verlag u. a.). Die Konsequenz dieses Verfahrens ist, daß auf diese Weise noch nicht einmal die gängigen Ergebnisse bürgerlicher Wissenschaft im Zuge ständiger Neuauflagen von den Geschichtsbüchern rezipiert werden. Die von der herrschenden Geschichtswissenschaft in der B R D entwickelten Ideologeme werden infolgedessen in den Geschichtsbüchern von einer Auflage zur nächsten immer wieder übernommen. 88
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Alle diese Faktoren bewirken eine bemerkenswerte Kontinuität der herrschenden Ideologie in Geschichtsbüchern. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die Sozialgeschichte der Staatsbürokratie, die sowohl soziostrukturell wie auch in bezug auf ihr politisch-soziales Verhalten genau die gleiche Kontinuität in der Absicherung bürgerlicher Herrschaft aufweist. Das Resultat: „Schulgeschichtsbücher sind niemals mehr als ,Ausdruck des herrschenden Zeitgeistes' und ,Instrument geistiger Führung und Verführung' gewesen, immer Abbild des Vorhandenen und niemals Projektion möglicher Entwürfe, erst recht nicht im Geschichtsbuch. Von diesen ist ganz im Gegenteil zu sagen, daß sie sich nicht selten einmal ,auf der Höhe der Zeit' befinden, d. h. sie konservieren noch die Geschichtsvorstellungen der jeweils vorhergehenden E p o c h e . " Als Instrument zur Demokratisierung der Gesellschaft sind darum solche Schulgeschichtsbücher nicht geeignet. 9 0
3. Die Stellung des Geschichtsbuches im Geschichtsunterricht
Im Abschnitt A dieses Kapitels wurde gezeigt, daß die Ausbildung der Ware Arbeitskraft, also auch die der Lehrer dem kapitalistischen Profitprinzip untergeordnet ist. Auf Grund der Machtverhältnisse im kapitalistischen System setzt sich deshalb meist das Interesse der Kapitalverbände an einer möglichst kurzen und billigen Ausbildung durch, mit dem Ziel, die rasche Verwertbarkeit im herrschaftsstabilisierenden Sinne zu gewährleisten. Das kapitalistische System verhindert deshalb notwendig eine allseitige Ausbildung der Lehrer, die geeignet sein könnte, die Lehrer und damit auch die Schüler in die Lage zu versetzen, ihre eigenen Interessen zu erkennen und einen Beitrag für gesellschaftliche und individuelle Emanzipation zu leisten. Da aber die Berufsausbildung in der Regel völlig losgelöst von allen gesellschaftlichen Bezügen und Bedingungen betrieben wird und unter „Praxis" allenfalls eine eingeschränkte Schulpraxis verstanden wird, nicht aber eine auf die Gesamtgesellschaft bezogene, ist es auch nicht verwunderlich, wenn die Mehrzahl der Lehrer völlig unvorbereitet in den Unterrichtsprozeß eintritt. Auf Grund ihrer schlechten fachlichen und pädagogischen Ausbildung sind deshalb viele Lehrer darauf angewiesen, das Geschichtsbuch und seine begleitenden Didaktiken als Stütze des Unterrichts und als praktische Handlungsanweisungen zu benutzen. Das Geschichtsbuch wird damit häufig zum Ersatz des Geschichtsunterrichts. 91
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Die immer noch vorherrschende Tendenz, die Inhalte der Geschichtsbücher bei der Leistungsbewertung unkritisch zu reproduzieren, charakterisiert die unbefragte Autorität der Geschichtsbücher. Kritische politische Reflexion kann aber durch das Prüfungs- und Abfragesystem unserer Lern- und Leistungsschule nicht gefördert werd e n . Das vom Geschichtsunterricht intendierte Wissen unterschei93
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det sich deshalb vermutlich „normalerweise kaum qualitativ von dem in den Lehrbüchern niedergelegten W i s s e n " . Das Schulbuch ist folglich ein grundlegendes Arbeitsmittel, und die Annahme, daß es einen erheblichen Einfluß auf das Geschichtsbewußtsein der Schüler ausübt, erscheint ausreichend begründet. Neuerdings werden im Geschichtsunterricht auch Quellenhefte und andere Arbeitsmaterialien verwendet. Über deren Wirksamkeit gibt es noch keine genauen Untersuchungen; man kann aber davon ausgehen, daß die Arbeit mit Quellen die Anleitung durch den Lehrer etwa in Form von Hintergrundschilderungen oder Interpretationshilfen zur Voraussetzung hat. Die Qualität der Lehrerarbeit hängt hier in ganz besonderem Maße von der Qualität seiner Ausbildung ab; er muß in der Lage sein, die gesellschaftlichen Beziehungen, von denen die Quellen nur einen Ausschnitt wiedergeben, in ihrer Totalität zusammenhängend und wirklichkeitsgemäß den Schülern zu vermitteln. Auch die Auswahl der Quellen spielt für die Konstitution eines Geschichtsbildes eine ganz erhebliche Rolle. Hintergrundschilderungen, Interpretation der Quellen wie auch die Auswahl von Quellen sind dabei der subjektiven Willkür des Lehrers stärker unterworfen, als wenn er z. B. den Inhalt des Geschichtsbuches referiert und dadurch eher von den Schülern kontrolliert werden kann. Der Spielraum für Manipulationen und Verfälschung des Geschichtsbildes ist auf diese Weise bei Quellenarbeit eher größer, zumal Quellen den Anschein erwecken, als handle es sich um neutrales, objektives Material, in dem die Geschichte unverfälscht selbst zu Wort kommt. Auf der anderen Seite bietet die Arbeit mit Quellen aber auch größere Chancen für progressive Lehrer. Zum einen sind sie nicht mehr ausschließlich auf die schlechten Schulbücher angewiesen, sondern können andere Arbeitsmaterialien für die Unterrichtsgestaltung heranziehen. Zum anderen ist aber bei der Arbeit mit Quellen auch ein anderer Unterrichtsstil möglich, nämlich die Gruppenarbeit, die den Schülern eher Möglichkeiten zu selbständigen und kritischer Arbeiten bietet als der traditionelle Frontalunterr i c h t . Unbedingte Voraussetzung für einen Geschichtsunterricht mit Quellenarbeit, der den Schülern die rationale Einsicht in geschichtlichgesellschaftliche Prozesse ermöglicht und sie in die Lage versetzt, ihre Interessen zu erkennen und wahrzunehmen, ist eine qualifizierte Berufsausbildung an der Universität und zusätzlich — oder mindestens alternativ — die Weiterbildung an der Schule; andernfalls sind die Lehrer nicht in der Lage, Kriterien für die Auswahl von Quellen zu entwickeln und die Quellen selbst in ihren geschichtlichen Zusammenhang zu stellen und zu interpretieren. 94
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4. Der Lehrer
Im allgemeinen befassen sich Schulbuchanalysen nur mit dem Faktor des Lehrbuches im Unterricht. Die Funktion des Lehrers als Vermitt273
lungsträger zwischen Schulbuch und Schüler darf jedoch nicht unterschätzt werden. Im folgenden soll deshalb auf die Soziallage und das empirisch vorfindbare Bewußtsein der bundesrepublikanischen Lehrerschaft eingegangen werden.
a)
Soziallage
des Lehrers
Angesichts der verschiedenen Arbeitsbedingungen von Lehrern in Berufs-, Privat- oder öffentlichen Schulen oder in der Lehr- und Lernmittelindustrie ist in der sozialwissenschaftlichen Diskussion die Frage nach den ökonomischen Bestimmungen für die Soziallage der Lehrer noch ungelöst. Eine generelle ökonomische Bestimmung der Arbeit der Lehrer ist darum vorerst nicht möglich. Die folgenden Anmerkung e n beschränken sich deshalb auf die Arbeit des Lehrers an öffentlichen Schulen. Seine objektive sozialökonomische Stellung resultiert aus dem spezifischen Charakter seiner Arbeitskraft. Der Lehrer ist Lohnarbeiter (vgl. die Definition im Kapitel über die Arbeiterbewegung); er ist jedoch kein freier Lohnarbeiter , denn er kann seine Arbeit auf dem Markt nicht diesem oder jenem Käufer anbieten, sondern ist darauf angewiesen, seine Arbeitskraft an das „Arbeitgeber"-Monopol Staat zu verkaufen. Als „Beamter im Staatsdienst" untersteht er gemäß besonderer Beamtengesetze nicht nur „während der Arbeitszeit in der Schule, sondern auch außerhalb der Schule der Kontrolle des Staat e s " . Vor allem in seinem politischen Handeln ist der Lehrer stark eingeschränkt. War es ihm in der Weimarer Republik nicht einmal erlaubt, Mitglied einer Partei zu sein, so ist ihm heute dieses Recht in der B R D zwar gewährt; während seiner Arbeitszeit darf er sich jedoch nicht politisch betätigen, und spätestens seit den Ministerpräsidentenbeschlüssen vom Januar 1 9 7 2 , die auf ein Berufsverbot für Demokraten und Kommunisten z i e l e n , verstärken sich die Versuche, auch diejenigen Lehrer zu disziplinieren, die außerhalb der Schulzeit politisch arbeiten. Für diese verfassungswidrige Einschränkung ihrer Freiheitsrechte wird auch der § 68 der Beamtengesetze eingesetzt: „Der Beamte hat bei der Ausübung seines Rechts auf politische Betätigung diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren, die sich aus seiner Stellung gegenüber der Gesamtheit und aus der Rücksicht auf die Pflichten seines Amts e r g e b e n . " In der politischen Praxis wird dieser Paragraph so ausgelegt, daß ein Lehrer zwar noch Mitglied der SPD sein darf, aber als Mitglied oder auch nur Sympathisant der DKP die erforderliche „Mäßigung" überschreitet, selbst wenn die DKP nach wie vor verfassungsrechtlich zugelassen ist und also nach Art. 3 GG niemandem aus seiner Tätigkeit für sie ein Nachteil entstehen darf. Daß dieser Paragraph, wie vor allem auch die Ministerpräsidentenbeschlüsse, sich in der Praxis einseitig und ausschließlich gegen linke Lehrer wendet, haben die Erfahrungen der letzten Jahre g e z e i g t . 9 7
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Bis heute ist noch nicht ein NPD-Anhänger und Beamter wegen seiner politischen Überzeugung gerichtlich verurteilt worden. Ebenso wie § 68 der Beamtengesetze stellt auch der Paragraph 90,1 einen „Gummiparagraphen" dar, der nach Belieben ausgelegt und zur politischen Disziplinierung angewendet werden kann: „Der Beamte begeht ein Dienstvergehen, wenn er schuldhaft die ihm obliegenden Pflichten verletzt. Ein Verhalten des Beamten außerhalb des Dienstes ist ein Dienstvergehen, wenn es nach den Umständen des Einzelfalles in besonderem Maße geeignet ist, Achtung und Vertrauen in einer für sein Amt oder das Ansehen des Beamtentums bedeutsamen Weise zu beeinträchtigen." Ganz abgesehen davon, daß hier das Bild eines Beamten gezeichnet wird, der bedingungslos und möglicherweise entgegen seinem persönlichen Gewissen die Anordnungen der Obrigkeit zu vollziehen hat — offenbar gleichgültig, ob ein Staat faschistischen oder demokratischen Charakter hat — und damit allein schon in Widerspruch zu der Forderung nach Demokratisierung der Gesellschaft gerät, so sind diese Beamtengesetze selbst insofern verfassungswidrig, als sie ganz elementare Grundrechte der beamteten Lehrer auf Dauer einschränken. Eine Art „Entschädigung" für diese Reglementierung und Kontrolle des Lehrers stellt die Form seiner Entlohnung, das Gehalt dar, die Privilegien wie Anstellung auf Lebenszeit, Pensionsberechtigung etc. enthält. Auf Grund seines Beamtenstatus bleibt außerdem die Arbeit des Lehrers von den Konjunkturzyklen der kapitalistischen Produktion insofern relativ verschont, als er nicht — wie andere Lohnarbeiter — in Krisenzeiten ohne weiteres entlassen werden kann, ohne daß die für den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß notwendige kontinuierliche „Produktion" von Qualifikationen erheblich gestört w ü r d e . „Relativ verschont" heißt aber nicht, daß die Lehrer von den Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals völlig unberührt blieben, wie die im Rahmen der Brüningschen Notverordnungen 1 9 3 2 durchgeführten (ca. 20 %igen) Gehaltskürzungen zeigen. Heute sind die beamteten Lehrer durch relative Gehaltskürzungen betroffen, weil die Inflationsrate in der B R D um einige Prozent schneller steigt als die realen Gehaltserhöhungen und weil die Mehrzahl der Lehrer auf Grund der Beamtengesetze („Mäßigung und Zurückhaltung"!) den Streik als Kampfmittel ablehnt. Das wird weiter unten bei der Behandlung des Gesellschaftsbildes der Gymnasiallehrer noch zu begründen sein. Die finanzielle Misere im Bildungssektor macht sich für den Lehrer vor allem vermittelt bemerkbar: durch die unzureichende Ausbildung, durch ungenügende Räume, zu hohe Klassenfrequenzen, zu wenig Lehrkräfte (weil entweder aus dem Schuldienst ausgeschiedene Lehrer nicht ersetzt oder Planstellen einfach gestrichen werden) usw.; zunehmend aber auch unmittelbar dadurch, daß die Chancen für Lehrerstudenten, einen angemessenen Arbeitsplatz zu erhalten, sich künftig verschlechtern werden, so daß die für die übrigen Lohnabhängigen schon immer charakteristische soziale Unsicherheit jetzt zunehmend auch für angehende 104
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Lehrer zutrifft. Eine weitere Besonderheit der Lehrerarbeit gegenüber anderen Lohnarbeitern zeigt sich darin, daß der Lehrer „nach dem Austausch seiner Arbeitskraft gegen Lohn/Gehalt nicht unter ein Einzelkapital subsumiert (ist), das seine Arbeitskraft zur Produktion von Mehrwertanwendet. Seine Arbeit ist nicht produktiv, d. h. direkt mehrwertbildend, sondern unproduktiv" (Hervorhebung von uns, d. Verf.). Dennoch ist die Arbeit des Lehrers gesellschaftlich notwendig , nämlich um die „in jeder Gesellschaft zu ihrer eigenen Reproduktion notwendige Aufgabe der Erziehung des N a c h w u c h s e s " zu leisten. „Unproduktive Arbeit bedeutet aber, daß sie bezahlt wird aus dem staatlichen Wertfonds, den die produktiven Arbeiter (d. h. der ,Kern' der Arbeiterklasse, die Industriearbeiter und Primärproduzenten von Mehrwert) in der unmittelbaren Produktion geschaffen haben. Die Bindung an den Staat durch die spezifische Form des Beamtengehalts verschleiert aber dem Lehrer die Tatsache, daß er letztlich aus dem Steueraufkommen der Masse der Lohnabhängigen bezahlt wird. Der Staat erscheint ihm als autonome Instanz, die im Interesse eines ,Allgemeinwohls' die Kontrolle über die Erziehung in ihrer veranstalteten Form a u s ü b t . " Dieses selbst als ideologisch zu begreifen, fällt dem Lehrer deshalb schwer, weil er selbst durch Richtlinien, Schulstruktur, Beamtengesetze usw. vielfältigen Sanktionen durch den Staat unterworfen ist und dadurch nicht unmittelbar ein Bewußtsein von den objektiven Beziehungen zwischen Arbeiterklasse, Staat und Lehrerschaft gewinnen kann. Hinzu kommt, daß der Lehrer als von der unmittelbaren Produktion getrennter Kopfarbeiter besonders ideologieanfällig ist. Letzteres trifft insbesondere für den Geschichtslehrer zu. 106
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Ein weiteres Spezifikum der Verausgabung von Lehrerarbeit gegenüber der von anderen Lohnarbeitern ist die Wertsteigerung der Arbeitskraft der Auszubildenden. Eine Erhöhung der Kosten für Lehrerarbeit oder auch Lernmittel bedeutet somit eine Erhöhung des Bildungsetats auf Kosten des Profits der einzelnen Kapitalisten. Auf der anderen Seite ist das Kapital aber auch daran interessiert, daß die für die Realisierung von Wissenschaft und Technik notwendige Qualifizierung der Arbeitskräfte auch im erforderlichen Ausmaß vollzogen wird. So versucht der Staat unter dem Druck der verschiedenen Einzelkapitale „stets mit einem Minimum an aufgewandten Mitteln ein Maximum an Wirkung zu e r z i e l e n " . Der Lehrer befindet sich somit in einer widersprüchlichen Situation: auf der einen Seite steht er (materiell) im Dienst des kapitalistischen Systems, weil seine Arbeit vom Staat aus dem gesellschaftlichen Wertfonds bezahlt wird, auf der anderen Seite enthalten die zunehmenden Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals Tendenzen, die „zwar seine Dienste nicht vollständig überflüssig machen werden, jedoch den Charakter seiner Arbeit total änd e r n " , die den Deprivilegierungsprozeß — Hand in Hand mit Dequalifizierungen — fortsetzen. Die Rationalisierungsmaßnahmen des Staates im Interesse des Kapitals konzentrieren sich insbesondere auf 111
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die Reduzierung von „lebendiger Arbeit", da — wie eine Analyse der Kostenstruktur für das öffentliche Bildungswesen in der B R D ergeben hat — der Anteil der Personalkosten den der Sachkosten übersteigt. „Von besonderer Bedeutung ist die zunehmende Technisierung des Unterrichts, durch die Funktion und Arbeitsplatzsituation der im Qualifizierungsprozeß Beschäftigten erheblich verwandelt werden" (Hervorhebung von uns, d. Verf.). Man kann vermuten, daß in dem Maße, in dem Fachwissen sich in technischen Medien vergegenständlicht, „fachspezifische Kenntnisse zugunsten medientechnischer und -didaktischer zurücktreten und Vermittlungsfunktionen insofern verobjektiviert werden, als der Lehr- und Lernprozeß nicht mehr vom Qualifikationsarbeiter ,Lehrer' bestimmt wird, sondern vielmehr durch den Charakter der technischen M e d i e n " , z . B . programmierte Unterweisung, Sprachlabors, Fernsehunterricht, u . a . . Im Rahmen der „Rationalisierungsmaßnahmen des Bildungswesens" existieren Pläne für eine autoritäre Hierarchie von Stufenlehrern, d. h. eine Aufspaltung des Lehrpersonals in „Nur-Lehrer, Assistenten, Hilfskräfte und .Schulpolizisten' (Funktion: Aufsicht in Schulhöfen, Korridoren u s w . ) " , so daß einer ,,Lehrer-Aristokratie . . . eine Art Schulproletariat (gegenüberstünde), das sich von Hilfsarbeitern kaum u n t e r s c h e i d e t " . Ansätze in dieser Richtung gibt es seit 1970 in Bayern. Die spezielle Ausbildung von Schulverwaltungsassistenten und ihr Einsatz zur Entlastung der Lehrer von lästigen Verwaltungsarbeiten ist dann zu begrüßen, wenn sie nicht zu bloß ausführenden Organen von Entscheidungen, die woanders getroffen werden, herabsinken. Sollen Lehrer und Hilfskräfte im Rahmen der zunehmenden Technisierung des Unterrichts nicht zu bloßen Handlangern werden, so ist zunächst eine Schulreform anzustreben, die alle an der Schule Arbeitenden — einschließlich der Schüler — in ein Modell der planenden Mitbestimmung und Kooperation miteinbezieht, die autoritäre Herrschaftsstruktur in der Schule demokratisiert und damit die von dieser Institution produzierten autoritären Charakterstrukturen emanzipatorisch aufbricht. Welche Konsequenzen diese widersprüchliche Entwicklung auf das Bewußtsein der Gymnasiallehrer hat, soll im folgenden Abschnitt erläutert werden, denn das Bewußtsein der Lehrer stellt eine notwendige Voraussetzung für die Vermittlung von herrschenden Ideologien dar. Wir stützen unsere Untersuchung hauptsächlich auf die empirische Analyse von Gerwin S c h e f e r , weil diese nach wie vor die einzige verwertbare Publikation zu diesem Thema darstellt. Zuvor muß allerdings eine Einschränkung dieses Abschnitts über das „Gesellschaftsbild der Gymnasiallehrer" erfolgen: Die Untersuchung von Gerwin Schefer ist etwa 1 9 6 5 / 6 6 durchgeführt worden, also vor der Wirtschaftskrise 1 9 6 6 / 6 7 und vor der darauf folgenden Studentenbewegung seit 1 9 6 7 . Die Auswirkungen dieser Ereignisse auf das Bewußtsein der Gymnasiallehrer sind seitdem noch nicht empirisch erfaßt worden. Alle Symptome sprechen jedoch dafür, daß im Zuge des allgemein zu beobachtenden Politisierungsprozesses in der 1 1 3
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Bundesrepublik Teile der jüngeren Lehrerschaft, die nun in die Schule eintreten, zunehmend „linke" Einstellungen mitbringen. Eine der Ursachen dafür ist in den Erfahrungen vieler Lehrerstudenten in der Studentenbewegung zu s u c h e n . 121
b)
Zum
Gesellschaftsbewußtsein
des
Gymnasiallehrers
Der Beruf des Gymnasiallehrers wie der des Lehrers überhaupt ist ein typischer Aufstiegs- und Durchgangsberuf für Söhne von unteren und mittleren Beamten oder selbständigen Handwerkern, die die Volksschule oder Mittel-(Real-)Schule besucht h a b e n . Bei Lehrerinnen ist der Anteil der Eltern mit höherem Schulabschluß etwas größer. Am geringsten ist der Anteil der Akademiker und auch der Arbeiter unter den Eltern. Auf Grund ihrer eigenen Sozialisation identifiziert sich die Mehrzahl aller Lehrer weitgehend mit der Ideologie der herrschenden Klasse, wie auch mit der Sozialordnung, die ihnen diesen „Aufstieg" ermöglicht hat. Die meisten Lehrer bemühen sich, den erreichten Status mit all seinen Privilegien gegen Nivellierungstendenzen (geplante Ausbildungszeitverkürzung, Besoldungsangleichung, Angleichung der Berufsbezeichnungen e t c . ) zu erhalten: sie befinden sich in einer Verteidigungsposition gegenüber Aufstiegsbestrebungen von Angehörigen der Arbeiterklasse. 1 2 2
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Wegen ihrer ideologischen und materiellen Bindung an den Staat sind die meisten Lehrer nicht in der Lage, gemeinsame Interessen mit den übrigen Lohnabhängigen zu erkennen und im Bündnis mit diesen gegen die Profitinteressen des Kapitals durchzusetzen. Eine objektive Interessenkonvergenz zwischen Arbeiterklasse und pädagogischer Intelligenz besteht z. B. hinsichtlich einer zu verändernden Prioritätensetzung innerhalb des Staatshaushalts, d. h. eines Abbaus des Rüstungsetats zugunsten des Bildungssektors, oder auch hinsichtlich der Reduktion der zu hohen Klassenfrequenzen, verbesserter Ausbildungsbedingungen und fortschrittlicher Inhalte. Die meisten Lehrer sind sich jedoch über den Charakter ihrer sozialökonomischen Lage nicht im klaren; sie entwickeln eine Defensivideologie und unterhalten infolgedessen gesellschaftliche Kontakte vorwiegend mit Ärzten, Juristen, Kaufleuten usw., also jenen Gruppen, die in ihren Augen ein hohes gesellschaftliches Prestige b e s i t z e n . In ihrer Mehrzahl verkehren die Lehrer also gerade nicht mit Angehörigen derjenigen Klasse, aus der sie aufgestiegen sind und verhalten sich auch Volksschullehrern gegenüber äußerst zurückhaltend. In ihrer Berufsprestige Ordnung nehmen dementsprechend akademische Berufe eine Vorrangstellung ein, also hauptsächlich Vertreter derWissenschaft (besonders Ärzte und Juristen); niedriger bewertet werden dagegen Berufe, die gesellschaftliche Bereiche wie Technik, Ökonomie und Politik (z. B. Vertreter politischer Parteien) repräsentieren. 124
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In ihrem beruflichen Selbstverständnis begreifen sich die Gymnasial278
lehrer vorwiegend als Fachwissenschaftler und nur zweitrangig als Pädagogen. „Erziehungswissenschaftliche Gesichtspunkte scheinen bei der Beurteilung der Lehrerqualifikationen durch die Lehrer selber nur sekundäre Bedeutung zu haben; denn fundiertes Fachwissen involviert nach der Meinung der Mehrheit auch pädagogische Qualifikationen." Dem Insistieren auf Wissenschaftlichkeit entspricht das Bewußtsein, als Lehrer einer „geistigen Elite" anzugehören. Hier, wie auch schon bei der Berufsprestigeordnung, zeigt sich deutlich die Verinnerlichung des humanistischen Bildungsideals von den „geistigen Werten" (Humboldt). Elite wird von den Lehrern als Wertelite verstanden, die sich durch bestimmte soziale, natürliche, geistige oder sittliche Qualitäten auszeichnet, nicht aber als Funktionselite, deren Position sich aus genau bestimmten Aufgaben innerhalb der Gesellschaft ableitet und die sich nur in Verbindung mit und in Abhängigkeit von dieser legitimiert und die auswechselbar ist, sobald sie ihre Funktion nicht mehr erfüllt (z. B. Manager). Das Elitedenken der Gymnasiallehrer stellt dabei die andere Seite ihrer Furcht vor sozialer Nivellierung dar, hat also auch Kompensationsfunktion. Dementsprechend ist das soziale Selbstbewußtsein der Lehrer durch Statusverunsicherung sowie durch eine starkes Deklassierungsbewußtsein g e k e n n z e i c h n e t . Als Ursachen dafür sind u. a. zu nennen: permanente Frustration der Aufstiegserwartungen durch die Realität, absolutes Anwachsen der Akademikerberufe und als Folge Prestigeverlust des Lehrerberufs. Die Mehrheit der Lehrer vertritt eine sozialdarwinistische und statische Begabungstheorie, die stark antidemokratischen Charakter trägt, weil sie praktisch die besondere Förderung vieler anderer propagiert. Die Konsequenz ist der Verzicht auf Chancengleichheit, denn diesen Lehrern erscheint als Funktion der Schule eher die Auslese einer Minderheit von „Begabten" als die Förderung von sozial Benachteiligten, deren Begabung unter den gegebenen Umständen gar nicht in Erscheinung treten kann. Begabung wird nur zu 20 % als Prozeß, als „Ergebnis von Herausforderungen" v e r s t a n d e n . Dieser biologistische Begabungsbegriff, verbunden mit elitären Vorstellungen vieler Lehrer hängt eng zusammen mit einem statischen, hierarchischen Gesellschaftsmodell . Begünstigt wird dieses durch den objektiven Schein einer hierarchischen Struktur der bundesrepublikanischen Gesellschaft, indem der etappenweise Aufstieg zu „höheren" Positionen in der Beamtenlaufbahn den Eindruck erweckt, als ob jeder „nach oben" gelangen könne, wenn er nur seine „Tüchtigkeit" beweise. Demokratie als gesellschaftliches System wird von J e n meisten Lehrern zwar nicht bewußt abgelehnt, „andererseits bleibt die Zustimmung zur Demokratie bloß abstrakt, formalistisch und unpolitisch und somit leicht zu e r s c h ü t t e r n " . Demokratie wird von der Mehrzahl der Lehrer eher im Sinne einer „gesellschaftlichen Harmonielehr e " als von „Austragung von Konflikten" v e r s t a n d e n . Soziale Kon126
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flikte werden von vielen Lehrern personalisiert und psychologisiert („Es kommt auf den Menschen an, ob er als Monopolproduzent eine hohe Preis- und Gewinnspanne d r a u f s c h l ä g t . " ) , einem abstrakten „Gemeinwohl" als Gegensatz gegenübergestellt und nicht als reale Interessengegensätze antagonistischer Klassen definiert. Die Schule erscheint den meisten Lehrern infolgedessen als vorwiegend apolitischer Raum. In der politischen Meinungsbekundung im Unterricht sind die Lehrer mehr zurückhaltend und vermitteln gewöhnlich nur die in den Bildungsplänen aufgenommenen Stoffe. Der politische Unterricht z. B. zerfällt meistens in die Vermittlung von Faktenwissen (Institutionenkunde) und einer demokratischen Tugend- und Wertlehre, ohne dadurch die Einsicht in politische Vorgänge zu f ö r d e r n . Die Ursache für dieses Verhalten der Lehrer ist zum einen die Angst vor „Schwierigkeiten", wenn sie ihre parteipolitisch neutrale Rolle im Unterricht aufgeben (vgl. oben: Beamtengesetze, heute auch noch Berufsverbot) und zum anderen die mangelhafte Ausbildung und die daraus resultierende fachliche U n s i c h e r h e i t . Eine die Schulstruktur verändernde Schulreform wird von den meisten Lehrern abgelehnt. „Förderstufe und Gesamtschule werden nur als Ausnahmen und nur zur Erprobung zugelassen. Eine Dreigliedrigkeit des Schulwesens wird bejaht und von einer entsprechenden Dreiteilung in der Arbeitswelt gerechtfertigt (ausführende, vermittelnde und leitende P o s i t i o n e n ) . " Die Mehrheit der Gymnasiallehrer lehnt darum eine Schulreform ab, die eine Öffnung der höheren Schule für „sozial schwache Schichten" impliziert, da diese eine Leistungsnivellierung und Niveausenkung zur Folge haben müsse. „Als ,Störfaktoren' existieren in ihrem Bewußtsein die unmittelbaren Arbeitsbedingungen, die zu großen Klassenfrequenzen, die mangelnden Lehr- und Lernmittel, das Studentendeputat u s w . " Mißstände werden zwar kritisiert, aber in der Regel nicht ernsthaft bekämpft. Dem steht noch das traditionelle Denken der Lehrer entgegen, die sich als Vollzugsbeamte eines Obrigkeitsstaates verstehen und insofern auch das Streikrecht als Kampfmittel für eigene Interessen mehrheitlich ablehnen (51,4 % dagegen; 33,2 % dafür; 13,8 % unentschieden, 1,6 % ohne A n g a b e ) . Entsprechend ihrem politischen Selbstverständnis sind nur 5,7 % der Gymnasiallehrer in der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) organisiert, die als demokratisch aufgebaute Interessenvertretung eine zunehmend fortschrittliche Politik betreibt, während 69,5 % dem konservativen, auf Wahrung ständischer Privilegien gerichteten Deutschen Philologenverband a n g e h ö r e n . Die Mehrheit der Gymnasiallehrer ist als konservativ zu bezeichnen, wobei Alter und Konservatismus k o r r e l i e r e n . Strukturiertes politisches Bewußtsein fehlt in der Regel. Zum Zeitpunkt der Untersuchung ( 1 9 6 5 / 6 6 ) sind „progressive" Lehrer etwa doppelt so oft organisiert wie „konservative" (28 % : 10,5 % ) , sie sind zehnmal häufiger in der SPD als in der CDU und viermal häufiger in der G E W . Insgesamt läßt sich das bei 135
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den Gymnasiallehrern vorherrschende Bewußtsein als „ständisch, harmonisierend, idealistisch-unpolitisch, autoritär-konformistisch" bezeichnen und damit als schwerwiegender Hemmfaktor für radikaldemokratische oder gar systemverändernde Reformen. „Bildungspolitische Innovationen erfolgen heute weitgehend gegen die tradierten Ideologien der ehemals massiv staatstragend eingesetzten Gruppe der Gymnasiallehrer: die technokratische Forderung nach ,Ausschöpfung von Begabungsreserven' widerspricht ihrem Bewußtsein von Elitenbildung, curriculare Veränderungsbestrebungen, die auf die ,Welt von morgen' vorbereiten sollen, konfligieren mit humanistischer Bildungstradition, Pädagogisierung der Ausbildung scheint ihr Selbstverständnis als Wissenschaftler zu untergraben . . . " Nun sagt diese Untersuchung zwar einiges über die Einstellungen der Gymnasiallehrer in der B R D aus, es kann jedoch von deren Meinungen nicht unmittelbar auf ihr Verhalten geschlossen werden. Es ist t. B. noch nicht geklärt, inwieweit Reformbefürworter oder -gegner ihre Vorstellungen aktiv in politisches Handeln umsetzen oder ob sie sich nur passiv verhalten und auf Initiative dritter reagieren. Zumindest kann aber bei „konservativen" Lehrern mit gewissen „Beharrungstendenzen" gerechnet werden. So ist mit der Bejahung der Dreigliedrigkeit des Schulwesens zumeist auch die Bejahung traditioneller Unterrichtsinhalte verbunden wie auch die gleichzeitige Ablehnung neuer Lehrgebiete, so z. B. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte oder Sexualpädagogik. Zentrale Tatsachen des menschlichen Lebens, gesicherte Ergebnisse der verschiedenen Einzelwissenschaften, z. B. der Bildungspsychologie und der -soziologie werden so von der Schule ignoriert. 144
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Die Unterrichtspraxis in der Schule ist zu einem erheblichen Teil erklärbar aus der Struktur und den Schwerpunktbildungen in der Universität, „ökonomische Prozesse, Klassenstrukturen, Klassenantagonismen und Ideologienlehre werden in der Ausbildung der Studienräte nicht thematisiert." Es gibt deshalb bei den Lehrern erhebliche Hemmnisse, die Funktion des heutigen Schulsystems im Kapitalismus, nämlich die Reproduktion der gesellschaftlichen Klassenstruktur, in ihr politisches Denken und Handeln miteinzubeziehen und ihre eigene Rolle in dem Kreislauf der Arbeiterklasse von abhängiger, fremdbestimmter Arbeitsplatzsituation, Familienmilieu und schulischem Mißerfolg der Arbeiterkinder zu erkennen. Ein kritisch-sozialwissenschaftliches Problembewußtsein, das die Voraussetzung für den solidarischen Kampf zur Demokratisierung der Schule u n d Gesellschaft bildet, hat ihnen die Universität in der Regel nicht vermittelt — Ziel der Lehrer muß es darum sein, dieses in kollektiver Arbeit, zusammen mit Eltern und Schülern zu entwickeln. 148
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5. Der Schüler
Um die Bedeutung der Geschichtsbücher für Bewußtsein und Praxis der Auszubildenden, also der Schüler vollständiger erfassen zu können, wollen wir im folgenden kurz auf die schichtenspezifische Sozialisation der Schüler eingehen. Wir übernehmen dabei — trotz der Problematik des Schichtbegriffes (vgl. dazu in Kapitel 2. „Systematisierung", S. 194 ff., die Kritik des Schichtmodells!) — die Unterscheidung zwischen Eltern der „Unterschicht (Arbeiter, Facharbeiter, Bergarbeiter) und der Mittelschicht (Angestellte, Beamte, freiberuflich T ä t i g e ) " , weil andernfalls das gesamte empirische Material der bürgerlichen Sozialisationsforschung nicht oder nur mehr eingeschränkt zu verwenden wäre. Natürlich kann der Schichtbegriff nicht mit dem marxistischen Klassenbegriff identifiziert w e r d e n . Da eine Vielzahl von komplexen Faktoren (Eltern, Lehrer, Schulsystem, Mitschüler etc.) auf die Sozialisation der Kinder einwirken, kann die Untersuchung des schichtenspezifischen Schulerfolgs der Schüler auf Grund unterschiedlicher Sprachentwicklung nur Beispielcharakter haben. Zunächst läßt sich feststellen, daß Unterschichtkinder in der Schule schlechter abschneiden als Mittelschichtkinder. Dies wird schon beim Schuleintritt offensichtlich: von den 20 % jedes Einschuljahrganges, die für ein oder zwei Jahre zurückgestellt werden, stammt der größte Teil aus Unterschichtfamilien. In den späteren Phasen der Schulausbildung wächst diese Diskrepanz: „Im 10. Schuljahr sind unter allen Gymnasiasten in der B R D nur 10 % Arbeiterkinder, bis zum 13. Schuljahr verringert sich ihr Anteil auf 6 , 4 % . Auf dem Gymnasium haben Arbeiterkinder den geringsten Schulerfolg, d. h. nur 24 % aller Gymnasiasten aus Arbeiterfamilien gegenüber 84 % der Gymnasiasten aus Familien höherer Beamter erreichen das A b i t u r . " Der Mißerfolg der Arbeiterkinder in der Schule wiederholt sich in der Regel auch im Berufsleben. Wie ihre Eltern müssen sie als Arbeiter zumeist eine entfremdete, monotone und untergeordnete Arbeit leisten. Nun nimmt als Kriterium für die Leistungsmessung der Schüler die Sprache, also Sprechen, Lesen und Schreiben in der Bürgerschule der B R D einen außerordentlich hohen Stellenwert ein. Empirische Untersuchungen zeigen, daß insbesondere in den Anfangsjahren (bis Ende Quarta) in bis zu 90 % der Fälle die Sprachen (Fremdsprachen eingeschlossen) an der Nichtversetzung der Schüler beteiligt s i n d . Rechtschreiben, „Schönschreiben" und Grammatik, also vorwiegend formale Gesichtspunkte bilden bei Diktat und Aufsatz die Grundlage für die Beurteilung eines Schülers, und zwar sowohl in der Grundschule als auch auf höherem Niveau, etwa als formaldifferenzierte Interpretation eines lyrischen Gedichts, auf dem G y m n a s i u m . Die bundesrepublikanische Schule ist darum weitgehend eine bürgerliche „Sprachschule — zunächst in dem Sinne, daß nahezu alles Wissen in 149
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sprachlicher Form dargeboten wird und vom Schüler bewältigt werden muß, und zwar sowohl im Lernprozeß als auch bei der Reproduktion des Gelernten. Die weiterführende Schule ist zweitens Sprachschule in dem engeren Sinne, daß dem Erlernen der Muttersprache und Fremdsprache mehr Zeit gewidmet wird als jedem anderen Wissensgebiet und daß ihm als Kriterium des Schulerfolges ein ungleich größeres Gewicht beigemessen wird als d i e s e n . " Untersuchungen haben nun gezeigt, daß Arbeiterkinder in sprachlichen Intelligenztests erheblich schlechter abschneiden als bei nichtsprachlichen Intelligenz-Messungen. Nichtverbale Intelligenzleistungen erweisen sich als relativ schichtenunspezifisch. Als Ursache für den schulischen Mißerfolg der Arbeiterkinder glaubten deshalb viele bürgerliche Wissenschaftler den „beschränkten" Sprachgebrauch der Arbeiterklasse erkannt zu haben (der allerdings seinerseits auch wieder einer Erklärung aus der sozialen Erfahrungswelt der Arbeiter bedarf!). Der Engländer Basil Bernstein hat als erster versucht, eine Theorie der Beziehungen zwischen „Sozialer Struktur, Sozialisation und Sprache" a u f z u b a u e n . Er findet in der Unterschichtssprache einen sogenannten „restricted Code", also undifferenzierten Sprachgebrauch, und stellt ihm den sogenannten „elaborated code" der Mittelschicht gegenüber, der sich durch formale Differenzierungsfähigkeit und sprachliches Abstraktionsvermögen auszeichnet. Der restriktive Sprachgebrauch der Unterschicht soll dazu beitragen, daß Unterschichtkinder in ihrer Erkenntnisfähigkeit wie auch in ihrer Kreativität weniger ausgebildet sind als Mittelschichtkinder. Dabei beziehen sich die sprachlichen Unterschiede im wesentlichen auf vier Aspekte: 1. Aussprache 2. Wortschatz 3. Satzform, Grammatik 4. Aussagegenauigkeit. In der Schule wird die Sprache der Mittelschicht, also der „elaborated code" gesprochen. Da die Kinder der Mittelschicht von Hause aus an diesen Sprachgebrauch gewöhnt sind, bedeutet der Ubergang der Schule für sie eine Kontinuität in ihrer sprachlichen Entwicklung wie auch in ihren anderen Verhaltens- und Kommunikationsmustern; für die Kinder der Unterschicht hingegen bedeutet er einen ernsthaften Bruch in ihrer Erziehung. Von letzteren wird also nicht nur ganz selbstverständlich das Erlernen eines neuen Sprachgebrauchs verlangt, sondern zusätzlich auch noch die Aneignung des Schulstoffes, also ein doppelter Lernprozeß, der für jedes normale Unterschichtkind eine Überforderung darstellen muß. Sprache ist aber mehr als nur ein formales Regelsystem von Zeichen. Es ist erwiesen, daß „Sprache ebenso den gesamten Aufbau der Person, die klassenspezifischen Formen der Organisation ihrer Erfahrungen und Vorstellungsinhalte, in Beziehung auf das Bewußtsein der Arbeiter also: die politischen Einstellungen, das Gesellschaftsbild, die Interpretation der Interessen und Bedürfnisse, ja sogar die Zeitvorstellungen vermittelt, wie das Lernen und Ver156
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halten r e g u l i e r t " (Hervorhebung von uns, d. Verf.). Anpassung an den Sprachgebrauch der Mittelschicht bedeutet also für Arbeiterkinder Anpassung an die Verhaltensanforderungen, an die Normen und Werte der Mittelschicht (also z. B. individuelle Leistungsmentalität, Gehorsam, Ordnung, Fleiß, Pünktlichkeit, Sauberkeit, u. a.). „Beurteilt (und damit für den Erfolg relevant) wird nicht die subjektive Leistung eines Schülers, sondern die individuelle subjektive Fähigkeit der A n p a s s u n g . " Geprüft wird nämlich nicht, ob inhaltlich das gleiche ausgesagt wird, sondern allein dem geschliffenen Sprachgebrauch, verbunden mit einer bestimmten Begrifflichkeit der Mittelschicht gilt die positive Interpretation. Da den Mittelschichtkindern der elaborierte Sprachstil aber geläufig ist, erscheinen sie im Vergleich zu Unterschichtkindern in der Schule als intelligenter und erfolgreicher. Von der sozialen Funktion von Sprache, nämlich als Mittel im Prozeß menschlicher Kommunikation und Interaktion zu dienen, wird infolgedessen gänzlich abstrahiert. „Solche Einschätzung vernachlässigt völlig die inhaltliche Wertung sprachlicher Aussagen. Gemessen wird lediglich, ob ein Mensch der gesellschaftlichen Sprachnorm entspricht oder nicht; die Norm aber wird nicht in Zweifel gezogen." Versuche haben überdies gezeigt, daß Deutschaufsätze und sogar Mathematikarbeiten, die den Lehrern als „Mittelschicht"-Arbeiten vorgelegt wurden, erheblich bessere Noten erzielten, als wenn sie als von „Unterschicht"-Kindern stammend ausgegeben w u r d e n . Die Lehrer sind sich dabei der Diskriminierung der Unterschichtkinder zumeist gar nicht bewußt, sie vollzieht sich gewöhnlich auf der Ebene der „Selbstverständlichkeiten". Schulsprache entpuppt sich damit als Herrschaftsinstrument in der Hand des Bürgertums, als „Waffe gegen den jeweils sozial S c h w ä c h e r e n " und die Schule als Instrument des Bürgertums, indem sie „diesen Herrschaftsmechanismus durch Sprachgebrauch im Rahmen formaler Spracherziehung bestätigt und immer weiter e r m ö g l i c h t " (Hervorhebung von uns, d. Verf.). Im Zusammenhang mit der Bildungsdiskussion hat man in den letzten Jahren begonnen, „kompensatorische Sprachförderung" für Unterschichtkinder einzuführen, um den Anspruch auf „Chancengleichheit" in unserer „demokratischen Leistungsgesellschaft" zu verwirklichen. In der Realität erweist sich dieses Programm aber letztlich als Versuch, systemimmanent die optimale Ausnutzung der ökonomisch verwertbaren „Begabungsreservoirs" der Arbeiterklasse voranzutreiben (vgl. dazu Abschnitt C dieses Kapitels, S. 2 6 0 ff.). Kompensatorische Erziehung ist nämlich bestenfalls dazu geeignet, die Chancenungleichheit in Schule und Beruf zu vermindern; da sie aber nur an Symptomen kuriert, ohne die fundamentalen Ursachen der gesellschaftlichen Ungleichheit, nämlich die Produktionsverhältnisse anzutasten, kann sie das Ziel der Chancengleichheit gar nicht erreichen. Sobald also kompensatorische Erziehung mit dem Anspruch auftritt, die gesellschaftliche Ungleichheit selbst zu beseitigen, erweist sie ihr ideo161
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logisches Substrat darin, daß sie die Erkenntnis der objektiven Bedürfnisse und Interessen der Arbeiterklasse als Voraussetzung für deren kollektive Solidarisierung verhindert und sie statt dessen auf die (größtenteils illusionäre) Möglichkeit eines vereinzelten und individuellen Aufstiegs fixiert und also nicht den kollektiven Aufstieg, d. h. die gesamtgesellschaftliche Emanzipation, die Abschaffung der Klassengesellschaft, zum Ziel hat. Strategien kompensatorischer Erziehung können — gerade auch bei Arbeiterkindern — das Gefühl der gesellschaftlichen Ohnmacht nicht aufheben. Das durch kompensatorische Erziehungsformen angestrebte Ziel der sozialen Integration durch Aufstiegsmöglichkeit wird allerdings durch die Realität der Chancenungleichheit bewußtseinsmäßig stark unterhöhlt. In dem Maße, wie bei den Kindern der Arbeiterklasse begrenzte Lernerfolge erzielt werden, kann sich dabei zumindest die Möglichkeit entwickeln, daß von ihnen Fähigkeiten erworben werden, vermittels derer sie den gesellschaftlichen Protest gegen die eigene Soziallage zu artikulieren vermögen. Ist schon im Begriff die abwertende Einschätzung der Sprecher des ,restricted code" enthalten, so impliziert die Forderung nach kompensatorischer Spracherziehung nur die einseitige Anpassung der Arbeiterkinder an den Sprachgebrauch der Mittelschicht. Völlig unberücksichtigt bleibt neben der inhaltlichen Leistungsfähigkeit von Sprache aber auch die Ursache der unterschiedlichen Sprachentwicklung, nämlich der Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital. Dieser äußert sich für die Arbeiterklasse in ihrer Stellung zu den Produktionsmitteln (d. h. daß sie Mehrwert produzieren, ohne über denselben zu verfügen), ferner, wie schon dargelegt, in ihrer allgemein niedrigen Qualifikation, in ihrem geringen Einkommen wie auch in der allgemeinen Lebenslage (z. B. die Wohnverhältnisse: überfüllte, hygienisch oft unzureichende Wohnungen ohne eine abgeschlossene „Privatsphäre") usw. 1 6 8
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Es läßt sich nun nachweisen, daß ein Zusammenhang z. B. zwischen Arbeitsplatzsituation der Arbeiter und einzelnen Merkmalen des „restricted code" besteht. Wenn etwa in der Unterschicht Kommunikation zwischen Eltern und Kindern vorwiegend in nicht-sprachlicher Form vor sich geht oder mit geringerem Wortschatz, mit einfachen und kurzen Sätzen, während in der Mittelschichtsfamilie die sprachliche Zuwendung der Eltern zu ihren Kindern sehr viel stärker ist, dann muß nach den Ursachen gefragt werden: Erstens besteht für den Arbeiter gar nicht die Notwendigkeit, stark differenzierte und strukturell komplizierte Sätze zu bilden, weil er „in seiner Schicht einen homogenen Bewußtseinsstand voraussetzen kann und deshalb, ohne Mißverständnisse befürchten zu müssen, einen Satz unvollendet lassen k a n n ' , und zweitens muß bedacht werden, „daß der Arbeiter als Empfänger von zwar konkreten und kurzen, aber dennoch in bezug auf das Endprodukt seiner Arbeit uneinsichtigen Befehlen diese apodiktische Art von Kommunikation, die sich in irrationalen Handlungsanweisungen erschöpft, so weit internalisiert, daß er sie auf seine Kin1 7 0
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der anwendet. Kompensatorische Erziehung, solange sie nur auf die Kindererziehung fixiert bleibt, wird zumindest in ihren Erfolgsaussichten fragwürdig, solange sie die Stellung des Arbeiters innerhalb der Betriebshierarchie nicht ä n d e r t . " Versteht man Emanzipation als dialektischen Prozeß von individueller und kollektiver Emanzipation, so „ergeben sich zwei Funktionen einer emanzipatorischen Sprachschulung, die in bezug auf ihre soziale Wirksamkeit untrennbar verbunden sind: — Sprachschulung muß die Fähigkeit zu genauer und verbal angemessener Darstellung gesellschaftlicher Situationen fördern, — Sprachschulung muß als solidarisierendes Moment die Möglichkeit und Notwendigkeit der Änderung gesellschaftlicher Praxis aufzeigen." Eine bloß formale Änderung der Sprache etwa in Richtung Funktionalisierung von Sprache für technokratische Anforderungen (Differenzierungs- und Abstraktionsvermögen, Rationalität im Rahmen vorgegebener Zwecke) erweist im Vergleich dazu ihren beschränkten, bürgerlichen Charakter. Ähnlich wie am Beispiel der schichtenspezifischen Sprachentwicklung kann man auch den Einfluß anderer Faktoren auf den schichtenspezifischen Schulerfolg nachweisen: so z. B. im Rahmen der familialen Sozialisation, die schichtenspezifischen Erziehungsstile der Eltern oder bei der schulischen Sozialisation die unbewußten Erwartungseinstellungen der Lehrer gegenüber Mittelschichtund Unterschichtkindern. Wenn Hans Müller z. B. feststellt, daß das „Interesse der Unterschicht am Geschichtsunterricht nicht so groß ist wie das der Mittels c h i c h t " , dann muß dies keineswegs bedeuten, daß das Interesse der Unterschicht an jeglichem Geschichtsunterricht geringer sein muß. Hinterfragt werden muß vielmehr der Geschichtsunterricht selbst, und zwar sowohl in seiner Methodik als auch in seinen Inhalten. Es war u. a. die Aufgabe dieses Buches nachzuweisen, daß die Inhalte des heutigen Geschichtsunterrichts den Interessen der ideologisch herrschenden Klasse entgegenkommen und deren Position rechtfertigen und absichern. Das Desinteresse der Unterschichten an einem bürgerlichen Geschichtsunterricht wäre demnach nicht nur berechtigt, sondern als eine notwendige Abwehrwaffe gegen ein Geschichtsbild zu interpretieren, das die eigenen Interessen konsequent verleugnet. Das zeigt sich z. B. in der Denunzierung der Massen in dem Ideologem der „Personalisierung", in der Verschleierung der Klassenstruktur durch die „Sozialpartnerschaftsideologie" oder der Verfälschung der Geschichte der Arbeiterbewegung. 171
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Ein kritisches Anti-Geschichtsbuch könnte in dieser Hinsicht sicherlich einen Fortschritt bedeuten; jedoch dürfen demokratische Reformen, die die Stellung der Unterdrückten und Entmündigten in der Gesellschaft grundlegend verbessern wollen, nicht auf gesellschaftliche Teilbereiche, wie z. B. die Schule, beschränkt bleiben. Reformen — wollen sie ihrem demokratischen Anspruch gerecht werden — müssen 286
notwendig die Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse, d. h. aber vor allem der privatkapitalistischen Produktionsverhältnisse anstreben, weil sonst von dort aus immer wieder die Durchdringung der Gesellschaft und des Bewußtseins mit autoritären Strukturen ausgeht.
E. Zur Funktion des Geschichtsunterrichts Wie unsere Untersuchung gezeigt hat, weisen die Schulgeschichtsbücher eine Reihe von Mängeln auf, von denen hier besonders die Verzerrungen interessiert haben, die auf Grund eines notwendig falschen Bewußtseins entstanden sind oder, auf diesem aufbauend, bewußt gegen jede Form der Demokratisierung, insbesondere gegen den Sozialismus gewendet werden. Daß die Lehrer zumindest vor und unmittelbar nach der Rezession von 1 9 6 6 / 6 7 in der Mehrzahl nicht gewillt und nicht in der Lage waren, korrigierend in das von den Schulbüchern vermittelte Geschichtsbild einzugreifen, ist aus ihrer eben dargelegten Mentalität ableitbar. Zu den Auswirkungen eines solchen Geschichtsunterrichts auf das Geschichtsbild der Jugend haben von Friedeburg eine Studie vorgelegt, die sich auf empiriund Hübner schon 1 9 6 4 sche Untersuchungen überwiegend aus dem Jahre 1963 stützt, die aber bis heute weder von der Standardliteratur noch den amtlichen Bildungsplänen zur Kenntnis genommen worden sind. 1 7 4
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Von Friedeburg und Hübner kommen zu dem Ergebnis, daß das Geschichtsbild der Jugend von einer personalisierenden Sichtweise geprägt ist. Übermächtigen Subjekten in der Form der ,Großen Männer, die Geschichte machen' stehen personalisierte Kollektiva (die Deutschen, die Franzosen, die Arbeiter, denen individuelle Eigenschaften, Motive und Ziele zugesprochen werden) passiv gegenüber. Politische und gesellschaftliche Kategorien fehlen weitgehend; wo sie doch vereinzelt vorhanden sind, durchbrechen sie nicht das Grundmuster, das in starren Ordnungsschemata (Demokratie-Diktatur) besteht. Der bis heute beliebten Argumentationsweise, daß das personalisierende Geschichtsbild einer entwicklungspsychologischen Phase entspreche und später durch differenziertere Elemente eines adäquateren Geschichtsbildes ersetzt werde, halten die Autoren die feste Verankerung eben dieser Personalisierung im Bewußtsein von Schülern der Oberstufen der Gymnasien und von Studenten entgegen. Zur Bedeutung eines solchen Geschichtsbildes für das Verhältnis zu Staat und Gesellschaft führen die Autoren eine Reihe von Faktoren auf: Das Immergleiche der großen Männer und ihrer Gegenseite, der hilflosen Kollektiva, ergibt keine Motivation zum Mitmachen für die Betroffenen, da man von der Mithaftung für die Vergangenheit und Mitverantwortung für die Zukunft entbunden ist; verantwortlich bzw. schuldig sind die großen Männer. Da die gegenwärtige Alltagserfahrung zum Maßstab für das 287
Ordnen und Erklären der Geschichte herhalten muß, wird der Manipulation von Einstellungen und Verhalten Tür und Tor geöffnet. Außerdem leistet das personalisierende Geschichtsbild autoritätsgebundenem Verhalten Vorschub, da man mit seiner Hilfe jedes Urteil über historische Personen (scheinbar) rationalisieren und akzeptieren kann. Dazu ein Beispiel: Hitler wird nicht als Exponent der Interessen des Großkapitals gesehen und abgelehnt, ,, sondern weil er angeblich verschiedene Eigenschaften besaß, die ihm den endgültigen Erfolg versagten (,Endlich wurde er größenwahnsinnig') und aus denen dann auch noch jene historischen Ereignisse dieses Zeitraums ursächlich erklärt werden können, die heute eindeutig negativ bewertet werden: die Judenvernichtung und die Anstiftung des Zweiten W e l t k r i e g s . " Noch wichtiger aber ist der Bezug zur Gegenwart. In einer Untersuchung über das Bewußtsein der Studenten heißt es: „Kein Zufall, daß die wenigen befragten Studenten, die als Ursache für Hitlers Machtergreifung objektive gesellschaftliche Verhältnisse betrachten, wesentlich häufiger ohne Vorbehalte für das gleiche Wahlrecht in unserer Gesellschaft eintreten, als diejenigen, die die Machtergreifung auf Gründe zurückführen, die im Bewußtsein der Beteiligten gelegen sind." Von Friedeburg und Hübner haben den Geschichtsunterricht in seiner Auswirkung auf das Bewußtsein der Schüler und ihr Verhalten zum Gegenstand. Daß ihre Untersuchung keine Beachtung fand, ist um so erstaunlicher, als sie selbst ihren Ergebnissen die Empfehlung der Kultusministerkonferenz vom 17. Dezember 1953 entgegenstellen, wo es heißt: „Der Geschichtsunterricht soll dem jungen Menschen helfen, ein eigenes Welt- und Menschenbild zu gewinnen sowie seinen Standort und seine Aufgabe im Geschehen zu erkennen . . . Die Einsicht in die Zusammenhänge vergangenen und gegenwärtigen Geschehens muß wissenschaftlich begründet und wertbestimmt sein. Sie soll sich nicht nur in Urteilsfähigkeit erweisen, sondern sich auch in Verantwortungsbewußtsein und Tatbereitschaft für Gesellschaft, Staat, Volk und Menschheit b e z e u g e n . " In dieser Empfehlung wird keine Faktenanhäufung gefordert, sondern Einsicht in die historische Entwicklung der Gesellschaft mit Bezug auf vernünftiges Urteilen und Handeln in der Gegenwart. Daß der Geschichtsunterricht, der allerdings, wie die Autoren betonen, wie auch der gesamte Schulunterricht nur einen Teil des Sozialisationsprozesses ausmacht — neben dem Elternhaus, den informellen Gruppen Gleichaltriger, den großen Organisationen und den Massenmedien — diesem Anspruch in keiner Weise gerecht wurde (und wird), ist gezeigt worden. Auf den Einwand, der Zeitpunkt der Untersuchung liege zu weit zurück, um den Ergebnissen Relevanz für die Gegenwart zuzubilligen, kann auf die Aufdeckung von personalisierenden Denkschemata in Untersuchungen über das Schüler- und Lehrerbewußtsein in der politischen B i l d u n g verwiesen werden. 176
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Die im zweiten Kapitel zusammengestellten Ideologeme sind, wie es 288
der wesentlich allgemeinere Erklärungsansatz des Ideologiekapitels gezeigt hat, nicht auf den Geschichtsunterricht beschränkt, sondern lassen sich im Bewußtsein der großen Mehrheit der Bevölkerung einschließlich der bürgerlichen Wissenschaftler nachweisen. Für den Bereich der Schule, auf den wir uns zunächst beschränken wollen, haben, wie schon erwähnt, Frankfurter Soziologen einige Ideologeme nachgewiesen, die im Bewußtsein von Lehrern und Schülern fest verankert sind. Neben der Personalisierung handelt es sich dabei in unserer Diktion um Psychologisierung und Ontologisierung; außerdem um jenes Denken, das die Autoren ahistorisch nennen, worunter sie den wahllosen Rückgriff auf Modelle früherer Gesellschaftsformen — z. B. die griechische Demokratie — v e r s t e h e n . Daß sich in anderen Schulfächern Entsprechendes feststellen läßt, ist mehr als wahrscheinlich. Wenn nun aber diese Denkschemata in allen Fächern mehr oder weniger ausgeprägt einfließen, so ist nach der besonderen Funktion des Geschichtsunterrichts zu fragen, und danach, warum in jüngster Zeit Bestrebungen im Gange sind, Geschichte als eigenständiges Fach abzuschaffen. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand das Unterrichtsfach Geschichte hoch im Kurs. Es war ein Hauptgegenstand in der Diskussion um „education" und „ r e d u c a t i o n " , das Umerziehungsprogramm der US-Amerikaner, führte aber später nur noch ein ,Kümmerdasein' und erschien mehr als ein Relikt eines überholten Fächerkanons denn als ein notwendiges Fach. Dabei blieb das Fach aber bis 1965 noch unbestritten ein Solofach. Erst dann begann der Versuch, die Geschichte den Sozialwissenschaften und den entsprechenden Fächern unterzuordnen etwa durch die Etablierung des Faches Gemeinschaftskunde und die Konzentrierung der Diskussion auf den Lernbereich „Politische B i l d u n g " . In dem Erlaß des hessischen Kultusministers vom 8. 7. 1 9 6 4 mit dem Titel: Bildungspläne für die Gymnasien (hier Geschichte, Sozialkunde, Erdkunde), der die Beziehung der drei Teilfächer in der Obersekunda, also vor der eigentlichen Gemeinschaftskunde, regelt, heißt es: „Die Oberstufenreform schließt einen zweiten Gang durch die Geschichte a u s . " Hier interessiert nicht das Gerangel zwischen den Vertretern zweier Fächer, das teilweise auch aus Prestigegründen und den Standesinteressen entsprechender Lehrer geführt wird, sondern hier geht es um inhaltliche Aspekte. Offensichtlich soll die historische Dimension aus der Schule herausgedrängt werden, der zweite, vertiefende Gang durch die Geschichte unterbleibt. Auch in anderen Fächern wird die historische Dimension zunehmend abgeschnitten. Im allgemeinen Zuge der Forderung nach verstärkter Ausbildung von Naturwissenschaftlern und der Zurückdrängung der Geisteswissenschaften wird gegen die Geschichtlichkeit g e z i e l t : Griechisch, Latein und Alt- und Mittelhochdeutsch verschwinden aus oder sind schon verschwunden, in der Germanistik der S c h u l e wird die Theorie der Sprache, die Linguistik, überwiegend auf das Erfassen der Gegenwartssprache beschränkt, und in der Gemeinschafts180
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kunde soll die Geschichte, wenn sie überhaupt im Mittelpunkt steht, mit dem politischen Sieg der bürgerlichen Gesellschaft in der Französischen Revolution e i n s e t z e n . In dem bundeseinheitlichen „Entwurf einer Vereinbarung zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe I I " taucht Geschichte nur noch als Leistungsfach im Wahlbereich auf, d. h. es werden Spezialkenntnisse in einem Wahlfach angeboten. Für alle Schüler verbindlich bleibt nur die „historische Sicht" im gesellschaftlichen Aufgabenfeld, das neben dem sprachlichen und literarisch-künstlerischen und dem mathematischen und naturwissenschaftlichen Aufgabenfeld bestehen soll. Dagegen werden Fächer wie Rechtskunde, Technologie, Statistik, Datenverarbeitung, Soziologie und Psychologie möglich, die größtenteils auf jede historische Betrachtung verzichten, obwohl sie in allen nicht nur möglich, sondern zu einem vernünftigen Verständnis notwendig wäre. Um nur eines der genannten Fächer herauszugreifen und exemplarisch die Behauptung des Verzichts auf eine historische Betrachtungsweise zu belegen, sei auf die bürgerliche Soziologie verwiesen, in der die positivistische Wissenschaftslehre dominiert. Schon die Begründer der positivistischen Soziologie, Auguste Comte und Herbert Spencer, setzten um die Mitte des 19. Jahrhunderts bei der soziologischen Betrachtung der gesellschaftlichen Welt von Anbeginn die gegebene Gesellschaftsformation als endgültig. Auch in unserer Zeit ist der Begriff des sozialen Systems „dementsprechend affirmativ konstruiert und erscheint als Spezifizierung der allgemeinen Ideologie unverrückbarer kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse" . Der moderne Positivismus (Neopositivismus, nach eigenem Selbstverständnis auch „kritischer Rationalismus") leugnet in seinen wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen in der Folge etwa Hans Alberts die historische Dimension als Teil des Wissenschaftsprozesses. Es heißt bei Albert zur Wissenschaftslehre: „Sie behandelt diese Wissenschaften nicht als soziale Fakten, um ihre Entstehung, Verursachung, Verbreitung, Entwicklung und Wirkung auf Sozialstruktur und Sozialprozeß zu untersuchen, sondern als logische Strukturen . . . " Die Reduktion von Wissenschaft auf eine ahistorische Logik (und Sprache) und der Verzicht auf den Entstehungs- und Wirkungszusammenhang findet sich auch bei P o p p e r . In einer kritischen Stellungnahme zur neopositivistischen Wissenschaftstheorie wird Zustimmung zu der Ansicht eines amerikanischen Wissenschaftlers geäußert, der feststellt: , , . . . daß die Reduktion der Wissenschaftstheorie auf die logische Analyse der Wissenschaftssprache auch zu einem unhistorischen Herangehen an die Wissenschaft f ü h r e . " 186
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Letztlich entspricht das Ausklammern der Historizität der bürgerlichen Geschichtswissenschaft (und den Schulbüchern) selbst, zumindest in den weit verbreiteten Teilen, die dem Historismus und den Vertretern der bürgerlich idealistischen Geschichtsauffassung verpflichtet sind. Ihre Ansicht, daß es sich bei der Geschichte um eine Geschichte des Geistes oder des menschlichen Bewußtseins handelt, 290
führt zu einem Relativismus und Subjektivismus bis hin zur „Leugnung der Möglichkeit von G e s c h i c h t s e r k e n n t n i s " , d. h. der „NichtAnerkennung historischer Gesetzmäßigkeiten". Das bedeutet, kurz gesagt, daß die Geschichte keinen Bezug zur Gegenwart hat und man aus ihr nichts lernen kann. Die Vertreter des Historismus haben sich allerdings nie genau an ihre Grundsätze gehalten, sondern wie z. B. Friedrich Meinecke einen eindeutigen Klassenstandpunkt eingenommen und eine nationalistischen und imperialistischen Interessen verpflichtete Geschichtsschreibung b e t r i e b e n . Unter dieser Perspektive wird Hofmann verständlich, wenn er über den Vorgang der „Verabschiedung der Geschichte aus dem Denken der Gegenwart" schreibt: „Er kann in Deutschland — so befremdlich dies zunächst erscheinen mag — bis in die Zeit des blühenden Historismus zurückverfolgt werden." Auch die Untersuchung der Schulgeschichtsbücher hat Ideologeme zutage gefördert und bestätigt, die ahistorisch sind. Die Hypostasierung der bestehenden Gesellschaft und des gegenwärtigen Menschen, wie sie sich in allen formalen Ideologemen finden läßt, zur überzeitlichen Gesellschaft und zum ewigen, immergleichen Menschen widerspricht dem historischen Denken, welches zunächst einmal als Denken in Prozessen mit der Konsequenz der Annahme der Vergänglichkeit, Veränderbarkeit und Entwicklung der Gesellschaften verstanden werden soll. Nebenbei bemerkt, fällt das Geschichtsbild der Bücher noch hinter die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zurück, wiewohl uns noch kein Fall bekannt geworden ist, in dem ein Geschichtslehrer, der einen solchen Unterricht betreibt, mit einem Berufsverbot belegt worden wäre oder eines der hier bearbeiteten Schulbücher deshalb größere Schwierigkeiten bei den Zulassungsverfahren gehabt hätte. 193
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Es zeigt sich, daß weite Teile der bürgerlichen Geschichtswissenschaft, die Schulgeschichtsbücher und das Geschichtsbild der Jugend in dem von uns beschriebenen Sinne, und auch in dem der Kultusministerkonferenz, ahistorisch sind. Warum, so lautet die logische Konsequenz, soll man einen Geschichtsunterricht, der sowieso die historische Dimension zur Gegenwart hin eingeebnet, also sich selbst liquidiert hat, nicht durch sozialwissenschaftliche oder technische Fächer ersetzen, die dessen Aufgaben, nämlich die Vermittlung von Ideologie, besser bewerkstelligen können, weil sie etwa über differenziertere Forschungs- und Manipulationstechniken verfügen, als sie der Geschichtsunterricht bieten kann, der zudem kritischen Lehrern Möglichkeiten für die Vermittlung eines historischen Denkens und Bewußtseins in die Hand geben kann? Die herrschende Geschichtswissenschaft ist, ob sie es weiß oder nicht, ein getreuer Diener bei der Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung und tut das auf ziemlich antiquierte Weise, nämlich mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte als Wissenschaft und Schulfach wird weniger attraktiv, weil sie zum einen als 291
Ideologievermittlungsinstanz antiquiert ist, zum anderen aber kritischer Reflexion der Gegenwart Vorschub leisten könnte. Sah man im Frühbürgertum die Geschichte noch als Prozeß , als es darum ging, den Feudalismus zu überwinden, als das Bürgertum noch eine optimistische Zukunftsperspektive hatte und das Denken in Kategorien der Entwicklung und Veränderung als Waffe gegen den Klassenfeind (die Feudalaristokratie) richtete, so stellt es sich heute dem gesellschaftlichen Fortschritt entgegen, der seine eigene Position bedroht. Welche Aufgaben kann die Schule übernehmen, um das herrschende Geschichtsbild zu überwinden, und welche Probleme sind bei einer Strategie des Aufbrechens verfestigter Bewußtseinsstrukturen zu bedenken? Bergmann u. a. greifen die Studie von Hübner und von Friedeburg auf und weisen über die dort angeführten Beziehungen zwischen personalisierendem Geschichtsbild und Staat und Gesellschaft hinaus: „Der Nachweis eines so strukturierten Geschichtsbildes und seiner Ursachen bleibt so lange deskriptiv, wie nicht nach den jeweiligen konkreten Inhalten gefragt wird. So wichtig der Nachweis verkürzender, formaler Deutungsschemata an sich auch ist, so sehr ist doch zu betonen, daß erst die jeweilige inhaltliche Füllung und die Umsetzung eines inhaltlich spezifisch strukturierten Bewußtseins im Kontext bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse die Bestimmung der ideologischen Funktion und damit des politischen Stellenwerts ermöglicht. Positiv gewendet, bedeutet dies: eine Untersuchung, die nicht nur Bestehendes registrieren will, sondern gleichzeitig Kritik als verändernde Praxis versteht, kommt nicht umhin, die objektiven Bedingungen aufzuzeigen, welche einerseits die Realisierung des ideologischen Interesses determinieren und andererseits über ideologische Bewußtseinsinhalte hinausgehende Bewußtseinsmöglichkeiten e n t h a l t e n . " Es greift also zu kurz, wenngleich es auch einen spürbaren Fortschritt bedeutet, wenn sich die neuen hessischen Rahmenrichtlinien für das Fach Gesellschaftslehre explizit gegen ein personalisierendes Geschichtsbild, das Denken in Naturkategorien und die Darstellung personalisierender Kollektiva w e n d e n . Zwar haben wir in der vorliegenden Untersuchung besonders im dritten und vierten Kapitel Aussagen zur „Bestimmung der ideologischen Funktion" im „Kontext bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse" gemacht; ein wichtiger Vermittlungsschritt ist allerdings nicht geleistet worden: die Vermittlung zwischen den objektiven Voraussetzungen für falsches Bewußtsein und bestimmter Elemente dieses Bewußtseins (z. B. des Staatsfetisch) auf der einen und dem „gesamten" Bewußtsein der Menschen auf der anderen Seite. Es würde den Rahmen dieses Abschnitts und des gesamten Buches sprengen, diesen Schritt hier zu leisten. Es soll aber darauf hingewiesen werden, daß erst das Wissen über den Stellenwert und die Auswirkungen der falschen Bewußtseinselemente im und auf das Bewußtsein in seiner Gesamtheit gesicherte Aussagen über das gesellschaftliche Handeln erlauben würde, und was noch wichtiger ist, entsprechende Ansatzpunkte für ein Aufbrechen falschen Bewußtseins 1 9 6
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(etwa für Lohnabhängige oder Schüler) und daraus resultierende und das Bewußtsein weitertreibende Praxis geben kann. D e p p e und Negt z. B. haben mit unterschiedlicher Methode für die Arbeiterklasse gezeigt, daß deren Bewußtsein — entgegen der herrschenden Meinung — keineswegs völlig von der herrschenden Ideologie überlagert oder gar verschüttet ist. Negt hat Ansätze für eine Theorie der Arbeiterbildung im Rahmen der Gewerkschaftsarbeit anzudeuten versucht. Er kann dabei davon ausgehen, daß die widersprüchlichen Erfahrungen der Arbeiter im Produktionsprozeß, die Praxis, tagtäglich die objektiven Bedingungen für zumindest Grundlagen eines Klassenbewußtseins mit der Konsequenz solidarischen Handelns, z. B. Streiks, liefert, es also hauptsächlich darauf ankommt, diese Widersprüche bewußt und das Einstellungsänderungspotential durch langfristige Schulung manifest zu machen, d. h. durch die theoretische Schulung das Theorie-Praxis-Verhältnis zu klären. Entsprechende Untersuchungen für Schüler fehlen und lassen sich auch schwer leisten (die Bestimmung der Klassenlage der Schüler ist beispielsweise problematisch, nicht nur insofern, als es soziologisch gesehen „den Schüler" nicht gibt, da Schüler Eltern verschiedener Klassen und Schichten zuzuordnen sind, sondern weil, wie die vorsichtige Formulierung des letzten Nebensatzes schon anzeigt, die Klassenlage der Schüler keineswegs ohne weiteres mit der der Eltern identisch zu setzen ist). Aus diesem Grunde können hier nur einige allgemeine Aussagen über die Möglichkeiten für eine Einstellungs- und Bewußtseinsänderung der Schüler formuliert werden. Diese hätte jedenfalls am unmittelbaren Interesse des Schülers anzusetzen, am zunächst individuellen Erfahrungs- und Handlungsbereich. Dieser Bereich muß mit den objektiven gesellschaftlichen Bedingungen (Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse, Klassenstruktur usw.) konfrontiert werden, d. h. das Individuum muß seinen Platz in der Gesellschaft erkennen und begreifen lernen, daß nur kollektives Handeln zur Verbesserung der eigenen Lage in der Gesellschaft und der Gesellschaftsstruktur insgesamt führen kann. Dabei ergibt die Analyse der objektiven Bedingungen nicht nur die Perspektive kollektiven Handelns, sondern zeigt auch die Faktoren auf, die eine Realisierung dieser Möglichkeit derzeit verhindern. Auf die Ebene der Erkenntnis und des Bewußtseins bezogen heißt das, daß sich der Erkenntnis der eigenen Lage Hindernisse entgegenstellen: einmal die falschen Bewußtseinselemente (Ideologeme) und außerdem die durch bewußte Manipulation hervorgerufenen. Es ist also nicht davon auszugehen, daß der Vermittlungsschritt zwischen subjektiven und objektiven Interessen automatisch erfolgt. Von der mehr oder weniger abstrakten Erkenntnis bis zur Bildung von Bewußtsein ist vielmehr ein weiter W e g , der nur über Erfahrungen der Praxis weitergeführt werden kann; Erkenntnis und Handeln können sich also nur gegenseitig weitertreiben. 1 9 9
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Alles, was bisher über den Begriff Bewußtsein gesagt wurde, bezog 293
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sich auf das allgemeine B e w u ß t s e i n . Als ein Bestandteil dieses allgemeinen Bewußtseins, das sich auf die Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse bezieht, ist das historische B e w u ß t s e i n anzusehen. Die gegenwärtige Gesellschaft ist nicht adäquat zu erfassen, ohne ihre Geschichte, die Entwicklung zu dem, was sie jetzt ist, und die ihr immanenten Entwicklungstendenzen, die über sie hinausweisen, zu berücksichtigen. Die oben formulierten vorläufigen Aussagen über ein adäquates Geschichtsdenken, wie es auch unserem eigenen Ansatz besonders bei den Gegendarstellungen zu den Geschichtsepochen im ersten Kapitel und den historischen Ableitungen im vierten Kapitel entspricht, sollen hier präzisiert werden. Dabei können wir uns allerdings nur auf eine thesenhafte, verkürzte Darstellung einlassen, die wichtige Komponenten dieses Geschichtsdenkens a u f f ü h r t . Die Darstellung folgt zunächst den allgemeinen Lernzielen eines Unterrichtsprojekt e s , das sich mit dem Komplex Handwerk-Zunft-VerlagssystemGewerbefreiheit befaßt, die historische Sichtweise in den politischen Unterricht einbezieht und die in der Jugend herrschenden Vorstellungen über die Geschichte unter ausdrücklichem Bezug auf die Studie von Hübner und von Friedeburg abbauen will. Es heißt dort, die Schüler sollen qualifiziert werden zu erarbeiten, „daß sich Geschichte als Prozeß vollzieht, 204
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— daß dieser Prozeß bedingt ist durch den Entwicklungsgrad der Produktivkräfte, — daß Produktivkräfte aus menschlichen und sachlichen Faktoren bestehen (Zahl der Menschen und ihre Erfahrungen und Fertigkeiten, Produktionsmittel, Wissenschaft und T e c h n o l o g i e , — daß Veränderungen in der staatlichen Organisation von der Entwicklung der Produktivkräfte gefordert werden, — daß die menschlichen Produktivkräfte (Produzenten) ihrem Entwicklungsstand entsprechende Organisationsmuster hervorbringen, — daß das Hervorbringen dieser Organisationsmuster von bestimmten Bewußtseinsformen und -Inhalten begleitet w i r d . " In diesen Lernzielen sind jedoch einige wichtige Elemente der materialistischen Geschichtsauffassung nicht erwähnt. Zu ergänzen wäre etwa das Verhältnis der Produktivkräfte zu den Produktionsverhältnissen und die stufenweise erfolgende Ablösung der jeweiligen Produktionsverhältnisse: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen e i n . " Die Handelnden in der Geschichte sind die Klassen, die die Revolutionen mehr oder weniger bewußt durchführen. Damit ist vorausgesetzt, daß die Geschichte Gesetzmäßigkeiten unterliegt; sie folgt Gesetzen, deren wesentlichstes das allgemeine Bewegungsgesetz der gesellschaftlichen 2 0 7
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Entwicklung ist (stufenweise Angleichung der Produktionsverhältnisse an die Produktivkräfte, die die Gesellschaftsformationen hervorbringt). Zwar gibt es keinen Endzustand der Geschichte, aber eine Höherentwicklung wird gemessen an dem Entwicklungsgrad der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse (die aber nicht gradlinig, sondern widersprüchlich verläuft, also auch zeitweise rückschrittlich sein kann). Für die bürgerliche Gesellschaft ergibt sich daraus, daß auch die Herrschaft der Bourgeoisie vergänglich ist, daß das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die private Aneignung des gesellschaftlich produzierten Reichtums durch eine neue Gesellschaftsordnung abgelöst werden. Dieser Prozeß vollzieht sich jedoch nicht automatisch, sondern hängt von der Entwicklung der Klassenkämpfe ab. Je bewußter die Lohnabhängigen die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung anwenden, um so eher und reibungsloser wird ihr die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung gelingen. So muß zur objektiven Voraussetzung (Stand der Produktivkräfte und ihr wachsender Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen) das subjektive Element (der Kampf der Arbeiterklasse) hinzukommen, um die Menschheit von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu befreien. Die hier skizzierten Elemente eines geschichtlichen Denkens sind als ziemlich unvermittelte Zielvorstellungen formuliert. Einige Voraussetzungen und Ansätze für die Umsetzung in den politischen und Geschichtsunterricht will neben dem erwähnten Unterrichtsprojekt das folgende Kapitel geben.
Fünftes Kapitel Gesamtgesellschaftliche Voraussetzungen eines kritischen Geschichtsunterrichts Nach der Untersuchung der Behandlung einzelner Geschichtsepochen in den Schulbüchern, nach dem Versuch, die hierbei herauskristallisierten Grundmuster der Argumentation zu systematisieren und deren gesellschaftliche Genesis und Funktion herauszuarbeiten, wollen wir mit einigen Thesen auf die Vorstellungen eingehen, die die Arbeitsgruppe bezüglich der Veränderung der untersuchten Inhalte hat. Dabei ist festzuhalten, daß diese Vorstellungen unter anderem deshalb nur fragmentarisch vorgetragen werden können, weil in der Gruppe selbst darüber unterschiedliche Meinungen bestehen. Wir beschränken uns daher im wesentlichen auf eine Skizzierung der gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen eines kritischen Geschichtsunterrichts. Für den Geschichtsunterricht, und das heißt konkret für die Anwendung der Geschichtsbücher, stellt sich die Frage nach den gesamtgesellschaftlichen Bedingungen, unter denen — auch mit noch vorwiegend konservativen Geschichtsbüchern — kritische Unterrichtsarbeit von Schülern und Lehrern gemeinsam geleistet werden kann. Was dabei kritischer Geschichtsunterricht bedeuten kann, wird noch näher beschrieben werden. Wir haben im Kapitel „Schule im Kapitalismus der B R D " gezeigt, daß der Widerspruch zwischen dem objektiv vorhandenen Interesse aller Gesellschaftsmitglieder an einer möglichst umfassenden Ausbildung und dem Zwang kapitalistischer Ökonomie, die gesellschaftlichen Reproduktionskosten für Ausbildung im Interesse der Profitmaximierung der Einzelkapitale möglichst niedrig zu halten, die Problematik der gesamten spätkapitalistischen Bildungspolitik kennzeichnet. Die Minimierung der Ausbildungskosten auf dem Rücken der Auszubildenden und der Lehrenden wird begleitet von der Verweigerung von Mitbestimmung im Ausbildungsbereich. Zwar zwingt der wissenschaftlich-technische Fortschritt zu partieller Hebung des Qualifikationsniveaus; die Durchsetzung bestimmter fortschrittlicher Bildungskonzeptionen, z. B. der Gesamtschule, wird vom Kapital und seinen Repräsentanten jedoch nicht einfach „großzügig" garantiert, sondern muß, wie jeder soziale Fortschritt seit dem Beginn des Kapitalismus, von den Betroffenen selbst erkämpft werden. Bildungspolitische Reformen können also nur gemeinsam von Schüler-, Studenten-, Lehrerund Arbeiterbewegung durchgesetzt werden. Eine sinnvolle inhaltliche Konkretisierung der Reformprojekte in Schule und Hochschule wird also nur dann möglich sein, wenn die Beziehungen von Schülern und Studenten zu den Organisationen der Arbeiterbewegung intensiviert werden. Diese damit angesprochene „gewerkschaftliche Orientierung" vor allem der Studenten resultiert aus den objektiven Entwicklungstenden296
zen der kapitalistischen Gesellschaft. Die Tendenzen der Verwissenschaftlichung und Vergesellschaftung großer Bereiche der Produktion und Reproduktion bestimmen die perspektivische Klassenlage der heutigen Studenten. Das bedeutet eine erhebliche Zunahme der Lohnarbeit und eine immer deutlicher hervortretende Fremdbestimmung am Arbeitsplatz. Die Mehrzahl der heutigen Studenten wird nach ihrem Examen als Lohnabhängige im Produktions- und Reproduktionsbereich fungieren. Hiermit sind auch Möglichkeiten der Bewußtseinsveränderung, der Stärkung des demokratischen Potentials, objektiv gegeben. Die Verwirklichung dieser Möglichkeiten hängt weitgehend vom Stand des gesamtgesellschaftlichen Klassenkampfes ab. Der Entwicklungsstand des bundesrepublikanischen Klassenkampfes seit dem Ende der 60er Jahre läßt sich zusammenfassend folgendermaßen beschreiben: Im Gefolge der ökonomischen Rezession ( 1 9 6 6 / 6 7 ) wurde für große Teile der Arbeiterklasse die Unsicherheit ihres Arbeitsplatzes, die Gefahr der Kurzarbeit und damit der Einschränkung ihres Lohneinkommens evident. Das bereits in den 50er Jahren von Popitz, u. a. empirisch festgestellte „dichotomische Gesellschaftsb i l d " (d. h. die Vorstellung, daß die Gesellschaft durch den Gegensatz von „oben" und „unten" geprägt ist) der Arbeiter wurde erneut bestätigt. Darüber hinaus läßt sich seit den Septemberstreiks 1 9 6 9 , den hessischen Chemiearbeiterstreiks 1970 und dem baden-württembergischen Metallarbeiterstreik 1971 eine zunehmende Bereitschaft von Teilen der Arbeiterklasse erkennen, den Streik als Mittel des Arbeitskampfes zu akzeptieren. Mit der Zunahme dieser Aktionsbereitschaft und der weiteren Entwicklung eines Klassenbewußtseins im Prozeß kollektiver politischer Praxis korrespondiert der Zuwachs an gewerkschaftlicher Orientierung in weiten Teilen der lohnabhängigen Intelligenz. Kritische Studenten und teilweise auch Schüler finden in wachsendem Maße den Weg zum Eintritt in gewerkschaftliche Organisationen und Jugendverbände der Arbeiterklasse. Der Anteil der Junglehrer in der GEW nimmt ständig zu, so daß die Basis des Deutschen Philologenverbandes, der immer stärker zu einer reaktionären Organisation wird, sichtlich abnimmt. Kritische Wissenschaftler haben sich zum Bund Demokratischer Wissenschaftler zusammengeschlossen. In dem Maße, wie dieser Prozeß zunehmend praktisch-politischer Tätigkeit und Bewußtseinsbildung fortschreitet, greift der Staatsapparat — auch in seinen sozialdemokratisch geführten Teilen — immer stärker zu Disziplinierungs- und Relegationsmaßnahmen. Die eindeutige Verfassungswidrigkeit der Ministerpräsidentenbeschlüsse vom Januar 1 9 7 2 , die alle kritischen, demokratisch und sozialistisch orientierten Beamten im öffentlichen Dienst mit Berufsverbot bedrohen, enthüllt, daß die bürgerliche Gesellschaft und ihr Staatsapparat — besonders im Ausbildungsbereich — nicht bereit ist, die freie Konkurrenz verschiedener Wissenschaftsansätze und -methoden entstehen zu lassen und zu akzeptieren. Unter dem Deckmantel „Radikale aus dem öffentlichen Dienst" werden Mitglieder verfassungsrechtlich legitimierter Organisa1
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tionen an der Ausübung ihres Berufs gehindert. „Radikal" ist dabei alles, was sich nicht dem „Wissenschaftsmonop o l " (Margherita von Brentano) bürgerlicher Wissenschaftsmethode unterwirft. Geringfügige Abweichungen von dieser Grundlinie werden indes mit den Schlagwörtern „Stalinismus" oder „prokommunistisches Pamphlet" abgekanzelt, wie dies im Falle des Sozialkundebuches von George/Hilligen (Sehen — Beurteilen — Handeln) geschehen ist. Tatsächlich ist dieses Sozialkundebuch (in seiner veränderten Auflage) ein sich auf demokratische Zielsetzungen hin orientierendes Lehrbuch, das im Bereich des Systemvergleichs von B R D und DDR mit der herkömmlichen Schwarz-Weiß-Malerei Schluß macht und die Verherrlichung der Unternehmer-Wirtschaft, durch ein realistisches Bild der wirklichen Arbeitswelt ersetzt. An der überregionalen Kritik, die dieses keineswegs radikaldemokratische oder gar marxistische — für die B R D aber schon recht progressive — Lehrbuch hervorgerufen hat, läßt sich deutlich ablesen, von welcher Seite die Diffamierungskampagne geführt wurde: konservative Repräsentanten der CDU (Wallmann, Echternach) sowie die ausgesprochen rechtsorientierte Publizistik von der „Welt" bis zum Deutschland-Magazin demonstrieren die politische Interessengebundenheit dieser Hetzkampagne. Besonders deutlich wird der Interessenstandpunkt bei der Kritik zu der dem Geist des Kalten Krieges und der Unternehmerapologie widersprechenden und in der B R D bislang nicht üblichen Darstellung „berechtigter Interessen von Arbeitern und Angestellten": Sie wird als Propaganda für das Gesellschaftssystem der DDR denunziert. Bloße Faktendarstellung, wie etwa die Zahl der in Armut lebenden US-Bevölkerung, die etwa 20 % beträgt, wird zur „antiamerikanischen Stimmungsmache der Linken". Es stellt sich die Frage, worum es jenen Kräften von der CDU mit der verfälschten Darstellung eines demokratischen Schulbuches geht. „Es geht ihnen um die kritiklose, ungebrochene Zeichnung eines makellosen Schön-Bildes der westlichen Welt. Und vor allem: Es geht ihnen bei der Darstellung von Gesellschaft und Arbeitswelt um die lückenlose Orientierung an den Unternehmerinteressen. Die bestehende Unternehmerordnung muß unangetastet als gut, unveränderbar, als gottgegebene Selbstverständlichkeit erscheinen." 5
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Am Beispiel eines relativ fortschrittlichen Sozialkundebuches zeigt sich also, daß die reaktionären Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft die Grenze für die Tolerierung abweichender Meinungen dort ansetzen, wo kritische Autoren — in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz (GG) — die bürgerlich-kapitalistische Eigentumsordnung in Frage stellen. H. H. Hartwich hat in seiner materialreichen Studie zum Sozialstaatsproblem ausdrücklich auf die alternativen Möglichkeiten des Grundgesetzes im Hinblick auf die Eigentumsordnung hingewiesen. Demzufolge besteht neben der existierenden bürgerlichen Eigentumsverfassung in Übereinstimmung mit dem Kompromiß der „Väter" des GG im Parlamentarischen Rat, wie er in den Art. 14 und 15 zum Aus7
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druck kommt, die Möglichkeit, eine sozialistische Gesellschaftsordnung zu errichten. Die Tatsache, daß in der bisherigen Geschichte der B R D die Alternative einseitig von der CDU, und heute von großen Teilen der SPD theoretisch geleugnet und praktisch negiert worden ist, zeigt die politisch-soziale Verflechtung der herrschenden Parteien mit den Interessen des Kapitals. Dementsprechend werden verfassungsmäßig legitime Positionen der Jungsozialisten — im Zuge der Durchsetzung der Ministerpräsidentenbeschlüsse — als verfassungswidrig diffamiert und als „Radikalismus" tendenziell kriminalisiert. Die Ministerpräsidentenbeschlüsse und das dort intendierte Berufsverbot gegen „Radikale" im öffentlichen Dienst zeigt das Ausmaß der Bedrohung demokratischer Verfassungselemente durch rechtskonservative Verfassungsinterpreten, die alle potentiell kritischen Elemente — dazu zählen DKP, S D A J und Spartakus, SHB und V D S , Jungsozialisten, Jungdemokraten, Teile der Gewerkschaften und der Kirchen — zu Verfassungsfeinden abstempeln wollen. Aus dieser gesamtgesellschaftlichen Frontstellung der antagonistischen Interessenformierung ergibt sich die Notwendigkeit für alle Liberalen, Demokraten, Sozialisten und Kommunisten in Parteien, Gewerkschaften, Verbänden, Hochschulen und anderen Schulen, sich kollektiv zu organisieren, um von ihrem jeweiligen Bereich aus den Kampf um die Erhaltung und Ausweitung der demokratischen Rechte aufzunehmen. Dieser Kampf um gesamtgesellschaftliche Demokratisierung in allen Bereichen hat nur dann Erfolgschancen, wenn er nicht in jedem Bereich isoliert geführt wird. Insbesondere in den zentralen Organisationen der Lohnabhängigen, d. h. vor allem der Gewerkschaften, muß darum gerungen werden. In diesem Rahmen sind die Perspektiven für Lehrer und Schüler für Möglichkeiten einer Schulreform zu betrachten. Die technokratisch zurechtgestutzte Variante der integrierten Gesamtschule scheint der zukünftige Schultyp zu sein, der den ökonomischen Anforderungen der gegenwärtigen kapitalistischen Ökonomie weitgehend entspricht. Denn durch das institutionalisierte individuelle Leistungsprinzip (Kursund Kerngruppen), durch verschiedene Varianten kompensatorischer Erziehung (z. B. Sprachförderung) werden beachtliche, bisher ungenutzte Begabungs- und Leistungsreserven der Kinder aus der Arbeiterklasse ausgeschöpft, womit den ökonomischen und ideologischen Anforderungen von Flexibilität und Disponibilität der Ware Arbeitskraft besser zu genügen ist. Zugleich aber muß die Ambivalenz der Gesamtschule gesehen werden, die darin liegt, daß sie als ein Mittel der Verwirklichung fortschrittlicher Lerninhalte und kritischer Schulreformen fungieren kann: die pädagogisch sicherlich ungünstige Mammutgröße ( 2 0 0 0 — 4 0 0 0 Schüler) schafft eine breite Basis für die politische Arbeit von Lehrern und Schülern, setzt Bedingungen für eine kooperative und solidarische Schulpraxis aller im Ausbildungssektor Beteiligten, die sich auch gegen die vorgegebenen inhaltlichen Zwecksetzungen der Lehrinhalte kritisch wenden kann. Die Verlängerung der 299
Schulzeit (bis zum 1 7 . / 1 8 . Lebensjahr) sowie die intensive Begabungsförderung einzelner Schüler kann zur Stärkung des politischen Bewußtseins entwickelt werden, wenn sie mit einer immanenten Kritik des Widerspruchs zwischen Qualifikationssteigerung und demokratischen Lernzielen einerseits und diesen Ansprüchen nicht gerecht werdender Schulpraxis andererseits verbunden wird. Darüber hinaus kann in breiterem Umfang der Widerspruch zwischen der Forderung nach Chancengleichheit und der realen Selbsterfahrung der Ungleichheit in der Klassengesellschaft aktualisiert und politisch artikuliert werden. Eine kritische Arbeit an Schulen wird also nur realisiert werden können, wenn emanzipatorische Praxis von Schülern und entsprechend ausgebildeten Lehrern kollektiv vollzogen wird. Ob dies gelingt, hängt auch davon ab, inwieweit die Eltern sich für eine Demokratisierung in der Schule engagieren und ob die Bürokratisierung in der Schulverwaltung durch Mitbestimmungspraxis ersetzt werden kann. Von hier aus ist die Bedeutung von Geschichtsunterricht und Geschichtsbuch für die weitere gesellschaftliche und schulische Entwicklung zu prüfen. Im folgenden sollen einige Überlegungen angestellt werden, wie der traditionelle Geschichtsunterricht als Reproduktionsfaktor herrschender Ideologien kritisch durchbrochen und mindestens ansatzweise in einen potentiell emanzipatorischen Unterricht übergeleitet werden könnte. Es wurde schon angedeutet, daß der Geschichtsunterricht — neben einer Reihe anderer ideologiereproduzierender Fächer wie Sozialkunde, Gemeinschaftskunde und Deutsch — zunehmend außerschulischen, d. h. gesellschaftlich-politischen Interessen ausgesetzt ist. Im Rahmen der Ostpolitik der sozial-liberalen Regierung Brandt/Scheel haben sich beispielsweise die außenpolitischen Beziehungen zwischen B R D und Polen, B R D und UdSSR verändert, gegen die innergesellschaftlichen Konsequenzen der Ablösung manifester antikommunistischer Ideologien aber — das haben die Ministerpräsidentenbeschlüsse erneut bewiesen — leisten die Herrschenden den heftigsten Widerstand. Ansätze zu einer Revision der traditionell ideologischen Geschichts-, Sozialkunde- und Erdkundebücher sind im Rahmen zweier Schulbuch-Kommissionen zwischen Polen und der Bundesrepublik entstanden. Zugleich gibt es zu dieser Form positiver Bewußtseinsbildung durch die Reinigung der Schulbücher von reaktionären Geschichtslegenden gegenläufige Tendenzen, die besondere Auswirkungen auf den Geschichtsunterricht zu haben scheinen. Neben der faktischen Monopolisierung der Einflußmöglichkeiten durch die deutschen Unternehmerverbände, der gegenüber der gewerkschaftliche Einfluß fast bedeutungslos i s t , soll der Unterricht in der Schule durch die Institutionalisierung eines Faches Wehrkunde militaBesonders geristischen Erziehungstendenzen ausgesetzt werden. fährlich erscheint die Tatsache, daß auf Grund von Vereinbarungen zwischen dem Hessischen Kultusministerium und dem Wehrbereichskommando IV in Mainz die Einflußmöglichkeiten der Militärs bei der inhaltlichen Darstellung und Entwicklung der hessischen Curricula für 8
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die Fächer Geschichte und Sozialkunde gesichert worden s i n d . Dabei ist zu beachten, daß die beabsichtigte Militarisierung des Schulunterrichts nur ein Aspekt der wachsenden Tendenz ist, das Bildungswesen insgesamt militaristisch zu beeinflussen. Die Forderung nach Wehrkunde im Unterricht, besonders von Teilen der rechten Sozialdemokratie (Helmut Schmidt, Georg Leber) und der CDU (Kultusminister B. Vogel) vertreten, stieß indes auf den entschiedenen Widerstand der fortschrittlichen Lehrergewerkschaft, der GEW. Vorraussetzung für eine wirksame Bekämpfung der Wehrkunde-Erlasse ist die kritische und sachlich fundierte Auseinandersetzung mit den Inhalten dieser militaristischen Erziehungsformen: Schüler und Lehrer sollten den Unterricht dazu nutzen — an Stelle der einseitigen Rechtfertigung der Militärpolitik — die gesellschaftlichen Ursachen von Rüstung und Krieg zu untersuchen, die Bedeutung des militärisch-industriellen Komplexes in der B R D , Probleme der Abrüstung, der Kriegsdienstverweigerung und der historischen Entwicklung der Remilitarisierung in unserem Lande. Wesentliche Vorraussetzung für die demokratische Veränderung von Schule und Geschichtsunterricht ist neben den organisatorischen Bedingungen in der Schule, wie sie oben am Beispiel der Gesamtschule entwickelt wurden, die inhaltliche Veränderung der Lehrpläne, der Studiengänge und der Lehrerausbildung an den Hochschulen. Die Curriculum-Revision z. B. darf nicht von Expertenkommissionen allein bearbeitet und dann von oben, d. h. vom jeweiligen Kultusministerium in die Schulen eingeführt werden. Vielmehr bedarf es hier der Aktivierung aller an der langfristigen Konzeption und Verwirklichung der Lehrpläne beteiligten Kräfte von Schülern, Lehrern, Fachdidaktikern und Fachwissenschaftlern. Wenngleich der kritischen, konsequent auf die Verwirklichung demokratischer Rechte hinwirkenden Lehrplanrevision durch starke politische Interessen objektive Grenzen gesetzt zu sein scheinen (vgl. das Scheitern der hessischen Curriculumrevision), so ist es doch nicht von vornherein ausgemacht, wo diese Grenzen liegen. Das wird erst der weitere Kampf, der durch verstärkte Öffentlichkeitsarbeit und ständige Verbreiterung der politischen Basis geführt werden muß, zeigen. Als relativ positives Resultat hervorzuheben sind z. B. die Ende 1972 vom Hessischen Kultusministerium herausgegebenen vorläufigen Rahmenrichtlinien für das Fach Gesellschaftslehre (Sekundarstufe I ) , da hier erstmals der Versuch unternommen wird, allgemeine Zielvorstellungen für einen kritisch-emanzipatorischen Inhalt zu entwickeln. Im Gegensatz zu dem bereits erwähnten Totalitarismus-Erlaß von 1962 werden herrschende Geschichtsideologeme, wie etwa das personalistische Geschichtsbild, hinsichtlich ihrer politischen Funktion kritisiert. Neben einerweiteren inhaltlichen Spezifizierung der allgemeinen Lernzielvorstellungen muß jedoch die Konkretisierung, d. h. die exemplarische Anwendung des allgemeinen Lernziels „gesellschaftliche Emanzipation" am Beispiel konkret-historischer Themenstellungen geleistet werden. Das, was bis1 3
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her für den Sozialkundeunterricht vorliegt, kann für den Geschichtsunterricht teilweise als Modell gelten. Exemplarische Modellanalysen und Unterrichtsreihen sind schon deshalb in verstärktem Maße erforderlich, weil der — von pädagogischer Praxis unberührte Studienreferendar — neuerdings bereits mehrere Stunden Vollunterricht zu leisten hat, ohne in seiner Universitätsausbildung darauf hinreichend vorbereitet zu werden. Das gleiche gilt aber auch für fortgeschrittene, ältere Lehrer, deren Geschichtsstudium von historisch-sozialwissenschaftlichen Kategorien meist gänzlich frei w a r . Modellanalysen sind aber auch deshalb dringend notwendig als Orientierungs- und Vorbereitungsmittel für den Unterricht, weil die Schulpraxis den Geschichtslehrer — vor allem den jungen, noch nicht ausgebildeten — vor die Aufgabe stellt, Modelle für den Geschichtsunterricht von sich aus zu erarbeiten. Liegen nun solche Orientierungsmittel vor, so erleichtern sie nicht nur dem einzelnen Lehrer die Arbeit, sondern können in der Schulpraxis immer wieder korrigiert und erprobt werden. Unter den günstigen organisatorischen Bedingungen der Gesamtschule bietet sich überdies die Möglichkeit, sie mit anderen Projekten aus benachbarten Unterrichtsfächern (Sozialkunde, Deutsch, technischer Unterricht etc.) zu verbinden und gegebenenfalls zu integrieren. Auf diese Weise können Schüler und Lehrer die traditionelle Fächeraufteilung und strikte Arbeitsteilung inhaltlich eng zusammengehörender Bereiche tendenziell überwinden und einen Gesamtbegriff von Gesellschaft entwickeln (statt einzelner Fragmente), der ein Begreifen überhaupt erst möglich macht. Wichtig ist die technisch-organisatorische Seite der Unterrichtspraxis; hier wäre darauf zu achten daß: 16
— der Lehrer als Organisator und Koordinator emanzipatorischer Lernprozesse gruppendynamische Beziehungen fördert (Auswahl von Unterrichtsprojekten, die besonders für Gruppenarbeit geeignet sind) und damit das einseitige individuelle Lernprinzip aufhebt; — die Mitbestimmung der Schüler hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der Lehr- und Lernprozesse institutionell gesichert ist; — die inhaltliche Arbeit durch Zusammenarbeit mit möglichst vielen Lehrerkollegen, durch ständige Information der Eltern und wechselseitigen Meinungsaustausch mit ihnen abgesichert ist. Erst dann, wenn es möglich ist, die Schüler aus der passiv-rezeptiven Konsumentenhaltung zu befreien und sie in methodische und didaktische Entscheidungs- und Planungsprozesse mit einzubeziehen, wird eine potentiell kritische, d. h. den autoritären Frontalunterricht ersetzende Schulpraxis möglich. Es stellt sich nun die Frage, wie der Geschichtslehrer das bislang noch vorwiegend konservative Geschichtsbuch im Unterricht sinnvoll verwenden kann. In dem Maße, wie es gelingt, durch kritische Lehrerbildung und praktische Schülerarbeit die im Bewußtsein vorherrschenden Geschichtsbilder und Ideologeme aufzulösen, werden auch die heutigen Schulgeschichtsbücher in ihren reaktionären Varianten ideologiekritisch analysiert werden können. 302
Die bereits im vierten Kapitel angesprochenen allgemeinen Lernziele wären zu konkretisieren; zu fragen wäre nach dem Zusammenhang von Herrschaft als Resultat sozioökonomischer Grundverhältnisse im Kapitalismus und der Notwendigkeit für die herrschenden Klassen, ihre Herrschaft durch Ideologien abzusichern und zu legitimieren. Die ideologiekritische Analyse stellt eine Voraussetzung für positive Gegenkonzeptionen dar, die zur Entwicklung und Stärkung eines historisch abgesicherten Geschichtsbildes beitragen können. Es ist bei den gegenwärtigen Machtverhältnissen zwar unwahrscheinlich, daß progressive Geschichtsbücher die Zensurinstanzen der Kultusbürokratie durchlaufen werden, es bleibt jedoch zu erwägen, ob nicht ein kritischer Gegenentwurf, eine grundlegende Alternativkonzeption eines Anti-Geschichtsbuches von einem Arbeitskollektiv aus kritischen Schülern, Geschichtsstudenten, Geschichtslehrern, Fachdidaktikern und Fachwissenschaftlern versucht werden sollte. Die Unterstützung durch Taschenbuchverlage könnte für eine relativ billige und weite Verbreitung unter Lehrern, Schülern und anderen Interessierten sorgen. Im gegenwärtigen Stadium der gesellschaftlichen und schulischen Entwicklung scheint es jedoch vorerst notwendig, die ideologiekritische Analyse der konkreten Inhalte in den Schulgeschichtsbüchern weiterzuentwickeln, um von daher das Wesen bürgerlicher Ideologie, ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen und ihre politische Funktion aufzudecken.
Anmerkungen Erstes Kapitel A. Französische Revolution 1 W. Hofmann, Grundelemente der Wirtschaftsgesellschaft. Ein Leitfaden für Lehrende. Hamburg 1969 (rororo aktuell 1 1 4 9 ) , S. 4 6 . 2 ib., S. 4 6 . 3 „Der Mensch der archaischen Zeit . . . fühlte sich weniger als Person und Individuum, sondern in der Regel eingebettet in ein schützendes, handlungsbestimmtes Kollektiv mit fester Lebensordnung, in Konvention und Tradition, mit denen sich der Einzelmensch völlig identifiziert." K. Bosl, Gesellschaftsentwicklung 5 0 0 - 9 0 0 . In: H. Aubin/W. Zorn (Hg.): Handbuch der Sozialund Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Bd. 1, Stuttgart 1 9 7 1 , S. 1 6 3 . 4 F. Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter, Tübingen 1 9 5 2 , S. 3 7 . 5 Vgl. W. Rosenbaum, Naturrecht und positives Recht, Neuwied/Darmstadt 1972, S. 2 2 5 . 6 Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1 9 7 2 , S. 190. 7 Hauser, a.a.O., S. 2 0 2 . 8 E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt 1972 (st 4 9 ) , S. 70. 9 Diese Vorstellung hat Schiller hinsichtlich der Menschenrechte (die ja eben gerade als vernünftig galten) im Wilhelm Teil in die berühmten Worte gekleidet: „Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht: Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, Wenn unerträglich wird die Last — greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel Und holt herunter seine ew'gen Rechte, Die droben hangen unveräußerlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst" Schillers Sämtliche Werke Bd. 7, Stuttgart/Berlin S. 183 (2. Aufzug, 2. Szene 1275-81). 10 Als vernünftig galt im Mittelalter das ,gute' Alte. Auch der Glaube sei vernünftig, da er dem Menschen entspreche. 11 Hofmann, a.a.O., S. 5 5 . 12 Der Manufakturinspektor Ludwigs X V I . und spätere Innenminister der Gironde, Roland de la Piatiere, schrieb 1 7 7 8 in einer Denkschrift: „Ich habe gesehen, wie an einem einzigen Vormittag 8 0 , 9 0 , 100 Tuche in kleine Stücke zerschnitten wurden . . . Ich habe gesehen, wie denselben Tag eine größere oder kleinere Anzahl Tuche unter mehr oder weniger harten Strafen konfisziert wurde . . . Ich habe gesehen, wie Tuche an den Pranger geheftet wurden mit dem Namen des Fabrikanten, dem angedroht wurde, ihn bei Rückfälligkeit selbst an den Pranger zu stellen . . . und alles vorgeschrieben durch die Reglements oder ministeriell angeordnet; und warum? Einzig wegen illegalen Rohstoffs oder unregelmäßiger Webarbeit. Ich sah, wie Schergenbanden Durchsuchungen bei Fabrikanten machten, ihre Werkstätten verwüsteten, ihre Familien in Schrecken versetzten, Webstühle mit Ketten verschlossen; und warum? Weil sie Wollgewebe hergestellt hatten, wie sie in England gemacht werden, und die Engländer überall verkaufen, auch in Frankreich, aber die Reglements in Frankreich nur Haargewebe erwähnen.
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Ich habe gesehen, wie Gerichtsdiener und ihre Kohorten mit dem Urteil in der Hand unglückliche Fabrikanten in ihrer Habe und ihrer Person verfolgten, weil sie ihre Rohstoffe hier und nicht dort gekauft hatten, zu diesem Zeitpunkt und nicht zu einem anderen." Zit. bei A. Hartig/G. Schneider/M. Meitzel, Großbürgerliche Aufklärung als Klassenversöhnung: Voltaire (Materialistische Wissenschaft 3) (Oberbaum Verlag), Berlin 1 9 7 2 , S. 4 3 . Vgl. G. v. Below, Probleme der Wirtschaftsgeschichte, 2 7 8 ff, J. Kulischer, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Bd. 1, München/Berlin 1 9 2 2 , S. 181 ff. H. Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands Bd. 1, Berlin 1 9 6 8 , S. 174 ff. Vgl. W. Dahle, Deutschunterricht und Arbeitswelt: Modelle kritischen Lernens. Materialien für Lehrer und Schüler (rororo Sachbuch) Reinbek 1 9 7 2 , S. 37 ff. Vgl. Anmerkung 14 in diesem Kapitel. Vgl. I. Fetscher, Politikwissenschaft (Funk-Kolleg) Ffm. 1 9 6 8 , Fischerbücherei, S. 3 5 : „Der ,Mensch', den Hobbes beschreibt, . . . ist identisch mit dem bourgeoisen Individuum, wie es im 17. Jahrhundert in England allmählich aus älteren Verhaltensweisen sich entwickelte. Besitzgier, Konkurrenzkampf, Bedürfnis nach Sicherheit, all diese von Hobbes naiv als allgemein menschlich angesehenen Eigenschaften . . . entstehen allererst durch die Herausbildung einer marktförmigen Güterversorgung. Hobbes unterlag der verständlichen Selbsttäuschung, die Eigenschaften seiner Zeitgenossen für allgemein menschlich zu halten . . . Was Hobbes als ,Naturzustand' beschreibt, ist also nichts anderes als die sich soeben herausbildende Konkurrenzgesellschaft warenproduzierender Bourgeois unter Abstraktion einer ihr friedliches Zusammenleben ermöglichenden Staatsmacht." Vgl. ib., S. 53 ff; J. Habermas, Theorie und Praxis, Frankfurt/M. 1971 (Suhrkamp Taschenbuch 9) S. 99 ff; Rosenbaum, a.a.O., S. 267 f. Habermas, a.a.O., S. 113 f. Auf die spezifischen Formen und Halbheiten dieser Revolutionen können wir hier leider nicht eingehen. Siehe hierzu u. a. Rosenbaum, a.a.O., L. Kofier, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied/Berlin 1 9 6 6 (Luchterhand- Verlag). Wir kommen darauf zurück. K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, Berlin 1971 (Dietz Verlag), S. 15 f. Vgl. Hartig, u. a., a.a.O., S. 24 f. ib., S. 9. ib., S. 2 0 . Was sagt Voltaire? Eine Auswahl aus den Werken, hg. u. übers, v. P. Salzmann, Leipzig 1 9 2 5 , S. 1 4 4 . Voltaire ist dabei nur ein Beispiel für die herrschende Tendenz in der frühbürgerlichen Philosophie! Bei nahezu allen bedeutenden revolutionären Denkern seit der Renaissance findet sich diese eindeutige Beschränkung ihrer Vernunftsprinzipien (Freiheit, Bildung, Gleichheit) auf die Privateigentümer. So galt z. B. den drei großen Renaissance-Denkern Machiavelli ( 1 4 9 6 — 1 5 2 7 ) , Montaigne ( 1 5 3 5 - 1 5 9 2 ) und Bodin ( 1 5 3 0 - 1 5 9 6 ) die Religion als notwendiges Mittel zur Ablenkung und Niederhaltung der Volksmassen (Religion als Ordnungsstabilisator), und auch der große englische Naturrechtsphilosoph J o h n Locke reservierte die natürlichen Rechte des Menschen ausdrücklich für die Privateigentümer: „Der größte Teil der Menschheit . . . kann nicht der Leitung durch das Gesetz der Natur oder der Vernunft überlassen werden; er
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ist unfähig, aus diesen Gesetzen Verhaltensmaßregeln abzuleiten. Denn der sicherste und einzige Weg, Tagelöhner und Händler, Jungfern und Milchmädchen . . . zu tätigem Gehorsam anzuhalten, besteht darin, ihnen klare Gebote zu geben. Der größte Teil der Menschheit kann nicht wissen, und muß daher glauben." Zitiert nach: C. B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, Ffm. 1 9 6 7 , S. 2 5 4 ; vgl. Kofler, a.a.O., S. 1 7 8 , 1 9 8 , 2 0 2 ; vgl. Horkheimer, M. Montaigne und die Funktion der Skepsis, in: ders., Kritische Theorie der Gesellschaft, Bd. II, Ffm. 1 9 6 8 , S. 2 2 7 . 28 Zitiert bei und übersetzt von: Hartig, u. a., a.a.O., S. 8 4 . 29 „Der Eintritt in ein Arbeitsverhältnis ... begründet Unterordnung unter die Anweisungsgewalt der kapitalverwertenden Seite ... Dem Verwertungszwang des Kapitals sind die Beschäftigten selbst von vornherein integriert'". Hofmann, a.a.O., S. 6 2 . 30 Zitiert bei: Hartig u. a., S. 8 5 . Sieyes nennt in der erwähnten Flugschrift die natürliche Grundlage der bürgerlichen Herrschaft, das Privateigentum, deutlich beim Namen: „Außer der Herrschaft der Aristokratie . . . gibt es auch einen Einfluß des Eigentums. Dieser Einfluß ist natürlich, und ich verdamme ihn nicht." Zitiert nach: O. H. v. d. Gablentz, Die politischen Theorien seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, Köln/Opladen 1 9 6 7 , S. 70. 31 „In England z. B . , dem klassischen Land des liberalen Parlamentarismus, waren nach der Revolution von 1 6 8 8 nur etwa zwei Prozent der Bevölkerung wahlberechtigt. Nach der ersten Wahlreform von 1 8 3 2 stieg der Anteil der Wahlberechtigten auf rund fünf Prozent an . . . Die Wahlreform von 1 8 8 4 schließlich, die immer noch ein Drittel der Männer und alle Frauen vom Wahlrecht ausschloß, kam erst durch massiven Druck der Industriearbeiterschaft zustande." R. Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft, Reinbek 1971 (rororo aktuell 1 3 4 2 ) , S. 32 f. 32 W. Hofmann, Abschied vom Bürgertum, Ffm. 1 9 7 0 (es 3 9 9 ) , S. 187 f. 33 H. Schelsky, Mehr Demokratie oder mehr Freiheit, in: FAZ vom 2 0 . 1 . 1 9 7 3 , S. 7. 3 4 ib. 35 ib. 36 a.a.O., S. 8. 37 H. H. Hartwich (Hg.), Politik im 2 0 . Jahrhundert, Braunschweig 1 9 6 4 (Westermann Verlag), S. 1 0 3 . 38 Wenn wir im folgenden vor allem diese über die bürgerliche Gesellschaft hinausgehende Komponente des Rousseauschen Denkens herausheben, dann heißt dies nicht, daß Rousseau sich selbst so verstanden hat. Rousseau selbst war subjektiv keineswegs revolutionär, sondern eher konservativ. Die von ihm formulierten Grundsätze des Contrat Sociale hielt er nur bei kleinen Völkern eines vorkapitalistischen Entwicklungsstandes für möglich, beispielsweise in Korsika, wo Handel und Gewerbe kaum entwickelt sind, wo das Eigentum breit und gleichmäßig gestreut ist und wo reine und schlichte Sitten herrschen. „Seine Lehre war nicht revolutionär, sie mußte erst revolutionär interpretiert werden." Habermas, a.a.O., S. 1 1 1 . Diese Interpretation wurde u. a. von den Jakobinern geleistet. Als revolutionär (sie nennen es ,radikal') interpretieren auch die Schulbuchautoren die Philosophie Rousseaus — nur lehnen sie sie gerade deswegen ab. 39 J . - J . Rousseau, Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, Berlin 1 9 5 5 , S. 8 6 . 40 Die Forderung nach Sozialisierung des Bodens ist von zahlreichen utopischen Sozialisten erhoben worden, von Morus und Winstanley bis zu Meslier, Mo3
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relli, Mably usw. Da (abgesehen vielleicht von Monas) keiner von ihnen in den Schulbüchern erwähnt wird, kann man mit diesen Abstrichen die oben vertretene These aufrechterhalten, Rousseaus Haltung zur bürgerlichen Gesellschaft sei „radikal neu". Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, in: ders., Über die Erziehung, Berlin 1 9 5 8 , S. 14. Vgl. Rousseau, Emile . . . in: ib., S. 1 1 2 . Marats revolutionäre Auslegung des volonté générale gipfelte in dem Ausruf: „Das einfache Volk . . . ist der einzig gesunde Teil der Nation — der einzige, der das allgemeine Wohl will." Zitiert bei: F. Deppe, Verschwörung, Aufstand und Revolution, Ffm. 1 9 7 0 , S. 2 7 . Auf Wesen und Funktion der Jakobinerherrschaft kommen wir später zurück. Obwohl diese Argumentationskette in derartiger Stringenz in kaum einem der Schulbücher auftaucht, wird sie aber durchgängig durch die Gegenüberstellung von Montesquieu und Rousseau nahegelegt. In ausformulierter Form findet sie sich in dem erwähnten Aufsatz von Schelsky sowie in dem Sozialkundebuch „Politik im 2 0 . Jahrhundert". „Politik im 2 0 . Jahrhundert", a.a.O. S. 6 1 . Als politisches Individuum, als ,Aktivbürger', als ,Person', ja als ,Mensch' (l'homme) galt stets nur der Eigentümer. Die Vorstellung eines Gesellschaftsvertrages, der dem Staat zugrunde liege, ist die fiktive Konstruktion eines freiwilligen Zusammenschlusses der Privateigentümer „zum Zwecke der gegenseitigen Versicherung des freien Gebrauchs des Eigentums . . . " „Der Staat", sagt Fichte kurz und bündig in seiner Staatslehre, „ist eine Anstalt der Eigentümer." Ähnlich äußern sich mehrfach Locke und andere. Es ist aber offenbar, daß für die Ideologen des aufsteigenden Bürgertums die Sicherung des freien Gebrauchs des Eigentums deshalb Endzweck des Staates ist, weil ihnen allein auf diesem Wege auch die Freiheit des Menschen gesichert erscheint. D. h., es kann . . . nicht Freiheit ohne Eigentum geben. Soll die ,bürgerliche Gesellschaft' ein freies Gemeinwesen bilden können, muß sie sich aus solchen Individuen zusammensetzen, die über Eigentum verfügen." Kofler, a.a.O., S. 6 1 5 f. Hofmann, Abschied . . . , a.a.O., S. 180 (Hervorhebung von uns). Kühnl, a.a.O., S. 36 Bloch, a.a.O., S. 187. ib., S. 1 8 7 / 8 8 . Hartig u. a., a.a.O., S. 60 f, die Autoren stützen sich auf F. Braudel/C. E. Labrousse, Histoire économique et sociale de la France, Bd. II, S. 5 4 8 ff; siehe außerdem: C. E. Labrousse, La crise de l'économie française à la fin de l'ancien Régime et au début de la Révolution, Presses Universitaires, Paris 1944, S. X X I I I , XLH ff. (Brecht) „Selbst ein Wollhändler muß, außer billig einkaufen und teuer verkaufen, auch noch darum besorgt sein, daß der Handel mit Wolle ungehindert vor sich gehen kann." B. Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 3, Frankfurt/ Main 1 9 6 4 (Suhrkamp Verlag), S. 1 3 3 9 . C. E. Labrousse, Esquisse du mouvement des prix et des revenus en France au X V I I I . e siècle, Libraire Dalloz, Paris 1 9 3 2 , S. 5 9 8 f. Hartig u. a., a.a.O., S. 5 0 . ib., S. 6 8 . „Zinsbauern, kleine Pächter, Halbpächter und Landarbeiter bildeten die Masse der Landbevölkerung, die von ihrem Grundbesitz nicht leben konnten,
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hinzupachten oder noch häufiger eine Nebentätigkeit ausüben mußte, bedrückt von feudalen Vorrechten und teilweise schon von den kapitalistischen Pächtern. Ihr Landhunger und Streben nach Befreiung ihres Landes von den feudalen Schranken trieb sie an die Seite der Bourgeoisie, um mit der Zerstörung des feudalen Grundeigentums das unbeschränkte bürgerliche Eigentum herzustellen. Eigentum bedeutete aber für die Masse der Bauern nicht kapitalistisches Eigentum, sondern Kleineigentum, das ihnen ihr Auskommen sicherte. Antifeudal und antikapitalistisch, machten die französischen Bauern ihre eigene Revolution, die in einem Kompromiß mit der Bourgeoisie endete dergestalt, daß die Kapitalisierung der Landwirtschaft auf lange Zeit aufgehalten und das Parzellenbauerntum für das gesamte 19. Jahrhundert in Frankreich kennzeichnend wurde. Auf die Hilfe der Bauern angewiesen, mußten die Kapitalisten auf die Enteignung der Bauern zunächst verzichten." Hartig u. a., a.a.O., S. 35 f. Vgl. E. Hobsbawn, Europäische Revolutionen, München 1 9 6 2 . A. Mathiez, La Révolution Française, Bd. I. Paris 1 9 3 7 , S. 13, zitiert nach: A. Schaff, Geschichte und Wahrheit, Wien 1 9 7 0 , S. 3 9 . „Es war nur natürlich, daß das Ancien régime um seine Positionen kämpfen würde. Nur unrealistische Träumer können meinen, Ludwig X V I . hätte sofort die Niederlage hinnehmen und sich in einen konstitutionellen Monarchen verwandeln können. Das hätte er auch dann nicht getan, wenn er weniger dumm und unbedeutend und nicht mit einer so hirnlosen und unverantwortlichen Frau verheiratet und zudem bereit gewesen wäre, auf weniger verhängnisvolle Ratgeber zu hören." E. Hobsbawn, a.a.O., S. 1 2 5 . Die einzige akzeptable — wenn auch sehr knappe — Schulbuchdarstellung der Ursachen der Französischen Revolution, insbesonders der Wirtschaftskrise, findet sich in Schöningh II, S. 19 ff. Allerdings fällt auch hier kein Wort über den zugrunde liegenden Widerspruch zwischen kapitalistischer Produktionsweise und Feudalordnung. Vgl. Hobsbawn, a.a.O., S. 1 1 8 . ib., S. 1 2 6 . Hartig u. a., a.a.O., S. 5 1 . Hobsbawn, a.a.O., S. 123 f. „Die Konterrevolution mobilisierte die hungrigen, mißtrauischen und kampfbereiten Massen von Paris. Es kam zum sensationellen Sturm auf die Bastille, einem staatlichen Gefängnis, das die königliche Autorität symbolisierte, wo die Aufständischen Waffen zu finden hofften. In revolutionären Zeiten ist nichts so folgenschwer wie der Fall von Symbolen. Die Einnahme der Bastille am 14. Juli, dem Tag, der mit Recht zum französischen Nationalfeiertag erhoben wurde, ratifizierte den Zusammenbruch des Absolutismus und wurde in der ganzen Welt als Tag der Freiheit begrüßt. Sogar der strenge Philosoph Immanuel Kant aus Königsberg, dessen Tag so sorgfältig eingeteilt war, daß, wie man sagt, die Bürger der Stadt ihre Uhren nach ihm stellten, verschob, als er diese Nachricht erhielt, seinen Nachmittagsspaziergang und überzeugte dadurch die Stadt Königsberg, daß sich tatsächlich ein welterschütterndes Ereignis begeben hatte. Von noch größerer Bedeutung aber war die Tatsache, daß der Fall der Bastille die Revolution in den Provinzen auf dem flachen Land auslöste." Hobsbawn, a.a.O., S. 1 2 5 . 3
67 G.Le Bon, Psychologie der Massen (übersetzt von R. Eisler), Leipzig 1 9 1 9 , S. 5. 68 A. Soboul, Robespierre und die Volksgesellschaft, in: Markow (Hg). Maximilien Robespierre 1 7 5 8 - 1 7 9 5 , Berlin 1 9 6 1 , S. 2 7 1 . 69 Vgl. Hobsbawn, a.a.O., S. 1 3 0 .
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70 Vgl. Deppe, a.a.O., S. 3 1 ; Soboul, S. 2 7 2 . 71 Vgl. G. F. Rüde, Die Arbeiter und die Revolutionsregierung, in: Markow, a.a.O., S. 2 9 2 ff. 72 Wir kommen auf die Totalitarismustheorie noch im einzelnen an anderer Stelle zurück, s. Zweites Kapitel (Systematisierung). 73 Th. W. Adorno, Eingriffe, Ffm. 1963 (es 1 0 ) , S. 163. 74 Robespierre, Habt Ihr eine Revolution gewollt? Reden, hg. v. K. Schnelle, (Reclam) o. J . , S. 1 4 6 / 2 4 7 . 75 Robespierre, zit. nach: Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln/Opladen 1 9 6 1 , S. 90 f. 76 Deppe, a.a.O., S. 3 1 . 77 Zit. nach Herrnstadt, R., Die Entdeckung der Klassen, Berlin 1 9 6 5 , S. 174. 78 Adorno, a.a.O., S. 1 3 0 . 79 Wir kommen im Zweiten und Dritten Kapitel ausführlich darauf zurück (Totalitarismustheorie). 80 Zitiert nach: Soboul, a.a.O., S. 2 7 3 . 81 Griewank, Die Französische Revolution, Graz/Köln 1 9 6 7 , S. 79. 82 Zit. nach Deppe, a.a.O., S. 3 6 . 83 Hobsbawn, a.a.O., S. 141 ff. 8 4 ib., S. 143. 85 Vgl. Rüde, a.a.O., S. 2 9 3 . 86 ib., S. 3 0 0 . 87 ib., S. 3 0 8 / 9 . 88 L. Kofier, Wissenschaft von der Gesellschaft, Köln 1 9 7 1 , S. 5 4 . 3
B. Reformation und Bauernkrieg in Deutschland 89 G. Lukäcs, Zerstörung der Vernunft, Neuwied/Berlin 1 9 6 2 , S. 37. 90 Kühnl, a.a.O., S. 64 ff. 91 ib., S. 6 4 . 92 Lukäcs, a.a.O., S. 3 9 . 93 Kofier, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, S. 2 7 3 . 9 4 ib., S. 2 7 6 . 95 ib., S. 1 7 2 . 96 Lukäcs, a.a.O. 97 M. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation, Von der Freiheit eines Christenmenschen, Sendbrief vom Dolmetschen, Reclam 1 5 7 8 / 7 8 a , zit. nach Klett V I I , S. 5. 98 O. Brunner, Land und Herrschaft, Wien 1 9 6 5 , S. 2 5 3 . 99 ib., S. 2 5 2 . 1 0 0 T. Nipperdey, „Die Reformation als Problem der marxistischen Geschichtswissenschaft", in: R. Wohlfeil (Hg.), Reformation oder frühbürgerliche Revolution? , München 1 9 7 2 , S. 2 0 8 . 101 ib., S. 2 1 0 . 102 Vgl. D. Loesche, „Zur Lage der Bauern im Gebiet der ehemaligen freien Reichsstadt Mühlhausen i. Th. zur Zeit des Bauernkrieges", in E. Werner u. H. Steinmetz (Hg.), Die frühbürgerliche Revolution in Deutschland, Berlin 1961. 103 O. Brunner, a.a.O., S. 3 4 4 . 104 E. Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, Frankfurt am Main 1969, S. 9 8 . 105 Vgl. F. Engels, Der deutsche Bauernkrieg, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 7 (Dietz Verlag), S. 3 3 2 - 3 4 1 u. T. Nipperdey, a.a.O.
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106 J. Macek, Das revolutionäre Programm des deutschen Bauernkrieges von 1 5 2 6 , in: Historica II Praha 1 9 6 0 , S. 1 1 1 - 1 4 4 . 107 Einen Literaturüberblick bringt H. Wahle, Der deutsche Bauernkrieg als politische Bewegung im Urteil der Geschichtsschreibung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Heft 5, 1 9 7 2 S. 2 5 7 - 2 7 7 . 108 Vgl. W. Berthold u. a. (Hg.) Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung, Köln 1 9 7 0 , S. 1 3 2 - 1 4 1 (Pahl-Rugenstein-Verlag). 109 G. Franz, Der deutsche Bauernkrieg, Berlin—München 1933, Bad Homburg 1 9 6 9 , 8. Auflage. 1 1 0 G. Franz, Der Deutsche Bauernkrieg, Darmstadt 1 9 5 6 , 4. Aufl., S. 2 9 5 . 111 Eine Zusammenstellung von Aufsätzen der DDR-Geschichtswissenschaft und von bundesrepublikanischen Kritiken erfolgt bei R. Wohlfeil (Hg.), Reformation oder frühbürgerliche Revolution?, München 1 9 7 2 . Die Kontroverse zwischen der tschechischen Historikerin O. Tschaikowskaja und der sowjetischen Geschichtswissenschaft zu diesem Thema ist abgedruckt in den Jahrgängen 1957 und 1 9 5 8 der Zeitschrift „Sowjetwissenschaft". C. Die Arbeiterbewegung 112 „Gleich im Beginn des Revolutionssturms wagte die französische Bourgeoisie das eben eroberte Assoziationsrecht den Arbeitern wieder zu entziehen. Durch Dekret vom 14. J u n i 1791 erklärte sie alle Arbeiterkoalition für ein .Attentat auf die Freiheit und die Erklärung der Menschenrechte', strafbar mit 5 0 0 Livres nebst einjähriger Entziehung der aktiven Bürgerrechte. Dies Gesetz, welches den Konkurrenzkampf zwischen Kapital und Arbeit staatspolizeilich innerhalb dem Kapital bequemer Schranken einzwängt, überlebte Revolutionen und Dynastiewechsel. Selbst die Schrekkensregierung ließ es unangetastet . . . Nichts charakteristischer als der Vorwand dieses bürgerlichen Staatsstreichs. ,Obgleich', sagt Le Chapelier, der Berichterstatter, ,es wünschenswert ist, daß der Arbeitslohn höher steige, als er jetzt steht, damit der, der ihn empfängt, außerhalb der durch die Entbehrungen der notwendigen Lebensmittel bedingten absoluten Abhängigkeit sei, welche fast die Abhängigkeit der Sklaverei ist', dürfen dennoch die Arbeiter sich nicht über ihre Interessen verständigen, gemeinsam handeln und dadurch ihre ,absolute Abhängigkeit, welche fast Sklaverei ist', mäßigen, weil sie eben dadurch ,die Freiheit ihrer ci-devant maîtres (ehemaligen Meister), der jetzigen Unternehmer' verletzen (die Freiheit, die Arbeiter in der Sklaverei zu erhalten!)" K. Marx, Das Kapital, Bd. I. MEW 2 3 , S. 769 f. Durch dieses Gesetz wurde die Gleichheit durch die ,Freiheit' erschlagen. Bezeichnenderweise fällt in den Schulbüchern darüber kein Wort. Die Autoren hätten sonst zugeben müssen, daß selbst die von ihnen der Radikalität bezichtigten Jakobiner in Wirklichkeit noch nicht einmal ganz demokratisch (gemessen am Grundgesetz der B R D ) waren. 113 Bloch, a.a.O., S. 199 (Herv. v. d. Verf.). 114 Zit. nach Deppe, a.a.O., S. 4 2 ; vgl. W. Hofmann, Ideengeschichte des 19. und 2 0 . Jahrhunderts, Berlin 1 9 6 8 (Sammlung Göschen), S. 4 1 . 115 Zur ausführlichen Information seien folgende Gesamtdarstellungen der Arbeiterbewegung empfohlen. Die einzelnen Autoren schreiben von verschiedenen politischen Positionen aus und setzen auch inhaltlich unterschiedliche Schwerpunkte, wie den Titeln zu entnehmen ist. Wolfgang Abendroth, Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung, Erweiterte Ausgabe, Frankfurt/Main 1 9 7 2 , (Edition Suhrkamp 1 0 6 ) . Ders., Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie, Frankfurt/M. 1964.
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Werner Hofmann, Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 2 0 . Jahrhunderts . . . a.a.O. Joachim Streisand, Deutsche Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Eine marxistische Einführung, Köln 1 9 7 2 (Pahl-Rugenstein-Verlag). Walter Schmidt, Kritik der Geschichtsfälschungen in den Hauptthemen und Leitlinien des vorherrschenden Geschichtsbildes in der westdeutschen bürgerlichen Historiographie zur Geschichte der Arbeiterbewegung. In: Werner Berthold u. a. (Hg.), Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung, a.a.O., S. 3 1 1 - 4 5 6 . 116 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Frankfurt/M. (Europäische Verlagsanstalt) o. J . , S. 7 4 2 , 117 ib., S. 4 1 1 - 1 2 . 118 Von dem Geld der reichen Feudalherren kann in diesem Zusammenhang abgesehen werden, da es sich dabei um eine andere Bestimmung von Geld handelt: Der Grundherr benutzt das Geld dazu, seine Luxusbedürfnisse zu befriedigen. Es resultiert aus der ihm ständig zufließenden Mehrarbeit der abhängigen Bauern und braucht deshalb nicht als Geld vermehrt zu werden. Es ist kein Erwerbsvermögen, kein Kapital. 119 K. Marx, Das Kapital, Bd. III, MEW 2 5 , S. 3 4 5 . 120 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 2 3 , S. 789 f. 121 a.a.O., S. 7 4 3 . 122 E. Mandel, Marxistische Wirtschaftstheorie, Frankfurt/M 1968 (Suhrkamp Verlag), S. 97 f. 123 Brecht, Ist das epische Theater eine ,moralische Anstalt'? In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 15, Frankfurt/M. 1968 (Suhrkamp Verlag), S. 2 7 0 - 2 7 2 , hier S. 2 7 1 . 124 Vgl. dazu K. Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 2 3 . Besonders S. 2 2 6 - 2 3 4 ; S. 245-258. Werner Hof mann schreibt dazu: „Mit der Mehrwerttheorie hat sich Marx ausdrücklich gegenüber den älteren moralisierenden Lehren der frühen Sozialkritiker abgegrenzt; Bei diesen erscheint der Kapitalprofit als vorenthaltener Lohn, als ein ,Raub' an den Arbeitenden, die ein Recht auf den vollen, ungekürzten Arbeitsertrag haben. Nach Marx hingegen erhalten die Arbeitenden in Gestalt des Lohnes genau das, worauf sie nach den allgemeinen Gesetzen des Marktes Anspruch haben: Nämlich die volle Vergütung des ,Tauschwerts' ihrer besonderen Ware, der Arbeitskraft . . . Der eigentliche Gegenstand der Kritik ist infolgedessen nicht die Höhe des Arbeitslohnes, sondern die gesellschaftliche Grundsituation der Lohnarbeit. Nicht daß die Arbeitskraft auf ihrem Markte niedrig gehalten werde, sondern daß sie einen Markt habe, wird nun zum Ärgernis. Ausdrücklich hat Marx das Ideal des ,unverkürzten Arbeitsertrags' als ökonomische Illusion und als Ausgeburt eines kleinbürgerlichen Pochens auf Verteilungsgerechtigkeit abgefertigt. Dies hat freilich unsere neuen Marxkenner nicht daran gehindert, die Theorie des Mehrwerts immer wieder über den Leisten der von diesem abgewiesenen Verteilungsmoral zu schlagen . . . Ein elementarer Teil der Marxschen Theorie unterliegt so einer wiederkehrenden typischen Fehldeutung." (Werner Hofmann, Stalinismus und Antikommunismus. Zur Soziologie des Ost-West-Konfliktes, Frankfurt/M. 1957 [edition suhrkamp 2 2 2 . ] , S. 1 3 6 . ) Auch die englische bürgerliche Wirtschaftswissenschaftlerin J o a n Robinson schreibt: „Marxens Analyse war nicht von der Art der naiven Idealisten, die die Ausbeutung als Diebstahl betrachteten. Im Gegenteil, in einer Art von
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logischem Sarkasmus verteidigt er den Kapitalismus. Es gibt keinen Schwindel — alles tauscht sich zu seinem Wert, wie es recht und billig ist. Nicht der Wert, den er produziert, sondern der Wert, den er kostet, entspricht dem Lohn des Arbeiters." (Joan Robinson, Doktrinen der Wirtschaftswissenschaft. Eine Auseinandersetzung mit ihren Grundgedanken und Ideologien, München 1965 [Verlag Ch. B e c k ] , S. 4 8 . ) 125 Ein ähnlich schlagendes Beispiel an Inkonsequenz liefern die Verfasser von Schroedel/Schöningh V I I . Sie schreiben zur Situation der Arbeiter im 19. Jahrhundert: „Der Arbeiter war als Lohnsklave vom Besitzer der Produktionsmittel abhängig, und das war die Ursache seines Elends und der Knechtschaft, die sich in langer Arbeit, niedrigen Löhnen, schlechten Wohnverhältnissen, Arbeitslosigkeit, Lohnausfall, bei Krankheit, Invalidität, Alter etc. äußerte . . . " (S. 1 7 8 ) Die Abhängigkeit vom Produktionsmittelbesitzer wird hier vollkommen richtig als „Ursache" von Elend und Knechtschaft bezeichnet. Die Frage aber, ob nicht auch heute in der B R D „der Arbeiter . . . vom Besitzer der Produktionsmittel abhängig . . . " ist, taucht in der weiteren Darstellung des Geschichtsbuchs gar nicht erst auf. Sie müßte nämlich bejaht werden, was weitreichende Folgen für die Beurteilung unserer Gesellschaft hätte. 126 Nach Werner Petschick, J o s e f Schleifstein, Helmut Schlüter, Der gewerkschaftliche Kampf der westdeutschen Arbeiterklasse. In: Das Argument Nr. 6 2 , Westberlin 1 9 7 0 , S. 8 2 2 - 8 4 4 , hier S. 8 3 7 . 127 Kurt Lungwitz, Die Verteilung und Umverteilung des westdeutschen Nationaleinkommens, 1 9 5 0 - 1 9 6 8 . In: DWI-Berichte, Heft 9 - 1 9 7 0 , Berlin (DDR), S. 2 9 - 3 7 , hier: S. 3 4 . 128 Werner Hofmann, Grundelemente . . . , a.a.O., S. 56—58. Hervorhebung von uns. 129 Dasselbe Schulbuch hob als Hauptursache der Französischen Revolution die Unfähigkeit des Königs hervor! 130 Zu Begriff und Problem des Klassenbewußtseins vergleiche Frank Deppe: Das Bewußtsein der Arbeiter. Studien zur politischen Soziologie des Arbeiterbewußtseins, Köln 1971 (Pahl-Rugenstein Verlag), besonders S. 192-199. 131 Karl Marx, „Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstandes gegen die Gewalttaten des Kapitals . . . Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, d. h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems." Aus: Karl Marx, Lohn, Preis und Profit. MEW 16, S. 1 0 3 - 1 5 2 . Hervorhebungen von uns. 132 Vergleiche grundsätzlich zum Problem des Verhältnisses von Reform und Revolution aus marxistischer Sicht: Dieter Kramer, Reform und Revolution bei Marx und Engels, Köln 1 9 7 0 (Pahl-Rugenstein Verlag). 133 Vgl. dazu ausführlich: Georg Fülberth, Zur Genese des Revisionismus in der deutschen Sozialdemokratie vor 1 9 1 4 . In: Das Argument, Nr. 6 3 . Westberlin 1 9 7 1 , S. 1 - 2 1 . Vgl. ferner: Streisand, a.a.O., S. 2 6 0 - 2 6 5 ; Abendroth, Sozialgeschichte . . . , a.a.O., S. 70—74. 134 Vgl. dazu vor allem die Schriften der faschistischen Staatstheoretiker Carl Schmitt, Ernst Forsthoff, Reinhard Höhn usw. Daß Forsthoff und Höhn auch in der B R D an maßgeblicher Stelle im Interesse der Unternehmer wirken, ist kein Zufall.
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135 Urs Jaeggi, Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik. Frankfurt/M. 1969 (Fischer-Bücherei 1 0 1 4 ) , S. 162. 136 Vgl. Erziehung und Wissenschaft, Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung (Frankfurt) vom 1. 2. 1 9 7 3 , S. 17. 137 Vgl. dazu Margarete Tjaden-Steinhauer und Karl-Hermann Tjaden, Zur Analyse der Sozialstruktur des deutschen Kapitalismus. In: Das Argument Nr. 6 1 , Westberlin 1 9 7 0 , S. 6 4 5 - 6 6 4 , hier besonders S. 6 6 2 - 6 6 4 . 138 Vgl. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1 9 7 2 . Hg. vom Statistischen Bundesamt. Wiesbaden 1972, S. 1 3 8 . 139 Nach J ö r g Huffschmid, Die Politik des Kapitals. Konzentration und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik. Frankfurt/M. 1 9 6 9 (edition suhrkamp 3 1 3 ) , S. 3 3 . 140 Zu den Notstandsgesetzen, insbesondere zum „Arbeitssicherstellungsgesetz", vgl.: Notstandsgesetze. Mit Stichwortverzeichnis und Kurzerläuterungen von Dr. Peter Römer. Neuwied und Berlin 1 9 6 8 . (Luchterhand Texte 5 ) . Dort auch weitere Literatur zur gesellschaftspolitischen Problematik der Gesetze. 141 Als einziges der untersuchten Geschichtsbücher durchbricht Diesterweg VI teilweise die apologetische Darstellung der B R D . In einem Abschnitt, überschrieben: „Die Bundesrepublik zwischen Restauration und Reform" (S. 2 4 2 ff), finden sich unter anderem statistische Daten über Einkommensund Vermögensentwicklung. Hier werden immerhin Aussagen gemacht wie: „Die soziale Marktwirtschaft hatte zwar den wirtschaftlichen Aufschwung ermöglicht . . . jedoch den Anspruch auf soziale Gerechtigkeit nach Ansicht vieler nur unvollkommen erfüllt" (S. 2 4 6 / 4 7 ) . 142 Industriekurier (Düsseldorf) vom 7. 10. 1 9 6 5 . 143 Heinz Schäfer, Lohn, Preis und Profit heute. Überarbeitete Ausgabe Frankfurt/M. 1971 (Verlag Marxistische Blätter), S. 5 2 . 144 Vgl. dazu die Ausführungen im Totalitarismusabschnitt dieses Buches. Grundsätzlich ist zu sagen, daß in den Schulbüchern der in den westlichen Ländern übliche verengte Konsumbegriff benutzt wird: Konsum wird nur verstanden als Verbrauch von Produkten, die durch das individuelle (direkte) Einkommen erworben wurden. Dagegen umfaßt der Konsumbegriff in den sozialistischen Ländern auch den sogenannten gesellschaftlichen Konsum bzw. das indirekte Einkommen, d. h. die gesellschaftlichen Leistungen auf Gebieten wie Gesundheits- und Sozialwesen, Kultur, Bildung, Wohnungswirtschaft, Urlaubs- und Feriengestaltung (so z. B. Karl-Heinz Arnold, Lebensstandard — gestern — heute — morgen. In: Die D D R — Entwicklung, Aufbau und Zukunft. Frankfurt/M. 1 9 6 9 [Verlag Marxistische Blätter], S. 1 0 7 - 1 2 4 ) . Daß bei einem Systemvergleich an Hand dieses weiteren Konsumbegriffs die sozialistischen Länder erheblich günstiger abschneiden als bei Vergleichen an Hand des engen, ist in den letzten Jahren verstärkt auch in das Bewußtsein der westdeutschen Bevölkerung gedrungen. 145 Vgl. dazu Peter Römer, Die Grundrechte in der B R D und der D D R . In: B R D - D D R , Vergleich der Gesellschaftssysteme (Redaktion Gerhard Heß). Köln 1971 (Pahl-Rugenstein Verlag), S. 2 7 2 - 2 9 6 . 146 Karl Marx schrieb in bezug auf die Pariser Kommune: „Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit." (Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich. MEW 17, S. 3 1 3 - 3 7 5 , hier S. 3 3 9 ) Dieses Ziel ist z. B. in der Verfassung der D D R explizit formuliert (vgl. Art. 4 8 ) . Die Justiz ver-
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liert nach Marx ebenfalls ihre „scheinbare Unabhängigkeit": „Wie alle übrigen öffentlichen Diener, sollten sie (die richterlichen Beamten, d. Verf.) fernerhin gewählt, verantwortlich und absetzbar sein" (a.a.O., S. 3 3 9 ) . Auch diese Forderung ist in der D D R Bestandteil der Verfassung (vgl. Art. 95). 147 Vgl. zur Fürstenenteignung z. B. Wolfgang Rüge, Weimar - Republik auf Zeit, Berlin (DDR) 1969 (Deutscher Verlag der Wissenschaften), S. 192-201. 148 Hilmar Toppe, Der Kommunismus in Deutschland, München 1961 (Verlag Günter Olzog), S. 5 6 . 149 Vgl. dazu Gerhard Roßmann, Zum antifaschistischen Widerstandskampf. In: Werner Berthold u. a. (Hg.), Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung, a.a.O., S. 4 2 1 — 4 3 5 . Zum Widerstand der Arbeiterbewegung vgl. Wolfgang Abendroth: Der deutsche politische Widerstand gegen das „Dritte Reich". In: ders.: Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie. Neuwied und Berlin 1965 (Luchterhand Verlag), S. 5 1 8 - 5 3 6 . 150 Zur Darstellung der Arbeiterbewegung nach 1945 vgl. den Abschnitt über den Kalten Krieg in diesem Buch sowie Abendroth, Sozialgeschichte . . . , a.a.O., S. 156—248. Detailliertere Darstellungen finden sich bei Eberhard Schmidt: Die verhinderte Neuordnung 1945—1952. Zur Auseinandersetzung zur Demokratisierung der Wirtschaft in den westlichen Besatzungszonen und in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt/M. 1 9 7 0 (Europäische Verlagsanstalt). Hans-Karl Rupp, Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer. Der Kampf um die Atombewaffnung in den 50er Jahren. Eine Studie zur innenpolitischen Entwicklung der B R D , Köln 1 9 7 0 (Pahl-Rugenstein Verlag). 151 Vgl. dazu Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. MEW 19, S. 1 7 7 - 2 2 8 . 152 Quelle: Bruno Gleitze, Sozialkapital und Sozialfonds als Mittel der Vermögenspolitik, Köln 1 9 6 8 , S. 6, hier nach Huffschmid a.a.O., S. 2 9 . 153 Huffschmid a.a.O., S. 2 9 . 154 Vgl. das Statistische Jahrbuch für die B R D , 1 9 6 6 , S. 4 4 ; hier zitiert nach: Schäfer, a.a.O., S. 4 5 . 155 Ebenda. 156 IPW-Forschungsberichte, 1/1972, S. 1 3 ; vgl. auch Huffschmid, a.a.O., S. 33 ff. 157 Vgl. J. Hirsch/S. Leibfried, Materialien zur Wissenschaftspolitik, Frankfurt/M. 1971 (edition suhrkamp 4 8 0 ) , 1. Kap. 158 Vgl. Schäfer, a.a.O., S. 3 0 . 159 Vgl. dazu: Gerhard Bessau, Eberhard Dähne, Karl-Heinz Heinemann, Heinz Jung, Inflation heute. Hintergründe der Preissteigerungen und der Geldentwertung in der B R D . Gewinner und Verlierer, Frankfurt/M. 1 9 7 2 (Verlag Marxistische Blätter), S. 2 9 . 1 6 0 Vgl. ebenda S. 3 1 ; sowie Tjaden-Steinhauer, Tjaden, a.a.O., S. 6 5 8 . 161 Vgl. Bessau u. a., a.a.O., S. 8 8 . 162 Vgl. dazu Ernest Mandel, Die deutsche Wirtschaftskrise. Lehren der Rezession 1 9 6 6 - 6 7 , Frankfurt/M., 1 9 7 2 (Europäische Verlagsanstalt). 163 Huffschmid, a.a.O., S. 7. 164 Schäfer, a.a.O., S. 4 8 . 165 Ebenda, S. 1 0 6 . 1 6 6 Bessau u. a., a.a.O., S. 2 7 . 167 Zum Begriff der „relativen Verelendung" vgl. Werner Hofmann, Verelen8
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dung, in: Folgen einer Theorie. Essays über „Das Kapital" von Karl Marx. S. 2 7 - 6 0 . Zit. nach Abendroth, Aufstieg und Krise . . . , a.a.O., S. 1 3 3 / 1 3 4 . Vgl. Schäfer, a.a.O., S. 53 ff. Petschick, Schleifstein, Schlüter, a.a.O., S. 8 3 5 . Zum Problem der Mitbestimmung vgl. vor allem Frank Deppe u. a., Kritik der Mitbestimmung. Partnerschaft oder Klassenkampf? Frankfurt/M. 1969 (edition suhrkamp 3 5 8 ) . Mitbestimmung als Kampfaufgabe. Grundlagen — Möglichkeiten — Zielrichtungen. Eine theoretische, ideologiekritische und empirische Untersuchung zur Mitbestimmungsfrage in der Bundesrepublik. Köln 1972 (Pahl-Rugenstein Verlag).
D. Russische Oktoberrevolution und Novemberrevolution in Deutschland 172 O. Anweiler, Lenins Machteroberung 1917. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht VIII ( 1 9 5 7 ) , S. 6 6 8 . 173 Zum 100. Geburtstag Wladimir Iljitsch Lenins. Thesen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Sonderdruck aus: Marxistische Blätter, Frankfurt/M. 8. J g . , 1 / 1 9 7 1 , S. 9. 174 Ebenda. 175 O. Anweiler, Die russische Revolution 1 9 0 5 - 1 9 2 1 (Ernst-Klett-Verlag), Stuttgart 1 9 6 6 , S. 1. 176 Autorenkollektiv, Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Verlag Marxistische Blätter), Frankfurt/M. 1 9 7 1 , S. 2 2 4 ff. vgl.: Autorenkollektiv, Illustrierte Geschichte der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution (Dietz-Verlag), Berlin (DDR) 1972, S. 10 ff. Vgl. auch: W. H. Chamberlin, Die russische Revolution 1917—1921, Frankfurt/M. 1958 (2. Bd.), Bd. 1, S. 61 f sowie A. Moorehead, Roter Oktober, München 1 9 6 8 , S. 12 ff. 177 Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, a.a.O., S. 2 3 3 ; Illustrierte Geschichte . . . , a.a.O., S. 30 f. Der Zusammenhang zwischen der Kriegspolitik der Provisorischen Regierung und den Interessen des französischen und englischen Kapitals wird in den nichtmarxistischen Darstellungen nicht gesehen. Implizit wird er jedoch zugeben, wenn z. B. G. v. Rauch zum bolschewistischen Dekret über die Annullierung der Staatsschulden schreibt: „Damit wurden die Millionen Anleihen mit einem Federstrich ausgelöscht, die, besonders von französischer Seite, schon seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts die damalige Aufrüstung und Kriegsvorbereitung Rußlands ermöglicht hatten." (G. v. Rauch, Geschichte des bolschewistischen Rußland, Wiesbaden 1 9 5 5 , S. 105) 178 Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, a.a.O., S. 2 1 9 ; vgl. W. I. Lenin, Uber die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution, in: Werke, Bd. 2 4 , S. 3 ff. 179 W. I. Lenin, Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll, in: Werke, Bd. 2 5 , S. 3 6 7 . 180 Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, a.a.O., S. 2 9 5 ; Illustrierte Geschichte . . . , a.a.O., S. 136 f, S. 2 6 6 ff, S. 3 0 0 ff; W. I. Lenin, Thesen über die Konstituierende Versammlung, in: Werke, Bd. 26, S. 377 ff. Ebenso wie die Schulbuchautoren bestreiten die nichtmarxistischen Historiker, daß die Bolschewiki zusammen mit den linken Sozialrevolutionären im Januar 1918 die Mehrheit des Volkes vertraten. Dabei ist ihre Argumentation äußerst widersprüchlich und unbewiesen. L. Schapiro z. B. gesteht 3
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zu, daß auf dem II. Sowjetkongreß (also der Arbeiter- und Soldatenvertretung von Oktober 1 9 1 7 ) „eine kleine bolschewistische Mehrheit" bestand (L. Schapiro, Die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Fischer Verlag, Berlin 1 9 6 1 , S. 1 7 8 ) . O. Anweiler stellt fest, daß in den städtischen Stimmbezirken und in der Armee auch bei den Wahlen zur Konstituante mehrheitlich bolschewistische Abgeordnete gewählt wurden, gibt also implizit zu, daß die Zusammensetzung des II. Sowjetkongresses durchaus repräsentativ war (O. Anweiler, Die Rätebewegung in Rußland, 1 9 0 5 bis 1 9 2 1 , Leiden 1 9 5 8 , S. 2 6 0 ff). Anweiler referiert außerdem ausführlich die Leninsche Argumentation, derzufolge die Kandidatenlisten der Partei der Sozialrevolutionäre nicht mehr repräsentativ seien und verwirft sie anschließend als unbeweisbar — ohne selbst das Gegenteil zu beweisen. Mit der Zusammensetzung des II. Kongresses der Sowjets der Bauerndeputierten vom 2 6 . Nov. bis 10. Dez. 1917 (ca. 3 5 0 rechte Sozialrevolutionäre, 3 5 0 linke Sozialrevolutionäre, 90 Bolschewiki), die den Wandel des politischen Bewußtseins der Bauern dokumentiert, setzt er sich in diesem Zusammenhang nicht auseinander. Wie Phönix aus der Asche erscheint bei Schapiro der III. Sowjetkongreß (Vereinigter Kongreß der Arbeiter, Soldaten und Bauerndeputierten) vom J a n . 1 9 1 8 plötzlich „manipuliert" (Schapiro, a.a.O., S. 1 9 8 ) . Allerdings hinterläßt diese Argumentationskette, die den demokratischen Charakter der Rätemacht leugnen will, zumindest für O. Anweiler eine Frage, die er nicht beantworten kann: Wenn die Bolschewiki die Konstituante
gegen den Willen der Mehrheit des Volkes aufgelöst haben, warum hat sich dieses (in jener Zeit doch sonst politisch äußerst aktive) Volk nicht mit Demonstrationen und Streiks gegen die Bolschewiki gewandt? Anweiler muß feststellen: „Im Volke fehlte es fast vollständig an Protesten gegen die bolschewistische Gewaltmaßnahme." (O. Anweiler, a.a.O., S. 2 7 3 ) — Eine berechtigte Frage, die allerdings nur beantworten kann, wer die Räte als eine Form der Demokratie akzeptiert und sie nicht als Instrumente einer Minderheitendiktatur diffamiert. 181 Illustrierte Geschichte . . . , a.a.O., S. 3 0 6 . 182 Albrecht v. Thaer, Generalstabsdienst an der Front und in der OHL, hg. von Siegfried A. Kaehler, Göttingen 1 9 5 8 , S. 2 3 4 f, zit. nach Gerhard A. Ritter und Susanne Miller (Hg.), Die deutsche Revolution 1918—19 — Dokumente. (Fischer Verlag) Frankfurt 1 9 6 8 , S. 2 4 . (Alle weiteren Dokumente zur Novemberrevolution sind ebenfalls nach diesem Dokumentenband zitiert.) 183 Auszug aus den Erinnerungen des Oberst Hans von Haeften, veröffentlicht in: Matthias Morsay, Die Regierung des Prinzen Max von Baden, S. 5 5 9 ff, Ritter, a.a.O., S. 5 1 . 184 Ebenda. 185 Max von Baden, Erinnerungen und Dokumente, Berlin und Leipzig 1 9 2 8 , S. 6 3 0 - 6 4 3 ; Ritter, a.a.O., S . 6 6 - 7 1 . 186 Ritter, a.a.O., S. 3 7 . 187 Allgemeiner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands vom 16. bis 2 1 . Dezember 1 9 1 8 im Abgeordnetenhaus zu Berlin. Stenographische Berichte. Herausgeber und Verleger: Zentralrat der Sozialistischen Republik Deutschlands, Berlin, Herrenhaus, o. J. ( 1 9 1 9 ) , S. 1 8 1 ; Ritter, a.a.O., S. 143. 188 Hans Herzfeld, Die deutsche Sozialdemokratie und die Auflösung der nationalen Einheitsfront im Weltkriege, Leipzig 1 9 2 8 , S. 3 8 5 ff; Ritter, S. 124. 189 Ebenda, S. 1 2 5 .
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1 9 0 Richard Müller, Vom Kaiserreich zur Republik, 2. Bd.: Die Novemberrevolution, Wien 1 9 2 4 , S. 1 6 8 - 1 7 5 ; Ritter, a.a.O., S. 118 f. 191 Richard Müller, Der Bürgerkrieg in Deutschland. Geburtswehen der Republik, Berlin 1 9 2 5 , S. 3 0 - 3 6 ; Ritter, a.a.O., S. 1 6 3 . 192 Karl Liebknecht, Trotz alledem! Leitartikel in „Die Rote Fahne", Nr. 15 vom 15. 1. 1 9 1 9 ; Ritter, a.a.O., S. 180. E. Das Ende der Weimarer Republik 193 Margherita von Brentano hat am Beispiel des Wissenschaftspluralismus gezeigt, daß eine Argumentation wie die des hier zitierten Schulbuchs dem eigenen Anspruch der Verfasser (demokratisch bzw. pluralistisch zu sein) widerspricht. Vgl. Margherita von Brentano, Wissenschaftspluralismus. Zur Funktion, Genese und Kritik eines Kampfbegriffes, in: Das Argument Nr. 6 6 , West-Berlin 1 9 7 1 , S . 4 7 6 - 4 9 3 . 1 9 4 Es wäre interessant und im Sinne einer ideologiekritischen Analyse ergiebig zu untersuchen, wie die Weltwirtschaftskrise in den Schulbüchern dargestellt und erklärt wird. Schon eine oberflächliche Betrachtung zeigt, daß in den meisten Büchern eine wirkliche Erklärung der Weltwirtschaftskrise fehlt, so daß sie den Schülern als eine Art Naturereignis erscheinen muß (Beispiel: , , . . . als . . . plötzlich eine schwere Krise hereinbrach." Klett V I , S. 4 8 , Hervorhebung von uns). In keinem der Schulbücher wird ein systematischer Zusammenhang von Weltwirtschaftskrise und kapitalistischem System entwickelt, obwohl die Krise in allen kapitalistischen Ländern auftrat (vgl. dazu Eugen Varga, Die Krise des Kapitalismus und ihre politischen Folgen, hg. und eingeleitet von Elmar Altvater, Frankfurt/M. 1 9 6 9 , Europäische Verlagsanstalt). Aus Platzgründen kann auf diese Fragen hier nicht näher eingegangen werden. 195 Heinrich Brüning, Memoiren 1 9 1 8 - 1 9 3 4 , Stuttgart 1970 (Deutsche Verlagsanstalt). Vgl. dazu auch die folgende Schrift von Emil Carlebach, der Brünings Memoiren einer historisch-politischen Interpretation unterzieht: Von Brüning zu Hitler. Das Geheimnis faschistischer Machtergreifung, Frankfurt/M. 1971 (Röderberg-Verlag). 196 Vgl. Brüning, a.a.O., besonders S. 1 9 2 - 1 9 8 ; Carlebach, a.a.O., S. 9 - 1 4 . 197 Vgl. Brüning, a.a.O., z. B. S. 1 9 3 , 1 9 5 . 198 Carlebach, a.a.O., S. 1 3 . 199 Vgl. dazu: KPD-Verbot, Ursachen und Folgen, 1 9 5 6 - 7 1 , hg. von Max Reimann u . a . Frankfurt/M. 1971 (Verlag Marxistische Blätter). Vgl. dazu Wolfgang Abendroth, Das KPD-Verbotsurteil des Bundesverfassungsgerichts. Ein Beitrag zum Problem der richterlichen Interpretation von Rechtsgrundsätzen der Verfassung im demokratischen Staat, in: ders.: Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie. Aufsätze zur politischen Soziologie, Neuwied/Berlin 1967 (Luchterhand), S. 1 3 9 - 1 7 4 . 2 0 0 Rainer Lohse, Reinhaltung des Staatsapparats. Kommunistenverfolgung unter veränderten Bedingungen, in: Sozialistische Politik 17, West-Berlin 1 9 7 2 , S. 55—65. Gerhard Stuby, Stehen wir vor einem neuen Sozialistengesetz? In: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/1972, Köln, S. 59—76. Ders.: Der Widerstand gegen die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz vom 2 8 . Januar 1972 und ihre Auswirkungen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1 / 1 9 7 3 , S. 2 5 - 3 9 . 201 Vgl. dazu Kühnl, a.a.O., bes. S. 9 9 - 1 1 7 . Eberhard Czichon, Wer verhalf Hitler zur Macht? Zum Anteil der deutschen Industrie an der Zerstörung der Weimarer Republik, Köln 1967 (Pahl-Rugenstein Verlag). Kurt Goss-
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weiler/Reinhard Kühnl/Reinhard Opitz, Faschismus: Entstehung und Verhinderung. Materialien zur Faschismusdiskussion, Frankfurt/M. 1972 (Röderberg Verlag). Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, West-Berlin 1959 ff, Nr. 4 1 : Staat und Gesellschaft im Faschismus, Nr. 4 7 : Faschismus und Kapitalismus, Nr. 5 8 : Faschismustheorie. 2 0 2 Kühnl, a.a.O., S. 105 f. 2 0 3 Zit. nach Carlebach, a.a.O., S. 5 3 . 2 0 4 Kurt Gossweiler, Über Wesen und Funktion des Faschismus, in: Gossweiler u. a., a.a.O., S. 12. 2 0 5 Kühnl, a.a.O., S. 1 2 5 . Für detailliertere Belege für die These, daß der Faschismus die Ausbeutungsbedingungen für das Kapital verbessert, vgl. Kühnl, a.a.O., S. 122 ff, sowie die faktenreiche Darstellung von Jürgen Kuszynski, Die Geschichte zur Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 6: Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1 9 3 3 — 1 9 4 5 , Berlin ( D D R ) 1 9 6 4 (Akademie-Verlag). 2 0 6 Kühnl, a.a.O., S. 1 1 4 . 207 Vgl. dazu aus verschiedener Sicht: Kühnl, a.a.O., S. 116 f. Abendroth, Sozialgeschichte . . . a.a.O., S. 111 — 1 1 8 . Wolfgang Rüge, Weimar — Republik auf Zeit, Berlin ( D D R ) 1 9 6 0 (Deutscher Verlag der Wissenschaften), besonders S. 2 6 3 ff. 2 0 8 Hermann Remmele, Schritthalten! Warum muß der Kampf gegen zwei Fronten gerichtet werden? In: Klaus Neukrantz, Barrikaden am Wedding. Der Roman einer Straße aus den Berliner Maitagen 1 9 2 9 , West-Berlin 1971 (Oberbaum Verlag). 209 Aufruf der KPD vom 3 0 . Januar 1933 zum Generalstreik. Nach: Der deutsche Kommunismus, Dokumente, hrsg. und kommentiert von Hermann Weber, 2. Aufl., Köln und Berlin 1 9 6 4 (Kiepenheuer & Witsch), S. 3 3 9 - 3 4 0 . 2 1 0 Zur Darstellung der Ereignisse um den Kapp-Putsch, vgl. Rüge, a.a.O., S. 52—75; ausführlicher: Erhard Lucas, Märzrevolution im Ruhrgebiet. Vom Generalstreik gegen den Militärputsch zum bewaffneten Arbeiteraufstand, März/April 1 9 2 0 , 1. Bd., Frankfurt/M. 1 9 7 0 , 2. Bd. noch nicht erschienen. (März-Verlag) 211 Autorenkollektiv, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 5 (Dietz Verlag), Berlin 1 9 6 6 , S. 18. 2 1 2 Brüning, a.a.O., S. 3 3 . 2 1 3 Zum Verhalten der SPD in der Reichstagssitzung am 17. 5. 1933 vergl. die Memoiren des SPD-Abgeordneten W. Hoegnt., Der schwierige Außenseiter. Erinnerungen eines Abgeordneten, Emigranten und Ministerpräsidenten, München 1 9 5 9 , S. 1 0 7 - 1 1 0 . 2 1 4 Zur Rolle des Neofaschismus sowie allgemein zu den reaktionären Kräften in der B R D vergl.: H. Jung u. E. Spoo (Hg.), Das Rechtskartell. Reaktion in der Bundesrepublik (Reihe Hanser). München 1 9 7 1 ; Reinhard Kühnl, Rainer Rilling, Christine Sager, Die NPD. Struktur, Ideologie und Funktion einer neofaschistischen Partei, Frankfurt/M. 1969 (edition suhrkamp); Reinhard Kühnl, Die von Franz J o s e f Strauß repräsentierten politischen Kräfte und ihr Verhältnis zum Faschismus. Ein Gutachten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 5 / 1 9 7 2 , S. 5 3 1 - 5 5 3 . 215 R. Opitz, Wie bekämpft man den Faschismus? In: Gossweiler u. a., a.a.O., S. 4 6 ff.
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F. Der Kalte Krieg 2 1 6 Zu den Ursachen siehe Kapitel III (Zum Ideologiebegriff). 217 D. Horowitz, Kalter Krieg. Hintergründe der US-Außenpolitik von Jalta bis Vietnam, Bd. I—II, Bd. I, S. 21 f. 2 1 8 Vgl. Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 5 2 - 5 3 . 219 Kennan zitiert nach Horowitz, Strategien der Konterrevolution. Westliche Eindämmungspolitik 1917 bis Vietnam, Darmstadt 1 9 6 9 , S. 14 f. 2 2 0 Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 6 6 . 221 Autorenkollektiv, B R D - DDR, a.a.O., S. 15. 222 Vgl. ebenda. 2 2 3 J. Sajewa, Die USA im Geschäft mit der Angst, Frankfurt/M. 1 9 7 1 , S. 15. 2 2 4 Vgl. ebenda S. 14. 225 E. Mandel, Die EWG und die Konkurrenz Europa-Amerika, Frankfurt/M. 1970 226 Vgl. Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 2 0 - 2 1 . 227 Autorenkollektiv, Weltgeschichte in 10 Bänden, Bd. 8, Berlin (DDR) 1 9 6 6 , S. 2 5 5 , siehe auch William, Die Amerikanische Intervention in Rußland 1 9 1 7 - 1 9 2 0 . In: Horowitz, Konterrevolution, S. 3 2 - 9 2 . 2 2 8 Churchill, zit. nach Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 3 6 . 229 Truman, zit. nach Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 45—48. 2 3 0 Autorenkollektiv BRD-DDR, a.a.O., S. 17. 231 Vgl. G. Alperovitz, Atomare Diplomatie: Hiroshima und Potsdam, München 1966. 232 Vgl. Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 4 5 - 4 8 . 2 3 3 Ebenda, S. 4 6 . 2 3 4 Vgl. Kuczynski, Lage der Arbeiter, Bd. 7 a, a.a.O., S. 17, siehe dort aucn S. 14—29 (Zur Politik der westlichen Alliierten am Ende des 2. Weltkrieges). Zur Kontinuitätsthese der amerikanischen Außenpolitik seit 1917 siehe auch Fleming, The Cold War and its Origins, Vol. 1, 1 9 1 7 - 1 9 5 0 , Garden City, New York 1 9 6 1 , und Horowitz, Konterrevolution, a.a.O. 2 3 5 Vgl. Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 2 2 - 4 3 . 236 Vgl. ebenda, S. 6 5 - 6 6 . 237 Ebenda, S. 15. 2 3 8 Ebenda II, S. 1 6 6 . 239 Ebenda I, S. 79. Zum Thema Iran, siehe auch ebenda, S. 77—78 und S. 172—176 und: Nazari, Der ökonomische und politische Kampf um das iranische Erdöl, Köln 1 9 7 1 , bes. Seite 1 0 6 - 1 6 5 2 4 0 Zu Griechenland siehe Horowitz, Kalter Krieg I, S. 4 9 , 55—59 und 179 und II, S. 1 6 4 / 6 5 , zur Haltung Stalins bes. ebenda I, S. 72—73. Siehe auch J o h n Baggeley, Der Weltkrieg und der Kalte Krieg, in: Horowitz, Strategien, a.a.O., S. 9 3 — 1 5 6 , und Todd Gitlin, Konterrevolution in Griechenland: Mythos und Wirklichkeit, in Horowitz, a.a.O., S. 176—231, zur Zahl und Bedeutung der Kommunisten in der EAM, ebenda, S. 81—88. 241 Abendroth, Sozialgeschichte . . . , a.a.O., S. 148. 242 Ebenda. 2 4 3 Auf die Türkei wird hier nicht eingegangen. 2 4 4 Vgl. zur Liste Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 12 u. 3 1 . 245 Zu Vietnam siehe auch ebenda, S. 138—150. 2 4 6 Ebenda, S. 65 u. 6 6 . 247 Zur militärischen und ökonomischen Expansion der USA siehe ebenda, S. 74—77, und II, S. 188—191. Die Verteidigungsausgaben eines der Paktsysteme der USA, der NATO, beliefen sich 1963 auf 71 Milliarden Dollar, die 4
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des gesamten Warschauer Vertrages dagegen nur auf 37 Milliarden Dollar. 2 4 8 Vgl. etwa den Zusammenhang zwischen Außenpolitik und den Interessen einzelner amerikanischer Großkonzerne am Beispiel der United Fruit Company in Südamerika, besonders Guatemala (Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 150—172), und am Beispiel des iranischen Erdöls, wo die USA das britische Monopol brachen und mit 40 % an einem internationalen Konsortium beteiligt wurden (ebenda, S. 172—176, vgl. außerdem Nazari, Iranisches Erdöl, a.a.O.). 2 4 9 Vgl. Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 4 8 - 4 9 . Zur Situation in Osteuropa, zu Stalin und den sowjetischen Interessen vgl. ebenda I, S. 1 3 8 — 1 4 0 , 4 4 , 4 5 , 4 8 - 5 0 , 6 7 - 7 2 u . 7 8 - 8 4 sowie II, S . 4 4 , 4 5 - 5 7 , 5 8 und 1 6 7 - 1 6 8 , zum „Stillhalten" der kommunistischen Parteien siehe Abendroth, Sozialgeschichte . . . , a.a.O., S . 1 4 7 - 1 5 3 , 157, 1 6 4 - 1 6 8 , außerdem Schmidt/Fichter, Der erzwungene Kapitalismus, Berlin 1 9 7 1 , S. 80—87; zum Stalinismus siehe Hofmann, Stalinismus . . . , a.a.O. Außerdem den Totalitarismusabschnitt im Systematisierungskapital. 2 5 0 Horowitz, Kalter Krieg II, a.a.O., S. 4 4 . 251 Vgl. Hofmann, Stalinismus . . . , a.a.O., S. 1 5 2 - 1 5 5 . 2 5 2 Vgl. das Kapital über Ideologie. 2 5 3 Richert, Das zweite Deutschland. Ein Staat, der nicht sein darf, Frankfurt/M. u. Hamburg 1 9 6 6 , S. 30 f. 2 5 4 Eberhard Schmidt, Neuordnung, a.a.O., S. 2 1 . 2 5 5 Vgl. dazu ebenda S. 2 1 - 2 4 , siehe auch Schmidt/Fichter, a.a.O., S. 7 1 - 8 0 , außerdem: Autorenkollektiv, B R D - D D R , a.a.O., S. 3 0 - 3 4 . 2 5 6 Horowitz, Kalter Krieg II, a.a.O., S. 4 6 . 257 Ebenda, S. 4 6 , 4 7 , 5 1 . 2 5 8 Erwähnt wird ein Vorstoß in Schroedel/Schöningh II, Dieserweg III, Klett II, Klett V I , und Diesterweg V I , Kritik üben das 1., 3. und letzte der genannten Bücher. 259 Für Italien siehe Horowitz, Kalter Krieg I, a.a.O., S. 7 6 - 7 7 , für andere Staaten siehe Autorenkollektiv, Geschichte 10, Berlin (DDR) 1 9 7 2 , S. 3 2 - 3 6 . 2 6 0 Schmidt/Fichter, a.a.O., S. 102, ebenso Kuczynski, Lage der Arbeiter . . . , Bd. 7 a, a.a.O., S. 2 7 - 2 9 . 261 Vgl. Schmidt/Fichter, a.a.O., S. 1 2 - 1 3 , 2 5 - 3 0 , 42 und 4 4 . 2 6 2 Vgl. ebenda, S. 3 2 . 2 6 3 Eberhardt Schmidt, Neuordnung, a.a.O., S. 8 5 . 2 6 4 W. Abendroth, Das Grundgesetz. Eine Einführung in seine politischen Probleme, Pfullingen 1 9 6 6 , S. 26 f. 2 6 5 Vgl. Schmidt, Neuordnung, a.a.O., S. 1 9 3 , siehe auch S. 1 5 0 - 1 5 6 , und Abendroth, Grundgesetz, a.a.O., S. 1 3 2 . 2 6 6 Schmidt, Neuordnung, a.a.O., S. 5 5 , zum Verhältnis der US-Amerikaner gegenüber den Wirtschaftsführern, siehe ebenda S. 54—57. 267 Schmidt/Fichter, Kapitalismus, a.a.O., S. 1 3 2 , zur Entnazifizierung, s. ebenda, S. 1 1 7 - 1 3 3 , Schmidt, Neuordnung, a.a.O., S. 5 4 - 5 7 , und Autorenkollektiv, B R D - D D R , a.a.O., S. 2 5 6 - 2 6 4 . Dort findet sich auf S. 2 5 1 - 2 5 6 auch eine Darstellung der „Entnazifizierung in der D D R " , wo Belastete wie Lehrer, Richter und Verwaltungsbeamte auch auf Kosten der Effizienz rigoros aus ihren Stellungen entfernt wurden, man die Mitläufer aber zur positiver Mitarbeit zu gewinnen suchte. S. auch Abendroth, Grundgesetz, a.a.O., S. 2 2 . 2 6 8 Vgl. auch zur Frage der Einkommensverteilung das Kapitel über die Arbeiterbewegung, wo man sehen kann, daß die „kleinen Leute" nicht nur bei
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der Währungsreform die Zeche für die „Sachmittelbesitzer" zu zahlen haben, sondern es ständig tun müssen. G. Kolonialismus und Entkolonisierung — Imperialismus und Dritte Welt 269 An dieser Stelle kann nur der fragwürdigste Versuch genannt werden: Durch die ethymologische Klärung des Wortes Imperialismus („Imperium") und die Reduktion des Inhalts, der diesen Begriff kennzeichnet, auf kriegerische Auseinandersetzungen, findet man seit der Antike permanent Imperialismen. 2 7 0 Von hier aus gelangt man konsequent zu der These: Es war immer schon so und wird deshalb immer so bleiben — eine ideologische Verbrämung des Glaubens an die „Universalität" des Bestehenden. 271 Vgl. dazu das Zahlenmaterial in: Harry Magdoff, Das Zeitalter des Imperialismus, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. (o. J . ) , und in E. Mandel, Marxistische Wirtschaftstheorie, Bd. II, Frankfurt/M. 1 9 7 2 . 2 7 2 Vgl. Karl Marx, Das Kapital I, MEW 2 3 , S. 7 9 2 . 2 7 3 Mandel, a.a.O., S. 4 5 3 f. 2 7 4 Im übrigen ist die die gesamte bürgerliche Literatur zum Imperialismus durchziehende Behauptung, der Imperialismus gründe auf einer Massenbewegung, einem „Nationalismus der „Massen", der „nach außenpolitischer Machterweiterung drängte", wissenschaftlich nicht haltbar. Richtig ist, daß mit Hilfe eines raffiniert angewandten Propagandaapparates Teile der Bevölkerung der kapitalistischen Länder zu dem Glauben an die Einheit von Allgemeinwohl und Kapitalinteresse verführt wurden. Die Empfänglichkeit bestimmter Schichten (vor allem der kleinbürgerlichen) für Chauvinismus und Sozialdarwinismus wäre aber wiederum historisch-gesellschaftlich zu begründen. Die Arbeiterklasse, die ja auch und gerade nach bürgerlichem Verständnis die „Masse" darstellt, wurde von der nationalistischen Bewegung kaum berührt (so resultierte die verhängnisvolle Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD-Reichstagsfraktion am 4. Aug. 1914 nicht nur aus dem Sozialchauvinismus von Teilen der Sozialdemokratie, sondern auch aus der Tatsache, daß man in mangelhafter Erkenntnis des imperialistischen Charakters des Krieges glaubte, Deutschland gegen den „Hort der Reaktion", das russische Zarenreich, verteidigen zu müssen). 275 Diese Fakten (Wirtschaftskrise und ihre Folgen) werden nur in 2 Büchern aufgeführt: Schrödel II, S. 6 6 ; Diesterweg III, S. 7. 2 7 6 Um an dieser Stelle eine naheliegende Frage zu stellen: Wo liegt der Unterschied imperialistischer Praxis um die Jahrhundertwende und der USA-Aggressionen der 60er Jahre im 20. Jahrhundert? So heißt es in amerikanischen Stellungnahmen, es gälte in Vietnam Freiheit und Demokratie zu verteidigen, wenn es sein muß mit kriegerischen Mitteln. 277 Das ist kein Werturteil. Es soll angedeutet werden, daß die „Oberfläche" der Gesellschaft (das tagtäglich empirisch Wahrnehmbare) keinen direkten Aufschluß geben kann über ihr Wesen, ihre inneren Antriebskräfte und Kausalbeziehungen. 2 7 8 Hierin ist der Grund zu sehen, warum die Darstellung über England und das Commonwealth einen unverhältnismäßig großen Raum einnimmt, dagegen Portugal, Belgien und Holland kaum erwähnt werden. 2 7 9 Diese Frage muß durchgängig gestellt werden, denn — bis auf zwei oder drei Ausnahmen (Australien, Kanada) — muß im englischen Commonwealth von einer nicht überwundenen Unterentwicklung gesprochen werden. Betrachtet man das Beispiel Indiens, so entlarvt sich auch der ideologische,
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verschleiernde Charakter des Wortes Commonwealth (allgemeiner Reichtum). 2 8 0 Daß diese beiden Forderungen identisch sind, wird im folgenden (siehe T e x t ) deutlich werden. Kommunismus bedeutet nämlich die Beseitigung des Privateigentums — die Gegensätze von Reichtum und Armut beruhen auf diesem Privateigentum. H. Die Darstellung des wissenschaftlichen Sozialismus 281 Walter Theimer, Der Marxismus, Bern und München, 5. durchgesehene und ergänzte Auflage 1 9 6 9 , S. 4. 2 8 2 Ebenda, S. 5. 2 8 3 Siehe Werner Hofmann, Zur Soziologie des Antikommunismus, in: W. Hofmann, Stalinismus und Antikommunismus, a.a.O., S. 134. 2 8 4 Auf die kursorische Behandlung des Marxismus in der Philosophiegeschichte z. B. hat u. a. Karl Korsch hingewiesen: ,,So widmet Kuno Fischer in seiner 9bändigen ,Geschichte der neueren Philosophie' eine Seite ( 1 1 7 0 ) des der Hegeischen Philosophie gewidmeten Doppelbandes dem (Bismarckschen) .Staatssozialismus' und dem .Kommunismus', als deren Begründer er einerseits Ferdinand Lassalle, andererseits den in zwei Zeilen erledigten Karl Marx n e n n t . . . In Überweg-Heinzes .Grundriß der Geschichte der Philosophie vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart' (e. d. Österreich 1 9 1 6 , 1 1 . Aufl.) beschäftigen sich mit Marx-Engels' Leben und Lehre immerhin zwei Seiten ( 2 0 8 / 2 0 9 ) . . . " Karl Korsch, Marxismus und Philosophie, Frankfurt/M. 1 9 6 6 , S. 73. 285 Hampel-Seilnacht, Wir erleben die Geschichte, München 1 9 6 6 , S. 140. 2 8 6 Ebenda, S. 1 4 0 . 287 Heinz Becker, Staatsbürger von morgen, Bad Homburg, 19. Aufl. 1 9 6 4 , S. 98. 2 8 8 Hugo Andreae, Zur Didaktik der Gemeinschaftskunde, Beltz-Verlag, Weinheim 1 9 6 0 , S. 125 (Hervorhebung von uns). 289 Hermann Meyer, Themen zur Politik, Reihe: Unterrichtseinheiten, BeltzVerlag, Weinheim 1 9 7 1 , S. 190. 2 9 0 Ebenda, S. 1 9 1 . 291 Iring Fetscher, Von Marx zur Sowjetideologie, Frankfurt/M. 1 9 7 2 , S. 6. 292 Ludwig Heibig, Sozial- und Gemeinschaftskunde, Lehrerhandbuch, Bd. 4, hg. von Hermann Meyer, Verlag Julius Beltz, Weinheim u. Berlin, S. 2 1 5 . 2 9 3 Karl Marx, Lohnarbeit und Kapital, MEW 6, S. 4 0 7 . 2 9 4 Ebenda 2 9 5 Erich Hahn, Zur Kritik des bürgerlichen Bewußtseins, in: K. Lenk (Hg.), Ideologie, Neuwied, 1 9 6 7 , S. 1 4 8 . 2 9 6 Karl Mielcke, Historischer Materialismus — Die Lehren von Karl Marx, Ernst Klett Verlag, Stuttgart, o. J . , S. 14. 297 Karl Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei, MEW 19, S. 15. 2 9 8 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S. 2 3 2 . 2 9 9 ib. S. 2 3 3 . 3 0 0 ib. S. 2 3 1 . 301 Lionel Robbins, The Nature and Significance of Economic Science, 1 9 3 2 , S. 15, zit. bei: Paul M. Sweezy, Theorie der kapitalistischen Entwicklung, Köln, 1 9 5 9 , S. 2. 3 0 2 Karl Häuser, Volkswirtschaftslehre, Ffm. 1 9 6 7 , S. 3 3 . 3 0 3 Robbins, a.a.O., S. 69 (Sweezy, S. 2 ) .
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3 0 4 Karl Marx, Lohnarbeit und Kapital, MEW 6, S. 4 0 7 . 3 0 5 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, MEW 13, S. 9. 3 0 6 Staatslexikon (Recht-Wirtschaft-Gesellschaft) herausgegeben von der Görres-Gesellschaft, 6. völlig neu bearbeitete und erweiterte Aufl., Freiburg 1 9 6 0 , Bd. 5., S. 587 (Hervorhebungen von uns). Es sei kurz begründet, warum wir u. a. noch einen Artikel aus dem vielbändigen „Herder-Staatslexikon" hinzugezogen haben. Dies hat zwei Gründe: a) können Lexika als das standardisierte Bewußtsein einer Gesellschaft angesehen werden, so daß ihre Analyse zu zeigen vermag, daß die Schulbücher keine Ausnahme, sondern allgemeiner Ausdruck der herrschenden Marxrezeption sind; b) ist es in der Praxis so, daß sich viele Studienräte zur Vorbereitung zunächst in Lexika informieren. Daß ausgerechnet das Herder-Lexikon und nicht ein anderes Nachschlagewerk hinzugezogen wurde, hat seinen Grund darin, daß dieses besonders ausführlich den Marxismus behandelt, und nicht darin, daß es besonders unwissenschaftlich ist. Die Darstellung in diesem Lexikon unterscheidet sich von anderen Lexika nur unwesentlich (sieht man einmal ab von Iring Fetschers Artikel im „Evangelischen Staatslexikon", der allerdings auch wesentliche Irrtümer und Mißverständnisse enthält). 307 Ebenda, S. 5 8 3 . 3 0 8 „Die Gewalt der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz." Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 2 3 , S. 7 7 9 . 3 0 9 Karl Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, S. 1 8 2 . 3 1 0 Ebenda, S. 182. 311 Karl Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3, S. 6. 3 1 2 Kurt Beutler, Karl Marx in Sozialkundebüchern, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5 / 1 9 7 1 (Pahl-Rugenstein-Verlag), S. 5 0 2 . 3 1 3 Vgl. Kurt Lenk, Ideologie, Neuwied/Berlin 1 9 7 0 , S. 2 8 . 3 1 4 Marx, MEW 4, S. 138. 3 1 5 Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Karl Marx, o. O., o . J . , S. 2 7 . 3 1 6 Ebenda, S. 5 0 2 . 317 Karl Marx, ökonomisch-philosophische Manuskripte, S. 5 1 1 . 3 1 8 Iring Fetscher, Von Marx zur Sowjetideologie, Diesterweg, Frankfurt, Berlin, Bonn, 1 1 . Aufl., 1 9 6 5 . 3 1 9 Marx hat sich in den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie" selbst gegen die bürgerlichen Theoretiker gewandt, die Entäußerung bzw. Vergegenständlichung nicht von Entfremdung trennen: „Die bürgerlichen Ökonomen sind so eingepfercht in den Vorstellungen einer bestimmten historischen Entwicklungsstufe der Gesellschaft, daß die Notwendigkeit der Vergegenständlichung der gesellschaftlichen Mächte der Arbeit ihnen unzertrennbar erscheint von der Notwendigkeit der Entfremdung derselben gegenüber der lebendigen Arbeit." Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a.a.O., S. 7 1 6 . 3 2 0 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a.a.O., S. 8 0 . 321 Alfred Schmidt, Geschichte und Struktur, Fragen einer marxistischen Historik, München 1 9 7 1 , S. 74. 322 Kurt Beutler, Karl Marx in Sozialkundebüchern, a.a.O., S. 5 0 0 . 3 2 3 W. Hofmann, Verelendung . . . , a.a.O., S. 27. 3 2 4 a.a.O., S. 28 f. 3 2 5 Vergl. a.a.O., S. 4 2 - 6 0 .
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3 2 6 R. Rosdoiski, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen „Kapital", Frankfurt/M. 1 9 6 8 , S. 3 5 2 . 327 Siehe K. Marx, Grundrisse . . . , a.a.O., S. 197 f. 3 2 8 K. Marx, Lohn, Preis und Profit, MEW 16, S. 1 4 8 . 3 2 9 a.a.O., S. 1 4 9 . 3 3 0 Vergl. E. Mandel, Die deutsche Wirtschaftskrise, a.a.O., S. 1 7 - 2 0 , und J. Huffschmidt, Die Politik des Kapitals, a.a.O., S. 1 2 - 1 8 . 331 K. Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 2 3 , S. 6 7 5 (Hervorh. von uns). 3 3 2 F. Engels, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1 8 9 1 , MEW 22, S. 2 3 1 . 3 3 3 K. Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 2 2 . 3 3 4 Marx/Engels, Manifest der kommunistischen Partei, MEW 4, S. 4 8 9 . 3 3 5 Ebenda. Zweites Kapitel 1 W. Hofmann, Universität, Ideologie, Gesellschaft. Beiträge zur Wissenschaftssoziologie, Ffm. 1969 (es 2 6 1 ) , S. 1 1 1 . 2 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 26 f. 3 A. Schmidt, Geschichte und Struktur, Fragen einer marxistischen Historik, München 1 9 7 1 , S. 2 4 . 4 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 3 9 . 5 K. Bergmann, Personalisierung im Geschichtsunterricht — Erziehung zur Demokratie? Klett-Verlag, Stuttgart 1 9 7 2 , S. 14. 6 ib., S. 17 ff. 7 G. Mann, Ohne Geschichte Leben? in: Die Zeit Nr. 4 1 / 1 9 7 2 . 8 K. Bergmann, a.a.O., S. 17. 9 ib. S. 18. 10 Richtlinien und Stoffpläne für das Fach Geschichte, Saarland 1 9 6 9 , zit. nach K. Bergmann, a.a.O., S. 16. 11 W. Marienfeld/W. Osterwald, Die Geschichte im Unterricht, Düsseldorf 1 9 6 6 , S. 5 3 . 12 Vgl. Ch. Bühler, Kindheit und Jugend, Leipzig 1 9 2 8 ; K. Sonntag, Das geschichtliche Bewußtsein des Schülers, Erfurt 1 9 3 3 ; O. Kroh, Entwicklungspsychologie des Grundschulkinds, Langensalza 1 9 4 4 ; W. Küppers, Zur Psychologie des Geschichtsunterrichts, Bern-Stuttgart 1 9 6 1 ; H. Roth, Kind und Geschichte, München 1 9 6 5 , 4. Aufl. 13 H. Döhn, Der Geschichtsunterricht in Volks- und Realschulen, Hannover 1967, S. 5 6 . 14 ib. S. 5 3 . 15 K. Bermann, a.a.O., S. 4 9 . 16 ib. 17 R. Wildenmann und M. Kaase, Die unruhige Generation, Untersuchung zur Politik und Demokratie in der Bundesrepublik ( 1 9 6 8 ) , zit. nach R. Kühnl, R. Rilling, Ch. Sager, Die NPD — Struktur, Ideologie und Funktion einer neofaschistischen Partei, Frankfurt/M. 1 9 6 9 , S. 3 3 5 . 18 ib. 19 K. Bergmann, a.a.O., S. 4L 20 K. Bergmann, a.a.O., S. 61 f. 21 Vgl. dazu die einflußreichen Varianten der Schichttheorie: 1. Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, Stuttgart 1932.
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2. Helmut Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, Stuttgart 1 9 5 4 . 3. Ders., Auf der Suche nach der Wirklichkeit, Düsseldorf, Köln 1 9 6 5 . 4. M. Janowitz, Soziale Schichtung und Mobilität in Westdeutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Nr. 9 0 / 1 9 5 8 , S. 9-38. 5. H. Moore/G. Kleining, Das soziale Selbstbild der Gesellschaftsschichten in Deutschland, in KZfSS, Nr. 1 2 / 1 9 6 0 , S. 1 6 - 1 1 9 . 6. E. Scheuch/H. Daheim, Sozialprestige und soziale Schichtung, in: Soziale Schichtung und soziale Mobilität, Sonderheft 5 der K Z f S S , S. 6 5 - 1 0 3 . 7. Friedrich Fürstenberg, Die Sozialstruktur der Bundesrepublik Deutschland, Köln-Opladen 1 9 7 2 . 8. Karl Martin Bolte, u. a., Soziale Schichtung der Bundesrepublik Deutschland, in: K. M. Bolte, Deutsche Gesellschaft im Wandel; Opladen 1 9 6 6 , S. 233-351. 22 Vgl. dazu Adam Smith, An Inquiry into the Nature and the Causes of the wealth of Nations, London—Toronto 1 9 3 1 ; vgl. ebf.: Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit; Berlin-Neuwied 1 9 6 9 , S. 9 9 . 23 Zur Kritik der Nivellierungsthese Schelsky vgl. ausführlich: Frank Deppe, Das Bewußtsein der Arbeiter, Studien zur politischen Soziologie des Arbeiterbewußtseins, Köln 1 9 7 1 , S. 14 ff. 24 Margarete Tjaden-Steinhauer/Karl Hermann Tjaden, Zur Analyse der Sozialstruktur des deutschen Kapitalismus, in: Das Argument Nr. 6 9 / 1 9 7 0 , S. 645-664. 25 Stanislav Ossowski, Die Klassenstruktur im sozialen Bewußtsein, NeuwiedBerlin 1 9 7 2 , S. 1 3 1 . 26 Karl Hermann Tjaden, Nachwort: Ansätze zu einer gesellschaftswissenschaftlichen Systemtheorie, in: K. H. Tjaden (Hg.), Soziale Systeme. Materialien zur Dokumentation und Kritik soziologischer Ideologie, Neuwied—Berlin 1 9 7 1 , S. 4 3 7 - 4 5 9 ; vgl. auch Karl Theodor Schuon, Wissenschaft, Politik und wissenschaftliche Politik, Köln 1 9 7 2 , S. 173 ff. 27 Ansätze einer marxistischen Klassenanalyse bzw. -theorie finden sich bei: 1. M. Tjaden-Steinhauer, a.a.O. 2. H. Jung, in: Das Argument, Nr. 6 1 / 1 9 7 0 . 3. Jung/Kievenheim/Tjaden u. a., Klassen- und Sozialstruktur der B R D 1 9 5 0 - 7 0 , 2 Bde, Ffm 1973 u. 1 9 7 4 . 4. Projekt Klassenanalyse, Materialen zur Klassenstruktur der B R D , 2 Bde (bisher nur 1. Bd. erschienen), Westberlin 1 9 7 3 . 28 Vgl. Margherita v. Brentano, Wissenschaftspluralismus als Kampfbegriff, in: Das Argument, Nr. 6 6 / 1 9 7 1 , S. 1 7 6 - 4 9 2 , hier: S. 4 9 2 . 29 Vgl. Eberhard Schmidt, Die verhinderte Neuordnung 1 9 4 5 — 1 9 5 2 , Zur Auseinandersetzung um die Demokratisierung der Wirtschaft in den westlichen Besatzungszonen und in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. 1 9 7 0 ; vgl. ebf. Frank Deppe u. a., Kritik der Mitbestimmung, Partnerschaft oder Klassenkampf? , Ffm. 1 9 6 9 , vor allem S. 58 ff. 30 Vgl. zur Verwandlung der Gesellschaft in einen „Gesamtbetrieb ohne Unternehmer": ,Formierte Gesellschaft', Gesellschaftspolitische Kommentare, Sonderdruck. Bonn 1 9 6 5 , S. 10. 31 Vgl. J ö r g Huffschmid, Die Politik des Kapitals, Ffm. 1 9 6 9 , S. 114 ff. S. 161 ff. 32 Ebenda, S. 6 4 . 33 Ernest Mandel, Die deutsche Wirtschaftskrise, Frankfurt/M. 1 9 6 9 , S. 2 8 ,
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2 8 - 3 3 ; Gerhard Bessau u. a., Inflation heute — . . . , a.a.O.; Werner Hofmann, Die säkulare Inflation, Berlin 1 9 6 2 . Claus Leggewie: Geschichte in Schul- und Sachwörterbüchern. In: Das Argument, Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Nr. 70 (Sonderband Kritik der bürgerlichen Geschichtswissenschaft I.), West-Berlin 1 9 7 2 , S. 2 4 4 , Hervorhebung von uns. Carl Joachim Friedrich (unter Mitarbeit von Zbigniew K. Brzezinski): Totalitäre Diktatur. Stuttgart 1 9 5 7 , S. 15, Hervorhebung von uns. Vgl. dazu auch Leggewie, a.a.O., S. 2 4 3 — 2 5 6 ; Autorenkollektiv: Schulbücher auf dem Prüfstand, Antikommunismus, Antisowjetismus und Revanchismus in Lehrbüchern der Bundesrepublik, Dokumentation und Kommentare, Frankfurt/M. 1972 (Röderberg-Verlag), bes. S. 2 5 - 3 1 . Die „Richtlinien . . . " sind vollständig abgedruckt im Anhang zu Günter Berndt/Reirihard Strecker (Hg.): Polen — ein Schauermärchen oder Gehirnwäsche für Generationen. Geschichtsschreibung und Schulbücher. Beiträge zum Polenbild der Deutschen, Reinbek bei Hamburg 1971 (rororo aktuell 1500), S. 9 9 - 1 0 2 . Zitiert nach Berndt/Strecker, a.a.O., S. 9 9 . Vgl. zur Ideengeschichte der Totalitarismustheorie: Klaus Hildebrand: Stufen der Totalitarismusforschung, in: Politische Vierteljahresschrift, Heft 3 / 1 9 6 8 ( 9 . Jahrgang), Köln und Opladen, S. 3 9 7 - 4 2 6 ; Martin J ä n i c k e : Totalitäre Herrschaft. Anatomie eines politischen Begriffs, West-Berlin 1971 (Verlag Duncker & Humboldt); Walter Schlangen: Der Totalitarismusbegriff. Grundzüge seiner Entstehung. Wandlung und Kritik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament" vom 3 1 . 10. 1 9 7 0 . Die am meisten verbreiteten und bekannten Arbeiten sind wohl die von C. J. Friedrich (siehe Anm. 3 5 ) und von Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/M. 1 9 5 5 . So z. B. Martin Greiffenhagen: Der Totalitarismusbegriff in der Regimenlehre, in: Matin Greiffenhagen, Reinhard Kühnl, Johann Baptist Müller: Totalitarismus. Zur Problematik eines politischen Begriffs, München 1972 (ListTaschenbücher der Wissenschaft 1 5 5 6 ) , S. 23—59. Diese Industriegesellschaftstheorie, die bei ihren meisten Vertretern mit Voraussagen über die Konvergenz von Sozialismus und Kapitalismus verknüpft ist, findet in den letzten Jahren zunehmend Verbreitung. Einige grundlegende Arbeiten sind: Walt Whitman Rostow, Stadien wirtschaftlichen Wachstums, Göttingen 1961 (Vandenboeck & Ruprecht); Raymond Aron, Die industrielle Gesellschaft, Frankfurt/M. 1 9 6 4 (Fischer-Bücherei 6 3 6 ) ; J o h n Kenneth Galbraith, Die moderne Industriegesellschaft, München und Zürich 1 9 6 8 (Droemer/Knaur). Zur Kritik von Industriegesellschafts- und Konvergenztheorie vgl.: Bassam Tibi: Theorien der Konvergenz kapitalistischer und sozialistischer Industriegesellschaften, in: Das Argument Nr. 50 (Sonderband Kritik der bürgerlichen Sozialwissenschaften), West-Berlin 1 9 6 9 , S. 1 2 5 — 1 3 8 ; Günther Rose: Konvergenz der Systeme. Legende und Wirklichkeit, Köln 1970 (Pahl-Rugenstein-Verlag). Herbert Meißner: Konvergenztheorie und Realität, Frankfurt/M. 1971 (Verlag Marxistische Blätter).
43 So z. B Hansgeorg Conert: Der Kommunismus in der Sowjetunion. Historische Voraussetzungen, Wandlungen, gegenwärtige Strukturen und Probleme, Frankfurt/M. 1971 (Modelle für den politischen und sozialwissenschaftlichen Unterricht 1 0 / 1 1 , Europäische Verlagsanstalt). 44 Vgl. Reinhard Kühnl: Zur politischen Funktion der Totalitarismustheorien in der B R D , in: Greiffenhagen, Kühnl, Müller, a.a.O., S. 7 - 2 1 .
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Leggewie, a.a.O., S. 2 4 7 . Hervorhebung im Text. Zitiert nach Berndt/Strecker, a.a.O., S. 1 0 1 . Ebenda, S. 100. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Reinhard Kühnl: Faschistische Tendenzen in der Bundesrepublik, in: Alternativen der Opposition, hg. von F. Hitzer und R. Opitz, Köln 1969 (Pahl-Rugenstein-Verlag), S. 6 5 - 8 6 . Hier S. 6 6 . Kühnl, Zur politischen Funktion, a.a.O., S. 16. Ebenda, S. 18. Zu den „Sozialen Details" vgl. Johann Baptist Müller, Kommunismus und Nationalsozialismus. Ein sozio-ökonomischer Vergleich, in: Greiffenhagen/Kühnl/Müller, a.a.O., S. 61—96. Vgl. auch die im Kapitel über das Ende der Weimarer Republik angegebene Literatur, besonders Anm. 2 0 1 und 2 0 5 . Hartmut Zimmermann: Probleme der Analyse bolschewistischer Gesellschaftssysteme. Ein Diskussionsbeitrag zur Frage der Anwendbarkeit des Totalitarismusbegriffs, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 4 / 1 9 7 1 , S. 193 ff, hier S. 1 9 8 . Einen sozialpsychologischen Erklärungsansatz dafür hat Wilhelm Reich versucht. Vgl. Wilhelm Reich, Massenpsychologie des Faschismus. Vgl. dazu den grundlegenden Beitrag von Georg Fülberth und Helge Knüppel, Bürgerliche und sozialistische Demokratie, in: BRD—DDR. Vergleich der Gesellschaftssysteme (Red. Gerhard Heß), Köln 1971 (Pahl-Rugenstein-Verlag), S. 2 0 6 - 2 4 7 . Ebenda, S. 211 f. Vgl. dazu die beispielhafte Analyse von Werner Hofmann: Was ist Stalinismus? In: Ders., Stalinismus und Antikommunismus. Zur Soziologie des OstWest-Konflikts, Frankfurt/M. 1967 (edition suhrkamp 2 2 2 ) , S. 1 1 - 1 2 7 . Kühnl, Zur politischen Funktion, a.a.O., S. 18. Hervorhebungen von uns. Vgl. Wolfgang Fritz Haug: Der hilflose Antifaschismus. Zur Kritik der Vorlesungsreihen über Wissenschaft und NS an deutschen Universitäten, Frankfurt/M. 1967 (edition suhrkamp 2 3 6 ) . Friedrich, a.a.O., S. 102. Vgl. Jänicke, a.a.O., S. 83 ff. Vgl. dazu das Kapitel über das Ende der Weimarer Republik, besonders auch die Literatur in den Anm. 189 und 1 9 0 . So z. B. Werner Hofmann: Grundelemente der Wirtschaftsgesellschaft. Ein Leitfaden für Lehrende, Reinbek bei Hamburg 1969 (rororo aktuell 1 1 4 9 ) , S. 6 0 ; vgl. Engels in MEW 2 3 , S. 34 (Vorwort zur 3. Aufl. des Kapital I ) . Vgl. zu den hier verwendeten Begriffen (Mehrprodukt, Arbeitskraft, Lohn usw.) Karl Marx: Lohn, Preis und Profit; in: Ders. und Friedrich Engels, Werke Bd. 16, Berlin (DDR) 1 9 6 2 , S. 1 0 1 - 1 5 2 . Walter J e n s , Plädoyer für einen Pluralismus der Wissenschaft, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 7 / 1 9 7 2 , Köln, S. 7 2 1 - 7 2 7 ; hier S. 7 2 4 . Hervorhebung von uns.
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Drittes Kapitel 1 Zit. nach Adorno, Horkheimer u. a., Soziologische Exkurse Ffm. 1 9 5 6 , S. l64. 2 Zit. nach Lenk, K, Ideologie, Neuwied-Berlin 1 9 7 0 , S. 2 2 . 3 Adorno u. a., Soziologische Exkurse, a.a.O., S. 1 6 4 . 4 Lenk, a.a.O., S. 2 9 . 5 L. Feuerbach, Sämtliche Werke, Bd. 6, ed. Bolin u. J o d l , Stuttgart 1 9 0 3 - 1 9 1 1 , S. 17. 6 Vgl. Lenk, S. 29 f, Fetscher, I., Karl Marx und der Marxismus, München 1967, S. 2 0 4 f. 7 Karl Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, Einleitung, in: MEW 1, S. 3 7 8 f. 8 E. Bloch, Das antizipierende Bewußtsein (2. Teil des Prinzip der Hoffnung) Ffm. 1972 (es 5 8 5 ) , S. 2 6 5 . 9 Habermas, Theorie und Praxis, S. 4 3 8 . 10 H. Reichelt, Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffes bei Karl Marx, Ffm. 1 9 7 1 (Europäische Verlagsanstalt), S. 3 7 . 11 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 2 3 , S. 93 f. 12 Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 3 1 . 13 K. Lenk, Ideologie, a.a.O., S. 3 7 . 14 Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 46 f. 15 Ebenda. 16 Bertolt Brecht, „Drei Paragraphen der Weimarer Verfassung" 4
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Paragraph I 1
Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. — Aber wo geht sie hin? J a , wo geht sie wohl hin Irgendwo geht sie doch in! Der Polizist geht aus dem Haus. — Aber wo geht er hin? usw. 2 Seht, jetzt marschiert das große Tramm. — Aber wo marschiert es hin? J a , wo marschiert es wohl hin? Irgendwo marschiert das doch in! J e t z t schwenkt es um das Haus herum. — Aber wo schwenkt es hin? usw. 3 Die Staatsgewalt macht plötzlich halt. Da sieht sie etwas stehn. — Was sieht sie denn da stehn? Da sieht sie etwas stehn. Und plötzlich schreit die Staatsgewalt Sie schreit: Auseinandergehn! Warum auseinandergehn? Sie schreit: Auseinandergehn!
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4 Da steht so etwas zusammengeballt Und etwas fragt: warum? Warum fragt es denn warum? Da fragt sowas warum! Da schießt natürlich die Staatsgewalt Und da fällt so etwas um. Was fällt denn da so um? Warum fällt es denn gleich um? 5 Die Staatsgewalt sieht: da liegt was im Kot. Irgendwas liegt im Kot! Was liegt denn da im Kot? Irgendwas liegt doch im Kot. Da liegt etwas, das ist mausetot Aber das ist ja das Volk! Ist denn das wirklich das Volk? J a , das ist wirklich das Volk. Paragraph II 1 Lauf, lauf Prolet, du hast das Recht Ein Grundstück zu erwerben Dazu hast du das Recht Du hast das Recht am Wannsee Du hast das Recht am Nikolassee. J e t z t braucht kein Prolet mehr Hungers zu sterben Er hat das Recht, ein Grundstück zu erben. Er hat ein Recht Das ist nicht schlecht Er darf etwas erwerben. 2 Halt, halt, grölt, das Grundstück da Das hat schon einer erworben. Dazu hat er das Recht. Er hat das Recht am Wannsee Er hat das Recht am Nikolassee. Da mußt du schon warten, bis er gestorben. Dann hat es wieder ein anderer erworben Der hat geblecht Und das war sein Recht Sonst hättest du was erworben! Paragraph 115 1 Auch für einen Deutschen gibt es freie Stätten Denn die sind in unserm Sklavendasein unersetzlich Unersetzlich. Wenn wir eine Wohnung hätten Wäre diese Wohnung unverletzlich Unverletzlich.
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2 Niemand dürfte uns in unserer Wohnung stören Er bekäme sofort die Strafe, welche ihm gebührte Gebührte. Diese Wohnung würde uns gehören Wenn 'ne Wohnung uns gehören würde Würde. 3 Da wir leider keine Wohnung kriegen Sind uns Kellerloch und Brückenbogen unersetzlich Unersetzlich. Wenn wir aber auf der Straße liegen Sind wir dann natürlich auch verletzlich Verletzlich. Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Frankfurt 1967, S. 3 7 8 . 17 18 19 20
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Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, MEW 2 5 , S. 2 1 9 . Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 94 f. Zum folgenden vgl. MEW 23, S. 85 ff, u MEW 2 5 , S. 8 6 0 ff. Unter Gebrauchswert überhaupt verstehen wir, daß ein Ding fähig ist, irgendein menschliches Bedürfnis zu befriedigen, sei es das eigene, sei es das Bedürfnis von anderen. Es ist dies die Voraussetzung dafür, daß ein Ding überhaupt Träger von Tauschwert werden kann. Der Gebrauchswert der Ware, im Gegensatz dazu, schließt immer schon ein, daß die Ware Gebrauchswert für andere sein muß. Vgl. Helmut Reichelt, Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Marx, a.a.O., S. 1 5 0 : „Die Individuen sind integriert in ein System allseitiger Abhängigkeit, in ein ,System der Bedürfnisse', in dem sie in ihrer konkret sinnlichen Produktion auf die Produktion aller anderen verwiesen sind." Projekt Klassenanalyse, Zur Kritik der Sozialstaatsillusion (SOPO 6 / 7 ) , in: Sozialistische Politik, 3. Ing., Nr. 1 4 / 1 5 , Dez. 1 9 7 1 , S. 196. K. Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 2 3 , S. 9 5 . Ebenda, S. 9 5 . Ebenda, S. 9 5 . Ebenda, S. 8 8 . Ebenda, S. 87. Ebenda, S. 8 6 . Ebenda, S. 8 6 . Ebenda, S. 8 9 . W. Mommsen, zitiert nach: Philosophisches Wörterbuch, Bd. 1, hg. von Georg Klaus u. Manfred Buhr, Berlin 1 9 7 2 , S. 4 0 4 . Georg Lukäcs, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1 9 2 3 , S. 5 9 ; vgl. auch die interessanten Bemerkungen des amerikanischen Geschichtsprofessors Georg G. Iggers: „Besteht die Wirklichkeit aber aus einer Vielfalt individueller Größen, die auf keinen gemeinsamen Nenner (welcher im gesellschaftlichen Charakter der Arbeit wurzelt, Anm. d. Verf.) gebracht werden können, dann scheint die Geschichte ihren Sinn zu verlieren. Da Ranke einen gemeinsamen Nenner in Gott findet, lehnt er Hegels Pantheismus ab, der Gott mit dem Gesamtprozeß der Geschichte gleichsetzt. Er hält sich statt dessen an einen christlichen Panentheismus, der Gott getrennt von der Welt, aber allmächtig in ihr sieht. Ranke verteidigt daher seine Feststellung — ,in
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dem entscheidenden Augenblick tritt allemal ein, was wir Zufall oder Geschick nennen, und was Gottes Finger ist' — .. . Die Gegenwart Gottes allein verhindert die Alternative zwischen der gänzlichen Auslieferung an das Schicksal einerseits und der . . . Ansicht, alles sei Zufall, andererseits. Gott allein bedeutet für Ranke — in diesem Punkt für die historische Schule insgesamt — das einigende Band in einer Welt, wo Werte und Wahrheiten an historische Individualitäten und nicht an universale menschliche Normen geknüpft sind." Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft — Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, München 1 9 7 1 , S. 93 f. 33 Lukäcs, a.a.O., S. 6 0 . 34 Vgl. dazu Th. W. Adorno, „Notiz über sozialwissenschaftliche Objektivität" sowie „Gesellschaft" in: Ders., Aufsätze zur Gesellschaftstheorie und Methodologie, Ffm. 1 9 7 0 . 35 Friedrich Meinecke: Werke. Hg. im Auftrag des Friedrich-Meinecke-Instituts der Freien Universität Berlin von Hans Hersfeld, Carl Hinrichs, Walter Hofer, Stuttgart 1 9 5 7 / 6 9 , Bd. 4, S. 8 2 . 36 Ebenda, S. 8 2 . 37 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 5 f. 38 Lukacs, a.a.O., S. 6 1 . 39 Karl Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, S. 123. 40 Karl Marx, Lohnarbeit und Kapital, MEW 6, S. 4 0 7 . 41 Th. W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Erziehung zur Mündigkeit, Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959 bis 1 9 6 9 , hg. v. G. Kadelbach, Ffm. 1 9 7 0 , S. 13 f. 42 Ernst Bloch, Das antizipierende Bewußtsein, Ffm. 1 9 7 2 (es 5 8 5 ) , S. 2 8 7 . 43 Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 2 6 . 44 G. Stiehler, Der Idealismus von Kant bis Hegel, Berlin 1 9 7 0 , S. 2 8 6 f. 45 Ebenda, S. 2 8 7 . 46 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 2 3 , S. 8 5 . 47 Karl Marx, Z,ur Kritik der Politischen Ökonomie, a.a.O., S. 2 9 . 48 Karl Marx, Grundrisse . . ., a.a.O., S. 81 f. 49 Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 3 9 . 50 Grundrisse, S. 6 3 . 51 Karl Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEW 1, S. 3 7 9 . 52 Sozialistische Politik, Nr. 1 4 / 1 5 , a.a.O., S. 197 f. 53 Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 6 2 . 54 Hans Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf, Ffm. 1 9 7 1 , S. 2 8 7 . 55 Karl Marx, Zur Judenfrage, MEW Bd. 1, S. 3 7 0 . 56 Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 2 3 , S. 8 7 . 57 Karl Marx, Das Kapital Bd. I, MEW 2 3 , S. 8 7 . 58 Ebenda, S. 1 8 1 . 59 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, S. 4 4 9 . 60 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 2 3 , S. 5 5 7 . 61 Ebenda, S. 5 5 9 . 62 Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, MEW 2 5 , S. 8 3 2 . 63 Ebenda, S. 8 3 3 ; vgl. ferner Helmut Reichelt, Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Marx, a.a.O., S. 9 0 . 64 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 2 3 , S. 5 6 2 . 65 Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. 3, MEW Bd. 2 6 , S. 5 0 0 . 66 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 2 3 , S. 1 8 9 - 1 9 0 .
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Ebenda, S. 1 8 3 . Karl Marx, Grundrisse, a.a.O., S. 9 1 3 . Jakubowski, S. 4 3 . Paul Nizan, Für eine Kultur — Aufsätze zu Literatur und Politik in Frankreich. Reinbek bei Harnburg, 1 9 7 3 (das neue buch 2 7 ) , S. 19 f.
Viertes Kapitel 1 Vgl. dazu: Frank Deppe, Das Bewußtsein der Arbeiter, Studien zur politischen Soziologie des Arbeiterbewußtseins, Köln 1971 (Pahl-Rugenstein), S. 2 0 5 ff, und Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie, München 1 9 7 2 (List-Verlag), S. 2 2 3 ff. 2 Die Einheit von Arbeits- und Verwertungsprozeß im Kapitalismus wird dadurch hergestellt, daß es der Zweck jeder kapitalistischen Produktion ist, Mehrwert zu produzieren. Der Widerspruch einer warenproduzierenden Gesellschaft hinsichtlich des doppelten Charakters von Ware und Arbeit liegt darin, einerseits als Gebrauchswert bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen, andererseits als Tauschwert für den Kapitalisten Quelle von Mehrwert zu sein. Das Prinzip der Gewinnmaximierung ist also durch die gesellschaftlichen Produktions- und Tauschverhältnisse dem Kapitalisten selbst aufgezwungen. Geld und seine Verwandlung in Kapital hat daher die Bestimmung, mehr Geld zu werden, um wiederum im Produktionsprozeß als neue Maschinen, Werkzeuge oder Arbeitskraft zum Zwecke der Produktion von Überschüssen eingesetzt zu werden. 3 Karl Marx, Das Kapital, 1. Bd., MEW 2 3 , Berlin 1 9 6 9 , S. 2 1 1 . 4 Wulf D. Hund, Ulrich Matull, Konrad Ruff, Peter Volkmar, Qualifikationsstruktur und wissenschaftlich-technischer Fortschritt, Zum Begriff der Qualifikation, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (Pahl-RugensteinVerlag), Heft 1 0 / 1 9 7 2 , S. 1 0 8 4 - 1 0 9 9 u. 1 1 / 1 9 7 2 , S. 1 1 9 5 - 1 2 0 3 , hier vor allem S. 1 0 8 4 - 8 6 . 5 Marxistische Gruppe Erlangen/Nürnberg (Hg.), Kapitalistische Hochschulreform. Analysen und Dokumente, Erlangen 1972 (Politladen GmbH), S. 36 (im folgenden kurz: Kap. Hochschulreform, a.a.O . . . ) . 6 Wulf D. Hund, u. a., Qualifikationsstruktur . . . , a.a.O., S. 1 0 8 9 . 7 Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt/M. 1 9 6 9 , S. 5 5 . 8 Wulf D. Hund, u. a., Qualifikationsstruktur . . . , a.a.O., S. 1 0 9 0 . 9 Unter Gesamtarbeiter soll hier in Anlehnung an Karl Marx jener Zusammenhang des produktiven „Gesamtarbeiters" bezeichnet werden, dem alle direkt und indirekt in der Produktion tägigen „lebendigen" Glieder angehören: Produktionsarbeiter, Techniker, Ingenieure, Leiter der Produktion. Die weite Fassung des Begriffs des Gesamtarbeiters kann jedoch nicht identisch sein mit dem Begriff der Arbeiterklasse: vgl. dazu: Karl Marx, Das Kapital, I. Bd., MEW 2 3 , S. 5 3 1 / 5 3 2 ; zur gegenwärtigen Klassenanalyse vgl. vor allem: Margaret Tjaden-Steinhauer/Karl Hermann Tjaden, Zur Analyse der Sozialstruktur des deutschen Kapitalismus, in: Das Argument (Argument-Verlag, Karlsruhe), Nr. 6 1 , Heft 9 / 1 0 / 1 9 7 0 , S. 6 4 5 - 6 6 4 ; Heinz Jung, Zur Diskussion um den Inhalt des Begriffs „Arbeiterklasse" und zu Strukturveränderungen in der Westdeutschen Arbeiterklasse, in: Das Argument, Nr. 6 1 , Heft 9 / 1 0 / 1 9 7 0 , S. 6 6 5 - 6 9 8 ; Frank Deppe, „ A l t e " und „neue" Arbeiterklasse. Überlegungen zur Klassen-
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analyse der wissenschaftlich-technischen Intelligenz; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1 0 / 1 9 7 1 , S. 1 0 4 2 - 1 0 5 6 ; vgl. auch die verschiedenen Beiträge in: ökonomische Theorie, politische Strategie und Gewerkschaften, Auseinandersetzung mit neoreformistischen und neosyndikalistischen Anschauungen, hg. vom Institut für Marxistische Studien und Forschungen ( I M S F ) , Frankfurt/M. 1 9 7 1 , und die dort reichhaltig ausgebreitete Literatur! 10 Kap. Hochschulreform, a.a.O., S. 37. 11 Wulf D. Hund, u. a., Qualifikationsstruktur . . . , a.a.O., S. 1 0 9 1 . 12 Kap. Hochschulreform, a.a.O., S. 4 4 . 13 Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, a.a.O., S. 3 9 . 14 Karl Marx, Das Kapital, 1. Bd., MEW 2 3 , S. 5 0 4 ff. Marx zeigt hier das Problem der Schranken der allgemeinen Ausbeutbarkeit und die sozialen und medizinischen Konsequenzen der rücksichtslosen Ausbeutung am Beispiel der Kinder- und Frauenarbeit auf. 15 Vgl. Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: MEW 19, S. 1 7 7 - 2 2 8 . „Ideeller Gesamtkapitalist" (Fr. Engels) meint, daß der Staat gleichsam das Durchschnittsinteresse der vielen Einzelkapitale repräsentiert und die Rahmenbedingungen des Produktionsprozesses (Infrastruktur, Rechtsverhältnisse, Lohnarbeitsverhältnis, internationale Position) garantiert. D. h. nicht, daß der Staat allein als Ausführungsorgan, als Instrument der Monopole im heutigen Kapitalismus begriffen werden kann, sondern daß sich die Interessen der verschiedenen Einzelkapitale, der Monopolgruppen nur vermittelt und nicht widerspruchsfrei im Handeln des Staatsapparates realisieren. Der Staat ist also kein reeller Gesamtkapitalist, er tritt vielmehr „neben und außer" (Marx/Engels) die Gesellschaft, um die Bedingungen der Produktion zu garantieren. 16 Kap. Hochschulreform, a.a.O., S. 3 8 . 17 Ebenda, S. 3 9 . 18 Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie, München 1 9 7 2 (List-Verlag), S. 2 8 6 ff. (im folgenden kurz: Freerk Huisken, Zur Kritik . . . , a.a.O.). 19 Elmar Altvater, Der historische Hintergrund des Qualifikationsbegriffs, in: Elmar Altvater/Freerk Huisken (Hg.), Materialien zur Politischen Ökonomie des Ausbildüngssektors, Erlangen 1971 (Politladen GmbH), S. 7 7 - 9 0 , hier S. 83. 20 Kap. Hochschulreform, a.a.O., S. 4 0 . 21 Wir folgen hier den Grundzügen der Darstellung der bereits erwähnten kapitalistischen Hochschulreform, a.a.O., S. 46 ff. 22 Margaret Tjaden-Steinhauer/Karl Hermann Tjaden, Zur Analyse der Sozialstruktur des deutschen Kapitalismus, a.a.O., hier S. 6 4 8 — 6 5 0 . 23 Kap. Hochschulreform, a.a.O., S. 4 9 . 24 Martin Baethge, Ausbildung und Herrschaft, Unternehmerinteressen in der Bildungspolitik, Frankfurt/M. 1 9 7 0 (Europäische Verlagsanstalt), S. 2 3 . 25 Luc Jochimsen, Hinterhöfe der Nation. Die deutsche Grundschulmisere, Reinbek bei Hamburg 1971 (rororo 1 5 0 5 ) , S. 2 3 ; vgl. auch Hanno Schmitt, Zur gesellschaftspolitischen Aktivität der Lehrer, in: Gewerkschaft, Erziehung und Wissenschaft in Hessen (Hg.), Neuordnung der Lehrerausbildung. Planungen — Enttäuschungen — Alternativen, Frankfurt/M. 1 9 7 2 , S. 38—44, hier S. 3 9 : „Wenn für einen Hauptschüler in der B R D durchschnittlich 1 0 8 6 DM im Jahre ausgegeben werden, steht pro Gymnasiast fast doppelt soviel, nämlich 2 0 0 3 DM, zur Verfügung."
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26 Vgl. dazu die grundlegenden Aussagen von Karl Marx in der „Deutschen Ideologie", demzufolge die Ideologie der herrschenden Klasse immer zugleich die herrschende Ideologie einer je konkreten Gesellschaft ausmacht: Karl Marx, Die Deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1 9 6 9 , S. 4 6 . 27 Vgl. dazu kritisch: Werner Marken, Dialektik des bürgerlichen Bildungsbegriffes', in: Johannes Beck, u. a., Erziehung in der Klassengesellschaft, München 1972 (List-Verlag), S. 1 7 - 5 1 , hier S. 41 ff. 28 Werner Marken, Dialektik des bürgerlichen Bildungsbegriffs, a.a.O., S. 17. 29 Karl Hermann Tjaden, Politische Bildung als Affirmation und Kritik, in: Das Argument, Nr. 4 0 , Heft 5 / 1 9 6 6 , S. 3 6 1 - 3 8 5 . 30 Vgl. dazu allgemein: Ernst Bloch, Natunecht und menschliche Würde, Frankfurt/M. 1 9 7 2 (suhrkamp Taschenbuch), bes. S. 175 ff.
31 Die bürgerlich-reformerische Erziehungskonzeption Antoine Marquis de Con-
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dorcets erhofft sich von einer dem gesellschaftlichen Fortschritt entsprechenden allgemeinen Bildung die Nivellierung bestehender Klassengegensätze von Arm und Reich. Dadurch, daß Condorcet die Hierarchie der Produktionsund Sozialstruktur unangetastet läßt, bleibt sein Konzept einem zwar aufklärerischen, aber doch den Fortschritt des bürgerlichen Produktionssystems absichernden individualistischen Liberalismus verhaftet. In Preußen hat sich vor allem Wilhelm von Humboldt um die Wiederbelebung eines Humanismus bildungsbürgerlicher Prägung bemüht. Seine individualistisch-liberalistische Vorstellung von Bildung in Schule und Universität in „Einsamkeit und Freiheit" (Helmut Schelsky) kam dem Bedürfnis der sozialen Oberklassen entgegen, Bildung losgelöst von jeder gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit zu begreifen. Die politische Abstinenz der bürgerlichen Klassen wurde durch den Rückzug in die Innerlichkeit kompensiert. Werner Marken, Dialektik des bürgerlichen Bildungsbegriffs, a.a.O., S. 27-28. Hans Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschland, Bd. 2, Berlin 1 9 7 2 , 2. durchgesehene Aufl., S. 56 ff. Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt/M. 1 9 7 2 (suhrkamp taschenbuch), S. 199 f. Vgl. zum Gesamtkomplex Martin Baethge, Ausbildung und Herrschaft, Unternehmerinteressen in der Bildungspolitik, Frankfurt/M., 1 9 7 0 ( E V A ) . Vgl. dazu Monika Schmidt, Der mündige Gesamtschüler — Ein Mündel des Kapitals? , in: betrifft: erziehung, Nr. 8 / 1 9 7 2 , S. 3 2 - 3 9 . Manfred Müller, Stichwort Bildung, in: Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Soziologie, Berlin 1 9 6 9 , S. 8 4 - 8 9 , hier S. 87 f. Vgl. dazu Monika Schmidt, Der .mündige' Gesamtschüler . . . , a.a.O.; weiterhin Volker Hoffmann, Der Klassencharakter der Gesamtschule, Berlin 1 9 7 2 . Gernot Koneffke, Integration und Subversion — Zur Funktion des Bildungswesens in der spätkapitalistischen Gesellschaft, in: Das Argument, Nr. 5 4 , Heft 5 / 6 / 1 9 6 9 , S. 3 8 9 - 4 3 0 . Zur Formulierung der Ziele der Gesamtschule vgl. vor allem: Deutscher Bildungsrat, Gutachten und Studien der Bildungskommission. Lernziele der Gesamtschule, Stuttgart 1 9 6 9 ; Hartmut von Hentig, Systemzwang und Selbstbestimmung, Stuttgart 1 9 6 8 ; Johannes Beck/Lothar Schmidt (Hg.), Schulreform oder Der sogenannte Fortschritt, Frankfurt/M. 1 9 7 0 ; Wolfgang Klafki, Die integrierte Gesamtschule, in: ders., u. a. Erziehungswissenschaft, Bd. 1, Frankfurt/M. 1 9 7 0 (Fischer Verlag), S. 1 9 4 - 2 1 4 .
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41 Anne Beelitz, Die integrierte Gesamtschule — Regelschule oder Schulversuch?, in: Berichte des deutschen Industrieinstituts zu bildungs- und gesellschaftspolitischen Fragen, Nr. 3 / 1 9 7 1 , hier vor allem S. 52 ff. 42 Vgl. zur Rückwirkung der Studentenbewegung auf die Entwicklung einer kritischen Schülerbewegung: Manfred Liebel/Franz Wellendorf, Schülerselbstbefreiung, Frankfurt/M. 1 9 6 9 (edition suhrkamp 3 3 6 ) ; Hans-Jürgen Haug/Hubert Maessen, Was wollen die Schüler? Frankfurt/M. — Hamburg 1 9 6 9 . 43 Zur Problematik der Begriffe „wissenschaftlich-technische Revolution" und „Produktivkraft Wissenschaft", sowie zur Relativierung ihres Sprachgebrauchs: Wulf D. Hund, u. a., Qualifikationsstruktur und wissenschaftlich-technischer Fortschritt . . . , a.a.O., S. 1 0 8 6 ; Elmar Altvater, Produktivkraft Wissenschaft?, in: Elmar Altvater/Freerk Huisken (Hg.), Materialien zur Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors, a.a.O., S. 3 4 9 - 3 6 3 ; Martin Baethge, Abschied von Reformillusionen. Einige politisch-ökonomische Aspekte zum Ende der Bildungsreform in der B R D , in: betrifft: erziehung, Nr. 1 1 / 1 9 7 1 , S. 1 9 - 2 8 , hier bes. S. 2 3 ; vgl. auch: Ernest Mandel, Der Spätkapitalismus. Versuch einer marxistischen Erklärung, Frankfurt/M. (edition suhrkamp 5 2 1 ) hier S. 2 4 0 ; Kritik an den Begriffen und deren Relativierung beziehen sich hauptsächlich auf die These von der „unmittelbaren Produktivkraft Wissenschaft". Wissenschaftliche Tätigkeit wird nur dann zur Produktivkraft, wenn sie in den Bereich der unmittelbar materiellen Produktion einverleibt wird. Außerhalb dieser Produktion sind wissenschaftliche Qualifikationen nur potentielle, nicht reale Produktivkraft (vgl. vor allem Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf), Berlin 1 9 5 3 , S. 5 9 2 ff). 44 Zur ökonomischen Funktion der Rekonstruktionsperiode und ihrer Konsequenzen: Franz Janossy, Das Ende der Wirtschaftswunder, Erscheinung und Wesen der wirtschaftlichen Entwicklung, Frankfurt/M. 1 9 6 9 ; vgl. auch Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie, München 1 9 7 2 , vor allem unter bildungsökonomischem Aspekt. 45 Joachim Hirsch/Stephan Leibfried, Materialien zur Wissenschaftspolitik, Frankfurt/M. 1971 (edition suhrkamp 4 8 0 ) ; Joachim Hirsch, Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und politisches System. Organisation und Grundlagen administrativer Wissenschaftsförderung, Frankfurt/M. 1 9 7 0 (edition suhrkamp 4 3 7 ) . 46 Joachim Hirsch, Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und politisches System, a.a.O., S. 79. 47 Die Knappheit der Arbeitskräfte resultiert zumindest aus drei Faktoren: 1. Der Zustrom qualifizierter Facharbeiter aus der D D R wird mit dem Mauerbau vom 13. 8. 1961 unterbunden; 2. Die geburtsstarken Jahrgänge — vor allem vor Beginn des Zweiten Weltkrieges bis etwa zum Jahrgang 1940 ( 1 9 3 2 — 1 9 4 0 ) — werden von den kriegsbedingt schwachen Jahrgängen abgelöst. 3. Seit Mitte der 50er Jahre setzte ein Trend zu verstärkter Nachfrage nach Schulabschlüssen in weiterführende Schulen ein, der durch die Verlängerung der Ausbildungszeiten eine große Zahl von potentiellen Arbeitskräften der Wirtschaft vorenthielt;
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vgl. dazu vor allem: Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie, a.a.O., S. 3 1 4 ff. 48 Vgl. Joachim Hirsch/Stephan Leibfried, Materialien zur Wissenschafts- und Bildungspolitik, Frankfurt/M. 1 9 7 1 , S. 19. 49 Vgl. Jörg Huffschmid, Die Politik des Kapitals, Konzentration und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1969 (edition suhrkamp 3 1 3 ) , S. 14 ff. 50 Zur allgemeinen politökonomischen Entwicklung in der B R D , der Entwicklung ihres wirtschafts- und finanzpolitischen Instrumentariums: Jörg Huffschmid, Die Politik des Kapitals, a.a.O. 51 Zur Entwicklung des rüstungsbezogenen Anteils an den Forschungs- und Entwicklungsausgaben sowie ihrer detaillierten Kritik vgl.: Rainer Rilling, Kriegsforschung und Vernichtungswissenschaft in der B R D , Köln 1970 (Pahl-Rugenstein). 52 Joachim Hirsch/Stephan Leibfried, Materialien zur Wissenschaftspolitik und Bildungspolitik, a.a.O., S. 8. 53 Matthias Albrecht/Hans-Rainer Kaiser, Zur bildungspolitischen Situation in der B R D , in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 1 2 / 1 9 7 2 , S. 1297-1314. 54 Vgl. Martin Baethge, Abschied von Reformillusionen. Einige politisch-ökonomische Aspekte zum Ende der Bildungsreform in der B R D , a.a.O., S. 27. 55 Wulf D. Hund, u. a. Qualifikationsstruktur und wissenschaftlich-technischer Fortschritt (Teil II) . . . , a.a.O., S. 1 1 9 5 / 9 6 . 56 vgl. Anmerkung 9 57 Vgl. Anmerkung 9. Zum Verhältnis von objektiver Klassenlage und sozialer Bewußtseinsentwicklung vgl. Frank Deppe, Das Bewußtsein der Arbeiter, Studien zur politischen Soziologie des Arbeiterbewußtseins, Köln 1971 (Pahl-Rugenstein); Die neue Arbeiterklasse. Technische Intelligenz und Gewerkschaften im organisierten Kapitalismus, hg. von Frank Deppe, Hellmuth Lange und Lothar Peter, Frankfurt/M. 1 9 7 0 ( E V A ) , (vgl. vor allem die Einleitung!). 58 Wulf D. Hund, u. a. Qualifikationsstruktur und wissenschaftlich-technischer Fortschritt (Teil I) . . . , a.a.O., S. 1097. 59 Ebenda, S. 1 0 8 7 . 60 Ebenda, S. 1 0 9 2 . 61 Ebenda, S. 1 0 9 8 . 62 D. Mertens, Berufliche Flexibilität und adaptive Ausbildung in einer dynamischen Gesellschaft, in: R. Jochimsen/U. E. Simonis (Hg.), Theorie und Praxis der Infrastrukturpolitik, Berlin 1 9 7 0 , S. 8 0 , hier zitiert nach W. D. Hund, u. a., a.a.O., S. 1 0 9 8 . 63 Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie, a.a.O., S. 13. 64 Friedrich Edding, Internationale Tendenzen in der Entwicklung der Ausgaben für Schulen und Hochschulen, Kiel 1 9 5 8 ; ders., Ökonomie des Bildungswesens. Lehren und Lernen als Haushalt und als Investition, Freiburg 1 9 6 3 . 65 Adolf Kell, Die Abhängigkeit bildungsökonomischer Forschungen vom jeweiligen Wirtschaftssystem, dargestellt an Hand eines Vergleichs bildungsökonomischer Forschungen aus der B R D und der DDR, in: Zeitschrift für Pädagogik, Nr. 1/1972, S. 1 - 2 3 , hier S. 16. 66 Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie, a.a.O., S. 140 ff, S. 2 2 0 ff. 67 Hasso von Recum, Aspekte der Bildungsökonomie, Neuwied — Berlin 1969.
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68 Vgl. Freerk Huisken, a.a.O., S. 140 ff. 69 Einen Überblick über die verschiedenen Ansätze bietet: K. Bahr, Zusammenfassende Darstellung verschiedener Ansätze zur Bildungsplanung, in: Internationales Seminar über Bildungsplanung, hg. vom Institut für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin 1967, S. 29 ff; eine kritische Darstellung der ökonomischen Implikate liefern Becker/Jungblut, Strategien der Bildungsproduktion. Eine Untersuchung über Bildungsökonomie, Curriculum-Entwicklung und Didaktik im Rahmen systemkonformer Qualifikationsplanung, Frankfurt/M. 1 9 7 2 (edition suhrkamp 5 5 6 ) , S. 59 ff. 70 Egon Becker/Gerd Jungblut, a.a.O., S. 6 0 . 71 Zum Gesamtkomplex der verschiedenen Modelle der Politikberatung vgl. Karl Theodor Schuon, Wissenschaft, Politik und wissenschaftliche Politik, Köln 1 9 7 2 (Pahl-Rugenstein); ebenfalls: Egon Becker/Gerd Jungblut, a.a.O., S. 1 1 0 . 72 Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie, a.a.O., S. 55 ff, hier S. 6 8 . 73 Zur Kritik der Curriculum-Revision vgl.: Freerk Huisken, a.a.O., S. 104 ff. Egon Becker/Gerd Jungblut, a.a.O., S. 127 ff, S. 2 0 5 ff. Zum Scheitern der hessischen Curriculum-Reform als Musterbeispiel der dabei auftretenden politischen Probleme vgl. den Bericht in: betrifft: erziehung, Nr. 8 / 1 9 7 2 , Helmut Becker, Peter Bonn und Norbert Groddeck, Demokratisierung als Ideologie? Anmerkungen zur Curriculum-Entwicklung in Hessen, S. 1 9 - 2 9 . 74 Reinhard Kühnl, Anmerkungen zur politischen Funktion der deutschen Geschichtswissenschaft seit der Reichsgründung 1 8 7 1 , in: Das Argument 7 0 , Kritik der bürgerlichen Geschichtswissenschaft I, S. 5—21, hier S. 6. 75 Basisgruppe Geschichtswissenschaft Hamburg (Basis GWS), Historie zwischen Ideologie und Wissenschaft. Zur Kritik der herrschenden Geschichtswissenschaft, Hamburg 1 9 7 0 , 2. Aufl., S. 3 7 . Generell: vgl. ebenfalls: Arbeitskreis kritischer Historiker Marburg (Hg.), Kampf der bürgerlichen Geschichtswissenschaft, Marburg 1972 (mehr unter Aspekten der Studienreform); eine umfassende Kritik liefern ebenfalls: Werner Berthold u. a. (Hg.), Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung, Köln 1971 (Pahl-Rugenstein), besonders S. 67 ff; vgl. weiterhin: Joachim Streisand (Hg.), Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben, Berlin 1963; Joachim Streisand (Hg.), Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung von der Reichseinigung von oben bis zur Befreiung vom Faschismus, Berlin 1 9 6 5 ; zur Entwicklung des Historismus vgl. auch: Georg E. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsfälschungen von Herder bis zur Gegenwart, München 1971 (DTV). 76 Die Zitate sind der Darstellung der Basis GWS, Historie zwischen Ideologie und Wissenschaft, a.a.O., entnommen: S. 12, S. 2 6 ; vgl.: Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft, a.a.O., S. 86 ff; vgl. Basis GWS, Historie zwischen Ideologie und Wissenschaft . . . , a.a.O., S. 16 ff; vgl. ebenda, S. 20 ff, S. 34 ff;
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vgl. ebenfalls Imanuel Geiss, Kritischer Rückblick auf Friedrich Meinecke, in: Das Argument 70, a.a.O., S. 2 2 - 3 6 . 77 Vgl. dazu Imanuel Geiss, Studien über Geschichte und Geschichtswissenschaft, Frankfurt/M. 1 9 7 2 , S. 108 ff. 78 Vgl. auch die verschiedenen Aufsätze in: Das Argument 75, Kritik der bürgerlichen Geschichtswissenschaft II. 79 Reinhard Kühnl, Anmerkungen zur politischen Funktion . . . , a.a.O., S. 20/21. 80 Allgemein zur Entnazifizierung: Reinhard Kühnl, Die Auseinandersetzung mit dem Faschismus in B R D und D D R , in: Anne Hartmann u. a., B R D - D D R . Vergleich der Gesellschaftssysteme, Köln 1971 (Pahl-Rugenstein), S. 2 4 8 - 2 7 1 . J. Fürstenau, Entnazifizierung. Ein Kapitel deutscher Nachkriegspolitik, Neuwied—Berlin 1 9 6 9 ; Zur Entnazifizierung der Lehrerschaft in der S B Z : KarlHeinz Günther/Gottfried Uhlig, Geschichte der Schule in der Deutschen Demokratischen Republik 1 9 4 5 - 1 9 6 8 , Berlin, bes. S. 2 9 . Bei Kriegsende gab es auf dem Gebiet der späteren SBZ 39 3 4 8 Lehrer und Lehrerinnen, 28 719 davon waren NSDAP-Mitglieder! Für die Westzonen: vgl. die rasche Verteidigungs- und Integrationspolitik der Flüchtlingslehrer, die alle in die Westzonen abwanderten: Hessische Lehrer-Zeitung (HLZ), J g . 1 9 4 8 / 4 9 , Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung (ADLZ), J g . 1 9 4 9 . 81 Claus Leggewie, Geschichte in Schul- und Sachwörterbüchern, in: Das Argument 70, a.a.O., S. 218—265, hier S. 231 (im folgenden kurz: Leggewie, a.a.O., S. . . . ; ) Berichtigung des Zitats im T e x t : Professor A. Hillgruber lehrt mittlerweile in Köln. 82 Antrag der Jungsozialisten Rösrath an den Bundeskongreß der Jungsozialisten in Bremen vom 1 1 . - 1 3 . 12. 1 9 7 0 , in: betrifft: erziehung, Heft 2 / 1 9 7 2 , S. 4 8 . 83 Peter Altmann, Zum Mechanismus heutiger Schulbuchproduktion, in: Kampf der Verdummung, Materialien einer Schulbuchkonferenz, Frankfurt/M. 1 9 7 1 , S. 3 3 - 4 2 , hier S. 3 3 / 3 4 (im folgenden kurz: Kampf der Verdummung, a.a.O., S . . . . ) . 84 Vgl. Kampf der Verdummung, S. 35 f und 81 ff. 85 Ebenda, S. 36—38; einige ausgewählte Richtlinien sind in dem Anhang dieses Buches zu finden, S. 75—85. 86 Ebenda, S. 3 8 , eine ausführliche Darstellung der Gutachterpraxis findet sich im Anhang; S. 8 5 - 9 2 ; vgl. auch Leggewie, a.a.O., S. 2 2 9 . 87 Zur Kritik dieses Sozialkundebuches vgl. Kampf der Verdummung, a.a.O., S. 7-23; vgl. vor allem auch das Gutachten von Michael Imhof, Marburg/L. für die GEW Marburg, o. O., o. J g . 88 betrifft: erziehung, Heft 2 / 1 9 7 2 , a.a.O., S. 4 8 . 89 Leggewie, a.a.O., S. 2 2 9 . 90 Ebenda, S. 2 2 3 . 91 Egon Becker, Sebastian Herkommer, Joachim Bergmann, Erziehung zur Anpassung? , Frankfurt/M. 1967 (Wochenschau-Verlag), S. 127 ff. 92 Vgl. dazu Hans Müller, Zur Effektivität des Geschichtsunterrichts, Stuttgart 1 9 7 2 (Klett-Verlag), Hans Müller hat in einer empirischen Untersuchung an Hauptschulen auf die Frage „Arbeiten Sie vorwiegend im Geschichtsunter-
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richt mit Lehrererzählungen, Geschichtsbuch oder Quellen? " von den Lehrern folgende Antworten erhalten: Lehrererzählung 29,17% Geschichtsbuch 41,67 % Quellen 20,82 % keine Antwort 8,33 % Aus dieser Untersuchung geht hervor, daß die Verwendung des Geschichtsbuchs im Unterricht am beliebtesten ist; man kann aber mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, daß der Inhalt der Lehrererzählungen ebenfalls aus den Geschichtsbüchern stammt, so daß sich der Stellenwert des Schulbuchs noch erheblich erhöht. Diese statistische Verteilung läßt sich zwar nicht unmittelbar auf das Gymnasium übertragen, die Abweichungen werden aber wahrscheinlich nicht allzu groß sein. 93 Vgl. dazu: Rolf Schmiederer, Zur Problematik politischer Bildung, in: Das Argument 4 0 , Heft 5 / 1 9 6 6 , S. 3 9 4 ; ebenfalls: Leggewie, a.a.O., S. 2 3 3 . 94 Leggewie, a.a.O., S. 2 3 5 . 95 Vgl. dazu: Leggewie, a.a.O., S. 2 2 4 ; vgl. vor allem auch Anm. 9 2 . 96 Vgl. dazu Hans Müller, Zur Effektivität des Geschichtsunterrichts, a.a.O., besonders S. 125 ff. 97 Vgl. zu folgendem vor allem: Freerk Huisken, Anmerkungen zur Klassenlage der pädagogischen Intelligenz, in: Elmar Altvater/Freerk Huisken (Hg.), Materialien zur Politischen Ökonomie des Ausbildungssektors, a.a.O., S. 405—438 (im folgenden kurz: Huisken, Anmerkungen . . . , a.a.O.). 98 Huisken, Anmerkungen . . . , a.a.O., S. 4 1 8 . 99 Ebenda, S. 4 1 9 . 100 Vgl. die „Stellungnahmen von Juristen zu den von der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossenen .Grundsätzen zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst' ", in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Köln, Heft 2 / 1 9 7 2 , S. 1 2 4 - 1 6 5 ; Heft 3 / 1 9 7 2 , S. 2 4 6 - 2 9 4 ; vgl. ebenfalls: Erich Frister/Luc Jochimsen (Hg.) Wie links dürfen Lehrer sein? Unsere Gesellschaft vor einer Grundsatzentscheidung, Reinbek bei Hamburg 1972 (rororo aktuell 1 5 5 5 ) . 101 Ebenda. 102 Schulrecht, Ergänzbare Sammlung der Vorschriften für Schule und Schulverwaltung in Hessen, hg. von Paul Seipp und Mitarbeitern, Neuwied seit 1950 VI A I, S. 1 w. 103 Vgl. z. B. die Frankfurter Rundschau vom 1 5 . 12. 1972 mit den beiden Artikeln: „NPD-Mann darf Richter bleiben, Hamburger Richter-Dienstsenat lehnt Disziplinarverfahren ab" und „Keine Ausnahme für Professoren. Bremer Gericht begründet Ablehnung eines DKP-Hochschullehrers", aus denen eindeutig hervorgeht, daß mit zweierlei Maß gemessen wird. 104 Schulrecht, Ergänzbare Sammlung . . . , a.a.O., S. 2 a. 105 Huisken, Anmerkungen . . . , a.a.O., S. 4 1 9 . 106 Ebenda, S. 4 2 1 ; vgl. zum Begriff der produktiven Arbeit auch: Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie, a.a.O., S. 261 ff. 107 Huisken, Anmerkungen . . . , a.a.O., S. 4 2 2 . 108 Ebenda, S. 4 0 8 . 109 Ebenda, S. 4 2 1 . 110 Ebenda, S. 4 2 1 ; vgl. auch S. 4 1 1 .
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111 Ebenda, S. 4 2 4 . 112 Ebenda, S. 4 2 5 . 113 Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie, a.a.O., S. 2 0 3 . 114 Wulf D. Hund, u. a., Qualifikationsstruktur . . . , a.a.O., S. 1 2 0 1 / 2 . 115 Ebenda, S. 1 2 0 2 . 116 Freerk Huisken, Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie, a.a.O., S. 2 0 7 . 117 Ebenda, S. 2 0 7 . 118 Ebenda, S. 3 8 6 / 7 . 119 Ebenda, S. 3 8 8 . 120 Gerwin Schefer, Das Gesellschaftsbild des Gymnasiallehrers, Frankfurt/M. 1969 (Suhrkamp) (im folgenden kurz: Gerwin Schefer: Das Gesellschaftsbild . . . , a.a.O.). 121 Vgl. das unveröffentlichte Manuskript von Arnulf Hopf, Politik und Gesellschaft im Bewußtsein von Lehrern. Eine empirische Einstellungsuntersuchung bei hessischen Absolventen der Abteilung für Erziehungswissenschaften (apl. Lehrer) nach 1 9 6 8 , Marburg/L. 1 9 7 3 . 122 Gerwin Schefer: Das Gesellschaftsbild . . . , a.a.O., S. 1 7 9 ; vgl. auch S. 35 ff. 123 Huisken, Anmerkungen . . . , a.a.O., S. 4 1 8 ; vgl. ferner zur „kapitalistischen Reformpolitik": Martin Baethge, Abschied von Reformillusionen . . . , a.a.O., S. 2 7 / 2 8 . 124 Gerwin Schefer, Das Gesellschaftsbild . . . , a.a.O., S. 40 ff. 125 Ebenda, S. 43 ff. 126 Ebenda, S. 1 7 9 ; vgl. auch 30 ff. 127 Ebenda, S. 5 4 . 128 Ebenda, S. 1 7 9 ; vgl. auch S. 45 ff. 129 Ebenda, S. 82 ff; S. 94 ff; S. 1 8 0 . 130 Ebenda, S. 1 7 9 / 1 8 0 . 131 Ebenda, S. 9 9 . 132 Ebenda, S. 78 ff und S. 1 8 0 . 133 Egon Becker, Sebastian Herkommer, Joachim Bergmann, Erziehung zur Anpassung? , a.a.O., S. 9 0 . 134 Gerwin Schefer, Das Gesellschaftsbild . . . , a.a.O., S. 7 8 . 135 Egon Becker, u. a„ Erziehung zur Anpassung? , a.a.O., S. 1 4 8 . 136 Ebenda, S. 147. 137 Ebenda, S. 126 f und S. 1 4 0 ; vgl. auch Gerwin Schefer, Das Gesellschaftsbild . . . , a.a.O., S. 7 8 . 138 Gerwin Schefer, Das Gesellschaftsbild . . . , a.a.O., S. 1 8 0 ; vgl. auch S. 124 ff. 139 Arno Combe, Kritik der Lehrerrolle, München 1971 (List-Verlag) S. 2 0 . 140 Ebenda, S. 2 0 . 141 Gerwin Schefer, Das Gesellschaftsbild . . . , a.a.O., S. 1 6 8 . 142 Ebenda, S. 1 7 1 . 143 Ebenda, S. 1 6 9 ; S. 1 7 0 ; S. 1 7 3 . 144 Ernest J o u h y , Die antagonistische Rolle des Lehrers im Prozeß der Reform, in: Erziehung in der Klassengesellschaft, München 1 9 7 0 (List-Verlag), S. 2 2 4 - 2 4 6 , hier S. 2 4 5 . 145 Huisken, Anmerkungen . . . , a.a.O., S. 4 1 7 . 146 Gerwin Schefer, Das Gesellschaftsbild . . . , a.a.O., im Nachwort von Helge Pross, S. 2 4 9 . 147 Ebenda, S. 2 4 9 .
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148 Ebenda, S. 2 5 3 . 149 Vgl. zum Begriff der Sozialisation: Heinz Abels (Hg.), Sozialisation in der Schule, Bochum 1 9 7 1 , S. 2 ff, „Sozialisation bedeutet . . . einmal die Befä-
higung des Einzelnen zur Auseinandersetzung mit den Anforderungen und Chancen der umgebenden Gesellschaft. Neben diese allgemeine Explikation muß die Ausrichtung auf das soziale Verhalten treten: Sozialisation ist
zweitens die Befähigung des Einzelnen zur Durchsetzung individueller Interessen, d. h. die Befähigung, selbstentscheidende Ziele anzustreben und selbstverantwortlich zu verwirklichen" (Hervorhebung im Text, d. Verf.). Ebenda, S. 3. 150 Hans Müller, Zur Effektivität des Geschichtsunterrichts, a.a.O., S. 5 1 ; nach Heinz Abels (Hg.), Sozialisation in der Schule, a.a.O., gehören 44 % der Bevölkerung zur Arbeiterklasse; vgl. dazu vor allem: Heinz Jung, Zur Diskussion um den Inhalt des Begriffs „Arbeiterklasse" und zu Strukturveränderungen in der westdeutschen Arbeiterklasse, in: Das Argument, Heft 9 / 1 0 / 1 9 7 1 , S. 6 6 5 - 6 9 8 , hier vor allem S. 687 ff. 151 Armin Gutt/Ruth Salffner, Sozialisation und Sprache, Didaktische Hinweise zu emanzipatorischer Sprachschulung, Frankfurt/M. 1 9 7 1 , S. 11. 152 Heinz Abels (Hg.), Sozialisation in der Schule, a.a.O., S. 2 9 6 . 153 Sozialisation und kompensatorische Erziehung, Ein soziologisches Seminar an der Freien Universität Berlin als hochschuldidaktisches Experiment, Berlin 1 9 6 9 , S. 143. 154 Vgl. Undeutsch, Zum Problem der begabungsgerechten Auslese beim Eintritt in die höhere Schule und während der Schulzeit, in: Begabung und Lernen, hg. von Heinrich Roth (= Gutachten und Studien 4 ) , Stuttgart 1968, S. 3 7 7 - 4 0 5 , hier S. 3 9 3 - 3 9 5 . 155 Gutt/Salffner, Sozialisation und Sprache, a.a.O., S. 2 4 . 156 Roeder, u. a., Sozialstatus und Schulerfolg, Heidelberg 1 9 6 5 . 157 Vgl. z. B. Basil Bernstein, Sprache und Soziale Schicht. Ein Forschungsbericht, in: ders., Soziale Struktur, Sozialisation und Sprachverhalten, Aufsätze von 1 9 5 8 — 1 9 7 0 , Verlag de Munter Amsterdam 1970 (Schwarze Reihe Nr. 8 ) , S. 3 6 - 4 2 . 158 Basil Bernstein, Linguistische Codes, Verzögerungsphänomene und Intelligenz, in: ders., Soziale Struktur, Sozialisation und Sprachverhalten, a.a.O., S. 6 2 - 8 3 , hier die Tabelle auf S. 7 1 . 159 Basil Bernstein, Soziale Struktur, Sozialisation und Sprachverhalten, a.a.O.; Bernsteins Ergebnisse in englischer Sprache müssen mit Vorsicht ausgewertet werden, weil sich bei der Übersetzung eine Differenz ergibt zwischen dem englischen Wort „class", das eigentlich dem deutschen ,,Schicht"-Begriff der bürgerlichen Soziologie entspricht, und dem marxistischen Klassenbegriff; vgl. zu Bernstein weiter: Basil Bernstein, Ulrich Oevermann, Regine Reichwein, Heinrich Roth, Lernen und soziale Struktur, Aufsätze 1 9 6 5 — 1 9 7 0 , Verlag de Munter, Amsterdam (Schwarze Reihe Nr. 9 ) ; zur Kritik der Bernstein-Overmannschen Theorie: Konrad Ehlich, J o s e f Hohnhäuser, Frank Müller, Dietmar Wiehle, Spätkapitalismus — Sozio-linguistik — Kompensatorische Erziehung, in: Kursbuch 24 (Wagenbach-Verlag), S. 3 3 - 6 0 . 160 Heinz Abels (Hg.), Sozialisation in der Schule, a.a.O., S. 2 9 4 . 161 Oskar Negt, Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie und Praxis der Arbeiterbildung, Frankfurt/M. 1971 ( E V A ) , S. 5 9 .
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Gutt/Salffner, Sozialisation und Sprache, a.a.O., S. 2 6 . Ebenda, S. 2 0 . Kursbuch 2 4 , a.a.O., S. 5 4 . Gutt/Salffner, Sozialisation und Sprache, a.a.O., S. 2 6 . Ebenda, S. 2 2 / 2 3 . Ebenda, S. 2 3 . Vgl. vor allem: Manuela du Bois-Reymond, Strategien kompensatorischer Erziehung. Das Beispiel der USA, Frankfurt/M. 1 9 7 1 , S. 139 ff. 169 Vgl. dazu vor allem: Oskar Negt, Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen, a.a.O. 170 Sozialisation und kompensatorische Erziehung, a.a.O., S. 1 3 9 . 171 Ebenda, S. 140. 1 72 Gutt/Salffner, Sozialisation und Sprache, a.a.O., S. 2 4 . 173 Hans Müller, Zur Effektivität des Geschichtsunterrichts, a.a.O., S. 5 1 / 5 2 . 174 L. von Friedeburg, P. Hübner, Das Geschichtsbild der Jugend, München 1964. 175 Mit einer Ausnahme, auf die unten eingegangen wird. 176 Vgl. Bergmann, Klaus, Preisler, Volkmar, Wischniowski, Detlev, Geschichtsunterricht-Relikt oder Notwendigkeit, in: Das Argument Nr. 7 0 , Sonderband, S. 1 9 5 - 2 1 7 . 177 von Friedeburg, Hübner, a.a.O., S. 4 5 . 178 Zitiert nach von Friedeburg, Hübner, S. 9. 179 Vgl. Becker, Egon, Herkommer, Sebastian, Bergmann, Joachim, Erziehung zu Anpassung? , Frankfurt/M. 1 9 6 7 . 180 Vgl. ebenda, S. 1 5 8 - 1 6 1 , 165 und 1 7 5 ; s. auch S. Herkommer, Politische Bildung in der B R D , in: betrifft: erziehung, J g . 1, 1 9 6 8 , H. O. 181 Zur Umerziehung s. U. Schmidt, T. Fichter, Der erzwungene Kapitalismus, Berlin 1 9 7 1 , S. 1 1 7 - 1 6 9 , bes. S. 1 3 5 - 1 5 3 . 182 Vgl. dazu auch Bergmann u. a., Geschichtsunterricht, a.a.O., S. 195—196. 183 Amtsblatt des Hessischen Kultusministers, J g . 17, 1 9 6 4 , S. 4 5 ; s. auch ebenda, S. 4 5 0 — 4 6 4 ; vgl. die bisherige Regelung im Amtsblatt von 1957, Sondernummer 4, S. 4 6 7 — 4 6 8 , s. dort auch S. 465—481 zur Aufgabe des Geschichtsunterrichts an Gymnasien. 184 Der primäre Grund für die technologische Reform hat allerdings in ökonomischen Notwendigkeiten gelegen. Die Veränderungen im Fächerkanon müssen im Rahmen der Bemühungen um eine Effektivierung der Schule in Richtung auf die veränderten Produktionsbedingungen (s. viertes Kapitel C) gesehen werden. 185 Wir plädieren hier keineswegs für eine Wiedereinführung der genannten Fächer. Daß diese Fächer besonders ideologieträchtig waren und sind, heißt aber noch nicht, daß sie nicht wenigstens noch vermittelt eine historische Dimension hätten. 186 Vgl. Bazon Brock, Wahrlich die endgültige Verelendung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 2 7 . 12. 72, S. 2 4 . 187 Siehe: Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Vereinbarung zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe II vom 7. Juli 1 9 7 2 , Neuwied, August 1 9 7 2 , S. 1 7 - 2 4 . Inzwischen sollen schon andere Vorstellungen über den Fächerkanon entwickelt worden sein. Das berührt aber nicht unseren Hauptargumentationsstrang, der nicht in der Diskussion um das Fach Geschichte, sondern in der Auseinandersetzung um die Inhalte des Geschichtsunterrichts und das ge-
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schichtliche Denken über den schulischen Rahmen hinaus besteht. 188 Vgl. K. H. Tjaden, Soziales System und sozialer Wandel, Stuttgart 1 9 6 9 , S. 7/8 und 1 6 - 3 0 ; K. H. Tjaden (Hg.), Soziale Systeme, Neuwied und Berlin 1 9 7 1 , S. 1 3 - 5 2 , 189 K. H.Tjaden (Hg.). Soziale Systeme, a.a.O., S. 14. Für die Volkswirtschaftslehre, die sich als „Wirtschaftslehre" im Wahl- und Pflichtbereich und als Grund- und Leistungskurs findet, weist Hofmann den Verzicht auf Geschichte nach, s. W. Hofmann, Universität, Ideologie, Gesellschaft, Beiträge zur Wissenschaftssoziologie, Frankfurt/M. 1 9 6 8 . 190 Hans Albert, Probleme der Wissenschaftslehre, in: Handbuch der empirischen Sozialforschung, hg. von René König unter Mitarbeit von Heinz Maus, Stuttgart 1 9 6 2 , Bd. I, S. 3 8 - 6 3 . 191 Karl R. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Th. W. Adorno, u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied und Berlin 1972, S. 1 0 3 - 1 2 3 . 192 Autorenkollektiv, Die Wissenschaft von der Wissenschaft, Berlin (DDR) 1 9 6 8 , S. 3 2 , s. auch S. 2 6 - 3 2 . 193 Autorenkollektiv, Historie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Hamburg 1970, S. 3 6 . 194 Vgl. den Abschnitt über den Historismus in diesem Kapitel. 195 Hofmann, Universität, a.a.O., S. 1 2 9 . 196 Brock, Verelendung . . . , a.a.O., S. 2 4 , s. auch Klaus Buhr, Philosophisches Wörterbuch, a.a.O., S. 4 0 5 — 4 1 1 . Das Prozeßdenken dieser Zeit war allerdings keines im marxistischen Sinne. 197 Bergmann u. a., Geschichtsunterricht, a.a.O., S. 2 1 3 , die Hervorhebungen sind von uns, d. Verf. 198 Vgl. Rahmenrichtlinien, a.a.O., S. 2 5 / 2 6 , s. auch S. 1 8 - 3 0 , wo einige fortschrittliche Ansätze zu finden sind. Hier sind die Ergebnisse der oben erwähnten Studie eingegangen, was insofern nicht überraschend kommt, als einer der Autoren (v. Friedeburg) inzwischen Kultusminister von Hessen ist. 199 Vgl. Deppe, Arbeiterbewußtsein, a.a.O., S. 8, S. 74 oben ff, s. auch S. 118—205 und im Perspektivenkapitel die Angaben über Streiks und die Streikbereitschaft der westdeutschen Arbeiter in den letzten Jahren. 2 0 0 Vgl. Negt, Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen, Frankfurt am Main 1 9 7 1 , S. 4 5 , wo Negt die Tendenz zur Personalisierung bei den Arbeitern unter den Begriff der kognitiven Entfremdungsmechanismen faßt. 201 Vgl/Bergmann u. a., Geschichtsunterricht, a.a.O., S. 2 1 6 . 2 0 2 Vgl. H. Deppe-Wolfinger in F. Deppe, Arbeiterbewußtsein, a.a.O., S. 3 0 9 ff, wo sie begrifflich vier Stufen für die Bewußtseinsbildung der Arbeiterjugend unterscheidet: 1. Konfliktbewußtsein, 2. Lagebewußtsein, 3. Interessenbewußtsein und 4. Klassenbewußtsein. 2 0 3 Siehe Klaus, Buhr, Philosophisches Wörterbuch, a.a.O., Stichwort „gesellschaftliches Bewußtsein", S. 4 2 3 - 4 2 5 . 2 0 4 Vgl. Negt, Soziologische Phantasie . . . , a.a.O., S. 83 ff. 2 0 5 Vgl. dazu Klaus, Buhr, Philosophisches Wörterbuch, a.a.O., S. 4 0 2 - 4 0 4 (Geschichte), S. 4 1 2 - 4 1 4 (geschichtliches Denken), S. 4 1 5 - 4 1 8 (Geschichtsphilosophie), S. 6 8 4 — 6 9 4 (Materialismus, dialektischer und historischer), das berühmte Marxzitat aus dem Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie", MEW 13, S. 8 f. Die ausführlichste Darstellung des Historischen Materialismus findet sich im Original bei Engels, Anti-Dühring (MEW 2 0 ) und ders., L. Feuerbach und der Ausgang der klassischen deut6
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schen Philosophie (MEW 2 1 ) . Ein hervorragendes Beispiel für seine Anwendung ist die Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" von Karl Marx (MEW 8 ) . Vgl. Neuordnung der Lehrerausbildung, Planungen, Enttäuschungen, Alternativen, hg. von der GEW in Hessen, Frankfurt am Main 1 9 7 2 , S. 1 7 5 - 2 0 3 . Zur Problematik der Subsumierung der Begriffe „Wissenschaft" und „Technik" unter die Produktivkräfte vgl. Anmerkung 43 dieses Kapitels. Neuordnung der Lehrerausbildung, a.a.O., S. 177—178. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, MEW 13, S. 9.
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Heinrich Popitz, u. a., Das Gesellschaftsbild des Arbeiters, Tübingen 1957. Vgl. dazu die Analyse der Septemberstreiks: IMSF (Hg.), Die Septemberstreiks 1 9 6 9 , Darstellung - Analysen - Dokumente, Köln 1969 (Pahl-Rugenstein-Verlag). Vgl. dazu die Stellungnahmen verschiedener Juristen in den „Blättern für deutsche und internationale Politik"; Nr. 2 / 1 9 7 2 und 3 / 1 9 7 3 . Vgl. dazu: Gerhard Stuby, Stehen wir vor einem neuen Sozialistengesetz? in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 1/1972, S. 5 9 - 7 6 ; ebenfalls: Autorenkollektiv, Materialien zum Berufsverbot, Offenbach 1972 (Reihe Roter Pauker). Peter Altmann, Bauchlandung des Dr. Wallmann, in: Marburger Echo, Nr. 8 (1972). Vgl. Peter Altmann, Bauchlandung . . . , a.a.O. vgl. auch das Gutachten von M. Imhof, Marburg/L„ für die GEW/Marburg, o.O., o . J . Hans-Hermann Hartwich, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher Status quo, Köln—Opladen 1 9 7 0 , besonders S. 54 ff. Johannes Beck, Demokratische Schulreform in der Klassengesellschaft?, in: Johannes Beck, u. a., Erziehung in der Klassengesellschaft, München 1 9 7 0 , S. 9 0 - 1 2 3 , hier vor allem S. 1 1 9 / 1 2 0 . Vgl. Günter Berndt, Reinhard Strecker (Hg.), Polen — ein Schauermärchen oder Gehirnwäsche für Generationen, Reinbek bei Hamburg 1971 (rororo aktuell 1 5 0 0 ) . Vgl. Friedhelm Nyssen, Schule im Kapitalismus, Der Einfluß wirtschaftlicher Interessenverbände im Felde der Schule, Köln 1969 (Pahl-RugensteinVerlag). Winfried Schwanborn, Thomas Schmitt, Wehrkunde — Militär in den Schulen, Teil I/II, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 8 / 1 9 7 2 , S. 8 1 5 - 8 3 1 und Nr. 9 / 1 9 7 2 , S. 9 7 1 - 9 9 2 . Ebenda, S. 8 3 0 . Ebenda, S. 8 3 1 . Hessisches Kultusministerium (Hg.), Rahmenrichtlinien. Sekundarstufe I: Gesellschaftslehre, Wiesbaden 1 9 7 2 , S. 2 5 . Vgl. die sozialwissenschaftliche Unterrichtsreihe, hg. von Rolf und Ingrid Schmiederer, die — mit Einschränkungen — zu empfehlen ist; in diesem Zusammenhang sei auch auf die demnächst erscheinenden Modelle zum Geschichtsunterricht im Kölner Pahl-Rugenstein-Verlag hingewiesen. Vgl. bes. Kritik der bürgerlichen Geschichtswissenschaft, Das Argument 70 u. 7 5 , Berlin 1 9 7 2 .
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Auswahlbibliographie A. Schulbücher G. Bonwetch u. a. (Bearbeiter), Grundriß der Geschichte Ausgabe B, Bd. 2, Vom späten Mittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart (Klett) 1 9 7 0 , 7. Aufl. zit. als Klett I G. Bonwetch u. a. ( B . ) , Grundriß der Geschichte, Ausgabe B, Bd. 3 - Von 1 8 5 0 bis zur Gegenwart, Stuttgart (Klett) 1 9 7 0 , 6. Aufl. zit. als Klett II H. Gundel ( B . ) , Grundriß der Geschichte für die Oberstufe der höheren Schulen, gekürzte zweibändige Ausgabe B, Bd. 1 — Von der Urzeit bis zum Ende des Absolutismus, Stuttgart (Klett) 1 9 7 0 , 3. Aufl. zit. als Klett III Bd. 2 — Die moderne Welt (Von der bürgerlichen Revolution bis zur Gegenwart), o. J . , zit. als Klett III A J. Grolle ( B . ) , Menschen in ihrer Zeit, Bd. 4 — In der frühen Neuzeit, Stuttgart 1 9 7 0 , zit. als Klett IV J. Grolle u. a. ( B . ) , Menschen in ihrer Zeit, Bd. 5 — Im vorigen Jahrhundert, Stuttgart (Klett) 1 9 7 1 , zit. als Klett V F. J. Lucas/H. Bodensiek, E. Rumpf ( B . ) , Menschen in ihrer Zeit — In unserer Zeit - Stuttgart (Klett) 1 9 7 1 , 2. Aufl., zit. als Klett VI J. Grolle ( B . ) , Handreichungen für den Lehrer, zu „Menschen in ihrer Zeit", Bd. 4, Stuttgart (Klett) 1 9 7 1 , zit. als Klett VII P. Furth u. a. ( B . ) , Handreichungen für den Lehrer, zu „Menschen in ihrer Zeit", Bd. 5, Stuttgart (Klett) 1 9 7 1 , zit. als Klett VIII F. J. Lucas/H. Bodensiek, E. Rumpf ( B . ) , Handreichungen für den Lehrer „zu Menschen in ihrer Zeit", Bd. 6, Stuttgart (Klett) 1 9 7 1 , zit. als Klett IX W. Kühn, Erzählungen aus der Geschichte, Bd. I zu „Menschen in ihrer Zeit", Stuttgart (Klett) 1 9 7 1 , zit. als Klett X E. Kaiser (Hg.), Grundzüge der Geschichte für die Mittelstufe an Gymnasien, Bd. 2 — Vom Frankenreich zum Westfälischen Frieden, Frankfurt am Main (Diesterweg) 1 9 7 1 , 8. Aufl., zit. als Diesterweg I E. Kaiser (Hg.), Grundzüge der Geschichte Bd. 3 — Vom Westfälischen Frieden bis zum Jahre 1 8 9 0 — Frankfurt am Main (Diesterweg) 1 9 7 1 ; zit. als Diesterweg II E.Kaiser (Hg.), Grundzüge der Geschichte, Bd. 4 — V o n 1 8 9 0 bis zur Gegenwart — Frankfurt am Main (Diesterweg) 1 9 7 1 , zit. als Diesterweg III H. Busley ( B . ) , Spiegel der Zeiten, Ausgabe B, Bd. 2 — Vom Frankenreich bis zum Westfälischen Frieden — Frankfurt am Main (Diesterweg) 1 9 7 1 , zit. als Diesterweg IV H. E. Mager ( B . ) , Spiegel der Zeiten, Ausgabe B, Bd. 3 — Vom Absolutismus bis zum Imperialismus —Frankfurt am Main (Diesterweg) 1 9 7 1 , zit. als Diesterweg V J. Hoffmann ( B . ) , Spiegel der Zeiten, Ausgabe B, Bd. 4 — Von der Russischen Revolution bis zur Gegenwart — Frankfurt am Main (Diesterweg) 1 9 7 1 , zit. als Diesterweg VI H. Fischer ( B . ) , Geschichte der Gegenwart, Frankfurt am Main (Diesterweg) 1 9 6 5 , zit. als Diesterweg VII H. G. Fernis u. A. Hillgruber, Grundzüge der Geschichte (Oberstufe) Historischpolitisches Arbeitsbuch, Textband II — Vom Zeitalter der Aufklärung bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main (Diesterweg) 1 9 7 0 , zit. als Diesterweg VIII H. Meyer u. W. Langenbeck (Hg.), Weltgeschichte im Aufriß — Arbeits- und Quellenbuch — Bd. 3, von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main (Diesterweg) 1 9 7 0 , zit. als Diesterweg IX 3
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H. R. Tenbrock, K. Kluxen, H. E. Stier (Hg.), Zeiten und Menschen, Ausgabe G, Bd. 1 — Der geschichtliche Weg unserer Welt bis 1776 — Hannover/Paderborn 1 9 7 0 , zit. als Schroedel/Schöningh I H. R. Tenbrock, K. Kluxen, H. E. Stier (Hg.), Zeiten und Menschen, Ausgabe G, Bd. 2 — Die geschichtlichen Grundlagen der Gegenwart ( 1 7 7 6 bis heute) — Hannover/Paderborn 1 9 7 0 , zit. als Schroedel/Schöningh II H. R. Tenbrock u. a. (Hg.), Zeiten und Menschen, Ausgabe B, Bd. 2 — Zeit der abendländischen Christenheit ( 9 0 0 — 1 6 4 8 ) — Hannover/Paderborn 1 9 6 6 , zit. als Schroedel/Schöningh III H. R. Tenbrock u. a. (Hg.), Zeiten und Menschen, Ausgabe B, Bd. III, Das Werden der modernen Welt ( 1 6 4 8 - 1 9 0 0 ) - Hannover/Paderborn 1 9 6 8 , zit. als Schroedel/Schöningh IV H. R. Tenbrock u. a. (Hg.), Zeiten und Menschen, Ausgabe B, Bd. 4, — Europa und die Welt (das 2 0 . Jahrhundert) — Hannover/Paderborn 1 9 6 6 , zit. als Schroedel/Schöningh V H. R. Tenbrock ( B . ) , Didaktischer Grundriß für den Geschichtsunterricht zu Bd. 2 „Zeiten und Menschen" Ausgabe B, Hannover/Paderborn 1 9 6 6 , zit. als Schroedel/Schöningh VI H. R. Tenbrock ( B . ) , Didaktischer Grundriß für den Geschichtsunterricht zu Bd. 3, „Zeiten und Menschen" Ausgabe B, Hannover/Paderborn 1 9 7 0 , zit. als Schroedel/Schöningh VII H. R. Tenbrock ( B . ) , Didaktischer Grundriß für den Geschichtsunterricht zu Bd. 4 „Zeiten und Menschen", Ausgabe B, Hannover/Paderborn 1 9 6 9 , zit. als Schroedel/Schöningh VIII B. Deermann u. a. (Hg.), Zeiten und Menschen, Ausg. C, Bd. 3, Neuzeit (bis zum Ende des 19. J h . ) , Hannover/Paderborn 1 9 7 0 , zit. als Schroedel/Schöningh IX H. Meyer, G. Rönnebeck (Hg.), USA—UdSSR, Entwicklungs- und Gegenwartsprobleme zweier Weltmächte (Neue Gemeinschaftskunde für Gymnasien), Hannover 1 9 7 1 , zit. als Schroedel I 2
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H. Meyer, G. Rönnebeck (Hg.), Der totalitäre Staat, Hannover 1 9 6 6 , zit. als Schroedel II H. Meyer, G. Rönnebeck (Hg.), Das Werden der modernen Welt durch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Revolution, Hannover 1 9 7 1 , zit. als Schroedel III W. Keßel (Hg.), Zeiten und Menschen — geschichtliches Unterrichtswerk für die Gymnasien Bayerns, Bd. 2, Mittelstufe, Mittelalter und Neuzeit, Hannover/München 1 9 6 9 , zit. als Schroedel IV H. R. Tenbrock (Hg.), Geschichtliches Unterrichtswerk für höhere Lehranstalten, Bd. III, Mittelstufe, Das Werden der modernen Welt, Hannover 1 9 5 7 , zit. als Schroedel V George/Hilligen ( B . ) , Sehen, Beurteilen, Handeln, Frankfurt am Main (Hirschgraben) 1 9 7 2 , ( 5 . / 6 . Schuljahr) zit. als Hirschgraben I Heumann ( B . ) , Mensch und Gemeinschaft in Geschichte und Gegenwart, Frankfurt am Main (Hirschgraben) 1 9 7 1 , 6. Aufl. (9. Klasse Hauptschule) zit. als Hirschgraben II 2
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B. Ausgewählte Literatur zu den behandelten Themen A. Französische Revolution E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt/M. 1 9 7 2 F. Deppe, Verschwörung, Aufstand und Revolution, Frankfurt/M. 1 9 7 0 (Europäische Verlagsanstalt) I. Fetscher, Politikwissenschaft, Funk-Kolleg, Frankfurt/M. 1968 O. H. v. d. Gablentz, Die politischen Theorien seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, Köln/Opladen 1 9 6 7 K. Griewank, Die Französische Revolution, Graz/Köln 1 9 6 7 J. Habermas, Naturrecht und Revolution, in: Ders., Theorie und Praxis, Frankfurt/M. 1972 (Vierte, durchgesehene und erweiterte Auflage) A. Hartig/G. Schneider/M. Meitzel, Großbürgerliche Aufklärung als Klassenversöhnung, Berlin 1972 (Voltaire) A. Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1 9 7 2 E. Hobsbawm, Europäische Revolutionen, München 1 9 6 2 L. Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied/Berlin 1966 (Luchterhand) R. Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft, Liberalimus — Faschismus, Reinbek bei Hamburg 1971 (Rowohlt) W. Rosenbaum, Naturrecht und positives Recht, Neuwied/Darmstadt 1972 G. F. Rude, Die Arbeiter und die Revolutionsregierung, in: W. Markow *(Hg.), Maximilien Robespierre 1 7 5 8 - 1 7 9 4 , Berlin 1 9 6 1 , S. 2 8 7 - 3 0 9 (Rütten und Loe3
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A. Soboul, Die große Französische Revolution, 2 Bde, Frankfurt/M. 1 9 7 3 . B. Reformation und Bauernkrieg in Deutschland E. Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, Frankfurt/M. 1969 F. Engels, Der deutsche Bauernkrieg, in: Marx-Engels-Werke (MEW) 7, S. 3 2 9 - 4 1 3 (Dietz Verlag) R. Wohlfeil (Hg.), Reformation oder frühbürgerliche Revolution? München 1972 C. Die Arbeiterbewegung a) Gesamtdarstellungen W. Abendroth, Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt/M. 1972 (Suhrkamp) H. Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, München 1970 (dtv) Autorenkollektiv (W. Ulbricht u. a.), Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in acht Bänden (Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der S E D ) . Berlin ( D D R ) , 1966 (Dietz-Verlag) W. Hofmann, Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 2 0 . Jahrhunderts, Berlin/New York 1971 (Sammlung Göschen) W. Schmidt, Kritik der Geschichtsfälschungen in den Hauptthemen und Leitlinien des vorherrschenden Geschichtsbildes in der westdeutschen bürgerlichen Historiographie zur Geschichte der Arbeiterbewegung, in: W. Bertold u. a. (Hg.), Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung, S. 3 1 1 — 4 5 6 . (Pahl-RugensteinVerlag) Köln 1970 J. Streisand, Deutsche Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Eine marxistische Einführung, Köln 1972 (Pahl-Rugenstein-Verlag)
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b) Zur Situation der Arbeiter in der BRD Das Argument 61 u. 6 2 . Die Arbeiterklasse im Spätkapitalismus. Klassenstruktur und Klassenbewußtsein. Westberlin 1970 F. Deppe, Das Bewußtsein der Arbeiter. Studien zur Soziologie des Arbeiterbewußtseins. Köln 1971 (Pahl-Rugenstein-Verlag) Klassen- und Sozialstruktur der B R D 1 9 5 0 - 1 9 7 0 , 2 Bde, Ffm 1973 u. 1 9 7 4 (Verlag Marxistischer Blätter) D. Russische Oktoberrevolution und Novemberrevolution in Deutschland 1. Autorenkollektiv, Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Ffm 1971 (Verlag Marxistischer Blätter) M. Hellmann (Hg.), Die Russische Revolution von der Abdankung des Zaren bis zum Staatsstreich der Bolschewiki, München 1 9 7 4 (dtv) J. Reed, Zehn Tage, die die Welt erschütterten (Fischer-Verlag und Dietzverlag) 2. Autorenkollektiv, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 3, a.a.O. J. S. Drabkin, Die Novemberrevolution 1918 in Deutschland, Berlin (DDR) 1968 G. A. Ritter und S.Miller, Die deutsche Revolution 1 9 1 8 - 1 9 , Dokumente, Ffm/Hamburg 1968 (Fischer-Bücherei) E. Das Ende der Weimarer Republik K. D. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, Villingen i 9 6 0 E. Czichon, Wer verhalf Hitler zur Macht? Köln 1967 (Pahl-Rugenstein) G. Jasper, Von Weimar zu Hitler 1 9 3 0 - 1 9 3 3 , Köln/Berlin 1968 (Kiepenheuer und Witsch) A. Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, Ffm 1961 ( E V A ) K. Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1962 (Nymphenburger) 3
F. Der Kalte Krieg G. Alperovitz, Atomare Diplomatie: Hiroshima und Potsdam, München (Rütten und Loening) R. Badstübner/S. Thomas, Die Spaltung Deutschlands 1 9 4 5 - 1 9 4 9 , Berlin (Dietzverlag) D. Horowitz, Kalter Krieg, Hintergründe der US-Außenpolitik von J a l t a bis nam, Bd. I—II, Berlin 1969 (Wagenbach) E.-U. Huster u. a., Determinanten der westdeutschen Restauration, Ffm (édition suhrkamp) L. L. Matthias, Die Kehrseite der USA, Reinbek 1971 (rororo) E. Schmidt, Die verhinderte Neuordnung 1 9 4 5 - 1 9 5 2 , Ffm 1 9 7 0 ( E V A )
1966 1966 Viet1972
G. Kolonialismus und Entkolonialisierung — Imperialismus und Dritte Welt G. Grohs/B. Tibi, Zur Soziologie der Dekolonisation in Afrika, Ffm 1973 (Fischer-Bücherei) E. Krippendorff (Hg.), Probleme der internationalen Beziehungen, Ffm (édition suhrkamp) 1972 W. I. Lenin, Der Imperialismus als letztes Stadium des Kapitalismus, u. a. in: Werke Bd. 2 2 , S. 1 8 9 - 3 0 9 (Dietzverlag) H. Magdoff, Das Zeitalter des Imperialismus, Ffm o. J. (Verlag Neue Kritik) G. v. Paczensky, Die Weißen kommen. Die wahre Geschichte des Kolonialismus, Hamburg 1970 (Hoffmann & Campe) D. Senghaas u. a., Imperialismus und strukturelle Gewalt, Ffm 1 9 7 2 (édition suhrkamp)
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H. Wissenschaftlicher Sozialismus und Ideologiebegriff K. Beutler, Marx in den Sozialkundebüchern, in: Blätter für deutsche und internationale Politik Nr. 5 / 1 9 7 1 , S. 4 9 9 - 5 0 6 K. Lenk, Ideologie, Neuwied-Berlin 1 9 7 0 (Zusammenstellung wichtiger T e x t e ) Marx-Engels-Studienausgabe, Bd. I—IV (hrsg. v. I. Fetscher), Ffm 1966 (Fischer-Bücherei) H. Reichelt, Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffes bei Karl Marx, Ffm 1971 (EVA) Projekt Klassenanalyse, Materialien zur Klassenstruktur der B R D , I. Teil, Theoretische Grundlagen u. Kritiken, Westberlin 1973 (VSA) Zur Kritik der politischen Ökonomie, Einführung in das ,Kapital' Band I (MarxArbeitsgruppe Historiker), Ffm 1972 ( E V A ) 4
Die A u t o r e n Reinhard Assling, geb. 1 9 4 8 , studiert seit 1969 Geschichte, Politik, Germanistik in Marburg. Jürgen Burger, geb. 1 9 4 9 , studiert seit 1969 Geschichte, Politik und Pädagogik in Marburg. Horst Hagemann, geb. 1943, studiert seit 1971 Politik und Geschichte in Marburg. Michael Kern, geb. 1 9 5 1 , studiert seit 1971 Politik und Soziologie in Marburg. Rainer Klebe, geb. 1 9 4 8 , studiert seit 1969 Politik, Anglistik, Pädagogik in Marburg. Reinhard Kühnl, geb. 1 9 3 6 , ist Professor für wissenschaftliche Politik an der Universität Marburg. Veröffentlichte u. a.: Die nationalsozialistische Linke 1925 bis 1930 ( 1 9 6 6 ) ; Das Dritte Reich in der Presse der Bundesrepublik ( 1 9 6 6 ) ; Die NPD. Struktur, Ideologie und Funktion einer neofaschistischen Partei ( 1 9 6 9 ) ; Deutschland zwischen Demokratie und Faschismus ( 1 9 6 9 ) ; Formen bürgerlicher Herrschaft I, Liberalismus — Faschismus ( 1 9 7 1 ) ; (Hg.:) Formen bürgerlicher Herrschaft II, Der bürgerliche Staat der Gegenwart ( 1 9 7 2 ) . Amelie Methner, geb. 1 9 5 0 , studiert seit 1969 Politik, Anglistik und Philosophie in Marburg. Uwe Naumann, geb 1 9 5 1 , studiert seit 1970 Sozialkunde, Germanistik und Pädagogik in Marburg und Hamburg. Gerhard Schäfer, geb. 1 9 4 9 , studiert seit 1969 Pädagogik, Politik und Anglistik in Marburg. Sylvia Schöningh, geb. 1 9 4 9 , studiert seit 1969 Germanistik, Politik und Pädagogik in Marburg. Gerd Wayand, geb. 1 9 4 5 , studierte von 1967 bis 1970 an der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule Koblenz, zur Zeit Studium der Politik in Marburg.
Die Bücher kosten nur noch ein Fünftel ihres früheren Preises . . .
... schrieb der Bischof von Aleria 1467 an Papst Paul II. Das war Gutenberg zu verdanken. Heute, 500 Jahre später, kosten Taschenbücher nur etwa ein Fünftel bis ein Zehntel des Preises, der für gebundene Ausgaben zu zahlen ist. Das ist der Rotationsmaschine zu verdanken und zu einem Teil auch - der Werbung: Der Werbung für das Taschenbuch und der Werbung im Taschenbuch, wie zum Beispiel dieser Anzeige, die Ihre Aufmerksamkeit auf eine vorteilhafte Sparform lenken möchte.