Carolin Rudolf Der Geburtenrückgang in Indonesien
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Carolin Rudolf
Der Geburtenrückgang in Indonesien Ei...
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Carolin Rudolf Der Geburtenrückgang in Indonesien
VS RESEARCH
Carolin Rudolf
Der Geburtenrückgang in Indonesien Eine empirische Analyse anhand des .value of Ch ildrenJl-Ansatzes
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Oie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Technische Universitätcnernnnz. 2009
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten @VSVerlag für Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: verena Metzger/ Anette villnow VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer scence-eusmess Media.
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Für Konstantin, Ferdinand und Sven.
Vorwort
Diese Studie entstand am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie I der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Chemnitz und wurde am 14. Oktober 2009 durch den Promotionsausschuss als Dissertation angenommen. Sie ist Teil der .Value of Children" - Replikstudie und ergänzt die Anzahl der detailliert untersuchten Länder um lndonesien. Besonders danken möchte ich einigen Personen für das Gelingen dieses Forschungsvorhabens, obwohl ich weiß, dass auch Andere zum Ergebnis beigetragen haben. An erster Stelle danke ich meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Bernhard Nauck für die sowohl fachliche als auch menschliche Unterstützung in allen Arbeitsphasen und den gewährten nötigen Freiraum, um die Arbeit zügig abschließen zu können. Danken möchte ich ferner meinem Zweitgutachter Herrn Prof. Dr. Johannes Kopp wegen seiner Flexibilität und der vielen hilfreichen Hinweise. Daneben gilt Frau Dr. Daniela Klaus und Frau Dr. Jana Sukow mein besonderer Dank. Beide waren jederzeit überaus hilfsbereit und hatten stets ein offenes Ohr für fachliche Diskussionen. Mein herzlichster Dank gilt Herrn Dr. Sukamdi für seine Einladung an das Center for Population Studies, Gadjah Mada University, Yogyakarta in lndonesien. Mit seiner Hilfe konnte ich nicht nur bisher unbekannte, aber schließlich unverzichtbare Literaturquellen ausfindig machen, sondern hatte auch die Chance die Gastfreundlichkeit, Lebensfreunde und Harmonie der lndonesier kennen zu lernen. Dafür danke ich auch allen Mitarbeitern des Center for Population Studies der Gadjah Mada University und allen anderen lndonesiern. Danken möchte ich ferner meinen Eltern und Freunden, die mich in vielfältiger Weise unterstützt haben. Das größte Dankeschön gilt allerdings meinem Freund Sven. Er ist derjenige , der mich seit Beginn meines wissenschaftlichen Arbeitens am meisten unterstützt und dessen Großzügigkeit, den Spagat zwischen Familie und Wissenschaft überhaupt ermöglicht.
Chemnitz, im April 2010
Inhaltsverzeichnis
Vorwort Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Abbildungsverzeichnis Tabellenverzeichnis Einleitung Geburtenrückgang in Indonesien 1 2 Indonesischer Geburtenrückgang aus der Perspektive der Modernisierungstheorie 2.1 Der demografische Übergang Indonesiens 2.1.1 Theorie des demografischen Übergangs 2.1.2 Anwendung der Theorie des demografischen Übergangs auf Indonesien 2.2 Bevölkerungspolitik im Wandel 2.3 Sozioökonomische Entwicklung 2.3.1 Ökonomische Entwicklung und Beschäftigungsstrukturen 2.3.2 Kinderarbeit 2.3.3 Materielle Lebensbedingungen und soziale Versicherungss ysteme 2.3.4 Bildungsbeteiligung 2.4 Familiäre Beziehungen im WandeL 2.4.1 Verwandtschafts- und Generationenbeziehungen 2.4.2 Eheschließungen und Scheidungen 2.4.3 Geschlechtspräferenzen und Status der Frau 2.5 Erklärungsdefizit 3 Theoretisches Grundmodell für Fertilitätsentscheidungen in Indonesien 3.1 .Value of Children"-Ansatz von HoffmaniHoffman 3.1.1 Grundannahmen 3.1.2 Beurteilung 3.2 Theoretisch e Neukonzeptualisierung des VOC-Erklärungsmodells 3.2.1 Mehrebenenmodell zur Erklärung der Geburtenrate 3.2.2 Theorie der sozialen Produktions faktoren (TSP)
7 9 13 15 17 19 25 31 32 33
35 39 41 .41 44 45 50 52 53 56 65 70 73 73 74 76 77 78 79
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Inhaltsverzeichnis
3.2.3 Kinder als kontextabhängige Produktionsfaktoren 3.2.4 Kinder als kontextabhä ngige Produktionsfaktoren in Indonesien 3.3 Integrat ion vermeintlich irrationaler Handlungen 3.3. I Framing-M odell: Zwei idealtypische Modi der Entscheidungsfindung 3.3.2 Anwendung des Framing-Modells auf Fertilitätsentsch eidungen 3.3.3 Moduswahl und historische Entwicklung in Indonesien 3.4 Zusammenfassung 4 Hypothesen zur allgemeinen ModeIlierung der Fertilitätsentscheidungen 4.1 Dimensionen des Wertes von Kindern 4.2 Opportunitätenstruktur und der Wert von Kindern 4.3 Determinanten des generativen Verhaltens 4.4 Pfadabhängigkeit des VOC-Erklärungsprogramms 4.5 Das Alternativmodell : Handeln gemäß einer internalisierten Fertilitätsnorm 4.6 Moderni sierungsvariablen und das generative Verhalten 5 Empirischer Teil I: Gesellschaftliche Modernisierung und generatives Verhalten 5.1 WFS- und IDHS- Datensatz sowie methodische Vorbemerkungen 5.2 Operationalisierung 5.2.1 Unabhäng ige Variablen: Wohnkontext, Erwerbstätigkeit, Berufsstatus und Bildung 5.2.2 Abhängige Variable : Kinderzahl 5.3 Method ik der Ereignisdatenanalyse 5.4 Ergebnisse 5.4.1 Verlauf der Familienbildung 5.4.2 Zusammenhang von Wohnkonte xt, Bildung, Erwerbstätigkeit und Berufsstatus 5.4.3 Modern isierungsvariablen und generatives Verhalten 5.5 Zusammenfassung 6 Empirischer TeillI: Der VOC als intermediäre Variable 6.1 VOC-Dat ensatz sowie methodisch e Vorbemerkungen 6.2 Operationalisierung 6.2.1 Unabhängige Variablen 6.2.2 Wert des Kindes (VOC) als intermediäre Variab1e 6.2.3 Abhängige Variable: Generatives Verhalten 6.3 Ergebnisse
82 88 96 99 100 105 110
113 114 114 125 131 132 135
139 140 145 146 149 150 154 155 160 162 171 175 175 178 179 182 186 187
Inhaltsverzeichnis
6.3.1 VOC-Konstrukt 6.3.2 Determinanten der Werte von Kindern 6.3.2.1 Determinanten des kurzfristigen Komforts 6.3.2.2 Determinanten des langfristigen Komforts 6.3.2.3 Determinanten von Verhaltensbestätigung und Status 6.3.2.4 Determinanten von Affekt und Stimulation 6.3.2.5 Zwischenbilanz 6.3.3 Generatives Verhalten und der Wert von Kindern 6.3.4 Wert des Kindes (VOC) als interme diäre Variable 6.3.5 Alternativmodell 6.3.6 Exkurs: Frame des Wertes von Kindern Schlussbetrachtung und kritisc he Wür digung Literaturverzeichnis
11
187 195 196 198 201 204 207 208 220 226 230 235 245
Ab kürzungsverzeichnis
ANOVA as BIP BKKBN BPS CBR CDR CFI CFR df.. Exp H HC lOHS IFLS ILO lUD LKBN MCA N NICPS rc RMSEA Rp SES SEU Sig SPF SRMR TDA TFR TU TSP
analysis of varianc e, Varianzanalyse automat isch-spontan Bruttoinlandsprodukt National Family Planning Coordinating Board Badan Pusat Statistik Crude Birth Rate Crude Death Rate Comparative FIT Index Completed Fertility Rate Freiheitsgrad Exponential Hypothese Poverty Headcount Ratio Indonesia Demographie and Health Survey Indonesia Family Life Survey International Labor Organisation Intrauterine Device (Intrauterinpessar, Spirale) National Family Planning Institute multiple Klassifikationsanalyse Fallzahl National Indonesia Contraceptive Prevalen ce Survey rational-kalkulierend Root-mean -square residual of approximation Rupien sozioökonomischer Status Subjective-Expected-Utility Signifikanzen Social Product ion Function Standardized Root Mean Square Residual Transition Data Analysis (Statistik-Software) Total Fertility Rate Tucker-Lewis Index Theorie sozialer Produktionsfaktoren
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UNESCO UNICEF VOC vs WFS
Abkürzungsverzeichnis United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization United Nations Children's Emergency Fund Value ofChildren versus World Fertility Survcy
Ab bildungsverzeichnis
Abbildung 1.1: Abbildung 1.2: Abbildung 1.3: Abbildung 2.1: Abbildung 2.2: Abbildung 2.3: Abbildung 2.4: Abbildung 2.5: Abbildung 2.6: Abbildung 3.1: Abbildung 3.2: Abbildung 4.1: Abbildung 4.2: Abbildung 4.3: Abbildung 5.1: Abbildung 5.2: Abbildung 5.3: Abbildung 6.1:
Indonesischer Geburtenrückgang Zusammengefasste Geburtenziffern (TFR) auf Java Verhütungsverhalten gegenwärtig verheirateter Frauen Demografischer Übergang Indonesiens Entwicklung der Kindersterblichkeit und der Lebenserwartung Wertschöpfung (BIP) nach Wirtschafts sektoren (1965-2004) Bildungsbeteiligung nach Geschlecht und Schulart Alter des 50-proz entigen Verheiratungsanteils nach Wohnkontext und Region Ganzheitliches Verständnis des Geburtenrückgangs nach T. Hull (1987) Konzeptuelles Modell der VOC-Studien VOC-Erklärungsmod ell Pfadabhängigkeit des VOC- Erklärungsmodells Alternativmodell zur Erklärung generativen Verhaltens Generatives Verhalten und Modernisierungsvariablen Verteilung der unabhängigen Variablen Berufsstatus und Bildung Verteilung der abhängigen Variable "Kinderzahl" und Alter der Mutter Überlebenskurven der Erst- bis Viertgeburt nach Geburtskohorten Generat ionenspezifische Verteilung der Nutzen von Kindern
25 28 29 35 37 43 51 60 72 77 83 131 132 136 147 150 156 193
16 Abbildung 6.2: Abbildung 6.3: Abbildung 6.4: Abbildung 6.5: Abbildung 6.6:
Abbildungsverzeichnis Generationenspezifische Verteilung der Kosten von Kindern Generationenspezifische Verteilung der Werte von Kindern Überlebenskurven der Zweit- bis Viertgeburt nach Wertebeurteilung VOC als intermediäre Variable (Erstgebäralter) VOC als intermedi äre Variable (Drittgeburt)
194 195 211 222 225
Tabellenverzeichnis
Tabelle 5.1: Tabelle 5.2: Tabelle 5.3: Tabelle 5.4: Tabelle 5.5: Tabelle 5.6: Tabelle 5. 7: Tabelle 5.8: Tabelle 5.9: Tabelle 5.10: Tabelle 6.1: Tabelle 6.2: Tabelle 6.3: Tabelle 6.4: Tabelle 6.5: Tabelle 6.6: Tabelle 6. 7: Tabelle 6.8: Tabelle 6.9: Tabelle 6.10: Tabelle 6.11:
Ausschluss problematischer Altersgruppen Ausschlussverfahren und Datenmengen Geburtenverläufe nach Geburtskohorte Zusammenhang zwischen Wohnkontext, Bildung und Erwerbstätigk eit Soziodemografische Merkmale und Übergang zur Mutte rschaft Bildungsniveaus und Übergang zur Mutterschaft.. Berufsstatus und Übergang zur Mutte rschaft Soziodemografische Merkmale und Übergang zur Drittgeburt Bildungsn iveau und Übergang zur Drittgeburt Berufsstatus und Übergang zur Drittgeburt Verteilung der unabhängigen Variablen Deskription der VOC-ltems Verteilung der abhängigen Variablen Kinderzahl und das Alter der Mütter Validierung des Nutzens von Kindern Va1idierung der Kosten von Kindern Determinanten des kurzfristigen Komforts Determinanten des langfrist igen Komforts Determinanten von Verhaltensbestätigung und Status Determinanten von Affekt und Stimulation Alter bei Erstgeburt in Abhängigkeit vom VOC Zweit-, Dritt- und Viertgeburt in Abhängigkeit vom VOC
143 145 159 160 163 164 165 167 168 170 181 184 186 189 191 197 200 202 206 210 213
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Tabelle 6.12: Tabelle 6.13: Tabelle 6.14: Tabelle 6.15:
Tabellenverzeichnis Zweit -, Dritt- und Viertgeburt in Abhängigkeit von VOC -Typen Relation zwischen geplanter und idealer Kinderzahl Rational-kalkulierender vs. automatisch-spontaner Entscheidungsmodus Framing der Wertebeurteilung
216 218 227 232
Einleitung
"Two are not enough" lautet der Titel eines im Jahr 1981 erschienenen Buches zu den Werten von Kindern in Indonesien (vgl. Darroch et al. 1981). Mit nur vier Wörtern wird damit die für die 1970er Jahre typische Diskrepanz zwischen den individuellen Vorstellungen von einer angemessenen Kinderzah l und der von staatlicher Seite forcierten Zwei-Kind-Norm beschrieben. Die Total Fertility Rate' (TFR), die vor ca. 40 Jahren bei etwa 5,3 lag, beweist, dass die von staatlicher Seite idealisierte "Zwei-Kind-Familie" deutlich unter dem gewünschten bzw. dem realisierten Geburtenniveau lag. Zum heutigen Zeitpunkt hat sich das Fertilitätsniveau mehr als halbiert und das einstige Ideal entspricht immer mehr dem tatsächlichen Geburtenverhalten. Zur vermeintlichen Erklärung dieses enormen Geburtenrückganges wurde bisher eine Vielzahl von wissenschaftlichen Beiträgen veröffentlicht. In diesen wurden entweder die staatlichen Bemühungen einer aktiven Familienpolitik als ursächlich angesehen (vgl. nur Sinquefiel d et al. 1979; Freedman et al. 1981, Warwiek 1986; Heaton, Cammack, Young 2001) oder der wirtschaftlic he Aufschwung, den Indonesien im 20. Jahrhundert durchlebte, für die Reduktion der Geburtenzahlen verantwortlich gemacht. Vereinzelt gab es auch Versuche, diese beiden Perspektiven miteinander zu verbinden (vgl. McNicoll, Singariumbun 1983; T. Hull1987; Gertler, Molyneaux 1994). Gemeinsamkeit all dieser Beiträge ist allerdings, dass sie sich darauf beschränken, mögliche Einflussfaktoren des generativen Verhaltens zu benennen . Sie können aber auf diese Weise keine Erklärung des indonesischen Geburtenrückganges leisten. Hierfür wäre ein Erklärungsprogramm notwendig, das den Wandel in den sozialstrukturellen Rahmenbeding ungen Indonesiens genauso berücksichtigt wie die Einstellungen und Motive der handelnden Individuen . Denn schließlich sind sie es, die sich ftir oder gegen die Geburt von Kindern entscheiden. Ein Ansatz zur Erklärung generativen Verhaltens, der diese Grundvoraussetzungen erfüllt, ist die Neukonzeptualisierung (vgl. Nauck 2001) des aus den Total Fertility Rate (TFR) ist definiert als Summe der altersspezifischen Geburte nziffern und gibt Auskunft über die Anzahl der Kinder , die eine Frau im Laufe ihres Lebens gebären wird, unter der Annahme, dass die altersspezifischen Geburtenziffern künftig konstant sind.
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Einleitung
1970er Jahren stammenden .Value of Children"-Ansatzes (vgl. Hoffman, Hoffman 1973). Mit dieser theoretisch fundierten Version des VOC-Ansatzes wurde ein Erklärungsinstrument entwickelt, das nicht auf einen spezifischen gesellschaftlichen Kontext mit konstanten institutionellen Randbedingungen beschränkt, sondern auch in interkulturell und historisch vergleichenden Familienforschungen anwendbar ist. Grundüberlegung dieses in der Tradition rationaler Entscheidungsmodelle stehenden Erklärungsprogramms ist, dass der Wert von Kindern für ihre (potenziellen) Eltern für das gewählte generative Verhalten ausschlaggebend ist. Dieser Wert ist das Ergebnis von Instrumentalit ätserwartungen, die (potenzielle) Eltern an ihre Kinder haben. Abgeleitet werden diese Erwartungen einerseits von allgemeinen Bedürfnisstrukturen, die unabhängig von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen existieren. Andererseits entscheiden der gesellschaftliche Kontext, die institutionellen Rahmenbedingungen und die individuellen Ressourcen darüber, welches Verhalten zur Befriedigung dieser spezifischen Grundbedürfnisse beiträgt. Unabhängig von der Handlungssituation wirken die gleichen erklärenden Mechanismen, lediglich die daraus resultierenden Konsequenzen weichen aufgrund unterschiedlicher Ressourcenlagen und institutioneller Voraussetzungen voneinander ab. Ziel des VOCForschungsprojektes ist es, die empirische Evidenz dieses Ansatzes international zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Zu diesem Zweck wurden bisher zwei empirische Studien zu den Werten von Kindern realisiert. Die erste Erhebung erfolgte in den 1970er Jahren und umfasste Taiwan, Japan, die Republik Korea, Philippinen, Thailand, Indonesien, Singapur, Türkei, USA und die Bundesrepublik Deutschland. Ein zweiter internationaler Datenpool entstand in den Jahren 2001 /2002 vor dem Hintergrund dieser oben erwähnten neukonzeptualisierten Version des VOC -Ansatzes (vgl. Trommsdorff, Nauck 2005). Die Erhebungen fanden ebenfalls in den unter schiedlichsten gesellschaftlichen Kontexten statt wie z. B. in Korea, der Volksrepublik China, Indien, Israel, Südafrika, Palästina, Türkei, der Bundesrepublik Deutschland und Indonesien. Mit Hilfe dieser Daten können nun neben interkulturellen Untersuchungen auch historische Entwicklungen einzelner Länder untersucht und Zusammenhänge zwischen sozialem Wandel und verändertem fertilen Verhalten empirisch überprüft werden . Teilweise ist zwar die Überprüfung des Erklärungsbeitrages des VOC-Ansatzes bereits erfolgt. So existieren Arbeiten, die sich mit dem Vergleich des generativen Verhaltens zwischen der Türkei, Deutschland und Japan beschäftigen (vgl. Kohlmann 2000), die historische Geburtenentwicklung in der Türkei fokussieren (vgl. Klaus 2008) oder Fertilitätsdifferenzen zwischen Israel bzw. Palästina analysieren (vgl. Suckow 2008). Durch die vorliegende Arbeit soll dieser Kanon um Indonesien bereichert werden.
Einleitung
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Ziel der Arbeit ist, den Geburtenrückgang in Indonesien auf der Basis des .Value of Childrenv-Ansatzes zu erklären. Entsprechend sind die Ausführungen zu Indonesien als Teilprojekt innerhalb des gesamten Forschungsvorhabens zu verstehen. Aus diesem Grund orientieren sich die theoretischen Ausführungen und empirischen Analysen zunächst an den bisher aus diesem Projekt hervorgegangen Arbeiten (vgl. Kohlmann 2000; Klaus 2008 ; Suckow 2008), sollen aber letztendlich die Besonderheit des indonesischen Kontextes aufklären. Aus diesem Vorgehen ergeben sich für die indonesische Fertilitätsforschung eine Vielzahl neuer Erkenntnisse und Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen . Erstens steht mit der theoretischen Basis ein Erklärungsinstrument zur Verfügung, mit dem es fortan möglich ist, den indonesischen Geburtenrückgang unter Rückbezug auf die individuellen Einstellungen und Motive zu erklären. Dieses Erklärungsmodell kann zweitens mittels der indonesischen Unterstichprobe des VOC-Datensatzes (2002) auch empirisch überprüft werden. Drittens wird am Ende der theoretischen Ausführungen deutlich, wie sich die oftmals antagonistisch gegenüberstehenden Erklärungen zur Rolle des wirtschaftlichen Aufschwungs und der aktiven Familienpolitik miteinander verbinden lassen. Viertens wird mit der .Value of Childrenv-Forschung ein traditionsreicher Forschungsschwerpunkt der indonesischen Bevölkerungswissenschaft wieder belebt und Erkenntnisse aus damaligen Forschungsprojekten (vgl. nur T. Hull 1975 ; White 1976; Darroch et al. 1981) zu einem ganzheitlichen Verständnis des Geburtenrückganges integriert. Dam it leistet die Arbeit nicht nur einen Beitrag zur Fertilitätsforschung in Indonesien, indem mittels des VOC-Ansatzes als einer allgemeinen Theorie generativen Verhaltens der indonesische Geburtenrückgang erklärt wird , sondern trägt auch zur Weiterentwicklung des VOC-Ansatzes bei. Den Schwerpunkt der Arbeit bildet Java, die Hauptinsel Indonesiens. Indo nesien ist nach China und Indien das drittgrößte Schwellenland der Erde . Als südostasiatischer Inselstaat erstreckt es sich über 5000 km entlang des Äquators. Die Bevölkerung ist durch ethnische (rund 360 Ethnien) und kulturelle Vielfalt gekennzeichnet. So existieren z. B. neben der offiziellen Landessprache .Basa Indonesia" mehr als 250 Regionalsprachen und mehrere hundert Dialekte (vgl. von Magnis-Suseno 1989 : 31) . Die starke ethnische und kulturelle Differenzierung des Landes macht eine Einschränkung des Untersuchungsobjektes auf Java notwendig. Geografisch, ethnisch und politisch kann Java in drei Regionen untergliedert werden: West-Java mit der Hauptstadt Jakarta, Zentral-Java mit der Umgebung von Yogyakarta und Ost-Java einschließlich der Insel Madura. Die streng muslimischen Maduresen bevölkern neben ihrer Heimatinsel auch Teile Ost-Javas, besonders entlang der nördlichen Küste . Zentral Java und die südlichen Teile Ost-Javas sind die Heimatregion der Javaner. Sie sind mit etwa 40 % der Landesbevölkerung die zahlenmäßig stärkste und kulturell bedeutendste
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Einleitung
Volksgruppe Indonesiens. Außer die Einwohner der Hauptstadt Jakarta, die aus allen Teilen des Landes kommen, sind Sundanesen die Majorität der Bevölkerung West-Javas. Die Sundanesen sind zudem die zweitstärkste Volksgruppe Indonesiens. Wie die beiden empirischen Erhebungen des generativen Verhaltens in Indonesien im Rahmen der VOC-Projekte (1975; 2001/2002) konzentriert sich auch die vorliegende Arbeit auf diese beiden kulturell und zahlenmäßig bedeutendsten Ethnien Javas (Sundanesen, Javaner). Java bildet nicht nur geografisch und verwaltungsmäßig das Zentrum Indonesiens, sie ist auch die bevölkerungsreichste Insel. Mit einem Anteil von nur 7 % an der totalen Landfläche leben hier 59 % der Gesamtbevölkerung (vgl. BPS, ORC Macro 2003: 3). Jene damit einhergehende enorme Bevölkerungsdichte und das gleichzeitig bestehende hohe Bevölkerungswachstum (von etwa 2 % jährlich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts) brachte zu Beginn des letzten Jahrhunderts immer größer werdende Versorgungsprobleme mit sich. Aufgrund dessen wurde Java bereits am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Brennpunkt bevölkerungswissenschaftlicher Forschung (vgl. Raffles 1965). Obschon dieses Bevölkerungswachstum vermutlich global und lediglich eine Phase im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess darstellt (vgl. Chesnais 1992), ist die Dauer und Stärke dieser Entwicklung auf Java aus internationaler Sicht einmalig (White 1976a) . Ausgelöst durch groß angelegte Impfprogramme der Niederländer noch in der Kolonialzeit, führte die bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts sinkende Mortalitätsrate bei einem weit gehend konstanten Geburtenniveau, zu einem Wachstum der Bevölkerung. Ein Jahrhundert später wurde, nach etlichen gescheiterten Versuchen diese demografische "Zeitbombe" zu entschärfen, eines der international ehrgeizigsten Famili enplanungsprojekte ins Leben gerufen. Mit der Verbesserung der Gesundheit von Mutter und Kind , der Verbreitung und Akzeptanz von Empfängnisverhütung sowie der Etablierung eines neuen Familienideals sollte die Geburtenrate massiv gesenkt und so das Bevölkerungswachstum eingeschränkt werden. Bis heute ist der diesem Programm entstammende Slogan .Dua anak kukup" (Zwei Kinder sind genug) den Javanern präsent (vgl. Hild 1999). Die seitdem beobachtbaren demografischen Entwicklungen, scheinen den Erfolg dieser Maßnahmen zu bestätigen. Allerdings ist das Erklärungsproblem weiterhin ungelöst. Obwohl die zunehmende Empfängnisverhütung und das dadurch sinkende Fertilitätsniveau unbestreitbar ist, bleibt die Frage unbeantwortet, warum es infolge der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Indonesiens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem erhöhten Bedarf an Geburtenkontrolle bzw. einer reduzierten Nachfrage nach Kindern kam. Mit Hilfe des Erklärungsprogramms, welches durch den VOC-Ansatz zur Verfügung gestellt wird, ist dieses Problem letztendlich als ein Wandel der Instrumentalität von Kindern für ihre (potenziellen) El-
Einleitung
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tern darstellbar. Diese Vorstellung soll nun für die Erklärung des Geburtenrückgangs in Indonesien nutzbar gemacht werden. Der Gang der Arbeit ist dazu wie folgt: Das erste Kapitel gibt einen Überblick über die langfristige Entwicklung des Geburtenniveaus auf der Basis von Periodendaten (z. B. TFR). Da für lndonesien keine weitergehenden zuverlässigen Aussagen über das Geburtenverhalten möglich sind, wird sich die Beschreibung auf den Zeitraum zwischen 1950 bis 2005 beschränken. Regionalspezifische Geburtenzahlen liegen seit 1970 vor. Ein Vergleich der Regionen, die innerhalb des VOC-Projektes untersucht wurden, soll Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Geburtenentwicklung aufzeigen. Neben dem langfristigen Geburtenrückgang wird die zunehmende Verwendung von Verhütungsmitteln (als Indikator für eine veränderte Nachfrage nach Kindern) den Wandel im generativen Verhalten abbilden, um so das zu erklärende Phänomen darzustellen . Das zweite Kapitel ist auf die Frage fokussiert, ob der indonesische Geburtenrückgang, wie von der Theorie des demografischen Übergangs behauptet, als zwangsläufige Folge gesellschaftlicher Modernisierung erklärt werden kann (vgl. u.a. Notestein 1945). Genutzt wird diese prominente "Ausgangsgeschichte" für Auseinandersetzungen zur Erklärung des fertilen Verhaltens im Allgemeinen (vgl. van de Kaa 1997) und in lndonesien im Speziellen (vgl. Hirschman 2001; T. Hu1l2002; T. Hu1l2003) , weil so ein systematischer und umfassender Überblick über die gesellschaftlichen Veränderungen Indonesiens im 20. Jahrhundert gegeben wird und mögliche Fehlerquellen bei der Erarbeitung eines theoretischen Modells zur Erklärung generativen Verhal tens herausgearbe itet werden können. Beides ist notwendig, um die Vorzüge und die Argumentation des schließl ich im dritten Kapitel hergeleiteten theoretischen Grundmodells für Fertilitätsentscheidungen in Indonesien zu verstehen. Ausgehend vom klassischen .Value of Children"-Ansatz (vgl. Hoffmann , Hoffmann 1973) werden dessen theoretischen Schwachstellen diskutiert und seine Neukonzeptualisierung unter Bezugnahme der Theorie der sozialen Produktionsfaktoren geleistet. Ziel des dritten Kapitels ist es aber nicht nur, wie bereits durch andere Arbeiten geschehen (vgl. nur Kohlmann 2000 , Nauck 2001, Klaus 2008, Suckow 2008), eine allgemeine Herleitung zu erarbeiten, sondern darüber hinaus die Besonderheit des indonesischen Kontextes zu erklären . Es steht vielmehr die Frage nach der spezifisch javanischen lnstrumentalität von Kindern im Zentrum der Untersuchung. Dabei wird sich zeigen, dass Kinder zwar in allen historischen Epochen einen relativ hohen Stellenwert besitzen , aber auch, dass der rationale und damit kostenintensive Abwägungsprozess der dem VOC-Ansatz zugrunde liegt, nicht immer möglich bzw. lohnenswert sein dürfte. Diese Überlegungen münden schließlich in die Einführung eines Alternativmodells zur Erklärung generativen Verhaltens, das in seinen Grundzügen als das Festhalten an einer
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Einleitung
einmal "internalisierten Fertilitätsnorrn" beschreibbar ist. Im vierten Kapitel werden diese theoretischen Überlegungen in konkrete Forschungshypothesen übersetzt, die die Grundlage für die anschließenden empirischen Analysen bilden . Imfünften Kapitel erfolgt die Analyse des langfristigen Geburtenrückgangs in der Kohortenperspektive. Basis ist ein kumulierter Datensatz der mittels des World Fertility Surveys (WFS) 1976 und der Indonesia Demographie and Health Surveys (lOHS) aus den Jahren 1987, 1991, 1994, 1997 und 200212003 erstellt wurde . Um auf dieser Datenbasis die Merkmale des langfristigen Geburtenrückgangs anhand der Geburtskohorten von 1926 bis 1970 aufzuzeigen, werden relativ neue ereignisanalytische Auswertungsverfahren genutzt (vgl. BrüderI, Dickmann 1994, 1995). Diese Analysen stellen aus zwei Gründen einen Erkenntnisgewinn dar. Erstens ist es möglich, die zeitliche Verortung bestimmter Paritäten von Kindern und deren Geburtsrisiko im Lebenslauf der Frau zu betrachten. Zweitens wird erstmals der Einfluss zentraler Modernisierungsvariablen spezifizierbar. Zwar ist bekannt, dass der indonesische Geburtenrückgang von Urbanisierung, Bildungsexpansion und Berufsdifferenzierung begleitet wurde, aber inwieweit ein städtischer Wohnkontext, ein hohes Bildungsniveau bzw . der Berufsstatus die Geburt bestimmter Paritäten beeinflusst, wurde bisher nicht analysiert . Neben einem allgemeinen Überblick können so zentrale theoretische Argumente anhand eines repräsentativen Datensatzes für Java überprüft werden. Die abschließende Überprüfung der im vierten Kapitel vorhergesagten Zusammenhänge erfolgt im sechsten Kapitel. Als empirische Basis wird hierfür die indonesische Unterstichprobe der .V alue of Children"-Replikstudie genutzt (vgl. Trommsdorff, Nauck 2005). Dieser Datensatz bietet bisher die beispiellose Mög lichkeit, den historischen Geburtenrückgang auch unter Rückbezug auf die individuellen Kosten- und Nutzenerwartungen (potenzieller) Eltern an ihre Kinder zu untersuchen. Deswegen lassen die aus diesen Analysen hervorgehenden Ergeb nisse eine empirische Antwort auf die Frage nach der Erklärungskraft des VOCKonstruktes zu. Im Schluss teil werden schließlich die Erkenntnisse aus der vorliegenden Arbeit zusammengefasst und einer kritischen Würdigung unterzogen. Gleichzeitig wird die Frage nach dem Beitrag des VOC-Ansatzes zur Erklärung des indonesischen Geburtenrückgangs abschließend beantwortet.
1 Geburtenr ückga ng in Indon esien
Gesicherte Angaben über das generative Verhalten in Indoncsicn speziell der Insel Java, existieren erst seit dem Population Ccnsus (1971 ). Zw ar gibt es einige Artikel, d ie sic h mit der Fruchtbarkeit lndoncsicns vor der großen politischen, wirtschaftlic hen sowie demografischen Transformation in der Mitte des 20. Jahrhunderts beschäftigen (vgl. nur Rcid 1993; T. Hull 1999; Boomgard 2003 ), gena ue Informationen zur Höhe des Geburtenniveaus kö nnen aber auch diesen Beiträgen nicht entno mmen werden. Die Beschreibung des Geburtenverhaltens in Indoncsicn sollte jedoch auf sichere Informationen gestü tzt werden. Desha lb ist es notwendig, die Betrachtung erst ab den 1950cr l ahren zu beginnen. Doch schon d ieser kleine A usschnitt der indonesischen Geburtenentwicklung zeigt eindrucksvoll, dass sich der Ge burtenrückgang ungewö hnlich rasant vollz og (s. u. Abb. 1.1). Abbildung 1.1:
Indonesischer Gcburtcnrückgang
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4
1961.1963-
2001 1
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Quelle: eigene Abbildung, Datenbasis TFR World Ressource Institute (2009a); altersspeztfische Gebnnenziffern U.S. Bureau of Ccnsus (2007)
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1 Geburtenrückgang in lndonesien
Noch bis Mitte der 1960er Jahre war die Fruchtbarkeitsrate mit 5,6 Geburten pro Frau relativ konstant und auf einem vergleichsweise hohen Niveau. Der weltweite Durchschnitt lag zu dieser Zeit bei einer TFR von 5,02 (vgl. World Resource Institute 2009a). Ab den 1970er Jahren begann allerdings ein starker, fast linearer Geburtenrückgang. Gegenwärtig werden nur noch etwa 2,3 Kinder pro Frau geboren. Dementsprechend hat sich in den letzten 40 Jahren die Fruchtbarkeitsrate auf mehr als die Hälfte ihres Ausgangsniveaus verringert. Das Tempo des indonesischen Geburtenrückgangs variiert dabei relativ stark. Am schnellsten vollzog sich der Wandel im fertilen Verhalten in den Jahren zwischen 1970 und 1980 und setzte sich deutlich "gedämpft" in den I 990er Jahren fort. Infolge dieser Entwicklung sank die TFR von 5,6 im Jahr 1971 bis zum Jahr 1980 auf 4, I und reduzierte sich im Jahr 1985 nochmals auf 3,4 Kinder pro Frau . In nur 15 Jahren wandelte sich also das Muster fertilen Verhaltens in Indonesien grundlegend. Neben der TFR belegen auch die alterspezifischen Fertilitätsraten einen drastischen Geburtenrückgang (s. o. Abb. 1.1). Offensichtlich erfolgte nicht nur eine starke Abflachung des "Geburtenberges", sondern auch eine Verschiebung von Geburten in eine spätere Lebensphase. Befand sich das geburtenintensivste Alter von 1961 bis 1963 zwischen 20 und 24 Jahren, lag es im Jahr 2007 zwischen 25 und 29 Jahren. Innerhalb Indonesiens nimmt die Insel Java eine Sonderstellung ein. Keine Region des gesamten Inselstaates wurde hinsichtlich ihres Geburtenverhaltens besser erforscht. Das Interesse an der demografischen Entwicklung Javas hat vielfaltige Gründe. Zum einen war und ist Java das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Indonesiens und verfügt nicht zuletzt wegen seiner zahlreichen Universitäten über eine relativ gute wissenschaftliche "Infrastruktur" . Zum anderen war Java schon am Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund seiner enormen Bevölkerungsdichte ein demografischer Brennpunkt, der beobachtet und erforscht werden musste. Deswegen sind auch die ersten indonesischen Bevölkerungsuntersuchungen auf Java beschränkt. Der wohl bekannteste ist der Census von Stamford Raffles aus dem Jahre 1815 (vgl. Raffles 1965). An der Schwerpunktsetzung bevölkerungswissenschaftlicher Forschung auf Java hat sich seitdem nichts geändert. Selbst in den 1970er Jahren war diese mehr oder weniger auf Java fokussiert. Nicht nur die indonesische Stichprobe aus dem ersten World Fertility Survey (WFS) im Jahr 1976 beschränkte sich ausschließlich auf das Gebiet Java-Bali, sondern es entstanden vor allem in Zentral-Java im Umkreis der Gadjah Mada Universität eine Reihe von Mikrostudien zum Geburtenverhalten (vgl. nur T. Hull 1975; Singarimbun, Manning 1976; White 1976). Ein großes nationales und internationales Interesse an der Bevölkerungsentwicklung auf Java ermöglichte diese Studien. Die indonesische Regierung sorgte sich vor Überbevölkerung und Ernährungsengpässen. Internationale Finanzgeber
1 Geburtenrückgang in Indonesien
27
waren nicht zuletzt wegen der allgemeinen Diskussionen über eine Explosion der Weltbevölkerung motiviert, sie wurden auch von einer "aufkeimenden" Verhütungsmittelindustrie unterstützt (vgl. United Nations 1994). Erste zuverlässige Angaben zum Geburtenverhalten durch den Population Census (1971) belegen, dass Java bereits am Ende der 1960er Jahre zu der Region mit der niedrigsten zusammengefassten Geburtenziffer (TFR) des gesamten Inselsta ates gehörte . Im Durchschnitt wurde auf Java pro Frau ein Kind weniger geboren (vgl. Hu1l, Hatmadji 1990: 4). Bemerkenswert ist zudem, dass der Geburtenrückgang zwischen 1969 und 1976 auf Java und Sumatra mit etwa 20 % wesentlich schne1ler verlief als in den restlichen Regionen Indonesiens (vgl. McNicoll, Singarimbun 1983: 45). Hierbei besitzt insbesondere Ost-Java eine herausragende Stellung (s. u. Abb. 1.2). Der Trend geringer Geburtenraten in Ost-Java setzte sich auch im 21. Jahrhundert fort. Ost-Java sowie DI Yogyakarta gehören deshalb gegenwärtig zu den Regionen mit der niedrigsten TFR. Die regionalen Fertilitätsdifferenzen auf Java entsprechen den Siedlungsgebieten der Javaner und Sundanesen. Im Osten und im Zentrum der Inseln leben überwiegend Javaner. West-J ava wird hingegen in erster Linie von den muslimischen Sundanesen bevölkert. Hier übersteigt die TFR von 2,8 im Jahr 2003 sogar den indonesischen Durchschnitt, wohingegen in den Provinzen Ost-Java und DI Yogyakarta mit einer TFR von 2,2 und 1,9 nicht einmal das Bestandserhaltungsniveau erreicht ist. Trotz leichter Niveauunterschi ede zeigen die Fruchtbarkeitsraten auf Java im Vergleich zu Gesamtindonesien eine fast parallele Entwicklung. In den 1960er Jahren war das Geburtenniveau auf Java sowie Bali relativ konstant , j edoch etwas geringer als der Durchschnitt des gesamten Inselstaates. Am Ende der 1960er Jahre begannen allerdings die Geburtenzahlen langsam zu sinken (vgl. McNicoll, Singarimbun 1983: 45). Die Geschwindigkeit des Geburtenrückganges nahm Anfang der 1970er Jahre deutlich zu und überstieg den gesamtindonesischen Durchschnitt. Als Folge dieser Entwicklung betrug die TFR im Jahr 1980 nur noch 3,89 und im Jahr 1985 schon 2,92 (vgl. T. Hu1l 1988: 119). Auch gegenwärtig bestehen die traditionellen Differenzen fort. In Ost-Java und Zentral -Java werden immer noch etwa 0,8 Kinder pro Frau weniger geboren als in West -Java .
28
I Geburt enrückgang in lndonesic n
Zusam mengefasste Geburtenz iffern (T FR) auf Java
Abbildung 1.2: TFR
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Indoncsicn
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Quelle: eigene Abbi ldung , Datenbasis TFR von / 97/ his /999 Badan Pusar Stati stik Indonesia (BPS) (2009); TFR von 1003 BPS. ORe Macro 200 3: 212
Mit de m Geburtenr ückgang stieg seit 1973 auch die Verwendung von Kontrazeption . Laut den Angaben des U.S. Ccnsus Bureau (2005b) betrieb im Jahr 1973 mit 9 1,4 % so gut wie keine Frau Empfängnisverhüt ung und nur eine Minderheit von 8,6 % der 15- bis 49-Jährigcn nutzten irgendeine Form der Geburtenkontrolle (s. u. Abb. 1.3). Bereits im Jahr 1999 ist dieser Ante il auf 44,6 % der Frauen beachtlich gestiegen. Vergleich t man die Angaben zur Verwen dung spezifisch er Verhüt ungsmethoden , so zeigt sich, dass sowohl im Jahr 1973 als auch im Jahr 1999 die Bedeutung traditioneller Methoden (z. 8. Abstinenz oder ••vormodeme" Methoden der Abtreibung) eher gering war. Von untergeordneter Bedeutung ist auch die Ste rilisation . Led iglich unter Frauen besitzt sie mit eine m Anteil von 3 % eine gewisse Relevanz. Bis in d ie 1980er Jahre waren die Verhütungspille und die Intrauterine-Verhütung (l UD) die - so genannte Spirale - d ie beliebtesten Verhütungsmetho den . Seit dem Ende der 1980er Jahre haben je doch d ie Pille und das lU D an Bedeutung verloren . Mittlerwe ile ist die Injektion die beliebteste Verhütungsmet hode .
I Geburtenrückgang in Indoncsien Ahhildu ng 1.3:
29
Verhütungs verhalten gegenwärtig verheirateter Frauen
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Quelle: eigene Abbildung; Datenbasis lj.S. Bureau of the Ccnsus (2005b) Die Differenzen hinsic htlich des Gebrauchs von Empfäng nisverhütung zwischen ländlichen und urbanen Wohnkontexten sind gegenwärtig äußerst gering (6 1 vs. 60 %). Größer als die Stadt-land- Differenzen sind die Variationen hinsichtlich des Bildungsniveaus. Nur 47 % der verheirateten Frauen oh ne Bildung betrieben Empfängn isverhütung, im Vergleich dazu 64 % de r Frauen mit mindestens Sekundarschulabschluss (vgl. BPS, ORC Meere 2003: 68 ). Unterschiede bestehen auch aufgrund der Anzahl der bereits im Haushalt lebenden Kinder . Nur 7 % der verheirateten Frauen ohne Kinder im Haushalt benutzen Verhütungsmi ttel, dagegen 68 % der Frauen mit drei bis vier Kindern und 49 % de r Frauen mit fünfund mehr Kindern (vgl. BPS, ORC Maero 2003: 68). Geburtenkontrolle scheint somit vor alle m dazu zu dienen , Kinderreichtum einzusch ränken . Bereits dieser kurze Überblick belegt den Wandel des gene rativen Verha ltens in lndonesien. Die Mehrheit der Bevölkerung bevorzugt gegenwä rtig eine deutlich geringere Anza hl von Kindern als noch in den 1970er Jahren. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit sollen die Ursachen für die sen Wandel gefunden werden.
2 Indonesischer Geburtenrückgang aus der Perspektive der Modernisierungstheorie
Demografische Ereignisse wie der soeben im ersten Kapitel beschriebene Geburtenrückgang existieren nicht losgelöst von den Lebensbedingungen der Bevölkerung. Sie sind vielmehr Teil eines umfassenden gesellschaftlichen Transformationsprozesses, der unter dem Begriff "Modernisierung" zusammengefasst und wie folgt definiert wird. .Jvlodernization may be defined as a transformation in economic , social, and political organization and in human personality observed in a growing number of nations since the mid-eighteenth century . On the economic side, this transformation involves a sustained rise in real output per capita. It encompa sses wide-ranging changes in techniques of producing, transporting, and distributing goods; in the scale and organization of productive activities ; and in types of outputs and inputs. It embraces major shifts in the industrial, occupational, and spatial distribution ofproductive resources and in the degree of exchange and monetization of the economy . On the social and demographie sidc, modernization involves significant alterations in fertility, mortality, and migration ; in place of residence ; in family size and structure; in the educational system; and in public health services. Its influence extends into the areas of income distribution , class structure, govemment organization , and political structure" (Easterlin 1983: 563).
Mit dieser Definition beschreibt Easterlin (1983) zutreffend die gesellschaftlichen Veränderungen, die auch lndonesien im Zuge seiner historischen Entwicklung erfuhr. Überlegungen von Modernisierungstheoretikern gehen jedoch über die reine Darstellung gesellschaftlicher Transformationsprozesse hinaus. Mit der Theorie des ersten demografischen Übergangs haben sie zudem ein Modell zur vermeintlichen Erklärung des Geburtenrückgangs infolge dieses Wandels entwickelt. Es stellt sich daher die Frage, ob dieses Modell auch zur Erklärung des indonesischen Geburtenrückgangs geeignet ist. Um das zu überprüfen, soll das klassische Übergangsmodell vorgestellt und dann auf den indonesischen Kontext angewendet werden.
32
2 Indonesischer Geburtenrückgang aus der Perspektiveder Modemisierungstheorie
2.1 Der demografische Übergang Indonesiens Die Anzahl theoretischer Arbeiten, die den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Modernisierung und Geburtenrückgang untersuchen, ist groß (vgl. nur in Herter-Eschweiler 1998). Zweifellos zählt aber die Theorie des demografischen Übergangs zu einem der meist diskutierten sowie kritisierten Modelle (vgl. van de Kaa 1997) . Neben seiner Bedeutung als Anknüpfungspunkt für weitere theoretische Überlegungen, besaß die Theorie des demografischen Übergangs vor allen Dingen als Instrumentarium für gesellschaftspolitische Überlegungen vor und nach dem zweiten Weltkrieg eine herausragende Stellung. Viel fach wird in Veröffentlichungen zur Weltbevölkerungsproblematik auf diesen Ansatz Bezug genommen (vgl. United Nations 1994; Büttner 2000). Der Versuch dieses Modell für die Beschreibung der Bevölkerungsentwicklung eines Landes nutzbar zu machen, ist also nicht neu, lohnt sich aber für Indonesien besonders aus folgenden Gründen. Das Modell ist erstens, hervorragend geeignet, die demografischen, ökonomischen und sozialen Entwicklungen Indonesiens systematisch zu beschreiben. Jene Beschreibung des indonesischen Modernisierungsprozess ist später für das Verständnis des unten im dritten Kapitel vorgestellten Erkl ärungsmodells/ nötig . Zweitens, wird in zahlreichen Veröffentlichungen über den Geburtenrückgang in Indonesien die Theorie des demografischen Übergangs als Beschreibungs- und auch Erklärungsinstrument genutzt (vgl. nur Ananta, Pungut 1992; Hirschman 2001; T. Hull 2002 ; T. Hull 2003). Drittens, wird anhand der Theorie des demografischen Übergangs und seiner Anwendung auf den indonesischen Kontext am besten die bis dato bestehende Forschungslücke bei der Erklärung des indonesischen Geburtenrückganges deut lich.
Das theoretische Erklärungsprogramm basiert auf dem methodologischen Individualismus (vgl. Popper 1962, 1973). Dieser vertritt die These, dass alles Wissen über kollektive Phänomenenur aus der Kenntnis über die individuellen Verhaltensweisen, Haltungen und Interessen der handelnden Akteure begründet, abgeleitet oder bestätigt werden kann (vgl. Lenk 1977). Die Veränderung von Makrovariablen, mit der die Rahmenbedingungen aller handelnden Individuen beeinflusst werden, verursacht das interessierende typische Verhalten. Damit muss eben deren Wandel untersucht werden.
2.1 Der demografische Übergang Indonesiens
33
2.1.1 Theorie des demografischen Übergangs
Der Geburtenrückgang in Indonesien ist Teilprozess eines umfassenden demografischen Umbruchs , der in dieser Form kein Einzelphänomen darstellt, sondern weltweit bereits vielfach beobachtet und mit dem Konzept des demografi schen Wandels thematisiert wurde. Erste Modelle des demografischen Übergangs stammen von Laundry (1909) und Thomson (1929) . Später erfuhren diese diverse Modifikationen und Erweiterungen (u. a. Davis 1945; Notestein 1945; Mackenroth 1953, 1955; Coale, Watkins 1986; Chesnais 1992). Das Modell des demografischen Übergangs unterstellt eine gewisse Zwangsläufigkeit der Entwicklung von Geburten- und Sterbeziffern. Merkmal des demografischen Übergangs ist, dass alle Länder infolge ihrer gesellschaftlichen Modernisierung früher oder später einen Wechsel von hohen zu geringen Sterbe- und Geburtenziffern vollziehen . Start- und Endpunkt dieses Transformationsprozesses sind zwei relativ stabile Bevölkerungszustände. In vormodernen Gesellschaften ist ein hoher Bevölkerungsumsatz (hohe Geburten- und Sterberaten) vorherrschend, wohingegen für moderne Gesellschaften ein geringer Bevölkerungsumsatz (geringe Geburten- und Sterberaten) charakteristisch ist. Dementsprechend ist die Bevölkerungsexplosion der heutigen Industrienationen in der Vergangenheit und die momentane der Entwicklungsländer ein Übergangsproblem, das nicht auf die Erhöhung der Fertilität , sondern vielmehr auf den Rückgang der Mortalität zurück zu führen ist. Der demografische Übergang wird je nach zugrunde liegendem Modell in drei oder fünf Phasen eingeteilt. Die erste Phase, die prätransformative Phase , ist durch hohe Geburten- und Sterbeziffern gekennzeichnet. Trotz vieler Geburten bleibt die Bevölkerung aufgrund einer geringen Lebenserwartung im Idealfall stabil. Die Verhältnisse des europäischen Mittelalters entsprechen dieser Phase. Die Transformationsphase gliedert sich in drei Schritte . In der zweiten Phase, der frühen Transforma tionsphase, bleibt die Geburtenrate auf einem hohen Niveau konstant und die Sterberate beginnt langsam zu sinken . Das Wachstum der Bevölkerung steigt also an. In der dritten Phase, der mittleren Transformationsphase, beginnen auch die Geburtenziffern zu sinken , während die Sterbeziffern weiterhin stark abfallen. Das Bevölkerungswachstum beschleunigt sich weiter und stabilisiert sich infolge dieser Entwicklung auf einem hohen Niveau. In der vierten Phase, der späten Transformationsphase, konsolidiert die Sterberate bei einer weiter sinkenden Geburtenrate auf einem niedrigen Niveau. Es wird ein relativ geringes Bevölkerungswachstum erreicht. Die fünfte Phase, die posttransformative Phase, ist durch geringe Geburten- und Sterberaten gekennzeichnet. Bei einem geringen Nettobevölkerungsumsatz wird wieder ein relativ geringes Bevölkerungswachstum erreicht (vgl. Huinink 2000 : 352).
34
2 Indonesischer Geburtenrückgang aus der Perspektive der Modemisierungstheorie
Die Entwicklungen in den heutigen Industrienationen machte jedoch eine Erweiterung dieses klassischen Übergangsmodells um das Modell des zweiten demografischen Übergangs notwendig, weil die Geburtenrate unter das Bestanderhaltungsniveau fiel und damit der Annahme eines stabilen Bevölkerungszustandes widersprach (van de Kaa 1987). Dieses Modell soll dem Rückgang der natürli chen Bevölkerung in zahlreichen Industrienationen Rechnung tragen . Bezüglich des Geburtenrückgangs infolge gesellschaftlicher Modemisierung sind auf der Basis der Theorie des ersten demografischen Übergangs folgende Aussagen möglich (vgl. Notestein 1945). Erstens : Sterblichkeits- und Geburtenentwicklung stehen in einem kausalen Zusammenhang. Der Rückgang der Sterblichkeit, vor allen Dingen der Kindersterblichkeit als Folge eines allmählichen medizinischen und hygienischen Fortschrittes, der Steigerung landwirtschaftlicher Erträge, der Verbesserung der industriellen Produktivität und des Wohlstandes, bedingen den Rückgang der Geburten. Weil für die Reproduktion der Gesellschaft fortan weniger Kinder erforderlich sind, gehen die Geburten als Reaktion auf das gesunkene Mortalitätsrisiko zeitversetzt zurück. Das Bevölkerungsgleichgewicht stellt sich erneut her. Zweitens : Der Geburtenrückgang steht in einem engen Zusammenhang zur wirtschaftlichen Entwicklung bzw. dem gesellschaftlichen Modernisierungsprozess. Industrialisierung, Individualisierung, Urbanisierung und zunehmende weltwirtschaftliche Verflechtungen führen zu einem sozioökonomischen Wandel mit weit reichenden Konsequenzen für die Sozial- und Wertestruktur einer Gesellschaft. Es vollzieht sich ein Wandel von der institutionellen Kontrolle der Fertilität durch Glaubensinhalte, moralische Normen, Gesetze, Heiratsbräuche und Familienorganisation, die alle darauf abzielen, eine hohe Fertilität zu erhalten , hin zu einer rationalen Wahl der Akteure. Die Akteure treffen schließlich selbstständig generative Entscheidungen, wodurch ein neues Muster generativen Verhaltens entsteht. Die Fertilität sinkt, indem sich neue Ideale der Familiengröße entwickeln. Drittens : Die vermehrte Verwendung von effizienten Verhütungsmitteln ist für den Geburten rückgang kausal. Zwar hatte die soziale und ökonomische Entwicklung den entscheidenden Einfluss auf die gewünschte Familiengröße, aber erst durch die Empfängnisverh ütung wurde deren Realisierung möglich. Sichere, effiziente, billigere und akzeptablere Verhütungsmittel für verheiratete Frauen können die gesellschaftliche Modernisierung zwar nicht ersetzen, mit ihrer Hilfe ist aber eine deutlich schnellere Reaktion des generativen Verhaltens auf die gesellschaftliche Modernisierung zu erwarten (vgl. Notestein 1983). Damit hat der Ansatz des demografischen Übergangs den Charakter eines evolutionären Gesetzes. Das Modell erklärt den Wandel in der Bevölkerungsstruktur als zwangsläufige Folge gesellschaftlicher Modernisierung. Im Folgenden soll deshalb über-
J5
2.1 Der demografische Übergang lndonesiens
prüft werden, ob d ie von den Vertretern des demografischen Übergangs vorhergesagte Bevölkerungsentwicklung auch in Indonesien zu beobachten ist.
2.1.2 Anwendung der Theorie des demografischen Übergangs auflndonesicn Die folgende Abbildung zeigt d ie rohen Geburten- und Sterberaten Indonesiens ab 1950 und gibt Prognosen bis in das Jahr 2050.
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144
5 Empirischer Teil I: GeselischaftlicheModernisierung und generatives Verhalten
Das zweite Problem (Ausschluss II) betrifft die erfassten Provinzen . Wie schon anfangs im ersten Kapitel erwähnt , weist Indonesien neben einer kulturellen Vielfalt auch deutliche Disparitäten hinsichtlich seiner wirtschaftlichen Entwicklung auf. Ein Problem besteht nun darin, dass beim WFS 1976 lediglich die Region Java und Bali erfasst wurde und die nachfolgenden Surveys weitere Landesteile." in ihre Untersuchung einbeziehen. Die für die Analyse zur Verfügung stehende Grundgesamtheit variiert demnach stark, so dass die einzelnen Surveys und die aus ihnen hervorgehenden Geburtskohorten nicht direkt miteinander vergleichbar sind. Lösen kann man dieses methodische Problem nur, indem alle anderen Regionen der nachfolgenden Erhebungen aus der Untersuchung ausgeschlossen werden. Die regionale Begrenzung auf die Landesteile Java und Bali mit ihren Provinzen (DKI Jakarta , West-Java, Zentral-Java, DI Yogyakarta, OstJava und Bali) bewahrt die Chance, möglichst lange Zeiträume betrachten zu können. Allerdings beziehen sich die Schlussfolgerungen zum Wandel des generativen Verhaltens ausschließlich auf Java, was insofern unproblematisch ist, weil sich die gesamte Arbeit ohnehin auf Java konzentriert. Außerdem wurden die Daten der VOC-Replikstudie (s. u. Kap. 6.1) auch nur auf Java erhoben . Der gemeinsame regionale Fokus beider Erhebungen lässt somit erste Analysen des generativen Verhaltens anhand eines repräsentativen Datensatzes zu und dessen Ergebnisse sind auch besser mit denen der VOC-Replikstudie vergleichbar (s. u. Kap. 6.3). Die Tabelle 5.2 zeigt die für die Analyse zur Verfügung stehende Datenmenge. Die Fallzahl hat sich nach beiden Ausschlussverfahren von 130.409 auf 29.211 deutlich reduziert. Auf der Basis der Information zum Geburtszeitpunkt der Frauen wurden gruppierte Geburtskohorten gebildet, wobei am Ende des Ausschlussverfahrens neun gruppierte Geburtsjahrgänge zur Verfügung stehen, (1926 bis 1930, 1931 bis die jeweils fünf Jahre umfassen
Die IDHS von 1987 bis 1994 differenzieren zwischen Java-Bali (DKI Jakarta; West-Java; Zentral-Java; DI Yogyakarta; Ost-Java; Bali) ; Outer Java Bali I (DI Acch , Nord-Sumatra; West-Sumatra; S üd-Sumatra; Lampung; West-Nusa-Tengara; West Kalimatan; Süd-Kalimatan; Nord-Sulawesi; S üd-Sulawesi) und Outer Java Bali lJ (Riau; Jambi; Bengkulu; Ost-Nusa-Tenggara, Ost- Timao; Zentral-Kalimantan; Südost-Sulawesi : Maluku; lrian Jaya) . Der lOHS 2003 untersucht die Regionen DI Aceh; Nord -Sumatra; West-Sumatra; Riau; Jambi; Süd-Sumatra; Bengkulu; Lampung; Bangka Belitung; DKI Jakarta; West-Java; Zentral-Java; DI Yogyakarta; Ost-Java; Banten; Bali ; West -NusaTenggara; Ost-Nusa-Tenggara; Ost-Timor; West-Kalimantan; Zentral-Kalimantan; SüdKalimantan; Ost-Kalimantan; Nord-Sulawesi; Zentral-Sulawesi; Süd-Sulawesi; SüdostSulawesi ; Gorontalo; Maluku und Irian Jaya. 26
5.2 Opcrationalisicrung
145
1945, 1946 bis 1950, 1951 bis 1955, 1956 bis 1960, 1961 bis 1965, 1966 bis 1970). Sie ermöglichen eine Kohortenanalyse von 1926 bis 1970 und decken damit nicht nur einen Zeitra um von 44 Jahren ab, sondern aueh die Periode, in der der Wandel im generativen Verhalten aueh am stärksten war. Die vorgenommenen Ausschlüsse verhindern erstens eine Verzerrung der Analyse aufgrund des gestiege nen Erstheiratsalters. ermöglichen zweitens die historische Betrachtung von Geburtenver läufen und erhöhen drittens die Vergleichbarkeit des kumulierten Datensatzes mit dem Datensatz der VOC-Replikstudie (s. u. Kap. 6.1). Tabelle 5.2:
Ausschlussverfah ren und Datenmengen
Ursorün 'lieh Ausschluss 1 Ausschluss 11 853 853 853 1.172 1.172 1.172 2.310 2.3 10 2.063 5.8 16 5.816 3.573 10.800 10.800 5.119 17.395 15.932 6.313 22.081 18.369 6.585 8.063 2.760 23.650 20.838 2.184 773 x x 15.429 x x 7.646 2.328 x x 91 x x 130.409 65.499 29.21 1 , 1976, IOIlS 1987, lOHS 199 1, lOHS 1994, lOHS 1997, IDHS 2002/2003, Quelle. \\FS eigene Berechungen Geburtskohorte 1926-1930 1931-1935 1936-1940 194 1-1945 1946-1950 1951- 1955 1956-1960 1961- 1965 1966- 1970 1971-1975 1976-1980 1981-1985 1986-1990
5.2 Op eratlcnattslerung Im vierten Kapitel wurde davon ausgegangen, dass der Zeitpunkt beim Übergang zur Mutterschaft und die Anzahl der zu erwartenden Paritäten stark zwischen ländlichem und städtischem Wohnkontext und der individ uellen Ressourcenausstattung differenziert (s. o. Kap. 4.6). Gesellschaftliche Modernisierung sollte also das generative Verhalten negativ beeinfl ussen. Um die Annahme zu bewei-
146
5 Empirischer Teil I: GeselischaftlicheModernisierung und generatives Verhalten
sen, dass insbesondere Frauen , die stark vom gesellschaftlichen Fortschritt profitieren, den Übergang zur Erstgeburt herauszögern und eine Geburt höherer Parität weitaus seltener realisieren, sollen neben den Geburtskohorten als unabhängige Variablen auch der Wohnkontext, die Erwerbstätigkeit, der Berufsstatus und die Bildung in die empirischen Analysen eingehen.
5.2.1 Unabhängige Variablen: Wohnkontext. Erwerbstätigkeit. Beruftstatus und Bildung Als Indikatoren für variierende Kontextfaktoren gehen die Geburtskohorte und der Wohnkontext in die empirischen Analysen ein. Kontextuelle Variationen werden mit Hilfe der Variable Wohnkontext der befragten Frauen untersucht. Hierbei wird vom gegenwärtigen Wohngebiet ausgegangen und eine DummyVariable verwendet, die zwischen Stadt und Land unterscheidet. Das Humankapital bzw. die individuelle Ressourcenausstattung der Ehefrau wird mittels Erwerbstätigkeit, Berufsposition und Bildungsniveau erfasst. Mit der Variable Erwerbstätigkeit der Ehefrau werden entsprechend den theoretischen Annahmen (s. o. Kap. 3.2.3) höhere Opportunitätskosten impliziert. Diesbezüglich liegen Informationen dazu vor, ob die befragten Personen in den letzten 12 Monaten erwerbstätig waren oder nicht (Dummy-Variable). Die sektoriale Einbindung und die Erfassung der Berufsstatus wurden mit einer fünfstufigen Ordinalskala erhoben. Sie differenziert zwischen Nichterwerbstätigen, Erwerbstätigen in der Landwirtschaft, Erwerbstätigen im Dienstleistungsbereich, Arbeitern und Professionellen". Zur Analyse der Wirkung von Berufspositionen werden auf der Grundlage dieser Angaben fünf Dummy-Variablen gebildet. Diese unterscheiden Personen , die im jeweiligen Berufszweig beschäftigt sind, von nicht im Arbeitsmarkt integrierten Personen. Zur Erwerbstätigkeit zählt auch die nicht monetär entlohnte Arbeit, wie es z. B. bei mithelfenden Familienangehörigen der Fall sein kann. Es kann allerdings nicht unterschieden werden , ob es sich um eine selbstständige Tätigkeit oder unselbstständige Tätigkeit handelt. Darüber hinaus sind keine Aussagen möglich , ob die Frauen ununterbrochen oder bereits bei der Erstgeburt erwerbstätig waren . Die Variable Bildung der Ehefrau informiert über ihren höchsten erreichten Bildungsabschluss. Die vier Kategorien umfassende Intervallskala unterscheidet Personen ohne Bildungsabschluss, Personen mit Grundschulabschluss, Personen In der Gruppe der Professionellen sind alle Personen mit einer qualifizierten Berufsausbildung, Angestellte in leitenden Positionen, Verwaltungsangestellte und Bürofachkräfte zusammengefasst.
27
5.2 Opcrationalisicrung
147
mit Sekundarsehulabsehluss und Personen mit einem höheren Bildungsgrad als dem Sekundarsehulabsehluss. Um Frauen der entsprechenden Bildungsniveaus mit Frauen ohne Bildung vergleichen zu können, mussten für die weitere Ana lyse vier Dummy-Variablen generiert werden. Ein Vergleich der in der folgenden Abbildung vorzufindenden Häufigkelten und Verteilungen der unabhängigen Variablen entspric ht de n im zweiten Kapitel gezeigten mak rostrukturellen Veränderungen recht gut. So hat der Anteil der auf dem Land wohnenden Personen deutlich abgenommen. In der jüngsten Geburtskohorte weisen sogar 60 % der Frauen einen urbanen Wohnkontext auf. Verteilung der unabhängigen Variablen Berufsstatus und Bildung
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