DE TEMPORUM RATIONE
STUDIEN UND TEXTE ZUR GEISTESGESCHICHTE DES MITTELALTERS begründet von
JOSEF KOCH weitergeführt ...
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DE TEMPORUM RATIONE
STUDIEN UND TEXTE ZUR GEISTESGESCHICHTE DES MITTELALTERS begründet von
JOSEF KOCH weitergeführt von
PAUL WILPERT, ALBERT ZIMMERMANN und JAN A. AERTSEN herausgegeben von
ANDREAS SPEER in zusammenarbeit mit TZOTCHO BOIADJIEV, KENT EMERY, JR. und WOUTER GORIS BAND LXXXIX NADJA GERMANN
DE TEMPORUM RATIONE
DE TEMPORUM RATIONE QUADRIVIUM UND GOTTESERKENNTNIS AM BEISPIEL ABBOS VON FLEURY UND HERMANNS VON REICHENAU
VON
NADJA GERMANN
BRILL LEIDEN • BOSTON 2006
This book is printed on acid-free paper.
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A C.I.P. record for this book is available from the Library of Congress. LC Control Number: 2006047335
ISSN 0169-8028 ISBN-13: 978-90-04-15395-0 ISBN-10: 90-04-15395-0 © Copyright 2006 by Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands Koninklijke Brill NV incorporates the imprints Brill Academic Publishers, Martinus Nijhoff Publishers and VSP. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, translated, stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise, without prior written permission from the publisher. Authorization to photocopy items for internal or personal use is granted by Brill provided that the appropriate fees are paid directly to The Copyright Clearance Center, 222 Rosewood Drive, Suite 910 Danvers MA 01923, USA. Fees are subject to change. printed in the netherlands
Meinem Vater und dem Andenken meiner Mutter
INHALTSVERZEICHNIS
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ix Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xi Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xiii Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xv Einleitung: Quid est enim ‚tempus‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 1. Adime saeculo computum Computus und Wirklichkeitsverständnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Einleitung: Computus und Bildungsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Beda Venerabilis: „De temporum ratione“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1. Historische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2. Zu Inhalt und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Das Konzept der septem artes liberales. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1. Alkuin und die „Disputatio de vera philosophia“ . . . . . . . . 1.3.2. Alkuins „Disputatio“: Zum Inhalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3. Alkuins „Disputatio“: Erörterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4. Wissen im Rahmen der artes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Computus und Quadrivium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29 29 35 35 41 49 49 51 62 68 78
Kapitel 2. Alme deus, te nosse mihi concede fideli Quadrivium und Gotteserkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2.1. Einleitung: Die quadrivialen Sammlungen am Beispiel Abbos von Fleury . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2.2. Der „Computus“ als komputistisch-astronomische Sammlung . 88 2.2.1. Die komputistisch-astronomischen Sammlungen . . . . . . . . 88 2.2.2. Der „Computus“ Abbos von Fleury . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2.2.3. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 2.3. Untersuchung ausgewählter Komponenten des „Computus“ . . 119 2.3.1. Diagramme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 2.3.2. Tabellen und Kalendarien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2.3.3. „Ephemerida“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
viii
inhaltsverzeichnis
2.4. Unum – verbum – natura – ordo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Kapitel 3. Discursus siderum semper aequalis Himmelsbewegung und Gleichförmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 3.1. Einleitung: Gleichförmigkeit als Maß im Quadrivium am Beispiel Hermanns von Reichenau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 3.2. Hermanns komputistisch-astronomische Schriften. . . . . . . . . . . . . . 185 3.2.1. Die „Epistola de quantitate mensis lunaris“ . . . . . . . . . . . . . . 185 3.2.2. Der erste Teil der „Abbreviatio compoti“: Das komputistische Lehrbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 3.2.3. Der zweite Teil der „Abbreviatio compoti“: Das Spezialproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 3.2.4. Die „Prognostica de defectu solis et lunae“ . . . . . . . . . . . . . . . 219 3.3. Modellhaftes Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 3.3.1. Computus und natura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 3.3.2. Mathematik und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 3.3.3. Aequalitas als ratio naturalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 3.4. Die Besonderheiten modellhaften Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Zusammenfassung und Ausblick: De temporum ratione . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Appendix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 I. „Abbreviatio compoti cuiusdam idiotae“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 II. „Prognostica de defectu solis et lunae“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Quellen und Literatur I. Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 II. Zitierte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 III. Zitierte Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Indices I. Index nominum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 II. Index rerum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
ABBILDUNGSVERZEICHNIS* 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.
Konkurrententafel in Rechteckform, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 29r, ©. Konkurrententafel in rota-Form, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 35v, ©. Horologium und Isidor-Diagramme, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 38v, ©. „Recursus aepactarum“ und Quincunx-Diagramm, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 35r, ©. Quincunx-Diagramm aus dem 9. Jahrhundert, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Ms. lat. 5543, fol. 135v, ©. Diagrammatische Skizzen nach Calcidius, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 36v, ©. Litterae punctatae, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 29v, ©. Modifizierte Darstellung der litterae punctatae, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 31r, ©. A-K-Tabelle, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 32r, ©. Annale zur „Ephemerida“, Bern, Burgerbibliothek, Ms. 250, fol. 12v, ©. A-O-Tabelle (siderischer Mondmonat), Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 31v, ©. Vokaltabelle, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 34r, ©. Vokaltabelle, Biblioteca Apostolica Vaticana, Ms. Reg. lat. 309, fol. 141v, ©.
* Bei den im folgenden genannten Bibliotheken möchte ich mich für die Bereitstellung der für diese Arbeit erforderlichen Materialien sowie für die Gewährung der Publikationsrechte bedanken. Insbesondere der Staatsbibliothek Berlin, namentlich Frau Dr. Renate Schipke, sei für die entgegenkommende und reibungslose Zusammenarbeit gedankt.
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abbildungsverzeichnis
14. „Ephemerida“, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 33v, ©. 15. Transkription der „Ephemerida“ in Versform (nach Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 33v).
VORWORT
Die vorliegende Studie ist am Graduiertenkolleg Ars und Scientia im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit der Eberhard Karls Universität Tübingen entstanden und wurde im Sommersemester 2005 von der Fakultät für Philosophie und Geschichte als Dissertationsschrift im Fach Philosophie angenommen. Seit 2003 und bis zu ihrem Abschluß 2005 wurde sie zudem von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften im Rahmen des WIN-Kollegs Kulturelle Grundlagen der Europäischen Einigung gefördert. Beiden Institutionen möchte ich für ihre großzügige Unterstützung danken. Mein besonderer Dank gilt ferner den beiden Betreuern meiner Dissertation, Herrn Prof. Dr. Georg Wieland und Herrn Prof. Dr. Wilfried Hartmann, sowie dem Initiator und langjährigen Mentor des Unternehmens, Herrn Prof. Dr. Arno Borst. Allen dreien habe ich vielfältige anregende und erhellende Diskussionen zu verdanken, Arno Borst außerdem die unschätzbare Bereitstellung seiner unveröffentlichten Materialien zu Hermannus Contractus und seinem Umfeld, von Mikrofilmen wie auch von Handschriftenkopien. Verschiedene Aspekte dieser Arbeit konnten bereits während ihrer Entstehung präsentiert und diskutiert werden, so am 20. April 2004 im Rahmen der Spring Medieval Philosophy Lectures am De Wulf Mansion Centrum in Leuven auf Einladung von Prof. Dr. Maarten Hoenen, auf dem Colloque international à Orléans et Saint-Benoît-sur-Loire 10–12 juin 2004: Abbon de Fleury – un abbé de l’an mil des Institut de Recherche et d’Histoire des Textes und der Abbaye de Saint-Benoît-sur-Loire sowie auf der Tagung Von Anselm bis Abälard, Internationales Forschungskolloquium 28. Juni – 2. Juli 2004 in Stuttgart–Hohenheim auf Einladung von Prof. Dr. Georg Wieland. Für diese Möglichkeiten sowie für die erhaltenen Ratschläge, Hilfestellungen und Anmerkungen bin ich sowohl den Veranstaltern als auch den Diskussionsteilnehmern ausgesprochen dankbar. Besonders wertvolle Anregungen und Hinweise verdanke ich außerdem persönlichen Gesprächen mit Gelehrten verschiedener Fachrichtungen. Namentlich erwähnen möchte ich Dr. Charles Burnett, Dr. Da-
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vorwort
vid Juste, Dr. Barbara Obrist und Dr. Peter Verbist für die eingehenden Erörterungen wissenschaftsgeschichtlicher Probleme und für ihre profunde Unterstützung bei Fragen zur Handschriftenlage; Dr. Stefan Seit, der mir mit seiner philosophiehistorischen Expertise über weite Strekken der Arbeit hinweg als kluger und stets hilfsbereiter Gesprächspartner zur Verfügung stand; Prof. Dr. Walter Oberschelp und Dr. Kerstin Springsfeld für ihre kompetenten und spannenden Erläuterungen astronomischer und komputistischer Zusammenhänge. Ihnen allen gilt mein aufrichtiger Dank. Weiterhin möchte ich mich bei den Herausgebern der Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, und zwar vor allem bei Herrn Prof. Dr. Andreas Speer und bei Herrn Prof. Dr. Wouter Goris, für die Aufnahme dieser Untersuchung in ihre Reihe herzlich bedanken. Mein Dank geht in diesem Zusammenhang auch an den Brill-Verlag, namentlich an Frau Marcella Mulder (Editor), für die unkomplizierte und angenehme Zusammenarbeit. Ein ganz besonderes Gefühl der Dankbarkeit aber empfinde ich gegenüber meiner Familie und meinen Freunden für ihre persönliche Unterstützung und ihre Geduld. Meinem Vater und dem Andenken meiner Mutter sei diese Arbeit gewidmet. Nadja Germann Freiburg im Breisgau, April 2006
VORBEMERKUNGEN
Die Literatur wird durchgängig in einer verkürzten Form zitiert, die sich aus dem Namen des Autors, dem Kurztitel und der Seitenzahl zusammensetzt. Der Kurztitel besteht in der Regel aus den ersten Worten des vollständigen Titels, der im Literaturverzeichnis (Quellen und Literatur) zitiert wird. In den wenigen Fällen, in denen von dieser Gepflogenheit abgewichen und lediglich auf einen Zentralbegriff des Titels zurückgegriffen wurde, findet sich im Literaturverzeichnis ein ausdrücklicher Hinweis hierauf („zitiert als …“). Die verwendeten gedruckten Quellen unterscheiden sich hinsichtlich der zugrunde gelegten Transkriptions- und Interpunktionsstandards. In den lateinischen Zitaten der vorliegenden Arbeit wurden die Schreibund Interpunktionsweisen der jeweiligen Edition übernommen.
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
CCL Corpus Christianorum. Series Latina. Turnhout. CCM Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis. Turnhout. CSEL Corpus scriptorum ecclesiasticorum Latinorum, ed. consilio et impensis Academiae Litterarum Caesareae Vindobonensis. Wien. FC Fontes Christiani. Zweisprachige Neuausgabe christlicher Quellentexte aus Altertum und Mittelalter. Turnhout (bis Bd. 40: Freiburg i. Br.). HWPh Historisches Wörterbuch der Philosophie, 12 Bde., hrsg. v. J. Ritter/ K. Gründer. Basel 1971–2004. LMA Lexikon des Mittelalters, 9 Bde., 1 Registerbd., hrsg. v. R.-H. Bautier u. a. München / Stuttgart 1980–1999. MGH Monumenta Germaniae Historica. München. PL Patrologiae cursus completus. Series Latina, hrsg. v. J.-P. Migne. Paris. PTS Patristische Texte und Studien, hrsg. im Auftr. d. Patristischen Kommission der Akademien der Wissenschaften in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin / New York. RAC Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt, mehrere Bde., begr. v. J. Dölger, hrsg. v. T. Klauser. Stuttgart 1950 ff. SC Sources chrétiennes. Paris. TRE Theologische Realenzyklopädie, 36 Bde., Abkürzungsverzeichnisse, Registerbde., hrsg. v. G. Krause / G. Müller. Berlin 1977–2004.
einleitung QUID EST ENIM ‚TEMPUS‘?
Nullo ergo tempore non feceras aliquid, quia ipsum tempus tu feceras. Et nulla tempora tibi coaeterna sunt, quia tu permanes; at illa si permanerent, non essent tempora. – Quid est enim ‚tempus‘?1 – Also gab es nie eine Zeit, zu der du noch nichts geschaffen hattest, da du ja die Zeit selbst geschaffen hast. Und keine Zeiten sind dir gleichewig, weil [nur] du verharrst; würden auch sie verharren, wären es keine Zeiten. – Denn was ist ‚Zeit‘?
1. Vorbemerkungen. Die Frage nach der Zeit ist zentral für das christlichlateinische Mittelalter. Als Augustinus sie in der vielzitierten Formulierung aufwirft, besitzt ihre Erörterung bereits eine lange antike Tradition. Diskutiert wird sie seit jeher in diversen Zusammenhängen, was kaum überrascht, durchdringt doch die Zeit – als Phänomen, Kategorie oder Anschauungsform – sämtliche Bereiche der Wirklichkeit. Daher ist sie selbst im wissenschaftlichen Kontext in nahezu allen Disziplinen zu berücksichtigen: etwa als Tempus in der Grammatik, als Prosodie in Dichtung und Rede, als Rhythmus und Metrum in der Musik oder als Maß der Bewegung in der Astronomie. Einzig formale Wissenschaften wie die Dialektik, die Arithmetik und die Geometrie funktionieren für sich genommen unabhängig von der ‚Zeit‘. Schon seit der Antike ist die Zeit an sich Gegenstand intellektueller Tätigkeit, und zwar namentlich philosophischer Reflexionen. Besonders wirkmächtig sind in Hinsicht auf die mittelalterliche Rezeption sowohl Augustins „Confessiones“,2 als auch Platons „Timaios“3 sowie die „Physik“ des Aristoteles.4 Die antike Zeitphilosophie ist fern davon, Augustinus, Confessionum libri xiii lib. xi, xiv, 17 (CCL 27, S. 202). Zentral für die Zeitphilosophie Augustins ist das elfte Buch; für einer weiterführende Diskussion siehe Schmidt, Zeit und Geschichte bei Augustin; Flasch, Was ist Zeit?; Engelen, „Erkennen und Glauben“; Meyer, Augustins Frage; Bettetini, „Measuring in Accordance“. 3 Insbes. 37c ff.; der „Timaios“ – einschließlich der fraglichen Passage – lag dem Mittelalter durchgängig in der lateinischen Übersetzung des Calcidius vor; zu dessen Rezeption Dutton, The ‚Glosae super Platonem‘ S. 3 f.; Schrimpf, „Bernhard von Chartres“ S. 183–185; Speer, Die entdeckte Natur S. 85 f. 4 Einschlägig ist insbes. das vierte Buch der „Physik“; die direkte Rezeption und 1 2
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einleitung
ein einheitliches Erscheinungsbild zu bieten, doch kreist sie bereits um Fragen, die später dann für das Mittelalter bedeutsam werden, beispielsweise um das Verhältnis von Zeit und Bewegung, Zeit und Seele, Zeitlichkeit und Ewigkeit. Wenngleich auch die Antike den Unterschied zwischen linearen und zyklischen Zeitvorstellungen kennt und macht, fällt auf, daß zyklische Konzeptionen überwiegen. Dieser Eindruck wird durch den Umstand verstärkt, daß antike Zeitreflexionen häufig in engem Zusammenhang mit kosmologischen Vorstellungen diskutiert werden, und zwar insbesondere in der Auseinandersetzung mit astronomischen Vorgängen sowie der gerade den Bereich der Astronomie kennzeichnenden kreisförmigen Bewegungsweise.5 Exemplarisch sei auf die zeitphilosophischen Ausführungen Platons im „Timaios“ verwiesen. Bemerkenswert ist, daß sie im Erzählzusammenhang auf jene Passage folgen, in der die Verknüpfung der Weltseele mit dem Weltkörper und ihre Erkenntnisfähigkeit beschrieben werden. Damit stehen sie in einem direkten Zusammenhang mit dem Entstehungsmythos des Kosmos. Das dominante Motiv bei dieser Skizze ist der die Seelentätigkeit kennzeichnende zyklische Bewegungsmodus, der somit als fundamentale Bewegungsstruktur des Wirklichkeitsganzen herausgestellt wird. Hieran schließen sich Platons Äußerungen zur Zeit, die zunächst den Schluß nahelegen, die Zeit bewege sich in Zahlen vorwärts und bilde also eine lineare Abfolge von „war“ und „wird sein“. Doch rückt Platon die Darstellung sofort zurecht, indem er darauf hinweist, das „war“ und das „wird sein“ seien lediglich mit der Zeit Diskussion der aristotelischen Zeitphilosophie setzt erst im Laufe des 13. Jahrhunderts ein. Bis dahin ist die peripatetische Konzeption nur vermittelt greifbar; Jeck, Aristoteles contra Augustinum. 5 Die Besonderheit oder auch Vorbildhaftigkeit der Bewegung der Himmelskörper wird schon seit den alten Pythagoreern betont. Vermutlich waren sie die ersten, die von der Annahme ausgingen, daß sich die Sonne, der Mond und die fünf ihnen bekannten Planeten erstens mit gleichförmiger Geschwindigkeit, zweitens in kreisförmigen Bahnen und drittens in einer der Bewegung des Weltalls entgegengesetzten Richtung bewegen; ein kurzes Referat der Auffassung der Pythagoreer bietet der Astronome Geminos in seinen „Elementa astronomiae“ (ed. Manitius S. 10, die dt. Übersetzung S. 11). Ihrer Überzeugung von der Göttlichkeit und Ewigkeit der Himmelskörper lief die Vorstellung zuwider, daß die Planeten sich bald schneller, bald langsamer bewegten oder gar stillstanden. Ihre Überlegungen zielten aufgrund dieser Prämissen darauf, wie sich – bei vorausgesetzter Kreis- und Gleichförmigkeit – die tatsächlich beobachtbaren Himmelserscheinungen erklären ließen. Noch Platon sah etwa ein Jahrhundert später einen gleichsam selbstverständlichen, logisch zwingenden Zusammenhang zwischen der Göttlichkeit der Gestirne und ihrer völlig regelmäßigen Bewegung. – Für die Glaubwürdigkeit des Geminos plädiert van der Waerden, Die Pythagoreer S. 245–250.
quid est enim ‚tempus‘?
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fortschreitende, gewordene Formen der Zeit, nicht aber diese selbst. Demgegenüber charakterisiert er die Zeit selbst als „umlaufend“, also „zyklisch“ und geht im folgenden Abschnitt noch einen Schritt weiter, wenn er sie in einen unmittelbaren Zusammenhang mit Sonne, Mond sowie den Planeten und deren Kreisbahnen bringt. In Wahrheit nämlich – so fährt er fort – sind die Umläufe der Planeten Zeit, so daß sich das „vollkommene Jahr“ – seinerseits eine wiederkehrende Größe – als gleichzeitige Vollendung der Umläufe sämtlicher Planeten bestimmen lasse. Mit dieser Identifikation von Zeit und Planetenbewegung aber verknüpft Platon seine Zeitkonzeption direkt mit der zuvor dargestellten Grundbewegung des Kosmos.6 Selbst Aristoteles, dessen Zeitphilosophie ja im Rahmen seiner Physik und nicht etwa der Metaphysik ihren Ort findet, stellt einen engen Zusammenhang zwischen der Zeit – als Maß oder Zahl der Bewegung – und der Kreisbewegung her. Obwohl er im vierten Buch der „Physik“ Platons Gleichsetzung der Zeit mit den Planetenbewegungen zurückweist, ist auch er davon überzeugt, daß die Zeit das Maß der Kreisbewegung sei und umgekehrt von dieser gemessen werde. Den Grund hierfür nennt Aristoteles an der fraglichen Stelle nur kurz, ausführlichere Charakteristika bietet er erst im achten Buch der „Physik“: Die Kreisbewegung ist seiner Konzeption gemäß sowohl die ursprünglichste, als auch die vollkommenste Bewegungsform und damit „am allermeisten Maß“ der Zeit. Entsprechend sei es wiederum die prominenteste dieser Bewegungen, die der Weltkugel, an der sämtliche Veränderungen gemessen werden und eben auch die Zeit.7 6 Timaios 37c–38b (zur „Zeit“); 36d–37c (zur den Kosmos durchdringenden, kreisförmig sich bewegenden Weltseele); 38b–39e (zur Identifikation von Zeit und Planetenbewegung); zu Platons Zeitphilosophie Flasch, Was ist Zeit?, bes. S. 111–113; zu einer anderen Einschätzung der angeführten Textpassage (38b–39e) gelangt Flasch, ebd. S. 112, der eine Identifikation der Zeit mit der Sternbewegung bestreitet; Platon zufolge beruhe die Zeit lediglich auf der Bewegung (die im übrigen nicht nur im räumlichen Sinne zu begreifen sei). – Eine knappe Einführung in die Zeitphilosophie Platons auf der Grundlage des „Timaios“ bietet Callahan, Four Views of Time S. 3–37. Mit Blick auf die Planeten betont Callahan, ebd. S. 18, den Umstand, daß sie geschaffen wurden „in order that the universe might be as like as possible to the perfect intelligible animal, by imitation of the eternal nature“. – Zum Konzept der ewigen Wiederkehr astronomischer Zyklen bei den Pythagoreern und bei Platon van der Waerden, „Das große Jahr und die ewige Wiederkehr“, mit einer Untersuchung der (babylonischen, indischen, iranischen etc.) Ursprünge dieser Vorstellung. 7 Aristoteles, Physik iv, 10–14 (217b–224a), insbes. 14 (223b, hieraus das Zitat); im Lichte von Physik viii, 8f. (264b–265b; 265b zur Kugel); zur Zeit bei Aristoteles Flasch, Was ist Zeit? S. 115–120, zur Kreisbewegung bes. S. 120; vgl. auch den knappen
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einleitung
Jedoch fällt auf, daß die Zeit zwar schon in der Antike ein wichtiges Objekt philosophischen Nachdenkens ist; zu einem Zentralgegenstand intellektueller Auseinandersetzung wird sie aber erst im Kontext des frühen Christentums. Ihren Ort findet sie dort allerdings in erster Linie im Rahmen theologischer Klärungsprozesse, und hier wiederum in engstem Zusammenhang mit der Erörterung des österlichen Christusereignisses. Infolgedessen wird nun eine Komponente wirksam, die in der antiken Zeitphilosophie keine oder kaum eine Rolle spielte: Zeit wird interpretierbar als ein heilsgeschichtlicher Prozeß, dessen Ende – auf das er selbst verweist – noch bevorsteht. Damit aber gewinnt die Vorstellung eines linearen und zugleich endlichen Zeitverlaufs im christlichen Denken gegenüber dem antiken deutlich an Gewicht; eine Vorstellung, die sich nicht nur aus dem Gedanken des Fortschreitens auf einer heilsgeschichtlichen Achse speist, sondern die durch das ausgeprägte Bewußtsein eines ursprünglichen Schöpfungsaktes auf der einen Seite und des bevorstehenden Endes von Welt und Zeit auf der anderen Seite in besonderer Weise akzentuiert wird.8 Eschatologische Vorstellungen sind keine Erfindung des Christentums, vielmehr kennzeichnen sie schon das Judentum und gelangen über dieses ins christliche Denken. Gemeinsam ist beiden Religionen die Überzeugung von einem paradiesischen Urzustand im Angesicht Überblick in Callahan, Four Views of Time S. 38–87, zur Zeit als Maß und Zahl bes. S. 50–53; ebd. S. 41 f. der Hinweis auf die gegenüber Platon andere Perspektive, die nicht mehr eine umfassende kosmische, sondern auf „the rather narrow framework of nature“ konzentriert sei. Vgl. indes demgegenüber Aristoteles, De generatione et corruptione, bes. ii, 10 (336b–337a), wo Aristoteles die Kreisförmigkeit und Ewigkeit der ursprünglichen Bewegung des Universums auf das Wirken Gottes zurückführt und diese Bewegung ihrerseits als Ursache für alle weiteren Bewegungen benennt, die zwingend ebenfalls kreisförmig seien. – Einen Überblick über verschiedene griechische Zeittheorien bietet Sorabji, Time, Creation and the Continuum. 8 Zur betonten Linearität der biblischen Zeitauffassung Cullmann, Christus und die Zeit S. 60–68. Diese Linearität unterstreicht auch Rudavsky, Time Matters S. 3, die aber außerdem ausdrücklich darauf hinweist, daß weder der antike griechische Zeitbegriff als ein ausschließlich zyklischer noch der jüdische als ein rein linearer zu rekonstruieren sei, bes. S. 1–4, mit weiterführenden Literaturhinweisen. – Zu primär zyklisch geprägten neuplatonischen Zeitkonzeptionen (auf der Grundlage von Primärtexten) Sambursky /Pines, The Concept of Time in Late Neoplatonism. – Zur Zeit bei Plotin und Proklos Beierwaltes, Denken des Einen S. 160–174, zur ausgezeichneten Kreisform und der entsprechenden Bewegung des Kosmos bes. S. 167–169. – Zu Plotin bes. Beierwaltes, Über Ewigkeit und Zeit (Einleitung S. 9–88; vgl. aber auch die Kommentare); siehe hierzu auch Callahan, Four Views of Time S. 88–148. – Übergreifend zur Zeitphilosophie im ‚Neuplatonismus‘ Leisegang, Die Begriffe von Zeit und Ewigkeit (über Plotin hinaus zu Plutarch, Iamblichus, Proklos, Damaskios und Philon von Alexandria).
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Gottes, den der Mensch aus eigenem Verschulden verloren hat. Doch wurde ihm als nunmehr gefallenem Menschen immerhin die Verheissung auf Erlösung aus seiner defektiven Situation zuteil. Im Judentum artikuliert sich diese Aussicht in der Erwartung des Messias, dessen Auftreten zur endgültigen Restitution des Menschen und somit zur Wiederherstellung des Heilszustandes führen werde. Die Christen der Frühzeit hingegen befanden sich in eschatologischer Hinsicht in einem konzeptionellen Dilemma, begriffen sie doch Jesus als den prophezeiten Messias und also als den Erlöser, sahen sich aber zugleich dem Ausbleiben des vermeintlich unmittelbar bevorstehenden Weltendes konfrontiert. Dieser Umstand erforderte wesentliche Modifikationen der eschatologischen Vorstellungen, wollte man nicht entweder die Identifikation Jesu mit dem Messias in Frage stellen oder die Hoffnung auf eine umfassende Erlösung am Ende der Zeiten fahren lassen.9 Zum zentralen Angelpunkt christlichen Geschichts- und damit Zeitverständnisses wurde in der Auseinandersetzung mit dieser Problematik das österliche Christusereignis, das ab sofort als die „Mitte der Zeiten“ interpretiert wurde. Maßgebliche Autorität besitzt auch in diesem Zusammenhang Augustinus, dessen Einteilung der gesamten Weltgeschichte in aufeinanderfolgende, zugleich eine Heilshierarchie implizierende Weltalter das ganze Mittelalter hindurch bestimmend blieb.10 Christus als der Sohn Gottes wirkt dem traditionellen christlichen Verständnis zufolge in mehrfacher Hinsicht im Ganzen der Wirklichkeit. In Anlehnung an das erste Kapitel der Genesis und im Lichte der Eingangspassage des Johannesevangeliums ist er das verbum, das Gott ursprünglich sprach und das sowohl eines, einfach und zeitlos, als zugleich das Gesamt der Schöpfung in ihrer vermeintlich dispara-
9 Zum linearen Geschichtsdenken im Judentum Vielmetti, Art. „Geschichte /Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie iii“, in TRE 12 (1984), S. 586–595, bes. S. 586f.; zur Eschatologie des Judentums Uffenheimer, Art. „Eschatologie iii“, in TRE 10 (1982), S. 264–270, zur Messiaserwartung bes. S. 265–267. – Zur Aufnahme und Modifikation eschatologischen Denkens in der Alten Kirche May, Art. „Eschatologie v“, in TRE 10 (1982), S. 299–305. – Einen neueren Überblick über das jüdische Zeitverständnis von der Spätantike bis ins Mittelalter bietet Stern, „The Rabbinic Concept of Time“; mit einem besonderen Augenmerk auf dem Mittelalter Rudavsky, Time Matters. 10 Augustinus, De civitate dei, bes. lib. xxii, 30 (CCL 47, S. 862–866); Andresen /Ritter, Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte Bd. 1, S. 432–445 (zur „Theologie als Geschichte“ bei Augustinus, von Mühlenberg); Luneau, L’histoire du salut, zu Augustinus bes. S. 285–330; zur mittelalterlichen Rezeption der augustinischen Weltalterlehre über Isidor von Sevilla von den Brincken, Studien zur lateinischen Weltchronistik, bes. S. 90–95.
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ten, komplexen und zeitlichen Erscheinung ist. Außerdem ist Christus das inkarnierte Wort, der menschgewordene Sohn Gottes, der auf der einen Seite das Erlösungsversprechen Gottes einlöst und die Heilszeit einleitet, auf der anderen Seite aber seinerseits auf die noch ausstehende, von ihm indes typologisch präfigurierte Vollendung des Erlösungsgeschehens verweist.11 Das Christusereignis ist somit kein schlichtes, kontingentes Einzelereignis zu einem beliebigen historischen Zeitpunkt, sondern die symbolhafte Verkörperung äußerst komplexer, mehrschichtiger Verweisund Bedeutungsverhältnisse. In ihm fallen punkthaft verdichtet Gottes Schöpfungs- und Erlösungstat ineins, in ihm konvergieren die göttliche Ewigkeit und die die Wirklichkeit kennzeichnende Zeitlichkeit, und in ihm koinzidieren die endgültige Überwindung von Sünde und Tod durch Christus und die fortdauernde Angewiesenheit des Menschen auf die individuelle Heilsgnade. Mit diesen und verwandten Charakteristika stellt das Christusereignis den Kern der Glaubensüberzeugung und infolgedessen den Ausgangspunkt theologischer Reflexionen dar, die ihren bedeutendsten Niederschlag in der Ausbildung und dem spezifischen Verständnis der Eucharistiefeier sowie insbesondere der Osterliturgie finden.12 Die Zeitkonzeption, die sich im Rahmen dieser Interpretationsbemühungen um das Christusereignis herausbildet, stellt ein im einzelnen kaum zu entwirrendes Geflecht aus verschiedenen Vorgaben dar. Sehr bestimmend ist die jüdische Tradition, als deren legitimer Erbe man sich hinsichtlich der messianischen und eschatologischen Verheis11 Vgl. in diesem Zusammenhang insbes. die für das Mittelalter wirkmächtigen Vorgaben in Augustins „De trinitate“; hierzu Courth, Trinität. In der Schrift und Patristik S. 189–209, der S. 208 zusammenfassend Augustins „ausgesprochen weite heilsgeschichtliche Sicht“ betont: „Der in sich geschlossene innertrinitarische Lebensaustausch weitet sich aus in der Schöpfung, besonders sichtbar in die des Menschen, in die Erlösungsgeschichte, […]“. Dies alles habe „das eine Ziel, den Menschen zu Gott zurückzuführen“. 12 Zur Ausbildung der Christologie in der Alten Kirche Andresen /Ritter, Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte Bd. 1, S. 99–283 (von Ritter). – Im Neuen Testament selbst wird das Christusgeschehen „auf unterschiedliche Weise historisch gedeutet: a) als besondere, eigenständige Zeitphase, b) als Zeit der Erfüllung alttestamentlicher Verheissungen, c) als Ziel und Vollendung der (Heils-) Geschichte, d) als Beginn der Endzeit, e) als ‚Zeitenwende‘“, Erlemann, Art. „Zeit iv“, in TRE 36 (2004), S. 523–533, das Zitat auf S. 525; S. 526 dann zum Christusereignis als dem „Bezugspunkt aller heilsgeschichtlichen Ereignisse“; allgemein hierzu Cullmann, Christus und die Zeit, zu Christus als Mitte der Zeiten und seinem Verhältnis zu den verschiedenen Heilsepochen bes. S. 117–159.
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sungen des Alten Testamentes begriff und die man unter den neuen Rahmenbedingungen fortschrieb. Große Bedeutung besitzen ferner die vorherrschenden antiken Geistesströmungen, die das frühe christliche Denken prägen, aufgrund der skizzierten theologischen Erfordernisse aber ihrerseits in charakteristischer Weise umakzentuiert werden. So wird auf der Grundlage vornehmlich neuplatonischer Ansätze in zugespitzter Gegenüberstellung einerseits des transzendenten, überzeitlichen Einen – also Gottes – und andererseits der dem zeitlichen Nacheinander unterworfenen, disparaten Wirklichkeit die Linearität von Geschichte und mithin von Zeit, deren Anfangs- und Endpunkt ja dieses Eine ist, in den Vordergrund gerückt.13 Bei diesem Vorgang fällt nicht so sehr ins Gewicht, daß die Zeitenfolge auf einen Urheber, nämlich Gott, zurückbezogen wird. Wie der vergleichende Blick beispielsweise auf den „Timaios“ zeigt, trifft dies bereits auf Platons Überlegungen zum Zeitbegriff zu. In ähnlicher Weise sind die zeitphilosophischen Reflexionen annähernd der gesamten auf Platon folgenden antiken Tradition strukturiert. Die entscheidende Neuerung an der christlich-theologischen Zeitkonzeption gegenüber den antiken Vorstellungen ist die ihr eigentümliche Kombination von zyklischen Momenten und betonter Linearität. Hierbei bildet der heilsgeschichtliche Fortschritt gleichsam die Achse, auf der auch zyklisch wiederkehrende Elemente wie der sonntägliche Vollzug der Eucharistie oder die alljährliche Feier Osterns ihren Ort erhalten. Das antike Wissen um die astronomischen Zyklen bleibt präsent, welche überdies weiterhin die Grundlage der Zeitbestimmung bilden. Doch wird diesen Zyklen zusätzlich eine lineare Bewegung unterlegt, was eine charakteristische Modifikation der Gesamtkonzeption zur Konsequenz hat. Zyklisch wiederkehrende Momente werden – projeziert auf die unterlegte Zeitachse – zu zeitlich aufeinander folgenden und zugleich typologisch aufeinander verweisenden Zeitpunkten oder Ereignissen. Damit erweist sich die Wirklichkeit in zeitlicher Hinsicht zwar nach wie vor als zyklisch strukturiert, jedoch folgen diese Zyklen einem linearen Zeitprozeß. Dabei liegt der Akzent nicht mehr auf den Zyklen, sondern auf der linearen Abfolge, insbesondere auf
13 Zur grundsätzlichen Kontinuität des (früh-) jüdischen Zeitverständnisses in frühchristlicher Zeit Erlemann, Art. „Zeit iv“, in TRE 36 (2004), S. 528f.; dort auch zu den erforderlichen Umakzentuierungen im Geschichtsbild. – Zu zeitphilosophischen Positionen im systematischen Anschluß an Platon siehe Leisegang, Die Begriffe der Zeit und Ewigkeit.
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deren Anfangs-, Mittel- und Endpunkt, die vom Urheber festgesetzt wurden und sich in qualitativer Hinsicht voneinander unterscheiden.14 Eine Folge hiervon ist, daß das Verständnis der Zyklen selbst in systematisch relevanter Weise umakzentuiert wird. Dadurch daß die Abfolge dieser Zyklen nun linear begriffen wird, sind auch die prominenten astronomischen revolutiones nie miteinander identisch, sondern lediglich einander ähnlich. Sie sind in ihrer Zirkularität und linearen Sukzession von Gott geschaffen und geben mit diesen beiden Dimensionen dem Menschen einen Maßstab und eine Orientierungsmöglichkeit an die Hand. Aufgrund ihrer ausgezeichneten zyklischen Bewegungsform spiegeln sie in besonderem Maße Gottes Einfachheit und Einheit und eignen sich damit als Interpretament für die Struktur des Wirklichkeitsganzen. Aufgrund der Linearität des zeitlichen Prozesses jedoch lassen sich zugleich Aussagen über Distanz und Nähe zum Anfangs-, Mittelund Endpunkt der Zeitachse und folglich zur Position im Heilsgeschehen treffen. Dennoch verfügt der um Erkenntnis bemühte Mensch damit nicht über einen in jeder Hinsicht sicheren Maßstab. Dies zeigt sich beispielsweise darin, daß Gott es vermag, die Gestirne entgegen der Regularität ihrer Bewegung stillstehen und dennoch unterdessen eine bestimmte Zeit verstreichen zu lassen. Zyklen sind somit auch im christlichen Denken die unumgängliche Grundlage für die Zeitbestimmung, jedoch weder mit der Zeit identisch, noch eine absolut verlässliche Größe im Sinne definitiver wissenschaftlicher Erkenntnis.15
14 Noch mit Blick auf das Neue Testament und damit auf das Urchristentum, bevor es „von der griechischen Grundposition aus [sc. durch die zyklische, abstrakte Zeitvorstellung, NG] hellenisiert“ wurde, weist Cullmann, Christus und die Zeit S. 67 (das eben angeführte Zitat S. 66), darauf hin, „daß im Urchristentum die heilsgeschichtliche Linie viel konsequenter [Hervorhebung im Original, NG] als zusammenhängende fortlaufende Zeitlinie durchgeführt“ worden sei, „als dies im Alten Testament möglich war“. Der Grund hierfür sei, „daß ein Ereignis der Vergangenheit, Tod und Auferstehung Christi, als die entscheidende Mitte der ganzen Offenbarungslinie angesehen“ werde, so „daß jetzt erst auf Grund der festen Orientierung an jener zeitlichen Mitte [Hervorhebung im Original, NG] die Linie von Anfang an in ihrem lückenlosen Zusammenhang deutlich gemacht werden“ könne, ebd. S. 67. – Zur frühchristlichen Zeitkonzeption – neben Cullmann – immer noch maßgeblich Delling, Zeit und Endzeit; vgl. auch Manzka, Ewigkeit und Zeitlichkeit S. 45–47. 15 Zur Zurückweisung einer Konzeption der ewigen Wiederkehr (im Gegensatz etwa zu den Pythagoreern oder Platon) durch Augustinus Luneau, L’histoire du salut S. 385–391. – Zum Eingreifen Gottes in die Gestirnsbewegungen bes. Ios 10, 12–14: „[…] dixitque […] sol contra Gabaon ne movearis et luna contra vallem Ahialon steteruntque sol et luna donec ulcisceretur se gens […] stetit itaque sol in medio caeli et non festinavit occumbere spatio unius diei […]“
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2. Die frühhochmittelalterliche Frage nach der Zeit als Thema der Komputistik. Ins Mittelalter gelangt die Frage nach der Zeit in erster Linie über die Theologie: in Form heilsgeschichtlicher Reflexionen,16 darüber hinaus aber auch in der Auseinandersetzung mit dem Problem von göttlichem Vorherwissen und menschlicher Willensfreiheit.17 Ähnlich steht es mit dem anderen, eingangs berührten Diskussionszusammenhang, also mit der Frage nach der Zeit, wie Augustinus sie in seinen „Confessiones“ aufwirft. Der Zeitbegriff, den Augustinus hier entwickelt und der gelegentlich als ein „psychologischer“ bezeichnet wird,18 bleibt das gesamte Mittelalter hindurch präsent. Kontrovers diskutiert werden seine Ausführungen allerdings erst im Zuge der sogenannten Aristotelesrezeption und der dann beginnenden Auseinandersetzung mit der aristotelischen Zeitkonzeption. Im Lichte dieser Befunde herrscht in der Forschung daher die Einschätzung vor, daß sich dezidierte Reflexionen zu Zeitvorstellungen selbst im engeren Bereich der Theologie nur vereinzelt im Frühen und beginnenden Hochmittelalter beobachten lassen. Demnach habe sich eine regelrechte Zeitphilosophie erst seit dem 13. Jahrhundert entfaltet. Vor diesem Hintergrund wird häufig der Schluß gezogen, daß sich das Frühe und beginnende Hochmittelalter die Frage nach der Zeit weder in eigenständiger, noch in philosophischtheologisch relevanter Weise stellte.19 16 Dabei wurden zunächst die frühchristlichen Vorgaben übernommen und weitertransportiert. Eine eigenständige ‚Geschichtsphilosophie‘ bildete sich der Forschung zufolge erst seit etwa dem 12. Jahrhundert heraus; exemplarisch sei auf Hugo von St. Victor verwiesen; Ehlers, Hugo von St. Viktor; Goetz, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein; Ders., „Zeitbewußtsein und Zeitkonzeptionen“. 17 Traditionsbildend für die mittelalterliche Erörterung des Problems der göttlichen praescientia war insbesondere die „Consolatio philosophiae“ des Boethius. – Einen Überblick über die Thematik bietet Craig, The problem of divine knowledge, der vor allem auf die Zeit nach 1250 eingeht; zu Boethius und exemplarischen Denkern seit dem 12. Jahrhundert (Abaelard bis Thomas von Aquin) Marenbon, Le temps; zu Boethius alleine schon Ders., Boethius, mit Hinweisen auf die mittelalterliche Rezeption bes. S. 177 f. 18 Diese Bezeichnung beispielsweise bei Engelen, „Erkennen und Glauben“ S. 39, die damit in einer langen Tradition steht, vgl. etwa Duchrow, „Zeitbegriff“. – Gegen die Kennzeichnung des Zeitbegriffs Augustins als eines psychologischen Flasch, Was ist Zeit? S. 218–220, 394 u. ö. 19 In diesem Sinne beispielsweise Jeck u. a., Art. „Zeit i“, in LMA 9 (1998), Sp. 509– 512; vgl. auch die verschiedenen Beiträge im Sammelband Ehlert, Zeitkonzeptionen; an spezifischeren Studien vgl. Flasch, Was ist Zeit?; Jeck, Aristoteles contra Augustinum; Largier, Zeit. – Beiträge zum Frühmittelalter sind vergleichsweise selten. Die Forschung verweist in diesem Zusammenhang gemeinhin auf die Ausnahmeerscheinung des Johannes Scotus Eriugena, vgl. Engelen, „Zeit als Prozeß und Abbild“; darüber hinaus geht Jeck, „Zeitkonzeptionen im frühen Mittelalter“, der neben Eriugena, S. 198–200, außerdem
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Wenig Beachtung findet in den gängigen Darstellungen zur mittelalterlichen Zeitphilosophie der Umstand, daß sich im frühen Christentum, wiederum in engem Zusammenhang mit dem österlichen Christusereignis ein weiterer, in dieser Form neuer Bereich ‚professioneller‘ Auseinandersetzung mit dem Thema Zeit herausbildet: die Komputistik. Ihre Vernachlässigung in der philosophiehistorischen Forschung überrascht auf den ersten Blick kaum, ensteht doch diese Disziplin aufgrund des Ziels, den Gedenkauftrag Christi zu erfüllen, also alljährlich das Osterfest zu begehen, dessen Terminbestimmung die ursprüngliche Aufgabe der Komputistik war. Damit aber tritt sie zunächst als eine vornehmlich handwerkliche Disziplin in Erscheinung, die einerseits theologische Vorgaben sowie andererseits astronomische Gegebenheiten zu berücksichtigen, darüber hinaus aber in erster Linie stur zu rechnen hat. Wie der Blick in die Geschichte jedoch zeigt und wie in der vorliegenden Arbeit herausgearbeitet werden soll, stellt sie allmählich den Raum zur Verfügung, in dem auch im Frühhochmittelalter die Frage nach der Zeit in immer ausgreifenderer, die technischfunktionale Ebene überschreitender Weise gestellt und behandelt wird. Insbesondere in der Frühphase ihrer Erforschung wurde die Komputistik häufig als ausschließlich technisch-funktionale Disziplin begriffen und allein unter diesem Blickwinkel untersucht. Schon bald jedoch fiel den Kennern komputistisch-astronomischer Quellen ihr darüber hinausgehendes Potential auf. An erster Stelle legte man ihre hohe Bedeutung im Geistesleben des Frühen und beginnenden Hochmittelalters frei, indem man die fundamentale Rolle der Zeitweisung bei sämtlichen Abläufen in Politik, Gesellschaft und Administration herausstellte.20 knapp Isidor von Sevilla, Beda Venerabilis, die „Libri carolini“ und Alkuin thematisiert, S. 183–198. 20 Die Aufmerksamkeit auf die Komputistik als Forschungsgegenstand gelenkt zu haben, ist an erster Stelle das Verdienst Cordolianis, der sie vor allem in der genannten technischen Weise untersuchte; von seinen zahlreichen Publikationen seien exemplarisch genannt Ders., „Comput, chronologie, calendriers“; Ders., „Le computiste Hermann de Reichenau“; Ders., „Les manuscrits de comput ecclésiastique“; Ders., „Les traités de comput du haut Moyen Age“; Ders., „L’évolution du comput ecclésiastique“. – Richtungsweisend dann die noch heute maßgeblichen Arbeiten von Jones, insbesondere sein historischer Überblick in Bedae opera de temporibus S. 3–139 („Development of the Latin Ecclesiastical Calendar“ und „The Computistical Works of Bede“); Ders., „Bede’s Place in Medieval Schools“; Ders., Bedae Pseudepigrapha. – Fortgesetzt wurde diese Tradition durch Stevens, „Introduction to Hrabani ‚De computo‘“; Ders., Cycles of Time. – ‚Wiederentdeckt‘ wurde die Komputistik dann durch Borst, der ihre hohe kulturelle Bedeutung erkannte und in verschiedenen Arbeiten herausstellte, zum Beispiel Ders., Computus; Ders., „Ein Forschungsbericht“; Ders., Kalenderreform. – In
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Weitere Studien wiesen auf den symbolischen Gehalt komputistischastronomischer figurae21 hin, der in aller Regel auf der ikonographischen Ebene Ausdruck finde.22 Einzelnen frühhochmittelalterlichen Gelehrten wurde sogar ein dezidiert philosophisches Anliegen hinter ihren komputistischen Bemühungen attestiert.23 Mag diese konzeptionelle Weiterung der Komputistik hinsichtlich der mit ihr verfolgten Intentionen und der in ihrem Rahmen getätigten Aussagen aus moderner Sicht auch anfänglich verwundern, so weist diese Disziplin bei näherem Hinsehen doch bereits in ihrer ursprünglichen Anlage Charakteristika auf, die eine Entwicklung in der beobachtbaren Form begünstigt haben dürften. Denn von Anbeginn an stellt die Komputistik einen Schnittbereich dar, in dem sowohl konkrete Vorgaben, als auch spekulative Denktraditionen verschiedener geistiger Umfelder konvergieren. Begründet liegt dieser Konvergenzcharakter in der Fixierung der Rahmenbedingungen, die bei der Ermittlung des Ostertermins zu berücksichtigen seien. Diese Richtlinien entstammen vornehmlich theologischen Erwägungen, die teilweise der Abgrenzung gegen die jüdischen Pessachgepflogenheiten dienen,24 in ihrer Gesamtheit aber mindestens mittelbar ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen der komputistischen Osterfestbestimmung und astronomischen Phänomenen kon-
diese Linie tritt Springsfeld, Alkuins Einfluß; mit einem stärkeren chronologiegeschichtlichen Akzent Verbist, In duel met het verleden. 21 Unter ‚figurae‘ werden diejenigen komputistisch-astronomischen Elemente zusammengefaßt, die nicht textmäßig verfahren, also Tabellen, Schemata, Diagramme und vergleichbare Typen. 22 Siehe hierzu insbes. Wallis, „Images of Order“; die Einleitung Ders. in Bede, The Reckoning of Time; aus kunsthistorischer Perspektive Kühnel, The End of Time, insbes. S. 65–159. – Wegweisend für die Erforschung komputistisch-astronomischer figurae sind die Arbeiten von Obrist, die sich besonders auf die antiken kosmologischen Grundlagen der Schemata konzentrieren, Obrist, „Le diagramme isidorien“; Dies., „Wind Diagrams“; bes. Dies., La cosmologie médiévale. 23 So v. a. Engelen, Zeit, Zahl und Bild; den philosophischen Aspekt betonten zuvor bereits Evans /Peden, „Natural Science and the Liberal Arts“; sowohl Engelen als auch Evans /Peden beziehen ihre Aussagen auf Abbo von Fleury, dem sie die Bereicherung der Komputistik beziehungsweise der ‚Naturwissenschaft‘ um die philosophische Perspektive bescheinigen. In der vorliegenden Arbeit wird demgegenüber dafür argumentiert, daß diese philosophische Perspektive mindestens schon seit Bedas „De temporum ratione“ selbstverständlicher Bestandteil komputistisch-astronomischen Tuns ist. 24 Vgl. hierzu etwa die Kontroverse um die Quartodezimaner; zur Osterkontroverse in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten siehe die Textsammlung von Cantalamessa, Easter in the Early Church, bes. S. 33–64; einen historischen Überblick bieten Jones, Bedae opera de temporibus (in der Einleitung), Declercq, Anno Domini S. 49–95, und Wallis, The Reckoning of Time (in der Einleitung).
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stituieren. Man einigte sich darauf, Ostern an jenem Sonntag zu feiern, der auf den ersten Vollmond nach dem Frühjahrsäquinoktium folgt. In dieser Bestimmung sind zwei astronomische Konstellationen enthalten, mit denen sich die Komputistik ab sofort auseinandersetzen mußte: das Frühjahrsäquinoktium als eine Größe des Sonnenlaufes und der Vollmond. Während der Termin der Tagundnachtgleichen auf der Grundlage antiker literarischer Überlieferungen fest auf ein bestimmtes Kalenderdatum gelegt wurde, ließen sich für den jährlich wandernden Vollmond nur Rechenregeln angeben. Bemerkenswert an diesen Bestimmungen ist der Umstand, daß sie zwar antikem Wissen über die Natur entnommen sind, aber theologisch begründet werden.25 In dieser grundsätzlichen konzeptionellen Vorentscheidung dürfte eine wichtige Möglichkeitsbedingung für die oben angedeuteten Entwicklungen zu sehen sein. Denn insbesondere die Anbindung der Komputistik an die Astronomie und an das antike Wissen über die Natur birgt das Potential, in Themenbereiche und zu Reflexionen vorzudringen, die über die Komputistik im engen, technisch-funktionalen Sinne hinausgehen. Schematisierend zusammengefaßt ist sie ein Bereich, in dem technisch-funktionales Wissen und Tun, antike ‚naturwissenschaftliche‘ Gelehrsamkeit, ebenfalls antike kosmologisch-metaphysische Spekulationen sowie christlich-theologische Reflexionen zusammenfließen und eine große Fülle Materials zur kreativen Auseinandersetzung und Weiterentwicklung bereitstellen. Angesichts dieser Charakteristika und im Lichte der oben angesprochenen, bereits vorhandenen Forschungen verspricht eine Auseinandersetzung mit der Komputistik somit Aufschlüsse über die Merkmale mittelalterlicher wissenschaftlicher Rationalität im Kontext der Erschließung der Natur und des sich in ihm artikulierenden Anliegens der Gelehrten.
25 Zur theologischen Begründung der Vorgaben siehe beispielsweise die allegorische Deutung des Frühjahrsäquinoktiums sowie des Vollmondes, also der Ostergrenzen selbst, wie Beda sie vornimmt in De temporum ratione cap. lxiiii (CCL 123B, S. 456–459), zum Äquinoktium beispielsweise ebd. S. 456, 4–11: „In primis namque aequinoctium transgredi in Dominici paschae celebratione iuxta Legis decreta curamus, ut uidelicet solemnitas in qua mediator Dei et hominum destructa potestate tenebrarum mundo lucis iter aperuit, etiam temporis ordine foras quid intus habeat ostendat. Et quae nobis aeternae beatitudinis lumen promittit tunc maxime celebretur, cum solis lumen annuo proficiens incremento primam sumit de noctis umbra uictoriam. […]“. Auf welches Datum das Äquinoktium falle, entnahm man antiken Vorgaben, dasselbe gilt hinsichtlich des Verlaufs der Gestirnsbahnen. Eine wichtige Quelle hierfür war Plinius, Naturalis historiae, insbes. das zweite Buch.
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3. Entwicklung der Fragestellung. Wie das Studium komputistisch-astronomischer Quellen des frühen Hochmittelalters bestätigt, wurden die gebotenen Spielräume von den Gelehrten tatsächlich genutzt. Das verfügbare Quellenmaterial weist sowohl die angesprochenen Weiterungen in thematischer Hinsicht auf, als auch spezifische Entwicklungen in der Art der Verarbeitung der behandelten Stoffe.26 Am augenfälligsten ist mit Blick auf die thematischen Weiterungen die Beobachtung, daß komputistische Elemente in einem engen Sinne in aller Regel in Sammlungen über das Naturganze integriert werden. Neben dem denkbar breiten Themenspektrum, in das sie auf diese Weise eingebettet sind, fällt auf, daß sich die Grenzen zu vermeintlichen Nachbardisziplinen nicht scharf bestimmen lassen. Diese Abgrenzungsproblematik betrifft im übrigen nicht nur die komputistischen Bestandteile, sondern ist ein wesentliches Kennzeichen der Sammlungen zum Gesamt der Natur.27 Ein weiteres Charakteristikum, das sich bei einer Beschäftigung mit den komputistisch-astronomischen Quellen herauskristallisiert, betrifft die Art und Weise, wie sich die mittelalterlichen Gelehrten mit ihrem Material auseinandersetzen. Insbesondere bei traktatartigen Abhandlungen wie beispielsweise Bedas „De temporum ratione“ sticht eine Besonderheit ins Auge, die auch spätere komputistische Abhandlungen kennzeichnet. Bedas Hauptwerk zur Zeitweisung zeichnet sich zwar erstens dadurch aus, daß es mit annähernder Vollständigkeit die seinerzeit bekannten Größen, Regeln und Verfahren der Zeitbestimmung berücksichtigt, zweitens auch dadurch, daß es in technisch-funktionaler Hinsicht die meisten der bestehenden Unklarheiten und Unstimmigkeiten ausräumt und somit erstmals in der Geschichte der Komputistik ein eindeutiges und umfassendes Instrumentarium für die Berechnung von Zeit bereitstellt. Doch drittens rückt Beda seine Zusammenstellun26 Vgl. hierzu beispielsweise den Versuchsaufbau zur Ermittlung des Äquinoktiums, den Helpericus von Auxerre, Liber de computo cap. xxxi (PL 137, Sp. 40D–43B), beschreibt und der die Frage aufwirft, ob schon in dieser frühen Zeit – der „Liber“ datiert auf 903 – Astronomie auch empirisch betrieben wurde. 27 Vgl. hierzu die sogenannten karolingischen Fachenzyklopädien, die thematisch weit über die Zeitrechnung hinausgehende Materialien versammeln: etwa zur Astronomie, zur Meteorologie, zur Metrologie etc.; eine detailliertere Übersicht in 2.2.1. Die komputistisch-astronomischen Sammlungen. – Der Begriff der Natur wird in der vorliegenden Arbeit in aller Regel in einem alltagssprachlichen Sinne, als Begriff für „alles, was an organischen und anorganischen Erscheinungen ohne Zutun des Menschen existiert oder sich entwickelt“ (Art. „Natur“, in Duden S. 1064), verwandt. Auf abweichenden Gebrauch wird im Einzelfall hingewiesen.
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gen des ihm verfügbaren Fachwissens und die Diskussion von Zweifelsfragen stets in einen theologisch-exegetischen Horizont. Er beläßt es nicht dabei, zum Beispiel Zeiteinheiten – wie die Woche, den Tag, die Stunde – lediglich ‚naturwissenschaftlich‘ zu definieren, sondern legt sie gemäß den Gepflogenheiten der Schriftexegese aus. „De temporum ratione“ wird auf diese Weise zu einer durchgängigen Synthese von Wissen über die Zeit und, dem Thema entsprechend, Hexaemeronkommentar.28 Eine andere, die technisch-funktionale ebenfalls transzendierende Form der Verarbeitung des rezipierten Materials bieten die komputistisch-astronomischen Sammlungen des Frühhochmittelalters, die den größten Anteil des heute verfügbaren Quellenmaterials ausmachen und sich von Traktaten wie dem Bedas durch die folgenden Spezifika unterscheiden. Diese Sammlungen umfassen in aller Regel eine Fülle an unselbständigem, hilfsmittelartigem Material, das üblicherweise in Gestalt von figurae, kurzen Erklärungen, knappen Verfahrensanweisungen oder Exzerpten zumeist aus spätantiken Enzyklopädien zusammengestellt ist.29 Insbesondere seit dem frühen neunten Jahrhundert läßt sich hier eine Zunahme an figurae sowie eine Tendenz zur oben schon erwähnten ikonographischen Überformung der einzelnen Komponenten erkennen.30 Bemerkenswert an diesen Überformungen ist die Beobachtung, daß sie in aller Regel ohne verbessernde Auswirkungen in technisch-funktionaler Hinsicht sind. Im Gegenteil: Häufig erschweren sie die Handhabung der von ihnen betroffenen Elemente deutlich. Darüber hinaus weisen die entsprechenden Komponenten in aller Regel eine semiotische Mehrschichtigkeit auf, die
28 Aufgrund von Bedas extensiven theologisch-exegetischen Ausführungen zu den jeweiligen Gegenständen charakterisiert Wallis sein Werk als „doctrina christiana“, Dies., The Reckoning of Time S. xviii–xxxiv. – Bedas Synthese wurde zum Vorbild für verschiedene spätere komputistische Abhandlungen; vgl. bes. Hrabanus, De computo. – Zu „De temporum ratione“ ausführlicher in 1.2. Beda Venerabilis: „De temporum ratione“; zur Rezeption der Schrift 1.2.2. Zu Inhalt und Wirkung, mit den dortigen Literaturhinweisen. 29 Zu den anthologischen Zusammenstellungen bereits Cordoliani, „Les manuscrits de comput ecclésiastique“, sowie Ders., „L’évolution du comput ecclésiastique“; am umfassendsten Borst, Kalenderreform (vgl. die zahlreichen Verweise unter dem Stichwort „Komputistik“ im Register). 30 Auf die Zunahme an figurae in den karolingischen Fachenzyklopädien – die zu den ältesten hier studierten anthologischen Zeugnissen zählen – gegenüber den älteren Traditionen weist schon Borst, „Alkuin“ S. 71, und wieder Ders., Kalenderreform S. 319, hin.
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durchweg auf andere Ebenen als die technisch-funktionale zielt und auf eine bewußte Intention ihres Verfassers zurückzuführen ist. Ihnen liegt damit eine komplexe hermeneutische Struktur zugrunde, die darauf schließen läßt, daß es den zeitgenössischen Gelehrten um die kontextualisierende Deutung der von ihnen behandelten Phänomene ging. Im Rahmen vornehmlich kunsthistorischer Forschungen wurden bereits verschiedene komputistisch-astronomische Elemente des Untersuchungszeitraums studiert und als Zeugnisse eschatologisch oder allgemein theologisch inspirierter Ausdeutungen der natürlichen Phänomene interpretiert.31 In Fortsetzung dieser Forschungsansätze lassen sich die komputistisch-astronomischen Bemühungen der frühhochmittelalterlichen Gelehrten darüber hinausgehend als ein theologisch fundiertes, jedoch anhand natürlicher Gegenstände und nach Maßgabe herkömmlicher, seit der Antike gebräuchlicher wissenschaftlicher Methoden durchgeführtes Streben nach Gotteserkenntnis bezeichnen, wie in dieser Studie herausgearbeitet werden soll.32 Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die Komputistik erstens als integraler, nicht zu isolierender Bestandteil in den Sammlungen zum Ganzen der Natur aufgeht. Zweitens eröffnet sie einen weiteren Raum – neben dem bereits vorhandenen der Bibelexegese im klassischen Sinne –, innerhalb dessen die thematisch von ihr verhandelten natürlichen Dinge, wie Sonne, Mond und deren Beziehungen, exegetisiert werden. Und drittens weist sie ikonographische Überformungen auf, mittels derer ihre Gegenstände in einen theologischphilosophischen Horizont gerückt und zu Medien letztlich anvisierter Gotteserkenntnis werden. Dies hat weitreichende Konsequenzen. Denn aufgrund dieser Charakteristika und angesichts der herrschenden wissenschaftstheoretischen Rahmenbedingungen ist zu erwarten, daß die Komputistik mit ihren fließenden Übergängen etwa zur Astronomie, zur Arithmetik oder auch zu anderen Wissensbereichen ins Quadri-
31 Zu den ikonographisch-symbolisierenden Überformungen bes. Wallis, „Images of Order“; die Betonung des eschatologischen Aspektes in Kühnel, The End of Time. – Diese ikonographischen Überformungen schließen nicht aus, daß sich die Gelehrten im Rahmen des ihnen zugänglichen Wissens auch um ‚physikalische Exaktheit‘ bemühten, berechtigen aber zu dem Schluß, daß sich ihr Tun hierin nicht erschöpfte. Das Interesse an den fachwissenschaftlichen Zusammenhängen der natürlichen Dinge betont gegenüber Wallis und Kühnel stärker Obrist, „Le diagramme isidorien“; Dies., „Les tables et figures abboniennes“. 32 Diese Zusammenhänge sind Gegenstand des ersten und zweiten Hauptteils der vorliegenden Arbeit.
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vium integriert wurde und damit auch die Aufgabe der artes liberales zu erfüllen hatte, die Alkuin als erster im lateinischen Westen formulierte, nämlich die Dinge auf ihre ratio hin zu durchleuchten und auszudeuten.33 Das Problem, wie die Komputistik im Wissenschaftsgefüge der Zeit zu verorten sei, stellte sich bereits den mittelalterlichen Gelehrten selbst, ohne daß diese indes einen ‚klassischen‘ Platz für sie zur Verfügung hatten. Seit dem 9. Jahrhundert etablierte sich auf der Grundlage der programmatischen Schrift „Disputatio de vera philosophia“ Alkuins das Konzept und die Wissenschaftseinteilung der septem artes liberales. Infolge dessen war das Fächerspektrum formal auf die sieben freien Künste der Antike festgelegt. Wie bei vielen anderen Wissensbestandteilen auch, so spitzte sich die Suche nach dem systematischen Ort der Komputistik auf die Frage zu, unter welche der traditionellen Künste sie falle. Vorzugsweise ordnete man sie der Astronomie zu, gelegentlich auch der Arithmetik. Nur selten wurde sie als eine außerhalb dieses Schemas stehende ars-ähnliche Disziplin begriffen.34 33
Mit Blick auf die Rezeption von „De temporum ratione“ kommt bereits Wallis zu dem Schluß, die komputistischen Materialien hätten zur inhaltlichen Anreicherung der quadrivialen ars astronomiae gedient, z. B. ausdrücklich in Dies., The Reckoning of Time S. xc: „Many of these schoolmasters glossed both Martianus and the works of Bede: men like Martin the Irishman […] and his followers Manno of Laon and Heiric of Auxerre. […] when they read Bede, they were looking for material to fill the category of astronomia in their new taxonomy of learning“. – Zur Bestimmung des Quadriviums allgemein Boethius, der die Funktion dieser vier Fächer darin sieht, den Menschen in einem stufenweisen Erkenntnisprozeß von der sinnenfälligen Wirklichkeit zu sicherer begrifflicher Einsicht zu führen, De arithmetica 1, 1, 64– 72 (CCL 94A, S. 11 f.): „[…] quadruuium est, quo his uiandum sit, quibus excellentior animus a nobiscum procreatis sensibus ad intellegentiae certiora perducitur. Sunt enim quidam gradus […] quibus ascendi progredique possit […]“. – Allgemein zum Konzept der septem artes liberales, ihrer Etablierung und inhaltlichen Ausgestaltung Schrimpf, Art. „Philosophie v“, in HWPh 7 (1989), bes. Sp. 801–806; zur selben Thematik, mit Betonung der Identität von artes und Philosophie wieder Ders., „‚Philosophia‘ im Bildungswesen“, bes. S. 22–27 u. ö.; die älteren Ergebnisse voraussetzend dann Ders., „Bernhard von Chartres“ S. 181. – Zur Ausrichtung der artes auf die ratio rerum vgl. 1.3.2. Alkuins „Disputatio“: Zum Inhalt (bes. Abschnitt 6. Die ratio rerum). 34 Die konzeptionellen Grundlagen der artes-Gelehrsamkeit und die formale Festlegung auf das fragliche Fächerspektrum hat auf der Grundlage der „Disputatio de vera philosophia“ Alkuins und der Martianus-Rezeption Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 21–48, herausgearbeitet. – Aufgrund des Umstandes, daß erstens die Komputistik im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit als Bestandteil der Astronomie einzuschätzen ist und zweitens die Grenzen zu den ‚Nachbarwissenschaften‘ fließend sind, werden im folgenden zumeist beide Bezeichnungen gemeinsam verwendet, also beispielsweise zur Charakterisierung der Anthologien als ‚komputistisch-
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4. Forschungshintergrund. Die Erforschung der wissenschaftlichen Rationalität des Mittelalters stellt kein völliges Neuland dar. Allerdings konzentrierten sich die bisherigen Untersuchungen in thematischer Hinsicht auf das Trivium und auf die Theologie als eine der sich herausbildenden Universitätswissenschaften; in zeitlicher Perspektive zogen das 12. Jahrhundert mit seiner intellektuellen ‚Renaissance‘ sowie die darauffolgenden ‚scholastischen‘ Jahrhunderte das Hauptinteresse auf sich. Ein wichtiger Grund für diese Schwerpunktbildung dürfte unter anderem in einem jener Motive zu suchen sein, die seinerzeit zur intensivierten Erforschung des 12. Jahrhunderts unter einer geistes- und philosophiegeschichtlichen Perspektive bewegten. Den Ausgangspunkt der in diesem Zuge entstandenen Studien bildete eine bestimmte Form von Rationalität und Wissenschaftlichkeit, die der scholastischen Universitätswissenschaft, als deren hervorragendster Repräsentant Thomas von Aquin galt und nach deren Möglichkeitsbedingungen man fahndete.35 Dieses Anliegen läßt sich großenteils auf die Weigerung zurückführen, die sogenannte Aristotelesrezeption sowie die Rezeption arabischer Wissenschaften als den eigentlichen Auslöser des Rationalisierungsgeschehens zu akzeptieren und die beobachtbaren Rezeptionsvorgänge als ausschließlich ‚passive‘, gleichsam von außen an das christlichlateinische Abendland herangetragene zu begreifen. Gegen diese, bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus gängige Position wurde die Hypothese formuliert, ein solcher Rezeptionsprozeß wie der fragliche setze zuallererst ein immanentes Bedürfnis nach den entsprechenden, zum Teil ja durchgängig in den abendländischen Bibliotheken verfügbaren Texten und folglich indogene Faktoren voraus. Diese vermutete astronomischer‘. – Soweit derzeit bekannt gehen diejenigen Zeugnissen, die der Komputistik lediglich einen ars-ähnlichen Charakter bescheinigen, der Formulierung des Konzeptes durch Alkuin zeitlich voraus, vgl. die Zusammenstellung in Borst, Kalenderreform S. 595–601; die Zuordnung zur Arithmetik schon bei Isidor, Etymologiarum libri xx, lib. iii, iv, 4 (ed. Lindsay); die Gleichsetzung mit der Astronomie dann bei Hrabanus, De clericorum institutione xxv (PL 107, Sp. 403D–404A). 35 Den Renaissance-Begriff prägte für das 12. Jahrhundert Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century; trotz kontroverser Auffassungen bezüglich der Angemessenheit dieses Begriffes hat er sich als Interpretament doch weitgehend durchgesetzt, vgl. beispielsweise die Sammelbände von Weimar, Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert; Benson /Constable, Renaissance and Renewal in the Twelfth Century; Wieland, Aufbruch – Wandel – Erneuerung (der Untertitel: Beiträge zur sogenannten Renaissance des 12. Jahrhunderts). – Zum Blickwinkel (ausgehend von der Situation im 13. Jahrhundert) exemplarisch Kluxen, „Wissenschaftliche Rationalität im 12. Jahrhundert“ S. 89f.; Dreyer, More mathematicorum S. 11–13; Speer, Die entdeckte Natur S. 8–10.
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und suchte man fortan naheliegenderweise in der voraufgehenden Zeit, also vor allem im 12. Jahrhundert.36 Dieses Säkulum erwies sich in der Tat als ergiebig für die Auseinandersetzung mit der skizzierten Fragestellung. Zeichnete es sich doch auf den verschiedensten Ebenen als ein Jahrhundert des Umbruchs aus, nicht nur im Bereich der wissenschaftlichen Rationalität. Zudem liessen sich all die anderen Veränderungen etwa im sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Umfeld ihrerseits zur Erklärung der rationalitätsgeschichtlichen Entwicklungen fruchtbar machen. Als besonders charakteristisch kristallisierten sich bei der Erforschung des Geisteslebens selbst zum einen ein Verbegrifflichungs- oder Universalisierungsprozeß heraus, der maßgeblich auf der Herausbildung einer als verbindlich erachteten, für wissenschaftliches Denken hinfort kennzeichnenden Methode: der Logik beruhte. Schon im Dialektikerstreit des 11. Jahrhunderts und bei singulären Erscheinungen wie Anselm von Canterbury zeichnete sich ihr bevorstehender Aufschwung ab; das 12. Jahrhundert bescherte ihr über herausragende Denker wie Abaelard, Gilbert von Poitiers oder die Chartreser die dominante Rolle, die ihr Signum noch in der Hochscholastik sein sollte. Zum andern ließ sich eine Tendenz zu zunehmender Professionalisierung beobachten, die mit den Magistern der Kathedralschulen im späten 11. Jahrhundert ihren Anfang nahm, mit ‚freischaffenden‘ Gelehrten wie Abaelard ihre Fortsetzung fand und im institutionalisierten Universitätsbetrieb des 13. Jahrhunderts ihren bekannten Höhepunkt erreichen würde.37 Nach vergleichbaren Entwicklungen im Bereich des Quadriviums zu suchen, lag aus verschiedenen Gründen zunächst nicht nahe. Eine wichtige Ursache bildete die Perspektive, aus der heraus die philo-
36 Diese Weigerung ausdrücklich bei Speer, Die entdeckte Natur S. 8–11; gegen einen „Anstoß von Außen“, der erst zum Rationalisierungsprozeß geführt habe, Dreyer, More mathematicorum S. 3–5, S. 107, die stärker die sozio-kulturellen Voraussetzungen ins Auge faßt; vgl. hierzu bereits Wieland, „Rationalisierung und Verinnerlichung“ S. 62–64. 37 Eine übergreifende plastische Schilderung des intellektuellen „Aufblühens“ im 12. Jahrhundert bietet Kluxen, „Wissenschaftliche Rationalität im 12. Jahrhundert“; dort auch zu Anselm und dessen Kontext im 11. Jahrhundert, S. 90–93. – Zur geistesgeschichtlichen Situation Classen, „Die geistesgeschichtliche Lage“. – Zum Methodenfortschritt Kluxen, „Der Begriff der Wissenschaft“, S. 282–284; Schrimpf, „Bausteine für einen historischen Begriff“; Dreyer, Nikolaus von Amiens S. 1–3; wieder Dies., More mathematicorum S. 12–14, S. 82–106 (detaillierte Darstellung der „Verwissenschaftlichung“ im 12. Jahrhundert mit Blick auf die Vermittlungsstufen). – Zum Universalisierungsprozeß Wieland, „Symbolische und universale Vernunft“, bes. S. 539–541. – Zur Professionalisierung Kluxen, „Der Begriff der Wissenschaft“ S. 278–280.
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sophiegeschichtliche Erforschung des 12. Jahrhunderts erfolgte. Ausgangspunkt des Ansatzes war die hochscholastische Theologie an den Universitäten des 13. Jahrhunderts. Deren Wurzeln und Vorläufer wurden gesucht, so daß der Blick wie selbstverständlich auf die Theologie und auf das Trivium, namentlich die Dialektik, der vorausgehenden Zeit gerichtet wurde. Hinzu kam, daß das Quadrivium an den Universitäten keine vergleichbar grundlegende Rolle spielte wie die trivialen Künste, weshalb sich die Frage nach der Vorgeschichte in diesem Bereich gar nicht erst stellte. Zudem wußte man aus gängigen wissenschafts- und philosophiehistorischen Darstellungen um die randständige Bedeutung des Quadriviums bereits im Frühen und beginnenden Hochmittelalter: Das wissenschaftliche Niveau sei niedrig und das Innovationspotential nur gering. Daher überraschte die Beobachtung wenig, daß es später an den Universitäten eine vernachlässigbare Größe darstellt, vielmehr schien es sich hierbei um ein durchgängiges Phänomen zu handeln.38 Ein weiteres Erschwernis für eine rationalitätsgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Quadrivium besteht im besonderen Charakter der fraglichen Quellen. Die Überlieferung des hier thematisierten Zeitraums zeichnet sich in hohem Maße durch Reflexionsarmut aus. Keines der bislang untersuchten komputistisch-astronomischen Zeugnisse enthält Passagen, in denen über das Erkenntnisinteresse des Verfassers, die gewählten Methoden sowie deren Reichweite Auskunft geboten wird. Diese Reflexionsarmut ist unmittelbar sichtbar bei den sammlungsartigen Typen mit ihren vielen diagrammatisch-piktoralen Elementen und ihrer dezidierten Wortkargheit. Aber selbst die traktatartigen Abhandlungen bieten kaum direkte konzeptionelle Aufschlüsse, obwohl ihnen häufig einleitende Prologe vorangestellt sind. Doch dienen diese zumeist der Rechtfertigung des ganzen Unternehmens und nicht der Methodenreflexion. Rückschlüsse auf die wissenschaftliche Rationalität der untersuchten Quellen und ihre Verfahren lassen sich 38 Zum „Ausgangspunkt“ Kluxen, „Wissenschaftliche Rationalität im 12. Jahrhundert“ S. 89f. – Zur in der Forschung üblichen Geringschätzung des Quadriviums Englisch, Die Artes liberales im frühen Mittelalter S. 11–18 (mit einem Überblick über herrschende Positionen, S. 13–18); besonders prägend Klinkenberg, „Der Verfall des Quadriviums im frühen Mittelalter“; ihm folgen Illmer, Art. „Artes liberales“; Riché, Les écoles et l’enseignement. – Zur Rolle des Quadriviums an (spät-) mittelalterlichen Universitäten Kibre, „The ‚Quadrivium‘ in the Thirteenth Century Universities“; Lemay, „The Teaching of Astronomy in Medieval Universities“; Molland, „The ‚Quadrivium‘ in the Universities“; Beaujouan, „L’enseignement du ‚Quadrivium‘“; Ders., „The Transformation of the Quadrivium“.
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somit nur indirekt aus dem Tun selbst ziehen und sind vor einem breiteren rationalitätsgeschichtlichen Horizont jeweils auf ihre Zulässigkeit hin zu erörtern.39 Ein von der Forschung oft mit großer Skepsis besprochener Aspekt ist die Frage nach dem wissenschaftlichen Niveau im Quadrivium. Als Maßstab dient hier in aller Regel ein Begriff von wissenschaftlicher Exaktheit, der dem Verständnis von moderner Wissenschaftlichkeit entspricht. Gemeinhein gilt die Rezeption arabischer Wissenschaften als deren erste Äußerungsform, nur einzelne frühere Ausnahmen wurden als Vorläufer interpretiert. Dem Frühen und beginnenden Hochmittelalter attestierte man großen Sammeleifer, der sich in Gestalt der zahlreichen Kompilationen quadrivialen Materials äußere, aber nur in seltenen Fällen von echtem Sachverstand zeuge. Wissenschaftliche Exaktheit oder mathematische Präzision im modernen Sinne artikuliere sich in den fraglichen Quellen kaum – wie sich mit Blick auf die in der vorliegenden Arbeit referierten, insbesondere ikonographischen Bearbeitungen komputistisch-astronomischer Elemente zu bestätigen scheint. Falls eine ‚exakte‘ Wissenschaftlichkeit von den Gelehrten bewußt angestrebt wurde, realisierten sie ihre Absicht nach heutigem Maßstab in aller Regel nur mangelhaft.40 Eine Sonderposition in der rationalitätsgeschichtlichen Forschung nimmt schon seit längerem die sogenannte Schule von Chartres ein, obwohl die unter dieser Bezeichnung versammelten Gelehrten nicht nur Theologie, sondern auch Physik betrieben. Zwar greifen sie auf die Arithmetik in ihrer durch Boethius an das Mittelalter weitergereichten Form zurück und bedienen sich folglich einer mit Proportionen und Harmonieverhältnissen operierenden Form. Sie zielen damit weitge39 Studien zum besonderen Charakter quadrivialer Quellen fehlen bislang, so daß keine Methodenreflexionen vorliegen, auf welche Aussagen hin sie sich befragen lassen und mit welchen Mitteln. Hintergrund dieses Desiderates dürfte der Umstand sein, daß quadriviale Quellen bisher in aller Regel aus einer im engeren Sinne wissenschaftsoder technikhistorischen Perspektive untersucht wurden. – Einen Überblick über verschiedene Typen innerhalb der hier untersuchten Quellengattungen versuchte erstmals Cordoliani, „L’évolution du comput ecclésiastique“; derzeit am kenntnisreichsten Borst, Kalenderreform. 40 Am Kriterium der wissenschaftlichen Exaktheit und im Zusammenhang hiermit an der Innovativität mißt beispielsweise Englisch, Die Artes liberales im frühen Mittelalter, wie sich sowohl am Untertitel (Das Quadrivium und der Komputus als Indikatoren für Kontinuität und Erneuerung der exakten Wissenschaften […]), als auch am apologetischen Grundzug der Arbeit erkennen läßt; sie folgt hierin Bergmann, Innovationen im Quadrivium; in der Ausrichtung ähnlich schon die Grundlage, auf der das gängige Urteil vom „Verfall des Quadriviums“ gefällt wurde, vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Klinkenberg.
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hend auf ein arithmologisches, auf Analogien gerichtetes Erschließen des Ganzen der Wirklichkeit und sind unter diesem Aspekt – in der Terminologie der oben referierten Forschungen zum Trivium und zur Theologie – als „symbolisch“ verfahrende Wissenschaftler zu bezeichnen. Doch verwendet die ‚Schule‘ sowohl mit der boethianischen Arithmetik, als auch mit der Logik Methoden, die aufgrund ihres formalen Charakters zu „universalen“ Aussagen berechtigen. Außerdem tritt bei ihnen nach derzeitigem Kenntnisstand erstmals das Bemühen hervor, die sinnenfällige Wirklichkeit und die in ihr herrschenden Strukturen secundum physicam zu erklären. In diesem Zusammenhang stützen sie sich der Forschung zufolge auf die Beobachtung der Natur, die als eine äußere, physische Größe wahrgenommen wird. Insbesondere deshalb wird den Chartresern die „Entdeckung der Natur“ im 12. Jahrhundert und infolge dessen ebenfalls eine Schlüsselrolle im Rationalisierungsprozeß zugeschrieben. Für die vorliegende Arbeit sind sie aufgrund der genannten Charakteristika von hoher Bedeutung. Mit ihrer Fokussierung der realen Dinge unter einer ‚physikalischen‘ Perspektive und ihrer Position am Beginn des 12. Jahrhunderts befinden sie sich sowohl in thematischer, als auch in historischer Hinsicht in unmittelbarer Nachbarschaft zu den hier zu untersuchenden komputistischastronomischen Quellen.41 In der vorliegenden Arbeit wird nur mittelbar nach dem Beginn der modernen Wissenschaftlichkeit geforscht. Den Mittelpunkt des Interesses bildet hier die Frage nach der Eigengesetzlichkeit der jeweiligen Zeugnisse. Dabei wird unterstellt, daß die aus der heutigen Perspektive mangelhaften Formen des Umgangs mit natürlichen Phänomenen als Äußerung eines aus moderner Sicht zunächst ungewöhnlichen, nichtsdestotrotz aber seriösen und absichtsvollen wissenschaftlichen Anliegens zu interpretieren sind. Mit einem solchen Ansatz vermag der rationalitätsgeschichtliche Blick ins Quadrivium die bereits beobach41 Zur besonderen Rolle der Chartreser schon Chenu, La théologie au douzième siècle, auf den auch der Begriff von der „Entdeckung der Natur“ zurückgeht; Speer, „Zwischen Naturbeobachtung und Metaphysik“; wieder Ders., Die entdeckte Natur; die Interpretationsbegriffe, mittels derer Speer (in Anlehnung an Chenu) die neue Sicht auf die Natur umreißt, sind die der „Struktur, Konstitution und Eigengesetzlichkeit“, S. 1, 11 u. ö. – Die Begrifflichkeit „symbolisch“ und „universal“ beruht auf Wieland, „Symbolische und universale Vernunft“ (zur Begriffsbestimmung bes. S. 542–544). – Für weiterführende Literatur siehe bes. Speer, Die entdeckte Natur S. 14–16, mit Anm. 61–64. – Zu Adelard von Bath, dem im Zusammenhang mit der „Entdeckung der Natur“ ebenfalls eine zentrale Rolle zuerkannt wird, siehe außer der genannten Literatur Burnett, „Introduction“.
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teten und behandelten Veränderungen im trivialen Bereich hinsichtlich des Wissenschaftsverständnisses der fraglichen Zeit zu ergänzen, zu relativieren und somit insgesamt schärfer zu profilieren. Er bietet aber vor allem das Potential, die Entwicklungen im Quadrivium in ihrer Eigengesetzlichkeit und Dynamik präziser zu bestimmen, zumal das 10. und 11. Jahrhundert unter diesem Blickwinkel noch kaum untersucht sind.42 Versucht man das Quadrivium in der umrissenen Weise aus sich heraus zu verstehen, zeigt sich, daß es suo modo darauf ausgerichtet ist, die Schöpfung als Schöpfung zu durchdringen, jedoch – gemäß den Vorgaben Alkuins – letztlich aus einer theologischen Perspektive. Bezüglich der komputistischen Elemente liegt diese Orientierung besonders nahe, stehen in ihrem Mittelpunkt doch die Themen ‚Zeit‘ und ‚Ostern‘. Vor diesem Hintergrund werden auch im Quadrivium Entwicklungen sichtbar, die strukturelle Parallelen zum Universalisierungsprozeß im Trivium des 12. Jahrhunderts aufweisen, zeitlich aber augenscheinlich früher einsetzen. Ein deutliches Beispiel, das im weiteren Verlauf dieser Arbeit eine zentrale Rolle spielt, ist die aequalitas, mit der in den quadrivialen Zeugnissen seit dem 11. Jahrhundert ein Begriff in den Vordergrund tritt, der das Mittel bietet, anhand eines einzigen formalen Kriteriums die Schöpfung erkennend zu durchdringen. Ein solcher Rückgriff auf den aequalitas-Begriff mag zunächst überraschen, läßt sich aber auf inhaltlicher Ebene recht schlüssig plausibilisieren. Seit Augustinus gilt die aequalitas als Attribut für das verbum dei und wird infolge christologischer Reflexionen gleichsam als archetypus mundus begriffen. Gerade im Chartreser Umkreis wird sie dann aufgrund ihrer hohen theologischen Bedeutung in der angedeuteten fundamentalen Weise als die eine ratio des Wirklichkeitsganzen aufgegriffen und ausformuliert – und zwar auch und gerade im Rahmen der Erklärung der Natur secundum physicam.43 42 Die Untersuchung von Englisch, Die Artes liberales im frühen Mittelalter, erstreckt sich nur bis zum 9. Jahrhundert; Speer, Die entdeckte Natur, hingegen setzt erst an der Wende zum 12. Jahrhundert ein. Studien zur dazwischen liegenden Zeit fassen entweder die Komputistik als Spezialdisziplin und erörtern sie daher nicht vor dem Horizont der artes, oder sie sind in der oben skizzierten Weise ‚technisch‘ ausgerichtet und verfolgen keine geistes- oder philosophiehistorische Fragestellung. 43 Vgl. hierzu bes. Thierry, Tractatus de sex dierum operibus (ed. Häring S. 555– 575); Thierry verwendet den Begriff des archetypus mundus nicht selbst (dieser Begriff hingegen ausdrücklich bei Wilhelm von Conches, Glosae super Boetium [CCM 158, S. 160, 342 f.; ebd. S. 161, 346]), doch läßt sich zeigen, daß er die aequalitas der Sache nach entsprechend ausformuliert; siehe hierzu ausführlich 3.3.3. Aequalitas als ratio naturalis.
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Wenn in der vorliegenden Arbeit auf der Grundlage von quadrivialen Quellen nach rationalitätsgeschichtlichen Veränderungen gesucht wird, die dem Verwissenschaftlichungsprozeß im Trivium respektive in der Theologie entsprechen, ist dies nur aufgrund der bereits erzielten wissenschaftsgeschichtlichen Erkenntnisfortschritte in diesem Bereich möglich. Wie den Kennern quadrivialer Quellen schon längst bekannt ist, sind diese in großer Zahl handschriftlich überliefert, so daß mindestens in quantitativer Hinsicht das früher selbstverständliche Bild vom ‚vernachlässigten‘ Quadrivium zu revidieren ist. Einige dieser Zeugnisse liegen zwischenzeitlich in zuverlässigen Editionen vor, die eine philosophiehistorische Auseinandersetzung mit den Erzeugnissen dieses Gebietes erheblich erleichtern. Darüber hinaus wurden insbesondere seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschiedene grundlegende Arbeiten verfaßt, die diese Editionen, damit aber auch den Quellentyp insgesamt erschließen. Besonders günstig ist diesbezüglich die Situation im Bereich der komputistisch-astronomischen Quellen. Die verfügbaren Studien liefern nach heutigem Kenntnisstand einen zuverlässigen Überblick über die Inhalte und Besonderheiten der entsprechenden Zeugnisse, so daß es zur Bearbeitung übergreifender systematischer Fragestellungen möglich ist, auf ihrer Grundlage eine repräsentative Quellenauswahl zu treffen und die jeweils besten Handschriften zu ermitteln.44
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Insbesondere die Komputistik des hier fraglichen Zeitraums ist inhaltlich schon verhältnismäßig gut erschlossen, namentlich durch die Arbeiten von Jones (vgl. bes. dessen Einleitung in Bedae opera de temporibus), Stevens (dessen Einleitung zu Hrabans „De computo“), Borst (sowohl die Kalenderreform, als auch die Einleitung zum Reichskalender), Springsfeld (zur Komputistik im Umkreis Karls des Großen) und Verbist (zur kritischen Auseinandersetzung mit der dionysianischen Inkarnationsära im 10. und 11. Jahrhundert). – Zentrale komputistisch-astronomische Zeugnisse liegen zur Zeit (noch) nicht gedruckt vor, befinden sich aber teilweise in Vorbereitung, wie beispielsweise die sogenannten karolingischen Fachenzyklopädien, deren Edition durch Borst, Schriften zur Komputistik im Frankenreich von 721 bis 818, kurz bevorsteht. Ein dringendes Desiderat ist eine kritische Edition des „Liber de computo“ des Helpericus von Auxerre, der bislang nur in einer fehlerhaften Form in der „Patrologia latina“ verfügbar ist. Auch der „Computus“ Abbos von Fleury ist noch nicht gedruckt, eine Edition seines komputistisch-astronomischen Werkes wird jedoch derzeit von David Juste, Barbara Obrist, Peter Verbist und der Verfasserin vorbereitet. Ferner ist auf die komputistischastronomischen Schriften Hermanns von Reichenau zu verweisen, deren Transkription nach der Handschrift London, British Library, Arundel 356 die vorliegende Arbeit bietet. Schließlich steht an zentralen komputistisch-astronomischen Schriften noch die Edition des computus des Garlandus Compotista aus, die sich aber ebenfalls in Vorbereitung befindet.
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5. Besonderheiten der untersuchten Quellen. Exemplarisch für ein kunstfertiges Erschließen der realen Dinge im Zeichen von Zeit und Kosmos sind die komputistisch-astronomischen Schriften Bedas Venerabilis und Abbos von Fleury, die deshalb in den ersten beiden Teilen dieser Studie im Zentrum stehen. In formaler Hinsicht repräsentieren sie jeweils unterschiedliche Quellentypen: Bei den komputistisch-astronomischen Quellen ist grundsätzlich zwischen traktatartigen Abhandlungen auf der einen und Sammlungen eher unselbständigen Materials auf der anderen Seite zu differenzieren. Da Bedas „De temporum ratione“ bereits im ersten Viertel des 8. Jahrhunderts und damit vor dem Untersuchungszeitraum dieser Studie entstand, ist jedoch zunächst zu begründen, weshalb ausgerechnet sein Werk exemplarisch für den traktatartigen Quellentyp herangezogen wird. Der Grund hierfür hängt mit der Rezeption dieser Schrift zusammen. Wirkmächtig wurde diese nämlich erst infolge der karolingischen Reformen, die sich auch auf die Zeitweisung erstreckten. Seine größte Verbreitung fand sie damit auf dem Kontinent und vor allem zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert, so daß sie mit Blick auf ihre Rezeption dem Untersuchungszeitraum dieser Studie zuzurechnen ist. Weiterhin ist sie diejenige komputistischastronomische Abhandlung mit der stärksten handschriftlichen Überlieferung – nicht nur in der hier interessierenden Zeit.45 „De temporum ratione“ bildet daher den Ausgangspunkt dieser Arbeit. Um aber die Besonderheiten seiner Rezeption beurteilen zu können, ist außerdem der bildungsgeschichtliche Horizont zu berücksichtigen: die Etablierung der artes liberales als Wissenschaftseinteilung im Zuge der karolingischen Reformen und auf der Grundlage der „Disputatio de vera philosophia“ Alkuins, deren allmähliche Umsetzung und Modifikation durch die Gelehrten und das Aufgehen der Komputistik im Quadrivium als dessen integraler Bestandteil.46 45 Zur Rezeption von „De temporum ratione“ siehe die Angaben in Jones, Bedae opera de temporibus S. 140–172, sowie Dems., Opera didascalica S. 241–256. – Bemerkenswert sind die Entwicklungen seit dem 9. Jahrhundert aufgrund der Koinzidenz mehrerer Besonderheiten zu Beginn dieses Säkulums. Erstens setzen etwa zu diesem Zeitpunkt die Bildungsreformen Karls des Großen ein, zweitens wird seither die Komputistik Bedas rezipiert, noch dazu sofort in großem Umfang; drittens läßt sich in diesem Zeitraum das Aufkommen der komputistisch-astronomischen Sammlungen beobachten, und viertens formuliert in dieser Zeit Alkuin das Programm der artes liberales, das bestimmend wird für Wissenschaft und Bildung der Folgezeit; hierzu besonders die ersten beiden Hauptteile der vorliegenden Arbeit. 46 Auch für diesen Aspekt kann an bereits bestehende Forschung angeknüpft werden: Die philosophiehistorische Bedeutung der „Disputatio“ hat bereits Schrimpf, Das
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Repräsentativ für den anderen Haupttyp, den der Sammlungen, ist der „Computus“ Abbos von Fleury.47 Sein Werk bildet in der erwähnten ikonographischen Hinsicht den Höhepunkt einer Entwicklung, die sich auf dem europäischen Festland mindestens seit dem frühen 9. Jahrhundert, also seit der einsetzenden Rezeption der bedanischen Komputistik beobachten läßt. Die von ihm und seinen Vorgängern gewählten Verfahren der Überformung komputistisch-astronomischen Materials unterscheiden sich von denen Bedas insofern grundlegend, als sie – des verwendeten Materials wegen – vorwiegend diagrammatischbildlich operieren. Exemplarisch ist Abbos „Computus“ aus mehreren Gründen. Zum einen verwendet er fast ausschließlich altbekannte komputistisch-astronomische Elemente, bietet also ‚inhaltlich‘ eine blosse Kompilation – wie jede andere Sammlung auch. Zum andern modifiziert er die präsentierten Materialen in der besagten ikonographischen Weise. Vergleicht man hinsichtlich dieser Überformungen repräsentative komputistisch-astronomische Sammlungen seit dem frühen 9. Jahrhundert mit der Abbos, werden charakteristische Tendenzen der Symbolisierung transparent, die diesen Quellentyp insgesamt kennzeichnen.48 Sie lassen sich grob als zunehmende Betonung erstens des Zusammenhangs sowie des Verweisverhältnisses von ordo und unum und zweitens der christlich vereindeutigten Interpretation dieses neuplatonischen Motivs bezeichnen.49
Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 21–48, herausgearbeitet, der außerdem am Beispiel der Martianus-Rezeption in der Schule von Laon die tatsächliche Umsetzung der Alkuinschen artes-Konzeption plausibel machen konnte. 47 Bereits Obrist, „Les tables et figures abboniennes“, weist darauf hin, daß Abbos „Computus“ die wesentlichen Kennzeichen komputistisch-astronomischer Sammlungen aufweise. Für einen detaillierten Vergleich des „Computus“ mit den Anthologien siehe 2.2. Der „Computus“ als komputistisch-astronomische Sammlung. 48 Mit Blick auf den „Computus“ ist ferner zu berücksichtigen, daß sich für diese Sammlung anders als für die üblichen Zeugnisse dieses Typs ein bestimmter, einzelner Autor dingfest machen läßt. Der „Computus“ bietet damit die außergewöhnliche Grundlage, nicht nur aufgrund der angeführten Argumente repräsentative Aussagen über den Quellentyp insgesamt machen zu können, sondern darüber hinaus ohne weiteren Begründungsbedarf von einer dezidierten Autorintention auszugehen und diese wegen des repräsentativen Charakters des „Computus“ als beispielhaft für den gesamten Quellentyp zu begreifen. Da zudem der Großteil des komputistisch-astronomischen Materials zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert in Form solcher Sammlungen überliefert ist, bietet sich Abbos „Computus“ als zentrale Quelle des Untersuchungszeitraums zum exemplarischen Studium an. 49 Insbesondere in der kunsthistorischen Forschung wird außerdem auf eine eschatologische Akzentuierung dieses Zusammenhangs hingewiesen, vgl. hierzu Kühnel, The
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Ganz anders stellen sich vor diesem Hintergrund die komputistischastronomischen Schriften Hermanns von Reichenau dar, die wiederum dem traktatartigen Typ zuzurechnen sind und die den Gegenstand des dritten Teils dieser Arbeit bildet. Ihre inhaltliche und formale Untersuchung führt angesichts der am Beispiel Bedas und Abbos freigelegten exegetischen und ikonographischen Tendenzen zu überraschenden Ergebnissen. Hermanns Schriften zeichnen sich durch ihre nüchterne und technisch anmutende Darstellungsweise aus. Im Gegensatz zu Beda verzichtet der Reichenauer vollständig auf die Exegese der von ihm behandelten komputistisch-astronomischen Größen und Gegebenheiten; im Unterschied zu Abbo kreiert er keine neuplatonisch geprägten computus-Figuren. Seine Ausführungen konzentrieren sich ausschließlich auf die technisch-funktionale Ebene und greifen damit einseitig nur einen der bisher vorherrschenden Interessensbereiche heraus: den des Wissens von den natürlichen Phänomenen. Außerdem bestimmt jeweils eine konkrete Sachfrage den inhaltlichen Aufbau der Darstellung, gibt also vor, welche Informationen überhaupt geliefert und wie diese relativ zueinander in Beziehung gesetzt und angeordnet werden.50 Darüber hinaus fällt auf, daß Hermannus versucht, das komputistisch-astronomische Regelwerk in abbildhafter Entsprechung zu seiner Wirklichkeitsvorstellung zu strukturieren. Das Abbild, das er dabei auf der Grundlage der Mathematik schafft, zeichnet sich durch maßstäbliche Kongruenz mit seinem Vorbild sowie durch eindeutige Berechenbarkeit aus. Als vorherrschende ratio des astronomischen Geschehens hat Hermannus die aequalitas ausgemacht, die das komputistischastronomische Regelwerk seinem Anspruch nach abbilden soll. Im Mittelpunkt seines wissenschaftlichen Interesses steht damit eine Größe, die seinem theologisch begründeten Weltbild entstammt und die er wie selbstverständlich als die bestimmende, die natürlichen Phänomene regulierende ratio voraussetzt. Soweit derzeit bekannt, ist Hermannus der erste, der außerhalb der Theologie im engeren Sinne den aequalitas-
End of Time. Auch diesem Aspekt ist daher bei der Besprechung der komputistischastronomischen Anthologien im zweiten Hauptteil nachzugehen. 50 Mit diesen Besonderheiten heben sich Hermanns komputistisch-astronomische Schriften von der Tradition, in der sie stehen, deutlich ab. Aufgrund des methodisch konsequenten Vorgehens und des sachlogischen Aufbaus erwecken seine Ausführungen einen ‚modernen‘ Eindruck. Bestätigt wird dieser Eindruck auch durch die bisherige Forschung, vgl. bes. Borst, „Ein Forschungsbericht“.
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Begriff in dieser fundamentalen Weise ins Zentrum seines wissenschaftlichen Denkens rückt.51 Beachtlich ist, daß die spezifische Form, in der Hermannus das komputistisch-astronomische Regelwerk als ein Abbild seiner Wirklichkeitsvorstellung auszuformulieren versucht, zu Modifikationen führt, die der Forschung zufolge wenig später zu Kennzeichen einer veränderten Wissenschaftlichkeit werden, nämlich der „universalisierten“ Rationalität. Damit aber läßt es sich mit dem Rationalisierungsgeschehen im Bereich der Theologie und des Triviums sowie der „Entdeckung der Natur“ in Beziehung setzen, dem es in zeitlicher Hinsicht sogar vorangeht. Bemerkenswert am Vorgehen des Reichenauers ist allerdings der Umstand, daß dieser – anders als zuvor Abbo oder später die Chartreser – die Mathematik nicht in der boethianischen, nach Proportionen und Harmonien suchenden Form verwendet, sondern in quantifizierender Weise. Er bemüht sich darum, konkrete Zeitpunkte, bestimmte astronomische Ereignisse und dergleichen – gegebenenfalls sogar im voraus – zu berechnen, und stützt sich dabei ausschließlich auf die ratio. Damit aber weist seine Vorgehensweise Charakteristika auf, die den quantifizierenden Naturwissenschaften heutzutage erheblich näher verwandt zu sein scheinen als Hermanns direktem historischem Umfeld. Angesichts dieses Befundes ist sowohl zu überprüfen, ob seine Schriften in ihrer Zeit beispiellos und somit ein Sonderfall sind, als auch in welchem Verhältnis sie zur aufkommenden scientia naturalis des 12. Jahrhunderts stehen.
51 Studien, die dem aequalitas-Begriff im Mittelalter gewidmet sind, thematisieren die Schriften des Reichenauers nicht. Verwiesen wird im allgemeinen auf Augustinus, dann erst wieder auf Thierry von Chartres. Die größte Aufmerksamkeit genießt neben Augustinus gemeinhin Nikolaus von Kues; vgl. hierzu Beierwaltes, „Aequalitas numerosa“; Ders., Denken des Einen S. 368–384; Schwaetzer, Aequalitas.
kapitel 1 ADIME SAECULO COMPUTUM* Computus und Wirklichkeitsverständnis
1.1. Einleitung Computus und Bildungsreform Historischen Forschungen zufolge zielten die Reformen Karls des Grossen primär auf Vereinheitlichung und auf Durchdringung jeglicher Lebensbereiche seines Großreiches. Mit seinen Vorgaben habe der Franke Standards festgelegt, die erstmals in der Geschichte des christlich-lateinischen Abendlandes innerhalb eines großen, zusammenhängenden geographischen Raumes allgemeine Verbindlichkeit erlangen sollten.1 Auch den Bereich der Zeitweisung und Zeitrechnung hätten die Reformen umfaßt. Demnach ließ Karl einen einheitlichen Kalender erstellen und sorgte außerdem für die Verbreitung einer hierfür maßgeblichen, in sich stimmigen theoretischen Grundlage.2 Hierzu habe er auf die Ausführungen des Angelsachsen Beda Venerabilis zur Zeitweisung zurückgegriffen, die dieser etwa ein Jahrhundert zuvor in verschiedenen Schriften, insbesondere aber in seinem Spätwerk, „De temporum ratione“ von 725, niedergelegt hatte.3 Die Bedeutung dieIsidor, Etymologiarum libri xx lib. iii, iv, 4 (ed. Lindsay, Bd. 1). Zu Karls Reformen insgesamt Borst, Kalenderreform, zur Zeitweisung insbes. S. 232–244, der Hinweis auf den allumfassenden Charakter der Reformen ebd. S. 237 in Anlehnung an Fleckenstein, Die Bildungsreform Karls des Großen; zu weiterführenden Literaturhinweisen siehe Borst, Kalenderreform S. 237, Anm. 15. – Zuvor zur Thematik bereits Ders., „Alkuin“ S. 57–59. – Die bislang einzige monographische Darstellung zur Komputistik im Umkreis Karls des Großen ist Springsfeld, Alkuins Einfluß. 2 Grundlegend sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten Borsts, bes. Ders., Kalenderreform. Seine Rekonstruktion des karolingischen Reformkalenders blieb jedoch nicht unwidersprochen, vgl. hierzu bes. Meyvaert, „Discovering the Calendar“; in Erwiderung hierauf wieder Borst, Der Streit um den karolingischen Kalender. 3 Der Reformwille Karls hinsichtlich der Zeitweisung spiegelt sich in den Quellen jedoch nur indirekt wider, insbes. in der „Admonitio generalis“ von 789, in der sowohl Karls allgemeine Intention fixiert ist, „errata corrigere, superflua abscidere, recta cohortare“, S. 54, als auch seine speziellere Anweisung, „psalmos, notas, cantus, *
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ses Unternehmens sei groß, habe Karl sich doch einer Vielzahl an lokalen Varianten im Bereich der Zeitweisung konfrontiert gesehen.4 Mit seinen Vereinheitlichungsbemühungen habe er folglich das Fundament für die Gültigkeit einer gemeinsamen Zeitordnung im politischadministrativen, ökonomisch-sozialen sowie liturgisch-religiösen Bereich gelegt.5 Als schriftlichen Niederschlag der Reformbemühungen Karls hinsichtlich des Zeitwesens begreift die heutige Forschung in aller Regel die gern als ‚Fachenzyklopädien‘ bezeichneten Sammlungen von 809– 812 sowie von 818.6 Diese Enzyklopädien beinhalten sowohl Versionen des sogenannten karolingischen ‚Reichskalenders‘, als auch Materialien zur Komputistik, die weitgehend mit den Prinzipien Bedas übereincompotum, grammaticam per singula monasteria vel episcopia et libros catholicos“ in guten Ausgaben bereitzustellen, S. 60. Zum Problem einer fehlenden direkten Willenserklärung Karls, den Kalender und die Zeitweisung zu reformieren, Borst, Kalenderreform S. 231, 234–238. Zur Festlegung auf den einen Kalender und sein spezifisches Erscheinungsbild ebd. S. 245–252 (zum „Lorscher Prototypen“), S. 386– 522 (zu den karolingischen Kalendern, ihren Kernen sowie ihren Rahmentexten), zur theoretischen Basis explizit ebd. S. 252 u. ö. – Zu „De temporum ratione“ wie zur Komputistik insgesamt immer noch grundlegend Jones, Bedae opera de temporibus, S. 3–139; ausführlicher hierzu unten, 1.2. Beda Venerabilis: „De temporum ratione“. – Daß Karl bei seinen Vereinheitlichungsbemühungen ausgerechnet auf die bedanische Komputistik zurückgriff, läßt sich auf den Einfluß Alkuins zurückführen, der Karl bei seinen Reformvorhaben beriet. Alkuin war ja in England erzogen und unterrichtet worden und ist hinsichtlich seiner geistigen Prägung als ‚Enkelschüler‘ Bedas zu bezeichnen. Dieser Umstand schlägt sich auch deutlich in seiner Bevorzugung der bedanischen Komputistik gegenüber anderen Traditionen nieder. Hierzu die Analysen in Springsfeld, Alkuins Einfluß. 4 Zu dieser Vielfalt am Vorabend der Kalenderreform plastisch Borst, Kalenderreform, insbes. S. 169–230. 5 Zu Karls Selbst- und Reformverständnis immer noch Fleckenstein, Die Bildungsreform Karls des Großen, insbes. S. 86–101. Ähnlich Borst, Kalenderreform S. 518, demzufolge Karl „die Zeit in sämtlichen Lebensbereichen seines Reiches“ zu regeln beabsichtigte; Springsfeld, Alkuins Einfluß S. 23 f. 6 Zu den von Karl veranlaßten ‚Fachenzyklopädien‘ Borst, „Alkuin“ S. 71–75; Springsfeld, Alkuins Einfluß S. 105–107. – Anders der Akzent in Borst, Kalenderreform, der aufgrund der dort verfolgten Fragestellung auf den Kalenderhandschriften und nicht mehr primär auf den komputistisch-astronomischen Zeugnissen ruht, vgl. hierzu beispielsweise die Einteilung der Handschriften S. xviii–xxvi. – Zur Bedeutung der beiden Enzyklopädien für das Reformwerk Karls ebd. S. 518. – Zu den unterschiedlichen Versionen der karolingischen Fachenzyklopädie siehe Springsfeld, Alkuins Einfluß S. 91–127; zur handschriftlichen Überlieferung S. 96–104 (zum hier nicht weiter erörterten „Annalis libellus“ von 793, dem ‚Vorläufer‘ der beiden Fachenzyklopädien), S. 113–119 (zu den „Libri computi“, der sogenannten „Aachener Fachenzyklopädie“, von 809–812), S. 126f. (zum „Liber calculationis“, der „Salzburger Fassung“ der Enzyklopädien, von 818).
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stimmen.7 Darüber hinaus bieten sie eine große Fülle an Stoff, der thematisch deutlich über die Zeitweisung im engeren Sinne hinausgeht. Drei von insgesamt sieben Büchern der „Libri computi“ von 809– 812 beispielsweise stehen nur in losem Zusammenhang mit der Komputistik: Das fünfte Buch ist der Astronomie, und zwar insbesondere den Planetenbewegungen, das sechste Buch der Metrologie und das siebte Buch Bedas „De natura rerum“ gewidmet. Noch weiter greift der „Liber calculationis“ von 818 aus. Von seinen drei Büchern setzen sich zwei aus Materialien zusammen, die die Perspektive auf das Gesamt der Natur weiten: Im zweiten Buch sind Kapitel zur Astronomie, Meteorologie und Metrologie zusammengestellt, während das dritte Buch wiederum Bedas „De natura rerum“ enthält sowie noch weitere, in diesem Fall tatsächlich komputistische Komponenten. In diesen Kompilationen, die den eigentlichen Bereich der Zeitweisung in thematischer Hinsicht in nennenswertem Maße überschreiten, spiegelt sich freilich bereits eine bestimmte Form sowohl der Beda-Rezeption, als auch des ihnen zugrunde liegenden Wissenschaftsverständnisses wider, worauf im folgenden näher eingegangen wird. Über diese stoffliche Fülle zum Ganzen der Natur hinaus zeichnen sich die beiden Enzyklopädien durch ihre Vorliebe für figurae: Tabellen, Diagramme und Skizzen aus. Mit diesen Charakteristika werden sie zu Vorbildern für die zwischen dem 9. und dem 11. Jahrhundert entstehenden komputistisch-astronomischen Sammlungen. In diesem Zusammenhang fällt auch die Rezeption der beiden Fachenzyklopädien auf. Während sie in der eben angedeuteten Weise zum Erstellen vieler formal ähnlicher Kompilationen anregten, in diesem Zuge auch – neben anderen Quellen – als Vorlage dienten, wurden kaum vollständige Kopien von ihnen angefertigt. Die „Libri computi“ liegen heute lediglich in fünf Abschriften vor, der „Liber calculationis“ sogar nur in zweien.8 7 Einen kenntnisreichen Überblick über die Inhalte der Enzyklopädien bietet Springsfeld, Alkuins Einfluß S. 107–113 (zu den „Libri computi“), S. 120–126 (zum „Liber calculationis“), S. 384–398 (eine handliche Gesamtübersicht über die einzelnen Kapitel der Enzyklopädien: ihren Inhalt, die jeweiligen Vorlagen und – soweit vorhanden – die Druckorte), u. ö. zu einzelnen Sachfragen. – Zur Rezeption des ‚Reichskalenders‘ in den beiden Enzyklopädien Borst, Kalenderreform S. 301–303. 8 Siehe Springsfeld, Alkuins Einfluß S. 113–119 (zu den „Libri computi“) und S. 126f. (zum „Liber calculationis“). Da die beiden Enzyklopädien paradigmenbildend für den sammlungsartigen Typ komputistisch-astronomischer Quellen sind, werden sie ausführlicher in 2.2. Der „Computus“ als komputistisch-astronomische Sammlung besprochen.
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Zwar enthält keine der beiden Enzyklopädien Bedas „De temporum ratione“ komplett, jedoch lehnen sich beide inhaltlich meist an seine Vorgaben an.9 Bedas komputistisches Hauptwerk stellt in technischfunktionaler Hinsicht sowohl in seiner Entstehungszeit, als auch ein Jahrhundert später im Umfeld der karolingischen Reformen den qualitativ besten sowie den umfassendsten Beitrag zur Thematik dar.10 Es zeugt von Bedas hervorragender Kenntnis der fachtheoretischen Zusammenhänge und von seiner souveränen Beherrschung der ihm bekannten komputistischen Verfahren. Hinzu kommt, daß der Angelsachse in aller Regel Position bezieht: Er kennt und nennt die verschiedenen tradierten, einander bisweilen widersprechenden Größen und Verfahren der Zeitbestimmung, grenzt diese gegeneinander ab und spricht sich zumeist dezidiert für eine der Varianten aus. Auf diese Weise sorgte Beda in der Komputistik für Eindeutigkeit und Einheitlichkeit, was maßgeblich zu seiner Schlüsselrolle bei der Vermittlung und Weiterentwicklung der technischen Chronologie im christlichlateinischen Abendland beigetragen haben dürfte.11 In technisch-funktionaler Hinsicht bedeutet „De temporum ratione“ mit den genannten Charakteristika einen beachtlichen Fortschritt. Erstens enthält es alle für die Zeitbestimmung erforderlichen Rahmenbedingungen, auch in Fällen, in denen bisher mehrere Alternativen zur Auswahl standen und für Verwirrung sorgten. Als Beispiel sei auf die kalendarische Fixierung des Frühjahrsäquinoktiums auf den 21. März
9 Dies zeigt in anschaulich aufgearbeiteter Weise die thematische Gesamtübersicht über die Enzyklopädien in Springsfeld, Alkuins Einfluß S.384–398. – Daß sowohl Kalenderkerne als auch die Rahmentexte (auch der späteren komputistisch-astronomischen Sammlungen bis zur Jahrtausendwende) auf der theoretischen Komputistik Bedas beruhten, bestätigt Borst, Kalenderreform S. 522; zur Rezeption von Bedas Text in den Fachenzyklopädien ebd. S. 501 f. 10 Zur Funktion von „De temporum ratione“ als theoretische Grundlage zum Erstellen eines Kalenders Borst, Kalenderreform S. 184, speziell zu seiner Rolle als Basis für den karolingischen ‚Reformkalender‘ ebd. S. 522. – Mit Betonung allgemein der ‚wissenschaftlichen‘ Verdienste Bedas Kühnel, The End of Time S. 96f.; mit ähnlichem Akzent bereits Stevens, „Bede’s Scientific Achievement“, bes. S. 42–44, sowie Jones, Bedae opera de temporibus, insbes. S. 125–129. 11 Zu Bedas komputistischer Leistung im besonderen Jones, Bedae opera de temporibus S. 99, 103 f., 137 u. ö.; ähnlich Borst, Kalenderreform S. 602, 666, 695 u. ö. – Zur Geschichte der Komputistik, der Entwicklung ihrer zum Teil längere Zeit miteinander konkurrierenden Verfahren und Vorschriften sowie insbes. zu den nicht zuletzt theologisch sehr bedeutsamen Osterkontroversen immer noch Jones, Bedae opera de temporibus S. 6–113; Wallis, The Reckoning of Time S. xxxiv–lxiii, mit Berücksichtigung der neueren Forschung.
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hingewiesen.12 Zweitens werden sämtliche erforderliche Verfahren zur Ermittlung von Daten zusammengestellt und dem Stand der Technik entsprechend mathematisch korrekt erklärt.13 Beispielsweise sei in diesem Zusammenhang die Osterfestbestimmung auf der Grundlage der dionysianischen 19jährigen Zyklen angeführt, die zwar auch vor Beda schon im lateinischen Westen bekannt war, aber erst durch die Rezeption seiner Komputistik zum allgemeinen Standard wurde.14 Und drittens griff er die dionysianischen Ostertafeln auf, schrieb sie bis weit über seine Zeit hinaus fort und sorgte damit letztlich für ihre europaweite Verbreitung.15 Diese Tafeln zeichnen sich an erster Stelle dadurch aus, daß sie fest mit einer chronologischen Ära verknüpft sind und für jedes einzelne verzeichnete Jahr den konkreten Ostertermin angeben. Mit ihrer Hilfe läßt sich folglich das Osterdatum unmittelbar ablesen, so daß die Notwendigkeit entfällt, es rechnerisch zu ermitteln. Auf den ersten Blick sind diese Ostertafeln einfache Datenlisten, die mit einem bestimmten Anfangsjahr einsetzen und mit einem anderen Jahr enden. In Bedas Fall reichen sie von 532 bis 1063. Doch ein entscheidender weiterer Vorteil an diesen Tafeln ist ihr Konstruktionsprinzip: Ihnen liegt ein 532jähriger Zyklus zugrunde. Nach diesem Zeitraum fallen sämtliche Termine – die Vollmonde, die Ostersonntage und alle anderen beweglichen Festtage – wieder auf exakt dieselben Kalenderdaten. Um auslaufende Ostertafeln fortzuschreiben, genügt es also, in chronologischer Folge jedes Jahr mit den Daten von vor 532 Jahren zu versehen. Wie schon beim Ablesen der Osterdaten selbst besteht somit bei dieser Tätigkeit ebenfalls kein Rechenbedarf.16 12 Die Tradition bot selbst bei diesem für die Osterfestbestimmung zentralen Datum verschiedene Möglichkeiten an: neben dem von Beda bevorzugten 21. insbesondere den 25. März, siehe Wallis, The Reckoning of Time S. xix. 13 Auffällig ist in diesem Zusammenhang, daß Beda – dem auch hier oft verschiedene Möglichkeiten offenstanden – zumeist auf die gemeinhin zuverlässigeren und versierteren Methoden der alexandrinischen Tradition zurückgriff. – Bedas Vorliebe für die alexandrinische Tradition konstatiert bereits Verbist, In duel met het verleden S. 167 f. 14 Wallis, The Reckoning of Time S. lxiii; ähnlich bereits Jones, Bedae opera de temporibus S. 135–138. 15 Zu Bedas Rezeption der dionysianischen Ostertafeln und seiner Auseinandersetzung mit diesem Werk Declercq, Anno Domini S. 155–159; Verbist, In duel met het verleden S. 164–172. 16 Zu den Ostertafeln des Dionysius Exiguus v. a. Verbist, In duel met het verleden, bes. S. 122–125; insgesamt zu dessen Inkarnationsjahrzählung, die grundlegend für die abendländische Datierweise wurde, ebd. S. 115–134; zur älteren Tradition der Ostertafeln ebd. S. 81–100, jeweils mit weiterführenden Literaturhinweisen. – Zu
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Zusammenfassend ist aus technisch-funktionaler Sicht festzuhalten, daß „De temporum ratione“ ein zuverlässiges und umfassendes Instrumentarium zur rechnerischen Ermittlung sämtlicher beweglicher Daten relativ zum julianischen Kalender bereitstellt. Darüber hinaus bietet es ein Hilfsmittel – die Ostertafeln –, das der Notwendigkeit enthebt, diese Daten weiterhin rechnerisch zu bestimmen. In letzter Konsequenz bedeutet dieser Sachverhalt jedoch zweierlei: Erstens ist, aus einem engeren Blickwinkel betrachtet, mit „De temporum ratione“ ein qualitativ befriedigender und für die zu lösenden Aufgaben völlig ausreichender technischer Standard erreicht. Eine Weiterentwicklung oder Ergänzung der komputistischen Verfahren ist aus technisch-funktionaler Sicht nicht mehr zwingend erforderlich, sondern vermag nur noch ästhetische Verbesserungen zu bringen.17 In einer breiteren Perspektive jedoch ist zweitens zu konstatieren, daß angesichts der Ostertafeln an einem weiteren Betreiben der Komputistik insgesamt als Disziplin und in größerem Maßstab keinerlei Bedarf mehr besteht.18 Die deutliche Zunahme an komputistisch-astronomischen Quellen ausgerechnet seit jener Zeit, in der die bedanische Komputistik und mit ihr die Ostertafeln flächendeckend wirkmächtig wurden, muß daher überraschen. Sie ist eines der Indizien für die hier vertretene These, daß im Mittelpunkt des wachsenden Interesses an der Komputistik seit dem 9. Jahrhundert in erster Linie nicht die technisch-funktionale Dimension dieser Disziplin steht.19 Erste Aufschlüsse darüber, welches den Ostertafeln des Dionysius siehe auch Declercq, Anno Domini S. 99–112; zu ihrer Verbreitung ebd. S. 150–188. 17 Der Begriff der Ästhetik wird hier in einem Sinne verwandt, wie er selbst in modernen Naturwissenschaften gelegentlich anzutreffen ist, wenn beispielsweise mit Blick auf verschiedene zielführende Formeln der ‚schöneren‘ oder ‚eleganteren‘ der Vorzug gegeben wird. 18 Unter einem technisch-funktionalen Aspekt erschiene es hinreichend, einige Spezialisten in dieser Disziplin auszubilden, die für die Fortführung der Tafeln und deren Kontrolle verantwortlich wären. – Die Beobachtung, daß in der Komputistik mit Beda ein in technisch-funktionaler Hinsicht ausreichender Standard erreicht ist, bereits bei Wallis, The Reckoning of Time S. xxxi–xxxiv, die ebenfalls darauf hinweist, daß infolge des erreichten Standards eigentlich ein Nachlassen des Interesses für die Komputistik zu erwarten gewesen wäre. 19 Obwohl Obrist, La cosmologie médiévale S. 38f., selbst darauf hinweist, daß die komputistisch-astronomischen Quellen seit dem 9. Jahrhundert keineswegs nur auf Regeln zur Kalenderberechnung beschränkt waren, sondern ganzen „exposés cosmographiques“ Platz boten, charakterisiert sie die Ausrichtung des computus dennoch als eine „praktische“, da er – ihr zufolge – „vise en particulier l’établissement des calen-
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weiterreichende Anliegen sich in der fortgesetzten und intensivierten Beschäftigung mit ihren Gegenständen artikuliert, bietet bereits „De temporum ratione“ selbst. An seinem Beispiel läßt sich zeigen, wie die eigenständige ‚Disziplin‘ Komputistik mit der für Beda charakteristischen Synthese von Wissen über die Natur und dessen Exegese entsteht. Im Zuge ihrer breiten Rezeption seit dem 9. Jahrhundert wurde die Schrift dann zu einer der wichtigsten Quellen für Inhalte, die dem frisch etablierten Wissenschaftsschema der sieben freien Künste als Gegenstände des Quadriviums einverleibt wurden. Im Verlauf dieses Rezeptionsvorgangs fällt besonders die zunehmende Dissoziation von Darstellungen fachlichen Wissens von der Natur und auslegenden Partien auf, die ihr Pendant beispielsweise in den Unterrichtsgepflogenheiten der Schule von Laon, aber auch in den Zusammenstellungen der komputistisch-astronomischen Sammlungen seit dem 9. Jahrhundert findet. In einem ersten Schritt ist daher „De temporum ratione“ eingehender zu untersuchen, um daraufhin den konzeptionellen Hintergrund der artes-Bildung und in dessen Licht schließlich die BedaRezeption zu analysieren. 1.2. Beda Venerabilis „De temporum ratione“ 1.2.1. Historische Einordnung Entstanden ist „De temporum ratione“ im ersten Viertel des 8. Jahrhunderts in Northumbrien, wo Beda als Mönch des Doppelklosters Wearmouth–Jarrow lebte und wirkte. Geboren wurde er 673 / 674 im Gebiet des Klosters Wearmouth und bereits mit sieben Jahren der Obhut des Abtes Benedict Biscop übergeben. Dieser vertraute ihn bald darauf dem Mönch Ceolfrid im Kloster Jarrow an, wo Beda – abgesehen von zwei kleineren Reisen in die nähere Umgebung – sein Leben verbrachte und 735 starb. Er hinterließ ein umfangreiches schriftliches Werk, das sowohl von seiner Schaffenskraft, als auch von seiner geistigen Kapazität zeugt.20 driers“. Ob ein solcher Bedarf tatsächlich noch bestand, ist angesichts der skizzierten Entwicklungen eher fraglich. 20 Die verfügbaren Informationen über die Biographie Bedas beschränken sich auf einen kurzen autobiographischen Abschnitt in der „Historia ecclesiastica“ und auf den
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Bedas Werk erstreckt sich über annähernd alle der seinerzeit üblichen Themengebiete. Etwa die Hälfte der verfügbaren Zeugnisse sind der Schriftexegese zuzuordnen, fast die gesamte restliche Überlieferung besteht aus Homilien, hagiographischen und historiographischen Werken sowie neben weiterem der „Historia ecclesiastica“. Lediglich ein Band bietet opera didascalica, die Schriften zur Orthographie, zur Grammatik, zur Vesifikation und zur figurativen Sprache umfassen, darüber hinaus aber eine Abhandlung zum Ganzen der Naturdinge („De natura rerum“, um 700) und zwei Traktate zur Zeit („De temporibus“, 703 und „De temporum ratione“, 725).21 Den besonderen Hintergrund für Bedas komputistische Schriften bildet die Osterfrage, die die Kirche über die ersten sieben Jahrhunderte ihrer Existenz hinweg in Atem hielt. Ihren letzten Höhepunkt erreichte die Osterkontroverse auf den Britischen Inseln, und zwar im siebten und beginnenden achten Jahrhundert. Sie entzündete sich an den regional verschiedenen Berechnungsgrundlagen und damit an den Prinzipien der Osterfestbestimmung. Die Differenzen waren so weitreichend, daß Ostern in manchen Jahren – je nach Region – an unterschiedlichen Daten gefeiert wurde.22 In der Summe standen zur Zeit Brief Cuthberts, „De obitu Bedae“, Bacht, Art. „Beda Venerabilis i“, in LMA 1 (1980), Sp. 1774f.; Loyn, Art. „Beda Venerabilis“, in TRE 5 (1980), S. 397 f.; verschiedene Aspekte der Persönlichkeit Bedas werden in dem Sammelband Bonner, Famulus Christi, beleuchtet; vgl. auch Jones, „Bede, the Schools and the Computus“, allerdings dem Titel entsprechend mit einer eingeschränkteren Perspektive. 21 Zu Bedas Werk Becker et al., Art. „Beda Venerabilis ii“, in LMA 1 (1980), Sp. 1775–1778; Loyn, Art. „Beda Venerabilis“, in TRE 5 (1980), S. 398f., der S. 398 den Appendix i der von Plummer besorgten Ausgabe der „Historia ecclesiastica“ als „beste Übersicht über Inhalt und Chronologie seines [sc. Bedas, NG] Schaffen“ bezeichnet; vgl. auch Manitius, Geschichte Bd. 1 S. 74–87. 22 Vgl. hierzu exemplarisch die Lage in Northumbrien im 7. Jahrhundert, in dem – je nach Kirchenzugehörigkeit – ein Nebeneinander verschiedener Berechnungsmodi herrschte. Ein Zeugnis hierfür ist der „Liber Anatolii“ (aus dem 7. Jahrhundert, eine der sogenannten ‚irischen Fälschungen‘), der den 19jährigen Zyklus mit den Kriterien (i.e. in erster Linie die Ostergrenzen) des im keltisch-irischen Kontext bevorzugten 84jährigen Zyklus zu verbinden suchte. Während im keltisch-irischen Modus das Äquinoktium auf den 25. März datiert und die Ostergrenzen mit luna 14–20 fixiert wurden, fiel dem römischen Modus zufolge das Äquinoktium auf den 21. April mit luna 15–21 als Grenzen. Infolge dessen wichen beispielsweise im Jahre 631 die Osterdaten je nach Observanz voneinander ab. Während die Kelten Ostersonntag erst am 21. April feierten, fiel das Fest bei den dem römischen Modus folgenden Briten bereits auf den 24. März; ausführlicher hierzu Wallis, The Reckoning of Time S. lvi–lxii, die auch auf die Differenzen zwischen den beiden miteinander konkurrierenden 19jährigen Modi römischer Provenienz (Victorius beziehungsweise Dionysius) eingeht und neuere Literatur zum Thema anführt; zuvor bereits Jones, Bedae opera de temporibus S. 78–104.
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Bedas drei komputistische Systeme miteinander in Konkurrenz. Während die Briten nach wie vor am alten keltischen 84jährigen Zyklus festhielten, hatten sich die Iren bereits Rom angeschlossen und operierten auf der Grundlage von 19jährigen Zyklen. Allerdings griffen nicht alle Iren auf den zwischenzeitlich aktuellsten römischen Standard, die dionysianischen Ostertafeln, zurück. In Südirland und Gallien bediente man sich beharrlich der älteren, von Victorius entwickelten Tafeln, die von den dionysianischen in entscheidenden Punkten abweichen und für manche Jahre andere Daten liefern.23 In diesem Kontext sind Bedas Schriften zur Zeitweisung anzusiedeln. Ihr Ziel ist auf technisch-funktionaler Ebene, dem römischdionysianischen Usus auf den Britischen Inseln allgemeine Gültigkeit zu verschaffen, so daß sich in seinen beiden Zeitbüchern ein ähnliches Anliegen artikuliert wie später in den Reformbestrebungen Karls des Großen: das Ringen um Vereinheitlichung. Für Beda ging es hierbei indes um nichts geringeres als das zentrale Fest der Christenheit und dessen gemeinsames Zelebrieren durch die eine Kirche. Er verfolgt mit seinem Streben nach unitas damit ein Anliegen, das die Kirche bereits seit den ersten frühchristlichen Jahrhunderten kennzeichnet.24 „De temporum ratione“ ist nicht nur das umfangreichere, sondern auch das bei weitem wirkmächtigere der beiden Bücher Bedas „über 23
Zur Situation auf den Britischen Inseln und ihrer Vorgeschichte detailliert Wallis, The Reckoning of Time S. xxxiv–lxiii, bes. S. lv–lxiii. – Einen konzisen Überblick über die Osterkontroversen bietet Declercq, Anno Domini S. 49–95. 24 Zentral für das frühchristliche ekklesiologische Verständnis ist die Paulinische Deutung der frühen christlichen Gemeinden als den einen Leib Christi. Infolge dessen werden das innerkirchliche Streben nach Einheit der verschiedenen „Glieder des Leibes“ trotz räumlicher Trennung und die Sorge vor Spaltung und Zerfall der Einheit zu Grundmomenten theologischer Reflexionen bis in die Frühe Neuzeit hinein; vgl. beispielsweise bereits die Formulierung in den Taufbekenntnissen des 4. Jahrhunderts, in denen die Nennung der einen Kirche zum Normalfall wird, z. B. das Jerusalemer Taufbekenntnis: „Wir glauben […] an eine, heilige, katholische Kirche“, zitiert nach May, Art. „Kirche iii“, in TRE 18 (1989), S. 225; zum Mittler für die mittelalterlichen ekklesiologischen Vorstellungen wird einmal mehr Augustinus, der unter Rückgriff auf Paulus den Kirchenbegriff gegenüber der älteren Theologie noch vertiefte; insges. hierzu May, Art. „Kirche iii“, in TRE 18 (1989), S. 218–227; mit Blick auf die mittelalterlichen Entwicklungen Finkenzeller, Art. „Kirche iv“, ebd. bes. S. 227– 239; vgl. in diesem Sinne noch die Enzyklika „Satis cognitum“ Leos XIII. aus dem Jahre 1896, die mittels Auslegung der Paulinischen Metapher vom Leib Christi die Einheit der Kirche betont, Denzinger /Hünermann, Enchiridion symbolorum S. 892– 898.
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die Zeiten“.25 Es läßt sich formal in vier Teile untergliedern. Ein erster, einleitungsartiger Komplex ist dem Fingerrechnen, der dreifachen ratio der Zeiten, den kleinsten, also die Dauer des Tages noch unterschreitenden Zeiteinheiten sowie dem Unzenrechnen gewidmet. Hieran schließt sich ein Abschnitt, in dem nacheinander die verschiedenen Zeiteinheiten – von der kleinsten, dem Tag, bis zur größten, dem Jahr – abgehandelt werden. Mit seinem Aufbau entspricht dieser Teil der Schrift spätantiken beziehungsweise frühmittelalterlichen kosmologisch-physikalischen Enzyklopädien, worauf im folgenden noch näher eingegangen wird. Ein dritter Komplex dient der Erläuterung komputistischer Größen und Verfahren im engeren Sinn und spiegelt mit seiner Struktur die spaltenweise Gliederung der dionysianischen Ostertafeln. Den Abschluß bildet eine Weltalterchronik mit eschatologischem Ausblick.26 Grundsätzlich lehnt sich Beda mit der Gliederung und Behandlung des von ihm erörterten Stoffes an verschiedene Vorlagen, in erster Linie aber an „De natura rerum“ Isidors von Sevilla an und stellt seine Schrift damit in den Horizont enzyklopädischer Abhandlungen, die das Naturganze thematisieren.27 Beda allerdings konzentriert sich in „De temporum ratione“ auf einen bestimmten thematischen Ausschnitt seiner Vorlage, die Zeit und ihre Einheiten, und somit auf einen Themen-
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Eine detaillierte Besprechung der wesentlichen Unterschiede zwischen „De temporibus“ und „De temporum ratione“ bei Wallis, The Reckoning of Time S. lxivf. – Die maßgebliche Edition des Werkes bietet Jones, Bedae opera didascalica (CCL 123B, S. 263–544); der Text entspricht der älteren Edition durch Dens., Bedae opera de temporibus S. 175–291 (allerdings wurde in dieser Ausgabe die Chronik nicht abgedruckt); die Konsultation dieser älteren Edition empfiehlt sich insbesondere aufgrund ihres hilfreichen Kommentarteils, S. 329–391, der in die zitierte neuere Edition leider nicht mit aufgenommen wurde. 26 Der einleitungsartige Komplex in Beda, De temporum ratione cap. i–iv (CCL 123B, S. 268–283); die verschiedenen Zeiteinheiten cap. v–xliii (ebd. S. 283–418); die komputistischen Größen gemäß den dionysianischen Ostertafeln cap. xliv–lxv (ebd. S. 418– 460); die Weltalterchronik cap. lxvi (ebd. S. 463–535); der eschatologische Ausblick cap. lxvii–lxxi (ebd. S. 535–544). 27 Die maßgebliche Edition von „De natura rerum“ bietet Fontaine, Traité de la nature S. 164–327; zur geographischen Verbreitung des Werkes ebd. S. 69–83 (mit eingebundener Karte zwischen S. 83 und S. 84); zu den Textzeugen S. 19–38; zum Stemma S. 46–69. – Borst, Kalenderreform S. 179, mit Anm. 18 (einschlägige Literatur) bezeichnet „De natura rerum“ als „Prototypen“ für die Entwicklung der Komputistik zu einer eigenen Literaturgattung; die Interpretation der „Naturenzyklopädie“ auf S. 557. Zur Bedeutung des Rezeptionsprozesses von „De natura rerum“ eher kritisch ebd. S. 512 f. Zu einer positiven Einschätzung der Rezeption gelangt hingegen Kühnel, The End of Time S. 95.
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komplex, den Isidor bei der Komposition seines eigenen Werkes seinen damaligen Vorlagen überhaupt erst hinzugefügt hatte.28 Die Nähe beider Werke zueinander wird beispielsweise in der Abfolge der einzelnen Kapitel sichtbar. Wie Isidor beginnt Beda mit einem Kapitel zum „Tag“, setzt seine Ausführungen mit der „Nacht“ fort, referiert über die „Woche“ und schließt die Erörterung der „Monate“ an. Dazwischen bietet er in Form weiterer, ergänzender Kapitel Ausführungen, die über die seiner Vorlage hinausgehen.29 Erst im Anschluß an die „Monate“ weicht Bedas Kapitelfolge von der Isidors ab. Während Isidor seinen Traktat mit einem Kapitel zu den „Jahren“ fortfahren läßt, zieht Beda Erläuterungen zum Himmel: zum Zodiak, dem Mond – relativ zum Tierkreis, im Verhältnis zu den Wochentagen und bezüglich der Sonne –, den Jahrpunkten und dem Himmelsaufbau vor.30 Selbst bei der Gliederung des zweiten Teils von „De temporum ratione“, der eine Erklärung der dionysianischen Ostertafeln darstellt, folgt Beda lose den Prinzipien seiner Vorlage, indem er die Diskussion der Tafeln mit einem Kapitel zur komputistischen ‚Grundeinheit‘, dem 19jährigen Zyklus, einleitet und mit der Erklärung des großen, 532jährigen Osterzyklus beendet. Auf diese Weise behält er auch in diesem Zusammenhang das gewählte Gliederungsprinzip bei: von den kleineren Zeiteinheiten aufsteigend zu den größeren.31 28 Auf diesen Unterschied zwischen „De natura rerum“ und Isidors Vorlagen weist Fontaine, Traité de la nature S. 7, hin. 29 „Über den Tag“ entspricht „De temporum ratione“ cap. v (CCL 123B, S. 283– 290); nach einem Einschub über den „ersten Welttag“ (cap. vi, ebd. S. 290–295) folgt mit cap. vii die „Nacht“ (ebd. S. 295–299), dann cap. viii–x die „Woche“ mit den gegenüber der Vorlage hinzugefügten „Siebzig prophetischen Wochen“ und der „Woche der Weltalter“ (ebd. S. 299–312), cap. xi schließlich handelt – Isidor wieder folgend – über die „Monate“ (ebd. S. 312–319; cap. xii–xv, ebd. S. 319–332, thematisieren in Ergänzung zu Isidor die Monate der Römer und der Angelsachsen sowie die Monatseinteilung). 30 Ein Kapitel über die Sternzeichen des Tierkreises weist Isidors „De natura rerum“ nicht auf; über den Mond und seinen Lauf cap. xviiif. (ed. Fontaine S. 237– 247), seine Eklipse cap. xxi (ebd. S. 251–253); über den Lauf der Sonne cap. xvii (ebd. S. 233–237), ihre Verfinsterung cap. xx (ebd. S. 247–251); über die Sterne (einschließlich der Planeten) cap. xiii, xxiii–xxvii (ebd. S. 223–225, 257–277); an ein weiteres Kapitel „Über die Nacht“ (cap. xxviii, ebd. S. 277–279) schließen sich die Ausführungen zur sublunaren Welt an. 31 Hinsichtlich der gesamten Schrift ist festzuhalten, daß Beda in erster Linie das von Isidor übernommene Material ergänzt. Neu gegenüber der Vorlage sind zum einen die Eingangskapitel von „De temporum ratione“, die dem Fingerrechnen, der dreifachen ratio der Zeiten, den kleinsten, also die Dauer des Tages noch unterschreitenden Zeiteinheiten sowie dem Unzenrechnen gewidmet sind (cap. i–iv). Zum andern ist Bedas Schrift um den ganzen Komplex der Komputistik im engeren Sinne, also um die
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Mit Blick auf die Abfolge der einzelnen Themenkomplexe und ihre jeweiligen Hauptgegenstände wird ein weiteres Charakteristikum sichtbar. Nicht nur schließt „De temporum ratione“ mit einer Weltalterchronik mit eschatologischem Ausblick, sondern vielmehr ist dem inhaltlichen Verlauf der gesamten Schrift eine heilsgeschichtliche Bewegung unterlegt. Diese schlägt einen Bogen von der Schöpfung als dem Beginn aller Zeiten über das zentrale Christusereignis bis hin zur Erlösung als dem Ende aller Zeiten. Sieht man von der Erörterung der erforderlichen Präliminarien (cap. i–iv) ab, setzt Beda mit der Besprechung der temporalen Größen des Schöpfungswerkes ein, die er sowohl in ihrer ‚natürlichen‘ Erschaffenheit, als auch in ihrer kulturellen Überformung ins Auge faßt (cap. v–xliii).32 Der nächste Themenbereich kreist dann um Ostern und folglich um die deutende Auseinandersetzung mit dem Zentralgegenstand des Christentums, der ‚Mitte der Zeiten‘. Dessen ‚richtige‘, zyklisch zu ermittelnde, aber linear zu verortende Reaktualisierung steht im Mittelpunkt dieses Abschnitts (cap. xliv–lxv). Den Schlußpunkt setzt die Chronik mit ihrem eschatologischen Ausblick. Die Chronik selbst vollzieht dabei als Weltalterchronik die zuvor entwickelte heilsgeschichtliche Bewegung ein weiteres Mal nach, diesmal allerdings mit ‚historischer Füllung‘. Genauso wie der vorausgehende ‚theoretische‘ Teil läuft sie auf der linearen Achse ihrer Ära auf die noch ausstehende Zeit und damit in letzter Konsequenz auf den Endpunkt der Zeit zu. Insofern zielen beide Bewegungen, die des Gesamtwerks wie die der Chronik, intentional auf den eschatologischen Ausblick. Für die Gesamtbewegung fungiert dieser somit als typologisches Gegenstück zu Schöpfungswerk und Ostergeschehen, für die Chronik als Fortsetzung des sechsten Weltalters einerseits, als zeitlicher Endpunkt und verheißene Ewigkeit andererseits (cap. lxvi–lxxi).33 für die Osterfestberechnung benötigten Größen, Rahmenvorgaben und Verfahrensregeln ergänzt (cap. xliv–lxv). Eine weitere Hinzufügung Bedas sind darüber hinaus seine vielbeachteten Überlegungen zu den Gezeiten und ihrem Zusammenhang mit dem Mondlauf (cap. xxix) sowie die das Werk abschließende Chronik (cap. lxvi) mit ihrem Ausblick auf die verbleibende, noch offene Zukunft (cap. lxvii–lxxi). 32 Als Beispiel sei auf seine Ausführungen zu den Monaten verwiesen (cap. xi–xv). Auf die etymologischen Herleitungen des Namens „mensis“ hin wendet er sich an erster Stelle dem natürlichen Phänomen des (Mond-) Monats zu, wobei er zwischen dem siderischen und dem synodischen Monat zu unterscheiden weiß. Hieran schließen sich Reflexionen zu den sekundären, menschlichen Konventionen an, im gewählten Beispiel: den konkreten, regional unterschiedlichen Monatsnamen, der Einteilung der Monate in Kalenden, Iden und Nonen und ähnliche Themen. 33 Auf den starken historiographischen Zug von „De temporum ratione“ geht Wallis,
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1.2.2. Zu Inhalt und Wirkung Auf inhaltlicher Ebene fällt auf, daß „De temporum ratione“ eine Synthese darstellt von Wissen über die natürlichen Phänomene und exegetischer Auslegung. Als Beispiel seien die Kapitel v und vi, über den „Tag“ sowie über den „ersten Tag der Welt“, herangezogen. In Kapitel v setzt Beda mit einer Definition ein: Der Tag sei „von der Sonne erleuchtete Luft“. Diese Bezeichnung leitet er zunächst etymologisch her und begründet diese Vorgehensweise anschließend durch ein Bibelzitat.34 In vergleichbarer Weise fährt er fort, als er sich daraufhin der eigentlichen und uneigentlichen Redeweise zuwendet. Uneigentlich bedeute „Tag“ nämlich die Anwesenheit der Sonne über der Erde, eigentlich aber umfasse er 24 Stunden, also einen vollständigen Umlauf der Sonne durch den Himmelsglobus. Dieser Sachverhalt lasse sich durch eine Vielzahl christlicher sowie heidnischer Autoren bestätigen, doch genüge als Beleg das Zeugnis Augustins, der die in Lukas 10, 1 und 17 erwähnte Summe der 72 Schüler im übertragenen Sinn – als Produkt aus den 24 Stunden des Tages und der Trinität – erläuterte.35 In dieser Form räsoniert Beda über diverse Aspekte, die in zum Teil recht losem Zusammenhang mit dem Thema ‚Tag‘ stehen, beispielsweise über die Frage, was mit der Sonne geschehe, wenn sie abends untergeht, welche Art von Licht an den drei Tagen leuchtete, bevor die Sonne geschaffen wurde, und dergleichen mehr. Bei diesem Vorgehen verbindet Beda kontinuierlich fachliches Wissen – das er zwar auch Kirchenvätern wie Augustinus entnimmt, oft aber heidnischen Autoren wie Plinius – mit Angaben aus der heiligen Schrift, mit etymologischen, historischen, mythologischen oder sonstigen ErläuterunThe Reckoning of Time S. lxvii–lxxi, ein, mit einem kurzen Blick auf Bedas Eschatologie auf S. lxxi. 34 Beda, De temporum ratione cap. v, 2–5 (CCL 123B, S. 283): „Dies est aer sole illustratus, nomen inde sumens quod tenebras disiungat ac dividat. Nam cum in primordio creaturarum tenebrae essent super faciem abyssi, dixit Deus: fiat lux et facta est lux […]“, unter Rückgriff auf Gn 1, 1–4; als Vorlage für die etymologische Herleitung nennt Jones den Hexaemeronkommentar des Basilius (vi, 8), Isidors Etymologien (v, 30) und eine hier nicht thematisierte irische komputistische Schrift, die Beda regelmäßig als Vorlage heranzog; vgl. hierzu Wallis, The Reckoning of Time S. xxii–xxvi, die insbesondere Bedas irische Vorlagen mit Blick auf ihren Einfluß auf Beda bespricht. 35 Beda, De temporum ratione cap. v, 6–18 (CCL 123B, S. 283 f.): „Vulgus enim omne diem solis praesentiam supra terras appellat. Proprie autem dies xxiiii horis, id est circuitu solis totum orbem lustrantis impletur. […], quod multorum quidem et nostrorum et saecularium literarum testatur auctoritas. Sed nos unius patris Augustini testimonium ponere sat est. Dicit in libro quaestionum Euangelii secundo […] intimatur“.
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gen sowie mit bibelexegetischen Auslegungen in aller Regel durch patres wie Ambrosius, Augustinus und Basilius. Damit aber konfrontiert er die verschiedenen ihm bekannten und verfügbaren Traditionen und Wissensbereiche miteinander und bringt sie in einer Weise miteinander ins Gespräch, daß sie sich gegenseitig erhellen. Besonders deutlich wird diese hermeneutische Verschränkung verschiedener Traditionen im folgenden sechsten Kapitel von „De temporum ratione“, das der Frage nach dem ersten Tag der Welt gewidmet ist. Beda geht sehr behutsam und ausführlich auf diese Frage ein, was wohl auch darin begründet liegt, daß von ihrer Beantwortung schon traditionell die Datierung des Frühjahrsäquinoktiums abhängt. Dieses aber ist von zentraler Bedeutung für die Osterfestbestimmung.36 Er weist darauf hin, daß zwei Terminvorschläge für den ersten Tag der Welt im Raum stehen, die achten sowie die zwölften Kalenden des April. Die Vertreter beider Varianten, fährt er fort, stützten sich bei ihrer Argumentation jeweils auf das Äquinoktium. Während aber die einen meinten, der erste Tag der Welt und das Äquinoktium fielen zusammen – da Gott ja am Anfang Licht und Dunkelheit in gleiche Teile geschieden habe –, gingen die anderen davon aus, daß erst mit der Erschaffung der Himmelsleuchten, also am vierten Tag, das Äquinoktium eingetreten sei. Zu dieser Auffassung neigt auch Beda, der zur Bekräftigung auf Genesis 1, 14 verweist: Gott habe nämlich den Beginn der Zeit mit der Erschaffung der Himmelsleuchten festgesetzt, als er bestimmte „ut sint in signa, et tempora, et dies, et annos“. Der erste Tag der Welt war also an den fünfzehnten Kalenden, das Äquinoktium aber an den zwölften, dem vierten Tag der Welt, an dessen Abend zudem der erste Vollmond eintrat.37 Diese Fortführung des Gedankens – hin zu der Frage, ob der Mond bei seiner Erschaffung voll war – steht ebenfalls vor einem theologisch höchst relevanten Hintergrund. Denn auf der einen Seite berühren Bedas Überlegungen den gesamten Themenkomplex des Schöp36 Hierzu auch Wallis, The Reckoning of Time S. xix, die darauf hinweist, daß die Frage nach der Datierung des Frühjahrsäquinoktiums für Beda auch deswegen wichtig war, weil von diesem Termin die Gültigkeit des von ihm favorisierten Osterberechnungsmodus abhing. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die oben angesprochenen Osterkontroversen, die sich ja unter anderem daran entzündeten, daß die unterschiedlichen Äquinoktiumsdatierungen zu divergierenden Osterterminen führten und damit die unitas ecclesiae in zentraler Hinsicht in Frage stellten. 37 Das Zitat in Beda, De temporum ratione cap. vi, 12 f. (CCL 123B, S. 291); die Schlußfolgerung cap. vi, 78–81 (ebd. S. 293 f.).
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fungswerkes und dessen Verständnis, auf der anderen Seite aber sind sie von zentraler Bedeutung hinsichtlich der theologischen Reflexionen zu Ostern unter zeitlicher Perspektive, also insbesondere bezüglich seiner Datierung. Entsprechend faßt Beda diese Zusammenhänge in den Blick, wenn er im folgenden die astronomischen Konstellationen, das Sechstagewerk, die Osterdatierungsregeln, Ostern selbst, aber auch das nachösterliche kirchliche Geschehen in ihrer typologisch-allegorischen, moralischen und anagogischen Bezogenheit aufeinander transparent macht. Der Mond beispielsweise war am Abend des vierten Tages voll, da der Schöpfer, also die Gerechtigkeit selbst, nie etwas Unvollkommenes schaffen würde. Mit seinem Aufgang habe er zugleich den Beginn von Ostern geheiligt. Auch die Ostergrenze besitze mit ihren Bestimmungen zum Frühjahrsäquinoktium und zum Vollmond einen allegorischen Sinn, denn die Sonne bezeichne das ewige und wahre Licht, das den ganzen Menschen erleuchte, der Mond und die Sterne aber, die über kein eigenes Licht verfügen, den Körper der Kirche sowie jeden einzelnen Heiligen.38 In dieser Weise setzt Beda seine Ausführungen fort, bleibt dabei allerdings, dem theologisch zentralen Thema entsprechend, gegenüber dem zuvor skizzierten fünften Kapitel fast ausschließlich im bibelexegetischen Horizont. Diese Verknüpfung von Fachwissen und vielschichtig deutender Auslegung als solche ist im Kontext von Enzyklopädien zum Naturganzen nichts Neues. Sie kennzeichnet beispielsweise das bereits erwähnte „De natura rerum“ Isidors, das Beda ja schon in formaler Hinsicht als Vorbild diente.39 Allerdings treten die beiden Komponenten in Bedas 38 Zum Vollmond Beda, De temporum ratione cap. vi, 24–28 (CCL 123B, S. 291), zur Heiligung des Osterbeginns: „[…] initiumque paschale suo consecrauit exortu“ (ebd. Z. 28); zur allegorischen Bedeutung der Sonne cap. vi, 37–39 (ebd. S. 292), unter Rückgriff auf Io 1, 9: „Erat lux vera quae inluminat omnem hominem venientem in mundum“; zu Mond und Sternen cap. vi, 40–44 (ebd. S. 292); hieraus zieht er, ebd. 44– 50, den Schluß, beim Begehen des höchsten Festes der Christenheit müsse zwingend Christus (für den ja die Sonne steht) der Kirche (Mond und Sterne) vorausgehen, denn „si plenilunium paschale ante aequinoctium fieri posse contenderit, ostendat uel ecclesiam sanctam priusquam saluator in carne ueniret extitisse perfectam, uel quemlibet fidelium ante praeuentum gratiae illius aliquid posse supernae lucis habere“. 39 Bereits Isidors „De natura rerum“ zeichnet sich durch diese charakteristische Dualität von sachbezogener Wissenschaft und exegetischer Deutung aus. So folgt Isidor in der Konzeption seines Werkes zwar treu antiken Kosmographien hinsichtlich der Gliederung des Stoffes sowie mit Blick auf das Bemühen, vielfältiges Fachwissen bereitzustellen. Doch verbindet er diese Grundlage mit einer Auslegung, wie sie bis zu seiner Zeit nur von der schriftexegetischen Kommentarliteratur gepflogen wurde. Denn
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Schrift in noch höherem Maße hervor als in ihrer Vorlage und gewinnen dadurch einen systematischen und prinzipiellen Charakter.40 Als Vorbild für Bedas exegetische Ausführungen läßt sich die für Beschäftigungen mit dem Naturganzen traditionelle Gattung der Hexaemeronkommentare ausmachen, und zwar in erster Linie der Kommentar des Ambrosius, aber auch der des Basilius und die Genesiskommentare Augustins.41 Die Praxis, die erörterten Gegenstände in Anlehnung an Hexaemeronkommentare auszulegen, ist im engeren Bereich der Komputistik ebenfalls schon längst bekannt. Exemplarisch sei auf den irischen Anonymus verwiesen, der seinerseits in starker Anlehnung an Isidor ein Lehrbuch „De ratione conpuntandi“ verfaßte, das einige der typologischen Bezüge Isidors sowie anderweitig gängige Auslegungen aufgriff.42 Auch unter diesem Blickwinkel ist Beda nicht ‚innovativ‘. nach der Klärung ihres ‚realen‘ Gehaltes deutet Isidor die von ihm besprochenen Phänomene in ihrer allegorischen Dimension, siehe hierzu Fontaine, Traité de la nature S. 7 f., 12 u. ö. Isidor dürfte mit dieser Praxis paradigmenbildend für die literarische Gattung der Enzyklopädien zum Naturganzen geworden sein. Eine ähnliche Einschätzung vertritt auch Borst, Kalenderreform S. 179f. – Gegenüber Bedas „De temporum ratione“ weist Isidors „De natura rerum“ allerdings das besondere Charakteristikum auf, daß es zudem mit Diagrammen, speziell: mit Kreisdiagrammen versehen ist als zusätzlichen Medien mit exegetischer Funktion; siehe hierzu bes. Obrist, „Le diagramme isidorien“. 40 Zu Bedas Quellen Wallis, The Reckoning of Time S. lxxii–lxxix (zur komputistischen ‚Fachliteratur‘), S. lxxix–lxxxiii (zur sonstigen fachwissenschaftlichen Literatur); vgl. auch den Kommentar zu „De temporum ratione“ von Jones in Bedae opera de temporibus, sowie mit Ergänzungen und Verbesserungen gegenüber Jones jetzt Wallis, The Reckoning of Time, die Kommentare zur Übersetzung von „De temporum ratione“. 41 Zu Bedas exegetischen Vorlagen Wallis, The Reckoning of Time S. lxxxiii–lxxxv; vgl. die Kommentare zu „De temporum ratione“ von Jones sowie von Wallis. 42 Zu „De ratione conputandi“ Walsh /Ó Cróinín, Cummian’s Letter S. 101–105, die Edition S. 113–213. Der irische Anonymus schrieb um 650. Bezüglich der Nähe des Anonymus zu Isidor siehe z. B. cap. xxiv über die „natürliche“ Definition des Tages: „Dies autem a principio operum domini a lumine habebat exordium, ad significandum hominis lapsum“, S. 131, Z. 5–7, als direkte Übernahme aus Isidors „De natura rerum“; cap. xxvi über den Beginn des „natürlichen“ Tages zu Mitternacht: „Media nocte factus est mundus, et in media nocte iterum distruetur“, S. 134, Z. 6f., in Anlehnung an Hieronymus; cap. lxvii über die Frage, in welcher Mondphase der Mond geschaffen wurde: „Dicunt enim ideo plenam factam, quia non decebat ut deus inperfectum aliquid […] faceret […]. Ego autem […] plane dicam, siue primam siue plenam deus fecerit, fecisse perfectam. Ipsarum enim naturarum deus auctor et conditor“, S. 175, Z. 5–10, als wörtliches Augustin-Zitat. – Sehr starke exegetische Tendenzen werden beispielsweise im „Computus Graecorum sive Latinorum“ (seit 703) sichtbar, der zu vielen vergleichbaren Kompilationen auf dem Kontinent anregte, z. B. cap. lvi „De hebdomada“: „[…]. Feria quoque a fando dicta, quasi fari, eo quod in creatione mundi per singulos dies dixit Deus: Fiat. […]“ (PL 129, Sp. 1300C); cap. lvii „Item de hebdomada“: „[…]. Et idcirco septem diebus hebdomada completur, quoniam scilicet universitatem creaturarum 6 diebus Deus operatus est, in septimo requievit. […]“ (ebd.
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Das Neuartige an „De temporum ratione“ liegt vielmehr in seinem umfassenden Handbuchcharakter und der traktatartigen Geschlossenheit der Schrift. Mit diesen Merkmalen hebt sich Bedas Hauptwerk zur Zeitweisung auf der einen Seite von der bis dahin üblichen komputistischen Literatur ab. Denn diese zeichnet sich durch ihren unselbständigen und hilfsmittelartigen Charakter aus, bemühten sich die Komputisten bislang doch in erster Linie darum, funktionstüchtige, zyklische und damit prinzipiell wiederverwendbare Tafeln zu konstruieren, diese in Begleittexten zu erklären und in Briefen zu verteidigen. Zu einer regelrechten wissenschaftlichen Disziplin wurde die Komputistik erst jetzt, dank Beda, der sie in einen in sich schlüssigen Gesamtzusammenhang fügte.43 Auf der anderen Seite äußert sich die Neuartigkeit von „De temporum ratione“ in der Konsequenz, mit der Wissen über natürliche Dinge und Exegese zu einer engen Synthese verschränkt sind. Auf diese Weise werden alle Gegenstände der Erörterung nicht isoliert für sich, sondern vor ihrem ‚natürlichen‘44 Deutungshorizont diskutiert.45 Diese durchgängige Synthese kennzeichnet erstmals „De Sp. 1301B); cap. lxx „De die“: „[…]. Ab ortu solis Hebraei computant propter physicam scientiam rerum, quia natura creaturarum a lumine initium sumpsit. Prima enim die condidit lucem testimonio Moysis: Fiat lux, et facta est lux. […]. Romani a media nocte incipiunt, sequentes illud quod scriptum est: Media nocte factus est mundus, et media nocte iterum destructur. Et in Evangelio: Media nocte clamor factus est, et reliqua. Et iterum: Sicut fur in nocte, ita veniet. […]“ (ebd. Sp. 1307B–C), u. ö. Zum „Computus Graecorum sive Latinorum“ Borst, Kalenderreform S. 181f. (m. Anm. 21). 43 Wie Wallis, The Reckoning of Time S. xvii, betont, war die kalendarisch-komputistische Literatur in der Zeit vor Beda zwar reichhaltig, aber „both fragmented and partisan in character“. Die meisten Texte gruppierten sich um Ostertafeln mit künftigen Osterterminen und dem Anspruch auf Zyklizität, zu deren Erläuterung und Verteidigung gegen andere, konkurrierende Tafeln sie dienten. Obwohl auch im Mittelpunkt von „De temporum ratione“ eine bestimmte Form von Ostertafel steht – die dionysianischen Ostertafeln auf der Grundlage des alexandrinischen 19jährigen Zyklus –, sind sein Erscheinungsbild und sein Inhalt doch deutlich anders: „So lucid, thorough and well-organized was Bede’s exposition, so easy was it to teach from and learn from, that it can be said to have not only guaranteed the ultimate success of Dionysius’ system, but to have made computus into a science, with a coherent body of precept and a technical literature of its own“. – Zum bereits frühchristlichen Bemühen, zyklische Berechnungsgrundlagen des Ostertermins zu finden ebd. S. xx. 44 Der Begriff der ‚Natur‘ wird in diesem Fall in einem Sinn verwendet, der eine bestimmte Konnotation des mittelalterlichen Verständnisses des Untersuchungszeitraums andeuten soll. Demnach ist der ‚natürliche‘ Ort – und damit zugleich: Deutungsrahmen – eines Dinges derjenige, den es qua Geschöpf einnimmt. Dieser Zusammenhang spielt im vorliegenden Fall insofern eine doppelte Rolle, als die fraglichen Gegenstände ja einerseits geschaffene, andererseits aber exakt jene des Sechstagewerks der Genesis sind. 45 Wallis, The Reckoning of Time S. lxiv, hält fest, Bedas Ziel „was nothing less than a
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temporum ratione“ und führt zu charakteristischen Entwicklungen in der zeitlich folgenden komputistischen Literatur.46 Wie eben am Beispiel von „De temporum ratione“ gezeigt wurde, gewinnt die neuentstandene Disziplin ‚Komputistik‘ damit zugleich eine sehr wirkmächtige Vielschichtigkeit: Sie verhandelt das Thema ‚Zeit‘ gleichermaßen als „technische Zeitrechnung, liturgische Zeitordnung, historische Zeitwertung und theologisch-philosophische Zeitbegründung“ und transzendiert so von Anfang an die technisch-funktionale Ebene.47 Aufgrund seiner breiten Rezeption in zeitlicher Folge auf die karolingischen Reformen ist Bedas „De temporum ratione“ große Bedeutung für alle späteren komputistisch-astronomischen Zeugnisse zu attestieren, nicht nur für den traktatartigen Quellentyp. Als eigenständige Schrift entstanden nimmt sie – ganz oder in Teilen48 – einen regelmäßigen Platz in den komputistisch-astronomischen Sammlungen seit der Karolingerzeit ein und regte zu verschiedenen Nachahmungen an.49 Bekannt sind heute etwa 240 Handschriften, die den Text zumindest
new genre of writing which would integrate computus, its astronomical and cosmological context, and its relation to historical time. Moreover, his new science of time would be an explicitly Christian one, based on Christian sources and useful for Christian purposes“. 46 Vgl. hierzu Kapitel 2 der vorliegenden Arbeit. 47 Das Zitat aus Borst, Kalenderreform S. 184. – Auch Wallis, The Reckoning of Time S. lxxi, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn sie mit Blick auf „De temporum ratione“ konstatiert: „The calculation of Easter merges into a meditation upon the last things, a spiritual exercise whose purpose was to rise through the contemplation of time to the perception of eternity. Chapter 71 [i.e. der eschatologische Ausblick, NG] brings The Reckoning of Time to a close by underscoring the book’s essential character as a vision of eternity through time“. 48 Zum Usus, einzelne Kapitel aus Bedas „De temporum ratione“ zu entnehmen und zu tradieren vgl. Cordoliani, „L’évolution du comput ecclésiastique“ S. 291–293; eine eklektische Form der Rezeption betont Wallis, The Reckoning of Time S. lxxxvii– xcii. – Zur Rezeption von Bedas Hauptwerk in den von Borst untersuchten und sogenannten „Kalenderhandschriften“ Borst, Kalenderreform S. 501 f. 49 Aufgrund seiner engen inhaltlichen Anlehnung an seine Vorlage läßt sich als Beispiel hierfür Hrabans „De computo“ anführen, das Bedas Text lediglich formal in ein Lehrer–Schüler-Gespräch überführt. Diese Schrift blieb freilich ohne große Resonanz. Zu Hrabans komputistischem Hauptwerk Stevens, „Introduction to Hrabani ‚De computo liber‘“ S. 165–198 (Einordnung der Schrift in ihren Kontext, inhaltlicher Überblick, Übersicht über die Handschriften sowie editorische Hinweise), S. 199–321 die Edition. – Zur komputistischen Literatur im zeitlichen Anschluß an die karolingischen Reformen in ihrem Verhältnis zu Bedas „De temporum ratione“ Borst, Kalenderreform S. 500–506. Daß die Komputistik nach Beda vornehmlich damit beschäftigt gewesen sei, „De temporum ratione“ zunächst nachzuahmen und später den Versuch zu unternehmen, die darin formulierte Zeitordnung zu ersetzen, bereits auf S. 184.
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teilweise bieten.50 Von den 104 Manuskripten, die Jones seinerzeit zum Erstellen der Edition untersuchte, sind allein 45 in einem Zeitraum bis zu 100 Jahren nach der Vollendung des Werkes entstanden, jedoch setzt die eigentliche Überlieferung erst runde 70 Jahre nach dem Entstehen der Schrift ein.51 Die Phase mit der stärksten Rezeption fällt damit auf die Karolingerzeit selbst, danach ist ein sukzessives Abklingen zu beobachten.52 Allerdings wurde „De temporum ratione“ bis zur gregorianischen Kalenderreform und noch darüber hinaus weiterkopiert beziehungsweise später dann gedruckt.53 Ein wichtiger Grund für die deutliche Zunahme an komputistischastronomischer Literatur in der Karolingerzeit dürfte in dem Umstand liegen, daß die Beschäftigung mit der Komputistik gleichsam ‚von oben‘ verordnet wurde. Denn erst durch Karl den Großen war der computus zum offiziellen Unterrichtsfach in den Kloster- und Kathedralschulen geworden.54 Im Rahmen dieses Komputistikunterrichts spielte auch „De temporum ratione“ eine bedeutende Rolle, wie sich an der großen Zahl überlieferter Handschriften dieser Zeit zeigt.55 Daß es 50
In Anlehnung an die Forschungsergebnisse, die Jones, Bedae opera de temporibus S. 140–161, und wieder Ders., Bedae opera didascalica S. 242–256, bietet, unter Berücksichtigung neuerer Forschung Wallis, The Reckoning of Time S. lxxxv–xcii; Borst, Kalenderreform S. 501–506, der S. 501 sogar von insgesamt etwa 250 Handschriften spricht (seiner Auskunft zufolge aufgrund weiterer Handschriftenfunde). 51 Die vollständige Liste in Jones, Bedae opera didascalica S. 242–256; bekannt sind heute lediglich zwei Abschriften älteren Datums, wie Jones, „Bede’s Place“ S. 268, betont. 52 Jones, „Bede’s Place“ S. 270, nennt als intensivste Rezeptionsphase die Zeit zwischen 800 und 950. – Etwas differenzierter hierzu Wallis, The Reckoning of Time S. xcvi, die zu der Einschätzung gelangt, „although the number of manuscripts peaked in the Carolingian period, there was, in fact, no diminution of interest in either computus or Bede’s treatise“. – Borst, Kalenderreform S. 185, betont den Umstand, daß die auf uns gekommenen vollständigen Exemplare von „De temporum ratione“ sämtlich auf dem europäischen Festland und frühestens seit 800 entstanden sind, wie er schlußfolgert: im Dienste der karolingischen Kalenderreform. 53 Hierzu Wallis, The Reckoning of Time S. lxxxviii; einen ähnlichen Rezeptionsverlauf skizziert Borst, Kalenderreform S. 501 f. 54 Siehe hierzu die bereits eingangs zitierte Aufforderung der „Admonitio generalis“, „[…] psalmos, notas, cantus, compotum, grammaticam“ zu unterrichten. 55 Zu diesem Schluß kommt Jones, „Bede’s Place“ S. 270; ebd. S. 271 arbeitet Jones heraus, daß und inwiefern Bedas Lehrbücher gut zum Programm der „Admonitio“ passen. – Zum Schulbuchcharakter von „De temporum ratione“ Wallis, The Reckoning of Time S. xxxi–xxxiv; vgl. außerdem die Rezeption von „De temporum ratione“, die am plastischsten den intensiven Schulgebrauch des Werkes erkennen läßt, ebd. S. lxxxv– xcvii (zu den Handschriften und Glossen); ein weiteres Beispiel sind die komputistischastronomischen Anthologien, die „De temporum ratione“ häufig ganz oder in Teilen enthalten und die im folgenden Hauptteil näher untersucht werden.
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sich bei diesen Textzeugen tatsächlich um Handschriften handelt, die im Unterricht verwendet wurden, belegen der Forschung zufolge verschiedene Modifikationen und Hinzufügungen gegenüber dem Originaltext, beispielsweise die Umstellung des urspünglichen annus praesens auf das aktuelle Jahr, dem die entsprechende Kopie zuzurechnen ist, oder das Hinzufügen weiterer argumenta zu Bedas ursprünglichen Kapiteln.56 Im Zuge seiner intensiven Rezeption im 9. und 10. Jahrhundert werden jedoch charakteristische Veränderungen im Umgang mit Bedas „De temporum ratione“ sichtbar. Diese lassen sich in erster Linie auf konzeptionelle Verschiebungen zurückführen, die sich im karolingischen Wissenschaftsverständnis und infolge dessen im Schulwesen selbst abzeichnen. Begründet liegen diese Verschiebungen in der Neufundierung des Schulunterrichts an den Kloster- und Kathedralschulen auf der Grundlage der septem artes liberales. Den konzeptionellen Rahmen dieser Bildungskonzeption formulierte Alkuin in seiner programmatischen Schrift „Disputatio de vera philosophia“, die in den folgenden Jahrhunderten zur Herausbildung eines spezifischen, christlich konnotierten Bildungsbegriffes im Bereich des lateinischen Abendlandes führte.57
56 Diese Einschätzung vertritt Wallis, The Reckoning of Time S. lxxxix; sie folgt hierin Jones, „Bede’s Place“ S. 270 u.ö; insgesamt besteht in der Forschung Einigkeit darüber, daß Codices wie die fraglichen komputistisch-astronomischen dem Schulgebrauch dienten, siehe über die genannten Autoren hinaus beispielsweise Borst, Kalenderreform S. 184f., 323 f., 538f., 541 f. u. ö. 57 Nach den heute noch verfügbaren Textzeugen fand die „Disputatio“ ihre stärkste Rezeption gleich im 9. Jahrhundert, siehe hierzu Clavis S. 162 f. (mit insgesamt zehn Handschriften aus dieser Zeit). In fast allen Manuskripten geht die „Disputatio“ der „Ars grammatica“ unmittelbar voraus, muß aber als eigenständiges Werk betrachtet werden, da sie sich – im Unterschied zur „Grammatik“ – auf das Studium aller sieben Künste bezieht. Wie Alkuins „De dialectia“ und seine „Disputatio de rhetorica“ war auch die „Ars grammatica“ – und mit ihr die einleitende „Disputatio de vera philosophia“ – „très répandu dans de nombreuses écoles […] pour l’enseignement des disciplines du trivium“, Clavis S. 21. – Zum Aufschwung der artes seit dem 9. Jahrhundert exemplarisch d’Alverny, „La sagesse et ses sept filles“; Edelstein, Eruditio und sapientia; Worstbrock, „Translatio artium“; Koch, Artes liberales; Arts libéraux; Illmer, Art. „Artes liberales“ in TRE 4 (1976), S. 156–171; Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena; Ders., „‚Philosophia‘ im Bildungswesen“.
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1.3. Das Konzept der septem artes liberales 1.3.1. Alkuin und die „Disputatio de vera philosophia“ Alkuin wurde um 730 / 735 in Northumbrien geboren, also in derselben Gegend wie seinerzeit Beda und in zeitlicher Nähe zu dessen Todesjahr. Seine Erziehung genoß er in der Kathedralschule in York unter Egbert und Ælbert, beide noch Schüler Bedas. York zeichnete sich zu dieser Zeit sowohl durch seine umfangreiche Bibliothek, als auch durch seinen Ruf als bedeutendste Bildungsstätte wohl im ganzen christlichlateinischen Abendland aus. Im Anschluß an seine Ausbildung lehrte Alkuin dort selbst, seit 766 als Leiter der Schule. 781 fand die Begegnung mit Karl dem Großen in Parma statt, die zur Umsiedelung Alkuins ins Frankenreich führte. Er wurde Leiter der Hofschule und einer der engsten Berater Karls, nicht nur in kirchlichen Angelegenheiten. Seit 796 wirkte er dann als Abt in Tours, wo er 804 starb.58 Alkuins Werk ist ähnlich weit gefächert wie das Bedas, spiegelt allerdings zu einem großen Teil seine praktisch-didaktische Tätigkeit an der Hofschule. Darüber hinaus liegen heute ein umfangreiches dichterisches Werk Alkuins vor, ein reiches Briefcorpus, seine wirkmächtige Bibelrevision, Kommentare zu Bibeltexten, liturgische Texte sowie die große dogmatische Schrift „De fide sanctae et individuae trinitatis“. Neben diesen den Gepflogenheiten seiner Zeit entsprechenden Zeugnissen läßt sich ein ungewöhnliches Interesse an mathematischen Fragen sowie an komputistisch-astronomischen Problemen erkennen. Während letzteres sich in erster Linie in Alkuins Briefwechsel mit Karl dem Großen artikuliert, findet nach heutiger Forschungsmeinung ersteres Ausdruck in den „Propositiones ad acuendos iuvenes“.59 58 Einen breiten Überblick über Alkuin mit eingehender Besprechung der verfügbaren Quellen bietet Bullough, Alcuin, zur Biographie (und der Rechtfertigung der biographischen Herangehensweise) bes. S. 3–124; Einblick in verschiedene Facetten der Persönlichkeit Alkuins und in sein Umfeld gewährt der Sammelband Houwen /MacDonald, Alcuin of York; zur knappen Information Heil, Art. „Alkuin“, in TRE 2 (1978), S. 266–269, der auf die Quellen hinweist, die Aufschluß über die Biographie des Angelsachsen geben; siehe auch nach wie vor Manitius, Geschichte Bd. 1 S. 273–277; ferner Brunhölzl, Geschichte Bd. 1 S. 268. 59 Zum Werk Alkuins ausführlich Bullough, Alcuin; Heil, Art. „Alkuin“, in TRE 2 (1978), S. 269–273; Manitius, Geschichte Bd. 1 S. 277–288; Brunhölzl, Geschichte Bd. 1 S. 268–286; zum komputistisch-astronomischen Briefwechsel mit Karl Springsfeld, Alkuins Einfluß, insbes. S. 33–61; ebd., insbes. S. 62–90 u. ö. zu weiteren komputistischastronomischen Werken, als deren Autor Alkuin diskutiert wurde. – Zur Autorschaft
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Seine hohe Bedeutung gewinnt Alkuins Schaffen aufgrund seiner Rolle im Rahmen der Bildungsreformen Karls des Großen. Dank seiner Stellung am Hofe Karls bot sich ihm die Gelegenheit, in umfassender Weise bei dem Reformwerk mitzuwirken, als dessen spiritus rector er gemeinhin gilt. Sein Einfluß schlägt sich in besonderem Maße in der schon erwähnten „Admonitio generalis“ von 789 nieder, doch wurde Alkuin auch im Bereich des Gottesdienstes, der Mission und der Vereinheitlichung und Pflege von Schrift und Sprache tätig.60 Von zentralem systematischem Interesse für die vorliegende Arbeit ist die schon erwähnte „Disputatio de vera philosophia“, die Alkuin seiner „Grammatica“ als allgemeine Einleitung in die sieben Künste voranstellte. Er entwickelt dort das ‚theoretische Programm‘ dessen, was mittels der Reformen als schulischer Standard etabliert werden sollte. Diesem Manifest und seiner Umsetzung in Realpolitik dürften die artes ihren Aufschwung seit dem 9. Jahrhundert in hohem Maße verdanken.61 Alkuins bezüglich der „Propositiones“ Folkerts, „Die Alkuin zugeschriebenen ‚Propositiones‘“. 60 Allgemein zu Alkuins Einfluß auf Karl den Großen und das Reformwerk Brunhölzl, Geschichte Bd. 1 S. 268; zur Weiterwirkung Bullough, „Alcuin’s Cultural Influence“, der sich auf die handschriftliche Verbreitung der Werke Alkuins stützt; zur Bedeutung des Angelsachsen beim Durchsetzen der Bildungsreformen Diem, „The Emergence of Monastic School“. 61 Die „Disputatio“ fand bislang verhältnismäßig geringes Interesse von philosophiehistorischer Seite. Ihre programmatische Bedeutung im Zusammenhang mit Karls Bildungsreformen hob schon Brunhölzl, „Bildungsauftrag“ S. 35 und wieder Ders., Geschichte Bd. 1 S. 271, hervor; er betont, Alkuin behandele „die grundsätzlichen Fragen der Bildung und des Unterrichts“ und versuche, „der Bildung einen metaphysischen Sinn zu geben und von dort aus Begründung und allgemeine Richtlinie für Inhalt und Aufbau des Unterrichts, für die innere Haltung der Schüler und die Anforderungen, die an den Lehrer zu stellen sind, zu gewinnen“; die Parallelen zwischen dem Reformprogramm der „Admonitio generalis“ und der „Epistola de litteris colendis“ sowie der „Disputatio“ arbeitet Alberi, „The Better Paths of Wisdom“, heraus, die außerdem auf der Grundlage eines Vergleichs mit Alkuins Briefen die Kohärenz des Denkens Alkuins mit Blick auf die der „Disputatio“ wie den übrigen Reformschriften zugrunde liegende Konzeption aufzeigt. – Zur konzeptionellen Nähe zwischen der „Disputatio“ und der „Admonitio generalis“ sowie besonders der „Epistola de litteris colendis“ siehe auch Diem, „The Emergence of Monastic School“, der sein Augenmerk auf Alkuins Einfluß auf die normative Seite der karolingischen Reformpolitik richtet. – Eine detaillierte Studie zu Alkuins Quellen bietet Courcelle, „Les sources“; erst Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 23–38, setzte sich intensiv aus einer philosophiehistorischen Perspektive mit der Schrift auseinander. Seither in Anlehnung an diesen Dechant, Die theologische Rezeption der Artes. – Der hier skizzierte Überblick über den Text folgt in seinen Grundzügen den Inhaltsreferaten von Brunhölzl, „Bildungsauftrag“ S. 33–35, und Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena, der sowohl eine ausführliche Inhaltsangabe der einzelnen Abschnitte bietet (S. 25–28), als auch deren Besprechung (S. 28–35);
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Die „Disputatio“ liefert nicht nur die formale Wissenschaftseinteilung, sondern auch den konzeptionellen Rahmen, in dem ab sofort kunstfertig nach Erkenntnis gesucht wird. Infolge dessen eignet sie sich umgekehrt als Interpretament, um die weiteren Entwicklungen im Schul- und Wissenschaftskontext zu deuten, die in den hier thematisierten quadrivialen Zeugnissen ihren Niederschlag fanden. Zu denken ist in diesem Zusammenhang in erster Linie an das zunehmende Ausgreifen nach weiterreichenden, ‚neuen‘ Wissensbestandteilen, an den Rückgang an bibelexegetisch geprägten Ausdeutungen sowie an das Auseinandertreten von Ausführungen zum Wissen über die natürlichen Dinge und auslegenden Partien. Angesichts dieser Bedeutung soll Alkuins „Disputatio“ daher im folgenden vorgestellt und auf ihre konzeptionellen Vorgaben hin untersucht werden. 1.3.2. Alkuins „Disputatio“: Zum Inhalt 1. Bildungsziel. Die „Disputatio“ ist als ein Dialog zwischen einem Lehrer und mehreren Schülern gestaltet, wobei die Schüler stets mit einer Stimme sprechen.62 Ausgehend von der Feststellung, daß die Philosophie die Lehrmeisterin aller Tugenden sei, entzündet sich das Gespräch an der doppelten Frage der Schüler, welches der Inbegriff ihrer Lehre sei und mit welchen Schritten man dorthin gelangen könne.63 Die „Disputatio“ gibt sich mit diesem Ausgangspunkt als eine Reflexion über das Bildungsprogramm zu erkennen. Darüber hinaus wird bereits in diesen Eingangsbemerkungen sichtbar, daß diesem Programm eine hierarchische Struktur vorausgesetzt ist. Der Zielpunkt ist die philosophia als „omnium virtutum magistra“, die sich nur schrittweise aufsteigend, „quibus gradibus ascendi“, erringen läßt. Offen ist an dieser Stelle noch die inhaltliche Bestimmung dieses formal vorgegebenen Zielpunktes sowie der Weg dorthin. Weiterhin legt diese Eingangspassage ein zentrales Charakteristikum des Bildungskonzeptes frei: die selbstverständliche Verschränkung von Theorie und Praxis. Die Philosophie wird als Lehrmeisterin der Tugenden vorgestellt, nicht der Wissenschaften. Wie der Fortdie Gliederung des vorliegenden Kapitels entspricht nicht der der genannten Beiträge, sondern beruht auf der hier verfolgten Fragestellung. 62 Zur gewählten Dialogform Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 24, mit weiterführenden Literaturhinweisen in Anm. 14. 63 Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 849C): „[…] quod philosophia esset omnium virtutum magistra, […] nos […] scire cupientes quae esset hujus magisterii summa, vel quibus gradibus ascendi potuisset ad eam“.
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gang des Dialogs bestätigt, liegt diesem Kennzeichen die Einschätzung zugrunde, daß die Einsicht in die Wahrheit und tugendhaftes Handeln die beiden Seiten derselben Medaille sind.64 2. Weisheitsbegriff. Nachdem das Ziel des Bildungsgeschehens zumindest formal als philosophia oder sapientia bestimmt wurde, dient der folgende Teil der „Disputatio“ ihrer näheren Begriffsbestimmung.65 Dieser Teil geht seinerseits von den wie selbstverständlich vorausgesetzten Annahmen aus, daß zum einen nur dauerhafter Besitz ein wahres Gut darstelle und somit erstrebenswert sei66 und zum andern der menschliche Geist von Natur aus mit dem „Licht der Wissenschaft“ begabt sei.67 Hieraus wird mittelbar der Schluß abgeleitet, daß sich der Schüler regelmäßiger Übung unterziehen müsse und dafür der Leitung durch einen Lehrer bedürfe.68 Zusammenfassend läßt sich daher bis zu diesem Punkt der Gedankenführung das Bildungsziel als jene Weisheit charakterisieren, die derjenige, der sie erwirbt, dauerhaft besitzt und die somit zugleich ein Gut darstellt.69 Diesen Vorgaben folgt der weitere Gesprächsverlauf, der in den philosophiegeschichtlich traditionellen Kontext einer Diskussion der wahren und der falschen Güter gestellt wird.70 Vgl. hierzu darüber hinaus Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 853A–B), wo die Schüler bekunden, die Weisheit des Lehrers an dessen Tugendhaftigkeit erkannt zu haben; auch ebd. Sp. 854A, wo klar zum Ausdruck kommt, daß der Zweck der Unterweisung in den sieben freien Künsten ein praktischer ist: Die Schüler sollen in die Lage versetzt werden, den Glauben zu verteidigen und die Wahrheit zu verkünden. 65 Zur Gleichsetzung von philosophia und sapientia siehe Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 850A): „Sic animi vigor acceptabilis est sapientiae […]. […] ut in ea proficere valeatis philosophia […]“. 66 Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 850A): „[…] philosophia, quae numquam […] deserit possidentem“. 67 Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 850B): „Naturale itaque est mentibus humanis scientiae lumen […]“. 68 Der Gedankengang wird am Vorgang des Feuererzeugens illustriert: Wie der Funke mühsam aus dem Feuerstein zu schlagen sei, so müsse auch der Lehrer beharrlich den Geist der Schüler üben, Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 850A–B). 69 Daß Alkuin die Frage nach der Weisheit in den Horizont einer Erörterung der guten und falschen Güter stellt, läßt sich bereits dem frühen Hinweis entnehmen, sie sei unter den weltlichen Reichtümern der einzige, der seinen Besitzer nie verlasse, Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 849C): „[…] philosophia […] sola fuisset quae inter omnes saeculi divitias nunquam miserum se possidentem reliquisset“. 70 Dieser Teil der „Disputatio“ ist in besonders hohem Maße von Alkuins wichtigster Vorlage, der „Consolatio philosophiae“ des Boethius beeinflußt. Die folgenden annähernd zwei Spalten des Migne-Druckes sind im Grunde ein sehr kondensiertes Referat des dritten Buches (pr. 2 und 3) der „Consolatio philosophiae“, ergänzt v. a. 64
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3. Wahre und falsche Güter. Zunächst weist der Lehrer mit Nachdruck darauf hin, daß der Weg zur Weisheit die richtige innere Einstellung des Schülers voraussetze. Sie sei – so der Lehrer – Gottes wegen, des Wissens über die Dinge wegen, für die Reinheit der Seele, zum Erkennen der Wahrheit und schließlich um ihrer selbst willen zu erstreben.71 Dieser Aufzählung stellt Alkuin eine Liste der ‚klassischen‘ falschen Güter gegenüber, die ihrerseits nicht zum Erwerb der sapientia und mit ihr der beatitudo führten.72 Aufgrund dieses Rückgriffs auf die vor allem boethianisch geprägte philosophiegeschichtliche Tradition versieht Alkuin seinen Weisheitsbegriff mit ganz bestimmten Attributen: Die sapientia ist demnach unter anderem gekennzeichnet von Glückseligkeit, Stabilität und Ewigkeit und für den Menschen nur über den Weg in sein Inneres erreichbar.73 Für die Begriffsbestimmung von philosophia ergeben sich aus dem Referierten somit verschiedene Präzisierungen. Zum einen läßt sich den Ausführungen entnehmen, daß die erstrebte Weisheit theologisch konnotiert ist: Der Schüler soll sie „Gottes wegen“ lieben. Damit wird bereits an dieser Stelle der Gedankenführung deutlich, daß Alkuin seine philosophia im Vergleich mit seiner Hauptvorlage, der „Consolatio philosophiae“, in spezifischer Weise vereindeutigt: Sie wird zur christlichen Weisheit.74 Zum andern wird offendurch lib. 2, pr. 4 und 5, vgl. hierzu die Nachweise in Courcelle, „Les sources“ S. 295– 299; zur „Consolatio philosophiae“ als Hauptquelle ebd. S. 294; als solche ausgemacht hatte diese bereits Brunhölzl, „Bildungsauftrag“ S. 36–38. 71 Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 850B): „Est equidem facile viam vobis demonstrare sapientiae, si eam tantummodo propter Deum, (propter rerum scientiam), propter puritatem animae, propter veritatem cognoscendam, etiam et propter seipsam diligatis“ (Klammersetzung durch Migne). 72 Aufgezählt werden menschliches Lob, weltliche Ehren, trügerische Begierden nach Reichtümern, Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 850B–C); unmittelbar darauf folgt der Hinweis, daß letzten Endes die beatitudo das Ziel aller Anstrengungen ist. Auch nach ihr als dem wahren Gut besitze der Mensch eine „natürliche Begierde“. 73 Während der Ausgangpunkt dieser Gegenüberstellung – wie oben referiert – der zu erstrebende dauerhafte Besitz der Weisheit ist, kennzeichnet Alkuin die falschen Güter als vorübergehende, Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 850C): „Quis sanum sapiens haec esse transitoria ignorat?“; unterstrichen wird diese Opposition von wahren und falschen Gütern zudem durch kontradiktorische Adverbialbestimmungen wie ‚innen‘ und ‚außen‘, z. B. ebd.: „Haec enim sibi somniantes veram aliqui felicitatem fore existimant […]“, durch die Kontrastierung von eigenen und fremden Gütern, z. B. ebd. Sp. 851A–B: „dis. Quae sunt propria, vel quae aliena? – mag. Aliena sunt, quae extra quaeruntur, ut divitiarum congregatio: intra, sapientiae decus“, durch die Gegenüberstellung von Vergänglichem, Veränderlichem und Flüchtigem einerseits sowie Ewigem, Unveränderlichem und Beständigem andererseits, z. B. ebd. Sp. 851B–C: „mag. Bene quaeritis, si menentem quaeritis, et non fugientem […]“, und dergleichen mehr. 74 Zur Vereindeutigung der boethianischen philosophia hin zur christlichen Weisheit
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sichtlich, daß der Weisheitsvorstellung ein neuplatonisches Konzept zugrunde liegt, das von einer charakteristischen Gegenüberstellung von disparater, wechselvoller Wirklichkeit einerseits und einfacher, stabiler Transzendenz andererseits gekennzeichnet ist. Noch bevor Alkuin eigens hierauf zu sprechen kommt, läßt sich aufgrund dieses Rückgriffs bereits an diesem Punkt darauf schließen, daß das eigentliche Bildungsziel jenseits des unter Wirklichkeitsbedingungen Erlernbaren liegt. 4. Weisheit als summum bonum. Wahre Weisheit – soviel ist infolge der vorausgehenden Destruktion der falschen Güter klar75 – kann nicht in den irdischen Dingen selbst liegen. Wie nämlich Himmel und Erde einem ewigen Wandel unterliegen, so auch jegliche Schönheit und Nützlichkeit im Bereich der Wirklichkeit.76 An dieser Stelle des Gesprächs leitet Alkuin über zur sukzessiven Entfaltung eines positiv bestimmten Begriffs der Weisheit. Erwartungsgemäß und der philosophiehistorischen Tradition entsprechend treffen auf sie all diejenigen Attribute zu, die sich kontradiktorisch zu jenen der falsa bona verhalten. Den Wendepunkt in der Gedankenführung markiert Alkuin mit der Frage, ob denn der Vater von allem nicht ein einziger sei.77 Damit hebt er die folgenden Ausführungen deutlich von den vorausgehenden ab, die ja im Gegensatz zu dieser Bestimmung von Disparatheit und Vielzahl gekennzeichnet waren. Anders die wahren Güter, die sich dadurch
Courcelle, „Les sources“ S. 302–304, der S. 304 vermutet, daß diese „interprétation christianisante allait permettre à la Consolation d’exercer pendant plusieurs siècles une influence considérable“. 75 Die Reihe der Gegenüberstellungen umfaßt im PL-Druck annähernd zwei der insgesamt knapp fünf Spalten, siehe Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 850B–862A). 76 Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 851C): „Si coelum terraque suis semper vicissitudinibus mutantur, generalis omnium [mortalium] pulchritudo et utilitas; quanto magis cujuslibet rei specialis delectatio transitoria esse necesse est?“. 77 Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 851D): „Nonne unus est omnium Pater?“; formal korrespondiert diese Frage nach dem unus pater dem Geständnis der Schüler, die beatitudo zu lieben (Sp. 850B); während dieses Eingeständnis als Ausgangspunkt diente, die falschen Güter – mit denen eben jene Glückseligkeit nicht zu erlangen ist – zu erörtern, fungiert die Frage nach dem einen Vater einerseits als Schlußpunkt dieser Passage, andererseits als Überleitung zur positiven Bestimmung des unter Wirklichkeitsbedingungen zu Erstrebenden. Wie sich aus dem Kontext ergibt, ist auch der unus pater – anders als in der boethianischen Formulierung, die wohl das Vorbild darstellt – christlich konnotiert, also eindeutig als der Gott des Christentums zu verstehen; die fragliche Boethius-Stelle ist lib. 3, metr. 6, 2 (CCL 94, S. 46): „Vnus enim rerum pater est, unus cuncta ministrat“, vgl. hierzu Courcelle, „Les sources“ S. 299.
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auszeichnen, daß sie im Grunde nur eines sind, nämlich Gott. Nachdrücklich weist Alkuin darauf hin, daß der Weg zu diesem einen, wahren Gut nach innen führen muß. Statt um äußeren Glanz, solle man sich vielmehr um den Schmuck der ewigen Seele bemühen. Unter diesem Schmuck jedoch sei in erster Linie die Weisheit zu verstehen, nach der man am stärksten eifern solle.78 Angesichts dieser Wendung stellt sich allerdings die Frage, mit welcher Berechtigung davon auszugehen sei, daß die Weisheit ewig, „perpetua“, sei. Und noch darüber hinaus: Wenn alle Gegenstände der Wirklichkeit vergänglich sind, warum dann nicht auch das Wissen von ihnen. Diese Einwände – von den Schülern aufgeworfen – nötigen den Lehrer zu einem kleinen Exkurs über die Ewigkeit der Seele und der Weisheit. Nachdem er sich mit seinen Schülern darüber verständigt hat, daß die Seele fraglos ewig sei,79 in dieser Hinsicht also kein Argumentationsbedarf bestehe, leitet er aus dieser Prämisse die Unvergänglichkeit der Weisheit ab: Da die Weisheit die Zierde und Würde der Seele sei, die Seele aber ohne ihre Zierde kaum auf glückliche Weise ewig sein könne, diese Vorstellung jedoch absurd sei, folge daraus, daß nicht nur die Seele, sondern auch ihre Zierde – die Weisheit – ewig sei. Mit diesem Nachweis hält Alkuin die erste der beiden Fragen offensichtlich für hinreichend beantwortet.80 Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 852A): „Quanto melius est interius ornari, quam exterius, animam perpetuam splendore polire. / dis. Quae sunt animae ornamenta [perpetua]? – mag. Primo omnium sapientia, cui vos maxime studere cohortor“; daß es sich bei dem wahren Gut letztlich nur um eines handelt, läßt sich bereits der Eingangsformulierung dieser Passage entnehmen, als der Lehrer mit Bezug auf die final erstrebte beatitudo darauf hinweist, daß dem Menschen das Begehren nach dem wahren Gut (Singular) innewohne, und diesem gegenüber die falschen Güter (Plural) abgrenzt, siehe Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 850B–C). – Vgl. hierzu auch Augustins Gegenüberstellung von uti und frui, siehe bes. Ders., De doctrina christiana i, iii, 3 – i, v, 5 (CCL 32, S. 8f.). Nicht nur identifiziert Augustinus das summum bonum mit Gott als der einzigen res, die man im vollen Wortsinn „genießen“ könne, sondern betont zugleich dessen letztlich unüberbrückbare Transzendenz, aufgrund derer ein Erreichen des summum bonum aus eigenen Kräften unmöglich ist. 79 Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 852A): „mag. Animam putatis esse perpetuam?/dis. Non solum putamus, sed etiam certissime scimus“. 80 Dieser Argumentationsgang in Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 852A–B); die Argumentation wirkt auf den ersten Blick wenig überzeugend, doch liegen ihr verschiedene traditionelle Vorstellungen zugrunde, die Alkuin bei seinen Lesern wohl als selbstverständlich bekannt voraussetzen konnte. Hierzu zählt beispielsweise die argumentativ zentrale Vorannahme, daß die Ewigkeit zwingend Glück für den impliziere, der sie genieße – ein Gedankengang, der ja bereits der Diskussion der wahren und falschen Güter zugrunde liegt. 78
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Von der Bestimmung der Weisheit als größter Zierde der unsterblichen Seele geht Alkuins folgender Gedankengang aus. Aufgrund dieser Definition steht für ihn nun fest, daß ihr Erwerb das Zentrum des menschlichen Strebens zu bilden hat.81 Den Prozeß ihrer Aneignung charakterisiert er allerdings als mühevoll, womit er an eine Metapher zu Beginn der „Disputatio“ anknüpft, mittels derer er auf die erforderliche Beharrlichkeit bei der Unterweisung hingewiesen hatte.82 Daß Alkuin an dieser Stelle dem Zusammenhang von anstrengendem Annäherungsprozeß und dem in Aussicht stehenden, unvergleichlich wertvollen Gut der Weisheit einigen Platz einräumt, läßt sich auf zwei Aspekte zurückführen, die im weiteren Gesprächsverlauf eine wichtige Rolle spielen. Zum einen lenkt er auf diese Weise den Blick auf den Bildungsweg, der zur Weisheit führt und folglich im Rahmen des hier entfalteten Bildungsprogramms noch zu thematisieren ist. Dieser Weg bildet mit seinen Mühen das korrespondierende Gegenstück zur eingangs konstatierten naturalen Anlage des Menschen.83 Zum andern leitet Alkuin damit zu dem – mittels des Bildungsweges erreichbaren – Ziel über, das sich in systematisch relevanter Form von dem eigentlich angestrebten Ziel unterscheidet. Dieses erreichbare Ziel steht im Mittelpunkt der jetzt folgenden Reflexionen, die Voraussetzung dafür sind, den Bildungsweg selbst zu besprechen. 5. Weltliche Weisheit. Am Beispiel Platons, der sich trotz angedrohter Stockhiebe durch seinen Lehrer Diogenes nicht davon abhalten ließ, an diesem als Lehrer festzuhalten, führt Alkuin den Unterschied zwischen weltlicher und göttlicher („coelestis“) Weisheit ein.84 Wie das zur Verdeut81 So die hier vorgeschlagene zusammenfassende Deutung von Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 852B). Sie stützt sich zudem auf die folgende Passage (ab Sp. 852C), in der die beschwerliche Annäherung an die Weisheit thematisiert wird. 82 Vgl. hierzu oben, den Abschnitt 2. Weisheitsbegriff, mit Bezug auf Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 850A–B). 83 Siehe Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 850B), der Hinweis auf das „naturale […] mentibus humanis scientiae lumen“; dort hatten die Schüler bereits selbst darauf hingewiesen, daß zum Aufscheinen dieses Lichtes regelmäßige und mühevolle Unterweisung durch einen Lehrer erforderlich sei. Allerdings vermag diese umgekehrt nur deshalb zum Erfolg zu führen, weil der menschliche Geist über die entsprechende naturale Anlage verfügt. 84 Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 852C–D): „Fertur […] ei [sc. Diogenes, NG] solus Plato adhaesit […]: Nullus est tam durus baculus, qui me a tuo segregare possit latere. At si ille amore saecularis sapientiae flagrans, coelestis vero, quae ad vitam ducit perpetuam, ignarus […]“; die hier gebotene Übersetzung von coelestis mit „göttlich“ liegt in der eindeutig christlichen Interpretation der Weisheit begründet. – Als mögliche
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lichung angeführte Beispiel erkennen läßt, stehen diese in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, denn nur die göttliche Weisheit führt zum ewigen Leben. Aufgrund dieser Charakterisierung wird deutlich, daß im bisherigen Gesprächsverlauf stets von der zweitgenannten, der göttlichen Weisheit, die Rede war, nicht aber von der erstgenannten. Wie gravierend indes die Kluft zwischen weltlicher und göttlicher Weisheit ist, wird erst im Fortgang des Gesprächs offensichtlich. Zudem läßt sich ein Bruch in der Argumentation erkennen, über den Alkuin stillschweigend hinweggeht und der exakt auf die genannte Kluft zurückzuführen ist. Ausgangspunkt der Ausführungen zur mühevollen Aneignung der Weisheit war die ewige, also die göttliche Weisheit, die das Ziel der Anstrengungen darstelle. Anhand des Platonbeispiels wird jedoch sichtbar, daß der Gipfelpunkt all der unternommenen Bemühungen lediglich die weltliche Weisheit ist. Inwiefern es dem Lehrer möglich sein solle, seine Schüler darüber hinaus, auf den Weg zur göttlichen Weisheit und damit zum ewigen Leben zu führen, bleibt somit offen. Zwar verweist Alkuin durch den Mund des Lehrers auf die göttliche Gnade, die zu den „Schätzen der geistigen Weisheit“ führe.85 Doch betont er damit im Grunde nur zusätzlich den Umstand, daß die sapientia divina über den anvisierten Bildungsweg allein eben nicht verfügbar ist. 6. Die ratio rerum. Ohne sich von dieser Problematik beirren zu lassen, setzt Alkuin seine Ausführungen fort, indem er nun zur Entfaltung des Bildungsweges selbst übergeht. Unter Rückgriff auf den ersten Korinterbrief des Paulus86 betont er ein weiteres Mal, daß es sich im Rahmen des Bildungsgeschehens empfehle, geordnet und schrittweise vorzugehen, bis man in der Lage sei, sich „in die Höhen des reinen Äthers“ aufzuschwingen. Wissbegierig drängen die Schüler ihren Lehrer, sie doch endlich in die Grade der Weisheit einzuführen, in denen er längst Fuß gefaßt habe und wohin ihn die „ratio rerum“ geführt habe. Diese ratio rerum wird von Alkuin wie beiläufig eingeführt. Daß es sich bei ihr jedoch um einen systematisch relevanten Begriff handelt, ist aus Quelle für diese Platon-Episode schlägt Courcelle, „Les sources“ S. 299f., Hieronymus, Adversus Iovinianum 2, 14 (PL 23, Sp. 304B), vor. 85 Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 852D–853A): „[…] quanto magis nos tua, magister, ingredientem vel egredientem vestigia sequi debemus, qui non solum litterario nos liberalium studiorum itinere ducere nosti, sed etiam meliores sophiae vias, quae ad vitam ducit aeternam (pandere) poteris? – mag. Divina nos praecedat gratia, et in thesauros spiritalis deducat sapientiae […]“ (Klammersetzung durch Migne). 86 1 Cor 14, 40: „omnia autem […] secundum ordinem fiant“.
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der unmittelbaren Fortsetzung des Gesprächs zu erschließen. Die Schüler selbst greifen den Begriff unverzüglich nochmals auf, indem sie ihn durch eine literarische Anspielung unterstreichen: Die rationes seien die Speisen der Götter. Bei dieser Wendung beläßt es der Lehrer allerdings nicht. Vielmehr – so korrigiert er seine Schüler – seien sie die Nahrung der Engel sowie die Zierde der Seelen.87 Erläuterungen zu dieser Passage fügt Alkuin keine hinzu. Da er aber im folgenden Abschnitt den Bogen zu seiner Wissenschaftseinteilung, den septem artes liberales, schlägt, liegt der Schluß nahe, die ratio rerum als generelle Bezeichnung für das Studienobjekt der artes zu begreifen. Deren Aufgabe besteht somit darin, die ratio – also wohl am ehesten: das Wesen, die Natur oder die Regelhaftigkeit – der realen Dinge mittels der Vernunft – als des dem Menschen gegebenen korrespondierenden Werkzeugs – zu durchdringen.88 Damit aber ist die gesamte vorausgehende Gedankenfolge als Antwort auf die oben referierte zweite Frage der Schüler zu interpretieren: wie ein Wissen von vergänglichen Dingen ein dauerhaftes sein könne.89 Denn mit dem Verweis auf die rationes rerum als den eigentlichen Wissenschaftsgegenstand macht Alkuin unmißverständlich deutlich, daß auch die Erkenntnis unter Wirklichkeitsbedingungen, also die weltliche Weisheit, auf Reflexe von Unvergänglichem gerichtet ist.90 Implizit aber behauptet 87 Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 853B): „[…] epulas deorum esse rationes. – mag. Verius, o filii! dicere potestis, rationes esse angelorum cibum, animarum decorem, quam epulas deorum“; die Frage nach der Herkunft dieser – auf alle Fälle: platonischen – Metapher erörtert ausführlich Courcelle, „Les sources“ S. 300–302, in Anm. 2 (Beginn auf S. 300). 88 Wiederholt hatte Alkuin durchblicken lassen, daß sein Bildungskonzept geeignet sei, den Schüler schrittweise von den Anfangsgründen bis schließlich hin zur Weisheit zu führen. Daß er dabei nicht davon ausgeht, daß die anschließend thematisierten Künste untereinander in einer hierarchischen Abfolge stehen, legt die dort verwendete Hausmetapher nahe, die ihre Parallelität und somit Gleichrangigkeit impliziert. Folglich muß es sich bei der ratio um eine sämtlichen artes inhärente Struktur handeln, die von den Anfangsgründen der jeweiligen Wissenschaften zu den Höhen der einen Weisheit führt. – Zu einem anderen Schluß gelangt Brunhölzl, Geschichte Bd. 1, S. 270, der die Abfolge der verschiedenen artes als stufenmäßig, also: als hierarchisch aufeinander folgend begreift. – Zur Auflösung der ratio als „Wesen“, „Natur“ und dergleichen siehe bes. Augustinus, De diversis quaestionibus lxxxiii quaest. xlvi „De ideis“ (CCL 44A, S. 70– 73), bes. xlvi, 2, 21–30 (ebd. S. 71): „Ideas igitur Latine possumus uel formas uel species dicere […]. Si autem rationes eas uocemus […] a re ipsa non abhorrebit. Sunt namque ideae principales quaedam formae uel rationes rerum stabiles atque incommutabiles, quae ipsae formatae non sunt ac per hoc aeternae ac semper eodem modo sese habentes, quae diuina intelligentia continentur“. 89 Vgl. hierzu den Abschnitt 4. Weisheit als summum bonum, in diesem Kapitel. 90 Dies bedeutet weiterhin, daß das „Wissen von den Dingen“ (Sp. 850B), dessent-
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er damit, daß die seinem im folgenden dargelegten Bildungsweg immanente Struktur sowohl jener des Erkenntnissubjekts – der menschlichen Vernunft – entspricht, als auch der ratio der Wirklichkeit. Da Alkuin zudem hervorhebt, daß die rationes die Zierde der Seele seien, und sie mit dieser Bestimmung der (ewigen) Weisheit gleichsetzt, ist vor dem philosophiegeschichtlichen Hintergrund außerdem zu schließen, daß die ratio rerum das Abbild der göttlichen Weisheit unter Wirklichkeitsbedingungen ist.91 7. Die sieben Säulen. Alkuin leitet zu den freien Künsten über, indem er zunächst mit Salomon die sieben Säulen des Hauses der Weisheit zitiert92 und erklärt, diese Metapher sei entweder als die göttliche Weisheit auszulegen, die Mensch geworden sei, oder als die Kirche, das Haus Gottes. Beide Deutungsmöglichkeiten aber beziehen sich auf die sapientia divina und somit auf das den Bildungsweg der artes wegen sich der Schüler um die Weisheit bemühen soll, letztlich als Wissen von der ratio der Dinge zu begreifen ist. Es zielt damit auf den mundus intelligibilis und nur bedingt auf den mundus sensibilis; vgl. hierzu Beierwaltes, Art. „Mundus intelligibilis /sensibilis“, in HWPh 6 (1984), Sp. 236–238. 91 Die vorgeschlagene Interpretation läßt sich einmal mehr insbesondere im Licht der Hauptvorlage Alkuins, der „Consolatio philosophiae“, erhärten. Boethius arbeitet dort minutiös den Zusammenhang von rational strukturiertem ordo naturae, also der die Dinge der Wirklichkeit in eine Einheit fassenden und regelnden Ordnung, und menschlichem Erkenntnisvermögen heraus. Ebenso deutlich kennzeichnet er das Verhältnis von Ordnung auf Seiten der Wirklichkeit und dem Attribut ‚Einheit‘, das dem unum zukommt. Ordnung und unum stehen bei Boethius in einem engen Bild-UrbildVerhältnis, vgl. zu diesen Zusammenhängen bes. lib. 4, pr. 6, 17 (CCL 94, S. 81): „Igitur uti est ad intellectum ratiocinatio, ad id quod est id quod gignitur, ad aeternitatem tempus, ad punctum medium circulus, ita est fati series mobilis ad prouidentiae stabilem simplicitatem“; ebd. pr. 6, 55 (ebd. S. 84): „Hoc tantum perspexisse sufficiat quod naturarum omnium proditor deus idem ad bonum dirigens cuncta disponat, dumque ea quae protulit in sui similitudinem retinere festinat […]“; vgl. hierzu anhand der Metren der „Consolatio“ die Hinweise in Marenbon, Boethius S. 147 f., 150–153; auf der Grundlage von lib. 3, m. 9 Beierwaltes, Denken des Einen S. 319–336, bes. S. 331–333; siehe auch die übergreifenden Reflexionen zum Kosmos in Scheible, Die Gedichte in der Consolatio, bes. S. 183–191. – Diesen Entsprechungsverhältnissen korrespondiert in der „Disputatio“ überdies die Struktur des von Alkuin propagierten Instrumentariums zum Erschließen der realen Dinge, der artes liberales; vgl. hierzu exemplarisch das ‚Erkenntnisprogramm‘ im sechsten Buch der „Musik“ Augustins (für eine knappe inhaltliche Skizze siehe unten, 3.3.3. Aequalitas als ratio naturalis); siehe hierzu außerdem wieder die bereits angeführte „Frage“ zu den „Ideen“, Augustinus, De diversis quaestionibus lxxxiii quaest. xlvi, 2, 33–35 (CCL 44A, S. 71): „Anima uero negatur eas [sc. ideas, NG] intueri posse nisi rationalis, ea sui parte qua excellit, id est ipsa mente atque ratione, quasi quadam facie uel oculo suo interiore atque intellegibili“. 92 Prov 9, 1: „sapientia aedificavit sibi domum excidit columnas septem“.
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transzendierende Bildungsziel.93 Doch auch die Weisheit der septem artes liberales ruhe auf sieben Säulen, was Alkuin zufolge bedeutet, daß nur über diese sieben Säulen oder Schritte ein perfektes Wissen zu erlangen sei.94 Nach dem Vorausgehenden ist klar, daß es sich bei diesem „perfekten Wissen“ lediglich um ein weltliches handeln kann, nicht aber um das göttliche. Allerdings zeichnet sich dieses weltliche Wissen entsprechend den obigen Ergebnissen durch sein Abbildverhältnis zur sapientia divina aus, was durch die Identität der verwendeten Metaphern noch unterstrichen wird. Daß zum restlosen Erwerb der sapientia noch ein letztes qualitatives Plus hinzukommen muß, steht freilich außer Frage. Die anschließende Passage betont diesen Umstand einmal mehr. Hier bitten die Schüler ihren Lehrer, ihnen die sieben Stufen endlich zu benennen, was er ihnen auch zusagt: Mit Hilfe der göttlichen Gnade wolle er ihrem Wunsch entsprechen. Konzeptionell bedeutsam ist indes der Zusatz, die „sublimiora speculativae scientiae“ seien nur „per septem philosophiae gradus“ erreichbar.95 Zwar ist das Zutun Gottes zur Annäherung an die vera philosophia unverzichtbar, jedoch macht die zitierte Ergänzung deutlich, daß auch das Studium der septem artes liberales zwingend zu durchlaufen ist. Dies aber bedeutet, daß die sieben freien Künste wenngleich nicht hinreichende, so doch notwendige Voraussetzung zum Erwerb der göttlichen Weisheit sind. Sie bilden formal den Weg, auf dem über die weltliche Weisheit zur göttlichen vorangeschritten werden muß. Abschliessend benennt der Lehrer die sieben theorasticae disciplinae: Grammatik, Rhetorik, Dialektik sowie – in der von Boethius vorgeschlagenen Reihenfolge – Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie.96 Angaben darüber, welche Inhalte in den einzelnen Künsten zu unterrichten seien, macht er keine. Alkuins Wissenschaftseinteilung bleibt damit ein ausschließlich formales Konzept. 93 In beiden Fällen stehen die sieben Säulen für die sieben Gaben des hl. Geistes, Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 853B–C): „mag. Legimus, Salomone dicente […]. Quae sententia licet ad divinam pertineat sapientiam, […] vel Ecclesiam, […]“. 94 Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 853C): „[…] tamen sapientia liberalium litterarum septem columnis confirmatur; nec aliter ad perfectam quemlibet deducit scientiam, nisi his septem columnis vel etiam gradibus exaltetur“. 95 Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 853C–D): „[…] per eosdemque [sc. septem philosophiae gradus, NG] Deo donante […] ad sublimiora speculativae scientiae deduxero“. 96 Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 853D–854A). – Zur Abfolge der quadrivialen artes bei Boethius vgl. dessen De arithmetica i, i, 64–130 (CCL 94A, S. 11–14), in dem erstmals der Begriff Quadrivium selbst („quadruvium“, ebd. S. 11, Z. 64) verwendet wird. Bezüglich der Reihenfolge der Fächer lassen sich in der Einteilung des Quadriviums bei den
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8. Bildungszweck. Zusammenfassend unterstreicht Alkuin ein weiteres Mal den Wert der artes, indem er darauf hinweist, daß auf ihrer Grundlage die antiken Philosophen zu ihren bemerkenswerten Leistungen gelangt seien und die Kirchenväter erfolgreich die Häresien bekämpft hätten. Sie stellten daher auch das erforderliche Rüstzeug für heute zur Verfügung97 und bildeten die unverzichtbare Grundlage, bis zum Gipfel der heiligen Schriften vorzudringen.98 Diese letzte Äußerung ist in verschiedenen Hinsichten bemerkenswert. Denn sie läßt erkennen, daß der gesamte cursus der sieben Künste eine propädeutische Funktion für die Auseinandersetzung mit der Bibel besitzt. Diese folgt erst auf die Beschäftigung mit den artes, steht also – wie schon die divina sapientia – jenseits desjenigen Bildungskanons, der zur weltlichen Weisheit führt. Mag der implizierte Zusammenhang von divina sapientia und Bibelauslegung als solcher auch naheliegen, so fällt doch auf, daß Alkuin zur Auseinandersetzung mit dem Text der heiligen Schrift selbst und insbesondere zu Fragen der Bibelexegese keine Aussagen macht. Darüber hinaus ist dieser kurze Hinweis in der gesamten „Disputatio“ die einzige Stelle, an der Alkuin überhaupt Bezug auf die Bibelauslegung nimmt. Dieser Befund überrascht angesichts der Charakterisierung der Beschäftigung mit der heiligen Schrift als des Höhepunktes des Bildungsgeschehens und dessen eigentlichen Zwecks neben der Glaubensverteidigung. Ebenso bemerkenswert ist der Umstand, daß Alkuin keine Auskunft darüber erteilt, wie das erworbene artes-Wissen bei der Auseinandersetzung mit der Bibel anzuwenden sei.99 Diese Gesichtspunkte leiten über zur übergreifenden Erörterung der „Disputatio“ hinsichtlich ihrer Bedeutung für die im vorliegenden Kapitel behandelten Fragen.
verschiedenen Gelehrten häufig Unterschiede festmachen, vgl. beispielsweise die Reihenfolge bei Martianus Capella: Geometrie (lib. vi), Arithmetik (lib. vii), Astronomie (lib. viii) und Harmonie, also Musik (lib. ix); oder bei Cassiodor in dessen „Institutiones“ (ed. Mynors): Arithmetik (ii, iiii), Musik (ii, v), Geometrie (ii, vi) und Astronomie (ii, vii). 97 Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 854A): „Quatenus hinc inde armati verae fidei defensores et veritatis assertores omnimodis invincibiles efficiamini“. 98 Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 854A): „Per has vero […] ad culmina sanctarum Scripturarum perveniat“. 99 Diese Beobachtung schon bei Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 32, der zu dem Schluß gelangt, die artes sollen den Schülern die Fähigkeit vermitteln, „der Hl. Schrift die göttliche Wahrheit über das Weltganze auch zuverlässig“ zu entnehmen.
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1.3.3. Alkuins „Disputatio“: Erörterung 1. Die göttliche Weisheit. Als Ziel seines Bildungsprogramms benennt Alkuin die göttliche sapientia, die gleichbedeutend ist mit der philosophia. In Anlehnung insbesondere an Boethius zeichnet sich diese Weisheit durch ihre Ewigkeit, Beständigkeit und Einfachheit aus. Sie entspricht mit diesen Attributen dem göttlichen Wissen und folglich – im Lichte der zugrunde liegenden neuplatonischen Konzeption – dem Einheitspunkt des Wirklichkeitsganzen, christlich interpretiert also Gott selbst. In konsequenter Ausdeutung dieser Konzeption besitzt der Erwerb der göttlichen Weisheit damit auch eine praktische Dimension: Die philosophia ist „magistra omnium virtutum“, da die Einsicht in die Wahrheit zwingend ein Wissen um das rechte Tun und dessen Realisierung impliziert.100 Ihre Erörterung findet außerdem im Kontext der Unterscheidung der wahren von den falschen Gütern statt. In diesem Zusammenhang geben sich die wahren Güter letztlich als das eine wahre Gut, nämlich als die ewige, unveränderliche und einfache Wahrheit zu erkennen. Während sich dieses Gut daher ebenfalls durch die zitierten göttlichen Attribute auszeichnet, treffen auf die falschen Güter diejenigen Attribute zu, die den göttlichen kontradiktorisch entgegengesetzt sind. Dieses Charakteristikum der falschen Güter aber ist zugleich das wesentliche Merkmal der sinnenfälligen Wirklichkeit, die durch Zeitlichkeit, Veränderung und Disparatheit gekennzeichnet ist.101 Das Ganze der Wirklichkeit ist Alkuins wichtigster Vorlage, der „Consolatio philosophiae“, und seiner eigenen Konzeption zufolge in jeder Hinsicht – ontologisch, noetisch sowie ethisch – auf das transzendente unum hin ausgerichtet. Allerdings nimmt Alkuin im Vergleich zu seiner Vorlage wie erwähnt eine spezifische Vereindeutigung vor: Anders als Boethius interpretiert er das summum bonum und folglich die vera philosophia unmißverständlich als den einen Gott des Christen100 Zum Weisheitsbegriff und seiner langen Bedeutungsgeschichte Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 28f., mit Literaturhinweisen in Anm. 24; auch Schrimpf betont S. 28 das traditionelle gegenseitige Bedingungsverhältnis der theoretischen und praktischen Seite des Weisheitsbegriffs; mit Blick auf die „Disputatio“ kommt er S. 31 zu dem Schluß, Alkuin propagiere eine „theoretische Besitzergreifung der gesamten Wirklichkeit im Interesse der richtigen Lebensführung“; Wissenschaft sei für Alkuin daher kein Selbstzweck. 101 Zu zentralen philosophiehistorischen Positionen bezüglich des Begriffs des Guten und zur Gegenüberstellung von wahren und falschen Gütern vgl. den allgemeinen Überblick von Reiner u. a., Art. „Gut“, in HWPh 3 (1974), Sp. 937–960.
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tums. Die divina sapientia ist daher zwingend die christliche Weisheit, und ebenso entspricht das tugendhafte Tun einem Handeln gemäß den christlichen ethischen Vorstellungen. Vor diesem Hintergrund erst gewinnt Alkuins ansonsten blasser Verweis auf den Bildungszweck: die Glaubensverteidigung und die Beschäftigung mit der heiligen Schrift, sein Profil.102 2. Die weltliche Weisheit. Die beiden zuletzt besprochenen Bereiche, derjenige des letztlich einen wahren Gutes und derjenige der falschen Güter, sind der zugrunde liegenden Konzeption gemäß inkommensurabel. Folglich sind auch das Wissen von dem einen, wahren Gut und das Wissen von den disparaten Dingen der Wirklichkeit inkommensurabel. Im Rahmen des Bildungsgeschehens vermag der Mensch zwar ein weitreichendes Wissen von der sinnenfälligen Wirklichkeit zu erlangen, aufgrund der Inkommensurabilität der beiden Bereiche jedoch nicht von dem wahren, einen Gut. Trotz dieser prinzipiell unüberbrückbaren Kluft scheint Alkuin davon auszugehen, daß sich das menschliche Wissen in bestimmter Weise auszeichnet, wie sein Hinweis auf die ratio rerum nahelegt. Im Grunde zielt das Erkenntnisstreben, das der Mensch als naturale Anlage in seiner – im Sinne des Boethius wäre zu ergänzen: gottähnlichen – mens vorfindet, auf die der sinnenfälligen Wirklichkeit inhärente ratio. Diese ratio korrespondiert nicht von ungefähr bereits auf der begrifflichen Ebene der menschlichen Vernunft. Sie entspricht ihr auch strukturell. Beide, die ratio rerum wie die menschliche Vernunft, sind Abbilder der göttlichen sapientia und somit des göttlichen unum. Besonderes Kennzeichen der weltlichen Weisheit ist daher ihr analoges Verhältnis zur göttlichen, so daß es dem Menschen aus eigener Kraft und über den Bildungsweg der artes zwar nicht möglich ist, die sapientia divina selbst zu erlangen. Aber immerhin vermag er ein auf sie verweisendes Wissen zu erwerben.103
102 Vgl. zu diesen Zusammenhängen auch Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 29, der über die hier vorgeschlagene Interpretation hinaus sogar davon ausgeht, daß Alkuin „die tatsächliche Weisheitsfähigkeit des Menschen […] auf den Kreis der Christen, genauer noch: auf diejenigen Christen, die am Leben der Kirche teilnehmen“, einschränkt. 103 Die hier vorgeschlagene Interpretation wird überdies durch den Mittelteil der „Disputatio“ gestützt, der seinerseits eine spezifische Umakzentuierung der ihm zugrunde liegenden „Consolatio“-Stelle darstellt; Alkuin läßt dort den Lehrer die provokative Frage aufwerfen, was denn der Mensch – das vernunfbegabte Sinnenwesen und in seinem besseren Teil, der Vernunft oder Geistseele, unsterblich, hierin das Ab-
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Diese Konstellation bedeutet, daß der Mensch über den Bildungserwerb bestenfalls die sapientia saecularis als den Inbegriff des Wissens vom Wirklichkeitsganzen sub conditione humana erreichen kann, nicht hingegen das eigentliche Bildungsziel, die göttliche Weisheit. Hierzu bedarf er der göttlichen Gnade. Das christlich interpretierte Bildungsgeschehen nach Alkuin stellt sich damit als eine doppelte, gegenläufige Bewegung dar. Während sich der Weisheitssuchende darum bemühen muß, sich aus eigener Kraft die weltliche Weisheit möglichst umfassend anzueignen und sich auf diese Weise so dicht wie unter Wirklichkeitsbedingungen denkbar an den Gipfelpunkt des Bildungsgeschehens, die inkommensurable göttliche Weisheit, heranzuarbeiten, muß diese ihm in einem gnadenhaften Enthüllungsakt entgegenkommen, um das Erkenntnisbemühen zu seiner anvisierten Vollendung zu führen. Zwei Charakteristika dieses Bildungskonzeptes sind mit Blick auf die Frage der vorliegenden Arbeit nach den Erkenntnismöglichkeiten im Rahmen von Komputistik und Astronomie von zentraler Bedeutung: Erstens geht Alkuin davon aus, daß der säkulare Bildungsweg notwendige Voraussetzung zur letzten Erkenntnis ist, und zweitens ist er kommentarlos davon überzeugt, daß der gnadenhafte Enthüllungsakt stattfinden wird.104 3. Artes-Wissen als Inbegriff der weltlichen Weisheit. Alkuin legt seinem Bildungskonzept die Wissenschaftseinteilung der septem artes liberales zugrunde. Diese bestehen aus den bekannten Fächern Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Allerdings beläßt Alkuin es bei der ausschließlich formalen Einteilung seines Konzeptes, er macht keine ausdrücklichen Angaben zur inhaltlichen Seite der Wissensvermittlung. Genauso wenig geht er auf den bild seines Schöpfers –, was also der Mensch sein Eigentum verliere und nach Fremdem strebe; liege doch sein Eigentum in seinem Inneren: in der Zierde der Weisheit, der erkennenden Vernunftseele. Das Abbildverhältnis von menschlicher Vernunftseele und Gott, also der Weisheit, wird hier expressis verbis konstatiert. Überdies legt die enge sprachliche Anlehnung an die Vorlage auch eine konzeptionelle Verwandschaft nahe. – Die entsprechende Stelle bei Boethius ist Philosophiae consolatio lib. 1, pr. 6, 15 (CCL 94, S. 15): „Hocine interrogas, an esse me sciam rationale animal atque mortale“; siehe hierzu Courcelle, „Les sources“ S. 297. 104 Zwar aufgrund eines anderen Gedankengangs, aber doch zu einem ähnlichen Ergebnis bezüglich der weltlichen Weisheit gelangt Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 30, der die sapientia saecularis als „Bezeichnung für jene menschliche Vollendung“ begreift, „die derjenige erreicht, der durch ausschließlich wissenschaftliche Wahrheitssuche zu einem Grenzbegriff vom Weltganzen gelangt ist“.
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didaktisch-praktischen Aspekt der Vermittlung ein. Seinen Ausführungen läßt sich nur entnehmen, daß ihm ein geregelter und schrittweise voranschreitender Unterricht vorschwebte. Große Bedeutung mißt er dabei offensichtlich dem strukturierten Ablauf und der tatsächlichen Unterweisung durch einen Lehrer bei.105 Obwohl sich über die sieben freien Künste maximal die sapientia saecularis erlangen läßt, ist der Zielpunkt des Bildungskonzeptes die sapientia divina. Damit aber werden sämtliche artes intentional auf die göttliche Weisheit und folglich auf Gott hin ausgerichtet – auch die quadrivialen Künste und folglich die Komputistik.106 Kunstfertiges Erkenntnisstreben verfolgt demnach letztlich immer ein theologisches Anliegen. Angesichts dieser intentionalen Ausrichtung ist ein weiterer Befund von großer Bedeutung: der Umstand, daß die heilige Schrift und eine Auseinandersetzung mit ihr dezidiert nicht in den Aufgabenbereich der freien Künste fallen. Zwar gipfeln alle Künste in derselben Weise in den „culmina sanctarum scripturarum“ wie in der göttlichen Weisheit, worin aber die Funktion der artes für die Beschäftigung mit der heiligen Schrift bestehen soll, läßt Alkuin offen. Zuletzt ist hinsichtlich des arsBegriffs nochmals auf die Identifikation der Künste mit der weltlichen Weisheit zurückzukommen. Denn diese Gleichsetzung hat umgekehrt betrachtet zur Folge, daß sämtliches Wissen über die Wirklichkeit, also
105 Mit starker Betonung des organisatorischen Aspektes Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 33, der die Forderung nach einer schulisch – und nicht etwa autodidakt – erworbenen Bildung mit dem weitgehenden Analphabetismus der Zeit begründet. Da das Christentum als Buchreligion aber darauf angewiesen sei, die offenbarte Wahrheit ihrer zentralen Schrift, der Bibel, sowie deren maßgebliche Auslegung durch die patres ebenfalls schriftlichen Zeugnissen zu entnehmen, sei eine solide Lese- und Schreibfähigkeit weiterer gesellschaftlicher Kreise dringend erforderlich gewesen. „Das wissenschaftliche Streben nach der christlichen Weisheit verlangt also Kenntnisse, deren kontinuierliche Vermittlung […] nur durch die institutionelle Sicherung schulmäßigen Unterrichts gewährleistet werden kann, weil diese Kenntnisse ohne schulmäßiges Lernen gar nicht erworben werden können“. – Zum Unterricht und seinen Formen zur Zeit Bedas und vor dem allmählichen Etablieren der artes liberales infolge der karolingischen Reformen siehe Wallis, The Reckoning of Time S. xxviii– xxx, die S. xxviii betont, daß es zur Zeit Bedas überhaupt keine Schulen gab, also „institutions created for and exclusively dedicated to teaching. Instead, the monastery trained monks, and the episcopal familia clergy […] through the socializing force of the vita communis, through the self-instruction of lectio, and through unstructured and informal confabulatio mutua“, mit weiterführenden Literaturhinweisen in den Anm. 30 und 31. 106 Daß die Komputistik zum integralen Bestandteil des Quadriviums wird, wird im folgenden Paragrahen, 1.3.4. Wissen im Rahmen der artes, herausgearbeitet.
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auch das hier im Zentrum stehende komputistische, unter das Schema der sieben artes zu subsummieren ist.107 Daß Alkuin seinen Bildungsweg inhaltlich unbestimmt läßt, hat vor diesem Hintergrund weitreichende Konsequenzen. Denn indem der Angelsachse einerseits keine bestimmten Inhalte vorschreibt, schließt er andererseits noch nicht einmal implizit andere aus. Infolge dessen stehen die artes grundsätzlich für jegliches Fachwissen offen. Dies ist von hoher Relevanz, denn wie sich zeigt, stellen für den Bereich des Quadriviums gerade nicht-klassische Wissensinhalte wie die Komputistik einen Großteil desjenigen Materials bereit, das den Grundstock der quadrivialen Sammlungen bildet. Unterstrichen wird diese Offenheit zudem durch den Umstand, daß der gesamte theologische Bereich in seiner Inkommensurabilität funktional gesehen aus dem Bildungsgeschehen selbst ausgegrenzt ist. Weiterhin ist bemerkenswert, daß Alkuins Wissenschaftskonzept nicht nur eine generelle Offenheit gegenüber etwaigen Wissensinhalten besitzt, sondern darüber hinaus jeden nach Weisheit Strebenden auffordert, seiner natürlichen Anlage zu folgen und sich aktiv um ein möglichst umfassendes Wissen zu bemühen. Sehr deutlich kommt diese allgemeine Hochschätzung der weltlichen Weisheit in Alkuins Verweisen auf antike Geistesgrößen, vor allem auf Platon zum Ausdruck.108 Mit diesen Charakteristika zeugt Alkuins Bildungsprogramm von einer ausgesprochen positiven Haltung gegenüber Wissensdurst und Neugier109 auf Seiten des Erkenntnissubjektes sowie 107
Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt schon Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 29, der zunächst ebenfalls betont, daß der inhaltliche Aspekt der artes weit hinter den formalen zurücktritt. Alkuin begreife die Künste als „das systematisch geordnete Ganze jenes Wissens um die Wirklichkeit insgesamt, das der Mensch kraft seiner natürlichen Erkenntnisfähigkeit erwerben kann“. Daher sei die Reihe der sieben Künste als erschöpfend und kanonisch zu verstehen. Zum gegenseitigen Bedingungsverhältnis von artes-Wissen und göttlicher Weisheit und der dieses Verhältnis kennzeichnenden hierarchischen Struktur ebd. S. 32. 108 Vgl. Alkuins Verweis auf die philosophi und ihre herausragenden Leistungen am Ende der „Disputatio“. – Hintergrund für Alkuins Platon-Episode dürfte das PlatonBild Augustins bilden, demzufolge Platon aus eigener Kraft immerhin bis zu der Erkenntnis gelangte, daß es nur einen einzigen Gott gebe, die Welt geschaffen sei und ihr Dasein diesem einen Gott verdanke. Diesen Zusammenhang knüpft bereits Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 30, mit Verweis auf Augustinus, De civitate dei viii, 4–13 (CCL 47, S. 219–230); De vera religione ii–v (CCL 32, S. 187–194); Contra academicos iii, 37 f. (CCL 29, S. 57 f.). 109 Ein Hinweis darauf, daß Alkuin auch diesen Hintergrund im Blick hatte, läßt sich direkt einer Formulierung in der „Disputatio“ (PL 101, Sp. 853D) entnehmen: „mag. Sunt igitur gradus, quod quaeritis, et utinam tam ardentes sitis semper ad (ascendum), quam curiosi modo estis ad videndum: [folgt: Aufzählung der sieben Künste, NG]“
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gegenüber sämtlichem verfügbaren Fachwissen auf Seiten der Erkenntnisgegenstände.110 4. Alkuins Erkenntnisoptimismus. Gemäß der „Disputatio de vera philosophia“ ist der Weg über die sieben freien Künste die notwendige Voraussetzung, um das angestrebte Bildungsziel zu erreichen. Obwohl Alkuin selbst unmißverständlich klar macht, daß zum tatsächlichen Erwerb dieses Ziels außerdem die dem Menschen unverfügbare göttliche Gnade hinzutreten muß, legen seine Äußerungen den Schluß nahe, daß er von diesem Umstand wie selbstverständlich ausgeht. Sofern der Mensch seiner natürlichen Veranlagung folgt und mit der richtigen inneren Einstellung sowie mit großem Bildungseifer das ihm zugängliche weltliche Wissen anstrebt, wird ihm sicherlich – davon scheint Alkuin überzeugt zu sein – die göttliche Gnade zuteil. Auch in diesem Erkenntnisoptimismus folgt er einmal mehr seiner Hauptvorlage, der „Consolatio philosophiae“. Allerdings wirkt die Konstruktion bei Alkuin deutlich naiver als die der „Consolatio philosophiae“, was vor allem in der Kürze seiner Schrift begründet liegen dürfte. Während Boethius sorgfältig zu plausibilisieren versuchte, daß und wie die an und für sich unüberbrückbare Kluft zwischen menschlicher ratio hier und göttlicher intelligentia jenseits letztlich doch zu überwinden sei, fehlt Alkuin für ein ähnliches Unternehmen der Raum. Die beiden Bereiche der säkularen Wissenschaft und der transzendenten göttlichen Weisheit stehen bei ihm unvermittelt nebeneinander, einen Brückenschlag vermag er lediglich zu postulieren.111 (Klammersetzung durch Migne); der Kontext erlaubt den Schluß, daß die curiositas an dieser Stelle zwar mit ironischen Anklängen, insgesamt aber positiv konnotiert eingesetzt wird. 110 Zu einer einschränkenderen Einschätzung mit Blick auf die erwerbbaren Inhalte des artes-Wissens gelangt Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 34f., der S. 35 die Auffassung vertritt, daß nicht nur das göttliche Wissen – mitgeteilt in der göttlichen Offenbarung, der heiligen Schrift –, sondern auch die weltliche Wissenschaft „in der Antike bereits zu ihrem Abschluß gebracht worden“ sei. Mit dieser Aussage aber scheint Schrimpf auf die inhaltliche Seite des artes-Wissens, nicht (nur) auf seine formale zu zielen. 111 Möglicherweise setzte Alkuin bei seinen Lesern die Kenntnis des Ansatzes des Boethius voraus; siehe auch die Überlegungen zur ratio rerum im Abschnitt 2. Die weltliche Weisheit, im vorliegenden Kapitel. – Zum Erkenntniskonzept des Boethius Ralfs, „Die Erkenntnislehre des Boethius“, bes. S. 359–373 (S. 362 f. zum „originale[n] Gedanke[n]“ des Boethius, daß das höhere Erkenntnisvermögen das niederere umschließe, während das niederere nicht zum höheren zu gelangen vermöge; S. 372 f. zum menschlichen Geist, dem dieser Prämisse zum Trotz „eine Erhebung, ein Auf-
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Ein weiterer Grund für Alkuins Erkenntnisoptimismus ist neben der genannten philosophiehistorischen Tradition in der theologischen zu suchen. Anders als der „Consolatio philosophiae“ liegt der „Disputatio“ eine eindeutig christlich interpretierte neuplatonische Konzeption zugrunde. In Alkuins Denken steht der gesamte Kontext der platonischen Anamnesis-Lehre damit in einem anderen Licht: Das Christentum verfügt mit der heiligen Schrift über Gottes Offenbarung, also über die vollständige göttliche sapientia. Zwar äußert sich auch diese Offenbarung im allegorischen Gewand und bedarf folglich ihrerseits einer aufwendigen hermeneutischen Entschlüsselung im Rahmen der Bibelexegese. Doch anders als dem antiken Philosophen liegt dem Christen mit der heiligen Schrift per se der Inbegriff der vera philosophia vor und damit zugleich das Instrumentarium, um die ratio rerum in ihrer Abbildhaftigkeit richtig zu entziffern. Alkuin selbst artikuliert diese Überzeugung in der „Disputatio“ im Zusammenhang der PlatonEpisode.112 1.3.4. Wissen im Rahmen der artes Der Forschung zufolge ist es dem Bemühen Karls des Großen zu verdanken, sein Reformvorhaben in Realpolitik umzusetzen, daß die septem artes liberales nicht nur in der unmittelbar folgenden Zeit, sondern schwung zum göttlichen Geiste [sc. der intelligentia, NG] möglich“ sei. – Vgl. im Unterschied hierzu die tendenziell pessimistischere Haltung Augustins, der selbst in seinen früheren Schriften regelmäßig auf die für die Erkenntnis unverzichtbare und unverfügbare Gnade hinweist, siehe hierzu exemplarisch die oben bereits angeführte Stelle in „De doctrina christiana“ (i, iii, 3 – i, v, 5; CCL 32, S. 8f.) sowie die Fortsetzung dieser Passage (i, vi, 6; ebd. S. 9f.), in der Augustinus die ineffabilitas Gottes betont. Diese korrespondiert direkt den Erkenntnismöglichkeiten der menschlichen ratio. 112 Alkuin kleidet diese weit vorteilhafteren noetischen Ausgangsbedingungen des Christen gegenüber jenen des antiken Philosophen in die Erzählung von Platon, der – obwohl nur von der Liebe zum weltlichen Wissen entflammt – immense Mühen für den Wissenserwerb auf sich nahm. Dem kontrastiert er die sehr viel größere Leidenschaft, die den christlichen Erkenntnisstrebenden durchdringen müsse, gehe es für ihn doch um die göttliche Weisheit, Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 852D–853A): „[…] ille amore saecularis sapientiae flagrans, coelestis vero […] ignarus, […] quanto magis nos [sc. discipuli, NG] tua, magister, […] vestigia sequi debemus, qui […] etiam meliores sophiae vias, quae ad vitam ducit aeternam [pandere] poteris?“. – Auch Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 29, kommt zu der Einschätzung, für Alkuin habe – wohl in Anlehnung an Augustinus – festgestanden, mit der christlichen Lehre liege endgültig und restlos die wahre Weisheitslehre vor; da sie göttlichen Ursprungs sei, erhebe sie – Alkuin zufolge – zurecht den Anspruch auf absolute Geltung.
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auch für die nächsten Jahrhunderte zur vorherrschenden Bildungskonzeption und Wissenschaftseinteilung wurden.113 Obgleich man auf den ersten Blick in der inhaltlichen Unbestimmtheit des in der „Disputatio“ formulierten Konzeptes einen gravierenden Mangel für seine Verbreitung und Realisierung vermuten könnte, lag hierin vielleicht sogar eine seiner Stärken. Denn möglicherweise war es gerade diese Offenheit mit der zugleich signalisierten Hochschätzung von Wissen, die zur kreativen inhaltlichen Ausgestaltung des Programms überhaupt erst anregte. Indem Alkuin darauf verzichtete vorzuschreiben, was zu erlernen sei, eröffnete er den Spielraum, grundsätzlich jedes Wissen als ein an sich wertvolles und überdies für das Bildungsgeschehen relevantes zu begreifen. Das Bestreben, das formale Konzept auch inhaltlich zu füllen, läßt sich in zunehmendem Maße insbesondere seit der Mitte des 9. Jahrhunderts beobachten. Wie von der Forschung herausgearbeitet wurde, ist in diesem Zusammenhang die Rezeption der den sieben freien Künsten gewidmeten Schrift „De nuptiis philologiae et mercurii“ des Martianus Capella von zentraler Bedeutung.114 Dieses Werk gab mit einem Schlag ein verhältnismäßig umfangreiches Lehrbuch an die Hand, auf dessen Grundlage sich der geforderte Unterricht in sämt-
113 Vgl. hierzu Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena, bes. S. 21–48; Ders., Art. „Philosophie v“, in HWPh 7 (1989), Sp. 800–818; Ders., „‚Philosophia‘ im Bildungswesen“, jeweils mit weiterführenden Literaturhinweisen. – Zur handschriftlichen Verbreitung der „Disputatio“ besonders Clavis S. 162 f. (mit zehn Handschriften aus dem 9. Jahrhundert); zur Wirkung der drei trivialen Schriften Alkuins, der „Ars grammatica“, von „De dialectica“ und der „Disputatio de rhetorica“, ebd. S. 21; diese Wirkung spiegelt sich nicht nur in der starken Verbreitung der Schriften selbst, sondern auch in den Auszügen aus ihnen, die in Kompilationen für den schulischen Gebrauch eingingen. 114 Die handschriftliche Überlieferung dieses spätantiken Werkes setzt in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts ein, aus der Zeit vorher (um die Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert) sind nur zwei Abschriften tradiert. Insgesamt sind rund 250 Handschriften bekannt, die das Werk ganz oder in Teilen enthalten, siehe hierzu die Handschriftenübersicht in Leonardi, „I codici“ (1960); während das Werk in den ersten etwa anderthalb Jahrhunderten in aller Regel komplett kopiert wurde, exzerpierte man in den folgenden Jahrhunderten meist nur Teile, vgl. hierzu die Übersicht in Dems., „I codici“ (1959) S. 462. – Wie die verfügbaren Handschriften erkennen lassen, wird „De nuptiis“ schon seit dem Einsetzen der Rezeption kommentiert, wobei der Kommentar eines Anonymus, die „Annotationes“ des Johannes Scotus Eriugena und der wirkmächtige Kommentar des Remigius von Auxerre besonders herausragen. „De nuptiis“ genoß bis weit in die Frühe Neuzeit hinein große Beliebtheit. – Zu Martianus Stahl, Martianus Capella Bd. 1 S. 9–20; Grebe, Martianus Capella S. 11–22; Teeuwen, Harmony S. 9–11.
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lichen Künsten bestreiten ließ.115 Auch für Bereiche, die bislang keine oder nur eine marginale Rolle in der schulischen Unterweisung gespielt hatten, lag mit Martians Schrift immerhin ein Grundstock an Wissensinhalten vor. Daß „De nuptiis philologiae et mercurii“ tatsächlich in wachsendem Umfang, vor allem in den erstarkenden Kathedralschulen die inhaltliche Basis des Unterrichts darstellte, zeigt sich an seiner Überlieferung und Glossierung besonders deutlich.116 Wie für Alkuin stellen bereits für Martianus die sieben freien Künste den Inbegriff der Wissenschaft dar, so daß sich sein Handbuch auch in konzeptioneller Hinsicht als Grundlage für den Schulunterricht anbot. Diese Eignung spiegelt sich am eindruckvollsten im Rezeptionsverlauf der Schrift wider. Allein aus dem 9. Jahrhundert sind 49 Handschriften überliefert, von denen bereits die meisten glossiert sind, einige sogar mehrfach. Der Ursprung eines Großteils der ältesten erhaltenen Manuskripte – aus dem 9., aber auch noch aus dem 10. Jahrhundert – liegt im Gebiet der nordöstlichen Francia, zwischen Corbie, Laon, Reims und Auxerre. Von hier aus läßt sich ihre Verbreitung über das gesamte Frankenreich beobachten.117 Aus dieser intensiven Glossierungspraxis wird ersichtlich, daß Martians Handbuch der sieben Künste im Laufe des 9. Jahrhunderts tatschächlich rasch den Status eines allgemein geschätzten Schulbuches erlangte.118 Ein frühes Beispiel für seinen intensiven Unterrichtsgebrauch liefert die Schule von Laon, die mit Johannes Scotus Eriugena einen der ersten mittelalterlichen Kommentatoren des Martianus-Textes aufzuweisen hat. Der
115 Zu dem Umstand, daß „De nuptiis philologiae et mercurii“ „sieben selbständige Kompendien“ zu den sieben Künsten in sich vereinigt, Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 38. 116 Hierzu bes. Leonardi, „I codici“ (1959), sowie unter Berücksichtigung der neueren Forschung Teeuwen, Harmony, bes. S. 27–59. – Aus einem komputistisch-astronomischen Blickwinkel Wallis, The Reckoning of Time S. xc, mit Anm. 255 und 256. 117 Leonardi, „I codici“ (1960), lokalisiert die frühesten Handschriften in Corbie, Lorsch, Auxerre, Fleury, Saint-Oyan, Reims, Soissons, Paris, St. Gallen, Reichenau, Trier, Corvey, Freising, Montecassino, Köln, Chartres und Ivrea. – Neben dem Zentrum in der nordöstlichen Francia scheint dem Handschriftenbefund zufolge mit St. Gallen und Reichenau ein zweites, weiter östlich gelegenes bestanden zu haben. 118 Über den genauen Zeitraum, in dem „De nuptiis“ in das schulische Curriculum aufgenommen wurde, herrscht in der Forschung jedoch Dissens; während Leonardi davon ausgeht, daß die Schrift schon vor der Mitte des 9. Jahrhunderts, ungefähr 830– 850, standardmäßig als Schulbuch fungierte, argumentiert Teeuwen für eine Datierung auf das Ende des 9. oder den Beginn des 10. Jahrhunderts, also auf eine Zeit, in der Remigius von Auxerre seinen Kommentar schrieb.
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handschriftlichen Überlieferung zufolge unterrichtete Eriugena sämtliche sieben Künste, so daß sein Kommentar in dieser Hinsicht exemplarisch ist für die Unterrichtsgepflogenheiten im 9. und 10. Jahrhundert.119 Zwar wurde der Kommentar Eriugenas in der unmittelbar folgenden Zeit kaum rezipiert.120 Anders jedoch verhält es sich mit einem weiteren, anonymen Kommentar-Corpus aus dem 9. Jahrhundert, das nach derzeitigem Kenntnisstand noch älter ist als die „Annotationes“ Eriugenas, und dann vor allem mit dem Kommentar des Remigius von Auxerre, der kurz nach 900 entstand und in hohem Maße den Anonymus inkorporiert.121 Dieser Kommentar fand mit seinen heute bekannten 76 Textzeugen eine so weite Verbreitung, daß ihm von der Forschung eine repräsentative Bedeutung für die Unterrichtspraxis der folgenden Zeit beigemessen wird.122 In inhaltlicher Hinsicht fällt bereits bei dem Anonymus-Kommentar aus dem 9. Jahrhundert auf, daß er nicht auf die bloße Interpretation des Martianus-Textes begrenzt ist, sondern daß sein Autor darüber hinaus assoziativ Material aus unterschiedlichen antiken und spätantiken Quellen zusammenträgt. Dabei scheint es ihm 119
Anders als in späteren Jahrhunderten wurde „De nuptiis“ im fraglichen Zeitraum zumeist vollständig kopiert und glossiert, vgl. hierzu auf der Grundlage Leonardis und der neueren Forschung Teeuwen, Harmony S. 57 u. ö. 120 Größeren Einfluß gewinnen die „Annotationes“ erst im 12. Jahrhundert, vgl. hierzu den Überblick über die derzeit Eriugena zugeschriebenen Textzeugen in Teeuwen, Harmony S. 42 f.; Remigius von Auxerre lag Eriugenas Kommentar vor, jedoch steht Remigius diesem distanziert gegenüber. 121 Die Zuschreibung des Anonymus ist bis heute umstritten. Während er zuerst mit Dunchad in Verbindung gebracht wurde (Lutz), schrieb man ihn im Lichte weiterer Textzeugen Martinus von Laon zu (Préaux). Angesichts späterer Handschriftenfunde blieb auch diese Zuschreibung nicht unwidersprochen. Die Herkunft dieses Kommentars läßt sich mit Sicherheit lediglich auf die Region um Corbie, Soissons, Reims und Fleury sowie auf etwa die Mitte des 9. Jahrhunderts eingrenzen. – Zwölf der heute bekannten fünfzehn Handschriften stammen bereits aus der Mitte oder der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts, dreizehn der Textzeugen enthalten den Kommentar als Marginal- und Interlinearglosse und bieten sich damit zum Studium der Praxis des artes-Unterrichtes in den karolingischen Schulen an; vgl. hierzu allgemein Jeauneau, „Gloses et commentaires“. 122 Beispielsweise Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 47 f. mit Anm. 96; Teeuwen, Harmony S. 33: „The uncertainty [bezüglich der Zuschreibung der frühen Kommentare, NG] ends, finally, with the teachings of Remigius of Auxerre, who composed a substantial commentary that was so widespread that his version of the text and his readings were clearly taken as a standard in the course of the tenth century“; seine stärkste Verbreitung fand der Kommentar zwischen dem 10. und (einschließlich) dem 12. Jahrhundert; aus diesem Zeitraum stammen etwa 50 der Handschriften.
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primär darum gegangen zu sein, das ihm zur Verfügung stehende Wissen jeweils so vollständig wie möglich zusammenzustellen.123 Auf der Grundlage der geschilderten Quellenbefunde und unter einem breiteren Blickwinkel läßt sich festhalten, daß sich in der Glossierungs- und Kommentierungspraxis und somit im Unterricht des Anonymus, des Johannes Scotus Eriugena und des Remigius von Auxerre ein Wissenschaftsbegriff widerspiegelt, der Alkuins artes-Konzept in formaler Hinsicht realisiert, gegenüber der programmatischen Schrift des Angelsachsen aber deutlich inhaltsreicher ist, da er über dessen Konzeption hinaus einen Begriff von jeder der sieben Disziplinen liefert. Begründet liegt dies zum einen in dem zugrunde liegenden Text selbst, dem Kompendium Martians,124 zum andern in den darüber hinausgehenden Wissensinhalten, die die Gelehrten beim Erstellen ihrer Kommentare oder beim Unterrichten der Vorlage hinzufügten. Ferner läßt sich aus den Martianus-Glossen erschließen, daß im Rahmen des artesUnterrichts die Beschäftigung mit den den einzelnen Fächern zugeordneten Wissensinhalten und deren sachgemäße, ‚literale‘ Durchdringung, gegebenenfalls unter Heranziehen weiteren Fachwissens, im Vordergrund standen. Das Erschließen der Bibel hingegen scheint tatsächlich nicht Gegenstand dieses Unterrichts gewesen zu sein.125 Damit aber gewinnen die artes ein zunehmendes Gewicht in ihrer Eigengesetzlichkeit.126 Auch die handschriftlichen Zeugnisse, die im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen, spiegeln diese allgemeine Tendenz zur Integration ‚neuen‘, vorwiegend spätantiken Wissens wider. Diese äußert sich sowohl in der soeben skizzierten Rezeption des Martianus-Textes, und hier vor allem des achten Buches, als auch im zunehmenden Rückgriff
123 Allgemein zum Anonymus Teeuwen, Harmony S. 33–41; eine Spezialuntersuchung zu diesem Corpus unter musikwissenschaftlicher Perspektive ebd. S. 60–347. 124 Vgl. hierzu Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 37–48; Ders., „‚Philosophia‘ im Bildungswesen“, bes. S. 30f. 125 Vgl. hierzu beispielsweise die Klagen Eriugenas gegenüber dem König, hierfür keine Zeit gelassen zu bekommen; diese Klage sowie weitere Quellenbelege führt Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 42 f. mit Anm. 80, an. 126 Eine solche Form der Beschäftigung mit den Künsten legt bei einer entsprechenden Interpretation bereits das Programm Alkuins nahe, der in der „Disputatio“ im Zusammenhang mit der richtigen inneren Einstellung des Schülers auch „die Weisheit selbst“ aufzählt, Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 850B). Übertragen auf das aus eigener Kraft erreichbare Bildungsziel, die sapientia saecularis, vermag daher Alkuins Konzeption eine Auseinandersetzung mit den Künsten – als Abbild der divina sapientia respektive der vera philosophia – um ihrer selbst willen zu begünstigen.
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auf weitere, meist spätantike Autoren. Hierbei ist in erster Linie an Plinius, Macrobius, Boethius oder Calcidius zu denken, deren Schriften ebenfalls – zumeist in eklektischen Exzerpten – dem formalen Gerüst der freien Künste einverleibt werden.127 In diesem Kontext findet auch der Rückgriff auf Bedas „De temporum ratione“ statt, das nun in erster Linie der Bereitstellung von Material der quadrivialen artes dient. Dies zeigt sich in der Art und Weise, wie das Werk tradiert wird: in Form von Auszügen, deren Anordnung nicht mehr den Gesetzen der ‚eigenen‘, von Beda ja überhaupt erst zur Disziplin geformten Gattung, sondern den Anforderungen des neuen konzeptionellen Rahmens folgt.128 Die Rezeption der jüngeren, frühmittelalterlichen Schriftzeugnisse unterscheidet sich damit nicht von derjenigen der neu- oder wiederentdeckten spätantiken Materialien: Sie werden eklektisch in die entstehenden wissenschaftlichen Handschriften inkorporiert und bilden damit einen integralen Bestandteil des artes-Wissens, wie die aus Martianus, Macrobius und vergleichbaren Autoren geschöpften Materialien auch. Das Ergebnis dieses Prozesses liegt im quadrivialen Bereich mit den bereits 127
Vgl. hierzu ausführlicher die Übersicht über die thematische Zusammenstellungen der Anthologien in 2.2.1. Die komputistisch-astronomischen Sammlungen. – Allgemein zur Rezeption von Macrobius, Calcidius, Boethius sowie Martianus Capella Jeauneau, „L’héritage“; zu Macrobius Hüttig, Macrobius im Mittelalter; Caiazzo, Lectures médiévales S. 27–85; zur Boethius-Rezeption Gibson, „Boethius in the Carolingian Schools“; Dies., „Boethius in the tenth century“; speziell zur „Consolatio philosophiae“ immer noch Courcelle, La consolation de Philosophie; zu Plinius und Calcidius im folgenden Hauptteil dieser Arbeit. – Diese thematischen Ausweitungen spiegeln sich auch im Unterrichtsprogramm des späten 10. Jahrhunderts wider, das für den Mittel- und den Oberkurs das Studium der septem artes vorsah; vgl. hierzu insbes. den „Libellus scolasticus“ Walthers von Speyer (984) und die fast gleichzeitige Beschreibung des Unterrichtsprogramms Gerberts von Aurillac, die Richer angefertigt hat. Dieses Programm wurde für die Kathedralschulen maßgebend. Dabei wird auch ersichtlich, daß mindestens seit der Jahrtausendwende die mathematischen Disziplinen einen zweiten Unterrichtsschwerpunkt neben den sermozinalen bilden; zu diesen Befunden Schrimpf, „‚Philosophia‘ im Bildungswesen“ S. 41–44; Glauche, Schullektüre im Mittelalter S. 62–100; einen allgemeinen Überblick zu den Entwicklungen im schulischen Bereich bieten Lutz, Schoolmasters; Marenbon, From the Circle of Alcuin; die Kontinuität des Bildungswesens im 10. Jahrhundert hebt gegenüber der diesbezüglich eher skeptischen Forschungsmeinung Riché, „La ‚Renaissance‘ intellectuelle“, hervor. 128 Diesen Vorgang beschreibt mit Blick auf „De temporum ratione“ Wallis, The Reckoning of Time S. xc–xcii; diese Charakteristika werden zudem durch die Glossierung von „De temporum ratione“ bestätigt, ebd. S. xviii–xcvi. – Einen vergleichbaren Vorgang beschreibt in Hinsicht auf die Martianus-Rezeption Teeuwen, Harmony S. 57; diese verändert im Anschluß an das 9. und 10. Jahrhundert in signifikanter Weise ihren Charakter. Nicht mehr das ganze Handbuch wird kopiert (und kommentiert), sondern nur noch einzelne Teile. „More often than not […] separate books (mostly book eight, on Astronomy) are incorporated into a thematical collection“, ebd.
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erwähnten Sammlungen vor, die ein breites Spektrum an Wissen über das Ganze der Natur bereitstellen.129 Strukturell vergleichbare Kennzeichen wie die genannten Martianusglossen und die Kompilationen in den Anthologien weist die traktatartige komputistisch-astronomische Literatur im Anschluß an die einsetzende Beda-Rezeption auf. Hrabans „De computo“ aus dem Jahre 820 beispielsweise ist noch in hohem Maße von „De temporum ratione“ geprägt, sowohl in thematischer, als auch in exegetischer Hinsicht. In erster Linie zeichnet Hrabanus sich dadurch aus, seine Vorlage in eine Dialogform überführt und didaktisch geschickt aufbereitet zu haben, im übrigen aber seinem Vorbild treu geblieben zu sein.130 Doch bereits der „Liber de computo“ des Helpericus von Auxerre von 903 besitzt einen ganz anderen Charakter. Erstens fällt auf, daß die Abhandlung nicht mehr als derartig umfassende, gleichsam enzyklopädische Darstellung des Gesamtkomplexes ‚Zeit‘ oder ‚Zeitweisung‘ angelegt ist wie Bedas „De temporum ratione“ oder Hrabans „De computo“. Gegenläufig zu dieser Beschränkung wird zweitens ein viel stärkeres Interesse an dezidiert astronomischen Vorgängen und Konstellationen erkennbar, die in einem oft nur losen Zusammenhang mit der Komputistik stehen.131 Mit Blick auf Bedas opera didascalica urteilt Jones, „Bede’s Place“ S. 275: „The diocesan masters who had founded and popularized the new cathedral schools that were to wave the future (at Auxerre, Laon, Liège, Reims, Paris) had been educated through Bede’s texts and curriculum. But now, partly by glossing him away, they were preparing first for Martianus, then for Boethius, and finally for Aristotle“. 130 Hrabans „De computo“ wurde jedoch in viel geringerem Umfang rezipiert als seine Hauptvorlage. Nach Stevens, dem Herausgeber der Schrift, sind heute sechzehn Handschriften verfügbar, sechs davon aus dem 9. Jahrhundert; zur Handschriftenlage siehe Jones’ Einleitung in Hrabanus, De computo (CCM 44, S. 190–196); allg. zu Hrabanus Böhne, Hrabanus Maurus; zu Hrabans Bildungshintergrund allg. Rissel, Rezeption; zu seinem computus Dies., „Hrabans ‚Liber de Computo‘“. 131 Der Verzicht auf die Darstellung des Themas ‚Zeit‘ als umfassenden Gesamtkomplexes tritt schon mit Blick auf den deutlich geringeren Umfang der Schrift klar erkennbar hervor. – Vergleicht man die verfügbaren Materialien in diachroner Sicht, ist eine Interessensverschiebung zu beobachten hin zu astronomisch-kosmologischen Themen und weg vom ursprünglichen Hauptgegenstand ‚Zeit‘. Beide Aspekte lassen sich im 10. und 11. Jahrhundert weiterverfolgen. Zum unterschiedlichen Charakter früherer „enzyklopädischer“ computus-Handschriften gegenüber späteren „wissenschaftlichen“ Wallis, „The Church, the World and the Time“ S. 25 f., 27–29 (eine schematische Gegenüberstellung von Inhalten und Aufbau dieser unterschiedlichen Typen am Beispiel zweier repräsentativer Manuskripte). Allerdings datiert Wallis diesen Übergang hier erst auf das 11. Jahrhundert; differenzierter dann Dies., The Reckoning of Time S. lxxxviii–xcii, wo sie anhand der Beda-Rezeption eine ähnliche thematische Akzentverschiebung konstatiert wie die vorliegende Arbeit. Am Beispiel der sogenannten karolingischen Fachenzy129
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Exemplarisch sei auf das zweite Kapitel des „Liber“ verwiesen, das der „physica signorum ratio“ sowie den Sonnwenden und Äquinoktien gewidmet ist. Dieses Kapitel allein umfaßt starke drei Spalten in der Migne-Edition, wobei über die Hälfte von astronomischkosmologischen Gegebenheiten gefüllt wird, die der ‚natürlichen‘132 Erklärung des Phänomens „Sonnwende“ beziehungsweise „Äquinoktium“ dienen. Ähnlich ausführliche ‚natürliche‘ Erläuterungen bieten zum Beispiel die Kapitel iv, xvi, xx und einige andere mehr.133 Obwohl Helpericus gelegentlich Ausdeutungen und Kontextualisierungen an seinem Material vornimmt, ist drittens bemerkenswert, daß es sich hierbei nur in Einzelfällen um allegorisch-typologische Auslegungen wie bei Beda oder Hrabanus handelt. Bei der Besprechung der signa im eben angeführten zweiten Kapitel bietet er beispielsweise neben etymologischen Herleitungen Hinweise auf die mythologischen Hintergründe der einzelnen Sternbilder.134 Der vergleichende Blick auf „De quatuor quaestionibus compoti“ Notkers des Deutschen von ungefähr 1020 zeigt schließlich, daß sowohl die Konzentration auf immer kleinere Ausschnitte aus dem Themenbereich voranschreitet, als auch die Dissoziation von ‚natürlichen‘ Erklärungen einerseits und auslegenden Passagen andererseits immer klarer hervortritt. Notker behandelt in seiner Schrift nur noch vier einzelne Fragen aus dem Bereich der Komputistik, nicht mehr den gesamten Komplex der Zeitweisung und -deutung. Eine interpretative Rückbindung findet lediglich ganz zu Beginn der kleinen Schrift statt,
klopädien arbeitet sie, ebd. S. xcii, deren „substitution of a cosmological for a computistical framework“ heraus. – Zu Helpericus Manitius, Geschichte Bd. 1 S. 446–448, ebd. S. 448f. zum „Liber de computo“ und seiner Verbreitung (bes. S. 449); mit Wattenbach lehnt Manitius die von Traube vorgeschlagene Identifikation Helperics mit Heiric von Auxerre ab, ebd. S. 449; zum „Liber de computo“ die Angaben in Borst, Kalenderreform S. 323 f., mit Hinweisen auf die Forschung in Anm. 18; zur Verbreitung der Schrift bes. Traube, „Computus Helperici“ und McGurk, „Computus Helperici“. 132 Mit ‚natürlich‘ wird hier wie im folgenden eine Form der Erklärung von Phänomenen bezeichnet, die sich auf die Erläuterung der realen Phänomene und der sie verbindenden oder ihnen inhärenten Strukturen konzentriert. 133 Vgl. auch den erwähnten ‚Versuchsaufbau‘ Helperics in cap. xxxi (PL 137, Sp. 40D–43B), zur empirischen Ermittlung der Sonnwenden und Äquinoktien. 134 Exemplarisch sei auf seine Ausführungen zum Sternbild ‚Zwillinge‘ verwiesen, Helpericus, Liber de computo (PL 137, Sp. 24A): „Super Geminorum allegorica significatione nihil adhuc reperire potui, nisi parum, quod tamen et ipsum haud multum a fabuloso recedit figmento. Fertur in illo namque mittholoico [sic, NG] simulacro ex his Geminis, quos Castorem vocant atque Pollucem, alterum immortalem, alterum fuisse natum mortalem. […]“.
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wo Notker Bedas Erläuterungen zum mysticum paschae in zwei Sätzen kondensiert wiedergibt.135 Die übrigen Ausführungen sind frei von Exegetisierungen und werden auch nicht auf die Eingangsbemerkungen rückbezogen. Zusammenfassend sind damit für die traktatartige komputistisch-astronomische Literatur seit der einsetzenden Beda-Rezeption drei Charakteristika festzuhalten. Erstens tritt die Exegese der behandelten Gegenstände in der Tradition der Hexaemeronkommentare zurück, zweitens verengt sich der Fokus der Darstellungen vom umfassenden Blick auf das Gesamtgefüge der Zeitweisung und -deutung auf einzelne Ausschnitte. Drittens weitet sich gegenläufig zu dieser Tendenz die thematische Perspektive von der Komputistik im engeren Sinne zur Astronomie und Kosmologie als dem ‚natürlichen‘ Hintergrundwissen der komputistischen Vorgaben. Ähnliche Verschiebungen zeichnen sich am Umgang mit „De temporum ratione“ selbst ab. Wie sich am Beispiel der Rezeption dieser Schrift beobachten läßt, kehrt sich im Verlauf der Etablierung und inhaltlichen Füllung des ars-Konzeptes das Verhältnis des Wissens vom Naturganzen einerseits zur Komputistik andererseits um. Während Beda Überlieferungen aus dem weiteren Bereich des ‚natürlichen‘ Wissens, etwa aus der Astronomie oder der Kosmologie, heranzog, um komputistische Phänomene zu erklären,136 studieren die Gelehrten seit der Karolingerzeit komputistische Materialien als Teil der besagten umfassenden Wissenssammlungen zum Naturganzen wie der erwähnten Fachenzyklopädien.137 Aufgrund der oben herausgearbeite-
135 Bedas Begriff lautet „typica paschae interpretatio“, vgl. Ders., De temporum ratione cap. lxiiii, 1 (CCL 123B, S. 456). – Zu Notkers „De quatuor quaestionibus“ siehe die Edition von Piper, Nachträge S. 312–318; zur Schrift Borst, Kalenderreform S. 324f.; für neuere Literatur zu Notker siehe Scherabon-Firchow, Notker der Deutsche. 136 Eine vergleichbare Praxis zeigt sich im Bereich der älteren irischen Komputistik, die in dieser Hinsicht Beda als Vorbild gedient haben dürfte, hierzu insbes. Wallis, The Reckoning of Time S. xxii–xxvi; zur Integration „kosmologischen“ Wissens durch Beda ebd. S. lxiv–lxvii, die von Wallis S. lxvi als „systematisch“ charakterisiert wird. 137 Wie in der Besprechung von Bedas „De temporum ratione“ erwähnt wurde, ist das Werk in inhaltlicher Hinsicht als die Ausgliederung eines Teilaspektes zum Naturganzen, formal (mit Blick auf seinen Aufbau) aber vergleichbar den älteren Realenzyklopädien. Diese letzteren – wie beispielsweise Isidors „De natura rerum“ – waren den karolingischen Gelehrten ebenfalls bekannt, so daß davon auszugehen ist, daß auch ihnen die beiden Charakteristika auffielen. Der Schritt dahin, Komputistik oder allgemein das Thema Zeitweisung ‚wieder‘ als einen Teil des Ganzen der realen Dinge zu begreifen und in die quadrivialen Anthologien zu ‚redintegrieren‘, lag damit nicht fern.
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ten konzeptionellen Veränderungen im karolingischen Wissenschaftsverständnis aber läßt sich das ‚Wissen vom Naturganzen‘ nun treffender als ‚Quadrivium‘ ansprechen – in inhaltlicher wie methodischkonzeptioneller Hinsicht. Wenn aber komputistische Zeugnisse, zum Beispiel Bedas „De temporum ratione“, wie geschildert zum integralen Bestandteil der Anthologien zum Ganzen der Natur werden, dann sind sie ab sofort nicht mehr einer eigenständigen Disziplin ‚Kompútistik‘ zuzuordnen, sondern gehen ihrerseits im Quadrivium auf.138 Dieser neue, konzeptionelle Rahmen, in den die Komputistik im Verlauf der skizzierten Veränderungen gerückt wird, bestimmt künftig freilich auch darüber, wie und mit welcher Intention sie betrieben wird. Als Teil des Quadriviums ist sie wie jedes artes-Wissen intentional auf die sapientia divina hin ausgerichtet, zu deren Erkenntnis sie aufgrund der ihren Gegenständen innewohnenden rationes rerum – also der ratio temporum – beizutragen vermag.139
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Da die karolingischen Gelehrten eisern an der überlieferten Vierereinteilung des Quadriviums festhielten, bemühten sie sich, die in den Sammlungen zum Ganzen der Natur behandelten Gegenstände – mehr oder weniger passend – den einzelnen Künsten zuzuordnen. Die Komputistik wird dabei in aller Regel als Bestandteil der Astronomie begriffen, wie in der Einleitung dieser Arbeit bereits angedeutet wurde. Siehe exemplarisch die dort angeführte Stelle in Hrabanus, De clericorum institutione xxv (PL 107, Sp. 403D–404A), der den computus mit der Astronomie identifiziert; vgl. auch die Ausführungen Martians in „De nuptiis philologiae et mercurii“ (Buch viii) mit den Themen in „De temporum ratione“ sowie in den komputistisch-astronomischen Sammlungen (siehe hierzu den folgenden Hauptteil); anders hingegen die Zuordnung noch bei Isidor, Etymologiarum libri xx lib. iii, iv, 4 (ed. Lindsay, Bd. 1), der den computus der Arithmetik zuschlägt. – Zu diesen Zusammenhängen Wallis, The Reckoning of Time S. xci. – Anders zu der Frage, ob Komputistik im Mittelalter als eine ars liberalis begriffen wurde, Borst, Kalenderreform S. 595–601, der S. 601 zusammenfassend zu einem ablehnenden Ergebnis kommt, aber davon ausgeht, die „Darstellung der Zeit“ sei als ein den artes liberales „gleichrangiges Fach von hoher philosophischer Würde“ wahrgenommen worden. 139 Gegen Hellgardt, Zahlenkomposition S. 15, ist angesichts der referierten Befunde nicht von einem Eingang quadrivialer Bestandteile in die Komputistik zu sprechen, der außerdem eine „Beschränkung“ auf die „praktisch nutzbaren Randgebiete“ dieser Inhalte bedeute; vielmehr ist der Vorgang genau umgekehrt zu interpretieren als ein Aufgehen der Komputistik im Quadrivium. Entsprechend dient komputistisches Tun seit der Karolingerzeit demselben Anliegen wie jedes quadriviale und überhaupt jedes kunstfertige: Es zielt letztlich auf die Erkenntnis Gottes und damit auf das Einholen der divina sapientia, der beatitudo und der simplex unitas. Damit aber ist der von Hellgardt angeführte Aspekt der praktischen Nutzbarkeit zumindest in der von ihm vorausgesetzten Ausschließlichkeit für komputistisches Tun – wie für jedes andere kunstfertige Tun auch – in Frage zu stellen.
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kapitel 1 1.4. Computus und Quadrivium
Ausgangspunkt dieses Kapitels war an erster Stelle die Frage, was Komputistik im Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit bedeutet: was ihr Aufgabenbereich ist, worauf sie zielt und in welchem konzeptionellen Horizont sie steht. Diesen Aspekten wurde hinsichtlich der komputistisch-astronomischen Literatur am Beispiel der Hauptschrift des Beda Venerabilis, „De temporum ratione“, nachgegangen. Mit Blick auf den wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Hintergrund, vor dem auch das komputistisch-astronomische Tun seinen Platz hat, wurde daraufhin Alkuins „Disputatio de vera philosophia“ als diejenige Schrift untersucht, die in programmatischer Weise die beobachtbaren Veränderungen des Wissenschaftsverständnisses und der Wissenschaftseinteilung seit der Karolingerzeit prägt. Angesichts der Aufgabenstellung sowie der genannten Hintergründe lassen sich die Ergebnisse des vorliegenden Kapitels folgendermaßen zusammenfassen. Bedas „De temporum ratione“ zeichnet sich gegenüber der älteren komputistischen Literatur durch seine geschlossene und umfassende Erörterung der Thematik aus. Auf der technisch-funktionalen Ebene bietet es alle erforderlichen Größen und Regeln, um sämtliche anstehenden Datierungsprobleme seiner Zeit zu lösen. Darüber hinaus machen seine Ostertafeln jedes weitere Berechnen von Daten unnötig. Entscheidendes Charakteristikum der Schrift aber ist ihre synthetische Verschränkung verschiedener Ebenen. Neben der genannten technisch-funktionalen ist in diesem Zusammenhang insbesondere an die des meist spätantiken Wissens über die Dinge der Natur zu denken sowie an die exegetische, die ihrerseits naturgemäß mehrschichtig ist.140 Berücksichtigt man, daß einerseits aufgrund der Ostertafeln kein Rechenbedarf mehr bestand, die komputistisch-astronomischen Quellen aber dennoch seit dem beginnenden 9. Jahrhundert deutlich zunehmen, und daß andererseits insbesondere im unmittelbaren zeitlichen Anschluß an die einsetzende Beda-Rezeption gerade die charakteristische Synthese der verschiedenen Ebenen nachahmend aufgegriffen wird, so ist zu schließen, daß den zeitgenössischen Gelehrten in erster 140 Diese Mehrschichtigkeit liegt ja insbesondere der im bibelexegetischen Bereich zentralen Lehre vom mehrfachen Schriftsinn zugrunde. Daß Beda auch ausgiebig auf diese Praktiken zurückgreift, wurde im vorliegenden Kapitel exemplarisch herausgearbeitet, siehe insbes. 1.2. Beda Venerabilis: „De temporum ratione“.
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Linie an der hermeneutischen Mehrdimensionalität lag, die „De temporum ratione“ bietet.141 Die Rezeption von Bedas komputistischem Hauptwerk ist gekennzeichnet durch einen wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Horizont, der insbesondere in derjenigen Zeit prägende konzeptionelle Konturen annimmt, in die sowohl der Beginn der Rezeption fällt, als auch deren größte Dichte. Wie auf der Grundlage der „Disputatio de vera philosophia“ Alkuins herausgearbeitet wurde, ist in diesem Kontext das Etablieren der formalen Wissenschaftseinteilung der septem artes liberales von hoher Bedeutung. Dieses formale Einteilungsprinzip verdrängt im Laufe des 9. Jahrhunderts zunehmend ältere Vorgaben und wird zum herrschenden Wissenschaftsschema der folgenden Jahrhunderte.142 Darüber hinaus wird es allmählich auch inhaltlich gefüllt, was in dieser Studie exemplarisch anhand der Martianus-Rezeption sowie an der traktatartigen komputistisch-astronomischen Literatur gezeigt wurde. Von besonderer Bedeutung für die in der vorliegenden Arbeit erörterten Fragestellungen ist hinsichtlich der genannten formalen Einteilung, daß das gesamte Wissen und mithin sämtliche Wissenschaften fortan in das rigide Korsett der sieben freien Künste gefaßt werden. Für die hier zentrale Komputistik mit ihrer Frage nach der Zeit hat dies zur Vgl. hierzu insbes. 1.2.2. Zu Inhalt und Wirkung, mit Hinweisen auf weiterführende Literatur. – Zum nicht nachlassenden Interesse an der Komputistik trotz Beda und trotz der Ostertafeln schon Wallis, „Images of Order“ S. 49, 52 f.; ebenso Dies., The Reckoning of Time S. xcvif. 142 Brunhölzl, „Bildungsauftrag“ S. 32, vermutet, daß Alkuin – mit seiner „Disputatio“ immerhin der ‚Erfinder‘ der Wissenschaftseinteilung der septem artes – versuchte, „die wesentlichen Elemente des Bildungswesens seiner Heimat der Hofschule zu übertragen“. Folgt man Jones, „Bede’s Place“ S. 263, dann spiegelt sich dieses Bildungswesen in hohem Maß in der oben zitierten Bestimmung der „Admonitio generalis“ wider. So zeigt beispielsweise Jones, ebd. S. 265–270, die Parallelen zwischen dem Programm der „Admonitio“ und dem wahrscheinlichen Unterricht zur Zeit Bedas auf. Im Rahmen dieses Unterrichts jedoch wurde auch Alkuin sozialisiert, so daß der Schluß naheliege, daß diese Bildungsprinzipien Alkuin als Ideal für die Reformen im Bereich des fränkischen Schulwesens vorschwebten. Das Konzept der sieben Künste – zumal in der Form und mit der inhaltlichen Füllung, wie es etwa in Laon aufgegriffen wurde und insgesamt allmählich Verbreitung fand – läßt sich vor diesem Hintergrund als eine spätere Ausprägung der Bildungskonzeption Alkuins oder als deren Weiterentwicklung im Zuge ihrer Rezeption begreifen. – Von einer gegenüber älteren Bildungskonzeptionen modifizierten Aufnahme von „De temporum ratione“ im Zuge seiner karolingerzeitlichen Rezeption geht hingegen Wallis, The Reckoning of Time S. lxxxviii–xcvii, aus, die zu der Einschätzung gelangt, daß „De temporum ratione“ im 9. und 10. Jahrhundert zu dem Zweck gelesen und glossiert wurde, „to fill the category of astronomia in their [sc. der Gelehrten des fraglichen Zeitraums, NG] new taxonomy of learning“, nämlich deren Schema der septem artes liberales, ebd. S. cx. 141
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Folge, daß auch sie in dieses Schema eingegliedert wird und ab sofort in aller Regel als Bestandteil der astronomia gilt. Das Aufgehen der Komputistik in der Astronomie und folglich in den artes liberales ist vor allem in konzeptioneller Hinsicht bedeutsam. Denn da die sieben Künste im Anschluß an Alkuin auf die christlich interpretierte göttliche Weisheit als den eigentlichen finis abzielen und diese Ausrichtung dem Schüler expressis verbis als recta intentio abverlangt wird, sind auch das Quadrivium und mit ihm die Komputistik letztlich theologisch ausgerichtet. Darüber hinaus aber zeichnet sich das artesWissen durch seinen besonderen Charakter aus, da sein Hauptgegenstand die ratio rerum ist. Damit ist es jedoch als ein Wissen zu bezeichnen, das in einem Abbildverhältnis zu seinem Vorbild und zugleich Zielpunkt steht: zum göttlichen Wissen. Diese konzeptionelle Vorannahme bestimmt zwingend das Wissenschaftsinteresse der mittelalterlichen Gelehrten – auch der Komputisten. Ihr Ziel muß es sein, die rationes rerum freizulegen, in Anlehnung an die boethianische Vorlage gesprochen also: den die Gegenstände der jeweiligen Kunst in einem rational strukturierten Zusammenhang haltenden ordo transparent zu machen.143 Infolge dessen ziehen nunmehr diese Gegenstände selbst und die ihnen eigene Konstitution das wissenschaftliche Interesse auf sich. Diese Merkmale und Hintergründe machen verständlich, weshalb Bedas „De temporum ratione“ gerade in der fraglichen Zeit zwar auf große Resonanz gestoßen ist, seine Synthese aber bald schon zerbrach. Mit seinem synthetischen Charakter entsprach es einerseits den an die artes gestellten Anforderungen, ging aber andererseits einen Schritt darüber hinaus, indem es vorführte, wie ein kunstfertig gewonnenes Wissen schließlich an die christliche Lehre rückzubinden sei, und vollzog damit einen Schritt, den Alkuin aus den artes ausgelagert hatte.144 Symptomatisch ist daher die Art und Weise, wie die Schrift im Rahmen der traktatartigen komputistisch-astronomischen Literatur aufgegriffen wurde. Während sie in der unmittelbar folgenden Zeit noch zu vergleichbar synthetischen Nachahmungen anregte,145 läßt sich mit wach143 Zum Zusammenhang von ordo als dem Einheitsmoment unter Wirklichkeitsbedingungen und folglich als dem Abbild des Einen vgl. die oben angeführten Stellen in der „Consolatio philosophiae“, bes. lib. 4, pr. 6 (CCL 94, S. 79–85). 144 Damit vermittelte Beda in „De temporum ratione“ gewissermaßen exemplarisch das Vorgehen, das Alkuin zwar als auf die artes folgende nächste Stufe bezeichnet, aber nicht mehr selbst beschrieben hatte. 145 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang besonders an Hrabans „De computo“.
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sendem zeitlichem Abstand eine zunehmende Dissoziation von Wissen über die Natur auf der einen Seite und dessen Ausdeutung auf der anderen beobachten. Am Beispiel des „Liber de computo“ des Helpericus von Auxerre zeigte sich eine ähnliche thematische Ausweitung – in diesem Fall: vorwiegend auf astronomische Zusammenhänge – wie sie mit Blick auf die Martianus-Rezeption sowie vorausgreifend hinsichtlich der komputistisch-astronomischen Sammlungen konstatiert wurde. Zwar bietet auch Helpericus etymologische Erläuterungen, historischmythologische Einbettungen oder gelegentliche bibelexegetische Auslegungen.146 Doch nehmen diese Bestandteile gegenüber den technisch‚naturwissenschaftlichen‘ Ausführungen einen kleinen Raum ein und wirken in der Gesamtkonzeption der Schrift eher flankierend, nicht mehr synthetisch integriert.147 Diese Beobachtungen leiten über zu weiterführenden Überlegungen. Mit den zuletzt skizzierten Verschiebungen wird im Bereich der komputistischen Traktate eine Entwicklung greifbar, die der am Beispiel des artes-Unterrichtes durch Johannes Scotus Eriugena sowie der frühen Martianus-Glossen skizzierten vergleichbar ist: Das Studium der artes besitzt propädeutische Funktion und geht der Auseinandersetzung mit der heiligen Schrift voraus, die somit in einen anderen Kompetenzbereich fällt. Daneben aber wächst das in den artes vermittelte Wissen deutlich an, weshalb seine Behandlung – auch aufgrund der ausgelagerten Umsetzung des eigentlichen Bildungszwecks – einen selbständigen und eigengesetzlichen Zug annimmt.148 Wie für den komputistischastronomischen Bereich im folgenden Kapitel gezeigt wird, bietet der allgemeine Erkenntnisgegenstand der artes, die ratio rerum, die Grundlage, um im Rahmen der kunstfertigen Beschäftigung mit dem Ganzen der Natur zu einer philosophisch inspirierten Auseinandersetzung mit den freigelegten rationes zu schreiten. Eine zentrale Rolle spielt in 146 Vgl. hierzu die oben angeführten Textstellen. – Mit ähnlichem Tenor bereits Wallis, The Reckoning of Time S. lxxxviii–xcvii, zu Helpericus beispielsweise S. xc. 147 Dieses Nebeneinander – anstelle des bedanischen Mit- und Ineinanders – wird noch ein Jahrhundert später, selbst bei dem in komputistischer Hinsicht traditionellen Notker dem Deutschen deutlich sichtbar. Vgl. hierzu die oben referierte allegorische Auslegung des Ostertermins zu Beginn der Schrift, die im übrigen fast ausschließlich auf die Erläuterung technisch-funktionaler Zusammenhänge beschränkt ist. 148 Vgl. hierzu die Beobachtungen von Wallis, The Reckoning of Time S. xc, zur BedaRezeption: „The works of astronomy and natural science which Bede had pillaged on behalf of computus were now copied and studied for their own sake“. – Der Begriff der „Eigengesetzlichkeit“ wird hier in Anlehnung an den Wortgebrauch von Speer, Die entdeckte Natur S. 289, verwandt.
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kapitel 1
diesem Zusammenhang die dem Konzept der artes inhärente Überzeugung, mit der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit einen Beitrag zur Erkenntnis der vera philosophia, also letztlich: Gottes zu leisten. Diese konzeptionellen Umakzentuierungen der Komputistik haben weitreichende Konsequenzen. Schon in der von Beda an das europäische Festland übermittelten Gestalt ist Komputistik mehr als bloße technisch-funktionale Zeitrechnung. Wie ja bereits dargestellt ist sie Zeitdeutung und Zeitweisung in einem umfassenden Sinn.149 Mit diesen Kompetenzen wird sie in der Karolingerzeit aufgegriffen und in das Schema der septem artes liberales integriert. Bei diesem Vorgang verändert sich freilich auch der Charakter der Komputistik mit ihrer Frage nach der Zeit. Während auf der einen Seite ihre Offenheit für neues Wissen über die Naturdinge stärker akzentuiert wird und sie in einen umfassenden kosmologischen Rahmen tritt, ist sie auf der anderen Seite ein Instrumentarium, um die rationes rerum zu studieren.150 Konstant bleibt ihre letztlich theologische Ausrichtung, doch wird demgegenüber jetzt zunehmend ihre philosophische Dimension unterstrichen. Dieses Charakteristikum wird durch die wachsende Emanzipation der artes, also das zunehmend eigenständige Erfassen und Ausdeuten der realen Dinge noch zusätzlich verstärkt.151 Wie anhand der komputistischastronomischen Sammlungen im folgenden gezeigt wird, ist quadriviales Tun vom Bewußtsein gekennzeichnet, mit den rationes rerum Abbilder des christlich interpretierten unum zu erfassen und diese in ihrer Abbildlichkeit zu ergründen – allerdings nicht mehr mit Mitteln der Bibelexegese.
149 Aus diesem Grund erscheint es ferner unbefriedigend, den Titel seines Hauptwerkes, „De temporum ratione“, lediglich mit „reckoning of time“ wiederzugeben, vgl. den entsprechenden Titel der Übersetzung von Wallis, The Reckoning of Time. 150 Auf die „transmutation of computus from vocational doctrina christiana into something very close to ‚science‘“ weist bereits Wallis, The Reckoning of Time S. xcv, nachdrücklich hin; Grundlage ihrer Einschätzung bilden die Rezeptionsweise und die Glossierungsgepflogenheiten von „De temporum ratione“ auf dem Festland im Anschluß an die karolingischen Reformen. 151 Diese ‚Emanzipation‘ zeichnete sich bereits im Rahmen der Lehrtätigkeit an den Kathedralschulen der nordöstlichen Francia ab, auf die in dieser Arbeit am Beispiel der Martianus-Rezeption hingewiesen wurde. Sie wird im folgenden Kapitel auf ihre Bedeutung für komputistisch-astronomisches und damit letztlich quadriviales Tun hin studiert.
kapitel 2 ALME DEUS, TE NOSSE MIHI CONCEDE* Quadrivium und Gotteserkenntnis
2.1. Einleitung Die quadrivialen Sammlungen am Beispiel Abbos von Fleury „Alme deus, te nosse mihi concede fideli.“ – „Gütiger Gott, gewähre mir Gläubigem, dich zu erkennen.“ – Dieses Gebet schließt die bekannteste Figur des „Computus“ Abbos von Fleury ab, die „Ephemerida“. In äußerst kondensierter Form bringt es das Wissenschaftsanliegen auf den Punkt, das hinter Abbos Beschäftigung mit Gegenständen des Quadriviums steht. Zugleich aber artikuliert es in poetisch verdichteter Zuspitzung das ‚theoretische‘ Programm, das in den komputistischastronomischen Sammlungen des 9. bis 11. Jahrhunderts seinen ‚praktischen‘ Niederschlag fand. Eine Auseinandersetzung mit quadrivialen Objekten hatte demnach in letzter Instanz kein geringeres Ziel als die Erkenntnis Gottes. Abbo von Fleury lebte in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts (ca. 940–1004).1 Schon im Kindesalter kam er als Oblate nach Fleury, wo er seine erste Ausbildung in den artes genoß.2 Seine Studien setzte
Abbo von Fleury, Ephemerida v. 29 (siehe Abbildung 15). Die detailliertesten Informationen über das Leben Abbos bietet die „Vita Abbonis“ seines Schülers Aimoin von Fleury (gest. um 1010), PL 139, Sp. 387–414; eine weitere hilfreiche Quelle in diesem Kontext sind Abbos Briefe, ebd. Sp. 419–462; sowohl die „Vita“, als auch die Briefe werden von R.-H. Bautier neu ediert. – Die aktuellste Biographie Abbos ist Riché, Abbon de Fleury. 2 Zur Abtei St.-Benoît-sur-Loire in Fleury und ihrer Bedeutung bei der Verbreitung der Klosterreform sowie als Zentrum monastischer Gelehrsamkeit insbesondere seit der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts und namentlich während des Abbatiates Abbos Donnat, „Recherches sur l’influence de Fleury“; Mostert, „Le séjour d’Abbon de Fleury à Ramsey“ S. 199f.; Ders., The Political Theology S. 24–39; Riché, Abbon de Fleury S. 13–16. – Seit dem frühen 8. Jahrhundert führt die Abtei den Namen des Ordensgründers, dessen Gebeine aus dem verwüsteten Montecassino hierher transferiert worden sein sollen. *
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er dann in Paris und Reims fort. Bald nach seiner Rückkehr in sein Heimatkloster wurde er armarius,3 verfolgte dort das Studium der freien Künste eigenständig weiter und unterrichtete parallel dazu bereits. Seit 965 hatte er die Leitung des Schulbetriebs inne, die er erst zwanzig Jahre später wieder aufgab, als er für einen zweijährigen Aufenthalt nach England aufbrach.4 Auch während dieser Zeit war er vorwiegend als Lehrer mit wissenschaftlichen Fragen und schulischem Unterricht beschäftigt, wirkte dort aber bereits engagiert bei der Verbreitung der monastischen Reformen auf der Insel mit.5 Anno 987 kehrte Abbo nach Fleury zurück, wurde ein Jahr später Abt und hatte dieses Amt bis zu seinem Tod (1004) inne.6 Standen bis zu seiner Abtwahl Wissenschaft und Bildung im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit, war er seither – schon aufgrund seines Amtes – dazu gezwungen, sich hauptsächlich mit dem Wohlergehen der Abtei, mit der von ihm unterstützten Klosterreform7 und mit weitreichenden politischen Fragen zu befassen.8 Umso erstaunlicher ist es, daß er trotz all seiner Verpflichtungen
3 Mostert, The Political Theology S. 34, zufolge umfaßt das Amt des armarius die Aufsicht über das Skriptorium, die Bibliothek, die Schule und die Archive. 4 Mostert, „Le séjour d’Abbon de Fleury à Ramsey“ S. 201, wundert sich, daß „le moine le plus érudit de son époque“ sich zum Unterrichten in das bescheidene Ramsey begeben habe, und schlägt, ebd. S. 205, als denkbaren Grund seine Unzufriedenheit über den Ausgang der Abtwahl von 985 vor. Möglicherweise hatte er selbst für dieses Amt kandidiert. 5 Zu Abbos Zeit in England Mostert, The Political Theology S. 40–45; Riché, Abbon de Fleury S. 30–46. 6 Er kam bei einem Aufenthalt in einer von Fleury abhängigen Priorei, in La Réole (Gascogne), bei einer Revolte aufständischer Mönche ums Leben, Aimoin, Vita Abbonis (PL 139, Sp. 410A–411C); Riché, Abbon de Fleury S. 260–268. 7 Zu Abbos Rolle bei der Einführung und Verbreitung der Klosterreformen gorzerlothringischer Provenienz siehe Mostert, The Political Theology S. 17 f., 45–59 u. ö. 8 Hierzu insbes. Mostert, The Political Theology S. 45–64; vgl. außerdem Riché, Abbon de Fleury S. 127–263. – Abbo selbst beklagt sich in einem Schreiben an zwei seiner Schüler darüber, daß er infolge seiner Aufgaben vorwiegend mit WeltlichPolitischem befaßt sei und kaum noch die Zeit fände, sich wissenschaftlichen Fragen zuzuwenden, Epistola prima (zitiert nach dem Cod. Berlin, SBPK, Phill. 1833, fol. 56r): „Sepe memini plus vobis voluisse prodesse quam potuisse […] obscurissimam questionem enodare gestiens […]. Nodum igitur questionis quodam cuneo rationis scindere prout potui ratum duxi, verumtamen impedimento fuerunt que se plus nimio ingerunt cogitationum tumultus, familiariam frequentia rei secularis occupatio, et peccatorum meorum recordatio. Cumque his lenociniis illectus, paululum ab artioris vie itinere defecissem, rursus ad hanc lugubratiunculam provocavit studium […]“; zur Handschrift siehe unten, 2.2.2. Der „Computus“ Abbos von Fleury.
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ausgerechnet komputistisch-astronomische Fragen bis an sein Lebensende erörterte.9 Abbos Werk ist entsprechend seiner umfassenden Bildung sehr vielseitig. Es enthält Schriften zur Grammatik und Logik, zur Mathematik und Astronomie, den „Computus“ hier mit inbegriffen.10 Darüber hinaus liegen Zeugnisse zum Recht, zur Historiographie, zur Hagiographie und einigen weiteren Themen vor.11 Bemerkenswert an der Überlieferung ist der Befund, daß seine Schriften in aller Regel keine in sich geschlossenen Darstellungen bieten. Einerseits sind sie patchworkartig konstruiert. In hohem Maße setzt Abbo sie aus Phrasen oder Zitaten älterer Autoren zusammen, entlehnt diese ihrem ursprünglichen Kontext und bringt sie in den neuen, von ihm intendierten Sinnzusammenhang.12 Andererseits besitzen seine Schriften oft einen unfertigen, zum Teil widersprüchlichen Charakter, der auf den Anlaß ihrer Entstehung zurückzuführen ist, wie sich beispielsweise bei seinen politischjuristischen Äußerungen erkennen läßt. Insbesondere diese Schriften wurden aufgrund konkreter äußerer Umstände verfaßt, nicht etwa als traktatartige Abhandlungen im wissenschaftlichen Raum. Entsprechend sind sie auf bestimmte Empfänger und spezielle Situationen 9 Aimoin, Vita Abbonis (PL 139, Sp. 410D), im Rahmen der Schilderung von Abbos Tod: „Abbo, intra claustrum monasterii residens et quadam computi ratiunculas dictans […]“. Darüber hinaus sei auf seine beiden Briefe zur Verbesserung der dionysianischen Inkarnationsära verwiesen, die er erst 1003 beziehungsweise 1004 verfaßte. 10 Zur Grammatik vgl. seine „Quaestiones grammaticales“; siehe hierzu die einleitenden Kapitel in Guerreau-Jalabert, Abbon de Fleury. – Neben Gerbert von Aurillac gehört Abbo zu den ersten frühhochmittelalterlichen Gelehrten, die Kommentare zu den logischen Schriften des Boethius verfaßten, vgl. sein „De syllogismis hypotheticis“; siehe hierzu Schupp, „Einleitung“. – An mathematischen Schriften liegt insbesondere sein Kommentar zum „Calculus“ des Victorius vor; zum sogenannten Abacus Abbos jetzt Burnett, „Abbon de Fleury“. – Zu den astronomischen Zeugnissen siehe neben dem „Computus“ sein „De spera mundi“ sowie „De duplici signorum ortu vel occasu“; Thomson, „Two Astronomical Tractates“; Ders., „Further Astronomical Material“; Juste, „Comput et divination“; Ders., „Neither Observation nor Astronomical Tables“. 11 Exemplarisch sei auf seine „Collectio canonum“ und seinen „Liber apologeticus“ verwiesen; vgl. darüber hinaus sein bereits erwähntes Briefcorpus. Die aktuellste Übersicht über sein Werk bietet Mostert, „Gerbert d’Aurillac, Abbon de Fleury“, bes. S. 426–431; immer noch wertvoll van de Vyver, „Les œuvres inédites“; siehe auch Riché, Abbon de Fleury S. 280–283. 12 Mostert, The Political Theology S. 197; Mostert geht aufgrund entsprechender Hinweise in der „Vita Abbonis“ davon aus, daß Abbo sich im Laufe der Zeit ein Dossier angelegt hatte, in dem er Zitate und dergleichen sammelte, um darauf bei Bedarf zurückgreifen zu können, ebd. S. 65. Diese Exzerptensammlung war schon zur Zeit Aimoins verschwunden.
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zugeschnitten, so daß Abbo je nach Bedarf unterschiedliche, teils einander widersprechende Akzente setzte. Dennoch läßt sich ein Grundanliegen ausmachen, das seinen Ausführungen gemeinsam ist: Abbos größte Sorge gilt im Fall der gerade exemplarisch herausgegriffenen politischen Schriften der monastischen Reform.13 Ein strukturell vergleichbares Phänomen wird mit Blick auf den „Computus“ sichtbar. Wie im weiteren Verlauf dieses Kapitels zu zeigen ist, eignet auch ihm der Charakter einer Sammlung, die sich dem Thema entsprechend aus komputistisch-astronomischen Materialien zusammensetzt. Entnommen sind die Bestandteile des „Computus“ durchweg älteren Vorlagen, so daß dieser ebenfalls als eine Kompilation anzusprechen ist. Dennoch wird die Untersuchung zeigen, daß auch ihm eine bestimmende Idee zugrunde liegt.14 Abbos komputistisch-astronomisches Hauptwerk wird von einem zentralen Gedanken wie von einem Leitmotiv durchzogen: dem Abbildungsverhältnis zwischen der Struktur der Wirklichkeit und dem Einen. Mit Blick auf andere Bereiche seines Schaffens ist die Forschung bereits zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt. In seiner Studie zur „politischen Theologie“ Abbos macht Mostert hinter dessen dominierender Sorge um die Klosterreform das fundamentale Bewußtsein davon aus, daß letztlich jegliche politische Macht, alle soziale Ordnung und jedes menschliche Gesetz in Gott ihren Ursprung und ihre Legitimation finden.15 Anhand der quadrivialen Schriften Abbos kommt Engelen zu dem verwandten Schluß, sein gesamtes Werk sei dem Gedanken der Einheit gewidmet,16 während Peden in ihrer Einleitung zu Abbos Calculus-Kommentar dessen lebenslanges Streben betont, die Ordnung des Kosmos zu greifen.17 Allen diesen leicht variierenden Deutungen ist aus der Perspektive der vorliegenden Arbeit prinzipiell zuzustimmen, allerdings werden sie im Verlauf dieses Hauptteils mit einer ihrerseits spezifischen Akzentsetzung aufgegriffen. Wie die Analyse des „Computus“ ergeben wird, steht im Mittelpunkt des Interesses Abbos der Zusam13 Diese Zusammenhänge arbeitet Mostert, The Political Theology, heraus; vgl. besonders prägnant die summarische Bündelung in der Schlußzusammenfassung, ebd. S. 197–199. 14 Zum „Computus“ van de Vyver, „Les œuvres inédites“ S. 150–154; die formale Ähnlichkeit zwischen Abbos theologisch-politischen Schriften und seinen philosophischen sowie komputistischen Ausführungen betont bereits Engelen, Zeit, Zahl und Bild S. 4. 15 Mostert, The Political Theology, wieder bes. markant S. 197–199. 16 Engelen, Zeit, Zahl und Bild S. 4–6. 17 Peden, „Introduction“ S. xi.
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menhang von dem die Wirklichkeit durchdringenden göttlichen ordo und Gott selbst als dem unum. Dieses Verhältnis reflektiert Abbo auf der Grundlage einer in erster Linie neuplatonisch gekennzeichneten Konzeption, derzufolge der ordo das Abbild des unum unter den Bedingungen der Wirklichkeit ist, auf das er somit zugleich verweist.18 Bemerkenswert an dieser Beobachtung ist der Umstand, daß Abbo mit dieser Konzeption und seinem Grundanliegen, das Verweisverhältnis von ordo und unum transparent zu machen, nicht alleine steht. Vielmehr läßt sich zeigen, daß sein Denken zumindest im wissenschaftlichen Kontext repräsentativ ist für eine Form wissenschaftlicher Rationalität, die sich in den komputistisch-astronomischen Anthologien seit dem 9. Jahrhundert artikuliert. Wie zu Beginn dieses Kapitels behauptet wurde, streben die Gelehrten des Untersuchungszeitraum ganz allgemein im Rahmen ihrer Beschäftigung mit den artes liberales und namentlich dem Quadrivium mittels zumeist neuplatonisch geprägter Verfahren nach Gotteserkenntnis. Wissenschaftliches quadriviales Tun zeichnet sich folglich getreu den von Alkuin formulierten konzeptionellen Vorgaben durch eine konsequente theologisch fundierte Ausrichtung aus sowie durch spezifische, mindestens im hier fraglichen komputistisch-astronomischen Feld gebräuchliche Methoden, die dem Bereich der ‚Philosophie‘ zuzurechnen sind.19 Diesen Zusammenhängen soll im vorliegenden Teil der Arbeit nachgegangen werden. Zunächst ist der Typ der komputistisch-astronomischen Sammlungen exemplarisch zu besprechen, um in einem zweiten Schritt herauszuarbeiten, ob der „Computus“ Abbos als eine solche zu bezeichnen ist. Die Befunde, die bei diesen beiden Schritten freigelegt werden, sind schließlich anhand repräsentativer Einzelbeispiele eingehender zu untersuchen und auf ihre Bedeutung hin zu befragen. Aufgrund der inhaltlichen Konzentration der vorliegenden Arbeit auf 18 Die (neu)platonische Prägung des Denkens Abbos betont bereits Engelen, Zeit, Zahl und Bild S. 5 f., 19–38, u. ö., allerdings läßt sie unberücksichtigt, inwiefern dieser Befund gegebenenfalls repräsentativ für die wissenschaftliche Rationalität seiner Zeit ist; vgl. auch Evans /Peden, „Natural Science and the Liberal Arts“; Caiazzo, „Abbon de Fleury“; Obrist, „Les tables et figures abboniennes“. 19 Eine andere Einschätzung vertritt – wie im vorausgehenden Kapitel bereits angedeutet – Obrist, La cosmologie médiévale S. 28f., 38 u. ö., die den Praxisbezug der von ihr sogenannten „recueils de comput ecclésiastique“ hervorhebt (Erstellen des Kalenders und Osterfestdatierung). – Die Gleichsetzung von artes liberales und Philosophie seit der Karolingerzeit nimmt bereits Schrimpf vor, Ders., „‚Philosophia‘ im Bildungswesen“, bes. S. 22–27; mit ähnlichem Tenor Ders., Art. „Philosophie v“, in HWPh 7 (1989), bes. Sp. 801–806.
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das Thema Zeit ist bei der Erörterung der einzelnen Aspekte jeweils eine bestimmte Perspektive einzunehmen. Auszugehen ist zunächst von der Komputistik im engeren Sinne, da sie der Bereich ist, in dessen Zentrum seit jeher die Zeit steht. Angesichts der Ergebnisse des vorausgehenden Hauptteils läßt sich dieser Komplex jedoch nicht isoliert betrachten. Wie sich anhand der traktatartigen Literatur und der BedaRezeption zeigte, ist die Komputistik integraler Bestandteil des Quadriviums. Die Analyse der hier fraglichen sammlungsartigen Quellen wird diesen Befund bestätigen. In einem letzten Schritt sind dann die Ergebnisse dieses Teils im Lichte der oben herausgearbeiteten bildungskonzeptionellen Veränderungen zu diskutieren. Zu fragen ist, welche Bedeutung ihnen als Charakteristika einer kunstfertigen Auseinandersetzung mit den realen Dingen zukommt und welche Konsequenzen sich hieraus für das Konzept der artes liberales und seine Umsetzung ergeben. 2.2. Der „Computus“ als komputistisch-astronomische Sammlung 2.2.1. Die komputistisch-astronomischen Sammlungen 1. Themenspektrum. Wendet man sich den komputistisch-astronomischen Sammlungen zu, ragen in erster Linie die nun schon mehrfach erwähnten karolingischen Anthologien heraus. Nach ihrem Inhalt, der als ein überwiegend komputistischer gilt, wird die „Aachener Fachenzyklopädie“ von 809–812 auch „Libri computi“ oder „7-Bücher-Computus“ genannt.20 Man interpretierte sie in der Forschung gelegentlich als „die erste Fachenzyklopädie des Mittelalters“ und sogar als erstes „Teamwork der europäischen Wissenschaftsgeschichte“, das einem „Machtwort“ Karls des Großen zu verdanken sei.21 In diesem Zusam20 Die Bezeichnung „Libri computi“ geht zurück auf Borst, Das Buch der Naturgeschichte S. 156; die Benennung „7-Bücher-Computus“ nach King, An Investigation, die neben dem Hauptinhalt auch auf die Einteilung des Werkes in sieben Bücher hinweist; Springsfeld, Alkuins Einfluß, folgt King aus Gründen der Einprägsamkeit; in der vorliegenden Arbeit wird wieder auf die Bezeichnung Borsts zurückgegriffen, um – im Falle von Schreibfehlern – eine Verwechslung mit dem sogenannten „3-Bücher-Computus“ (in der hier gewählten, ebenfalls auf Borst zurückgehenden Benennung: „Liber calculationis“) zu vermeiden. 21 So Borst, Das Buch der Naturgeschichte S. 156 („Teamwork“ und „Machtwort“) und 158 („Fachenzyklopädie“); diese Einschätzung greift Springsfeld, Alkuins Einfluß S. 105
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menhang wurden die „Libri computi“, wie auch der ihnen verwandte „Liber calculationis“, gerne als schriftliche Zeugnisse der Reformbestrebungen Karls hinsichtlich der Zeitweisung begriffen. Auf jeden Fall stehen sie mit Blick auf die heute verfügbaren Quellen am Anfang einer ganzen Reihe von komputistisch-astronomischen Sammlungen, die sie maßgeblich in ihrem Themenspektrum und Aufbau beeinflußten. Dieser zuletzt angesprochene Aspekt spiegelt sich am deutlichsten in ihrer Rezeption wider. Überliefert sind die „Libri computi“ bekanntlich nur in fünf Handschriften annähernd vollständig. Vier von ihnen stammen noch aus dem 9. Jahrhundert, die beiden jüngsten aus dem Jahre 859 beziehungsweise aus dem zweiten Drittel des Jahrhunderts. Ein Manuskript dieser Fünfergruppe entstand sogar erst im letzten Viertel des 10. Jahrhunderts, stellt jedoch eine qualitativ hochwertige Kopie dar.22 Darüber hinaus sind der Forschung derzeit wichtige Teilkopien der „Libri computi“ in zwölf weiteren Handschriften bekannt.23 Bemerkenswert an der Überlieferung ist der lange Zeitraum, über den sie sich erstreckt. Sie setzt im frühen 9. Jahrhundert ein und reicht kontinuierlich bis ins späte 11. Jahrhundert,24 besitzt allerdings ihren Höhepunkt im 9. Jahrhundert. Außerdem wirkten die „Libri computi“ erheblich auf den „Liber calculationis“ und über diesen wiederum auf zahlreiche weitere komputistisch-astronomische Sammlungen ein.25 und 107 (selbe Reihenfolge), wieder auf. Diese enthusiastische Charakterisierung verdeckt allerdings die oben angesprochene Problematik, daß ausdrückliche Willensbekundungen Karls in diesem thematischen Zusammenhang nicht überliefert sind. 22 Zur Handschriftenübersicht zuletzt Springsfeld, Alkuins Einfluß S. 113–119, mit weiterführenden Literaturhinweisen; aus dem 9. Jahrhundert stammen ihr zufolge die Codices Madrid, BN 3307 von etwa 820, Rom, Vat. Reg. lat. 309 von 859 und Vat. lat. 645 aus dem zweiten Drittel des 9. Jahrhunderts nach einer Vorlage von 827, Monza, Biblioteca Capitolare, ms. f-9/176 von etwa 850; aus dem späten 10. Jahrhundert stammt schließlich Paris, BN, Nouv. acq. lat. 456. – Als bester Textzeuge gilt die Madrider Handschrift, obwohl sie am Anfang und am Ende verstümmelt ist und in ihrer heutigen Gestalt nur die Bücher ii–v vollständig enthält. Sie entstand um 820 in der Abtei Murbach, gelangte spätestens 828 ins Eifelkloster Prüm, vor 922 dann nach Liège und von dort aus im 16. Jahrhundert nach Madrid. 23 Siehe hierzu die Übersicht bei Springsfeld, Alkuins Einfluß S. 117 f., mit Verweisen auf die Stellen ihrer Arbeit, an denen sie diese Handschriften kurz bespricht; dort jeweils auch weiterführende Literaturhinweise und aktuelle Forschungsdiskussionen. 24 Beispielsweise das Ms. London, BL, Royal 13 A xi, das in England um 1100 entstand und der Forschung zufolge wahrscheinlich als Transkription von Material einzustufen ist, das Abbo von Fleury im Rahmen seines Englandaufenthaltes (985– 987) mitbrachte. Hierzu zuletzt Springsfeld, Alkuins Einfluß S. 97 f., mit Hinweisen auf die Literatur. 25 Hierzu Springsfeld, Alkuins Einfluß S. 119–127, die S. 120–126 den „Liber calcu-
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Vor diesem Hintergrund scheint es gerechtfertigt, die „Libri computi“ in exemplarischer Weise bezüglich der von ihnen gebotenen Inhalte zu untersuchen, um in einem nächsten Schritt auf gängige Formen und Typen einzugehen, die sich im Zuge ihrer Rezeption sowie des Entstehens neuer, stets ähnlicher Sammlungen herauskristallisierten. Auf dieser Grundlage läßt sich dann die Frage erörtern, ob und inwiefern der „Computus“ Abbos von Fleury repräsentativ für den sammlungsartigen Typ komputistisch-astronomischer Zeugnisse ist. Da die „Libri computi“ in der Forschung bereits mehrfach ausführlicher beschrieben wurden, genügt es für den gegenwärtigen Zusammenhang, die wichtigsten Charakteristika aufzugreifen.26 Gegliedert ist das Werk in sieben Bücher mit 144 Kapiteln und übertrifft mit seinem Umfang ältere komputistisch-enzyklopädische Vorlagen bei weitem.27 Mit seiner thematischen Zusammenstellung ist es als eine der ersten komputistisch-astronomischen Sammlungen anzusprechen. Das erste Buch enthält einen Jahres- und Monatskalender, die dionysianisch-bedanischen Ostertafeln und eine Weltchronik, das zweite Buch argumenta, das dritte thematisiert den Sonnenlauf, das vierte den Mondlauf und die Osterberechnung. Den historischkomputistischen Rahmen der bisherigen Bücher sprengen die folgenden, insofern das fünfte Buch der Astronomie und das sechste der Metrologie gewidmet sind, während das letzte Buch Bedas „De natura rerum“ vollständig wiedergibt. Bereits diese grobe thematische Übersicht wirft die Frage auf, ob die Bezeichnung des Werkes ausschließlich als computus gerechtfertigt ist. Verstärkt wird diese Skepsis mit Blick auf den Umfang der einzelnen Abschnitte. Zwar nimmt die Komputistik im engen Sinne einigen Raum ein; die Ostertafeln im ersten Buch benötigen entsprechend ihrem Aufbau viel Platz, in der Madrider Handschrift sind es 29 Seilationis“ auf inhaltlicher Ebene und bezüglich der Anordnung des Materials mit den „Libri computi“ vergleicht und so deren Einfluß aufzeigt; S. 126f. zu den Handschriften, S. 127 mit Anm. 187 zu den Teilkopien unter Verweis auf die diesbezügliche Forschung. 26 Eine ausführliche Inhaltsangabe lieferte zuletzt Springsfeld, Alkuins Einfluß S. 107– 113; zuvor bereits Borst, „Alkuin“ S. 70–73, und Ders., Das Buch der Naturgeschichte S. 156– 162, der in höherem Maße den Kontext mit einbezieht. 27 Vgl. hierzu etwa den „Annalis libellus“ von 793, der etwa ein Neuntel des Umfangs der „Libri computi“ umfaßt. Vergleichbar ist in dieser Hinsicht, soweit der Verfasserin dieser Arbeit bekannt, nur die sogenannte ‚Hildebald-Handschrift‘ Köln, Diözesan- und Dombibliothek 83 II, auf die in dieser Studie gelegentlich zurückgegriffen wird. Zu diesem Manuskript ausführlicher unten, 2.3.1. Diagramme.
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ten, während die argumenta zur eigentlichen Osterfestberechnung im vierten Buch nur etwa sechs Seiten umfassen. Die Verfahrensanweisungen des zweiten Buches zur Zeitrechnung im allgemeinen sind auf lediglich einer Seite ausgebreitet,28 der Rest des liber bietet Multiplikationstabellen, Listen mit Hilfsgrößen, Differenzen bezüglich des Ostervollmondes zwischen Lateinern und Griechen und dergleichen mehr. Bereits die Bücher iii und iv lassen sich mit ihrem jeweiligen Hauptgegenstand, dem Sonnenlauf im einen, dem Mondlauf im andern Fall, nicht mehr zweifelsfrei einer bestimmten Disziplin zuordnen. Zwar sind manche der angesprochenen Aspekte unverzichtbar für die Zeitbestimmung und damit auch für komputistische Berechnungen, doch gehen einige deutlich darüber hinaus. Beispielsweise sei auf das zehnte Kapitel des dritten Buches verwiesen, das die Eintrittszeiten der Sonne in die einzelnen Tierkreiszeichen für die Abfolge von vier Jahren angibt. Für komputistische Kalkulationen benötigt man diese Angaben nicht, allenfalls macht diese Übersicht das Zustandekommen des Schalttages transparent.29 Den Rahmen der Komputistik im engen und den der Zeitrechnung in einem weiteren Sinne überschreiten die letzten drei Bücher des Werkes, deren Themenspektrum oben bereits genannt wurde. Die Schreiber der „Libri computi“ stellten hier inhaltlich weit ausgreifende Materialien zusammen, die sich nur dann überzeugend als Grundlagen der Zeitrechnung bezeichnen lassen,30 wenn man gewillt ist, die Zusammenhänge der natürlichen Dinge oder der Wirklichkeit als fundierend für die Erörterung des Themas Zeit zu begreifen. Daß bei den mittelalterlichen Gelehrten ein solches Wirklichkeitsverständnis vorherrschte, ist zu vermuten. Trifft diese Einschätzung aber zu, so ist schon an diesem Punkt der Analyse zu schlußfolgern, daß für die Auswahl und die Zusammenstellung des Materials in erster Linie konzeptionelle Gründe 28 Madrid, BN 3307, fol. 7r–20v, die Ostertafeln; ebd. fol. 44r–46v, die argumenta; ebd. fol. 29v, die Verfahrensanweisungen. 29 Die referierten Ausführungen in Madrid, BN 3307, fol. 36v–38v; weitere Beispiele für diesen Befund sind die Angaben zur monatlichen Verschiebung des Sonnenaufgangs, ebd. iii 14, fol. 39v, zur Berechnung des Abstandes von Mond und Sonne auf dem Tierkreis, ebd. iv 6, fol. 40v–41r, die mathematische Beschreibung des Mondlaufes durch den Tierkreis, ebd. iv 23, fol. 48r–v, oder die Ausführungen zum Einfluß des Mondes auf Pflanzen, Menschen und die Gezeiten des Meeres, ebd. iv 26–27, fol. 49r– 50r. 30 In dieser Weise deutet Borst, Das Buch der Naturgeschichte S. 160–162, die Bücher v–vii der „Libri computi“, wenn er beispielsweise zum fünften Buch anmerkt, es stelle „die Theorie der Zeitrechnung ganz auf antike Grundlagen“.
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ausschlaggebend waren. Bereits bei der Anlage des Werkes wäre demnach die technisch-funktionale Ebene der präsentierten Wissensinhalte von sekundärem Interesse gewesen.31 Mit Blick auf die in den letzten drei Büchern versammelten Wissensinhalte fällt auf, daß es sich hierbei vor allem um Exzerpte handelt. Bemerkenswert hieran ist der Umstand, daß in hohem Maße Werke ausgewählt wurden, die nicht nur in der Komputistik, sondern im wissenschaftlichen Umfeld insgesamt bislang kaum rezipiert wurden.32 Eine signifikante Ausnahme in diesem Zusammenhang bedeutet Bedas „De natura rerum“, das den gesamten siebten liber füllt. Doch zeichnet sich gerade dieses Werk durch ein vergleichbares Charakteristikum aus wie die hier fraglichen Bücher der „Libri computi“. Auch Beda griff bei der Anfertigung seines Traktates auf bis dahin weniger gebräuchliche Autoren zurück: in erster Linie auf Isidors gleichnamiges Werk, darüber hinaus aber vor allem auf die „Naturalis historia“ des Plinius Secundus. In diesem Kontext ist noch eine weitere Besonderheit des Werkes des Angelsachsen zu berücksichtigen. Anders als seine wichtigste Vorlage, Isidors „De natura rerum“, und anders als sein eigenes Spätwerk, „De temporum ratione“, konzentriert sich Beda in seiner Naturenzyklopädie auf die fachwissenschaftliche Seite des von ihm zusammengetragenen Wissens. Die bemerkenswerte und konsequente Rückbindung der Inhalte mittels exegetischer Ausdeutung, die in „De temporum ratione“, wie oben beschrieben, vorherrscht, fehlt in „De natura rerum“ fast vollständig.33 In vergleichbarer Weise trugen die Schreiber der „Libri computi“ die Texte ihre Vorlagen unverändert zusammen. Wie schon Beda, ihr Gewährsmann im letzten der Bücher, griffen sie an erster Stelle auf Plinius zurück.34 Die Kapitel iii bis vi des fünften Buches beispielsweise bieten die Planetentheorie dieses spätantiken Autors und fassen sie in 31 Es handelt sich hierbei um eine für die Fragestellung dieser Arbeit zentrale Beobachtung (vgl. hierzu bereits die Hinweise in der Einleitung). Insbesondere im Verlauf dieses Kapitels wird verschiedentlich auf ihn zurückzukommen sein. 32 Einen plastischen Eindruck vom außergewöhnlichen Charakter der ausgewählten Wissensinhalte vermittelt Borst, Das Buch der Naturgeschichte S. 157. 33 Zu Bedas Rückgriff auf Plinius, seinem Verhältnis zu Isidors „De natura rerum“ und seiner Konzentration auf „Realien“ Borst, Das Buch der Naturgeschichte S. 101f.; zur Rezeption von Bedas „De natura rerum“ in den „Libri computi“ ebd. S. 162. 34 Vgl. hierzu die Ausführungen in Borst, Das Buch der Naturgeschichte S. 161f.; allerdings zogen die Schreiber der „Libri“ nur eine beschränkte Anzahl an Ausschnitten aus der „Naturalis historia“ heran, vor allem aus Buch ii. – Zu Plinius insges. siehe den Sammelband French /Greenway, Science in the Early Roman Empire.
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vier, wohl eigenständig entwickelte Diagramme.35 Auch dem langen meteorologischen Kapitel des fünften und der Erdvermessungsmethode des sechsten Buches liegt die „Naturgeschichte“ zugrunde.36 Neben Plinius Secundus spielen desweiteren die „Phainomena“ des Aratus – zum einen in einer Bearbeitung des Hygin, zum andern in der des Germanicus –, der Kommentar des Macrobius zum Traum des Scipio und schließlich der bereits oben erwähnte Martianus Capella mit seinem Werk zu den sieben freien Künsten eine bedeutende Rolle als Vorlagen.37 Auf die vollständige Übernahme von Bedas „De natura rerum“ im abschließenden siebten Buch wurde bereits hingewiesen. Aufgrund dieser thematischen Zusammenstellung gewinnen die „Libri computi“ einen ausgesprochen kosmologischen Zug, der – berücksichtigt man den oben herausgearbeiteten wissenschaftskonzeptionellen Kontext – zugleich als ein quadrivialer zu bezeichnen ist.38 Etwa die Hälfte des Codex ist Themen aus dem Bereich der Astronomie, Meteorologie, Metrologie und dergleichen gewidmet. Selbst die übrigen Teile lassen sich nur sehr bedingt als komputistisch oder die Zeitrechnung betreffend charakterisieren. Angesichts dieses Befundes ist der im ersten Kapitel dieser Arbeit vorgetragenen Forschungsmeinung zuzustimmen, derzufolge die Komputistik nicht um immer weiteres, erklärendes Wissen ergänzt wird, sondern vielmehr genau umgekehrt in andere, umfassendere Wissenszusammenhänge integriert wird.39 Als derjenige Wissenskomplex, der aus der eigenen Tradition am besten bekannt und ‚erforscht‘ ist, geht sie in die neuen quadrivialen Sammlungen ein. Sie wird zu einem Wissensbestandteil des Quadriviums unter mehreren und – wie die weitere Geschichte zeigt – zunehmend durch bestän35 Madrid, BN 3307, fol. 63r–67r. – Die Vermutung, die Diagramme seien eigens für die „Libri computi“ entworfen worden, bei Borst, Das Buch der Naturgeschichte S. 161; seine Einschätzung teilt Springsfeld, Alkuins Einfluß S. 112. 36 Madrid, BN 3307, fol. 69r–71v (das meteorologische Kapitel), nach Plinius, Naturalis historia lib. xviii; die Kapitel 1–7 (zum Erdumfang: cap. 7) fehlen heute in der hier verwendeten Madrider Handschrift; die Ausführungen zur Methode des Eratosthenes folgt Plinius, Naturalis historia lib. ii, und Martianus Capella, De nuptiis philologiae et mercurii lib. vi. 37 Siehe hierzu die genauen Stellenangaben in Springsfeld, Alkuins Einfluß S. 111–113, die zudem noch auf die „Etymologien“ Isidors und auf Vitruv verweist. 38 Borst, Das Buch der Naturgeschichte S. 164, charakterisiert die „Libri computi“ als eine „Synthese von Naturverständnis und Zeitbewußtsein […]“. – Zum kosmologischen Charakter der „recueils de comput“ Obrist, La cosmologie médiévale S. 40, 50f. u. ö. 39 Vgl. hierzu auch exemplarisch die Ausführungen in 1.3.4. Wissen im Rahmen der artes, die zu einem vergleichbaren Ergebnis führten.
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dig neu hinzutretendes Wissen zunächst aus den eigenen Bibliotheken, dann aus der arabischen Wissenschaftswelt ersetzt.40 Damit aber spiegelt sich in den quadrivialen Anthologien ein vergleichbarer Prozeß, wie er oben schon mit Blick auf das Bildungswesen und die Beda-Rezeption umrissen wurde. Erkennbar wird ein Sammeln ‚neuen‘ Fachwissens, das zunächst unverändert aufgenommen wird, gegebenenfalls ‚älteres‘ ersetzt und ohne weitere Ausdeutung weitervermittelt wird. 2. Typen und Formen. In der Forschung wird gelegentlich betont, daß zwei Komponenten im Zentrum der Komputistik stehen, nämlich der Kalender und zyklisch strukturierte Ostertafeln.41 Diese Einschätzung trifft grundsätzlich zu, wie das Studium komputistischer Quellen insbesondere der ersten nachchristlichen Jahrhunderte bestätigt, ist aber mit Blick auf die allmählich zum Standard erwachsende bedanisch geprägte Komputistik infolge der karolingischen Reformen weiter zu differenzieren. Die wesentliche Aufgabe, die es bei der Datierung von Ostern und folglich bei der Konstruktion einer Ostertafel zu lösen gilt, besteht darin, drei verschiedene, letztlich inkommensurable Größen aufeinander zu beziehen. Diese sind erstens der Sonnenlauf, der in römischer Tradition dem Kalender zugrunde liegt, nach dem datiert wird. Zweitens ist der Mondlauf einzukalkulieren, da die Osterfestdatierung in der jüdischen Pessachtradition in Relation zum synodischen Mondmonat steht. Und seit im Christentum Einigkeit darüber besteht, daß Ostern an einem Sonntag zu feiern ist, muß drittens die Abfolge der Wochentage bei der Datierung berücksichtigt werden.42 Dieser Aufgabenstellung verdanken zum einen die dionysianischbedanischen Ostertafeln ihr Erscheinungsbild, das in erster Linie in der charakteristischen Füllung ihrer Spalten mit bestimmten Inhalten seinen Ausdruck findet.43 Zum andern spiegeln sich die an die Komputistik gestellten Anforderungen in ihrem Instrumentarium wider, mit 40 Siehe hierzu zusammenfassend 1.4. Computus und Quadrivium; Wallis, The Reckoning of Time S. lxxxix–xcvi; Dies., „The Church, the World and the Time“ S. 25–27. 41 Dies unterstreicht insbes. Wallis, The Reckoning of Time S. xxii; Dies., „The Church, the World and the Time“ S. 18–20. 42 Solide Einführungen in die Zeitrechnung und ihre astronomischen sowie technischen Grundlagen und in die Chronologie bieten Ginzel, Handbuch; Grotefend, Handbuch; von den Brincken, Historische Chronologie; Declercq, Anno Domini. 43 Zu den Ostertafeln siehe die Erläuterungen in 1.1. Einleitung: Computus und Bildungsreform, mit Hinweisen auf die Literatur, bes. Declercq, Anno Domini S. 155– 159; Verbist, In duel met het verleden S. 164–172.
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dessen Hilfe sich das alljährliche Osterfest ermitteln läßt und das letztlich zum Erstellen der Ostertafeln dient. Im Laufe der Zeit kristallisierten sich verschiedene typische Hilfsmittel heraus, die sich dadurch auszeichnen, daß sie je eine der drei genannten Größen in einem rechnerisch handhabbaren Schema bereitstellen und die Grundlage bieten, diese Größen ineinander zu übersetzen.44 Der zentrale Baustein in diesem Gefüge ist der Kalender, der, wie erwähnt, auf dem Sonnenlauf basiert. Sein wiederkehrendes Schema beruht somit auf dem Sonnenjahr, das in zwölf Kalenderblätter entsprechend den zwölf Monaten eines Jahres gefaßt und tageweise gezählt wird. Diesem Kalender sind mindestens zwei weitere Hilfsmittel an die Seite zu stellen, um den Bezug zu den beiden übrigen Größen, zum Mondlauf einerseits und zur Siebentagewoche andererseits, herzustellen.45 Beide Größen werden üblicherweise in tabellarischer Form aufbereitet, da die Zweidimensionalität einer Tabelle den Vorteil bietet, zwei unterschiedliche Faktoren, die zusammen das Verhalten der fraglichen Größe bestimmen, in einem gemeinsamen Schema zu berücksichtigen. Einen solchen Anspruch stellen beide genannten Größen an ihr Instrumentarium. Ihr konkreter ‚Wert‘, also im einen Fall das Mondalter, im andern der Wochentag, ändert sich einerseits tageweise und andererseits in Abhängigkeit von einem der jeweiligen Größe zugrunde liegenden Zyklus. Während also beispielsweise die Spalten der jeweiligen Tabelle den entsprechenden Zyklus wiedergeben, fangen die Zeilen im einen Fall den tageweisen Verlauf des Mondalters, im andern Fall den tageweisen Wechsel der Wochentage ein. Neben dem Kalender gibt es also mindestens zwei weitere Utensilien: eine Mondaltertafel und eine sogenannte Konkurrententabelle zur Wochentagsbestimmung. Zusammengeführt werden die drei Größen im oben erwähnten Grundbaustein, dem Kalender. Zwar ist der Kalender diejenige Komponente, die der Wiedergabe des Sonnenlaufes dient, doch stellt er darüber hinaus die erforderliche Struktur bereit, um die verschiedenen Größen miteinander gleichzusetzen. Da alle drei Größen tageweise geordnet sind, lassen sie sich auf dieser Grundlage ineinander überführen. Die Zeichen – zumeist sind es Buchstaben –, die in den Mondalter- und Wochentagstabellen für konkrete Werte stehen, werden gemäß ihrer tageweisen Struktur den korrespondierenden Kalen44 Den besten Überblick über die verschiedenen hier gebräuchlichen Elemente bietet Borst, Kalenderreform S. 396–416, 482–500, 608–664, 687–715. 45 Zu diesen Grundbestandteilen Wallis, „Images of Order“ S. 46, 49.
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dertagen zugeordnet. Ihnen werden hierzu in den Kalendern eigene Spalten in der sogenannten Intervallzone zugewiesen. Umgekehrt läßt sich die konkrete Bedeutung der dort repräsentierten Buchstabensysteme mittels der entsprechenden Hilfstabelle entschlüsseln.46 Wie die Auseinandersetzung mit komputistisch-astronomischen Handschriften des 9. und 10. Jahrhunderts zeigt, fesselten diese Komponenten – der Kalender und seine Hilfstabellen – das Interesse der Gelehrten in besonderem Maße. Dies äußert sich in erster Linie in der Zunahme an Kalendern sowie an figurae gegenüber älteren komputistischen Zeugnissen.47 Ein weiteres Indiz ist der Befund, daß insbesondere die Mondaltertabellen zum Gegenstand vielfältiger Modifikationen wurden.48 Das Konstruktionsprinzip der Tabellen ist stets dasselbe: Dargestellt wird der tageweise Verlauf der Mondphasen eines Mondmonats relativ zum 19jährigen Lunisolarzyklus. Doch ersannen die Komputisten eine Vielzahl verschiedener Buchstabensysteme, mittels derer die einzelnen Werte abgebildet wurden.49 Ähnlich regte der 46 Zu den karolingischen Kalendarien und ihrer Rezeption umfassend Borst, Kalenderreform; zu ihrem Aufbau, charakteristischen Elementen und der auch in der vorliegenden Arbeit verwendeten Terminologie ebd. S. 386–454 (zu den sogenannten „Kalenderkernen“); Borst unterscheidet zwischen drei verschiedenen „Zonen“, erstens der Festzone mit christlichen Festen des betreffenden Tages, zweitens der Terminzone mit Angaben kosmographischen, astronomischen, astrologischen, aber auch komputistischen Inhaltes und drittens der Intervallzone, die der Verzahnung von Sonnenkalender, Mondaltern und Wochentagen dient; oft ermöglicht sie darüber hinaus noch die Verknüpfung mit dem siderischen Mondmonat. – Zu den Buchstabensystemen bereits Sickel, „Die Lunarbuchstaben“. 47 Die Zunahme an figurae in den ‚Fachenzyklopädien‘ gegenüber den älteren Traditionen konstatiert bereits Borst, „Alkuin“ S. 71; ebenso wieder Ders., Kalenderreform S. 319; unter besonderem Verweis auf die ‚Salzburger Fassung‘ der ‚Fachenzyklopädie‘ Kühnel, The End of Time S. 110, mit derselben Beobachtung; allgemein zur Zunahme an bildhaften Elementen in den Anthologien seit der Karolingerzeit Wallis, „Images of Order“ S. 53 f. 48 Zu den Modifikationen oder Symbolisierungstendenzen Wallis, „Images of Order“ S. 54, und zwar insbes. zum späten 10. und zum 11. Jahrhundert. 49 Neben den litterae punctatae sind in den komputistisch-astronomischen Sammlungen noch einige andere Buchstabensysteme in Gebrauch, z. B. die Reihe von A–P, jene von A–K oder das Vokalschema (AEIOU). Während mit Hilfe der litterae punctatae jedem einzelnen Mondalter exakt ein Buchstabe zugeordnet wird, der zudem darüber informiert, ob ein voller oder ein hohler Monat repräsentiert wird, stellen die einzelnen Buchstaben der anderen Systeme zwei oder mehr Mondalter dar, verwenden also ein gröberes Raster bei der Abbildung. Häufig vermögen sie anders als die litterae punctatae keine Auskunft über den Umfang des wiedergegebenen Monats zu erteilen. Je nach System ist es gelegentlich sogar unmöglich, dem Wechsel von vollen und hohlen Mondmonaten zu folgen, so daß sich die konkrete Bedeutung der einzelnen Buchstaben alle zwei Monate ändert. – Zu verschiedenen Mondbuchstabensystemen vgl. Jones, Bedae
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Wochentagsverlauf zur intensiven Auseinandersetzung an, wie sich besonders eindrucksvoll in der Überführung der gängigen rechteckigen Konkurrententafel in die Kreisform, die rota computistica, erkennen läßt. Auch die Kalender selbst wurden immer wieder verändert, allerdings betrafen diese Veränderungen hier wie schon bei den Mondaltertabellen und Konkurrententafeln die Form der Darstellung, nicht das Konstruktionsprinzip oder die Funktionsweise. Außerdem wurden Elemente aus anderen Wissensbereichen als der Komputistik im engeren Sinne zum Gegenstand formaler oder struktureller Modifikationen, und zwar in der Regel solche, die bereits einer Tradition entstammen, die auf eine Ausdeutung der dargestellten Gegenstände abzielt.50 Was sich damit auf der einen Seite als Kreativität und Bearbeitungsfreudigkeit äußert, verleiht den komputistisch-astronomischen Sammlungen auf der Kehrseite aufgrund der zahlreichen Doppelungen gleicher oder prinzipiell übereinstimmender Elemente einen ausgesprochen redundanten Charakter. Im Rahmen des zunehmenden Interesses an der Komputistik in zeitlicher Folge auf die karolingischen Fachenzyklopädien und im Zuge der eben skizzierten Auseinandersetzung mit ihren Komponenten insbesondere auf der Darstellungsebene treten verschiedene Grundtypen oder Grundformen hervor, die das Erscheinungsbild komputistischastronomischer Elemente prägen. Im Grunde ist die Geschichte der Komputistik im engeren Sinne im Anschluß an die karolingischen Reformen und mit Blick auf die komputistisch-astronomischen Sammlungen in formaler Hinsicht eine Geschichte der kreativen Auseinandersetzung mit diesen Typen und Formen.51 Um den Horizont zu vermitteln, vor dem anhand ausgewählter Einzelbeispiele aus dem „Computus“ Abbos von Fleury nach der Bedeutung der gestalterischen Bemühungen und nach dem Anliegen hinter den beobachtbaren Modifikationen gefragt wird, sollen im folgenden die gängigsten Grundtypen vorgestellt und besprochen werden.
Pseudepigrapha S. 108–110. – Ausführlich zu den Buchstabensystemen Borst, Kalenderreform S. 400f. (zum siderischen Mondlauf) und S. 405–411 (zum synodischen Mondalter). 50 Beispielsweise sei auf die kosmologisch-philosophischen Isidor-Diagramme wie das Jahreszeiten- oder das Mikro-Makrokosmos-Schema verwiesen; siehe Obrist, „Le diagramme isidorien“; außerdem Dies., „Wind Diagrams“. 51 Diesen Schluß deutet bereits Wallis, „Images of Order“ S. 53–58, an; wieder Dies., „The Church, the World and the Time“ S. 18, allerdings nur mit Bezug auf den Kalender und die Ostertafeln.
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Als wichtigste Formen, in die komputistische Elemente im engen Sinne eingebettet werden, lassen sich die Rechteckstabelle und das Kreisdiagramm ausmachen. Die rechteckige Präsentationsform scheint sich im Bereich der Komputistik selbst herausgebildet zu haben und auf keine spezifischen Vorlagen aus der Tradition zurückzugehen.52 Grundsätzlich lassen sich zwei Typen unterscheiden: die bereits erwähnten Funktions- oder Hilfstabellen einerseits und tabellarische Auflistungen andererseits.53 Der letztgenannte Typ listet in aller Regel jahrweise geordnete Daten auf, etwa die termini der beweglichen Kirchenfeste. Mitunter sind diese Listen so detailliert, daß sie ein unmittelbares Ablesen bestimmter beweglicher Daten bezogen auf konkrete Jahre ermöglichen. Das bekannteste Beispiel hierfür sind die schon mehrfach genannten Ostertafeln.54 Einen anderen Charakter besitzen die Hilfstabellen, die als Instrument konstruiert sind, das sich nur im Verein mit einem ihm komplementären Gegenstück anwenden läßt. Exemplarisch ist in diesem Zusammenhang auf die oben skizzierten Mondaltertabellen und das ihnen korrespondierende Kalendarium hinzuweisen.55 Obwohl auch die tabellarischen Listen regelmäßig Aufnahme in komputistisch-astronomische Sammlungen fanden, ist die Bedeutung der Hilfstabellen aus Sicht der hier verfolgten Fragestellung höher zu veranschlagen. Der Grund für diese Einschätzung liegt in der intensiven Auseinandersetzung der mittelalterlichen Gelehrten mit dieser Tabellenform. Die funktionalen Rechteckstabellen regten die Komputisten einerseits dazu an, neue Buchstabensysteme zu entwickeln, und inspirierten sie andererseits, Vorlagen in ikonographischer Weise zu modifizieren. Schlagende Beispiele hierfür sind die A–K-Tabelle und das Vokalschema.56
Allgemein zu den Hilfstabellen Borst, Kalenderreform S. 485–487, mit Beispielen. Siehe hierzu Evans, „The Geometry of the Mind“ S. 39. 54 Zu den Ostertafeln über die bereits zitierte Literatur hinaus (mit stärkerer Konzentration auf den hier fraglichen Zeitraum) Borst, Kalenderreform S. 492–494; Wallis, „Images of Order“ S. 50. 55 Auch Kalendarien sind im Grunde als ‚Hilfstabellen‘ zu bezeichnen. Mindestens für die Datumssäule im Verbund mit der Intervallzone trifft diese Einschätzung uneingeschränkt zu. Denn auch Kalendarien stellen insgesamt ein alljährlich sich wiederholendes Gerüst dar, dessen Daten erst durch die Verzahnung mit einer chronologischen Ära und durch die Verschränkung mit der Wochentagsfolge, dem Mondlauf und dergleichen ihre konkrete Bedeutung gewinnen. Wie am Beispiel von Abbo gezeigt wird, lassen sich an Kalendarien daher auch vergleichbare Modifikationen beobachten wie an den übrigen Hilfsmitteln. 56 Zur Vokaltabelle bes. Wallis, „Images of Order“ S. 54, allerdings mit fälschlicher 52 53
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Beiden Tabellentypen liegt ein spezifisches Buchstabensystem zugrunde, das etwa seit der Karolingerzeit auftritt und in beiden Fällen dazu führt, daß die Tabelleninhalte, also die Buchstaben, sehr auffällige Diagonalen bilden.57 Vergleichbare Modifikationen, die sich in Form optisch hervortretender Muster der inhaltlichen Füllung aufgrund ihres Strukturprinzips äußern, lassen sich seit der Karolingerzeit in zunehmendem Maße beobachten, nicht nur bei den Hilfstabellen, sondern sogar bei Kalendern selbst. Auf diese Befunde wird am Beispiel des „Computus“ Abbos von Fleury noch näher eingegangen.58 Eine weitere Beobachtung betrifft die Grundform der Tabellen. Die gestalterischen Aktivitäten der Komputisten beschränken sich nicht allein auf das Arrangieren des Tabelleninhaltes, sondern auch auf den Rahmen, in den diese Inhalte eingebettet werden. Ein erster Schritt in diese Richtung wird mit der Darstellung der Rechteckstabelle als Quadrat sichtbar.59 Diese leichte Umgestaltung wird einerseits durch formale Anpassungen – etwa der Spaltenbreite oder der Zeilenhöhe – erreicht, andererseits aber auch mit Hilfe bestimmter Buchstabensysteme, die annähernd oder genauso viele Spalten wie Zeilen benötigen. Eine besondere Zuspitzung in diesem Zusammenhang stellt wiederum die A–K-Tabelle dar, die ja bereits die auffälligen Diagonalen in der Anordnung ihres Inhalts aufweist, die aber darüber hinaus aus exakt dreißig mal dreißig Spalten beziehungsweise Zeilen besteht.60 Eines der bemerkenswertesten und zugleich wirkmächtigsten Indizien für eine bewußte Auseinandersetzung der mittelalterlichen Gelehrten mit den Grundformen der von ihnen verwendeten Elemente ist der Zuschreibung ihrer Erfindung an Abbo; für frühere Textzeugen siehe Borst, Kalenderreform S. 409. 57 Zu den Buchstabensystemen und ihrer Verbreitung Cordoliani, „L’évolution du comput ecclésiastique“ S. 300–310. – Einen historischen Überblick zur Entwicklung der Mondbuchstaben bietet Borst, Kalenderreform S. 154f.; siehe auch ebd. S. 396–416 die Ausführungen zur Intervallzone. – Die Reihe A–K führt Borst, ebd. S. 405 f., auf Philocalus zurück. 58 Siehe hierzu 2.3. Untersuchung ausgewählter Komponenten des „Computus“. 59 Hierzu Kühnel, The End of Time S. 135 f., die S. 136 die Nähe der Quadratform zur eschatologischen Interpretation des Kreuzes betont. Sie ist der Einschätzung, die Quadratform stehe – insbesondere wenn sie mit der Kreisform kombiniert wird – für die Betonung der vier Ecken und der vier Seiten der Welt. – Zu den kosmologischen Hintergründen dieses Motivs bes. Obrist, „Le diagramme isidorien“ S. 142– 158. 60 Zu Auffälligkeiten wie den erwähnten Diagonalen bereits Wallis, „Images of Order“ S. 53–57, zum Muster der Vokaltabelle S. 54.
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Rückgriff auf das Kreisdiagramm.61 Es wird zur Darstellung verschiedener Gegenstände herangezogen, wie schon erwähnt zur Wiedergabe der Konkurrentenfolge, aber auch zur Abbildung des 19jährigen Lunisolarzyklus oder sogar des Osterzyklus.62 Damit korrespondiert diese Darstellungsweise in funktionaler Hinsicht entsprechenden Rechteckstabellen, und zwar häufig dem listenartigen Typ, gelegentlich auch dem der Hilfstabelle. Die deutlich umständlichere Handhabbarkeit von Kreisdiagrammen gegenüber ihren rechteckigen Pendants bietet einen neuerlichen Hinweis auf die verhältnismäßig geringe eigene Bedeutung der technisch-funktionalen Ebene.63 Besonders auffällig ist die Nähe der rotae computisticae zu älteren diagrammatischen Traditionen, aus denen sie vermutlich abgeleitet sind.64 In diesem Zusammenhang ist in erster Linie auf die Kreisdiagramme aus Isidors „De natura rerum“ hinzuweisen. Dessen rotae werden insbesondere seit der Karolingerzeit in großem Umfang rezipiert, allerdings oft ohne den Text selbst.65 Schon in ihrem ursprünglichen Zusammenhang besaßen diese Diagramme eine Bedeutung, die über den vordergründigen funktionalen Zweck, das Geschriebene zu veranschaulichen, hinausreichte. Gleich dem Text von „De natura rerum“ selbst sind sie – allerdings auf bildlicher Ebene – überformt und dienen vor allem dazu, kosmologische Zusammenhänge transparent zu machen und zu deuten.66 Wie schon die oben besprochenen Tabellen zeugen auch die rotae von einem beachtlichen Gestaltungswillen der mittelalterlichen Gelehrten, vielleicht sogar in noch höherem Maße als die Tabellen. Vergleicht man die karolingischen rotae computisticae mit ihren isidorianischen Vorlagen, läßt sich eine deutliche Zunahme an Komplexität und Symbol-
61 Zur formalen Umgestaltung von Rechteckstabellen in Kreisdiagramme Wallis, „Images of Order“ S. 54; zu den rotae allgemein vgl. Evans, „The Geometry of the Mind“ S. 42 f. 62 Exemplarisch für eine rota zum 19jährigen Lunisolarzyklus in einer der ältesten komputistisch-astronomischen Sammlungen Köln, Diözesan- und Dombibliothek 83 II, fol. 80r; ein gesamter Osterzyklus ebd., fol. 79v. 63 Diese Beobachtung stellt Wallis, „Images of Order“ S. 54 und 57, plastisch heraus. 64 Hierzu Kühnel, The End of Time S. 123–148. 65 Als repräsentative Beispiele lassen sich die Pariser Handschrift BN lat. 4860 sowie der Codex Köln, Diözesan- und Dombibliothek 83 II, fol. 126v–143r, anführen, die den vollständigen Zyklus (hier jeweils mit Text) enthalten. 66 Hierzu Obrist, „Le diagramme isidorien“; Kühnel, The End of Time S. 123–136 u. ö., die über die Deutung von Obrist hinaus „Isidor’s obvious Christian orientation“ auch als Interpretament für dessen Diagramme heranzieht.
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gehalt auf der bildlichen Ebene beobachten, wie jüngere kunsthistorische Studien zu zeigen versuchen.67 Die ikonographisch-künstlerische Umgestaltung des komputistischen Datenmaterials ist als dessen Einbettung in einen weiteren, ideellen Horizont zu deuten. Die Hauptaufgabe solcher Diagramme, der rotae computisticae wie schon der IsidorDiagramme, entspricht somit den oben erörterten Auslegungen der natürlichen Phänomene, die Beda in „De temporum ratione“ vornimmt. Diagramme sind Mittel der Exegese,68 in diesem Fall: der visuellen Exegese, die dazu dienen, die dargestellten Gegenstände oder Wissensinhalte auf ihren Kontext rückzubeziehen und sie auf diese Weise einer Deutung zuzuführen, allerdings nicht mit bibelexegetischen Mitteln. Hierauf wird weiter unten, am Beispiel der Diagramme des „Computus“ Abbos von Fleury näher eingegangen.69 Darüber hinaus gehören die Diagramme komputistisch-astronomischer Sammlungen zu denjenigen Typen, die sowohl Gegenstände der Komputistik im engeren Sinn, als auch solche weiterreichender Themenkomplexe des Quadriviums enthalten.70 Dieser zuletzt genannte Aspekt wurde schon am Beispiel der Isidor-Diagramme erkennbar. Denn dessen rotae zielen dem thematischen Umfeld entsprechend, aus dem sie entstammen, nicht auf die Komputistik, mit der sich Isidor im Rahmen von „De natura rerum“ überhaupt nicht beschäftigt. Sie stehen in einem viel umfassenderen kosmographisch-philosophischen beziehungsweise theologischen Traktat und greifen ihrerseits in inhaltlicher Hinsicht kosmologische Zusammenhänge wie die zwischen Mikround Makrokosmos, zwischen den vier Elementen, den Jahreszeiten und den humores und dergleichen mehr auf. Ihren Hauptgegenstand bildet somit nicht das Thema ‚Zeit‘ an und für sich, sondern die sublunare Welt mit ihren physikalischen Grundlagen.71 Den Bogen hin zu weiteren, über die Komputistik hinausgehenden quadrivialen Themen schlägt auch ein weiterer Diagrammtyp, der bislang noch nicht Gegenstand der Erörterung war. Die Rede ist von Kühnel, The End of Time S. 148. Der Begriff ‚Exegese‘ wird hier in einem allgemeinen Sinn verwendet, nicht beschränkt auf die Bibelauslegung. 69 Siehe unten, 2.3.1. Diagramme. 70 Eine Typologie der Diagramme ist noch ein Desiderat der Forschung; einen Ansatz schlägt Evans, „The Geometry of the Mind“ S. 35 f., vor; richtungsweisend jetzt Obrist, La cosmologie médiévale, mit ihrer sorgfältigen Analyse der Traditionslinien. 71 Obrist, „Le diagramme isidorien“; Dies., „Wind Diagrams“; Kühnel, The End of Time S. 123–135. 67 68
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diagrammatischen Skizzen, die an erster Stelle ein didaktisches Hilfsmittel darstellen. Sie visualisieren beispielsweise kosmographische oder astronomische Konstellationen. Besonders beliebt sind in diesem Kontext Plinius- und Calcidiusdiagramme, etwa zur Veranschaulichung der Gegebenheiten bei Finsternissen oder zur Visualisierung der Planetenbahnen, ihrer Apsiden und Latitüden und ähnlicher Phänomene mehr. Vor allem astronomische Verhältnisse werden mit ihrer Hilfe skizziert, was direkt auf die Quellen zurückzuführen sein dürfte, denen sie entstammen.72 Während sich die bisher behandelten Typen, die oft als Bestandteile in komputistisch-astronomische Sammlungen integriert wurden, als bildhafte Typen bezeichnen lassen, sind die noch ausstehenden als textliche anzusprechen. Auch bei diesen Typen werden deutliche Unterschiede in Bezug darauf sichtbar, wie ausschließlich sie komputistische Inhalte transportieren oder aber als Medien für quadriviales Wissen im allgemeinen fungieren. Mit Blick auf die argumenta beispielsweise fällt auf, daß diese – soweit sich im Rahmen der vorliegenden Arbeit feststellen ließ – nur Verfahrensanweisungen zu komputistischen und chronologischen Fragen bieten.73 Ähnliches gilt für mnemotechnische Verse, wie die sogenannten ‚Engelsverse‘ des Pachomius,74 und naturgemäß für Erläuterungen komputistischer Hilfsmittel. Generell steht dieser letztgenannte Texttyp jedoch allen Wissensinhalten offen, entsprechend dem Kontext, in dem er eingesetzt wird.
72 Zu den astronomischen Diagrammen Eastwood, „Plinian Astronomical Diagrams“; Ders., „The Astronomies of Pliny“; Stevens, „Astronomy in Carolingian Schools“. – Mit Blick auf das 12. Jahrhundert unterscheidet Meier, „Die Quadratur des Kreises“ S. 47 f., zwischen „subsidiär-veranschaulichenden“ und „visionär-meditativen“ Schemata; wohl in Bezug auf diesen letztgenannten Diagrammtypen spricht sie auch gelegentlich von symbolischen Diagrammen, vgl. ebd. S. 49f.; eine Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Diagrammtypen wird häufig auf der Grundlage formaler Kriterien getroffen, ebd. S. 26. 73 Argumenta sind häufiger Bestandteil komputistisch-astronomischer Sammlungen. Sie scheinen sich im unmittelbaren Umkreis komputistischer Tätigkeit bereits in der Frühphase dieser Disziplin herausgebildet zu haben und gehen wohl auf iro-fränkische Traditionen zurück. Auffällig ist ihre hohe Formelhaftigkeit, die oft in wiederkehrenden Formulierungen wie „si vis scire …“ ihren Ausdruck findet. In aller Regel bieten sie kochrezeptartige Verfahrensanweisungen zum Ermitteln diverser komputistischer oder chronologischer Größen, beispielsweise der Epakten, der Konkurrenten, der Indiktion und dergleichen mehr; zu den argumenta ausführlich Borst, Kalenderreform S. 488–490; zur Formelhaftigkeit siehe exemplarisch die Auflistung in Cordoliani, „Les manuscrits de comput ecclésiastique“ S. 172–175. 74 Zu den ‚Engelsversen‘ siehe Jones, „A Legend of St. Pachomius“.
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Im Zusammenhang mit den argumenta fällt eine weitere Besonderheit komputistisch-astronomischer Sammlungen auf: Oftmals stehen Komponenten ein und derselben Anthologie in inhaltlichem Widerspruch zueinander. Häufig bieten die Sammlungen gleich mehrere Verfahrensanweisungen zum Ermitteln einer bestimmten komputistischen Größe, allerdings nicht immer technisch korrekte. Manche argumenta führen somit zu falschen Ergebnissen. Gelegentlich sind die dadurch entstehenden Widersprüche zwischen verschiedenen Anweisungen auch auf völlig verschiedene Prinzipien zurückzuführen, die den jeweiligen Ausführungen zugrunde liegen. In solchen Fällen sieht sich der Benutzer komputistisch-astronomischer Handschriften mit Zeugnissen divergierender komputistischer Systeme ganz unterschiedlicher Traditionen konfrontiert, die oft von Grund auf unverträglich miteinander sind.75 Schließlich gehören auch oder gerade Exzerpte zu denjenigen Typen, die weit über die Komputistik im engeren Sinn hinausgehende Wissensinhalte transportieren.76 Außerdem läßt sich an ihrem Beispiel ein vergleichbares Phänomen beobachten, wie es mit Blick auf die inhaltliche Ausgestaltung des artes-Konzeptes im ersten Hauptteil dieser Arbeit konstatiert wurde. Schon dort wurde am Beispiel der Martianus-Rezeption ein wachsendes Interesse an spätantikem Wissen sichtbar, das man in das formale Schema der sieben Künste integrierte.77 Ein vergleichbares Interesse schlägt sich in der Komposition komputistisch-astronomischer Sammlungen nieder. Seit der Karolingerzeit nehmen die Exzerpte aus vorwiegend spätantiken Werken zum Ganzen der Natur deutlich zu. Dem thematischen Spektrum dieser Schriften entsprechend tritt damit die Tendenz zur Gestaltung komputistisch-astronomischer Sammlungen als umfassender quadrivia-
75 Ähnlich irritierende Befunde ergeben sich auch hinsichtlich der komplementären Elemente komputistisch-astronomischer Sammlungen. Manchmal fehlt eine der erforderlichen Komponenten oder steht an einer entfernten anderen, nicht eigens gekennzeichneten Stelle innerhalb des Codex oder wird in ihrer Funktionsweise nicht erklärt und dergleichen mehr. – Zum skizzierten Befund bezüglich der argumenta Cordoliani, „L’évolution du comput ecclésiastique“, z. B. S. 310f. (insbes. zum irritierenden Erscheinungsbild der argumenta-Sammlungen); kritisch zur Haltung Cordolianis Borst, Kalenderreform S. 157 f. und S. 488, der aber grundsätzlich den referierten Befund hinsichtlich der Doppelungen und Widersprüche bestätigt. 76 Vgl. hierzu die thematische Vielfalt insbes. der letzten drei Bücher der „Libri computi“, die umfangreiche Exzerpte meist spätantiker Autoren bieten. 77 Vgl. hierzu 1.3.4. Wissen im Rahmen der artes.
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ler Anthologien hervor.78 Wie oben bereits betont, stellen komputistische Inhalte innerhalb dieser Sammlungen nur ein Thema unter anderen dar und sind somit als integraler Bestandteil des Wissens vom Ganzen der Natur und folglich, aufgrund der im ersten Kapitel dieser Studie skizzierten konzeptionellen Verschiebungen, des Quadriviums anzusprechen. 3. Ergebnisse und weiterführende Beobachtungen. Im Lichte der bisherigen Befunde sollen an dieser Stelle die erzielten Ergebnisse kurz gebündelt und vertieft werden. Faßt man die komputistisch-astronomischen Sammlungen von einem im engeren Sinne komputistischen Standpunkt aus in den Blick, werden seit der Karolingerzeit deutliche thematische Weiterungen sichtbar. Integriert werden Wissensbestandteile zum Naturgesamt, und das heißt infolge der karolingischen Bildungsreform: zum Quadrivium. Dieses Wissen wird in aller Regel aus spätantiken oder frühmittelalterlichen Naturenzyklopädien entnommen wie der „Naturalis historia“ des Plinius Secundus oder Isidors „De natura rerum“. Gegenüber älteren Enzyklopädien einerseits und komputistischen Zeugnissen andererseits läßt sich eine Zunahme an bildlichen Elementen beobachten. Dies spiegelt sich im Aufkommen von figurae im engeren komputistischen Bereich wider, aber auch zum Beispiel in der Rezeption diagrammatischer Skizzen oder mit Visualisierungen versehener Sternkataloge im weiteren quadrivialen Kontext. Parallel dazu ist eine Tendenz zur überformenden Modifikation der einzelnen Elemente festzustellen. Diese geht insofern einher mit der zuvor konstatierten Neigung zur Bildhaftigkeit, als sie gerade an diesen eher bildlichen Elementen ihren Ausdruck findet. Denn das Ausgangsmaterial für ikonographische Überformungen bilden zumeist die seit etwa dem frühen 9. Jahrhundert vermehrt auftretenden Tabellen und Diagramme. Bekanntlich ist die Komputistik insgesamt seit der Verbreitung der dionysianisch-bedanischen Ostertafeln obsolet.79 Dieses Charakteristikum durchzieht die komputistisch-astronomischen Sammlungen bis in ihre Einzelteile hinein, und zwar in spezifischer Weise. Die beobacht78 Diese Tendenz beschreibt Wallis, „The Church, the World and the Time“, bes. S. 25 f. (im Rahmen der von ihr postulierten Entwicklung „enzyklopädischer“ Anthologien hin zum „‚scientific‘ computus manuscript“). 79 So bereits Wallis, „Images of Order“ S. 50.
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baren Entwicklungen im engeren Bereich der Komputistik konzentrieren sich auf gestalterische Modifikationen des Materials und berühren nicht die technisch-funktionale Ebene. Man begnügt sich mit dem von Beda erreichten Standard oder greift sogar noch hinter ihn, auf ältere Grundlagen zurück.80 Darüber hinaus ließ sich ein Hang der mittelalterlichen Gelehrten zu Doppelungen beobachten. So zum Beispiel wird ein und dieselbe Mondaltertabelle in mehrfacher Ausführung in einem Codex wiedergegeben oder sind mehrere Hilfsmittel versammelt, die zur Bestimmung derselben Größe dienen, hinsichtlich ihrer Funktionsweise aber identisch sind. Diese Besonderheiten verleihen den komputistischen Bestandteilen der Sammlungen den erwähnten redundanten Charakter. Verstärkt wird dieser Eindruck durch Charakteristika, wie sie am Beispiel der argumenta kurz umrissen wurden. Hierunter fallen in erster Linie Widersprüche zwischen den verschiedenen Komponente einer Sammlung. Solche Beobachtungen irritieren einen modernen Betrachter, unterstreichen aber die Einschätzung, daß die technischfunktionale Ebene für die mittelalterlichen Gelehrten vernachlässigbar war.81 Im Zentrum des Interesses stand demnach ein Anliegen, das sich vor allem in Gestalt verstärkter Bildhaftigkeit, ikonographischer Überformung und in der Weitung des Blickes auf ein das gesamte Quadrivium umfassendes Wissen äußert. Zusammenfassend ist mit Blick auf die verschiedenen Typen und die unterschiedlichen Wissenstraditionen festzuhalten, daß Exzerpte, veranschaulichende diagrammatische Skizzen und ausdeutend-kontextualisierende Diagramme vor dem oben umrissenen Hintergrund als diejenigen Elemente komputistisch-astronomischer Sammlungen anzusprechen sind, in deren Rahmen die Aneignung und Ausdeutung ‚neuen‘ Wissens stattfindet: die Rezeption meist spätantiker, kosmologischer Zeugnisse und gelegentlich bereits deren eigenständige Weiterverarbeitung. Demgegenüber entstammen Komponenten wie Kalendarien, 80 Zur Kontinuität älterer Traditionen vgl. beispielsweise St. Gallen, Ms. 248, fol. 41r, das eine Gruppe von vorbedanischen argumenta bietet, wie sich aus dem annus praesens (700) erschließen läßt, siehe Cordoliani, „Les manuscrits de comput ecclésiastique“ S. 169. Dieselbe Handschrift enthält darüber hinaus nicht nur Kommentare zu diversen Kapiteln von Bedas „De temporum ratione“, sondern auch den Text selbst (fol. 50r–106v). Cordoliani, „L’évolution du comput ecclésiastique“ S. 290f., weist ebenfalls auf den Umstand hin, daß manche der kompilierten Elemente in den komputistisch-astronomischen Sammlungen seit dem 9. Jahrhundert Traditionen entstammen, die im Widerspruch zur bedanischen Komputistik stehen. 81 So ja schon Wallis, „Images of Order“ S. 49f. u. ö.
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Tabellen und argumenta einer durchgehenden Tradition, die sich vor allem in der Auseinandersetzung mit ganz handfesten komputistischchronologischen Fragen herausgebildet hatte und seit der Karolingerzeit zunehmend das Ausgangsmaterial bereitstellte, das zu Weiterentwicklungen anregte.82 Allerdings äußern sich diese Entwicklungen weniger auf der technisch-funktionalen Ebene. Unter dem Einfluß der neu hinzutretenden spätantiken Elemente bilden sich ikonographisch modifizierte Überformungen älterer Vorlagen der eigenen, vorwiegend technisch-komputistischen Tradition heraus, die nunmehr wie ihre spätantiken oder frühmittelalterlichen Vorbilder auf eine kontextualisierende, kosmologisch inspirierte Ausdeutung abzielen.83 Damit wird bei den komputistisch-astronomischen Sammlungen eine ähnliche Dissoziation sichtbar wie schon bei den quadrivialen Traktaten. Einerseits rezipiert man ‚neues‘ Wissen mit seinem fachwissenschaftlichen Charakter, ohne es einer Ausdeutung zu unterziehen, andererseits bemüht man sich um die Interpretation tradierter Wissensobjekte mit Hilfe ikonographischer Überformungen, ohne dabei wie noch Beda auf bibelexegetische Verfahren zurückzugreifen. Am Beispiel des „Computus“ Abbos von Fleury ist daher im weiteren Verlauf dieses Kapitels herauszuarbeiten, mit welchen Mitteln und mit welcher Intention eine Ausdeutung quadrivialen Materials vorgenommen wurde. Hierzu ist in einem ersten Schritt der repräsentative Charakter des „Computus“ als einer komputistisch-astronomischen Sammlung zu besprechen. 2.2.2. Der „Computus“ Abbos von Fleury Abbos „Computus“ erweist sich als eine typische quadriviale Anthologie bereits durch den Umstand, daß die derzeit bekannten Handschriften die verschiedenen Elemente in je unterschiedlicher Reihenfolge präsentieren, zusätzliche Komponenten aufweisen oder wieder andere nicht übernehmen. Genauso wenig läßt sich ein klar abgrenz82 Exemplarisch sei auf die oben besprochenen rotae computisticae verwiesen, die als eigenständige Weiterentwicklung der Isidordiagramme gelten. 83 Das stärkste Beispiel hierfür ist das Verhältnis der rotae computisticae zu den IsidorDiagrammen. Der Übergang hin zur Kreation komputistischer Kreisdiagramme läßt sich einerseits als Aufgreifen eines bestimmten Konzeptes und dessen Übertragung in einen anderen thematischen Zusammenhang lesen; andererseits bedeutet er eine Weiterentwicklung der spätantiken beziehungsweise frühmittelalterlichen Vorlage, insofern die rotae computisticae wie erwähnt komplexer und in höherem Maße überformt sind als Isidors Kreisdiagramme.
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bares, in sich geschlossenes Werk ausmachen, das unter der Bezeichnung „Computus“ und unter dem Namen Abbos überliefert wurde. Damit entspricht die Rezeption seines „Computus“ jener der vorausgehenden komputistisch-astronomischen Sammlungen. Rund vierzig Manuskripte sind heute bekannt, die eine mehr oder minder große Anzahl der verschiedenen Elemente enthalten, die einmal das von Abbo zusammengestellte komputistisch-astronomische ‚Dossier‘ bildeten.84 In den meisten Fällen handelt es sich bei den Materialien um Bearbeitungen älterer, anonym tradierter Vorlagen, lediglich eine einzige der Komponenten, das Gittergedicht „Ephemerida“, ist als eine Erfindung Abbos zu bezeichnen und führt regelmäßig seinen Namen in der Überschrift.85 Diejenige Handschrift, die nach derzeitigem Kenntnisstand Abbos komputistische Sammlung am vollständigsten wiedergibt, ist der Codex Phillippicus 1833 der Berliner Staatsbibliothek. Er entstand wohl zum Großteil schon im ausgehenden 10. Jahrhundert in Fleury, möglicherweise unter direkter Aufsicht Abbos.86 Der folgenden Analyse wird 84
Der Begriff ‚Dossier‘ wird in Anlehnung an den in der Einleitung dieses Kapitels vorgestellten Wortgebrauch Mosterts verwendet, Ders., The Political Theology S. 65; Mostert hat in seiner Studie anhand der politisch-juristischen Überlieferung Abbos herausgearbeitet, daß sich der Abt ein sammlungsartiges Dossier angelegt hatte, aus dem er beim Erstellen seiner Briefe und sonstigen Schriften Autoritätenstellen entnahm, die ihm für den Bedarfsfall einschlägig erschienen. An ein vergleichbar loses ‚Dossier‘ ließe sich im Licht der Überlieferung auch im Falle seiner komputistisch-astronomischen Zeugnisse denken; vgl. in diesem Zusammenhang zudem den Hinweis von Engelen, Zeit, Zahl und Bild S. 4, auf die „fragmentarische Form“ auch der philosophischen und komputistischen Schriften Abbos. – Die derzeit beste Übersicht über Handschriften, die eindeutig identifizierbare Teile des „Computus“ enthalten, bietet Obrist, Abbon de Fleury S. 239f. 85 Zur „Ephemerida“ siehe unten, 2.3.3. „Ephemerida“. – Der Titel: „Computus vulgaris qui dicitur ephemerida Abbonis de feria, de luna et his quae ad lunam pertinent, id est epactis, mensibus, signis, terminis, annis cicli decemnovenalis“. In erster Linie dieser namentlichen Nennung verdanken die übrigen Elemente des „Computus“ ihre Zuschreibung an den Abt. Ein weiteres, starkes Indiz für die Angemessenheit dieser Zuschreibung ist der Umstand, daß der „Computus“ in einem der besten Codices (Berlin Phill. 1833) umrahmt wird von weiterem komputistischem, astronomischem und arithmetischem Material, als dessen Autor Abbo feststeht, so daß der Schluß berechtigt erscheint, das gesamte Material der Handschrift für abbonisch zu halten. Vgl. hierzu die Ausführungen zum Cod. Berlin Phill. 1833 in der folgenden Anmerkung. Über die tatsächliche Zusammensetzung und die Rolle Abbos bei der Entstehung des „Computus“ wird daher erst eine kritische Edition letztgültige Auskunft erteilen können, die derzeit von David Juste, Barbara Obrist, Peter Verbist und der Verfasserin der vorliegenden Arbeit vorbereitet wird. 86 Zu Berlin Phill. 1833 Rose, Verzeichnis der lateinischen Handschriften, S. 308– 315. – Seit van de Vyver gilt Phill. 1833 als die vollständigste und in sachlogischer
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daher vorwiegend dieser Codex zugrunde gelegt. Das Berliner Manuskript enthält verschiedene Werke: An erster Stelle gibt es Abbos Kommentar zum „Calculus“ des Victorius wieder.87 Darauf folgt dann der ‚eigentliche‘ „Computus“, den zwei komputistische Briefe Abbos beschließen, die jeweils dem Problem der dionysianischen Ära gewidmet sind.88 Wie bereits angedeutet wurde, stellt der „Computus“ kein homogenes Gebilde dar, sondern ist mit Ausnahme der „Ephemerida“ eine Kompilation verschiedener tradierter Elemente, die allerdings in einer bestimmten Weise modifiziert und relativ zueinander angeordnet wurden. Während die Modifikationen weiter unten untersucht werden,89 steht im Zentrum der folgenden Ausführungen die Auseinandersetzung mit dem Aufbau des „Computus“. 1. Hauptkalender und Hilfstabellen. Den ersten Teil des „Computus“ füllt ein mehrseitiges Kalenderwerk, das zum einen die zwölf Monate umfaßt, zum andern aber den 19jährigen Zyklus zur Grundlage hat und damit als ‚immerwährender‘ oder ‚ewiger‘ Kalender verwendbar ist.90 Hinsicht am besten geordnete Handschrift von Abbos „Computus“. Van de Vyver vermutet, daß die den beiden Briefen zur Ära des Dionysius (fol. 56r–60r) vorausgehenden Teile für Abbo persönlich zusammengestellt wurden, Ders., „Les oeuvres inédites“ S. 150–154 (zum „Computus“ insgesamt), die Einschätzung bezüglich der Qualität von Berlin Phill. 1833 auf S. 150. 87 Eine kritische Edition des Kommentars in Abbo, The Commentary of the Calculus (ed. Peden). – Zum Kommentar vgl. van de Vyver, „Les oeuvres inédites“ S. 137–140. 88 Einen Überblick über die Gliederung des „Computus“ auch in Obrist, „Les tables et figures abboniennes“ S. 162–167. – Zu den beiden Briefen vgl. van de Vyver, „Les oeuvres inédites“ S. 154–158; van de Vyver geht davon aus, daß beide Briefe der Handschrift erst nach dem Tod Abbos hinzugefügt wurden, ebd. S. 150. – Zu den beiden Briefen und zu Abbos Verbesserung der dionysianischen Inkarnationsära Verbist, In duel met het verleden S. 211–256. 89 Siehe 2.3. Untersuchung ausgewählter Komponenten des „Computus“. 90 Berlin Phill. 1833, fol. 23r–28v. – Zu Abbos Hauptkalender Borst, Kalenderreform S. 326f. – Gelegentlich wurde in der Forschung die Meinung vertreten, Abbo sei der „Erfinder“ des immerwährenden Kalenders, insbesondere im Anschluß an van de Vyver, „Les oeuvres inédites“ S. 151; er sieht in der Goldenen Zahl, die Abbo als erster seinen Kalendarien voranstelle, das entscheidende Merkmal, das diesen Kalender zu einem immerwährenden mache. Ähnliche Kalendarien – nur eben (so van de Vyver) ohne Goldene Zahl – kursieren bereits seit dem 9. Jahrhundert in komputistischen Sammelhandschriften; der Auffassung van de Vyvers folgt noch Engelen, Zeit, Zahl und Bild S. 116; anders hingegen Springsfeld, Alkuins Einfluß S. 178–186, insbes. S. 179; das Prinzip des immerwährenden Mondkalenders geht ihr zufolge bereits auf Beda zurück, während die ersten Goldenen Zahlen schon in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts zu finden seien; Beispiele für ihre Verwendung in Handschriften des frühen 9. Jahrhunderts nennt Borst, Reichskalender, der älteste Beleg auf S. 145. – Im Anschluß an Springsfeld ist zu betonen, daß für den immerwährenden Charakter eines Kalendariums nicht
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Obwohl dieses Tafelwerk auf ältere Vorlagen zurückgeht, weist es Charakteristika auf, die es gegenüber anderen, ähnlichen Konstrukten auszeichnen. Bereits beim flüchtigen Hinsehen fällt auf, daß Abbos Kalendarien weder eine Fest-, noch eine Terminzone enthalten.91 Lediglich die Intervallzone – gefolgt vom Tagesdatum – ist präsent, hieran schließt sich eine Mondzyklustafel des jeweiligen Monats, die in 19 Spalten, also ebenfalls auf der Grundlage des 19jährigen Zyklus geordnet ist.92 Bemerkenswerterweise umfaßt die Intervallzone im Anschluß an die Goldene Zahl nicht weniger als sieben verschiedene Spalten, von denen allein fünf auf die Ermittlung ein und derselben komputistischen Größe entfallen: auf die Mondalterbestimmung beziehungsweise auf den Zusammenhang von synodischem Mondmonat und auf dem Sonnenjahr beruhendem Kalender. Denselben Zusammenhang erschließt auch die unmittelbar folgende Mondzyklustafel. Allerdings benennt sie für jeden einzelnen Kalendertag unter Berücksichtigung jedes einzelnen Jahres des 19jährigen Zyklus direkt das jeweilige Mondalter und enthebt damit der Notwendigkeit, dieses rechnerisch zu ermitteln. Aufgrund dieser Merkmale tritt bereits an dieser Stelle der redundante Charakter nachdrücklicher als bei vielen vorausgehenden komputistisch-astronomischen Sammlungen zum Vorschein.93 Auf das Kalenderwerk folgt ein umfangreicher Komplex, der sich aus einer Vielzahl an komputistischen Hilfstabellen sowie diese begleitenden Erläuterungen zusammensetzt. Im Mittelpunkt dieses Teils steht fast ausschließlich die Mondkomputistik: der synodische Mondlauf im 19jährigen Zyklus, aber auch der Lauf des Mondes durch den Tierkreis. das Vorhandensein der Goldenen Zahl, sondern sein Konstruktionsprinzip ausschlaggebend ist. Sobald es auf der Grundlage wiederkehrender Zyklen beruht, besitzt es den fraglichen ewigen Charakter, unabhängig davon, mit welchen konkreten Mitteln diese Struktur erstellt wurde. 91 Zu den unterschiedlichen Zonen eines Kalendariums sei erinnert an Borst, Kalenderreform S. 396–400 (zur Intervallzone), S. 416–418 (zur Festzone), S. 431–433 (zur Terminzone). – Wie oben bereits kurz skizziert, ist die Intervallzone derjenige Bereich eines Kalendariums, der zur Verknüpfung des Sonnenkalenders mit erstens dem Mondlauf und zweitens der Wochentagsfolge dient. In ihr sind in aller Regel spaltenweise gegliederte Buchstabensysteme angeordnet, die sich unter Zurhilfenahme der korrespondierenden Hilfstabelle als das konkrete Mondalter oder den jeweiligen Wochentag des entsprechenden Datums auflösen lassen. 92 Zum Mondzykluskalender Borst, Kalenderreform S. 702. 93 Folgende Spalten beziehungsweise Buchstabensysteme weist Abbos Intervallzone der Reihenfolge nach auf: die Goldene Zahl, synodisch A–U, A–K, A–I·, AEIOU, siderisch A–O, die synodischen litterae punctatae und zuletzt die Sonntagsbuchstaben.
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Lediglich eine Seite ist der ‚Sonnenkomputistik‘ gewidmet und macht die Abfolge der Konkurrenten transparent.94 Sowohl die Lunartabellen als auch die Konkurrententafel beziehen sich auf das eben besprochene Kalenderwerk, dessen Intervallzone sich mittels dieser Hilfstabellen entschlüsseln läßt. Eine Besonderheit innerhalb dieses Tabellenteils und zugleich dessen Höhepunkt stellt allerdings eine von Abbos Hauptkalender unabhängige figura dar: die bereits erwähnte „Ephemerida“, nach ihren Anfangsworten gelegentlich auch „Ardua conexae“ genannt. Diese Figur ist einerseits ein mustergültiges Figurengedicht, und zwar ein carmen cancellatum, enthält aber andererseits völlig funktionstüchtige komputistisch-astronomische Tabellen. Diese Tabellen beziehen sich auf das Buchstabensystem eines Kalenders, der dem Gittergedicht direkt vorausgeht.95 Da die „Ephemerida“ im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit noch eingehender untersucht wird, kann hier auf ihre nähere Charakterisierung verzichtet werden. Den Abschluß dieses Abschnittes des „Computus“ bildet ein laterculus, der in einer einzigen Tabelle die gesamte ‚Sonnen‘- und Mondkomputistik – den cyclus solaris zu 28 Jahren und den cyclus lunaris zu 19 Jahren im großen Osterzyklus, dem annus magnus, zu 532 Jahren – miteinander verbindet.96 Er faßt auf einer einzigen Seite sämtliche zur Zeitbestimmung erforderlichen Grundgegebenheiten und Hilfsgrössen zusammen und läßt sich somit gleichsam als computus im computus begreifen. Dieser Teil des Berliner Codex zeichnet sich dadurch aus, daß seine Tabellen sowie deren Erläuterungen konsequent auf die Intervallzone des vorausgehenden Hauptkalenders bezogen sind. Alle Buchstabensysteme der Intervallzone wurden berücksichtigt und gelegentlich sogar in mehreren Tabellen aufgegriffen. Insofern entspricht die Dominanz der Mondkomputistik dieses Abschnitts der des Kalenderwerks. Bemerkenswert ist schließlich die Sorgfalt, die Abbo beim Formulieren der Erklärungen walten ließ. Seine Ausführungen sind in technischfunktionaler Hinsicht präzise und klar und jeweils mit dem Hinweis versehen, welcher Spalte der Intervallzone die fragliche Tabelle korre94 Der Gesamtkomplex in Berlin Phill. 1833, fol. 29r–34v; die ‚Sonnenkomputistik‘ ebd. fol. 29r. – Einen kenntnisreichen Überblick über die komputistischen Tabellen in ihrer Tradition bietet Obrist, „Les tables et figures abboniennes“ S. 152–156. 95 Berlin Phill. 1833, fol. 33v („Ephemerida“), fol. 33r (Kalendarium). 96 Berlin Phill. 1833, fol. 34v.
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spondiere.97 Darüber hinaus liegt diesem Teil des „Computus“ ein einleuchtender Aufbau zugrunde. Er beginnt mit dem für jede komputistische Berechnung unverzichtbaren Kalender, bietet dann die erforderlichen Tabellen, um die Intervallzone des Kalenders zu erschließen, und führt Mond- und ‚Sonnenkomputistik‘ anschließend in einem laterculus zusammen. Diese stringente Abfolge wird lediglich von der „Ephemerida“ mit ihrem annale durchbrochen, die unabhängig von den übrigen Elementen funktioniert und damit relativ zu ihrer Umgebung wie ein Fremdkörper wirkt. Immerhin fügt sie sich thematisch in den Kontext ein, insofern auch sie die Mond- und ‚Sonnenkomputistik‘ kondensiert zusammenfaßt. Mit dieser Sorgfalt und Kohärenz zeichnet sich die Zusammenstellung im Berliner Codex gegenüber einem Großteil der älteren komputistisch-astronomischen Anthologien aus.98 2. Kosmologie. Wenngleich das im anschließenden Teil versammelte Material wesentlich heterogener ist als das des zuvor besprochenen Abschnittes, ist auch dieser Komplex aus mehreren Gründen als Einheit anzusprechen.99 Zunächst fällt auf, daß sich das Themenspektrum verbreitert. Waren die bisherigen Teile auf den Kalender und die Komputistik, insbesondere die Mondkomputistik konzentriert, richtet sich der Blick nun darüber hinaus auf astronomisch-kosmologische Zusammenhänge.100 Zwar finden sich auch hier noch Darstellungen komputistischer Gegebenheiten – etwa des Verlaufs der Mondalter an den 97 Auf die sorgfältigen Bezüge weist schon Wallis, „Images of Order“ S. 54 mit Anm. 30, hin. 98 Darauf hinzuweisen ist, daß sich diese Charakterisierung des „Computus“ als ‚kohärent‘ und ‚sorgfältig zusammengestellt‘ auf die immanente Stimmigkeit seiner einzelnen Komponenten bezieht. Unter dem Blickwinkel einer ‚Fachdisziplin Komputistik‘ hingegen weist auch der „Computus“ ‚Mängel‘ auf, da er in thematischer Hinsicht nicht vollständig ist. So enthält die Berliner Handschrift nirgends Angaben zum Äquinoktium, einer der Grundlagen zur Bestimmung des Osterdatums. Auf diesen Umstand weist schon Obrist, „Les tables et figures abboniennes“ S. 184f., hin, die daraus schließt, daß der Berliner Codex den Komputistikunterricht Abbos und damit seinen „Computus“ nur unvollständig wiedergebe. Folgt man dem hier vorgeschlagenen Interpretationsansatz, ist dieser Schluß nicht zwingend. Denn dann wäre ein etwaiger Komputistikunterricht Abbos Teil seines Quadriviumunterrichts. Demnach aber stünde weniger das technisch-funktionale Ziel der Komputistik im Zentrum, sondern vielmehr die Auseinandersetzung mit quadrivialen Gegenständen in der Absicht, deren ratio herauszuarbeiten. Vgl. hierzu die Ausführungen zur ratio rerum im ersten Teil dieser Arbeit, bes. 1.3.2. Alkuins „Disputatio“: Zum Inhalt (Abschnitt 6. Die ratio rerum). 99 Berlin Phill. 1833, fol. 35r–39v. 100 Einen knappen, aber konzisen Überblick über die „figures cosmologiques“ bietet Obrist, „Les tables et figures abboniennes“ S. 148–151.
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Kalenden der einzelnen Monate durch den 19jährigen Zyklus oder der Abfolge der Epakten im selben Zeitraum –, doch werden Größen oder Einheiten der Komputistik jetzt in einen Rahmen von Konstellationen und Gegebenheiten gestellt, die über die Komputistik im engeren Sinne mitunter weit hinausgehen. Beispielsweise wird der Mondlauf nicht einfach nur für sich alleine präsentiert, sondern in Bezug gesetzt zu den Tiden des Meeres, deren Abhängigkeit vom Mondlauf auf diese Weise offengelegt wird. Neben Prognostica astrologischer Natur, diagrammatischen Darstellungen zu den Planeten, ihren Bahnen und Abständen, stehen unter anderem auf Isidor beruhende Visualisierungen der Klimazonen – auf der Erde, analog zu denen des Himmels –, ebenfalls „De natura rerum“ entstammende diagrammatische Darstellungen der Elemente, Jahreszeiten sowie humores und somit des Zusammenhangs von Mikro- und Makrokosmos101 sowie vergleichbar weitausgreifende kosmologische Vorstellungen. Den Mittelteil dieses Abschnittes bildet eine Ansammlung von Calcidius-Diagrammen, die in erster Linie zur Visualisierung der Theorie der Planetenbewegungen sowie der Eklipsen dienen und die von umfangreichen Calcidius-Exzerpten begleitet werden.102 Als formales Kriterium für die Einheit dieses Komplexes läßt sich der gegenüber den vorigen Teilen andere Darstellungstyp anführen; rekurrierten die bisher skizzierten Komplexe auf Tabellen, bedient sich der gegenwärtige der Diagrammform, und zwar fast ausschließlich der des Kreisdiagramms. Darüber hinaus nimmt er keinerlei Bezug auf die vorausgehenden Teile des „Computus“, folgt also unvermittelt und unverknüpft auf diese. Schließlich zeichnen sich die in ihm versammelten Elemente durch ihren bereits erwähnten übergreifenden Charakter aus: Dargestellt wird nie eine einzelne, isolierte Größe, sondern stets auch ihr kosmologischer Kontext. Thematisch gesehen 101 Das Gezeitendiagramm in Berlin Phill. 1833, fol. 35r, das Kreisdiagramm unten links (vgl. Abbildung 4); es enthält überdies eine eingeschriebene T–O-Karte, ein Schema der Hauptwinde, die Abfolge der Wochentage relativ zum Mondalter und eine Allusion an den die Kontinente umschließenden Weltozean; die Prognostica Berlin Phill. 1833, fol. 35v, die fünf übereinander plazierten Kreise links (vgl. Abbildung 2); die diagrammatischen Darstellungen zu den Planetenbewegungen ebd. fol. 36r, oben; die Klimazonen-Visualisierung ebd. fol. 36r, unten; die Isidor-Diagramme ebd. fol. 38v, unten (vgl. Abbildung 3). 102 Berlin Phill. 1833, fol. 36v–38r (vgl. Abbildung 6); die Exzerpte auf fol. 37r–v. – Obrist, „Les tables et figures abboniennes“ S. 151, weist darauf hin, daß die Berliner Handschrift zu den frühesten gehört, die über diesen Calcidius-Ausschnitt (sowohl Text als auch Figuren) verfügen.
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weitet sich damit in diesem Teil die Perspektive auf das Ganze der Natur und damit auf das Quadrivium im allgemeinen und weist folglich auch in dieser Hinsicht die oben herausgearbeiteten Charakteristika komputistisch-astronomischer Sammlungen auf. 3. Osterkomputistik. Den folgenden Abschnitt dominieren wiederum Tabellen, die von Erläuterungen umrahmt sind. Er ähnelt in seinem Erscheinungsbild dem oben skizzierten Tabellenteil, der auf den Hauptkalender folgt, allerdings besitzen die Tafeln hier den Charakter von Datenlisten, nicht mehr den eines regelrechten Werkzeugs. Auch nehmen jetzt die Erläuterungen mehr Raum ein und sind eher als ein durchgehender, zusammenhängender Text gestaltet. Sie umrahmen in der Regel die etwa mittig plazierte Tabelle, welche in der Breite häufig eine komplette Doppelseite einnimmt. Thematisch stehen in diesem Teil die termini der beweglichen Feste – Quadragesima, Pascha und Rogationes – im Zentrum, doch fanden auch einzelne Tabellen zur Mondkomputistik, in einem Fall verschränkt mit einer Konkurrententafel, und Abbos erste Äußerung zur dionysianischen Inkarnationsära, „Dionysius abbas“, Aufnahme.103 Den Abschluß bildet ein immenses Tabellenwerk, das mit seinen achtundzwanzig Einzeltafeln alle 19jährigen Zyklen des großen 532jährigen cyclus paschalis umfaßt. Es enthält die gängigen Angaben der Ostertafeln: Im Anschluß an Beda datiert es nach anni domini und ordnet den einzelnen Jahren zeilenweise die jeweilige Indiktion, die Mondepakten, die Wochentagskonkurrenten, den Mondzyklus, den Ostervollmond, den Ostersonntag sowie das ensprechende Mondalter zu.104 Folglich stehen Ostern und die übrigen beweglichen Feste im Mittelpunkt dieses Abschnittes des „Computus“. Auch in diesem Teil setzt ein bündelndes Element den Schlußpunkt: Während Abbo im ersten Tabellenkomplex Mond- und ‚Sonnenkomputistik‘ in einem laterculus zusammenführte, bietet er hier – nach einer Einführung in die Problematik der zugrunde liegenden Ära – die bedanisch-dionysianischen 103 Der gesamte Abschnitt umfaßt Berlin Phill. 1833, fol. 40r–53r; der Tabellenteil im Anschluß an den Hauptkalender ebd. fol. 29r–34v; die doppelseitigen Tabellen ebd. fol. 40v–42r; die Tabellen zur Mondkomputistik ebd. fol. 42v–43r; „Dionysius abbas“ ebd. fol. 45r–v; hierzu Verbist, In duel met het verleden S. 218–226. 104 Abbo verwendet insgesamt drei Spalten zur Datierung. Diese Vorgehensweise gestattet es ihm, in einem Tabellenwerk den Ablauf von drei 532jährigen Zyklen wiederzugeben. Damit umfassen seine Ostertafeln eine Zeitspanne von 1 v. Chr. bis 1595 n. Chr.
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Ostertafeln. Gegenüber Beda hat er diese um einen weiteren Zyklus von 532 Jahren ergänzt, die das jährliche Osterfest betreffenden Daten aber in der direkt ablesbaren Form Bedas übernommen. Diese Ostertafeln machen somit wie schon erwähnt in technisch-funktionaler Hinsicht nicht nur die unmittelbar vorausgehenden termini-Listen obsolet, sondern auch den gesamten ersten Teil des „Computus“: den Hauptkalender mit seinen Hilfstabellen. 4. Miscellanea. Auf die Ostertafeln folgt eine äußerst heterogene Kompilation astrologischer und komputistischer Elemente, die in sich keine Einheit ergeben. Den Auftakt bildet die „Sphäre des Petosiris“, an die sich wie in der handschriftlichen Tradition üblich der die sphera erklärende Brief des Petosiris schließt. Danach steht in einer anderen Schreiberhand wieder eine Lunartabelle mit unterlegter Konkurrententafel und angefügten Erläuterungen. Nach den beiden folgenden Briefen Abbos zur dionysianischen Inkarnationsära, wieder in der ersten Schreiberhand, und einem weiteren laterculus schließen Notizen zunächst erneut zu den termini, dann zu Astrologischem die Handschrift ab.105 Sucht man nach einem einheitsstiftenden Moment in diesem Abschnitt, ist am ehesten auf den Themenkomplex der Inkarnationsära zu verweisen. Irritierend bleiben aber unter einem solchen Blickwinkel die astrologischen und komputistischen Einschübe, die inhaltlich in keiner Beziehung zu Abbos Überlegungen zur Inkarnationsjahrzählung stehen. Eine plausible Erklärung für den in thematischer Perspektive und verglichen mit den übrigen Teilen zusammenhanglosen Charakter dieses Teils des „Computus“ bietet der Umstand, daß er dem Werk wahrscheinlich erst posthum und nicht mehr unter der mutmaßlichen Aufsicht des Abtes hinzugefügt wurde.106 Aufgrund der 105 Die astrologisch-komputistische Kompilation Berlin Phill. 1833, fol. 53v–61v; die „Sphäre des Petosiris“ ebd. fol. 53v–54r; zur „Sphäre des Petosiris“ siehe Jones, Bedae Pseudepigrapha S. 90; Juste, „Comput et divination“, speziell zu Abbos Sphäre in Berlin Phill. 1833 S. 114–117. – Die Lunartabelle Berlin Phill. 1833, fol. 54v–55v; die beiden Briefe zur Inkarnationsära und der laterculus ebd. fol. 56r–60r; zum laterculus Verbist, In duel met het verleden S. 247–251. – Sowohl Berlin Phill. 1833, fol. 59v, als auch fol. 60v sind leer; die abschließenden Notizen ebd. fol. 61r–v. 106 Vgl. hierzu die oben angeführten Überlegungen in van deVyver, „Les œuvres inédites“ S. 150; zur Frage der Datierung der einzelnen Teile des „Computus“ siehe auch Verbist, In duel met het verleden S. 216f., unter Berücksichtigung der älteren Literatur; zur Datierungsfrage nicht nur auf der Grundlage der Berliner Handschrift Obrist, „Abbon de Fleury“ („1. La cosmologie d’Abbon et le contexte computiste“ sowie im
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Unklarheiten hinsichtlich dieses Abschnittes wird er in der vorliegenden Arbeit dem eigentlichen Corpus des „Computus“ nicht zugerechnet und bleibt daher bei der Untersuchung ausgewählter Komponenten unberücksichtigt. Da im Mittelpunkt dieser Untersuchung die Modifikationen an älterem Material und die eigenständigen Neuentwicklungen stehen, richtet sich das Interesse besonders auf die ersten beiden Teile des „Computus“: den Tabellenteil mit dem Hauptkalendarium sowie den Diagrammteil mit den eingeschobenen Calcidius-Exzerpten.107 2.2.3. Ergebnisse Analysiert man Abbos „Computus“, wie er in der Berliner Handschrift überliefert ist, vor dem Hintergrund der oben skizzierten komputistisch-astronomischen Sammlungen, ergeben sich einige bemerkenswerte Befunde. Abbos „Computus“ besitzt denselben kompilativen Charakter wie die komputistisch-astronomischen Anthologien seit der Karolingerzeit. Alle Elemente, die Abbo in seinem „Computus“ versammelt, bis auf zwei Ausnahmen, die „Ephemerida“ und der kurze Text „Dionysius abbas“, entstammen der Tradition. Hinzu kommt, daß die aufgegriffenen Elemente in thematischer Hinsicht den Charakter der Sammlungen widerspiegeln. Abbos „Computus“ umfaßt ein Themenspektrum von der Osterkomputistik im engen Sinne über die Mond- und ‚Sonnenkomputistik‘ in einem allgemeineren Sinne bis hin zu den ganz übergreifenden kosmologischen Zusammenhängen im weitesten Sinne.108 Das Bestreben, ‚neues‘ Wissen spätantiker Autoren zum Ganzen der Natur zu rezipieren, beobachtet man in nennenswertem Maße erstmals in den karolingischen Fachenzyklopädien, dort insbesondere in der Neigung, aus der „Naturalis historia“ des Plinius zu schöpfen. Bei Abbo begegnet man diesem Bemühen wieder, allerdings ist die Hauptquelle seiner ‚neuen‘ Informationen über natürliche Phänomene wie oben erwähnt Calcidius, auf den er sowohl im Rahmen der ersten Absatz von „2. Cosmologie et astronomie géométrique dans le recueil de comput de Berlin“). 107 Auf diese Teile bezieht sich daher auch die folgende Zusammenfassung. 108 Im Verhältnis zu anderen quadrivialen Sammlungen des Untersuchungszeitraums zeichnet sich der „Computus“ durch ein Überwiegen der komputistischen Elemente und insbesondere der Osterkomputistik (im dritten Teil des „Computus“) aus; vgl. hierzu die oben genannten Folio-Angaben der einzelnen Teile des „Computus“.
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Diagramme, als auch in Form umfangreicher Exzerpte ausgiebig zurückgreift.109 In technisch-funktionaler Hinsicht trifft auf Abbos „Computus“ dieselbe Beobachtung zu wie auf alle komputistisch-astronomischen Sammlungen und wie auf die Komputistik als Disziplin insgesamt: Aufgrund der Ostertafeln, die ja auch im „Computus“ enthalten sind und die von jedem weiteren Rechenbedarf in der Komputistik befreien, sind sämtliche komputistischen Bestandteile im Grunde obsolet.110 Dieser Befund ergibt sich für den „Computus“ mit Blick auf die Zusammensetzung der einzelnen Abschnitte und sogar bezüglich einzelner Komponenten.111 Als weiteres Charakteristikum sticht Abbos Vorliebe für bildhaft-diagrammatische Elemente ins Auge. Schon bei den karolingischen Fachenzyklopädien und in den zeitlich folgenden komputistischastronomischen Sammlungen wurde eine Zunahme an figurae sichtbar. Insofern greift Abbo auch hier eine herrschende Tendenz auf. Zugleich jedoch verschärft er sie erheblich. Sein „Computus“ besteht – mit Ausnahme der beiden Seiten mit Calcidius-Exzerpten etwa in der Mitte des Codex – im Grunde genommen nur aus Tabellen, Tafelwerken und Diagrammen, die allenfalls kleinere Texte, einzelne Worte oder dergleichen enthalten oder von kurzen Erläuterungen begleitet werden. Ganze Textpassagen trifft man, abgesehen von der genannten Ausnahme, nur im Kontext der Inkarnationsära an.112 109 Daß der Umfang der Calcidius-Exzerpte als groß bezeichnet wird, ergibt sich relativ zum Umfang des gesamten „Computus“. Bemerkenswerterweise greift Abbo keine spekulativen, sondern – mit einer einzigen Ausnahme – nur technische Beschreibungen aus seiner Vorlage heraus, weshalb sich die fragliche Stelle als ‚fachwissenschaftlich‘ (im Sinne der vorliegenden Arbeit) charakterisieren läßt. – Vgl. hierzu die im ersten Kapitel dieser Arbeit studierte Beda-Rezeption sowie die Etablierung der artes liberales als Wissenschaftseinteilung und Bildungskonzeption, in deren Rahmen ja eine vergleichbare Tendenz sichtbar wurde. 110 Siehe hierzu insbes. die Ausführungen in 1.1. Einleitung: Computus und Bildungsreform. 111 So entschlüsselt Abbo einzelne Spalten der Intervallzone seines Hauptkalenders nicht nur in einer, sondern in mehreren Hilfstabellen. Exemplarisch sei an die A– K-Tabelle erinnert, die sowohl fol. 32r, als auch fol. 32v abgebildet ist, während nur eine Spalte des Kalendariums, die dritte, die entsprechenden Mondbuchstaben enthält. Noch auffälliger sind die Redundanzen beim Hauptkalender selbst. Denn dieser bietet nicht nur mehrere Spalten der Intervallzone, die derselben Funktion dienen, nämlich der Bestimmung des Mondalters, sondern er verfügt – anstelle einer Fest- und Terminzone – über vollständige Mondaltertafeln. Mit deren Hilfe jedoch läßt sich das Mondalter eines jeden Kalendertages in jedem beliebigen Jahr des 19jährigen Zyklus ablesen. 112 Da sich die Ausführungen hier nur auf die ersten drei Teile des „Computus“
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In diesem Zusammenhang ist auf eine weitere Besonderheit hinzuweisen. Die Neigung zu bildhaft-diagrammatischen Elementen äußert sich im Rahmen der komputistisch-astronomischen Sammlungen nicht nur in einer zahlenmäßigen Zunahme an figurae, sondern auch in der gestalterischen Überformung älterer Vorlagen. Auch dieses Kennzeichen findet sich in Abbos „Computus“ wieder. So ist sein komputistisches Hauptwerk zwar fast ausnahmslos eine bloße Kompilation altbekannter Objekte, doch sind die meisten Elemente gegenüber den überlieferten Vorlagen jeweils nochmals in ikonographischer Weise modifiziert, was insbesondere bei Abbos Hilfstabellen zum Vorschein tritt. Neben dieser Tendenz zur bildhaften Überformung der Einzelkomponenten läßt sich ein markanter Zug zur Komprimierung sowie zur Mehrschichtigkeit erkennen, der gleichfalls entsprechende Entwicklungen im Bereich der Sammlungen noch zuspitzt. Ein besonders auffälliges Beispiel für diese Mehrschichtigkeit ist die „Ephemerida“, die nicht nur verschiedene komputistisch-astronomische Tabellen miteinander verknüpft, sondern zudem ein regelrechtes astronomischkosmologisches Gedicht ist.113 Mit seiner ausgeprägten Dominanz an figurae und ikonographischen Überformungen sowie seinem Hang zur Mehrschichtigkeit stellt der „Computus“ ein gutes Beispiel für die beobachtbaren Entwicklungen dar. Insbesondere dadurch, daß Abbo die fraglichen Tendenzen nicht nur aufgreift, sondern sie noch verschärft und auf die Spitze treibt, empfiehlt sich sein „Computus“ als Grundlage, um nach dem sich in den genannten Indizien artikulierenden Anliegen zu fragen. Allerdings unterscheidet sich Abbos „Computus“ auch in wesentlichen Punkten von einem Großteil der Sammlungen. Vor allem ist in diesem Zusammenhang auf die Stimmigkeit seines Werkes in technischfunktionaler Hinsicht hinzuweisen. Diese Beobachtung trifft auf viele der Sammlungen nicht zu.114 Ähnliches gilt mit Blick auf die Frage nach beziehen, fällt hierunter lediglich der Text „Dionysius abbas“, fol. 45r–v, der den Ostertafeln vorausgeht und sich folglich als Einführung in die dort verwendete Inkarnationsära lesen läßt. 113 Ein weiteres Beispiel für komplexe Mehrschichtigkeit sind die genannten laterculi, Berlin Phill. 1833, fol. 34v und fol. 60r; vgl. auch Wallis, „Images of Order“, bes. S. 57. 114 Wie erwähnt wurde, beruhen manche dieser Anthologien auf prinzipiell verschiedenen Grundlagen. Neben der ‚standardmäßigen‘ bedanischen Komputistik rangieren nach wie vor ältere, vorbedanische Elemente, die oft im Widerspruch zu den zwischenzeitlich gängigen komputistischen Prinzipien stehen. Darüber hinaus werden gelegentlich Verfahrensanweisungen überliefert, die grundsätzlich falsch sind, die anderen, in derselben Sammlung wiedergegebenen argumenta widersprechen oder auf die beides
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einem kohärenten Aufbau und nach der Vollständigkeit, mit der für die Anwendung erforderliche Bestandteile bereitgestellt werden.115 Anders hingegen Abbos „Computus“. Die Hilfsmittel, die er bietet, sind korrekt konstruiert und richtig aufeinander abgestimmt. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an die Intervallzone seines Hauptkalenders und die zugehörigen Hilfstabellen. Wie sich durch Stichproben überprüfen läßt, gelangt man bei ihrer Anwendung zu korrekten Ergebnissen.116 Während er in großer Zahl Doppelungen in seinen „Computus“ aufnahm, scheint er sorgfältig auf Stimmigkeit und Widerspruchsfreiheit geachtet zu haben. Daneben erwiesen sich als herausragende Kennzeichen die Kohärenz und Vollständigkeit, durch die sich Abbos „Computus“ auszeichnet. Sämtliche Spalten der Intervallzone seines Hauptkalenders greift Abbo in korrespondierenden Hilfstabellen auf, bezieht beide Komponenten präzise aufeinander und erklärt die Tafeln in ihrer Anwendung.117
zutrifft. Bemerkenswert ist, daß sich die referierten Widersprüchlichkeiten im Rahmen der Sammlungen mit den erwähnten Redundanzen verbinden, insofern verschiedene Hilfsmittel oder argumenta zu derselben komputistischen Größe versammelt werden, untereinander aber in der beschriebenen Weise in Opposition stehen. Zu diesen Charakteristika bereits ausführlich Cordoliani, „L’évolution du comput ecclésiastique“ S. 310f. u. ö. 115 Bei komputistisch-astronomischen Anthologien läßt sich häufig das Phänomen beobachten, daß Hilfsmittel wie zum Beispiel eine bestimmte Lunartabelle, die zum Entschlüsseln der ihr korrespondierenden Spalte im Kalender unverzichtbar ist, fehlt. Oft wird eine entsprechende komplementäre Komponente an einer ganz anderen Stelle im Codex und ohne gegenseitigen Verweis beider Komponenten aufeinander abgebildet oder die Erläuterung, wie eine Komponente anzuwenden sei, fehlt, ist kryptisch und dergleichen mehr. Vergleichbare Beobachtungen ebenfalls schon bei Cordoliani, „L’évolution du comput ecclésiastique“ S. 310f.; hierzu oben 2.2.1. Die komputistisch-astronomischen Sammlungen. 116 Es empfiehlt sich, hierzu auf die Berliner Handschrift zurückzugreifen und nicht die bei Migne (PL 90, Sp. 727–878) abgedruckten Kalender und Tabellen zu verwenden, da die dort gebotenen Elemente häufig fehlerhaft sind. 117 Im Codex Bern 250 beispielsweise steht vor dem Kalendarium ein Vorwort, in dem die Mondbuchstabensysteme erläutert werden, und zwar exakt in der Reihenfolge, in der sie in der Intervallzone stehen. – Der Aspekt der Vollständigkeit bezieht sich, wie oben bereits betont, nur auf die zusammengestellten Komponenten selbst – also beispielsweise auf Materialen, die sich aus mehreren komplementären Elementen zusammensetzen wie Kalendarien und Hilfstabellen –, nicht auf das Vorhandensein aller – etwa für die Berechnung des Osterdatums erforderlichen – technisch-funktionalen Größen. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an das Fehlen von Ausführungen wie beispielsweise zum Äquinoktium, auf das ja bereits Obrist, „Les tables et figures abboniennes“ S. 184f., hingewiesen hat.
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2.3. Untersuchung ausgewählter Komponenten des „Computus“ 2.3.1. Diagramme Im Rahmen der Übersicht über den Aufbau des „Computus“ wurde auf die zentrale Position innerhalb des Werkes aufmerksam gemacht, an der sämtliche Diagramme versammelt sind. Bereits bei einer ersten Durchsicht dieses Teils stößt man auf bemerkenswerte Befunde. So fällt auf, daß sich der Abschnitt in verschiedene Segmente weiter untergliedern läßt. Ein erster Bereich wird von Diagrammen gebildet, die in der Tradition der karolingischen rotae computisticae stehen. Daran schließt sich ein Teil, der seinerseits noch feiner strukturiert ist: Er verfügt mit den erwähnten Calcidius-Exzerpten über einen Mittelpart, der völlig frei von Schemata ist, aber von einem Rahmen aus diagrammatischen Skizzen umfaßt wird. Die meisten dieser Skizzen sind Calcidius-Diagramme und dienen der Visualisierung der in den Exzerpten zusammengestellten Ausführungen. Zuletzt folgt ein weiterer Abschnitt mit Schemata, den nun Isidor-Diagramme beziehungsweise eng an diese angelehnte Formen dominieren.118 Neben dieser deutlichen Untergliederung des dargestellten Materials ist beachtlich, daß Abbo zwar ein relativ breites Spektrum an diagrammatischen Typen unterschiedlicher Traditionen bietet, dabei aber formal fast ausschließlich auf Kreisdiagramme zurückgreift. Selbst die diagrammatischen Skizzen werden von der Kreisform beherrscht, was in diesem besonderen Fall in engem Zusammenhang mit den Inhalten der ausgewählten Exzerpte steht. Das zentrale Thema der Exzerpte und folglich der korrespondierenden Skizzen sind verschiedene Theorien der Planetenbewegungen sowie Ausführungen zu Eklipsen und damit zur Frage, welche Konstellationen zu diesem Phänomen führen. Daher sind die Grundelemente der Skizzen einmal die auf die Fläche projizierten kugelförmigen Körper der beteiligten Gestirne und sodann die Zyklen, auf denen sie sich bewegen. Zu schlußfolgern ist demnach, daß im Fall der diagrammatischen Skizzen die astrono-
118 Der Gesamtkomplex erstreckt sich über die Blätter Berlin Phill. 1833, fol. 35r– 39v; die rotae computisticae ebd. fol. 35r–36r; die Calcidius-Exzerpte ebd. fol. 37r–v; die diagrammatischen Skizzen ebd. fol. 36v und 38r; die Isidor-Diagramme und die an sie angelehnten Schemata ebd. fol. 38v–39v. – Hierzu insgesamt Obrist, „Les tables et figures abboniennes“ S. 167–181.
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mischen Gegebenheiten den Ausschlag für die dargestellten Formen gaben.119 Mit Blick auf die Kreisdiagramme der beiden übrigen Partien läßt sich diese Erklärung jedoch nur in Einzelfällen anführen. Zieht man beispielshalber die Konkurrententafel von fol. 35v, unten mittig, heran, ist zu berücksichtigen, daß eine gängige alternative Darstellungsweise dieses Objektes die Rechtecksform ist.120 In technisch-funktionaler Hinsicht ist die rechteckige Konkurrententafel der rota gegenüber, wie erwähnt, eindeutig vorzuziehen, insofern sie leichter zu konstruieren und einfacher zu handhaben ist.121 Dieser Befund tritt bei komplexeren Figuren wie der Tafel der Mondalter an den Kalenden der einzelnen Monate im 19jährigen Zyklus besonders deutlich hervor.122 Daß Abbo zugunsten der formalen Ebene, also des Kreismotivs, zu Abstrichen auf der technisch-funktionalen Ebene bereit war, legt den Schluß nahe, daß sein Interesse bei der Auswahl dieser rotae in besonderem Maße der Bedeutung der Kreisform selbst galt. Dieser Einschätzung soll in den folgenden Paragraphen am Beispiel des ersten Abschnittes des Diagrammteils nachgegangen werden. 1. Tradition: Antike Kosmologie. Die Symbolhaftigkeit der Kreisform im allgemeinen ist der Forschung längst bekannt. Darüber hinaus liegen zwischenzeitlich nicht nur zur Diagrammatik insgesamt, sondern speziell auch zu komputistisch-astronomischen Schemata jüngere kunsthistorische Studien vor, die das in den repräsentierten Formen und Kom119 Zu diesem Teil des „Computus“ Caiazzo, „Abbon de Fleury“ S. 17–20 und S. 32– 38 (mit einer Edition der Calcidius-Exzerpte S. 33–38). 120 Siehe hierzu die Abbildung 1. 121 Daß die Konstruktion eines Kreisdiagramms, insbesondere seine gleichmäßige radiale Einteilung, aufwendiger ist als die einer Rechtecktabelle, läßt sich eingedenk der zur Verfügung stehenden Mittel der fraglichen Zeit leicht nachvollziehen. Doch auch die Handhabung gestaltet sich mühevoller, da beispielsweise zum vollständigen Ablesen der Figur der Codex gedreht werden muß oder da die Einträge in die zentrumsnäheren Zellen konstruktionsbedingt kleiner ausfallen und deshalb oft kaum noch lesbar sind. Auf diese Problematik weist in ähnlichem Zusammenhang schon Wallis, „Images of Order“ S. 54, hin, die sich bei ihrem Urteil nicht nur auf den Befund mit Blick auf die Diagramme, sondern auch hinsichtlich komputistisch-astronomischer Tabellen stützt; hierzu eingehender im folgenden Kapitel. 122 Z.B. Berlin Phill. 1833, fol. 35r, oben; ähnlich komplex ist die Wochentagstafel „Quae sit feria per xxviii annos in singulis mensium kalendis“, ebd., fol. 35v, oben mittig. Auch diese Tafeln ließen sich leicht in einer rechteckigen Tabelle darstellen, sind also nicht per se auf die Kreisform angewiesen; exemplarisch hierfür die Abbildung 2.
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positionen enthaltene symbolische Potential untersuchen.123 Besonders hilfreich für die folgende Erörterung der im „Computus“ zusammengestellten rotae ist der Umstand, daß die von Abbo verwendeten karolingischen Vorlagen schon Gegenstand verschiedener Studien waren, deren Ergebnisse sich damit als hermeneutischer Schlüssel für den Diagrammteil des „Computus“ anbieten. Wie in den übrigen Abschnitten greift Abbo auch hier ausschließlich auf tradierte Elemente zurück. Hinsichtlich der rotae computisticae bietet sich der schon oben genannte Zyklus von Kreisdiagrammen in der Kölner Handschrift zum Vergleich an, der aufgrund seiner frühen Entstehungszeit – an der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert – und seiner Vielzahl an typischen karolingischen rotae herausragt.124 Verschiedene Gründe sprechen dafür, in den diagrammatischen Zyklen dieses oder eines ihm nahestehenden Codex eine der wichtigsten Inspirationsquellen für Abbo zu sehen. Wie später der „Computus“ zeichnet sich schon das Kölner Manuskript dadurch aus, daß die versammelten Diagramme jeweils in zusammenhängenden Komplexen abgebildet wurden. Ein weiteres Kennzeichen hinsichtlich seines Erscheinungsbildes innerhalb dieser Sequenzen ist die Dominanz der Schemata gegenüber den textlichen Erläuterungen. Auf fol. 81r beispielsweise sind zwei Diagramme ohne Begleittext dargestellt.125 Beide Charakteristika – das blockhafte Arrangement und das Hervortreten des Bildhaften gegenüber dem Geschriebenen – treffen auch auf Abbos Werk zu, sogar in Beispielsweise Meier, „Die Quadratur des Kreises“, die S. 37–41 auf die Leistungsfähigkeit dieses neuplatonischen Motivs sowohl als Symbol für Gott als den Einen und Ewigen, als auch für die Zeit als Abbild der Ewigkeit hinweist. – Mit komputistischastronomischen Diagrammen besonders der Karolingerzeit, aber auch der Ottonenzeit setzt sich Kühnel, The End of Time S. 65–159 u. ö., auseinander. Sie bringt diese Schemata in Beziehung zu Repräsentationen aus dem biblischen Kontext und versucht auf diese Weise ihre eschatologischen Implikationen herauszuarbeiten. – Grundlegend für die folgenden Überlegungen ist die Studie von Obrist, „Le diagramme isidorien“, die minutiös die antiken kosmologischen Vorgaben freilegt. Zu diesen Traditionslinien insges. Dies., La cosmologie médiévale. – Allgemein zu den rotae auch Evans, „The Geometry of the Mind“, der S. 42 vorschlägt, sie als „objects of contemplation“ zu begreifen. 124 Der Zyklus ist abgebildet in Köln, Diözesan- und Dombibliothek 83 II, fol. 79v– 85v. Das Manuskript enthält auf fol. 126v–143r neben der Folge der rotae computisticae noch einen weiteren diagrammatischen Komplex, den der bereits genannten IsidorDiagramme. – Zur Handschrift von Euw, „Die künstlerische Gestaltung“; Kühnel, The End of Time S. 72–74 mit Literaturhinweisen zum Manuskript bes. in Anm. 30 und 31 auf S. 72. – Die Handschrift ist vollständig digitalisiert und unter www.ceec.uni-koeln.de („Codices Electronici Ecclesiae Coloniensis“) zugänglich. 125 Die korrespondierenden Erklärungen befinden sich am unteren Rand der vorausgehenden Seite, fol. 80v. 123
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noch höherem Maße: Sie prägen den gesamten „Computus“, nicht nur den diagrammatischen Teil. Schließlich ist bezüglich der Frage nach dem Einfluß zu berücksichtigen, daß Abbo einige der rotae computisticae der Kölner Handschrift fast übereinstimmend kopiert.126 Bemerkenswert an den Diagrammen der Karolingerzeit ist der Umstand, daß sie trotz des technischen Eindrucks, den ihr Erscheinungsbild beim flüchtigen Hinsehen vermittelt, in erster Linie eine ausdeutende Funktion besitzen. Der ihnen innewohnende Symbolgehalt ist neuplatonisch sowie peripatetisch geprägt und verdankt sich sowohl der Tradition, der die Diagramme selbst entstammen, als auch dem philosophiegeschichtlichen Horizont, vor dem sie entstanden.127 Als wichtigste Vorbilder für die karolingischen rotae sind die Diagramme anzusehen, mit denen Isidor von Sevilla sein „De natura rerum“ ausstattete, namentlich seine sechs Kreisdiagramme. Schon seine Schemata zeichnen sich dadurch aus, daß ihr Gehalt eine bloße Veranschaulichung der im Text abgehandelten Gegenstände übersteigt.128 Sie thematisieren kosmologische Zusammenhänge, deren concordia – trotz der
126 Beispielsweise „Quae luna sit per xviiii annos in singulis kalendis“, Berlin Phill. 1833, fol. 35r, gegenüber Köln, Diözesan- und Dombibliothek 83 II, fol. 80r; „Quae sit feria per xxviii annos in singulis mensium kalendis“, Berlin Phill. 1833, fol. 35v, gegenüber Köln, Diözesan- und Dombibliothek 83 II, fol. 80v. – Ein weiteres Indiz für einen Einfluß der Kölner Handschrift oder eines mit ihm verwandten Manuskriptes auf Abbo ist der auffällige Rückgriff auf immer denselben rota-Typ über mehrere Seiten hinweg, vgl. Köln, Diözesan- und Dombibliothek 83 II, fol. 79v–81r, gegenüber Berlin Phill. 1833, fol. 35r–36r. 127 Diese allgemeine philosophische Prägung des Frühen und beginnenden Hochmittelalters fand über weite Strecken durch die Auseinandersetzung mit der Spätantike, insbes. der Patristik statt. Vgl. hierzu den neuplatonischen wie auch peripatetischen Charakter namentlich der Schriften des Ambrosius, Augustins oder des Boethius; hierzu mit Blick auf die Diagrammatik bes. Obrist, „Le diagramme isidorien“, die S. 110 zu dem Ergebnis gelangt, daß die „deux courants physiques principaux représentés dans le De rerum natura [sc. d’Isidore, NG] sont celui issu de la physique qualitative aristotélicienne et celui de la physique néo-platonicienne, qui rattache des notions de physique qualitative au modèle cosmologique platonicien mathématique“. Im weiteren Verlauf ihres Artikels zeigt sie auf, wie diese beiden kosmologischen Haupttraditionen nicht nur im Text, sondern auch in den diagrammatischen Darstellungen zum Ausdruck kommen und sich jeweils aufgrund der spezifischen Komposition der einzelnen Schemata ganz konkreten Repräsentationen zuordnen lassen; vgl. auch Dies., „Les tables et figures abboniennes“ S. 148–151. 128 Auch der Text beschränkt sich ja nicht darauf, natürliche Phänomene zu beschreiben und ‚technisch‘ zu erklären, sondern deutet diese stets aus. Hierzu insbes. Fontaine, Traité de la nature S. 7–13; zu den Figuren ebd. S. 15–18. – Zur Bedeutung des „Liber rotarum“ als „archetype“ für die späteren Entwicklungen Evans, „The Geometry of the Mind“ S. 42 f.
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Gegensätzlichkeit der wirksamen Kräfte – transparent gemacht werden soll. Die bekanntesten Beispiele hierfür sind zwei typgleiche und eng miteinander verwandte Diagramme, das Jahreszeiten- und das MikroMakrokosmos-Schema.129 Das Mikro-Makrokosmos-Diagramm zum Beispiel besteht im vorliegenden Fall aus einem zentralen Kreis, umgeben von acht miteinander verschränkten Halbkreisen, die wiederum von einem Kreis umschlossen werden. In den inneren Kreis sind die Begriffe mundus, annus und homo eingeschrieben, während die Halbkreise im Wechsel einer der Grundeigenschaften sicca, calidus, humida, frigidus und einem Dreierblock aus je einem der Elemente, einer der Jahreszeiten und einem der menschlichen Temperamente zugeordnet sind. Aufgrund der in sich ausgewogenen und harmonischen Anordnung der einzelnen Komponenten, der Verschränkungen der Halbkreise, des einheitskonstituierenden Kreisrahmens sowie des ausschließlich verwendeten Kreismotivs ist dieses Diagramm als ein Symbol für Einheit und harmonische Ordnung zu interpretieren. Es deutet den Kosmos als ein Gebilde, in dem zwar so gegensätzliche Qualitäten wie Trockenheit und Feuchtigkeit, Hitze und Kälte herrschen, diese aber in einem austarierten Gleichgewicht stehen. Darüber hinaus macht es auf die fundamentale Gültigkeit und alles durchdringende Wirksamkeit dieses Kräftegeflechtes aufmerksam: Es bestimmt den mundus im allgemeinen, den jahreszeitlichen Ablauf im konkreten und den Menschen im besonderen, nämlich als Teil des Kosmos und zugleich dessen Inbegriff.130 Beachtlich ist die Durchgängigkeit der Konzeptionen, die in Diagrammen wie dem eben exemplarisch herausgegriffenen ihren Ausdruck finden. In der Schrift, in der diese Schemata erstmals quellen-
129 Siehe hierzu Abbildung 3 (unten). – Beide Diagramme übernimmt Abbo in seinen „Computus“, Berlin Phill. 1833, fol. 38v, unten. 130 Für eine ausführlichere Besprechung dieses sowie der übrigen Isidor-Diagramme siehe Kühnel, The End of Time S. 123–136; grundlegend zu diesen beiden Diagrammen und ihrem antiken kosmologischen Hintergrund Obrist, „Le diagramme isidorien“ S. 114–126. Angesichts dieser kosmologisch-philosophischen Tradition gelangt auch sie (S. 120) bereits zu dem Schluß, „ils [sc. les schémas des éléments et des saisons, NG] sont construits sur la base d’opposés qui pourtant finissent par former une unité“. Ebd. S. 114–126 zeigt Obrist, daß dem Aufbau der beiden fraglichen IsidorDiagramme in letzter Instanz eine aristotelische Konzeption zugrunde liegt. Doch finden sich die allgemeinen Kennzeichen dieser Vorstellungen selbstverständlich bereits bei Platon (z. B. zu den vier Elementen und ihrem Zusammenspiel Timaios 31b, vgl. hierzu auch Obrist, „Le diagramme isidorien“ S. 108) und infolge dessen sowohl in der peripatetischen, als auch der platonischen Tradition.
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mäßig greifbar werden, in Isidors „De natura rerum“, artikulieren sich die zugrunde liegenden Vorstellungen nicht nur in den Visualisierungen, sondern bestimmen auch den dazugehörigen Text. Das MikroMakrokosmos-Diagramm etwa korrespondiert einer Textpassage über die Grundeigenschaften und die Elemente, die ein Exzerpt aus dem Hexaemeronkommentar des Ambrosius ist.131 Dieser Auszug läßt sich seinerseits über Basilius von Cesarea letztlich bis auf Aristoteles zurückverfolgen.132 Insbesondere seit dem 9. Jahrhundert erlangen die im Text wie im Diagramm formulierten Vorstellungen wieder verstärkte Aufmerksamkeit. Exemplarisch hierfür ist auf die Kommentare des Johannes Scotus Eriugena und des Remigius von Auxerre zu Martianus Capella und zu Boethius zu verweisen.133 Im Zentrum der Ausführungen steht in motivischer Hinsicht erstens die konstatierte Einheit und Harmonie trotz vermeintlicher Gegensätzlichkeit der wirksamen Kräfte und zweitens das Kreismotiv.134 Das letztgenannte Motiv tritt in verschiedenen Konstellationen in Erscheinung: als Kreislauf der Jahreszeiten, als kontinuierliche Umwandlung der vier Elemente ineinander oder als Himmels- und Sternbewegung, die nach aristotelischer Vorstellung alle weiteren Bewegungen – die somit notwendigerweise ebenfalls kreisförmig sind – verursacht.135 Auch im komputistisch-astronomischen Bereich finden diese Konzeptionen 131 Die fragliche Stelle ist Isidor, De natura rerum cap. xi, 2–3 (ed. Fontaine S. 215, 14 – 217, 32): „Ceterum sanctus Ambrosius eadem elementa per qualitates […] distinguit: terra, inquit, arida et frigida est, aqua frigida atque humida, aer calidus est et humidus, ignis calidus atque siccus. Per has […] sibi singula conmiscuntur. […]. Ipse quoque aer medius inter duo conpugnantia […], utrumque illud elementum sibi conciliat […]. Quorum [sc. elementorum, NG] distinctam communionem subiecti circuli figura declarat“. – Siehe hierzu auch Obrist, „Le diagramme isidorien“ S. 118f. 132 Basilius, Homélies sur l’Hexaéméron, 37E–38D (SC 26, S. 266–268); vgl. hierzu Aristoteles, De generatione et corruptione, bes. ii, 3–4 (ed. Forster 330a–332a). 133 Eriugena, Annotationes in Marcianum 3,5 (ed. Lutz S. 4, 3–28); Remigius, Commentum in Martianum Capellam i, 3, 8 (ed. Lutz Bd. 1, S. 67 f.); zu Boethius siehe Courcelle, La Consolation de Philosophie S. 241–299. 134 Pfeiffer, Contemplation Caeli S. 118f., führt den Aspekt der „Harmonie im scheinbar Disharmonischen“ auf Ovids Konzeption der concordia discors zurück und verweist auf dessen Metamorphosen (ab i, 21). 135 Einen repräsentativen Überblick bietet Obrist, „Le diagramme isidorien“ S. 124f.; als Vorlage kommt bes. Aristoteles, De generatione et corruptione in Frage, neben der bereits angeführten Stelle (cap. 3 und 4 des zweiten Buches) siehe ebd. ii, 10–11 (ed. Forster 336a–338b). – Vgl. hierzu auch Isidor, dem zufolge die Revolutionen des Himmels am Ursprung aller weiteren Bewegungen stehen: der Sphären, der Sterne und der sublunaren, die Erde umschließenden Schichten; hierzu Obrist, „Le diagramme isidorien“ S. 107.
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großen Anklang. In dem der Astronomie gewidmeten achten Buch seines „De nuptiis philologiae et mercurii“ beispielsweise stellt Martianus Capella das Universum als ein durch konzentrische Himmelskreise strukturiertes kugelförmiges Gebilde vor. Wie Hüllen legen sich um den zentralen Erdglobus der Reihe nach die übrigen Elemente, zunächst das Wasser, dann die Luft und schließlich das Feuer.136 Nicht nur Isidor greift diese Vorstellung in der eben angeführten Textstelle auf, sondern auch Beda in seiner an Isidor angelehnten, gleichnamigen Abhandlung „De natura rerum“.137 Besonders nachdrücklich besingt außerdem Hrabanus Maurus den Kreis als kosmisches Prinzip, das sowohl der räumlichen Anordnung der Welt als einer Kugel, als auch ihren zeitlich strukturierten Abläufen zugrunde liege.138 In den komputistischastronomischen Anthologien seit der Karolingerzeit werden diese kosmologischen Konzepte infolge der Rezeption der erwähnten Enzyklopädien wie der Isidors oder Martians sowie über die hier zur Diskussion stehenden Diagramme139 weitertransportiert. Zeugnis über diese breite Rezeption legen sowohl die oben besprochenen karolingischen ‚Fachenzyklopädien‘ ab, als auch der hier im Zentrum befindliche „Computus“ Abbos. 2. Christliche Vereindeutigung. Anders als der Text, den sie begleiten, sind Isidors Diagramme nicht zwingend aus einer christlichen Perspektive zu lesen. Sie verdeutlichen, wie skizziert, kosmologische Zusammenhänge in einer neuplatonisch und peripatetisch geprägten Weise.140 136 Hierzu Martianus Capella, De nuptiis philologiae et mercurii viii, 814 (ed. Willis S. 309, 1–14). 137 Vgl. hierzu bes. Beda, De natura rerum cap. iii–v (CCL 123A, S. 194–197). 138 Exemplarisch sei auf die „Declaratio“ zur figura vii in Hrabanus, De laudibus sanctae crucis (PL 107, Sp. 177 f.) verwiesen: „[…]. Siquidem mundum quatuor elementis constare manifestum est, id est, igne, aere, aqua et terra (177A). […]. Cur vero in rotis quatuor elementa sive quatuor tempora seu quatuor plagas mundi depinxerim, haec ratio est, quia omnis mundi machina temporalis est […] (178A). […]. Gyram gyrando vadit spiritus, et in circulos suos revertitur (178C)“. 139 Zu verstehen sind hierunter also die Isidor-Schemata, die rotae computisticae sowie die jeweiligen Derivate. 140 Zu einer weiterreichenden Einschätzung gelangt Kühnel, The End of Time, die bereits in der Darstellungsweise der Isidor-Diagramme eine Betonung des Kreuzmotivs und damit eine christliche Vereindeutigung der übertragenen Bedeutung sieht, vgl. beispielsweise S. 132 (implizit in ihrer rhetorischen Frage enthalten), S. 148–159 u. ö. – Obrist, „Le diagramme isidorien“ S. 111, betont demgegenüber den autonomen Charakter des Textes von Isidors „De natura rerum“ im Verhältnis zu dessen christlichen Allegorisierungen: „Le De rerum natura présente le domaine physique comme fonction-
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Dies ändert sich bei den diagrammatischen Weiterentwicklungen und Neuschöpfungen der Karolingerzeit. Den Symbolgehalt ihrer Schemata bestimmen jetzt auch dezidiert christliche Konnotationen. Dieses Charakteristikum tritt in unterschiedlichem Maße hervor. Zieht man ein weiteres Mal die oben angeführten rotae computisticae des Kölner Codex heran, scheinen sie auf den ersten Blick ausschließlich von geometrischen Elementen gekennzeichnet zu sein: der Kreisform, die ihrerseits zumeist in weitere konzentrische Kreise und radial abgeteilte Segmente untergliedert ist. Dieses Erscheinungsbild legt eine christlich konnotierte Intention noch nicht zwingend nahe. Doch belassen es die Schöpfer der rotae in aller Regel nicht bei einer solchen neutralen Darstellung, sondern ergänzen ihre Diagramme um weitere, zum Teil ganz unscheinbare Elemente. Ein Beispiel hierfür sind kleine Kreuze, die sie an die Figuren anhängen, indem sie einzelne Radiale über den Kreisumriß hinaus verlängern und mit einem entsprechenden Querstrich versehen.141 Wie kunsthistorische Forschungen betonen, ist gerade die Kreuzform das bevorzugte gestalterische Element, das zu den Kreisdiagrammen hinzutritt oder in sie eingearbeitet wird, um ihren symbolischen Gehalt in interpretatorischer Hinsicht zu vereindeutigen.142 Ein weiteres, sehr bemerkenswertes Beispiel für theologische Konnotationen komputistisch-astronomischer Schemata seit der Karolingerzeit ist das sogenannte Quincunx-Muster, ein Diagrammtyp, der sich aus fünf Kreisen zusammensetzt.143 Da dieser Typ eine prominente Rolle im Kontext von Maiestas–Domini-Darstellungen spielt, fällt seine Verwendung im komputistisch-astronomischen Bereich auf. Eines der ältesten derzeit bekannten Zeugnisse befindet sich in einer Handschrift aus Fleury aus dem Jahre 847 und illustriert das Kapitel 29 von Bedas „De temporum ratione“, das der „Eintracht von Meer und Mond“ gewidmet ist.144 Klassischerweise setzt sich das Quincunxnant de façon autonome, l’allégorisation chrétienne ne faisant que se superposer à un exposé sur la nature qui tient à lui tout seul“. 141 Noch Abbo selbst greift auf dieses Mittel, z. B. Berlin Phill. 1833, fol. 35r, unten rechts: „De recursu aepactarum“ zurück, siehe hierzu die Abbildung 4 dieser Arbeit; er verwendet in diesem Fall diejenigen Radiale, an denen die Ogdoade beziehungsweise die Endekade des 19jährigen Zyklus beginnt, um sie mittels der beschriebenen Kreuze hervorzuheben. 142 Hierzu bes. Kühnel, The End of Time S. 139–159. – Zu den figurae im Kölner Codex von Euw, „Die künstlerische Gestaltung“, bes. S. 255–258. 143 Abbildung 5. 144 Paris BN lat. 5543, fol. 135v; der zeitlich nächste Textzeuge ist London BL, Harley
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Schema aus einer großen zentralen rota mit mehreren konzentrischen Linien und vier kleineren Kreisen in den Ecken der jeweiligen Codexseite zusammen – so auch bei den komputistisch-astronomischen Adaptionen. Den Innenkreis der zentralen rota bildet im vorliegenden Beispiel eine T–O-Karte, die auf Isidor zurückgeht.145 Diese wird umgeben von einem Gürtel, der eine radiale Einteilung aufweist und Raum für verschiedene Winde bietet. Konstruiert ist dieser Gürtel für ein Zwölf– Wind-Schema, ausgefüllt sind jedoch nur acht Segmente, so daß auf je zwei beschriftete ein leeres Segment folgt. Im Falle der Pariser Handschrift sind die unbeschrifteten Segmente exakt die senkrecht beziehungsweise waagrecht stehenden und lassen damit ein Kreuz entstehen.146 Um den Windgürtel legen sich drei weitere Bänder, die radial in jeweils dreißig Segmente unterteilt sind. Sie sind, von innen nach außen gesehen, der wechselnden Abfolge der Zahlen von i bis vii beziehungsweise von i bis viii, der umlaufenden Beschriftung aq[ua] und der Zahlenfolge von i bis xxx zugeordnet.147 Während die äußere Zahlenreihe für die Anzahl der Tage eines vollen synodischen Mondmonats und damit für die Mondalter steht, repräsentiert die erstgenannte Folge die Intervalle zwischen Tidenhöchst- und Tidentiefststand. Dieses Phänomen wird expressis verbis durch die Beschriftungen der vier Eckscheiben thematisiert. So bietet die kleine rota oben rechts die Information, luna v incipit ledo. Der Blick auf die zentrale Scheibe weist entsprechend
3017, fol. 135r, der ebenfalls aus Fleury stammt. Aufgrund dessen vermutet Bober, „An Illustrated Medieval School-Book“ S. 69, daß dieser Diagrammtyp im 9. Jahrhundert in Fleury entstand. – Formal verwandte, gegenüber der Grundform jedoch modifizierte Diagramme finden sich sogar in noch älteren Handschriften, z. B. Köln, Diözesan- und Dombibliothek 83 II, fol. 82v und Laon, Bibliothèque municipale 422, fol. 54r. – Eine ausführliche Besprechung dieser Diagramme bietet Kühnel, The End of Time S. 69–72. 145 Zur T–O-Karte Obrist, „Le diagramme isidorien“ S. 140f. 146 Das Schema des Londoner Manuskriptes ist insofern ungenauer konstruiert, als die radiale Einteilung mißglückt ist. Im Rahmen der dadurch entstandenen Ungenauigkeiten läßt sich jedoch dasselbe Phänomen beobachten, das in diesem Fall noch akzentuiert wird, da die unbeschrifteten Segmente mit Farbe ausgefüllt wurden; vgl. zu diesem Diagrammtyp Obrist, „Wind Diagrams“ S. 49–53. 147 Dieses Diagramm wurde oben, im Rahmen der Charakterisierung des „Computus“ bereits kurz angesprochen. Zu berücksichtigen ist für den gegenwärtigen Zusammenhang, daß der mit aq[ua] symbolisierte umlaufende Wassergürtel eine zusätzliche christlich konnotierte kosmologische Dimension in die Gesamtkomposition des Diagramms bringen dürfte; vgl. hierzu Gn 1, 6f.: „dicit quoque Deus fiat firmamentum in medio aquarum et dividat aquas ab aquis et fecit Deus firmamentum divisitque aquas quae erant sub firmamento ab his quae erant super firmamentum“.
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eine Korrespondenz zwischen dem Eintrag „v“ des äußeren Gürtels und der „i“ des inneren Bandes auf. Aufgrund seiner wohl proportionierten und ausbalancierten Komposition, der ansprechenden Unterteilung der zentralen rota in konzentrische Bänder und radiale Segmente ist das Gezeitendiagramm als eine in sich geschlossene Einheit anzusprechen, die die Zusammenhänge und wechselseitigen Abhängigkeiten der verschiedenen Größen transparent macht. Wie bereits im oben erwähnten Fall mit den radialen Fortsätzen in Kreuzesform wird auch dieses Diagramm mit dem Kreuzsymbol versehen, das hier allerdings in die Figur integriert ist, und zwar vermutlich nicht nur aus ästhetischen Gründen. Daß es vielmehr auf das einheitsstiftende und die diversen Größen harmonisch austarierende Prinzip hinter den Einzelphänomenen verweist, legt das zugrunde gelegte Quincunx-Schema selbst nahe.148 Wie in der Forschung herausgearbeitet wurde, tritt dieses Schema als kompositorisches Element zunächst im Rahmen von MaiestasDomini-Darstellungen auf und gelangt von dort in den quadrivialen Kontext.149 Damit liegt aber der Schluß nahe, daß auch an die theologisch konnotierte Aussageabsicht dieses Musters aus dem biblischen Bereich angeknüpft werden sollte. Demnach wird die eine zentrale Kraft, die die diversen natürlichen Phänomene in Diagrammen wie dem zu Mikro- und Makrokosmos zu einer Einheit zusammenführt und ausbalanciert, in den komputistisch-astronomischen Diagrammen gegenüber der antiken kosmologischen Tradition akzentuiert und vereindeutigt: Wie die Kreuzform nahelegt, ist sie das Wort Gottes, das als Schöpfungslogos die Wirklichkeit ordnend und somit einheitsstiftend durchdringt und zugleich als verbum incarnatum, das den Tod überwunden hat, auf die endgültige Restitution des Menschen und der Schöpfung verweist. Komputistisch-astronomische rotae wie das beschriebene führen demnach in äußerst verdichteter Form eine neuplatonisch-peripatetisch geprägte Kosmologie mit der schon frühchristlich entwickelten Kreuzes- und Logostheologie zusammen.150 148 Sieht man von den christlichen Umakzentuierungen ab, ist die Bildprogrammatik eng der oben, am Beispiel des Mikro-Makrokosmos-Schemas besprochenen verwandt, vgl. den Abschnitt 1. Tradition: Antike Kosmologie, in diesem Paragraphen. 149 Kühnel, The End of Time S. 77. 150 Das älteste Zeugnis einer Ausdeutung des Kreuzes in seiner kosmologischen Dimension sind die „Apologiae“ Iustins des Märtyrers; Heid, Kreuz, Jerusalem, Kosmos, bes. S. 13–31. – Hierauf wird in den folgenden Ausführungen noch gelegentlich zurückgegriffen.
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3. Rezeption durch Abbo. Das beschriebene Gezeitendiagramm wird über mehrere Jahrhunderte weiter tradiert.151 Auch Abbo integriert es in seinen „Computus“.152 Wie das Gezeitendiagramm anderer, ebenfalls späterer Handschriften ist auch das Abbos durch formale Veränderungen relativ zu seinen Vorläufern gekennzeichnet. Im Vergleich mit den älteren Beispielen trete – laut kunsthistorischen Forschungen – in den Schemata seit etwa der Jahrtausendwende die zentrale Scheibe in einer überdimensioniert wirkenden Weise gegenüber den vier kleinen rotae hervor, die nun als unscheinbare Annexe mit der Zentralscheibe verwachsen seien. Anstelle der zuvor angestrebten Ausgewogenheit der einzelnen Komponenten werde somit eine Tendenz zur Hierarchisierung vorherrschend. Diese Beobachtung, aber auch ein immer auffälligeres Hervortreten der Kreuzesform153 in den komputistischastronomischen Diagrammen der fraglichen Zeit bildet die Grundlage, auf der in der Forschung die These entwickelt wurde, in diesen und verwandten Indizien artikuliere sich in erster Linie ein eschatologisch orientiertes Anliegen.154 Für die rotae Abbos läßt sich weder eine dominante Präsenz des Kreuzes, noch die von der betreffenden Forschung betonte Neigung zur Darstellung von Personifikationen Christi in den Zentralmedaillons der Kreisdiagramme beobachten. Die konstatierte Hierarchisierung wird zwar in seinem Gezeitendiagramm sichtbar, allerdings schrumpft das ganze Gebilde auf knapp ein Viertel einer Seite zusammen, verliert Beispiele hierfür nennt Kühnel, The End of Time S. 71. Berlin Phill. 1833, fol. 35r, unten links; siehe Abbildung 4. 153 Hinsichtlich der zunehmenden Betonung der Kreuzform und mit Blick auf die Zeit bis zum beginnenden 12. Jahrhundert spitzt Kühnel, The End of Time S. 158, zu: „The formal link between computistical and astronomical wheel diagrams and the figure of the cross undoubtedly became bolder in the course of time. The small cross hovering over a round diagram or even the allusion to a cross by showing its ends or by making k ωcmoc and mundus intersect in a certain way ceased to be satisfying; allembracing, very visible, even dominating crosses took hold of the diagrams, leaving no doubt whatsoever as to who was responsible for the cosmic order“. Ihr zufolge ist ein weiteres Charakteristikum, das etwa seit der Jahrtausendwende hervortritt, die Neigung, Christus-Personifikationen in das Mittelmedaillon der rotae aufzunehmen. 154 Mit nachdrücklicher Betonung der eschatologischen Dimension Kühnel, The End of Time, besonders prägnant in der Zusammenfassung S. 247–260; sie lehnt sich mit ihrer Auffassung eines zunehmenden apokalyptischen Denkens um 800 und dann wieder um 1000 an Ergebnisse der Forschung in den Geschichtswissenschaften an, vgl. hierzu beispielsweise Fried, „Endzeiterwartung“; Ders., Aufstieg aus dem Untergang; Irshai, „Dating the Eschaton“; Landes, „Lest the Millenium be Fulfilled“. – Die Bedeutung des Kreuzes Christi nicht nur für die Erlösungs-, sondern bereits für die Schöpfungsordnung hebt demgegenüber Heid, Kreuz, Jerusalem, Kosmos S. 13, hervor. 151 152
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damit deutlich an Wuchtigkeit und steht unscheinbar neben und unter anderen rotae, die ihrerseits keine der genannten Tendenzen aufweisen. Mit dem Kreuzsymbol ist nur ein einziges der Kreisdiagramme ausgestattet und dies in der unauffälligen Weise, wie die Forschung sie als kennzeichnend für die karolingischen Schemata freigelegt hat. Da sich darüber hinaus die übrigen Diagramme des „Computus“ sowohl strukturell, als auch inhaltlich eng an ihre karolingischen Vorlagen anlehnen,155 ist eine Akzentuierung ihrer eschatologischen Implikationen – wie von der Forschung für die Diagramme seit der Jahrtausendwende vorgeschlagen – mit Bezug auf Abbo eher zurückzuweisen, sofern sich keine sonstigen in diese Richtung weisenden Indizien ausmachen lassen.156 Für eine solche, eher zurückhaltende Interpretation der Diagramme des „Computus“ spricht zudem ein Befund, der sich bei der weiteren Durchsicht des Diagrammteils ergibt. Zieht man beispielsweise die erwähnten Isidor-Diagramme sowie die formal aus ihnen abgeleiteten, ein traditionelles Horologium begleitenden Schemata „De luna quot punctis lucat“ und „De signis et horis mensium xii“ heran, zeigt sich auch hier eine große Treue den älteren Vorlagen gegenüber.157 Aufgrund dessen ist zu schlußfolgern, daß Abbo danach strebte, mit seinen Kopien das Anliegen seiner Vorbilder möglichst genau einzufangen. Die oben in Hinsicht auf die karolingischen rotae referierten Charakteristika und die hieraus gezogenen Schlüsse auf ihre übertragene Bedeutung ließen sich demnach wie vorgeschlagen als Interpretament für die Diagramme Abbos verwenden, und zwar wesentlich direkter, als aufgrund der genannten kunsthistorischen Studien zu den weiteren diagrammatischen Entwicklungen namentlich etwa um die Jahrtausendwende zu vermuten wäre. Wie schon die Isidor-Diagramme und die karolingischen rotae computisticae dienen die Schemata des „Computus“ in erster Linie der Visualisierung umfassender kosmologischer Zusammenhänge. Allerdings stehen die Kreisdiagramme Abbos wie auch die 155 Vgl. hierzu den Codex Köln, Diözesan- und Dombibliothek 83 II und die bereits angeführten Beispiele. 156 Vgl. hierzu Obrist, „Les tables et figures abboniennes“ S. 168–171, die anders als die soeben erörterten Forschungsansätze den kosmologischen (physikalischen) Gehalt hervorhebt. 157 Die fraglichen Figuren in Berlin Phill. 1833, fol. 38v, oben: die abgeleiteten Diagramme; mittig: das Horologium; unten: die Isidor-Schemata. – Siehe hierzu Abbildung 3 (abgebildet dort: die ganze Seite, also auch das Horologium und die Isidor-Diagramme).
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karolingischen mit den beobachteten ikonographischen Andeutungen in einem christlich konnotierten Deutungskontext. Damit läßt sich für die karolingische Diagrammatik und für ihre spätere Rezeption dieselbe Vereindeutigungstendenz beobachten wie bei der oben untersuchten Formulierung der Konzeption der artes liberales durch Alkuin. Verhielt sich die Philosophia des Boethius theologischen Ausdeutungen gegenüber noch neutral und zeichnete sich lediglich durch ihren neuplatonischen Charakter aus, vereindeutigte Alkuin sie zur christlichen Weisheit. Entsprechend akzentuiert er die Bildungsintention und infolge dessen das Gepräge der artes. Ein ähnlicher Vorgang wird im Bereich der Diagrammatik erkennbar. Während sich Isidors rotae noch problemlos als kosmologische Diagramme lesen lassen, die sich christlichen Implikationen gegenüber neutral verhalten, greifen die karolingischen Entwürfe zwar die Grundtendenzen ihrer Vorlagen auf. Auch sie machen das harmonische und äquilibrierte Zusammenspiel gegensätzlicher Kräfte transparent. Doch zum einen betonen sie in höherem Maße das eine zentrale Prinzip, auf das dieses Zusammenspiel zurückzuführen ist, zum andern machen sie deutlich, daß dieses Prinzip mit Gott zu identifizieren ist. Daß die karolingischen Gelehrten und in Anlehnung an sie Abbo in diesem Kontext in erster Linie an das Wirken Gottes in Gestalt des verbum incarnatum dachten, ist anzunehmen. Einen Hinweis hierauf bieten die erwähnten Kreuzesallusionen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß trinitätstheologische Reflexionen mit Blick auf das Wirken des dreifaltigen Gottes im Ganzen der natürlichen Dinge namentlich im Anschluß an Augustinus im hier fraglichen Umfeld mit großer Selbstverständlichkeit präsent sind.158 Infolge dessen ist unabhängig von den ver158 Maßgebend in diesem Zusammenhang ist Augustins „De trinitate“; vgl. hierzu den konzisen Überblick von Courth, Trinität. In der Schrift und Patristik S. 189–216; auch Scheffczyk, Von der Heilsmacht des Wortes, attestiert der Worttheologie Augustins einen starken inkarnatorischen Zug, siehe bes. S. 232–234. Plastisch tritt Augustins Vorstellung vom Wirken des verbum in der Wirklichkeit beispielsweise in seinem „Sermo cxvii“ hervor; hierzu ausführlicher unten, 2.3.3. „Ephemerida“ und wieder 3.3.3. Aequalitas als ratio naturalis; vgl. auch Ders., In Iohannis evangelium tractatus, bes. tract. xviii (CCL 36, S. 179–188), in dem Augustinus ausführlich die Schöpfung der Welt durch das Wort, per verbum, diskutiert. – Zum Einfluß von Augustins trinitätstheologischem Denken auf das Mittelalter Courth, Trinität. In der Scholastik, der insgesamt Augustins Einfluß für vorherrschend hält, vgl. prägnant die Überschriften der Hauptkapitel, „Erstes Kapitel: Augustins trinitätstheologisches Erbe […]“, „Viertes Kapitel: Die Ausformung der augustinischen Trinitätslehre […]“, „Fünftes Kapitel: Augustins Erbe […]“; zum Fortwirken der Worttheologie im Mittelalter auch Scheffczyk, Von der Heilsmacht des Wortes S. 234–243.
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wendeten Motiven und Symbolen davon auszugehen, daß sie auch im Rahmen der Diagramme den unausgesprochenen konzeptionellen Hintergrund bilden und in der Auseinandersetzung mit ihnen in erster Linie an das verbum als die bestimmende Kraft hinter der die Wirklichkeit harmonisch regulierenden ratio rerum gedacht wurde. Über diese allgemeine ‚Grundstimmung‘ hinaus legen die beobachteten Charakteristika keine weitergehende theologische Interpretation der figurae nahe. Einen ganz anderen Charakter als die bisher besprochenen Beispiele aus dem Diagrammteil des „Computus“ besitzen die astronomischen Skizzen, die das Calcidius-Referat einrahmen.159 Mit Ausnahme der drei diesen Block abschließenden Plinius-Diagramme160 handelt es sich bei ihnen um Calcidius-Schemata, die sich exakt auf die eingeschlossenen Exzerpte beziehen, während umgekehrt die dortigen Ausführungen ausdrücklich auf die Visualisierungen verweisen.161 Wie der Text selbst sind auch die Skizzen Übernahmen und keine eigenen Kreationen Abbos.162 Dasselbe trifft auf die sogenannten Plinius-Diagramme zu, die allerdings eine karolingerzeitliche Erfindung zu sein schei-
Zu diesen Skizzen sowie den Exzerpten Caiazzo, „Abbon de Fleury“ S. 17– 20 und S. 32–38 mit der bereits erwähnten Edition der Exzerpte auf S. 33–38; aus astronomiegeschichtlicher Sicht bereits Eastwood, „Calcidius’s Commentary“ S. 171– 209; Ders., „Invention and Reform“ S. 282–287. – Siehe hierzu Abbildung 6. 160 Berlin Phill. 1833, fol. 38r, mittig und unten. 161 Beispielsweise führt Abbo-Calcidius aus: „Sit igitur solsticialis eccentrus circulus ξ H K et habeat punctum sub E Z ambitum in medietate […]“, Berlin Phill. 1833, fol. 37r (zweiter Satz, nicht korrigiert). Die zitierten Punkte finden sich in der korrespondierenden Zeichnung wieder, ebd. fol. 36v (zweite Figur; siehe Abbildung 6). Dieses Charakteristikum trifft auch auf die folgenden Skizzen und Ausführungen zu. – Zu den Fehlern, die den Schreibern beim Kopieren der Diagramme unterliefen, und zu nachträglich hinzugefügten Korrekturen in manchen der Handschriften Caiazzo, „Abbon de Fleury“ S. 18–20. 162 Die Exzerpte umfassen den Calcidius-Kommentar S. 128,10–145,9 und S. 157,10– 161,19 jeweils mit kleineren Auslassungen, aber ansonsten wörtlich mit der Edition von Waszink, Timaeus a Calcidio translatus, übereinstimmend. Hinzugefügt wurden lediglich kleinere Überleitungssätze sowie der Schlußsatz, der sich auf die Plinius-Diagramme bezieht. Auch die Skizzen lassen sich ihren Entsprechungen in der Edition zuordnen (auf folgenden Seiten: 126, 129, 131, 136, 140, 142, 145, 158), wenngleich hier Abweichungen gegenüber den von Waszink abgedruckten Varianten sichtbar werden. Inwieweit diese Differenzen spezifisch für Abbo sind, läßt sich jedoch erst auf der Grundlage einer vollständigen kritischen Edition der Calcidius-Diagramme beurteilen, die Waszink nicht bietet und die nach wie vor aussteht. – Zur Fehlerhaftigkeit der Abbildungen in Waszink siehe Caiazzo, „Abbon de Fleury“ S. 17. 159
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nen.163 Sie sind im einen Fall den Apsiden der einzelnen Planeten, in den beiden anderen Fällen deren Latitüden gewidmet.164 Zwei weitere diagrammatische Skizzen wurden noch getrennt vom gegenwärtig im Mittelpunkt stehenden Abschnitt am Ende des diagrammatischen Teils aufgenommen.165 Während die erste Figur ebenfalls ein CalcidiusDiagramm ist,166 fällt die zweite, genauso technische unter die sogenannten Macrobius-Schemata.167 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich ihres größeren Anteils wegen auf die Calcidius-Skizzen des Exzerptrahmens. Sowohl die Exzerpte als auch die korrespondierenden Visualisierungen zeichnen sich vor dem Hintergrund der bisher untersuchten Diagramme durch ihren ungewöhnlich technischen Charakter aus. Angesichts des Umstandes, daß Abbo – als einer der ersten – in nennenswertem Umfang auf Calcidius und damit auf den „Timaios“ zurückgreift,168 und im Lichte der bisherigen Analyse des „Computus“ wäre zu vermuten gewesen, daß ihn gerade die kosmologischen Passagen seiner Vorlage interessiert hätten. Von den spekulativen Reflexionen des Calcidius-Platon übernimmt er jedoch nur ein Element: die beiden einander in X-Form kreuzenden Himmelsbänder, mittels derer die Weltseele den Kosmos zusammenhält.169 Die entsprechende Platonstelle ist inhaltlich auch zur Zeit Abbos wohlbekannt und wurde schon in der spätantiken Patristik christlich umakzentuiert und theologisch gedeu-
So Borst, Das Buch der Naturgeschichte S. 161, und wieder Springsfeld, Alkuins Einfluß S. 112. 164 Zu diesen Diagrammen ausführlicher Engelen, Zeit, Zahl und Bild S. 75–82. – Zu den karolingischen Vorbildern am Beispiel der „Libri-computi“-Handschrift Madrid, BN 3307 Springsfeld, Alkuins Einfluß S. 285–288. 165 Berlin Phill. 1833, fol. 39v, unten. Sie folgen dort auf eine hier nicht eigens untersuchte Weltkarte, die auf Macrobius zurückzuführen ist und von Engelen, Zeit, Zahl und Bild S. 104, kurz erwähnt wird. Während die linke der beiden Skizzen wiederum ein Calcidius-Diagramm ist, geht die rechte auf Macrobius zurück. Nicht berücksichtigt wurden diagrammatische Darstellungen in anderen Teilen der Berliner Handschrift, beispielsweise die Macrobius-Diagramme im Kontext des „Calculus“Kommentars am Anfang des Manuskriptes. 166 Diese Skizze stammt im Unterschied zu den bisher genannten aus einem andern Zusammenhang des Calcidius-Textes. Sie visualisiert die forma globosa des Meeres und des gesamten Wassers und befindet sich in der Calcidius-Edition auf S. 109. 167 Zu diesem Diagramm Engelen, Zeit, Zahl und Bild S. 102–104; Obrist, „Abbon de Fleury“. 168 Zur Calcidius-Rezeption Obrist, „Les tables et figures abboniennes“ S. 151. 169 Die zugrunde liegende Platonstelle ist Timaios 36b7–c6; dem entspricht Calcidius 28,11–13, sowie im Kommentar 105,19–106,1. 163
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tet.170 Sie gehört daher zum theologie- und philosophiehistorischen Horizont der Zeit. Zu vermuten ist somit, daß ein Leser des „Computus“ die fragliche Stelle beziehungsweise ihre einschlägige logostheologisch inspirierte Deutung mit den beiden Figuren und der ihnen korrespondierenden Passage im Exzerpt assoziierte. In diesem Lichte fällt auf, daß Abbo weder im Calcidius-Referat, noch bei den Skizzen mittels Hinzufügungen, weiterer Erläuterungen oder eigener Interpretationsversuche über seine Vorlage hinausgeht. Trotz ihres letztlich kosmologisch-spekulativen Inhalts wirken folglich sowohl die fragliche Textstelle, als auch die korrespondierenden Skizzen genauso nüchtern und technisch wie die übrigen Ausführungen und Visualisierungen. Abgesehen von diesem einen spekulativen Aspekt greift Abbo nur Ausführungen mit einem ausgesprochen technischen Charakter heraus, namentlich verschiedene Theorien zu den Planetenbewegungen oder zu Eklipsen. Gleich an erster Stelle beispielsweise erklärt er mit Hilfe der korrespondierenden diagrammatischen Skizze der vorausgehenden Seite die Exzentertheorie. Wie sich seinen Ausführungen entnehmen läßt, liegt dieser Theorie die Annahme zugrunde, daß der Tierkreis und die Kreisbahn, auf der die Sonne wandere, zwei verschiedene Mittelpunkte besitzen. Daß ein Beobachter auf der Erde den Eindruck gewinne, die Sonne befinde sich das eine Mal in größerer Entfernung und bewege sich zugleich langsamer, komme danach der Erde wieder näher und werde dabei schneller und so fort, lasse sich möglicherweise auf eine solche Konstellation zurückführen. Denn die Erde stelle den Mittelpunkt des Zodiaks dar, der Mittelpunkt der Sonnenbahn hingegen liege versetzt hierzu, so daß die Sonne nicht konzentrisch, sondern exzentrisch um die Erde kreise. Dasselbe Phänomen ließe sich auch auf der Grundlage der Epizykeltheorie erklären, die Abbo im Anschluß an die soeben skizzierte Passage wiedergibt.171 170 Die älteste Quelle zum Kosmoskreuz dürften – wie bereits erwähnt – die „Apologiae“ des christlichen Philsophen Iustinus sein, der mit seiner Staurologie so unterschiedliche Gelehrte wie Irenaeus von Lyon und Gregor von Nyssa beeinflußte, vgl. hierzu Heid, Kreuz, Jerusalem, Kosmos S. 13–31; zur Biographie Iustins Ders., Art. „Iustinus Martyr i“, in RAC 19 (2001), Sp. 801–847. – Über Iustinus gelangt die platonische Vorstellung der gekreuzten Himmelsbänder ins christlich-lateinische Abendland, z. B. Iustinus, Apologia Maior 60, 1–7 (ed. Marcovich S. 116,1–117,8; eine deutsche Übersetzung der Stelle bietet Heid, Kreuz, Jerusalem, Kosmos S. 19f.). – Zur enormen Wirkungsgeschichte der kosmologischen Lehrschrift Platons, des „Timaios“, und namentlich der hier fraglichen Stelle in zeitlicher Folge auf ihre christliche Ausdeutung durch Iustinus Heid, Kreuz, Jerusalem, Kosmos, bes. S. 21, mit weiterführenden Literaturhinweisen S. 21f. 171 Zur Exzentertheorie Berlin Phill. 1833, fol. 37r, nach Calcidius, Timaeus S. 128,10–
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Die referierten Beobachtungen sind vor dem Hintergrund der bisherigen Untersuchung des „Computus“ bemerkenswert. Denn sie legen ein Phänomen frei, das zuerst oben, mit Blick auf die sukzessive Etablierung der artes angesprochen wurde. Wie schon im Kontext der komputistisch-astronomischen Traktate wird auch im Bereich der Sammlungen die zunehmende Rezeption zumeist spätantiken Fachwissens über die Natur sichtbar. Schon für die frühen, karolingischen Sammlungen wie die „Libri computi“ war dieser Befund zu konstatieren.172 Bei Abbo tritt er im Mittelteil des „Computus“ in Form der Exzerpte und ihrer Visualisierungen wieder hervor. Während die ‚neuen‘ Wissensinhalte der „Libri computi“ in der Hauptsache Plinius entnommen waren, zieht Abbo den Kommentar des Calcidius heran. Plinius bleibt selbstverständlich präsent, allerdings so selbstverständlich, daß der sonst sehr sorgfältig erläuternde Abbo die abgebildeten PliniusDiagramme für nicht erklärungsbedürftig befand. Darüber hinaus wird ein weiterer Aspekt eindrucksvoll untermauert. Das neu erworbene Wissen wird den jeweiligen Vorlagen sehr getreu entnommen und weitgehend wörtlich wiedergegeben. Dieses Charakteristikum wurde in der Forschung hinsichtlich der Qualität der Plinius-Exzerpte der „Libri computi“ ausdrücklich hervorgehoben und trifft in derselben Weise auf die Calcidius-Exzerpte Abbos zu.173 Weder werden die neuen Inhalte verändert, noch kommentiert, geschweige denn in eigene Worte gefaßt. Damit aber bestätigt sich hinsichtlich des Umgangs mit dem verfügbaren Wissen das anhand der komputistisch129,15 (weitgehend wörtlich); die Epizykeltheorie Berlin Phill. 1833, fol. 37r, nach Calcidius, Timaeus S. 131,2–134,8. – Zu den Calcidius-Exzerpten Eastwood, „Calcidius’s Commentary“ S. 171–209; Ders., „Invention and Reform“ S. 282–287. – Allgemein zur antiken Exzenter- und Epizykeltheorie Kanitscheider, Kosmologie S. 74–84; van der Waerden, Die Astronomie der Griechen, bes. S. 53–67; eine minutiöse Besprechung der (verfügbaren) relevanten antiken Äußerungen zu den unregelmäßigen Planetenbewegungen und ihren Erklärungen bietet Lloyd, „Saving the Appearances“, allerdings im Lichte der ‚Instrumentalismus-/Realismus-Debatte‘ (vgl. hierzu seine „Introduction“, S. 248–252); ebenfalls zu den Planetenbewegungen, aber mit einem Blick bis in die Spätantike Obrist, La cosmologie médiévale S. 72–76. 172 Zu erinnern ist beispielsweise an die Auszüge aus Plinius Secundus, den „Phainomena“ des Aratus, dem Kommentar des Macrobius zum Traum des Scipio, Martianus Capella und dergleichen mehr; vgl. hierzu Wallis, „The Church, the World and the Time“ S. 23–26. 173 Zur Qualität der Plinius-Exzerpte in der ‚Aachener Fachenzyklopädie‘ Borst, Das Buch der Naturgeschichte S. 163. – Ein Vergleich der von Abbo zusammengestellten Calcidius-Exzerpte mit der maßgeblichen Edition des Kommentars erweist diese Kopie als vergleichbar hochwertig.
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astronomischen Traktate konstatierte Nebeneinander. Während manche Komplexe einer gezielten Modifikation unterzogen werden und in einigen Bereichen dezidierte Neuschöpfungen stattfinden, wird das eben rezipierte Wissen lediglich kopiert und als eratischer Block unverknüpft zwischen andere Komplexe gerückt. Anders als bei den tradierten Elementen ist der Fokus bei der Übernahme des ‚neuen‘ Wissens nicht auf dessen Ausdeutung gerichtet.174 Diese Beobachtung ist vor dem Hintergrund der von Alkuin formulierten artes-Konzeption zu erörtern. Alkuin selbst legt in seiner „Disputatio“ eine zweistufige Vorgehensweise für das Bildungsgeschehen nahe. Dabei dienen die Künste lediglich zum Erwerb der weltlichen Weisheit, die Exegese hatte der Angelsachse aus diesem Kontext ausgegliedert. Auf den ersten Blick betrachtet, bieten sowohl die Traktate, insbesondere aber die Sammlungen beides. Sie vermitteln einerseits ‚nacktes‘ Fachwissen und andererseits dessen christlich vereindeutigte philosophisch-kosmologische Auslegung. Bemerkenswerterweise fungieren als Medien der Deutung die ohnehin schon entsprechend überformten Übernahmen aus der spätantiken Tradition oder, noch häufiger, Elemente aus dem Bereich der Komputistik im engeren Sinne wie die rotae computisticae. Neben diesem Befund, daß die quadrivialen Zeugnisse seit der Karolingerzeit von dem beschriebenen Nebeneinander zweier Formen des Umgangs mit Wissen gekennzeichnet sind, ist jedoch ein weiterer zu berücksichtigen. Dieser ergibt sich hinsichtlich der ausgedeuteten Gegenstände oder Inhalte. Anders, als es der von Alkuin genannten zweiten Stufe des Bildungsgeschehens entspräche, findet weder in den Traktaten,175 noch in den modifizierenden Passagen der Anthologien eine Anwendung des gewonnenen Wissens auf die Deutung der Schrift statt. Vielmehr werden Gegenstände des Naturganzen auf ihre 174 Ein ähnliches Phänomen scheint Obrist, „Le diagramme isidorien“ S. 112, zu beobachten, wenn sie konstatiert, daß „l’essor, à l’époque carolingienne, de l’allégorisation de l’univers physique n’avait pas pour contre-partie la diminution de l’intérêt dans des phénomènes naturels“. 175 Auf die Ausnahmen im Bereich der traktatartigen komputistisch-astronomischen Literatur wurde bereits hingewiesen. Daß es trotz dieser Gegenbeispiele gerechtfertigt ist, auch die Traktate hier zu nennen, hängt mit der Beobachtung zusammen, daß die bibelexegetischen Anteile in karolingischen und ottonischen Abhandlungen wie Helperics „Liber de computo“ und Notkers „De quatuor quaestionibus computi“ gegenüber der Synthese Bedas deutlich zurücktreten. Einen Höhepunkt in dieser Hinsicht stellen die komputistisch-astronomischen Schriften Hermanns von Reichenau dar, vgl. hierzu das 3. Kapitel dieser Arbeit.
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eigene Bedeutung hin ‚exegetisiert‘. Zwar ließe sich an dieser Stelle einwenden, daß bereits spätantike und frühmittelalterliche Werke wie Isidors „De natura rerum“ in Anlehnung an patristische Hexaemeronkommentare exegetische Verfahren zur Deutung natürlicher Phänomene anwenden. Ein besonders schlagendes Beispiel hierfür im komputistisch-astronomischen Bereich ist ja gerade Bedas „De temporum ratione“. Entscheidend an den quadrivialen Zeugnissen seit der Karolingerzeit aber ist nicht, daß die natürlichen Phänomene – als gleichsam ‚zweites Buch‘ der göttlichen Offenbarung – einer Auslegung unterzogen werden. Ausschlaggebend ist vielmehr, daß sich die herangezogenen Verfahren gegenüber jenen der ‚klassischen‘ Bibelund Naturexegese in signifikanter Weise unterscheiden. Am Beispiel der Diagramme kristallisiert sich eine Form der Auslegung heraus, die durchgängig auf Motiven, Symbolen und Vorstellungen antiker kosmologischer Provenienz beruht, also gerade keine Exegese gemäß dem mehrfachen Schriftsinn bietet. Damit aber ist diese Art der Ausdeutung als eine ‚philosophische‘, nicht jedoch als eine den Bereich der sapientia saecularis überschreitende ‚theologische‘ zu bezeichnen. Entgegen dem ersten Augenschein steht sie folglich im Einklang mit Alkuins artesProgramm und ist vor dem Hintergrund der dort formulierten Aufgabe zu studieren, die rationes rerum freizulegen – nach Maßgabe der menschlichen ratio. Den Charakteristika dieser spezifischen Form der Exegese im quadrivialen Kontext soll in den folgenden beiden Kapiteln anhand der Tabellen und Kalendarien des ersten Teils des „Computus“ sowie am Beispiel der „Ephemerida“ als einem tabellarischen Sonderfall nachgegangen werden. Da Abbo selbst die meiste kreative Energie auf den Typ der Tabelle gerichtet hat, bieten sich diese zum Studium besonders an. 2.3.2. Tabellen und Kalendarien Für den ersten Abschnitt des „Computus“ lassen sich hinsichtlich des Erscheinungsbildes und der Zusammensetzung ähnliche Merkmale ausmachen wie für den Diagrammteil.176 Auch hier folgt eine Figur auf die andere, ohne fremde Einschübe. Dadurch vermittelt dieser Komplex wie schon der zuvor besprochene einen in sich geschlossenen Ein176
34v.
Der erste Tabellenkomplex des „Computus“ umfaßt Berlin Phill. 1833, fol. 29r–
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druck. Darüber hinaus ist er in vergleichbarer Weise von einer Dominanz der bildhaften Elemente gegenüber den textlichen gekennzeichnet, denn wiederum treten die Erklärungen zu den Figuren bescheiden hinter diese zurück. Besonders deutlich zeigt sich dieses Charakteristikum in Abbos Hauptkalender, der außer der knappen Monatsbenennung und der Angabe der monatlich wechselnden Tages- und Nachtdauer nur aus Zahlen und Buchstaben besteht. Noch auffälliger als im hier zugrunde gelegten Berliner Codex sind diese beiden Kennzeichen – die hohe Dichte an tabellarischen Formen und die Dominanz der Figuren – in anderen Abbo-Handschriften, beispielsweise im Codex Bern 250 oder im Vatikan-Manuskript Reg. lat. 309, in denen die Tabellen und Diagramme häufig ganz für sich, ohne jeden Erläuterungstext stehen. Insbesondere im Vaticanus sind über Seiten hinweg eine Vielzahl an Figuren aneinandergereiht, die selten einmal durch Begriffe oder vollständige Sätze ergänzt wurden.177 Schließlich ist wie schon bezüglich der Diagramme auch mit Blick auf die Tabellen und Kalendarien anzumerken, daß Abbo fast ausnahmslos auf ältere Vorlagen zurückgriff. Allerdings werden hier nun deutlicher als bei den Diagrammen Modifikationen sichtbar, die Abbo seinerseits an seinen Vorbildern vornahm und die im Mittelpunkt der anschließenden Analyse stehen.178 In einem ersten Schritt lassen sich diese Modifikationen grob unterscheiden nach solchen, die auf der Kombination zwar traditioneller, in dieser Verbindung aber ungewöhnlicher Elemente beruhen, und solchen, die durch Erweiterungen entstanden, um die Abbo seine Vorlagen ergänzte. Lediglich eine einzige Figur ist als komputistisch-astronomische Erfindung Abbos anzusprechen, die bereits erwähnte „Ephemerida“. Ihrer Besonderheit wegen soll sie im nächsten Paragraphen separat untersucht werden. Wie in der Übersicht skizziert, leitet den ersten Teil des „Computus“ ein Monatskalendarium ein, dem die erforderlichen komplementären Tabellen folgen. Bemerkenswert an Abbos Monatskalendarium ist die gegenüber seinen Vorlagen beobachtbare Ausweitung der Inter177 Siehe Vat. Reg. lat. 309, insbes. fol. 140v–153r, u. ö.; vgl. hierzu fol. 79v–85v (die rotae computisticae) sowie fol. 126v–143r (die Isidor-Diagramme) im Kölner Codex, Diözesan- und Dombibliothek 83 II. – Hinsichtlich des Vaticanus ist allerdings zu berücksichtigen, daß dieser die „Ephemerida“ nicht enthält, weshalb die Zuschreibung des dortigen Materials an Abbo unsicher bleibt. 178 Auf einige der im folgenden behandelten Besonderheiten hat bereits Wallis in einem unveröffentlichten Vortrag („Colours, Crosses, Acrostics“, Boston 1995) hingewiesen.
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vallzone, die ungewöhnlich viele Varianten von Mondbuchstaben bietet. Den verwendeten Buchstabensystemen korrespondieren die zahlreichen Tabellen.179 Formal läßt sich der Gesamtkomplex der Tabellen in zwei Teile untergliedern, einen stärker an den traditionellen Vorlagen orientierten und einen im höheren Maße gestalterisch modifizierten. Dem ersten Abschnitt sind die Tabellen bis einschließlich des synodischen Buchstabensystems A–U zuzuordnen, während die Reprise der litterae punctatae den Auftakt zur zweiten Sequenz darstellt. Unter den ikonographisch überformten Teil der Tabellenfolge fällt auch die „Ephemerida“ mit ihrem Begleitkalendarium.180 Diese Modifikationen werde in den folgenden Abschnitten eingehender untersucht und auf ihre Implikationen hin befragt. 1. Modifikationen. Auf verschiedene der Veränderungen, die im folgenden zur Sprache kommen, wurde im Verlauf dieser Arbeit bereits aufmerksam gemacht. Ein solches Beispiel ist die Umgestaltung von Rechteckstabellen in die Quadratform.181 In diesem Zusammenhang wäre exemplarisch auf die zweite Variante der litterae punctatae auf fol. 31r zu verweisen, die sich gegenüber der Standardversion durch ein anderes Darstellungsprinzip auszeichnet. Normalerweise umfaßt dieses Buchstabensystem 59 Zeilen und 19 Spalten.182 Im Falle der modifizierten Variante jedoch wurden die Mondalter auf die Spalten verteilt, allerdings nur auf dreißig, so daß sich die 59 Tage zweier Lunationen über zwei Zeilen erstrecken und abwechselnd dreißig beziehungsweise 29 Tage umfassen.183 Je zwei Zeilen entsprechen daher einem Zyklusjahr des 19jährigen Zyklus. Aufgrund dieser Reorganisa179 An Zahl übersteigen die Tabellen die Spalten der Intervallzone mit ihren Buchstabensystemen sogar noch, da manche Spalten in mehreren Tafeln wiedergegeben werden. 180 Berlin Phill. 1833, fol. 29r–30v: der erste Abschnitt; ebd. fol. 31r–34v der zweite Abschnitt; die Ephemerida ebd. fol. 33v, ihr annale fol. 33r. – Für Erläuterungen zu den verschiedenen Buchstabensystemen siehe Borst, Kalenderreform S. 400–411. 181 Vgl. hierzu in 2.2.1. Die komputistisch-astronomischen Sammlungen, den Abschnitt 2. Typen und Formen. – Zu Quadrat und Kubus sowie zu deren antiker kosmologischer Tradition bes. Obrist, „Le diagramme isidorien“ S. 142–158; vgl. auch Kühnel, The End of Time S. 135 f. 182 Die 59 Zeilen bilden die Mondalter der 59 Tage zweier Lunationen ab. Da der synodische Mondmonat im Mittelalter mit 29 einhalb Tagen angesetzt wird, stellt man ihn wechselweise als vollen Monat mit 30 und als hohlen Monat mit 29 Tagen dar. Demgegenüber repräsentieren die 19 Spalten die 19 Jahre des Lunisolarzyklus; siehe Abbildung 7. 183 Siehe Abbildung 8.
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tion des Materials weist die Tabelle 31 Spalten und 38 Zeilen auf, die sich mit verhältnismäßig geringem Aufwand in eine zumindest annähernd quadratische Grundform fügen lassen.184 Ebenfalls im Rahmen dieser Tabelle tritt eine weiteres Gestaltungselement zum Vorschein, das Abbo mit Vorliebe verwendet: griechische Zahlzeichen anstelle der üblichen römischen.185 Die Neigung, Rechteckstabellen in die quadratische Form zu überführen, wird auch bei anderen Buchstabensystemen sichtbar. Beispielsweise läßt sich die Folge A–K anführen, die sich schon in der Zeit vor Abbo großer Beliebtheit bei den Komputisten erfreute.186 Sie wird in Tabellen zu dreißig Spalten auf dreißig Zeilen dargestellt, die somit ‚natürlicherweise‘ ein Quadrat bilden. Zu berücksichtigen ist hierbei, daß sich diese Einteilung nur aufgrund einer gezielten Umgestaltung des Konstruktionsprinzips der Mondaltertafel ergibt.187 Diese Umgestaltung hat allerdings noch weiterreichende Folgen, die hinsichtlich der hier untersuchten Modifikationen von hoher Bedeutung sind. Denn aufgrund der gewählten Gliederung formiert sich der Tabelleninhalt zu optisch sehr auffälligen Diagonalen. Die Mitteldiagonale, von i/i bis xxx/xxx wird dabei ausschließlich von „A“s gebildet, drei Zeilen tiefer folgt „B“ mit exakt parallelem Verlauf und so fort. Insbesondere mittels der dominanten Mitteldiagonale, die sukzessive von der ersten 184 Daß die fragliche Tabelle tatsächlich einer bewußten Gestaltung unterzogen wurde, läßt sich deutlich an den Abschlüssen der Spalten am oberen Rand der Tabelle erkennen. Die Spalten sind um einige Millimeter über die Grundform hinausgezogen und mit zinnen- oder turmartigen Spitzen versehen. Infolge dessen erinnert die Tabelle an die Ansicht einer Stadtmauer oder einer Burg. 185 Noch intensiver als im hier zugrunde liegenden Berliner Codex griff der Schreiber der Vatikan-Handschrift auf dieses Mittel zurück, der sie selbst zum Ausfüllen des dortigen Hauptkalenders verwendete, Vat. Reg. lat. 309, fol. 128v–140r. 186 Siehe Abbildung 9. 187 Das ‚klassische‘ Darstellungsprinzip von Mondtabellen beruht auf zwei Größen: dem Mondalter und dem 19jährigen Zyklus, die die beiden Achsen der Tabelle bilden. Bei A–K ist dies anders. Zwar repräsentieren die Zeilen immer noch die Mondalter (von i–xxx), doch geben die Spalten das Zyklusjahr und damit die konkrete Zuordnung des Mondalters zum gesuchten Buchstaben nur noch mittelbar wieder. Denn auch die Spalten beruhen auf der Einheit ‚Mondalter‘, so daß der Benutzer bei der Suche nicht nur – wie üblich – wissen muß, welches Zyklusjahr gerade vorliegt, sondern auch, welches Mondalter am 1. Januar des fraglichen Jahres war, um die entsprechende Spalte in der Tabelle aufzufinden. Selbst dann kann er nicht einfach in eben dieser Spalte nach seinem Buchstaben suchen, sondern muß berücksichtigen, daß er nach Ablauf zweier Lunationen eine Spalte weiterrücken muß. Sucht er also beispielsweise das Mondalter eines bestimmten Buchstaben im Juli, muß er von jener Spalte, die er für den Januar ausgemacht hat, drei weiterrücken, um dort nach dem Buchstaben und dem diesem zugeordneten Mondalter zu suchen.
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Tabellenzelle bis zur letzten absteigt und dann aufgrund der zyklischen Strukur der Tabellen wieder am Anfang einsetzt, wird das rekursive Moment der repräsentierten Abfolge der Mondalter und damit der Zeit insgesamt eindrucksvoll versinnbildlicht. Solche Diagonalen sind ein wichtiges Gestaltungselement, das bereits in älteren komputistisch-astronomischen Handschriften auftritt,188 im „Computus“ aber außergewöhnlich häufig Anwendung findet.189 Weitere Beispiele für diese Form der Modifikation sind die Vokaltabelle, die im folgenden noch gesondert besprochen wird, die Darstellungen zu den Konkurrenten,190 oder selbst Kalendarien. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang auf das Begleitkalendarium zur „Ephemerida“ verwiesen.191 Auch in diesem Fall mußte der Aufbau des Kalendariums gezielt verändert werden, um die durchgängige Diagonale – wieder von oben links bis unten rechts – zu erzeugen. Anders als der Hauptkalender nimmt dieses annale mit seinen zwölf Monaten nur etwa eine halbe Seite ein und ist entsprechend auf ein Minimum an Komponenten reduziert. Es besteht lediglich aus der Datumssäule und zwei Spalten mit Mondbuchstaben. Während alle übrigen Zeichen klein gehalten sind, wurden die Kalenden der einzelnen Monate deutlich hervorgehoben. Aufgrund seines unüblichen Aufbaus wandern diese kalligraphisch akzentuierten Monatsanfänge von oben links am 1. Januar sukzessive von Monat zu Monat immer tiefer bis nach unten rechts am 1. Dezember.192 Für solche konstruktiven Veränderungen an den rezipierten Vorlagen, die eine deutlich sichtbare Umstrukturierung der Tabellen- oder 188 Einen knappen historischen Überblick bietet Borst, Kalenderreform S. 405–411, mit Handschriftenbeispielen (allerdings – seiner Fragestellung entsprechend – konzentriert auf die sogenannten Kalenderhandschriften). 189 Auf die Diagonalen in Abbos Tabellen weist bereits Engelen, Zeit, Zahl und Bild, bes. S. 125–127, hin, die das ihnen zugrunde liegende arithmetische Schema untersucht. 190 Berlin Phill. 1833, fol. 29r, siehe Abbildung 1. 191 Berlin Phill. 1833, fol. 33r; besonders aber die Variante im Codex Bern 250, fol. 12v, in der die Diagonale noch deutlicher akzentuiert ist als im Berliner Codex, siehe Abbildung 10. 192 Gegenüber üblichen Kalendarien unterscheidet sich dieses annale dadurch, daß für die einzelnen Spalten nur 28 Zeilen vorgesehen wurden, so daß mit Ausnahme des Februars kein vollständiger Monat in ihnen Platz findet. Es entstehen Überhänge, die sich immer weiter aufsummieren bis hin zum Dezember, dessen Kalenden wie beschrieben in der vorletzten Spalte am unteren Rand notiert sind. Da jedoch die letzte Spalte, mit dem ‚Rest‘ des Dezembers, sehr klein und gedrängt hinzugefügt wurde, entsteht der optische Eindruck, die Kalenden des Dezembers befänden sich nicht nur am unteren, sondern auch am rechten Rand des Kalendariums.
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Kalendarieninhalte zur Folge haben, scheint Abbo eine besondere Vorliebe besessen zu haben, wie sich an der Häufigkeit dieser Form der Modifikation im „Computus“ erkennen läßt.193 In vergleichbar intensiver Weise greift er auf ein weiteres Gestaltungsmittel zurück, nämlich die Änderung der geometrischen Grundform der Tabelle. Sehr gerne fügt er an die vier Seiten des gewählten rechteckigen oder quadratischen Grundtyps Zusätze an, so daß sich der ursprüngliche Grundriß zur Kreuzesform ausfaltet. Diese Erweiterungen sind ausschließlich dekorativ, beeinflussen also weder die Funktionsweise der Tabelle, noch die immanente Anordnung des Materials. Mehrere Beispiele lassen sich hierfür anführen, etwa die siderische Folge A–O, die üblicherweise als Rechteckstabelle dargestellt wird.194 Abbo verlängert sowohl die Spalten nach oben wie nach unten, als auch die Zeilen nach rechts und nach links und umgibt das Ganze mit einer Umrißlinie, so daß ein blockhaftes Kreuz entsteht. Die Verlängerungen sind zum Teil mit zusätzlichen Informationen angefüllt. Beispielsweise wurden die links stehenden Namen der Tierkreiszeichen um ihre griechischen Übersetzungen ergänzt und stehen noch links vor ihren lateinischen Entsprechungen.195 Ein besonders bemerkenswertes Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Vokaltabelle, da sie gleich mehrere der besprochenen Modifikationen aufweist.196 Bereits in der tradierten Form, in der Abbo sie übernommen hat, zeichnet sie sich durch ganz ähnliche konstruktive Veränderungen gegenüber konventionellen Mondaltertabellen aus wie die Sequenz A–K.197 Auch in ihrem Fall dienen diese Modifikationen 193 Alle Tabellen in Berlin Phill. 1833, fol. 31v–34r, – einschließlich des Begleitkalendariums zur „Ephemerida“, jedoch mit Ausnahme dieser selbst – weisen diese Besonderheit auf, darüber hinaus das dritte Exemplar der Folge A–K im dritten Teil des „Computus“, fol. 45r. – Noch signifikanter als in der hier besprochenen Berliner Handschrift tritt dieses Charakteristikum im erwähnten Vatikan-Manuskript hervor. Siehe hierzu beispielsweise den oben bereits zitierten Hauptkalender, fol. 128v–140r. 194 Abbildung 11. – Zur siderischen Tafel Borst, Kalenderreform S. 400f. mit Literaturhinweisen. – Auf die Ausfaltung der Tabellengrundform zur Kreuzgestalt hat bereits Wallis in ihrem unveröffentlichten Vortrag („Colours, Crosses, and Acrostics“) hingewiesen. 195 Abbo selbst reflektiert auf den Umstand, daß er der Tabelle eine Kreuzesform unterlegt habe: „Hanc paginam supra exposuimus que in crucis modum figuratum […]“, Berlin Phill. 1833, fol. 31v. 196 Berlin Phill. 1833, fol. 34r, Abbildung 12; auch im Falle der Vokaltabelle treten die gestalterischen Überformungen in anderen Abbo-Handschriften noch deutlicher sichtbar hervor, z. B. Vat. Reg. lat. 309, fol. 141v und 142r. 197 Zu den konstruktiven Modifikationen der Vokaltabelle und ihrer Funktionsweise siehe Wallis, „Images of Order“ S. 54 mit Anm. 32.
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dem Ziel, den Tabelleninhalt in einer ganz bestimmten, nämlich diagonal strukturierten Form zu präsentieren. Wie oben skizziert münden sie darüber hinaus in eine quadrische Grundform.198 Diese Figur überarbeitet Abbo ein weiteres Mal, indem er ihren Grundriß in der beschriebenen Weise in die Gestalt eines Kreuzes überführt. In der Berliner Handschrift bietet er sie gleich in zweifacher Ausfertigung, beidesmal mit den typischen Diagonalen und jedesmal mit Kreuzgrundriß. Beide Tabellen sind überdies so dicht aneinander gerückt, daß sie nahtlos ineinander übergehen. Sie unterscheiden sich lediglich dadurch voneinander, daß Abbo die Zahlzeichen der ersten Tabelle in der darunter stehenden zweiten durch griechische Zahlsymbole ersetzte.199 2. Symbolischer Gehalt. Schon in der Forschung wurde auf die vorwiegend formal-gestalterischen, aber auch auf die gelegentlichen konstruktiv-strukturellen Modifikationen hingewiesen, die sich seit der Karolingerzeit an den hier zur Diskussion stehenden Elementen komputistischastronomischer Sammlungen beobachten lassen. Diese wurden meist als Indizien für einen übertragenen oder symbolischen Gehalt der fraglichen Objekte begriffen.200 Dieser Auffassung folgt die vorliegende Arbeit insofern, als die Einschätzung vertreten wird, daß Abbos Tabellen mit den herausgearbeiteten Charakteristika als ‚symbolische Diagramme‘ anzusprechen sind.201 So, wie mit Blick auf die oben analysierten Kreisdiagramme gezeigt, ist es auch Aufgabe der Tabellen, auf der Basis der abgebildeten Daten darüber hinausgehende Zusammenhänge in einer interpretierenden Weise zu visualisieren. Dieser Aspekt soll in den folgenden Abschnitten eingehender erläutert werden.
198 Da die Anzahl der Buchstaben aber von zehn (bei A–K) auf fünf reduziert wurde, erschwert sich auf technisch-funktionaler Ebene die Handhabung der Tabelle und erhöht sich das Fehlerrisiko bei ihrer Anwendung. 199 Eine ähnliche Doppelung in Vat. Reg. lat. 309, fol. 141v und 142r, allerdings hier separat auf zwei Seiten. Auch sind dort die Verlängerungen der Spalten oben und – noch deutlicher – unten im Fall der zweiten Tabelle stärker ausgeführt als bei der ersten; im Berliner Codex hingegen sind beide Figuren etwa deckungsgleich. Wieder weist Abbo selbst darauf hin, daß zwischen den beiden Versionen der Tabelle kein funktionaler, sondern ein gestalterischer Unterschied besteht: „Sequens figura per omnia precedenti similis est excepto quod lunationes et anni cicli xviiiilis grecis notantur litteris et numeri a xvi usque ad xxx viciniores sunt litteris aliis longe positis et quod omnes anni cicli xviiiilis supra sunt dispositi in tribus lineis embolismis infra suppositis“, Berlin Phill. 1833, fol. 34r. 200 So bes. Wallis, „Images of Order“; Kühnel, The End of Time, bes. S. 65–159. 201 Die Terminologie folgt Meier, „Die Quadratur des Kreises“, z. B. S. 31, 47 f. u. ö.
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Repräsentative Diagramme verfügen neueren Forschungsansätzen zufolge über eine spezifische Struktur, die als topologisch bezeichnet wird.202 Demnach besitzen sie einen zentralen Inhalt und je nach Konstruktion einen oder mehrere hierarchisch gestaffelte Rahmen. Der jeweils äußere Rahmen fungiert diesen Ansätzen zufolge als Interpretationshorizont für alles, was er umfaßt. Im Falle der zuletzt besprochenen Vokaltabelle des „Computus“ lassen sich mindestens drei verschiedene Ebenen ausmachen. Die elementarste und zugleich diejenige, die am weitesten ‚innen‘ steht, ist die der Einzelbuchstaben. Gemäß der herrschenden Zuordnungsvorschrift der Tabelle lassen sich diese in ein konkretes Mondalter in einem bestimmten Zyklusjahr übersetzen. Die nächste Ebene geht über die einzelnen Zeilen und Spalten hinaus und basiert auf der Zweidimensionalität der Tabelle. Auf dieser Ebene werden die Buchstaben in ihrem Verhältnis zu all den anderen Buchstaben und zugleich zur Struktur der Tabelle fokussiert. Sie werden folglich als konstitutive Bestandteile eines Ordnungsgefüges begriffen. Im konkreten Beispiel heißt dies, daß die einzelnen Zeitpunkte der ersten Ebene nunmehr als Momente einer Zeitenfolge betrachtet werden. Wie die Diagonalen optisch unterstreichen, erweist sich dieser Prozeß als regelmäßig geordneter und infolge dessen als rational durchdringbarer. Dieses Gefüge wiederum steht im Rahmen des Kreuzes. Auf diese Weise wird schließlich die Ordnung, von der die Zeitenfolge der zweiten Ebene gekennzeichnet ist, als eine christliche Ordnung interpretiert. Damit führt die dritte Ebene zur Erkenntnis Gottes als der lenkenden Kraft hinter dem regelmäßig strukturierten processus temporum.203 Den zentralen hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis der zweiten Ebene stellen folglich die auffälligen Diagonalen dar. Diese Beobachtung ist festzuhalten, da dieses Element erstens das ‚Muster‘ ist, das sich letztlich aufgrund des Zusammenhangs zwischen den beiden in der Tabelle dargestellten Größen ergibt. Zweitens ist es dasjenige geometrische Objekt, mittels dessen sich der rekursive und zykli202 Zu den Grundmerkmalen von Diagrammen Bogen /Thürlemann, „Jenseits der Opposition von Text und Bild“; zur topologischen Anordnung und ihrer hierarchisierenden Bedeutung insbes. S. 4–8, mit einem Ansatz zu einer allgemeinen Theorie des Diagramms in Anlehnung an die Semiotik von Charles S. Peirce auf S. 9f. 203 Angesichts der Ergebnisse aus der Analyse des Diagrammteils gewinnt dieser Deutungsvorschlag, der letztlich auf eine Vereindeutigung des ordo temporum als christlich konnotierten Ordnungszusammenhangs hinausläuft, zusätzliche Plausibilität. – Erstaunlicherweise wurden die in der Forschung zur Diagrammatik gewonnenen Einsichten über die Interpretation repräsentativer Diagramme noch nicht auf Tabellen, Kalendarien oder ähnliche Figuren angewandt.
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sche Charakter der Zeitenfolge auf einer rechteckigen Grundfläche versinnbildlichen läßt. Namentlich die von Abbo besonders bevorzugten Typen mit einer Mitteldiagonale repräsentieren anschaulich den Ausgang des processus temporum aus dem einen Anfangspunkt, der ersten Zelle der Tabelle, dessen sukzessiven Ablauf und Abstieg hin zum vorläufigen Endpunkt, der letzten Zelle. Seine Vorläufigkeit gewinnt dieser Endpunkt aufgrund der der Tabelle zugrunde liegenden Logik: Sie basiert auf dem 19jährigen Zyklus, der sich kontinuierlich wiederholt. Dieses kosmologisch-philosophische Motiv des geordneten und regelmäßigen recursus temporum, das schon in den rotae computisticae seinen formalen Ausdruck in der Kreisgestalt fand, erweist sich demnach als die grundlegende ratio der Zeitenfolge. Damit aber lassen sich die komputistisch-astronomischen Tabellen mit ihrer zweiten Ebene als Medien begreifen, dem Bildungsauftrag Alkuins nachzukommen und im Rahmen der quadrivialen Künste die rationes rerum freizulegen. Abbo greift vielfach auf das Kreis- und Wiederkehrmotiv zurück, bereits in der Forschung wurde hierauf hingewiesen.204 Es liegt den Kreisdiagrammen zugrunde, bestimmt darüber hinaus aber auch seine Reflexionen in anderen seiner Schriften, die nicht im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen. In einem nahe verwandten Bereich, seinen Ausführungen zur Inkarnationsära, zeigt es sich beispielsweise in der nachdrücklichen Betonung der unbedingten Gültigkeit der komputistischen Zyklen, die in argumentativer Hinsicht eine der Hauptstützen seiner Ausführungen sind.205 204 Engelen, Zeit, Zahl und Bild S. 115 f., 124f. u. ö. – Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die der Antike entstammende kosmologische Tradition; zu den philosophischen Implikationen der Kreisform Meier, „Die Quadratur des Kreises“, bes. S. 37–41, mit weiterführenden Literaturhinweisen. 205 Exemplarisch Berlin Phill. 1833, fol. 45r („Dionysius abbas“): „Qui annus propterea in se sua per vestigia sine ulla confusione revolvitur, quoniam circulus solaris xxviii et lunaris xviiii annis peragitur qui dum eo tenore quo pariter coepti sunt finiuntur. Magnus annus […] iteratur, ut paschalis ratio […] inerrato repetatur. […] Nam et in epactis et in concurrentibus sive […] ab eo [sc. incarnati verbi anno primo, NG] […] et deinceps pari ordine usque ad finem […] ubique hanc concordiam servante […]“; ebd. fol. 56r („Epistola prima“): „Ea est enim concordia duorum magnorum luminarium […] ut infra magnum annum sive magnum cyclum […] nusquam nisi semel alter alteri conveniat […]. Unde per singulos annos eiusdem magni cycli sic facito duplicando seu triplicando vel etiam centuplicando; et conversus siderum non latebit praeteritorum vel futurorum temporum“; ebd. fol. 56v („Epistola prima“): „[…] circulos quos natura formavit […]“, u. ö.; daß Abbo davon überzeugt war, daß der große Osterzyklus die Struktur des heilsgeschichtlichen Prozesses seit dem Anbeginn der Welt darstellt, läßt sich aus seinem „Prologus de ciclo magno paschae“, Codex Bern 306, fol. 1r, erschließen. Dort versucht er, das erste Weltjahr einem konkreten Jahr innerhalb
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Bemerkenswert ist der Umstand, daß Abbo zwar gelegentlich Tabellen wiedergibt, die nur über diese zwei Ebenen verfügen wie zum Beispiel die Folge A–K.206 Doch mitunter geht er, wie anhand der Vokaltabelle herausgearbeitet, einen Schritt weiter, indem er die freigelegten Strukturen der ratio temporum christlich vereindeutigt und somit in einen theologischen Rahmen rückt. Sein bevorzugtes Mittel hierzu ist die besprochene Einbettung der Tabellen in einen kreuzförmigen Grundriß. Diese Umgestaltung scheint namentlich im Kontext der Tabellen eine Entwicklung zu sein, die auf Abbo selbst zurückzuführen ist. Wie der vergleichende Blick in die diagrammatische Forschung zeigt, spiegelt diese Modifikation eine Tendenz wider, die im Zusammenhang mit den Diagrammen bereits kurz zur Sprache kam. Kunsthistorischen Forschungen zufolge wird in den Schemata seit etwa der Jahrtausendwende das Kreuzmotiv immer nachdrücklicher akzentuiert und zunehmend in den Vordergrund gerückt.207 Während sich diese Tendenz bei Abbos Diagrammen nicht beobachten läßt, weisen manche seiner Tabellen entsprechende Charakteristika auf. Insbesondere in den hier nur gelegentlich herangezogenen Handschriften wie dem Vaticanus tritt das Kreuzmotiv mit großer Deutlichkeit hervor und gewinnt aufgrund der hervorgehobenen isolierten Darstellungsweise einen emblematischen Zug.208 eines bestimmten 532jährigen Zykels zuzuordnen, z. B. ebd.: „Sumamus ergo in origine mundi querere quis annus ciclorum solaris vel lunaris videatur fuisse. […]. Quare in principio mundanae creationis fuit annus xvii cicli solaris et xvi cicli decennovenalis […]“. – Zur Verbesserung der dionysianischen Inkarnationsära Verbist, In duel met het verleden S. 211–256; zuvor bereits Cordoliani, „Abbon de Fleury“ S. 464–469, S. 474–476 die Edition von „Dionysius abbas“, S. 476–480 die Edition der „Epistola prima“, allerdings jeweils mit gravierenden Lesefehlern und infolge dessen zum Teil irriger Interpretation. – Ein heilsgeschichtliches Denken Abbos negiert Engelen, Zeit, Zahl und Bild S. 9, jedoch ohne weitere Angabe von Gründen. 206 In diesem Zusammenhang ist freilich zu berücksichtigen, daß bereits die quadratische Grundform dieser Tabelle in vergleichbarer Weise von weiterreichender Bedeutung ist wie die Kreuzform der oben angesprochenen Vokaltafel. Siehe zu dieser geometrischen Gestalt im Rahmen der Diagrammatik die Ausführungen in Obrist, „Wind Diagrams“ S. 57–66; sowie die obigen Ausführungen zu den verschiedenen Modifikationen von Tabellen. 207 Mit Blick auf die komputistisch-astronomischen Diagramme seit der Karolingerzeit Kühnel, The End of Time S. 208: „[…] that the cross is one of the most constant components of the diagram. […] we know that this tendency, merely adumbrated at first, became more and more dominant until the cross completely took hold of the diagram, as in the tenth century manuscript from Limoges […]“. 208 Vat. Reg. lat. 309, fol. 141v und 142r; vgl. hierzu Abbildung 13. Die repräsentierte Vokaltabelle befindet sich jeweils alleine auf einer Seite und wirkt aufgrund des
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Es dürfte indes kaum abschließend zu klären sein, ob die Verknüpfung von Diagrammen im allgemeinen und Abbos Tabellen im besonderen mit der Kreuzesform eine Fokussierung des Endes der Zeiten und der verheißenen Erlösung bedeutet.209 Das Kreuz dient in mittelalterlichen bildlichen Darstellungen häufig als Symbol für die kosmische Wirkungsweise Christi, diese jedoch umfaßt alle Zeiten. Sie entfaltet sich als ursprüngliches Schöpfungswort Gottes, ist und durchdringt somit die Schöpfung von Anbeginn an. Als Mitte der Zeiten und inkarniertes verbum offenbart sich Gott in der Gestalt Christi dem Menschen, bestätigt also einerseits die Schriftoffenbarung und verweist andererseits typologisch auf die Restitution des Menschen und der Schöpfung am Ende der Zeiten. Damit aber steht das Kreuzsymbol im selben theologischen Deutungshorizont wie die Reflexionen zum österlichen Christusereignis. Eschatologische Implikationen sind in ihm folglich enthalten, allerdings nicht zwingend die dominante oder ausschließlich intendierte Aussageabsicht.210 Immerhin läßt sich die Zeit mittels des Kreuzsymbols in einer vereindeutigten Weise interpretieren. Sie wird im Zeichen des Kreuzes und aufgrund des österlichen Christusereignisses zum heilsgeschichtlich strukturierten Prozeß, der seinen Anfang in der Erschaffung der Welt und dem Sündenfall nimmt und sein Ende in der Aufhebung der Zeit sowie der endgültigen Erlösung des Menschen finden wird. Während die meisten Diagramme Abbos und manche seiner Tabellen ‚nur‘ das in erster Linie neuplatonisch geprägte rekursive Moment eines geordneten Zeitenlaufs thematisieren, werden Tabellen wie das Vokalschema in den Interpretationsrahmen der einen Rekapitulationsbewegung des Heilsgeschehens gestellt. Dieser Rahmen bietet zugleich Auskunft über die Ursache für die rationale Strukturiertheit zeitlicher Abläufe. Seinen Grund – im Sinne von Anfang, wirkender ratio und zugleich Ziel – findet der ordo temporum in Gott.
einheitlichen Seitenhintergrundes wie ein isoliert stehendes, blockartiges Kreuz. – Erinnert sei in diesem Zusammenhang nochmals an die Unsicherheit der Zuschreibung dieser figurae an Abbo. 209 So ja bes. Kühnel, The End of Time S. 255–258, u. ö.; Fried, „Endzeiterwartung“; Ders., Aufstieg aus dem Untergang S. 58–68. 210 Vgl. hierzu auch den oben bereits angeführten Hinweis in Heid, Kreuz, Jerusalem, Kosmos S. 13, zur Bedeutung des Kreuzes Christi bereits für die Schöpfungsordnung. – Ablehnend zu eschatologischen Aussageabsichten Abbo Engelen, Zeit, Zahl und Bild S. 51f., 115 f. u. ö.
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Vor diesem Hintergrund wird dafür plädiert, daß sich Abbo in seinem Tabellen- und Diagrammteil darum bemühte, diese Zusammenhänge transparent zu machen. Angesichts der Beobachtung, daß gerade im Kontext seiner Schemata das Kreuzsymbol nur ausnahmsweise und in sehr dezenter Form auftritt, wird dafür argumentiert, daß die christliche Vereindeutigung ihm zwar selbstverständlich war, sein Hauptinteresse aber dem Aufzeigen der den zeitlichen Abläufen wie auch den natürlichen Phänomenen zugrunde liegenden Ordnung und Einheit galt.211 Seine kosmologische Dimension erlangt der „Computus“ dabei nicht nur aufgrund der oben besprochenen IsidorDiagramme oder der modifizierten rotae wie des Gezeitenschemas, sondern auch durch das in den Tabellen vorherrschende Thema ‚Zeit‘. Denn spätestens seit dem vierten Schöpfungstag,212 als Gott Sonne und Mond schuf, ist die Zeit untrennbar mit der der steten Veränderung unterworfenen Wirklichkeit verknüpft. Durch die ratio temporum ist folglich die Gesamtheit der natürlichen Phänomene von Ordnung bestimmt. Von der rationalen Strukturiertheit der Wirklichkeit ist außerdem aufgrund des Schöpfungsaktes selbst auszugehen, da Gott mittels des Wortes schuf. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, daß das einer logos-logischen Ausdeutung unterzogene Material ursprünglich in aller Regel aus dem Bereich der Osterberechnung, also der Komputistik im engeren Sinne stammt.213 Bevor eine zusammenfassende Würdigung des wissenschaftlichen Anliegens Abbos und seiner Methoden, dieses zu realisieren, in Angriff genommen wird, soll im folgenden Paragraphen die einzige Neuschöpfung innerhalb des „Computus“ untersucht und in Beziehung zu den bisherigen Ergebnissen gesetzt werden.
211 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die artes-Konzeption Alkuins, nach der ja die fides zum selbstverständlichen Horizont und Interpretament für die natürlichen Phänomene wird. 212 So Beda, De temporum ratione cap. vi (CCL 123B, S. 291, 11 f.: „[…] ibi [sc. quarto die, NG] namque temporis initium statuit […] luminaribus conditis […]“), der davon ausgeht, daß erst mit der Erschaffung der Himmelsleuchten die Zeit begann. 213 Vgl. hierzu beispielsweise die im ersten Hauptteil des „Computus“ versammelten und modifizierten Elemente, bei denen es sich durchweg um Kalendarien und Hilfstabellen aus der komputistischen Tradition handelt. Selbstverständlich werden hier nur Tendenzen angesprochen. Zieht man beispielsweise die Plinius-Diagramme zu den Apsiden und Latitüden heran, zeigt sich, daß auch andere Inhalte – in diesem Fall: die Planetenbahnen – zur kreativen, zum Teil ikonographisch überformten Auseinandersetzung anregten.
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2.3.3. „Ephemerida“ Abbos Figurengedicht stellt in verschiedenen Hinsichten den Höhepunkt seines „Computus“ dar. Im Grunde ist es eine völlig funktionstüchtige komputistisch-astronomische Hilfstabelle zum synodischen Mondmonat sowie zur Bewegung von Sonne und Mond vor dem Tierkreis, die als versus intexti in das Trägergedicht eingewoben ist.214 Dem carmen figuratum voraus geht das der Tabelle korrespondierende Kalendarium, eine Erläuterung zu ihrem Gebrauch folgt der Figur. Im Vergleich der verschiedenen Handschriften lassen sich grundsätzlich zwei unterschiedliche Varianten des Begleittextes ausmachen. Während die eine der beiden, wie im Berliner Codex, kürzer und schwerer verständlich ist, bieten manche Manuskripte eine ausführlichere Version, die vermutlich die jüngere der beiden ist.215 Neben der „Ephemerida“ hat Abbo noch weitere carmina cancellata verfaßt, die zwischenzeitlich in modernen Editionen verfügbar sind und wie die „Ephemerida“ in der porphyrianischen Tradition der quadratischen Gittergedichte stehen.216 Mit Blick auf ihren Aufbau ist festzuhalten, daß die „Ephemerida“ dreißig Spalten und Zeilen umfaßt und 214 Zur Terminologie siehe Ernst, Carmen figuratum S. 1–11, bes. S. 9f. – Eine Kopie der „Ephemerida“ in Gitterstruktur bietet die Abbildung 14 dieser Arbeit. Auf der darauffolgenden Seite ist die Figur in Versform transkribiert (siehe Abbildung 15). Der Transkription liegen die Orthographie und der Wortlaut der Berliner Handschrift zugrunde, so daß geringfügige Abweichungen gegenüber der maßgeblichen Edition (Versform und Übersetzung) in Lapidge /Baker, „More Acrostic Verse“ S. 12–15, auftreten (vgl. z. B. hier „caeli“, v. 2, gegenüber „celi“ in der Edition; „casu confinia noctis“, v. 10, statt „noctis confinia casu“; „scandat“, v. 13, versus „scandit“). Darüber hinaus wurde in der Transkription zwischen „u“ und „v“ differenziert und geringfügig anders interpungiert. 215 Einen von diesen beiden Hauptvarianten abweichenden Text bietet der Codex Bern 250, fol. 12r. – Die beiden Hauptversionen sind ediert und übersetzt in Lapidge / Baker, „More Acrostic Verse“ S. 16–21. 216 Eine Besprechung der Figurengedichte Abbos in Ernst, Carmen figuratum S. 460– 474, dessen Arbeit den breitesten derzeit verfügbaren Überblick über diese Gattung im Mittelalter bietet. Die „Ephemerida“ war ihm jedoch offensichtlich unbekannt, da sie in seiner Eröterung der carmina Abbos fehlt. Zur Form des von Porphyrios neugeschaffenen Gittergedichtes ebd. S. 108–142. – Ohne Berücksichtigung der Ergebnisse Ernsts, wenngleich später Gwara, „Three Acrostic Poems“. Auch er bespricht die „Ephemerida“ nicht. – Eine Diskussion des Gedichtes in Engelen, Zeit, Zahl und Bild S. 138–143, die S. 138f. das carmen auch als Versform wiedergibt, allerdings mit Lesefehlern; Engelen konzentriert sich bei der Erörterung vor allem auf die Tabellen. – Vor dem Hintergrund der oben, 2.3.1. Diagramme, herausgearbeiteten Modifikationsformen ist bemerkenswert, daß Abbo ausgerechnet ein quadratisches Gittergedicht konstruiert hat.
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wie üblich von links nach rechts zu lesen ist. Die versus intexti verlaufen senkrecht in bestimmten Spalten, die eigens gekennzeichnet und durch farbliche Hervorhebungen zusätzlich markiert sind. Als Versmaß für das Gedicht wählte Abbo den Hexameter, den er annähernd fehlerfrei realisierte. Die Schwierigkeiten, die sich beim Erstellen des Gedichtes aufgrund der besonderen Gattungsanforderungen ergeben, spiegeln sich weniger in metrischen Ungenauigkeiten als in gelegentlichen uneindeutigen Formulierungen wider.217 Die originelle Besonderheit an Abbos „Ephemerida“ gegenüber den Gattungsgepflogenheiten des carmen cancellatum sind ihre versus intexti. Anstelle der sonst üblichen, gleich dem Trägergedicht sprachlich ausgeführten Intextverse hat Abbo sein Gedicht mit komputistisch-astronomischen Tabellen bestückt. Hierzu griff er auf fünf der insgesamt dreissig Spalten zurück, und zwar die erste, sechste, zwölfte, achtzehnte und vierundzwanzigste. Der Wahl dieser Spalten liegen Abbos eigener Auskunft zufolge die boethianischen medietates zugrunde: die arithmetische, musikalische und geometrische.218 Während sich die erste, sechste und zwölfte Spalte zu einer synodischen Mondaltertabelle mit dem Buchstabensystem A–U zusammenfügen, bilden die achtzehnte und vierundzwanzigste das Gerüst der siderischen Mondtabelle, wie es aus dem auf Beda beruhenden „Cursus lunae per xii signa“ bekannt ist. Allerdings benötigt man zur Benutzung der siderischen Tabelle verschiedene Größen der vorausgehenden synodischen.219 Mit Blick auf die „Ephemerida“ ist aus moderner Sicht die Beobachtung befremdlich, daß im wissenschaftlichen Kontext auf die Gattung des Gedichtes zurückgegriffen wird, zumal das carmen kein Lehrgedicht ist, sondern einen ausgesprochen poetischen Charakter besitzt. Ferner weist es dasselbe Merkmal auf wie die zuvor besprochenen Figuren 217 Das carmen cancellatum stellt seinen Konstrukteur vor die Aufgabe, erstens ein metrisch einwandfreies sowie semantisch sinnvolles Trägergedicht zu kreieren und zweitens an zuvor festgelegten und in formaler Hinsicht bedeutsamen Stellen des Gitternetzes die versus intexti vorzusehen. Da diese zwangsläufig eine feste Zuordnung bestimmter Buchstaben zu den entsprechenden Zellen des Gitters bedingen, sind die Freiheiten des Dichters beim Entwerfen des Gedichtes in aller Regel deutlich eingeschränkt. 218 Berlin Phill. 1833, fol. 33v (Begleittext): „Quadratus hic aequilaterus […] cuius divisio per v senarios facta lectori occasionem tribuit, ut se exerceat in singulis mathematice disciplinis, siquidem continuatim proprietates medietatum trium artium talis divisio ostendit: arithmetice vi xii xviii, musice xii xviii xxiiii, geometrice vi xii xxiiii“. 219 Bedas siderische Tafel, die sogenannte „Pagina Regularum“, ist abgebildet in De temporum ratione cap. xviiii (CCL 123B, S. 345).
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des „Computus“ sowie die komputistisch-astronomischen Sammlungen insgesamt. In der Tabelle des Gittergedichtes sind nämlich lediglich zwei altbekannte figurae, in diesem Fall den formalen Zwängen des carmen cancellatum entsprechend, nicht aber technischer Innovationsbemühungen wegen rearrangiert. Dabei tritt ein ähnliches Phänomen zum Vorschein wie bei der A–K-Tafel oder dem Vokalschema. Aufgrund der Gattungsanforderungen war Abbo gezwungen, die komputistischastronomischen Details erheblich zu komprimieren und in einer verschachtelten Form in seine Tabelle aufzunehmen. Diese neue und unter den gegebenen formalen Voraussetzungen geschickt realisierte Darstellungsweise – beispielsweise der Epaktenfolge der sechsten Spalte, die zugleich dem Kenntlichmachen der Neumonde dient – ist deutlich umständlicher und zudem ungenauer als konventionelle Formen.220 Da die Funktionsweise der beiden Tabellenteile bereits in mehreren Studien erläutert wurde, kann in der vorliegenden Arbeit hierauf verzichtet werden.221 Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht die Besprechung des Gedichtinhaltes. Dieser fand in der Forschung bislang nur wenig Beachtung, bietet sich aber unter der Fragestellung der vorliegenden Arbeit zur Untersuchung an.222 Ein Grund für seine Bedeutung im gegenwärtigen Zusammenhang liegt in dem Umstand, daß sich die „Ephemerida“ gegenüber den bisher analysierten Bestandteilen des „Computus“ durch ihre Textebene auszeichnet und damit Auskünfte über die Autorintention verspricht, die die übrigen Elemente nicht in dieser Ausdrücklichkeit zu vermitteln vermögen. Keine der anderen Tabellen, keines der Kalendarien und keines der Diagramme verfügt über eine solche sprachliche Ebene.223 Mit diesen Charakteri220 Eine sehr präzise Beschreibung der Funktionsweise gab Wallis in ihrem unveröffentlichten Vortrag („Colours, Crosses, and Acrostics“). 221 Eine knappe, aber kenntnisreiche Erklärung der komputistisch-astronomischen Tabelle bietet Lapidge /Baker, „More Acrostic Verse“ S. 4–6; zur Funktion der Tabellen auch Wallis, „Images of Order“ S. 54–57. 222 Eine pauschale Charakterisierung des Inhaltes liefert Engelen, Zeit, Zahl und Bild S. 139; Wallis, „Images of Order“ S. 54–57, läßt den Inhalt außer Acht; selbst die Editoren der „Ephemerida“, Lapidge /Baker, „More Acrostic Verse“ S. 1–6, übergehen bei ihrer Beschreibung der Figur ihren Inhalt mit Stillschweigen. 223 Die jeweiligen Erläuterungen zu den einzelnen Figuren besitzen, wie ja bereits erwähnt, einen ganz anderen Charakter. Sie können deshalb im gegenwärtigen Zusammenhang unberücksichtigt bleiben. – In Anlehnung an Ernst, Carmen figuratum S. 5, wird die Auffassung vertreten, daß der inhaltlichen Ebene der Figurengedichte mehr als eine bloß dekorative Funktion zukommt. Unter dieser Prämisse ist davon auszugehen, daß sich diese Ebene wie vorgeschlagen zur Beantwortung der Frage nach der Intention Abbos heranziehen läßt.
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stika bietet die „Ephemerida“ in verdichteter Form die Grundlage, um weiterreichende Rückschlüsse auf das Anliegen zu ziehen, das sich in der Beschäftigung mit quadrivialen Gegenständen artikuliert. 1. Vorbemerkungen zum Gedichtinhalt. Wie eine eingehendere Analyse des Gedichtinhaltes zeigt, ist die „Ephemerida“ in hohem Maße von neuplatonischen Elementen geprägt. Dabei fällt ihre sprachliche, motivische und konzeptionelle Nähe zur „Consolatio philosophiae“ des Boethius auf, und zwar in erster Linie zu einigen der dortigen Metren. Wie im folgenden für die „Ephemerida“ noch herausgearbeitet wird, ist auch schon die „Consolatio philosophiae“ gleichsam leitmotivisch von Allusionen an astronomische und kosmologische Phänomene und Gegebenheiten durchzogen. Das gemeinsame Charakteristikum der entsprechenden Stellen der „Consolatio“ ist ihr Kontext. Sie stehen in aller Regel in einem inhaltlichen Zusammenhang mit dem Thema des ordo und dienen entweder der exemplarischen Illustration herrschender Ordnung in der Wirklichkeit oder werden herangezogen, um die vermeintliche Regellosigkeit des Weltgeschehens als eine scheinbare zu demaskieren. Das Leitmotiv ist in beiden Zeugnissen somit der die Wirklichkeit durchdringende göttliche ordo, der als natura oder ratio rerum derjenige Erkenntnisgegenstand ist, der das unter Wirklichkeitsbedingungen beste Abbild des unum darstellt. Zum Reflektieren dieser Zusammenhänge griff schon Boethius selbst gerne auf die Gedichtform zurück.224 Vorauszuschicken ist, daß Abbos eigentliches Interesse der Gotteserkenntnis gilt. In seinem das Gedicht abschließenden Gebet fleht er Gott expressis verbis an, ihm, dem Gläubigen, die Erkenntnis Gottes, seines Nährers, zu gewähren, dem er mittels der von Gott verliehenen Gaben nach Kräften zu gefallen suche.225 Inhaltlich konzentriert 224 Zur „Consolatio philosophiae“ immer noch grundlegend Courcelle, „Neuplatonismus“; Scheible, Die Gedichte in der Consolatio; Rand, Founders of the Middle Ages S. 135– 180, bes. S. 157–178. – Zur Rezeption nach wie vor Courcelle, La Consolation de Philosophie; Huygens, „Mittelalterliche Kommentare“; Silk, „Pseudo-Johannes Scottus“. – Die nach derzeitigem Kenntnisstand älteste Kopie der „Consolatio philosophiae“ stammt aus Fleury, Ms. Orléans BM 270 (226); BF 733 nach Mostert, The Library of Fleury S. 161; eine weitere Abschrift aus dem 10. Jahrhundert, ebenfalls aus Fleury, bietet der Codex Paris BN lat. 6401 (BF 1083), der außerdem „De arithmetica“ und „De trinitate“ des Boethius enthält. 225 „Alme deus, te nosse mihi concede fideli /Per tua dona tibi placeam pro viribus oro“, v. 29f.; zitiert wird die Ephemerida entsprechend ihrer Zeileneinteilung; vgl. hierzu auch die Versform, Abbildung 15.
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er sich bei seinen Ausführungen auf den Lauf von Sonne und Mond und streift darüber hinaus kurz die Planetenbewegungen. Damit liegt der Schluß nahe, daß ihm der recursus siderum als Gegenstand für das formulierte Erkenntnisinteresse prinzipiell geeignet erschien. An dieser Beobachtung ist nichts Überraschendes, da sie konform geht mit der astronomisch-kosmologischen Tradition schon seit der Antike und zu den Ergebnissen der bisherigen Untersuchung des „Computus“ Abbos paßt.226 Zu fragen ist allerdings nach den Charakteristika dieses Erkenntnisinteresses im Rahmen der „Ephemerida“ und darüber hinausgehend nach deren Bedeutung für Abbos kosmologische Vorstellungen. 2. Einleitende Reflexion (v. 1–3). Sein Gedicht beginnt Abbo mit einer Reflexion über sich und sein mit diesem Gedicht in Angriff genommenes Tun. Bescheiden bezeichnet er sich dabei selbst als „tiro“, als „Anfänger“. Eine gleichzeitige Anspielung auf Ciceros Sekretär, den Schöpfer des nach ihm benannten Notationssystems, liegt jedoch nahe. Allerdings sind die Noten des Tiro des ausgehenden 10. Jahrhunderts, also Abbos, von besonderer Qualität. Sie sind seinen Ausführungen zufolge geeignet, über die Bahnen der beiden wichtigsten Himmelsleuchten, der Sonne und des Mondes, Auskunft zu geben, so daß sich mit ihrer Hilfe der „terminus lunaris“ bestimmen lasse. Berücksichtigt man, daß Abbo die im Gedicht, der „conexa forma“, verhandelten Ähnlich ja auch die „Consolatio philosophiae“, vgl. beispielsweise lib. 4, m. 6, 1–3 (CCL 94, S. 84), wo Boethius zur Erkenntnis Gottes ausdrücklich anrät, das Himmelsgeschehen zu betrachten: „Si uis celsi iura Tonantis /[…] cernere […], /aspice summi culmina caeli“. – Anders hingegen der späte Augustinus, der bes. im fünften Buch der „Confessiones“ eine ausgesprochen astronomie- und – im Zusammenhang hiermit – erkenntnisfeindliche Haltung einnimmt, z. B. Confessionum libri xiii lib. v, iii, 4 – iv, 7 (CCL 27, S. 58–60): „Mente sua enim quaerunt ista et ingenio […], defectus luminarium solis et lunae […], et scripserunt regulas indagatas […]. Multa tamen ab eis ex ipsa creatura uera dicta retinebam, et occurrebat mihi ratio per numeros et ordinem temporum et uisibiles attestationes siderum […]. […] sic fidelis homo […], quamuis nec saltem septentrionum gyros nouerit […], quin utique melior sit quam mensor caeli et numerator siderum et pensor elementorum et neglegens tui, qui omnia in mensura et numero et pondere disposuisti“. – Zur ambivalenten Position Augustins gegenüber einer Erkenntnis mittels contemplatio mundi Pfeiffer, Contemplatio Caeli S. 84–104. Durchaus positiv zur Weltbetrachtung als Mittel zur Selbst- und damit Gotteserkenntnis beispielsweise De libero arbitrio ii, xvi, 42, 164 (CCL 29, S. 265): „Intuere caelum et terram […]. Formas habent quia numeros habent […]“; nach der Zahl aber hat Gott – auch Augustinus zufolge – die Welt geschaffen. Aufgrund seiner mens partizipiere der Mensch an diesem fundamentalen Schöpfungsprinzip, so daß er – bei Hinzutreten der göttlichen Gnade – zur erstrebten Erkenntnis gelangen könne. 226
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Angelegenheiten als „ardua sacraria“ bezeichnet, zeigt sich, daß er – der Bescheidenheitsgeste zum Trotz – mit großem Selbstbewußtsein und einem hohen Anspruch auftritt. Nichts geringeres möchte er mit seinen „odae“ leisten, als „diffizile“, „heikle“ beziehungsweise „heilige Dinge“, nämlich die Bahnen der Himmelsleuchten, transparent zu machen.227 Erläuterungsbedürftig sind in diesem Abschnitt mehrere Begriffe. Erstens ist unklar, was exakt mit „terminus lunaris“ bezeichnet werden soll. Zum einen ließe sich der Begriff terminus im Sinne von „Endpunkt“ – der Mondbahn – verstehen. Er würde dann wohl auf die Position des monatlichen Neumondes verweisen.228 Zum andern ließe er sich als „Grenzlinie“ begreifen und reflektierte somit auf die Bahn selbst, auf der sich der Mond bewegt. Doch bietet sich noch eine dritte Übersetzungsmöglichkeit an. Demnach wäre der Ausdruck in seiner Verbindung mit dem Attribut lunaris als komputistischer terminus technicus zu lesen und bezöge sich dezidiert auf die sogenannte Ostergrenze: auf den ersten Vollmond nach dem Frühjahrsäquinoktium. Dann wäre allerdings die Frage zu stellen, inwiefern Abbos Lied in der Lage sein soll, einen Beitrag zum Herausfinden des Mondalters zu leisten. Denn nirgends im Trägergedicht finden sich konkrete Mondalter oder Anweisungen, diese Größe zu bestimmen. Eine denkbare Antwort auf diese Frage bietet eine Berücksichtigung der versus intexti in diesem Zusammenhang. Wie oben referiert, bilden die ersten drei Spalten eine funktionstüchtige Tabelle zum Ermitteln des Mondalters. Abbos Ankündigung ließe sich infolge dessen auch als Verweis auf die Intextebene lesen; in der Forschung wurde diese Einschätzung bereits vorgetragen.229 Grundsätzlich stellt sich an diesem Punkt folglich die Alternative, Abbos Hinweis auf die folgenden, im Lied vorgetragenen Ausführungen zur Mondbahn zu beziehen, oder aber auf die Ebene der versus intexti und damit auf die Mondaltertabelle. Diesem Befund ist bei der weiteren Besprechung der „Ephemerida“ nachzugehen. Zweitens fällt die Bezeichnung „ardua sacraria“ im ersten Vers auf, die wie ein Oberbegriff für die im carmen vorgetragenen Inhalte verwendet wird. Bemerkenswert an dem Begriff sacrarium ist der Umstand, daß er aus dem religiösen Bereich stammt und dort, wie in der Paraphrase
227 „Ardua conexae libat sacraria formae /Tiro […] /His ut lunaris noscatur terminus odis“. 228 Diese Einschätzung gründet auf dem Umstand, daß der synodische Mondmonat im Mittelalter von Neumond (luna i) zu Neumond (luna xxx) gezählt wird. 229 So Engelen, Zeit, Zahl und Bild S. 139.
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oben angedeutet, üblicherweise für „Heiligtum“ oder „Tempel“ steht. In seiner übertragenen Wortbedeutung kann er in einem allgemeineren Sinn auf Gegenstände jenes Bereiches verweisen, der in einem direkten Zusammenhang mit dem Göttlichen steht, oder auch auf diesen Bereich selbst.230 Im Lichte des Abschlußgebetes, in dem Abbo um Gotteserkenntnis bittet, und vor dem Hintergrund der bisher analysierten Elemente des „Computus“ läßt sich bereits an dieser Stelle des Gedichtes der Schluß ziehen, daß die besungenen Gegenstände dem Bereich des göttlichen arcanum zuzurechnen und somit prinzipiell geeignet sind, einen Beitrag zur erstrebten Erkenntnis Gottes zu leisten.231 3. Mondbahn und erster reflexiver Einschub (v. 4–8). War bei Abbos Ankündigung, Einsicht in den „terminus lunaris“ bieten zu wollen, noch unklar, ob er sich auf die inhaltliche oder auf die Intextebene bezog, zeigt sich anhand der nächsten Ausführungen, daß die Liedebene mindestens auch angesprochen war. Die folgenden Verse sind – der gewählten literarischen Gattung entsprechend poetisch stark überformt – astronomischen Zusammenhängen gewidmet. Abbo führt aus, daß der Mond einer zweifachen oder zweigeteilten Bahn folge, die er in dreißig Tagen 230 Vgl. hierzu beispielsweise die Angaben im „Lexicon totius latinitatis“ zu „sacrarium“, dem zufolge sacrarium „est locus, in quo res sacrae ponuntur“; es wird als Bezeichnung verwendet „pro interiore et sanctiore parte templi […] et pro ipso templo“; dann auch im übertragenen Sinne, z. B. mit Verweis auf Senecas „Quaestiones naturales“: „Arcana naturae […] nec omnibus patent: reducta et in interiore sacrario clausa sunt“; siehe darüber hinaus den knappen Eintrag in Georges’ „Ausführlichem Handwörterbuch“ („Ort, wo Heiligtümer aufbewahrt werden“, „Heiligtum“, „Bethaus“, „Tempel“; ebenfalls der Verweis auf Senecas „Quaestiones naturales“); siehe außerdem „sacrarium“ im „Lexicon latinitatis Nederlandicae medii aevi“ mit dem Vers „O sacratissima … Maria“, in dem Maria als „sacrarium Spiritus Sancti“ und „templum Dei“ bezeichnet wird. Geht man dieser öfter zu beobachtenden Gleichsetzung von sacrarium und templum nach, stößt man auf „caelum“ als eine der Hauptbedeutungen von templum, siehe hierzu wieder die angeführten Lexika. Die hier vorgeschlagene Identifikation der sacraria mit dem Himmelsgeschehen lag also sprachlich sowie begrifflich nahe und dürfte somit zulässig sein. Ich danke Guy Guldentops, der mich auf diese Zusammenhänge aufmerksam gemacht hat. 231 Zur Prominenz der astronomischen Bewegungen als Erkenntnismedium siehe die oben bereits angeführte Stelle in Boethius, Philosophiae consolatio lib. 4, m. 6, 1–3 (CCL 94, S. 84), der dazu auffordert, zur Erkenntnis der göttlichen Gesetze in den Himmel zu schauen: „Si vis celsi iura Tonantis /[…] cernere […], /Aspice summi culmina caeli“. Als den dort zu betrachtenden Erkenntnisgegenstand benennt er den „alten Frieden“, den die Sterne „in einem gerechten Bündnis“ bewahrten, und allgemein den vom amor konstituierten ordo (ebd. v. 4f., 17, 44 und 47). – Abbo selbst stellt sich mit dieser erkenntnisoptimistischen Haltung in die Tradition des Boethius und nicht in die des späten Augustinus.
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vollende. Angesichts dieser Angabe der Dauer eines gesamten synodischen Mondmonats ist davon auszugehen, daß Abbo mit der erwähnten Zweiteiligkeit der Mondbahn in schematischer Weise den Verlauf der Phasen des Mondes andeuten wollte: dessen Zunehmen in der ersten und sein Abnehmen in der zweiten Monatshälfte.232 Daraufhin fährt er fort, daß der Mond seine „momenta“ der Sonne verdanke, die ihm, wie ein Hauptstrom seinen Nebenströmen, von ihrem Licht zukommen lasse.233 Im Rückblick wird nochmals auf die Frage zurückzukommen sein, ob und inwiefern mit der Absichtsbekundung, den „terminus lunaris“ zu beleuchten, über die inhaltliche Ebene hinaus auch die der versus intexti gemeint war.234 Bevor er jedoch seine astronomischen Schilderungen fortsetzt, unterbricht Abbo seinen Gedankengang und wendet sich in direkter Anrede an sein literarisches Publikum. Er versichert seinen Zuhörern, lediglich mit ihnen diese und andere ihm bekannte Dinge zu teilen.235 232
Beachtlich ist die Vokabel, die Abbo für die Bezeichnung dieses von der Phasenabfolge gekennzeichneten Weges verwendet: lustramen. Zwar läßt sie sich im „Lexicon totius latinitatis“ nachweisen, doch wird als einzige Bedeutung angeführt: „quidquid purgando, vel expiando inservit“. Ihre Verwendung im carmen läßt eher darauf schließen, daß Abbo sie als Kompositum aus lustrare und trames begriff. Jedenfalls weckt sie verschiedene Allusionen. Als lustrare könnte einmal auf die Bedeutung „beleuchten“, „hell machen“ angespielt werden, sodann – verwandt zum eben angesprochenen Nachweis von lustramen – auf „reinigen“, „sühnen“, außerdem aber auch auf „bereisen“, „durchwandern“; schließlich verweist das Nomen lustrum neben dem „Sühneopfer“ noch auf einen festen Zeitraum (von fünf Jahren). Trames ist demgegenüber bedeutungsärmer. Es steht für „Quer-“, „Seitenweg“ oder überhaupt für „Weg“, „Pfad“, „Lauf“. Damit schwingt bei der Bedeutung der Komposition lustramen auf jeden Fall eine räumliche Komponente mit, die auf den Weg oder die Bahn des Mondes verweist; daneben klingt je nach Interpretation eine Allusion an das Moment des Leuchtens (und damit gegebenenfalls schon an dessen Veränderungen aufgrund der Phasenabfolge) an, wieder an den religiösen Kontext (was aufgrund der konkreten Bedeutung, „Sühne“, „Reinigung“, hier eher für unwahrscheinlich gehalten wird) oder an die wandernde Bewegung des Mondes selbst (auf dem trames). Für die angeführten Bedeutungsvarianten siehe die bereits genannten Lexika. Lapidge /Baker, „More Acrostic Verse“ S. 15, übersetzen den Begriff folgendermaßen: „passage [waxing and waning]“. 233 „Ad sua tricenis momenta explenda diebus“, v. 5; momenta stehen aufgrund der thematisierten Zusammenhänge wohl für die Phasenabfolge des Mondes, also für diejenigen Veränderungen, die für einen Beobachter optisch wahrnehmbar sind. Da Abbo die vorherigen Ausführungen mit diesem Hinweis auf die wechselnde Leuchtkraft des Mondes fortsetzt, ist anzunehmen, daß das lustrare in lustramen eher auf die in der vorausgehenden Anmerkung erstgenannte Bedeutungsvariante verweist, nämlich auf „beleuchten“, „hell machen“. 234 Vgl. hierzu den Abschnitt 6. Abbos Ankündigungen und die übergreifende Besprechung der „Ephemerida“ am Ende dieses Paragraphen. 235 „Haec et quae novi vobis communia solis“, v. 8.
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Diese Beteuerung überrascht und wirft die Frage auf, weshalb Abbo nur mit einem begrenzten Personenkreis gleichsam geheimbündlerisch jene Kenntnisse teilen möchte, die er eingangs als „sacraria“ bezeichnete. Anzunehmen ist, daß gerade in der Zuordnung des vermittelten Wissens zum Bereich des göttlichen arcanum die Antwort zu suchen ist. Seinem eigenen Bekunden zufolge singt Abbo von „hohen“, „heiligen“ Dingen und versucht auf diese Weise, der angestrebten Gotteserkenntnis näherzukommen. Zwar bemüht er sich damit um ein Ziel, nach dem jeder streben sollte, doch ist der Weg dorthin – traditioneller Auffassung zufolge – gefahrenträchtig.236 Schon Paulus warnt davor, bei der Schülerunterweisung zu rasch zu verfahren oder mit Zusammenhängen zu beginnen, die ein solides Glaubensfundament voraussetzten.237 Diese skeptische Haltung nimmt auch Augustinus ein und unterstreicht sie durch seine pessimistische Einschätzung, daß ohnedies nur sehr wenige die erforderlichen Gaben mitbrächten, um sich mit Glaubensdingen in anderer Weise auseinanderzusetzen als in Form folgsamen Glaubens der durch die Kirche ver-
236 Zur Beschränkung des Wissens – als eines arcanum – auf einen limitierten Personenkreis griff bereits Boethius auf verschiedene Mittel zurück wie beispielsweise die deduktive Methode more geometrico, Boethius, De hebdomadibus (ed. Steward /Rand S. 38, 11–14): „Prohinc tu ne sis obscuritatibus brevitatis adversus, quae cum sint arcani fida custodia tum id habent commodi, quod cum his solis qui digni sunt conloquuntur“; vgl. auch Ders., De trinitate (ed. Steward /Rand S. 4, 16–22): „[…], ut haec mihi tantum vobisque […] conloquantur“; Dreyer, More mathematicorum S. 104–106. – Ein ähnliches Bild vermittelt auch die Vita Alcuini cap. iv (MGH SS 15, S. 186), die über Egbert, einen der beiden Lehrer Alkuins, berichtet: „[…] coepit paulatim ei [sc. Alcuin, NG] secretibus secreta demonstrare sua […]“; ebd. über Ælbert, Alkuins anderen Lehrer: „[…] suo residens in lecto, discipulis, cuique convenientia, scripturae pandebat arcana“; vgl. hierzu auch de Jong, „From Scolastici to Scioli“. 237 Exemplarisch sei auf 1Cor 3, 1–2 verwiesen: „et ego fratres non potui vobis loqui quasi spiritalibus sed quasi carnalibus tamquam parvulis in Christo lac vobis potum dedi non escam nondum enim poteratis sed ne nunc quidem potestis adhuc enim estis carnales“; vgl. auch Hbr 5, 11–14: „[…] quoniam inbecilles facti estis ad audiendum etenim cum deberitis magistri esse propter tempus rursum indigetis ut vos doceamini quae sint elementa exordii sermonum Dei et facti estis quibus lacte opus sit non solido cibo omnis enim qui lactis est particeps expers est sermonis iustitiae parvulus enim est perfectorum autem est solidus cibus eorum qui pro consuetudine exercitatos habent sensus ad discretionem boni ac mali“; insbesondere im ersten Korintherbrief tritt deutlich die Abneigung des Apostels gegen eine (einseitige) Hochschätzung der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten und das Verkennen ihres wahren Ursprungs in Gott hervor; vgl. hierzu Schnelle, Paulus, bes. S. 201–250; zum Rückgriff des Hebräerbriefes auf das gängige Bild von „Milch“ und „fester Speise“, das eine Differenzierung zwischen einer Anfängerunterweisung und einer weiterführenden Vertiefung (in Glaubensfragen) widerspiegelt, Laub, Hebräerbrief, bes. S. 74–76.
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mittelten Glaubenswahrheit. Das Bemühen um noetische Durchdringung des arcanum berge große Risiken in Gestalt von Irrtümern und Häresien, vor denen die Gemeinschaft der Gläubigen unbedingt zu beschützen sei. Nur wenige Ausgewählte sollten demnach mit der gebotenen Vorsicht an eine rationale Auseinandersetzung mit den Glaubensgeheimnissen herangeführt werden.238 Über Augustinus gelangt das Bewußtsein vom Arkanwissen und den Gefahren seiner Aneignung durch einen falschen Personenkreis oder seiner methodisch unangemessenen Vermittlung ins Mittelalter und findet seinen Ausdruck in Äußerungen wie der soeben referierten Abbos. Sein Lied handelt von „ardua sacraria“ und somit von Gegenständen, die nur an einen ausgewählten Schülerkreis und nur durch einen Lehrer weitergereicht werden dürfen.239 4. Mond und Sonne (v. 9–14). Nach diesem Einschub setzt Abbo seine Beschreibung des Mondlaufes fort, den er auch weiterhin konsequent in seiner Relation zur Sonne darstellt, indem er nun die Bewegungen beider Himmelsleuchten ins Zentrum rückt. Damit aber unterstreicht er die Abhängigkeit der äußeren Erscheinung des Mondes von der Sonne und ihrem Licht und betont darüber hinaus das enge Verhält238
Insbesondere in den frühen Schriften differenziert Augustinus deutlich zwischen den wenigen, die in der Lage seien, mittels der ratio zur Erkenntnis zu gelangen, und der großen Mehrheit, die auf auctoritas und fides angewiesen sei, vgl. beispielsweise De ordine ii, v, 16, 42–46 (CCL 29, S. 115 f.). „Duplex enim est uia, quam sequimur, cum rerum nos obscuritas mouet, aut rationem aut certe auctoritatem. Philosophia rationem promittit et uia paucissimos liberat, quos tamen non modo non contemnere illa mysteria sed sola intellegere, ut intellegenda sunt, cogit“; ebd. ii, ix, 26, 39–12 (ebd. S. 121f.): „Ad discendum item necessario dupliciter ducimur, auctoritate atque ratione. Tempore auctoritas, re autem ratio prior est. […]. Itaque quamquam bonorum auctoritas imperitae multitudine uideatur esse salubrior, ratio uero aptior eruditis, tamen […] euenit, ut omnibus bona magna et occulta discere cupientibus non aperiat nisi auctoritas ianuam“; Ders., Contra academicos ii, i, 1, 6–17 (CCL 29, S. 18): „Sed quia […] siue ingeniorum quodam stupore uel socordia uel tarditate torpentium siue desperatione inueniendi […], euenit, ut scientia raro paucisque proueniat […]“; vgl. hierzu Lütcke, ‚Auctoritas‘; Hoffmann, Augustins Schrift, allgemein zum Verhältnis von Glauben und Wissen bei Augustinus. 239 Vgl. hierzu die Bildungskonzeption Alkuins, der ja ebenfalls die Rolle des Lehrers bei der Wissensvermittlung stark hervorhob, z. B. Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 849C): „Audivimus, o doctissime magister! saepius te dicentem quod […]“; mit demselben Tenor verdeutlicht Alkuin (ebd. Sp. 850A–B) am Beispiel des mühevollen Feuerschlagens, daß der Lehrer beharrlich den Geist der Schüler üben müsse; vgl. in diesem Zusammenhang die starke Betonung des Vermittlungsaspektes in Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 33, der besonders den organisatorischen Aspekt des Schulunterrichts hervorhebt.
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nis zwischen beiden Gestirnen. Gleich zu Beginn dieser Passage weist Abbo darauf hin, daß den beiden seit alters her der stete Wechsel eigne und hebt auf diese Weise die Regelmäßigkeit sowie Regelhaftigkeit der Bewegung der beiden Hauptgestirne hervor. Als Urheber dieses Ordnungsgefüges firmiert die „natura coeva“. Bei der Formulierung „natura coeva“ handelt es sich ein weiteres Mal um eine besondere Begrifflichkeit. Erstens fällt auf, daß Abbo zufolge die „Natur“ als das Initialmoment und die treibende Kraft des steten Alternierens von Sonne und Mond zu begreifen ist. Aufgrund dieser Stilisierung ist darauf zu schließen, daß die „Natur“ bei Abbo ein ordnendes Prinzip ist, das nicht nur dem Lauf von Sonne und Mond zugrunde liegt, sondern – aufgrund des exemplarischen Charakters des recursus siderum – dem Ganzen der Wirklichkeit.240 Für die Ursprünglichkeit dieses Prinzips spricht zweitens das Attribut „coeva“, das Abbo der „natura“ hinzufügte. Coaevus bedeutet im klassischen Zusammenhang „gleich alt“. Eine weitergehende Konnotation gewinnt das Attribut wieder bei Augustinus, der es an dem theologisch bedeutsamen coaeternus kontrastiert.241 Augustins Überlegungen kreisen um das paradoxe Problem, wie der Sohn Gottes, der doch vom Vater hervorgebracht sei und ihm somit zwingend in zeitlicher Hinsicht folge, diesem gleichewig, „coaeternus“, sein könne. Am Beispiel des Feuers und „[…] dedit alternare […] natura coeva“, v. 9; in diesem Zusammenhang fällt erneut die Nähe der gegenwärtig besprochenen Passage zu Motiven und Vorstellungen in der „Consolatio philosophiae“ des Boethius auf, vgl. beispielsweise lib. 1, m. 5 sowie lib. 3, m. 2; auch Boethius zufolge ist die natura die treibende Kraft des geordneten Weltgeschehens, z. B. Philosophiae consolatio lib. 3, m. 2, 2 f. (CCL 94, S. 40): „natura potens, quibus immensum /legibus orbem prouida seruet“; zum Alter der steten Himmelsbewegungen vgl. ebd. lib. 1, m. 5, 23 (ebd. S. 12): „[…] antiqua lege […]“, sowie ebd. v. 2 f. (ebd. S. 11): „qui perpetuo […] /[…] caelum turbine uersas“, gegenüber Ephemerida v. 9: „Quos dedit alternare diu […]“, also von alters her; sowohl Boethius, als auch Abbo heben die Abhängigkeit der Leuchtkraft des Mondes vom Stand der Sonne hervor und bedienen sich dabei verwandter Methaphern, z. B. Philosophiae consolatio lib. 1, m. 5, 8f. (CCL 94, S. 11): „nunc obscuro pallida cornu /Phoebo proprior lumina perdat“; vgl. hierzu Ephemerida v. 14 f.: „Eoo dum se componens ultima scandat/Clara kaput dudum radiis exesa diei“; in beiden Gedichten wird die Mondsichel durch die Bezeichnung cornu (Philosophiae consolatio ebd. v. 5 und 8) beziehungsweise cornua (Ephemerida v. 11) angedeutet und in beiden Fällen die Sonne als „Bruder“ des Mondes angesprochen (Philosophiae consolatio ebd. v. 6: „[…] fratris […]“; vgl. hierzu Ephemerida v. 20: „[…] germanus […]“). – Zum hervorstechenden Motiv der Regelhaftigkeit der Gestirnsbahnen in der „Consolatio philosophiae“ Pfeiffer, Contemplatio Caeli S. 105–121, bes. S. 110–112 und S. 116–119. 241 Besonders einschlägig ist in diesem Zusammenhang der bereits oben erwähnte „Sermo cxvii“ Augustins (PL 38, Sp. 661–671, insbes. Sp. 666–668). 240
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dessen Leuchtens verdeutlicht Augustinus, daß zwar das Leuchten auf das Feuer zurückzuführen sei, beide aber untrennbar zusammengehörten.242 Auf die Bedingungen der Ewigkeit projiziert – und Gott sei ja die Ewigkeit – bedeute dies, daß der Sohn mit dem Vater (auch) in dieser Hinsicht gleich, ihm also „coaeternus“ sei. Nur unter der Perspektive der der Zeitlichkeit unterworfenen Wirklichkeit lasse sich die Frage nach dem zeitlichen Nacheinander sinnvoll stellen. Wie aber das Beispiel vom Feuer und seinem Leuchten zeige, gebe es selbst unter Wirklichkeitsbedingungen Phänomene, die aus der temporalen Perspektive ununterscheidbar sind. Sie seien folglich gleichzeitig, „coaevus“, und als Bilder zu interpretieren, die aufgrund einer ihnen innewohnenden Ähnlichkeit auf das ewige Vorbild verweisen. Es gelte also, im Zeitlichen nach Abbildern der Gleichewigkeit zu suchen, und das heißt nach „coaeva“.243 Zu berücksichtigen ist vor diesem Horizont ferner, daß Augustins Ausführungen ihren Ausgangspunkt von den ersten drei Versen des Johannesevangeliums nehmen. Seine Reflexionen zum Verhältnis von Gottvater und Sohn stehen somit im Lichte seiner Überlegungen zum verbum dei. Den eben skizzierten Äußerungen zur coaeternitas filii gehen konzeptionell relevante und für die gegenwärtige Fragestellung zentrale Erwägungen zum Wirken des verbum in der Wirklichkeit voraus. Alles nämlich sei dem Wort Gottes unterworfen, da ja alles durch es selbst geschaffen sei. Das „verbum coaeternum“ sei folglich die „forma omnium formatorum“ und damit das Fundament, das allem zugrunde liege und alles durchdringe.244 Angesichts dieser Hintergründe gewinnt Abbos „natura 242 Augustinus, Sermo cxvii (PL 38, Sp. 667): „[…] mox autem ut accendero, simul cum igne et splendor existit. Da hic mihi ignem sine splendore, et credo tibi Patrem fuisse sine Filio“. 243 Augustinus, Sermo cxvii (PL 38, Sp. 666–668): „[…] in aeternitate omnia stant, in tempore alia accedunt, alia succedunt […]. Si autem non invenis aeternum, et vincunt se in tempore; sufficit ut ad similitudinem inveniamus coaevum. […] hic invenimus coaeva, ibi intelligamus coaeterna. […] sed posse ex aliqua tenui et parva similitudine coaeva coaeternis [comparari]. Inveniamus itaque coaeva […]“. 244 Augustinus, Sermo cxvii (PL 38, Sp. 661–663). Erinnert sei in diesem Zusammenhang nochmals an die oben bereits zitierte Quaestio xlvi „De ideis“ Augustins, in der er die Ideen als „Formen“ oder „rationes rerum“ bezeichnet und sie als „ewiges“, „göttliches“ Formprinzip der Wirklichkeit charakterisiert, De diversis quaestionibus lxxxiii, bes. 2, 21–30 (CCL 44A, S. 71): „Ideas igitur Latine possumus uel formas uel species dicere […]. Sunt namque ideae principales quaedam formae uel rationes rerum stabiles atque incommutabiles, quae ipsae formatae non sunt ac per hoc aeternae ac semper eodem modo sese habentes, quae diuina intelligentia continentur. Et cum ipsae neque oriantur neque intereant, secundum eas tamen formari dicitur omne quod oriri et interire
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coeva“ eine bemerkenswerte systematische Tiefe. Sie ist wie oben herausgearbeitet ein überindividuelles, universales Prinzip, das die Wirklichkeit regelmäßig strukturiert, und ist zugleich die „similitudo coaeternitatis“. Damit aber ist sie als das Abbild des göttlichen verbum unter den Bedingungen der Zeitlichkeit anzusprechen. Abbos „natura coeva“ steht demnach als Bezeichnung für die Äußerung des schaffenden und regelnden Wirkens Gottes in der Wirklichkeit und stellt mit diesen Implikationen das konzeptionelle Zentrum der theologisch fundierten Kosmologie Abbos dar.245 5. Zweiter reflexiver Einschub und Sonnenlauf (v. 15–23). Den Übergang zum nächsten Sinnabschnitt leistet Abbo wieder mit Hilfe einer Autorreflexion. Er erklärt, bisher den Mondlauf diskutiert zu haben und sich nun auf die Sonne konzentrieren zu wollen. Diese Formulierung wirft dieselbe Frage auf wie oben.246 Unklar ist, ob er sich auf den Gedichtinhalt oder die unterlegte komputistisch-astronomische Tabelle bezieht. Daß die Liedebene zumindest wieder mitgemeint ist, zeigen die folgenden Ausführungen. Zunächst verweist Abbo auf die „jährliche Linie der kreisenden Welt“, also die Ekliptik, die die Sonne in regelmässiger Bahn durchlaufe, allerdings „später als üblich“. Diese Charakterisierung erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich. Denn mit dem Verb „decurrere“ betont Abbo die Gleichförmigkeit des Sonnenlaufes, dessen regelmäßigen Rhythmus er zudem durch dessen Kennzeichnung als „jährlich“ unterstreicht. Zu dieser eindeutigen Charak-
potest et omne quod oritur et interit“. Demnach sind die „Ideen“ oder „rationes“ mit dem verbum coaeternum zu identifizieren. 245 Vgl. hierzu 2.3.2. Tabellen und Kalendarien, die abschließenden Reflexionen. – Auffällig ist in diesem Zusammenhang wieder die Nähe zur „Consolatio philosophiae“. So wird zum Beispiel im zweiten Metrum des dritten Buches als Lenker des Weltgeschehens und als Ursache der „leges“ die „natura“ genannt, die ja bei Abbo als Grund für den beständigen Wechsel der Gestirne firmiert (v. 9). Allerdings wird sie in theologischer Hinsicht neutraler als „natura potens“ (v. 2, ebd.), nicht wie bei Abbo als „natura coeva“ bezeichnet. Zurückgeführt wird der die Wirklichkeit strukturierende ordo in beiden Fällen auf den einen Schöpfer, wie sich in der „Consolatio philosophiae“ besonders deutlich im sechsten Metrum des vierten Buches zeigt. Auch in dessen Mittelpunkt steht das absolute Gleichmaß der Gestirnsbahnen, das auf einem „gerechten Bündnis“, „iusto foedere“, und einem „alten Frieden“, „veterem […] pacem“, beruhe (v. 4 f., CCL 94, S. 84). Wie sich anhand der folgenden Ausführungen erschließen läßt, äußert sich dieser Sachverhalt in der Unbeirrbarkeit und Treue, mit der die Sonne, der Mond und die Sterne des Fixsternhimmels ihren Bahnen folgen, nämlich in „stets gleichförmigen Zeitspannen“, „semper vicibus temporis aequis“ (v. 13, ebd.). 246 Siehe den Abschnitt 3. Mondbahn und erster reflexiver Einschub.
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terisierung steht die unmittelbar folgende Einschränkung, der Hinweis auf das Abweichen vom Gewohnten, in Widerspruch. Als Interpretationsversuch soll vorgeschlagen werden, das „sero sueto“ als – wenn auch grammatikalisch nicht einwandfreien – Vergleich zur zuvor besungenen Mondbahn aufzufassen. Das als Maßstab fungierende „Gewohnte“ wäre dann die Zeitspanne, die der Mond benötigt, um einen seiner Umläufe zu vollenden, und die ja tatsächlich deutlich kürzer ist als die der entsprechenden Sonnenumläufe.247 Diese Interpretation wird durch die Fortsetzung des Gedichtes gestützt. Abbo vergleicht dort die Bahnen der beiden Gestirne direkt miteinander. Sie unterscheiden sich der Strecke nach nicht voneinander, sondern umfassen dasselbe „id“. Jedoch benötigt der Mond nicht einmal einen Monat für den Weg, den die Sonne in einem Jahr durchläuft.248 Diese Gegenüberstellung greift Abbo nochmals auf, wenn er betont, die Sonne sei stets spät, der Mond hingegen der schnellere, obwohl beide auf derselben Bahn bewegt würden.249 Damit treten auch in diesem Abschnitt die Regelmäßigkeit und Gleichförmigkeit hervor, durch die sich die Gestirnsbahnen auszeichnen und die bereits das zentrale Motiv der ersten Hälfte des Gedichtes waren. Auf diese Weise knüpft Abbo nahtlos an die dort besungene Ordnung an, die sich aufgrund der „natura coeva“ als eine göttlich strukturierte erwies. 6. Abbos Ankündigungen (v. 3 und 15f.). Rückblickend ist der Frage nachzugehen, inwiefern Abbo in der oben erwähnten Autorreflexion zurecht ankündigte, nachfolgend die dem Sonnenlauf zugrunde liegende Gesetzmäßigkeit besingen zu wollen.250 Zwar streift er sowohl die Umlaufbahn der Sonne, als auch ihre Dauer, doch nur, um beides ins Verhältnis zu den korrespondierenden Größen der Mondbahn zu setzen. Um Ausführungen exklusiv zur Sonne und ihren Besonderheiten handelt es sich folglich nicht. Ein vergleichbares Charakteristikum wurde schon im ersten Teil des carmen sichtbar. Gemäß Abbos Überlegungen 247 „Hactenus exegi lunaris tramitis oras /Fando solari quae sit sex cudo labori /Annua girati repetatur linea mundi /Quam sol decurrit et sero nanque sueto“, v. 15–18. – Zur Charakterisierung der gleichförmigen Himmelsbewegungen als „lex“ Ephemerida v. 16, vgl. wieder Philosophiae consolatio lib. 1, m. 5, 4 (CCL 94, S. 11): „legemque pati sidera cogis“, und wieder ebd. v. 23 (ebd. S. 12): „nihil antiqua lege solutum“. 248 „Girat pura foris non uno mense diana/Id quod germanus toto pervadit in anno“, v. 19f. 249 „Hic semper serus, haec est velotior etsi /Ambos aequali cursu ciet unius ordo“, v. 22 f. 250 „Fando solari quae sit lex cudo labori“, v. 16.
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zu Beginn des Gedichtes sollte dieser Komplex dem „terminus lunaris“ gewidmet sein,251 wie er in der Autorreflexion in der Liedmitte nochmals bekräftigte, als er zusammenfaßte, bis zu dieser Stelle die Mondbahn besungen zu haben.252 Auch diese erste Passage ist durch eine enge Verschränkung beider Themenbereiche, des Sonnen- und des Mondlaufes, geprägt und entspricht damit weder der Ankündigung, noch der abschließenden Kennzeichnung. Dieser inhaltliche Widerspruch zwischen dezidierter Reflexion und tatsächlich thematisierten Gegenständen überrascht und ist erklärungsbedürftig. Davon auszugehen ist, daß Abbo die für sein Gedicht gewählte Gattung des carmen cancellatum hinreichend souverän beherrschte, um sowohl die inhaltliche, als auch die formale Gestaltung seinen eigenen Absichten gemäß vorzunehmen. Unter dieser Prämisse aber ist der Widerspruch als rhetorisches Mittel zu begreifen, mit dessen Hilfe Abbo ein Phänomen hervorhob, das ihm offensichtlich wichtig war. Als Interpretation wird vorgeschlagen, daß die enge Bezogenheit der thematisierten Gegenstände aufeinander auf diese Weise akzentuiert werden soll. Mond- und Sonnenlauf sind so untrennbar miteinander verwoben, daß der eine nicht ohne den anderen darstellbar ist und umgekehrt. Der Wechsel von Tag und Nacht, der Ablauf von Monat und Jahr, die Phasen des Mondes und die Wanderung der Sonne durch die Zeichen des Tierkreises bilden ein Netz von Bezügen, das die Darstellung eines einzelnen Teils hieraus ohne gleichzeitige Berücksichtigung des Kontextes und letztlich des Ganzen nicht erlaubt.253 Den Hintergrund für ein solches Denken, in dem Einzeldinge ihre Bedeutung immer nur im Kontext des sie umgebenden Ganzen gewinnen, bildet die ihm zugrunde liegende Konzeption von Ordnung. Die Ordnung, die Mond und Sonne, ihre gleichförmigen Kreisbewegungen und Veränderungen, ihre Umlaufzeiten sowie Auf- und Untergänge sowie den „magnus gyrus“ insgesamt als „natura coeva“ regelhaft
„His ut lunaris noscatur terminus odis“, v. 3. „Hactenus exegi lunaris tramitis oras“, v. 15. 253 Bereits die Genesis konstatiert die enge Bezogenheit von Sonne und Mond aufeinander, vgl. Gn 1, 16: „[…] fecitque Deus duo magna luminaria luminare maius ut praeesset diei et luminare minus ut praeesset nocti […]“; in der Komputistik versteht sie sich seit Jahrhunderten von selbst, spielt sie doch im Rahmen der Osterfestdatierung die zentrale Rolle. Denn nur aufgrund des Bemühens, die beiden inkommensurablen Zyklen von Sonne und Mond in ein gemeinsames Berechnungssystem zu integrieren, stellen sich die Schwierigkeiten, mit denen sich die Komputisten bis mindestens in die Zeit des Beda Venerabilis abmühten. 251 252
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lenkt, ist nach Abbo der „ordo unius“.254 Zu fragen ist, wer jener „unus“, jene „una“ oder jenes „unum“ ist. Angesichts des zuvor Erörterten insbesondere im Zusammenhang mit der „natura coeva“ und im Lichte des bereits zitierten Abschlußgebets um Gotteserkenntnis liegt der Schluß nahe, den „ordo“ als Ausdruck des Wirkens der „natura coeva“ und somit auch des verbum dei (filius) zu begreifen. Seine Letztursache findet dieser „ordo“ schließlich in dem Einheitspunkt des Wirklichkeitsganzen, dem unum, christlich interpretiert also in Gott (pater). Die Gleichheit und Gleichförmigkeit der Bahnen von Sonne und Mond sind durch eine „lex“ geordnet,255 die auf das „unum“ zurückzuführen ist. Ein Studium der Gestirnsbahnen, des recursus siderum, vermag diese Zusammenhänge transparent zu machen. Darüber hinaus ist der ordo das Abbild der Einheit des unum unter Wirklichkeitsbedingungen.256 Wie also die coaevitas auf die coaeternitas verweist, so der ordo auf die unitas. Auch diese similitudo ist im Lauf der Himmelsleuchten enthalten. Somit aber steht auf inhaltlicher Ebene der Aspekt einer christlich fundierten, kosmologischphilosophisch geprägten Ordnung im Mittelpunkt der „Ephemerida“. 7. Planeten (v. 24–27). Gestört wird dieses Bild des geordneten, gleichförmigen Kreisens der Gestirne jedoch durch die folgenden Verse. Abbo wendet sich den fünf Planeten zu, deren Bewegungen er als „[…] ciet unius ordo“, v. 23. „[…] quae sit lex […]“, v. 16. 256 Mit diesen Motiven und Vorstellungen steht Abbo in einer langen Tradition. Exemplarisch ist wieder auf die „Consolatio philosophiae“ zu verweisen; im bereits zitierten fünften Metrum des ersten Buches beispielsweise spricht Boethius den Schöpfer des Alls direkt an. Er bezeichnet ihn als ewigen Schöpfer des „stelliferus orbis“, den er durch Gesetze in seine Kreisbahn zwinge. Woran sich dieses lenkende und regelhafte Walten festmachen lasse, wird daraufhin anhand von Einzelbeispielen besungen: Die Gesetze, denen die astronomischen Bewegungen unterliegen, würden sichtbar in den Mondphasen, im Wechsel von Morgen- und Abendstern, aber auch in den vom astronomischen Geschehen abhängigen Jahreszeiten und ihren Witterungscharakteristika, in den Gezeiten des Meeres und dergleichen mehr. Dieses breite Panorama an Ordnungszusammenhängen bündelt Boethius wieder, wenn er im nächsten Schritt resümiert, nichts sei frei von diesen alten Gesetzen oder verlasse je seinen angestammten Platz, vielmehr lenke der Schöpfer alles zu seinem sicheren Ziel, bis hierher Philosophiae consolatio lib. 1, m. 5, 1–25 (CCL 94, S. 11 f.); im Zentrum dieses Metrums steht der Gegensatz von völlig geordnetem Weltgeschehen und der vermeintlichen Regellosigkeit menschlichen Handelns; mit dieser Ausrichtung betont es affirmativ den göttlichen ordo innerhalb der Wirklichkeit. – Zum exemplarischen Charakter des Himmelsgeschehens bereits Platon, Politeia 529c–d, der die „Gebilde am Himmel“ für das „Beste und Vollkommenste“ hält, das zwar „weit hinter dem Wahrhaften“ zurückbleibe, sich aber „als Beispiel gebrauchen“ lasse, um zur Wahrheit zu gelangen. 254 255
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wirres, unstetes Hin- und Herlaufen, als „discurrere“ (v. 27) im Gegensatz zum solaren „decurrere“ (v. 18), charakterisiert. Diese Beschreibung steht in eklatantem Widerspruch zur bisher besungenen Gesetzmäßigkeit der Himmelsbewegungen, ist allerdings topisch.257 Auf den ersten Blick mag der Umstand, daß Abbo hier auf einen literarischen Topos zurückgreift, gar nicht überraschen. Berücksichtigt man aber die übrigen Bestandteile des „Computus“, ist dieser Rückgriff bemerkenswert. Zu denken ist in diesem Zusammenhang namentlich an den Mittelteil des Werkes, in dem Abbo umfängliche Exzerpte zur Theorie der Planetenbewegungen zusammengestellt und mit den korrespondierenden Skizzen versehen hat. Im Anschluß an Calcidius gibt er dort sowohl die Exzenter-, als auch die Epizykeltheorie wieder.258 In beiden Fällen handelt es sich um Theorien mit dem Anspruch, eine rationale Erklärung für die eben nur scheinbar wirren Bewegungen der Planeten zu bieten. Daß Abbo in der „Ephemerida“ dennoch den literarischen Topos heranzieht und dadurch einen inhaltlichen Widerspruch zum Gesamttenor des Gedichtes erzeugt, dürfte folglich von vergleichbarer systematischer Relevanz sein wie der oben diskutierte Widerspruch zwischen den Autorreflexionen und den tatsächlichen Ausführungen. Abbo hatte dort jeweils angekündigt, die Mond- beziehungsweise die Sonnenbahn zu besingen, dann aber jedesmal die eine in Relation zur anderen thematisiert. Erst auf einer höheren Reflexionsebene löste sich dieser vordergründige Widerspruch zwischen der jeweiligen Ankündigung und der tatsächlichen Ausführung auf.259 Ein ähnliches Konstrukt scheint Abbos Ausführungen zu den Planeten zugrunde zu liegen. Für den unbedarften Beobachter irren sie 257 Schon in der Antike gilt der Lauf der fünf Planeten als unregelmäßig und schwer zu durchschauen. Allerdings finden sich dort zugleich Ansätze, ihre Bewegungen zu erklären und doch auf eine Ordnung zurückzuführen. Ein Beispiel hierfür sind die verschiedenen Theorien zu den Planetenbewegungen. Einen allgemeinen Überblick über die antiken Vorgaben bietet van der Waerden, Die Astronomie der Griechen. – Vgl. in diesem Zusammenhang bes. das Postulat einer gleichförmigen Kreisbewegung, das die Pythagoreer aufgrund ihrer kosmologisch-philosophischen Vorannahmen formulierten. Zu den verschiedenen antiken Ansätzen, die Planetenbewegungen zu erklären, siehe bes. Lloyd, „Saving the Appearances“, unter sorgfältiger Berücksichtigung der relevanten antiken Quellen (soweit verfügbar). 258 Siehe hierzu 2.3.1. Diagramme. 259 Im Lichte der zugrunde liegenden Ordnungskonzeption zeigte sich, daß die Gegenstände und Größen der Wirklichkeit in einem zusammenhängenden Strukturgefüge stehen. Ein Einzelaspekt dieses Gefüges läßt sich somit nur im Rahmen seines Kontextes erklären. Im konkreten Fall heißt dies, daß beispielsweise die Mondbahn ihre spezifische Bedeutung nur relativ zur Bewegung der Sonne besitzt.
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regellos umher. Ein Astronomieexperte um das Jahr 1000 hingegen wüßte, daß sich selbst diese Bewegungen rational erklären ließen. Wenn Abbo auf dieses Wissen im Rahmen des Gedichtes nicht zurückgreift, ist zu vermuten, daß er nicht nur den literarischen Topos selbst verwendet, sondern auch eine seiner traditionellen Lesarten mit abruft.260 Gerade der Umstand, daß die Planetenbewegungen das rationale Verständnisvermögen des Menschen übersteigen, dient häufig als Beleg für das Herrschen einer perfekten göttlichen Ordnung. Gott und das göttliche Wirken sind aufgrund der Inkommensurabilität Gottes für die menschliche Vernunft nie restlos erkenn- und durchschaubar. Irrationalitäten im Zusammenhang mit Ereignissen oder Abläufen in der Wirklichkeit äußern sich für den Menschen nur wegen dessen noetischer Defizienz als solche. In Wahrheit handelt es sich um Transrationalitäten, die das menschliche Erkenntnisvermögen schlicht übersteigen und damit Spuren von Gottes übermenschlichem, aber dennoch ordnungsstiftendem Tun sind.261 Trifft diese Gedankenfigur auch für die fragli260 Vgl. hierzu die Überlegungen Lloyds zur antiken Diskussion der (scheinbar) irregulären Planetenbewegungen, die dieser im Lichte der ‚Instrumentalismus-/RealismusKontroverse‘ anstellt, also vor dem Hintergrund der Frage nach dem Status der von den diversen Autoren astronomischer Texte vorgetragenen Hypothesen beziehungsweise der „more general question of the nature of astronomy and its relation to physics“, Ders., „Saving the Appearances“ S. 274. Er skizziert zwei fundamental verschiedene Herangehensweisen an die Erklärung von Erscheinungen wie der Retrogradation der Planeten. Die eine nennt er das „Platonic programme in so far as the end aimed at is an account in terms of the Forms, to which the particulars are no more than approximations expected to be only poor imitations of the true realities“. Dem anderen Ansatz zufolge „the anomalies originally perceived in the appearances are themselves merely apparent, and once the theory is secure are no longer considered as such“, ebd. S. 252. Demnach ließen sich Abbos Äußerungen zu den Planetenbewegungen in der „Ephemerida“ – gegenüber jenen der Calcidius-Exzerpte – als Ausdruck eines grundsätzlich anderen „Programms“, nämlich des „Platonischen“ interpretieren: Erscheinungen sind dementsprechend charakterisiert durch ihre Mangelhaftigkeit und als solche zu vernachlässigen beim eigentlichen wissenschaftlichen Bemühen „to arrive at the true underlying intelligible realities“, ebd. S. 252. 261 Bereits Augustinus weist darauf hin, daß der Eindruck herrschender Willkür in der Welt auf die Beschränktheit des um Erkenntnis bemühten Geistes zurückzuführen sei und nicht auf das Fehlen an Ordnung, vgl. sein bekanntes Mosaikbeispiel in De ordine i, i, 2, 39–45 (CCL 29, S. 90): „Sed hoc pacto, si quis tam minutum cerneret, ut in uermiculato pauimento nihil ultra unius tessellae modulum acies eius ualeret ambire, uituperaret artificem uelut ordinationis et compositionis ignarum eo, quod uarietatem lapillorum perturbatam putaret, a quo illa emblemata in unius pulchritudinis faciem congruentia simul cerni conlustrarique non possent“. – Obwohl Boethius in seiner „Consolatio philosophiae“ den geregelten Ablauf des Weltgeschehens durchgängig betont, läßt auch er keinen Zweifel daran aufkommen, daß der Kosmos von gegensätzlichen Kräften zusammengesetzt ist und nur aufgrund der Lenkung Gottes in
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che Sequenz der „Ephemerida“ zu, ist zu schlußfolgern, daß Abbo mit diesem literarischen Mittel ein weiteres Mal den transrationalen göttlichen Ursprung der alles durchdringenden Ordnung hervorheben will, die durch das Umherirren der Planeten nicht gestört, sondern letztlich bestätigt wird. 8. Abschlußreflexion und Gebet (v. 28–30). Den letzten Abschnitt des Gedichtes bildet wieder ein reflektiver Teil, in dem Abbo verkündet, die Seite sei nun zuende, und er wolle zuletzt noch Bittgesänge anstimmen. Die abschließenden beiden Verse sind wie schon erwähnt tatsächlich ein Gebet, in dem Abbo expressis verbis um Gotteserkenntnis bittet.262 Diese Bitte ist im Lichte der zuvor analysierten Teile des „Computus“ nicht nur als Interpretament für das Gedicht zu begreifen, sondern allgemein für das komputistisch-astronomische Tun Abbos. Auf der Grundlage der „Ephemerida“ wird deutlich, daß Abbo als das zentrale Medium für die angestrebte Erkenntnis den das Ganze der natürlichen Phänomene durchdringenden ordo identifiziert hat. Mit Hilfe
der beobachtbaren Ordnung gehalten werde, vgl. Boethius, Philosophiae consolatio lib. 2, m. 8, 17–21 (CCL 94, S. 36): „quicquid nunc amat inuicem /bellum continuo geret/et quam nunc socia fide /pulcheris motibus incitant/certent soluere machinam“; lib. 3, pr. 12, 5 (ebd. S. 60): „Mundus hic ex tam diuersis contrariisque partibus in unam formam minime conuenisset nisi unus esset qui tam diuersa coniungeret […]“, u. ö. – Zur harmonischen Ordnung trotz einander widerstreitender Grundelemente am Beispiel des Jahreszeitendiagramms Isidors, allerdings unter ausgiebiger Berücksichtigung der antiken kosmologischen Vorgaben Obrist, „Le diagramme isidorien“ S. 114–126, z. B. S. 120: „[…] ils [sc. les schémas des éléments et des saisons, NG] sont construits sur la base d’opposés qui pourtant finissent par former une unité“. 262 An diesem Punkt tritt die Nähe zur „Consolatio philosophiae“ wieder deutlich hervor, wie sich mit Blick auf das Abschlußgebet des neunten Metrums des dritten Buches zeigt. Erstens fällt die formale Übereinstimmung zwischen diesem Metrum und der „Ephemerida“ auf, insofern beide mit einem Gebet enden. Zweitens wenden sich sowohl Boethius, als auch Abbo direkt an den „Vater“ beziehungsweise an „Gott“ und bringen jeweils die Bitte um Erkenntnis dieses Vaters respektive Gottes vor, Philosophiae consolatio lib. 3, m. 9, 22–28 (CCL 94, S. 52): „Da, pater, augustam menti conscendere sedem, /[…] /[…] te cernere finis, /principium, uector, dux, semita, terminus idem“; vgl. hierzu Ephemerida v. 29: „Alme deus, te nosse mihi concede fideli“. Zwar konnotiert Abbo seine „Ephemerida“ dezidierter christlich, beispielsweise indem er sich selbst im Gebet als „fidelis“ bezeichnet oder die „natura“ als „coeva“ charakterisiert und damit in den Horizont eines christologischen Diskurses rückt. In motivischer und konzeptioneller Hinsicht jedoch knüpft er an das für Boethius zentrale Analogieverhältnis von ordo und unum an. – Auf die Nähe zwischen Abbos philosophischem ‚Programm‘ und der Konzeption von lib. 3, m. 9 der „Consolatio philosophiae“ weist bereits Engelen, Zeit, Zahl und Bild S. 41–53, hin. – Zu „O qui perpetua“ siehe Scheible, Die Gedichte in der Consolatio S. 101–112.
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kosmologisch-philosophischer Motive und Denkfiguren versucht er, diesen in Zeit und Raum wirksamen ordo transparent zu machen und auf sein Urbild, das unum, zu beziehen. Die der „Ephemerida“ zugrunde liegende Überzeugung, daß sämtliche astronomische Abläufe in zeitlicher und räumlicher Hinsicht rational strukturiert sind und daß die regelnde Ordnung eine göttliche ist, die durch das Wirken des verbum realisiert wird, deckt sich mit den Ergebnissen aus der Untersuchung der übrigen Teile des „Computus“. Auch dort steht leitmotivisch der ordo im Zentrum, wenngleich die Mittel, ihn zu ergründen, gattungsbedingt andere sind.263 Den übrigen Abschnitten des „Computus“ gegenüber zeichnet sich die „Ephemerida“ in diesem besonderen Falle allerdings durch die Ausdrücklichkeit ihrer Aussagen aus, die sie der für komputistisch-astronomische Sammlungen ungewöhnlichen Gedichtform verdankt. Diese Überlegungen leiten über zur übergreifenden Interpretation der „Ephemerida“. Eines der auffälligsten Charakteristika der „Ephemerida“ ist ihre bemerkenswerte Zweischichtigkeit. Wie referiert, setzt sie sich aus einem Gedicht auf der sprachlichen und einer komputistisch-astronomischen Tabelle auf der Intextebene zusammen. Bei einem eingehenderen Studium von Gedichtinhalt und Tabelle zeigt sich, daß beide Ebenen in einer Weise aufeinander bezogen sind, die über ihre üblichen strukturellen Verflechtungen im Rahmen der gewählten Gattung hinausreicht. So läßt sich neben der gattungsgemäßen formalen Verschränkung von sprachlicher und Intextebene deren weitgehende inhaltliche Parallelführung beobachten. In dem zu Beginn dieses Kapitels gebotenen kurzen Überblick über die Zusammensetzung der „Ephemerida“ wurde darauf hingewiesen, daß der erste Teil der Tabelle in technischfunktionaler Hinsicht der Bestimmung des Mondalters dient. Da die Mondalterbestimmung in erster Linie zum Auffinden des terminus lunaris, der Ostergrenze, benötigt wird, ist dieser erste Tabellenausschnitt somit einer Größe gewidmet, die – wie der Gedichtinhalt der Verse 4
263 Auch die Gegenstandsbereiche, die jeweils im Zentrum stehen, unterscheiden sich in signifikanter Weise. Während Abbo mit seinen komputistischen Tabellen sowie den rotae computisticae in erster Linie die Zeit ins Auge faßt, rücken mit den kosmologischen Diagrammen, wie den oben besprochenen Isidor-Schemata, die physikalischen Grundlagen der sublunaren Welt, die Grundeigenschaften sowie die Elemente in den Vordergrund. Zu dem zuletzt genannten Aspekt bes. Obrist, „Le diagramme isidorien“; Dies., „Abbon de Fleury“.
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bis 14 – dem Thema entspricht, das Abbo laut seiner Ankündigung in Vers 3 besingen wollte. Wie er auf inhaltlicher Ebene den Mondlauf und die entsprechenden Phasenabfolge schildert, so stellt er auch in der Tabelle die Sukzession der Mondalter dar. Eine vergleichbare Beobachtung betrifft die zweite Autorreflexion in Vers 16, in deren Rahmen Abbo verkündete, sich nachfolgend der Bahn der Sonne zuzuwenden. Während er im Fortgang des Gedichtes auch tatsächlich den Sonnenlauf besingt, scheint der zweite Tabellenteil diesen Themenkomplex auf den ersten Blick nicht zu berühren. Hierbei handelt es sich um das Grundgerüst zur siderischen Mondtafel, um ein Instrument also, mit dessen Hilfe sich die Position des Mondes vor dem Zodiak bestimmen läßt. Doch schon in ihrer üblichen Form zeichnet sich diese Tabelle dadurch aus, daß sie die Abfolge der Tierkreiszeichen mit den Monaten des Sonnenjahres korreliert und damit in Bezug zur Sonnenbahn setzt. In der „Ephemerida“ besteht die Tabelle nur noch aus dem Gerüst von Tierkreiszeichen und Sonnenmonaten und bildet in ausdrücklicher Form folglich nur den Sonnenlauf vor seinem üblichen Maßstab, dem Zodiak, ab.264 Die gängige Funktion der siderischen Tabelle erbringt Abbos Gerüst lediglich mittelbar, unter Berücksichtigung der vorderen Tabellenhälfte und auf der Grundlage umständlicher Umrechnungen.265 Anders als zunächst zu erwarten gewesen wäre, ist demnach der zentrale Gegenstand dieses abbonischen Gerüstes der Sonnenlauf. Allerdings läßt sich mit Blick auf beide Tabellenteile eine weitere Paralle zu den oben diskutierten Beobachtungen bezüglich des Gedichtinhaltes ausmachen. Wie sich zeigte, besingt Abbo weder den Mondlauf, noch den Weg der Sonne isoliert für sich, obwohl er im einen Fall nur den „terminus lunaris“, im anderen lediglich den „labor solaris“ thematisch ankündigte. Ein vergleichbares Charakteristikum kennzeichnet die Tabellenteile. Wie die Phasenabfolge im Gedicht dezidiert in Relation zur Sonne und wie die Bewegung des Mondes auf 264 Der Tierkreis wird zur Beschreibung der Bahnen von Sonne, Mond sowie den Planeten selbst heute noch als Maßstab oder Hintergrund herangezogen, relativ zu dem die fraglichen Bewegungen beschrieben werden. Im Mittelalter wird das Sonnenjahr entsprechend als ein tropisches (korrekt wäre: siderisches) Sonnenjahr aufgefaßt, so daß ein Jahr den einmaligen Durchlauf der Sonne durch alle Tierkreiszeichen bedeutet. Nichts anderes aber wird im Gerüst zur siderischen Mondtabelle dargestellt. 265 Siehe hierzu Abbos detaillierten Erläuterungen der zweiten Variante des Erläuterungstextes zur „Ephemerida“, „Quoniam brevitatem“, in Lapidge /Baker, „More Acrostic Verse“ S. 19.
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seiner Bahn in Beziehung zu derjenigen der Sonne gesetzt wurden, so sind auch die Mondalter der Tabelle – wie für diese Hilfsmittel üblich – auf die Daten des Sonnenkalenders bezogen und stehen in Abhängigkeit von den jährlichen Verschiebungen des Mondjahres relativ zu seinem Maßstab: dem Sonnenjahr.266 Ähnliches trifft auf den siderischen Tabellenteil zu. Zwar bildet Abbo nur den Sonnenlauf vor seinem Hintergrund, dem Tierkreis, ab, doch dient die Tafel ursprünglich dazu, insbesondere den Mondlauf relativ zu den beiden anderen Größen wiederzugeben. Daß Abbo annahm, daß sich der siderische Mondlauf auch mittels seines reduzierten Tabellengerüstes ermitteln ließ, geht aus seinen Erklärungen zur „Ephemerida“ hervor, die unter anderem Angaben zu dem umständlichen Verfahren der Positionsbestimmung des Mondes enthalten.267 Die enge Verwobenheit von Sonnen- und Mondlauf sowie insgesamt der astronomischen Vorgänge wird somit nicht nur auf inhaltlicher Ebene akzentuiert, sondern durchdringt ganz analog die komputistisch-astronomische Tabelle. Damit aber ist mit Blick auf die Autorreflexionen zu schließen, daß sich Abbos jeweilige Ankündigungen sowohl auf die Ebene des Gedichtinhaltes, als auch auf die Tabelle beziehen. Hinsichtlich des zentralen Anliegens Abbos, den einheitsstiftenden ordo des Ganzen der natürlichen Phänomene transparent zu machen, besitzt die Mehrschichtigkeit der „Ephemerida“ hohe methodische Bedeutung. Denn sie erweist sich als ein Mittel, das in besonderer Weise geeignet ist, das Aufgehen der scheinbar disparaten Dinge in immer umfassenderen Ordnungszusammenhängen zu verdeutlichen. Jede der beiden Ebenen der „Ephemerida“ stellt zunächst für sich genommen eine eigenständige Einheit dar und setzt sich jeweils aus kleineren Untereinheiten zusammen. Auf der inhaltlichen Ebene liessen sich beispielsweise die verschiedenen Themenbereiche und Sinneinheiten ausmachen, bezüglich der tabellarischen Ebene wäre auf die beiden zugrunde liegenden, ursprünglich voneinander unabhängigen Einzeltabellen zu verweisen. Doch auch die beiden Hauptebenen von Inhalt und Tabelle geben sich unter einer übergreifenderen Perspektive als Konstituenten eines gemeinsamen Ordnungsgefüges zu
266 Vgl. hierzu die sechste Spalte, die zur Verknüpfung der Mondaltertabelle mit dem Sonnenkalender dient. 267 Als Andeutung bereits in „Quadratus hic equilaterus“, Lapidge /Baker, „More Acrostic Verse“ S. 16, ausführlicher in „Quoniam brevitatem“, ebd. S. 19. – Vgl. jeweils die knappen Erläuterungen in Lapidge /Baker, „More Acrostic Verse“ S. 1–6.
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erkennen. In der geometrischen Grundform eines Quadrates fügen sie sich zur übergeordneten Gesamteinheit des carmen cancellatum zusammen.268 Mit diesen Charakteristika weist die „Ephemerida“ eine vergleichbare ‚topologische Struktur‘ auf wie allgemein die komputistisch-astronomischen Diagramme und besonders Abbos diagrammatisch modifizierte Tabellen.269 Den hermeneutischen Schlüssel für ihr Verständnis und zugleich ihre christliche Vereindeutigung bietet im Falle der „Ephemerida“ allerdings nicht ihre Einbettung in einen weiteren, beispielsweise zum Kreuz ausgefalteten Rahmen wie bei der Vokaltabelle. Mittels der für komputistisch-astronomische figurae ungewöhnlichen sprachlich-inhaltlichen Ebene des Gittergedichtes vermag ihn Abbo expressis verbis zu formulieren. Den umfassendsten Ordnungszusammenhang der Wirklichkeit konstituiert ihm zufolge die „natura coeva“. Somit ist sie dasjenige Abbild Gottes als des unum, das diesem unter Wirklichkeitsbedingungen am nächsten kommt.270 Gotteserkenntnis aber ist das erklärte Ziel Abbos bei seinen Bemühungen.271 Dieser Aspekt leitet über zu einer übergreifenden Würdigung des „Computus“ sowie der komputistisch-astronomischen Sammlungen des 9. bis 11. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der konzeptionellen Vorgaben für das Bildungs- und Wissenschaftsverständnis im Bereich der artes liberales, die Alkuins „Disputatio de vera philosophia“ bereitgestellt hatte. 2.4. Unum – verbum – natura – ordo Anhand der komputistisch-astronomischen Sammlungen des 9. bis 11. Jahrhunderts, namentlich am Beispiel des „Computus“ Abbos von Fleury sollte in diesem zweiten Hauptteil in vertiefter Weise den Fragen nachgegangen werden, was Komputistik ist und wozu sie betrie268 Vgl. zu dieser Thematik insgesamt den Aufsatz von Evans, „The Geometry of the Mind“. 269 Zur ‚topologischen Struktur‘ von Diagrammen siehe den bereits oben angeführten Artikel von Bogen /Thürlemann, „Jenseits der Opposition von Text und Bild“ S. 4– 8. 270 Vgl. hierzu das abbildhafte Verhältnis von coaevitas und coaeternitas nach Augustinus, Ders., Sermo cxvii (PL 38, Sp. 666f.): „[…] sufficit ut ad similitudinem inveniamus coaevum. […] hic invenimus coaeva, ibi intelligamus coaeterna“. 271 Dasselbe Anliegen läßt sich mit der gleichen Ausdrücklichkeit ja bereits für die „Consolatio philosophiae“ ausmachen, vgl. bes. das oben zitierte neunte Metrum des dritten Buches (v. 27): „[…] te cernere finis“.
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ben wird. Vor dem Hintergrund des ersten Hauptteils stellten sich diese Fragen allerdings in einem breiteren Rahmen. Sie waren nun umfassender als die Frage nach Aufgabe und Funktion einer Beschäftigung mit quadrivialen Gegenständen in der besagten Zeitspanne zu formulieren. Im Zusammenhang hiermit wurde nach dem Wissenschaftsanliegen der Gelehrten gesucht, das sich hinter ihrer Auseinandersetzung mit dem Quadrivium verbirgt, und nach der wissenschaftlichen Rationalität, die in diesem Bereich ihren Ausdruck findet. Nachdem in einem ersten Schritt die allgemeinen Kennzeichen komputistisch-astronomischer Sammlungen herausgearbeitet wurden, standen im Mittelpunkt der „Untersuchung ausgewählter Komponenten“ die Charakteristika der ausdeutenden Modifikationen komputistisch-astronomischer Elemente und das Anliegen, das sich in ihnen artikuliert. Die Ergebnisse dieses zweiten Schrittes werden im folgenden zusammengefaßt und vor dem quadrivialen Hintergrund erörtert. Wie im Bereich der traktatartigen Literatur läßt sich auch für die komputistisch-astronomischen Sammlungen ein Nebeneinander verschiedener Wissenskomplexe und ihrer jeweiligen Bearbeitung ausmachen. Während auf der einen Seite neues Wissen über natürliche Phänomene hinzutritt, werden ältere Komponenten, die schon länger integraler Bestandteil der Tradition sind, nicht nur weitertransportiert, sondern oft in bestimmter Weise modifiziert. Hiervon sind bemerkenswerterweise vor allem komputistische Elemente betroffen, und zwar namentlich Hilfstabellen und Kalendarien.272 Es handelt sich in aller Regel um solche Umgestaltungen von Grundformen oder Strukturen, die den fraglichen Objekten einen optisch eindrucksvollen emblematischen Zug verleihen. Aus diesen Befunden wurde der Schluß gezogen, daß die Modifikationen einen interpretativen übertragenen Gehalt besitzen und es somit anachronistisch sei, sie am technisch-mathematischen Exaktheitsideal moderner Wissenschaftlichkeit zu messen.273 272 Das besondere Kennzeichen dieser Modifikationen ist der Umstand, daß diese nicht – wie aus einer modernen Perspektive zu erwarten wäre – auf eine Verbesserung der technisch-funktionalen Ebene der betroffenen Elemente zielen. Vielmehr erschweren sie häufig deren Handhabbarkeit in erheblichem Maße. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang exemplarisch an die rotae computisticae mit den zum Teil kaum lesbaren, winzigen Einträgen in Zentrumsnähe und dem Erfordernis, den Codex bei ihrer Benutzung zu drehen. 273 Vgl. im Unterschied hierzu noch den Ansatz in Englisch, Die Artes liberales im frühen Mittelalter.
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Bei der Analyse repräsentativer Bestandteile komputistisch-astronomischer Sammlungen ließen sich verschiedene Formen der Modifikation des Grundbestandes ausmachen. Erstens tritt häufig eine Veränderung des Grundrisses der Komponenten hervor, vorwiegend bei der Umgestaltung von Hilfstabellen.274 Zweitens wird gelegentlich die Konstruktion des Tabellenaufbaus in einer Weise verändert, die zu einer optisch auffälligen Anordnung des Tabelleninhaltes, also der Buchstabensymbole führt.275 Drittens läßt sich eine Tendenz zur Mehrschichtigkeit beobachten.276 Nicht nur die „Ephemerida“ als ein tabellarischer Sonderfall ist von einer Mehrschichtigkeit gekennzeichnet. Auch andere Elemente weisen sie auf, wie die gelegentlich erwähnten laterculi.277 Aufgrund ihrer optischen Wirksamkeit wurden die beobachtbaren Modifikationen in der Forschung bereits als Mittel der visuellen Exegese bezeichnet.278 Mit ihrer Hilfe werden die Inhalte der ursprünglichen Tabellen oder Diagramme einer Auslegung unterzogen, die in hohem Maße auf geometrische Formen und Kompositionen zurückgreift, wie sie aus der spätantiken und frühmittelalterlichen bildenden Kunst bekannt sind. Dabei besitzen sowohl die verwendeten Grundformen selbst – wie der Kreis oder das Quadrat –, als auch die Anordnung der einzelnen Komponenten relativ zueinander – wie im oben besprochenen Beispiel des Gezeitendiagramms279 – eine übertragene Bedeutung. Im Wechselspiel dieser beiden Komponenten, des symbolischen ‚Grundgehaltes‘ von Form und Anordnung sowie der konkreten Inhalte 274 So werden Rechteckstabellen in die Quadratform überführt oder als Kreisdiagramme reformuliert. Bei Abbo wurde darüber hinaus die Vorliebe sichtbar, rechteckige oder quadratische Tabellen in eine Kreuzgestalt zu implantieren. Die letztgenannte Neigung scheint ein besonderes Kennzeichen für ihn zu sein. 275 Diese Form der Modifikation wurde am Beispiel der A–K-Tafel und des Vokalschemas mit ihren bemerkenswerten Buchstabendiagonalen besprochen. 276 Herausgearbeitet wurde dieser Befund anhand der „Ephemerida“ Abbos, die sich als carmen cancellatum gattungsgemäß aus einer sprachlichen Ebene des Gedichtinhaltes und einer Intextebene zusammensetzt, im Falle der „Ephemerida“: einer komputistisch-astronomischen Tabelle. Im Vergleich mit den Anthologien zeichnet sich Abbos carmen freilich nicht durch die für Gittergedichte untypische Tabelle, sondern – gerade umgekehrt – durch die für Tabellen untypische sprachliche Ebene, das Gedicht, aus. 277 Zu den laterculi Abbos sei nochmals verwiesen auf Verbist, In duel met het verleden S. 228f. und S. 247 f. (mit einer Abbildung auf S. 245). 278 Vgl. die grundlegende Studie von Esmeijer, Divina Quaternitas; am Beispiel komputistisch-astronomischer Quellen Kühnel, The End of Time, bes. S. 116–159. 279 Vgl. hierzu Kühnel, The End of Time S. 37–52 (zur „Maiestas domini“ in Quincunx-Darstellungsweise), S. 69–72 (zum Gezeitendiagramm); S. 77 (zum Übergang in den quadrivialen Kontext).
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und ihrer eigenen Bedeutung, sind demnach die einzelnen Figuren zu lesen und zu interpretieren. Die beobachtbaren Modifikationen zielen in erster Linie darauf, den ordo abzubilden, der die natürlichen Phänomene durchdringt.280 Folgt man Abbos „Ephemerida“, so ist dieser ordo das Resultat der Tätigkeit der natura. Diese wird aber außerdem als „coeva“ charakterisiert und gibt sich damit – aufgrund des Bild-Abbild-Verhältnisses von coaeternitas und coaevitas – als die similitudo des Schöpfungswortes zu erkennen. Damit jedoch verweist sie in letzter Konsequenz auf den Schöpfer selbst als die causa efficiens sowohl des Wortes, als auch – durch es – der Schöpfung. Der ordo ist somit als die Manifestation des Wirkens des Schöpfungswortes unter Wirklichkeitsbedingungen zu begreifen.281 Dieser Befund ist in zwei Richtungen bemerkenswert. Erstens ist das Bemühen darum, den ordo transparent zu machen, als das Streben nach Gotteserkenntnis zu interpretieren. Abbo benennt dieses Anliegen in der „Ephemerida“ ausdrücklich, aber auch die verschiedenen angesprochenen Kreuzesallusionen sprechen hierfür wie auch für die christliche Vereindeutigung des unum.282 Demnach ist die Erkenntnis der bewirkenden Letztursache oder Gottes als das zentrale und eigentliche Wissenschaftsinteresse der Gelehrten zu benennen, während als allgemeiner Erkenntnisgegenstand zur Annäherung an dieses Ziel der ordo firmiert. Zweitens besitzt die Auseinandersetzung mit dem ordo einen besonderen Charakter, spiegelt dieser doch das verbum – als forma omnium formatorum oder causa formalis – im Naturganzen wider. Um diesen ordo aufzudecken, sind folglich gemäß dem Konzept der septem artes 280 Siehe hierzu das Beispiel der Konkurrententafel, die in die rota computistica umgewandelt wird. Exemplarisch ist in diesem Zusammenhang auch auf die besprochenen auffälligen Diagonalen hinzuweisen, zu denen sich die Buchstabensymbole mancher Tabellen fügen. Vgl. hierzu die Ausführungen zu A–K und zum Vokalschema, mit Bezug auf Abbo Engelen, Zeit, Zahl und Bild, bes. S. 126f. 281 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an die oben besprochene similitudo zwischen coaevitas und coaeternitas, die Augustinus, Sermo cxvii (PL 38, Sp. 666–668), anführt: „[…] sufficit ut ad similitudinem inveniamus coaevum. […] hic invenimus coaeva, ibi intelligamus coaeterna“. Die coaevitas aber ist eine Größe des ordo temporum, der damit mittelbar auf die coaeternitas, also auf Gott verweist. 282 Schon die spätantiken Erkenntniskonzeptionen zielen in der Tradition Platons auf Gotteserkenntnis. Ihnen zufolge steht die Erkenntnis des unum im Mittelpunkt. Dieses unum ist nicht zwingend als der Gott des Christentums zu begreifen, wird aber in Anlehnung an den Sprachgebrauch Platons selbst von nichtchristlichen Neuplatonikern oft als Gott bezeichnet. Eine christliche Vereindeutigung nimmt – wie oben referiert – dann Alkuin vor.
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liberales die verschiedenen natürlichen Dinge auf ihre rationes hin zu untersuchen. Die Konsequenz hieraus ist, daß die Naturdinge selbst und namentlich ihre immanente Struktur in den Blick gefaßt werden. Wie in der Forschung zur Diagrammatik gelegentlich schon herausgearbeitet283 und in Anlehnung an diese Ergebnisse in der vorliegenden Arbeit aufgegriffen wurde, steht im Zentrum kosmologischer Diagramme wie des oben erörterten Mikro-Makrokosmos-Schemas die Harmonie gegensätzlicher Kräfte, die sich bis auf die ‚Grundbausteine‘ des spätantikmittelalterlichen Kosmos zurückführen lassen: auf die Grundeigenschaften und damit letztlich bis auf das Zusammenwirken der vier Elemente. Diese Konstituenten, ihr Zusammenspiel sowie ihre Wirkungen – auf die Jahreszeiten, den Menschen und den gesamten mundus – werden mit diagrammatischen Mitteln aufgedeckt und im Verhältnis zueinander dargestellt.284 Ähnlich verhält es sich mit den untersuchten Tabellen und Kalendarien bei Abbo. Die bestimmenden Größen, die zugleich das Funktionsprinzip der Tabelle vorgeben, sind die als ‚natürlich‘ begriffenen astronomischen Zyklen.285 Relativ zu diesen ‚Konstanten‘ werden die veränderlichen Größen – wie das Mondalter oder die Position des Mondes vor dem Tierkreis – wiedergegeben, damit aber in ihrer Regelmäßigkeit kenntlich gemacht: Sie ändern sich eben nicht beliebig, sondern folgen treu der durch den jeweiligen Zyklus vorgegebenen ratio. Selbst rearrangierte Tabellen wie A–K oder das Vokalschema beruhen nach wie vor auf dieser fundamentalen ratio; ihr ‚Mehrwert‘ besteht darin, die Regelmäßigkeit und Rekursivität zeitlich geprägter Prozesse – wie der Phasenabfolge des Mondes – auch optisch hervortreten zu lassen.286 283 Hierbei ist in erster Linie an die Studien von Obrist zu denken, Dies., „Le diagramme isidorien“; Dies., „Wind Diagrams“; mit besonderem Augenmerk auf den antiken Voraussetzungen Dies., La cosmologie médiévale. 284 Siehe hierzu den Paragraphen 2.3.1. Diagramme. 285 Erinnert sei an die entsprechende ausdrückliche Charakterisierung durch Abbo selbst, Epistola prima, Berlin Phill. 1833, fol. 56v: „[…] circulos quos natura formavit […]“, der sich damit an Beda, De temporum ratione cap. ii (CCL 123B, S. 274f., zur dreifachen ratio temporum) anlehnte. 286 Vgl. hierzu 2.3.2. Tabellen und Kalendarien. – Angesichts der erzielten Ergebnisse ist der Einschätzung, die Wallis, „Images of Order“ S. 48 u. ö., äußert, somit nicht zuzustimmen, derzufolge die Komputistik in artifizieller Weise „imposes order upon time“, eine Ordnung, die sie zudem als „man-made“ charakterisiert. – Zu Abbos starkem Interesse an der Zeit-Thematik sei an deren besondere Rolle erstens im Kontext des Schöpfungsgeschehens und zweitens im Zusammenhang mit dem Osterereignis erinnert.
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Abschließend läßt sich zusammenfassen, daß die quadrivialen Künste – soweit sie Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind – der Vorgabe Alkuins entsprechend theologisch fundiert bleiben. In ihrem Rahmen betreiben die Gelehrten ‚Exegese‘, allerdings eine Exegese, die das Ordnungsgefüge der Wirklichkeit mit kosmologisch-philosophischen Mitteln erforscht. Analog dem von Alkuin herausgestellten Vorbild, Platon, bemühen sich die Gelehrten des Quadriviums in der Auseinandersetzung mit der ratio rerum um ein möglichst vollständiges Erlangen der sapientia saecularis, deren Gipfel die Erkenntnis bildet, daß Gott ist und daß er einer ist.287 Obschon die vorwiegend visuelle ‚Exegese‘ im Rahmen der komputistisch-astronomischen Sammlungen in theologischer Hinsicht vereindeutigt ist und folglich den ordo als Äußerung des Wirkens des verbum dei sowie das unum als den christlich konnotierten Gott ausdeutet,288 bleibt sie in struktureller Hinsicht dem spätantiken philosophischen Konzept treu. Die kosmologischen Vorstellungen bezüglich der Konstitution sowie der Wirkzusammenhänge des Naturganzen bestimmen die Gegenstände und die Methoden, mittels derer im quadrivialen Kontext Wissenschaft betrieben wird. Dabei wird die von Alkuin geforderte Unterscheidung zwischen dem säkularen Bereich der artes und dem einer Auseinandersetzung mit der göttlichen Weisheit tatsächlich vorgenommen: Eine weitergehende Exegese der realen Dinge – in Analogie zur Schriftauslegung – findet mit Blick auf die untersuchten quadrivialen Zeugnisse nicht statt. Gelehrte wie Abbo konzentrieren sich bei ihrer kunstfertigen Suche nach Gotteserkenntnis darauf, die Natur in ihrer Geschaffenheit auf die ihr zugrunde liegenden Strukturen hin zu ergründen.
287 Vgl. hierzu die schon bei Augustinus formulierte Überzeugung, daß selbst der Heide Platon bis zu diesem Punkt aus eigener Kraft zu gelangen vermochte. 288 Zu erinnern ist beispielsweise an die natura coeva, die Abbo in seiner „Ephemerida“ als Prinzip der Ordnung ausmacht.
kapitel 3 DISCURSUS SIDERUM SEMPER AEQUALIS* Himmelsbewegung und Gleichförmigkeit
3.1. Einleitung Gleichförmigkeit als Maß im Quadrivium am Beispiel Hermanns von Reichenau Völlig unvermittelt wirft Hermannus Contractus mitten in seiner komputistischen Hauptschrift, der „Abbreviatio compoti“, die Frage auf, weshalb die tatsächliche, beobachtbare Mondphase so häufig von der rechnerisch ermittelten abweiche. Denn daß die tatsächliche Mondphase der Berechnung und den Regeln der Vorfahren oftmals nicht entspreche, sondern der Mond meistens einen, manchmal zwei Tage vor dem komputistisch errechneten Termin deutlich sichtbar am Himmel erscheine, sei sogar für einfache Landleute, „omnibus vel rusticis“, unübersehbar. Dabei handele es sich um eine Beobachtung, die Beda Venerabilis selbst ja bereits eingestanden habe und die der Augenschein bestätige.1 Als Ursache für diese Differenz macht Hermannus das Abweichen der komputistischen Praxis von den tatsächlichen, natürlichen Gegebenheit aus. Die der Zeitrechnung bisher zugrundegelegte Recheneinheit des synodischen Mondmonats folge nämlich nicht exakt der natürlichen ratio des Mondlaufes, was unter anderem an ihrer * Zitat in Anlehnung an Hermannus Contractus, Abbreviatio compoti cuiusdam idiotae cap. xxviii (zitiert nach Ms. London BL, Arundel 356, fol. 33r; wörtlich: „[…] luna cuius cursus semper naturalis et equalis“). 1 Hermannus Contractus, Abbreviatio compoti cuiusdam idiotae cap. xxv (zitiert nach Ms. London BL, Arundel 356, fol. 32r): „Si quem […] permoverit, que causa quisve error sit, ut lune etas compoto nostro regulisque antiquorum supradictis persepe non conveniat, sed plerumque pridie, nonnumquam biduo – ut ipse dominus Beda fatetur et visus noster affirmat – prius quam primam computemus, luna non gracilis in celo appareat, […] cum omnibus vel rusticis clare novam liceat cernere […]“. – Eine Transkription der „Abbreviatio“ nach dieser Handschrift (London BL, Arundel 356) befindet sich im Appendix dieser Arbeit. – Nach diesem Manuskript werden im folgenden sowohl die „Abbreviatio“ als auch die „Prognostica“ zitiert.
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bislang nicht genau bestimmten Länge liege. Das Operieren mit diesem Näherungswert zwinge indes dazu, Hilfsgrößen wie Mondschaltmonate und Schalttage zu verwenden, die dem Mondlauf jedoch völlig wirr hinzugefügt werden und nicht so „geordnet und kontinuierlich, wie sie tatsächlich anwachsen […], sondern meist schneller, manchmal langsamer, als die Natur es fordert. Und so rufen sie [sc. diese Hilfsgrößen, NG] zweifellos den besagten Fehler hervor, daß der Mond, dessen Lauf immer natürlich und gleichförmig ist, unserer ungleichförmigen und keineswegs natürlichen […] Berechnung nicht immer folgt“.2 Diese Ausführungen überraschen, insbesondere in der Schärfe, mit der Hermannus sie formuliert. Versucht man, ihre Bedeutung zusammenzufassen, fallen drei Besonderheiten auf. Hermannus scheint sowohl die Grundlagen mittelalterlicher Zeitrechnung rundheraus in Frage zu stellen, als auch unverhohlen Kritik an der Autorität lateinisch-christlicher Zeitweisung schlechthin zu üben: an Beda Venerabilis. Dieser betont kritische Umgang mit den eigenen Vorgängern und mit dem tradierten, autoritativen Wissen ist bemerkenswert. Mit Blick auf die Entstehungszeit der Schriften Hermanns erscheint er ungewöhnlich, zumal ihr Autor zur Begründung nicht auf ältere, würdigere Traditionen zurückgreift, sondern sich allein auf seine eigene ratio verläßt.3 Geradezu spektakulär wirkt Hermanns Hinweis auf die Beobachtung der astronomischen Wirklichkeit, die er als Referenz für die konstatierte Abweichung anführt. Dieser Verweis legt den Schluß nahe, der Reichenauer habe sich bei seiner Arbeit auf Naturbeobachtung gestützt und natürliche Abläufe zum Maßstab für komputistisch-astronomische Berechnungen gemacht – und das bereits im 11. Jahrhundert. Besonders markant tritt dieser Eindruck angesichts des Befundes hervor, daß Hermanns Ausführungen sich ganz auf die technischfunktionale Ebene seines Gegenstandes konzentrieren. Anders als bei 2 Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxvii (Arundel 356, fol. 32v): „Constat enim compotum lune a maioribus nobis traditum partim propter calculandi facilitatem, partim propter lunaris mensis non ad purum inventam quantitatem non per omnia naturalem lunaris discursus sequi rationem“; ebd. cap. xxviii (Arundel 356, fol. 33r): „[…] sed plerumque citius, aliquando tardius quam natura poscat […], procul dubio hunc de quo quaestio est efficiunt errorem, ut luna cuius cursus semper naturalis et equalis est nostri inequalem et minime naturalem, sed tantum facilitati studentem non sequatur computationem“. 3 Zu Hermanns Schöpfen „aus der Vernunft“ Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 429; ebd. S. 388f. ebenfalls zur Kritikfreudigkeit benediktinischer Mönche etwa seit der Jahrtausendwende, wenngleich mit anderer Akzentsetzung.
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sämtlichen bisher besprochenen komputistisch-astronomischen Zeugnissen scheint daher in Hermanns Schriften trotz ihres komputistischastronomischen Gegenstandes sowohl die philosophische, als auch die theologische Dimension der Beschäftigung mit quadrivialen Themen ganz zu fehlen.4 Die angeführten Textstellen enthüllen ein Charakteristikum der wissenschaftlichen Rationalität Hermanns, das für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit von hoher systematischer Relevanz ist. Gemeint ist der Umstand, daß Hermanns Argumentation von einer zentralen Grundprämisse ausgeht, die alle weiteren Annahmen und Schlüsse bestimmt. Hermannus ist davon überzeugt, daß die Wirklichkeit und folglich die astronomischen Abläufe von aequalitas gekennzeichnet sind. Dieses fundamentale Prinzip begreift er als ein ganz bestimmtes, nämlich zahlenmäßig strukturiertes, das sich folglich mit mathematischen Mitteln erfassen und abbilden lasse.5 Anhand der komputistisch-astronomischen Schriften Hermanns soll diesen Besonderheiten im vorliegenden Hauptteil vor dem Hintergrund der bisher behandelten Merkmale dieses Wissenschaftsbereiches nachgegangen werden. Entstanden sind die fraglichen Quellen auf der Reichenau, wo Hermannus seit seiner Aufnahme in das Inselkloster wohl schon im Alter von sieben Jahren lebte.6 Er wurde 1013 als Sohn des Grafen von Alts4
Vgl. den ähnlich ‚technischen‘ Charakter in Ps.-Columbanus, De saltu lunae (ed. Walker); demgegenüber Notker, De quatuor quaestionibus compoti (ed. Piper), der den theologischen Horizont zwar isoliert, aber an exponierter Stelle, nämlich am Anfang seiner Schrift, anklingen läßt; deutliche Diskrepanzen in dieser Hinsicht bei Garlandus, De computo, dessen erstes Buch stark durch Beda geprägt ist (mit entsprechenden Ausdeutungen), das zweite hingegen erscheint mindestens so technisch wie Hermanns Schriften. 5 Nach derzeitigem Kenntnisstand existiert hierfür kein früheres Beispiel im komputistisch-astronomischen Bereich. – Die Zentralität der aequalitas hebt Borst, „Ein Forschungsbericht“, in seiner kenntnisreichen Arbeit nicht eigens hervor. Allerdings ist seine Studie primär der „Epistola“ und ihrer Einordnung in Hermanns Biographie und Werk sowie in den geistesgeschichtlichen Horizont gewidmet; in der „Epistola“ verwendet der Reichenauer jedoch noch nicht auf den Begriff selbst. 6 Berschin, „Hermann der Lahme“ S. 18, vermutet, Hermannus sei erst nach 1024, also frühestens im Alter von elf Jahren ins Kloster Reichenau eingetreten. Er stützt sich auf einen Brief des Abtes Bern von Reichenau, der auf 1024/1026 zu datieren ist. Darin bittet der Abt den Bischof Werner von Straßburg in einer rechtlichen Angelegenheit um Hilfe gegen einen Wolfrat, der mehrere Reichenauer Höfe für sich beanspruche. Möglicherweise handelt es sich bei diesem Wolfrat um Hermanns Vater, doch sei es dann „schwer vorstellbar, daß um diese Zeit dessen Sohn Hermann
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hausen als eines von 15 Geschwistern geboren.7 Welches die Ursachen seiner Behinderung sind, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, möglicherweise ist sie auf einen Unfall in jungen Jahren zurückzuführen.8 Jedenfalls fesselte ihn die Behinderung bis zu seinem Tod 1054 an den Tragstuhl, schloß ihn von körperlicher Arbeit sowie vom Altardienst aus und erschwerte ihm das Schreiben und Sprechen erheblich. Diesen widrigen Umständen zum Trotz eignete er sich eine umfassende Bildung an, die ihn zu einem der renommiertesten Gelehrten und Lehrer seiner Zeit machte.9 In besonderer Weise treten beim heutigen Quellenstudium seine quadrivialen Kenntnisse hervor, die im Rahmen seines zeitlichen Umfeldes als herausragend zu gelten haben.10 Aufgrund seiner Behinderung dürfte Hermanns Hauptbeschäftigung in ‚Forschung und Lehre‘ bestanden haben, die somit den Ersatz dar-
schon Mönch der Reichenau war“. – Das beste Zeugnis über Hermanns Leben ist die Vita Herimanni, die sein Schüler Berthold von Reichenau (gest. 1088) schon bald nach Hermanns Tod schrieb, jetzt in Berschin /Hellmann, Hermann der Lahme S. 6–13. – Zur Reichenau Beyerle, Die Kultur der Abtei Reichenau; Maurer, Die Abtei Reichenau; siehe auch Berschin, Eremus und Insula. 7 Zu Hermanns Familie ausführlicher Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 393. 8 Berthold von Reichenau erwähnt in der Vita Herimanni cap. i lediglich, sein Lehrer sei „seit frühester Kindheit“ gelähmt gewesen. Legenden über ihn und seine Behinderung setzten bereits im 12. Jahrhundert ein. Nach einer relativ frühen Erzählung (12. Jahrhundert) soll er von einem Bären schwer verletzt worden sein; zuletzt Berschin, „Hermann der Lahme“ S. 18–20, mit Hinweisen auf die ältere Literatur und Zitat der zuletzt erwähnten Quelle; eine anregende Studie aus übergreifender medizinhistorischmathematischer Sicht ist Stollenwerk /Butzer, „Hermannus Contractus (1013–1054), Mathematiker und – Rheumatiker?“. 9 Wo Hermannus seine Ausbildung genoß, ist ebenfalls nicht sicher. Aufgrund der Vorzüglichkeit seiner Kenntnisse zweifelte man in der Forschung gelegentlich daran, er könne sie auf der Reichenau selbst erhalten haben. Als Alternative schlug man Augsburg vor, das mit Ascelin im hier fraglichen Zeitraum über einen herausragenden Kenner der artes verfügte. Die Grundlage dieses Vorschlags bildete der Umstand, daß Hermanns Familie enge verwandtschaftliche Verbindungen (Bischof Ulrich von Augsburg) nach Augsburg besaß. Zu diesen Kontroversen Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 393 f. (mit Literaturangaben). Gegen die zuletzt referierte Annahme argumentierte Borst, ebd. S. 394 f., der sich in erster Linie auf Hermanns eigene Äußerungen stützt, er habe „solus sedens“ seine Forschungen angestellt. Borst hält es daher für das Nächstliegende, daß sich Hermannus dort seine Bildung aneignete, wohin er als Oblate übergeben wurde, in der Abtei Reichenau. 10 Als „in interiori [im Gegensatz zu seiner äußeren, körperlichen Lähmung, NG] autem ingenii vena prae cunctis sui saeculi viris mirabiliter dilatatus“ charakterisiert Berthold, Vita Herimanni cap. i, seinen Lehrer; cap. iii zu seinen wissenschaftlichen Leistungen. Seiner wissenschaftlichen Kenntnisse wegen bezeichnet Heinrich von Weißenburg den Reichenauer als „novus philosophus“ (zitiert nach Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 395, Anm. 27).
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stellte für die von der Benediktsregel geforderte Handarbeit.11 Wie seine Schriften noch heute erkennen lassen, entsprach diese Arbeit den Fähigkeiten und Interessen Hermanns.12 Jedoch sind sie zugleich Zeugnisse einer für seine soziale Umgebung ungewöhnlichen Situation. Im Unterschied zu den vorausgehenden sowie den zeitgenössischen Mönchsgelehrten, wie beispielsweise Abbo von Fleury, war Hermannus Vollzeitwissenschaftler. Sieht man von der Teilnahme an Gebet und Gottesdienst ab, hinderte ihn seine Behinderung daran, den regelmäßigen weiteren Verrichtungen in einem Benediktinerkloster nachzukommen. Infolge dessen vermochte er sich in einem unüblichen Maße auf seine wissenschaftliche Tätigkeit zu konzentrieren, so daß sich die Form und die Intensität seiner Auseinandersetzung mit Gegenständen gerade des Quadriviums eher mit Zeugnissen vergleichen lassen, die im Kontext der Kathedralschulen entstanden sind. Zugleich aber war er Mönch und lebte in einem Kloster, das von der gleichmäßig rhythmisierten benediktinischen Zeiteinteilung bestimmt war und den monastischen Reformgedanken des späten 10. und frühen 11. Jahrhunderts nahestand.13 In dieser eigenwilligen Kombination verschiedener prägender Faktoren mag auch ein Grund für manche Besonderheiten im wissenschaftlichen Werk Hermanns liegen. Seine früheste Schrift ist vermutlich die Abhandlung zur Musik, die in den 1030er Jahren entstanden sein dürfte.14 Neben diesem Traktat zur Theorie der Musik liegen weitere theoretische Schriften und mehrere Kompositionen vor, wenngleich sich die Zuschreibung mancher früher mit seinem Namen verknüpfter Zeugnisse zwischenzeitlich als unwahrscheinlich erwiesen hat.15 Bekannt sind der heutigen historischen Forschung in aller Regel sein unvollendetes Martyrolog, das
Diese Einschätzung vertritt Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 420f. Mit Blick auf das postulierte Interesse Hermanns an der Forschung vgl. sein Bekenntnis zu Wißbegierde und curiositas, Epistola S. 475, 50–55: „Cumque illud […] diligenter requisissem, deprehendi […]. Sed cum haec stultae curiositati meae minime proficerent, […] caepi […]“; ebd. S. 476, 69f.: „His ita inventis, nondum satisfacto quaerendi desiderio, caepi rursum vestigare […]“; siehe auch Abbreviatio compoti cap. xxv (Arundel 356, fol. 32r): „Si quem […] curiosiorem […] una mecum permoverit […]“, u. ö. 13 Zu den Klosterreformen im Hinblick auf die Reichenau siehe Feine, „Klosterreformen im 10. und 11. Jahrhundert“; allgemein Kottje /Maurer, Monastische Reformen. 14 So die Einschätzung von Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 398; auch Oesch, Berno und Hermann S. 233 f., hält eine Frühdatierung für denkbar; anders noch Ellinwood, Musica S. 16, der die Schrift nach 1048 datiert. 15 Vgl. hierzu Oesch, Berno und Hermann S. 135–156. 11 12
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eine Bearbeitung des Maryrologs Notkers I. von St. Gallen (gest. 912) darstellt, sowie seine Chronik, der er sich seit den späten 1040er Jahren zuwandte.16 Wie sein Martyrolog so schloß Hermannus auch diese Arbeit nicht ab. Auf dem Feld von Komputistik und Astronomie hinterließ er verschiedene Schriften. Im Mittelpunkt dieses Hauptteils werden gemäß der thematischen Konzentration der vorliegenden Arbeit Hermanns Ausführungen zur komputistisch-astronomischen ‚Theorie‘ stehen: die „Epistola de quantitate mensis lunaris“, die „Abbreviatio compoti cuiusdam idiotae“ und die „Prognostica de defectu solis et lunae“.17 Daneben lassen sich ihm noch weitere quadriviale Zeugnisse zuordnen, denen insofern ein ‚praktischer‘ Zug eignet, als sie sich auf die Anwendung oder Konstruktion bestimmter astronomischgeometrischer Instrumente beziehen, wie beispielsweise Hermanns Astrolabschrift, die Erklärungen zur Säulchen-Sonnenuhr und zur Berechnung des Erdumfangs nach Eratosthenes enthält.18 Schließlich ist auf die ebenfalls stark anwendungsbezogenen mathematischen Äußerungen zur Rithmomachie und zum abacus zu verweisen.19 Ein Großteil der Schriften Hermanns wurde bis heute nicht ediert. Von den drei Texten, auf die das Hauptinteresse dieser Untersuchung gerichtet ist, liegt lediglich die „Epistola“ in einer modernen Edition vor.20 Aus der „Abbreviatio“, dem komputistischen Hauptwerk des Reichenauers, und aus den „Prognostica“ wurden bislang nur Ausschnitte gedruckt, zum Teil nach schlecheren Textzeugen oder mit Lesefehlern.21 Entstanden sind die drei Schriften in der Mitte der Schaffenszeit 16 Zum Martyrolog siehe Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 398–406; siehe auch McCulloh, „Herman the Lame’s Martyrology“. – Zur Chronik ebd. S. 432–436; Duch, „Das Geschichtswerk“ S. 184–203; vgl. auch Robinson, „Die Chronik Hermanns“. 17 Zu diesen Schriften ausführlicher im weiteren Verlauf dieses Kapitels; allg. zur Komputistik des Reichenauers Cordoliani, „Le computiste Hermann de Reichenau“. 18 Hierzu bes. Borst, „Astrolab und Klosterreform“; siehe auch Bergmann, „Der Traktat ‚De mensura astrolabii‘“; allg. Poulle, „L’astrolabe médiéval“; van de Vyver, „Les plus anciennes traductions“; Burnett, „King Ptolemy“; Zinner, Instrumente. 19 Zur Rithmomachie Borst, Das mittelalterliche Zahlenkampfspiel S. 81–97; zum „Abacus“ jetzt Hellmann, „Der Rechenlehrer Herimannus“ (mit Edition der abacus-Regeln Hermanns, S. 54–71); immer noch Yeldham, „Fraction Tables“; allgemein zur Problematik des Bruchrechnens Ders., „Notation of Fractions“. 20 Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 474–477. Die Entdeckung des „Computus Augiensis“ rechtfertigt gegebenenfalls eine Neuausgabe, die eine vergleichende Kommentierung ermöglichen würde. Ich verdanke diesen Hinweis Arno Borst, der mir zur Anfertigung dieser Arbeit seine unveröffentlichten Unterlagen großzügig zur Verfügung stellte. 21 Zur Konsultation gedruckter Fassungen empfiehlt sich Borst, „Ein Forschungsbericht“, der ausgiebig und zuverlässig aus beiden Abhandlungen zitiert.
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Hermanns, die „Epistola“ vor 1042, die „Abbreviatio“ wohl 1042, die „Prognostica“ nach 1049.22 Bereits bei einer ersten Durchsicht der komputistisch-astronomischen Schriften Hermanns fallen charakteristische Besonderheiten wie die zu Beginn dieses Kapitels skizzierten auf. Im Lichte der bisher herausgearbeiteten Kennzeichen komputistisch-astronomischer Quellen des Untersuchungszeitraums werfen sie die Frage nach der sich in ihnen spiegelnden wissenschaftlichen Rationalität auf. Sie erwecken den Anschein, Reflexe einer sehr modern wirkenden Form wissenschaftlichen Denkens und Argumentierens zu sein und erinnern an Entwicklungen, die im Trivium beziehungsweise in der Theologie stattfinden, dort allerdings im Anschluß an Haskins auf das 12. Jahrhundert datiert werden.23 Diese Entwicklungen werden – wie in der Einleitung dieser Studie bereits skizziert – gerne als Universalisierungs, Rationalisierungs- oder auch Professionalisierungsprozeß bezeichnet. In dessen Verlauf beansprucht die neuentstehende Universitätswissenschaft Theologie universale Gültigkeit für ihre wissenschaftlichen Aussagen. Seine Begründung findet dieser Anspruch im formalen Charakter der Logik als Leitmethode und in der axiomatischen Struktur ihrer Argumenation.24 Diesbezügliche Methodenreflexionen stellt Hermannus nicht an, so daß sich für ihn ein vergleichbarer Anspruch nur mittelbar erschliessen läßt. Strukurell aber sind die Ähnlichkeiten seines Denkens mit 22 Die „Epistola“ ist nicht genau zu datieren; aus inhaltlichen Gründen entstand sie wohl vor der „Abbreviatio“, aus stilistischen Gründen datiert Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 398 mit Anm. 35 (zum Stil, in Abgrenzung zur „Musica“) und S. 407 (Datierung „um 1040“), sie auf die Zeit nach 1030, also nach der Abfassung des Briefcorpus Berns, des Abtes von Reichenau, an dessen Briefe sich die „Epistola“ formal anlehnt. Die Datierung der „Abbreviatio“ und der „Prognostica“ beruht auf Beispielrechnungen, die Hermannus jeweils bietet, siehe Abbreviatio cap. xliii beziehungsweise Prognostica cap. xiii. – Zur Handschriftenlage siehe (noch unvollständig) Borst, Ein Forschungsbericht S. 427 (zur „Abbreviatio“) und S. 437 (zu den „Prognostica“); darüber hinausgehende Angaben verdanke ich den Hinweisen Borsts, siehe hierzu unten, die Angaben zu den verwendeten Handschriften im Appendix dieser Arbeit; dort auch die Transkription der beiden Texte. 23 Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century, bes. S. 341–360. 24 Vgl. hierzu die dort genannte Literatur, z. B. allgemein Kluxen, „Wissenschaftliche Rationalität im 12. Jahrhundert“; mit stärkerem Akzent auf der maßgebenden Methode Ders., „Der Begriff der Wissenschaft“; Schrimpf, „Bausteine für einen historischen Begriff“; Ders., Die Axiomenschrift des Boethius; Dreyer, More mathematicorum; Wieland, „Symbolische und universale Vernunft“; Ders., „Rationalisierung und Verinnerlichung“.
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dem im wissenschaftlichen Kontext des 12. Jahrhunderts beobachteten frappierend. Seine Argumentation geht wie oben erwähnt von einer obersten Prämisse, der aequalitas, und implizit in ihr enthaltenen Eigenschaften aus. Allerdings ist die bestimmende Methode bei Hermannus die Mathematik, die aufgrund ihres formalen Charakters prinzipiell genauso zu universalen Aussagen berechtigt wie der Rückgriff auf die Logik in der Theologie. So originell Hermanns Rationalitäts- und Argumentationsstruktur einerseits ist, so typisch ist andererseits die Vorstellung, die seinem Denken in kondensierter Form zugrunde liegt. Die bestimmende aequalitas ist ein Konzept, das kosmologische Entwürfe schon seit der Antike durchzieht und auch im christlichen Kontext an zentraler Stelle, nämlich im Rahmen theologischer Reflexionen über die substantielle Gleichheit der drei göttlichen Personen, präsent ist.25 Wie Hermannus diesen Gedanken aus den gängigen kosmologischtheologischen Vorstellungen herausfiliert und für sein komputistischastronomisches Denken in inhaltlicher, struktureller und methodischer Hinsicht fruchtbar macht, ist vor dem skizzierten quadrivialen Hintergrund in seiner Zeit besonders. Daß dieser rationalitätsgeschichtlich bedeutsame Schritt hin zum modellhaften Denken und daß die exponierte wissenschaftliche Verwertung des aequalitas-Konzeptes im Quadrivium jedoch gleichsam ‚in der Luft‘ lagen, zeigt die weitere Entwicklung. In Anlehnung an die Forschung ist zum einen auf die Axiomatisierungstendenzen – auch im Quadrivium beziehungsweise der Physik – zu verweisen und zum andern auf die herausragende Bedeutung der aequalitas beispielsweise in den Reflexionen Thierrys von Chartres.26 Um diese Charakteristika der wissenschaftlichen Rationalität Hermanns von Reichenau in ihrer Besonderheit, Kontextbezogenheit und Beispielhaftigkeit für das quadriviale Denken seiner Zeit herauszuarbeiten, sind zwei komplementäre Schritte vonnöten.
25 Mit Blick auf die Gleichförmigkeit im Kontext kosmologischer Vorstellungen ist beispielsweise an das pythagoreische Postulat einer gleichförmigen Kreisbewegung der Himmelskörper zu erinnern; van der Waerden, Die Astronomie der Griechen, bes. S. 42–44; das pythagoreische Weltbild übernimmt in seinen Grundzügen (zu denen die Gleich- und Kreisförmigkeit gehören) noch Platon, vgl. ebd. S. 44–62. – Zur aequalitas als zentralem Begriff trinitätstheologischer Reflexionen ausführlicher unten, 3.3.3. Aequalitas als ratio naturalis. 26 Zu den Axiomatisierungstendenzen im Rahmen der physikalischen Durchdringung der Natur seit dem Übergang zum 12 Jahrhundert Speer, Die entdeckte Natur; allgemein zur Axiomatisierung des wissenschaftlichen Denkens im 12. Jahrhundert Dreyer,
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Erstens sind seine komputistisch-astronomischen Schriften in chronologischer Folge vorzustellen.27 Obwohl sie inhaltlich bereits durch mehrere Studien gut erschlossen sind, ist diese Analyse erforderlich, um zentrale Begriffe und die Argumentationsweise Hermanns freizulegen.28 Aufgrund der erwähnten Reflexionsarmut der Quellen in konzeptioneller Hinsicht lassen sich diese nur mittelbar erschließen. Da verschiedene der systematisch relevanten Punkte in mehreren seiner Schriften wiederkehren, werden diese soweit möglich in gebündelter Weise erörtert. Um Entwicklungen oder die Durchgängigkeit bestimmter Aspekte sichtbar zu machen, ist das Wiederaufgreifen einzelner Punkte oder das Verweisen auf spätere Diskussionen jedoch nicht vollständig vermeidbar. Die Ergebnisse des ersten Schrittes stellen die Grundlage bereit, um zweitens in übergreifender Form die Denkstruktur des Reichenauers als „modellhafte“ zu rekonstruieren und auf ihre Bedeutung hin zu untersuchen. Erst vor diesem Horizont lassen sich die eigentümlichen Befunde der ersten Durchsicht seiner Schriften, wie die Konzentration auf die technisch-funktionale Ebene oder sein vermeintlicher Rückgriff auf empirisch fundierte Argumente, auf ihren Status und ihre Implikationen hin befragen. 3.2. Hermanns komputistisch-astronomische Schriften 3.2.1. Die „Epistola de quantitate mensis lunaris“ Das erste Zeugnis für Hermanns des Lahmen Beschäftigung mit Fragen der Komputistik ist die „Epistola de quantitate mensis lunaris“, die er an seinen Freund Herrand richtete.29 Der Brief ist bereits gekennMore mathematicorum. – Zur aequalitas bei Thierry von Chartres besonders dessen „Tractatus de sex dierum operibus“. 27 Die chronologische Folge empfiehlt sich, um etwaige Veränderungen im Denken Hermanns transparent zu machen. 28 Die beste Besprechung der komputistisch-astronomischen Schriften des Reichenauers bietet nach wie vor Borst, „Ein Forschungsbericht“, der bis heute der einzige ist, der alle der hier fraglichen Texte studiert hat; die inhaltlichen Ausführungen der vorliegenden Arbeit lehnen sich daher in aller Regel an Borsts Arbeit an, so daß nur in besonderen Fällen direkt Bezug auf sie genommen wird. – Flüchtiger und nicht alle Schriften berücksichtigend Bergmann, „Chronographie und Komputistik bei Hermann von Reichenau“. 29 Die „Epistola“ wird im folgenden zitiert als Hermannus, Epistola, nach Borst, „Ein
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zeichnet von Hermanns zielstrebigem, fast forschem Stil, der insbesondere seine späteren Schriften auszeichnet. Aufgrund von Hermanns problemorientierter Vorgehensweise erweckt die „Epistola“ trotz gattungsspezifischer literarischer Überformungen den Eindruck einer modernen wissenschaftlichen Untersuchung zu einem bestimmten Problem: der exakten Länge des Mondmonats. Der Aufbau der kleinen Abhandlung ist luzide und stringent: Auf die Anrede mit captatio benevolentiae hin wendet Hermannus sich direkt der leitenden Fragestellung nach der Monatslänge zu. Mit dieser setzt er sich in zwei Schritten auseinander, indem er zuerst die bisher vorherrschenden Meinungen in der traditionellen Komputistik vorstellt und falsifiziert und dann seinen eigenen Lösungsansatz entwickelt. Den Abschluß des Briefes bilden die Widmung an den Adressaten und ein Schlußgedicht.30 Neben den skizzierten Charakteristika tritt im Rahmen des Briefes die für alle komputistisch-astronomischen Schriften Hermanns maßgebliche Argumentationsgrundlage hervor, die Mathematik, die daher in der folgenden Besprechung der „Epistola“ in übergreifender Form untersucht werden soll.31 1. Die traditionskritische Haltung. Als Anliegen seines Schreibens benennt der Reichenauer eine Frage, die ihn schon lange beschäftige und die er nun mit seinem Freund erörtern wolle.32 Es handele sich, so fährt er fort, um die Dauer des Mondmonats, die bislang von niemandem
Forschungsbericht“ S. 474–477; die Seiten- und Zeilenangaben beziehen sich auf diese Edition. – Die salutatio mit dem Adressaten: „Dilectissimo in vinculo caritatis amico Herrando […] memoriale“, Hermannus, Epistola S. 474, 1–3. – Zur nach wie vor offenen Frage nach der Identität des Adressaten siehe Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 407–410. 30 Anrede und captatio Hermannus, Epistola Z. 1–10; zur Fragestellung Z. 11–14; zur traditionellen Komputistik insgesamt Z. 14–53, dabei Z. 14 f. zur gängigen Annahme bezüglich der Dauer, Z. 16–39 zu Bedas Einschätzung, Z. 40–53 zu (Pseudo-) Columbans Überlegungen; zum eigenen Lösungsansatz Z. 54–100, dabei Z. 54–68 das Ergebnis mittels traditioneller Zeiteinheiten, Z. 69–92 Berechnung des Schaltzuwachses, Z. 93–100 Umrechnung der Ergebnisse in selbstentwickelte Einheiten; der Abschluß Z. 101–112. 31 Eine Besprechung der „Epistola“ bislang nur durch Borst, „Ein Forschungsbericht“; allerdings bietet er eine sehr detaillierte Inhaltsübersicht und vielfältige Hintergrundinformationen, die weit über eine Einbettung der „Epistola“ in die Biographie und das Werk des Reichenauers hinausgehen. 32 „Sed […] cuiusdam quaestionis, quam mecum diu ruminando tractabam, subtilitatem tecum retractare percupio“, Hermannus, Epistola S. 474, 7–10.
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exakt bestimmt worden sei, soweit er herausgefunden habe.33 Daraufhin geht Hermannus über zum Referat des ‚Forschungsstandes‘. Alle Komputisten, die er habe ausfindig machen können, gäben die Länge des Mondmonats mit 29 Tagen und zwölf Stunden an, außer Beda. Zu seiner größter Verwunderung ziehe dieser von jenen zwölf Stunden noch eine kleine Zeitspanne ab und führe darauf den einen Tag zurück, der in jedem 19jährigen Zyklus als Mondsprung auszulassen sei. Dabei sei doch für jeden Wißbegierigen offensichtlich, daß der besagte Mondmonat über die genannte Dauer hinaus notwendigerweise noch eine kleine Weile umfasse.34 An Hermanns Äußerungen über Beda fällt die kommentarlose Selbstverständlichkeit auf, mit der der Reichenauer den englischen Gelehrten beurteilt. Besonders deutlich tritt sie im Vergleich beispielsweise zu Abbo von Fleury hervor. Im Rahmen seiner in dieser Arbeit 33 „Igitur […] lunarem mensem […] incurri, cuius temporis quantitatem nondum ab aliquo compotistarum ad certum diffinitum inveni“, Hermannus, Epistola S. 474, 11–14. 34 „[…] quod maxime ammiror, doctissimus presbyter Beda ex ipsa duodecima hora aliquid conatur auferre, unde contingat unum lunae diem praetermitti saltus ratione, cum cunctis scire volentibus constet […]“, Hermannus, Epistola S. 474, 14–19; Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 407–412. – Hermanns Vorgehen bis zu diesem Punkt erinnert in gewissen Grenzen an das Abbos in dessen „Epistola prima“ zur dionysianischen Inkarnationsära. Auch Abbo hatte als Ausgangspunkt seiner Überlegungen eine „quaestio“ gewählt, die er im Rahmen der eigenen begrenzten Möglichkeiten diskutieren wollte. Wie Hermannus hier (Z. 9), so hatte Abbo dort zunächst abstrakt von der „quaestio“ gesprochen, um erst im Anschluß die inhaltliche Bestimmung nachzuliefern. Und gleich Hermannus verknüpfte Abbo die Benennung des Problems – in seinem Fall das der Inkarnationsjahrzählung – aufs engste mit seiner Kritik an der Autorität der Komputistik, Beda Venerabilis. Die fragliche Abbo-Stelle: „Nodum igitur quaestionis quodam cuneo rationis scindere prout potui ratum duxi. Verum tamen impedimento fuerunt que se plus nimio ingerunt cogitationum tumultus, familiarum frequentia rei secularis occupatio, et peccatorum meorum recordatio. Cumque his lenociniis illectus paululum ab artioris vie itinere defecissem rursus ad hanc lugubratiunculam provocavit studium Bede venerabilis presbyteri qui huiusmodi questionibus multam operam consumsit, nec tamen ad liquidum prosecutus opus inperfectum reliquit. Dum enim cyclos Dyonisii abbatis auctoritati niceni concilii fultos idem presbyter comperit, eos ad unguem discutere noluit, ne quid erroris aliunde irreperet quod ad niceni concilii inviolabilem firmitatem non pertineret“, Berlin Phill. 1833, fol. 56r; unklar ist, ob Hermannus die „Epistola“ Abbos kannte; da kein Reichenauer Exemplar des Briefes überliefert ist, kann hierüber nur spekuliert werden; zu Abbos kritischer Auseinandersetzung mit der dionysianischen Inkarnationsära Verbist, In duel met het verleden S. 211–256. – Hermannus ist keineswegs der erste mittelalterliche Gelehrte, der sich bei seiner wissenschaftlichen Arbeit auf die Erörterung eines Spezialproblems konzentrierte; neben dem eben zitierten Abbo ist exemplarisch auf Ps.-Columbanus, De saltu lunae (ed. Walker), zu verweisen. Dem Titel der Schrift entsprechend thematisiert der Autor ausschließlich den Mondsprung.
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nicht eigens thematisierten Kritik an der dionysianischen Inkarnationsära hatte sich dieser mit dem bloßen Hinweis begnügt, Beda habe das Problem der Jahreszählung nach Christi Geburt keiner abschließenden Lösung zugeführt, und hatte darüber hinaus sogar nach einer Begründung für diese Unterlassung gesucht. Bei seiner Argumentation stützte er sich zudem konsequent auf möglichst vertrauenswürdige historische Überlieferungen.35 Hermannus hingegen unterstellt dem Angelsachsen implizit einen regelrechten Irrtum und bemüht sich weder, Gründe hierfür auszumachen, noch seine eigene Kritik zu rechtfertigen. Diese Haltung dem überlieferten Wissen und den Autoritäten gegenüber ist verglichen mit der Abbos in konzeptioneller Hinsicht verändert. Denn mit dem unkommentierten Verzicht auf Begründung seines Urteils gibt Hermannus zu verstehen, über eine Grundlage zu verfügen, die nicht erklärungsbedürftig und zugleich hinreichend autoritativ ist, um in der skizzierten Weise Position relativ zur Tradition zu beziehen.36 Wie sich im weiteren Verlauf dieser Arbeit zeigen wird, ist er davon überzeugt, mit der Mathematik über ein formales Instrumentarium zu verfügen, das diesem universalen Anspruch genügt. 35 Abbos Bemühen um Rückgriff auf eine möglichst glaubwürdige historische Überlieferung zeigt sich deutlich in der gerade erwähnten „Epistola prima“, in der er seine Argumentation konsequent auf zwei Fundamente stellt: auf die (seiner Einschätzung nach) unumstößlichen Zyklen (wie den 532jährigen Osterzyklus) des ordo naturae und auf die fides historiae. Neben den Mitteilungen der Evangelien gelten ihm beispielsweise Paulus Diaconus oder Gregor von Tours als vertrauenswürdige fides historiae, vgl. Abbo, Epistola prima (Berlin Phill. 1833, fol. 56v–57r): „Paschalem autem festivitatem eo anno quo christus natus est ab re est inquirere, sed ab hinc xxxiii vel potius xxxiiii non est inutile, quando quidem iuxta evangelorum fidem christus luna xiiii est traditus […]. Quo vero kalendario id actum sit, non evangeliorum historia, sed antiquorum patrum opinio palam fecit […]. Nec id ab historia romana discrepat in qua Paulus refert quod beatissimus monachorum pater Benedictus dxxviiii vel potius dxxx ab incarnatione domini anno virtutum titulis claruit […]. Nec id dicens auctoritatem tanti viri refello, sed historiarum et evangeliorum fidei quadam reverentia magis assensum praebeo. […]. Nam historiographi quo tempore quisque sanctorum vixerit suis declarant indiculis sicut Gregorius turonensis qui refert beatum Martinum turonorum episcopum transisse de hoc mundo […]. Quam supputationem si secundum Gregorium a passione domini tenere volueris […]. Unde hortor vos, filii karissimi, ut dlxv talem constituatis qualem vos evangelica doctrina illum xxxiii fuisse ab ipsis cunabulis erudivit“; hierzu ausführlich Verbist, In duel met het verleden S. 230–243. 36 Die gegenüber Abbo veränderte Haltung Hermanns kommt deutlich in seinem polemischen Tonfall zum Ausdruck: Betont er auf der einen Seite seine geringen eigenen Geisteskräfte („iuxta ingenioli mei gracilitatem“, Z. 11) und bezeichnet Beda demgegenüber als den „doctissimus presbyter“ (Z. 16), demaskiert er diese Äußerungen als beißende Ironie, wenn er kundtut, sich „maxime“ (Z. 16) über die Angaben des Angelsachsen zu wundern, wo doch für jedermann, der es nur wissen wolle („cunctis scire volentibus“, Z. 18), das genaue Gegenteil offensichtlich sei („constet necessario“, Z. 18).
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2. „Natur“ und menschliche Konvention. Im folgenden führt Hermannus aus, weshalb der Mondmonat mehr Zeit als die besagten 29 einhalb Tage in Anspruch nehmen müsse. Umfaßte er nämlich exakt jene Zeitspanne, müßte der monatliche Wechsel zwischen vollen und hohlen Monaten – zu 30 beziehungsweise 29 Tagen – ohne die geringste Ausnahme ein völlig regelmäßiger sein. Der ansonsten konstante Wechsel werde jedoch bei der Einfügung von Schaltmonaten mit ihren je 30 Tagen durchbrochen.37 Um herauszufinden, ob der Mondmonat nicht also doch ein wenig länger sei als bisher angenommen, schlägt Hermannus vor, die fragliche Dauer genauer zu studieren. Umgehend nennt er die Prämisse, auf der seine Überlegungen gründen: Mondund Sonnenlauf kämen im 19jährigen Zyklus zur vollständigen, „ad purum“, Übereinstimmung, dies habe die „Sorgfalt der Alten“ herausgefunden. Und daß deren Angabe zutreffe, zeige sich daran, daß andernfalls die gesamte Mondkomputistik und das tatsächliche, beobachtbare Mondalter schon längst nicht mehr übereinstimmten.38 Verschiedene Aspekte sind hieran bemerkenswert. Erstens gibt Hermannus pauschal „die Alten“ als diejenige Autorität an, welche die Wahrheit der vorausgesetzten Annahme verbürgt, also die vollständige Übereinstimmung von Mond- und Sonnenlauf nach 19 Jahren. Damit, daß der Reichenauer die Richtigkeit dieses komputistisch-astronomischen Zyklus mit Aussagen der Tradition rechtfertigt, unterscheidet er sich von Beda. In „De temporum ratione“ hatte der Angelsachse darauf hingewiesen, der Mondlauf folge einem 19jährigen Zyklus, und als Begründung hierfür die ‚natürliche‘ ratio temporum angeführt.39 Noch Abbo folgte Beda in dieser Überzeugung. In seiner 37 „Si enim nihil ultra illud temporis spacium haberet, necesse utique foret, ut in omnibus mensibus solita tricenorum servaretur alternitas dierum, nec esset, unde in omnibus embolismis et bissextilibus mensibus luna plene xxx dies acciperet“, Hermannus, Epistola S. 474, 20–23. 38 Hermannus, Epistola S. 474f., 23–29; Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 412 f.; problematisch ist in diesem Zusammenhang Borsts Einschätzung, Beda habe auf kompensatorische Hilfsgrößen wie Mondschaltmonate und Mondsprünge zurückgegriffen, „aber wer auf- und abrunden wollte, mußte vorher den exakten Ausgangswert kennen. Beda, Hraban, Helperich kannten ihn nicht“. Denn aufgrund der Schaltmonate und des Mondsprungs gelangt die traditionelle Komputistik ja exakt zur erforderlichen rechnerischen Übereinstimmung von Mond- und Sonnenlauf in 19 Jahren, rundet also durchaus erfolgreich auf und ab. 39 Beda unterscheidet zwischen drei verschiedenen rationes temporum: gemäß der Natur, nach der Gewohnheit und entsprechend der Autorität; die komputistischen Zyklen begreift er in diesem Sinne als ‚natürlich‘: „Primo lectorem admonemus trimoda ratione computum temporis esse discretum: aut enim natura, aut consuetudine,
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bereits erwähnten „Epistola prima“ zur Verbesserung der Inkarnationsära liefert er keinerlei Begründung für die von ihm postulierte uneingeschränkte und unzweifelhafte Gültigkeit der komputistisch-astronomischen Zyklen. Vielmehr scheinen sie für ihn gleichsam evidente ‚Naturtatsachen‘ zu sein, wenn er sie als „circulos quos natura formavit“40 bezeichnet. Demgegenüber beruft sich Hermannus auf die antiqui und deren Sachverstand, der die fragliche Übereinstimmung von Sonnen- und Mondlauf nach 19 Jahren herausgefunden habe, und vermeidet eine darüber hinausgehende Begründung dieses Zyklus in der ‚Natur‘. Diese Zurückhaltung fällt allerdings erst vor dem Hintergrund einer Gesamtanalyse der komputistisch-astronomischen Schriften des Reichenauers auf. Dann wird deutlich, daß er grundsätzlich unterscheidet zwischen den Zyklen, die im komputistisch-astronomischen Kontext als Berechnungsgrundlage dienen, und der zyklischen Struktur der Abläufe in der Wirklichkeit.41 Denn daß die ‚Natur‘ oder die ratio der Wirklichkeit und somit auch der astronomischen Gegebenheiten einen zyklischen Charakter besitzt, steht für ihn außer Frage. Anders jedoch als bei Beda und Abbo sind für ihn die komputistisch-astronomischen Zyklen nicht mehr gleichsam identisch mit dieser ‚Natur‘ oder ratio, sondern besitzen den Status von Beschreibungen der Wirklichkeitsstruktur.42
aut certe auctoritate decurrit. […]. Porro natura duce repertum est solis annum ccclxv diebus et quadrante confici; lunae vero annum, si communis sit cccliv, si embolismus ccclxxxiv, diebus terminari. Totumque lunae cursum decemnovenali circulo comprehendi“, Beda, De temporum ratione cap. ii (CCL 123B, S. 274f.). – Wenn im folgenden der Naturbegriff in Anführungszeichen gesetzt ist, steht er für den in den Quellen verwendeten Begriff (natura). 40 Abbo, Epistola prima (Berlin Phill. 1833, fol. 56v). 41 Der Wirklichkeitsbegriff wird hier wie im folgenden im selben Sinne verwendet wie sonst der Naturbegriff in dieser Studie. In aller Regel wird er in diesem Kapitel dem Naturbegriff vorgezogen, um Verwechslungen mit Hermanns eigenem Naturbegriff zu vermeiden. 42 Auf diese konzeptionell bedeutsamen Zusammenhänge wird unten, 3.3.2. Mathematik und Wirklichkeit, näher eingegangen. – Bereits Wallis, „Images of Order“ S. 50, betont ja den Umstand, daß der computus von den mittelalterlichen Gelehrten als Konstrukt begriffen wurde; sie hätten einen klaren Unterschied gemacht „between natural time and computus time“; allerdings ist sie Einschätzung, der computus „imposes order upon time“ (S. 48) und sei daher „not so much a science through which one studies time as an art by which one imposes a rational and human order upon time“, ebd. S. 51, u. ö.; außerdem differenziert Wallis nicht in zeitlicher Hinsicht; während nämlich beispielsweise die oben zitierte Beda-Stelle klar erkennen läßt, daß für Beda komputistische Zyklen wie der 19jährige, aber auch der 532jährige als „duce natura“ gelten (vgl. Abbos Formulierung „circulos quos natura formavit“ mit Bezug auf dieselben komputistischen Perioden), führt erst Hermannus diese dezidiert auf die komputistischen
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Zweitens wird in den referierten Äußerungen erstmals das oben schon genannte methodische Fundament sichtbar, auf das sich Hermannus bei der Argumentation durchgängig stützt, die Mathematik. Er führt den Nachweis, daß Beda sich in der Annahme irrte, der Mondmonat sei kürzer als 29 einhalb Tage, indem er aufzeigt, daß der 19jährige Zyklus mehr Monate zu 30 Tagen als solche zu 29 Tagen umfasse. Argumentativ greift er hier somit auf das arithmetische Mittel zurück, das über den tradierten 29 einhalb Tagen liegt, nicht aber darunter.43 Diese Form der Argumentation wird im folgenden Abschnitt in übergreifender Weise näher analysiert, da sie sämtliche komputistisch-astronomische Schriften des Reichenauers kennzeichnet. 3. Mathematik als Methode. Bereits im nächsten Abschnitt tritt Hermanns mathematisch fundierte Gedankenführung sehr plastisch hervor. Besonders bemerkenswert ist diese erstens aufgrund Hermanns ungewöhnlichen quantifizierenden Umgangs mit der Mathematik und zweitens aufgrund der Rückschlüsse, die sich hieraus auf das ihr implizit unterstellte argumentative Potential ziehen lassen. Nach den referierten einleitenden Bemerkungen wendet sich der Reichenauer der Erörterung des Problems – der präzisen Bestimmung der Länge des Mondmonats – zu, dem er sich auf der Grundlage der bereits genannten Prämissen nähert. Indem er der Tradition gemäß voraussetzt, daß Mond und Sonne nach exakt 19 Jahren wieder zum selben Ort und zur selben Position relativ zueinander zurückkehren, ist er zu der Annahme berechtigt, daß 228 Sonnenmonate 235 Mondmonaten entsprechen.44 Tätigkeiten der antiqui zurück. Solche konzeptionell relevanten Akzentverschiebungen entgehen Wallis bei ihrem generellen Urteil. 43 Hermanns Argumentation ist sehr einleuchtend: Umfaßte der durchschnittliche synodische Mondmonat tatsächlich nur 29 einhalb Tage, müßten auch die Schaltmonate wechselweise mit 29 beziehungsweise 30 Tage angesetzt werden. Sie dauern jedoch sämtlich 30 Tage und heben den Durchschnittswert folglich an: „Si enim nihil ultra illud temporis spacium [sc. xxviiii dies horasque xii] haberet, necesse utique foret, ut in omnibus mensibus solita tricenorum servaretur alternitas dierum, nec esset, unde in omnibus embolismis et bissextilibus mensibus luna plene xxx dies acciperet“, Hermannus, Epistola S. 474, 20–23; im Anschluß, ebd. S. 474f., 23–39, folgt auf der Grundlage des 19jährigen Zyklus der Nachweis, daß zwischen rechnerischem Sonnen- und Mondlauf eine Differenz entstünde, setzte man den Mondmonat konsequent mit 29 einhalb Tagen an. 44 Die Zahlen ergeben sich als Produkt aus der Anzahl an Jahren eines cyclus decemnovenalis und der jährlichen Summe an Monaten, also 19*12 = 228; bei der Berechnung der Mondmonate sind darüber hinaus die sieben Mondschaltmonate (embolismi) hinzuzufügen, so daß sich als Summe hier 235 Monate ergeben.
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Da der Sonnenmonat 30 Tage und zehn einhalb Stunden umfaßt, lassen sich die 228 Sonnenmonate des 19jährigen Zyklus in 6939 Tage und 18 Stunden umrechnen. Dieselbe Anzahl an Tagen und Stunden müßte – aufgrund der Identität von Sonnen- und Mondlauf in 19 Jahren – auch in 235 Mondmonaten enthalten sein. Rechnet man jedoch nach, zeigt sich schnell, daß 235 Mondmonate gerade einmal 6932 Tage und 12 Stunden umfassen, sofern man an der Annahme festhält, daß ein Mondmonat lediglich 29 einhalb Tage umspannt. In neunzehn Jahren ergibt sich somit ein Defizit von sieben Tagen und sechs Stunden, um das der komputistisch ermittelbare Mondlauf sein Soll unterschreitet.45 Auf demselben Weg überprüft der Reichenauer die Angaben Columbans, an die er über den computus Notkers von St. Gallen gelangt sei.46 Columbanus zufolge umfasse der besagte Monat über die mehrfach erwähnte Dauer hinaus noch eine halbe Stunde und fast zehn Momente.47 Diese unscharfe Formulierung Columbans, es seien „fast“ zehn Momente, nahm Hermannus dem eigenen Bekunden zufolge zum Anlaß nachzurechnen. Veranschlagte man die Länge des Mondmonats mit 29 Tagen, 12 Stunden und exakt 10 Momenten, entsprächen die 235 Monate 6939 Tagen, zwanzig Stunden und 10 Momenten, überschritten die tatsächliche Zeitspanne also um zwei Stunden und zehn Momente.48 Eine Differenz zwischen der komputistischen Dauer des Sonnenlaufs und jener des cursus lunaris im 19jährigen Zyklus bestünde also weiterhin.49 Analog entwickelt Hermannus seinen eigenen Lösungsvorschlag. Zunächst greift er die Differenz von sieben Tagen und sechs Stunden zwischen rechnerischem Sonnen- und Mondlauf auf, die zustande 45 Hermannus, Epistola S. 475, 30–39, seine Schlußfolgerung ebd. Z. 35–39: „Sed si unus lunaris mensis nihil ultra xxviiii dies horasque xii haberet, ccxxxv menses non nisi vidccccxxxii dies horasque xii continerent, solaresque xviiii anni lunares totidem vii diebus et vi horis superarent“. 46 Notker, De quatuor quaestionibus compoti S. 181r–v (ed. Piper S. 317). Notker bezieht sich auf Ps.-Columbanus, De saltu lunae (ed. Walker S. 214); zu Pseudo-Columbanus vgl. Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 417, Anm. 83. 47 Zu den Maßeinheiten vorbildlich für die spätere Rezeption in den komputistischastronomischen Sammlungen Beda, De temporum ratione cap. iii–iiii (CCL 123B, S. 275– 283): „iii. De minutissimis Temporum Spatiis“; „iiii. De Ratione Vnciarum“. 48 Hermannus, Epistola S. 475, 44–53. – Bei der fraglichen ‚Columbanus‘-Stelle handelt es sich um dieselbe, die Notker zitierte (Ps.-Columbanus, De saltu lunae [ed. Walker S. 214]). 49 Eine ausführliche Besprechung des Inhalts bietet Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 415–420.
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kommt, wenn man den Mondmonat mit genau 29 einhalb Tagen Länge ansetzt. Da der auf dieser Basis berechnete Mondlauf in 19 Jahren um exakt diese Zeitspanne zu kurz sei, müsse sie ihm zugeschlagen, also gleichmäßig auf die 235 Mondmonate verteilt werden. Zu diesem Zweck verwendet Hermannus kleinere Zeiteinheiten als üblich, nämlich Punkte, Minuten, Teile, Momente und Ostenta. Da sich selbst mit ihrer Hilfe die Differenz nicht restlos auf die 235 Monate verteilen läßt, zieht er sogar die in der Komputistik ungebräuchlichen griechischen Atome heran,50 mit deren Hilfe die Division schließlich glückt. Hermannus ist nun in der Lage, die exakte Länge des Mondmonats mit 29 Tagen, zwölf Stunden, 29 Momenten und 348 Atomen anzugeben.51 Hermanns Vorgehensweise ist in jedem der vorgestellten Fälle die gleiche. Er setzt erstens voraus, daß Sonnen- und Mondlauf im 19jährigen Zyklus übereinstimmen, zweitens, daß ein Sonnenjahr exakt 365 einviertel Tage umfasse, und drittens, daß 19 Jahre 235 Mondmonaten entsprechen. Diese Einschätzung überführt er in ein mathematisch formulierbares Gleichungssystem, in dem er die über das Sonnenjahr errechnete Anzahl an Tagen den 235 Mondmonaten gleichsetzt.52 Dementsprechend ist seine Rechenoperation beim Ermitteln der eigenen Daten die Division oder im umgekehrten Fall, beim Überprüfen einer tradierten Monatsangabe, die Multiplikation.53 Seine Rech50 Zu den Ausnahmen hinsichtlich der kleineren Zeiteinheiten sowie zu den griechischen Atomen und ihrer Gebräuchlichkeit in der Komputistik Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 419. 51 „Sed cum haec stultae curiositati meae minime proficerent, his omissis caepi punctos, minuta, partes, momenta ostentaque vii dierum et vi horarum […] distribuere […]. Has item athomos suprascriptis mensibus distribuens, unumquemque cccxlviii perspicies accipere et nihil omnino remanere. Sicque ut reor absque omni dubietate lunaris mensis xxviiii dies, horas xii, momenta xxviiii, athomos cccxlviii dinoscitur habere“, Hermannus, Epistola S. 475 f., 54–68. – Beide Schritte – die Falsifizierung der ‚Forschungsmeinungen‘ und die eigenständige Ermittlung der Monatslänge – vollzieht Hermannus übereinstimmend im zweiten Teil der „Abbreviatio compoti“, der ebenfalls diesem Thema gewidmet ist. – Auch in den „Prognostica“ wendet der Reichnauer dieselbe Vorgehensweise an, allerdings stehen dort der siderische Mondmonat und diejenigen siderischen Hilfsgrößen im Mittelpunkt, die zur rechnerischen Verbindung von Sonnenlauf und siderischem Mondlauf benötigt werden. – Zum Inhalt bis hierher Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 422 f.; zur Bedeutung der wissenschaftlichen Leistung Hermanns (zur Genauigkeit seines Ergebnisses relativ zum heutigen Kenntnisstand) ebd. S. 425 f. 52 Parallel hierzu entsprechen im Gleichungssystem des siderischen Teils der „Prognostica“ die 19 Sonnenjahre 254 siderischen Mondmonaten. 53 Allem Anschein nach schätzte Hermannus insbesondere die Division, wie sich beispielsweise daran erkennen läßt, daß er sich Ergebnissen, die mittels Division zu erzielen sind, schrittweise annähert. Er zieht eine Einheit nach der anderen heran, bis
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nungen führt er konsequent durch, obwohl die Kalkulation mit den gewählten und zur restlosen Teilung erforderlichen kleinen Einheiten zu seiner Zeit von höchster Schwierigkeit war. In den „Prognostica“ muß er hierfür eigens eine neue Maßeinheit erfinden, deren Benutzung eine Herausforderung für jeden mittelalterlichen Rechner dargestellt haben dürfte.54 Auffällig an seinem Vorgehen, insbesondere in der „Abbreviatio“, ist die Beobachtung, daß Hermannus meist schrittweise vorgeht, also die verschiedenen verfügbaren Einheiten der Reihe nach ‚durchprobiert‘ und jedes der dabei erzielten Ergebnisse sorgfältig notiert.55 Die Überzeugung, auf rechnerisch-mathematischem Wege tradierte Angaben überprüfen und eigene Lösungsvorschläge entwerfen zu können, ist bemerkenswert. Diese Einschätzung bezieht sich nicht auf den Umstand, daß Äußerungen der Tradition einer kritischen Prüfung unterzogen werden.56 Bereits Hériger von Lobbes und Abbo von Fleury beispielsweise hatten sich in einem thematisch verwandten Bereich, dem Problem der Inkarnationsära, als ‚Traditionskritiker‘ hervorgetan. Doch war deren Vorgehens- und Argumentationsweise eine etwas andere. Abbo etwa machte Widersprüche zwischen verschiedeer eine passende gefunden hat, mit deren Hilfe die Division sich restlos durchführen läßt. Allerdings rechnet er jeden dieser Schritte konsequent durch, was seinem Vorgehen einen verspielten Zug verleiht. – Seine Versiertheit beim Umgang mit der Division zeigt sich auch in seinem „Abacus“, in dem vier von insgesamt fünf Kapiteln dieser Rechenart gewidmet sind; siehe Hellmann, „Der Rechenlehrer Herimannus“ S. 35–44, die Edition der fraglichen fünf Kapitel S. 54–67. 54 Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 423 f., weist darauf hin, daß Hermannus mit der Erfindung eigener Zeiteinheiten „eine Erweiterung des Bruchrechnens“ einleitet. Sowohl in der „Epistola“, als auch in der „Abbreviatio“ schafft er sich eine solche Größe, die particula, wenngleich dort ohne Not. In den „Prognostica“ ist er allerdings auf seine Erfindung angewiesen, da sich die dortigen Operationen nicht mehr mit den verfügbaren Zeiteinheiten oder Stammbrüchen hierzu bewerkstelligen lassen. – Zur Geschichte des Bruchrechnens Yeldham, „Notation of Fractions in Earlier Middle Ages“. 55 Siehe hierzu v. a. Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxxii–xxxiiii (Arundel 356, fol. 33v–34r); vgl. auch 3.3.1. Computus und natura, den Abschnitt 4. Ästhetik und Spielerei. – Vgl. hierzu das formal annähernd identische Vorgehen Pseudo-Columbans in Ps.-Columbanus, De saltu lunae, z. B. Z. 25–29 (ed. Walker S. 212): „Quibus omnibus in unam summam redactis, invenies horas cxcviii; subtrahe xxiiii, hoc est incrementi lunaris integrum diem; remanent clxxiiii, in momentis scilicet vidcccclx; fac semihoras et erunt cccxlviii; duc cxiii; remanent ccxxxv – tot etiam lunas decennovenalis cicli repperies“. 56 Zur Ordnung der Welt nach „Maß, Zahl und Gewicht“ Peri, „Omnia mensura“; vgl. den Sammelband Folkerts u. a. (Hrgg.), Maß, Zahl und Gewicht. Diesbezügliche Untersuchungen zum hier fraglichen Zeitraum fehlen noch weitgehend.
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nen Überlieferungen aus und versuchte über das Hinzuziehen weiterer Daten, zumeist der Historiographie, zu einer Beurteilung des Zweifelsfalls zu gelangen. Hierfür griff er auch auf die komputistisch-astronomischen Zyklen, namentlich den 532jährigen Osterzyklus, zurück. In seiner Argumentation spielt jedoch in erster Linie die Konstitution dieser Zyklen eine Rolle, nicht deren mathematische Struktur.57 Das Besondere an der Beweisführung Hermanns ist der Befund, daß sie eine – im modernen Sinne – mathematische ist. Hermannus übersetzt komputistisch-astronomische Größen und Vorgänge in Gleichungssysteme und setzt kommentarlos voraus, daß die Regeln der Mathematik eine adäquate Beschreibung der komputistisch-astronomischen Wirklichkeit liefern. Außerdem verwendet er die Mathematik ausschließlich in quantifizierender Weise. Er sucht also nicht nach ähnlichen Proportionen hier in der Mathematik, dort in der Wirklichkeit. Somit faßt er die Regeln der Mathematik nicht in ihrer analogisch-verweisenden Dimension auf, sondern in ihrer eindeutiggesetzesmäßigen Form. Erst hieraus bezieht seine Argumentation – sei es bei der Kritik an den Vorgängern, sei es beim Entwickeln eigener Lösungsansätze – ihren zwingenden Charakter. Beachtlich ist, daß Hermannus die weitreichenden und starken Vorannahmen, die einer solchen Verwendung zugrunde liegen, nirgends begründet oder mindestens bespricht. Daß der Reichenauer seine Konzeption und sein Instrumentarium für hinreichend legitimiert und leistungsfähig hielt, um in kritischer Form die Tradition zu diskutieren sowie zu beurteilen oder um auf eigene Rechnung Präzisierungsvorschläge zu entwerfen, läßt sich nur mittelbar erschließen. Es zeigt sich in der referierten Kommentarlosigkeit seines Rückgriffes auf die Mathematik beim Nachweis der Fehler der Tradition wie auch beim Entwurf des eigenen Lösungsansatzes oder in der ironischen Schärfe, mit der Hermannus namentlich Beda kritisiert.
57 Zu erinnern ist an die oben bereits angeführten Stellen, die erkennen lassen, daß Abbo sich völlig darüber im Klaren war, daß jedes einzelne Jahr im großen 532jährigen Zyklus über eine einmalige Kombination zentraler Charakteristika (wie Konkurrenten, Ostervollmond und Ostersonntag) verfügt, deren Übereinstimmung oder Differenz mit historiographischen und evangelischen Angaben die Grundlage seiner Kritik an der dionysianischen Inkarnationsära bildete, siehe hierzu 2.3.2. Tabellen und Kalendarien, mit Verweis auf die fraglichen Stellen in „Dionysius abbas“ (Berlin Phill. 1833, fol. 45r), der „Epistola prima“ (ebd. fol. 56r, 56v u. ö.) sowie dem „Prologus de ciclo magno paschae“ (Bern 306, fol. 1r); zu Abbos historiographischen und evangelischen Rückgriffen siehe den Abschnitt 1. Die traditionskritische Haltung, in diesem Paragraphen.
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4. Systemimmanenz und formale Einfachheit. Zu vermuten wäre, daß Hermannus nun zufrieden ist, da er ja das Ziel seiner Bemühungen erreicht und die exakte Länge des Mondmonats herausgefunden hat. Doch – so gesteht er selbst – das Ergebnis genügte ihm noch nicht; vielmehr drängte es ihn zu untersuchen, wieviel Zeit monatlich auf den Schaltzuwachs entfalle. Auch Beda hätte sich hieran seinerzeit versucht, sei aber zu keinem befriedigenden Ergebnis gelangt.58 Sogleich versichert er, es gehe ihm bei seinem Unterfangen nicht darum, sich dem englischen Gelehrten gegenüber hervorzutun, sondern er wolle den der Seele feindlichen Müßiggang vermeiden.59 Damit greift er in dezidiert apologetischer Absicht das Gegensatzpaar curiositas und ociositas wieder auf, das er bereits zuvor zur Begründung seines eigenständigen Ermittelns der Monatslänge herangezogen hatte. Als Antrieb für sein Vorgehen hatte er dort kommentarlos seine „stulta curiositas“ angegeben.60 Indem er dieser jetzt die ociositas gegenüberstellt und letztere wiederum in einer Weise aufgreift, wie sie in der „Benedicti regula“ diskutiert wird, nämlich als „animae inimica“, konnotiert er die curiositas eindeutig positiv.61 Vgl. Beda, De temporum ratione cap. xxxviiii (CCL 123B, S. 401–404), zum Schaltzuwachs, allerdings nur zu jenem Schaltzuwachs, der auf den noch heute gängigen Schalttag zurückzuführen ist. Dieser ist aufgrund der Konstruktion des Sonnenkalenders alle vier Jahre einzuschalten. Auf den eigentlichen Mondschaltmonat, der wegen der Differenz von Sonnen- und Mondjahr zu berücksichtigen ist, nimmt Beda nicht in vergleichbarer Weise Bezug, siehe ebd. cap. xlv (CCL 123B, S. 420–422), zu den embolismalischen Jahren; von embolismalischem Zuwachs ist dort nirgends die Rede. 59 „His ita inventis, nondum satisfacto quaerendi desiderio, caepi rursum vestigare, quantam ad supplendos xxx embolismorum dies morulam lunaris mensis supra xxx [zu erwarten eigentlich: xxviiii semis, NG] dies acciperet, et quod domno Bedae presbytero magnae difficultatis visum est, quantam ad incrementum bissextile destinaret, non quod me tanto doctori in aliqua mentis sagacitate praeferre vel aequiperare temptarem, sed ne ociositate animae inimica occupatus aliquo torperem“, Hermannus, Epistola S. 476, 69–75. – Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 422, interpretiert diese Berechnung als „Gegenprobe“. 60 „Sed cum haec stultae curiositati meae minime proficerent, […] caepi […] distribuere“, Hermannus, Epistola S. 475, 54–57; auch dort setzt er sich gegen Beda ab, indem er die Absicht formuliert, er habe begonnen, „punctos, minuta, partes, momenta ostentaque“ der errechneten Differenz zwischen Ist und Soll des komputistischen Mondlaufes in 19 Jahren zu untersuchen. In De temporum ratione cap. iii (CCL 123B, bes. S. 277 f.) hatte der Angelsachse das Rechnen mit den winzigen Zeiteinheiten in Verbindung mit der Astrologie gebracht und in Anlehnung an Augustinus als „uana et a nostra fide aliena […] observatio“ (S. 278) bezeichnet. Wenn Hermannus hier in einem Satz die Suche nach diesen kleinen Einheiten mit der ambivalenten curiositas zusammenbringt, ist auf eine bewußte Allusion zu schließen. 61 Zur curiositas: Benedicti regula cap. lviii, 6 (CSEL 75, S. 147); zur ociositas: ebd. cap. 58
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In den die „Epistola“ abschließenden Ausführungen läßt sich mit großer Klarheit erkennen, daß Hermannus nach formaler Vereinfachung und Einheitlichkeit strebt. Nachdem der Reichenauer wie angekündigt minutiös die besagten Zuwächse berechnet hat,62 präsentiert er „dem weniger Einsichtsvollen“ die Zeitangabe mit Hilfe der von ihm selbst erfundenen Maßeinheit, den particulae, die seiner Definition zufolge je aus 96 Atomen bestehen.63 Zum einen sei diese Einheit kürxlviii, 1 (ebd., S. 125). – Auch in der „Abbreviatio“ kommt Hermannus an zentraler Stelle, und zwar am Übergang vom lehrbuchartigen ersten Teil zum ‚systematischen‘ zweiten (cap. xxiiiif.), wieder auf diesen Aspekt zurück, stilisiert ihn dort aber in programmatischer Weise und wertet auf diesem Wege die curiositas gleichsam zur Tugend auf. In Form einer Zwischenreflexion schließt der Reichenauer den ersten, handbuchartigen Teil der „Abbreviatio“ ab, indem er feststellt, bis hierher habe er die „notwendigen“ und „grundlegenden“ Regeln des computus und deren rationes gemäß den Überlieferungen der patres referiert, obwohl diese altbekannt seien und seine Anstrengungen folglich strenggenommen überflüssig. Damit wirft er in rhetorischer Weise selbst die Frage nach der Rechtfertigung für seine Arbeit auf. Er liefert diese, indem er sich derselben legitimatorischen Grundlage bedient wie in der „Epistola“, diese aber noch deutlich ausbaut. Zur „Überwindung der Trägheit“ und zur „Schulung der Schwerfälligkeit von Erinnerungsvermögen und Geist“ habe er die Mühen auf sich genommen, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxiiii (Arundel 356, fol. 32r): „Hec de principalibus et necessariis compoti regulis et earum rationibus secundum patrum traditiones brevitati studentes elucubravimus cunctis nota et idcirco superflua dicentes, sed mei tamen necessariorumque meorum torporem excitantes et memorie ingeniique tarditatem exercentes“. Wie schon in seinem Brief reklamiert er demnach für sich, mit seiner Arbeit der Aufforderung der Benediktsregel nachgekommen zu sein. Dieser apologetische Rekurs auf den torpor und die tarditas bereitet rhetorisch kunstvoll das unmittelbar folgende, also das erste Kapitel des zweiten Teils der „Abbreviatio“ vor und stellt damit zugleich die Rechtfertigung für die gesamte weitere Argumentation bereit. Denn übergangslos und aufgrund des Rückgriffs auf das topische Gegenstück zu torpor und tarditas, die curiositas, gleichsam antithetisch spricht Hermannus einen Leser an, der – wie er selbst – von Neugier bewegt werde, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxv (Arundel 356, fol. 32r): „Si quem […] curiosiorem […] una mecum permoverit […]“. Auch für den zweiten Teil der „Abbreviatio“ nimmt der Reichenauer folglich für sich in Anspruch, gerade durch sein möglicherweise ungewöhnliches Tun seinen Verpflichtungen als Mönch getreu der Regel seines Ordensvaters nachzukommen. – Zur Ambivalenz der curiositas im hier fraglichen Zusammenhang Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 418f., mit ausführlicher Erörterung der geistesgeschichtlichen Hintergründe. – Zu berücksichtigen ist in diesem Kontext stets die negative Haltung Augustins gegenüber der curiositas, die er insbesondere mit Bezug auf die contemplatio mundi, und hier wieder expressis verbis auf die Himmelsbeobachtung artikuliert, bes. in seinen „Confessiones“ (v. a. im fünften Buch); zu diesem Aspekt Pfeiffer, Contemplatio Caeli S. 97– 104. 62 „[…]. Sicque in omni mense lunari ad incrementum bissextile xviiii momenta et athomos ccxxviii constat procrescere“, Hermannus, Epistola S. 476f., 76–92. 63 Zu dieser Einheit vgl. Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 423; Garlandus, De computo, wird später auf Hermanns Einheiten und ihre Definitionen zurückgreifen, allerdings die Bezeichnungen gerade vertauschen. Hermanns particulae heißen bei
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zer, zum andern einfacher in der Handhabung. Daraufhin rechnet er seine zuvor erzielten Ergebnisse, die Länge des Mondmonats sowie den Schaltzuwachs, in seine neue Einheit um.64 Auffällig an dieser neuen Einheit ist ihre Charakterisierung als „einfacher“. Bedenkt man die rechnerischen Kenntnisse und Hilfsmittel der Zeit, erscheint der Aufwand, die erzielten Ergebnisse in die neue Einheit umzurechnen, recht groß. Außerdem bietet dieses Umrechnen keine über das Erreichte hinausgehende Verbesserung oder Präzisierung. Hermanns Begriff der ‚Einfachheit‘ kennzeichnet folglich ausschließlich eine formale Qualität. Dieser Befund ist insofern bemerkenswert, als seine zentralen Charakteristika auch auf das übergeordnete Anliegen insgesamt zutreffen, die Mondkomputistik auf eine vereinheitlichte Größe umzustellen. Denn das Rechnen mit diesem ‚neuen‘ Mondmonat ist erheblich mühevoller und umständlicher als das mit dem ‚alten‘, ganztägigen und dessen kompensatorischen Hilfsgrößen.65 Ferner fällt auf, daß Hermanns gesamte Argumentation in der „Epistola“ regelwerkimmanent stattfindet. Den Anlaß, die exakte Länge des Mondmonats zu erforschen, bilden Diskrepanzen in den überlieferten Angaben der komputistischen Tradition. Auch die Erörterung selbst bleibt durchgängig immanent, insofern der Reichenauer aufgrund der Vorgaben der komputistischen Regeln die 235 Mondmonate den 19 Sonnenjahren gleichsetzt. Und schließlich bezieht er nirgends das erzielte Ergebnis, die präzise Monatslänge, auf einen externen Maßstab, beispielsweise die äußere Wirklichkeit. Berücksichtigt man das zuvor besprochene Streben Hermanns nach formaler Einfachheit, so legt diese Konzentration auf die immanenten Strukturen den Schluß nahe, daß es Hermannus beim Überarbeiten der kompu-
Garlandus folglich portiunculae, siehe ebd. ii, 4 (Paris BN lat. 15118, fol. 41r): „Porro portiunculam esse dicimus ducentesimam xxxvam partem hore unius et continet xcvi athomos“; demgegenüber zu den particulae ebd. (Paris BN lat. 15118, fol. 42v): „Si de hora una fiant cxxvii particule […]“. Dieses direkte Abhängigkeitsverhältnis Garlands von Hermannus ist der Forschung bislang entgangen. – Zu Garlandus Cordoliani, „Note sur un auteur peu connu“; Ders., „Le comput de Gerland“. 64 „[…]. Tales ergo particulas supra xxviiii dies et xii horas lunaris mensis clxxiiii habere probatur. E quibus lx embolismorum completioni tribuat, reliquas cxiiii bissextilibus diebus transmittat. […]“, Hermannus, Epistola S. 477, 93–100. 65 Die von Hermannus herangezogenen traditionellen sowie insbesondere die eigenständig entwickelten Einheiten sind für die praktische Verwendung, die ja maßgeblich durch Kopfrechnen und lediglich einfachste Hilfsmittel wie den abacus geprägt ist, überaus unhandlich und bergen außerdem ein weit größeres Fehlerpotential als das Rechnen auf der Grundlage von ganzen Tagen.
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tistisch-astronomischen Größen um das Ausformulieren eigener konzeptioneller Vorstellungen ging. Diese scheinen in erster Linie gekennzeichnet zu sein durch formale Einfachheit und immanente Kohärenz. Inhaltlich finden Hermanns Ausführungen an dieser Stelle ihr Ende. Er überantwortet das kleine Werk einem Freund, den er dazu auffordert, kritisch zu seinen Erörterungen Stellung zu nehmen, und verabschiedet sich mit einem kunstvollen Gedicht vom Adressaten.66 3.2.2. Der erste Teil der „Abbreviatio compoti“: Das komputistische Lehrbuch Formal zerfällt Hermanns komputistisches Hauptwerk in zwei Teile: erstens in einen knappen, handbuchartigen Überblick über die Grundlagen der Komputistik und zweitens in die Auseinandersetzung mit einem Spezialproblem. Auf den ersten Blick scheinen beide Teile unverknüpft nebeneinander zu stehen und auf je Unterschiedliches zu zielen. Schon die Gelehrten des 11. und 12. Jahrhunderts hatten offensichtlich einen ähnlichen Eindruck, wie sich noch heute an der Überlieferung der „Abbreviatio“ erkennen läßt. Während sie in zehn der insgesamt 18 bislang bekannten Manuskripte ganz oder annähernd vollständig vorliegt,67 enthalten sieben weitere Textzeugen lediglich einen der beiden Teile, ein Codex bietet nur Auszüge.68 Bemerkenswert ist, daß ausschließlich der erste, nie der zweite Teil isoliert tradiert wurde. Ein wesentlicher Grund für seine Beliebtheit und etwa doppelt so starke Verbreitung mag in dem Umstand liegen, daß er sich aus einer technisch-funktionalen Perspektive hervorragend als Lehrbuch der Komputistik im engeren Sinne eignet.69 Er faßt die Grundlagen der abendländischen Komputistik in einer Art und Weise zusammen, die ihn von den älteren computi unterscheidet. Als Charakteristika treten in diesem Zusammenhang in besonderem Maße hervor: seine Konzentration auf die technisch-funktionale Ebene, seine auf dieser Ebene Hermannus, Epistola S. 477, 101–112. Sieben Handschriften enthalten sämtliche Kapitel, bei drei weiteren fehlen nur ein respektive zwei Kapitel. 68 Die Informationen über die Handschriftenlage verdanke ich Arno Borst, der mir zum Erstellen der vorliegenden Arbeit seine unveröffentlichten, allerdings überaus weit gediehenen editorischen Arbeitsversionen der „naturkundlichen Schriften Hermanns des Lahmen“ zur Verfügung stellte. Über die Borst bereits bekannten Textzeugen hinaus sind mir bislang keine weiteren begegnet. 69 Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 427, bezeichnet die „Abbreviatio“ als ein „Lehrbuch der Zeitrechnung“; zur Beliebtheit dieses ersten Teils bei den Abschreibern aufgrund seiner Übersichtlichkeit und Verständlichkeit ebd. S. 428. 66 67
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beruhende finale Struktur und sein völliger Verzicht auf theologischphilosophische Ausdeutungen. Diese Aspekte sind für die Interpretation der Rationalität Hermanns als modellhaften Denkens von hoher Bedeutung und werden daher in der folgenden Analyse des ersten Teils der „Abbreviatio“ herausgearbeitet sowie auf ihre Implikationen hin untersucht. Der erste Teil der „Abbreviatio“ reicht bis einschließlich Kapitel xxiv der Schrift und läßt sich seinerseits in vier weitere Sinneinheiten untergliedern. Sowohl in der Abfolge dieser vier Abschnitte selbst, als auch in deren jeweiliger Untergliederung tritt die finale Struktur des Argumentationsgangs Hermanns und damit der konsistente Aufbau der Schrift deutlich hervor. Auf die Darstellung der allgemeinen kosmologisch-astronomischen Hintergründe (cap. i) folgt die sukzessive Herleitung der erforderlichen Größen und der zu ihnen führenden Regeln, zuerst für den Bereich Sonne-Wochentage (cap. ii–ix), dann für den Komplex Sonne-Mond (cap. x–xxii). Sämtliche komputistischen Größen und Verfahren besitzen in ihrer technischfunktionalen Dimension ja einen zweckhaften Charakter. Sie sind letztlich auf einen gemeinsamen Zielpunkt hin ausgerichtet: die Osterfestdatierung. Dieser Ausrichtung folgt die Gliederung des Materials in der „Abbreviatio“, indem Hermannus in den letzten beiden Kapiteln die zuvor präsentierte Sonnen- und Mondkomputistik zur Synthese, der Bestimmung des Ostertermins, zusammenführt (cap. xxiii–xxiv).70 Die finale Struktur, die der Reichenauer dem komputistischen Material auf diese Weise unterstellt, ist konstitutiv dafür, dieses Material als ein zusammenhängendes, aufeinander bezogenes und zielgerichtetes Regelwerk zu begreifen. Als regulierende ratio innerhalb dieses Regelwerkes läßt sich die Mathematik ausmachen und charakterisieren. Ein wesentliches Ziel der folgenden Ausführungen ist es, das Regelwerk selbst genauer zu bestimmen: in seiner gefügeartigen Struktur und seiner Herleitung aus causae, in seinem Verhältnis zur naturalis ratio und demgegenüber in seiner Konstruiertheit. An die inhaltliche Vorstellung des ‚komputistischen Lehrbuchs‘ schließt sich eine übergreifende Besprechung zentraler Punkte dieses Teils der „Abbreviatio“.71 70 Die einzige detailliertere Besprechung der „Abbreviatio“ bietet bislang Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 427–431; zum ersten Teil allerdings nur pauschal die Charakterisierung als „einen knappen Abriß von Bedas Grundannahmen und deren Anwendungen“, der in „Wahrheit […] auf den zweiten Teil“ vorbereite, ebd. S. 428. 71 Der erste Teil der „Abbreviatio“ bietet sich in besonderer Weise an, diesen Punkten nachzugehen, da er als „Lehrbuch der traditionellen Komputistik“ in inhaltlicher
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1. Das komputistische Lehrbuch. Gleich zu Beginn der „Abbreviatio“ gibt Hermannus einen Hinweis darauf, welche Intention er mit seiner Schrift verfolgt und welchen Adressaten er im Blick hat. In direkter Anrede wendet er sich an einen Leser, der die Regeln des computus sowie deren „causae ac rationes“ erforschen möchte, und weist darauf hin, daß hierzu an erster Stelle die Kenntnis der „compoti ratio naturalis“ vonnöten sei. Diese basiere auf dem Lauf der beiden Hauptgestirne, der Sonne und des Mondes, und sei von den Altvorderen entdeckt und an die Nachwelt weitergegeben worden.72 Im Anschluß an die knappe Absichtsbekundung wendet sich der Reichenauer dem kosmologischen Hintergrund seiner Ausführungen zu. Mit knappen, aber präzisen Strichen skizziert er die astronomischen Vorstellungen, auf die er seine Überlegungen stützt. Er erläutert seinem Leser, daß mit Ausnahme der Planeten sämtliche Sterne in der völlig runden Himmelssphäre fixiert seien und der Himmel selbst sich in einer Kreisbewegung von Ost nach West befände. Daraufhin beschreibt er den Tierkreis mit seiner Einteilung, die Bewegungen der Sonne und der übrigen Planeten weit unterhalb der Himmelssphäre, im klaren Äther, aber in gegenläufiger Kreisbewegung, also von West nach Ost.73 Nachdem er die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Planeten erklärt hat, kommt er zu dem Schluß, sich umgehend der Sonne und dem Mond zuwenden zu können. Denn in Übereinstimmung mit dem Lauf dieser beiden Gestirne sei schließlich, wie ja schon erwähnt, die ratio des computus entwickelt worden.74 Nach diesem einleitenden, den Zusammenhang von Mond- und Sonnenlauf klärenden Kapitel folgt der zweite Sinnabschnitt, der in diejenigen Größen einführt, die zur komputistischen Korrelation von
Hinsicht den gängigen computi am nächsten steht. Infolge dessen treten die Unterschiede zur traditionellen Komputistik besonders deutlich hervor. An den entsprechenden Stellen wird darauf hingewiesen. 72 „Qui compoti regulas ipsarumque regularum causas ac rationes perfecte volueris investigare, primo convenit scire quod omnis compoti ratio naturalis secundum duarum principalium cursus planetarum, solis videlicet atque lune, inventa ab antiquis nobisque tradita sit“, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. i (Arundel 356, fol. 28r). 73 Hermannus, Abbreviatio compoti cap. i (Arundel 356, fol. 28r). – Die präsumtive Vorlage ist Macrobius, Commentarii in somnium Scipionis i, 18, 1–4 (ed. Willis S. 70); i, 19, 8–13 (ebd. S. 74f.). 74 „Sed quia de illis et aliis huiusmodi satis superque a pluribus tam ethnicis quam catholicis viris tractatum est […]“, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. i (Arundel 356, fol. 28r).
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Sonnenlauf und Wochentagen erforderlich sind.75 Die Struktur dieses Komplexes ist in sachlicher Hinsicht wieder sehr einleuchtend. Hermannus bietet in einem ersten Schritt einen kurzen Überblick über die Bahn der Sonne und die hierfür maßgeblichen Zeitspannen.76 Außerdem weist er auf zwei Besonderheiten hin: auf den Schalttag, der dem Sonnenjahr alle vier Jahre hinzugefügt werde, sowie auf die je unterschiedlich angesetzte Länge der einzelnen Monate des Kalenderjahres, die nicht exakt der Verweildauer der Sonne in den einzelnen Tierkreiszeichen entspreche, sich aber immerhin alljährlich zur „natürlichen Anzahl an Tagen“ aufsummiere.77 Abgerundet wird der Abschnitt über die ‚Sonnenkomputistik‘ durch einige Anwendungsbeispiele, die dem Leser sowohl konkrete Verfahrensanweisungen an die Hand geben, als ihm auch den zielführenden Lösungsweg exemplarisch vor Augen stellen. Auf diese Weise führt Hermannus didaktisch gut aufbereitet in das für die Zeitbestimmung erforderliche komputistische Instrumentarium ein, über dessen Hintergründe und Verwendungsweise der Leser sorgfältig informiert wird.78 Die Struktur des folgenden Abschnittes zur Mondkomputistik entspricht der des vorausgehenden zu Sonnenlauf und Wochentagsberechnung. Auch die Erörterungen über den Mond und seine Bahn beginnen bei der Darstellung der allgemeinen astronomischen Grundlagen, soweit sie den Horizont zum Verständnis der verschiedenen Phänomene sowie der komputistischen Regeln im Zusammenhang mit dem Mond bilden. Daß Hermanns Einführung in die Mondkomputistik Hermannus, Abbreviatio compoti cap. ii–viiii (Arundel 356, fol. 28r–29r). Die fraglichen Zeiteinheiten sind der Monat, also die Verweildauer der Sonne in einem Tierkreiszeichen zu dreißig Tagen und zehneinhalb Stunden, der natürliche Tag mit seinen 24 Stunden, die Stunde als der Auf- beziehungsweise Untergang eines halben Tierkreiszeichens und das gesamte Sonnenjahr, das als Produkt aus der Monatslänge und den zwölf Sternzeichen 365 Tage und sechs Stunden umfasse, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. ii (Arundel 356, fol. 28r): „Sol maximus planetarum […]“. 77 „Sed he vi hore […] compleverint pro integro die februario […] adiciuntur. […] hocque tantum observatum est, ut omnes pariter naturalem anni numerum […] includerent […]“, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. ii (Arundel 356, fol. 28r–v). 78 Im Grunde durchzieht dieses Charakteristikum sein gesamtes komputistischastronomisches Werk, wie sich beispielsweise am exakt parallel aufgebauten nächsten Komplex, zur Mondkomputistik, erkennen läßt. Allerdings ist die Aussage mit Blick auf die „Prognostica“ insofern einzuschränken, als diese einen deutlich höheren Kenntnisstand bei ihrem Leser voraussetzen als der hier fragliche erste Teil der „Abbreviatio“. Manche seiner Vorüberlegungen gibt Hermannus dort überhaupt nicht an, sondern setzt sie als gewußt bei seinem Leser voraus. 75 76
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nicht gänzlich frei ist von Bezugnahmen auf die Sonne und ihren Lauf, ist zwangsläufige Konsequenz der Abhängigkeit der Leuchtkraft des Mondes vom Licht der Sonne. Aus der Position der beiden Gestirne relativ zueinander ergibt sich die jeweilige Phase des Mondes – in mittelalterlicher Terminologie: das jeweilige Mondalter –, also diejenige Referenzgröße, die zur Festlegung des alljährlichen Ostertermins heranzuziehen ist. Um diese Zusammenhänge für den Leser nachvollziehbar zu machen, beschreibt Hermannus den Mondlauf relativ zum Zodiak und relativ zur Sonne. Aus der Perspektive dieses Kapitels erweist sich nun die Qualität der Ausführungen des Eingangskapitels der „Abbreviatio“, in dem der Reichenauer die kosmologischen Gegebenheiten skizziert hatte. Denn vor diesem Hintergrund vermag der Leser leicht die Konstellationen und Abhängigkeiten zu durchschauen, die für die hier fraglichen Phänomene bestimmend sind. Hermannus kann die grundsätzliche Planetenbewegung – also auch die der Sonne und des Mondes – bezüglich des Fixsternhimmels und somit der Tierkreiszeichen als bekannt voraussetzen, so daß er unverzüglich zur näheren Charakterisierung namentlich der Mond- und Sonnenbahn übergehen kann. Vor diesem Horizont führt er die beiden Grundformen des Mondmonats ein, den synodischen sowie den siderischen, deren Bezugsgrößen und jeweilige Dauer er angibt.79 Nachdem er diesen für die mittelalterliche Komputistik zentralen Zusammenhang zwischen Mond- und Sonnenlauf klargestellt hat, wendet er sich der ‚Grundoperation‘ mittelalterlicher Zeitbestimmung schlechthin zu, der Mondalterberechnung.80 Als den Ausgangspunkt der komputistischen Regeln gibt er den Mondmonat und dessen Verhältnis zum Sonnenmonat an. Mit dieser Einschätzung hat er zielsicher dasjenige Problem benannt, dessen Lösung seit jeher die grundlegende Aufgabe der Komputistik darstellt. Die Notwendigkeit, komputistische Kalkulationen anzustellen, besteht aufgrund der Inkommen79 Hermannus, Abbreviatio compoti cap. x (Arundel 356, fol. 29r–v). – Als siderischen Mondmonat bezeichnet man jene Zeitspanne, die der Mond für einen Umlauf durch den Zodiak benötigt, um also von einem bestimmten Tierkreiszeichen wieder zu diesem zurückzukehren (ca. 27,333 Tage). Der synodische Mondmonat hingegen ist jene Periode, die zwischen zwei aufeinanderfolgenden Neumonden verstreicht (ca. 29,5 Tage). – Ausführlicher zur Terminologie Springsfeld, Alkuins Einfluß S. 35–38; einen modernen, für den Laien verständlichen Überblick über die verschiedenen Mondmonate aus astronomischer Sicht bietet Keller, Astrowissen S. 76–78. 80 Die Mondalterberechnung ist insofern die zentrale Operation der Komputistik im engeren Sinne, als mit ihrer Hilfe der Frühjahrsvollmond – eine der Rahmenbedingungen für die Osterfestdatierung – ermittelt wird.
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surabilität von Sonnen- und Mondlauf. Wegen der unterschiedlichen Dauer von Sonnen- und Mondmonat wandern die Mondphasen relativ zum jeweiligen Sonnenmonat immer weiter nach vorne, also auf dessen Beginn zu beziehungsweise in den vorausgehenden Monat hinein. Auf das Jahr gesehen ergibt sich so eine Verschiebung um etwa elf Tage. Analog zur Vorgehensweise im Bereich der Sonnenkomputistik informiert Hermannus den Leser mit seinen abschließenden Ausführungen zur Mondkomputistik wieder über die erforderlichen Hilfsgrössen und -konstruktionen, die zur Kompensation der erwähnten Verschiebungen zwischen Sonnenmonat und Mondphasen dienen.81 Die Gedankenführung folgt dabei den Sacherfordernissen und soll sowohl die natürlichen Hintergründe, als auch die gegenseitigen Abhängigkeiten der einzelnen komputistischen Größen und Hilfskonstruktionen transparent machen. Wie bereits den Abschnitt über die Sonnenkomputistik so vervollständigt Hermannus auch den über die Mondkomputistik durch die Erläuterung der Verfahrensregeln zum Ermitteln der fraglichen Größen und rundet ihn wieder mit Beispielrechnungen ab.82 Die letzten beiden Kapitel des komputistischen Lehrbuches sind der erwähnten Synthese aus Sonnen- und Mondkomputistik gewidmet: der ‚Osterkomputistik‘. Dieser Kulminations- und Schlußpunkt ist überaus konsequent, bildet doch die Osterfestdatierung den eigentlichen Kristallisationskern mittelalterlicher Zeitbestimmung. Zunächst referiert Hermannus die Ostergrenzen, also die astronomischen Konstellationen, welche die Osterzeit ankündigen und bestimmen. Erneut gibt er die Gründe für diese komputistischen Gepflogenheiten an, die diesmal auf tradierten Vorschriften fußen: auf der Autorität des Alten Testamentes, den Bestimmungen der Kirchenväter sowie auf vielfältigen Glaubensgeheimnissen – letztere seien von Beda und vielen anderen ausgiebig behandelt worden. Ohne daß Hermannus hier explizit wird, läßt sich erschließen, daß er in diesem Zusammenhang auf allegorische Ausdeutungen des Ostertermins anspielt.83 Wenngleich davon auszuge81 Es handelt sich hierbei um die Mondschaltmonate und wann diese eingefügt werden, um den 19jährigen Zyklus, den Mondschalttag und den Mondsprung, die Mondepakten sowie die Mondregularen; Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xi–xviii (Arundel 356, fol. 29v–31r). – Zu den komputistischen Termini siehe erneut Springsfeld, Alkuins Einfluß S. 35–38. 82 Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xviiii–xxii (Arundel 356, fol. 31r–v). 83 Zu diesem Schluß berechtigt die Formulierung: Hermannus bezieht sich expressis verbis auf das „Mysterium“ und verweist direkt auf Beda und die Festlegung der Oster-
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hen ist, daß der zeitgenössische Leser diese Andeutung verstand, fällt doch auf, daß Hermannus selbst wieder keine allegorischen Ausdeutungen bietet. Völlig unkommentiert nennt er lediglich die altbekannten astronomisch-komputistischen Daten: als Ausgangspunkt das Frühjahrsäquinoktium an den zwölften Kalenden des April und den darauffolgenden ersten Frühjahrsvollmond.84 In derselben Weise setzt er die Aufzählung der übrigen Ostergrenzen und -regeln fort, verweist auf mnemotechnische Hilfsmittel wie Ostertafeln oder altbekannte komputistische Merkverse, mit deren Hilfe sich sowohl der terminus paschalis als auch das Datum des Osterfestes leichter ermitteln lassen.85 Zuletzt leitet er zum großen Osterzyklus, dem 532jährigen Zyklus über, dessen ratio er knapp skizziert.86 Zum Abschluß dieses ersten Teils der „Abbreviatio“ kommentiert er seine Arbeit bis zu diesem Punkt und rechtfertigt sie als Erfüllung seiner monastischen Pflichten gemäß der Benediktsregel.87 2. Erörterung zentraler inhaltlicher Aspekte. Bereits aus den referierten Eingangsbemerkungen der „Abbreviatio“ läßt sich ableiten, daß Hermannus mit seiner Schrift komputistisches Grundlagenwissen vermitteln grenzen. Diese Verbindung – der Ostergrenzen und ihrer „mystischen“ Begründung – bietet Beda in cap. lxiiii von „De temporum ratione“, wo er die gängigen allegorischen Auslegungen der astronomischen Gegebenheiten (Äquinoktium, Vollmond) und des jährlichen Wanderns des Osterfestes ausformuliert. Diese finden sich noch im von Hermannus zitierten computus Notkers des Deutschen, siehe Notker, De quatuor quaestionibus compoti S. 172v–173r (ed. Piper S. 312). 84 „Veteris testamenti auctoritate et ecclesiastica patrum catholicorum institutione certi et multiplicis causa misterii que a domino Beda presbytero et aliis pluribus pleniter tractatur decretum est, ut pascalis temporis sacramentum […] celebretur equinoctium […]. Hec autem xiiiia luna nostri pasche terminus appellatur“, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxiii (Arundel 356, fol. 31v). 85 Hermanns Verweis auf die Merkverse legt aufgrund der Formulierung den Schluß nahe, daß er sich in diesem Zusammenhang in erster Linie auf die sogenannten ‚Engelsverse‘ des Pachomius bezog, vgl. Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxiii (Arundel 356, fol. 32r): „Quidam etiam, ut facilius eadem xiiiie lune loca memoria teneri quirent, quibus omnibus notis hec versibus compraehendit et regulares ferie eorundem locorum adiecit, ut iunctis anni cuiuslibet concurrentibus feria quoque in qua xiiiia luna contingat inveniri valeat“; der Aufbau der einzelnen Verse des Pachomius entspricht jeweils dem des ersten: „Nonae aprilis norunt quinos“, wobei die hintere Zahl – im ersten Vers also die fünf – die entsprechende Regulare angibt; zu den ‚Engelsversen‘ siehe Jones, „A Legend of St. Pachomius“. 86 Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxiiii (Arundel 356, fol. 32r). 87 Siehe hierzu die Hinweise auf die curiositas in 3.2.1. Die „Epistola de quantitate mensis lunaris“; vgl. bes. die umfassende Erörterung in Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 420f.
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möchte. Dabei ist es sein Ziel, über die bloßen Regeln der Komputistik hinaus auch die ihnen zugrunde liegenden „rationes“ zu erklären. Begrifflich stellt er sich mit diesem Vorhaben, die „rationes“ freizulegen, in die Tradition einer Wissensvermittlung, die auf dem ars-Konzept Alkuins basiert und in den oben untersuchten komputistisch-astronomischen Sammlungen ihren besonderen Niederschlag fand.88 Angesichts dieser Intention überrascht der gegenüber jenen Zeugnissen veränderte Charakter der „Abbreviatio“, der auch auf einen Bedeutungswandel des ratio-Begriffes schließen läßt. Bereits in der schemenhaften Beschreibung des Himmelsaufbaus und der astronomischen Bewegungen kommt ein durchgängiges Kennzeichen der Gedankenführung Hermanns zum Ausdruck. Was er darstellt und unter welchen Hinsichten er es präsentiert, ist ganz den Erfordernissen desjenigen Gegenstandes unterworfen, über den er in seiner Schrift unterrichten möchte: im vorliegenden Fall über die Komputistik im engeren Sinne. Er sammelt daher nicht beliebiges oder möglichst vielseitiges kosmologisches Material, sondern umreißt die astronomischen Gegebenheiten nur in dem Maße, in dem im Bereich der Komputistik auf sie zurückgegriffen wird. Wie sich im weiteren Verlauf der Analyse noch klarer erkennen läßt, ist für ihn bei diesem ‚Rückgriff‘, wie bei der Komputistik selbst, ausschließlich die technischfunktionale Dimension ausschlaggebend. Die beiden für die mittelalterliche Zeitrechnung entscheidenden Himmelsleuchten sind die Sonne und der Mond. Von komputistischer Relevanz ist der übrige Himmelsglobus nur, insofern er als Hintergrund, also als Bezugsrahmen für die Bewegungen der beiden Hauptgestirne dient, wofür in erster Linie der Tierkreis benötigt wird. Auf die Beschreibung dieser Gegebenheiten beschränkt sich Hermannus folglich. Völlig unberücksichtigt bleibt der kosmologische Rahmen in seiner möglichen Funktion als spekulativer Deutungshorizont. Genauso wenig ist der Reichenauer an einer breiten Sammlung astronomischen oder kosmologischen Wissens interessiert, die ja die Zusammenstellungen der oben diskutierten komputistischastronomischen Anthologien kennzeichnete.89 88 Für das Konzept Alkuins wurde dessen „Disputatio de vera philosophia“ herangezogen; hierzu bes. 1.3.2. Alkuins „Disputatio“: Zum Inhalt (Abschnitt 6. Die ratio rerum); vgl. auch die dort genannten Ausführungen in Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 23–35. 89 Vgl. hierzu exemplarisch den Überblick über die verschiedenen Themenkomplexe der „Libri computi“ in 2.2.1. Die komputistisch-astronomischen Sammlungen. – An diesen Charakteristika wird außerdem der Unterschied zu Bedas Hauptwerk zur
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Aufgrund seiner Ankündigung zu Beginn der „Abbreviatio“ läßt sich erschließen, daß er mit solchen Erklärungen sein Vorhaben zu realisieren suchte, das komputistische Regelwerk aus seinen „naturales causae“ heraus zu erklären. Für das komputistische Regelwerk insgesamt liefert der Reichenauer ein Skizze des Himmelsglobus und seiner elementaren Bewegungen. In vergleichbarer Weise macht er für jede der komputistischen Größen diejenigen natürlichen Phänomene namhaft, denen sie korrespondieren, respektive deren Beschreibung innerhalb des Regelwerkes sie darstellen.90 Diese Beobachtungen erlauben es, Rückschlüsse auf den Begriff der „causae ac rationes naturales“ ziehen, die er für den Leser der „Abbreviatio“ freilegen will. Was sich überhaupt als „Ursache“ heranziehen läßt, ist eine Frage der technisch-funktionalen Ebene. Zu diesem Schluß berechtigt Hermanns inhaltliche Konzentration auf ebendiese Ebene und sein völliger Verzicht auf theologisch-philosophische Rückbindung der besprochenen Gegenstände im Rahmen der eigenen Argumentation. Er greift die komputistisch-astronomischen Zusammenhänge ausschließlich in ihrer fachwissenschftlichen oder natürlichen Dimension auf.91 Dem entsprechen die causae, die er namhaft macht. Sehr klar zeigt sich dies beispielsweise bei seinen Äußerungen zum Mondsprung. Ohne nach einer tieferen Bedeutung dieser Größe zu suchen, macht Hermannus deutlich, daß es sich hierbei um ein Rechenkonstrukt handele. Keine „einfachere und wahrere ratio“ scheine es ihm hier zu geben, als daß dieser Sprung zur rechnerischen Kompensation im Rahmen der Mondkomputistik benötigt werde.92 Im zweiten Teil der „Abbreviatio“ wird er noch ausZeitweisung, „De temporum ratione“, deutlich sichtbar. Schon der Aufbau dieser Schrift folgt ja ganz anderen Kriterien – dominant war etwa die heilsgeschichtliche Bewegung –, die einzelnen Kapitel sind durch die skizzierte Synthese von Fachwissen, das oft weit über den engeren Zusammenhang hinausgeht, und Exegese gekennzeichnet, schließlich charakterisiert Beda die einzelnen Größen nicht als Konstituenten eines finalen Gesamtgefüges. Hierauf ist im weiteren Verlauf der Arbeit noch zurückzukommen. 90 Vgl. hierzu die bereits angeführten Passagen, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. i (Arundel 356, fol. 28r; zum Himmelsglobus); ebd. cap. ii (Arundel 356, fol. 28r–v; zur Sonne); ebd. cap. x (Arundel 356, fol. 29r–v; zum Mond). 91 Der Eindeutigkeit halber soll an dieser Stelle nochmals hervorgehoben werden, daß der Naturbegriff – sofern er nicht in Anführungszeichen steht und nichts anderes angegeben wurde – auch weiterhin in demselben Sinn verwendet wird wie in den vorausgehenden Teilen dieser Studie (für eine Begriffsbestimmung siehe die Einleitung dieser Arbeit). 92 „De saltu autem lune […] nulla mihi facilior ac verior ratio videtur, quam quod ideo tantum unius mensis lunam […] uno die minorem […] calculamus, ut in xixnali
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drücklicher, wenn er behauptet, diesen Sprung gebe es gar nicht in der Natur, sondern nur in der „computatio“.93 Eine vergleichbare Sachhaltigkeit zeigte sich, wie oben besprochen, in seiner Darstellung der astronomischen Hintergründe im ersten Kapitel der „Abbreviatio“.94 Ähnlich referiert er zu Beginn der „Prognostica“ nur solche Hintergründe, die zu einer fachwissenschaftlichen Erklärung derjenigen astronomischen Konstellationen erforderlich sind, die zum Eintreten einer Finsternis führen.95 Weitergehende Fundierungen, sei es in Form einer allegorisierenden Auslegung oder in Gestalt einer philosophischen Letztbegründung, liefert Hermannus in keiner seiner Schriften.96 Somit ist an dieser Stelle erstens festzuhalten, daß die Begriffe „causa“ und „ratio“ von Hermannus austauschbar verwendet werden, wie sich schon auf sprachlicher Ebene aufgrund der Konjunktion „causae ac rationes“ erkennen läßt. Zweitens stehen beide Begriffe für Zusammenhänge auf der fachwissenschaftlichen Ebene und beziehen sich folglich auf die Struktur oder die Konstitution der jeweils betroffenen Gegenstände. Vergegenwärtigt man sich in diesem Kontext nochmals die Charakteristika der komputistisch-astronomischen Anthologien, so zeigt sich sowohl die Nähe, als auch die Distanz zwischen Hermanns Schriften und den Sammlungen im Umgang mit den rationes rerum. Gerade mit Blick auf den zuletzt besprochenen Aspekt läßt sich Hermanns Bemühen um die fachwissenschaftlichen Zusammenhänge und Hintergründe als konsequente Fortsetzung des Interesses seiner Vorgänger deuten,
ciclo solis et lune cursum coequemus“, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xiiii (Arundel 356, fol. 30v). 93 „[…] nec aliquem [sc. mensem lunarem, NG] propter saltum lune qui quantum ad naturam nihil est a nobis adbreviari“, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxxvi (Arundel 356, fol. 34r). 94 Vgl. hierzu die kurze Charakterisierung von cap. i (Arundel 356, fol. 28r) zu Beginn dieses Kapitels. 95 Der Charakter der Erklärungen entspricht jener Art von Exzerpten, die in den vorausgehenden Teilen der Arbeit insbesondere im Zusammenhang mit den komputistisch-astronomischen Sammlungen besprochen wurden. Vgl. beispielsweise die Plinius-Exzerpte in den „Libri computi“ oder die Calcidius-Exzerpte im „Computus“ Abbos. 96 Vgl. im Unterschied hierzu beispielsweise Isidor, De natura rerum xv, 3 (ed. Fontaine S. 228; zur Sonne als Christus); ebd. xviii, 6 (ebd. S. 242–244; zum Mond als Kirche), mit der gängigen Auslegung der Sonne als Christus und des Mondes als der Kirche; Beda, De temporum ratione cap. viii–x (CCL 123B, S. 299–312), in denen Beda nicht weniger als acht verschiedene „species hebdomadis“ unterscheidet und auslegt. Entsprechend allegorisierende Anklänge finden sich noch bei Notker dem Deutschen, Notker, De quatuor quaestionibus compoti S. 172v–173r (ed. Piper S. 312).
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‚neues‘ Wissen über die Natur zu gewinnen und dieses – zunächst unausgedeutet – in ihren Anthologien zu versammeln. Jedoch trat in diesen Sammlungen, und zwar besonders am Beispiel des „Computus“ Abbos, noch eine andere, weitergehende Form der Auseinandersetzung mit den rationes rerum in Erscheinung. Abbo versuchte, mittels der erörterten, vor allem neuplatonisch, aber auch peripatetisch geprägten Verfahren die Wirklichkeit als eine geordnete transparent zu machen und in dieser Geordnetheit als Abbild des unum zu interpretieren. Eine Auseinandersetzung mit den rationes diente somit – jedenfalls in letzter Instanz – ihrer Ausdeutung, die auf dem Verweisverhältnis von ordo und unum beruhte. In Abgrenzung hierzu sind Hermanns „causae ac rationes naturales“ als die ‚nackten‘ fachwissenschaftlichen Hintergründe oder Ursachen der verhandelten komputistisch-astronomischen Phänomene zu bezeichnen. Eine Vergegenwärtigung ihres Verweispotentials nimmt der Reichenauer nicht vor. Seine Konzentration auf ausschließlich solche Zusammenhänge korrespondiert seiner Fokussierung des komputistischen Regelwerks unter einer technisch-funktionalen Perspektive. Genauso, wie er auf eine tiefere Ausdeutung komputistischer Details verzichtet, blendet er die Frage nach einer weiterreichenden Fundierung und schließlich nach der philosophischen Letztbegründung der fachwissenschaftlichen causae aus seinen Erörterungen aus. Strukturell, aber auch begrifflich erinnert dieser Befund an Ansätze im späten 11. sowie im 12. Jahrhundert, die Natur secundum physicam zu entdecken.97 Auffällig ist der deutliche Unterschied, den Hermannus zwischen komputistischen und ‚natürlichen‘98 Größen macht. Exemplarisch ist 97 Zu verweisen ist hier in erster Linie auf Adelard von Bath sowie die sogenannte Schule von Chartres; hierzu Speer, Die entdeckte Natur, am Beispiel der causae rerum bei Adelard S. 52–65 oder übergreifend S. 293 f., der als „Kennzeichen der Chartreser Naturphilosophie“ deren „unifikatorische Gestalt“ ausmacht, „die sich in dem Anspruch ausdrückt, die den Naturphänomenen zugrundeliegenden ‚causae rerum‘ auf gemeinsame letzte Ursachen zurückzuführen, die umgekehrt den gesamten ‚mundus‘ als den Gegenstand der physica bestimmen“, ebd. S. 293. – Zu den im gegenwärtigen Zusammenhang relevanten Charakteristika ausführlicher unten, 3.3.3. Aequalitas als ratio naturalis, der vorliegenden Arbeit (exemplarisch zu Thierry von Chartres). – Vgl. in diesem Kontext außerdem die Begrifflichkeit Garlands in dessen computus, die im übrigen zwischen natura und physica schwankt, z. B. Garlandus, De computo ii, „Prologus“ (Paris BN lat. 15118, fol. 39r): „[…] aliqua ante nos quod sciamus a nemine pertractata de scola phisice eruta calculamus“; ebd.: „Et in superiori quidem partim naturam, partim auctoritate secuti sumus“; ebd.: „Hic vero compotus dumtaxat naturalem explanare intendimus“; ebd. ii, 14 (Paris BN lat. 15118, fol. 46v): „His ad inuentionem deliquit luminum amborum necessario in difficultate phisica prelibatis“, u. ö. 98 Da sich der Naturbegriff in diesem Fall auf die Terminologie Hermanns bezieht,
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auf seine Reflexionen zum Schalttag sowie zur wechselnden Länge der Kalendermonate zu verweisen. Anders als die astronomischen Erläuterungen zum Sonnen- und Mondlauf kennzeichnet Hermannus diese beiden Größen als menschliche Vereinbarung. Den Schalttag fügten „die Lateiner“ dem Kalender in jedem vierten Jahr als vollständigen Tag hinzu, und die kalendarische Monatseinteilung lasse sich auf das „freie Belieben der Alten“ zurückführen. Mit dieser Differenzierung zwischen Größen, die eine ‚natürliche‘ ratio besitzen, und solchen, die auf menschlicher Vereinbarung beruhen, greift der Reichenauer eine Unterscheidung auf, die sich bereits bei der Untersuchung der „Epistola“ abzeichnete. Verschiedene Indizien führten dort zur Annahme, daß er kategoriell trennt zwischen Zyklen als solchen und dem komputistischen Regelwerk als der Beschreibung dieser Zyklen.99 Im vorliegenden Beispiel greift er zur Kennzeichnung der verschiedenen Sphären auf eine Begrifflichkeit zurück, die von Beda vorgeprägt ist. Die Vermutung liegt daher nahe, daß er zugleich mit der Begrifflichkeit auch das mit ihr formulierte Konzept übernahm. Auf der sprachlichen Ebene lehnt sich Hermannus an die Zuordnung der rationes temporum zu drei verschiedenen Bereichen an, die Beda in seinem konzeptionell relevanten zweiten Kapitel von „De temporum ratione“ vornahm. Neben der vom Reichenauer hier nicht angeführten göttlichen Autorität verwies der Angelsachse dort noch auf die Natur und die menschliche Konvention als mögliche Gründe für Zeiteinteilungen.100 Mit Blick auf diese beiden zuletzt genannten Bereiche geht Hermannus noch einen Schritt weiter als seine Vorlage, indem er unter die menschliche Vereinbarung das gesamte komputistische Regelwerk subsumiert. Der computus ist infolge dessen in seiner Perspektive von Grund auf ein menschliches Konstrukt, das sich lediglich seinerseits auf Unterschiedliches bezieht: zum einen auf Größen mit einer ‚natürlichen‘ ratio wie den „dies naturalis“, zum andern auf menschlich vereinbarte Größen wie den Schalttag.101 Diese scharfe Unterscheidung zwischen ‚natür-
wird er hier – wie in den folgenden Ausführungen in einem solchen Fall – in Anführungszeichen gesetzt. 99 Siehe oben, 3.2.1. Die „Epistola de quantitate mensis lunaris“. 100 Beda, De temporum ratione cap. ii (CCL 123B, S. 274f.). 101 Im Unterschied hierzu Abbo von Fleury, der die komputistischen Zyklen selbst als „circulos quos natura formavit“ bezeichnet, Abbo, Epistola prima (Berlin Phill. 1833, fol. 56v).
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licher‘ ratio und konstruiertem, vereinbartem computus spielt eine zentrale Rolle im modellhaften Denken des Reichenauers.102 Ihre besondere Kontur gewinnt diese Differenzierung angesichts Hermanns Verzicht, die von ihm behandelten Gegenstände an philosophische oder theologische Reflexionen rückzubinden. Auf diesen Aspekt soll daher nun der Blick in erster Linie gerichtet werden. Der Reichenauer führt im Anschluß an die eben exemplarisch herausgegriffenen Ausführungen zum Schaltjahr und den Kalendermonaten diejenigen Hilfsgrößen ein, die zur Korrelation von Sonnenkalender und Wochentagseinteilung erforderlich sind.103 In diesem Zusammenhang wendet er sich unter anderem der Ursache für die alljährliche Verschiebung des Wochentages um einen, in Schaltjahren um zwei Tage zu. Der Grund hierfür liege in der Einrichtung der Siebentagewoche, die kein restloser Teiler der 365 Tage des Jahres sei, sondern zu einem Überhang von einem Tag führe. Diese Wocheneinteilung wurde einst – Hermanns Auskunft zufolge – durch die „Autorität des göttlichen Gesetzes“ und die „Gewohnheit der Heiden“ bestimmt.104 Damit lehnt er sich zwar inhaltlich an die Erläuterungen an, die Beda in „De temporum ratione“ im Rahmen des Kapitels „De hebdomada“ bot,105 unterscheidet sich aber in der Darstellungsweise wie auch der Einbettung seiner Ausführungen deutlich von letzterem. Bereits Beda weist darauf hin, daß die Woche eine Einrichtung „menschlicher Gewohnheit“ sei. Durch die unmittelbar anschließende 102
An dieser Stelle zeigt sich deutlich die konzeptionelle Verschiebung gegenüber dem Verhältnis von Natur und menschlicher Gewohnheit in der älteren komputistischastronomischen Literatur; vgl. hierzu die in dieser Hinsicht undifferenzierte Einschätzung in Wallis, „Images of Order“ S. 48, 50, u. ö., die im zweiten Kapitel dieser Arbeit sowie im vorausgehenden Paragraphen kurz angesprochen wurde; angesichts der erzielten Ergebnisse erscheint ihr pauschales Urteil, dem zufolge strikt zwischen einer „natürlichen Zeit“ und einer „computus-Zeit“ unterschieden worden sei, als anachronistisch. 103 Es handelt sich hierbei um die Konkurrenten und Regularen. Diese Konstrukte dienen dazu, den jährlich relativ zu den Kalenderdaten wandernden Wochentag zu ermitteln; hilfreiche Erläuterungen der technischen Termini bietet Springsfeld, Alkuins Einfluß S. 35–38. 104 „Cum ergo hic certus numerus dierum anni sit, divine legis auctoritas et gentilium consuetudo ebdomadas septenis semper diebus in se redeuntes habere decrevit“, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. iii (Arundel 356, fol. 28v). 105 „Hebdomada graece a septenario numero nomen accepit, humana quidem consuetudine septenis solum acta diebus, sed scripturae sacrae auctoritate multis speciebus insignis quae tamen cunctae, ni fallor, ad unam finem spectant, nos scilicet admonentes post operum bonorum perfectionem in spiritus sancti gratia perpetuam sperare quietem“, Beda, De temporum ratione cap. viii, 1–6 (CCL 123B, S. 299).
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Beteuerung, dank der „Autorität der heiligen Schrift“ zeichne sie sich allerdings in heilsgeschichtlicher Hinsicht aus, wird ersichtlich, daß die zuvor genannte „menschliche Gewohnheit“ der consuetudo ante legem entspricht und somit von Hermannus zurecht als „gentilium consuetudo“ bezeichnet wird. Während jedoch die „menschliche Gewohnheit“ und die „Autorität der Schrift“ bei Beda in einem heilsgeschichtlichen Verhältnis zueinander stehen, deren Zielpunkt die „quies perpetua“ infolge der „gratia spiritus sancti“ bildet, rückt der Reichenauer die beiden Quellen komputistischer Überlieferung kommentarlos nebeneinander. Weder qualifiziert er ihr Verhältnis zueinander, noch stellt er seine Ausführungen überhaupt in den Rahmen heilsgeschichtlicheschatologischer Erwägungen. Er greift die Woche ausschließlich in ihrer natürlichen Dimension auf, deren besondere Auswirkungen im komputistischen Regelwerk es zu berücksichtigen gilt. Weitergehende Ausdeutungen der komputistischen Details hin auf den theologischen Horizont, innerhalb dessen sie stehen und der erst ihre tiefere Bedeutung kenntlich macht, finden in Hermanns komputistischen Erörterungen keinen Platz.106 Während Hermannus also einerseits die fachwissenschaftlichen causae für die komputistischen Hilfsgrößen erklärt, verdeutlicht er andererseits die komputistischen Regeln, indem er die Funktions- und Anwendungsweise der verschiedenen Größen erläutert und diese gegebenenfalls mit Beispielen illustriert. Wie schon in der „Epistola“ läßt er auch in der „Abbreviatio“ keinen Zweifel daran aufkommen, daß diese Regeln auf die Vorfahren, die „antiqui doctores“, zurückgehen. Die Formulierung stützt die oben geäußerte Annahme, daß Hermannus die komputistischen Regeln als menschliche Konstrukte begreift, und gestattet weitere Präzisierungen. Sie wurden von den „antiqui doctores“ erklärt und zeichnen sich dadurch aus, „nicht sehr vom Wahren abzuweichen“.107 Im Umkehrschluß bedeutet diese Äußerung, daß die im computus produzierten Daten an einer unabhängig von ihnen existieren106 Ein weiteres Beispiel hierfür bietet das zweite Kapitel, in dem Hermannus die komputistisch relevanten Zeiteinheiten einführt wie das Jahr, den Tag und die Stunde. Während Beda in „De temporum ratione“ diese Einheiten in ihren verschiedenen Bedeutungsdimensionen durchleuchtet, fokussiert der Reichenauer sie lediglich als technisch-funktionale Größen der Komputistik; zu Beda vgl. oben, 1.2. Beda Venerabilis: „De temporum ratione“ (die exemplarische Besprechung seiner Interpretation des Tages). 107 „[…] quasdam nobis antiqui doctores commentati sunt regulas per quas omni die lunaris non multum a vero devians inveniri poterit etas“, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xi (Arundel 356, fol. 29v).
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den „Wahrheit“ zu messen sind.108 Im Vorgriff auf die Analyse des zweiten Teils der „Abbreviatio“ ist erstens zu festzuhalten, daß Hermannus mit der vagen Formulierung, die Daten wichen „non multum a vero“ ab, bereits diejenige systematische Stelle andeutet, an der er sein Spezialproblem des zweiten Teils festmachen wird. Den Anlaß, die exakte Länge des Mondmonats zu bestimmen, bildet in der „Abbreviatio“ die Differenz zwischen tatsächlichem und komputistisch berechnetem Mondalter.109 Zweitens ist darauf zu verweisen, daß das als Maßstab angeführte „Wahre“ in einem engen Zusammenhang mit Hermanns Naturbegriff steht. Hierauf wird im folgenden, bei der Besprechung des zweiten Teils der „Abbreviatio“, detaillierter eingegangen.110 108 Diese Unterscheidung zwischen dem Regelwerk und einer als Maßstab fungierenden „Wahrheit“ tritt an einem im weiteren Verlauf der „Abbreviatio“ folgenden Beispiel sehr plastisch hervor, und zwar im Kapitel über den Mondsprung, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xiiii (Arundel 356, fol. 30v). Bereitete der Mondsprung vielen mittelalterlichen Komputisten Kopfzerbrechen, läßt sich für Hermannus wieder eine pragmatische und nüchterne Vorgehensweise attestieren. Er konstatiert, der Mondsprung diene dazu, den „Lauf der Sonne mit dem des Mondes im 19jährigen Zyklus“ zur Übereinstimmung zu bringen. Er stellt also eine rein rechnerische Kompensation für die ungenaue Zählweise in ganzen Tagen dar. Auf diese Weise charakterisiert Hermannus das komputistische Regelwerk sehr deutlich als ein menschengemachtes Konstrukt, das planvoll entwickelt wurde, wie sich der finalen Ausdrucksweise Hermanns entnehmen läßt: „ut […] solis et lune cursum coequemus“. Als maßstäbliche „Wahrheit“ fungiert in diesem Fall der 19jährige Zyklus. Ähnlich wird Hermannus dann im zweiten Teil der „Abbreviatio“ sein Bestreben kennzeichnen, das darin bestanden habe, mit der „computatio“ der „Wahrheit der Natur“ zu folgen, ebd. cap. xxxvii (Arundel 356, fol. 34v): „Nos vero in hoc proposito nostro non computationis facilitati, sed nature veritati […] operam dantes“; vgl. hierzu ausführlicher den folgenden Paragraphen. 109 Ein weiterer Hinweis auf diejenigen Ungenauigkeiten, die Hermannus im zweiten Teil als Anlaß für sein weiteres Nachforschen genommen hat, findet sich in cap. xi, in dem die unterschiedliche Länge von Sonnen- und Mondjahr thematisiert wird. Bereits in diesem Zusammenhang gibt der Reichenauer einen Hinweis darauf, daß die Länge des Mondmonats problematisch ist: „Hic autem lunaris mensis, ut interim minutas horarum particulas taceamus, habet xxix dies et xii horas […]“, ebd. (Arundel 356, fol. 29v). Wie sich im folgenden Paragraphen zeigen wird, macht Hermannus als Ursache für den Bedarf an komputistischen Berechnungen die Differenz zwischen Sonnen- und Mondmonat aus; er verweist auf diesen Sachverhalt, indem er sowohl die Länge des Sonnenmonats mit dreißig Tagen und zehn Stunden angibt, als auch die des Mondmonats mit 29 Tagen und zwölf Stunden benennt; allerdings versieht er die letztgenannte Angabe mit dem vorderhand unscheinbaren Hinweis, er – Hermannus – beabsichtige, einstweilen von den kleineren Bestandteilen beziehungsweise Zeiteinheiten zu schweigen. Ausführlich kommt er hierauf allerdings im zweiten Teil der „Abbreviatio“ zurück, wo er sogar auf Atome zurückgreifen wird und wie schon in der „Epistola“ auf selbst erfundene Einheiten. 110 Bemerkenswert ist, daß Hermannus der Mondalterbestimmung einen von der Osterfestbestimmung unabhängigen Eigenwert beimißt. Denn nicht nur der Erforschung des Ostertermins wegen seien das Ermitteln des Mondalters und die Kenntnis
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3.2.3. Der zweite Teil der „Abbreviatio compoti“: Das Spezialproblem Im zweiten Teil der „Abbreviatio“ erörtert Hermannus dasselbe Spezialproblem, das bereits im Mittelpunkt der „Epistola“ stand, also die exakte Länge des synodischen Mondmonats. Da die Übereinstimmungen zwischen diesem zweiten Teil und der „Epistola“ beträchtlich sind, genügt es, die folgende Analyse auf diejenigen Aspekte zu konzentrieren, die gegenüber der „Epistola“ neu hinzugetreten sind, und auf solche, in denen sich Veränderungen relativ zu den älteren Äußerungen zeigen.111 In dieser Hinsicht ist der zweite Teil der „Abbreviatio“ allerdings sehr ergiebig, da er Aufschluß über zwei zentrale Begriffe beziehungsweise Konzepte bietet, nämlich über den Naturbegriff des Reichenauers und über sein aequalitas-Konzept. 1. Fehler und Fehlerursache. Hermannus beginnt seine Erörterung der Monatslänge mit jener Passage, mit der das vorliegende Kapitel eingeleitet wurde. Ohne hierauf vorzubereiten, benennt er das Problem, das den Ausgangspunkt seiner Reflexionen bildet: die Abweichung des komputistisch ermittelten Mondalters vom tatsächlichen. Als Belege für diese Behauptung führt er erstens Beda an, dem dieses Problem bereits bekannt war, und zweitens den Augenschein. Letzteren hebt er besonders hervor, indem er zunächst auf „visus noster“ Bezug nimmt und wenige Zeilen später wie zur Bekräftigung auf den einfachen Bauern verweist.112 Anders als in der „Epistola“ führt er diesmal somit eine Diskrepanz zwischen komputistisch ermittelten Daten und tatsächlichen, beobachtbaren Gegebenheiten an, die den Beweggrund für seine Überdes Mondlaufes „notwendig“; das Verständnis hiervon sei zudem überaus „erfreulich“ und „nützlich“, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xi (Arundel 356, fol. 29v). Damit qualifiziert er die Beschäftigung mit der Zentralaufgabe mittelalterlicher Komputistik als eine allgemein bildende Tätigkeit. Angesichts des Umstandes, daß sich Hermannus im gesamten zweiten Teil der „Abbreviatio“ ausschließlich mit dem Mondmonat beschäftigt, ist dieser Passage eine rechtfertigende Funktion zu unterstellen. Wie schon in der „Epistola“ bemüht sich Hermannus nachdrücklich, sich vor dem Vorwurf zu schützen, nutzlose und müßige Tätigkeiten zu verrichten. 111 Die kenntnisreichste und detaillierteste Besprechung des zweiten Teils der „Abbreviatio“ ist wieder Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 428–431. 112 Vgl. hierzu das bereits oben, Anm. 1 dieses Kapitels, angeführte Zitat: „Si quem […] permoverit, que causa quisve error sit, ut lune etas compoto nostro […] persepe non conveniat, […] ut ipse dominus Beda fatetur et visus noster affirmat […], et absurdum putaverit regulas sequendo lunam necdum esse contendere, cum omnibus vel rusticis clare novam liceat cernere […]“, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxv (Arundel 356, fol. 32r).
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legungen bildete. Anzunehmen ist daher, daß er mit seiner Bestimmung der exakten Monatslänge diese Abweichung beheben will.113 Der Hinweis auf den visus, den Hermannus als Referenz für die konstatierte Fehlerhaftigkeit des komputistischen Regelewerks anführt, erweckt den zu Beginn dieses Kapitels referierten Eindruck, der Reichenauer validiere seine komputistisch-astronomischen Ergebnisse mit empirischen Mitteln. So selbstverständlich aber nach heutigem Verständnis der Blick in die Natur zur Überprüfung theoretischen Wissens ist, so ungewöhnlich ist er der gängigen Einschätzung zufolge für die Gelehrten in der Zeit Hermanns. Hinzu kommt, daß letzterer nicht nur die Natur zu beobachten, sondern diese Beobachtungen auch als Maßstab für das überlieferte Bücherwissen heranzuziehen scheint, das er im vorliegenden Fall falsifiziert. Damit aber wäre zu schlußfolgern, daß beobachtete natürliche Phänomene – ähnlich wie die oben erörterte mathematische Stimmigkeit – für den Reichenauer ein höheres Maß an Glaubwürdigkeit verdienen als tradiertes Wissen.114 Vor dem Hintergrund der bisher untersuchten Ausführungen Hermanns und nach dem soeben Referierten scheint also im Mittelpunkt des zweiten Teils der „Abbreviatio“ das Verhältnis von komputistischem Regelwerk und durch dieses generierten Daten auf der einen Seite zu einer beobachtbaren, externen Wirklichkeit auf der anderen Seite zu stehen. Trifft dieser Eindruck zu, unterscheidet sich die Konstellation hier erheblich von der in der „Epistola“. Denn problematisch waren dort ausschließlich regelwerkimmanente Charakteristika, die Hermanns Streben nach Einfachheit und Transparenz zuwiderliefen.115 Demgegenüber tritt in der „Abbreviatio“ zunächst Hermanns Bewußtsein in den Vordergrund, daß zwischen dem auf menschlicher Vereinbarung beruhenden komputistischen Regelwerk und einer die113 Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 428, kommt angesichts dieser Textstelle zu dem Schluß, Hermannus widerspräche „offen der kirchlichen Zeitrechnung und ihrem Meister Beda“. Berücksichtigt man, daß Hermannus aus seinen Beobachtungen keine Konsequenzen für die Komputistik insgesamt zieht, scheint Borsts Einschätzung zu weit zu gehen. 114 Bestätigt sich dieser Befund, würde Hermannus deutlich über den Ansatz von beispielsweise Helpericus von Auxerre hinausgehen, der in seinem „Liber de computo“ zwar wie erwähnt eine Versuchsanordnung zur empirischen Ermittlung der Sonnwenden und Äquinoktien beschrieb, das Experiment aber nicht selbst durchführte, sondern die – zwischenzeitlich fehlerhaften – Daten der Literatur entnahm. Die fragliche Stelle ist cap. xxxi (PL 137, Sp. 40D–43B). 115 Siehe hierzu 3.2.1. Die „Epistola de quantitate mensis lunaris“, bes. den Abschnitt 4. Systemimmanenz und formale Einfachheit.
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sem externen natura zu unterscheiden ist. Aufgrund dieser Gegenüberstellung und des gleichzeitigen Verweises auf den visus, angesichts dessen die Fehlerhaftigkeit des computus erkennbar werde, liegt der Schluß nahe, Hermannus bezöge sich mit seinem Naturbegriff hier nun auf die äußere Wirklichkeit. Damit aber wäre das komputistische Regelwerk nicht mehr allein an einer konzeptionsimmanente Größe zu messen, sondern besäße einen Wirklichkeitsbezug. Bei der weiteren Besprechung dieses Teils ist daher dem Verhältnis von Regelwerk, natura und Wirklichkeit besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Hermanns Vorgehensweise bei der Fehleranalyse ähnelt der in der „Epistola“. Erneut richtet er den Blick erst auf Beda, dann auf Columbanus, um die jeweilige Ungenauigkeit bei der Angabe der Monatslänge zu demonstrieren. Er knüpft mit seinen Ausführungen an dem Punkt an, an dem Beda seinerzeit kapitulierte: bei der Frage, was die Ursache der ausgemachten Differenz zwischen berechnetem und beobachtetem Mondalter sei.116 Nochmals unterstreicht er, daß der Grund selbst für einen einfach Hinschauenden – eine Anspielung auf den zuvor zitierten schlichten Bauern – offensichtlich sei. Es stehe nämlich fest, daß der von den Alten überlieferte Mondcomputus teils aus Gründen der Einfachheit des Zählens, teils aus Unvermögen, die Länge des Mondmonats exakt117 zu bestimmen, nicht gänzlich der „natürlichen ratio des Mondlaufs folge“. Denn nicht einmal ein Wahnsinniger, „insanus“, vermöge daran zu zweifeln, daß alle Mondmonate „gemäß der Einrichtung der Natur“ über dieselbe Länge verfügten und der Mond stets mit derselben Geschwindigkeit den Tierkreis durchmesse und zur Sonne zurückkehre.118
Beda, De temporum ratione cap. xliii (CCL 123B, S. 412–418). Hermanns Formulierung lautet: „ad purum“; ironischerweise greift er damit den Wortlaut Bedas in der fraglichen Textpassage von „De temporum ratione“ auf. 118 „Sed quamvis hec quaestio tam difficilis a sapientibus habita non facile absolvi possit, tamen nullum vel simpliciter intuentem credo latere, quod in compoto nostro supradictum errorem de lunari maxime gignat etate. Constat enim compotum lune a maioribus nobis traditum partim propter calculandi facilitatem, partim propter lunaris mensis non ad purum inventam quantitatem non per omnia naturalem lunaris discursus sequi rationem. Nulli quippe vel insano licet ambigere omnes lunares menses secundum nature constitutionem equalem longitudinem habere nec aliquando tardius citiusve solito lunam vel zodiaci circuitionem vel suam ad solem recursionem, id est mensem suum, peragere“, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxvii (Arundel 356, fol. 32v). 116 117
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Um zu belegen, daß der in der Komputistik gebräuchliche Mondmonat nicht der „natürlichen ratio“ folge, stützt Hermannus sich wieder auf einen mathematischen Nachweis. Sein Argumentationsgang entspricht hierbei dem in der „Epistola“. Er referiert zunächst, daß nach gängiger komputistischer Lehrmeinung der Mondmonat 29 einhalb Tage umfasse und deshalb den Monaten wechselweise 29 beziehungsweise dreißig Tage zugeschlagen würden – aus „facilitas computandi“. Wie schon zuvor bedient er sich der mathematischen Gleichsetzung von Sonnen- und Mondlauf im 19jährigen Zyklus. Auf diesem Wege weist er schrittweise nach, erstens daß Bedas Überlegung, der Mondmonat sei sogar kürzer als 29 einhalb Tage, irrig sei, indem er zweitens zeigt, daß auch die üblicherweise genannte Dauer zu kurz sei. Drittens demonstriert er, daß selbst Columbans Verbesserungsvorschlag nicht exakt zutreffe.119 In derselben Weise entwickelt Hermannus seinen eigenen Ansatz, folgt hierin also treu seiner Vorgehensweise in der „Epistola“. Mittels restloser Division verteilt er die 6939 Tage und 18 Stunden des 19jährigen Zyklus auf die 235 Mondmonate und rechnet auch diesmal wieder das Ergebnis in die von ihm selbst entwickelte Einheit, die particula um. Während er sich mit der anteiligen Umrechnung des Schaltzuwachses pro Monat ebenfalls noch eng an seine „Epistola“ hält, geht er zuletzt einen Schritt über deren Rahmen hinaus, indem er sämtliche Größen und Verfahren der Mondkomputistik auf die neu bestimmte Grundeinheit, den ‚Hermannschen Mondmonat‘ umstellt.120 Den Abschluß des Werkes bildet eine Mondaltertafel, die die Mondalter der Monatsersten für jedes Jahr des 19jährigen Zyklus wiedergibt.121
119 Zu den einzelnen Schritten ausführlicher oben, 3.2.1. Die „Epistola de quantitate mensis lunaris“. 120 Im einzelnen handelt es sich um die Differenz zwischen Sonnen- und Mondjahr (cap. xxxvi), die Mondepakten (cap. xxxviif.), die Mondregularen (cap. xxxviiiif.) sowie einige Anwendungsfälle und -beispiele (cap. xli–xlvi); den Abschluß bilden Mondaltertafeln, in denen die Mondalter an den Kalenden der einzelnen Monate über die 19 Jahre des cyclus decemnovenalis hinweg in ihrer überarbeiteten Form (angegeben in Tagen, Stunden, Punkten und Partikeln) aufgelistet sind. 121 Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xlviii (Arundel 356, fol. 37r–v). – Ausführlicher hierzu Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 429–431, der auf die Entdeckung Hermanns hinweist, daß das christlicher beziehungsweise bedanischer Tradition zufolge erste Weltjahr das sechste eines 19jährigen Zyklus sei und nicht – wie gemeinhin angenommen – das erste.
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2. Erörterung der inhaltlichen Aspekte. Eigenen Äußerungen zufolge ist der Reichenauer der Einschätzung, den Grund für den Fehler in der bisherigen Mondalterberechnung herausgefunden und behoben zu haben, wobei er sich ausdrücklich auf die Länge des Mondmonats bezieht.122 Zu fragen ist, welche Bedeutung seinen Ausführungen und seinen Ergebnissen vor diesem Hintergrund beizumessen ist. Als Anlaß für seine Nachforschungen hatte Hermannus die Diskrepanz zwischen komputistisch berechnetem und tatsächlichem Mondalter angegeben, so daß der Schluß nahelag, er wolle diesen Widerspruch beseitigen. Angesichts dessen fällt auf, daß sein gesamter Argumentationsgang, der ja genau demjenigen in der „Epistola“ entspricht, regelwerkimmanent bleibt. So ist beispielsweise die herangezogene Bezugsgröße, der 19jährige Zyklus, eine Größe des komputistischen Regelwerks, keine extern vorgegebene.123 Dasselbe gilt für die Länge des Sonnenjahres, die Hermannus der Umrechnung der 19 Jahre in die besagten 6939 Tage und 18 Stunden zugrunde legt. Am frappierendsten ist jedoch die Beobachtung, daß er den neubestimmten Mondmonat nicht überprüft. Bestünde seine Absicht entsprechend den anfänglichen Äußerungen und dem Verständnis, das sie evozieren, tatsächlich darin, rechnerische Mondalter zu generieren, die mit den empirisch beobachtbaren übereinstimmen, wäre zu erwarten, daß er sein Ergebnis an den visus rückbindet. Eine solche Validierung seiner Berechnungen fehlt indes. Bemerkenswert ist ferner Hermanns Verzicht darauf, das erzielte Ergebnis in seinen technisch-funktionalen Kontext einzuordnen. Wie der erste Teil der „Abbreviatio“ erkennen ließ, ist die Mondalterberechnung zwar wichtig, aber nur eine Aufgabe im Rahmen der eigentlichen Zielsetzung der Komputistik, nämlich der Osterfestbestimmung. Hierauf ließen Hermanns dortige Konzentration auf die technischfunktionale Ebene der Komputistik und der finale Aufbau jenes Teils der Schrift schließen, der ja in der Osterdatierung kulminierte. Wie gezeigt wurde, sind die einzelnen Abschnitte zur Sonnen- und zur Mondkomputistik in diesem Sinne in sich sachlogisch strukturiert und ihrerseits auf ihre technisch-funktionale Synthese hin, die ‚Osterkomputistik‘, ausgerichtet. Auf eine Rückbindung der von ihm präzisierten
122 „[…] quoniam que causa errorem de lune etate in compoto nostro efficiat iuxta inertie nostre modulum absolvimus“, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxxvi (Arundel 356, fol. 34r). 123 Vgl. im Unterschied hierzu Beda und Abbo, die diesen Zyklus – wie alle komputistischen Zyklen – auf die Natur zurückführen.
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Größen und Verfahren an ihren eigentlichen Zweck verzichtet er hier aber genauso wie schon auf ihre empirische Überprüfung.124 Dieser Befund ist beachtlich, da er zeigt, daß es Hermannus auch nicht um die Osterdaten und deren Verbesserung ging. Nicht einmal ansatzweise stellt er die Frage, ob seine modifizierte Monatslänge Auswirkungen auf die Osterfestdatierung haben könnte. Damit aber läßt sich ein erster Schluß auf Hermanns Anliegen ziehen: Während seine Schriften auf der inhaltlichen Ebene und hinsichtlich der Gliederung des Materials ganz auf die technisch-funktionale und – wie oben herausgearbeitet – auf die fachwissenschaftliche Dimension der behandelten Gegenstände konzentriert sind, bestätigt sich der anfängliche Befund, daß Hermannus eine Übereinstimmung des komputistischastronomischen Regelwerks mit der empirischen Wirklichkeit anstrebe, bislang nicht. Der anvisierte, nämlich ‚natürliche‘ Mondlauf, dem er den rechnerischen angleichen möchte, besitzt entgegen dem ersten Eindruck keine durchgängige empirische Fundierung. Damit aber stellt sich erstens die Frage nach Hermanns Naturbegriff und zweitens nach Status und Eigenschaften der Zielgröße, des ‚natürlichen‘ Mondlaufs.125 3.2.4. Die „Prognostica de defectu solis et lunae“ Hermanns Abhandlung über die Finsternisse, die „Prognostica de defectu solis et lunae“, ist in thematischer Hinsicht ungewöhnlich. Er beschreibt in seiner Schrift nicht nur die astronomischen Gegebenheiten bei Finsternissen, sondern verfolgt die Absicht, ein Instrumentarium zur Vorhersage von Mond- sowie Sonnenfinsternissen zu entwickeln.126 Dieses Vorhaben und die Weise, in der er es umzusetzen sucht, sind insbesondere in wissenschaftshistorischer Hinsicht von großem Interessen. Zwar werden Eklipsen schon in der Zeit vor Hermannus in komputistisch-astronomischen Traktaten und Sammlungen thematisiert und die Konstellationen, die zu Eklipsen führen, soweit bekannt beschrieben oder mit Hilfe diagrammatischer Skizzen darge-
124 Vgl. im Unterschied hierzu die Einschätzung Borsts, dem zufolge Hermanns Forschungen die kirchliche beziehungsweise die christliche Zeitrechnung erschütterten, Ders., „Ein Forschungsbericht“ S. 428 (zur kirchlichen Zeitrechnung) und S. 430 (zur christlichen Zeitrechnung). 125 Diesen Aspekten wird in 3.3. Modellhaftes Denken, nachgegangen. 126 „Unde […] quando alterutrius luminis defectus naturaliter accidat […] invenire valeamus“, Hermannus, Prognostica cap. i (Arundel 356, fol. 38r).
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stellt.127 Versuche, diese Konstellationen und die ihnen zugrunde liegenden astronomischen Vorgänge in mathematische Regeln zu fassen, sind aus früheren Zeiten jedoch nicht überliefert.128 Ließen sich die „Epistola“ und die „Abbreviatio“ inhaltlich noch als Komputistik im engeren Sinne bezeichnen, überschreiten die „Prognostica“ dieses Gebiet und sind allgemein der Astronomie zuzuordnen. Aus einem wissenschaftshistorischen Blickwinkel heraus ist bemerkenswert, daß sich Hermannus in methodischer Hinsicht an die Berechnungsverfahren der Komputistik anlehnt. Zum Ermitteln der relevanten Größen entwickelt er ein Instrumentarium, das strukturell mit dem der traditionellen Mondkomputistik identisch ist. Von systematischer Bedeutung ist schließlich der Umstand, daß der Reichenauer seine Ergebnisse am Ende dieser kleinen Abhandlung erstmals an eine äußere, beobachtbare Wirklichkeit rückbindet.129 1. Zum Entstehen von Eklipsen (cap. i). Wie die Gliederung der „Epistola“ und der „Abbreviatio“ folgt auch die Struktur der „Prognostica“ den technisch-funktionalen Erfordernissen ihres Gegenstandes und besitzt daher denselben sachlogischen Charakter. Hermannus beginnt mit einer Beschreibung der astronomischen Gegebenheiten. Allerdings verzichtet er diesmal darauf, ein weiteres Mal den Aufbau des gesamten Himmelsglobus zu skizzieren, den er ja bereits am Anfang der „Abbreviatio“ umriß. Als würde er die Kenntnis der dort referierten Zusammenhänge voraussetzen, thematisiert er nur den Lauf von Sonne und Mond relativ zu Erde und Tierkreiszeichen. Damit konzentriert er sich auf diejenigen Himmelskörper, die beim Entstehen 127 Im Bereich der traktatartigen Abhandlungen sei beispielsweise auf den bereits erwähnten „Liber de computo“ des Helpericus von Auxerre verwiesen; exemplarisch für die komputistisch-astronomischen Sammlungen sind die oben besprochenen „Libri computi“, der „Liber calculationis“ sowie insbesondere der Mittelteil des „Computus“ Abbos mit seinen Calcidius-Exzerpten. 128 Anders ist die Situation in der Antike, auf die ja noch Augustinus mit seiner Kritik an der Beobachtung und wissenschaftlichen Erforschung der astronomischen Gegebenheiten anspielt, vgl. Ders., Confessionum libri xiii lib. v, iii, 4 (CCL 27, S. 58): „Mente sua enim quaerunt [sc. superbi, NG] ista et ingenio, quod tu [sc. deus, NG] dedisti eis, et multa inuenerunt et praenuntiauerunt ante multos annos, defectus luminarium solis et lunae, quo die, qua hora, quanta ex parte futuri essent, et non eos fefellit numerus. Et ita factum est, ut praenuntiauerunt […]“. 129 Zur Handschriftenlage siehe oben, 3.2.2. Der erste Teil der „Abbreviatio compoti“: Das komputistische Lehrbuch. – In der Forschung wurde die Schrift bislang nur von Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 437–440, eingehender diskutiert; sie ist nach wie vor weitgehend unbekannt.
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von Mond- und Sonnenfinsternissen eine Rolle spielen, sowie auf diejenigen Bezugsgrößen und Bewegungen, anhand derer die Umstände und Regelhaftigkeit ihres Zustandekommens transparent werden. Wie bereits im ersten Teil der „Abbreviatio“ thematisiert er damit ausschließlich die natürlichen „causae ac rationes“.130 Dieses Hintergrundwissen liefert dem Reichenauer die erforderlichen Voraussetzungen, um zu entscheiden, welche komputistisch-astronomischen Größen er zur Berechnung von Finsternissen benötigt. Da sich erstens über die Dauer des Mondlaufes von einem Eklipsenschnittpunkt zum folgenden und zweitens über die Zeitspanne von einer seiner Konjunktionen beziehungsweise Oppositionen mit der Sonne zur nächsten herausfinden lasse, wann sich eines der beiden Gestirne verfinstere, seien diese beiden Fristen zu untersuchen. Die korrespondierenden komputistisch-astronomischen Größen meint Hermannus zu kennen. Nach seiner Überzeugung kann er die Eklipsenschnittpunkte über den siderischen Mondmonat ermitteln, die Konjunktionen respektive Oppositionen hingegen mit Hilfe des synodischen.131 Durch eine 130
Bekanntlich durchlaufe der Mond auf seiner Bahn von einem Neumond zum nächsten – so führt Hermannus aus – den gesamten Tierkreis und darüber hinaus denjenigen Teil, durch den sich die Sonne in demselben Zeitraum bewegt habe. Auf seinem Weg durch den Zodiak nutze er dessen gesamte Breite und kreuze folglich zweimal pro Monat die Ekliptik. Falle der Zeitpunkt des Schneidens der Ekliptik genau mit einer Voll- oder Neumondkonstellation zusammen, entstehe eine Finsternis. Im Falle von Vollmond sei es die des Mondes, da er sich in Opposition zur Sonne befinde, die Erde aber exakt zwischen den beiden Gestirnen stehe. Bei Neumond hingegen werde die Sonne verfinstert, da beide Hauptleuchten in Konjunktion stehen, der Mond sich also zwischen Sonne und Erde schiebe: „Luna ut notum est […] eoque eam eclipsin pati necesse est“, Hermannus, Prognostica cap. i (Arundel 356, fol. 38r). Auch in diesen Ausführungen bleibt er seinem Vorgehen in der „Abbreviatio“ treu, zwar exakt, aber nur diejenigen Hintergründe und Zusammenhänge namhaft zu machen, die aus fachwissenschaftlicher Sicht zur Erklärung der fraglichen Phänomene oder Gegebenheiten erforderlich sind. – Als Vorlage diente vermutlich wieder Macrobius, Commentarii in somnium Scipionis i, 6, 49–53 (ed. Willis S. 27 f.) und i, 15, 10–12 (ebd. S. 62), gegebenenfalls auch Plinius oder Calcidius, die beiden letztgenannten aber wahrscheinlich nur vermittelt, vgl. die verfügbaren Plinius-Exzerpte (in Rück, „Die ‚Naturalis historiae‘“) sowie die Calcidius-Exzerpte (beispielsweise im „Computus“ Abbos). 131 In dieser Annahme irrt sich Hermannus grundlegend. Weder der von ihm berechnete synodische Mondmonat – der in Wirklichkeit nicht der synodische selbst, sondern nur der mittlere synodische ist –, noch der siderische sind geeignet, um Finsternisse vorauszuberechnen. Hermannus und seinen Zeitgenossen war noch nicht klar, daß der Mondlauf verschiedene signifikante Anomalien aufweist, die bis heute mathematisch nur umständlich wiederzugeben sind. Die heute üblichen Grundlagen zur Berechnung von Eklipsen, der drakonitische Mondmonat und der Saroszyklus, waren zu Hermanns Zeit noch längst nicht bekannt. Berücksichtigt man den Kenntnisstand
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entsprechende Verbindung beider Größen ließen sich dann die jeweiligen Finsternisse berechnen. Von dieser Annahme ist Hermanns weiteres Vorgehen bestimmt. Der Reihe nach widmet er sich erst dem siderischen, dann dem synodischen Mondmonat. 2. Zu den beiden Mondmonaten (cap. ii–iii). Ohne weitere Begründung setzt sich der Reichenauer mit dem siderischen Mondmonat und dessen Länge auseinander, stellt fest, sie sei ungenau, und überarbeitet sie daraufhin. Erst mittelbar, durch den weiteren Verlauf der Schrift wird für den Leser ersichtlich, weshalb Hermannus so vorgeht.132 Er braucht diese Überarbeitung, um sich ein Instrumentarium zu schaffen, auf das er sich bei der rechnerischen Handhabung des siderischen Mondlaufs stützen kann. Die Ausführungen selbst sind formal vergleichbar denen in der „Epistola“ und im zweiten Teil der „Abbreviatio“, allerdings beziehen sie sich diesmal auf den siderischen Mondmonat.133 Während die Längenangabe dieses Monats schon länger in der komputistischastronomischen Literatur präsent ist, wurden bis zur Zeit Hermanns keine Verfahren entwickelt, auf komputistischem Wege mit ihm zu operieren. In erster Linie dürfte dies daran gelegen haben, daß er für die üblichen komputistischen Kalkulationen im Zusammenhang mit
seiner Zeit, ist seine Grundüberlegung allerdings als vernünftig und sein Ansatz als originell zu bezeichnen. Zum drakonitischen Monat sowie zum Saroszyklus Keller, Astrowissen S. 76–78; S. 82–87. 132 Obwohl der Aufbau auch dieser Schrift in sachlogischer Hinsicht stringent ist, wird an Hermanns Verzicht darauf, Sinn und Zweck seiner Vorgehensweise zu erläutern, sichtbar, daß er sich an einen fachkundigen Leser wendet. Dieser muß aufgrund seiner eigenen Vorbildung in der Lage sein zu erkennen, wozu die einzelnen Schritte erforderlich sind und wofür er die verschiedenen Größen benötigt. 133 Ohne hierauf detailliert einzugehen, referiert er über den siderischen Mondmonat knapp, diverse namhafte Gelehrte behaupteten, der Mond durchlaufe jedes einzelne Tierkreiszeichen in zwei Tagen und sechs zwei drittel Stunden, den ganzen Zodiak aber in 27 Tagen und acht Stunden. Unvermittelt stellt er dieser Annahme seine eigene Meinung gegenüber. Er sei aufgrund sorgfältiger Untersuchung der Einschätzung, daß der Mond seinen Lauf um etwas mehr als eine viertel Stunde schneller als überliefert vollende. Zum Beleg verweist der Reichenauer auf die Rechnung, auf die sich seine Überlegungen stützen, Hermannus, Prognostica cap. ii (Arundel 356, fol. 38r): „Ergo Plinius aliique quam plurimi maiores nostri lunam unumquodque signum duobus diebus, vi horis et bisse unius hore, totum vero zodiacum in xxvii diebus et viii horis dixerunt transcurrere. Sed mihi diligentius inquirenti quadrante hore unius et paulo plus citius illo temporis spacio videtur peragere. Quod facile licet hoc modo probes: […]“. – Zur Bestimmung des siderischen Mondmonats in der modernen Astronomie Keller, Astrowissen S. 76. – Fehlerhaft zum siderischen Mondmonat die Erläuterungen in Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 437.
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der Osterfestdatierung irrelevant ist. In seiner Auseinandersetzung mit dieser Größe macht Hermannus somit zunächst dasselbe Problem aus wie in der „Epistola“ für den synodischen Mondmonat: Die tradierte Dauer sei falsch. Zu diesem Befund gelangt er durch eine regelwerkimmanente, mathematische Überprüfung. Anders als in der „Abbreviatio“ beruft er sich nicht auf eine Abweichung der berechneten Daten von den beobachtbaren, tatsächlichen Gegebenheiten. Damit wird deutlich, daß auch diesem Ansatz keine Beobachtung vorausgeht oder zugrunde liegt.134 Die Basis, auf die sich seine Berechnungen stützen, ist dieselbe wie in der „Epistola“ und in der „Abbreviatio“. Er setzt die Gültigkeit des 19jährigen Zyklus voraus, der in 19 Sonnenjahren 6939 Tage und 18 Stunden umfasse. Darüber hinaus nimmt er an, daß 19 Sonnenjahre 254 siderische Mondumläufe umfassen.135 Benötigte der Mond für einen Durchlauf durch den Tierkreis exakt die tradierte Frist, so würden seine 254 Umläufe in 19 Jahren 6942 Tage und 16 Stunden beanspruchen und folglich zwei Tage und 22 Stunden mehr als zuläs-
134 Daß seine Überlegungen nicht von vorausliegenden Beobachtungen ausgingen, zeigte sich ja schon am Beispiel seiner übrigen komputistischen Schriften, insbesondere am zweiten Teil der „Abbreviatio“, die diesem Umstand zum Trotz ein beobachtetes Phänomen als Initialmoment für das Vorgehen reklamierte. Im gegenwärtigen Fall, den „Prognostica“, ist ebenfalls deutlich erkennbar, daß Hermannus die eruierten grundlegenden Größen, den siderischen und den synodischen Mondmonat, nicht auf empirischem Wege ermittelt hat. Andernfalls hätten ihm auch hier wieder die Schwankungen des Mondmonates auffallen müssen, der deshalb in der von Hermannus präsentierten Form als Berechnungsgrundlage von vorn herein ausscheidet. – Vgl. hierzu Schipperges, „Zum Topos von ‚ratio et experimentum‘“. 135 Hermannus leitet diesen Wert nicht her, sondern entnimmt ihn lediglich der Literatur. Die 254 siderischen Umläufe ergeben sich als Summe aus den 235 synodischen Mondmonaten plus 19 weiteren. Dieser Zusammenhang läßt sich anhand folgender Vorstellung verdeutlichen. Angenommen, zum Startpunkt S befinden sich Sonne und Mond – von der Erde aus betrachtet – exakt vor demselben Tierkreiszeichen. In der Zeit, die der Mond benötigt, um zum selben Zeichen zurückzukehren und somit einen siderischen Monat zu durchlaufen, hat sich die Sonne ins nächste Tierkreiszeichen bewegt. Um also auch den synodischen Monat zu vollenden, muß sich der Mond wieder auf seinen Weg durch den Tierkreis machen und wird im nächsten Zeichen die Sonne einholen. Damit umfaßt der synodische Monat die Dauer eines siderischen plus ein weiteres Zeichen. Nach dem nächsten siderischen Umlauf wird die Sonne also bereits zwei Zeichen entfernt sein, die der Mond noch hinter sich bringen muß, um auch den nächsten synodischen Monat zu vollenden. Nach zwölf Monaten hat die Sonne auf diese Weise eine Distanz von zwölf Tierkreiszeichen zwischen sich und den Startpunkt S gebracht, also selbst einen Umlauf absolviert. Diese Distanz aber entspricht einem weiteren siderischen Monat, der der siderischen Rechnung zuzuschlagen ist, in der Summe also 19 Monate auf 19 Jahre.
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sig. Setzte man seine Länge hingegen mit 27 Tagen und sieben Stunden an, ergäben sich 6932 Tage und zwei Stunden, also sieben Tage und 16 Stunden zu wenig. Konsequenterweise umfasse ein Mondumlauf eine Spanne, die irgendwo dazwischen liege.136 Sukzessive präzisiert Hermannus daraufhin das gesuchte Ergebnis, indem er Schritt für Schritt immer kleinere der traditionellen Maßeinheiten heranzieht. Zu einer restlosen Aufteilung der 6939 Tage und 18 Stunden des 19jährigen Zyklus genügen sie diesmal jedoch nicht, so daß Hermannus zuletzt denselben Kunstgriff anwendet, auf den er seinerzeit – wenngleich dort ohne technisch-funktionalen Bedarf – schon in der „Epistola“ und in der „Abbreviatio“ zurückgriff. Er schafft sich seine Einheit selbst. Jetzt nennt er sie portiuncula und definiert sie als ein 127stel einer Stunde.137 Nachdem der Reichenauer in der beschriebenen Weise die exakte Länge des siderischen Mondmonats ermittelt hat, wendet er sich dem zeitlichen Verlauf seiner Bahn zu und findet an erster Stelle heraus, daß der Mond stets nach 13 Tagen, 15 einhalb Stunden und 46 portiunculae zur Ekliptik zurückkehrt.138 Dieser Wert ist für seinen Ansatz von besonderer Bedeutung, da eine notwendige Voraussetzung zum Entstehen von Finsternissen ja die Position des Mondes in einem der Mondknoten ist. Auf diese Weise hat er die exakte Länge des siderischen Mondmonats bestimmt und kann sich nun dem synodischen zuwenden. Hierfür greift er auf die Ergebnisse zurück, die er in der „Abbreviatio“ erzielte, wobei er direkt auf seine frühere Schrift Bezug nimmt.139 Daraufhin
136 „Xix annorum ciclus in quo, ut omnes consentiunt, lunaris cum solari cursus coequatur […]“, Hermannus, Prognostica cap. ii (Arundel 356, fol. 38r–v). 137 Dem mitrechnenden Leser entgeht nicht, daß der gewählte Denominator im vorliegenden Falle nicht wiederum identisch mit der aktuellen Bezugsgröße ist, hier: den 254 siderischen Monaten, sondern eleganterweise lediglich einen halb so großen Betrag umfaßt. Denn dieser Denominator genügt vollauf, um die besagten 6939 Tage und 18 Stunden restlos auf siderische Mondmonate zu 27 Tagen, sieben Stunden und 92 portiunculae zu verteilen. Daraus – so setzt der Reichenauer seine Überlegungen fort – folge weiter, daß sich der Mond in jedem Zeichen zwei Tage, sechs 7/12tel Stunden und sieben 2/3tel portiunculae lang aufhalte: „Si vero nec adhuc contentus […]. Secundum hanc rationem ergo lunam unumquodque signum duobus diebus, vi horis, septunce hore et vii cum bisse portiunculis noveris transcurrere“, Hermannus, Prognostica cap. ii (Arundel 356, fol. 38v). – Diese Definition übernimmt später Garlandus, De computo ii, 6 (Paris BN lat. 15118, fol. 42v), allerdings nennt er die entsprechende Einheit particula. 138 Hermannus, Prognostica cap. iii (Arundel 356, fol. 38v). 139 In seinem computus habe er sich bereits darum bemüht, die Dauer des synodischen Monats zu ermitteln, so daß er jetzt das dort Herausgefundene „mehr erinnernd als musternd“ glaube, Hermannus, Prognostica cap. iii (Arundel 356, fol. 39r).
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referiert er die Länge jenes Mondmonats – mit seinen 29 Tagen, zwölf Stunden, drei Mondpunkten und 33 particulae – und gibt die Hälfte dieser Zeitspanne, und folglich die Frist von Konjunktion zu Opposition und umgekehrt mit 14 Tagen, 18 Stunden, einem Punkt und 40 particulae in Anlehnung an die oben ermittelten siderischen Halbmonate an. Damit verfügt er über die andere der beiden seinen theoretischen Ansatz tragenden Größen. Vor diesem Hintergrund vermag er sich dem nächsten technisch-funktionalen Erfordernis zuzuwenden, der Entwicklung des Recheninstrumentariums. 3. Zum theoretischen Ansatz (cap. iiii). Bevor er sich mit den Hilfsgrößen und Verfahren auseinandersetzt, entwirft Hermannus die Grundzüge seiner Theorie, die aufgrund ihrer Originalität von großem Interesse ist. Dazu verweist er zunächst auf die Sonne, die die Ekliptik entlang laufe, und auf den Mond, der wie oben gezeigt erstens diese Linie stets nach nach 13 Tagen, 15 einhalb Stunden und 46 portiunculae schneide und zweitens je nach 14 Tagen, 18 Stunden, einem Punkt und 40 particulae mit der Sonne in Konjunktion oder aber in Opposition stehe. Ereigne sich jetzt beispielsweise eine Sonnenfinsternis – der Mond befände sich demnach in Konjunktion mit der Sonne und träte zwischen Sonne und Erde –, und lasse man daraufhin die beiden genannten Zeitspannen ihren Lauf nehmen, zeige sich zwingend zu jenem Zeitpunkt, in dem beide Bedingungen – das Schneiden der Ekliptik sowie Opposition beziehungsweise Konjunktion – wieder zusammenfallen, die nächste Finsternis. Denn sofern sich durch die erstgenannte Zahl der Moment ermitteln lasse, in dem der Mond die Ekliptik kreuzt, durch die zweite indes die Voll- respektive Neumondskonstellation, „dann sehe ich nicht, was dagegen spricht, eine zukünftige Finsternis vorher zu wissen und vorauszusagen“, vorausgesetzt die Berechnung mit Hilfe der beiden Zahlen ergebe, daß sie in die Nähe derselben Stunde fallen.140 Fehlt auch die genaue Rechenvorschrift an dieser Stelle noch, so wird Hermanns Grundidee doch klar erkennbar. Genauso wie sich auf komputistischem Wege Voll- und Neumonde bestimmen lassen – 140 Hermannus, Prognostica cap. iiii (Arundel 356, fol. 39r–v); das Zitat: „Si enim per priorem numerum hora qua eclipticum locum luna attingit indagari potuerit, per sequentem vero et plenilunii et coitus tempus vestigari valuerit, quod obstet non video, quandocumque per utrumque numerum ad eiusdem hore vicinia calculando convenerimus, futuram eclypsin praenosse et praedicere valeamus“.
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auf diesem Vorgang beruht ja die gesamte Osterkalkulation –, muß es möglich sein, jene Augenblicke zu ermitteln, in denen der Mond die Ekliptik überschreitet. Finsternisse aber finden statt, wenn beide Konstellationen zusammenfallen: wenn der Mond zur selben Zeit die Ekliptik schneidet und in Opposition beziehungsweise Konjunktion zur Sonne tritt. Denn nur dann befinden sich Sonne, Mond und Erde auf einer Linie und erfüllen damit die Grundbedingung für eine der beiden Eklipsen. Das erforderliche Instrumentarium, Voll- und Neumonde zu berechnen, steht Hermannus aufgrund der komputistischen Tradition zur Verfügung, aber auch dank seiner eigenen Präzisierungen im Rahmen der „Abbreviatio“. Mit der Kalkulation der Ekliptikschnittpunkte betritt er indes komputistisch-astronomisches Neuland. Er legt dieser Operation den siderischen Mondmonat zugrunde und entwickelt einen in formaler Hinsicht bestechend einfachen und einleuchtenden Lösungsansatz. Und zwar kreiert er ein Instumentarium für den siderischen Bereich, das formal exakt dem des in der Komputistik altbekannten synodischen korrespondiert. So wie Voll- und Neumond den synodischen Monat exakt halbieren, so verhalten sich die beiden Ekliptiktransgressionen relativ zum siderischen. Beide Halbmonate hat Hermannus zuvor bestimmt. Seine weitere Aufgabe besteht somit darin, erstens die jeweiligen Hilfsgrößen und deren Handhabung zu bestimmen und zweitens eine Vorschrift zur rechnerischen Verknüpfung beider Bereiche miteinander zu formulieren. 4. Zum Regelwerk (cap. v–xi). Im folgenden konstruiert Hermannus ein siderisches Regelwerk, das sich aus Größen und Verfahrensweisen zusammensetzt, die jenen der synodischen Komputistik weitgehend korrespondieren.141 Zunächst ermittelt er die ‚siderischen Epakten‘, also die Differenz zwischen siderischem Mondjahr und Sonnenjahr.142 Auch die siderischen Epakten wachsen jährlich um ihren spezifischen Betrag an, doch aufgrund der anvisierten Rechnung auf der Grundlage von Halbmonaten ist ihnen sobald wie möglich ein halber siderischer Monat abzuziehen.143 Dasselbe Charakteristikum kennzeichnet Hermannus, Prognostica cap. v–viii (Arundel 356, fol. 39v–40r). Diese Größe entspricht den in der traditionellen Komputistik gängigen Mondepakten, die zur Mondalterbestimmung und damit zum Ermitteln des Ostervollmondes benötigt werden. Normalerweise liegt dieser Größe die Differenz zwischen Sonnenjahr und (synodischem) Mondjahr zugrunde. 143 Vgl. Hermannus, Prognostica cap. v (Arundel 356, fol. 39v). 141 142
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auch den anschließend thematisierten synodischen Bereich. Diese Vorgehensweise unterscheidet sich formal von der gängigen komputistischen Praxis, in der stets ganze Mondmonate subtrahiert werden. Um jedoch zu ermitteln, wann der Mond die Ekliptik erreicht und wann er in Konjunktion beziehungsweise Opposition steht, ist beidesmal die Hälfte der jeweiligen Monatslänge von ausschlaggebendem Interesse, so daß Hermannus diese Zeitspannen seinen Berechnungen zugrunde legt.144 Abschließend führt der Reichenauer die erforderlichen Hilfsgrößen ein, die er benötigt, um zu jedem beliebigen Zeitpunkt den Abstand des Mondes von der Ekliptik zu bestimmen, und erläutert kurz deren Anwendung.145 Daraufhin geht er zum anderen theorierelevanten Komplex über, der synodischen Komputistik. Er benötigt als nächstes die korrespondierenden Hilfsgrößen aus dem synodischen Kontext, die Epakten sowie die Regularen, die er nun lediglich seiner „Abbreviatio“ zu entnehmen bräuchte.146 Tatsächlich verweist er eigens auf seine älteren Bemühungen, jene Größen „mit Hilfe kleinster Zeiteinheiten ad purum“ zu sammeln. Überraschenderweise aber fährt er fort, er habe diese Einheiten jetzt „der größeren Einfachheit der Rechnung halber“ abgerundet und mittels der gebräuchlichen Zeiteinheiten dargestellt.147 Diese für Hermannus bislang völlig untypische Bereitschaft zu Ungenauigkeiten oder großzügigen Rundungen durchzieht den gesamten Abschnitt zur synodischen Komputistik. Seinem eigeSiehe hierzu Hermannus, Prognostica cap. vi (Arundel 356, fol. 39v). Um den aktuellen Standort des Mondes vor dem Tierkreis zu bestimmen, benötigt der Reichenauer eine weitere Größe, die er ebenfalls in Analogie zur Mondkomputistik entwirft. Für eine rechnerische Verknüpfung des siderischen Mondmonats mit dem 19jährigen Zyklus führt er die ‚siderischen Regularen‘ ein. Diese Regularen entsprechen dem ‚siderischen Mondalter‘ an den Monatskalenden, also jener Zeitspanne, um die sich der Mond von der Ekliptik entfernt hat, bezogen auf das erste Jahr des 19jährigen Zyklus. Das siderische Mondalter läßt sich folglich über die Summe aus diesen Regularen und den im entsprechenden Jahr herrschenden Epakten errechnen, Hermannus, Prognostica cap. vii–viii (Arundel 356, fol. 39v–40r). Zwar bietet Hermann tatsächlich eine tabellarische Auflistung der zwölf siderischen Monatsregularen, doch erklärt er nicht, wie er zu diesem Ergebnis gelangte. Seine einzige diesbezügliche Auskunft ist sein Hinweis, er habe diese Zahlen mit Hilfe von Versuchen, ratio und sorgfältigster Rechenarbeit herausgefunden, ebd. cap. vii (Arundel 356, fol. 40r): „Sed sicuti experimentis et ratione non sine aliqua diligentissime computationis labore vestigare potui, subscriptum numerum singulis mensibus apponendum regulariter inveni“. 146 Hermannus, Prognostica cap. viiii–xi (Arundel 356, fol. 40r–v). 147 „Sed ipsas epactas […] nunc tamen propter faciliorem computationem aliquantulum ex particulis horarum vel addere vel minuere easque consuetis minutiarum signis malui distinguere“, Hermannus, Prognostica cap. viiii (Arundel 356, fol. 40r). 144 145
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nen Eingeständnis zufolge führt er die Mondregularen nur näherungsweise an und greift auch bei der Erläuterung der Mondalterbestimmung lediglich auf die ungefähre Länge des synodischen Mondmonats zurück.148 Reflexionen über seinen Sinneswandel stellt Hermannus keine an, so daß sich nur Vermutungen hierüber anstellen lassen. Eine naheliegende Möglichkeit angesichts der unterschiedlichen kleineren Zeiteinheiten, mittels derer Hermannus die jeweiligen Monatslängen sowie die entsprechenden Hilfsgrößen berechnet hat, besteht in der Annahme, daß selbst für den Reichenauer die Umrechnung der Einheiten ineinander ein kaum zu lösendes mathematisches Problem darstellte.149 Denkbar wäre ferner, daß ihm bereits an diesem Punkt der Niederschrift das Fehlgehen seines Ansatzes klar war. Vielleicht beabsichtigte er, mit Hilfe der Rundungen das Ergebnis noch zurechtzumogeln, oder er versuchte, die Abweichungen, zu denen seine Testbeispiele führen, ein wenig zu vertuschen.150 Ohne weitere Erläuterungen setzt Hermannus seine Ausführungen fort, indem er die synodischen Hilfsgrößen in gerundeter Weise auflistet und kurz erläutert, wie sich das Mondalter in einem beliebigen Jahr bestimmen lasse. Nachdem er auf diesem Wege sämtliches Instrumentarium eingeführt hat, das er für die siderische und synodische Mondalterbestimmung benötigt, geht er zu zwei Beispielrech148 „Regulares quoque lune horis aliquot auctos item minutiis suppletos ad naturalis cursus vicinia applicare studui, ut horum ad epactas coniunctione in hora qualibet pene certam lune a sole progressionem valeam invenire“, Hermannus, Prognostica cap. x (Arundel 356, fol. 40r); „[…] et si numerus qui ex coniunctione procreatur lunarem mensem, id est xxix dies, xii horas, dodrantem hore, non compleverit vel eo adempto remanserit, lune etatem indicabit“, ebd. cap. xi (Arundel 356, fol. 40v). – Mit Blick auf die Mondregularen, die er dann in einer Tabelle darbietet, ist erstens bemerkenswert, daß Hermannus anders als angekündigt die Angaben ungerundet, unter Verwendung der von ihm geschaffenen Einheiten, auflistet. Zweitens fällt auf, daß der Reichenauer – ohne dies zu erwähnen – die Werte gegenüber jenen in der „Abbreviatio“ um etwa 19 Stunden erhöht, also möglicherweise einen früheren Rechenfehler stillschweigend korrigiert hat; vgl. hierzu bereits Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 436 und S. 438, der allerdings eine Differenz von etwa zwölf Stunden ausmacht; vgl. die tabellarische Auflistung der Regularen in der „Abbreviatio compoti“, cap. xli (Arundel 356, fol. 36r), gegenüber jener in den „Prognostica“, cap. x (Arundel 356, fol. 40r). 149 Den synodischen Mondmonat präsentiert Hermannus zunächst in den altbekannten Atomen; die Bestimmung des siderischen Monats mit Hilfe dieser Einheiten ist jedoch nicht möglich, weshalb er hier auf seine Erfindung angewiesen ist. Die Umrechnung von Atomen in portiunculae ist jedoch angesichts der zur Verfügung stehenden Mittel sehr kompliziert. 150 Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 439, vermutet statt dessen, „ihm selbst wurde eine Präzision fragwürdig, die möglicherweise von der natürlichen Wahrheit ablenkte“.
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nungen über, um seinen Ansatz bis zu diesem Punkt zu veranschaulichen und seine Tauglichkeit zu überprüfen. 5. Die Überprüfung der bisherigen Ergebnisse (cap. xii–xiii). Zunächst wendet er sich einer Sonnenfinsternis zu, die sich am 29. Juni 1033 um die sechste Stunde ereignet hatte. „Natürlicherweise“ müsse bei einem solchen Phänomen Neumond sein, die „alte Berechnung“ liefere jedoch Mondalter 27. In einem ersten Schritt überprüft Hermannus, ob auch seine synodische Berechnung eine Entfernung des Mondes von der Sonne ergeben würde, die der entspricht, die sich mittelbar über die traditionelle Mondalterbestimmung ergäbe.151 Er kommt zu dem Ergebnis, das fragliche Mondalter nach seiner Kalkulation sei 29 Tage und 13 eindrittel Stunden, der Mondmonat also bereits vollendet, so daß – der Konstellation einer Sonnenfinsternis entsprechend – der Mond in Konjunktion mit der Sonne stehe.152 In einem zweiten Schritt kontrolliert er, ob sich der Mond zu diesem Zeitpunkt gemäß der siderischen Berechnungen in einem der Mondknoten befinde, ob somit auch die zweite notwendige Bedingung für eine Finsternis rechnerisch erfüllt war. Als Ergebnis ermittelt er ein siderisches Mondalter von zwölf Tagen, elf Stunden und 46 portiunculae und zieht daraus den Schluß, damit habe der Mond bereits den der Sonne nächsten Teil inne.153 Vergleicht man diese beiden aktuell errechneten Werte mit den oben besprochenen Halbmonaten, so zeigt sich, daß der synodische Wert sein Soll um etwa eine Stunde übertrifft, der siderische hingegen um einen Tag und vier einhalb Stunden hinter seiner Normgröße zurückbleibt. Berücksichtigt man, daß der Mond Hermanns obiger Rechnung zufolge zwei Tage, sechs 7/12 Stunden und sieben 2/3 portiunculae benötigt, um ein Tierkreiszeichen zu durchlaufen,154 ergibt sich näherungsweise, daß er zum fraglichen Zeitpunkt laut Kalkulation 151 „Sed ut singula hec aliquo non incerto probem exemplo, videamus in eclipsi solis quae in ipsa lune incensione naturaliter evenire debet, cum anno dominice incarnationis millesimo xxxo iiio iii kalendas iulii circa vi diei horam luna secundum antiquam calculationem xxvii contingit, an etiam iuxta computationem nostram tantum luna a sole distiterit“, Hermannus, Prognostica cap. xii (Arundel 356, fol. 40v). 152 „[…] ipsum scilicet lunarem mensem iamiam completum lunamque in coitu solis esse reperiemus“, Hermannus, Prognostica cap. xii (Arundel 356, fol. 40v–41r). 153 „[…] lunam ab ecliptico loco digressam iamque proximam illi partem redeuntem tenere cognoscimus“, Hermannus, Prognostica cap. xii (Arundel 356, fol. 41r). 154 Siehe hierzu Hermannus, Prognostica cap. ii (Arundel 356, fol. 38v). – Vgl. hierzu den „traditionellen“ Wert nach Beda, De temporum ratione cap. xvi, 80f. (CCL 123B, S. 336).
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noch über die Hälfte eines Zeichens von der Ekliptiklinie entfernt war. Umgekehrt formuliert bedeutet dies, daß der Mond rein rechnerisch zu weit von der Sonne entfernt war, um eine Finsternis der letzteren zu erzeugen. Daß sich Hermannus mit seinem Ergebnis dennoch zufrieden zeigt, überrascht angesichts seiner Akribie in der „Epistola“ und in der „Abbreviatio“. Er erklärt mit Plinius und Beda, die Sonne wandere mitten durch zwei Teile des Zodiaks und nehme zudem aufgrund ihrer Größe mehr als einen Teil ein, so daß der Mond sie zwar nicht vollständig, aber immerhin partiell verdecke.155 Ist in diesem Falle die Möglichkeit nicht völlig auszuschließen, daß Hermannus tatsächlich von der Bestätigung seines Ansatzes durch dieses erste Beispiel überzeugt war, lassen die Ergebnisse seines zweiten Beispiels, einer Mondfinsternis, keinen Spielraum für derartig großzügige Interpretationen. Er greift die Finsternis vom 16. September 1049 heraus, die um die dritte Nachtstunde beobachtet wurde, für die der traditionelle computus das Mondalter 15 angab.156 Hermanns eigene, synodische Rechnung liefert ihm 14 Tage und 18 einviertel Stunden, einen Wert, der fast exakt dem von ihm zuvor selbst ermittelten Vollmondalter entspricht.157 Anders aber verhält es sich im siderischen Bereich. Hermanns Berechnung, wie weit der Mond von der Ekliptik entfernt sei, liefert ein Ergebnis von zwei Tagen, sieben einhalb Stunden nebst 48 einhalb portiuncula. Also sei die Entfernung des Mondes von der Ekliptik zwei Teile, „die der Erdschatten, wie man glaubt, ebenfalls berührt“.158 Diese Abweichung des rechnerisch ermittelten vom beobachteten Wert ist so gravierend, daß Hermanns halbherziger Hinweis auf traditionelle Überzeugungen unglaubhaft wirkt. Vor dem Hin155 „Quare quia ibidem solem – qui per duas medias zodiaci teste Plinio et Beda vagatur partes, latitudine quoque sua plus quam unam partem occupantem offendit – interventu suo eum quamvis non totum occulens eclypsin eius effecit“, Hermannus, Prognostica cap. xii (Arundel 356, fol. 41r). – Zu Plinius siehe Ders., Naturalis historia ii, xiii, 67 (ed. Winkler/König S. 56); zu Beda Ders., De natura rerum cap. xvi (CCL 123A, S. 207 f.). 156 Schon Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 436, vermutet, daß Hermannus diese Finsternis selbst beobachtet habe. 157 „Sicque annumeratis usque ad praefatam eclipsin ex augusto mense xv diebus et iiibus horis, medietatem lunaris mensis, id est xiiii dies, xviii quadrantem horas, inveniemus lunamque diametro a sole distitisse probamus“, Hermannus, Prognostica cap. xiii (Arundel 356, fol. 41r). 158 „Quibus item xv dies et iii horas usque ad ipsam eclipsin adiungentes ii dies et vii semis horas, xlix portiunculas lunam ab ecliptica linea, id est duas partes digressam quas etiam umbra terrae lambere creditur, inveniemus“, Hermannus, Prognostica cap. xiii (Arundel 356, fol. 41r).
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tergrund seiner sonstigen Präzision sowie seines geistigen Scharfsinns dürfte die Annahme gerechtfertigt sein, daß er selbst sich der Fehlerhaftigkeit seines Ansatzes bewußt war. Hierfür spricht auch der Epilog der kleinen Schrift, der direkt auf das gerade besprochene Kapitel folgt. 6. Epilog (cap. xiiii). Bemerkenswert ist mit Blick auf den Schluß der „Prognostica“ der Befund, daß die Abhandlung trotz ihres formalen Abschlusses durch einen Epilog inhaltlich unvollendet ist.159 Hermanns Absicht war, eine Theorie zur Vorausberechnung von Finsternissen zu entwickeln. Ein Verfahren zur Prognose hatte er bis zu diesem Punkt jedoch überhaupt noch nicht entworfen. Zwar hatte er bereits den siderischen und den synodischen Bereich über die jeweilige Anbindung an den 19jährigen Zyklus miteinander verknüpft. Allerdings fehlt die konkrete Verfahrensvorschrift zur vorausberechnenden Ermittlung von Eklipsen. Hermannus bricht an der systematischen Stelle ab, zu deren Verifikation die beiden Beispiele dienen sollten. Mit ihrer Hilfe versuchte er zu zeigen, daß erstens die ermittelten Grundeinheiten, also die jeweiligen Halbmonate, und zweitens ihre Verzahnung, also die Verbindung mit dem 19jährigen Zyklus über die jeweiligen Hilfsgrössen, korrekt seien. Daß Hermannus den letzten Schritt nicht vollzieht und keine Vorschrift formuliert, wie die Daten künftiger Finsternisse zu generieren seien, stützt die oben artikulierte Annahme, daß er die Fehlerhaftigkeit seines Ansatzes erkannt hatte. Wie grundlegend der Zweifel war, den diese Einsicht in Hermannus auslöste, läßt sich den Äußerungen im Epilog entnehmen. Er resümiert, dies alles habe er sorgfältig rechnend gemäß dem 19jährigen Zyklus, entsprechend der Übereinstimmung von Sonnen- und Mondlauf und aufgrund der besagten Gleichförmigkeit des Mondlaufs zusammengestellt und als sicher Gewußtes niedergeschrieben. Sollte es sich irgendwann, in irgendeiner Hinsicht als falsch erweisen, so glaube er, daß keine solche Gleichförmigkeit und völlige – „ad purum“ – Übereinstimmung zwischen Mond- und Sonnenlauf herrsche, wie von den Vorgängern überliefert. Dann empfehle er sorgfältigeren Forschern, diese Zusammenhänge genauestens zu untersuchen. Seine Mühen reuten ihn indes nicht. Immerhin habe er mit seinen Berechnungen etwas dem „natürlichen Lauf“ doch recht Nahekommendes gefunden.160 159 160
Dieser Umstand ist der bisherigen Forschung erstaunlicherweise entgangen. „Hec secundum xix quam a patribus accepimus lunaris et solaris cursus coequa-
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Daß er korrekt gerechnet habe, steht für Hermannus außer Frage. Wenn also dennoch an einer Stelle ein Fehler auftrete, stimme etwas an den Voraussetzungen nicht. Diese Einschätzung ist umso bemerkenswerter, als er in diesem Zusammenhang direkt auf die angenommene „aequalitas concordiaque lunae solisque cursus“ verweist. Damit aber stellt er die bestimmende Größe und zentrale Prämisse seines gesamten komputistisch-astronomischen Denkens grundsätzlich in Frage. In konzeptioneller Hinsicht ist ferner beachtlich, daß der Reichenauer, anders als in allen seinen anderen komputistisch-astronomischen Schriften, seine Ergebnisse in den „Prognostica“ an der Wirklichkeit überprüft. Die beiden Beispiele, die er anführt und an denen er seinen Ansatz testet, sind zwei historisch belegte Eklipsen, die sich während seiner Lebzeiten ereigneten. Mit Blick auf die Frage, welche Rolle Beobachtung und empirische Argumente im wissenschaftlichen Denken Hermanns spielen, ist dieser Befund von großer Bedeutung. Denn genau die Diskrepanz, die er zwischen tatsächlichen und berechneten Daten beobachtete, ist allen Indizien zufolge der Grund, weshalb er an dieser Stelle abbricht und die Theorie zur Vorausberechnung nicht zuende führt. Aufgrund seiner daraufhin geäußerten Zweifel an seiner Grundvoraussetzung, der aequalitas, gewinnt die äußere Wirklichkeit im Epilog der „Prognostica“ einen signifikant anderen Status als in der „Epistola“, in der „Abbreviatio“ und selbst noch am Anfang der Eklipsenschrift. Diesen Zusammenhängen soll im folgenden Kapitel nachgegangen werden. 3.3. Modellhaftes Denken161 Bei der Besprechung der einzelnen komputistisch-astronomischen Schriften Hermanns wurden verschiedene Charakteristika freigelegt, die für die Interpretation seines wissenschaftlichen Denkens als modell-
tionem equalemque lune per zodiacum, ut supra dixi, discursionem et ad solis coitum recursionem diligenter computando collegi et, nisi equalitas cui computatio tota innititur nos fallat, pro certis conscripsi. Que si aliquando in aliquibus fefellerint, non eiusmodi, ut a prioribus tradita est, in solis luneque cursibus aequabilitatem concordiamque ad purum inesse puto eamque adhuc diligentioribus talium rerum inquisitoribus perquirendam suadeo. Me tamen laboris mei, per quem aliquid naturali cursui vel propinquum inveni, non penitet“, Hermannus, Prognostica cap. xiiii (Arundel 356, fol. 41r). – Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 439f. 161 Der hier verwendete Modellbegriff ist kein spezifischer, sondern wurde in der
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haften Denkens von zentraler Bedeutung sind und die im vorliegenden Paragraphen übergreifend erörtert werden. Unter modellhaftem Denken wird in dieser Arbeit eine Form der Rationalität verstanden, die sich durch ihren Anspruch auszeichnet, das Regelwerk eines Wissenschaftsbereiches – im vorliegenden Fall: von Komputistik und Astronomie – als maßstäblich kongruentes Abbild der angenommenen Funktionsweise des korrespondierenden Wirklichkeitsausschnitts zu gestalten. Der Auffassung Hermanns zufolge ist das astronomische Geschehen durch eine alles bestimmende ratio strukturiert, die aequalitas. Wie sich seinen komputistisch-astronomischen Schriften mittelbar entnehmen läßt, muß das Modell – bei Hermannus also das komputistisch-astronomische Regelwerk – diese Struktur widerspiegeln. Das Verhältnis von Wirklichkeitskonzeption und Regelwerk ist dabei eindeutig bestimmt. Beide Seiten lassen sich mittels mathematischer Verfahren ineinander übersetzen, weshalb das Modell hier als ‚maßstäblich kongruent‘ bezeichnet wird. Wie die fixen Größen beider Bereiche, so entsprechen auch die zwischen diesen Größen herrschenden Beziehungen, also die Strukturen auf beiden Seiten einander. Der aequalitas im einen korrespondiert somit die Mathematik im andern Fall. Diese schematische Rekonstruktion des modellhaften Denkens des Reichenauers stützt sich auf die Ausführungen der folgenden beiden Paragraphen.162 Im dritten Paragraphen ist abschließend näher auf die zentrale Prämisse, die aequalitas, einzugehen.163 Insgesamt stellt sich im Rahmen dieser übergreifenden Besprechung der wissenschaftlichen Rationalität Hermanns die Frage nach seiner philosophiehistorischen Position. Auf der Grundlage der folgenden drei Paragraphen wird er als ‚Mittlergestalt‘ begriffen. Diese Einschätzung stützt sich darauf, daß er erstens an konzeptionell tragenden Vorstellungen aus der Tradition festhält und unter dieser Perspektive als Fortsetzer oder, wenn man die rationalitätsgeschichtlichen Veränderungen im 12. Jahrhundert in Betracht zieht, als Endpunkt einer langen wissenschaftlichen Traditionslinie zu charakterisieren ist. Zweitens jedoch nimmt er an zentralen Punkten vermeintlich geringfügige AkzentverAuseinandersetzung mit den Quellen entwickelt, um einen bestimmten Anspruch – wie ihn Hermannus etwa an das komputistisch-astronomische Regelwerk richtet – begrifflich zu fassen. Für seine nähere Charakterisierung siehe den jetzt folgenden Absatz. 162 Gemeint sind die Paragraphen 3.3.1. Computus und natura, sowie 3.3.2. Mathematik und Wirklichkeit. 163 Siehe den Paragraphen 3.3.3. Aequalitas als ratio naturalis.
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schiebungen am Herkömmlichen vor, die sein Denken in formaler und struktureller Hinsicht gegenüber dem seiner Vorgänger verändern und an Kennzeichen der wissenschaftlichen Rationalität der Folgezeit erinnern. Die Darstellung der nächsten Kapitel wird daher schwanken: Einerseits wird die Nähe des Reichenauers zur Tradition betont, andererseits werden jene Aspekte hervorgehoben, die neuartig sind.164 3.3.1. Computus und natura 1. Computus und externer Maßstab. Die Analyse der drei Schriften ergab, daß der Reichenauer differenziert zwischen dem komputistischen Regelwerk und einem diesem externen Maßstab. In der „Epistola“ deutet sich diese Unterscheidung nur schemenhaft an,165 während sie seit der „Abbreviatio“ klar erkennbar hervortritt. Hermannus stellt dort erstmals ausdrücklich den computus lunae der „natürlichen ratio des Mondlaufs“ gegenüber und charakterisiert letztere näher.166 Sie ist gekennzeichnet durch aequalitas. Was aequalitas mit Bezug auf den Mondlauf bedeutet, geht aus seinen anschließenden Ausführungen hervor. „Gemäß der Einrichtung der Natur“ verfügten alle Mondmonate über dieselbe Länge, „aequalis longitudo“, außerdem stehe fest, daß sich der Mond immer mit derselben Geschwindigkeit bewege.167 Diese Art der Bewegung und des Verlaufs der einzelnen Mondmonate bezeichnet der Reichenauer als „naturalis“ und identifiziert sie mit der „natura“ oder gelegentlich mit der „nature veritas“.168 Aus diesen Grundannahmen leitet
164 Geschuldet ist diese Darstellungsweise der Überzeugung, daß Hermannus keinen rationalitätsgeschichtlichen Bruch markiert, sondern daß die herrschenden Konzeptionen aus sich selbst heraus zu wesentlichen Veränderungen führen und mithin zu etwas ‚Neuem‘. – Eine abschließende Würdigung der wissenschaftlichen Rationalität Hermanns im Lichte der detaillierteren Analyse seines Denkens und vor einem breiteren philosophiehistorischen Horizont bietet die Schlußzusammenfassung dieser Arbeit. 165 Vgl. hierzu 3.2.1. Die „Epistola de quantitate mensis lunaris“, den Abschnitt 2. „Natur“ und menschliche Konvention. 166 Die fragliche Stelle war Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxvii (Arundel 356, fol. 32v): „[…] compotum lune […] non per omnia naturalem lunaris discursus sequi rationem“; der Begriff selbst allerdings erstmals schon ebd. cap. i (Arundel 356, fol. 28r). „[…] convenit scire quod omnis compoti ratio naturalis […] tradita sit“ und seither durchgängig, allerdings ohne nähere Charakterisierung. 167 „[…] omnes lunares menses secundum nature constitutionem equalem longitudinem habere nec aliquando tardius citiusve solito lunam vel zodiaci circuitionem vel suam ad solem recursionem, id est mensem suum, peragere“, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxvii (Arundel 356, fol. 32v). 168 Zur „nature veritas“ vgl. Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxxvii (Arundel 356,
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er Konsequenzen für das komputistische Regelwerk ab. Wie er referiert, operiere die „computatio“ aus ihrem Bemühen um Einfachheit heraus „confuse et inordinate“, lasse den Mondmonat mal schneller, dann wieder langsamer verstreichen und sei insgesamt „inaequalis et minime naturalis“. Das genaue Gegenteil fordere, „poscat“, jedoch die Natur, „natura“.169 Im Lichte dieser Klagen wird ersichtlich, welchen Anspruch Hermannus an das komputistische Regelwerk richtet. Es soll die natura und folglich deren Hauptcharakteristikum, die aequalitas, abbilden. Ausdrücklich reformuliert er dieses Anliegen im Kapitel xxxvi der „Abbreviatio“, als er rückblickend seine bisherige Arbeit kommentiert. Als seine Intention gibt er an, allen Mondmonaten im komputistischen Regelwerk die gleiche Länge zu verschaffen, „aequalis longitudinis facere“, und nicht die Mondschaltmonate länger anzusetzen als die übrigen oder einen der Monate zu kürzen wegen des Mondsprungs, den es in der Natur ja gar nicht gebe. Denn – so begründet er nochmals sein Ansinnen – in der Natur seien alle Monate gleich lang.170 Angesichts dieser Textstellen läßt sich nun die weiter oben aufgeworfene Frage nach dem Status des Naturbegriffs Hermanns beantworfol. 34v): „Nos vero […] nature veritati […] operam dantes […]“; ebd. cap. xxxviiii (Arundel 356, fol. 35v): „Quodsi hoc […] nature veritas habet […]“. 169 „[…] compotum […] propter calculandi facilitatem […] non […] naturalem […] sequi rationem“, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxvii (Arundel 356, fol. 32v); „Sed facilitas computandi uni mensi xxx, alteri xxix dies maluit dare […]“, ebd.; die Schaltzuwächse würden zwar dem Mondlauf (rechnerisch) hinzugefügt, „tamen, quia non ita ordinatim et particulariter ut accrescunt coaptantur, sed plerumque citius, aliquando tardius quam natura poscat confuse et inordinate propter calculandi facilitatem conectuntur, […] efficiunt errorem, ut luna cuius cursus semper naturalis et equalis est nostri inequalem et minime naturalem, sed tantum facilitati studentem non sequatur computationem“, ebd. cap. xxviii (Arundel 356, fol. 32v–33r). 170 Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxxvi (Arundel 356, fol. 34r): „Ubi primum lectorem volumus ammonere omnes lune menses sicut in natura credimus sic etiam in computatione equalis nos longitudinis facere nec embolismos vel bissextiles menses ultra ceterorum quantitatem prolongari nec aliquem propter saltum lune qui quantum ad naturam nihil est a nobis adbreviari“; vgl. hierzu bereits ebd. cap. xxvii (Arundel 356, fol. 32v): „[…] omnes lunares menses secundum nature constitutionem equalem longitudinem habere […]“; ebd. cap. xxxvi (Arundel 356, fol. 34r): „[…] lunaris mensis quantitatem […] secundum equalem xixnalis cicli inter menses eius divisionem […] diffinivimus“; entsprechend zur ‚neuen‘ Länge der Mondschaltmonate (die jetzt exakt der der übrigen Monate entspricht), ebd. cap. xxxvii (Arundel 356, fol. 34v): „[…] ceteris illum [sc. embolismum, NG] mensibus equalitatis rationem sequentes coequemus“, mit der Fortsetzung in ebd. cap. xxxviii (Arundel 356, fol. 34v–35r): „Videsne […], ut ex equa adiectione [sc. epactarum, NG] […] unus ad ultimum lunaris mensis […] pure collectus sit? Quem cum pro vii embolismo lunari anno xixmo addideris, lunarem cursum cum solari ad purum coequari videbis […]“.
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ten:171 Die ‚Natur‘ entspricht nicht der äußeren, empirischen Wirklichkeit, sondern steht für Hermanns Vorstellung von ihrer Konstitution und Struktur.172 Am schlagendsten läßt sich dies durch Hermanns Charakterisierung des Mondmonats belegen: Das Studium des empirischen Mondmonats mittels Beobachtung hätte ihn darüber belehrt, daß die Mondmonate nicht alle dieselbe Länge besitzen. Wie schon seine Vorgänger, wenn diese in ihren Anthologien beispielsweise in Form der rezipierten Diagramme die Zusammenhänge der sublunaren Welt darstellten, bezieht sich der Reichenauer somit ausschließlich auf theoretisch erworbene Kenntnisse und Konzepte. Die Charakteristika hinsichtlich der komputistischen Größen und ihres ‚natürlichen‘ Maßstabs sind konzeptionell beachtlich und von tragender Bedeutung für den hier verwendeten Modellbegriff. Der Abbildcharakter des komputistischen Regelwerks – so der Umkehrschluß aus den obigen Beobachtungen – hat darin zu bestehen, eine einheitliche Recheneinheit ‚Mondmonat‘ zu schaffen, die mit ihrer Einheitlichkeit dem ‚natürlichen‘ Vorbild entspricht. Die geforderten Eigenschaften, also die je gleiche Länge und den gleichmäßigen Verlauf jeden Monates, vermag Hermannus über seine Standardmethode, die Mathematik, abzubilden, indem er mit Hilfe des arithmetischen Mittels jeden Mondmonat gleichlang macht oder indem er durch exakte Halbierung den Vollmond genau in der Monatsmitte plaziert.173 Bemerkenswert ist, wie kommentarlos und gleichsam selbstverständlich Hermannus die bestimmende Annahme voraussetzt, die ratio naturae sei von Gleichförmigkeit gekennzeichnet, und ihr ohne weitere Begründung die genannten Eigenschaften unterstellt. 2. Der computus als Gefüge. Für die hier vorgeschlagene Interpretation Hermanns Denkens als modellhaften ist mit Blick auf das komputistische Regelwerk dessen systemhafte Geschlossenheit von hoher Bedeutung, die auf mehrere Besonderheiten zurückzuführen ist. 171 Zu den Hintergründen dieser Frage siehe 3.2.3. Der zweite Teil der „Abbreviatio compoti“: Das Spezialproblem. 172 Im folgenden wird in diesem Zusammenhang des öfteren von Hermanns „Wirklichkeitsvorstellung“ oder „Wirklichkeitskonzeption“ die Rede sein. 173 Zur exakten Halbierung des Mondmonats und damit zur Vollmondbestimmung siehe Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xl (Arundel 356, fol. 35v): „Primum ergo quia in dimidio mense lunari semper plenilunium fit, supra sepius difinitum lune mensem naturalem in duo equa dividamus et medietatem eius, id est xiiii dies, xviii horas, i punctum, xl particulas, pro etate lunae quam in equinoctii vespere […] habuit teneamus“.
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Erstens beruht sie darauf, daß der Reichenauer seine Ausführungen auf die technisch-funktionale Ebene konzentriert. Anders als in der komputistisch-astronomischen Tradition fehlen Ausdeutungen der verhandelten Gegenstände völlig. Sein besonderes Profil gewinnt dieser Verzicht im Vergleich mit Bedas „De temporum ratione“, an das sich Hermannus inhaltlich gelegentlich eng anlehnt.174 Zweitens ist auf die causae zu verweisen, die er im ersten Teil der „Abbreviatio“ freilegen will. Diese korrespondieren exakt der die inhaltlichen Ausführungen dominierenden technisch-funktionalen Ebene, insofern sie ausschließlich fachwissenschaftliche Erklärungen zu den fraglichen Gegenständen bieten.175 Drittens ergibt sich die systemhafte Geschlossenheit des Regelwerks durch die Anordnung des Materials. Auch diese folgt treu den Anforderungen der technisch-funktionalen Ebene und fügt die einzelnen Grössen in eine finale Struktur. Im ersten Teil der „Abbreviatio“ tritt dieser Befund mit großer Klarheit hervor. Hermannus ordnet seine Ausführungen dort in einen breiteren kosmologischen Horizont ein, der zum Verständnis der weiteren Erläuterungen zwingend erforderlich ist. Mit diesem Verständnishorizont liefert er dem Leser die fachwissenschaftlichen causae, auf die die anschließend thematisierten Gegenstände – die komputistisch-astronomischen Größen und Regeln – zurückzuführen sind. Diese wiederum sind in ihrer Anordnung und Erläuterung auf ihren technisch-funktionalen Zielpunkt hin ausgerichtet, im Fall des ersten Teils der „Abbreviatio“ also auf die Osterdatierung. Durch diese finale An- und wechselseitige Zuordnung der einzelnen Größen und Verfahren schafft Hermannus ein zusammenhängendes Gefüge, in dem diese Größen ihren festen systematischen Ort besitzen.176 174 Vgl. hierzu die oben besprochenen Verweise bes. in 3.2.2. Der erste Teil der „Abbreviatio compoti“: Das komputistische Lehrbuch, der vorliegenden Arbeit. 175 Dieser Aspekt wurde in 3.2.2. Der erste Teil der „Abbreviatio compoti“: Das komputistische Lehrbuch, herausgearbeitet; die Ursachen, die Hermannus mit Blick auf die von ihm behandelten Gegenstände und Phänomene angibt, sind in einem modernen Sinne als astronomisch zu bezeichnen, wenn er beispielsweise in den „Prognostica“ die Konstellationen beschreibt, die zu Finsternissen führen, und hieraus die für seinen Ansatz relevanten Größen ableitet, siehe Hermannus, Prognostica, bes. cap. i (Arundel 356, fol. 38r; allgemein zu den Konstellationen bei Eklipsen; Hermannus selbst gibt an, daß man auf der Grundlage der beschriebenen Konstellationen herausfinden könne, „quando alterutrius luminis defectus naturaliter accidat“) und cap. iv (ebd. fol. 39r–39v; der aus den allgemeinen Konstellationen hergeleitete theoretische Ansatz). 176 Zur sachlogischen Gliederung des Materials in der „Abbreviatio“ vgl. die Ausführungen in 3.2.2. Der erste Teil der „Abbreviatio compoti“: Das komputistische Lehrbuch, insbesondere zur Gliederung des Materials; von vergleichbarer Bezogenheit
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Viertens sind die innerhalb dieses Gefüges herrschenden Verfahren von essentieller Bedeutung, da sie die Beziehungen der einzelnen Grössen zueinander und die Vorgehensweise zum Erreichen des Zielpunktes festlegen. In Hermanns Regelwerk gilt eine einzige Methode: die Mathematik, deren Rolle aufgrund der modifizierten Umgebung, in die sie eingebettet wird, gegenüber der älteren Komputistik anders und stärker akzentuiert wird. Fünftens gibt sich mindestens im Falle des ersten Teils der „Abbreviatio“ die Komputistik als eine Disziplin zu erkennen, die einen in sich bestimmten und zusammenhängenden, damit aber zugleich gegenüber benachbarten Bereichen abgrenzbaren, eigenständig betrachtbaren Wirklichkeitsausschnitt fokussiert. Ihr sind in der skizzierten Weise eindeutig benennbare Größen und Regeln sowie eine leitende Methode zuzuordnen. Umgekehrt lassen sich erst aufgrund ihres veränderten Charakters jetzt ‚Nachbarwissenschaften‘ ausmachen, die gegebenenfalls hilfswissenschaftliche Funktionen übernehmen. Für den Bereich der Komputistik im engeren Sinne, den Hermannus im ersten Teil der „Abbreviatio“ beschreibt, sind dies an erster Stelle die Astronomie und die Mathematik selbst.177
der einzelnen Größen und Zusammenhänge aufeinander sind auch die „Prognostica“ gekennzeichnet, vgl. die entsprechenden Hinweise in 3.2.4. Die „Prognostica de defectu solis et lunae“. 177 Vgl. im Unterschied hierzu die thematischen Zusammenstellungen im Rahmen der komputistisch-astronomischen Anthologien. Am Beispiel der „Libri computi“ von 809–812 ließ sich erkennen, daß die Komputistik zwar als integraler, aber gerade nicht isolierbarer Bestandteil der Sammlung zu begreifen ist. Dies zeigte sich in erster Linie an den kaum zu bestimmenden Grenzen zwischen einzelnen Fachbereichen, denen die verschiedenen Materialien zuzuordnen wären; dasselbe Phänomen trifft – gattungsgemäß – auch auf den „Computus“ Abbos zu. Darüber hinaus zeichnen sich die Sammlungen, auch der „Computus“, ja dadurch aus, daß sie die – aus heutiger Sicht – einzelnen Disziplinen nicht als in sich geschlossene Einheiten wahrnehmen. Weder werden die ‚Disziplinen‘ als je zusammenhängendes Ganzes dargestellt, noch wird auf inhaltliche Vollständigkeit geachtet; wie Obrist, „Les tables et figures abboniennes“ S. 183 f., am Beispiel des „Computus“ feststellt, weist er gravierende inhaltliche Lücken auf, unterstellt man, sein Zweck sei, die Osterfestberechnung zu vermitteln. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die fehlende Besprechung der Äquinoktien, eines Themas „d’une importance capitale pour le calcul des dates de Pâques“ (S. 184). Dieses Indiz belegt indes, daß die Komputistik – in technisch-funktionaler Hinsicht – eben nicht als eine in sich geschlossene Disziplin aufgefaßt wurde, zu deren Darstellung bestimmte Aspekte von wesentlichem, andere von verzichtbarem Interesse gewesen wären.
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3. Abbilden: Formale Einheitlichkeit. Im zweiten Teil der „Abbreviatio“ formuliert Hermannus expressis verbis das Ziel, die „veritas nature“ im Rahmen seines komputistischen Regelwerks abzubilden.178 Wie schon in der „Epistola“ konzentriert er sich inhaltlich dabei auf die natürliche ratio des synodischen Mondlaufs, während er sich in den „Prognostica“ darüber hinaus auch mit dem siderischen Monat auseinandersetzt. Anhand seines Vorgehens läßt sich erschließen, daß ‚abbilden‘ im Denken des Reichenauers grundsätzlich bedeutet, die der ratio naturalis unterstellten Eigenschaften im Regelwerk widerzuspiegeln. Ein in diesem Zusammenhang wichtiges Charakteristikum ist die formale Einheitlichkeit und damit die formale Vereinfachung, die Hermannus innerhalb des Regelwerks anstrebt. Dieses Anliegen artikuliert sich markant in der „Epistola“, in der der Reichenauer – anders als im zweiten Teil der „Abbreviatio“ – keine Differenz zwischen einem äußeren Maßstab, dem „visus“, und dem Regelwerk selbst als Anlaß für sein Vorgehen anführt. Bereits mit Blick auf das Hauptziel des Briefes, die Bestimmung der genauen Länge des Mondmonats, stellt sich die Frage, welchen Zweck eine solche Präzisierung erfüllen kann und soll. Wie die Ausführungen Hermanns erkennen lassen, liegt die Motivation für sein Forschen in Unstimmigkeiten innerhalb des komputistischen Regelwerks und nicht etwa in der Fehlerhaftigkeit der durch komputistische Berechnungen gelieferten Osterdaten relativ zur astronomischen Wirklichkeit.179 Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang ferner, daß die Ungenauigkeiten, die Hermannus computus-immanent aufgedeckt hat, letztlich ohne Auswirkungen auf die Endergebnisse komputistischer Berechnungen, also die Osterdaten, sind. Denn auch in der traditionellen Komputistik wird nicht ausschließlich auf der Grundlage der ungenauen Länge des Mondmonats kalkuliert, sondern zusätzlich anhand von Hilfskonstruktionen wie den Schaltmonaten, Schalttagen und Mondsprüngen, die die entstehenden Differenzen kompensieren.180 Damit aber besteht 178 „Nos vero in hoc proposito nostro non computationis facilitati, sed nature veritati […] operam dantes […]“, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxxvii (Arundel 356, fol. 34v), u. ö. 179 Vgl. hierzu Hermannus, Epistola S. 474, bes. 11–19. 180 Hermannus selbst ist sich ja über diesen Umstand im Klaren, wie sich verschiedenen Äußerungen entnehmen läßt, z. B. Hermannus, Abbreviatio compoti cap. ii (Arundel 356, fol. 28v): „Sciendum est autem quod praedicti menses nequaquam ita naturaliter ut praediximus discernuntur, sed pro libitu antiquorum uni plures alii pauciores dies tribuuntur hocque tantum observatum est, ut omnes pariter naturalem anni numerum, id est ccclxv dies, includerent […]“; ebd. cap. xi (Arundel 356, fol. 29v): „Sed cum lune
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überhaupt kein konkreter äußerer Bedarf für Hermanns Überarbeitung. Der einzige Gewinn, den sein Verbesserungsvorschlag bringt, besteht in einer formalen Vereinfachung des komputistischen Regelwerks. Diese äußert sich in erster Linie darin, daß dank der ‚neuen‘ Monatslänge der Wechsel von vollen und hohlen Mondmonaten in der Kalkulation entfällt und sich die Hilfsgrößen vereinheitlichen lassen,181 wenngleich beides um den Preis erheblich anspruchsvollerer Rechenverfahren.182 4. Ästhetik und Spielerei. Angesichts dieser formalen Vereinfachung stellt sich als weitere Frage, wozu Hermanns Berechnung des Schaltzuwachses dienen soll. Diese Rechnung stellt er sowohl in der „Epistola“, als auch in der „Abbreviatio“ an. In der „Epistola“ liegt diese Kalkulation in der Vorgehensweise begründet.183 In der „Abbreviatio“ jedoch schlägt er einen anderen Lösungsweg zur Bestimmung der exakten Länge des Mondmonats ein, so daß die Berechnung dort in
cursum eiusque etatem quolibet die agnoscere […] necessarium sit, quasdam nobis antiqui doctores commentati sunt regulas per quas omni die lunaris non multum a vero devians inveniri poterit etas“; ebd. cap. xiiii (Arundel 356, fol. 30v): „De saltu autem lune quem supra nominavimus nulla mihi facilior ac verior ratio videtur, quam quod ideo tantum unius mensis lunam utpote iulii lunam vel, ut quidam volunt, novembris quae in ceteris annis xxxma computatur uno die minorem in ultimo vel primo anno calculamus, ut in xixnali ciclo solis et lune cursum coequemus“. 181 Dieser Befund trifft nicht nur auf die „Epistola“, sondern auch auf den zweiten Teil der „Abbreviatio“ zu; in der „Abbreviatio“ geht Hermannus in dieser Hinsicht jedoch noch einen Schritt weiter, indem er wie oben referiert das gesamte Instrumentarium der Mondkomputistik auf den von ihm präzisierten Mondmonat umstellt; ähnlich konstruiert er sich in den „Prognostica“ die entsprechenden Hilfsmittel für die korrespondierenden siderischen Berechnungen. 182 Wie erwähnt sind die von Hermannus verwendeten Einheiten für die praktische Benutzung – die ja maßgeblich durch Kopfrechnen und lediglich einfachste Hilfsmittel wie den Abacus geprägt ist – unhandlich und besitzen ein weit größeres Fehlerpotential als das Rechnen auf der Grundlage von ganzen Tagen. Bemerkenswert ist dieser Befund vor dem Hintergrund der Ablehnung, die der Reichenauer der „facilitas computandi“ entgegenbringt. Insbesonders an der durch rhetorische Schärfe gekennzeichneten Übergangspassage zum zweiten Teil der „Abbreviatio“ führt er sie als Grund für die Wirrheit und Ungeordnetheit des computus an, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxvii (Arundel 356, fol. 32v): „Constat enim compotum […] propter calculandi facilitatem […] non […] naturalem lunaris discursus sequi rationem. […]. Sed facilitas computandi uni mensi xxx, alteri xxix dies maluit dare […]“. 183 In der „Epistola“ rechnet er den Schaltzuwachs in neunzehn Jahren gleichmäßig auf die 235 Mondmonate um und schlägt diesen monatlichen Anteil der traditionellen Länge, den 29 einhalb Tagen, zu. Zwar läuft auch dieses Verfahren im Grunde auf die Bestimmung des arithmetischen Mittels hinaus, aber eben nur mittelbar.
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technisch-funktionaler Hinsicht völlig nutzlos ist,184 zumal die Kenntnis des Zuwachses pro Monat bei keiner komputistischen Operation benötigt wird. Seine Ermittlung ist darüber hinaus sogar insofern kontraintuitiv, als Mondschaltmonate, Schalttage und Mondsprünge nicht an und für sich exisitieren. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um Konstrukte, die im Bereich des komputistischen Regelwerks entwickelt wurden. Sie gleichen die Ungenauigkeiten aus, die auf das Operieren mit den Näherungsgrößen und vereinfachten Verfahren in der Komputistik zurückzuführen sind.185 Wenn Hermannus also für den Bereich der Mondkomputistik die Berechnungsgrundlage, nämlich die Länge des Mondmonats, in der oben referierten Weise präzisiert, entfällt zwingend der bisherige Kompensationsbedarf. Im überarbeiteten komputistischen Regelwerk des Reichnauers gibt es keine Schalttage und somit auch keinen Schaltzuwachs mehr. Die Berechnungen, die Hermannus zum monatlichen Zuwachs anstellt, beziehen sich entsprechend nicht auf Hilfsgrößen seiner eigenen, präzisierten Mondkomputistik, sondern auf die der traditionellen.186 Mit Blick auf diesen letzten Gesichtspunkt scheint Hermanns Tätigkeit eine zwecklose Spielerei zu sein. Tatsächlich lassen sich mehrere Stellen innerhalb seines komputistisch-astronomischen Werkes ausmachen, denen ein verspielter Zug eignet. Bereits oben, bei der Diskussion der Mathematik und ihres konsequenten Einsatzes als Argumentationsmittels wurde ein ähnliches Phänomen sichtbar. Es äußert sich darin, daß Hermannus jeden einzelnen Ansatz komplett durchrechnet. So operiert er bei der Ermittlung der exakten Länge des Mondmonats in der „Epistola“ erst mit sämtlichen Zeiteinheiten von den größeren bis zu den kleinsten, bis er zuletzt mit den Atomen eine für die restlose Teilung geeignete Größe findet. Zum Abschluß seines Briefes prä184 Diesmal operiert er direkt mit dem arithmetischen Mittel, indem er die mittels der Sonnenjahre bestimmte Dauer des 19jährigen Zyklus durch die 235 Mondmonate teilt. 185 Zur Veranschaulichung sei nochmals auf eine bis heute gebräuchliche Konstruktion verwiesen, den Schalttag, der ja jedes vierte Jahr dem Kalender zur rechnerischen Kompensation hinzuzufügen ist. 186 Insbesondere an Punkten wie diesem tritt eine eigentümliche Diskrepanz zwischen Hermanns Konzentration auf die technisch-funktionale Ebene sowie die fachwissenschaftlichen Hintergründe einerseits und einer ‚Nutzlosigkeit‘ oder Redundanz mancher seiner Schritte andererseits plastisch in Erscheinung. Solche Indizien legen den Schluß nahe, daß Hermanns wissenschaftliches Anliegen über den ersten Anschein hinaus nicht (ausschließlich) in einer technisch-funktionalen Verbesserung des computus bestand.
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sentiert er noch seine eigene Einheit, um mit ihr ein weiteres Mal zu kalkulieren. Diese ‚Rechenverliebtheit‘ tritt besonders deutlich in der „Abbreviatio“ hervor, kennzeichnet aber nur noch partiell die „Prognostica“.187 In dem Bemühen, die Mondkomputistik durchgängig auf eine einzige Berechnungsgrundlage zu stellen und von Hilfskonstruktionen zu befreien, zeigt sich jedoch das für die gegenwärtige Fragestellung und in wissenschaftskonzeptioneller Hinsicht bemerkenswerte Anliegen Hermanns. Seine Präzisierungen zielen auf formale Vereinfachung und Eleganz des komputistischen Regelwerks und damit auf ein höheres Maß an Einheitlichkeit und Transparenz. Sein Wissenschaftsinteresse ist nicht auf einen technisch-funktionalen Mehrwert gerichtet und läßt sich daher als ein ästhetisches bezeichnen.188 Im Falle der „Epistola“ stützt sich diese Interpretation auf den Befund, daß Hermanns Überlegungen von regelwerkimmanenten Diskrepanzen ihren Ausgang neh187
Hermanns Rechenverliebtheit zeigt sich plastisch in seiner Begeisterung, ein erzieltes Ergebnis in diverse andere Einheiten umzurechnen. Beispielsweise sei auf die Kapitel xxxii–xxxiiii der „Abbreviatio“ hingewiesen. In Kapitel xxxii ermittelt der Reichenauer die exakte Länge des Mondmonats, die er zunächst als 29 Tage, 12 Stunden, 2 Sonnenpunkte, 14 ostenta und 140 Atome angibt; die Einheiten, die die Stunde unterschreiten, rechnet er sofort um in 3 Mondpunkte, 8 ostenta und wiederum 140 Atome; noch insgesamt sechsmal reformuliert er sein Ergebnis in diesem Kapitel; das ganze Verfahren wiederholt sich entsprechend in den Kapiteln xxxiii und xxxiiii zu den Schaltzuwächsen, siehe Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxxii–xxxiiii (Arundel 356, fol. 33v–34r). – Die Akribie, mit der Hermannus sämtliche Rechnungen durchführt, ist in den „Prognostica“ im Vergleich mit den anderen Schriften viel schwächer ausgeprägt. Dies zeigt sich am auffälligsten bei den siderischen Mondregularen, die er eigenem Bekunden zufolge „experimentis et ratione“ ermittelt habe (vgl. hierzu nochmals Schipperges, „Zum Topos von ‚ratio et experimentum‘“). Die Rechnung selbst führt er jedoch genauso wenig auf, wie er den Weg angibt, auf dem er seine Ergebnisse erzielt hat. Er stellt diese Regularen lediglich in einer Tabelle zusammen, Hermannus, Prognostica cap. vii (Arundel 356, fol. 40r): „Sed sicuti experimentis et ratione non sine aliqua diligentissime computationis labore vestigare potui, subscriptum numerum singulis mensibus apponendum regulariter inveni. [folgt: Tabelle mit den Regularen, NG]“. – Eine vergleichbare Rechenverliebtheit weist vor Hermannus beispielsweise Pseudo-Columbanus auf, siehe Ders., De saltu lunae; noch eklatanter dann bei Garlandus, De computo ii. 188 Die Einschätzung Hermanns als eines Gelehrten, dem es um die technischfunktionale Verbesserung der traditionellen Komputistik ging, wäre unter der hier vorgeschlagenen Perspektive zu relativieren. Seine technisch-funktionale Präzision ließe sich demnach eher als Nebeneffekt oder im Grunde sogar als Zeugnis eines auf die formale Ebene zielenden ästhetischen Interesses deuten; die Leistung Hermanns auf technisch-funktionaler Ebene betont stärker Borst, „Ein Forschungsbericht“; ausschließlich mit Blick auf diese Ebene die kurze Notiz in Wiesenbach, Der Liber decennalis S. 59.
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men und an keiner Stelle Endergebnisse komputistischer Berechnungen als Referenz heranziehen. Derartige Daten, wie Mondalter, termini, das Osterdatum oder dergleichen, thematisiert er überhaupt nicht. Er setzt also weder ‚traditionell‘ ermittelte Daten in Relation zu solchen, die seine neuentwickelte Mondkomputistik generiert, noch bezieht er sie auf eine computus-externe Wirklichkeit. Selbst für die „Abbreviatio“ läßt sich ein vergleichbares Interesse ausmachen. Zwar konstatiert der Reichenauer zu Beginn ihres zweiten Teils die oben diskutierte Differenz zwischen dem visus und dem computus. Der spontane Schluß liegt daher nahe, seine Absicht sei, eine Diskrepanz zwischen komputistisch generierten Daten und der äußeren Wirklichkeit zu beheben.189 Doch ergab die Analyse, daß Hermannus auch in der „Abbreviatio“ letztlich konsequent regelwerkimmanent bleibt: Weder überprüft er den ‚neuen‘ Mondmonat am eingangs angeführten visus, noch ordnet er das Ergebnis in seinen technischfunktionalen Kontext ein, den er im ersten Teil der „Abbreviatio“ entworfen hatte. Wie bereits in der „Epistola“ strebt er Einfachheit an, und zwar auf einer formalen, nicht auf einer technisch-funktionalen Ebene.190 Aus Hermanns Bemühen, mit dem Regelwerk eine diesem externe ratio naturalis abzubilden, und seinem Streben nach Einheitlichkeit läßt sich erschließen, daß er eine bestimmte Form der Adäquation zwischen dem Regelwerk und seiner Wirklichkeitsvorstellung anvisiert, nämlich Verlaufsadäquation.191 Im Zentrum seiner Aufmerksamkeit steht damit der Versuch, das Verhalten der komputistisch-astronomischen Größen gemäß den Eigenschaften der korrespondierenden Größen seiner Wirklichkeitsvorstellung zu modellieren.192 Da dem Konzept gemäß der synodische Mondmonat von Neumond zu Neumond völlig gleichmäßig verläuft und alle Mondmonate der zugrunde gelegten Gleichförmig-
Vgl. 3.2.3. Der zweite Teil der „Abbreviatio compoti“: Das Spezialproblem. Wie schon oben betont wurde, ist mit dem präzisen Mondmonat erheblich komplizierter zu rechnen als mit dem ungenauen traditionellen und den kompensatorischen Hilfsgrößen. Hermannus selbst weist darauf hin, daß die Hilfsgrößen der Einfachheit des Rechnens wegen verwendet würden: „[…] propter calculandi facilitatem […]“, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxvii (Arundel 356, fol. 32v); „Sed facilitas computandi […]“, ebd. 191 Daß es sich bei der natura um eine Wirklichkeitskonzeption handelt, bereits oben, im Abschnitt 1. Computus und externer Maßstab, in diesem Paragraphen; mehr hierzu unten, 3.3.3. Aequalitas als ratio naturalis. 192 Der Begriff „Verhalten“ wird hier in seinem mathematischen Sinne verwendet. 189 190
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keitsprämisse entsprechend gleich lang sind,193 müßte das komputistische Regelwerk diese Eigenschaften in kongruenter Weise widerspiegeln. Diese Leistung erbringt der traditionelle computus jedoch nicht, wie sich leicht am dort gebräuchlichen ständigen Wechsel von 29 beziehungsweise dreißig Tagen des synodischen Mondmonats, an der Verwendung der Mondschaltmonate und des Mondsprunges erkennen läßt. Der herkömmliche computus ist vielmehr gekennzeichnet durch Ungleichförmigkeiten, Brüche und Unregelmäßigkeiten und folglich durch Verstöße gegen eine als völlig gleichförmig gedachte Wirklichkeitsstruktur.194 Indem Hermannus solche Irregularitäten ablehnt und stattdessen von den komputistischen Größen und Verfahrensanweisungen verlangt, die ‚natürliche‘ Gleichförmigkeit abzubilden, erhebt er einen in dieser Form neuen Anspruch an die komputistischen Größen und Regeln. Aufgrund dieses Befundes läßt sich an dieser Stelle Hermanns Begriff der rationes rerum gegenüber jenem seiner Vorgänger noch weiter präzisieren. Bestand das Anliegen von Gelehrten wie Abbo in erster Linie darin, die rationes in den natürlichen Dingen aufzudekken, geht Hermannus einen Schritt darüber hinaus. Er versucht nicht nur, die Strukturen der natürlichen Phänomene zu ermitteln, sondern bemüht sich zusätzlich darum, das komputistisch-astronomische Regelwerk ihnen gemäß zu reformulieren sowie – auf dieser Grundlage – eigenständig eine Theorie zu entwickeln, mit deren Hilfe er das Verhalten der natürlichen Phänomene zu antizipieren vermag.195
193 „[…] omnes lunares menses secundum nature constitutionem equalem longitudinem habere nec aliquando tardius citiusve solito lunam vel zodiaci circuitionem […] peragere“, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxvii (Arundel 356, fol. 32v). 194 „[…] quia non ita ordinatim et particulariter ut accrescunt [sc. die Schaltzuwächse, NG] coaptantur, sed plerumque citius, aliquando tardius […] confuse et inordinate […] conectuntur“, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxviii (Arundel 356, fol. 32v–33r). – An dieser Stelle ist nochmals auf Wallis, „Images of Order“ S. 48, 50 u. ö., zurückzukommen, die der Auffassung ist, der computus „imposes order upon time“ (ebd. S. 50). Wenngleich Hermannus – anders als Beda und Abbo – zwischen dem komputistischen Regelwerk und der veritas nature unterscheidet, zeigt sich an seinem Bemühen um formale Übereinstimmung zwischen dem computus und der natura doch deutlich, daß es ihm um das ‚Nachbilden‘ einer in der ‚Natur‘ bereits vorhandenen Ordnung geht und nicht umgekehrt um ein Ordnen der ‚Natur‘ gemäß dem komputistischen Konstrukt. 195 Für eine erste Präzisierung des ratio-Begriffes siehe oben, 3.2.2. Der erste Teil der „Abbreviatio compoti“: Das komputistische Lehrbuch, den Abschnitt 2. Erörterung zentraler inhaltlicher Aspekte.
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3.3.2. Mathematik und Wirklichkeit 1. Die doppelte Funktion der Mathematik. Von zentraler konzeptioneller Bedeutung ist die Verwendung der Mathematik beim Transponieren seiner Wirklichkeitsvorstellung in das komputistisch-astronomische Modell. Wie oben beschrieben stützt sich Hermannus auf mathematische Operationen, vor allem auf die Division und hier in erster Linie auf das arithmetische Mittel, um zu gewährleisten, daß die Daten, die der computus liefert, zu jedem beliebigen Zeitpunkt der naturalis ratio entsprechen. Liefert also beispielsweise der computus für einen beliebig ausgewählten Tag des 19jährigen Zyklus, um eine bestimmte Uhrzeit ein Mondalter, so ist aufgrund der Voraussetzungen davon auszugehen, daß dieses Mondalter auch in der natura herrscht.196 Diese bemerkenswerte Adäquation zwischen dem komputistisch-astronomischen Regelwerk und dem angenommenen Verhalten der natürlichen Phänomene – Hermanns Wirklichkeitsvorstellung – beruht auf einer Vereindeutigung der Abbildungsverfahren als mathematisch bestimmter Zuordnungsvorschriften.197 Infolge dessen wird das komputistischastronomische Regelwerk zum gleichsam maßstäblich kongruenten Modell der Wirklichkeitskonzeption, so daß sich beide Seiten des ‚Gleichungssystems‘ aufgrund klar definierter, mathematisch zwingender Verfahren ineinander umrechnen lassen. Die einzelnen Größen des Modells korrespondieren dabei ‚natürlichen‘ Phänomenen,198 während die komputistisch-astronomischen Regeln die Struktur der Wirklichkeitsvorstellung, die vorausgesetzte ratio, widerspiegelt. Diese Interpretation beruht auf den folgenden Überlegungen. Bemerkenswert an Hermanns Rückgriff auf die Mathematik ist nicht, daß er mathematische Verfahren bei der Bestimmung komputistisch-astronomischer Größen verwendet. Schon die traditionelle Komputistik stützt sich in ihrer technisch-funktionalen Dimension auf mathematische Operationen. Doch besitzt die Mathematik im kom196 Hermanns Berechnungen zielen in der Tat darauf ab, Mondalter oder vergleichbare Daten zu bestimmten Tageszeiten zu ermitteln, vgl. insbes. seine Beispielrechnungen in den „Prognostica“ (cap. xii und xiii), in denen er die genaue Stunde berücksichtigt, zu der die jeweilige Verfinsterung stattgefunden hat. 197 Vgl. hierzu insbes. das oben beschriebene mathematische Verfahren bei der Neubestimmung der als relevant ausgemachten Größen, 3.2.1. Die „Epistola de quantitate mensis lunaris“, bes. den Abschnitt 3. Mathematik als Methode. 198 Beispielsweise sei auf den Mondmonat verwiesen: Als ‚Größe‘ existiert er der impliziten Unterstellung Hermanns zufolge sowohl in der ‚Natur‘, als auch im computus; dasselbe trifft auf das Mondalter zu, die Ekliptiktransgressionen, und so fort.
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putistisch-astronomischen Regelwerk des Reichenauers einen modifizierten Charakter, der aus zwei wesentlichen Veränderungen resultiert, die Hermannus am überlieferten computus vornimmt: erstens aus der eben besprochenen vereindeutigten Beziehung zwischen der Wirklichkeitsvorstellung und dem komputistisch-astronomischen Regelwerk und zweitens aus der finalen Struktur, die er seinem Modell unterlegt.199 Als maßgebliche Methode innerhalb dieses durchstrukturierten Regelwerks stellt die Mathematik die Verfahren bereit, die gewährleisten sollen (und können), daß die angestrebte Verlaufsadäquation auch tatsächlich erreicht wird.200 Dabei bestimmt sie in Gestalt von Rechenvorschriften die Beziehungen zwischen den einzelnen Größen des Regelwerkes, das seinerseits als ein zusammenhängendes Gefüge in technisch-funktionaler Hinsicht aufgefaßt wird.201 Das Gefüge, innerhalb dessen sie die vorherrschende Methode ist, stellt das Abbild der Wirklichkeitskonzeption dar. Da die Mathematik die Stuktur dieses Gefüges und somit des Abbildes bildet, folgt, daß sie in diesem Zusammenhang die Struktur der natura abbildet. Dies aber bedeutet, daß die Mathematik als regelwerkimmanente Methode das Abbild der aequalitas als der fundamentalen ratio der ‚natürlichen‘ Vorgänge ist.202
199
Zur Auffassung der Wirklichkeit als einer zahlhaft strukturierten Peri, „Omnia mensura“; vgl. auch den Sammelband Folkerts, Maß, Zahl und Gewicht. 200 Um auf das Beispiel von oben zurückzugreifen: Die Mathematik wird als geeignet begriffen, über komputistische Berechnungen zu jedem beliebigen Zeitpunkt solche Mondalter zu generieren, die mit jenen in der natura übereinstimmen. 201 Ein vergleichbares Bewußtsein von der technisch-funktionalen Geschlossenheit und wechselseitigen Bezogenheit der diversen Größen läßt sich nach derzeitigem Kenntnisstand in der Zeit vor Hermannus nicht beobachten. Zur Verdeutlichung sei auf die oben, 2.2.1. Die komputistisch-astronomischen Sammlungen, herausgearbeiteten Charakteristika komputistisch-astronomischer Sammlungen verwiesen. Betrachtet man beispielsweise die argumenta, also die ‚Verfahrensanweisungen‘, so fällt auf, daß sie schlicht additiv nebeneinander stehen. Selbst für einen Kenner der Komputistik wird aus ihrer Abfolge in technisch-funktionaler Hinsicht keine spezifische Zielrichtung oder Zusammengehörigkeit ersichtlich. Vgl. hierzu die plastische Auflistung in Cordoliani, „Les manuscrits de comput ecclésiastique“ S. 172–175. – Als weiteres Beispiel – aus der traktatartigen Literatur – sei an Bedas „De temporum ratione“ erinnert. Wie sich oben, 1.2. Beda Venerabilis: „De temporum ratione“, zeigen ließ, liegt dem Aufbau der Schrift eine klar erkennbare Struktur zugrunde. Allerdings folgt diese Struktur primär anderen, nicht technisch-funktionalen Kriterien und rückt daher nicht die technischfunktionale Bezogenheit der komputistisch-astronomischen Größen aufeinander in den Blick, sondern vielmehr ihren Ort im heilsgeschichtlichen Prozeß vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Zeit und göttlicher Ewigkeit. 202 Eine ähnlich fundamentale Rolle spielt die Mathematik beispielsweise bei Thierry von Chartres und später wieder bei Nikolaus von Kues in „De aequalitate“.
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Diese Beobachtung ist sehr aufschlußreich, denn aufgrund der maßstäblichen Kongruenzbeziehung, in die Hermannus seine Wirklichkeitsvorstellung und das komputistisch-astronomische Modell setzt, unterstellt er implizit auch der natura eine eindeutige Ordnung: Wie das Modell ist sie demnach mathematisch strukturiert. Im Lichte der kosmologischen Tradition zeigt sich das besondere Profil dieses Befundes. Schon die Gelehrten vor Hermannus gehen selbstverständlich davon aus, daß die Wirklichkeit rational geordnet und infolge dessen prinzipiell erkennbar ist.203 Genauso wenig stellt die Überzeugung von der Zahlhaftigkeit dieser Struktur ein Novum dar.204 Jedoch ist weder die Mathematik, die Hermannus zur Übersetzung der Wirklichkeitskonzeption in das komputistisch-astronomische Modell heranzieht, noch jene Mathematik, die als Methode innerhalb seines Modells herrscht, die der boethianisch-neupythagoreischen Tradition. Anders als in seiner Rithmomachie und anders als die meisten seiner Vorgänger und Zeitgenossen operiert Hermannus in seinen komputistischastronomischen Schriften nicht mit Proportionen,205 sondern verwendet die Mathematik in quantifizierender Weise.206 Besonders deutlich tritt dieser ungewöhnliche Umgang mit der Mathematik in seinem Rückgriff auf immer kleinere Zeiteinheiten hervor, der sogar bis hin zu einem Operieren mit Bruchzahlen führt.207 Dies aber hat zur Folge, daß 203
Vgl. hierzu das fundierende Erkenntnisprogramm Alkuins, die „Disputatio de vera philosophia“, sowie Abbos explizite Bitte um Erkenntnis in der „Ephemerida“. – Grundlegend hierzu die bekannten direkten oder indirekten Vorlagen wie beispielsweise Augustinus, De musica, oder Boethius, Consolatio philosophiae. 204 Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an die häufige Bezugnahme auf Sap 11, 21, das gerne in einer entsprechenden kosmologisch-philosophischen Weise ausgedeutet wird. Deutliche Anklänge hieran fanden sich beispielsweise bei Abbo von Fleury, siehe hierzu oben, 2.3. Untersuchung ausgewählter Komponenten des „Computus“; vgl. auch Engelen, Zeit, Zahl und Bild (zum „Computus“: S. 75–143); allgemein zur Thematik der bereits genannte Sammelband von Folkerts, Maß, Zahl und Gewicht, allerdings mit dem Fokus auf der späteren Zeit. 205 Zur Rithmomachie Hermanns siehe Borst, Das mittelalterliche Zahlenkampfspiel S. 81–97. 206 Diese Beobachtung als Andeutung bereits bei Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 414. 207 Vgl. hierzu bes. 3.2.4. Die „Prognostica de defectu solis et lunae“ (die Schrift, in der Hermannus ja tatsächlich aus rechnerischen Gründen auf Bruchzahlen angewiesen ist). – Hermanns Operieren mit winzigen Zeiteinheiten ist in mathematikhistorischer Hinsicht von einigem Interesse. Auf die bereits von Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 423 f. und S. 437, registrierte Besonderheit des Bruchrechnens Hermanns wurde schon hingewiesen. Doch zeigt sich darüber hinaus, daß der Reichenauer zwar sukzessive auf immer kleinere Einheiten zurückgreift, nicht aber – wie sich zunächst vermuten
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die Beziehungen zwischen den vorausgesetzten Strukturen der ‚Natur‘ und dem komputistisch-astronomischen Modell nicht mehr analogischproportionaler Art sind, sondern den zwingenden Charakter mathematischer Gesetzmäßigkeiten besitzen. Der Übergang von der Wirklichkeitskonzeption zum Modell ist eindeutig bestimmt, so daß sich die Angemessenheit des Modells selbst sowie von diesem erzeugte Daten mittels der Überführungsvorschriften zweifelsfrei überprüfen lassen. Infolge dessen eignet sich im modellhaften Denken Hermanns die Mathematik über die genannten Anwendungsfälle hinaus auch als Instrumentarium, um Angaben der Tradition zu beurteilen.208 Beide Aspekte – die Beziehung von Wirklichkeitsstruktur und computus sowie die Verhältnisse innerhalb des computus – zusammengenommen, bedeutet dies also, daß die natura in der Konzeption Hermanns in definitiver Weise berechenbar wird. 2. Natura und visus. Der Begriff natura tritt in Hermanns komputistisch-astronomischen Schriften erst seit der „Abbreviatio“ in Erscheinung, seltener in substantivischer Verwendung, sondern meistens als Attribut zu ratio und cursus.209 Ferner wird er verwendet zur Charakterisierung verschiedener Zeitspannen wie mensis oder annus, gelegentlich dient er auch der näheren Bestimmung von veritas.210 Relativ zum komputistisch-astronomischen Modell besitzt diese natura einen vorbildlichen und maßstäblichen Charakter, insofern der computus ihre
ließe – auf infinitesimal kleine. Daraus ist zu erschließen, daß er noch davon überzeugt ist, das Kontinuitätsproblem mittels Diskreta befriedigend lösen zu können. 208 Daß der Reichenauer seine Vorgänger damit an einem letztlich anachronistischen Maßstab mißt, steht außer Frage. Denn in seiner Beurteilung ihrer Leistungen unterstellt er ihnen implizit, das komputistisch-astronomische Regelwerk genauso wie er selbst als zusammenhängendes Gefüge und mithin als Modell begriffen zu haben. Dieser Anachronismus zeigt sich am deutlichsten darin, daß seine Kritik an den Vorgängern exakt an ihrem vermeintlichen Versagen ansetzt, das komputistisch-astronomische Regelwerk so geordnet und regelmäßig auszugestalten, wie die naturalis ratio sei – also Hermanns Wirklichkeitsvorstellung. 209 Zur „ratio naturalis“ vgl. Hermannus, Abbreviatio compoti cap. i (Arundel 356, fol. 28r); ebd. cap. xxvii (Arundel 356, fol. 32v); zum „cursus naturalis“ ebd. cap. xxviii (Arundel 356, fol. 33r); Ders., Prognostica cap. x (Arundel 356, fol. 40r); ebd. cap. xi (Arundel 356, fol. 40v); ebd. cap. xiiii (Arundel 356, fol. 41r). 210 Zum ‚natürlichen‘ „mensis lunaris“ siehe Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxxvi (Arundel 356, fol. 34r); ebd. cap. xl (Arundel 356, fol. 35v); ebd. cap. xlii (Arundel 356, fol. 36r); zum „annus naturalis“ ebd. cap. xxxviii (Arundel 356, fol. 35r); Ders., Prognostica cap. v (Arundel 356, fol. 39v); ebd. cap. xi (Arundel 356, fol. 40v); zur „nature veritas“ ebd. cap. xxxvii (Arundel 356, fol. 34v); ebd. cap. xxxviiii (Arundel 356, fol. 35v).
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Eigenschaften abbilden soll und seine Angemessenheit an seiner Übereinstimmung mit ihr zu überprüfen ist.211 Dieser Anspruch spiegelt sich in Formulierungen wie der angestrebten „calculatio naturalis“ wider oder in dem Bestreben, „mensem ita naturaliter discernere“, wie er in der natura auftrete.212 Hermanns Naturbegriff kennzeichnet somit in erster Linie Abläufe oder bestimmende Größen seiner Wirklichkeitsvorstellung. Damit aber steht natura als Bezeichnung für deren Gesamtstruktur oder grundlegende ratio und ist infolge dessen von zentraler konzeptioneller Bedeutung für Hermanns komputistisch-astronomisches Denken.213 Als das bestimmende Merkmal dieses Naturbegriffes ist die aequalitas zu bezeichnen, aus der der Reichenauer ja die wesentlichen Eigenschaften der Einheitlichkeit, Stetigkeit und Zirkularität ableitet. Die aequalitas stellt somit das vorherrschende Strukturcharakteristikum der Wirklichkeitskonzeption dar und firmiert in Hermanns Denken als die eine, fundamentale ratio der Wirklichkeit. Daß Hermannus selbst beide Begriffe, die aequalitas und die natura, für austauschbar und folglich für identisch hielt, zeigt sich an seinem Sprachgebrauch. Verschiedentlich verknüpft er beide Termini konjunktional miteinander oder rückt einen der beiden an die systematische Stelle, die zuvor der andere einnahm.214 Am deutlichsten aber tritt die Identifikation der natura mit der aequalitas im Epilog der „Prognostica“ zutage. Als Ziel seiner Finsternisseschrift hatte er angegeben zu berechnen, wann sich „natürlicherweise“ Eklip211
Zum vorbildlichen Charakter der natura vgl. die Formulierung „natura poscat“ in Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxviii (Arundel 356, fol. 33r); zum Anspruch, das komputistisch-astronomische Regelwerk als Abbild der natura zu gestalten ebd. cap. xxxvi (Arundel 356, fol. 34r): „Ubi primum lectorem volumus ammonere omnes lune menses sicut in natura credimus sic etiam in computatione equalis nos longitudinis facere […]“. 212 Zur „calculatio naturalis“ Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxxvi (Arundel 356, fol. 34r); ähnlich zur „computatio naturalis“ ebd. cap. xxviii (Arundel 356, fol. 33r); „naturaliter discernere“ ebd. cap. ii (Arundel 356, fol. 28v); ähnlich „naturaliter colligere“ ebd. cap. xxxviii (Arundel 356, fol. 35r), u. ö. 213 Mit einer anderen Einschätzung des Naturbegriffs Hermanns Engelen, Zeit, Zahl und Bild S. 146, allerdings ohne Begriffsanalyse. 214 Beispielsweise Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxviii (Arundel 356, fol. 33r): „[…] ut luna cuius cursus semper naturalis et equalis est nostri inequalem et minime naturalem non sequatur computationem“; ebd. cap. xxxvi (Arundel 356, fol. 34r): „[…]omnes lune menses sicut in natura credimus sic etiam in computatione equalis nos longitudinis facere“; ebd. cap. xxvii (Arundel 356, fol. 32v): „[…] omnes lunares menses secundum nature constitutionem equalem longitudinem habere“; Ders., Prognostica cap. i (Arundel 356, fol. 38r): „[…] defectus naturaliter accidat, nisi forte latens aliqua eorum cursus inequalitas nos fallat“.
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sen ereignen, also auf der Grundlage seines Naturbegriffes argumentiert. Angesichts seines verfehlten Ansatzes zieht Hermannus im Epilog dann gleichsam selbstverständlich den Schluß, daß die angenommene aequalitas möglicherweise doch nicht zutreffe.215 Wenngleich sich diese Zusammenhänge letztlich recht klar aus seinen Schriften herausarbeiten lassen, ist noch zu klären, in welchem Verhältnis Hermanns Wirklichkeitsvorstellung und damit sein Naturbegriff zur empirischen Wirklichkeit stehen. Verschiedene Stellen innerhalb seines komputistisch-astronomischen Werkes vermitteln bei der ersten Durchsicht den Eindruck, der Reichenauer stütze sich bei seiner Argumentation auch auf empirisch gewonnenes Wissen. Der chronologischen Folge wegen wird zunächst die „Epistola“ herangezogen, obwohl er in diesem Schreiben noch nicht ausdrücklich auf den visus Bezug nimmt. Jedoch findet sich schon hier eine erste Andeutung, die einen empirischen Anspruch im Denken Hermanns nahelegt, und zwar im Rahmen der Begründung, weshalb der Mondmonat doch ein wenig länger sein müsse als die überlieferten 29 einhalb Tage.216 In diesem Kontext bekräftigt Hermannus die vermeintlich perfekte Übereinstimmung zwischen Mond- und Sonnenlauf im 19jährigen Zyklus. Zur Begründung führt er an, daß im Falle einer leichten Abweichung von dieser coaequatio auch nur um einen punctus längst kein Mondalter mehr der Berechnung entspräche.217 Aufgrund der sprachlichen Unterscheidung zwischen „Berechnung“ und nicht näher gekennzeichnetem „Mondalter“ liegt der Schluß nahe, daß Hermannus als Referenz für die aetas lunae das beobachtbare Mondalter heranzieht.
215 Hermannus, Prognostica cap. xiiii (Arundel 356, fol. 41r): „Hec secundum […] equalemque lune per zodiacum […] discursionem et ad solis coitum recursionem […] collegi et, nisi equalitas cui computatio tota innititur nos fallat, pro certis conscripsi. Que si aliquando in aliquibus fefellerint, non eiusmodi, ut a prioribus tradita est, in solis luneque cursibus aequabilitatem concordiamque ad purum inesse puto […]“. – Grundsätzlich stellt sich die Frage, inwiefern die aequalitas, die ja ein relationaler Begriff ist, eine solche fundamentale Rolle zu spielen vermag. Daß es sich bei ihr jedoch um einen Grenzbegriff handelt, der als ‚Gleichförmigkeit‘ (gegenüber der zweiten Übersetzungsmöglichkeit, ‚Gleichheit‘) seinen relationalen Charakter in hier systematisch relevanten Zusammenhängen weitgehend abstreift, zeigt sich mit Blick auf seine Begriffsgeschichte. Siehe hierzu 3.3.3. Aequalitas als ratio naturalis. 216 Hermannus, Epistola S. 474f., 20–29. 217 „Quod ita esse nos quoque hinc facillime possumus probare, quia si vel punctus eandem coaequationem impediret, iam dudum nulla computationi nostrae luna conveniret“, Hermannus, Epistola S. 475, 27–29.
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Er postuliert also die Übereinstimmung zwischen berechnetem und beobachtbarem Mondalter, um die konstatierte Harmonie von Sonnen- und Mondlauf im 19jährigen Zyklus zu belegen. Dieser Befund ist aufschlußreich, da er erkennen läßt, daß Hermannus anders, als es die Ausführungen an der diskutierten Stelle nahezulegen scheinen, hier keine eigenen Himmelsbeobachtungen anstellte. Denn nur so wird begreiflich, weshalb ihm die in der Tat bestehende Differenz zwischen natürlichem Phänomen und tradierter Berechnung entgehen konnte, eine Differenz, die ihm ja in der wenig später entstandenen „Abbreviatio“ völlig selbstverständlich ist und dort sogar als Ausgangspunkt der eigenen Forschungen angeführt wird. Im zweiten Teil dieser Schrift beruft er sich dann im übrigen erstmals ausdrücklich auf den visus, um die Fehlerhaftigkeit des komputistisch ermittelten Mondalters zu untermauern.218 Allerdings hat er diese Einsicht auch in der Zwischenzeit aller Wahrscheinlichkeit nach nicht durch eigene Beobachtung gewonnen, sondern seiner Vorlage, Bedas „De temporum ratione“, entnommen.219 Für diese Einschätzung spricht der Umstand, daß Hermannus sowohl in der „Abbreviatio“ als auch in den „Prognostica“ beim Formulieren seiner Ansätze von falschen Grundannahmen ausgeht, deren Fehlerhaftigkeit er im Falle mittlerweile angestellter Beobachtungen jeweils bereits im Vorfeld hätte wahrnehmen müssen. Am plastischsten läßt sich Hermanns Verweis auf die beobachtbare Wirklichkeit anhand eines Beispiels aus der „Abbreviatio“ als Scheinrekurs demaskieren. Im bereits mehrfach zitierten Kapitel xxvii gibt er sowohl die Gründe für die Fehlerhaftigkeit des traditionell ermittelten Mondalters an, als er auch Einblick in die eigenen Grundvoraussetzungen gewährt. Im übrigen bietet diese Stelle zum ersten Mal die Explikation der bestimmenden ratio seiner Wirklichkeitsvorstellung, der aequalitas. Er führt aus, allenfalls ein Wahnsinniger könne daran zweifeln, daß alle Mondmonate dieselbe Länge besäßen und daß der Mond immer gleich schnell den Tierkreis durchliefe und zur Sonne zurückkehrte.220 Diese und vergleichbare Äußerungen stützen den bereits gelegentlich angemerkten 218 Vgl. hierzu 3.2.3. Der zweite Teil der „Abbreviatio compoti“: Das Spezialproblem. – Zum Vorrang der „Vernunft“ über den „Augenschein“ Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 429. 219 Anders Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 429, der hinsichtlich Hermanns Spätwerk auf die „Evidenz“ verweist. 220 „Nulli quippe vel insano licet ambigere omnes lunares menses secundum nature constitutionem equalem longitudinem habere nec aliquando tardius citiusve solito
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Befund, daß Hermannus nicht wußte, daß sich der Mond in Wirklichkeit keineswegs mit stets derselben Winkelgeschwindigkeit bewegt und nicht jeder Mondmonat gleichlang ist.221 Noch als er die „Prognostica“ beginnt, hält er an diesen Annahmen fest.222 Umgekehrt steht damit fest, daß er zwischenzeitlich weder seine neue Mondaltertabelle anhand der tatsächlichen Mondphasen überprüft, noch den Mondlauf insgesamt mittels Himmelsbeobachtung studiert hat. Dies aber bedeutet, daß Hermanns Naturbegriff bis einschließlich des Beginns der Eklipsenschrift keine direkte Fundierung in der empirischen, extramentalen Wirklichkeit besitzt. Sein Verweis auf den visus im zweiten Teil der „Abbreviatio“ ist demnach als literarische Anspielung zu begreifen und nicht als ein Hinweis auf tatsächliche Beobachtung.223
lunam vel zodiaci circuitionem vel suam ad solem recursionem, id est mensem suum, peragere“, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxvii (Arundel 356, fol. 32v). 221 Zu den Anomalien des Mondlaufes und den daraus folgenden Schwankungen bezüglich Monatslänge und Phasenabfolge, zum Unterschied zwischen mittleren Mondmonaten (den Größen Hermanns) und den tatsächlichen Monatslängen siehe Keller, Astrowissen S. 78f. – Ausführlicher zu den inhaltlichen Details Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 427–431, S. 437–440. 222 Er greift dort ganz selbstverständlich auf den einheitlichen, von ihm in der „Abbreviatio“ bestimmten synodischen Mondmonat zurück. Außerdem geht er kommentarlos davon aus, daß auch der siderische Mondmonat stets gleich lang sei, wie sich mittelbar aus seiner Berechnung der Dauer dieses Monatstyps schließen läßt. Genauso wie schon in der „Epistola“ und in der „Abbreviatio“ bedient er sich ja des arithmetischen Mittels und folglich der restlosen Division der vorausgesetzten Zyklendauer. 223 Diese Einschätzung läßt sich noch weiter stützen, zieht man zum Vergleich das entsprechende Beda-Kapitel heran, auf das sich Hermannus bei seiner Kritik bezieht und an das er sich zumindest lose sogar sprachlich anlehnt, De temporum ratione cap. xliii; bereits die Überschrift lautet: „Quare luna aliquoties maior quam computatur pareat“ (CCL 123B, S. 412); Beda selbst weist auf eine mögliche Differenz von zwei Tagen hin und rekurriert ebenfalls auf den Augenschein, ebd. (CCL 123B, S. 414f., 53–56): „Quod si qui grauius huic insistens quaestioni, dixerit se nouam lunam […] biduo priusquam prima caneretur multis cum testibus uidisse […]“. Bemerkenswerterweise bezieht sich auch Beda im Zusammenhang mit dieser Frage auf einen „natürliche“ Maßstab – in seinem Fall jedoch nicht die ratio, sondern die veritas –, die er allerdings mit Hilfe der Autorität des Konzils von Nikaia fundiert, ebd. (CCL 123B, S. 412, 9–11): „Sed in naturalis assertione ueritatis, quae et Nicaeno Concilio probata firmatur […]“; in diesem Lichte werden auch die auf sprachlicher Ebene nicht sichtbaren, konzeptionell aber bedeutsamen Umakzentuierungen sichtbar, die der Reichenauer gegenüber Beda vornimmt. – Eine andere Position vertritt Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 436, der davon ausgeht, daß Hermannus seit dem Ende der 1040er Jahre Astronomie auch experimentell betrieb.
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3. Konzeption und Wirklichkeit. Obwohl Hermanns Naturbegriff somit an zentralen Stellen seiner Schriften, gelegentlich gegen den ersten Eindruck, kein unmittelbares empirisches Fundament im Sinne von eigener Beobachtung besitzt, bleiben aufgrund begrifflicher Unschärfen noch Fragen offen. Insbesondere mit Blick auf seinen Rückgriff auf tatsächlich beobachtete natürliche Phänomene, die beiden Finsternisse, in den letzten Sachkapiteln der „Prognostica“ wird die Ambivalenz seines Naturbegriffes deutlich sichtbar. Von hohem systematischem Interesse ist dieser Befund erstens, weil Hermannus an dieser Stelle zum ersten und einzigen Mal innerhalb seiner komputistisch-astronomischen Schriften auf Daten rekurriert, die empirisch ermittelt und seinerzeit auch nur empirisch ermittelbar sind. Zweitens zieht er sie heran, um an ihnen die komputistisch-astronomisch bestimmten Daten zu testen. Er verknüpft also sein komputistisch-astronomisches Modell mit der extramentalen Wirklichkeit und führt erstmals seine Gegenproben nicht modellimmanent oder relativ zur Wirklichkeitskonzeption durch. Die dabei entdeckte Abweichung bildet die Grundlage, auf der er in einem nächsten Schritt das Zutreffen seiner Wirklichkeitskonzeption, namentlich der aequalitas, infrage stellt.224 Da die „Prognostica“ nach heutigem Kenntnisstand Hermanns letzte Äußerung zu komputistisch-astronomischen Themen sind225 und außerdem auf inhaltlicher Ebene unvollendet abbrechen, stellt sich die Frage, ob sie von einer veränderten Wissenschaftskonzeption des Reichenauers zeugen.226 Gegen die Interpretation der Schlußkapitel der „Prognostica“ als einer solchen Veränderung sprechen jedoch Befunde aus früheren Stellen seines komputistisch-astronomischen Werkes, die erkennen lassen, daß er selbst begrifflich keine scharfe Grenze zieht zwischen seiner Wirklichkeitsvorstellung und der tatsächlichen, exterSiehe hierzu Hermannus, Prognostica cap. xiiii (Arundel 356, fol. 41r). Diese Einschätzung vertritt allgemein mit Blick auf „Fragen der Zeitrechnung“ Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 455. 226 War Hermanns Intention bis zu diesem Punkt auf die Kohärenz seines komputistisch-astronomischen Modells und auf dessen coaequatio mit seinem Konzept von Wirklichkeit gerichtet, scheint jetzt das Bemühen im Mittelpunkt zu stehen, wahre Aussagen über Phänomene der Wirklichkeit zu machen. Wie sich an seinem Zweifel am Zutreffen der aequalitas-Prämisse zeigt, wäre dieser Realität die Konzeption nunmehr nachgeordnet und hätte sich am Übereinstimmen der komputistisch-astronomisch ermittelten Daten mit den realen Phänomenen zu bewähren. Die Aufgabe des komputistisch-astronomischen Modells bestünde folglich jetzt darin, Daten zu liefern, die den wirklichen Phänomenen entsprechen, und nicht mehr darin, die Wirklichkeitskonzeption kongruent abzubilden. 224 225
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nen Realität. Diese Ambivalenz läßt sich am klarsten am Beispiel des ersten Teils der „Abbreviatio“ verdeutlichen, der dem Leser die „causae ac rationes“ des komputistischen Regelwerks freilegen soll.227 Wie sich zeigte, zeichnet sich Hermanns Vorgehen durch die Angabe und Beschreibung der fachwissenschaftlichen Hintergründe des komputistischen Regelwerks aus. Auch diese causae bezeichnet er als „naturales“, so daß aufgrund der Ergebnisse der bisherigen Analyse seines Naturbegriffes anzunehmen wäre, daß er in diesem Fall wieder auf seine Wirklichkeitskonzeption Bezug nimmt. Die Erklärungen aber, die er bietet, sind selbst aus einer modernen Perspektive als ‚astronomisch‘ zu bezeichnen.228 Bei seinen Beschreibungen konzentriert er sich auf natürliche Phänomene, zum Beispiel auf den Lauf von Sonne und Mond relativ zum Tierkreis und zum erdgebundenen Beobachter, und stellt das komputistische Regelwerk als ein Konstrukt dar, das von den antiqui zur rechnerischen Handhabung dieser Phänomene entwickelt wurde.229 Diese Vorgehensweise läßt darauf schließen, daß Hermannus selbst davon ausging, mit seinen komputistisch-astronomischen Schriften Aussagen über die tatsächliche, empirische Wirklichkeit zu machen. Für seinen Naturbegriff bedeutet dieser Befund die konstatierte Unschärfe. Zwar erinnert seine Vorgehensweise beim Freilegen der „causae ac rationes“ an wissenschafts- und philosophiehistorische Entwicklungen, die sich seit dem frühen 12. Jahrhundert immer deutlicher abzeichnen,230 doch berechtigt die Ambivalenz seines Naturbegriffes zu dem Schluß, daß für ihn das Verhältnis zwischen seiner Wirklichkeitsvorstellung und 227 Hermannus, Abbreviatio compoti cap. i (Arundel 356, fol. 28r): „Qui compoti regulas ipsarumque regularum causas ac rationes perfecte volueris investigare […]“. 228 Selbstverständlich ist die Darstellung dieser Phänomene ihrerseits wieder abhängig von einer vorgängigen Wirklichkeitsvorstellung, welche die Kategorien bereitstellt, mittels derer die Phänomene beschrieben werden; im Falle von Hermannus und seinen Zeitgenossen spielt in diesem Zusammenhang beispielsweise das geozentrische Weltbild eine prominente Rolle. 229 An solchen Punkten zeigt sich der anachronistische Charakter der Auseinandersetzung Hermanns mit seinen Vorgängern wieder deutlich, da er mit seiner Darstellungsweise im Grunde suggeriert, auch die antiqui hätten beim Erstellen des komputistischen Regelwerks die Absicht verfolgt, dieses als Modell der natura auszugestalten. 230 Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf die sogenannte ‚Entdeckung der Natur‘ im Chartreser Umfeld sowie auf spätere Entwicklungen im komputistisch-astronomischen Bereich in zeitlicher Folge auf die Rezeption arabischer Astronomie, also beispielsweise auf Sacrobosco, Grosseteste, Bacon; zur ‚Entdeckung der Natur‘ vgl. (in Anlehnung an die entsprechende Formulierung bei Chenu) Speer, Die entdeckte Natur; zur Komputistik Borst, Computus S. 80–100.
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der äußeren, empirischen Realität kein konzeptionelles Problem darstellt. Sein Verzicht darauf, dieses Verhältnis zu konturieren und den Zusammenhang zwischen dem sinnlichen und dem noetischen Bereich zu diskutieren, läßt erkennen, daß für den Reichenauer – wie wohl auch für seine Zeitgenossen – die empirische Wirklichkeit kein eigener Begriff ist, der konzeptionell von der schriftlich wie mündlich vermittelten Wirklichkeits- oder Naturkonzeption zu unterscheiden wäre. Besonders plastisch zeigt sich dieser Umstand mit Blick auf die voraussetzungsgemäß alles bestimmende ratio dieser Wirklichkeitskonzeption, die aequalitas, einen Begriff, der in hohem Maße kosmologisch, den überlieferten Quellen zufolge aber vor allem auch theologisch konnotiert ist. 3.3.3. Aequalitas als ratio naturalis Im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses Hermanns steht die aequalitas. Ausdrücklich rückte er sie in den Mittelpunkt seiner Erwägungen im zweiten Teil der „Abbreviatio“ und in den „Prognostica“,231 aber selbst in der „Epistola“ ist sie als grundlegender Gedanke präsent.232 Sie ist diejenige ratio, die Hermannus als vorherrschende Größe der Wirklichkeit und ihrer Struktur unterstellt, und damit ihr fundamentales Ordnungsprinzip. Als sein Hauptanliegen läßt sich daher das Bestreben ausmachen, diese alles bestimmende ratio in der skizzierten modellhaften Weise abzubilden. Daß es sich bei der aequalitas nicht um einen beliebigen Begriff handelt, sondern um ein dem Reichenauer augenscheinlich sehr wichtiges Konzept, zeigt sich am deutlichsten im Epilog der „Prognostica“. Aufgrund der fehlgeschlagenen Überprüfung seiner bislang erzielten Ergebnisse kommt er zu dem Schluß, daß die fundamentalen Voraussetzungen, also die aequalitas und die ihr unterstellten Eigenschaften, falsch sein müssen. Anders als im Zusammenhang mit den Mondmonaten und deren Hilfsgrößen nimmt er seine Einsicht im Epilog nicht zum Anlaß, nach einer Neubestimmung der 231 In den „Prognostica“ unterliegt sie der gesamten Gedankenführung und wird, wie ja besprochen, im Epilog dann ausdrücklich thematisiert. 232 In der „Epistola“ klingt Hermanns zentrale Prämisse lediglich kurz an, als er die bestimmende Größe seines Gleichungssystems, den 19jährigen Zyklus, angibt und als geeignete Grundlage rechtfertigt; er beruft sich dort (Z. 26 und 28) auf die Koäquation zwischen Mond- und Sonnenlauf in dieser Zeitspanne, die er wenige Zeilen später (Z. 34) begrifflich als aequalitas („solis et lunae praedicta in suprascripto cyclo“) wieder aufgreift.
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zugrunde liegenden ratio zu suchen, sondern bricht seine Ausführungen ab, führt also noch nicht einmal seinen bereits begonnenen Ansatz zur Vorausberechnung von Finsternissen zu einem, wenn auch unbefriedigenden, Abschluß.233 Verfolgt man die Geschichte des Begriffes aequalitas zurück, wird ersichtlich, daß er schon traditionell in verschiedenen Kontexten eine bedeutende Rolle spielt. Erstens ist auf den Bereich der antiken Kosmologie zu verweisen, in dem er mindestens als Konzept seit den Pythagoreern präsent ist.234 Bis weit ins Mittelalter hinein spielt dieses Konzept als kosmologische Größe eine wichtige Rolle, wie sich anhand der bereits besprochenen komputistisch-astronomischen Zeugnisse aus der Zeit vor Hermannus belegen läßt. In dieser Tradition steht somit auch der Reichenauer, wenn er das Konzept in seinen komputistisch-astronomischen Schriften aufgreift, es dabei aber im Unterschied zur bishe-
233 Wie gravierend diese Einsicht für den Reichenauer gewesen sein muß, läßt sich an mehreren Stellen seines Werkes erkennen. Schon in der „Abbreviatio“ findet sich einmal die Einschränkung, die referierten Überlegungen träfen zu, wenn nicht doch eine unerkannte inaequalitas vorherrsche, Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxxvi (Arundel 356, fol. 34r): „[…] nisi forte aut solis et lune cursus in xixnali ciclo pura quam credimus coequatio aut omnium lunarium mensium equa longitudo nos fallat […]“; die angesprochenen Größen sind exakt jene, die Hermannus der aequalitas als wesentliche Eigenschaften unterstellt; in den „Prognostica“ greift er diesen Zweifeln an einer weiteren Stellen auf, Hermannus, Prognostica cap. i (Arundel 356, fol. 38r): „[…] nisi forte latens aliqua eorum cursus inequalitas nos fallat […]“, und formuliert ihn im Epilog zu einem grundlegenden Problem aus. Für die Einschätzung, daß die Einsicht in das Nichtzutreffen der vorausgesetzten aequalitas für Hermannus höchst problematisch war, spricht darüber hinaus seine irritierende Bereitschaft, in der Niederschrift seiner „Prognostica“ auf gerundete Werte zurückzugreifen; diese Bereitschaft fällt insbesondere deshalb auf, als er sie mit Formulierungen rechtfertigt, die in der „Abbreviatio“ noch zur Kennzeichnung von Vorgehensweisen dienten, die Hermannus emphatisch zurückwies: die „facilitas computandi“, siehe hierzu die zitierten Stellen in Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxvii (Arundel 356, fol. 32v) sowie ebd. cap. xxviii (Arundel 356, fol. 32v–33r). – Vgl. die andere Deutung von Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 439, auf die oben bereits hingewiesen wurde, 3.2.4. Die „Prognostica de defectu solis et lunae“. 234 Wenngleich nicht ausdrücklich von aequalitas beziehungsweise dem griechischen Äquivalent, στης, die Rede ist, sind die antiken kosmologischen Entwürfe von solchen Charakteristika gekennzeichnet, die durchgängig, also bis hin zu Hermannus, wie selbstverständlich präsent sind. Zu nennen sind hier gerade Attribute wie Einheitlichkeit, Zirkularität und Gleichmäßigkeit der Bewegungen. – Zur antiken Astronomie siehe bes. Lloyd, „Saving the Appearances“. – Ausführlicher zu den zugrunde liegenden kosmologischen Vorstellungen in der Einleitung der vorliegenden Arbeit (bes. Abschnitt 1. Vorbemerkungen) sowie in 2.3.1. Diagramme (bes. Abschnitt 1. Tradition: Antike Kosmologie). – Zum Begriff στης vgl. den Eintrag in Liddell /Scott, A Greek-English Lexicon S. 840, mit verschiedenen Verweisen auf Aristoteles („Metaphysik“, „Nikomachische Ethik“ und „Politik“).
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rigen Tradition gleichsam punktartig verdichtet in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit rückt. Neben dem kosmologisch-astronomischen Bereich kristallisiert sich zweitens schon seit frühchristlicher Zeit ein weiterer heraus, in dem der Begriff selbst von hoher Bedeutung ist. Gemeint ist die Theologie im engeren Sinne. Schon in der Schrift tritt der Begriff in seiner adjektivischen Form an prominenter Stelle in Erscheinung und gewinnt dadurch große Dignität.235 Oft mit Bezug auf ebendiese Stelle wird er dann in den trinitätstheologischen Reflexionen aufgegriffen, die besonders seit dem 4. Jahrhundert ihren schriftlichen Niederschlag finden. Hierbei avanciert die aequalitas als aequalitas filii zum paradigmatischen Attribut des verbum dei. Diese Bestimmung bleibt durchgängiger Bestandteil der fides für die folgenden Jahrhunderte und gehört somit auch zum selbstverständlichen gedanklichen Horizont Hermanns.236 Seit dem Übergang vom 11. zum 12. Jahrhundert wird in der Auseinandersetzung mit dem aequalitas-Begriff jedoch eine Entwicklung sichtbar, angesichts derer seine dezidierte Problematisierung durch den Reichenauer ein viel schärferes Profil gewinnt. Zum einen tritt ein zunehmendes neuerliches Interesse an der Auseinandersetzung mit trinitätstheologischen Fragen hervor, das im 13. Jahrhundert seinen vorläufigen Höhepunkt finden wird. Zum andern wird gerade die theologische Dimension des aequalitas-Begriffes auch in anderen Bereichen als der Theologie im engeren Sinne wissenschaftlich fruchtbar gemacht. Namentlich in den kosmologisch-physikalischen Eröterungen des Chartreser Umfeldes gewinnt sie mitunter den Status eines Schlüsselbegriffes.237 In diesem Lichte stellt sich die Frage, ob Hermanns ausdrückliche Problematisierung des aequalitas-Begriffes im komputistisch-astronomischen Kontext als ein frühes Zeugnis der genannten wissenschaftsund philosophiehistorischen Entwicklungen zu begreifen ist. Insbesondere angesichts der angedeuteten allgemein theologischen sowie speziell trinitätstheologischen Bedeutung des aequalitas-Begriffs wird nach235 Io 5, 18: „[…] sed et Patrem suum dicebat [sc. Iesus, NG] Deum aequalem se faciens Deo“. 236 Zu den trinitätstheologischen Reflexionen in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten siehe den Überblick von Courth, Trinität. In der Schrift und Patristik; seit Anselmus Ders., Trinität. In der Scholastik. – Vgl. hierzu die Überlagerung von zirkulären Vorstellungen und Linearität bei zeitlichen Prozessen, beispielsweise bei Augustinus, Luneau, L’histoire du salut, bes. S. 395–400. 237 Vgl. insbes. Thierry, De sex dierum operibus (ed. Häring S. 555–575); hierzu ausführlicher unten in diesem Paragraphen.
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vollziehbar, weshalb der Reichenauer ihn so kommentarlos und gleichsam selbstverständlich voraussetzen kann. 1. Kosmologisch-astronomischer Kontext. Hermannus unterstellt den Vorgängen im Bereich der Astronomie aequalitas als maßgebliche ratio. Diese äußert sich in drei wesentlichen Eigenschaften: der Einheitlichkeit, der Gleichmäßigkeit und der Zirkularität. Daß der Kosmos von diesen drei Eigenschaften gekennzeichnet sei, ist eine Vorstellung, die sich bis zu den Pythagoreern zurückverfolgen läßt. Quellenmäßig wird nach heutigem Kenntnisstand erstmals bei ihnen die Überzeugung greifbar, daß die Welt wie ein Globus aufgebaut sei, in dessen Mittelpunkt sich die ebenfalls kugelförmige Erde befinde, um die herum die Planeten und der Fixsternhimmel ihre Kreise zögen. Während die Pythagoreer die Kreisförmigkeit und Gleichförmigkeit der Gestirnsbahnen als gleichsam natürlichen Ausdruck der vorausgesetzten Göttlichkeit der Gestirne begriffen,238 dreht Platon die Perspektive um. Die Kugelgestalt der Welt sowie Kreis- und Gleichförmigkeit der Bewegungen sind für ihn bereits eine Selbstverständlichkeit. Ihm zufolge sind diese Charakteristika daher vielmehr als Resultat und Ausweis der Göttlichkeit ihres Schöpfers zu begreifen.239 Mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte zeigt sich, daß verschiedene grundlegende Tendenzen der antiken Tradition bis in die hier fragliche Zeit hinein bestimmend bleiben. So übernimmt das Mittelalter ja bekanntlich die Vorstellung von der Globusform der Welt, von der Mittelstellung der Erde, von den konzentrischen Bahnen der übrigen Planeten und vom äußeren Himmel, an dem die Fixsterne ihren festen Platz besitzen und der sich insgesamt um die Welt dreht.240 Platons Demiurg wird christlich vereindeutigt und als Schöpfergott reinterpre238 Zum „Axiom der gleichmäßigen Kreisbewegung“ bei den Pythagoreern van der Waerden, Die Astronomie der Griechen S. 42–44, der auch darauf hinweist, daß sie als Begründung für diesen postulierten Bewegungsmodus von Sonne, Mond und den Planeten deren Gottähnlichkeit und Ewigkeit angeführt hatten, ebd. S. 42 f. 239 Platon, Timaios 33b–40d (zur Göttlichkeit der Sterne: 39e–40d); Kanitscheider, Kosmologie S. 54f. (zu Platon); Szabó, Das geozentrische Weltbild S. 24 (zur Kugelform von Erde und Weltall bei den Pythagoreern); zur Umkehrung dieser Perspektive bei Platon van der Waerden, Die Astronomie der Griechen S. 43; ausführlicher zu dessen Weltbild ebd. S. 44–49 u. ö. 240 So noch bei Hermannus selbst, siehe Ders., Abbreviatio compoti cap. i (Arundel 356, fol. 28r); Ders., Prognostica cap. i (Arundel 356, fol. 38r); vgl. hierzu auch die bereits angeführte Stelle aus Martianus Capella, De nuptiis philologiae et mercurii viii, 814 (ed. Willis S. 309); Martianus entwirft dort – in Anlehnung an die antike Kosmologie – ein regelrechtes Schalenmodell der Welt. – Zum Übergang des antiken Weltbildes in
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tiert, die pythagoreische und platonische Göttlichkeit der Gestirne wird zurückgewiesen und der Kosmos als ein in sich harmonisch geordnetes, vom Schöpferwillen zum Guten hin gelenktes Ganzes begriffen. In besonderer Weise zeugen dabei die Gestirne mit ihren immer gleichen, beständigen Kreisbahnen von der perfekten concordia, in die der weise Schöpfergott alle Einzeldinge und die einander widerstreitenden Kräfte gefügt hat. In exemplarischer Weise ist in diesem Zusammenhang wieder an die „Consolatio philosophiae“ des Boethius zu erinnern, die ja gerade in motivischer Hinsicht als repräsentativer Spiegel der gängigen Übernahmen antiker kosmologischer Vorstellungen zu gelten hat.241 Vorlagen für die mittelalterliche Rezeption der antiken Kosmologie sind vor der intensiven Auseinandersetzung mit den arabischen Wissenschaften in erster Linie spätantike Enzyklopädien, in denen die hier interessierenden Charakteristika – also die inhaltlichen Aspekte des aequalitas-Begriffs Hermanns – als bestimmende Größen präsent sind. Schon über Boethius und Isidor von Sevilla gelangen die angesprochenen Vorstellungen ins mittelalterliche kosmologisch-astronomische Denken. Insbesondere aber durch die Rezeption der „Naturalis historia“ des Plinius, die in der hier fraglichen Zeit in Auszügen vorlag, der „Commentarii in somnium Scipionis“ des Macrobius oder Martianus Capellas „De nuptiis philologiae et mercurii“, die sich in der verfügbaren Quellenüberlieferung alle seit dem 9. Jahrhundert in zunehmendem Maße nachweisen lassen, werden sie verfestigt und dienen als Interpretationshorizont für neu hinzutretendes Wissen über natürliche Phänomene.242 das mittelalterliche Denken siehe die materialreiche Studie von Obrist, La cosmologie médiévale. 241 Zur Rezeption der „Consolatio philosophiae“ bis zum 12. Jahrhundert vgl. Courcelle, La Consolation de Philosophie S. 241–299; zur Auseinandersetzung mit dem für den gegenwärtigen Zusammenhang besonders einschlägigen neunten Metrum des dritten Buches Huygens, „Mittelalterliche Kommentare“; eine ausführliche Besprechung dieses Metrums bietet Scheible, Die Gedichte in der Consolatio S. 101–112. – Ähnliche Anklänge finden sich bereits bei Augustinus, wenngleich hier stets im Kontext anderer Diskussionszusammenhänge, siehe exemplarisch Augustins „De musica“, besonders das sechste Buch. 242 Zu den frühen Plinius-Exzerpten vgl. Rück, „Die ‚Naturalis historiae‘“; breiter zur Rezeption der „Naturalis historia“ im Mittelalter Borst, Das Buch der Naturgeschichte; zu Plinius die Sammlung von French /F. Greenway, Science in the Early Roman Empire; allg. zur Rezeption der spätantiken Enzyklopädien Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 35–48; Jeauneau, „L’héritage“; zur Martianus-Rezeption die im ersten Kapitel genannte Literatur, bes. Leonardi, „I codici“ (1959 und 1960); Teeuwen, Harmony S. 20–59; zu Macrobius Hüttig, Macrobius im Mittelalter; Caiazzo, Lectures
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Reflexe dieser Übernahmen sind die im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit besprochenen komputistisch-astronomischen Sammlungen. Bezeugen diese doch auf der einen Seite die Aufnahme kosmologisch-astronomischen Wissens aus dem spätantiken Kontext,243 auf der anderen Seite die Ausdeutung schon länger integrierter Wissensbestandteile. Die Kriterien aber, nach denen diese Ausdeutung erfolgt, erweisen sich als in hohem Maße geprägt durch die skizzierten Vorstellungen. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang nochmals auf das bekannte Jahreszeitendiagramm, das aus Isidors „De natura rerum“ in die komputistisch-astronomischen Anthologien wandert. Die Analyse dieses Schemas ergab, daß seiner Komposition Konzeptionen zugrunde liegen, die von zentralem Interesse im gegenwärtigen Kontext sind. Eingeschlossen sind die diversen bildlichen und sprachlichen Elemente in der Kreisform, dem neuplatonischen Symbol für Einheit.244 Die einträchtig diesen Kreis bildenden Elemente sind dabei die vier widerstreitenden Grundelemente Feuer, Wasser, Luft und Erde, über deren Zusammenhalt schon Boethius in seiner „Consolatio philosophiae“ verschiedentlich und gerne unter Rückgriff auf kosmologischastronomische Motive gesungen hatte.245 Noch Abbos „Ephemerida“ ist von diesem Staunen über die göttliche Ordnung, die Sonne und Mond in einem „aequalis cursus“ bewegt, durchdrungen.246
médiévales S. 27–85; zu Boethius Gibson, Boethius; Courcelle, La Consolation de Philosophie; zur Platon–Calcidius-Rezeption Speer, Die entdeckte Natur S. 85–87; insgesamt zu den antiken kosmologischen Vorgaben und ihrer frühen Rezeption Obrist, La cosmologie médiévale. 243 Vgl. hierzu die Exzerpte aus Plinius, Hygin und den anderen genannten Autoren in den „Libri computi“ sowie die Calcidius-Exzerpte im „Computus“ Abbos. 244 Zum Jahreszeitendiagramm siehe oben, im Paragraphen 2.3.1. Diagramme, die Kurzanalyse des Diagramms; mit den kosmologischen Hintergründen und dem Rezeptionsverlauf dieses Diagrammtyps Obrist, Les tables et figures abboniennes S. 167– 181, auch unter Berücksichtigung der Isidor-Diagramme im besonderen; zur Symbolik Meier, „Die Quadratur des Kreises“ S. 37–41. 245 Boethius, Philosophiae consolatio lib. 1, m. 2: „Heu, quam praecipiti mersa profundo“ (CCL 94, S. 3 f.); lib. 1, m. 5: „O stelliferi conditor orbis“ (ebd. S. 11 f.); lib. 2, m. 8: „Quod mundus stabili fide“ (ebd. S. 36); lib. 3, m. 9: „O qui perpetua mundum ratione gubernas“ (ebd. S. 51f.); lib. 4, m. 6: „Si uis celsi iura Tonantis“ (ebd. S. 84f.), u. ö. 246 Abbo, Ephemerida v. 23: „Ambos aequali cursu ciet unius ordo“. – Vgl. hierzu beispielsweise die Selbstverständlichkeit, mit der noch Thierry von Chartres von der Kreisförmigkeit und Gleichmäßigkeit der Himmels- und Gestirnsbewegungen ausgeht, Thierry, De sex dierum operibus cap. 21 (ed. Häring S. 563 f.): „Motus autem ignis celestis siue aeris inferioris circularis est. Quod ex cursu stellarum satis patet. Nec etiam aliter esse potest. […]. Neccesse est igitur ea habere circularem motum“.
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Gelegentlich tritt zur Kennzeichnung der herrschenden Ordnung und Harmonie auch schon in der Zeit vor Hermannus der Begriff aequalitas selbst oder das entsprechende Adjektiv auf. So verwendet Macrobius ihn in einem systematisch zentralen Zusammenhang, wenn er unter Rückgriff auf Platon mit seiner Hilfe das harmonische Zusammenspiel der vier Elemente charakterisiert.247 In dieser kondensierten Weise wie beim Reichenauer, der sich ausdrücklich auf ihn konzentriert und ihn zum zentralen Gegenstand seiner wissenschaftlichen Reflexionen macht, wird er nach heutigem Kenntnisstand zuvor jedoch nicht erörtert. Nur in theologischen Diskussionen spielt der Begriff selbst schon seit frühchristlicher Zeit eine wichtige Rolle. 2. Der theologische Kontext. Schon früh läßt sich der Begriff aequalitas in den auf uns gekommenen Quellen als Bezeichnung für die substantielle Gleichheit der drei göttlichen Personen nachweisen.248 Als entscheidende Autorität namentlich für die Charakterisierung des Verhältnisses zwischen Gottvater und Gottsohn als aequalitas und als Vorlage für die mittelalterlichen Gelehrten hat auch hier wieder Augustinus zu gelten. In seinem Denken besitzt der aequalitas-Begriff hohe Relevanz, wie sich daran erkennen läßt, daß der Kirchenvater ihn an mehreren Schlüsselstellen seines Werkes und in verschiedenen thematischen Zusammenhängen verwendet. Aequalitas ist beispielsweise schon für ihn ein Begriff, der im Rahmen des Quadriviums eine wichtige Rolle spielt. Zu denken ist hierbei an Augustins „De musica“, insbesondere an das sechste Buch. „De musica“ zeichnet sich dadurch aus, daß es in zwei Teile zerfällt. Während die ersten fünf libri insgesamt als ein Lehrbuch zu begreifen sind, das den Rhythmus behandelt, stellt das sechste
247 „[…]. inde aerem et aquam inter ignem terramque contexuit et ita per omnia una et sibi conveniens iugabilis competentia cucurrit, elementorum diversitatem ipsa differentiarum aequalitate consocians. […]. nec solum sibi vicina et cohaerentia comparantur sed eadem alternis saltibus custoditur aequalitas; […]: ita ex ipso quo inter se sunt aequabiliter diversa sociantur“, Macrobius, Commentarii in somnium Scipionis i, 6, 31–34 (ed. Willis S. 23 f.) 248 Vgl. beispielsweise (vor dem Hintergrund von Phil 2, 6) Ambrosius Mediolanensis De fide libri v ii, 8, 70 (ed. Faller S. 158): „Ergo non quasi rapinam habebat aequalitatem cum patre, quam in substantia sui tamquam deus et dominus possidebat“; Hilarius Pictaviensis, De trinitate, bes. die Bücher vii und ix, z. B. ebd. ix, 44, 35–38 (CCL 62A, S. 421): „[…] admonebo […] Filium in paternae naturae aequalitate esse, aequalitatem autem non nisi ex eadem esse natura […]“; ebd. ix, 51, 3–6 (ebd. S. 428): „Credendus est Pater in Filio et Filius in Patre, per naturae unitatem, per virtutis potestatem, per honoris aequalitatem, per nativitatis generationem“.
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Buch die philosophisch-theologische Fundierung beziehungsweise Ausdeutung nicht nur der Musik, sondern insgesamt der Zahl, des numerus, dar.249 Schon in den ersten fünf Büchern greift Augustinus auf den Begriff aequalitas zurück, erstmals im zweiten Buch, in dessen Mittelpunkt Silben und Füße stehen. Auf die Frage des Schülers, welche Füße sich untereinander in harmonischer Weise verbinden ließen, formuliert der Lehrer die generelle Regel, daß Gleichheit und Ähnlichkeit den Vorrang vor Ungleichheit und Unähnlichkeit besäßen.250 Wie der weitere Verlauf der Abhandlung zeigt, besitzt diese Grundregel maßstabsartigen Charakter, insofern sich die Qualität etwa von Versen an ihrem bestmöglichen Erreichen der aequalitas bemißt. Deutlich tritt diese Einschätzung im fünften Buch hervor, in dem Augustinus die Verse selbst bespricht. In diesem Zusammenhang bezeichnet er die aequalitas als eine „lex“ oder ein „ius“, die respektive das es beim Einteilen der Verse penibel zu beachten gelte.251 Wie fundamental dieses Prinzip der Gleichförmigkeit ist, wird im Verlaufe des sechsten Buches erkennbar. Mit Blick auf dessen Inhalt erläutert Augustinus schon am Ende des fünften liber, die Erörterung sei nun insoweit abgeschlossen, als sie die zeitlichen Zahlen beträfe, und kündigt an, nachfolgend in jenen Bereich vordringen zu wollen, der
249 Zur Frage der Entstehung der sechs Bücher, ihrer Zusammengehörigkeit und dergleichen siehe Jacobsson, „Introduction“ S. x–xxviii, dort auch ein detailliertes Referat der älteren Forschungsmeinungen. – Auf die Konzentration seiner Schrift ausschließlich auf das Gebiet des Rhythmus und auf den späteren Zeitmangel, auch den Melos zu thematisieren, verweist schon Augustinus selbst, Augustinus, Epistolae ci, 3–4 (CSEL 34, 2, S. 542 f.): „[…] uolui per ista, quae a nobis desiderasti, scripta proludere, quando conscripsi de solo rhythmo sex libros et de melo scribere alios forsitan sex, fateor, disponebam, cum mihi otium futurum sperabam. sed postea […] omnes illae deliciae fugere de manibus […]“. 250 Augustinus, De musica lib. ii (PL 32, Sp. 1109): „[…] iudicabis hoc facile, si aequalitatem ac similitudinem inaequalitati ac dissimilitudini praestantiorem esse iudicas“; im Lichte des sechsten Buches wird ersichtlich, daß im Bereich der vergänglichen Zahlen – und ausschließlich diese werden in den ersten fünf Büchern thematisiert – vollkommene aequalitas unerreichbar ist, sondern nur deren similitudo. 251 Beispielsweise Augustinus, De musica lib. v (PL 32, Sp. 1151): „[…] teneamus igitur has leges inconcussas, si placet, ut neque membrorum duorum tendens ad aequalitatem partitio versui desit […]“; ebd. Sp. 1154: „[…] habet ergo unum cum caeteris numeris ius quoddam aequalitatis“; ebd.: „[…] quia ita sunt membra inaequalia ut ad nullam aequalitatis legem sectione aliqua possint referri“, ebd.: „[…] et videamus quomodo ista inaequalitas aliquo aequalitatis iure teneatur“; ebd. Sp. 1155: „[…] sed tanta illa nobilitas in lege ista aequalitatis laborat“, u. ö.
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jenseits der körperlichen Dinge liege.252 Wie seine gelegentliche Charakterisierung der Zahlen als „numeri temporum“ in den vorausgehenden Büchern bereits erahnen ließ, stellt er diesen jetzt die ewigen, unveränderlichen Zahlen gegenüber. Damit rückt er seinen Musiktraktat vor einen Horizont, der in seiner spekulativen Breite als philosophischkosmologischer zu bezeichnen ist. Denn die anhand der verschiedenen Aspekte des Rhythmus in den ersten fünf Büchern – wie sich retrospektiv zeigt: exemplarisch – herausgearbeiteten zahlhaften Ordnungsprinzipien geben sich nun als solche zu erkennen, die überall im Kosmos herrschen.253 Jede denkbare Erscheinung harmonischer Übereinstim252 Augustinus, De musica lib. v (PL 32, Sp. 1162): „[…] finis sit huius disputationis, ut deinceps quod ad hanc partem musicae attinet quae in numeris temporum est, ab his vestigiis ejus sensibilibus, ad ipsa cubilia, ubi ab omni corpore aliena est, quanta valemus sagacitate veniamus“; diesen Gedanken greift er – läßt man den Prolog beiseite – zu Beginn des sechsten Buches wieder auf, ebd. lib. vi, ii, 2 (ed. Hentschel S. 68): „Quamobrem tu, cum quo mihi nunc ratio est, familiaris meus, ut a corporeis ad incorporea transeamus […]“; zum Prolog des sechsten Buches Jacobsson, „Introduction“ S. x–xxviii; ähnlich charakterisiert Augustinus selbst das Verhältnis der ersten fünf Bücher zum sechsten wieder in Ders., Retractationes i, xi, 1 (CCL 57, S. 33): „Deinde, ut supra commemoraui, sex libros de musica scripsi, quorum ipse sextus maxime innotuit, quoniam res in eo cognitione digna uersatur, quomodo a corporalibus et spiritalibus sed mutabilibus numeris perueniatur ad inmutabiles numeros, qui iam in ipsa sunt inmutabili ueritate, et sic inuisibilia dei per ea quae facta sunt intellecta conspiciantur“; wie die Durchsicht des sechsten Buches ergibt, ist Augustins spätere Charakterisierung in den „Retractationes“ genauer als diejenige am Übergang vom fünften zum sechsten Buch der „Musik“ selbst, denn tatsächlich unterscheidet er im letzten Musikbuch verschiedene Arten von Zahlen, die zwar veränderlich, jedoch nicht körperlich sind; diesen allen aber stellte er die unveränderlichen Zahlen gegenüber, auf die das sechste Buch abzielt. 253 Bereits die ersten fünf Bücher beruhen der musiktheoretischen Tradition entsprechend auf den Grundlagen der pythagoreisch-neuplatonischen Zahlentheorie, wie sie vor allem in der Abhandlung des Nikomachos von Gerasa zur Arithmetik ihren schriftlichen Niederschlag gefunden hat, Beierwaltes, Denken des Einen S. 380f. Auch im sechsten Buch bedient sich Augustinus zahlentheoretischer Spekulationen, insbesondere um die Herausgehobenheit und Inkommensurabilität des Bereiches wahrer aequalitas, also Gottes, zu unterstreichen, beispielsweise Augustinus, De musica lib. vi, xiii, 38 (ed. Hentschel S. 144–146): „[…] nihil enim est horum sensibilium, quod nobis non aequalitate aut similitudine placeat. Ubi autem aequalitas aut similitudo, ibi numerositas; nihil est quippe tam aequale aut simile quam unum et unum“; ebd. xvii, 56 (ebd. S. 168–170): „Numerus autem et ab uno incipit […]. Quamobrem quisquis fatetur nullam esse naturam, quae non […] appetat unitatem […], debet fateri ab uno principio per aequalem illi ac similem speciem divitiis bonitatis eius […] omnia facta esse […]“; ebd. xvii, 57 (ebd. S. 172): „[…]. Namque ab aliqua inpertili nota in longitudinem necesse est porrigatur quaelibet eius [sc. terrae, NG] quantumvis parva particula, tertiam latitudinem sumat et quartam altitudinem, qua corpus inpletur. Unde ergo iste a primo usque ad quartum progressionis modus? Unde et aequalitas partium […]? […] Atqui haec si terrae ademeris, nihil erit. Quocirca et omnipotens deus terram fecit, et de nihilo terra
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mung aber beruht auf der aequalitas.254 Während sich diese im Bereich der veränderlichen Zahlen und somit mit den dem Menschen zur Verfügung stehenden Mitteln aber nie vollständig erreichen, sondern nur bestmöglich nachahmen läßt, herrscht im Reich der unveränderlichen Zahlen ewige Gleichförmigkeit. Dieser letztgenannte Bereich ist das Maß, nach dem die Zeiten als Abbilder der Ewigkeit hervorgebracht und geordnet werden.255 Gemäß den Gesetzen der aequalitas, der unitas und der ordinatio kehren der Himmel und die Himmelskörper bei ihrer Rotation immer wieder an ihre Ausgangsposition zurück und werden die rekursiven Zeitspannen wie der Tag und die Kreisbahnen der Gestirne geregelt.256 Daß facta est“. – Zur universalen kosmologischen Perspektive ebd. xiii, 38 (ebd. S. 144): „Haec igitur pulchra numero placent, in quo iam ostendimus aequalitatem appeti. Non enim hoc tantum in ea pulchritudine, quae ad aures pertinet atque in motu corporum est, invenitur, sed in ipsis etiam visibilibus formis, in quibus iam usitatius dicitur pulchritudo“; ebd. xvii, 57 (ebd. S. 170): „Immo et arboris locales numeros temporales numeri antecedant, necesse est. […] quanto magis animalium corpora, in quibus intervalla membrorum numerosam parilitatem multo magis aspectibus offerunt?“. – Unter einer ästhetischen Perspektive hierzu Beierwaltes, „Aequalitas numerosa“. 254 Vgl. hierzu besonders Augustinus, De musica lib. vi, x, 26–28 (ed. Hentschel S. 122– 128), ausgehend vom Thema der ersten fünf Bücher; abstrakt zur Gleichförmigkeit als Ursprung für Wohlempfinden (bezogen auf die veränderlichen Zahlen) ebd. x, 26 (ebd. S. 122): „[…] quid est, quod in sensibili numerositate diligimus? Num aliud praeter parilitatem quamdam et aequaliter dimensa intervalla?“; bemerkenswert mit Blick auf Hermanns aequalitas-Begriff ist der Umstand, daß die beiden genannten Charakteristika, die Übereinstimmung oder Gleichheit (parilitas) und die Gleichheit bezüglich der Dauer, jenen entsprechen, die der Reichenauer astronomischen Abläufen unterstellt, geht er doch etwa davon aus, daß jeder Mondmonat gleichförmig verlaufe und alle Monate dieselbe Zeitspanne umfassen. – Zur Betonung der aequalitas als Fundament harmonischer Ordnung ebd., z. B. x, 26 (ebd. S. 122–124): „An ille pyrrhichius pes sive spondeus […] nos aliter delectaret, nisi partem suam parti alteri aequali divisione conferret? Quid vero iambus, […] pulchritudinis habent, nisi quod […] aequaliter dividunt? […] Ita in omnibus pedibus nulla pars minima est alicuius dimensionis articulo notata, cui non caeterae, quanta possunt, aequalitate consentiant“. – Zur Ausweitung der zahlhaften Ordnungsprinzipien auf alle übrigen sinnlichen, nicht nur den akustischen Bereich vgl. ebd. viii, 22 (ebd. S. 116): „Sane ut in sonis per instrumentum aurium, ita in saltationibus caeterisque visibilibus motibus, quod ad temporales numeros attinet, eadem adiuvante memoria iisdem numeris iudicialibus diiudicamus“. 255 Vgl. hierzu auch Augustinus, De diversis quaestionibus lxxxiii quaest. lxxiv, 38–42 (CCL 44A, S. 214): „In deo autem quia condicio temporis uacat – non enim potest recte uideri deus in tempore generasse filium, per quem condidit tempora –, consequens est ut […] aequalitas tanta, ut nec temporis interuallum impedimento sit“. 256 Augustinus, De musica lib. vi, xi, 29 (ed. Hentschel S. 128): „Quae vero superiora sunt, nisi illa, in quibus summa, inconcussa, incommutabilis, aeterna manet aequalitas? Ubi nullum est tempus, quia nulla mutabilitas est, et unde tempora fabricantur
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der Mensch dieses Maß aller Dinge, die unveränderlichen und ewigen Zahlen, deren perfekte aequalitas Augustinus zufolge außer Frage steht, in seiner Seele vorfindet, läßt zwingend darauf schließen, daß sie ihm von Gott gegeben wurden, der als einziger ewig und unveränderlich sei.257 Schon die naturale Anlage des Menschen, auf sinnlicher Ebene Gleichförmigkeit anzustreben, bildete die Grundlage, Gott als den Urheber der Übereinstimmung und Eintracht zu sehen.258 Aufgrund aber der Kennzeichnung der vollkommenen aequalitas als der „unveränderlichen“, „ewigen“ und „höchsten“ Gleichförmigkeit und ihrer Identifikation mit der „unveränderlichen Wahrheit“, also mit Gott gibt sich Augustins „De musica“ im sechsten Buch als ein umfassendes Programm zur Gotteserkenntnis zu erkennen.259 Dieses Programm und die mit ihm verbundenen moralischen Implikationen formuliert Augustinus in den letzten Kapiteln des sechsten Buches detailliert aus, indem er der schädlichen Jagd nach Ergötzung im Bereich der sinnlichen Zahlen die wahre Schönheit der Beständigkeit und Ewigkeit Gottes gegenüberstellt und die beiden ersten Gebote, der Gottes- und der Nächstenliebe, als Handlungsdirektive empfiehlt.260 et ordinantur et modificantur aeternitatem imitantia, dum caeli conversio ad idem redit et caelestia corpora ad idem revocat, diebusque et mensibus et annis et lustris caeterisque siderum orbibus legibus aequalitatis et unitatis et ordinationis obtemperat? Ita caelestibus terrena subiecta orbes temporum suorum numerosa successione quasi carmini universitatis associant“. – Zur zahlhaften Struktur des Kosmos auch ebd. xvii, 57 f. (ebd. S. 170–174). 257 Augustinus, De musica lib. vi, xii, 36 (ed. Hentschel S. 140): „M. […] dic mihi, utrum hi numeri […] commutabilis esse tibi videantur. D. Nullo modo. M. Ergo aeternos esse non negas? D. Immo fateor. M. Quid, metus ille nunc suberit, ne aliqua nos in eis inaequalitas fallat? D. Nihil mihi omnino est de istorum aequalitate securius. M. Unde ergo credendum est animae tribui, quod aeternum est et incommutabile, nisi ab uno aeterno et incommutabili deo? D. Non video quid aliud credi oporteat“. – Bemerkenswerterweise formuliert Hermannus die oben besprochene Einschränkung, seine Ausführungen gälten nur, wenn die vorausgesetzte aequalitas zutreffe, mit annähernd denselben Worten wie Augustinus hier die rhetorische Frage des Lehrers, vgl. bes. Hermannus, Prognostica cap. i (Arundel 356, fol. 38r): „[…] nisi forte latens aliqua eorum cursus inequalitas nos fallat“. 258 Augustinus, De musica lib. vi, viii, 20 (ed. Hentschel S. 108): „[…] idipsum est iudiciale nescio quid, quod conditorem animalis insinuat deum, quem certe decet credere auctorem omnis convenientiae atque concordiae“. 259 Vgl. zu diesen Zusammenhängen auf der Grundlage anderer Schriften Augustins Beierwaltes, „Aequalitas numerosa“, zur anagogischen Funktion von Kunst bes. S. 154– 157. 260 Zur Abweichung des Geistes von der Kontemplation der unveränderlichen Wahrheit und der Schädlichkeit einer Orientierung an sinnlichen Genüssen Augustinus, De musica lib. vi, xiii, 37–42 (ed. Hentschel S. 140–150); zur Ausrichtung am Gebot der
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Zusammenfassend breitet er abschließend die allumfassende Wirkweise der unveränderlichen Zahlen und damit der aequalitas im Wirklichkeitsganzen aus und leitet aus ihr Gottes Schöpfung der Welt aus dem Nichts her.261 Im Hinblick auf den im folgenden zu diskutierenden trinitätstheologischen Komplex ist in diesem Zusammenhang die Rückbindung der erörterten Gegenstände an die Trinität bemerkenswert, die Augustinus im Epilog vornimmt. Hier setzt er erstmals das ursächliche und allesdurchdringende Gestaltungsprinzip des Wirklichkeitsganzen mit der wesensgleichen und unveränderlichen Dreieinigkeit gleich. Allerdings stellt er an dieser Stelle noch keine ausdrückliche Verbindung zwischen der ewigen aequalitas und der göttlichen Person des Sohnes her.262
Gottes- und Nächstenliebe ebd. xiv, 43 (ebd. S. 150–152): „Quid, me putas hinc diutius debere dicere, cum divinae scripturae tot voluminibus et tanta auctoritate et sanctitate praeditis nihil nobiscum aliud agant, nisi ut diligamus deum et dominum nostrum ex toto corde ex tota anima et ex tota mente et diligamus proximum nostrum tamquam nosmetipsos? Ad hunc igitur finem si omnes illos humanae actionis motus numerosque referamus, sine dubitatione mundabimur“; vgl. ausführlich ebd. xiv, 43 – xvi, 55 (ebd. S. 150–168). 261 Augustinus, De musica lib. vi, xvii, 56 (ed. Hentschel S. 168–170): „Quamobrem quisquis fatetur nullam esse naturam, quae non, ut sit, quidquid est, appetat unitatem suique similis, in quantum potest, esse conetur atque ordinem proprium vel locis vel temporibus vel incorporeo quodam libramento salutem suam teneat, debet fateri ab uno principio per aequalem illi ac similem speciem divitiis bonitatis eius, qua inter se unum et de uno unum charissima, ut ita dicam, caritate iunguntur, omnia facta esse atque condita quaecumque sunt, in quantumcumque sunt“; diesen Zusammenhang unterstreicht er durch den Ambrosianischen Vers „deus creator omnium“, den er in den folgenden Kapiteln (57 f.) in kosmologischer Breite ausdeutet, z. B. ebd. xvii, 57 (ebd. S. 172): „Unde, quaeso, ista [sc. corrationalitas, NG], nisi ab illo summo atque aeterno principatu numerorum et similitudinis et aequalitatis et ordinis veniunt?“; ähnlich die Ausführungen in xvii, 58 (ebd. S. 172–174), die auf die Elementenlehre gestützt sind; hier auch wieder die Hervorhebung des Himmels in seiner unitas. 262 Augustinus, De musica lib. vi, xvii, 59 (ed. Hentschel S. 174): „Sermonem autem hunc nostrum mandatum litteris si qui legunt, sciant multo infirmioribus haec esse scripta, quam sunt illi, qui unius summi dei consubstantialem et incommutabilem trinitatem, ex quo omnia, per quem omnia, in quo omnia, […] venerantur […]“. – Angesichts der Betonung der Zahlhaftigkeit der kosmologischen Ordnung und der leitmotivischen Dominanz der aequalitas stellt sich die Frage, ob Hermannus den Musiktraktat Augustins kannte. Immerhin ist das vermutlich früheste wissenschaftliche Werk des Reichenauers ein Traktat zur Musiktheorie, siehe Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 398; zu Hermanns „Musica“ siehe Oesch, Berno und Hermann, bes. S. 204–248. Im Rahmen weiterer Untersuchungen wäre zu überprüfen, ob Augustins aequalitas-Begriff als direkte Vorlage für die wissenschaftliche Auseinandersetzung Hermanns mit diesem Konzept infrage kommt.
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Augustins Äußerungen speziell zu innertrinitarischen Fragen sind für die Fragestellung des vorliegenden Kapitels von besonderem Interesse. Dies soll exemplarisch an dem bereits erwähnten „Sermo cxvii“ verdeutlicht werden.263 Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht dort der Versuch, ausgehend von den ersten drei Versen des Johannesevangeliums die Gleichewigkeit und die substantielle aequalitas des Sohnes mit dem Vater zu plausibilisieren.264 Gleich zu Beginn der Predigt identifiziert er das initiale Schöpfungswort Gottes mit dem inkarnierten Wort und deutet auf diese Weise das gängige typologische Verhältnis zwischen Anfang, Mitte und Ende der Zeiten an.265 Als initialem Schöpfungswort unterliegt dem verbum dei somit alles, was geschaffen wurde, da es ja in seiner Gesamtheit durch es geschaffen wurde.266 Ferner läßt sich Augustinus zufolge das verbum als forma bezeichnen, die ihrerseits nicht geformt wurde, sondern die unveränderliche, makellose, zeit- und ortlose Form alles Geformten und zugleich die sapientia dei ist.267 Diese allgemeinen Vorbemerkungen dienen Augustinus als Rahmen, um sein eigentliches Anliegen zu verfolgen: die nicht ausdrücklich formulierte Position zurückzuweisen, Gottsohn sei in irgendeiner Hinsicht geringer als Gottvater. In diesen Kontext gehören auch die oben referierten Ausführungen zur coaeternitas filii, die Augustinus mit Hilfe der ihr in der zeitlich strukturierten Wirklichkeit am nächsten kommenden und analogisch auf sie verweisenden coaevitas erläutert.268 Vor diesem Hintergrund wendet er sich dem Problem der Gleichheit der Substanz von Gottvater und Gottsohn zu. Er argumentiert dabei gegen die nicht expressis verbis artikulierte Position, der Sohn sei dem Vater nur ähnlich, aber nicht gleich. Gerade die zuvor zur Erläuterung der coaeternitas herangezogene Feuer-Metapher bildet dabei den AusSiehe oben, 2.3.3. „Ephemerida“, die Besprechung der natura coeva. Der „Sermo“ besitzt seinen Ursprung in der Auseinandersetzung mit arianischen Positionen, was sich daran erkennen läßt, daß Augustins Augenmerk nachdrücklich darauf ruht, die Gleichheit der Natur des Vaters und des Sohnes bei Verschiedenheit der Personen zu betonen. 265 Augustinus, Sermo cxvii cap. i, 1 (PL 38, Sp. 661): „Dominum enim nostrum Jesum Christum accepimus secundum divinitatem ad condendam universam creaturam, secundum humanitatem ad reparandam lapsam creaturam“. 266 Augustinus, Sermo cxvii cap. i, 1 (PL 38, Sp. 662): „Subjici enim omnia possunt Verbo Dei, quia omnia per ipsum facta sunt“. 267 Augustinus, Sermo cxvii cap. ii, 3 (PL 38, Sp. 662 f.): „Est [sc. verbum, NG] enim forma quaedam, forma non formata, sed forma omnium formatorum: forma incommutabilis, sine lapsu, sine defectu, sine tempore, sine loco […]. Dictum est enim ipsum Verbum Sapientia Dei: habemus autem scriptum Omnia in Sapientia fecisti“. 268 Augustinus, Sermo cxvii cap. iv, 6 – ix, 12 (PL 38, Sp. 664–668). 263 264
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gangspunkt für die Zurückweisung der aequalitas filii durch jene nicht näher benannten, dem arianischen Umfeld entstammenden Gegner; denn wie der Glanz des Feuers von diesem hervorgerufen und also geringer sei, so verhalte es sich in der Beziehung zwischen Vater und Sohn. Zwischen beiden bestehe lediglich eine Ähnlichkeit, aber keine aequalitas und folglich besäßen sie auch nicht dieselbe Substanz.269 Diese Einschätzung weist Augustinus zunächst pauschal unter Rückgriff auf Paulus zurück: Diesem zufolge gelte es nicht als Raub, „rapina“, daß der Sohn sich als Gott gleich, „aequalis“, bezeichnet habe.270 Um einen Raub könne es sich nämlich nur handeln, wenn es um etwas Fremdes, „alienum“, gehe. Da der Apostel dies ausschließt, zieht Augustinus den Umkehrschluß, daß die aequalitas des Sohnes eine vollkommene sei, „omni modo“.271 Daraufhin verdeutlicht er die Gleichheit des Sohnes an der Relation zwischen Vater und Sohn in der Wirklichkeit. Zwar gehe ein Sohn seinem Vater in zeitlicher Hinsicht nach, aber nicht in Bezug auf die Natur. Um jedoch die vollständige Gleichheit von Gottvater und Sohn zu begreifen, müsse man beide Aspekte zusammennehmen, die unter den Bedingungen der Zeitlichkeit nur getrennt vorlägen, also die „aequalitas naturae“, die sich dem Bild der Geburt entnehmen lasse, und die „aequalitas temporis“, die er ja zuvor am Beispiel des Feuers veranschaulicht hatte. Der Grund dafür, daß es statthaft sei, diese Verbindung vorzunehmen, die in der Wirklichkeit unmöglich sei, liege in der Inkommensurabilität Gottes. Bei ihm finde sich alles zugleich, was hier nur getrennt existieren könne.272 269 Augustinus, Sermo cxvii cap. x, 13 (PL 38, Sp. 668): „[…] sed splendor qui funditur de igne, minus lucet quam ipse ignis […]. Habent ista similitudinem, sed non habent omnimodam aequilitatem: quare non videntur esse ejusdem substantiae. […]. Talis est ergo Filius ad Patrem, qualis ad ignem splendor […]“. 270 Phil 2, 6: „[…] qui [sc. Iesus Christus, NG] […] non rapinam arbitratus est esse se aequalem Deo“; Augustinus zitiert den Vers unter Auslassung des Pronomens „se“. – Dieser Paulusvers ist die Parallelstelle jenes Verses des Johannesevangeliums, auf den oben, zu Beginn dieses Paragraphen hingewiesen wurde (Io 5, 18). 271 Augustinus, Sermo cxvii cap. x, 13 (PL 38, Sp. 669). 272 Zur „aequalitas naturae“ Augustinus, Sermo cxvii cap. x, 14 (PL 38, Sp. 669): „Dederunt enim illi similitudines ex his quae nascuntur in tempore, et praeceduntur tempore ab eis a quibus nascuntur, sicut homo de homo. […]. Ad eamdem substantiam generant ista; sed non ad idem tempus. Diversa sunt tempora; sed non sunt diversa natura“; zum analogischen Verhältnis zwischen der Wirklichkeit und dem Bereich Gottes ebd. (PL 38, Sp. 669f.): „Invenio hic coaevum, cognosco ibi coaeternum. Hic aequalitatem invenio naturae, ibi intelligo aequalitatem substantiae. Totum ergo ibi quod hic ex partibus singulis et rebus singulis invenitur. Totum ergo ibi simul […]“, daran schließt sich eine Gegenüberstellung gängiger Gegensätze zur Kennzeichnung der
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In der weiteren Auseinandersetzung mit innertrinitarischen Fragen spielen die Vorgaben Augustins einmal mehr eine zentrale Rolle. Abschließend sei daher noch auf den knappen, aber wirkmächtigen Paragraphen in „De doctrina christiana“ verwiesen, in dem Augustinus sich in prägnanter Form über die Trinität äußert und in dem die später gängige Formulierung der „aequalitas filii“ vorgeprägt wird. Im Kontext seiner Unterscheidung von uti und frui benennt er als res, die zweckfrei zu genießen sei, die Trinität, was ihn dazu veranlaßt, Reflexionen über das innertrinitarische Gefüge anzustellen. Der eine Gott sei es, aus dem, durch den und in dem alles sei. Und so seien der Vater, der Sohn und der heilige Geist jeweils einzeln Gott und die ganze Substanz sowie alle zusammen der eine Gott und die eine Substanz. Während Augustinus auf der einen Seite – ohne Verwendung des PersonenBegriffes selbst – die Verschiedenheit der göttlichen Personen betont, unterstreicht er auf der anderen Seite ihre substantielle Einheit und die Identität ihrer Attribute: der Ewigkeit, Unveränderlichkeit, Majestät und Macht. Diesen Zusammenhang bündelt er in der wirkmächtigen Formulierung, im Vater sei die Einheit, im Sohn die aequalitas, im heiligen Geist die Verbindung von Einheit und aequalitas, so daß die drei unum seien wegen des Vaters, aequale wegen des Sohnes und conexum wegen des heiligen Geistes.273 Besondere Wirkung erlangten Augustins Reflexionen auf die weitere Theologiegeschichte durch den Umstand, daß seine Vorgaben oft in wörtlicher Wiedergabe Aufnahme in die Sentenzen des Petrus Lombardus fanden. Bekanntlich avancierte dessen Werk seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zum verbindlichen Schulbuch an den UniversitäInkommensurabilität des Transzendenten, wie beispielsweise Sichtbares-Unsichtbares, Zeitliches-Ewiges und dergleichen mehr. 273 Augustinus, De doctrina christiana i, v, 5 (CCL 32, S. 9): „In patre unitas, in filio aequalitas, in spiritu sancto unitatis aequalitatisque concordia, et tria haec unum omnia propter patrem, aequalia omnia propter filium, conexa omnia propter spiritum sanctum“. – Zur aequalitas filii bes. Ders., De diversis quaestionibus lxxxiii quaest. l (CCL 44A, S. 77). „De aequalitate filii. Deus quem genuit, […] genuit aequalem. […]. Ex quo conficitur aequalem genuisse filium“; im Zusammenhang mit den beiden übrigen göttlichen Personen exemplarisch Ders., De trinitate vi, ix 10 (CCL 50, S. 240): „[…] fateamur summam aequalitatem patris et filii et spiritus sancti“; Ders., In Iohannis euangelium tractatus tract. 48, 8 (CCL 36, S. 417): „Ecce Iudaei intellexerunt quod non intellegunt ariani. Ideo enim irati sunt, quoniam senserunt non posse dici: Ego et Pater unum sumus, nisi ubi aequalitas est Patris et Filii“, u. ö.; im Kontext mit der rapina ebd. tract. 14, 11 (ebd. S. 149): „Quid est omnia? Vt tantus sit Filius, quantus est Pater. Ad aequalitatem enim sibi genuit eum, cui rapina non esset in forma Dei esse aequalem Deo“, u. ö.
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ten, wodurch die in ihm versammelten Sentenzen einen kanonischen Status gewannen. Ein plastisches Beispiel im Hinblick auf die Äußerungen Augustins zur Trinität und namentlich zur aequalitas ist die 31. „Distinctio“ im ersten Buch der Sentenzen. Gegen Ende des zweiten Kapitels nimmt Petrus direkt Bezug auf die eben angeführte Stelle in „De doctrina christiana“, die er vollständig zitiert, um zu dem Schluß zu gelangen, daß Augustinus mit diesen Worten auf den Unterschied der drei Personen habe hinweisen wollen, wie klar erkennbar sei. Daran knüpft Petrus im dritten Kapitel die Frage, die „viele bewege“, weshalb der Kirchenvater dem Vater das Attribut der unitas, dem Sohn aber das der aequalitas zugeschrieben habe. Denn unitas sage man doch gemäß der Substanz, die jedoch bei allen drei Personen dieselbe sei. Ebenso herrsche die aequalitas unter allen drei Personen. Um dieses Problem zu lösen, schlägt Petrus vor, möglicherweise handele es sich hierbei um eine bestimmte Redeweise, derer sich Augustinus bedient habe, um zum Ausdruck zu bringen, daß der Vater nicht von etwas anderem hervorgebracht sei, daß er den Sohn gezeugt habe als mit ihm einen Gott und daß der heilige Geist aus ihm hervorgegangen sei und ebenfalls eins sei mit ihm.274 Neben dieser direkt an Augustins trinitätstheologische Reflexionen anknüpfenden Tradition tritt im beginnenden Hochmittelalter eine weitere, über die Theologie im engen Sinne hinausgehende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der aequalitas hervor. Eine entscheidende Weichenstellung für eine solche Beschäftigung mit dem Begriff wie beispielsweise bei Thierry von Chartres, aber auch bei Hermannus selbst dürfte in der engen Verknüpfung der innertrinitarischen Spekulationen mit dem Beginn des Johannesevangeliums bestanden haben, die schon bei Augustinus selbst zu beobachten ist.275 Der Schritt von hier 274 Petrus, Sententiae in iv libris distinctae lib. 1, dist. 31, cap. 2, 9 – cap. 3 (ed. Collegium S. Bonaventurae ad Claras Aquas S. 228f.): „Illud etiam sciri oportet, ut earundem trium personarum distinctionem Augustinus ostendere volens sine expressione illarum trium proprietatum superius commemoratarum […]. In his verbis aperte insinuatur personarum trium distinctio. Cap. 3 (133). Quare Patri attribuitur unitas et Filio aequalitas. […] quia videlicet Pater ita est ut ab alio non sit, et quia Filium genuit unum secum Deum, et Spiritus ab eo procedit unus cum eo Deus“. 275 Siehe hierzu den oben besprochenen „Sermo cxvii“; vgl. auch Ders., In Iohannis evangelium tractatus (CCL 36), bes. „Tractatus xviii“ (S. 179–188), in dem Augustinus erst (in Fortsetzung des voraufgehenden Traktates) die aequalitas des Sohnes mit dem Vater herausstellt und anschließend auf die Schöpfung der Welt durch das Wort, per verbum, eingeht. – Diese Verbindung durchzieht bereits Ambrosius’ „De fide“, siehe
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aus hin zur Identifikation des inkarnierten Wortes aus Johannes mit dem Schöpfungsgeschehen der Genesis ist dann nicht mehr weit. Die aequalitas filii wird unter diesen Umständen zum göttlichen Schöpfungswort, das als fundamentales formales Prinzip, als forma omnium formatorum,276 die Wirklichkeit ordnend durchdringt. Sie ist damit zugleich das göttliche Versprechen auf Erlösung am Ende der Zeiten, auf die der ordo aequalis typologisch verweist. Aufgrund ihrer Verbindung mit dem anfänglichen Sechstagewerk tritt sie darüber hinaus in eine enge Beziehung mit den oben angesprochenen herrschenden kosmologischen Vorstellungen. Die Einheitlichkeit, Gleichmäßigkeit und Zirkularität aus dem kosmologisch-astronomischen Bereich werden zum selbstverständlichen Synonym von concordia, amor und ordo, die das Gesamt der natürlichen Dinge dank dem Wirken des anfänglichen verbum dei rational strukturieren. Ein Zeugnis für solche weitreichenden kosmologischtheologischen Reflexionen über diese Zusammenhänge stellt das Aufkommen eines Begriffes vom verbum dei als dem archetypus mundus seit dem 12. Jahrhundert dar.277 3. Aequalitas als causa formalis. Im Chartreser Kontext spielt der aequalitas-Begriff eine zentrale Rolle, wie sich exemplarisch am „Tractatus de sex dierum operibus“ Thierrys von Chartres zeigen läßt. In dieser Abhandlung verbindet Thierry eindrucksvoll die verschiedenen Traditionslinien des aequalitas-Konzeptes miteinander, indem er erstens mit dem Sechstagewerk für seine Ausführungen einen kosmologischen Rahmen wählt, in den er zweitens das Wirken der sapientia dei als causa formalis integriert und diese drittens als eine der trinitarischen Personen, den filius, interpretiert. Bemerkenswerterweise stützt er seine Argu-
beispielsweise Ambrosius, De fide libri v lib. 1, cap. 7, 53–57 (ed. Faller 78–82), im Zusammenhang mit dem Nachweis, daß der Sohn nicht vom Vater verschieden sei: „Ergo pater dixit: Faciamus hominem ad imaginem et similitudinem nostram. In principio ipsius mundi patrem et filium esse audio et unum opus cerno, audio loquentem, agnosco facientem. […]. Cum enim patrem dixeris, eius etiam filium designasti, quia nemo ipse sibi pater est. […]. Semper igitur pater, semper et filius. 56. In prinicipio enim erat uerbum […]. Quod uero erat in principio apud deum, sempiternae diuinitatis in patre et filio inseparabilis unitas edocetur […]. Postremo cum omnia per eum facta dicantur, ipse conditor noui utique testamenti et ueteris designatur […]“. 276 Vgl. hierzu die gleichlautende Formulierung in Augustinus, Sermo cxvii cap. ii, 3 (PL 38, Sp. 662 f.). 277 Vgl. hierzu beispielsweise Wilhelm von Conches in seinen Glossen zur „Consolatio philosophiae“, Wilhelm, Glosae super Boetium (CCM 158, S. 160, 342 f.; ebd. S. 161, 346).
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mentation auf zwei verschiedene Grundlagen. Während er in den ersten Kapiteln des „Tractatus“ die Erschaffung der Welt nach Genesis secundum physicam erläutert, basiert er seine Reflexionen über die unitas und die aequalitas in den letzten Kapiteln vorwiegend auf zahlentheoretische Vorgaben.278 Thierry unterscheidet zwischen vier verschiedenen causae, denen die Welt ihre Existenz und ihre zeitliche Ordnung verdanke. Im einzelnen sind dies ihm zufolge die causa efficiens, die causa formalis, die causa finalis und die causa materialis. Schrittweise identifiziert er die causa efficiens mit Gott und dem Vater, die causa formalis mit der sapientia dei und dem filius, die causa finalis mit der benignitas dei und dem heiligen Geist und schließlich die causa materialis mit den vier Elementen. Dabei wird ersichtlich, daß die letzte der vier causae, die causa materialis, den übrigen dreien insofern nachgeordnet ist, als sie selbst erst durch diese drei causae hervorgebracht und geformt wurde und seither gelenkt wird.279 Daß ihr dennoch eine zentrale Rolle beim Entstehen und Fortbestehen der Welt zukommt, lassen Thierrys Ausführungen zum Schöpfungswerk secundum physicam erkennen. Er führt hier das in der Genesis sukzessiv geschilderte Gestaltannehmen des Kosmos konsequent auf die charakteristischen Eigenschaften, virtutes, und das Zusammenwirken der vier Elemente zurück.280 Außerdem stellt er klar, daß alles, was nach Abschluß 278 Die „distinctio formarum secundum phisicam“ umfaßt die Kapitel 5–17; sie beruht überwiegend auf Zusammenhängen der Elementenlehre; danach folgt ab Kapitel 18 die „expositio“, in deren Rahmen Thierry zunächst noch weitgehend ‚physikalische‘ Erklärungen bietet; ab Kapitel 30 setzt er sich dann auf der Grundlage der Arithmetik mit der unitas, ab 37 mit der aequalitas und dem Verhältnis beider auseinander. Wie das Ende der Schrift erkennen läßt, ist der „Tractatus“ unvollständig; der eigenen Ankündigung gemäß sollten sich Ausführungen zur „conexio equalitatis et unitatis“ – wieder entsprechend den numerischen Disziplinen – anschließen: „Nunc quomodo conexio equalitatis et unitatis ab utraque earum procedat explicandum est secundum disciplinas propositas“, Thierry, De sex dierum operibus cap. 47 (ed. Häring S. 575). – Zum „Tractatus“ Speer, Die entdeckte Natur, bes. S. 232–239, 241–243, 248–255; Riesenhuber, „Arithmetic and the Metaphysics of Unity“, bes. S. 50–54, 57–63. 279 Thierry, De sex dierum operibus cap. 3 (ed. Häring S. 556): „In materia igitur que est quatuor elementa operatur summa Trinitas ipsam materiam creando in hoc quod est efficiens causa: creatam informando et disponendo in eo quod est formalis causa: informatam et dispositam diligendo et gubernando in eo quod est finalis causa“. 280 Bis hierher siehe Thierry, De sex dierum operibus cap. 5–15 (ed. Häring S. 557– 561). – Auffällig an den Erklärungen Thierrys ist der Umstand, daß er zwar einen Kommentar zu einem zentralen biblischen Text schreibt, sich bei seinen Explikationen secundum physicam aber ganz auf die zu seiner Zeit bekannten fachwissenschaftlichen Zusammenhänge konzentriert. Seine Argumentationsweise erinnert in dieser Hinsicht stark an die Hermanns von Reichenau, vgl. hierzu bes. 3.2.2. Der erste Teil der „Abbreviatio compoti“: Das komputistische Lehrbuch, die Analyse der causae.
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des Sechstagewerkes entstanden ist, keine neue Art von Schöpfung sei, sondern als Anlage im bereits Geschaffenen vorlag. Jedes derartige weitere Hervorgehen lasse sich somit auf die Wirkungsweise der vier Elemente zurückführen, die nun ihrerseits gewissermaßen die Rolle von Wirkursachen, deren Instrumenten und der erleidenden Materie übernähmen.281 Den Anlaß, zu Reflexionen über die göttliche unitas und aequalitas überzugehen, bildet der letzte Halbsatz des zweiten Verses der Genesis.282 Da der über den Wassern schwebende Geist christlicher Tradition gemäß als spiritus sanctus auszulegen sei, stelle sich die Frage, weshalb dieser früher erwähnt werde als das verbum. Aus diesem Grunde rückt Thierry für den Rest des Traktates die divinitas in den Mittelpunkt und wählt als neues Argumentationsverfahren die Beweisführung der quadrivialen Künste, da diese vier „genera rationum“ nach seiner Einschätzung den Menschen zur Gotteserkenntnis führen.283 Aufgrund des Satzes, daß die Eins der Zweizahl vorausgehe, zieht er den Schluß, daß die unitas der alteritas vorauszusetzen sei. Aus der Zweizahl aber resultiere die Veränderlichkeit, der wiederum alle Geschöpfe unterworfen seien. Da weiter alles, was ist, entweder ewig oder Geschöpf ist, die Einheit jedoch allem Geschaffenen vorangehe, sei sie notwendigerweise ewig. Also sei die unitas die divinitas selbst, ist doch das Ewige nichts anderes als die Göttlichkeit. Wenn die Einheit mit der Göttlichkeit und somit mit Gott zu identifizieren sei, müsse sie zugleich als „forma essendi“ begriffen werden. Aus ihr gehe alle Vielheit hervor, doch sei sie selbst der Vielheit entzogen und folglich jeder Zahlhaftigkeit, dem „numerus“, vorgängig. Aus diesem Umstand schließt Thierry auf die Omnipotenz 281 Thierry, De sex dierum operibus cap. 16f. (ed. Häring S. 561 f.); zur gleichsam schöpferischen Tätigkeit der vier Elemente ebd. cap. 17 (ebd. S. 562): „Ita igitur ignis est quasi artifex et efficiens causa: terra uero subiecta quasi materialis causa: duo uero elementa que sunt in medio quasi instrumentum uel aliquid coadunatiuum quo actus supremi amministratur ad infima“; zu den „virtutes“ der Elemente ebd.: „Has uirtutes et alias quas seminales causas uoco deus creator omnium elementis inseruit et proportionaliter aptauit ut ex illis uirtutibus elementorum temporum ordo et temperies procederent et in temporibus competentibus per illas uirtutes sibi inuicem succedentibus corporee creature producerentur“. 282 Gn 1, 2: „[…] et spiritus Dei ferebatur super aquas“. 283 Thierry, De sex dierum operibus cap. 30 (ed. Häring S. 568): „Adsint igitur quatuor genera rationum que ducunt hominem ad cognitionem creatoris: scilicet arimethice probationes et musice et geometrice et astronomice“; zu den vorausgehenden Ausführungen zum „spiritus“ siehe ebd. cap. 25–29 (ed. Häring S. 566–568). – Vgl. hierzu das oben skizzierte ‚Programm‘ einer zahlhaften Gotteserkenntnis in Augustinus, De musica vi (ed. Hentschel).
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der unitas. Er setzt die Erschaffung der Dinge mit der „creatio numerorum“ gleich, deren Schöpfer ja die Einheit ist. Da jedoch die Zahlen unendlich seien, habe notwendigerweise auch die Macht der unitas keine Grenzen.284 Vor diesem Hintergrund findet Thierrys Erörterung der aequalitas statt. Auch in diesem Kontext leitet er die wesentlichen Attribute, hier der aequalitas, aus den Vorgaben der boethianisch-neupythagoreischen Zahlentheorie her. Was die Gleichheit oder Verschiedenheit der Natur bedeutet, führt er beispielsweise mit Hilfe der Multiplikation vor. So erzeuge die Multiplikation einer Zahl mit sich selbst Ergebnisse, die bezüglich ihrer Ausdehnung gleichförmig und folglich von derselben Natur seien. Die Multiplikation ungleicher Zahlen hingegen bewirke ungleiche Seitenverhältnisse, die Belege für die Verschiedenheit der Natur seien.285 Auf dieser zahlenspekulativen Grundlage entfaltet Thierry seine trinitätstheologischen Vorstellungen, die ihrer inhaltlichen Ausgestaltung nach auf dem Boden der durch Augustinus vorgeprägten Tradition stehen. Er verfügt nun über die Unterscheidung zwischen aequalitas und inaequalitas. In einem nächsten Schritt muß er den trinitätstheologischen Vorgaben entsprechend zeigen, daß die aequalitas mit der unitas wesensgleich ist. Diesen Beweis führt er, indem er den mathematischen Satz voranstellt, die Einheit mit sich selbst multipliziert sei gleich der Einheit. Aufgrund des zuvor hinsichtlich der Gleichheit der Natur Erörterten kann er als nächstes annehmen, daß die ursprüngliche wie die durch Multiplikation erzeugte Einheit dieselbe Substanz besitzen. Da ferner die aequalitas der inaequalitas vorausgehe,286 sei notwendigerweise auch die „generatio aequalitatis“ vorgängig. Somit sei klar, daß die unitas durch sich selbst zwingend die aequalitas derselben Einheit gebäre. Auf diese Weise hat Thierry zugleich den Nachweis geführt, daß die unitas und die aequalitas dieselbe Substanz besitzen.287 Damit aber treffen auf die aequalitas dieselben Attribute zu wie auf die unitas. Sie ist ihr also gleichewig und geht gleichermaßen der Zahl und allen auf die Zahl folgenBis hierher Thierry, De sex dierum operibus cap. 30–36 (ed. Häring S. 568–570). Thierry, De sex dierum operibus cap. 37 (ed. Häring S. 570f.). 286 Zu diesem Schluß ist er ebenfalls durch den Verweis auf die mit sich selbst multiplizierte unitas berechtigt, die ja zu einer „aequalitas dimensionum“ führt und überdies – wie in den vorausgehenden Paragraphen gezeigt – vor jeder Mehrzahl liegt. 287 Der gesamte Gedankengang umfaßt Thierry, De sex dierum operibus cap. 37–39 (ed. Häring S. 570f.); zu Thierrys Schlußfolgerung ebd. cap. 39 (ebd. S. 571): „Unitas igitur ex se et ex sua substantia nichil aliud gignere potest nisi equalitatem“. 284 285
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den Bestimmungen wie Maß, Gewicht, Ort, Zeit und dergleichen voraus. Trotz der substantiellen Identität von unitas und aequalitas unitatis hält Thierry die personale Unterscheidung beider für gewahrt. Denn nichts könne sich selbst gebären, und überdies seien die Eigenschaften des Gebärens und des Geborenwerdens verschiedene. Die Person des Gebärenden sei daher der unitas gleichzusetzen, die des Geborenen der aequalitas.288 Die Korrespondenz mit den im ersten Teil des Traktates bezüglich des initialen verbum als der causa formalis erörterten Zusammenängen wird auf begrifflicher Ebene besonders deutlich, wenn Thierry die mathematisch deduzierte aequalitas im vorliegenden Abschnitt mit der „sapientia creatoris“ und kurz vor Ende der Abhandlung mit dem „verbum deitatis“ gleichsetzt.289 Sowohl die bereits hergeleiteten, als auch alle weiteren Eigenschaften der aequalitas lassen sich damit wie in einem mathematischen Gleichungssystem auf das Wirken des verbum bei der Schöpfung und in der Wirklichkeit übertragen. Indem er jetzt die causa formalis weiter bestimmt als „modus“, „diffinitio“ und „determinatio aeterna“, unterstreicht er ferner ihre noetische Schlüsselfunktion für ein Verständnis der Natur. Wie sie einerseits vergleichbar einer „figura“ das Maß darstelle, nach dem die Dinge geschaffen werden, gebe sie andererseits gleichsam als „splendor“ das Mittel an die Hand, dem gemäß die Dinge unterschieden werden. Infolge dessen umfasse sie die Begriffe der Dinge selbst.290 Dasselbe trifft laut Thierry auf die Formen Bis hierher Thierry, De sex dierum operibus cap. 40–44 (ed. Häring S. 571–574); zur substantiellen Identität ebd. cap. 40 (ebd. S. 572): „Unitas igitur et equalitas unitatis unum sunt“; zur Verschiedenheit der Personen ebd. cap. 41 (ebd. S. 572): „Quamuis autem unitas et eius equalitas sint una penitus substantia tamen […] idcirco ad designandam has proprietates que sunt unitatis et equalitatis eterna identitate diuini philosophi uocabulum persone apposuerunt ita ut ipsa eterna substania [sic, NG] dicatur persona genitoris secundum hoc quod ipsa est unitas: persona uero geniti secundum hoc quod ipsa est equalitas“; in dieser Zuordnung der Attribute zu bestimmten Personen folgt Thierry somit Augustinus, bes. De doctrina christiana i, v, 5 (CCL 32, S. 9). 289 Zur „sapientia creatoris“ Thierry, De sex dierum operibus cap. 42 (ed. Häring S. 572): „Istum autem […] unitatis equalitatem antiqui philosophi […] creatoris sapientiam appelauerunt“; zum „verbum deitatis“ ebd. cap. 46 (ebd. S. 574): „[…] inde manifestissime colligitur eandem ipsam equalitatem esse Uerbum deitatis“. 290 Zu den weiteren Bestimmungen der aequalitas Thierry, De sex dierum operibus cap. 41 (ed. Häring S. 572): „[…] necesse est igitur hanc equalitatem existentie rerum esse equalitatem i.e. modum quendam siue diffinitionem siue determinationem eternam rerum omnium […]“; zu „figura“ und „splendor“ ebd.: „Est igitur ipsa […] equalitas […] quasi quedem figura et splendor. Figura quidem quia est modus secundum quem ipsa unitas operatur in rebus. Splendor uero quia est id per quod omnia discernuntur 288
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der Dinge zu: Genauso wie die aequalitas die Begriffe enthalte und hervorbringe, umschließe und generiere sie die Formen. Lassen sich die Zahlen ursächlich auf die unitas zurückführen, gelte dasselbe für die Proportionen und inaequalitates mit Blick auf die aequalitas. Umgekehrt lasse sich die Wirklichkeit auf sie hin auflösen.291 Zwar verwendet Thierry den Begriff des archetypus mundus nicht, der Sache nach aber liegt ein solches Konzept seinen Ausführungen zugrunde.292 In metaphysisch-spekulativer Hinsicht führt er die ansonsten den Vorgaben der Tradition entsprechenden kosmologischen und trinitarischen Vorstellungen zu einem Kulminationspunkt. Wie der Blick in die Theologie- und Philosophiegeschichte bestätigt, steht er damit zwar weder im 12., noch in den folgenden Jahrhunderten allein. Relativ zur vorausgehenden Zeit aber muß er als einer der ersten Gelehrten gelten, der den aequalitas-Begriff in einer so ausdrücklichen und metaphysisch umfassenden Weise ausformulierte. Ähnlich wie schon in Augustins Abhandlung über die Musik fällt dabei die herausragende Rolle der Zahlentheorie als der argumentativen Grundlage Thierrys auf. Obwohl er sie anders als kurz zuvor Hermannus nicht in quantifizierender Weise aufgreift, sondern in der boethianischproportionalen Form, werden auch bei ihm der numerus und mit diesem: die Regeln der Arithmetik zur fundamentalen ratio der gesamten Wirklichkeit. Die aequalitas als die „generatio numerorum“ stellt in diesem
a se inuicem“; zu den Begriffen ebd. cap. 42 (ebd. S. 573): „Ibi [sc. in sapientia, NG] rerum notiones continentur. Semper enim rei notitio in ipsius equalitate continetur. […]. Omnem igitur notionem rerum in ipsa equalitate contineri uerum est“. 291 Thierry, De sex dierum operibus cap. 43 (ed. Häring S. 573): „Sicut igitur ipsa equalitas unitatis rerum notiones et intra se continet et ex se generat ita etiam illa eadem formas omnium rerum et intra se continet et ex se producit. Et sicut ipsa unitas omnes numeros ex se procreat ita ipsa unitatis equalitas omnes proportiones et inequalitates omnium rerum ex se producit. Et in ipsam eadem omnia resoluuntur“. 292 Zum Begriff des archetypus siehe die oben angeführte Stelle im „Consolatio“Kommentar des Wilhelm von Conches; vor dem Hintergrund des eben Referierten vgl. bes. die Definition, die Wilhelm im Zusammenhang mit diesem Begriff bietet, Wilhelm, Glosae super Boetium (CCM 158, S. 160f., 339–347): „Modo ostendit formalem causam omnium rerum, id est diuinam sapientiam, quae dicitur forma uel exemplum, quia iuxta diuinam sapientiam omnia formata sunt. Dicitur eadem archetipus mundus idcirco, quia continet et prouidet omnia quae in mundo sunt. Et dicitur principalis figura mundi, quia iuxta illam, ut dictum est, mundus formatus est; archos princeps, tipus figura. Inde archetipus mundus dicitur diuina sapientia, id est principalis figura mundi […]“. – Zu Wilhelm siehe Nauta, „Introduction“; Ders., „The ‚Glosa‘ as Instrument“.
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Gefüge den Schlüssel dar zur rationalen Durchdringung der Wirklichkeit und damit letztlich zur Erkenntnis Gottes.293 Dieses philosophisch-kosmologische Potential des aequalitas-Begriffes hinterläßt bis ins Spätmittelalter hinein seine Spuren. Gleichsam leitmotivisch durchzieht die aequalitas beispielsweise das Werk des Raimundus Lullus. Nikolaus von Kues widmet dem Begriff eine zwar kurze, aber von spekulativer Tiefe gekennzeichnete Abhandlung.294 Wie schon der „Tractatus“ Thierrys zeichnet sich auch diese Schrift durch das Zusammenführen und Verknüpfen der verschiedenen begriffsgeschichtlichen Traditionen der aequalitas aus. Im Zentrum dieser Schrift steht letztlich ebenfalls die Trinität, die Cusanus in einem Kontext von Seelenlehre, Zahlentheorie, Kosmologie und Schöpfungstheologie diskutiert. Der Begriff der aequalitas selbst tritt dabei erst in der zweiten Hälfte der Abhandlung auf, gibt sich aber dort in vergleichbarer Weise als das Maß aller Dinge zu erkennen wie in Augustins Abhandlung über die Musik. Ausgehend von der Sprache sowie dem Verhältnis von innerem und äußerem Wort schreitet Nikolaus fort zur Identifikation 293
Wendet man sich vor diesem begriffsgeschichtlichen Hintergrund nochmals der Frage zu, inwiefern die aequalitas als relationaler Begriff im Denken Hermanns den Status eines Prinzips der Wirklichkeitsstruktur gewinnen kann (vgl. hierzu 3.3.2. Mathematik und Wirklichkeit, den Abschnitt 2. Natura und visus, wo bereits auf die ‚Zwitterstellung‘ dieses Begriffes mit Blick auf seinen relationalen Gehalt hingewiesen wurde), lassen sich weitere Schlüsse ziehen. Wie schon bei seinen Vorgängern – vgl. bes. Abbo – beruhen die rationes rerum Hermannus zufolge auf einer ihnen gemeinsamen natura, die er mit der aequalitas identifiziert. Diese natura aber ist gemäß Augustinus auf das Wirken des verbum dei, des filius, zurückzuführen, weshalb er sie als forma omnium formatorum bezeichnet (Thierry wird das verbum ähnlich als causa formalis beschreiben). Folgt man Augustinus weiter, bestehen ‚äquale Relationen‘ in der zeitlich strukturierten Wirklichkeit zwischen ‚Naturen‘, bezogen auf deren Äußerungsformen, also die rationes rerum, wie beispielsweise die ratio cursus lunaris, zwischen den je gleichen Umläufen der Gestirne oder der je gleichen Dauer von Perioden. Ähnlich wie der schon im zweiten Kapitel dieser Arbeit erörterte coaevitas-Begriff ist auch das aequalitas-Konzept aufgrund dieses selbstreferenziellen Charakters ein besonderes: Immer noch Augustinus entsprechend, steht es als aequalitas naturae in einem speziellen Verweisverhältnis zur aequalitas substantiae, dem ‚Relationengefüge‘ der drei innertrinitarischen Personen. Die aequalitas zeichnet sich damit in vergleichbarer Weise als Erkenntnisobjekt aus wie die coaevitas, siehe Augustinus, Sermo cxvii cap. x, 14 (PL 38, Sp. 669f.): „Invenio hic coaevum, cognosco ibi coaeternum. Hic aequalitatem invenio naturae, ibi intelligo aequalitatem substantiae“. 294 Nikolaus, De aequalitate (ed. Senger); hierzu Beierwaltes, Denken des Einen, bes. S. 374–378; Schwaetzer, Aequalitas, bes. S. 59–114; Knoch, „Nikolaus von Kues“, bes. S. 106–110; ebenfalls zum Begriff der aequalitas, aber mit Blick auf andere Schriften des Cusanus (v. a. „De docta ignorantia“) Leinkauf, „Die Bestimmung des Einzelseienden“.
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der aequalitas mit dem ersten Ursprung, den er in einer nächsten Stufe mit dem Schöpfer des Kosmos gleichsetzt.295 Von dieser Feststellung aus schlägt er wieder den Bogen zurück zum verbum, das er zuvor im Zusammenhang mit der Sprache eingeführt hatte. Sukzessive führt er seine Reflexionen zum Verhältnis von aequalitas und dem Wort, die er zunächst völlig abstrakt philosophisch anstellt, mit der theologischen Bestimmung der Trinität zusammen, indem er aus den vermeintlich ausschließlich philosophischen, mathematischen oder geometrischen Vorgaben zu den gängigen trinitätstheologischen Eigenschaften der göttlichen Personen gelangt. Ihren Ausgang nehmen seine Überlegungen von dem Satz, daß Gleichheit nur Gleichheit zeugen könne. Wenn daher die Gleichheit aus sich heraus das Wort zeuge, sei dies wiederum ihre Gleichheit. Die Verbindung, die aus diesen beiden hervorgehe, sei ihrerseits Gleichheit und ließe sich als Geist der Liebe bezeichnen, da sie aus der zeugenden und der gezeugten Gleichheit hervorgegangen sei. Über verschiedene Zwischenreflexionen, in denen er diese Zusammenhänge in anderen Bereichen wie der Mathematik oder der Geometrie aufgreift, gelangt er schließlich an den Punkt, an dem er seine Spekulationen in die theologische Terminologie überführt. Dabei verknüpft auch er seine Ausführungen insbesondere in den abschließenden Abschnitten expressis verbis mit dem Johannesevangelium und bündelt damit für das Mittelalter die verschiedensten Facetten einer Tradition, die sich bis auf die Anfänge des Christentums zurückverfolgen läßt.296 295 Nikolaus, De aequalitate 23 f. (ed. Senger S. 30–32): „Dico autem ex praemissis satis constare, quod loquens, si intelligit verbum, quod profert, ipsum sensibile verbum extrinsecum intelligit per insensibile intrinsecum […]. Puta esto, quod intellectus loquentis sit absoluta aequalitas […]. Et quamvis nullum nomen nominabile possit invenire primo prinicipio, […] tunc est aequalitas nomen primi aeterni principii. […]. Si igitur aequalitas absoluta est idem, quod creator caeli et terrae, tunc se scit esse aequalitatem et scit omnia, quae facit“. – Beierwaltes, Denken des Einen S. 374f.; Schwaetzer, Aequalitas S. 59–114. 296 Nikolaus, De aequalitate 24 (ed. Senger S. 32): „Sequitur igitur, quod una est aequalitas, quae est aequalitas et aequalitatis aequalitas; est igitur aequalitas de se generans verbum, quod est eius aequalitas; a quibus procedit nexus, qui est aequalitas. Quem nexum spiritum caritatis dicimus, quoniam ex aequalitate generante et aequalitate genita non potest procedere nisi aequalitas […]“; ebd. 25–30 (ebd. S. 33–39) folgen Zwischenreflexionen zur Zahl (und ihrer Erzeugung in der aequalitas), zu den Werken, zur Ontologie, zu Wissenschaft und Kunst und dergleichen mehr; ebd. 30 (ebd. S. 39f.) die trinitarischen Reflexionen und ihre Einbettung: „Nam id, quod de trinitate in sanctis scripturis et doctoribus ipsas explanantibus legis – ‚qualis pater, talis filius […]‘ […], utique, dum ad dicta de aequalitate respicis, melius et firmius fide capies. […]“. – Schwaetzer, Aequalitas S. 94–110.
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3.4. Die Besonderheiten modellhaften Denkens Im selben Zeitraum wie Hermanns komputistisch-astronomische Schriften entstand – ebenfalls auf der Reichenau – der sogenannte „Computus augiensis“.297 Wie schon sein Entdecker, Arno Borst, beobachtete, ist dieses Werk von vergleichbaren Charakteristika gekennzeichnet wie der Großteil der oben thematisierten komputistischastronomischen Sammlungen. Seine anonymen Schreiber kompilierten traditionelle Bestandteile quadrivialer Anthologien, bevorzugten den Vorlieben ihrer Vorgänger entsprechend die bildhaften figurae, waren allerdings anders als viele der antiqui kaum an weiterreichendem Wissen über die Natur interessiert. Als ein zusammenhängendes Gefüge konstruierten sie ihren Computus nicht, zu eklektisch blieb hierfür das Ausgewählte und zu verwirrend die Gliederung des Materials in technisch-funktionaler Hinsicht. Vor diesem Hintergrund heben sich die Besonderheiten der komputistisch-astronomischen Schriften Hermanns schon bei einer ersten Durchsicht mit großer Klarheit ab. Sie wurden zu Beginn dieses Hauptteils in drei Punkten zusammengefaßt, nämlich unter 1. Hermanns kritischem Umgang mit der Tradition, 2. seiner inhaltlichen und argumentativen Konzentration auf die technischfunktionale Ebene und seinem vermeintlichen Rückgriff auf Naturbeobachtung und 3. seiner systematischen Konzentration auf die Auseinandersetzung mit einer Grundprämisse, der aequalitas, auf der Basis mathematischer Verfahren. Angesichts dieser Aspekte lassen sich die erzielten Ergebnisse folgendermaßen zusammenfassen und übergreifend diskutieren. 1. Zur Traditionskritik. Im Lichte der Analyse seiner Schriften läßt sich Hermanns Umgang mit der Tradition auf jeden Fall als selbständig bezeichnen. Anders als die Schreiber des gleichzeitigen „Computus augiensis“ übernimmt er nicht einfach verschiedene Versatzstücke der komputistisch-astronomischen Tradition, um diese unverknüpft nebeneinander zu stellen. Stattdessen entwirft er einen zusammenhängenden Text, den er nach eigenen Kriterien strukturiert und selbst bei Referat
297 Der „Computus augiensis“ ist bislang nicht ediert und der Forschung weitgehend unbekannt. Sein bester Textzeuge ist die Handschrift Fulda, LB, B 2, fol. 4v–24r. – Den Hinweis auf den „Computus augiensis“ und die Informationen über ihn verdanke ich Arno Borst, der mir freundlicherweise seine Transkription des Werkes zur Verfügung stellte.
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in eigene Worte faßt. Allerdings sollte trotz Hermanns Eigenständigkeit das kritische Moment seiner Schriften gegenüber seinen Vorgängern nicht überbewertet werden. Zwar nimmt er unter anderem die Beobachtung Bedas, das komputistisch ermittelte Mondalter stimme häufig nicht mit dem tatsächlichen überein, zum Anlaß für seine Nachforschungen; auch ist die polemische Schärfe nicht zu leugnen, mit der der Reichenauer das Unvermögen des Angelsachsen kommentiert, den Schaltzuwachs gleichmäßig auf alle Mondmonate umzulegen. Gegen eine regelrechte Traditionskritik mit dem Ziel, Verbesserungen vorzunehmen, sprechen jedoch die Befunde, daß Hermannus weder in der „Epistola“, noch in der „Abbreviatio“ eine Revision der Osterfestberechnung vornimmt. Außerdem fällt auf, daß er nach der Neubestimmung des Mondmonats in den beiden fraglichen Schriften nicht wieder zu seinem Ausgangspunkt, Beda, zurückkehrt. Aus diesen Gründen scheint es angemessener, die anfängliche Kritik namentlich an Beda als rhetorisches Mittel zu interpretieren. Diese Einschätzung gewinnt zusätzliche Plausibilität, wenn man den curiositas-Diskurs berücksichtigt, in den die Polemik eingebettet ist. Damit liegt der Schluß nahe, daß Hermannus auf Beda Bezug nehmen mußte, um sich vor dessen implizitem Neugiervorwurf zu schützen und sein Vorhaben als ein nützliches sowie lehrreiches zu legitimieren.298 2. Zur Empirie. Klar zurückzuweisen ist die ursprüngliche Vermutung, Hermannus habe sich bei seiner wissenschaftlichen Arbeit gezielt auf die Beobachtung empirischer Phänomene gestützt. Wie sich an seinen in astronomischer Hinsicht fehlerhaften Voraussetzungen erkennen ließ, ging schon der Formulierung seines jeweiligen Ansatzes keine Naturbeobachtung voraus.299 Genauso wenig überprüft er abschliessend die ermittelten Ergebnisse anhand der ihnen korrespondierenden natürlichen Phänomene.300 Mit Blick auf den Wirklichkeitsbezug seiner Studien zeigte sich hingegen, daß sein Naturbegriff uneindeutig ist. 298 Zur „Erfreulichkeit“ und „Nützlichkeit“ seines Tuns Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xi (Arundel 356, fol. 29v); zur curiositas bei Hermannus vgl. Borst, „Ein Forschungsbericht“ S. 418–420. 299 Der stichhaltigste Beleg hierfür ist der bereits erwähnte Umstand, daß Hermanns durchgängige Annahme, jeder Mondmonat sei gleichlang und verlaufe schwankungsfrei, nicht zutrifft. Bei gezielter Beobachtung selbst mit dem bloßen Auge hätte ihm dies auffallen müssen. 300 Die einzige Ausnahme bilden in diesem Zusammenhang die „Prognostica“ mit ihren abschließenden Beispielrechnungen, denen historisch bezeugte und folglich tatsächliche Finsternisse zugrunde liegen. Hierauf ist gleich zurückzukommen.
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Der Begriff natura bezieht sich bei Hermannus letztlich durchgängig auf seine Wirklichkeitsvorstellung, und zwar tendenziell auf die vermeintlich die Wirklichkeit strukturierende ratio.301 Sie ist damit die ursprüngliche, eben: ‚natürliche‘ ratio im Unterschied etwa zur künstlichen ratio des computus.302 Dieser Naturbegriff umfaßt verschiedene Eigenschaften, die Hermanns Denkhorizont entstammen und weder empirisch ermittelt wurden, noch auf die tatsächliche, äußere Wirklichkeit zutreffen. Zum Beleg hierfür lassen sich die eben zitierten fehlerhaften Voraussetzungen seines theoretischen Ansatzes anführen: Während die Identifikation der natura mit der aequalitas hinsichtlich der Frage nach dem Wirklichkeitsbezug noch unproblematisch ist, machen die aus der aequalitas abgeleiteten Annahmen – die Einheitlichkeit und Stetigkeit des Mondmonats – die relative Unabhängigkeit der Konzeption von der empirischen Wirklichkeit transparent. Diesem Befund stehen verschiedene Indizien, insbesondere aber die Überprüfung seines Ansatzes an tatsächlichen Finsternissen am Ende der „Prognostica“ entgegen. Der entscheidende Punkt für die gegenwärtige Fragestellung ist dabei nicht, daß Hermannus hier überhaupt erstmals in seinen komputistisch-astronomischen Schriften einen förmlichen Wirklichkeitsbezug herstellt, sondern daß er hieraus Konsequenzen relativ zu seinem Naturbegriff ableitet.303 Da Hermanns Formu301 Daß die natura in diesem Sinne aufzulösen ist, äußert sich am deutlichsten in ihrer häufigen Verwendung als Attribut von Abläufen wie dem cursus siderum, aber auch von Zeitspannen wie dem mensis, dem annus und dergleichen, die ja ebenfalls keine statischen Größen, sondern Perioden sind. 302 Zu dieser kategorischen Unterscheidung die bereits zitierte, besonders einprägsame Stelle in Hermannus, Abbreviatio compoti cap. xxvii (Arundel 356, fol. 32v): „[…] compotum lune […] non […] naturalem lunaris discursus sequi rationem. […] omnes lunares menses secundum nature constitutionem […] nec aliquando […]“; zur Unterscheidung einer ratio secundum traditionem und einer ratio naturalis vgl. ebd. cap. xxiiii (Arundel 356, fol. 32r): „Hec de principalibus et necessariis compoti regulis et earum rationibus secundum patrum traditiones […]“ gegenüber ebd. cap. i (Arundel 356, fol. 28r): „[…] primo convenit scire quod omnis compoti ratio naturalis secundum duarum principalium cursus planetarum, solis videlicet atque lune, inventa […]“. 303 Hermannus, Prognostica cap. xiv (Arundel 356, fol. 41r): „Hec secundum […] equalemque lune […] discursionem […] collegi et, nisi equalitas […] nos fallat, pro certis conscripsi. Que si […] fefellerint, non eiusmodi […] aequabilitatem concordiamque […] inesse puto […]. […] per quem aliquid naturali cursui vel propinquum inveni […]“; von besonderem Interesse ist hier der Bezug, den Hermannus zwischen der ursprünglich vorausgesetzten aequalitas und dem naturalis cursus herstellt, den zumindest annähernd abzubilden ihm geglückt sei. Daß die Abbildung keine exakte respektive maßstäblich kongruente, sondern – beschönigend formuliert – nur eine ungefähre ist, weiß Hermannus aufgrund des nunmehr hergestellten Wirklichkeitsbezuges in Form der erwähnten Überprüfung.
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lierungen und insbesondere seine Vorgehensweise beim Erläutern der „causae ac rationes“ nahelegen, daß er selbst der Überzeugung war, Aussagen über die äußere Wirklichkeit und ihre Struktur zu machen, ist zu schließen, daß er konzeptionell nicht zwischen Wirklichkeitsvorstellung und der Natur als einer empirischen Größe differenzierte. Darin unterscheidet er sich jedoch weder von seinen Vorgängern, noch von seinen Nachfolgern.304 3. Zum technisch-funktionalen Charakter. Hermanns komputistisch-astronomische Schriften bestechen bei der ersten Lektüre durch ihren technisch-funktionalen Charakter und den vollständigen Verzicht des Reichenauers, die behandelten Gegenstände gemäß den herrschenden Gepflogenheiten auszudeuten. Dieser Eindruck bestätigte sich im Verlauf der Untersuchung und läßt sich weiter präzisieren. Sowohl die inhaltlichen Ausführungen und Erläuterungen, als auch die Argumentationsweise Hermanns sind konsequent auf die technisch-funktionalen Zusammenhänge der jeweils in Frage stehenden Gegenstände oder auf deren fachwissenschaftliche Hintergründe konzentriert.305 Anders als diejenige traktatartige komputistisch-astronomische Literatur, die in der Art der Ausdeutung noch stärker an Beda orientiert ist, rückt der Reichenauer die verschiedenen Größen wie den Tag oder die Stunde sowie die relevanten Objekte wie die Sonne oder den Mond nicht vor ihren bibelexegetischen Horizont.306 Und im Unterschied zu eher neuplatonisch oder auch peripatetisch inspirierten Formen der Rückbindung, die vor allem in den komputistisch-astronomischen Anthologien ihren Ausdruck fanden, unterläßt er auch jede kosmologisch-philosophische Interpretation der besprochenen Gegenstände.307 Damit greift er ein304 Zu den Vorgängern vgl. die im zweiten Kapitel herausgearbeiteten Formen der Auseinandersetzung mit den rationes rerum; bezüglich der Nachfolger wäre exemplarisch auf die Erklärungen natürlicher Phänomene mittels der Elementenlehre zu verweisen, die ebenfalls ein theoretisches Wissen und dessen Anwendung, aber keine ‚praktischen Experimente‘ widerspiegeln. 305 In aller Regel handelt es sich bei diesen „fachwissenschaftlichen Hintergründen“ um die astronomischen Konstellationen, die zu den fraglichen komputistischen oder astronomischen Gegebenheiten führen; gelegentlich firmieren hierunter aber auch historische Erläuterungen, wenn zum Beispiel Hermannus die Hintergründe bestimmter komputistischer Praktiken erklärt, die nicht auf natürlichen Phänomenen, sondern auf meist theologisch begründeten Vorgaben beruhen. 306 Anders in dieser Hinsicht teilweise noch Helperics „Liber de computo“ sowie Notkers „De quatuor quaestionibus compoti“. 307 Im Gegensatz hierzu exemplarisch Abbo von Fleury, siehe besonders 2.3. Untersuchung ausgewählter Komponenten des „Computus“; zum philosophischen Gehalt
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seitig eine Tendenz auf, die oben, im Zusammenhang mit der ‚Zweigleisigkeit‘ der Wissensaneignung seit dem 9. Jahrhundert beobachtet wurde: das Aufgreifen faktischen Wissens über natürliche Phänomene und deren Eigengesetzlichkeit ohne darüber hinausgehende Ausdeutung dieser Zusammenhänge. Mit dieser Konzentration auf die fachwissenschaftliche Seite und der Anwendung der aufgedeckten Regelmäßigkeiten beim Ausformulieren eigener theoretischer Ansätze erinnert Hermanns Vorgehensund Argumentationsweise an wissenschaftliche Ansätze, die etwa seit dem frühen 12. Jahrhundert in Vorschein treten. Zu denken ist hierbei an die Erklärung natürlicher Abläufe secundum physicam, wie sie oben am Beispiel Thierrys von Chartres kurz zur Sprache kam.308 Diesen Befunden zum Trotz artikulieren sich im wissenschaftlichen Denken Hermanns weitere Besonderheiten, die den technisch-funktional, fachwissenschaftlich und ausdeutungsfrei bestimmten Rahmen überschreiten. In diesem Zusammenhang ist in erster Linie auf den Zentralbegriff zu verweisen, um den sein gesamtes komputistisch-astronomisches Forschen kreist, die aequalitas. 4. Hermannus und sein Umfeld. Wie schon bei der technisch-funktionalen sowie fachwissenschaftlichen Argumentationsweise, so zeigt sich auch in der Betonung des numerus als fundamentaler ratio der Wirklichkeit die geistige Nähe zu Entwicklungen, die wenig später im Chartreser Umfeld dominant werden. Dieselbe Beobachtung trifft auf das Zentrum der Reflexionen Hermanns zu, die aequalitas. In dieser zugespitzten Form sowohl als Kernproblem der Abhandlung in konzeptioneller Hinsicht, als auch expressis verbis als Begriff tritt sie nach derzeitigem Kenntnisstand zuletzt bei Augustinus in Erscheinung, dann bald nach dem Reichenauer bei Thierry und seinem Umfeld, später bei Raimundus Lullus und am Ende des Mittelalters wieder bei Nikolaus von Kues.309 Im engeren Bereich der Komputistik wurden Hermanns Schriften zwar eifrig kopiert, regten aber kaum zur eigenständigen Fortsetzung an. Lediglich Garlandus Compotista griff im späverschiedener Elemente des „Computus“ Caiazzo, „Abbon de Fleury“; Engelen, Zeit, Zahl und Bild; Obrist, „Les tables et figures abboniennes“. 308 Zu den Charakteristika einer Erklärung natürlicher Phänomene secundum physicam Speer, Die entdeckte Natur, beispielsweise S. 52–75 (zu den causae rerum und zur natura bei Adelard von Bath). 309 Vgl. hierzu die eben exemplarisch angesprochenen Schriften von Augustinus, Thierry von Chartres und Nikolaus von Kues.
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ten 11. Jahrhundert den Ansatz des Reichenauers auf.310 Indem er dessen Versuch einer Vorausberechnung von Finsternissen weiterverfolgte und verbesserte, verließ jedoch auch er den Rahmen der Komputistik im strikten Sinne. Allerdings war zu seiner Zeit bereits der Schnitt zwischen einem computus naturalis und dem computus ecclesiasticus vollzogen.311 Ein Grund für die verhältnismäßig geringe Nachwirkung Hermanns im Rahmen der Komputistik lag möglicherweise am Zusammentreffen zweier Charakteristika, durch die sich sein modellhaftes Denken auszeichnet: an seiner vereindeutigten Interpretation der Wirklichkeitsstruktur als einer zahlenmäßigen, die er noch dazu quantifizierend auffaßt, und an der Verknüpfung seiner Ergebnisse mit den natürlichen Phänomenen, die sich am markantesten in seinem Vorhaben in den „Prognostica“ widerspiegelt, eine Theorie zur Vorausberechnung von Finsternissen zu entwickeln. Denn aufgrund der Rückbindung seines 310
Eine Ausgabe des computus Garlands bereitet Alfred Lohr (Freiburg) vor. Für die vorliegende Arbeit wurde in Ermangelung einer Edition auf die Pariser Handschrift BN lat. 15118, fol. 26v–51r, zurückgegriffen. Garlandus benutzte Hermanns komputistischastronomische Schriften als direkte Vorlage, wie sich beispielsweise an seinem Rückgriff auf die vom Reichenauer entwickelten Einheiten der particulae und der portiunculae mit der zwar genau vertauschten, hinsichtlich der Werte aber übereinstimmenden Definition erkennen läßt, Ders., De computo ii, 4 (Definition der portiuncula als des 235sten Teils einer Stunde, Paris BN lat. 15118, fol. 41r); ebd. ii, 6 (Definition der particula als des 127sten Teils einer Stunde, Paris BN lat. 15118, fol. 42v). 311 Zur Unterscheidung zwischen computus naturalis und computus ecclesiasticus vgl. die Formulierungen bei Garlandus selbst, Ders., De computo i, „Prologus“ (Paris BN lat. 15118, fol. 26v): „[…] si quis Bedam perlegerit et naturalem compotum tenere voluerit hic ut arbitror partim auctoritati partim artis nature acquiescens non indigne feret“; ebd. ii, „Prologus“ (Paris BN lat. 15118, fol. 39r): „Libellum alterum de nature gremio compilatum annectimus […]. Et in superiori quidem partim naturam partim auctoritatem secuti sumus. Hic vero compotum dumtaxat naturalem explanare intendimus“; bei der Auseinandersetzung mit der weiteren Geschichte der Komputistik und Astronomie gilt es, die maßgeblichen strukturellen Veränderungen im Bereich von Wissenschaft und Bildung zu berücksichtigen. Während sich die benediktinischen Klöster infolge der Klosterreformen des späten 11. Jahrhunderts der vordringenden Verwissenschaftlichung entzogen und sich ab sofort mit größerer Ausschließlichkeit auf den Bereich der Liturgie konzentrierten, blieben die Kathedralschulen und die späteren nicht-benediktinischen Bildungseinrichtungen wie die Universitäten der Rationalisierung und der Rezeption ‚neuen‘ Wissens gegenüber auch weiterhin offen. Der computus verblieb als computus ecclesiasticus in den benediktinischen Klöstern; als computus naturalis wich er in den Kathedralschulen der aus dem arabischen Kontext geschöpften Astronomie; vgl. Wallis, „The Church, the World and the Time“ S. 23–26; Borst, Computus S. 74–87. – Zu den Klosterreformen beispielsweise Feine, „Klosterreformen im 10. und 11. Jahrhundert“, im Hinblick auf St. Gallen und die Reichenau; Kottje, Art. „Klosterschulen“, in LMA 5 (1999), bes. Sp. 1227 f.
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Ansatzes an die tatsächliche, beobachtbare Realität gerät dieser in die Gefahr, in eine bedrohliche Nähe zur Astrologie zu rücken.312 Besonders problematisch wird dieser Anspruch angesichts des Umstandes, daß das Thema, um das sowohl die Arbeiten Hermanns, als auch die Astronomie und besonders die Komputistisk kreisen, letzten Endes die Zeit ist, und hier wieder vor allem: die Zukunft. Komputistik oder Astronomie in dieser mathematisierten Form birgt das Potential in sich, sich nicht mehr darauf zu beschränken, nach den von der „consuetudo“ tradierten und von der „divina“ sowie der „humana auctoritas“ legitimierten Verfahren das Osterdatum zu ermitteln.313 Stattdessen vermag sie – spitzt man ihren Anspruch zu – über das Abbild, die Mathematik, das maßstäblich kongruente Vorbild, die aequalitas als die fundamentale ratio des Kosmos, in eindeutiger Weise zu bestimmen. Maßt sie sich damit aber nicht in letzter Konsequenz an, Gottes Schöpfungsplan auf eigene Rechnung zu durchdringen?
312 Begründet ist diese Interpretation in dem oben herausgearbeiteten Befund, daß die Struktur des komputistisch-astronomischen Modells, also die Mathematik, maßstäblich kongruent jener in der Wirklichkeit entspricht. Die Struktur der Wirklichkeit aber ist die aequalitas. Folglich hält man mit der Mathematik das Instrument in Händen, mit dem sich die fundamentale ratio der Wirklichkeit zu jedem beliebigen Zeitpunkt exakt und im voraus bestimmen läßt. 313 Zur Begrifflichkeit Beda, De temporum ratione cap. ii, 6–15 (CCL 123B, S. 274): „Primo lectorem admonemus trimoda ratione computum temporis esse discretum: aut enim natura, aut consuetudine, aut certe auctoritate decurrit. Et ipsa quidem auctoritate bifarie diuisa: humana uidelicet, ut Olympiadas […]. Diuina autem, ut septima die sabbatum agi […]“. – Zum „Potential“ vgl. Hermanns Versuch, die gewonnenen Einsichten über die dem Sonnen- und Mondlauf zugrunde liegende Regelhaftigkeit zur prognostischen Berechnung natürlicher Phänomene, von Finsternissen, zu nutzen. Damit überschreitet er deutlich den rein ‚analytischen‘ Blick auf die Konstitution und Struktur natürlicher Phänomene.
zusammenfassung und ausblick DE TEMPORUM RATIONE
1. Zeit – Komputistik – Quadrivium. Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stand die Frage nach der Zeit. Gerichtet wurde sie allerdings an das beginnende Hochmittelalter und somit an eine historische Epoche, die in wissenschafts- und philosophiehistorischen Kreisen nach wie vor im Ruf steht, keinen besonderen Beitrag zu den Entwicklungen im Bereich der wissenschaftlichen Rationalität im christlich-lateinischen Abendland geleistet zu haben. Außerdem herrscht immer noch die Überzeugung vor, daß eine regelrechte mittelalterliche Zeitphilosophie erst seit dem 13. Jahrhundert, im Zusammenhang mit der Aristotelesrezeption hervortritt.1 In der Tat führte das Studium der hier zugrunde gelegten Quellen zu dem Befund, daß die Frage nach der Zeit nicht in jener abstrakten Weise gestellt und diskutiert wurde, die ein moderner Beobachter im Lichte einer zeitphilosophischen Tradition mit Namen wie Bergson, Husserl oder Heidegger erwarten würde. Durchleuchtet aber wird sie auch im frühen Hochmittelalter, wenngleich suo modo. Dieser spezifischen Ausprägung nachzugehen, war daher die zentrale Aufgabe der vorliegenden Arbeit. Infolge der besonderen Form zeitphilosophischer Reflexionen in der fraglichen Epoche war dabei die Perspektive zu verschieben: von der ursprünglich anvisierten Konzentration ausschließlich auf das Thema ‚Zeit‘ hin auf das Quadrivium und damit auf das Wissen von der Natur. Obwohl das Thema ‚Zeit‘ nur als ein Thema unter vielen innerhalb des Quadriviums diskutiert wird, besitzt es große Bedeutung, insofern die Zeit ein konstitutives Charakteristikum der natürlichen Dinge darstellt. Als ein die Wirklichkeit strukturierendes Prinzip läßt es sich
1 Vgl. hierzu die Einleitung der vorliegenden Arbeit. Wie dort bereits hervorgehoben wurde, wird in der gegenwärtigen Forschung nur ausnahmsweise auf Einzelerscheinungen wie Johannes Scotus Eriugena verwiesen, noch seltener auf weitere frühmittelalterliche Gelehrte; zu diesen Ausnahmen gehört Jeck, „Zeitkonzeptionen im frühen Mittelalter“.
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jedoch nur in seinem Kontext und nicht isoliert für sich betrachten.2 Das Quadrivium ist Teil der septem artes liberales und damit auch deren Wissenschaftskonzeption verpflichtet. Der primäre Erkenntnisgegenstand des Quadriviums sind daher die rationes rerum der natürlichen Phänomene als solche.3 Unter diesen konzeptionellen Vorgaben wird auch über die Zeit nachgedacht: im Bereich des traditionellen, aus der Spätantike übernommenen Themenspektrums wie beispielsweise der Musik,4 vor allem aber im Rahmen der zumeist als Teil der Astronomie interpretierten Komputistik. Die Komputistik ist eine eigentümliche ‚Disziplin‘.5 Sie gehört nicht zu den klassischen Fächern der artes liberales und liegt schon aus diesem Grunde quer zu deren Einteilung. Darüber hinaus ist sie ursprünglich aus einem technisch-funktionalen Bedarf heraus entstanden und nicht aufgrund eines wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses.6 Schließlich steht in ihrem Mittelpunkt ein ganz besonderes Thema: Ostern. 2
Ein sinnfälliges Beispiel für diesen Sachverhalt sind die komputistisch-astronomische Diagramme wie das Jahreszeiten-Schema oder die Mikro-Makrokosmos-rota, die den tempus zwar als zentrales Thema, aber zugleich als integrale Komponente des Kosmos darstellen (vgl. Kapitel 2 dieser Arbeit); Obrist, „Le diagramme isidorien“ S. 114–126; vgl. auch Kühnel, The End of Time S. 123–136. 3 Wie in Anlehnung an bereits bestehende Forschungen im ersten Kapitel herausgearbeitet, wurden die artes liberales als Bildungsprogramm ausformuliert zu Beginn des 9. Jahrhunderts durch Alkuin in dessen „Disputatio de vera philosophia“; hierzu bes. Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 23–38; vgl. auch (mit anderer Akzentsetzung) Dechant, Die theologische Rezeption der Artes. Auch das Quadrivium ist intentional auf die Erkenntnis Gottes ausgerichtet, wenngleich das eigentliche Bildungsziel, die sapientia divina, jenseits des mittels der artes erreichbaren Wissens liegt. Vgl. hierzu die oben zitierte, auf Augustinus verweisende Platon-Episode in Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 852C–D): „[…]. At ille [sc. Plato, NG] amore saecularis sapientia flagrans, coelestis vero, quae ad vitam ducit perpetuam, ignarus […]“ (zu dieser Passage Schrimpf, Das Werk des Johannes Scottus Eriugena S. 30f.). Während die freien Künste den Inbegriff des säkularen Wissens bilden, ist eine Annäherung an die göttliche Weisheit nur über die auf die artes aufbauende Stufe, über die Kontemplation der sacra pagina möglich (zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an das Ende der „Disputatio“). 4 Vgl. hierzu v. a. die diesbezüglichen Reflexionen in Augustinus, De musica, bes. im sechsten Buch mit seinem ‚erkenntnistheoretischen Programm‘, das in 3.3.3. Aequalitas als ratio naturalis, kurz skizziert wurde. 5 Der Begriff ‚Disziplin‘ wird hier in einem unspezifischen Sinne verwendet und daher in Anführungszeichen gesetzt. Er steht in Anlehnung an die Untersuchung Wallis’, die zu dem Ergebnis gelangt, daß Beda mit seinem „De temporum ratione“ ein „new genre“ und eine „new science of time“ geschaffen habe, Wallis, The Reckoning of Time S. lxiv, mit einer eingehenderen Analyse S. lxiv–lxxi. 6 Den praktischen Charakter der komputistischen Elemente auch noch in späterer Zeit (bis mindestens zum 12. Jahrhundert) betont Obrist, La cosmologie médiévale S. 28f., 38 u. ö.
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Hieraus speisen sich zwar die Bedeutung und Dignität der Komputistik schon seit frühchristlicher Zeit, doch scheint die Konzeption Alkuins – der die freien Künste ja auf die sapientia saecularis fokussierte – mit der Wahl dieses Gegenstandes auf den Kopf gestellt zu sein. Trotz dieses thematischen Schwerpunktes weisen die komputistisch-astronomischen Zeugnisse des Untersuchungszeitraums Charakteristika auf, die sich im Rahmen der konstatierten Etablierung der artes liberales als Wissenschaftssystem sinnvoll deuten und einordnen lassen. Gleichzeitig mit dem Einsetzen der Rezeption von Bedas „De temporum ratione“ zu Beginn des 9. Jahrhunderts läßt sich das Aufkommen des für die folgenden Jahrhunderte dominierenden Quellentyps allgemein quadrivialer, im besonderen komputistisch-astronomischer Zeugnisse beobachten: der komputistisch-astronomischen Sammlungen. Diese Sammlungen spiegeln nicht nur die Rezeption von „De temporum ratione“ wider, sondern auch das Fortleben älterer komputistischer Traditionen sowie die Aufnahme neuen Wissens über die Natur: vermittelt etwa durch Martianus, Plinius oder Macrobius. Sowohl bei der Rezeption von „De temporum ratione“, als auch bei der Zusammenstellung der Anthologien insgesamt wurde eine zunehmende Dissoziation von Fachwissen einerseits und ausdeutenden Partien andererseits sichtbar.7
7 Ausführlicher zu diesen Zusammenhängen und mit Hinweisen auf die Forschung siehe 1.3. Das Konzept der septem artes liberales. Bemerkenswerterweise wurde der genannte Dissoziationsprozeß mit Blick auf die ausdeutenden Passagen von einer weiteren Akzentverschiebung begleitet. Während „De temporum ratione“ ja noch gekennzeichnet ist von bibelexegetischen Auslegungen gemäß der Literaturgattung der Hexaemeronkommentare, tritt die schriftexegetische Praxis in den Anthologien zurück. Stattdessen greifen die Autoren der Sammlungen Elemente auf (oder entwerfen eigene), die in erster Linie neuplatonisch, aber auch peripatetisch geprägt sind (Kapitel 2 dieser Arbeit). Vgl. hierzu die (ebd. beschriebene) Zusammenstellung der quadrivialen Anthologien: In diesen herrscht ein kaum verknüpftes Nebeneinander vor von Wissen, das keiner weiteren Ausdeutung unterzogen und im Laufe der Zeit durch neu- oder wiederentdecktes ergänzt wird, und Überarbeitungen älteren Materials. Diese Modifikationen werden zumeist an bildlichen Quellentypen wie Diagrammen und Tabellen vorgenommen und zielen mit ihren ikonographischen Überformungen auf eine Interpretation des in den fraglichen Typen aufbereiteten quadrivialen Materials ab. Hierzu bes. 2.2. Der „Computus“ als komputistisch-astronomische Sammlung; zu den älteren, kosmologischen Traditionen vgl. die Isidor-Diagramme, Obrist, „Le diagramme isidorien“; Dies., „Les tables et figures abboniennes“; allgemein zur Überformung komputistischen Materials Wallis, „Images of Order“. – Daß überwiegend komputistische Komponenten in ausdeutender Weise modifiziert wurden, ist von der Forschung bislang nicht eigens hervorgehoben worden.
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2. Zwischen Ausdeutung und Fachwissen. Als zentrales Motiv bei der Ausdeutung komputistisch-astronomischer Elemente kristallisierte sich an erster Stelle der Zusammenhang zwischen dem Kosmos und seiner einen Letztursache, dem unum oder dem christlich vereindeutigten Gott, heraus. Diese Beziehung wurde mittels verschiedener Medien – Diagrammen, Tabellen, Texten oder sogar Gedichten wie Abbos „Ephemerida“ – und mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen thematisiert. Drei Aspekte traten in diesem Kontext besonders hervor. Zum einen läßt sich seit dem frühen 9. Jahrhundert die Neigung beobachten, kosmologische Diagramme zu übernehmen, die auf antike Vorlagen zurückgehen. Dargestellt wird in diesen Schemata in aller Regel die sublunare Welt, also der ‚physikalische‘ Zweig der Kosmologie. Als zentrale Aussage ist dabei die harmonische Ordnung trotz widerstreitender Kräfte zu bezeichnen, die auf die eine Ursache, nämlich das unum oder Gott, zurückzuführen ist.8 Zum anderen wurden insbesondere komputistische Zusammenhänge zunehmend in Form von figurae dargestellt und ikonographischen Modifikationen unterzogen. Die wichtigsten Elemente hierbei waren die rotae computisticae sowie die Hilfstabellen zur Entschlüsselung der Mondbuchstaben, während in motivischer Hinsicht der geordnete, rekursive Ablauf der Zeit vorherrschte, der ja schon seit Platon als herausragendes Abbild des Einen gilt. Aufgrund der Analogiebeziehung von ordo und unum sind diese Figuren auf philosophischer Ebene geeignet, das Verhältnis von Zeitlichkeit und Ewigkeit sowie von Emanation und Rekursion zu reflektieren.9 Als drittes ist auf die ‚Christianisierung‘ der übernommenen wie der eigenständig entwickelten Objekte zurückzukommen. Diese 8 Hierzu bes. 2.3. Untersuchung ausgewählter Komponenten des „Computus“. Auf motivischer Ebene vgl. die Bevorzugung des Kreises zur Symbolisierung von Einheit sowie das Ineinandergreifen geometrischer Figuren (wieder: besonders von Kreisen) zur Symbolisierung der herrschenden concordia; vgl. außerdem den Gedichtinhalt der „Ephemerida“ und dessen Nähe beispielsweise zu den Metren der „Consolatio philosophiae“ des Boethius, die ebenfalls den amor sowie den ordo in der von konträren Tendenzen gekennzeichneten Wirklichkeit besingen (siehe hierzu bes. das achte Metrum im zweiten sowie das sechste Metrum im vierten Buch). – Zu berücksichtigen sind allerdings auch starke peripatetische Anklänge, die insbes. Obrist, „Le diagramme isidorien“, herausgearbeitet hat (vgl. diesen Artikel insgesamt hinsichtlich der Analyse der antiken Traditionen kosmologischer Diagramme); noch materialreicher Dies., La cosmologie médiévale, insbes. S. 227–310. 9 Wie schon die kosmologischen Diagramme werden die rotae vom Kreismotiv dominiert. Demgegenüber betonen die untersuchten Tabellen die Regelmäßigkeit der Zeitenfolge, die ihren stärksten Ausdruck in den besprochenen Diagonalen findet. Auch hierzu 2.3. Untersuchung ausgewählter Komponenten des „Computus“. Zu beiden
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bestand häufig in der Hinzufügung oder Integration – mehr oder weniger gut sichtbarer – Kreuzzeichen oder in der Übernahme von Darstellungsweisen aus der sakralen Kunst, wie das Aufgreifen des erörterten Quincunx-Schemas.10 Mit Blick auf seine Vorliebe für figurae stellt der „Computus“ Abbos von Fleury einen Höhepunkt im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit dar. Schon die frühesten heute greifbaren Zeugnisse ikonographischer Überformungen des komputistisch-astronomischen Materials weisen ein hohes Maß an Komplexität und Elaboriertheit auf.11 Häufig greift Abbo die entsprechenden Vorlagen nicht nur auf, sondern modifiziert sie seinerseits noch darüber hinaus.12 Wie schon bei seinen karolingischen Vorgängern sind auch bei ihm die zur Umgestaltung herangezogenen Motive oder Symbole mitunter christlich vereindeutigt, was sich besonders an der gelegentlichen Einbettung der bearbeiteten Gegenstände in einen kreuzförmigen Grundriß zeigt. Das Anliegen, das sich hinter den beobachteten Überformungen verbirgt, wird erstmals bei Abbo explizit: In den Abschlußversen seines komputistischastronomischen Gedichtes, der „Ephemerida“, formuliert er die ausdrückliche Bitte um Gotteserkenntnis.13 Die Ausdeutung kosmologischer Zusammenhänge betrifft jedoch nur einen Teil des heute verfügbaren komputistisch-astronomischen Materials. Hervorzuheben ist daneben die Aufnahme von Exzerpten sowie Darstellungen – meist antiken Wissens über die Natur –, das keiner weiteren Interpretation unterzogen wird und sich folglich als Reflex
Typen Wallis, „Images of Order“; beschränkt auf die rotae Kühnel, The End of Time S. 123–148. 10 Eine solche Vereindeutigung betont Kühnel, The End of Time, deren Interpretation ja noch erheblich weiter geht (für ihre eschatologische Deutung siehe bes. ebd. S. 65– 159, 255–258, 247–260); von einer allgemeinen christlichen Konnotation geht auch Wallis, „Images of Order“, aus. 11 Vgl. hierzu bes. den Prachtcodex Köln, Diözesan- und Dombibliothek 83 II; siehe auch die aufwendigen Sternbildkataloge in den „Libri computi“ und dem „Liber calculationis“; selbst die scheinbar schlichten rotae computisticae erfordern aufgrund ihrer konstruktiven Ansprüche erhebliche Sorgfalt und Präzision bei ihrer Anfertigung. 12 Besonders fällt dabei seine Arbeit an komputistisch-astronomische Hilfstabellen auf, die selten in einer so extensiven Weise überarbeitet wurden wie durch Abbo; erinnert sei in diesem Zusammenhang an die bereits gezielten Modifikationen unterzogene Vokaltabelle, die Abbo zusätzlich überformt, indem er sie in die geometrische Grundform des Kreuzes einbettet. 13 „Alme deus, te nosse mihi concede fideli […]“, v. 29f.; vgl. hierzu die vergleichbar ausdrückliche Absichtsbekundung des Boethius im neunten Metrum des dritten Buches der „Consolatio philosophiae“ (CCL 94, S. 52), v. 27: „[…] te cernere finis“.
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eines Interesses an den natürlichen Dingen selbst sowie ihren fachwissenschaftlichen Zusammenhängen begreifen läßt.14 Dieses Interesse an den Strukturen natürlicher Phänomene ist einer der wichtigsten Befunde dieser Arbeit, da es der Zeit vor dem 12. Jahrhundert bislang kaum zugetraut wurde. Es findet seinen Niederschlag im übrigen nicht nur in der Rezeption entsprechender antiker Vorlagen, sondern selbst in den ausdeutenden Partien. Denn sowohl in den aufgegriffenen kosmologischen Diagrammen, als auch in den eigenständig entwickelten komputistisch-astronomischen Schemata und Tabellen stehen die vermeintlichen Grundbausteine und Strukturen der dargestellten natürlichen Phänomene im Mittelpunkt. Während es sich im einen Fall wie angedeutet um die physikalischen Gegebenheiten der sublunaren Welt handelt – also gemäß peripatetischen Vorstellungen um die vier Elemente und ihr Zusammenspiel –, ist es im anderen Fall die zeitliche Abfolge natürlicher Erscheinungen, wie der Phasenverschiebungen des Mondes oder dessen Position vor dem Tierkreis, auf der Grundlage ihrer konstitutiven Zyklen.15 Für eine gelehrte Beschäftigung mit dem Quadrivium im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit ist damit vor dem Hintergrund der artesKonzeption Alkuins festzuhalten, daß die Auseinandersetzung mit quadrivialem Wissen unter einer zwar theologisch fundierten, vornehmlich aber philosophisch-kosmologisch geprägten Perspektive stattfindet. Zwar lassen sich auf der Grundlage der hier untersuchten Quellen derzeit nur Tendenzen formulieren, doch scheint die beobachtete christlich vereindeutigte Bearbeitung quadrivialer Gegenstände nicht darauf gerichtet zu sein, einen eigenständigen Beitrag zur Lösung konkreter theologischer Fragen zu leisten oder spezifische theologische Probleme im Rahmen des Quadriviums zu diskutieren.16 Das Verhältnis 14 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang exemplarisch an die thematischen Zusammenstellungen der karolingischen ‚Fachenzyklopädien‘ oder an den CalcidiusEinschub in Abbos „Computus“. Zu berücksichtigen ist dabei auch die im ersten Kapitel dieser Arbeit vorgeschlagene Interpretation der „Disputatio“ Alkuins, die demnach als regelrechte Aufforderung zu einer möglichst weitgehenden Wissensaneignung zu lesen wäre. 15 Die kenntnisreichste Analyse der hier angesprochenen kosmologischen Diagramme bieten die wiederholt erwähnten Studien von Obrist, „Le diagramme isidorien“, Dies., La cosmologie médiévale (passim: mit Traditionen, die in der vorliegenden Studie nicht thematisiert wurden). – Ausführlicher zu diesem Aspekt die Zusammenfassung des zweiten Kapitels der vorliegenden Arbeit, 2.4. Unum – verbum – natura – ordo. 16 Anders Kühnel, The End of Time, bes. in der Schlußzusammenfassung S. 247– 260, die zu dem im zweiten Kapitel dieser Studie besprochenen Schluß kommt, daß
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scheint vielmehr umgekehrt zu sein: Die Identifikation des neuplatonischen Einen mit dem christlichen Gott und die Interpretation der die Wirklichkeit strukturierenden ratio als Manifestation des göttlichen verbum wurde wie selbstverständlich vorausgesetzt; dieser Zusammenhang konnte, mußte aber nicht eigens verdeutlicht werden, sondern diente eher als Interpretationshorizont. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand vor dem Hintergrund des paradoxen Verhältnisses von Wirklichkeit und dessen Einheitspunkt die Struktur der natürlichen Dinge und ihrer wechselseitigen Beziehungen. Mit ihren „Ordnungsbildern“ ging es den Gelehrten der Zeit vor allem um das Aufdecken des einheitsstiftenden ordo rationalis der scheinbar disparaten Einzeldinge, der seine besondere philosophische Bedeutung aus dem Verweisverhältnis von ordo und unum bezieht.17 Vor diesem Hintergrund stellte sich die Frage, wie die komputistischastronomischen Schriften Hermanns von Reichenau zu interpretieren sind.18 Drei Aspekte traten bei der Untersuchung seiner Abhandlungen besonders hervor und sind bei seiner Einordnung in den breiteren philosophie- und wissenschaftshistorischen Horizont zu berücksichtigen. An erster Stelle ist an Hermanns Konzentration auf die technisch-funktionalen Zusammenhänge und deren fachwissenschaftliche Hintergründe zu erinnern. Ferner ist sein Bestreben bemerkenswert, das komputistisch-astronomische Regelwerk als ein Abbild seiner Wirklichkeitsvorstellung, und zwar namentlich als deren maßstäblich kongruentes Modell auszugestalten. Schließlich fällt die vorausgesetzte
die Auseinandersetzung mit apokalyptischen Ängsten im Zentrum komputistischer Diagramme stand. 17 Die „Ordnungsbilder“ in Anlehnung an den Aufsatztitel von Faith Wallis, „Images of Order“. Während Wallis, ebd. S. 48, S. 50 u. ö., die artifizielle, menschengemachte Ordnung betont, die der Zeit auferlegt werde, stellt Engelen, Zeit, Zahl und Bild S. 5–11, 126f. u. ö., stärker das platonische Verweisverhältnis von ordo und unum heraus (mit Bezug auf Abbo). – Hinsichtlich der Bildungskonzeption Alkuins bleibt die Grenze zur Theologie im engeren Sinne inhaltlich somit weitgehend gewahrt, wenngleich ihre Unschärfe unverkennbar ist. Diese Unschärfe beruht in hohem Maße auf der angesprochenen Koinzidenz zweier Besonderheiten: Erstens wird die ratio der Natur in einen selbstverständlichen Zusammenhang mit dem Schöpfungswort gebracht, so daß die Beschäftigung mit der ratio rerum zwingend zur Reflexion über das Wirken des verbum wird; zweitens ist der Hauptgegenstand komputistischer Elemente letztlich Ostern sowie dessen Datierung und folglich das Verhältnis von über-zeitlichem Christusereignis und Zeit. In beiden Bereichen steht daher das verbum im Mittelpunkt, im zweiten Fall aber dezidiert mit seiner theologischen Dimension. 18 Vgl. hierzu insgesamt das dritte Kapitel der vorliegenden Arbeit, 3 Discursus siderum semper aequalis.
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ratio der Himmelsbewegungen, die aequalitas, im Lichte der gängigen komputistisch-astronomischen Literatur der Zeit auf. In den folgenden Abschnitten soll eingehender erörtert werden, wie Hermanns Denken mit diesen drei Punkten relativ zur älteren, aber auch im Verhältnis zur wissenschaftlichen Rationalität des 12. Jahrhunderts zu charakterisieren ist. Schreibt das modellhafte Denken des Reichenauers die komputistisch-astronomische Tradition fort und führt sie nahtlos in das Kommende über? Markiert es einen Bruch mit den herkömmlichen Formen quadrivialer Wissenschaft und bedeutet einen ‚Paradigmenwechsel‘ in diesem Bereich? Oder läßt es sich letztlich aus seiner Zeit und seinem Umfeld heraus nicht erklären, und muß Hermannus folglich als Solitär interpretiert werden? 3. „causae ac rationes“. Hinsichtlich der Konzentration auf die technisch-funktionale Ebene und die fachwissenschaftlichen causae zeigt sich vor dem Hintergrund der komputistisch-astronomischen Literatur seit dem 9. Jahrhundert, daß der Reichenauer Tendenzen aufgreift und radikalisiert, die sich bereits in der älteren komputistischastronomischen Literatur beobachten lassen. Anders als beispielsweise Helpericus von Auxerre oder noch Notker von St. Gallen liefert er nicht einmal mehr vereinzelt oder zumindest am Beginn der jeweiligen Texte Ausdeutungen seines Materials, sondern bespricht lediglich noch dessen fachwissenschaftliche Zusammenhänge.19 Bemerkenswert daran 19
Zwar bieten sowohl Helpericus, als auch Notker in ihren Abhandlungen auch Auslegungen mancher der besprochenen Gegenstände, auffällig ist jedoch, daß sie fast ausschließlich Faktenwissen referieren, ohne die Frage nach dessen tieferem Sinn auch nur zu berühren. Sehr plastisch zeigt sich diese Haltung zum Beispiel bei Notker, wenn er auf die erste quaestio, nämlich wann Ostern zu feiern sei, in Anlehnung an Beda kurz über das mysticum paschae berichtet, dann aber in den übrigen Teilen seiner Schrift an keiner Stelle mehr exegetische Ausführungen bietet oder die behandelten Gegenstände auf die Anfangspassage rückbezieht, Notker, De quatuor quaestionibus compoti S. 172v (ed. Piper S. 312): „Quod tipicum sit pascha. Hoc autem fit certi causa mysterii. […] Est enim vera resurrectio anime peccatorum tenebras luce pietatis et fidei vincere […]. Qui aliter estimat se agere pascha fallitur. […]“; die anschließenden Ausführungen zu den „vier Fragen“ sind frei von vergleichbaren allegorischen Bezügen; die Beda-Stelle, auf die Notker anspielt, ist Beda, De temporum ratione cap. lxiii: „Typica Paschae Interpretatio“ (CCL 123B, S. 456–459). – Zu Helpericus siehe exemplarisch Ders., Liber de computo cap. xxxii (PL 137, Sp. 43 f.), der unter Verweis auf Augustinus allegorisierende Reflexionen zum Ostertermin mehr referiert, als selbst anstellt, z. B. (ebd. Sp. 43D): „Resurrectionis ergo Dominicae gaudia non nisi in Dominica die celebrare fas est, […]. Prima scilicet die, quia in hac primam Dei creaturam factam legimus, id est lucem. Octava autem, quia est post septimam, eo quod eadem resurrectio et primum in capite nostro ea die praecessit, et nostra omnium […] octava scilicet aetate sit peragenda […]“;
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ist allerdings, daß – abgesehen von den „Prognostica“ – sein Gegenstand unter die Komputistik im engeren Sinne fällt.20 Auf die Ausdeutung speziell solchen Materials hatte bis zu diesem Zeitpunkt lediglich der gelegentlich erwähnte Pseudo-Columbanus vollständig verzichtet. Wie diejenigen Partien im komputistisch-astronomischen Werk Hermanns, in denen dieser haarklein seine Rechnungen vorführt, ist „De saltu lunae“ im Grunde eine einzige, akribisch präsentierte Kalkulation.21 Ähnlich legt Garlandus Compotista, der sich eng an Hermannus anlehnt, die von ihm besprochenen komputistischen Gegenstände kaum aus. Während insbesondere das zweite Buch seines „De computo“ von einer vergleichbaren Konzentration auf die technischfunktionalen, mathematisch ausformulierten Zusammenhänge gekennzeichnet ist wie die Schriften Hermanns oder wie „De saltu lunae“ des Pseudo-Columbanus, bietet das erste Buch zwar auch Exegetisierungen, allerdings nur ausnahmsweise, meist in Form von Zitaten aus „De temporum ratione“, einer der Hauptvorlagen für das erste Buch.22 Auffällig ist die strukturelle Nähe der Ausführungen des Reichenauers zur Erklärung der Natur secundum physicam seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts. Auf Thierry von Chartres wurde bereits hingewiesen, darüber hinaus wäre beispielsweise an Adelard von Bath zu denken.23 abgesehen von solchen Einsprengseln ist Helperics „Liber“ eine nüchterne Zusammenstellung kosmologisch-astronomischen Wissens und komputistischer argumenta. 20 Gerade die komputistischen Elemente bilden in den quadrivialen Anthologien ja den Hauptbestand derjenigen Elemente, an denen interpretierende Modifikationen vorgenommen werden. 21 Beispielsweise die oben bereits angeführte Stelle Ps.-Columbanus, De saltu lunae 25–29 (ed. Walker S. 212): „Quibus omnibus in unam summam redactis, invenies horas cxcviii; subtrahe xxiiii, hoc est incrementi lunaris integrum diem; remanent clxxiiii, in momentis scilicet vidcccclx; fac semihoras et erunt cccxlviii; duc cxiii; remanent ccxxxv – tot etiam lunas decennovenalis cicli repperies“. 22 Z.B. Garlandus, De computo i, 12 (Paris BN lat. 15118, fol. 32r): „Et sciendum, quia a vespertina hora usque ad vespertinam dies lune computandus est sicut solis a mane usque ad mane, nisi forte, ut ait Beda, quia Adam peccavit ad auram post meridiem. Mutatio lunaris quae crementis detrimentisque labores nostros imitatur in ea specialiter qua exulare cepimus debet hora notari, ut ammoneamur, quia stultus ut luna mutatur, nam sapiens cum sole permanet. Suspiremusque ad illam vitam quando lux lune erit sicut lux solis, et solis septempliciter sicut lux vii dierum“, nach Beda, De temporum ratione cap. xliii, 11–33 (CCL 123B, S. 412 f.). Anders als Hermannus spickt Garlandus sein erstes Buch über die technisch-funktionalen Ausführungen hinaus mit einer Fülle an anderweitigen (etymologischen, astronomischen oder historischen) Materialien, die in aller Regel Übernahmen aus älteren komputistisch-astronomische Schriften sind. Nähere Auskunft über die Komposition von „De computo“ wird dessen kritische Edition bieten, die von Alfred Lohr vorbereitet wird. 23 Thierry, Tractatus de sex dierum operibus; zu Thierry Häring, Commentaries on Boethius
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Schon auf begrifflicher Ebene ist beachtlich, daß auch die erwähnten Autoren nach den causae oder rationes forschen, die ‚natürlicherweise‘ in der Wirklichkeit herrschen.24 Exemplarisch sei auf die „Quaestiones naturales“ Adelards von Bath verwiesen; schon in der einleitenden Passage führt Adelard die „rerum causae“ an, derentwegen sich der Neffe – der Gesprächspartner in dem kleinen Dialog – für die „arabica studia“ interessiere. Eine aufschlußreiche begriffliche Erklärung zu den „causae rerum“ bietet er in Kapitel xxxii, in dem er über die „naturalis causa“ der Freudentränen referiert. Deren „rerum causae“ ließen sich von jedem Vernunftbegabten auffinden, so Adelard zum Neffen; sie seien nämlich auf die natürliche Wärme zurückzuführen, die sich aufgrund der Freude im ganzen Körper ausbreite und dafür sorge, daß die Feuchtigkeit zu den Körperöffnungen natürlicherweise austrete. Daraus zieht er den Schluß, daß die „rerum causae“ mit der „ratio“ übereinstimmen.25 Ähnlich beziehen sich die Erläuterungen, die Thierry im „Tractatus de sex dierum operibus“ ausdrücklich als physikalische bezeichnet, auf die Wirkzusammenhänge in der Wirklichkeit. Zwar läßt Thierry keinen Zweifel daran entstehen, daß diese letztursächlich auf Gott und die creatio ex nihilo zurückzuführen sind, doch besitzen sie mit Blick auf die Realität eine eigene Dynamik und können an und für sich in den Blick gefaßt werden. Als fundamental macht Thierry hierbei die vier Elemente aus, auf deren jeweilige Eigenschaften und auf deren (die Einleitung); Adelard, Quaestiones naturales; zu Adelard Burnett, „Introduction“; siehe auch den Sammelband Burnett, Adelard of Bath; Cochrane, Adelard of Bath; zu beiden Autoren sowie weiteren, die der Schule von Chartres zugerechnet werden, Speer, Die entdeckte Natur (S. 18–75 zu Adelard, S. 222–288 zu Thierry); dort auch jeweils eine breitere Besprechung der Charakteristika einer Erklärung natürlicher Phänomene secundum physicam. 24 Diesen Anspruch erhob bereits Hermannus im ersten Teil seiner „Abbreviatio“, Abbreviatio compoti cap. i (Arundel 356, fol. 28r): „Qui compoti […] causas ac rationes perfecte volueris investigare, primo convenit scire quod omnis compoti ratio naturalis […]“. 25 Adelard, Quaestiones naturales, ‚Prolog‘ Z. 18–21 (ed. Müller S. 1): „[…] nepos quidam meus, in rerum causis magis implicans quam explicans, aliquid Arabicorum studiorum novum me proponere exhortatus est“; ebd. cap. xxxii, 10–20 (ebd. S. 37): „[…] prae gaudio lacrimas fudi, itaque quod mihi risus causa esse debuit, in fletum deiecit. Quod […] rerum causae […] fore credo. Adelardus. Causae rerum […] intelligenti […] reperiuntur […]. Accidit item, cum et eiusdem gaudii causa naturalem calorem per corpus extendens […], si ibidem humorem talem reperit, naturaliter eliquat ac per exitum suum expellit. Itaque rerum causae cum ratione constant“; die Grundlage seiner Erklärung der natürlichen Ursachen des fraglichen Phänomens sind ähnlich wie später bei Thierry von Chartres die Elementen- und Temperamentenlehre; zu den „rerum causae“ vgl. die Analyse in Speer, Die entdeckte Natur S. 52–65.
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Zusammenwirken er die Verhältnisse in der Natur zurückführt.26 Auch die „causae ac rationes“, die Hermannus anführt, sind solche, die seiner Konzeption von Wirklichkeit immanent sind. Allerdings fokussiert er – schon aus thematischen Gründen – nicht das Zusammenspiel der vier Elemente, sondern astronomische Konstellationen. Exemplarisch sei an seine Erklärungen zum Entstehen von Finsternissen in den „Prognostica“ erinnert.27 4. Modellhaftes Denken. Im Zusammenhang mit Hermanns fachwissenschaftlichen Erklärungen zeichnet sich seine Bedeutung mit Blick auf die zweitgenannte Besonderheit seiner wissenschaftlichen Rationalität ab, sein modellhaftes Denken. Wie die Analyse der Ausführungen Hermanns ergab, besteht sein Bestreben darin, das komputistischastronomische Regelwerk als ein maßstäblich kongruentes Modell seiner Wirklichkeitsvorstellung durchzugestalten. Dieses Bemühen – ein Abbild zu erstellen – scheint auf den ersten Blick nichts Besonderes zu sein. Schon die Autoren jener Partien der quadrivialen Sammlungen, in deren Mittelpunkt die Ausdeutung des thematisierten Materials steht, konzentrierten sich ja darauf, den Abbildcharakter komputistischastronomischer Gegenstände aufzudecken. Jedoch unterscheidet sich Hermanns Modell von den ‚Abbildern‘ seiner Vorgänger in signifikanter Weise. Er schafft nicht eine Vielzahl einzelner Abbilder wie zu Beginn des Untersuchungszeitraums die Autoren der „Libri computi“ oder wie noch Abbo, sondern ein einziges, indem er das komputistisch-astronomische Regelwerk insgesamt als geordnetes Gefüge auffaßt und darstellt. Anders als seine Vorgänger bedient er sich dabei nicht optischer ikonographischer Mit-
26 Siehe hierzu Thierry, De sex dierum operibus cap. 2 (ed. Häring S. 556): „Si quis igitur subtiliter consideret mundi fabricam, efficientem ipsius causam deum esse cognoscet formalem uero dei sapientiam finalem eiusdem benignitatem materialem uero quatuor elementa que et ipse creator in principio de nichilo creauit“; darauf folgt ein Überblick über die Erschaffung der vier Elemente. Die restliche Schöpfung leitet Thierry aus dem ‚natürlichen‘ Zusammenwirken dieser vier Elemente her, ebd. cap. 10–14 (ebd. S. 559–561), mit einer Zusammenfassung in cap. 15 (ebd. S. 561); über alles danach Entstandene ebd. cap. 16 (ebd. S. 561 f.): „Quicquid igitur post sextum diem uel natum uel creatum est non nouo modo creationis institutum est sed aliquo predictorum modorum substantiam suam sortitur. […]. Sed aliquo predictorum modorum et ex causis seminalibus quas in spacio illorum sex dierum elementis inseruit affirmamus eum quecumque postea creauit uel adhuc creat produxisse“; zu Thierrys ‚physikalischen‘ Erklärungen siehe Speer, Die entdeckte Natur S. 232–239. 27 Hermannus, Prognostica, bes. cap. i (Arundel 356, fol. 38r).
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tel, sondern der abstrakten Mathematik, um die Strukturen seiner Wirklichkeitsvorstellung im Regelwerk wiederzugeben. Infolge dessen steht im Mittelpunkt seines ‚Abbildes‘ nicht die Analogiebeziehung zwischen der rationalen Ordnung der Natur und dem unum wie beispielsweise in Abbos „Ordnungsbildern“,28 sondern die qualitativ vereindeutigte und quantifizierbare Struktur des Kosmos. Ob seinem komputistisch-astronomischen Modell dabei ein vergleichbarer Verweischarakter innewohnt wie den „Ordnungsbildern“ seiner Vorgänger, läßt sich aufgrund der Reflexionsarmut des Reichenauers nicht abschließend klären. Der Zusammenhang zwischen seinem Modell, seiner Wirklichkeitsvorstellung und dem Einen beziehungsweise Gott bleibt unausdrücklich und wird in keiner seiner Abhandlungen thematisiert. Anders als später bei Thierry und dessen physikalischen Erklärungen zur Schöpfung bleibt damit das Problem der Letztbegründung offen.29 Bemerkenswert am Werk des Reichenauers ist außerdem das Verhältnis von Ausdeutung einerseits und technisch-funktionaler oder fachwissenschaftlicher Erläuterung andererseits im Vergleich zu den vorausgehenden quadrivialen Zeugnissen. Letztere zeichnen sich durch die erwähnte Dissoziation beider Formen des Umgangs mit quadrivialem Wissen aus sowie durch ein Nebeneinander verschiedener Typen, die zu Trägern dieser unterschiedlichen Rezeptionsweisen werden. Bei Hermannus hingegen treten diese beiden Formen wieder in spezifischer Weise zusammen und stellen die zwei Seiten ein und derselben Medaille dar. Die immanenten Zusammenhänge des einen Abbildes sind technisch-funktional und fachwissenschaftlich dominiert und lassen sich in der Sprache der Mathematik ausformulieren. Allerdings ist die theologisch-philosophische Dimension bestenfalls noch ein blasser Rahmen. Die aequalitas sowie die aus ihr abgeleiteten Eigenschaften werden vom Reichenauer lediglich als Instrument zur analytischen Durchdringung und eindeutigen Beschreibung der Wirklichkeitsstruk28
Der Terminus geht wieder zurück auf den Aufsatz von Wallis, „Images of Order“. Im Gegensatz zu Hermannus thematisiert Thierry in seinem „Tractatus de sex dierum operibus“ das Problem der Letztbegründung, indem er den Zusammenhang der ersten drei causae mit der vierten, der Materialursache und also den vier Elementen erörtert. Erst im Rahmen der physikalischen Erklärungen wird dieser Aspekt dann ausgeblendet; zu den „Prinzipienfragen“, die „einen theoretischen Zugriff auf die Welt als ‚ordo naturalis‘ unter Absehung von offenbarungstheologischen Deutungsmustern allererst“ erlaube – „auch im Lichte der übrigen Schriften Thierrys“ –, Speer, Die entdeckte Natur S. 239–252 (das Zitat ebd. S. 239). 29
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turen fruchtbar gemacht. Ihr gegenläufiges Potential, die Zeichenhaftigkeit der Ordnungszusammenhänge aufzudecken und von der „aequalitas naturae“ auf die „aequalitas substantiae“ zu schließen, schöpft er nicht aus.30 Diese gegenüber den traditionellen quadrivialen Gepflogenheiten modifizierte Form der Auseinandersetzung mit den Strukturen der Wirklichkeit ist aus einem systematischen Blickwinkel heraus bedeutsam. Denn über die Schriften des Reichenauers hinaus treten in verschiedenen wissenschaftlichen Zeugnissen der Zeit vergleichbare Charakteristika hervor.31 Exemplarisch ist einmal mehr auf Autoren wie Adelard von Bath und Thierry von Chartres zu verweisen. Ähnlich wie der Reichenauer rücken auch sie einen bestimmten Wirklichkeitsausschnitt in den Mittelpunkt und untersuchen diesen auf seine immanenten Wirkzusammenhänge. Sind dies im einen Fall, bei Hermannus, die mathematisch ausformulierten Bewegungen der Himmelsleuchten, werden im anderen Fall Wirkung und Zusammenspiel der vier Elemente als konstitutiv ausgemacht.32 Aber nicht nur die Erklärungen natürlicher Phänomene secundum physicam im 12. Jahrhundert weisen eine dem Denken Hermanns vergleichbare Konzentration auf die naturalis ratio auf. Auch im Bereich des Triviums sowie der Theologie im engeren Sinne zeichnen sich Entwicklungen ab, die aus der Sicht der vorliegenden Arbeit einen ähnlichen Charakter besitzen wie Hermanns modellhaftes Denken. Zu erwähnen sind hier insbesondere die Axiomatisierungstendenzen, wie sie von der Forschung für die Dialektik seit dem 12. Jahrhundert herausgearbeitet wurden.33 Zentrale Bedeutung besitzt in diesem Zusammenhang die Rezeption zweier Schriften des Boethius, „De hebdomadibus“ und „De dif-
30 Zur Begrifflichkeit von „aequalitas naturae“ und „aequalitas substantiae“ sowie dem ausgewiesenen Verweisverhältnis, in dem diese beiden Konzepte zueinander stehen, siehe Augustinus, Sermo cxvii cap. x, 14 (PL 38, Sp. 669f.): „Invenio hic coaevum, cognosco ibi coaeternum. Hic aequalitatem invenio naturae, ibi intelligo aequalitatem substantiae“. 31 In der Zeit vor Hermannus ist in dieser Hinsicht lediglich auf Pseudo-Columbanus („De saltu lunae“) zu verweisen. 32 Vgl. hierzu das oben angeführte Beispiel, wie Adelard seinem Neffen das Entstehen der Freudentränen erklärt; zur fundamentalen Rolle der Elementenlehre vgl. die übergreifenden Bemerkungen in Speer, Die entdeckte Natur, z. B. S. 293 f., 300f., 305 f. 33 Vgl. hierzu bes. die Arbeiten von Dreyer, „Regularmethode und Axiomatik“; Dies., Nikolaus von Amiens; Dies., „Die literarische Gattung der Theoremata“; Dies., More mathematicorum; daneben Schrimpf, Die Axiomenschrift des Boethius; siehe außerdem Kluxen, „Der Begriff der Wissenschaft“; Wieland, „Symbolische und universale Vernunft“.
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ferentiis topicis“, sowie die der „Elemente“ Euklids, die dem lateinischen Westen zuvor nur in Ausschnitten und fälschlicherweise unter dem Namen des Boethius bekannt waren.34 Strukturell bedeutsam für den gegenwärtigen Kontext ist der Umstand, daß Gelehrte wie Gilbert von Poitiers, Nicolaus von Amiens oder Alanus ab Insulis in Anlehnung an die axiomatische Methode, wie sie Euklid in seinen „Elementen“ für die Geometrie vorgeführt hatte, ihr Denkgebäude durchgestalten. Den Ausgangspunkt bilden eine oder mehrere oberste Prämissen, aus denen die für den fokussierten Wirklichkeitsausschnitt maßgeblichen Axiome deduziert werden. Die leitende Methode beim Ermitteln der Axiome, aber auch beim Überprüfen von Aussagen innerhalb dieses Axiomenrahmens ist die Logik, die einen besonderen Status genießt. Aufgrund ihres formalen Charakters stellt sie ein geeignetes Mittel dar, um zu gewährleisten, daß die innerhalb des axiomatisch bestimmten Gefüges getätigten Aussagen universale Gültigkeit besitzen.35 Die strukturellen Parallelen zu Hermanns modellhaftem Denken sind auffällig. Zwar bezeichnet er seine aequalitas nicht als oberste Prämisse, setzt sie aber sämtlichen weiteren Reflexionen voraus. Aus ihr leitet er die vorherrschenden Eigenschaften der Einheitlichkeit, Gleichmäßigkeit und Zirkularität ab, die wie ein unausgesprochener Axiomenrahmen für seine Annahmen bezüglich des komputistischastronomischen Regelwerkes fungieren. Die bestimmende ratio innerhalb des Ganzen ist – anders als im trivialen Kontext – nicht die Logik, sondern die Mathematik. Jedoch eignet dieser derselbe formale Charakter wie der Logik, so daß auch sie grundsätzlich vergleichbar universal gültige Aussagen generiert wie diese.36 Für Hermannus stellt sich die 34 Zu Euklids „Elementen“ vor ihrer eigentlichen Rezeption Folkerts, ‚Boethius‘ Geometrie II S. 69–82. Es handelt sich bei diesen Exzerpten um Auszüge lediglich aus den ersten fünf Büchern, vgl. hierzu die Ausführungen ebd. 35 Dreyer, More mathematicorum: allgemein zum Bedürfnis, „das tradierte Glaubenswissen hinsichtlich der Universalität seines Orientierungsanspruchs formal abzusichern, d. h. das in patristischen Kategorien entwickelte Glaubensverständnis zu einer Theologie zu transformieren, die einer wissenschaftlichen Methode folgt“, S. 3–9 (das Zitat auf S. 5); zur „Inanspruchnahme der Dialektik“ und zur „Übernahme der apodeiktischen Methode“ ebd. S. 5 f.; ausführlicher zur Vermittlung der apodeiktischen Methode durch die Rezeption der Schriften Euklids, Galens, Proklos’ und Boethius’ insbes. im 12. Jahrhundert ebd. S. 82–106. 36 Unklar ist, ob Hermannus aus eigenem Antrieb zur ‚axiomatischen‘ Durchstrukturierung seines Denkens gelangte oder ob er über entsprechende Vorlagen verfügte, in denen der mos geometricorum des Argumentierens thematisiert wird; neben der Kenntnis der „Opuscula sacra“ käme noch die erwähnte pseudo-boethianische Geometrie infrage, die ja auf Euklids „Elementen“ beruht; allerdings gibt sie diese – gerade mit
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Frage nach der Universalität noch nicht in der existentiellen Weise wie etwa ein halbes Jahrhundert später für die Gelehrten in Trivium und Theologie. Anders als letztere wurde der Reichenauer wohl kaum in nennenswertem Maße mit dem religiös und kulturell Anderen konfrontiert.37 Daß er aber davon überzeugt war, mit seiner aequalitas-Prämisse über das fundamentale Prinzip der Wirklichkeit und mit ihrer mathematischen Formulierung über eine allgemeingültige ratio zu verfügen, zeigt sich an seiner wie selbstverständlichen, nicht weiter begründeten Autoritätenkritik auf der Grundlage seiner Vorannahmen und mathematischen Berechnungen.38 Möglicherweise ist das Denken im Modell respektive in Modellen eines der vorherrschenden Kennzeichen nicht nur der wissenschaftlichen Rationalität seit der Mitte des 11. Jahrhunderts,39 sondern geht noch darüber hinaus. Auch in anderen Feldern der intellektuellen Kultur lassen sich strukturell vergleichbare Merkmale beobachten. Zu denken ist beispielsweise an das Aufkommen des höfischen Romans etwa um diese Zeit, das sich als der literarische Ausdruck der Modellhaftigkeit gelehrten Denkens interpretieren läßt. Charakteristisch gerade für das höfische Epos ist der Umstand, daß es sich schon seit seinem ersten Erscheinen in einer in sich geschlossenen, sehr feststehenden Struktur präsentiert.40 Die zeitlich anschließenden Entwürfe noch bis hin zum
Blick auf die Gesamtstruktur des axiomatischen Verfahrens – nur unvollständig wieder; siehe hierzu Folkerts, ‚Boethius‘ Geometrie II S. 69–82. 37 Vgl. zu diesen möglichen äußeren Einflüssen auf die Entwicklungen im Bereich der wissenschaftlichen Rationalität des 12. Jahrhunderts bes. Dreyer, More mathematicorum S. 107; einen plastischen Überblick über die soziale, politische und kulturelle Situation vermittelt Classen, „Die geistesgeschichtliche Lage“, bes. S. 11–19; eine knappe Skizze des „sozio-kulturellen“ Kontextes im 12. Jahrhundert bietet auch Ernst, Petrus Abaelardus S. 12–15. 38 Aufgrund ihrer trinitarischen Bedeutung als aequalitas filii bot sich dieses Konzept hierfür an; daß die mittelalterlichen Gelehrten sie in der Tat als fundamentales Prinzip der Wirklichkeit begriffen, läßt sich ja bereits in den Schriften Augustins sowie in ihrer Ausformulierung als archetypus mundus im 12. Jahrhundert erkennen, vgl. hierzu ausführlicher 3.3.3. Aequalitas als ratio naturalis. 39 Der Begriff der wissenschaftlichen Rationalität bezieht sich hier auf den engeren Bereich der Wissenschaften, also auf Zeugnisse, die im Rahmen der Schulen oder später dann der Universitäten entstanden. 40 Vgl. hierzu bes. die Romane Chrétiens de Troyes sowie deren Rezeption im mittelhochdeutschen Sprachraum durch Hartmann von Aue; hierzu immer noch maßgeblich Haug, Literaturtheorie, bes. S. 91–107; vgl. auch Haugs Ausführungen zur programmatischen Fiktionalität, ebd. S. 119–133; am Beispiel des Iwein-Prologs arbeitet er dort die Betonung der Autonomie des literarischen Mediums heraus; siehe auch Grünkorn, Die Fiktionalität S. 153–181. – Einen allgemeinen Überblick bietet Wehrli, Geschichte der
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späthöfischen Roman des 13. Jahrhunderts lassen sich im Grunde als eine kontinuierliche kreative, zum Teil auch sehr kritische Auseinandersetzung mit diesen Vorgaben begreifen.41 Bemerkenswert ist dabei, daß die Konstellationen im Epos wie in einem Versuchsaufbau komponiert sind; während der Rahmen selbst weitgehend fest vorgegeben ist,42 werden die verschiedenen gestalterischen Möglichkeiten in seinem Innern im ständigen Rückbezug auf den Rahmen durchgespielt. Besonders deutlich tritt der versuchsaufbauartige oder modellhafte Zug im Tristanroman zutage. Zu verweisen ist hier in erster Linie auf das ‚Modell im Modell‘: die Minnegrotten-Szene. In ihr wird der in sich geschlossene Entwurf einer entrückten Idealwelt höfischer Norm entfaltet, auf seine Implikationen hin befragt und mit der Zerstörung der Idylle wieder verworfen.43 5. Aequalitas. Auf die Besonderheit des aequalitas-Konzeptes wurde schon hingewiesen. Dieses herausgegriffen und in begrifflich kondensierter Form ins Zentrum seiner Schriften gerückt zu haben, dürfte eine der originellsten Leistungen des Reichenauers gewesen sein. Denn obzwar die Vorstellung von der Gleichförmigkeit der Himmelsbewegungen in kosmologisch-astronomischen Schriften schon seit der Antike präsent ist,44 wird sie im hier fraglichen Untersuchungszeitraum und im Rahmen der quadrivialen Zeugnisse erstmals durch Hermannus ausformuliert. Beachtlich ist die Funktion, die die aequalitas im Dendeutschen Literatur im Mittelalter S. 272–280, der auf Begriffe wie „modellhaft“ (S. 272) oder „Idealwelt“ (S. 274) zur Charakterisierung der neuen Gattung des Artusromans zurückgreift. 41 Für ein Beispiel eines späthöfischen Romans und seines kritischen Potentials gegenüber den Vorgängern siehe Der Stricker, Daniel von dem Blühenden Tal; vgl. hierzu Pingel, Ritterliche Werte, insbes. die Kapitel iii und iv, S. 32–313, in denen sie minutiös die veränderte Konzeption von Artusheld und Artushof analysiert; Ragotzky, Gattungserneuerung S. 45–82, mit einer eigenen Untersuchung der „Auflösung der Doppelwegstruktur“ S. 77–82. 42 Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang beispielsweise auf den „doppelten cursus“ des Artusromans; dieser strukturiert das zweifache Bildungsgeschehen des Protagonisten, der von der äußeren Bewährung (erster cursus) über die innere Bewährung (zweiter cursus) hin zur Vervollkommnung (zweite Rückkehr zum Artushof) gelangt; Haug, Literaturtheorie S. 97–100; Wehrli, Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter S. 277 f. 43 Zum Tristanroman bes. Huber, Gottfried von Straßburg, zur Minnegrotte S. 98–109; Wehrli, Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter S. 252–271, zu Gottfrieds Tristan ebd. S. 262–271; zu den Personalisierungstendenzen in der höfischen Literatur Haug, „Die Entdeckung der personalen Liebe“. 44 Vgl. hierzu die Ausführungen in der Einleitung dieser Arbeit sowie in 3.3.3. Aequalitas als ratio naturalis (jeweils mit Hinweisen auf die Literatur).
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ken und Argumentieren des Reichenauers besitzt. Sie fungiert wie eine grundlegende Voraussetzung und wird ihrerseits zunächst nicht hinterfragt sondern als selbstverständlich angenommen. Weiterhin gilt, daß sie identisch mit der natura ist, oder umgekehrt formuliert: Die ‚Natur‘ macht Hermannus zufolge keine Sprünge, sondern verhält sich immer „gleichförmig“ und „vernünftig“, „semper rationalis et equalis“. Damit ist sie – ähnlich wie zuvor schon die „natura coeva“ Abbos sowie die „forma omnium formatorum“ Augustins – das zentrale Prinzip der Wirklichkeit. Diese Linie greift Thierry auf, der sowohl Hermanns Schlüsselbegriff übernimmt, die aequalitas, als auch Augustins Form-Begriff, wenn er die aequalitas als „causa formalis“ bezeichnet. Daß die aequalitas in der auf Hermannus folgenden Zeit in dieser prinzipiellen und noetisch bedeutsamen Weise aufgegriffen und weiter ausformuliert wird, ist bemerkenswert. Mit Blick auf den oben besprochenen „Tractatus de sex dierum operibus“ Thierrys zeigt sich darüber hinaus, daß in das kosmologischastronomische Spektrum, innerhalb dessen Hermannus sein aequalitasKonzept entfaltet, auch die trinitätstheologische Dimension des Begriffes integriert wird, die ja maßgeblich von Augustinus und der von ihm geprägten Formel der aequalitas filii geprägt wurde.45 Damit aber scheint die aequalitas für Hermannus und später für die Chartreser Arithmologie einen in systematischer Hinsicht vergleichbaren Rang im Quadrivium einzunehmen wie der Satz vom Widerspruch in der Logik.46 Als ratio beim Erschließen der Wirklichkeit mittels dieses Konzeptes eignet sich freilich nicht nur der numerus der quadri-
45 Siehe hierzu die begriffsgeschichtlichen Untersuchungen in Schwaetzer, Aequalitas S. 76–114; siehe auch bereits Beierwaltes, Denken des Einen S. 378–382. – Im übrigen läßt sich von Thierrys aequalitas-Begriff der Bogen wieder zurück bis zu Alkuins „Disputatio“ schlagen, insofern als Thierry ja die aequalitas ausdrücklich mit der sapientia dei gleichsetzt. In vergleichbarer Weise legte jedoch bereits Alkuin die Übereinstimmung zwischen der seinem Bildungskonzept zufolge erstrebten sapientia und dem Erkenntnisgegenstand dieses Konzeptes, den rationes rerum, nahe, siehe hierzu Alkuin, Disputatio (PL 101, Sp. 853B): „[…] epulas deorum esse rationes. – mag. Verius, o filii! dicere potestis, rationes esse angelorum cibum, animarum decorem, quam epulas deorum“, vor dem Hintergrund von ebd. (ebd. Sp. 852A): „Quanto melius est interius ornari, quam exterius, animam perpetuam splendore polire. / dis. Quae sunt animae ornamenta [perpetua]? – mag. Primo omnium sapientia, cui vos maxime studere cohortor“; siehe hierzu 1.3. Das Konzept der septem artes liberales. 46 Zum Satz vom Widerspruch siehe Aristoteles, Metaphysik iv, 4, der das Problem diskutiert, daß dieser Satz selbst nicht zu beweisen ist – obwohl er das sicherste unter allen Prinzipien sei. Das Problem der Letztbegründung stellt sich damit für diesen Satz in derselben Weise wie für Hermanns aequalitas-Prämisse: Beide sind rational nicht mehr einholbar.
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vialen Fächer, sondern auch der logos des Triviums. Hermannus, der nach heutigem Wissen die aequalitas erstmals fürs Quadrivium begrifflich und systematisch auf den Punkt bringt, verwendet wie selbstverständlich den numerus, noch dazu in quantifizierender Weise; Garlandus Compotista wird ihm im zweiten Buch seines „De computo“ methodisch folgen. Auch Thierry von Chartres stellt weitreichende Spekulationen auf der Grundlage der Zahl an, allerdings im strikten Sinne der ars arithmetica. Wie Augustinus in seiner „Musik“ und Boethius in seiner „Arithmetik“ denkt und argumentiert Thierry in arithmologischen Zusammenhängen. Darüber hinaus zeichnet sich bei ihm bereits die Verbindung von numerus und logos ab, die am Ende des Mittelalters durch Nikolaus von Kues in engster Symbiose wieder aufgegriffen wird.47 6. Zur Rolle des Quadriviums und der „Entdeckung der Natur“. Auf der Grundlage der erzielten Ergebnisse läßt sich die Rolle des Quadriviums in der Zeit vor dem 12. Jahrhundert gegenüber der bisherigen Forschung schärfer konturieren. Erstens zeigte sich, daß das Quadrivium seit dem 9. Jahrhundert, seit Alkuins programmatischer artesSchrift, durchgängig präsent ist und genauso wie die trivialen Künste eine propädeutische Stufe zur Theologie darstellt.48 Wie das Trivium so vermag auch das Quadrivium über das Aufdecken der rationes rerum bis hin zur Erkenntnis zu führen, daß Gott ist und daß er einer ist. Von diesem Streben nach einer christlich vereindeutigten Erkenntnis des unum zeugt ein nennenswerter Teil der verfügbaren quadrivialen Quellen. Erkenntnismedium sind dabei mit den rationes rerum die den Dingen der Natur innewohnenden Strukturen: ihre jeweilige Konstitution sowie ihre gegenseitigen Beziehungen. Zweitens wird im Rahmen des Quadriviums mit der aequalitas ein Konzept aufgegriffen, das sowohl von Hermannus, als auch später von Thierry als die bestimmende ratio der Natur begriffen wird. Nicht nur die dieser ratio implizit unterstellten Eigenschaften, sondern auch die von ihr – vermeintlich – gekennzeichneten Wirkzusammenhänge in der Natur werden nach Maßgabe der menschlichen ratio aufgegriffen und ausfor47 Zu Nikolaus siehe 3.3.3. Aequalitas als ratio naturalis, mit weiterführenden Literaturhinweisen. 48 Außer Frage steht, daß nicht sämtliche artes überall gleichermaßen gelehrt wurden; zum Beispiel mit Blick auf die Ausbildung, die Abbo von Fleury genoß, und die besonderen Schwierigkeiten, Lehrer für die quadrivialen Künste zu finden Schupp, „Einleitung“ S. xif.; allgemein Riché, Les écoles et l’enseignement S. 162–186.
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muliert: auf der Grundlage des quadrivialen numerus. Während sich Hermannus der quantifizierenden Form der Mathematik bediente und ein komputistisch-astronomisches Modell seiner Wirklichkeitsvorstellung schuf, griff Thierry auf arithmologische Erwägungen zurück und erklärte die natürlichen Phänomene außerdem secundum physicam.49 Die „découverte de la nature“ zeichnet sich der Forschung zufolge durch das Entdecken der „Eigengesetzlichkeit, Konstitution und Struktur der Natur im Sinne einer physisch-physikalischen Realität durch die Vernunft“ aus, „die sich ihrer Erkenntnis nunmehr unter ausdrücklicher Absehung von traditionellen, auf die Offenbarung Bezug nehmenden Deutungsmustern allein durch wissenschaftliche, nämlich der logischen Form des Arguments verpflichtete Begründungsverfahren zu versichern sucht“.50 Aber die Entdeckung der Natur begann nicht erst im 12. Jahrhundert. Genauso wenig soll in der vorliegenden Arbeit die These aufgestellt werden, sie setze einfach ein Jahrhundert früher ein – wie leicht zu vermuten wäre angesichts der prominenten Position, die Hermannus Contractus in der Studie einnimmt. Die Suche nach der „Eigengesetzlichkeit“ der realen Dinge und ihres Zusammenhangs läßt sich mindestens bis ins 9. Jahrhundert zurückverfolgen. Das Zusammentragen fachwissenschaftlicher Erklärungen natürlicher Phänomene in den quadrivialen Anthologien legt ein beredtes Zeugnis von ihr ab.51 Allerdings tritt sie nicht als ein radikaler Perspektivenwechsel auf, der andere Blickwinkel auf die Wirklichkeit ausschließt. Der bekannte Verweis der Forschung auf Formen der Auseinandersetzung mit der Natur, die auf eine tiefere Sinnhaftigkeit der Wirklichkeit und deren symbolisierende Ausdeutung gerichtet sind, behält seine Berechtigung.52 Er findet eine weitere Bestätigung in den 49 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang nochmals an die Veränderungen, die der ratio-Begriff – bei aller Durchgängigkeit des Konzeptes – erfährt, vgl. hierzu bes. 3.2.2. Der erste Teil der „Abbreviatio compoti“: Das komputistische Lehrbuch, bes. den Abschnitt 2. Erörterung zentraler inhaltlicher Aspekte (vor dem Hintergrund der „natura coeva“ Abbos, der „Disputatio“ Alkuins mit ihren „rationes rerum“ sowie der quaestio „De ideis“ Augustins). 50 Speer, Die entdeckte Natur S. 289; die „découverte“ in Anlehnung an Chenu, La théologie au douzième siècle, bes. S. 21–30. 51 Vgl. hierzu die Forschungen von Obrist, „Le diagramme isidorien“; Dies., La cosmologie médiévale; weitere Belege für das Interesse an den Phänomenen der Natur selbst sowie an deren immanenten Zusammenhängen liefern die Arbeiten von Caiazzo, „Abbon de Fleury“; Dies., Lectures médiévales. 52 Vgl. hierzu die Charakteristika, die Chenu zur Abgrenzung seiner „découverte de la nature“ anführt, die allerdings in dieser Pauschalität zu differenzieren und in ihrer Wertung zu relativieren wären, siehe beispielsweise La théologie au douzième siècle S. 46f.,
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hier behandelten ikonographisch überformten Bestandteilen derselben quadrivialen Sammlungen oder in komputistisch-astronomischen Gedichten wie der „Ephemerida“ Abbos von Fleury. Jedoch zeugen selbst die frühesten Überlieferungen des Untersuchungszeitraums von einem Umgang mit Gegenständen des Quadriviums, auf den die ausschließliche Charakterisierung als ‚symbolisch‘ oder ‚metaphorisch‘ nicht zutrifft. Neben ‚passiven‘ Übernahmen fachlichen Wissens meist aus der Spätantike53 entstehen eigenständige Kompilationen, deren Autoren – anders als noch Beda – auf die Ausdeutung ihrer Gegenstände verzichten.54 Schon mit Blick auf den gelegentlich erwähnten Helpericus von Auxerre zeigt sich ein Charakteristikum, das in der vorliegenden Arbeit dann exemplarisch an den Schriften Hermanns von Reichenau herausgearbeitet wurde: Seinem Kenntnisstand entsprechend erläutert Helpericus unter anderem den Aufbau und die Bewegungen des Himmelsglobus und der Himmelskörper. Ähnlich wie später der Reichenauer verwendet er dieses Hintergrundwissen, um verschiedene astronomische Phänomene zu erklären wie die Planetenbewegungen oder die Eklipsen.55 Auch er konzentriert sich bei seinen Erklärungen auf wo er von einer „spiritualité diffuse du chrétien“ spricht sowie von einem „blocage religieux, dans lequel étaient dévaluées les causes secondes“ und der zu einer „vision symbolique du monde, où l’explication des phénomènes par leurs causes immédiates tendait à disparaître“, geführt habe. – Mit Blick auf die Symbolisierungstendenzen ausgewogener Wallis, „Images of Order“; mit ihrer einseitigen Betonung des eschatologischen Anliegens weniger überzeugend Kühnel, The End of Time. 53 Zu verweisen ist hier erneut auf die „Libri computi“ und ihre Exzerpte aus den spätantiken Enzyklopädien wie der „Naturalis historia“ des Plinius Secundus, aus der „Astronomie“ Hygins, aus den „Commentarii in somnium Scipionis“ des Macrobius und dergleichen mehr. – Problematisch ist es, selbst einen Rezeptionsvorgang, in dessen Rahmen ausschließlich (wortgetreue) Exzerpte kompiliert werden, als passiv zu bezeichnen. Schon die Auswahl und Zusammenstellung wörtlicher Übernahmen bedeutet ja einen bewußten Akt. Aus diesem Grund wurde das Attribut in Anführungszeichen gesetzt. 54 Unter „eigenständigen Kompilationen“ werden hier solche Schriften verstanden, die ihr Wissen zwar auch aus älteren Vorlagen entnehmen und zusammentragen, dieses jedoch in eigene Worte fassen oder miteinander verbinden (also nicht als separate Blöcke nebeneinanderstellen). 55 Helpericus greift in seinem „Liber de computo“ vorwiegend auf Macrobius’ „Commentarii in somnium scipionis“, zurück und kommt damit als Vorlage für Hermannus infrage. Dafür, daß der Reichenauer den „Liber“ kannte, sprechen desweiteren einige auffällige sprachliche Übereinstimmungen, etwa die Vorliebe beider, Verkleinerungsformen zu verwenden, insbes. „ingeniolum“, Helpericus, Liber de computo cap. ii (ebd. Sp. 23B), sowie cap. xxxviii (ebd. Sp. 48B); gegenüber Hermannus, Epistola S. 474, 11, sowie Ders., Abbreviatio compoti cap. xxxviiii (Arundel 356, fol. 35v); beide betonen ihre
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die Konstitution und Struktur der Natur,56 deren wirklichkeitsimmanente Zusammenhänge er analysiert und nicht etwa auf ihren Verweischarakter hin befragt. In vergleichbar ‚analytischer‘ Weise setzen sich ein starkes halbes Jahrhundert später Gerbert von Aurillac und sein Umkreis mit Fragen zur Astronomie und namentlich zum Astrolab auseinander.57 Auf seinen Zeitgenossen, Abbo von Fleury, wurde in diesem Zusammenhang ausführlich im Verlauf der vorliegenden Arbeit eingegangen. Wieder etwa fünfzig Jahre später folgen dann die hier ebenfalls thematisierten Schriften Hermanns. Mit Bezug auf die frühe Phase des Untersuchungszeitraums dieser Studie ließe sich angesichts der erzielten Ergebnisse die Frage aufwerfen, ob die in der Forschung oft herausgehobene Figur des Johannes Scotus Eriugena tatsächlich eine solche Einzelerscheinung war, wie gerne behauptet wird. Zwar konnten nur stichprobenartig verschiedene Quellen des 9. bis 11. Jahrhunderts untersucht werden, doch liefert der repräsentative Charakter der ausgewählten Zeugnisse ein hinreichend starkes Fundament, um mindestens Tendenzen zu formulieren. Demnach stellt sich aus einer breiteren Perspektive die weiterführende Frage, ob die Auffassung der Natur als einer „physischphysikalischen Realität“,58 deren immanente Mechanismen ein eigenes Interesse bei den mittelalterlichen Gelehrten fanden, sich in einem viel länger gestreckten Prozeß als bislang angenommen herauskristallisierte oder gegebenenfalls sogar – in je unterschiedlichen Ausprägungen – durchgängig präsent war.59 Adelard von Bath jedenfalls fand eine solche
rusticitas und beziehen sich auf den einfachen rusticus, Helpericus, Liber de computo praef. (PL 137, Sp. 17B), sowie ebd. prol. (ebd. Sp. 21A); gegenüber Hermannus, Epistola S. 477, 103, sowie Ders., Abbreviatio compoti cap. xxv (Arundel 356, fol. 32r); beide bedienen sich derselben Demutsformel „omnium bonorum largitori gratias“, Helpericus, Liber de computo cap. xxviii (PL 137, Sp. 48C); gegenüber Hermannus, Epistola S. 477, 102. 56 Die Begriffe „Konstitution“ und „Struktur“ werden in Anlehnung an die oben zitierte Definition Speers der „Entdeckung der Natur“ verwendet, Ders., Die entdeckte Natur S. 289. 57 Vgl. hierzu bes. Lindgren, Gerbert von Aurillac; Riché, Gerbert d’Aurillac; unter besonderer Berücksichtigung der Überlieferung Mostert, „Gerbert d’Aurillac, Abbon de Fleury“. 58 Speer, Die entdeckte Natur S. 289, im besagten Zusammenhang mit seiner Charakterisierung des Begriffs „Entdeckung“. 59 Es dürfte sich lohnen, unter dieser Perspektive die wissenschaftlichen Zeugnisse im irischen sowie im angelsächsischen Bereich zu studieren, die zeitlich den karolingischen Reformen mit ihren Konsequenzen für Wissenschaft und Bildung auf dem Festland noch vorausgehen; für den komputistisch-astronomischen Kontext exemplarisch Jones, „Bede’s Place“, bes. S. 273–276; Wallis, The Reckoning of Time S. xxxiv–lxiii.
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Konzeption bereits vor, als er seine „Quaestiones naturales“ schrieb, wie sich am Beispiel des „Neffen“ und dem Verweis auf die „gallicae sententiae“ erkennen läßt.60 Schon Hermannus knüpfte in diesem Punkt an bereits Bestehendes an. Zusammenfassend ist der Reichenauer in wissenschafts- und rationalitätsgeschichtlicher Hinsicht als ‚Zwittergestalt‘ zu bezeichnen. Zwar setzt er einerseits Herkömmliches fort, doch nimmt er andererseits Akzentverschiebungen vor, die auf mittlere Sicht zu Charakteristika einer veränderten Form von Wissenschaftlichkeit werden. Traditionell ist noch sein Thema, der Bereich von Komputistik und Astronomie. Neuartig ist hingegen die Art und Weise, wie er sich mit ihm auseinandersetzt; er begreift und formuliert ihn wie einen isoliert betrachtbaren Wirklichkeitsausschnitt, in dem genau bestimmte Größen und Verfahren gelten. Während er mit seinem Bestreben, ein Abbild zu schaffen, wiederum ein gängiges Anliegen verfolgt, setzt er mit seiner konkreten Realisierung bereits ‚neue‘ Akzente. Denn aufgrund seiner immanenten Struktur61 und seiner maßstäblichen Kongruenzbeziehung zur Wirklichkeitskonzeption erweist sich Hermanns Modell als ein Mittel, die rational geordneten Zusammenhänge in der Natur auf eindeutige 60 Adelard, Quaestiones naturales, ‚Prolog‘ Z. 29–33 (ed. Müller S. 4): „Meministi, nepos (quod), […], cum te in Gallicis studiis […] dimiserim, id inter nos convenisse, ut […], tu vero Gallicarum sententiarum inconstantiam […] adquireres“ (Klammersetzung durch Müller); wie sich im weiteren Verlauf des Gesprächs zwischen dem Neffen und seinem Onkel, und zwar namentlich an den Fragen des Neffen erkennen läßt, gilt das arabische Wissen Adelardus zwar als überlegen, aber nicht als grundlegend verschieden von dem der „gallischen“ artes liberales. Auch der Neffe versucht, die „causae rerum“ durch konsequentes Weiterfragen freizulegen und auf diese Weise natürliche Phänomene in ihrer Eigengesetzlichkeit zu erforschen; exemplarisch sei der erste Fragenkomplex angeführt, der auf das Wachstum der Pflanzen gerichtet ist, ebd. cap. i, 24–2 (ebd. S. 5 f.): „Quaero itaque, qua ratione herbae a terra nascantur. Quae enim causa est vel edoceri potest, cum primum plana et immobilis sit terrae superficies, quid, inquam, est, quod inde movetur, surgit, crescit et ramos extendit“; ausführlicher hierzu Speer, Die entdeckte Natur S. 27–36, zur „Eigengesetzlichkeit“ ebd. S. 31, wo Speer aufgrund der zitierten Fragen des Neffen zu dem Schluß kommt, daß dieser „sich von dem Gespräch mit seinem Onkel neue Aufschlüsse über die ‚causae rerum‘ gerade in Hinblick auf die Struktur, Konstitution und Eigengesetzlichkeit natürlicher Phänomene und Zusammenhänge erhofft“. 61 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang insbesondere an die quantifizierende Verwendung der Mathematik, aber auch an die axiomatische Struktur seines komputistisch-astronomische Modells: Hermannus geht (unausdrücklich) von einer obersten Prämisse und implizit in ihr enthaltenen Eigenschaften aus, die in formaler Hinsicht den axiomatischen Rahmen seines Modells bilden. Innerhalb dieses Rahmens herrschen fixe Größen und Regeln (nämlich der quantifizierenden Mathematik), die bei ihrer Anwendung eindeutige Daten liefern.
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Weise zu beschreiben. Obgleich die Auffassung, die Welt sei zahlenmässig strukturiert, seit jeher präsent ist, gibt der Reichenauer auch dieser Vorstellung wieder eine eigene, an spätere Entwicklungen erinnernde Ausprägung. Er reformuliert die ratio der Wirklichkeit, die aequalitas, in der Sprache der Mathematik, noch dazu in deren quantifizierender, nicht in ihrer bislang üblichen arithmologischen Gestalt. Diese ratio entstammt ihrerseits einer langen, bis in die Antike reichenden Tradition, wird aber erneut: erstmals seit Augustinus von Hermannus explizit herausgegriffen und als Schlüssel für eine wissenschaftliche Durchdringung der realen Dinge verwendet. Die auffälligste ‚Neuerung‘ in diesem Zusammenhang ist Hermanns vollständiger Verzicht darauf, die wissenschaftlichen Reflexionen und Ergebnisse auf den theologischen oder überhaupt einen begründenden Horizont rückzubeziehen. In diesem Punkt unterscheidet er sich nicht nur von seinen Vorgängern, sondern auch von seinen Nachfolgern.62
62 Zwar blendet auch beispielsweise Thierry von Chartres Reflexionen über die Letztbegründung im Rahmen seiner Erläuterungen secundum physicam aus; doch gingen diesen Erörterungen fundierende Reflexionen zum Verhältnis der causa materialis zu den ersten drei Ursachen voraus.
APPENDIX
Vorbemerkungen In diesem Teil des Anhangs werden die beiden wichtigsten Zeugnisse Hermanns von Reichenau zur Komputistik und Astonomie, die „Abbreviatio compoti cuiusdam idiotae“ von 1042 und die „Prognostica de defectu solis et lunae“ von 1049, als Transkription wiedergegeben. Diese Transkriptionen zur Verfügung zu stellen war erforderlich, da beide Texte bislang nicht ediert sind. Ihr Abdruck soll dem Leser der vorliegenden Arbeit das Überprüfen der in der Studie gebotenen Analyse und Interpretation der beiden Schriften ermöglichen. Es handelt sich bei den Umschriften jedoch nicht um eine kritische Edition. Von der „Abbreviatio“ sind derzeit 18 Handschriften bekannt, die nicht alle den vollständigen Text überliefern;1 acht dieser Manuskripte enthalten neben der komputistischen Hauptschrift auch die „Prognostica“. Unter den verfügbaren Zeugen ragt eine Dreiergruppe von Handschriften, die um 1080 angelegt wurden, in qualitativer Hinsicht besonders hervor. Mindestens eines dieser Manuskripte, der Codex London, BL, Arundel 356, scheint auf eine von Hermannus selbst korrigierte Reinschrift zurückzugehen und bildet deshalb die Grundlage der Transkription sowohl der „Abbreviatio“, als auch der „Prognostica“. Die beiden anderen Handschriften dieser Gruppe, Karlsruhe, BLB, Ms. Karlsruhe 504, sowie Città del Vaticano, BAV, Ms. Vat. lat. 3101, wurden beim Erstellen der Transkription zur Kontrolle mit herangezogen.2 1 Zur Handschriftenlage Borst, „Ein Forschungsbericht“, dem zum damaligen Zeitpunkt schon 17 dieser Manuskripte bekannt waren. Alle über diesen Bericht hinausgehenden Informationen verdanke ich persönlichen Auskünften Borsts sowie seinen noch nicht veröffentlichten Arbeitsmaterialien zu einer kritischen Edition der Texte Hermanns und dessen Umfeldes, die er mir großzügig zur Verfügung stellte. Ihm sei an dieser Stelle nochmals gedankt. 2 Die Londoner Handschrift, Arundel 356, aus der Gegend um Mainz, umfaßt über die fraglichen Texte Hermanns hinaus vor allem komputistische Materialien. Die „Abbreviatio“ und die „Prognostica“ folgen direkt aufeinander: fol. 27v–37v („Abbreviatio“), 38r–41r („Prognostica“). – Der Codex Karlsruhe 504 stammt wohl aus der Abtei
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appendix
Der Zeit entsprechend, in der die Handschriften entstanden, weisen die Texte noch verschiedene Uneinheitlichkeiten in der Schreibweise auf. Besonders deutlich zeigen sich diese beispielsweise im wechselnden Gebrauch von (Genitiv) -ae und e-caudata oder von -t- und -c- wie in positio/ posicio. Diese Uneinheitlichkeiten wurden bei der Transkription beibehalten. Lediglich Kürzel (z. B. für prae- in praenosse) wurden durchgängig den ‚klassischen‘ Regeln entsprechend aufgelöst. Die Zeichensetzung ist an den heutigen Interpunktionsgepflogenheiten orientiert und soll der leichteren Verständlichkeit der Texte dienen. An einigen Stellen ist die ansonsten gut lesbare Londoner Handschrift durch Flekken oder Beschädigungen beeinträchtigt. Die erforderlichen Konjekturen wurden mit Hilfe der beiden anderen Handschriften der genannten Dreiergruppe vorgenommen und in spitze Klammern gesetzt. Dieselben Zeichen wurden für die Kapitelzählung im Text verwendet, soweit sie der leichteren Orientierung halber der Vorlage hinzugefügt wurde, sowie für alle weiteren Ergänzungen, die dann allerdings in Anmerkungen kommentiert werden. Nachträge in der Handschrift, die in aller Regel über der Zeile von derselben Schreiberhand vorgenommen wurden, wichtige Rasuren und anderweitige spätere Bearbeitungsspuren sind ebenfalls mittels Anmerkungen gekennzeichnet. Sigla und Abkürzungen K L V K c, L c add. coni. in marg. lin. num. arab. aequ. om. scrips. sed eras. sup.
codex Karlsruhe, BLB, 504 codex London, BL, Arundel 356 codex Vaticanus, BAV, Vat. lat. 3101 manus quae correxit K, L addidit coniegi in margine linea numerus arabus aequivalens omisit scripsit sed erasit super, supra
Michelsberg bei Bamberg und enthält außer der „Abbreviatio“ und den „Prognostica“ weitere Schriften Hermanns sowie anderer Autoren des Quadriviums; die „Abbreviatio“ erstreckt sich über fol. 35r–43r (Kapitelverzeichnis, cap. 1–47), 57r–58r (cap. 48), die „Prognostica“ umfassen fol. 45v–49r. – Auch das Vatikan-Manuskript ist vollständig quadrivialen Inhalts. Es entstand im Stift Ilmmünster und bietet die „Abbreviatio“ auf fol. 10r–15r, den Text der „Prognostica“ auf fol. 14v–16v.
appendix tab. usq. in marg. ? ! ] …[]… …
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tabula usque in marginem [beginnt in der Zeile und setzt sich am Rand fort] fortasse sic! lectio recepta nota editoris usque ad
I. Abbreviatio compoti cuiusdam idiotae 27v
Incipiunt capitula in Heremannum i. ii. iii. iiii. v. vi. vii. viii. viiii. x. xi. xii. xiii. xiiii. xv. xvi. xvii. xviii. xix. xx. xxi. xxii. xxiii. xxiiii. xxv. xxvi. xxvii. xxviii. xxviiii. xxx. xxxi.
De cursu vii planetarum sub zodiaco in ethere vagantium De solis mense et anno et ratione bissexti Unde concurrentes oriantur De eorundem ordine De ratione regularium feriarum Quomodo feria cottidie inveniatur Item aliter de eadem ratione De argumento ad annum bissextilem inveniendum De lune cursu et eiusdem mense De origine lunaris compoti et ratione De solarium et lunarium annorum comparatione et de embolismorum procreatione Ubi lune bissextus intercaletur De ratione in xixo anno saltus lune De loco saltus lune et de locis embolismorum Cur diversis locis embolismi inserantur Quid sint epacte lunares Quid sint regulares lune Qua ratione etas lune inveniatur Item aliter de eadem ratione Argumentum ad epactas inveniendas Ad annum cicli xix inveniendum De inventione pascalis termini De ciclo magno pascali De questione cur lune etas persepe compoto nostro non conveniat De hoc quid Beda inde dixerit De ipsius quaestionis investigatione De causa cur luna computationi nostre non conveniat Quid de lunari mense Columbanus definiverit Quid ipse Heremannus inde dixerit De unius hore in particulas eius divisione De equa xix cicli in menses eius particione
1–315.14 Incipiunt capitula … initiis kalendarum] L; desunt capitula xlv–xlvii L, K, V.
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xxxii. Quantum in lunari mense ad bissextum accrescat xxxiii. Quantum in lunari mense embolismorum ad supplementum accedat xxxiiii. Lunaris mensis absque athomis diffinitio 5 xxxv. Quantum solaris annus lunarem vincat xxxvi. De regularibus lune xxxvii. Quomodo illi inveniantur regulares xxxviii. De ratione xix cicli xxxviiii.De regularibus vel etatibus lune in primo xix cicli anno 10 xl. Quomodo etas lune in initiis kalendarum inveniri possit xli. Item de eadem re xlii. Quomodo qualibet hora lune etas possit inveniri xliii. Item aliter de eadem re xliiii. De hoc quota sit luna in initiis kalendarum 15
Incipit compotus Herimanni Suevi i.
Qui compoti regulas ipsarumque regularum causas ac rationes perfecte volueris investigare, primo convenit scire quod omnis compoti ratio naturalis secundum duarum principalium cursus planetarum, solis 20 videlicet atque lune, inventa ab antiquis nobisque tradita sit. Cum enim omnia praeter planetas sidera in rotundissima celi spera undique stabiliter fixa celo se circumvolvente ab ortu in occasum semper ferantur cumque eandem speram zodiacus circulus xii signis eque partitus circumambiat sole vii planete in puro ac iugiter sereno ethere longe 25 subtus celi spera statute sub zodiaci semita contra celum ab occasu in ortum sensim currunt. Sed impetu etheris celi cursum sequentis in occasum cottidie ab ortu quasi celum sequentes ut videmus deferuntur. Sicque planete ille quae celo propinquius currunt quam latiores circulos permeant prolixiora temporum spacia in emetiendo contra celum 30 zodiaco consummant, quae vero terre vicinius incedunt citius pro circulorum brevitate eundem zodiacum peragunt. Sed quia de illis et aliis huiusmodi satis superque a pluribus tam ethnicis quam catholicis viris tractatum est, de solis tantum et lune cursu secundum quem compoti
16 i.] om. L, K, V.
30 consummant] L c sup. lin., consumunt L.
28r
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rationem institutam praediximus pauca non docentis quod a multis factum est sed ingenium exercentis voto dicamus ac primo de sole. ii. Sol maximus planetarum unumquodque zodiaci signum secundum compotistas xxx diebus, x horis ac semisse contra celum pertransit. Dies autem naturalis xxiiii horas habet qui ab occasu solis usque ad occasum plene consummatur. Hora autem tantum temporis concludit quanto dimidium signi unius oriri vel occidere poterit, id est xxa iiiia pars celi totius. Hoc ergo temporis spacium quo sol unum de xii peragrat signis solaris mensis vocatur. Hic xiies propter xii signa zodiaci repetitus annum solarem complet, id est integram solis per totum zodiaci ambitum circuitionem. Duodecies ergo xxx dies fiunt ccclx, duodecies x hore fiunt cxx in quibus quinquies xxiiii hore, id est v dies, inveniuntur. Duodecies semis hora vi integre sunt. Sicque solaris annus ccclxv dies et vi horas, id est quadrantem diei recipit. Sed he vi hore in primo ac secundo ac tercio anno computari negliguntur, in iiii autem ubi xxiiii horas, id est diem integrum, compleverint pro integro die februario brevissimo mensi a latinis in vi kalendas martii 28v adiciuntur. | Ideoque idem dies bissextus vocatur quod vi kalendas bis dicantur. Sciendum est autem quod praedicti menses nequaquam ita naturaliter ut praediximus discernuntur, sed pro libitu antiquorum uni plures alii pauciores dies tribuuntur hocque tantum observatum est, ut omnes pariter naturalem anni numerum, id est ccclxv dies, includerent quartoque anno bissextus non deesset sicut in nostris mensibus omnibus etiam idiotis patet.
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iii. Cum ergo hic certus numerus dierum anni sit, divine legis auctoritas et gentilium consuetudo ebdomadas septenis semper diebus in se redeuntes habere decrevit. Unde contingit, ut praedictus annus in quinquagies et bis vii, id est in liias ebdomadas, divisus sit et adhuc ex anno dies 30 supersit. Qui videlicet dies efficit, ut quaelibet anni dies non semper in una feria contingere possit. Sed quae hoc anno dominica est, in futuro 7 consummatur] L c sup. lin., consumitur L. 10 peragrat] om. L, V, add. sup. lin. K c. 22 tantum] add. sup. lin. L c. 24 in nostris] add. sup. lin. L c. 27 numerus] L, c L c sup. lin. | dierum] L, a L c sup. lin. | anni] L, b L c sup. lin.
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feria iia, in tertio feria iiia, in quarto feria quinta, in quinto via efficitur. Quare, ut in quolibet anno certa feria die quolibet inveniri possit, remanentes ultra vii dies singulis annis sollers antiquitas collegit eosque epactas, id est adiectiones solis sive concurrentes, vocitavit quorum 5 ordo talis est, ut hic in praesentia in pagine istius fronte vulgari etiam dispositione praenotatum videtur: i ii iii iiii v vi vii viii viiii x xi xii xiii xiiii xv xvi xvii xviii xix xx xxi xxii xxiii xxiiii xxv xxvi xxvii xxviii
i ii iii iiii vi vii i ii iiii v vi vii ii iii iiii v vii i ii iii v vi vii i iii iiii v vi
B
B
B
B
B
B
B
iiii.
Ergo si unius anni dies per vii diviseris unus concurrens remanebit, si duorum iio, si trium iii, si quatuor v propter bissexti adiectionem, si 10 quinque vi, si sex vii. Quos videlicet vii quia integram complent ebdomadam pro nullis accipimus. Sicque per xxviii annos donec bissextus singulas incurrat ferias si egeris rite ad principium redis. 6 tab. in marg. L.
7 iiii.] addidi, om. L.
8 remanebit] L c sup. lin., remanet L.
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appendix v.
His ergo concurrentibus taliter collectis iterum observatum est, que feria cuilibet diei contingat eo anno quo vii concurrentes quos pro nullis accipimus habentur. Quia quisque dies talem numerum semper quasi hereditarium possidet qualem in principio feria habuit et quia triduo 5 ante vernale equinoctium, id est in xv kalendas aprilis, primus dies saeculi iure creditur qui in principio prima feria extitit, unum regularem hic dies semper habebit, sequens iios, tertius iii, et sic per ordinem ceteri. Sed quia singulorum anni dierum regulares nostra difficulter memoria tenere potuit, eos tantum regulares diligentia notavit quos vel xiiiime 10 lune paschalis dies habuerant vel kalendae singulorum mensium adepte sunt, ut his memoria retentis et ferie eorum dierum et ab eis ceterorum facillime invenirentur, si eisdem regularibus singulorum annorum concurrentes iungerentur. vi. 29r
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Habeat ergo quilibet anni dies usque in finem tot regulares | quotam in principio habuerat feriam in divisione septimanarum. Sicque ultimus anni dies unum regularem sicut in creatione mundi et primus obtinet. Quem pro concurrente singulorum dierum regularibus adiciens singulis diebus feriam quam priori anno habuerant, secundo anno uno illo 20 adiecto augebis, tertio iibus, quarto iiibus, et in ceteris ceteros concurrentes ipsis regularibus adiciens singulorum dierum ferias reperies. Tantum si plus quam vii ex coniunctione procreverint, quod vii excesserit pro feria tenens. vii.
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Est et alia quolibet die inveniendi feriam regula, sed eadem fere ratione subnixa. Sume ergo dies ex anno transactos et, ut ebdomadarum numerum compleas, feriam quam prima dies anni habuit adicias et ex his, ne primam anni diem bis annumeres, unum subtrahas, reliquos per vii dividens, feriam diei de qua quesiveras remanere perficies. 30
1 v.] coni., iiii. L. 3 contingat] add. sup. lin. L c. 5 principio] L, saeculi L c add. sup. lin. 15 vi.] coni., v. L. 17 in … septimanarum] add. sup. lin. L c. 18 in … mundi] add. sup. lin L c. 25 vii.] coni., vi. L. 29 diem] add. sup. lin. L c.
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viii.
Ad inveniendos autem concurrentes quolibet anno ab antiquis inventum hoc sufficiet argumentum: Sume annos ab incarnatione domini secundum Dionisii ciclum et eorum quartam partem ipsis adice, quia 5 in ordine concurrentium in quarto anno unus semper intermissus videtur esse. His adhuc iiiior adde ut omnia ad septenarium facias pervenire, quia v concurrentes fuerunt anno dominice nativitatis et iiii uni ebdadi videntur deesse. Hec omnia per viinarium, quia viinarium concurrentes non excedunt, divide et praesentis anni concurrentes non ambigas rema10 nere. viiii.
Bissextilem autem annum hoc modo inveni: Eosdem annos domini totos sume, quia primo post bissextum anno natus est dominus, et eos per iiii partire, quia semper in quarto anno bissextus solet evenire, et si 15 nihil remanserit, bissextilis annus erit. Hactenus de solis cursu regulisque eius et earum rationibus pauca de pluribus dixisse sufficiat. Nunc de celerrimo lune discursu eiusque ad solarem cursum comparatione paucula non pigeat dicere. x. 20
Luna in omni mense sub vel iuxta solem accedens sub eadem eiusdem signi in quo ille est parte ab eo ut dicunt incenditur, id est lucis sue beneficium ab eo mutuatur, quia propriam nequaquam lucem sortitur, sed ab eo in morem speculi resplendens illuminatur. Moxque ab eo contra celum ad orientali signa properans, quanto ab illo longius rece25 dit tanto magis ad nos illuminatam sui partem convertit, donec xvma die soli per diametrum opposita plenum nobis orbem ostendat, et iterum soli ex altero hemisperio celi propinquans lucem suam nobis | 29v minuendo ad solem sursum radios convertat, et denuo illi post xxix dies et semissem et paulo plus succedens reincendatur. Hoc ergo tem30 poris spacium, de una scilicet lune incensione ad alteram, completum lunaris mensis vocatur. Sed tamen luna citius, id est in xxvii diebus et tercia diei parte, id est viii horis ut calculatores tradunt, totum zodiaci 1 viii.] coni., vii. L. 11 viiii.] coni., viii. L. orientali] ! L, orientalia K, V.
17 cursum] add. sup. lin. L c.
19 x.] ! L.
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ambitum lustrat duobus diebus et vi horis et bisse hore unius singulis in signis morando. Sed antequam solem quem inchoante reliquerat mense interim quoque suo itinere progressum denuo occurrens compraehendat suumque plene mensem compleat, iios dies et iiii horas et plus aliquanto super zodiacteam circuitionem accommodat. 5 xi. Sed cum lune cursum eiusque etatem quolibet die agnoscere tum ad plurima iocundum et utile tum maxime ad pascalis temporis indaginem necessarium sit, quasdam nobis antiqui doctores commentati sunt regulas per quas omni die lunaris non multum a vero devians inveniri poterit etas. Harum autem omnium regularum ratio in lunaris fere mensis nititur fundamine eiusque ad solarem mensem comparatione. Hic autem lunaris mensis, ut interim minutas horarum particulas taceamus, habet xxix dies et xii horas, ille xxx dies x horas, sicque lunarem solaris xxa iibus superat horis. Has duodecies propter xii solis menses multiplices et cctis lxta iiiior horis, id est xi diebus, lunarem annum a solari vinci videbis. Siquidem solaris integros dies ccctos lxta v lunaris vero cccliiiior possidet. Ex his ergo xi diebus quibus solaris lunarem superat annus in tercio interdum secundo anno efficitur, ut lunari anno xiiius mensis quem embolismum, id est superabundantem, dicimus adiciatur, quatinus solaris annus lunarem non uno integro mense videatur vincere. Sicque in xix annis vii embolismi tricenos dies singuli sibi usurpantes aliis intermixti mensibus in diversis locis inseruntur. Qui videlicet vii embolismi certis locis lunari cursui adiecti ita solari cursui eum coequant, ut xix annos lunares totidem solaribus quantitate temporis pares faciant et cctos xxxta v lune menses cctis xxti viiito solis mensibus dierum et horarum numero concordare concedant et in xxmo anno lunam iterum una cum sole stadii sui decennovenalem inchoare cursum compellant. Quod melius ostendimus, si xix lunares annos xviiii solaribus viritim comparamus.
1 et … horis] om. L. 13 mensis] add. sup. lin. L c. | horarum] add. sup. lin. L c. L, scilicet solaris L c add. sup. lin. 17 vero] add. sup. lin. L c.
14 ille]
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Unus solaris annus ubilibet incipiatur lunarem unum eodem loco inceptum et xii lunaribus mensibus quorum unus xxix, | alter xxx dies 30r propter supradictam mensis lunaris longitudinem accipiat consummatum xi diebus superat. Duo solares anni duos lunares bis xi, id est xxiibus, excedunt diebus. Tres solares totidem lunares xxxiiibus diebus excellerent, nisi additus lunari anno xxx dierum primus embolismus mensis lunarem annum augeret solaremque cursum triennem iiibus tantum diebus lunari productiorem faceret. Quatuor solares anni iiii lunares iiibus ad xi adiectis, id est xiiii, vincunt diebus. Quinque solares totidem lunares xxv transcendunt diebus. Sex solares bis ternos lunares xxxvi diebus excederent, sed secundo adiecto embolismo senis solum diebus excellunt. Septem solares anni totidem lunares diebus vi et xi, id est xvii, vincunt. Octo autem solares octonos lunares xxviii diebus superare deberent, sed lunaris cursus iiio embolismo praemature ditatus iugem sui vincit victorem duobus illum diebus inferiorem faciens. Hi octo anni ogdoas dicuntur habentes secundum solem menses xcta vi dies vero sine bissextis iidccccxx, secundum lunam autem adiectis tribus embolismalibus mensibus menses xcviiii dies vero iidccccxxii. Novem vero anni solares ogdoadis sui damna recompensantes duobus ex xi adiectis ogdoadi viiii diebus totidem lunares annos praecurrunt. Decem itidem solares xx diebus denos transcendunt lunares. Undecim autem solares xxxi diebus totidem lunares excessissent, sed quarto embolismo adiecto lune succurrente uno solummodo die vincitur a sole. Duodecim solares anni xii lunares xii quoque diebus praecedunt. Tredecim itidem solares totidem lunares xxiiibus transeunt diebus. Quatuordecim vero solares xxxiiii diebus bis septenos lunares vincerent, sed vo embolismo lunari anno adiecto iiii dies solari restant tropheo. Quindecim quoque solares xv lunares xv eque transiliunt diebus. Sedecim porro solares xxvi diebus praeponderant totidem lunares. Septem et x autem solares xxxvii diebus totidem lunares praeirent, sed vito inserto embolismo vii diebus solaris adhuc cursus eminet. Decem et viii item solares xviii lunares xviii diebus eque triumphant. Decem et ix vero anni solares lunares totidem xxix superarent diebus, si hoc anno solaris lunarem xi ut in ceteris vinceret diebus, sed uno propter saltum lune de lunari anno subtracto solaris xii diebus 23 xxxi diebus] coni., xxxi die L, V, diebus xxxi K. eque] L, a L c sup. lin. 35 anno] add. in marg. L c.
33 diebus] L, b L c sup. lin. |
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illum superat. Et ideo solares anni xix lunares totidem plenis xxx diebus excedunt. Qui cum lunari cursui in viio embolismo adiciuntur, solis et v 30 lune cursus in xviiiili ciclo ad | purum, ut supra dictum est, coequantur. Hi quoque xi anni endecas vocantur habentes solis menses cxxxii, dies autem sine bissextis iiiixv, lune autem menses cxxxvi, dies autem 5 iiiixiiii. De quibus si unum propter saltum lune abstuleris et ogdoadem endecadi coniunxeris, in hoc ciclo xviiiinali vidcccctos xxxv dies absque bissextis invenies. xiii. Sed bissexti dies qui soli in mense februario, ut supra diximus, adi- 10 ciuntur lune quoque in eodem mense adduntur, cum luna eidem mensi deputata in bissextili anno xxx dierum computatur quae ceteris annis xxix dies in calculatione sortitur. xiiii. De saltu autem lune quem supra nominavimus nulla mihi facilior ac 15 verior ratio videtur, quam quod ideo tantum unius mensis lunam utpote iulii lunam vel, ut quidam volunt, novembris quae in ceteris annis xxxma computatur uno die minorem in ultimo vel primo anno calculamus, ut in xixnali ciclo solis et lune cursum coequemus. Si enim omnes menses lune consueto more ita alternamus, ut unum xxix, alterum xxx dierum 20 computemus et singulis vii embolismis xxx dies concedamus, nisi unum ex illis saltum xxxme alicuius lune facientes auferamus, lunarem cursum in novem et decem annis supra solarem uno die protelamus. xv. Sciendum quoque est quod primum lunarem annum a pascali novi- 25 lunio in ii nonas aprilis antiqui patres inchoant eo videlicet anno quo in kalendis ianuarii xxam viiam lunam computant, eodemque anno in iii kalendas augusti xxxam iulii lunam, quidam vero in xii kalendas decembris xxxam novembris saltum praedictum facientes transiliunt. Primum vero embolismi mensem iiio abhinc anno iiii nonas decembris, secun- 30 dum vi anno iiii nonas septembris, tertium viii anno ii nonas martii 5 autem] add. sup. lin. L c. annis] add. sup. lin. L c.
17 lunam] add. sup. lin. L c.
20 ita] add. sup. lin. L c.
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sive – ut quibusdam melius videtur, ne aliis argumentis repugnet – viii idus ianuarii, quartum xio anno ii nonas decembris, quintum xiiiio anno iiii nonas novembris, sextum xviio anno iiii nonas augusti, septimum xixo anno finiente iii nonas martii sive – propter praedictam in viii anno 5 causam – nonas ianuarii interponunt. xvi. Ideo autem tam diversis locis idem vii embolismi videntur inserti, quia singulis xii solis mensibus utpote aprili, maio, iunio et ceteris singuli lune menses deputantur, et cum embolismi menses, ut supra diximus, 10 procreverint, talia eis loca ubi intermisceantur posita sunt, ut veluti superflui cunctis mensibus calculantibus appareant et nullum lunarem mensem a solari suo penitus excludant, sed saltim unus dies omni solari mensi de suo lunari contingat. xvii. 15
His ita praemissis de regulis quibus lune etas invenitur aliquid breviter subscribatur. Sicut ergo ad inveniendas cuiuslibet diei ferias remanentes | dies super ebdomadas pro concurrentibus, sicut superius dictum 31r est, colligimus, sic quoque ad inveniendam quolibet die lune etatem remanentes super xii lune menses anni solaris dies pro epactis lunari20 bus congregamus. Nihil ergo aliud sunt epacte lunares nisi illi praedicti dies quibus singulis annis solares anni vincunt lunares qui ab xi incipientes et xi unoquoque anno ad augmentum sui assumentes, ubi xxx dierum unus mensis embolismalis completur, quod super eum remanet, pro epactis habetur, donec ad ultimum xii propter saltum lune adician25 tur et xxx epacte quae nulle dicuntur efficiantur, hoc modo: xi, xxii, iii, xiiii, xxv, vi, xvii, xxviii, viiii, xx, i, xii, xxiii, iiii, xv, xxvi, vii, xviii, nulle vel xxx. xviii. 30
Iterum sicut regulares feriarum tot cuilibet diei dati sunt quotam eo anno quo vii concurrentes sunt qui pro nullis accipiuntur feriam habuerit, sic etiam cuique diei tot ad lunam regulares a patribus 11 lunarem] L c, lunem L. xxx] add. sup. nulle L c.
21 anni] add. sup. lin. L c.
25–27 xi … xxx] in marg. L; vel
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deputati sunt quotam illi lunam eo anno quo in kalendis ianuarii viiii fit calculantes dederunt. Sed illi tantum regulares annotantur quos dies kalendarum in singulis mensibus sortiuntur utpote ianuarius viiii, februarius x, martius viiii, aprilis x, maius xi, iunius xii, iulius xiii, augustus xiiii, september xvi, october xvi, november xviii, december 5 xviii. Sed quidam qui saltum lune in iulii mensis luna ponunt et epactas lune a septembri incipiunt ipsi septembri v regulares tribuunt, octobri v, novembri vii, decembri vii et reliquis, ut supra posuimus. xviiii. Cum ergo quilibet anni solaris dies tot lunares habeat regulares quo- 10 tam in praefato anno habuerit lunam, cumque solaris annus lunarem xi vincat diebus his xi pro epactis primo anno singulorum regularibus dierum coniunctis, secundo anno xxiibus, tertio iiibus, et in ceteris annis ceteris quas supra diximus epactis coniunctis cottidie etatem lune reperies. Tantum cum unus integer mensis lunaris ex coniunctione procre- 15 verit, quod super eum remanserit pro etate lune tenebis. xx. Poteris quoque et hoc argumento a patribus tradito lunarem secundum illos etatem quolibet die reperire: Sume dies anni solaris praeteritos et eis etatem lune quam prima dies anni habuit adice. Et si embolismus 20 iam eo anno insertus est, unum adhuc adice, quia embolismus duos simul lune menses xxx dies facit continuatim habere. Hec omnia simul per lviiii divide, quia duo lunares menses tot dies videntur concludere, et si adhuc plus quam unus lune mensis remanet, hunc etiam tolle et remanet etas lune ipso quo quesiveras die. 25 31v
xxi. Ad epactas autem inveniendas hoc antiquo poteris uti argumento: Sume annos ab incarnatione domini secundum ciclum Dionisii et quia in primis epactis, id est xi, dominus creditur natus, eosdem annos quotquot fuerint per xviiii divide, quoniam per tot annos revolvuntur 30 epacte, et si nihil remanet nulle erunt epacte. Sin autem quicquid
14 coniunctis] add. in marg. L c.
31 remanet] L, vel remanserit L c sup. lin.
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remanserit, per xi multiplica, quia quot annis – xi ut dictum est – adiciuntur epactis, et cum multiplicaveris, xxx quotiens potueris tolle, et remanebunt anni praesentis epacte. Quodsi fuerint xxx vel minus, ipsa est epacta. 5
xxii.
Ad annum autem cicli xixlis inveniendum eosdem annos uno adiecto, quia secundo eius anno dominus est ut aiunt natus, per xix divide, et quot remanserint totus eiusdem cicli annus erit. Si nihil superfuerit, ultimum esse innotescit. Cum ergo supradictis regulis et aliis nonnullis, 10 sed ex hoc fonte derivatis secundum patrum traditiones etas inveniatur lunaris de indagatione temporis pascalis, quia cunctis res nota est, addatur regula brevis. xxiii. Veteris testamenti auctoritate et ecclesiastica patrum catholicorum institutione certi et multiplicis causa misterii que a domino Beda presbytero et aliis pluribus pleniter tractatur decretum est, ut pascalis temporis sacramentum non ante vernale, quod xii kalendas aprilis est, celebretur equinoctium, sed cum xiiiia luna in equinoctio vel post equinoctium primitus occurrerit, illa vesper ante et xva quae plenilunium facit terris 20 illucescente pascha iudeorum erit. Hec autem xiiiia luna nostri pasche terminus appellatur. Si ergo hec xiiiia luna die dominica evenerit, in sequenti dominica, id est in luna xxia, pascha nostrum erit. Si autem alia qualibet feria, mox proxima die dominica sanctum celebrabitur pascha. Unde contingit, ut paschalis diei luna non minor quam xva 25 nec maior quam xxia fieri debeat. Ipsa vero pasche dies non ante xi kalendas aprilis nec post vii kalendas maii, inicium vero primi mensis non ante viii idus martii nec post nonas aprilis. Porro xiiiia luna, id est terminus pasche, non ante xii kalendas aprilis, id est equinoctium, nec post xiiii kalendas maii contingat. 30 Sed ne diversitas lunaris discursus quae per xix annos ut dictum est variatur difficultatem vel errorem hanc xiiiiam lunam inveniendi aliquibus gigneret, primo Eusebius Palestine Cesaree episcopus, post eum plures alii patres loca eiusdem xiiiie lune, prout sibi oportunissimum et 15
24 contingit] coni., contigit L, contingit K, V.
326 32r
appendix
calculantibus facillimum visum est, per xix annos notaverunt, ut quilibet cognito die quo xiiiia luna evenit sine | labore diem pasche invenire queat. Quidam etiam, ut facilius eadem xiiiie lune loca memoria teneri quirent, quibus omnibus notis hec versibus compraehendit et regulares ferie eorundem locorum adiecit, ut iunctis anni cuiuslibet concurrenti- 5 bus feria quoque in qua xiiiia luna contingat inveniri valeat. xxiiii. Paschalis autem observatio temporis, quia secundum cursus utrorumque luminum lune videlicet et solis invenitur, non potest ante ciclum magnum pascalem in se redeuntem compleri quam ut singule lunares 10 epacte singulis concurrentibus solis uno pariter in anno conveniant. Sed quia lunares epacte xix annis, solares vero concurrentes xxviii annis revolvuntur, non possunt singule epacte singulis concurrentibus adunari, donec xes viiiies xxviii vel xxes viiies xviiii annos, id est dos xxxta iios, videas evolvi. Tot enim evolutis annis ciclus magnus pascalis effici- 15 tur post quem tota temporis pascalis diversitas denuo incipiens eodem quo transierat ordine repraesentatur. Hec de principalibus et necessariis compoti regulis et earum rationibus secundum patrum traditiones brevitati studentes elucubravimus cunctis nota et idcirco superflua dicentes, sed mei tamen necessariorumque meorum torporem excitantes et 20 memorie ingeniique tarditatem exercentes. xxv. Si quem autem fortassis curiosiorem et in talibus diligentiorem una mecum permoverit, que causa quisve error sit, ut lune etas compoto nostro regulisque antiquorum supradictis persepe non conveniat, sed 25 plerumque pridie, nonnumquam biduo – ut ipse dominus Beda fatetur et visus noster affirmat – prius quam primam computemus, luna non gracilis in celo appareat, et absurdum putaverit regulas sequendo lunam necdum esse contendere, cum omnibus vel rusticis clare novam liceat cernere, sciat se quaestionem admodum scrupulosam querere et 30 antiquam a pluribus quidem sepe temptatam, sed nondum ab aliquo quem mea parvitas attingere potuit cauta perscrutatione discussam. 2 pasche] L, vel pascalem L c sup. lin. 3 queat] L, vel possit L c sup. lin. 4 quirent] L, vel possint L c sup. lin. 10 ut] add. sup. lin. L c. 15 evolvi] L c sup. lin., volvi L. 15–16 efficitur] L, perficitur L c sup. lin.
abbreviatio compoti
327
xxvi. Denique summus compotistarum venerabilis presbyter Beda cum de hac quaestione dissereret et nullam de illa rationem ratam invenisset vel invenire, ut potius reor, onerosum duceret novissime ad divinam 5 et synodicam patrum auctoritatem quae xviiiinalem ciclum instituit se confugere dixit nec se subtilius aliquid quam a patribus accepisset de compoti regulis scribere perhibuit. Idem cum de quadrante, id est bissexto, lune pro quo xxxma in bissextili anno februario datur luna disputaret, postremo ita conclusit dicens: Quibus autem | quantisve 32v 10 temporum particulis idem lune quadrans accrescat maiore quesitu indiget. Namque cum ipso quadrante etiam crebra embolismorum interruptio et saltus quoque ratio, ne tota discursus lunaris mensura ad purum dinosci queat, obsistit. xxvii. 15
Sed quamvis hec quaestio tam difficilis a sapientibus habita non facile absolvi possit, tamen nullum vel simpliciter intuentem credo latere, quod in compoto nostro supradictum errorem de lunari maxime gignat etate. Constat enim compotum lune a maioribus nobis traditum partim propter calculandi facilitatem, partim propter lunaris mensis non ad 20 purum inventam quantitatem non per omnia naturalem lunaris discursus sequi rationem. Nulli quippe vel insano licet ambigere omnes lunares menses secundum nature constitutionem equalem longitudinem habere nec aliquando tardius citiusve solito lunam vel zodiaci circuitionem vel suam ad solem recursionem, id est mensem suum, peragere. 25 Sed facilitas computandi uni mensi xxx, alteri xxix dies maluit dare, quia unumquemque xxviiii dies et semissem vel xii horas credidit habere. Verum si nihil ultra illud temporis spatium haberet, in embolismis quoque et bissextilibus mensibus quorum singuli xxx, ut praediximus dierum computantur, eadem quae in ceteris mensibus alternatio 30 observari deberet nec esset quippiam quod illos ultra ceteros menses prolongaret. Si autem hos menses aliis calculatio coequaret, nequaquam in xixnali ciclo lune cursus conveniret cum solari, sed xix anni solares lunares totidem vii diebus et vi horis contra naturam et divinam humanamque auctoritatem – quod absit et abest – superarent.
18 nobis] add. sup. lin. L c.
27 spatium] add. sup. lin. L c.
328
appendix
Hoc autem licet tali modo facile probes: Decem et viiii anni solis ccxxviii solares menses habent, siquidem xes viiiies xii fiunt ccxxviii. Unusquisque autem solaris mensis, ut in principio diximus, habet xxx dies, x horas et semissem. Quem si ducenties xxes viiies duxeris vidccccxxxviiii dies et xviii horas, id est dodrantem diei, in xix annis 5 solaribus invenies. Decem et viiii vero anni lunares ccxxxv menses suos concludunt, vii videlicet embolismis ad superiores adiectis. Sed si uni mensi non amplius quam xxix dies et xii horas dederis et eum cces xxxes ves multiplicaveris, in xix annis lunaribus vidccccxxxiios tantum dies et xii horas deprehendis et vii dies cum vi horis lunari cursui ad 10 coequationem, ut diximus, solaris deesse videbis. xxviii. Hi autem dies vii et vi hore quamvis in bissextilibus et embolismis mensibus lunari cursui adiciantur, tamen, quia non ita ordinatim et parti33r culariter ut accrescunt coaptantur, | sed plerumque citius, aliquando 15 tardius quam natura poscat confuse et inordinate propter calculandi facilitatem conectuntur, procul dubio hunc de quo quaestio est efficiunt errorem, ut luna cuius cursus semper naturalis et equalis est nostri inequalem et minime naturalem, sed tantum facilitati studentem non sequatur computationem. Unusquisque enim lunaris mensis 20 tantum super xxix dies et xii horas accipit, ut paulatim embolismos et bissextiles menses compleat atque in cctis xxxv mensibus ad solares cctos xxviii quantitate temporis asspirare praevaleat, quamvis dominus Beda presbyter et alii quidam compotiste non caute hoc, ut reor, pervidentes ex ipsa xiia hora aliquantulum auferre conentur, unde saltus lune ratio- 25 nem machinantur. Verum quanta hec sit super xxix dies et xii horas morula, sepe quidem pluribus quaerendi studium movit, sed utrum ab aliquo inventum sit, adhuc sub iudice lis est. xxviiii. Denique Columbanus cum hoc sagaciter de saltu lune loquens vesti- 30 garet, lunarem mensem super praefinitam quantitatem semissem hore et x pene momenta, id est quadrantem hore, dixit habere. Pene autem ambigue idcirco adiecit, quia plene illum tantum recipere non posse
17 facilitatem] add. sup. lin. L c.
30 loquens] add. sup. lin. L c.
abbreviatio compoti
329
perspexit. Si enim quisque lunaris mensis tantum plene reciperet, ccti xxv menses lune vidccccxxxviiii dies, xx horas et x momenta complecterent, sic duabus horis, x momentis ccxxviii menses solis superarent. Vel si excedere nolles, viiii menses illis x momentis carerent et idcirco 5 breviores ceteris forent, quod neutrum fieri posse omnibus liquet. xxx. Nos vero licet inertes et extimis antiquorum compotistarum longe hebetiores, ne tamen operam nostri diu in talibus expensam incassum consumpsisse videamur, sepedicti mensis quantitatem ad certum, ut stu10 diosis constare poterit, vestigatam definire conemur prius admonere curantes quot qualesve particulas hora quaelibet suis distinctas vocabulis secundum priores calculatores accipiat, quatinus per ipsas quod proposuimus caute distribui valeat. xxxi. 15
Habet ergo hora una punctos solares iiii, punctos vero lunares v, minuta x, partes xv, momenta xl, ostenta lx, athomos xxiidlx. Sicque puncto solari vdcxl athomi, lunari autem iiiidxii, minuto iicclvi, parti idiiii, momento dlxiiii, ostento ccclxxvi eveniunt. xxxii.
20
Ergo si computandi accinctus peritia lunaris quantitatem mensis incunctanter velis compraehendere, totum xixnalem ciclum id est vidccccxxxviiii dies et xviii horas, per ccxxxv menses lunares videlicet eiusdem cicli divide et unicuique xxix dies et xii hore evenient, et adhuc vii dies et vi hore, sicut supra diximus, supersunt. | Has iterum 33v 25 minutatim in minora diminuens horarum que diximus spacia mensibus praedictis distribue et quantum cuique mensi ex his contingat invenire contende. Sed quia non facile ab omnibus hoc agi recte poterit, quanta ex his singulis mensibus portio veniat summatim dicamus cuilibet diligenti probandi quae dicimus facultatem rebus relinquentes.
15 iiii] L, num. arab. aequ. sup. lin. L c. | v] L, num. arab. aequ. sup. lin. L c. 16 x] L, num. arab. aequ. sup. lin. L c. | xv] L, num. arab. aequ. sup. lin. L c. | xl] L, num. arab. aequ. sup. lin. L c. | lx] L, num. arab. aequ. sup. lin. L c.
330
appendix
Ergo singulis ccxxxv lune mensibus ex vii sepedictis diebus et vi horis super xxviiii dies et xii horas iio solares puncti, xiiii ostenta et athomi clx, id est cxl una pars hore unius, eveniunt; sive puncti lunares iii et ostenta viii athomique item clx; sive minuta vii, ostenta ii cum athomis itidem clx; sive partes xi adiectis item clx athomis; sive momenta xxviiii 5 et athomi cccxlviii; sive si de una hora xlvii minora momentula feceris, talia momentula xxxiiii et iiiior quintae unius, id est ccclxxxiiii athomi; sive ostenta xliiii et athomi clx; sive pure athomi xvidcciiii. Quodlibet ergo horum malueris super xxix dies et xii horas lunari mensi adicito et longitudinem eius certam habeto. 10 xxxiii. Sed si quis segregatim cupiat scire, quantum in lunari mense ad incrementum accrescat bissextile vel etiam ad supplementum veniat embolismale, huius quoque diligentie non gravemur prout possumus satisfacere: In xix denique ciclo iiii bissextiles dies et dodrantem unius 15 diei unius, id est xviii horas, constat accrescere. Has si per ccxxxv menses cures dividere, in unoquoque eorum punctum solarem unum et ostenta xiiii et athomos xl que dmam lxmam iiiiam partem hore unius faciunt ad bissexti augmentum videbis procrescere; sive punctos ... duos, ostenta v et athomos item xl; sive minuta iiii, ostenta v et athomos xl; 20 sive partes vii, ostentum unum et athomos item xl; sive momenta xix et athomos ccxxviii; sive minora quae diximus momentula xxii et iiii vas scilicet momentuli unius, id est athomos ccclxxxiiii; sive ostenta xxviiii et athomos xl; sive puros athomos xdccccxliiii. xxxiiii.
25
Porro vii embolismi ad completionem suam tres dies et semissem, id est xii horas, quererent, si uni ex lunaribus mensibus unus dies propter saltum lune ablatus non esset. Nunc autem ad completionem cicli xixnalis duo dies et xii hore embolismis attribute sufficiunt. Quas si per cctas xxxta v menses diviseris, in unoquoque ad supplementum embolismale 30 punctum solarem unum et athomos cxx, id est clxxxviii partem hore 7 quintae] L, scilicet momentule L c sup. lin. 15 denique] add. sup. lin. L c. 16 diei] add. sup. lin. L c. 19 ... scrips. sed eras. L, lunares K, solares V. 20 et] add. sup. lin. L c. 20–21 sive minuta iiii … item xl] add. in marg. L c. 23 scilicet momentuli] add. sup. lin. L c. 31 hore] add. sup. lin. L c.
abbreviatio compoti
331
unius, videbis procrescere; sive punctum lunarem unum et ostenta iii et athomos item cxx; sive minuta iio et ostenta iiia cum athomis item cxx; sive partes iii et ostenta iii, athomos item cxx; | sive momenta x 34r et athomos item cxx; sive minora momentula dumtaxat xii; sive ostenta 5 xv cum athomis cxx; sive solos athomos vdcclx. xxxv. Cum ergo hec sit certissima lunaris mensis quam supra diximus longitudo, sed propter minutissimam athomorum adiectionem aliquibus fortassis minus calculandi idoneis scrupulosa, compendiosiori et forsi10 tan faciliori idipsum calculatione paucioribus numeris utenti ostendere conemur cuius officio in his que dicenda sunt deinceps utamur. Quam eiusmodi esse volumus, ut xcvi athomos in unum redigamus sicque de una hora ccxxxv particulas faciamus de quibus xlvii unusquisque lunaris accipiat punctus. Secundum hanc ergo calculationem mensis lunaris 15 super xxviiii dies et xii horas iii punctos lunares et xxxiii tales particulas recipit. E quibus ad incrementum bissextile ii punctos lunares et xx particulas, ad supplementum autem embolismale punctum i et particulas xiii constat accedere. In anno autem communi id est xii mensibus lunaribus ad bissextile augmentum v hore, puncti iiii et v particule, ad 20 embolismorum vero completionem iii hore et xv particule accrescunt. Porro in anno embolismali, id est in xiii mensibus lune, ad bissextum vi hore, punctus i et particule xxv, ad embolismos autem hore iii, punctus i et particule xxviii propagantur. xxxvi. 25
Age ergo, quoniam que causa errorem de lune etate in compoto nostro efficiat iuxta inertie nostre modulum absolvimus et perplexam lunaris mensis quantitatem diu a nobis vestigatam indubitanter secundum equalem xixnalis cicli inter menses eius divisionem variis temporum minutiis diffinivimus, omni studio accingamur et certas regulas secun30 dum praefixam lunaris mensis longitudinem ad antiquarum imitationem regularum elaborare satagamus, quibus non solum certum lunaris incensionis diem, sed etiam horam et punctum, nisi forte aut solis et
4–5 sive minora … athomis cxx] add. in marg. L c. 16 lunares] add. sup. lin. L c. particule] add. sup. lin. L c. 22 et particule … propagantur] usq. in marg. L.
22–23
332
appendix
lune cursus in xixnali ciclo pura quam credimus coequatio aut omnium lunarium mensium equa longitudo nos fallat, secundum naturalem calculationem invenire possimus. Ubi primum lectorem volumus ammonere omnes lune menses sicut in natura credimus sic etiam in computatione equalis nos longitudinis facere nec embolismos vel bissextiles menses ultra ceterorum quantitatem prolongari nec aliquem propter saltum lune qui quantum ad naturam nihil est a nobis adbreviari. Deinde perpendendum diligenter putamus, quantum solaris mensis lunarem mensem naturalem superet, quod facile requirentibus utriusque considerata quantitate liquet. 34v Solaris quippe, ut dudum dictum est, xxx dies, x horas et semissem, | lunaris autem xxix dies, xii horas, iii lunares punctos et xxxiii particulas, ut paulo ante diximus, recipit. Sicque solaris lunarem horis xxi, punctis iii et particulis xxxvii et semisse superat. Hec xiies multiplices et annum solarem unum diebus x, horis xxi et particulis xxvii lunarem unum excellere perspicies. Solaris namque annus, ut notum est, ccclxv dies et horas vi, lunaris vero xii mensibus lune exactus, si caute subputetur, cccliiii dies, viii horas, iiii punctos et xx particulas habere probatur. Unde manifestum est de illis xi diebus quibus solaris annus lunarem vincere credebatur et unde epactarum lunarium sollertia sumebatur, iii pene horas deesse ideoque omnium epactarum structuram non firmiter locato fundamine necessario aliquantulum vacillare.
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xxxvii. Nos vero in hoc proposito nostro non computationis facilitati, sed 25 nature veritati prout inertie inbecillitas permittit operam dantes praefatos x dies, xxi horas et xxvii particulas quibus solaris certissime lunarem superat annum pro primis epactis habeamus, quibus secundo anno ac iiio et ceteris tantundem ad reliquas epactas inveniendas adiciamus. Et cum unum mensem lunarem integrum quem embolismum dicimus 30 congregaverint, non ei xxx dies plenos deputemus, sed ceteris illum mensibus equalitatis rationem sequentes coequemus et quod super eum remanserit pro certis epactis teneamus, donec xo viiiio anno unus perfectus mensis lunaris, id est vii embolismus, ex ipsa adiectione procrescat, pro quo nullas epactas ipse annus possideat. 35 9 solaris] coni., solares L. L c.
10 facile] L, facillime L c sup. lin.
14 et semisse] add. in marg.
abbreviatio compoti
333
Sed ne hec omnia singulatim explanando diutius immoremur, ipse ordinatim epacte summa cautela, ut probari poterit, computate subscribantur, in quibus, quantum annuatim lunares anni a solaribus superentur, visui lectoris incunctanter ostendatur quousque ciclus decenno5 venalis qui illos coequari compellat legitime terminetur, hoc modo: epacte anni
dies
hore
ii iii iiii v vi vii viii viiii x xi xii xiii xiiii xv xvi xvii xviii xix i
x xxi iii xiii xxiiii vi xvii xxvii viiii xx i xii xxiii iiii xv xxvi vii xviii xxix
xxi xviii ii xxiii xx v ii xxiii vii iiii xiii x vii xv xiii x xviii xv xii
puncti particule i iii iii iiii i i ii iiii iiii i ii ii iiii ii iii iii
xxvii vii i xxviii viii ii xxix viiii iii xxx xxiiii iiii xxxi xxv v xxxii xxvi vi xxxiii
xxxviii. Videsne queso, diligens computator, ut ex equa adiectione | x dierum, 35r xxi horarum et xxvii particularum quibus solaris lunarem superat annus unus ad ultimum lunaris mensis xxix dies, xii horas, punctos iii 10 et xxxiii particulas naturaliter habens pure collectus sit? Quem cum pro vii embolismo lunari anno xixmo addideris, lunarem cursum cum solari ad purum coequari videbis; ideoque ipsum mensem pro nullis habemus epactis, quia post tot annos nihil inter se differunt anni lune et solis. Nihil enim aliud dicuntur lunares epacte nisi annorum solarium a 15 lunaribus in quantitate temporis differentie et ideo, cum nihil differunt, nulle quoque epacte erunt. Harum autem epactarum talis ratio et utilitas esse dinoscitur.
3 anni] add. sup. lin. L c.
10 cum] add. sup. lin. L c.
334
appendix
Quamcumque etatem luna qualibet die vel hora vel puncto vel potius particula puncti habuerit, si te quam etatem post annum solis, id est ccclxv dies et vi horas, habitura sit scire libuerit, vide quot sint prime epacte quibus solaris annus lunarem vincit et tantum praesenti etati adiciens etatem lune quam quesisti invenies. Si post duos annos iias epactas, si post iii iiias epactas, si post plures ceteras ordinatim quas diximus epactas adicito et lunarem etatem post quotlibet solis annos certissimam invenito, donec xx anno inchoante luna eadem qua et nunc luceat etate. Si autem ante solarem annum quota luna etate fuerit scire animus sit, ultimas epactas, id est xviii dies, xv horas, iii punctos et vi particulas – quibus lunaris annus embolismus xiii videlicet mensibus computatus solarem annum superat – praesenti etati adice. Si ante duos annos penultimas epactas, si ante tres antepenultimas, si ante plures reliquas retrogradiens epactas adde, et semper si ex adiectione lunaris mensis excreverit, ipsum dimitte et quod superfuerit certam lune etatem indicabit. Sed hoc secundum solis annos naturales, ceterum qualiter in annis vulgaribus qui reservato in quartum annum bissexto vi horis breviores sunt idem observandum sit posterius, si potuerimus, breviter absolvamus. Nunc de regularibus lune qui epactis debent adici paucula que possumus dicere properemus.
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xxxviiii. Quia ergo hec est, ut diximus, epactarum natura, ut uni lune etati coniuncte post vel ante annum unum vel plures futuram vel praeteritam eius etatem manifestent, necessarium est, ut in uno aliquo xixnalis cicli 25 anno omni die vel potius hora quota sit etas lunaris sciatur, quatinus quisque dies tot regulares perpetim sortiatur; quibus epacte singule in certis annis ad inveniendam lune etatem adiungantur, donec xixo anno, cum nullas habemus epactas, luna ad eandem singulis diebus etatem 35v revertatur. | Siquidem et antiqui, ut superius dictum est, tot regula- 30 res diebus kalendarum dederunt, quotam in eis lunam eo anno quo in kalendis ianuarii viiii creditur computaverunt quibus annuatim epactas ad dinoscendam lunam addiderunt.
10 scire] add. sup. lin. L c. 11 particulas] coni., eparticulas L, particulas K, V. add. sup. lin. L c. 15 excreverit] usq. in marg. L. 25 cicli] add. in marg. L c.
14 ex]
abbreviatio compoti
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Sed parvitas ingenioli mei non alio certius vel rationabilius xix cicli anno lune etatem secundum divine auctoritatem scripture invenire posse se credit quam eo quo in equinoctio vernali vesperascente, id est xii kalendas aprilis, plenilunium evenit. Nam sicut doctissimus presbyter Beda in libro de temporibus maiore docte et probabiliter asserit, prima saeculi nascentis dies illa fuerat quam nunc xv kalendas aprilis usus latinitatis vocat. Et quarto saeculi die, id est xii kalendas eiusdem mensis, illucescente sol in vernalis equinoctii parte positus a medio orientis creditur emersisse et eodem occidente luna cum stellis plenissima. Neque enim inperfectum conditor equissimus condidisset, autumnalis equinoctii locum tenens terris creditur illuxisse. Quodsi hoc, uti ratio credi persuadet, nature veritas habet lunam scilicet in vernalis equinoctii vespere plenam fuisse creatam de hac sola eius etate singulis anni illius primi diebus, horis et punctis certas eius haut difficulter investigare possumus etates. Sed inpraesentiarum illas tantum eius etates sufficit annotare quas illi dies qui nunc kalendae mensium vocitantur in occasu solis inchoantes habuere, ut he pro regularibus mensium singulorum habite adiunctis supradictis epactis lune etates in kalendis mensium singulorum omni anno possint declarare. Has autem etates quas pro regularibus lune habituri sumus, hoc modo rationabiliter et facile invenimus: xl.
Primum ergo quia in dimidio mense lunari semper plenilunium fit, supra sepius difinitum lune mensem naturalem in duo equa dividamus 25 et medietatem eius, id est xiiii dies, xviii horas, i punctum, xl particulas, pro etate lunae quam in equinoctii vespere, cum primum creata est, habuit teneamus. His x dies qui adhuc usque ad kalendas aprilis sunt conectimus et regulares aprilis xxiii dies, xviii horas, i punctum, xl particulas habemus. Quibus si dies aprilis xxx iungimus, fiunt liiii 30 dies, xviii hore, i punctus et xl particule. Ex quibus si lunaris integritatem mensis amputamus, etatem lune in kalendas maii, regulares eius, id est xxv dies, v horas, iii punctos et vii particulas, remanere videmus. Et ut generaliter dicamus, cuiuscumque mensis regularibus dies eiusdem mensis adiunxeris eisque coniunctis lunarem semel aut bis si
5 Beda] add. sup. lin. L c. 11 creditur] add. sup. lin. L c. semel aut] add. in marg. L c.
12 credi] add. sup. lin. L c.
34
336
appendix
poteris mensem adimis sequentes regulares mensis superesse videbis. Sed ne longum faciamus, eosdem regulares qui singulis eo anno contingebant mensibus vespere videlicet inchoantibus ab aprili exordientes 36r summatim subnotemus, hoc modo: |
Apr. Mai. Iun. Iul. Aug. Sep. Oct. Nov. Dec. Ian. Feb. Mar.
dies
hore
puncti particule
xxiiii xxv xxvi xxvii xxviii
xviii v xvi iiii xv xiii i xii xxiii x xxii viiii
i iii iiii
i ii ii iiii v iiii
ii iiii ii iii iiii i ii
xli.
xl vii xxi xxxv ii xxx xliiii xi xxv xxxix vi xx 5
Hic ergo xix cicli annus in quo tota, ut praenotavimus, luna kalendarum contingit diebus propter mundane creationis exordium a nostra fatuitate primus computaretur etatesque lune praesignate pro regularibus mensium singulorum haberentur, nisi hunc ecclesiasticus usus sextum posuisset eumque quem calculatio nostra xvmum numerari vellet 10 primum haberi decrevisset. Sed quia in ciclo ubilibet inicium capere rationi non multum obsistit, nos quoque, si placet, eundem quem consuetudo postulat annum primum computemus etatesque lune quae in eo singulis kalendarum diebus eveniunt pro singulorum regularibus mensium teneamus. Ut autem easdem etates seu regulares rationis 15 ducatu investigemus, ab eo anno quem praenotavimus qui et quantum ad naturam primus extat ad hunc usque quem primum usus usurpat examussim calculando perveniamus. Quod si rite faciemus, hanc eo anno in kalendis mensium singulorum etatem lune reperiemus.
3 videlicet] add. sup. lin. L c.
17 primus] add. sup. lin. L c.
abbreviatio compoti
Ian. Feb. Mar. Apr. Mai. Iun. Iul. Aug. Sep. Oct. Nov. Dez.
dies
hore
puncti particule
viiii x viiii x xi xii xiii xiiii xvi xvi xviii xviii
ii xiiii i xviii v xvii iiii xv ii xiiii i xii
iiii i iii iiii ii iii iiii i ii iii
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xvii xxxi xlv xii xxvi xl vii xxi xxxv ii xvi xxx
Paulo superius lunares epactas quibus solares anni lunares exuperant, prout potuimus, diligentissime descripsimus. Nunc vero etates lune in kalendis mensium singulorum et in eo qui primus in xixnali ciclo computatur et in eo qui ab hoc vius est anno pro regularibus lune 5 ratione supradicta vestigatas designavimus, ut supradictis epactis ad hos regulares coniunctis in quolibet anno, die, mense vel hora absque errore etas inveniri possit lunaris. xlii. Ergo in primo xviiiinalis cicli anno totam in singulorum mensium kalen10 dis lunam computamus, quotam eis pro regularibus supra deputavimus. Huic ergo etati in secundo anno primas epactas quibus unus solaris annus lunarem unum superat connectimus et tanto maiorem in singulis kalendis lune etatem necessario habemus. In iiio secundas, in quarto tertias, in vo iiiitas et in ceteris ordinatim ceteras eidem etati quae in 15 primo evenit anno coniungimus et in singulis annis etatem lune necessaria ratione reperimus. Tantum si plus quam lunaris mensis naturalis ex copulatione procreverit, ipsum amputamus et quod superabundaverit pro etate lune teneamus. xliii. 20
Sed ut uno quod dicimus facile colliquescat exemplo, sit propositum 36v invenire quota in praesenti anno xviiiinalis videlicet cicli secundum usum xvii inchoantibus kalendis ianuarii lune etas debeat contingere. Sumo 6 die] L, b L c sup. lin. | mense] L, a L c sup. lin.
338
appendix
suprascriptos ianuarii mensis regulares, id est viiii dies, ii horas, iiii punctos, xvii particulas, his adicio xvimas quae superius posite sunt epactas, videlicet xxvi dies, x horas, xxxii particulas, et fiunt simul omnes xxxv dies, xiii hore et due particule. Ex his lunarem mensem, id est xxix dies, xii horas, iii punctos et xxxii particulas, adimo et 5 remanent vi dies, i punctus et xvi particule et totam in kalendas ianuarii lune etatem dico. xliiii. Si vero vitum xixnalis cicli annum propter mundane creationis exordium primum computare magis volumus, nihilominus in praesenti anno 10 qui secundum eam calculationem in xixnali ciclo xiius est lune etatem invenire possumus. Sumo regulares ianuarii, id est etatem lune quae primo anno illi diei contingit quo kalende eius sunt, videlicet iiii dies, x horas, iiii punctos et xxxix particulas. His ximas epactas, id est i diem, xiii horas, unum punctum et xxiiii particulas coniungo, 15 et vi dies, i punctum et xvi particulas etatem scilicet lune quam et superius habeo. Sic ergo utrumlibet ex praefatis annis primum in xixnali ciclo habere malueris, unam eandemque etatem in kalendis initiisque mensium in quolibet anno invenire poteris. Initia vero mensium non semper eadem hora naturaliter inchoare memineris, sed propter vinas 20 bissextilis incrementi horas nunc vespere, nunc noctis medio, nunc vero mane et interdum meridie eorum noveris exordia, ut posterius quoque monebimus, alternari. xlv. Infra mensem vero quolibet die vel hora sic inquiratur, quantum ab 25 incensione sua etatis habeat luna. Totum ab initio mensis usque in horam qua lune etas queritur transactum tempus sumatur. Huic etas lune quae in mensis initio inventa fuerit adiungatur et quantum ex coniunctione illa nascitur tanta lune etas dicatur, si lunaris mensis ab illa quantitate non superatur. Si vero summa illa lunarem mensem 30 exuperat, ipse amputetur et quod superabundaverit pro etate lunari teneatur.
13 illi] add. in marg. L c.
abbreviatio compoti
339
xlvi. Item ad inveniendam qualibet hora lune etatem transactum ex anno usque ad eandem horam totum tempus sumatur, huic lune etas quae in principio anni fuerat coniungatur, ex hac simul summa lunaris mensis 5 quantitas quotiens possit adimatur et lune quae queritur etas superesse sciatur. xlvii. Ut autem calculationis labor minuatur, hanc subscribere paginulam diligenti cura studuimus in qua per singulos xix cicli annos quota in 10 singulorum initiis mensium lune etas eveniat sine labore suo calculator – nisi forte scriptorum vitio depravetur – caute annotatum inveniet. xlviii. Etas lune in kalendis mensium Aprilis anni vi vii viii ix x xi xii xiii xiiii xv xvi xvii xviii xix i ii iii iiii v
i ii iii iiii v vi vii viii viiii x xi xii xiii xiiii xv xvi xvii xviii xix
Maii
37r Iunii
dies
hore punctiparticule
dies
hore punctiparticule
dies
hore puncti particule
xxiiii vi xvi xxvii viiii xx i xii xxiiii iiii xv xxvi vii xviii xxix x xxi iii xiii
xviii ii xxiii xx v ii x vii v xiii x vii xvi xiii x xviii xv
i iii iiii iiii i ii iiii iiii
xxv vi xvii xxviii viiii xx i xii xxiii v xv xxvi viii xix
v xiiii xi viii xvi xiii xxii xix xvi
xxvi viii xviii
xvi i xxii vi iii
xxi
i
ii ii iii i iii iii
5 quantitas] add. in marg. L c.
xl xxxiiii xiiii xli xxxv xv viiii xxxvi xvi x xxxvii xvii xi xxxviii xviii xii xxxix xxxiii xiii
xi xxii iii xiiii
iii i iii iii
i i iii xxi iiii xviii iiii iii i ii viii iii v iiii iii xi ii viii ii
vii i xxviii viii ii xxix xxiii iii xxx xxiiii iii xxxi xxv v xlvi xxvi vi xxvii
12 xlviii … mensium] addidi.
xi xxii iii xiiii xxv vi xvii xxviii viiii xx i xii xxiii iiii xv
viiii vi iii xi viiii vi xiiii xi xx xvii xiiii xxii xix
iiii i i iii iiii iiii i ii ii iiii ii iii i iii iii
xxi xv xlii xxxvi xvi xliii xxxvii xvii xliiii xxxviii xviii xlv xxxix xviiii xiii xl xx xiiii xli
340
appendix Iulii
anni vi vii viii ix x xi xii xiii xiiii xv xvi xvii xviii xix i ii iii iiii v
dies i ii iii iiii v vi vii viii viiii x xi xii xiii xiiii xv xvi xvii xviii xix
xxvii viii xix
iiii xii viiii xviii xi xv xxii xii iii xx xiiii xvii xxv xiiii vi xxiii xvii xx xxviii xvii x i xx xxii ii vii xiii iiii xxiiii i v viiii xvi vii
37v
Augusti
hore punctiparticule ii iii i iii iii iiii i i ii iiii iiii i ii ii iiii
xxxv xxix viiii iii xxx x iiii xxxi xi v xxxii xii vi xxxiii xxvii vii xxxiiii xxviii viii
hore punctiparticule
dies
xxviii viiii xx ii xiii xxiii v xvi xxvii viii xix xi xxii iii xiiii xxv vi xvii
xv xxiii xx v ii xxiii vii iiii ii x vii xv xiii x xviii xv xii xxi xviii
xi xxii iii xiiii xxv vi xvii xxviii viiii xx ii xiii xxiii v xvi xxvii viii xix
hore punctiparticule
Octobris anni vi vii viii ix x xi xii xiii xiiii xv xvi xvii xviii xix i ii iii iiii v
i ii iii iiii v vi vii viii viiii x xi xii xiii xiiii xv xvi xvii xviii xix
hore punctiparticule
dies
i xi xxii iiii xv xxv vii xviii xxix x xxi ii xiii xxiiii v xvi xxvii viii xix
i xxii xix iii
ii xiii xxiiii v xvi xxvii viii xix
xxii vi iii
i ii iii
viiii vi xiiii xi viii xvii xiiii xi xix xvi
ii iii iii i i iii iiii
xliiii xxiiii iiii xlv xxv v xlvi xxvi vi xxvii xxi i xxviii xxii ii xxix xxiii iii
xii viiii vi xv xii viiii xvii xiiii xxiii xi xx xxii xvii iiii i xiiii xxii xxv xix vii iiii xviii i xxviii xxii x vi xxi iiii
Ianuarii anni vi vii viii ix x xi xii xiii xiiii xv xvi xvii xviii xix i ii iii iiii v
i ii iii iiii v vi vii viii viiii x xi xii xiii xiiii xv xvi xvii xviii xix
ii iii iiii i i ii iiii iiii ii ii iiii i ii iii iiii i
ii xliii xxiii xvii xliiii xxiiii xviii xlv xxv xix xlvi xl xx xli xxi i xlii xxii
Novembris
dies
i ii iii iiii
Septembris
dies
hore puncti particule xiii xi viii xvi xiii x xix xvi xiii xxi xviii iii
iiii ii iii iii
xxi v ii
i i iii iiii i i ii iiii iiii
viii v
ii ii
xxx x xxxvii xxxi xi xxxviii xxxii xii xxxix xxxiii xiii vii xxxiiii xiiii viii xxxv xv viiii xxxvi
Decembris
ii ii iii
xi xxxviii xviii xii xxxix i xix iii xiii iii xl xxxiiii i xiiii i xli iii xxxv iiii xv iiii xlii i xxxvi ii xvi ii xliii iiii xxxvii xvii
dies
hore puncti particule
ii xiii xxiiii vi xvi xxvii viiii xx i xii xxiii iiii xv xxvi vii xviii xxix x xxi
xxiii xx xvii ii xxiii xx iiii ii x vii iiii xiii x vii xv xii viiii xviii xv
Februarii
iii iiii iiii i ii ii iiii ii ii iii i iii iii iiii ii i
xxv v xxxii xxvi vi xxxiii xxvii vii i xxviii viii ii xxix viiii iii xxx x iiii xxxi
Martii
dies
hore punctiparticule
dies
hore punctiparticule
dies
hore puncti particule
iiii xv xxvi vii xviii xxix x xxi ii xiii xxiiii vi xvi xxvii viiii xix i xii xxiii
x viii v xiii x vii xvi xiii xxi xviii xv
v xvi xxvii viiii xix i xii xxiii iii xv xxvi vii xviii xxix x xxi ii xiii xxiiii
xxii xix xvi
iiii xv xxvi vii xviii xxix x xxi ii xiii xxiiii v xvi xxvii viiii xix i xii xxiii
ix vi iii xii viiii vi xiiii xi xx xvii xiiii xxii xix xvii i xxi vi iii i
iiii ii iii iiii
i iii iii iiii i xxi i xviii ii ii iiii xxiii iiii viii i v ii ii ii
xxxix xix xlvi xl xx xli xxi xv xlii xxii xvi xliii xxiii xvii xliiii xxxviii xviii xlv
xxi vi iii viii vi iii xi viii v xiiii xi xix xvi xiii
i i ii iiii iiii i ii ii iiii ii iii iii i iii iii iiii
vi xxxiii xiii vii xxxiiii xxviii viii xxxv xxix ix xxxvi xxx x xxxvii xxxi xi v xxii xii
ii iii iii i i iii iiii i ii iii iiii i ii iiii iiii
xx xxvii xxi i xxviii xxii ii xliii xxiii iii xliiii xxiiii iiii xlv xxv xix xlvi xxvi
II. Prognostica de defectu solis et lunae Prognostica eiusdem Heremanni de defectu solis et lune necnon de 38r equali lune per zodiacum discursione et ad solis coitum recursione i. 5
10
15
20
25
Luna ut notum est unoquoque mense, id est a coitu suo cum sole usque ad proximum coitum, totum zodiaci ambitum circuit et insuper, quantum sol toto ipso mense cucurrit. Unde fit, ut in xix annis, id est ccxxxv mensibus suis, in quibus cum solari cursu coequatur, xix vicibus amplius quam numerus sit mensium, id est ccliiii vicibus, zodiaci circulum eam lustrare necesse sit. Verum in eo circuli spatio quo semel zodiaci circulum permetitur, totam etiam latitudinem eius quae xii partium computatur, ut Calcidius Macrobiusque testes sunt, a septentrionali extremitate ad australem emetiendo indeque rursus remetiendo sicque eclypticam lineam bis transeundo pervagatur. Certum vero est, quod quotienscumque luna eclipticam lineam attingit, si ipsa hora coitus eius cum sole qui circa eandem semper cursitat lineam convenerit, interventu et obiectu ipsius solaris nobis defectio luminis contingit vel, si plena tunc diametro a sole distiterit, ipsam terrene molis umbram incurrere terreque obpositione ab aspectu solis prohiberi eoque eam eclipsin pati necesse est. Unde si placet, quanto temporis spacio zodiacum lustret circulum diligentius vestigemus scilicet temporis quantoque solis repetat coitum non segnius respiciamus quatinus horum alterna collatione, quando alterutrius luminis defectus naturaliter accidat, nisi forte latens aliqua eorum cursus inequalitas nos fallat, domino donante, sicut de nonnullis legitur philosophis, invenire valeamus. ii.
Ergo Plinius aliique quam plurimi maiores nostri lunam unumquodque signum duobus diebus, vi horis et bisse unius hore, totum vero zodiacum in xxvii diebus et viii horis dixerunt transcurrere. Sed mihi diligen30 tius inquirenti quadrante hore unius et paulo plus citius illo temporis spacio videtur peragere. Quod facile licet hoc modo probes: 1 xxviii] K, xxxiii L, V. lin. L c.
9 circuli] L, temporis L c sup. lin.
21 scilicet temporis] add. sup.
342
appendix
Xix annorum ciclus in quo, ut omnes consentiunt, lunaris cum solari cursus coequatur, vidccccxxxix dies et xviii horas habere probatur. Sed si luna in una circuitione signiferi xxvii dies et viii horas plenas consumeret, nimirum in ccliiii circuitionibus vidccccxlii dies et xvi horas sibi usurparet atque lxx horis, id est duobus diebus ac deunce, id est xxii horis diei, ad legitimum terminum iusto tardius occurreret. Si vero una circuitio xxvii diebus et vii tantum horis contenta foret, cces les iiiiter repetita vidccccxxxii dies cum duabus horis conficeret atque clxxxiiii horis, id est vii diebus et xvi horis, iusto citius statutam metam praeoccuparet. Unde constat unumquemque lune circuitum super xxvii 38v dies et vii horas ali|quantulum accipere nec tamen ad integram octave hore completionem pervenire. Quare minutatim diligenti quaerendum restat, quantum de viiiva hora ad circuitionem suam assumat, ut cces les iiiiter circumacta decennovenali solis cursui concordare valeat. Sed ne longius vestigando pergamus, ut uni eius circuitioni super xxvii dies viique horas interim bissem, semunciam et sextulam hore unius deputemus eamque cces les iiiiter ductam vidccccxxxix dies et xvii horas cum quincunce et duella unius hore concludere et semissem tantum hore cum semuncia et sextula pure coequationi deesse videmus. Quodsi hoc non contentus minutius adhuc semissem illum cum semuncia et sextula singulis distributionibus distribuere coequationique magis appropiare conatus fueris, priori summe, xxvii scilicet diebus, vii horis, bisse, semunciae et sextulae, adhuc obolum et calcum adice eamque ut supra per cctas liiii scilicet circuitiones ductam vidccccxxxix dies et xvii horas, deuncem, semiunciam, duellam, dimidiam sextulam, obolum, ceratem probabis continere tantumque scripulum et ceratem hore puritati coequationi deesse. Si vero nec adhuc contentus ad ipsam nihilo impediente metam pervenire contenderis, omissis interim consuetis minutiarum temporumque particulis, utpote quibus nullo modo ad integrum id perfici posse probare poteris, de una hora cxxvii portiunculas, quo videlicet hoc minimo numero fieri poterit, efficito et unamquamque lune circuitionem super xxvii dies viique horas tales portiunculas xcii complere certum habeto. Nam xix anni, id est vidccccxxxix dies et xviii hore, per ccliiii lune circuitiones distribute unicuique xxvii dies cum vii horis eveniunt, et clxxxiiii hore remanebunt. Quodsi has singulas in cxxvii
25 scilicet circuitiones] add. sup. lin. L c.
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prognostica
343
discregaveris, xxiiiccclxviii portiunculas habebis. Quas item ccliiii distribuens cuique xciias, equa ut divisio docet evenire agnosces. Secundum hanc rationem ergo lunam unumquodque signum duobus diebus, vi horis, septunce hore et vii cum bisse portiunculis noveris transcurrere. iii.
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His ita inventis, quoniam luna sue per zodiacum circuitionis quadrante a septentrionali extremitate signiferi ad eclipticum locum indeque alio quadrante ad australem terminum declinatur tercioque quadrante rursus ad eclipticam extremoque scilicet quadrante ad septentrionalem metam revertitur, supra diffinitum circuitionis eius spacium in iiiior equa dividamus et vi diebus et xviiii horis et dodrante hore et xxiiibus, qualibus supra dixi, portiunculis lunam latitudinis zodiaci medietatem obliquando transire semperque duplicato hoc numero, id est xiii diebus, xv semis horis et xlvi portiunculis, ad eclipticam lineam remeare probamus. Unam quoque latitudinis zodiace partem per xxiiii diviso toto eius circuitu in una die, tribus horis, quadrante et semuncia hore | et iii 39r portiunculis cum dextante unius illam conficere cognoscimus. Cum ergo hec ita teneamus, ad illius etiam quantitatem temporis quo luna a solis coitu ad eundem denuo redit mensemque suum perficit speculationem convertamus. Sed quia de huius ad certum invenienda quantitate pridem non sine labore in compoto nostro sategimus, nunc quod ibi invenimus commemorandum potius quam recensendum putamus. Ibi quippe diviso equaliter per ccxxxv menses lune decennovenali ciclo unumquemque lunarem mensem xxix dies, xii horas, iii punctos lunares et xxxiii particulas invenimus accipere dimidiumque mensis eiusdem in quo luna diametro a sole elongata plenilunium facit vel ad solis coitum reversa alium mensem reincipit xiiii diebus, xviii horis, io puncto et xl particulis cognovimus constare. Punctum autem vam partem hore et particulam xlam viiam puncti portionem ibi decrevimus vocitari. iiii.
30
Hec itaque de lunari cursu ac recursu praedictis modis ac rationibus inventa praesentis intentionis iaceant fundamenta. Que a nullo convelli posse arbitramur, nisi pariter vel solis et lune in xixli ciclo pura quam
9 scilicet quandrante] add. sup. lin. L c.
344
appendix
a patribus accepimus coequatio destruatur vel suam per zodiacum circuitionem vel ad solis coitum recursionem modo prolixioribus, modo brevioribus temporum spatiis peragere certis documentis vel experimentis demonstretur. Verum si hec inconvulsa permaneant, planum ad sequentia construenda aditum praebent. Nam cum sol semper penes eclipticam lineam cursum suum agitare non desinat, luna vero – ut superius vestigatum est – eandem lineam post xiii dies, xv semis horas et xlvi quales supra monstravi portiunculas incessanter revisat semperque ipsa post xiiii dies, xviii horas, unum punctum et xl particulas alternatim vel cum sole coeat vel diametro ab eo distans plenissima appareat, si ab unaqualibet eclypsi solis, quando haud dubie sub ipsa ecliptica linea luna coitu vel potius interventu suo ipsum abscondit, inchoantes ipsos numeros – id est xiii dies, xv semis horas, xlvi portiunculas et xiiii dies, xviii horas, i punctum et xl particulas – simul currere faciamus, nimirum, nisi fallor, post quantum tempus qua hora iterum eadem in linea hisdem luminibus vel convenientibus vel diametro distantibus alterius eorum defectio fiat ratione necessaria compraehendere poterimus. Si enim per priorem numerum hora qua eclipticum locum luna attingit indagari potuerit, per sequentem vero et plenilunii et coitus 39v tempus vestigari valuerit, | quod obstet non video, quandocumque per utrumque numerum ad eiusdem hore vicinia calculando convenerimus, futuram eclypsin praenosse et praedicere valeamus.
5
10
15
20
v.
Sed quia horum concursus et in unum conventus numerorum a qui- 25 buslibet hominibus sed ne ab ingeniosis quidem sine labore inveniri poterit, compendiosum duxi regulas quasdam quas ad instar lunarium epactarum inveni subscribere, per quas qualibet die vel hora quantum luna ab ecliptica linea discesserit vel quando ad eam reversura sit diligens quisque celeriter compraehendere possit. Has vero hoc modo col- 30 lige: Vide ergo, quotiens in solari anno naturali, id est ccclxv diebus et vi horis, luna xiii dies, xv semis horas et xlvi portiunculas, id est suam ad eclipticum locum recursionem compleat et invenies eam vicies et vies recurrentem ccclv dies et iiii horas cum liiibus portiunculis complere 35 et x dies, i semis horam et x semis portiunculas de solari adhuc anno restare. Unde ipsos x dies, unam semis horam et x semis portiunculas veluti pro epactis accipe hisque annuatim tantundem adde et semper
prognostica
345
xiii dies, xv semis horas et xlvi portiunculas, ubi procreverint, recide et quod his superabundaverit pro epactis asscribe hoc modo: Epacte ad eclipticam anni
dies hore
portiuncule
ii iii iiii v vi vii viii ix x xi xii xiii xiii xv xvi xvii xviii xix i
x vi ii xii viiii v ii xii viii v i xi vii iiii
x semis xxxviii semis iii xiii semis xli semis vi xxxiiii xliiii semis viiii xxxvii i semis xii xl iiii semis xxxii semis xliii vii semis xxxv semis xlvi
x vii iii xiii
i semis xi xxi xxii semis viii xviii iii semis v xv semis x semis xii xxi semis vii semis xvii xviii semis iiii semis xiiii xv semis
vi.
Harum itaque epactarum hec est ratio. In quolibet anno qualibet hora 5 cum scias, quando luna in ecliptica linea sit vel quando inde discesserit, si te post unum annum, iios, iiies pluresve futurum eius statum scire libuerit, praesenti eius statui primas, secundas, iiias aliasve sequentes iuxta numerum annorum epactas adicias. Et post quoslibet annos qualibet hora quantum temporis ab ecliptico loco discesserit invenies. vii.
10
Unde quia quilibet status vel potius cursus eius paucis admodum cognitus est, gratum diligentibus me facere puto, si in primo iuxta compotum usitatum xixlis cicli anno in singulorum mensium kalendis, vespere scilicet inchoantibus, quantum temporis ab ecliptico discesserit loco, prout 15 possum, indadagare et assignare temptavero, quatinus hoc pro regula-
15 indadagare] ! L, indagare K, V.
346 40r
appendix
ribus quibusdam acceptum et cuiuslibet anni epactis adiectum facile in singulis annis qualibet die vel hora eius | indicet cursum. Sed sicuti experimentis et ratione non sine aliqua diligentissime computationis labore vestigare potui, subscriptum numerum singulis mensibus apponendum regulariter inveni: 5 Regulares ad eclipticam dies
mensis
dies hore
portiuncule
xxxi xxviii xxxi xxx xxxi xxx xxxi xxxi xxxx xxxi xxx xxxi
Ianuarius Februarius Martius Aprilis Maius Iunius Iulius Augustus September October November December
viii xi xii ii v ix xi i v viii xi
xxxviii semis x xlv xxxiiii v semis xl semis xii i xxxvi vii semis xlii semis xxxi semis
iii semis xx xviii xviii semis xi iii xix xx xii iiii semis xx semis xxi
viii.
Cuiuscumque ergo mensis regularibus dies eiusdem mensis adiunxeris eisque coniunctis eclipticam lune visitationem, id est xiii dies, xv semis horas et xlvi portiunculas, semel vel bis vel etiam ter, si poteris, adimis. Sequentis regulares mensis superesse videbis, si tantummodo martii 10 mensis regularibus vi bissextilis incrementi horas copulabis. Ergo in cuiuscumque mensis principio in quolibet cicli xixlis anno, quantum temporis ab ecliptica linea discesserit luna vel quando ad eam reversura sit si velis invenire, sume praescriptas eiusdem anni epactas eisque regulares mensis ipsius adiunge. Et si xiii dies et xv semis horas et 15 xlvi portiunculas ex coniunctione ipsa effeceris, ad ipsam lineam eclipticam lunam pervenisse noveris. Et quantumcumque plus minusve ipso numero inveneris, tantum temporis eam inde discessisse vel perventioni eius ad eundem locum restare memineris, semper uno die, iiibus cum quadrante et semuncia horis et iiibus cum dextante portiunculis pro una 20 latitudinis zodiaci parte computatis.
prognostica
347
ix.
Sed expedicius videtur epactas etiam alias ad etatem lune inveniendam cum regularibus suis subscribere, ut per eas etiam quando in coitu solis sit diametrove ab eo distet in omni mense possim invenire. Sed ipsas 5 epactas licet diligentissime per minutas temporum particulas dudum, ut reor, ad purum collectas descripserim, nunc tamen propter faciliorem computationem aliquantulum ex particulis horarum vel addere vel minuere easque consuetis minutiarum signis malui distinguere: Epactae anni
dies
hore
ii iii iiii v vi vii viii ix x xi xii xiii xiiii xv xvi xvii xviii xix i
x xxi iii xiii xxiiii vi xvii xxvii viiii xx i xii xxiii iiii xv xxvi vii xviii xix
xxi sescunx xviii quadrans ii septunx xxiii dodrans xx dextans v quadrans ii triens xxiii semis vii dextans v xiii triens x semis vii septunx xvi xiii x sescunx xviii semis xv septunx xii dodrans
x. 10
Regulares quoque lune horis aliquot auctos item minutiis suppletos ad naturalis cursus vicinia applicare studui, ut horum ad epactas coniunctione in hora qualibet pene certam lune a sole progressionem valeam invenire:
348
appendix Regulares ad inveniendum coitum vel plenilunium mensis
dies
hore
puncti particule
Ianuarius Februarius Martius Aprilis Maius Iunius Iulius Augustus September October November December
viiii xi x xi xii xiii xiiii xv xvi xvii xviii xix
xxi semis viii dodrans ii xiii quadrans semis xi dodrans xxiiii x quadrans xxi semis viii dodrans xx vii quadrans
ii iii
xviiii xxxiii
i ii iii
xxiii xxviii xli viiii xxiii xxxvii iiii xviii xxxii
i ii iiii i
xi.
40v
Si ergo volueris in quo xixlis cicli anno in cuiusquam initio mensis in occubitu solis incoantis lune etatem invenire, sume asscriptas eiusdem anni epactas eisque mensis ipsius regulares iunge et si numerus qui ex coniunctione procreatur lunarem mensem, id est xxix dies, xii horas, dodrantem hore, non compleverit vel eo adempto remanserit, lune etatem indicabit. Infra mensem vero invente in initio mensis etati, quicquid iam ex mense defluxit, adice et eodem modo, si quid inde concretum lunarem mensem non coequaverit vel ipsum excesserit, lune etas erit. Sed hoc est diligenter observandum, ut in bissextili anno post insertum bissextum in kalendis martii et deinceps nihil de praefatis computationibus adimas. In primo autem post bissextum anno vi horas semper subtrahas, in secundo xii, in tercio xviii. Tota enim prior calculatio iuxta naturales solis annos, id est ccclxv dies et vi horas computata procedit. Et quia vulgares anni nostri integros sibi tantum dies assumunt et in quartum annum bissextile incrementum, id est vi horas, donec integrum compleant diem differunt, consequens est, ut et calculatio nostra quae naturali cursui vicinius accedere nititur in ipsis quas sibi assumpsit annuatim vi horis mutiletur vulgarique computationi, ut dies singulos, menses et annos vespere contemperetur ipsique consueto in loco suus etiam bissextus, qui dilatus est, adiciatur.
7 in] add. sup. lin. L c.
5
10
15
20
prognostica
349
xii.
5
10
15
20
25
30
Sed ut singula hec aliquo non incerto probem exemplo, videamus in eclipsi solis quae in ipsa lune incensione naturaliter evenire debet, cum anno dominice incarnationis millesimo xxxo iiio iii kalendas iulii circa vi diei horam luna secundum antiquam calculationem xxvii contingit, an etiam iuxta computationem nostram tantum luna a sole distiterit. Sumamus ergo eius anni, qui viiivus xixlis cicli fuit, epactas: xxvii dies, ii trientem hore, eisque iunii mensis regulares, xiii dies, xi dodrantem hore, copulemus et ex his simul – quia primus post bissextum annus fuit – vi horas auferamus et in kalendis iulii vespere incoantibus lune etatem in xix horis et iiibus circiter hore unius portionibus inveniemus. His si mensis eiusdem xxviii dies usque ad iii kalendas iulii et ea ipsa die xii horas nocturnas et vi diurnas adiungimus, xxix dies, xii horas cum triente hore, ipsum scilicet lunarem | mensem iamiam completum 41r lunamque in coitu solis esse reperiemus. Item si in quota parte latitudinis zodiaci tunc fuerit adinvenire volumus, ad hunc usum nihilominus supradictas eiusdem octavi anni epactas, id est ii dies, iii semis horas, xxxiiii portiunculas, sumamus eisque iunii mensis regulares, id est viiii dies, iii horas, xl semis portiunculas, iungentes vi itidem horas auferamus et xi diebus, i hora et xi portiunculis lunam ab ecliptica linea discessisse intrante iunio compraehendimus. Quibus si xxviii mensis eiusdem dies et xviii horas, ut supra coniungimus, indeque bis xiii dies, xv semis horas, xlvi portiunculas, id est xxvii dies et vi horas et xciias portiunculas, auferimus, xii dies, xi horas, xlvi portiunculas lunam ab ecliptico loco digressam iamque proximam illi partem redeuntem tenere cognoscimus. Quare quia ibidem solem – qui per duas medias zodiaci teste Plinio et Beda vagatur partes, latitudine quoque sua plus quam unam partem occupantem offendit – interventu suo eum quamvis non totum occulens eclypsin eius efficit. xiii.
Item ut in lune eclipsi, quae millesimo xlmo viiiino anno dominice incarnationis xvii kalendas septembris circa iiiam noctis horam – luna secundum antiquam computationem xiiii diem inchoante – facta est,
7 xxvii] ! L, V, xvii K.
13 xii] ? L, K, xii V.
28 sua] L; scilicet luna L c sup. lin.
350
appendix
idem temptemus. Sumamus eiusdem anni qui cicli xixlis vntus fuit epactas, id est xiii dies, xxiii dodrantem hore. Iunctisque regularibus augusti mensis, scilicet xv diebus, x quadrante hore, et vi horis, quia item post bissextum primus annus fuit, itidem inde ablatis inveniemus in augusti initio lune etatem xxix dierum et iiii horarum. Sicque annumeratis 5 usque ad praefatam eclipsin ex augusto mense xv diebus et iiibus horis, medietatem lunaris mensis, id est xiiii dies, xviii quadrantem horas, inveniemus lunamque diametro a sole distitisse probamus. Assumptis etiam nihilominus aliis eiusdem anni epactis, id est xii diebus, xxii semis horis, xiii semis portiunculis, regularibusque augusti 10 adiunctis, id est i die, xx horis, i portiuncula, iterumque vi horis iterum vi horis ablatis in kalendis augusti lunam ab ecliptica linea xx horis et xcv semis portiunculis distare cognoscimus. Quibus item xv dies et iii horas usque ad ipsam eclipsin adiungentes ii dies et vii semis horas, xlix portiunculas lunam ab ecliptica linea, id est duas partes digressam quas 15 etiam umbra terrae lambere creditur, inveniemus. xiiii. Epilogus
Hec secundum xix quam a patribus accepimus lunaris et solaris cursus coequationem equalemque lune per zodiacum, ut supra dixi, discursionem et ad solis coitum recursionem diligenter computando collegi 20 et, nisi equalitas cui computatio tota innititur nos fallat, pro certis conscripsi. Que si aliquando in aliquibus fefellerint, non eiusmodi, ut a prioribus tradita est, in solis luneque cursibus aequabilitatem concordiamque ad purum inesse puto eamque adhuc diligentioribus talium rerum 25 inquisitoribus perquirendam suadeo. Me tamen laboris mei, per quem aliquid naturali cursui vel propinquum inveni, non penitet. Explicit.
11–12 iterum … horis] ! L. L; exquisitoribus L c sup. lin.
23 prioribus] L; a patribus L c sup. lin.
26 inquisitoribus]
QUELLEN UND LITERATUR
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INDEX NOMINUM
Personen vor 1500 Abbo von Fleury, 11, 23–27, 83–87, 89 f., 97–99, 101, 106–111, 113– 123, 125 f., 129f., 131–135, 137f., 140–143, 145–171, 173f., 176, 181, 187–189, 190, 194f., 208f., 210, 218, 220 f., 238, 244, 247, 260, 277, 282f., 290–293, 297f., 303– 307 Adelard von Bath, 21, 209, 283, 295 f., 299, 307f. Ælbert (Erzbischof von York), 49, 157 Aimoin von Fleury, 83–85 Alanus ab Insulis, 300 Alkuin von York, 10 f., 14, 16–17, 22, 24, 29, 30–32, 48–70, 72f., 78–80, 87–90, 93, 96, 108, 111, 131, 133, 136f., 145, 148, 157f., 171, 174, 176, 203f., 206, 211, 247, 288f., 292f., 303–305 Ambrosius von Mailand, 42, 44, 122, 124, 261, 270 f. Anonymus (Autor der MartianusGlossen), 69, 71f. Anonymus (Autor von „De ratione conputandi“), 44 Anselm von Canterbury, 18, 257 Aratus (Autor der „Phainomena“), 93, 135 Aristoteles, 1–4, 9, 74, 124, 256, 303 Ascelin von Augsburg, 180 Augustinus von Hippo, 1 f., 5 f., 8f., 22, 27, 37, 41 f., 44, 55, 58f. 66, 68, 122, 131, 153, 155, 157–159, 160, 166, 171, 174, 176, 196f., 220, 247, 257, 259, 261–269, 270 f.,
273–277, 283, 288, 294, 299, 301, 303–305, 309 Basilius von Caesarea, 41 f., 44, 124 Beda Venerabilis, 10–14, 16, 23–26, 29–49, 65, 73–82, 90, 92f., 96, 101, 105f., 108, 113f., 116, 125 f., 136f., 148, 150, 163, 175, 177– 179, 186–189, 190–192, 195f., 200, 204–207, 210–212, 214– 218, 229 f., 237, 244, 246, 251f., 280, 282, 284 f., 288f., 294 f., 306f. Benedict Biscop (Gründer und Abt des Doppelklosters WearmouthJarrow), 35 Benedikt von Nursia, 188 Bern (Abt von Reichenau), 179, 181, 183 Bernhard von Chartres, 1, 16 Berthold von Reichenau, 180 Boethius (Anicius Manlius Severinus B.), 9, 16, 20, 22, 52, 54, 59 f., 62– 64, 67, 73f., 85, 122, 124, 131, 152f., 155, 157, 159, 164, 166f., 183, 247, 259, 260, 271, 276, 290 f., 295, 299 f., 304 Pseudo-Boethius (Autor der sogenannten „Geometrie II“), 300 f. Calcidius (Chalcidius), 1, 73, 115, 132–135, 165, 221 Cassiodor (Flavius Magnus Aurelius C.), 61 Ceolfrid (Mönch des Klosters Jarrow), 35 Chrétien de Troyes, 301
370
index nominum
Pseudo-Columbanus (Autor von „De saltu lunae“), 179, 186f., 192, 194, 216f., 242, 295, 299 Cuthbert (Bischof von Lindisfarne), 36
Hrabanus Maurus, 10, 14, 17, 23, 46, 74 f., 77, 80, 125, 189 Hugo von Sankt Victor, 9 Hyginus (Gaius Iulius H.), 93, 260, 306
Damaskios Diadochos, 4 Der Stricker (Autor des „Daniel von dem Blühenden Tal“), 302 Diogenes (angeblicher Lehrer Platons), 56 Dionysius Exiguus, 33f., 36, 45, 108 Dunchad (irischer Gelehrter des 9. Jahrhunderts), 71
Iamblichus (Schüler des Porphyrios), 4 Irenaeus von Lyon, 134 Isidor von Sevilla (Isidorus Hispanicus), 5, 10, 17, 29, 38f., 41, 43f., 76f., 92f., 100 f., 104, 112, 122, 124f., 127, 131, 137, 167, 208, 259 f. Iustinus Martyris, 128, 134
Egbert (Erzbischof von York), 49, 157 Eratosthenes von Kyrene, 93, 182 Euklid (Autor der „Elemente“), 300
Johannes (Evangelist), 271 Johannes de Sacrobosco, 254 Johannes Scotus Eriugena, 9, 16, 25, 48, 50 f., 61–72, 81, 124, 158, 206, 259, 287f., 307 Pseudo-Johannes Scotus Eriugena (Autor eines BoethiusKommentars), 152
Galen von Pergamon, 300 Garlandus Compotista, 23, 179, 197f., 209, 224, 242, 283f., 295, 304 Geminos von Rhodos, 2 Gerbert von Aurillac, 73, 85, 307 Germanicus (Iulius Caesar G.), 93 Gilbert von Poitiers, 18, 300 Gottfried von Straßburg, 302 Gregor von Nyssa, 134 Gregor von Tours, 188 Hartmann von Aue, 301 Heinrich von Weißenburg, 180 Helpericus (Heiric) von Auxerre, 13, 16, 23, 74 f., 81, 136, 189, 215, 220, 282, 294 f., 306f. Hériger von Lobbes, 194 Hermann von Reichenau (Hermannus Contractus), 10, 23, 26f., 136, 177–179, 180–259, 261, 264–266, 270, 272, 276f., 279–285, 293– 309 Herrand (Adressat der „Epistola“ Hermanns), 185f. Hieronymus (Kirchenvater), 44, 57 Hilarius Pictaviensis, 261
Karl der Große, 23f., 29 f., 37, 47, 49 f., 68, 88f. Macrobius (Ambrosius M. Theodosius), 73, 93, 133, 135, 201, 221, 259, 261, 289, 306 Manno von Laon, 16 Martianus Capella, 16, 61, 69–74, 77, 81, 258f., 289 Martin von Laon (Martinus Hiberniensis), 16, 71 Martin von Tours, 188 Moses (Altes Testament), 45 Nikolaus von Amiens, 18, 299 f. Nikolaus von Kues, 27, 246, 277f., 283, 304 Nikomachos von Gerasa, 263 Notker der Deutsche (Notker III. Labeo), 75 f., 81, 136, 179, 192, 205, 208, 282, 294 Notker der Stammler (Notker I. Balbulus), 182
index nominum Ovid (Publius O. Naso), 124 Pachomius (der Ältere), 102, 205 Paulus (Apostolus), 37, 57, 157, 268 Paulus Diaconus, 188 Petosiris (Nechepso-Petosiris), 114 Petrus Abaelardus, 9, 18, 301 Petrus Lombardus, 269 f. Philocalus (Furius Dionysius P.), 99 Philon von Alexandria, 4 Platon, 1–4, 7f., 56f., 66, 68, 123, 133f., 164, 174, 176, 184, 258, 261, 288, 290 Plinius Secundus, 12, 41, 73, 92f., 102, 104, 115, 135, 221f., 230, 259 f., 289, 306 Plotin, 4 Plutarch, 4 Porphyrios, 149 Proklos, 4, 300 Pythagoreer, die, 2 f., 8, 165, 256, 258 Quartodezimaner, die, 11
371
Raimundus Lullus, 277, 283 Remigius von Auxerre, 69–72, 124 Robert Grosseteste, 254 Roger Bacon, 254 Salomon (Altes Testament), 59 f. Seneca (Lucius Annaeus S.), 155 Thierry von Chartres, 22, 27, 184f., 209, 246, 257, 260, 270–277, 283, 295–299, 303–305, 309 Thomas von Aquin, 9, 17 Ulrich von Augsburg, 180 Victorius von Aquitanien, 36f., 85, 108 Vitruvius Pollio, 93 Walther von Speyer, 73 Werner von Straßburg, 179 Wilhelm von Conches, 22, 271, 276 Wolfrat (Graf von Altshausen), 179
Personen nach 1500 Alberi, M., 50 d’Alverny, M.T., 48 Andresen, C., 5 f. Bacht, H., 36 Baker, P.S., 149, 151, 156, 169 f. Beaujouan, G., 19 Becker, W., 36 Beierwaltes, W., 4, 27, 59, 263–265, 277f., 303 Benson, R.L., 17 Bergmann, W., 20, 182, 185 Bergson, H., 287 Berschin, W., 179f. Bettetini, M., 1 Beyerle, K., 180 Bober, H., 127 Bogen, S., 144, 171 Böhne, W., 74
Bonner, G., 36 Borst, A., 10, 14, 17, 20, 23, 26, 29– 32, 38, 44–48, 75–77, 88, 90–93, 95–99, 102f., 108f., 133, 135, 139, 141f., 178–183, 185–187, 189, 192– 194, 196f., 199f., 205, 214f., 217, 219f., 222, 228, 230, 232, 242, 247, 251–254, 256, 259, 266, 279 f., 284, 311 Brunhölzl, F., 49 f., 53, 58, 79 Bullough, D.A., 49 f. Burnett, C.S.F., 21, 85, 182, 296 Butzer, P.L., 180 Caiazzo, I., 73, 87, 120, 132, 259, 283, 305 Callahan, J.F., 3f. Cantalamessa, R., 11 Chenu, M.-D., 21, 254, 305
372
index nominum
Classen, P., 18, 301 Cochrane, L., 296 Constable, G., 17 Cordoliani, A., 10, 14, 20, 46, 99, 102f., 105, 118, 146, 182, 198, 246 Courcelle, P., 50, 53f., 57f., 64, 73, 124, 152, 259 f. Courth, F., 6, 131, 257 Craig, W.L., 9 Cullmann, O., 4, 6, 8 McCulloh, J., 182 Dechant, F., 50, 288 Declercq, G., 11, 33f., 37, 94 Delling, G., 8 Denzinger, H., 37 Diem, A., 50 Donnat, L., 83 Dreyer, M., 17f., 157, 183f., 299–301 Duch, A., 182 Duchrow, U., 9 Dutton, P.E., 1 Eastwood, B.S., 102, 132, 135 Edelstein, W., 48 Ehlert, T., 9 Ellinwood, L., 181 Engelen, E.-M., 1, 9, 11, 86f., 107f., 133, 141, 145–147, 149, 151, 154, 167, 174, 247, 249, 283, 293 Englisch, B., 19 f., 22, 172 Erlemann, K., 6f. Ernst, S., 301 Ernst, U., 149, 151 Esmeijer, A.C., 173 von Euw, A., 121, 126 Evans, G.R., 11, 87 Evans, M., 98, 100 f., 121f., 171 Feine, H.E., 181, 284 Finkenzeller, J., 37 Flasch, K., 1, 3, 9 Fleckenstein, J., 29 f. Folkerts, M., 50, 194, 246f., 300 f. Fontaine, J., 38f., 44, 122, 124, 208 French, R., 92, 259 Fried, J., 129, 147
Georges, H., 155 Georges, K.E., 155 Gibson, M.T., 73, 260 Ginzel, F.K., 94 Glauche, G., 73 Goetz, H.-W., 9 Grebe, S., 69 Greenaway, F., 92, 259 Grotefend, H., 94 Grünkorn, G., 301 Guerreau-Jalabert, A., 85 McGurk, P., 75 Gwara, S.J., 149 Häring, N.M., 22, 257, 260, 272–276, 295, 297 Haskins, C.H., 17, 183 Haug, W., 301f. Heid, S., 147 Heidegger, M., 287 Heil, W., 49 Hellgardt, E., 77 Hellmann, M., 180, 182, 194 Hoffmann, A., 158 Houwen, L.A.J.R, 49 Huber, C., 302 Hünermann, P., 37 Husserl, E., 287 Hüttig, A., 73, 259 Huygens, R.B.C., 152, 259 Illmer, D., 19, 48 Irshai, O., 129 Jacobsson, M., 262f. Jeauneau, E., 71, 73, 259 Jeck, U.R., 2, 9, 287 Jones, C.W., 10 f., 23f., 30, 32f., 36, 38, 41, 44, 47f., 74, 79, 96, 102, 114, 205, 307 de Jong, M., 157 Juste, D., 23, 85, 107, 114 Kanitscheider, B., 135, 258 Keller, H.-U., 203, 222, 252 Kibre, P., 19 King, V.H., 88
index nominum Klinkenberg, H.M., 19 f., 22, 172 Kluxen, W., 17–19, 183, 299 Knoch, W., 277 Koch, J., 48 Kottje, R., 181, 284 Kühnel, B., 11, 15, 25, 32, 38, 96, 99–101, 121, 123, 125–129, 139, 143, 146f., 173, 288, 291f., 306 Lapidge, M., 149, 151, 156, 169 f. Largier, N., 9 Laub, F., 157 Leinkauf, T., 277 Leisegang, H., 4, 7 Lemay, R., 19 Leonardi, C., 69–71, 259 Lindgren, U., 307 Lloyd, G.E.R., 135, 165f., 256 Loyn, H.R., 36 Luneau, A., 5, 8, 257 Lütcke, K.-H., 158 Lutz, C.E., 71, 73, 124 MacDonald, A.A., 49 Manitius, M., 2, 36, 49, 75 Marenbon, J., 9, 59, 73 Maurer, H., 180f. May, G., 5, 37 Meier, C., 102, 121, 143, 145, 260 Meyer, W., 1 Meyvaert, P., 29 Molland, G., 19 Mostert, M., 83–86, 107, 152, 307 Nauta, L., 276 Ó Cróinín, D., 44 Obrist, B., 11, 15, 23, 25, 34, 44, 87, 93, 97, 99–101, 107f., 110–112, 114, 118f., 121–125, 127, 130, 133, 135 f., 139, 146, 167f., 175, 238, 259 f., 283, 288–290, 305 Oesch, H., 181, 266 Peden, A.M., 11, 86f., 108 Peri, I., 194, 246 Pfeiffer, J., 124, 153, 159, 197
373
Pines, S., 4 Pingel, R., 302 Poulle, E., 182 Ragotzky, H., 302 Ralfs, G., 67 Rand, E.K., 152, 157 Reiner, H., 62 Riché, P., 19, 73, 83–85, 304, 307 Riesenhuber, K., 272 Rissel, M., 74 Robinson, I.S., 182 Rose, V., 107 Rück, K., 221, 259 Rudavsky, T.M., 4 f. Sambursky, S., 4 Scheffczyk, L., 131 Scheible, H., 59, 152, 167, 259 Scherabon-Firchow, E., 76 Schipperges, H., 223, 242 Schmidt, E.A., 1 Schnelle, U., 157 Schrimpf, G., 1, 16, 18, 24, 48, 50 f., 61–73, 87, 158, 183, 206, 259, 288, 299 Schupp, F., 85, 304 Schwaetzer, H., 27, 277f., 303 Sickel, T., 96 Silk, E.T., 152 Sorabji, R., 4 Speer, A., 1, 17f., 21f., 81, 184, 209, 254, 260, 272, 283, 296–299, 305, 307f. Springsfeld, K., 11, 23, 29–32, 49, 88–90, 93, 108, 133, 203f., 211 Stahl, W.H., 69 Stern, S., 5 Stevens, W.M., 10, 23, 32, 46, 74, 102 Stollenwerk, R., 180 Szabó, A., 258 Teeuwen, M., 69–72, 75, 259 Thomson, R.B., 85 Thürlemann, F., 144, 171 Traube, L., 75
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index nominum 190f., 211, 244, 284, 288f., 291, 293, 298, 306f. Walsh, M., 44 Wehrli, M., 301f. Weimar, P., 17 Wieland, G., 17f., 21, 183, 299 Wiesenbach, J., 242 Worstbrock, F.J., 48
Uffenheimer, B., 5 Verbist, P., 11, 23, 33, 94, 107f., 113f., 146, 173, 187f. Vielmetti, N., 5 van de Vyver, A., 85 f., 107f., 182 van der Waerden, B.L., 2f., 135, 165, 184, 258 Wallis, F., 11, 14–16, 32–34, 36–38, 40–42, 44–48, 65, 70, 73f., 76f., 79, 81 f., 94–100, 104f., 111, 117, 120, 135, 138, 142f., 151, 175,
Yeldham, F.A., 182, 194 Zinner, E., 182
Orte Augsburg, 180 Auxerre, 70, 74 Chartres, 20, 70, 209, 296 Corbie, 70 f. Corvey, 70 Fleury (St.-Benoît-sur-Loire), 70 f., 83f., 127 Freising, 70 Gabaon, 8 Ivrea, 70 Jerusalem, 128f., 134, 147 Köln, 70 Laon, 70, 74 Liège, 74
Lorsch, 70 Montecassino, 70, 83 Nikaia, 252 Northumbrien, 35 f., 49 Paris, 70, 74, 84 Reichenau, die, 70, 179 f., 279, 284 Reims, 70 f., 74, 84 Saint-Oyan, 70 Soissons, 70 f. St. Gallen, 70, 284 Tours, 49 Trier, 70 York, 49
INDEX RERUM Abbild, 26f., 59, 68, 72, 80, 87, 121, 152, 161, 164, 171, 174, 209, 233, 246, 249, 285, 290, 293, 297, 308 Abbildungsverhältnis, 26, 60, 64, 80, 86, 171 aequalitas, 22, 26f., 59, 131, 179, 184f., 203, 214, 232–235, 243, 246, 249– 251, 253, 255–259, 261–279, 281, 283, 285, 288, 294, 298, 299–304, 309 als archetypus mundus, 22, 271, 276, 301 Anthologien (über das Naturganze, komputistisch-astronomische, quadriviale), 16, 25 f., 47, 73f., 76f., 87f., 94, 96, 103, 104, 106, 111, 115, 117f., 125, 136, 173, 206, 208f., 236, 238, 260, 279, 282, 289, 295, 305 Äquinoktium, 12, 36, 42, 75, 111, 118, 205 Frühjahrsäquinoktium, 12, 32, 42f., 154, 205 Ära, 33, 40, 98, 108, 113 arcanum, 155, 157f. Arkanwissen, 158 argumenta, 48, 90 f., 102f., 105f., 117f., 246, 295 Arithmetik, 1, 15–17, 20 f., 60 f., 64, 77, 107, 141, 150, 191, 236, 240 f., 245, 252, 263, 272, 276, 304 ars, 16f., 48, 65, 69, 76f., 206, 304 artes (septem artes liberales), 16, 22, 24 f., 35, 48–50, 58–61, 63–68, 72f., 77–82, 87f., 93, 103, 116, 131, 135– 137, 148, 171, 174, 176, 180, 288f., 292, 303f., 308 artes-Konzept, -Konzeption, 16, 25, 49, 72, 79, 82, 88, 103, 131, 136, 148, 174, 292
Astronomie, 1 f., 12f., 15–17, 31, 60 f., 64, 76f., 80, 85, 90, 93, 125, 182, 220, 222, 233, 238, 252, 254, 256, 258, 284 f., 288, 306–308 astronomische Ereignisse, Gegebenheiten, Konstellationen, Phänomene, Zusammenhänge, 10–12, 26f., 43, 74 f., 81, 102, 111, 152, 155, 164, 168, 170, 179, 190, 195, 204–206, 208f., 219f., 233, 264, 282, 297, 306 komputistisch-astronomische Details, Elemente, 15, 20, 25, 86, 96f., 107, 151, 172, 290 f., 295, 297 Augenschein, 137, 177, 214, 251 f. Ausdeutung, 15, 51, 62, 75, 81, 92, 94, 97, 105f., 128, 131, 134, 136f., 148, 179, 200, 204 f., 209, 212, 237, 260, 262, 282f., 289–291, 294 f., 297f., 305 f. Auslegung, 37, 41–44, 61, 65, 75, 81, 101, 136f., 175 f., 205, 208, 289, 294 Autoritäten, 5, 107, 188f., 204, 210– 212, 252, 261 kritischer Umgang mit, 178, 187f., 301 Axiom, 258, 300 axiomatische Struktur, Methode, 183, 300 f., 308 Axiomatisierung, Axiomatisierungstendenz, 184, 299 Beobachtung (der Natur), 2, 21, 178, 197, 214–216, 218, 220, 223, 232, 236, 250–253, 279 f. Bildung, 24, 29, 35, 48–50, 61, 64 f., 67, 73f., 79, 84 f., 104, 145, 180, 284, 307
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index rerum
Bildungsgeschehen, 52, 57, 61, 63f., 66, 69, 136, 302 Bildungskonzept, -konzeption, 48, 51, 58, 64 f., 69, 79, 116, 158, 171, 293, 303 Bildungsprogramm, 51, 56, 62, 66 Bildungsweg, 56f., 59, 63–66 Bildungsziel, -zweck, 51f., 54, 60 f., 63f., 67, 72, 77, 81, 131, 288 Buchstaben, Buchstabensysteme, 95–99, 109f., 116, 118, 138–141, 143f., 150, 173f., 290 causa als Begriff bei Hermannus, 208 causa efficiens, 174, 272f. causa finalis, 272 causa formalis, 174, 271f., 275, 277, 303 causa materialis, 272f., 303 causa naturalis, 296 causae, 200, 207, 209, 212, 237, 254, 272, 294, 296, 298 causae ac rationes, 201, 207–209, 221, 254, 282, 294, 297 causae naturales, 207 causae rerum, 209, 283, 296, 308 Christologie, 6, 22, 167 Christus, 5 f., 43, 129, 208, 268 Christusereignis, 4–6, 10, 40, 147, 293 coaeternitas, 159–161, 164, 171, 174, 267 coaevitas, 159–164, 164, 167, 171, 174, 176, 267, 277, 303, 305 computus, 23, 26, 29, 34, 47, 74, 77, 90, 104, 110 f., 190, 192, 197, 201, 205, 209–212, 216, 224, 230, 234, 236, 239–241, 243–246, 248, 281, 284 curiositas, 196 in Alkuins „Disputatio“, 67 in Hermanns „Abbreviatio“, 181, 196f., 205, 280 Diagramme, Schemata, 11, 16, 44,
80, 82, 93, 95, 97, 100–105, 112, 116, 119–133, 135, 137f., 141, 143f., 146–148, 151, 168, 171, 173, 175, 236, 260, 288–293 Calcidius-Diagramme, 102, 112, 119, 132f. Isidor-Diagramme, 97, 101, 106, 112, 119, 121, 123, 125, 130f., 138, 148, 167f., 260, 289 Kreisdiagramme, 44, 98, 100 f., 106, 112, 119–122, 125 f., 128– 131, 136, 138, 143, 145, 148, 168, 172f., 290 f. Macrobius-Diagramme, 133 Plinius-Diagramme, 102, 132, 135, 148 Disziplinen, 1, 10 f., 13, 16, 22, 34 f., 45 f., 72f., 77, 91, 102, 116, 238, 272, 288 Eigengesetzlichkeit, 21f., 72, 81, 283, 305, 308 Einheit, 8, 37, 59, 86, 123f., 128, 148, 164, 260, 269, 273f., 290 formale Einheit, 111, 114, 128, 170, 238 mathematische, technische Einheit, 38, 62, 80, 112, 140, 186, 193f., 196–198, 212f., 217, 224, 227f., 240, 242, 247, 284 Einheitlichkeit, 32, 197, 236, 239, 242f., 249, 256, 258, 271, 281 Einzeldinge, 163, 259, 293 Empirie, 13, 75, 185, 215, 218 f., 223, 232, 236, 250, 252–255, 280– 282 Enzyklopädie(n), 30–32, 38, 104 des Martianus Capella und ihre Rezeption, 25, 69–74, 77, 79, 81 f., 93, 103, 124f., 135, 258f., 289 Fachenzyklopädien (karolingische), 13, 14, 23, 30, 88, 97, 115 f., 125, 292 Fachenzyklopädien und ihre Rezeption, 30–32, 76, 96 spätantike, 14, 259, 306
index rerum zum Ganzen der Natur, 38, 43f., 76, 92, 104 Erkenntnis, 2, 8, 16, 19, 23, 51, 58f., 63–68, 77, 81 f., 152f., 155, 157f., 166f., 174, 176, 247, 277, 288, 303–305 Gotteserkenntnis, 15, 77, 83, 87, 144, 152f., 155, 157, 164, 167, 171, 174, 176, 265, 273, 277, 288, 291, 304 Erlösung, 5 f., 40, 129, 147, 271 Eschatologie, 4–6, 15, 25, 38, 40 f., 46, 99, 121, 129f., 147, 212, 291, 306 Ewigkeit, 2, 4, 6, 40, 53, 55, 62, 121, 160, 246, 258, 264 f., 267 Exaktheit physikalische, 15 technisch-mathematische, 172 wissenschaftliche, 20 Exegese, 14 f., 26, 41, 43f., 74, 76, 92, 101, 136f., 173, 176, 207, 294 f. Schriftexegese, 14 f., 36, 42f., 51, 61, 68, 78, 81 f., 101, 106, 136f., 282, 289 von Wissen über die Natur, 35, 45, 78, 137, 176 figurae, 11, 14, 31, 96, 104, 116f., 126, 132, 147, 151, 171, 179, 290 f. forma (omnium formatorum), 160, 174, 267, 271, 277, 303 Genauigkeit, 193 Ungenauigkeiten, 127, 150, 213, 216, 227, 239, 241 Geschichte, 10, 13, 29, 32, 93, 97, 194, 256, 284 Gestirne, 2, 8, 119, 159, 161f., 164, 201, 203, 206, 221, 258–260, 264, 277 Bahnen der, 12, 159, 161f., 164, 258 Gleichförmigkeit, 2, 161f., 164, 177, 184, 231, 236, 244, 250, 258, 262, 264 f., 302 Glossen, 47, 71f., 74, 81, 271
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Glossierung, 70–73, 79, 82 Gott, 4–8, 42, 53–55, 59 f., 62, 64– 66, 68, 77, 82f., 86f., 121, 128, 131, 144, 147f., 152f., 155, 157, 160f., 164, 166f., 171, 174, 176, 263, 265–270, 272f., 277, 285, 288, 290, 293, 296, 298, 304 Heilsgeschichte, 6, 9, 40, 207, 212 heilsgeschichtlicher Prozeß, 4, 7, 145, 147, 246 Hexaemeronkommentare, 14, 41, 44, 76, 124, 137, 289 Ikonographie, 11, 25 f., 101, 131, 297 ikonographische Überformungen, Modifikationen, 14 f., 20, 25, 98, 101, 104–106, 117, 139, 148, 289–291, 306 Kalender, Kalendarien, 29 f., 34, 94– 98, 105, 108–116, 118, 137–139, 141f., 144, 148f., 151, 210, 241 immerwährender, 108 Kohärenz der Ausführungen Hermanns, 199 der Zusammenstellung im Berliner Codex (Abbos „Computus“), 111 des Denkens Alkuins, 50 des komputistisch-astronomischen Modells (bei Hermannus), 253 und Vollständigkeit, 118 Komputistik, 9–17, 22–25, 30–35, 38f., 44–47, 64–66, 74–80, 82, 88, 90–94, 97f., 101, 103–105, 111 f., 116f., 136, 148, 163, 171, 175, 182, 185–187, 189, 193, 199–201, 203, 206, 212, 214f., 217f., 220, 226f., 233, 238f., 241f., 245f., 254, 283– 285, 287–289, 295, 308 bedanische, 24 f., 30, 32, 34, 94, 105, 117, 217 Geschichte der, 13, 32, 97, 284 Kosmologie, 2, 11f., 38, 74–76, 82, 93, 97, 99–101, 105f., 111 f., 115,
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index rerum
117, 120–123, 125, 127f., 130f., 133f., 136f., 139, 145, 148, 152f., 161, 164f., 167f., 175f., 184, 200 f., 203, 206, 237, 247, 255–260, 263f., 266, 271, 276f., 282, 289– 292, 295, 302f. Kosmos, 2–4, 25, 59, 86, 97, 101, 112, 123f., 128f., 133f., 147, 166, 175, 258f., 263, 265, 272, 278, 285, 288, 290, 298 Kreis Kreisbahn, 3, 134, 164, 259, 264 Kreisbewegung, 3, 163, 165, 184, 201, 258 Kreisförmigkeit, 2–4, 97, 99, 119 f., 124, 126, 145, 184, 258, 260 Kreismotiv, 120, 123f., 290 Kunst, Künste, 16, 35, 48, 50–52, 58–61, 65–67, 69–73, 77, 79–81, 84, 88, 93, 101, 103, 136, 145, 173, 176, 265, 273, 278, 281, 288f., 291, 304 Studium der, 48, 60, 73, 81, 84 Linearität von Geschichte, 5, 7 von Zeit, 2, 4, 7f., 40, 257 logos, 128, 134, 148, 304 Mathematik, 20, 26f., 33, 49, 73, 85, 91, 172, 179 f., 182, 184, 186, 188, 191, 193–195, 200, 215, 217, 220 f., 223, 228, 233, 236, 238, 241, 243, 245–248, 274f., 278f., 285, 295, 298–301 boethianische, 20 f., 27, 150, 195, 247f., 274, 276, 303–305, 309 quantifizierende, 27, 191, 195, 247f., 276, 284, 304 f., 308f. mathematische Gesetzmäßigkeiten (und ihr zwingender Charakter), 248 Methode, 15, 18f., 26, 33, 77, 87, 93, 148, 157f., 170, 176, 183f., 191, 220, 236, 238, 246f., 300, 304 apodeiktische, 300
axiomatische, 300 f. deduktive, 157 Methodenreflexionen, 19 f., 183 Methoden und ihr formaler Charakter, 21, 183f., 300 Modell, 232f., 236, 243, 245–248, 253–255, 258, 285, 293, 297f., 301f., 305, 308 modellhaftes Denken, 184f., 200, 211, 232f., 236, 248, 279, 284, 294, 297, 299 f. Mond, 2f., 15, 39, 42–44, 91, 109, 126, 148f., 153–156, 158f., 161– 164, 169 f., 175, 177f., 191, 200– 203, 206–208, 213, 216, 220–227, 229 f., 234, 251f., 254, 258, 260, 282, 292 Mondalter, 95–98, 105, 109, 111– 113, 116, 120, 127, 138–142, 144, 150, 154, 168–170, 175, 189, 203, 213f., 216–218, 226–230, 243, 245f., 250 f., 280 Mondjahr, 170, 196, 213, 217, 226 Mondlauf, 39 f., 90 f., 94 f., 97f., 109, 112, 126, 158, 161, 163, 170, 178, 189–193, 201, 203f., 210, 214, 216f., 219, 221f., 224, 231, 234 f., 239, 250–252, 255, 285 Mondlauf und Gezeiten, 40, 91, 112, 126–128, 164 Vollmond, 12, 33, 42f., 91, 113, 154, 195, 203, 205, 221, 226, 230, 236 Mondmonat, 40, 96, 177f., 186f., 189, 191–193, 196, 198, 203f., 213f., 216–218, 223, 225, 227, 229, 234–236, 239–244, 250–252, 255, 264, 280 f. drakonitischer, 221f. siderischer, 40, 96f., 150, 169 f., 193, 203, 221–231, 239 f., 242, 252 synodischer, 40, 94, 97, 109, 127, 139, 149, 154, 156, 177, 214, 221–224, 226–231, 239, 243f., 252
index rerum Natur, 12, 35, 52, 58, 81, 135, 159, 176, 178, 189f., 208, 210f., 213, 216, 218, 234–236, 244 f., 248, 267f., 274, 279, 287, 289, 291, 293, 297f., 303f., 307f. als äußere, physische Größe, 282, 305 Begriff (Definition), 13, 45 Dinge, Gegenstände, Phänomene der, 15, 21, 26, 40 f., 44 f., 51, 78, 91, 101, 115, 122, 128, 131, 137, 148, 167, 170, 172, 174 f., 177f., 202, 207, 211, 215, 219, 231, 244–246, 248, 251, 253f., 259, 271, 280, 282–285, 287f., 292f., 296, 299, 304 f., 308 Durchdringung, Erschließung der, 12, 184, 275, 305 ‚Entdeckung der‘, 21, 27, 254, 304 f., 307 Erklärung der, 22, 295 Ganzes, Gesamt der, 13, 15, 31, 74, 77, 81, 103f., 113, 115 natürliche Erklärung der, 75 natürliche ratio, 189, 210, 216f., 234, 239, 281 natura, 152, 159, 161, 174, 190, 209 f., 216, 234 f., 243–249, 254, 277, 281, 283, 303 natura co(a)eva, 159–164, 171, 176, 267, 303, 305 ordo, Ordnung, 80, 152, 155, 161, 167f., 174, 176, 271, 290 als Abbild des unum, 80, 87, 164 des Kosmos, 170 göttlicher, 87, 152, 164 ordo aequalis, 271 ordo naturae, 59, 188, 298 ordo rationalis, 293 ordo temporum, 144, 147, 174 ordo unius, 164 Verweisverhältnis von ordo und unum, 25, 87, 167, 209, 290, 293 Ostern, 12, 22, 36, 40, 43, 94, 113, 288, 293f. Datierung von, 43, 94, 293
379
Osterfest, 10, 95, 114, 205 Osterfestbestimmung, -berechnung, -datierung, 11, 33, 36, 40, 42, 87, 91, 94, 163, 200, 203f., 213, 218f., 223, 238, 280 Ostergrenzen, 12, 36, 43, 154, 168, 204 f. Osterkontroversen, 11, 32, 36f., 42 Ostertafeln, 33f., 37–39, 45, 78f., 90 f., 94 f., 97f., 104, 113f., 116f., 205 Ostertermin (und seine Ermittlung), 11, 33, 42, 45, 81, 200, 203, 204, 213, 294 particula, Partikel, 194, 197f., 213, 217, 224 f., 284 portiuncula, 198, 224 f., 228–230, 284 Philosophie, 51, 87 Chartreser Naturphilosophie, 209 Zeitphilosophie, 1–4, 9 f., 287 Physik, 3, 20 f., 38, 101, 130, 168, 184, 257, 272, 290, 292, 296–298, 305, 307 physica, 75, 209 secundum physicam, 21f., 209, 272, 283, 295 f., 299, 305, 309 Planeten, 2f., 39, 112, 133, 164–167, 169, 201, 258 Planetenbahnen, 102, 148 Planetenbewegungen, 3, 31, 112, 135, 153, 165–166, 203, 306 Theorien der Plantetenbewegung, 92, 119, 134, 165 Präzision, 291 bei Abbo, 118 bei Hermannus, 191, 195, 198, 201, 218, 224, 226, 228, 231, 239, 240–243 in technisch-funktionaler Hinsicht, 110, 242 mathematische (im modernen Sinne), 20 processus temporum, 7f. (Zeitprozeß), 144 f.
380
index rerum
Quadrivium, 16, 18–24, 35, 60, 65 f., 73, 77, 80, 83, 87f., 93, 101, 104f., 113, 145, 172, 176, 184, 261, 273, 287f., 292, 303f. Beschäftigung mit den Gegenständen des, 152, 172, 179, 181, 288, 292, 306 Quellen komputistisch-astronomische, quadriviale, 10, 13f., 19–21, 23f., 31, 34 f., 78, 89, 94, 173, 179, 183, 185, 259, 287, 292, 304, 307 Quellentypen (die unterschiedlichen), 24 f., 46, 88, 289 ratio, 16, 26f., 38f., 58f., 63, 75, 111, 145, 147, 175, 178, 190, 200 f., 205– 208, 227, 233, 244–246, 248f., 251f., 255f., 258, 277, 281, 283, 285, 293f., 296, 300 f., 303, 305, 309 des Wirklichkeitsganzen, des Kosmos, 22, 276, 285 menschliche (vs. göttliche), 67f., 137, 158, 304 natürliche, naturalis, 177, 189, 200 f., 210f., 216f., 234, 236, 239, 243, 245, 248, 281, 293, 299, 304 ratio rerum, 16, 57–59, 63, 67f., 80 f., 111, 132, 152, 176, 293 ratio temporum, 77, 146, 148, 175, 189 rationes (rerum), 58, 77, 80 f., 137, 145, 160, 175, 189, 197, 201, 206– 210, 221, 244, 254, 277, 282, 288, 296f., 303–305 Rationalisierungsprozeß, Rationalisierungsgeschehen, 17f., 21, 27, 183, 284 Rationalität, 17, 200, 233 universalisierte, 27 wissenschaftliche, 12, 17–19, 87, 172, 179, 183f., 233f., 287, 294, 297, 301
Rationalitätsgeschichte rationalitätsgeschichtliche Forschung, 19 f. rationalitätsgeschichtliche Veränderungen, Entwicklungen, 18, 23, 233f. Realität, 253–255, 285, 296, 305, 307 reale Dinge, Phänomene, 21, 24, 58f., 75 f., 82, 88, 92, 176, 253, 305, 309 recursus siderum, 153, 159, 164 temporum, 145 Regelhaftigkeit, Regelmäßigkeit, Regularität (der Abläufe in der Natur), 8, 58, 159, 162, 175, 221, 285, 290 Regeln, 13 komputistisch-astronomische, 34, 78, 177, 197f., 200–203, 206, 212, 237f., 244 f. mathematische, 182 (Abacus), 195, 220, 276, 308 Regelwerk (komputistisch-astronomisches), 26f., 200, 207, 209 f., 212f., 215f., 218f., 226, 233–246, 248f., 254, 293, 297f., 300 ‚Renaissance‘ (des 12. Jahrhunderts), 17, 183 rotae (computisticae), 97, 100f., 106, 119–122, 125–131, 136, 138, 145, 148, 168, 172, 174, 288, 290 f. Sachlogik, 26, 107, 218, 220, 222, 237 Sammlungen (über das Naturganze, komputistisch-astronomische, quadriviale), 13–16, 24 f., 30–32, 35, 46, 66, 73f., 77, 81–83, 86–90, 93, 96–98, 100–107, 109, 113, 115– 118, 135 f., 143, 151, 168, 171–173, 176, 192, 206, 208f., 219f., 238, 246, 260, 279, 289, 297, 306 sapientia, 52f., 303 coelestis, 56, 68, 288 creatoris, 275 dei, 267, 271f., 297, 303
index rerum divina, 57, 59–63, 65, 68, 72, 77, 276, 288 saecularis, 64 f., 68, 72, 137, 176, 288f. Schöpfung, 5, 40, 128, 131, 147f., 153, 174, 266, 270, 273, 275 Durchdringen der Schöpfung als Schöpfung, 22 Schöpfungsakt (ursprünglicher), -tat, -geschehen, 4, 6, 148, 175, 271 Schöpfungslogos, -wort (ursprüngliches), 128, 147, 174, 267, 271 Schöpfungsordnung, -plan, 129, 147, 285 Schöpfungswerk, 40, 42f., 272 Schule, 65, 72, 84, 301 von Chartres, 18, 20–22, 27, 209, 296, 303 von Laon, 25, 35, 70 Skizzen (diagrammatische), 31, 102, 104f., 119, 132–134, 165, 219 Sonne, 2f., 15, 39, 41, 91, 134, 148f., 156, 158f., 162, 165, 169, 191, 200–203, 206f., 216, 221, 223, 225f., 229 f., 251, 258, 260, 282 allegorische Bedeutung der Sonne, 43, 208 Sonnenbahn, 134, 153, 164f., 169 f., 202f. Sonnenfinsternis, 219, 221, 225, 229 Sonnenjahr, 95, 109, 169 f., 193, 196, 198, 202, 213, 217f., 223, 226, 241 Sonnenkalender, 96, 109, 170, 196, 211 Sonnenkomputistik, 110 f., 113, 115, 200, 202, 204, 218 Sonnenlauf, 12, 39, 90 f., 94 f., 153, 161–163, 169 f., 189–193, 201– 204, 210, 213, 217, 220, 231, 250 f., 254f., 285 Sonnenmonat, 169, 191f., 203 f., 213
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Sterne, 39, 43, 124, 155, 161, 201, 258 Sternbewegung, 3, 124 Sternbilder, -zeichen, 39, 75, 202 Sternbildkataloge, 104, 291 Struktur (und Konstitution) der Natur, der Naturdinge, der Gegenstände, 21, 175 f., 208, 244, 285, 292f., 304 f., 307f. der ratio temporum, 146 (und Konstitution) der Wirklichkeit, 21, 86, 190, 236, 244, 248, 255, 277, 282, 284 f., 299 der Wirklichkeitsvorstellung, der natura, 245f., 248, 298 des heilsgeschichtlichen Prozesses, 146 des processus temporum, 144 des Wirklichkeitsganzen, des Kosmos, 2, 8, 265, 298 die axiomatische Struktur des Denkens Hermanns, 300, 308 die finale Struktur des Denkens Hermanns, 200, 237, 246 Strukturiertheit der Wirklichkeit, 148 rationale Strukturiertheit zeitlicher und astronomischer Abläufe, 147, 168 Tabellen A–I, 109 A–K, 96, 98f., 109, 116, 140, 142f., 146, 151, 173–175 A–O, 109, 142 A–P, 96 A–U, 109, 139, 150 Hilfstabellen, 96, 98–100, 108– 110, 114, 116–118, 148f., 172f., 290 f. Konkurrententabellen, -tafeln, 95, 97, 110, 113f., 120, 174 Mondaltertabellen, -tafeln, 95– 98, 105, 140, 142, 150, 154, 170, 217, 252 Mondzyklustafel, 109, 116 Vokaltabelle, -schema (AEIOU),
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index rerum
96, 98f., 109, 141f., 144, 146f., 151, 171, 173–175, 291 Tagundnachtgleiche, 12 Theologie, 5, 9, 17, 19–21, 23, 26f., 37, 183f., 257, 270, 293, 299–301, 304 hochscholastische, 19 „politische Theologie“ Abbos, 86 theologische Dimension der Beschäftigung mit quadrivialen Themen, 179, 292 theologisch fundierte Kosmologie Abbos, 161 theologisch inspirierte Ausdeutung, theologisch-exegetische Ausführungen, 14 f., 131–134, 137, 200, 207, 211 theologisch-politische Schriften Abbos, 86 Tierkreis, 39, 91, 109, 134, 149, 163, 169 f., 175, 201, 206, 216, 221, 223, 227, 251, 254, 292 Tierkreiszeichen, 91, 142, 169, 202f., 220, 222f., 229 Trivium, 17, 19, 21–23, 48, 69, 183, 300 f., 304 unitas, 37, 42, 77, 164, 264, 266, 269 f., 272–276 Universalisierungsprozeß, 18, 22, 183 Universalität, 21, 27, 161, 183f., 188, 264, 300 f. unum (das Eine), 7, 59, 62f., 80, 82, 86, 121, 164, 171, 174, 176, 209, 269, 290, 293, 298, 304 unum und ordo, 25, 87, 152, 164, 167f., 209, 290, 293, 298 Unterricht, 48, 50, 65, 70–72, 79, 84, 158 an den Kloster- und Kathedralschulen, 48 computus als Unterrichtsfach in den Kloster- und Kathedralschulen, 47 in den artes liberales, 69, 71f., 81, 111 Komputistikunterricht, 47, 111
Unterrichtsgepflogenheiten der Schule von Laon, 35 Unterrichtsprogramm, 73 verbum, 5, 131f., 160, 168, 174, 267, 270, 273, 275, 277f., 293 verbum dei, 22, 160f., 164, 176, 257, 267, 271, 277, 293 verbum deitatis, 275 verbum incarnatum, 128, 131, 147 verbum coaeternum, 160f. veritas (naturae), 234 f., 239, 244, 248, 252 Verfahren, 19, 170, 222, 225, 231, 237f., 285, 308 axiomatisches, 301 bibelexegetisches, 106, 137 der Argumentation, der Begründung, 273, 305 der Positionsbestimmung des Mondes, 170 der Überformung, 25 der Zeitbestimmung, 13, 32f. komputistisches, 32, 34, 38, 200, 217, 219 f., 240 f. mathematisches, 233, 245f., 279 neuplatonisch geprägtes, 87 peripatetisch geprägtes, 209 Verfahrensanweisungen, 14, 91, 102f., 117, 202, 226, 244, 246 Verfahrensregeln, -vorschriften, 40, 204, 231 Vernunft (menschliche), 58f., 63, 166, 178, 251, 296, 303, 305 Vernunftseele, 64 visus (noster), 177, 214–216, 218, 239, 243, 248, 250–252 Wahrheit, 52f., 61 f., 65, 158 (Glaubenswahrheit), 164, 189, 213, 228, 265 Weisheit, 52–60, 64, 66, 72 christliche, 53, 63, 65, 131 positiv bestimmter Begriff, 54 Weisheitsbegriff, 53, 62 Weisheitsfähigkeit des Menschen, 63
index rerum Weisheitsvorstellung (neuplatonisches Konzept), 54 weltliche (vs. göttliche), 56–68, 80, 136, 176, 288 Weltalter, 5, 38–40 Wirklichkeit, 1, 6f., 54, 59, 65 f., 87, 91, 128, 131f., 148, 152, 160f., 164, 171, 176, 178f., 190, 195, 209, 216, 232, 247, 249, 267f., 271, 275–277, 281, 283, 285, 287, 290, 293, 296, 301, 303, 305, 309 Abläufe in der, 166, 190 astronomische, komputistischastronomische, 195, 239 äußere, beobachtbare, empirische, externe, 198, 215f., 219f., 232, 236, 243, 250–255, 281f. Begriff (Definition), 190 Dinge der, Phänomene der, 55, 59, 63, 165, 253 sinnenfällige, 16, 21, 62f. Wirklichkeitsauffassung, -konzeption, -verständnis, -vorstellung, 26f., 91, 233, 236, 243, 245– 251, 253–255, 281f., 293, 297f., 305, 308 Wirklichkeitsausschnitt, 233, 238, 299 f., 308 Wirklichkeitsbedingungen, 54, 58f., 64, 80, 87, 152, 160, 164, 171, 174 Wirklichkeitsbezug, 216, 280 f. Wirklichkeitsganzes, 2, 5, 8, 21f., 62, 64, 159, 164, 266 Wirklichkeitsstruktur, 86, 190, 244, 248, 255, 277, 284 f., 298f. Wissen, 60–64, 66–69, 72, 79, 93f., 135 f., 178, 188, 215, 282, 306 antikes, 7, 12, 103f., 115 arabisches, 308 artes-Wissen, 61, 64, 66, 68, 77, 80 f. empirisch gewonnenes, 250 fachliches, 41, 69, 106, 166, 289 Fachwissen (fachwissenschaftliche causae, Erklärungen, Hintergründe, Zusammenhänge), 15,
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44, 92, 106, 116, 207–209, 212, 219, 221, 237, 241, 254, 272, 282f., 292–294, 297f., 305 Glauben und Wissen, 158 göttliches, 62, 64, 67, 80 quadriviales, 102, 105, 292, 298 technisch-funktionales, 12 über die Natur, die Wirklichkeit, 12, 35, 65, 74, 77, 81, 209, 279, 287 über die Zeit, 14 über natürliche Dinge, Dinge der Wirklichkeit, vergängliche Dinge, 45, 51, 55, 58f., 63, 82 von den natürlichen Phänomenen, 41, 172, 259 Wissenschaft, 1, 24, 43, 51f., 58, 62, 67, 70, 79, 84, 87, 176, 278, 284, 294, 301, 307 arabische, 17, 20, 94, 259 Universitätswissenschaften, 17, 183 Wissenschaftsanliegen, 11f., 21, 35, 37, 65, 77, 83, 86f., 97, 105, 117, 129f., 148, 152, 170–172, 174, 186, 198, 219, 235, 239, 241f., 244, 255, 291, 306, 308 Wissenschaftsbegriff, 18, 72, 183, 299 Wissenschaftsbereich, 179, 233 Wissenschaftsgefüge, 16 Wissenschaftsgegenstand, 58 Wissenschaftsgeschichte, 23, 88 Wissenschaftsinteresse, 26, 80, 174, 242, 255 Wissenschaftskonzept, -konzeption, 66, 253, 288 Wissenschaftsschema (der sieben freien Künste), 35, 79 Wissenschaftssystem, 289 Wissenschaftsverständnis, 22, 31, 48, 77f., 171 Wissenschaftlichkeit, 17, 20, 27, 308 moderne Wissenschaftlichkeit (als Maß), 20 f., 172 Wissenschaftseinteilung der Karolingerzeit, 78
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der septem artes liberales, 16, 24, 69, 79, 116, 288 in Alkuins „Disputatio“, 51, 58, 60, 64 Wort, 174, 270 inkarniertes, 6, 267, 271 Gottes, 128, 148, 160 Verhältnis von aequalitas und dem Wort, 278 Verhältnis von innerem und äußerem Wort, 277 Worttheologie, 131 Zeit, 1–4, 7–10, 14, 22, 24, 30, 36, 38, 40, 46, 74, 77, 88, 91, 101, 121, 147f., 168, 175, 189, 196, 211, 223, 226, 246, 275, 285, 287f., 290, 293 Berechnung von, 13 Frage nach der, 1, 9 f., 79, 82, 287 Linearität der, 4 (der biblischen Zeitauffassung), 7f., 257 Rekursivität der, 141, 144, 147, 175 (zeitlich geprägter Prozesse), 264 (rekursive Zeitspannen), 290 (rekursiver Ablauf der Zeit) Zeitbegriff, 4, 7, 9 Zeitbestimmung, 7f., 13, 32, 91, 110, 202–204 Zeitdeutung, 82 Zeiteinheiten, 14, 38f., 186, 193f., 196, 202, 212f., 227f., 241, 247 Zeitkonzeption, 3f., 6–9 Zeitordnung, 30, 46 Zeitrechnung, 13, 29, 46, 82, 91, 93f., 177f., 199, 206, 215, 219, 253 Zeitverständnis, -vorstellung, 2, 5, 7–9 Zeitweisung, 10, 13, 24, 29–31, 37, 45, 74–76, 82, 89, 178, 207
Zeitwesen, 30 Zeiten Anfang der, 42, 147, 267 Anfangs-, Mittel- und Endpunkt der, 8 Anfangs- und Endpunkt der, 7 Aufhebung der, 147 Beginn der, 40, 42 Ende der, 5, 147, 267, 271 Endpunkt der, 40 Mitte der, 267 Zeitlichkeit, 2, 8, 268, 290 als Attribut der Wirklichkeit, 6, 62, 160f. Zirkularität, 8, 249, 256–258, 271, 300 Zyklen, 3, 109, 113, 119, 188, 210, 292 astonomische, 7f., 175, 190, 195 komputistische, 145, 189f., 195, 210, 218 Verständnis der, 8 von Sonne und Mond, 163 Zyklendauer, 252 Zyklizität, 45 Zyklus, 95, 175 19jähriger, 33, 36f., 39, 45, 100, 108f., 112, 116, 120, 126, 139f., 145, 187, 189–193, 204, 213, 217f., 223f., 227, 231, 241, 245, 250 f., 255 28jähriger, 110, 145 84jähriger, 36f. 532jähriger, 33, 39, 110, 113f., 146, 188, 190, 195, 205 Lunisolarzyklus, 96, 100, 139 Mondzyklus, 113 Osterzyklus, 30, 100, 110, 145, 188, 195, 205 Saroszyklus, 221f. Sonnenzyklus, 110 (cyclus solaris), 145f. (circulus / ciclus solaris)
Abbildung 1. Konkurrententafel (Rechteckform; links), Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 29r.
Abbildung 2. Konkurrententafel (rotae; oben und unten, zentral), Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 35v.
Abbildung 3. Horologium (oben); Isidor-Diagramme (unten), Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 38v.
Abbildung 4. „Recursus aepactarum“ (unten re.) und Quincunx-Diagramm (unten li.), Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 35r.
Abbildung 5. Quincunx-Diagramm, 9. Jh., Paris, Bibliothèque Nationale de France, Ms. lat. 5543, fol. 135v.
Abbildung 6. Diagrammatische Skizzen nach Calcidius, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 36v.
Abbildung 7. Litterae punctatae, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 29v.
Abbildung 8. Variation der litterae punctatae, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 31r.
Abbildung 9. A–K-Tabelle, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 32r.
Abbildung 10. Annale zur „Ephemerida“, Bern, Burgerbibliothek, Ms. 250, fol. 12v.
Abbildung 11. Siderische A–O-Tabelle, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 31v.
Abbildung 12. Vokaltabelle, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 34r.
Abbildung 13. Vokaltabelle, Biblioteca Apostolica Vaticana, Ms. Reg. lat. 309, fol. 141v.
Abbildung 14. „Ephemerida“, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 33v.
„Computus vulgaris qui dicitur ephemerida Abbonis“
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Ardua conexae libat sacraria formae Tiro suisque notat devexi lumina caeli His ut lunaris noscatur terminus odis, Bino donatus magni lustramine giri Ad sua tricenis momenta explenda diebus Quae phebo debet pro iugis luminis usu Ceu derivati nativis amnibus amnes. Haec et quae novi vobis communia solis. Quos dedit alternare diu natura coeva; Dum sol invito casu confinia noctis Fert inproviso promit vel cornua phebes Quae debet totis divisi partibus orbis; Eoo dum se componens ultima scandat Clara kaput dudum radiis exesa diei. Hactenus exegi lunaris tramitis oras, Fando solari quae sit lex cudo labori. Annua girati repetatur linea mundi Quam sol decurrit et sero nanque sueto. Girat pura foris non uno mense diana Id quod germanus toto pervadit in anno. Est via pro spatio leni sectanda meatu. Hic semper serus haec est velotior etsi Ambos aequali cursu ciet unius ordo. Quinque vagi demum promantur cantibus ignes; Ipsis in caelo terrarum iure potitis Qui per zonarum vitalia signa furendo Discurrunt, per se vix nota sede locati. Karta finita voti deprendimus odas: Alme deus, te nosse mihi concede fideli Per tua dona tibi placeam pro viribus oro.
Abbildung 15. Transkription der „Ephemerida“ in Versform nach: Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. Phill. 1833, fol. 33v.