Günter Schlosser
Briefe vom Kap
Ein Deutscher über seine
Wahlheimat Südafrika
EDITION INTERFROM
CIP-Kurztitela...
14 downloads
800 Views
657KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Günter Schlosser
Briefe vom Kap
Ein Deutscher über seine
Wahlheimat Südafrika
EDITION INTERFROM
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Schlosser, Günter: Briefe vom Kap: e. Deutscher über seine
Wahlheimat Südafrika / Günter Schlosser. – Zürich:
Edition Interfrom;
Osnabrück: Fromm, 1986.
(Texte + [und] Thesen; Bd. 193)
ISBN 3-7201-5193-X
Alle Rechte vorbehalten
©EDITION INTERFROM, Zürich 1986
Vertrieb für die Bundesrepublik Deutschland:
VERLAG A. FROMM, Osnabrück
Gestaltung: Zembsch’ Werkstatt, München
Gesamtherstellung: Druck- und Verlagshaus Fromm,
Osnabrück
Dr. jur. Günter Schlosser, 1938, studierte Rechtswissenschaft in München und Bonn, Promotion in Mainz. Forschungsaufenthalte in London, Paris und New York. Seit 1972 Wirtschaftsanwalt in Johannesburg in einer der größten Anwaltskanzleien mit weltweiten Geschäftsverbindungen. Die Korrespondenz mit einem Freund in Deutschland beginnt, als Südafrika die weltpolitische Aufmerksamkeit auf sich zieht. Als Wanderer zwischen zwei Welten bittet der Briefschreiber um Verständnis für ein Land und ein Volk, das zum politischen Schandfleck auf der Weltkarte zu werden droht, von dem sich Freunde und Verbündete abwenden. Die Briefe gehen auf das aktuelle Geschehen in Südafrika ein, bewahren sich aber die subjektive Unabhängigkeit der Bewertung und die Offenheit des Selbstzweifels. Die ungewohnte Aufrichtigkeit im Ringen um die richtige Sicht steht im krassen Gegensatz zur Weltdebatte, die über Südafrika den Stab bricht und dabei die tatsächlichen Wirklichkeiten dieses vielschichtigen, reichen und armen Landes mißachtet. Nicht Boykott und Sanktionen, sondern die Unterstützung des bei Schwarzen und Weißen vorhandenen Goodwill würde Ermutigung zu Reformen für den Aufbau einer neuen politischen Ordnung sein. Wo sich jeder zum Richter berufen fühlt, bemüht sich der Autor als Wanderer zwischen zwei Welten als Vermittler für ein Volk zu fungieren, dessen Bereitschaft zum Wandel ungebrochen ist.
Vorwort
Angeklagt wird ein Volk vor aller Welt und in seltener Einmütigkeit verurteilt und geächtet. Wo sich jeder zum Richter berufen fühlt, ist niemand mehr bereit, den Angeklagten zu verteidigen. Ein typischer Fall, bei dem nach allgemeinem Rechtsbewußtsein der Grundsatz der Pflichtverteidigung zum Tragen kommt – ohne Ansehen der Person oder wie hier eines Landes. Es hat mit Gerechtigkeit wenig zu tun, wenn die Ankläger gleichzeitig auch die Richter sind und die Anschuldigungen eines Landes zur einseitigen Würdigung seiner Verhältnisse werden. Ebensowenig wird es den Anforderungen eines Schuldnachweises gerecht, wenn die meisten, die Südafrika Rassismus oder Schlimmeres vorwerfen, sich dabei nur auf Hörensagen berufen. Schließlich widerspricht es dem verfahrensrechtlichen Grundsatz, auch die andere Seite zu hören, wenn die Sache Südafrikas in einer Art abgekürztem Verfahren unter Verweigerung des Anspruchs auf rechtliches Gehör verhandelt wird. Als Deutscher, der in Südafrika lebt und als Heranwachsender schon einmal die Schuld eines Volkes sowie die Ächtung der ganzen Welt zu spüren bekam, reagiere ich heute ebenso empfindlich auf die politischen Vergehen meiner Wahlheimat, wie wenn man es sich in Deutschland – nun in der Rolle des Anklägers – mit der Verurteilung Südafrikas allzu bequem und einfach macht. Aus dieser doppelten Betroffenheit entstanden die nachfolgenden Briefe als persönliches Zeugnis aus einer entscheidenden Phase im politischen Prozeß in und um Südafrika. Dabei habe ich vielleicht öfters, als man zum gegenwärtigen „Stand des
Verfahrens“ erwarten sollte, Partei für meine Wahlheimat ergriffen: nicht, um Südafrika freizusprechen von seinen politischen Verfehlungen, sondern um daneben die Leistungen und Verdienste eines Volkes zu würdigen, das wie alle anderen Völker Grund hat, stolz auf seine Geschichte zu sein, und schuldig an ihr geworden ist. Wie oft in Fällen der Pflicht Verteidigung wird auch für Südafrika auf mildernde Umstände plädiert: in Anerkennung der Errungenschaften und Anstrengungen eines Volkes sowie seiner Bereitschaft zu Wandel und Reformen; vielleicht kommen wir so der Gerechtigkeit etwas näher. Gerechtigkeit aber verlangt auch, daß sie nicht mit Moral verwechselt wird und keine anderen Maßstäbe als die des Rechts für sich in Anspruch nimmt. Ein Volk kann sich insgesamt schämen oder auch schuldig fühlen für alles Unrecht, das in seinem Namen geschieht; doch niemand hat darum das Recht, dieses Volk in seiner Vielfalt menschlicher, gesellschaftlicher oder politischer Bestrebungen zu verurteilen und für die Ungerechtigkeiten, die dabei herauskommen, jeden einzelnen verantwortlich zu machen. Wir alle tragen die Schandflecken in der Geschichte unserer Völker als die dunkle Kehrseite unseres Nationalgefühls mit uns herum. Wer sich etwa in seiner Liebe zu Deutschland auf Goethe oder Beethoven beruft, der muß auch die Auswüchse des Dritten Reiches gegen sich gelten lassen. Die Anerkennung einer Kollektivschuld aber ist keine rechtliche Begründung für Kollektivurteile, die mit Gerechtigkeit so wenig zu tun haben wie die Verdrängung einer solchen Schuld mit dem moralischen Gewissen eines Volkes. Als Deutschland wegen schlimmerer Vergehen nach dem Krieg auf der Anklagebank saß, gab es nicht nur die Nürnberger Prozesse, sondern zugleich auch den Marshall-Plan, der für die geistige und wirtschaftliche Erneuerung Deutschlands wichtiger wurde als
die politische Justiz von Nürnberg. Was Südafrika heute braucht, sind weder Sanktionen, Boykotts noch Maßregeln der Vereinten Nationen, sondern einen Marshall-Plan internationaler Unterstützung und Ermutigung zu Reformen und zum Aufbau einer politischen Ordnung, in der alle Bevölkerungsgruppen des Landes unter gegenseitiger Achtung ihrer Würde und ihrer Rechte in Frieden und Freiheit miteinander leben können. Die Geschichte wiederholt sich nie, aber sie liefert manchmal Parallelen, um uns Gelegenheit zu geben, aus ihr zu lernen: zu helfen, wo Hilfe nötig ist, und zwar zur rechten Zeit, und nicht damit zu warten bis zur Stunde Null.
Johannesburg, den 2. Juli 1985
Lieber D… als ich vor nun schon mehr als vierzehn Jahren nach Südafrika ging, meintest Du: Warum ausgerechnet in dieses Land? Alles, was mir in Europa lieb und wert war, wie zum Beispiel Geschichte, Kultur und die äußeren Rahmenbedingungen einer geistigen und politischen Internationalität, würde ich hier nur bedingt oder überhaupt nicht antreffen; im übrigen, so sagtest Du voraus, sei das wenige Europäische, das es in Südafrika gibt, ohnehin zum Untergang verurteilt. Damals wußte ich noch nicht, daß Deine düsteren Prophezeiungen einmal politische Wirklichkeit werden könnten; ich war ja nur für zwei Jahre hierhergekommen, und zwei Jahre lang würde die Lage, die Dir damals schon so hoffnungslos erschien, wenigstens noch stabil bleiben. Inzwischen sind mehr als vierzehn Jahre vergangen; unsere Kinder sind hier geboren. So wie sie nach südafrikanischem Recht, bin ich selbst mit dem Herzen, neben meiner Liebe für Deutschland, halb Südafrikaner geworden. Was mich innerlich dazu bewogen hat, ist nicht nur die Aufgeschlossenheit und Liebenswürdigkeit der Menschen hier, sondern mehr noch die Solidarität mit einem Land, das zum politischen Sündenbock der ganzen Welt geworden ist. So erlebe ich es immer wieder, daß ich selbst da, wo unsere Verhältnisse nicht mehr zu verteidigen sind, Partei für dieses Land ergreife, weil es allein gegen ein ganzes Heer von scheinheiligen Moralpredigern und politischen Besserwissern steht. Meistens jedoch fühle ich mich aus Gründen der Fairneß verpflichtet, Südafrika gegen Verleumdungen oder einseitige, teilweise böswillige Kritik in
Schutz zu nehmen. Als Wahl-Südafrikaner kann ich unbefangener auf das Gute dieses Volkes hinweisen, weil ich mich nicht auch mit dem Schlechten identifizieren muß. Im übrigen reagiere ich wahrscheinlich ganz normal, wenn ich mich in der allgemeinen Verschwörung gegen Südafrika aus einem Bedürfnis ausgleichender Gerechtigkeit auf die Seite des Schwächeren stelle. Angesichts solcher Verschwörung sieht es ja wohl so aus, als ob Du nach vierzehn Jahren doch noch recht behalten solltest. Südafrika befindet sich zur Zeit in einer Krise, und es ist durchaus offen – und nicht zuletzt von der Haltung des Westens abhängig –, wie das Land daraus hervorgehen wird. Ich selbst bin zuversichtlich, weniger im Hinblick auf die Vernunft der westlichen Welt und ihrer Politik gegenüber Südafrika als in Anbetracht der Entschlossenheit und des guten Willens unter allen Bevölkerungsgruppen des Landes, daß Südafrika mit seinen gegenwärtigen Problemen fertig wird. Ich sehe in allem – unabhängig von den wirtschaftlichen Ursachen – die traurigen und offensichtlich unvermeidbaren Begleitumstände einer Reformpolitik, die dennoch auf dem richtigen Weg zu sein scheint. Als ich vor vierzehn Jahren hier ankam, war Vorster noch Premierminister und regierte das Land wie seit Verwoerds Zeiten in dessen Nachfolge als weißes Vermächtnis, getreu dem politischen Glaubensbekenntnis von burischer Hegemonie und strikter Apartheid. Das Ausland drängte auf Reformen und machte wirtschaftlich gleichzeitig das große Geschäft mit Südafrika. Sosehr man damit die kritischen Stimmen von außen besänftigte, hatte man sich innenpolitisch doch in eine Sackgasse hineinmanövriert, von wo aus es zusehends schwieriger wurde, die wirklich brennenden Probleme des Landes anzupacken. „Wie lange noch kann das gutgehen?“ so fragte sich jeder, dessen Vernunft nicht von der gleichen
politischen Orthodoxie gelähmt war. Die Frage war um so berechtigter, je mehr Unmut sich anstaute, der eines Tages das Faß zum Überlaufen bringen mußte. Es gehört zu den größten Verdiensten Vorsters, daß er seine politische Manövrierunfähigkeit erkannte. Da er nicht bereit war, die Einheit seiner Partei zu opfern, um aus der Sackgasse auszubrechen, blieb ihm nichts anderes übrig, als abzudanken. Seit 1978 leitet nun P. W. Botha die Geschicke unseres Landes. Obwohl unter der Prämisse politischen Wandels angetreten, was seinen Wählern nur allzubald vor der Alternative „adapt or die“ bewußt wurde, ist er vom Ausland lange Zeit in seinen Reformbemühungen und -initiativen nicht ernst genommen, sondern eher beargwöhnt worden: Er betreibe politische Kosmetik und habe damit nicht mehr im Sinn, als der alt und häßlich gewordenen Apartheid einen Facelift zu geben. Inzwischen ist es wohl auch seinen ausländischen Amtskollegen klargeworden, daß er mit seiner Politik der Reformen ernst macht und dabei nicht davor zurückschreckt, die Basis seiner Macht durch parteiliche Absplitterungen aufs Spiel zu setzen. Natürlich kann man bei allen seit 1978 getroffenen politischen Veränderungen den Mangel eines Konzepts bedauern und die große Linie vermissen. Bestimmt läßt sich auch vieles anführen, das noch immer nicht angepackt, verändert oder abgeschafft wurde. Aber es gibt sicherlich wenige Politiker in anderen demokratischen Staaten, die in relativ kurzer Zeit so viele Reformen in die Wege geleitet bzw. einen festgefahrenen Karren wieder ins Laufen gebracht haben. Die Frage „Wie lange noch?“ von damals lautet heute: „Wohin geht die Fahrt?“ Es ist ein Lieblingsthema unter Historikern und Soziologen, die sich vorzugsweise mehr mit Sinn und Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte als mit historischen Fakten auseinandersetzen, daß Reformen und Zugeständnisse in einem
politischen System Anzeichen einer sich selbst fragwürdig gewordenen und innerlich auflösenden Macht sind. Gewiß ist auch heute in Südafrika etwas von den Zweifeln an der eigenen Machtvollkommenheit der Herrschenden und dem Hader mit sich selbst zu spüren; aber das ist ja gerade der Sinn dieser Reformen, wenn ich sie richtig verstehe, daß sie die Alleinherrschaft der Weißen nicht retten, sondern ablösen sollen. Es ist fast eine Ironie des Schicksals – sozusagen in geschichtlichem Gewande –, daß zu einem Zeitpunkt, da Südafrika zum ersten Mal grundlegende und entscheidende Revirements in seiner Innenpolitik vornimmt, die ganze Welt, die es dazu aufgefordert hatte, dieses Land jetzt mit Sanktionen, wirtschaftlichen Boykotts oder Disinvestment bedroht und sich über Verhältnisse empört, die wir ja gerade ändern wollen. Die schon fast hysterische Reaktion des Auslandes auf die jüngsten Entwicklungen in Südafrika erinnert stark an die Kopflosigkeit des Zauberlehrlings, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wird und nun – erschrocken und entsetzt – ihrem Treiben hilflos zusieht. Ganz ähnlich hat sich die Industrie in diesem Lande verhalten, die immer auf Freizügigkeit und Liberalisierung der arbeitsrechtlichen Grundlagen unserer Wirtschaftsordnung gedrängt hatte, aber verdutzt reagierte, als plötzlich die ersten Streiks in den Fabriken ausbrachen und der Arbeitskampf begann. Was erwartet man sich im Westen davon, wenn von Südafrika eine andere politische Ordnung nach dem Motto „One man one vote“ oder die Freilassung Mandelas gefordert wird? Soll das alles ohne Widerstände und Unruhen gesittet wie bei einem Sonntagsausflug zugehen, wenn in Brüssel beispielsweise ein einziges Fußballspiel 39 Tote fordert? Wenn Du mich fragst, so glaube ich, daß die „Glorreiche Revolution“ von 1688 in England nur in den Geschichtsbüchern unblutig
war; im übrigen hat sie lediglich zum Thronwechsel geführt. Man kann keine tiefgreifenden und beinahe schon revolutionären Veränderungen in der politischen und gesellschaftlichen Ordnung eines Landes durchsetzen, wie sie Südafrika zur Zeit erlebt, ohne daß dabei extreme Spannungen und Machtkämpfe entstehen, unrealistische Erwartungen geweckt und Optionen enttäuscht werden. Wenn es um Macht geht, ist bekanntlich niemand mit dem kleinen Finger zufrieden, sondern will jeder gleich die ganze Hand, am liebsten sofort als Faust, um den anderen einzuschüchtern und zu unterdrücken. Ich will, indem ich die Entwicklungen in unserem Land als etwas Natürliches zu erklären versuche, gewiß nicht die derzeitigen Unruhen bagatellisieren oder das Leid abschwächen, das dabei geschieht; aber es hilft weder den Menschen, die davon betroffen sind, noch der Normalisierung unserer Situation, wenn man auf die Ereignisse im Ausland überreagiert und, sei es aus ehrlicher Besorgnis oder aus Erwägungen politischer Opportunität, Botschafter aus Südafrika abberuft und Sanktionen oder Boykottmaßnahmen androht, die das politische Klima für einen friedlichen Wandel in unserem Land nur verschlechtern. Vielleicht sollten sich die Politiker im Ausland ein Beispiel an der südafrikanischen Wirtschaft nehmen, die sich inzwischen auf die veränderten Verhältnisse eingestellt hat; zum Beispiel haben ausländische Firmen die teilweise wilden Streiks in ihren südafrikanischen Niederlassungen nicht zum Anlaß genommen, ihre Geschäftsführer von dort abzuziehen. Entschuldige, wenn ich als Wirtschaftsanwalt aus beruflicher Voreingenommenheit für meine Klienten Deinem eigenen Berufsstand zu nahe getreten sein sollte. Sei mir auch bitte nicht böse, daß ich von nichts anderem als Politik und all dem Unerfreulichen geschrieben habe; ich kann zur Zeit über nichts anderes reden, so wie ihr in
Deutschland momentan nichts anderes zu hören bekommt. Für Dich wird es ohnehin einmal etwas anderes sein zu lesen, wie die Dinge aus hiesiger Sicht erscheinen. Noch besser wäre es allerdings, wenn Du Dir selbst die Verhältnisse bald einmal vor Ort ansehen und uns bei dieser Gelegenheit besuchen würdest. Bisher hat noch jeder, der in Südafrika war und unvoreingenommen unsere Probleme und die dauernden Bemühungen zu ihrer Lösung sah, seine Meinung über dieses Land geändert; nur darf das im meinungsfreiheitlichen Deutschland offenbar keiner sagen, wenn er nicht sofort als Ausbeuter oder Rassist abgestempelt und mit Nazis, Faschisten und anderen politischen Immoralisten in einen Topf geworfen werden will. Überlege es Dir doch mit dem Besuch einmal; in jedem Falle aber lasse Dich nicht beirren, uns zu schreiben, wenn auch viele uns schon abgeschrieben zu haben scheinen.
In herzlicher Verbundenheit Dein G…
Johannesburg, den 16. Juli 1985
Lieber D… hab’ herzlichen Dank für Deinen Brief und dafür, daß Du so schnell geantwortet hast. Ich kann es noch kaum glauben, daß Du uns wirklich besuchen willst; man wird hier so skeptisch allen guten Nachrichten gegenüber, daß man sich um so mehr darüber freut, wenn sie tatsächlich eintreten. Hoffentlich gilt das auch für Deinen Besuch, so daß nichts mehr dazwischenkommt, was Dich davon abhalten könnte, die Freude, die Du uns mit Deiner Ankündigung gemacht hast, auch wirklich einzulösen. Ich freue mich so sehr auf das Zusammensein mit Dir, die Gelegenheit zu ausführlichen Gesprächen und die Möglichkeit, Dir alles zeigen zu können; ich werde mich zurückhalten müssen, Dich nicht ganz in Beschlag zu nehmen. Es war angenehm und wohltuend, aus Deinem Brief herauszulesen, daß Du auf meine Meinung zu den Ereignissen hier Wert zu legen scheinst. Ich habe in der Vergangenheit manche Enttäuschung in dieser Hinsicht erlebt und selbst bei guten Freunden von früher das Thema Südafrika nicht mehr angesprochen, weil sie alle (in echt deutscher Manier) offenbar besser über die Verhältnisse in Südafrika Bescheid wissen als unsereiner, der zwar hier lebt, aber nicht mitreden kann, weil er angeblich von dem System bereits verdorben und als Weißer im moralischen Sinne selbst ein Opfer der Apartheid geworden ist. In ihrem geistigen Mitleid oder ihrer intellektuellen Verachtung scheinen sie nicht zu merken, wie die Mediengesellschaft sie zu Lasten der eigenen Unbefangenheit verdorben hat, wie sie durch die öffentliche Meinung manipuliert werden. Man kommt sich vor wie der
sprichwörtliche Esel, der von seinen Artgenossen als Sackträger beschimpft und verachtet wird. Es ist seltsam, daß gerade Südafrika in seiner Isolation mir die Augen dafür geöffnet hat, woran man in Deutschland offensichtlich leidet: eine politische Form von Autismus mit den üblichen Symptomen einer ideologischen Abkapselung, bei der die Betroffenen ihre fünf Sinne ablegen, nur um in ihrer Begriffswelt ungestört dahinleben zu können. Hinzu kommt der Drang, überall mitreden zu müssen. Seit dieses Bedürfnis bei Euch zu einer Art geistigem Standesbewußtsein geworden zu sein scheint, hat man die Voraussetzungen im Sinne der klassenlosen Gesellschaft inzwischen so weit zurückgeschraubt, daß von dem, worüber man spricht, niemand mehr etwas wirklich zu wissen oder annähernd zu verstehen braucht. Dein Besuch wäre schon von daher ein persönliches Bekenntnis gegen den allgemeinen Trend in Deutschland, beim Denken oder Politisieren die Augen zu schließen. Er wäre aber darüber hinaus aufgrund Deiner beruflichen Stellung auch eine öffentliche Demonstration gegenüber der nicht nur in Deutschland verbreiteten politischen Berührungsangst, sich mit Südafrika einzulassen. Die aufgeregten Bemühungen, das Land in jeder Hinsicht zu isolieren, haben inzwischen solche Proportionen angenommen, daß die Panik, die dabei entstanden ist, gefährlicher zu werden droht als der Umstand, der sie ausgelöst hat. Es ist, als habe man Angst, sich an politisch Aussätzigen anzustecken oder in peinlicher Gesellschaft erkannt zu werden. Ich kann mit solcher Selbstgerechtigkeit und Scheinheiligkeit nichts anfangen. Ich bin auch nicht davon überzeugt, wie einige behaupten, daß man mit dem Ostrazismus Südafrikas dem Land nur helfen will, den richtigen Weg zum eigenen politischen Glauben zu finden. Wenn sich der Westen wirklich im Zustand politischer Gnade befindet – was angesichts von
Geheimdienstaktionen eines über Südafrika so entrüsteten Landes wie Frankreich (um ein friedliches Schiff zu versenken) durchaus fraglich erscheint –, dann wäre es seine Pflicht und Schuldigkeit, Südafrika zu bekehren und bei der Entwirrung seiner politischen Verstrickungen mitzuhelfen. Statt dessen werden überall die Kontakte abgebrochen, Botschafter werden zurückgerufen, Sportler oder Künstler auf schwarze Listen gesetzt, wenn sie in Südafrika auftreten oder starten wollen, das Kulturabkommen mit Deutschland eingefroren. Manche dieser Boykottmaßnahmen arten in Peinlichkeiten aus; so, wenn zum Beispiel Querschnittsgelähmte (als wären sie nicht schon genug vom Schicksal gestraft), nur weil sie aus Südafrika kommen, von der Teilnahme an einer Art Olympiade in London ausgeschlossen werden. Andere Maßnahmen treffen das südafrikanische Volk an seinem empfindlichsten Nerv, wenn zum Beispiel die Nationalmannschaft Neuseelands, die „All Blacks“, ihre geplante Rugby-Tour durch Südafrika absagen muß, weil ein neuseeländisches Gericht in letzter Minute eine einstweilige Verfügung dagegen erläßt und zudem der Premierminister des Landes öffentlich erklärt, stolz auf jene Richter zu sein, die diese Entscheidung gefällt haben… Allen diesen Isolierungsmaßnahmen ist gemeinsam, daß sie niemandem helfen, sondern verpaßte Gelegenheiten zur Entkrampfung der Situation in unserem Lande sind, daß sie die Menschen hier nicht gefügiger machen, sondern verbittern. Ich erlebe es an mir selbst, wenn ich persönlich durch die Absage der Sängerin Martina Arroya für die „Tosca“-Aufführung genauso betroffen und enttäuscht bin wie achtzig Prozent der Bevölkerung durch die gescheiterte Tour der „All Blacks“, daß ich künstlerische Vorbehalte entwickle und mich aus Trotz darauf versteife, unsere Marita Napier sei mindestens genauso gut, wenn nicht sogar besser als alle Sopranistinnen aus dem
Ausland. Daß man inzwischen auch die Kunst in die Boykottmaßnahmen einbezieht, ist so widernatürlich wie die sportliche Disqualifikation von Querschnittsgelähmten, geht sie doch wie das Leid nur den Menschen in seiner persönlichen Betroffenheit etwas an. Man muß Puccini oder Mozart nicht unbedingt vor einem gemischtrassigen Publikum spielen, was übrigens überall gewährleistet ist, um zu verdeutlichen und zu erleben, daß diese Musik nicht nur für Weiße, Schwarze oder Mischlinge, sondern für alle Menschen ohne Rücksicht auf ihre Hautfarbe komponiert wurde. Vielleicht ergäbe sich aus der Ausstrahlung solcher Veranstaltungen auch unter politischen Gesichtspunkten mehr Stoff zur Aussöhnung und für gegenseitiges Verständnis als durch ein kulturelles Embargo. Andererseits sollte man sich ebenso davor hüten (besonders in Deutschland, nachdem die Welt nicht am deutschen Wesen genesen ist), es nun mit deutscher Kultur in Südafrika zu versuchen und die gnädige Bereitschaft auf diesem Gebiet davon abhängig zu machen, daß möglichst viele Schwarze an ihr teilhaben können. Die deutsche Schule in Johannesburg und in anderen Städten des Landes ist gewiß nicht dazu da, um Schülern, deren Muttersprache Zulu oder Xhosa ist, die Geheimnisse der Lautverschiebung von Alt- und Mittelhochdeutsch beizubringen oder schwarzen Heranwachsenden, die andere Pubertätsprobleme haben, in ihrem jugendlichen Sturm und Drang den Werther oder Hölderlin an die Hand zu geben. Auch sind die alten Menschen in diesem Land nicht deshalb weniger alt oder kirchlicher Unterstützung nicht mehr bedürftig, weil es bei den Gottesdiensten der deutschen Gemeinden nicht gemischtrassig genug zugeht. Ein solches Junktim zwischen Hautfarbe und kultureller oder kirchlicher Betreuung aus Deutschland ist nicht nur unsinnig, weil es Dinge zwanghaft miteinander verbindet, die ihren Wert in sich haben, sondern widerspricht
auch dem Geist, den es fördern soll: der gegenseitigen Achtung und Vorurteilslosigkeit im Zusammenleben verschiedener Rassen und Kulturen. Man ist im Ausland offensichtlich falsch informiert, wenn man meint, einen Kulturaustausch mit Südafrika allein darum nicht pflegen zu können, weil Veranstaltungen in diesem Zusammenhang nur den Weißen zugänglich seien. Ich habe in der Oper von New York nicht mehr Schwarze gesehen als hier in Pretoria. Insoweit ist das Reizwort Apartheid wirklich, wie Präsident Botha gesagt hat, ein kulturelles oder menschliches Faktum und kein politisches Manifest. Das Goethe-Institut stünde jedem offen, und dennoch wird in Südafrika keines eröffnet, weil Schwarze angeblich keinen Zutritt haben, was zur politischen Verleumdung dieses Landes gehört. Dies, obwohl in und um Johannesburg mehr als 60000 Deutsche leben und die Buren mehr mit den Deutschen gemein und eine größere Affinität zur deutschen Sprache und Kultur haben als in manchem anderen Land, wo Goethe-Institute ein geistiges Schattendasein führen. Ich habe wieder einen langen Brief und von nichts anderem als unseren politischen Sorgen geschrieben. Dabei wollte ich Dir nur sagen, wie sehr wir uns auf Deinen angekündigten Besuch freuen! Offenbar tut man sich angesichts von Sanktionen, Embargo und kulturellem Boykott doch etwas schwerer mit seinen Einladungen, als wenn es nur um einen Urlaub an den Stränden des Indischen Ozeans oder in den Wildreservaten von Mala Mala oder im Krügerpark geht. Vielleicht werden wir sogar für die angenehmen Seiten Südafrikas noch etwas Zeit haben. In herzlicher Vorfreude Dein G…
Johannesburg, den 2. August 1985
Lieber D… Dein Brief erreichte uns alle bei bester Gesundheit und unbehelligt von den gegenwärtigen Unruhen und Einschränkungen des über weite Teile des Landes verhängten Ausnahmezustandes. Deine Besorgnis tat gut, ist aber Gott sei Dank unbegründet. Sie ist leider, wie zu viel emotionelles Engagement von außen, die Folge einer mehr sensationslüsternen als verantwortungsvollen Berichterstattung über dieses Land; edle Gefühle werden so irregeleitet. Neulich riefen uns Freunde aus Amerika an, die durch die offensichtlich noch stärker aufgeheizten Berichte im amerikanischen Fernsehen und der dortigen Presse so beunruhigt waren, daß sie uns beschworen, alles hier stehenund liegenzulassen und nach Deutschland zurückzukehren; sie konnten nicht verstehen, daß wir ihren gutgemeinten Rat nicht ernst nahmen, weil es sich unserer Meinung nach hier nicht gefährlicher lebt als in Amerika. Es ist sicherlich schwierig für jemanden im Ausland, die Nachrichten im Fernsehen oder in den Zeitungen über Südafrika mit der Sorglosigkeit in Einklang zu bringen, mit der wir angesichts von brennenden Häusern und Menschen hier weiterleben und so tun, als gäbe es das alles nicht. Ich nehme es auch niemandem übel, wenn er unsere offenbare Unbekümmertheit der geistigen Abstumpfung oder der Uneinsichtigkeit von Menschen zuschreibt, denen nicht mehr zu helfen ist. Aber stell Dir vor, wir bekämen im Fernsehen hier täglich nichts anders als die Bilder von allen Unfällen auf den
deutschen Autobahnen gezeigt; man würde meinen, daß Deutschland eine einzige Unfallstelle sei und die Benutzung der Autobahn ein Vabanquespiel ist, während ihr weiter rast, als sei eine ganze Nation dem Todeskitzel russischen Roulettes verfallen. Die Medien leben von der journalistischen Ausbeutung des Unglücks anderer, und sie haben in Südafrika zur Zeit ein fündiges Feld. Da sich alle Welt in der Verurteilung des Landes einig ist, hat man zu den Sensationsmeldungen in der Apartheid auch gleich noch die Erklärung für alle Schrecken. Es ist zugegebenermaßen verlockend, in einer Situation, die so komplex wie unsere ist, alle Probleme auf einen einzigen Nenner zu bringen; zudem liegt es im Selbstverständnis der Medien, Sensationen als etwas Verwerfliches darzubieten. Man stillt nicht nur den Hunger nach Schlimmem, sondern liefert die moralischen Verdauungstabletten gleich mit, durch die Entlastung des Gewissens der Sensationshungrigen, daß alles gar nicht so schlimm zu sein brauchte, wenn man nur die Apartheid abschaffen würde. So braucht sich dann keiner mehr zu schämen, wenn er die Bilder des Schreckens als Unterhaltung konsumiert, und alle können sich entrüsten. Eine solche Berichterstattung wäre nicht so schlimm, wenn sie nicht so gefährlich wäre. Sie hat im Ausland ein Klima emotionaler Aufladung und erwartungsvoller Spannung geschaffen, unter dem es immer schwieriger wird, sich sachlich und unvoreingenommen mit den Problemen Südafrikas auseinanderzusetzen. Man kann in einer solchen Atmosphäre weltweiter moralischer Mobilmachung keine politischen Entscheidungen mehr treffen, die sich am hic et nunc der südafrikanischen Verhältnisse und Möglichkeiten orientieren. Insofern sind die Medien drauf und dran, Politik als „die Kunst des Möglichen“ unmöglich zu machen. Die sehr viel größere Gefahr jedoch einer Berichterstattung, deren Gebrauchswert
sich nach ihrem Reizwert bestimmt, ist die Vorwegnahme möglicher, aus Sensationshunger und Sensationslust beschworener Entwicklungen bzw. der Rückkoppelungseffekt solcher Sensationsmeldungen auf die Wirklichkeit. Man braucht nur lange und intensiv genug Mitleid zu erregen, bis schließlich auch der Sanftmütigste nach einem Opfer verlangt. Genauso lassen sich Verhältnisse oder Zustände in einem Land herbeiführen, indem man die Welt an diese Schreckensbilder gewöhnt. Und wenn die Reporter der Katastrophen am Ende doch recht behalten, dann nicht, weil sie zu ihrer Zeit die Wahrheit gesagt oder die Zeichen richtig verstanden hätten, sondern weil sie durch eine schreckensträchtige und unheilverkündende Berichterstattung ihren Beitrag zur Eskalation der Gewalt in Südafrika geleistet haben. Das gilt in geringerem Maße leider auch für die sogenannte seriöse Presse und ihre Berichterstattung über dieses Land. Was dem einen die Sensation, das ist dem anderen seine Meinung. Es scheint in Deutschland nicht mehr möglich zu sein, für Zeitungen, die etwas auf sich halten, einfach nur über Fakten oder Ereignisse zu berichten, ohne sie gleichzeitig in Meinungen zu verpacken. Wie in den Kaufhäusern ist die Verpackung wichtiger geworden als die Ware und hat sich auch auf dem Gebiet der Nachrichten eine ganze Verpackungsindustrie mit ihren unterschiedlich gefärbten Meinungen entwickelt. Da sie alle so gescheit formuliert sind und niemand mehr die Zeit hat, sich eine eigene Meinung zu bilden, andererseits aber auch jeder hinreichend von sich eingenommen ist, um sich selbst für genau so klug wie den renommierten Leitartikler zu halten, werden die dort vertretenen Meinungen sofort zur eigenen gemacht und mit dem gleichen Nachdruck behauptet, als wären es persönliche Ansichten oder selbstgewonnene Erkenntnisse. Wer immer eine andere Zeitung liest oder gar aus Südafrika kommt mit
Informationen aus erster Hand, hat entweder unrecht oder ist eben falsch informiert. Vielleicht sind all die Kommentare und Leitartikel zum politischen Tagesgeschehen notwendig in einer Mediengesellschaft wie in Deutschland, und vielleicht braucht man zu den Ereignissen aus aller Welt vorgefertigte Meinungen wie Rettungsringe, um im Rausch der Informationen nicht unterzugehen. Es wäre dann aber nicht mehr als recht und billig, wenn die Medien ihre Meinungen als Beruhigungsmittel gegen die eigene Psychose wenigstens so vorsichtig verabreichen würden, daß sie nicht zum Problem eines Landes wie derzeit in Südafrika werden. Wenn ich all die Dummheiten, vorgefaßten Meinungen und Böswilligkeiten lese, die zur Zeit über Südafrika verbreitet werden, dann frage ich mich manchmal, ob dies wirklich noch mit dem Recht der freien Meinungsäußerung zu vereinbaren ist, das in Deutschland durch das Grundgesetz verfassungsrechtlich verbrieft und geschützt ist. Zu sagen, was jeder hören will, und – wenn es nicht nach dem allgemeinen Geschmack ist oder in das übliche Bild von Südafrika paßt – die Tatsache gar zu verschweigen oder zu verdrehen, dazu gehört weder journalistischer Mut noch Zivilcourage, die den Schutz der Verfassung verdienten. Offenbar haben die Medien selbst ein schlechtes Gewissen, wenn sie so ungestört über dieses Land herfallen, denn nur so läßt sich erklären, daß sie zu allen Sensationsmeldungen über Südafrika, um ihnen die Aura verbotener Wahrheiten und damit sich selbst den Anschein einer furchtlosen Berichterstattung zu verleihen, auch noch das Gerücht verbreiten, es gäbe bei uns keine Pressefreiheit und alle Informationen, die nach außen gelangen, seien einer staatlichen Zensur abgetrotzt. Ich kenne kein anderes Land, außer Amerika, das seine Krisen in so schonungsloser Offenheit austrägt wie Südafrika. Nicht zuletzt daraus leite ich
meine Zuversicht ab, daß wir unsere Probleme meistern werden. Es ist erstaunlich und zeugt nicht nur von einem dicken Fell, wie man es im Ausland gerne hinstellt, sondern auch von einer inneren Kraft, wenn ein Land trotz der weltweiten Feindseligkeit, wie man sie Südafrika zur Zeit entgegenbringt, sich in seinem Selbstbewußtsein und guten Willen zu Verständigung nicht beirren läßt. Als zur Zeit des Terrorismus in der Bundesrepublik durch die Baader-Meinhof-Gruppe, und insbesondere nach dem Selbstmord von Andreas Baader im Stammheimer Gefängnis, Deutschland vorübergehend eine schlechte Presse im Ausland hatte und man an Zeiten unter Hitler erinnerte, da ging ein Aufschrei durch das ganze deutsche Volk, und selbst die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ konnte es sich nicht verkneifen, einen Leitartikel zu veröffentlichen unter dem Titel: „Jetzt reicht es aber!“ Was sich heute dagegen Südafrika von Fernsehen und Presse in aller Welt gefallen lassen muß, ist ein Vielfaches an Verunglimpfung und politischer Verleumdung. Siehe es auch einmal so und habe bitte Verständnis dafür, daß ich mich als Deutscher in Südafrika manchmal schäme, wenn ich sehe, mit welcher zum Teil infamen Berichterstattung in Deutschland politische Propaganda gegen Südafrika betrieben wird, während man hier große Stücke auf deutsche Genauigkeit und Korrektheit hält. Vielleicht erklärt das den manchmal aggressiven Ton meines Briefes. Sei mir nicht böse und sei, wie immer, herzlich gegrüßt von Deinem G…
Johannesburg, den 14. August 1985
Lieber D… Deine Reaktion auf meinen letzten Brief hatte ich erwartet; noch während ich mir den Ärger von der Leber schrieb, war mir klar, daß ich mit meiner Kritik an den Medien auf wenig Beifall stoßen und mir vielmehr den Vorwurf einhandeln würde, wie er denn auch prompt aus Deiner Antwort herauszulesen war: ich bediene mich bei meiner Medienschelte einer altbewährten Taktik, wonach Angriff die beste Verteidigung ist, und habe damit wenigstens erreicht, von den eigentlichen Problemen abzulenken. Offensichtlich braucht man nur wie Du regelmäßig Zeitung zu lesen oder vor dem Fernsehapparat zu sitzen, um die gleiche Schizophrenie kritischer Empfindlichkeit zu entwickeln, die zur Berufskrankheit des modernen Journalismus zu gehören scheint, der unbekümmert um das Ansehen oder Selbstgefühl seiner Opfer unter dem Schutz der Verfassung ein ganzes Volk in den Dreck zieht, selbst aber mimosenhaft empfindlich reagiert und überall Zensur wittert, wenn jemand nur einmal wagt, die Ausgewogenheit solcher Berichterstattung in Frage zu stellen. Aber lassen wir die Medien; sie sind, wie Du richtig schreibst, nicht die Ursache unserer Probleme, sondern verschlimmern sie nur, indem sie weltweit Sensationen daraus machen. Wenn Du aber den Eindruck gewonnen haben solltest, ich versuche mit meiner Kritik an unserer Medienzivilisation von der eigentlichen Problematik abzulenken, so sollte man in Deutschland besser wissen, daß es politische Mißbildungen in einem Land gibt, die so unnatürlich sind, daß sie nicht nur bewußt, sondern auch im Unterbewußtsein schmerzen. Man
kann, wenn man in Berlin lebt, genausowenig von der Mauer ablenken wie hier von den Mauern rassischer Trennung und Diskriminierung. Aber man entwickelt, wenn man damit leben muß, eine realistischere Einschätzung der Situation und der Möglichkeiten zu ihrer Lösung, als wenn man weit davon entfernt sich zeitungslesend oder fernsehend darüber entrüstet. Wer den Deutschen anraten würde, die ihr Land auf widernatürliche Weise teilende Mauer abzureißen, bekäme wahrscheinlich nur ein resigniertes Lächeln als Antwort. Ist es da nicht verständlich, wenn man von Südafrika zur Überwindung der Apartheid „One man one vote“ in einer unitarischen Verfassung verlangt, daß viele Südafrikaner lieber mit ihren Problemen leben, als sich mit den verschriebenen Mitteln seiner Lösung politisch selbst umzubringen. Hier liegt, wenn man sich ernsthaft mit der südafrikanischen Krankheit auseinandersetzt und eine ehrliche Diagnose versucht, das eigentliche Problem begründet und nicht in einem Rassismus, wie allgemein behauptet und bereitwillig geglaubt wird, ist er doch die einfachste Formel, um die schwerverständlichen Verhältnisse in Südafrika zu erklären und so hinzustellen, als ob sie ohne weiteres zu lösen seien, indem man nur nicht mehr rassistisch zu sein brauchte. Überspitzt formuliert hat Südafrika kein Rassen-, sondern ein Verfassungsproblem. Ginge es nur um das tägliche Zusammenleben oder, wie die Aufhebung des Immorality und Mixed Marriages Act beweist, um das nächtliche Zusammenschlafen in einer rassenlosen Gesellschaft und nicht auch und hauptsächlich um die politische Macht, so hätten wir keine brennenden Schulen und keine Menschenverbrennungen. Es ist nicht nur naiv, sondern auch widersinnig zu glauben, daß jene Greuel- und Schandtaten, die Schwarze an ihresgleichen begehen, das Ergebnis und die Auswirkungen einer unheilvollen Apartheidpolitik sind. Was hier geschieht, hat
nichts mit Widerstand oder Freiheitskampf zu tun, sondern ist die ruchlose Einschüchterung von ganzen Bevölkerungsgruppen durch Grausamkeit und Gewalt aus den schwarzen Reihen, damit sie sich einordnen in einen Machtkampf, bei dem es wie immer nicht um die Entrechteten oder Unterdrückten, sondern um die Herrschaftsansprüche einer schwarzen Minderheit geht. Man kann so etwas in Deutschland oder andernorts, wo sich mit der politischen Mündigkeit des einzelnen die Mittel seiner Umwerbung verfeinert haben, nicht verstehen und tut solche Einschüchterungsmethoden gerne als böse Phantasien aus der südafrikanischen Märchenwelt ab, bis man vielleicht am Fernsehen miterlebt hat, wie die Schutzstaffeln des ANC oder der UDF mit angeblichen Kollaborateuren verfahren. Diese Leute haben erkannt, daß in einer stammesorientierten und fragmentierten Gesellschaft, die weitgehend noch an Geister glaubt, das einzig einigende Element die Furcht ist, die sie einflößen und verbreiten. In ausländischen Zeitungen liest man nichts von dem Terror, mit dem der Boykott weißer Geschäfte durch schwarze Käufer erzwungen und von den Einschüchterern der angeblich gewaltlosen UDF überwacht wird. Man weiß auch offenbar nichts von dem Schicksal schwarzer Jugendlicher in einem Township bei Pretoria, die zu Hause weggeholt, von angeblich kirchlichen Organisationen gut verpflegt und dabei gezwungen werden, enthemmende Drogen zu schlucken, damit sie beim Steinewerfen mitmachen und keine Skrupel mehr haben, Häuser oder auch Menschen anzuzünden. Einem Jungen, der sich weigerte, die Tabletten herunterschlucken, wurde der Hals durchgeschnitten. Das sind keine Greuelmärchen aus dem Propagandaministerium in Pretoria, sondern Berichte unter Tränen einer schwarzen Hausangestellten, die ich kenne und deren Kinder diesem Terror ausgeliefert sind. Solche Bestialitäten geschehen täglich
und gehören zur politischen Tagesordnung der Leute, die an die Macht wollen. Ich will, indem ich davon schreibe, das Leid der Betroffenen nicht ausbeuten unter politisch umgekehrten Vorzeichen, Unterdrückung nicht aufwiegen gegen Einschüchterung. Alles, was ich damit sagen und verständlich machen will, ist die Tatsache, daß es heute in Südafrika – zumindest bei denen, die Gewalt predigen und praktizieren, die wie Boesak oder Tutu das Land unregierbar machen und wirtschaftlich in die Knie zwingen wollen – nicht mehr um eine gerechtere politische Ordnung, sondern um die Macht geht; man muß die Zukunft nicht voraussehen können, sondern braucht sich nur die Methoden vor Augen zu halten, mit denen hier in unverhohlener Brutalität der gute Wille der schwarzen Bevölkerung von den eigenen Leuten ausgetrieben wird, um zu erkennen, daß, wer immer auf solchem Wege die Apartheid überwinden will, vom Regen in die Traufe kommt. Leider scheint der gesamte Westen von dem politischen Anathema der Apartheid so gebannt wie das Kaninchen von der Schlange, daß er die Bedrohung des unschuldigen Tieres durch andere Gefahren nicht mehr wahrnimmt. Vielleicht auch ist man dort, wo die Forderung „One man one vote“ am lautesten erhoben wird, nicht interessiert oder besorgt, daß, wenn die Wähler von morgen nur noch den Rücksichtslosesten unter den Anwärtern auf die politische Führung zu wählen haben, sie letztendlich um ihre Stimme betrogen werden. Es ist eine verfassungsrechtliche Herausforderung nicht nur an Südafrika, sondern an alle Länder, wo der Konflikt von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, von verschiedenen Rassen-, Kultur- oder Glaubenszugehörigkeiten immer wieder in Argwohn und gegenseitiger Bekämpfung aufflammt, einen gerechten politischen Ausgleich all jener widerstrebenden Interessen zu finden und in einer Verfassung, die sowohl das Recht der Mehrheit als auch den Schutz von Minderheiten und
die Wahrung ihrer Identität gewährleistet, konstitutionell die Quadratur des Kreises zu lösen, d. h. aus Gegensätzen eine Einheit zu schaffen. Wären die Probleme wirklich so einfach, wie sie von den politischen Besserwissern weltweit hingestellt werden, oder könnte nur ein Land eine Lösung unter Berücksichtigung der spezifischen Schwierigkeiten anbieten, so wäre man in Südafrika eher als irgendwo sonst bereit, den Gordischen Knoten der politischen Verwicklungen durchzuschlagen. In Amerika, wo die Probleme ähnlich sind, geht man davon aus, sie schon gelöst zu haben, und bezieht anscheinend von daher das Recht, mit moralischer Entrüstung besonders hart über Südafrika herzufallen. Eigentlich sollte man gerade in Amerika wissen, daß nicht nur die Probleme völlig anders, sondern daß auch die Schwarzen dort keineswegs besser dran sind als hier, und darum etwas zurückhaltender sein, um nicht das eigene schlechte Gewissen an einem anderen Volk abzureagieren. Der Besuch Senator Kennedys hat deutlich gemacht, daß die Einschätzung unserer Situation in Amerika von den dort geltenden Voraussetzungen gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten ausgeht, die nie wie in Südafrika mit Selbstbehauptung und Identitätswahrung, meinetwegen auch falsch verstandener Berufung als auserwähltes Volk zu tun hatten. Im Westen, und vor allem in Deutschland, wo man für amerikanische Trends und Beglückungen besonders anfällig ist, sollte man sich daher hüten, die Führungsrolle Amerikas in einer Frage anzuerkennen, die allzu leicht Gefahr läuft, als planvolles Ablenkungsmanöver mißbraucht zu werden, um amerikanische Innenpolitik auf Kosten eines anderen Landes zu treiben. Auch Amerika muß aufpassen, sollte es sich moralisch weiterhin so stark in Südafrika engagieren wie seinerzeit militärisch in Vietnam, daß es die politischen Kräfte und Bestrebungen, die hier am Werke sind, richtig beurteilt
und insgesamt versteht, um nicht, wie in Vietnam, an einer völligen Fehleinschätzung der südafrikanischen Verhältnisse zu scheitern. Für Pyrrhussiege eines Wahlkampfes, in dem es ohne Rücksicht auf Verluste um die Stimmen der schwarzen Wählerschaft geht, ist der Einsatz auch dann zu hoch, wenn die Zeche von einem anderen Land bezahlt wird. Egal, wie Südafrika sich seiner Schuld entledigt, wird die Rechnung früher oder später dem amerikanischen Volk präsentiert, und ich hoffe nur, daß man dann die so leichtfertig im politischen Geschäft mit Südafrika ausgestellten Wechsel über Menschenwürde und Gleichbehandlung auch gegenüber den Schwarzen in den USA einlösen wird. Moral in der Politik hat sich noch immer als Bumerang erwiesen, und es gibt nur wenige, die damit umzugehen verstehen, ohne sich selbst zu gefährden. Was auf Amerika als Bumerang zurückkommen kann, das nimmt sich in Deutschland wie die sprichwörtlichen Steine aus, die man besser nicht wirft, wenn man selbst in einem Glashaus sitzt. Gerade, wo es um Rassenfragen geht, haben wir als Deutsche das Recht verwirkt, uns über andere zu entrüsten oder öffentlich als Ankläger aufzutreten. Es stünde den Politikern in Deutschland sicherlich besser zu Gesicht und wäre angesichts unserer deutschen Vergangenheit eher angebracht, wenn man offiziell in Bonn, anstatt in die allgemeinen Empörungen einzustimmen und drohend den moralischen Zeigefinger zu erheben, Südafrika als Verbündeten auch in seinen politischen Verfehlungen ansehen und so dem Land helfen würde, den Weg der eigenen Bekehrung zu finden. Aber vielleicht ist das zuviel verlangt. Du siehst, ich bin auch heute noch immer persönlich engagiert, geht es um Deutschland, seine Vergangenheit und das politische Gewissen der Deutschen. Es ist und bleibt auch mein Gewissen, und alles, was ich Dir in letzter Zeit über
Südafrika geschrieben und zu seiner Verteidigung vorgebracht habe, ist nichts anderes als das Bemühen, diesem Land mit der gleichen Illusionslosigkeit und mit derselben Liebe gerecht zu werden. In herzlicher Verbundenheit Dein G…
Johannesburg, den 29. August 1985
Lieber D… es tut mir leid, daß Du so unangenehme Erfahrungen bei der Besorgung Deines Besuchervisums machen mußtest, indem Du den Peinlichkeiten unnötiger Rückfragen und behördlicher Routine ausgesetzt warst. Leider sind solche Vorkehrungen angesichts der politischen Absichten, die viele mit ihrem Besuch in Südafrika verfolgen, ebenso unvermeidbar wie zum Beispiel Durchsuchung des Gepäcks oder Leibesvisitationen, wenn Du mit der EL AL fliegen willst. Siehe darin also bitte keine Anzeichen staatlicher Eingriffe in Deine persönliche Freiheit oder gar erste Berührungen mit einem Polizeistaat, als der Südafrika immer wieder hingestellt wird; wenn Du erst einmal hier bist, wirst Du über die Freizügigkeit erstaunt sein, mit der Du alles sehen und sagen kannst, was Dich interessiert und Dir nicht gefällt. Natürlich kannst Du mit den Vertretern der weißen Opposition genauso sprechen wie mit den Führern der schwarzen Bevölkerungsmehrheit, ob gemäßigt oder radikal. Das Problem dabei ist nicht so sehr, wen Du treffen darfst, als wer zu Recht einen Führungsanspruch geltend macht und stellvertretend im Namen der Schwarzen politisches Gehör verdient. Ich weiß, daß man bei Euch unter dem Einfluß der Medien besonders Bischof Tutu als den geistigen Führer der schwarzen Bevölkerung Südafrikas ansieht. Sicherlich verfügt Tutu – gestützt auf die finanziellen Mittel weltweiter Kollekten für seinen Kampf sowie aufgrund seiner charismatischen Persönlichkeit, die ihren Eindruck auf Menschen nicht verfehlt, die noch immer mehr in der Furcht des Zauberdoktors
als im christlichen Glauben leben – über eine Gefolgschaft aus vorwiegend kirchlich orientierten Anhängern, die als politischer Faktor durchaus ins Kalkül zu ziehen ist. Aber zu denken oder auch zu behaupten, daß Tutu den notwendigen Rückhalt unter den Schwarzen hat, um über seinen Kreis hinaus deren politische Forderungen zu vertreten und morgen vielleicht ihr Geschick zu bestimmen, geht trotz Friedensnobelpreis und aller Anerkennung im Ausland an der Wirklichkeit Südafrikas ebenso vorbei, wie wenn man in Deutschland eine freie Wählergemeinschaft in Überschätzung kommunaler Belange bundesweit politisch aufwerten würde. Eine andere, schon fast legendäre Figur ist Mandela. Auch hier beruhen Anspruch und Bedeutung mehr auf dem Mythos, den ausländische Medien und die Interessen an seiner Person gebildet haben, als auf der Anerkennung und Autorität politischer Führung, die zugegebenermaßen aus dem Gefängnis schwer durchzusetzen ist. Aber was immer die Gründe dafür sind, weshalb Mandela auf Robben Island den Anschluß an die gesellschaftlichen Veränderungen und Entwicklungen in Südafrika verpaßt – und ich bin aufgrund seiner Weigerung, auf Gewalt zu verzichten und damit freigelassen zu werden, davon überzeugt, daß er zu Recht einsitzt –, kann er von einer solchen Ausgangsposition führungstechnischer Paradoxie, die Gewalt aus einem Zustand völliger Machtlosigkeit predigt, als Sprecher höchstens solcher Gruppen gelten, die Politik in einem luftleeren Raum betreiben. Du wirst denken, daß ich in meiner Einschätzung Mandelas, die allen Terror, der in seinem Namen geschieht, außer acht zu lassen scheint, jeden gesunden Sinn für politische Realitäten eingebüßt habe. So schrecklich solche Akte der Gewalt und Grausamkeit sein mögen, sind sie doch Manifeste der Hilf- und Sinnlosigkeit, die politisch nichts bewirken außer einer Verhärtung des Status quo. Ihre Gefahr
besteht darin, daß diejenigen, die wirklich Politik machen, weil sie die Mittel und den notwendigen Einfluß haben, auf jene Akteure der Verzweiflung hören und aus Ermüdung oder Überdruß sich auf Forderungen einlassen, die mit einem politischen Ausgleich von Interessen nichts mehr zu tun haben, sondern nur noch von revolutionärer Schwärmerei und Intransigenz bestimmt sind. Insofern teile ich durchaus den Standpunkt unserer Regierung, die sich weigert, mit Leuten zu verhandeln, deren Legitimation allein der Terror ist, den sie ausüben, und derartige Verhandlungen mißbilligt oder verbietet, wenn politische Amateure und Laienspieler darauf bestehen, weil sie die eigene Harmlosigkeit auch bei ihren Gesprächspartnern voraussetzen. So gut solche Versöhnungsreisen nach Lusaka gemeint sein mögen, so fatal wirken sie sich im eigenen Lande bei den Leuten aus, die aufgrund ihrer Führungsrolle und persönlichen Autorität wirklich legitimiert sind, für die schwarze Mehrheit zu sprechen, und dabei die politischen Spielregeln beachten. Wenn Politik denn wirklich eine Kunst ist, was anzunehmen ist, nachdem so wenige sie beherrschen, dann muß auch für sie gelten, was allgemein für Kunstwerke gilt: daß nämlich schlechte Kunst wie schlechte Politik sich von der guten dadurch unterscheidet, eben nur gut gemeint zu sein. Wenn Du jemanden treffen willst, der zur Zeit stellvertretend die politischen Enttäuschungen und Aspirationen der schwarzen Bevölkerung im Rahmen der bestehenden Ordnung vertritt, dann mußt Du Gatsha Buthelezi sehen. Was ihn rein zahlenmäßig repräsentativ macht, seine Rolle als Führer des größten schwarzen Stammes in Südafrika, der Zulus, ist durch die starke phylogenetische Bindung der Schwarzen und ihr gegenseitiges Mißtrauen gleichzeitig auch seine politische Achillesferse. Der ANC versucht natürlich, daraus Kapital zu schlagen, indem er sich stammesneutral gibt; aber man braucht
nur seine Verwurzelung im Stamme der Xhosas zu sehen und sich an die Entwicklung Robert Mugabes und seiner ZANUPartei in Zimbabwe zu erinnern, um trotz aller ideologischen Überbrückung und revolutionären Verbrüderung die wahre politische Treuepflicht in der Stammeszugehörigkeit zu erkennen. Insofern ist die Identifikation Buthelezis mit dem Stamme der Zulus, auch wenn er selbst mit seiner InkathaBewegung gerne darüber hinauswachsen möchte, eher ein politischer Trumpf als ein Handicap, und es wäre ein Oliver Tambo froh, wenn er solchen Rückhalt hätte, anstatt in Lusaka durch ferngesteuerten Terror seinen Einfluß in Südafrika behaupten zu müssen. Buthelezi hat in all den Jahren, die ich nun schon aus eigener Anschauung beurteilen kann, stets seine politische Integrität bewahrt, auch wenn seine Gegner oder einige Journalisten aus mangelnder Einsicht in die südafrikanischen Verhältnisse oder weil sie ihn politisch ins Abseits drängen wollen bei jeder sich bietenden Gelegenheit immer wieder geltend machen, daß er nichts anderes als eine Marionette der Regierung in Pretoria und ihr liebstes schwarzes Aushängeschild sei. Nichts ist weiter von der Wirklichkeit entfernt! Gewiß hat Buthelezi in der Vergangenheit Kompromisse gemacht und wird er sich auch in Zukunft auf Zugeständnisse einlassen müssen, was nicht mehr als seinen realistischen Sinn für Politik als die Kunst des Möglichen dokumentiert; offenbar aber braucht man für die Bombenzünder des ANC oder ausländische Berichterstatter, die sich ihr revolutionäres Mütchen an der Situation in Südafrika kühlen möchten, nicht mehr als seine Gesprächsbereitschaft zu bekunden, um als Kollaborateur gestempelt und abgetan zu werden. Es ist erstaunlich und zeugt von ungeheurem politischen Mut, daß Buthelezi unter solchen Umständen gewagt hat, sich mit dem ANC anzulegen, und öffentlich dessen Methoden der
Einschüchterung und Gewaltanwendung verdammt hat. In einer politischen Umgebung, in der nach den Erfahrungen Rhodesiens und dem mißglückten Versuch einer schwarz weißen Koalition unter Abel Muzorewa dessen Schicksal als Syndrom nachwirkt, kommen der unabhängigen Haltung Buthelezis sowie seiner mutigen Entschlossenheit zu einer friedlichen Lösung der südafrikanischen Probleme darum mehr Gewicht und eine größere Bedeutung zu, als man im Ausland und anscheinend auch in Pretoria anzuerkennen bereit ist. Vielleicht können wir, wenn Du erst einmal hier bist, auch noch den ein oder anderen Vertreter der übrigen Bevölkerungsgruppen in diesem Land sehen. Die Unruhen der letzten Monate haben die Aufmerksamkeit so sehr auf die politische und wirtschaftliche Not der schwarzen Bevölkerungsmehrheit konzentriert, daß man darüber das zum Teil noch härter empfundene Los rassischer Diskriminierung unter Indern und Mischlingen zu übersehen scheint. Bezeichnend dafür war jüngst der Auftritt eines amerikanischen Senators im Fernsehen, der unter dem anteilnehmenden Applaus einer Wahlversammlung triumphierend einen Scheck hochhielt, der als Spende für Winnie Mandela gedacht war (die darauf sicherlich nicht angewiesen ist), um die von Terroristen eingeschmissenen Fenster in ihrem leerstehenden Haus zu reparieren, während um die gleiche Zeit in der Nähe von Durban schwarze Jugendliche ein ganzes indisches Viertel plünderten und niederbrannten, ohne daß man im Ausland die Not der Betroffenen überhaupt zur Kenntnis nahm. Solche Vorkommnisse enthüllen nicht nur die willkürliche Auswahl journalistischer Berichterstattung, sondern machen insbesondere das ganze Ausmaß politischer Gefährdung deutlich, in der jene Minderheiten zwischen weißer Scylla und
schwarzer Charybdis ihren Stolz und ihre persönliche Sicherheit zu verlieren drohen. Ich will Dich nicht weiter mit neuen und zusätzlichen Problemen verwirren; es genügt, wenn Du hier in Gesprächen mit Vertretern der verschiedenen Bevölkerungsgruppen umzulernen beginnst. Mein Brief soll Dir nur eine Warnung sein, daß Du Dich auf andere Meinungen und Tatsachen einstellst, als Dir aus Zeitungen und Fernsehen in Deutschland vermutlich geläufig sind. Vielleicht auch ist er Dir Anregung, etwas mehr Zeit für Deinen Besuch einzuplanen, damit es nicht nur flüchtige Begegnungen und oberflächliche Eindrücke bleiben. Andererseits solltest Du Dich hüten, Südafrika – wie ich – aus einer inneren Anteilnahme zu verstehen und damit in das Dilemma zu geraten anzunehmen, daß vielleicht die einzige Lösung unserer Probleme darin besteht, mit ihnen zu leben und so die eigenen Vorstellungen von Menschlichkeit und gegenseitiger Achtung zu erfüllen. Ungerechtigkeit nicht als politische, sondern als persönliche Herausforderung. Ich weiß, wie gefährlich es ist, in einer staatlichen Gemeinschaft das Bekenntnis des politischen Glaubens wie den Besuch der Kirche dem Gutdünken der Mitglieder zu überlassen; aber ich weiß auch, daß es mit einer Änderung von Gesetzen oder selbst der Verfassung dieses Landes nicht getan ist, um eine gerechtere gesellschaftliche Ordnung zu schaffen. Wie immer verbleibe ich in herzlicher Freundschaft Dein G…
Johannesburg, den 12. September 1985
Lieber D… die abschließenden Gedanken in meinem letzten Brief waren eigentlich mehr im Sinne einer Frage oder persönlichen Ratlosigkeit gemeint, als daß ich damit den Status quo unserer verfahrenen Situation verteidigen wollte. Nun, da Du sie aufgegriffen und mich gewissermaßen bezichtigt hast, innere Emigration zu betreiben, will ich doch noch etwas dazu sagen, nicht, um jeglicher politischen Verantwortung abzuschwören, wie Du daraus zu erkennen glaubst, sondern um jener von Dir verketzerten Haltung eines politischen Rückzugs in den persönlichen Bereich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, auch auf die Gefahr hin, daß ich die Mißverständnisse dadurch nur vergrößere. In Deutschland, wo man die Sorge um die Zukurzgekommenen der Wohlstandsgesellschaft nur allzu gerne dem Staat überläßt und das öffentliche Gewissen auf Hilfsaktionen für Äthiopien oder die Erdbebenopfer in Mexiko beschränkt, ist offenbar der Sinn für private Initiativen im Bereich gesellschaftlicher oder staatlicher Unzulänglichkeiten bis auf die Kritik daran abhanden gekommen. Vielleicht muß man wie in Südafrika von Ungerechtigkeit und Elend umgeben sein, um zu der ursprünglichen Verantwortung des einzelnen in der Gemeinschaft als Grundlage aller Politik zurückzufinden und nicht mehr über Organisationen wie die Urban Foundation, Black Sash oder Women for Peace zu lächeln oder ihre Motive als politisches Alibi in Zweifel zu ziehen. Solche individuellen Bemühungen um eine gerechtere Ordnung mögen zwar eine Gesellschaft nicht exkulpieren, die
politisch das Unrecht, das sie mildern will, zu verantworten hat; aber sie offenbaren Kräfte und Strömungen in einem Land, die nicht erst Rügen und Sanktionen von außen brauchen, um mit den eigenen Problemen fertig zu werden. So wie es Krankheiten gibt, die sich nur an ihren Symptomen behandeln lassen, so gibt es auch Übel in einer Gesellschaft, die man nicht sofort mit der Wurzel ausreißen kann. In einer solchen Situation kommt es für die staatsbürgerliche Verantwortung eines Volkes entscheidend darauf an, was die Menschen zwischen den Wahlen denken und wollen. Darüber, was in Südafrika geleistet wird und wieviel Gutes hier geschieht, herrschen ohnehin bei Euch falsche Vorstellungen. Offensichtlich ist man nicht bereit, persönliche Verdienste neben staatlicher Repression oder Menschlichkeit neben Apartheid gelten zu lassen. Dabei sind die Menschen hier im allgemeinen idealistischer und hilfsbereiter, als ich sie aus Europa oder selbst von Amerika her kenne. In Deutschland würden Lehrer und Krankenschwestern nur müde lächeln und sich lieber Arbeitslosenunterstützung zahlen lassen, als für den Hungerlohn, den sie hier bekommen, nur halb so viel für ihre Schüler oder Kranken zu tun. Das gleiche gilt für die Ärzte; man muß den 24-Stunden-Dienst eines Arztes in einem schwarzen Krankenhaus einmal miterlebt haben, um zu ermessen, was hier an Selbstlosigkeit und Einsatz für den Mitmenschen, egal welcher Hautfarbe, tagtäglich geleistet wird. Keine Millionen amerikanischer Entwicklungshilfe können die aktive Sorge und Hilfe aufwiegen, mit der Weiße in diesem angeblich so rassistischen Land um bessere Lebensbedingungen für Schwarze und andere Bevölkerungsgruppen bemüht sind. Es ist an der Zeit, mit der von politischer Propaganda genährten Vorstellung aufzuräumen, die Weißen führten in Südafrika eine Art Drohnendasein und lebten in Saus und
Braus von der Arbeit, die andere für sie tun. Die Herzinfarktquote unter den Weißen ist nicht deshalb höher als in jedem anderen Land, weil sie sich angeblich „überfressen“, sondern weil die Belastungen größer sind. Ich selbst habe nie so hart gearbeitet wie in Südafrika, auch meine Kollegen sind nicht weniger fleißig. Überall fehlt es an qualifizierten Kräften, so daß man versucht, diesen Mangel durch doppelten Einsatz wettzumachen. Sicherlich entsteht dabei auch persönlicher Reichtum und wie anderswo manchmal bei den falschen Leuten; aber er ist meistens geringer, als der Neid von außen hinter einem Haus mit Schwimmbad und großem Garten vermuten läßt. Wo ein Drittel der Bevölkerung Deutschlands ein Gebiet bewohnt, das so groß ist wie die Bundesrepublik, Frankreich, Italien, Belgien und die Niederlande zusammengenommen, da gibt es notwendigerweise Großzügigkeiten, die man im Ausland mit Wohlstand gleichsetzt und die im Gegensatz zum geldbedingten Luxus die natürlichen Grundlagen und Lebensbedingungen einer Gesellschaft sind, die in ihrem Lebensstil und in ihren Anschauungen genauso davon geprägt ist wie umgekehrt in Deutschland die Menschen und ihre Gewohnheiten von der räumlichen Enge und Begrenztheit. Das wird einem besonders klar, wenn man mit den eigentlichen Buren auf dem Land zu tun hat. Es ist, als richte sich der ganze Groll im Ausland wie auch in Südafrika selbst gegen diesen Teil der weißen Bevölkerung, der sich politischen Reformen widersetzt, weil er an seiner patriarchalischen Ordnung festhalten will. Man kann sich zu Recht über eine solche Haltung, deren Selbstherrlichkeit die negative Auswirkung jener Weite und Menschenleere des Landes ist, aufregen und entrüsten – und ich war selbst oft genug drauf und dran, die politische Zuversicht an solcher Starrköpfigkeit zu verlieren –, aber man sollte sich hüten, aus
einer anderen Einstellung und Lebensführung heraus und in eigener Überheblichkeit den Glauben politisch Andersdenkender zu verketzern und bei aller berechtigten Kritik das uneinsichtige Kind mit dem Bade seiner falschen Vorstellungen auszuschütten. Auf den Farmen des Plattelands geht es weniger rassistisch zu als in den Vorstädten Chicagos oder rund um das Türkenviertel von Berlin. Diese Buren sind keine Ausbeuter der Eingeborenen oder ihres Landes, sondern Siedler und Farmer, die noch immer dabei sind, dem zumeist kargen Boden eine Ernte oder Weideflächen abzutrotzen. Die wenigsten sind darüber reich geworden und leben ähnlich wie ihre Farmerkollegen in Australien oder Amerika; die meisten kämpfen wie eh und je gegen Dürre und Bodenerosion. Daß solche Leute stur sind, gehört zu ihrem Beruf und ist der einzige Grund, weshalb sie überhaupt unter solchen Verhältnissen mit der Bestellung des Landes weitermachen. Auf das Konto dieser Sturheit geht nicht nur die politische Ordnung in Südafrika zurück, sondern auch, daß die Menschen in einem landwirtschaftlich keineswegs reichen und gesegneten Land genug zu essen haben und darüber hinaus in der Lage sind, die zum großen Teil hungernde Bevölkerung in den angrenzenden meist fruchtbareren Gebieten mitzuversorgen. In einem geschichtlichen Stadium, da die halbe Welt sich die Finger an diesem Kontinent verbrannt hat und die andere Hälfte dabei ist, es zu tun, sollte ein Standpunkt zumindest zu denken geben, der wie bei den Buren unabhängig von fremden Einflüssen oder politischer Opportunität aus der inneren Verwurzelung und Identifikation mit diesem Land entstanden ist. Mit großartigen Ideen einer wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Ordnung nach europäischem Modell ist in Afrika bisher noch jeder gescheitert, der damit sein und das Glück der Eingeborenen versucht hat. Es ist, als ob dieser
Erdteil wie die Wüste oder der Urwald, die ihn beide kennzeichnen, über alle Versuche menschlicher Erschließung und politischer Einzäunung hinweggehe und jeden früher oder später wieder von sich stößt, der nicht nach seinem Gesetz lebt. Dieses Gesetz ist entweder, wie bei den Schwarzen, ein Gesetz der Anpassung und des Einklangs mit der Natur oder, wie bei den Weißen, die sich darauf eingelassen haben, ein Gebot des Trotzes und des Widerstandes, sich ständig und mit der gleichen Beharrlichkeit wie die Natur gegen das Versinkende in ihr zu behaupten. Man braucht nur den eigenen Garten für eine kurze Weile dem Wetter zu überlassen oder in einem System persönlicher Verantwortungen sich vorübergehend der Illusion hinzugeben, daß Dinge, die in Europa von alleine laufen, auch bei uns ohne dauerndes Nachfassen selbsttätig geschehen, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie immer noch alle Bezwingungen der Natur und die menschlichen Errungenschaften Gefahr laufen, zu verwildern und wieder ins Dunkel Afrikas zu versinken. Diese allgemeinen Betrachtungen sind nicht ganz ohne aktuellen Bezug: Der gegenwärtige Exodus von hauptsächlich englischsprachigen Südafrikanern, die angeblich aus politischem Protest das Land verlassen, in Wirklichkeit aber, weil sie sich nie als Teil davon im Sinne Afrikas empfunden haben und immer Europäer geblieben sind, erscheint erst gegen den Hintergrund solcher Überlegungen in der richtigen Perspektive und macht zugleich die ganze Tragik bewußt, die der Weggang vorwiegend gutausgebildeter Leute für ein gegen alle Widerstände so weit entwickeltes Land wie Südafrika bedeutet. Wir werden zwar nicht gleich im Dunkel dieses Kontinents versinken, aber es wird dunkler bei uns werden. Die Weißen werden noch stärker in die Minderheit geraten und damit in den Augen der Welt jedes Recht auf ihre Stellung hier verlieren.
Eine Welt, die in Prozenten denkt und dabei zwischen Profit und Menschen nicht mehr unterscheidet, hat wenig übrig für zwanzig Prozent einer Bevölkerung, auch wenn die Menschen, die diesen Prozentsatz ausmachen, um ein Land so große Verdienste erworben haben wie die Weißen um Südafrika. Wo immer man glaubt, aus Zahlenverhältnissen die Lösung unserer Probleme unter Aufopferung des prozentual kleineren Bevölkerungsteils ableiten zu müssen, und dabei meint, sich die Hände in der Unschuld von Prozenten reinwaschen zu können, sollte man sich im klaren darüber sein, wie gefährlich und absurd eine solche Gerechtigkeit der Zahl sein kann; man braucht ja nur die Bezugsgröße entsprechend zu wählen, damit auch die Weißen in Deutschland oder in Europa prozentual in der Minderheit sind. Sollen darum Luthers Bibelübersetzung vor Maos Bibel oder die Kathedralen Frankreichs vor der Chinesischen Mauer nichts mehr gelten? Mich schaudert, wenn ich daran denke, was hier alles zusammenbrechen und verlorengehen könnte, wenn die Weißen eines Tages nur noch als Expatriates, wie anderswo in Afrika, das Land ausnutzen und im übrigen seinem eigenen Schicksal überlassen sollten. Lass’ Dich dennoch von solchen Ahnungen und Melancholien nicht beunruhigen oder anstecken und sei, wie immer, herzlich gegrüßt von Deinem G…
Johannesburg, den 8. Oktober 1985
Lieber D… hab’ herzlichen Dank für Deinen lieben Brief und den Zuspruch, daß sich hier alles zum besten wenden wird. Was Du dabei zu übersehen scheinst, ist der Umstand, daß es hierfür nicht nur auf die Weißen ankommt, die inzwischen längst eingesehen haben, daß es so wie bisher nicht weitergehen kann, sondern wesentlicher noch auf die Schwarzen, die sich entscheiden müssen, ob sie lieber den Aufstand proben oder mitmachen wollen, sobald es nicht nur um die Abschaffung der Apartheid, sondern auch und besonders um die Lösung der weitergehenden Probleme des Landes geht. Wir haben in letzter Zeit in unserer Korrespondenz über alles Mögliche gestritten, nur über die Schwarzen nicht, obwohl wir doch gerade in diesem Punkt bestimmt verschiedener Meinung sind. Du magst das Thema aus Rücksicht auf eine vermutete Infektion, der ich in dieser Frage erlegen sein könnte, nicht angeschnitten haben, so wie man sich mit einem Todgeweihten nicht über seine Krankheit unterhält oder es seinerzeit in Deutschland vermied, unter Deutschen über die Juden zu sprechen. Ich selbst habe aus anderen Gründen, möglicherweise unbewußt, das Thema gemieden und scheue mich auch heute noch, darauf einzugehen. Nicht, weil ich generell einen Vorbehalt habe, Menschen nach ihrer nationalen oder rassischen Zugehörigkeit zu beurteilen, als wären sie nicht alle in erster Linie Individuen mit ihrem ganz persönlichen und eigenen Wesen, sondern weil ich über jenen Einwand hinaus, daß es den Franzosen, den Deutschen oder
eben den Schwarzen nicht gibt, die einheitlichen Merkmale, die uns immer wieder zu solchen Verallgemeinerungen und Klischees verleiten, bei einer Bevölkerung, die in sich so unterschiedlich wie das Völkergemisch Europas ist, nicht feststellen kann. In Frankreich wußte ich nach einem Jahr Aufenthalt, was in Art und Besonderheit der Franzosen anders, eben französisch war. Ob ich Musil in französischer Übersetzung oder Proust auf deutsch las, machte keinen allzu großen Unterschied, war doch der eine nur die ins Geistige übertragene Variante der sinnlich-seelischen Verfeinerungen des anderen. Hier in Südafrika weiß ich nach vierzehn Jahren noch immer nicht, was – von den äußeren Merkmalen abgesehen – das eigentlich Typische an den Schwarzen ist. Ich bin noch immer auf Überraschungen angewiesen, wenn ich sie in ihrer Eigenart verstehen will. Das hat nichts damit zu tun, daß unser System der getrennten Entwicklung nur wenig Gelegenheit zu einem wirklichen Kennenlernen bietet; niemand und nichts hindert uns daran. Aber all die Freundschaften oder auch engeren Beziehungen, die es gibt, verhindern das richtige Verständnis mehr, als sie es fördern, weil sie im Zeichen einer weißorientierten Integration fast immer auf einer Selbstverleugnung des schwarzen Teiles beruhen. Das Problem besteht darin, daß der Schlüssel für unser normales Verständnis, wobei wir uns in die Lage des anderen versetzen und danach nur noch uns selbst zu beobachten brauchen, hier nicht paßt und keine Tür zum Innern des anderen aufschließt. Gewiß kann ich Dir, auch ohne bis dahin vorgedrungen zu sein, eine Vielzahl von Erfahrungen und Beobachtungen nennen, die alle mein Bild der Schwarzen geprägt und mich in vieler Hinsicht für sie eingenommen haben. Zunächst ist auffallend, wenn man wie Du die Schwarzen hauptsächlich aus Amerika kennt, daß von der Animosität und Aggression, die dort zu ihrem Wesen gehören,
hier nichts zu spüren ist. Wenn ich, von Deutschland kommend, in Nairobi zwischenlande und schließlich in Johannesburg wieder zu Hause bin, geht es mir wie früher, wenn man nach Italien reiste und, sobald man den Brenner überquert hatte, eine erste Ahnung von einer leichteren und mit sich selbst zufriedeneren Lebensart bekam. Keine deutsche Verbissenheit oder Feindseligkeit wie in Amerika, sondern südliche Sorglosigkeit und freundliche Armut. Ich käme nie auf den Gedanken, wie 1968 in Washington, als ich mich unverrichteter Dinge aus einer öffentlichen Toilette wegstahl, weil ich nur von Schwarzen umgeben war, auch nur ähnliche Befürchtungen zu hegen, wenn ich mich hier fast täglich in ebenso ausschließlich schwarzer Gesellschaft befinde. Der erste, der einem hier hilft, wenn man eine Panne mit dem Auto oder sonst erkennbare Schwierigkeiten hat, ist ein Schwarzer. Diese Gelassenheit und menschliche Umgänglichkeit der Schwarzen ist natürlich auch Ausfluß der inneren Sicherheit, daß sie hier zu Hause und in ihren Stammeszugehörigkeiten und Traditionen verwurzelt sind. Ein südafrikanischer Neger wird trotz aller Diskriminierung oder Verweigerung politischer Rechte nie seinen Stolz einbüßen, er wird immer ein Zulu, Xhosa oder Venda sein. Es kommt aber noch etwas anderes hinzu, was mehr mit dem Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß zu tun hat. Die Sprache dringt hinter alle Scheinheiligkeiten, hauptsächlich in ihren wertenden Begriffen: der amerikanische „Nigger“ rennt offensichtlich gegen mehr Verachtung und Geringschätzung an, die in diesem Wort mitschwingen, als der „Kaffir“ in Südafrika, den nur seine angebliche Dummheit von den Weißen trennt, die ihn so nennen und meistens selbst nicht klüger sind. Mit jener Gelassenheit der Schwarzen eng verbunden sind zwei weitere Eigenschaften, an denen wir uns öfters ein Beispiel nehmen sollten: ihre Bescheidenheit und ihre Geduld! Man kann
darüber streiten, ob solche Wesensmerkmale, nachdem sie überfordert wurden, noch vorbildhafte Werte sind. Nicht zuletzt ist man unter den Schwarzen zur Zeit dabei, aus böser Erfahrung umzulernen. Uns jedenfalls täte eine solche Lehre gut – und für Südafrika wäre es das Beste, wenn man sich in bezug auf Bescheidenheit und Geduld auf halbem Wege treffen würde. Ich habe früher schon einmal auf das Verhältnis der Schwarzen zur Natur hingewiesen und bemerkt, daß sie mehr als unsereiner Teil davon sind und darin aufgehen. Das gilt nicht nur für die Natur um uns, sondern auch für alle natürlichen Regungen in uns. Ein Schwarzer zeigt nicht nur ungenierter, daß er sich freut oder daß er wütend ist, sondern empfindet es auch jeweils so. Diese Ursprünglichkeit ist der Grund, weshalb sie uns manchmal wie Kinder vorkommen, so sind Kinder auch nirgends besser aufgehoben als gerade bei Schwarzen. Nur so ist es zu erklären, daß diese Menschen unter ihren Lebensumständen, wenn sie nicht gerade darunter leiden, glücklich und zufrieden sind. In Deutschland, wo jeder alles hat und trotzdem unzufrieden ist, muß so etwas wie Hohn klingen. Und doch ist das soviel natürlicher als der Neid der Deutschen, der ihnen zur zweiten Natur geworden zu sein scheint. Unabhängig von jeder Wertung schließlich, scheint mir aber folgendes den wesentlichen Unterschied der Schwarzen auszumachen: ihr Weltbild, das statisch und damit diametral zu unserem Entwicklungsdenken und Fortschrittsglauben steht. Mir ist das zum ersten Mal bei der Lektüre eines Buches klar bewußt geworden, das in der für Afrika typischen Form des Geschichtenerzählens einen unerwarteten Einblick in die Psyche und Glaubensvorstellungen der Schwarzen gibt: „Indaba, my Children“, von einem ehemaligen Zauberdoktor geschrieben und 1966 erstmals in England erschienen,
offenbart nicht nur eine ungeheuer reiche Erzählkultur, die ja in sich wie die andere Selbstdarstellung der Schwarzen im Rhythmus des Tanzes auf die Wiederholung des ImmerGleichbleibenden angewiesen ist, sondern spricht deutlich aus, daß Fortschritt, wie zum Beispiel die Weiterentwicklung eines Musikinstrumentes, nicht nur unerwünscht, sondern für die Schwarzen in religiösem Sinne eine Sünde ist, deren Verfolgung und Ahndung an die Zeiten der Inquisition erinnert. Ich brauche Dir nicht zu sagen, welche Faszination eine solche statische Lebensauffassung auf eine Kultur ausübt, die in ihrem Drang nach immer Neuem, soweit es um das menschliche Glück geht, in eine Sackgasse geraten zu sein scheint. Vielleicht werden wir uns am Ende wirklich alle in Atomstaub aufgelöst haben, während in Afrika die Menschen noch immer vor ihren Hütten der Geschichte Marimbas lauschen und nach der Musik ihrer Instrumente tanzen. Nur geht es in Südafrika heute und jetzt bei der Auseinandersetzung der verschiedenen Rassen und Kulturen nicht um ein Entweder-Oder der gegensätzlichen Lebensauffassungen – eine Alternative, die sich ohnehin auch bei Euch nur theoretisch stellt – , sondern darum, ob wir es schaffen werden, eine gesellschaftliche Ordnung zu finden, in der jeder um einer Gemeinsamkeit willen von seiner eigenen Natur etwas aufgibt und in der trotzdem keiner auf Kosten des anderen lebt. Das Erstaunliche ist, daß heute in Südafrika die Bereitschaft dazu bei dem größeren Teil sowohl der weißen als auch der schwarzen Bevölkerung vorhanden ist. Das Problem scheint wie immer darin zu liegen, wie und ob sich die schweigende Mehrheit gegen die Inbeschlagnahme des öffentlichen Interesses durch organisierte Gruppen radikaler Minderheiten durchsetzen wird. Für die Schwarzen wird es dabei schwerer sein, weil sie sich nicht nur gegen den Terror der öffentlichen Meinung zu
behaupten haben, die alle Aufmerksamkeit und Sympathien der Welt zur Zeit den revolutionären Kräften in Südafrika schenkt, sondern sie sich auch noch gegen den Terror der Angst und Einschüchterung zur Wehr setzen müssen. So ist es schon verlockend, wenn man wie viele Schwarze heute in Südafrika keine Arbeit und nichts zu essen hat, von der Revolution zu träumen und so dem Erlösungsglauben zu erliegen, daß mit einer politischen Machtübernahme auch Bildungsrückstand, Arbeitslosigkeit und die Dürrekatastrophe behoben würden. Da die meisten nicht wissen, welchen labilen wirtschaftlichen Verhältnissen sie ihren zugegebenermaßen zu geringen Anteil am südafrikanischen Wohlstand verdanken, und die ganze Welt bemüht ist, ihnen einzureden, die Apartheid sei an allem schuld, wird gerade die größte Bewährungsprobe darin bestehen, daß sie nicht alleine unter Berufung auf die Mehrheit ihre politische Zukunft bestimmen wollen, sondern mit den Weißen in derselben geschichtlichen Verantwortung und mit dem gleichen angestammten Recht den mutigen Versuch machen, die wirklichen Herausforderungen der Zukunft dieses Landes anzunehmen. Dir mag das alles viel zu edel und zu erhaben klingen. Ich bin, was das Los der Schwarzen in diesem Lande betrifft, nicht blind für all das Unrecht, das täglich an ihnen geschieht; aber Diskriminierung und Ausnahmezustand oder selbst die politische Todsünde der Apartheid sind nicht die eigentlichen Probleme unserer Situation, sondern nur Symptome eines Problems, die wie die Schmerzen einer Krankheit oft mehr Aufmerksamkeit auf sich lenken und Mitleid erregen als die Krankheit selbst. Ich habe versucht, indem ich auf die Unterschiede und Gegensätze miteinander im Widerstreit befindlicher Kulturen und Lebensauffassungen hingewiesen habe, die Ursache unseres kritischen Zustandes sowie aller ihn kennzeichnenden Übel, wenn Du so willst: die südafrikanische Krankheit, zu
erklären. Wenn ich dabei dem traurigen Los der Schwarzen in diesem Land sowie ihrem Wesen und ihrer Eigenart nicht ganz gerecht geworden bin, dann gewiß nicht aus weißer Voreingenommenheit. Wie gesagt, ich habe eine Schwäche und in mancher Hinsicht eine Vorliebe für sie, aber ich habe Dich auch gewarnt und von Anfang an zugegeben, daß ich sie nach vierzehn Jahren noch immer nicht verstehe. Wenn Du sie besser kennst, schreib’ mir bitte, wie sie wirklich sind und was ich falsch an ihnen sehe, und lass’ um Gottes willen alle Rücksicht dabei fallen; wir sind weder Rassisten, noch können wir die Schwarzen nicht leiden; wir leben schließlich tagtäglich mit ihnen. In herzlicher Verbundenheit Dein G…
Johannesburg, den 2. November 1985
Lieber D… Du sagst, wenn man meine Briefe liest, könnte man den Eindruck gewinnen, als ob hier alles richtig gemacht würde und es keine Probleme bei uns gäbe, wenn nur das böse Ausland und die Journalisten oder die Medien insgesamt nicht wären. Es ist bestimmt nicht meine Absicht, ein idyllisches Bild von diesem Land zu zeichnen und Dinge darin zu beschönigen, die zum Himmel schreien. Wenn Du das so empfunden haben solltest, dann lass’ uns meinetwegen davon reden, was hier alles im argen liegt; nur mußt Du mir dabei zugestehen, daß ich, um unsere politischen Sünden richtig zu verstehen, sie aus der südafrikanischen Situation heraus erklären und – um sie auf das rechte Maß zu bringen – Vergleiche mit anderen Ländern wie zum Beispiel Deutschland oder Amerika anstellen werde. Fangen wir ruhig mit der Apartheid an. Dieser Begriff ist inzwischen emotional und kritisch so stark aufgeladen, daß wie bei allen Schlagworten politischer Propaganda niemand mehr genau weiß, was er darunter verstehen soll. Das Wort ist bereits sprachlich ein Zwitter der beiden offiziellen Sprachen des Landes und schon aufgrund seiner Herkunft nicht eindeutig zu definieren. In seiner ursprünglichen Bedeutung wollte Apartheid nicht mehr als eine Politik der getrennten Entwicklung statuieren. Heute steht das Wort für all die Ungerechtigkeiten, die aus dieser Politik hervorgegangen sind. Aber ich will mich nicht hinter linguistischen Argumenten verschanzen, auch wenn es mir schwerfällt, politische Begriffe, ob nun „Human Rights“ oder in negativem Sinne die
„Apartheid“, wie Werbeslogans zu gebrauchen und Politik als Marktlücke der großen Werbeagenturen anzuerkennen. Selbst wenn ich auf all die politischen Sünden eingehe, die unter dem Wort Apartheid wie unter einem Sammelbegriff moralischer Verkommenheiten zusammengefaßt sind, wirst Du mir zugeben müssen, daß sie alle, ob Ausbeutung, Unterdrückung, Rassismus oder Menschenrechtsverletzungen, anderswo genauso vorkommen, ohne daß die Länder, in denen sie geschehen, deshalb wie Südafrika von der übrigen Welt politischer Häresie bezichtigt und aus der Menschheit sozusagen ausgestoßen werden. Was das Besondere unserer Apartheid zu sein scheint, ist offenbar der Umstand, daß ihr Unrecht von einer Minderheit an der Mehrheit begangen wird und damit jeder demokratischen Legitimation entbehrt, als gäbe es überhaupt eine politische Rechtfertigung dafür und als hätten die Gegner des Systems in Rußland oder anderswo es selbst so gewollt, wenn sie verhaftet oder umgebracht werden. Das klingt wieder so, als ob ich mich mit der ganzen Welt anlegen und die Apartheid verteidigen wollte. Nichts liegt mir ferner, so wie mir im gegenwärtigen Stadium der Diskussion um Südafrika nichts wichtiger erscheint, als die Argumente zu versachlichen, mit denen über dieses Land gestritten und in einer Art politischer Affekthandlung mehr Schaden als Gutes angerichtet wird. Das gilt zum Beispiel auch für ein so heikles Thema wie das der Zwangsumsiedlungen, an denen sich der Unmut und die Empörung der ganzen Welt wie an einem Verbrechen wider die Menschlichkeit entzündet haben. Auch hier will ich weder die Rücksichtslosigkeit verharmlosen, mit der solche Umsiedlungen in der Vergangenheit gehandhabt wurden, noch das Recht der Leute auf einen Lebensraum ihrer Wahl bestreiten. Aber solche Maßnahmen als Unmenschlichkeit zu brandmarken und mit den Vertreibungen des letzten Krieges
gleichzusetzen, geht schlicht und einfach an der sozialen Wirklichkeit Südafrikas vorbei. Man muß nur einmal in den Squattercamps von Crossroads oder Inanda gewesen sein, um sich zu fragen, ob ein Leben unter diesen Umständen oder die im Ausland so unverständliche Umsiedlung das schlimmere Elend ist. In Deutschland, wo bereits der erste, der sich unrechtmäßig ansiedeln würde, am nächsten Tag eine Abrißverfügung am Hals hätte, hat niemand das Recht, sich über Maßnahmen zu entrüsten, mit denen man in Südafrika einem ungeheuer schwierigen Problem, zugegebenermaßen nicht immer auf die menschlichste Weise, beizukommen versucht. Ein Land, das nicht einmal ein Wort für „Squatter“ hat, wird noch weniger Verständnis für die Probleme solcher Leute haben. Ein anderer wunder Punkt in unserem politischen System, der sicher auf Deiner Sündenliste steht, ist eine Rechtsordnung, die von Diskriminierung durchsetzt und insbesondere im Bereich der staatlichen Sicherheit nicht mehr von Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit getragen wird. Sosehr man sich im Ausland zu Recht über die Verletzungen der menschlichen Würde sowie die Beeinträchtigung persönlicher Freiheiten durch eine Vielzahl südafrikanischer Gesetze empört, reagiert man doch in Südafrika selbst am heftigsten darauf und empfindet es als nationale Schande, wenn in Polizeihaft wieder jemand auf mysteriöse Weise umkommt oder die Menschenrechte einer ungeschriebenen Verfassung, die sogenannte „Rule of Law“, von irgendeiner gesetzlichen Vorschrift selbst nicht eingehalten werden. Wenn es solche Gesetze dennoch weiterhin gibt, dann, weil in einem Land, das seit 1948 von derselben Partei regiert wird, Parlament und Regierung zu sehr eins geworden sind und das rechtliche Gewissen eines Volkes noch nie in der modernen Staatsgeschichte bei der Exekutive eines Staates am besten aufgehoben war.
Dagegen kannst Du Dir unser Rechtswesen, ob in Gestalt seiner Richter und ihrer Rechtsprechung oder durch unseren Berufsstand vertreten, ruhig kritisch ansehen und ohne weiteres mit den entsprechenden Verhältnissen in Europa oder Amerika vergleichen. Du wirst dabei feststellen müssen, daß Richter wie Corbett oder Hiemstra ihren amerikanischen oder deutschen Kollegen in bezug auf Unabhängigkeit, Erfahrung und Gerechtigkeitssinn um nichts nachstehen. Ein Land, in dem die besten und teuersten Anwälte die Verteidigung Winnie Mandelas oder von Dr. Allen Boesak pro deo übernehmen, wo richterliche Untersuchungskommissionen eingesetzt werden, um Übergriffe der Polizei bei Unruhen in den schwarzen Townships zu ahnden, wo paritätisch besetzte Arbeitsgerichte schwarzen Gewerkschaften täglich zu ihrem Recht verhelfen und wo der Staat wiederholt mit politischen Vorhaben an der richterlichen Barriere gescheitert ist, kann trotz Gesetz über die interne Sicherheit oder zur Unterdrückung des Kommunismus kein Unrechts- oder Polizeistaat sein. Wenn Du willst, können wir uns auch über das Erziehungswesen in diesem Land unterhalten und Dein Register um jene Sünden erweitern, die bei der Ausbildung der Schwarzen in Südafrika begangen werden. Im Ausland wird das gern so dargestellt, als ob alle Versäumnisse in diesem Zusammenhang auf Absicht beruhten und einer ruchlosen Politik zuzuschreiben sind, in der man den schwarzen Teil der Bevölkerung, um ihn weiterhin ungeniert ausbeuten zu können, bewußt und künstlich auf dem Ausbildungsniveau von Analphabeten hält. Wo Karl der Große vor 1200 Jahren die allgemeine Schulpflicht eingeführt hat, da ist es in der Tat nur schwer zu begreifen, daß bei uns auch heute noch Kinder aufwachsen, ohne je eine Schule von innen zu sehen. Wenn man dann einmal durch die Karoo gefahren ist, wo auf 100 Quadratkilometer etwa zehn Menschen wohnen, oder die
Splittersiedlungen der Schwarzen auf dem Land gesehen hat, wo die Kinder etwa drei Stunden zu Fuß in die nächstgelegene Schule laufen müssen, dann begreift man nicht nur, wie gut es in Deutschland die vielbedauerten Fahrschüler haben, sondern auch, welche Probleme der Infrastruktur, Logistik und vor allem ausreichender Lehrer die allgemeine Schulpflicht für ein Land bedeutet, das wie Südafrika fünfmal so groß ist wie die Bundesrepublik, ebenso viele schulpflichtige Kinder hat und höchstens über ein Zehntel der Leute verfügt, die als Lehrer in Betracht kommen. Niemand spricht von den vielen Lehrern, die mehr von ihrem Idealismus leben als von der Bezahlung, wenn sie in den schwarzen Townships nicht selten unter persönlicher Gefährdung ihren Schülern die mathematischen Grundregeln nach Adam Riese beibringen, oder von den Farmern, die auf eigene Kosten Schulen auf ihren Farmen unterhalten, damit Schwarze, die dort leben, wenigstens eine Grundausbildung erhalten. In den letzten vier Jahren ist der Haushaltsplan für die Ausbildung der Schwarzen allein um 250 Prozent angehoben worden, und die Gesamtausgaben für das Erziehungs- und Bildungswesen im laufenden Haushaltsjahr liegen um 1,4 Prozent über denen der Verteidigung. Es ist nicht zu erwarten, daß der ANC oder die UDF, die heute mit Parolen wie „Freiheit jetzt, Ausbildung später“ schwarze Jugendliche zum Boykott der Schulen aufrufen und durch massive Einschüchterung am Schulbesuch hindern, die Schuld, die sie damit an der Jugend begehen, durch größere Anstrengungen auf dem Gebiet der Ausbildung und Erziehung wiedergutmachen werden. In jedem Falle aber ist es absurd, ein Problem, das über die menschlichen und finanziellen Kräfte eines Landes geht, so hinzustellen, als habe man es sich selbst eingebrockt. Das gilt mehr oder weniger auch für die vielen anderen Probleme, die man Südafrika als politische Sünden vorhält und
die weitgehend doch nichts anderes als die Schwächen und Unzulänglichkeiten einer jeden Regierung oder in weiterem Sinne einer Gesellschaft sind. Sicherlich werden bei uns große und vielleicht sogar mehr Fehler gemacht als in Ländern mit der politischen Erfahrung und Vergangenheit Europas, aber alle staatlichen Unfähigkeiten, Mängel und Versäumnisse einer Politik der getrennten Entwicklung anzulasten, ist ebenso bequem wie falsch, als wollte man die Demokratie in Deutschland für das Waldsterben verantwortlich machen. Dieses Land hat nicht nur Bodenschätze in Hülle und Fülle, um die es oft beneidet wird, sondern ebenso viele und einmalige Probleme, die nur wenige bereit wären, mit allem Reichtum an Rohstoffen in Kauf zu nehmen. Wenn ich Dir mit meinem Brief nur eine Ahnung von diesem anderen Reichtum gegeben habe, hätte ich damit mehr erreicht, als Südafrika im Augenblick an Verständnis anscheinend erwarten darf. Wie immer in herzlicher Freundschaft, Dein G…
Johannesburg, den 12. Dezember 1985
Lieber D… hab’ herzlichen Dank für den Artikel von Paul Johnson „The Race for South Africa“, den Du offensichtlich einer amerikanischen Zeitschrift entnommen hast. Ich hatte ihn hier Ende November zum ersten Mal in einer unserer Tageszeitungen gelesen, wo er in vollem Umfang abgedruckt war. Es ist, als brauche man selbst danach nichts mehr zu sagen, um die Ausgangsbasis unserer derzeitigen Situation sowie ihre internationale Perspektive verständlich zu machen. Wie hier auf wenigen Seiten die südafrikanischen Probleme einschließlich der Apartheid als Erscheinungsformen einer ganz Afrika bedrohenden Krankheit diagnostiziert und relativiert werden, das hat bisher noch niemand so klar ausgesprochen und zu unserer Entschuldigung vorgebracht. Man ist bereit, für nur einen solchen Artikel all die Einseitigkeit und Böswilligkeit in Kauf zu nehmen, in der sonst über dieses Land berichtet wird, und ist wie für einen Gerechten mit dem Journalismus als Ganzem wieder versöhnt. Was über die Analyse unserer Situation hinaus in dem Artikel als eigentliches Thema deutlich wird, ist der vielleicht bedauerlichste, in jedem Falle aber gefährlichste Aspekt der ganzen Auseinandersetzung um Südafrika: daß es nämlich hierbei gar nicht mehr um das politische Wohl und Wehe der Schwarzen in diesem Land geht, sondern all die vielbeschworenen Rechte und Freiheiten, die unser Gewissen belasten, weil wir sie vielleicht nicht genug beachten, aber immerhin ernst nehmen, von denen, die am lautesten darauf pochen, nur noch vordergründig als rhetorisches Argument
benutzt und wie falsche Karten ausgereizt werden in einem Spiel, in dem Südafrika selbst als Preis ausgesetzt ist. Als eher linksliberaler Chronist der „Modern Times“ ist Johnson über jeden Verdacht erhaben, er sei von der gleichen Obsession geplagt wie unsere Regierung, die hinter jedem Dissidenten gleich einen Kommunisten vermutet. Hier scheut man sich, außerhalb der Regierung den Ost-West-Konflikt mit unseren Problemen in Zusammenhang zu bringen, eben weil das Argument eines „communist onslaught“ von den Hütern der öffentlichen Ordnung überstrapaziert worden ist. Andererseits läßt sich diese Dimension der südafrikanischen Wirklichkeit nicht leugnen oder wegdiskutieren. Man braucht nur die Berichte von Schwarzen aus den Townships zu hören, wie ihnen dort der Kommunismus mit Gewalt eingebleut wird; keiner darf sein Haus vor den Genossen verschließen, wenn es ihm nicht zur Belehrung angesteckt werden soll. Die Glücklichen, die noch Arbeit und ein Einkommen haben, werden gezwungen, von abends acht bis nachts um drei die Indoktrinationen von Freiheitskämpfern aus Ostdeutschland über sich ergehen zu lassen. Offensichtlich reicht das alles nicht aus, damit auch denen hier das Lachen vergeht, die noch immer glauben, sich über die Gefahr einer kommunistischen Verschwörung lustig machen zu können. Insofern ist es gut, wenn jemand wie Johnson ohne ideologische Voreingenommenheit aus der Sicht des Historikers hinter die Kulissen der südafrikanischen Szene schaut und darauf hinweist, was hier wirklich gespielt wird. Darüber, was der Süden Afrikas den Kommunisten in ihrem Kampf um die Weltherrschaft bedeutet, hat bereits Lenin in seiner politischen Metapher vom wehrlosen Unterleib des Kapitalismus sowenig Hehl gemacht, wie einst Hitler in seinem Buch „Mein Kampf“ Zweifel daran aufkommen ließ, was er mit den Juden vorhatte. Die Welt scheint solche Programme nicht ernst nehmen oder
verdrängen zu wollen, weil sie in ihrer politischen Lethargie nicht gestört werden will. Die strategische Bedeutung Südafrikas wird aber darum nicht geringer, daß dem weichen Unterleib des Westens inzwischen ein Panzer gewachsen ist. Es gibt ja noch immer die Aufweichung der politischen Vernunft, auf die man sich in Rußland zur Zeit offenbar mehr verläßt und die das Schicksal Südafrikas so mühelos im Sinne des Kommunismus zu beschließen scheint wie das Seil, an dem nach einer anderen Metapher Lenins der Westen drauf und dran ist, sich selbst aufzuhängen. Ich will Dich nicht damit langweilen, wie viele Rohstoffe dieses Land hat oder welche Bedeutung ihm militärisch unter strategischen Gesichtspunkten zukommt. Diese Argumente hört man immer wieder, und ich schäme mich fast, sie Dir gegenüber zu benutzen, als seien Menschenrechtsverletzungen oder andere Ungerechtigkeiten, die wir als Schuld auf uns laden, nicht so schlimm, wenn wir sie unter Berufung auf unser Gold oder die Kaproute begehen. Aber wenn man bedenkt, welche Möglichkeiten eine kommunistische Machtübernahme in Südafrika den Drahtziehern im Kreml bieten würde, die gesamte westliche Welt wirtschaftlich durch eine Monopolisierung der Rohstoffe und militärisch durch eine günstigere strategische Ausgangsbasis in die Knie zu zwingen, dann ist man bestürzt über die offensichtliche Gleichgültigkeit, mit der man im Westen anscheinend bereit ist, eine solch endgültige Störung des empfindlichen politischen Gleichgewichts in der Welt hinzunehmen. Der ANC hat nie seine Herren in Moskau verleugnet und seine kommunistischen Vorstellungen über eine zukünftige gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung in Südafrika so unumwunden zugegeben, daß unseren Freizeitpolitikern der Wirtschaft in Lusaka Hören und Sehen verging. Trotzdem kann man sich im Westen, wie es scheint, nicht genug daran
tun, die Vertreter des ANC als Südafrikas Herrscher von morgen zu propagieren und Nelson Mandela aus dem Gefängnis – wie einst Khomeni aus dem Exil – unmittelbar in die Diktatur des Proletariats einzusetzen. Buthelezi, dessen politisches Credo in den Wertvorstellungen westlicher Demokratien verankert ist, zeigt man bei Euch die kalte Schulter, während Bischof Tutu von den Fernsehanstalten des Westens mehr Sendezeit als irgendeinem Unternehmen mit dem Werbebudget von vielen Millionen eingeräumt wird, um die Werbetrommel für den ANC (ich frage mich, auf wessen Kosten) zu rühren. Wie oft muß Tutu eigentlich noch unter roter Fahne im Zeichen von Hammer und Sichel predigen und die Russen als Befreier Südafrikas willkommen heißen, damit man auch im Westen den Wolf im Schafspelz oder den Kommunisten unter der Soutane erkennt. Ich bin, wie Du weißt, alles andere als ein McCarthyAnhänger. Die theoretischen Grundlagen des Kommunismus und seine Utopien haben für mich denselben Reiz wie für viele unserer Linksliberalen, die daraus ihre Einwände gegen Südafrika ableiten. Insofern habe ich nicht nur Verständnis, sondern auch höchste Achtung für Leute wie Andre Brink und all die andern, die bekannt wie er oder namenlos mit Südafrika so unerbittlich ins Gericht gehen, als wären sie Vaterlandsverräter, und sich doch nur in der Liebe zu ihrem Land verraten fühlen. Aber es tut mir auch weh, wenn ich sehe, wie diese ideal gesinnten vermeintlichen oder echten Anhänger des Kommunismus aus übertriebenem Stolz und verletzter Ehre über ihr eigenes Land herfallen und die anderen, die nur noch einen Imperialismus daraus gemacht haben, sich dabei ins Fäustchen lachen. Unser Gewissen, auch das schlechte, ist etwas zu Persönliches, um solchen Leuten zu erlauben, es sich zunutze zu machen.
Es gehört offenbar noch immer zu den Regeln einer Politik, die über Machiavelli nicht hinausgekommen ist, die Schwächen des anderen auszunutzen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man zum Beispiel zur Rechtfertigung von Ölembargo oder Disinvestment die Apartheid oder unsere derzeitige wirtschaftliche Schwäche ins Feld führt, solange nur diejenigen, die solche Maßnahmen befürworten, ihrem politischen Ziel dadurch näher kommen. Ganz bestimmt ist es nicht der Westen, der seinen Interessen in Südafrika nachkommt, wenn er sich daraus zurückzieht. Es ist nicht nur absurd, Disinvestment aus humanitären Gründen zu verlangen, wenn man sich den Verlust von Arbeitsplätzen als Folge davon vor Augen hält und im eigenen Wohlstand nicht vergißt, daß zur Würde des Menschen auch ein Recht auf Arbeit und ein angemessener Lebensunterhalt gehören, sondern auch im höchsten Maße naiv, wenn solche Forderungen gerade in Amerika so lautstark erhoben werden, um sich durch Disinvestment die Gunst der Herrscher von morgen zu erkaufen. Vielleicht sehe ich alles zu einseitig im Sinne eines westlichen Nach- oder Aufgebens und bin selbst auch schon etwas von dem politischen Ehrgeiz unserer Regierung angesteckt, die aus Südafrika ein Bollwerk gegen den Kommunismus machen möchte. Der Artikel von Paul Johnson scheint mir jedoch in meiner Einschätzung der Lage recht zu geben, ohne daß sein Verfasser einer ähnlichen Ansteckungsgefahr wie ich ausgesetzt oder einseitig informiert wäre. Der abschließende Vergleich mit der Nationalen Befreiungsfront in Algerien und den Umtrieben des großen Mufti im Palästina der Vorkriegszeit, die jeweils mit den gleichen Mitteln des Terrors und der Einschüchterung wie heute der ANC in Südafrika die Gemäßigten in Angst und Schrecken versetzten, um sie von jeglicher Kooperation mit
den Vertretern der etablierten Macht zu einer friedlichen Lösung der Probleme abzuhalten, stimmt nicht sehr zuversichtlich, was die Aussichten auf eine demokratische Austragung der politischen Gegensätze in unserem Lande anbelangt. Mich würde es interessieren, wie Du selbst darüber denkst und ob Du es auch so siehst, daß hier ein machtpolitischer Kampf unter falschen Vorzeichen als Auseinandersetzung zwischen Schwarz und Weiß geführt wird. Vielleicht ergeben sich auch hierzu für Dich manch neue Aspekte sowie interessantes Anschauungsmaterial, wenn Du erst einmal hier bist und an Ort und Stelle mitbekommst, mit welchen Flugblättern, die alle in Ostdeutschland gedruckt sind, und mit welchen Maschinengewehren oder Tellerminen russischer Herkunft bei uns kommunistische Agitation betrieben und der Boden eines noch immer westlichen Landes wortwörtlich untergraben wird. Jetzt sind es nur noch vierzehn Tage, bis Du abfliegen wirst; ich habe so viele Termine wie möglich für Dich gemacht, damit Du in der kurzen Zeit wenigstens mit den wesentlichen Leuten hier sprechen kannst. Es gibt ja so viele politische Strömungen und Schattierungen bei uns, die nichts anderes als der Reflex einer heterogenen Gesellschaft sind, daß sie einem leicht die eigene Meinung verwirren. Ich hoffe für Dich, daß Du die Komplexität unserer Situation besser verstehst und die Kräfte, die hier am Werke sind, im positiven wie im negativen Sinne richtig beurteilst. Vielleicht hat dazu sogar unsere Korrespondenz in den letzten Monaten ein wenig mitgeholfen. Wir freuen uns unendlich auf Deinen Besuch; sei bis dahin wie immer in herzlicher Freundschaft gegrüßt von Deinem G…
Johannesburg, den 7. Februar 1986
Lieber D… nun bist Du also hiergewesen und inzwischen hoffentlich wohlbehalten wieder zu Hause angekommen. Die vielen Gespräche, die wir hatten, klingen nach als angenehme Erinnerungen; und auch Du wirst manchmal an Südafrika zurückdenken, als hättest Du uns mit dem Herzen noch nicht ganz verlassen. Für mich war die schönste Erfahrung Deines Besuches: daß wir in derselben Vertrautheit wie früher und mit der gleichen Offenheit über alles sprechen konnten und uns dabei in so vielem einig waren. Man fängt ja an, wenn man sich einer so geschlossenen Front in der Diskussion um Südafrika gegenübergestellt sieht, an der eigenen Einstellung in dieser Frage zu zweifeln. Ich habe nie zuvor so entschieden politisch Stellung bezogen, weil ich mich an den Skandalen und Streitereien der Parteien in der Bundesrepublik nicht so richtig erwärmen konnte und in den großen Fragen einer deutschen oder europäischen Einigung wie alle politisch Interessierten meiner Generation über der allgemeinen Interesselosigkeit an diesen allein mir wichtigen Problemen die Hoffnung auf ihre Lösung verloren habe. Hier bin ich mit politischen Fragestellungen konfrontiert, an denen die ganze Welt, ob nun mit Sachverstand oder nur emotional, Anteil nimmt und die nicht nur für dieses Land zukunftsentscheidend sind, und fühle mich wie in allem hier, weil es an ausreichenden und besser geschulten Leuten fehlt, dazu aufgerufen, meinen kleinen Beitrag zur Bewältigung unserer Schwierigkeiten zu leisten.
Wenn man es so mit einem gewissen Abstand und dem notwendigen Vertrauen in die Zukunft sieht, haben unsere politischen Sorgen sogar etwas Positives: Es ist letztlich interessanter und es fordert mehr persönliches Engagement, wenn man sich über „One man one vote“ oder die Aufhebung des Ausnahmezustandes auseinandersetzt, als sich mit der Kiessling-Affäre zu befassen… Für Dich wird die allgemeine Präokkupation mit einem nationalen Thema der vielleicht nachhaltigste Eindruck Deines Besuches gewesen sein, und wahrscheinlich hattest Du nicht erwartet, daß man so aufgeschlossen darüber sprechen und jede Meinung dazu gelten lassen würde. Ich hatte Dir früher schon einmal geschrieben, daß die Südafrikaner im allgemeinen sehr viel toleranter anderen politischen Überzeugungen gegenüber sind, als man aufgrund des Gerüchtes von einem Polizeistaat erwarten könnte. Das hat wohl damit zu tun, daß man in einer rassisch, religiös und kulturell so differenzierten Gesellschaft, die sich noch immer selber sucht, dauernd mit anderen Anschauungen konfrontiert wird. Insofern hat man es hier einfacher mit seinen eigenen Ansichten und schwimmt es sich damit leichter gegen den Strom als in Deutschland, wo man in bestimmten Kreisen gewisse Dinge nicht vertreten kann, ohne sich, wenn man es doch tut, politisch oder geistig ins Abseits zu stellen. Noch entscheidender aber ist, daß es überhaupt diese Vielfalt und Verschiedenheit persönlicher Standpunkte gibt und daß jeder bereit ist, dafür einzustehen. Erst aus dem Zusammenwirken solch unterschiedlicher Einstellungen und der Integrität der jeweiligen Betrachtungsweise ergibt sich ja der politische Ansatz für eine neue gesellschaftliche Ordnung. Daraus leite ich meine Zuversicht her, daß wir es schaffen werden, eine nationale Einheit – wahrscheinlich früher als in Deutschland – zu finden. Worüber ich mich besonders gefreut habe, war Dein
Eingeständnis gegen Ende Deines Besuches, daß Du Dir trotz meiner brieflichen Vorwarnungen die Problematik unserer Situation so komplex nicht vorgestellt hattest. Ich sage das darum, weil ich in all meinen Parteiergreifungen für dieses Land im Grunde nichts anderes will, als Verständnis für die Vielschichtigkeit seiner Probleme zu wecken und sicherzustellen, daß man in Anerkennung solcher Komplexität, meinetwegen als mildernder Umstand, zurückhaltender in seiner Verurteilung wird. Es mag manchmal hilfreich und angebracht sein, wenn politische Fehlentwicklungen in einem Land zu verworren geworden sind, aus der Distanz des Auslandes gute Ratschläge zur Entwirrung zu erteilen. Die offizielle amerikanische Politik eines „constructive engagement“ könnte darin, wenn sie bescheidener wäre und nicht in Reformvorschriften ausartete, Wunder an südafrikanischer Einsicht bewirken. Sie müßte allerdings auch noch die andere Bescheidenheit lernen, daß nämlich alle Einsicht in Washington und Pretoria zusammengenommen noch nicht die Lösung unserer Probleme ergibt, sondern höchstens dabei helfen kann. Hier weiß man, wie Du festgestellt hast, sehr genau über die eigenen Schwierigkeiten Bescheid; leider aber noch nicht so genau, wie sie zu bewältigen sind. Eine andere Einsicht, zu der Dein Aufenthalt Dir verholfen hat, ist die Erfahrung des guten Willens, dem Du überall begegnet bist, wo die etablierte Macht in unserem Land sich zu bescheiden und zu läutern beginnt. Aber auch da, wo man sich an dieser Macht beteiligen möchte, dominiert weitgehend der Wunsch, dieses Ziel auf dem Verhandlungswege und mit friedlichen Mitteln zu erreichen. Das Gespräch mit Buthelezi war hierfür ein beredtes Zeugnis, und ich bin froh, daß Du ihn selbst kennengelernt und gesehen hast, welche Rolle er bei uns noch zu spielen verspricht.
Natürlich gibt es auch die andere Seite, die nicht mehr verhandeln, sondern nur noch kämpfen will; aber Du hast es selbst an ihrem Radikalismus gemerkt, daß diese Leute nicht nur über die politischen Verhältnisse bei uns verbittert sind, sondern mehr noch darüber, daß sie sich in der Minderheit befinden. Daß es sich hierbei um eingeschworene Kommunisten handelt, ist Dir in den Gesprächen mit ihnen mehr als deutlich geworden. Schließlich und nicht zuletzt wichtig für das Verständnis dieses Landes, hast Du auch ein Gefühl für seine Weite und Großzügigkeit bekommen, für die Öde und Majestät einer Landschaft, die von tropischer Üppigkeit zur Kargheit der Steppen schwankenden klimatischen Verhältnisse, für die Bodenständigkeit seiner Menschen und dafür, was trotz hochentwickelter Industrie und europäischer Zivilisation hier immer Afrika bleiben wird. Es ist dies der Zugang zu unseren Schwierigkeiten, der am nächsten liegt und darum so leicht übersehen wird. Es ist aber auch die Grundlage, auf der allein der Wille und die Kraft entstehen, mit diesen Schwierigkeiten fertig zu werden, aus Liebe und Verantwortung für dieses Land. Wenn Du jetzt wieder in Deutschland bist, wirst Du Dich bestimmt manchmal genauso aufregen wie ich, wenn im Fernsehen oder in den Zeitungen Berichte über Südafrika erscheinen, die der allgemeinen Tendenz entsprechend alles hier in Bausch und Bogen verurteilen, ohne auf die Kompliziertheit unserer Verhältnisse einzugehen, geschweige denn Rücksicht darauf zu nehmen. Vielleicht ergibt sich hin und wieder für Dich die Gelegenheit, Südafrika gegen solche Anfeindungen in Schutz zu nehmen. Leicht wirst Du es dabei nicht haben. Leider warst Du nicht mehr hier, als Staatspräsident Botha am vergangenen Freitag das Parlament eröffnete und dabei so etwas wie ein politisches Glaubensbekenntnis ablegte.
Sicherlich wirst Du die Rede auch in Deutschland gehört oder gelesen haben; sie ist überall gut aufgenommen worden. Alles, was zum Demokratieverständnis des Westens gehört, wie Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit, dazu hat sich auch Botha eindeutig in seiner Rede bekannt. Insofern solltest Du es in Zukunft leichter haben, für uns einzutreten, wenn man uns auch weiterhin politisch verfemt und aus der Gemeinschaft der westlichen Welt ausstößt. Natürlich wird es entscheidend darauf ankommen, wie ernst unsere Regierung es mit all diesen guten Absichten meint und wie schnell sich angekündigte Reformen verwirklichen lassen. Vor allem im Ausland wird man uns von jetzt ab daran messen, inwieweit wir die politischen Versprechen des Staatspräsidenten vom 31. Januar 1986 einlösen werden. Dabei sollte man die Erwartungen fairerweise nicht zu hoch schrauben und sich keinen Illusionen hingeben, daß wir über Nacht zu einem Musterland politischer Freiheiten und Grundrechte werden könnten. Auch in Deutschland gibt es das Grundrecht der freien Berufswahl und zugleich mehr als zwei Millionen Arbeitslose sowie einen Numerus clausus für die meisten Studiengänge. Selbst mit dem besten Willen in der Welt lassen sich die notwendigen Voraussetzungen zur Gewährleistung einer gerechteren politischen und gesellschaftlichen Ordnung in unserem Land nicht auf einmal schaffen. Aber das Ziel ist abgesteckt und die Entschlossenheit geschichtlich protokolliert, daß wir ein menschlicheres Südafrika wollen und herbeiführen werden. Das ist der entscheidende Ausblick dieser Rede, deshalb war sie für die Zukunft dieses Landes so richtungweisend. In Südafrika hat sie so etwas wie eine Woge des guten Willens und politischer Begeisterung ausgelöst. Hauptsächlich die Schwarzen haben aus Bothas Rede die Zuversicht zurückgewonnen, daß sie in einem Land mit einheitlicher Staatsbürgerschaft zu ihrem Recht kommen werden und daß
nach einer politischen Bekehrung wie am vergangenen Freitag die Tage der Apartheid gezählt sind. Wer weiter Bomben legt und Terror ausübt, verrät sich selbst, daß es ihm offenbar nicht mehr um Gerechtigkeit und Frieden in Südafrika, sondern nur noch um die Macht geht. Auch im Ausland sollte es klargeworden sein, daß wir keinen Druck mehr von außen nötig haben, um zu demokratischer Einsicht zu gelangen, und Sanktionen, Boykott und Disinvestment es uns nur noch schwerer machen, gerechtere und bessere Verhältnisse für alle in diesem Land zu schaffen. Es ist ja so leicht und verlockend, etwas kaputtzuschlagen; und ich kann fast verstehen, wie man in Deutschland oder Europa aus einem Gefühl der eigenen Überflüssigkeit, weil alles schon gebaut, getan und sogar gedacht ist, Universitäten stürmt oder Kaufhäuser in Brand steckt. Aber hier, wo alles noch im Aufbau ist, täglich mindestens zwanzig neue Schulen gebaut werden müßten, um nur einigermaßen dem Bildungsnotstand abzuhelfen, wo im vergangenen Jahr tausend Leute pro Tag ihren Arbeitsplatz verloren haben, obwohl wir doppelt so viele neue Arbeitsplätze brauchten, um die ständig wachsende Bevölkerung zu beschäftigen, hier geht mir jedes Verständnis dafür ab, wenn schwarze Jugendliche ihre Schulen anzünden oder boykottieren oder wenn amerikanische Firmen im Zeichen von Disinvestment sich aus Südafrika zurückziehen und damit vielen Menschen in Südafrika die Möglichkeit nehmen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In Amerika, wo man unbeirrt an die Machbarkeit des menschlichen Glücks glaubt und sogar einen Verfassungsanspruch daraus ableitet, sollte man es eigentlich besser wissen, als es die amerikanischen Banken mit ihrer Verweigerung neuer Kredite an Südafrika zu erkennen geben, daß zu solcher Art Glück auch Geld gehört und man einem ganzen Land die Chance dazu verwehrt, wenn man ihm
finanziell die Luft abschnürt. Die Interdependenz der modernen Welt ist so groß geworden, daß Teillähmungen der Wirtschaft auch nur eines Landes, selbst wenn es so isoliert wie heute Südafrika ist, nicht nur dem ganzen Konzept widersprechen, sondern auch gefährlich sind. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß sich dieses Bewußtsein gegenseitiger Abhängigkeit und Verantwortung auch im Verhältnis zu Südafrika noch einmal durchsetzen wird. Seit Du hier warst, bin ich selbst etwas zuversichtlicher geworden, daß man im Ausland vielleicht doch noch zu einer realistischeren und gerechteren Einschätzung unserer Verhältnisse gelangen könnte und daraus eine weniger feindliche Haltung gegenüber Südafrika bezieht. Schließlich bist auch Du einmal alles andere als ein Freund dieses Landes gewesen. Nicht daß Dein Aufenthalt aus einem Saulus einen Paulus unseres politischen Glaubens im Sinne südafrikanischer Orthodoxie gemacht hätte, aber immerhin hast Du die Schwierigkeiten unserer Situation verstanden und den guten Willen erkannt, mit dem wir unsere Probleme zu lösen versuchen. Darum bin ich sicher, daß Du für uns einstehen wirst, wenn man uns bei Euch diesen guten Willen abspricht und uns weiterhin rassistischer Ausbeutung beschuldigt. Ich danke Dir schon heute im Namen aller hier, die sich um eine Verbesserung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse bemühen und dabei nicht zuletzt auf Verständnis und Hilfe aus dem Ausland angewiesen sind. Mit nochmaligem Dank und freundschaftlichen Grüßen bin ich in herzlicher Verbundenheit Dein G…
Johannesburg, den 2. März 1986
Lieber D… wahrscheinlich hast Du auf meinen letzten Brief bisher nicht geantwortet, um mir die Verlegenheit zu ersparen, daß mein politischer Überschwang von damals nach Bothas demokratischer Selbstüberwindung angesichts der jüngsten Ereignisse bei uns wohl doch nicht so richtig angebracht war. Es ehrt Dich, wenn es Dir wirklich unangenehm sein sollte, gegenüber einem ohnehin so seltenen Anlaß zu politischer Zuversicht in unserem Land mit Deinen Einwänden recht behalten zu haben. Aber Du brauchst so rücksichtsvoll nicht zu sein; wer hier lebt, hat sich an die Schadenfreude gewöhnt, mit der die ewigen Skeptiker und Neunmalklugen uns bei jedem Rückschlag sogleich daran erinnern, daß sie es ja immer schon besser wußten. Ich werde nicht aufhören, an das Gute zu glauben, auch wenn ich noch gründlicher darin enttäuscht werden sollte. Fortschritt, insbesondere in der Politik, ist nun einmal ein mühsamer Vorgang, der einen Schritt zurück als Anlauf für die nächsten zwei Schritte vorwärts braucht. Was ist denn passiert, daß Du es vorzuziehen scheinst, mir lieber nicht zu schreiben, als mich in meinem guten Glauben damit zu bekehren? Unser Staatspräsident hat seinen Außenminister zurückgepfiffen, der im Hochgefühl der von ihm selbst für tot erklärten Apartheid sich öffentlich in privaten Mutmaßungen ergangen hatte, daß in Zukunft auch ein Schwarzer das höchste Amt im Staat innehaben könne. Das war selbst dem Reformator unseres politischen Glaubens zuviel, der weniger um sein Amt als um die Einheit seiner
Partei zu fürchten begann und durch die öffentliche Schelte seines Außenministers einen drohenden Bruch zu verhindern suchte. Es war, als wären die Eisheiligen in die ersten Blüten des politischen Frühlings gefahren. Der Führer der Opposition, van Zyl Slabbert, trat nach zehnjähriger parlamentarischer Sisyphusarbeit zurück, weil er mit linguistischer Spitzfindigkeit zu erkennen glaubte, die Absage Bothas am 31. 1. 1986 an das überholte Konzept der Apartheid sei nicht mehr als eine rhetorische Finte politischer Bauernschläue gewesen, um das gleiche Übel unter anderem Namen durch die Hintertür in das Kartenhaus einer Politik der getrennten Entwicklung wiedereinzuführen. Buthelezi, der zu erkennen gegeben hatte, daß er in dem neu zu bildenden Verfassungsrat als erstem Organ einer institutionalisierten Machtteilung mitmachen werde, hat seine Bereitschaft dazu unter den gegebenen Umständen wieder aufgekündigt. So ist wieder alles beim alten, und von der Woge des guten Willens und der Begeisterung, wovon ich selbst in meinem letzten Brief an Dich noch getragen war, nicht mehr als eine gestrandete Hoffnung zurückgeblieben. Nicht sehr ermutigend, gewiß, aber kein Grund für Dich, um aus falscher Rücksichtnahme oder echter Besorgnis mir vorzuenthalten, was Du selbst darüber denkst. Ich für meinen Teil bin natürlich enttäuscht und gebe offen zu, daß ich einige Zeit brauchte, um mich nach dem historischen Hochgefühl einer konstantinischen Wende von dem politischen Katzenjammer der darauffolgenden Woche zu erholen. Heute sehe ich die Dinge anders, gelassener – und richtiger, wie ich glaube. Was zunächst die linguistische Überführung unseres Staatspräsidenten betrifft, so bin ich weder von der Auslegung seiner Parlamentsrede überzeugt, mit der van Zyl Slabbert ihm bei der Widerrufung der Apartheid auf die Schliche zu
kommen meinte, noch glaube ich, daß es uns auch nur einen Schritt auf dem Weg zur Überwindung der Apartheid weiterbringt, wenn man unmittelbar, nachdem der Staatspräsident ihr abgeschworen hatte, seine Ernsthaftigkeit erneut in Frage stellt. Wer die Afrikaner und ihre Sprache kennt, der weiß, daß beide viel zu direkt und geradeheraus sind, um in dem, was sie sagen, geheime Vorbehalte zu machen. Die unverblümte Offenheit ihres Wesens ist ja gerade der Grund, weshalb sich unsere Leute in der Regierung mit ihren Beziehungen zum Ausland so schwertun und die Menschen immer wieder vor den Kopf stoßen. Das gilt auch dann noch, wenn sie englisch sprechen, ist doch Englisch für die meisten von ihnen und den Teil der Bevölkerung, der sie wählt, eine Fremdsprache wie für Dich und mich: gedacht, gehofft und mit den „uitlanders“ angeeckt wird in Afrikaans. Eine Sprache, die im Elementaren befangen geblieben ist, schafft ähnliche Befangenheiten bei den Menschen, die sie sprechen. Deshalb kann ein Afrikaner nie nachgeben oder nur einlenken, noch wird man je erleben, daß er sich entschuldigt. Das ist keine Arroganz aus einem Gefühl der Überlegenheit, wie man es im Ausland gern sieht, sondern sprachliche Angst vor einer Aufweichung oder Bedrohung der eigenen Identität einer immer in der Minderheit befindlichen Gemeinschaft. Wenn Herr Botha daher vor dem Parlament erklärt, Südafrika sei dem veralteten Konzept der Apartheid entwachsen, dann bedeutet das auf Afrikaans, wie immer es auch im Englischen herauskommt, daß die Apartheid tot ist. Niemand sollte das besser wissen als Herr van Zyl Slabbert, der dieser ungelenken und schwerfälligen Sprache all die Beredsamkeit entlockt hat, die seinen politischen Gegnern auf der Regierungsbank fehlt, und der in seinem Buch „Das letzte weiße Parlament“ jener einzigen weißen Muttersprache Afrikas auf englisch mit dem gefühlsmäßigen Understatement moderner Empfindsamkeit
eines der ergreifendsten und schönsten Monumente gesetzt hat. Sein eigener Rücktritt hat darum sicherlich weniger mit den Zweideutigkeiten der Widerrufung des Apartheidsglaubens durch den Staatspräsidenten zu tun, als daß er sich als Sprecher der Opposition nach seinen eigenen Worten in einem Ritual der Belanglosigkeit über all die Jahre erschöpft hat. Es muß in der Tat frustrierend und entmutigend sein für einen Politiker mit dem Ehrgeiz und dem Charisma eines van Zyl Slabbert, dauernd einen vernünftigen Standpunkt zu vertreten und doch keine Aussicht auf die politische Macht zu haben, nicht zuletzt weil die Regierungspartei sich die Politik der Opposition zu eigen macht. Gerade darin aber liegt auch das Problem Bothas; denn das eigentliche Dilemma, das in den regelmäßigen Temperaturstürzen unseres politischen Klimas immer wieder deutlich wird, sind der bei aller parlamentarischen Mehrheit geringe Spielraum der Regierung für ihre Reformpolitik und die Rücksichten, die dabei genommen werden müssen. Keine Partei, auch wenn sie seit 1948 an der Macht ist, kann sich über die politischen Grundüberzeugungen ihrer Wähler hinwegsetzen und eine Innenpolitik betreiben, wie sie das Ausland gern möchte. Herr Botha wird nicht von seinen Ratgebern im Ausland gewählt, die glauben, ihn darauf hinweisen zu müssen, der politische Wandel bei uns sei viel zu langsam, sondern von einer südafrikanischen Bevölkerung, die in bezug auf Reformen und den weiteren Druck von außen ihre Belastungsgrenze bald erreicht haben wird. Gerade im Westen, wo politische Macht weitgehend zum Selbstzweck geworden ist, der Politik nur noch zuläßt, soweit man mit ihr die Wahlen von morgen gewinnt, sollte man Verständnis dafür haben, wenn Präsident Botha aus Rücksicht auf seine Wähler oder die warnenden Stimmen in seiner Partei auf dem beschwerlichen Weg der Reformen ab und zu haltmacht und Pausen einlegt. Schließlich hat er bereits einen
Aderlaß seiner Partei hinter sich, und der abgefallene rechte Flügel regt bereits kräftig seine jungen Schwingen. Auch das Militär sieht eher mit scheelem Auge auf manche politische Preisgabe früherer Positionen. Die Afrikaanse Weerstandsbeweging formiert sich wie einst die Sturmabteilungen des Nationalsozialismus. Insofern ist die Politik Bothas, auch wenn sie vielen Kritikern im Ausland sowie den progressiven Kräften bei uns zu hinhaltend und vorsichtig erscheint, unter Berücksichtigung der Ängste unter der weißen Bevölkerung sowie der Gefahr eines reaktionären „backlash“ in Wahrheit äußerst mutig und ist jeder weitere Schritt auf ihrem Weg eine politische Gratwanderung. Ähnliche Probleme hat Buthelezi; auch er droht mit seiner Politik der Mäßigung seine Anhängerschaft unter den Schwarzen zu verlieren. Da weder er noch Botha mit ihrem jeweils mutigen politischen Kurs Erfolg gehabt oder Anerkennung gefunden haben, können sie sich nur noch auf einer Basis des Scheiterns, d. h. politisch überhaupt nicht mehr treffen. Darin liegt zur Zeit die politische Tragik Südafrikas, an der das Ausland einen wesentlichen Teil der Schuld mitträgt. Würde man dort die Reformbestrebungen Bothas mit Investitionen an Goodwill und Geld statt durch Disinvestment den Aufruf zu Sanktionen und politischer Gewalt unterstützen, brauchten sich weder Botha noch Buthelezi um die Radikalen in beiden Lagern zu sorgen und könnten endlich miteinander reden. Statt dessen vergiftet man durch einseitige Parteiergreifung die Atmosphäre zu einem solchen Gespräch und schreibt gleichzeitig Leitartikel mit dem beschwörenden Aufruf: „Wenn doch endlich geredet würde“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung). Der andere Gesprächspartner, den man im Ausland gern dabeisähe, ist der ANC. Nur hat der schon lange zu verstehen gegeben, daß er an Verhandlungen nicht interessiert ist, sondern an einer Änderung der politischen
Verhältnisse in Südafrika, sprich an einer Machtübernahme durch Gewalt. Dementsprechend läßt er Bomben hochgehen und terrorisiert mit brutalsten Methoden die Schwarzen in den Townships. Im Westen besteht man hingegen darauf, daß der ANC politisch anerkannt wird, und findet offensichtlich nichts dabei, die Macht freiwillig an eine Terrororganisation zu übergeben, solange es nur von der südafrikanischen Regierung verlangt wird. Das ist also das Szenario Anfang März 1986: Von den drei wichtigsten Gesprächspartnern eines dringend notwendigen Dialogs will der erste nicht daran teilnehmen, weil er es vorzieht zu kämpfen; der zweite kann sich nicht beteiligen, weil der erste, wenn er mit sich reden ließe, wie alle Revolutionäre nur zu den eigenen Bedingungen verhandelt und er als Mann der Mäßigung als Verräter erschiene; der dritte schließlich muß befürchten, wenn er an dem gemeinsamen Tisch Platz nimmt, daß er sich damit auf den berüchtigten Ast setzt, den niemand gern selbst absägt. Ich weiß nicht, wie unter diesen Umständen das erlösende Gespräch zustande kommen soll. Ich weiß nur, daß verhandelt werden muß, wenn sich die Fronten nicht noch mehr verhärten und in einer gegenseitigen Kraftprobe erschöpfen sollen, bevor die eigentliche Herausforderung der Zukunft dieses Landes angenommen werden kann. Was wir jetzt brauchten, wäre ein Vermittler, der ohne Voreingenommenheit mit den menschlichen, wirtschaftlichen und politischen Ausgangspositionen der verschiedenen Parteien hinreichend vertraut und gleichzeitig in der Lage wäre, eine Aussöhnung so verlockend zu machen, daß man gegenseitiges Mißtrauen, Angst und Haß darüber vergessen könnte. Daß die „Eminent Persons Group“ des Commonwealth, die zur Zeit hier verhandelt, diese Rolle übernehmen könnte, wage ich allerdings zu bezweifeln. Du bist jetzt selbst hiergewesen und kennst unsere Probleme aus eigener Anschauung. Vielleicht weißt Du einen Weg, wie
man aus der festgefahrenen Situation bei uns herauskommen könnte. Laß wieder einmal von Dir hören – und sei es auch nur, um uns etwas Mut zu machen! In herzlicher Freundschaft Dein G…
Johannesburg, den 10. April 1986
Lieber D… Dein schöner und ausführlicher Brief hat mich reich dafür entschädigt, daß ich dieses Mal so lange auf Post von Dir warten mußte. Es tut der Freude über Deinen Brief und unserer Freundschaft keinen Abbruch, wenn Du in dem, wie ich die Dinge bei uns sehe, nicht immer einer Meinung mit mir bist und Dir Deinen eigenen Reim darauf machst. Ich habe Deine Bedenken und Vorbehalte noch jedes Mal als eine Erweiterung des Verständnisses empfunden, das wir zur Zeit mehr als alles andere hier brauchen. Da ich weiß, daß sie alle nur unser Bestes wollen, sind Deine Einwände mir so unentbehrlich geworden wie die notwendigen Zweifel an uns selbst. Leider nur gibt es auf die unterschiedliche Beurteilung unserer Situation keine andere Rechenprobe als das, was die Zukunft ausweisen wird. Im Augenblick klammern sich die Hoffnungen an die Vermittlungsbemühungen der sieben Weisen aus dem Commonwealth. Ich schrieb Dir neulich schon dazu, daß ich mir nicht allzuviel von ihrem Besuch hier verspreche. Du selbst scheinst zuversichtlicher zu sein. Niemand wäre glücklicher als ich, wenn der Erfolg ihrer Mission Dir recht geben sollte; die Zeichen sprechen nicht dafür. Vielleicht ist die größte Belastung dieser an sich begrüßenswerten Initiative ihr „familiärer“ Hintergrund. Schließlich darf man nicht vergessen, daß Südafrika 1961 praktisch aus dem Commonwealth herausgeworfen wurde und seitdem als das schwarze Schaf einer weitgehend auseinandergelebten Familie gilt, die sich lediglich noch in der
Verurteilung dieses ehemaligen Mitgliedes einig ist. Als diese „Einigkeit“ wieder einmal auf den Bahamas statt in einem Lippenbekenntnis durch gemeinsame Sanktionsbeschlüsse gegen Südafrika besiegelt werden sollte, war man plötzlich ganz erstaunt, daß England als Familienoberhaupt nicht mitmachen wollte. Um den Zusammenhalt in der Familie nicht zu gefährden, beschloß man, sieben hervorragende Persönlichkeiten, die sogenannte „Eminent Persons Group“, damit zu beauftragen, vor Ort in Südafrika die Lage zu sondieren und mit einer Empfehlung zurückzukommen über die Maßnahmen, die zu treffen seien. So entstand aus der eigenen Verlegenheit eine Mission, die jedermann in Südafrika in Verlegenheit brachte. Da niemand das Commonwealth um eine Vermittlung gebeten hatte, war anfangs keine Seite in Südafrika bereit, mit seinen Vertretern, so hervorragend sie auch sein mochten, überhaupt zu reden. Der ANC und die UDF wollten von der ganzen Sache nichts wissen und hatten ihre Kooperation zunächst verweigert. Erst als klar wurde, daß die Initiative ihnen ein weltweites Forum für politisches Gehör verschaffen würde, besann man sich eines anderen und hat die Vermittler als Anwälte in eigener Sache akzeptiert. Wenn man sich das Mandat der Gruppe einmal in Ruhe durchliest, ist in der Tat von einem Vermittlungsauftrag nicht viel zu erkennen. Das Übereinkommen von Nassau enthält die klare Anweisung an die Delegierten der Mission, sicherzustellen, daß Südafrika die Apartheid abschafft, den Ausnahmezustand aufhebt, Nelson Mandela ohne Vorbedingungen aus dem Gefängnis entläßt und den ANC sowie alle anderen verbotenen politischen Parteien anerkennt, bevor „das Gespräch über die Gegensätze von Hautfarbe, Politik und Religion hinweg mit dem Ziel, eine rassenlose und repräsentative Regierung zu bilden“, in Gang gesetzt werden kann. Wer solche Forderungen stellt, die
eigentlicher Gegenstand oder mögliche Zugeständnisse eines Gespräches sein sollten, nicht aber dessen Vorbedingungen, ist kein Vermittler, sondern Interessenvertreter einer Partei. Um so erstaunlicher ist es, daß die Regierung in Pretoria unter diesen Voraussetzungen gute Miene zum bösen Spiel gemacht und sich überhaupt darauf eingelassen hat. Daß es dabei zunächst Vorbehalte gegeben hatte, wird angesichts des Zustandekommens und Auftrags der Mission niemand der südafrikanischen Regierung verübeln. Aber auch ohne die Zweifel an der Ehrlichkeit des selbsternannten „honest broker“ gab es für Südafrika gute Gründe, solche Initiativen eher mit Zurückhaltung als mit Dankbarkeit über sich ergehen zu lassen. Man braucht sich nur einmal die Besucherliste der Leute durchzulesen, die in letzter Zeit meinten, anläßlich ihres Besuches in Südafrika mit jedermann und vorzugsweise mit Nelson Mandela im Gefängnis sprechen zu müssen, um ermessen zu können, warum die Regierung solcher Ströme von Besuchern allmählich überdrüssig wird. Auch ist man durch den Besuch von Senator Kennedy inzwischen gewarnt und darum nicht mehr so geneigt, Herrn Fraser als Vorsitzendem der Gruppe mit seiner Initiative zu einem politischen Comeback in Australien zu verhelfen. Was unabhängig von solchen Erwägungen den politischen Locus standi des Commonwealth betrifft, um eine rassenlose und repräsentative Regierung in Südafrika zu etablieren, so sind die eigenen Referenzen in den Mitgliedstaaten des Commonwealth nicht gerade überall die besten. Selbst in England, soweit es dort ähnliche Probleme gibt, wird man vor der eigenen Haustür wie in Irland nicht damit fertig: Wer kann es da Frau Thatcher verdenken, wenn sie sich in Sachen Südafrika heraushalten will? Schließlich hat man sich, was die Lösung des Rhodesienproblems betrifft, seinerzeit in Lancaster House
nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Insofern dürfte die ganze Mission aus der Sicht Englands nicht mehr als ein Versuch sein, sich bei Sanktionen vor dem Mitmachen zu drücken. Daß die Rechnung, wenn dies ihr Kalkül war, aufgeht, wage ich allerdings zu bezweifeln. Wer in der Politik Zeit gewinnen will, gerät nicht selten unter noch größeren Druck. Südafrika weiß das nur allzu gut aus seiner Apartheidpolitik. Wenn meine Vorhersage stimmt, so wird die Mission scheitern, um Mrs. Thatcher zum Nachgeben zu zwingen und damit zu erreichen, was man von allem Anfang an wollte: Sanktionen gegenüber Südafrika. In der Politik war sich noch niemand zu schade, Theater zu spielen, um in der Rolle des Friedensstifters ganz andere Ziele zu verfolgen. Dieses Mal hat man sich, wie es aussieht, als Besetzung die sieben Weisen aus dem Commonwealth dafür ausgesucht. Vielleicht bin ich zu voreilig mit meinen Prognosen; was immer polemisch daran klingen mag, ist nichts anderes als die beklemmende Sorge, daß wieder einmal nichts aus dem Ganzen herauskommen wird und alle Bemühungen des guten Willens, weil man die Sache falsch anpackt, umsonst sind oder in einem Fiasko enden. Es ist auch die Angst, daß Mrs. Thatcher, wenn die Mission der Eminent Persons Group wirklich scheitern sollte, dem Druck der Mitglieder des Commonwealth, umfassende Sanktionen gegen Südafrika zu verhängen, nicht mehr länger wird standhalten können. In der Falklandkrise hat sie zwar bewiesen, daß sie in dem, was sie für richtig hält, sich auch dann noch durchzusetzen weiß, wenn die ganze Welt einschließlich der Mehrheit ihrer Partei gegen sie ist. Damals aber ging es um die Ehre Englands, die sie heute aufs Spiel setzt, wenn sie sich durch die Verweigerung von Sanktionen gegen Südafrika angeblich mit den Gralshütern der Apartheid „solidarisiert“. Was immer aus den Besuchen der Eminent Persons Group herauskommt und egal wie ihre Empfehlungen lauten werden,
muß sich die Iron Lady mit ihrem Standpunkt der Vernunft auf schwierige Zeiten gefaßt machen. Vielleicht wird sie sich bei den vielen Anfeindungen, die ihr noch bevorstehen, manchmal insgeheim fragen, ob dieses Erbe des British Empire noch die Zwänge und Belastungen für die eigene Politik lohnt, so wie sich unsereiner fragt, was aus dem ganzen Commonwealth werden soll, wenn nur noch einer darin die Vernunft bewahrt. Von dort jedenfalls ist unsere Rettung nicht zu erwarten. Wenn heute noch irgend jemand helfen kann, den toten Punkt der politischen Diskussion in unserem Land zu überwinden, dann sind es meines Erachtens die Amerikaner. Sie haben es ja schon einmal in Camp David geschafft, die unversöhnlichsten Parteien an einen Tisch zu bringen und ihnen die Pille des gegenseitigen Nachgebens schmackhaft zu machen. Das wäre heutzutage auch in Südafrika möglich, wenn man sich nur auf die einfache Wahrheit besinnen wollte, daß alle Konfliktlösungen in der Politik, und nicht nur dort, immer auf einem „give and take“ beruhen. Daß es bisher zu einem Ausgleich der widerstreitenden Interessen in Südafrika nicht kam, ist gerade darauf zurückzuführen, daß die eine Seite nichts anzubieten hat außer vielleicht dem Verzicht auf Gewalt. Das aber ist kein Angebot, von dem sich die Leute an der Macht verlocken oder beeindrucken lassen. Wer heute in Südafrika die Verhältnisse im Sinne einer Machtaufteilung verändern will, der muß sein Angebot erhöhen. Ich möchte nicht wissen, was Camp David gekostet hat. Das ganze „constructive engagement“ der amerikanischen Politik gegenüber Südafrika erschöpft sich heutzutage in Disinvestment, Aufkündigung von Darlehen und beschränkten Sanktionen. Wo in geringem Umfang noch geholfen wird, stellt man die Mittel Schwarzen zur Verfügung, um ihnen zu zeigen, daß man auf ihrer Seite steht. Man hilft aber den Schwarzen nicht mit Almosen, die wie der Tropfen auf einen
heißen Stein fallen, wenn man ihnen gleichzeitig durch Sanktionen und Disinvestment die Möglichkeit entzieht, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Was Not täte, wäre ein umfassendes wirtschaftliches Hilfsprogramm, mit dem man der südafrikanischen Regierung politische Zugeständnisse an die Schwarzen entlocken und diesen gleichzeitig ein Stück des Kuchens sichern könnte, der bei gerechter Aufteilung für alle reicht. Ein solches Programm ist unter den gegebenen Bedingungen die einzige Chance, wie heute in Südafrika Hunger, Arbeitslosigkeit und Bildungsrückstand als derzeit dringlichster Not der Schwarzen beizukommen wäre. Richtig geplant und eingesetzt, könnte das gleiche Wunder wirken wie seinerzeit der Marshallplan in Deutschland. Das Potential der Menschen ist so unerschlossen wie die Möglichkeiten des Landes selbst. Man muß ihnen nur die Freiheit geben, damit die Keime einer unberechenbaren Fruchtbarkeit in den Veranlagungen und verschütteten Fähigkeiten ausschlagen und zum Tragen kommen. Die Ansätze sind da; jetzt müßte man helfen, soziale Gerechtigkeiten daraus zu machen, anstatt im Kampf um die politische Macht mit falscher Moral, die niemandem hilft, Partei für den Schwächeren zu ergreifen. Unser Problem ist nicht, wer die Macht bei uns haben soll, sondern wie diese Macht eingeschränkt und kontrolliert werden kann, damit keiner unterdrückt oder benachteiligt wird und alle nach ihren Kräften an der gemeinsamen Bewältigung der Zukunft dieses Landes mitwirken können. I hope, we can make it! Wie immer in herzlicher Freundschaft Dein G…
Johannesburg, den 15. Mai 1986
Lieber D… mein Herz zieht sich jeden Tag fester zusammen, und selbst die Arbeit, die sonst das beste Mittel gegen Schwermut ist, trägt nur noch mehr zu meiner Mutlosigkeit bei. Wo ich früher alle Hände voll zu tun hatte, Firmen zu gründen und Investitionen oder Finanzierungen rechtlich abzusichern, weiß ich heute nicht mehr, wie ich mit der Arbeit fertig werden soll, die sich aus Zahlungsschwierigkeiten, Konkursen oder Disinvestment ergibt. Überall werden einst gutgehende Geschäfte notleidend und geraten selbst große Unternehmen in noch größere Bedrängnis; die Wirtschaft stöhnt und kracht in allen Fugen. Der „brain drain“ hat Ausmaße angenommen, daß man es eigentlich seiner intellektuellen Selbstachtung und eigenen Ausbildung schuldig wäre, sich ebenfalls anderweitig umzusehen. Ein Land, in dem der Pioniergeist nicht nur wie in Amerika nachwirkt, sondern jeden Tag neu gefordert wird, hat sein Vertrauen in die Zukunft verloren. Ich frage mich schon gar nicht mehr, wer die Schuld an allem trägt, sondern stelle nur noch voller Kummer fest, wie eines nach dem andern in die Brüche geht. Diese – mutwillige Zerstörung, all die vergebliche menschliche Arbeit; ich muß an mich halten, daß ich angesichts des allgemeinen Verfalls nicht das Heulen anfange. Es ist eine radikale Verleugnung des Lebens, soweit es Aufbau und Weiterentwicklung betrifft. Ich spreche nicht von den Errungenschaften und Reichtümern einer privilegierten Klasse, die hier jetzt vor die Hunde gehen; das hat es in der Geschichte immer gegeben; oft ist am Ende mehr Positives als erwartet dabei herausgekommen. Was bei
uns dagegen zur Zeit auf dem Spiel steht, ist die Grundlage für das Überleben aller Klassen und aller Rassen sowie ganz Südafrikas, egal, wer morgen hier das Sagen hat. Wenn dieses Land wirklich zusammenbrechen sollte, geht damit eine ganze Welt zugrunde, und keiner wird sie je wiederaufbauen. Die Meinungen, wie doch noch eine Katastrophe zu vermeiden wäre, gehen weit auseinander. Die einen sind entschlossen, ihren wirtschaftlichen und politischen Besitzstand zu verteidigen, und nehmen allen Druck von außen lediglich zum Anlaß, noch enger in ihren Reihen zusammenzurücken. Es ist dies vornehmlich der afrikaansstämmige Teil der Bevölkerung, der in der Erinnerung an den großen Treck und das Gelöbnis der Schlacht vom Blood River noch immer an die Rettung durch ein Wunder glaubt. Zugleich lebt darin auch das Bewußtsein weiter, daß man selbst noch vor kurzem mit dem Allernotwendigsten zum Leben auskam. Man braucht sich nur einmal ein Studentenwohnheim in Stellenbosch anzusehen, wo die Elite der Afrikaner wie einst die militärische Führungsschicht Deutschlands in den Kadettenanstalten unter spartanischen Bedingungen aufwächst und ausgebildet wird, dann versteht man, daß in diesen Kreisen Anspruchslosigkeit und Entbehrung – auch für solche, die inzwischen vielleicht reich geworden sind – noch immer eine lebendige Tradition und wichtige Lehre fürs Leben darstellen. Diese Leute sind so genügsam wie die Schwarzen und kommen, wenn es sein muß, auch heute noch mit einem Kolben Mais und etwas Biltong aus. Deshalb sind sie auch, was Sanktionen betrifft, so unbekümmert, wenn man ihnen damit droht. Vielen wären diese Sanktionen sogar eine willkommene Gelegenheit, um der Welt zu beweisen, daß man nicht auf sie angewiesen ist. Die andern, hauptsächlich englischsprachige Südafrikaner, sehen angesichts einer drohenden Katastrophe das rettende Heil
darin, sich mit den Herrschern von morgen zu arrangieren. Da man die Übernahme der Macht durch die schwarze Mehrheit für unvermeidbar hält, glaubt man nur noch die günstigsten Konditionen für ein in Zukunft hoffentlich gesichertes Leben unter schwarzer Herrschaft aushandeln zu können. Das erscheint vernünftig und wird sicherlich bei Euch als der einzig richtige Standpunkt angesehen; nur behält in der Politik – wie überhaupt im Leben – nicht unbedingt der recht, der die vernünftigeren Argumente besitzt. Das ganze Leben ist eine Verzögerungstaktik gegenüber der Unvermeidbarkeit des Todes, und wir machen trotzdem damit weiter, wenn auch manchmal so verzagt wie ich zur Zeit. In welchem der beiden Lager man steht, wird letztlich davon abhängen, welche Einstellung man zum Leben hat. Leider hat man diese Lager bei uns nach sprachlichen Gesichtspunkten eingeteilt, als müßte jeder so sein und politisch denken wie die Mehrzahl derer, die Englisch oder Afrikaans sprechen. Das hat – abgesehen von historischen Gründen – zur afrikanischen Inzucht unserer Regierung geführt mit der Verhängnisvollen Begleiterscheinung, daß in einem Land, das auf jeden fähigen Kopf angewiesen ist, so viele politische Begabungen brachliegen. Inzwischen kämpft man im schwarzen Lager der Revolutionäre weiter um die politische Macht. Ihnen kommt der Zwiespalt unter den Weißen sehr gelegen, er wird in die eigene Taktik mit eingebaut. Mit den Schwarzen, die nicht spuren oder mitmachen wollen, wird nicht länger gefackelt, bis sie selber als Fackel brennen. Ich kann diese grausamen „Halsbandmorde“ nicht mehr zur Kenntnis nehmen, ohne daß ich in einer bodenlosen Melancholie versinke. Das ist also der natürliche Mensch, der nur sein Recht auf Freiheit geltend macht. Tatsache ist, daß es für diese Bestialitäten nicht einmal einen Vorwand gibt: Es ist die reine Lust am Töten um des
Tötens willen. Die unheilbare Barbarei der Menschheit ist wieder über uns gekommen, und die ganze Welt hat nichts Besseres zu tun, als sich über die Apartheid zu empören. Wann wird man endlich bei Euch begreifen, daß es hier nicht mehr um die Ungerechtigkeiten rassischer Diskriminierungen oder deren Beseitigung, sondern um die Macht geht. Damit ist der Konflikt in ein ganz anderes Stadium der Unmenschlichkeit getreten! Wer meint, von außen eingreifen zu müssen, leistet einer Grausamkeit Vorschub, von der man in Europa kaum noch eine Vorstellung hat. Man kann nur hoffen, daß eine Formel gefunden wird, um die Macht zu teilen, bevor es sich für keinen mehr lohnt, sie allein zu besitzen. Gott sei Dank ist die Macht selbst selten so grausam wie der Kampf um eben sie. Vielleicht müssen wir zur großen alten Tradition zurück: unbekümmert um die Zukunft sein, weil man zu sehr mit dem Überleben beschäftigt ist. Früher verbrachte man sein Leben damit, auszuharren und auf bessere Zeiten zu hoffen. Bald sind wir hier alle wieder soweit. Das ist kein sehr ermutigender Brief; verzeih, aber es stürzt wie Meere von Traurigkeit über mich herein, wenn ich sehe, wie zu allem Elend bei uns von außen unnötig neues hinzugefügt wird. Die Zeiten des Perikles sind endgültig vorüber, als die Menschen das Ewige schufen, ohne zu wissen, ob sie am nächsten Tag genug zu essen hatten. Wir hingegen werden höchstens als exemplarischer Fall einer verpaßten Gelegenheit in die Geschichte eingehen, bei der die ganze Welt versagt, die Chance eines besseren Lebens für alle in Südafrika wahrzunehmen. Vielleicht schaffen wir es doch noch aus eigener Kraft; in dieser Zuversicht verbleibe ich mit den besten Grüßen in herzlicher Verbundenheit Dein G…
Johannesburg, den 25. Juni 1986
Lieber D… nun sind wir also wieder so weit wie vor fast einem Jahr; nur daß damals der Ausnahmezustand auf einzelne Teile des Landes beschränkt war und für jedermann überraschend wie ein Schock kam, während er heute über ganz Südafrika verhängt ist. Von den meisten wird er zwar mit Betroffenheit aufgenommen, aber im Gegensatz zur Bedrückung, die vorher herrschte, ebenso mit einer gewissen Erleichterung. Ich kann mir zwar vorstellen, daß man bei Euch anders darüber denkt und unter dem Einfluß der Medien, denen es nun erstmals selbst an den Kragen geht, die Einschränkung der Pressefreiheit und der Rechtsstaatlichkeit durch die am 12. Juni getroffenen Maßnahmen lediglich als einen erneuten Beweis der Einfallslosigkeit unserer Regierung ansieht, die auf freiheitliche Bestrebungen der unterdrückten schwarzen Bevölkerung wieder nur Repressionen und polizeiliche Gewalt als Antwort parat hat. Hier stellen sich solche Bestrebungen freilich etwas anders dar und arten zumeist in eine Befreiung aus, wie sie Winnie Mandela ihren Leuten durch die berüchtigte Halskrause verspricht. Seit sie öffentlich gelobt hat, Hand in Hand durch Unerbittlichkeit geeint, mit ihren „Streichhölzern“ und „Halsbändern“ das Land zu befreien, sterben hier im Durchschnitt drei Menschen pro Tag, indem ihnen die Hände abgehackt oder sie mit Stacheldraht gefesselt werden, damit sie sich nicht wehren können, wenn ihnen das „Halsband“, ein mit Benzin getränkter Autoreifen, umgelegt und angezündet wird. In Deutschland nimmt man solche Morde zum Anlaß, Frau Mandela für ihren Befreiungskampf im Sinne einer angeblich
weitsichtigen Außenpolitik durch das Auswärtige Amt einen VW-Bus zu schenken. Hier führt so etwas zum Ausnahmezustand, für den man bei Euch so wenig Verständnis hat wie unsereiner für die Honneurs, mit denen man überall die „Königin Afrikas“ hofiert. Als Rechtsanwalt brauche ich Dir nicht zu sagen, wie sehr ich selbst den Ausnahmezustand bedauere, der für mich nichts anderes als die Bankrotterklärung eines Rechtsstaates ist. Wenn man mit dem Grundgesetz groß geworden ist, kann man sich nur schwer mit der Tatsache abfinden, daß Grundrechte außer Kraft gesetzt werden können. Aus der Kriegs- und Nachkriegszeit in Deutschland weiß ich zwar noch, daß ein Dach über dem Kopf oder das tägliche Essen auf dem Tisch keine Selbstverständlichkeiten unserer menschlichen Existenz sind, aber seltsamerweise habe ich immer geglaubt, daß die Gewährleistung der allgemeinen Grund- und Freiheitsrechte in einer Gesellschaft wie der allgemeine Wohlstand für die meisten heute in der Bundesrepublik das normale sind. Natürlich braucht man in Südafrika keinen Ausnahmezustand, um eines Besseren belehrt zu werden; aber noch nie waren die Verhältnisse, seit ich hier lebe, so nahe an den Rand einer möglichen Katastrophe geraten wie kurz vor der Verhängung des Ausnahmezustandes. In den Squattercamps von Crossroads and KTC hatten sich Comrades im Gefolge des ANC und „Witdoeke“, die der Einschüchterung durch radikale Jugendliche müde waren, einen Kampf bis aufs Messer (oder was an tödlichen Waffen sonst zur Hand war) geliefert und dabei ganze Straßenviertel verwüstet und abgebrannt. Der Terror in den Townships regierte, und so war wenigstens dieser Teil des Landes, wie man es für ganz Südafrika prophezeit hatte, unregierbar geworden. Im Lager der revolutionären Organisationen witterten ihre Führer Morgenluft und wurden die Anstalten
zum 10. Jahrestag des Sowetoaufstandes am 16. Juni 1986 wie Vorbereitungen zur offiziellen Machtübernahme getroffen. Südafrika, so war auf Flugblättern zu lesen, sollte brennen an diesem Tag. Die Medien heizten das Feuer an und bliesen, wo es bereits brannte, immer neuen Wind hinein. In den Schulen und Betrieben war man auf das Schlimmste gefaßt und stellte es Schülern und Belegschaft frei, zum Unterricht oder zur Arbeit zu erscheinen. Das ist aus hiesiger Sicht der Hintergrund für die Verhängung des Ausnahmezustandes. Auch hier sind die Meinungen über die Angemessenheit der getroffenen Maßnahmen natürlich geteilt, und man spricht gelegentlich von einem sicherheitspolitischen Overkill. In Fairneß muß man der Regierung zugute halten, daß sie versucht hat, auf demokratischem Wege durch weniger einschneidende Maßnahmen mit der Situation fertig zu werden, indem sie sich Sondervollmachten für die Polizei parlamentarisch absegnen lassen wollte. Als eine entsprechende Gesetzesvorlage in den drei Kammern nicht die notwendige Mehrheit fand, blieb für eine andere Wahl wenig Spielraum und noch weniger Zeit. Ganz im Gegensatz zum üblichen Stil politischer Kraftmeierei erklärte der Staatspräsident daraufhin am 12. Juni den Ausnahmezustand in einer Rede, die nicht zuletzt von der Sorge über die Reaktion des Auslandes geprägt war. Was das Ausland denkt, wissen wir inzwischen und sagt man uns täglich aufs neue: der Ausnahmezustand muß aufgehoben, der ANC anerkannt, und Nelson Mandela sowie alle politischen Gefangenen müssen freigelassen werden; die Regierung, weil sie die Macht hat, ist an allem schuld. Die Formel ist mir zu einfach und zu sehr von der Moral des „underdog“ geprägt, der tun kann, was er will, und wenn er noch so sehr im Unrecht ist, trotzdem von allen recht bekommt, weil er der Schwächere ist. Es ist eine Moral, die
sich selbst in den Schwanz beißt, indem sie dem Schwächeren zur Macht verhilft und ihn damit wieder ins Unrecht setzt. Es hilft darum niemandem, wenn man im Ausland meint, durch die Aufhebung des Ausnahmezustandes die Macht des Staates brechen zu müssen. Es ist, als schämten sich die Regierenden anderswo in derselben Lage der eigenen Macht aufgrund der gleichen Verunsicherung, weshalb die Wirtschaft lange Zeit das Schimpfwort Profit vermied, obwohl sie davon lebt. Macht ist offenbar wie Geld – man hat sie, aber zeigt sie nicht. Wenn man es dennoch wie zum Beispiel durch die Verhängung des Ausnahmezustandes tut, wird man von allen Mächtigen in der Welt wie ein Verräter angesehen. Nur schnell aufhören damit, bevor die Macht sich allzusehr entblößt und peinlich zu werden anfängt. Dabei muß man ehrlicherweise sagen, daß die südafrikanische Regierung trotz aller Härte und Unnachgiebigkeit von ihrer eigentlichen Macht bisher verhältnismäßig wenig Gebrauch gemacht hat. Wahrscheinlich hat sie sogar in den Townships die Menschen zu lange dem Terror der schwarzen Einschüchterer überlassen, bevor sie eingegriffen hat. Seitdem wir den Ausnahmezustand haben, gebe ich zu, wird die Macht des Staates entschlossener gehandhabt und ist man mit Verhaftungen nicht gerade zimperlich. So beklagenswert das Unrecht ist, das dabei sicherlich auch geschieht, muß man doch ebenso die andere Seite der Medaille sehen: daß seitdem täglich halb so viele Menschen wie vorher eines gewaltsamen Todes sterben und diese Zahl weiter abnimmt. Wenn Witze hier nicht so fehl am Platz wären, würde man sagen: Lieber zwei Schuldige im Gefängnis als ein Unschuldiger, der stirbt. Da man im Ausland die ganze Tragik immer nur als einen Schwarzweißfilm sieht, ist es auch für Dich vielleicht aufschlußreich zu erfahren, daß mehr als 70 Prozent aller Toten Opfer von Gewalt sind, die
Schwarze an ihresgleichen begehen. Die Weißen, wie z. B. Journalisten oder Fernsehreporter, werden abgeschoben. In einem Fall habe ich selbst versucht, einen Ausweisungsbefehl rückgängig zu machen, trotz aller Bemühungen ohne Erfolg. Wie ich höre, wird der Betreffende bei Euch zur Zeit als Held gefeiert und kommt auf diese Weise wenigstens noch in Deutschland zu seinem Recht. Was hier Recht oder Unrecht ist, läßt sich nur leider nicht mehr anhand von Maßstäben einer demokratischen Informations- und Pressefreiheit entscheiden: Die gibt es bei uns nicht zuletzt durch das eigenen Verschulden der Presse nicht mehr. Man kann so tun als ob und, wie geschehen, ein Informationsbüro einrichten oder wie unsereiner seine Trauer hinter zynischen Betrachtungen verbergen, wonach solche Freiheiten Luxus sind, den sich ein Staat – wie der Mensch nach Brecht sich Kultur – nur leisten kann, wenn er satt zu essen hat, sprich nicht um sein Überleben zu fürchten braucht. Ich glaube zwar nicht, daß wir zur Zeit um unser Überleben besorgt sein müßten, aber immerhin hat uns der Ausnahmezustand gezeigt, wie schnell sich Situationen ändern und Entwicklungen außer Kontrolle geraten können. Schließlich hatte man kurz zuvor den Ausnahmezustand, wo er noch von früher galt, gerade aufgehoben, weil die Lage ruhig und normal erschien. Ich fürchte, daß wir dieses Mal länger damit werden leben müssen und nach den jüngsten Erfahrungen niemand mehr in der Regierung es wagt, uns vorschnell davon zu befreien. Der Druck vom Ausland, den Ausnahmezustand aufzuheben, wird zwar größer werden, aber man wird damit nur die Verhältnisse unterstützen, die ihn ausgelöst haben. Es ist einfach, von außen Vorschriften zu machen, was in Südafrika geschehen soll, wenn man dieses Geschehen nicht am eigenen Leibe zu spüren bekommt. Man fragt sich hier natürlich auch, woher die Entrüstung aus dem Ausland kommt und wie ehrlich sie ist, wenn in Zimbabwe seit
mehr als fünfzehn Jahren der Ausnahmezustand herrscht, der in regelmäßiger Routine alle sechs Monate neu bestätigt wird, ohne daß die Welt auch nur ein Wort darüber verliert. Ich will zwar nicht die Welt dafür verantwortlich machen, was bei uns verkehrt ist und wofür der Ausnahmezustand nur den alarmierenden Beweis erbringt. Aber wenn sich unser Land in einer so kritischen Verfassung befindet, daß Notmaßnahmen erforderlich geworden sind, dann soll man uns in Gottes Namen die Hoffnung auf eine Besserung lassen. Nichts ist schlimmer, als wenn in einer angeordneten Therapie von außen dauernd dazwischengeredet wird. Die „Pferdekur“, die wir zur Zeit über uns ergehen lassen, ist hart genug für alle, daß wir nicht auch noch die guten Ratschläge brauchen, sie sei umsonst oder verkehrt. Mehr Zuspruch würde uns jetzt guttun; vielleicht höre ich bald von Dir? Herzlichst Dein G…
Johannesburg, den 15. Juli 1986
Lieber D… schade, daß wir uns bei meinem letzten Besuch in Deutschland verpaßt haben! Ich war geschäftlich kurz in H… und habe die Gelegenheit benutzt, Freunde in M… und meine Eltern in B… E… zu besuchen. Du warst, wie ich hörte, um die gleiche Zeit in Amerika, beruflich, wie ich annehme, und erfolgreich, wie ich es hoffe und Dir wünsche. Wahrscheinlich hast Du dort mehr über unsere Lage hier erfahren, als wir zur Zeit am Tropf staatlich dosierter Informationen selbst darüber wissen. Da der Zustand des Patienten Südafrika kritisch ist, bin ich’s zufrieden, wenn man uns mit schlechten Nachrichten im Augenblick etwas verschont. Nicht alle sind wie Hiob in der Lage, die Botschaften des Unheils, die man uns täglich von allen Seiten vermeldet, so unangefochten hinzunehmen, ohne im Glauben an die Zukunft unseres Landes irre zu werden. Tatsächlich ist das weltweite Geschrei um Südafrika, wenn man hier lebt, verantwortlich für die meisten Zermürbungserscheinungen des guten Willens und der Zuversicht, die wir gerade jetzt zur Lösung unserer Probleme so dringend nötig hätten. Selbst wo die Einmischung von außen gut gemeint ist, hat sie das Gegenteil bewirkt und zu einer Art psychologischem Belagerungszustand geführt. In Deutschland kam ich mir dagegen vor wie im Kino. Alles um mich herum geschah wie in einer anderen Welt. Das Wetter war schön, die Menschen unbeschwert und zufrieden (weil Deutschland bis ins Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft gekommen war), und niemand schien andere nationale Sorgen oder Hoffnungen zu haben, als mit
Boris Becker in Wimbledon auf dem Spiel standen. Ich war Zuschauer und erlebte zugleich die Verzauberung des Glücks der anderen wie den Fluch, davon ausgeschlossen zu sein. Ich freute mich an den einfachsten Dingen, wie zum Beispiel am Gesang der Vögel oder an einem blühenden Strauch, wie über etwas Unwirkliches, das nur für die Dauer der Vorführung existierte. Offenbar wird einem, wenn man im Ausnahmezustand lebt, bereits das normale Leben zum schönen Schein und das Gleichmaß des Daseins zur Wonne der Alltäglichkeit. Für mich war es wohltuend und erholsam, so unverhofft für ein paar Tage der südafrikanischen Wirklichkeit entflohen zu sein. Mir wurde dabei zum ersten Mal bewußt, unter welch ungeheurem Druck wir hier leben. Man spürt ja so etwas immer nur dann, wenn die Belastungen plötzlich nachlassen oder wie bei mir in der Faszination durch die Inszenierung von lauter Szenen mit glücklichem Ausgang ganz von einem abfallen. Wenn ich zwischendurch an Südafrika dachte, war es, als holte mich die Wirklichkeit wieder ein. In Deutschland weiß kaum jemand, was hier wirklich los ist und worum es eigentlich geht. Südafrika ist zwar überall Gesprächsthema Nummer eins, aber man redet darüber wie zu Goethes Zeiten: „Wenn in der fernen Mandschurei die Menschen sich die Köpfe einschlagen…“ Keiner scheint zu ahnen oder einsehen zu wollen, daß wir hier unten in den geschichtlichen Wehen einer neu entstehenden Ordnung nicht nur unsere eigenen Probleme austragen, sondern zugleich in einem geopolitischen Machtkampf auch über das Schicksal Europas entschieden wird. Selbst in den sogenannten gutinformierten Kreisen sind die Argumente in der Diskussion um Südafrika weitgehend durch die Ereignisse überholt. Wann immer ich die Probleme anzusprechen versuchte, die hinter der Apartheid liegen, wurde man mißtrauisch und glaubte, ich wolle mich davor drücken.
Schließlich habe ich es aufgegeben – um des lieben Friedens willen – , auch wenn ich fürchte, daß man ihn durch die gegenwärtige feindliche Einstellung zu Südafrika nicht erhalten wird. In M… war ich bei Freunden zum Abendessen eingeladen; ganz ungezwungen, um die Frau des Hauses aus zweiter Ehe kennenzulernen. Wir aßen in der Wohnküche im Stil moderner deutscher Gemütlichkeit; nach Spargel und Schinken gab es australische Kiwis zum Nachtisch, während an der Wand als evangelisches Bekenntnis – oder um mich zu provozieren – ein Plakat zum Boykott von Obst aus Südafrika aufrief. Die Provokation, wenn sie denn beabsichtigt war, hätte erfolgreicher nicht geplant sein können. Ich erinnerte mich, daß ich acht Jahre alt war, bevor ich die erste Apfelsine in meinem Leben von einem amerikanischen Besatzungssoldaten geschenkt bekam. Ich mußte auch an meinen Freund D… S… auf seiner Farm im Osttransvaal denken, wo mehr als 2000 Schwarze, ohne je die EKD um diese Art Hilfe gebeten zu haben, von dem Obst leben, dessen Boykott in Deutschland lediglich die Auswahl zwischen Orangen aus Spanien und Bananen aus Israel erleichtert. Nur wenn vorübergehend Gefahr besteht, daß nach Tschernobyl die eigenen Erdbeeren strahlenverseucht sein könnten, scheinen Äpfel vom Kap nicht mehr nach Apartheid zu schmecken. Als meine Gastgeberin mich dann auch noch von der Moral ihrer evangelischen Hausfrauenpolitik überzeugen wollte, wurde es mir zuviel, und ich habe das Plakat einfach wortlos von der Wand gerissen, leider so ungeschickt, daß die darunterstehende Blumenvase in Mitleidenschaft geriet. Der arme E… wurde ganz verlegen und schämte sich für mich, den alten Freund, während seiner neuen Frau der Horror vacui an der Wand sich als Entsetzen im Gesicht spiegelte. Ich entschuldigte mich wegen der Vase und versprach, für den
leeren Platz an der Wand als alternativen christlichen Wandschmuck den Neukirchener Kalender zu besorgen. Du wirst lachen und denken, jetzt wird er ganz verrückt. In der Tat reagiere ich immer gereizter und unkontrollierter, wenn uns jemand mit Boykott und Sanktionen helfen will, das System der Apartheid zu überwinden. Das ist, wie wenn man den Teufel mit Beelzebub austreiben möchte, wobei man Menschen politisch befreit, indem man sie Hungers sterben läßt. Ich frage mich, wie sich das Ausland, das immer nur von der Abschaffung der Apartheid spricht, die praktische Durchführung vorstellt. Entweder macht man sich überhaupt keine Gedanken darüber oder glaubt in kindlicher Naivität, daß nur ein Federstrich des Gesetzgebers erforderlich sei, damit es morgen keine Apartheid mehr gibt. Durch einen solchen Federstrich werden zwar, wie wir Juristen wissen, ganze Bibliotheken zu Makulatur, aber die Apartheid läßt sich damit nicht so schnell unterkriegen. Als das Grundgesetz 1949 in Deutschland die Gleichstellung von Mann und Frau verfassungsrechtlich gewährleistete, dauerte es acht Jahre, bis der Gesetzgeber nach entsprechendem Drängen durch das Bundesverfassungsgericht endlich diesem Grundsatz durch das Gleichberechtigungsgesetz Rechnung trug. Heute, mehr als 36 Jahre danach, sind Frauen in der Bundesrepublik noch immer durch gesetzliche Bestimmungen zum Teil rechtlich benachteiligt, ganz zu schweigen von einer gewissen Diskriminierung in der Gesellschaft (die nach dem neuesten Grundsatzprogramm der SPD mit Blick auf das Jahr 2000 dann endgültig überwunden sein soll). Wenn man bedenkt, wieviel grundlegender und tiefgreifender die gesellschaftliche Ordnung in Südafrika von den Ungerechtigkeiten der Apartheid durchsetzt ist, als die bürgerliche Gesellschaft es je durch die rechtliche Bevorzugung des Mannes war, dann bekommt man eine
Vorstellung von den politischen Herkulestaten, die notwendig sind, um den Augiasstall gesetzlicher und bürokratischer Verfilzungen im Apartheidsystem auszumisten. Präsident Botha ist gegenwärtig kräftig dabei, auch wenn man die Erfolge vielleicht noch nicht so klar erkennt und weniger noch anerkennt. Schließlich hatte er bisher „erst“ sieben Jahre Zeit dazu und haben die schwierigen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen ihm die Arbeit dabei nicht leichter gemacht. Erst mußte die Apartheid sterben, bevor er ihr am 31. 1. 1986 die Grabesrede halten konnte; jetzt muß ihr Nachlaß abgewickelt werden. Es ist wie mit einem Baum, der in der Krone und in den Ästen bereits abgestorben ist und der nun aus seinen tiefen Verwurzelungen gerissen wird. Selbst Marion Gräfin Dönhoff, die noch vor Jahren bei ihrem Besuch in Südafrika nicht von der Ernsthaftigkeit unserer Reformbemühungen zu überzeugen war, hat mittlerweile in einem Leitartikel der „Zeit“ zugegeben, daß es sich bei der Abschaffung der Apartheid um einen langwierigen Prozeß handelt, etwa zu vergleichen mit den Schwierigkeiten, die entstünden, wollte man in der Bundesrepublik das System der freien Marktwirtschaft oder die pluralistische Gesellschaft abschaffen. Mit Sanktionen wird nichts oder allenfalls das Gegenteil erreicht. Es macht mich krank, wenn ich sehe, was hier jetzt nötig wäre, um zu helfen, und welche Mittel sich die westliche Welt dafür ausgesucht zu haben scheint: Während ganz Deutschland für Äthiopien sammelt, fällt einem zu Südafrika nichts Besseres als Sanktionen ein. Wer wirklich Gutes tun und helfen will, kommt nicht so billig dabei weg. Um Hilfe allerdings geht es bei der Forderung nach Sanktionen ohnehin nicht. Man will vielmehr Südafrika bestrafen, um mit Maßregeln der eigenen Unvernunft die Verantwortlichen in Pretoria zur Vernunft zu bringen. Das ist nicht nur widersinnig,
sondern auch gefährlich, wie die Geschichte am Beispiel von Versailles beweist. Damals hatte man auch versucht, Deutschland eine Lektion zu erteilen, und damit den Zweiten Weltkrieg heraufbeschworen. Ich wage nicht, auch nur daran zu denken, welche Tragödie ein Wirtschaftskrieg gegen Südafrika für Schwarz und Weiß in diesem Lande bedeuten und wer und was dabei alles in Mitleidenschaft gezogen würde. Man kann im Zeitalter der wirtschaftlichen Interdependenz und ihrer Bedeutung für alle Lebensbereiche keinen Krieg nur gegen die Wirtschaft eines Landes führen und glauben, das sonstige Leben gehe weiter und die übrigen Länder blieben davon unberührt. Gibt es nicht schon genug Elend auf dem afrikanischen Kontinent, als daß man es nun auch noch dorthin bringt, wo die Menschen eine Alternative erarbeitet und aufgebaut haben? Während in der UNO Hilfsprogramme in Milliardenhöhe erörtert und verabschiedet werden, um Schwarzafrika wirtschaftlich auf die Beine zu helfen, scheint die ganze Welt bemüht zu sein, in Südafrika eine hochentwickelte Wirtschaft mutwillig kaputtzuschlagen – als moralische Unterstützung für die Menschen dort. Das ist zwar billiger als Entwicklungshilfe und schützt zudem (wie beispielsweise in Australien) auch noch die eigene Landwirtschaft und Industrie vor unliebsamer Konkurrenz. Aber nicht alle Länder ziehen wie Australien ihre protektionistischen Vorteile aus Sanktionen, sondern schneiden sich damit zum Teil ins eigene Fleisch. Das gilt vor allem für die sogenannten Frontstaaten, die am lautesten nach Sanktionen rufen, um Südafrika wirtschaftlich in die Knie zu zwingen, und dabei als erste auf dem Bauch landen werden. Diese anscheinende Opferbereitschaft (wenigstens solange einem noch nichts abgefordert wird) macht das ganze Ausmaß der Emotionen deutlich, mit denen heute über das Thema Südafrika gestritten wird. Der wirtschaftliche Boykott wird
zum Glaubensbekenntnis, man ruft zu Sanktionen auf wie zu einem Kreuzzug gegen die politischen Heiden des Apartheidregimes. Die Regierenden im Westen oder wenigstens einige von ihnen scheinen die Gefahr zu erkennen und im heiligen Kriegseifer der Sanktionsstrategen ihre Vernunft zu bewahren; am entschlossensten und standhaftesten Margaret Thatcher, die jüngst bei einem Interview im Fernsehen ihrem Ruf als „Iron Lady“ wieder alle Ehre machte, indem sie ihrem Gesprächspartner, der sie mit Sanktionsavancen bedrängte und bibberig auf ein Zugeständnis von ihr wartete, jede persönliche Befriedigung durch ihre sachliche Antwort verweigerte. Offenbar weiß man, wenn man Politik mit der notwendigen Bescheidenheit als die schwierige Kunst begreift, unter lauter Übeln das geringste zu wählen, daß das größte Unheil in der Welt noch immer von den sogenannten Weltverbesserern angerichtet wird. Aber die Massen wollen ihren Schuldigen und drängen mit dem Nachdruck ihrer Wählerstimmen auf umfassende Sanktionen und generellen Boykott. Schon wird man in Amerika wankelmütig und schielt nach Südafrika, ob nicht hier die Schale steht, um sich die Hände in Unschuld zu waschen. Irgendwann wird man müde werden und der Masse geben, was sie will: Sanktionen gegen unser Land. Als ich in Deutschland war, wurde ich immer wieder gefragt, ob ich die Koffer inzwischen gepackt habe und wann ich gedächte, das sinkende Schiff Südafrika endlich zu verlassen. Als ich mich am letzten Tag in T… von Klienten verabschiedete, die mir freundschaftlich verbunden sind, bot man mir sogar an, im Notfall den Einfluß der Firma bei der Lufthansa geltend zu machen, um mich hier noch herauszuholen. Ich bedankte mich für das Angebot und dachte im stillen, daß meine wirkliche Not in Deutschland niemand
versteht und das, was immer aus unserer gegenwärtigen Bedrängnis herauskommt, auch mein Schicksal sein wird. So lebe ich weiter hier mit G… und den Kindern zwischen Sorge und Zuversicht, aber nie, ohne aufzuhören wie alle, die dieses Land lieben, das Beste dafür zu wollen und zu erhoffen. Was ich dazu beitragen kann, tue ich, indem ich hierbleibe und unverdrossen mit dem, was ich für richtig halte, weitermache. Wir können die Welt nur für unseren Teil an ihr verändern; wer mehr will, versucht, von sich abzulenken. Stets in herzlicher Freundschaft Dein G…