Seewölfe Taschenbuch 33
Die Seereisen des Howard Bonty, der einer Preßgang in die Hände fiel und seine Laufbahn als Sch...
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Seewölfe Taschenbuch 33
Die Seereisen des Howard Bonty, der einer Preßgang in die Hände fiel und seine Laufbahn als Schiffsjunge begann. Fred McMason
Kap Hoorn
Wir hatten Vavitu, das Atoll der Könige, verlassen und lagen seit einigen Tagen wieder unter vollem Preß auf Ostkurs. Die „Scout“ segelte mit Backbordhalsen auf Steuerbordbug bei steifem nördlichem Wind. Hin und wieder drehte der Wind aus Nordwest, sprang aber fast regelmäßig wieder auf Nord zurück. Den Nordwestwind nannten wir „Himmelsbesen für weiße Hunde“. Das mag unverständlich klingen, doch hieß es nichts weiter, als daß der Himmelsbesen die weißen Wolken wegfegte, die weißen Hunde also, die immer wieder an der Kimm auftaute. Jetzt waren sie hinweggefegt worden, der Himmel war wieder blau und samtig, mit kaum sichtbarem Dunst im Blau. Die See rollte von Backbord gegen die „Scout“ an, und bei jedem leichten Überholen flutete grünlichblaues Wasser über das Schanzkleid der Leeseite. Wir schrieben Mitte Februar 1633. Während in England um diese Zeit Schnee lag, es bitterkalt war und eisige Stürme über die Insel tobten, segelten wir bei herrlich warmen Wetter durch den Pazifischen Ozean einem unbekannten Ziel entgegen. Master Fleet, dem das viermastige Forschungsschiff selbst gehörte, segelte im Auftrag des Königlichen Ministeriums für Geographische Meeresforschung. Unsere Aufgabe war es, Meeresströmungen zu vermessen, günstige Routen auszukundschaften - daher der Name „Scout“ - was soviel wie Kundschafter oder Späherschiff bedeutete. Wohin uns die Reise allerdings diesmal führte, wußten weder mein Freund Jonny, der als Dritter Offizier, noch ich, der die wenig beneidenswerte Position des Vierten innehatte. Master Fleet schwieg sich da sehr gründlich aus. Ich war mir fast sicher, daß es nicht einmal der Erste Offizier, Balthasar Johnson, wußte, auch Onan Scinders nicht, der als Zweiter fuhr. Master Fleet war ein sehr eigentümlicher, sonderbarer und merkwürdiger Mann, der in keine herkömmliche Schablone paßte. Er ließ sich nicht fixieren, und es gab bei ihm keine Parallelen zu den anderen Kapitänen wie etwa Flanagan, Pratt, Zimbalist, Whale, Master Bowler oder dem alten Potter. Fleet war anders, vor allem war er unberechenbar und von seltener Starrköpfigkeit und einer Pedanterie, die mitunter ausuferte. Eine seiner hervorstechenden Eigenschaften waren neben ausgezeichneter Seemannschaft sein sprichwörtlicher Geiz. Ich hatte ihn auch noch nie lachen sehen, wohl aber recht oft schon übellaunig erlebt, so wie an jenem Tag.
Er stand auf dem Achterdeck, das runde Gesicht mit dem Doppelkinn und den grauen Augen dem Deck zugewandt, und wippte auf seinen nach auswärts gerichteten, etwas platten Füßen. Sein Bäuchlein war vorgestreckt, die leicht wulstigen Lippen wie im stummen Vorwurf etwas verkniffen, während seine linke Hand wieder einmal den Handlauf der achteren Balustrade malträtierte, indem er mit zwei Fingern ungeduldig dagegen klopfte. Seine Uniform war tadellos in Ordnung, darauf legte er sehr großen Wert, auch mußten die Offiziere immer in schickliches Tuch gekleidet sein. Was ihm mißfiel wußte ich nicht, vielleicht hatte er nur ganz einfach schlechte Laune, denn er sprach auch lange Zeit kein Wort, sondern setzte dieses merkwürdige Wippen auf seinen Füßen fort. Meine Rolle an Bord war wirklich nicht beneidenswert. Vierter Offizier? Yes, Sir, das war ich, aber was verstand man schon unter einem Vierten Offizier! Ich war genau genommen schlechter dran als ein Plain, ein einfacher Decksarbeiter also, aber aus der Nähe betrachtet war ich eine Art Nauke an Bord, wenn Sie wissen was ich meine, Sir. Ein Nauke ist einer, dem alles aufgebürdet wird und der ständig an allem die Schuld trägt, wenn etwas passiert oder nicht so läuft, wie es der Alte will. An einem Nauke wird immer herumgenörgelt, man findet immer etwas, um ihm etwas anzulasten. War das Schiff nicht in einem blitzsauberen und einwandfreien Zustand, dann hieß es immer, Bonty ist schuld. Lief einer in unordentlicher Kleidung herum – Bonty war schuld. Waren die Geschütze – wir hatten im unteren Deck sechzehn Zwanzigpfünder – nicht blankpoliert – Bonty war schuld, und es hagelte Vorwürfe und Verweise. Außerdem mußte ich alles protokollieren, ich war also auch Protokollführer und schrieb mir die Finger wund. Andererseits hatte ich auch Verständnis für Master Fleets Pedanterie und Akuratesse. Die „Scout“ war sein Schiff, sein Eigentum, für die er sein Leben lang Copper auf Copper gelegt hatte, und die sein ganzer Lebensinhalt war. Die „Scout“ war sowohl seine Zukunft wie auch seine spätere Altersversorgung, und wenn sie jemals unterging, dann hätte Master Fleet sie nicht verlassen, sondern sich mit seinen Händen in die Planken gekrallt, um ja auch mit ihr unterzugehen. Darauf hätte ich eine Jahresheuer verwettet. Daher wachte er mit Argusaugen über alles, und ihm entging nichts, was in der dunkelsten Ecke seines Schiffes geschah.
Sein Geiz wiederum war so sprichwörtlich, daß er das Ableben eines jeden Mannes lebhaft bedauerte, denn der Tod kostete jedesmal ein Stück Segeltuch und war keinesfalls umsonst. Das jedenfalls behaupteten böse Zungen an Bord, jene Plains, die den Master auch noch hinter vorgehaltener Hand verärgert als „Master Flatfood“ bezeichneten, Kapitän Plattfuß. Die anderen sprachen mit mehr Respekt von „Master God“, was allerdings sehr bezeichnend war, denn so benahm er sich mitunter. Die Stimmung an Bord war nicht sonderlich gut, obschon kein Grund für üble Laune vorhanden war. Vielleicht war es das karge Essen an Bord, die knappe Heuer, oder der Rum, der nie aus den Fässern lief, weil Fleet dazu zu geizig war. Vielleicht aber lag es auch nur ganz einfach daran, daß er selbst grummelig und mürrisch an Deck stand, was sich auf die Leute übertrug. Ich zuckte unmerklich zusammen, als er mich unvermittelt ansprach. Sein Gesicht war noch mürrischer, seine Laune sank aus irgendeinem unerfindlichen Grund noch tiefer. „Was ist eigentlich los an Bord, Mister Bonty?“ fragte er barsch. „Weshalb laufen diese Kerle mit Leichenbittergesichtern herum, anstatt ihre Arbeit fröhlich zu verrichten? Diese schlechte Laune fällt mir schon seit einigen Tagen auf.“ Ich hätte ihm jetzt antworten können, daß das Essen ziemlich mager ausfiel, daß die Leute die Nase voll von Grütze, Haferbrei und Stockfisch hatten, doch das wagte ich nicht. Ein heilloses Donnerwetter wäre die Folge gewesen, und geändert hätte sich nichts. Ich sah aus den Augenwinkeln den Blick, den mir der Zweite Offizier, Scinders, zuwarf. Leicht hämisch war der Ausdruck seiner Augen, er gönnte mir von Herzen den nächsten Rüffel, und ich stand wieder da wie der Nauke, der jetzt auch schuld war, daß die Leute bei der Arbeit nicht ständig grinsten oder Lieder sangen. Aber warum eigentlich nicht, überlegte ich. Ich konnte es ihm ruhig sagen, daß die Kost reichlich schmal war, es entsprach ja durchaus der Wahrheit. „Ich habe Sie etwas gefragt“, erinnerte er mich mit fast quengeliger Stimme. „Sie haben ja sozusagen das Ohr am Volk. Was ist also los mit den Kerlen?“ „Verzeihung Sir, ich dachte gerade darüber nach“, erwiderte ich. „Ich habe keine rechte Erklärung dafür, nur eine Vermutung.“ „Und die wäre?“ Knapp und hart waren seine Worte.
„Es mag vielleicht an der Einteilung der Rationen liegen“, sagte ich vorsichtig. „Die Leute werden nie so recht satt, Sir. Sie haben ständig Hunger und sind vermutlich deshalb schlecht gelaunt. Wenn sie etwas mehr zu essen kriegen ...“ „Erdreisten Sie sich nicht, mich zu belehren“, sagte er mit puterrotem Schädel. „Ich weiß, was ich der Mannschaft schuldig bin. Bei mir ist noch niemand verhungert.“ Diese kleine Anspielung brachte ihn in Harnisch, und ich hätte sie wohl doch lieber unterlassen sollen, denn nun verfinsterte sich sein Gesicht noch mehr, und er sah mich wütend an, daß ich gewagt hatte, überhaupt an dieses leidige Thema zu rühren. „Sorry, Sir, aber Sie fragten mich nur nach meiner Meinung.“ „Nach Ihrer Vermutung“, verbesserte er, „die Meinung habe ich, Sie haben nur Vermutungen anzustellen.“ „Aye, aye, Sir.“ „Und die auch nur mit Einschränkungen“, setzte er hinzu. Ein letzter prüfender Blick auf meine Uniform folgte. Er suchte jetzt ganz offensichtlich nach einem Grund, etwas an mir zu bemängeln, doch er fand nichts. Ich trug eine hellblaue knielange Uniformjacke mit steifem Kragen, darunter ein Rüschenhemd und dunkelgraue Kniehosen mit breitem Ledergurt, helle Strümpfe und Schnallenschuhe. Alle Offiziere an Bord seines Schiffes trugen das, der Master legte auf absolut saubere und adrette Kleidung ganz besonderen Wert. War das Wetter zu heiß, durften wir die Uniformen mit leichtem Zeug vertauschen, und die Uniformen wurden ausgebürstet und in der Kleiderkammer sorgfältig aufbewahrt. Heute war es heiß, aber ich trug die Uniform und beneidete ein wenig die Deckhands, Plains und den achtzehnjährigen Rustabout Miff Mole, die barfuß und in Leinenzeug an Deck arbeiteten. Master Fleet wandte ungnädig den Blick ab, was für mich soviel hieß, daß ich jetzt abtreten und mich gefälligst um meine Arbeit kümmern sollte. Scinders Blick war immer noch boshaft, und um seine Mundwinkel stand ein schadenfrohes Grinsen. Der Erste Offizier, Balthasar Johnson dagegen, ein freundlicher und netter Mann mit aufrichtigem Wesen, sah mir gedankenvoll nach, als ich abenterte und das Deck betrat, auf dem die vier Boote lagen, die für allerlei Exkursionen benötigt wurden, wie sie auf einem Forschungsschiff nun einmal unumgänglich waren.
Auf dem Hauptdeck traf ich Kleine Hölle, der ebenfalls die gleiche Uniform trug wie ich. Er sah gerade Master Fleet nach, der ebenfalls das Achterdeck verließ und in seine Kammer ging. „Der Alte ist ja mächtig sauer heute“, flüsterte er, „was ist dem denn wieder über die Leber gekrochen?“ „Keine Ahnung, Jonny, er regte sich darüber auf, daß die Leute alle mürrische Gesichter hätten.“ „Dann soll er sich erst mal sein eigenes ansehen.“ „Der Master kann einem die Laune für den ganzen Tag verderben, wenn er sich wegen jedem Krempel aufregt“, meinte ich verdrossen. Jonny tat das mit einer Handbewegung ab und grinste flüchtig. „Er will nur dein Bestes, Bonty. Er sieht das anders als du, er will aus dir einen Kerl machen, der immer mit aller Gründlichkeit vorgeht, der keine Schlampereien duldet. Vielleicht will er dich so erziehen wie er selbst ist. So was soll's ja geben.“ „Mag sein“, erwiderte ich. „Manchmal glaube ich, er will mich nur kujonieren.“ „Was hast du jetzt vor?“ wollte Jonny wissen. Ich entsann mich der Empfehlung, die Mister Johnson mir einmal gegeben hatte. Auf der „Scout“ herrschte ein strenges militärisches Reglement, das nur sehr selten gelockert wurde, und er hatte mir wohlwollend geraten, ständig das Schiff zu inspizieren, damit Master Fleet nichts auszusetzen hatte. Das war meine Aufgabe, um die ich mich pedantisch kümmern mußte, denn der Master sah überall und immer nach, ob seine Anweisungen auch genau befolgt wurden. War das nicht der Fall, und er entdeckte eine Nachlässigkeit, dann gab es ein sehr übles Donnerwetter. „Ich nehme mir die Takelage vor“, sagte ich. „Ich habe es mir so eingeteilt, wie Mister Johnson es mir empfohlen hatte.“ „Gut. Und ich werde mich um die Wasserfässer und die Leute kümmern“, sagte Jonny. Master Fleet wünschte, daß Jonny und ich immer, wenn möglich, zusammen an Deck arbeiteten oder inspizierten, und an diese Regelung hielten wir uns selbstverständlich. Während Jonny zuerst das an Deck stehende Wasser-faß für den täglichen Bedarf kontrollierte, ob sich darin keine Grünalgen gebildet hatten, enterte ich über die Webeleinen zum Fockmast auf und unterzog jeden Tampen, jedes Stück Tauwerk einer gründlichen Prüfung. Ich kontrollierte die Fußpferde, und stellte immer wieder überrascht fest, wie gut alles in Schuß war. So wollte es der Master,
und so mußte es auch bleiben. War ein Tau auch nur leicht angerieben oder angescheuert, was man schamfilen nannte, dann mußte es ohne lange Verzögerung sofort bekleedet oder mit einem Schmarting versehen werden. Ich arbeitete mich bis nach oben, was eine ganze Weile in Anspruch nahm und worüber es Mittag wurde. Ich fand nichts auszusetzen, absolut nichts, obwohl ich mir eine schadhafte Stelle fast gewünscht hätte, doch es gab keine. Meldete ich hingegen einen kleinen Schaden, dann hieß das für den Master, daß ich alles sorgfältig kontrolliert hatte. Fand ich aber nichts, dann stand ich praktisch mit leeren Händen da, und in Fleets Gesicht erschien wieder jener Ausdruck, der mir insgeheim vorwarf, ich hätte wohl doch eine Kleinigkeit übersehen. „Laufendes, stehendes Gut und Segel am Fockmast in hervorragendem Zustand, Sir“, meldete ich dem Master, der inzwischen wieder auf dem Achterdeck erschienen war. Seine Laune hatte sich immer noch nicht gebessert. Es war deutlich an gewissen Kleinigkeiten zu erkennen. Seine vollen fleischigen Lippen waren leicht herabgezogen, und wenn er üble Laune hatte, dann blickte er entweder ständig in den blauen Himmel oder musterte die Hands an Deck, oder er starrte direkt an einem vorbei auf die Segel. Zudem wippte er dann kaum merklich auf seinen großen, nach außen gerichteten Füßen, die unheimlich platt wirkten. Er erweckte dann stets den Eindruck als würde ihn Bauchgrimmen plagen, das er sich aber nicht anmerken lassen wollte. „In Ordnung“, sagte er, „Mister Scinders wird das nachher der Vollständigkeit halber noch einmal überprüfen. Zuvor aber protokollieren Sie unter dem heutigen Datum die Inspektion des Fockmastes, und daß er in einwandfreiem Zustand sei.“ „Aye, aye, Sir“, brachte ich hervor, denn das hieß doch schon wieder nichts anderes, als daß er mir die Inspektion nicht zutraute und Scinders als eine Art „Nachkontrolleur“ hinaufjagte. Diese kleinen Nadelstiche ärgerten mich, und ich fragte mich, weshalb, zum Teufel, nicht gleich Scinders selbst die Inspektion vornahm, damit der Alte nichts zu meckern hatte. Während ich das in eine Kladde eintrug, prüfte der Zweite noch einmal meine Angaben und enterte auf. Hoffentlich hatte ich nichts übersehen, dachte ich immer wieder, denn Scinders würde mir zu gern eins auswischen, und ich konnte mir schon lebhaft vorstellen, wie ich ziemlich lächerlich an Deck stand und mir
Vorhaltungen anhören mußte, daß ich nicht einmal in der Lage sei, ein paar Tampen zu überprüfen. Wer einen Hund werfen will, dachte ich, der findet auch immer einen Stein, doch zu meiner grenzenlosen Erleichterung fand Scinders selbst bei angestrengter Suche nichts. Das teilte er dem Master zwar offiziell nach dem Reglement mit, doch mit mürrischem und verärgertem Gesicht. Etwas später ging ich in die Messe zum Mittagessen. Es gab nur diese eine Messe an Bord, und sie war ausnahmslos den Offizieren vorbehalten. Die Mannschaft aß an Deck, oder sie verzog sich bei schlechtem Wetter ins Batteriedeck, wo die meisten auch in nischenähnlichen Vertiefungen schliefen, denn ein Quartier oder Forecastel gab es auf der „Scout“ ebenfalls nicht. An jenem Tag gab es Graupen mit einem kleinen Stück Salzfleisch darin. Als ich aufstand, hatte ich immer noch Hunger, und die Graupen hingen mir wie Grobschrot im Magen, ganz zu schweigen von dem Halystone, der sich Salzfleisch nannte. Master Fleet war eben ein sehr sparsamer Mann. * Nach dem kargen Mittagessen gab es eine handfeste Überraschung an Bord. Einige Leute mäkelten wie üblich an der kargen Ration herum, von der sie nicht satt wurden, andere meckerten lauter, und die Stimmung war nicht gerade rosig. Graupen, Grütze und Haferflocken, und dazu noch in unzureichender Menge, das war es, woran sich die Gemüter wieder einmal erhitzten. Da erschien Master Fleet auf dem Achterdeck, wippte mit verkniffenem Gesicht auf seinen Plattfüßen und besprach sich dann mit dem Ersten Offizier Balthasar Johnson. Dessen Gesichtsausdruck war direkt verblüfft, und wir sahen ihn ein paarmal nicken. Schließlich hellte sich zu unserer Überraschung auch Master Fleets Miene ein wenig auf, und ein Ausdruck, den man eventuell mit gönnerhaftem Wohlgefallen bezeichnen konnte, erschien auf seinem Gesicht. Auf den ersten Blick sah es so aus, als habe der Master einen Witz erzählt, doch das war ausgeschlossen, denn erstens kannte Fleet keine Witze und zweitens würde er sie, kannte er einen, gar nicht erzählen. Dazu fehlte ihm ganz einfach der Humor.
Kurz darauf verließ Mister Johnson das Achterdeck und stellte sich in die Nähe der Boote auf dem Hauptdeck. Schon strömten die ersten Leute neugierig zusammen, denn jetzt wurde mit Sicherheit etwas bekannt gegeben. Auch die drei gepreßten Portugiesen, die Master Fleet unterwegs an Bord zwang, als eine portugiesische Galeone bei uns anlegte, rannten zum Hauptdeck. Der Decksälteste Mat Robertson, der Profos Bang, Big Bäng von der Mannschaft genannt, Crocker, McHenry, Tom Jagger, Malaga-Jo und Slim Burnell ließen ihre Arbeit liegen. „Alle mal herhören!“ rief Johnson mit seiner klaren Stimme. „Auf Anweisung des Masters“, er machte eine entsprechende Handbewegung zum Achterdeck, der eine kleine Verbeugung folgte, „bleibt die Arbeit vorübergehend ruhen. Statt dessen wird, weil wir uns tief im Pazifischen Ozean befinden, ein kleines Pazifik-Bordfest gefeiert. Mit der gütigen Genehmigung des Masters erhält jeder Mann, egal welchen Rang er bekleidet, eine Quart Rum. Es darf gesungen und gefeiert werden.“ „Mister Johnson“, erklang Fleets Stimme laut vom Achterdeck, „teilen Sie der Mannschaft bitte mit, daß jeder gefälligst fröhlich zu sein hat.“ „Aye, aye, Sir. Ihr habt es gehört, ihr habt fröhlich zu sein und ein wenig zu feiern.“ Zuerst standen alle da, wie vom Donner gerührt, oder als hätte sie kurz der Blitz gestreift. Dann verzogen sich mißtrauische Gesichter zu einem lahmen Grinsen, danach wurde das Grinsen breiter, und endlich lachten einige erleichtert. Doolittle, Sugarcane, der Moses und Rustabout Miff Mole, Melrose, der Plain der für die Drehbassen zuständig war, und Jack Clay begannen zu klatschen. Master Fleet nickte gnädig, und seine Lippen verzogen sich. Allerdings war das kein Lachen, sondern eher ein Gähnen, richtig lachen konnte er, glaube ich, gar nicht. „Ein schlauer Fuchs“, raunte Jonny mir zu. „Der weiß genau, wie er die Leute zu nehmen hat. Genau an der richtigen Stelle hat er mit seinem Bordfest zugelangt. Und dann dieses! ,Jeder hat gefälligst fröhlich zu sein.' Nach dem Essen darf gekichert werden, was! Jetzt steht er bei der Mannschaft doch wieder wie eine Eins da. Vergessen ist der karge Fraß, jetzt gibt's Brot und Spiele wie bei den alten Römern!“ Tatsächlich hatte Isaac Fleet genau am richtigen Punkt eingehakt, als die Gesichter immer länger wurden. Jetzt gab es keine mürrischen Leute mehr, denn für diese lausige Quart Rum gingen sie für den
Master durchs Feuer, zeigte es doch, daß er auch seine menschlichen Seiten hatte und gar nicht so war, wie die meisten immer dachten. Nein, Fleet gab Rum aus, und vor lauter Rührung standen einigen fast die Tränen in den Augen. Jonny und ich durchschauten dieses alte Schlitzohr viel schneller als alle anderen, ausgenommen die beiden Offiziere natürlich, vielleicht auch Big Bäng oder der Decksälteste. Ein kleines Faß wurde unter lautem Hallo an Deck gebracht und neben den Booten aufgestellt. Sofort scharte sich eine fröhliche und lärmende Meute darum und bewaffnete sich mit zerbeulten Mucks aus dünnem Zinn. „Sie beide darf ich bitten, auf das Achterdeck zurückzukehren“, sagte Mister Johnson, „der Master sieht es nicht gern, wenn sich die Herren Offiziere bei einem Bordfest unter das Schiffsvolk mischen.“ Wenigstens sprach er nicht vom „gemeinen“ Schiffsvolk, dachte ich. Aber ich kam mir in meiner Rolle als Vierter Offizier doch nun ein wenig erbärmlich vor, weil ich die Distanz zu wahren hatte. Ich hatte auch schon das typische Bild vor Augen, es prägte sich mir schon ein, noch bevor es Wirklichkeit wurde. Achtern standen Master und Offiziere, wohlwollend herablassend, gnädig für Augenblicke zu dem Pöbel, der sich unbändig über eine Muck Rum freute. Man amüsierte sich gewissermaßen und freute sich über die eigene Großzügigkeit den Leuten gegenüber. Es kotzte mich wahrhaftig an, Sir, denn so und nicht anders war es ein wenig später, als außer dem Rudergänger Gideon nur noch der Master, Erster, Zweiter, Jonny und ich achtern waren. Isaac Fleet hatte zwar einen gnädigen, aber doch irgendwie verächtlichen Zug um die Mundwinkel, während Scinders herablassend grinste. Johnson selbst schien sich an dem Treiben zu erfreuen, es gefiel ihm offenbar, daß jetzt einige sangen, zwei Mann, ich glaube es waren Sugarcane und Doolittle, sich unterhakten und unter dem Gelächter der anderen über das Hauptdeck tanzten. Manche nippten nur vorsichtig an dem Rum, den der baumlange Profos Big Bäng austeilte. Einige stürzten ihn aber so schnell hinunter, als befürchteten sie, man würde es sich doch noch anders überlegen und ihnen den Rum wieder wegnehmen. Jonny sah mich mit verkniffenem Gesicht an. Wir standen auf dem Achterdeck etwas abseits von den anderen. Wir erhielten natürlich keinen Rum, denn bei uns sah Master Fleet keine langen oder mürrischen Gesichter.
Die Decksleute gaben sich die größte Mühe, fröhlich zu sein. Einige waren es auch, doch die meisten hatten von einem sogenannten Bordfest, oder einem Pazifik-Bordfest wie der Master es nannte, vermutlich ganz andere Vorstellungen. Unter den beobachtenden Augen der Achterdecksgäste gingen sie nicht aus sich heraus, aus Angst, der Master könnte ihnen das verübeln. Dessen Gesicht wurde nun auch wieder verschlossener und er begann fast ungeduldig auf seinen großen Füßen zu wippen. Ein untrügliches Zeichen dafür, daß seine Laune wieder sank. Zwei Mann tanzten immer noch ausgelassen über das Deck, während ein paar andere lauthals ein Lied anstimmten. Auch die Portugiesen Manitas, Vinicio und Silvio sangen mit. Andere lümmelten an den Booten herum und sahen belustigt zu. Zwei Männer hatten mürrische Gesichter. Sie tranken ihren Rum fast mit einem gewissen Widerwillen, und ich ahnte auch weshalb. Der Master gab nichts umsonst, das wußten die beiden ganz genau. Für diese Quart Rum würden sie früher oder später bezahlen müssen, auf welche Art auch immer. „Wie ein kleines Quentchen Rum doch die Menschen verändert“, sagte der Master kopfschüttelnd zu Johnson. „Ein paar Tropfen, und sie küssen einem die Füße. Widerlich ist das.“ Seine wulstigen Lippen waren vorgeschoben, er wippte wieder und begann auf dem Achterdeck auf und ab zu gehen. An uns ging er mit seinem watschelnden Gang vorbei, ohne uns zu sehen. Eine halbe Stunde lang ging das so, dann blieb Isaac Fleet abrupt stehen und blickte über die Balustrade. Für den Humor der Decksleute hatte er nichts übrig, und er sah mißbilligend auf einen von der Mannschaft, der eine Flöte brachte und darauf eine schwermütige Melodie spielte. Die drei gepreßten Portugiesen hatten sich gut eingewöhnt, nur mit ihrem Englisch haperte es noch, es reichte bestenfalls für enge Familienverhältnisse. „He, fellers“, rief Manitas. „Boss'n ist gut man.“ Was soviel heißen sollte wie: „He, Kameraden, der Master ist ein guter Mann.“ Das war er aber ganz und gar nicht, und für seine Vorstellung dauerte das sogenannte Bordfest schon viel zu lange. Fleet wurde immer ungeduldiger, das Gejohle ging ihm auf die Nerven, obschon nur eine gewisse. fast vorgetäuschte Fröhlichkeit herrschte. „Schluß jetzt!” sagte er barsch. „Das Bordfest ist zu Ende, Mister Johnson, es hat ohnehin lange genug gedauert, und ich will das nicht
ausarten lassen. Schließlich ist die ‚Scout' ja kein Rummelplatz. Veranlassen Sie das!“ Jonny und ich grinsten uns unmerklich zu. Kleine Hölle verzog das Gesicht, als hätte er in eine faule Zitrone gebissen. „Ein tolles Fest“, raunte er kaum hörbar. „Die Männer werden ihr Leben lang mit Dankbarkeit daran zurückdenken.“ Mister Johnson ging aufs Hauptdeck und beendete das „Fest“, auf Befehl des Masters, wie er absichtlich hinzusetzte. Die Quart Rum war von jedem ausgetrunken worden, die Gesichter wurden wieder etwas länger, und als einige noch fragend herumstanden, scheuchte Scinders sie mit groben Worten an die Arbeit, während Johnson wieder zum Achterdeck zurückkehrte. Jener Tag verging wie viele andere, und die Abwechslung, wenn man sie überhaupt so nennen wollte, geschah sobald nicht wieder. Dafür entschädigte mich die tropische Nacht, wenn sie auch mit einem bitteren Tropfen gewürzt war. Ich befand mich auf Freiwache, und ich wollte ein wenig mit Jonny „ratschen“, doch daraus wurde nichts, denn ich hatte wieder einmal etwas übersehen, und das kriegte ich gleich darauf zu spüren. Master Fleet inspizierte zu der nächtlichen Stunde sein Schiff mit der ihm eigenen Gründlichkeit. Wie ein Schatten bewegte er sich, war mal hier, mal dort und strich unruhig über die Decks. Die meisten Leute hatten sich ins Batteriedeck zurückgezogen und schliefen dort in den kleinen Nischen. Ein paar Männer der Freiwache unterhielten sich oder spielten mit selbstgeschnitzten Würfeln, weshalb es schon einmal Ärger gegeben hatte. Ich blickte gerade auf das Meer, hing meinen Gedanken nach und wartete auf Kleine Hölle, der gleich kommen wollte. Es war eine himmlische Nacht. Silberblaue Schatten lagen über der nächtlichen Sec, und Wolkenbänke waren unterwegs zu unbekannten Zielen. Diese silbergrauen Schatten schuf das Mondlicht, wenn der alte Geselle halb durch die Wolken blinzelte. Der Himmelsbesen fegte nicht mehr so stark wie am Tage, aber wir liefen trotzdem gute Fahrt, und achteraus blieb ein schnurgerader blasenwerfender und schaumiger Streifen im Meer zurück, der eigentümlich leuchtete. Das war meine liebste Stimmung, etwas, das man bei der harten Arbeit noch als Romantik bezeichnen konnte, das einem die harten Bordstunden versüßte.
„Master God“ tauchte so plötzlich vor mir auf, als wäre er aus den Planken gewachsen. Ich zuckte unwillkürlich zurück, denn ich hatte ihn nicht gehört und erst recht nicht gesehen. „Im Batteriedeck brennen zwei Lampen“, sagte er boshaft. „Ist da jemand erkrankt?“ „Nein, Sir, davon ist mir nichts bekannt“, erwiderte ich. „Daß zwei Lampen brennen oder daß jemand erkrankt ist?“ fragte er. „Drücken Sie sich gefälligst etwas klarer aus, Mister Bonty.“ „Sir“, sagte ich gepreßt und verärgert. „Mir ist nicht bekannt, daß jemand erkrankt ist, sonst hätte er es mir oder Mister Jonny gemeldet. Bekannt ist mir hingegen, daß im Batteriedeck bei den Schlafplätzen zwei Lampen brennen. Ich war jedoch nicht unten, ich bin Freiwächter.“ „Freiwächter“, wiederholte er, „was heißt schon Freiwächter! Ein Offizier ist immer im Dienst, auch auf Freiwache. Er hat sich stets um das zu kümmern, was an Bord vorgeht, egal ob er nun Freiwache hat oder nicht. Wenn das Schiff Feuer fängt, bleiben auch die Freiwachen nicht in der Koje und warten ruhig ab, bis der Brand gelöscht ist. Oder sind Sie der Ansicht?“ „Nein, Sir, ich muß Ihnen recht geben.“ „Sie müssen nicht, Sie haben mir recht zu geben“, betonte er. „Nächtens“, so drückte er sich wahrhaftig aus, „haben im Batteriedeck keine Lampen zu brennen, keine einzige. Das ist unnötige Verschwendung von teurem Lampenöl. Die ,Scout` ist schließlich kein Schiff, das unbegrenzte Ölmengen transportiert. Auch müssen Sie darauf achten, daß die Lampendochte stets sehr kurz gehalten werden. Das übertragen Sie am besten einem der Deckhands, und Sie ziehen ihn zur Verantwortung, wenn Sie etwas zu bemängeln haben. Veranlassen Sie das jetzt und sofort. Nach des Tages Arbeit ist man müde und hat sich auszuruhen, um anderentags wieder froh seinen Dienst zu verrichten. Da braucht man sich nicht bei Licht zu unterhalten, das kann man auch im Dunkeln tun. Oder man geht an Deck, wenn man schon nicht schlafen kann. Da hat man das Mondlicht umsonst. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Mister Bonty.“ „Gute Nacht, Sir“, stammelte ich. O Großlord! Dieser Master God ging mir langsam aber sicher mit seinem verdammten Geiz und seiner übellaunigen Pedanterie auf die Nerven. Über solche Kleinigkeiten wie zu lange Dochte und ein bißchen Öl regte er sich auf. Unter ihm war wahrhaftig nicht gut fahren, und ich selbst wurde durch solche Kleinigkeiten bei der Mannschaft auch nicht gerade beliebter. Sie mußten in mir ja genauso einen Schinder sehen.
Das paßte mir alles nicht. Aber mir blieb nichts anderes übrig, als seinem Befehl sofort Folge zu leisten. Also ging ich ins Batteriedeck, sah die Dochte der Lampen nach und übertrug diese ungeheuer verantwortungsvolle Aufgabe schließlich dem Rustabout Miff Mole, der ein Jahr älter war als ich. Er löschte die Lampen, warf mir aber einen undefinierbaren Blick zu. Vielleicht bedauerte er mich insgeheim. Crocker und Zander blickten mich ebenfalls an. Aber in ihrem Blick lag eine fast hündische Ergebenheit, denn gerade die beiden hatten Master Fleets Härte besonders deutlich zu spüren gekriegt. Sie waren auf das portugiesische Schiff desertiert, waren aber augenblicklich wieder zurückgeholt worden, trotz aller Proteste und Verwünschungen des portugiesischen Kapitäns. Wären wir nicht unterbemannt gewesen, hätte Master God die beiden Deserteure auf der Stelle hinrichten lassen. So erhielten sie ihre Strafe nun in der Form eines Tampenlaufens, einer harten Bestrafung, wozu die Mannschaft mit Tampen in den Händen Aufstellung nahm, und die Delinquenten an ihnen vorbeilaufen mußten. Dabei schlug jeder mit dem Tampen zu, so lange, bis die Übeltäter zusammenbrachen. Seither hatten sie höllischen Respekt vor jedem Offizier des Schiffes, ganz besonders aber vor dem Master. Dennoch waren sie keine schlechten Kerle, ich verstand sie sogar. Sie hatten ganz einfach die Nase voll, so wie ich mitunter auch. Ich ahnte längst, daß uns in dieser Hinsicht noch einiges bevorstand. Noch mehr Leute würden von der „Scout“ desertieren, sobald sich eine Gelegenheit dazu bot. Die Lampen waren jetzt gelöscht, im unteren Deck herrschte Ruhe. Jonny kam etwas später, und zusammen stellten wir uns so ans Schanzkleid, daß wir das ganze Schiff überblicken konnten. Vor allem deshalb, damit Master Fleet nicht wieder unversehens aus den Planken wuchs. Ich erzählte Jonny kurz von Master Fleet und hielt es für immer wieder neue Schikanen, daß er stets etwas zu nörgeln hatte. Bei Jonny hatte er allerdings auch oft etwas auszusetzen. Auf dem Gesicht von Kleine Hölle waren durch das Mondlicht die winzigen Falten als tiefe Rinnen und Gräben zu sehen. Auch die Falte über seiner Nasenwurzel sah aus wie mit der Axt eingekerbt. Ober allem lag zusätzlich noch dieser leichte lila Schatten. „Offizier zu sein, habe ich mir auch immer anders vorgestellt“, sagte er, „aber wir sind nur Dritter und Vierter, beim Ersten und Zweiten sieht das schon anders aus. Denen spuckt man so schnell nicht mehr in die
Suppe. Trag' es mit Fassung, Bonty, der Master ist nun mal eben so, und nichts und niemand wird ihn ändern. Du mußt versuchen seine Denkungsweise nachzuvollziehen. Du stellst dir vor, es wäre dein eigenes Schiff, dein ganzer Stolz, das, wofür du ein Leben lang gespart hast. Dann willst du ja auch nicht, daß etwas verrottet oder vergammelt und bist hinter den Leuten her, damit sie ja alles recht machen.“ „Aber ich wäre nie so verdammt geizig.“ „Das ist eben seine Eigenart. Zimbalist war ein Puritaner, Flanagan ein Eisklotz, Fletcher Whale ein harter Knochen, und er ist eben ein knauseriger Kerl, ein Geizhals.“ „Und humorlos ist er auch noch.“ „Siehe das ungemein fröhliche Bordfest“, sagte Jonny lachend. „Das war schon fast eine Sauforgie in seinen Augen.“ „Ich weiß nicht“, begann ich nach einer Weile, „wo ich noch überall suchen soll. Das mit den Lampen wäre mir nie in den Sinn gekommen, ich hätte nie daran gedacht, weil es läppische Kleinigkeiten sind.“ Wir berieten gemeinsam, in welchen Ritzen und Winkeln wir noch nachsehen konnten, denn auch Jonny hatte sich an Deck um jeden Kleinkram zu kümmern. Einerseits wollte ich dem Master ja auch beweisen, daß ich etwas konnte, andererseits aber schien ich ständig etwas falsch zu machen und sein Mißfallen zu erregen. „Wir nehmen uns morgen mal die Vorpiek vor, kontrollieren die Segellast und auch die Bilge. Wir krempeln diesen Kahn von vorn bis achtern und von oben bis unten um. Der Teufel soll mich holen, wenn wir dabei etwas vergessen. Du kümmerst dich auch noch einmal um die Klamotten vorn Master, das fällt in deine Zuständigkeit, und wir werden auch die Kombüse nicht auslassen und Porridge auf die Finger sehen. Jede lausige Pfanne und jeder Topf muß blinken und blitzen. Anschließend nehmen wir uns die Pulverkammern vor. „Einverstanden“, sagte ich. „Wenn wir das alles gründlich vorher besprechen, dann kann er nichts mehr finden. Wir werden auch nachts mal wie unruhige Geister durch das Schiff streichen, genau wie er es auch tut.“ Danach gingen wir nach achtern zurück, vergewisserten uns aber noch, daß der Ausguck im Großmars auf Posten war und nicht etwa vor sich hin döste. Auf dem Achterdeck standen jetzt nur Johnson und der Rudergänger. Zwei andere Männer gingen Wache, Malaga-Jo und James Clarence.
Unsere Kammer war ein direkt fürstlich eingerichteter Raum mit Mahagonitäfelung, aber so rechte Freude empfand ich doch nicht daran, denn ganz unterschwellig hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich in einer geräumigen Koje schlief und die anderen in Nischen auf dem Geschützdeck, denn andere Quartiere gab es nicht. Ich löschte nach unserem Eintritt die Lampe, damit Master Fleet nicht wieder neue Ansatzpunkte fand, schließlich noch gezwungen war sein Schiff zu verkaufen, weil wir soviel Lampenöl verbrauchten. Etwas später schlief ich dann ein und träumte von einem vollgefressenen dicken Mann, der mir ständig das Essen wegnahm und es selbst in sich hineinstopfte. Dieser Mann wippte beim Essen, das er stehend gierig in sich hineinschlang, auf großen platten Füßen und hatte ein Gesicht, das mich verteufelt an Master Fleet erinnerte. * Gleich nach dem Frühstück am anderen Morgen ging ich mit Eifer und Verbissenheit an die Arbeit und suchte mir jene Stellen zur Inspektion aus, die ich mit Jonny besprochen hatte. Master Fleet benahm sich an jenem Morgen sehr seltsam. Er ließ den Laderaum öffnen, ohne die anderen eines Blickes zu würdigen. Dann stieg er hinunter und befahl, die Gräting aufzulegen und ein Stück Segeltuch darüber zu legen, damit niemand nach unten blicken konnte. Zwei Lampen hatte er selbstverständlich mitgenommen. Etwas später hörten wir ihn leise rumoren. „Jetzt sieht er sich seine Schätze von Vavitu an“, sagte Jonny, „und dazu wird er eine Weile brauchen. Hoffentlich bessert das seine Laune etwas.“ Vom Atoll der Könige hatten wir Schatztruhen an Bord, die die Eingeborenen Master Fleet überbrachten, weil sie ihn für die Verkörperung eines Kriegsgottes hielten. Als Zeichen der Unterwerfung hatte er schließlich noch einmal eine Truhe von den Königen gefordert und auch erhalten. In den Truhen befanden sich Gold, Silber, Perlen, kostbare Arbeiten der Insulaner und vieles andere mehr. Allerdings war uns der Blick auf den Reichtum des Masters verwehrt, ich konnte ihn mir lebhaft vorstellen, wie er da unten rechnete und überlegte, wie er sich an den Zugaben regelrecht weidete.
Das ging bis zum späten Nachmittag so, dann stand uns eine höllische Überraschung bevor, und seit jenem Tag begannen etliche, ihn ganz offen zu hassen. Das war jedoch nur der Auftakt, es sollte noch viel schlimmer mit ihm werden. Zunächst erhielt erst einmal ich meinen Rüffel. Master Fleet enterte auf, ließ den Raum wieder zudecken und wollte gerade nach achtern gehen, als ihm unvermittelt der Koch über den Weg lief. Porridge, wie wir ihn nannten, weil er vorgab, die beste Hafergrütze kochen zu können, war etwas sehbehindert. Auf fünf Yards hatte er schon Mühe. den Fockmast von einem Mann zu unterscheiden. Auf drei Schritte verschwammen ihm die Gesichter, und er mußte sich erst immer unauffällig herantasten. um zu erfahren, wen er eigentlich vor sich hatte. Diesmal rannte er den Master fast über den Haufen, und es hätte sicherlich ein Unglück gegeben, denn der Koch hatte einen gefüllten Abfallkübel in den Händen und schleppte ihn gerade nach Lee, um ihn auszuleeren. Jonny hielt den eifrigen Koch im letzten Augenblick fest, während Master Fleet stehenblieb und herrisch auf den Koch zeigte. „Zeigen Sie mal, was Sie da über Bord werfen!“ befahl er. „Aye, aye, Sir, Küchenabfälle“, sagte Porridge untertänig. „Na, wühlen Sie mal darin herum“, sagte der Master und spähte in den Holzkübel hinein. Porridge begann eifrig in dem Dreck und der Schmiere zu wühlen und hielt bald mal die abgeschabte Schwarte von einem Stück Salzfleisch, bald mal einen Knochen oder einfach Matsch in der Hand. Fleet sah sich das mit allergrößtem Interesse an, warf dein Koch einen schrägen Blick zu und befahl schließlich – vermutlich hatte er wieder mal was entdeckt –das ganze Zeug auf die Planken zu leeren. Der Koch klatschte den ganzen Dreck kurz entschlossen auf das saubere Deck. Die anderen standen wie erstarrt da, denn erstens einmal hatte niemand damit gerechnet, und zweitens mußte das Deck ja gleich wieder gescheuert werden. Master Fleet deutete in dem Dreck auf jenes und dieses Stück, unter anderem auch auf ein Stück knochenhartes und angeschimmeltes Salzfleisch, und jedesmal mußte der Koch es herausklauben und beiseite legen.
Das Zeug war nicht eßbar, Sir, weiß Gott nicht, denn die Kerle waren immer hungrig und hätten nichts verkommen lassen, aber dieses üble Zeug brachte selbst der hungrigste Mann nicht herunter. Fleet sah das jedoch ganz anders. Er blickte in die Runde, sah den Koch an, dann die anderen, und schließlich blieb sein Blick mit herabgezogenen Mundwinkeln auf mir hängen. „Ich stelle fest“, sagte er, „daß es hier offenbar zu viel zu essen gibt. Hier wird eindeutig Proviant verschwendet. Es ist Ihre Aufgabe, Mister Bonty“, kanzelte er mich öffentlich ab, „dafür Sorge zu tragen, daß auch die Kombüse und der Abfallkübel kontrolliert werden. Das haben Sie versäumt. Sie versäumen in letzter Zeit sehr viel. Aber das wird noch Folgen haben. Veranlassen Sie, daß sofort das Deck gereinigt wird.“ Diesmal kam mir mein „Aye, aye, Sir“ nur gepreßt und sehr schwer über die Lippen, und ich ertappte mich bei dem Gedanken, mit dem Schuh auszuholen und ihn Master Fleet in den Hintern zu treten. Ich hatte mir die allergrößte Mühe gegeben, damit alles seine Ordnung hatte, nur an den Abfallkübel hatte ich nicht gedacht. Und ausgerechnet den mußte der Master jetzt monieren. Ich war nahe daran zu explodieren und wurde knallrot im Gesicht. Da trat einer der Männer vor, gerade als der Master zurück zum Achterdeck gehen wollte. Es war der Decksmann Slim Burnell, ein südländischer Typ, dem offenbar die Galle hochstieg und der vor unterdrückter Wut am ganzen Körper zitterte. „Sir“, sagte er bebend, ohne die Konsequenzen zu überdenken, „was hier an Deck liegt, ist nicht mehr verwertbar. Ich bitte das bemerken zu dürfen. Ich finde es ungerecht, wenn man uns zumutet ...“ „Halten Sie den Mund, Mister Burnell!`“ sagte ich scharf, um ihm weiteren Ärger zu ersparen, denn damit redete er sich bei Fleet um Kopf und Kragen. Es war jedoch schon zu spät. Fleet drehte sich um und musterte den Sprecher mit hochgezogenen Augenbrauen. In seinem Blick lag eiskalte Verachtung. „Name?“ fragte er gereizt. „Slim Burnell, Sir. Ich bitte ...“ „Zehn Hiebe für diesen Mann, Mister Bonty“, sagte Fleet mit der größten Selbstverständlichkeit. „Der Profos, Mister Bang, wird das Urteil sofort vollstrecken, nachdem das Deck aufgeklart ist. Sie werden die Auspeitschung überwachen.“ „Aye, aye, Sir. Darf ich mir eine Frage erlauben, Sir?“
Jonny stieß mir den Ellenbogen hart in die Rippen, doch Master Fleet maß mich nur mit einem durchbohrenden Blick. „Sie werden den Vorgang anschließend protokollieren, Mister Bonty“, sagte er, ohne auf meine Bemerkung einzugehen. Er drehte sich abrupt um und ging mit seinem watschelnden Gang zurück aufs Achterdeck. Von uns nahm er keine Notiz mehr. Der Koch, der vor Angst zitterte, hatte keinen Verweis erhalten. Den Rüffel bekam ich, und der Mann, der nichts weiter als die Wahrheit gesagt hatte, kriegte die Peitsche. Das schuf böses Blut an Bord. Ich sah es an den funkelnden Augen der Männer, die dem Master haßerfüllt nachblickten. Die Blicke waren wie scharfgeschliffene Dolche, und ich ahnte, daß es bei diesen Blicken allein nicht bleiben würde, wenn der Master weiterhin so rigoros durchgriff. Das empfanden die Leute als Ungerechtigkeit. Jonny und ich überwachten das Aufklaren des Decks. Der Dreck wurde über Bord geworfen und mit ein paar Pützen Wasser weggeschwemmt, bis die Planken wieder so aussahen wie vorher. Dann folgte der zweite Teil von Fleets Befehlen. Slim Burnell wurde an die aufgekantete Gräting gebunden. Big Bäng stand mit der Neunschwänzigen in der Hand da und wartete auf meinen Befehl. Ich kam nicht darum herum, ihn zu geben, aber ich sah Big Bäng dabei zwingend in die Augen, und er nickte mir unmerklich zu. Schon einmal hatte eine Auspeitschung stattgefunden, und der Profos, der wirklich ein Herz hatte, schlug nicht zu hart zu, sonst hätte er, der über eine geradezu tierische Kraft verfügte, Slim Burnell totgeschlagen. Diese Rolle als Vierter Offizier begann mich immer mehr anzuwidern, denn es lag kein zwingender Grund vor, einen Mann wegen dieser Bemerkung mit zehn Hieben zu bestrafen. „Zehn Hiebe, Mister Bang“, sagte ich leise. Auf dem Achterdeck ging Fleet mit verschränkten Armen auf und ab. Dann blieb er stehen und blickte scheinbar uninteressiert auf das Hauptdeck, wo der Profos gerade zum ersten Schlag ausholte. Burnell bog das Kreuz unter dem ersten Schlag durch und preßte den Brustkasten hart an die Gräting. Kein Ton kam über seine Lippen. Erst beim vierten Schlag begann er zu stöhnen. Als das halbe Dutzend voll war, sackte er in seinen Fesseln zusammen. Die restlichen vier Schläge spürte er nicht mehr. Er war durch den Schmerz bewußtlos geworden.
Mir stieg bei diesem Anblick immer mehr die Galle hoch. Dabei hatten Jonny und ich uns tags zuvor noch vorgenommen, auch die Kombüse genau zu kontrollieren. Alles war blitzblank und sauber. Nur an den verdammten Abfallkübel hatte keiner von uns gedacht. Jetzt war durch diesen nichtigen Anlaß ein Mann blutig geprügelt worden. Burnell wurde losgebunden, mit einer Pütz Wasser übergossen und ins Batteriedeck getragen, wo er in eine der Nischen gelegt wurde. Jonny folgte ihnen und tupfte Burnell mit einem Stück Segeltuch vorsichtig den blutigen Rücken ab. Da Master Fleet den Dienst des Feldschers persönlich versah, verzichteten wir darauf, den verletzten Mann in seine Behandlung zu geben, denn die Roßkuren des Masters waren berüchtigt. Er hätte Burnell kurzerhand den Rücken mit Essigwasser abgewaschen, und das hätte alles nur noch verschlimmert. Ich kehrte verbissen aufs Achterdeck zurück und fühlte mich kotzübel. „Befehl ausgeführt, Sir“, sagte ich heiser. „Mister Burnell hat zehn Hiebe erhalten.“ „Protokollieren Sie das unter dem heutigen Datum und legen Sie mir das Protokoll zur Durchsicht und Abzeichnung vor.“ „Aye, aye, Sir.“ In der Kammer, die ich zusammen mit Jonny bewohnte, hatte ich eine Kladde und ein paar Pergamentrollen, ebenso ein Gläschen mit Tinte und zwei Schreibfedern. Auch Löschsand gehörte dazu. Ich protokollierte die Bestrafung und den Umstand, der dazu geführt hatte, sehr sorgfältig, löschte es mit Sand ab und brachte die Kladde wieder aufs Achterdeck. Fleet besprach sich gerade mit dem Ersten, und so blieb ich stehen und wartete. Onan Scinders, Schinder hätte er eigentlich heißen müssen, sah mich mit überlegenem Grinsen an. „Ich werde Ihnen schon noch Beine machen, mein Junge. Sie sind ja total unfähig für den Dienst als Vierter Offizier. Irgendetwas vergessen Sie immer, selbst wenn es ein schäbiger Abfallkübel ist. Aus Ihnen wird doch nie etwas.“ Scinders war ein harter Kerl, der sich auch nicht scheute, selbst mal mit den Fäusten durchzugreifen, wenn er es für erforderlich oder richtig hielt. Aber er war auch einer von der boshaften und hinterhältigen Sorte, die einem das Leben verdammt erschweren konnten, und sei es nur durch anzügliche oder verächtliche Bemerkungen. Diese kleinen Nadelstiche häuften sich, und eines Tages würde das Faß gewiß
überlaufen, das sah ich auch schon voraus, denn jede Kreatur läßt sich nur bis zu einem gewissen Punkt demütigen, ehe sie die Krallen zeigt und zur reißenden Bestie wird. „Mag sein“, erwiderte ich betont gleichgültig. „Jeder hat mal klein angefangen, Mister Scinders.“ „Werden Sie nicht frech!“ sagte er heiser. „Was gibt es denn?“ fragte Fleet ungnädig und warf uns einen verärgerten Blick zu. „Das Protokoll, Sir.“ Er riß mir die Kladde aus der Hand, las mit gerunzelter Stirn, wollte anscheinend etwas aussetzen, nickte dann aber und riß mir herrisch die Feder aus der Hand. Seine wulstigen Lippen waren verkniffen, als er mit unleserlicher Handschrift abzeichnete. „Der Federkiel ist zu stumpf”, sagte er. „Man kann ja kaum damit schreiben.“ Scinders nickte mit ironischem Lächeln. Schon wieder ein Seitenhieb, wenn auch ein kleiner nur. Schiet auf das Achterdeck, dachte ich in jenem Augenblick. Lieber wäre ich als einfacher Plain gefahren, da war das Leben noch erträglicher, wenn man sich an die Befehle hielt. Als Vierter wurde man wegen jeder Kleinigkeit und jedem Mist geschurigelt, und mit der Zeit verlor man seine eigene Fröhlichkeit und wurde verbittert, weil man nichts recht machen konnte. Ich brachte die Kladde wieder nach achtern und spürte, daß ich immer mürrischer wurde. Dann ging ich nach Burnell sehen, der inzwischen wieder zu sich gekommen war. „Wie geht es Ihnen?“ fragte ich. Er stieß hart die Luft aus. „Verdammt schlecht, Mister Bonty“, sagte er. „Aber das ist nicht maßgebend. Schlimm ist nur, daß man auf diesem Schiff nicht einmal die Wahrheit sagen darf, ohne gleich halb totgeschlagen zu werden.“ „Ich hatte Sie vorher noch gewarnt“, erinnerte ich ihn. „Ja, ich weiß. Aber in der Verbitterung rutschen einem schon mal Worte von den Lippen. Ich werde bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit desertieren, Mister Bonty. Hier hält es ja kein normaler Mensch mehr aus.“ „Reden Sie sich nicht um Kopf und Kragen, Mann. Behalten Sie das gefälligst für sich. Und erinnern Sie sich daran, was mit den anderen Deserteuren geschehen ist. Ich will so etwas nicht hören, denn ich
müßte es melden. Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Soll ich Ihnen einen Verband anlegen?“ „Das dürfen Sie gar nicht“, sagte er bitter. „Dafür ist der Master zuständig, und auf seine Behandlung verzichte ich. Ich werde die Hiebe schon überleben, hab' schon mehr aushalten müssen.“ „Die Offiziere bitte aufs Achterdeck!“ unterbrach uns eine helle Stimme von oben. Ich nickte Burnell noch einmal zu und fragte mich, was denn nun wieder los sein mochte, denn etwas Gutes hatte das ganz sicher nicht zu bedeuten. Jonny enterte gerade auf. Johnson und Scinders waren ebenfalls da, und ich folgte als letzter. Niemand fragte, wie es Burnell ging, er wurde mit keiner Silbe erwähnt, obwohl er ein Deck tiefer gedemütigt und voller Schmerzen wie ein verwundetes Tier in seiner Nische kauerte. Master Fleet hatte Karten vor sich ausgebreitet und sie auf den Decksplanken mit dem Jakobsstab und einem Zirkel beschwert. Jetzt wurden wir über den Kurs der Reise aufgeklärt, dachte ich, aber das geschah nur nebenbei. Etwas anderes war noch viel schlimmer, und ich wußte nicht, ob das jetzt bloße Schikane war, oder ob das wirklich mit dem Forschungsauftrag zusammenhing. „Meine Herren“, begann Master Fleet, „unser Kurs führt uns zu den Juan-Fernández-Inseln, die vor dreiundsechzig Jahren von dem Spanier Fernández entdeckt wurden. Wir laufen jene Insel an, die sich Más Afuera nennt. Von dort aus segeln wir an der südamerikanischen Küste entlang und durchqueren die sogenannte Estrecho de Magellanes. Meine Aufgabe ist es, die günstigsten Meeresströmungen festzustellen, die subtropischen Konvergenzen und Verwirbelungen auszunutzen und zu erkunden, und eine Route zu finden, die auf dem schnellstmöglichen Weg dorthin führt. Wir werden auch durch die Ausläufer der Westwind-Drift segeln. Ich habe vom Königlichen Ministerium für Geographische Meeresforschung außerdem den Auftrag festzustellen, wie hoch die Belastbarkeit einer Mannschaft ist. Es soll angenommen werden, daß wir uns infolge verlorengegangener Navigationsmittel in der Weite des Pazifiks verirrt haben. Wir sind also nur in der Lage, uns ostwärts zu orientieren, um das südamerikanische Festland zu finden. Aus diesem Grund laufen wir im weiteren Verlauf der Reise auch keine andere Insel an. Welche Konsequenzen hat das für uns alle, Mister Jonny?“ Jonnys Antwort kam blitzartig.
„Das heißt, Sir, daß wir uns stark einschränken müssen. Ich nehme an, daß die Rationen verkürzt werden. Ebenso wird das Trinkwasser rationiert.“ „Was nehmen Sie an, Mister Bonty?“ „Ich schließe mich dieser Überlegung an, Sir. Dabei gilt es in ganz besonderem Maße, die Disziplin aufrechtzuerhalten.“ „Sehr richtig“, sagte er zufrieden. „Das bedeutet ein hartes und rigoroses Durchgreifen bei dem Schiffsvolk, das sich gegen diese Maßnahme selbstverständlich auflehnen wird. Der Forschungsauftrag geht jedoch vor und hat primären Charakter. Um es späteren Mannschaften leichter zu machen, übernehmen wir diese Last. Es wird eine entbehrungsreiche Reise werden, zumal wir an verlockend aussehenden Inseln vorbeilaufen werden. Von meinen Offizieren erwarte ich bedingungslosen Gehorsam und einen absolut gefestigten Charakter. Von dem Schiffsvolk erwarte ich nicht viel, das wäre auch zuviel verlangt. Aber dafür sind Sie da, und Sie werden hart und erbarmungslos ohne Ansehen der Person durchgreifen. Es werden ohne viel Federlesens abschreckende Strafen verhängt. Ein Bordgericht wird nur in dem Fall zusammentreten, wo die Höchststrafe erforderlich wird. Ab morgen früh werden die Rationen halbiert. Es gibt außerdem für jeden Mann nur noch morgens, mittags und abends eine Kelle Trink wasser. Das große Faß an Deck wird streng bewacht, die anderen Räume und Vorratskammern werden verschlossen. Den Schlüssel verwahrt Mister Scinders. Mister Scinders, Sie werden meinen Befehl jetzt den Kerlen übermitteln. Über den Kurs hat nichts zu verlauten, teilen Sie lediglich mit, daß aufgrund besonderer Maßnahmen Verpflegung und Wasser rationiert werden. Sie können den Leuten lediglich noch erklären, daß es mit dem Forschungsauftrag zusammenhängt und wir herausfinden müssen, wie lange man es im Pazifik aushalten kann, ehe man wieder Festland erreicht. Falls jemand aufmuckt, melden Sie ihn sofort und unverzüglich.“ „Aye, aye, Sir.“ Jetzt, das fühlte ich überdeutlich, begann auf der „Scout“ die Hölle aufzubrechen. „Das wäre alles, meine Herren“, sagte der Master. „Gehen Sie jetzt wieder Ihrer Aufgabe nach.“ Als wir abenterten, ließ Scinders bereits die Männer antreten. Obwohl es ihm selbstverständlich auch Einschränkungen bescherte, schien er
sich diabolisch über die Mitteilung zu freuen. Fast grinsend verkündete er die frohe Botschaft. Diesmal blieb selbst dem Profos Big Bäng die Spucke weg. Auch der Decksälteste Mat Robertson sah so aus, als habe er sich verhört. Harte Gesichter starrten Scinders an, Augen funkelten böse, und aus dem Kreis der Decksleute trat ein bärtiger breitschultriger Mann hervor, der früher mal auf einem Walfänger gefahren war und der Nat Holden hieß. „Von dem ohnehin schlechten Fraß nur noch die Hälfte?“ fragte er drohend. „Dafür habe ich nicht gezeichnet, Mister Scinders. Das wurde mir vorher nicht gesagt. Ich bin schlechte Behandlung gewöhnt, aber ich fahre nicht auf einem Schiff, um zu hungern, wenn es rundherum alles in Hülle und Fülle gibt.“ Scinders sah den ehemaligen Walfänger lauernd an. Sein Grinsen wurde noch gemeiner und hinterhältiger. „Sprich dich ruhig aus“, sagte er, „das paßt dir wohl nicht, was!“ „Nein, das paßt mir auch nicht“, sagte Holden entschieden und sehr ruhig. „Ich bin nicht das Versuchsobjekt irgendwelcher obskurer Leute. Wer bezahlt mir meine Gesundheit, wenn ich nicht satt zu essen kriege?“ Ich wollte den Mann bremsen, wie ich es schon bei Slim Burnell versucht hatte, doch der Zweite warf mir nur einen drohenden Blick zu, und ich wußte, daß ich mich da raushalten mußte. Das war allein seine Angelegenheit, und er provozierte Holden noch weiter, um einen Grund zu finden, den Mann zu bestrafen. „Das heißt, du beugst dich dem Befehl des Masters nicht?“ erkundigte sich Scinders fast liebenswürdig. „Das habe ich damit nicht gesagt. Ich sehe nur keine zwingende Notwendigkeit für diesen Befehl. Halbe Rationen schwächen uns, und geschwächte Männer taugen nicht zur Arbeit auf einem Schiff. Darum geht es mir. Mister Scinders.“ „So, darum geht es dir also. Hat noch jemand die Befehle und Anordnungen des Masters zu diskutieren oder anzuzweifeln?“ Die Männer blickten schweigend zu Boden. Niemand sagte etwas. Ich dachte an die „Liberty“ zurück, an die Kriegsgaleone, auf der ähnliche Zustände geherrscht hatten wie hier. Bald würde es hier an Bord genau so schlimm werden, wenn nicht noch schlimmer. „Also nur Nat Holden“, sagte der Zweite. „Ein bißchen hitzig, was! Ich werde dafür sorgen, daß du abkühlst, mein Freund.“ Er drehte sich um und musterte den Profos.
„Mister Bang!” befahl er scharf. „Nehmen Sie diesen Mann augenblicklich fest!“ Der Profos, dem das alles auch nicht paßte, trat einen Schritt vor und legte Holden die Hand auf die Schulter. Der ließ es auch ruhig geschehen und setzte sich nicht zur Wehr. Ich sah, daß Master Fleet auf das Hauptdeck blickte, aber keinen Kommentar zur Lage gab. Er ließ den Zweiten gewähren, denn in dem Fall konnte er sich voll und ganz auf ihn verlassen. Außerdem hatte der Master die Anweisung gegeben, hart und rigoros durchzugreifen. Demnach stand also eine erneute Auspeitschung bevor. Aber da irrte ich mich, denn an Bord der „Scout“ hatten sie noch mehr auf Lager, und es wurde immer für Abwechslung gesorgt, damit keine Langeweile aufkam. „Mister Holden wird uns für einige Zeit die fehlende Galionsfigur ersetzen“, sagte Scinders zum Profos. „Sie, Mister Bang, und Sie, Mister Robertson, werden diesem Beachcomber Hände und Fülle fesseln und ihn am Bugsprit festbinden. Mit der Zeit wird sich sein Gemüt wieder abkühlen. Und wer von euch Kerlen noch einmal das Maul aufreißt“, fügte er zischend hinzu, „dein wird es verdammt noch dreckiger ergehen. Wer es noch einmal wagt, aufzumucken, der endet an der Großrah. Befehl ausführen!“ pfiff er die Männer an. Jonny und ich wechselten einen hilflosen Blick. Es hörte sich nicht schlimm an, was Scinders da an Bestrafung ausführen ließ, aber es war schlimm. Bei dem heißen Wetter tat eine Abkühlung ganz gut, wenn sie vielleicht nur eine Stunde gedauert hätte. Aber der Mann unter dem Bugspriet hatte wahrhaftig nichts zu lachen, denn wir segelten immer noch auf Steuerbordbug, und der Bugspriet tauchte ständig unter Wasser. Holden wehrte sich auch jetzt nicht. Er warf Scinders nur einen Blick zu, den ich nicht vergessen habe, und auch dem harten Zweiten mochte dieser Blick zu denken geben, drückte er doch alles an Verachtung aus, was ein Mann nur in seinen Blick legen konnte. Scinders mußte sich wie ein häßlicher kleiner Wurm vorkommen, aber ich glaube, das rührte den abgebrühten Kerl nicht im geringsten. Holden wurden die Hände gefesselt, dann die Fußgelenke. Danach wurde eine Leine um seinen Körper geschlungen und verknotet. Anschließend schleppten sie ihn wie ein verschnürtes Paket nach vorn zur Back und von dort aus auf die Plattform der Galion. Fleet sah immer noch ungerührt zu. Er wippte wieder. Seine grauen Augen waren kalt und fast feindselig, während sich seine fleischigen
Lippen wieder abwärts zogen, bis in seinen Mundwinkeln tiefe Falten standen. Was mochte er wohl denken? Das Gesicht des Ersten war verschlossen. Ihm war auch nicht anzusehen, was er dachte. Ganz sicher hätte er Holden auch bestrafen lassen, denn das war nach Meinung der Schiffsführung aufrührerisches Gerede. Scinders jedenfalls führte jeden Befehl des Masters konsequent und, ohne nachzudenken, sofort aus, während Johnson da wesentlich kritischer war, obwohl er natürlich auch gehorchte. Aber er wog wenigstens das Für und Wider ab, und er scheute sich auch nicht, dem Master zu widersprechen. Etwas später hing Nat Holden unter dem Bugspriet. Diese Art der Bestrafung schien an Bord der „Scout“ ebenfalls nicht ungewöhnlich zu sein, wie die Mienen der Männer ausdrückten. Offenbar war sie schon oft praktiziert worden. Holden tauchte bei der nächsten Welle halb unter. Sein Blick war starr auf das Wasser gerichtet, das immer wieder an ihm hochgischtete und ihn mit wirbelnden Armen umfloß. Aus seinem Bart troff das Wasser, und nach den ersten „Längsern“ die das Schiff machte, sah ich ihn heftig nach Luft ringen. Hin und wieder verschwand er für lange Augenblicke ganz unter Wasser. Ich will es gleich vorwegnehmen: Nat Holden überstand die höllische Prozedur zwar, aber er war danach an Leib und Seele gebrochen, denn Scinders ließ ihn barbarisch lange dort hängen. Selbstverständlich kriegte er während dieser Zeit nichts zu essen und zu trinken. Menschenverachtend war das, erbärmlich, wie der arme Kerl da durch die See geschleift wurde und fast ertrank. Sein Körper unterkühlte stark, und er tauchte in ewigem Rhythmus in die Sec, erhob sich wieder und tauchte erneut ein, schluckte Wasser und stand tausend Höllenqualen aus. * Am anderen Morgen trat die Order in Kraft. Alle Rationen wurden vorerst halbiert. Meiner Schätzung nach würden sie später noch einmal halbiert werden. Den Schlüssel zur Proviantlast und den anderen Stauräumen hatte Scinders. Wenn etwas gekocht wurde, mußten wir genau die Rationen
überwachen, und es durfte nur das aus der Last geholt werden, was unbedingt benötigt wurde. In der Kumme hatte sich der Schlag Hafergrütze, Erbsenbrei oder Graupen halbiert. Das Stück mahagonifarbenen Salzfleisches war ebenfalls um die Hälfte geschrumpft und nur noch fingerlang. Beim morgendlichen Frühstück durfte auch nicht mehr wie sonst Wasser getrunken werden. Das gab es erst später an Deck, und jeder mußte Aufstellung nehmen, einen Schritt vortreten, die Kelle ins Wasserfaß führen, sie vollschöpfen und austrinken. Dann war die Wasserkelle an den nächsten weiterzugeben, bis alle Mann durch waren. Danach wurde der Deckel auf das Faß gedreht und die Kelle unerreichbar hoch in die Webeleinen gehängt. Nochmals zwei Tage später, Nat Holden lag in dieser Zeit mit fiebrig geröteten Augen und halbirrem Blick im Batteriedeck und erholte sich nur schwer von der Pein, hockten die Leute schon wie die Tiere da und belauerten sich wegen der Portionen gegenseitig. Jeder neidete dem anderen jeden Bissen, und jeder sah zu, daß seine Wasserkelle auch ja immer voll war und kein Tropfen fehlte. Von nun an liefen die Leute auch ständig mit knurrendem Magen herum, waren übellaunig und kaum ansprechbar. Jonny und ich wurden bei der Mannschaft immer unbeliebter, weil wir eben „jene Kerle vom Achterdeck“ waren, auf die niemand mehr gut zu sprechen war. Dabei litten wir genau so unter den Maßnahmen wie die anderen auch, hatten ständig Hunger und ewig Durst, denn bei der Hitze waren die drei Kellen Wasser einfach zu wenig. „Seltsam“, sagte Jonny an jenem Tag zu mir, „dem Master sieht man die Entbehrungen kaum an, ihn berührt das gar nicht.“ „Das wundert mich auch“, gab ich zu. „Das braucht dich nicht zu wundern“, sagte er freundlich, „ich habe durch Zufall rausgefunden, daß Master God genau so weiterlebt wie bisher. Auf recht wundersame Weise gibt es bei ihm reichlich zu essen und zu trinken, von halben Rationen ist keine Rede. Das finde ich verdammt ungerecht. So kann er die Lage doch gar nicht objektiv beurteilen, denn er hat ja keinen Hunger.“ „Er ist ja auch Master God“, erwiderte ich. „Vielleicht muß er den Überblick behalten, und für ihn gelten andere Gesetze. Wie lange, schätzt du, brauchen wir noch bis zu den Fernández Inseln?“
Wir berührten das Thema Essen und Trinken des Masters nicht weiter, denn es führte ja doch zu nichts. Fleet durfte sich an Bord seines Schiffes jedes Recht herausnehmen. „Mindestens noch drei Wochen, wenn nicht länger. Aber drei Wochen sind wirklich das wenigste, ehe wir die Insel erreichen.“ „Drei Wochen“, sagte ich, und ich spürte, wie mir dabei ein kühler Schauer über den Rücken rann. „In der Zeit bin ich längst verhungert, Jonny.“ „An den Hunger gewöhnt man sich zwar nicht“, gab Kleine Hölle zu, „aber man lebt mit ihm, und einmal kommen auch wieder bessere Tage. Auf der Insel wird es ja sicher was geben, sonst würden wir sie nicht anlaufen.“ „Darauf hoffe ich auch. Ist dir über die Inseln etwas bekannt?“ „Keine Ahnung“, sagte Jonny. „Ich weiß nicht einmal, daß sie überhaupt existieren.“ Ziemlich niedergeschlagen begaben wir uns in die Kojen. Seit zwei Tagen hatte Master Fleet bei mir nichts mehr auszusetzen gehabt. Das wunderte mich eigentlich, aber sicher war das nur die Ruhe vor dem Sturm. Immer, wenn ich einschlief, träumte ich nun von riesigen Portionen Essen, mitunter auch von der „King Charles“, wo es immer genügend und reichlich Proviant gab. Ein paar Tage lang ging alles gut. Wir liefen gute Fahrt und wünschten uns nur noch mehr Wind, damit wir schneller die Inseln erreichten, von denen ich mir alles mögliche versprach. Vor meinem geistigen Auge erschienen mir die unbekannten Eilande wie das Paradies. Doch bis dahin war es noch ein weiter Weg. An Deck begegneten wir nur noch verschlossenen Gesichtern, Leuten. die ihre Arbeit mit dem allergrößten Widerwillen verrichteten, sie aber taten, weil sie Angst vor der Bestrafung hatten. Die Atmosphäre an Bord war geladen wie vor einem Gewitter, und über dem Schiff lag eine unheimliche Spannung. Jeden Augenblick mußte etwas passieren, so dachte jeder. „Land an Backbord voraus!“ erklang die Stimme des Ausgucks am späten Nachmittag. Land! Das trieb ausnahmslos alle Leute an das Schanzkleid auf der Backbordseite, und sie standen da wie hungrige Wölfe und starrten sich die Augen aus, in denen eine grenzenlose Gier lag. Wohl jeder dachte jetzt an Schildkrötenfleisch, an ein paar Wasservögel, an frische Früchte, Kokosnüsse und Obst.
Und jeder dachte natürlich daran, daß Master Fleet jetzt den Kurs ändern und auf das Land zuhalten würde, denn restlos aufgeklärt waren die Männer nicht. Sie ahnten nicht, daß wir keine einzige Insel anlaufen würden. Zuerst malte sich noch Hoffnung und Erleichterung in den Gesichtern, die mir jetzt schon irgendwie ausgemergelt erschienen. Dann, als die „Scout“ stur auf Kurs blieb, und die Silhouette der Insel auch an Deck zu erkennen war, wuchs die Bestürzung, und die Männer sahen sich untereinander verwirrt und erschrocken an. Fragende Blicke zum Achterdeck, Achselzucken von einigen, ungläubiges Staunen und Nichtbegreifen. Die ersten Gerüchte gingen um. „Klar laufen wir die Insel an“, sagte ein blonder schmaler Mann zuversichtlich. „Es ist nur wegen der Korallenbänke, wir werden noch ein Stück weitersegeln und dann den Kurs ändern.“ An diese Hoffnung klammerten sich auch die anderen. „Verdammt“, sagte Jonny leise neben mir, damit es kein anderer hören konnte. „Die Enttäuschung wird bei den armen Kerlen ja gleich verdammt groß sein, denn dort gibt es tatsächlich alles, was wir dringend brauchen.“ Die Insel trat deutlicher aus dem Dunst hervor, der wie dünne Watte über dem Wasser lag. Palmengruppen waren zu erkennen, ein langgezogener einsamer Strand mit einer endlos langen halbkreisförmigen Bucht. Zwei große Seevögel kreisten über den Palmenwipfeln. Die Entfernung betrug annähernd acht Meilen, aber die Seevögel waren dennoch klar und deutlich zu erkennen. Als die „Scout“ immer noch Kurs hielt und Master Fleet von der grünen Insel nicht die geringste Kenntnis nahm, ja, ihr nicht mal einen Blick schenkte, wurde der Ausguck ungeduldig. Vielleicht nahm er auch an, seine Worte waren ungehört beim Master verhallt. „Deck!“ brüllte er mit Stentorstimme. „Land an Backbord. Eine Insel, Sir!“ Um des Masters wulstige Lippen lag ein Ausdruck der Mißbilligung. Aber damit der Ausguck sich nicht die Kehle heiser schrie, hob er die rechte Hand, um damit anzudeuten, daß er verstanden hatte. „Land!“ brüllten jetzt auch einige an Deck, und es sah so aus, als drängten sie gewaltsam zum Land hin und wollten vor lauter Freude schon über Stag jumpen.
„Geht an eure Arbeit“, brüllte Scinders. „Oder habt ihr noch nie Land gesehen! Geht augenblicklich an eure Arbeit, oder ich lasse den Profos mit der Neunschwänzigen für Ruhe sorgen.“ Einer wagte trotzdem bescheiden einen Vorstoß. „Verzeihung, Mister Scinders“, sagte er unterwürfig, „laufen wir die Insel nicht an, wenn die Frage gestattet ist?“ Scinders drehte sich grinsend zu dem Sprecher um, einem älteren Mann mit dunklen Haaren und grauen Streifen darin. „Weshalb sollten wir das tun, Mister Hyram?” Die Frage verwirrte den Mann offensichtlich. Er griff sich an den Kopf, lächelte dann verlegen und sagte: „Es war nur eine Frage, Sir. Ganz sicher gibt es dort frisches Wasser und Früchte.“ „Ganz sicher“, bestätigte der Zweite zynisch. „Aber noch verhungern Sie ja nicht, Mister Hyram, und daher besteht auch kein Grund, die Insel anzulaufen.“ Wieder war Haß in den Augen der Männer zu lesen, abgrundtiefer Haß auf Scinders, auf Johnson, den Master, auf uns. Die Gesichter wurden grau und leer, als keine Kursänderung erfolgte. Die Enttäuschung lastete wie ein schmutziges Laken über den Köpfen. „Verflucht seien Schiff und Master“, vernahm ich eine Stimme, aber ich drehte mich nach dem Sprecher gar nicht erst um, weil Scinders es nicht gehört hatte und ich nicht wollte, daß es erneut Bestrafungen für emotionelle Ausbrüche gab. Keiner verstand das, daß wir an diesem herrlichen Fleckchen Erde einfach vorbeisegelten als wäre es nicht vorhanden. Als die Insel auf Backbord langsam aus unserem Gesichtsfeld auswanderte und schließlich, immer kleiner werdend, wieder im leichten Dunst verschwand, herrschte fast Trauer an Bord. Dafür drängten sich die Männer wieder am Wasserfaß. Auch Jonny und ich erhielten genau die gleichen Rationen wie die anderen. Es gab keine Bevorzugungen. Jetzt, nach etlichen vielen Tagen auf See, schmeckte die Brühe lauwarm, abgestanden und fade. Man konnte einen Ekel davon kriegen, sobald man die Kelle auch nur an den Mund führte, und noch einige Tage später mußte man sich schon die Nase zuhalten, denn das Wasser roch faulig und ekelerregend. Nach knapp drei Wochen, seit wir Vavitu verlassen hatten, spitzten sich die Dinge wieder einmal zu. Die Unzufriedenheit wuchs, der Haß auf
alles, was Uniform trug, steigerte sich, der Hunger fraß in den Männern, und das Wasser war fast ungenießbar. Da passierte die Sache mit Onan Scinders. Scinders inspizierte die Proviantlast und teilte dem Koch die knapp bemessenen Portionen zu. Fast jedesmal versuchte er dem Koch noch etwas abzuzwacken, doch der rechnete ihm immer wieder genau vor, was er für soundsoviel Mäuler benötigte. So auch an jenem Tag. Es war ausgerechnet Nat Holden, der das entdeckte, was nie aufzuklären war, und der allen Grund hatte, dem verhaßten Scinders eins auszuwischen. Scinders war in der Proviantlast verschwunden, doch der bärtige Nat schlich ihm hinterher, und gleich darauf erscholl lautes Gebrüll aus dem Raum. Ein Wutschrei war zu hören, und der ohnehin an Leib und Seele gebrochene Holden flog nach einem Faustschlag des Zweiten auf die Planken. Er blutete leicht aus der Nase, kam wieder auf die Beine und hob abwehrend die Hände hoch. Für Scinders, der darin einen Angriff sah. war das Grund genug, erneut vorzustürmen und dem Bärtigen ein zweites Mal die Faust ins Gesicht zu setzen. Als Holden strauchelte, erhielt er von Scinders einen Fußtritt, und da schaltete sich Fleet ein. Mit böse verkniffenem Gesicht, denn er duldete an Bord seines Schiffes keine Schlägereien, watschelte er über das Hauptdeck und griff nach Scinders, der Holden gerade wieder eins verpassen wollte. Fleet wirkte ansonsten behäbig und etwas träge, und man traute ihm auf den ersten Blick auch nicht sonderlich viel Kraft zu. Er konnte aber zupacken wie ein Grizzlybär, und er hatte einen Griff, den man schon knochenbrechend nennen konnte. Scinders, selbst ein überaus harter und gefährlicher Mann, zuckte unter dem Griff zusammen, was bewies, wie schmerzhaft er war. „Was geht hier vor?“ schrie Fleet mit Donnerstimme. „Ich dulde es nicht, Mister Scinders, daß Sie sich in meiner Anwesenheit an den Männern vergreifen. Sie haben zu bestrafen, aber nicht persönlich zu schlagen. Was ist passiert? Ich möchte beide Seiten hören. Und Sie wischen sich gefälligst das Blut aus dem Gesicht“, herrschte er Holden an. Holden schniefte und benutzte seinen Handrücken, um sich das Blut aus dem Gesicht zu wischen, doch damit verschmierte er es nur noch mehr und sah noch schlimmer aus. „Ich ... ich kontrollierte die Proviantlast, Sir“, sagte Scinders. „Da griff Holden nach den Vorräten, genauer gesagt nach einem Stück Speck,
und ich entriß es ihm wieder. Es tut mir leid, aber ich habe ganz spontan zugeschlagen, als er mich dann angriff.“ Holden verzog abfällig das verschmierte Gesicht und lächelte bitter. „Jetzt will ich Ihre Darstellung hören“, fuhr der Master ihn an. „Sir“, sagte Holden verbittert, „ich bin einmal wegen aufsässiger Worte hart bestraft worden, und nun steht das Wort eines Offiziers gegen das meine. Ich gebe lieber vorher auf, denn ich habe keine Aussichten mich zu rechtfertigen. Mir würde niemand glauben.“ Fleets Lippen wurden noch wulstiger. Er senkte den Kopf etwas und blickte Holden von unten herauf interessiert an. Gleich darauf warf er einen Blick auf Scinders, der wie unbeteiligt daneben stand. „Trotzdem will ich Ihre Version hören. Aber bleiben Sie bei der Wahrheit, Mann!“ Holden blickte unschlüssig auf die Planken, dann hob er den Blick und warf dem Master einen furchtsamen Blick zu. „Es war so, wie Mister Scinders es gesagt hat”, murmelte er. Fleet, der ein guter Menschenkenner war, gab sich mit der Antwort jedoch nicht zufrieden. Er wußte, daß Holden Angst hatte, aber er wollte die Wahrheit herausfinden, und daher ließ er nicht locker. „Ich fordere Sie zum letzten Mal auf, Ihre Version zu erzählen“, sagte er hart und unnachgiebig. „Aye, aye, Sir.“ Holden hielt den Kopf gesenkt, als schämte er sich. Dabei war ich mir ganz sicher, daß er dazu keinen Grund hatte. Vermutlich hätte eher Scinders sich schämen müssen, doch in seiner selbstgerechten und selbstherrlichen Art leistete er sich dieses Gefühl als Offizier erst gar nicht. „Ich sah in die Proviantlast“, erzählte Holden stockend, „und bemerkte, daß Mister Scinders gerade etwas einstecken wollte. Ich glaube, es war ein Stück von der luftgetrockneten Wurst. Er wollte sie gerade unter die Uniformjacke schieben, als er sich umdrehte und mich sah. Er legte die Wurst wieder zurück, und als er meinen Blick bemerkte, schlug er augenblicklich zu. Das ist alles, Sir.“ „Gibt es dafür noch weitere Zeugen?“ fragte der Master. „Nein, Sir. Ich hielt mich nur zufällig in der Nähe der Last auf und warf einen Blick hinein. Sonst war niemand da.“ „Mister Scinders“, rief der Master. „Holden hat Sie also angegriffen, bleiben Sie bei dieser Version, auch daß er ein Stück Speck an sich nehmen wollte?“
„Ja, Sir, es entspricht der Wahrheit. Dieser Mann hat sich schon einmal über das magere Essen beschwert, und so suchte er vermutlich nach einer Gelegenheit, um das nachzuholen ...“ „Ich finde es seltsam“, unterbrach ihn Fleet, „daß er einfach die Frechheit in Ihrer Anwesenheit zu stehlen. Er mußte sich über die Konsequenzen doch im klaren sein.“ „Das wunderte mich auch, Sir“, sagte Scinders. „Ich empfand das als eine unglaubliche Frechheit und Dreistigkeit, und nur deshalb ist mir die Hand ausgerutscht.“ Scinders war so aalglatt, daß der Master ihn nicht fassen konnte. Holden stand mit einem Gesichtsausdruck daneben, der deutlich sagte, daß er niemals recht kriegen würde, und der deshalb diesen verbitterten Zug um den Mund hatte. Master Fleet ließ sich daraufhin den Speck und auch die luftgetrocknete Wurst zeigen. Das Speckstück war zu groß, als daß man es mit einem schnellen Griff packen konnte, die Wurst konnte man jedoch ohne weiteres schnell verbergen. Noch einmal befragte er beide Männer eindringlich, doch beide blieben bei ihrer Aussage, und so stand das Wort des Decksmannes gegen das des Zweiten Offiziers. Scinders bot dem Master sogar sein Ehrenwort als Offizier an und verlangte eine Bestrafung des Mannes. Aber offensichtlich war sich der Master diesmal selbst nicht schlüssig, und so zeigte er sich von einer fast gerechten Seite. „Der Vorfall ist nicht zufriedenstellend geklärt worden“, sagte er schlecht. gelaunt. „Und es gibt auch keine Zeugen. Ihnen, Mister Holden, verbiete ich in Zukunft, sich auch nur in der Nähe der Proviantlast aufzuhalten, und Ihnen, Mister Scinders, verbiete ich hiermit ausdrücklich, in meiner Anwesenheit die Decksleute zu schlagen. Ein Offizier sollte sich nicht dazu herablassen, die Hand gegen das Schiffsvolk zu erheben. Sie sind die Exekutive, aber Sie führen Ihre Bestrafungen über den Profos aus, der dafür zuständig ist, und nicht mit eigener Hand.“ „Aye, aye, Sir. Offenbar gilt hier an Bord des Schiffes das Ehrenwort eines Offiziers nicht mehr. Wenn Sie diesem renitenten Kerl mehr glauben, dann kann ich Sie nicht daran hindern. Ich bitte um Verzeihung, Sir.“ Den Alten traf und verdroß diese Bemerkung, das war ihm deutlich anzusehen, aber er wußte offenbar keine Antwort darauf, und so
streifte sein grimmiger Blick noch einmal den Decksmann Holden, der mit gesenktem Kopf dastand und sich nicht rührte. Die Wahrheit würde nie herauskommen, dachte ich, aber ich hätte meinen Kopf verwettet, daß Holdens Version stimmte und Scinders nur schnell den Spieß umdrehte, um seine Ehre wieder herzustellen. „Waschen Sie sich jetzt endlich, Mister Holden“, schrie Master Fleet, „und stehen Sie nicht herum, als ob Sie nichts zu tun hätten.“ „Aye, aye, Sir“, klang es wie ein Hauch. Das hob natürlich Fleets Laune wieder mal ganz beträchtlich, und so watschelte er wütend auf seinen großen Plattfüßen wieder zum Achterdeck zurück und nahm sein Wippen auf, wobei sein Blick düster und drohend auf die Segel gerichtet war, seine Lippen trotzig aufgeworfen und sein Bauch herausfordernd vorgereckt war. Daß er diesmal die Wahrheit nicht herausgefunden hatte, ging ihm gegen den Strich, ärgerte ihn und ließ ihn boshaft reagieren. Auch als der Erste etwas zu ihm sagte, winkte er barsch ab, als wollte er heute überhaupt nichts mehr hören. Auch Scinders schenkte er keinen einzigen Blick, und der Zweite mied die Nähe des Masters, als sei auf dem Achterdeck plötzlich die Pest ausgebrochen. Den nächsten Ärger gab es nur zwei Tage später, als die Sache mit Holden und Scinders längst vergessen war, denn im Vordergrund standen der Hunger und der Durst, und so wurde alles andere sehr schnell zweitrangig. Wieder wurde Land gesichtet, der Ausguck schrie sich die Kehle heiser, und nach Meinung der Leute gab es keinen vernünftigen Grund mehr, das faulige Wasser zu trinken. Man konnte doch die Insel anlaufen und nach einer Quelle suchen. Master Fleet kümmerte sich auch diesmal nicht um den Ruf aus dem Großmars und blieb auf Kurs. Nur sein übliches Verstanden zeigte er mit dem dicken Daumen seiner rechten Hand an, damit das Geschrei aus dem Großmars endlich aufhörte. Wie vor einigen Tagen schon wurde auch diese Insel, deren Namen wir nicht kannten, langsam größer und schob sich wiederum an Backbord klar und deutlich hervor. Da näherte sich Melrose, der Geschützführer der Drehbassen, dem Achterdeck und fragte mich, ob es gestattet sei, ein paar Worte an den Master zu richten. „Sir“, meldete ich vorschriftsmäßig, „Mister Mel- rose läßt anfragen, ob er ein paar Worte an Sie richten darf.“
Fleet blickte ungnädig zurück und stellte sich an die Balustrade. Hinter Melrose waren noch der Zimmermann Cameron und drei andere Männer zu sehen. Die Gesichter waren ernst und verschlossen. Sie kamen vermutlich, um sich zu beschweren oder etwas zu verlangen. Was das war, konnte sich der Master an den Fingern einer Hand abzählen, doch er tat so, als wüßte er überhaupt nichts. „Was wollen Sie wissen?“ herrschte er Melrose in einem Ton an, der ihn offenbar einschüchtern sollte. „Verzeihen Sie, Sir“, sagte Melrose verlegen. „Wir haben eine Abordnung gebildet, wir haben abgestimmt, wen ...“ „Abgestimmt?” unterbrach Fleet zynisch und langgezogen. „Sie haben abgestimmt? Auf meinem Schiff wird nicht abgestimmt, hier befehle ich. Worüber haben Sie abgestimmt?“ „Die Mannschaft ist unruhig, Sir“, sagte Melrose ruhig, aber mit angespanntem Gesicht. „Deshalb haben wir abgestimmt, um einen Mann zu wählen, der Ihnen, Sir, unsere Besorgnis vorträgt.“ Der Master kniff die Augen zu, sein Gesicht versteinte, es wurde eine undurchdringliche Maske, in der nur die Augen lebten. „Ich höre“, sagte er leise. Für Melrose war diese Situation nicht angenehm, ich sah es daran, wie er sich wand, wie es in seinem Gesicht zuckte, und ich nahm an, er hätte alles am liebsten rückgängig gemacht, denn Master Fleet legte solche Worte leicht als Ansatz zur Meuterei aus, zumindest aber als Aufwiegelung. „Wir bitten um Auskunft, Sir, weshalb wir keine der gesichteten Inseln anlaufen. Wir leben von – Verzeihung, Sir – sehr mageren Rationen und fauligem Wasser. Es ist ein Wunder, daß noch niemand ernsthaft erkrankt ist. Deshalb sind wir beunruhigt, denn es wäre doch ein leichtes, irgendwo die Wasserfässer aufzufüllen. Die meisten dieser Inseln haben kleine Süßwasserquellen.“ „Wollen Sie sich erdreisten, mich zu belehren?“ schrie der Master die Abordnung aus fünf Männern an. „Nein, Sir“, sagte Melrose schnell. „Wir sehen nur keinen Grund für gekürzte Rationen und schlechtes Wasser. Wir leben in menschenunwürdigen Verhältnissen.“ Fleet, der sein Wippen mit nach auswärts gerichteten Füßen wieder aufgenommen hatte, hörte abrupt damit auf und ließ die Worte in sich nachklingen. Dann stieß er ein kurzes hartes Lachen aus.
„An Bord meines Schiffes wird nicht hinter meinem Rücken abgestimmt”, sagte er kalt. „Und hier werden auch keine Abordnungen gebildet, die mit dummen Fragen daherkommen. Ich habe meine Gründe dafür, und das hat Ihnen zu genügen.“ Melrose war mit dieser Antwort jedoch nicht zufrieden. Sein Gesicht nahm eine rötliche Färbung an, und er atmete schneller. Er als der Sprecher der Abordnung wollte wahrscheinlich auch sein Gesicht nicht verlieren, denn die Crew stand geschlossen hinter ihm. „Das ist nicht die Antwort, die wir uns erhofft haben, Sir“, sagte Melrose in unerschütterlicher Ruhe. „Sie vergeben sich bestimmt nichts, wenn Sie uns die Gründe nennen.“ Das waren harte Worte für den Master. Auf dessen Gesicht verstärkte sich nun das zynische Lächeln, und er musterte die fünf Männer geringschätzig, die es wagt, ein paar Fragen zu stellen. Fleet war jedoch nicht bereit, diese Fragen zu beantworten, das sah ich schon an seinem Gesichtsausdruck. Mit der rechten Hand machte er eine herrische scheuchende Bewegung, die nichts anderes hieß, die Kerle hätten sich jetzt unverzüglich hinwegzubegeben. „Ich vergebe mir auch nichts“, sagte er kalt, „wenn ich Sie zwei Tage ins Want hängen lasse, damit Ihr Verstand wieder klar arbeitet und Sie wissen, wer Sie sind und was Sie hier an Bord zu verlangen haben. Nämlich gar nichts.“ Als seien die Männer nicht mehr vorhanden, wandte er sich an Scinders. Uns streifte sein Blick nur kurz, worüber Jonny und ich heilfroh waren. Ich wollte nicht dauernd dazu ausersehen sein, Bestrafungen durchzuführen. Wo sie angebracht waren, da schon, aber hier waren sie nicht angebracht, denn eine klare Antwort hätte die üble Atmosphäre an Bord sehr schnell bereinigt. Der Master hätte das mit dem Forschungsauftrag erwähnen sollen, die Gründe nennen, und alles wäre in Ordnung gewesen. Diese Seite an ihm begriff ich nicht, aber ich begriff noch viel mehr an ihm nicht, und ich war mit seinen Handlungen durchaus nicht immer einverstanden. „Mister Scinders! Lassen Sie Mister Melrose wegen Aufsässigkeit und provozierender Fragen zwei Tage und zwei Nächte lang ins Großwant auf der Luvseite binden. Keine Verpflegung, kein Wasser.“ „Aye, aye, Sir“, rief Scinders.
„Sir, es war doch nur eine Frage“, sagte der Zimmermann mit erhobenem Kopf zum Achterdeck hinauf. „Melrose war zum Sprecher ernannt worden, um ...“ „Mister Cameron erhält zehn Hiebe wegen Aufbegehrens“, sagte Fleet zu Scinders, ohne den Mann ausreden zu lassen. „Die Strafe ist sofort auszuführen. Mister Bonty, Sie werden das wie üblich zu Protokoll nehmen und mir zur Abzeichnung vorlegen.“ „Aye, aye, Sir“, sagte ich leise. Die Abordnung wartete auf dem Hauptdeck mit gesenkten Köpfen, als Scinders abenterte. Dieses ewige Bestrafen war demütigend, noch dazu unter diesen einschränkenden Umständen. Das empfand wohl auch der Erste so, denn er sah Fleet eine Weile von der Seite her an. Dann rang er sich zu einem Entschluß durch. „Das gibt böses Blut, Master“, meinte er, „ich will Sie keinesfalls belehren, aber die Veranlassung für eine Bestrafung ist meiner Ansicht nach zu gering. Das soll auch keine Kritik sein, Sir. Wir sollten nur gemeinsam einen besseren Weg finden, damit es hier nicht zu Ausschreitungen kommt. Ein klärendes Wort an die Leute hätte die Lage längst entspannt.“ „Vielen Dank für Ihre ergreifenden Worte, Mister Johnson“, sagte Fleet fast liebenswürdig. „Auf der nächsten Reise werde ich Sie als Bordgeistlicher in die Musterrolle nehmen. Und was die Gemeinsamkeit betrifft, auf die verzichte ich, denn ich habe meinen Weg immer allein gefunden und auch meine Entscheidungen selbst getroffen. Bisher waren sie immer richtig“, schloß er selbstherrlich. Johnson, der sich in seiner Eigenschaft als Erster schon einen anderen Ton erlauben konnte, schwieg daraufhin, denn eine Diskussion mit dem Master brachte nichts weiter ein als zynische Bemerkungen. Und einen Eintrag ins Logbuch selbstverständlich. Fleet war nämlich beim Königlichen Ministerium für Geographische Meeresforschung ein angesehener Mann, den man zwar als selbstherrlich und hart einstufte, der seine Aufgaben aber immer gewissenhaft und mit geradezu peinlicher Akribie erfüllte. Einige seiner Aufzeichnungen hatte ich einmal heimlich gelesen, auch die Belobigungsschreiben, die er erhalten hatte. Ein paar seiner Erkundungen kannte ich auswendig, und ich will sie hier nur kurz wiedergeben, denn es waren keine Theorien, sondern Erfahrungswerte, nackte Tatsachen also.
Da stand zum Beispiel aus früheren Forschungsberichten in den zahlreichen Protokollen über die physikalische Geographie des Meeres: Der Agulhastrom, der in südöstlicher Richtung in den Südpazifischen und den Indischen Ozean fließt, ist etwa 1400 sm breit, cirka so breit, wie der Golfstrom des Atlantik lang ist. Die Winde haben kaum Einfluß auf die größten Meeresströmungen. Der Golfstrom, ebenso wie der pazifische Kuro-Schio fließen größtenteils dem Wind genau entgegen. Die südöstlichen Passatwinde sind stärker als die nordöstlichen, weil es auf der südlichen Erdhalbkugel, wo sie vorherrschen, kälter ist als auf der nördlichen. Alle Passatwinde wehen in ihrem hemispherischen Winter heftiger als im Sommer. Die Tiden des Atlantischen Ozeans sind höher als die des Pazifischen, deshalb sind auch die Gezeitenströme in manchen Gebieten heftiger. Master Fleet hatte auch herausgefunden, wie man die Winde am besten ausnutzt und wie man in Meeresströmungen segelt, um schneller das Ziel zu erreichen. Das alles hatte ihm Lob und Anerkennung gebracht, und jetzt war er mit eiserner Hand dabei, die subtropischen Konvergenzen zu erforschen, ohne Rücksicht auf Verluste, und wie man mit den einfachsten Mitteln hungernd und durstend den Pazifik durchquerte. So eine Forschungsreise war also kein Zuckerlecken, sondern ein recht harter und entbehrungsreicher Törn. Da mußten pausenlos Daten gesammelt und Erfahrungen berücksichtigt werden, da gab es immer wieder überraschende Neuigkeiten, wenn zum Beispiel plötzlich scheinbar ohne jeden Grund die Segel ins Gai gehängt wurden und die „Scout“ tage- oder wochenlang in der See trieb. Die meisten konnten sich an diesem Kleinkram nicht erwärmen, die Pedanterie ging ihnen auf die Nerven, und das mit den gekürzten Rationen sah keiner so recht ein. Das war auf die Willkür des Alten zurückzuführen, hieß es, der sich einen Spaß daraus machte, das Schiffsvolk bis aufs Blut zu peinigen. Das tat Master God allerdings auch mit einer gewissen Boshaftigkeit, die ihm keiner abstreiten konnte. Und er wachte eifersüchtig darüber, daß niemand von dem Schiffsvolk erfuhr, was er beabsichtigte. Deshalb flossen die Informationen so spärlich. Man hatte ihm zu gehorchen – basta! Wer sich nicht fügte, wurde gnadenlos in Grund und Boden geprügelt. Aber zurück zum Bordgeschehen:
Melrose ließ sich widerstandslos an die Luvwanten des Großmastes binden, ohne aufzumucken oder sonst etwas zu sagen. Nur sein Blick war fast verständnislos, und er schüttelte immer wieder den Kopf, als könne er das alles nicht begreifen. Etwas später hing er da in ein paar Yard Höhe. Der Wind blies ihm pausenlos ins Gesicht, und vom Achterdeck sah es so aus, als hätte man ihn gekreuzigt, aber kein klagender Ton kam über seine Lippen. Der Zimmermann muckte allerdings auch nicht, als der Profos ihn an die Gräting band, er sagte nur laut und deutlich vernehmbar ein paar Worte: „Es ist eine große Ungerechtigkeit auf dieser Welt, und sie wird eines Tages auch den angeblich Gerechten widerfahren, die glauben sich über alles hinwegsetzen zu können.“ Master Fleet hörte mit schiefgeneigtem Kopf zu. Dann, als die Neunschwänzige auf den Rücken des Zimmermanns klatschte und ihm die Haut aufriß, –drehte er sich um und nahm seine Wanderung über das Achterdeck wieder auf. Der bewußtlose Zimmermann wurde losgebunden und von zwei Männern ins Geschützdeck gebracht. Johnson sah ihnen mit steinernem Gesichtsausdruck nach. „Viel mehr Ausfälle können wir uns nicht mehr leisten“, sagte er verbissen, „dann sind wir kaum noch seetüchtig.“ „Sagten Sie etwas, Mister Johnson?“ fragte der Master. „Es waren nur laut geäußerte Gedanken, Sir.“ „Man sollte Gedanken nicht laut werden lassen, deshalb sind es auch Gedanken und keine formulierten Worte.“ Der Erste verzichtete wiederum auf eine Antwort und gab dem Rudergänger neue Anweisungen, der ein klein wenig vom Kurs abgekommen war oder nicht so am Wind lief, wie es der Erste wollte. Ich selbst holte wieder die Kladde und protokollierte gewissenhaft die Vorgänge auf dem Schiff, die Fleet dann mit mürrischem Gesicht abzeichnete. Anschließend ging er in seine Kammer und ließ sich etliche Stunden lang nicht mehr blicken. * Zwei Tage später wurde Melrose aus dem Want gebunden. Seine Hand- und Fußgelenke waren durchgescheuert, die Haut war blutig und von den vom Salzwasser durchnäßten Stricken aufgerissen.
Als sie ihn losbanden, sank er kraftlos mit verdrehten Augen auf den Planken zusammen, ähnlich wie Holden, der allerdings noch mehr hatte erdulden müssen. Auf Befehl des Masters erhielt er zwei Muck voll Wasser, die man ihm langsam einflößte. Danach erholte er sich zwar erstaunlich schnell, war aber erst zwei Tage später wieder einsatzfähig, wie der Zimmermann, der kaum laufen konnte und der sich ständig die linke Seite hielt. Weitere vier Tage vergingen in Eintönigkeit, die nur dadurch unterbrochen wurde, daß es einmal während dieser Zeit für einen Tag die volle Verpflegung gab. Unmerklich begann der Wind zu drehen. Der Nordost wanderte auf Nordnordost, die Segel wurden nachgetrimmt, und die „Scout“ bewegte sich etwas schwerfälliger durch die See. Wir segelten ständig unter dem Wendekreis des Steinbocks mit Ostkurs dahin. Nochmals einen Tag später tauchte weit achteraus an der Kimm ein winziger Strich auf, der unserem Ostkurs folgte. Es dauerte lange, ehe man den Strich als Galeone unbekannter Herkunft identifizierte. Sie lief etwas schneller als wir, aber es dauerte noch einmal einen Tag und eine Nacht, bis sie deutlicher zu erkennen war. „Ein Portugiese“, sagte Johnson, als er das Spektiv absetzte und sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen rieb. „Eine portugiesische Galeone von geschätzten hundert tons, wenn sie überhaupt soviel hat.“ Auch der Master blickte durch das Spektiv und nickte dann. Er ließ das Geschützdeck nicht aufklaren, denn es war offensichtlich, daß dieser Winzling von uns nichts wollte. Er hatte nur zwei kleine Kanonen an jeder Seite, und damit konnte er uns nicht einmal kitzeln. Zudem hatte er genug damit zu tun, gegen die See anzuknüppeln, denn der Wind begann weiter und weiter zu drehen. „Morgen steht der Wind voraus“, prophezeite Fleet. „Dann werden wir aufkreuzen müssen.“ Er nahm das Besteck, begann zu rechnen, holte die Karten und ging auch wieder in seine Kammer, wo er pausenlos mit navigatorischen Berechnungen beschäftigt war. „Was mag er wohl ausrechnen?“ fragte Jonny. „Den Kurs zu den Fernández-Inseln natürlich“, sagte ich. „Was wohl sonst? Die liegen doch irgendwo mitten im Pazifik, und wenn wir uns nur um einen Strich irren, laufen wir meilenweit daran vorbei.“ In den letzten Tagen waren wir vom Master kaum behelligt worden, er kümmerte sich kaum um uns, und das Bestrafen hatte er ausschließlich Scinders überlassen. Natürlich versahen wir unseren Dienst nach wie
vor so pingelig wie möglich und stellten das Schiff fast auf den Kopf, um nicht wieder durch Schludrigkeit, wie es der Master formulierte, aufzufallen. An jenem Tag aber tat Fleet sehr geheimnisvoll. Er verließ ein paar Mal das Achterdeck, ging an den Decksleuten vorbei und verschwand nach einer Weile in der Segellast. Was er dort tat, entzog sich unserer Kenntnis, denn das Schott fiel hinter ihm zu. Erst nach einer Stunde kam er wieder hervor. „Wenn er da was gesucht hatte“, raunte Jonny, „dann hat er nichts gefunden. Die Last ist so gut klariert wie sein Salon, darauf habe ich ganz besonders geachtet.“ Fleet erschien wieder auf dem Achterdeck, und ich erwartete jetzt ein Donnerwetter. Aber es blieb aus. Er wippte diesmal auch nicht, sondern bemerkte lediglich, daß es jetzt bald viel Arbeit geben würde, denn schon in ein paar Stunden müßten wir kreuzen, um gegen den Wind anzuknüppeln. Was das hieß, war uns natürlich klar. Segel nachtrimmen, von morgens bis abends, die Nacht durch, und dann wieder von vorn beginnen. Aber so war es eben nun mal, man lief nicht immer platt vorm Laken mit Bagstagbrise, so leicht machte es einem Aol, der Gott der Winde nicht, und auch Rasmus trieb gern sein Spiel mit uns, damit wir uns seinem Willen beugten. Die uns achteraus folgende portugiesische Galeone war noch weiter aufgesegelt. Sie befand sich noch etwa knapp drei oder vier Meilen von uns entfernt und war gut zu erkennen. Fleet rechnete und rechnete, um die Galeone kümmerte er sich nicht, und wenn wir uns fragende Blicke zuwarfen, so konnte sie nicht einmal Mister Johnson beantworten, ganz abgesehen von Scinders, der genauso ratlos war. Wir standen auf dem Hauptdeck, als Master Fleet wieder einmal an jenem Tag das Achterdeck verließ. „Holen Sie den Zimmermann Mister Cameron“, sagte Fleet zu mir. Ich holte Cameron aus dem Batteriedeck nach oben, wo er mit unbeteiligtem Gesicht dann dem Master gegenüberstand. Ob er nach den zehn Hieben Haß auf den Master empfand? überlegte ich. Ihm war jedenfalls nichts anzumerken, er sprach auch kaum, doch in seinem Innern gärte es, da war ich ganz sicher. „Bringen Sie Ihr Werkzeug an Deck, Mister Cameron, und holen Sie aus dem Stauraum Kantholz“, sagte der Master.
Der Zimmermann holte seine Arbeitskiste, die mit Sägen, Zangen, Drillbohrern und Hämmern ausgerüstet war. Er brachte auch gleich zwei lange Kanthölzer mit, die zum Abpallen des Schiffes benötigt wurden, wenn es auf der Werft lag oder von Muschelbewuchs gereinigt werden sollte. „Das reicht nicht“, sagte Fleet. „Holen Sie noch mehr. Nehmen Sie sich einen Mann zu Hilfe. Bestimmen Sie einen, Mister Bonty.“ Ich zeigte auf Malaga-Jo, der zusammen mit Cameron erneut verschwand, um aus dem Stauraum Kantholz zu holen. Bald darauf lag eine ganze Menge Holz auf dem Hauptdeck. Weder der Zimmermann noch Jonny oder ich hatten die geringste Ahnung, was der Master jetzt wollte. Scinders sah ebenso ratlos auf den Berg Holz, und ein paar Deckhands blickten sich heimlich grinsend an. Fleet benahm sich jetzt höchst merkwürdig, als sei er Decksarbeiter, denn er kniete sich auf die Planken und begann das Holz genau mit einem Bandmaß abzumessen. Dann markierte er die gekennzeichnete Stelle und stand wieder auf. „Da genau sägen Sie es ab!“ sagte er. Der Zimmermann ging an die Arbeit und begann zu sägen. Er tat es vorsichtig und steif, weil die Wunden auf seinem Kreuz immer noch nicht ganz abgeheilt waren. Er sägte nicht aus dem Schultergelenk heraus, sondern bewegte dabei den ganzen Körper. Inzwischen maß Fleet das zweite Stück Holz ab. Niemand wagte, eine Frage zu stellen. Damit waren wir schon einmal angeeckt und der Unwissenheit bezichtigt worden. Das war passiert, als Master Fleet trotz eines kräftig und günstig wehenden Windes plötzlich befohlen hatte, alle Segel aufzutuchen. Keiner von uns hatte damals den Sinn dieser Anordnung begriffen. Das zweite Kantholz wurde zersägt, dann das dritte und vierte. Fleet maß erneut nach, dann nickte er. „So muß es stimmen“, hörten wir ihn murmeln. Er bot wahrhaftig einen seltsamen Anblick, wie er in seiner Uniform auf den Planken hockte oder kniete, das Holz vermaß, einen roten Schädel hatte und immer wieder nickte. „Fassen Sie mal mit an, die Hölzer zu einem Rechteck zusammenzulegen“, sagte er dann. Wir griffen zu und legten die Hölzer nach seinem Wunsch zusammen. Sie bildeten ein riesiges Rechteck. Fleet ging darum herum und nickte wieder, während wir uns verständnislos anblickten.
„.Jetzt schneiden Sie die Hölzer achtmal auf rechtwinkelige Gehrung“, sagte Fleet zum Zimmermann. „Aber ganz exakt und genau.“ „Aye, aye, Sir.“ Wieder wurde gesägt, geschnitten und nachgefeilt. Von nun an gab der Master pausenlos Anweisungen, und das seltsame Gebilde wurde immer größer und begann zu wachsen. Jonny kratzte sich ein paarmal am Schädel, verzog das Gesicht und rätselte an dem Ding herum. Fleet aber schien ganz genau zu wissen, was er wollte, denn er ließ das „Ding“ versteifen, bis es eine solide. nur noch mit Gewalt zerstörbare mächtige Konstruktion war. Es sah jetzt so aus, als wollte er sich einen großen Drachen bauen, wie wir es früher als Kinder in England getan hatten. „Mister Bonty, bringen Sie zwei Zwanzigpfünder aus der Waffen- und Munitionskammer an Deck“, befahl er mir. „Zwei ... zwei Zwanzigpfünder, äh ... sofort, Sir“, stammelte ich. „Zwanzigpfünder“, wiederholte er. „So sagte ich. Das sind jene runden Eisenkugeln von zwanzig Pfund Gewicht, die bei einem Gefecht in die Rohre gestopft werden.“ Jetzt schnappte er über, dachte ich, jetzt gingen in seinem Dachstübchen die letzten Kerzen aus. Etwas seltsam hatte er sich ja ohnehin schon benommen mit seiner wechselhaften Laune und seinen einsamen Entschlüssen, doch nun wurde es offenbar ernst. Jedenfalls schleppte ich die beiden Eisenkugeln an Deck und legte sie auf die Planken, wo Fleet immer noch herumkroch. Fleet ließ zwei lange Leinen holen und gab einem anderen Mann den Auftrag, die Kugeln an einer gewissen Stelle des Rahmens zu befestigen. Dazu bedurfte es einiger kunstvoller Knoten, bis die schweren Kugeln auch richtig fest saßen. Jetzt verstand ich überhaupt nichts mehr. Wenn er wirklich auf den verrückten Gedanken kam, sich einen Drachen zu bauen, dann würde er ihn wohl kaum mit Eisenkugeln beschweren. Fleet sah sich allerdings nicht genötigt, eine passende Erklärung abzugeben, er ließ die Leute gern rätseln, und er sah auch, daß sie sich die Köpfe zerbrachen und doch zu keinem Ergebnis kamen. Weitere Bändsel wurden an dem merkwürdigen Ding angebracht. Cameron mußte lange Kupfernägel in den Holzrahmen treiben und auch die Bändsel extra stark befestigen. Zum Schluß wurde das Ungetüm mit extra langen Tampen ausgestattet, und in jeden Tampen
kam ein Auge, vermutlich, um weitere Taue daran befestigen zu können. Als das Ding nach etlichen Stunden fertig war, erkannte immer noch niemand den eigentlichen Zweck. Fleet trafen daher höchst merkwürdige und seltsame Blicke. Er rieb sich die Hände, ging um die Konstruktion herum, betrachtete sie ausführlich und nickte dann zufrieden. „Gute Arbeit, Mister Cameron“, sagte er lobend, „wirklich eine vortreffliche Arbeit.“ Danach watschelte er zum Achterdeck zurück und schenkte der „vortrefflichen Arbeit“ keinen einzigen Blick mehr. Der Holzrahmen lag den ganzen Tag an Deck, und jeder umging ihn mit fragendem Gesicht in einem großen Bogen. Manche starrten das Ding äußerst mißtrauisch an, andere sahen mal auf das Ding, dann zum Achterdeck und fragten sich wohl, ob der Master heimlich einen gebechert hatte. Sein Eifer, dieses Ding zu bauen, war geradezu grotesk, und jetzt, nachdem es fertig war, hatte er den Spaß daran verloren und interessierte sich nicht mehr für sein Spielzeug. „Tut mir leid“, sagte Jonny zu mir, „aber du brauchst mich nicht so anzuglotzen. Ich sage dir, beim Alten ist etwas nicht ganz in Ordnung. Der hat doch einen Sprung in der Kumme, Mann. Baut sich hier einen blöden Drachen und läßt ihn dann an Deck liegen, damit sich jeder den Hals bricht.“ „Hast du überhaupt keine Ahnung, wozu das gut ist?“ „Nicht die geringste“, gab Jonny ärgerlich zu, weil er einfach nicht dahinter stieg, was das sein konnte. Mister Johnson verlor über das Getue kein Wort. Aber immer wenn er den Master kurz musterte, dann wanderte sein Blick gleich darauf in die Ferne, und ein eigentümliches Grinsen lag auf seinem Gesicht. Klar, er wußte es ebenfalls nicht, und so hielt er das wohl für eine eigenartige Marotte des Alten. Inzwischen war es wirklich soweit, daß wir aufkreuzen mußten und lange Schläge segelten. Die Männer waren jetzt nur noch mit dem Nachtrimmen der Segel beschäftigt, weil wir ständig von einem Bug auf den anderen gingen, mal hart nach Steuerbord krängten, dann wieder hart auf Backbord lagen. Fleet hatte wieder ein neues Spielzeug. Er schien in den letzten Tagen überhaupt sehr merkwürdig geworden zu sein. Ständig rechnete er, vermaß, nahm das Besteck und sah auf seinen Karten nach.
Sein neues Spielzeug war ein grobes Stück Holz, das er sich roh als kleines Schiff zusammengeschnitzt hatte. Vermutlich hatte er das heimlich in seiner Kammer getan. Das Ding hatte keine Masten, dafür aber Bug und Heck stark angedeutet. Unter den Rumpf hatte er einen fast handgroßen Bleibrocken genagelt. Eine lange dünne Leine vervollständigte sein Modellschiffchen. Mit dem Ding watschelte er nach vorn, und dabei hatte er ein völlig ausdrucksloses Gesicht. Er stieg von der Back auf die Galionsplattform, belauert von mißtrauischen Augen und grinsenden Lippen, die dem Alten offenbar gönnten, daß er jetzt übergeschnappt war, denn so benahm sich normalerweise wirklich niemand. Auf der Galion ließ er das Ding ins Wasser fallen und fierte die Leine nach. Schließlich band er sie fest, beugte sich weit hinüber und starrte ins Wasser. Schade, aber ich hätte mich liebend gern unter irgendeinem Vorwand nach vorn geschlichen, uni zu sehen, was ihn so faszinierte. Doch das konnte ich mir nicht erlauben, und so begnügte ich mich damit, vom Hauptdeck aus zuzusehen. Scinders stand neben mir und räusperte sich leise. Er sagte aber kein Wort, tat so. als betrachtete er die Holzkonstruktion und warf doch immer wieder verstohlene Blicke nach vorn. Auch er konnte mit dem eigenartigen Gebaren des Masters nichts anfangen. „Wissen Sie, wozu dieses Ding dient, Mister Scinders?” fragte ich. „Nein“, sagte er schroff und ablehnend. „Ich will es auch gar nicht wissen, und Sie haben gefälligst keine neugierigen Fragen zu stellen, Bonty.“ Weg war er und ging wieder nach achtern, während Fleet immer noch ins Wasser starrte. Es störte ihn nicht, daß die Gischt ihn überstäubte, er schien ganz in den Anblick des Wassers vertieft zu sein. Nun ja, dachte ich, seltsame Leute hatte ich im Laufe meines Lebens genügend kennengelernt, auch recht seltsame Kapitäne, und Master Fleet kannte ich noch nicht sehr lange. Manche entpuppten sich ja erst nach einer Weile als komische Gesellen, und es stellte sich erst viel später heraus, daß sie ein bißchen verrückt waren oder zumindest sehr seltsame Angewohnheiten besaßen. Achteraus war die kleine Galeone noch weiter aufgesegelt und segelte unsere Kreuzschläge genau nach, um ein wenig den Windschatten unserer Segel auszunutzen. An Deck erkannte man bereits undeutlich die Gestalten. Die Entfernung schrumpfte immer mehr, aber sie würde nochmals einen Tag brauchen, um auf gleicher Höhe zu sein.
Wenig später kehrte Master Fleet zurück. Die Leine hatte er um sein Holzschiffchen gewickelt, und aus seiner rechten Hand tropfte es ständig auf die Planken. Er winkte Jonny und mir zu, weil er nicht gegen den Wind anbrüllen wollte, und als wir vor ihm standen, sagte er abwesend: „In der Segellast liegt ein großes, stark gelohtes Segel von rötlichbrauner Farbe. Es ähnelt dem Segel einer Blinde, und ist auch ähnlich zugeschnitten.“ „Aye, Sir“, sagte ich, „wir kennen das Segel, ein Schwerwettersegel ist das.“ „Wenn Sie meinen”, murmelte er. „Lassen Sie dieses Segel jetzt an Deck bringen.“ „Aye, aye, Sir“, sagten Jonny und ich fast gleichzeitig. Das Segel kannte ich, es war ein sogenanntes Passatsegel, eines der älteren Garnitur, wie sie beim Verlassen der Schönwetterzonen geschiftet wurden, nur schien es weder an eine der Rahen noch an die Blinde zu passen. Außerdem war es sehr schwer und so stark geloht, daß es sich von den anderen Segeln deutlich unterschied. Wir nahmen McHenry, den Plain mit dem dichten dunklen Vollbart und dem finsteren Gesicht, weiter Tom Jagger, den Decksältesten Mat Robertson und den kleinen Doolittle, der als Spielernatur an Bord berüchtigt war. „Den Schlag nach Ostnordost halten!“ rief der Master laut nach achtern. „So auf Kurs bleiben.“ „So auf Kurs bleiben“, kam die Bestätigung von achtern. Das schwere Segel wurde aus der Last geholt und an Deck gebracht, wo die Männer sich sogleich daraufstellten, damit es nicht fortflog. Wieder sah Jonny mich fragend an, aber ich hatte wirklich nicht die geringste Vorstellung von dem, was nun passieren würde. Es war auch so unglaublich, daß sich wahrhaftig nur Vermutungen anstellen ließen. Master Fleet teilte uns nun mit ruhiger Stimme mit, wie das Segel an die große Holzkonstruktion angeschlagen werden sollte. Es war ungewöhnlich stark geliekt und hielt sicher eine Menge aus. Aber wozu war das alles gut? Was wollte er mit diesem stark gelohten und schweren Segel auf dem Holzrahmen? „Lassen Sie zuerst den Rahmen und dann das Segel nach vorn bringen, Mister Jonny“, sagte er zu Kleine Hölle. „Sie, Mister Bonty, sorgen in der Zwischenzeit dafür, daß das Segel gewässert wird. Lassen Sie Wasser pützen und über das Segel gießen.“ „Wasser auf das Segel pützen, Sir, aye, aye.“
Die meisten Männer sahen so aus als befürchteten sie, der Master würde ihnen heimlich ein Messer in die Rippen stecken, sobald sie sich nur umdrehten. Deshalb bewegten sie sich so, daß sie Master God immer im Auge behielten, denn der war ja zweifellos nicht mehr ganz richtig im Dachstübchen, und wenn man schon auf so närrische Ideen kam, dann war nicht auszuschließen, daß er vielleicht nur so aus Spaß auch noch ein paar Männer umbrachte. So ähnlich dachten sie jedenfalls, das sah ich überdeutlich an den Gesichtern, als sie eine Pütz nach der anderen auf das schwere Segel gossen. Als das schwere Tuch klatschnaß war, nickte er. „Lassen Sie es jetzt nach vorn auf die Galion bringen, Mister Bonty. Der Zimmermann weiß mit dem Anschlagen Bescheid. Ich bin gleich wieder da.“ „Aye, Sir. Darf ich fragen ob dieser Vorgang ebenfalls protokolliert werden soll?“ Diesen kleinen Seitenhieb mußte ich ihm einfach verpassen, denn das mußte ihn doch aus der Reserve locken. Ganz sicher würde er das jetzt verneinen. Stattdessen sah er mich aufmerksam an. „Selbstverständlich, und zwar in aller Ausführlichkeit, Mister Bonty. Welche Frage! Natürlich gehört das mit allen Details ins Protokoll. Weshalb zweifelten Sie daran?“ Das alte Schlitzohr wußte recht genau, weshalb ich zweifelte. Er wußte es besser als ich, und ich hätte ihm antworten können: „Weil ich dachte, Sir, daß Sie ein bißchen verrückt sind.“ „Es war nur eine Frage, Sir, weil ich mir nicht sicher war ...“ Dann schwieg ich, weil ich nicht mehr weiter wußte. Aber ich sah, daß seine Lippen wieder wulstig wurden und er sich trotz aller Humorlosigkeit doch zu amüsieren schien. Das Segel wurde zusammengelegt und ebenfalls nach vorn gebracht. Währenddessen ging Fleet aufs Achterdeck und befahl auch Scinders zu sich. Offenbar gab er Anweisung für den folgenden Kurs. „Was, bei allen Geistern der Hölle, soll das?“ fragte Doolittle entgeistert. „Was will er damit? Was soll ein nasses Segel auf einem Holzrahmen vorn auf der Galion?“ „Frag doch den Alten“, riet Tom Jagger. „Ich werde mich hüten, ich kriege sowieso keine Antwort.“ „Dann warten Sie es doch ab“, schlug ich vor. „Außer dem Master weiß es vermutlich keiner.“
Die Neugier hatte uns jetzt ganz schön gepackt, und ein paar glaubten schon, den Stein der Weisen entdeckt zu haben. Doolittle wettete darauf, daß das Segel als zusätzliche Blinde angeschlagen werden sollte. Aber da pfiffen die anderen ihn an und lachten ihn aus. „Wie denn, du Blödmann“, sagte McHenry. „Sollen wir das Ding in den Wind hängen und an den Tampen festhalten?“ „Weiß ich doch nicht“, rief Doolittle verärgert, aber seine Wette nahm keiner an. Fleet kehrte wieder zurück. Wir segelten jetzt so, daß kaum noch Wasser aufgischtete. Das Master stellte sich an die Beting der Galion und gab kurz darauf seine Befehle mit herrischer Stimme. Mittlerweile waren jetzt insgesamt acht Männer vorn. „Jeweils ein Tau des Rahmens oben und unten am Bugspriet durchführen und belegen. Die Backbordseite fiert nach und belegt dann ebenfalls.“ Das Ding war unglaublich schwer, als es über Bord gebracht wurde. Jonny und ich griffen natürlich auch mit zu, damit der Wind das schwere Segel nicht packte und es einschließlich der Männer, die es hielten, einfach fortri ß. Die Tampen wurden durchgeholt, auf Backbord wurde nachgefiert, bis das unförmige Ding querkant vor dem Bug hing. „Back- und Steuerbord!“ rief Fleet. „Belege das!“ Die Tampen wurden durch die Lippklampen geschoren und an den Holzpollern belegt. „Mister Jonny auf Steuerbord, Mister Bonty auf Backbord. Lose nachstecken und langsam abfieren, ganz vorsichtig.“ Wir gaben die Befehle weiter und achteten auf die Männer, die jetzt Leine nachsteckten, bis die Eisenkugeln des Rahmens unter Wasser verschwanden und das Segel nach sich zogen. „Fiert weg, fiert weg, back und steuerbord. Fiert weg!“ Die Arbeit nahm uns so in Anspruch, daß keiner zum Nachdenken kam. Das schwere, jetzt schon unter Wasser hängende Segel, wirkte sich anfangs wie ein Hemmschuh auf die „Scout“ aus und bremste sie. Sie krängte noch mehr über. Fleet ließ schätzungsweise fünfzig Yard Leine nachstecken, dann wurden die Tampen belegt und noch einmal extra verbändselt. „Zurück an Deck“, kommandierte er, „die Offiziere aufs Achterdeck, die Mannschaft hält sich für die nächsten Manöver bereit. Sie beide“, sagte er zu uns, „werden bei jedem Glasen Tag und Nacht die Leinen kontrollieren. Ich selbst werde das nachprüfen.“
Schon watschelte er wieder davon, und als ich seinen breiten Rücken sah und seine nach auswärts gerichteten Füße, da erinnerte mich Master Fleet an eine große Ente, die zu ihrem Stall watschelte. Bei allem Respekt vor dem Master, Sir, aber so wirkte er. Er schien sich auch mit den fleischigen Händen den Weg nach achtern freischaufeln zu wollen, und ich grinste unwillkürlich. Das letzte was ich von den langen Tampen sah, war, daß sie stark zitterten, als wollten sie brechen, so angespannt waren sie. Eine Erklärung hatte ich trotz allem immer noch nicht. Auf dem Achterdeck herrschte immer noch Rätselraten. Unser einziger Bezugspunkt auf See war die achteraus segelnde Galeone, die jetzt nicht mehr genau unserem Kurs folgte, sondern achterlicher nach Backbord versetzt war. Sie hatte noch mehr aufgeholt. Jetzt ließ es auch Mister Johnson keine Ruhe mehr, der das natürlich alles mit Interesse verfolgt hatte, und er konnte sich seine Frage nicht verkneifen. „Darf ich fragen, Sir, wozu das dient? Was ist das überhaupt?“ Fleet sah ihn an und erwiderte mit der größten Selbstverständlichkeit: „Das ist ein Unterwassersegel, Mister Johnson.“ Diese scheinbar dumme Antwort trieb dem Ersten die Röte ins Gesicht. Seine Lippen verkniffen sich, sein Gesicht wurde eckig. „Danke Sir“, sagte er steif und förmlich, „das habe ich nicht gewußt.“ „Dann wissen Sie es jetzt“, beschied ihn der Master kurz angebunden. Eine Weile ließ er seinen Blick über das Deck gleiten, dann drehte er sich zu der immer noch kreuzenden Galeone um, die hart gegen den Wind knüppelte. Schließlich griff er zum Spektiv, und während er nach vorn spähte, sagte er beiläufig: „Mister Johnson, lassen Sie die Vorbram-, Großkram und Kreuzbramsegel aufgeien. Das Tuch darf keine Windbeulen werfen, es muß ganz dicht gepackt werden.“ Dem Ersten klappte der Unterkiefer herab. Scinders schluckte hart und sah verwirrt von einem zum anderen, während Fleet immer noch nach vorn blickte. „Haben Sie nicht gehört, was ich befohlen habe, verdammt noch mal“, schrie der Master plötzlich. „Oder war das nicht klar und deutlich ausgedrückt?“ „Aye, aye, Sir.“ Der Befehl wurde weitergegeben, und sofort enterten ein paar Männer überall auf, um die oberen Bramsegel ins Gei zu hängen.
„Kurs wieder auf Ost setzen!“ kam die nächste Order an den Rudergänger Gideon. „Nicht so schnell abfallen.“ Bestätigung folgte, dann: „Kurs Ost liegt an, Sir.“ „Recht so“, sagte der Master und sah zu, wie die Segel aufgegeit wurden. O marinierte Seeschlange, dachte ich. Jetzt war er wohl total übergeschnappt, gab den Befehl zum Aufgeien und ging wieder auf Ostkurs, damit uns der Wind ja schnell genug wieder zurückblies. Gleich würde er sich wundern, wenn der Portugiese an uns vorbeirauschte und wir hoffnungslos achteraus blieben. Die Bramsegel waren jetzt aufgepackt, und mir war so als würde die „Scout“ leicht kopflastig durch die See laufen. Die Männer, die auf den Fußpferden der Bramrahen standen, mochten wohl glauben, jetzt sei der Alte endgültig geistig weggetreten, denn Augenblicke später folgte schon der nächste, scheinbar total unsinnige Befehl: „Besan auftuchen, alle Marssegel ins Gei hängen!“ Erneut begann die Plackerei, und es dauerte lange, bis die Segel diesmal aufgegeit waren. Der Wind begann noch stärker zu heulen, und die Galeone jagte weiter heran. Sie war schon fast auf Rufweite an die „Scout“ herangesegelt. „Entschuldigen Sie, Sir“, sagte der Erste, „ich hatte vorhin einfach keine Erklärung dafür.“ „Und jetzt haben Sie eine, Mister Johnson?“ Die Stimme des Masters klang provozierend und überheblich. „Ja, Sir, wir werden probeweise vor Topp und Takel lenzen und dabei eine Art neuen Treibanker ausprobieren. Das kostet uns natürlich Zeit, aber es steht im Zusammenhang mit dem Forschungsauftrag.“ „Falsch, Mister Johnson, es kostet uns keine Zeit, und wir lenzen auch nicht vor Topp und Takel. Da muß ich widersprechen.“ Er drehte sich um und musterte uns. „Na“, meinte er herausfordernd und fast jovial. „Hat denn keiner der Herren eine Erklärung? Das ist die Stunde der Gentlemen. Denken Sie doch einmal scharf nach!“ Das hatte er schon einmal von uns verlangt, auf der Reise nach Vavitu, als wir die Segel aufpackten und uns treiben ließen. Aber selbst Johnson war noch kein erprobter „Meeresforscher“, und so konnten wir nicht einmal Vermutungen anstellen. Daher schwiegen wir lieber, um uns nicht die höhnischen oder zynischen Bemerkungen anhören zu müssen.
Als wir nichts sagten, schwieg auch er und wollte anscheinend keine Erklärung abgeben. Er gab sie erst später ab und ließ sich Zeit, denn nun geschah ein kleines Wunder, ein großes eigentlich. Normalerweise hätte uns der Ostwind jetzt zurückdrücken müssen, und zwar mit ganz ansehnlicher Kraft, denn er blies ziemlich hart. Doch genau das tat er nicht, das Gegenteil trat ein, und jetzt staunten die Männer noch mehr und konnten sich gar nicht beruhigen. Erstaunte Rufe wurden laut, Männer zeigten mit der ausgestreckten Hand auf die uns folgende Galeone, die immer noch kreuzte und lange Schläge segelte. Obwohl wir keinen einzigen Fetzen Tuch mehr fuhren, glitten wir immer schneller durch die See und jagten dein Schiff davon. Deutlich sichtbar fiel es immer weiter zurück. Wir jagten auf Ostkurs genau dem Wind entgegen, der uns von vorn in die Gesichter blies. Das war nicht zu fassen. Als jetzt die ersten begriffen, welches Wunder das bewirkte, gab auch der Master eine Erklärung ab. „Wir befinden uns in den subtropischen Konvergenzen“, sagte er, und fügte boshaft hinzu: „Mir sind auch Ihre Blicke nicht entgangen, mit denen Sie mein Tun bedacht haben. Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, daß Sie mir eine gewisse Art geistiger Krankheit heimlich unterschoben haben. Aber das beweist nur, daß Sie von dieser Art des Segelns noch nichts verstehen. Dabei ist es uralt. Schon die alten Phönizier nützten das Prinzip aus und brachten Unterwassersegel an, um die Meerenge von Gibraltar wegen der heftigen Winde aus dem Atlantik zu durchqueren. Dieses Prinzip ist ganz einfach. Während auf der Meeresoberfläche die Wellen vom Wind gepeitscht werden, rasen in vierzig, fünfzig Yards Tiefe unter uns gewaltige Wassermassen, riesigen Sturzbächen gleich nach Osten. In ein paar 'ragen werden wir die Verwirbelungszonen erreichen, und den Kurs erneut ändern, denn dann läuft die Strömung nach Südosten ab. Dieses Unterwassersegel nun treibt uns vorwärts, und es bläht sich tief unter uns in genau derselben Form wie die Segel an den Rahen; nur daß diesmal Wasser statt Wind die treibende Kraft ist.“ Er sah uns an und zeigte wieder sein Lächeln, das ein bloßes Verziehen seiner wulstigen Lippen war. „Eigentlich hätten Sie das erkennen sollen. Ich pflege an Bord meines Schiffes weder Drachen zu bauen, noch mit kleinen Modellschiffen zu spielen. Das hatte alles seinen Sinn, aber den erkannten Sie leider nicht. Stattdessen pflegte Mister Bonty mir die ausgesprochen dämlichbesorgte Frage zu stellen, ob das alles protokolliert werden sollte.
Mister Bonty war offenbar um meinen geistigen Gesundheitszustand sehr besorgt. Oder hat ihn einer der anderen Herren mit dieser Frage zu mir geschickt? Sie wollten wohl herausfinden, ob ich geistig bereits ausgebrannt bin, was!“ Betretenes und peinliches Schweigen folgte seinen Worten, und jeder schämte sich, so gut es ging. Nur Jonny schien sich nicht zu schämen. „O Mann in de Tonn'„, entfuhr es ihm. „Das geht ja wie mit hundert Pferden.“ „Sehr richtig“, sagte der Master, der die Worte wohl in den falschen Hals gekriegt und nicht richtig verstanden hatte. Ich sah Kleine Hölle hinterhältig grinsen. Aber der Törn ging wirklich nicht nur wie mit hundert Pferden, sondern wie mit tausend, die vorgespannt waren. Zwar liefen wir ein wenig kopflastig, aber wir rannten regelrecht durchs Wasser. Wie gesagt, unser einziger Bezugspunkt war die kleine Galeone, und die fiel jetzt immer weiter zurück. Wir waren ohne Segel geschätzt etwa doppelt so schnell wie sie. Als es glaste, war Johnson immer noch damit beschäftigt. sich beim Master für seine Unwissenheit zu entschuldigen. Scinders stand da und blickte immer noch verlegen auf die Planken. Wir flitzten sofort los, als der Glockenschlag hell über das Deck klang, und rannten nach vorn. Was wir wenig später sahen, war einfach unglaublich, und wir starrten ins Wasser, als wären wir den letzten Geheimnissen dieser Welt auf der Spur, als läge dort eine versunkene goldene Stadt oder das sagenhafte Eldorado. Die Tampen des Unterwassersegels knarrten und ächzten und waren zum Brechen gespannt. Sogar die Holzpoller knarzten unter dem gewaltigen Druck ganz fürchterlich. Ich sah mit Jonny zuerst die Bändsel nach, ob sie noch fest saßen. Dann kontrollierten wir die starken Leinen auf Schamfilen. Eine urweltliche Kraft schleppte die „Scout“ durch das Meer, riß und zerrte das Schiff unerbittlich mit sich. Man sah zwar nicht die gewaltigen lawinenartig dahinbrausenden Wasserströmungen, aber wir erkannten nach einer Weile voraus von der „Scout“ das stark geblähte Segel, das sich zum Zerreißen spannte. Tief unter uns und ein Stück voraus ähnelte es einer riesigen, mit Wasser gefüllten Schiebblinde. Das Bild war so unwahrscheinlich, daß ich unwillkürlich den Atem anhielt und nur in das Wasser starrte.
Schattenhaft waren die beiden Zwanzig-Pfünder zu erkennen, die der gewaltige Strom ebenfalls nach vorn drückte. Der Wind pfiff uns in die Gesichter, und es war ein unglaublich und nur schwer zu beschreibendes Gefühl, ohne ein Segel am Mast gegen den Wind zu laufen, während die See hart gegen uns anrannte. „Allen Respekt vor dem Master“, hörte ich Jonny sagen. „Von wegen was im Dachstübchen! Das macht ihm so schnell keiner nach. Wirklich alle Achtung vor seinem Können. Man lernt doch immer noch was dazu. Künftig wirst du ihm wohl keine dämlich-besorgten Fragen mehr stellen. Mann, hab' ich mich über dein Gesicht amüsiert.“ „Ganz sicher nicht. Mir stinkt es nur gewaltig, daß er mich gleich durchschaut hatte. Der Master muß mich doch jetzt für einen Trottel halten.“ „Die anderen auch“, sagte Kleine Hölle trocken. „Vergiß es!“ „Ob das Ding hält, Jonny? Wenn ein Tampen bricht, schlagen wir mit der ‚Scout' quer.“ „Deshalb sollen wir ja alle halbe Stunde kontrollieren, bei Tag und Nacht. Wir werden uns das wohl einteilen müssen. Wir wechseln uns einfach ab.” Später gingen auch der Erste und gleich danach der Zweite nach vorn, um das Ungeheuerliche zu inspizieren. Als sie wieder zurückkehrten, standen sie vor Fleet fast stramm und bewunderten seine Seemannschaft und sein Können. Der Master antwortete jetzt auch bereitwillig auf Fragen und gab Erklärungen ab, über das Warum, Wieso, Weshalb. Zwischendurch zeichnete er auf einer der großen Karte immer wieder Striche ein und ließ diesmal von Johnson das Besteck nehmen. Dann gab es einen ganz besonders erheiternden Zwischenfall, und ich bedauerte lebhaft, nicht an Bord des Portugiesen zu sein, sonst hätte ich es viel besser schildern können. So aber war ich nur auf Vermutungen angewiesen, doch sie schienen zu stimmen. * Der Galeone waren wir jetzt – welch ein Witz – ohne Segel gegen den Wind davongesegelt. Anders ließ sich das nicht ausdrücken. Master Fleet stand hinter dem Rudergänger, immer wieder das Spektiv am Auge und blickte der immer schneller entschwindenden Galeone nach.
Von dem Unterwassersegel und den subtropischen Konvergenzen war dem Portugiesen ganz sicher nichts bekannt, sonst hätte er nicht derart kopflos gehandelt. Was der Kapitän wohl dachte, entzog sich leider meiner Kenntnis, aber da die Kerle ganz sicher abergläubisch waren, ließ sich das ohne weiteres rekonstruieren. Als wir die Bramsegel an allen Masten auftuchten, herrschte drüben Ratlosigkeit und Verblüffung, denn das sprach wider alle logische Vernunft, es sei denn, wir mußten vor Topp und Takel lenzen. Nun gut, das mochten sie ja vielleicht noch hinnehmen, doch dann wurden auch noch die Marssegel aufgetucht. Zu diesem Zeitpunkt herrschte drüben Verblüffung und Ratlosigkeit, die um so größer wurde, weil wir nicht querschlugen, sondern sogar noch Fahrt aufnahmen. Nun, wahrscheinlich muß sich der Kapitän wohl zum ersten Mal bekreuzigt haben. Daraufhin, so vermutete ich, stierte er sich vor Verblüffung die Augen aus, denn wir wurden ohne Segel immer schneller. Kein Zweifel, daß wir eine Art Geisterschiff waren, oder daß der Satan persönlich bei uns an Bord erschienen war, um das Schiff zu steuern. Vielleicht hatten wir auch alle unsere Seelen dem Leibhaftigen verschrieben. Das ging ihnen verständlicherweise nicht mehr in die Köpfe, und wie die nächsten Minuten bewiesen, vermuteten die Portugiesen hinter unserem merkwürdigen Vorgehen einen ganz besonderen Trick. Sie blieben immer weiter zurück und sahen dem vermeintlichen Geisterschiff beklommen nach, das immer schneller fuhr, ohne Segel durch die See jagte, wie von unsichtbaren Händen gelenkt, oder wie vom Satan unter Wasser gezogen. Was dann im Kopf des portugiesischen Kapitäns vorging, entzog sich meiner Kenntnis, denn er handelte völlig unnormal. Ich warf einen schnellen Blick auf den Master, der das Spektiv am Auge hielt und dessen wulstige Lippen ständig zuckten. Offenbar schien ihn dieser Vorgang sehr zu belustigen. Aber dann eskalierte der ganze Spaß doch stark, und es zog uns fast die Stiefel aus, als wir sahen, was da drüben passierte. Es war einfach unglaublich. In seiner Ratlosigkeit, oder weil der Kapitän annahm, was bei uns ginge, müßte bei ihm auch gehen, ließ er ebenfalls in aller Eile sämtliche Segel auftuchen. Master Fleets vorgewölbter Bauch begann zu zucken. Sein Gesicht glänzte, denn auch er war der boshaften Schadenfreude nicht ganz
abhold, und ein paarmal setzte er das Spektiv ab und begann mit zuckendem Gesicht zu lachen. Ich hatte ihn noch nie lachen sehen, das machte ihn viel menschlicher, doch nun lief sein großflächiges Gesicht knallrot an und er kriegte kaum noch Luft. Drüben, besser gesagt, weit achteraus, passierte jetzt das zu erwartende Malheur. Kaum waren die Segel der Galeone aufgepackt, da trieb der Wind das Schiff zurück. Es lief aus dem Ruder und legte sich fast dwars zur See. Dabei geriet es in eine gefährliche Lage, denn nun wurde es zum Spielball der langrollenden und hochgehenden Dünung. Die Enttäuschung mußte sehr schmerzhaft gewesen sein, denn als man wieder mit dem Segelsetzen begann, waren wir schon sehr weit weg und ließen achteraus einen total genervten Mann zurück, der an seinem eigenen seemännischen Können sicherlich stark zweifelte. Von der Crew wurde das natürlich mit hämischem Grinsen und boshaften Bemerkungen quittiert, und alle blickten nach achtern, wo der Portugiese sich verzweifelt bemühte, seine Galeone wieder auf Kurs zu trimmen. Mich interessierte aber augenblicklich mehr unser Master, denn der stand jetzt hinter dem Rudergänger und lachte, daß sein Bauch wackelte, und ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Es mußte ihn außerordentlich erheitern, was er da sah. Seine ganze massige Gestalt wurde von diesem wilden Gelächter geschüttelt. Er sah aus, als litte er unter heftigen Krämpfen, und er konnte sich lange Zeit nicht beruhigen. Natürlich grinsten auch die anderen, weil Schadenfreude nun mal eine der schönsten Freuden des Menschen ist. Der arme Kapitän der Galeone wurde gebührend verhöhnt und verspottet. „Wie kann man nur so dämlich sein“, sagte Scinders zu Johnson, „und einfach die Segel wegnehmen, nur weil es ein anderer auch tut.“ „Wer weiß, was der gute Mann sich wohl gedacht hat“, meinte Johnson lächelnd. „Es ist ja auch ziemlich unwahrscheinlich, daß ein Schiff ohne Segel gegen den Sturm läuft. Da muß es einen Zuschauer ja grausen, oder er vermutet einen Trick.“ Master Fleet aber beruhigte sich immer noch nicht. Er „hööchte sich ein“, wie Jonny es immer auszudrücken pflegte, das heißt, er amüsierte sich köstlich auf Kosten anderer. Schließlich waren wir für die Galeone nur noch ein Strich an der Kimm, ein Strich allerdings, den der Teufel gezogen hatte, und nach und nach beruhigte sich auch der Master wieder. Er wischte sich verstohlen die zwei Tränen von den Wangen
und trat hinter dem Rudergänger hervor wieder an die Balustrade zurück. Aber wir alle hatten ihn deutlich lachen und glucksen hören, das konnte er nicht abstreiten. Jetzt war er allerdings wieder ernst, stand auf seinen Plattfüßen vor der Balustrade und begann zu wippen. „Protokollieren Sie auch diesen Vorgang, Mister Bonty“, sagte er. „Augenblicklich gibt es nicht viel zu tun, und die Erinnerungen an die Vorgänge sind noch frisch, daher können Sie gleich damit beginnen.“ „Aye, aye, Sir“, sagte ich und verholte in unsere Kammer, um den Vorfall aufzuzeichnen. Fleet selbst ging zusammen mit Jonny nach vorn, um das Unterwassersegel genau zu kontrollieren. Dieses ewige Protokollieren war natürlich mit Mehrarbeit verbunden, die sich auch auf meine Freiwache ausdehnte. Fleet wünschte immer lückenlose Berichte, aber auf der anderen Seite kam mir das wieder zugute, denn ich konnte dabei meine Tagebuchaufzeichnungen ebenfalls genauer notieren und brauchte nur auf die Daten zurückzugreifen. Ich schrieb mehr als eine Stunde lang und ließ nichts aus, genauso wie er es wünschte. Später legte ich ihm das Protokoll über das Unterwassersegel und den Zwischenfall mit der portugiesischen Galeone zur Kontrolle und Abzeichnung vor. Fleet las und las, nickte wohlgefällig und las weiter. Dann bildete sich eine Falte auf seiner Stirn, eine Falte des Unmutes, und er bedachte mich mit einem mürrischen Seitenblick. Ein zweiter, noch mürrischerer Blick und ein weiteres Stirnrunzeln folgten. Schließlich nahm er die Kladde und schlug mit der Hand dagegen. „Ein Quatsch ist das“, sagte er brummig. „Ein übler Schwulst, der Gefühle fixiert, die in einem Protokoll nichts zu suchen haben. Ich habe weder gelacht noch mich belustigt, merken Sie sich das! Und jetzt schreiben Sie den ganzen Quatsch noch einmal, und lassen gefälligst die Stelle aus. wo ich mich angeblich amüsiert habe. Was sollen die Herren vom Königlichen Institut von mir denken, wenn da steht, ich hätte schallend gelacht! Wenn ich vielleicht den Mund verzogen habe, so hat das nicht im Protokoll zu stehen“, sagte er sauer. „Gefühle haben darin nichts zu suchen, es sollen lediglich Fakten festgehalten werden.“
„Ich habe versucht, alles genau festzuhalten, Sir“, erwiderte ich, „selbstverständlich auch die Kleinigkeiten. Aber ich werde mich bemühen, es besser zu schreiben, Sir „Verdammt! Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß sich auf meinem Schiff niemand zu bemühen hat. Ich will derartigen Quatsch nicht hören, und das gilt ganz besonders für Sie. Sie werden sich also nicht bemühen, sondern genau das tun, was ich verlange. Ist das klar?“ „Aye, aye, Sir.“ „Dann streichen Sie diese dämliche Bemerkung jetzt und schreiben das neu. Und jetzt verschwinden Sie!” Jetzt war er wieder ganz der alte Fleet, und die Heiterkeit war schnell vorbei. Verdammt, er gab einfach nicht zu, daß er sich krank gelacht hatte. Und dieses Gefühl verbarg er jetzt wieder hinter zynischen Bemerkungen und einem grummeligen Gesicht. Bei der geringsten Kleinigkeit pfiff er wieder die Offiziere an und nörgelte an allem herum. Sehr schnell wurden wir wieder an magere Kost und faulig schmeckendes Wasser erinnert. Die Gesichter der Deckhands wurden wieder mürrisch und lang. Man sah es ihnen an, daß einige bei der erstbesten Gelegenheit türmen würden. * Drei Tage später, wir segelten immer noch mit dem Unterwassersegel, und der Wind blies genau aus Ost, erlebten wir ein Bild von eindringlicher Schönheit. Wir gerieten in eine Wolke aus Meeresleuchten, die mit dem unterseeischen Sog rasend schnell dahintrieb. Mister Pickens von der „King Charles“ hatte mir einmal erklärt, daß eine ganz bestimmte Art von Bakterien und sogenannten Dinoflagellaten dieses merkwürdige und beeindruckende Leuchten hervorrief. Direkt vor der „Scout“ war diese Wolke jetzt zu sehen, als die Sonne unterging und die kurze Dämmerung heraufzog. Das Meer unter dem Bug begann zu leuchten, als würde es von hundert kleinen Lampen erhellt, und man konnte tief in die See hinabblicken. Jonny stand neben mir, als wir die Leinen kontrollierten und erneut auf Schamfilen untersuchten, weil sie immer sehr stark beansprucht waren.
„Nun sieh dir das an!“ sagte er begeistert, „ich habe das zwar schon ein paarmal gesehen, aber noch nicht unter diesen Umständen. Man kann fast hundert Yard in die Tiefe blicken.“ Die Mannschaft wurde von diesem seltenen Meeresleuchten ebenfalls stark angezogen, und die Freiwächter standen herum und schauten von der Back aus staunend ins Wasser. Kleine Hölle und ich hingen über die Galion gelehnt und blickten in das leuchtende strahlende Wasser, das Myriaden von Bakterien so phantastisch illuminierten. Tief unter uns und etwas voraus spannte sich das große Segel, auf gespenstische Weise erleuchtet, genau auszumachen in dem milchigen Licht. Die Leinen vibrierten unter Wasser und schwangen hin und her. Das Segel bewegte sich leicht, je nachdem wie der Strom es trieb. Mal schwang es leicht nach Backbord, dann wieder nach Steuerbord. Es war ein total unwahrscheinlicher Anblick. So etwas kriegten die Plains und Hands anderer Schiffe nie in ihrem Leben zu sehen. Das große geblähte Segel zog die mächtige Masse des Schiffes mühelos hinter sich her, während an Deck der Wind beständig von vorn blies. „Ich glaube, wir segeln jetzt schneller als unter vollem Preß“, vermutete Jonny. „Ja, das scheint mir auch so.“ Ich streckte die Hand aus und berührte die Backbordleine. Sie sang und summte, und ihre Vibration übertrug sich auf meinen ganzen Körper von den Armen bis in die Beine. Gewaltige und unsichtbare Kräfte waren hier am Werk, Kräfte, die der Master kannte und geschickt auszunutzen verstand. Nie wäre ich selbst auf die Idee verfallen, ein Unterwassersegel zu benutzen, und hätte ich das jemandem erzählt, er würde mich laut auslachen. Länger als eine halbe Stunde hielt das an. Milchige Helligkeit im nachtschwarzen Wasser, ein geheimnisvoller Leuchtfleck, in dem sich breit und behäbig ein stark gelohtes Segel spannte, das uns, angetrieben durch eine unterseeische Strömung, mit unwahrscheinlicher Kraft zog. Nach und nach verschwand das Meeresleuchten, und die Wolke strahlender Bakterien verteilte sich, unbekannten Gesetzen folgend, immer mehr. Immer schwächer wurde das eigentümliche Glühen, bis es schließlich verblaßte und an der Oberfläche nur noch ein heller Streifen aus Schaum zu sehen war, der an der Bordwand hochleckte.
Dann war es vorbei, und auch das Segel verschwand in der Finsternis des Meeres, bis es nicht mehr zu erkennen war. Aber es war ein einmaliger und herrlicher Anblick gewesen, der noch lange meine Phantasie beschäftigte und anregte. Am anderen Morgen war die Stimmung wieder übel. Die meisten waren gereizt und knurrten über das Essen, an dem sich immer noch nichts geändert hatte. Einige sahen so aus, als wollten sie Master Fleet an die Gurgel fahren, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Über das schlechte und wenige Essen wurde sogar auch öffentlich an Deck gemurrt. Ich meldete keinen der Übeltäter, wie Scinders sie nannte, ich hatte selbst Hunger und Durst, lief ständig mit knurrendem Magen herum und dachte jedesmal voller Ekel an das ganz abscheulich schmeckende Wasser. „Es sieht nach Mord und Totschlag aus, Sir“, sagte abends auf dem Achterdeck Scinders zum Master. „Das Murren wird immer lauter, die Gesichter immer länger. Die Kerle schweigen nur noch, wenn einer der Offiziere vorbeigeht.“ „Wer tut sich da besonders hervor?“ fragte der Master. „Niemand, Sir, es gibt natürlich einen Rädelsführer, aber ich weiß nicht, wer es ist.” „Halten Sie weiterhin die Ohren und Augen offen. Und melden Sie mir jeden Mann, der unangenehm auffällt. Das gilt auch für Sie, Mister Jonny und Mister Bonty“, meinte er. „Wenn die Disziplin an Bord leidet, werde ich erbarmungslos durchgreifen lassen.“ Das kannten wir ja bereits zur Genüge. Darin war der Master nicht gerade zimperlich, und für seine Strenge und Härte war er bekannt. So segelten wir den Juan-Fernández-Inseln entgegen, mit einer übelgelaunten Mannschaft und einem strengen Kapitän, der anderentags schon wieder einen Mann' wegen einer Bagatelle mit sechs Hieben bestrafen ließ. Damit waren wir auch aus den subtropischen Konvergenzen fast wieder heraus. Die Meeresströmung wies hier eine Verwirbelungszone auf und zog weiter in südöstlicher Richtung. Aber dafür hatte der Windgott diesmal ein Einsehen. Wir kamen in den schwachwehenden Ausläufer der Westwind-Drift. Dabei nahm der Wind anfangs ab, wurde zu einer stundenlangen Flaute und blies dann schwach aus westlicher Richtung. Das Unterwassersegel wurde aufgehievt und weggestaut. Die Holzkonstruktion nahm der Schiffszimmermann auseinander und verwahrte sie ebenfalls sorgfältig, nachdem sie getrocknet war.
Nach Fleets Schätzung würden wir die erste der Fernández-Inseln in etwa zwei bis drei Tagen erreichen. Die Segel wurden wieder gesetzt, die Reise ging weiter, als der Wind beständig aus Westen, genauer aus Südwesten blies. Wir liefen zwar nicht platt vorm Laken, also mit Backstagbrise oder raumen Wind, aber wir mußten nicht mehr so oft trimmen und liefen gute Fahrt. Einen kleinen Zusammenstoß hatte ich noch mit dem ewig finster aussehenden McHenry, den ich im Batteriedeck traf, als ich die Zwanzigpfünder kontrollierte. Er sah mir mißtrauisch entgegen und brummte einen Gruß, den er selbst nicht verstand. „Wie lange geht das noch mit dem verdammten Essen so, Mister Bonty?“ wollte er wissen. „Nehmen Sie es mir nicht übel, aber auf die Dauer hält das ja kein Mensch aus. Und immer sind es die Plains, die den Kopf bei derartigen Versuchen hinhalten müssen. Ich möchte nicht wissen, was bei Ihnen in der Messe auf dem Speisezettel steht. Da ist wohl nicht von Graupen und Stockfisch oder ungenießbarem Salzfleisch die Rede.“ Ich sah ihn eine Weile lang an, bis er verlegen an einer Lafette herumfingerte und den Blick auf die Planken senkte. „Ich weiß wie Ihnen zumute ist“, sagte ich. „Und eigentlich müßte ich Sie dieser Worte wegen beim Master melden, aber damit ist keinem von uns geholfen, und es gibt nur unnötig böses Blut. Sie kriegten zwei Dutzend Hiebe und sind wochenlang erledigt. Sie werden es schon noch ein paar Tage aushalten, und die anderen auch, denn dann verändert sich mit Sicherheit einiges, und es wird auch wieder mehr zu essen geben. Schweigen Sie über das, was ich Ihnen gesagt habe. Und noch etwas, Mister McHenry: Seien Sie mit Ihren Vermutungen und Anschuldigungen etwas vorsichtiger, denn mein Speisezettel sieht genau so aus wie der Ihre. Ich esse genau die gleiche Kost wie ihr alle, und auch genau die gleiche Menge. Logischerweise habe ich daher ebenfalls ständig Hunger und laufe mit knurrendem Magen herum. Es gibt für uns nichts anderes. Auch für den Master nicht. Und nun gehen Sie wieder an Ihre Arbeit. Das Gespräch vergessen wir beide am besten.“ „Vielen Dank, Mister Bonty“, sagte er heiser. „Ich habe das nicht gewußt, aber wenn Sie es sagen, dann glaube ich Ihnen das auch. Wir halten es ganz sicher noch ein paar Tage aus.“ „Hoffentlich“, sagte ich, „sonst wird hier an Bord bald die Hölle los sein.“
Ich ging wieder nach oben. Es war Zeit für einen Schluck Wasser, und ich hielt mir in Gedanken schon beim Trinken die Nase zu, wie die anderen es auch taten, um nicht diese ekelhafte Fäulnis riechen zu müssen, denn sonst kriegte man das Zeug gar nicht mehr herunter. Der Master hätte in jedes der Wasserfässer ein paar Quart Rum geben können, überlegte ich. So jedenfalls hätte ich es an seiner Stelle getan, um den Geschmack des Wassers aufzubessern. Aber daran dachte er wahrscheinlich schon aus reinen Kostengründen nicht. Trotzdem drängten sich die Männer gierig um das Faß und tranken. Und sie hätten wahrscheinlich zehn Kellen hintereinander getrunken, trotz des üblen Geschmacks. Ich tröstete mich damit, daß wir bald die Insel anliefen und frisches Wasser fanden. Dann würde alles schon ganz anders und freundlicher aussehen. * Ein paar Tage später, Master Fleet hatte sich nur um einen halben Tag verschätzt, tauchte an der Kimm ein feiner Strich auf, und der Ausguck meldete Land voraus. Wie so ein Stückchen Land doch die Leute verändern konnte! Nach der wochenlangen Reise starrten sie sich nun die Augen aus, Hoffnung im Herzen, neuen Lebensmut, Gesichter, die wieder fröhlich wirkten, wenn auch nur vorübergehend. Sie alle schienen sich viel von dieser Insel zu versprechen, und sie freuten sich ganz besonders darauf, wieder einmal festen Boden zu betreten, auf Land zu stehen und aus einer frischen Quelle zu trinken. Selbst dafür hatte Master Fleet kein Verständnis, wie sich noch herausstellen sollte. Die Insel Más Afuera wurde größer. Sie war vulkanischen Ursprungs und stieg an manchen Stellen bis zu achtzehnhundert Yards aus dem Meer auf. Die Insel wirkte stark zerklüftet und hatte eine wilde Küste mit starker Brandung. Von hier sah es so aus, als könnten wir nicht einmal dicht unter Land gehen. Auch schien diese Insel nichts als ein öder Felscnkoloß zu sein. Vegetation war jedenfalls keine zu erkennen, kein Grün, kein Baum oder Strauch – nichts. „So ein Mist“, sagte Jonny, „ich hatte mir das etwas anders vorgestellt. Bist du etwa nicht enttäuscht'?“ „Doch, ich bin, mächtig sogar, Jonny. Das Klima ist zwar ganz angenehm, aber zu holen gibt es hier für uns wohl nichts.“
„Vielleicht nicht einmal Trinkwasser“, sagte Jonny enttäuscht. „Dann können wir diese Dreckbrühe so lange saufen, bis wir alle umfallen.“ Von dieser Aussicht war ich auch nicht gerade begeistert, aber ändern ließ sich das leider nicht. Es gab ja noch eine Insel, die weiter dem Festland zulag, bestimmt sah es da für uns besser aus. Es fragte sich allerdings nur, ob der Master auch dorthinsegelte. Die Männer, die sich ebenfalls auf diese Insel so gefreut hatten, kriegten wieder lange Gesichter, denn das sahen sie auch auf den ersten Blick, daß es hier nichts zu beißen gab, und somit keine Abwechslung in den Speisezettel kam. Wir segelten jetzt in einer Entfernung von knapp zwei Meilen an den himmelhoch aufragenden Klippen, Schroffen und kahlen Felswänden vorbei auf ein vorspringendes Kap zu, das noch unwirtlicher aussah als die öden Kliffe der Insel. Die Wellen rannten gegen diese steinernen Riesen mit gewaltigem Getöse an und stoben als Gischt ins Meer zurück, nachdem sie sich ausgetobt hatten. An den Felsen war alles in lebhafter quirliger Bewegung. Die Brandung donnerte und schäumte, die Wellen überschlugen sich, ehe sie an die Felsen klatschten und als Sog vor den kleineren Kliffs wieder ins Meer gischteten. Als wir das vorspringende Felsenkap rundeten, da fiel mir doch ein Stein von der Seele, und ich atmete erleichtert auf, denn nun bot sich auf Más Afuera ein ganz anderes Bild. Zwar gab es keine langen Palmenstrände, aber Grün war endlich zu sehen in dieser langgestreckten und etwas geschützten Bucht, die hinter dem Strand gleich sanft anstieg, in Hügel überging und schließlich in den Felsen endete. In etwa sechshundert Yard Höhe gab es noch Baumfarne und kleine Wiesen, den Matten in den Bergen ähnlich, nur nicht ganz so saftig und bewachsen. Immer wieder gab es kahle Stellen. In der Bucht standen Bäume, hohe Büsche und mannshohes Gras von hellem Grün. Dicht dahinter gab es verstreut mehrere kleine Wäldchen. Große Bäume, die ich für Kiefern hielt, grenzten den Hang zu den Felsen ab. „Geit auf die Segel!“ befahl Mister Johnson. „Alle Mann auf Stationen. Mister Jonny, Sie übernehmen zwei Männer zum Ankersetzen. Nach dem Ankersetzen wird das Viererboot zu Wasser gelassen.“ Diesmal schrien alle ihr „Aye, aye“ mit besonderer Freude, und jeder warf begehrliche Blicke zum Strand hin. Diese Insel erschien den meisten wegen des langen Törns schlechthin wie das Paradies, denn ganz sicher gab es hier Trinkwasser.
Más Afuera wurde die Insel genannt, fürwahr ein reichlich seltsamer Name, denn er bedeutete nichts anderes als „mehr draußen“ oder weiter draußen. Die andere Insel wurde Más a Tierra genannt, weiter zum Land hin, also auf die Insellage zum Festland oder der See hin bezogen. Die Segel wurden in geradezu beängstigender Hast aufgegeit, der Anker wurde gesetzt, und meine Aufgabe bestand darin, alles zu überwachen, bis auf das Ankersetzen, wofür Jonny zuständig war. Sowohl der Erste wie auch der Zweite blieben während des ganzen Manövers auf dem Achterdeck, und trotzdem klappte alles reibungslos. Johnson gab lediglich die Befehle weiter, die Fleet ihm gab. Aber der Master hatte ja schon angekündigt, daß er aus Jonny und mir noch etwas machen wollte, und deshalb kriegten wir auch immer einen Teil der Verantwortung aufgebürdet. Etwas später war auch das Beiboot abgefiert, und am Schanzkleid drängten sich die Leute und warteten auf den Master und vor allem auf die Erlaubnis zu einem Landgang. Es wurde eine mehr als herbe Enttäuschung, als der Master endlich erschien und die herumlungernden Leute ärgerlich musterte. „Was gibt es da Maulaffen feilzuhalten“, fragte er, „haben die Leute nichts zu tun, Mister Scinders? Weshalb steht ihr hier herum?“ „Sir, wir möchten um Landgang bitten“, sagte McHenry. „Es gibt keinen Landgang“, entschied der Master. „Landgang ist nicht vorgesehen. Sie bleiben an Bord und tun Ihre Arbeit.“ Jetzt murrten sie laut und unüberhörbar, bis Fleet sich mit zornigem Gesicht herumdrehte. Ich glaubte, sie haßten ihn in diesem Augenblick schlimmer als die Pest. „Wer noch lange murrt und nicht sofort an der Arbeit ist, dem lasse ich drei Dutzend Hiebe verpassen, auf der Stelle. Bringen Sie die Kerle zur Räson, Profos! Wer sich nicht gebührlich benimmt, erhält auf der Stelle drei Dutzend Schläge.“ Dann wandte er sich an mich, der ich in jenem Augenblick wohl am meisten von allen beneidet wurde. „Sie pullen mich zum Land hinüber, Mister Bonty. Wir werden sehen, ob es dort frisches Wasser gibt. Während meiner Abwesenheit übernimmt Mister Johnson das Kommando. Das wäre alles. Entern Sie jetzt ab, Mister Bonty.“ „Aye, aye, Sir.“ Selbst Jonny sah mir neidisch nach, als ich in das Boot stieg und die Riemen ergriff. Fleet hatte es anscheinend sehr eilig. Als er auf der
Ducht Platz nahm, kontrollierte er sorgfältig zum zweiten Mal die beiden geladenen Pistolen, die er mit sich führte. Ich musterte ihn unauffällig mit gemischten Gefühlen. Was war das nur für ein Mann, dachte ich. Merkte er denn nicht, daß er sich den Haß der ganzen Besatzung zuzog. wenn er so handelte? Was hätte es schon ausgemacht, den Leuten Landgang zu gewähren. Sie wären ein wenig am Strand herumgesprungen, hätten nach einer Quelle gesucht und wären schließlich später glücklich und zufrieden an Bord zurückgekehrt. Fleet selbst hätte sich in der Gunst aller sonnen können, doch offenbar wollte er das nicht. Er mochte es lieber, wenn sie ihn haßten und verabscheuten. Er fühlte sich in seiner „Master-God-Rolle“ wohler, doch das konnte eines Tages böse Folgen haben. Er sprach kein Wort, während ich das Boot zum Strand pullte. Ich sah die enttäuschten, verärgerten und haßerfüllten Gesichter der Männer am Schanzkleid und fühlte mich selbst erbärmlich, weil ich hier eine Art Vorzug genoß. Fleet saß etwas plump auf der Ducht, die großen Füße auswärts an den Bootsrumpf gelehnt, das breitflächige Gesicht aufmerksam dem Land zugewandt, das er aus schmalen Augen musterte. Das Boot lief auf, ich legte die Riemen hinein und sprang ins seichte Wasser, um es ein Stück höher an den Strand zu ziehen. Er rührte sich nicht, er blieb auf der Ducht hocken und sah zu wie ich mich abmühte, das jetzt tief achterlastig liegende Boot weiter hinauf zu schieben. Ein wenig hätte er ja nach vorn rutschen können, dachte ich verärgert, um mir das Ziehen zu erleichtern, aber das fiel ihm nicht im Traum ein. Jetzt erst sprang er hinaus, trotz seiner Körperfülle sehr behende. und wehrte meine Hand ab, die ich ihm reichen wollte. Ein paar Lidschläge lang ruhte sein Blick nachdenklich auf der „Scout“, dann nickte er, wie um sich selbst etwas zu bestätigen und drehte sich um. Über den Felsen drehten in großer Höhe zwei schneeweiße Vögel ihre Kreise. Man hörte sie ähnlich schreien wie Möwen. Das war das einzige Geräusch auf der Insel, wenn man von dem Flüstern und Murmeln absah, mit dem die Wellen knisternd an den Strand liefen. Das Wasser war unglaublich klar, wie reiner, durchsichtiger Kristall schimmerte es.
Meine Bewegungen waren etwas eckig, als ich mich an Land bewegte. Ich genoß den Augenblick, denn der Himmel mochte wissen, wann mir ein solcher wieder beschert wurde. „Wir gehen dort entlang“, sagte Fleet. „Von den Felsen verspreche ich mir nichts. Da gibt es nicht einmal Vegetation. Halten Sie die Augen offen nach einer Quelle, einem Bach oder einem Wasserfall. Es muß Wasser auf Más Afuera geben.“ „Vielleicht etwas weiter dort drüben, Sir“, erwiderte ich. „Da ist die Vegetation dunkler.“ „Wir werden sehen.“ Wir bewegten uns vorerst noch dicht am Wasser entlang, schlugen dann einen Bogen und gingen durch das Grün einer Insel, von der ich noch nie gehört hatte. Alles war unheimlich still. Die Sonne schien warm vom Himmel, und wäre Master Fleet nicht an meiner Seite gewesen, dann hätte ich mich ganz allein auf der Welt gefühlt. Wege und Pfade gab es nicht. Wir gingen mal zwischen Bäumen hindurch, dann wieder über ein wiesenartiges Gelände, dann kletterten wir über Steine, die wahllos verstreut herumlagen. Langsam näherten wir uns dem Ende der Bucht, allerdings in einer Höhe auf den Hängen, wo wir die „Scout“ schon tief unter uns liegen sahen. Der Blick in die andere kleine Bucht war frei. Ich blieb stehen und blickte verblüfft nach unten. In der kleinen Bucht lag ganz hoch auf dem Sand ein Boot, etwas größer als unser Viererboot. Es lag auf der Seite und war vermodert. Die Rippen sahen heraus, es war nicht mehr seetüchtig, sondern nur ein vergammeltes Wrack, das der Sturm vermutlich in die Felsen und Klippen geschleudert hatte. Master Fleet entdeckte es im selben Augenblick, als ich gerade den Mund auftun wollte. Er blieb ganz steif stehen, drückte das Kreuz durch und musterte das kleine Wrack. Dann sah er mich an. „Diese Insel“, sagte er, „wird manchmal von Piraten angelaufen und dient ihnen auch als Schlupfwinkel. Aber das sieht mir hier kaum nach irgendwelchem Piratengesindel aus. Dazu ist das Boot zu klein.“ „Schiffbrüchige vielleicht“, sagte ich, „oder das Boot stammt von einem Schiff, das in den Klippen zerschellte.“ Er nickte nur. Weit und breit war nichts zu sehen. Vielleicht lag das Boot schon jahrelang hier. Trotzdem war es ein eigenartiges Gefühl, dieses Boot am Strand liegen zu sehen und sein Geheimnis nicht zu kennen.
Fleet ging weiter, diesmal noch tiefer ins Landesinnere hinein. Die „Scout“ sahen wir immer noch, aber sie war jetzt doch merklich kleiner geworden und wirkte wie ein Spielzeug. „Da hat sich etwas bewegt“, sagte er plötzlich, blieb wieder stehen und griff nach einer seiner Pistolen. Es war kein Mensch, wie ich zuerst annahm, es war eine wilde Ziege, die in langen Zickzacksprüngen davonrannte und in den Hügel verschwand. Eine zweite sahen wir etwas später. Auch sie rannte aufgeregt meckernd davon. Diese Tiere waren nicht von ungefähr hier. Auf vielen Inseln hatten Seeleute, aber auch Piraten, Schweine und Ziegen ausgesetzt, um für andere einen lebenden Vorrat anzulegen, oder um sich irgendwann einmal selbst zu bedienen. Das Vieh, das auf derartigen Inseln keine natürlichen Feinde hatte, vermehrte sich rasend schnell. Ich war sicher, daß es auf dieser Insel von Ziegen nur so wimmelte. Später sahen wir noch einmal zwei Ziegen, offenbar die einzigen Lebewesen auf dieser Insel. Doch das täuschte. Das Gras unter unseren Füßen begann feucht zu werden. Fleet bückte sich und griff mit der Hand hinein. „Ganz in der Nähe ist eine Quelle“, sagte er bestimmt. „Gehen Sie da hinüber, Mister Bonty, ich werde auf der anderen Seite nachsehen.“ „Aye, Sir, ich werde ... da ist ein Wasserfall“, sagte ich, als wir uns zwischen mannshohen Steinen bewegten und den Blick auf die ansteigenden Felsen frei hatten. Es war ein spärlicher Wasserfall, der da aus den Bergen floß, aber es war klares frisches Wasser, das sich aus der Höhe in einen winzigen See ergoß, der sein Wasser weiter nach unten auf die Wiesen abgab. Als wir den See erreichten, geschah etwas, womit weder der Master noch ich gerechnet hatten. Im ersten Augenblick prallte ich zurück, denn ich hielt den Mann für tot, der neben dem See im Gras lag. Aber er schlief nur. Fleet griff augenblicklich nach seiner Pistole und spannte sie. Durch das Geräusch wurde der Schläfer wach, blinzelte leicht und sprang dann verstört auf die Beine. Das Alter des Mannes ließ sich nicht schätzen. Sein Oberkörper war nackt und von der Sonne verbrannt. Er trug eine Hose, die nur noch aus Fransen bestand. Sein Bart reichte bis fast auf die Brust, genauso lang war auch sein Haupthaar, das ihm bis weit auf die Schultern fiel. Er sah aus wie ein Wilder und war wahrscheinlich der Besitzer des vergammelten Bootes.
Sein Blick allerdings war der eines Irren, eines Wahnsinnigen, der jetzt ungeachtet der Pistole, die auf ihn gerichtet war, auf Master Fleet zusprang, der zurückwich und die Pistole noch höher hob. „Geh zurück, Kerl!“ rief er, „zurück, sage ich.“ Der unheimlich wirkende Mann blieb ratlos stehen, begann dann zu lachen und ging auf mich los. Dabei stammelte sein fast zahnloser Mund unaufhörlich Worte, ein seltsames Gemisch aus Sprachen, von dem ich nur einzelne Wörter verstand, und die auch nur sehr schlecht. Hin und wieder sah er sich gehetzt um. Seine Bewegungen waren seltsam eckig und hastig. Ein verdammt armer Hund, dachte ich, ein Schiffbrüchiger, für den es kein Zurück mehr gab, und der im Lauf der Zeit in der Einsamkeit seinen Verstand verloren hatte. Und ich dachte auch daran, daß ich mich schon selbst in einer derart traurigen und trostlosen Lage befunden hatte. Auch ich hätte auf der Lakkadiven-Insel, die ich Nameles getauft hatte, elend zugrunde gehen können. Dabei fiel mir gleichzeitig der ebenfalls verrückt gewordene Mann auf dem Wrack ein, der in meinem Beisein später gestorben war. Der Mann kicherte wieder, sah uns mit diesem weltentrückten irren Blick an und umarmte mich plötzlich. Wieder stammelte er Worte, und ich vernahm etwas von Schiffbruch, und daß er offenbar Fischer gewesen sei. Dann rannte der Mann davon, lief ein Stück über den Hang, sah die „Scout“ liegen und winkte uns aufgeregt. „Ein Verrückter“, sagte Master Fleet. „Ein Kerl, den man vermutlich ausgesetzt hat, demzufolge ein Meuterer.“ „Er sagte, er sei ein Fischer, Sir.“ „Jedenfalls ist er verrückt, daran besteht kein Zweifel.“ Er sah dem Mann nach, der immer noch aufgeregt winkte und dabei auf das Schiff zeigte. Gleich darauf kam er wieder angerannt und blieb keuchend vor uns stehen. Was er stammelte, war ein Gemisch aus Spanisch, schlecht verständlichem Englisch und Portugiesisch. Auch ein paar holländische Brocken waren dabei. Ich muß es wohl besser ins reine übersetzen, denn sonst würde ihn niemand verstehen. Er sagte stammelnd, er stamme vom südamerikanischen Festland und sei ein Fischer, der hier vor einem Jahr strandete. Seither habe er keinen Menschen mehr gesehen. Wir sollten ihn doch, bitte, mit an
Bord nehmen, seine ganze Hoffnung sei das Schiff. Und wir könnten ihn ja auf dem Festland wieder absetzen. Dabei schluchzte und heulte er, jammerte, kniete sich auf den Boden und rang die Hände. Tränen liefen ihm über das verschmutzte Gesicht in seinen urwaldähnlichen wilden Bart. Dieses Gejammer dauerte mich, denn ich konnte mich gut in die Lage dieses verrückten Mannes versetzen. Ich glaube, ich wäre so allein auch nach einer Weile verrückt geworden. Master Fleet rückte unbehaglich von ihm ab, steckte aber die Pistole ein. Den größten Teil des Gestammels hatte er ebenfalls verstanden. Seine Miene blieb kühl und mißtrauisch. „Er soll mal etwas genauer erzählen“, forderte Fleet mich auf. Viel genauer konnte der abgerissene Mann aber nicht erzählen, doch zu meinem grenzenlosen Erstaunen hörten wir nun eine gänzlich andere Version. Nach seiner zweiten Erzählung war er kein Fischer mehr. Piraten hatten ihn überfallen, ausgeraubt, geplündert und ihn auf dieser Insel zurückgelassen. Ich wurde aus seinem Kauderwelsch überhaupt nicht mehr schlau, und etwas später erzählte er gar noch eine andere Version von einem Schiffsuntergang, als er des Masters äußerst mißtrauisches Gesicht sah. Was sollten wir davon halten? Er berichtete ständig etwas anderes, so wie es ihm gerade einfiel, oder wie er glaubte, daß wir es hören wollten. Dann schluchzte er wieder und warf sich händeringend auf den Boden. Mitunter war in seinen Augen nur das Weiße zu sehen, dann kicherte er wieder übergangslos und redete allerlei Unsinn. „Schon gut“, sagte ich, „wir werden Sie ja schon ...“ „Was, bitte?“ fragte Fleet scharf. „Was werden wir schon, Mister Bonty?“ „Ich wollte ihm nur sagen, daß er sich nicht weiter ängstigen soll, Sir. Ich nehme an, Sie nehmen ihn mit, Sir.“ „Seit wann bestimmen Sie das?“ fragte er kühl. „Wie kommen Sie überhaupt dazu, einen derartigen Gedanken auch nur zu Ende zu denken! Ich denke gar nicht daran, und empfehle Ihnen, keine Versprechungen zu machen, die nicht einzuhalten sind. Ich nehme keine Verrückten an Bord, davon habe ich selbst genug.“ Ich sah wieder zu dem Mann hin, doch der Master blieb unerbittlich.
„Sehen Sie sich den Kerl mal genau an“, empfahl er mir, „der hat doch eine verteufelt ähnliche Art an sich wie dieser Mann, den ich auf der Insel hängen ließ. Wie hieß er doch?“ „Daniel Hawkins, Sir.“ „Richtig, der log auch ständig und redete sich immer wieder heraus. Das haben Sie mir selbst erzählt, und außerdem war er ein Meuchelmörder.“ „Aber Sir“, wagte ich einzuwenden, „wir kennen diesen Mann doch gar nicht. Man kann doch nicht pauschal urteilen. Der hier ist doch nur vor lauter Einsamkeit verrückt geworden.“ „Das ist mir egal“, sagte der Master schroff. „Der Kerl bleibt hier, wo er ist. Ich bin nicht gewillt, ihn an Bord zu nehmen und damit ein unwägbares Risiko einzugehen.“ „Sir“, sagte ich noch einmal mit einem bedauernden Blick auf den armen Irren, der sich wie toll gebärdete, als er unsere Ablehnung spürte. Das heißt, er spürte wohl mehr des Masters Ablehnung, denn ich hätte ihn sicher nicht hier zurückgelassen. Meine Argumente zogen nicht. Ich kriegte höchstens Streit mit Fleet, und der verlief dann sehr einseitig. Ich appellierte an seine Menschlichkeit, sprach von Humanität und empfahl ihm, sich einmal in die umgekehrte Lage zu versetzen. Aber das konnte oder wollte er nicht, und deshalb wurde er ruppig. „Mister Bonty“, sagte er scharf, „ich bin nicht hier, um mit Ihnen über Toleranz und Humanität zu diskutieren. Außerdem erscheinen Sie mir dazu noch ein wenig zu jung. Die Debatte ist beendet, und wenn Sie noch einmal widersprechen, lasse ich Sie an Bord wegen Disziplinlosigkeit hart bestrafen und in Eisen schließen. Ich habe mir den Quatsch jetzt lange genug angehört.“ Er drehte sich um und sah sich den Wasserfall an. Der Fremde stand da und starrte wild um sich. Dann stürzte er vor, strauchelte und fiel wieder vor dern Master auf die Knie, die er mit einer solchen Heftigkeit umklammerte, daß es Fleet jetzt doch zu bunt wurde. Kurzerhand feuerte der Master die Pistole ab. Die Kugel fuhr ein Stück voraus in den Tümpel. Der Knall war maßlos. Der Mann schrie gellend auf, schlug die Hände vor das Gesicht. als sei er getroffen worden, und rannte dann los. „Der würde die ganze Ordnung an Bord durcheinanderbringen“, sagte er. Er hob die Faust mit der Pistole und drohte dem Flüchtenden hinterher. „Scher dich zum Teufel, Kerl!“ brüllte er dabei.
Der Mann verschwand irgendwo zwischen den Baumstämmen und ließ sich nicht mehr blicken. Ich akzeptierte Master Fleets Tun ganz und gar nicht, aber ich war auch nicht Master Fleet, der eben ein besonderer Mann war, und der uns vielleicht, ich betone das Vielleicht ganz ausdrücklich, vor etwas Üblem und Schlimmen bewahrte. Das hing alles von den vielen „Vielleicht“ ab. Der Kerl konnte sich ganz manierlich benehmen, er konnte uns aber auch so zusetzen wie seinerseits Daniel Hawkins, der einsam und verlassen auf der Insel Last Hope an einem extra hohen Galgen hing, und der im Wind hin und her pendelte. „Zurück, Mister Bonty!“ Fleet riß mich aus meinen Gedanken und machte auf dem Absatz kehrt. „Hier werden wir Wasser mannen und auch ein paar Ziegen erlegen. Ich werde Mister Scinders nachher mit ein paar Mann an Land schicken.“ Von mir war nicht die Rede, dachte ich. Das hieß also, ich hatte meinen Rand wohl doch etwas zu weit aufgerissen, und daher würde ich an Bord bleiben. Er merkte mir meine Verstimmung an, aber es schien ihn innerlich zu belustigen, daß ich jetzt sauer war. Master Fleet konnte auch mit winzigen Nadelstichen strafen. Wir kehrten mit dem Boot an Bord zurück. Haßerfüllte Gesichter sahen Fleet an, nur der Erste und der Zweite gaben sich betont gleichgültig. Fleet erzählte kurz von dem Zwischenfall. Ich hielt mich zurück und hütete mich, ein Wort zu sagen. „Mister Scinders, Sie gehen mit einem Kommando von drei Leuten sofort an Land und füllen die Wasserfässer. Während die drei Männer die Fässer füllen, werden Sie ein paar Ziegen jagen. Es gibt genügend auf der Insel.“ „Aye, aye, Sir. Soll ich nicht lieber ein paar Männer mehr mitnehmen? Es geht dann viel schneller.“ „Drei Mann habe ich gesagt, und nicht mehr. Die Fässer können an dem Tümpel gefüllt werden, das geht ganz schnell. Dann lassen Sie die Fässer an den Strand bringen, und von dort werden sie abgeholt.“ „Wie Sie befehlen, Sir, aye, aye.“ „Nehmen Sie eine Muskete mit und fünf Schuß. Das müßte reichen.“ Ich ahnte. weshalb er nur drei Mann an Land ließ. Er nahm ganz sicher an, daß ein paar Kerle verschwinden würden, sobald sie erst einmal von Bord waren, und wenn es gleich acht oder zehn Leute waren, dann würde uns das empfindlich treffen. Schließlich konnten wir anderen ja auch nicht tage- oder wochenlang die Insel nach ein paar Deserteuren
durchsuchen. Die konnten sich in den reichlich vorhandenen Felsenbergen überall verstecken, daß niemand sie mehr fand. Das waren wohl seine Überlegungen. Und es sollte sich noch herausstellen, daß er ein guter Taktiker war. Aber sein schon geradezu berüchtigter Geiz kam ebenfalls wieder zum Ausbruch, als Scinders mit den Männern ins Boot stieg und die Wasserfässer verstaute. „Noch etwas, Mister Scinders“, rief Fleet vom Schanzkleid ins Boot. „Achten Sie mir auf die Wasserfässer, damit nicht wieder eins verschwindet, wie auf der letzten Reise. Ich werde Ihnen das Faß übrigens von der Heuer abziehen.“ „Aye, aye, Sir“, rief der Zweite verärgert zurück. Ich sah, wie sich seine Gesichtsmuskeln spannten, und er gleich darauf die Männer im Boot anpfiff. Das mit dem verschwundenen Faß auf der letzten Reise war eine Bagatelle. Aus irgendeinem Grund war es verschwunden, aber Fleet ließ extra ein Boot aussetzen und die Männer noch einmal zurückpullen, um das Faß zu suchen. Solche Kleinigkeiten regten die meisten Leute ganz besonders auf, denn ein anderer Master hätte vermutlich kein Wort über das verlorengegangene Faß gesagt. Aber Master Fleet war da eben anders. Das Boot legte ab und wurde zum Strand gepullt. An Bord befanden sich neben Scinders Slim Burnell, einer der Spanier und ein kleiner stiller und unauffälliger Mann namens Laughly. Als sie den Strand erreichten, fiel mir siedendheiß ein, was Slim Burnell vor einigen Tagen nach der ungerechten Bestrafung zu mir gesagt hatte. „Ich werde bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit desertieren, Mister Bonty. Hier hält es ja kein normaler Mensch aus.“ Genau das waren seine Worte gewesen, er hatte mit ruhiger Selbstverständlichkeit gesprochen. Ich befand mich in einer Zwickmühle, wenn ich das jetzt dem Master sagte, und ich merkte daran, daß auch Kleinigkeiten oder leicht dahingesprochene Worte mitunter sehr wichtig waren. Aber das konnte ich jetzt nicht mehr rückgängig machen. Wir anderen blickten dem Trupp nach. Ich sah die Sehnsucht in den Gesichtern der Männer, die auch zu gern an Land gegangen wären, und ich fühlte auch wieder diese unsichtbare Woge von Haß, die dem Master wegen seines kleinlichen Verbotes entgegenschlug. Dann hatte sich das noch mit dem verrückten Mann herumgesprochen, und auch Kleine Hölle zeigte ein besorgtes Gesicht.
„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll“, sagte er, „jedenfalls läßt kein anständiger Christenmensch einen Mann allein auf einer Insel zurück, wenn er die Möglichkeit hat, ihn zu retten. Und ob der Kerl wirklich ein Meuterer oder Deserteur ist, kann niemand wissen. Das ist kein schöner Zug vom Master.“ Fleet war nach achtern gegangen, doch nach einer knappen halben Stunde erschien er wieder an Deck und blickte zum Strand hinüber. Es war uns allen schon aufgefallen, daß bisher noch kein Mann mit dem Tragegestell für die Wasserfässer zu dem kleinen Boot zurückgekehrt war. Unser zweites Boot war ebenfalls abgefiert worden, und drei Mann standen bereit, um die Wasserfässer, die die anderen füllten, abzuholen. Es kehrte jedoch niemand zurück, wie ich sorgenvoll feststellte. Master Fleet begann unruhig auf und ab zu gehen, die Hände auf dem Rücken verschränkt, die Augen fast unverwandt zum Land gerichtet. Längst hätten die ersten Männer zurück sein müssen. Man hätte auch einen Knall hören müssen, denn Scinders hatte die streunenden Ziegen mit Sicherheit entdeckt und geschossen. Aber alles blieb unheimlich still und ruhig. „Da stimmt doch etwas nicht“, sagte Fleet nach einer Weile. „Die Wasserquelle ist doch nicht weit entfernt. Oder wagen es die Kerle etwa, dort in dem Tümpel erst ausgiebig zu baden?“ Darauf wußte Mister Johnson keine Antwort, den Fleet beim Sprechen so musterte, als sei der Erste schuld daran. „Ich habe auch keine Erklärung dafür, Sir. Vielleicht ist es möglich, daß dieser Halbirre sie überfallen hat.“ „Einer gegen vier, noch dazu gegen Scinders, der eine geladene Muskete bei sich trägt? Nein, ganz sicher nicht. Der Kerl ist auch sofort geflüchtet. Da steckt etwas anderes dahinter. Mister Bonty!“ „Aye, Sir?“ „Laden Sie meine Pistole wieder nach, und halten Sie sich bereit, mit mir erneut an Land zu setzen. Ich warte noch eine Viertelstunde, länger nicht.“ Er sah an sich herunter und deutete auf seine Schnallenschuhe. „Da ist Sand dran“, sagte er mißbilligend. „Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen? Soviel ich weiß, ist der Vierte Offizier dafür verantwortlich, daß kein Sand an Deck getragen wird.“ Der Kammerdiener, dachte ich, das ist der Vierte Offizier, denn für die Uniformen und Kleider war auch ich zuständig. Der Vierte war also auch der Schuhputzer des Masters an Bord.
Ich holte eine Bürste und eine kleine Messingschaufel und bürstete ihm den Sand von den Schuhen. Es war so wenig, daß man es kaum sah. Aber Fleet benahm sich so, als wäre er mitten durch die Sahara gelaufen. Das Schiff ähnelte schon verteufelt einer Dünenlandschaft, dachte ich sarkastisch. Als die Viertelstunde um war, kommandierte er mich ins Boot, sah wieder seine beiden Pistolen nach und reichte mir nach einigem Zögern eine, die ich in den Hosenbund schob. Das schien mir schon fast eine große Auszeichnung zu sein. An Land kehrten wir augenblicklich zu der Stelle zurück, wo sich die Quelle und der kleine Wasserfall befanden. Das Bild prägte sich mir sehr deutlich ein. Auch Master Fleet blieb abrupt stehen. * Scinders lag neben dem Tümpel auf dem Rücken. Die Muskete war verschwunden, die drei Männer ebenfalls, und mir jagte ein heißer Schauer bei dem Gedanken über den Rücken, daß Burnell seine Worte in die Tat umgesetzt hatte. Scinders hatte die Arme ausgebreitet. und sah aus, als sei er erschlagen worden. „Verdammt noch mal“, stieß der Master hervor, „die Kerle haben es gewagt, zu desertieren.“ Sein Gesicht wurde weiß vor Wut, und die Farbe kehrte erst dann wieder in seine Wangen zurück, als er sich neben Scinders auf den Boden kniete und seine Brust abtastete. „Er lebt“, sagte er und begann gleich darauf, Scinders mit leichten Ohrfeigen zu traktieren. Ich hielt inzwischen die Pistole schußbereit und sah mich nach allen Seiten um. „Glotzen Sie nicht in der Gegend rum“, fuhr Fleet mich an. „Von den Kerlen droht keine Gefahr, die sind längst über alle Berge. Sie werden sich hüten, an den Ort ihres Verbrechens zurückzukehren. Helfen Sie mir, Mister Scinders auf die Beine zu stellen.“ Recht hatte er, das mußte ich zugeben. Die Deserteure waren heilfroh, Scinders überwältigt zu haben und hatten längst den Weg zu dem Labyrinth der Felsen eingeschlagen und sich dort versteckt. Scinders hatte an der linken Schläfe eine blutverkrustete Beule, aber er schlug nach einer Weile die Augen auf.
„Was ist passiert?“ fragte der Master scharf. „Die ... dieser verdammte Spanier sprang mich plötzlich von hinten an“, erzählte Scinders mit verzerrtem Gesicht. „Dann kriegte ich einen Hieb ins Gesicht, und von da an war alles aus.“ Meine Schuld, dachte ich, aber wenigstens war es nicht Slim Burnell gewesen, sondern der Spanier. Fleet verzichtete daher auch auf einen Anpfiff, denn damit hatte selbst er nicht gerechnet. Er sah mißbilligend auf zwei der Wasserfässer, die zerschlagen neben dein Tümpel lagen. Das tat ihm vermutlich mehr weh, als die drei desertierten Leute oder Scinders blutverkrustete Beule, die er sofort als eine Lappalie hinstellte. „Das sind jetzt drei Fässer, die ich abschreiben kann“, murrte er. „Zurück an Bord. Nehmen Sie die zerschlagenen Dauben mit, vielleicht kann der Zimmermann daraus wenigstens ein neues Faß machen.“ „Und die Deserteure, Sir?“ fragte Scinders voller Wut. „Wollen wir die etwa laufenlassen?“ Fleet gab keine Antwort darauf, und so fragte Scinders auch nicht noch einmal. Wir klaubten einen Teil der Dauben zusammen und trugen sie den Hang hinunter, als Fleet plötzlich stehenblieb und zwischen die Bäume deutete. Da hatte sich etwas bewegt, das sah ich gerade noch aus den Augenwinkeln. Scinders war diese Bewegung ebenfalls nicht entgangen. Einen Augenblick blieb er wie unschlüssig stehen. Dann verzerrte er sein Gesicht vor grenzenloser Wut, er ließ die Dauben einfach fallen und rannte in langen Sprüngen auf jene Stelle zu. Der Master sagte kein Wort. Stocksteif stand er da und blickte durch die Bäume hindurch. Dort versuchte jetzt ein Mann zu flüchten. Aber er konnte nicht laufen, er kroch über den Boden, zog sich an Ästen und Gräsern weiter und begann zu humpeln. Scinders konnte er jedoch nicht mehr entkommen. Der war schon heran, sprang den Mann an und schlug ihm die Fäuste an den Kopf, bis der Flüchtling zusammenbrach. Dann hob er ihn grob auf, riß ihn an den Haaren hoch, lud ihn sich auf die Schulter und kehrte wieder zurück. Keuchend blieb er vor dem Master stehen und ließ seine Last zu Boden gleiten. Es war Slim Burnell, der sich das Bein bei seiner Flucht aus irgendeinem Grund gebrochen oder verstaucht hatte. Sein Gesicht war mit Blut verschmiert, und sein rechtes Auge schwoll langsam zu.
„Burnell“, sagte Scinders, immer noch schwer atmend. „Der hat es wohl nicht ganz geschafft.“ „Burnell“, wiederholte der Master. „Ist das nicht der Kerl, der wegen Aufsässigkeit bestraft wurde, Mister Bonty?“ „Ja, Sir, er ist es.“ „An Bord mit ihm. Mister Scinders wird ihn tragen. Sie nehmen noch ein paar der Dauben mit.“ Die vergaß er nicht einmal, wenn die Welt unterging, dachte ich und warf einen Blick auf Burnell, der wie leblos auf Scinders breiter Schulter hing. Etwas später waren wir wieder an Bord und wurden von den anderen umringt. Master Fleet schien sich diesmal zu meinem Erstaunen nicht aufzuregen, er stellte Burnell auch keine Fragen, als der wieder zu sich kam und ängstlich um sich blickte. Dafür übergab er ihn sofort dem Profos Big Bring. „Dieser Mann erhält zwecks Läuterung ein Dutzend Hiebe“, befahl er. „Die Mannschaft hat anzutreten und der Bestrafung beizuwohnen. Danach wird dieser Mann drei Tage lang ohne Verpflegung und Wasser ins Großwant gebunden, mit Blick zur Insel, damit er seine eigene Schandtat stets vor Augen hat. Die Bestrafung ist sofort durchzuführen. Walten Sie Ihres Amtes, Profos.“ Jeder Mann mußte jetzt mit ansehen, wie Burnell ein zweites Mal ausgepeitscht wurde. Zehn Hiebe hatte er vor etlichen Tagen erhalten, jetzt waren zwölf Schläge fällig, obwohl sein Rücken noch längst nicht gut heilt war. Burnell überstand nicht einmal den ersten Schlag, dann brach er schon aufschreiend zusammen und verlor das Bewußtsein. Als der Profos ihn losband, war Burnells Kreuz eine Masse aus fast rohem Fleisch, die mit der üblichen Seewasser-Prozedur behandelt wurde. Danach wurde der bewußtlose Mann mit dem Gesicht zum Land in das Großwant gebunden, wo er drei Tage hängen bleiben mußte. Diese Bestrafung ging den anderen durch und durch. Ich glaube nicht, daß es sie sehr abschreckte, vielmehr veranlaßte es sie, auch nach einer Möglichkeit zu suchen um von diesem Schiff und seinem höllischen Kapitän zu verschwinden. Einige freuten sich auch darüber, daß die beiden anderen Deserteure einfach verschwunden waren. Sie wünschten ihnen im stillen viel Glück.
Lieber auf dieser Insel, als weiter unter der Knute des Masters zu fahren. Hier konnte man überleben, auf der „Scout“ war das mitunter fraglich. Ich kannte die Gedanken ganz genau, die in ihren Köpfen spukten, ich konnte mich da einfühlen, denn ähnlich war es mir damals auf der Kriegsgaleone „Liberty“ ergangen. Später wurde ein zweites Kommando zusammengestellt. Diesmal ging es unter schwerer Bewachung an Land. Die Männer wurden beim Wasserfassen wie Sträflinge behandelt. Insgesamt wurden auch vier Ziegen geschossen und ein kleines Erdschwein. Dann wurde pausenlos Trinkwasser in die großen Fässer umgefüllt, und darüber verging der ganze Tag, bis es Nacht wurde. Erst da ließ Master Fleet das Wasserfassen einstellen. Die Bordwachen zogen auf, die beiden Boote wurden nicht an Bord genommen, weil sie am nächsten Tag noch gebraucht wurden, aber sie wurden scharf bewacht. Gleich am nächsten Morgen ging es weiter, bis gegen Mittag alle Fässer restlos gefüllt waren. Noch einmal mußten zwei Ziegen ihr Leben lassen. Man fand auch ein paar Früchte, wußte aber nicht, ob sie eßbar waren und verzichtete schließlich darauf. Beim Mittagessen fand jeder Mann einen kleinen Brocken Fleisch in der Grütze. Porridge hatte die Ziegen ausnahmslos geschlachtet und war jetzt damit beschäftigt, das Fleisch teilweise in Essigwasser und teilweise in Salzlake einzulegen. Als das letzte Boot an Bord war, wehte der Wind hart in die Bucht hinein und ließ die „Scout“ auf den Wellen tanzen. Jeder hatte eigentlich erwartet, daß Master Fleet jetzt die ganze Insel umkrempeln und nach den Deserteuren fahnden lassen würde. Doch er tat so, als hätte er den Vorfall längst vergessen. Da wurde ein Mann gemeldet, der auf die „Scout“ zuschwamm, als gelte es sein Leben. In schnellen Bewegungen paddelte er auf das Schiff zu. Zuerst dachten wir, es sei der Halbverrückte, aber dann erkannten wir in dem Schwimmer den kleinen stillen Laughly, der aufgeregt aus dem Wasser winkte. Master Fleet erschien fast heiter lächelnd auf dem Hauptdeck, als es ihm gemeldet wurde. und sah über die Bordwand, in deren Nähe er nun herumschwamrn. „Der muß glatt verrückt sein“, murmelte Jonny. „Der hat doch an Bord nichts mehr zu lachen, den läßt der Master halbtot prügeln.“
Master Fleet sah jedoch fast heiter auf den zappelnden Mann. Er ließ sich sogar dazu herab, ihn freundlich anzusprechen. „Was gibt es denn, Mister Laughly?“ erkundigte er sich. Der Mann im Wasser war ein Verzweifelter. Er winkte wieder, als sei er am Ertrinken, dann rief er mit klagender Stimme: „Verzeihen Sie einem armen Mann, Sir, haben Sie Erbarmen, Sir.“ „Natürlich verzeihe ich Ihnen“, sagte Fleet. großzügig und mit eindringlichem Zynismus. „Alles verziehen, Mister Laughly.“ „Ich bitte um Gnade, Sir“, erklang die Stimme aus dem Wasser. „Mir sind die Nerven durchgegangen, aber ich verspreche Ihnen, daß ich mir nie wieder etwas zuschulden kommen lassen werde.“ „Das ehrt Sie, Mister Laughly.“ „Ja, Sir, danke. Mir sind wirklich die Nerven durchgegangen.“ Fleet blieb immer noch zynisch-freundlich. „Diese Insel ist genau der richtige Platz, um strapazierte Nerven zu erholen, Mister Laughly“, rief Fleet. „Kurieren Sie sich in aller Ruhe aus, es wird Ihnen gut tun.“ „Ja, Sir, vergeben Sie mir. Darf ich jetzt an Bord?“ Alle Blicke waren auf den Master gerichtet, der lächelnd den Kopf schüttelte und der wie ein König auf einen abgerissenen und um sein Leben bettelnden Mann herabsah. „Nein“, sagte er, „an Bord dürfen Sie nicht. Sie haben sich für den anderen Weg entschieden. Viel Glück für Ihren weiteren Lebensweg, Mister Laughly.“ Aus dem Wasser erklang ein Schrei der Verzweiflung, der uns allen durchs Mark ging. „Sir“, sagte Mister Johnson. „Wollen Sie diesen Mann wirklich und wahrhaftig einem ungewissen Schicksal überlassen? Ich bin sicher, daß er sich wieder in die Bordgemeinschaft einfügen wird, wenn er mit einem Dutzend Hieben bestraft wird.“ „Ich bin mir da nicht sicher, Mister Johnson, und ich würde Ihnen raten, dieses Problem mir zu überlassen. Wir gehen ankerauf. Lassen Sie die Segel setzen!“ Erschüttert sahen wir zu dem Mann im Wasser, der seine falsche Handlungsweise eingesehen hatte und Reue zeigte. Doch das half ihm nicht, obwohl er selbst den im Want hängenden Burnell zu beneiden schien. Master Fleet blieb hart und unnachgiebig, er ließ nicht mit sich reden und schon gar nicht mit sich handeln.
Laughly paddelte noch eine Weile in ohnmächtiger Angst und Verzweiflung in Schiffsnähe herum. Master Fleet hatte ihm längst den Rücken gekehrt, die anderen Männer gingen auf einen harten Befehl auf ihre Stationen, da erschien Scinders auf dem Hauptdeck. „Verschwinde jetzt“, rief er, „wenn du dich noch einmal in der Nähe des Schiffes herumtreibst, lasse ich auf dich feuern. Hast du nicht gehört, was der Master gesagt hat, du Dreckskerl. Er wünscht dir gute Erholung. Pack dich, sonst wird auf dich geschossen.“ Erst diese massive Drohung half. Laughly sah ungläubig hoch, in seinen Augen stand die hilflose Angst. auf dieser Insel zurückbleiben zu müssen. Er hatte wirklich unüberlegt gehandelt und bereute das jetzt zutiefst. Doch er durfte nicht mehr an Bord, und so schwamm er langsam wieder zum Ufer zurück. Dort setzte er sich in den Sand, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte offenbar bitterlich. Jetzt waren es drei Mann auf der Insel. Laugly, der Spanier und der Verrückte. Aber von den beiden anderen war nichts zu sehen. Der desertierte Spanier hielt sich sicher in den Bergen auf und hatte die Muskete. Sie waren wirklich nicht zu beneiden, denn wer wußte schon, wann wieder ein Schiff die Insel anlaufen würde. Und wenn, dann waren sie inzwischen genauso verrückt wie jener Irre, und der nächste Master würde auch darauf verzichten, sie mitzunehmen. Das Bratspill drehte sich, gleichzeitig wurde am Kreuzmast das Marssegel gesetzt. Die Plains stemmten sich in die langen Spillspaken und begannen damit, den Anker zu hieven. Ganz langsam schob sich die „Scout“ auf den Anker zu. Jonny gab den Takt an, klatschte in die Hände und rief: „Hiev op!“ Scinders kümmerte sich beim Kreuzmast um das Segelsetzen, während ich an der Fock stand. Da gab es einen Knall, und am Bratspill stürzten ein paar Männer der Länge nach zu Boden. Flüche wurden laut. Der Wind packte die „Scout“ augenblicklich und drückte sie auf die westliche Seite der Bucht, wo die hohen Felsen und Klippen waren. Die Ankertrosse war gebrochen, schnellte wie eine dicke Schlange am Spill auf und erwischte einen Mann. Augenblicklich war an Bord der Teufel los, und gebrüllte Kommandos erklangen von Scinders. Für Schiff und Mannschaft bestand höchste Gefahr. Master Fleet blieb jedoch eiskalt, ruhig, gelassen und überlegt.
„Geit auf die Segel!“ befahl er laut, ohne das Kommando erst an Johnson, Scinders oder mich weiterzugeben. „Setzt den zweiten Anker, fiert nach!“ Seine ruhige Stimme sorgte dafür, daß keine Wuhling entstand. Die Männer am Bratspill rappelten sich fluchend auf, erkannten sofort die gefährliche Lage und handelten auf Fleets Befehl in rasender Eile. Die schon gesetzten Segel wurden aufgepackt, so schnell es ging, und gleichzeitig rauschte der zweite Anker auch schon ins Wasser. Immer weiter wurde Trosse nachgesteckt, bis die „Scout“ endlich nicht mehr so schnell trieb, sondern zu schwoien begann. Nach einer Weile hieß es: „Auf und nieder“. Die Trosse hielt, die Gefahr war gebannt. Master Fleet kam mit saurem Gesicht nach vorn, bückte sich und untersuchte das Bratspill und die noch verbliebene Trosse an Deck. Sie war einfach gebrochen, es sah jedenfalls nicht so aus, als hätte sie jemand heimlich angeschnitten oder präpariert. Die Geflüchteten kamen meiner Ansicht nach dafür nicht in Frage, denn die hatten allen Grund, die Nähe des Schiffes zu meiden. Die Trosse mußte durch Überbeanspruchung vielleicht gebrochen sein. „Mister Johnson“, sagte Fleet mit gerunzelter Stirn, „lassen Sie das kleine Boot aussetzen und nach dem verlorengegangenen Anker unverzüglich suchen, damit keine weitere Verzögerung eintritt.“ „Wir werden ihn gleich finden, Sir“, sagte Johnson. „Ich kenne die Stelle ungefähr.“ Was dann begann, war eine Plackerei ohne jedes Beispiel. Es sah so harmlos aus, aber hier war die Tücke des Objekts mit im Spiel. Einer behauptete sogar, die an Land Geflüchteten hätten den Anker verhext, was sogar der Master als hirnrissig bezeichnete. Zuerst fuhren vier Mann mit kleinen Draggen in den Händen die Strecke ab, wo Johnson den Anker vermutete. Dort fand sich jedoch nichts. Dann wurden andere Stellen abgesucht, und jeder behauptete, der Anker läge da und dort und nirgendwo anders. Aber dort lag er nicht, und auch an jener Stelle nicht, und langsam wurden die Männer ungeduldig. „Der Anker muß doch zu finden sein“, schrie Fleet gegen Mittag. „Er kann nicht spurlos verschwunden sein. Das nächste Kommando an Bord. In einer Stunde ist der Anker an Bord.“
Aber er war nicht in einer Stunde an Bord. Er hielt sich irgendwo auf dem Meeresgrund schamhaft versteckt, um dem geizigen Master Fleet ein Schnippchen zu schlagen. Pausenlos wurde ein Teil der Bucht nach dem anderen mit den Draggen abgesucht, und darüber wurde es später Nachmittag. Wir hätten die Insel schon längst an der Kimm zurückgelassen, wenn das mit dem Anker nicht passiert wäre. So aber suchten wir immer abwechslungsweise, bis es uns allen zum Hals raushing. Der Anker schien Fleet mehr wert zu sein als ein Goldbarren. „Scheiß auf den Anker“, sagte Jonny, als wir zusammen suchten. „So ein Anker läßt sich doch überall auftreiben, aber der Master vertrödelt lieber seine Zeit.“ Es kam noch schlimmer. Es gab keine Freiwache mehr, auch nachts nicht, weil er die Leute pausenlos in die Bucht schickte, um den verdammten Anker endlich zu finden. Wir waren müde und hungrig, erschöpft von der Suche und verfluchten das Ding in allen Tonarten. Als es finster wurde, ließ Master Fleet Lampen entzünden. Auch das zweite Boot wurde abgefiert, um sich an der Suche zu beteiligen. Die Leute murrten und waren böse. Sie wollten schlafen und sich ausruhen, doch es gab keine Ruhe, keine Pause. Wir schlangen im Stehen unser Essen hinab und mußten wieder in die Boote. Die Portugiesen und die beiden Spanier waren mehr als übellaunig und wünschten den Anker zum Teufel. Gegen Morgen wurde die Suche eingestellt, und wir atmeten erleichtert auf, weil wir uns nun ausruhen konnten. Doch darin sahen wir uns getäuscht. Nach einer knappen Stunde Schlaf – alle hingen müde und unausgeruht mürrisch und schlecht gelaunt herum – ließ der Master uns wieder wecken und an Deck antreten. „Wer schwimmen kann, stellt sich dort hinüber“, bellte er. „Wer es nicht kann, bleibt hier stehen.“ Ein Viertel der Besatzung konnte nicht schwimmen. „Die Nichtschwimmer gehen in die beiden Boote“, ordnete Fleet an, „und harken die Bucht mit den Draggen ab. Die Schwimmer werden so lange tauchen, bis der Anker gefunden wird.“ Das war ein eindeutiger Befehl, daran gab es nichts zu rütteln. Diesmal mußten auch Jonny und ich wegen dem verdammten Anker unsere Uniformen ausziehen und tauchen.
Nach zwei Stunden verfluchten wir den Master, nach drei wünschten wir ihn in die Hölle, und nach vier Stunden hofften wir, der Teufel würde ihn an einem gewaltigen Bratspieß rösten. Die anderen fluchten noch schlimmer, denn das Wasser war kalt, und sie froren sich nach ein paar Stunden die Knochen ab. Eine menschenunwürdige Schinderei war das. Schließlich machte einer sogar den Vorschlag, wir alle sollten zusammenlegen und einen neuen Anker kaufen, nur damit es endlich Ruhe gab. Fleet hatte sich in diesen lausigen Anker mit einer direkt üblen Zähigkeit und Pedanterie verbissen, und er ließ nicht mehr locker. So ein Anker koste schließlich Geld, sagte er lakonisch, und den ließ man nicht einfach auf dem Meeresgrund liegen. Am Nachmittag war mein Körper so steif, daß ich mich kaum noch bewegen konnte. Einer der Plains brach bewußtlos zusammen, zwei andere waren so erschöpft, daß sie nicht mehr einsatzfähig waren. Fleet blieb weiterhin unerbittlich. Die Männer mußten wieder raus, und dann eskalierte die Sache mit dem Anker, als wir ihn an diesem zweiten Tag immer noch nicht fanden. Zwei Tage lang suchten wir jetzt und wurden nicht fündig. In den Gesichtern stand neben Erschöpfung nur noch nackter Haß und blanke Wut auf den Master, der uns piesackte und schurigelte. Diesmal gab es drei Stunden Schlaf. Die meisten waren mehr tot als lebendig, etliche konnten einfach nicht mehr. Meine Haut sah so runzelig und waschbrettähnlich aus wie die einer Wasserleiche nach dem Auftrieb. Ich stolperte nur noch. „Der Anker kann nicht verschwunden sein“, beharrte der Master stur auf seinem Standpunkt, als es am dritten Tag gegen Morgen zu dämmern begann, und wir wieder ins Wasser mußten. Da streikte der eine Spanier. „Ich kann nicht mehr, Sir“, sagte er. „Meine Knochen sind zerschunden, ich bin halbtot.“ „Und ob Sie können“, sagte Fleet. „Ich werde Ihnen gleich beweisen, daß Sie noch nicht am Ende Ihrer Kräfte sind. Marsch ins Wasser! Sie tauchen jenen Streifen dort ab.“ Bei den geschundenen Kreaturen setzte etwas aus, ganz besonders bei dem Spanier. Seine Augen wurden klein und tückisch, er starrte Fleet äußerst feindselig an, und schien auch keine Angst mehr vor den Konsequenzen zu haben. Er war an jenem unsichtbaren Punkt angelangt, wo ein friedlicher Mensch plötzlich und übergangslos zur mitleidlosen, reißenden Bestie wird.
„Ich gehe nicht mehr ins Wasser“, sagte er wild. Widerspruch ertrug der Master schon gar nicht, und eine Befehlsverweigerung war für ihn das Allerschlimmste, was er sich nur vorstellen konnte. „Zehn Hiebe für diesen Mann“, sagte er hart. „Profos, vollstrecken Siedas Urt ...“ Im Kopf des Spaniers explodierte jetzt etwas. Ich glaube, er sah nur noch blutrote Nebel und darin ein breitflächiges überhebliches und verhaßtes Gesicht. Mit einem wilden Griff und einem zornigen Schrei riß er sein Entermesser hervor, hob den Arm und drang auf Fleet ein. Dabei schrie er wie ein wildes Tier. Ohne daß jemand einspringen konnte, denn es geschah in rasender Schnelligkeit, hob er das Messer und stach wild zu. „Cochino, sucio!“ schrie er. („Dreckiges Schwein !) Master Fleet taumelte durch den unerwarteten Anprall zurück und verzog schmerzhaft das Gesicht. Der Stich mit dem Entermesser hatte ihn in den linken Oberarm getroffen. Dann aber handelte Fleet noch schneller, als es jeder andere von uns vermocht hätte. Blitzschnell trat er zwei drei Schritte zurück, riß die geladene Pistole aus dem ledernen Bandelier, spannte ebenso blitzschnell den Hahn und drückte ab. Ein greller Knall ertönte, Pulver wölkte auf, die Pistole zuckte in des Masters Hand. Der angreifende Spanier, der weiter auf den Master einstechen wollte, blieb so hart stehen. als sei er gegen ein unsichtbares Hindernis geprallt. Zwei volle Sekunden blieb er so stehen, das erhobene Messer in der Faust. und starrte den Master an. Dann wurde sein Gesicht hart und eckig, der Arm sank schlaff herab, auf seiner linken Hemdseite brach wie eine Feuerrose ein blutrotes Fanal auf, und das Messer fiel auf die Planken. Noch im Stehen schloß der Spanier die Augen. Dann sank sein blutüberströmter Körper in sich zusammen, und er schlug hart auf die Planken auf. Augenblicklich war empörtes Gebrüll und Geheul zu hören, doch Fleet verschaffte sich sehr schnell Ruhe. als er die immer noch leicht rauchende Pistole in die Menge hob. „Wer weiter vorgeht, wird erschossen“, sagte er kalt. Er nahm auch mit seinem verwundeten Arm die zweite Pistole aus dem Bandelier und spannte sie.
Die Männer wichen aufschreiend und angstvoll zurück, denn jeder sah, daß der Master es blutig ernst meinte. Auch Johnson und Scinders zogen ihre Waffen, und Scinders konnte es sich nicht verkneifen, einem in seiner Nähe stehenden Mann kräftig und brutal zu treten. Niemand trat noch weiter vor. Manche standen am Schanzkleid und hoben die Arme, Angst und Panik standen in den Gesichtern, und jeder blickte tief erschüttert auf den leblos auf den Planken liegenden Spanier. „Zurück in die Boote!“ befahl der Master. „Es wird so lange weitergearbeitet, wie ich es befehle. Ab mit euch!“ Die total erschöpften, ausgelaugten und müden Männer folgten dem Befehl und verschwanden, um erneut nach dem Anker zu suchen, der jetzt sogar ein Menschenleben gekostet hatte. Nach einem kurzen Blick auf den Master kniete Jonny sich auf die Planken und tastete mit der Hand über den Brustkorb. Schließlich versuchte er den Herzschlag festzustellen. Als er sich aufrichtete, schüttelte er den Kopf. „Er ist tot“, sagte er leise. „Soll ich Ihnen helfen, Master?“ „Ich kann mir selbst helfen“, schnauzte Fleet, „es ist keine große Verletzung. Geben Sie den Toten über Bord. Beschweren Sie die Leiche aber mit einer Kugel.“ Es geschah so, wie der Master es anordnete, denn niemand wagte mehr, offen zu widersprechen. So wurde der tote Spanier mit einer Eisenkugel beschwert und über Bord gegeben. Fleet war dabei nicht anwesend, er versorgte seine Wunde selbst in der achteren Kammer. Eine knappe Stunde später wurde auch der Anker endlich gefunden und nach einer mühsamen Plackerei an Bord gebracht. Jetzt erst war Fleet zufrieden. Die anderen atmeten direkt erleichtert auf, denn nun konnte es endlich losgehen. Selbst Johnson und Scinders waren verstimmt und hatten schlechte Laune. Mister Johnson konnte sich auch einen Seitenhieb nicht verkneifen. „Nun ist ja alles wieder im Lot“, meinte er mit verkniffenen Lippen. „Das ist ein wahrhaft teurer Anker. Immerhin hat er ein Menschenleben gekostet, wenn mir die Bemerkung gestattet ist. Ich glaube nicht, daß ein Stück Eisen das wert war.“ „Sie können Ihre Bemerkungen für sich behalten“, rief Fleet. „Es geht letzten Endes auch nicht um den Anker, sondern um das Prinzip. Die Disziplin spielt dabei auch eine große Rolle. Ich brauche eine Mannschaft, auf die ich mich verlassen kann, und keine Meuterer, Deserteure und Arbeitsunwillige.“
Johnson wandte sich ab. Er sagte auch nichts mehr, weil er keine Lust hatte, mit Fleet zu diskutieren. Master God hatte ja immer recht. Als wir die Bucht an jenem unheilvollen Tag verließen, wanderten unsere Blicke noch einmal zum Strand. Dort standen zwei Männer – der Halbirre und der kleine stille Laughly. Sie hoben die Fäuste und riefen uns Verwünschungen nach, und der Halbirre tanzte mit großen Sprüngen kreischend und brüllend über den Sand und verfluchte uns. Der Spanier hingegen tauchte nicht mehr auf, er hatte sich versteckt. Auch Laughly schickte uns Flüche hinterher und verwünschte den Master in die finsterste Hölle. Der „Scout“ wünschte er Schiffbruch, Master Fleet den Tod. Doch Master God ließ das alles kalt und gleichgültig. Er war über derartige Beleidigungen erhaben, sie rührten ihn nicht. So stand er auf dem Achterdeck und blickte nach vorn, ohne die tobenden Männer am Strand auch nur eines Blickes zu würdigen. Ich selbst ging in die Kammer und schrieb die Ereignisse der beiden letzten Tage in die Kladde. * Unser nächstes Ziel war die Durchquerung der Estrecho de Magellanes, ein reichlich riskantes und gewagtes Unternehmen, von dem ich nur eine sehr vage Vorstellung hatte. Wir liefen jetzt auf Südkurs parallel zur südamerikanischen Küste. Sie war allerdings so weit entfernt, daß man sie nicht sah. Hin und wieder tauchte an der Kimm auf Backbord jedoch ein dunstiger Strich auf – Land, das in nebelhafte Fernen rückte und sich nur erahnen ließ. Auch auf dieser Fahrt zur Magellanstraße riß der Ärger an Bord nicht ab, und es gab immer wieder unliebsame Zwischenfälle. Dann wurden die Segel geschiftet, als wir immer weiter nach Süden segelten. Das Schiften war eine üble Plackerei. Die Schönwettersegel wurden eins nach dem anderen gegen die schweren Schlechtwettersegel ausgewechselt. Alle Mann waren pausenlos beschäftigt. Die weggenommenen Segel wurden sauber zusammengelegt und in großen Bahnen in der Segellast verstaut, die ständig gelüftet wurde, damit sich keine Stockflecken in dem Tuch bildeten.
Eins hatte sich jedoch noch an Bord geändert, und das war das Essen. Es gab wieder volle Verpflegung wie vorher, seit wir in der Nähe der Küste segelten, und es gab frisches Trinkwasser, was wir als regelrechtes Labsal empfanden. Natürlich waren die Rationen eben gerade so groß, daß man den schlimmsten Hunger stillen konnte, aber sie hatten immerhin den doppelten Umfang wie vorher. Das beruhigte die Gemüter ebenfalls ein wenig und zeigte, wie bescheiden Menschen werden konnten, wenn man ihnen nur etwas mehr zu essen zukommen ließ. Fleet hatte jedenfalls den Beweis erbracht, daß er den Pazifik mit äußerst kargen Rationen und fauligem Wasser überquerte, wenn auch unter einigen Opfern, Streit, Schlägereien und Bestrafungen. Noch war das Wetter einigermaßen schön. Ich sah in den Nächten deutlich das Kreuz des Südens und die Magellanwolken, die aus drei kleinen Sternennebeln bestehen und in der Nähe des südlichen Himmelspols zu finden sind. An jenem Tag war der Master auch etwas zugänglicher. Er monierte lediglich, daß einer seiner goldverzierten Knöpfe an der Uniformjacke an einer kaum sichtbaren Stelle etwas stockig sei, und ich ihn doch bitte polieren möge, und dabei auch nicht vergessen solle, ständig die in der Kleiderkammer abgelegten Uniformen und Kleidungsstücke zu inspizieren. Das brachte er ziemlich liebenswürdig heraus, doch der drohende Unterton in seiner Stimme entging mir dabei nicht. „Ein Strich Backbord!“ befahl er gegen Mittag. Der eine Strich ließ uns schon etwas später Land erkennen, einen langgezogenen Küstenstrich, der recht öde und verlassen wirkte. Auf dem Achterdeck waren Karten ausgebreitet. Fleet gab dazu kurze Erklärungen für die Offiziere ab. „In zwei Tagen erreichen wir etwa jene Stelle hier“, sagte er und zeigte auf die Karte. „Wir gehen dort bei Cap Deseado auf Ostkurs und segeln in die Magellanstraße. Das wird bei den dort herrschenden Winden ein kleines Problem werden, denn die Estrecho ist an jener Stelle sehr schmal, so daß wir uns fast durch ein Gebirge hindurcharbeiten müssen. Erst später wird sie wieder breiter. Aber wir ersparen uns den mühseligen Weg um die Hoorn.“ Fleet sprach nie vorn Kap Hoorn, auch andere, die das tückische Kap schon umsegelt hatten, sagten immer nur „die Hoorn“, oder bestenfalls mal Cabo de Hornos.
Um es gleich vorwegzunehmen: Was sich relativ einfach anhörte, erwies sich bald darauf schon als ein totales Fiasko, doch das ahnte an jenem Tag noch niemand. Die Küste rückte näher heran, immer wieder unterbrochen durch zahllose Inseln. Inseln, die absolut kahl waren, auf denen es nicht einmal einen verkrüppelten Busch gab. Unmerklich anfangs, wurde es dann sehr schnell immer kälter. Master Fleet ließ zusätzlich dicke Unterwäsche aus grobem Stoff ausgeben. An jenem Abend kriegten wir die ersten Ausläufer einer harten Wetterfront zu spüren. „Alle Mann an Deck“, erklang das Kommando. Jonny und ich, die wir gerade beim Abendessen in der Messe saßen, flitzten hoch. „Jetzt gibt's eins auf die Mütze“, prophezeite Jonny trocken. „Das habe ich schon lange erwartet.“ Die „Scout“ bewegte sich noch verhältnismäßig ruhig in der See. Aber sie torkelte leicht wie eine besoffene Lady, und sie rollte von einer Seite zur anderen, tauchte tief ein und nahm Wasser über. Als wir an Deck waren, sahen wir aus Osten her direkt über den unheimlich vielen kleinen und großen Inseln eine pechschwarze Wolke, die sich schwerfällig heranwälzte. Obwohl es kurz vor der Dämmerung war, verfinsterte sich der Himmel und wurde immer schwärzer. Der Wind ging der Wolke voran und begann stärker zu blasen. Böartig fauchte er vom Land her über die See. Die „Scout“ nahm das keineswegs so gelassen hin wie etwa die „King Charles“. Sie war direkt empört, daß die See jetzt von ihr Tribut forderte, nachdem sie so lange nicht belästigt worden war. „Boote sichern!“ rief Johnson. „Festzurren, Streck- und Manntaue ausbringen, alle Schotte und Niedergänge sichern.“ Beim Beaufsichtigen der Arbeiten legte ich selbst Hand mit an, denn es wurden wirklich alle Hände gebraucht. Das Unwetter war überraschend schnell gekommen, und so blieb nicht mehr viel Zeit. Während wir noch Mit den Arbeiten beschäftigt waren, verschwammen die Gestalten auf dem Achterdeck mehr und mehr. Sie zerflossen in Gischt und hereinbrechender Nacht zu unwirklichen Schemen. Gleich darauf ging es auch schon los. Ein Schwall Wasser brach aus den himmlischen Schleusen. Kaltes, peitschendes Wasser überflutete von oben die „Scout“. Gleichzeitig begann der Wind zu heulen, packte Stage, Wanten und Pardunen und ließ sie klingen. Die See ging höher, rollte nun in langgezogenen Bergkämmen heran. Das Schiff krängte hart über, auf der Leeseite
schob sich eine dunkle Front heran, die das Deck mit Krachen und Heulen überflutete. Übergangslos war es finster geworden. Lautes Ächzen war zu hören. Einer sah den anderen kaum noch, und man mußte schon brüllen, um überhaupt verstanden zu werden. „Das ist nur ein kleiner Vorgeschmack“, schrie Jonny mir ins Ohr. „Wenn wir in der Estrecho sind, kommt es noch dicker.“ „Noch ist es ja nicht schlimm“, schrie ich zurück. „Aber der Wind versetzt uns. Das Navigieren wird schwerfallen.“ „Das kriegt der Master hin“, rief Johnny zuversichtlich, was mir bewies, daß er doch große Stücke auf ihn hielt, jedenfalls soweit es sein seemännisches Können betraf. „Die Segel!” brüllte ich, „die werden uns noch davonfliegen.“ Zum Aufgeien oder Dichtholen war noch kein Befehl ergangen, aber das Tuch blähte sich gewaltig und begann unter den hart einfallenden Böen mitunter zu killen. Es knatterte dann so, als würden pausenlos Musketen abgefeuert. Jeden Augenblick fürchtete ich, die Bramsegel würden unter dem gewaltigen Druck aus dem Liek gerissen. Nachdem alles verzurrt war, und die immer höheren Brecher die „Scout“ überfluteten, hangelte ich mich an den Strecktauen in der Finsternis nach achtern. Die Männer sah ich gar nicht, denn der Regen peitschte noch immer so stark, daß ich kaum Luft holen konnte. „Die Segel stehen noch, Sir“, brüllte ich in die Dunkelheit. Ich sah den Master nicht, aber ich vernahm schemenhafte Umrisse menschlicher Leiber, ohne jemanden kennen zu können. Dann erst merkte ich, daß Master Fleet selbst am Ruder stand. Aber er gab auf mein Gebrüll überhaupt keine Antwort. Na, dann eben nicht, dachte ich. Wenn ihm die Segel davonflogen, war es ja schließlich sein Geld. Ich verstand auch nicht, weshalb er selbst am Ruder stand, aber ich sollte auch später noch bemerken, daß er in kritischen Situationen – wenn man kaum noch die Hand vor Augen sah – sehr oft das Ruder übernahm und die „Scout“ mit sicherer Hand durch die Finsternis steuerte. Die See ging jetzt so hoch, daß man Mühe hatte, sich noch an Deck zu halten. Und es wurde auch immer kälter. Der Regen wurde steinhart, so trommelte er herab, und als mich die Körner trafen, da spürte ich erst, daß es Hagel war, kleine Eisbrocken, die wie Schrotkörner vom Wind gepeitscht wurden. Absolut nichts mehr war zu sehen, und doch wusste ich, daß irgendwo auf Backbord Felseninseln waren, Tausende an der Zahl, mit vorgelagerten Klippen und tückischen Riffs, die man selbst bei Tage
kaum bemerkte. Aber ich fühlte mich auf eine unerklärliche Art sicher auf diesem Schiff, weil ich Master Fleet am Ruder wußte, den das alles nicht im geringsten zu beeindrucken schien. Und mich faszinierte es, daß er trotzdem die Segel stehen ließ, obwohl jeder andere sie längst dichtgerefft hätte, oder zumindest nur noch unter zwei Sturmsegeln gefahren wäre. Der Eisregen ließ etwas nach, auch der Wind pfiff nicht mehr so schrill. Die pechschwarze Wolke wanderte weiter aufs Meer hinaus, aber es blieb jetzt finster. Das alles hatte etwa eine Stunde gedauert, jetzt war das Schlimmste vorüber. Miff Mole brachte eine Sturmlaterne an Deck und hängte sie neben dem Kompaßgehäuse auf. Im flackernden Licht der Öllampe erkannte ich schattenhafte Gesichter, auch Fleets Gesicht, das breitflächig und angespannt wirkte, fast wie eine helle Scheibe mit undefinierbaren Schatten darin. Immer noch krängten wir hart über, fielen in die See, wurden emporgehoben und wieder hinabgeschleudert in lange Täler, die weit ausholend heranwalzten. Im Vorschiff krachte es dann bei jedem Eintauchen entsetzlich. Es hörte sich so an, als würde jedesmal der Bugspriet wegbrechen. „Sobald sich die See noch etwas beruhigt hat, Mister Johnson“, sagte der Master mit lauter Stimme, „lassen Sie alle Segel um zwei Drittel dichtholen. Ich fürchte, es wird später noch einmal losgehen, aber dann befinden wir uns zu dicht unter Land, und das Manövrieren wird schwierig.“ „Aye, Sir. Sollen wir nicht lieber den Tag abwarten, ehe wir bei Cap Deseado in die Estrecho segeln?“ Im Schein der Laterne sah ich, daß Fleet fast sorglos den Kopf schüttelte, den Rudergänger Gideon mit der linken Hand heranholte und wortlos ans Ruder stellte. „Ich glaube nicht, daß wir abwarten sollen bis es hell wird“, sagte er bedächtig. „Cap Deseado ragt weit in die See hinaus und ist ein Stück vorgelagert. Es ist kaum zu verfehlen. Sie, Mister Bonty, lassen jetzt gleich in die Webleinen eines jeden Mastens Laternen einbringen, damit man wenigstens das Schiff noch sieht. Beauftragen Sie Mister Mole damit.“ „Aye, Sir.“ Master Fleet redete mit einer solchen Sorglosigkeit von der sogenannten Estrecho, was soviel wie Meeresenge bedeutete, daß mir himmelangst geworden wäre, hätte ich das Kommando gehabt. Mein
Wort darauf, Sir, es war einfach unmöglich, sich hier nachts bei totaler Finsternis zurechtzufinden und überhaupt eine Insel von einer anderen zu unterscheiden. Bei Tag war das in diesem Gewirr aus Schären, Klippen, Inseln, Felsen und Riffs, dazu noch bei hochgehender See, schon so gut wie ausgeschlossen. Ein solches Navigieren gemahnte mich immer noch fast an Zauberei, denn die Mittel zur Navigation waren doch reichlich unzulänglich. Vielleicht gab es in hundert oder mehr Jahren Geräte, die weit bessere Hilfen waren, der Fortschritt auch auf diesem Gebiet ließ sich ja nicht aufhalten, wenn ich nur daran dachte, wie sich schon der Jakobstab oder der Kompaß entwickelt hatten. Nein, das schaffte der Master bei Nacht nicht, dachte ich. Wir würden uns in diesem Felsenlabyrinth hoffnungslos verfranzen oder irgendwo aufbrummen. Der Sturm flaute weiter ab, der Eisregen hörte auf. Über die Decks kroch Kälte, und ich freute mich schon auf meine Koje, genauso wie Kleine Hölle, dem auch schon die Zähne klapperten. Die Segel wurden um zwei Drittel dichtgeholt, wie der Master es angeordnet hatte. Miff Mole entzündete die Laternen, die der Wind nicht ausblasen konnte, und hängte sie in die Webeleinen der Wanten, bis das Schiff gespenstisch erleuchtet war. In jener Nacht gab es aber nicht viel Schlaf, denn weit nach Mitternacht mußten wir erneut an Deck. Schwere Brecher, die das Vordeck und einen Teil des Hauptdecks überfluteten, drückten die „Scout“ immer wieder unter Wasser und zwangen sie hart in die See. Über den nächtlichen Himmel jagten wieder schwarze Wolken in rasender Eile dahin. Weit auf Backbord voraus erkannte ich die Umrisse von Land. Wir schienen genau in das Land hineinzusegeln. Das Ruder hatte jetzt Mister Scinders übernommen. Seine Uniform war klatschnaß, bei mir klebte auch alles am Körper, und ich fror entsetzlich. „Wechseln Sie Ihre Wäsche, Mister Scinders“, sagte Fleet. „Sie, Mister Bonty, werden solange das Ruder übernehmen. Sie halten sich genau an meine Anweisungen und blicken nicht auf den Kompaß. Und wenn Sie die ,Scout' nicht exakt segeln, dann jage ich Sie auf der Stelle zum Teufel.“ Ich gebe ehrlich zu, daß ich mich davor hebend gern gedrückt hätte, doch dafür gab es keine Argumente. Fleet drückte mir extra die Verantwortung auf, ganz absichtlich, weil ich mich profilieren sollte,
denn das Ruder der „Scout“ hatte ich erst einmal bei gutem Wetter in der Hand gehalten, nicht aber bei Sturm und in der Nähe gefährlicher Klippen. Hier also war vor mehr als hundertundzehn Jahren schon der Portugiese Fernand de Magellan mit einem kleinen Schiff durchgesegelt, der als erster den Pazifik durchkreuzt hatte, und der später auf der Philippinen-Insel Mataan von Eingeborenen erschlagen wurde. Um auch das vorwegzunehmen: Wir erlebten eine höllische Pleite bei dem Versuch, die Magellanstraße zu durchsegeln. In der ersten Nacht ging es noch, doch am Morgen kam wieder schwerer Sturm auf, und die See gischtete schäumend und brüllend über uns hinweg. Bis zum Achterdeck reichten die Brecher, und immer, wenn Fleet mich ans Ruder stellte, dann schwitzte ich Blut und Wasser, und bei der lausigen Kälte wurde mir siedend heiß. Wir segelten mit nur wenig Tuch durch eine Hölle aus Felsen, kleinen und großen Inseln. Mal waren die Klippen so hart an Steuerbord, daß wir fast die Felsen berührten, mal wurden wir nach Backbord getrieben und drohten auf Grund zu laufen. Wie man sich hier noch zurechtfinden sollte, wußte ich wirklich nicht. Der Wind blies kalt und eisig, und wieder prasselten Hagelschauer über das Deck. Zeitweilig lagen die Körner wie dichter Schnee auf dem Achterdeck. Dann wischte ein tosender Brecher sie über Bord. Am Mittag sprang auch noch der Wind um und blies fast von vorn. Master Fleet stieß eine Verwünschung aus. Wir konnten in dem engen Fahrwasser nicht aufkreuzen, und so trieb uns der Wind wieder ganz langsam über Steuerbord achteraus. Hin und wieder standen wir auch wie festgenagelt auf der Stelle. An beiden Seiten war keine Bewegung mehr zu erkennen, das zerklüftete und kahle Land „floß“ nicht mehr an uns vorbei. Stundenlang starrten wir durch Gischt, Regen und Hagelschauer immer wieder auf dieselbe Stelle. Dabei bewegte sich die „Scout“ immer hart auf und ab und nahm bei jedem Überholen Unmengen Wasser an Deck, die kaum durch die Speigatten wieder abflossen. Die Kleidung trocknete auch nicht mehr richtig. Sie blieb ewig klamm. In der Kombüse war seit zwei Tagen das Feuer erloschen. Der Master hatte es angeordnet, und das wirkte sich auch auf die warme Verpflegung aus, die wir gerade jetzt dringend benötigten. Kamen Jonny und ich von der Wache, dann zogen wir unsere Plünnen aus, wrangen sie aus, hängten sie auf oder legten sie über unsere
Kojen. Zogen wir sie wieder an, dann waren sie immer noch feucht und voll eisiger Kälte, und das sollte sich auf lange Zeit auch nicht mehr ändern. Unser Essen bestand nur noch aus Wasser, das natürlich auch eisig kalt war, einem Stück Hartbrot, das durch die ewige Feuchtigkeit permanent Schimmelflecken hatte, und einem Stück Salzfleisch, das wir erst in kaltem Wasser abspülen mußten, ehe es einigermaßen genießbar wurde. In der Estrecho befanden wir uns jetzt volle fünf Tage, ohne etwas erreicht zu haben. Der Sturm stand gegen uns an, oder er wehte so hart von Backbord, daß wir immer Gefahr liefen, auf Legerwall zu geraten. Es war ein Höllenleben, und trotzdem nur ein Vorgeschmack auf das, was uns noch erwartete. Den Männern, die im Geschützdeck schliefen, erging es dabei noch schlechter als uns. Master Fleet hatte Pferdedecken ausgeben lassen, damit die Leute nicht so froren. Sie froren aber trotzdem, und wenn sie morgens an Deck kamen, dann sahen sie hungrig, verschlafen und verfroren aus und schnatterten. Am siebten Tag hatte Fleets Verdrossenheit einen Tiefpunkt erreicht. Die „Scout“ war einmal dicht an den Felsen entlang geschrammt und berührte sie mit ekelhaftem Knirschen. Zum Glück war nichts weiter passiert und auch keine Planke angeknackst worden. Jetzt allerdings reichte es dem Master. Er hatte die Nase voll. Wir befanden uns an der riesigen unbewohnten kahlen und trostlosen Insel Santa Ines, einer zerklüfteten Landmasse, menschenfeindlich, kalt und abweisend, deren höchste Erhebung einige hundert Yards aus dem Meer ragte. Ich wollte ihn schon fragen, woher er den Namen der Insel wisse, denn es stand kein Schild zur Orientierung darauf, und sie unterschied sich von den anderen öden Inseln keineswegs, aber die Frage verkniff ich mir gerade noch. Er wußte es eben, wie, das blieb mir ein Rätsel. „Es ist zwecklos“, sagte er brummig und enttäuscht. „Der Wind kann noch wochenlang gegen uns anstehen. Wir gehen bei Santa Ines wieder zurück in den Pazifik und runden die Hoorn. Möglicherweise können wir an der Hoorn durch die Estrecho de Le Maire segeln und uns den Weg um die Islas de los Estados ersparen. An der Hoorn scheint mir der Wind günstiger zu stehen.“
Das war sein einziger Irrtum während der Reise, schwerwiegend genug, doch wenn wir weiter wollten, dann mußten wir die Hoorn runden, daran führte kein Weg vorbei. Also segelten wir, als wir an der Santa Ines vorbei waren, wieder durch enges Fahrwasser und bedrohliche Klippen in den Pazifik hinaus. Jetzt schob uns der Wind mit aller Kraft. Allerdings liefen jetzt auch die Brecher von achtern auf, und zwar so gewaltig, daß wir uns auf dem Achterdeck anbinden mußten, um nicht über Bord gewaschen zu werden. Ein paar Tage später erreichten wir das berüchtigtste Kap der Welt, und dann ging der Höllentanz erst richtig los. * Kap Hoorn! Grau und finster war der Himmel, verhangen von schweren Sturmwolken. Die kalten Tage waren nur noch kurz, die Nächte dafür umso länger. Die See türmte sich gewaltig auf und rollte westwärts. Die sich auftürmenden Wogen hatten graue Bärte, schaumgekrönt, von grünlich-grauer Farbe. Pausenlos fluteten sie heran und hoben die „Scout“ hoch in den Himmel. Ich stellte mir das Runden um die Hoorn gar nicht so schwierig vor, aber Master Fleet belehrte mich auf meine diesbezügliche Frage eines Besseren. „An der Hoorn kommen Wind und Strömung meist von Westen“, erklärte er mir. „Man hat es schwer, die Hoorn zu runden, wenn man vom Atlantik in den Pazifik segelt. Da muß man immer West machen, immer nur West, und man kommt nicht voran. Wir haben es ebenfalls schwer, denn wir rollen mit hoher achterlicher See und werden schneller nach vorn geblasen, als mir lieb ist. Das kann starke und weite Abdriften zur Folge haben, und wir sind nicht in der Lage beizudrehen, weil wir sonst querschlagen. Manche Schiffe haben monatelang gegen den Sturm angeknüppelt, manche sind nach Süden gedriftet und zwischen die Eisberge geraten und für immer verschollen. Ich sage Ihnen das nur, damit Sie einen ungefähren Begriff kriegen, was uns erwartet. Sie werden sich noch verdammt zusammenreißen müssen.“ Es war jetzt eisig kalt.. Hin und wieder war in den auflaufenden Riesenseen tief unten mal der Spout eines Wales zu sehen, der seinen Atem ausblies. Den Giganten der Tiefsee machte die See nichts aus,
die konnten wieder abtauchen, wir aber nicht. Wir nahmen die See voll und ganz von achtern. Mit beängstigendem Tempo erschienen himmelhoch getürmte Ungeheuer unvermittelt weit achteraus. Mir kam es so vor, als hätte sich das gesamte Meer grollend erhoben. Warf ich einen Blick nach achtern, dann krampfte sich mir der Magen in der Gewißheit zusammen, daß wir diesen Wellenberg niemals verkraften konnten. Und immer dicht vor der „Scout“ erhoben sich diese triefenden bärtigen Wasserriesen, rissen ihre gewaltigen Mäuler drohend auf und begannen brüllend und fauchend zu kippen, uni das Schiff zu verschlingen. Die „Scout“ rannte voller Angst fast senkrecht in den Himmel, wie, um den brüllenden Wasserbergen davonzulaufen. Dann ritt sie in einem wahren Höllentempo ein Stück auf der Woge mit und wurde in ein tiefes finsteres Tal geworfen. Der Aufprall war jedesmal so hart, daß die Masten bis ins Kielschwein erzitterten und die Rahen wild hin und her schwangen. Auch krängte sie dann so hart über, daß sich niemand mehr ohne Halt an Deck aufhalten konnte. Das Schlimme war jedoch das tiefe Tal, in dem sie, einer Nußschale gleich, fast auf dem Grund der See zu sitzen schien, sekundenlang in Bewegungslosigkeit erstarrt. Dann türmte sich sehr hoch über uns schon das nächste Gebirge auf, das donnernd heranraste, wild aufschäumte und brüllte, und mit seinen Millionen Tonnen von Wasser zum vernichtenden Schlag ausholte. Die dritte oder vierte Woge schafften wir nur sehr mühsam. Die „Scout“ kletterte nicht schnell genug empor, und so wurde sie von den Wassermassen fast erdrückt und geschunden. Sie knarrte und ächzte in allen Verbänden, das feste Gut erzitterte jedesmal unter der ungeheuren Last, und die Wassermassen rasten über das Achterdeck und weiter bis zum Hauptdeck. Die See stand wie eine Wand aus brodelndem Schaum über dem Deck. Das Schanzkleid war nicht mehr zu sehen. Das Wasser konnte nicht mehr durch die Speigatten ablaufen, und so brodelte und zischte es wieder über das Schanzkleid zurück. Mitunter wußte ich nicht mehr, ob es Tag oder Nacht war. Bald wurde es dunkel, dann ritten wir wieder durch fahlgraues und verhangenes Dämmerlicht in den ewigen Wogen, gleich darauf riß uns eine orkanartige Bö die Beine weg, und obwohl auf dem Achterdeck jeder angeleint war, umklammerten wir trotzdem immer noch zusätzlich die Strecktaue.
Die Kälte ließ meine Ohren fast steif werden. Der Wind pfiff und heulte von allen Seiten, der Gischt wurde so dicht, daß die Luft nur noch aus fauchendem Schaum bestand, der mir jedes Wort von den Lippen riß. Die Elemente tobten sich jetzt aus, als wären alle Schlünde der Hölle aufgebrochen. Mit urweltlichem Grollen und einem Getöse, wie ich es noch nicht vernommen hatte, zischte, kochte und brodelte die See. Dazu heulte und jaulte der eiskalte Sturm entsetzlich. Ich hatte mich neben Jonny am Strecktau verkrallt und sah voller Entsetzen aus dem Gischt einen Berg auftauchen, den ich im ersten Schreck für ein riesiges Riff hielt. Es wuchs unvermittelt von allen Seiten gleichzeitig auf. Ich sah, daß der Master etwas schrie, doch seine Worte waren unverständlich, denn dieser Berg wölbte sich jetzt über uns zusammen, drückte uns hart gegen die Planken und schlug dann mit einem unvorstellbar lauten Geräusch zusammen. Das Letzte was ich sah, war, daß die „Scout“ sich querlegte, und die Rahnocken durch das Wasser pflügten. Dann hing ich wie erstickt in der Leine, die blaugefrorenen Hände um das Strecktau gekrallt. Das ist das Ende, dachte ich, das letzte Aus. Ein donnernder Schlag drang an meine Ohren, kaltes Seewasser füllte meine Augen, unvorstellbare Gewalten quetschten mich zusammen. Die „Scout“ schien dieser Donnerschlag in tausend Stücke zu zerreißen. Die Beine wurden mir weggerissen. Zehntausend Pferde rissen und zerrten an mir, streckten mir die Knochen in die Länge, hieben mit Urgewalten auf mich ein. Und dann war da nur noch Wasser, kaltes, höllisch brennendes Wasser in einem Sog, der mich hin und her riß. Ich ertrank fast, ich konnte nicht mehr, erstickte, erfror oder verbrannte jetzt, oder wurde bei lebendigem Leib geröstet. Oder die Gewalten spalteten mir den Schädel und den Körper zugleich. Ich wollte schreien, doch ich befand mich tief auf dem Grund der See und kriegte keine Luft mehr. Das Schiff wurde mir pausenlos auf den Kopf geschlagen, so glaubte ich jedenfalls all das zu erleben. Wieder drang ein Donnerschlag an meine Ohren. Ich spuckte Salzwasser, meine Hand wurde von dem Strecktau losgerissen, und die Leine, die mich noch an Deck hielt, strangulierte mich fast. Ewigkeiten vergingen, ehe ich überhaupt wieder einen einigermaßen klaren Gedanken fassen konnte. Jonny hing wie tot an der Leine. Master Fleet hatte sich im Ruder verkrallt, zweifach angeleint, halb er-- trunken, genau wie ich oder Johnson. Scinders war nach unten gegangen, er konnte nicht mehr an
Deck, selbst wenn er wollte nicht. Ähnlich erging es den Männern im Geschützdeck, die von einer Seite zur anderen geworfen wurden. Auch sie konnten nicht mehr nach oben. Sowie das Schott zu einem der Niedergänge geöffnet wurde, waren wir erledigt. Die See lief mit einem bösartigen Zischen ab, aber nur, um gleich wieder zum nächsten Schlag auszuholen. Wir lagen jetzt angeschlagen hart auf Backbord in der See, und die Wogen verhinderten, daß wir uns wieder aufrichteten, denn jetzt kriegten wir sie von achtern und von dwars. Die „Scout“ begann immer stärker zu krängen. Sie ließ sich nicht mehr steuern. Wir waren zum hilflosen Zuschauen verdammt, denn tun konnten wir nichts, absolut gar nichts. Wir mußten auf dem Achterdeck ausharren, und wenn es tagelang so ging. Jeder Versuch, auch nur nach unten oder in die Kammer zu gelangen, war zum Scheitern verurteilt. Der nächste Brecher hätte auch den stärksten Mann über Bord gewaschen. Ich dachte immer, daß es nicht mehr schlimmer kommen konnte, doch es gab immer noch eine Steigerung. Beidrehen, um die Riesenwogen von vorn zu nehmen, war nicht mehr möglich, wir waren eine steuerlose Nußschale, mit der Sturm und Wellen ihr tödliches Spiel trieben. Meine Hände waren zerschunden, meine Fingernägel abgebrochen, mein Körper stark unterkühlt und die Fingergelenke waren vom Salzwasser zerfressen und brannten höllisch. Wir „machten jetzt Ost“, wie man das ausdrückte, und wir machten schneller Ost als uns allen lieb war. Ich weiß nicht, wie schnell wir waren, aber ich glaube, daß uns so ein Riesenberg mitunter gleich meilenweit voranschob. Immer wieder wurde die „Scout“ geschüttelt, tauchte tief unter, schnitt ein, versoff bald, hing wie ausgeschlachtet auf der Seite und schaffte es nicht mehr, sich aufzurichten. Im nächsten Ansturm einer zischend und orgelnd herandonnernden Woge gab es einen dumpfen Knall, als wären im Schiff zwei oder drei Faß Schießpulver explodiert. Wieder schrie Master Fleet etwas, und wieder riß ihm der Sturm die Worte von den Lippen, die ganz blaugefroren waren. Ich starrte mir in diesem Chaos von gischtenden Wassermassen, Schaum, grauen Riesenbärten und blitzenden Schaumkronen die Augen aus, was den Knall wohl verursacht haben könnte.
Dann sah ich es, als die Wassermassen brodelnd und schäumend ins Meer zurückflossen. Die Fockmarsrah war verschwunden. „Die Fockmarsrah ist gebrochen“; schrie ich. Auf den „Sir“ pfiff ich jetzt etwas, den nahmen Sturm und Wogen mit. Doch der Master verstand mich nicht, und so deutete ich nach vorn. Im gleichen Augenblick schlug Rasmus zu, als wollte er mir das vorlaute Maul stopfen. Ein Brecher kam über und sackte mich ein, bis mir das Sprechen und auch gleich das Luftholen gründlich verging. Kaum war er über uns hinweggedonnert, da sah ich die Rah, einen riesigen angesplitterten Prügel, der sich am Schanzkleid und dem Schott der Kombüse beim Herabstürzen verklemmt hatte. Die nächste Woge riß ihn spielerisch wie einen Zahnstocher hoch, drehte ihn um und richtete ihn wie ein hölzernes Geschoß aus, bis die Rah genau aufs Achterdeck zielte. Da kam sie auch schon in einem Wirbel aus Schaum und Gischt herangeschossen, und ich schloß vor hilfloser Angst entsetzt die Augen. Sie würde alles kurz und klein schlagen, und wen sie traf, der wurde erbarmungslos zu Brei geschlagen. Dann folgte ein Splittern und Krachen, die „Scout“ schüttelte sich, ächzte und erzitterte in allen Verbänden und gebärdete sich wie rasend, während sie sich gleichzeitig noch weiter nach Backbord überlegte. Wasser ertränkte mich wiederum fast, ich kriegte diesmal eine Menge Salzbrühe in den Magen und auch in die Luftröhre, hustete, würgte und mußte mich schließlich übergeben. Dabei hing ich noch immer halb stranguliert an der Leine, und mir war so hundeelend zumute wie schon lange nicht mehr. Als ich die Augen wieder aufriß, zerschlug die Rah gerade ein Beiboot. Sie drosch mit einer solchen Gewalt hinein wie ein Schnitter, der das Korn reihenweise fällt. Die Rah zerlegte das Boot mit fast beängstigender Präzision und unglaublicher Kraft sauber in alle seine Teile. Sie mähte die Dollbords nieder wie mit einer Riesensense, und sie hieb dabei auch gleichzeitig die Rippen und Planken kurz und klein. Das Boot zerlegte sich total. Der Rest waren kleine Holzteile, mit denen die See das Haupt- und Achterdeck wild überschwemmte. Die Trümmer verschwanden weit hinter uns im kochenden Inferno einer verrückt gewordenen Welt. Das Boot war mir egal, es berührte mich gar nicht mehr. Vielleicht kam der Master über den Verlust wieder einmal nicht hinweg, doch ihm selbst schien in jenem Augenblick das Boot auch ziemlich gleichgültig
zu sein, denn ich sah aus den Augenwinkeln, wie auch er sich erbrach und halb erstickt in den Leinen hing. Doch das ging bei ihm rasch vorüber, und jetzt starrte er dorthin, wo die See erbarmungslos damit begann, die „Scout“ selbst in Trümmer zu legen. Die Segel waren – weil wir lenzten – so dicht wie nur möglich aufgepackt worden und so fest verschnürt wie es nur ging, damit der Wind keine Angriffsfläche hatte. Und doch schaffte es der orkanartige Sturm, an dem schweren Tuch so lange zu zerren und zu reißen, bis die ersten Bändsel, Zeisinge und Gordings sich lösten. Das war jetzt beim Großmast der Fall. Das Bramsegel wurde hin und her gezerrt, der Mast zitterte und wankte, die Rah begann zu schlagen, offenbar hatte sich eine der Brassen gelockert, und dann entstand an der Rah plötzlich ein riesiger Ballon, der sich gewaltig aufblähte. In diesem Augenblick sah der Master mich ganz bewußt an, und ich will verdammt sein, wenn sein Blick nicht ausdrückte, daß ich sofort aufzuentern hatte, um das wildgewordene Segel zu bergen. Direkt vorwurfsvoll war der Blick auf mich gerichtet. Aber ich hatte schon die allergrößte Mühe, überhaupt noch am Leben zu bleiben. Scheiß auf das Segel, dachte ich, es berührte mich gar nicht. Sollte es davonfliegen, wenn nur der Schiffsrumpf selbst uns über Wasser hielt, was unwahrscheinlich genug zu sein schien. Nichts konnten wir tun, gar nichts, nur zusehen, wie der Sturm jetzt gierig in den Ballon hineinfuhr. Ein gewaltiger Knall war zu hören, ein knatterndes Killen, und dann riß das Schwerwettersegel in der Mitte auseinander. Das mit Schiemannsgarn extra stark umwickelte Liek riß aus, und was fünfzig harte Fäuste nicht geschafft hatten, das erledigte jetzt der Wind. Wie Pergamentpapier riß er das Segel in dünne Streifen. Zum Glück zerfetzte es zu schmalen, flögelartigen Streifen, sonst hätte die Rah wohl gleich mit dran glauben müssen. Während ich noch zusah, schnitten wir bereits wieder tief unter, und das teuflische Spiel um unser Leben begann erneut. Man mußte die Wellen schon berechnen, um ja nur recht lange und ausgiebig die Luft anhalten zu können. Der letzte Streifen war nun auch davongeflogen. Unter uns, im Geschützdeck war Geschrei zu hören, doch der heulende Sturm deckte jeden Schrei zu und erstickte ihn. Selbst das Poltern aus dem Deck erklang gegen das Brüllen der See nur zart rumorend.
Dann prasselte wieder Hagel hernieder. Groß wie Haselnüsse peitschte ihn der Wind über die See. Fast horizontal kam der eisige Schauer herangefegt und verschloß unsere Münder, knallte wie prasselndes Schrot in die Gesichter, ließ dunkelrote und blaue Striemen auf der Haut zurück. Mein Gott, dachte ich, hörte das denn nie mehr auf? Bestand das ganze Leben nur noch aus diesem furchtbaren höllischen Geschaukel, dem wilden Brüllen tobender Elemente, Kälte, Hunger und Durst! Es ging den ganzen Tag so, und ich hatte das Gefühl, als hätte mir ein hünenhafter Schmied alle Knochen kaputtgeschlagen. Ich litt und fror entsetzlich, war aber so hilflos angeleint, daß ich mich nicht mehr bewegen konnte. Es war auch unmöglich, etwas zu rufen oder zu fragen, denn der Orkan riß mir die Worte von den Lippen und ließ sie gar nicht erst heraus. Hin und wieder warf Jonny mir einen Blick zu. Sein Gesicht war blaurot angelaufen, er fror noch mehr als ich. Mister Johnson litt Höllenqualen, nur auf Master Fleets Gesicht lag etwas wie Trotz und daß er seinem Schiff vertraute. Auch er zitterte vor Kälte. Die Nacht kam. Der Wind jagte uns schwer angeschlagen einem Ziel zu, von dem wir nichts wußten. Es gab keine Sterne, an denen wir uns orientieren konnten, und am Tag keine Sonne, die uns den Kurs wies. Wir lenzten, immer weiter, vermutlich trieben wir weit nach Südwesten hinunter, denn es wurde immer kälter. Unsere Kleidung begann am Körper anzufrieren. Arme und Beine waren wie tot. Wir hingen nur noch wie leblose Puppen in den Tauen auf dem ständig unter Wasser stehenden Achterdeck. Die Hoorn raubte auch dem Unbeugsamen den letzten Nerv und ließ ihn zu einem Häuflein Unglück werden, das sich seiner ganzen Erbärmlichkeit bewußt wurde. Gegen Morgen, als bleigraue Wolken dicht über unseren Köpfen am Himmel dahinjagten, hatten wir immer noch starke Schlagseite. Die See ging nicht mehr ganz so hoch wie in der Nacht, aber an Deck konnte man sich immer noch nicht bewegen. Bei jedem Überholen rollten Tausende Tonnen Wasser über die geplagte „Scout“ und hieben Urgewalten nach ihr, denen sie nicht mehr lange trotzen konnte. Dann flaute der Sturm ein wenig ab. Auf die See hatte das allerdings keinen Einfluß, sie rollte beständig und mit gewaltigen Bergen heran und ergoß sich brausend und brüllend über das Schiff. Ich sah wie „Master God“ sich an seiner Leine zu schaffen machte. Sein klatschnasses Haar hing ihm wirr in die Stirn, seine sonst so
schicklich und piekfeine Uniform hing wie ein nasses Bündel Lumpen an ihm, aber er nestelte an seiner Leine, bis er sie endlich gelöst hatte und hielt sich dann an den Strecktauen fest. „Master Fleet!“ schrie ich so laut ich konnte, denn er war so beschäftigt, daß ihm der nächste Brecher entging. Er sah ihn erst, als es schon zu spät war. Jonny griff zu, Johnson griff zu und auch ich streckte die Hand aus, aber wir alle drei hatten viel zu wenig Spielraum und Bewegungsfreiheit, und so griffen wir ins Leere. Fleet aber sah wohl meine entsetzt aufgerissenen Augen. Er griff zu, verkrallte sich mit übermenschlichen Kräften in den gespannten Tauen und drehte der herantobenen Wassermasse, einem unvorstellbar hohen, gläsern erscheinenden Berg, schnell den Rücken zu. Ich wußte, daß Fleet unbändige Kraft hatte, auch wenn man ihm das nicht ansah, doch gegen die heulende und verrückt gewordene Natur halfen ihm auch seine Bärenkräfte nicht. Als die Woge über dem Achterdeck emporstieg, schien es einen Augenblick so, als würden seine weißen Hosen mit einem riesigen Blasebalg blitzartig aufgepumpt werden. Ein für Augenblicke gewiß unter anderen Umständen recht lachhaftes Bild, doch daran dachte ganz sicher keiner von uns. Die Gewalt der stürzenden Wasserlawine war so stark, daß sie ihm das Beinkleid aufriß. Das Eiswasser drang gleichzeitig von oben, unten und allen Seiten auf ihn ein und trieb ihn auf wie einen Korken. Lange Augenblicke war er nicht mehr zu sehen, und ich befürchtete schon, er wäre über Bord gerissen worden, doch da tauchte er wieder auf, krampfhaft und mit verzerrtem Gesicht in das Tau gekrallt. Der rückflutende Sog aber riß ihn mit sich, löste seine verkrampften Finger, die vergeblich Halt suchten, und ließ ihn in einem wirbelnden Berg aus Gischt, Schaum und zischendem Wasser verschwinden. Sein Körper wurde hin und her geschleudert. Mal befand er sich tief unter Wasser, dann schwamm er wieder auf. Der ungeheure Sog zog ihn über das Hauptdeck und schleuderte ihn an das Schott der großen Segellast. Dann floß das Wasser über Backbord ab. Was dann geschah war recht erstaunlich, und ich wunderte mich über die Geistesgegenwart und den klaren Überblick, den er in dieser extremen Lage noch hatte.
Er griff nach dem hoch aufragenden Schanzkleid, ließ dann ganz plötzlich los und rollte ein paar Yards hinüber zu dem Schott, wo sich die Kombüse befand. Das Wasser zischte und brodelte immer noch und war noch nicht abgelaufen, als Fleet mit einem weiteren Satz das Schott erreichte, es aufriß und wie der Blitz dahinter verschwand. Im selben Augenblick donnerte er das Schott hinter sich zu und war verschwunden. Gut, ich hatte ihm hundertmal die Pest an den Hals gewünscht oder daß der Satan ihn an einem großen Spieß rösten möge, aber jetzt sah das ganz anders aus. Ich war heilfroh, daß er es geschafft hatte, denn wenn er über Bord gegangen wäre, womit ich hundertprozentig gerechnet hatte, wäre er nie wieder aufgetaucht und in dem Eiswasser jämmerlich ertrunken. Jetzt aber war er in der Kombüse in Sicherheit, und so wie ich ihn kannte, würde er sich jetzt erst einmal nach etwas Eßbarem umsehen, denn das war das beste, was er tun konnte. Ich an seiner Stelle hätte nicht anders gehandelt. Johnson und Jonny schienen sehr erleichtert zu sein. Auch wenn Fleet oftmals ein Sauhund war, um bei der Wahrheit zu bleiben, so hatte er einen solchen Tod doch nicht verdient. Überhaupt, niemand verdiente einen derartigen Tod. Ich wußte wahrhaftig nicht mehr, ob es Morgen, Mittag oder schon wieder Abend war, denn dieses ewige Auf und Ab, Hin und Her, diese ewig kalten Wassermassen erschöpften mich und laugten mich aus, bis fast der letzte Funken Hoffnung erloschen war. Die See schaffte mich, sie zermürbte mich und schlug mich kaputt, wie sie schon viel härtere Kerle als mich zerschlagen hatte. Man konnte ihr in dieser Eiseskälte nicht sehr lange trotzen, denn da kühlte der Körper aus und mich überkam eine gewisse Gleichgültigkeit allem und jedem gegenüber. Wenigstens heulte der Wind nicht mehr so, aber er hielt wohl nur die Luft an, damit er später umso heftiger blasen konnte. Unmerklich begann sich die „Scout“ auch wieder aufzurichten. Sie erreichte ihre alte Lage nicht mehr, denn immer wieder rannten die Wogen gegen sie an und warfen sie zur Seite. Ich sah, wie Mister Johnson seine Leine löste, zum Ruder hinübersprang und sich daran festhielt. Fleet hatte es schon vor dem Sturm festgelascht, weil man ohnehin nichts mehr ausrichten konnte. Das Schiff gehorchte nur noch den tobenden Elementen, den Menschen schon lange nicht mehr.
„Paß gut auf, wenn du die Leine löst“, schrie Jonny, „der Tanz ist noch lange nicht vorbei, der geht bald wieder los.“ Ich konnte kaum sprechen, daher nickte ich nur. Meine Kehle brannte wie Feuer, mein leerer Magen rebellierte, und die Hände konnte ich kaum bewegen, denn sowie ich es tat, begannen sofort die Fingergelenke zu bluten. Dann erschien Master Fleet wieder. Er trug etwas unter dem Arm, das in Segeltuch eingeschlagen war. Er wartete einen günstigen Moment ab, rannte dann in langen Sprüngen über das Hauptdeck und erreichte den Niedergang zum Achterdeck. Gerade donnerte wieder heulend und fauchend ein Brecher über das Schiff. Eine brüllende Wasserhölle aus Gischt und rollender See überflutete das Schiff, das sich ächzend weiter zur Seite neigte. Master Fleet wurde empor getragen, schneller als es ihm lieb war, doch bevor ihn die Wassermassen weiterreißen konnten, griffen Jonny und ich schon zu, packten seinen Arm hievten ihn aufs Achterdeck. Es war wirklich höchste Zeit, denn nun tobten die Wassermassen sich unter uns gründlich aus und ließen das Schiff vom Achterdeck bis zum Bug total im Wasser verschwinden. Es dauerte diesmal sehr lange, ehe es sich wieder erhob, und dann geschah das auch nur sehr träge und schwerfällig. Wir lehnten uns in die überall gespannten Strecktaue und betrachteten erschöpft. was der Master da aus dem Segeltuch wickelte. Es war Hartbrot und Salzfleisch, Weichbrot eigentlich, denn das Seewasser hatte es bereits getränkt. „Essen Sie das“, sagte Fleet und reichte jedem ein Stück von dem Brot und dem harten Salzfleisch. „Wer weiß, wann wir wieder etwas kriegen.“ „Danke, Sir“, sagte ich matt und zerschlagen, aber ich konnte das Brot kaum halten, weil mir immer noch die Finger bluteten. Auch das entging Master Fleet nicht. „Kommen Sie mit nach achtern“, sagte er, „aber geben Sie gut acht. Das Schott wird nur bei abfließendem Wasser geöffnet. Mister Johnson, lassen Sie das Ruder angelascht, wir können augenblicklich nicht viel tun. Es genügt, wenn zwei Mann auf dem Achterdeck sind. Ich lasse Sie gleich ablösen.“ Geschickt turnte er den Niedergang ab. Ich folgte ihm mit allerlei komischen Verrenkungen. Wir hatten Mühe, das Schott zu öffnen und einigermaßen trocken in seinen Salon zu gelangen. Ein kleiner Schwall
Wasser schoß uns allerdings nach und verteilte sich auf dem großen Teppich. „Setzen Sie sich auf den Stuhl!“ befahl er. „Und denken Sie daran, daß Sie später mal den Teppich vom Salzwasser reinigen, damit es keine weißen Flecken gibt.“ Sorgen hatte der Mann! Aber ich versicherte ihm, daß ich das ganz bestimmt nicht vergessen würde. Durch die Bleiglasfenster sah ich das Meer auflaufen und toben. Mich wunderte nur, daß die mächtigen Seen die Fenster noch nicht eingeschlagen hatten. Fleet ging an ein Schapp, in dem er herumkramte und in dem durch den Sturm und das ewige Auf und Ab barbarische Unordnung herrschte. Mit einer kleinen Zinndose und ein paar Wollfäden kehrte er dann zurück. Ich erwähnte ja schon, daß Fleet auch den fehlenden Feldscher an Bord ersetzte und Kranke mit recht harten Roßkuren heilte. Die waren dann so bedient, daß sie kein zweites Mal danach verlangten. Als er die Zinndose mit einigen Schwierigkeiten öffnete – er mußte ständig nach einem Halt suchen – roch es nach Braunteer, und ich hatte keine Ahnung, was jetzt folgte. Er tauchte die Fäden in das schwarzbraune Zeug und kam auf mich zu. Wortlos ergriff er meine linke Hand, bog die Finger auseinander und wickelte trotz der heftigen Schlingerbewegungen die Fäden genau auf die Wunden in den Gelenken. Ich hätte laut brüllen können und spürte, wie mir das Wasser in die Augen schoß. Fleet aber wickelte ungerührt weiter und hielt mir während dieser Prozedur Vorträge. Dabei mußten wir uns immer wieder höllisch in acht nehmen, denn die „Scout“ machte mal einen ganz ekelhaften Längser, als wollte sie auf Tiefe gehen. Dann legte sie sich wieder hart auf die Seite. „Braunteer und Wolle sind das beste bei solchen Rissen“, erklärte er. „Der Teer wird im Wasser fest und hart, und es kann keine Vereiterungen geben. Tauchen Sie die Hände nachher gleich ins Wasser.“ „Danke, Sir“, sagte ich. „Wie lange werden wir noch brauchen, bis wir das Kap umsegelt haben?“ „Wir driften offenbar nach Südosten ab. Wir brauchen also mindestens noch zwei Wochen, aber kaum länger als vier oder fünf.“ Daraufhin verschlug es mir erst einmal die Sprache.
„Wenn der Teer hart ist“, sprach er ungerührt weiter, „dann wechseln Sie Ihre Uniform gegen schweres Zeug. Aber erst wenn er restlos trocken ist, sonst gibt es Flecken. Um meine Sachen kümmern Sie sich dann anschließend. Zunächst aber sehen wir uns einmal im Batteriedeck um.“ Die Prozedur war beendet. Jetzt konnte ich die Finger überhaupt nicht mehr bewegen, weil der Kleister schnell antrocknete. Ich stand da wie ein Tattergreis, die Hände vorgestreckt und hilflos. Dann gingen wir wieder an Deck. Wir stemmten uns hoch, Fleet schob mich vor sich her, und nach einer Weile gelangten wir vom achteren Niedergang in das finstere Batteriedeck. Wie es hier aussah, spottete jeder Beschreibung. Vier Männer waren leicht verletzt, zwei Kanonen hatten sich aus den Lafetten gelöst und einen Balken schwer angeschlagen. Aber die Männer hatten die Geschütze noch sichern können, ehe sie weiteren Schaden anrichteten. Fleet inspizierte alles und kümmerte sich auch um die Verletzten, die er auf seine harte Art verarztete. Am Kap, in dieser schweren See, erwies sich der Master mal als rettender Engel, mal als fluchender Schankknecht, aber er behielt immer die Übersicht, und nur seinem seemännischen Geschick war es zu verdanken, daß wir schließlich doch überlebten. „Ein paar Mann nach oben“, sagte er, „wir spannen noch weitere Strecktaue. Sie, Mister Porridge, gehen in die Kombüse und richten kalte Rationen her, die Sie verteilen. Feuer wird nicht entzündet. Wir werden auch das überstehen. Das Deck hier unten wird aufgeklart und gesäubert.“ Weg war er wieder und auf dem Achterdeck. Mister Scinders war inzwischen auch da und löste Johnson ab. Jonny enterte ab, um ebenfalls seine nassen Plünnen auszuwringen. Etwas später vertauschte ich meine naßkalte Uniform gegen schweres Leinenzeug, doch es blieb nur ein paar Augenblicke lang trocken. Dann kam eine See über und durchnäßte mich bis auf die Knochen. Irgendwann am Nachmittag – der Himmel war immer noch von düsterem Grau – wurde die See ein klein wenig ruhiger. Die Wellenberge waren trotzdem immer noch sieben bis acht Yards hoch. Das nannten wir unter diesen Umständen schon etwas ruhig. Strecktaue wurden gespannt, die noch irgendwo verklemmten Trümmer des Beibootes aufgesammelt und in der Last gestapelt. Viel
war es ohnehin nicht mehr, nur das, was sich in den Fallen und Schoten der Nagelbänke verfangen hatte. Plötzlich stieß Jonny mich an. „Sieh mal da drüben“, sagte er, „ein Albatros.“ Querab von uns schaukelte ein schneeweißer Albatros auf den hohen Wellen. Fast majestätisch lag er auf dem Wasser, ungerührt von dem brodelnden Kessel um ihn herum. Die Wellen brachen auch nicht über ihm zusammen. Sie hoben ihn zwar wild hoch, und er verschwand auch in rasender Eile im nächsten Wellental, doch der Kaiser der Stürme und der wilden See war unsinkbar und darüber erhaben. Stolz ließ er sich durch die brüllende See tragen. „So ein Vieh müßte man sein“, sagte Kleine Hölle neidisch. „Bei dem kommen keine Rahen runter, dem bricht nichts weg, und wenn es ihm zu bunt wird, dann steigt er in die Lüfte. Dem können die Elemente absolut nichts anhaben.“ Als wollte der weiße Albatros uns das beweisen, breitete er seine mächtigen Schwingen aus und begann damit zu schlagen. Dann erhob er sich in einer langen Spirale in die Luft und schraubte sich, fast ohne die Flügel zu bewegen, in den bleigrau verhangenen Himmel. Viele Augen blickten ihm nach, und jeder wünschte sich wohl, so ein Vogel zu sein, der den Kampf mit Wasser und Wind spielerisch und leicht überstand. Gerade als er hoch oben kreiste, riß uns eine See die Beine weg, und wir wurden erneut von Salzwasser getränkt. Porridge kam aus der Kombüse und wankte nach achtern. Er hatte einen Krug und Brot mit Wurst bei sich. Das Achterdeck erreichte er jedoch nicht. Ein Wasserberg walzte träge heran, wurde dann sehr schnell und überschlug sich dicht vor der „Scout“ mit wildem Röhren. Der Koch, der kaum etwas sah, hing in den Strecktauen und duckte sich angstvoll, als das wilde Brüllen erklang. Als er sich umdrehte, jagte die sich überschlagende See über das Deck. Einen Lidschlag lang war nur noch sein Kopf zu sehen, dann verschwand auch er unter Wasser, und den Koch trieb es wie eine Pulverladung nach achtern. Das Wasser floß ab, er tauchte wieder auf und wurde fast über das Schanzkleid gerissen. Den jetzt mit Salzwasser gefüllten Krug hielt er immer noch krampfhaft in der Hand. „Wenn Sie schon über Stag gehen wollen, dann lassen Sie wenigstens den Krug an Bord“, schrie der Master, der sich offenbar darüber ärgerte, daß Porridge das Achterdeck nicht erreichte. Wurst und Brot hatte die See mitgenommen, das mit Sirup gesüßte Wasser war
ebenfalls weg, und Porridge ging wie auf rohen Eiern schulterzuckend und fluchend zur Kombüse zurück. Den Krug hielt er dabei immer noch krampfhaft in der Hand. Auch sein zweiter Versuch wurde kein Erfolg, denn der Wind begann wieder zu heulen und trieb mächtige Berge aus tintigem Wasser vor sich her. Am Abend jenes Tages kreiste immer noch der Albatros als unser stummer Begleiter hoch über uns. Während er auf seinen weitausladenden Schwingen majestätisch dahinglitt, ohne sie ein einziges Mal zu bewegen, kämpften wir wieder um unser Leben. Der Sturm legte mit großer Heftigkeit los. Master Fleet gelang es nicht, das Besteck zu nehmen, aber am Abend sagte er: „Ich glaube, wir befinden uns schon weitab unterhalb der FrancisDrake-Passage und driften dem Eismeer entgegen. Wir werden uns auf harte Entbehrungen gefaßt machen müssen.“ Es wurden wirklich sehr harte Entbehrungen. * Tage und Nächte voller Einsamkeit, Kälte und Furcht begannen. Der Hunger fraß uns auf, und jeder wünschte sich nichts sehnlicher, als nur einmal eine warme Mahlzeit. Doch wir blieben bei Hartbrot und kaltem Salzfleisch. Das Trinkwasser war so eisig, daß einem die Zähne beim Trinken aufeinander schlugen. In den Kammern und Räumen des Schiffes wurde es muffig und immer feuchter. Alles war klamm, kalt und leblos. Auf der „Scout“ bewegten sich die Gestalten selbst wie muffige Halbtote, die bei schwerer See – und die hatten wir jetzt so gut wie immer – erschöpft, verzweifelt und ausgelaugt in den Strecktauen hingen. Immer wieder rannte die See an der Hoorn gegen das Schiff an. Die vielen harten Schläge zermürbten es, doch die „Scout“ hielt sich auf dem Wasser mit schwerer Schlagseite. Jetzt fehlten uns bereits zwei Rahen, und drei Segel hatte der wilde orkanartige Sturm uns weggerissen. Zwei weitere Segel konnten geborgen und in der Last verstaut werden. An diesem Tag verloren wir einen Mann. Zwei weitere waren so krank, daß sie nur noch angeleint in ihrer Nische lagen, um nicht gegen die Bordwand geschleudert und erschlagen zu werden. Seit mehr als vierzehn Tagen versuchten wir nun, die Hoorn zu runden, doch der Wind trieb uns noch weiter zurück.
Wir waren an Deck damit beschäftigt, alles noch einmal zusätzlich zu verzurren und zu sichern, weil die Vergangenheit bewiesen hatte, daß sich bei der schweren See doch immer wieder etwas lockerte, das zu einem Desaster führen konnte. Etliche Männer hatten Angst und beschworen uns, wir möchten doch beim Master vorstellig werden, um die Strecke in den Pazifik wieder zurückzusegeln und besseres Wetter abzuwarten. Fleet hörte sich das zwar an, was wir vorbrachten, aber er lachte nur stoßartig und verächtlich auf. „Wenn ich mir vorgenommen habe, daß wir die Hoorn runden“, meinte er gallig, „dann runden wir sie auch, und nicht einmal der Teufel persönlich wird mich daran hindern. Sagen Sie dem Schiffsvolk, daß wir es schaffen. Ich will derartige sogenannte Empfehlungen nicht mehr hören, sonst greife ich hart durch. Und Sie tun besser daran, wenn Sie sich solch Zeug gar nicht erst anhören, sondern den betreffenden Mann gleich zur Bestrafung bringen.“ Jonny und ich zogen wieder ab. An Deck arbeiteten nur soviel Männer, wie gerade benötigt wurden. Die See brüllte so laut, daß wir kein Wort mehr verstanden. Das Heulen des Windes nahm wieder zu, Brecher wälzten sich durch die See. Aus der Ferne sahen sie träge aus, doch sie waren erstaunlich schnell heran und ergossen sich mit Urgewalten über die Decks. Wer in den Strecktauen hing, der hatte alle Mühe, an Deck nicht hilflos zu ertrinken, weil dem einen Brecher meist gleich ein zweiter folgte, ehe das Wasser ablaufen konnte. Wir hatten einen Iren an Bord, der vom Äußeren nichts mit einem Iren gemeinsam hatte. Er war weder rothaarig noch breitschultrig, und er wurde nur Mac gerufen. Niemand kannte seinen richtigen Namen. Diesen Mac rief der große Master an jenem Tag zu sich und musterte ihn zu seiner letzten großen Reise. Wir schlugen die Keile für die Verschalkung fester, damit die Grätings und die wasserfesten Plaids unverrückbar fest saßen, denn die Holzkeile hatten die unangenehme Eigenschaft, langsam aufzuquellen und drückten sich dann wieder heraus. Mac schlug gerade mit dem Hammer zu, als ihm eine hart überkommende See die Beine wegriß. Gurgelnd brach er in den Strecktauen zusammen, griff um sich und hielt sich fest, den Kopf dabei unter das schäumende Wasser gedrückt. Auch Jonny und ich knickten ein, konnten Mac aber nicht helfen. Außerdem half jeder sich
selbst, so gut er konnte, und suchte krampfhaft und verzweifelt unter dem gewaltigen Ansturm des kalten Wassers nach einem Halt. Als die Woge zum Achterdeck emporschlug und Mac mit dem Kopf wieder aus dem Wasser war, erfaßte ihn wohl Panik und Angst. Eine zweite, noch höhere Welle donnerte fauchend heran. Sie schob einen Sog aus Luft vor sich her, der die „Scout“ schon im voraus in allen Verbänden erzittern ließ. Für einen Lidschlag lang wurde es dann ungewöhnlich still. Die Elemente Wasser und Luft hielten kurz den Atem an, dann schlugen sie zu. Dieser Brecher würde uns zum Kentern bringen, dachte ich noch, dann verkrallte ich mich mit Armen und Beinen in den Tauen, um von dem Riesen nicht erschlagen oder fortgespült zu werden. Mac nutzte den Augenblick, diesen winzigen Lidschlag der Ruhe, und rannte durch abfließendes Wasser auf die Großmastwanten der Luvseite zu. Mit einem verzweifelten Satz sprang er in die Webeleinen und begann wie ein Affe in ihnen empor zu klimmen. Vermutlich glaubte er sich dort in Sicherheit. Aber es kam anders, als er sich das vorstellte. Ein brüllender Donnerschlag traf die „Scout“. Pfeifen und Heulen war zu hören, danach ein Getöse. als würde das Meer über eine schräge Ebene schlagartig abfließen und alles mit sich reißen, was sich im Weg befand. Das Überkrängen unseres Schiffes war diesmal wirklich fast ein Kentern. Die Rahen schnitten tief ins Wasser, und die „Scout“, bei diesem wilden Angriff waidwund geschlagen, blieb so liegen wie der Brecher sie hingeworfen hatte. Ich hörte einen erstickten Schrei, bevor es uns auf die Seite warf, dann hörte ich gar nichts mehr, weil ich in einer Hölle aus eisigem Wasser und unvorstellbarem Druck halb erstickte. Ich spürte nur im Unterbewußtsein, wie meine Hände wieder an den Strecktauen aufrissen, als sie daran vorbeischurrten. Blut mischte sich mit Salzwasser, Fleisch wurde durchgescheuert, meine Hände sanken kraftlos zurück, erschöpft vom ewigen Festhalten und Zupacken. Wahnsinnige Kopfschmerzen plagten mich, und der Druck auf den Ohren wurde unerträglich. Es dauerte sehr lange, bis ich wieder etwas klarer sehen konnte. Die Augen waren verklebt und entzündet, und ich verfluchte jeden Tag, an dem wir das verdammte Kap, oder die Hoorn, rundeten. Die „Scout“ lag immer noch so da. Man konnte sich auf dem geneigten Deck nicht mehr bewegen, ohne sofort über Stag zu gehen und
abzurutschen. Sie lag hart auf der Seite und im Want, mit dem Gesicht unter Wasser, hing Mac, Arme und Beine in die Webeleinen gekrallt, die ihm noch immer Halt gaben. Er selbst bewegte sich nicht, nur die See spielte mit ihm, tauchte ihn weiter tief nach unten, gab ihn wieder frei und umspülte ihn. Beim nächsten Brecher wurde er noch heftiger ins Want gedrückt, aber ich glaube, da war er schon tot –ertrunken, genau aber wußte ich das nicht. Im Schiffskörper krachte es dumpf, die Masten knackten, die Rahen mit den paar aufgetuchten Segeln hingen im Wasser. Da richtete uns eine querlaufende See wieder halb auf, ein zweites schaumiges Ungeheuer tobte heran und fegte Mac mit einem wilden Hieb aus den Wanten. Sein Körper wurde wie eine leblose Gliederpuppe durch die Luft geschleudert. Die Arme hingen kraftlos herab und sein Körper war stark durchgebogen. Niemand konnte ihm helfen oder etwas für ihn tun, es war unmöglich, auch nur einen einzigen Schritt zu gehen. So sahen wir hilflos zu, was weiter geschah. Mac landete auf dem Hauptdeck im Wasser, wurde bis zum Niedergang geschwemmt und dann wieder zurückgerissen. In der abfließenden Welle trieb er ziemlich dicht, aber tief unten an uns vorbei. Wir waren nicht einmal in der Lage, eine Hand auszustrecken, um ihm vielleicht doch noch zu helfen. Dann ging es kopfüber in ein dunkles Wellental hinab. In rasender Eile jagten wir in die kalte Tiefe, prallten hart auf und nahmen die nächste Welle wie den Hammerschlag eines Riesen. Es röhrte und pfiff, es heulte schrecklich. Der Wind schrie, er jaulte und pfiff und warf schaumige Streifen durch die Luft, die er mit großer Kraft aus dem Meer riß. Die Riesenwelle fegte Mac mit unglaublicher Gewalt hoch über das Schanzkleid ins Meer. Die weiterlaufende Woge nahm ihn mit und entführte ihn. Er verschwand in einem rasenden Wasserwirbel, wurde tief hinabgedrückt und tauchte auch noch einmal auf der Steuerbordseite auf. Danach begrub ihn die dritte Woge unter sich, und er verschwand für immer. „Mann über Bord!“ Ich schrie die Worte, wohl wissend, daß sie nicht gehört wurden. Und wenn, dann hätte man sie auf dem Achterdeck zur Kenntnis genommen und trotzdem keine Hand gerührt. Wie sollte man auch! Wie konnte man einen Mann retten, der im wildesten Orkan über Bord gewaschen wurde, während man selbst alle
Mühe hatte, um nicht zu ertrinken. Nein, es gab keine Hilfe für ihn. Das Schiff lenzte steuerlos und hatte starke Schlagseite, ein Boot war zertrümmert, ein zweites konnte man nicht zu Wasser lassen, ohne selbst über Stag zu gehen. Aus und vorbei. Die Hoorn hatte ihr Opfer von der „Scout“ gefordert, und nach altem Aberglauben ließ sie dann das Schiff und die anderen Männer in Ruhe. Aber auch das stimmte nicht, und war wohl nur Zweckoptimismus einiger Seeleute, die damit ihre Angst übertünchten. Wir hatten noch mehr Ausfälle. Im Laufe der nächsten Tage starb ein Mann an totaler Entkräftung im Batteriedeck. Ein Portugiese verletzte sich schwer, die anderen hielten sich kaum noch auf den Beinen, waren erledigt und ausgezehrt, wie auch Jonny und ich, der Master und all die anderen. Jetzt kämpften wir seit etwa achtzehn Tagen an der Hoorn um Schiff und Leben. Alles war naß, die „Scout“ hatte keine trockene Kammer mehr, keinen trockenen. Raum. Überall war ein wenig Wasser eingedrungen. In der Proviantlast schimmelte das Brot, und dann kam auch der Tag, wo das Brot verzehrt war und kein frisches mehr gebacken werden konnte. Die See hatte den schweren Kombüsenherd aus der Verankerung gerissen und ihn schwer beschädigt. Es gab weiterhin Stockfisch, den wir kalt und roh aus der Hand aßen, es gab eisiges Trinkwasser, das heftige Durchfälle auslöste und zu Magenkrämpfen führte, und es gab eine Handvoll Hafer, den wir wie die Pferde fraßen, roh und mit Schlusen. So ging das weiter, Tag und Nacht, und dann wurden plötzlich riesige Eisberge gesichtet, die majestätisch in der See trieben und die sich mit uns auf Kollisionskurs befanden. Wir drifteten auf einen dieser weißblau schimmernden Giganten zu, ein riesiges kaltes Gebirge, das sich wie die Insel Más Afuera hoch und gewaltig aus dem brüllenden Meer erhob. In der unmittelbaren Nähe dieser weißblauen Riesen tobte das Meer noch gräßlicher und wilder. Zwanzig Yard hohe Brecher brüllten gegen den Eisblock an und konnten ihn nicht erschüttern. Er schien sich, von weitem gesehen, in der tobenden See überhaupt nicht zu bewegen, aber aus der Nähe sahen wir doch, wie er gewaltig zu atmen schien und wie er sich unendlich langsam und schwerfällig in der See hob und senkte. Auch einen riesigen Wal sahen wir wieder, den die Brecher gegen seinen Willen aus der See hoben, als er gerade seinen Spout
ausblasen wollte. Er war wohl selbst sehr überrascht, als ihn Urgewalten nach oben hievten und eine See sich auf ihn stürzte. Sein Blowen brach ab, die riesige Fluke klatschte ärgerlich in die Wellenberge hinein und er ging auf sichere Tiefe. Zweiundzwanzig Tage hingen wir jetzt südlich der Hoorn irgendwo im Eismeer herum. Da erst flaute der Sturm ab. Einen Tag lang gingen die Wellen noch haushoch, dann wurden sie ruhiger, aber sie schüttelten die angeschlagene „Scout“ immer noch schwer durch. Master Fleet, der an jenem Tag zum erstenmal nach langer, langer Zeit wieder das Besteck nehmen konnte, ließ das Schiff aufklaren, so gut es ging, und befahl dann, zwei Sturmsegel zu setzen. Noch einmal gingen wir mit einem der ziellos herumtreibenden Eisriesen auf Kollisionskurs, aber jetzt konnten wir ihm ausweichen und mußten uns nicht auf unser Glück verlassen wie beim letzten Mal, als wir gerade noch knapp daran vorbeitrieben. Das Schiff befand sich in einem jämmerlichen Zustand. Rahen fehlten, zwei Planken waren oberhalb der Wasserlinie angebrochen, das Schanzkleid auf Backbord war auf vier Yard Länge von der See eingedrückt worden, und den einen Niedergang zum Achterdeck hatte die wilde See ebenfalls in Trümmer gelegt. Mit Bordmitteln konnte der Zimmermann nichts ausrichten, und so befahl Fleet, zuerst den Herd zu reparieren. Das war ihm im Augenblick wichtiger als alles andere, denn die „Scout“ segelte wieder, wenn auch immer noch durch tosende See und heulenden Sturm. Aber wir kamen voran und liefen wieder nach Norden. Der Herd wurde zusammengeflickt. Als Porridge zum ersten Mal Feuer entzündete, da leuchteten seine Augen und auf seinem Gesicht lag ein fast überirdischer Glanz. als die Holzkohle brannte. Master Fleet ließ sich herab, ein wenig Rum zu opfern, der halb und halb mit Wasser vermischt und erhitzt wurde. Ein paar Hände voll Rohzucker verschwanden ebenfalls in dem Kessel, und dann hielt jeder staunend und fast ungläubig eine Muck mit heißem dampfenden Gebräu in der Hand. Andächtig wurde getrunken. Als ich meine Muck geleert hatte, fühlte ich neue Kräfte in mir aufsteigen und war wieder ein anderer Mensch, was der Master auch sogleich richtig und scharfäugig erkannte. „Es ist zwar nicht üblich, die Kleidung in der Kombüse zu trocknen“, sagte er zu mir, „aber hier erfordern es die Umstände. Fangen Sie mit meiner Uniform an, Mister Bonty, und dann verfahren Sie mit den
anderen genauso. Wenn die See es zuläßt, lüften Sie auch meine Kammer, damit die Feuchtigkeit verschwindet.“ „Aye, aye, Sir“, sagte ich. „Noch etwas“, hielt er mich zurück, „ich habe mir die Uniform genau angesehen. Sie hatten doch tagelang nichts zu tun. Weshalb haben Sie sich nicht die Knöpfe vorgenommen und poliert? An zwei Knöpfen entdeckte ich schon wieder diese dunklen Flecken. Da müssen Sie immer hinterher sein, ganz besonders in solchen stürmischen Perioden, wo es ohnehin nichts zu tun gibt. Da kann man sich in aller Ruhe derartigem Tun widmen.“ „Ja, Sir“, erwiderte ich, „ich werde das sofort nachholen.“ Er war doch ein recht eigenartiger Mann. dieser Master God oder Master Plattfuß, wie ihn manche heimlich nannten. Nichts zu tun! Das war ja nicht zu fassen. Mir hing die Hoorn immer noch wie ein Eisberg im Magen, er aber behauptete, wir hätten in den Tagen nichts zu tun gehabt. Dabei war das Schiff schwer angeschlagen und die Leute mehr tot als lebendig. Und von mir verlangte er, ich hätte im brüllenden Orkan seine lausigen Uniformknöpfe polieren sollen. An jenem Tag gab es auch seit langer Zeit das erste warme Essen, und da der Master in der Sturm- und Kap-Hoorn-Zeit etliches an Lebensmitteln eingespart hatte, weil die kranken Mägen nichts mehr aufnahmen, gab es doppelte Portionen, und jeder konnte mittags soviel essen wie er wollte. Porridge kochte große Fleischbrocken, die noch von den erlegten Ziegen auf Más Afuerta stammten. Dazu gab es dicken gesüßten Haferbrei. Das hatten sich viele gewünscht, aber es paßte wie die Faust aufs Auge. So gierig wie an jenem Tag habe ich die Männer noch nie essen gesehen. Sie verschlangen in ihrem Heißhunger fast noch die hölzernen Kummen und schöpften nach, so oft es nur ging. Auch das hatte wieder üble Folgen. Etliche hingen danach sterbenskrank am Schanzkleid und fütterten die Fische. Ihre empfindsamen Mägen vertrugen das viele Essen nicht. Wir segelten weiter auf Nordkurs, den Roaring Forties entgegen, die uns noch einmal hart durchbeutelten. Immer noch war es kalt und die Umwelt lebensfeindlich, doch das Schlimmste lag hinter uns. Wir segelten in die warmen Zonen an der Ostküste des südamerikanischen Kontinentes hinein, dessen Südspitze uns alles an Kräften abverlangt hatte.
Im Februar 1533 waren wir von Vavitu losgesegelt. Jetzt schrieben wir Mitte April, als wir die riesige Bucht Bahia Grande erreichten und das Jungfrauen-Kap passierten, wo es von der Ostküste aus in die Estrecho de Magellanes hineinging. An jener Stelle trieb uns der Wind noch einmal heftig ab, und die See ging wieder haushoch. Es war gerade Ostern, als wir am Cabo de buen Tiempo, am Kap der guten Zeit, vor Anker gingen und unsere angeschlagene „Scout“ in eine kleine geschützte Bucht verholten. Hier sollte sie repariert und geflickt, und gleichzeitig vorn Muschelbewuchs befreit werden, ehe die Reise weiterging. Zuvor geschah jedoch noch etwas anderes, denn bei Master Fleet gab es einen eigentümlichen Osterbrauch an Bord. So hatte er es als Junge auf Schiffen gesehen, und so hielt er es auch auf seinem Schiff. Ich wußte nicht, was dieser Osterbrauch bedeutete, aber vielleicht reagierten die Seeleute damit ihre Angst und ihre Aggression ab. Eine fast lebensgroße Puppe wurde aus Lumpen, Abfällen und alten Segeltuchstücken hergestellt. Diese Puppe stellte Judas, den Verräter Christi, dar und sie wurde für einen ganzen Tag lang hoch oben an der Rahnock aufgehängt. Der Judas hing da, und vorn Achterdeck wirkte es so, als sei da wirklich jemand an der Rah gehängt worden. Dauernd wurde er angestarrt, und die meisten beschlich bei diesem Anblick wohl ein recht merkwürdiges Gefühl. Ich selbst dachte an Daniel Hawkins, wenn ich den im Wind hampelnden Judas sah, der da von der Rah baumelte. Ja, er erinnerte mich lebhaft an Hawkins, denn der war auch ein Judas gewesen und hing jetzt wahrscheinlich immer noch auf Last Hope an seinem hohen Galgen. „Wozu soll das gut sein?“ fragte mich Jonny. „Keine Ahnung. Vielleicht eine Art später Rache.“ „Das wird den Judas aber jucken“, meinte Kleine Hölle. Am anderen Morgen erklärte uns der Master, es sei Brauch, den Judas vom Decksvolk kielholen zu lassen. Das taten die Kerle dann auch ausgiebig und voller Freude, sogar unter rauhem Gelächter. Und dabei konnte sich jeder seinen eigenen Judas vorstellen, egal in welcher Person. Vielleicht einen, den er nicht leiden konnte oder den er haßte. Damit reagierten sie sich ab, und alle Hands und Plains und Fellers waren eifrig dabei, die Puppe unter dem Kiel durchzuholen, bis sie schließlich nur noch aus Fetzen und Lumpen bestand.
Jetzt war alles wieder in Ordnung, aber ich war mir ganz sicher, daß einige mit besonderer Boshaftigkeit beim Kielholen an Master Fleet dachten, und ich war mir noch sicherer, daß er das ebenfalls wußte und ahnte. Er stand auf dem Achterdeck und sah neugierig zu, wie die Kerle sich vergnügten. Dabei wippte er wieder auf seinen großen nach auswärts gerichteten Füßen. Seine wulstigen Lippen hatten sich leicht verzogen und sein breitflächiges Gesicht schimmerte froh. Ich glaube, daß er sich noch mehr amüsierte als die anderen, denn er wußte um das tiefere Geheimnis dieser jammervollen Figur. Noch am selben Tag setzten wir die „Scout“ bei Ebbe auf Grund, und damit begann der Ernst des Lebens wieder. ENDE