Anthropologie und Ethik des Enhancements
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Anthropologie und Ethik des Enhancements
HUMANPROJ EKT Interdisziplinäre Anthropologie Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von
Detlev Ganten, Volker Gerhardt, Jan-Christoph Heilinger und Julian Nida-Rümelin
De Gruyter
Anthropologie und Ethik des Enhancements von
Jan-Christoph Heilinger
De Gruyter
Diese Publikation wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01 GWS 061 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt beim Autor.
ISBN 978-3-11-022369-9 e-ISBN 978-3-11-022370-5 ISSN 1868-8144 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die Fragen, was für Wesen wir Menschen eigentlich sind und was das in normativer Hinsicht bedeutet, treiben uns Menschen immer wieder um. In dieser Arbeit versuche ich eine Klärung des systematischen Zusammenhangs von Anthropologie und Ethik und beziehe mich dabei exemplarisch auf die aktuelle Debatte über mögliche biotechnische Veränderungen von Menschen (Human Enhancement). Ich entwickle einen Vorschlag, wie richtig verstandene anthropologische Argumente begründet und inhaltlich bestimmt werden sollten, um in ethischen Diskussionen eine angemessene, elementare, Rolle spielen zu können. Zum Abschluss eines Buches haben immer mehr Menschen einen Beitrag geleistet, als auf dem Umschlag angegeben sind. Ich bin vielen zu großem Dank verpflichtet. Zunächst danke ich Volker Gerhardt, Julian Nida-Rümelin und Philip Kitcher für zahlreiche Diskussionen, Anregungen und Unterstützungen im Verlauf meiner Arbeit am Manuskript. Ich habe viel von ihnen gelernt. Viele FreundInnen und KollegInnen haben die Mühe auf sich genommen, Teile des Manuskripts zu lesen und zu kommentieren, darunter Katja Crone, Matthias Jung, Colin King, Isabel Kranz, Oliver Müller, Saskia Nagel, Franz Seilnacht, Jan Slaby, Sonja Thiel und Verina Wild. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Ich hatte im Verlauf der letzten Jahre Gelegenheit, Teile meiner Arbeit in Kolloquien und auf Konferenzen in Athen, Berlin, Bonn, Freiburg, Leuven, München, New York, Oxford und Zürich zu präsentieren. Für die dort erhaltenen Rückfragen und inhaltlichen Impulse bin ich ebenfalls sehr dankbar. Ich habe mich bemüht, sie zur Verbesserung meiner Argumente zu nutzen. Außerdem danke ich Regina Reimann für die gute Zusammenarbeit während meiner Tätigkeit an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Gertrud Grünkorn, Christoph Schirmer und Renate Mannaa für die gute Betreuung der Publikation im Verlag de Gruyter. Ich widme dieses Buch Nina und Felix, meinen beiden liebsten Menschen. Berlin, im Juni 2010
Jan-Christoph Heilinger
Fr Nina und fr Felix
Inhalt Einleitung: Anthropologische Elemente einer Ethik des Enhancements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht über die Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 9
I. Die anthropologische Relevanz von Human Enhancement 1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4.
Die Forschungsfrage und ihre disziplinäre Einbindung . . . Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meta-Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normative Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angewandte Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15 17 19 20 23
2. 2.1. 2.2. 2.3.
Biotechnologische Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technische Eingriffe oder Erweiterungen . . . . . . . . . . . . . Genetisches Engineering . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biologische Prozessoptimierung im Organismus . . . . . . . .
24 26 27 30
3.
„Alte“ und „neue“ Interventionen: Kontinuität der Mittel und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Kontinuität der Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Kontinuität der Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
3.1. 3.2. 4. 4.1. 4.2. 4.3.
Das Projekt einer deskriptiv-normativen begrifflichen Selbstauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffliche Selbstauslegung des Menschen . . . . . . . . . . . . Naturalistische Erklärungen als Herausforderung für die Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jenseits des Naturalismus: Was soll der Mensch sein? . . . .
42 42 46 52
X
Inhalt
II. Was ist Enhancement? Begriffsanalysen und Definitionen 5. 5.1. 5.2. 5.3.
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein „objektiver“ Begriff von Gesundheit und Krankheit Ein „subjektiver“ Begriff von Gesundheit und Krankheit Ein „relationaler“ Begriff von Gesundheit und Krankheit
59 62 63 65 66
6. 6.1. 6.2. 6.3.
Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwierigkeiten der Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . Vielfältige Gegenbegriffe zur „Natur“ . . . . . . . . . . . . . . . Binnendifferenzierungen des Naturbegriffs . . . . . . . . . . . .
72 73 74 76
7. 7.1. 7.2. 7.3. 7.4.
Natur des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das biologische Kriterium der Spezieszugehörigkeit . . . . . Die „typisch“ menschliche Lebensform . . . . . . . . . . . . . . Geworden und Gemacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffliche Schwierigkeiten: „Natur“ und „Natur des Menschen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82 83 85 88
8. 8.1. 8.2.
89
Eine dynamische Minimaldefinition von Enhancement . . 91 Eine dynamische Minimaldefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Einschätzung der dynamischen Minimaldefinition . . . . . . 96
III. Eine integrative Kritik der Enhancementdebatte 9. 9.1. 9.2. 9.3. 10. 10.1. 10.2. 10.3.
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hoffnungen und Verheißungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transhumanisten und andere Befürworter weit reichender Enhancements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drei Thesen des Transhumanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Entmystifizierung“ des Transhumanismus . . . . . . . . . . . . Festhalten am status quo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Report des US-amerikanischen President’s Council on Bioethics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vier „essential sources of concern“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine ideologische Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
103 105 105 117 122 125 125 130 142
Inhalt
11. 11.1. 11.2. 11.3. 11.4.
12.
Abwägen von Chancen und Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . Ansatz und Methode der Studie Intervening in the Brain . . . Die Verantwortung der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der prinzipienethische Ansatz: Principles of Biomedical Ethics Eine prinzipienethische Einschätzung biotechnologischer Enhancements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XI 145 145 147 151 156
Gefahren der Einseitigkeit – ein integrativer Ansatz . . . . . 165
IV. Anthropologie und anthroponome Ethik
13.1. 13.2. 13.3.
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzungen anthropologischer Argumente: Begriff und Normativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriff und Einzelding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normativität und Normalität im außermoralischen Sinne Normativität von Begriffen im moralischen Sinne . . . . . .
14. 14.1. 14.2.
Kritik simpler anthropologischer Argumente . . . . . . . . . . 191 Die Attraktivität normativer Natürlichkeitsvorstellungen 192 Die Kritik an normativen Natürlichkeitsvorstellungen . . . 194
15.
Das Ziel: Eine signifikante Kartierung des Begriffs „Mensch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Eine signifikante Kartierung des Begriffs „Mensch“ . . . . . 199 „thick moral concepts“ – Die Verquickung von Fakten und Wertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
13.
15.1. 15.2.
16. 16.1. 16.2. 16.3.
Die quasi-demokratische Begrndung anthropologischer Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentlichkeit als Bedingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wechselseitige Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Partizipation und Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
177 180 180 184 188
207 209 213 214
XII
Inhalt
17. 17.1. 17.2.
Der Inhalt anthropologischer Argumente . . . . . . . . . . . . . 220 Die vier signifikanten Komponenten (K1–K4) . . . . . . . . . 223 Anthropologische Bedingungen für moralisch legitime Enhancements (B1 und B2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
18.
Einwnde gegen meinen Vorschlag der Begründung anthropologischer Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Essentialismus und die „Wahrheit“ der Selbstbestimmung Die Praktikabilität der quasi-demokratischen normativen Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestimmung des Menschen als Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . Formen quasi-demokratischer Selbstbestimmung . . . . . . . Erschließende vs. abschließende Verständigung . . . . . . . . Fünf Einschränkungen des idealen Diskurses: ein realistischeres Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kollektiver Irrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anthroponome Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18.1. 18.2. 18.2.1. 18.2.2. 18.2.3. 18.2.4. 18.3. 18.4.
246 247 252 252 254 257 257 260 263
19.3.
Die Anwendung anthropologischer Argumente . . . . . . . . . Lebensverlängerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Technisierungen des menschlichen Organismus: das Hinzufügen neuer Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biologische Prozessoptimierung: Cognitive Enhancement
20.
Anthropologie und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
19. 19.1. 19.2.
266 268 276 280
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310
Einleitung: Anthropologische Elemente einer Ethik des Enhancements Mit neuen Biotechnologien können Menschen nicht nur ihre Umwelt, sondern zunehmend auch sich selbst immer weitreichender und präziser nach eigenen Vorstellungen verändern. Verlängerungen der gesunden Lebensspanne, psychopharmazeutische Stimmungsaufhellungen und kognitive Leistungssteigerungen, Technisierungen des Gehirns bis hin zum Hinzufügen neuer Sinne werden möglich. Solche Eingriffe, die potentiell weitreichende Veränderungen der menschlichen Lebensform mit sich bringen, werden gegenwärtig als Human Enhancements – „Verbesserungen des Menschen“ – diskutiert. Die „Verbesserungen“ betreffen möglicherweise nicht nur einzelne Individuen in körperlicher oder mentaler Hinsicht, sondern auch das Zusammenleben von Menschen, die Kommunikation zwischen Individuen sowie das Verständnis dessen, was es heißt, Mensch, Person oder Träger moralischer Rechte und Pflichten zu sein. Die Veränderungen, die mit dem Einsatz von Enhancements einhergehen könnten, sind dramatisch. Die menschliche Lebensform könnte anders werden, als sie uns gegenwärtig vertraut ist. Angesichts dieser Möglichkeit stellt sich die Aufgabe einer Verständigung darüber, welche menschlichen Eigenschaften als besonders bedeutsam angesehen werden und deshalb als bewahrenswert gelten sollen. Damit aber wird der – zeitliche und logische – Vorrang der biologisch-natürlichen vor der kulturellen Dimension der menschlichen Existenz zumindest teilweise umgekehrt: Ein kultureller Verständigungsprozess liefert wichtige Voraussetzungen für die biologisch-natürlichen Grundlagen der menschlichen Existenz. Neben einer Auseinandersetzung mit der problematischen Frage nach dem normativen Gehalt des menschlichen Selbstverständnisses werden in der aktuellen Debatte über die Bewertung von Enhancements vor allem praktische Fragen des Umgangs mit medizinischen und finanziellen Ressourcen aufgeworfen, die für die Durchführung der Eingriffe nötig sind, aber nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen. Darüber hinaus ist – angesichts des unvollständigen menschlichen Wissens – auch ein Verfehlen der angestrebten Ziele möglich; Risiken sind nicht vollständig
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Einleitung
kalkulierbar und Nebenwirkungen durch den Umgang mit den neuen Technologien, die in den hyperkomplexen menschlichen Organismus eingreifen, können nicht ausgeschlossen werden. Außerdem stellt sich die Frage, inwieweit die Enhancement-Eingriffe tatsächlich auf freien Entscheidungen der Individuen basieren oder ob sie vom subtilen gesellschaftlichen Druck, der etwa in einer kompetitiven Leistungsgesellschaft herrscht, beeinflusst sind. Wie kann, all diese Aspekte berücksichtigend, eine angemessene ethische Bewertung der biotechnologischen Veränderungen, die Menschen an sich vornehmen können, aussehen? Diese Frage wird gegenwärtig nicht nur in akademischen Fachkreisen, sondern unter reger Anteilnahme der Öffentlichkeit diskutiert. Den großen Hoffnungen, die Menschen in die Biotechnologien setzen, wenn es um die Verbesserung des menschlichen Lebens geht, stehen extreme Ängste vor einem Ende der uns vertrauten menschlichen Lebensform gegenüber. Können wir mithilfe der Biotechnologien dauerhaft Krankheiten überwinden, die gesunde und aktive Lebensspanne verlängern und uns dabei fast permanent glücklich fühlen? Wird der Mensch zu einem von Technik geprägten, steuerbaren perfekten Wesen? Lässt sich die menschliche Lebensform tatsächlich vollständig auf wissenschaftlich erforschbare Abläufe reduzieren und damit auch manipulieren? Diese Fragen zeigen, warum die ethische Diskussion über den Einsatz von Human Enhancements aktuell so viel Aufmerksamkeit erfährt: Das Menschsein insgesamt scheint auf dem Spiel zu stehen. Man kann bei einer ethischen Diskussion versuchen, auf vertraute Instrumente der ethischen Analyse von Handlungsoptionen zurückzugreifen. Aus utilitaristischer Perspektive etwa wird gefragt, ob mithilfe der angestrebten Veränderungen von Menschen ein näher zu definierender Nutzen oder das Wohlbefinden gesteigert werden können. Deontologisch beeinflusste Ethiker diskutieren, ob einige Interventionen in den menschlichen Organismus kategorisch verboten sein sollten oder ob sich eventuell eine näher zu spezifizierende Verpflichtung zum Einsatz der neuen Technologien erkennen lässt. Im Kontext biomedizinischer Ethik und Technikfolgenabschätzung bezieht man sich auf etablierte moralische Prinzipien – etwa Respekt vor autonomen Entscheidungen, Vermeidung von Schaden, Begrenzung von Risiken, gerechte Verteilung knapper Güter. Die genannten etablierten Analyse- und Bewertungskriterien dominieren in der aktuellen Diskussion über Human Enhancement, die sich mittlerweile als ein neues Arbeitsgebiet der biomedi-
Anthropologische Elemente einer Ethik des Enhancements
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zinischen Ethik etabliert hat.1 Doch angesichts einer möglichen Veränderung von Menschen – einer Erweiterung ihrer kognitiven Fähigkeiten oder ihrer Sinneskapazitäten, einer massiven Ausdehnung der gesunden Lebensspanne oder der Kontrolle über Stimmungen und Wohlbefinden – greift die standardmäßige Anwendung etablierter moralischer Bewertungsmaßstäbe zu kurz. Wie nämlich sähe etwa eine utilitaristische Folgenabschätzung (etwa im Sinne von Benthams hedonistischem Handlungskonsequentialismus) aus, wenn gerade die Lustempfindungsfähigkeit von Menschen modifiziert werden würde? Wie sind Risiken einzuschätzen, wenn veränderte Menschen möglicherweise völlig anders empfinden und damit andere als die gegenwärtig dominierenden Bewertungsmaßstäbe anlegen würden? Wie kann eine in der Struktur der Vernunft begründete deontologische Ethik (etwa im Sinne Kants) als Maßstab der Bewertung von Veränderungen gelten, wenn womöglich die Struktur der Vernunft Gegenstand der Veränderungen ist? Hier zeigt sich die fundamentale Herausforderung, die auch die ethische Beurteilung erschwert: Weil letztlich die ganze menschliche Lebensform eine andere sein könnte, ist die einfache Anwendung bereits etablierter moralischer Maßstäbe möglicherweise unpassend. Die Frage, ob und wie Menschen sich verändern dürfen und sollen, ist von besonderer Art und nicht einfach analog zu anderen Problemen der angewandten Ethik abzuhandeln. Die genannten Bewertungsmaßstäbe bedürfen daher zur Beurteilung der Enhancement-Problematik einer besonderen theoretischen Begründung und inhaltlichen Ergänzung. Bei näherer Betrachtung der Debatten über Human Enhancement zeigt sich, dass ein bestimmter Typ von Argumenten hier häufiger in Erscheinung tritt als in anderen Bereichen der biomedizinethischen Bewertung technologischer Handlungsoptionen, nämlich „anthropologische Argumente“. Darunter verstehe ich Bewertungen von Handlungsoptionen, die von einem bestimmten normativen Verständnis des Menschen ausgehen. Manche Handlungen stehen, so wird dann behauptet, in einem Widerspruch zu dem, wie der Mensch ist oder wie er sein soll. Auch wenn die direkte Berufung auf eine moralisch wertvolle, feststehende „Natur des Menschen“ argumentative und konzeptuelle Defizite aufweist und zumeist als Tabu und als Diskussionsstopper von Skeptikern der neuen Technologien vorgebracht wird, leuchtet es ein, 1
Zur Übersicht über die aktuelle Debatte vgl. die Textsammlungen von Gordijn/ Chadwick 2008, Savulescu/Bostrom 2009, Schöne-Seifert et al. 2008 nach dem Vorreiter Parens 2000.
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Einleitung
dass die Frage, was der Mensch ist oder was er sein soll, eine wichtige Rolle angesichts der Bewertung möglicher – und wohl auch unvermeidlicher (Baylis/Robert 2004) – Veränderungen von Menschen spielt. Der Zukunftsforscher Ray Kurzweil schrieb kurz vor Beginn des 21. Jahrhunderts: „The primary political and philosophical issue of the next century will be the definition of who we are.“ (Kurzweil 2000, 2). Er verweist damit auf die politische Dimension der philosophisch-anthropologischen Frage nach dem Menschen. Die Frage, was der Mensch ist, was er sein soll oder welche „menschlichen“ Eigenschaften als signifikant und bewahrenswert ausgezeichnet werden sollen, ist daher Gegenstand der aktuellen Debatten, deren Antworten deskriptiv und normativ gehaltvoll sein müssen. Die vorliegende Arbeit wendet sich anthropologischen Argumenten zu und versucht, ihre Rolle im Kontext einer ethischen Analyse möglicher Human Enhancements zu bestimmen. Damit wird das fundamentale systematische Problem des Zusammenhangs von Anthropologie und Ethik anhand eines konkreten Anwendungsfalls diskutiert. Die Reichweite des problematischen Verhältnisses von Anthropologie und Ethik geht jedoch über die Enhancement-Debatte hinaus. Immer wenn die Position vertreten wird, dass Menschen einen besonderen normativen Status haben – etwa besonders wertvolle Eigenschaften, intrinsische Rechte oder eine spezifische Würde – treten normative anthropologische Argumente auf. Anthropologische Argumente sind jedoch kontrovers. So häufig sie in den Debatten vorgebracht werden, so umstritten ist ihre Tragfähigkeit. Daher werde ich „schwache“, nicht hinreichend begründete, von „starken“, tragfähigen anthropologischen Argumenten unterscheiden. Daran anschließend werde ich ein konkretes Modell für die angemessene Begrndung (durch die Angabe eines Verfahrens) und inhaltliche Bestimmung (in Form von vier Komponenten) tragfähiger anthropologischer Argumente vorstellen. Damit soll den alternativen ethischen Bewertungen von Human Enhancement eine möglichst tragfähige anthropologische Fundierung und Ergänzung an die Seite gestellt werden. Einen direkten Zugang zur Erkenntnis dessen, was der Mensch wahrhaft ist oder sein soll, halte ich jedoch für unmöglich. Daher gehe ich davon aus, dass zur Beantwortung der Frage, was der Mensch ist und was er sein soll, kein anderer Weg besteht, als das deskriptiv-normative Verständnis des Begriffs „Mensch“ (das den Kern anthropologischer Argumente darstellt) anthroponom, also durch Menschen selbst, zu bestimmen. Im Folgenden geht es mir also darum, ausgehend vom Impuls
Anthropologische Elemente einer Ethik des Enhancements
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der Enhancement-Debatte einen Beitrag zur Bestimmung des menschlichen Selbstverständnisses unter den Bedingungen der Gegenwart und damit zu einer anthroponomen Ethik zu leisten. Zentrale Merkmale dieses Ansatzes sind – aus einer aufklrerischen Tradition – die kritische Skepsis gegenüber vermeintlich ewigen oder feststehenden Wahrheiten, sowie – aus einer Tradition, die humanistisch genannt werden kann – die Betonung der menschlichen Verantwortlichkeit für das eigene Leben als Individuum und auch als Menschheit. Außerdem werden – gemäß eines pragmatistischen Ansatzes – normative Regeln und Prinzipien als fallibel und entwicklungsfähig konzipiert, so dass es auch in ethischen Systemen Verbesserungen, ja Fortschritt, geben kann. Diese drei Merkmale machen deutlich, dass das hier vorgeschlagene Modell für eine angemessene Begründung anthropologischer Argumente keine ewige Wahrheit oder Gültigkeit beanspruchen kann. Mein Anspruch ist bescheidener. Die in dieser Arbeit in Auseinandersetzung mit der aktuellen bioethischen Debatte über Human Enhancement skizzierte Methode und inhaltliche Bestimmung anthropologischer Argumente versteht sich als ein Zwischenergebnis, das auf der Grundlage der spezifisch westlichen Tradition ethischer Theoriebildung als möglicher Ausgangspunkt für weitere Bestimmungen und Präzisierungen der Antwort auf die Frage beitragen soll, wie wir als Menschen uns angemessen – i. e. signifikant – selbst bestimmen und normativ bewerten sollten. Die Unvollständigkeit und Unfertigkeit der hier vorgelegten Skizze entspricht dem untersuchten Gegenstand. Der Versuch einer abgeschlossenen Darstellung der begrifflichen Selbstauslegung des Menschen wäre dahingegen unangemessen: Ein solcher Versuch würde den notwendig aktiven, geradezu performativen und kreativen Charakter des erschließenden Prozesses menschlicher Selbstauslegung und Selbstbestimmung verkennen. Es ist allein dieser aktive Prozess der deskriptiv-normativen begrifflichen Selbstauslegung des Menschen, der – wenn überhaupt irgendetwas – eine tragfähige Grundlage für anthropologische Argumente darstellen kann, wie sie etwa in den Debatten über Human Enhancement herangezogen werden. Der Begriff „Mensch“ soll im Kontext dieser Arbeit nicht zu eng verstanden werden. Wie ich in meiner kritischen Darstellung alternativer normativer anthropologischer Argumente darlegen werde, ist ein biologischer oder gar rein genetisch bestimmter Begriff „Mensch“ zu eng. Biologische Grundlagen stellen allenfalls eine Komponente eines signifikanten Begriffs vom Menschen dar. Damit kann nicht grundsätzlich
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Einleitung
ausgeschlossen werden, dass auch Wesen, die nicht in biologischer Hinsicht eindeutig als homo sapiens zu bestimmen sind, unter den hier zu entwickelnden Begriff fallen. Die vermeintlich präzise, enge Speziesgrenze stellt jedenfalls keine feststehende moralische Grenze dar. Die hier vorgestellten Überlegungen nehmen also die aktuelle Debatte über Human Enhancement zum Ausgangspunkt und zugleich als Anwendungsbeispiel für eine zu entwickelnde deskriptiv-normative Bestimmung des Begriffs „Mensch“, die als regulative Idee zu einer Bewertung von Handlungsoptionen beitragen soll. Mit der im Folgenden von mir versuchten Integration anthropologischer, angewandt ethischer, meta-ethischer und normativer Aspekte riskiere ich jedoch, manchen Erwartungen nicht gerecht werden zu können. Denjenigen, die praxisorientiert an einer konkreten Diskussion spezifischer EnhancementTechnologien und einer diesbezüglichen Handlungsempfehlung interessiert sind (z. B.: Soll es erlaubt werden, dass Menschen Technik X anwenden?), wird meine Arbeit möglicherweise zu theoretisch und zu wenig konkret erscheinen. Denjenigen, die von einem theoretischen Interesse motiviert einen Beitrag zur normativen oder zur Meta-Ethik suchen, wird dahingegen mein Beitrag vielleicht zu konkret und nicht genügend theoretisch vorkommen. Denjenigen, die aus der Tradition der Philosophischen Anthropologie stammen, mag meine Arbeit vielleicht zu moralphilosophisch erscheinen; vielleicht wird dann der Vorwurf erhoben, dass die bereits gewonnenen Einsichten dieser Denkrichtung nicht hinreichend aufgegriffen werden. Denjenigen, die von einem genuin ethischen Interesse geleitet sind, mag die Betonung der anthropologischen Dimension zu weit gehen. Trotz dieser Risiken erscheint mir der Versuch einer Verbindung der genannten philosophischen Teildisziplinen – Anthropologie, angewandte, normative und Meta-Ethik – notwendig, um zu einer umfassenden Bewertung des Phänomens Human Enhancement zu gelangen, die nicht nur punktuell bei der Beurteilung einer bestimmten Technik von Bedeutung ist, sondern darüber hinaus als relevanter Beitrag zur möglichst guten Gestaltung des Zusammenlebens von Individuen verstanden werden kann. In dieser Absicht ergänzt eine solche umfassende Bewertung möglicher Enhancements die eingangs erwähnte übliche Diskussion, wie sie auch anhand zahlreicher anderer bioethischer Probleme geführt wird, um den Hintergrund tragfähiger anthropologischer Argumente. Wenn es mir mit meinen Überlegungen gelingen sollte, die Leserinnen zu überzeugen, dass anthropologische Argumente in der ethischen Beurteilung der möglichen Anwendung von Enhancement-Technolo-
Anthropologische Elemente einer Ethik des Enhancements
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gien eine wichtige (wenn auch subsidiäre und keineswegs ausschließliche) Rolle spielen, hätte ich mein erstes Ziel erreicht. Wenn darüber hinaus auch mein methodischer und inhaltlicher Vorschlag als ein valider Ausgangspunkt (nicht als der einzig mögliche) für das Verständnis der Rolle anthropologischer Argumente akzeptiert werden würde, hätte ich auch mein zweites Ziel erreicht. Ein drittes Ziel wäre schließlich erreicht, wenn sich Leser durch meine Darstellung aufgefordert fühlen würden, Kritik zu äußern, Veränderungen und Verbesserungen an dem hier vorgestellten Modell vorzuschlagen, und damit in den Prozess der begrifflichen Selbstauslegung von Menschen einzusteigen, zu dem ich einen Vorschlag machen möchte. Schließlich ist der Gegenstand vorliegender Arbeit die Tatsache, dass Menschen darüber nachdenken und sich darüber verständigen, wie sie sich unter den Bedingungen einer sich stets verändernden Gegenwart selbst verstehen und beschreiben; und sich außerdem darüber verständigen, welche Eigenschaften und Merkmale sie an sich selbst als signifikant und bewahrenswert auszeichnen wollen. Die Bedeutung der anthropologischen und „anthroponomen“ Selbstbestimmung ist kaum zu unterschätzen. Die Antworten auf die Frage, wer wir sind und wie wir sein wollen, wirken nachhaltig in allen Sphären des menschlichen Lebens und beeinflussen die verschiedenen ethischen Standards, die wir zur Bewertung von Handlungsoptionen anlegen können. Daher rede ich – in einem zweifachen Sinne – von den anthropologischen Elementen der Ethik des Enhancements. Die Anthropologie ist zum einen ein Element neben anderen in der Debatte über Human Enhancement, das die etablierte Debatte mit ihrer Fokussierung auf Risiko- und und Gerechtigkeitserwägungen sowie ihrer Diskussion des informed consent um eine weitere Perspektive ergänzt. Anthropologische Argumente stehen damit – einerseits – paritätisch auf einer Ebene mit anderen Argumenten. Zum anderen ist die anthropologische Dimension elementar im Sinne von fundamental, da die im Rahmen der Anthropologie vorgenommenen basalen Bestimmungen in Form von menschlichen Wertungen und Handlungen weitreichende Wirkung entfalten. Hiermit ist die Stellung anthropologischer Argumente gegenüber den anderen ethischen Argumenten nicht mehr paritätisch, sondern – andererseits – gewissermaßen subsidiär oder fundierend. Anthropologische Elemente sind dann als „Spurenelemente“ in den anderen Argumentklassen zu finden. Diese doppelte Relevanz anthropologischer Elemente im Kontext einer ethischen Diskussion von Human Enhancement-Technologien soll im Verlauf der Arbeit entfaltet werden.
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Einleitung
Zu Beginn (Teil I.) werde ich die verschiedenen Dimensionen der Enhancement-Problematik und ihre Relevanz beleuchten. Daraufhin (Teil II.) werden begriffliche Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang diskutiert; anschließend (Teil III.) wende ich mich kritisch der aktuell geführten Debatte zu. Abschließend wird (Teil IV.) ein Modell vorgestellt, dass die anthropologischen Elemente der ethischen Diskussion von Enhancement expliziert. Damit werden insgesamt Fragen berührt, die auch über den begrenzten Horizont der Enhancement-Diskussion hinausweisen. Sie betreffen die Begründung von Normativität, die begriffliche Selbstauslegung von Menschen und die Aufgabe einer angemessenen Gestaltung des Zusammenlebens in der Welt.
Übersicht über die Arbeit Der erste Teil präsentiert die Forschungsfrage nach der Rolle anthropologischer Argumente bei der ethischen Bewertung der Möglichkeit, Menschen mithilfe biotechnologischer Interventionen zu „verbessern“. Dazu wird zunächst (Kapitel 1) die Forschungsfrage selbst in ihrer disziplinären Einbettung erläutert. Daran anschließend werden (Kapitel 2) die Technologien, die den konkreten Anlass für die anthropologischen Reflexionen darstellen, systematisch vorgestellt. Dabei zeigt sich (Kapitel 3), dass auch die neuen Technologien in einer Kontinuität zu „alten“ Mitteln und Zielen menschlichen Handelns stehen. Zum Abschluss des einleitenden Teils wird (Kapitel 4) der Rahmen der vorliegenden Arbeit abgesteckt: Die hier unternommene Bestimmung anthropologischer Argumente in einem spezifischen bioethischen Kontext ist Teil des größeren Projekts der begrifflichen Selbstauslegung des Menschen, das sich in der Gegenwart aus naturwissenschaftlichen und introspektiven, aus normativen und deskriptiven Anteilen zusammensetzen muss. Der zweite Teil wendet sich begrifflichen Klärungen zu. Insbesondere der Begriff „Enhancement“ selbst ist notorisch unklar. Auf der Suche nach einer möglichst adäquaten Bestimmung des Begriffs „Enhancement“ werden (Kapitel 5) die im Hintergrund der Begriffsbestimmung wirksamen Konzepte von „Gesundheit“ und „Krankheit“ problematisiert. Außerdem werden Schwierigkeiten bei der Verwendung der Begriffe „Natur“ (Kapitel 6) und „Natur des Menschen“ (Kapitel 7) nachgewiesen. Vor dem Hintergrund dieser konzeptuellen Probleme zeigt sich (Kapitel 8), dass eine angemessene Definition von „Enhancement“ dynamisch und minimal sein muss; das heißt, dass sie sich mit Blick auf gegebene Kontexte verändert und lediglich auf einen Teilbereich von Enhancements fokussiert, der im Rahmen der Enhancement-Debatte als ethisch relevantes Problem verstanden wird. Damit wird deutlich, dass nicht alle Enhancements per se aus bioethischer Sicht problematisch sind, sondern nur bestimmte Formen weit reichender biotechnologischer Eingriffe den Gegenstandsbereich der bioethischen Enhancement-Debatte konstituieren. Im dritten Teil soll die Notwendigkeit einer integrativen, anthropologischen Diskussion der Enhancement-Problematik erwiesen werden.
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Übersicht über die Arbeit
Dazu wird kritisch die aktuelle bioethische Debatte exemplarisch nachgezeichnet. Hier stehen sich (Kapitel 9) fortschrittsoptimistische, doch übermäßig wissenschaftsgläubige Positionen wie die der sogenannten „Transhumanisten“ auf der einen, sowie (Kapitel 10) skeptische Positionen auf der anderen Seite gegenüber. Letztere, die am Fall des USamerikanischen President’s Council on Bioethics vorgestellt werden, zeigen manchmal fundamentalistische Züge. Zwischen diesen beiden extremen Positionen wird (Kapitel 11) der Versuch unternommen, ergebnisoffen und unter Anwendung ökonomischer und gegenwärtig akzeptierter ethischer Standardbewertungen zu einer Bewertung der neuen Technologien und ihrer möglichen Enhancement-Anwendung zu gelangen. Das Schlusskapitel dieses Teils (Kapitel 12) weist auf die problematischen Einseitigkeiten aller drei Positionen hin und plädiert für einen integrativen Ansatz, der auf der Grundlage möglichst weitreichender faktischer Information den prinzipiellen Optimismus mit praktischer Vorsicht kombiniert. Ein wichtiger Bestandteil dieser Forderung ist eine deskriptive und normative Bestimmung des Begriffs „Mensch“ im Rahmen der Debatten über mögliche Verbesserungen von Menschen. Diesem Desiderat widmet sich der entscheidende und umfangreichste Schlussteil der Arbeit. Der vierte Teil unternimmt den Versuch, eine Methode vorzustellen und zu erproben, die es erlaubt, den Begriff „Mensch“ in deskriptiver und normativer Hinsicht so gut wie möglich inhaltlich zu bestimmen. Dazu wird als erste Voraussetzung (Kapitel 13) erläutert, wie Normativität und Begriffsbildung im außermoralischen und im moralischen Sinne zusammenhängen. Sodann wird als zweite Voraussetzung (Kapitel 14) eine Kritik von Versuchen einer direkten normativen Bestimmung des Begriffs „Mensch“ vorgenommen, die damit disqualifiziert werden. Anschließend wird (Kapitel 15) das Ziel einer deskriptiven und normativen Bestimmung des Begriffs „Mensch“ vorgestellt. Gemäß dem hier vertretenen moderaten oder „unaufgeregten“ Realismus kann das Ziel mit dem Anfertigen einer signifikanten Landkarte verglichen werden, in der deskriptive und normative Aspekte miteinander verbunden sind. Die Begründung der Normativität dieser signifikanten Karte verläuft (Kapitel 16) über einen Akt der quasi-demokratischen Verständigung, der unter den Bedingungen der Öffentlichkeit und der wechselseitigen Information nach Partizipation und Konsens unter denjenigen strebt, die sich selbst unter dem Begriff verstehen können. Dieser Verständigungsprozess ist nicht abschließbar und generiert lediglich „Zwischenergebnisse“, die grundsätzlich fallibel sind und zukünftigen Revisions-
Übersicht über die Arbeit
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versuchen ausgesetzt werden. An diesen methodischen Vorschlag anschließend, wird (Kapitel 17) ein Modell für die inhaltliche Bestimmung der signifikanten Kartierung vorgeschlagen. Dabei werden insbesondere vier Komponenten bestimmt, deren Struktur die Grundzüge des Begriffs im gesuchten deskriptiven und normativen Sinne erfasst. Die vier Komponenten erläutern, dass Menschen lebendig sind, aufgrund ihrer spezifischen Verkörperung und Geistigkeit „in einer Welt“ leben, darin orientierungsbedrftig und selbstbestimmungsfhig sind. Darauf aufbauend werden aus anthropologischer Perspektive zwei Bedingungen für erlaubte Veränderungen von Menschen formuliert, in deren Zentrum die Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen steht. Das nachfolgende Kapitel (Kapitel 18) diskutiert vier mögliche Fragen, die sich angesichts dieses (methodischen und inhaltlichen) Vorschlags einer Bestimmung des Begriffs „Mensch“ stellen können: Kann diese Bestimmung „wahr“ sein? Ist das hier vorgeschlagene Vorgehen praktikabel oder allein eine philosophische Fiktion? Können sich nicht alle, die an der quasi-demokratischen Verständigung partizipieren, schlichtweg irren, so dass das Verfahren insgesamt unzulänglich ist? In welchem Sinne handelt es sich bei dem Vorschlag um „anthropologische“ Diskussionen im herkömmlichen Verständnis? Die Diskussion dieser Fragen erlaubt Konkretisierungen des vorgeschlagenen Modells. Das letzte Kapitel (Kapitel 19) versucht eine exemplarische Anwendung des entwickelten normativen Begriffs vom Menschen angesichts der Möglichkeit biotechnologischer Enhancements. Anhand von drei Beispielen wird gezeigt, dass anthropologische Argumente eine untergeordnete Rolle bei der Beurteilung von Enhancements spielen, die zu Recht von den in der herrschenden Debatte diskutierten (nur indirekt anthropologisch geprägten) Risiko-, Autonomie- und Gerechtigkeitserwägungen dominiert werden. Das Schlusskapitel (Kapitel 20) fasst die Ergebnisse und Thesen der Arbeit zusammen und ordnet sie in den Kontext der Verständigung über den systematischen Zusammenhang von Anthropologie und Ethik einerseits und in das Projekt einer pragmatischen Ethik andererseits ein.
I. Die anthropologische Relevanz von Human Enhancement
1. Die Forschungsfrage und ihre disziplinäre Einbindung Welche Rolle spielen anthropologische Argumente bei der ethischen Beurteilung biotechnologischer Verbesserungen von Menschen? Normative anthropologische Argumente bewerten eine Handlung oder eine Handlungsoption auf der Grundlage eines normativen Verständnisses vom Menschen. Die Bewertung ergibt sich aus einem Abgleich der Handlung mit dem normativ gehaltvollen Begriff vom Menschen. Anthropologische Argumente können verschiedenartig in Erscheinung treten. Immer wenn davon die Rede ist, dass eine Handlung gegen die Natur des Menschen verstoße, das normale oder typische menschliche Leben gefährde, spezifisch menschliche Eigenschaften aufs Spiel setze, die menschliche Würde verletze etc., lassen sich normative anthropologische Argumente vermuten, die, formal betrachtet, folgende Struktur haben: Handlung h ist verboten, weil als eine Folge von h die menschliche Eigenschaft e verändert werden würde; und e ist aus dem Grund g wertvoll.
Positiv reformuliert: Handlung h ist geboten, weil h die menschliche Eigenschaft e vor Veränderung bewahrt; und e ist aus dem Grund g wertvoll.
Meine Antwort auf die Forschungsfrage nach der Rolle anthropologischer Argumente in der ethischen Diskussion von Enhancements erfolgt in zwei Teilen. Einerseits können sich unter der Bezeichnung „anthropologische Argumente“ ideologische Argumente oder nicht hinreichend begründete normative Vorannahmen verbergen. Solche essentialistischen Bestimmungen des Menschen und direkte Natürlichkeitsargumente erweisen sich als nicht hinlänglich begründbar und damit als untauglich für die ethische Diskussion. Daher muss ihre Verwendung in den Debatten über Human Enhancement kritisiert und vermieden werden. Andererseits können auf eine bestimmte Art und Weise begründete anthropologische Argumente eine elementare normative Funktion übernehmen. Es gilt daher, darauf zu achten, dass anthropologische Argumente nur in der im Folgenden darzulegenden starken Form in die Debatten über Enhancement Eingang finden. In dieser Absicht entwickle ich ein Mo-
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1. Die Forschungsfrage und ihre disziplinäre Einbindung
dell, das den Begriff „Mensch“ als einen deskriptiven und zugleich normativen Begriff expliziert und begründet. Der Begriff kann analytisch in (mindestens) vier signifikante Komponenten aufgeschlüsselt werden, deren Normativität in einem quasi-demokratischen Deliberationsprozess begründet werden kann. So verstanden können anthropologische Argumente die ethische Debatte über „Human Enhancement“, in der zumeist – und zu Recht – Risiko-, Autonomie- und Gerechtigkeitsfragen dominieren, begründet bereichern, ohne Gefahr zu laufen, ideologischen Ansichten Ausdruck zu verleihen. Durch neuere Fortschritte in den Wissenschaften und deren Zusammenführung („converging technologies“) stehen zunehmend biotechnologische Interventionsmöglichkeiten zur Verbesserung des menschlichen Organismus zur Verfügung, die in der aktuellen biomedizinischen Ethik zusammengenommen unter dem Begriff „Enhancement“ verhandelt werden. Enhancements sind positiv bewertete biotechnologische Verbesserungen des menschlichen Organismus, die über einen engen therapeutischen Rahmen hinausgehen (vgl. dazu Kapitel 8). Dazu gehören etwa (1) technische Erweiterungen, Ergänzungen oder Ersetzungen des menschlichen Organismus oder seiner Teile, um bestimmte Leistungen zu verbessern oder neue Funktionen hinzuzufügen; (2) Eingriffe in das Humangenom, um bestimmte Merkmale (Langlebigkeit, Immunität gegen bestimmte Krankheiten etc.) bei zukünftigen Menschen herbeizuführen; (3) Eingriffe in den Stoffwechsel des menschlichen Organismus, insbesondere des Gehirns, um etwa die kognitive Leistungsfähigkeit oder die emotionale Befindlichkeit von Menschen intentional steuern zu können. Ich bezeichne alle diese Eingriffe als „biotechnologisch“, weil sie in verändernder Absicht eine Anwendung von Techniken auf den lebendigen menschlichen Organismus betreffen. Meine Frage nach der Rolle anthropologischer Argumente bei der ethischen Bewertung dieser Handlungsoptionen nimmt die genannten Biotechnologien zum Ausgangspunkt für eine philosophische Untersuchung an der Schnittstelle zwischen angewandter Ethik und (philosophischer) Anthropologie, die Aspekte der normativen Ethik und der Meta-Ethik integriert.
1.1. Anthropologie
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1.1. Anthropologie Anthropologisch wirft meine Auseinandersetzung mit der EnhancementProblematik die Frage nach dem begrifflichen Selbstverständnis von Menschen in der Gegenwart auf: Was heißt es, ein Mensch zu sein, wenn Menschen sich mithilfe der Biotechnologien verändern können? Dabei weist der Begriff „Mensch“ eine deskriptiv-normative Doppelstruktur auf, die darin begründet ist, dass sich menschliche Sprecher selbst unter diesem Begriff verstehen. Die anthropologische Frage „Was ist der Mensch?“ ist daher auch als eine ethische aufzufassen. Bei der Analyse des Begriffs argumentiere ich dafür, dass (mindestens) vier verschiedene, signifikante „Komponenten“ unterschieden werden müssen, die physikalische Fakten und behaviorale Dispositionen normativ-deskriptiv zusammenführen: (1) die physikalisch-biologische Bestimmung als lebendiger Organismus, (2) die Bestimmung der spezifisch menschlichen Verkörperung, Erlebnisdimension und Sozialität, (3) die Orientierungsbedürftigkeit angesichts vielfältiger zur Verfügung stehender Handlungsoptionen und (4) die reflektierte, autonome Selbstbestimmungsfähigkeit. Menschen sind in einem besonderen Maße das, als was sie sich selbst beschreiben. Das heißt, dass in einem realen Sinne kulturelle Selbstbestimmungsprozesse von Menschen einen integralen Bestandteil dessen ausmachen, was Menschen sind. Anthropologische Selbstbestimmung in der Gegenwart oszilliert damit zwischen konkurrierenden empirischen Fakten über den Menschen auf der einen Seite – wie sie von den Naturwissenschaften geliefert werden, die damit zugleich neue Anwendungs- und Veränderungsmöglichkeiten generieren – und kulturellen Selbstbeschreibungen und Selbstverständigungsprozessen auf der anderen Seite. Beide Seiten, empirisch-wissenschaftlich und kulturreflexiv-sozial, haben ihre Berechtigung: Bestimmungen des Menschen ohne naturalistische Komponenten sind ignorant,1 solche ohne kulturelle Einholung
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Unter naturalistischen Komponenten verstehe ich basale Aussagen über die biologische Seite des menschlichen Organismus und die damit einhergehenden mentalen Eigenschaften und Fähigkeiten. Ich behaupte nicht, dass nur das gegenwärtige genetische oder neurobiologische Wissen eine „nicht-ignorante“ Bestimmung des Menschen ermöglicht. Auch der Wissensstand der Vergangenheit kann, wenn er den jeweils aktuell bestmöglichen Kenntnisstand repräsentiert, grundsätzlich empirisch informierte Aussagen in die menschliche Selbstbestimmung einfließen lassen und damit den Vorwurf der Uninformiert-
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1. Die Forschungsfrage und ihre disziplinäre Einbindung
verlieren das aus dem Blick, worum es geht. Ich benutze im weiteren Verlauf (nicht streng terminologisch) den Ausdruck der „menschlichen Lebensform“ als umfassende Bezeichnung für das Spektrum der menschlichen Eigenschaften, Fähigkeiten und Handlungsdispositionen.2 Die besondere anthropologische Relevanz der Enhancement-Problematik als Ausgangspunkt für meine Arbeit ergibt sich aus der Tatsache, dass mit den neuen Biotechnologien die Grundlagen der naturalistischen Selbstbeschreibungen des Menschen zunehmend in den Verfügungsbereich kultureller Entscheidungen übergehen. Während in der Vergangenheit davon auszugehen war, dass sich ein großes Maß an Variabilität auf Seiten der kulturellen Selbstinterpretation befand, wohingegen die naturalistischen Grundlagen der humanen Lebensform weitgehend festgelegt waren, ist angesichts der neuen Biotechnologien die Situation verändert: Die kulturell variablen Selbstinterpretationen „kolonialisieren“ auch den Bereich der zuvor weitgehend unbeeinflussbaren materiellen Grundlagen.3 Spätestens mit dieser doppelten Veränderungsfähigkeit des Menschen – in biologischer und in kultureller Hinsicht – wird unbezweifelbar deutlich, dass Anthropologie keine statische Disziplin sein kann, sondern dynamisch sein und Veränderungen und Entwicklungen des Menschen einbeziehen können muss. Eine solche Kolonialisierung des Natürlichen durch das Kulturelle, die graduell voranschreitet und nicht ohne Vorläufer ist, dramatisiert die anthropologische Grundfrage nach dem Menschen auf eine besondere Art und Weise: Die Frage, was der Mensch ist, wird zunehmend zu einer Frage, was der Mensch will, dass er sei (Kant 1798, Glover 1984).
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heit vermeiden. Und mit Blick auf zukünftige wissenschaftliche Einsichten wird sich auch unser gegenwärtiger Wissensstand weiterentwickeln. Darunter fällt die von Wittgenstein als „menschliche Lebensform“ bezeichnete Sprache (Wittgenstein 1953, § 19 und 23), aber auch einiges mehr, etwa die Sozialität, Musikalität, die spezifische Verkörperung, das phänomenale Erleben, die Lebendigkeit etc. Meine Analyse der signifikanten Komponenten der humanen Lebensform findet sich in Kapitel 17.1. Vgl. zur Verwendung des Begriffs „humane Lebensform“ auch die Arbeiten von Dieter Sturma (etwa Sturma 2003; 2008), der von einer geteilten Sprach- und Empfindungspraxis ausgeht. So können beispielsweise die Dauer der menschlichen Lebensspanne, die Leistungsfähigkeit des Gehirns (Konzentration und Intelligenz), die emotionale Befindlichkeit, die Anfälligkeit für Krankheiten, bestimmte Sinnesempfindungen mithilfe der Biotechnologien gesteuert werden. Damit verlieren sie ihre Kontingenz und werden Gegenstand intentionaler menschlicher Entscheidungen. Das Kontinuum, in dem die aktuellen Technologien zu früheren Anwendungen stehen, untersuche ich in Kapitel 3.
1.2. Meta-Ethik
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Die anthropologische Thematik dominiert meine Arbeit; meine Position wird vor allem in den Kapiteln 4, 6, 7, 16 und 17 entwickelt.
1.2. Meta-Ethik In meta-ethischer Hinsicht frage ich nach der Grundlage eines normativ gehaltvollen Begriffs vom Menschen. Ich argumentiere dafür, dass diese Grundlage in einem quasi-demokratischen Deliberationsprozess der empirisch informierten, begrifflich erschließenden Selbstverständigung von Menschen zu finden ist, die einen idealen Austausch von Argumenten sub-ideal realisieren und dabei ein Ergebnis formulieren. Das Ergebnis des Deliberationsprozesses ist idealiter konsensuell, realiter wird sich jedoch Konsens allenfalls punktuell herstellen lassen, so dass das Streben nach Konvergenz das nächste Ziel darstellt. Dieser anthropologische Diskurs setzt wechselseitige Information und reziprokes Engagement von Individuen (Partizipation) unter den Bedingungen der Öffentlichkeit voraus und ist nicht abschließbar; er ist kontinuierlich und hat damit eine historische Dimension. Der Prozess der Verständigung über einen regulativen Begriff vom Menschen zielt auf einen – nicht ewigen, sondern lokal und temporal begrenzten – Konsens und setzt die Bereitschaft der Deliberationsteilnehmer voraus, sich wechselseitig zu informieren, auf die Meinungen der anderen zu hören und die Regeln der Öffentlichkeit zu akzeptieren.4 Die normativ-ethische These, dass der Begriff „Mensch“ in Form von (mindestens) vier signifikanten Komponenten moralische Orientierung geben kann, ist in meta-ethischer Hinsicht zugleich anspruchsvoll und bescheiden. Sie ist anspruchsvoll, weil sie einen Prozess als tragfähige 4
Da realistischerweise bislang nur Menschen als Diskursteilnehmer anzunehmen sind, ergibt sich noch nicht die begriffliche Herausforderung, die durch die Teilnahme anderer Wesen an diesem Diskurs entstehen würde. Doch der Begriff „Mensch“, verstanden als regulative Idee, könnte auch dieser Herausforderung begegnen, da die biologische Gattungszugehörigkeit nicht unbedingt als Bedingung gelten muss, um unter den Begriff zu fallen. Die Voraussetzung für die Teilnahme an dem Diskurs besteht also in generalisierter Form darin, dass die Teilnehmer von sich aus den Anspruch erheben, unter den Begriff zu fallen. – Für diejenigen, die nicht selbst ihre Stimme erheben können (z. B. Neugeborene, an Aphasie oder Demenz Erkrankte), müssen – wie in einem demokratischen Prozess – Fürsprecher einstehen. Hier bestehen für den Begriff „Mensch“ analoge Probleme wie für den Personbegriff.
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1. Die Forschungsfrage und ihre disziplinäre Einbindung
Grundlage für die reiche Bestimmung einer „regulativen Idee“ auszeichnet. Sie ist bescheiden, insofern das Ergebnis dieses Prozesses nicht als definitiv konzipiert ist, sondern kontinuierlich für Revisionen, Kritik, Verbesserungen und Veränderungen offen ist, die grundsätzlich auch auf Veränderungen der Rahmenbedingungen (etwa der physischen Ausstattung von Menschen) reagieren können. Hintergrund dieser Überlegungen ist ein pragmatistischer Ansatz in der Moralphilosophie (vgl. etwa – im Anschluss an John Dewey – LaFollette 2000). Für die Enhancement-Debatte ist diese Art meta-ethischer Begründung eines regulativen anthropologischen Ideals wichtig, weil sie die möglichen Veränderungen der biologischen und physischen Ausstattung von Menschen, aber auch Veränderungen in kulturellen Rahmenbedingungen berücksichtigen kann. Nur so kann die begrenzte Reichweite anthropologischer Argumente aus dem Bereich ideologischer Aussagen befreit und auf ein tragfähiges Fundament gestellt werden. Anthropologische Argumente, die immer auf einem Grat zwischen inflationär überzogenen Ansprüchen und deflationär marginalisierter Erklärungsmacht balancieren, sind gemäß meinem Vorschlag so stark, wie sie nur gemacht werden können, ohne einen unhaltbaren Anspruch zu erheben. Die Notwendigkeit des integrativen Deliberationsprozesses wird in Kapitel 12 erwiesen. Der Prozess selbst wird in Kapitel 16 erläutert, Einwände werden in Kapitel 18 diskutiert.
1.3. Normative Ethik Ich argumentiere in vorliegender Arbeit für die normativ-ethische These, dass der Begriff „Mensch“, verstanden als eine regulative Idee, ethische Orientierung geben kann, weil Menschen sich und ihresgleichen gemeinsam unter diesem deskriptiv-normativen Begriff begreifen und weil damit signifikante, positiv bewertete Aspekte der menschlichen Lebensform (in Form von vier „Komponenten“) ausgezeichnet werden können. Diese Wertaussagen (in Form der vier Komponenten) wirken dann „attraktiv“ für solche Handlungen, die diese positiv bewerteten Aspekte bewahren. In einem zweiten Schritt werden jedoch aus den Wertungen auch Normen gewonnen, die „obligatorisch“ wirken (in Form von zwei Bedingungen). Ethische Argumente, die auf einem normativ gehaltvollen Begriff vom Menschen basieren, nenne ich „anthropologische Argumente“. Ein normatives anthropologisches Argument bewertet auf der Grundlage eines bestimmten Verständnisses vom
1.3. Normative Ethik
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Menschen eine Handlung (oder Handlungsoption). Die Bewertung ergibt sich aus einem Abgleich der Handlung mit dem normativ gehaltvollen Begriff vom Menschen. Positiv bewertete Handlungen erweisen sich als strukturell kohärent oder als strukturerhaltend mit Blick auf das normative Selbstverständnis des Menschen, wie es zuvor in einem quasidemokratischen Verständigungsprozess entwickelt wurde. Strukturgefährdende Handlungen werden auf dieser Grundlage abgelehnt (NidaRümelin 2001, Kapitel 3).5 Ich argumentiere dafür, dass sich auf anthropologischer Basis mit Blick auf die Enhancement-Debatte vor allem zwei Bedingungen formulieren lassen, die von moralisch erlaubten Enhancement-Handlungen erfüllt sein müssen. (B1) Enhancements dürfen die menschliche Fähigkeit zur Handlungsurheberschaft und Selbstbestimmung sowie ihre ermöglichenden Bedingungen nicht einschränken und (B2) Ungleichheiten und soziale Ungerechtigkeiten dürfen nur dann vergrößert werden, wenn die resultierenden Zustände die größten Verbesserungen für diejenigen ermöglichen, die am schlechtesten gestellt waren.
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Diese Auszeichnung bestimmter Eigenschaften, die unter einen normativen Begriff vom Menschen fallen, basiert nicht auf einem biologischen Begriff vom Menschen. Die biologische Spezies homo sapiens und die Klasse der Träger der ausgezeichneten Eigenschaften sind nicht unbedingt koextensiv. Es könnte durchaus sein, dass auch andere Lebewesen, außerdem Außerirdische oder künstliche Lebewesen, Engel oder Androiden – wenn es sie gibt – diejenigen Eigenschaften besitzen, die ich in normativer Hinsicht am Menschen ausgezeichnet habe. Ein solcher Gedanke ist nicht neu und wird etwa auch von Kant vertreten, dessen kategorischer Imperativ ausdrücklich für alle vernunftbegabten oder vernünftigen Wesen – und nicht nur für Menschen – gelten sollte (Kant 1785, 452 und 435, und Kant 1798, 418; außerdem Kant 1788). Damit kann der Speziesismusvorwurf, der aufgrund einer normativen Aufladung des Begriffs „Mensch“ schnell erhoben wird, abgewehrt werden (vgl. etwa Hughes 2004, xv, der drastisch von „human-racists“ redet, um diejenigen zu bezeichnen, die den Menschen gegenüber anderen Wesen als besonders wertvoll auszeichnen wollen). Es könnte jedoch gefragt werden, warum nicht gleich der Begriff „Person“ Gegenstand meiner Auseinandersetzung wäre. Meine Antwort gesteht zu, dass sich in dem hier vorgestellten normativen Verständnis die Begriffe „Mensch“ und „Person“ teilweise überschneiden, aber sie sind nicht koextensiv: In der Enhancement-Debatte geht es zunächst um die Veränderung von Menschen (nicht von Personen), und der umfassendere Begriff Mensch konstituiert damit den Gegenstandsbereich der Enhancement-Debatte.
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1. Die Forschungsfrage und ihre disziplinäre Einbindung
Damit wird deutlich, dass aufgrund der begrifflichen menschlichen Selbstauslegung, wie ich sie unter den Bedingungen der Gegenwart6 für angemessen halte, insbesondere der Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen ein besonderer Stellenwert zukommt. Zum anderen wird deutlich, dass Individuen – als „ultimate units of moral concern“ (Pogge 1992, 49) – prinzipiell gleichartige Ansprüche auf Chancen für ein gelingendes Leben haben sollen. Für die normative Beurteilung möglicher Enhancement-Eingriffe ist die hier entwickelte anthropologische Perspektive nicht die einzige relevante Dimension. Auch andere Bewertungsmaßstäbe – Risikoabwägungen, (nicht primär anthropologisch begründete) Gerechtigkeits- und Autonomiebedenken – spielen gleichfalls eine wichtige Rolle. Es wird sich sogar herausstellen, dass allgemeine Risiko-, Autonomie- und Gerechtigkeitsüberlegungen gegenüber anthropologisch fundierten Argumenten Vorrang haben und angesichts konkreter Entscheidungen zumeist für die ethische Bewertung einer Handlungsoption ausschlaggebend sind. Letztere sind daher als eine Ergänzung und Fundierung ersterer anzusehen. Wenn sich Konvergenz hinsichtlich der unterschiedlich begründeten Bewertungen ergibt, ist das kein Manko der hier präsentierten anthropologischen Überlegungen. Die normative Kraft anthropologischer Argumente darf jedoch weder überschätzt werden, da sie immer im Verbund mit anderen Argumenten auftreten, noch darf sie unterschätzt werden, da sie eine fundamentale und damit weit reichende Orientierungsfunktion haben. Das normativ-ethische Modell begründeter anthropologischer Argumente wird vor allem in den Kapiteln 16 und 17 entwickelt und setzt die Kritik in den Kapiteln 6, 7 und 14 voraus. Das Verhältnis zu alternativen Bewertungen wird in Kapitel 18.4 diskutiert.
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Mit dem Hinweis auf die „Bedingungen der Gegenwart“ möchte ich deutlich machen, dass ich nicht in einem absoluten Sinne argumentiere, sondern auch für ethische Diskussionen Entwicklungen anerkenne, so dass der hier explizierte Standard zwar den aktuell bestmöglichen Stand widerspiegeln soll, diesen aber lokal und temporal einschränkt. Er galt nicht immer und gilt nicht überall, sondern setzt eine bestimmte moralische Entwicklung voraus. Außerdem gilt er nicht ewig, sondern ist selbst Gegenstand möglicher zukünftiger Verbesserungen.
1.4. Angewandte Ethik
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1.4. Angewandte Ethik Eine solche deskriptiv-normative anthropologische Verständigung leistet einen Beitrag zu einem konkreten Problem der Angewandten Ethik: der ethischen Beurteilung der Möglichkeit, Menschen mit biotechnologischen Mitteln zu verbessern. Am Schluss der Arbeit werden auf der im Verlauf der Diskussion entfalteteten anthropologischen Grundlage exemplarisch drei Anwendungsmöglichkeiten von Enhancement-Technologien bewertet: Die Verlängerung der gesunden und aktiven Lebensspanne; die Technisierung des menschlichen Organismus („Cyborgisierung“) mit der Absicht, zusätzliche Sinne hinzuzufügen; und die psychopharmazeutische Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit. Dabei zeigt sich, dass die anthropologische Dimension der Bewertung im Hintergrund steht und nur in radikalen Fällen alleine zu einer negativen Bewertung des Einsatzes von Technologien in der Lage ist. (Diese können aber unabhängig von der anthropologischen Bewertung aufgrund anderer Bedenken verworfen werden.) Die recht verstandene anthropologische Bestimmung des Menschen erlaubt also vielfältige Veränderungen der menschlichen Lebensform und kommt nur in radikalen Fällen zu moralischen Verboten. Daher dominieren in den ethischen Debatten über Human Enhancement Risikound Gerechtigkeitserwägungen sowie Diskussionen der Frage, wie das Vorliegen eines autonomen informed consent derjenigen, die sich für ein Enhancement entscheiden, garantiert werden kann. Die hier dargelegte anthropologische Dimension ist im Vergleich zu diesen Erwägungen elementar: Sie betrachtet das Problem möglicher Veränderungen von Menschen auf einer fundamentalen Ebene und identifiziert damit eine weitere Ebene des Problems, die bei einer umfassenden Bewertung von Enhancements berücksichtigt werden muss. Die aktuelle bioethische Debatte zum Human Enhancement wird in den Kapiteln 5 bis 8 dargestellt, der angemessene Beitrag anthropologischer Argumente wird exemplarisch in Kapitel 19 entfaltet.
2. Biotechnologische Interventionen Die (mögliche) Anwendung der neuen Biotechnologien und medizinischen Interventionsmçglichkeiten konstituiert den Kern der aktuellen Enhancement-Debatte – selbst wenn umstritten ist, ob mit dem umfassenden Begriff Enhancement überhaupt tatsächlich ein einheitlich bestimmbares Phänomen und bioethisches Thema begrenzt werden kann (Bostrom/ Savulescu 2009, 1 – 4). Doch auch wenn der Einsatz der Biotechnologien keine notwendige Bedingung für das Vorliegen einer EnhancementHandlung darstellt (gezielte Verbesserungen von Menschen können auch auf anderem Weg verwirklicht werden7) und auch wenn die Anwendung einiger der aktuellen Biotechnologien nicht Teil der gegenwärtig geführten Enhancement-Debatte sind (der Einsatz von Psychopharmaka oder Prothesen etwa wird nicht allgemein als Teil der EnhancementDebatte angesehen), stellen die im Folgenden vorgestellten Biotechnologien den problematischen Kern dessen dar, was im Verlauf der Arbeit mehrfach als „weit reichendes“ Enhancement bezeichnet wird. Welche Techniken geben Anlass für die Enhancement-Debatte? Im Folgenden schlage ich eine Klassifikation der einschlägigen Biotechnologien in drei Gruppen vor, erhebe damit jedoch weder den Anspruch einer vollständigen Erfassung aller möglichen Eingriffe, noch den einer immer trennscharfen oder definitiven Klassifikation. Als Kriterium der Differenzierung setze ich den „Ansatzpunkt“ der betreffenden Praxis, also den zeitlichen und räumlichen Punkt, an dem ein menschlicher Organismus von der biotechnologischen Intervention affiziert wird. Dieses Kriterium ist für meine Zwecke dann erfolgreich, wenn es eine erste Ordnung der Methodenvielfalt biotechnologischer Interventionen er-
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So könnten beispielsweise gesellschaftliche Institutionen wie Schulen und Krankenhäuser längerfristig – im Gegensatz zu genetic engineering – einen wirksameren und unproblematischeren Weg darstellen, gewünschte positive Veränderungen hervorzurufen, die sich auch im Humangenom niederschlagen werden (so Dupré 2009).
2. Biotechnologische Interventionen
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laubt.8 Einzelne Überschneidungen im Grenzbereich tun dem keinen Abbruch. Ich unterscheide im Folgenden: – Technische Eingriffe oder Erweiterungen („Cyborgisierung“) – Genetisches Engineering zur Verbesserung des menschlichen Erbguts – Biologische Prozessoptimierung im Organismus, insbesondere im Gehirn Ich fasse diese verschiedenartigen Interventionsmöglichkeiten unter dem Begriff „Bio-Technologien“ zusammen, weil es sich um eine Anwendung von (wissenschaftlich begründetem) Wissen auf den lebendigen Organismus (des Menschen) handelt.9 Schon der Begriff der Biotechnologien erinnert daran, dass das Phänomen einer solchen biotechnologischen Intervention per se nicht neuartig ist. Pflanzen- und Viehzucht, das gezielte Vergären von Traubensaft zu Wein und zahlreiche andere Biotechnologien gehören seit langer Zeit zum alltäglichen Handlungsrepertoire von Menschen. Im Folgenden fokussiere ich offenkundig auf neuere und gezielte Biotechnologien, die auf den Menschen angewendet werden („Humanbiotechnologien“) und häufig auf der Grundlage eines Zusammenspiels von verschiedenen Wissenschaften entwickelt werden. Das Zusammenspiel verschiedener Technologien wird aktuell unter der Bezeichnung Converging Technologies diskutiert. Dabei spielen insbesondere die Nano-, Bio-, Informations- und Kognitionswissenschaften (NBIC Sciences) eine prominente Rolle (Roco/Montemagno 2004).10 Zahlreiche Technologien, die in der Enhancement-Debatte diskutiert werden, sind dabei noch in der Entwicklung begriffen und stehen nicht als einsatzbereite Techniken zur Verfügung. Andere Eingriffe, etwa das „mind-uploading“ (vgl. Koch/Tononi 2008) werden möglicherweise niemals zum Einsatz kommen können. Eine ethische Diskussion der 8 Alternative Klassifikationen finden sich etwa in Gesang 2010 und STOA 2009. Eine detaillierte Schilderung der möglichen Enhancementeingriffe auf der Basis neurowissenschaftlicher Entwicklungen liefert Nagel 2010, Kapitel 4 – 5. 9 Die Debatten zum Thema sind überwiegend anglophon. Damit ergeben sich bisweilen terminologische Unschärfen und Missverständnisse. Das deutsche Wort „Technologie“ z. B. ist semantisch enger als das englische „technology“. Letzteres kann nicht nur mit „Technik“ oder „Technologie“ übersetzt werden, sondern umfasst auch die allgemeinere Bedeutung „Verfahren“ oder „Methode“. Das englische „biotechnology“ kann somit auch weniger drastisch klingend als „Verfahren des Umgangs mit Lebendigem“ übersetzt werden. 10 Eine exemplarische ethische Diskussion von Beispielanwendungen – unter besonderer Berücksichtigung der anthropologischen Argumente – aus den drei genannten Bereichen findet sich in Kapitel 19.
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2. Biotechnologische Interventionen
Technologien kann jedoch bereits beginnen, selbst wenn die Entwicklung der betreffenden Technologien noch nicht zum Abschluss gekommen ist. Im Folgenden konzentriere ich mich auf Eingriffe, die derzeit schon relativ weit entwickelt sind und deren Einsatz, wenn er nicht jetzt schon möglich ist, zumindest wahrscheinlich erscheint. Allzu spekulative Anwendungsmöglichkeiten der Biotechnologien klammere ich aus meinen Analysen aus.
2.1. Technische Eingriffe oder Erweiterungen Die erste Klasse biotechnologischer Interventionen umfasst Eingriffe, die auf einem Zusammenspiel von technischen Geräten und dem menschlichen Organismus beruhen. Dabei handelt es sich um überwiegend reversible technische Veränderungen oder Erweiterungen der menschlichen Leistungsfähigkeit, die grundsätzlich mit dem Gebrauch eines Werkzeugs verglichen werden können. Dieses „Werkzeug“ ist häufig dem menschlichen Organismus peripher, kann aber auch in den Organismus integriert werden. Ergebnis einer solchen Erweiterung ist ein Organismus, der weiterhin autonom besteht, bezüglich einer bestimmten Kompetenz allerdings auf das Zusammenspiel mit dem technischen Gerät angewiesen ist. Solche Anwendungen können „transparent“ sein, das heißt dem Akteur nach einer Gewöhnungsphase nicht mehr auffallen. Clark diskutiert zahlreiche anschauliche Beispiele für transparente und dennoch transformatorische Techniken, die heute weit verbreitet sind: Schon der Gebrauch von Stift und Papier und Mobilfunktelefonen sind für Clark Ausdruck der Tatsache, dass der Mensch ein auf das Engste mit Technik und Kultur verbundenes Lebewesen ist. Solche technischen Erweiterungen des menschlichen Organismus durch Werkzeuggebrauch und durch die Integration von Geräten in den Organismus werden häufig mit der Idee des „Cyborgs“ als eines technologisch erweiterten Menschen assoziiert. Für Clark sind Menschen daher „natural born cyborgs“ (vgl. dazu insbesondere Clark 2003 und Heilinger/Müller 2007). Gegenwärtig werden in der Forschung neben den bereits vorhandenen und weit verbreiteten Techniken zahlreiche neue Anwendungen entwickelt, die in diese Kategorie gehören. Dabei richtet sich besondere Aufmerksamkeit auf eine mögliche Technisierung des Gehirns (vgl. dazu auch Müller 2010). Zu den geplanten und in der Entwicklung befindlichen Techniken zählen Verbindungen des menschlichen Organismus mit externen Sensoren, die bestimmte Sinneswahrnehmungen ersetzen,
2.2. Genetisches Engineering
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verbessern oder neu hinzukommen lassen (Naam 2005, Nagel et al. 2005). Auch Brain-Machine-Interfaces, die eine direkte Verbindung des menschlichen Gehirns mit einem Computer erlauben, sind hier zu nennen (Wolpaw et al. 2002, Lebedev et al. 2006, Tonet et al. 2008, Kim et al. 2009). Implantate in das Gehirn, die eine Stimulation bestimmter Regionen bewirken, zählen ebenfalls zu dieser Klasse (Breit et al. 2004, Rodriguez-Oroz et al. 2005, Boon et al. 2009). Schon jetzt weit verbreitet sind Cochlea-Implantate mit über 200.000 Trägern weltweit (Merkel et al. 2007, 158), die zukünftig vermehrt von Gehirn-Implantaten abgelöst werden könnten, die direkt den Cochleären Kern stimulieren, an dem der Hörnerv im Gehirn endet (Christen 2005). Als Vorläufer solcher neuer Technologien ist jeder Werkzeuggebrauch anzusehen. Das Greifen zum Hammer, um mit mehr und konzentrierter Kraft einen Nagel einzuschlagen, der Gebrauch von Stift und Papier oder eines Taschenrechners, das Aufsetzen einer Brille und der Gebrauch eines Mobilfunktelefons sind alltägliche Beispiele dafür, dass Menschen mithilfe externer Geräte eine bestimmte Leistung besser zu erfüllen versuchen. Auch das Einsetzen eines Herzschrittmachers oder eines Defibrillators, um den regelmäßigen Herzschlag zu sichern oder wiederherzustellen, können als Vorläufer weiterreichender Technisierungen des menschlichen Organismus verstanden werden. Die neuerdings diskutierten Technologien sind häufig invasiv und erlauben eine präzisere Interaktion mit dem Organismus sowie den Austausch von Informationen mit einer höheren Bandbreite. Außerdem können sie Eigenschaften hervorrufen, die Menschen zuvor nicht hatten.
2.2. Genetisches Engineering Seit ihren Anfängen mit der Beschreibung der molekularen Struktur der DNA von Watson und Crick im Jahr 1953 hat die moderne Genetik eine rasante Entwicklung genommen. Die Möglichkeiten der gezielten Anwendung genetischer Kenntnisse auf den Menschen werden seit den 1960er Jahren umfassend debattiert.11 Direkte Vorläufer hat diese Technik jedoch nicht, da sie ihrerseits auf einer hoch entwickelten Biologie beruht. Gleichwohl lassen sich kulturelle Praktiken erkennen, 11 Hierüber informieren etwa Weingart/Kroll/Bayertz 1988, 649 – 652, mit bes. Blick auf die Situation in Deutschland auch 669 – 673. Außerdem Walters/ Palmer 1997.
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2. Biotechnologische Interventionen
die in intentional verbessernder Absicht direkt auf das menschliche Erbgut einwirken. Dazu gehören zum einen kulturelle Praktiken, wie etwa eine gesteuerte Heiratspolitik, die zu Veränderungen auch auf der genetischen Ebene führen. Das Gleiche gilt auch für gesellschaftliche Institutionen wie Schulen und Krankenhäuser sowie für eine bestimmte Art der Ernährung: Alle diese Institutionen wirken auch auf das Erbgut der menschlichen Individuen.12 Darüber hinaus ist an die Bewegung der Eugenik zu erinnern. Die Absicht, gezielt gesündere Menschen mit einem vorteilhaften Erbgut hervorzubringen, ist allerdings durch die von einem „arischen Ideal“ ausgehenden, unter Zwang durchgeführten „eugenischen“ Züchtungsversuche und Vernichtung von „nicht-lebenswertem Leben“ der Nationalsozialisten in schweren Misskredit geraten.13 Die zweite Klasse von biotechnologischen Interventionen setzt also an der genetischen Ausstattung eines Organismus an (zur Übersicht Kiuru/Crystal 2008). Veränderungen am Erbgut – mithilfe von Interventionen wie sie zum Beispiel in der Gentherapie angewendet werden (Hämophilie: van de Biggelaar et al. 2009; zystische Fibrose: Flotte/ Laube 2001; Krebs: Rochlitz 2001) – sollen nach bestimmten Zielvorgaben die biologische Grundausstattung und damit die Ausgangsdisposition eines menschlichen Organismus verändern (vgl. Walters/Palmer 1997). Solche Interventionen sollen bei einem bereits entwickelten Organismus vom Zeitpunkt der Intervention an dauerhafte Veränderungen (etwa des Stoffwechsels) hervorrufen, die ihrerseits die erwünschten Effekte bewirken, wie etwa eine Verlangsamung des Alterungsprozesses.14 Bei Eingriffen in das Erbgut eines noch in der Entwicklung begriffenen Individuums bewirken diese nachhaltige und 12 Zu den Auswirkungen kultureller Praktiken auf die jüngere Evolution des modernen Menschen vgl. Hawks et al. 2007. Außerdem Dupré 2009. 13 Über die äußerst problematische Geschichte der Eugenik-Bewegung informiert vor dem Hintergrund der aktuellen Bemühungen um eine mögliche „liberal eugenics“ etwa Agar 2004. Zur Geschichte der Eugenik und der Rassenhygiene speziell in Deutschland vgl. Weingart/Kroll/Bayertz 1988. Aktuelle Diskussionen über eine „liberal eugenics“ gehen jedenfalls nicht mehr von direktiven Maßnahmen aus. Vielmehr werden allenfalls Informationsangebote für Beratung suchende Paare vorgeschlagen, womit ein Übergang von einer ,autoritären Eugenik‘ zu einer ,demokratischen‘ oder ,liberalen Humangenetik‘ vollzogen wird (Agar 2004). 14 Bei realistischer Einschätzung der gegenwärtigen Möglichkeiten sind die aktuellen Eingriffsmöglichkeiten jedoch noch sehr begrenzt (vgl. Rattan/Singh et al. 2009, Goya et al. 2001).
2.2. Genetisches Engineering
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irreversible Veränderungen der Ausgangsdisposition, die – bei möglichen Eingriffen in die Keimbahn – nicht nur mit Blick auf das Individuum irreversibel sind, sondern darüber hinaus auch an zukünftige Nachkommen weitergegeben werden können. Die Bedeutung des Genotyps für das Vorliegen eines bestimmten Phänotyps darf allerdings nicht überschätzt werden. Monokausale genetische Erklärungen, wie sie häufig populär vorgetragen werden, greifen zu kurz. Dass ein einziges Gen für eine bestimmte (erwünschte oder unerwünschte) menschliche Eigenschaft oder Verhaltensweise verantwortlich wäre, gilt nur in äußerst wenigen Fällen (etwa bei bestimmten Erkrankungen wie Zystische Fibrose, klassische Phenylketonurie, Hämophilie, bestimmte Formen des Albinismus). Zum Zusammenspiel zwischen genetischen Anlagen, der Genexpression und der wichtigen Rolle von Umweltfaktoren hat die Epigenetik in den letzten Jahren neue Einsichten hervorgebracht. Diese Erkenntnisse begrenzen die Erwartung, mithilfe punktueller Veränderungen einzelner Genomsequenzen tatsächlich präzise die gewünschten Eigenschaften oder Verhaltensdispositionen hervorbringen zu können und tragen der Rolle von Umwelteinflüssen in höherem Maße Rechnung (vgl. dazu Mehler 2008; Allen 2008; Borrelli 2008 und Dupré 2009). Die bereits heute verfügbaren Eingriffe betreffen Gentherapien bei verschiedenen Erkrankungen (s. o.), können bei einem entwickelten Organismus angewendet werden und zukünftig vielleicht auch pränatal Anwendung finden. Darüber hinaus sind genetische Veränderungen von Organismen mit dem Ziel möglich, bestimmte Leistungen des Organismus positiv zu beeinflussen. Dies findet in dem schwer nachzuweisenden und häufig noch als hypothetisch gehandelten „Gendoping“ Anwendung (Wells 2008; Gaffney/Parisotto 2007; Baoutina et al. 2008; de Wit, i. Ersch.). Voraussetzung der Anwendung solcher Techniken ist ein elaboriertes Analyseinstrumentarium, das eine adäquate Bestimmung des aktuellen Genoms erlaubt, das in der Folge verändert werden soll. Solche Analysen und Modifikationen können nicht nur bei entwickelten Organismen durchgeführt werden, sondern auch bei werdenden Organismen in der pränatalen oder präimplantativen Diagnostik Anwendung finden. Ohne solche Analysen und das genaue Wissen wäre jeder Eingriff nur als „trial & error“-Vorgehen möglich. Tatsächlich wurden bislang zahlreiche Veränderungen im Erbgut von lebendigen Organismen auf diese unkontrollierte Weise vorgenommen. Willkürliche radioaktive Bestrahlungen von Getreide und die anschließende Selektion gemäß ihres Ertrags haben in der Vergangenheit dazu geführt, ertragreichere Sorten
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2. Biotechnologische Interventionen
hervorzubringen (zu „genetically modified crops“ vgl. etwa Yan/Kerr 2002, Gilani/Nasim 2007, Nakazaki et al. 2003; auch Fan et al. 2004). Zukünftige Entwicklungen sind vor allem hinsichtlich der Przision möglicher Interventionen zu erwarten. Es zeichnet sich ab, dass mit Blick auf die genetische Ausstattung von Nachkommen Paaren mit Kinderwunsch zunehmend verschiedene Diagnose- und Interventionsmöglichkeiten angeboten werden. Die Entscheidung für oder gegen den Einsatz dieser Techniken wird aber aufgrund der Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Terrorregime aus staatlicher Hand allenfalls in den Entscheidungsbereich der Eltern übertragen (Agar 2004).
2.3. Biologische Prozessoptimierung im Organismus Eine dritte Klasse biotechnologischer Eingriffe versucht, verbessernd auf die Prozesse, die im menschlichen Organismus ablaufen, einzuwirken; die Vorläufer derartiger Interventionen sind vielfältig. Die Einnahme von Substanzen zur Stimmungsverbesserung oder zur Leistungssteigerung – des Gehirns wie auch des gesamten Organismus – verfügen über eine lange Geschichte und sind weit verbreitet. Alkohol- und Koffeingenuss zählen zu den in unserem Kulturkreis allgemein akzeptierten Formen solcher Interventionen.15 Aktuell werden diese Eingriffe, die auf der neuronalen Ebene wirksam sind, unter dem Titel „Neuro-Enhancement“ diskutiert. Formal betrachtet, wird damit der Funktionszusammenhang des Organismus nur modifiziert und die Grundlage aller angestrebten Ergebnisse bleibt ein „natürlicher“ organismischer Ablauf. Viele derartige Eingriffe sind reversibel, wobei aber bei dauerhafter Anwendung auch bleibende Veränderungen zu erwarten sind. Insgesamt wird bei solchen Prozessoptimierungen der autonome Organismus als solcher nicht verändert, nur ein „tuning“ oder „doping“ einzelner Fähigkeiten wird angestrebt.16 15 Über zahlreiche andere Formen der Verabreichung berauschender Substanzen informieren nicht zuletzt ethnologisch und soziologisch angelegte Studien etwa Singer/Mirhej 2006, Agar/Reisinger 2001, Fendrich et al. 1997. Eine Taxonomie von Cognitive Enhancements und eine Übersicht über die Techniken versuchen Sandberg/Bostrom 2008. 16 Doping im Sport ist das Übertreten einer selbst auferlegten Spielregel, wie es etwa auch die Übertretung der Regel wäre, dass der Golfball eben mit einem Schläger in das Loch befördert werden soll und nicht dorthin getragen werden darf. Die
2.3. Biologische Prozessoptimierung im Organismus
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So können beispielsweise der Stoffwechsel in Muskeln, der Sauerstofftransport im Körper und der Wachstumsprozess mithilfe von pharmazeutischen Substanzen optimiert werden. Auch ein Verlangsamen des natürlichen Alterungsprozesses würde in diese Klasse von Eingriffen fallen. Insbesondere das Gehirn ist aktuell vielfältigen Versuchen optimierender Einflussnahme ausgesetzt.17 Hier lassen sich im Wesentlichen zwei Bereiche erkennen, in denen durch eine Veränderung des Stoffwechsels im Gehirn Optimierungen erzielt werden, die sich auf der Erlebnisebene niederschlagen. Zum einen handelt es sich um pharmazeutische Eingriffe, die der kognitiven Leistungssteigerung dienen („smart drugs“), zum anderen um solche, die der Stimmungsmodifikation, insbesondere der Stimmungsaufhellung dienen („happy pills“).18 Darüber hinaus – und damit im Grenzbereich zu den beiden zuvor genannten Klassen von möglichen biotechnologischen Eingriffen – sind auch Stimulierungen bestimmter Hirnregionen durch elektrische Ströme möglich19 oder Neurotransplantationen und Gentransfers zur Veränderung der Prozessverarbeitung im Gehirn. punktuelle Verbesserung der menschlichen Leistungsfähigkeit ist ein wichtiges Ziel im Sport, zu dessen Erreichen jedoch – gemäß der Regel – manche Wege ausgeschlossen werden. Zur Problematik von Doping und Fairplay etwa Gerhardt 1995 und Pawlenka 2008. – Im Rahmen von biologischen Prozessoptimierungen geht es zunächst um die intentionale Modifikation organismischer Abläufe. Das Übertreten von Regeln ist damit noch nicht angesprochen. 17 Ein knapper Überblick über die Geschichte der Psychopharmakologie findet sich in Merkel et al. 2007, 11 f. Außerdem aufschlussreich: Schott/Tölle 2006, 480 – 495. 18 Konkret: Medikamente, die zur Behandlung von Aufmerksamkeitsdefizit-Störungen eingesetzt werden, können auch bei gesunden Kindern und Erwachsenen eingesetzt werden (Singh 2005, Sahakian/Morein-Zamir 2007, Maher 2007). Medikamente gegen Narkolepsie helfen dabei, länger wach und konzentriert zu bleiben (Caldwell et al. 2000). Manche Wirkstoffe verbessern die Leistung des Gedächtnisses (Ingvar et al. 1997), andere helfen dabei, selektiv bestimmte – unangenehme – Gedächtnisinhalte zu „löschen“ (Giles 2005). Zur Stimmungsverbesserung werden Antidepressiva (SSRIs) herangezogen (Kramer 1997, Elliott 2003). Auch zur Vergrößerung des zwischenmenschlichen Vertrauens in sozialen Beziehungen und zur Verbesserung von Liebesbeziehungen wird Neuroenhancement empfohlen (Savulescu/Sandberg 2008). So wird etwa das Hormon Oxytocin (Kosfeld et al. 2005) als Nasenspray vermarktet. – Die tatsächliche Wirksamkeit dieser Neuro-Enhancer konnte allerdings bislang (wie Meta-Studien gezeigt haben) allenfalls punktuell belegt werden (Repantis et al. 2009 und Repantis 2009). 19 Zur Deep-brain-stimulation vgl. Merkel et al. 2007, Kapitel 4, bes. 185 – 186; ein anschaulicher Erfahrungsbericht findet sich in Dubiel 2006. Außerdem zählt die
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2. Biotechnologische Interventionen
Die zu erwartenden Entwicklungen der Prozessoptimierung sind weitreichend (Barondes 2003). Der Gebrauch von Psychopharmaka bei gesunden Menschen weitet sich aus. Aktuell lässt sich verfolgen, wie verschiedene Medikamente ohne medizinische Indikation von Gesunden angewendet werden – sei es von Forschern, die unter dem Leistungsdruck der Konkurrenz bessere Ergebnisse mithilfe von Psychopharmaka erreichen wollen (Sahakian/Morein-Zamir 200820), sei es von Arbeitnehmern (DAK 2009), sei es zur Steigerung der sexuellen Leistungsfähigkeit mithilfe von Viagra®, sei es zur Vergrößerung des sozialen Erfolgs etwa durch Prozac®. In anderen Feldern, etwa dem Militär, gehört der gezielte und umfassende Einsatz solcher verbessernder Medikamente wie auch anderer Eingriffe in das Gehirn mittlerweile zum Standard.21
transkranielle Magnetstimulation zu derartigen Veränderungen. Diese Eingriffe zähle ich aber auch zu den im ersten Abschnitt genannten Technisierungen des menschlichen Organismus. 20 So zeigt sich das auf subtilem äußeren Zwang basierende problematische Potential des Einsatzes von leistungssteigernden Psychopharmaka deutlich daran, dass viele Eltern bereit wären, ihre Kinder dann mit den Substanzen zu „dopen“, wenn viele andere das auch tun (Maher 2008). 21 Vgl. die Projekte der US-amerikanischen DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency), etwa zu Military Bioengineering, Human Enhancing, Continuous Assisted Performance und Brain-Machine-Interfaces auf www.darpa.mil für eine Übersicht. Außerdem affirmativ Moreno 2006. Kritisch dazu etwa Altmann 2004.
3. „Alte“ und „neue“ Interventionen: Kontinuität der Mittel und Ziele In der Darstellung der biotechnologischen Interventionsmöglichkeiten im vorhergehenden Kapitel wurde punktuell darauf hingewiesen, dass die neuen Handlungsmöglichkeiten jeweils über Vorläufer verfügen. In diesem Kapitel wird die These des Kontinuums zwischen den neuen Biotechnologien und älteren Handlungen und Handlungsoptionen weiter gestärkt.22 Nicht nur die zum Einsatz kommenden Mittel (3.1.) sind lediglich graduell von Praktiken verschieden, die schon seit langem bekannt, etabliert und anerkannt sind, auch die angestrebten Ziele (3.2.) haben sich durch die neuen Handlungsoptionen lediglich graduell weiterentwickelt. Die hier entfaltete Kontinuitätsthese erscheint mir unkontrovers: Die aktuellen Handlungsmöglichkeiten stellen Weiterentwicklungen vorheriger Möglichkeiten dar und resultieren aus menschlichen Wünschen, die nicht völlig neuartig sind. Dennoch darf die Betonung dieser Kontinuitätsrelation nicht per se moralische Unbedenklichkeit suggerieren: Die Tatsache, dass eine neue Handlungsmöglichkeit lediglich eine graduelle Weiterentwicklung darstellt und altbekannten menschlichen Zielen entspricht, sagt noch nichts darüber aus, wie sie – oder ihre Vorläufer – in moralischer Hinsicht zu bewerten sind. Die Kontinuitätsthese, die ich im Folgenden belegen möchte, ist in ethischer Hinsicht daher wenig relevant, auch wenn sie häufig in beschwichtigender Absicht vorgebracht wird, um bestehende Bedenken gegenüber den neuen Technologien abzuwiegeln und zu bagatellisieren. Mit ihrer Hilfe kann jedoch das anthropologische Theorem gestützt werden, dass Menschen als Kulturwesen sich immer wieder darum bemühen, die ihnen jeweils zur Verfügung stehenden Mittel nach ihren eigenen Zwecken einzusetzen.
22 Zur „Human Enhancement Continuity Thesis“ vgl. auch Heilinger 2009 und Malafouris/Nagel/Heilinger, i.Vorb.
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3. Kontinuität der Mittel und Ziele
3.1. Kontinuität der Mittel Wie lässt sich die vermutete Kontinuität der neuen Biotechnologien und „klassischer“ Interventionen in den menschlichen Organismus belegen? Wo zeigt sich ein gradueller Zusammenhang zwischen werkzeuggebrauchenden Menschen und „Cyborgs“, zwischen einer gezielten Heiratspolitik und genetic engineering sowie zwischen Alkoholkonsum und dem Einsatz von Ritalin zur Steigerung der Leistungsfähigkeit, wenn doch offenkundig jeweils große Unterschiede zwischen den neuen und den alten Techniken bestehen? Die Artifizialität des Eingriffs, das vorausgesetzte naturwissenschaftliche Wissen und technische Know-How sind bei den neueren Interventionen deutlich höher und der direkte Einfluss menschlichen Handelns erscheint sichtbarer als zuvor (teilweise schon allein aufgrund der zum Einsatz kommenden Geräte). Um die fundamentale Kontinuität zwischen den alten und den neuen Eingriffsmöglichkeiten deutlich erkennen zu können, muss zunächst das irreführende Bild eines isoliert existierenden, in sich abgeschlossenen menschlichen Organismus revidiert werden. Bei einer erweiterten Betrachtung des menschlichen Funktionszusammenhangs, die unangebrachte Verengungen korrigiert, zeigt sich die Kontinuität besonders deutlich. Die moderne Biologie untersucht Organismen nicht nur als isolierte Einheiten, in deren Inneren die einzelnen Bestandteile einander wechselseitig beeinflussen, sondern berücksichtigt immer auch die kontinuierliche Interaktion des Organismus mit seiner Umwelt als einer Bedingung für sein Existieren (z. B. Laubichler 2005). Auch die neuere Philosophie des Geistes geht nicht mehr von einer isoliert funktionalistischen Konzeption des menschlichen Bewusstseins und der Beschränkung seiner Grundlagen auf das Gehirn aus, sondern räumt stattdessen der Verkçrperung des bewussten Erlebens und seiner Einbindung in größere Systemzusammenhänge einen hohen Stellenwert ein („embodied embedded cognition“): Bewusstsein, so wie wir es kennen, ist immer nur in einem Zusammenhang vorstellbar, der vielfältige interne Interaktionen, aber auch vielfältige Interaktionen mit der umgebenden Umwelt notwendigerweise voraussetzt (Anderson 2003, Gallagher 2005, Thompson 2007, Noë 2009, Heilinger/Jung 2009). Vor dem Hintergrund solcher Theorien des verkörperten Geistes erscheint jede isolierte Betrachtung eines menschlichen Individuums lediglich innerhalb der Grenzen seines Körpers verkürzt. Plessner etwa hat mit seinen präzisen Analysen über die „Grenze“ des menschlichen Körpers gezeigt, dass schon die Außenseite
3.1. Kontinuität der Mittel
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der Haut die umgebende Außenwelt derartig in den menschlichen Organismus integriert, dass die unmittelbare Umgebung als Teil des menschlichen Organismus angesehen werden kann.23 Neuere Theorien kritisieren – in derselben Absicht wie Plessner – mit einem geradezu abfälligen Unterton, dass es eine unangemessene und extreme Beschränkung des menschlichen Körpers und Geistes sei, diesen allein innerhalb der Grenzen des „ancient biological skin-bag“ (Clark 2003, 198) zu konzipieren. Die Interaktion des menschlichen Organismus, insbesondere allerdings des menschlichen Geistes mit seiner Umwelt, rechtfertige eine solche Begrenzung nicht. Stattdessen müsse man vielmehr einen „erweiterten Geist“ – einen „extended mind“ – annehmen, um angemessen erklären zu können, wie sich Menschen in ihrer Umwelt orientieren, wie Bewusstsein in Interaktion eines menschlichen Organismus mit der Umwelt entstehen könne.24 In diesen Theorien wird die Interaktion mit externen „Vehikeln“ mentaler Gehalte sogar als notwendige Bedingung dafür angesehen, dass es überhaupt so etwas wie den bewussten „Geist“ geben kann. Werkzeuge, aber auch Schrift und die Sprache insgesamt, stellen solche ausgelagerte Elemente des verkörperten und eingebetteten menschlichen Geistes dar. Erst die systematische Integration dieser Elemente in den umfassenden Funktionszusammenhang erlaubt die Genese der spezifisch menschlichen Kognition.25 Die Belege, die von den Vertretern der Theorie des „extended mind“ vorgebracht werden, zeigen plausibel die engen kognitiven Verbindungen an, in denen der menschliche Organismus mit körper-externen Elementen stehen kann. Clark/Chalmers (1998) diskutieren etwa den 23 Nach Plessner haben lebendige Wesen, die er auch „raumbehauptende Wesen“ nennt, die Fähigkeit zur „Ganzheit“ in sich, das ist die Fähigkeit, Inneres und Äußeres in eine Einheit zu bringen. In Plessners eigenwilliger Diktion: „Deshalb wird hier die Grenze seiend, weil sie nicht mehr das […] Insofern der wechselweisen Bestimmtheit, der selbst nichts für sich bedeutende leere Übergang ist, sondern von sich aus das durch sie begrenzte Gebilde als solches von dem Anderen als Anderem prinzipiell unterscheidet“ (Plessner 1929, 103). 24 Der grundlegende Text zur Theorie des „extended mind“ ist Clark/Chalmers 1998. Hier entwickeln sie die Position des aktiven (oder semantischen) Externalismus. Vgl. auch Clark 2007 sowie Clark 2008, wo es anschaulich heißt: „certain forms of human cognizing include inextricable tangles of feedback, feedforward and feed-around loops: loops that promiscuously criss-cross the boundaries of brain, body and world.“ (Clark 2008, xxviii). 25 Diese steht aber selbstverständlich ihrerseits in einem evolutionären Kontinuum mit den anderen Formen von „mind“, wie sie etwa bei Primaten bestehen. Dazu vgl. insbesondere Tomasello 2000.
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3. Kontinuität der Mittel und Ziele
Gebrauch eines Notizbuches; gegenwärtig wird vielen bewusst sein, dass ihnen mit dem Verlust ihres Kalenders oder dem Crash ihrer Festplatte und dem damit verbundenen Datenverlust mehr verloren geht als ein bloßes Stück austauschbarer, externer Hardware: Der Verlust externer Datenträger kommt für manchen einer partiellen Amnesie gleich. Dies zeigt, wie selbstverständlich die geradezu intime Interaktion des menschlichen Organismus mit externen Geräten auch über die Grenzen des Körpers hinweg vorausgesetzt wird, so dass hier die Rede von einer größeren – kognitiven, aber auch physisch-interaktiven – Einheit gerechtfertigt ist.26 Auf der Grundlage einer solchen erweiterten Konzeption des organismischen Funktionszusammenhangs von Menschen zeigt sich die enge Interaktion von Menschen mit externen Geräten, aber auch mit Implantaten, in einem Kontinuum zu Werkzeugen, dem Blindenstock, Notizbüchern und Computern.27 Entscheidend ist hierbei die funktionale Beschreibung der engen Interaktion, für die – schon in den klassischen Fällen – die „skin-bag“ keine relevante Grenze darstellt. Auf dem Vorigen aufbauend lässt sich die These der kognitiven und physikalischen Einheit von Elementen und Prozessen, die innerhalb und außerhalb der skin-bag ablaufen, auch durch die Tatsache belegen, dass neuartige Technologien bei Gebrauch nach einiger Zeit „transparent“ werden können (Clark 2003). Ein geübter Schreiber ist sich des Stiftes, den er benutzt, nicht bewusst; wer viel am Computer arbeitet, bewegt die Maus nicht bewusst über das Mousepad, sondern steuert einen Cursor „direkt“; ein guter Pianist erlebt nicht länger die Widerständigkeit des 26 Klassische Diskussionen einer solchen erweiterten kognitiv-physischen Einheit des menschlichen Organismus mit externen Geräten finden sich etwa bei Merleau-Ponty (1945), der am Beispiel des Blindenstocks aufzeigt, dass die Grenzen der Körpererfahrung für einen blinden Menschen nicht etwa am Griff des Stocks, sondern an dessen Spitze liegen. Vgl. dazu auch die Diskussion in Malafouris (2008), der in diesem Zusammenhang über die noch junge Forschungsrichtung Cognitive Archaeology informiert. 27 Auch Gerhardt betont die besondere Bedeutung der über den Organismus hinausreichenden, dabei aber immer noch „organismischen“ Techniken als Spezifikum der menschlichen Gattung: „Bei keiner anderen Spezies spielt die Technik eine so große Rolle wie beim Menschen. Man kann sie als eine Auslagerung der Techniken des Lebens verstehen, derer sich der Organismus in allen seinen Vollzügen ohnehin bedient.“ (2008a, 111). An anderer Stelle spitzt er diese These extrem zu: „Technik […] ist alles – zumindest alles, was das Leben möglich macht.“ (Gerhardt 2008b, 98).
3.1. Kontinuität der Mittel
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Instruments; die zahlreichen Handlungen beim Autofahren werden automatisiert und laufen unbewusst ab. Ebenso wie bereits existierende könnten auch bestimmte neuartige Erweiterungen des menschlichen Organismus durch Mensch-ArtefaktSchnittstellen nach einer Eingewöhnungsphase transparent werden. Das gilt sowohl für technische Erweiterungen des menschlichen Organismus, wie etwa neuartige Methoden, mithilfe des ganzen Körpers Flugzeuge zu steuern, oder für sensorische und kognitive Erweiterungen des menschlichen Leistungsspektrums durch brain-machine-interfaces. Auch hier zeigt sich also deutlich das Kontinuum zwischen den klassischen und neuartigen Interventionsmöglichkeiten. Ebenso wie bereits vertraute können auch neuartige „Vehikel“ in die Abläufe des menschlichen Organismus integriert werden. Eine Konzeption der über die Grenzen des Organismus hinausgehenden Funktionseinheit lässt gegenwärtige Erweiterungen der menschlichen Leistungsfähigkeit in einem Kontinuum zu früheren Praktiken erscheinen. Vor dem Hintergrund einer solchen Konzeption des menschlichen Organismus und des menschlichen Bewusstseins erweist sich die Frage, welcher technischen oder physikalischen Art eine bestimmte Erweiterung ist und wie eng sie in den menschlichen Organismus integriert ist (extern oder intern), als zweitrangig. Vorrangig dahingegen ist die Frage, was durch die „Vehikel“, derer sich der menschliche Geist bedienen kann, ermöglicht wird. Ein Notizbuch erlaubt es, eine Vielzahl von Informationen zu speichern – und gleicht damit funktional dem deutlich höher entwickelten fiktiven Gehirnimplantat, das über eine große Speichermöglichkeit hinausgehend auch einen direkten Zugang zu den im Internet gespeicherten Informationen ermöglichen würde. Unter Bezugnahme auf die Philosophie der Biologie und die Philosophie des Geistes habe ich für die Kontinuität zwischen „alten“ und „neuen“ Biotechnologien argumentiert, indem exemplarisch auf die funktionale Ähnlichkeit der „technischen Erweiterungen“ (Kapitel 2.1.) hingewiesen wurde, mit denen der menschliche Organismus in einen funktionalen Zusammenhang treten kann.28 28 Die Kontinuität bei den genetischen Interventionen (Kapitel 2.2.) und beim Einsatz psychoaktiver Substanzen (Kapitel 2.3.) wird hier nicht ebenso ausführlich erläutert. Parallelen ließen sich jedoch nachweisen anhand der bereits erwähnte Heiratspolitik und Beschulung als Beispiele für gezielte genetische und epigenetische Veränderungen des Genotyps und an die immer von Menschen konsumierten psychoaktiven Substanzen wie etwa Alkohol und Aphrodisiaka. Vgl. auch die knappe Übersicht über die „History of Interventions in the Brain
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3. Kontinuität der Mittel und Ziele
Die festgestellte Kontinuität entbindet nicht von der Aufgabe, die aktuellen Techniken kritisch zu reflektieren. Eine Wertung – gar eine positive Einschätzung – der neuen Technologien ist mit der Betonung des Kontinuums, in dem sie stehen, nicht verbunden. Die Kontinuitätsthese legt lediglich nahe, dass wir uns bei einer Einschätzung der gegenwärtigen Situation auf ältere Debatten berufen können und dass kein gänzlich neues Problem in die Welt getreten ist. Die wichtigsten Unterschiede zwischen dem „klassischen“ und dem „modernen“ Einsatz biotechnologischer Interventionen liegen weniger in den Technologien selbst, sondern vielmehr in der beschleunigten Entwicklung immer neuer Möglichkeiten und in der damit einhergehenden Einsicht, dass – trotz der Kontinuität – immer weiter reichende Änderungen der menschlichen Lebenswelt eintreten können. Während also einerseits das „Verfügungswissen“ über den menschlichen Organismus und seine biotechnologischen Erweiterungen schnell wächst, steht angemessenes und akzeptiertes „Orientierungswissen“ zur Bewertung dieser Technologien noch nicht zur Verfügung, weil die – kontinuierliche – Weiterentwicklung des Verfügungswissens so stark beschleunigt ist, dass ehemals etablierte Bewertungsmaßstäbe fraglich werden und eine neue Verständigung nötig machen. Eine zentrale Frage in diesem Zusammenhang besteht darin zu klären, welches die Ziele der Anwendung – kontinuierlich entwickelter – biotechnologischer Mittel sind.
3.2. Kontinuität der Ziele Nicht nur die zum Einsatz kommenden Mittel, sondern auch die Ziele, zu denen die neuen Biotechnologien gegenwärtig eingesetzt werden, sind nicht neuartig. Pointiert gesagt: Die Menschen bemühen sich prinzipiell immer um dasselbe, und nutzen dabei alle ihnen jeweils zur Verfügung stehenden Mittel. Die Biotechnologien scheinen neue Möglichkeiten zur Verwirklichung lang gehegter menschlicher Wünsche zu eröffnen. Dazu gehören konkrete Wünsche, die viele Individuen – in den unterschiedlichsten kulturellen Kontexten zu den unterschiedlichsten Zeiten – haben: ein Using Psychotropic Substances“ zu Beginn von Merkel et al. 2007, die zahlreiche Beispiele von der Antike bis zur Gegenwart versammelt, sowie Wiesing 2008 zur History of Medical Enhancement.
3.2. Kontinuität der Ziele
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gesundes und ein glckliches Leben zu führen, das lange whrt. Außerdem wünschen sich die meisten ebendiese Möglichkeit für ihre Nachkommen. 29 Neben den genannten konkreten und individuellen Zielvorstellungen eines gelingenden Lebens, das mithilfe der Biotechnologien befördert werden soll, lassen sich auch übergeordnete Ziele erkennen, die in einer Zeit, in der Biotechnologien zur Verfügung stehen, eben auch mit diesen Mitteln angestrebt werden können. Mit ihnen sollen nämlich etwa bestehende Ungerechtigkeiten auf der Welt bekämpft werden (vgl. dazu insbes. Buchanan et al. 2001). Darüber hinaus besteht der menschliche Wunsch, potentiell als bedrohlich erlebten Zuständen nicht machtlos gegenüberzustehen. Statt Erfahrungen der Kontingenz zu machen, in denen die „Übermacht der Wirklichkeit“ (Blumenberg) das eigene Leben bestimmt, möchten viele ihr Leben aktiv und selbstbestimmt führen. Dabei geht es in den wenigsten Fällen darum, vollständige Kontrolle über die Welt zu erlangen (solche totalitären Bestrebungen können selbstverständlich auch biotechnologische Mittel einsetzen); doch immer da, wo es möglich ist, sich etwa gegen die Widrigkeiten des Wetters durch den Bau von Häusern, gegen Gefährdungen durch Krankheiten durch ein Gesundheitssystem zu rüsten, zeigt sich das menschliche Streben nach Selbstbestimmung, die nicht bereit ist, die vorgegebenen Umstände fraglos hinzunehmen. Die neuen Biotechnologien und ihr Enhancement-Gebrauch scheinen einigen vor diesem Hintergrund zu versprechen, dass der drohende Tod mit ihrer Hilfe weiter verschoben werden kann; dass bestimmte Leistungsgrenzen, etwa kognitiver Art, schrittweise überwunden werden können, wie zuvor durch den Einsatz von Stift und Papier; und dass insgesamt durch die Entwicklung der Biotechnologien ein glücklicheres Leben für die Menschen befördert werden könne. Die übergeordneten Ziele, mit denen die Befürworter den Einsatz von Biotechnologien legitimieren wollen, sind somit Wünsche, die viele Menschen teilen. Vielleicht geht jedoch mit den neuen Technologien auch eine Verengung der Ziele einher: So legt etwa das Vorhandensein eines bestimmten Werkzeugs (als solche lassen sich die biotechnologischen Handlungsoptionen ja verstehen) eine bestimmte, auf die Anwendung dieses Werkzeugs ausgerichtete Sicht auf die Welt nahe.30 Wer mithilfe 29 Diese vier Ziele sind weit genug formuliert, um die Mehrzahl aller Verheißungen der Biotechnologien zu integrieren. Vgl. auch die Klassifikation der Ziele biotechnologischer Interventionen in President’s Council 2003, Kapitel 2 – 5. 30 Vgl. dazu etwa Heidegger 1953.
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3. Kontinuität der Mittel und Ziele
eines Medikaments recht einfach eine bestimmte Wirkung erzielen kann, mag sich durch das bloße Vorhandensein dieser Option mehr in diese Richtung beeinflusst sehen, als jemand, für den eine solche Handlung nur als Resultat großer Anstrengungen möglich wäre. Auch wenn die Ziele von Enhancement-Handlungen somit nicht gänzlich neuartig sind, kann durch ihre größere Realisierungswahrscheinlichkeit ein gradueller, dabei aber bedeutsamer Unterschied entstehen. Hinzu kommt außerdem, dass selbst bei einem Kontinuum der Ziele das Umfeld zu beachten ist, in dem diese Ziele artikuliert werden. So ist zwar das Streben, gute Leistungen im Rahmen seiner Arbeit zu erbringen, nicht neu. In der Gegenwart färben die kompetitiven Bedingungen einer marktwirtschaftlich orientierten Leistungsgesellschaft jedoch auch auf diese Ziele ab: Gute Leistungen in einem kompetitiven Markt erbringen zu wollen, unterscheidet sich von dem Wunsch, in einem weniger kompetitiven Umfeld gute Leistungen anzustreben. Mit diesen Ergänzungen wird die Kontinuitätsthese nicht in Frage gestellt, es wird jedoch deutlich, dass eine Berücksichtigung des Umfelds der kontinuierlich eingesetzten Mittel und der kontinuierlich angestrebten Ziele unerlässlich ist. Das Kontinuum, das hinsichtlich der angestrebten Ziele und der zum Einsatz kommenden Mittel zwischen alten und neuen Enhancements besteht, stellt – wie zu Beginn des Kapitels gesagt – keine ethisch gehaltvolle Einsicht dar. Selbst wenn Menschen immer schon etwas getan haben, heißt das keineswegs, dass die betreffende Praxis deswegen auf eine bestimmte Art und Weise moralisch zu bewerten sei. Es besteht allenfalls Grund für die Vermutung, dass es sich bei den gleichartigen Handlungsweisen um den Ausdruck einer „anthropologischen Konstante“ handeln könnte. Darunter verstehe ich typisch menschliche Verhaltensweisen (vgl. Kapitel 7.2.). Es ist davon auszugehen, dass solche typischen Merkmale, Eigenschaften, Fähigkeiten oder Handlungsdispositionen und das Wissen darüber einen wichtigen Bestandteil der menschlichen Selbstbeschreibung ausmachen. Somit eröffnet die Enhancement-Debatte mehrfach einen Zugang zur Auseinandersetzung mit der anthropologischen Grundfrage, was der Mensch sei: Zum einen können die Enhancement-Handlungen als Ausdruck von anthropologischen Konstanten untersucht werden. Zum anderen kann angesichts möglicher Veränderungen typisch menschlicher Eigenschaften gefragt werden, was denn spezifische oder besonders bedeutsame Eigenschaften von Menschen seien. Und schließlich wird auch die Frage aufgeworfen, ob das Menschliche überhaupt in einer moralischen Hinsicht auszu-
3.2. Kontinuität der Ziele
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zeichnen ist. Damit ist das facettenreiche anthropologische Projekt einer deskriptiven und normativen begrifflichen Selbstauslegung des Menschen aufgerufen.
4. Das Projekt einer deskriptiv-normativen begrifflichen Selbstauslegung Die Fortschritte der Lebenswissenschaften und die daraus resultierenden biotechnologischen Eingriffsmöglichkeiten in den menschlichen Organismus mit ihren vielfältigen Auswirkungen für den Organismus, das veränderte phänomenale Erleben und in der Folge auch auf die Formen des menschlichen Zusammenlebens rufen anthropologischen Reflexionsbedarf hervor, denn sie tangieren verschiedene Bereiche der menschlichen Lebensform. Unter Anthropologie verstehe ich das systematische Nachdenken über Menschen als Menschen, über ihre physischen Eigenschaften, Verhaltensdispositionen und Eigenarten, bei dem unterschiedliche Methoden zum Einsatz kommen können. Grundsätzlich werden Untersuchungen der biologischen Grundlagen menschlicher Organismen, Beschreibungen und Analysen der kulturellen Leistungen von Menschen und aus der Introspektion gewonnene Einsichten von der Anthropologie ebenso in den Blick genommen wie kulturelle Selbstdeutungen in Kunst, Religion und Philosophie. Philosophische Anthropologie in meinem Verständnis versucht, die verschiedenen Vorgehensweisen synthetisch, integrativ zusammenzuführen und damit Einsichten über das menschliche Selbstverständnis zu gewinnen. Im Folgenden skizziere ich einige Aspekte einer gegenwärtigen Verhältnissen angemessenen integrativen Anthropologie.
4.1. Begriffliche Selbstauslegung des Menschen Anthropologie lässt sich allgemein verstehen als eine Auseinandersetzung mit der Frage „Was ist der Mensch?“ (vgl. dazu Ganten et al. 2008). Doch die direkte anthropologische Grundfrage „Was ist der Mensch?“ ruft aus mindestens zwei Gründen häufig Unbehagen hervor: Zum einen wird kritisiert, dass es sich bei dieser Frage um eine gänzlich unwissenschaftliche Frage handele; zum anderen wird an die umstrittene Tradition der „Philosophischen Anthropologie“ erinnert, die sich der Frage nach dem
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„Wesen“ des Menschen insbesondere im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugewendet hat. Ist also die Suche nach dem „Wesen“ oder der „Natur“ des Menschen unwissenschaftlich und in den Bereich der Weltanschauungen zu übertragen? Ruft sie nicht allenfalls die Erinnerung an veraltete „Wesensbestimmungen“ wach? Welche Wissenschaft sollte denn für diese Frage zuständig sein (vgl. Schnädelbach 1992, 123 und 281)? Ist es nicht sogar gefährlich, „den Menschen“ normierend auf eine Essenz festschreiben zu wollen und damit Menschen ihrer Freiheiten und ihrer Individualität zu berauben? Und: Ist nicht aufgrund der evolutionären Veränderung der Gattung und verstärkt mit den möglichen biotechnologischen Veränderungsmöglichkeiten die Rede von „dem“ Menschen im generischen Singular ohnehin gegenstandslos geworden? Aus dieser kritischen Perspektive wird empfohlen, die übergeordnete anthropologische Frage zurückzustellen und stattdessen lediglich konkrete wissenschaftliche Fragen zu stellen, die auf spezifische Aspekte des Menschseins zielen. Besonders vielversprechende Disziplinen, die in diesem Zusammenhang Einsichten über das Menschsein zutage fördern, seien aktuell die Evolutionsbiologie und die Primatenforschung. Sie helfen, besser zu verstehen, wie sich die Gattung homo sapiens entwickelt hat. Versuche zur Erklärung des menschlichen Bewusstseins liefern außerdem die Neurobiologie und die Kognitionswissenschaften. Mit ihrer Hilfe sollen sich alle bewussten Phänomene durch Untersuchungen des Gehirns und der darin ablaufenden neuronalen Vorgänge erklären lassen. Darüber hinausgehende Erkenntnisansprüche müssen sich, um wissenschaftlich haltbar zu sein, in Form konkreter Fragen fassen lassen. Allenfalls der Begriff der „Person“ biete sich an, um – weltanschaulich möglichst neutral – über die Struktur des menschlichen Bewusstseins zu reden.31 „Der Mensch“ als generischer Singular ist aus dieser kritischen
31 Dieter Sturma hat mit seinen Arbeiten zur Philosophie der Person dafür argumentiert, dass diese in der Gegenwart an die Stelle der philosophischen Anthropologie getreten sei. Vgl. Sturma 1997, 2003 und 2001, 12: „Unter den Bedingungen anspruchsvollerer Methoden und Rechtfertigungsmodelle tritt die Philosophie der Person einen Großteil des Erbes der philosophischen Anthropologie an. Der Begriff der Person ist die moderne Antwort auf die alte Frage nach dem Selbstverständnis des Menschen.“ Diese These ist zutreffend, solange sie nicht dazu herangezogen wird, anthropologische Fragen und anthropologisches Denken abzulösen. Die Begriffe „Mensch“ und „Person“ haben zwar eine große Schnittmenge, gehen aber nicht ineinander auf, da mit „Person“ nur ein
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Perspektive kein ernstzunehmender Forschungsgegenstand, da gänzlich unklar sei, mit welchen wissenschaftlichen Methoden diese Frage abschließend zu beantworten sei. Ein zweiter Grund für das Unbehagen, das häufig mit der Frage nach dem Menschen aufgerufen wird, liegt darin, dass die Philosophische Anthropologie als eine „Denk-Schule“ (Rehberg) der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über eine umstrittene Vergangenheit verfügt.32 Die „Gründungsväter“ dieser philosophischen Tradition – Scheler, Plessner und Gehlen – sind häufig kritisiert worden. Diese Kritik kann hier nur ganz kurz erwähnt werden: Scheler wird vorgeworfen, unzureichend begründete ad-hoc-Metaphysik zu betreiben. Plessner wird sein überholter Hegelianismus vorgehalten. Gehlen wird nicht nur angekreidet, mit seinem Theorem vom Menschen als Mängelwesen ein nicht theoriefähiges Konstrukt geschaffen zu haben, sondern darüber hinaus auch seine biologistischen Ausführungen über den Menschen allzu bereitwillig in die Nähe nationalsozialistischer Ideologien gerückt zu haben. Aus Sicht der sprachanalytischen Philosophie wird zudem die unpräzise Begrifflichkeit der genannten Autoren kritisiert, die zu keinen haltbaren wissenschaftlichen Theorien führe. Darüber hinaus ist kritisiert worden, dass statische Erklärungen einer Sonderstellung des Menschen keinen Raum für Veränderungen, Entwicklungen und die dynamische gesellschaftliche Dimension ließe (Habermas 1958). Das gegenwärtig wieder wachsende Interesse an anthropologischen Fragestellungen folgt damit auf eine Phase, in der die „Denk-Schule“ der Philosophischen Anthropologie eine Außenseiterrolle gespielt hat (wie sie es in der anglophonen Philosophie auch immer noch tut). Ausgehend von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen wird die Bedeutung der neuen Einsichten für die Auseinandersetzung mit der anthropologischen Grundfrage diskutiert (vgl. etwa Ganten et al. 2008). Die beiden Kritikpunkte sind ernstzunehmen, führen aber nicht dazu, anthropologisches Denken insgesamt als unwissenschaftlich aus dem Aufgabenbereich der akademischen Philosophie auszuschließen. VielTeil des reicheren Begriffs „Mensch“ erläutert werden kann (vgl. auch oben Anm. 5). 32 Die erste umfassende Übersichtsstudie über die Philosophische Anthropologie als „Denkschule“ des 20. Jahrhunderts hat Fischer 2008 vorgelegt. Auch er unterscheidet zwischen einer philosophischen Anthropologie, die jedes philosophische Fragen nach dem Menschen umfasst, und der Philosophischen Anthropologie im engeren Sinne, die eben die betreffende deutsche Theorietradition meint.
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mehr formulieren sie Aufgaben an eine gegenwärtigen Verhältnissen angemessene philosophische Anthropologie: sie können als Aufforderung gelesen werden, methodisch reflektiert die verschiedenen Einsichten über den Menschen zusammenzuführen.33 Die Kritik macht jedoch deutlich, dass die Anthropologie nicht als eine einheitliche wissenschaftliche Disziplin verstanden werden darf, die über ein festgelegtes Methodeninstrumentarium verfügt und auf einen Fundus gesicherter Erkenntnisse zurückgreifen kann. Dafür ist das Feld anthropologisch relevanter Fragen zu weit, die Gruppe derer, die philosophische Anthropologie betreiben, zu heterogen, und der Gegenstand der Untersuchung zu facettenreich. Doch trotz des solcherart immer wieder geäußerten Unbehagens gegenüber der anthropologischen Grundfrage, was der Mensch sei, kann sie als legitimer Ausgangspunkt auch für die Erklärung anthropologischer Argumente im Rahmen ethischer Debatten dienen (im Allgemeinen, und im Rahmen der Enhancement-Debatte im Besonderen). Dafür muss die Frage „Was ist der Mensch?“ allerdings als eine besondere Frage verstanden werden, die nicht in jeder Hinsicht mit anderen Was-ist-Fragen vergleichbar ist. Die Besonderheit der anthropologischen Grundfrage nach dem Menschen liegt darin begründet, dass man selbst ein Teil dessen ist, worüber man nachdenkt, wenn man sie stellt. Man denkt also nicht über ein Objekt nach, 33 Versuche zu einer „integrativen“ oder „synthetischen“ Anthropologie finden sich aktuell u. a. in Gerhardt 1999, Illies 2006, Jung 2009. Im englischen Sprachraum sind es vor allem die Arbeiten zur embedded cognition oder zum enactivism die – ausgehend von einer Kritik reduktionistischer oder funktionalistischer Ansätze in der analytischen Philosophie des Geistes – einen integrativen Ansatz zur Erforschung kognitiver und phänomenaler Vorgänge vertreten. Als Ausgangspunkt gilt dabei immer die spezifische Verkörperung denkender und erlebender Wesen, die mit ihrer Umwelt in einem vielfältigen Austausch stehen. Allen Versuchen, menschliches Leben, Denken und Erleben auf einzelne Aspekte der menschlichen Lebensform zu reduzieren – wie etwa die aktuell verbreitete Beschränkung von Erklärungsversuchen auf das Gehirn und die fragmentierende Untersuchung einzelner Erlebnismomente (Qualia) – werden von diesen Ansätzen massiv kritisiert. Vgl. dazu exemplarisch die Arbeiten von Gallagher 2005, Thompson 2007, Clark 2008, Noë 2009. Auch wenn in diesen Debatten der Begriff „Mensch“ im engeren Sinne keine Rolle spielt, findet m. E. hier gegenwärtig die fruchtbarste – anthropologische – Diskussion darüber statt, wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit dem menschlichen Erleben nicht „versöhnt“, sondern verbunden werden können, so dass es ein umfassendes und unter den Bedingungen aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse wohlbegründetes menschliches Selbstverständnis möglich wird. Vgl. dazu auch Heilinger/ Jung 2009.
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das einem selbst als erkennendem Subjekt gegenübersteht. Die anthropologische Grundfrage zielt auf eine Klärung des menschlichen Selbstverständnisses. Damit muss die Struktur Frage „Was ist der Mensch?“ näher erklärt werden, um Missverständnissen vorzubeugen. In der Anthropologie, wie sie unter der Leitfrage „Was ist der Mensch?“ geführt werden kann, wird untersucht, wie sich Menschen als Menschen selbst verstehen. Das Verb verstehen bringt die triadische Struktur, um die es geht, deutlich zum Ausdruck (vgl. Keil 1993, 4): Jemand (ein Mensch) versteht etwas (sich selbst) als etwas (als Mensch). „Was alle Anthropologie in Anspruch nimmt, ist die Tatsache des konstitutiven Selbstbezugs des Lebewesens, das sie beschreibt; es sind Menschen, die die Wissenschaften vom Menschen betreiben.“ (Schnädelbach 1992, 32). Da das Selbstverständnis von Menschen im Rahmen der philosophischen Anthropologie im Medium des Begriffs stattfindet – um den Ausdruck 34 dieses Selbstverständnisses zu ermöglichen und intersubjektiv zugänglich zu machen – ist Anthropologie die „begriffliche Selbstauslegung des Menschen“ (Gerhardt 1999, 187 ff.). Mit einem solcherart präzisierten Verständnis der Aufgabe philosophischer Anthropologie kann das Unbehagen, das von der „Was ist“-Frage hervorgerufen wird, gemindert werden.35
4.2. Naturalistische Erklärungen als Herausforderung für die Anthropologie Die unbestrittenen Leistungen und Erfolge der Naturwissenschaften verleihen „naturalistischen“ Aussagen über Menschen besonderes Gewicht. Naturalistisch nenne ich solche Sätze, die sich des naturwissenschaftlichen Idioms bedienen und dabei auch das intentionale Vokabular (also Aussagen über das Fühlen, Wollen und Inhalte des Bewusstseins) in das naturwissenschaftliche Vokabular zu überführen versuchen. Men34 Jung rückt Artikulationsfähigkeit von Menschen in das Zentrum seiner „Anthropologie der Artikulation“ ( Jung 2009). 35 Die gegenwärtig geläufige Rede vom „Menschenbild“ ist meines Erachtens der robust-realistischen Was-ist-Frage überlegen, der Formulierung „menschliches Selbstverständnis“ jedoch unterlegen, insofern zwar einerseits der konstruktive Aspekt des Bildes betont wird, andererseits jedoch als Bild oder Abbild etwas Statisch-Unveränderliches suggeriert, das in der Rede vom menschlichen Selbstverständnis nicht anklingt. Zum Verhältnis zwischen Menschenbild und menschlichem Selbstverständnis vgl. auch Kapitel 17.1. (K3).
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schen können mit einer solchen Redeweise versuchen, sich selbst zu objektivieren. Sie reden über sich wie über „bloße Objekte“. Die neueren Debatten über die Willensfreiheit und das menschliche Bewusstsein sind vor diesem Hintergrund auch als kritische Diskussionen über die Legitimität dieser Versuche zu verstehen, eine Sprachebene durch eine andere zu ersetzen. In den Debatten wird geprüft, ob sich das menschliche Selbstverständnis naturalisieren lässt, oder ob es irreduzible semantische Gehalte des intentionalen, erstpersönlichen Idioms gibt.36 Der Naturalismus als theoretische Position zeichnet sich dadurch aus, „dass er im Rahmen seiner, ja gerade durch seine naturwissenschaftliche Orientierung zugleich philosophische Fragen beantworten will und auch die interpretative und die reflexive Dimension des Naturwesens Mensch zu naturalisieren beansprucht.“ (Keil 1993, 3; vgl. auch Keil 2005). Gemeint sind damit die Versuche, das menschliche Leben und Erleben durch naturwissenschaftlich erfassbare Regelhaftigkeiten zu erklären.37 36 Vgl. dazu und zum Folgenden Keil 1993, besonders 15 ff. – Beispiele für naturalistische Erklärungsstrategien finden sich etwa bei Roth 2001, prominent sind außerdem die Arbeiten von Dennett 1993; 1996; 2006. Radikale Positionen vertritt insbesondere Churchland 2006. – Das Projekt einer Kritischen Neurowissenschaft dahingegen stellt die Erklärungs- und Deutungsansprüuche der Neurowissenschaften auf den Prüfstand und analysiert kritisch die impliziten Voraussetzungen, normativen Investitionen und gesellschaftlichen Auswirkungen derselben (Choudhury/Nagel/Slaby 2009). 37 So lässt sich der Naturalismus funktional als ein versuchtes „Diskursreformprogramm“ (Keil 1993, 15) verstehen, das in der Rede über einen bestimmten Gegenstandsbereich eine Ebene sprachlicher Äußerungen durch eine andere ersetzen möchte und in der Folge auch zu einer daraus resultierenden (veränderten) Bewertung bestimmter Handlungsoptionen führt. Eine solche auf die Rede über den Menschen bezogene Analyse erkennt nachhaltige Veränderungen im Idiom und leitet daraus auch ein durch naturalistische Erklärungsansprüche verändertes menschliches Selbstverständnis ab. Keil weist nach, dass eine eindeutige Trennung zwischen dem naturalistischen und dem intentionalistischen Vokabular bei der Rede über den Menschen nicht durchführbar ist. Er diagnostiziert ein „Paradox von anthropomorpher Naturinterpretation und physiomorpher Selbstinterpretation des Menschen“ (ebd., 18), das die Behauptung einer Ablösung ehemaliger Selbstbeschreibungen durch ein exaktes naturalistisches Vokabular relativiert. Gemeint ist damit, dass beide Beschreibungsebenen eng miteinander verschränkt sind (ebd., 360) und dass sogar im naturalistischen Idiom anthropomorphe Implikationen nicht zu eliminieren sind. Schon diese Diagnose kann gegenüber überzogenen Naturalisierungsversuchen des menschlichen Selbstverständnisses als Aufruf zur Mäßigung verstanden werden, da selbst eine naturalistische Redeweise nicht gänzlich ohne Anleihen bei einem anthropomorphen Vokabular auskommen kann. Ein Beispiel in diesem Zu-
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Die im Grunde gar nicht kontroverse Forderung nach einer Erprobung der Reichweite und Tragfähigkeit naturalistischer Erklärungen – sowie einer Integration der Ergebnisse in das menschliche Selbstverständnis – ist jedoch häufig mit der metaphysischen Annahme gekoppelt, die Naturwissenschaften stellten einen privilegierten, wenn nicht sogar den einzigen legitimen Zugang zur Wirklichkeit dar. Damit aber entsteht ein Konflikt: Es kommt dann nicht nur zu scharfen Abgrenzungen vom traditionellen Verständnis des Menschen als einem einzigartigen Vernunft- und Geistwesen und zu einer reduktionistischen Attitüde gegenüber kulturellen lebensweltlichen Selbstdeutungen, sondern auch zu einer Revision des normativen Kerns der Alltagspraxis unter Berufung auf die strengen Wissenschaften. Die in den letzten Jahren teilweise vehement geführten Debatten über die Freiheit des menschlichen Willens stellen ein anschauliches Beispiel für die überzogenen Erklärungsansprüche enger naturalistischer Theorien dar. So wurde etwa im Anschluss an klassische Studien von Libet vertreten, dass das messbare Auftreten eines handlungsinitiierenden Bereitschaftspotentials im Gehirn vor dem bewussten Entschluss einer Person, einen Finger zu bewegen, ein hinreichender Beleg dafür sei, dass menschliche Handlungen durch das Gehirn bestimmt seien, dass menschliche Entscheidungen epiphänomenale Begleiterscheinungen neuronaler Prozesse seien und dass damit der freie Wille lediglich eine Illusion darstelle.38 Diese häufig vehement vertretene These traf auf ebenso leidenschaftlich vorgetragenen Widerspruch. Die besondere Emotionalität, mit der diese Debatten geführt wurde, zeigt – ebenso wie die große öffentliche Anteilnahme daran – an, dass es sich hier nicht allein um die fachphilosophische oder wissenschaftliche Diskussion eines akademischen Spezialproblems handelte, sondern dass zugleich etwas anderes mitverhandelt wurde, namentlich das menschliche Selbstverständnis als freie, der Selbstbestimmung fähige Wesen. Die vorrangige, das experisammenhang ist etwa das teleologische Vokabular zur naturwissenschaftlichen Beschreibung von Organismen. Gleichwohl kann nicht geleugnet werden, dass naturwissenschaftliche Erklärungen und die daraus resultierenden Praxisanwendungen dominierende Erklärungskraft haben und daher auch auf das menschliche Selbstverständnis einwirken. 38 Zur kritischen Diskussion dieser Position und zu aktuellen Versuchen, die Möglichkeit menschlicher Willensfreiheit gerade unter den Bedingungen der Natur erklären zu können (statt einen Gegensatz zwischen der biologischen Realisierung menschlicher kognitiver und mentaler Prozesse zu konstruieren), vgl. die Beiträge in Heilinger 2007.
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mentelle Setting betreffende Frage, ob etwa die Libet-Experimente überhaupt einen geeigneten Weg darstellen, Aufschluss über das Problem der Willensfreiheit zu erlangen, ist demgegenüber in den Hintergrund getreten. Den Debatten über die Willensfreiheit liegen Versuche einer Naturalisierung des Bewusstseins zugrunde, die nur solange konstruktiv sein können, wie sie das Explanandum des phänomenalen Erlebens nicht aus ihren Erklärungen herausstreichen.39 Stark reduktionistische und exklusiv funktionalistische Bestimmungen des Bewusstseins vertreten im besten Fall eine uninteressante Theorie, die zwar viel über kausale Zusammenhänge, jedoch nichts über das Bewusstsein sagt, im schlimmsten Fall liefern sie ein geradezu inhumanes Zerrbild der menschlichen Lebensform. Damit kann der „Siegeszug“ des Naturalismus als eine Gefahr für alternative Erklärungen des menschlichen Lebens und Erlebens erscheinen, die sich im Gegensatz zu „naturalistischen“ Erklärungen eher als „humane“ oder „humanistische“ bezeichnen lassen könnten (etwa Nida-Rümelin 2006a und 2008b, 18). Können allerdings naturalistische Positionen dasjenige vollständig erfassen, was Menschen an sich selbst als wichtig oder als bedeutsam empfinden? Dies scheint nicht der Fall zu sein. Naturalistische Positionen, die Phänomenalität, Reflexivität und Intentionalität als Gegenstand ihrer Analysen ausschließen, versuchen, das Bewusstsein (wie der klassische Funktionalismus in der Philosophie des Geistes), die Moral (soziobiologische Ansätze oder Versuche, eine universale Moralgrammatik festzulegen) oder die Willensfreiheit (manche harte Deterministen) allein unter Heranziehung naturwissenschaftlicher Erklärungen zu bestimmen – oder gleich zu „widerlegen“. Angesichts der großen Fortschritte der modernen Naturwissenschaften, immer neuer Einsichten über die Abläufe im Gehirn und daraus resultierend auch immer präziserer Erklärungs-, Vorhersage- und Anwendungsmöglichkeiten sehen sich die Gegenpositionen zum Naturalismus unter Druck. „Reichere“ Anthropologien oder Theorien, die das intentionale Vokabular als integralen Bestandteil eines angemessenen menschlichen Selbstverständnisses ansehen – und dabei zum Beispiel auch eine strenge Trennung von Fakten und Werten als unhaltbar ansehen –, müssen sich gegenüber den dominierenden Naturwissenschaften rechtfertigen. 39 Konstruktive Versuche, die funktionale Relevanz des phänomenalen Erlebens im Kontext menschlicher Handlungen zu bestimmen, finden sich etwa in Jung/ Heilinger 2009.
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Dennoch: Eine lediglich naturalistische Beschreibung des Menschen, die ohne Bezug auf das intentionale Idiom auszukommen versucht, scheitert bereits deshalb, weil die Beschriebenen sich in der Beschreibung nicht wiederfinden kçnnen, oder anders gesagt: reduktiv-naturalistischen Beschreibungen ist das Explanandum abhanden gekommen. Anthropologischem Fragen und Denken, wie ich es verstehe, geht es demgegenüber daher letztlich um eine umfassende Theorie vom Menschen, in der die Synthese vielfältiger externer Zuschreibungen und interner Selbstbeschreibungen einen theoretisch angemessenen Ort findet. Anthropologie wird damit nicht allein als Beschreibung der biologischen Grundlagen der menschlichen Lebensform oder als die empirische Untersuchung des menschlichen Verhaltens angesehen, sondern als das Nachdenken von Menschen über sich selbst, das empirische Aspekte und einen sinnorientierten Zugang zur Welt unter Berücksichtigung der subjektiven und intersubjektiven Dimension miteinander verbinden möchte. Damit ist Anthropologie ein synthetisches Unterfangen, das die irreduziblen semantischen Gehalte des intentionalen Idioms mit den objektiven Einsichten aus der Perspektive der dritten Person zu verbinden sucht. Absicht ist es dabei, zu einer Klärung und Ausformulierung des menschlichen Selbstverständnisses beizutragen, das eine mögliche Kluft zwischen externen und internen Beschreibungen zu überbrücken weiß und damit eine „Zerteilung“ des Menschen in zwei verschiedene Sphären – Körper und Geist – vermeidet. Entscheidend ist dabei die Einsicht, dass Menschen sich selbst definieren, und dass sie das, was sie sind, zumindest anteilig erst dadurch werden, dass sie die jeweiligen Selbstbeschreibungen für sich akzeptieren. Letztlich sind Menschen – in einem starken Sinne – immer das, als was sie sich selbst verstehen. So bestimmt etwa Charles Taylor den Menschen als: „a self-defining animal“ und präzisiert: „We are partly what we are in virtue of the self-definitions which we have accepted.“ Weiter schreibt er: „With changes in his self-definition go changes in what man is, such that he has to be understood in different terms.“ (Taylor 1971, 47 – 49; vgl. dazu auch Keil 1993, 1 – 14). Die Frage, was oder wer ein Individuum ist, kann damit nur dann als beantwortet gelten, ,wenn man begreift, was für den Betreffenden von ausschlaggebender Bedeutung ist.’40 Wenn sich diese Selbstbeschreibungen oder die Urteile darüber, was von ausschlagge40 „Who am I? […]What does answer the question for us is an understanding of what is of crucial importance to us.“ (Taylor 1989, 27; Hervorhebung JCH).
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bender Bedeutung ist, ändern, ändert sich damit auch in einem realen Sinn, was der Mensch ist. Auch Ian Hacking hat gezeigt, mit welcher Kraft wissenschaftliche Begriffe Menschen formen können („making up people“), indem sie auf die Subjekte, die sie benutzen, zurückwirken. Die Wahrnehmung und das Selbstverständnis von Menschen ist stark geprägt von den (naturwissenschaftlichen) Kategorien, die sie akzeptieren. Daher schlägt Hacking vor, solche Begriffe als „interactive kinds“ zu bezeichnen. Damit widerspricht er der Annahme, naturwissenschaftliche Klassifikationen von Menschen seien neutrale „natural kinds“. Die ontologische Bedeutsamkeit von „interaktiven Arten“ zeigt sich vielmehr darin, dass sie zum einen aus einem bereits vorab bestehenden Selbstverständnis resultieren und zum anderen wieder genau darauf zurückwirken. Hacking hat diese Vorgänge insbesondere an psychiatrischen Diagnosen untersucht, um die „soziale Konstruktion“ von wissenschaftlichen Begriffen zu erhellen (Hacking 1999, Kapitel 4, und Hacking 2006). Die Enhancement-Debatte stellt in dieser Hinsicht eine dreifache Herausforderung für das menschliche Selbstverständnis dar. Zum einen bringen die naturwissenschaftlichen Fortschritte und Einsichten über das Funktionieren des und die Steuerbarkeit von Abläufen im menschlichen Organismus ein besseres empirisches Verständnis der physischen Grundlagen der humanen Lebensform hervor. Zum anderen wird damit die Idee, dass der Mensch ein sich selbst beherrschendes und formendes Wesen ist oder sein kann, nachhaltig gestärkt. Auch die physischen Grundlagen der menschlichen Lebensform können intentional beeinflusst werden. Damit tritt die Frage, was der Mensch sein will, in den Vordergrund. Außerdem werden durch biotechnologische Enhancements die organismischen Grundlagen der menschlichen Lebensform womöglich tatschlich verändert, so dass die begriffliche Selbstauslegung von Menschen eine veränderte biologische Grundlage berücksichtigen müsste. Wenn Menschen beispielsweise länger leben und anders denken würden, dabei auch weniger krankheitsanfällig und körperlich viel leistungsfähiger wären, würde dies Auswirkungen für die begriffliche Selbstauslegung haben müssen. Die Auseinandersetzung mit der Frage „Was ist der Mensch?“ gewinnt damit geradezu existentielle Relevanz: Nicht nur variieren die unterschiedlichen kulturellen Selbstdeutungen, sondern es können als Resultat dieser kulturellen Selbstbeschreibungen und Bewertungen dementsprechend auch Veränderungen des biologisch-materialen Substrats vorgenommen werden. Die unterschiedlichen Selbstbeschreibun-
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gen werden ein Teil der Wirklichkeit, indem sich Menschen nicht allein in ihrem Handeln und Denken an ihnen orientieren, sondern darüber hinaus die Selbstbeschreibungen auch als Vorlage für physische Interventionen und Veränderungen heranziehen. Die Art und Weise, in der Menschen über sich denken, und die Sprache, in der sie sich beschreiben, zeigt diese Wirklichkeit ebenso an, wie die Handlungen, die daraus hervorgehen. In der Relevanz der Erlebnisdimension und der kulturellen Selbstdeutungen für Menschen erkenne ich somit – in Umkehrung des Titels dieses Abschnitts – eine entscheidende anthropologische Herausforderung für reduktiv naturalistische Erklärungen. Diese ergänzt die eingangs geschilderte naturalistische Herausforderung der Anthropologie komplementär. Eine naturalistische Erklärung oder Objektivierung ist nur dann sinnvoll, „wenn sie eine besser begründete Antwort auf die Frage gibt, was man in Hinsicht auf einen Gegenstand oder Sachverhalt denken soll. Eine Objektivierung hört auf, sinnvoll zu sein, wenn sie das Verständnis dieses Sachverhalts oder Gegenstands nicht steigert, sondern mindert.“ (Wingert 2006, 241). Der Anthropologie wird mit dieser doppelten Herausforderung die Aufgabe gestellt, die Erkenntnisse der unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und der im intentionalen Idiom verfassten Selbstbeschreibungen zu vereinen.
4.3. Jenseits des Naturalismus: Was soll der Mensch sein? Die gesteigerte Selbstveränderungsfähigkeit von Menschen durch biotechnologische Interventionen führt zu Orientierungsbedarf, da mit einer Steigerung des Verfügungswissens nicht gleichzeitig eine Steigerung des Orientierungswissens einhergeht. Die Frage, was der Mensch ist, erscheint angesichts möglicher tiefgreifender Veränderungen verändert: Die Biotechnologien provozieren in besonderer Weise die Frage, was Menschen sein sollen. 41 Wenn zumindest anteilig darüber entschieden werden kann, wie Menschen sein werden, und wenn auch das Unterlassen bestimmter Interventionen eine bewusste Handlung und damit eine Wahl darstellt, wird diese Frage unvermeidbar. Hatten sich naturalistische Positionen im Vorhergehenden nur begrenzt tauglich erwie41 Vgl. dazu Glover 1984, der bereits früh die Frage „What sort of people should there be?“ vor dem Hintergrund biotechnologischer Enhancements diskutiert.
4.3. Jenseits des Naturalismus: Was soll der Mensch sein?
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sen, um deskriptiv den Menschen zu bestimmen, so sind sie mit Blick auf die explizit normative Frage noch weniger tauglich. Die Frage, was der Mensch sein soll, ist von einiger Dramatik. Sie zeigt an, dass sich die konkreten Handlungsprobleme im Kontext von Enhancement-Techniken nicht „durch Rückgriff auf geltende Moral lösen [lassen], in der die Frage, wie wir leben sollen in gewisser Weise schon kulturell beantwortet ist.“ Stattdessen verlangen diese Probleme eine „Politik, in der die Frage, wie wir leben wollen, erst noch entschieden wird.“ (van den Daele 1985, 202). Eine solche Politik, die sich normativen Fragen zuwendet, ist auf anthropologische Reflexion angewiesen. Die Dramatik der Frage zeigt sich auch darin, dass es keinen eindeutigen Adressaten für diese Frage zu geben scheint: Die relative Kontingenz42 der menschlichen Lebensform, die von unverfügbaren Widerfahrnissen geprägt ist, weicht – zumindest allmählich und schrittweise – zunehmend möglicher Kontrolle. Doch während für die individuelle Intervention Individuen verantwortlich sind, hat die Frage, wie Menschen überhaupt sein sollen, keinen eindeutigen Adressaten. Welches Individuum oder welche Institution sollte verantwortlich sein zu entscheiden, welche Menschen es geben soll? Eine solche allgemeine Frage erscheint je nach Perspektive müßig oder gefährlich: Würde sie einer Institution gestellt, die keinerlei Macht zu ihrer Umsetzung hat, könnte das Nachdenken darüber als sinnlos erscheinen; würde sie einer Institution gestellt, die die Antwort auf die Frage auch durchsetzen könnte, ruft diese Frage Schaudern hervor, da sie etwa die Züchtungspläne der Nationalsozialisten in Erinnerung ruft. Dennoch ist die Frage, wie Menschen sein sollen, als philosophische Frage verstanden, bedenkenswert. Damit meine ich, dass sich die philosophische Auseinandersetzung von einem direkten Anwendungsdruck zumindest zeitweilig freimachen darf, um grundlegend über diese Frage nachzudenken. Mit Blick auf die Enhancement-Technologien ist dafür derzeit ein denkbar günstiger Zeitpunkt. Viele Technologien liegen bereits in rudimentärer Form vor und zahlreiche Eingriffe sind schon jetzt möglich. Diejenigen Eingriffe, die jedoch die nachhaltigsten Veränderungen nicht nur von Individuen, sondern von großen Gruppen von Individuen und damit potentiell „des Menschen“ mit sich bringen könnten, stehen derzeit noch 42 Ich rede hier von relativer Kontingenz, um deutlich zu machen, dass selbst bei einer weitgehenden Kontrolle über das menschliche Leben die Tatsache, dass es überhaupt menschliches Leben gibt, einen absolut kontingenten, unverfügbaren Ursprung hat.
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4. Das Projekt einer deskriptiv-normativen begrifflichen Selbstauslegung
nicht zur Verfügung. Es besteht also noch ein – vermutlich nicht besonders großes – Zeitfenster, um grundlegende Fragen ohne einen direkten Anwendungsdruck zu diskutieren. Die angemessene Art und Weise der Auseinandersetzung mit der Frage, wie Menschen sein sollen, besteht darin, sie exemplarisch 43 anzugehen. Damit stellt sich die anthropologische Dimension der Frage, wie Menschen sein sollen, zwar nur aus einer fiktiv generalisierten Perspektive – zur umfassenden Beurteilung der Legitimität von Human Enhancement ist sie jedoch wichtig.44 Hiermit ist die Aufgabe benannt, der ich mich im Folgenden stellen möchte: Ich versuche eine anthropologisch begründete Bewertung der möglichen Veränderungen von Menschen durch biotechnologische Mittel (die hinsichtlich der Ziele und der Mittel zwar in Kontinuität zu vertrauten Praktiken stehen, gleichwohl aber neuartig und verschärft erscheinen). Die Fokussierung auf die anthropologischen Elemente einer ethischen Bewertung versteht sich dabei einerseits als eine Ergnzung zu den bereits etablierten Risiko-, Gerechtigkeits- und Autonomieüberlegungen, die in den Debatten über Human Enhancement angestellt werden, und andererseits als Kritik an simplen Natürlichkeitsargumenten. Die philosophische Herausforderung der Enhancement-Debatte besteht darin, dass die zugleich deskriptive und normative Selbstbestimmung des Menschen in einem Umfeld vorgenommen wird, das verheißt, die Wünsche und selbstgewählten Ziele von Menschen Wirklichkeit werden zu lassen. Damit ist die anthropologische Dimension der EnhancementDebatte auf die Zukunft ausgerichtet. Entgegen der Ansicht, die Anthropologie fokussiere auf überzeitlich feststehende, in der Vergangenheit bestimmte Eigenschaften von Menschen, plädiere ich dafür, die Veränderbarkeit der menschlichen Lebensform und damit die Zukunft des menschlichen Lebens als integralen Bestandteil der Anthropologie anzusehen. Die zentrale Frage der Enhancement-Debatte, wie Menschen sein sollen, erfordert daher auch eine Diskussion darüber, welche mög43 Vgl. dazu die Arbeiten von Gerhardt, der die Formulierung Kants von der „Menschheit in meiner Person“ (Kant 1785, 429) als systematischen Ausgangspunkt einer exemplarischen Ethik vorschlägt (vgl. Gerhardt 2006a). 44 Genau dieser Intuition folgt auch Kants Universalisierungstest zur Bestimmung der Legitimität von Handlungsmaximen. Kant fragt, ob ein vernünftiges Subjekt widerspruchsfrei die Verallgemeinerung einer bestimmten handlungsleitenden Maxime wollen kann. Mit diesem Vorgehen wird die exemplarische Handlung generalisiert betrachtet und auf ihre strukturelle Rationalität geprüft (NidaRümelin 2001).
4.3. Jenseits des Naturalismus: Was soll der Mensch sein?
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liche Zukunft der menschlichen Lebensform als wünschenswert angesehen und befördert werden soll. Das Nachdenken über die mögliche Zukunft der humanen Lebensform ist damit aber vor allem ein Nachdenken über den Menschen selbst. Und das Nachdenken über zukünftige Ziele oder die Wünschbarkeit verschiedener Zukunftsszenarien muss beim Nachdenken über gegenwärtige Wertaussagen beginnen. Daher ist die zentrale Frage, die den Kern der anthropologischen Debatten über Human Enhancement darstellt, diejenige nach den von Menschen als bedeutsam ausgezeichneten Komponenten der menschlichen Lebensform. Im nächsten Teil (II.) werde ich begriffliche Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang diskutieren, der darauf folgende Teil (III.) wendet sich der aktuell geführten Debatte zu. Abschließend wird (IV.) ein Modell vorgestellt, das die genannten anthropologischen Elemente der ethischen Diskussion von Enhancement entwickelt. Damit werden Fragen berührt, die auch über den begrenzten Rahmen der Enhancement-Diskussion hinausweisen. Sie betreffen die Möglichkeit der Fundierung von Moral, der begrifflichen Selbstauslegung von Menschen und einer angemessenen Organisation des menschlichen Zusammenlebens in unserer Welt.
II. Was ist Enhancement? Begriffsanalysen und Definitionen
Vorbemerkung Bei den Debatten über die Legitimität von Verbesserungen des Menschen handelt es sich um eine ethische Problematik, die unmittelbar zahlreiche Intuitionen vieler Menschen anspricht. Doch gerade in solch ansprechende Themen fließen häufig implizite Vorannahmen und normative Vorurteile ein, die in einer sachangemessenen Debatte eigentlich in Form wohlbegründeter Urteile als Resultat am Ende der Überlegungen stehen sollten. Insbesondere die häufig unterstellte komplementäre Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement mit ihrer impliziten normativen Dimension erweist sich hier als Anlass für vermeidbare Verwirrungen. Wenn jedoch aufgrund von Vorannahmen das Urteil über die ethische Legitimität einer bestimmten Praxis bereits im Vorfeld feststeht, ist jede Diskussion darüber sinnlos.1 Im folgenden Teil wende ich mich daher einigen zentralen Begriffen der Debatte zu, die dringend klärungsbedürftig sind. Wichtig ist dabei vor allem der Begriff „Enhancement“ selbst, ein merkwürdiger englischer Neologismus, der auch in die deutschsprachige Debatte Eingang gefunden hat. Wird mit dem Begriff überhaupt auf angemessene Weise eine Klasse von Handlungen bezeichnet, die treffend einen eigenen Problembereich der angewandten Ethik eingrenzt? Oder bezeichnet der Begriff eine Klasse von Handlungen, von denen allenfalls ein Teil als moralisch problematisch ausgewiesen werden kann? Mit dem Begriff Enhancement sind jedenfalls zahlreiche Vorbewertungen verbunden und es werden verschiedene verwandte Begriffsfelder aufgerufen. Anliegen dieses zweiten Teils ist es, eine möglichst neutrale Definition von „Enhancement“ zu entwickeln, die – auch wenn dafür ein Preis zu entrichten 1
Dieses hier eingeforderte idealtypische analytische Vorgehen steht in einem gewissen Gegensatz zu einer hermeneutischen Verfahrensweise, die gerade die bestehenden Vorannahmen und Vorurteile in einem Interpretationsprozess kritisch hinterfragt, expliziert und damit begründet. Da ich jedoch das moralische prima facie-Urteil über Enhancements als moralisch problematisch für verfehlt halte, wähle ich hier eine strengere analytische und keine hermeneutische Vorgehensweise. Die häufig rigide und nicht haltbare Vorannahme, dass Enhancements per se von Übel sind, lässt sich in einem hermeneutischen Prozess nur schwer revidieren.
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Vorbemerkung
ist – ohne normative Vorannahmen und Vorurteile auskommt. Im Rahmen der Klärung einer sachangemessenen Definition von Enhancement ist es nötig, auf zugrundeliegende Begriffe zurückzugreifen und diese ebenfalls einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Es gibt im Wesentlichen zwei Strategien, den Begriff Enhancement zu definieren: Einerseits werden Formulierungen wie Jenseits der Therapie bemüht, es wird vom Einsatz therapeutischer Mittel zu nicht-therapeutischen Zwecken oder von ber das Maß der Gesundheit hinausgehende Verbesserungen geredet; andererseits werden Enhancements als Verbesserungen des Menschen, die ber das naturgegebene Maß der Normalitt oder ber die menschliche Natur hinausgehen bezeichnet. Ich wende mich daher den Begriffen „Gesundheit“ und „Krankheit“, sowie den Begriffen „Natur“ und „Natur des Menschen“ zu. In meiner Auseinandersetzung mit diesen Begriffen, die ja vor dem Hintergrund einer versuchten Klärung des Enhancement-Begriffs stattfindet, werde ich zeigen, dass sie ambig und Ausdruck normativer Vorannahmen sind, so dass sie für eine neutrale (Ausgangs-) Definition von Enhancement nicht infrage kommen. Das Ergebnis dieses zweiten Teils – die dynamische Minimaldefinition des Begriffs Enhancement – ist bescheiden und versucht, ohne die stark normativ verstandenen Begriffe „Gesundheit“, „Krankheit“, „Natur“ und „Natur des Menschen“ auszukommen. Trotzdem hat meine Auseinandersetzung mit diesen Begriffen nicht allein ein negatives Ergebnis2 : In ihrer Analyse werden wichtige begriffliche Elemente zur Verfügung gestellt, die im Rahmen der später darzulegenden quasi-demokratischen Verständigung über den normativen Gehalt anthropologischer Argumente wieder aufgegriffen werden (Teil IV). Enhancements definiere ich als intentionale menschliche Handlungen, die der subjektiv positiv bewerteten Verbesserung des menschlichen Funktionszusammenhangs dienen. Der Gegenstand der aktuellen Enhancement-Debatte sind solche Enhancements, die neuartige Biotechnologien anwenden und auf bestimmte Formen weitreichender Veränderungen abzielen.
2
Man muss nicht Carnap (2004) zustimmen, dass sich durch die logische Analyse der Sprache die (metaphysischen) Probleme gleich vollständig überwinden lassen, um einen sprachkritischen Ansatz fruchtbar zu machen. Außerdem versteht sich, dass das hier zum Ausdruck gebrachte Interesse nicht lexikographisch ist, sondern dass über die Arbeit an den Begriffen Einsichten über unsere Orientierung in der Welt erreicht werden sollen.
Vorbemerkung
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Die gängigen Versuche, Enhancement begrifflich zu fassen, beruhen also auf einer Abgrenzung der als Enhancement zu bezeichnenden Handlungen von therapeutischen Eingriffen einerseits (Kapitel 5) oder von natrlichen Handlungen oder Zuständen andererseits (Kapitel 6 und 7). Da jedoch starke Argumente gegen die Möglichkeit einer sachlichen Bestimmung der Grundbegriffe Gesundheit und Natur sprechen, werden alle Versuche, Enhancement unter Rückgriff auf diese Konzepte zu definieren, notwendigerweise unscharf.3 Zudem werden so problematische normative Bewertungen in den Begriff Enhancement integriert. Aufgrund der Gefahr einer unangemessenen Überfrachtung des Begriffs mit externen Ansprüchen oder Konzeptionen erweist sich lediglich die hier einzuführende und zu begründende „dynamische Minimaldefinition“ (Kapitel 8) als tauglich.
3
„Yet, ultimately, any exclusive enhancement definition must fail, in part because concepts such as disease, normalcy, and health are significantly culturally and historically bound, and thus the result of negotiated values.“ (Wolpe 2002, 390). Wolpes Betonung der „ausgehandelten Werte“ greife ich in Teil IV wieder auf.
5. Gesundheit und Krankheit Die erste und zugleich gängigste Strategie, Enhancement zu definieren, verfährt folgendermaßen: Enhancements sind alle nicht medizinisch indizierten biotechnologischen Eingriffe in den menschlichen Organismus, die über das therapeutisch Gebotene zur Wiederherstellung (oder Erhaltung) der Gesundheit hinausgehen und auf eine Verbesserung der (normalen und) gesunden Leistungsund Funktionsfähigkeit des Organismus abzielen.4
Hier wird deutlich, dass zur Bestimmung von Enhancements feststehen muss, was Gesundheit ist, denn Enhancements sollen eben solche über die Herstellung und Erhaltung von Gesundheit hinausgehenden Eingriffe sein. Aus dieser Definition resultiert also die Folgefrage: Was ist Gesundheit? Diese Frage ist vor allem deshalb von Belang und kritisch zu untersuchen, weil mit der Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit und damit zwischen Therapie und Enhancement häufig zugleich die moralische Trennlinie zwischen erlaubten und verbotenen Eingriffen gezogen wird. Es wird vermutet, dass „the treatment/enhancement distinction marks a difference that is morally significant“ (Levy 2007, 88) und auch Anderson zieht diese Trennlinie klar: In summary, our society is comfortable with the use of genetic engineering to treat individuals with serious disease. Once we step over the line that delineates treatment from enhancement, a Pandora’s box would open. On medical and ethical grounds a line should be drawn excluding any form of enhancement engineering. (Anderson 1989, 689) 4
Vgl. etwa Fuchs: „Als Enhancement bezeichnet man allgemein einen korrigierenden Eingriff in den menschlichen Körper, durch den nicht eine Krankheit behandelt wird bzw. der nicht medizinisch indiziert ist.“ (Fuchs 2000, 604 f.). Merkel et al. definieren Enhancement als Eingriff, „der jemandes physischen oder psychischen Zustand in mindestens einer bestimmten Hinsicht zu verbessern beabsichtigt, dabei aber nicht als Behandlung einer Krankheit (im Behinderungen einschließenden Sinne) beurteilt werden kann.“ (Merkel et al. 2007, 437). Die moralische Bewertung eines solchen Eingriffs zumindest im Rahmen eines medizinischen Handlungskontextes lautet dann: „it is meant to circumscribe what should not be the case“ (Merkel et al. 2007, 295).
5.1. Ein „objektiver“ Begriff von Gesundheit und Krankheit
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Seinen einflussreichen Aufsatz „Human Gene Therapy: Why Draw a Line?“ schließt Anderson daher mit der Aussage: „Gene transfer should not be used for enhancement engineering.“ (Anderson 1989, 690). Ohne an dieser Stelle Andersons Grnde für die moralische Diskreditierung von Enhancements zu überprüfen, zeigt sich hier, dass eine solche Forderung eine trennscharfe Differenzierungsmöglichkeit zwischen Therapie und Enhancement voraussetzt, um eine moralische Grenze ebenso trennscharf zu bestimmen. Dazu muss es eine eindeutige Bestimmung von Gesundheit und Krankheit geben. Im Folgenden stelle ich verschiedene Gesundheitsdefinitionen aus der Theorie der Medizin vor, die herangezogen werden können, um eine solche Differenzierung zu ermöglichen. Diese treten auch in unterschiedlichen Mischformen auf, sollen hier aber idealtypisch eingeführt werden (vgl. Lenk 2002).
5.1. Ein „objektiver“ Begriff von Gesundheit und Krankheit Christopher Boorse, ein prominenter Vertreter eines objektiven Gesundheitsbegriffs, hat ein paradigmatisches Konzept vorgelegt:5 Sein „biostatistischer“ Gesundheitsbegriff geht von einem für eine bestimmte Spezies typischen Funktionieren des Organismus aus (und basiert damit auf einer aristotelischen Tradition). Dieser Referenzwert „species typical functioning“ kann durch statistische Erhebungen festgesetzt werden und stellt in der Folge eine naturalistisch fundierte Norm dar. Alle Abweichungen von der Norm, die bestimmte gattungstypische Fähigkeiten mindern, sind Beeinträchtigungen der Gesundheit und damit Krankheit. Die gattungstypischen Fähigkeiten dienen Boorse zufolge vor allem dem individuellen Überleben und der Reproduktion des Organismus. Normal functioning in a member of the reference class is the performance by each internal part of all its statistically typical functions with at least statistically typical efficiency, i. e. at efficiency levels within or above some chosen central region of their population distribution. (Boorse 1977, 558 f.)
Ausgehend von einem solchen biostatistischen Gesundheitsbegriff im Anschluss an Boorse lassen sich einige Handlungen eindeutig als Enhancement bezeichnen. Es sind diejenigen, die auf eine Steigerung be-
5
Boorse 1977. Aktuell vertritt im Anschluss an Boorse auch Daniels 2000 diese Auffassung.
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5. Gesundheit und Krankheit
stimmter speziestypischer Fähigkeiten abzielen oder über einen Durchschnittswert hinausgehen, der den Maßstab für Gesundheit darstellt. Gegen einen solchen „objektiven“ Gesundheitsbegriff lässt sich jedoch eine Reihe gewichtiger Einwände vorbringen. (a) Ein Abweichen von einer statistischen Norm genügt noch nicht, um Krankheit zu konstituieren, die immer auch eine subjektive Komponente beinhaltet. Es ist kontraintuitiv, jemanden, der sich kerngesund fühlt, aufgrund einer Abweichung von einer durchschnittlichen Norm als krank zu bezeichnen. Diesem Einwand begegnet Boorse selbst, indem er die Unterscheidung zwischen disease und illness einführt. Disease bedeutet für ihn eine praktische physische Funktionsstörung, wohingegen illness durch ein subjektives Krankheitsgefühl konstituiert wird (vgl. Boorse 1975). Boorse sieht allerdings die „theoretische Gesundheit“, die durch ordnungsgemäßes physiologisches Funktionieren gekennzeichnet ist, als das vorrangige Konzept an. Der erste Haupteinwand gegen dieses Gesundheitskonzept besteht also in der unzureichenden Integration einer subjektiven Komponente, die aus dem Begriff ausgesondert wird. (b) Das speziestypische Funktionieren ist fernerhin aufgrund der Unterschiedlichkeit nicht nur von bestimmten Individuen, sondern auch von bestimmten Populationen und Gesellschaften, allgemein eine unbestimmbare Größe. In verschiedenen kulturellen Kontexten ist das speziestypische Funktionieren völlig unterschiedlich (vgl. etwa synchron die Ausdauerfähigkeit eines gegenwärtigen durchschnittlichen USAmerikaners mit der eines gegenwärtigen durchschnittlichen Kenianers, bzw. diachron die Entwicklung der durchschnittlichen menschlichen Lebenserwartung über die letzten 250 Jahre). „Der Mensch“ ist zu unterschiedlich, um Durchschnittswerte über ein speziestypisches Funktionieren angeben zu können, die nicht bloß willkürlich auf bestimmte Referenzklassen, Zeiten und Regionen zugeschnitten wären.6 Krankheiten, die in einer bestimmten Referenzklasse weit verbreitet sind, lassen sich mit diesem Gesundheitsbegriff nicht mehr als Krankheiten ausmachen. (c) Ein dritter Einwand gegen einen „objektiven“ Gesundheitsbegriff, wie er sich am Beispiel der Homosexualität verdeutlichen lässt, kritisiert die bloß vermeintliche Wertneutralität des biostatistischen Ansatzes. Das speziestypische Funktionieren der Geschlechtsorgane – die Fortpflanzung – werde im Falle von Homosexualität verhindert, die damit eine Krankheit darstelle. Hier zeigt sich deutlich, wie leicht sich 6
In obigem Zitat Boorse’s wird dies durch den Ausdruck „chosen“ verdeutlicht.
5.2. Ein „subjektiver“ Begriff von Gesundheit und Krankheit
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durch den vermeintlich objektiven Gesundheitsbegriff Bewertungen einschleichen können. „Der Mensch“ scheint jedoch in der Vielfalt seiner Handlungsweisen, Ziele und Vorstellungen zu komplex zu sein, um sich in irgendeiner Weise durch statistische – auch biostatistische – Durchschnittswerte fixieren zu lassen. Der Wunsch nach einem präzisen Begriff von Gesundheit ist dennoch verständlich und erklärt sich vor allem aus dem Bedürfnis, klare und eindeutige Zuschreibungen über die Normalität und Abweichung von dieser vornehmen zu können, um damit auch über die Hilfsbedürftigkeit und gebotene Unterstützung bestimmter Personen (etwa durch ein öffentliches Gesundheitssystem) zu entscheiden. Der Sache angemessen ist ein solcher objektiver Gesundheitsbegriff jedoch nicht. Wegen der Vernachlässigung der subjektiven Perspektive, wegen der sich aus unterschiedlichen Referenzklassen ergebenden Kontingenz der statistischen Durchschnittswerte und wegen der nur scheinbaren Wertneutralität bietet ein objektiver Gesundheitsbegriff keine überzeugende Grundlage für eine Abgrenzung zwischen Therapie und Enhancement.
5.2. Ein „subjektiver“ Begriff von Gesundheit und Krankheit Gegen eine objektivierende Festschreibung von Gesundheit wird daher häufig ein subjektiver Gesundheitsbegriff ins Feld geführt. Dieser wird exemplarisch durch die – oft kritisierte, aber äußerst einflussreiche – Formulierung der WHO veranschaulicht. Demzufolge ist Gesundheit a state of complete physical, mental, and social well-being and not merely the absence of disease and infirmity. (WHO 1946)
Wenn das „umfassende Wohlbefinden“ der Person das ausschlaggebende Kriterium für Gesundheit ist, haben alle diesem Wohlbefinden entgegenstehenden Hindernisse zugleich Krankheitswert, womit letztlich alle Menschen im Sinne der WHO-Definition krank wären. Diese Konsequenz erscheint überzogen und kaum haltbar. In Bezug auf die Frage der Unterscheidbarkeit von Therapie und Enhancement ließe sich unter Berufung auf einen solchen stark subjektiven Gesundheitsbegriff zudem lediglich feststellen, dass alle Eingriffe in den menschlichen Organismus, die der Beförderung des maximalen Wohlbefindens dienen, als Therapie bezeichnet werden müssen. Die Klasse derjenigen Handlungen, die als Enhancement bezeichnet werden können, wäre damit notwendigerweise leer, denn einen Zustand, der über das wirklich „vollständige Wohlbe-
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5. Gesundheit und Krankheit
finden“ einer Person hinausgeht, ist nicht vorstellbar. (Ein solcher Zustand wäre außerdem, wenn er vorstellbar wäre, wohl kaum als Gesundheit zu bezeichnen.) Vielmehr würde man nach einer jeden Steigerung des Wohlbefindens immer den jeweils vorherigen Zustand als doch noch nicht vollständiges Wohlbefinden verstehen müssen und diesem daher, gemäß der subjektiven Gesundheitsdefinition, wiederum Krankheitswert zusprechen. Der subjektive Gesundheitsbegriff ist also inkonsistent und daher auch für eine Definition von Enhancement als Gegenbegriff zur Therapie unbrauchbar. Es wäre lediglich denkbar, alle Eingriffe, die einem Menschen zuvor ungeahnte Wohlbefindenszustände zukommen lassen würden, als Enhancement zu bezeichnen. Allerdings wäre damit jeder derartige Eingriff nur einmal ein mögliches Enhancement und daraufhin nur noch als Therapie anzusehen. – Der Gesundheitsbegriff der WHO ist allerdings primär in politischer Absicht zu verstehen. Er bezweckt, die weltweiten Anstrengungen zur Verbesserung und Beförderung der Gesundheit nicht unter Berufung auf eine bereits weithin erreichte Gesundheit vorschnell zum Erliegen zu bringen. Die Relevanz einer subjektiven Komponente bei der Definition von Gesundheit und von Krankheit muss anerkannt werden, zugleich aber zeigt sich, dass der anhaltende Zustand vollständigen Wohlbefindens unmöglich ist. Damit ist die wichtige Einsicht gewonnen, dass Gesundheit und Krankheit nicht als statische Konzepte verstanden werden dürfen, sondern einen prozessualen, einen dynamischen Charakter aufweisen, der in Relation zu bestimmten externen Gegebenheiten bestimmt ist. Dies bildet den Ausgangspunkt der dritten Hauptstrategie der Definition von Gesundheit und Krankheit.
5.3. Ein „relationaler“ Begriff von Gesundheit und Krankheit Ein relationales Verständnis von Gesundheit und Krankheit versucht, Einseitigkeiten durch eine übermäßige Betonung der subjektiven wie der objektiven Komponente zu vermeiden, indem ein hohes Maß an Kontextsensitivität eingeführt wird. Damit ist das Modell im Gegensatz zu den beiden zunächst vorgestellten Definitionsversuchen methodisch anspruchsvoller, verliert aber weiter an Trennschärfe im Bezug auf die Unterscheidung von Therapie und Enhancement. Bei einer relationalen Bestimmung von Gesundheit und Krankheit werden die äußeren Umstände, in denen sich ein Organismus befindet, für die Feststellung von Gesundheit herangezogen. Es besteht somit ein Bedingungsverhältnis
5.3. Ein „relationaler“ Begriff von Gesundheit und Krankheit
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zwischen den Fähigkeiten des Organismus und den spezifischen Anforderungen, die durch die jeweilige Umgebung an ihn gestellt werden. Der handlungstheoretische Ansatz von Lennart Nordenfelt etwa führt als Kriterium für Gesundheit die Fähigkeit an, unter Standardbedingungen diejenigen Handlungen ausführen zu können, die für ein minimales Glück hinreichend und notwendig sind (vgl. auch Gerhardt 1992). What emerges from the study is a concept of health based on an actiontheoretic foundation. A person’s health is characterized as his ability to achieve his vital goals. (Nordenfelt 1995, xi)
Weiter führt Nordenfelt aus, die „major suggestion“ seiner Arbeit sei, the vital goals of a human being are goals whose fulfilment is necessary and jointly sufficient for the minimal happiness of their bearer. This is the tenet of what is here to be called the welfare theory of health. (In the case of humans welfare is identified with happiness.) (Nordenfelt 1995, xv)
Allerdings ist fraglich, ob damit eine sachhaltige Definition von Gesundheit gefunden ist. Es lässt sich auch hier eine Reihe von Einwänden formulieren: (a) Die Standardbedingungen sind in einem hohen Maße kontingent und variieren stark zwischen verschiedenen Regionen, Kulturen und Zeiten, so dass es schwierig sein wird, für Menschen im Allgemeinen Bedingungen für „minimal happiness“ festzulegen. (b) Ob Glück, auch minimales Glück, zentral für Gesundheit ist, lässt sich zudem ohne weitere Vorannahmen nicht rechtfertigen. Und schließlich – mit den treffenden Worten von Christian Lenk – (c) „kann man […], diesem Ansatz zufolge, auch krank oder behindert und trotzdem in einem übergeordneten Sinn gesund sein, wenn man in der Lage ist, die glücklich machenden Ziele zu erreichen“ (Lenk 2006, 70). Somit ist insgesamt unklar, ob es sich bei einem relationalen Gesundheitsbegriff überhaupt noch um das handelt, was ursprünglich unter den Begriff Gesundheit fiel: Gesundheit in solch einem „übergeordneten Sinne“ hängt von dem jeweiligen Referenzmaßstab ab, der gewissermaßen frei gewählt werden kann. Gesundheit kann daher in diesem Sinne auch darin bestehen, gerade mit Krankheiten, Behinderungen und Verletzungen leben zu können.7 Damit ist sicherlich eine bedeutende Einsicht gewonnen, doch 7
Diese Aussage ist dem „transzendentalen Charakter des Gutes der Gesundheit“ entgegengesetzt. Wolfgang Kersting führt diesbezüglich aus: „Wie Frieden, Freiheit, Sicherheit und das Leben selbst ist Gesundheit ein transzendentales oder ein konditionales Gut. Von derartigen Gütern gilt, dass sie nicht alles sind, alles aber ohne sie nichts ist.“ (Kersting 2000, 477). Dieser These muss in ihrer radikalen Form widersprochen werden. Auch die relationale und konditionale These, wir
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5. Gesundheit und Krankheit
es ist fraglich, ob nicht zugleich dasjenige aus dem Blick geraten ist, was mit den Begriffen Gesundheit und Krankheit ursprünglich bezeichnet werden sollte. Dieses relationale Verständnis von Gesundheit und Krankheit überzeugt, insofern es ganzheitlich den Menschen und sein Umfeld in den Blick nimmt und ihn weder auf seine organische noch seine individuelle psychische Dimension reduziert.8 Trotzdem ist es problematisch, weil dadurch der Begriff „Gesundheit“ eine umfassende Erweiterung erfährt. Mit dem allgemeinen Sprachgebrauch und den alltäglichen Intuitionen in Bezug auf Gesundheit hat dieses Konzept nur noch wenig zu tun. Hinsichtlich der Differenzierungsmöglichkeit zwischen Therapie und Enhancement gilt damit, dass der relationale, wie auch der subjektive Gesundheitsbegriff je nachdem, welcher Referenzpunkt angenommen wird, verschiedenste Fähigkeiten und Eigenschaften als gesund oder krank auszeichnen können und dass damit die Gegenüberstellung von Gesundheit und Krankheit hinfällig und eine Unterscheidung von Therapie und Enhancement unmöglich wird. Das objektive Konzept verkennt seinerseits die subjektive Erlebnisdimension und versucht dagegen, statistische Durchschnittswerte als Maßstab einzuführen. Damit wird es allerdings der Vielfalt menschlicher Lebensformen nicht gerecht. Meine Ausführungen ergeben bislang, dass eine trennscharfe Abgrenzung zwischen Gesundheit und Krankheit nach allen drei genannten Strategien nicht möglich ist. Es ist daher Glenn McGee zuzustimmen, wenn er schreibt: Concepts of health and disease are defined in terms of our best guesses about the biological limits of the human body. We say that one patient is dead, another one comatose, and still a third „infected“ on the basis of assumptions and theories about what it means to be alive or dead, healthy or sick. Much of the time it is unnecessary to question such assumptions. I do not worry about my cholesterol or even notice it until my nurse practitioner points it out to me and calls it a problem. But when patients are ill, and when scientists design our most sophisticated experiments about human and animal physiology,
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benötigen Gesundheit, „um tatsächlich tun zu können, was wir selbst wollen“ (Gerhardt 1992, 7), erfährt vor dem Hintergrund der Enhancement-Debatte eine bemerkenswerte Verschiebung, insofern einerseits neuartige, bislang utopische Ziele menschlichen Handelns möglich werden, und andererseits neue Fähigkeiten auch neu bestimmen, „was wir wirklich wollen“. Auch Parsons definiert soziologisch Krankheit als „generalisierte Störung der Leistungsfähigkeit des Individuums für die normalerweise erwartete Erfüllung von Aufgaben oder Rollen“ (Parsons 1967, 71, zitiert nach Bruchhausen 2009).
5.3. Ein „relationaler“ Begriff von Gesundheit und Krankheit
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assumptions about health and disease – about biology and the stability of the „brute“ facts – are the most critical elements. (McGee 2003, 18)
Trotz der Relevanz dieser Unterscheidung („most critical elements“) lassen sich Gesundheit und Krankheit nicht sauber voneinander abgrenzen. Damit wird insgesamt in der Folge auch eine trennscharfe Abgrenzung zwischen Therapie und Enhancement notwendigerweise unmöglich, die eine klare Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit voraussetzt. Es könnte zwar eingewendet werden, dass es für eine Abgrenzung zwischen Therapie und Enhancement und damit für eine Definition von Enhancement ausreichend sei, einigermaßen genau bestimmen zu können, was gesund und was krank sei. Schließlich bestünden trotz aller Unklarheiten auch zahlreiche eindeutige Fälle. Man könnte analog daran erinnern, dass man wohl genau wisse, wann Tag und wann Nacht sei, selbst wenn die Dämmerung und der Übergang zwischen diesen beiden Zuständen nicht eindeutig zu bestimmen sei. Doch selbst wenn diesen Aussagen prinzipiell zuzustimmen ist und sie gerade mit Blick auf die Praxis sogar befürwortet werden müssen, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Abgrenzung zwischen Therapie und Enhancement zumeist herangezogen wird, um – wie oben von Anderson – eine moralische Einschätzung (zumeist eine Diskreditierung) der Enhancementmaßnahmen zum Ausdruck zu bringen.9 Angesichts der Tatsache, dass es aber keine systematisch überzeugende Definition von Gesundheit und Krankheit gibt und dass solche Definitionen immer mit einem großen Maß an Beliebigkeit lediglich gesetzt werden können,10 kann es 9 Darauf weist auch der President’s Council on Bioethics hin: „Those who introduced this distinction hoped by this means to distinguish between the acceptable and the dubious or unacceptable uses of biomedical technology: therapy is always ethically fine, enhancement is, at least prima facie, ethically suspect.“ Weiter führen sie illustrierend aus: „Gene therapy for cystic fibrosis or Prozac for major depression is fine; insertion of genes to enhance intelligence or steroids for Olympic athletes is, to say the least, questionable.“ (President’s Council 2003, 16). 10 Auch der ambitionierte Versuch von Lenk überzeugt nicht vollständig: Er hält an der Unterscheidbarkeit von Enhancement und Therapie fest, da seiner Meinung nach „zwei von drei der genannten Aspekte [scil. zur Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit, JCH] ausreichen, um einen pathologischen Zustand zu spezifizieren, allerdings unter der Bedingung, dass der objektive Aspekt einer dieser beiden Aspekte ist“ (Lenk 2002, 243). Lenks verdienstvolle Diskussion der unterscheidbaren Ansätze zur Bestimmung von Gesundheit und Krankheit, an die ich mich weitgehend anschließe, erscheint in dieser Zusammenführung –
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5. Gesundheit und Krankheit
auch keine eindeutige Abgrenzung zwischen Therapie und Enhancement geben. Eine moralische Trennlinie zwischen erlaubt und verboten lässt sich daher auf keine Weise mit einer vermuteten (doch unhaltbaren) Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement gleichsetzen. Die Wirklichkeit ist komplexer und lässt sich mit einer einfachen Dichotomie wie der zwischen Gesundheit und Krankheit nicht angemessen einholen.11 Ich plädiere daher dafür, die Abgrenzung von Therapie und Enhancement wegen der unklaren Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit und der damit verbundenen moralischen Einschätzung von Enhancementmaßnahmen bei der Definition dessen, was Enhancement ist, zunächst einmal außer Acht zu lassen. Therapie und Enhancement schließen einander nicht wechselseitig aus. Vielmehr könnte sich Therapie als eine Teilmenge möglicher Enhancements erweisen, wobei eine eindeutige Bestimmung häufig nicht möglich sein wird.12 Eine alternative, strengere Differenzierung zwischen Therapie und Enhancement führt lediglich zu begrifflichen Verwirrungen und ruft unbegründete moralische Intuitionen hervor. Eine sachlich angemessene Definition von Enhancement sollte ohne diesen beschwerlichen Ballast auskommen. Mit dieser Empfehlung für die Fachdiskussionen über Enhancement ist nicht gemeint, dass die Begriffe „Gesundheit“ und „Krankheit“ keine Funktion und Bedeutung haben. Selbstverständlich handelt es sich um wichtige Begriffe, die in vielen – praktischen und alltäglichen – Kontexten unverzichtbar und angebracht sind. Lediglich im Zusammenhang spezifischer Debatten (wie über die moralische Legitimität von Enhancement), in denen schon geringe begriffliche Nuancen objektiver Aspekt plus wahlweise subjektiver oder relationaler Aspekt – als ein wenig überzeugender ad hoc-Kompromiss, auf dem die Unterscheidung von Therapie und Enhancement nur unsicher ruht. 11 Wie sich oben gezeigt hat, besteht die Herausforderung vermutlich vielmehr darin, Gesundheit als das kompetente Leben mit – immer auch vorhandenen – Krankheiten zu verstehen. Damit aber zeigt sich, dass Gesundheit und Krankheit sich nicht ausschließen, sondern gleichermaßen Elemente in einem menschlichen Leben sind. 12 So auch Savulescu, der drei Arten von Enhancements unterscheidet: (1) Medizinische Interventionen zur Behandlung von Krankheiten, (2) die Absicht das „Natural Human Potential“ zu vergrößern und (3) „Superhuman Enhancements“. Eine Subsumption von medizinischen Interventionen unter Enhancements macht eine trennscharfe Abgrenzung der beiden Bereiche überflüssig, so dass der Gebrauch der Konzepte wie Krankheit und Natur bei Savulescu unproblematisch ist (Savulescu 2006, 326).
5.3. Ein „relationaler“ Begriff von Gesundheit und Krankheit
71
und Unsauberkeiten weit reichende Konsequenzen zeitigen können, erweisen sie sich bei näherer Betrachtung als zu ungenau.
6. Natur Neben der problematischen Unterscheidung zwischen Therapie und Enhancement wird ein alternatives Konzept häufig zur Bestimmung von Enhancement herangezogen: die „Natur“ oder die „Natur des Menschen“. Ein vorläufiger Definitionsversuch von Enhancement mithilfe eines Begriffs von „Natur“ könnte lauten: Enhancementmaßnahmen sind solche Handlungen, die darauf abzielen, das Funktionieren des menschlichen Organismus (unnatürlich) über das natürliche Maß hinausgehend zu erweitern.13
Mit diesem Definitionsversuch wird – wie im oben vorgestellten Versuch – eine Grenze eingeführt („das natürliche Maß“), um Enhancementmaßnahmen zu bestimmen. Dieser Versuch gleicht daher strukturell dem Versuch einer objektiven Bestimmung der Gesundheit, birgt aber eigene Schwierigkeiten. Es stellt sich die Frage, was denn überhaupt die Natur und die Natur des Menschen, das natürliche Maß seiner Ausstattung und Fähigkeiten oder was ein natürliches Maß allgemein ist. Schließlich geht es auch hier, so ist zu vermuten, nicht um einen bloßen Durchschnittswert, sondern um ein auf bestimmte Weise ausgezeichnetes Maß an Ursprünglichkeit und Unberührtheit, das auf näher zu bestimmenden Voraussetzungen und Vorannahmen beruht. Im Folgenden werde ich den grundlegenden Begriff der Natur (Kapitel 6) von einem Begriff der Natur des Menschen (Kapitel 7) unterscheiden und beide näher betrachten. Beide erweisen sich jedoch für eine adäquate Definition von Enhancement als äußerst problematisch und stellen keine brauchbare Grundlage dar, um Enhancement präzise begrifflich einzuholen.
13 Diese mögliche Definition ist bewusst mehrdeutig formuliert, um in der Folge die unterschiedlichen Ansatzpunkte für das Eingreifen von Naturkonzepten aufschlüsseln zu können.
6.1. Schwierigkeiten der Begriffsbestimmung
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6.1. Schwierigkeiten der Begriffsbestimmung Aus philosophischer Perspektive kann zunächst nur der Begriff der Natur näher untersucht werden – und nicht die Natur selbst –, doch „[d]ie Geschichte des neuzeitlichen Naturbegriffs ist mit Ausnahme weniger Kapitel eine des Verfalls.“ (Keil 1993, 360). Diese pointierte Diagnose bedarf der Erläuterung, schließlich wird der Begriff der „Natur“ (und die abgeleiteten Begriffe „Natürlichkeit“, „Naturalismus“ etc.) gegenwärtig viel gebraucht. Dieter Birnbacher diagnostiziert zudem einen „Natürlichkeitsbonus“ in unserer Alltagsmoral, der weite Bereiche durchdringt (Birnbacher 2006, 21 – 28). Diese primär positive Bewertung der Natur zeigt sich auch in der Existenz von Naturschutzbünden und Naturfreunden.14 Eine eindeutig positive Bewertung von Natürlichkeit lässt sich außerhalb der Alltagsmoral jedoch nur noch im Sport finden (Pawlenka 2008, 280). Trotz des von Keil diagnostizierten Verfalls des philosophischen Naturbegriffs hat der Begriff in der Alltagsmoral also immer noch Konjunktur. Auf die explizit normative Dimension des Naturbegriffs im Kontext ethischer Debatten wird erst unten in Kapitel 14 näher eingegangen. Hier soll zunächst – vor dem Hintergrund einer möglichen Definition von Enhancement als „Veränderungen des Menschen über das natürliche Maß hinaus“ – der Versuch unternommen werden, die begriffliche Problematik bei möglichst weitreichender Aussparung der normativen Dimension zu thematisieren. Der Begriff „Natur“ ist schillernd. Birnbacher führt dazu aus: „Der Ausdruck ,natürlich‘ und seine sprachlichen Verwandten verhalten sich wie semantische Chamäleons: Sie passen ihre Färbung ihrer jeweiligen Umgebung an.“ (Birnbacher 2006, 6). Mal erscheint er in einem Gewand, mal in einem völlig anderen. Er passt sich an unterschiedlichste Kontexte der Rede an, übernimmt vielfältige Funktionen, suggeriert Bestimmtheit – und lässt sich dabei doch nicht trennscharf bestimmen. Das entscheidende Problem des Naturbegriffs liegt dabei darin, dass er zu flexibel ist und dass sich daher seine Ausdehnung fast nur willkürlich, jedenfalls niemals alternativlos festlegen lässt. Ein Blick auf die Geschichte 14 Eine überzeugende Analyse der Dimensionen des Werts der Natur unternimmt Meyer, die gegenüber dem Wert der Natur für das Überleben des Menschen und dem intrinsischen Eigenwert der Natur jedoch vor allem den ästhetischen Wert der Natur in Form von Artenvielfalt, Biotopen und Landschaften hervorhebt (Meyer 2003).
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6. Natur
der Begriffsverwendung zeigt dies deutlich an (Gregory et al. 1984). So erscheint einmal alles als Natur, ein anderes Mal nur das, was ein bestimmter Sprecher gerade als Natur bezeichnen möchte: etwa den Menschen im Gegensatz zum Ganzen der Welt, oder bestimmte Elemente innerhalb der Welt, die ohne das Einwirken von Menschen zustande gekommen sind. Mit der Verwendung des Begriffs Natur gehen häufig „Entdifferenzierungen“ (Roughley 2005, 133) einher, die dem philosophischen Bemühen um Differenzierungen diametral entgegenlaufen. Im Interesse von Klarheit und Verständlichkeit muss also zumindest expliziert werden, was in einem bestimmten Diskurskontext mit dem Begriff genau gemeint ist. Schließlich muss geprüft werden, ob der Begriff in der Lage ist, etwa im Kontext einer Definition diejenige Funktion überhaupt zu erfüllen, für die er aufgeboten wird.
6.2. Vielfältige Gegenbegriffe zur „Natur“ Der Naturbegriff wird wesentlich über Abgrenzungen und Spannungsverhältnisse zu möglichen Komplementärbegriffen bestimmt. Im heutigen Sprachgebrauch existieren vielfältige Gegenbegriffe zur „Natur“, die dem Begriff je nach seinem Gegenteil unterschiedliche Bedeutungen zuweisen, etwa „das Übernatürliche, das Widernatürliche, das Kulturelle, das Technische, das Unechte oder das Gezwungene“ (Birnbacher 2006, 6). Auch eine historische Betrachtung zeigt, dass der „Begriff der Natur […] seine Konturen immer durch große Antithesen erhalten“ hat (Keil 1993, 360): Angesichts der Vielzahl möglicher Gegenbegriffe ist somit sein komplementärer Bedeutungsgehalt jeweils nur im konkreten Fall zu bestimmen. In der Antike war die techne der physis entgegengesetzt und es bestand eine Opposition von Natur und menschengemachtem Gesetz. In der jüdisch-christlichen Tradition steht das Übernatürliche dem Natürlichen gegenüber (Blumenberg 1960a), bei Kant wird ein Gegensatz zwischen Natur und Freiheit geöffnet, der in der aktuellen Willensfreiheitsdebatte immer noch von Bedeutung ist. Das 19. Jahrhundert kannte die Opposition Natur vs. Geschichte/Kultur/Geist. Die heutige relativ marginale Rolle des Naturbegriffs in der Philosophie lässt sich darauf zurückführen, „dass keine dieser Antithesen heute noch uneingeschränkt intakt ist. In gewisser Weise krankt der Naturbegriff an seinem unge-
6.2. Vielfältige Gegenbegriffe zur „Natur“
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heuren Siegeszug, an seiner Totalisierung.“ (Keil 1993, 361).15 Wenn irgendwie alles Natur sein kann, wird die Auseinandersetzung mit dem Begriff uninteressant. Die Schwierigkeiten der Begriffsbestimmung erklären auch, warum selbst die Naturwissenschaften zumeist keine Rechenschaft darüber abgeben, was genau unter dem Begriff der Natur zu verstehen ist. Das einheitsstiftende Moment der Naturwissenschaften liegt vielmehr in der gemeinsamen Verpflichtung auf ein bestimmtes Set von Methoden statt in der Bestimmung eines gemeinsamen Untersuchungsgegenstandes. Sehen wir von der noch eigens zu problematisierenden Verwendung des Naturbegriffs und von Natürlichkeitsvorstellungen in moralischen Diskursen ab (Kapitel 14), zeigt sich der Begriff als ein marginalisierter, der einerseits aufgrund seiner teilweise überkommenen Oppositionen, andererseits aufgrund seiner schillernden und missverständlichen Bedeutungsvielfalt gegenwärtig in philosophischen Debatten eine untergeordnete Rolle spielt. Der Vorschlag, den Begriff gleich aus dem philosophischen Vokabular zu streichen, ist daher schon mehrfach erhoben worden.16 Da allerdings der Gegenstand vorliegender Untersuchung – zumindest auch – als Eingriff in oder Veränderung der (menschlichen) Natur definiert werden kann, sollen im Folgenden einige Klärungsversuche vorgestellt werden, die den möglichen Entdifferenzierungstendenzen durch den Naturbegriff entgegenwirken. Abschließend wird geprüft, ob sich daraus eine klare Definition von Enhancement herleiten lässt. Mein eigener Vorschlag zur Verständigung über einen normativ gehaltvollen Begriff der – wenn man trotz der Kritik an dieser Terminologie festhalten möchte – menschlichen „Natur“ findet sich im vierten Teil dieser Arbeit.
15 Die Vielfalt der möglichen inneren und äußeren Bestimmungen des Naturbegriffs führt Mill 1874 schließlich dazu, ihn als einen in philosophischen Debatten relevanten Begriff abzulehnen. Damit stimmt er mit David Hume überein, der den Begriff „vage, indeterminate“ fand (Hume 1779, 423). – Interessanterweise geht die kritische Ablehnung des Naturbegriffs in der gegenwärtigen Philosophie mit einer besonderen Affinität für die Derivate „Naturalismus“ und „naturalistisch“ einher. 16 Boyle schließlich wollte ihn sogar ganz abschaffen, vgl. Gregory et al. 1984 und dortige Literaturangaben.
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6. Natur
6.3. Binnendifferenzierungen des Naturbegriffs Einen aktuellen Versuch der Ordnung und der Binnenklassifizierung des Naturbegriffs hat Birnbacher (2006) vorgelegt. Im Anschluss an Mill stellt er fest, dass mit dem Begriff der Natur – und den verwandten Begriffen wie Natürlichkeit, natürlich etc. – trotz aller Einwände, denen er mit Recht ausgesetzt ist, ein zentrales Moment menschlicher Weltorientierung thematisiert werde.17 Die Behauptung, dass de facto der Naturbegriff eine fundamentale Rolle dabei spielt, wie Menschen sich selbst und ihre Umwelt verstehen und ordnen, macht philosophische Analysen dieses Begriffs nötig, gerade weil es sich dabei um ein häufig äußerst vage gebrauchtes und ideologisch aufgeladenes Konzept handelt. Die zwei zentralen Abgrenzungen, die nach Birnbacher mithilfe des Naturbegriffs begrifflich eingefasst werden sollen, sind einerseits die Abgrenzung des Menschen von der ihn umgebenden restlichen Welt, sowie andererseits die dichotome Gegenüberstellung zwischen „Gewordenem“ und „Gemachtem“, zwischen Elementen der Wirklichkeit, die als „Natur“ oder als „Menschenwerk“ qualifiziert werden können (3 f.).18 Die erste Unterscheidung bezeichnet Birnbacher als eine klassifikatorische, die zumeist eindeutig getroffen werden kann, da (zumindest bislang) in den wenigsten Fällen Zweifel über die Zuordnung einer Entität in eine der beiden Klassen vorgekommen sind. Die Frage der Zugehörigkeit zur Gattung Mensch ist (fast) immer eindeutig zu be17 So auch Gernot Böhme: „Diese Unterscheidung [scil. zwischen „natürlich“ und „künstlich“, JCH] ist eine der ersten, die wir bereits als Kinder lernen […]. Sie steht neben den Grundunterscheidungen von männlich und weiblich, jung und alt, wirklich und märchenhaft bzw. ,geträumt’.“ (Böhme 1992, 141). 18 Damit knüpft Birnbacher an Mills scharfzüngigen Essay „Nature“ an, in dem fundamentale Kritik am Naturbegriff geübt wird. Mill unterscheidet zunächst zwei grundlegend verschiedene Bedeutungen von „Natur“. Zum einen ist „Natur“ alles, was ist – „all the powers existing in either the outer or the inner world and everything which takes place by means of those powers“. Zu diesem ersten weiten Verständnis gehören also zum einen das „Insgesamt“ der Natur, zum anderen die Eigenschaften der solcherart natürlich seienden Dinge im Ganzen der Natur. Zweitens ist „Natur“ für Mill all das, was unabhängig vom Einfluss des Menschen entstanden ist oder stattfindet: „what takes place without the agency, or without the voluntary and intentional agency, of man.“ (Mill 1874, 375). Später diskutiert Mill eine mögliche dritte Bedeutung von „Natur“, die er aber als unhaltbar verwirft: Als Begriff der Ethik handelt es sich bei „Natur“ allein um einen Deckmantel, der zur rhetorischen Verstärkung einer beliebigen ethischen Position herangezogen werden soll. Diesen Versuch eines dritten Weges bekämpft Mill mit scharfen Argumenten über den längsten Teil seines Essays.
6.3. Binnendifferenzierungen des Naturbegriffs
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antworten und strukturiert damit die Welt für Menschen in den Bereich der „Menschenwelt“, zu der Menschen sich selbst und ihresgleichen zählen, und den der sie umgebenden Welt.19 In dieser simplen Dichotomie findet, so scheint es, alles seinen Platz. Das zweite Gegensatzpaar von „geworden“ und „gemacht“ klammert die erste Opposition aus und betrachtet nur den Bereich der „nichtmenschlichen“ Welt, also alle Dinge, die hinsichtlich der ersten Differenzierung nicht der Klasse „Mensch“ zugeordnet werden. Dieser Gegensatz erweist sich gegenüber der Unterscheidung von Mensch und Natur häufig als weniger eindeutig. Alternative Beschreibungen dieser zweiten Opposition ziehen die Begriffe „natürlich“ und „künstlich“ heran oder erinnern an die klassisch scholastische Unterscheidung zwischen „natura naturans“ und der „natura naturata“ (Bayertz 2005, 13 – 16). Offenkundig ist in diesem zweiten Fall ein graduell organisiertes Spektrum von Beschreibungen möglich, so dass Dinge mehr oder weniger natürlich sein können. Darüber hinaus kann ein und derselbe Gegenstand zugleich hinsichtlich verschiedener Maßstäbe bewertet werden. Zahlreiche Beispiele können aufgebracht werden, wenn es darum geht, die irritierende Möglichkeit einer doppelten Beschreibung einer Entität als zugleich natürlich und künstlich aufzuzeigen: Ist Weizen ein natürliches Getreide, da es doch einerseits über lange Zeiträume von Menschen kultiviert, andererseits aber niemals mithilfe neuer Gentechnik verändert worden ist? Ist der Bonsai ein natürlicher Baum, wächst er doch von ganz alleine und besteht aus Lignin und ist kein künstlicher Plastikbaum? Ist ein Schäferhund natürlich, obwohl er das Resultat jahrhundertelanger menschlicher Domestizierung ist? Sind der Kaiserstuhl, die mallorquinischen Mandelbäume oder ein aufgeforsteter Regenwald natürlich, sind sie doch Ergebnis zielgerichteten menschlichen Planhandelns? Gibt es überhaupt noch Bereiche auf der Erde, deren Zustand als natürlich zu bezeichnen ist, da doch über die vom Menschen induzierte Klimaveränderung auch Auswirkungen selbst für diejenigen Orte auf der Welt bestehen, die nie ein Mensch betreten hat? Was wäre also ein
19 Grenzfälle wie echte Mensch-Tier-Hybride kommen in der Wirklichkeit bislang nicht vor, und auch in bestimmten Fällen der menschlichen Lebensform (werdendes oder vergehendes menschliches Leben, Menschen mit besonderen Fähigkeiten oder besonderen Einschränkungen) ist die Frage der Gattungszugehörigkeit zumeist unkontrovers. Auch technisch veränderte Menschen sind zunächst einmal Menschen (Heilinger/Müller 2007).
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6. Natur
Beispiel für etwas eindeutig oder perfekt Natürliches oder etwas eindeutig oder perfekt Künstliches? Angesichts dieser Schwierigkeiten, innerhalb der menschlichen Einflusssphäre zweifelsfreie Beispiele für die adäquate Begriffsverwendung aufzuzeigen, lässt sich in diesem zweiten Zusammenhang Natürlichkeit als komparativer Begriff verstehen (Birnbacher 2006, 6), der über mehrere Dimensionen verfügt. Das Natürliche und das Künstliche sind hierbei lediglich als „Pole“ zu verstehen, zwischen denen sich ein graduelles Spektrum befindet. Dieses Spektrum lässt sich in verschiedener Hinsicht näher spezifizieren, denn es bestehen zumindest zwei Möglichkeiten, Natürliches von Künstlichem abzugrenzen. (a) Im Anschluss an Mill lassen sich verschiedene Dimensionen von Natürlichkeit im genetischen Sinn unterscheiden (Birnbacher 2006, 9 – 13). Hier werden mögliche menschliche Einflüsse auf den Prozess der Entstehung eines Dinges oder Zustandes untersucht. Wenn also Menschen an dem Zustandekommen einer Entität beteiligt sind, kann man diesen menschlichen Einfluss hinsichtlich der drei Faktoren Eingriffstiefe, Dichte der Wechselwirkungen und Intentionalitt graduieren. So können gemäß der ersten Dimension von Natürlichkeit im genetischen Sinn gentechnische Eingriffe in das Erbgut einer Pflanze vom Gießen derselben als weniger „natürlich“ unterschieden werden. Die unterschiedliche „Dichte der Wechselwirkungen zwischen natürlichem Substrat und Kultur“ (Birnbacher 2006, 10) zeigt sich exemplarisch an der kontinuierlichen Weiterzüchtung von Nutzpflanzen oder Nutztieren über die Jahrhunderte, die in engem Wechselspiel mit den kulturellen Umständen erfolgte, unter denen die Menschen lebten, und deren Ergebnisse wiederum auf die Lebensumstände der Menschen zurückwirkten, die sich an der Kultivierung der Tiere oder Pflanzen beteiligten. Die Ko-Evolution zweier Arten kann also, gemessen an der Dichte der Interaktion zwischen beiden, als mehr oder weniger „natürlich“ unterschieden werden. Die dritte genetische Dimension von Natürlichkeit liegt in der Intentionalität, die der Veränderung der Natur (verstanden gemäß der ersten Dichotomie als alles das, was zunächst nicht Resultat menschlichen Handelns ist) zugrunde liegt. So lassen sich nicht intendierte Nebenwirkungen von Hauptwirkungen unterscheiden. Nebenwirkungen rufen aber nicht immer geringere Veränderungen hervor: Eine intentionale Veränderung könnte etwa in der Vergrößerung des Fleischanteils eines Nutztiers durch Züchtung liegen; eine nicht intendierte Nebenwirkung der verbesserten Ernährung von Menschen in der damit verbundenen Zunahme der Erdbevölkerung, der Erhöhung des Ausstoßes von Treibhausgasen durch
6.3. Binnendifferenzierungen des Naturbegriffs
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Tierzucht, und schließlich der Zerstörung der Lebensgrundlage der Menschen selbst. Es zeigt sich, dass hinsichtlich der Entstehungsbedingungen der Ausstattung der Welt mit dem Auftreten des Menschen immer weitere Bereiche dem menschlichen Einfluss ausgesetzt sind. Reine Formen natürlicher oder künstlicher Zustände und Dinge sind kaum oder gar nicht zu finden: Natürlich und dem menschlichen Einfluss gänzlich entzogen sind in einem strengen Sinne allenfalls Elemente jenseits der Oberfläche unseres Planeten; völlig künstlich und damit ausschließlich von menschlichem Handeln abhängig kann man sich auch nichts vorstellen, da jede menschliche Handlung immer den Kontext der („natürlichen“) Wirklichkeit voraussetzt und eine creatio ex nihilo dem Menschen nicht möglich ist. Die verschiedenen Dimensionen von Natürlichkeit im genetischen Sinne lassen sich also voneinander unterscheiden und nicht aufeinander reduzieren (z. B. kann etwas einen tiefen Eingriff ins Erbgut bedeuten und dabei wenig intentional sein, wie Nebenwirkungen der Atomtechnologien). Die Unterscheidung verschiedener Dimensionen von genetischer Natürlichkeit innerhalb des Naturbegriffs macht so viele Differenzierungen nötig, dass die Rede von einem Begriff der Natürlichkeit unplausibel wird. (b) Als zweiten Bereich, innerhalb dessen komparativ verschiedene Grade von Natürlichkeit unterschieden werden können, nennt Birnbacher die qualitative Ebene. So lassen sich hinsichtlich der äußeren Form eines Dinges, hinsichtlich seiner Zusammensetzung, seiner Funktionsweise sowie seiner raumzeitlichen Dimension verschiedene qualitative Grade der Natürlichkeit differenzieren. Die vier genannten Klassifikationskriterien zeigen, dass auch hier eine Vielfalt von Unterscheidungen unter einen einzigen Begriff gefasst wird. Wie schon bei der genetischen Dimension der Natürlichkeit bestehen auch im qualitativen Sinne zahlreiche Kombinationsmöglichkeiten der einzelnen Aspekte von Natürlichkeit, die eine objektive Skalierung unmöglich machen: So kann hinsichtlich ihrer äußeren Form eine Plastikblume natürlich sein und dabei zugleich hinsichtlich ihrer Zusammensetzung weit dem Pol der Künstlichkeit zugeordnet werden. Eindeutige Bestimmungen des Grads von Künstlichkeit oder Natürlichkeit hängen damit immer von der jeweilig untersuchten Perspektive ab und beinhalten wenige oder keine Implikationen für die Beurteilung der jeweils anderen möglichen Perspektiven. Trotz dieser kritischen Diagnose, die die unproblematische Feststellung eines Naturbegriffs ausschließt, plädiert Birnbacher nicht dafür, den Begriff gänzlich zu verabschieden. Schließlich handelt es sich dabei –
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gerade in der Vielfalt der Dimensionen – um einen zentralen Maßstab der menschlichen Weltorientierung. Stattdessen schlägt er vor, die einzelnen Aspekte der Natürlichkeit als empirische Fragen zu behandeln, klar zu differenzieren, welche Aspekte konkret gemeint sind, und von Verallgemeinerungen abzusehen. So schreibt Birnbacher, bei den Fragen nach der genetischen oder qualitativen Natürlichkeit handele es sich um empirische Fragen, die sich mit wissenschaftlichen Methoden und mit intersubjektiv verbindlichen Resultaten untersuchen lassen, auch wenn diese Resultate stets nur vorläufig ausfallen können und gegen Revisionen nicht gefeit sind. (Birnbacher 2006, 16)
Ein einziger Maßstab, der objektiv oder subjektiv zu überzeugen vermöchte, kann damit nicht begründet werden, denn „die einzelnen Dimensionen [sind] zu verschiedenartig und in ihrem subjektiven Gewicht intra- und interpersonell zu instabil […], um auf einen zugleich ,objektiven‘ und intuitiv adäquaten Maßstab zu führen“ (ebd.). Solcherart aufgeschlüsselt wird die Rede von der „Natürlichkeit“ einer Sache zwar verständlich, da je nach Perspektive verschiedene Aspekte voneinander unterschieden werden können. „Die Natur“ ist damit als eigenständiges Substantiv allerdings vermieden, die Rede von „Natürlichkeit“ kommt weit weniger realistisch daher, indem sie sich als Substantivierung des Adjektivs „natürlich“ erklärt und hinsichtlich verschiedener Dimensionen spezifiziert werden kann, statt eine Hypostasierung des Weltganzen oder einer anderen Entität zu versuchen. Der Naturbegriff, so wichtig seine Orientierungsfunktion auch ist, zeigt sich in zu vielen Facetten, um zur Bestimmung des Begriffs „Enhancement“ sinnvoll herangezogen werden zu können. Die möglichen biotechnischen Interventionen setzen an den unterschiedlichsten Punkten der „natürlichen“ oder weniger „natürlichen“ Wirklichkeit an und bemühen die unterschiedlichsten mehr oder weniger „natürlichen“ Mittel. Insofern es sich um menschliche Handlungen handelt, sind sie zudem alle als „unnatürlich“ im zunächst eingeführten klassifikatorischen Sinne zu bezeichnen. Der zu Beginn des Kapitels erwähnte „Verfall“ des Naturbegriffs – die Zersplitterung großer Orientierungen in zahlreiche Einzelaspekte – erschwert eine Definition von Enhancement auf dieser Grundlage. Im folgenden Kapitel soll daher der Begriff der Natur des Menschen näher betrachtet werden, schließlich handelt es sich bei Enhancement, so wird vermutet, nicht nur um unnatürliche Eingriffe in die Natur im allge-
6.3. Binnendifferenzierungen des Naturbegriffs
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meinen, sondern um Eingriffe, die am Menschen vorgenommen werden, also insbesondere die menschliche Natur betreffen könnten.
7. Natur des Menschen In der stipulierten Definition von Enhancement unter Berufung auf ein „natürliches Maß“ klingt neben den oben aufgefächerten allgemeinen Natürlichkeitsvorstellungen auch die Idee der „menschlichen Natur“ oder der „Natur des Menschen“ an. Die Verwendung dieses Begriffs und Berufungen darauf sind in den Debatten über Human Enhancement verbreitet. Im Kontext der Definition von Enhancement suggeriert der Begriff einer menschlichen Natur einen Maßstab, dessen Überschreiten konstitutiv für die Qualifikation einer bestimmten Handlung als Enhancement ist. Der Begriff wird jedoch auch – und vor allem – innerhalb der Enhancementdebatte gebraucht, um über die moralische Legitimität bestimmter Enhancement-Praktiken zu diskutieren.20 Bevor dieser zweite, moralische Diskurs näher betrachtet und ein Beitrag dazu geleistet werden soll (in Teil IV), soll an dieser Stelle die Tauglichkeit des Begriffs „Natur des Menschen“ für die sachliche Bestimmung von Enhancement überprüft werden. Die komparativen Differenzierungen des Naturbegriffs lassen sich auch auf menschliche Individuen anwenden und erschweren damit eine eindeutige Bestimmung der Natürlichkeit oder der Natur menschlicher Organismen. Auch mit Blick auf menschliche Individuen lassen sich die einzelnen Teilaspekte der Natürlichkeit als empirische Fragen angehen und beantworten. Allerdings ist mit der Rede von der Natur des Menschen häufig ein weitergehender Anspruch verbunden, der nicht allein auf Beantwortung konkreter Teilfragen hinsichtlich qualitativer oder genetischer Natürlichkeit abzielt.21 Die verschiedenen Bedeutungen der Rede von der menschlichen Natur werden im Folgenden näher aufgeschlüsselt. 20 Habermas 2001, Fukuyama 2002, Sandel 2007 z. B. berufen sich in moralischer Hinsicht auf die menschliche Natur, um gegen die möglichen EnhancementEingriffe zu argumentieren, andere – z. B. Winnacker/Haniel 1997 und einige Transhumanisten (Bostrom 2005; Bostrom/Sandberg 2009) – berufen sich auf die menschliche Natur (und ihre wesentliche Offenheit für Kultur und Selbstveränderung), um sich fr biotechnologische Interventionen auszusprechen. Letzteres wird bisweilen als das „drive to perfection“-Argument bezeichnet. 21 Die moralische Relevanz dieser Ansprüche wird in Kapitel 14 kritisiert.
7.1. Das biologische Kriterium der Spezieszugehörigkeit
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Roughley hat einen Vorschlag gemacht, wie der Begriff der menschlichen Natur zu analysieren ist (Roughley 2005). In deskriptiver Hinsicht unterscheidet er drei mögliche Begriffe der menschlichen Natur, die häufig miteinander vermischt werden. Ich werde diese kurz vorstellen, um anschließend zu prüfen, ob damit hinsichtlich der Definition von Enhancement etwas gewonnen ist.22
7.1. Das biologische Kriterium der Spezieszugehörigkeit Die Evolutionstheorie erzählt die „Geschichte“ der Entwicklung der Lebewesen. Taxonomische Zuordnungen bestimmter Individuen zu einer Spezies sind daher Aussagen über die Abstammung der Individuen. Spezies sind Populationen (Gruppen von Organismen), „die sich durch ein bestimmtes Segment eines phylogenetischen Baums“ (Roughley 2005, 137; vgl. auch Mayr 2001) von anderen Populationen unterscheiden lassen. Ein solches biologisches Verständnis von Spezies bindet die Kriterien für die Zugehörigkeit von Individuen zur Spezies keineswegs an die Instantiierung bestimmter Eigenschaften, die etwa als wesentlich angesehen werden, sondern an die auf Abstammung basierende Zugehörigkeit zu einer bestimmten Population.23 Die Definition einer bestimmten Spezies und die Unterscheidung verschiedener Spezies wird dabei in Abhängigkeit von eigens heranzuziehenden relationalen Kriterien gefällt. Der 22 Alternative Analysen der Mehrdeutigkeit der Rede von der „menschlichen Natur“ sind möglich. Birnbacher 2008, 60 – 63 etwa unterscheidet drei von Roughleys Unterteilung verschiedene Bedeutungen: zunächst – hier besteht der größte Unterschied – die „faktische Beschaffenheit und die faktischen Verhaltensweisen des Menschen als Summe aller einzelnen menschlichen Individuen“, sodann die „biologische Beschaffenheit“ und schließlich die „den Menschen auszeichnenden und charakteristischen Merkmale, sein eigentümliches Wesen“ (letzterem entspricht Roughleys Aspekt der typischen Merkmale). Ich schließe mich in meiner Darstellung an Roughley an, weil ich die Unterteilung der „biologischen Beschaffenheit“ in den Aspekt der (statisch konzipierten) Spezieszugehörigkeit und den der Unterscheidbarkeit verschiedener „genetischer“ Aspekte („geworden“ oder „gemacht“) aufschlussreich finde. 23 Zur Unterscheidung des biologischen Spezieskonzept von einem taxonomischen Spezieskonzept – und anderen Alternativen – vgl. Mayr 2001, 161 – 173. Außerdem die Aufsätze Species und Some Puzzles about Species in Kitcher 2003; sowie Dupré 2002 zur Unterscheidung von Natural Kinds und biologischen Taxa, der die lediglich lokale Signifikanz derartiger Bestimmungen hervorhebt. Birnbacher 2006, 175, erinnert daran, dass insgesamt über zwanzig verschiedenen Definitionen für biologische Gattungszugehörigkeit miteinander konkurrieren.
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7. Natur des Menschen
Begriff der Spezies wird damit nicht mit robust realistischen Anforderungen überfrachtet, Spezies sind keineswegs Universalien, die als „natürliche Arten“ kontextlose Bestimmungen erlauben.24 Vielmehr handelt es sich bei biologischen Arten um „Clusterbegriffe“ (Roughley 2005, 138), die eine relativ stabile Eigenschaftskonstellation innerhalb einer Abstammungsgemeinschaft hervorheben, dabei aber nicht ohne eine Betonung der zeitlichen Variabilität auskommen: Innerhalb der Evolution haben sich solche relativ stabilen Populationen mit bestimmten Eigenschaftssets herausgebildet, die sich jedoch kontinuierlich weiter entwickeln und schließlich auch wieder vergehen können, so dass gilt: „species-typical functioning is a shifting boundary“ (Chadwick 2008, 28). Die Beschreibung von relativ stabilen Eigenschaftsbündeln erlaubt somit lediglich „Momentaufnahmen“ aus der Geschichte der Evolution. Auch der Mensch ist in dieser Hinsicht über ein relativ bestimmtes Bündel biologischer Eigenschaften konstituiert, die die Rede von einer Spezies Mensch rechtfertigen (oder auch von einer „Natur des Menschen“ im ersten, biologischen Sinne). Da jedoch die zur Spezies gehörigen Individuen keineswegs allesamt die biologischen Merkmale aufweisen müssen, die zur Konstitution der Spezies führen, ist mit diesem Verständnis des Speziesbegriffs für die Definition von Enhancement (verstanden als Verbesserung biologischer Merkmale) wenig gewonnen. In biologischer Hinsicht erweist sich das Abstammungskriterium für die Bestimmung der Spezieszugehörigkeit als ausschlaggebend. Hier lässt sich durch Eingriffe in das natürliche Funktionieren eines Individuums keine Bestimmung von Enhancement finden, da die Abstammungsrelation dadurch nicht tangiert wird. Lediglich das künstliche Erzeugen von Menschen – also etwa von Androiden, die über keine gemeinsame Abstammungsgeschichte mit Menschen verfügen (wenn es denn möglich wäre) – würde diese Relation nicht erfüllen. Alle anderen Menschen, egal welche Eingriffe mit ihnen vorgenommen würden, wären solange im geschilderten biologischen Sinn als der Spezies Mensch zugehörig zu betrachten, wie die Abstammungslinie nicht unterbrochen wird. Es ist allerdings vorstellbar, dass sich durch eine weitere Entwicklung eine Population innerhalb der Spezies Mensch herausdifferenziert, die über eine andere spezifische Konstellation von Eigenschaften verfügt, als die gegenwärtige „Momentaufnahme“ der Spezies Mensch sie zusammenfasst. In biologischer Hinsicht wäre gegebenenfalls über die Kriterien 24 Vgl. hierzu auch die Diskussion der Frage, ob der Begriff „natürliche Art“ selbst „a natural kind term“ sei in Dupré 2002, 103 – 123.
7.2. Die „typisch“ menschliche Lebensform
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des Entstehens einer eigenen Fortpflanzungsgemeinschaft oder der Besetzung einer ökologischen Nische, sowie über das Kriterium genetischer oder phänotypischer Kohärenz zu prüfen, ob eine neue Spezies entstanden ist. In diesem Fall wäre unter Berufung auf die menschliche Natur auch eine Definition von Enhancement denkbar, nämlich als diejenigen Interventionen, die zur Herausbildung einer eigenen Spezies führen. Allerdings wird damit das als Enhancement zu bezeichnende Handlungsspektrum so weit eingeschränkt, dass bislang noch kein Enhancement stattgefunden hätte. Daher erweist sich diese Begriffsbestimmung der Natur des Menschen für die Definition von Enhancement, die einen gegenwärtigen Problembereich umfassen soll, als unzureichend.25
7.2. Die „typisch“ menschliche Lebensform Unabhängig von einer direkten Berufung auf die biologischen Eigenschaften menschlicher Organismen zeichnet ein zweiter Versuch, die Natur des Menschen zu bestimmen, typische und als wesentlich angesehene Eigenschaften des Menschen aus. Hierfür ist in der Geschichte des Nachdenkens über Menschen eine ganze Reihe von Kandidaten genannt worden, die häufig formelhaft zusammengefasst wurden. So sei etwa der Vernunftgebrauch dem animal rationale wesentlich, außerdem wurden die Fähigkeit zum gesellschaftlichen Zusammenleben (animal sociale), der Werkzeuggebrauch (homo faber 26), das Sprachvermögen (homo loquax) und viele andere Eigenschaften mehr als Wesensmerkmale des Menschen vorgeschlagen.27 Ein solcher Versuch der Wesensbestimmung verfährt zumeist über eine Reduktion. Aus der Vielzahl menschlicher Eigenschaften, Fähigkeiten und Dispositionen wird jeweils eine in den Vor25 Außerdem ist es unter den gegebenen Umständen äußerst unwahrscheinlich, dass die Isolation einer bestimmten menschlichen Population über die zur Speziesierung nötige lange Zeitspanne aufrechterhalten werden könne. Auf solchem „natürlichen“ Wege ist somit kaum mit einer Veränderung der biologischen Natur des Menschen zu rechnen. 26 Vgl. dazu aktuell Müller 2010. 27 Konsequenterweise müssten allerdings auch typisch menschliche Eigenschaften wie Eigennutz, Neigung zur Ausbeutung anderer, Brutalität etc. erwogen werden, die jedoch auffallend selten zur Bestimmung der typisch menschlichen Lebensform herangezogen werden. Eine umfangreiche Sammlung von meist formelhaften Bestimmungen des Menschen findet sich in Mäckler/Schäfers 1989.
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7. Natur des Menschen
dergrund gerückt und dient als Grund der erklärten Besonderheit des Menschen („Sonderstellung“). Während der Mensch mit anderen Lebewesen als animal bezeichnet werden kann, ist die Angabe einer differentia specifica dasjenige, was ihn unterscheidbar und damit zum Menschen macht. Solche Versuche der Reduktion auf ein spezifisches Merkmal sind allerdings problematisch. Wesensbestimmungen sind tendenziell eher auf eine metaphysische Kategorie denn auf konkrete Individuen gerichtet.28 Das „Universale“ Mensch wird damit wesentlich bestimmt, ein Bezug auf das Individuum, das möglicherweise nicht über die jeweilige Eigenschaft verfügt, bleibt außen vor. Darüber hinaus wird der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Kandidaten für wesentliche Eigenschaften nicht hinreichend beleuchtet. Dabei würde wohl allenfalls ein „spezifisches Set“ menschlicher Eigenschaften den Unterschied zu anderen Spezies gut darstellen. Roughley macht im Zusammenhang dieser zweiten Definitionsstrategie der Natur des Menschen darauf aufmerksam, dass die Betonung bestimmter Eigenschaften und Verhaltensmerkmale von Menschen prinzipiell der Vorgehensweise der allgemeinen Ethologie ähnelt. So ist dann die Rede von der menschlichen Natur in diesem Sinne zu verstehen als die Auflistung der „strukturellen Eigenschaften der charakteristischen menschlichen Lebensform“ (Roughley 2005, 141), wie die Ethologie es auch bei anderen Spezies untersucht. Allerdings lässt sich hier ein deutliches Auseinanderklaffen zwischen der biologischen Entwicklung der Spezies Mensch erkennen (deren älteste Funde in Afrika bis vor ca. 160.000 Jahren zurückreichen29) und dem spezifischen Set struktureller Eigenschaften der menschlichen Lebensform, die eher in einer bestimmten Verhaltensweise denn einer biologischen Ausstattung zu suchen sind. Roughley erwägt in diesem Zusammenhang die Fähigkeit zu „detailliert geplanten und koordinierten“ Handlungen als engeres Kriterium zur Bestimmung der strukturellen Eigenschaften der menschlichen Natur (Roughley 2005, 141). Nach Ansicht der Paläoanthropologen, auf die er sich bezieht, ist dieses Verhalten vor ca. 30.000 Jahren erstmalig gesichert nachweisbar. Somit ist das spezifische, als menschliche Natur zu bezeichnende Set von jungpaläolithischen Handlungsdispositionen und Eigenschaften abermals lediglich 28 Dieses Vorgehen wurde insbesondere von der deutschsprachigen Tradition der Philosophischen Anthropologie bevorzugt. 29 Über die Evolution des Menschen informieren etwa Schrenk 2004, Junker 2006 sowie Jones et al. 1992.
7.2. Die „typisch“ menschliche Lebensform
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als eine bestimmte Momentaufnahme der Entwicklung zu bezeichnen. Solche Einschränkungen wirken jedoch irritierend, da sie innerhalb der Gattung homo sapiens weitere Spezifizierungen erlauben, die ihrerseits als menschliche Natur ausgezeichnet werden können: Grundsätzlich wird durch die von Roughley zu Recht eingeforderte Präzisierung des Begriffs der menschlichen Natur im Sinne einer spezifischen Lebensform auch die Möglichkeit geschaffen, von der postindustriellen menschlichen Natur oder gar der postmodernen menschlichen Natur zu reden, insofern damit ein strukturelles Eigenschaftsset gemeint ist, das eine charakteristische Lebensform des Menschen betrifft. Das mag vor dem Hintergrund des biologischen Spezieskonzepts abwegig erscheinen.30 Bei einer engen zeitlichen Begrenzung der spezifisch menschlichen Lebensform könnten somit Engführungen möglich sein, die den vermeintlich feststehenden, kohärenten Charakter der menschlichen Natur von der Frage abhängig machen, welches Zeitfenster man anzulegen bereit ist. Daraus nun ergibt sich, dass auch die Frage, welche verändernden Eingriffe in den menschlichen Organismus über ein natürliches Maß hinausgehen, nur mithilfe eines Kriteriums zu bewerten ist, das nicht als objektiv bezeichnet werden kann: Je nachdem, wie nah ein Betrachter „heranzoomt“, können die verschiedensten strukturellen Eigenschaften von jeweiligen menschlichen Lebensformen erkannt werden. Gleichwohl können plausible Gründe vorgebracht werden, Roughleys Vorschlag zuzustimmen, im Jungpaläolithikum eine Zäsur zu setzen. Der „moderne“ Mensch mit den spezifischen Möglichkeiten war in früheren Entwicklungsstufen des homo sapiens noch nicht vorstellbar: Die Voraussetzungen für geplante und koordinierte Handlungen, für das organisierte soziale Zusammenleben scheinen erst auf einer bestimmten Entwicklungsstufe gegeben zu sein.31 Eingriffe in die menschliche Natur wären gemäß dieser zweiten Bestimmung des Begriffs „Natur des Menschen“ solche, die das Eigenschaftsset von Handlungsfähigkeit und sozialer Kooperation veränderten.32
30 Dennoch ist der Gedanke der Variabilität im Verständnis des Begriffs „Mensch“ ernstzunehmen und wird in Teil IV näher untersucht. 31 Die weiteren möglichen Differenzierungen der menschlichen Natur in diesem zweiten Sinne können dann als Binnendifferenzierungen der jungpaläolithischen Entwicklungsstufe angesehen werden. 32 Ein überzeugendes Eklärungsmodell dieser kulturellen Entwicklung des Menschen hat etwa Donald 2002 vorgelegt, der jeweils den Erwerb zusätzlicher semiotischer Kompetenzen heranzieht, um die Humangenese in Stufen zu un-
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7. Natur des Menschen
7.3. Geworden und Gemacht Als dritte Bedeutung des Begriffs der menschlichen Natur führt auch Roughley die Unterscheidung zwischen dem interventionslos Gewordenen und dem unter dem Einfluss von Menschen Entstandenen oder Gemachten ein. Menschliche Natur in diesem Sinne wird verstanden als „das Set von menschlichen Eigenschaften […], zu deren Entstehung kein menschliches Handeln kausal beigetragen hat“ (Roughley 2005, 145). Einwände gegen die Tragfähigkeit einer solchen Begriffsdefinition sind offenkundig: Müller hält einer solchen Definition entgegen, dass es grundsätzlich „alles andere als klar [ist], was bei dem Naturkulturwesen Mensch ,geworden‘ und was ,gemacht‘ ist.“ (Müller 2008, 45; vgl. auch Gutmann 2002). Ist nicht schon jede Zeugung eine menschliche Handlung und ist nicht damit jedes Individuum immer erst als kausale Folge einer menschlichen Handlung auf der Welt (vgl. Bayertz 2005, 13 ff.)? Und selbst wenn dieser Aspekt einmal zurückgestellt bliebe; ist nicht die menschliche Lebensform durch und durch geprägt vom Einfluss anderer Menschen und ihrer Handlungen sowie insgesamt von einem langen Zivilisierungsprozess, so dass die Natürlichkeit eines Individuums, die allenfalls im Augenblick der Geburt bestanden haben könnte,33 anschließend immer weiter zurückgedrängt und mit dem Erwachsenwerden das menschliche Leben zunehmend weniger natürlich würde? Die Sozialität von Menschen und die Enkulturation würden jede Natürlichkeit in diesem dritten Sinne schnell zunichte machen. Ob es also „universal innate mental processes and developmental mechanisms“ (Tooby/Cosmides 1990, 23) gibt, wie von der evolutionären Psychologie behauptet wird, wird angesichts der extremen Einbindung menschlicher Individuuen in kulturelle und soziale Zusammenhänge,34 die alles „Angeborene“ – wenn man so will – schon pränatal beeinflussen, meines
terteilen. Der letzte Schritt zur Humanität setzt dann die Fähigkeit des Symbolgebrauchs voraus. 33 Dass im Moment der Geburt die Natur des Menschen vollständig natürlich sei, kann bezweifelt werden: Zum einen aufgrund der der Geburt vorangehenden Handlungen der jeweiligen Eltern und zum anderen – besonders unter gegenwärtigen Bedingungen – aufgrund der pränatalen Untersuchungen und Behandlungen. 34 Tomasello spricht prägnant von der menschlichen „hyper-cooperativeness“ (Tomasello 2008, 172).
7.4. Begriffliche Schwierigkeiten: „Natur“ und „Natur des Menschen“
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Erachtens zu Recht bestritten.35 Damit wird auch mit diesem Verständnis der Natur des Menschen eine Definition von Enhancement kaum möglich sein.
7.4. Begriffliche Schwierigkeiten: „Natur“ und „Natur des Menschen“ Insgesamt zeigt sich somit ein zersplittertes Bild der (menschlichen) Natur. Natürlichkeitsvorstellungen sind vielfältig und mehrdeutig, so dass jede Bestimmung der Natur oder der Natur des Menschen immer zu einem großen Teil von kontingenten Entscheidungen oder kontingenten kulturellen Einflüssen abhängt. Es handelt sich bei Bestimmungen der Natur wie der Natur des Menschen um Ideale, weil ein einheitlicher Begriff für eine Vielzahl von Aspekten und Individuen gefunden werden soll, der die Gemeinsamkeiten und die unterstellte verbindende Ursprünglichkeit trotz aller Einwände zum Ausdruck zu bringen versucht. Ein solches jeweiliges Ideal ist allerdings bis zu einem gewissen Grad irrational, weil es die zahlreichen möglichen (rationalen) Differenzierungen, die im Einzelnen angesprochen wurden, „entdifferenzierend“ verwischt. Die Vagheit des Begriffs lässt sich – wie Hans Blumenberg es vielleicht ausdrücken würde – nicht vollständig „in die Logizität zurückholen“ (Blumenberg 1960b, 10). Als Ideale verstanden, können – so ist jedoch zu vermuten – die Begriffe „Natur“ und „Natur des Menschen“ eine Funktion übernehmen, und sei es nur, verschiedene Aspekte der Welt oder der menschlichen Lebensform allgemein unter einen Begriff zu fassen. Die ethische Relevanz eines solchen Begriffs – verstanden als eine praktische, regulative Idee – wird in Teil IV eingehend betrachtet. Was bleibt nun von der Auseinandersetzung mit dem Begriff der Natur und der Natur des Menschen für die Definition von Enhancement? Der äußerst schillernde und facettenreiche Charakter dieser Begriffe macht eine genaue Bestimmung nötig, welcher Aspekt der Clusterbegriffe jeweils als Norm ausgezeichnet werden soll, gegenüber der 35 Aufschlussreich sind hier Duprés 2003 und Kitchers 1985 kritische Auseinandersetzungen mit der Soziobiologie und der evolutionären Psychologie, Donalds Theorie der „deep enculturation“ von menschlichen Wesen (Donald 2002, bes. 211 – 213) sowie die Hinweise auf kulturelle Einflüssse auf die biologische Evolution (Hawks et al. 2007).
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7. Natur des Menschen
dann Abweichungen und Veränderungen als Enhancements bezeichnet werden können. Weder eine Idee feststehender typischer Wesensmerkmale von Menschen noch Durchschnittswerte oder die Verständigung auf etwas „interventionslos Gewordenes“ stellen, so wurde gezeigt, eine hinreichend solide Grundlage zur Bestimmung des EnhancementBegriffs zur Verfügung. Vielmehr zeigte sich ein evolutionär und kulturell changierendes Gefüge von Eigenschaften und Fähigkeiten „des Menschen“, das schon in seiner Beschreibung von Wertungen abhängig ist und damit jede ausschließlich objektive Definition zumindest uninteressant werden lässt.
8. Eine dynamische Minimaldefinition von Enhancement 8.1. Eine dynamische Minimaldefinition Enhancements als eine einheitliche Klasse von Handlungen, die dadurch gekennzeichnet wären, eine bestimmte Grenze zu überschreiten, setzen zunächst eine explizite Verständigung über die Grenzbegriffe voraus und bleiben ohne diese Verständigung unscharf. In Kapitel 5 wurde gezeigt, dass die Begriffe Gesundheit und Krankheit sich nicht eindeutig gegeneinander abgrenzen lassen und dass daher auch eine Abgrenzung zwischen Therapie und Enhancement nicht eindeutig sein kann. Weiterhin wurde gezeigt – in Kapitel 6 und 7 –, dass sich auch mithilfe des Naturbegriffs keine trennscharfe Linie finden lässt, die eine klare Definition von Enhancement erlaubt. Angesichts dieser Diagnose bestehen zwei Möglichkeiten, den Begriff Enhancement zu verstehen.36 Man kann versuchen, trotz der terminologischen Schwierigkeiten an der Gegenüberstellung von Therapie und Enhancement festzuhalten, indem man gegen alle bekannten Widerstände einen operationalisierbaren Begriff von Gesundheit und Krankheit oder Natur einführt (etwa Daniels in Buchanan et al. 2001, 313, 320). Hier soll jedoch ein anderer Weg eingeschlagen werden. Eine weitere Möglichkeit besteht nämlich darin, bei der Definition von Enhancement auf „Normalitätsstandards“ wie Gesundheit und Natur zu verzichten. Dieser Verzicht wird zunächst lediglich probehalber vorgenommen. Im weiteren Verlauf der Debatten wird sich erweisen müssen, ob sich die aus dem Verzicht auf diese Unterscheidung ergebenden Begriffe, Definitionen und Argumente als tauglich erweisen, die Klarheit der Debatte zu befördern. Ziel ist es, eine „dynamische Minimaldefinition“ von Enhancement aufzustellen, die keine impliziten normativen Vorannahmen und Vorurteile mit sich führt, wie sie mit den Setzungen von Gesundheit 36 Auch Auflistungen von mehr als zwei Möglichkeiten (etwa Chadwick 2008) lassen sich auf diese beiden Optionen zurückführen: Entweder man setzt einen Bewertungsmaßstab oder man beschreibt bloß eine menschliche Handlung und klammert die Wertungen zunächst aus. Zu einer Übersicht über weitere Versuche, Enhancement zu definieren, vgl. auch Juengst 2000.
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8. Eine dynamische Minimaldefinition von Enhancement
und Natur immer einhergehen. Es geht nicht darum, eine „natürliche Art“ von Handlungen zu bestimmen, sondern darum, unter Vermeidung von normativen Vorannahmen einen Bereich menschlicher Handlungen einzugrenzen, der über einige problemkonstitutive Gemeinsamkeiten verfügt. Dynamisch nenne ich diese Definition, weil sie von einem statischen Verständnis der Begriffe Gesundheit/Krankheit und Natur absieht und auf die angestrebten Veränderungen fokussiert, die unterschiedliche Normalitätsstandards als Ausgangspunkt haben können. Minimal nenne ich diese Definition, weil sie lediglich den Kern des zu untersuchenden Phänomens zu fassen versucht, dabei aber mit möglichst wenigen Voraussetzungen und Zusatzannahmen auskommen möchte, um die Gefahr wertender Vorannahmen gering zu halten. Die dynamische Minimaldefinition von Enhancement lautet: Ein Enhancement ist ein auf bestimmte Vernderungen zielender, intentionaler Eingriff in den – material organisierten und mental reprsentierten – menschlichen Funktionszusammenhang, der subjektiv positiv evaluiert wird.
Damit ist der gemeinsame Kern derjenigen biotechnologischen Interventionen bezeichnet, die in der Enhancement-Debatte diskutiert werden (vgl. Kapitel 2). Allerdings fallen auch zahlreiche andere Interventionen unter den solcherart verstandenen Enhancement-Begriff, etwa Body-Piercings, die Einnahme eines guten Frühstücks und fast jeder ärztliche Eingriff (vgl. auch Savulescu 2006, 326). Damit ist diese Definition von Enhancement zwar adäquat, umfasst aber mehr als den spezifischen problematischen Gegenstandsbereich der aktuell geführten bioethischen Debatte. Zur Eingrenzung sind deshalb zusätzliche Bestimmungen der dynamischen Minimaldefinition nötig, die diese konkretisieren: Der bioethische Problembereich umfasst solche Enhancementhandlungen, die bestimmte, neuartige Biotechnologien anwenden und die dies mit weitreichenden Konsequenzen tun. Im Folgenden werden zunächst die drei Merkmale der dynamischen Minimaldefinition von Enhancement erläutert – (1) intentionaler Eingriff, (2) menschlicher Funktionszusammenhang, (3) positive Evaluation – und die zusätzlichen Bestimmungen vorgestellt – (a) neuartige biotechnische Mittel und (b) weitreichende Auswirkungen. Damit wird der bioethische Problembereich möglichst genau eingegrenzt. (1) Enhancements gehören zur Klasse der menschlichen Handlungen. Unter einer Handlung verstehe ich eine absichtsvolle menschliche Tätigkeit. Mit der Einordnung von Enhancements als eine spezielle Art menschlicher Handlungen ist angezeigt, dass die Intentionalität der
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Veränderung ein wichtiges Merkmal eines Enhancements darstellt.37 Entscheidend ist also die Absichtlichkeit und Zielgerichtetheit einer Enhancementhandlung.38 (2) Der „Gegenstand“, auf den sich die Enhancementmaßnahme richtet, ist der Mensch selbst. Es versteht sich von selbst, dass konkret immer nur Individuen Gegenstand solcher Maßnahmen sein können, auch wenn durch eine weit reichende Anwendung dieser Maßnahmen auch die Menschheit, also eine größere Population, als Gegenstand dieser Maßnahmen gelten kann. Die Fokussierung auf immer neue, individuelle Einzelfälle darf jedoch in systematischer Hinsicht nicht aus dem Blick verloren werden. Die Rede von der Menschheit insgesamt, beziehungsweise vom Menschen „an sich“, der Gegenstand einer Enhancementmaßnahme sein kann, ist in diesem Sinne daher immer als eine Verallgemeinerung der Summe individueller Enhancements zu verstehen. Enhancements werden damit auch von Eingriffen abgegrenzt, die auf eine Verbesserung der Umweltbedingungen abzielen. Wenn Menschen Gegenstand von Enhancements sind, muss differenziert werden, an welcher „Stelle“ von Menschen diese ansetzen und wirksam werden. Letztlich muss also im Hintergrund einer angemessenen Definition von Enhancement eine zumindest in Grundzügen zu erläuternde anthropologische Konzeption stehen, die berücksichtigen wird, dass der Mensch ein kçrperliches Lebewesen ist, das über Bewusstsein verfügt und damit in einem Verhältnis zu seinen Lebensvollzügen steht. Auch wenn der genaue Zusammenhang zwischen diesen beiden unterscheidbaren Ebenen nicht vollständig geklärt ist, ergeben sich damit zwei (zusammenhängende aber unterscheidbare) Bereiche, die Gegenstand von Enhancements werden können: Ein Enhancement kann insgesamt 37 Eine etwa durch die Explosion eines Atomkraftwerks verursachte Steigerung der Intelligenz der Menschheit fällt nicht unter diesen Begriff, ebenso wenig eine etwa durch den (nicht absichtsvoll herbeigeführten) Biss eines Tieres ausgelöste Immunität gegen eine bestimmte Krankheit. Eine Enhancementmaßnahme werden diese Ereignisse lediglich dann, wenn sie durch den Menschen intentional herbeigeführt werden (etwa durch gezielte Bestrahlung oder die geplante Explosion des Kraftwerks, bzw. durch Injektion der immunisierenden Substanz). 38 Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Gedanke, den Nick Bostrom unter dem Namen „Status Quo Bias“ diskutiert. Er unterstellt den Menschen allgemein ein gewisses Beharrungsbestreben, das sie dazu verleitet, an aufgrund von Zufällen nun einmal bestehenden positiv bewerteten Eigenschaften festzuhalten, auch wenn eine intentionale Handlung zum Erreichen dieser Eigenschaft zuvor abgelehnt wurde. Vgl. Bostrom/Ord 2006.
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8. Eine dynamische Minimaldefinition von Enhancement
betrachtet eine psychische und/oder physische Veränderung intendieren und bewirken.39 Was durch biotechnologische Enhancements intentional verändert werden soll, ist damit der organismische Funktionszusammenhang menschlicher Individuen, der biologische und kognitive Leistungen gleichermaßen umfasst. (3) Konstitutiv für den kohärenten Gebrauch des Begriffs Enhancement ist die Komponente der positiven Evaluation der durchgeführten intentionalen Intervention in den menschlichen Funktionszusammenhang.40 Der evaluative Akt41 lässt sich aus dem Enhancement-Konzept nicht entfernen: Wenn etwas nicht als gut angesehen würde, wäre die Rede von einem Enhancement unplausibel. Doch die aktuelle Debatte über mögliche Verbesserungen des Menschen zeigt, dass einstweilen nicht einmal klar ist, was überhaupt als eine Verbesserung zählen würde. Schon die Übersetzungsmöglichkeiten des englischen Wortes ins Deutsche als „Verbesserung“ (qualitativ-wertend) oder „Steigerung“ (quantitativ-graduell ohne Wertung) weist darauf hin. Zum einen kann es sich um eine qualitative Verbesserung handeln, zum anderen kann auch eine lediglich quantitative Steigerung als Enhancement bezeichnet werden. Die quantitative Dimension allein erlaubt jedoch keine sinnvolle Definition von Enhancement, da damit ausnahmslos alls absichtsvollen Tätigkeiten, die irgendeine messbare und quantifizierbare Veränderung des menschlichen Funktionszusammenhangs bewirkten, als Enhancement zu bezeichnen wären. Damit würde der Begriff jegliche Trennschärfe verlieren. 39 Zur Klassifikation möglicher Eingriffe auf der Basis ihrer physischen Ansatzpunkte, s. Kapitel 2. Meine anthropologische Skizze, die über die beiden minimalen Elemente Körperlichkeit und Bewusstsein hinausgeht, entwickele ich in Kapitel 17.1. 40 Dieser Ansatz ist affin zur Position von Harris: „In terms of human functioning, an enhancement is by definition an improvement on what went before. If it wasn’t good for you, it wouldn’t be enhancement.“ (Harris 2007, 9). Harris setzt jedoch voraus, dass etwas tatsächlich gut sein muss, um ein Enhancement zu sein. Ich rede dagegen nur von einer subjektiven positiven Evaluation – und weise damit darauf hin, dass die Frage, ob Enhancements wirklich gut sind, nicht begrifflich abschließend geklärt werden kann. Ähnlicher zu meinem Ansatz ist daher Savulescus kontextsensitive „welfarist definition of enhancement“: „Any change in the biology or psychology of a person which increases the chances of leading a good life in circumstances C.“ (Savulescu 2006, 324). 41 Dieser evaluative Akt ist nicht zu verwechseln mit den – zu Beginn dieses Kapitels und in Kapitel 14 – von mir kritisierten impliziten normativen Vorannahmen.
8.1. Eine dynamische Minimaldefinition
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Eine positive Evaluation ist also notwendig zur Kennzeichnung von Enhancements und diese Evaluation muss wesentlich individuell sein: Angesichts der Tatsache individuell und interkulturell unterschiedlicher Bewertungen, angesichts unterschiedlicher Vorstellungen von menschlichem Wohlergehen und angesichts der Schwierigkeiten einer allgemeingültigen verbindlichen Fixierung von moralischen Normen setzt jede Evaluation immer subjektive Instantiierung und Plausibilität voraus, die nicht unter dem Vorrang einer wissenschaftlich fixierten, verbindlichen Normativität stehen kann.42 Wollte man eine objektive Definition von Enhancements vornehmen, handelte man sich die Pflicht ein, eine absolute und verbindliche Theorie des Guten präsentieren oder voraussetzen zu müssen. Bislang wurde mit der dynamischen Minimaldefinition der Bereich möglicher Enhancementhandlungen im weiteren Sinne bestimmt. Um den konkreten bioethischen Problembereich der Enhancement-Debatte im engeren Sinne einzugrenzen, müssen die betreffenden Enhancementhandlungen zwei weitere Bedingungen erfüllen: (a) Sie greifen auf bestimmte, zumeist neuartige Humanbiotechnologien zurück, wie sie oben – in Kapitel 2 – exemplarisch vorgestellt wurden. Mit dieser zusätzlichen Bestimmung werden biotechnische Enhancements von anderen „verbessernden“ Handlungen, die ein Individuum positiv bewertet (etwa Joggen, Body-Piercings oder gesunde Ernährung), abgesondert. Außerdem wird eingefordert, dass (b) Enhancements weitreichende Konsequenzen hervorbringen. Damit ist gemeint, dass eine minimale Veränderung etwa der kognitiven Leistungsfähigkeit oder eine minimale Veränderung der gesunden Lebensspanne noch kein Enhancement im engeren Sinne der aktuellen bioethischen Enhancement-Debatte konstituieren würden, selbst wenn die anderen Bedingungen erfüllt wären.43 42 Damit meine ich, dass ein Akt der individuellen positiven Evaluation notwendig ist, um eine Handlung als Enhancement auszuzeichnen. Dass die individuelle Evaluation ihrerseits de facto immer in soziale Interaktionszusammenhänge eingebettet ist, stellt keinen Widerspruch zu meiner These dar. Mir geht es vielmehr darum, dass man nicht für jemand anderen festsetzen kann, was dieser auf einer vermeintlich objektiven Grundlage für ein Enhancement zu halten habe. 43 Hier zeigt sich wieder die Schwierigkeit einer trennscharfen Unterscheidung: Fällt die Einnahme von Koffein nicht unter Enhancements, die Einnahme einer niedrigen Dosis Modafinil dahingegen schon? Gemäß meiner Minimaldefinition würde die Einnahme von Psychopharmaka tendenziell eher als Enhancement angesehen werden als die Einnahme von Nikotin, weil es sich im ersten Fall um eine entwickelte Biotechnologie handelt; hinsichtlich einer möglicherweise lediglich geringfügigen Veränderung der Leistungsfähigkeit würde Modafinil
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8. Eine dynamische Minimaldefinition von Enhancement
Die Enhancement-Debatte würde minimale Veränderungen nicht zum Anlass für ethischer Reflexionen nehmen, wobei die Ausdrücke „minimal“, bzw. „weitreichend“ ihrerseits kontextabhängig sind und nicht ohne einen Blick auf die Wirklichkeit geklärt werden können: So könnten etwa auch geringfügige Veränderungen im Gehirn langfristig weiterreichende Auswirkungen auf die Persönlichkeit haben.
8.2. Einschätzung der dynamischen Minimaldefinition Was aber ist mit einer solchen minimalen Definition gewonnen, die zudem aufgrund der Variabilität in Bezug auf die differierenden subjektiven Wertmaßstäbe als dynamisch bezeichnet werden muss und auf zwei empirische Zusatzannahmen angewiesen ist? Zum einen bezeichnet sie treffend den gemeinsamen Kern der verschiedenen biotechnologischen Eingriffe. Dies vermag eine auf der unklaren Abgrenzung der Enhancements von therapeutischen Maßnahmen beruhende Definition oder eine solche, die die Unnatürlichkeit der Eingriffe zur Unterscheidung heranzieht, nicht zu leisten. In diesen Fällen würde – auf unplausible Weise ein vermeintlicher Gegensatz zwischen therapeutischen und enhancenden Eingriffen konstituiert, wobei letztere jedoch als Oberbegriff für erstere zu verstehen sind (vgl. Kapitel 5); – eine unplausible Unterscheidung zwischen einer Untergruppe „unnatürlicher“ menschlicher Handlungen und menschlichen Handlungen insgesamt eingeführt, wobei menschliches Handeln ingesamt als „unnatürlich“ bezeichnet werden kann, da es von einem menschlichen Akteur ausgeht und damit in keinem Fall „natürlich“ ist (vgl. Kapitel 6); oder – eine unplausible Beschreibung mancher Veränderungen von Menschen als relevante Abweichung von einer vermeintlich feststehenden Natur des Menschen vorgenommen, wohingegen andere – ebenso tiefgreifende oder sogar noch weiterreichende – Veränderungen nicht als eine solche angesehen werden würden (vgl. Kapitel 7).
jedoch – ebenso wie die Einnahme von Koffein – aus dem bioethisch problematischen Kernbereich von Enhancements herausfallen.
8.2. Einschätzung der dynamischen Minimaldefinition
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Mit der dynamischen Minimaldefinition hingegen ist das verbindende Element der unterschiedlichen menschlichen Enhancementhandlungen herausgearbeitet, das lediglich in einer intentionalen, positiv bewerteten, weitreichenden biotechnischen Veränderung von Menschen besteht. Diese Definition ist nicht trennscharf, gibt aber – mithilfe der beiden Zusatzbedingungen – so genau wie nur mçglich den Gegenstandsbereich der aktuellen Debatte an. Zudem werden die möglicherweise problematischen Enhancementinterventionen mithilfe der Minimaldefinition in einen Kontext eingebettet, der sie in ein Kontinuum mit unproblematischen Enhancementeingriffen stellt. Damit sind mit der Minimaldefinition jegliche sich über eine unklare Begrifflichkeit einschleichenden normativen Vorannahmen zunächst ausgeschlossen und müssen gegebenenfalls eigens eingeführt werden. Allein der Verzicht auf Einforderung vorab feststehender Fixpunkte zur Definition des Begriffs – sowohl in Bezug auf Gesundheit als auch in Bezug auf spezifische Werte und Naturvorstellungen – erlaubt eine Definition, die sich allgemein, also auch angesichts der Existenz unterschiedlicher Wertvorstellungen rechtfertigen lässt. Umgekehrt formuliert besagt dies, dass jede Definition von Enhancement, die feststehende Wertmaßstäbe voraussetzt, zugleich diesen feststehenden Wertmaßstäben verhaftet bleibt. So müsste man in der Konsequenz immer indexikalisch von einer „dem Wertsystem x“ verpflichteten Definition von Enhancement sprechen.44 Die hier vorgeschlagene Definition ist in Bezug auf solche feststehenden Wertsysteme zunächst einmal neutral und zeigt explizit an, wenn Wertmaßstäbe herangezogen werden. Im Gegensatz zur über die Abgrenzung von Therapie verlaufenden Enhancement-Definition liefert die Minimaldefinition damit ein Mittel, das gesamte Feld von Enhancement-Maßnahmen weiter aufzusplitten und zu differenzieren. Damit kann etwa eine graduelle Abstufung der verschiedenen zum Einsatz kommenden Mittel und eine graduelle Abstufung der verschiedenen angestrebten Ziele vorgenommen werden. Eine solche sachangemessene und vorurteilsfreie deskriptive Anordnung ist die Bedingung einer ebenso sachangemessenen und vorurteilsfreien moralischen Evaluation der genannten Parameter (Mittel und Ziele). Damit scheint die Konfliktträchtigkeit spezifischer Enhancementmaßnahmen genauer gefasst werden zu können, als es im Rahmen einer an der 44 Daran leiden die meisten Konzeptionen von Enhancement und Auseinandersetzungen mit der Enhancementproblematik, wie sich in Teil III zeigen wird.
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8. Eine dynamische Minimaldefinition von Enhancement
Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit festhaltenden Definition möglich wäre. Die hier vorgeschlagene dynamische Minimaldefinition beansprucht, ein begriffliches Instrument zur vorurteilsfreien Diskussion der Problematik zur Verfügung zu stellen, indem ohne implizit wertende Vorannahmen ein Bereich menschlicher Handlungen beschrieben wird. Aber – so lautet wohl der wichtigste mögliche Einwand gegen diesen Definitionsvorschlag – ist der dafür zu zahlende Preis nicht zu hoch? Rechtfertigt der Gewinn der Möglichkeit vorurteilsfreier Debatten den Wegfall (oder zumindest das vorübergehende Dispensieren) so grundlegender orientierungsgebender Begriffe wie „Gesundheit“ und „Natur“? Zugegeben, die Minimaldefinition erscheint auf den ersten Blick aufgrund der gemeinsamen Behandlung scheinbar heterogener Phänomene kontraintuitiv. Allerdings fordert sie damit zu einer bewussten Neuordnung des Problemfelds unter dem umfassenden Oberbegriff „Enhancement“ sowie zu einer Hinterfragung und Prüfung der vermeintlich feststehenden Begriffe auf. Damit lässt sich besser erkennen, wo genau sich die moralisch relevanten Probleme verbergen, wo es sich lediglich um Scheinprobleme oder um nicht moralisch relevante Probleme handelt und wo als ideologisch zu bezeichnende Scheinargumente in die Diskussion eingeführt werden. Die dynamische Minimaldefinition versteht sich somit weniger als Fix- und Endpunkt, sondern mehr als Ausgangspunkt für die ethischen Debatten zum Thema Enhancement.45 Das wesentliche Ziel meiner Begriffsarbeit lag jedoch nicht in dem „destruktiven“ Ergebnis, das vermeintlich klare Begriffe als unscharfe Hilfskonstrukte entlarvt hat. Vielmehr ging es mir darum zu zeigen, dass 45 Ein weiterer Einwand gegen die dynamische Minimaldefinition – der jedoch auf einem Missverständnis beruht – lautet, dass durch die Betonung der subjektiven positiven Evaluation einem normativen Relativismus der Bewertung Tür und Tor geöffnet werde. Dem ist entgegenzuhalten, dass mit der Minimaldefinition, die die subjektive Dimension der Bewertung als wesentliche Komponente der Definition von Enhancement ins Zentrum stellt, lediglich eine deskriptive und definitorische Aussage getroffen wird. Eine normative Aussage über den tatsächlichen Wert einer bestimmten Enhancementmaßnahme oder über dessen moralische Legitimität ist damit nicht verbunden. Hierzu wird die individuelle positive Evaluation nicht ausreichend sein. Daher trifft der Vorwurf eines moralischen Relativismus und individueller Beliebigkeit der Bewertung meinen Vorschlag einer dynamischen Minimaldefinition nicht. Vielmehr wird in Teil IV der Versuch unternommen, bei der Bewertung möglicher Enhancements aus anthropologischer Perspektive ein – zumindest minimales – allgemeines und tragfähiges Fundament zu entwickeln.
8.2. Einschätzung der dynamischen Minimaldefinition
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moralische Intuitionen und Konnotationen, die mit vermeintlich klaren Begriffen in Verbindung gebracht werden, problematisch sind, wenn sie als kaum revisionsfähige Vorannahmen in den Begriff eingeführt sind. Die Grenzen zwischen moralisch erlaubt und moralisch fragwürdig, zwischen Therapie und Enhancement sowie zwischen mehr oder weniger natürlichen Eingriffen verlaufen unabhngig voneinander. Wer in der Hoffnung auf Klarheit dafür argumentiert, Therapie sei natürlich und moralisch erlaubt, Enhancement dagegen gegen die Natur und daher moralisch nicht erlaubt, macht es sich zu einfach. Wie es moralisch äußerst fragwürdige natürliche Therapien geben kann, besteht auch die Möglichkeit der Existenz unnatürlicher, gleichwohl aber moralisch erlaubter oder sogar gebotener Enhancements. Es bleibt festzuhalten, dass man sich wohl damit abfinden muss, dass der Begriff Enhancement umstritten ist und dass keine vollständig trennscharfe Definition zur Verfügung steht. Der Begriff allein vermag es ohne empirisch informierte Zusatzannahmen nicht, den Gegenstandsbereich der bioethischen Debatte angemessen zu bestimmen. Dazu ist es nötig, die oben genannten beiden zusätzlichen Bestimmungen explizit und kontextsensitiv einnzuführen: (a) die Anwendung näher zu spezifizierender biotechnologischer Mittel und (b) die weit reichenden Auswirkungen der Eingriffe. Die „dynamische Minimaldefinition“, die zumindest die impliziten normativen Vorurteile und Vorentscheidungen vermeidet, erscheint mir im Zusammenhang einer Diskussion der moralischen Legitimität von Enhancements dennoch allen anderen Begriffsbestimmungen als Ausgangspunkt für weitere Diskussionen deutlich überlegen, auch wenn sie mit der Suspendierung grundlegender Intuitionen einen hohen Preis zahlt. Eindeutige Orientierung ist in diesem begrifflichen Feld jedoch derzeit nicht zu haben. Die Auseinandersetzung mit sperrigen Begriffen und das Bemühen um Klärung kann aber auch dann wertvolle Einsichten zutage fördern, wenn keine abschließende Lösung gefunden wird. Damit soll genug über den Begriff Enhancement und seine mögliche Definition gesagt sein. Schließlich ist das Problem Enhancement nicht primär begrifflicher Natur, sondern ein konkretes Problem menschlicher Handlungen, über das wir zwar möglichst angemessen reden können müssen, dessen Lösung aber nicht in der begrifflichen Dimension zu finden sein wird. Im folgenden, dritten Teil werde ich einen Überblick über die aktuelle Debatte zur moralischen Legitimität biotechnologischer Enhancements geben. Dabei werde ich vor allem die Gefahr von Einseitigkeiten in der Argumentation hervorheben (wie sie nicht zuletzt durch einen
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8. Eine dynamische Minimaldefinition von Enhancement
unklaren und voraussetzungsreichen Gebrauch der im zweiten Teil untersuchten zentralen Begriffe gefördert wird) und auf die Notwendigkeit einer umfassenden Verständigung hinweisen, die über die partikularen Positionen hinausgeht und eine grundsätzliche Verständigung über den Begriff des „Menschen“ einfordert. Nur so ist eine angemessene Grundlage für anthropologisch begründete normative Bewertungen von Enhancements überhaupt möglich.
III. Eine integrative Kritik der Enhancementdebatte
Vorbemerkung Neue Handlungsmöglichkeiten rufen häufig alte Fronten auf den Plan. So lässt sich auch anhand der gegenwärtigen Diskussion über die moralische Legitimität des Einsatzes von Enhancement-Techniken eine klassische Dreiteilung von Positionen erkennen, wie sie aus anderen (bio-) ethischen Debatten über die Anwendung neuer Technologien vertraut ist. Auf der einen Seite stehen die fortschrittsoptimistischen Befürworter neuer Technologien, die Chancen sehen und Verheißungen verkünden. Ihnen gegenüber stehen die Skeptiker, die Gefahren mit den neuen Möglichkeiten heraufdämmern sehen und mit warnender Stimme zu besonderer Vorsicht im Umgang mit den neuen Möglichkeiten aufrufen oder gar vollständige Abstinenz fordern. Dazwischen stehen diejenigen, die konkret Chancen und Risiken kritisch diskutieren wollen und prinzipiell sowohl für eine positive wie für eine negative Einschätzung offen sind. Zwischen den Positionen entspinnt sich ein Disput. In diesem dritten Teil der Arbeit werde ich exemplarisch drei Positionen der Enhancement-Debatte diskutieren, die das breite Spektrum möglicher Positionen vorstellen. Ich mache kritisch darauf aufmerksam, welche Argumentationsstrategien bemüht werden, welche impliziten Vorannahmen und Vorurteile bestehen und wie diese die Ergebnisse der Argumentationen beeinflussen. Mein besonderes Interesse gilt dabei immer der anthropologischen Dimension der Debatte. Zunächst wende ich mich (Kapitel 9) Vertretern einer pro-Enhancement-Position zu, um die Herausforderungen und Verheißungen der neuen Handlungsoptionen pointiert vorzustellen. In Reinform wird diese Position von den so genannten „Transhumanisten“ vertreten. Dem gegenübergestellt wird (Kapitel 10) die „biokonservative“ Position, exemplarisch veranschaulicht durch die Schriften des US-amerikanischen President’s Council on Bioethics und seiner Mitarbeiter. Als Vertreter einer dazwischen liegenden (Kapitel 11) moderaten und ergebnisoffen abwägenden Position soll die Studie „Intervening in the Brain“ herangezogen werden. Es ist kein Geheimnis, dass die Debattanden in ethischen Diskussionen häufig wenig „beweglich“ sind. Eine substantielle Revision eines Urteils in bioethischen Debatten findet selten statt. Vielmehr geht es
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Vorbemerkung
oftmals darum, Argumente für ein schon vorab feststehendes moralisches Urteil zu finden.1 Befestigt meine exemplarisch pointierte, teilweise wohl auch ein wenig überspitzte Darstellung nicht vielleicht diese Frontstellungen zwischen Progressiven und Konservativen, anstatt einen ergebnisoffenen Dialog zu ermöglichen? Das Ziel meiner pointierten Gegenüberstellung ist es nicht, bestehende „Fronten“ zu verhärten. Stattdessen sollen die jeweiligen Anhänger der vorgestellten Positionen zu Widerspruch und zusätzlichen Klärungen aufgefordert werden, gerade wenn eine pointierte Darstellung ihnen unzutreffend erscheinen mag. Es ist wichtig anzuerkennen, dass auch innerhalb der vermeintlich feststehenden Blöcke Diskussionsbedarf besteht, wodurch einer exemplarischen Darstellung nur eine wichtige Orientierungsfunktion, nicht aber eine adäquate Abbildungsfunktion der Wirklichkeit zugestanden wird. Nach der kritischen Übersicht über die Debatte argumentiere ich dafür (Kapitel 12), dass mit der einseitigen Überbetonung jeder einzelnen der drei exemplarisch vorgestellten Argumentationsweisen problematische Entwicklungen der Gegenwart zum Ausdruck kommen. Sie erschweren eine angemessene ethische Diskussion der möglichen Veränderungen von Menschen mit biotechnologischen Mitteln, weil jeweils ein zu enges Verständnis davon zugrundegelegt wird, wie der biotechnologisch zu verbessernde Mensch zu bestimmen sei. Ich identifiziere – mit Nida-Rümelin (2008b) – drei problematische Grundtendenzen, die einer umfassenden (humanistischen) Bestimmung des Menschen entgegenstehen können: naturalistische, fundamentalistische und ökonomistische Einseitigkeiten, die sich auch in den zuvor dargestellten Debatten über Human Enhancement erkennen lassen. Bei einer einseitigen Betrachtung des ethischen Problems lässt sich keine angemessene Lösung entwickeln. Da jedoch alle Positionen – trotz der Kritik, die an ihnen geübt werden muss – wichtige und überzeugende Einsichten vertreten, besteht die Alternative zu den Einseitigkeiten in einem integrativen Ansatz. Meinen Vorschlag dazu entwickle ich im abschließenden Teil IV vorliegender Arbeit.
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Vgl. dazu Haidt 2001 und Heilinger/Keller 2010.
9. Hoffnungen und Verheißungen Die vehementesten Befürworter auch weit reichender Verbesserungen des Menschen sind die sogenannten „Transhumanisten“, die sich in einer „World Transhumanist Association“ und anderen Vereinigungen organisiert haben. Im Folgenden diskutiere ich neuere Texte, die in theoretischer Absicht das argumentative Fundament für weit reichende Verbesserungen des Menschen zu legen versuchen. Ich werde (9.1.) die transhumanistische „Bewegung“ („movement“) vorstellen, (9.2.) ihre Bedeutung für die ethischen und anthropologischen Fragen diskutieren und schließlich (9.3.) eine Bewertung vornehmen.
9.1. Transhumanisten und andere Befürworter weit reichender Enhancements Prima facie-Argumente für den Einsatz von biotechnologischen Enhancern sind leicht zu finden, so leicht, dass sie selbst häufig keine theoretische Diskussion hervorrufen (Bostrom 2003a, 498): Dass es grundsätzlich gut ist, Leid und Krankheit zu vermeiden, Gesundheit und Wohlbefinden zu fördern und Ungerechtigkeiten zu beseitigen, kann als Konsens weitgehend vorausgesetzt werden. Aus diesen grundsätzlich zustimmungsfähigen Forderungen versuchen die Befürworter von biotechnologischen Interventionen die moralische Legitimität von unterschiedlichen Enhancements abzuleiten. Im Folgenden betrachte ich extreme Befürworter der neuen Interventionsmöglichkeiten. Diese Beschränkung auf die sogenannten „Transhumanisten“2 erlaubt, an dieser Stelle in besonders deutlicher Form die Argumente der Befürworter zu untersuchen. 2
Der Terminus Transhumanismus wurde populär durch den „futurist FM-2030 (also known as F. M. Estfandiary), who introduced it as shorthand for ,transitional human“ (Bostrom 2003b, 7). Diese Redeweise zeigt deutlich den Einfluss der Science Fiction-Literatur, wie er für einige Transhumanisten typisch ist. – Zuerst nachgewiesen ist der Begriff bei Julian Huxley, der eine Verbindung zwischen Evolutionstheorie und Humanismus versuchte (Huxley 1957).
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9. Hoffnungen und Verheißungen
Unter „Transhumanismus“ lässt sich ein „loosely defined movement“ (Bostrom 2003a, 493) verstehen, das sich in den letzten ca. 25 Jahren entwickelt hat. Unter dem Dach der „World Transhumanist Association“ – im Jahr 2008 umbenannt in „Humanity+“ – verfügt es über akademische Anbindungen, unterhält Mitgliederlisten, veranstaltet regelmäßig Konferenzen, unterhält wissenschaftliche Publikationsorgane (unter anderem das Journal for Evolution and Technology) und ist im Internet vertreten (zum Beispiel http://www.humanityplus.org). Mitglieder sind neben zahlreichen Privatpersonen vor allem Wissenschaftler, oftmals von angesehenen Forschungseinrichtungen. Damit tritt die transhumanistische Bewegung wie eine etablierte wissenschaftliche Forschungsrichtung auf. Tatsächlich ist es ein Ziel des Transhumanismus, auch weitreichende Interventionen in den menschlichen Organismus als legitimen Gegenstand wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Debatten einzuführen. In einer solchen Debatte argumentieren die Transhumanisten dann für die Chance einer nachhaltigen Verbesserung der menschlichen Lebensform durch den Einsatz neuer Technologien. James Hughes, ein einflussreicher Transhumanist – und ehemaliger Direktor der „World Transhumanist Association“ – bestimmt die „coalition“ der Transhumanisten inhaltlich dadurch, dass Transhumanisten extend the liberal democratic humanist tradition to a defense of our right to control our own bodies and minds, even if our choices make us something other than ,human‘. Transhumanists believe liberal democracy can and must accomodate the ,posthumans‘ that will be created by genetic and cybernetic technologies. (Hughes 2004, XV)
Auf den Punkt gebracht ist der Transhumanismus für ihn „the idea of using reason to transcend the limitations of the human condition.“ (Hughes 2004, 155). Dennoch bestehen Bedenken, ob sich eine philosophische Auseinandersetzung mit den „Transhumanisten“ aus theoretischen Interessen rechtfertigen lässt. Verbergen sich ernstzunehmende Reflexionen hinter den, wie leicht gesehen werden kann, teilweise überzogenen, geradezu megalomanen Verheißungen? Mir erscheint – trotz der kritischen Einschätzung, die ich im Folgenden entwickeln werde – eine Auseinandersetzung mit den Transhumanisten unverzichtbar und aufschlussreich. Zum einen stellen sie einen wichtigen Exponenten der aktuellen Diskussion dar. Zum anderen ist ihre anthropologische Konzeption bemerkenswert: Die Transhumanisten betrachten den Menschen als ein Wesen, das über keine unverrückbaren Eigenschaften verfügt, sondern
9.1. Befürworter weit reichender Enhancements
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das sich der Aufgabe gegenüber sieht, seine Lebensform selbst zu wählen und zu gestalten. Die Ausgangsthese der Transhumanisten ist, dass Menschen beständig werden und gewissermaßen niemals fertig sind. Damit knüpfen sie in der Gegenwart an eine lange Tradition an (vgl. zur Vorgeschichte transhumanistischen Denkens etwa Bostrom 2005; Miah 2008). Sich exemplarisch auf diese Gedanken einzulassen, denen die starke anthropologische These von der beständigen Veränderung der menschlichen Lebensform zugrunde liegt, ist für das Nachdenken über Menschen selbst dann ein Gewinn, wenn man nicht bereit sein sollte, sich an der Umsetzung der transhumanistischen Verheißungen in die Praxis zu beteiligen. Der Oxforder Philosoph Nick Bostrom, einer der führenden Denker innerhalb der „Bewegung“, beschreibt den Transhumanismus wie folgt: It promotes an interdisciplinary approach to understanding and evaluating the opportunities for enhancing the human condition and the human organism opened up by the advancement of technology. Attention is given to both present technologies, like genetic engineering and information technology, and anticipated future ones, such as molecular nanotechnology and artificial intelligence. (Bostrom 2003a, 439)
Bostrom argumentiert – wie viele Transhumanisten – keineswegs dafür, jede technische Möglichkeit sofort umzusetzen, sondern stellt zunächst das „understanding and evaluating“ von Verbesserungsmöglichkeiten als Ziel der „Bewegung“ in den Vordergrund. Allerdings erwartet Bostrom von dem interdisziplinären Ansatz überwiegend positive Evaluationen potentieller Interventionen. Die entscheidenden Bereiche, in denen aus Sicht des Transhumanismus tatsächliche Verbesserungsmöglichkeiten bestehen, umfassen eine Verlängerung der gesunden Lebensspanne, das Auslöschen von Krankheiten, das Vermeiden von unnötigem menschlichen Leiden sowie die Steigerung der intellektuellen, physischen und emotionalen Fähigkeiten von Menschen.3 Darüber hinaus – dieses Zugeständnis an die eher Science-Fiction-orientierten Mitglieder der „Bewegung“ macht Bostrom – spielen auch Fragen der „space colonization and the possibility of creating superintelligent machines, along with other potential developments that could profoundly alter the human condition“ (ebd.) eine Rolle im Transhumanismus. An anderer Stelle definiert Bostrom den Transhumanismus folgendermaßen: 3
Vgl. meine Auflistung der Ziele biotechnologischer Enhancements in Kapitel 3.2.
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9. Hoffnungen und Verheißungen
(1) The intellectual and cultural movement that affirms the possibility and desirability of fundamentally improving the human condition through applied reason, especially by developing and making widely available technologies to eliminate aging and to greatly enhance human intellectual, physical, and psychological capacities. (2) The study of ramifications, promises, and potential dangers of technologies that will enable us to overcome fundamental human limitations, and the related study of the ethical matters involved in developing and using such technologies. (Bostrom 2003b, 4)
Hier unterscheidet Bostrom innerhalb des Transhumanismus eine breitere, intellektuelle und öffentliche Strömung von der engeren wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Verbesserung von Menschen sowie ihrer (ethischen, politischen und sozialen) Bewertung. Der Begriff „transhuman“ und die Selbstbezeichnung als „Transhumanisten“ ist bemerkenswert: Warum ist überhaupt von „trans-humanistischen“ und „trans-humanen“ Eigenschaften die Rede? Und in welchem Verhältnis stehen diese zu „post-humanistischen“/„post-humanen“ Eigenschaften (wie die angestrebten Veränderungen bisweilen auch bezeichnet werden, vgl. Bostrom 2008), aber auch zu „humanistischen“/„humanen“ Eigenschaften? Posthuman bezeichnet die Vorstellung von „possible future beings whose basic capacities radically exceed those of present humans as to be no longer unambiguously human by our current standards“ (Bostrom 2003b, 5). Damit wird ein Entwicklungsziel vorgegeben und ein Ideal eingeführt, das eine qualitativ und nicht mehr bloß hinsichtlich einzelner Eigenschaften und Fähigkeiten quantitativ von uns heute lebenden Menschen unterscheidbare posthumane Lebensform umfasst. Eine genaue Beschreibung der posthumanen Eigenschaften ist jedoch aufgrund der Unvorhersehbarkeit der möglichen Entwicklungen und aufgrund der Vielfältigkeit möglicher Realisierungen bestimmter Eigenschaften unmöglich. Konkret bedeutet das, dass weder klar ist, welche Eigenschaften genau posthumane Wesen kennzeichnen – sind sie super-intelligent? super-emotional? unsterblich? –, noch, auf welche Art und Weise diese physisch realisiert werden – aufgrund von Schnittstellen zwischen biologischen und technischen Komponenten? durch vollständig synthetische „Organismen“, auf die mentale Eigenschaften „hochgeladen“ werden? Den Spekulationen sind hierbei keine Grenzen gesetzt. Wichtiger als dieser entfernte Endpunkt eines posthumanen Stadiums ist jedoch auch für die Transhumanisten das erreichbare und bevorstehende
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Zwischenstadium: „an intermediary form between the human and the posthuman“ (Bostrom 2003b, 6). Hierunter würden etwa die signifikant bessere organismische Leistungsfähigkeit, eine deutlich verlängerte Lebensspanne und qualitativ überlegene kognitive Fähigkeiten gehören, ohne jedoch damit gleich eine ganz neue Lebensform etabliert zu haben. Doch in jeder Beschreibung einer solchen Steigerung klingt vor allem die Kontinuität zu den schon bestehenden Verhältnissen durch: Schon jetzt kennen wir Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten – was z. B. ihr Gedächtnis oder die physische Leistungsfähigkeit betrifft – und schon jetzt werden einige Menschen sehr alt. Offenkundig gelingt es den Menschen seit langer Zeit, immer neue relative Höchstleistungen zu erbringen: Menschen werden durchschnittlich deutlich älter als vor einhundert Jahren; die aktuellen Anforderungen im Leistungssport würden heute keinen Athleten des frühen 20. Jahrhunderts für die Teilnahme an den Olympischen Spielen qualifizieren etc. Daher kann gefragt werden, ob nicht – wenn man überhaupt an dieser Terminologie festhalten möchte – das gegenwärtige Entwicklungsstadium der Menschheit schon lange als transhuman bezeichnet werden sollte. Die zahlreichen schon jetzt möglichen Eingriffe in den menschlichen Organismus und seine Umwelt (also neben medizinischen Interventionen beispielsweise auch Verbesserungen der Hygienestandards) könnten ebenso wie die schon lange praktizierten Trainings- und Ausbildungsprogramme Anlass zu dieser Vermutung geben, weil sie alle die menschliche Lebensform über ein jeweils geltendes Maß zu „steigern“ scheinen. Transhumanisten sind jedoch üblicherweise nicht der Ansicht, ihrerseits schon transhuman zu sein – sie halten sich selbst noch für human –, sondern sind Vertreter und Fürsprecher solcher Interventionen, deren Ziel das Erreichen des trans- und schließlich des posthumanen Stadiums ist. Offenkundig ist diese Terminologie – trotz Bostroms Bemühen um Definitionen – unscharf. Die allgemeine Ausrichtung der Bewegung auf ein optimistisch als positiv bewertetes Ideal wird dennoch deutlich. Mit der Unterscheidung zwischen trans- und posthumanen Lebensformen wird eine relevante Differenzierung eingeführt: Der transitorische Übergang zu einem „höheren“ Entwicklungsstadium, der gleichwohl noch zu einer Aktivität der humanen Lebensform zu zählen ist, wird damit vom Erreichen eines Entwicklungsstadiums unterschieden, das die menschliche Lebensform hinter sich gelassen hat. Gemeinsam lassen sich die Transhumanisten also auf die Überzeugung verpflichten, dass „the human species in its current form does not represent the end of our development but rather a comparatively early phase“ (Bostrom
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9. Hoffnungen und Verheißungen
2003b, 4). Diese These drängt dazu, eine Verständigung darüber herbeizuführen, ob es etwas Gemeinsames, genuin Menschliches gibt, was in den vergangenen Entwicklungsstufen des Menschen durchgehalten wurde. Damit wird dann auch die Frage aufgeworfen, wie mit diesem „Menschlichen“ angesichts möglicher zukünftiger Veränderungen umgegangen werden soll (vgl. Teil IV). Die These, dass die Evolution von Menschen in ihrem gegenwärtigen Stadium nicht abgeschlossen ist, ist trivial. Evolutionäre Prozesse werden nicht angehalten. Die relative Stabilität der Arten allgemein – wie die des Menschen im Besonderen – zeigt sich nur vor dem Hintergrund eines engen Zeitrahmens. Doch auch gegenwärtig finden evolutionäre Prozesse statt, vielleicht sogar in beschleunigter Form gegenüber früheren Phasen (Hawks et al. 2007). Über diese These allein lassen sich die Transhumanisten somit nicht kennzeichnen. Vielmehr haben sie auf der Grundlage ihrer anthropologischen Ansichten eine normative These aufgestellt, indem sie betonen, dass die zur Verfügung stehenden Mittel gezielt genutzt werden sollen, um die kontinuierlich ablaufenden evolutionären Prozesse nach unseren Vorstellungen zu beeinflussen und zu lenken. Das Selbstverständnis der Transhumanisten geht damit (zumeist implizit, oft aber auch explizit) von einer tendenziell negativen Einschätzung der Gegenwart aus. Diese wird als Beengung erfahren, die den Menschen hinsichtlich der ihm grundsätzlich zur Verfügung stehenden Möglichkeiten beschneidet. Plastisch führt Bostrom die Verheißungen aus, vor deren Hintergrund die gegenwärtigen Beschränkungen umso drastischer hervortreten: We can conceive of aesthetic and contemplative pleasures whose blissfulness vastly exceeds what any human being has yet experienced. We can imagine beings that reach much greater levels of personal development and maturity than current human beings do […]. We can conceive of beings that are much smarter than us, that can read books in seconds, that are much more brilliant philosophers than we are, that can create artworks, which, even if we could understand them only on the most superficial level, would strike us as wonderful masterpieces. We can imagine love that is stronger, purer, and more secure than any human being has yet harbored. Our everyday intuitions about values are constrained by the narrowness of our experience and the limitations of our powers of imaginiation. (Bostrom 2003a, 494 f.)
Die gegenwärtige Begrenzung auf einen lediglich „minute subspace of what is possible or permitted by the physical constraints of the universe“ angesichts einer als überwältigend vorgestellten möglichen Erfahrungs-
9.1. Befürworter weit reichender Enhancements
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welt bedrückt die Transhumanisten so sehr, dass sie mit biotechnologischen Mitteln zur Realisierung ihrer Träume schreiten wollen.4 Insgesamt stellt sich zudem die Frage, ob mit den von den Transhumanisten propagierten Veränderungen individuelle oder die Gattung betreffende Entwicklungen gemeint sind; ob also auch ein einzelnes Individuum in die Lage versetzt werden kann, das posthumane Stadium zu erreichen, während der Rest der Menschheit noch im Stadium der transhumanen oder humanen Lebensform verharrt. Oder ist zum Erreichen des transhumanen Stadiums eine Veränderung der gesamten Menschheit oder zumindest eines signifikanten Teils derselben erforderlich? Diese Frage ist allerdings reichlich konkret und verfehlt damit die anregenden Denkanstöße, die von den Transhumanisten gegeben werden können. Meines Erachtens müssen die Termini Trans- und Posthumanismus funktional gedeutet werden, wenn man ihnen etwas abgewinnen will. Damit meine ich, dass sie weniger in der Absicht gebraucht werden, präzise neue Taxa zur Klassifikation der Wirklichkeit einzuführen, sondern dass sie in anderer Absicht gebraucht werden: Bei den Begriffen handelt es sich um Ideale, die als vage, idealisierte Zielpunkte möglicher Interventionen eine orientierungsleitende Funktion übernehmen sollen. Sie verkörpern diejenigen Eigenschaften in Idealform, die in der gegenwärtigen condition humaine unvollkommen und als leidverursachend erfahren werden. Die Überwindung dieser menschlichen Eigenschaften wird mit der Chiffre des posthumanen oder zumindest des transhumanen Ideals belegt. Nüchtern betrachtet handelt es sich dabei um 4
Aus einer verwandten Argumentationslinie, die aus dem Vorliegen ungerechter Umstände in der Gegenwart den Einsatz biotechnologischer Interventionen zur Verbesserung individueller Ausgangssituationen in der „natural lottery“ rechtfertigen möchte, können die Transhumanisten ebenfalls legitimatorische Argumente gewinnen. Buchanan et al. 2001 plädieren aus Gerechtigkeitsüberlegungen dafür, Human Enhancement zu betreiben: Um bestehende, nicht selbst herbeigeführte Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zwischen Menschen zu kompensieren, dürfe man zu enhancenden Maßnahmen greifen, die auch zu einer über das „normale Maß“ hinausgehenden Verbesserung der Individuen führen dürfe. Selbst wenn mit diesem kompensatorischen Anliegen ein gänzlich anderes als das von den Transhumanisten explizierte Ziel verfolgt wird, lassen sich transhumanistische Bemühungen auch mit Blick auf die mögliche Aufhebung von Ungerechtigkeiten legitimieren. Eine ähnliche Strategie zur moralischen Legitimation von Enhancements versucht Savulescu: „Fairness and justice require enhancement. […] It is within our power to use technology and enhancement to bring about a more just society, where everyone has a fair go.“ (Savulescu 2006, 336).
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9. Hoffnungen und Verheißungen
eine moderne säkulare Beschreibung eines Idealtypus der menschlichen Lebensform, die – im posthumanen Fall – derartig idealisiert ist, dass sie als von der menschlichen Lebensform qualitativ verschieden konzipiert wird. Personen und Positionen: Wer aber sind „die Transhumanisten“ und wofür argumentieren sie konkret? Das „loosely defined movement“5 ist eine Verbindung von Vertretern aller möglichen Disziplinen und verschiedener soziokultureller Hintergründe. Im Folgenden soll das breite Spektrum exemplarisch veranschaulicht werden. Neben Nick Bostrom, der als einer der führenden intellektuellen Vertreter der Bewegung gelten darf und daher in meiner Darstellung eine prominente Rolle eingenommen hat, profilieren sich weitere Philosophen in den theoretischen Debatten. Insbesondere John Harris – aber auch Julian Savulescu – zählen zu denjenigen, die auf hohem argumentativen Niveau die moralische Legitimität und gesellschaftliche Notwendigkeit (oder zumindest die positiven gesellschaftlichen Auswirkungen) von Enhancements zu belegen versuchen und dabei auch die Nähe zur transhumanistischen Bewegung nicht scheuen. John Harris etwa argumentiert vehement dafür, die zur Verfügung stehenden Mittel zur Verbesserung der conditio humana zu nutzen. Dass Harris glaubt, die technischen Interventionen ließen sich allgemein in einem positiven Sinn einsetzen und dass auch nachhaltige Änderungen der gegenwärtig normalen humanen Lebensform erlaubt seien, rechtfertigt meine Entscheidung, ihn bei einer Übersicht über die aktuelle Enhancement-Debatte in die Nähe der Transhumanisten zu rücken, auch wenn er sich selbst nicht so bezeichnen würde.6 Für ihn besteht sogar eine moralische Pflicht, die Biotechnologien in den Dienst der Menschen zu stellen. Dabei sollen nicht nur Individuen und Gesellschaften verbessert werden, auch die Evolution selbst soll „enhanced“ werden. Dieser Vorschlag – der sich auch prominent im Titel seines Buches Enhancing Evolution findet – ist allerdings problematisch. Dass Evolution ein blinder 5
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Umfassend dargestellt und theoretisch zusammengeführt werden die heterogenen Vertreter allenfalls unter dem Mantel der World Transhumanist Association (WTA) – seit 2008 unter dem Namen „humanity+“, einer „non-profit democratic membership organization“ (Bostrom 2003b, 5), die aber aufgrund des Zusammengehens von wenig ernstzunehmenden Technik-Euphorisierten mit seriösen Denkern und Wissenschaftlern umstritten ist. Harris teilt viele Ziele mit den Transhumanisten, identifiziert sich aber nicht mit ihrem „Programm“, vgl. Harris 2007, 38 – 39.
9.1. Befürworter weit reichender Enhancements
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und zielloser Prozess ist, auch wenn er im Ergebnis zu einer guten Anpassung führt, ist die Standardauffassung in der Evolutionsbiologie (Mayr 1976 und Mayr 2001): „Die Evolution geht ziemlich langsam nirgendwo hin.“7 Eine Verbesserung der Evolution läge also in der Überführung dieses blinden und ziellosen Prozesses in einen zielgerichteten. Damit würde allerdings der Begriff Evolution über die Maßen strapaziert werden, schließlich ist sie gerade dadurch gekennzeichnet, dass in ihr keine intentional Zwecke setzende Instanz wirksam ist (Ruse 2003). Eine solche „Verbesserung“ der Evolution würde also darin bestehen müssen, die Evolution als blinden Prozess abzuschaffen und durch (menschliches) Planhandeln zu ersetzen. Genau dafür spricht Harris sich aus, wenn er die Anwendung der vielfältigen biotechnologischen Interventionsmöglichkeiten als moralische Pflicht ansieht, selbst wenn sie in Bereiche vorstoßen, die zuvor nur durch evolutionäre Prozesse Veränderungen erfahren haben. Zur Stützung dieser Forderung bemüht Harris suggestive Analogien: Wenn wir Brillen benutzen, stellten wir schon Enhancements in den Dienst unserer Zwecke und sollten daher legitimerweise auch andere Mittel zu ebendenselben Zwecken einsetzen dürfen. Impfungen etwa seien schon jetzt eine verbreitete Form biologischen Enhancements; wenn auch auf genetischem Wege Immunität gegen HIV, Krebs etc. erlangt werden könne, wäre es ebenso geboten, diese Mittel wie gewöhnliche Impfungen anzuwenden. Wir seien außerdem bereit, unsere Verpflichtung anzuerkennen, gefährdetes Leben zu retten. Warum sollten wir also gegen altersbedingte Todesursachen nicht ebenso eifrig vorgehen wie wir uns um die Vermeidung von Autounfällen o. ä. bemühen? Wenn mit verbessernden Eingriffen in die Evolution in dieser Richtung ein Beitrag geleistet werden könne, haben wir nach Harris die moralische Pflicht, diese anzuwenden. Damit dreht Harris die Beweislast geradezu um: Da es sich bei den genannten Beispielen um Verbesserungen handelt, müssen allenfalls Gründe dafür geliefert werden, warum bestimmte Verbesserungen Menschen vorenthalten werden sollten. Diese suggestiven Beispiele beruhen darauf, dass Harris die genannten Techniken als Enhancements nur positiv versteht: „In terms of human functioning, an enhancement is by definition an improvement on what went before. If it wasn’t good for you, it wouldn’t be enhancement.“ 7
So Michael Ruse (zitiert nach Voland 2007, 110).
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(Harris 2007, 9).8 Damit trifft Harris eine wertende Vorentscheidung, die sich zwar auf die Wortbedeutung stützt, aber die tatsächlich nötige Verständigung über eine angemessene Bewertung der betreffenden Techniken überspringt. Weiter argumentiert er, dass die Möglichkeit zu Missbrauch nicht im Vorfeld dazu führen dürfe, eine Technik insgesamt zu diskreditieren. Bei zahlreichen anderen gebotenen oder legitimen Interventionen bestehe schließlich ein ebensolches Missbrauchspotential: It is important to be clear that when we call something an ,enhancement‘ or an ,enhancing‘ technology or therapy we are not saying that is [sic!] always its effect, any more than when we call something an ,analgesic‘ we imply that it will in every case and every dose reduce pain or that ,stimulants‘ will always stimulate or that ,carers‘ always care or ,healers‘ always heal. There is no sensible way in which we must take the possibility of misuse into account before determining that something is an enhancement. (Harris 2007, 13)
Wenn also etwas das menschliche Leben tatsächlich verbessert, haben wir nach Harris grundsätzlich die Pflicht, es auch anzuwenden. Wenn damit die Evolution oder die aktuelle menschliche Lebensform verändert werden sollte, wäre das für ihn solange kein Problem, wie die Veränderungen mit gutem Grund als Verbesserung bezeichnet werden können. Genau hier liegt aber ein nicht hinreichend diskutiertes Problem vor, über das sich ein Streit entspinnt: Harris’ Aussage, als Verbesserungen seien Enhancements immer moralisch erlaubt oder teilweise sogar geboten, setzt einen Konsens darüber voraus, was als Verbesserung zählt (s. dazu auch Teil II.). Bestünde dieser Konsens, so wäre seine Aussage analytisch wahr: Eindeutige Verbesserungen sind gut, damit moralisch erlaubt oder geboten. Doch genau hierüber herrscht Uneinigkeit. Neben den hier vorrangig interessierenden Philosophen spielen auch die Naturwissenschaftler unter den Transhumanisten eine wichtige Rolle, da von ihrer Seite die Verheißungen einer Verbesserung der 8
Hauskeller hat gezeigt, wie mit solchen thetischen Aussagen auch Transhumanisten (im weiteren Sinne) an einen natürlichen Standard appellieren, der das „well-being“ von menschlichen Individuen betrifft. Da die spezifisch menschliche Form von „well-being“ – trotz individueller Varianz – grundsätzlich nicht mit dem anderer Lebewesen (etwa von Hühnern) vergleichbar sei, erkennt Hauskeller auch in transhumanistischen Argumenten einen Bezug auf die „menschliche Natur“. Auch Befürworter von Enhancements „constantly rely on some implicit understanding of human nature to give sense to the idea of human flourishing and the claim that we have a moral duty to promote it. It might be a different understanding of human nature but it is as value-laden and normative as that of their opponents.“ (vgl. Hauskeller 2009, 18).
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condition humaine vermeintlich besonders kompetent veranschaulicht werden können: Schließlich sind es gerade die Biotechnologen und Informationswissenschaftler, die konkret die Mittel an die Hand geben, mithilfe derer die Verbesserungen erreicht werden sollen. So zeigt beispielsweise Ramez Naam enthusiastisch die neuen Entwicklungsmöglichkeiten und Anwendungen auf und stellt sie in die Tradition des menschlichen „drive to alter and improve on ourselves“, der „far from being unnatural […] a fundamental part of who we humans are“ darstelle (Naam 2005, 9). Ausführlich und anschaulich berichtet er von den Fortschritten der Forschung und davon, wie sich diese zu Verbesserungen der menschlichen Lebensform einsetzen lassen. Weil Naam kaum einen Gedanken auf eine kritische Reflexion der von ihm geschilderten Szenarios verwendet, steht er exemplarisch für die naive Fortschrittsgläubigkeit einiger naturwissenschaftlich geschulter Transhumanisten. Die Studie More than Human. Embracing the promise of biological enhancement überzeugt daher vor allem aufgrund der eindrucksvollen Schilderungen biotechnologischer Möglichkeiten und weniger aufgrund der ethischen Reflexionen. Damit wiederum ist Naams Buch eher als Streitschrift zu verstehen, die – in Frontstellung zu den Texten des President’s Council on Bioethics oder von Francis Fukuyama (vgl. dazu Kapitel 10) – einseitig eine Position stipuliert, ohne sich auf eine Auseinandersetzung einzulassen. Auch Soziologen und Gesellschaftstheoretiker preisen die Verbesserungen, die durch den Einsatz der neuen Mittel für die Gesellschaft erfolgen könnten. Gregory Stock hat einen Vorschlag unterbreitet, wie die geregelte Anwendung der Biotechnologien zwischen einem Bann und einer völlig freien Verfügung nach individuellem Gutdünken oder nach Marktgesetzen aussehen könnte (Stock 2002). Seiner Einschätzung nach werden auch die neuen Technologien in relativ überschaubaren und reversiblen Schritten eingeführt, so dass keineswegs plötzlich mit einer katastrophal unkontrollierbaren und völlig neuartigen Situation zu rechnen sei. Daher sei vor allem eine Auseinandersetzung mit ganz konkreten Einzelfallproblemem nötig, die sich – so die These seines Buches Redesigning Humans. Our inevitable genetic future – unvermeidlich einstellen werden.9 Die Arbeit von Menschen an sich selbst, auch wenn sie dazu führt, dass sie sich selbst neu gestalten, ist für Stock der höchste Ausdruck der spezifisch menschlichen Lebensform. Aus einer soziologischen Perspektive wendet sich James Hughes einer Beurteilung möglicher Enhancements zu (Hughes 2004) und vertritt eine 9
Zur Unvermeidlichkeitsthese vgl. auch Baylis/Robert 2004.
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9. Hoffnungen und Verheißungen
ähnliche Position wie Stock. Er argumentiert für einen „democratic transhumanism“, indem die üblichen demokratischen Verständigungsprozesse auch zur Regelung des Umgangs mit möglicherweise weit reichenden Enhancements herangezogen werden sollen. Aus einer wertepluralistischen Perspektive möchte Hughes es daher in den meisten Fällen den Individuen selbst überlassen, die Mittel zu wählen, die ihnen zum Erreichen der von ihnen selbst als positiv bewerteten Zwecke adäquat erscheinen. In der Absicht, gerechtere Verhältnisse herzustellen, argumentiert er zudem dafür, dass mithilfe von Enhancements auch Umverteilungen und das Aufheben von gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten befördert werden könnten. Damit komme dem Staat eine wichtige Aufgabe bei der Regelung der Zugänge zu Enhancements zu. So kombiniert Hughes den Transhumanismus mit sozialen und demokratischen Vorstellungen: Bei Wahrung der individuellen Freiheit solle der Staat dennoch Ungleichheiten bekämpfen und Individuen davon abhalten, selbst- und fremdschädigende Fehlentscheidungen zu fällen. Als Soziologe sucht er nach der Ursache von Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten zwischen den Menschen in einem Gefüge aus gesellschaftlichen und biologischen Gründen. Da auch die biologischen Ungleichheiten eine entscheidende kausale Rolle im gesellschaftlichen Gefüge spielen, weist er den biotechnologischen Enhancements eine wichtige kompensatorische Funktion zu. Mit scharfer Kritik gegenüber den Biokonservativen schreibt er: „Contrary to the vacuous assertions of Francis Fukuyama and Bill McKibben that we are all biological equals, a lot of social inequality is built on a biological foundation, and enhancement technology makes it possible to redress that source of inequality.“ (Hughes 2004, 195). Hier tritt der „demokratisch transhumanistische“ Impuls hervor, die Biotechnologien zur Verringerung von Ungleichheiten einzusetzen und mit ihrer Hilfe der menschlichen Verantwortung für bestehende Verhältnisse zusätzliche wirksame Mittel an die Hand zu geben. Darüber hinaus wehrt sich Hughes mit seinem transhumanistischen Ansatz dagegen, die Wertschätzung für die „Humanität“ unter Berufung auf spezifisch biologische Argumente zu begründen, wie es etwa Fukuyama als Vertreter einer „biokonservativen“ Position tut (Fukuyama 2002). Die Gegner, die in transhumanistischen Interventionen eine Gefährdung des moralischen Status’ der betreffenden Individuen sehen, bezeichnet er auch als „human-racists“ (Hughes 2004, xv). Diese wollen anderen (personalen) Wesen wie transhumanen Lebewesen, aber auch Cyborgs und allen Tieren, auch allen nicht-menschlichen Primaten, die
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„citizenship“ absprechen. „Citizenship“ ist für Hughes einerseits die Erlaubnis der Teilnahme an einem politischen Diskurs aber andererseits die Berechtigung, basale Rechte gegenüber anderen geltend zu machen (oder stellvertretend durch andere geltend machen zu lassen).10 Eine enge biologische Begründung des moralischen Status ist vor diesem Hintergrund tatsächlich problematisch, da sie Ausschlusskriterien formulieren müsste, welchen Wesen die „citizenship“ verwehrt werden müsste, obwohl sie – wie Menschen – über verkörpertes Bewusstsein, Intentionalität und Handlungsfähigkeit verfügten. Der drastische Vorwurf des „human-racism“ muss daher ernst genommen werden. Die transhumanistische Kritik an einer engen biologischen Begründung des moralischen Status von Menschen greife ich im vierten Teil meiner Arbeit wieder auf. Damit wurden einige transhumanistische Argumente vorgestellt, die einen ernstzunehmenden Hintergrund haben und nicht dem Bereich technik-euphorischer Science Fiction zuzuordnen sind. Über die weniger seriösen Erscheinungsformen „transhumanistischen Denkens“ kann man sich darüber hinaus im Internet leicht einen Überblick verschaffen.
9.2. Drei Thesen des Transhumanismus Im Folgenden werde ich drei transhumanistische Kernthesen formulieren und diskutieren. Dabei gilt in methodischer Hinsicht natürlich ein Caveat: Der Transhumanismus ist keine geschlossene Bewegung, die sich bereits auf einen „Katechismus“ geeinigt hätte. Auch das Vorliegen des manifestartigen Textes von Nick Bostrom „The Transhumanist FAQ“ (Bostrom 2003b) kann nicht als verbindlich gelten. Gleichwohl lassen sich deutliche Grundzüge des transhumanistischen Denkens erkennen. These 1: Die Natur des Menschen ist „work-in-progress“. Diese erste, anthropologische These des Transhumanismus plädiert vehement und provokativ für eine in anderen, etwa evolutionsbiologischen, Kontexten kaum umstrittene Meinung, nämlich dass der „Mensch“ keine feststehende natürliche Art darstellt, sondern ein kontingentes Produkt der Evolution ist. Dieses bisherige Resultat der Evolution entwickelt sich weiter, und seine Weiterentwicklung hängt auch von ihm selbst ab, etwa 10 Mit diesem Anliegen steht er Nussbaums Ansatz in Frontiers of Justice nahe, vgl. Nussbaum 2006.
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indem bestimmte menschengemachte Umweltbedingungen über epigenetische Prozesse den menschlichen Organismus verändern oder indem kulturelle Praktiken zu Veränderungen im Genom führen (Hawks et al. 2007). Die radikale Betonung des „in Arbeit befindlichen Projekts Mensch“ betont lediglich die durch den Einsatz biotechnologischer Mittel allenfalls beschleunigte, aber ohnehin ablaufende Entwicklung. Entgegen der aus der christlichen Tradition stammenden Überzeugung, dass es sich beim Menschen um die „Krone der Schöpfung“, also um etwas (zumindest weitgehend) Vollendetes handelt, sind die Transhumanisten der Ansicht, dass die biologische Art homo sapiens evolutionär keineswegs vollendet sei. Diese Sichtweise ist eine direkte Folge der Evolutionstheorie, gemäss der biologische Gattungsbegriffe – wie beispielsweise homo sapiens – nichts Feststehendes geschweige denn etwas Vollendetes beschreiben, weil sie immer nur „Momentaufnahmen“ aus dem immerwährenden Gang der Evolution darstellen. Gewiss stellen diese „Momentaufnahmen“ ein relatives Optimum mit Blick auf eine bestimmte Umwelt dar; da sich aber – nicht zuletzt auch durch den Einfluss der Menschen selbst – die Umwelt ihrerseits verändert, kann auch die Lebensform Mensch nicht schlechthin optimal angepasst sein. Vielmehr ist für die optimale Anpassung des Menschen an die aktuellen Lebensbedingungen eine zusätzliche evolutionäre Weiterentwicklung nötig. Die weitere Veränderung der Gattung homo sapiens ist also etwas Unvermeidliches. Diese evolutionäre Unabgeschlossenheit des Menschseins wird im transhumanistischen Denken ergänzt durch die Annahme einer „anthropologischen Konstante“: Es sei eine wesentliche Eigenschaft von Menschen, dass sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel nutzen würden, um nicht nur ihre Umwelt, sondern zielgerichtet auch sich selbst nach eigenen Vorstellungen zu verändern und zu verbessern. Bereits in frühesten schriftlichen Zeugnissen der Menschheit finden sich solche Zielvorstellungen, so dass einige Transhumanisten die Geschichte der kulturellen Entwicklung als eine „Geschichte transhumanistischen Denkens“ (Miah 2008) verstehen. Der Wunsch nach einer Veränderung der Gattung homo sapiens ist also nicht nur unvermeidlich, sondern auch Teil des Menschseins. Menschen haben sich immer schon „transhuman“, also über das Menschliche hinausweisend, verhalten. Wenn unser Wissen um die Entwicklung des Menschen mittlerweile so weit gediehen ist, dass die weitere Entwicklung von unseren Entscheidungen abhängt, und wenn ein Nichteingreifen gleichfalls eine folgenreiche Entscheidung darstellt, ist es angebracht, für das Eingreifen wie
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für das Nichteingreifen gleichermaßen Verantwortung zu übernehmen. Hier erzwingt eine ursprünglich nicht intentionale Entwicklung (die aus dem Erkenntniszuwachs resultierenden Handlungsoptionen) schließlich eine intentionale Entscheidung für oder gegen die Realisierung der Optionen. Dem Menschen und der menschlichen Entwicklung den Status eines Projekts zuzuschreiben, fordert dazu auf, nicht tatenlos zuzusehen, wenn sich Entwicklungen ergeben, die man nicht gutheißt. Hier folgt aus der anthropologischen These über den ontologischen Status des Menschen als „work in progress“ eine ethische Schlussfolgerung, die Verantwortung für die jeweilige menschliche Lebensform in die Hände von Menschen delegiert. Das Wissen und die Möglichkeit einer Intervention erzwingen in der Folge eine bewusste Entscheidung, in der unter Umständen auch neue moralische Ansprche entstehen. Vor diesem Hintergrund ist die Betonung der menschlichen Interventionsmöglichkeiten bei der Entwicklung von menschlichen Individuen und der menschlichen Gattung durch die Transhumanisten vielleicht als Überspitzung zu werten, insgesamt aber ein kohärenter Gedanke. These 2: Der Fortschritt der Wissenschaften ermçglicht eine dauerhafte Verbesserung der condition humaine – eventuelle Risiken sind kontrollierbar. Es ist möglich, mithilfe der Biotechnologien das menschliche Leben tatsächlich zu verbessern, so dass Menschen länger, gesünder, glücklicher, aktiver, kreativer und insgesamt erfüllter leben können. Mit einer solchen These stellt sich der Transhumanismus in eine lange Tradition ungebrochen fortschrittsgläubiger und fortschrittsoptimistischer Theorien, wie sie etwa in Form des frühneuzeitlichen Wissenschaftsglaubens bei Francis Bacon und im aufklärerischen Glauben an Verbesserung – der bereits in Voltaires Candide auf das Schärfste kritisiert wurde – seit langem vorliegen. Der transhumanistische Fortschrittsoptimismus muss jedoch eine Antwort auf den Einwand aufklärungs- und technikkritischer Positionen (etwa der Frankfurter Schule) bereithalten, wenn er nicht der Naivität bezichtigt werden will. Horkheimer und Adorno hatten darauf hingewiesen, dass dem instrumentellen Gebrauch der Vernunft eine Ambiguität innewohne, die dazu führe, dass auch der Einsatz instrumenteller Techniken in guter Absicht Gefahr laufe, in sein Gegenteil umzuschlagen (Horkheimer/Adorno 1947). Auch Habermas kritisiert die „Kolonisierung der Lebenswelt“ durch zweckrationales und auf Machbarkeit ausgerichtetes Handeln, das eine eigene Dynamik entfalten
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kann, die dem kommunikativ Normen generierenden Handeln teilweise zuwiderlaufe (Habermas 1981). Auf diese Weise könne die spezifisch menschliche Möglichkeit zu kommunikativem Handeln durch zweckrationales und instrumentelles Denken und Handeln überlagert und gefährdet werden. Mit Blick auf den Einsatz von Biotechnologien hat Habermas versucht, diese Möglichkeit als Störung der symmetrischen Kommunikationssituation zu exemplifizieren, die sich daraus ergeben würde, dass Kinder nach bestimmten Wünschen der Eltern instrumentell gemacht worden wären (Habermas 2001). Aufgrund ihrer von den anderen Teilnehmern der Kommunikation abweichenden Entstehung – nach Zwecken der Eltern – wären sie als Individuen den anderen in der Kommunikation unterlegen. Habermas nennt diese Kommunikation dann asymmetrisch. Die Ursache dafür liegt in dem Ausgreifen zweckrationalen Denkens auf einen zuvor dafür unverfügbaren Bereich.11 Transhumanisten würden wohl grundsätzlich nicht leugnen, dass technische Entwicklungen auch der menschlichen Kontrolle entgleiten und eine nicht gewünschte Eigendynamik entfalten können (Bostrom 2002), entgegnen aber, dieser Einwand treffe auf die jetzt propagierten Weiterentwicklungen nicht zu. Da sich der Transhumanismus in einer dezidiert humanistischen Tradition verstehe, würden genügend Maßnahmen getroffen, um dieses Umschlagen der positiven Ziele ins Negative zu vermeiden: Eine Anknüpfung an „most traditional values and principles of personal conduct“ (Bostrom 2003b, 7), wie sie von den Transhumanisten befürwortet wird, sorge dafür, negative Auswüchse zu vermeiden. Auch heißt es, „the transhumanist view that we ought to explore the realm of post-human values does not entail that we should forego our current values“ (Bostrom 2003a, 495).12 Bostrom geht sogar so weit zu behaupten, dass der Transhumanismus „does not entail tech11 Das entscheidende Argument gegen Habermas hat u. a. Gerhardt (2004) unter Berufung auf den „Primat der Praxis“ formuliert. Entscheidend auch für die Teilnahme an der Kommunikation ist weniger die Vorgeschichte eines Individuums, sondern seine aktuelle Verhaltensweise in einer bestimmten Situation. Menschen ist es möglich, sich zu ihrer Vorgeschichte praktisch zu verhalten. 12 Gleichwohl geht Bostrom davon aus, dass es zusätzlich zu den aktuellen Werten auch eine dispositionale Werttheorie geben könnte, gemäß der „something is a value for you if and only if you would want it if you were perfectly acquainted with it and you were thinking and deliberating as clearly as possible about it.“ (Bostrom 2003a, 495). Wie sich solche Werte dann bei einem möglichen Konflikt mit den aktuellen Werten abwägen lassen sollten, wird nicht näher behandelt.
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nological optimism“ (ebd.). Damit kann er jedoch kaum für die Mehrheit der Transhumanisten sprechen, da über weite Strecken seiner und anderer transhumanistischer Texte die Verheißungen der technischen Weiterentwicklungen durchweg positiv bewertet werden. Ein kurzer Blick auf die möglichen Risiken wird mit einem beiläufigen Kommentar abgetan: „Such risks must be taken very seriously, as thoughtful transhumanists fully acknowledge“ (Bostrom 2003a, 495; vgl. aber auch Bostrom 2002). Die in diesen Äußerungen zum Ausdruck kommende Strategie liegt also darin, durch eine möglichst an die gegenwärtig geteilten Werte und Normen anknüpfende Position eventuelle „antitranshumanistische“ Bedenken unter den Zeitgenossen zu zerstreuen. Angesichts einer komplexen Analyse der intrinsischen Gefährdung des instrumentellen Vernunftgebrauchs (etwa durch Horkheimer/ Adorno 1947 und Habermas 1981) erscheinen die Entgegnungen der Transhumanisten häufig oberflächlich und naiv. Man muss kein Anhänger der Kritischen Theorie sein, um diese Schwäche und dieses fehlende Problembewusstsein der transhumanistischen Bewegung zu erkennen, deren Vertreter vor allem eine „Wunschliste“ möglicher Verbesserungen aufstellen und propagieren, diese durch eine biotechnologische Veränderung des Menschen erreichen zu können. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass der Fortschritt der Wissenschaften eine Verbesserung der menschlichen Lebensform erlaubt. Zweifelsohne sind die gegenwärtigen Lebensbedingungen für sehr viele Menschen heute auf einem höheren Standard angesiedelt als beispielsweise vor eintausend Jahren. Vor allem mit Blick auf die medizinische Versorgung, Hygienebedingungen und Fortbewegungsmittel sind Fortschritte erreicht worden. Doch die Ambivalenz auch dieser grundsätzlich weitgehend befürworteten Entwicklungen darf nicht ignoriert werden (Illich 1981). These 3: Die Entscheidung fr oder gegen biotechnologische Interventionen treffen die Individuen selbst. Die Transhumanisten betonen in Übereinstimmung mit einem liberalen Ansatz die individuelle Entscheidungszuständigkeit von Menschen über ihr eigenes Leben und ihren eigenen Körper. Solange nicht andere Menschen durch individuelle Entscheidungen – etwa für bestimmte biotechnologische Eingriffe – in einem unzumutbaren Sinne in Mitleidenschaft gezogen werden, besteht ihrer Ansicht nach kein hinreichender Grund, die individuelle Entscheidungsfreiheit einzuschränken.
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Transhumanists place a high value on autonomy: the ability and the right of individuals to plan and choose their own lives. […] Transhumanists seek to create a world in which autonomous individuals may choose to remain unenhanced or choose to be enhanced and in which these choices will be respected. (Bostrom 2003b, 4; vgl. auch Hughes 2004)
Dazu kann kritisch gefragt werden, ob eine solche Betonung der individuellen Verantwortung die Verbindungen zu anderen Menschen sowie die Einbindungen in die Umwelt nicht allzu sehr in den Hintergrund rückt. Gerade durch mögliche (individuelle) Veränderungen der biologischen Grundlagen von Menschen könnte die Möglichkeit von Gemeinsamkeiten riskiert werden. Außerdem bestehen massive Gerechtigkeitsbedenken, gerade bei individuellen Enhancements. Gibt es also Gründe, dem Willen des Einzelnen unter Berufung auf verbindende menschliche Eigenschaftssets (etwa solche, die erläutern, was „menschlich“ heißt) Grenzen zu setzen, die über diejenigen Grenzen hinausgehen, die durch den Willen und die Selbstbestimmung des Anderen gesetzt werden können?
9.3. „Entmystifizierung“ des Transhumanismus Die transhumanistische Bewegung zeigt sich als eine fortschrittsoptimistische Bewegung, die die neuen technischen Errungenschaften in den Dienst der menschlichen Interessen und Absichten stellen möchte. Sie umfasst utopische, soteriologische und mystische Elemente und wird daher häufig auch als extreme, unheimliche und geradezu gefährliche Position wahrgenommen (etwa Fukuyama 2002). Die wenig kontroverse Absicht, kontinuierlich zur Verbesserung der condition humaine beizutragen, formt der Transhumanismus nämlich zu einer skularen, technologischen Soteriologie um, da die technischen Mittel als adäquat für eine nachhaltige Verbesserung der menschlichen Lebenssituation bewertet werden. Bis in den Duktus und das Register der Texte sind Anlehnungen an Offenbarungsschriften erkennbar.13 Gekenn13 So etwa die Rede von einer Überwindung der als leidvoll erfahrenen Gegenwart, dem Schaffen neuer, „greater values“ etc., die sich durchweg in den transhumanistischen Texten erkennen lassen. Anschaulich in diesem Zusammenhang auch die Metaphorik, die indirekt den Transhumanismus mit dem Abschaffen der Sklaverei vergleicht (Bostrom 2003a, 504). Bostrom beschreibt die bevorstehenden möglichen Entwicklungen für einen Transhumanisten noch vergleichsweise sachlich.
9.3. „Entmystifizierung“ des Transhumanismus
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zeichnet sind die Schriften durch einen teilweise naiven, oder zumindest bewusst provozierend dargestellten Fortschrittsoptimismus.14 Argumentative Relevanz gewinnt der Transhumanismus, weil er zur Verständigung darüber auffordert, welche Eigenschaften am Menschen wünschenswert, bewahrenswert und fördernswert sind und welche Mittel zum Erreichen dieser Zwecke herangezogen werden sollen. Der Transhumanismus tritt somit als eine gegenwärtige Utopie auf. Ein entscheidender Unterschied zwischen der transhumanistischen und vielen anderen Utopien liegt darin, dass es sich hierbei nicht mehr um eine Utopie eines menschlichen Lebens handelt. Per definitionem richtet sich die transhumanistische Utopie an Wesen, die das menschliche Entwicklungsstadium hinter sich lassen wollen. Damit zeigt sich eine wesentliche Umkehrung im Vergleich zu früheren Utopien: Waren Utopien zuvor zumeist darum bemüht, die Lebensumstände von Menschen durch eine Vernderung der Welt zu verbessern, geht es im Transhumanismus darum, mithilfe biotechnologischer Interventionen die Wesen zu verndern, die den gegebenen Umständen besser angepasst sind. Dadurch erklärt sich die verbreitete skeptische bis ablehnende Reaktion auf transhumanistische Verheißungen. Viele fühlen sich selbst nicht angesprochen, da sie sich derjenigen menschlichen Entwicklungsstufe zugehörig fühlen, die gerade überwunden werden soll. Im Hintergrund des Transhumanismus und seiner Wünsche nach einer Verlängerung der gesunden Lebensspanne, einer gesteigerten Funktionstüchtigkeit des Organismus und des Geistes steht somit einerseits eine tendenziell negative Einschätzung der eigenen Unzulänglichkeit, andererseits eine fundamentale Affirmation der gegenwärtigen politischen und sozialen Umstände. Das von den Transhumanisten erfahrene Unbehagen an der gegenwärtigen Lebensform – aufgrund gefühlter Begrenzungen und aufgrund des Wissens um eigene Unzulänglichkeiten –, das ihnen als Ausgangspunkt für ihre Bemühungen dient, wird auf die defizitäre Ausstattung des eigenen Organismus zurückgeführt, dessen Funktionalität gesteigert werden soll. Kurz gesagt: Bei grundsätzlicher Affirmation „des Systems“ der kontingenten Lebensumstände in einer modernen Gegenwart schreiben die Transhumanisten 14 An dieser Stelle lässt sich eine Diskrepanz zwischen der bewussten Provokation durch Bostrom und andere und ihrer unkritischen breiten Rezeption vermuten. Die funktionale, zielgerichtete Überspitzung der Position Bostroms wird in dieser Funktion nicht immer durchschaut und stattdessen als direkte Legitimation der unglaublichsten Anwendungen herangezogen.
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9. Hoffnungen und Verheißungen
ihre gefühlte Unzulänglichkeit sich selbst zu und wollen sich selbst besser anpassen. Damit legen sie einen besonderen Schwerpunkt auf die biologischen und materialen Grundlagen der menschlichen Lebensform. Ob tatsächlich Veränderungen von menschlichen Organismen als Reaktion auf die erlebte eigene Unzulänglichkeit die erste Wahl darstellen sollten, ist zu bezweifeln: Statt einer biologischen Veränderung des Menschen zur Anpassung an ein bestehendes System könnte sich eine Vernderung des Systems, in dem die Menschen leben, als die bessere Alternative erweisen. Befreit man die transhumanistischen Texte von ihrem rhetorischen Ballast, ihren naiven Versprechungen und ihren Anspielungen an die Science-Fiction-Literatur, so zeigt sich schlichtweg die Absicht, verfügbare Chancen nutzen zu wollen. Ein Teil der Ablehnung transhumanistischer Äußerungen ist vermutlich durch die bisweilen geradezu reißerische Präsentation von Aussagen zu erklären, die grundsätzlich wenig kontrovers sind. Damit lässt sich der Transhumanismus „entmystifizieren“, weil er hinsichtlich seiner Zielvorstellungen insgesamt geradezu alltägliche Intentionen zum Ausdruck bringt – auch wenn zu deren Verwirklichung umstrittene Mittel vorgeschlagen werden.15 Eine solche Einschätzung des Transhumanismus nimmt den Gedankenanstoß transhumanistischer Texte für Debatten über die Wünschbarkeit mancher Verheißungen, über Verbesserungen der Individuen und der gesellschaftlichen Strukturen, in denen sie leben, sowie grundsätzlich über die Fragen, was ein gutes Leben ausmacht, auf, diskutiert die Verheißungen aber aus einer erweiterten Perspektive, als es die transhumanistische Engführung erlaubt.
15 So auch Bostrom, der seine eigene Position als „a conservative extension of traditional ethics and values“ ansieht (Bostrom 2008, 113).
10. Festhalten am status quo Im Folgenden werde ich exemplarisch den einflussreichen Report Beyond Therapy des US-amerikanischen President’s Council on Bioethics (2003) als Exponenten einer kritischen Position gegenüber Human Enhancements vorstellen, die darin vorgebrachten Argumente nennen (insbesondere die als „wesentlich“ bezeichneten Einwände), dabei implizite Hintergrundannahmen explizieren und kritisieren, und schließlich fragen, welches der Beitrag des Council für die kritische und aktuelle Debatte über Human Enhancement ist.
10.1. Der Report des US-amerikanischen President’s Council on Bioethics Die viel zitierte Studie Beyond Therapy. Biotechnology and the Pursuit of Happiness (President’s Council 2003) des ehemaligen US-amerikanischen President’s Council on Bioethics (2001 – 2009) ist der Exponent einer skeptischen Einstellung gegenüber der Möglichkeit, die biotechnologischen Mittel zur Verbesserung von Menschen einzusetzen. Sie kann als exemplarisch für eine Reihe von anderen Publikationen gelten, die sich auf ähnliche Weise mit der Thematik auseinandersetzen (Fukuyama 2002; Kass 2002; McKibben 2003; Sandel 2007). Das vom ehemaligen US-amerikanischen Präsidenten George W. Bush im Jahr 2001 eingesetzte Gremium bestand überwiegend aus wertkonservativ orientierten Mitgliedern.16 In den Publikationen zur Enhancement-Debatte hat der Council versucht, aus einer konservativ-religiös geprägten Perspektive, Worte und Argumente für die starke Ablehung der neuen Technologien 16 Zu nennen sind etwa der Chairman des Councils Leon R. Kass, außerdem Michael J. Sandel und Francis Fukuyama, die ihre Positionen auch in eigenständigen Publikationen dargelegt haben, z. B. Fukuyama (2002) und Sandel (2007). Nach dem Amstantritt von Barack Obama wurde mitgeteilt, dass die Arbeit des von Geroge W. Bush eingerichteten Councils nicht weiter benötigt wurde und dass stattdessen ein Gremium eingerichtet werden solle, das mehr nach einem „shared consensus“ strebe und damit „practical policy options“ entwickele (vgl. Wade 2009).
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10. Festhalten am status quo
zu finden.17 Der Report Beyond Therapy ist das erste Dokument eines nationalen Ethikrats zum Thema Human Enhancement. Daher kann der Council noch zurecht darauf hinweisen, dass es sich bei dem Thema vermutlich um das „most neglected topic in public bioethics“ (President’s Council 2003, 7) handelt. Der Bericht selbst hat maßgeblich dazu beigetragen, dass diese Diagnose heute nicht mehr zutrifft – heute ist Enhancement „a major topic of the debate in applied ethics“ (Bostrom/ Savulescu 2009, 1) –, indem verdienstvoll ein gründlicher Überblick über die Technologien und die offenkundig bestehenden ethischen Probleme in diesem Zusammenhang gegeben wurde. Doch auch wenn sich die Debatten mittlerweile weiterentwickelt haben, ist dieser Text immer noch ein repräsentatives und prominentes Dokument für eine kritischablehnende Haltung gegenüber den Anwendungen von Biotechnologien in verbessernder Absicht. Zwei konzeptuelle Entscheidungen machen die Stärken des Reports aus, der ansonsten eine biokonservative Standard-Kritik der Biotechnologien vorbringt: Erstens, die verbessernden Biotechnologien insgesamt in den Blick zu nehmen und sich nicht allein an den Details spezifischer Technologien aufzuhalten, und zweitens der Versuch, zwischen verschiedenen Arten von ethischen Bedenken zu unterscheiden. Insgesamt wird vom Council der Versuch unternommen, die Biotechnologien und ihre Anwendungen in verbessernder Absicht „as a whole“ zu diskutieren. So heißt es etwa, alle Anwendungen der neuen Biotechnologien in verbessernder Absicht seien „part of a larger human project – toward perfection and happiness“ (President’s Council 2003, 22) und „biotechnology beyond therapy deserves to be examined not in fragments, but as a whole“ (President’s Council 2003, 277). Damit gelingt es den Autoren, die verschiedenen Erscheinungsformen dieses Impulses im Zeitalter der Biotechnologien gemeinsam in den Blick zu nehmen, anstatt auf eine isolierte Analyse einzelner Techniken zu blicken. In seinem Report führt der Council eine grundlegende Unterscheidung ein, indem er zwischen „familiar“ und „essential sources of concern“ differenziert. Damit wird nahegelegt, dass es zwei verschiedene Ebenen von Problemen mit dem enhancenden Einsatz der Biotechnologien geben kann. Während einige Probleme schnell identifiziert werden können und bereits aus anderen Kontexten vertraut sind, gibt es 17 Eine Analyse und scharfe Kritik dieses religiös geprägten Hintergrundes des President’s Council findet sich in Pinker (2008), anlässlich einer neuen Studie des Gremiums.
10.1. Der President’s Council: Beyond Therapy
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darüber hinaus eine spezifische Problemklasse, die für den verbessernden Einsatz der Biotechnologien spezifisch und „essential“ sei. Zu den im bioethischen Kontext „vertrauten“ Problemen zählen Sicherheitsbedenken sowie Risiko- oder Kosten-Nutzen-Abwägung. Außerdem Gerechtigkeitsbedenken, die einerseits auf eine unfaire Vorteilsnahme Einzelner zielen, andererseits den gerechten Zugang zu einem knappen Gut thematisieren. Schließlich sind auch Fragen zur individuellen Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Intervention, der informierten und aufgeklärten Zustimmung sowie der Gefahr eines verdeckten Zwanges im Kontext biomedizinischer Anwendungen Teil der Standarddebatte (President’s Council 2003, 279 – 285; ähnlich Merkel et al. 2007; Gesang 2007; Levy 2007). Darüber hinaus tritt jedoch eine weitere Ebene von Problemen hervor, die vom Council als „essential“ bewertet werden. Hierzu zählen die Mitglieder des Council die folgenden Aspekte: „Hubris or Humility: Respect for ,the Given‘“, „,Unnatural Means‘: The Dignity of Human Activity“, „Identity and Individuality“ sowie „Partial Ends, Full Flourishing“. Der Einsatz der Technologien widerspreche den vier genannten „essential sources of concern“. In Kapitel 10.2. werde ich näher darauf eingehen. Unterscheiden lassen sich die beiden Klassen von Problemen, „familiar“ und „essential“, aus mehreren Gründen. Die zuerst genannten Probleme sind – nicht nur den Autoren der Studie – tatsächlich aus anderen Kontexten bekannt, in denen sie umfassend thematisiert werden. Sicherheits- und Risikoabwägungen z. B. finden nicht nur beim Einsatz von Gentechnologien, sondern auch bei der Energiegewinnung durch Atomkraft oder einer individuellen medizinischen Behandlung wie einer Herzklappenoperation statt. Gerechtigkeitsfragen werden auch im Zusammenhang mit dem Zugang zu Bildungseinrichtungen oder der Verteilung von Grundnahrungsmitteln thematisiert. Die „vertrauten“ Probleme resultieren aus einem Abwägungsprozess der zu erwartenden konkreten Vorteile der Anwendungen neuer Technologien gegenüber den – wie die Autoren schreiben – „dominant values of modern America“ (President’s Council 2003, 279) und damit den weitgehend in der westlichen Welt anerkannten Wertvorstellungen hinsichtlich der Bedeutung von Gesundheit, Sicherheit, Fairness, Gleichheit und Freiheit. Unter Berufung auf diese „dominant values“ ist es zwar häufig schwierig, eine praktikable und gerechtfertigte Lösung in bestimmten Fällen zu finden – etwa hinsichtlich der Verteilung knapper Ressourcen –, doch es wird grundsätzlich nicht bezweifelt, dass es möglich ist, eine Lösung
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auszuhandeln, die den Umständen und den gerechtfertigten Ansprüchen der Betroffenen vor dem Hintergrund des spezifischen Wertekanons Rechnung trägt. Diese Aufgabe kommt der Politik zu. Die Lösung wird innerhalb eines politischen Diskurses, in dem für alle Positionen anschlussfähige und verständliche Argumente diskutiert werden, gemeinsam erreicht. Bei der Diskussion der vertrauten Bedenken bemüht sich der Council um eine Darstellung, die zwar vor allem die Risiken und die möglichen negativen Konsequenzen ins Licht setzt, aber auch die Hoffnungen, die mit dem Einsatz biotechnologischer Interventionen einhergehen, ernst nimmt. Zur Frage nach der gerechten Verteilung der knappen Ressourcen wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass selbst dann, wenn anfänglich eine Vergrößerung der Ungerechtigkeit entstehen würde, indem nur besonders reiche Menschen Zugang zu bestimmten Möglichkeiten hätten, auf längere Sicht doch womöglich alle – auch die Ärmeren – von den neuen Entwicklungen profitieren könnten (President‘s Council 2003, 282). Oder es wird zugestanden, dass eine wirklich freie, selbstbestimmte Entscheidung für bestimmte Maßnahmen grundsätzlich möglich sei, die aufgrund der vergrößerten Wahlmöglichkeiten manchen Menschen auch als Vergrößerung ihrer Freiheit erscheinen könne (President’s Council 2003, 284). An zahlreichen Stellen versuchen die Autoren, auch die Verheißungen der neuen Biotechnologien zu würdigen, selbst wenn in keinem Fall die massiven Bedenken gegenüber einer Anwendung „beyond therapy“ ausgeräumt werden. So wird – unter regelmäßiger Bezugnahme auf Huxleys Roman Brave New World – besonders auf die negativen Konsequenzen hingewiesen und die Ansicht vertreten, dass selbst im Fall einer Lösung dieser vertrauten Probleme gewisse grundsätzliche Bedenken nicht aufgehoben seien. In der zweiten Klasse von concerns zeigt sich eine andere Konstellation. Hybris, Würde, Natürlichkeit und das wahrhaft erfüllte menschliche Leben sind umstrittenere Konzepte als Risiko und Gerechtigkeit. Hier wird der Bereich der in der gegenwärtigen westlichen Welt weitgehend geteilten, rational und säkular nachvollziehbaren Argumente überschritten. Es werden zusätzliche problematische Aspekte eingeführt, die sich im Vokabular der „familiar sources of concern“ nicht adäquat beschreiben lassen. Hier machen die Autoren daher Anleihen bei einer religiös geprägten Sprache.18 Der häufige Gebrauch der Anführungs18 Die Autoren gestehen ihre diesbezüglichen Schwierigkeiten ein, führen diese aber auf die Neuartigkeit des Themas und nicht auf den Versuch einer Ver-
10.1. Der President’s Council: Beyond Therapy
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zeichen an diesen Stellen im Report zeigt das deutlich an: Ein politisches Gremium in einem säkularen Staat tut sich schwer damit, Argumente aus einem anderen, namentlich religiösen Überzeugungskontext offen auszusprechen. Können aber mit dieser Diagnose über die Herkunft der Argumente die „weicheren“ Argumente, die im Fall des Reports von einer spezifisch US-amerikanischen Form des Christentums19 inspiriert sind, einfach vom Tisch gewischt werden? Im Folgenden möchte ich zunächst einen genaueren Blick auf den Inhalt dieser Argumente werfen. Schließlich werden die Bedenken gegenüber den biotechnologischen Anwendungen ja keinesfalls nur von einer bestimmten US-amerikanischen, konservativen Form des Christentums geteilt. Vielmehr werden in diesem Text grundsätzliche Bedenken geäußert, die versuchen, das intuitiv empfundene massive Unbehagen mit den neuen Eingriffsmöglichkeiten in Worte zu fassen. Diese müssen bei einer Auseinandersetzung mit den verschiedenen Bewertungen der biotechnologischen Interventionsmöglichkeiten ernstgenommen werden, denn selbst wenn das hier exemplarisch untersuchte Dokument über einen krypto-theologischen Hintergrund verfügt, könnten auch andere Kontextualisierung der geäußerten Bedenken möglich sein. Die Unterscheidung zwischen den beiden Klassen von Problemen – „familiar“ und „essential“ – erscheint somit prima facie als plausibel.20 bindung zweier unterschiedlicher Diskurse – einem säkularen und einem religiösen – zurück: „The subject being relatively novel, it is difficult to put this worry into words.“ (President’s Council 2003, 286). Ihrer Aussage, dass es schwierig sei, die intuitiv erfahrenen, „initial revulsions“ (ebd.) zu artikulieren, kann jedoch zugestimmt werden. 19 Es ist bemerkenswert, dass im Council nicht etwa – wie vielleicht zu erwarten wäre – die in den Vereinigten Staaten verbreiteten protestantischen Kirchen vertreten sind. Vielmehr handelt es sich um ein von katholischen Theologen dominiertes Gremium: „the pervasive Catholic flavoring of the Council […] is at first glance puzzling. In fact, it is part of a powerful but little-known development in American politics“ (Pinker 2008). Vgl. zu den sogenannten „Theocons“ auch Linker 2006. 20 Probleme ergeben sich freilich bei genauerer Betrachtung, denn die Attribute „familiar“ und „essential“ stehen in keiner klaren Relation zueinander, sondern suggerieren eine unangemesen Opposition. Man würde vermuten, es handele sich um komplementäre Begriffe, so dass eine Problemklasse entweder die Eigenschaft a habe, und wenn dies nicht der Fall sei, sie eben die Eigenschaft b aufweise. Das komplementäre Gegenteil zu „familiar“ ist aber „unvertraut, neuartig und ungewohnt“ und das Gegenteil zu „essential“ ist „unwesentlich, marginal, geringfügig“. Jeder Leser wird allerdings diese impliziten Komplemente ergänzen oder mitverstehen, wenn manche Probleme als „vertraut“ oder
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Während in der ersten Gruppe die „Routine-Diskussionen“ der angewandten Ethik angewendet werden können, erfordert die zweite Gruppe von Bedenken anlässlich der Enhancement-Problematik nach Ansicht des President’s Council eine tiefere Besinnung auf grundlegende Wertüberzeugungen. Da vermutet werden kann, dass diese in der Nähe zu anthropologischen Überlegungen stehen, werden sie im Folgenden näher betrachtet.
10.2. Vier „essential sources of concern“ Vier „wesentliche Bedenken“ geben dem Council Anlass zur Sorge. Zwar wird zugestanden, dass man „in many cases […] thankful for or pleased with the improvements our biotechnical ingenuity is making possible“ sein solle, doch die wesentlichen Bedenken bleiben davon unberührt: If there are essential reasons to be concerned about these activities and where they may lead us, we sense that it may have something to do with challenges to what is naturally human, what is humanly dignified, or to attitudes that show proper respect for what is naturally and dignifiedly human. (President’s Council 2003, 286 f.).
Dieser prominente Satz sieht den Kern der „wesentlichen Bedenken“ des Councils in einer Herausforderung der wahrhaften und würdevollen Natur des Menschen. Doch die gewählten Formulierungen sind schon in sprachlicher Hinsicht bemerkenswert: Zum einen fällt seine verquere Struktur auf: Die zu erwartende These – dass es wesentliche Quellen der Besorgnis gebe – wird im Konditionalsatz zu Beginn eingeführt. Das eigentliche Anliegen der Ausführungen besteht jedoch gerade darin, zu erläutern, welches die „essential sources of concern“ sind. In dieser Formulierung liest sich der Satz daher lediglich wie eine epistemologische These: Falls es „essential sources of concern“ gebe, können wir sie nur erahnen. Das scheint aber nicht die Meinung des Council zu sein, der im Folgenden versucht, Gründe anzugeben, warum welche ernsthaften als „wesentlich“ bezeichnet werden. Daraus ergibt sich die erste Schwierigkeit der Bewertung der beiden Problemklassen, die hinsichtlich des Neuigkeitswertes („familiar“) zwar unterschieden werden können, hinsichtlich der Relevanz („essential“) aber erst noch bewertet werden müssten. Die „Auszeichnung“ einer der beiden Problemklassen als „essential“ erfolgt mithilfe dieses rhetorischen Tricks der suggerierten Komplementaritätsrelation vorschnell und ohne hinreichende Begründung.
10.2. Vier „essential sources of concern“
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Bedenken bestehen. Dem eigenen Selbstverständnis nach handelt es sich ja bei der vorgelegten Studie um eine „fundamental [ethical] inquiry“, die auf „thoughtful reflection“ basiere (President’s Council 2003, xx f.). Zum anderen ist die Formulierung äußerst vorsichtig gewählt. Nicht nur der Konditionalsatz trägt dazu bei, sondern auch andere relativierende Ausdrücke („we sense“, das heißt: wir wissen es nicht, sondern ahnen es; „it may“, also eine konjunktivische Formulierung; „have something to do“, eine unklare und vage Relation; schließlich die Vielfalt von Angeboten, auf die die „challenges“ sich beziehen können). Bei diesem zentralen Satz gewinnt man leicht den Eindruck, die Autoren wollten eine klare Aussage vermeiden. Das kann als ein Hinweis auf die Bedeutsamkeit und Sensibilität der hier zu treffenden Aussage gelesen werden. Konkretisiert wird diese bislang nicht hinreichend klar eingeführte, aber offenkundig zentrale Aussage anhand von vier Aspekten. (1) Der Council plädiert für die Wertschätzung und den Respekt vor dem „naturally given“, die er durch die menschliche Hybris in Gefahr sieht. In einer überheblichen Anmaßung erdreiste sich der Mensch, waghalsig mit Dingen herumzuspielen, die er nicht angemessen verstehe und denen er stattdessen mit mehr Vorsicht und Respekt begegnen solle. Gerade angesichts der Wirkmächtigkeit der neuen Interventionsmöglichkeiten sei Vorsicht und Abstinenz geboten. Die Grenze sei klar gesteckt: Mit Blick auf das Individuum ist der Standard der Gesundheit das legitime Ende ärztlicher Interventionsrechte. Damit verhalte der praktizierende Arzt sich als „servant to the goal of health and as an assistant to nature’s own powers of self-healing“ (President’s Council 2003, 287). Andernfalls verwandele sich „nature’s servant“ voller Hybris in „her aspiring master“ (ebd.), der die Natur nicht angemessen wertschätze. Den Einwand der moralischen „Unvorbildlichkeit“ und der Verbesserungswürdigkeit der Natur wird kurz erwähnt,21 um daraufhin trotzdem die menschliche Natur als denjenigen Standard einzuführen, der die moralische Bewertung der biotechnologischen Interventionen übernehmen solle. Somit wird die menschliche Natur als Maßstab und zur Orientierung hinsichtlich der Entscheidung über den moralisch korrekten Einsatz der biotechnologischen Interventionsmöglichkeiten nahegelegt. Doch auch 21 „The ,giftedness of nature’ also includes smallpox and malaria, cancer and Alzheimer disease, decline and decay.“ (President’s Council 2003, 289). Mit Mill (1874) könnten auch noch Vergewaltigungen, Morde, Neid und Missgunst hinzugefügt werden.
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10. Festhalten am status quo
an dieser Stelle vermeiden die Autoren das direkte Bekenntnis zu ihrer These, indem sie wieder eine auffällige Konditionalstruktur bemühen. So heißt es: „For only if there is a human ,givenness‘ […] that is also good and worth respecting […], will the ,given‘ serve as a positive guide for choosing what to alter and what to leave alone.“ Und: „Only if there is something precious in our given human nature […] can what is given guide us in resisiting efforts that would degrade it.“ Schließlich: „only if there is something inherently good or dignified about the way we engage the world as [es folgt eine lange Liste von möglichen sozialen Rollen von Menschen, JCH] – only then can we begin to see why those aspects of our nature need to be defended against our deliberate redesign.“ (President’s Council 2003, 289 f.). Diese dramaturgisch wirksame Syntax spart allerdings die Antwort aus, die die Autoren den Lesern nahelegen wollen, ohne sie selbst auszusprechen, nämlich: Ja, wir Menschen haben eine würdige und wertvolle menschliche Natur. Es ist unklar, warum die Autoren nicht deutlich diese These aussprechen, sondern gleich „schließen“ („therefore“), man müsse sich – mit einer Fokussierung auf das Individuum – der Frage zuwenden, wie die biotechnologischen Interventionsmöglichkeiten sich auf die „nature of the one being improved“ auswirke. Diese Analyse der knappen Passage ist erhellend. Zum einen zeigt sich die große Wertschätzung, die der Council der gegebenen „menschlichen Natur“ entgegenbringt. Zum anderen zeigt sich eine rhetorisch mitreißende, aber argumentativ verheerende Strategie der Autoren. Der Wert der „menschlichen Natur“ wird suggeriert, aber nicht direkt behauptet. Erklären lässt sich das wohl nur mit dem Problembewusstsein der Autoren, die versuchen, ihren Lesern bestimmte Vorstellungen trotz einer ihnen bekannten22 Kritik nahezulegen. Es zeigt sich das Problem, dass die Autoren die Wertschtzung bestimmter Eigenschaften, Tätigkeiten von Individuen mit der Natur und der menschlichen Natur verbinden, anstatt die betreffenden Eigenschaften und Tätigkeiten von Individuen als solche wertzuschätzen. Damit bringen sie eine nicht hinreichend begründete positive Konnotierung der Natürlichkeit in der Alltagsmoral zum Aus-
22 Im Kontext der möglichen Definitionen des Begriffs Enhancement reden sie zum Beispiel von der „always controversial idea of normality“ (President’s Council 2003, 15), die ja auf das Engste mit Vorstellungen einer menschlichen Natur verbunden ist.
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druck.23 Ohne zusätzliche, im Report jedoch unausgesprochene Hintergrundannahmen ist diese Position nicht zu rechtfertigen. Die Kritik an direkten Natürlichkeitsargumenten muss an dieser Stelle nicht im Detail wiederholt werden. (Meine Ausführungen dazu finden sich in Kapitel 6, 7 und 14.) Es wird jedoch deutlich, dass von den Autoren über den Begriff der Natürlichkeit Vorannahmen in die Diskussion eingeschleust werden, die nicht hinreichend expliziert sind. Die Bedenken des Council sind ohne die Annahme einer von Gott etablierten kosmischen Ordnung, in der verändernde menschliche Handlungen hybride Auflehnungen gegen diese darstellen, unverständlich.24 Die Möglichkeit, dass menschliche Handlungen (etwa Enhancements) gerade aus einem Respekt oder einer Wertschätzung bestimmter „natürlicher“ Eigenschaften resultiert, die durch menschliche Handlungen aktiviert, gefördert oder gesteigert werden sollten, wird von den Autoren nicht gesehen. Das nahegelegte Ideal besteht darin, sich den „natürlichen“ Umwelt- und den Ausgangsbedingungen gegenüber affirmativ und enthaltsam zu verhalten, weil diese als direkte Konsequenz eines göttlichen Ratschlusses angesehen werden. Die Inkonsistenz einer solchen Position, die sich dann ergibt, wenn nicht alle dieser Umstände affirmiert werden, sondern sich in manchen Situationen gottgefällige Ausnahmen anbieten, wird nicht gesehen. Die hier vom Council beschworene Stimme der Natur, erweist sich – ebenso wie auch die göttliche Stimme – damit als zutiefst menschliche Stimme, namentlich die eines politischen Beratergremiums, das es in diesem Fall jedoch vermeidet, tatsächliche Argumente für die Wertschätzung bestimmter Eigenschaften oder Zustände zu liefern. (2) Die zweite „essential source of concern“ hängt eng mit der ersten zusammen. Neben dem (nicht hinreichend geklärten) Begriff der „Natürlichkeit“ wird nun der Begriff „Würde“ eingeführt. Der Begriff „Würde“ bringt zum Ausdruck, dass etwas besonders wertgeschätzt wird 23 Ebenso auch Sandel 2007 und Fukuyama 2002. Fukuyama hat eindrucksvoll einen „Factor X“ in die Debatten eingeführt, der die natürliche Werthaftigkeit des Menschen in geradezu mathematischer Manier berechenbar darlegen soll (Fukuyama 2002, bes. 149 – 153). Zur Diskussion von Natürlichkeitsvorstellungen vgl. Birnbacher 2006 und in vorliegender Arbeit Kapitel 6, 7 und 14. 24 Damit soll nicht gesagt sein, dass jede Art der „Kontingenzanerkennung“ ein theologisches Weltbild voraussetzt, wie es die Ausführungen des Council tun. Eine alternative Form der Kontingenzanerkennung auf der Grundlage einer materialistischen Kosmologie, findet sich etwa bei John Dewey (Dewey 1925, Kapitel 2).
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(die etymologische Verbindung zwischen Wert und Würde ist im Deutschen offensichtlich) und daher in der Folge als respektwürdig und schützenswert angesehen wird. Das gilt insbesondere für den Begriff der Menschenwürde, der die Wertschätzung eines jeden Individuums zum Ausdruck bringen soll und damit der Verfügung über es bestimmte unverfügbare und unverhandelbare Grenzen setzt. Die besondere Wertschätzung von Menschen wird im Report des Council auf bestimmte Eigenschaften und (dispositionale) Fähigkeiten zurückgeführt. Dazu zählen die Autoren etwa die Fähigkeit, mit Schwierigkeiten umzugehen, die Fähigkeit, sich selbst zu beherrschen, und die Fähigkeit, in direktem Kontakt mit der Wirklichkeit zu stehen. Dem stellen sie die gering geschätzte Passivitität gegenüber, die ohne körperliche und geistige Anstrengungen auszukommen versucht, und im Falle psychopharmakologischer Intervention zu einer distanziert, entfremdet und bloß vermittelt erfahrenen Beziehung zur Wirklichkeit führt (President’s Council 2003, 292). Das Ideal der Autoren ist ein „alert and self-experiencing agent making his deeds flow intentionally from his willing, knowing, and embodied soul.“ (President’s Council 2003, 293). Dieses Ideal, das von den Autoren der Studie Beyond Therapy als konstitutiv für die menschliche Würde angesehen wird, soll durch die Anwendung „unnatürlicher“ Mittel gefährdet sein. Zum Ausdruck kommt dabei die Überzeugung, dass einige biotechnologische Interventionen bisweilen dazu genutzt werden können, sich Arbeit zu ersparen, ohne Anstrengungen bestimmte Leistungen zu erreichen oder sich Vorteile gegenüber anderen zu verschaffen. Daher gelten derartige Eingriffe als „cheating“ oder als Selbstbetrug. Doch auch in den Fällen, in denen man nicht von einem (Selbst-) Betrug sprechen würde, bleibe „a sense that the ,naturalness‘ of means matters“. Die Natürlichkeit der angewendeten Mittel ist relevant aufgrund des „danger of violating or deforming the nature of human agency and the dignity of the naturally human way of activity“ (President’s Council 2003, 292). Damit werden wie schon im obigen Abschnitt die notorisch schwierig zu bestimmenden Begriffe Natur und Würde bemüht. Das unterstellte Ideal eines aktiv handelnden, Schwierigkeiten beherzt aus eigener Kraft überwindenden Menschen muss kritisch diskutiert werden, denn auch andere menschliche Lebensformen verdienen gleiche Wertschätzung und sind Träger von „Menschenwürde“. Zwar ist diese menschliche Lebensform, die von den Autoren des Reports als exemplarisch würdevoll angepriesen wird, sicherlich nicht schlecht. Problematisch ist allerdings, dass diese Lebensform als vorbildliches Ideal mit
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einer spezifischen natürlichen Würde ausgestattet wird. Dafür gibt es – bei aller Wertschätzung dieser Lebensform – keinen Grund, der von den Autoren genannt wurde. Die Einführung der Begriffe Natürlichkeit und Würde verläuft somit unabhngig von dem herangezogenen Ideal. Bei dem Begriff der „Menschenwürde“ handelt es sich um einen wichtigen, politischen Terminus. In den internationalen Bemühungen um minimale Standards im Umgang von Menschen miteinander wird versucht, über diesen Begriff einen minimalen Konsens zu formulieren, der die Unverfügbarkeit über Menschen, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, den Respekt vor jedem einzelnen Individuum und seinem Eigentum sowie die Unabwägbarkeit fundamentaler Ansprüche als prioritär gegenüber sekundären Interessen wie staatlicher Kontrolle, ökonomischer Profitmaximierung, Informationsgewinnung etc. ansieht. Bei allen Debatten und Konflikten über die angemessene Begrndung von Menschenwürde stimmen diejenigen, die eine biologische oder naturalistische Fundierung vertreten, mit denen, die eine funktionale Begründung favorisieren, üblicherweise dahingehend überein, dass mit ihr im Wesentlichen berechtigte minimale Ansprüche von Individuen gegenüber anderen Individuen oder Institutionen begründet werden können (ein „entwürdigender“ Umgang mit Menschen – etwa durch Folter etc. – wird damit verboten). Die Würde selbst ist innerhalb dieses anerkannten Konzepts etwas, das jedem Menschen zukommt. Die Würde des Menschen kann zwar missachtet werden, sie kann mit Füßen getreten werden. Aber sie kann niemals einem Menschen abgesprochen werden. (Das gilt sogar für den schlimmsten Verbrecher, der nach dem Konzept der unantastbaren Würde des Menschen trotz seiner Vergehen nicht gefoltert oder menschenunwürdig bestraft werden darf.) Diesen verbreiteten Konsens nutzen die Autoren des Reports nun, um der etablierten Begriffsverwendung – die natürlich vielfältige eigene Schwierigkeiten hervorruft25 – in ihrem eigenen Interesse eine andere Wendung zu verleihen. Sie legen nahe, dass durch bestimmte menschliche Verhaltensweisen bestimmten Individuen die Grundlage der Würde entzogen werden könnte. Wer etwa aufgrund des Einsatzes bestimmter Enhancement-Techniken etwas erreiche, habe dies nicht seiner eigenen – würdevollen – Handlungsurheberschaft zu verdanken („dignity of the naturally human way of activity“), sondern verspiele diese Würde damit. 25 Vgl. zur Diskussion der Menschenwürde im bioethischen Kontext etwa Beyleveld/Brownsword 2001.
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Es gibt zwei Arten, diese These einzuschätzen. Entweder handelt es sich bei der Rede des Councils von der Würde des Menschen um ein Missverständnis, das den herrschenden Diskurs der politischen Auseinandersetzung mit der Menschenwürde ignoriert. Oder es handelt sich um eine rhetorische Strategie, einen positiv besetzten Begriff heranzuziehen, um anhand seiner vermeintlichen Gefährdung bestimmte Praktiken moralisch zu diskreditieren. Es hat den Anschein, dass diese Rede von der Würde des Menschen und seinen Gefährdungen vom Council wohl durchdacht ist. Er scheint eine groß angelegte Strategie zu verfolgen, diesen Begriff in die Debatten einzubringen – und zwar in einem eigenen Verständnis, das die politische Verständigung auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde als „Wirt“ nutzt. So wurde kürzlich eine weitere Publikation des Council vorgelegt (President’s Council 2008), die sich ausdrücklich der Menschenwürde zuwendet und versucht, diese als einen wichtigen Grundbegriff der Bioethik allgemein zu etablieren. Wie gezeigt wurde, verfolgen die Autoren dabei die Strategie, andere, eigene Wertvorstellungen über einen weitgehend anerkannten und positiv konnotierten Begriff in die Debatten einzuschleusen. Daher hat der Versuch, den Begriff der Menschenwürde in die bioethische Diskussion einzuführen, vehemente Kritik hervorgerufen. Macklin hat deutlich dafür argumentiert, dass innerhalb der Bioethik (und damit anders als im politischen und internationalen Menschenrechtskontext) der Begriff der Menschenwürde schlichtweg „useless“ sei, und verlustfrei ersatzlos gestrichen werden könne, weil über die Autonomie der Person hinreichend deutlich auf den sachlichen Kern der Menschenwürde hingewiesen werde (Macklin 2003). Pinker hat die neue Publikation des Councils (President’s Council 2008) zum Anlass genommen, um auf die Gefahr einer Ideologisierung durch den Gebrauch des Konzepts der „Würde des Menschen“ hinzuweisen (Pinker 2008). Wie Macklin versteht auch er sich selbstverständlich nicht als Gegner des Respekts vor fundamentalen Rechten aller Menschen. Doch Pinker sieht, wie mithilfe des positiv bewerteten Begriffs sachfremde Partikularinteressen – von konservativen katholischen Denkern – in die Debatte eingeführt werden. Vor diesem Hintergrund stelle die allgemeine Ablehnung von biotechnologischer Forschung (es geht bei Pinker nicht allein um den Enhancement-Einsatz im engeren Sinne) unter einem vorgeblichen Verweis auf die Würde des Menschen vielmehr eine grobe Verletzung der recht verstandenen Würde derjenigen
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Menschen dar, die hoffen, auch mithilfe der Biotechnologien ein selbstbestimmtes Leben frei von vermeidbarem Leiden zu führen. (3) Eng verbunden mit der vermeintlich inhärenten „Würde“ der „natural, unimpeded, for-itself human activity“ (President’s Council 2003, 293, Anm.) ist ein weiterer Aspekt, der bei den Autoren der Studie als „essential source of concern“ gilt. Sie vertreten die Ansicht, ein Mensch habe eine „real identity“ (President’s Council 2003, 295). Diese ergebe sich durch die biologische Ausstattung und seine persönliche Geschichte und führe dazu, dass ein Individuum ein authentisches Selbst entwickele. Auch die Begrenzungen dieses Selbst – körperlich wie geistig – haben entscheidenden Anteil an der Identität einer Person. Durch den Einsatz von biotechnologischen Mitteln würden wir zwar vielleicht an Glück oder Leistungsfähigkeit hinzugewinnen können, diese „real identity“ allerdings aufs Spiel setzen. Die Autoren vermuten, ein Individuum würde dadurch „a different person“ werden (President’s Council 2003, 294), wodurch einerseits die Wahrscheinlichkeit der Selbstentfremdung („losing, confounding, or abandoning our identity“, ebd.) steige und andererseits auch das soziale Umfeld die betreffende Person nicht mehr wiedererkenne. Auch dieses Argument hat rhetorische Kraft, weil es das Bild eines unter dem Eindruck von Drogen stehenden Menschen hervorruft, der mit der Person, die man „eigentlich“ kennt, nichts mehr zu tun hat. Aber ist der hier vom Council vorgebrachte Einwand tatsächlich überzeugend? Muss nicht vielmehr von einem flexibleren Selbstmodell ausgegangen werden, als es die Autoren des Reports mit ihrem substantialistischen Anspruch tun? 26 Dass ein Mensch ein einziges, unveränderliches, authentisches Selbst habe, behaupten heute nur noch Vertreter eines unhaltbaren Essentialismus. In der Soziologie wird dahingegen etwa untersucht, wie viele verschiedene (deswegen aber keineswegs unauthentische) Rollen eine Person in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten einnehmen kann. In der Debatte zur personalen Identität wird diskutiert, wie viel Veränderung erlaubt ist, um noch davon zu reden, dass eine Person tatsächlich über die Zeit hinweg ein und dieselbe bleibt (beispielsweise Parfit 1984). So wird selbst mit Blick auf die „normale“ persönliche Entwicklung beispielsweise eines Jungen über 26 Ich meine hiermit nicht die postmoderne Subjektkritik der „Zersplitterung“ des Selbst, sondern vor allem die Forschungen der Cognitive Sciences und der analytischen Philosophie des Geistes zum Personbegriff, zum Selbst-Modell und Selbstbewusstsein. Vgl. etwa Metzinger 2004, Sturma 1997, Crone 2009.
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einen Mann zu einem Greis diskutiert, inwiefern man hier mit gutem Grund von einer Person sprechen könne, da doch aus der Innenperspektive keine adäquate Erinnerung an die verschiedenen Episoden der personalen Entwicklung bestehe.27 Die vom Council gewählte Formel von einer einzigen, authentischen „real identity“ zeigt sich vor diesem Hintergrund als ein eng verstandenes Ideal, das eher eine positive Wertschätzung bestimmter Attribute zum Ausdruck bringt, statt sie zu begründen. Die Ablehnung einer massiven Veränderung einer Person durch Psychopharmaka oder einer kompletten Selbstinstrumentalisierung des eigenen Körpers (Gehirns) mag zwar gut begründet abgelehnt werden können. Der Hinweis auf die eine „real identity“ einer Person zählt jedoch nicht zu diesen guten Gründen, weil in vielen Fällen auch weitreichende Veränderungen der Persönlichkeit keineswegs als Verletzung der Identität einer Person gewertet werden (selbst so radikale Veränderungen wie diejenige von Saulus zu Paulus werden nicht bedauert, solange es sich um Veränderungen „zum Guten“ handelt). Die Autoren des Reports gehen davon aus, dass Personen üblicherweise über eine stabile Persönlichkeit verfügen, die „normalerweise“ durch die Entwicklung der Person über die Zeit hinweg nicht gestört werde. Mit dieser allgemeinen Aussage unterschätzen sie die tatsächlichen Veränderungen, die auch „normalerweise“ im Leben einer Person stattfinden, und überschätzen zugleich die Konsequenzen von Enhancement-Eingriffen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Veränderungen der menschlichen Person immer stattfinden und dass durch mögliche Enhancements hinsichtlich der Frage nach der personalen Identität von Personen über die Zeit hinweg lediglich ein neuer Weg der Veränderung hinzukommt, der jedoch nicht qualitativ neuartig ist. Damit ist noch nichts darüber gesagt, wie Veränderungen – auch mögliche radikale Veränderungen – von Personen in moralischer Hinsicht bewertet werden sollen. Zu der Frage, wie Veränderungen von Personen zu bewerten seien, sind vielfältige Überlegungen anzustellen. Mir scheint, dass die angestrebten Eigenschaften den primären Maßstab der Bewertung darstellen. Wenn ein Mensch sich darum bemüht, hilfsbereiter, zuverlässiger, zu27 Klassisch dazu die Diskussion zwischen Locke und Reid. Moderne Konzeptionen von Authentizität bemühen sich darum, auch die zum Teil tiefgreifenden Veränderungen und Entwicklungen von Personen in ihren Modellen angemessen zu berücksichtigen. – Mit Blick auf die Enhancement-Debatte differenziert dazu Crone 2008.
10.2. Vier „essential sources of concern“
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friedener zu werden, ist meines Erachtens dagegen wenig einzuwenden, solange seine Bemühungen darum nicht auf Kosten anderer gehen. Veränderungen „zum Guten“ stellen schließlich einen integralen Bestandteil des ganzen Erziehungssystems dar und gelten auch für erwachsene Menschen als erstrebenswerte Ziele. Die Frage, ob für Veränderungen zum Guten biotechnologische Mittel die erste Wahl darstellen, muss anhand einer Einschätzung der gesellschaftlichen Fragen, von Risikoabwägungen etc. gefällt werden. Prinzipiell sind Veränderungen der Persönlichkeit jedoch, auch wenn sie radikal ausfallen, nicht aufgrund eines vermuteten „Todes“ der früheren Persönlichkeit zu verurteilen. (4) Der vierte essentielle Anlass zur Sorge, den die Autoren der Studie bestimmen, betrifft – folgerichtig – die Ziele selbst, zu deren Erreichen biotechnologische Mittel herangezogen werden. Die Autoren hinterfragen, ob die angestrebten Ziele (bessere Kinder, besseres Funktionieren des menschlichen Organismus, die Verzögerung des Alterungsprozesses und eine glückliche Gemütslage) tatsächlich erstrebenswert sind. Etwas, was sich auf den ersten Blick als wünschenswert darstelle, könne ja bei näherer Betrachtung negative Seiten aufweisen, die dazu führen, es doch nicht mehr zu wünschen. Bezüglich „besserer“ Kinder und dem verbesserten Funktionieren des menschlichen Organismus erheben die Autoren nur geringe Einwände. Natürlich sei es in den meisten Fällen wünschenswert, hier zu einer „Verbesserung“ beizutragen: Es müsse allerdings eine Klärung vorgenommen werden, wie genau das Wort „besser“ verstanden werden solle. Außerdem müsse man darauf achten, dass man nicht durch die zur Verfügung stehenden Mittel selbst dazu verleitet würde, diese in verbessernder Absicht anzuwenden. Die Autoren weisen auf die Eigendynamik von Werkzeugen hin, die intrinsisch zu ihrer Anwendung auffordern, selbst wenn man ohne das Vorhandensein des Werkzeuges gar keinen Bedarf für es gesehen hätte. Es ist erstaunlich, dass die verbessernden Absichten von Eltern sowie Verbesserungen der biologischen Prozessabläufe im menschlichen Organismus an dieser Stelle wenig Widerspruch des Councils hervorrufen. Schließlich sind auch die Handlungsabsichten übereifriger Eltern, die mit allen Mitteln nach Perfektionierung ihres Nachwuchses streben, kritikwürdig.28 Und Prozessoptimierungen im menschlichen Organismus mithilfe biotechnologischer Mittel müssten doch konsequenterweise 28 So etwa treffend Sandel 2007, der das Phänomen des „Hyperparenting“ diagnostiziert und kritisiert.
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10. Festhalten am status quo
vom Council als widernatürlich ausgezeichnet werden. Stattdessen werden hier diese Einwände ignoriert und die Autoren wenden sich aus ihrer Sicht problematischeren Aspekten zu. Bezüglich dem Wunsch nach „ageless bodies“ äußern die Autoren fundamentale Kritik, die wieder unter Berufung auf Natürlichkeitsvorstellungen den normalen Gang des Lebens preist und betont, dass viele wertvolle und natürliche menschliche Erfahrungen nicht ohne das Altern gemacht werden könnten (hiermit droht die Vermutung, dass die Ziele sich längerfristig nicht als wünschenswert herausstellen könnten, mit dem Unnatürlichkeitseinwand zu verschmelzen). Auch wenn es ein verständlicher Wunsch sei, Altern, Leiden und Siechtum zu überwinden, betonen die Autoren, dass living with full awareness and acceptance of our finitude may be the condition of many of the best things in human life: engagement, seriousness, a taste for beauty, the possibility of virtue, the ties born of procreation, the quest for meaning. (President’s Council 2003, 297)
Sicher gehört es zu den zentralen Herausforderungen eines menschlichen Lebens, mit der eigenen Endlich- und Vergänglichkeit einen Umgang zu finden, andererseits ist es nicht einleuchtend, dass die anderen genannten „best things in human life“ nur unter der Bedingung statthaben können, dass ein Mensch in „full awareness and acceptance“ seiner Endlichkeit lebe. Wer könnte das schon von sich behaupten? Auch Individuen, die es vermeiden, sich mit ihrer Endlichkeit auseinanderzusetzen, können sich um Ernsthaftigkeit, Schönheit und den Sinn des Lebens bemühen. Hier vermischen die Autoren verschiedene Ebenen des Problems: Einerseits ist mit der Aufhebung des Altersprozesses ja noch nicht die Unsterblichkeit gewonnen. Selbst wenn Menschen also lange und gesund leben würden und schließlich aus der Blüte des Lebens plötzlich sterben, stürben sie trotzdem, so dass eine Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit immer noch nötig wäre (Vgl. Knell/Weber 2009 und Heilinger/Christen 2010, Teil I). Unsterblichkeit, die vielleicht die Befürchtungen des Councils realistischer erscheinen ließe, steht jedoch nicht zur Diskussion. Und hinsichtlich einer lediglich deutlich verlängerten gesunden Lebensspanne, wie sie in der näheren Zukunft möglich erscheint, erweisen sich also die Befürchtung des Councils als übertrieben.29 29 Vgl. zur Diskussion, ob eine Verlangsamung des Alterungsprozesses wünschenswert ist, auch das Gespräch mit Nick Bostrom in Heilinger/Christen 2010 und die Diskussion unten, Kapitel 19.
10.2. Vier „essential sources of concern“
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Bezüglich der vom menschlichen Streben nach „happy souls“ ausgehenden Befürchtungen des Rates gestehen die Autoren zunächst wieder zu, dass es Umstände geben kann, in denen gezielte Stimmungsmodulationen wünschenswert sind. Gleichwohl fragen sie danach, ob das Streben nach „utter and unbroken psychic tranquility or the attempt to eliminate all shame, guilt, and painful memories“ (President’s Council 2003, 298) nicht fehlgeleitet sei. Die Autoren betonen die Angemessenheit auch negativer emotionaler Zustände und Reaktionen auf bestimmte Umstände, deren intentionale Modulation das Gefüge von angemessenen Verhaltensweisen nachhaltig stören würde. Wenn jemand angesichts eines mit angesehenen Mordes nicht entsetzt sei, oder einer nach einem schweren Betrug jedes Gefühl von Schuld oder Reue mit einer Tablette hinunterspülen könnte, und schließlich jedes Opfer eines Verbrechens die eigenen Verluste durch Psychopharmaka kompensieren könnte, wäre es nötig, das gesamte Gefüge menschlicher Handlungen und ihrer Bewertungen neu zu konstruieren. Auch hier überzeichnen die Autoren die möglichen Anwendungsszenarien. Ein Streben nach vollständigem physisch induziertem Glück, wie im obigen Zitat, stellt sicherlich eine wenig wünschenswerte Entfremdung von Menschen und ihrer Umwelt dar. Sie wäre wohl eher einem konstanten Drogenrausch zu vergleichen, den nur die wenigsten Menschen – und auch die wenigsten Vertreter des Einsatzes von biotechnologischen Mitteln zur Verbesserung von Menschen – befürworten würden (so auch das Ergebnis des Gedankenexperiments einer „experience machine“ von Nozick 1974, 42 – 45). Für ihre überspitzte Darstellung können die Autoren Plausibilität beanspruchen, doch eine solche radikale Vorstellung trägt wenig zur um ein Vielfaches wahrscheinlicheren moderaten Anwendung von psychoaktiven Substanzen bei. Zusammenfassend betrachtet zeigt sich, dass für den President’s Council die essentielle Quelle der Besorgnis darin liegt, dass die spezifisch menschliche Lebensform mit ihrer dankbar bewahrenden Einstellung gegenüber dem „Gegebenen“ in Gefahr ist, durch aus menschlicher Hybris und irregeleitetem Streben hervorgehenden EnhancementHandlungen dauerhaft zerstört zu werden. In kulturkritischem Gestus befürchten sie eine nachhaltig schädigende Beeinflussung der menschlichen Natur, deren Würde auf dem Spiel stehe, indem wesentliche menschliche Eigenschaften – genuine Leistungen, authentische Beziehungen und personale Identität – durch den Einsatz biotechnologischer Mittel unmöglich gemacht würden.
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10. Festhalten am status quo
10.3. Eine ideologische Position Der Report des President’s Council, eines politischen Beratergremiums zur Klärung ethischer Probleme, erstaunt, weil politische Handlungsempfehlungen im Text eine geringe Rolle spielen. Statt konkrete Empfehlungen auszusprechen, welche Schritte die Regierung unternehmen solle, um mit den neuen biotechnologischen Anwendungsmöglichkeiten einen adäquaten Umgang zu finden, wird eine Grundsatzschrift vorgelegt, die anhand der biotechnologischen Interventionen ethische Aspekte der menschlichen Natur und der menschlichen Würde darstellt.30 Während andere Studien31 nach philosophischer Diskussion schließlich zu konkreten Handlungsempfehlungen gelangen, enthält sich der President’s Council solcher. Warum? Ein Grund dafür liegt in der Entscheidung des Council, trotz aller Differenzierung der verschiedenen Mittel und Ziele, die Biotechnologien und ihre Anwendung auf den Menschen „as a whole“ zu betrachten. Einen Bann auf alle Biotechnologien insgesamt zu fordern, ist den Autoren in einem wissenschafts-, wirtschafts- und fortschrittsinteressierten Land allerdings nicht möglich, auch wenn ein Leser den Eindruck gewinnen kann, dass ihnen ein Verbot aller biotechnologischen Forschung, die ja ihrer Meinung nach das Wesen und die Würde des Menschen verändern könnten, durchaus bedenkenswert erscheint. Damit ist auch ein weiterer Grund benannt: Die wesentliche Absicht des Council besteht meiner Meinung nach – bei wohlwollender Auslegung – darin, für das Thema zu sensibilisieren, skeptische Argumente in den Vordergrund zu rücken und mithilfe von suggestiven und aufgeladenen Begriffen wie „Würde“ und „Natur“ zur Dramatisierung der Diskussion beizutragen. Es ist ein naheliegendes Resultat des Berichts, allgemein Human Enhancement als Gefahr für die Würde und die Natur des Menschen zu diskreditieren. Gerade das Fehlen konkreter Handlungsempfehlungen ist damit ein wirksames Mittel der Dramatisierung, weil es eine nebulöse, pessimistische Zukunftsperspektive suggeriert. Schließlich handelt es sich bei dem Report um ein ausgesprochen anschaulich geschriebenes und auf Lesbarkeit und Verständlichkeit hin 30 Dieser Kritikpunkt ist auch ein Grund, den die Regierung von Barack Obama für die Auflösung des President’s Council angegeben hat (vgl. Wade 2009); ein weiterer dürfte in der inhaltlichen Ausrichtung des Gremiums liegen. 31 Insbesondere solche, die ebenfalls der Politikberatung dienen sollen, etwa Merkel et al. 2007; vgl. dazu auch das folgende Kapitel 11.
10.3. Eine ideologische Position
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verfasstes Dokument. Somit könnte ein weiterer Grund für das Fehlen konkreter Handlungsempfehlungen darin liegen, an der verbreiteten Intuition einer breiten Leserschaft (an die sich der Text richtet) anzuknüpfen und sie in der Überzeugung zu bestärken, dass die Biotechnologien insgesamt abgelehnt werden müssen. Dieses Verständnis des Reports unterstellt primär die Absicht, für problematische Aspekte zu sensibilisieren und skeptischen Intuitionen zum Ausdruck zu verhelfen. Als Dokument eines einflussreichen politischen Beratergremiums in einem modernen säkularen Staat ist ein solches Ergebnis unbefriedigend. Es erscheint als ein strategischer Zug des Councils, die Intuitionen als offizielles Resultat mehrjähriger Beratungen eines hochkarätig besetzten, wissenschaftlichen Gremiums zu präsentieren. Es geht den Autoren offenkundig darum, ihren (kryptoreligiösen) Intuitionen Ausdruck und eine seriöse Plattform zu verschaffen und damit gesellschaftlich wirksam zu werden (vgl. auch Pinker 2008). Die Idee einer feststehenden Natur und Würde des Menschen ohne zusätzliche Begründungen stellt keine tragfähige Grundlage für eine Ablehnung der biotechnologischen Enhancements dar. Eine Berufung auf „essential sources of concern“, die lediglich die Intuitionen einer Gruppe zum Ausdruck bringen, sind als Basis für moralisch begründete Entscheidungen in einem aufgeklärten Staat unzureichend. Mit meiner Kritik an den „Begründungen“ für die Ablehnung von Enhancements möchte ich keineswegs Enhancements per se als gerechtfertigt darstellen. Doch statt der vermeintlich „wesentlichen“ Bedenken, die der Council in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit stellt, sind es meines Erachtens vielmehr die „vertrauten“ Bedenken, die den Vorrang haben sollten: Risikoerwägungen, Gerechtigkeitsfragen und das Problem der Freiwilligkeit. Diese müssen – dem Anliegen meiner Arbeit gemäß – um eine recht verstandene anthropologische Dimension ergnzt werden. Die Vorschläge des Councils leisten dazu allerdings keinen konstruktiven Beitrag. Dennoch lässt sich aus der Lektüre des Reports eine ernsthafte Warnung davor ablesen, ohne adäquates Wissen – über das genaue Funktionieren und die möglichen (Langzeit-) Folgen – mit elementaren Grundlagen der menschlichen Existenz „herumzuspielen“ und damit menschliche Eigenschaften, die uns wertvoll erscheinen – etwa die Autonomie und das Vorliegen einer intakten Persönlichkeit –, aufs Spiel zu setzen. Diese säkulare Reformulierung der Kernaussage des Reports kommt ohne die Begriffe „Würde“ und „Natur“ aus, kann aber trotzdem die Ernsthaftigkeit der Bedenken betonen. Die vom Council bevorzugte
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10. Festhalten am status quo
Strategie, die „Würde“ und die „Natur“ des Menschen mit einem inhärenten Wert auszustatten, wird in der säkularen, humanistischen Version durch einen Vorgang der intentionalen, menschlichen Wertattribution ersetzt (vgl. Teil IV). Als Bericht eines politischen Beratungsgremiums in einem modernen säkularen Staat ist das Dokument, wie gesagt, ungewöhnlich. Die Kritik an dem Gremium und dem Report fällt daher – meines Erachtens zu Recht – scharf aus (Pinker 2008; Keim 2004). Trotzdem trägt eine Auseinandersetzung mit den Argumentationsstrategien der „Theocons“ (Linker 2006) etwas zum Verständnis der verbreiteten ablehnenden Intutionen gegenüber den neuen Technologien bei, die sich im Fall des Reports Beyond Therapy in Form pseudo-ethischer Reflexionen und schlecht kaschierter religiöser Überzeugungen zeigen. Die ablehnenden Intuitionen sind gleichwohl ernst zu nehmen, wenn man sich um eine umfassende Einschätzung der Technologien bemüht. Sie dürfen allerdings nur den Ausgangspunkt, nicht das Abschluss eines ethischen Verständigungsprozesses darstellen.
11. Abwägen von Chancen und Risiken 11.1. Ansatz und Methode der Studie Intervening in the Brain Im folgenden Kapitel werde ich exemplarisch einen Ansatz zur Einschätzung der neuen biotechnologischen Interventionsmöglichkeiten kritisch vorstellen, der auf einer ergebnisoffenen und informierten Abwägung der zu erwartenden positiven wie negativen Folgen und auf einem Abgleich derselben mit „herrschenden Moralvorstellungen“ basiert. Merkel et al. 2007 haben im Rahmen einer Arbeitsgruppe der „Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlichtechnischer Entwicklungen“ eine detaillierte Studie unter dem Titel „Intervening in the Brain. Changing Psyche and Society“ vorgelegt. Sie reagiert sowohl auf die Schrift des President’s Council on Bioethics zur Enhancementproblematik (vgl. Kapitel 10) als auch auf die transhumanistischen Verheißungen (vgl. Kapitel 9). In der Studie Intervening in the brain werden vor allem die zu erwartenden Konsequenzen untersucht, die sich für das Individuum und die Gesellschaft ergeben würden, wenn gezielte Eingriffe in das Zentrale Nervensystem (insbesondere in das Gehirn) vorgenommen werden würden, die über den bislang bekannten therapeutischen Kontext hinausgehen. Damit nehmen die Autoren eine Fokussierung auf das Gehirn vor, um die Diskussionen über neueste Therapiemöglichkeiten und ihren Enhancementeinsatz anhand eines konkreten Bereichs zu untersuchen.32 In den ersten Kapiteln der Studie werden umfassend konkrete Techniken möglicher Eingriffe in das menschliche Gehirn vorgestellt und diskutiert. Dabei bleibt die ethische Bewertung der Eingriffe zunächst im Hintergrund. Die angesprochenen Techniken, die auf das menschliche Gehirn einwirken, sind die Psychopharmakologie, die Transplantation neuronalen Gewebes, der Transfer von Genen, die Einfluss auf die Entwicklung und das Funktionieren des Gehirns haben, Neuro-Prothetik und schließlich die elektronische Stimulation des Gehirns (transkraniell oder durch sogenannte Tiefe Hirnstimulation). Im Rahmen der 32 Anders als der President’s Council 2003 versuchen Merkel et al. 2007 zu konkreten Empfehlungen für den Umgang mit den neuen Technologien zu gelangen, anstatt es bei allgemeinen Überlegungen zu belassen.
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11. Abwägen von Chancen und Risiken
Vorstellung der einzelnen Techniken wird neben dem therapeutischen immer auch der mögliche nicht-therapeutische, „enhancende“ Einsatz geschildert. Der zweite Teil des Buches widmet sich begrifflichen Klärungen, indem der Gebrauch der Worte „Person“, „Authentizität“ und „Enhancement“ selbst auf den Prüfstand gestellt wird. Am Ende der Studie finden sich die abschließenden ethischen Empfehlungen zum Umgang mit den neuen Techniken. Diese werde ich im Folgenden näher betrachten. Der abschließende Überblick beginnt mit einer klaren Positionierung bezüglich des therapeutischen Einsatzes der neuen Technologien: Die Autoren der hier zusammengefassten Studie haben wesentliche der besagten neuartigen Methoden aus den Bereichen Psychopharmakologie, Neurotransplantation, Neuroprothetik und elektrische Hirnstimulation eingehend untersucht. Sie erkennen deren Potential zu therapeutischer Hilfe für den Einzelnen und zum Nutzen für die Gesellschaft an. Da solche Eingriffe unmittelbar auf das Gehirn einwirken, muss ihre Anwendung mit besonderer Sorgfalt erfolgen, auch wenn sie ausschließlich therapeutischen Zwecken zu dienen bestimmt sind. (Merkel et al. 2007, 421) 33
Schon mit Blick auf den eindeutig therapeutischen Einsatz der neuartigen Technologien ist nach Ansicht der Autoren Vorsicht geboten. Damit heben sie indirekt hervor, dass auch in therapeutischer Absicht keineswegs die Anwendung jeder Technologie gerechtfertigt werden kann. Gleichwohl halten die Autoren an einer Abgrenzung zwischen Therapie und Enhancement fest. Letzteres führen sie sie als einen „negativen Grenzbegriff“ („negative boundary concept“, Merkel et al. 2007, 295) ein, der die Grenzen des medizinischen Handlungsbereichs bestimmt. So hat jeder technische Eingriff als Enhancement zu gelten, der jemandes physischen oder psychischen Zustand in mindestens einer bestimmten Hinsicht zu verbessern beabsichtigt, dabei aber nicht als Behandlung einer Krankheit (im Behinderungen einschließenden Sinne) beurteilt werden kann. (Merkel et al. 2007, 437)
Hiermit wird eine Definition ex negativo gewählt, die davon ausgeht, dass die Medizin über ein eigenes System von Zielen und Zwecken verfügt – namentlich die Heilung und Vermeidung von Krankheiten. Alle darüber hinausgehenden Enhancements überschreiten „the demarcation of the proper limits of medicine as a social system“ (Merkel et al. 2007, 295), weshalb für den Enhancement-Begriff gelte: „it is meant to circumscribe 33 Das Buch ist auf Englisch geschrieben, enthält aber am Ende eine Zusammenfassung der Ergebnisse in deutscher Sprache, aus der ich an dieser Stelle zitiere.
11.2. Die Verantwortung der Politik
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what should not be the case“ (ebd.). Die Stärke dieses Definitionsversuchs besteht darin, Enhancements innerhalb eines eng umschriebenen Rahmens, des medizinischen Kontextes, und damit gewissermaßen lokal zu definieren. Wenn es ein klares Bild von medizinischen Handlungen gibt, lassen sich Enhancements von diesen abgrenzen. Das Problem besteht jedoch darin, dass der Bereich der Medizin selbst keinesfalls so eindeutig definiert ist. Wenn die Autoren dies jedoch unterstellen, begehen sie entweder eine petitio principii, indem sie voraussetzen, was eigentlich erst gezeigt werden soll, oder sie liefern eine derart lokal begrenzte Definition, dass sie tautologisch wird (vgl. Teil II, insbesondere Kapitel 5). Neben dieser Schwierigkeit erweist sich die Auswahl der ethischen Bewertungsmaßstäbe innerhalb der Studie als problematisch. Die Autoren ziehen den notorisch unterbestimmten juristischen Begriff der „guten Sitten“ heran und beziehen sich auf die in der biomedizinischen Ethik häufig gebrauchten vier Prinzipien der sogenannten „Prinzipienethik“ (Beauchamp/Childress 2009; vgl. dazu auch Birnbacher 2003, 77 – 83). Damit investieren die Autoren zu wenig in eine profundere ethische Auseinandersetzung mit der Enhancement-Problematik, die angesichts der möglichen Veränderungen von Menschen ohne eine anthropologische Hintergrundtheorie nicht auskommen kann (vgl. Teil IV). Bei der abschließenden Einschätzung greifen sie zudem die wertvollen Überlegungen zu Person und Personalität, die im Kapitel 5 von einem Teil der Autoren (Dirk Hartmann und Thorsten Galert) entwickelt wurden, nicht hinreichend auf.
11.2. Die Verantwortung der Politik Bei der Studie handelt es sich dennoch um eine bedachte Diskussion der de facto vorliegenden Interventionsmöglichkeiten, die mögliche Weiterentwicklungen in den Blick zu nehmen versucht und auf philosophischer Grundlage eine Einschätzung der Gesamtsituation unternimmt. Das interdisziplinäre Autorenkollektiv bietet damit eine empirisch und philosophisch informierte Beratung für politische Entscheidungsprozesse an. Die Studie bemüht sich um weltanschauliche Neutralität, bleibt dabei allerdings den säkularen europäischen Werten verpflichtet. Auch in den ambivalenten aktuellen Entwicklungen der Wissenschaften wird grundsätzlich die Möglichkeit gesehen, diese im Dienst der Menschen und der Gesellschaft einzusetzen. Vor allem der mögliche therapeutische Nutzen der biotechnologischen Interventionen – das „Potential zu
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11. Abwägen von Chancen und Risiken
therapeutischer Hilfe für den Einzelnen und zum Nutzen für die Gesellschaft“ – wird hervorgehoben. Doch auch der Einsatz über therapeutische Ziele hinaus, also das Enhancement, stellt nach Meinung der Autoren grundsätzlich „noch keinen ,Verstoß gegen die guten Sitten‘“ dar. Damit wird prima vista eine grundsätzliche moralische Unbedenklichkeit des Einsatzes von Enhancement-Techniken behauptet, die auch dann gilt, wenn Enhancements außerhalb des engen medizinisch-therapeutischen Kontextes durchgeführt werden: Naturargumente oder die „gute Sitten“ liefern keinen fundamentalen Einwand dagegen. Wenn sich also Bedenken und Einschränkungen formulieren lassen, müssen sie daher gegebenenfalls auf einer anderen argumentativen Basis aufbauen. Während in einigen Fällen die Unbedenklichkeit enhancender Eingriffe (unter bestimmten Bedingungen) bescheinigt werden kann,34 empfehlen die Autoren in unklaren Fällen grundsätzlich eher eine eher restriktive Praxis, zumindest solange, „bis ein gesellschaftlicher Konsens zu den komplexen einschlägigen normativen Fragen erreicht ist.“ Damit soll ein ergebnisoffen zu führender gesellschaftlicher Diskurs an die Stelle von expertokratischen Direktiven treten. Dem Standard in liberalen westlichen Demokratien entsprechend wird der autonomen Selbstbestimmung der Bürger ein hoher Stellenwert eingeräumt. Dieser gilt auch für die Entscheidung für bestimmte – auch risikobehaftete – Therapien sowie für den Einsatz biotechnologischer Interventionen ohne medizinische Indikation. Die Autoren führen aus, dass über die Akzeptabilität von Nebenwirkungen (wie etwa Persönlichkeitsveränderungen) letztlich nur die „betroffenen Personen selbst vor der Durchführung des Eingriffs“ entscheiden können. Damit werden einerseits auch Entscheidungen über eine mögliche Verschlechterung des eigenen Zustandes in den Verantwortungsbereich des Individuums delegiert. Andererseits wird damit dem Paternalismus ein Riegel vorgeschoben, denn keiner darf zu einer bestimmten Intervention gezwungen werden, selbst wenn andere der Meinung sein könnten, die Person selbst werde im Anschluss daran dem Eingriff zustimmen. Grundsätzlich fällt damit die individuelle Freiheit und Autonomie der betroffenen Person „gravierend (wenn auch nicht allein entscheidend)“ ins Gewicht. Auch 34 Etwa Neuroimplantate, wenn die informierte Zustimmung des Patienten vorausgesetzt werden kann, oder Schönheitsoperationen und kognitive Enhancements, wenn sie der autonomen Entscheidung des Patienten/Kunden entsprechen und keine gesellschaftlichen Nachwirkungen nach sich ziehen, die zu vermeiden der Staat verpflichtet ist.
11.2. Die Verantwortung der Politik
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hiermit vertreten die Autoren einen gemäßigten Liberalismus, der der Freiheit des Einzelnen besondere Bedeutung zuspricht, solange damit nicht die Freiheit der anderen eingeschränkt oder verunmöglicht wird. Im individuellen Freiheitsgebrauch hat der Staat keine Rechte, sich einzumischen. Die Autoren betonen die Verantwortung der Politik, über die Praxis von Enhancement zu entscheiden. Enhancement falle nicht in den genuinen Aufgabenbereich der Medizin. Daher sollen reine EnhancementMaßnahmen auch nicht vom staatlichen, solidarischen Gesundheitssystem finanziert werden. Auch Forschung, die auf die Entwicklung möglicher Enhancements zielt, soll nicht mit öffentlichen Mitteln gefördert werden. Die Entwicklung und Ausführung dieser biotechnologischen Interventionsmöglichkeiten wird damit der freien Wirtschaft und den Medizinern selbst überlassen, wobei der Staat sich allerdings nicht gänzlich aus der Verantwortung stehlen dürfe. Es sei vielmehr seine wichtige Aufgabe, profunde Begleitforschung zur Entwicklung und Anwendung derartiger Techniken einzufordern.35 Diese haben insbesondere auch auf diejenigen möglichen negativen Konsequenzen zu achten, die angesichts der befürchteten und teilweise äußerst vehement vorgetragenen fatalen Konsequenzen bisweilen nur wenig Beachtung finden. Radikale Persönlichkeitsveränderungen, wie etwa der vollständige Verlust der personalen Identität, sind realistischerweise kaum zu erwarten.36 Bei solchen Nebenwirkungen würden gesellschaftliche Selbstregulationsmechanismen schnell dazu führen, dass die jeweiligen Techniken vom Markt verschwinden würden. Besondere Aufmerksamkeit sei dahingegen nötig, um subtilere Veränderungen der Psyche und Persönlichkeit zu erkennen.37 Der Staat stehe in der Pflicht, solche Forschungen zu fordern, zu fördern und dafür Sorge zu tragen, dass die Resultate solcher Studien öffentlich zugänglich gemacht werden und den
35 Hierzu werden konkrete Vorschläge unterbreitet, auf die ich hier nicht eingehen werde. 36 Anderer Meinung ist auch hier der President’s Council, der weitreichende Veränderungen, gar den Verlust der Identität von Personen befürchtet (President’s Council 2003, bes. 293 – 295). 37 Bei Tiefer Hirnstimulation beispielsweise wurden in den ersten Jahren der Anwendung die beeindruckenden Erfolge gefeiert und die erstaunlich geringen, bis teilweise gar nicht erkennbaren Nebenwirkungen hervorgehoben. Erst jetzt beginnt man, auch die hervorgerufenen subtilen Persönlichkeitsveränderungen genauer in den Blick zu nehmen.
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11. Abwägen von Chancen und Risiken
Individuen bei der individuellen Entscheidungsfindung zur Verfügung stehen. Eine weitere Interventionspflicht des Staates ergibt sich nach Meinung der Autoren dann, wenn sich in größerem Umfang gesellschaftliche Ungerechtigkeiten (etwa in Form „krasser Ungleichverteilung von Wohlstand und damit von sozialen Chancen“) als Resultat von biotechnologischen Enhancements zeigen. In diesem Fall, so heißt es, „müssen Gegenmaßnahmen ergriffen werden“. Dies gilt auch, wenn gesellschaftlicher Druck auf diejenigen Individuen erkennbar wird, die sich aus freien Stücken gegen eine bestimmte Intervention entscheiden. Hier hat der Staat dafür Sorge zu tragen, dass kein peer pressure und Zwang für diejenigen entsteht, die Enhancements ablehnen. Über diese Empfehlung hinausgehend entwickeln die Autoren Vorschläge, welche Maßnahmen und politischen Regelungen getroffen werden sollen, um bestimmte vulnerable Gruppen – Kinder und psychiatrische Patienten – vor Gefahren im Zusammenhang mit dem Einsatz biotechnologischer Interventionen zu schützen. Es zeigt sich somit ein insgesamt pragmatisches und auf politische Interventionen bauendes Set von Vorschlägen, wie der Umgang mit Enhancements zu regeln sei. Diese basieren vor allem auf einer Liste von Bedenken („issues of concern“, Merkel et al. 2007, 319 ff.): Sicherheitsrisiken; außerdem Bedenken hinsichtlich der Autonomie und Authentizität von Personen, da manche Handlungen unter (verdecktem) Zwang ausgeführt werden könnten; fernerhin werden – allerdings sehr kurz – mögliche Bedenken angesprochen, die sich hinsichtlich der „true nature of human beings“ ergeben könnten (Merkel et al. 2007, 343 – 34838); zudem könnten Enhancements eine Eigendynamik entfalten, die zu einer „corruption of goals“ führe, also die ursprünglichen Handlungsziele durch neue ersetze, die zuvor nicht wünschenswert waren; schließlich könne auch die soziale Gerechtigkeit insgesamt gefährdet werden, etwa durch eine weitreichende Medikalisierung der Gesellschaft.39 38 Die Diskussion der normativ verstandenen „menschliche Natur“ wird allerdings auf das menschliche Wohlergehen reduziert: „the initial insistence on an allegedly ,true nature of human beings’ […] turned out to be not so much a concern for human nature, but for human well-being.“ (Merkel et al. 2007, 347). 39 Auffällig ist im Vergleich zur Liste der Bedenken in der Studie des President’s Council (Kapitel 10) jedoch das Fehlen einer direkt ausgesprochenen Unterscheidung zwischen „wesentlichen“ und „nicht wesentlichen“ Bedenken. Während der President’s Council mit dieser Unterscheidung Bedenken, für die
11.3. Der prinzipienethische Ansatz
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Bewertungsmaßstab sind dabei, wie gesagt, die „guten Sitten“, die wohl in Form der vier Prinzipien des sogenannten prinzipienethischen Ansatzes von Beauchamp und Childress verstanden werden. Ein solcher ethischer Maßstab ist philosophisch allerdings unbefriedigend, da er wesentlich ein Ergebnis rekonstruktiver Ethik ist (vgl. Birnbacher 2003, Kapitel 2). Damit kann er zwar mit gutem Grund als Ausdruck einer herrschenden Moralvorstellung gelten, indem der unterbestimmte juristische Ausdruck der „guten Sitten“ durch den prinzipienethischen Ansatz konkretisiert wird. Hauptkritikpunkt bleibt dabei dennoch die fehlende normative und anthropologische Substanz, die eine deskriptive Ethik allein nicht einlösen kann.
11.3. Der prinzipienethische Ansatz: Principles of Biomedical Ethics Die Diskussion der Legitimität von Enhancement-Techniken basiert bei Merkel et al. 2007 im Wesentlichen auf der Anwendung des „prinzipienethischen Ansatzes“ („Principlism“) von Beauchamp und Childress. Dieser spielt in der biomedizinischen, angewandten Ethik eine dominierende Rolle, weshalb der Diskussion dieses Ansatzes hier einiger Raum eingeräumt wird. Mit dem Heranziehen des Principlism haben die Autoren eine grundlegende Entscheidung für ihre ethische Diskussion getroffen. Der prinzipienorientierte Ansatz stellt in der (westlichen) biomedizinischen Ethik so etwas wie einen ethischen Minimalkonsens dar, der sich weitgehend als anschlussfähig und praxistauglich erwiesen hat, auch wenn – oder gerade weil – er lediglich ein recht rudimentäres ethisches Modell bereithält, das vor allem heuristisch zur Auffindung und Diskussion möglicher Konflikte auf der Grundlage eines (spezifisch westlichen) moralischen Minimalkonsens dienen kann. Zur Begründung der Prinzipienethik ziehen die Autoren die „common morality“ und einen kohärentistischen Ansatz heran. Die Prinzipienethik wurde von Beauchamp und Childress erstmals im Jahr 1979 mit der Veröffentlichung des Buches Principles of Biomedical eine Lösung gefunden werden kann, von grundsätzlichen Bedenken unterscheidet, haben diese fundamentalen Bedenken bei Merkel et al. nur eine untergeordnete Bedeutung, werden zumindest nicht eigens als einer anderen Klasse zugehörig definiert.
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11. Abwägen von Chancen und Risiken
Ethics vorgelegt, das im Jahr 2009 seine 6. Auflage erfahren hat. Die regelmäßigen Neuauflagen versuchen, die gegen den Principlism vorgebrachte Kritik in den Ansatz zu integrieren, die Theorie damit besser an die jeweils aktuellen Bedingungen anzupassen sowie grundlegenden meta-ethischen Einwänden zu begegnen.40 Die Prinzipienethik besteht im Wesentlichen aus vier „Prinzipien“. Dies sind Grundsätze von „mittlerer Reichweite“ (mid-level principles). The set of moral principles […] functions as an analytical framework intended to express general norms of the common morality that are a suitable starting point for biomedical ethics. These principles should function as general guidelines for the formulation of the more specific rules. (Beauchamp/ Childress 2009, 12, Hervorhebung JCH)
Grundsätze sind es, weil damit fundamentale Wertaussagen oder Handlungsanweisungen ausgesprochen werden, die weitgehend unhinterfragt konsensuelle Gültigkeit im gegenwärtigen biomedizinischen Kontext beanspruchen können. Um Prinzipien mittlerer Reichweite handelt es sich, weil damit einerseits keine fundamentale Letztbegründung der Moral beansprucht wird, andererseits aber auch keine bloß kasuistischen ad hoc-Moralurteile getroffen werden sollen. Die Verankerung in der Praxis und im Selbstverständnis der Praktizierenden ist ausschlaggebend für die Zuweisung des Status eines Prinzips mittlerer Reichweite.41 Damit vermeidet der Principlism die teilweise als fruchtlos und praxisirrelevant erfahrenen fundamentalen Diskussionen zwischen verschiedenen moraltheoretischen Begründungsstrategien: Der Principlism knüpft an die unterschiedlichsten Ansätze an und macht Angebote in alle Richtungen. Dieser deskriptiv-rekonstruktive Ansatz der Prinzipienethik erweist sich daher in der Anwendungspraxis elaborierteren moralphilosophischen Ansätzen häufig als überlegen. Zu dieser „funktionalen“ und pragmatischen Ausrichtung des Principlism schreibt Birnbacher (2003, 77 f.) treffend: „Statt die kontroversen Verästelungen der moralischen Anschauungen im Detail nachzuzeichnen, beschränken sich beide Konzeptionen [scil. der Principlism und Bernard Gerts „zehn moralische Regeln“, JCH] auf die groben Umrisse der Moral und rekonstruieren nur denjenigen Kernbestand an Prinzipien, der so unkontrovers ist, dass er von allen, die überhaupt am moralischen Sprachspiel teilnehmen, glei40 Einen Überblick über die Diskussionen zur Prinzipienethik geben Rauprich/ Steger 2005. Aktuell Vieth 2008 und Hofmann 2009. 41 Vgl. zur Methode und dem Versuch einer Begründung des prinzipienethischen Ansatzes insbesonder die Kapitel 1, 9 und 10 in Beauchamp/Childress 2009.
11.3. Der prinzipienethische Ansatz
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chermaßen anerkannt wird. Auf diese Weise fällt Licht zwar nur auf einen kleinen Ausschnitt aus dem Gesamtsystem der Moral. Für die rekonstruktive Ethik bedeutet diese Selbstbeschränkung aber gleichzeitig einen Zuwachs an Sicherheit.“ Die vier Prinzipien sind: respect for autonomy, non-maleficience, beneficience und justice. Sie zeigen die Einflüsse aus der Geschichte des medizinischen Selbstverständnisses (Hippokratischer Eid; salus aegroti suprema lex), einer konsequentialistischen Moralbegründung (das Ergebnis der positiven Konsequenzen für den Behandelten), doch auch einer autonomen Selbstgesetzgebung als Grund der Moral (Einfluss von Kant). Darüber hinaus werden auch gerechtigkeitstheoretische Ansätze integriert (Einfluss von Rawls). respect for autonomy: Mit diesem ersten der vier gleichberechtigt nebeneinander bestehenden Prinzipien wird die hohe Bedeutung der Selbstbestimmung eines Individuums betont. In Abweichung zu Konzeptionen paternalistischer Verantwortung ist bei jeder Entscheidung für oder gegen einen Eingriff das „informierte Einverständnis“ (informed consent) des Patienten einzuholen. Damit wird die selbstbestimmte Entscheidung im größtmöglichen Maße respektiert. An Grenzen stößt der Respekt vor individuellen Entscheidungen lediglich da, wo dieser mit anderen legitimen Ansprüchen konfligiert (vgl. „Gerechtigkeit“). non-maleficience: Das Gebot der Schadensvermeidung – im klassischen Kodex der ärztlichen Handlungsanweisungen primum non nocere – verpflichtet den Arzt darauf, alle schädigenden Handlungen zu unterlassen. Nun ist aber eine medizinische Handlung oftmals nicht eindeutig heilsam oder schädigend, wie schon das griechische Wort pharmakon anzeigt, das zugleich Heilmittel und Gift bedeutet. Auch ein chirurgischer Eingriff stellt immer eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit eines Patienten dar. Es stellt sich also die Frage nach dem Maßstab, anhand dessen das Vorliegen einer Schädigung gemessen werden soll. Auch mit Blick auf die Enhancement-Frage wird man diesen Maßstab in der persönlichen Bewertung des Betroffenen suchen müssen; paternalistische Bevormundungen sind ja bereits durch das erste Prinzip diskreditiert. beneficience: Ärztliches Handeln ist auf Heilen, auf Fürsorge und auf Wohltun angelegt. In der traditionellen Rollenbeschreibung des ärztlichen Handelns hieß es daher salus aegroti suprema lex. Im Kontext der Prinzipienethik ist die Fürsorgerelation zwischen Arzt und Patient nicht mehr das höchste Gebot, sondern ein gleichberechtigtes neben drei anderen. Im Gegensatz zum zweiten Prinzip wird jedoch hier eine Handlungsaufforderung abgeleitet: Bestimmte Interventionen fallen in
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11. Abwägen von Chancen und Risiken
den Aufgabenbereich des Arztes, der sich verpflichtet fühlen soll, diese auszuführen. Oftmals können sich Konflikte zwischen der Aufforderung, Schaden zu vermeiden und Wohl zu tun ergeben, die dann unter Berücksichtigung des Respekts vor den autonomen Entscheidungen des Betroffenen gelöst werden müssen. justice: Ein konkretes medizinethisches Dilemma kann nicht isoliert betrachtet werden. Deshalb wird mit der Einführung des Prinzips der Gerechtigkeit der ethische Reflexionsbereich erweitert. In einem konkreten Fall müssen – neben der Berücksichtigung des betroffenen Individuums – auch Überlegungen zur Verteilungsgerechtigkeit knapper Ressourcen angestellt sowie die zu erwartenden Konsequenzen der Handlungen für andere Menschen (im Umfeld, in der Gesellschaft, auf der Welt) berücksichtigt werden. Auf diese Weise erfährt das Prinzip der Autonomie, das im Rahmen der Prinzipienethik als primus inter pares gilt, eine wichtige Einschränkung.42 Zur Gerechtigkeit müssen weitere Konkretisierungen vorgenommen werden, um dieses Prinzip plausibel anwenden zu können.43 Mit dem prinzipienethischen Ansatz wurde ein Instrument geschaffen, das in unterschiedlichen situativen Kontexten als Heuristik herangezogen werden kann, um problematische Aspekte einer Situation zu identifizieren und Handlungsempfehlungen zu generieren. Dies wird im ärztlichen Alltag angesichts häufig auftretender Dilemmata als Erleichterung empfunden – auch wenn der Ansatz insgesamt in moralphilosophischer Hinsicht unbefriedigend bleibt. Das ganze Modell ist nicht adäquat begründet, Begründungsfragen werden sogar explizit ausgespart.44 Damit ist die Prinzipienethik lediglich eine deskriptive und re42 Über die genaue Stellung des ersten Prinzips im Rahmen der Prinzipienethik ist viel diskutiert worden: Häufig wurde Beauchamp und Childress vorgeworfen, mit der Betonung der Autonomie eine spezifisch US-amerikanische Wertschätzung zu verabsolutieren. In der sechsten Auflage wehren sie sich vehement gegen diese Einschätzung und betonen, dass die Autonomie durch eine Vielzahl von Situationen, die andere Prinzipien in den Vordergrund stellen, zurückgesetzt werden kann. Sie illustrieren dies durch folgende Beispiele: „If our choices endanger the public health, potentially harm innocent others, or require a scarce resource for which no funds are available, others can justifiably restrict exercises of autonomy.“ (Beauchamp/Childress 2009, viii). 43 Die Prinzipienethik stützt sich hier auf die Arbeiten von Rawls 1999 und auf die neueren Spezifizierungen des Rawlsschen Modells auf das Gesundheitswesen durch Daniels 1985, 2008. 44 Spärliche Hinweise zur Begründung und Herleitung der Prinzipien durch Betrachtung der „common morality“ finden sich im zehnten Kapitel, in dem ge-
11.3. Der prinzipienethische Ansatz
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konstruktive Ethik, keine normative Ethik. Marckmann bezeichnet den Principlism treffend als „[r]ekonstruierte Alltagsmoral statt umfassender Moraltheorie“ (Marckmann 2000). Darüber hinaus ist sie konkret an die gegenwärtigen kontingenten Moralvorstellungen in den westlichen Industrienationen angelehnt und erhebt – zunächst einmal – keinen universalistischen Anspruch. Außerdem wird häufig kritisiert, dass die vier Prinzipien in keinem Zusammenhang, sondern unverbunden nebeneinander stehen (Clouser/Gert 1990). Dennoch erweist sich der prinzipienethische Ansatz zur Diskussion moralischer Probleme im Kontext biomedizinischer Anwendungen als ein fruchtbarer erster Schritt. Die Vorteile für die Praxis liegen auf der Hand: Marckmann weist darauf hin, dass mit dem prinzipienethischen Ansatz zahlreiche Probleme schnell identifiziert werden können und dass außerdem eine Strukturierung der Problembearbeitung angeboten wird, indem der Reihe nach die Prinzipien auf die betreffende Situation angewendet werden (Marckmann 2000). Darüber hinaus unterstützt der Principlism die Konsensfindung, da kein Streit zwischen moralphilosophischen Schulen heraufbeschworen wird, sondern nach weitgehend anschlussfähigen Aussagen und Wertungen von unterschiedlichen moralischen Standpunkten gesucht wird. Schließlich wird mit der Anwendung dieser Methode auch die Transparenz der ethischen Konfliktsituation insgesamt erhöht, da die angelegten Maßstäbe explizit zeigt werden soll, wie die „common morality supplies considered judgements“, die mit der an Rawls angelehnten Methode des „reflective equilibrium“ formuliert werden können (Beauchamp/Childress 2009, 387). Diese Rechtfertigung der „universal common morality“, die sich in Form der Prinzipien ausdrücken lässt, soll mit drei Schritten erreicht werden, einer empirischen, einer normativ-theoretischen und einer konzeptuellen Rechtfertigung (392 – 396). Als Ausgangspunkt der Prinzipienethik dient somit eine Mischung herrschender Moralvorstellungen, was einen Relativismus der Prinzipien bedingt, der häufig kritisiert worden ist (etwa Clouser/Gert 1990). So bezieht sich jedes der Prinzipien auf eine wichtige ethische Theorie, die innerhalb des prinzipienethischen Ansatzes einfach kumulativ zusammengenommen werden: „The four main principles are reduced to four principles from which agents are told to pick and choose as they see and fit, as if one could sometimes be Kantian and sometimes Utilitarian and sometimes something else, without worrying whether the theory one is using is adequate or not.“ (Clouser/Gert 1990). Trotz meiner kritischen Einschätzung der Prinzipienethik halte ich die Einschätzung, dass Menschen sich pragmatisch an unterschiedlichen moralischen Bewertungsmaßstäben orientieren – mal mehr deontologisch, mal mehr konsequentialistisch etc. – für zutreffend. Doch dieses Problem kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden.
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11. Abwägen von Chancen und Risiken
gemacht werden und sich damit einer intersubjektiven Nachvollziehbarkeit anbieten.
11.4. Eine prinzipienethische Einschätzung biotechnologischer Enhancements Die Diskussion der moralischen Legitimität der Anwendung biotechnologischer Interventionen im Gehirn mithilfe des prinzipienethischen Ansatzes bezieht therapeutische und „enhancende“ Eingriffe gleichermaßen ein. Die Autoren der Studie Intervening in the Brain haben sich – abweichend von der von Beauchamp und Childress vorgeschlagenen gleichen Gewichtung der Prinzipien – dafür entschieden, das Prinzip des Nicht-Schadens vorzuziehen und prioritär zu behandeln, um damit „dessen vorrangige Bedeutung für unsere gegenwärtigen Fragen zu unterstreichen“ (Merkel et al. 2007, 440 Anm.). Dieses Vorziehen des Nicht-Schadens-Prinzips gründet in der naheliegenden Überzeugung, dass die weitere Diskussion nur unter der Voraussetzung geführt wird, dass der Einsatz der Mittel weitestgehend sicher ist. (1) Die Diskussion des Nicht-Schadens-Prinzips bezieht sich – neben offenkundigen katastrophalen Folgen, die nicht näher diskutiert werden – primär auf die Berücksichtigung unerwünschter Nebenwirkungen der möglichen Eingriffe. Dabei machen die Autoren an dieser Stelle überzeugend auf mögliche „subtile Persönlichkeitsveränderungen“ („subtle psyche-related side effects“, Merkel et al. 2007, 284) aufmerksam, die auf den ersten Blick nicht als unerwünschte Nebenwirkungen erkannt werden können, aber dennoch in die Diskussion einbezogen werden müssen. Hierzu zählen etwa „changes in temper, motifs, propositional attitudes, talents and self-concept“ (Merkel et al. 2007, 282), die sich aus Eingriffen in das Gehirn ergeben können. Diese auf den ersten Blick kleinen Veränderungen sind weitaus wahrscheinlicher als radikale Veränderungen wie der Ausbruch offenkundiger psychiatrischer Erkrankungen, werden aber trotzdem in den Diskussionen häufig vernachlässigt. Da solche subtilen Veränderungen zudem seltener entdeckt werden, stellen sie eine besondere Gefahr dar. Allerdings könne man ihnen durch eine genaue Risikoanalyse, durch besondere Aufklärung der teilnehmenden Personen und durch einen sorgfältigen Studienentwurf begegnen, dem die betroffenen Personen nach Aufklärung zustimmen oder den sie ablehnen können. Vor diesem Hintergrund erweist sich das Nicht-Schadens-
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Prinzip nicht als eine Klippe, an der die ethische Legitimität von Enhancements zerschellen muss, selbst wenn sie mit einem bestimmten Risiko einhergehen. (2) Als zweites Prinzip wird das „Wohltun“ angesprochen, das mit dem medizinischen Handeln und dem Einsatz der biotechnologischen Interventionen einhergehen soll. In diesem Zusammenhang werden Fragen der Verantwortlichkeit und der Haftung für die Folgen der Eingriffe diskutiert. So ist zunächst einmal unklar, ob es überhaupt eine positive Verpflichtung von jemanden geben kann, die biotechnologischen Mittel anzuwenden, vor allem, wenn es außerhalb eines streng definierten therapeutischen Kontextes stattfindet. Die „Wohltunspflichten“ mit Blick auf Enhancement-Maßnahmen sollen daher nach Ansicht der Autoren aus dem Katalog der vom öffentlichen Gesundheitssystem zu finanzierenden Leistungen ausgeschlossen werden. Schließlich handelt es sich bei Enhancements gewissermaßen um ein Luxusgut. Daher soll mit öffentlichen Mitteln auch keine Forschung zu Enhancement-Zwecken finanziert werden. Diese bleibt damit privaten Initiativen überlassen (Merkel et al. 2007, 452 f.). Die Behandlung unerwünschter Nebenwirkungen verbessernder Eingriffe allerdings solle als Konsequenz der Anwendung des Prinzips des Wohltuns gegebenenfalls doch vom öffentlichen Gesundheitswesen bezahlt werden: Wenn als Folge eines individuell finanzierten Enhancement-Eingriffs etwa eine Sucht oder eine psychiatrische Erkrankung eintrete, verdiene die betroffene Person wieder die solidarische Unterstützung des öffentlichen Systems. Die Haftung für die negativen Konsequenzen wird somit – ähnlich wie bei individuell verursachten Verletzungen im Rahmen der Ausübung von Risikosportarten – vor dem Hintergrund des Prinzips des Wohltuns, das für ärztliches Handeln gelten soll, dem öffentlichen Gesundheitssystem zugewiesen. Die Frage, ob Enhancements insgesamt tatsächlich „wohl tun“, lässt sich nicht abschließend beantworten. Dass sie Einzelnen subjektiv erstrebenswert erscheinen (vgl. Kapitel 8.1.), ist jedenfalls nicht hinreichend dafür, sie in den Katalog der vom Gemeinwesen getragenen Leistungen zu integrieren. Allerdings fokussieren die Autoren auch weniger auf die Frage, was den Menschen „wohl tut“, sondern es geht ihnen vor allem um eine Regelung und Begrenzung der zwischenmenschlichen Wohltätigkeit, wie sie von einem öffentlichen Gesundheitssystem getragen werden soll. Hierbei nehmen sie eine Bewertung anhand ökonomischer Kriterien vor – und gehen nicht weiter der Frage nach, ob Enhancements tatsächlich „wohl tun“ oder das menschliche
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11. Abwägen von Chancen und Risiken
Wohlergehen befördern. Dies erscheint als eine Verengung der Perspektive, die einen Mangel in der gesamten Auseinandersetzung mit der Enhancement-Problematik darstellt, da der „Wohltunsaspekt“ von Enhancements der ökonomischen Frage untergeordnet wird. (3) Schließlich wenden sich die Autoren auch dem Prinzip der Autonomie zu, das hinsichtlich der informierten Zustimmung der betroffenen Personen und der möglichen Ausübung von (subtilem) Zwang herangezogen wird. Die rechtlichen Bedingungen für eine selbstbestimmte, informierte Entscheidung in Bezug auf die Anwendung biotechnologischer Interventionen werden noch einmal festgelegt (Einwilligung des Betroffenen in einen Eingriff, der nicht gegen die „guten Sitten“ verstößt) und es werden mögliche Grenzen einer freien Entscheidung aufgezählt (wenn ein schwerer körperlicher oder psychischer Schaden aus dem Eingriff folgt oder wenn bestimmte psychische Veränderungen nur in betrügerischer Absicht gewünscht werden, etwa um nachträglich die Verantwortung für eine vorher begangene Straftat abzulegen). Dabei berufen sich die Autoren wiederholt auf die „guten Sitten“, die aber als eine „bequeme Abkürzung“ (Merkel et al. 2007, 458) bezeichnet werden, da mit ihnen ausufernde rechtliche Regelungen zunächst vermieden werden können. Die Diskussion des Autonomieprinzips ist im Falle von Entscheidungen, die für nicht selbst entscheidungsfähige Dritte getroffen werden, eine andere, als wenn über einen autonomen Menschen entschieden wird. Im Fall von nicht-einwilligungsfähigen Personen wie Kindern etwa sollen die Eltern nach Meinung der Autoren aus Respekt vor ihrer Autonomie kein Recht haben, „eine wirksame Einwilligung zu Eingriffen in das Gehirn eines Kindes zum bloßen Zwecke des Enhancements geben [zu] können“ (Merkel et al. 2007, 460). Damit wird betont, dass eine autonome Entscheidung nur von einem Individuum selbst für sich getroffen werden kann. Das problematisiert eine gesellschaftlich relevante Ebene der Enhancement-Debatte (die in meiner eigenen Arbeit jedoch im Hintergrund steht): Enhancement-Leistungen werden häufig von Eltern nachgefragt, die ihre Kinder „verbessern“ wollen. Die Frage, was tatsächlich im aufgeklärten und besten Interesse des Kindes steht, ist schwierig zu beantworten; vor allem, da aufgrund kompetitiver Gesellschaftsstrukturen die Eltern häufig selbst unter Druck stehen und diesen an die Kinder weitergeben, die sie mithilfe von Enhancements für den gesellschaftlichen Wettbewerb rüsten wollen. Bemerkenswert sind hier die kritischen Ausführungen von Sandel zum „Hyperparenting“, einem in den USA bereits weit verbreiteten Phänomen (Sandel 2007). „Hy-
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perparenting“ bezeichnet die unmäßigen elterlichen Anstrengungen, ihren Nachwuchs zu fördern und zu Höchstleistungen anzustacheln.45 Es erscheint damit gerechtfertigt, die Entscheidungsbefugnis der Eltern über Enhancement-Eingriffe an ihren Kindern zu begrenzen, um extreme Eingriffe zu vermeiden. Die jetzige Praxis, bei der Eltern mithilfe von Ärzten Psychopharmaka im Grenzbereich zwischen therapeutischen und „enhancenden“ Eingriffen für ihre Kinder erhalten, stellt einen hinreichend großen und damit schon hinreichend problematischen Anwendungsbereich von Enhancern dar (vgl. Heilinger 2010). Neben diesen Überlegungen zum informierten Einverständnis, die im Rahmen biomedizinischer Bewertungen zum Standard gehören, betrachten die Autoren die Authentizitt der betroffenen Personen. Unter Authentizität verstehen die Autoren die Selbigkeit einer Person, die einerseits durch autonome Motive selbst zu einer Entscheidung für eine Enhancement-Handlung kommen kann, andererseits auch nach einem verändernden Eingriff noch als dieselbe Person fortbestehen soll. Die Autoren kommen zu dem (problematisch formulierten) Ergebnis, dass auch „eine Person mit künstlich optimierten Fähigkeiten insofern weiterhin ein authentisches Selbst hat, als ihre Entscheidungen immer noch im Einklang mit ihrer Natur stehen können“ (Merkel et al. 2007, 463). Befürchtungen, dass ein verändernder Eingriff damit das Ende einer Person und den Beginn einer neuen Person darstelle, oder dass nach einem Eingriff die Person nicht mehr authentisch sie selbst sein könne, werden von den Autoren damit nicht geteilt. Dies geschieht auf der Grundlage der gründlichen Analysen zur personalen Identität und Persönlichkeit im fünften Kapitel des Buches, in der ein „narrative approach of personality and personal identity“ entwickelt wird. Bemerkenswert ist daran, dass der narrative Ansatz nicht allein für die Konstitution von Persönlichkeitsmerkmalen herangezogen wird (was auch von anderen, etwa Taylor, MacIntyre, Dennett und Glover, versucht wurde), sondern dass es den Autoren gelingt, dass Narrativitätskriterium auch auf den Bereich der personalen Persistenz, der Identität über die Zeit und mit der Zeit einhergehende Veränderungen hinweg, auszudehnen. Wenn die Möglichkeit zu einer kohärenten Narration auch über unterschiedliche Stadien mit verschiedenen Sets von Eigenschaften, Motiven und Zielen besteht, wenn also eine Lebensgeschichte erzählt werden kann, die im 45 Vgl. die sog. „Baby Ivies“ in New York City, in denen schon im Kindergartenalter die Grundlagen für einen späteren Zugang zu den US-amerikanischen Elite-Hochschulen der Ivy League gelegt werden sollen.
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episodischen Gedächtnis eines Individuums hinreichend verankert ist, um als einigermaßen adäquat gelten zu können, dann besteht kein Grund dafür, einem Individuum mit einem veränderten Set von Eigenschaften nach einem Enhancement-Eingriff die Authentizität (also die Zugehörigkeit dieses Sets von Eigenschaften zu einer Person) abzusprechen (vgl. dazu insbes. Merkel et al. 2007, 249 – 271). Skepsis über die Authentizität hegen die Autoren lediglich dann, wenn eine persönliche Leistung unter Zuhilfenahme von Enhancements erbracht wurde. Damit wird der Schwerpunkt von der Frage nach der Selbigkeit der Person auf denjenigen der Urheberschaft von Handlungen und Leistungen verlagert. In solchen dem Doping vergleichbaren Fällen ist die Leistung offenkundig in einem geringeren Maß der Person zuzurechnen, als sie es ohne den Einsatz von bestimmten Enhancern gewesen wäre. Allerdings ist damit die Authentizität einer Leistung und nicht diejenige einer Person angesprochen. Der Einsatz bestimmter Mittel zu einem Zweck, der von anderen ohne diese Mittel erreicht wird, kann mit gutem Grund kritisiert werden (vgl. etwa Pawlenka 2008), die Authentizität und die Autonomie einer Person wird damit aber nicht eingeschränkt. (4) Die Diskussion des letzten Prinzips, der „Gerechtigkeit“, wendet sich insbesondere den mit der Zuteilung knapper Güter verbundenen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und der politischen Gerechtigkeit zu. Die Probleme der distributiven Gerechtigkeit hinsichtlich der Allokation knapper Ressourcen werfen nach Meinung der Autoren jedoch keine Probleme auf, die für die Anwendung der biotechnologischen Enhancements spezifisch wären. Wie jede neue medizinische Technologie müsse abgewogen werden, ab wann sie in den Leistungskatalog der Kassen aufgenommen werden solle, oder – wenn sie extreme Kosten verursacht – ob sie nur als private Zusatzleistung angeboten wird, die nicht dem Solidarsystem zugemutet werden kann. Damit reduzieren sie Gerechtigkeitsüberlegungen zu den neuen biotechnologischen Interventionen (wenn sie nur Therapie, Prävention und Forschung betreffen und keine Enhancements darstellen) auf die konomisierungsprobleme im öffentlichen Gesundheitssystem. Für eindeutige Enhancement-Eingriffe wird darüber hinaus die Möglichkeit einer Verschärfung bestehender sozialer Ungerechtigkeiten und der Vorwurf einer Verschwendung knapper Ressourcen thematisiert. Eine Verschärfung bestehender sozialer Ungleichheiten als Folge der Anwendung enhancender Eingriffe müsse
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verhindert werden.46 Hiermit fordern die Autoren eine nachträgliche Revision von Handlungen ein, nicht aber eine generelle Ablehnung der Eingriffe. Darüberhinaus leiten die Autoren aus dem Gerechtigkeitsprinzip die Verantwortlichkeit des Staates ab, diejenigen Personen besonders zu schützen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – gegen die Anwendung biotechnologischer Interventionen entscheiden. Dass diese Personen – subtil oder offen – durch peer pressure oder sozialen Druck gezwungen werden, sich auch derartigen Interventionen zu unterziehen, ist mit der politischen Gerechtigkeit in einem liberalen Verfassungsstaat nicht zu vereinbaren. In diesen Fällen sind politische Interventionen geboten. Die zentrale Rolle der Gerechtigkeitsüberlegungen darf nicht unterschätzt werden. Wenn bestimmte Handlungen keine besonderen Gefahren bergen, grundsätzlich dem Prinzip des Wohltuns entsprechen und die Autonomie einer Person respektieren, treten sogar vor allem Gerechtigkeitsüberlegungen auf den Plan. Die ökonomische Frage, wer solche knappen und kostenintensiven Güter finanzieren soll, wird dadurch in ihrer Bedeutung aufgewertet. Es ist jedoch fraglich, ob eine solche Fokussierung auf den ökonomischen Aspekt der Problematik dem Thema angemessen ist, wenn nicht zuvor Klarheit und Konsens darüber erreicht wurde, ob es sich bei bestimmten Enhancements tatsächlich um ein „Gut“ für Menschen handelt. Solange nicht fundamentalere Fragen zumindest gestellt werden – ich meine damit anthropologische Fragen wie diejenige, welche Bedingungen der menschlichen Lebensform als ein zumindest minimales Ideal gelten sollen – wird mit einer Fokussierung auf die Prinzipienethik gewissermaßen affirmativ verfahren und an der Oberfläche eines Problems gearbeitet. Auf der Grundlage des prinzipienethischen Ansatzes lassen sich sachlich und strukturiert zahlreiche zentrale Probleme möglicher Handlungsweisen herausarbeiten und analysieren. Die heuristische Funktion der Prinzipienethik ist damit offenkundig. Die Diskussion verläuft zudem in der Folge in einem säkularen Rahmen, mit einer Verpflichtung auf zentrale Werte der westlichen Welt: Es geht darum, 46 Den diesbezüglich einschlägigen Ansatz von Buchanan et al. 2001, dass mithilfe von Enhancements bestehende Ungleichheiten nivelliert oder verringert werden können, in dem gerade die schlechter Gestellten einen privilegierten Zugang zu Enhancements bekommen, erwähnen die Autoren an dieser Stelle (Merkel et al. 2007, 464 f.) nicht und an anderer Stelle nur am Rande (Merkel et al. 2007, 360).
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unter Vermeidung von Schaden für andere Menschen der Selbstbestimmung einer Person möglichst große Freiheiten einzuräumen. Gleichwohl bleibt bei vielen Menschen nach einer prinzipienethischen Diskussion das Gefühl, dass damit das letzte Wort noch nicht gesprochen sein kann. Die vor allem auf rechtliche und politische Regelungen zielenden Ausführungen der Studie Intervening in the Brain vernachlässigen damit bisweilen die Sphäre moralischer Reflexionen, sowie eine fundamentalere Verständigung darüber, warum diese Prinzipien Menschen in ihrem Handeln (an sich selbst) leiten sollen. Der prinzipienethische Ansatz unterstützt dieses Vorgehen: Er erlaubt eine ethische Auseinandersetzung, in der fundamentalere ethische Investitionen vermieden werden können. Auch wenn mit der prinzipienethischen Dimension eine prima facie zielführende Auseinandersetzung mit einem Problem geleistet werden kann, vermag sie für eine umfassende Einschätzung der Möglichkeit des Human Enhancement lediglich einen pragmatischen Beitrag zur Auseinandersetzung zu leisten und ermöglicht keine abschließende Einschätzung. Die prinzipienethische Diskussion ist anthropologisch unterbestimmt. Das zeigt sich auch in der Studie Intervening in the Brain. Eine Auseinandersetzung mit den Fragen, was Menschen sind und wie mit Veränderungen der Grundstruktur der menschlichen Lebensform umgegangen werden soll, wird nur en passant berührt. Einige knappe Ausführungen, die – zu Recht – eine direkte normative Kraft von Natürlichkeitsargumenten bestreiten, genügen den Autoren (Merkel et al. 2007, 343 – 348).47 Die reichen Analysen zu personaler Identität und Persönlichkeit angesichts der Möglichkeit zu Veränderungen mithilfe biotechnologischer Interventionen, wie sie im wichtigen fünften Kapitel des Buches vorgelegt wurden, finden in der prinzipienethischen Diskussion keine Entsprechung und werden daher bei der abschließenden Einschätzung nicht mehr angemessen aufgegriffen. Dabei liegt gerade hier, in der Auseinandersetzung mit der Veränderbarkeit von Individuen und auch von Gruppen von Individuen, die trotz aller Veränderungen (vielleicht sogar gerade deswegen) ihre Identität konservieren können, ein wichtiger Hinweis darauf, wie aus anthropologischer Perspektive mit dem Veränderungspotential durch die neuen Technologien umgegangen werden sollte. 47 Dabei stützen sie sich wesentlich auf die Ausführungen von Roughley 2005, vgl. dazu auch oben Kapitel 6 und 7.
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Die prinzipienethische Diskussion legt zudem einen Schwerpunkt auf die gesellschaftliche Problematik. Ökonomische Aspekte der Finanzierung und der Stabilisierung des Gesundheitssystems vor dem Hintergrund von Gerechtigkeitsüberlegungen stellen zentrale Punkte der Auseinandersetzung dar. Dies ist sicherlich angemessen, doch auch hier fehlt eine begründete Verständigung darüber, ob diese Art von Eingriffen überhaupt tatsächlich gut, erstrebenswert und der Finanzierung wert ist. Mir scheint, dass an diesen Stellen eine reichere Auseinandersetzung mit der Frage, wie Menschen sich verstehen, notwendig wäre. Diesen Mangel möchte ich der behandelten Studie jedoch nur eingeschränkt vorhalten. Schließlich handelt es sich um ein Dokument der auf rechtliche Regelungen hinarbeitenden Politikberatung und nicht primär um eine philosophische Arbeit. Es ist allerdings die Aufgabe philosophischer Beiträge zu bioethischen Problemstellungen, sich auch dem Grundgerüst zuzuwenden, auf dem die anstehenden politischen und pragmatischen Entscheidungen gefällt werden können. Ohne eine solche anthropologische Fundierung erscheinen politische Regelungsvorschläge aus einem philosophischen Blickwinkel oberflächlich. Angesichts dieser Diagnose kann man sich entweder um eine anthropologische Fundierung normativer Aussagen bemühen. Dazu unternehme ich im vierten Teil dieser Arbeit einen Versuch (der über die anthropologische Begründung einer Prinzipienethik hinausreicht). Oder man sucht in den vorgeschlagenen Regelungen selbst nach impliziten anthropologischen Annahmen: Dabei könnte sich zeigen, dass Menschen mit Blick auf Enhancements selbstoptimierende, ökonomisch auf den eigenen Vorteil blickende Wesen sind, die mithilfe von Enhancements der Verwirklichung ihrer eigenen Interessen näherkommen können. An zahlreichen Stellen ist den menschlichen Absichten dann durch politische Regelungen Einhalt zu bieten, um negative ökonomische und gesellschaftliche Konsequenzen sowie Selbstschädigungen zu vermeiden. Einem solchen Verständnis von Menschen, das den Ruch des homo oeconomicus trägt, fehlt eine positive Komponente, eine begründete und anschlussfähige „regulative Idee“, die als anthropologischer Orientierungspunkt auch für anstehende politische Entscheidungen, zunächst aber für ethische Bewertungen dienen kann. Zur Entwicklung eines solchen normativen Selbstverständnisses von Menschen möchte ich im Teil IV meiner Arbeit einen Beitrag leisten. Zuvor allerdings werde ich versuchen, ausgehend von den drei exemplarisch vorgestellten Positionen
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11. Abwägen von Chancen und Risiken
der Enhancement-Debatte, die Notwendigkeit eines integrativen Ansatzes zu erweisen.
12. Gefahren der Einseitigkeit – ein integrativer Ansatz In den ersten drei Kapiteln dieses Teils wurden exemplarisch drei Pole der aktuellen Enhancement-Debatte vorgestellt. Die fortschrittsoptimistischen und technikgläubigen „Transhumanisten“ gründeten ihre positive Einschätzung der neuen Handlungsoptionen wesentlich in ihrer Konzeption vom Menschen als einem sich beständig wandelnden Wesen, das durchaus zu noch „höheren“ Leistungen und einer „entwickelteren“ Lebensform als der gegenwärtigen in der Lage sei. Ihr prinzipieller Optimismus angesichts der Frage nach der Beherrschbarkeit der aktuellen Entwicklungen basiert seinerseits auf einer einseitigen Ausblendung der möglicherweise negativ zu bewertenden Dynamik, die mit neuen Technologien einhergeht. Ein anthropologisch voraussetzungsreicherer Ausgangspunkt wurde vom President’s Council gewählt, der seine große praktische Skepsis und Vorsicht gegenüber den neuen Technologien wesentlich über ein – kryptoreligiöses – starkes Konzept der menschlichen Würde zu legitimieren versuchte. Die gebotene vorsichtige Einstellung gegenüber neuen Entwicklungen kippt jedoch unter dem Bezug auf ein dogmatisches Menschenbild in eine übermäßige Fortschrittsfeindlichkeit um. Die Autoren der Studie Intervening in the Brain haben sich darum bemüht, weder die möglichen Verheißungen, noch die möglichen Gefährdungen, die mit den neuen Technologien verbunden sind, überzubewerten. Stattdessen haben sie auf eine Anwendung konsensueller minimaler moralischer Standards (der westlichen Welt, in Form der Prinzipienethik) vertraut, um eine möglichst sachliche Bewertung der neuen Handlungsoptionen vorzunehmen. Dabei traten nicht zuletzt ökonomische Aspekte der Problematik als regelungsbedürftig in den Vordergrund, während zugleich die Diskussion der Frage, wie Menschen sind oder sein sollen, in den Hintergrund traten. Hier zeigte sich ein Bemühen um eine methodisch „saubere“ Diskussion eines ethischen Problems, das jedoch in seiner anthropologischen Relevanz „unterbelichtet“ blieb. Im Folgenden möchte ich die genannten Einseitigkeiten der drei exemplarisch untersuchten Positionen näher bestimmen, trotz aller vorgebrachten Kritik aus den drei Positionen die jeweils überzeugenden
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12. Gefahren der Einseitigkeit – ein integrativer Ansatz
Elemente für die weitere Diskussion aufgreifen und den Bedarf an einer anthropologischen Verständigung legitimieren. Eine adäquate Bewertung der neuen Technologien bedarf aller drei hier exemplarisch und überspitzt vorgestellten Ansätze. Daher vertrete ich angesichts der neuen Handlungsoptionen einen prinzipiellen Optimismus, der gepaart mit praktischer Vorsicht eine methodisch reflektierte Bewertung vornimmt. Das zentrale Element der Debatten über die möglichen biotechnologischen Veränderungen von Menschen ist – trivialerweise – der Mensch selbst. Es sind demzufolge Begriffsklärungen und anthropologische Diskussionen nötig, denn der Begriff „Mensch“ weist gerade im Kontext ethischer Debatten eine eigentümliche normativ-deskriptive Doppelstruktur auf. In diesem abschließenden Kapitel von Teil III und in Teil IV werde ich von den konkret geführten bioethischen Debatten einen Schritt zurücktreten und versuchen, aus einer Weitwinkelperspektive die Rolle der anthropologischen Elemente im Rahmen der Enhancement-Debatte zu bestimmen. In seiner Auseinandersetzung mit der anthropologischen Grundfrage „Was ist der Mensch?“ vertritt Julian Nida-Rümelin die These, dass sich diese Frage gegenwärtig nur noch in ihrer normativ-ethischen Reformulierung und Übersetzung verstehen lasse (Nida-Rümelin 2008a, 197). Der Schwerpunkt der anthropologischen Frage verschiebt sich damit von dem ehemals gesuchten, aber durch Ideologievorwürfe diskreditierten Wesen des Menschen zu Fragen nach dem normativen Status von Menschen. Konkret umfasst die Frage „Was ist der Mensch?“ damit die Fragen, welche menschlichen Eigenschaften wie zu bewerten sind und wie Menschen sein sollen. Dabei betont Nida-Rümelin nachdrücklich die Rolle der menschlichen Autonomie, das ist die menschliche Fähigkeit, sich im Denken und Urteilen von Gründen leiten zu lassen. Diese ist für ihn die Basis einer „humanistischen“ Einstellung, in der aufgrund einer Verständigung darüber, wie Menschen sich selbst verstehen, der richtige Umgang von Menschen mit Menschen geklärt wird. Naturwissenschaftliche Einsichten über die biologische Natur des Menschen hingegen sind lediglich als wichtige Randbedingungen für die Auseinandersetzung mit der normativ-ethisch reformulierten anthropologischen Frage zu verstehen, liefern aber für sich genommen kein hinreichendes Fundament für ihre Beantwortung. Dies gilt für Nida-Rümelin, weil Gründe – die ja den Menschen auszeichnen – per se naturalistisch unterbestimmt sind (vgl. Nida-Rümelin 2007a). Auf dieser Grundlage entwickelt Nida-Rümelin einen „theoretischen Humanismus“, der aus der „anthropologischen Annahme“, dass
12. Gefahren der Einseitigkeit – ein integrativer Ansatz
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Menschen aus Gründen handeln können, „konkrete Folgerungen für die Kriterien richtiger moralischer Praxis“ gewinnt (Nida-Rümelin 2008b, 11). Aufgebaut ist dieser moderne, theoretische Humanismus auf einem Grundpostulat: „Menschliches Urteilen und Handeln sollte von Gründen geleitet sein.“ (Nida-Rümelin 2008b, 14; vgl. außerdem NidaRümelin 2006a). Ein solcher theoretischer Humanismus und die daraus folgende humanistisch geprägte politische und moralische Praxis ist in der Gegenwart allerdings in dreifacher Hinsicht herausgefordert. Nida-Rümelins Ausführungen erlauben es, die zuvor vorgestellten exemplarischen Positionen der Enhancement-Debatte in einem größeren – anthropologischen und humanistischen – Kontext zu betrachten. Nida-Rümelin sieht folgende drei Bedrohungen oder Herausforderungen für humanistisches Denken in der Gegenwart: I. Die zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche […]. Das humanistische Menschenbild ist […] mit der Reduktion menschlicher Existenz zum Konsument und Produzent von Gütern auf dem globalen Markt unvereinbar. II. Das Erstarken fundamentalistischer Strömungen, vor allem solcher, die religiös, […] inspiriert sind, prägt kollektive Identitäten aus, die mit humanistischer Anthropologie unvereinbar sind. […] III. Ein neuer, naturwissenschaftlich inspirierter, Anti-Humanismus, der zunächst die Fähigkeit zu freier und verantwortlicher Entscheidung und damit die anthropologischen und moralischen Grundlagen einer humanen Rechtsordnung bestreitet. (Nida-Rümelin 2008b, 17 – 18)
Ich benutze die zitierte Liste möglicher Gefährdungen humanistischen Denkens, um innerhalb der Enhancement-Debatte jeweils auf einen möglicherweise besonders problematischen Kern der bislang vorgestellten exemplarischen Positionen hinzuweisen. Dass ich damit im Einzelnen den Vertretern der exemplarischen Positionen nicht völlig gerecht werde, ist mir bewusst. Auch ist die Fokussierung auf die problematischen Kernbereiche nicht so zu verstehen, als sei damit alles über die jeweilige Position gesagt. Mir geht es darum, die problematischen internen Tendenzen der einzelnen Ansätze mithilfe einer Heuristik hervorzuheben, so dass deutlich wird, dass humanistisches Denken unter der alleinigen Anhängerschaft an eines der ausgewählten Paradigmen gefährdet ist. (I.) Die zunehmende Ökonomisierung vieler menschlicher Lebensbereiche lässt sich auch am Beispiel von Enhancements erkennen. Die menschliche Leistungsfähigkeit hat einen spezifischen Marktwert, der durch Steigerungen der Leistungen seinerseits gesteigert werden kann.
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Ein solcher Bewertungsmaßstab steht jedoch im Widerspruch zu einem humanistischen Ansatz, der die menschliche Selbstbestimmung aufgrund eigener Einsicht betont und menschlichen Eigenschaften unabhängig von ihrer jeweiligen ökonomischen Verwertbarkeit einen eigenständigen Wert beimisst. Es muss befürchtet werden, dass menschliche Praktiken zunehmend anhand ihres ökonomischen Nutzens beurteilt werden und dass der Wunsch eines Marktes, den Konsum bestimmter Güter zu befördern, die berechtigten Interessen möglicher Konsumenten nach sorgsamer Aufklärung und Information über Risiken und Nebenwirkungen von Biotechnologien dominiert. Die weit reichende Befürchtung, dass unter dem Primat ökonomischen Denkens negative Konsequenzen für einen die Autonomie und die Selbstbestimmungsfähigkeit von Menschen betonenden Humanismus folgen, steht auch mit der Enhancement-Debatte in Verbindung. Hier werden – unter Zurückstellung alternativer Wertmaßstäbe – Nutzenkalküle und modische Konsumaspekte in den Vordergrund gerückt. Die weit verbreiteten Eingriffe der kosmetischen Chirurgie sind ein signifikanter, wenn auch noch oberflächlicher Hinweis auf diese Entwicklungen. Der Einsatz von leistungssteigernden Substanzen und von Stimmungsaufhellern lässt sich dahingegen deutlicher als auf Nutzenmaximierung und auf modischen Konsum abzielend ansehen. Die Autoren der Studie „Intervening in the Brain“ sind unverdächtig, einer unkritischen Konsummentalität das Wort zu reden, doch scheint mir eine prinzipienethische Auseinandersetzung – mit ihrer Fokussierung auf die berechenbaren Folgen – zu kurz zu greifen und letztlich eine notwendige „reichere“ Bewertung der ethischen Dimension des Enhancements zu verhindern. Der prinzipienethische Ansatz in der biomedizinischen Ethik, wesentlich eine deskriptive Ethik, reduziert ein Problem auf bestimmte Aspekte, die mit der Akzeptanz des ökonomisch dominierten Gesellschaftsbildes kongruieren, innerhalb dessen die Prinzipien ja durch Deskription gewonnen wurden: Die in liberalen Theorien betonte Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums und auch des Marktes gelten als besonders schützenswerte Güter, die nur angesichts möglicher massiver Schädigungen anderer an Grenzen geraten. Eine „reichere“ Beschreibung des Problems, wie sie allerdings in ökonomisch dominierten Diskursen der Gegenwart nicht zu finden ist, würde darüber hinaus auch der anthropologischen Dimension des Problems mehr Gewicht beimessen. Die Reduzierung der ethischen Debatte über Human Enhancement auf die vier Prinzipien verkennt, was auf dem Spiel steht.
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(II.) Die Fundamentalismus-Herausforderung weist auf die Gefahr hin, dass mit der Betonung von Glaubensgewissheiten das ergebnisoffene Argumentieren verhindert wird. Damit wird die Möglichkeit ausgeschlossen, sich gemeinsam – nach wechselseitiger Information und auf der Grundlage des besten zur Verfügung stehenden Wissens – dem besten Argument anzuschließen. Eine Beschränkung auf nicht hinreichend begründete und nicht hinreichend begründbare Behauptungen führt zudem zur Ausgrenzung derjenigen, die nicht bereit sind, sich den jeweiligen Glaubensgewissheiten anzuschließen. Die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens basiert aber wesentlich darauf, dass das selbstbestimmte Individuum an den Prozessen der interindividuellen Verständigung partizipiert, in denen man sich auf die gemeinsame Grundlage der öffentlich aktivierten Vernunft berufen kann (vgl. dazu auch Gerhardt 2007a, etwa 34, 74 f., 368 f.; und unten Kapitel 16.1.). Solcherart sensibilisiert, muss der exemplarisch zur Verdeutlichung der biokonservativen Position herangezogene Report des President’s Council mit besonderer Aufmerksamkeit für fundamentalistische Tendenzen gelesen werden. Der säkular auftretende Report entwickelt seine normativen Intuitionen und Thesen jedoch aus dem Gedankengut eines politisch einflussreichen US-amerikanischen Katholizismus (vgl. Pinker 2008). Die Forderung, den „natürlichen menschlichen Zustand“ zu akzeptieren, wird mit essentialistischer und ideologischer Rhetorik unterstützt – auch wenn die Autoren viel Mühe darauf verwendet haben, dieses nach Möglichkeit zu verschleiern. Die pessimistisch eingefärbte Bewertung der möglichen Entwicklungen zeigt somit fundamentalistische Züge, da allein in der Abstinenz und in einer Einstellung der Dankbarkeit, des Respekts und der Enthaltsamkeit ein angemessenes menschliches Leben möglich sei. Die Rede von der Natur des Menschen, seiner Würde, sowie eine extreme normative Aufladung des Personalitäts- oder Authentizitätsbegriffes weisen auf eine solche Essentialisierung und Fundamentalisierung hin. (III.) Als dritte Gefährdung humanistischen Denkens wurden radikale Naturalisierungs-Bestrebungen genannt, die – ebenso wie die Ökonomisierungstendenzen – eine Verkürzung der Dimensionen des menschlichen Lebens zur Folge haben. So wurde etwa auch in den Debatten über die menschliche Willensfreiheit unter Berufung auf naturalistische Positionen und naturwissenschaftliche Experimente dafür argumentiert, dass das Gefühl der Handlungsurheberschaft bei einem Akt der freien Wahl lediglich eine Illusion darstelle. Wenn die Möglichkeit der menschlichen Willensfreiheit damit radikal infrage gestellt wird,
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12. Gefahren der Einseitigkeit – ein integrativer Ansatz
nehmen aber zugleich auch die Konzepte von Verantwortlichkeit und Schuld dauerhaft Schaden. Damit wird die Sphäre des menschlichen Handelns prinzipiell dem kausal organisierten Geschehen in der Welt angeglichen – womit zentrale Elemente des humanistischen Konzepts von Verantwortung für die eigenen Handlungen wegfallen. In der Enhancement-Debatte scheinen mir die vehementen Befürworter von Enhancements einem ähnlichen Argument anzuhängen, wie demjenigen, das an Deterministen in der Debatte über die Willensfreiheit kritisiert werden muss. Sie neigen dazu, die Sphäre menschlichen Erlebens und Handelns auf bloße Ereignisse zu reduzieren, wie sie auch außerhalb der Sphäre des Lebendigen zu finden sind. Die Forderung, zum Erreichen bestimmter menschlicher Ziele zu bio-technischen Mitteln zu greifen, suggeriert – zumindest in einigen Fällen –, dass das wesentliche Fundament von und das wirksamste Mittel zur Veränderung von menschlichem Erleben und Verhalten auf der materialen Ebene des menschlichen Organismus angesiedelt ist.48 Hier lässt sich eine Einseitigkeit in der Beschreibung und Erklärung menschlicher Eigenschaften und Handlungen erkennen, die die reichhaltige Sphäre der Kultur, des Erlebens, der Arbeit an sich selbst und der dispositionalen Offenheit der menschlichen Lebensform in den Hintergrund treten lässt. Solche naturalistischen Hintergrundannahmen sind weit verbreitet, sie finden sich in fast allen „transhumanistischen“ Beiträgen zur Enhancement-Debatte. Schließlich ist es ja eine der Grundannahmen, dass mithilfe technischer Interventionen das Menschliche (in einem allgemeinen Sinne) beeinflusst werden soll. Eine besondere Einseitigkeit in dieser Richtung erkenne ich aber bei den euphorischen Technologie-Befürwortern, den Transhumanisten. Mit dieser kritischen Zusammenschau können sowohl die jeweiligen Schwächen der vorgestellten Positionen innerhalb der herrschenden Debatte einer Revision unterzogen werden, als auch ihre jeweiligen Stärken für weitere Diskussionen fruchtbar gemacht werden. Zum Abschluss dieses Teils gebe ich hier einen Ausblick auf den anthropologischen Diskurs, wie ich ihn im folgenden Teil vorstellen werde, und er48 Exemplarisch und drastisch etwa der Artikel Neuroenhancement of love and marriage: The chemicals between us von Julian Savulescu und Anders Sandberg, die zu dem Schluss kommen: „Love is one of the fundamental aspects of human existence. It is to a large part biologically determined. We should use our growing knowledge of the neuroscience of love to enhance the quality of love by biological manipulation.“ (Savulescu/Sandberg 2008, 42).
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läutere, auf welche Weise die im Vorhergehenden kritisierten Positionen ihrerseits wertvolle Beiträge zu einer angemessenen Verständigung über anthropologische Argumente und ihre Rolle bei der Bewertung der Enhancement-Optionen spielen können. Die technikeuphorischen Transhumanisten können durch eine Einbindung in einen anthropologischen Diskurs über die Bestimmung bewahrenswerter menschlicher Eigenschaften nach Schnittmengen mit den Biokonservativen suchen. Mir scheint, dass diese Schnittmenge größer sein wird, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Näher zu diskutierende Vorstellungen von Elementen eines „gelingenden Lebens“ könnten hier den Ausgangspunkt für weitere Verständigungen bieten. Das unkritisch positive Denken der Transhumanisten kann durch die Einbindung in den Dialog und die damit verbundene „Entmystifizierung“ ihrer Extremposition zu einem prinzipiellen Optimismus angesichts möglicher Veränderungen gemäßigt werden. Eine solche prinzipiell optimistische Einstellung verpflichtet nicht darauf, jede technische Entwicklung positiv zu bewerten, sondern sie stellt lediglich eine grundsätzliche Einstellung dar, die Offenheit für Verbesserungen zum Ausdruck bringt. Der prinzipielle Optimismus bedarf jedoch einer vorsichtig skeptischen Ergänzung in der Praxis. Dieser kann aus einer revidierten Position der Biokonservativen gewonnen werden. Die Biokonservativen werden ihrerseits durch eine Einbindung in den Prozess einer deskriptiven und normativen anthropologischen Selbstbestimmung – der prinzipiell allen denjenigen die Teilnahme gestattet, die sich unter dem Begriff „Mensch“ verstehen, und nicht etwa auf eine bestimmte soziale Gruppe in einem bestimmten Land beschränkt ist – genötigt, ihre partikularen, teilweise kryptoreligiösen Überzeugungen solcherart zum Ausdruck zu bringen, dass sie auch von anderen geprüft und eventuell nachvollzogen werden können. Damit könnten Elemente dieser Überzeugungen auch für andere anschlussfähig oder akzeptabel werden.49 Für einen privilegierten Zugang zu einer feststehenden Wahrheit, die nicht für andere Menschen nachvollziehbar ist, ist in einer umfassenden Bestimmung des menschlichen Selbstverständnisses kein Raum. Offenkundig ist es mit dieser Verständigung zwischen den Positionen nicht mehr möglich, eigene Maximalforderungen als verbindlich 49 Hans Joas beispielsweise argumentiert – im Anschluss an William James – dafür, dass das möglich ist (vgl. etwa Joas 1999, Kapitel 2), während andere der Meinung sind, religiöse Überzeugungen seien private Meinungen, die im öffentlichen Austausch von Gründen keine Berechtigung haben können.
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durchzusetzen, so dass durch eine Beschränkung auf nachvollziehbare und anschlussfähige Aspekte im Austausch gewissermaßen von alleine eine Säkularisierung eintreten wird. Diese kann die gemeinsam anschlussfähigen Elemente der menschlichen Selbstbestimmung als umso tragfähiger hervortreten lassen. Auch wenn es scheint, dass sich die biokonservative Position mit ihren kryptoreligiösen Ansichten nicht halten lässt, wenn es um eine umfassende Bestimmung des Menschen geht, ist ihr Hinweis auf mögliche Gefährdungen der menschlichen Lebensform aufrecht zu erhalten. Von dieser Seite wird also dem prinzipiellen Optimismus eine behutsame Skepsis in der Praxis an die Seite gestellt. Selbst wenn eine bestimmte technologische Anwendung vielversprechend erscheint, ist es nötig, die möglichen negativen Konsequenzen vorab nach Kräften ernsthaft zu durchdenken und gegebenenfalls zu vermeiden. Dabei müssen auch verbreitete Intuitionen angemessen gehört werden, selbst wenn sie noch nicht auf einem soliden argumentativen Fundament aufruhen. Letztlich muss auch die Entscheidung für Abstinenz hinsichtlich technologischer Möglichkeiten eine mögliche Option darstellen. Während sowohl die Biokonservativen als auch die Transhumanisten eine ( jeweils pointierte und voraussetzungsreiche) Vorstellung davon haben, was den Menschen auszeichnet, was bewahrt bzw. überwunden werden solle, hatte ich an denjenigen Positionen, die ergebnisoffen auf die Anwendung bestehender ethischer Standardinstrumente zurückgreifen, kritisiert, dass sie anthropologisch unterbestimmt sind. Gerade angesichts der möglichen Veränderungen der menschlichen Lebensform ist jedoch ein höheres Maß an „anthropologischen Investitionen“ nötig, als es durch eine bloße Anwendung der Prinzipienethik oder durch einen Rekurs auf bestehende „gute Sitten“ geleistet wird. Auch hier bietet somit die Einbindung in einen Verständigungsprozess über die adäquate – deskriptive und normative – Bestimmung des Begriffs „Mensch“ eine mögliche Ergänzung zu der bereits bestehenden Praxis, die auch zu einer partiellen Revision der entwickelten Einschätzung führen kann (aber in diesem Fall keineswegs muss). Was jedoch von dieser Position für zukünftige Debatten zu übernehmen ist, ist die prinzipiell möglichst ergebnisoffene und vorurteilsfrei gefhrte Diskussion auf faktisch informierter Grundlage. Diese drei Aspekte – ein prinzipieller Optimismus in Verbindung mit behutsamer Skepsis in der Praxis im Rahmen einer ergebnisoffenen Diskussion auf faktischer Grundlage – kennzeichnen das weitere Vorgehen im vierten Teil, in dem ich in methodischer und inhaltlicher Hinsicht einen Vor-
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schlag über die deskriptive und normative Bestimmung des Begriffs „Mensch“ machen werde.
IV. Anthropologie und anthroponome Ethik
Vorbemerkung Bei der anthropologischen Frage „Was ist der Mensch?“ handelt es sich um eine ethische Frage. Zwar kann sie sich in Ausnahmefällen auch auf biologische Teilaspekte der menschlichen Lebensform beschränken, die mit dem Methodeninstrumentarium einer bestimmten Teilwissenschaft – etwa der Genetik oder der Ethologie – untersucht werden können. Vor dem Hintergrund eines ethischen Problems, wie etwa dem der moralischen Legitimität weit reichender Human Enhancements, muss die Frage nach dem Menschen jedoch immer als ethische verstanden werden. In der Gegenwart sind simple metaphysische, religiös geoffenbarte oder naturalistisch fundierte Antworten auf die Frage nach dem Menschen problematisch geworden und stellen damit keine philosophisch überzeugenden Optionen dar. Die ethisch-anthropologische Frage ist daher nur in einem integrativen Akt menschlicher Selbstverständigung – „quasidemokratisch“ und damit anthroponom – zu beantworten. Mit einer solchen Konzeption wird der Forderung nach einer ewig gültigen Antwort auf die Frage nach dem Menschen eine Absage erteilt. Die Wahrheit einer Antwort auf die Frage, was der Mensch ist, hängt nicht von einer vom Menschen unabhängig existierenden Wirklichkeit ab, sondern von epistemischer und von praktischer Signifikanz, die Menschen dem Begriff aufgrund des darin ausgedrückten Selbstbezugs zuweisen. Die menschliche Selbstverständigung in Auseinandersetzung mit der anthropologischen Grundfrage ist ein kontinuierlicher Prozess, der Menschen immer wieder herausfordert und einbezieht. Damit wiederum ist allerdings auch der hier vorgestellte Ansatz nur eine Stimme in einem größeren Dialog darüber, wie wir uns als Menschen normativ verstehen wollen. Der Prozess der Verständigung über den Menschen ist erschließend, nicht abschließend. Damit komme ich auf die Forschungsfrage vorliegender Arbeit zurück: Welche Rolle spielen anthropologische Argumente bei der moralischen Bewertung von Human Enhancements? Nachdem in den vorhergehenden Teilen die Grundlagen für die Beantwortung dieser Frage entfaltet und eine Übersicht über die aktuelle Debatte gegeben wurde, kann in diesem abschließenden Teil mein Versuch vorgestellt werden, wie anthropologische Argumente möglichst stark gemacht
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Vorbemerkung
werden können. Doch auch in ihrer stärksten Form – und das ein wichtiges Ergebnis meiner Arbiet – spielen anthropologische Argumente für die moralische Bewertung von Enhancements nur eine elementare Rolle. Zwar übernehmen sie als „regulative Idee“ eine fundamentale Orientierungsfunktion, doch über die Legitimität von Enhancements wird nicht vorrangig anhand von anthropologischen Aspekten entschieden, die im ethischen Diskurs nur ein Element – vielleicht nur ein „Spurenelement“ neben anderen darstellen. Die anthropologischen Elemente der ethischen Diskussion von Human Enhancements zeigen jedoch an, dass angesichts dieser bioethischen Problemstellung immer auch die anthropologische Grundfrage mitverhandelt wird: Wie wir uns als Menschen verstehen, und wie wir als Menschen sein und zusammenleben wollen. In Kapitel 13 untersuche ich, wie Normativität und Begriffsbildung miteinander verbunden sind – im außermoralischen wie im moralischen Sinne. Der Begriff „Mensch“ fasst Menschen inklusiv unter einen Begriff und drückt damit die Nähe- und Gleichheitsrelation aus, in der Menschen stehen. Da Sprecher, die den Begriff artikulieren, sich selbst unter diesem Begriff begreifen („An-gesprochene“ sind), ist der Begriff für sie selbst von Bedeutung (signifikant). In Kapitel 14 komme ich auf die Attraktivität eines direkt normativen Verständnisses der „menschlichen Natur“ zu sprechen und unterziehe es einer substantiellen Kritik. Dabei stütze ich mich auf die begrifflichen Vorklärungen in den Kapiteln 6 und 7. In Kapitel 15 wird erläutert, worin das Ziel und das (antizipierte) Ergebnis einer solchen idealtypischen Verständigung bestehen kann. Dazu bemühe ich eine Metapher der geographischen Karte: Das Resultat einer Verständigung über die Frage nach dem Menschen liegt in einer signifikanten Kartierung des Begriffs, in dem faktische und normative Aspekte zusammengeführt werden. In Kapitel 16 lege ich dar, dass eine quasi-demokratische Verständigung über den Begriff des „Menschen“ nötig ist, wenn diesem normative Kraft zukommen soll. Ich erläutere, unter welchen Bedingungen sie idealerweise stattfinden kann. Die partizipativen Verständigungsprozesse müssen auf der Grundlage der bestmöglichen Information in einem öffentlichen Diskurs durchgeführt werden. Kapitel 17 entwickelt eine inhaltliche Skizze eines empirisch informierten normativen Begriffs vom Menschen, wie ich ihn als mögliches Ergebnis eines idealtypischen, quasi-demokratischen Verständigungsprozesses für konsensfähig halte. Er umfasst vier Komponenten, die den
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empirischen Einsichten, kulturellen Ansichten und anthroponomer Selbstbestimmung einen eigenen Platz zuweisen. Der Begriff „Mensch“ umfasst, dass Menschen (1) Lebewesen sind, die (2) aufgrund ihrer spezifischen Verkörperung und Geistigkeit „in einer Welt“ leben, darin (3) orientierungsbedürftig und (4) selbstbestimmungsfähig sind. In Kapitel 18 werden Einwände gegen meinen Vorschlag diskutiert. In Auseinandersetzung mit den Einwänden wird mein Vorschlag weiterentwickelt. In Kapitel 19 wird eine Anwendung des Begriffs im Kontext der Enhancement-Debatte erprobt und die elementare Funktion eines normativen Begriffs vom Menschen exemplifiziert. Dabei zeigt sich, dass anthropologische Argumente nur im Hintergrund der ethischen Debatten über die Legitimität von Enhancements wirksam sind und konkrete Handlungsempfehlungen nur angesichts radikaler Enhancements geben. Es dominieren in den Debatten Risiko-, Autonomie- und Gerechtigkeitserwägungen. Kapitel 20 fasst die Ergebnisse und Thesen der Arbeit zusammen und ordnet sie in den Kontext der umfassenden Verständigung über den systematischen Zusammenhang von Anthropologie und Ethik einerseits und in das Projekt einer pragmatischen Ethik andererseits ein.
13. Voraussetzungen anthropologischer Argumente: Begriff und Normativität 13.1. Begriff und Einzelding Aus einer „anthropologischen Perspektive“ werden menschliche Individuen nicht nur als Individuen, nicht nur als Teile einer Gesellschaft, sondern auch als Menschen betrachtet. Es handelt sich dabei um unterschiedliche Blickwinkel, die man gegenüber einer bestimmten Entität einnehmen kann. Was aber kann damit gemeint sein, etwas als etwas zu betrachten? Dass Gegenstände aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Abstraktionsgraden betrachtet werden können, gilt in einem trivialen Sinne für alle Gegenstände. Ich unterscheide im Folgenden drei verschiedene Blickwinkel. Denken wir etwa an einen Füllfederhalter, (1.) zunächst individuell und material: Er hat eine bestimmte Gestalt, eine Goldfeder, er ist aus Edelharz gearbeitet und an einer Stelle leicht beschädigt. Die Beschreibung des Einzeldings umfasst zahlreiche Eigenschaften, die genau bestimmt werden können. Darüber hinaus kann der Stift (2.) funktional in Relation zum Betrachter beschrieben werden: Das Einzelding wird dann nicht nur für sich, sondern mit Blick auf funktionale Rollen oder im Gebrauch betrachtet. Dann kommen weitere Eigenschaften hinzu. Die Tinte fließt gut, der Stift hat ein angenehmes Gewicht in der Hand, er erlaubt mir, lange zu schreiben, ohne in der Hand zu verkrampfen. Er kann außerdem verschieden eingesetzt werden: etwa als Briefbeschwerer, um Blätter vor dem Wegwehen zu bewahren. Ich kann mit ihm auf etwas zeigen. Bei diesem relationalen Blick geraten die individuellen Merkmale in den Hintergrund, die Funktion, für die der Füllfederhalter eingesetzt wird, gerät hingegen in den Vordergrund (auch wenn es die materialen Eigenschaften sind, die die funktionale Relevanz haben). Bei einer relationalen oder funktionalen Betrachtung ergibt sich darüber hinaus die Möglichkeit, ein besseres oder ein schlechteres Funktionieren zu konstatieren. Funktionale Beschreibungen konstituieren Relevanzzusammenhänge (McLaughlin 2001).
13.1. Begriff und Einzelding
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Eine dritte Betrachtungsweise, die nicht durch die individuelle und funktionale Betrachtung erschöpft ist, liegt darin, den Füllfederhalter (3.) als Fllfederhalter zu sehen. Dabei wird er als eine Instantiierung eines Begriffs angesehen, als zugehörig zu einer „Klasse“ von gleichartigen Entitäten, die gemeinsam unter einen Begriff gefasst werden können.1 Diese Kategorisierung hat in der Philosophie eine lange Tradition, ein frühes Beispiel dafür ist die platonische Ideenlehre. Platon spricht jedoch den Ideen ein eigenständiges Sein zu, sogar eines, das den konkreten Instantiierungen der Dinge überlegen ist. Ein solches realistisches Modell wird heute nur noch selten vertreten. Stattdessen dominiert ein nominalistisches Verständnis von Begriffen, die von Menschen gemachte Verallgemeinerungen und Klassifizierungen sind, mit denen die sprachliche Ordnung der Welt und die rationale Verständigung darüber innerhalb einer Sprachgemeinschaft ermöglicht werden. Der Begriff Füllfederhalter stellt dann ausgehend vom individuellen Füllfederhalter den Bezug zu einem allgemeinen Gegenstand der Reflexion her.2 Wie kommt es aber, dass unterschiedliche Einzeldinge unter einen Begriff fallen können? Schließlich sind Individuen per definitionem nicht identisch miteinander – und trotzdem kann man in ihnen das Gemeinsame erkennen. Der späte Wittgenstein hat dazu den Begriff der „Familienähnlichkeit“3 eingeführt, der es erlaubt, eine kritische Menge an Gemeinsamkeit zu bestimmen, die für das zusammengenommene Betrachten verschiedener Gegenstände unter einem Begriff hinreichend ist. Alle möglichen Arten von Füllfederhaltern können aufgrund ihrer Familienähnlichkeit zu Recht als Füllfederhalter bezeichnet werden. Die minimalen Bedingungen, die für einen angemessenen Gebrauch des Begriffs erfüllt sein müssen, können in Form einer (Quasi-) Definition angegeben werden. Im Beispiel scheint diese Definition durch das Kompositum „Füll-Feder-Halter“ zumindest schon angedeutet zu sein. Mögliche Definitionen sind minimale Bedingung für den „Erfolgsfall“ des adäquaten Begriffsgebrauchs. Abweichungen von diesen minimalen 1
2 3
Die Gesamtheit der Dinge, die unter einen Begriff fallen, bezeichnet man als die „Extension“ eines Begriffs, die „Intension“ eines Begriffs ist dagegen die Gesamtheit der definitorisch angebbaren Eigenschaften oder Merkmale, die den Dingen, die unter einen Begriff fallen, gemeinsam ist. Ich rede hier von Begriffen, die sich auf Dinge beziehen. Begriffe, die abstrakte Konzepte bezeichnen, behandle ich hier noch nicht. Wittgenstein (1953), § 66, 142 und 80. Streng taxonomischen Klassifikationen werden den häufig nicht trennscharfen Grenzen von Begriffen nicht gerecht. Damit weist Wittgenstein das Ideal der Exaktheit von Definitionen zurück.
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13. Voraussetzungen anthropologischer Argumente
Bedingungen führen entweder dazu, dass der Begriffsgebrauch in einem konkreten Fall als unangemessen abgelehnt wird, oder dass der mit dem Begriff bezeichnete Gegenstand als defizitär erscheint und die durch den Begriff nahe gelegte minimale Idealform nicht erfüllt. Ich rede hier von einer „minimalen Idealform“, weil daran über die minimalen Bedingungen einer angemessenen Verwendung des Begriffs entschieden wird, dessen tatsächliche Erfüllung ich hier als „Idealform“ bezeichne.4 Zusätzliche Bestimmungen, die weitere Eigenschaften eines Gegenstands bezeichnen, sind daher auf sekundäre Eigenschaften5 bezogen (etwa ein besonders wertvoller oder schöner Füllfederhalter, der wegen seines Wertes oder seiner Schönheit aber nicht mehr Füllfederhalter ist als ein preiswerteres Exemplar). Von einer Idealform rede ich, weil im Sprachgebrauch Erfüllungsbedingungen für den angemessenen Begriffsgebrauch bestehen, von denen ohne Irritation nur abgewichen werden kann, wenn die Abweichung explizit gemacht und als sekundr relativiert wird.6 Der adäquate Gebrauch eines Begriffs hängt also von der Erfüllung der genannten Bedingungen ab, verfügt aber über ein „Toleranzspektrum“ hinsichtlich zu explizierender möglicher Abweichungen. So wäre etwa ein blauer Füllfederhalter auch ein Füllfederhalter tout court, weil seine (sekundäre) Bläue den Erfüllungsbedingungen keinen Abbruch tut. Ein zerquetschter und damit unbrauchbarer Füllfederhalter dahingegen reizt das Toleranzspektrum weiter aus; ebenso ein mit Nägeln gespickter Stuhl, auf den man sich nicht setzen kann, ohne Verletzungen zu erleiden, 4 5
6
Die basale Normativität, die mit der Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft einhergeht, betont auch Nida-Rümelin 2009. Meine Unterscheidung zwischen primären und sekundären Eigenschaften ähnelt der aristotelischen zwischen Substanz und Akzidenz (Kategorienschrift). Ich ziehe die zuerst genannte terminologische Differenzierung vor, weil ich sie für weniger missverständlich und weniger voraussetzungsreich halte. Allerdings meine ich damit nicht die von Locke eingeführte Unterscheidung zwischen primären Eigenschaften, die den Dingen selbst zukommen, und sekundären Eigenschaften, die man heute zumeist unter der Bezeichnung „Qualia“ diskutieren würde. Mir geht es um Begriffe. In diesem Sinne vertrete ich eine bescheiden realistische Position, die die sprachinternen Bedingungen als hinreichend für die Konstitution eines realen Sachverhalts annimmt. Meine Position schließt damit an Putnams „internen Realismus“ (Putnam 1990), an Nida-Rümelins „unaufgeregten Realismus“ (zum Beispiel Nida-Rümelin 2006b, 72) und an Kitchers „modest realism“ (Kitcher 2001) an. Vgl. allgemein zum Realismus die Arbeiten von Willaschek (besonders Willaschek 2003).
13.1. Begriff und Einzelding
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gegenüber einem Holz-Stuhl tout court. Die Spezifikation „bellender Schäferhund“ umfasst lediglich zwei zusätzliche Informationen zum Begriff Hund (nämlich, dass es sich um einen Schferhund handelt, der bellt), die nicht notwendig sind, um die Zuordnung eines Individuums unter den Begriff Hund zu erlauben. Dahingegen umfasst die Spezifikation „halbtoter, dreibeiniger Hund“ wichtige Einschränkungen. Auch wenn damit nicht bezweifelt wird, dass das Tier ein Hund ist (und nicht etwa ein Füllfederhalter), wird zum Ausdruck gebracht, dass die mit dem Begriff Hund verbundenen Erfüllungsbedingungen (wie zum Beispiel lebendig und vierbeinig zu sein) nicht vollständig gegeben sind. Wie gesagt, das macht das Wesen nicht weniger zum Hund oder zu einem Hund zweiter Klasse, aber eben zu einem halbtoten und dreibeinigen Hund. Die Eigenschaften halbtot und dreibeinig haben dabei einen anderen Status als die Fellfarben schwarz oder braun; erstere liegen außerhalb des minimal-idealen Begriffsgebrauchs, letztere innerhalb desselben. Explikationen der ersten Eigenschaften können von kompetenten Sprechenden eingefordert werden, um den Begriffsgebrauch im Vollsinne zu rechtfertigen, letztere zählen als sekundäre Spezifizierungen. Ein solches Verständnis von Begriffsgebrauch steht zwischen einem lediglich konventionell festgelegten Begriffsgebrauch und einem, der auf einem sachlichen fundamentum in re basiert. Das verhindert, dass wir Füllfederhalter als außergewöhnliche Hunde bezeichnen. Ich vertrete damit die Auffassung, dass es keine unabhängig von erkennenden Subjekten real existierenden, eindeutig vorgegebenen natural kinds gibt, sondern dass der angemessene Gebrauch von Begriffen immer auch auf Konventionen beruht. Allerdings sind die konventionellen Festlegungen durch sprachliche Strukturen und Strukturen der Welt beeinflusst, die ein höheres Maß an Objektivität garantieren, als es allein unter Berufung auf Konvention möglich wäre. Dazu zähle ich ontologische Differenzen etwa zwischen Dingen, Konzepten und Ereignissen, die – und das ist eine epistemologische Grundlage der Differenzierungen – von unserem menschlichen Verstand als unterschiedlich (und auch als gleichartig wiederkehrend) erkannt werden können. Von Menschen in der Sprache gemachte Differenzierungen sind also nicht ausschließlich konventionell und beliebig, sondern sie werden gemacht, weil die Dinge so sind, oder zumindest, weil sie uns so erscheinen.
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13. Voraussetzungen anthropologischer Argumente
13.2. Normativität und Normalität im außermoralischen Sinne Mit dieser Unterscheidung – zwischen Instantiierungen von Begriffen im Vollsinne und solchen, die die Erfüllungsbedingungen nicht vollständig erfüllen – wird ein den Begriffen inhärentes Maß der Normativität angesprochen, das bisweilen als Standard der „Normalität“ bezeichnet wird. Normalität ist in diesem Sinne gegeben, wenn die minimalen Bestimmungen erfüllt sind. Welche Bestimmungen als minimal ausgezeichnet werden, ist jedoch Gegenstand von Diskussionen. Hier zeigt sich eine Parallele zwischen der normativen Verwendung von Begriffen im außermoralischen Sinne und der Verwendung von normativen Begriffen im moralischen Sinne. Im Folgenden wird diese Parallele näher betrachtet und nach einer Verbindung zwischen den beiden Sphären gesucht. Diese lässt sich – so wird hier vermutet – anschaulich im Begriff des „Menschen“ finden, der in besonderer Weise über eine erklärungsbedürftige normativ-deskriptive Doppelstruktur verfügt und damit eine vermittelnde Funktion zwischen der begrifflichen Normativität im moralischen wie im außermoralischen Sinne haben kann. Die Vorstellung von Normalität muss jedoch vorab in zweifacher Hinsicht eingeschränkt werden. (1.) Begriffe stehen nicht unabhängig von erkennenden Individuen fest, sie sind keine natural kinds. Das heißt, dass Begriffe grundsätzlich variabel sind und dass sich das Definiens verändern kann (die ontologischen und epistemologischen Grenzen stellen dafür gewisse Einschränkungen dar, die allerdings auch konventionell in Frage gestellt werden können). Um einen adäquaten Begriffsgebrauch rechtfertigen und nachprüfen zu können, muss daher das Definiens expliziert werden. Eindeutigkeit ist dabei nicht das höchste Ziel (vielmehr ein Ideal), es genügen Familienähnlichkeiten, die den Begriffsgebrauch durch das Angeben einer hinreichenden Menge von Kriterien rechtfertigen. Die Normalität hängt somit von der explizierbaren Definition7 eines Begriffs ab, die grundsätzlich auch anders ausfallen könnte. Man erwirbt sich Begriffe zunächst im Gebrauch der Sprache durch Gewöhnung.8 Definitorische Bemühungen schließlich stehen zwischen der sinnvollen Ex7 8
Definitionen im engeren Sinne finden sich überwiegend im wissenschaftlichen Kontext; im Alltag werden Begriffe dahingegen häufig über Beispiele oder exemplarisches Zeigen eingeführt. „Die Bedeutung des Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (Wittgenstein 1953, § 43).
13.2. Normativität und Normalität im außermoralischen Sinne
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plikation der tatsächlichen Wortverwendung und der konventionellen Verständigung über eine sinnvolle klassifikatorische Taxonomie. Ein möglicher Standard, um zu prüfen, ob sinnvoll expliziert und klassifiziert wird, liegt in der Kohrenz der Ergebnisse. Durch das explizite Angeben von nicht vollständig erfüllten Erfüllungsbedingungen wird nicht notwendigerweise bezweifelt, dass etwas unter einen Begriff fällt: So ist auch ein zerquetschter Füllfederhalter ein Füllfederhalter (und nicht etwa ein Hund), aber eben ein zerquetschter.9 (2.) Begriffliche Normalität ist nicht mit moralischer Normativität gleichzusetzen. Abweichungen von einer minimalen Idealform durch Veränderung der (definitorisch bestimmten) Eigenschaften verlangen Explikationen darüber, ob etwas noch ein Etwas ist (wie zum Beispiel ein Füllfederhalter aus Antimaterie oder ein halbtoter siebenbeiniger Hund oder ein Mensch mit einem künstlichen Gehirn). Darin zeigt sich die intrinsische Normativität des Begriffs. Bei Begriffen, die sich auf Gegenstände mit einem instrumentellen Nutzen beziehen, liegt bei einer Explikation von Abweichungen von der Norm die Folgefrage nahe, ob der solcherart spezifizierte Gegenstand noch instrumentell (im herkömmlichen Sinne) brauchbar ist. Ein zerquetschter Füllfederhalter mag zwar noch als Briefbeschwerer einsetzbar sein, ein funktionierender, brauchbarer, kurz: ein „guter“ Füllfederhalter ist er jedoch nicht mehr. Hinsichtlich der funktionalen Rolle oder des instrumentellen Wertes können aus der Begriffsdefinition die normativen Attribute (gut oder schlecht) im Sinne von funktional oder dysfunktional gewonnen werden. Bei einem Hund oder einem Kind, denen wir nicht ausschließlich funktionalen oder instrumentellen Wert zusprechen, zeigt sich die Situation in veränderter Form. Zwar sind der halbtote, siebenbeinige Hund und ein schwer behindertes Kind zweifelsohne Hund und Kind, allerdings scheint ihnen etwas zu fehlen, was sich nicht (nur) durch Dys9
Der Übergang zwischen benachbarten Begriffen – etwa Sessel und Stuhl – ist hierbei weniger eindeutig. Anhand der explizierbaren Kriterien wird man aber eine Entscheidung herbeiführen können. Im Graubereich bleibt man innerhalb des alltäglichen Sprachgebrauchs nur dann, wenn man sich scheut, gegebenenfalls zusätzliche Kriterien zur Differenzierung einzuführen. Ein solches Hinzufügen ist jedoch prinzipiell immer möglich. Dass dabei ein gewisses Maß an – möglichst gut begründeter, gleichwohl jedoch konventioneller – Willkür besteht, stellt kein Problem dar, wenn man nicht unterstellt, dass Begriffe unabhängig von Menschen existierende natural kinds abbilden müssen. Die Klassifikation der Wirklichkeit durch Taxa entspricht vielmehr den menschlichen Bedürfnissen nach Ordnung und Orientierung (Kitcher 2001, 46).
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13. Voraussetzungen anthropologischer Argumente
funktionalität ausdrücken lässt. Dysfunktionalität ist zur (nicht-instrumentellen) Beurteilung von Lebewesen unzureichend, da Lebewesen – darin anders als Artefakte – nicht primär als Mittel zu einem Zweck angesehen werden.10 Betrachten wir ein Beispiel genauer. Was fehlt dem Hund, wenn er halbtot ist? Kann man sagen, dass er deshalb kein „guter“ Hund ist? Der Begriff Hund umfasst die Bestimmung, dass es sich um ein Lebewesen handelt. Lebewesen sind lebendig. Gestorbene Lebewesen sind „gewesene“ Lebewesen. Noch nicht existierende Lebewesen sind keine Lebewesen. Somit erfüllt der halbtote Hund die Bedingung der Lebendigkeit11 lediglich in einem verringerten Ausmaß. Da es sich bei der Lebendigkeit um eine primäre Bestimmung von Lebewesen handelt, sind die Erfüllungsbedingungen geringer gegeben. Es ließe sich somit sagen, dass der halbtote Hund nicht in einem vollen Sinne Hund ist oder dass er kein „guter“ Hund ist. Gut steht dabei für das vollständige Gegebensein der Erfüllungsbedingungen des Begriffs (das heißt, dass die erwartbaren Prädikatoren realisiert sind) und ist nicht in einem moralischen Sinne zu verstehen. Gleiches gilt für die fiktive Siebenbeinigkeit des Hundes. Diese Abweichung von der Norm rechtfertigt auch hier die Rede von der Besonderheit des Hundes in dieser spezifischen Hinsicht. Die minimalen Erfüllungsbedingungen sind hier nicht „gut“ erfüllt. Allerdings besteht zwischen den beiden Attributen – halbtot und siebenbeinig – ein signifikanter Unterschied. Während hinsichtlich des Kriteriums der Lebendigkeit Veränderungen der Begriffsbestimmung allenfalls sehr langsam und mit großem Aufwand vorgenommen werden könnten und eine solche substantielle Revision geradezu revolutionäre Wucht entfalten würde (es handelt sich schließlich um eine primäre Eigenschaft), sind sie es hinsichtlich der Anzahl der Extremitäten eines Lebewesens (verstanden als sekundäre Eigenschaften) durchaus leichter. Es ist denkbar, dass alle vormals als Hund bezeichneten Lebewesen zukünftig sieben Beine hätten – und immer noch mit gutem Grund (nach Veränderung der Erfüllungsbedingungen) als Hund bezeichnet werden können. Dass allerdings Hunde per definitionem nicht leben, ist nicht vorstellbar, wenn die Nähe zum üblichen und kohärenten Begriffsgebrauch nicht gänzlich aufge10 Die Gründe dafür liegen in der Gleichheitsrelation von Betrachter und Betrachtetem. Dazu s.u. 11 Die Begriffe „lebendig“ und „halbtot“ sind in diesem anschaulichen Beispiel auch metaphorische Ausdrücke: Die Lebendigkeit zeigt sich im Springen und Schwanzwedeln des Hundes, sein halbtot Sein im Fehlen dieser Eigenschaften.
13.2. Normativität und Normalität im außermoralischen Sinne
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geben werden soll. Im Fall der Anzahl der Extremitäten kann der besondere Fall zum Standard werden, im Fall der Lebendigkeit nicht. Hiermit wird noch einmal die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Eigenschaften eines Begriffs deutlich, wobei die primären mehr auf ontologischen und epistemologischen Vorannahmen basieren, die sekundären dahingegen eher auf Gewöhnung durch die übliche Verwendung. Lebendigkeit ist eine primäre Eigenschaft, sie stellt die Bedingungen der Möglichkeit für andere Eigenschaften dar und ihr Fehlen fordert besondere Explikation ein. Für die Lebendigkeit bestehen körperliche Voraussetzungen, die die Lebensprozesse aufrechterhalten. So stellt etwa das Gehirn oder das Stoffwechselsystem eine Bedingung für die Lebendigkeit des gesamten menschlichen Organismus dar. Veränderungen daran (etwa durch künstliche Ersetzungen von Gehirn oder Stoffwechselsystem, wie in der Enhancementdebatte bisweilen thematisiert) machen zusätzliche Explikationen nötig, auch wenn die Zugehörigkeit zum Begriff „Mensch“ insgesamt damit nicht in Frage gestellt wird. Solche Menschen erfüllen dann aber nicht im Vollsinne die ohne zusätzliche Erläuterungen auskommende minimale Idealform.12 Bis hierher habe ich gezeigt, dass Begriffe über intrinsische Normativität verfügen und dass verschiedene Gründe zur Rechtfertigung der Normativität angeführt werden können (ontologische und epistemologische Unterscheidungen). Diese Normativität ist partiell variabel, an manchen Stellen jedoch nur unter einer umfangreichen Neudefinition des Begriffs. Mein Verständnis von Begriffen befindet sich damit im Grenzbereich von konventionellen, durch Gewöhnung erworbenen Unterscheidungen einerseits und sachfundierten Definitionen andererseits, wobei letztere durch ontologische und epistemologische Unterscheidungen begründet werden. In beiden Fällen sind die Begriffe von Menschen „selbst gemacht“, im ersten Fall durch die Kommunikation zwischen Menschen, im zweiten durch die menschlichen kognitiven Fähigkeiten. Im Folgenden soll der Bezug dieser Ausführungen zur moralischen Ebene näher erläutert werden.
12 Es versteht sich von selbst, dass damit keinerlei negative Diskriminierung gerechtfertig werden kann. Im Gegenteil geht es mir darum, den Begriff „Mensch“, der in der Folge als normativ gehaltvoll ausgezeichnet wird, möglichst weit zu fassen.
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13. Voraussetzungen anthropologischer Argumente
13.3. Normativität von Begriffen im moralischen Sinne Die Begriffe „Füllfederhalter“, „Hund“, „Mensch“ lassen sich nicht nur hinsichtlich ihres jeweiligen Definiens (Intension) und der durch sie bezeichneten Gegenstände (Extension) voneinander unterscheiden, sondern auch hinsichtlich der Nhe, die das Bezeichnete zum bezeichnenden Subjekt hat. Begriffe setzen Sprechende voraus, da sie nicht als natürliche Arten oder platonische Ideen in der Welt vorgefunden werden, sondern gewissermaßen menschengemacht sind.13 Die Voraussetzung von Sprechern lässt Begriffe in einer Relation (ent-) stehen, die das Verhältnis des Sprechers zum Gesprochenen betrifft. Offenkundig ist nicht jeder Begriff für den Sprecher gleichartig; so können deutliche Unterschiede in der Relation zwischen Sprecher und Gesprochenem im Grad der Identifikation (Nhe) zwischen den beiden Relata liegen: dem Sprecher und dem (An-) Gesprochenen. Diese Näherelation variiert je nach Begriff und spiegelt den Grad der Gleichartigkeit wider, den ein Sprecher zwischen sich und dem (An-) Gesprochenen sieht. Die erfahrene Nähe und Gleichartigkeit hängen immer von den Individuen ab, so dass interindividuelle Unterschiede bestehen können. Je nachdem, welcher Grad der Identifikation vorliegt, lassen sich auch unterschiedliche Grade von Bedeutsamkeit oder Signifikanz des (An-) Gesprochenen für den Sprecher unterscheiden.14 Nhe und Bedeutsamkeit kovariieren miteinander, bei größerer Nähe ist auch größere Bedeutsamkeit gegeben und umgekehrt. Zu den Faktoren, die die Konstitution von Nähe und Bedeutsamkeit beeinflussen, gehört vor allem der Grad der anerkannten Gleichartigkeit der Relata, der in der Identifikation angesprochen ist. Diese erfahrene Anerkennung kann entweder durch kulturelle Konventionen gefördert werden („bei uns wird X eben besonders geschätzt“) oder aber auf einem bewussten Entschluss basieren („ich erkenne X an“). So kann grundsätzlich auf diese beiden Arten auch ein ungleichartiges Ding für ein Individuum bedeutsam werden, wenn das Individuum sich zu diesem Ding (oder einer bestimmten Eigenschaft eines Dings) in einer Näherelation sieht, die eine Art von Gleichheit konstituiert. Ein Individuum kann so schön sein wollen wie ein Luxusauto, sich so wertvoll empfinden wollen wie Geld oder Juwelen. Die Identifikation von Menschen mit Dingen ist dabei von einer funda13 Dass die Artikulation gegenüber dem „bloßen Denken“ wichtig ist, zeigt auch Jung 2009. 14 Zur Bedeutsamkeit vgl. auch Blumenberg 1979, 68 – 126, bes. 77.
13.3. Normativität von Begriffen im moralischen Sinne
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mentalen Distanz gekennzeichnet, da Sprecher sich üblicherweise nicht (nur) als Ding sehen. Aus diesem Grund betrachten Sprecher Dinge üblicherweise nicht als ihresgleichen. Wenn aber grundsätzlich auch Identifikationen und Näherelationen zwischen Dingen und Sprechern von letzteren hergestellt werden können, ist zu erwarten, dass bei objektiv höherer Gleichartigkeit auch die Möglichkeit größerer Identifikation gegeben ist. So bestehen – qua lebendige Wesen – mehr Gemeinsamkeiten zwischen einem Sprecher und einem Hund als zwischen einem Sprecher und einem Luxusauto. Aus dieser basalen Gleichartigkeit resultiert, dass sich Sprecher in die Geschicke des (An-) Gesprochenen involviert sehen können, dass ihr Geschick sie nicht kalt lässt. Diese mögliche Anteilnahme bezeichne ich als die Bedeutsamkeit (oder Signifikanz), die etwas für jemanden haben kann. Die Bedeutsamkeit von Entitäten erklärt sich im Fall von Begriffen wie dem des „Menschen“ dadurch, dass über die Identifikation (Nähe und anerkannte Gleichartigkeit) mit ihnen alle Aussagen, die über diese Dinge getroffen werden, zugleich auch den Sprecher selbst betreffen. Dieser reflexive Selbstbezug, der über als bedeutsam erkannte Begriffe läuft, ist entscheidend, wenn die normative Rolle von Begriffen erhellt werden soll. Allgemein erstreckt sich diese Bedeutsamkeitsrelation auf das, was Sprecher als ihresgleichen anerkennen. Auch in einem entstellten oder einem sehr schwer behinderten Menschen kann – trotz aller möglichen empirischer Unterschiede – ein Sprecher Seinesgleichen erkennen und wird deshalb dem Geschick dieses Menschen schwerlich völlig gleichgültig gegenüber stehen können.15 Auch in einem Vergleich von Menschen unterschiedlichster Kulturen lassen sich bei allen Abweichungen, die von Ethnologen untersucht werden, vor allem Gemeinsamkeiten erkennen, die in unterschiedlicher Form in Erscheinung treten.16 Da erkennen könnende Sprecher (bislang) Menschen sind, kann das ihnen Gleiche das „Menschliche“ genannt werden. Damit wird die auf einer 15 Dies ist kein normativer, sondern ein deskriptiver Satz. Geäußerte Gleichgültigkeit ist meines Erachtens – in nicht eindeutig psychopathologischen Fällen – meist als Abwehrreaktion gegenüber der deutlich erfahrenen Gleichartigkeit bei gleichzeitiger Hilflosigkeit oder Überforderung zu verstehen. 16 Bemerkenswerter als die Tatsache, wie unterschiedlich manche Kulturen etwa ihre Speisen zubereiten oder welche Rituale sie pflegen, ist doch zunächst, dass sie alle Speisen zubereiten und Rituale pflegen. Es gibt also eine Reihe gemeinsamer menschlicher Eigenschaften und Handlungsdispositionen, die auf unterschiedliche Art und Weise in Erscheinung treten können. Vgl. auch Appiah 2007.
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13. Voraussetzungen anthropologischer Argumente
psychologischen Ebene angesiedelte Nähe- und Gleichheitsrelation in eine reflexive Dimension der Bedeutsamkeit überführt, die keine restlos objektive Beschreibung eines „anderen“ erlaubt, da mit ihr immer der Sprecher selbst mit-angesprochen wird. Mit den bisherigen Ausführungen wurde lediglich gezeigt, warum Menschliches für Menschen von Bedeutung ist. Das, was ihnen gleicht, ist ihnen näher als das, was ihnen weniger gleicht. Doch aufgrund der je individuellen Identifikation können die Entitäten, die als Instanzen der Gleichheit anerkannt werden, vielfältig und unterschiedlich sein. Menschen, Tiere und Dinge – sogar abstrakte Ideen wie „Natur“ oder „Macht“ stehen grundsätzlich als Träger von Bedeutsamkeit zur Verfügung. Damit sind die Voraussetzungen für das nächste Kapitel gegeben: Wenn sich die Bedeutsamkeit des „Menschlichen“ durch die Nherelation zu einer (eingangs thematisierten) begrifflich fassbaren minimalen Idealform (des eigenen Selbstverständnisses) begründen lässt, dann kann der Begriff als ein normatives Ideal fungieren. Dieses Ideal kann sich auf die faktische Näherelation zwischen Menschen sowie auf konsensuelle Bestätigung dieser Relation stützen (um letzteres geht es mir im Folgenden). Damit erklärt sich, wie ein Sprecher sich und ein solcherart (An-) Gesprochenes unter demselben Begriff erfahren und normativ auszeichnen kann. Da solche Sprecher bislang nur Menschen sind, soll im Folgenden geprüft werden, wie der Begriff „Mensch“ begründet dasjenige bezeichnen kann, wodurch Menschen sich und andere als Träger normativer Werte und Ansprüche auszeichnen. Doch dazu ist zunächst ein Perspektivenwechsel vorzunehmen. Bis hierher habe ich versucht, in allgemeiner Form darzulegen, auf welche Weise Begriffe Normalität verkörpern und Normativität tragen können. Ziel dieses vierten Teils meiner Arbeit ist es (ab Kapitel 15), den Begriff „Mensch“ zu analysieren und dabei die erläuterungswürdige deskriptiv-normative Doppelstruktur – ausgehend von dem gegebenen Begriff und seiner Verwendung – zu „kartieren“. Dabei soll abschließend gezeigt werden, an welcher Stelle und auf welche Art und Weise Normativität begründet in den Begriff einfließen kann, worin diese besteht und wie dies in den Debatten über Human Enhancement fruchtbar gemacht werden kann. Bevor ich mich dieser Aufgabe zuwende, ist jedoch im nun folgenden Kapitel eine abschließende Kritik an einem direkten normativen Verständnis der „Natur des Menschen“ vorzunehmen.
14. Kritik simpler anthropologischer Argumente In den Debatten über die moralische Legitimität von Human Enhancement spielen normative Argumente, die direkt auf „die Natur“ oder „die Natur des Menschen“ Bezug nehmen, eine wichtige Rolle. Häufig werden sie als Reaktion auf eine vermutete Gefährdung hervorgebracht, so auch angesichts der Möglichkeit von Human Enhancement: van den Daele hat diese Strategie angesichts der Biotechnologien schon vor über zwanzig Jahren auf den Punkt gebracht: „wir können […] versuchen, in unserer Politik des Umgangs mit menschlicher Natur die Gefahr in Rechnung zu stellen, daß sich ein Menschenbild etabliert, das unseren Idealen des Menschenwrdigen zuwiderluft. Das Pochen auf die ,Natrlichkeit‘ des Menschen als Grenze seiner Technisierung ist ein solcher Versuch.“ (van den Daele 1985, 208). In der meta-ethisch informierten, akademischen Ethik dahingegen werden direkte Bezugnahmen auf „die Natur“ und „die Natur des Menschen“ grundsätzlich kritisch betrachtet. Dies betrifft sowohl eine unmittelbare Bezugnahme auf Natürlichkeit als einen eigenständigen Wert, wie auch die Fundierung von Normen durch Natürlichkeitsargumente. Damit besteht ein Widerspruch zwischen der Dominanz von Natürlichkeitsargumenten in der Alltagsmoral und der philosophischen Einschätzung ihrer Tragfähigkeit. Anthropologische Argumente sind also äußerst umstritten. Allerdings können wir nicht vollständig auf sie verzichten, weil es einen entscheidenden Bestandteil unserer Weltorientierung ausmacht, dass wir uns und unseresgleichen als Menschen verstehen – und eben nicht als Tiere, Maschinen, Cyborgs etc. –, womit immer auch eine normative Komponente verbunden ist. Die Argumente gegen die normative Kraft von Natürlichkeitsargumenten haben mittlerweile die Form einer „Standard-Kritik“ angenommen, die im Folgenden vorgestellt wird (14.2.). Zuvor wird jedoch die Attraktivität von Naturargumenten erläutert, um deutlich zu machen, warum es als so außerordentlich wünschenswert erscheinen kann, Moral in der Natur zu begründen (14.1.). Mit meiner Kritik möchte ich die Aufgabe einer quasi-demokratischen Verstndigung über den Begriff des Menschen als einzig gangbaren Weg erweisen. Eine direkte Einsicht in
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14. Kritik simpler anthropologischer Argumente
die Normativität des Begriffs auf der Grundlage natürlicher Tatsachen17 alleine und ohne eine explizite Zustimmung von Menschen erweist sich als nicht tragfähig.
14.1. Die Attraktivität normativer Natürlichkeitsvorstellungen Die große Herausforderung jeder ethischen Theorie besteht darin, dass „der Amoralist“ – eine fiktive Person, die im ethischen Diskurs permanent die Rolle des advocatus diaboli spielt – auf die Formulierung eines ethischen Imperativs oder Urteils entgegnet: „Das mag ja deine Meinung sein, aber Moral gibt es nicht. Halte du dich an deine Meinung, ich halte mich an die meine.“ In der Moralphilosophie wird daher immer wieder nach Wegen gesucht, auch dem ethisch „unmusikalischen“ Amoralisten zeigen zu können, dass seine skeptische Einstellung gegenüber der Möglichkeit begründeter moralischer Urteile unangemessen ist. In schwächerer Form wird diese Herausforderung auch durch die Position des moralischen Relativisten aufgeworfen.18 Damit wird der Wunsch verständlich, über Natürlichkeitsvorstellungen moralische Orientierung in Enhancement-Fragen zu erhalten: Man sucht nach einem objektiven Grund, der auch dem moralischen Relativisten oder gar dem Amoralisten eindrücklich zeigt, dass es ein geltendes und tragfähiges Fundament für normative Sätze gibt. 17 Der ethische Naturalismus als philosophische Position beruft sich nicht auf „die Natur“ selbst als Grundlage der Moral, sondern darauf, dass moralische Eigenschaften durch Tatsachen begründet werden, die naturwissenschaftlich, also deskriptiv, erfassbar sind. Meine Kritik an der Rede von der Natur trifft damit nicht alle möglichen naturalistischen Ethiken, sondern vor allem solche, die gewissermaßen naiv von der Natur oder der Natur des Menschen reden. Die Ergebnisse einer quasi-demokratischen Verständigung sind ihrerseits ja auch als „Tatsachen“ beschreibbar, womit die hier entwickelte Position ebenfalls als „naturalistisch“ bezeichnet werden könnte. 18 Dass dem Amoralisten mit Gründen nicht beizukommen ist, wenn ihm jeder Sinn für Moralität abgeht, ist verschiedentlich hervorgehoben worden (vgl. Tugendhat 1993). Der Relativist dahingegen behauptet, moralische Urteile gelten nur innerhalb jeweils neu zu bestimmender Kontexte. Die Hoffnung, mithilfe anthropologischer oder naturalistischer Theorien dem Relativismus etwas entgegenhalten zu können, basiert darauf, dass man dem Relativisten das Zugeständnis abringen möchte, er selbst sei ja auch ein Mensch. Zur Diskussion relativistischer Theorien und zur Möglichkeit einer quasi-wissenschaftlichen Objektivität von Moral vgl. Ernst 2008; außerdem Schmidt 2008.
14.1. Die Attraktivität normativer Natürlichkeitsvorstellungen
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Der Versuch, ein normatives Fundament in natrlichen Tatsachen (wie etwa auch der „Natur des Menschen“) zu finden, wird ethischer Naturalismus genannt. Er ist Teil eines ethischen Realismus. Attraktiv ist ein solcher Ansatz, weil er auf eine wissenschaftlich nachvollziehbare Weise zu erreichen verspricht, wonach idealtypisch jede ethische Theorie strebt: ein universales, stabiles, objektives und egalitres Fundament moralischer Orientierung.19 Den Anspruch, ein universelles, das heißt kultur- und zeitübergreifendes Fundament der Moral zu etablieren, haben in der Vergangenheit vor allem die Religionen erhoben. Offenbarungen sind aber – insbesondere unter den Bedingungen einer globalisierten Gegenwart – de facto wenig anschlussfähig. Sie stellen angesichts der Vielfalt der Religionen und angesichts der Tatsache, dass viele Menschen Religionen überhaupt nicht als legitime Grundlage der Moral ansehen, keine Basis für universelle Moralvorstellungen dar. Daher ist gewissermaßen ein „Vakuum“ entstanden, in dem als funktionales Äquivalent für religiöse Überzeugungen naturwissenschaftlich begründbare Aussagen über universelle moralische Gesetzmäßigkeiten treten sollen. Universell gültige moralische Gesetze oder eine feststehende, universelle Ordnung der Natur erscheinen daher attraktiv und „die Natur“ soll gemäß dieser Spielart des moralischen Naturalismus eine Grundlage dafür abgeben können. Eng verbunden mit dieser vermeintlichen Universalität naturalistischer Moralbegründungen unter Berufung auf einen normativ gehaltvollen Naturbegriff ist ihre Stabilitt. Wenn die Natur einen Grund der Moral abgeben würde, wäre damit neben der synchronen Allgemeingültigkeit auch eine „diachrone Ewigkeitsklausel“ zur Vervollkommnung des Allgemeingültigkeitsanspruchs eingeführt. Anders als Religionen, Staaten und Kulturen sind die Naturgesetze, zu denen ja auch moralische Naturgesetze hinzukommen könnten, ewig und unveränderlich. Ein weiteres attraktives Merkmal von in der Natur begründeten Normen lässt sich in ihrer Objektivitt ausmachen, die mit Blick auf die Individuen keine Ausnahmen zu machen bereit ist. Vor dem Gesetz der Natur sind alle Individuen gleich, natürliche Privilegien existieren nicht. Die Objektivität moralischer Vorstellungen soll dann in der Form unbezweifelbarer deskriptiver Aussagen zu finden sein. Ein Beispiel eines solchen Satzes, der unzweifelbar zumindest mit einer hohen Suggestiv19 Die vier Erklärungen der Attraktivität eines normativ gehaltvollen Naturbegriffs formuliere ich im Anschluss an Birnbacher 2006, 42 ff.
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14. Kritik simpler anthropologischer Argumente
kraft einhergeht, ist Artikel 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Diese thetische Formulierung suggeriert ein Höchstmaß an Objektivität, wie man es von Naturgesetzen erwarten würde. Auch hier trägt die Parallelisierung von Gesetzen der Moral mit Naturgesetzen zur Attraktivität bei.20 Der nächste Attraktivitätsfaktor ist in den „demokratischen“ Zugangsmöglichkeiten zu naturalistischen Normen zu finden: Es sind nicht mehr kontingente privilegierte Herrscher, Mächtige oder Priester, denen es vorbehalten ist, die Normen zu erkennen und zu verbreiten. Mit einer Naturalisierung der Moral ist die Überzeugung verbunden, dass ein wissenschaftlicher Diskurs eröffnet werden kann, der Herrschaftswissen verbietet, indem prinzipiell jeder die gleichen Möglichkeiten des Zugriffs auf und der Erkenntnis von moralischen Tatsachen hat. Die genannten vier Faktoren erklären, warum Berufungen auf die Natur im Rahmen von Moralbegründungen als attraktiv erscheinen.
14.2. Die Kritik an normativen Natürlichkeitsvorstellungen Aufgabe der Moralphilosophie ist es zu untersuchen, auf welche Weise begründete Entscheidungen in moralischen Dilemmata herbeigeführt werden können. Im Folgenden werde ich kritische Argumente gegen eine direkte Begründung von normativen Natürlichkeitsvorstellungen, wie sie oftmals den Kern anthropologischer Argumente ausmachen, anführen. Damit wird jede direkte Berufung auf die „Natur“ des Menschen oder auf einen per se normativ gehaltvollen Begriff vom Menschen im Zusammenhang der Enhancement-Debatten nachhaltig kritisiert. Es lassen sich im Wesentlichen drei Arten von Gegenargumenten gegen die mit moralfundierender Absicht vorgetragenen Berufungen auf die Natur vorbringen.21 Meta-ethische, ethische und pragmatische. (a) Die meta-ethische Kritik am Gebrauch von Natürlichkeitsargumenten in ethischen Beurteilungen bezieht sich auf die logische oder semantische Unzulänglichkeit dieser Argumente. Insgesamt lassen sich drei Arten meta-ethischer Kritik voneinander unterscheiden.
20 Ich argumentiere damit selbstverständlich nicht etwa gegen den Artikel 1, sondern weise nur auf die Schwierigkeit seiner naturalistischen Begründung hin. 21 Vgl. dazu die prägnante Übersicht von Birnbacher 2006, 17 – 21, die ich im Folgenden leicht ergänzt habe.
14.2. Die Kritik an normativen Natürlichkeitsvorstellungen
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(a.1) Die erste verfährt in Form des Vorwurfs, einen „naturalistischen Fehlschluss“ zu begehen. Dieser Vorwurf erklärt jegliche Versuche für illegitim, von einem bestehenden Sein, das beschrieben werden kann, durch einen logischen Schluss zu einem Sollen überzugehen, das über normativ-präskriptive Eigenschaften verfügt. Zwischen diesen beiden Arten von Aussagen – einer deskriptiven und einer normativen – bestehe, so lautet der Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses, keine logische Verbindung.22 Jeder, der aus Aussagen über Seiendes oder über die Natur Aussagen über Sein-Sollendes abzuleiten vorgibt, begehe diesen Fehlschluss, da auch aus einer vollkommen angemessenen Beschreibung der Wirklichkeit keine in moralischer Hinsicht relevante Einsicht folge. Moore (Moore 1903, insbesondere § 12) hat das Problem folgendermaßen formuliert: Immer wenn eine naturalistische Erklärung der Bedeutung des Wortes „gut“ im moralischen Sinne geliefert werde – etwa das Wohlbefinden eines Organismus oder die Erhaltung des Organismus –, bleibe eine „offene Frage“ bestehen, nämlich: Warum ist die genannte Eigenschaft gut? Über die Angemessenheit dieses Vorwurfs werden ausufernde Diskussionen geführt. So wurde etwa versucht, mithilfe zusätzlich eingeführter „Brückenprinzipien“ den Vorwurf eines logischen Fehlschlusses zu entkräften und zu zeigen, wie aus deskriptiven Aussagen doch normative Schlüsse gezogen werden können (Quante 1994). Außerdem kann hinterfragt werden, ob die deskriptive und die normative „Seite“ von Begriffen tatsächlich so unverbunden nebeneinander stehen, wie es im Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses vorausgesetzt wird (Putnam 2002). An dieser Stelle genügt der Hinweis darauf, dass gemäß dieser ersten meta-ethischen Kritik ohne zusätzliche Annahmen keine moralisch relevanten Einsichten logisch aus Beschreibungen der Wirklichkeit oder der Natur abgeleitet werden können.23 (a.2) Die zweite Version eines meta-ethischen Einwandes gegen die moralische Relevanz des Naturbegriffs kritisiert die Ambivalenz und Multifunktionalität desselben. In besonderem Maße ist der Naturbegriff 22 Es ist daher – von Richard Hare und anderen – vorgeschlagen worden, statt von einem „naturalistischen“ präziser von einem „deskriptivistischen“ Fehlschluss zu sprechen. 23 Auch Engels plädiert dafür, insbesondere im Rahmen bioethischer Diskussionen die impliziten Prämissen (die anthropologischer, naturphilosophischer, metaphysischer, metaethischer oder anderer Art sein können) für einen gültigen Schluss zu explizieren, anstatt mit dem Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses die Diskussion abzubrechen (Engels 2008).
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14. Kritik simpler anthropologischer Argumente
als Projektionsfläche für individuelle Vorstellungen geeignet. Wie oben dargelegt (Kapitel 6 und 7) verbergen sich hinter dem Naturbegriff vielfältige und heterogene Ideen, wie insbesondere die Möglichkeit anzeigt, unterschiedlichste Gegenbegriffe zur Natur zu formulieren. Die Vielfalt möglicher Natur-Verständnisse zeigt sich de facto im unterschiedlichen Gebrauch dieses Begriffs, so dass pointiert gesagt werden kann: „The voice of Nature is a human voice.“ (Hardin 1976, 16). Diese zweite Form der meta-ethischen Kritik bezieht sich somit auf die vielfältigen möglichen Konzeptionen, für die der Naturbegriff eine Projektionsfläche abgegeben hat. Bei aller prima facie-Plausibilität von Aussagen, die moralisch relevante Eigenschaften in der Natur zu erkennen meinen, handelt es sich insgesamt um willkürliche und letzten Endes vielleicht sogar beliebige Aussagen. Dieser Einwand trifft auch die normativen Auszeichnungen der Natur des Menschen. (a.3) Eine dritte Art meta-ethischer Einwände kritisiert esoterische Begründungen normativer Sätze. Aussagen, die auf der Grundlage eines privilegierten Zugangs zu bestimmten Wissensbeständen basieren (etwa durch religiöse Offenbarung, Inspiration oder Tradition) und keine Begründung unabhängig von diesem Zugang aufweisen können, vermögen normative Aussagen nicht hinreichend zu stützen. Dieser Einwand erklärt normative Begründung beispielsweise durch Religionen für zu schwach, um als ein intersubjektiv überzeugendes Fundament zu gelten.24 (b) Ethische Argumente gegen die moralische Relevanz von Natürlichkeitsvorstellungen basieren darauf, dass der Bezug auf Natürlichkeit in Verbindung mit einem moralischen Wert kein angemessenes fundamentum in re habe. Dieses Argument ist prominent von John Stuart Mill in seinem Essay Nature (postum 1874) vorgebracht worden. Wie kann man von der Natur und auch der Natur des Menschen behaupten, sie könne als moralisches Vorbild gelten, wenn die Natur Katastrophen wie Erdbeben, Tsunamis, Meteoriteneinschläge, Hungersnöte etc. hervorbringt und die menschliche Natur weit verbreitete Praktiken wie Mord, Vergewaltigung und Ausbeutung sowie die Anfälligkeit für Krankheiten etc. umfasst? Ist vor diesem Hintergrund nicht jede Berufung auf Natürlichkeitsvorstellungen immer einseitig und betont lediglich gemäß einem 24 Damit ist nicht gesagt, dass religiös begründete normative Aussagen falsch sein müssen, es wird lediglich behauptet, dass eine religiöse Begründung kein intersubjektiv anschlussfähiges Fundament einer Moral darstellen kann, da es auf einem zu voraussetzungsreichen, esoterischen Wissensbestand beruht.
14.2. Die Kritik an normativen Natürlichkeitsvorstellungen
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externen Standard positiv bewertete Aspekte eines Ganzen, das in moralischer Hinsicht gute wie schlechte Seiten hat? Normative Anrufungen der Natur setzen sich daher immer dem Vorwurf der Naivität aus, da sie zumeist einseitig sind. Nichtsdestoweniger sind diese Argumente weit verbreitet und haben Eingang in die Alltagsmoral und alltägliche Evaluationen gefunden. So ist etwa die Rede von einem „natürlichen Gleichgewicht“ mit Blick auf bestimmte Umwelt- und Lebensbedingungen ebenso verbreitet wie problematisch. Schließlich ist dieses biologische Gleichgewicht seinerseits ein Zustand, der erst nach einer Reihe anderer Zustände eingetreten ist, die ihrerseits vorherige andere Zustände abgelöst haben, die ebenfalls als Gleichgewicht beschrieben werden konnten. Damit sind Zustände wie ein biologisches Gleichgewicht immer bloß relativ zu einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit und stellen jedenfalls keineswegs ein absolutes Gleichgewicht dar.25 (c) Als dritte Klasse von Argumenten gegen die moralfundierende Funktion von Natürlichkeitsbehauptungen können pragmatische Gründe genannt werden. Als „phronetische“, also Klugheitsüberlegungen haben sie in ethischer Hinsicht zwar weniger Gewicht als die zunächst genannten Argumente, gleichwohl verdienen sie Beachtung. Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass gerade unter Berufung auf die Natur oder die Natur des Menschen häufig die krassesten Ungerechtigkeiten gerechtfertigt, verhärtet und verfestigt wurden. Sklavenhaltung, Judenverfolgung und Unterdrückung von Frauen sind nur wenige Beispiele für diese weit verbreitete Strategie.26 Zur Beförderung des Guten in der Welt und zur Vergrößerung von Gerechtigkeit haben ethische Natürlichkeitsargumente oft wenig beigetragen. 25 Mit dieser kritischen Anmerkung zum Konzept eines natürlichen Gleichgewichts in der Umwelt soll nicht der oftmals massiv verändernde und verheerende Einfluss menschlicher Lebensweisen auf die Erde und die Lebewesen geleugnet oder gerechtfertigt werden. Das Argument greift allein die moralische Wertschätzung eines vermeintlichen „natürlichen Gleichgewichts“ an, das schlicht nicht existiert. Umweltschützer, die die Lebensbedingungen biologischer Arten (auch des Menschen selbst) erhalten wollen, müssen trotz dieser Kritik ihr Anliegen keineswegs überdenken. Es geht allenfalls darum, den Wert eines bestimmten ökologischen Zusammenhangs anders als unter Berufung auf ein vermeintlich feststehendes Gleichgewicht zu begründen. 26 Vgl. Juengst: „As […] the history of sexism, racism and social class bias in sport suggest, there are dangers to beware in giving biological categories moral force.“ ( Juengst 2009, 55).
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14. Kritik simpler anthropologischer Argumente
Die drei Klassen von Argumenten begründen eine äußerst skeptische Einschätzung der moralischen Relevanz von Natürlichkeitskonzeptionen. Moralische Orientierung zeigt sich schließlich oftmals in der Auseinandersetzung mit und Ablehnung der in der Welt, Umwelt oder der Natur und Natur des Menschen vorgefundenen vermeintlich „natürlichen“ Umstände. Moral versucht häufig gerade in Ablehnung der natürlichen Zustände, bessere Zustände zu verwirklichen. Mit Blick auf die Enhancement-Debatten lässt sich also aus dieser Kritik eine zurückhaltende Einschätzung der Relevanz direkter Naturargumente rechtfertigen, wie nachdrücklich diese auch immer vorgetragen werden. Gleichwohl sollen damit die unter Berufung auf Natürlichkeitskonzeptionen vorgetragenen normativen Aussagen nicht insgesamt diskreditiert werden. Vielmehr geht es darum zu klären, ob die Intuitionen, die durch sie ausgedrückt werden, vielleicht ein anderes, tragfähigeres Fundament haben können, als unmittelbar und allein in der Natur selbst begründet zu sein. Einen solchen Versuch unternehme ich in meiner Auseinandersetzung mit dem begrifflichen Ideal „Mensch“, von dem ich hoffe, dass es den meta-ethischen Einwänden gegen Natürlichkeitsargumente begegnet, indem ein quasi-demokratischer Verständigungsprozess als Quelle der Normativität angenommen wird. Ich stimme daher Müller zu, wenn er schreibt: „Die Besinnung auf seine eigene Natur ist eine Möglichkeit [scil. unter vielen, JCH], Orientierung zu finden. Hinzu kommt die meist unterschätzte Einsicht, dass Moralisierung nur über Kulturalisierung möglich ist.“ (Müller 2008, 50).
15. Das Ziel: Eine signifikante Kartierung des Begriffs „Mensch“ Im Folgenden versuche ich, den Begriff „Mensch“ als normativen Begriff zu explizieren, indem ich signifikante Komponenten des Menschseins begründet auszeichne. Unter „Signifikanz“ verstehe ich die Bedeutsamkeit oder Relevanz von etwas für jemanden (vgl. Kapitel 13) und nicht die statistische Eindeutigkeit, für die „Signifikanz“ im naturwissenschaftlichen Kontext steht. In der Analyse des Begriffs werden unterschiedliche Aspekte des Menschseins bestimmt, wodurch der Begriff selbst als Hybrid zwischen eindeutig normativen und eindeutig deskriptiven Aussagen changiert. Weil sich Menschen selbst unter dem Begriff „Mensch“ begreifen, handelt es sich dabei nicht um einen rein objektiven Begriff, sondern immer auch um einen Begriff mit „subjektiver Nähe“. Dennoch ist dieser – in einem noch näher zu bestimmenden, bescheidenen Sinne – realistisch bestimmt. Ziel dieses Kapitels ist es darzulegen, dass eine signifikante „Kartierung“ des Begriffs „Mensch“, die dessen deskriptiven und normativen Gehalte umfasst, eine tragfähige Grundlage für anthropologische Argumente (in der Enhancement-Debatte) darstellt.
15.1. Eine signifikante Kartierung des Begriffs „Mensch“ Wie genau hat man Sätze der Art „Menschen sind X“ oder „Menschen sollen X sein“ zu verstehen? Um was für eine Art von Aussagen handelt es sich dabei? Wird damit eine unumstößliche Wahrheit behauptet – oder lediglich eine persönliche Meinung ausgedrückt? Ich werde im Folgenden dafür argumentieren, dass Beschreibungen und Bestimmungen des Menschen (1) Resultate eines Prozesses sind, (2) Entscheidungen darüber zum Ausdruck bringen, was als signifikant gelten soll und was nicht, (3) dass sie nicht alternativlos sind und als bescheiden realistische Beschreibungen der Wirklichkeit immer auch Ausdruck von menschlichen Absichten und Zwecken sind. Aufgrund dieser Faktoren sind (4) auch die „streng wissenschaftlichen“ Beschreibungen von Menschen
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15. Das Ziel: Eine signifikante Kartierung des Begriffs „Mensch“
unvermeidlich selektiv hinsichtlich der Auswahl bestimmter, als signifikant angesehener menschlicher Eigenschaften. In diesen Eigenschaften sind Bestimmungen des Menschen, insbesondere wenn sie als regulative Idee in ethischen Entscheidungssituationen herangezogen werden, (5) vergleichbar mit der Anfertigung von (geographischen oder genetischen) Karten. Karten gelten mir allerdings nicht in einem statischen Sinne als Vergleichsmetapher, sondern vielmehr so, dass kontinuierlich Ergänzungen hinzugefügt und Präzisierungen vorgenommen werden können. (1) Antworten auf die Frage, was der Mensch ist und welche menschlichen Eigenschaften besonders bedeutsam sind, werden nicht ohne eine Vorgeschichte gegeben. Die erstmalige Verständigung von Menschen darüber in einem fiktiven Urzustand entzieht sich unserer Kenntnis und auch ein „Blick von Nirgendwo“ (Nagel 1986) auf uns selbst ist uns verschlossen. So stehen wir – zumindest in der Gegenwart – niemals am Anfang der Auseinandersetzung mit der anthropologischen Frage, sondern immer in der Tradition zahlreicher zuvor unternommener Versuche. Mit Blick auf die noch folgenden Verständigungen lässt sich zugespitzt sagen, wir stünden immer mitten in der Auseinandersetzung mit der anthropologischen Frage. Viele Kategorien, mit denen wir uns als Menschen beschreiben, weisen Anzeichen einer langen ideengeschichtlichen Entwicklung auf. Das gilt für die Bestimmungen des Menschen als vernunftbegabtes Sinnenwesen, als Gesellschaftswesen, als handelndes, lachendes etc. Wesen gleichermaßen. Damit wird auch die Bedeutung historischer Studien, die vor diesem Hintergrund gewissermaßen „archäologische Grabungen“27 darstellen, deutlich: Wenn die Klassifikationen, Kategorien und die Terminologie insgesamt, mithilfe derer wir uns selbst beschreiben, über eine lange Geschichte verfügen, ist anzunehmen, dass Spuren dieser Geschichte bis in die jeweils gegenwärtigen Kategorisierungen hineinreichen. Damit wird keineswegs die Beliebigkeit von Beschreibungen des Menschen behauptet, doch es lässt sich zeigen, wie vergangene Bestimmungen und kategoriale Vorentscheidungen die gegenwärtigen Ansätze, Kategorien und Auszeichnungen beeinflussen. (2) Die historischen Vorentscheidungen, die gegenwärtige Bestimmungen von Menschen maßgeblich beeinflussen, basieren ihrerseits auf 27 Diesen Ansatz vertritt auch Foucault 1969 in seiner Archologie du savoir. Wenn man Foucaults Position nicht als radikal relativistisch bezüglich aller metaphysischen, anthropologischen und epistemologischen Kategorien versteht, lassen sich die „archäologischen Grabungen“ mit Gewinn durchführen.
15.1. Eine signifikante Kartierung
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Wertungen und Signifikanzzuweisungen der Vergangenheit. Dies gilt insbesondere für die Selbstbeschreibungen von Menschen, etwa für Klassifikationsschemata, die Gesundheit und Krankheit bestimmen, Normalität konstituieren (etwa bezüglich der sexuellen Orientierung) oder Rassenunterschiede erklären wollen.28 Signifikanzzuweisungen können sich somit verselbständigen und selbst verstärken, obwohl sie nicht alternativlos sind. Als „signifikant“ bezeichne ich diejenigen Aspekte, die in einem bestimmten Kontext als besonders bedeutsam angesehen werden (vgl. auch Kapitel 13). Signifikanz oder Bedeutsamkeit ist damit eine Eigenschaft ausgewählter Beschreibungen und Bestimmungen des Menschen, die in besonderem Maße als adäquat und relevant gelten. Voraussetzung dafür ist, dass aus der Vielzahl möglicher Perspektiven auf den Menschen eine Auswahl getroffen wurde. Signifikanz korreliert damit nicht mit Wahrheit, vielmehr konstituiert Signifikanz eine eigenständige Realität, die mit Blick auf Selbstbeschreibungen des Menschen als „wahr“ gelten kann, ohne strenge formal Wahrheitskriterien erfüllen zu müssen (vgl. auch Kapitel 18.1.). Signifikant sind einzelne Aspekte der menschlichen Lebensform, die in bestimmten Kontexten als bedeutsam erfahren und begründet werden können. Durch diese Signifikanzzuweisung erhalten sie eine eigenständige Wirklichkeit. (3) Menschen sind – zumindest teilweise, aber entscheidend – durch ihre Selbstbestimmung bestimmt.29 Die Auszeichnung bestimmter Ei28 So schreibt etwa Kitcher im Rahmen der Erklärung seines „modest realism“: „The impact of categories on reality by way of human intervention is more evident in the biological sciences than in the physical sciences and most striking in those areas of inquiry in which we study ourselves.“ (Kitcher 2001, 52). Die daraus resultierenden Konsequenzen betreffen auf vielfältige Weise das menschliche Selbstverständnis: „Not only are such classifications embedded in a network of institutions, laws, and artifacts, but they also foster self-conceptions that excite or inhibit actions.“ (ebd.). Weiter heißt es: „The resultant pattern of human activity can then easily reinforce the judgment that the initial classification marks an important natural division.“ (ebd., 53). Hiermit weist er auf die „wirkliche Wirksamkeit“ derartiger Signifikanzzuweisungen hin, die nämlich ihrerseits prägend und gestaltend auf die Gegenwart einwirken. 29 In meiner Arbeit fokussiere ich auf die Verkörperung, Geistigkeit und die daraus resultierende Orientierungsbedürftigkeit und Fähigkeit autonomer Handlungsurheberschaft. Charles Taylor hat in seiner umfangreichen Studie Sources of the Self (Taylor 1989) eine Vielzahl alternativer Bestimmungen nachvollzogen, in denen Werturteile konstitutiv für personale Identität sind. Dabei weist er auch auf die historische Dimension der Genese des Selbst hin, insbesondere anhand
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15. Das Ziel: Eine signifikante Kartierung des Begriffs „Mensch“
genschaften des Menschen in der Selbstbeschreibung als besonders relevant ist dabei nicht alternativlos, sondern basiert auf menschlichen Zwecken und Absichten. Eine Fokussierung auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse, auf die Vernunftfähigkeit oder die Handlungsurheberschaft, auf die Fähigkeit zu spielen, sich selbst intentional zu verändern oder ein Mängelwesen zu sein, kann jeweils besondere Plausibilität beanspruchen, ohne dabei alternativen Beschreibungen ihre Plausibilität absprechen zu müssen. Die Schwerpunktsetzungen oder Signifikanzzuweisungen spiegeln vielmehr die im Hintergrund wirksamen Interessen oder Absichten wider. Rassenunterscheidungen etwa stehen häufig in Verbindung mit dem Versuch eine Aufwertung der eigenen Gruppe; die Betonung der Vernunftfähigkeit lässt sich auf die in aristotelischer Tradition stehende Wertschätzung des bios theoretikos zurückführen und grenzt sich häufig von einer als übermäßig erfahrenen Spiritualität und Emotionalität ab; Betonungen der Selbstveränderungsfähigkeit des Menschen können Ausdruck einer als defizitär empfundenen Stagnation sein. Ihnen allen ist ihre jeweilige Berechtigung nicht abzusprechen, ihre Bedeutung ist jedoch nicht überzeitlich gültig, sondern setzt einen bestimmten Kontext voraus. Trotzdem lassen sich unterschiedliche Grade der Allgemeingültigkeit von Aussagen über den Menschen unterscheiden. Die Rede vom Menschen als Mängelwesen ist dabei voraussetzungsreicher und enger an bestimmte Kontexte gebunden als etwa die Feststellung der Verkörperung der menschlichen Lebensform. Die Adäquatheit unterschiedlicher Bestimmungen wird dabei aber nicht durch die „Wahrheit“ der Bestimmung festgelegt, sondern durch die Signifikanz, also die Relevanz, die eine bestimmte Beschreibung in einem bestimmten Kontext hat. (4) Dass Bestimmungen von Menschen nicht alternativlos sind, dass sie über eine – kontingente – Vorgeschichte verfügen und Ausdruck von Interessen und Absichten sind, gilt auch für die vermeintlich streng objektiven, wissenschaftlichen Aussagen über den Menschen. Die Ziele der Wissenschaft sind alles andere als durch einen objektiven Standard, eine intrinsische, wertneutrale Teleologie bestimmt.30 Exemplarisch lässt sich vergessener Schichten wie der theologischen Fundierung des Selbstbegriffs, die durch die Rationalisierungen der Aufklärungsphilosophie überdeckt wurden. 30 Hierüber herrscht Disput zwischen denjenigen, die Wissenschaft (insbesondere Grundlagenwissenschaft) als wertneutral und objektiv ansehen, und denjenigen, die diese Neutralität unter Verweis auf soziale Einflüsse bezweifeln. In den 1990er Jahren wurde diese Debatte unter dem Schlagwort „Science Wars“ ausgefochten. Mir scheint, dass als ein Ergebnis dieses Streits die vielfältigen
15.1. Eine signifikante Kartierung
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das an der Grundlagenforschung über das Humangenom erkennen. Auch wissenschaftliche Aussagen und Forschungen spiegeln hier genuin menschliche Absichten und Zwecke wider, sind daher unvermeidbar selektiv, zudem eingebunden in eine soziale Wirklichkeit, auf die sie zurückwirken, indem sie etwa bestimmte Wirklichkeiten konstruieren (etwa den vermeintlichen Determinismus in menschlichen Handlungen) oder neue Signifikanzen erschaffen (das Bedürfnis, um sein eigenes Genom und bestimmte Krankheitsdispositionen zu wissen). (5) Beschreibungen des Menschen lassen sich meines Erachtens gewinnbringend mit einer Praxis in einem gänzlich anderen Feld vergleichen: Dem Anfertigen von Karten, etwa geographischen oder politischen Karten, aber auch dem Anfertigen von Brain Maps oder der Kartierung des menschlichen Genoms. Karten wählen signifikante Aspekte aus, verzeichnen diese in der Karte und kreieren damit eine Wirklichkeit, in der auf der Grundlage der tatsächlich vorhandenen Umstände auch Aspekte eingeflossen sind, die auf absichtsvolles, interessegeleitetes menschliches Handeln zurückzuführen sind.31 Karten werden aufgrund von sich kontinuierlich wandelnden Bedürfnissen verändert, was sich an der Geschichte der Kartographie erkennen lässt. Damit ist die von einer Karte abgebildete Wirklichkeit zumindest teilweise unabhängig von den „bloßen Fakten“ (deren Relevanz für Menschen ohnehin zweifelhaft ist), lässt sich jedenfalls in ihnen nicht erschöpfend begründen. Wie Kitcher ausgeführt hat, illustriert die Geschichte der Kartographie eine bescheiden realistische Konzeption von Wahrheit (Kitcher 2001, 55 – 62), die auch ich für meine Bestimmung der signifikanten Aspekte der menschlichen Lebensform in Anspruch nehmen möchte, um die begrenzte – aber innerhalb dieser Begrenzung tragfähige – Möglichkeit anthropologischer Argumente darzulegen. Am Ende einer solchen Kartierung des Begriffs „Mensch“ stünde damit die Möglichkeit, sich in einem bescheidenen Sinne realistisch über zentrale Eigenschaften des Menschen zu verständigen. Diese Bestimmung zentraler Eigenschaften ist jedoch nicht alternativlos und immer auch das Ergebnis einer Reihe von absichtsvollen und interessegeleiteten sozialen Einflüsse und die Notwendigkeit, auch bei Grundlagenwissenschaft auf die sozialen Implikationen zu achten, deutlich hervorgetreten sind. Vgl. zur Übersicht die Beiträge in Koertge 1998. 31 Ein perfekter geographischer Atlas beispielsweise ist ein Mythos: Er würde hinsichtlich seines Informationsgehalts mit der Wirklichkeit zusammenfallen, Karten sind daher nicht perfekt.
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15. Das Ziel: Eine signifikante Kartierung des Begriffs „Mensch“
menschlichen Einflüssen.32 Das Wissen, dass menschliche Absichten und Interessen immer schon in die Bestimmung des Menschen eingeflossen sind, erlaubt eine explizite Deliberation über die Werte und Zielvorstellungen menschlichen Handelns auf der Grundlage einer – immer nur vorläufigen und bescheiden realistischen – Antwort auf die Frage, wie Menschen sein sollen. Hiermit wird der Begriff vom Menschen zugleich als Ergebnis einer Deliberation und als regulative Idee konzipiert. Dies nenne ich eine „signifikante Kartierung“ des Menschen, da die Karte anhand von begründeten Signifikanzen die Selbstbeschreibung des Menschen auf den Punkt bringt und damit zugleich als orientierungsstiftende Instanz zu Entscheidungen über bestimmte Veränderungen des Menschen (die in der Folge auch zu Veränderungen der Karte führen würden) herangezogen werden kann. Wie im Falle von Karten ist eine solche Selbstbeschreibung des Menschen aktualisierbar und wandelbar, wobei man nur unter Angabe eines guten Grundes Veränderungen an der Karte – und dem der Karte Zugrundeliegenden – vornehmen wollen wird.
15.2. „thick moral concepts“ – Die Verquickung von Fakten und Wertungen Über das Verhältnis von deskriptiven und normativen Aussagen, also über eine mögliche „fact-value-dichotomy“, existiert eine lange Debatte. Humes kritische Ausführungen über den problematischen Übergang von Seins- zu Sollensaussagen stellt einen wichtigen Ausgangspunkt der Diskussion dar (Hume 1739/40). Hume hatte das unbemerkte Hinübergleiten von einem Beschreibungs- in einen Wertungsdiskurs kritisiert, das er in einer Vielzahl moralischer Traktate vorgefunden hatte. Verschärft wurde diese Gegenüberstellung jedoch vor allem vom logischen Positivismus, der insbesondere innerhalb der analytischen Philosophie lange Zeit tonangebend war. Die logischen Positivisten – etwa Rudolf Carnap – sahen die Ethik insgesamt nicht als einen Gegenstand möglicher rationaler Diskussionen an, da sie ihre Aufmerksamkeit auf Fakten, die in Protokoll- oder Beobachtungssätzen ausgesagt werden 32 Kitcher: „the languages we use are apt for the description of nature in the sense that they are good for creatures like us to formulate the kinds of descriptions of the world that we care about.“ (Kitcher 2001, 46).
15.2. Die Verquickung von Fakten und Werten
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können, beschränkten. Damit allerdings wurde ein zentraler Bereich der Philosophie, die Ethik, aus der rationalen Diskussion ausgeschlossen. Gegenüber dieser konfliktträchtigen Ausgangssituation entwickelt die aktuelle Diskussion über den Status sogenannter „thick moral concepts“ ein alternatives Modell. Am Beispiel von Begriffen wie „grausam“ wird die Doppelaspektivität von Begriffen diskutiert, die zugleich eine normative und eine deskriptive Bedeutung haben. Damit kann in deskriptiver Hinsicht ein bestimmtes Verhalten – etwa das lustvolle Quälen eines Menschen – beschrieben werden, das jedoch schon mit dieser Beschreibung zugleich moralisch qualifiziert wird. Putnam etwa vertritt die These, dass es sich bei diesen unterscheidbaren Dimensionen auch nicht um losgelöst voneinander existierende Komponenten handele, sondern dass die normative und die deskriptive Bedeutung in „thick moral concepts“ auf das Engste miteinander verbunden („entangled“) seien (Putnam 2002). Er schreibt dazu: ,Cruel‘ simply ignores the supposed fact/value dichotomy and cheerfully allows itself to be used sometimes for a normative purpose and sometimes as a descriptive term. (Putnam 2002, 35)
Ergänzend kann hinzugefügt werden, dass die suggerierte alternierende Bedeutung auch zeitgleich greifen kann: Beide Bedeutungen wechseln sich nicht ab, vielmehr sind sie wechselseitig voneinander imprägniert. Diese Konzeption von „thick moral concepts“ möchte ich auch für den Begriff des Menschen heranziehen. Dieser ist zwar womöglich weniger offenkundig als normativer Begriff zu erkennen als etwa die Begriffe „grausam“ oder „großzügig“. Trotzdem steht der Begriff – wie seine Ableitungen „menschlich“, „human“, oder das Substantiv „Humanität“ – in einem ebensolchen Doppelaspekt. In Kapitel 13 habe ich darüber hinaus gezeigt, wie aufgrund der Tatsache, dass Sprecher sich mit dem Begriff „Mensch“ selbst immer auch mit meinen, eine besondere Selbstbezüglichkeit und Bedeutsamkeit mit dem Begriff einhergeht. Gleichwohl bleibt die grundsätzliche Frage, wo die Attraktivität einer (vermeintlichen) strikten Trennung zwischen Fakten und Werten herrührt. Mit Putnam kann man die Unterscheidung als „discussion-stopper“ und sogar als „thought-stopper“ angesichts einer besonders schwierigen Aufgabe verstehen: it is much easier to say ,that’s a value judgment‘, than to do what Socrates tried to teach us: to examine who we are and what our deepest convictions are and hold those convictions up to the searching test of reflective examination. (Putnam 2002, 44)
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15. Das Ziel: Eine signifikante Kartierung des Begriffs „Mensch“
Dieser sokratischen Herausforderung ist auch ein normativ verstandener Begriff „Mensch“ ausgesetzt. Da es sich dabei jedenfalls nicht um einen allein deskriptiv zu gewinnenden Begriff handelt, ist es notwendig, einen Prozess der Verständigung zu durchlaufen: The solution is neither to give up on the very possibility of rational discussion nor to seek an Archimedean point, an ,absolute conception‘ outside of all contexts and problematic situations, but […] to investigate and discuss and try things out cooperatively, democratically, and above all fallibilistically. (Putnam 2002, 45, Hervorhebung JCH)
Damit ist die Aufgabe klar benannt, das Ziel „nach oben“ wie „nach unten“ eingegrenzt: Die Bestimmung und Begründung eines normativen Begriffs vom Menschen geht von einer Untersuchung der „natürlichen Fakten“ aus und klärt daran anschließend quasi-demokratisch und damit falsifizierbar den Gehalt, der in besonderem Sinne als normativ gelten soll. Absolute und endgültige Wahrheit für einen moralisch gehaltvollen Begriff vom Menschen wird damit nicht angestrebt, lediglich konsensuelle und kooperativ gewonnene Anschlussfähigkeit an ein nach bestem Wissensstand etabliertes menschliches Selbstverständnis (das ist die Abgrenzung „nach oben“); ebenso wenig wird eine allein durch eindeutige naturwissenschaftliche Fakten gestützte Normativität behauptet oder gesucht (das ist die Abgrenzung „nach unten“, die dafür sorgt, dass der Selbstbegriff nicht von Moore’s Einwand der „offenen Frage“ getroffen wird).
16. Die quasi-demokratische Begrndung anthropologischer Argumente Wie kann also – statt einer kritikwürdigen direkten Berufung auf Naturargumente – eine begründete normative Bestimmung des Begriffs „Mensch“ geleistet werden? Wenn anthropologische Argumente, die ein bestimmtes Verständnis vom Menschen normativ auszeichnen, innerhalb ethischer Debatten berechtigt eine Rolle spielen sollen, müssen sie auf einem intersubjektiv nachvollziehbaren, wohl begründeten und für andere anschlussfähigen Fundament basieren. Dieses kann nicht allein auf naturwissenschaftlichen Einsichten oder anderen privilegierten Erkenntnissen basieren und dann für alle als verbindlich dekretiert werden. Stattdessen muss ein begründet normatives Selbstverständnis von Menschen in einem quasi-demokratischen, das ist idealisiert öffentlichen Verständigungsprozess, entwickelt werden. Es wurde gezeigt, dass ein enges – etwa allein naturwissenschaftlich genetisches – Verständnis des Menschen einseitig und damit für die ethische Orientierungsfunktion uninteressant ist (Kapitel 4). In Kapitel 14 wurde jede Form direkter Moralbegründung in Natürlichkeitsvorstellungen kritisiert. Dem gegenüber versuche ich ein reicheres Verständnis des Begriffs „Mensch“ zu entwickeln, das einerseits auf einer Deskription als signifikant beurteilter menschlicher Eigenschaften beruht und damit andererseits neben der deskriptiven zugleich eine normative Dimension hat (Kapitel 15). Da diese reichere Bestimmung anschlussfähig für alle sein soll, die sich unter dem Begriff verstehen (dazu dienten die Ausführungen in Kapitel 13), muss prinzipiell jedem Individuum, das sich unter dem Begriff „Mensch“ begreift, ein Mitspracherecht eingeräumt werden. Diesen idealisierten, „quasi-demokratischen“ Verständigungsvorgang über die Bestimmung des Menschen werde ich im Folgenden in Grundzügen skizzieren. „Quasi-demokratisch“ bedeutet hier einerseits, dass der Prozess der Entwicklung des normativ gehaltvollen Begriffs vom Menschen in einem Verfahren ablaufen könnte, dass einem demokratischen Prozess ähnlich ist. Das heißt, dass grundsätzlich jedes Individuum eine Stimme hat, dass Diskussion und argumentativer Austausch stattfindet und dass die Ergebnisse einer Entscheidung keine ewige
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16. Die Begrndung anthropologischer Argumente
Gültigkeit haben oder Wahrheit verkünden müssen, sondern prinzipiell Veränderungen und Verbesserungen möglich sind. Andererseits bedeutet das Attribut „quasi-demokratisch“ hier, dass auch ex post Individuen einer solchen Bestimmung des Menschen als regulativer Idee ihre Zustimmung erteilen können – und dass keine tatsächliche Abstimmung über die Gültigkeit der Norm notwendig ist. Damit muss für das Vorliegen eines quasi-demokratischen Prozesses nicht de facto jedes Individuum gefragt werden (was ein gänzlich unrealistisches Szenario darstellen würde). Es handelt sich somit nicht um ein tatsächliches demokratisches Verfahren, sondern um ein quasi-demokratisches philosophisches Gedankenexperiment, das dennoch plausibel sein soll und zumindest sub-ideal realisierbar sein muss (s.u.). Auf dieser Grundlage halte ich die Bezeichnung dieses idealtypischen Prozesses als „quasi-demokratisch“ – und nicht als im Vollsinne demokratisch – für gerechtfertigt. Der idealisierte Verständigungsvorgang soll trotz seiner Fiktionalität ein möglichst realistisches Gedankenexperiment darstellen. Das heißt, dass ich es unter möglichst realistischen Bedingungen vorstelle. Die erste Voraussetzung für das Gedankenexperiment besteht darin, all denjenigen, die sich selbst möglicherweise unter den Begriff „Mensch“ fassen würden, Gelegenheit zum Austausch zu geben.33 Damit wird zugestanden, dass prinzipiell jedes Individuum, das sich unter den Begriff „Mensch“ versteht, etwas zu dem Verständigungsprozess beizutragen hat. Die individuelle Selbstbestimmung als Mensch kann damit – dem Anspruch nach – als exemplarischer Ausgangspunkt für die Bestimmung des Begriffs „Mensch“ gelten. Dieser quasi-demokratische Verständigungsprozess von Menschen zur Generierung eines adäquaten deskriptiven und normativen Begriffs von Menschen kann zudem im doppelten Sinne anthroponom 34 genannt 33 Grundsätzlich sind damit auch Wesen zugelassen, die nicht in biologischer Hinsicht eindeutig als Menschen spezifiziert werden können, wenn sie den Anspruch erheben können, an der Verständigung teilzuhaben. Auch fiktionale Wesen – wie extreme Mensch-Maschine-Hybriden, Inter-Spezies-Hybriden, Engel, Außerirdische etc. – können, wenn der Grund für die normative Auszeichnung in der quasi-demokratischen Verständigung und nicht in der Biologie der Teilnehmer liegt, nicht prinzipiell aus dem Prozess ausgeschlossen werden. Für Individuen, die nicht (nicht mehr oder noch nicht) selbst am Deliberationsprozess teilnehmen können, müssen Stellvertreter eingesetzt werden. 34 Zum Begriff der „Anthroponomie“, der sich auch vereinzelt bei Kant findet (etwa Kant 1797, 405 f.), vgl. dazu Wenzel 1992; außerdem mein Kapitel 17.1. (K4).
16.1. Öffentlichkeit als Bedingung
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werden: Zum einen liefert er eine normativ gehaltvolle Bestimmung des Begriffs Mensch, der in der Folge als „regulative Idee“ Orientierung geben kann; der Begriff „Mensch“ wird damit zu einer Norm. Zum anderen liegt die Normativität des Begriffs in der Tatsache der menschlichen Bestimmung begründet; die Normativität wurde damit von Menschen generiert. Ziel der Verständigung ist es, einen treffenden, zustimmungsfähigen Begriff vom Menschen zu entwickeln, der – im Kontext vorliegender Arbeit – konkret zur Orientierung angesichts biotechnologischer Enhancement-Interventionen herangezogen werden kann. Allein bei dem hier vorgeschlagenen Vorgehen sehe ich die Möglichkeit, ethisch relevante, aber nicht ideologische anthropologische Argumente in der Enhancement-Debatte angemessen zu berücksichtigen. Ein anderer Weg zur umfassenden, nicht-ideologischen Beantwortung der Frage, was der Mensch ist und was er sein soll, als der hier vorgeschlagene, scheint nicht zur Verfügung zu stehen. Im Folgenden nenne ich drei Bedingungen für die adäquate Begründung eines deskriptiv-normativen Begriffs vom Menschen.
16.1. Öffentlichkeit als Bedingung Die erste Voraussetzung für die Verständigung über die Frage nach dem Menschen ist, dass sie çffentlich stattfindet. Das heißt, dass jeder Satz und jedes Argument nicht isoliert und „im Verborgenen“ geäußert wird, sondern „unter prinzipiell von allen Menschen einsehbaren Bedingungen“ (Gerhardt 2008b, 101) stehen muss. Es sprechen mindestens vier Argumente dafür, dass eine solche freie Rede im öffentlichen Raum eine wichtige Bedingung für die adäquate und normative Bestimmung des Menschen darstellt.35 Da Meinungen von Menschen schlichtweg falsch sein können, ist die Meinung, die andere zu der eigenen Meinung einnehmen können, wichtig und soll öffentlich gemacht werden. Die abweichende Meinung eines anderen ist nämlich entweder ein wichtiges Korrektiv angesichts eines eigenen Irrtums oder aber ein mögliches Gegenargument, dem die eigene Meinung etwas entgegenhalten können muss, wenn sie tragfähig sein soll. Der Abgleich mit konkurrierenden Meinungen im Feld der Öffent35 Vgl. dazu auch die Ausführungen am Schluss des zweiten Kapitels von John Stuart Mills On Liberty (1859).
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16. Die Begrndung anthropologischer Argumente
lichkeit stellt somit einen wichtigen Schutz gegen Irrtum dar, der „im Verborgenen“ leicht fortbestehen könnte. Das gilt für alltägliche, für wissenschaftliche und für philosophische Meinungen gleichermaßen.36 Selbst wenn sich eine einmal vertretene Überzeugung schließlich als falsch herausstellen sollte, ist damit nicht ausgeschlossen, dass sich in ihr ein „Körnchen Wahrheit“ befindet. Eine öffentlich unternommene, kritische Diskussion ermöglicht es, auch in insgesamt irrigen Aussagen nach zutreffenden Elementen zu suchen. Statt jede falsche Aussage vollständig zu verwerfen, kann in einem öffentlichen Dialog eine Meinung konstruktiv von falschen Elementen befreit und durch die Kritik von außen in ihren zustimmungsfähigen Gehalten gestärkt werden. Schließlich ist die öffentliche Auseinandersetzung auch deshalb wichtig, weil in ihr nicht nur inhaltlich nach möglichen gemeinsam anerkannten Aussagen gesucht wird, sondern auch die gemeinsame Suche und Verständigung real praktiziert wird. In der öffentlichen Sphäre setzen sich Menschen mit ihresgleichen auseinander, sie tauschen – wenn auch noch so kritisch – Argumente aus und begegnen sich damit in einer gemeinsamen Welt, in einem gemeinsam geteilten „Raum der Gründe“, innerhalb dessen sie nach Verständigung suchen. Schon damit bringen sie etwas genuin Menschliches zum Ausdruck: Der Prozess der kollektiven Selbstverständigung zeigt damit performativ die menschliche Selbstbestimmungsfähigkeit an. Darüber hinaus erschwert der öffentliche Austausch von Gründen das strategische Vorgeben unwahrhaftiger Gründe. Wer öffentlich Gründe vorbringt, legt sich damit auf seine Position fest, womit eine beliebige Änderung der Meinung oder das Aufrechterhalten einer strategischen Position zumindest erschwert wird, da der Vorwurf der Unglaubwürdigkeit droht. Die auf Öffentlichkeit angelegte kommunikative Rationalität unterscheidet sich somit grundsätzlich von der strategischen Rationalität (Habermas 1981). Für den hier zu unternehmenden anthropologischen Diskurs der kollektiven Selbstbestimmung ist ein strategisches Vorgehen nicht möglich (vgl. auch Nida-Rümelin 2009). Öffentlichkeit ist jedoch nicht allein als methodische Bedingung des quasi-demokratischen Verständigungsprozesses von Bedeutung. Darüber hinaus konstituiert die Öffentlichkeit – verstanden als die Gesamtheit derer, die potentiell an einem Geschehen oder einer Diskussion teilnehmen können – die Sphäre, innerhalb derer der Mensch überhaupt erst 36 Den gewichtigen Einwand, dass sich in einem solchen Verständigungsprozess auch alle täuschen könnten, diskutiere ich in 18.3.
16.1. Öffentlichkeit als Bedingung
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zum Menschen wird. Gerhardt führt diesen Gedanken mit Blick auf die kollektive und die individuelle Selbstbestimmung des Menschen aus: Aus dem animal visibilis, dem Tier, das von seiner eigenen Sichtbarkeit durch seinesgleichen weiß, wird der homo publicus, der erst mit seiner öffentlichen Rolle, also im Medium einer bewusst erfahrenen Allgemeinheit, zu seiner individuellen Verantwortung findet. Dazu bedarf er der Vernunft, ohne die er weder über sein Wissen, noch über seine Zwecke, noch über sich selber befinden könnte. Die Gründe, die er als animal rationale benötigt, gelten nur im öffentlichen Raum. (Gerhardt 2008b, 101)
Damit ist die Öffentlichkeit eine Voraussetzung für die Selbstbestimmung des Menschen als homo publicus, der nicht nur von anderen seinesgleichen wahrgenommen wird, sondern sich selbst erst in diesem gemeinsam geteilten öffentlichen Raum bestimmt. Die Rede von der Selbstverständigung bzw. die Rede von einem normativ gehaltvollen Begriff vom Menschen kann demzufolge nur unter der Bedingung sinnvoll sein, dass sich über das einzelne Individuum hinausgehend eine Mehrzahl von Individuen unter diesem Begriff verstehen kann. Das Wissen darum, von anderen seinesgleichen gesehen werden zu können,37 stellt eine Voraussetzung für die Möglichkeit dar, im öffentlichen Rahmen unter einem Begriff eine Gleichheitsrelation zu etablieren, über die man sich untereinander verständigen kann. Damit wendet Gerhardt einen Gedanken Kants, der im Ewigen Frieden die Öffentlichkeit als das transzendentale Prinzip des Rechts darstellt, auf die anthropologische Selbstbestimmung des Menschen an. Bei Kant wird mit dem Verweis auf die allen Rechtsansprüchen inhärente Möglichkeit der „Publicität“ (Kant 1795, 381) ein Kriterium für politisch wie moralisch gerechte Handlungsmaximen zur Verfügung gestellt. Ein allgemeiner Wille könne nur in der Sphäre der (unterstellten) Öffentlichkeit geformt werden. Geradezu beiläufig formuliert Kant die transzendentale Formel des öffentlichen Rechts: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publicität verträgt, sind Unrecht.“ (ebd.). Damit wird die Möglichkeit der Publizität zur notwendigen Bedingung für das Vorliegen gerechter Normen. Zwar geht es bei Kant im Ewigen Frieden primär um die Regelung des öffentlichen Rechts mit dem Ziel der friedlichen Koexistenz von Staaten 37 Die wechselseitige Sichtbarkeit hat auch Hans Blumenberg in seinen anthropologischen Abhandlungen betont, insbesondere in der aus dem Nachlass veröffentlichen phänomenologischen Anthropologie unter dem Titel Beschreibung des Menschen (Blumenberg 2006).
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16. Die Begrndung anthropologischer Argumente
und nicht um anthropologische Bestimmungen, doch Gerhardts Anwendung des Kantischen Publizitätsprinzips auf die Selbstbestimmung des Menschen widerspricht keineswegs der Kantischen Intention, wenn im vorliegenden Kontext der Begriff des Menschen als ein normativ gehaltvoller bestimmt wird.38 Öffentlichkeit ist dabei allerdings nicht allein in einem formalen, idealisierten Sinne zu verstehen. Ihre Bedeutung für die Genese und Rechtfertigung von Rechtsnormen – wie auch, im Kontext vorliegender Arbeit, für die Selbstbestimmung von Menschen – resultiert aus der als konkret und realistisch vorgestellten Situation, in der Menschen zusammenkommen, um über eine bestimmte Problematik zu sprechen. Ausgehend von dieser praktischen Erfahrung wird das Prinzip der Öffentlichkeit formalisiert zu einem Legitimitätskriterium, an dem die Resultate der Deliberation – auch über die Selbstbestimmung des Menschen – gemessen werden: „Homo publicus ist also der umfassendste Begriff für das Tier, das nur in einer öffentlichen Sphäre zu sich selber kommt.“ (Gerhardt 2008b, 102). Eine angemessene Bestimmung des Menschen setzt somit in einem zweifachen Sinne Öffentlichkeit voraus: methodisch und inhaltlich. (1) Alle diejenigen Bestandteile einer Bestimmung des Menschen, die auf privaten Meinungen, partikularen Interessen und esoterischen Einsichten basieren, können keine Allgemeingültigkeit beanspruchen. Sie gelten allenfalls privat, partikular und esoterisch und sind damit als anschlussfähige anthropologische Argumente disqualifiziert. Wenn aber Elemente der Bestimmung des Menschen öffentlich gemacht werden können und dabei auf die Zustimmung der die Öffentlichkeit konstituierenden Individuen rechnen können (so diese nicht auf privaten Meinungen, partikularen Interessen und esoterischen Einsichten beharren, sondern sich unter den Anspruch der Verständigung zwischen sich und ihresgleichen begeben), ist damit eine notwendige Bedingung für das Vorliegen einer adäquaten und normativ tragfähigen Bestimmung des Menschen erfüllt. Damit können auch Meinungen, die zunächst privat, partikular oder esoterisch waren, durch die Öffentlichkeit legitimiert werden. (2) Eine 38 Die einschlägigen Stellen im Werk Kants, mit denen die Werthaftigkeit und Selbstzweckhaftigkeit vernünftiger Wesen (Person) bestimmt wird, sind freilich in den moralphilosophischen Schriften zu finden (Kant 1785 und 1788). Trotzdem sehe ich in dem Prinzip der Öffentlichkeit ein wichtiges Kriterium, dem hinsichtlich der Wirksamkeit und Realitätstauglichkeit in der Umsetzung der Einsicht von der Selbstzweckhaftigkeit autonomer Wesen eine entscheidende Rolle zukommt.
16.2. Wechselseitige Information
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Bestimmung des Menschen muss auch in inhaltlicher Hinsicht die Rolle der Öffentlichkeit berücksichtigen: Menschen leben in sozialen Gefügen; Menschen begreifen sich nicht isoliert, sondern erst angesichts anderer ihresgleichen und angesichts anderer Bestandteile der Welt als Menschen; Menschen begegnen einander sprachlich im normativ verfassten „Raum der Gründe“ (Wilfried Sellars).
16.2. Wechselseitige Information Die Öffentlichkeit des Verständigungsprozesses bringt die Aufgabe mit sich, einander über alle faktisch zur Verfügung stehenden Informationen nach Kräften aufzuklären. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die kulturellen Selbstbeschreibungen, die individuellen Einsichten sind allesamt so darzustellen, dass die anderen Teilnehmer am Verständigungsprozess eine Chance haben, diese nachvollziehen zu können. Expertenwissen ist damit nicht ausgeschlossen, aber es geht mit der Verpflichtung einher, es entsprechend aufzubereiten, verständlich zu vermitteln und damit auch für die Nicht-Experten nutzbar zu machen. Da Wissensstände immer dynamisch und historischen Entwicklungen unterworfen sind, wird an dieser Stelle die Idee der Perfektibilitt einer jeden menschlichen Selbstbestimmung deutlich. Da die Naturwissenschaften zunehmend präzisere Einsichten über den biologischen Funktionszusammenhang des menschlichen Organismus hervorbringen und da auch kulturelle Selbstdeutungen historischem Wandel unterliegen, wird das Ergebnis des Selbstverständigungsprozesses nicht abgeschlossen werden können.39 Vielmehr führt die kontinuierliche wechselseitige Information, die auch immer wieder neues Wissen zur Verfügung stellt, dazu, dass das menschliche Selbstverständnis zunehmend besser informiert sein kann, als es auf früheren Entwicklungsstufen möglich war. Dieser Prozess des Teilens und Vermittelns von Information ist wechselseitig, das heißt, dass es nicht darum gehen kann, dass eine privilegierte Seite einer jeweils anderen die eigene Meinung oder das eigene Wissen einseitig überträgt. Es besteht vielmehr die Aufgabe, wechselseitig miteinander die zur Verfügung stehenden Informationen zu teilen. Damit ist nicht gesagt, dass alle Informationen gleichermaßen richtig oder wahr sind. Doch ein Prozess, in dem die Teilnehmer an der Deliberation sich 39 Auch ist nicht davon auszugehen, dass das normative menschliche Selbstverständnis in einem trivialen Sinne „wahr“ ist. Dazu s.u. Kapitel 18.1.
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16. Die Begrndung anthropologischer Argumente
wechselseitig informieren und sich in reziproken Erklärungen engagieren, kann aus einer Vielfalt möglicher Meinungen auf der Grundlage des wechselseitigen Ernstnehmens dazu führen, falsche von wahren, schlecht begründete von gut begründeten Informationen zu unterscheiden und damit das jeweils beste zur Verfügung stehende informationelle Gerüst für anthropologische Bestimmungen herauszuarbeiten.
16.3. Partizipation und Konsens In der öffentlichen Sphäre beteiligen sich Individuen an der Deliberation über eine anstehende Problematik. Mit der Absicht, dass die normative Relevanz des Begriffs „Mensch“ geklärt werden soll, wird dieser Begriff Gegenstand der Deliberation, an der die Individuen partizipieren. Aufgabe der Verständigung ist es, die Vielzahl konkurrierender Meinungen und Überzeugungen über die Bestimmung des Menschen (so sie öffentlich gemacht werden können und auf dem besten verfügbaren Kenntnisstand basieren) in ein zustimmungsfähiges Gleichgewicht zu bringen, das in der Folge als normativ gehaltvoll akzeptiert werden kann. Dabei können offenkundige Widersprüche – angesichts der Frage nach dem Menschen etwa zwischen der naturalistischen und einer erst-persönlichen Beschreibung des Menschen – zutage treten: Wie kann beispielsweise das von einigen vorgebrachte Gefühl der Verantwortung für eigene Handlungen mit der von anderen vorgebrachten Aussage der (vermeintlich naturwissenschaftlich belegten) Determiniertheit des gesamten Universums in ein stimmiges Verhältnis gebracht werden, so dass es ein Bestandteil der signifikanten Beschreibung des Menschen darstellen könnte? Auch birgt die Unterscheidung zwischen generellen Aussagen über den Menschen und individuellen Aussagen über einzelne Menschen oftmals Konfliktpotential. Häufig mag man geneigt sein, „die Menschen“ gerade anders zu beschreiben, als man sich selbst beschreiben würde. Die oben dargelegte Bedingung der Öffentlichkeit, die für die ideale Verständigungssituation vorausgesetzt wird, fordert, dass in der Diskussion nur diejenigen Sätze zugelassen sind, die öffentlich gemacht werden können. Doch auch in diesem Fall bleibt es letztlich eine optimistische Einschätzung, dass bei gutem Willen und der tatsächlichen Bereitschaft, die Argumente der anderen zu hören, so diskutiert werden kann, dass im wechselseitigen argumentativen Austausch bestehende Differenzen allmählich überwunden werden. Auch wenn ein faktischer vollständiger Konsens als Ergebnis eines solchen Verständigungsprozesses unrealistisch
16.3. Partizipation und Konsens
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erscheint, ist eine möglichst weitgehende sachliche Einigung unter den genannten Umständen möglich (Konvergenz). Im Folgenden werde ich versuchen, im Anschluss an bestehende Theorievorschläge normativer Verständigung einige Grundzüge eines solchen Prozesses zu skizzieren. Eine vergleichbare Herausforderung beschreibt John Rawls, dem es um die Bestimmung gerechter Handlungsmaximen geht, in A Theory of Justice. Sein Vorschlag zu einer praktischen Lösung des Problems besteht darin, gemeinsam nach einem die verschiedenen Meinungen zusammenführenden reflective equilibrium zu suchen.40 Das Überlegungsgleichgewicht ist ein austarierter und kohärenter Zustand, in dem sich eine Reihe (moralischer) Überzeugungen zueinander befinden, nachdem sie einem deliberativen Prozess wechselseitiger Prüfung, und gegebenenfalls Korrektur und Anpassung unterzogen wurden. Dabei wurden in einer als öffentlich konzipierten Diskussionssituation partikulare Urteile über Einzelfälle mit generellen Prinzipien gegeneinander abgewogen und aufeinander abgestimmt. Das Überlegungsgleichgewicht bezeichnet den – allerdings immer nur vorläufigen – Gleichgewichtszustand, auf den sich eine Gruppe rationaler und von einem aufgeklärten Eigeninteresse geleitete Akteure, die an der Entscheidung partizipieren, verständigt hat. Dabei ist es möglich, dass sich ein overlapping consensus einstellt, der aus unterschiedlicher Perspektive eingesehen werden kann. In einer pluralen Ausgangssituation wäre in diesem Fall trotz der Vielfalt von Meinungen zumindest die gemeinsame Verständigung auf „core commitments“ möglich. Bei Rawls findet die Methode des reflective equilibrium im politischen Kontext Anwendung, doch kann sie auch darüber hinaus in anderen Kontexten sinnvoll eingesetzt werden. Das Überlegungsgleichgewicht ist ein „end-point of a deliberative process in which we reflect on and revise our beliefs about an area of inquiry, moral or non-moral“ (Daniels 2008) 40 Die Frage, ob das Überlegungsgleichgewicht zur Lösung praktischer oder lediglich meta-ethischer Probleme taugt, wird meines Wissens bei Rawls 1999 nicht abschließend beantwortet. So kann das Überlegungsgleichgewicht auch primär als kohärentistische Methode angewendet werden, um die epistemische Rechtfertigung moralischer berzeugungen zu leisten. Damit wäre dann das Überlegungsgleichgewicht ein Beitrag zur Meta-Ethik. Darüber hinaus lässt es sich meiner Meinung nach jedoch auch auf die normativ-ethische, inhaltliche Bestimmung von Aussagen anwenden. Angesichts der Verständigung darüber, wie der Begriff „Mensch“ genau bestimmt werden soll, ist ein Überlegungsgleichgewicht angesichts der konkurrierenden Aussagen entscheidend und rechtfertigt damit auch den Inhalt moralischer berzeugungen.
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16. Die Begrndung anthropologischer Argumente
und kann daher nicht nur politische, sondern auch logische, moralische, aber auch pragmatische und individuelle Entscheidungsprozesse (vorläufig) abschließen. Für die Aufgabe einer Verständigung über eine angemessene Bestimmung des Menschen bedeutet das, dass nach einer Möglichkeit gesucht wird, die unterschiedlichen, teilweise heterogenen Ansichten und Erklärungen in einen relevanten Begriff vom Menschen zusammenzuführen. Offenkundig wird es hierbei nicht um Vollständigkeit gehen können. Nicht alle möglichen Aussagen über den Menschen erfüllen die Signifikanzkriterien, um in einen regulativen Begriff vom Menschen eingeschlossen zu werden. Somit ist – durch die Methode des Überlegungsgleichgewichts selbst – eine Differenzierung hinsichtlich der Signifikanz der auszuwählenden Bestimmungen vorzunehmen. Unter der Bedingung, dass ein zumindest schwach normatives menschliches Selbstverständnis bestimmt werden soll, müssen auch einzelne Bestimmungen des Menschen aus der Selbstbestimmung als unwesentlich oder nicht signifikant ausgenommen werden können. Die „Wahrheit“ einer solchen Bestimmung des Menschen geht damit weniger von einer adäquationstheoretischen Konzeption aus, sondern setzt stattdessen auf eine kohärenz- und konsenstheoretische Bestimmung des Wahrheitswerts der Bestimmung des Menschen. Für Menschen gilt (vgl. Taylor 1971 und oben Kapitel 4), dass das, was sie sind, zu einem entscheidenden Teil davon abhängt, wie sie sich selbst bestimmen. Unter Berufung auf eine Konsens- und Kohärenztheorie von Wahrheit kann eine kohärente, konsensuelle Bestimmung des Menschen nicht nur für ein Individuum bedeuten, dass dieses ist, als was es sich bestimmt; auch die konsensuelle Selbstbestimmung einer Gruppe von Individuen kann für sich beanspruchen, wahr zu sein. Damit ist keine überzeitliche, unveränderliche Definition eines veränderlichen (nämlich biologischen) Gattungswesens gegeben, sondern eine adäquate Selbstbestimmung des Menschen, die unter den Bedingungen von Öffentlichkeit, Kohärenz und Konsistenz real ist (vgl. Kapitel 18.1.). Ein solches Überlegungsgleichgewicht begründet keine ewigen Wahrheiten. Anders als Daniels sehe ich in Rawls Vorschlag eines „reflective equilibriums“ also keinen „end-point“, sondern nur eine lokale Stabilisierung der Meinungen zu einem vorläufigen Endpunkt. Ein Gleichgewicht ist fragil und kann durch eine scheinbar geringfügige Veränderung an einer entlegenen Stelle gestört werden. Für den Fall einer Verständigung über den Menschen angesichts möglicher Veränderungen (durch evolutionäre Entwicklungen, aber auch durch intentionales En-
16.3. Partizipation und Konsens
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hancement), ist eine solche reaktive Variabilität eines normativen Konzepts jedoch ein Vorteil. Gerade weil gegebenenfalls auch auf Veränderungen reagiert werden kann, bietet sich die Methode des Überlegungsgleichgewichts an, begründete normative Aussagen zu generieren. Und weil das Überlegungsgleichgewicht nicht die Anerkennung ewiger oder unumstößlicher Wahrheiten voraussetzt, fordert es die quasi-demokratische Zustimmung der Individuen nachdrücklich ein.41 Die Diskursethik, wie sie von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas entwickelt wurde, begründet das Fundament moralischer Normen durch eine ideale Kommunikationssituation, in der Individuen sich auf Normen einigen, die nicht zuvor oder anderweitig als gegeben vorausgesetzt werden.42 Der Grundgedanke der Diskursethik besteht darin, dass moralische Normen in intersubjektiven Verständigungsprozessen generiert und überprüft werden, so dass ein moralischer Anspruch erst dann gerechtfertigt ist, wenn er auf der (quasi-demokratischen) Zustimmung aller basieren kann. Auch der Begriff „Mensch“ und seine Bestimmung als normativ gehaltvoll stellen meiner Meinung nach einen möglichen Gegenstand eines solchen normativen Diskurses dar.43 Dabei ist jeder 41 Ein wichtiger Unterschied zwischen meinem Vorschlag und Rawls Theorie besteht darin, dass ich die Teilnehmer weniger als rationale Akteure konzipiere, die ihrem aufgeklärten Eigeninteresse unter dem veil of ignorance nachgehen, um ein mögliches Optimum für sich und damit zugleich auch für alle anderen zu erreichen, sondern dass ich die am Deliberationsprozess Teilnehmenden als solche verstehe, die sich gemeinsam unter dem Begriff „Mensch“ begreifen können und damit schon in einer Nähe- und Relevanzrelation zueinander stehen (vgl. Kapitel 13; ähnlich auch Nussbaums Kritik an Rawls zu begrenztem Verständnis der Teilnehmer in Frontiers of Justice, Nussbaum 2006). Darüber hinaus bemühen sie sich in der wechselseitigen Information und in der engagierten Auseinandersetzung miteinander darum, an der Stelle der anderen zu denken (vgl. Kant 1798, 228). Die Teilnahme am Deliberationsprozess basiert also nicht auf dem Eigeninteresse, sondern setzt zunächst die Bereitschaft voraus, überhaupt normative Ansprüche anzuerkennen. 42 Apel 1973, Habermas 1983, kritisch dazu Steinhoff 2006. 43 Dass damit auch eine Verständigung über die notwendigen Voraussetzungen der Teilnahme an einem normengenerierenden Diskurs nötig ist, zeigt die Tatsache an, dass Habermas in seinem Argument gegen den Einsatz von biotechnologischen Mitteln zur „Verbesserung“ zukünftiger Generationen katastrophale Auswirkungen für die gleichberechtigte Teilnahme der intentional verbesserten zukünftigen Menschen am idealen Diskurs befürchtet hat. Veränderungen würden, so Habermas, eine asymmetrische Kommunikationssituation hervorrufen, die einen gemeinsamen Diskurs unmöglich machen würde (Habermas 2001). Mit meinem Modell kann ich diesem Einwand begegnen: Solange auch den veränderten Menschen die signifikanten menschlichen Eigenschaften zu-
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16. Die Begrndung anthropologischer Argumente
Diskursteilnehmer direkt angesprochen, seine Selbstbestimmung als Mensch exemplarisch, universell oder allgemein für die Bestimmung des Menschen zu begreifen. Im Gegensatz zur Diskursethik jedoch erhebe ich keinen fundationalistischen Begründungsanspruch, sondern gehe von realen Bestimmungen in der Wirklichkeit aus, die die immer schon gegebenen Meinungen und auch konkrete Probleme berücksichtigen (vgl. dazu auch Kapitel 18.2.4.).44 Philip Kitcher schließlich entwickelt in Science, Truth, and Democracy (Kitcher 2001, bes. Kapitel 10) ein Verfahren, das – Rawls’ Konzept eines Überlegungsgleichgewichts und Habermas’ Diskursethik nicht unähnlich – dabei helfen soll, eine begründete Verständigung über die (normativen) Ziele naturwissenschaftlicher Praxis zu erreichen. Hierbei wird ein mehrschrittiger Verhandlungsprozess vorgeschlagen, der mit einer basalen direkt-demokratischen Entscheidung wenig zu tun hat. Für Kitcher gilt eine „intricate negotiation“ (Kitcher 2001, 118) über die Ziele der Wissenschaft als Voraussetzung dafür, dass diese das Prädikat „well-ordered“ verdient. Ich erwähne dieses Modell, weil Kitcher damit einen quasi-demokratischen Legitimationsprozess für einen Bereich menschlicher Praxis vorschlägt (naturwissenschaftliche Forschungsaktivitäten), der demokratischen Entscheidungen normalerweise entzogen ist. Die Entscheidungen darüber, welche wissenschaftlichen Forschungsprojekte betrieben werden, werden üblicherweise von den Forschern selbst und allenfalls von den finanzierenden Institutionen – jedenfalls nicht demokratisch – getroffen.45 Auch für diese Prozesse einen quasi-demokrati-
kommen (s. Kapitel 17.1.), die sie an dem Diskurs und an der Selbstbestimmung teilnehmen lassen können, besteht kein Grund für die Annahme, dass diese durch die Eingriffe in eine unterlegene Position gebracht werden. 44 Außerdem gehe ich – eine Kritik Putnams an der Diskursethik aufgreifend – davon aus, dass die diskursethische Ausgrenzung von Werten (als von Normen unterschiedene moralische Grundformen) als legitime Bestandteile der Ethik nicht haltbar ist. Während die Diskursethik Objektivität allein bei den Normen sieht, die auf das Rechte zielen, Obligatorisches festlegen und restriktiv handlungsleitend sind, muss ein umfassendes Konzept von Ethik auch Werte, die auf das Gute zielen und attraktiv handlungsleitend sind, berücksichtigen. Daher erstreckt sich der von mir vorgeschlagene quasi-demokratische Verständigungsprozess nicht allein auf Normen, sondern kann den Versuch unternehmen, signifikante menschliche Eigenschaften auszuzeichnen. Vgl. Putnam 2001; dazu auch Joas 2002. 45 Zwar wird über die staatliche Forschungsförderung demokratisch legitimiert Einfluss auf Schwerpunkte der Forschung genommen. Kitchers Vorschlag reicht
16.3. Partizipation und Konsens
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schen Entscheidungsprozess einzufordern, ist ein innovativer Ansatz, der jedoch – wie mein Vorschlag auch – auf optimistischen Vorannahmen basiert: So ist es etwa ungewiss, ob ein solcher quasi-demokratischer Legitimationsprozess tatsächlich realisiert werden kann. Trotzdem überzeugt mich dieser Vorschlag und daher wende ich – ähnlich optimistisch – ein solches quasi-demokratisches Legitimationsverfahren auf einen zuvor ebenfalls demokratischen Legitimationsprozessen entzogenen Bereich an, nämlich auf die Verständigung über den Begriff „Mensch“ und seinen normativen Gehalt.46 Mit Blick auf die Bestimmung des Menschen, sowie auf die möglichen Veränderungen von Menschen durch biotechnologische Mittel, wird damit der Prozess der individuellen Selbstbestimmung um die kollektive Selbstbestimmung erweitert (vgl. dazu Nida-Rümelin 2009) und der Prozess einer aktuellen und gegenwrtigen Selbstbestimmung um die Perspektive zuknftiger Selbstbestimmungen erweitert. Eine Verständigung darüber, welche Bestimmungen des Menschen zukünftig gelten sollen („Wie sollen Menschen sein?“), ist nötig und möglich. Diese stellt meines Erachtens zum einen einen entscheidenden Bestandteil der reflektierten Biowissenschaften dar, wenn sie als „well-ordered“ im Sinne Kitchers gelten sollen und sie sich nicht in einem kontingenten, quasi-automatischen Prozess zielloser Dynamik wuchernd weiterentwickeln. Zum anderen ist ein solcher partizipativer Prozess eine mögliche Grundlage für ein aufgeklärtes menschliches Selbstverständnis unter den aktuellen Bedingungen einer jeweiligen Gegenwart. Mit der Öffentlichkeit, der wechselseitigen bestmöglichen Information und der individuellen Partizipation im Ringen um Konsens – zumindest um Konvergenz – sind drei Bedingungen genannt, die eine quasi-demokratische Verständigung über den Begriff des „Menschen“, der ein „essentially contested concept“ darstellt (Gallie 1956), möglich machen, wenn auch nicht endgültig abschließen werden.
jedoch deutlich weiter als diese minimale demokratisch legitimierte Entscheidung über die durchzuführenden Forschungsprojekte. 46 Zwar wird auch in den Diskursen über Menschenwrde und Menschenrechte teilweise mithilfe demokratischer Verfahren über die Bestimmung der menschlichen Würde und der daraus resultierenden Rechte diskutiert; ich setze aber die quasi-demokratische Verständigung schon bei der Frage an, was der Mensch selbst ist und sein soll, nicht erst bei den Fragen, worin seine Würde liegt oder welche Rechte er deswegen hat.
17. Der Inhalt anthropologischer Argumente Der Begriff „Mensch“ hat eine schillernde Struktur. Er umfasst unterscheidbare Komponenten, die gleichermaßen berechtigte und wichtige Bestandteile eines Begriffs vom „ganzen Menschen“ sind, der als angemessene Antwort auf die anthropologische Grundfrage „Was ist der Mensch?“ angegeben wird. Die Rede von „Komponenten“ ist problematisch, weil sie ein anspruchsvolles Ganzheitsmodell suggerieren könnte, das bei einer Vereinigung der Komponenten eine abgeschlossene Einheit hervorbringt. Es geht mir jedoch lediglich darum, eine Mehrzahl von Bestimmungen des Menschen als signifikant auszeichnen zu können, ohne eine einheitsstiftende Substanz voraussetzen zu müssen. In dieser Absicht scheint mir die Rede von unterscheidbaren aber nicht voneinander isolierten „Komponenten“ angemessen. Die Rede von „dem Menschen“ im generischen Singular ruft viele Irritationen hervor und gibt Anlass zu Missverständnissen (vgl. Kapitel 4). Häufig basieren diese auf einer unzureichenden Differenzierung oder einer normativen Überfrachtung des Begriffs. Im ersten Fall wird ein einzelner beliebiger Aspekt der menschlichen Lebensform als konstitutives Merkmal ausgezeichnet, womit alle anderen Kennzeichnungen ausgeblendet werden. Im zweiten Fall wird der jeweiligen Bestimmung des Menschen auf eine direkte Weise normative Kraft zugesprochen. Stattdessen ist jedoch ein konstruktiv-analytisches Vorgehen nötig, um die Facetten des vielfältigen Begriffs systematisch zu erschließen. Dabei muss davon ausgegangen werden, dass mehrere Komponenten zur Kennzeichnung der humanen Lebensform angebracht sind und dass sich auch eine dichotome Differenzierung des Begriffs, die lediglich eine Natur- und eine Kultur-Seite des Menschen unterscheidet, noch als zu einfach erweist. Es gelingt damit nicht vollständig, die unterschiedlichen Elemente der menschlichen Lebensform, die gerade für die Enhancement-Problematik und für ihre ethische Bewertung von Bedeutung sind, angemessen in den Blick zu bekommen. Im Folgenden schlage ich daher – als Ausgangspunkt für weitere anthropologische Bestimmungen – ein vierteiliges Komponentenmodell zur signifikanten Kartierung der Struktur des Begriffs „Mensch“ vor. Damit soll der Gehalt des Begriffs so
17. Der Inhalt anthropologischer Argumente
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bestimmt sein, dass er auf anthropologischer Grundlage nicht-trivial zumindest minimale moralische Orientierung geben kann.47 Mein inhaltlicher Vorschlag basiert auf einer „philosophischen Simulation“ des in Kapitel 16 dargelegten quasi-demokratischen Deliberationsprozesses. Aus einer breit gestreuten systematischen Analyse von Texten unterschiedlicher Provenienz, die sich mit „dem Menschen“ befassen, extrahiere ich einige weitestgehend anschlussfähige Komponenten. Obwohl ich mich in diesem Abschnitt meiner Arbeit darum bemühe, anthropologische Argumente so stark zu machen, wie es nur möglich ist, erscheint mir aus anthropologischer Hinsicht in der ethischen Diskussion eine gewisse Bescheidenheit, vielleicht bisweilen sogar Enthaltsamkeit angebracht. Bei aller Bedeutung, die anthropologischen Überlegungen und Argumenten im ethischen Kontext zukommt, sollte nicht versucht werden, diese übermäßig in den Vordergrund zu rücken. Eine recht verstandene Anthropologie steht fundierend im Hintergrund. Sie expliziert die Grundlagen, auf denen Probleme verhandelt werden, und weist auf die anthropologischen Elemente in den Diskussionen hin. Auch wenn die Frage, wer wir genau sind, eine der zentralen Fragen der menschlichen Lebensform ist, steht sie nicht immer im Vordergrund, wenn es darum geht, wie wir handeln sollen. Daher haben anthropologische Argumente eine elementare Orientierungsfunktion (vgl. dazu die exemplarischen Diskussionen in Kapitel 19). Moralische Urteile können nicht allein auf die biologische Ausstattung des Menschen zurückgeführt werden (vgl. Kapitel 14). Dennoch bemühe mich in meiner Explikation der signifikanten Komponenten des Begriffs „Mensch“ mit seinem eigentümlichen deskriptiv-normativen Doppelaspekt darum, die biologischen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, unter denen Moral anthroponom möglich und angebracht ist. Daher ist es nötig, bei der Bestimmung des Menschen die evolutionäre Kontinuität zu berücksichtigen, in der der Mensch als ein Lebewesen neben anderen Lebewesen erscheint. Darüber hinaus ist zu zeigen, wie der Mensch – trotz aller evolutionärer Kontinuität – über spezifische Merkmale verfügt, die ihn in besonderer Weise kennzeichnen. Hier ließe sich mit Matthias Jung von einem „Holismus der Differenz“ sprechen, der zeigt, wie die mit anderen Lebewesen geteilten evolutionären Voraus47 Dieser Vorschlag einer inhaltlichen Bestimmung des Begriffs „Mensch“ führt die Vorarbeiten aus den Kapiteln 13 und 14 mit den methodischen Überlegungen aus den Kapiteln 15 und 16 zusammen.
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17. Der Inhalt anthropologischer Argumente
setzungen der menschlichen Lebensform dennoch etwas hervorbringen, das insgesamt betrachtet spezifisch ausgezeichnet werden kann (vgl. Jung 2009, 1). Meine im Folgenden vorzustellenden Komponenten berücksichtigen die beiden Elemente der evolutionären Kontinuität und des Differenzholismus: Die zuerst genannten Komponenten liegen eher am Pol der evolutionären Kontinuität, während die später genannten eher dem Holismus der Differenz zuzurechnen sind. Die im Folgenden vorgeschlagene Analyse der Begriffsstruktur „Mensch“ ist insgesamt weitestgehend konsensfähig, das heißt, die Anordnung der Komponenten kann prinzipiell die sachliche Zustimmung aller denjenigen erhalten, die sich unter dem Begriff begreifen. Der Konsens über die verschiedenen Komponenten des Begriffs fungiert als begründete normative Auszeichnung signifikanter Strukturelemente der menschlichen Lebensform („regulative Idee“). Aus einer Verständigung über und aus einer expliziten Zustimmung zu dem entwickelten Mehrkomponentenmodell lässt sich der normative Gehalt des Begriffs „Mensch“ begründet bestimmen. Damit steht eine mögliche Grundlage für normative anthropologische Sätze zur Verfügung. Diese bewerten durch den Abgleich mit dem als regulative Idee konzipierten Begriff „Mensch“ Handlungen, die die basale Struktur erhalten, als unproblematisch, solche, die die Struktur gefährden, als problematisch (vgl. unten 17.2.). Damit sind anthropologische Argumente in ethischen Diskussionen wie etwa konkret zum Problem des Human Enhancement nicht direkt oder naiv naturalistisch (wie die in Kapitel 14 kritisierten Argumente), sondern auf sachlicher Grundlage, die im Folgenden erläutert wird, konsensuell begründet. Hiermit ist ein Weg aufgezeigt, wie anthropologische Argumente möglichst stark gemacht werden können. In solcherart methodisch begründeten und inhaltlich bestimmten anthropologischen Argumenten zeigt sich ein humanistischer Impuls der Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben und die menschliche Lebensform: Menschen können selbst bestimmen, was sie sind und wer sie sein wollen, und müssen diese Aufgabe der Selbstbestimmung nicht – zumindest nicht allein – der sie umgebenden Gesellschaft oder der menschenunabhängig existierenden Natur überlassen. Wenn Enhancements – also positiv bewertete Veränderungen der menschlichen Lebensform – aus einer solchen anthropologischen Perspektive erlaubt sein sollen, müssen sie bei allen Veränderungen und
17.1. Die vier signifikanten Komponenten
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Ausgestaltungen die konsensuell positiv bewertete Grundstruktur der menschlichen Lebensform erhalten und dürfen sie nicht gefährden.48
17.1. Die vier signifikanten Komponenten (K1–K4) Im Folgenden mache ich einen Vorschlag für vier signifikante Komponenten eines Begriffs vom ganzen Menschen. Sie können in einem Prozess der quasi-demokratischen Verständigung als normativ ausgezeichnet werden – das heißt konkret: als bewahrenswerte Struktur ausgezeichnet werden, die durch menschliche Handlungen nicht gefährdet werden soll –, weil sie transzendentale Bedingungen eines selbstbestimmten menschlichen Lebens sind. Die Fähigkeit der Selbstbestimmung stellt den Kern des zustimmungsfähigen normativen Begriffs vom Menschen dar.49 Daher ist der Akt der Selbstbestimmung – der performative Akt der quasi-demokratischen normativen Auszeichnung der eigenen Zustimmungsfähigkeit als zentrales Element im Selbstverständnis – Grund für die mögliche normierende Kraft anthropologischer Argumente. Der selbstbestimmungsfähige Mensch ist somit die regulative Idee, die den Kern anthropologischer Argumente ausmacht. In diesem Ideal sind Möglichkeitsräume gegeben, deren individuelle oder kollektive Ausgestaltung nicht im Rahmen anthropologischer Überlegungen verhandelt und festgelegt wird. Das Erhalten dieser Möglichkeitsräume ist jedoch, ebenso wie das Erhalten der Fähigkeit, diese Möglichkeitsräume selbstbestimmt zu realisieren, das Ziel anthropologischer Argumente im 48 Anthropologische Argumente haben dabei, um es erneut zu betonen, „bescheiden“ zu verfahren, das heißt, dass sie vor allem in kritischer Hinsicht auf Probleme hinweisen und damit bestimmte Handlungsoptionen ausschließen können. Eine reiche Aufforderung, dass bestimmte weitreichende Enhancement-Handlungen geboten sind, lässt sich auf anthropologischer Grundlage nur schwer rechtfertigen. – Darüber hinaus geben anthropologische Argumente lediglich einen minimalen Konsens an, der natürlich durch weitere Überlegungen reicher bestimmt und anspruchsvoller ausgestaltet werden könnte, als es allein auf anthropologischer Basis möglich ist. 49 Andererseits stellt sie auch den Grund für die Selbstbestimmung als selbstbestimmungsfähige Wesen dar: Weil Menschen zustimmen kçnnen, mçchten sie auch gefragt werden. Aus der Fähigkeit, zustimmen zu können, folgt eine Neigung, selbst entscheiden zu wollen und diese Entscheidungsfähigkeit nicht aufgeben zu wollen.
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17. Der Inhalt anthropologischer Argumente
Rahmen einer Ethik des Enhancements.50 Das, was solcherart als „menschlich“ erkannt ist, soll nicht verloren gegeben werden. Meine Bestimmungen der signifikanten Komponenten basieren auf einer langen philosophischen Tradition der Auseinandersetzung mit dem Menschen. Sie greifen an vielen Stellen auf ältere Debatten zurück – insbesondere aus der Philosophischen Anthropologie –, ohne jedoch den Anspruch zu erheben, ein „Resultat“ dieser Tradition darzustellen. Vielmehr ist die Bestimmung der vier signifikanten Komponenten als ein Zwischenergebnis und damit als ein Ausgangspunkt für weitere Auseinandersetzungen mit der Frage nach dem Menschen und als Anlass für Verbesserungen und Korrekturen zu verstehen.51 Indem ich auf die philosophische Tradition und aktuell geführte Debatten zurückgreife,52 simuliere ich gewissermaßen den deliberativen Verständigungsprozess, den ich für die Legitimation normativer Ansprüche als Bedingung voraussetze (vgl. Kapitel 16). Als Individuum kann ich im Rahmen einer Forschungsarbeit diesen idealen Deliberationsprozess nicht tatsächlich führen, sondern muss mich damit begnügen, aus bestehenden Kontexten und Debatten zu schöpfen. Da das hier vorgestellte Ergebnis lediglich als ein Vorschlag und als Ausgangspunkt für weitere, tatsächlich zu führende Diskussionen zu verstehen ist, ist diese Beschränkung jedoch unproblematisch. Komponente 1: Komponente 2: Komponente 3: Komponente 4:
Menschen sind lebendige Organismen. Menschen sind spezifisch verkörperte, bewusste Wesen. Menschen sind orientierungsbedürftig. Menschen sind selbstbestimmungsfähig.
50 Vgl. zur „Offenheit“ der menschlichen Lebensform auch Heilinger 2009. 51 Mit Blick auf die Enhancement-Debatte wird in Kapitel 19 gezeigt, an welchen Stellen solch ein normativer Begriff vom Menschen – auch wenn er als „Zwischenergebnis“ und nicht als abschließende Einsicht konzipiert ist – Entscheidungen über den Einsatz biotechnologischer Interventionen beeinflussen kann. 52 Zu nennen ist insbesondere die Tradition der philosophischen Anthropologie im weiteren Sinne und die aktuelle Diskussion über die naturwissenschaftlichen Erklärungen des menschlichen Organismus und seines Funktionierens (insbesondere im Rahmen von Theorien der embodied embedded cognition etc.).
17.1. Die vier signifikanten Komponenten
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K1: Menschen sind lebendige Organismen das Schwirren und Weben um mich her Goethe, Die Leiden des jungen Werther
Einige naturwissenschaftliche Beschreibungen des Menschen bestimmen die basalen Grundlagen der menschlichen Lebensform. Mit diesen fundamentalen Aussagen können Menschen jedoch nicht hinreichend genau von anderen Wesen abgegrenzt werden. Dennoch konstituieren diese „fundamentalen Fakten“ eine integrale Komponente der signifikanten Bestimmung von Menschen. In diese Kategorie gehört die Bestimmung von Menschen als lebendige Organismen. Die Lebendigkeit von Organismen näher zu bestimmen, fällt in den Aufgabenbereich der Biologie, die eine Reihe von Kriterien diskutiert, um „Leben“ möglichst präzise zu bestimmen.53 Mit Blick auf den Menschen ist mit der basalen biologischen Ebene der Lebendigkeit das Faktum der Verkörperung und der Erlebnisdimension verbunden, die in weiteren Schritten näher spezifiziert werden müssen. Außerdem sind Menschen sterblich. Zunächst jedoch sind mit dieser ersten basalen Bestimmung Menschen lediglich von körperlosen, reinen Geistwesen wie Engeln einerseits und von bewusstlosen Wesen wie „philosophischen Zombies“54 andererseits abgegrenzt. Diese basale Bestimmung eines verkörperten und phänomenal erlebenden Organismus, die auf Menschen zutrifft, gilt jedoch auch für eine Vielzahl anderer lebendiger Wesen. Mithilfe einer solchen basalen Bestimmung der Lebendigkeit von Organismen wird möglicherweise eine problematische dualistische Intuition gestärkt, nämlich dass Körperlichkeit und Bewusstsein unabhängig voneinander bestehen könnten. Die beiden Abgrenzungen – von Engeln und von Zombies – unterstützen diese Intuition, da es sich bei den einen um körperlose Geistwesen, bei den anderen um bewusstlose Körper handelt. Gegen diese dualistischen Einseitigkeiten vermag ein 53 Dazu zählen etwa Metabolismus, Selbstorganisation, Entropieverringerung, Reizreaktion etc. Eine unumstrittene Definition des Begriffs „Leben“ ist jedoch noch nicht gefunden. Vgl. dazu auch Köchy 2003 und Töpfer 2005. 54 „Philosophische Zombies“ sind fiktive Wesen aus den Debatten der Philosophie des Geistes, die mit Menschen in ihrer organismischen Struktur, in ihrem Funktionieren und Interagieren identisch sind und sich von Menschen nur dadurch unterscheiden, dass sie über keine qualitativen Erlebnisse verfügen (Chalmers 1995, 1996).
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17. Der Inhalt anthropologischer Argumente
reflektierter Begriff des Lebendigen jedoch gerade die Einheit von Verkörperung und Erlebnissen bei lebendigen Organismen zu erhellen, da er nicht allein auf die physikalische Beschreibung von Vorgängen beschränkt ist.55 Im Kontext des Lebendigen gibt es daher auch keinen Anhaltspunkt für einen substantiellen Dualismus. Vielmehr kann die Unterscheidung zwischen Erlebnissen und Verkörperung in einem schwächeren Sinne als Differenzierung verschiedener Perspektiven auf ein und dieselbe Sache – den lebendigen Organismus – betrachtet werden. Ein solcher Aspekt- oder Perspektivendualismus (vgl. exemplarisch Habermas 2004) ist nicht ontologisch zu verstehen, er betrifft lediglich epistemisch unterschiedliche Zugangsweisen zu ein und derselben Entität. Damit erweist sich die Lebendigkeit als konzeptuelle Voraussetzung für die Körperlichkeit und Erleben gleichermaßen umfassende menschliche Lebensform. Diese biologischen Beschreibungen zeigen an, dass es sich beim menschlichen Organismus um einen Funktionszusammenhang handelt, der bestimmte Fähigkeiten und Bedürfnisse konstituiert (Kant 1790, McLaughlin 2001, Thompson 2007). Funktionszusammenhänge können jedoch gestört werden. Die typischen Eigenschaften des menschlichen Organismus gehen also damit einher, dass Menschen auf jeweils bestimmte Art und Weise verletzlich und bedürftig sind. Ihr Überleben ist nicht sicher; als Kind ist ein Mensch auf die Unterstützung der Eltern angewiesen, um sich entwickeln zu können, und auch später können Menschen ihre eigene Existenz angesichts von Gefahren aus der Umwelt und angesichts der Bedürfnisse des Organismus häufig nur im Verbund mit anderen sichern. Letztlich ist Leben permanent durch die Möglichkeit der größtmöglichen Störung des organismischen Funktionszusammenhangs, den Tod des Individuums, bestimmt; nur weil ein Individuum sterben kann, ist es lebendig. Diese erste kategoriale Bestimmung, die „notwendige Voraussetzungen“ für den Menschen darstellt, gilt allerdings nicht allein für Menschen, sondern auch für andere lebendige Wesen. Durch sie allein wäre der Begriff des Menschen unterbestimmt: Sterblichkeit, Verkörperung und Erlebnisse kennzeichnen schließlich (weitgehend unkontrovers) auch andere Säugetiere und – weiter den phylogenetischen 55 Vgl. etwa Thompson 2007, der dafür argumentiert, dass Leben immer mit „mind“ einhergeht und dass sich Leben und „mind“ nach gemeinsamen Prinzipien selbst organisieren. Außerdem Gerhardt 1999, bes. Kapitel 4; auch Gerhardt 2007b.
17.1. Die vier signifikanten Komponenten
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Stammbaum hinabsteigend – auch Vögel, Fische und Reptilien. Umstritten, aber in meinem Kontext auch nur von untergeordneter Bedeutung, ist die Frage, ob ein minimales Erleben, ein zumindest dumpfes „sich irgendwie Anfühlen“ (Nagel 1974) sich vielleicht sogar allen lebendigen Wesen zusprechen lässt, deren organismischer Funktionszusammenhang die (störanfällige und verletzliche) Grundlage ihrer Existenz darstellt.56 Dieser basale Hinweis darauf, dass Menschen lebendige Wesen sind, stellt eine erste Komponente des Begriffs „Mensch“ dar. Die Lebendigkeit ist eine transzendentale Bedingung für weitere menschliche Eigenschaften und Handlungen und ist daher als signifikant zu bezeichnen. Weil Leben jedoch nicht spezifisch für Menschen ist, sondern im evolutionären Kontinuum auch anderen Lebewesen zukommt, ist im Folgenden nach spezifischen Bestimmungen der menschlichen Lebensform zu suchen.
K2: Menschen sind spezifisch verkörperte, bewusste Wesen The infant, mewling and puking in the nurse’s arms W. Shakespeare, As You Like It
Der spezifische menschliche lebendige Organismus bringt eine spezifische Form von verkörperter Erfahrung und Kognition hervor. Menschen sind gleichzeitig körperliche und erlebende Wesen. Aufgrund der den Menschen gemeinsamen körperlichen Ausstattung verfügen sie über ähnliche Erlebnisse, teilen eine Welt miteinander und können sich miteinander verständigen. Die gemeinsam geteilte Verkörperung verhindert eine Isolation menschlicher Individuuen voneinander und erlaubt Interaktion. Eine signifikante Kartierung des Begriffs „Mensch“ kann daher – als eine zweite Komponente – die typischen Merkmale und Eigenschaften der biologischen Spezies „Mensch“ und die mit diesen einhergehenden Bedürfnisse, Fähigkeiten und Dispositionen umfassen. Aufgrund von Vorbehalten gegenüber einem statischen Spezieskonzept wurde bereits die prinzipielle, evolutionäre Variabilität von biologischen Merkmalen 56 Vgl. etwa Thompson 2007; einen weitergehenden, fast schon panpsychischen Ansatz vertritt aktuell Chalmers 1995.
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17. Der Inhalt anthropologischer Argumente
betont, die auch für Menschen gilt (Kapitel 7 et passim). Eine biologische Bestimmung von Menschen kann also nicht per se wesentliche Eigenschaften, sondern allenfalls typische Eigenschaften nennen, die für ein bestimmtes evolutionäres Stadium der Humangenese gelten.57 Bei vielfacher möglicher Variabilität lassen sich dabei einige (wiederum basale) Eigenschaften als relativ konstant erkennen. Solche typischen Eigenschaften der humanen Lebensform lassen sich hinsichtlich der oben genannten Differenzierung der Verkörperungs- und Erlebnisdimension in körperliche und geistige Aspekte gliedern. (1) Menschen sind spezifisch verkçrperte Wesen. Die typischen körperlichen Eigenschaften und Verhaltensdispositionen von Menschen sind im Rahmen der philosophischen Anthropologie häufig beschrieben worden. Sie umfassen etwa einen Säugetierorganismus mit zwei Armen, zwei Beinen, einer weitgehend unbehaarten Hautoberfläche, einem Gehirn, das bei einem erwachsenen Exemplar der Spezies durchschnittlich einen bestimmten Prozentsatz des Körpergewichts ausmacht. Üblicherweise verfügen Menschen über fünf aktive Sinne – Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten. Außerdem leben sie typischerweise mit Artgenossen in einem sozialen Verbund, in dem mehrere Individuen auf vielfältige Art und Weise miteinander interagieren. Menschen essen, trinken, kommunizieren, pflanzen sich fort. Eine solche Liste lässt sich ausdehnen. Die Elemente dieser Listen basieren auf einer Verallgemeinerung von Erfahrungen, die man mit der Mehrzahl von als Menschen bezeichneten Individuen machen kann. Hinzukommen können auch Aussagen über die evolutionärer oder biologischer Forschung zugänglichen Grundlagen der beschriebenen Eigenschaften, etwa indem der übliche Stoffwechselprozess oder die den Merkmalen zugrunde liegenden genetischen Informationen und Prozesse in die Beschreibung von Menschen integriert werden. 57 Es könnte entgegnet werden, dass hier verschiedene Zeitskalen unterschieden werden müssten: Aus einer konkreten historischen Erfahrung heraus mögen auch evolutionäre Wandlungsprozesse (relativ) konstant erscheinen. Evolutionäre Veränderungen werden nicht wahrgenommen, weil die jeweilige Erfahrung im Verlauf eines individuellen menschlichen Lebens konstant bleibt und keine evolutionären Wandlungen bemerkt, die sich erst bei der Ausdehnung der Zeitskala zeigen. Doch allein die Tatsache, dass sich etwas „mit bloßem Auge“ nicht erkennen lässt, spricht nicht dagegen, etwas nicht vernünftigerweise dennoch zu berücksichtigen. Außerdem lässt sich in der jüngeren Vergangenheit eine Beschleunigung evolutionärer Prozesse erkennen (Hawks et al. 2007). Ein statisches Spezieskonzept erweist sich in jedem Fall als unplausibel.
17.1. Die vier signifikanten Komponenten
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Die körperlichen Grundlagen der humanen Lebensform prägen zugleich die kognitiven Fähigkeiten und phänomenalen Erlebnisse von Menschen. Wie in den neueren Kognitionswissenschaften gezeigt wurde, ist die spezifische Art und Weise, wie Menschen denken, fühlen und handeln nicht losgelöst von einem menschlichen Körper vorstellbar: Der spezifisch menschliche, lebendige Organismus bestimmt den Möglichkeitsraum menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns (vgl. Gallagher 2005, Pfeiffer/Bongard 2006). Entgegen dieser Lesart der menschlichen Verkörperung, die hervorhebt, wie ein reiches Möglichkeitsspektrum eröffnet wird, ist die spezifische organismische Ausstattung von Menschen und die daraus resultierende spezifische Bedürftigkeit verschiedentlich (insbesondere von Herder und von Gehlen, die damit in einer platonischen Tradition stehen) als Ausdruck einer „mangelhaften“ und beschränkenden biologischen Ausstattung des Menschen bezeichnet worden.58 Gehlen schreibt, dass Menschen gegenüber anderen Tieren „organisch mittellos“ und an keine besondere „Umwelt“ angepasst seien, Menschen daher der Kultur bedürften, um ihr Überleben zu sichern (Gehlen 1940, 33; 1961, 46 – 48). Während die Aussage, der Mensch sei ,von Natur aus ein Kulturwesen‘, trotz der rhetorischen Wortwahl nachvollziehbar ist, ist Gehlens These vom Mängelwesen eher eine fragwürdige Überspitzung, eine „rhetorische[] Pointe“ (Gerhardt 1999, 195) aus einer verengten Perspektive. Es geht ihm darum, im direkten Vergleich mit verschiedenen Tieren die jeweilige und relative Andersartigkeit des Menschen als defizitär darzustellen. Die weite Verbreitung von Menschen über den Globus widerspricht jedoch dem Mängelwesentheorem. Biologischevolutionär ließe sich allenfalls das Gegenteil begründen: Die Ausbreitung des Menschen zeigt seine hervorragende Angepasstheit an das Leben auf diesem Planeten an, seine vielfältigen Fähigkeiten helfen ihm dabei, 58 Letztlich muss man bei Herder und bei Gehlen die Mängelwesentheorie im Kontext sehen. Bei Gehlen geht sie einher mit der Möglichkeit der Kompensation; und bei Herder wird das Mängelwesentheorem gleich revidiert: „Als nacktes, instinktloses Tier betrachtet, ist der Mensch das elendeste der Wesen. […] Doch so lebhaft dies Bild ausgemalt werde, so ists doch nicht das Bild des Menschen – es ist nur eine Seite seiner Oberfläche, und auch die stehet im falschen Licht. […] Das instinktlose, elende Geschöpf, was so verlassen aus den Händen der Natur kam, war auch vom ersten Augenblick an das freitätige, vernünftige Geschöpf, das sich selbst helfen sollte und nicht anders als konnte“ (Herder 1772, 80 f.). In beiden Fällen handelt es sich somit um eine rhetorische Pointe.
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17. Der Inhalt anthropologischer Argumente
auch in den unterschiedlichsten Bedingungen zu subsistieren. Im Vergleich etwa mit dem Koalabären, der in seinem Leben neben der Möglichkeit, Eukalyptusblätter zu essen und im Eukalyptusbaum zu schlafen, wenige Alternativen hat, ist die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit von Menschen an unterschiedlichste Umgebungen enorm.59 Die spezifische Verkörperung von Menschen umfasst also eine Beschreibung des sichtbaren Körpers und der biologisch bestimmbaren Funktionsabläufe, die sodann verschieden gedeutet werden können. Aufgrund der zahlreichen unterschiedlichen Möglichkeiten der Verwirklichung von Möglichkeiten und Präferenzen, die dabei erkennbar sind, taugt die Mängelwesenthese nur als „rhetorische Pointe“: Menschen sind keineswegs grundsätzlich defizitär, sondern vielmehr zu vielfältigsten Anpassungen in der Lage. In der aktuellen Debatte besteht eine Tendenz, diese extreme Anpassungsfähigkeit von Menschen vor allem unter Rekurs auf eine körperliche Eigenschaft zu erklären, nämlich die Plastizitt des Gehirns. 60 Unter Plastizität versteht man die lebenslange Fähigkeit des menschlichen Gehirns, auf der Grundlage von Erfahrungen neue neuronale Verbindungen herzustellen und damit für den Organismus neue Fertigkeiten und Fähigkeiten zu generieren. Durch transkulturelle und transtemporale Vergleiche menschlicher Gehirnstrukturen (Merlin Donald, Chris Gosden), anhand einer Untersuchung der Rückwirkungen kultureller Umstände auf die Gehirnstruktur (Andy Clark und Merlin Donald), aber auch anhand von Läsionsstudien (wie sie etwa von Antonio Damasio durchgeführt wurden), lässt sich die Relevanz der Plastizität des menschlichen Gehirns für die menschliche Lebensform belegen.61 Die Plastizität des Gehirns bewirkt kontinuierliche Veränderungen des Ge59 Menschen wären sogar dazu in der Lage, auf Eukalyptusbäumen zu schlafen – wenn auch vermutlich nicht besonders gut – und Eukalyptusblätter zu essen – wenn auch nicht ausschließlich. 60 Vgl. dazu insbesondere die Vorträge im Rahmen des Berliner Workshops „The Alterability of Human Nature. Past, present, and future of human becoming“ der AG Neuroscience in Context am 13. und 14. März 2009 mit Vorträgen zur Plastizität von Andy Clark, Merlin Donald, John Dupré, Chris Gosden und Andreas Roepstorff. Abstracts unter http://www.nic-online.info/human_nature.php Wichtige Arbeiten zu diesem Thema sind seit den 1950er Jahren entstanden. Wegweisend sind die Beiträge von Bach-y-Rita, z. B. in Bach-y-Rita/Kercel 2003. 61 Merlin Donald hat für das menschliche Gehirn das Attribut „hyper-plasticity“ geprägt, um eine Unterscheidung von der Plastizität nicht-menschlicher Gehirne einzuführen (Donald 2002).
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hirns (eines Teils des menschlichen Körpers) und damit auch kontinuierliche Veränderungen von Verhaltensdispositionen, die ihrerseits auf der spezifischen Verkörperung von Menschen basieren. Damit kann die spezifische Art der Verkörperung als signifikant angesehen werden, weil sie eine Voraussetzung für viele menschliche Eigenschaften und Verhaltensdispositionen darstellt. (2) Menschen leben in einer von ihnen gemeinsam miteinander geteilten Welt: die soziale Dimension. Die Ebene des spezifisch verkörperten, bewussten Erlebens hat eine weitere wichtige Funktion. Sie führt den individuellen Organismus über sein phänomenales Erleben in den Bereich einer von vielen gleichartigen Individuen gemeinsam geteilten Welt ein,62 die auch durch die Möglichkeit einer gemeinsamen Sprache angezeigt wird. Das individuelle Erleben der eigenen Lebendigkeit und Verletzlichkeit wird durch grundlegende Erfahrungen geprägt, die auch anderen, gleichartigen Organismen zugeschrieben werden. Martha Nussbaum etwa hat ihren Versuch einer nicht-relativen Begründung der Tugendethik auf von ihr sogenannte „grounding experiences“ in einer „sphere of life with which all human beings regularly and more or less necessarily have dealings“ gestützt (Nussbaum 1993, 245). Auch unabhängig von Nussbaums neo-aristotelischer Aktualisierung der Tugendethik, die hier nicht weiter diskutiert werden kann, ist ihre Beschreibung einer von Menschen gemeinsam geteilten Erfahrungswelt aufschlussreich. Die Erfahrungsdimensionen, die in jedem menschlichen Leben – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – eine Rolle spielen, sind für Nussbaum die folgenden: Sterblichkeit und Körperlichkeit, Lust und Schmerz, kognitive Fähigkeiten und praktische Vernunft, (frühkindliche) Entwicklungsphasen, Bindung und Humor (Nussbaum 1993, bes. 263 – 265). Über die Feinkörnigkeit solcher Listen kann immer gestritten werden.63 Da aber Nussbaum die spezifische Bedürftigkeit lebendiger Wesen beschreibt (mit den grounding experiences Sterblichkeit, Körperlichkeit) und auch der bewussten Erlebnisdimension (mit den grounding experiences Lust und 62 Helmuth Plessner redet in diesem Zusammenhang von der „Mitwelt“ – als strukturelle Ergänzung zur „Innenwelt“ und zur „Außenwelt“ von Menschen (Plessner 1929, 302). 63 Ich argumentiere im Rahmen der dritten signifikanten Komponente dafür, dass es ein wichtiges, menschliches Bedürfnis nach Orientierung angesichts der Vielfalt von zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen gibt, das sich in der Konstruktion verschiedener „Menschenbilder“ niederschlägt. Menschen sind „menschenbilderbedürftig“ (s.u.). Damit schlage ich eine Ergänzung von Nussbaums Liste vor, der ich mich ansonsten anschließen kann.
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17. Der Inhalt anthropologischer Argumente
Schmerz) und der (normativen) Handlungsurheberschaft von Personen (mit den grounding experiences von kognitiven Fähigkeiten und praktischer Vernunft) einen Platz einräumt, ist ihre Beschreibung von „certain features of our common humanity“ (ebd., 263) mit meinem Ansatz an vielen Stellen in Übereinstimmung zu bringen. Mit der Betonung von gemeinsamen Erfahrungen und Bedürfnissen wird deutlich, dass menschliche Individuen damit zugleich eine gemeinsame „Welt“ konstituieren, in der sie sich bewegen, in der sie einander erkennen und in der sie sich gemeinsam auf etwas beziehen können.64 Das Phänomen der geteilten Aufmerksamkeit („joint attention“), bei dem sich mehrere Menschen auf ein und dieselbe Sache und auf ihre Ko-Subjekte beziehen können,65 und seine wichtige Rolle beim Spracherwerb hat Tomasello untersucht und dabei auch Vergleiche mit Primaten angestellt, um die spezifische Leistungsfähigkeit von Menschen in diesem Gebiet herauszustellen (Tomasello 2000, 2003, 2008). Dabei stellt Tomasello immer wieder die außergewöhnlichen sozialen Fähigkeiten von Menschen in den Vordergrund, die es Individuen erlauben, einander als intentionale Agenten und Kooperationspartner zu verstehen. Über den gemeinsamen Bezug gleichartiger Wesen auf Objekte der Aufmerksamkeit entsteht schließlich eine gemeinsam geteilte „Welt“, innerhalb derer und über die sich die gleichartigen Wesen verständigen können. Im Anschluss an Nagel (1974) könnte man ergänzen wollen, dass es für Menschen wie beispielsweise für Fledermäuse jeweils auf eine spezifische Art und Weise ist, Mensch oder Fledermaus zu sein, so dass Menschen und Fledermäuse in jeweils spezifischen Mensch- oder Fledermauswelten leben. Menschen leben also in einer spezifischen Welt, 64 Die Betonung der gemeinsam geteilten Welt ist das Komplement zu der Aussage, dass Menschen soziale Wesen sind, wie es Aristoteles mit Blick auf das gelungene Leben treffend formuliert hat: „Es ist auch vielleicht ungereimt, den Glücklichen zu einem Einsiedler zu machen; niemand möchte alleine stehen, wenn ihm auch alle Güter der Welt zugehören sollten. Denn der Mensch ist von Natur ein geselliges Wesen und auf das Zusammenleben angelegt.“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, IX, 9). Daraus wiederum folgt die These, dass manche soziale Settings – etwa Sklaverei oder vollständige Abschirmung von anderen Seinesgleichen – das menschliche Wohlergehen in entscheidendem Maße einschränken, weil sie die grounding experiences stark beschneiden. 65 Aus philosophischer Perspektive hat Davidson das Phänomen der „Triangulation“ untersucht, um propositionale Einstellungen zu erklären, die ein Verhältnis zwischen Wissen von sich selbst, Wissen von anderen Seinesgleichen und Wissen von Dingen in der Welt voraussetzen (Davidson 1982).
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deren Ausstattung auf eine bestimmte Weise zusammengesetzt ist. Da sie selbst als spezifisch bedürftige und strebende Wesen existieren, ist auch die Welt für sie auf eine bestimmte Weise gemäß ihrer Bedürfnisse und Strebungen organisiert. Die Voraussetzung dafür, eine Welt zu teilen, liegt also auch in einer geteilten Art und Weise der Bezugnahme auf diese begründet. Diese Welt ist im Falle von Fledermäusen und Menschen sehr unterschiedlich. Die Betrachtung der spezifischen organismischen Verkörperung von Menschen hat die Möglichkeit einer geteilten Welt plausibel gemacht. Diese spezifische Lebensform menschlicher Lebewesen mit ihrem auf Verkörperung basierenden bewussten Erleben66 stellt eine zweite signifikante Komponente des Begriffs „Mensch“ dar. Während die bislang betrachteten, ersten beiden Komponenten einen Schwerpunkt auf faktische Beschreibungen des menschlichen Organismus und seiner Erlebnisdimension gelegt haben, beziehen sich die beiden folgenden Komponenten stärker auf signifikante Verhaltensdispositionen, die mit dem Begriff „Mensch“ in Verbindung stehen.
K3: Menschen sind orientierungbedürftig Wirklichkeiten in denen wir leben H. Blumenberg
Menschen haben als spezifisch verkörperte lebendige Wesen die Fähigkeit, spontan zu handeln. Sie folgen nicht nur ihren Instinkten, sondern ihnen stehen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, ihr Leben zu führen. Angesichts der Vielfalt möglicher Handlungsoptionen ist die menschliche Zukunft offen. Weil sie Wahlmöglichkeiten haben, suchen Menschen Orientierung. Menschen sind orientierungsbedürftig. Im Folgenden führe ich die Orientierungsbedürftigkeit als dritte signifikante Komponente des Menschseins ein und diskutiere zugleich die bestehenden Orientierungsangebote, die Menschen zur Verfügung stehen. Damit wird auch der Übergang zur vierten signifikanten Komponente vorbereitet. Orientierungen werden Menschen von anderen ihresgleichen, vom Umfeld gegeben. Wichtige handlungsleitende Orientierungen werden 66 Vgl. dazu auch Heilinger/Jung 2009.
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durch kulturelle Deutungen des Menschen angeboten, und hier besteht eine große Vielfalt an Deutungsangeboten. Religiöse und wissenschaftliche, politische und individuelle Entwürfe bieten Orientierungen an. Orientierung suchen Menschen auch bezüglich der Frage, wie sie sich selbst zu verstehen haben. Gerade unter den Bedingungen der Gegenwart, die verheißt, Menschen zu optimieren und zu verbessern, wird dieser Orientierungsbedarf deutlich. Menschen sind „menschenbilderbedürftige Wesen“ (Müller/Heilinger 2008, 191), sie bedürfen einer Antwort auf die Frage, was Menschen sind.67 Allein durch eine Beschreibung der biologischen Ausstattung von Menschen kann diesbezüglich jedoch keine hinreichende Bestimmung von Menschen erreicht werden. Menschen sind daher auch in kulturelle Selbstdeutungsprozesse eingebunden, die aus gesellschaftlichen Interaktionen hervorgehen. Menschen reagieren auf ihre Umwelt, indem sie ihr „HintergrundSelbstverständnis“ in Abhängigkeit von diesen divergierenden kulturellen Rahmenbedingungen ausbilden. Solche Selbstdeutungen führen dazu, dass bestimmte Aspekte des Lebens als besonders bedeutsam ausgezeichnet werden. Philosophie und Religionen sind vor diesem Hintergrund auch als Versuche zu sehen, die Selbst- und Weltdeutungen von Menschen und die damit verbundenen Signifikanzzuweisungen zu regeln. Da Menschen aufgrund der biologischen Ausstattung (ihrer biologischen „Natur“) keine feststehende Orientierung für ihr Verhalten und ihre Handlungen mitgegeben ist – sie sind einerseits ,instinktreduziert‘ (Gehlen 1940, 26 et passim), haben damit aber andererseits mehr Handlungsmöglichkeiten als der Koalabär, der nur Eukalyptus essen mag –, suchen sie Orientierung in ihrer zweiten, der „kulturellen Natur“. Hier finden sich Handlungsnormen, auch in Form von Selbstbeschreibungen, die die fehlende Orientierung kompensieren. In dieser Anpassungsbedürftigkeit und kulturellen Formbarkeit lässt sich erkennen, dass Menschen hinsichtlich dessen, als was sie sich begreifen, „menschenbilderbedürftig“ sind. Menschenbilder beschreiben den Menschen in einer normativ gehaltvollen Art und Weise und begegnen damit dem menschlichen Bedürfnis nach Orientierung angesichts der Frage, was er ist und was er sein soll. Die Normativität von Menschenbildern ist jedoch oftmals problematisch, da sie nicht explizit begründet ist. 67 Im Anschluss an den vorhergehenden Punkt ließe sich vielleicht die Menschenbilderbedürftigkeit als eine gemeinsam von Menschen geteilte grounding experience bezeichnen.
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Als „Menschenbilder“ bezeichne ich kulturrelative Aussagen über den Menschen, die eine weitgehend unhinterfragte Orientierungsfunktion übernehmen. Mit Hans Blumenberg lassen sich solche im Hintergrund stehenden Vorstellungen, die angesichts einer schwierig zu überblickenden Wirklichkeit Orientierung spenden, ohne ihrerseits direkten Anspruch auf „Wahrheit“ zu erheben, als „absolute Metaphern“ bezeichnen. Die in bestimmten Kulturen jeweils prägenden, impliziten Hintergrundannahmen darüber, was der Mensch ist und was der Mensch sein soll, sind Beispiele für solche „absoluten Metaphern“. Um Metaphern handelt es sich, weil in ihnen eine bildhafte Struktur aus einem anderen semantischen Kontext auf einen Bereich der Wirklichkeit bezogen (meta-pherein) wird. Blumenberg nennt diese Metaphern „absolut“, weil sie sich nicht vollständig „ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen lassen“ (Blumenberg 1960b, 10). Damit meint er weniger, dass sich nicht angeben ließe, wie die Metaphern funktionieren und welchen Gehalt sie implizit tragen, sondern vielmehr, dass eine vollständige Analyse und Begründung ihres Gehalts weder von denen, die sie verwenden, eingefordert wird, noch für das Funktionieren solcher Metaphern nötig ist. Menschenbilder sind solche „absoluten Metaphern“ im Sinne Blumenbergs, weil der durch sie erläuterte Begriff „Mensch“ reich und kulturell „gesättigt“, von einer jeweils spezifischen Tradition imprägniert ist. Beispiele dafür sind etwa die christliche Konzeption vom Menschen als Krone der Schöpfung und als Ebenbild Gottes, aber auch modernere (oftmals implizite Hintergrund-) Überzeugungen wie diejenigen vom Menschen als rationalem Agenten, als homo oeconomicus 68 oder als in seinem Erleben und seinen Handlungen determinierten l’homme neuronal. 69
68 Damit findet eine ökonomische „Kolonialisierung“ der Lebenswelt statt, die die Forderung impliziert, die Gesellschaft und das individuelle Leben müsse insgesamt als Profit-Center organisiert werden. 69 Ideen, die aus wissenschaftlichen Kontexten generiert werden, übernehmen die orientierungsgebende Funktion von Hintergrundmetaphern häufig in einer popularisierten Version, die mit dem tatsächlichen wissenschaftlichen Gehalt nicht unbedingt in Übereinstimmung zu bringen ist. Die Tatsache, dass im menschlichen Gehirn neuronale Prozesse ablaufen oder dass Menschen evolvierte Lebewesen sind, generiert noch nicht per se ein normatives Menschenbild. – Zur aktuellen Bedeutung der Idee des homme neuronal vgl. die kritischen Diskussionen im Rahmen des „Brainhood Projects“ von Ortega und Vidal: Sie analysieren kritisch die anthropologische Figur des „cerebral subjects“, das die menschliche Lebensform oder den Personstatus („personhood“) auf „brainhood“ engführe
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17. Der Inhalt anthropologischer Argumente
Blumenberg selbst fragt in seinen umfangreichen metaphorologischen Studien daher auch niemals nach der Wahrheit solcher Metaphern in einem adäquationstheoretischen Sinne. Er fokussiert auf die „historische“ oder die „pragmatische“ Wahrheit, die „vrit faire“, die diese Metaphern entfalten (Blumenberg 1960b, 25). Er führt dazu aus: „Dem historisch verstehenden Blick indizieren sie [scil. die absoluten Metaphern, JCH] also die fundamentalen, tragenden Gewissheiten, Vermutungen, Wertungen, aus denen sich die Haltungen, Erwartungen, Tätigkeiten und Untätigkeiten, Sehnsüchte und Enttäuschungen, Interessen und Gleichgültigkeiten einer Epoche regulieren.“ (Blumenberg 1960b, 25). Im Nachhinein lassen sich also bestimmte Begriffe als Verdichtungspunkte des Denkens einer bestimmten Zeit ansehen. Daher betrachtet Blumenberg auch nicht nur einzelne Metaphern, sondern eine ganze ,Hintergrundmetaphorik‘, die die „Substruktur des Denkens“ (Blumenberg 1960b, 13) einer jeweiligen Tradition erhellt. Die genannten Beispiele für Menschenbilder haben somit eine Vielzahl möglicher Erscheinungsbilder. Entscheidend für ihr Funktionieren ist dabei, um es erneut zu betonen, ausdrücklich nicht die Wahrheit der metaphorischen Aussagen in einem adäquationstheoretischen Sinn. Blumenberg erläutert das folgendermaßen: What genuine guidance does it give? Diese Form der ,Wahrheitsfrage‘ […] ist hier, in einem allerdings ganz und gar biologiefreien Sinn, in Geltung. Eine Frage wie ,Was ist die Welt?‘70 ist ja in ihrem ebenso ungenauen wie hypertrophen Anspruch kein Ausgang für einen theoretischen Diskurs; wohl aber kommt hier ein implikatives Wissensbedürfnis zum Vorschein, das sich im Wie eines Verhaltens auf das Was eines umfassenden und tragenden Ganzen angewiesen weiß und sein Sich-einrichten zu orientieren sucht. (Blumenberg 1960b, 25)
Solche kulturell variablen Menschenbilder, wie sie den Gegenstand ideengeschichtlicher oder, wie Blumenberg sagen würde, metaphorologischer Studien darstellen, reagieren auf das menschliche Bedürfnis nach Orientierung, sie drücken ein „implikatives Wissensbedürfnis“ aus. Sie haben eine normative Kraft, indem sie handlungsleitend wirksam werden. Der Mensch als Krone der Schöpfung wird sich die Erde untertan machen, der homo oeconomicus wird mit Blick auf das Eigeninteresse versuchen, optimal gewinnbringend seine Ziele zu verwirklichen, der (vgl. Ortega/Vidal 2007). Vgl. auch das Projekt einer Kritischen Neurowissenschaft (Choudhury/Nagel/Slaby 2009). 70 Hier könnte man bedenkenlos auch die Frage ,Was ist der Mensch?‘ einsetzen.
17.1. Die vier signifikanten Komponenten
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homme neuronal wird unter Verweis auf „Verschaltungen im Gehirn“ die eigene Verantwortlichkeit für sein Handeln der Übermacht deterministischer Zwänge unterordnen. An den genannten Beispielen zeigt sich eine legitimatorische Tendenz, die einige metaphorologische Bestimmungen des Menschen und manche Menschenbilder mit sich bringen.71 Allen diesen Menschenbildern ist gemeinsam, dass sie nicht auf einem expliziten Akt der Zustimmung beruhen. Es handelt sich gewissermaßen um Aussagen, für die kein Akteur verantwortlich zu machen ist. Der Mensch ist aufgrund eines durch die Kirchen verwalteten gçttlichen Beschlusses die Krone der Schöpfung, die Evolution und sein Überlebenstrieb haben ihn – so heißt es – zu einem homo oeconomicus gemacht, die Wissenschaft zeige, dass die Gehirnstruktur selbst die Verschaltungen und die dadurch verursachten Gedanken und Handlungen festlege. Vor diesem Hintergrund erscheint es bisweilen geradezu als bequem, Gott, die Evolution oder die Wissenschaft für die Handlungen von Menschen verantwortlich zu machen. Es fehlt der Akteur der expliziten Zustimmung zu diesen Menschenbildern oder Hintergrundmetaphern und damit wird von Menschen keine Verantwortung für sich selbst übernommen.72 Menschenbilder sind somit eine mögliche Antwort auf die Frage, was der Mensch ist. Die grundsätzliche Orientierungsbedürftigkeit und die spezielle Menschenbilderbedürftigkeit (und nicht ein bestimmtes Menschenbild) ist ein integraler Bestandteil einer signifikanten Beschreibung des Menschen. Allerdings fehlt den Menschenbildern eine legitimierende Instanz. Sie existieren gewissermaßen aus einem kulturellen Automatismus heraus. Aus der Vielfalt möglicher Selbstbestimmungen des Menschen greifen Menschenbilder kulturrelativ bestimmte dominierende Hintergrundannahmen auf und fassen sie in die Form eines „Bildes“, durch das die Menschen beschrieben und bestimmt werden. Es ist aufschlussreich, Menschenbilder zu betrachten, wenn man deskriptive Moralforschung betreibt. Wenn es aber darum geht, nach begründeter 71 Natürlich gibt es auch Menschenbilder, die weniger Gefahr laufen, als Legitimation für bisweilen fragwürdige Handlungen herangezogen zu werden. Man denke etwa an den homo ludens, den homo ridens etc, die ihrerseits jedoch auch einen bescheideneren Erklärungsanspruch mit sich bringen, als die zunächst genannten Beispiele. 72 Eine solche Zustimmung hat den Charakter eines Wagnisses und resultiert aus einem Anspruch, den Menschen an sich stellen können, der „humanistisch“ genannt werden kann: Menschen können dafür Verantwortung übernehmen, wer und was sie sind. Dazu im Folgenden K4.
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17. Der Inhalt anthropologischer Argumente
Normativität im Begriff „Mensch“ zu suchen, weisen Menschenbilder ins Leere. Sie wirken normativ, weil sie da sind. Sie sind aber keineswegs da, weil sie normativ begründet wären. Der entscheidende Schritt zu einem zumindest schwach normativen Begriff vom Menschen muss von Menschen selbst vollzogen werden, indem sie – angesichts der möglichen Vielfalt von Menschenbildern und konkurrierenden Beschreibungen des Menschen – „anthroponom“ einer bestimmten Selbstbeschreibung explizit zustimmen und damit ein Ideal begründen, unter dem sie sich begreifen wollen. Es geht darum, sich zur eigenen Orientierungsbedürftigkeit zu verhalten, indem man sie einerseits anerkennt und wertschätzt, andererseits jedoch die bestehenden Deutungsangebote prüft.
K4: Menschen sind selbstbestimmungsfähig („anthroponom“) yes I said yes I will Yes J. Joyce, Ulysses
Menschen sind – als orientierungsbedürftige, spezifisch verkörperte und bewusste lebendige Wesen – dazu in der Lage, autonom über ihre Handlungen zu entscheiden und sich dabei nicht nur von Orientierungsangeboten aus ihrem Umfeld leiten zu lassen. Sie können sich selbst interpretieren, sich selbst bestimmen und selbst handeln. Menschen sind der Selbstbestimmung fähige Wesen. In dem, was sie sind, hängen sie nicht von biologischen und kulturellen Bestimmungen allein ab, die sie in der Natur oder der sozialen Umwelt vorfinden. Menschen haben, und das scheint – wenn überhaupt etwas – eine differentia specifica darzustellen, die Fähigkeit, sich selbst zu definieren. Die von Pico della Mirandola (1486) so euphorisch gelobte Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen, der zum Engel oder zum Tier werden könne, gilt natürlich zunächst in einem nicht-wörtlichen Sinne. Selbstverständlich können Menschen sich nicht zum Affen oder zu Gott machen. Doch sie haben die Möglichkeit, eine bestimmte Selbstbeschreibung als regulative Idee für sich anzuerkennen, sie haben die Möglichkeit, anthroponom Normen zu begründen und für ihre Handlungen als Orientierung anzuerkennen. Damit können Menschen zumindest danach streben, das zu werden, was sie sein wollen. Die Fhigkeit, sich unter verschiedenen Beschreibungen begreifen zu können und unter einem selbstgewählten normativen Anspruch handeln
17.1. Die vier signifikanten Komponenten
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zu können, ist nicht von Menschen selbst aktiv hervorgebracht worden. Aber sie kann ausgeübt werden, und mit jedem Akt der Realisierung von Selbstbestimmung wird diese Selbstbestimmungsfähigkeit affirmiert.73 Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung stellt die vierte Komponente einer signifikanten Kartierung der Struktur des Begriffs „Mensch“ dar. Der Begriff Mensch – zugleich als deskriptiver und normativer verstanden – bezeichnet damit ein Wesen, das über die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und zur selbstbestimmten Hervorbringung von Normativität verfügt. Dieses menschliche Merkmal nenne ich die Fähigkeit der Anthroponomie, das ist die Fähigkeit, eine Bestimmung des Menschen leisten zu können – sowohl als genitivus subiectivus (der Mensch bestimmt, was er ist) als auch als genitivus obiectivus (der Mensch bestimmt den Menschen).74 Die vierte Komponente einer umfassenden Kartierung des Begriffs „Mensch“, wie ich sie vorschlage, setzt damit die anderen drei voraus. Menschen sind (K1) lebendige – und damit bedürfnishafte, verletzliche und sterbliche – Organismen, die (K2) aufgrund ihrer spezifischen Verkörperung und ihrem spezifischen Erleben eine gemeinsame Welt teilen und dabei (K3) angesichts der erfahrenen Vielfalt von Handlungsoptionen orientierungsbedürftig sind. Orientierungsangebote bilden sich oftmals in Form von „Menschenbildern“ heraus. Menschenbilder werden verstanden als implizite normative Annahmen, die in einer bestimmten Kultur herrschen. Bei der Selbstbestimmung verläuft die Begründung der Normativität komplementär: Normative Aussagen über den Menschen, die aus Menschenbildern abgeleitet werden, sind affir73 Das gilt sogar, scheinbar paradox, für den Fall, dass sich jemand gegen die Ausübung seiner Selbstbestimmungsfähigkeit entscheidet. 74 Der Begriff der Anthroponomie findet sich auch bei Kant: „Alle Hochpreisungen, die das Ideal der Menschheit in ihrer moralischen Vollkommenheit betreffen, können durch die Beispiele des Widerspiels dessen, was die Menschen jetzt sind, gewesen sind, oder vermuthlich künftig sein werden, an ihrer praktischen Realität nichts verlieren, und die Anthropologie, welche aus bloßen Erfahrungskenntnissen hervorgeht, kann der Anthroponomie, welche von der unbedingt gesetzgebenden Vernunft aufgestellt wird, keinen Abbruch thun“ (Kant 1797, 405 f.). Wenzel versteht den Begriff allerdings in einem engeren Sinn, der in der Verfügbarkeit über die „Natur des Menschen“ eine Grenze findet (Wenzel 1992). Mein Verständnis des Begriffs Anthroponomie ist im Gegensatz zu Wenzels Kant-Interpretation anspruchsvoller und umfasst ausdrücklich auch die menschliche Bestimmungsfähigkeit über das, was Wenzel als „Natur des Menschen“ bezeichnet. Damit ist die Relevanz des Begriffs der Anthroponomie gerade im Rahmen der Enhancement-Debatte offenkundig.
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17. Der Inhalt anthropologischer Argumente
mativ, solche aus einem anthroponomen Konsens sind konstruktiv. Menschenbilder werden vorgefunden und ausgedrückt. Ein anthroponomes, normatives menschliches Selbstverständnis aber wird reflektiert und auf der Basis guter Gründe selbstbestimmt gemacht (K4). Bei dieser skizzenhaften, inhaltlichen Bestimmung von vier signifikanten Komponenten des Begriffs „Mensch“ handelt es sich um einen Vorschlag, der keine abschließende, sondern eine diskussionsöffnende Funktion haben soll. Zudem setzt er die spezifische Entwicklung der westlichen Philosophie voraus (wie sie den Kontext vorliegender Arbeit darstellt), so dass dieser Begriff vom Menschen nicht ohne Weiteres für die Vergangenheit oder andere kulturelle Kontexte Gültigkeit beanspruchen kann. Die Betonung von Autonomie etwa ist in stark gruppenorientierten Gesellschaften für Individuen schlichtweg unverständlich und kein Desiderat. Dennoch vertrete ich die Auffassung, dass es der gegenwärtige Entwicklungsstand der westlichen Philosophie erlaubt, die individuelle Autonomie als so wichtig anzusehen, dass ein Aufgeben dieser Wertschätzung der Autonomie tatsächlich einen unvertretbaren Rückschritt darstellte. Darüber hinaus erscheint mir die Einsicht in die Relevanz der Autonomie und der daraus resultierenden basalen Ansprüche (etwa auf die körperliche Unversehrtheit) so fundamental, gerechtfertigt und dem erfolgreichen Zusammenleben von Menschen auf der Welt so zuträglich, dass eine allmähliche globale Verständigung darüber in der Zukunft möglich erscheint.
17.2. Anthropologische Bedingungen für moralisch legitime Enhancements (B1 und B2) Mit den vier Komponenten habe ich einen Vorschlag gemacht, wie der Begriff „Mensch“ signifikant kartiert werden kann. Ich vertrete die These, dass mit diesen vier Komponenten – Lebendigkeit, verkörperte Personalität in einer Welt, Orientierungsbedürftigkeit, Selbstbestimmungsfähigkeit – eine reiche Bestimmung des „ganzen Menschen“ zumindest in Grundzügen vorgetragen ist. Dabei ist eine feinkörnigere Ausgestaltung, zu der ich hier nur eine erste Skizze liefern konnte, selbstverständlich nötig. Dieser basale Begriff vom Menschen ist ein Vorschlag, wie das anthropologische Grundgerüst einer anthroponomen Ethik (als Ergebnis eines quasi-demokratischen Selbstverständigungsprozesses von Men-
17.2. Anthropologische Bedingungen
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schen) inhaltlich zu bestimmen wäre. Damit stehen anthropologische Argumente in Grundzügen zur Verfügung, die in den verschiedenen Debatten – etwa über Human Enhancement – Verwendung finden können. Ein auf dieser Grundlage entwickelter Begriff vom Menschen kann als „regulative Idee“ fungieren, nachdem er einen solchen Selbstverständigungsprozess durchlaufen hat; das heißt, er kann eine handlungsleitende Funktion übernehmen. Das bisherige Ergebnis ist eine Analyse der Struktur der signifikanten Komponenten des Begriffs „Mensch“, die durch einen Akt der quasidemokratischen Zustimmung als normativ ausgezeichnet werden kann. Ein Grund dafür, dass diese Kartierung des Begriffs „Mensch“ in normativer Hinsicht konsensfähig ist, sehe ich darin, dass sie mit Blick auf die signifikanten Aspekte strukturerhaltend ist. Damit meine ich, dass diejenigen, die über den Begriff verhandeln, um ihm zuzustimmen oder auch um ihn abzulehnen, genau diejenigen Möglichkeiten aktivieren und verwirklichen, die der normativ gehaltvolle Begriff als bewahrenswert auszeichnet. Diese Inanspruchnahme oder Aktivierung selbst ist schon als eine erste, performative Affirmation zu verstehen. Es handelt sich bei der expliziten Zustimmung zu dem solcherart normativ verstandenen Begriff vom Menschen also keineswegs um eine punktuelle und einmalige Setzung, sondern um eine kontinuierliche, strukturell affirmative Handlung. Die Selbstbestimmungsfähigkeit stellt in diesem Verständnis den Kern des normativen Begriffs vom Menschen dar. Der normative Begriff des Menschen basiert also darauf, dass Menschen diese normative Selbstbestimmungsfähigkeit selbstbestimmt normativ auszeichnen. Eine solche normative Struktur soll es erlauben, Handlungen zu bewerten. „Strukturintentional“ (vgl. Nida-Rümelin 2001, 65 ff.) – und damit auf der Grundlage anthropologischer Argumente erlaubt – sind Handlungen, die mit den signifikanten Elementen der normativen Struktur in Übereinstimmung stehen, weil sie strukturerhaltend wirken. Damit wird der deskriptiv-normative Begriff vom Menschen als Maßstab zur Bewertung von Handlungen oder Handlungsmöglichkeiten herangezogen. Auf der Grundlage des Dargelegten lassen sich zwei konkrete Bedingungen stipulieren, die Enhancement-Handlungen erfüllen müssen, um aus der (basalen) anthropologischen Perspektive als moralisch unbedenklich gelten zu können. Die erste Bedingung legt einen Schwerpunkt auf die individuelle Handlung und die zu erwartende Konsequenz des Enhancements für ein Individuum. Die zweite Bedingung bezieht
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17. Der Inhalt anthropologischer Argumente
den Kontext individueller Handlungen in die Bewertung ein und blickt auf die Verhältnisse, in denen mehrere Individuen (von denen entweder nur einige oder gar alle sich einem Enhancement-Eingriff unterziehen) zueinander stehen. Während die erste Bedingung auf der Grundlage der anthropologisch-signifikanten Begriffsbestimmung und ihrer quasi-demokratischen normativen Auszeichnung basiert, rekurriert die zweite Bedingung auf die Vervielfältigung der individuellen Perspektive. Enhancements sind – aus anthropologischer Perspektive – moralisch erlaubt, wenn sie B1 für Individuen die Fähigkeit zur Handlungsurheberschaft und Selbstbestimmung sowie ihre ermöglichenden Bedingungen erhalten und nicht einschränken
und B2 Benachteiligungen und soziale Ungerechtigkeiten nicht vergrößern.75
Wenn man möchte, lassen sich die Bedingungen auch in Form eines „anthropologischen Imperativs“ formulieren: Wende Enhancements so an, dass die menschliche Möglichkeit autonomer Selbstbestimmung nicht eingeschränkt und Ungerechtigkeit nicht vergrößert wird. Hiermit wird deutlich, dass auf der Grundlage der hier entwickelten anthropologischen Skizze keine weitreichenden Argumente für den Erhalt der Natürlichkeit oder Unberührtheit oder einer bestimmten physischen Realisierung menschlicher Eigenschaften, Fähigkeiten und Handlungsdispositionen gerechtfertigt werden kann. Was als spezifisch menschlich angesehen wird und was begründet als normativer Gehalt anthropologischer Argumente ausgezeichnet werden kann, ist vorrangig ein Set von Eigenschaften, Fähigkeiten und Dispositionen, nicht ihre spezifische Realisierung. B1: Die Erhaltung der Autonomie kann auf der Grundlage der quasidemokratischen Verständigung als signifikant und bewahrenswert ausgezeichnet werden. Die Anwendung von Biotechnologien darf diese Fähigkeit daher nicht einschränken.76 Eine moralische Verpflichtung auf anthropologischer Basis, die Autonomiefähigkeit von Individuen zu steigern, scheint jedoch nur insofern 75 Zur zweiten Bedingung vgl. auch Chadwick 2008, 34; in Kapitel 19 werden Beispiele für mögliche Anwendungen der beiden Bedingungen diskutiert. 76 Damit verbunden ist die Aufforderung, denjenigen, deren Selbstbestimmungsfähigkeit eingeschränkt ist, nach Kräften dazu zu verhelfen, möglichst autonome Entscheidungen treffen zu können.
17.2. Anthropologische Bedingungen
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zu bestehen, als die notwendigen, ermöglichenden Bedingungen (biologischer und sozialer Art) für autonome Entscheidungen bewahrt und gefördert werden sollen. Darüber hinausgehende Forderungen, durch eine gezielte Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit die Autonomie (qualitativ oder quantitativ) zu steigern, bedürften zunächst bislang noch nicht erbrachter empirischer Belege, dass etwa eine deutlich höhere Intelligenz oder Erinnerungsfähigkeit als sie jetzt möglich ist, überhaupt dazu führen könnte, die Autonomie zu steigern.77 Ohne Belege für die Wirksamkeit dieses Ansatzes besteht keine moralische Verpflichtung zum Einsatz biotechnologischer Mittel zur Vergrößerung der Autonomie. Wenn B1 nicht erfüllt ist, sind Enhancements verboten. Wenn B1 erfüllt ist, ist – auf der anthropologischen Grundlage – der Einsatz der Biotechnologien erlaubt und B2 muss geprüft werden. Ein Gebot, die Biotechnologien für weitreichende Enhancements einzusetzen, lässt sich auf der dargelegten anthropologischen Ebene nicht begründen.78 B2: Die zweite Bedingung, die biotechnologische Enhancements erfüllen müssen, um auf der entwickelten anthropologischen Grundlage moralisch erlaubt zu sein, berücksichtigt die Tatsache, dass trotz aller Individualität die Autonomie von Menschen immer in soziale Kontexte eingebunden ist, dass Menschen „eine Welt teilen“ (K2). Das heißt, dass die Autonomie eines Individuums immer auch das Resultat der Interaktion mit anderen Seinesgleichen ist, die ihrerseits als Individuen prinzipiell dieselben berechtigten Ansprüche haben. Selbst wenn der hier vorgestellte Ansatz also einerseits individualistisch ist, weil er die Autonomie des Einzelnen prioritär behandelt, ist diese individuelle Autonomie eingebunden und ermöglicht von Beziehungen zwischen Individuen, von der wechselseitigen Anerkennung als Seinesgleichen auf der Grundlage der (begrifflich) anerkannten fundamentalen Gleichartigkeit (Kapitel 13). Daher muss die erste Bedingung (B1) für den Einsatz von Enhancements auf anthropologischer Grundlage eine Ergänzung erfahren (B2), die jedem einzelnen autonomen Individuum abverlangt, dass die eingesetzten Enhancements nicht auf Kosten anderer durchgeführt 77 Crone 2006 diskutiert etwa kritisch die Auswirkungen von „Gedächtnispillen“ für das Selbstverständnis und die Entscheidungsfähigkeit von Personen. 78 In Fällen, in denen mithilfe der Biotechnologien Menschen dazu in die Lage versetzt werden können, selbst autonome Entscheidungen zu treffen, ist ihr Einsatz aus anthropologischer Perspektive geboten. Dennoch ist dieser Fall kein Gegenstand der Enhancement-Debatte im engeren Sinne, die sich weit reichenden biotechnologischen Veränderungen von Menschen zuwendet (vgl. Kapitel 8).
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17. Der Inhalt anthropologischer Argumente
werden, sondern ihre Eigenständigkeit und ihre grundsätzlich gleichwertigen Ansprüche berücksichtigt.79 Getragen wird diese zweite einschränkende Bedingung dadurch, dass die basalen Bedürfnisse, die jeweiligen Bestrebungen, Präferenzen und Entscheidungen aller nicht von vornherein in ihrer Wertigkeit voneinander unterschieden werden können. Durch Handlungen herbeigeführte Unterschiede und Benachteiligungen sind damit nur dann zu rechtfertigen, wenn sie paretooptimal eingeführt werden können, das heißt, wenn eine Vergrößerung der Ungleichheit eine Verbesserung für diejenigen beinhaltet, die am schlechtesten gestellt sind, und wenn Bemühungen um eine weitere Verbesserung der Umstände für diejenigen, die am schlechtesten gestellt sind, nicht zum Erliegen kommen. Unter „Ungleichheit“ verstehe ich hier primär soziale Benachteiligungen, die negativ zu bewerten sind. „Ungleichartigkeit“ in körperlicher oder kognitiver Hinsicht ist dahingegen nicht negativ zu bewerten, solange es den Individuen möglich bleibt, einander mit dem Begriff „Mensch“ zu bezeichnen. Mit dieser Bestimmung lässt der Begriff „Mensch“ ausreichend Raum für individuelle Vielfalt und Verschiedenheit.80 Die beiden formulierten anthropologischen Bedingungen können provozieren, da sie eine Reihe alternativer anthropologisch normativer Aspekte nicht berücksichtigen. So wird ja häufig gerade der Versuch unternommen, die biologische Spezieszugehörigkeit mit den normalen Eigenschaften, die Abstammung von biologisch gleichartigen Eltern, die Unberührtheit von Technologien oder eine bestimmte humane Morphologie auf anthropologischer Grundlage als normativ bewahrenswert auszuzeichnen. Mein Ansatz wendet sich gegen diese normativen Auszeichnungen und verfährt damit integrativ. In meinem Vorschlag einer signifikanten Kartierung des Begriffs „Mensch“ erweist sich die Selbstbestimmungsfähigkeit als prioritär. Biologische Kriterien werden auf dieser Grundlage nur insofern ausgezeichnet, als sie die ermöglichenden Bedingungen für die Autonomie darstellen. Dieser Vorschlag lässt aus79 Das ist eine Reformulierung des Instrumentalisierungsverbots auf anthropologischer Ebene. 80 Die hiermit angesprochene Gerechtigkeitsproblematik bedarf – vor allem mit Blick auf die konkrete Umsetzung – einer ausführlichen Diskussion, die ich hier nicht leisten kann. B2 soll an dieser Stelle lediglich einer einseitigen Betonung der Autonomiebedingung vorbeugen und auf die Gleichartigkeit und die damit prinzipiell gleichen Ansprüche der Individuen hinweisen. Damit verbindet B2 die anthropologisch signifikante Komponente, eine Welt zu teilen (K2), mit dem Differenzprinzip aus Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit.
17.2. Anthropologische Bedingungen
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drücklich die Möglichkeit offen, den normativen Begriff vom Menschen nicht ausschließlich auf biologisch eindeutig zur Spezies Mensch zugehörige Wesen zu beschränken.81 Der normative Status, wie er durch den normativ-deskriptiven Begriff „Mensch“ zum Ausdruck gebracht wird, hängt stattdessen von der Möglichkeit ab, einander als seinesgleichen anzuerkennen.82 Hiermit ist der Vorschlag eines signifikanten und normativen Begriffs vom Menschen in Form von zwei Bedingungen konkretisiert, wie er abschließend in den Debatten über Human Enhancement erprobt werden soll (Kapitel 19). Zuvor sollen jedoch noch mögliche Einwände gegen meinen Vorschlag diskutiert werden.
81 Die Schwierigkeiten einer vermeintlich eindeutigen Bestimmung der Spezies wurden oben thematisiert, s. Kapitel 7.1. 82 Vielleicht ist erneut der Hinweis angebracht, dass sich analog zu den Debatten um den normativen Begriff „Person“ auch hinsichtlich des normativen Begriffs „Mensch“ onto- wie phylogenetisch verschiedene Entwicklungsstadien erkennen lassen. Auch frühe und späte Entwicklungsstadien, die die Kriterien von „Person“ oder „Mensch“ nicht im vollem Sinne erfüllen, können damit unter den Begriff gefasst werden. Dabei steht dann weniger die Möglichkeit im Vordergrund, dass die betreffenden Individuen alle signifikanten Komponenten vollständig realisieren und sich selbst explizit als Person oder als Mensch begreifen. Stattdessen ist das Fundament für die Anwendung des normativen Begriffs in diesen Fällen die Anerkennung der betreffenden Individuen durch andere als ihresgleichen.
18. Einwnde gegen meinen Vorschlag der Begründung anthropologischer Argumente Ist mein Vorschlag einer quasi-demokratischen Selbstbestimmung des normativen Begriffs vom Menschen nicht willkürlich, unrealistisch, in konkreten Kontexten nutzlos und zudem anfällig für kollektiven Irrtum? Im Folgenden werde ich Einwände gegen meinen Vorschlag diskutieren. Meine Replik auf die Einwände basiert auf der Überzeugung, dass neben dem Versuch einer gemeinsamen Verständigung über den normativen Gehalt des Begriffs kein anderer gangbarer Weg zur Verfgung steht: Mir scheint, dass einem – wenn man die Idee der Normativität des Begriffs „Mensch“ nicht ganz aufgibt – nichts anderes übrig bleibt, als mithilfe des dargelegten Prozesses der Verständigung auf der Grundlage wechselseitiger Information und Einbindung den Versuch zu unternehmen, wirksam Normativität zu begründen. Aus dieser Hinsicht zeigt sich mein Vorschlag zwar als eine suboptimale Alternative, da er keine unverrückbaren Wahrheiten etablieren kann. Doch er handelt sich keine Vorwürfe ein, wie sie gegenüber vermeintlich vollständigen, definitiv abgeschlossenen ethischen Systemen erhoben werden können: dass solche Systeme nämlich dem eigenen Anspruch nach nicht verbesserungsfähig sind, weil sie ausschließen, dass eine neue Einsicht das System als defizitär erweisen könnte. Die Idee eines solchen abgeschlossenen moralischen Systems halte ich für unangemessen. Vielmehr müssen die ethischen und moralischen Prinzipien und Praktiken permanent ausgedehnt, weitergeführt und vor allem „aktiviert“ werden. Ethische Systeme sind notorisch unvollständig, so dass moralische Praktiken und Prinzipien sich kontinuierlich weiterentwickeln müssen: „They evolve in response to predicaments that have not yet been decided, and the work of articulating, clarifying, and refining what principles there are is never finished.“ (Kitcher 2008, 25). Das beständig nötige Engagement im ethischen Verständigungsprozess bringt die vierte Komponente – die anthroponome Selbstbestimmung – deutlich zum Ausdruck. Bevor ich nun einige Einwände näher behandle, möchte ich zumindest daran erinnern, dass manchmal auch eine tu quoque-Reaktion auf
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einen Einwand angemessen ist. Ist beispielsweise der Wahrheitsbegriff in alternativen ethischen Theorien deutlicher bestimmt und tragfähiger? Sind alternative Konzeptionen realistischer, wirksamer, besser begründet oder weniger missbrauchs- oder fehleranfällig? Da ich jedoch nicht behauptet habe, eine abschließende ethische Theorie vorgelegt zu haben, ist jeder Einwand, jeder Hinweis auf Unvollständigkeit und jeder Vorschlag zur Verbesserung und Präzisierung meines Entwurfs als ein willkommener Beitrag zum Verständigungsprozess anzusehen, um den es mir ja gerade geht.
18.1. Essentialismus und die „Wahrheit“ der Selbstbestimmung Ich habe mich im Verlauf der Arbeit mehrfach gegen „essentialistische“ Bestimmungen des Menschen gewendet. Eine feststehende Natur des Menschen, so habe ich unter Verweis auf die prinzipiell unabgeschlossene Evolution behauptet, und dadurch festgelegte bewahrenswerte Wesensmerkmale von Menschen gebe es nicht. Mit meinem oben vorgestellten Modell der Bestimmung von vier signifikanten Komponenten, die eine deskriptiv-normative Beschreibung des Menschen umfassen soll, scheine ich – so könnte man meinen – ein solches essentialistisches Modell vorzuschlagen, indem ich manche Eigenschaften als relevant, bewahrenswert und wesentlich auszeichne, andere dahingegen als unwesentlich ignoriere und der Veränderung durch Enhancements preisgebe. Gerate ich damit nicht in einen Selbstwiderspruch? Hier ist es nötig, zwischen zwei verschiedenen Arten von Essentialismus zu differenzieren. Die erste besteht darin, Essenzen und Wesentlichkeit unabhängig von Menschen festzulegen: Manche Dinge, Eigenschaften oder Ereignisse seien – aufgrund ihrer Natur, ihres göttlichen Ursprungs etc. – wesentlich. Eine solche Bestimmung erscheint mir unzureichend. Mit meiner Beschreibung quasi-demokratischer Prozesse zur Bestimmung des Menschen – inklusive einer Auszeichnung bestimmter Eigenschaften –, verfolge ich dahingegen ein Projekt, das Hans Blumenberg einmal mit einer Formel von Paul Klee als „Verwesentlichung des Zufalls“ bezeichnet hat (Blumenberg 1956, dazu auch Siep 2006). Erst dadurch, dass Menschen mit Gründen in die Auszeichnung bestimmter „essentieller“ Dinge oder Eigenschaften einstimmen, erst durch den Akt der gewissermaßen demokratischen Zustimmung zu ihnen, gewinnen diese die Qualität eines „wesentlichen“ Dinges oder Merkmals. Ich habe daher statt der Auszeichnung be-
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stimmter Merkmale als „essentiell“ oder „wesentlich“ den bescheideneren Ausdruck „signifikant“ vorgeschlagen.83 Den Eigenschaften können unterschiedliche Grade an „Bedeutsamkeit“ zugewiesen werden, ohne dass damit Aussagen darüber verbunden sind, wie robust-realistisch oder substantiell-wesentlich etwas für den Menschen schlechthin ist. Die Beweislast wird damit verringert, eine quasi-demokratische Verständigung wird ermöglicht und auch die prinzipielle Variabilität des Menschlichen wird begrifflich eingeholt. Kann man im Anschluss an diesen Vorschlag sagen, dass eine solche anthroponome Selbstbestimmung des Begriffs vom Menschen „wahr“ ist? Oder handelt es sich lediglich um kontingente, konstruierte Aussagen über den Menschen? Oder besteht vielleicht kein Widerspruch zwischen diesen beiden Positionen, wenn man sie in einem bestimmten Sinne versteht? Oben wurde gezeigt, dass im quasi-demokratischen Deliberationsprozess Verständigung über „Signifikanzen“, über bedeutsame Aspekte stattfinden kann. Darüber hinaus gilt jedoch, dass Menschen zumindest anteilig in einem tatsächlichen Sinne das sind, als was sie sich bestimmen (Taylor 1971, s. o. Kapitel 4.2.). Der Selbstbegriff vom Menschen hat damit einen eigenwilligen Doppelstatus zwischen Realität und Idealität. Im Folgenden werde ich einige Anmerkungen dazu machen, wie – gemäß der hier vertretenen Position eines moderaten Realismus (vgl. auch Kapitel 15.1.) – die Wahrheit von Aussagen zur Selbstbestimmung des Menschen verstanden werden kann. Dabei vertrete ich eher einen pragmatistischen Ansatz. Wahrheit wäre dann nicht eine statische Eigenschaft bestimmter Sätze, sondern wahr wäre, was sich bewährt und Wahrheit wäre damit eine Eigenschaft, die einer Idee unter bestimmten Bedingungen zukommen kann. 84 Noch einmal mit den Worten Blumenbergs: Es geht um eine „vrit faire“ (Blumenberg 1960b, 25). In konsenstheoretischer Hinsicht habe ich zu zeigen versucht, dass die entwickelte Bestimmung des Begriffs „Mensch“ über die Zustimmung, die ihr zuteil werden kann, das Prädikat wahr (in konsenstheoretischer Hinsicht) verdient. In kohrenztheoretischer Hinsicht lässt sich zeigen, wie die vorgestellte Bestimmung des Begriffs „Mensch“ mit den Verwendungen des Wortes im Kontext natürlicher Sprachen übereinstimmt, insofern die Analyse des 83 Dennoch könnte man auch von einem „pragmatischen Essentialismus“ sprechen. 84 Treffend in diesem Zusammenhang die Formulierung von William James „Truth happens to an idea.“ ( James 1909, Einleitung).
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Begriffs darlegt, welche Komponente des Begriffs in bestimmten Situationen jeweils aktiviert ist. Im sachlichen Kontext natürlicher Sprachen und im moralischen Diskurs ermöglichen die angegebenen Bestimmungen des Begriffs „Mensch“ einen kohärenten Begriffsgebrauch, der durch die implizite Normativität einer Sprachgemeinsacht mitgeprägt wird (Nida-Rümelin, 2009; auch Nida-Rümelin 2001, Kapitel 6). Allerdings tritt in bestimmten Kontexten – etwa einem naturwissenschaftlichen Forschungskontext, der das Humangenom untersucht – jeweils eine bestimmte Komponente des Begriffs in den Vordergrund, so dass die Gefahr von Äquivokationen gegeben ist. Genau dieser Gefahr wollte ich mit meiner Analyse der verschiedenen Komponenten des Begriffs entgegenwirken, indem explizit angegeben wurde, wie der Inhalt des Begriffs in einem jeweiligen Kontext verstanden werden kann. Wie verhält es sich jedoch nun mit der adquationstheoretischen Bestimmung des Wahrheitswertes einer solchen Definition? Hier scheint eine Herausforderung zu liegen, insofern der Begriff nicht nur als Designator für etwas Bestehendes, sondern auch als regulative Idee für etwas Späteres fungieren kann. Der Begriff hat einen doppelten Status mit einem realistischen Gehalt bei gleichzeitiger Affinitt zum Ideal (vgl. Gerhardt 2006b, 114). Der realistische Gehalt kann adäquationstheoretisch als wahr bezeichnet werden, wenn die Sätze, die diesen Gehalt beschreiben, Aussagen darüber sind, was der Fall ist. Als Ideal aber kann der Begriff und seine Bestimmung nur dann wahr sein, wenn die Sätze, die die regulative Idee erläutern, adäquat das Ergebnis des quasi-demokratischen Konsenses beschreiben (in diesem Fall ist das Ergebnis des Konsenses die „res“, mit der der „intellectus“ übereinstimmen kann). Mit diesen Ausführungen habe ich einiges Material versammelt, mit dem zumindest in Grundzügen skizziert werden kann, welchen Wahrheitsanspruch ich für die hier dargelegte normativ-deskriptive Bestimmung des Begriffs Mensch für angemessen halte. Der Anspruch auf Wahrheit soll nämlich auch bei einer normativen anthropologischen Verständigung nicht aufgegeben werden.85 Allerdings darf Wahrheit nicht in dem direkt-realistischen Sinne verstanden werden, der einen externen und absoluten Standpunkt voraussetzen würde, um die Wahrheit anthropologischer Sätze zu bestimmen. Stattdessen kann auch die Wahrheit nur „anthroponom“, also gewissermaßen „von innen“ 85 Eine entsprechende Forderung erhebt Nida-Rümelin für die Demokratie, die ihrerseits nicht auf den – recht verstandenen – Wahrheitsanspruch verzichten dürfe (Nida-Rümelin 2006b, Kapitel 1). Vgl. auch Gerhardt 2007a, 75 – 78.
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oder „von selbst“ begründet werden. Sie ist dabei bezogen auf die unterschiedlichen Kontexte, innerhalb derer die (wahren oder falschen) Aussagen eine Rolle spielen können: dazu gehören einerseits die Sprachgemeinschaft, andererseits die damit verbundene Möglichkeit, auf die Umwelt und auf einander Bezug zu nehmen, sowie letztlich die gemeinsam geteilte Lebenswelt von Menschen. Die innerhalb dieser Kontexte begründeten Wahrheitsansprüche (in deskriptiver und normativer Hinsicht) sind fallibel und permanent Anlass für mögliche Revisionen. Dem epistimischen Optimismus, dass gemeinsame Verfahren zur Verständigung über Wahrheit und Signifikanz zur Verfügung stehen können, steht damit eine epistemische Bescheidenheit zur Seite, die die Fallibilität aller Aussagen betont. Diese moderate Einstellung gegenüber Wahrheit und Gewissheit (zu deren Erläuterung weitere Ausführungen nötig wären), hat Wittgenstein einmal in ein eindrückliches Bild gebannt. In ber Gewissheit erläutert er, wie Erfahrungssätze selbst die Grundlage und Orientierung für zukünftige Erfahrungen darstellen können und damit zu zumindest temporären und lokalen Fixpunkten werden, auf die weitere Erfahrungen aufbauen können. Damit werden aus der Erfahrung gewonnene Einsichten jedoch zu einer Voraussetzung und einem Grund für spätere Erfahrungen. Damit bricht Wittgenstein mit der vermeintlich klaren Unterscheidung zwischen apriorischen Voraussetzungen für empirische Erfahrungen und den empirischen Erfahrungen selbst. Wittgenstein veranschaulicht seine Konzeption mit einem Bild: Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und daß sich dieses Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden. / Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt. (Wittgenstein 1984, § 96 und 97)
Metaphern sind häufig überdeterminiert und auch diese Metaphorik lässt sich nicht vollständig „ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen“ (Blumenberg 1960b, 10). Dennoch veranschaulicht dieses Bild Wittgensteins mindestens drei Punkte, die für die hier dargelegte Konzeption der menschlichen Selbstverständigung vor dem Hintergrund der Enhancement-Debatte gelten sollen. 1. Die Sätze, die das menschliche Selbstverständnis in deskriptiver wie in normativer Hinsicht formulieren, „fließen“ – das heißt, sie müssen
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performativ geäußert werden. Die Verständigung ist damit prozesshaft und anthroponom: Sie ist abhängig von den Menschen, die kontinuierlich – in verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Umständen – Aussagen treffen. 2. Durch ihr Fließen beeinflussen die Sätze und Gedanken das Bett, innerhalb dessen sie fließen. Damit kann der ganze Fluss langsam „verschoben“ werden – das heißt, dass zwischen den Prozessen der Selbstverständigung und den Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Selbstverständigung stattfindet, Wechselwirkungen bestehen. Zum einen führen bestimmte bestehende Vorstellungen zu bestimmten Arten von Erfahrungen oder neuen Einsichten. Zum anderen gilt: Die Vorstellungen, die Menschen von sich selbst haben, verändern das Flussbett möglicherweise auch dadurch, dass die daraus resultierende (Enhancement-) Handlungen Veränderungen an den Handlungsbedingungen herbeiführen. Damit würde eine massive Art der Veränderung des „Flussbetts“ eingeführt, die die schon immer stattfindenden Wirkungen kultureller Verständigungen ergänzt. (Darin erkenne ich auch die oben erwähnte Einsicht Taylors, dass Menschen in einem eigentlichen Sinne das sind, als was sie sich verstehen.) 3. Die Grenzen zwischen den fließenden Gedanken und Aussagen und dem festen Flussbett sind selbst nicht trennscharf zu bestimmen. Aufgrund der Wechselwirkungen kann man in Einzelfällen nicht eindeutig bestimmen, ob etwas faktische Rahmenbedingung oder akute Aussage ist. Die eindeutige Unterscheidbarkeit zwischen vermeintlich feststehenden Fakten und vermeintlich kontingenten Meinungen wird damit in Frage gestellt. Wahrheit existiert nur im Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren, womit alle drei angesprochenen Wahrheitstheorien ihre Berechtigung haben. In einem direkt-realistischen Sinne ist die Wahrheit der anthropologischen Sätze nicht zu bestimmen. Es fehlt der dafür notwendige absolute Standpunkt. Die Wahrheit und Bedeutsamkeit der Aussagen resultiert vielmehr aus dem Zusammenstimmen der Meinungen, das von einer Sprechergemeinschaft auf der Grundlage der bestmöglichen faktischen Informiertheit hergestellt werden kann. Wenn Sätze wie die hier untersuchten deskriptiven und normativen Bestimmungen des Begriffs Mensch auf dieser Grundlage geäußert werden, sind sie in einem bestimmten Kontext bedeutsam und signifikant. Damit erreichen sie schon das Maximum dessen, was Menschen aufgrund des fehlenden externen und absoluten „view from nowhere“ an Wahrheit und Gewissheit zugänglich ist. Für meine Ausführungen würde ich daher beanspruchen,
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dass sie das Prädikat „wahr“ – im erläuterten Sinne – verdienen, so sehr Sätze es überhaupt können. Mit diesen Anmerkungen erweist sich das Fehlen einer robust-realistischen Wahrheitsrelation keineswegs als ein Mangel des hier vorgeschlagenen Verständnisses des Begriffs „Mensch“. Die hier vorgeschlagene Wahrheitskonzeption erlaubt es vielmehr, die Wahrheit des normativen Begriffs anhand seiner Funktionalität zu bestimmen. Wahr wäre in diesem Sinne ein deskriptiv-normativer Begriff vom Menschen dann, wenn er die Funktion normativer Sätze – das Zusammenleben von Menschen zu befördern – gut erfüllen kann.
18.2. Die Praktikabilität der quasi-demokratischen normativen Selbstbestimmung Ein weiterer Einwand gegen meinen Vorschlag liegt auf der Hand. Handelt es sich bei dem bislang vorgestellten nicht schlichtweg um einen schönen philosophischen Traum, eine Fiktion, die mit der Wirklichkeit nötiger Verständigungen angesichts konkreter Probleme gar nichts zu tun hat? Ich möchte im Folgenden eine Reihe von Argumenten anbieten, die zeigen sollen, warum auch ein philosophisches Ideal praktisch wirksam sein kann und wie eine philosophische Fiktion suboptimal, aber dafür real in der Wirklichkeit umgesetzt werden kann.
18.2.1. Bestimmung des Menschen als Aufgabe Eine entscheidende Hintergrundüberzeugung meines Entwurfs liegt darin, dass menschliche Entscheidungen und Bestimmungen von Bedeutung sind, dass es nicht gleichgültig ist, wie Individuen und Gruppen sich verstehen, auf welche Ziele sie sich verpflichten und welche Ideale sie anstreben. Es ist diese (humanistische) Überzeugung, für Entwicklungen und Zustände, für sich selbst und für andere verantwortlich zu sein, die einerseits in die autonome Selbstbestimmung des Menschen einfließt und die andererseits angesichts einer Eigendynamik von Wissenschaft und Technik Regelungen einfordert. Die systemimmanente Dynamik der Wissenschaft mit Blick auf Machbarkeit ist nicht in jedem Fall zu verurteilen. Es bedarf jedoch einer legitimierenden, bewussten Entscheidung dafür. Wenn diese übersprungen wird, handelt es sich bei der
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Bestimmung des Menschen nicht mehr um eine menschliche Bestimmung des Menschen, sondern um eine, die mit uns als Menschen wenig oder gar nichts mehr zu tun hat. Ein quasi-demokratischer Prozess der Selbstbestimmung erweist sich damit als eine permanente Aufgabe und nicht als ein kurzfristig von einer zu bestimmenden Institution oder einem einzurichtenden Gremium abschließbares Projekt.86 Er wird bestmöglich die Eigendynamik der Wissenschaft und der Machbarkeit darstellen und ihr kritisch ins Auge blicken. Die Frage, wer wir als Menschen sein sollen, wird jedoch nicht allein vor diesem Hintergrund beantwortet werden können. Wenn die Biotechnologien den Menschen als ein hier und dort zu höherer Leistung entwickelbares Wesen erkennen, ist damit nur eine Möglichkeit aufgezeigt, die der quasi-demokratischen Legitimation bedarf, bevor ihre Verwirklichung normativ unbedenklich oder gar geboten sein kann. Die Frage, wer wir als Menschen sein sollen, hängt unbedingt davon ab, wie Menschen sich darüber verständigen, was sie sein wollen.87 Die Antwort auf diese existentielle Frage „dem System“, den Naturwissenschaften, herrschenden Eliten oder religiösen Gruppen zu überlassen, ohne den entscheidenden Anteil der – idealiter – von allen Menschen einzubringenden Selbstbestimmung einzufordern, degradiert Menschen gewissermaßen von Subjekten zu bloßen Objekten. Der Verständigungsprozess, als kontinuierliche Aufgabe verstanden, hat daher auch nicht die abschließende und endgültige Bestimmung des Menschen zum Ziel. Es wird sich vielmehr allenfalls eine Reihe von 86 „It is completely unthinkable to delegate ethical responsibility for biotechnology to a single authority such as a political or legislative body. Rather, we need people, including those who are doing the research, to bring an ethical sensibility and corresponding responsibility to help create actively the field of ethical responsibility.“ (Nida-Rümelin 2007, 132). 87 Dabei ist auch ausreichend Raum für einen nicht verbindlich zu regelnden Bereich individueller Präferenzen freizuhalten, der nicht die elementare anthropologische Dimension betrifft. Die zwischen den verschiedenen Bestimmungen des Menschen bestehenden Spannungen lassen sich mit den Spannungen zwischen verschiedenen Lebensformen – verstanden als Bündel von Präferenzen, Handlungsdispositionen und Problemlösungsstrategien – parallelisieren und vergleichen (vgl. dazu Dewey 1922 und Jaeggi, i.Ersch.). In beiden Fällen ist von einem anhaltenden Wettstreit auszugehen, der nicht durch die Auszeichnung einer einzigen Bestimmung des Menschen oder einer einzigen menschlichen Lebensform zum Abschluss gebracht werden wird. Damit ist aber der experimentelle Charakter des menschlichen Lebens deutlich angezeigt: Die Bedingungen seines Gelingens sind nicht statisch festschreibbar.
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lokalen Übereinstimmungen erreichen lassen, die ihrerseits in Deliberationsprozessen gegenüber den lokalen Übereinstimmungen, die andernorts gewonnen wurden, abgewogen und gegebenenfalls erneut verhandelt werden müssen. Damit vermute ich, dass eine Bestimmung des normativen Begriffs vom Menschen eine schrittweise Veränderung erfahren kann, die auf neue Einsichten der Wissenschaften, auf geänderte Prioritäten und auch auf Veränderungen der menschlichen Lebensform in kultureller und biologischer Hinsicht angemessen zu reagieren in der Lage ist. Die Selbstbestimmung von Menschen ist damit nicht nur im individuellen Sinne, sondern auch im kollektiven Sinne für uns als Menschen eine kontinuierliche Aufgabe, die allerdings auf den Ergebnissen historisch früherer Übereinkünfte aufbauen kann.
18.2.2. Formen quasi-demokratischer Selbstbestimmung Der „quasi-demokratische“ Prozess der Genese von Normativität entspricht dabei einem Ideal, einer philosophischen Fiktion, auch wenn er – suboptimal – immer dann realisiert wird, wenn mehrere Menschen sich trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen über einen gemeinsamen Begriff vom Menschen zu verständigen suchen. Die konkrete Realisierbarkeit dieses idealtypischen Prozesses im Vollsinne ist keine notwendige Voraussetzung dafür, dieser Fiktion als Wunsch- oder Vorbild philosophisch etwas abgewinnen zu können. Auch punktuelle, lokale und schrittweise Verständigung kann dabei als reale Instantiierung des Ideals angesehen werden. Damit können erstens auch ganz alltägliche, nicht-akademisch-philosophische Diskussionen unter den Anspruch des Ideals fallen. Immer wenn Menschen sich mit der Frage nach dem Menschen auseinandersetzen, gilt der Anspruch, es auf eine „öffentliche“, gleichberechtigte, partizipative, ergebnisoffene und Konsens nicht vorab ausschließende Art und Weise zu tun. Besonders werden solche Dialoge in krisenhaften Problemsituation oder in „Grenzsituationen“ eingefordert: Wenn – etwa angesichts eines ethischen Dilemmas – eine fundamentale Unsicherheit darüber herrscht, welche Überzeugungen in einer bestimmten Situation einschlägig und handlungsleitend sein sollen, treten als ultima ratio häufig anthropologische Überlegungen und mit ihnen die Notwendigkeit einer anthropologischen Selbstverständigung hervor. Während zahlreiche ethische Konflikte weniger stark auf die Frage nach dem Menschen verweisen –
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etwa, ob ich eine Fahrkarte für meine U-Bahn-Fahrt lösen soll oder ob ich zur Wahl gehen oder ein gegebenes Versprechen halten soll –, rufen andere diese Frage deutlicher auf den Plan: Haben alle Menschen gleiche Rechte, etwa mein Nachbar ebenso wie ich? Ist vielleicht Euthanasie oder Sterbehilfe im Fall eines schwer erkrankten Familienmitglieds geboten? Sind biotechnologische Veränderungen des menschlichen Organismus erlaubt, darf mein Arbeitskollege also Neuroenhancer einsetzen? 88 Anthropologische Argumente fungieren dort, wo sie aufgerufen werden, häufig auch als Seismograph für fundamentale Irritationen. Viele Probleme lassen sich mit einer „Alltagsmoral“ lösen, wie sie – ohne das geringzuschätzen – etwa in der Prinzipienethik eine Form gefunden hat (vgl. Kapitel 11.3.). Wenn jedoch in Diskussionen, in denen anthropologische Intuitionen herausgefordert werden, etwa allein unter Berufung auf die Prinzipienethik argumentiert wird, erscheint das angesichts des Gewichts des Problems asymmetrisch oder inkommensurabel. Damit wird auch in zahlreichen konkreten Grenzsituationen – wie sie etwa in klinischen Ethikkomitees, aber auch angesichts schwerer Erkrankungen oder angesichts der globalen Ungerechtigkeit auf der Welt sichtbar werden – Bedarf an einer anthropologischen Verständigung hervorgerufen. Die beschriebene quasi-demokratische Deliberation ist auch hier eine orientierungsgebende regulative Idee, selbst wenn in den realen Diskurs per definitionem nicht alle, deren Stimme mit Recht gehört werden sollte, persönlich einbezogen werden können. Damit wird in der realen Situation aber vielmehr die Verpflichtung deutlich, auch an Stelle der Abwesenden zu denken und die Stimme der anderen nicht zu ignorieren, nur weil sie konkret nicht anwesend sind. Zweitens können auch die juristischen Definitions- und Kodifizierungsversuche – national wie international – über den Begriff des Menschen, seine fundamentalen Rechte und gar seine „Würde“ als Teil dieses idealen Diskurses angesehen werden. Internationalen Organisationen kommt dabei eine besondere Rolle zu, da sie als Organe konzipiert sind, die für eine große Gruppe von Menschen, idealerweise für die Menschheit, sprechen und nicht die Interessen eines kleinen Teils von ihnen vertreten sollen. Der politische Diskurs ist jedoch wesentlich von der eingeforderten Praktikabilität und Wirksamkeit geprägt. Das heißt, dass hier der erschließende Diskurs alsbald in einen abschließenden 88 Konkret stellt sich diese Frage etwa behandelnden Ärzten, Individuen, die ihrerseits Enhancementeingriffe für sich erwägen sowie Vertretern des Gesundheitssystems oder politischer Institutionen.
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Diskurs überführt werden muss. Die Rede von der Menschenwürde und fundamentalen Menschenrechten wird – als positives Recht verstanden – aufgrund der nicht hinreichend erschlossenen Begründung und aufgrund des stark konstruktiven Charakters bisweilen auch als eine „noble lie“ angesehen: Die Menschenrechte existieren nicht in einem robust-realistischen Sinne, aber ihnen wird gleichwohl Wahrheit und Realität zugesprochen, damit sie wirksam sind. Die pragmatische Wirksamkeit der juristischen Verständigungsprozesse über den Menschen zeigt ihre Bedeutung an.89 Ein dritter Ort sind publizistische und integrative Bemühungen um Verständigung über den Begriff „Mensch“, die nicht ausschließlich von einer – etwa juristischen – Funktionselite abgehalten werden. In öffentlichen Veranstaltungen und leicht zugänglichen Büchern kann die Frage nach dem menschlichen Selbstverständnis gestellt und diskutiert werden, womit eine Vielzahl von Antworten diejenigen, die die Diskussionen verfolgen, geradezu zu einer weiteren, eigenen Antwort nötigt. Auch hiermit wird der Deliberationsprozess nur fortgeführt und nicht abgeschlossen.90 Viertens, ein Argument pro domo, kann in einem gelingenden philosophischen Dialog vielleicht besonders gut über die Frage nach dem Menschen verhandelt werden. Ein solcher Dialog zeichnet sich keineswegs dadurch aus, dass er von Berufsphilosophen geführt wird. Genauso wenig zeichnet er sich dadurch aus, dass er schnell zu einem abschließenden Konsens kommen wird. Vielmehr ist es die Ergebnisoffenheit auf der Basis wechselseitigen sachbezogenen Interesses, wechselseitiger Information und gegenseitiger argumentativer Einbindung, die einen gelungenen Dialog ermöglicht, der auch auf Veränderungen reagieren kann.
89 Neben der Menschenrechts-Debatte – vgl. etwa Griffin 2008 – erscheint mir hier auch der Ansatz des Cosmopolitanism von Bedeutung zu sein, der nach Wegen einer universellen Verständigung über moralische Normen für das Zusammenleben verschiedenartiger Individuen in einer Welt sucht, wobei allen Individuen ein politisch-normativer Status als „Bürger der Welt“ zugesprochen wird (vgl. etwa Appiah 2007). 90 Vgl. zum Begriff des Menschen etwa auch die zahlreichen Versuche in Ganten et al. 2008. Eine weitere, dialogbetonte Einführung in die Enhancement-Debatte findet sich in Heilinger/Christen 2010.
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18.2.3. Erschließende vs. abschließende Verständigung Die verschiedenen Situationen, in denen über den normativen Gehalt des Begriffs „Mensch“ diskutiert wird, lassen sich in erschließende und abschließende Diskurse untergliedern. Im Vorhergehenden klang diese Unterscheidung bereits mehrfach an. In Gesetzgebungsprozessen und angesichts einer unmittelbar bevorstehenden und unausweichlichen Handlung muss nach einem abschließenden Ergebnis gesucht werden, auch wenn dieses nicht vollständig begründet werden kann und möglicherweise später revidiert oder gar widerrufen wird. Der philosophische Diskurs dagegen, wie er als Ideal für die zahlreichen möglichen realen Verständigungen über den Begriff eingeführt wurde, steht nicht unter dem Druck, ein abschließendes Ergebnis zu entwickeln. Hier geht es vielmehr darum, erschließend tätig zu sein und den Begriff in seinen Facetten zu beleuchten und zu verstehen und damit die Grundlagen für eine mögliche normative Auszeichnung des Begriffs zu präsentieren und zu sichern. Die Funktion philosophischen Nachdenkens über die Frage nach dem Menschen liegt damit in einer kontinuierlichen Verständigung über einen Begriff, der nicht etwas Statisches bezeichnet, sondern dessen Aufgabe darin besteht, auf treffende Weise das Signifikante an einem changierenden Etwas festzuhalten.
18.2.4. Fünf Einschränkungen des idealen Diskurses: ein realistischeres Modell Damit ein solcher idealtypischer quasi-demokratischer Verständigungsprozess nicht allein als philosophische Fiktion besteht, müssen Wege aufgezeigt werden, wie er unter den genannten realen Bedingungen aussehen könnte. Es ist schließlich wenig hilfreich, allein in einem idealen Diskurs die Grundlage für Verständigung zu sehen, der nur die besten Argumente gelten lässt, Zeit- und Ressourcenknappheit ausschließt und Unterschiede zwischen den Teilnehmern am Verständigungsprozess etwa hinsichtlich der intellektuellen und rhetorischen Fähigkeiten, ihrer Machtpositionen etc. nicht anerkennt. Erst wenn auch unter realen Bedingungen (vgl. Nida-Rümelin 2001, Kapitel 6) ein Beitrag zur Verständigung möglich ist, ist mit dem hier vorgeschlagenen Verfahren etwas gewonnen. Im Anschluss an verschiedene Kritiken der idealtypischen und bisweilen weltfremd erscheinenden fundationalistische Diskursethik (vgl. Steinhoff 2006), die die oben genannten realen Bedingungen eigens
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ausklammern möchte, möchte ich fünf Hinweise zur realen Konkretisierung des ideal konzipierten Verständigungsprozesses geben (vgl. Höffe 2009). Erstens, Verständigung kann nur in einem konkreten Rahmen angestrebt werden. Eine Verständigung aller Menschen ist nicht möglich. Das heißt konkret, dass sich Menschen zusammenfinden, um über ein Problem zu diskutieren. Im vorliegenden Fall werden sich mehrere Menschen der Frage zuwenden, wie der normative Gehalt des Begriffs „Mensch“ bestimmt werden kann. Nach Möglichkeit und nach bestem Wissen sollen dabei die Vertreter unterschiedlicher Positionen zusammengeführt werden. Das gemeinsame Interesse, das die Personen zusammenführt, besteht dabei darin zu prüfen, ob sich sinnvollerweise in dem Begriff Mensch ein normativer Gehalt finden lässt und ob daraus bestimmte Handlungsanweisungen etwa für den Umgang mit biotechnologischen Enhancern generiert werden können. Dabei könnte etwa eine Situation eintreten, wie sie im dritten Teil vorliegender Arbeit exemplifiziert wurde. Dort mussten die Einseitigkeiten der jeweiligen (extremen) Positionen kritisiert werden. Zusammengenommen und aneinander abgeglichen könnte aber Verständigung stattfinden, die über das Konstatieren von Dissens hinausgehend zu einem minimalen Begriff vom Menschen führt, der als erster, zunächst vielleicht lediglich lokaler Konsens weitergehenden Diskussionen zugrunde gelegt werden könnte. Zweitens, nicht jeder kann unter jeden Bedingungen mit jedem anderen an einem konstruktiven Diskurs teilnehmen. Selbst wenn prinzipiell jeder Mensch eine Stimme im Verständigungsprozess haben soll (beziehungsweise stellvertretend die Interessen aller repräsentiert sein sollen), gibt es unabdingbare Voraussetzungen für die Teilnahme an einem Gespräch, das die Chance auf das Erreichen wenigstens eines temporären Zwischenergebnisses haben soll. Grundlegende intellektuelle Fähigkeiten der Teilnehmer müssen gegeben sein, um die interindividuelle Verständigung zu ermöglichen. Es müssen die Regeln der Öffentlichkeit berücksichtigt werden, das heißt, dass Aufrichtigkeit dominieren muss, die das Ausüben von Zwang, geheimen Absichten und gewaltsamen Druck sanktioniert. Mir scheint, dass auch die von John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit angenommene Bedingung „rationaler Akteure mit Eigeninteresse“ zu kurz greift. Es bedarf darüber hinaus der Bereitschaft, überhaupt an einem (normativen) Diskurs teilnehmen zu wollen, die nicht allein durch das rationale Eigeninteresse erklärt werden kann.
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Es ist ein Faktum, dass Verständigung schon dann scheitern muss, wenn nur eine Seite nicht gewillt ist, eine mögliche andere Seite zu verstehen. Auch das strategische Ausspielen von eigener Stärke etwa kann einen sachorientierten Diskurs unmöglich machen. Mir scheint, dass aufgrund dieser Bedingung viele reale Diskurse weit davon entfernt sind, sich einem idealen Diskurs auch nur anzunähern. Und dennoch gibt es zahlreiche Situationen, in denen redlich diskutiert, nach Konsens gesucht und um Wahrheit gerungen wird, ohne dass Vorentscheidungen strategisch mit allen Mitteln durchgesetzt werden sollen. Drittens, sachliche, wertneutrale und verständlich aufbereitete Expertise soll in den Verständigungsprozess eingebracht werden. Angesichts der Verständigung über einen normativen Gehalt des Begriffs „Mensch“ kann gegenwärtig nicht darauf verzichtet werden, den Forschungsstand der Naturwissenschaften vom Menschen zur Kenntnis zu nehmen. In meinem Modell gebe ich den Naturwissenschaften und ihren Erkenntnissen über die menschliche Lebensform in den ersten beiden Komponenten einigen Raum. Das soll erlauben, mögliche Fortschritte im biologischen Wissen über den Menschen so in den normativ relevanten Bereich einfließen zu lassen, dass dieser auf der Grundlage des besten zur Verfügung stehenden empirischen Wissens basiert. Viertens, die zeitlichen Ressourcen der argumentativen Auseinandersetzung mit den jeweiligen Positionen und Intuitionen bis zum Erreichen eines möglichst stabilen Überlegungsgleichgewichts sind begrenzt. Das heißt, dass mit Blick auf ein zumindest vorläufiges und handhabbares Ergebnis die Debatten nicht unbegrenzt geführt werden können. In einer pessimistischen Formulierung könnte daraus folgen, dass niemals ein abschließendes Ergebnis erreicht werden wird. Optimistischer betrachtet kann man von erreichbaren Zwischenergebnissen reden, deren Gültigkeit lokal und temporal beschränkt ist. Ewige Resultate sind aber aufgrund der konstatierten Veränderbarkeit des Menschen und seiner Selbstbestimmung ohnehin nicht erstrebenswert. Fnftens, um schließlich etwas Tragfähiges und tatsächlich Orientierunggebendes an die Hand zu bekommen, muss der erschließende Diskurs angesichts der Zeit- und Ressourcenknappheit sowie angesichts des Handlungsbedarfs an einer bestimmten Stelle in einen vorläufig abschließenden Diskurs überführt werden. Ich habe mit meinem Komponentenmodell der Analyse des Begriffs „Mensch“ einen Vorschlag für einen gegenwärtigen, regulativen Idealbegriff gemacht, der aber nicht unumstößlich, sondern lediglich ein mögliches Zwischenergebnis eines solchen Verständigungsprozesses ist. Auch wenn starke Gründe dafür
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sprechen, in der Selbstbestimmungsfähigkeit das zentrale Merkmal eines normativen Begriffs vom Menschen zu sehen, muss diese Position nicht unangefochten bleiben. Doch mir scheint, dass damit für die unterschiedlichen am Diskurs beteiligten Parteien eine minimale gemeinsame Basis gefunden sein kann, die anschlussfähig ist und für die gilt, dass man sich darauf einigen kann, diesen Kernbestand der humanen Lebensform angesichts der gegenwärtigen möglichen Entscheidungen und Handlungsoptionen zu bewahren. Mit diesen fünf Konkretisierungen sollten Hinweise gegeben werden, wie der ideale Diskurs auch unter realen Bedingungen stattfinden und gelingen kann.
18.3. Kollektiver Irrtum Nietzsche hat – in der Genealogie der Moral – mit seiner Forderung nach einer „Herrenmoral“, die auf der Einsicht der Wenigen, der Philosophen und der freien Geister beruht, eine strikte Ablehnung des hier vorgeschlagenen quasi-demokratischen Verständigungsvorgangs zum Ausdruck gebracht (Nietzsche 1887, Teil I). Seiner Meinung nach führt ein solcher Prozess der Moralgenese dazu, dass aufgrund von Mehrheitsmeinungen die falschen Werte Geltung bekommen. Ein Argument gegen meinen Vorschlag lässt sich also im Anschluss an Nietzsche als Befürchtung formulieren, dass quasi-demokratische Verständigung grundsätzlich in die Irre führen kann, weil „die Masse“ sich auf für sie vorteilhafte Sicherung von Privilegien beschränken würde, die tatsächlichen Fortschritt verunmöglichen würde und jeder Form von Exzellenz, Stärke und Macht nivellierende und einschränkende Grenzen setze. Eine zweite, weniger scharfe Fassung dieses Einwands geht von der Möglichkeit aus, dass „die Menge“ sich schlichtweg täuschen und einer irrigen Meinung anhängen könnte und darin miteinander übereinstimmt. Aus dieser Perspektive führen gemeinschaftliche Verständigungen im besten Fall dazu, dass das Mittelmaß als Norm gilt und dadurch Exzellenz verhindert wird, im schlimmsten Fall führt es dazu, dass eine irrige Verkehrung der wahrhaften Werte stattfindet und – so Nietzsches Befürchtung – damit gerade das Schwache und Unvollkommene als moralisches Vorbild eingesetzt wird. Diesen Einwand muss man in beiden Formen – 1. der unlauteren, absichtsvollen Verweigerung wie 2. der Beschränktheit der Vielen – ernst nehmen, da es möglich ist und offenkundig immer wieder vorkommt,
18.3. Kollektiver Irrtum
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dass eine Menge einer irrigen Annahme anhängt. Beide Formen dieses Einwands bedürfen einer eigenen Antwort. 1. Eine unlautere Absicht, die die Suche nach aufrichtigem Konsens zu verhindern sucht, liegt dann vor, wenn bestehende Privilegien oder Vorteile auf Kosten anderer konserviert werden sollen, anstatt mithilfe des quasi-demokratischen Diskurses nach dem moralisch richtigen Umgang mit einem Problem zu suchen. Ein Beispiel dafür wären Rechtfertigungsdiskurse zur Sklaverei, die unter bestimmten Umständen auch durch einem quasi-demokratischen Konsens legitimiert sein könnten, wenn sich nur eine hinreichend große Mehrheit dafür gefunden hat. Dieser möglichen gesellschaftlichen Dynamik kann durch eine Gestaltung der Umstände abgeholfen werden, wenn die oben genannten Bedingungen – Öffentlichkeit der Rede, wechselseitige Information, Partizipation aller Individuen – eingehalten werden, die jedem eine gleichermaßen gewichtige Stimme geben. Es besteht bei optimistischer Betrachtung Hoffnung, dass sich unter diesen Bedingungen auf Dauer das bessere Argument durchsetzen kann und dass Unlauterkeit nicht fortbestehen kann – auch wenn es in der Wirklichkeit dafür Zeit braucht und nur allmählich voran geht. Diesem Optimismus muss daher eine realistische Einschätzung zur Seite gestellt werden: Wenn nämlich jemand oder eine Gruppe sich der gemeinsamen Suche nach Verständigung entziehen will, lediglich strategisch argumentiert und vielleicht auch noch Machtmittel zur Hand hat, die die Erfüllung der genannten Bedingungen verhindern kann, besteht keine Chance, zu einem begründeten Konsens zu gelangen. Nur die Tatsache, dass keiner – auch kein Tyrann – unsterblich ist, lässt dann noch Hoffnung auf Veränderung zu. 2. Die zweite Form des Einwands geht davon aus, dass ein Individuum eine bedeutende Einsicht hatte, die aber keiner in „der Menge“ hören oder verstehen kann oder will (Nietzsche selbst hat sich wohl in dieser Lage gesehen). Damit würde – so der Einwand – die quasi-demokratische Verständigung weiterhin den Irrtum perpetuieren, anstatt die Durchsetzung der neu gewonnenen Wahrheit zu befördern. Zunächst muss auch hier ausgeschlossen werden, dass die Bereitschaft und Fähigkeit der Vielen, das neue (alternative) Argument zu hören, aufgrund von strategischen Interventionen Einzelner fehlen. Als ernsthafte Herausforderung für meine Position durch die zweite Fassung des Einwandes muss jedoch die Möglichkeit eines quasi-demokratischen Verständigungsprozesses gegeben sein. Was wäre also, wenn die genannten Bedingungen – Öffentlichkeit, wechselseitige Information etc. – erfüllt wären, es darüber hinaus am guten Willen der Vielen gegenüber
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18. Einwnde gegen meinen Vorschlag
dem Individuum nicht fehlte und dennoch weder Verständigung erreicht würde noch ein Dialog in Gang käme? Eine solche Situation ist nur schwer vorstellbar. Wenn es etwa um ein gemeinsames Problem geht – wie etwa die begriffliche Selbstauslegung von Menschen oder die Frage, ob man einander versklaven darf – scheint mir ausreichend gemeinsamer Grund zu bestehen, zumindest in einen Austausch über das Problem einzusteigen. Dennoch ist eine Situation vorstellbar, in der eine wichtige moralische Einsicht Einzelner auf „unfruchtbaren Boden“ (bei Vielen) fällt, ohne deswegen „falsch“ sein zu müssen. Dabei können die faktisch unterschiedlichen Lebensumstände von Menschen das Verständnis für eine moralische Einsicht verhindern: Denken wir an die konkreten Lebensumstände einer Gruppe von Individuen, die gegenüber extremen externen Bedrohungen nur als Gemeinschaft ihr Überleben sichern kann. Oder an Menschen, die in ihrem Alltag damit beschäftigt sein müssen, auf Müllkippen nach Nahrung zu suchen, um zu überleben. In diesen Fällen könnte selbst unter den soeben dargelegten optimalen Bedingungen ein vehementer und anschaulich vorgetragener Appell für Selbstbestimmung und Autonomie fruchtlos bleiben, da in der Lebenswelt der betreffenden Menschen das Konzept der Autonomie – im Sinne von selbstbestimmter Lebensführung – völlig fremd und auch ihrer Lebenswirklichkeit unangemessen ist. Die Umstände, unter denen manche Menschen ihr Leben führen, kann den Appell an Autonomie als unangebracht, geradezu zynisch erscheinen lassen. Ich habe absichtlich die starke Formulierung „fremd und unangemessen“ gewählt, um den möglichen Kontrast zwischen moralischen Normen und einer gegebenen Lebenswelt hervorzuheben. Man hätte auch wohlwollender nach Wegen suchen können, die Autonomie unter den geschilderten Bedingungen hervorzuheben. Doch nur mit diesem Kontrast tritt eine wichtige Einsicht hervor: Dass normative Wahrheiten nicht unabhängig von den Kontexten bestehen können. Nicht alle moralischen Wahrheiten gelten unter allen möglichen Bedingungen. Sogar das normative Ideal der Autonomie ist in manchen Fällen unpassend und darf daher nicht „verabsolutiert“ werden. Schließlich ist eine absolute Einsicht solange uninteressant und belanglos, wie sie sich nicht auf konkrete Konflikte im menschlichen (Zusammen-) Leben beziehen lässt. Damit wird deutlich, wie dem Einwand zu begegnen ist, dass „die Masse“ möglicherweise unter bestimmten Umständen nicht in der Lage sein könnte, durch einen quasi-demokratischen Prozess die Wahrheit und normative Signifikanz moralischer Normen, wie etwa der Auto-
18.4. Anthroponome Anthropologie
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nomie, zu erkennen. Wenn der Einzelne, der die Einsicht in die Relevanz der Autonomie gewonnen hat, mit seinen unter optimalen Bedingungen geführten Reden dauerhaft auf taube Ohren trifft, verhält er sich inkonsistent, da er den Bezug der betreffenden Norm zur Lebenswelt „der Vielen“ verkennt. Wenn es sich aber um ein Problem handelt, dass für die Vielen von Bedeutung ist und wenn der Einzelne sich der gemeinsamen Sprache bedient, in der auch „die Vielen“ ihre Probleme formulieren und verstehen können, besteht auch hier meines Erachtens Anlass für eine optimistische Einstellung: Dass das Unverständnis nicht auf Dauer fortbestehen wird, sondern allmählich und schrittweise die Relevanz einer moralischen Einsicht auch auf quasi-demokratische Weise nachvollzogen und begründet werden kann. Moralische Wahrheit muss und kann sich entfalten, und zwar innerhalb eines konkreten Rahmens mit konkreten Problemen (nicht in einer absoluten Dimension) und innerhalb einer Gemeinschaft von miteinander interagierenden Sprechenden.
18.4. Anthroponome Anthropologie Ein letzter Einwand, den ich diskutieren möchte, fragt kritisch, ob das hier Vorgestellte tatsächlich noch zur „philosophischen Anthropologie“ gehört und ob die entwickelten Argumente (zur Einschätzung von Human Enhancements) tatsächlich als „anthropologische“ Argumente im herkömmlichen Sinne bezeichnet werden können. Schließlich spielen primär quasi-demokratische Verständigungsprozesse – und nicht anthropologische Spekulationen über die biologische Sonderstellung oder essentielle Eigenschaften von Menschen – eine Rolle bei der Begründung der anthropologisch genannten Bedingungen. Die beiden „anthropologischen Bedingungen“ (Kapitel 17.2.) für legitime Enhancements ihrerseits stehen einerseits in einer offenkundigen Nähe zu Autonomiekonzepten, wie sie etwa auch im Rahmen der Prinzipienethik oder der Kantischen Ethik betont werden (B1), und greifen andererseits Gerechtigkeitstheorien im Anschluss an Rawls auf (B2). Stattdessen fehlen ausgreifende Beschreibungen der spezifisch menschlichen Verkörperung, Morphologie, Erlebnisdimension etc., die ansonsten im Rahmen der philosophischen Anthropologie dominieren. Tatsächlich nehme ich Elemente der „klassischen Philosophischen Anthropologie“ etwa von Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen (Fischer 2008) allenfalls als Ausgangspunkt für die hier versuchte Auseinandersetzung mit einer ethischen Problematik, die nach einer zu-
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18. Einwnde gegen meinen Vorschlag
gleich deskriptiven und normativen Anthropologie verlangt: Daher betone ich die Normativität des menschlichen Selbstverständnisses in besonderem Maße. Damit aber verschiebt sich die anthropologische Grundfrage „Was ist der Mensch?“ zu der Frage „Was soll der Mensch sein?“ Als Antwort auf die reformulierte anthropologische Grundfrage wurden signifikante Eigenschaften und Dispositionen der menschlichen Lebensform genannt, die in der Möglichkeit der Hervorbringung von Normativität und Selbstbestimmung kulminieren. Angesichts dieser Auszeichnung traten die spezifischen biologischen Bedingungen in den Hintergrund, da die Autonomiefähigkeit zumindest grundsätzlich auch auf eine andere als die gegenwärtige biologische Art und Weise realisiert werden könnte. Zu einer gegenwärtigen Verhältnissen angemessenen Bestimmung dessen, was der Mensch sein soll, ist es also nötig, weiter zu denken und sich nicht innerhalb der Grenzen des bislang Vorgefundenen zu beschränken. Statt nach essentialistischen Festschreibungen zu suchen, muss eine Methode entwickelt werden, wie – angesichts des hier vertretenen moderaten Realismus (Kapitel 15.1. und 18.1.) – eine deskriptive und normative Bestimmung des Menschen möglichst gut begründet werden kann. Dafür bleibt kein anderer Weg, als der hier vorgeschlagene einer möglichst gut informierten quasi-demokratischen Verständigung, den ich anthroponom genannt habe. Damit aber ist deutlich geworden, dass es sich bei dem hier entwickelten Vorschlag um Anthropologie handelt – um anthroponome Anthropologie –, die sich der Frage nach der angemessenen Bestimmung des menschlichen Selbstverständnisses in deskriptiver und normativer Hinsicht zuwendet. Wenn sich im Rahmen dieser anthroponomen Anthropologie Konvergenzen zu alternativen ethischen Theorien ergeben, muss das kein Manko sein. Im Gegenteil ist es ja gerade das Ziel, die Möglichkeiten für einen Konsens über Normen – etwa Autonomie und Gerechtigkeit – auszuloten. Dennoch bestehen offenkundige Unterschiede zwischen der hier entwickelten anthropologischen Begründung der Relevanz von Autonomie und Gerechtigkeit und alternativen Konzeptionen wie etwa der Kantischen Ethik, der Prinzipienethik oder Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, die hier zumindest kurz angesprochen werden sollen. Kant leitet die Relevanz der Autonomie aus der Eigenständigkeit der Vernunft her, die dem Menschen zugänglich ist, weil er ein Bewohner zweier Welten – der Sinnen- und der Vernunftwelt – ist. Damit recht-
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fertigt er die Bedeutung der Autonomie um den Preis eines impliziten Dualismus, den ich vermeiden möchte. Die in bioethischen Diskussionen dominierende Prinzipienethik ihrerseits betont zwar auch die Relevanz von Autonomie und Gerechtigkeit, begründet diese als deskriptive Ethik aber allenfalls aufgrund der faktischen Verbreitung ihrer Anerkennung in bestimmten Kulturkreisen. Auch wenn sich somit Übereinstimmungen zwischen der Prinzipienethik und meinem Vorschlag einer anthroponomen Begründung ergeben, basieren diese auf völlig unterschiedlichen Voraussetzungen. Rawls Theorie der Gerechtigkeit ihrerseits begründet die Regeln der Fairness auf der Grundlage eines Gedankenexperiments, in dem rationale und aufgeklärte Akteure ihre Eigeninteressen vertreten. Dabei klammert Rawls viele Gruppen von Individuen aus dem Verständigungsprozess aus (vgl. etwa die Kritik an Rawls durch Nussbaum 2006). Außerdem setzt Rawls’ Vorschlag ideale Bedingungen voraus und beschreibt lediglich ein gewissermaßen transzendentales Ideal, anstatt komparativ die schrittweise Annäherung daran unter nicht-idealen Bedingungen zu thematisieren (vgl. dazu die Kritik von Sen 2009). Im Gegensatz zu Rawls bin ich der Überzeugung, dass diese Beschränkung auf rational ihre Eigeninteressen verwirklichende Individuen zu kurz greift, um einen begründeten und umfassenden Konsens über Regeln und Normen zu erzeugen. Ohne die grundsätzliche Bereitschaft der Anerkennung von seinesgleichen (auch wenn sie einem auf den ersten Blick wenig gleichen) und ihre Einbeziehung in den Entscheidungsprozess (zumindest über Stellvertreter), bleibt dieser Prozess, der immer nur schrittweise eine Anpassung erlaubt, einseitig und unvollständig. Trotz dieser unterschiedlichen Begründung – anthropologisch-inklusiv in meinem Fall, rational und vom Eigeninteresse her bei Rawls – besteht Übereinstimmung hinsichtlich der gefolgerten Aufforderung, bei Handlungen darauf zu achten, dass sie bestehende Ungerechtigkeiten nicht vergrößern. Die Konvergenz mit alternativen Begründungen ist damit eher als ein Beleg für die Signifikanz und Wahrheit91 der normativen Bestimmungen anzusehen und nicht als ein Manko fehlender Unterscheidbarkeit. Mein Entwurf versucht, eine zukunftsfähige philosophische Anthropologie vorzubereiten, die integrativ verfährt, dabei auch auf Veränderungen reagieren kann und dennoch Menschliches nicht verloren gibt. 91 Im oben bestimmten Sinne, vgl. Kapitel 15.1. und 18.1.
19. Die Anwendung anthropologischer Argumente Abschließend werde ich zeigen, wie auf der Grundlage anthropologischer Argumente eine Einschätzung konkreter Enhancement-Techniken möglich ist. Angesichts der Vielfalt möglicher Interventionen und angesichts des extremen Reichtums an Beispielen innerhalb der Debatte kann ich nur exemplarisch einige Anwendungen betrachten, die jeweils auch nicht erschöpfend und unter umfassender Berücksichtigung der bestehenden Forschungsliteratur diskutiert werden können. Doch auch eine exemplarische Betrachtung zeigt wichtige Einsichten, insbesondere dass die anthropologische Dimension der Bewertung nicht allein eine umfassende Bewertung möglicher Enhancement-Eingriffe liefern kann. Vielmehr besteht eine Hierarchie von Bewertungskriterien, in der die anthropologische Bewertung die in den bioethischen Debatten etablierten Kriterien – Risikobedenken, Gerechtigkeitsüberlegungen und Autonomieerwägungen (im Sinne des informed consent), wie sie etwa im Rahmen der Prinzipienethik beschrieben sind – ergnzt. Anthropologische Argumente erscheinen als relativ permissiv und in den meisten Fällen lässt sich eine mögliche Verurteilung von Enhancement-Eingriffen daher nicht unter Berufung auf anthropologische Argumente begründen. Risiko- und Gerechtigkeitsüberlegungen dominieren im alltäglichen Diskurs, der auf der Meso-Ebene bleibt und wenig Raum für fundamentale Fragen lässt, die Debatten. Lediglich im Fall extrem weitreichender Enhancements92 lässt sich, sollten die zunächst genannten Kriterien die Handlung als unproblematisch bewerten, auf der Grundlage anthropologischer Argumente eine Ablehnung der Anwendung begründen. Die anthropologische Bewertung einer bestimmten EnhancementPraxis ergibt sich aus einem Abgleich der Handlung, der Handlungsmotivation oder der erwarteten Handlungsfolge mit dem normativ gehaltvollen Begriff vom Menschen. Positiv bewertete Handlungen erweisen sich aus anthropologischer Sicht als strukturell kohärent mit dem 92 In Kapitel 8 hatte ich Enhancements minimal definiert und lediglich die weitreichenden Enhancements als konstitutiven Gegenstand der aktuellen Enhancement-Debatte bestimmt. Was unter „extrem“ weitreichenden Enhancements zu verstehen ist, wird in diesem Kapitel deutlich.
19. Die Anwendung anthropologischer Argumente
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normativen Selbstverständnis des Menschen, wie es zuvor in einem quasidemokratischen Verständigungsprozess entwickelt wurde. Solche Handlungen können mit einer als erhaltenswert angesehenen Struktur in Übereinstimmung gebracht werden. Die Auszeichnung einer erhaltenswerten Struktur erlaubt es darüber hinaus, bestimmte Handlungsoptionen als strukturgefährdend abzulehnen. In Kapitel 17.2. wurden auf der Grundlage von vier Komponenten der anthropologischen Selbstbestimmung zwei Bedingungen entwickelt, die von moralisch legitimen Enhancements erfüllt werden müssen. B1 forderte, dass die Selbstbestimmungsfähigkeit von Menschen und ihre Voraussetzungen durch Enhancements nicht gefährdert werden dürfen, B2 forderte, dass Ungerechtigkeiten durch den Einsatz von Enhancements nicht vergrößert werden dürften.93 Im Folgenden werden diese beiden Bedingungen exemplifiziert: Während die ersten beiden Beispiele die erste Bedingung erläutern, wird im dritten Beispiel – unter der Annahme, dass B1 erfüllt ist – die Bedingung B2 verdeutlicht. Die Beispiele decken die drei oben eingeführten Klassen biotechnologischer Interventionen ab und berühren unterschiedliche der signifikanten Komponenten. Im ersten Beispiel (19.1.) – Lebensverlängerung etwa durch genetische Eingriffe (2.2.) – wird für weit reichende Enhancements eine mögliche Gefährdung der Selbstbestimmungsfähigkeit identifiziert (K4). Damit kann auf der entwickelten anthropologischen Grundlage eine negative Einschätzung dieser Eingriffe vorgenommen werden. Das zweite Beispiel (19.2.) kommt für weit reichende Sinneserweiterungen, etwa durch Technisierungen des menschlichen Organismus (2.1.), ebenfalls zu einer negativen Einschätzung, da damit die Möglichkeit für Individuen, einander als seinesgleichen anzusehen und sich in „einer Welt“ gemeinsam auf etwas und auf einander beziehen zu können, gefährdet wird (K2). Im dritten Beispiel (19.3.) werden biologische Prozessoptimierungen (2.3.), etwa der kognitiven Leistungsfähigkeit durch sogenannte Cognitive Enhancer, diskutiert. Dabei wird deutlich, dass Vorteile, die Individuen durch den Einsatz von Enhancements gewinnen, wenn sie nicht in Widerspruch zu den vier signifikanten Komponenten stehen, nicht nur zum eigenen Vorteil eingesetzt werden dürfen, sondern
93 Die Betonung von Selbstbestimmung und Gerechtigkeit verweist auf inhaltliche Konvergenz zu alternativen ethischen Theorien, die im Rahmen der angewandten Ethik verbreitet sind. Dennoch basiert mein Modell auf einer eigenen, anthropologischen Grundlage (vgl. dazu Kapitel 18.4.).
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19. Die Anwendung anthropologischer Argumente
eine gesteigerte Verpflichtung mit sich bringen, die erworbenen Vorteile auch anderen Individuen zugänglich zu machen.94 Die hier vorgeschlagene anthropologische Anreicherung in der Enhancement-Debatte soll die anderen Ebenen der Diskussion nicht ersetzen, sondern vervollständigen. Ausschlaggebend sind anthropologische Argumente nur in wenig realistischen extremen Szenarios. In der Realität werden die Überlegungen, die etwa von der Prinzipienethik vorgebracht werden, den Ausschlag bei einer ethischen Evaluation geben. Ihre Relevanz gewinnen die anthropologischen Elemente dadurch, dass sie die Verbindung zu der nicht lediglich punktuell ansetzenden, sondern umfassenden Frage der Selbstbestimmung von Menschen als Menschen beitragen und diesen Aspekt der Enhancement-Debatte deutlich hervortreten lassen.
19.1. Lebensverlängerung Die diversen „Anti-Aging-Technologien“ versprechen, auf der Grundlage genauerer Kenntnisse des Humangenoms und der genetisch mitbestimmten Prozesse im menschlichen Organismus, die gesunde Lebensspanne von Menschen deutlich verlängern zu können. Es geht ausdrücklich nicht darum, das Leben von Menschen um jeden Preis zu verlängern, entscheidend ist vielmehr, dass die gesunde, selbstbestimmte und aktive Lebensspanne verlängert werden soll. Im Folgenden werden zunächst einige „klassische“ Argumente der Debatte vorgestellt, bevor sie um die spezifisch anthropologische Perspektive ergänzt werden.95
94 An anderer Stelle habe ich exemplarisch thematisiert diskutiert, wie eine Verengung der menschlichen Orientierungsbedürftigkeit (K3) durch Festlegung auf bestimmte Handlungsoptionen in anthropologischer Hinsicht als Einschränkung der Selbstbestimmungsfähigkeit (B1) problematisch ist (Heilinger 2009). Der Vollständigkeit halber hätte sich ein weiteres Beispiel der Beschränkung der ersten Komponenten – der Lebendigkeit – widmen können: Wie ist die Möglichkeit zu bewerten, bewusste zustände auf nicht-biologische Hardware hochzuladen (mind-uploading)? 95 Zur Diskussion um die ethische Legitimität von Lebensverlängerung mithilfe biotechnologischer Eingriffe vgl. etwa Heilinger/Christen 2010, Teil 1; Knell/ Weber 2009; Juengst et al. 2003; President’s Council 2003, 159 – 202; FeeserLichterfeld et al. 2007 informiert auch über die verschiedenen Alternstheorien und möglichen Interventionsstrategien zur Verlangsamung des Alterungsprozesses.
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Risiko. Die Risikoerwägungen in diesem Zusammenhang sind offenkundig: Geht die verlängerte Lebensspanne tatsächlich mit einem „gesunden“ Zustand einher – oder ist ein Preis für die quantitative Verlängerung des Lebens zu zahlen, etwa Einbuße an Lebensqualität oder höhere Anfälligkeit für bestimmte Erkrankungen? Manche Nebenwirkungen könnten sich unter Umständen auch erst langfristig zeigen: Eingriffe in das Erbgut werden vererbt, so dass manche negative Auswirkungen erst nach einigen Generationen in Erscheinung treten könnten. Wenn aber erst einmal solche Veränderungen in einer Population verbreitet sind, ist es zu einem späteren Zeitpunkt schwierig, diese wieder rückgängig zu machen, um die möglichen negativen Konsequenzen einzuschränken. Ein negatives Szenario könnte etwa darin bestehen, dass sich nach einigen Generationen herausstellt, dass die solcherart behandelten Menschen zwar länger leben, aber unfruchtbar sind oder eine hohe Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten entwickeln. Es ist schwierig, solche Risiken genau einzuschätzen und mit den erwarteten Vorteilen abzuwägen. Bei Risiken handelt es sich ja per definitionem um mögliche negativ bewertete Folgen, die nicht notwendigerweise eintreten. In vielen Fällen fehlt schlichtweg das nötige Wissen darüber, wie solche Wahrscheinlichkeiten beim Eingreifen in hyperkomplexe Systeme berechnet werden sollen. Somit müssen in Risikoabwägungen, die kontrafaktische Konditionale abwägen, immer auch prudentielle Erwägungen einfließen. Angesichts der möglichen Wirkmächtigkeit biotechnologischer Eingriffe ist überdies auch die Möglichkeit des größten möglichen Unfalls immer in die Überlegungen einzubeziehen. Gerechtigkeit. Gerechtigkeitsüberlegungen spielen im Kontext möglicher Verlängerungen der gesunden Lebensspanne eine wichtige Rolle. Sind solche Eingriffe nicht ohnehin nur finanziell äußerst privilegierten Menschen vorbehalten? Wer wird es sich leisten können, über einen genetischen Eingriff sein Leben ausdehnen zu können? Vermutlich nur diejenigen, die über besondere Ressourcen verfügen und denen schon jetzt mehr Chancen zukommen als allen anderen. Von einer gerechten Verteilung der Anti-Aging-Interventionen kann nicht ausgegangen werden, wenn es sich um ein Angebot auf einem freien Markt handeln wird. Vielmehr muss befürchtet werden, dass die schon jetzt signifikant unterschiedliche Lebenserwartung privilegierter und unterprivilegierter Menschen noch weiter auseinanderdriftet. Enhancements werden also, wenn sie auf einem freien Markt angeboten werden und damit nur den
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19. Die Anwendung anthropologischer Argumente
privilegierten Menschen zur Verfügung stehen, zu einer Verschärfung der ungerechten Verteilung führen. Dagegen wird häufig eingewendet, dass bei den meisten neuen Technologien zunächst eine Phase der knappen Verfügbarkeit bestehe. Nach einiger Zeit, in der die Technologie ausreift und schließlich kostengünstiger zur Verfügung gestellt werden kann, werden die Eingriffe auch einer breiteren Bevölkerung zugänglich. Damit verringere sich wieder die lediglich temporär bestehende Kluft zwischen denjenigen, die Zugang zu den Technologien haben, und denjenigen, die keinen Zugang dazu haben; allerdings auf einem neuen, höheren Niveau. Es ist unmöglich, jede neue Entwicklung umgehend allen Menschen zur Verfügung zu stellen. Aber – nach einer anfänglichen Phase der Knappheit – wäre es heutzutage zumindest prinzipiell möglich, allen Menschen dieser Erde Zugang etwa zu Antibiotika oder bestimmten Impfstoffen zu gewährleisten, da die Herstellung dieser Mittel nach einiger Zeit kostengünstig geworden ist. Mit Blick auf die Generationengerechtigkeit wird bisweilen außerdem ein „gerontokratisches“ Szenario vorgestellt. Wenn „die Alten“ immer länger leben würden, würden sie auch weiterhin ihre Berufe ausüben wollen und damit „die Jungen“ in ihren Entwicklungschancen beschneiden. Wenn es außerdem einen immer größeren Anteil alter Menschen in der Gesellschaft gäbe, wären damit auch die Interessen der Älteren in einem demokratischen Entscheidungsprozess deutlich stärker vertreten, so dass eine angemessene Befriedigung der Interessen der Jüngeren unmöglich würde. Angesichts solcher Szenarien treten viele Befürchtungen, Ängste und Stereotype in Erscheinung. Eine sachliche Bewertung der tatsächlichen Auswirkungen von Veränderungen ist jedoch schwer vorzunehmen. Da Veränderungen sich vermutlich allmählich vollziehen würden, da also nicht plötzlich alle Menschen 200 oder 500 Jahre alt werden würden, könnten auch hier die nötigen gesellschaftlichen Entwicklungen graduell verlaufen und würden damit Raum für einen Prozess vielfältiger Anpassungen an eine eventuell verlängerte Lebensspanne schaffen. Darüber hinaus wäre eine schrittweise Verlängerung der Lebenserwartung keine Neuigkeit, da die durchschnittliche Lebenserwartung nach aktuellem Kenntnisstand bis jetzt immer gewachsen ist.96 96 Vgl. dazu die Angaben des Rostocker Zentrums für demographischen Wandel: „Die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt hat sich in Deutschland seit 1871/1880 mehr als verdoppelt: bei den Männern von 35,6 auf 75,9 Jahre in
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Das Gerechtigkeitsproblem zeigt sich in globaler Perspektive verschärft, denn es sind nicht nur innerhalb jeweils abgeschlossener Gesellschaften Abwägungen nötig, wie schwer eine (temporäre) Ungleichverteilung knapper Ressourcen wiegen soll. Das Argument, dass – beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland – eine bestimmte Behandlung (Anti-Aging durch Verringerung der Anfälligkeit für Zellveränderungen, die zum Tod des Organismus führen) längerfristig allen Bürgern zur Verfügung gestellt werden kann, greift in globaler Perspektive nicht. In der Bundesrepublik besteht schon jetzt zumindest eine medizinische Grundversorgung, die jeder Mensch im Lande in Anspruch nehmen kann. Global betrachtet fehlt aber sehr vielen Menschen sogar die minimale Grundversorgung, die ihr Überleben sichern könnte. Solange so viele Menschen an vermeidbaren Übeln vorzeitig sterben, so lautet der gerechtigkeitstheoretische Einwand aus globaler Perspektive, ist es moralisch nicht zu rechtfertigen, denjenigen, denen es ohnehin am besten geht (den Bewohnern der reicheren Länder), zusätzliche Vorteile zu verschaffen (durch Enhancements wie Anti-Aging-Therapien), anstatt zunächst zumindest dafür zu sorgen, dass alle Menschen dieser Erde eine basale Gesundheitsvorsorge und den Zugang zu den grundlegenden Überlebensmitteln erhalten. Die Debatten über die Verteilung knapper Ressourcen werden durch die Möglichkeit zu Enhancements gewissermaßen verschärft gestellt, da es sich dabei offenkundig um Luxusgüter handelt, für die begrenzte Ressourcen aufgewendet werden müssen. Andererseits könnte man, wenn man Enhancements als Luxusgüter versteht, diese mit anderen Luxusgütern auf eine Ebene stellen. Ist es etwa vertretbar, eine teure Opernkarte zu erwerben, wenn mit dem Geld das Überleben von fünf Menschen gesichert werden könnte? Ist es vertretbar, teures Mineralwasser aus Flaschen zu trinken, wenn in der westlichen Welt Leitungswasser genauso gut ist und man das Geld für bessere Zwecke und vorrangige Ziele ausgeben könnte? Die entscheidende Frage im Hintergrund ist dabei immer, welche Verpflichtungen Menschen gegenüber anderen Menschen haben – auch 2002/2004, bei den Frauen im gleichen Zeitraum von 38,5 auf 81,6 Jahre. Dies entspricht einem Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung von fast vier Monaten pro Jahr. Die Anzahl der über Hundertjährigen ist seit 1960 rapide gestiegen. Gab es damals in Westdeutschland noch weniger als zwei Personen dieser Altersgruppe je einer Million Einwohner, waren es 1980 bereits mehr als 12 und 2000 sogar über 82 Personen.“ http://www.zdwa.de/zdwa/artikel/index_dateien/index_04W3DnavidW2666.php (letzter Zugriff: 1. April 2010).
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wenn sie einander nicht kennen. Jede Verständigung darüber, wie knappe Güter verteilt werden sollen, setzt eine Auseinandersetzung mit dieser Frage voraus, für die geklärt werden muss, welchen Status und welche berechtigten Ansprüche wir Menschen als Menschen zusprechen wollen. Damit tritt die Notwendigkeit einer expliziten normativen Verständigung über den Menschen im Rahmen der etablierten Gerechtigkeitsabwägungen hervor, wenn es darum geht, die moralische Legitimität von Maßnahmen zur Verlängerung der gesunden Lebensspanne zu bewerten.97 Autonomie. Ein weiterer wichtiger Punkt einer ethischen Einschätzung der Legitimität von Enhancements zur Verlängerung der gesunden Lebensspanne besteht darin, die Freiwilligkeit einer Entscheidung für bestimmte Eingriffe zu sichern (informed consent). Auf den ersten Blick wird man sagen können, dass immer dann, wenn eine solche Entscheidung für einen Eingriff nicht unter Zwang, sondern selbstbestimmt stattgefunden hat, keine Einwände aus dieser Perspektive bestehen. Allerdings sind auch hier grundsätzliche Bedenken angebracht. So ist es keineswegs immer eindeutig, dass eine Entscheidung für – aber auch gegen – eine Verlängerung des Lebens tatsächlich autonom getroffen wurde. Wie die Gegner der Sterbehilfe betonen, muss vermieden werden, dass subtiler gesellschaftlicher Druck entsteht, „sozialverträglich früh abzuleben“, wie es einmal unglücklich formuliert wurde. Andererseits kann auch im Falle von Lebensverlängerung eine Entscheidung für bestimmte Behandlungen durch (subtilen) gesellschaftlichen Druck hervorgerufen werden. Wenn man kritisch betrachtet, an welchen Stellen schon jetzt für eine mögliche Verlängerung der gesunden Lebensspanne geworben wird, gewinnt man leicht den Eindruck, dass künstlich Bedürfnisse geweckt werden und Ängste gefördert werden, um letztlich finanziellen Profit zu generieren (vgl. die Werbung für Anti-Aging- und Life-Extension-Methoden im Internet). Mit Blick auf die tatsächliche Situation in der Gegenwart, in der eine Verlängerung der gesunden Lebensspanne mit biotechnologischen Mitteln verkauft werden soll, sind daher Zweifel an der Autonomie der Entscheidung für den Einsatz nicht unangebracht.
97 Den in dieser Arbeit dominierenden Fokus auf das Individuum bei der normativdeskriptiven Bestimmung von Menschen möchte ich zukünftig – an anderer Stelle – um eine Untersuchung der Verbindungen und wechselseitigen Verpflichtungen, die zwischen den Individuuen bestehen, ergänzen.
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Über diese Überlegungen hinausgehend, kann auch gefragt werden, ob es überhaupt eine wohl begründete Entscheidung für eine weit reichende Verlängerung der gesunden Lebensspanne mit biotechnologischen Mitteln geben kann. Zwar ist es grundsätzlich erlaubt und oft geboten, menschliches Leben zu erhalten. Eine Vielzahl anerkannter Institutionen – wie etwa Krankenhäuser aber auch Verkehrserziehung – zielen darauf ab, menschliches Leben möglichst nicht frühzeitig enden zu lassen. Resultiert aber daraus auch das positive Handlungsgebot, die Dauer des Lebens intentional zu verlängern, anstatt nur ein verfrühtes Ableben zu verhindern? Diese Frage wird hier nicht abschließend beantwortet. Auch die bisher angerissenen Argumente würden einer vertieften Diskussion bedürfen. Ich diskutiere hier stattdessen aus anthropologischer Perspektive verschiedene Dimensionen der Lebensverlängerung – solche, die das Leben um 20, 200 oder 500 und mehr Jahre verlängern. Dabei frage ich, ob sich aus anthropologischer Perspektive Gegenargumente finden lassen, die solche Eingriffe verurteilen, oder ob sie als erlaubt gelten können. Anthropologie. Ist es mit dem oben entwickelten normativen Begriff vom Menschen vereinbar, mithilfe der Biotechnologien die gesunde Lebenszeit von Menschen zu verlängern, oder treten auf der entwickelten anthropologischen Grundlage moralische Probleme zum Vorschein? Die Antwort fällt aus meiner Sicht eindeutig aus. Geht man die signifikanten Komponenten durch, die den Begriff vom Menschen auszeichnen – die Lebendigkeit, eine bestimmte Form der Verkörperung und geistigen Aktivität, die Orientierungsbedürftigkeit und die Fähigkeit zur Selbstbestimmung –, so besteht zunächst kein Grund für die Annahme, dass diese Struktur durch eine Verlängerung der Dauer ihrer Existenz gefährdet werden würde. Wenn keine Zweifel daran bestünden, dass bestimmte Technologien das Ziel einer schrittweisen Verlängerung der gesunden Lebensspanne erreichen – wenn also ausgeschlossen wäre, dass die behandelten Organismen bestimmte Krankheiten entwickeln oder insgesamt unfruchtbar werden würden und damit den Fortbestand von Menschen insgesamt gefährden –, wäre aus anthropologischer Perspektive eine Verlängerung der Lebensspanne als unproblematisch zu bewerten und damit erlaubt. Darüber hinaus kann gefragt werden, ob eine solche Intervention vielleicht sogar auch geboten ist. Mir scheint, dass das in Maßen der Fall ist. Wenn wir davon ausgehen, dass ein menschliches Leben normativ wertvoll ist – und genau darauf lief ja die Verständigung über einen normativ gehaltvollen Begriff vom Menschen hinaus –, dann ist auch eine
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Ausdehnung seiner Dauer prinzipiell geboten. Wenn der letztlich immer unvermeidliche Tod eines Individuums verzçgert werden kann, indem vermeidbare begrenzende Faktoren eliminiert werden, ist auch eine biotechnologische Intervention zur Verlangsamung des Alterungsprozesses prinzipiell mit Sicherheitsvorkehrungen im Straßenverkehr und Verkehrserziehung vergleichbar: Beide menschliche Aktivitäten dienen dazu, ein individuelles menschliches Leben über einen längeren Zeitraum zu ermöglichen. Diesen Erläuterungen muss eine Einschränkung an die Seite gestellt werden. Zwar handelt es sich bei der „Lebendigkeit“, insbesondere bei der gesunden und selbstbestimmten menschlichen Lebendigkeit, um ein transzendentales Gut, das die Voraussetzung für viele andere Güter darstellt. Dennoch gilt, mit den Worten Schillers: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht“.98 Selbst wenn es aus anthropologischer Perspektive als moralisch geboten erscheint, Leben zu erhalten und dazu unter Umständen auch biotechnologische Interventionen zu nutzen, ist damit nicht gesagt, dass diese Bemühungen höchste Priorität haben und größte Anstrengungen unternommen werden sollen, um mithilfe von biotechnologischen Mitteln die gesunde Lebensspanne von Menschen nachhaltig zu verlängern. Nicht allein die quantitative Ausdehnung und die Optimierung eines menschlichen Lebens ist die entscheidende Aufgabe, vielmehr geht es darum, unter möglichst optimalen Bedingungen ein gelingendes Leben zu ermöglichen. Dazu können mithilfe der Biotechnologien günstige Rahmenbedingungen zur Verfügung gestellt werden, eine rein quantitative Optimierung dieser Bedingungen bedeutet aber nicht unbedingt ein gelungenes Leben. Damit erfährt die anthropologische Unbedenklichkeit damit eine Einschränkung, die in Form einer Theorie des guten Lebens weiter konkretisiert werden müsste. Die anthropologische Unbedenklichkeit gilt für alle quantitativen Verlängerungen der menschlichen Lebensspanne, wie sie derzeit als möglich erscheinen: Eine Verlängerung um 20, oder 50 Jahre, aber auch um 100 Jahre stellt, wie bereits gesagt, keine grundsätzliche Herausforderung für das anthropologische regulative Ideal dar. Allerdings lässt sich dafür argumentieren, dass eine massive (zum Beispiel über 500 Jahre) oder gar unendliche Ausdehnung der Lebensspanne (wenn sie denn möglich wäre) mit der regulativen Idee in Konflikt geraten würde. Als ein integraler, signifikanter Bestandteil der regulativen Idee wurde die Fähigkeit 98 Schlussverse des Chors in Schillers Braut von Messina.
19.1. Lebensverlängerung
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der autonomen Selbstbestimmung ausgewiesen. Dazu gehört die Tatsache, dass Menschen Entscheidungen treffen. Entscheidungen sind jedoch gerade deshalb nötig und bedeutsam, weil jedem Menschen nur eine begrenzte Menge von Zeit zur Verfügung steht, die Entscheidungen allererst nötig macht. Würde daher die menschliche Lebensspanne plötzlich sehr stark ausgedehnt, würde die Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen, geschwächt. Angesichts der plötzlich zur Verfügung stehenden Zeit könnte so die menschliche Fähigkeit zur Selbstbestimmung eingeschränkt werden: Wenn prinzipiell jede Entscheidung lange oder sogar unendlich lange aufgeschoben werden kann, jede Handlung auch zu einem späteren Zeitpunkt ausgeübt werden kann, wenn es keinerlei Notwendigkeit gibt, angesichts der Endlichkeit der menschlichen Lebensspanne das Leben zu fhren, entsteht eine entscheidende Abweichung von der regulativen Idee des autonomen, handlungsfähigen Menschen.99 Eine solche Diagnose würde dann in einem ersten Schritt die betreffende Intervention aus anthropologischen Gründen für unmoralisch erklären, würde jedoch in einem zweiten Schritt eine Herausforderung des Ideals bedeuten, dessen quasi-demokratische Begründung erneut kritisch geprüft werden müsste. Dabei könnte sich erweisen, dass der problematische Aspekt einer deutlichen Verlängerung weniger darin liegt, dass das menschliche Leben länger wird. Problematisch ist vielmehr die schnelle Verlängerung der menschlichen Lebensspanne. Erst mit einer solchen, plötzlichen Verlängerung entsteht das Problem, dass die individuelle Handlungsplanung aufgrund einer massiven Verlängerung der zur Verfügung stehenden Zeit gestört wird. Warum sollte ich mich anstrengen, zügig ein bestimmtes Ziel zu erreichen, wenn mir auf einmal ein Vielfaches an Lebenszeit zur Verfügung steht? Dieser Einwand setzt voraus, dass Lebensplanungen und das Setzen von Zielen immer in einem zumindest grob bestimmten Rahmen vorgenommen werden. Für uns gegenwärtige Menschen in der westlichen Welt mag diese bei ca. 80 Jahren liegen. Da sich aber die durchschnittliche Lebenserwartung in den letzten einhundert Jahren verdoppelt hat, ohne dass damit ein Verlust der Lebensplanung oder ein Erliegen autonomer Handlungsimpulse verbunden wäre, wird deutlich, dass graduelle Verlängerungen der Lebenserwartung unproblematisch sind. Während plötzliche Vervielfachungen der Lebenserwartung den befürchteten ir99 Dieses Argument entwickelt Bernard Williams in seiner Diskussion der „Sache Makropoulos“ (Williams 1973).
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19. Die Anwendung anthropologischer Argumente
ritierenden Effekt haben könnten, ist bei einer graduellen Anpassung nicht damit zu rechnen. Wenn – wovon auszugehen ist – mögliche Verlängerungen der gesunden und aktiven Lebensspanne nicht in Schritten von Jahrhunderten, sondern in Schritten von wenigen Jahren bis Jahrzehnten vorgenommen werden, besteht ausreichend Zeit, eine Anpassung der individuellen Lebensplanungen an die verlängerte Lebenserwartung vorzunehmen. Damit stellt das dynamische Modell der Bestimmung der Normativität anthropologischer Argumente ein Werkzeug zur Verfügung, Veränderungen der menschlichen Lebensform bei einer allmählichen und konzeptuell einholbaren Veränderungsgeschwindigkeit in das normative Konzept zu integrieren. Bisweilen wird sich auf der Grundlage anthropologischer Argumente ein Aufruf zur „Deakzeleration“, zur Verlangsamung von Entwicklungen begründen lassen. Statische Festschreibungen auf einen wie auch immer gearteten status quo allerdings sind keine notwendige Folge anthropologischer Argumente. Lediglich bei einer extremen Ausdehnung der menschlichen Lebensspanne zeigt sich also eine Handlungsoption, die in Widerspruch zur regulativen Idee steht, die ansonsten allmähliche Verlängerungen des Lebens – zumindest im Rahmen dessen, was in den kommenden Jahrzehnten technisch wahrscheinlich ist – als unbedenklich ausweist. Geringfügigere und schrittweise Verlängerungen der Lebensdauer, wie sie aller Voraussicht nach in der Zukunft möglich sein werden, stellen keine Bedrohung der oben entwickelten regulativen Idee dar. In diesen moderateren Fällen werden daher die anthropologischen Argumente die ethischen Debatten nicht dominieren, sondern nur im Hintergrund der anderen genannten Deliberationen eine untergeordnete Rolle spielen.
19.2. Technisierungen des menschlichen Organismus: das Hinzufügen neuer Sinne Einige biotechnische Enhancements versprechen Menschen eine Erweiterung und Verbesserung ihrer Sinne, ja sogar, dass gänzlich neue Sinne erworben werden könnten. Unter „Sinn“ verstehe ich hier verschiedene Wahrnehmungsarten oder Sinnesmodalitäten. Zur intentionalen Veränderung der menschlichen Wahrnehmung werden technische Geräte mit dem Organismus verbunden oder Veränderungen des Organismus vorgenommen. Diese gehen über externe Hilfsmittel wie etwa
19.2. Das Hinzufügen neuer Sinne
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Ferngläser oder Hörrohre hinaus. Mithilfe von Brain-Machine-Interfaces soll es etwa möglich werden, das visuelle Spektrum in den UV-Bereich zu erweitern, oder Ultraschall hören zu können. Auch neue sinnliche Fähigkeiten – wie sie etwa ein kompassähnliches, körperliches Gefühl der Raumorientierung oder „Nordung“ hervorruft (Nagel et al. 2005) – können durch biotechnologische Enhancements auf der Grundlage der brain plasticity generiert werden. Die Diskussion der ethischen Legitimität dieser großen Gruppe von Enhancement-Technologien verläuft weitgehend analog zu den im Rahmen der Lebensverlängerung diskutierten Aspekten der (nicht anthropologisch begründeten) Risikoabwägung, Gerechtigkeitsüberlegungen und Freiwilligkeitserwägungen. Unerwünschte Nebenwirkungen, Ungleichheiten oder Zwänge können mit dem Einsatz solcher Technologien einhergehen. Sieht man einmal von diesen Erwägungen ab, ist dann aus anthropologischer Hinsicht den ethischen Debatten etwas hinzuzufügen? Es wurde gezeigt, dass ein direkter Hinweis darauf, dass diese Veränderungen der „Natur“ des Menschen entgegenstünden, in moralischer Hinsicht nicht ausreicht, um eine kritische Einschätzung einer Intervention zu begründen. Daher ist auch hier, um das anthropologische Argument auf ein möglichst sicheres Fundament zu stellen, ein Abgleich mit der oben entwickelten regulativen Idee nötig. Wie im soeben diskutierten Fall der Lebensverlängerung zeigen sich aus anthropologischer Perspektive Einwände erst bei einem massiven Einsatz bestimmter Technologien. Veränderungen der sinnlichen Wahrnehmung oder das Hinzufügen zusätzlicher „sinnlicher Fähigkeiten“ rufen nicht notwendigerweise einen Konflikt mit dem normativen Begriff vom Menschen hervor. Selbst wenn einige oder viele Menschen in der Lage wären, mithilfe von Implantaten zusätzliche Bereiche des Lichtspektrums wahrzunehmen oder wenn ihnen durch eine Modifikation der Geruchsnerven ein breiteres olfaktorisches Erleben ermöglicht würde, bestünde kein Grund für die Annahme, dass sie nicht mehr unter den normativen Begriff vom Menschen fielen. Menschliche Individuen mit einem zusätzlichen Sinn wären immer noch lebendige, verkörperte Wesen, deren sinnliche Wahrnehmung zwar teilweise verändert wäre, die aber immer noch den gemeinsamen Bezug auf eine Welt erlauben würde. Auch die fundamentale Orientierungsbedürftigkeit und die Selbstbestimmungsfähigkeit würden durch das Hinzufügen eines zusätzlichen Sinnes nicht gestört.
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19. Die Anwendung anthropologischer Argumente
Damit realisiert auch ein in den sinnlichen Kompetenzen veränderter Mensch die signifikanten Komponenten der regulativen Idee. Allerdings zeigt sich auch hier ein graduelles Problem: Die Fähigkeit, sich als unterschiedliche Individuen gemeinsam auf eine Welt beziehen zu können, ist eine wichtige Komponente eines normativen Begriffs vom Menschen (K2). Über die Art und Weise, wie Menschen sich gemeinsam auf eine gemeinsam geteilte Welt beziehen können, wird auch die Möglichkeit aufrechterhalten, andere als seinesgleichen von solchen Individuen zu unterscheiden, die einem nicht gleichen. Menschen und Fledermäuse etwa unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer organischen Ausstattung und ihrer äußerlichen Erscheinung, sondern auch – und vor allem – hinsichtlich der „Wirklichkeiten, in denen sie leben“ (Blumenberg). Damit besteht aber auch die Möglichkeit, dass bei einer massiven und nachhaltigen Erweiterung und Veränderung des Sinnesspektrums von menschlichen Individuen ab einer näher zu bestimmenden Grenze keine gemeinsam mit den nicht-veränderten Individuen geteilte Welt mehr existiert. Stark veränderte Wesen könnten die Wirklichkeit derartig anders erleben, dass ein gemeinsamer Bezug oder eine geteilte Aufmerksamkeit auf Ereignisse und Dinge unmöglich wird. In diesem Fall erweist sich unter Berufung auf anthropologische Argumente die massive Anwendung von Sinnesmodifikationen als moralisch problematisch, weil die signifikante Eigenschaft, dass Menschen aufgrund ihrer Verkörperung innerhalb einer Welt aufeinander als ihresgleichen Bezug nehmen können, zerstört wäre. Doch liefert die anthropologische Basis erst dann ein tragfähiges Fundament für Argumente gegen biotechnologische Erweiterungen, wenn der Einsatz sehr weitreichend ist. Das Hinzufügen einer einzelnen sinnlichen Fähigkeit (Nachtsicht, Ultraschall-Hören, verkörperte kompassartige Orientierung etc.) steht der Möglichkeit der gemeinsamen Subsumtion unter den normativen Begriff vom Menschen oder dem gemeinsamen Bezug auf eine Welt nicht mehr entgegen, als es individuelle Unterschiede hinsichtlich anderer Fähigkeiten (etwa mathematischer, musikalischer oder rationaler; oder unterschiedlicher Sinneskompetenzen wie absolutes Gehör, Farbenblindheit etc.) tun. Selbst wenn ein ethischer Einwand auf der anthropologischen Basis erst dann tragfähig wird, wenn tatsächlich weitreichende Enhancements anstehen, kann sich unter Berufung auf einen normativen Begriff vom Menschen unter Umständen auch schon früher, gewissermaßen präventiv, eine Einschränkung von Enhancements begründen lassen. So könnte man aus anthropologischer Perspektive argumentieren, dass an-
19.2. Das Hinzufügen neuer Sinne
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gesichts der Möglichkeit, den gemeinsamen Bezug auf die Wirklichkeit zu gefährden, manche technologischen Erweiterungen des menschlichen Sinnesspektrums nicht vorgenommen werden sollten. Im Rahmen des hier vorgeschlagenen Verfahrens der quasi-demokratischen Verständigung über eine regulative Idee wäre das angemessene Vorgehen daraufhin eine genauere Bestimmung der betreffenden körperlichen Eigenschaften des Menschen, deren Veränderung aus dem Angebotskatalog möglicher Enhancements ausgeschlossen werden müsste. Das oben vorgeschlagene Verfahren einer positiven Bestimmung signifikanter normativer Kriterien bekäme dann eine Negativ-Liste an die Seite gestellt. Menschen wären dann signifikant etwa dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht dazu in der Lage sind, im Dunkeln sehen zu können oder dass sie über keine verkörperte kompassähnliche Orientierung verfügen. Das Beispiel zeigt eine wichtige Funktion anthropologischer Argumente an. Das Nachdenken über zukünftige Entwicklungen findet immer aus der Perspektive einer jeweiligen Gegenwart statt, in der bestimmte Eigenschaften gewohnt und selbstverständlich akzeptiert sind, andere dagegen als ungewohnt mit größerer Skepsis betrachtet werden. Ein regulativer Begriff vom Menschen umfasst solche normativen Bestimmungen menschlicher Eigenschaften und argumentiert daher zumindest tendenziell „konservativ“. Unter Berufung auf ein konsensuelles Verständnis vom Menschen sind massive und schlagartige Veränderungen nicht zu rechtfertigen. Veränderung ist allerdings ein beständiges Merkmal der menschlichen Entwicklung. Im Rückblick auf die Geschichte der Entwicklung der menschlichen Lebensform zeigt sich deutlich, dass viele der Fähigkeiten und Techniken, die gegenwärtig ein alltäglicher Bestandteil des menschlichen Lebens sind, noch jeweils wenige Jahrzehnte vor ihrer Realisierung gänzlich undenkbar waren oder dass mit ihrer Einführung das Ende der gewohnten menschlichen Lebensform vorhergesagt wurde (z. B. moderne Telekommunikationsmittel, die das menschliche Verhalten nachhaltig beeinflussen). Berufungen auf einen normativen Begriff vom Menschen haben in dieser Hinsicht häufig eine wichtige Funktion, können allein jedoch kein tragfähiges Fundament für moralisch stichhaltige Argumente gegen bestimmte Veränderungen aufbieten: Es handelt sich um den Ausdruck des Wunsches nach Entschleunigung scheinbar unaufhaltsam stattfindender Entwicklungen (vgl. dazu Müller 2008, 42 – 43, Anm.). Veränderungen und Entwicklungen müssen von Menschen nachvollzogen werden können und hier scheint es gewisse Grenzen zu geben, welche Veränderungen in welchem Zeitrahmen angemessen eingeholt werden kön-
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19. Die Anwendung anthropologischer Argumente
nen.100 Ein normativ gehaltvoller Begriff vom Menschen, der als regulative Idee fungiert, kann auch dann als Argument fr Entschleunigung herangezogen werden, wenn er kein Verbot bestimmter EnhancementTechnologien stützen kann. Ein gründlicher und integrativer Deliberationsprozess ist für revolutionäre Veränderungen weniger anfällig und wird stattdessen allenfalls allmähliche Veränderungen zugestehen. An dieser Stelle ist abschließend noch darauf hinzuweisen, dass es nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine Gruppe von Menschen tatsächlich so weitreichende (Sinnes-) Enhancements vornimmt, dass ein gemeinsamer Bezug auf eine Welt zwischen den beiden Gruppen – den Menschen und der neuen Gruppe stark veränderter Wesen – nicht mehr möglich ist. Es würde sich dann um zwei unterschiedliche Lebensformen handeln, für die nicht mehr ein einziger normativer Begriff vom Menschen als gemeinsame regulative Idee fungieren könnte. Dieser Gedanke wird im Rahmen der Enhancement-Debatte unter dem Stichwort der posthumanen Lebensform diskutiert, die fundamental neu- und andersartig wäre. Damit allerdings wird eine eigene Problemklasse aufgeworfen, die im engeren Sinne nicht mehr mit dem Thema Human Enhancement in Verbindung steht, da gerade das Humanum aufgegeben wird. Die Spekulation über völlig andere Lebensformen soll daher an dieser Stelle nicht weiter geführt werden.
19.3. Biologische Prozessoptimierung: Cognitive Enhancement Eine mögliche Anwendung von cognitive enhancement besteht darin, psychoaktive Substanzen zu konsumieren, die beispielsweise die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit steigern und dabei zugleich das Schlafbedürfnis reduzieren.101 Wie auch in den anderen Beispielen, können hier aufgrund von Risikoberlegungen Einwände gegen den Einsatz der Mittel formuliert werden: So könnten psychische Erkrankungen 100 Jüngeren Menschen scheint die Anpassung an Veränderungen dabei bisweilen leichter zu fallen als Älteren. Vgl. dazu Dewey 1922, 66 ff. 101 Mögliche Substanzen, die derartige Wirkungen hervorrufen könnten, sind etwa Metylphenidat (Ritalin®) und Modafinil (Provigil®). Vgl. zur Standard-Diskussion dieser Substanzen im Rahmen der Enhancement-Debatte etwa SchöneSeifert et al. 2009. Zu ihrem tatsächlichen Einsatz bei Wissenschaftlern vgl. Sahakian/Morein-Zamir 2007, Maher 2008.
19.3. Cognitive Enhancement
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als unerwünschte Nebenwirkungen auftreten. Auch die bereits vorgestellten Bedenken angesichts der Freiwilligkeit des Einsatzes bestimmter Mittel könnten den Einsatz moralisch diskreditieren: Wenn sich jemand unter subtil oder offen ausgeübtem Zwang, bestimmte Leistungen in einem kompetitiven Kontext zu erfüllen (etwa in der Schule oder im Beruf), zum Einsatz biotechnologischer Mittel genötigt sieht, wäre die Autonomie der Entscheidung für die Anwendung des Mittels nicht gegeben und ihr Einsatz damit moralisch verboten. In meiner Diskussion des Beispiels möchte ich auf diese beiden Klassen von Einwänden nicht weiter eingehen und unterstelle daher, dass die Kombination psychoaktiver Substanzen, die die erwünschte gesteigerte Leistungsfähigkeit und das verringerte Schlafbedürfnis bewirken, ohne Nebenwirkungen angewendet werden können (etwa den Verlust der autonomen Selbstbestimmungsfähigkeit) und darüber hinaus auf einer freiwilligen Entscheidung des betreffenden Individuums basieren. Zudem nehme ich an, dass sich keine weiteren Widersprüche zu den vier Komponenten einstellen. Die Bedingung B1 wäre in diesem Fall erfüllt, da die Autonomie und ihre Voraussetzungen durch die Anwendung der Mittel nicht gefährdet werden würden. In diesem Fall wird eine Prüfung von B2 notwendig, die eine anthropologisch begründete Berücksichtigung der Gerechtigkeitsdimension umfasst. Nehmen wir also an, dass der Einsatz der Substanzen dem Individuum in besonderem Maße erlaubt, bestimmte selbstgesetzte Ziele zu erreichen. Damit gewinnt das Individuum Vorteile – etwa in gesellschaftlicher oder beruflicher Anerkennung, finanzieller Vergütung, Macht etc. –, die gemäß der oben auf anthropologischer Basis eingeführten Bedingung B2 solange moralisch erlaubt sind, wie sie „Benachteiligungen und soziale Ungerechtigkeiten nicht vergrößern“. Das heißt minimal, dass die Vorteile nicht auf Kosten der anderen gewonnen werden dürfen. Nehmen wir also weiter an, dass die Vorteile, die ein Individuum mithilfe dieser Art von Enhancement erlangt, tatsächlich keinerlei Nachteile für andere mit sich brächte, sei es, weil die Mittel prinzipiell in ausreichender Menge verfügbar seien, sei es, weil kein anderer ein Interesse daran hätte, die Mittel anzuwenden. Unter diesen Bedingungen entsteht auf der Grundlage der entwickelten anthropologischen Argumente mit dem Einsatz der Cognitive Enhancer und mit dem Eintreten gesellschaftlicher Vorteile zugleich eine wachsende Verpflichtung, die entstandenen Vorteile nicht nur im eigenen Interesse einzusetzen (etwa zur individuellen finanziellen Bereicherung), sondern in den Dienst aller zu stellen. Biotechnologische Verbesserungen eines Einzelnen sollen dazu genutzt
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19. Die Anwendung anthropologischer Argumente
werden, immer auch denjenigen zu helfen, deren Ausgangssituation schlechter ist. Auf der Grundlage von B2 führt eine durch die Biotechnologien verstärkte Ungleichverteilung von kognitiven Fähigkeiten zu der Aufforderung, die besonderen Fähigkeiten der Privilegierten in den Dienst derjenigen zu stellen, die schlechter dran sind. Die gesteigerte gesellschaftliche Verantwortung könnte etwa in Form von Steuern abgegolten werden, doch auch alternative Versuche, die anderen an den gewonnenen Vorteilen teilhaben zu lassen, sind denkbar. Handelte es sich etwa um eine gesteigerte künstlerische Befähigung, sollten die Ergebnisse der Arbeit anderen zugänglich gemacht werden. Handelte es sich etwa um einen Chirurgen, der mithilfe der Enhancements besser und länger operieren könnte, dürfte er seine neue Befähigung nicht nur für finanzielle Zusatzzahlungen in den Dienst besonders reicher Menschen stellen, sondern sollte nach Wegen suchen, die gewonnene Fähigkeit nicht nur den finanziell Bessergestellten zugänglich zu machen. Auch wenn diese exemplarische Diskussion von B2 an dieser Stelle skizzenhaft bleiben muss, zeigt sie an, wie auf der Grundlage der anthropologischen Argumente – der Gleichartigkeit und der gleichberechtigten Bedürfnishaftigkeit gleichartiger menschlicher Individuen – mit der Annahme von Vorteilen eine Verpflichtung begründet werden kann. Bei Erlaubnis des Einsatzes einer bestimmten Technologie wird so die Aufforderung begründet, die entstehenden positiven Ergebnisse nicht nur auf das betreffende Individuum zu beschränken, sondern auch andere daran teilhaben zu lassen. So ergibt sich auf anthropologischer Basis kein grundsätzliches Verbot, sondern lediglich eine Einschrnkung durch zustzliche Bedingungen, die dem Einsatz einer Biotechnologie auferlegt werden. Die drei Beispiele (Kapitel 19) haben die drei eingangs eingeführten Bereiche biotechnologischer Enhancement-Eingriffe (Kapitel 2) in den menschlichen Organismus zum Anlass genommen, die entwickelten anthropologischen Argumente exemplarisch zu erproben. Dabei ist deutlich geworden, dass selbst den starken anthropologischen Argumenten keine prominente Funktion zukommt. Im konkreten bioethischen Diskurs über Entscheidungen für oder gegen den EnhancementEinsatz einer Biotechnologie in einem spezifischen Fall stehen die wohl begründeten anthropologischen Argumente im Hintergrund. Risikoabwägungen und die Frage nach dem autonomen informed consent, die Frage nach dem ärtzlichen Handlungsauftrag und Gerechtigkeitsbeden-
19.3. Cognitive Enhancement
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ken dominieren hier die anstehenden Entscheidungen.102 Dennoch wurde deutlich, dass sich auf der entwickelten anthropologischen Grundlage für Fälle weit reichenden Enhancements Verbote und Handlungsaufforderungen generieren lassen; zum einen gegen weit reichende Verlängerungen der menschlichen Lebensspanne, da dadurch die Möglichkeit autonomer Entscheidungen gefährdet wird; zum anderen gegen eine kombinierte Erweiterung des Sinnesspektrums, da damit die Möglichkeit, einander als seinesgleichen in einer Welt anzusehen, aufs Spiel gesetzt wird. Und schließlich wurde aufgezeigt, dass in einem positiven Sinne mit dem gelingenden Einsatz biotechnologischer Verbesserungen auf anthropologischer Basis eine Verpflichtung bestimmt werden kann, die dazu auffordert, die errungenen Vorteile nicht nur zum individuellen Vorteil, sondern gerade mit Rücksicht auf diejenigen zu nutzen, die relativ am Schlechtesten gestellt sind.103 Wohl begründete anthropologische Argumente sind daher nur im Hintergrund der dominierenden ethischen Diskussionen präsent (– auch wenn schlecht begründete anthropologische Argumente in der Debatte häufig lautstark vorgebracht werden und eine gleichwertige Rolle wie die Risiko-, Gerechtigkeits- und Autonomieerwägungen beanspruchen). Trotzdem kommt ihnen eine wichtige Funktion zu, die über die punktuelle Entscheidung für oder gegen eine individuelle Handlung hinausreicht. Anthropologische Argumente in meinem Verständnis versuchen, quasi-demokratisch und anthroponom Orientierung darüber herzustellen, welche Eigenschaften menschlichen Lebens als besonders bedeutsam ausgezeichnet werden sollen. Die gegenwärtige Debatte über mögliche weitreichende Veränderungen der menschlichen Lebensform insgesamt liefert somit einen entscheidenden Impuls für eine aktuelle anthroponome Bestimmung des Menschen und diejenigen seiner Eigenschaften und Fähigkeiten, die als besonders bedeutsam ausgezeichnet werden und daher auch angesichts ihrer möglichen (biotechnologischen) Veränderung nicht verloren gegeben werden sollen. Das Ergebnis einer solchen deskriptiven und normativen menschlichen Selbstverständigung kann nicht ewig gültig sein. Es muss – temporal und lokal – immer wieder 102 Letztlich ließen sich auch diese Bewertungskriterien auf ihre anthropologische Voraussetzungen untersuchen, die aber üblicherweise nicht diskutiert werden. Die explizite Bezugnahme auf anthropologische Argumente stellt daher einen unterscheidbaren und eigenständigen Ansatz dar. 103 Hiermit tritt die Gerechtigkeitsdimension auf einer explizit anthropologischen Basis ins Spiel und ergänzt damit die weitgehend unabhängig von anthropologischen Überlegungen geführten Debatten um die Verteilungsgerechtigkeit.
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19. Die Anwendung anthropologischer Argumente
neu bestimmt werden, kann dabei aber aufgrund der verbindenden Eigenschaften und Fähigkeiten derjenigen, die an der Bestimmung teilnehmen, mit relativer Kontinuität und lediglich allmählichen Veränderungen der Selbstbestimmung rechnen. Ich hoffe, in der vorliegenden Arbeit einige Elemente ausgezeichnet zu haben, die in den aktuellen Diskussionen als tragfähiger Ausgangspunkt für zukünftige Verfeinerungen und Neubestimmungen dessen herangezogen werden können, was uns an uns selbst als bedeutsam erscheint.
20. Anthropologie und Ethik Anthropologische Argumente zeichnen in einem quasi-demokratischen Deliberationsprozess bestimmte Eigenschaften von Menschen als normativ besonders wertvoll aus. Diese Eigenschaften sollen bewahrt und auch durch Enhancements nicht verändert werden. Im vorhergehenden Kapitel habe ich anthropologische Argumente in der Anwendung auf konkrete Fälle biotechnologischen Enhancements erprobt. Dabei hat sich gezeigt, dass anthropologische Argumente in ihrer von mir möglichst stark gemachten Form im zweifachen Sinne eine elementare Rolle spielen: Zum einen treten sie paritätisch im Verbund mit anderen Argumenten auf, sind also ein Element neben anderen – bisweilen nur ein „Spurenelement“. Zum anderen setzen sie subsidiär auf einer besonders fundamentalen, „elementaren“ Ebene an, die der alltäglichen Meso-Ebene menschlicher Handlungen zugrunde liegt und eine basale Orientierung über die Ausrichtung konkreter Handlungen anbietet. Ist aber das Ergebnis, dass anthropologische Argumente – obwohl sie häufig vehement vorgebracht werden – nur eine elementare und keine vorrangige Rolle spielen, nicht unbefriedigend? Ist der gesamte Aufwand, der in vorliegender Arbeit zur Klärung des Verständnisses anthropologischer Argumente betrieben wurde, angesichts dieses bescheidenen Ergebnisses überhaupt gerechtfertigt? Die Aufgabe vorliegender Arbeit bestand nicht darin, eine besonders zentrale Rolle anthropologischer Argumente zu belegen. Es ging vielmehr darum zu prüfen, welches die wohl begrndete Rolle und der angemessene Beitrag anthropologischer Aussagen im Kontext ethischer Diskussionen – hier zur Debatte über Human Enhancements – sein kann. Vor diesem Hintergrund ist eine genaue Bestimmung der Leistungsfähigkeit anthropologischer Argumente auch dann wertvoll, wenn sie zeigt, dass anthropologische Argumente nur unter bestimmten Bedingungen ihre fundamentale und elementare Orientierungsfunktion erfüllen können. Anthropologische Argumente allein können in den meisten Fällen kein normativ begründetes Verbot biotechnologischer Eingriffe begründen. Die Klärung des systematischen Zusammenhangs von Anthropologie und Ethik und die genaue Bestimmung der normativen Leistungsfähigkeit anthropologischer Argumente ist eine wichtige Aufgabe, die über die
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20. Anthropologie und Ethik
Diskussionen der Enhancement-Debatte hinausreicht. Ausgangspunkt der Arbeit war die Einsicht, dass es für Menschen faktisch von normativer Bedeutung ist, dass sie sich als solche verstehen. Es wäre daher auch im Rahmen der Ethik eine unangemessene Verkürzung der Diskussionen, wollte man die normativen Annahmen, die mit dem Begriff Mensch verbunden sind, vollständig aus der normativen Diskussion ausklammern. Ziel der Arbeit war es, einen Vorschlag zu machen, wie diese Verbindung zwischen Anthropologie und Ethik, zwischen menschlicher Selbstreflexion und menschlicher Handlung, systematisch so erläutert werden kann, dass der handlungsleitende Impuls reflektierter menschlicher Selbstbestimmung als wohlbegründet, inhaltlich bestimmt, kritik- und entwicklungsfähig erscheint. Letztlich habe ich den Versuch unternommen, ein gedankliches „Werkzeug“ (die normativ bedeutsame Idee vom Menschen) in seinem Gebrauch (exemplarisch im Rahmen der Enhancement-Debatte) zu erproben und weiterzuentwickeln. Mein Ansatz, der Impulse aus der Tradition des amerikanischen Pragmatismus aufgreift, ist durch zwei Merkmale besonders gekennzeichnet. Einerseits bestreite ich – entgegen verbreiteter Annahmen in der Moralphilosophie –, dass moralische Normen und Prinzipien logisch vorgängig und unveränderlich sind, dabei objektiv erkannt werden können und anschließend nur noch auf bestimmte konkrete Probleme angewendet werden müssen. In konstruktiver Hinsicht verstehe ich moralische Normen andererseits als veränderliche Werkzeuge, die in konkreten Situationen als sinnvoll hervortreten und sich in der Anwendung bewähren (vgl. LaFollette 2000). Aufgrund der Unverzichtbarkeit tatsächlicher Anwendungen moralischer Werkzeuge für die Herausbildung einer Moraltheorie konnte meine Arbeit über den Zusammenhang von Anthropologie und Ethik auch nicht auf einen exemplarischen Fall verzichten. Ohne eine Erprobung der Argumente in einem konkreten Kontext – hier der Enhancement-Debatte – wäre die Diskussion des Zusammenhangs von Anthropologie und Ethik ein theoretisches Gedankenspiel geblieben. Schließlich sind moralische Normen nur in der Praxis, in konkreten menschlichen Handlungen, erkennbar und bedeutsam. In Übereinstimmung mit dem pragmatistischen Ansatz ist klar, dass mein Vorschlag für das Verständnis des Zusammenhangs von Anthropologie und Ethik im Kontext der Enhancement-Debatte keinen Abschluss der Diskussionen mit sich bringen kann. Statt eine abschließende transzendentale Lösung vorzuschlagen, habe ich lediglich einen Vorschlag zu einem komparativ besseren Verständnis dieses Zusammenhangs ge-
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macht.104 Es kann nicht darum gehen, ein für alle Mal ein Ideal fest- und vorzuschreiben. Auch ein normativer Begriff vom Menschen ist nicht statisch, sondern grundsätzlich veränderbar. Mein Vorschlag soll also angesichts der gegenwärtigen Problemlage alternativen Bestimmungen überlegen sein (hinsichtlich der Begründung und der inhaltlichen Konkretisierung), ohne dabei jedoch absolut die bestmögliche oder die einzige richtige Bestimmung darzustellen. Das Gespräch über den Menschen und die normative Bedeutsamkeit des menschlichen Selbstverständnisses, das schon mindestens solange geführt wird, wie Menschen ihre Gedanken schriftlich fixieren, muss also weitergehen. Vor dem Hintergrund einer auf konkrete menschliche Handlungen bezogenen Philosophie, ist eine abschließende Sichtung der Ergebnisse vorliegender Arbeit angebracht: Im ersten Teil wurde herausgearbeitet, wie mit den konkreten Möglichkeiten, mithilfe der Biotechnologien verbessernd in den menschlichen Organismus einzugreifen, die Notwendigkeit in den Vordergrund getreten ist, das Verhältnis von Anthropologie und Ethik erneut zu analysieren. Ausgehend von einer konkreten moralischen Herausforderung, angesichts der Bedenken, Uneinigkeit und Orientierungsbedarf herrschen, wurde eine moralische Frage deutlich, die ich aufgegriffen habe: Dürfen Menschen sich mit biotechnologischen Mitteln verbessern? Im zweiten Teil habe ich zentrale Begriffe der Debatte analysiert. Dabei hat sich gezeigt, dass der Begriff „Enhancement“ selbst, ebenso wie die ihm zugrunde liegenden Begriffe „Gesundheit“, „Krankheit“, „Natur“ und „Natur des Menschen“, nicht trennscharf bestimmt werden können. Allerdings konnte der Enhancement-Begriff mithilfe von empirischen Zusatzannahmen in Form einer dynamischen Minimaldefinition zumindest hinreichend klar bestimmt werden, um das konkrete ethische Problem zu erkennen. Die Unmöglichkeit einer eindeutigen Definition des Begriffs Enhancement selbst muss allerdings aus pragmatistischer Perspektive kein Problem darstellen. Begriffliche Klarheit ist kein Selbstzweck, und wenn in diesem Fall der Begriff Enhancement zumindest einigermaßen trennscharf auf einen problematischen Bereich menschlicher Handlungsmöglichkeiten hinweist, hat er seine problemidentifizierende Funktion erfüllt. Angesichts der Vielfalt potentieller Kandidaten für Enhancement-Handlungen wäre jeder Versuch, eine 104 Zu dieser Unterscheidung zwischen transzendentalen und komparativen Ansätzen vgl. auch Sen 2009.
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20. Anthropologie und Ethik
einzige und immer eindeutige Definition von Enhancement aufzustellen, unterkomplex und unbefriedigend. Der dritte Teil hat anhand einer exemplarischen Analyse der tatsächlich geführten Debatten über Human Enhancement den Streit der Positionen systematisch nachvollzogen und dabei die Notwendigkeit eines integrativen Ansatzes belegt. Allen vorgestellten Positionen konnten wichtige Einsichten abgewonnen werden, die bei einer umfassenden Bewertung möglicher Veränderungen der menschlichen Lebensform berücksichtigt werden müssen. Die Anwendung eines einzigen moralischen Standards oder das Ausgehen von einer einzigen Beschreibungsweise des konkreten moralischen Problems werden auch hier der Komplexität der Wirklichkeit, in der wir leben, nicht gerecht. Der Fortschritt zu einer angemesseneren Bewertung möglicher biotechnologischer Enhancements ist nur möglich, wenn die unterschiedlichen Bewertungen integriert werden. Im vierten Teil schließlich habe ich, aufbauend auf den Vorarbeiten der ersten drei Teile, den Versuch einer Neubestimmung der Rolle anthropologischer Argumente im Rahmen der Enhancement-Debatte unternommen. Zu ihrer Begründung wurde methodisch ein quasi-demokratischer Deliberationsprozess, der sich im dritten Teil bereits als Desiderat abgezeichnet hat, vorgeschlagen und philosophisch simuliert. Dabei wurden Bestimmungen vorgeschlagen, die – auf der Grundlage des aktuellen Wissensstandes – den Inhalt anthropologischer Argumente ausmachen könnten. Da im Rahmen dieser Arbeit der Deliberationsprozess nur skizziert werden konnte und nicht umfassend verwirklicht wurde, ist der hier entwickelte Vorschlag – auch wenn er auf der Grundlage einer umfangreichen Literatursichtung der klassischen und aktuellen Debatten basiert – lediglich als Zwischenergebnis und als Ausgangspunkt für weitere Diskussionen, Korrekturen und Präzisierungen zu verstehen. Denn erst im Gespräch, in der Anwendung kann sich die normative Kraft anthropologischer Argumente zeigen. Dennoch hat sich am Ende des vierten Teils gezeigt, dass anthropologische Argumente gegenüber den meisten Enhancements permissiv sind: Zahlreiche Entwicklungen und Veränderungen der menschlichen Lebensform können mit einem sich dynamisch entwickelnden Begriff vom Menschen in Übereinstimmung stehen, solange die vier als besonders signifikant identifizierten, normativen Komponenten des Begriffs Mensch nicht gefährdet werden. Da die menschliche Lebensform ihrerseits von einer Entwicklungsdynamik geprägt ist, ist auch ihre dynamische begriffliche Einholung angemessen. Lediglich bei plötzlich
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stattfindenden, massiven Veränderungen der menschlichen Lebensform können die anthropologischen Argumente in ihrer gegenwärtigen, von mir vorgestellten Form, Verbote begründen. Hier wirken sie mäßigend, deakzelerierend und verlangen – bei allem prinzipiellen Optimismus – praktische Vorsicht. Die Frage, wer wir Menschen sind und was das in normativer Hinsicht zu bedeuten hat, treibt uns Menschen schon lange um. Ich verstehe dies als eine beständige Aufgabe, der nur in der anhaltenden Auseinandersetzung mit dieser Frage angemessen begegnet werden kann. Wir Menschen müssen selbst Verantwortung dafür übernehmen, wie wir sind und wie wir auch zukünftig sein und leben wollen.
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Personenregister Adorno, Theodor W. 119, 121 Agar, Nicholas 28, 30 Altmann, Jürgen 32 Anderson, Michael L. 34 Anderson, William French 62f., 69 Apel, Karl-Otto 217 Appiah, Kwame Anthony 189, 257 Aristoteles 233 Bach-y-Rita, Paul 231 Barondes, Samuel H. 32 Bayertz, Kurt 27f., 77, 88 Baylis, Françoise 4, 115 Beauchamp, Tom L. 147, 151f., 154–156 Beyleveld, Deryck 135 Birnbacher, Dieter 73f., 76, 78–80, 83, 133, 147, 151f., 193f. Blumenberg, Hans 39, 74, 89, 188, 211, 234, 236f., 248f., 251, 279 Böhme, Gernot 76 Bongard, Josh 230 Boorse, Christopher 63f. Bostrom, Nick 24, 93, 105–112, 117, 120–126, 140 Brownsword, Roger 135 Bruchhausen, Walter 68 Buchanan, Allen 39, 91, 111, 161 Carnap, Rudolf 60, 204 Chadwick, Ruth 3, 84, 91, 243 Chalmers, David 35, 226, 228 Childress, James F. 147, 151f., 154–156 Choudhury, Suparna 47, 237 Christen, Markus 27, 140, 257, 269 Churchland, Patricia 47 Clark, Andy 26, 35f., 45, 231 Clouser, K. Danner 155
Cosmides, Leda 88 Crone, Katja 137f., 244 Daniels, Norman 63, 91, 154, 216 Davidson, Donald 233 de Wit, Christina 29 Dennett, Daniel C. 47, 159 Dewey, John 20, 133, 254, 281 Donald, Merlin 89, 231 Dubiel, Helmut 31 Dupré, John 24, 28f., 83f., 89, 231 Elliott, Carl 31 Engels, Eve-Marie 195 Ernst, Gerhard 192 Feeser-Lichterfeld, Ulrich 269 Felix, Johann 137 Fischer, Joachim 44, 264 Foucault, Michel 200 Fuchs, Michael 62 Fukuyama, Francis 82, 115f., 122, 125, 133 Galert, Thorsten 147 Gallagher, Shaun 34, 45, 230 Gallie, Walter Bryce 220 Ganten, Detlev 42, 44, 257 Gehlen, Arnold 44, 230, 235, 264 Gerhardt, Volker 31, 36, 45, 54, 67, 120, 169, 209–212, 227, 230, 250 Gert, Bernard 152, 155, 275 Gesang, Bernward 25, 127 Glover, Jonathan 18, 52, 159 Gordijn, Bert 2 Gregory, T. 74f. Griffin, James 257 Gutmann, Mathias 88
308
Personenregister
Habermas, Jürgen 44, 82, 119–121, 210, 217f., 227 Hacking, Ian 51 Haidt, Jonathan 104 Haniel, Anja 82 Hardin, Garrett 196 Harris, John 94, 112–114 Hartmann, Dirk 147 Hauskeller, Michael 114 Hawks, John 28, 89, 110, 118, 229 Herder, Johann Gottfried 230 Höffe, Otfried 259 Hofmann, Martin 152 Horkheimer, Max 119, 121 Hughes, James 21, 106, 115–117, 122 Hume, David 75, 204 Huxley, Julian 105, 128 Illich, Ivan 121 Illies, Christian 45 Jaeggi, Rahel 254 James, William 171, 249 Joas, Hans 171, 218 Juengst, Eric T. 91, 197, 269 Jung, Matthias 34, 45f., 49, 188, 222f., 234 Junker, Thomas 86 Kant, Immanuel 3, 18, 21, 54, 74, 153, 155, 208, 211f., 217, 227, 240, 264f. Kass, Leon 125, 160 Keil, Geert 46f., 50, 73–75 Keim, Brandon 144 Keller, Monika 104 Kersting, Wolfgang 67 Kitcher, Philip 83, 89, 182, 185, 201, 203f., 218f., 247 Knell, Sebastian 140, 269 Koch, Christoph 25 Köchy, Kristian 226 Koertge, Noretta 203 Kramer, Peter D. 31 Kroll, Jürgen 27f. Kurzweil, Ray 4
LaFollette, Hugh 20, 287 Laubichler, Manfred 34 Lenk, Christian 63, 67, 69, 110 Levy, Neil 62, 127 Linker, Damon 129, 144 Macklin, Ruth 136 Malafouris, Lambros 36 Marckmann, Georg 155 Mayr, Ernst 83, 113 McGee, Glenn 68f. McKibben, Bill 116, 125 McLaughlin, Peter 180, 227 Merkel, Reinhard 27, 31, 38, 62, 127, 142, 145f., 150f., 156–162 Merleau-Ponty, Maurice 36 Metzinger, Thomas 137 Meyer, Kirsten 73 Miah, Andy 107, 118 Mill, John Stewart 75f., 78, 131, 196, 209 Montemagno, Carlo 25 Moore, George Edward 195, 206 Morein-Zamir, Sharon 31f., 281 Moreno, Jonathan D. 32 Müller, Oliver 26, 77, 85, 88, 198, 235, 280 Naam, Ramez 27, 115 Nagel, Saskia 25, 27, 33, 47, 237, 278 Nagel, Thomas 200, 228, 233 Nida-Rümelin, Julian 21, 49, 54, 166f., 182, 210, 219, 242, 250, 254, 258 Nietzsche, Friedrich 261f. Noë, Alva 34, 45 Nordenfelt, Lennart 67 Nozick, Robert 141 Nussbaum, Martha 117, 217, 232, 266 Obama, Barack 125, 142 Ord, Toby 93 Ortega, Francisco 236f. Palmer, Julie Gage 27f. Parens, Erik 3 Parfit, Derek 137
309
Personenregister
Pawlenka, Claudia 31, 73, 160 Pfeiffer, Rolf 230 Pico della Mirandola, Giovanni 239 Pinker, Steven 126, 129, 136, 143f., 169 Plato 181 Plessner, Helmuth 34f., 44, 232, 264 Pogge, Thomas 22 Putnam, Hilary 182, 195, 205f., 218 Quante, Michael
195
Rauprich, Oliver 152 Rawls, John 153–155, 215–218, 245, 259, 264–266 Repantis, Dimitris 31 Robert, Jason Scott 4, 115 Roco, Mihail C. 25 Roth, Gerhard 47 Roughley, Neil 74, 83f., 86–88, 162 Ruse, Michael 113 Sahakian, Barbara 32 Sandberg, Anders 31, 82, 170 Sandel, Michael 82, 125, 133, 139, 158 Savulescu, Julian 24, 31, 70, 92, 94, 111f., 126, 170 Scheler, Max 44, 264 Schmidt, Thomas 192 Schnädelbach, Herbert 43, 46 Schöne-Seifert, Bettina 3, 281 Schott, Heinz 31 Schrenk, Friedemann 86 Sen, Amartya 266, 288 Siep, Ludwig 248
Singh, Ilina 28, 31 Slaby, Jan 47, 237 Steger, Florian 152 Steinhoff, Uwe 217, 258 Stock, Gregory 36, 115f. Sturma, Dieter 18, 43, 137 Taylor, Charles 50, 159, 201, 216, 249, 252 Thompson, Evan 34, 45, 227f. Tölle, Rainer 31 Tomasello, Michael 35, 88, 233 Tononi, Giulio 25 Tooby, John 88 Töpfer, Georg 226 Tugendhat, Ernst 192 van den Daele, Wolfgang Vidal, Fernando 236f. Vieth, Andreas 152 Voland, Eckart 113
53, 191
Wade, Nicholas 125, 142 Walters, LeRoy 27f. Weber, Marcel 140, 269 Weingart, Peter 27f. Wenzel, Uwe Justus 208, 240 Wiesing, Urban 38 Willaschek, Marcus 182 Williams, Bernard 276 Wingert, Lutz 52 Winnacker, Ernst Ludwig 82 Wittgenstein, Ludwig 18, 181, 184, 251 Wolpe, Paul R. 61
Sachregister Affirmation 123, 242 Aktivität 23, 35, 39, 119, 127, 134f., 137, 277 Allokation 160 Altern 28, 31, 139f., 268f., 275 Ambiguität 60, 119 Ambivalenz 121, 147, 195 Amoralist 192 angeboren 88 Angewandte Ethik 3, 16, 23, 59, 130, 151, 268 Angst 2, 271, 273 animal rationale 85, 211 animal visibilis 211 Anthropologie 15–18, 42–54, 167, 222, 240, 264f., 274 – integrative Anthropologie 9, 42, 45, 177, 245, 266 – Philosophische Anthropologie 42–46, 86, 225, 229 – Anthropologie und Ethik 4, 11, 179, 286–290 Anthropologische Argumente – Begründung 206f., 209–220, 247, 255–257, 286–289 – Inhalt 212–246 – Verhältnis zu anderen normativen Argumenten 6f., 11, 75, 277, 287 anthropologische Konstante 40, 118 anthropomorph 47 Anthroponomie 4f., 7, 175, 177, 179, 208, 222, 239–241, 247, 249f., 252, 264–266, 284 Anti-Aging 269f., 272f. Antidepressiva 31 Aphasie 19 Artefakt 37, 186 Artikulation 46, 188 Aufklärung 5, 119, 156, 168
Außenwelt 35, 232 Authentizität 137f., 141, 146, 150, 159f. Autonomie 2, 11, 16f., 22f., 26, 30, 54, 136, 143, 148, 150, 153f., 158–161, 166, 168, 179, 239, 241, 243–245, 253, 263–266, 273, 276, 282–284 Bedeutsamkeit 1, 40, 49, 51, 55, 131, 188–190, 199–201, 205, 235, 249, 252, 276, 284f., 287f. Befürchtung 140f., 159, 168, 261, 271 Begriff und Normativität 180–190 Behinderung 62, 67, 146, 185, 189 Bewusstsein 34–37, 43, 46–49, 52, 72, 93, 98, 117, 119, 123, 167, 188, 211, 225f., 228, 232, 234, 239, 253, 269 Bild 34, 46, 89, 137, 147, 230, 238, 240, 251 biokonservativ 103, 116, 126, 169, 171f. Biostatistik 63–65 bios theoretikos 202 Biotechnologien 16–18, 24–26, 31, 33f., 37–39, 52, 60, 92, 112, 115f., 119f., 126–128, 137, 142f., 168, 191, 243f., 254, 268, 274f., 283, 288 brainhood 236 brain-machine-interface 37 Chance 22, 94, 103, 106, 124, 145, 150, 213, 259, 262, 270 Christentum 129 citizenship 117 Clusterbegriff 84, 89
Sachregister
Cognitive Enhancement 30, 268, 281f. common morality 151f., 154f. condition humaine 111, 115, 119, 122 converging technologies 16, 25 Cosmopolitismus 257 creatio ex nihilo 79 critical neuroscience 47, 237 Cyborg 23, 25f., 34, 116, 191 DAK 32 DARPA 32 deep-brain-stimulation 31, 145, 149 Definition 50, 57, 59, 62, 73, 82, 91, 180f., 199, 226, 250, 256, 288f. Deliberation 204, 212–214, 256, 277 Demenz 19 Demokratie 148, 206, 250 Deontologie 2f., 153, 155 deskriptive Ethik 151, 266 Determinismus 49, 170, 203, 236, 238 Diagnostik 29 Dialog 104, 171, 177, 210, 255, 257, 263 differentia specifica 86, 239 Diskriminierung 187 Diskurs 19, 75, 82, 117, 128f., 136, 148, 168, 170f., 178, 192, 194, 210, 217–219, 237, 250, 256–262, 267, 283 – Diskursethik 217f., 258 – Diskursteilnehmer 19, 218 distributive Gerechtigkeit 160 DNA 27 Doping 30f., 160 Dualismus 226f., 266 dysfunktional 185 Egalität 193 Eigeninteresse 215, 217, 237, 259, 266 Element 7f., 178f., 285f. embodied embedded cognition 34, 45, 134, 201, 225 Emotionalität 16, 18, 48, 107f., 141, 202
311
enactivism 45 Enkulturation 88f. Entdifferenzierung 74, 89 Entmystifizierung 122, 171 Entschleunigung 277, 280f., 290 Entwicklungsphasen 232 Epistemologie 130, 183f., 187, 200 Erbgut 25, 28f., 78f., 270 ergebnisoffen 10, 103f., 145, 148, 169, 172, 255 erschließen vs. abschließen 216, 220f. Essentialismus 15, 137, 169, 248f., 265 essentially contested concept 220 Ethologie 86, 177 Eugenik 28 Eukalyptus 231, 235 Evaluation 92, 94f., 97f., 107, 197, 269 Evolution 28, 35, 43, 78, 84, 86, 88–90, 106, 110, 112–114, 117f., 217, 222f., 228–230, 238, 248 experience machine 141 Expertise 260 Expertokratie 148 Explanandum 49f. extended mind 35 Extension 124, 181, 188, 273 Externalismus 35 Faktor X 133 fact-value-dichotomy 204–206 Falsifizierbarkeit 5, 10, 206, 251 Forschungsfrage 9, 15, 177 Fortschritt 5, 16, 42, 49, 51, 115, 119, 121, 260f., 289 Fortschrittsoptimismus 119, 123 Fundamentalismus 10, 104, 167, 169 Funktion 15f., 70, 73f., 89, 111, 116, 123, 161, 179f., 184, 197, 232, 236, 241f., 253, 258, 280, 283f., 288 Funktionalismus 36f., 47, 49, 111, 123, 135, 152, 180f., 185, 193 Gattung
36, 43, 76, 87, 111, 118f.
312
Sachregister
Gegenwart 5, 7, 9, 17, 22, 40, 43, 104, 107, 110, 122f., 167f., 177, 193, 200f., 219, 235, 273, 280 Gehirn 1, 16, 18, 25–27, 30–32, 34, 43, 45, 48f., 96, 138, 145f., 156, 158, 185, 187, 229, 231f., 236, 238 Geist 34f., 37, 50, 74, 123, 261 gemacht 76f., 83, 88, 118, 120, 187, 188 Gendoping 29 generischer Singular 43, 221 genetisch 5, 17, 25, 27–30, 37, 78–80, 82f., 85, 113, 200, 207, 229, 269f. Genotyp 29, 37 Gentherapie 28f., 63, 69 Gerechtigkeit 22, 54, 111, 117, 128, 150, 153f., 160f., 163, 197, 215, 245, 259, 265–268, 270, 278, 284 Gerontokratie 271 Gesundheit 1–3, 23, 31f., 39, 62, 67–69, 95, 107, 123, 140, 269f., 273–275, 277 Gesundheit/Krankheit 62–71 – objektiver Begriff 63f. – relationaler Begriff 66 – subjektiver Begriff 65f. Gesundheitssystem 39, 65, 149, 157, 160, 163, 256 Gewissheit 237, 251f. geworden 43, 76f., 83, 88, 90, 177, 265, 271, 283 Gleichheit 22, 40, 127, 178, 181, 183, 186, 188, 190, 211, 232f., 245, 283 Glück 2, 39, 67, 119, 137, 139, 141, 233 graduell 18, 33f., 40, 77f., 94, 97, 271, 276f., 279 Grenze 6, 34–37, 63, 72, 91, 99, 108, 122, 131, 134, 146, 153, 158, 168, 181, 184, 191, 252, 261, 265, 279f. Grenzsituation 255f. Gründe 42, 63, 87, 113, 116, 122, 127, 130, 138, 161, 166f., 171,
186f., 192, 197, 210f., 241, 248, 260, 276 gute Sitten 147f., 151, 158, 172 Haftung 157 Handlungsoptionen 2f., 6f., 16f., 33, 39, 47, 103, 165f., 224, 234, 240, 261, 268f. Hedonismus 3 Heiratspolitik 28, 34, 37 hermeneutisch 59 Hintergrundmetaphorik 237 Hippokratischer Eid 153 Holismus der Differenz 222f. homme neuronal 236, 238 homo faber 85 homo loquax 85 homo oeconomicus 163, 236–238 homo publicus 211f. homo sapiens 6, 43, 87, 118 Homosexualität 64 Humangenese 87, 229 Humangenom 16, 24, 203, 250, 269 Humanismus 5, 49, 104, 108, 120, 123, 144, 166–170, 223, 238, 253 Hybrid 77, 133, 199, 208 Hybris 128, 131, 141 Hygiene 109, 121 hyperparenting 139, 158f. Hypostasierung 80 ideal 19f., 28, 89, 108f., 111, 133–135, 138, 161, 181, 183f., 190f., 198, 214, 217, 224f., 239f., 250, 253, 255f., 258–261, 263, 266, 275f., 288 Identität 137f., 141, 149, 159, 162, 167, 201 Ideologie 15f., 20, 44, 76, 98, 142, 169, 209 Idiom 46f., 50, 52 Immunität 16, 93, 113 Implantat 27, 36, 278 inflationär 20 Information 10, 19, 25, 27, 37, 107, 168f., 178, 183, 213f., 217, 219, 229, 247, 257, 262
313
Sachregister
informed consent 7, 23, 153, 267, 273, 283 Innenwelt 232 instrumentell 119–121, 185f. Integration 6, 9f., 20, 26, 35, 42, 45, 48, 64, 101, 104, 164f., 177, 245, 257, 266, 281, 289 Intelligenz 18, 93, 108, 244 Intension 181, 188 Intentionalität 49, 78, 92, 117 interaktive Art 51 Interdisziplinarität 107, 147 Internet 37, 106, 117, 273 intersubjektiv 46, 50, 80, 156, 196, 207, 217 Interventionspflicht 150 Intuition 54, 59, 68, 70, 80, 99, 110, 129, 143f., 169, 172, 198, 226, 256, 260 Irrtum 209f., 247, 261f. Karte 10, 178, 200, 203f. Kartierung 11, 178, 199, 203f., 221, 228, 240, 242, 245 Katholizismus 129, 136, 169 Klassifikation 24f., 39, 51, 76, 80, 94, 111, 181, 185, 200f. Klugheit 197 Koalabär 231, 235 Koffein 95f. Kognitionswissenschaft 25, 43, 137, 230 Kohärenz 85, 185, 216 Kolonisierung 18, 119, 236 Kommunikation 1, 120, 187 kommunikative Rationalität 210 komparativ 78f., 82, 266, 287f. kompetitiv 2, 40, 158, 282 Komponente 16–20, 55, 64, 66, 94, 98, 108, 163, 178, 191, 199, 205, 221–226, 228, 232, 234, 240–242, 246–248, 250, 260, 268f., 274, 279, 282, 289 Kompositum 181 Konnotation 99 Konsens 10, 19, 105, 114, 135, 148, 152, 161, 165, 190, 206, 214–216,
219, 223f., 241, 250, 255, 257, 259f., 262, 265f., 280 Konsequentialismus 153, 155 Konsistenz 216 Konsum 168 Kontingenz 18, 39, 53, 65, 67, 89, 117, 123, 133, 155, 194, 202, 219, 248f., 252 Kontinuitätsthese 33, 38, 40 Kontrolle 3, 39, 53, 120, 135 Konvergenz 19, 22, 215, 219, 265f., 268 Konzentration 18, 281 Kooperation 87, 206 Kosmologie 133 Krankenhaus 24, 28, 274 Kritik 5, 7f., 10, 20, 22, 32, 38, 43–45, 47f., 54, 59f., 62, 75f., 79, 89, 101, 103f., 106, 115–117, 122, 125f., 132–134, 136, 140, 143–145, 152, 155, 158, 165, 170, 178, 181, 190–192, 194–198, 204, 210, 217f., 224, 236, 244, 254, 258, 264, 266, 273, 276, 278, 287 Kritische Neurowissenschaft 47, 237 Kritische Theorie 121 kryptoreligiös 165 Kultur 26, 67, 74, 78, 82, 170, 189, 193, 221, 230, 236, 240 Kulturalisierung 198 Kulturwesen 33, 230 Lebensform 18 Lebensspanne 18, 23, 95, 107, 109, 123, 140, 269–271, 273–277, 284 Lebensverlängerung 268f., 273f., 278 Leiden 97, 107, 137, 140, 226 Leistungsgesellschaft 2, 40 Leistungssport 109 Leistungssteigerung 1, 30f. Liberalismus 28, 106, 121, 148f., 161, 168 Libet-Experimente 48f. Logizität 89, 236, 251 Lust 3, 232 Machbarkeit
119, 253f.
314
Sachregister
Macht 39, 53, 194, 238, 258, 261f., 282 Magnetstimulation 32 Mängelwesen 44, 202, 230 Medikalisierung 150 Medikament 31f., 40, 153 Menschenbild 46, 165, 167, 191, 232, 235–241 Menschenbilderbedürftigkeit 235, 238 Menschenrechte 136, 257 Menschenwürde 15, 128, 133–136, 141–144, 165, 169, 194, 219, 256f. Meta-Ethik 6, 16, 19f., 152, 191, 194–198, 215 Metapher 122, 178, 186, 236f., 251 – absolute Metapher 236f. Metaphysik 44, 48, 86, 177, 195, 200 Militär 32 mind 35, 106, 227 mind-uploading 25, 108, 269 Minimalkonsens 151 Mitwelt 232 Modafinil 95, 281 moderat 10, 103, 141, 249, 251, 265 Mythos 203 Nähe 178, 186, 188–190, 217 Nationalsozialismus 30, 44 Natur 43, 48, 60f., 70, 72–78, 80–83, 85–89, 91f., 98f., 114, 131–134, 141–144, 150, 159, 178, 190–198, 204, 221, 223, 230f., 233, 235, 239, 248, 278, 288 Naturalismus 17f., 46–50, 52, 63, 73, 75, 104, 135, 166, 169f., 177, 192–195, 214, 223 naturalistischer Fehlschluss 195 Natur des Menschen 3, 9, 15, 60, 72, 82, 84–89, 96, 117, 130, 142, 166, 169, 190–193, 196–198, 240, 248, 288 natürliche Art 51, 83f., 92, 117, 183–185, 188 Natürlichkeit 73, 76, 78–80, 82, 88, 128, 132–135, 191, 196, 243 NBIC 25
Neurobiologie 43 Nicht-Schaden 153, 156 Nikotin 95 Normalität 60, 65, 184f., 190, 201 Normativität 8, 10, 16, 95, 178, 182, 184f., 187f., 190, 192, 198, 206, 209, 235, 239f., 247, 250, 255, 265, 277 Objektivität 50, 63–66, 68–70, 72, 79f., 87, 90, 95, 183, 189f., 192–194, 199, 202, 218, 287 Offenbarung 193, 196 Öffentlichkeit 2, 10, 19, 209–214, 216, 219, 259, 262 Ökonomie 10, 135, 157f., 161, 163, 165, 168, 236 Ökonomisierung 160, 167 Ökonomismus 104 Ontogenese 246 Ontologie 51, 119, 183f., 187, 227 Optimismus 10, 165f., 171f., 251, 262, 290 Organismus 34–38, 42, 48, 51, 62f., 65–67, 72, 82f., 85, 87, 106, 108f., 118, 123f., 139, 170, 187, 195, 213, 225–228, 230–232, 234, 240, 256, 268f., 272, 274, 277, 283, 288 Orientierung 19f., 47, 60, 80, 99, 131, 185, 192f., 198, 201, 209, 222, 232, 234–237, 239, 251, 279f., 284, 286 Orientierungsbedürftigkeit 11, 17, 179, 225, 234, 238–241, 274, 278 Orientierungswissen 38, 52 overlapping consensus 215 pareto-optimal 245 Partizipation 10, 19, 214, 219, 262 Paternalismus 148, 153 peer pressure 32, 150, 158, 161, 273 Perfektibilität 213 Person 1, 21, 43, 48, 50, 65–67, 94, 112, 136–138, 146–150, 156–162, 192, 212, 233, 244, 246, 259, 272 Persönlichkeit 96, 138f., 143, 149, 159, 162
Sachregister
Phänotyp 29 Philosophie des Geistes 34, 37, 45, 49, 137, 226 Philosophische Anthropologie, s. Anthropologie Phylogenese 83, 227, 246 physiomorph 47 Plastizität 231, 278 Politik 4, 53, 66, 108, 117, 123, 128f., 133, 135f., 142–144, 147, 149f., 160–163, 167, 169, 191, 203, 211, 215f., 235, 256f. Population 63f., 83–85, 93, 270 Positivismus 204 Posthumanismus 106, 108f., 111f., 281 Postmoderne 87, 137 Pragmatismus 5, 11, 20, 155, 179, 237, 249, 257, 287 Praktikabilität 11, 253, 256 pränatal 29, 88 President’s Council on Bioethics 10, 69, 103, 115, 125–128, 130–132, 134, 136f., 140–142, 145, 150, 165, 169, 269 Primat der Praxis 120 Prinzipienethik 147, 151–155, 161, 165, 172, 256, 264–267, 269 Protestantismus 129 Prozac 32, 69 Prozessoptimierung 25, 30, 32, 139, 268, 281 Psychopharmaka 24, 31f., 95, 138, 141, 159 Qualia 45, 182, 232 qualitativ 79f., 82, 94, 108f., 112, 138, 226, 244 quantitativ 94, 108, 244, 270, 275 quasi-demokratisch 10f., 60, 178, 191f., 219, 224, 243, 249, 261f., 265, 280284, 286, 289 Raum der Gründe 210, 213 real 17, 51, 120, 137f., 182f., 210, 216, 218, 253, 255f., 258–261 Realismus 10, 28, 46, 80, 84, 140, 181f., 193, 199, 203f., 208, 212,
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248–250, 252f., 257, 262, 265, 269 Reduktion 45, 48–50, 52, 85f., 167 Referenzklasse 64f. reflective equilibrium, s. Überlegungsgleichgewicht regulative Idee 6, 20, 89, 163, 178, 200, 204, 208f., 223f., 239, 242, 250, 256, 275–281 Relativismus 98, 155, 192, 200 Relevanz 18, 22, 33, 36, 45, 49, 51f., 66, 69, 75, 82, 89, 96, 98, 109, 123, 130, 134, 158, 165, 180, 195f., 198f., 201–203, 209, 214, 216, 231, 240f., 248, 260, 264–266, 269 Religion 42, 125f., 128, 144, 167, 171, 177, 193, 196, 235 Ressourcen 127f., 154, 160, 260, 270, 272 Risiko 16, 22f., 54, 103, 119, 121, 127f., 145, 157, 168, 179, 267, 270, 281, 284 säkular 112, 122, 128f., 143f., 147, 161, 169 Schmerz 232f. Schule 24, 28, 37, 44, 119, 155, 282 Science Fiction 105, 117, 124 Science Wars 202 Selbstauslegung 5, 7–9, 22, 41f., 46, 51, 55, 263 Selbstbestimmung 17, 21, 39, 48, 54, 122, 148, 153, 162, 168, 171f., 179, 201, 208, 210–213, 216, 218f., 223–225, 238–240, 243, 247–249, 253–255, 260, 263, 265, 268f., 274, 276, 285, 287 Selbstdeutung 42, 48, 51f., 213, 235 Selbstverständnis 17, 21, 42f., 45–48, 51, 110, 131, 152, 201, 206f., 213, 216, 219, 224, 235, 241, 251, 257, 268 Selektion 29 Semantik 25, 35, 47, 50, 73, 194, 236 Sichtbarkeit 211 Signifikanz 16–20, 50f., 83, 109, 111, 168, 177f., 186, 188f.,
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Sachregister
199–204, 207, 214, 216, 218, 221–226, 228, 232, 234, 238, 240–243, 245f., 248f., 251f., 258, 263, 265f., 268, 270, 274f., 279f., 289 Sinneswahrnehmung 26 Soteriologie 122 sozialer Druck, s. peer pressure Sozialität 17f., 88 Soziobiologie 49 Soziologie 30, 68, 115, 137 Spezies 21, 63f., 83–86, 208, 228f., 246 speziestypisches Funktionieren 64 Spezieszugehörigkeit 83f., 245 Sport 30f., 73, 197 Sprecher 17, 74, 178, 188–190, 205 Stabilität 84, 110, 138, 193, 260 status quo 125, 277 Sterblichkeit 227, 232 Stimmungsmodifikation 31 STOA 25 Straftat 158 strategische Rationalität 210 Struktur 27, 43, 46, 124, 130, 183, 221, 223f., 226, 236, 240, 242, 268, 274 strukturerhaltend 21, 242 strukturgefährdend 21, 268 strukturintentional 242 sub-ideal 19, 208 Substruktur 237 Syntax 132 Synthese 42, 45, 50, 108 Taxonomie 30, 83, 111, 181, 185 Technik/Technologie 24–27, 29f., 33f., 36, 38f., 53, 103, 106–108, 112–116, 117, 119, 125–127, 135, 144–146, 148f., 151, 160, 162, 165f., 170, 245, 253, 267, 269, 271, 274, 278, 280f., 283 Teleologie 202 Theocons 129, 144 Therapie 16, 59–63, 65f., 68–70, 72, 91, 96f., 99, 145–148, 156f., 159f., 272 thick moral concepts 204f.
Tod 39, 139, 227, 272, 275 Transhumanismus 105–108, 116f., 119f., 122–124 Transparenz 26, 36f., 155 transzendental 67, 211, 224, 228, 266, 275, 287f. Trennschärfe 24, 63, 66, 68–70, 73, 91, 94f., 97, 99, 181, 252, 288 tu quoque 247 typisch 15, 40, 63f., 85, 90, 105, 227–229 Überlebenstrieb 238 Überlegungsgleichgewicht 155, 215–218, 260 Umwelt 34f., 45, 76, 109, 118, 122, 133, 141, 197f., 227, 230, 235, 239, 251 Unbedenklichkeit 33, 148, 275 Ungerechtigkeit 21, 39, 105, 111, 116, 128, 150, 160, 197, 243, 256, 266, 268, 282 Ungleichheit 21, 111, 116, 160f., 245, 278 Universalität 49, 86, 88, 155, 193, 218, 257 Unvermeidbarkeit 4, 115, 118 Urheberschaft 160 Utilitarismus 2f., 155 Utopie 68, 122f. Vehikel 35, 37 Verfügungswissen 38, 52 Vergänglichkeit 140 Verheißungen 39, 103, 105–107, 110, 114, 121, 123f., 128, 145, 165 Verkörperung 11, 17, 34f., 45, 94, 117, 179, 201f., 225–232, 234, 239–241, 264, 274, 278–280 Verständigungsprozess 21, 116, 144, 172, 178, 198, 207f., 210, 213, 215, 217f., 225, 247f., 254, 257–260, 262, 264, 266, 268 Verteilungsgerechtigkeit 154, 160 Viagra 32 Vokabular 46–49, 75, 128
Sachregister
Vorsicht 10, 103, 131, 146, 165f., 290 Vorurteil 59f., 91, 99, 103 Wahrheit 171, 177, 199, 201–203, 206, 208, 210, 216f., 236f., 247–253, 257, 260, 262–264, 266 Wechselwirkung 78, 252 Werkzeug 26, 35f., 39, 139, 277, 287 Wertepluralismus 116 wertkonservativ 125 wertneutral 202, 260 WHO 65f. Willensfreiheit 47–49, 169f.
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Wirklichkeit 39, 48, 65, 76f., 79f., 104, 111, 177, 185, 199, 201, 203, 234, 236, 279f., 289 Wohlbefinden 2f., 65f., 105, 114, 150, 195 Wohlstand 150 Wohltun 153, 157, 161 work-in-progress 117 World Transhumanist Association 105f., 112 Würde, s. Menschenwürde Zombie 226 Zukunft 54f., 140, 234, 241, 277 zweckrational 119f.