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Karl Holl † und Hans Lietzmann † herausgegeben von
Christian Albrecht und Christoph Markschies Band 99
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Albrecht Ritschl: Vorlesung „Theologische Ethik“
Auf Grund des eigenhändigen Manuskripts herausgegeben von Rolf Schäfer
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISSN 1861-5996 ISBN 978-3-11-019004-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort Bei der Vorbereitung meiner Habilitationsschrift über die Theologie Albrecht Ritschls lieh mir Herr Professor Dr. Dietrich Ritschl (damals Pittsburgh, später Heidelberg) in großzügiger Weise die in seinem Besitz befindliche handschriftliche Vorlesungspräparation „Theologische Ethik“ von Albrecht Ritschl. Er gestattete mir den Abdruck einer kurzen Probe aus dieser Handschrift und stimmte auch grundsätzlich meinem Plan zu, die ganze Handschrift durch Edition der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In den Jahren 1969 und 1970 konnte ich eine Rohfassung des Textes herstellen, für deren Umsetzung in Maschinenschrift mir die Deutsche Forschungsgemeinschaft dankenswerterweise Mittel zur Verfügung stellte. Im Jahr 1971 kam das Vorhaben ins Stocken. Bei der Suche nach weiteren Materialien wurden mir durch eine Umfrage bei deutschsprachigen Bibliotheken mehrere studentische Nachschriften von späteren Ethikvorlesungen Ritschls zugänglich, die erst in Maschinenschrift übertragen werden mußten, ehe über ihre Einbeziehung in das Editionsunternehmen entschieden werden konnte. Das Material nahm schließlich solche Ausmaße an, daß ich es neben meiner beruflichen Arbeit nicht bewältigen konnte. Hinzu kam die methodische Schwierigkeit, daß mit jeder der neu aufgetauchten Vorlesungsnachschriften unklarer wurde, wie eine Edition aus ihnen gestaltet werden könnte, da sie sowohl von Ritschls Manuskript als auch untereinander stark abwichen. Den Ende der achtziger Jahre erreichten Stand konnte ich 1989 beim Ritschl-Kolloquium in Göttingen vortragen: „Zu Albrecht Ritschls Ethik-Kolleg“. Unterdessen war nun aber eine Entwicklung eingetreten, die mir Entlastung versprach. Bei dem erwähnten Göttinger Ritschl-Kolloquium 1989 berichtete Frau Professor Dr. Helga Kuhlmann (Paderborn, damals Marburg) über Ritschls Freiheitsbegriff in der Ethik-Vorlesung vom Sommersemester 1882, deren Nachschrift durch Albrecht Ritschls Sohn Otto Ritschl sie auswerten konnte. Kurz darauf erschien ihre gründliche Monographie zur Spätgestalt von Ritschls Ethik, in der auch die Absicht ausgesprochen wird, die Vorlesungsnachschrift von 1882 zu veröffentlichen. Inzwischen war mir, je näher ich die Texte der späteren Vorlesungsnachschriften kennen lernte, die methodische Undurchführbarkeit einer Edition aller Manuskripte zur Gewißheit geworden, so daß ich mich wieder der ursprünglichen Teilaufgabe zuwenden und mich auf Ritschls Handschrift konzentrieren konnte. Meine anfänglichen Bedenken, daß darin nur ein frühes Stadium von Ritschls Entwicklung sichtbar würde, das sich noch deut-
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Vorwort
lich von der ausgereiften Gestalt seiner systematischen Theologie in dem Hauptwerk „Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung“ (1870–1874) unterscheiden könnte, zerstreuten sich bei näherem Zusehen, da sich herausstellte, daß Ritschl sein Manuskript bis in die Siebzigerjahre hinein weitergeführt hat. Es spiegelt also sowohl die reife Form seiner Theologie als auch deren Werden in den entscheidenden Jahren seiner theologischen Entwicklung. Herrn Professor Dr. Dietrich Ritschl danke ich herzlich für die Geduld, mit der er mir für die Handschrift seines Urgroßvaters eine Ausleihefrist von über vier Jahrzehnten zugestanden hat. Oldenburg (Oldb), Januar 2007
Einleitung Die hier vorgelegte „Theologische Ethik“ von Albrecht Ritschl beruht auf dem eigenhändigen Manuskript, das Ritschl von 1862 an über ein Jahrzehnt seiner Ethikvorlesung zugrunde legte. In der Endgestalt spiegelt das Manuskript Ritschls Theologie in dem zeitlichen Stadium wider, in welchem er mit der Veröffentlichung seines Hauptwerks „Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung“ (1870–1874) zum bedeutendsten evangelischen Theologen in Deutschland aufstieg. Zugleich ist es möglich, an Hand der zahlreichen Streichungen und Zusätze in der Handschrift den Weg nachzuvollziehen, den Ritschl bis dahin zurücklegte. Im Unterschied zu der erwähnten Monographie über die Rechtfertigung, die sich vor allem mit der religiösen Seite des Christentums beschäftigt, bietet die Ethikvorlesung ein Gesamtbild des Christentums sowohl in seiner religiösen als auch – und dies mit besonderem Nachdruck – in seiner sittlichen Eigenart. Es gibt sonst keinen Text dieses Umfangs, der so anschaulich das Werden des Göttinger Systematikers dokumentiert und den Gesamtrahmen für seine Einzelarbeiten aufspannt wie die Ethikvorlesung. Dies ist deswegen von besonderem Interesse, weil die Nachwirkung Ritschls, die im 20. Jahrhundert unterschätzt wurde, nunmehr gerechter beurteilt werden kann. Die Vorlesung läßt deutlich die Impulse erkennen, die von Ritschl her auf die Sozialethik und die Ökumenische Bewegung des 20. Jahrhunderts ausgegangen sind und bis heute ausgehen.
1. Die Ethikvorlesung im Rahmen von Ritschls Gesamtwerk Albrecht Ritschl (1822–1889) hatte als Hegelianer angefangen und seine ersten akademischen Schritte als Schüler Ferdinand Christian Baurs unternommen. Bald jedoch ließ er die Spekulation auf sich beruhen, um auf dem Boden einer philologisch und historisch orientierten Empirie in geduldiger Analyse der Quellen ein Gesamtbild des frühen Christentums zu gewinnen.1 Die Wendung zum Historischen erstreckte sich aber nicht nur auf die Bibel und die Patristik, sondern auch auf die Reformation. Während bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts das Denken Luthers mehr oder minder mit der Lehre des Konkordienbuches gleichgesetzt wurde, fing Ritschl in historischen Analysen an, die Schriften der einzelnen Reformatoren auf ihre Besonderheiten hin zu untersuchen. Dabei gelang ihm die Entdeckung, daß 1
SCHÄFER , Art. „Ritschl“, TRE 29, besonders 220–224.
XII
Einleitung
sich Luthers frühe Theologie nicht in die melanchthonisch geprägte lutherische Orthodoxie einebnen läßt. Ritschl wurde damit zum Initiator der neuen Lutherforschung und der Erschließung von Luthers Schriften mit Hilfe der bis dahin noch fehlenden kritischen Ausgabe. Die neue Sicht des Urchristentums und die überraschende Entdeckung von Luthers eigenständiger Theologie bestätigten einander gegenseitig und verdichteten sich zu einer systematischen Gesamtkonzeption, in welcher Exegese, Theologiegeschichte, Dogmatik und Ethik zusammenstimmten. Den Weg dahin bahnten neben den weitergeführten biblischen und reformationsgeschichtlichen Arbeiten vom Jahr 1852 an die systematischen Vorlesungen. Im Wintersemester 1852/53 las Ritschl erstmals „Dogmatik“; 1858 hielt er die erste Vorlesung über „Theologische Moral“, die er anschließend in „Theologische Ethik“ umbenannte. Bei den systematischen Darlegungen, also auch in der „Theologischen Ethik“, wirkt Ritschls persönlicher Erkenntnisweg darin nach, daß überall die exegetische Analyse und die reformationsgeschichtliche Orientierung vorausgehen, ehe es zu den Sätzen über das heute Gültige kommt. Trotz aller Anlehnung im einzelnen geht Ritschl bewußt einen anderen Weg als sein Lehrer Richard Rothe in seinem spekulativ angelegten Werk „Theologische Ethik“ oder als Friedrich Schleiermacher, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit seiner aus der Glaubenserfahrung entwickelten Vorlesung „Die christliche Sitte“ nach wie vor großen Einfluß ausübte. Anders als die meisten Theologen seiner Zeit hat Ritschl seine beiden großen systematischen Hauptvorlesungen nie zu Lehrbüchern ausgestaltet und in den Druck gegeben. Die einzige Veröffentlichung, aus der man außerhalb seines Hörsaals einen Überblick über seine Theologie gewinnen konnte, war der als Schulbuch für das Gymnasium konzipierte „Unterricht in der christlichen Religion“ (1875)2 . Aus ihm hätte man ein maßstäbliches Bild seiner Dogmatik und Ethik entnehmen können. Freilich stand das wegen seines unmittelbaren Zwecks von der akademischen Welt unterbewertete Kompendium im Schatten des schon früher erschienenen dreibändigen Werks „Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung“ (1870/74), das als revolutionär empfunden wurde und die Bildung der sog. Ritschlschen Schule in Gang setzte. Dieses Werk wurde – da es von Ritschl weder ein Dogmatik- noch ein Ethiklehrbuch gab – als eine erschöpfende Darlegung seiner Theologie angesehen. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Monographie über die Versöhnungslehre und über die Rechtfertigungslehre in ihrer gegenseitigen Beziehung und Beschränkung. Die Beschränkung besteht u. a. darin, daß Rechtfertigung und Versöhnung sich primär im gottesdienstlichen Handeln 2
1881 in zweiter, 1886 in dritter Auflage – jeweils verändert – erschienen; neuerdings wieder zugänglich in der von C HRISTINE A XT -PISCALAR veranstalteten Ausgabe der ersten Auflage Tübingen 2002.
1. Die Ethikvorlesung im Rahmen von Ritschls Gesamtwerk
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der christlichen Gemeinde auswirken. Dagegen bleibt das aus dem Glauben folgende sittliche Handeln – was wir heute als „Ethik“ bezeichnen – fast ganz ausgeklammert. Nur in seinem „Unterricht in der christlichen Religion“ hätte man sich eines besseren belehren können. Für die Hörer der Vorlesungen in den letzten Bonner Jahren und in der Göttinger Zeit bestanden diese Schwierigkeiten nicht, da Ritschl zwischen dem Dogmatikkolleg, das sich über zwei Semester erstreckte, und der einsemestrigen Ethik abwechselte, so daß man im Lauf von drei Semestern in der Regel den Überblick über das Ganze seiner Theologie gewinnen konnte. Auch in der Ritschlschen Schule wirkten die Vorlesungen längere Zeit nach, teils durch die aus seinem Auditorium hervorgegangenen akademischen Lehrer, teils durch die Weitergabe von Kollegnachschriften3. Später verschwand jedoch diese Verstehensvoraussetzung, teils wegen des zeitlichen Abstandes, teils wegen der polemischen Wendung, den die aus der Ritschlschen Schule4 hervorgegangenen Bewegungen der Religionsgeschichtlichen Schule und der sog. „Dialektischen Theologie“ nach dem Ersten Weltkrieg gegenüber Ritschl vollzogen. Es schien ausgemacht, daß die Theologie des 19. Jahrhunderts, als deren letzter großer Vertreter Ritschl galt, gescheitert sei. Deshalb bestand wenig Neigung, sein stilistisch schwieriges Hauptwerk zu studieren und es als Monographie in Relation zum Gesamtsystem zu gewichten. Um Ritschls theologische Konzeption zu rekonstruieren, wäre es also wünschenswert, die beiden systematischen Vorlesungen zugänglich zu machen: die Dogmatik, welche das Christentum im Blick auf die göttliche Offenbarung beschreibt, und die Ethik, welche den entsprechenden Willensprozessen nachgeht, die in der menschlichen Gemeinschaft und im Einzelnen ablaufen, wenn die Offenbarung angeeignet wird. Wie es mit einer künftigen Veröffentlichung der handschriftlichen Überlieferung der „Dogmatik“ steht, ist schwer überschaubar. Gösta Hök hat in 3
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WILHELM H ERRMANN teilt in der Vorrede seiner „Ethik“ (1. Auflage 1901, S. VI) mit, daß er sich in den Ausführungen über Tugenden und Pflichten an Ritschl angeschlossen habe, „dessen Ethik mir in einer Nachschrift aus dem Wintersemester 1867/68 vorgelegen hat“. Herrmann, der selbst nicht bei Ritschl gehört hatte, benutzte also eine Nachschrift derjenigen Vorlesung, aus der auch die in dieser Ausgabe herangezogene Nachschrift von Karl Lange stammt. – Ferdinand Kattenbusch berichtet Ritschl am 28. 1. 1879 brieflich über seine erste Ethikvorlesung in Gießen und fügt hinzu: „Ihr Heft hat mir hauptsächlich zur Orientierung verholfen …“ (JOACHIM WEINHARDT, Albrecht Ritschl 34). Wahrscheinlich nahm Kattenbusch, der 1873 Repetent in Göttingen wurde, in den Jahren bis 1878 die Gelegenheit wahr, Ritschls Ethik zu hören, wie er auch im WS 1874/75 Ritschls Vorlesung über Symbolik besuchte und die Nachschrift später in einer Veröffentlichung verwandte (ebd. 8). Zur „Ritschlschen Schule“ vgl. HELGA KUHLMANN, Die Theologische Ethik Albrecht Ritschls 23–58; SCHÄFER , Art. „Ritschl“, TRE 29, besonders 232–235; JOACHIM WEINHARDT, Wilhelm Herrmanns Stellung in der Ritschlschen Schule, 7–126; E CKHARD L ESSING , Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart 1,79–116.218–229.304–316.
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Einleitung
seiner 1942 erschienenen Untersuchung „Die elliptische Theologie Albrecht Ritschls nach Ursprung und innerem Zusammenhang“ noch mit den frühen Präparationen Ritschls zu seinen Dogmatik-Vorlesungen der fünfziger Jahre arbeiten können, die dann später nicht mehr auffindbar waren. 5 Einen Ersatz könnten die Vorlesungsnachschriften liefern, die in den Nachlässen von Ritschl-Schülern liegen und bisher kaum beachtet worden sind. 6 Freilich stammen sie aus den späteren Jahren. Diese Lücke vermag indessen die Handschrift „Theologische Ethik“ zu schließen. Sie enthält Ritschls Gesamtkonzeption des Christentums in „ethischer“ Betrachtung. Während nämlich die „Dogmatik“ das Christentum unter dem Gesichtspunkt der Offenbarung, also vom Standpunkt Gottes aus sieht, ist es die Aufgabe der „Theologischen Ethik“, denselben Stoff so darzubieten, wie er sich in der menschlichen Erfahrung ausnimmt. Da beim Christentum in Ritschls Sicht zwischen zwei nebeneinander stehenden und materialiter verschiedenen, aber miteinander verbundenen Bereichen zu unterscheiden ist – eines auf Gott gerichteten religiösen (Kirche) und eines auf die Mitmenschen gerichteten sittlichen (Reich Gottes) –, müssen beide sowohl in der Dogmatik als auch in der „Theologischen Ethik“ behandelt werden. Die „Theologische Ethik“ beschreibt also die menschlichen Willensbewegungen und Erfahrungen einerseits im religiösen oder gottesdienstlichen Bereich, andererseits nach der sittlichen Seite hin auf dem Gebiet der Selbstdisziplin und des familiären, gesellschaftlichen, beruflichen und politischen Lebens.7 Es gibt keinen gedruckten Text, in welchem Ritschls praktische Auffassung vom Christentum so authentisch, ausführlich, vollständig und ausgewogen zur Darstellung kommt wie in seiner Vorlesung über die „Theologische Ethik“. Insofern ist es begründet, sie im Druck zugänglich zu machen. Sie erschließt das Umfeld, in welchem „Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung“ als Monographie konzipiert wurde, und ist deshalb für deren Verständnis unentbehrlich. Nicht wenige Behauptungen über Ritschls Theologie, die durch die Sekundärliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts fortgeschleppt werden, erweisen sich dann als Fehlinterpretationen. Daß die „Theologische Ethik“ im Ganzen als Text unbekannt geblieben ist, hat dazu beigetragen, daß das Urteil über Ritschl nach dem Ersten Weltkrieg vorwiegend negativ ausfiel. Erst allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, wie groß Ritschls Einfluß auf das kirchliche Leben und auf die theologische Wissenschaft im 20. Jahrhundert tatsächlich gewesen ist. Entschei5
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Vermutlich sind es die frühen Dogmatik-Manuskripte, auf die sich die Verweise in der Ethik-Vorlesung beziehen. Eine Probe aus Ritschls Dogmatik-Vorlesung 1881/82 s. in: SCHÄFER , Ritschl, Tübingen 1968, 186–206. Dieser Grundriß von Ritschl systematischer Theologie wird nicht immer beachtet, so daß der Stellenwert seiner Einzelaussagen oft verkehrt eingeschätzt wird; vgl. SCHÄFER , Ritschl (wie Anm. 6) 114–118.
2. Manuskript und Vorlesungsnachschriften
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dende Impulse sind von seiner „Theologischen Ethik“ sowohl für die ökumenische Bewegung als auch für die christliche Sozialethik ausgegangen. Zwar vermochte Ritschl, dem alles Revolutionäre ohnehin fern lag, den Horizont seiner Zeit ebenso wenig zu überschreiten, wie wir den unsrigen. Gebrauchsfertige Rezepte für das heutige kirchliche Leben darf man bei ihm nicht suchen. Entscheidender ist jedoch, daß durch seine Konzeption des christlichen und des kirchlichen Lebens dessen Weiterentwicklung und die daraus folgende Wandlung der sittlichen Urteile nicht nur geduldet, sondern ausdrücklich anerkannt und gefördert wurden.
2. Manuskript und Vorlesungsnachschriften Ritschls „Theologische Ethik“ ist in zwei Strängen überliefert. Der erste besteht aus zwei eigenhändigen Manuskripten, die Ritschl im Wintersemester 1858/59 und im Wintersemester 1862/63 zur Vorbereitung seiner Vorlesungen anlegte. Der zweite umfaßt Nachschriften von Hörern, denen Ritschl für jeden Paragraphen einen zusammenfassenden Überblick ins Heft diktiert hat. Zwar legte Ritschl für diese Diktate sein Manuskript zugrunde. Da er jedoch sowohl seine Vorträge als auch seine Diktate frei formulierte, unterscheiden sich letztere im Wortlaut nicht nur vom Manuskript, sondern auch untereinander. Bei der Abwägung, welcher der beiden Stränge für eine Veröffentlichung in Frage kommt, wird hier der eigenhändigen Fassung der Vorzug gegeben. Sie ist nicht nur ausführlicher als die Nachschriften, sondern bietet auf jeden Fall einen authentischen Text, da bei den Diktaten die sich leicht einstellenden Hörfehler und Lücken, – aber auch Übertragungsfehler bei der Anfertigung der häuslichen Reinschrift – nicht auszuschließen sind. Hinzu kommt, daß jede Nachschrift nur den augenblicklichen Stand der Gedankenbildung wiedergibt, während die Manuskripte einen Einblick in Ritschls Entwicklung gewähren. Es ist also zugunsten der eigenhändigen Überlieferung zu entscheiden, wobei im übrigen einer künftigen Veröffentlichung von Nachschriften nicht präjudiziert ist. Es wäre zu begrüßen, wenn auch spätere Nachschriften durch Edition zugänglich gemacht würden. Sie dürften zwar, was die Prinzipien angeht, gegenüber der frühen Fassung nichts Neues bringen, wohl aber in den Konkretisierungen. Die Monographie von Helga Kuhlmann „Die Theologische Ethik Albrecht Ritschls“ (1992) wertet die Nachschrift aus, die Otto Ritschl 1882 in der Vorlesung seines Vaters Albrecht Ritschl angefertigt hat, und vermittelt einen Eindruck von dieser späten Fassung.8 8
Da in diesem Buch die Referate und Zitate aus der Ethik-Vorlesung 1882 deren Aufbau folgen, welcher mit dem Aufbau von Ms. B übereinstimmt, ist ein inhaltlicher Vergleich an vielen Stellen möglich.
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Einleitung
Ritschls handschriftliche Vorbereitung „Theologische Ethik“ besteht aus zwei relativ selbständigen Manuskripten (im folgenden als Ms. A und Ms. B unterschieden), von denen jedes einen durchformulierten Entwurf des Ethikkollegs enthält. Um die Eigenart und den Stellenwert dieser Manuskripte einzuschätzen, müssen sie in die Reihe von Ritschls Vorlesungen im Fach Ethik eingeordnet werden. Im Laufe seines akademischen Wirkens las Ritschl neunzehnmal über theologische Ethik: viermal in Bonn und nach dem Ortswechsel 1864 fünfzehnmal in Göttingen. Um die Übersicht zu behalten, soll hier eine Liste dieser Vorlesungen eingeschaltet werden. Sie fußt auf den Aufstellungen Otto Ritschls, die auch die Hörerzahlen mitteilen.9 Übersicht über Ritschls Ethik-Vorlesung Vorlesung Nummer V1 V2 V3 V4 V5 V6 V7 V8 V9 V 10 V 11 V 12 V 13 V 14 V 15 V 16 V 17 V 18 V 19
Semester Bonn Sommer 1858 Winter 1859/60 Winter 1861/62 Winter 1862/63 Göttingen Sommer 1864 Winter 1865/66 Winter 1867/68 Sommer 1869 Winter 1870/71 Sommer 1872 Winter 1873/74 Sommer 1875 Winter 1876/77 Sommer 1878 Winter 1879/80 Sommer 1882 Winter 1883/84 Winter 1885/86 Winter 1887/88
Ms. A* „Theologische Moral“ von jetzt an: „Theologische Ethik“ Ms. A Ms. B*
Nachschrift Lange
Ms. B
Nachschrift Eck Nachschrift Otto Ritschl
Die erste Handschrift (Ms. A*) entstand in Bonn im Wintersemester 1858/59 als Vorbereitung der ersten Vorlesung und trug noch den Titel „Theologi9
OTTO R ITSCHL , Albrecht Ritschls Leben (künftig abgekürzt: OR) 1,448– 450; 2,533–535.
2. Manuskript und Vorlesungsnachschriften
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sche Moral“.10 Weil diese Handschrift auch für zwei weitere Vorlesungen verwandt wurde – schon bei der zweiten Vorlesung erhielt sie den Titel „Theologische Ethik“11 –, weist sie zahlreiche Veränderungen auf und wird in dieser Endredaktion im folgenden mit Ms. A bezeichnet. Für die vierte Vorlesung (Bonn WS 1862/63) legte Ritschl ein zweites Manuskript an (Ms. B*), wobei er jedoch die Einleitung (§ 1–8, Seite 1–21) nicht neu schrieb, sondern diesen Teil aus Ms. A weiter benutzte.12 Während § 1–8 weiter an der Entwicklung des Textes teilnahmen und damit auch zum Ms. B gehören, wurden § 9–63 von Ms. A nach dem WS 1861/62 nicht mehr benutzt und deshalb auch nicht mehr verändert. Das zweite Manuskript (Ms. B*) wurde seinerseits wieder mehreren Vorlesungen zugrunde gelegt und dementsprechend geändert, bis es schließlich die hier edierte abschließende Form (Ms. B) erreichte. Ein weiteres eigenhändiges Manuskript existiert offenbar nicht. Die Handschriften, die – von den spätesten Zusätzen im Ms. B abgesehen – bis in die kleinsten Änderungen hinein stilistisch ausgefeilt sind, boten nicht nur einen Anhalt für den mündlichen Vortrag, sondern dienten in jedem Stadium auch als Grundlage für die Zusammenfassungen, die Ritschl nach der akademischen Sitte seiner Zeit seinen Studenten ins Kollegheft diktierte. Von etwa 1866 an änderte Ritschl das Verfahren bei der Vorbereitung seiner Diktate. Zwar entwickelte er sein eigenes Manuskript durch sorgfältig formulierte Neufassungen und Zusätze weiter. Auch veränderte er die Disposition, indem er neue Paragraphenzahlen eintrug. Auf die Diktate bereitete er sich jedoch so vor, daß er sich von einem Hörer das Heft der zuvor gehaltenen Vorlesung mit seinen damaligen Diktaten geben ließ, diese abschrieb und sie – mit Abwandlungen – bei der nächsten Vorlesung als Vorlage für die neuen Diktate benutzte. Für das Dogmatikkolleg ist dieses Vorgehen durch eine briefliche Äußerung Otto Ritschls belegt.13 Es ist anzuneh10
Der Inhalt dieser ersten Fassung wird von Otto Ritschl ausführlich referiert: OR 1,345–362. 11 OR 1,346.449. – Hauptgrund dafür dürfte die Schwierigkeit gewesen sein, daß die „Kirche als selbstthätige Gemeinschaft“ im 9. Kapitel zwar ethisch aufgefaßt werden kann, nicht aber unter die Überschrift „Moral“ paßt. 12 Otto Ritschl vermutete, daß das zweite, undatierte Manuskript 1864 entstanden sei (OR 2,19). Dabei übersah er aber den Vermerk am Ende von § 20 (s. unten S. 73,11 f. im textkritischen Apparat), wo Ritschl als Datum der letzten Vorlesung vor den Weihnachtsferien u. a. eingetragen hat: „1862, 19. December Schluß vor Weihnachten.“ 13 OR 2,20 f. – GÖSTA HÖK, Die elliptische Theologie Albrecht Ritschls (1942), teilt S. 120 Anm. 85 eine briefliche Äußerung von Otto Ritschl vom 16. 4. 1935 mit: „Seine Vorlesung hielt er [Albrecht Ritschl] so, daß er zunächst mit oder jedenfalls in seinen späteren Jahren auch ohne Bindung an sein Heft frei vortrug. Dann gab er über das von ihm Vorgetragene ein Diktat, das er aber auch frei gestaltete. So werden die Diktate in den verschiedenen Jahren in ihrem Wortlaut mehr oder weniger verschieden von einander ausgefallen sein.“
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Einleitung
men, daß das Verfahren beim Ethikkolleg dasselbe war. Daraus erklärt sich, warum Ritschl den beiden Manuskripten, in denen sich die Entwicklung der Gedanken jeweils über mehrere Jahre hinweg niedergeschlagen hat, keine weiteren hinzufügte. Umgekehrt weisen aber die starken Gebrauchsspuren bei Ms. B (einschließlich der Einleitung § 1–8) darauf hin, daß Ritschl diese handschriftlichen Präparationen noch über längere Jahre hinweg – und wohl auch parallel zu den aus Hörerheften abgeschriebenen Diktaten – weiter herangezogen hat. Es mußte also entschieden werden, ob beide Fassungen oder nur eine – und dann welche von beiden – ediert werden sollten. Die nähere Beschäftigung mit dem Inhalt bestätigt die schon von Otto Ritschl gemachte Beobachtung, daß es inhaltlich keinen großen Unterschied zwischen den beiden Fassungen gibt.14 Da es zunächst vor allem darum geht, überhaupt erst einmal eine von Ritschl selbst niedergeschriebene Fassung seiner Ethik zugänglich zu machen, legt es sich nahe, sich auf eine der beiden Fassungen zu beschränken. In der folgenden Bearbeitung wird der späteren Handschrift (Ms. B) der Vorzug gegeben. Sie hat schon bei der ursprünglichen Niederschrift das Tastende des ersten Versuches abgestreift, indem sie auf der Erfahrung aufbauen konnte, die sich bei dreimaligem Vortrag der Fassung von Ms. A eingestellt hatte (WS 1858/59, 1859/60, 1861/62).15 Durch die Zusätze zu Ms. B, die im Verlauf weiterer Vorlesungen dazukamen, reicht die hier erkennbare Konzeption mindestens bis in die Zeit der 1867 beginnenden Niederschrift16 des Hauptwerks „Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung“ hinein (erschienen 1870 und 1874). Darüber hinaus läßt die von Karl Lange stammende studentische Nachschrift17 der Vorlesung aus dem Wintersemester 1867/68 an Hand der Paragraphenzählung erkennen, daß Ritschl zu diesem Zeitpunkt die Endfassung von Ms. B noch gar nicht erreicht hat. Man kann also davon ausgehen, daß Ritschl in der Letztgestalt des späteren Manuskripts dieselbe systematische Position vertritt wie in seinem Hauptwerk. Damit empfiehlt sich für die Edition das zweite Manuskript in seiner zuletzt greifbaren Gestalt (Ms. B). Um seine Entwicklung und zugleich die Arbeitsweise Ritschls sichtbar zu machen, wird vom ursprünglichen, 1862/63 verfaßten Text dieses Manuskripts (Ms. B*) ausgegangen. Alle Ergänzungen werden dann so eingefügt, daß sie einerseits die fortlaufende Lektüre nicht 14
OR 2, 19. OR 1, 449 f. 16 OR 2,51. 17 Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. theol. 318 a: 6. Der aus Hoya gebürtige Karl Lange (14.11.1843 bis 15.2.1926) studierte von 1865 bis 1868 in Göttingen Theologie; er war von 1874 an als Pastor in Wipshausen und von 1878 bis zu seinem Ruhestand 1919 als Pastor in Edemissen (Kreis Einbeck) tätig. Diese biographischen Daten verdanke ich Herrn Ltd. Archivdirektor i. K. Dr. Hans Otte, Hannover. 15
3. Entwicklung der Vorlesung „Theologische Ethik“
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behindern, andererseits aber im textkritischen Apparat als spätere Zutaten ausgewiesen werden. Was dabei vom ursprünglichen Text gestrichen wurde, findet sich gleichfalls im textkritischen Apparat sowie unter den Beilagen und kann dort leicht verglichen werden. Bei der Durchführung zeigte es sich, daß dieses Verfahren unter den möglichen Alternativen das sinnvollste sein dürfte. Zwar sind die Ergänzungen, die Ritschl zum ursprünglichen Text hinzugefügt hat, nur in Ausnahmen datierbar. Dies bleibt jedoch erträglich, da die mit Sicherheit erreichte Letztgestalt des Wortlautes in die Zeit gehört, in der Ritschls System sich bereits gefestigt hat und ein grundsätzlicher Positionswechsel in der Ethik nicht mehr zu erwarten ist.
3. Entwicklung der Vorlesung „Theologische Ethik“ Die nachstehende Synopse ermöglicht einen Überblick über die Entwicklung der Disposition von Ritschls Vorlesung bis 1878. Der synoptische Vergleich wird dadurch erleichtert, daß Ritschl diese Disposition im großen ganzen von Anfang an in allen Vorlesungen beibehalten hat. In der 5. Spalte finden sich die Kapitel- und Paragraphenzahlen samt den Überschriften der hier edierten letzten Fassung des zweiten Manuskripts (Ms. B). Die übrigen Spalten enthalten nur die Zahlen der Paragraphen und – falls sie nicht identisch sind – die Kapitelzahlen der inhaltlich mit Manuskript B identischen Texte. Auf eine wörtliche Wiedergabe der Überschriften wird verzichtet, wenn es sich nur um sprachliche Varianten der in der 5. Spalte notierten Formulierungen handelt. Die 1. Spalte enthält die Disposition der ersten Niederschrift von 1858 (V 1) in der ursprünglichen Form (Ms. A*). Die umfangreichen 21 Paragraphen entsprechen in der Regel den späteren Kapiteln. Schon bei einer auf Grund dieses ersten Manuskripts gehaltenen Vorlesung (V 2 oder 3) unterteilte Ritschl die Paragraphen (2. Spalte). Bei ungefähr identischem Textumfang entstanden so 63 Paragraphen, die in 15 Kapiteln angeordnet waren (Ms. A). Das hier edierte zweite Manuskript läßt gleichfalls Entwicklungsstufen erkennen. Seine bei der 4. Vorlesung entstandene ursprüngliche Fassung (Ms. B*, 3. Spalte) beginnt mit § 9, weil für die Einleitung § 1–8 weiterhin Ms. A benutzt wird, und ist – was die Disposition angeht – weithin identisch mit der letzten Fassung (Ms. B, 5. Spalte). Abweichungen sind indessen zu finden: im Bereich der Kapitel III-V, bei § 38, § 41–43 und im dritten Teil, wo ein XVI. Kapitel angehängt wird.18 18
Ritschl hat die Ordnungszahlen der Kapitel in Worten ausgeschrieben. In dieser Übersicht werden sie um der Kürze willen mit römischen Zahlen wiedergegeben.
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Einleitung
1 A* V1
2 A
3 B* V4
1
1 2 3 4 5 6 7 8
1 2 3 4 5 6 7 8
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11 12
11 12 13
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14
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24 25 26
25 26 27
16 17 18 19
17 18 19 20
27 28
28 29
29
30
2
3
4
5
7
8
6
9
4 5 Lange B V7 V 11 Einleitung 1 § 1 Aufgabe und Stellung der Disciplin zur Dogmatik. 2 § 2 Fortsetzung. 3 § 3 Schluß. 4 § 4 Verhältniß der Disciplin zur philosophischen Moral. 5 § 5 Fortsetzung. 6 § 6 Schluß. 7 § 7 Verhältniß der theologischen Ethik zur heiligen Schrift. 8 § 8 Eintheilung. I. Theil: Das religiöse Subject als sittliches und die sittliche Gemeinschaft unter dem religiösen Gesichtspunct. Erstes Capitel. Die Heiligung oder Wiedergeburt. 9 § 9 Die Heiligung im Verhältniß zu Gott und zur menschlichen Freiheit. 10 § 10 Die Heiligung oder Gerechtmachung nach katholischer Lehrdarstellung. 11 § 11 Das Gewissen. 12 § 12 Die Bekehrung nach lutherischer und reformirter Lehre. 13 § 13 Die Bekehrung. Schluß. Zweites Capitel. Die Nothwendigkeit der guten Werke aus dem Glauben, und des Gesetzes für den Gläubigen. 14 § 14 Die lutherische und die reformirte Lehre über die Nothwendigkeit der guten Werke. 15 § 15 Die lutherische und die reformirte Lehre von der Bedeutung des Gesetzes für den Wiedergeborenen. 16 § 16 Die guten Werke im Verhältniß zum Zweck der Seligkeit. Drittes Capitel. Das Bewußtsein der Rechtfertigung aus dem Glauben und der Heilsgewißheit im Verhältniß zu den Werken und zur Bekehrung. 17 § 17 Die Unvollkommenheit der guten Werke des Wiedergeborenen. 18 § 18 Das ethische Bedürfniß des Wiedergeborenen nach Gerechtsprechung durch Christus. 19 § 19 Die subjective Vermittlung der Heilsgewißheit im Gläubigen. 20 § 20 Fortsetzung. Pietismus und Methodismus. Viertes Capitel. Das Reich Gottes als das ethische Princip des Christenthums. 21 § 21 Die neutestamentliche Vorstellung vom Reich Gottes. 22 § 22 Das Verhältniß des Reiches Gottes zum Recht. 23 § 23 Der Begriff des Reiches Gottes und der Gerechtigkeit desselben. Fünftes Capitel. Die Liebe zu Gott und zum Nächsten als der Inhalt des Gesetzes Christi. 24 § 24 Begriff der Liebe. 25 § 25 Die Liebe zum Nächsten und zum Feinde. 26 § 26 Die Liebe zu Gott. 27 § 27 Die Gesetzgebung Christi. Sechstes Capitel. Die christliche Familie und Freundschaft. 28 § 28 Die Ehe. 29 § 29 Das Verhältniß zwischen Aeltern und Kindern und der Kinder unter sich. 30 § 30 Die Freundschaft.
6 rote §§
7 Eck V 14 1
2
3 4
5
5
6
6
7 8 9
7 8 9
10
10
11
11
12
13
12
14
13
15
14
16
15
17 18 19
16 17 18
20 21 22 23
19 20 21 22
24 25
23 24
26
25
XXI
3. Entwicklung der Vorlesung „Theologische Ethik“ 1 10
2
3
4
30 31 32
31 32 33
31 32 33
33 34 35
34 35 36
34 35 36
36 38
37 38
37 38
11
12
37
39
39
39 41 40 42
40 42 41 43
40 42 41 43
43 44 45 46 47
44 45 46 47 48
44 45 46 47 48
48
49
49
49 50
50 51
50 51
51 52 53 54
52 53 54 55
52 53 54 55
55 56
56 57
56 57
13
14
15 16
17
18
19
20
21
XIII XIII (57) 58 58 59 XIV XIV 59 60 60 61 61 62 XV XV 62 63 63 64 XVI 65 66
XIII 58 59 60 61 62 XIV 63 64 XV 65 66 67
5 6 Siebentes Capitel. Volk und Staat im Verhältniß zum Reiche Gottes. § 31 Die extremen Theorien. 27 § 32 Der ethische Begriff vom Staate. 28 § 33 Das christliche Volksthum und der christliche Staat. 29 Achtes Capitel. Der sittliche Beruf. § 34 Die Arten des sittlichen Berufes. 30 § 35 Das Verhältniß des sittlichen Berufes zum Reich Gottes. 31 § 36 Das Vorbild Christi. 32 Neuntes Capitel. Die Kirche als selbstthätige Gemeinschaft. § 37 Die Gemeinschaft der Gottesverehrung. 33 [Das kirchliche Amt] § 38 Der Unterschied und das Verhältniß zwischen Kirche und 34 Reich Gottes. § 39 Das Verhältniß der evangelischen Kirche zu den andern 35 Particularkirchen und zu den Secten. II. Theil: Der Proceß des religiös-sittlichen Willens. Zehntes Capitel. Die Gotteskindschaft. § 40 Einleitung. 36 § 41 Der Glaube an die väterliche Vorsehung Gottes. 37 § 42 Die Demuth. 38 § 43 Das Gebet im Namen Jesu. 39 Elftes Capitel. Der religiös-sittliche Charakter. § 44 Der Unterschied des Charakters vom Naturell. 40 § 45 Die Formen des unmoralischen Charakters. § 46 Der innere Maaßstab für die Moralität des Charakters. 41 § 47 Die Formen der Sünde in dem religiös-sittlichen Charakter. 42 § 48 Die Versuchung. 43 Zwölftes Capitel. Die Tugend. § 49 A. Allgemeiner Begriff der Tugend. 44 B. Die Tugenden formaler Charakterbildung. 45 § 50 Die Selbstbeherrschung. § 51 Die Gewissenhaftigkeit. C. Die Tugenden materialer Chrakterbildung. 46 § 52 Die Weisheit § 53 Die Besonnenheit. § 54 Die Entschlossenheit. § 55 Die Beharrlichkeit. D. Die Tugend der Gesinnung. 47 § 56 Im Allgemeinen. § 57 Im Einzelnen. III. Theil: Die Regel des sittlichen Handelns in der Gemeinschaft. Dreizehntes Capitel. Das Sittengesetz und die Arten der Pflicht. § 58 Der Begriff der Pflicht. 48 § 59 Die Rechtspflicht. 49 [Liebes- und Berufspflicht] § 60 Die Liebespflicht und die Berufspflicht (im Allgemeinen). 50 § 61 Die bestimmte Liebespflicht. § 62 Das sittlich Erlaubte. 51 [Collision der Pflichten] § 63 Die sog. Collision der Pflichten. 52 Fünfzehntes Capitel. Die Grundsätze des sittlichen Handelns. § 64 Im allgemeinen Verkehr mit dem Nächsten. § 65 Die Pflichten innerhalb der Familie. § 66 Die Pflichten gegen und in der Kirche.
53–56
7 26 27 28 29 30 31 32 33 34
35 36 37 38 39 40 41 42 43 44
45
46
XIII 47 48 49 50 51 XIV 52–55
XXII
Einleitung
Daß in der 4. Spalte die zur 7. Vorlesung gehörige Nachschrift Lange 1867/68 aufgeführt wird, ist dadurch begründet, daß in ihr die Disposition gegenüber der ursprünglichen Handschrift (Ms. B*) weiterentwickelt ist, aber die Endform der Bearbeitung (Ms. B) noch nicht erreicht hat. So behandelt § 38 bis zur Nachschrift Lange noch „Das kirchliche Amt“, von Ms. B an jedoch das Thema „Kirche und Reich Gottes“. Dagegen geht im Bereich der großen Umstellung von Kapitel III-V die Nachschrift Lange schon mit Ms. B. Besonders aufschlußreich ist der Befund in Kapitel X, auf den wegen der daraus folgenden Datierungen noch ausführlicher zurückzukommen ist. Im Unterschied zu vorhergehenden und zu späteren Fassungen der Vorlesung werden in § 67 die kirchlichen Pflichten behandelt (s. unten S. 209 Beilage II), woraus sich eine Vorstellung gewinnen läßt, was Ritschl später nach Ms. B zu § 66 vorgetragen hat, der nur aus Stichworten besteht. In der 6. Spalte sind die mit rotem Farbstift eingetragenen neuen Paragraphenzahlen („rote Paragraphen“) verzeichnet. Sie stehen in Form von auffällig großen Ziffern ohne Benutzung des §-Zeichens neben den bisherigen Pragraphen und den Überschriften (in dieser Edition in Fettdruck wiedergegeben). Da die Nachschrift der Vorlesung vom Wintersemester 1867/68 (V 7) noch die alte Zählung von Ms. B* vom Winter 1862/63 (V 4) belegt, die Nachschrift von Samuel Eck vom Sommersemester 1878 (V 14)19 jedoch die roten Paragraphenzahlen voraussetzt, müssen diese etwa in der Mitte der siebziger Jahre eingeführt worden sein. Eigenartigerweise fehlt diese neue Bezifferung in der Einleitung. Doch muß sie auch dort gegolten haben, da Ritschl – wie aus den späteren Nachschriften ersichtlich ist – sich wieder der ursprünglichen Form von Ms. A näherte, indem er § 1–6 in zwei Paragraphen zusammenfaßte und nur die Unterteilung von § 7 und § 8 beibehielt. Auf jeden Fall setzt die neue (rote) Paragraphenzählung mit der Ziffer 5 ein und verläuft dann überwiegend parallel zur älteren Zählung bis zu dem langen § 64, wo sie mit den vier Ziffern 53 bis 56 eine Teilung einführt und zugleich endet. Die späteren Vorlesungen halten sich im wesentlichen an die neue (rote) Zählung, wobei jedoch durch weitere Zusammenfassungen die Endziffer noch leicht reduziert wird (1878: 55 Paragraphen). Wie die Kapitelzählung zur Zeit der „roten“ Paragraphen ausgesehen hat, ist nicht belegt. Die 7. Spalte gibt die Zählung der Vorlesung des Sommersemesters 1878 (Nachschrift Samuel Eck, V 14) wieder. Bis auf eine Zusammenfassung (§ 11) hält sie sich bei den Paragraphen an die roten Ziffern. Im dritten Teil 19
Universitätsbibliothek Gießen, Nachlaß Samuel Eck Nr. 12. – Samuel Adalbert Eck (geb. 28.12. 1856 in St. Petersburg, gest. 31.12.1919 in Gießen). Studium u. a. in Göttingen, 1883–1904 Pastor in Rußland und in Hessen, 1904 Professor für systematische Theologie in Gießen. – Spätere Nachschriften bleiben hier unberücksichtigt, weil sie für die Befunde in Ms. B keine zusätzlichen Erkenntnisse bieten.
3. Entwicklung der Vorlesung „Theologische Ethik“
XXIII
ist der Sprung der Zählung der Kapitel von XIII auf XV inzwischen bemerkt worden: aus dem XV. ist ein XIV. Kapitel geworden. Wie sich aus der Gliederung ergibt, läßt sich Ritschl im großen von der Dreiteilung der Ethik bei Schleiermacher und Rothe in Güterlehre, Tugendlehre und Pflichtenlehre leiten, freilich ohne sie im strengen Sinne zu übernehmen. In beiden Manuskripten folgt deshalb auf die gemeinsame „Einleitung“ mit den Prolegomena (§ 1–8) ein besonders umfangreicher I. Teil mit der Lehre vom Reich Gottes als dem höchsten Gut, umrahmt von der Rechtfertigungslehre und der Lehre von der Kirche. Der II. Teil enthält die Tugendlehre, der III. Teil die Lehre von den Pflichten. Die mittlere Gliederungsebene der Teile I bis III besteht bei Ms. A aus 15 fortlaufend gezählten Kapiteln, von denen zum I. Teil neun Kapitel gehören, zum II. und zum III. Teil je drei Kapitel. Ms. B* geht im I. und II. Teil wie Ms. A vor, erweitert aber den III. Teil auf vier Kapitel, so daß die Gesamtzahl anfänglich auf 16 steigt. Freilich bleibt die Kapiteleinteilung im Lauf der redaktionellen Veränderungen nicht dieselbe. Ritschl nimmt im I. Teil eine große Umstellung vor, indem er das ursprüngliche III. Kapitel (Gottes- und Nächstenliebe) den Kapiteln IV und V mit der Rechtfertigungslehre und der Lehre vom Reich Gottes nachordnet. Im III. Teil strafft er die Disposition, indem er unter Belassung des Inhalts zwei Kapitelüberschriften schließlich ganz streicht und in Ms. B neben dem XIII. Kapitel nur noch ein weiteres – zunächst versehentlich als „Fünfzehntes“ gezähltes – Kapitel stehen läßt. Die unterste benutzte Gliederungsebene bilden die fortlaufend gezählten Paragraphen, die in den beigegebenen Überschriften den Inhalt kennzeichnen. Die den beiden Manuskripten zugehörige Einleitung (§ 1–8) war bei der ersten Niederschrift 1858 nur in drei Paragraphen gegliedert; doch hatte Ritschl sie offenbar früh als zu unübersichtlich empfunden und sie deshalb schon bei der Redaktion im Ms. A unterteilt, so daß die Einteilung der Einleitung in 8 Paragraphen bereits dem Ms. A angehört. Davon ausgehend beginnt im Ms. B der I. Teil mit § 9 und endet mit § 39. Innerhalb dieses Bereichs gibt es zwei größere Umstellungen. Die erste betrifft die Paragraphen 12 und 13 mit dem Problem der Bekehrung; die zweite folgt aus dem Platztausch im Bereich der Kapitel III bis V. Im II. Teil mit § 40 bis 57 werden § 41– 43 unter sich mehrfach umgestellt, während die andern 15 Paragraphen an ihrem Platz verbleiben. Im III. Teil wird die Paragraphenzählung, wie aus den textkritischen Details hervorgeht, von der Änderung der Kapiteleinteilung mitbetroffen. Dabei kommt es von § 63 an zu Zusammenfassungen oder auch neuen Unterteilungen. Die späteren Vorlesungen, die im übrigen an der Disposition kaum etwas ändern, lassen darauf schließen, daß die letzten Paragraphen – vielleicht auch bedingt durch das Semesterende – nicht immer vorgetragen wurden.
XXIV
Einleitung
4. Weitere Datierungsfragen Im allgemeinen ergibt sich aus den Zusätzen und Streichungen, die zur Endgestalt von Ms. B führen, nur ein Früher und Später, nicht jedoch eine Datierung in Jahreszahlen. Auch die Nachschrift der Vorlesung 7 vom Wintersemester 1867/68 (Lange) hilft nicht weiter, da sie auf frei formulierten Diktaten beruht, die nicht ohne weiteres mit Ritschls sehr viel ausführlicheren eigenhändigen Präparationen identifiziert werden können. Nun lassen sich aber im X. Kapitel bei § 41–43 so viele Textstufen unterscheiden, daß der Versuch einer eindeutigen Relation zu den Daten von Ritschls Vorlesungen unternommen werden kann. Ritschl hat die Themen der drei genannten Paragraphen, die hier abgekürzt mit „Glaube“, „Demut“ und „Gebet“ überschrieben werden sollen, mehrfach umgestellt, anders gezählt und außerdem den ursprünglichen Text über die „Demut“ auf einem besonderen Blatt neu gefaßt. Wie anhand des textkritischen Apparats nachvollzogen werden kann, lassen sich von der ursprünglichen Niederschrift Ms. B* an folgende Stadien unterscheiden. Stadium 1
§ 41 Demut
2
§ 42 Vorsehung
§ 43 Gebet
Ms. B*/Lange, V 4–7
§ 41 Vorsehung § 42 Gebet
§ 43 Demut
V8
3
§ 41 Vorsehung § 42 Gebet
§ 43 Demut (Blatt) V 9
4
§ 41 Vorsehung § 42 Demut (Blatt) § 43 Gebet
Ms. B/RuV 3, V 10
5
§ 37 Vorsehung § 38 Demut (Blatt) § 39.Gebet
rote §§
6
§ 36 Vorsehung § 37 Demut (Blatt) § 38 Gebet
Eck, V 14
Die sechs Stadien, für die sich aus dem textkritischen Befund zunächst nur eine relative Reihenfolge ermitteln läßt, können mittels der beiden Nachschriften von Lange und Eck sowie durch die Parallele in RuV 3 genauer datiert werden. Das 1. Stadium, das bei der ursprünglichen Niederschrift von Ms. B* im Wintersemester 1862/63 die Reihenfolge der Themen aus Ms. A übernahm, blieb mindestens bis zum WS 1867/68 (Nachschrift Lange, V 7) erhalten. Damit gehören auch die beiden dazwischen liegenden Vorlesungen (V 5: SS 1864, V 6: WS 1865/66) diesem Stadium an. Das 4. Stadium bringt die drei Themen in der Reihenfolge, die auch in RuV 3,542.559.568 befolgt wird. Da die Arbeit an RuV 3 schon Mitte November 1873 abgeschlossen war, 20 dürfte die Disposition schon bei der da20
OR 2,152.
4. Weitere Datierungsfragen
XXV
vor liegenden Vorlesung im SS 1872 (V 10) das 4. Stadium erreicht haben. 21 Das 2. Stadium fiele bei dieser Überlegung ins SS 1869 (V 8), das 3. Stadium ins WS 1870/71 (V 9). Im 5. und 6. Stadium ändert sich die Reihenfolge der Themen nicht mehr, wohl aber die Paragraphenzählung. Das 6. Stadium wurde spätestens bei der Vorlesung SS 1878 (Nachschrift Eck, V 14) erreicht, frühestens jedoch Sommer 1875, wobei dann das 5. Stadium dem Winter 1873/74 zuzuordnen wäre. Theoretisch wäre es möglich, daß mehrere Stadien aus ein und demselben Bearbeitungsvorgang stammten. Der Befund der Handschrift weist jedoch nicht in diese Richtung. Die Änderungen sind jeweils in Reinschrift eingetragen und haben den Charakter des Endgültigen, auch wenn sie nach einigen Semestern erneut gestrichen und durch andere ersetzt wurden. Entscheidend ist jedoch, daß sich das 1. Stadium nicht nur dem WS 1862/63 zuweisen läßt, sondern auch für das WS 1867/68 belegt ist und daß das 4. Stadium der Fertigstellung des 3. Bandes von RuV entspricht (Herbst 1873). Dadurch ist wenigstens soviel bewiesen, daß Ritschl auch noch in den beginnenden siebziger Jahren größere Textveränderungen in Reinschrift vorgenommen hat. Was im Bereich von § 41– 43 nachweisbar ist, dürfte auch sonst der Fall gewesen sein, und zwar überall dort, wo Ritschl Ms. B* so verändert hat, daß dabei ein durchformulierter Text entstanden ist. Darüber hinaus wächst die Wahrscheinlichkeit, daß die manchmal in flüchtiger Feder oder mit Bleistift eingetragenen stichwortartigen Randbemerkungen erst in die Mitte oder in die zweite Hälfte der siebziger Jahre gehören. Letzteres scheint vor allem dort zuzutreffen, wo sich diese Notizen mit den Vorarbeiten zur „Geschichte des Pietismus“ berühren. 22 Ein zweiter Bereich, in dem sich Entwicklungsstadien unterscheiden lassen, findet sich bei der Kapiteleinteilung des III. Teils. Wie die folgende Tabelle zeigt, schwankte Ritschl, an welcher Stelle das XIV. und das XV. Kapitel beginnen sollten. Die Tabelle wiederholt den letzten Teil des oben S. 5–7 gegebenen Überblicks über die gesamte Vorlesung, fügt aber zwischen den dortigen Spalten 3 (Ms. B*) und 4 (Nachschrift Lange) noch das Zwischenstadium ein, das aus einer gestrichenen Stelle in Ms. B erschlossen werden kann. 23
21
Allerdings ist nicht völlig auszuschließen, daß die zum 4. Stadium führende Umstellung erst im Zuge der Endredaktion von RuV 3 stattgefunden und sich dann in der Vorlesung Winter 1873/74 niedergeschlagen hat. An dem wesentlichen Ergebnis, daß Ms. B mit RuV ungefähr gleichzeitig ist, ändert sich dadurch nichts. 22 Mit diesen Studien befaßte sich Ritschl seit 1876, s. OR 2,290. 23 S. unten S. 169,21 (Anfang von § 59).
XXVI
Einleitung
WS 1862/63 Ms. B*, V 4
V 5 oder V 6
WS 1867/68 (Lange) V 7
SS 1872 Ms. B V 10
SS 1878 (Eck) V 14
XIII
XIII
XIII
XIII
XIII
§ 57
§ 58
§ 58
§ 58
§ 47
§ 59
§ 59
§ 59
§ 47
§ 59
§ 60
§ 60
§ 60
§ 49
§ 60
§ 61
§ 61
§ 61
§ 61
§ 62
§ 62
§ 62
§ 50
XV
XV
XIV
§ 62
§ 63
§ 63
§ 63
§ 51
§ 63
§ 64
§ 64
XVI
XVI
XV
XV
XIV
§ 65
§ 65
§ 65
§ 64
§ 52–55
§ 66
§ 65
§ 66
§ 65
§ 67
§ 66
XIV § 58 XIV
Bei der Niederschrift von Ms. B* lehnte sich Ritschl zunächst an die Disposition von Ms. A an, nur daß er für die „Grundsätze“ ein XVI. Kapitel anfügte. Bei der anschließenden Umarbeitung für das SS 1864 (V 5) oder spätestens für das WS 1865/66 (V 6) schob Ritschl die Überschrift des XIV. Kapitels um einen Paragraphen nach vorn. Weil nun aber das XIII. Kapitel nur noch aus einem einzigen Paragraphen (§ 58) bestand, vereinigte ihn Ritschl mit den folgenden vier Paragraphen (§ 59–62) und vergrößerte so das XIII. Kapitel. Dafür ließ er spätestens in der Vorlesung WS 1867/68 die Überschrift des XIV. Kapitels ganz fallen und änderte die Nummern der folgenden Kapitel in XIV und XV. Da er in der Endredaktion von Ms. B (V 10) die beiden bisherigen Paragraphen des XIV. Kapitels (§ 63 und 64) auf einen einzigen reduzierte (§ 63), schien ihm offenbar dort eine besondere Kapitelbezeichnung nicht mehr sinnvoll, so daß er die Überschrift dem neuen Paragraphen 63 gab und die überflüssig gewordene Kapitelnummer XIV strich. Freilich ließ er versehentlich die Nummer XV des folgenden Kapitels stehen, was er erst später korrigierte (Nachschrift Eck). Der Überblick über die Disposition der Vorlesung „Theologische Ethik“ in den verschiedenen Stadien zwischen 1858 und 1878 bestätigt die Entscheidung für Ms. B. Dieses Manuskript vermittelt einen Eindruck von Ritschls Entwicklung bis mindestens in die Mitte der siebziger Jahre, also von den letzten Bonner Jahren bis zum Höhepunkt seiner Wirksamkeit in Göttingen. Da die Form der „Theologischen Ethik“ in dieser Periode von
5. Beschreibung der Manuskripte
XXVII
besonderem Interesse ist, kann aus dem Umstand Nutzen gezogen werden, daß Ritschl bis zu diesem Zeitpunkt sein Manuskript so verändert hat, daß immer ein kohärenter, fortlaufender und durchformulierter Text mit grammatikalisch vollständigen Sätzen erhalten blieb. Es ist also ratsam, diese späte Ebene der Edition zugrundezulegen und im textkritischen Apparat ihre Entstehung zu dokumentieren. Zeitlich darüber hinaus liegen noch diejenigen Entwürfe, die auf dem Rand stichwortartig festgehalten und grammatikalisch nicht mehr in den Haupttext integriert sind; sie sind bei der Edition als eingerückte Absätze möglichst an der Stelle untergebracht, wo sie am Rand neben dem Haupttext stehen und dem Sinn nach zugeordnet werden können.
5. Beschreibung der Manuskripte Die Manuskripte sind auf einem Papier geschrieben, das kein Wasserzeichen aufweist. Sie bestehen aus 16-seitigen Heften, bei denen jeweils vier Blätter (Ms. A: 46,8 × 29,3 cm; Ms. B: 46,0 × 29,4 cm) quer gefaltet und am Falz mit einem Faden zusammengehalten werden. Bei den ersten beiden Heften von Ms. A und beim gesamten Ms. B ist durch starke Benutzung das Papier am Falz gebrochen, so daß der Faden verlorenging und die Hefte sich teilweise in Einzelblätter aufgelöst haben. Jedes der beiden Manuskripte besteht aus 9 Heften. Ritschl selbst hat diese Hefte im ganzen jeweils auf der ersten Seite mit arabischen Ziffern versehen (Ms. A mit Tinte, Ms. B mit Bleistift). Von späterer Hand wurden die Seiten einzeln mit Bleistift durchgezählt. Vor der Benutzung wurden die Seiten der Länge nach in der Mitte durch einen Knick markiert, so daß auf jeder Seite zwei ca. 11,7 bzw. 11,5 cm breite Kolumnen entstanden. In der linken Kolumne wurde der ursprüngliche Text niedergeschrieben, während die rechte Kolumne – im folgenden kurz „Rand“ genannt – für Korrekturen oder Zusätze bereitstand. Die Hefte 3 bis 9 von Ms. A befinden sich in gutem Zustand, da sie nur bei den ersten drei Vorlesungen benutzt wurden. Im 9. Heft sind die letzten 11 Seiten leer. Die beschriebenen Seiten sind mit 1 bis 133 durchgezählt. An zwei Stellen sind Blätter eingelegt: 1. nach S. 24 ein Doppelquartblatt S. 24 a. b. mit einer Neufassung von § 9; 2. nach S. 105 ein Doppelquartblatt S. 105 a. b. mit einem gegenüber Ms. A* neu eingeschobenen „§ 47. Die Versuchung.“ Ms. B hat keine selbständige „Einleitung“, vielmehr sind die Seiten 1–21 von Ms. A mit § 1–8 zugleich auch die Einleitung der Neubearbeitung. Ms. B* beginnt also im 1. Heft mit § 9; im 9. Heft sind nur 2 Seiten beschrieben. Der Text (§ 9) beginnt mit der geraden Seitenzahl 22 und endet mit Seite 151, umfaßt also 130 Seiten.
XXVIII
Einleitung
Auch in Ms. B sind bei Platzmangel zusätzliche Blätter in Quartformat eingelegt: 1. vor S. 28 ein Doppelquartblatt S. 28 a.b mit Reflexionen bei der Lektüre von Gaß, Die Lehre vom Gewissen 1869 und mit einer Übersicht über Bibelstellen zum Gewissensbegriff (s. unten S. 213 Beilage III.1); 2. nach S. 29 ein Quartblatt S. 29 a.b mit einer Ergänzung zu § 12 und ein Blatt (22,6 × 13,9 cm) S. 29 c.d mit dem Schluß von § 13 (s. unten S. 42,11; 45,18); 3. nach S. 43 ein Doppelquartblatt S. 43 a.b mit Exzerpten aus Thomas von Aquino, Summa theologiae II/II (s. unten S. 216 Beilage III.2); 4. nach Seite 43 ein Quartblatt S. 43 c.d mit Auszügen aus Bernays, „Theophrastos’ Schrift über Frömmigkeit“ zu den Lehren hellenistischer Philosophen über die rechte kultische Haltung und über die Einheit des Menschengeschlechts (zu letzterem s. unten S. 85,21); 24 5. nach S. 89 zwei Doppelquartblätter S. 89 a-d mit der Neufassung von § 37–39 (s. unten S. 125,1); 6. vor S. 98 ein Doppelquartblatt (letzte Seite leer) S. 98 a.b mit der Neufassung von § 42 (s. unten S. 136,22); 7. nach S. 139 ein Einzelblatt (21,5 × 14 cm, Rückseite leer) S. 139 a mit einem Exzerpt aus Luthers Kirchenpostille (s. unten S. 178,21); 8. nach S. 151 ein Einzelblatt (21,5 × 7,7 cm, Rückseite leer) S. 151 a mit Bleistift: § 66 (s. unten S. 193,3).
6. Editorische Fragen (1) Text Die Abkürzungen werden aufgelöst. Wenn die Auflösung nicht eindeutig ist, wird durch einen senkrechten Trennungsstrich die Grenze zwischen Abkürzung und Ergänzung mitgeteilt (eigentl.: eigentl|ich oder eigentl|iche; d.: d|er oder d|as)25. Die Rechtschreibung folgt dem Manuskript – auch dort, wo sie bei Ritschl uneinheitlich ist (Punkt, Punct). Die Unterstreichungen werden durch Sperrung angezeigt. Korrekturen, Ergänzungen über der Zeile oder am Rand (d. h. auf dem freien Platz in der rechten Kolumne) werden im textkritischen Apparat wiedergegeben. Wo Ergänzungen am Rand durch Einfügungszeichen, Striche oder „NB“ eindeutig zugewiesen sind, werden sie 24
Die Exzerpte werden nur insoweit wiedergegeben, als sie die Erwähnung von Antiochus von Askalon im Zusammenhang mit der Liebe als dem Gesetz des Reiches Gottes erläutern. 25 Ritschl ließ bei der Überarbeitung seiner Sätze die Abkürzungen auch dann stehen, wenn sie vorher anders aufzulösen waren als nachher. Da der Text jeweils eindeutig ist, werden diese Fälle im textkritischen Apparat nicht nachgewiesen.
6. Editorische Fragen
XXIX
in den Text integriert. Ergänzungen, bei denen eine solche Zuweisung fehlt und die sich auch nicht in den Satzfluß einordnen lassen, werden eingerückt möglichst an der Stelle gebracht, auf die sie sich beziehen oder in deren Nähe sie im Ms. vorkommen. Dabei ist zu beachten, daß der dadurch entstehende Absatz nicht von Ritschl stammt, der innerhalb der Paragraphen keine Absätze bildet. Die mit Tinte oder mit Bleistift gesetzten eckigen Klammern, die oft einer gänzlichen Streichung vorangehen, werden im textkritischen Apparat mitgeteilt. Die Satzzeichen werden belassen. Der gelegentlich fehlende Schlußpunkt wird zur Vermeidung von Mißverständnissen nachgetragen. Die in der Einleitung (Ms. A) und im Ms. B von späterer Hand mit Bleistift vorgenommene Seitenzählung wird in eckigen Klammern in den laufenden Text eingefügt. Die „roten Paragraphen“ sind in der Nähe der Stellen, wo Ritschl sie eingefügt hat, in Fettdruck wiedergegeben. (2) Textkritischer Apparat Das Lemma, aus dem der Umfang der textkritisch relevanten Stelle ersichtlich ist, nimmt auf Sperrung keine Rücksicht. Gestrichene Stellen werden in spitze Klammern (< >) gesetzt; längere Partien sind zur Entlastung des Apparats als Beilagen unter I (unten S. 194) mitgeteilt. Bei Korrekturen wird wenn möglich der ursprüngliche Wortlaut ermittelt. Da Ritschl bei größeren Abänderungen oft möglichst viele Elemente des früheren Textes benutzte, wird nur der ursprüngliche Text angeführt, ohne im einzelnen die Streichungen, Ersetzungen, Überschreibungen oder Ergänzungen über der Zeile oder am Rand nachzuweisen. Kleine Ungenauigkeiten bei der Setzung von Einfügungszeichen bleiben unberücksichtigt, wenn die Zuordnung des einzufügenden Textes eindeutig ist. Bei gestrichenen Stücken begrenzen einfache Anführungszeichen den Text, auf den sich die nachfolgende runde Klammer bezieht. (3) Sachapparat Der Sachapparat gibt keinen Kommentar, sondern beschränkt sich auf den Nachweis der Fundorte der offenkundigen Zitate nach den heute gebräuchlichen Ausgaben. 26 Zugleich wird nach Möglichkeit auf Ausgaben und Titel zurückgegriffen, die Ritschl in seinen Werken (RuV, GdP, Gesammelte Aufsätze) benutzt hat. Die wörtlichen Zitate, die nach der Gewohnheit der Zeit sinngemäß abgewandelt oder verkürzt sind, werden nicht berichtigt. Die Stellenangabe bezieht sich in der Regel auf den Anfang des jeweils von Ritschl herangezogenen Zitats. Biblische Zitate werden im Sachapparat nur 26
Den Nachweis des Gregor-Zitats S. 148,9 verdanke ich Herrn Prof. Dr. Ulrich Köpf, Tübingen.
XXX
Einleitung
berücksichtigt, wenn die Stellenangabe im Text fehlt. Bei Schlagworten, die aus dem allgemeinen theologischen Bildungsgut genommen sind, wird auf Quellenangaben verzichtet. Die Verweise auf die Dogmatikvorlesung können noch nicht entschlüsselt werden. Der aus späteren Nachschriften bekannte Aufbau des Kollegs darf nicht ohne weiteres bei den früheren vorausgesetzt werden, da die Dogmatikvorlesung bei der Bezifferung der Paragraphen im Lauf der Jahre ähnliche Verschiebungen aufweist wie die Ethikvorlesung. Bei größeren Umstellungen des Textes, die im einzelnen im textkritischen Apparat nachgewiesen sind, gibt der Sachapparat zusammenfassende Informationen, die den Durchblick durch den Redaktionsvorgang erleichtern.
7. Beilagen I. Gestrichene Stücke Es ist das unmittelbare Ziel der Edition, die Anfang der 1870er Jahre erreichte Endfassung des Textes in eine lesbare Form zu bringen. Der textkritische Apparat gewährt dabei einen Einblick in die Entwicklung der Gedanken von 1862 an. Die drei Stücke in Abschnitt I gehören eigentlich wie andere Streichungen in den textkritischen Apparat, werden aber wegen ihres Umfangs als Beilagen abgedruckt, weil sie sonst die Lektüre des Haupttextes zu sehr stören würden. 1. Die „Erstfassung des IX. Kapitels mit § 37–39“ legte Ritschl seiner Vorlesung bis mindestens WS 1867/68 zugrunde. 2. Als „Gestrichener Schluß von § 41“ wird der Text mitgeteilt, den Ritschl in der Vorlesung vom WS 1867/68 noch vorgetragen, später aber gestrichen hat. 27 27
In dieser ursprünglichen Fassung von § 41 ist die nachträglich wieder durchgestrichene Randbemerkung von Interesse: „Der Werth Christi als Erlösers.“ (s. unten S. 204,3). Sie geht wohl auf den 1864 erschienenen dritten Band des „Mikrokosmus“ von H ERMANN LOTZE zurück, durch dessen Lektüre Ritschl erstmalig zur Benutzung des Wertbegriffes angeregt wurde. Von seiner Dogmatik-Vorlesung WS 1864/65 und SS 1865 an benutzte er den Wertbegriff zur Interpretation der Gottheit Christi (OR 2,20 f. 25) – freilich ohne daß damit schon die erst später ausgebaute Kategorie des Werturteils verbunden wäre. Die Randbemerkung könnte schon bei der 6. Vorlesung WS 1865/66 eingetragen worden sein. Ihre Streichung wurde wohl dadurch veranlaßt, daß Ritschl den „Werth Christi“ in einem Zusatz am Rand auf derselben Seite ausführlicher als „Bedeutung Christi“ faßte (s. unten S. 204,17). Zur Sache vgl. SCHÄFER , Ritschl 110 f. 170–173; HORTON H ARRIS , Albrecht Ritschl’s Theology 224–226; M ATTHIAS NEUGEBAUER , Lotze und Ritschl 172–183.
8. Überblick über die Disposition und den Inhalt der Vorlesung
XXXI
3. Die „Erstfassung von »§ 43. Die Demuth«“ mußte, wie oben S. XXIV näher dargelegt wurde, einer Neufassung auf besonderem Blatt weichen. II. „Aus der Nachschrift Lange 1867/68“ wird der letzte Paragraph (§ 67) wiedergegeben, der dem letzten Paragraphen (§ 66) in Ritschls Manuskript entspricht. Das Diktat vom WS 1867/68 veranschaulicht, wie Ritschl mit den Stichwortlisten umgegangen ist, auf die sich seine Erweiterungen in der spätesten Schicht seines Manuskriptes beschränkten. III. Exzerpte auf eingelegten Blättern 1. Die auf einem Doppelquartblatt festgehaltenen Notizen zu „Gaß, Die Lehre vom Gewissen“ vermischen eine Reihe daraus entnommener Stichworte mit eigenen Reflexionen. Auf die Zuordnung der Exzerpte Ritschls zu seiner Quelle wird hier verzichtet, weil die dafür erforderliche Darstellung der komplexen Gedankengänge zu weitläufig wäre. 2. Von den Auszügen und Bemerkungen zu „Thomas von Aquino, Summa theologiae II/II“ werden zwar in der Vorlesung „Theologische Ethik“ nur wenige wörtlich zitiert. Insgesamt bilden sie aber den Hintergrund für den Zusammenhang von Gottesbegriff und Ethik sowie für das Verhältnis von Gottesliebe und Nächstenliebe. 28
8. Überblick über die Disposition und den Inhalt der Vorlesung 29 Die Einleitung (§ 1–8) entstand schon 1858 bei der ersten Konzeption der Vorlesung und hat sich später – wie der handschriftliche Befund ausweist – erstaunlicherweise nicht mehr grundlegend verändert. Ritschl gibt darin Auskunft über sein Verhältnis zur Geschichte der Disziplin, insbesondere zur Ethik Schleiermachers (§ 2) und definiert das Verhältnis der theologischen Ethik zur Dogmatik (§ 3). In § 4–6 klärt er das Nebeneinander von philosophischer und theologischer Ethik und begründet nach zahlreichen Abgrenzungen seine positive Zuwendung zu Immanuel Kants praktischer Philosophie, in deren Zentrum die Begriffe Freiheit, Wille und Pflicht ste28
Die Thomas-Zitate erläutern u. a. das, was Ritschl unter katholischer oder mystischer Gottesliebe versteht (s. „§ 26 Die Liebe zu Gott.“ unten S. 90,10); zur Frage des Verhältnisses von Gottes- und Nächstenliebe vgl. SCHÄFER , Ritschl 114 f. 118 f. 180 f.; L EE , Die menschliche Liebe zu Gott 216 f. 265–267. 270 f. 29 Im Unterschied zu der Inhaltsangabe OR 1,346–364, die gelegentlich Ms. B berücksichtigt, aber überwiegend Ms. A* paraphrasiert und dabei die Gliederung nachordnet, wird hier die Disposition und ihre Begründung in den Vordergrund gestellt.
XXXII
Einleitung
hen. Die Bejahung der sittlichen Autonomie schließt jedoch ein positives „Verhältniß der theologischen Ethik zur heiligen Schrift“ (§ 7) nicht aus, indem die sittlichen Grundideen des Neuen Testaments ihre Geltung behalten. Schließlich arbeitet sich Ritschl in § 8 zu einer eigenen Disposition vor, indem er referierend und kritisierend die einschlägigen Gedanken bei Schleiermacher und Richard Rothe durchkämmt. Weil er bei beiden „die Ignorirung des Begriffes des Willens“ feststellt, kann er ihrer Einteilung des Stoffs in Güterlehre, Tugendlehre und Pflichtenlehre nur bedingt folgen. Abweichend von diesen Vorbildern formuliert er zum Schluß der Einleitung die Überschriften, mit denen er den Inhalt der drei Hauptteile seiner Ethik vorläufig umreißt: „I. Das religiöse Subject als sittliches und die sittliche Gemeinschaft unter dem religiösen Gesichtspunct. II. Der Proceß des besonderen religiösen Willens. III. Die Regel des sittlichen Handelns in der Gemeinschaft.“ Mit der doppelgliedrigen, etwas komplizierten Überschrift des Ersten Teils versucht Ritschl die Besonderheit seiner Konzeption zu erfassen. Zum Verständnis empfiehlt es sich, beim zweiten Glied – „sittliche Gemeinschaft unter dem religiösen Gesichtspunct“ – zu beginnen. Diese Wendung bedeutet, daß Ritschl den ethischen Konzeptionen Schleiermachers und Rothes insoweit zu folgen bereit ist, als er im ersten Teil das Christentum als „sittliche Gemeinschaft“ beschreibt und dabei die von Schleiermacher bevorzugte Kategorie des sittlichen Gutes anwendet, also den Bereich, der heute unter den Titeln Sozialethik oder Ethik der Institutionen verhandelt wird. Ritschl hält auch daran fest, daß das Reich Gottes als das höchste sittliche Gut zu deuten ist, das durch die untergeordneten Güter der Familie, des Volks und des Staats gegliedert wird, in denen dann der Einzelne je nach seinem Beruf die Liebe verwirklicht. Diese sittliche Gemeinschaft wird jedoch nicht primär unter dem ethischen Gesichtspunkt dargestellt, wie sie sich in Willensprozessen und Handlungen vollzieht, sondern „unter dem religiösen Gesichtspunct“, d. h. vom Standpunkt Gottes aus, wie er aus der biblischen Offenbarung zu ersehen ist. Erst auf dem Boden dieser exegetisch fundierten religiösen oder dogmatischen Sicht wird dann in einem zweiten Schritt die ethische Sicht der sittlichen Gemeinschaft möglich. Die Orientierung an der Kantschen Ethik macht nun aber die Ergänzung der von Schleiermacher übernommene Kategorie des sittlichen Gutes durch das Element des Willens erforderlich. Sie geschieht durch den Blick auf den einzelnen Menschen, der zwar immer ein Glied des Reiches Gottes bleibt, aber diesen Ort nur dadurch einnimmt, daß er kraft seines freien Willens sittlich handelt. Dabei begründet Ritschl die Adoption der Ethik Kants mit dem Hinweis auf deren Wurzeln im Protestantismus. Er fügt der Güterlehre
8. Überblick über die Disposition und den Inhalt der Vorlesung XXXIII
das Element des Willens in der Weise hinzu, daß er auf die evangelische Grundlegung der Ethik im 16. Jahrhundert zurückgreift und die Freiheit zum sittlichen Handeln mit Hilfe der reformatorischen Soteriologie herausstellt. Mit der Behandlung von Rechtfertigung und Heiligung in den Kapitel I bis III werden nicht etwa die ausgetretenen Pfade orthodox-protestantischen Lehrbuchwissens betreten. Vielmehr beschreibt Ritschl darin die „Heiligung oder Wiedergeburt“ (I. Kapitel) als die Identität von göttlichem und menschlichem Handeln, in welchem die theologische Ethik begründet ist. Hier schließt sich ein bemerkenswerter Gedankengang an, den Ritschl später in dieser Deutlichkeit und Zuspitzung nicht mehr wiederholt. Er geht davon aus, daß die Heiligung sich nicht empirisch beobachten läßt, sondern nur im praktischen Vollzug der Tat sich als wirklich erweist. Darin gleicht sie der sittlichen Freiheit bei Kant. Die Heiligung durch den Geist im Sinne der reformatorischen Lehre und das Handeln auf Grund der intelligibeln Freiheit im Sinne Kants sind einander nicht nur ähnlich, sondern fallen zusammen. „Das Gewissen ist die subjective Gestalt … der Synthese zwischen heiligem Geist und intelligibler Freiheit, in welcher dieselbe auch dem empirischen zeitlichen Bewußtsein entgegentritt.“30 Ein Beispiel dafür gibt die in § 12 f. besprochene „Bekehrung“: Im religiösen Urteil wird die Bekehrung „auf Gottes Bewirkung zurückgeführt“, in ethischer Betrachtung aber vom Menschen zugleich „als die Bekehrung seiner selbst verstanden“. 31 Das erste Glied in der Überschrift des Ersten Teils: „Das religiöse Subject als sittliches“ bezeichnet also die vorrangige Funktion des durch die Heiligung zur Freiheit befähigten menschlichen Willens innerhalb des Reiches Gottes. „Das religiöse Subject“ ist der Mensch, der sich dank Rechtfertigung und Versöhnung in religiöser Selbstbeurteilung auf Grund der Offenbarung von Gott geheiligt weiß. Er sieht sich daraufhin in ethischer Betrachtung zugleich „als sittliches“ Subject an. Diese Gleichsetzung vollzieht sich jedoch nicht als intellektueller Akt, sondern nur als praktische sittliche Tat. 30
S. unten S. 35,4. – Während Ritschl diese Entlehnung aus Kants praktischer Philosophie in abgewandelter Form beibehielt, um die Wissenschaftlichkeit der Theologie zu begründen, tauchen Anregungen von Hermann Lotze nur am Rand auf (vgl. oben S. XXX Anm. 27). 31 S. unten S.38,8. – Nach OTTO R ITSCHL lassen sich im ersten Entwurf der Dogmatik WS 1853/54 noch keine direkten Einflüsse der Kantschen Philosophie auf Ritschls Theologie nachweisen (OR 1,245). Da die Identifizierung der christlichen Freiheit im theologischen Sinn mit der intelligibeln Freiheit im Sinne Kants in der ursprünglichen Niederschrift der Einleitung (Ms. A*, 1858) schon enthalten ist (s. unten S. 14,27), hat die erste entscheidende Begegnung mit Kants Philosophie zwischen 1854 und 1858 stattgefunden. – Die Entlehnung aus Kant ist ein Beispiel für Ritschls Neigung, philosophische Sätze eklektisch zu übernehmen, um theologische Sachverhalte zu begründen, ohne die jeweiligen Kontexte auf ihre wechselweise Verträglichkeit hin zu überprüfen; vgl SCHÄFER , Ritschl 153 f.
XXXIV
Einleitung
Der Mensch wird seines Angenommenseins durch Gott dadurch inne, daß er in der Lage ist, als Glied des Reiches Gottes gegen die Kausalität der Triebe und des Eigennutzes selbstlose Liebe zu üben. 32 Die Identität von heiligem Geist und intelligibler Freiheit ist damit die Begründung für das Recht, beim einzelnen Menschen aus der religiösen Betrachtung ethische Folgerungen zu ziehen und umgekehrt. Was aber für den einzelnen Menschen gilt, wird auch auf das Reich Gottes im ganzen angewandt. Es ist zugleich die von Gott offenbarte Gemeinschaft und das in freier menschlicher Tat von dieser Gemeinschaft verwirklichte sittliche Gut. Die Überschrift des Ersten Teils läßt sich deswegen so paraphrasieren: (1) Der Mensch, wie ihn die Offenbarung der religiösen Betrachtung zeigt, ist dank der mit der intelligibeln Freiheit identischen Heiligung zum sittlichen Handeln befähigt, so daß er (2) tätig wird als Glied der sittlichen Gemeinschaft des Reiches Gottes, die in religiöser Betrachtung von Gott offenbart ist. Dem ersten Glied der Überschrift ordnen sich Kapitel I-III unter, dem zweiten Glied die Kapitel IV-VIII. Eine Sonderstellung scheint das IX. Kapitel einzunehmen. Geht man davon aus, daß Ritschl unterscheidet zwischen (1) dem Reich Gottes als der unsichtbaren sittlichen Gemeinschaft der Christen und (2) der Kirche als der sichtbaren religiösen Kultusversammlung, dann stellt sich die Frage, wie er „Die Kirche als selbständige Gemeinschaft“ innerhalb des Ersten Teils unterbringen kann, der doch die christliche Gemeinschaft ausdrücklich als „sittliche“ beschreibt. Die Antwort findet sich in den Handschriften. 1858 (Ms. A*) lautete die Überschrift des IX. Kapitels: „Die Kirche als sittliche Gemeinschaft“, d. h. die später so stark betonte Unterscheidung zwischen der sittlichen Gemeinschaft des Reiches Gottes und der Kirche als religiöser Versammlung lag Ritschl zunächst fern. Dabei blieb es sowohl bei der Ausarbeitung der zweiten Handschrift 1862/63 (Ms. B*) als auch in der Vorlesung 1867/68 (Nachschrift Lange). Erst danach änderte Ritschl das „sittliche“ in „selbstthätige“ ab. Auch so freilich gehört das kirchliche Handeln zum Stoff der Ethik. Während die Dogmatik die Kirche unter dem (formal) religiösen Aspekt als die (inhaltlich) religiöse Gemeinschaft der Gerechtfertigten behandelt, die von Gott durch Wort und Sakrament in die Gemeinschaft der Heiligen aufgenommen werden, befaßt sich die Ethik mit den daraus folgenden Handlungen, also mit dem (formal) ethischen Aspekt der gottesdienstlichen Gemeinde, in der die Gerechtfertigten sich gegenseitig ihres religiösen Glaubens vergewissern. Daß bei dieser Konzeption der rechtliche Kirchenbegriff gegenüber dem ethischen sekundär ist, führt zu einer ökumenischen Öffnung, die sich erst viel später auswirken sollte.
32
Vgl. unten S. 209,18.
8. Überblick über die Disposition und den Inhalt der Vorlesung
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Der Zweite Teil der Vorlesung sollte eigentlich die Tugendlehre zum Inhalt haben, was auch im XII. Kapitel der Fall ist. Doch auch hier macht sich der Vorrang des Willens geltend. Schleiermacher hatte in seiner Ethik die Kategorie der Tugend angewandt, um mit ihrer Hilfe anschaulich zu machen, inwieweit beim einzelnen Menschen die Natur durch die Vernunft aus- und umgebildet und dadurch habituell zum sittlichen Handeln disponiert ist. Stattdessen stellt Ritschl auch hier den Willen in den Vordergrund: „Der Proceß des religiös-sittlichen Willens“. Was dann unter dieser Überschrift ausgeführt wird, folgt exakt dieser Formulierung, indem zuerst die religiösen und dann erst die sittlichen Willensprozesse abgehandelt werden – also verglichen mit dem Ersten Teil in umgekehrter Reihenfolge. Das X. Kapitel schildert Glaube, Demut und Gebet als die inneren Vorgänge, die zur religiösen Seite des Christentums gehören und in denen sich die gottesdienstliche Gemeinde konstituiert. Mit den sittlichen, dem Reich Gottes zugeordneten Vorgängen beschäftigen sich dann Kapitel XI und XII. Ziel bei der Ausbildung des individuellen Willens ist der „religiös-sittliche Charakter“, in welchem alle persönlichen Zwecke dem göttlichen Endzweck des Reiches Gottes untergeordnet werden. „Tugend ist die der guten Gesinnung gemäße Ordnung der Absichten Vorsätze und Entschlüsse, als Product des Willens innerhalb des Charakters selbst“ (s. unten S. 155,17). Der Dritte Teil der Vorlesung widmet sich schließlich der Pflichtenlehre. Schon Schleiermacher hatte sich unter dieser Überschrift mit der Frage befaßt, wie die zum Handeln gehörigen Pflichturteile oder Gesetze (Regeln) erkannt werden können. Entsprechend lautet auch Ritschls Überschrift: „Die Regel des sittlichen Handelns in der Gemeinschaft“. Er versucht hier, einen Mittelweg einzuschlagen zwischen der Autonomie, die aus dem Kantschen kategorischen Imperativ folgt, und der inhaltlichen Richtungsangabe des neutestamentlichen Liebesgebots, das dem höchsten Endzweck Gottes entspricht. Das Schwergewicht liegt auch in diesem Teil auf der Zuordnung der Pflichturteile zum Reich Gottes als dem höchsten Gut und den davon umfaßten untergeordneten sittlichen Gütern (Staat, Berufswelt, Familie). Die religiöse Seite des Christentums wird nur anhangsweise in einem letzten Paragraphen der Vorlesung kurz nachgetragen: „Die Pflichten gegen und in der Kirche“. Ritschl scheint freilich die religiöse Pflichtenlehre nicht regelmäßig behandelt zu haben. Im handschriftlichen Material findet sie sich erstmals in der Nachschrift Lange 1867/68 als § 67 und dann wieder – aber letztmalig – in Ms. B als § 66 auf einem kleinen eingelegten Blatt mit erweitertem Themenkreis, aber nur in Stichworten.
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Abkürzungen Kursiv gesetzte Texte stammen vom Herausgeber. Die verwandten Abkürzungen richten sich im allgemeinen nach: Theologische Realenzyklopädie Abkürzungsverzeichnis, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage zusammengestellt von Siegfried M. Schwertner, Berlin/New York 1994. |
Abkürzungen Ritschl, Albrecht, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung Solida Declaratio Seite, Siehe, siehe scilicet, nämlich Sommersemester verso Luther, Martin, Werke Wintersemester
Faksimile 1 (auf die Hälfte verkleinert): Die stark vergilbte Seite 1 (s. unten S. 1,1) gehört zugleich zu Ms. A und Ms. B. Bei der Überschrift ist erkennbar, daß der ursprüngliche Begriff Moral mittels kräftiger Tinte mit Ethik überschrieben ist.
Faksimile 2 (Ausschnitt, Originalgröße): Oberer linker Teil von S. 22 mit dem Beginn von Ms. B (s. unten S. 28,1). In der 5. Zeile ist rechts die mit rotem Farbstift eingetragene spätere Paragraphenzählung 5 zu erkennen.
[1] T h e o l o g i s c h e E t h i k
1858, 15. October
E i n l e i t u n g . Seite 1–21.
§ 1. A u f g a b e u n d S t e l l u n g d e r D i s c i p l i n zur Dogmatik. 5 Das V e r h ä l t n i ß d e r M o r a l z u r D o g m a t i k ist erst fraglich gewor-
den, seitdem die Trennung beider Disciplinen in der evangelischen Theologie vollzogen worden ist. Ebenso wenig wie die Theologen des Mittelalters Thomas von Aquino halten die Reformatoren in ihren Lehrbüchern den Stoff auseinandergesetzt. Unter M e l a n c h t h o n s (24) Loci sind auch die ethischen Proble10 me befaßt, in der dritten Gestalt (von 1543 an) so daß in 5. de Peccato auch die Beurtheilung der Thatsünden, 6. de lege divina der Dekalog, das Naturgesetz, die evangelischen Räthe, die Rache, Armuth, Keuschheit verhandelt werden; ferner 9. de bonis operibus, 11. de discrimine peccatorum, mortalis et venialis, 12 de ec1 Ethik] korr. aus Moral 4 zur Dogmatik] am Rand 5 Das] davor 7 Theologen] korr. aus Theologie 7 f. Thomas … Aquino] über der Zeile 11 Thatsünden] folgt 11 6.] über der Zeile 1 Der ursprüngliche Titel Theologische Moral ist die Übersetzung von theologia moralis vgl. den textkritischen Apparat zu Zeile 5. Nach OR 1,449 wurde jedoch schon bei der Wiederholung der Vorlesung WS 1859/60 der Titel Theologische Ethik benutzt. 1 Nach der Rückkehr von einer Reise am 11. Oktober (OR 1,316) bezeichnet das Datum wohl den Beginn der Niederschrift. 3 § 1. bildete im ursprünglichen Ms. A* den 1. Absatz von § 1. 7 Thomas von Aquino behandelt in Pars Secunda Secundae seiner Summa theologiae die Ethik im Schema der drei theologischen Tugenden (fides, spes, caritas) und der vier Kardinaltugenden (sapientia, iustitia, fortitudo, temperantia). 9 Melanchthon, Loci 1559, CR 21, 601–1050; ed. Stupperich 2,186–816. Ritschl benutzt die in CR 21 vom Hg. eingefügte Zählung von 24 Loci.
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Einleitung
clesia, welche Lehre ganz ethisch und nicht dogmatisch gehalten ist; 18. de calamitatibus et de cruce, et de veris consolationibus, 19. de invocatione; 20. de magistratibus politicis; 21. de ceremoniis humanis in ecclesia 22 de mortificatione carnis; 23. de scandalo; 24 de libertate christiana. C a l v i n giebt im 3. Buch der Institutio, cap. 6–10 ethische Lehren im Anschluß an den Begriff der Wiedergeburt und im 4. Buch die Lehre von der Kirche nicht in rein dogmatischer Weise, sondern mit Einschluß der Lehre von Verfassung und Disciplin. [2] Diese Methode ist aber nicht blos aus dem Vorgang der Mittelalterlichen Theologie zu erklären, noch auch als ein blos formales Ungeschick aufzufassen, sondern hat ihren Grund darin, daß die Reformation zum erstenmal dogmatisch-kirchliche Entscheidungen über ethische Fragen, oder über den Zusammenhang der menschlich-sittlichen Thätigkeit mit der religiösen Bestimmtheit aufgestellt hat. Fast alle die bei Melanchthon erwähnten Punkte finden auch in den reformatorischen Symbolen ihre Abhandlung; und die reformatorische Idee von der Rechtfertigung durch den Glauben ist nothwendig ergänzt durch die Bestimmung des Verhältnisses der Werke zur Rechtfertigung also durch einen ethischen Grundsatz. Ebenso das Recht der Obrigkeit oder des Staates in der christlichen Gesellschaft gegen die Wiedertäufer, indirect gegen die katholische Ansicht. Wenn also die Reformation kirchliche Grundsätze, d.h. Dogmen über ethische Verhältnisses producirte, so mußte auch die dogmatische (thetische, positive, didaktische) Theologie der Reformation welche deren Dogmen zu reproduciren, zu begründen und vertheidigen hatte aus innerer Nothwendigkeit sich der Trennung beider Disciplinen enthalten, je stärker der ursprüngliche reformatorische Impuls nachwirkte, bevor das theoretische metaphysische und juristische Interesse überwog. Jene Rücksicht auf die d o g m a t i s c h e Fixirung ethischer Probleme wirkt auch noch immer auf die getrennte Behandlung beider Disciplinen ein und trägt dazu bei, die methodische Behandlung der Trennung zu trüben. Neben dieser 3 21. … ecclesia] am Rand 3 22] über der Zeile 11 f. der … Thätigkeit] korr. aus des menschlich-sittlichen Lebens 17 f. Ebenso … Ansicht.] am Rand 21 zu] korr. aus und 23 reformatorische] korr. aus Re 24 und juristische] am Rand 26 immer] folgt 27–3,4 zu … Sinne.] am Rand statt 7 seien,] korr. aus Î ù 11 Corpus … XVI.] mit Bleistift am Rand statt <welche in Anlehnung an Aristoteles den Begriff der Tugend bearbeitet hat.> 11 er] korr. aus Îdenù 12 aufrecht,] folgt <welche> 13–4,9 welches … Pezel).] am Rand statt <welches doch nur unter Bedingung der Kraft des Evangeliums wirksam ist, und entwickelt den Tugendbegriff demnach aus dem Dekalog, aber die Anerkennung (folgt <eines>) des philosophischen Naturgesetzes, die hierin implicirt ist bedeutet die Anerkennung der sittlichen Freiheit als Voraussetzung [4] des Gnadenstandes und öffnet also die Aussicht auf eine Ethik, in welcher doch das christliche Princip die Grundsätze der natürlichen Sittlichkeit befruchten soll. ‚Der Mensch ist Bild Gottes, sein Zweck ist, die Ehre Gottes durch Anerkennung Gottes und Gehorsam zu verwirklichen‘ (am Rand) In den Ethicae doctrinae elementa, 2,27 Zum gestrichenen Text (s. textkritischen Apparat): Karl Schwarz, Thomas Venatorius 85 f. über Thomas Venatorius, De virtute christiana, und ders.: De sola fide 9 Karl Schwarz, Melanchthon 10 Melanchthon, Philosophiae moralis Epitome
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Einleitung
ohne die Kraft des Evangeliums nur zur justitia civilis anleitet, aber doch die Ehre Gottes als den Zweck des Menschen darstellt, dem sich der aristotelische Begriff der Tugend als des höchsten Zweckes eingliedert. Demgemäß hat diese halb theologische halb philosophische Moral nur [4] eine propädeutische Stellung zur eigentlichen Theologie, enthält eine Menge Fragen zum Naturrecht, und ist nichts weniger als eine solche Gestalt der Ethik, welche dem Zusammenhang der loci theologici Concurrenz macht. Wesentlich denselben Standpunkt und dieselben Themata bietet die zweite Schrift dar: Ethicae doctrinae elementa, 1550. (Commentare zu dieser Schrift von Victorin Strigel und Christoph Pezel). Also gab es eine halb philosophische, halb theologische Ethik, aber nicht neben einer Dogmatik Melanchthons, sondern neben einem lockeren Gesammtsystem der Religionslehre. Ein solches hat Melanchthons Schüler Nicolaus Hemming in Kopenhagen in strengerer Gliederung gegeben: Enchiridion theologicum 1557. Der erste eigentl|ich dogmatische Theil ist dem Begriff des Gnadenbundes und Reiches Gottes untergeordnet, also Heilsgut, der zweite (communis formandae vitae regula) enthält Tugend- und Pflichtenlehre, der dritte und vierte enthalten die Lehren von der Kirche und dem bürgerlichen und staatlichen Leben. Die Ethik, die er daneben gab, de lege naturae apodictica methodus, 1562, zeichnet sich durch die Anknüpfung der ethischen Probleme an die anthropologischen Grundlagen aus, und durch den Umfang der ins Auge gefaßten Aufgaben (häusliches bürgerliches geistliches Leben). Auch die Ethicae doctrinae libri IV. 1571 von Paul von Eitzen, einem Schüler Melanchthons, erheben sich nicht über ein lockeres und principloses Aggregat von philosophischen und theologischen Thematen (Pelt, Die christliche Ethik in der lutherischen Kirche vor Calixt. Studien und Kritiken 1848, 2 Heft). Vielleicht urtheilt Schwarz (Studien und Kritiken 1850, S. 139) richtig, daß 1550 schreitet er zur Theologisirung der Ethik weiter vor, indem er die Frage nach dem höchsten Gute dahin beantwortet, daß es Gott als die das Recht setzende Weisheit und als der immer das Rechte wollende Wille sei. Demnach ist auch der nach dem Dekalog bestimmte Begriff der Tugenden viel theologischer gehalten, als in der ersten Schrift.> 10 halb … theologische] am Rand 19 aus,] folgt 21 Leben).] folgt 21 Auch] korr. aus auch 25 Vielleicht urtheilt] am Rand 8 Melanchthon, Ethicae doctrinae elementa 8 Victorin Strigel, In epitomen philosophiae moralis Philippi Melanchthonis hypomnemata; Christoph Pezel, Epitomae philosophiae moralis sive ethice Philippi Melanchthonis; vgl. CR 16,15/16. 12 Nicolaus Hemming, Enchiridion Theologicum 17 Nicolaus Hemming, De lege naturae apodictica methodus 21 Paul van Eitzen, Ethicae doctrinae libri quatuor; s. Pelt, Die christliche Ethik 276–310 23 Anton Friedrich Ludwig Pelt, Die christliche Ethik
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§ 1 Aufgabe und Stellung zur Dogmatik
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die Concordienformel mit ihrer juristischen Zuspitzung der Rechtfertigungslehre das Interesse an theologisch ethischen Bestrebungen hemmte. Es ist vielfach behauptet worden, daß die besondere Ausbildung der Moral von den Reformirten ausgegangen sei, und man verweist dabei [5] auf Lambert Danaeus Ethices christianae libri tres, 1577. Aber diesem Werke mangelt doch der speciel theologische Charakter in seinem Gegensatz gegen die philosophische Ethik (vgl. den Auszug bei Schweizer, Entwicklung des Moralsystems in der reformirten Kirche Studien und Kritiken 1850. 1 Heft, S. 22ff). Die Auseinandersetzung des theologischen Stoffes in die res credendae und die res faciendae oder de fide und de observantia liegt freilich zu Grunde bei Amesius, Medulla theologica 4. Auflage 1630 und bei Polanus Syntagma theologiae christianae 1609. Daneben die Casuistik: Friedrich B a l d u i n de casibus conscientiae 1638. D a n n h a u e r , Collegium decalogicum 1669. I.A. O s i a n d e r Theologia casualis 1680. A m e s i u s De conscientia Johann Heinrich A l s t e d theologia casuum 1621. Soviel bleibt aber bestehen, daß die gesonderte Behandlung der theologischen Moral unter jenem rein theologischen Gesichtspuncte von Calixtus zuerst unternommen, wenn auch nicht vollendet ist Epitomes theologiae moralis Pars I. 1634. Henke Calixt I, 508 ff. 514. Zwei Theile: 1. Das Subject der christlichen Ethik. 2. Die Gesetze, nach denen der wiedergeborene Mensch handeln soll. In diesem zweiten hat sich 4,25 S. 139)] folgt 4 man] über der Zeile 9 oder … observantia] am Rand 10 theologica] korr. aus theologiae 11–14 Daneben … 1621.] am Rand (Titel untereinander geschrieben) 18 Henke … 514.] am Rand 19–6,3 Zwei … Casuistiker. –] am Rand 4,25 Karl Schwarz, Thomas Venatorius 139 4 Lambert Danaeus, Ethices christianae libri tres 7 Schweizer, Die Entwickelung des Moralsystems 22–45 10 Wilhelm Amesius: Medulla theologica 11 Amandus Polanus von Polansdorf, Syntagma theologiae christianae, s. Schweizer, Die Entwickelung des Moralsystems 53–56 11 Friedrich Balduin, Tractatus luculentus 12 Johann Conrad Dannhauer, Collegium decalogicum 13 Johann Adam Osiander, Theologia casualis 13 Wilhelm Amesius, De conscientia et eius iure vel casibus; s. Schweizer, Die Entwickelung des Moralsystems 50–53 14 Johann Heinrich Allsted, Theologia casuum 16 Georg Calixt, Epitomes theologiae moralis pars prima (nicht mehr erschienen), in: Werke in Auswahl 3 ed. Mager 28–142 18 Ernst Ludwig Theodor Henke, Georg Calixtus 19 Georg Calixt hat seine Epitomes theologiae moralis pars prima nur durch zwei Überschriften untergliedert: „De subjecto theologiae moralis“ und „De legibus“ 3.45; ed. Mager 30.66.
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Einleitung
Calixt in allgemeinere Betrachtungen über das Gesetz verloren und vielleicht deßhalb die Vollendung des Ganzen aufgegeben. (Sachlich auf dem Standpunkt der Casuistiker). – Gegenstand derselben ist nicht mehr das göttliche Sittengesetz, auch nicht der sittliche Mensch im Allgemeinen oder der Mensch als sittliches Wesen, son- 5 dern der gläubige und wiedergeborne Mensch, sofern er seinen Glauben erhält, und seine Berufung befestigt. vgl. oben Calvin. Dieser Gesichtspunct beherrscht nun auch die gesonderte Behandlung der Moral in der orthodoxen Epoche beider evangelischen Confessionen, z. B. 10 D ü r r , Compendium theologiae moralis B a i e r , Compendium theologiae moralis B u d d e u s , Institutiones theologiae moralis 1711, Pars I. cap. 3. sanctitas fidelium finis theologiae moralis. – Subiectum sanctitatis homo regenitus. Cap. 1 enthält eine überwiegend dogmatische aber an den einzelnen geistigen Fähigkeiten durchgeführte Darstellung de natura et gratia; der 3. 15 Theil de prudentia christiana, – ecclesiastica et pastorali. Durch den Pietismus angeregt. (Gaß Geschichte der protestantischen Dogmatik III. S. 213 ff.) Petrus van Mastricht, theoretico-practica theologia 1699. –
§ 2. F o r t s e t z u n g Hiemit haben wir aber vielmehr einen Gegensatz der t h e o l o g i s c h e n Mo- 20 ral gegen die philosophische gefunden, als die Einsicht in die genaue Abgränzung zwischen Dogmatik und Moral. Denn indem die Moral als Darstellung
1 über … Gesetz] über der Zeile 4 das … der] am Rand 4 göttliche] über der Zeile 8 vgl. … Calvin.] am Rand 11 f. Dürr … moralis] am Rand 12–17 Pars I.… S. 213 ff.)] am Rand 14 f. aber … durchgeführte] über der Zeile 19 § 2.] korr. aus 2. 19 Fortsetzung] über der Zeile 20 f. Moral] korr. aus Î ù 8 Vgl. oben S. 2,4 11 Johann Conrad Dürr, Compendium theologiae moralis 11 Johann Wilhelm Baier, Compendium theologiae moralis 12 Johann Franz Buddeus, Institutiones theologiae moralis 17 Wilhelm Gaß, Geschichte der protestantischen Dogmatik 3,214–217 18 Petrus van Mastricht, Theoretico–practica theologia; s. Schweizer, Die Entwickelung des Moralsystems 290–298 19 Im ursprünglichen Ms. A* begann hier der 2. Absatz von § 1.
§ 2 Aufgabe (Fortsetzung)
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des Handelns des Wiedergeborenen vollzogen wurde, blieben der Dogmatik alle die Themata, deren ethischer Character unzweifelhaft ist über Buße und Glaube, Nothwendigkeit der guten Werke, Bedeutung des Gesetzes für d|en Wiedergebornen nach wie vor zugewiesen als credenda, während in der Lehre von der Heilsordnung und von der Kirche manches enthalten ist, was vielmehr Norm des facere als des credere ist, und in der Dogmatik nur deßhalb blieb weil es in den Symbolen tractirt war. Hierüber ist bis auf die Gegenwart keine allgemeine Verständigung erreicht, vielmehr haben die Wechselfälle in der Geschichte der Theologie theils die Vermischung der theologischen und philosophischen Moral, theils ihre Zusammenfassung mit der Dogmatik, theils falsche Motive ihrer Ausein[6]andersetzung ergeben. Ueber den zweiten und dritten Fall folgendes. Schleiermacher (Kurze Darstellung des theologischen Studiums § 223–231) erklärt die Trennung beider Disciplinen nicht als wesentlich wie sie auch in der evangelischen Kirche nichts ursprüngliches sei. Denn 1. die christlichen Lebensregeln sind ebenso gut theoretisch wie die Dogmen als Entwicklungen vom christlichen Begriff des Guten; und sie sind nicht minder Glaubenssätze, wie die eigentlichen dogmatischen, da sie es mit demselben christlich frommen Selbstbewußtsein zu thun haben, nur so wie es sich als Antrieb kund giebt. Ferner 2. könne die getrennte Behandlung den Irrthum bestärken, daß bei Verschiedenheit der Glaubenslehre doch Identität der Sittenlehre stattfinden könne. Während also Schleiermacher einen i n n e r n Grund für die Trennung nicht anerkennen will und einen ä u ß e r n gegen dieselbe, so findet er doch auch ä u ß e r e G r ü n d e f ü r d i e T r e n n u n g , einmal 1., sofern die Bewährung aus Bibel und Symbol bei den ethischen Sätzen sich anders gestaltet als bei den dogmatischen, dann 2., sofern die wissenschaftlichen Mittel aus verschiedenen philosophischen Disciplinen, aus der Metaphysik und der Ethik abstammen. Zur Beurtheilung zweierlei. 1. Die ethischen Sätze sind nicht Glaubenslehren, denn sofern sie auf das christliche 2 ist] korr. aus waren 2–4 über … Wiedergebornen] am Rand 4 nach] korr. aus doch 8 f. in … Geschichte] am Rand 15 1.] nachträglich eingefügt 16 Dogmen] Ms.: Dogmen, 16 als … Guten;] am Rand 19 2.] über der Zeile 22 für] über der Zeile 24 1.] über der Zeile 25 2.] über der Zeile 27 1.] über der Zeile 28 auf] über der Zeile 12 Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums, 2. Auflage, Berlin 1830, 94–98; KGA I/6, 404–407
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Einleitung
Subject unter dem Gesichtspunkt des Antriebes zurückgehn, unterscheiden sie sich von den Sätzen, welche den frommen Zustand des Subjects als durch Gott gesetzt bezeichnen. Dies würde also vielmehr auf einen innern Grund der Trennung hinweisen. Dann 2. ist aber der Grund der Trennung zurückzuweisen daß auf beide Disciplinen verschiedene philosophische Mittel angewandt werden müssen. Denn die Metaphysik oder die zu ihr gehörende rationale Theologie, wenn sie nicht die Principien der Ethik, also den Freiheitsbegriff in sich schließt ist auch zum Begreifen der Glaubenssätze nicht dienlich, und für alle Hauptfragen der Dogmatik muß man auf ethische Begriffe zurückführen. – Während also S c h l e i e r m a c h e r nur aus Z w e c k m ä ß i g k e i t s g r ü n d e n die Trennung genehm hält, so fordert sie Rothe Theologische Ethik 1. Theil § 4, 2. Ausgabe § 15 weil bei Identität des Stoffes Gegensatz der Methode obwalte, die Ethik speculativ, die Dogmatik historisch sei. [7] 1. Das Verhältniß der Dogmen untereinander zu begreifen und zu organisiren ist aber Sache der Dogmengeschichte, und theologia dogmatica ist nicht Wissenschaft von den Dogmen. Ebensowenig ist die Ethik rein speculativ, denn auch in ihr Gebiet reicht die Dogmenbildung hinein. Ferner 2. aber wird weder das Gebiet der einen noch der andern durch die Dogmenbildung erschöpft, sondern wenn dies auch quantitativ mehr die Ethik betrifft, so doch auch zum Theil die Dogmatik (von Gott, von den letzten Dingen). Endlich 3. ist die prätendirte Apriorität der Speculation im Gegensatz zur Geschichtlichkeit der theologischen Erkenntniß ein reines Phantom. Also wenn die sogenannte Dogmatik an bestimmten Punkten n i c h t von Dogmen geleitet und die Ethik an bestimmten Punkten von Dogmen geleitet ist, so folgt daraus entweder die Unmöglichkeit beide zu trennen, oder es ist ein anderer Gesichtspunct der Trennung zu suchen, als welcher nur in der Methode zu finden wäre. – 7,28 das] korr. aus dies 4 2.] über der Zeile 4 aber der] folgt 5 verschiedene] folgt 13 2. … § 15] am Rand 14 Stoffes] folgt 15 1.] über der Zeile 15 der Dogmen] korr. aus zu den 19 2.] über der Zeile 21 Theil] folgt 22 3.] nachträglich hinzugefügt 24 wenn] folgt 24 sogenannte] am Rand 11 Rothe, Theologische Ethik 1,38–43 13 Rothe, Theologische Ethik 2. Auflage 1,61–68
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§ 3 Aufgabe (Schluß)
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§ 3. S c h l u ß .
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Ein Haupthinderniß des Verständnisses bilden die termini technici. Wenn man für gewöhnlich theologia dogmatica und moralis einander entgegensetzt, also coordinirt, so ergiebt die nähere Betrachtung die logische Unvollziehbarkeit dieses so bezeichneten Gegensatzes. Mag man Dogmatik als Wissenschaft von den Dogmen, oder als die positiv wissenschaftliche Erkenntniß der christlichen Religion deuten, immer wird eine Lehre vom religiös sittlichen Subjekt oder die individuelle Heilsordnung, also, wie es scheint, ein Theil der Ethik unter die Dogmatik kommen. Wenn man also denselben in der Ethik nicht wiederholt, so wird deren Tugend- und Pflichtenlehre kopflos. Also scheint die Ethik überhaupt keinen neuen Anfang gegen die Dogmatik haben zu können, d. h. ihre selbständige Abgrenzung gegen diese ist innerlich unbegründet. Aber die Unterscheidung muß eben nicht zwischen zwei Coordinaten, sondern durch die Unterordnung der Ethik unter die Dogmatik vollzogen werden. Die Titulatur stellt sich: (Dogmatische) Theologie, – Theologische Ethik oder Moral. Das heißt: [8] Die Theologie im engsten Sinne oder die Dogmatik hat Göttliches Thun zum Gegenstand, die Moral das menschliche Thun, welches auf jenes göttliche Thun begründet ist. In gleichem Sinne hat Schleiermacher an einem anderen Orte, in den Vorlesungen über die christliche Sitte S. 23 ausgesprochen: Die Formel der dogmatischen Aufgabe ist die Frage: Was muß s e i n , weil der religiöse Gemüthszustand i s t ; die Formel der ethischen Aufgabe: Was muß w e r d e n , weil das religiöse Selbstbewußtsein i s t . Die Dogmatik hat allerdings auch eine Lehre von dem religiösen Subject, aber der ganzen Anlage der Dogmatik entspricht es, daß dasselbe nur betrachtet wird, sofern es von Gott durch Christus und den heiligen Geist bestimmt i s t , nicht sofern es sich nun auf Grund dessen selbst bestimmt. Rothe S. 40 bemerkt 1 § 3.] korr. aus 3. 1 Schluß.] über der Zeile 3 f. also coordinirt,] am Rand 5 bezeichneten] korr. aus bezeichnet 7 f. eine … scheint,] am Rand 8 Ethik] folgt <wenigstens> 13 die] korr. aus der 13 f. Unterscheidung … werden.] am Rand statt 14 Die] korr. aus die 16 Das] korr. aus ÎDiesù 25 den] korr. aus he 1 Im ursprünglichen Ms. A* begann hier der 3. Absatz von § 1. 18 Schleiermacher, Die christliche Sitte 23
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Einleitung
zwar gegen diese Schleiermachersche Definition, die Dogmatik werde sich die Lehre von der Heiligung (im gewöhnlichen falschen Sinne) nicht aus der Hand winden lassen, aber diesen Einwand macht er von seiner falschen Ansicht aus, daß die Dogmatik die Wissenschaft der Dogmen sei. Nitzsch System S. 4. Die Möglichkeit und Nothwendigkeit der gesonderten Bearbeitung ist begründet, weil die Richtung des Bewußtseins und Denkens auf das Sein, Schaffen und Wirken Gottes im Ganzen eine andere ist als die Richtung auf den sein Wesen und seine Bestimmung verwirklichenden Menschen. Daneben behauptet Nitzsch die Möglichkeit des Gesammtsystems aus dem i n n e r n Grunde, weil das christliche Leben eine Einheit bleibt, und sich Erkennen und Handeln darin ähnlich bedingen, wie einzelne Theile beider Thätigkeiten. Die Zweckmäßigkeit dieses Verfahrens beruht nach Nitzsch auf der äußeren Rücksicht, daß etwa die Ethik ihre Abhängigkeit von der Glaubenslehre, oder daß die Dogmatik ihre Beziehung auf die Sittenlehre sehr vergessen hätte. – Ebenso Harleß: Die Dogmatik beschäftigt sich mit der Erkenntniß Gottes und seines objectiven Willens in Christo über die Welt; die Ethik mit der christlichen Selbsterkenntniß und der Erkenntniß des subjectiven Christenstandes in dieser Welt. Wenn aber das einzelne religiöse Subject und die religiöse Gemeinschaft Inhalt eigentl|icher theologischer Sätze sind, sofern sie Object der göttlichen Wirksamkeit durch den heiligen Geist sind; und wenn schon die dogmatisch festgesetzte Lehre, wie sich das so bestimmte Subject in seinem selbstthätigen Leben und wie sich die religiöse Gemeinschaft selbstthätig verhält, in die Ethik gehören, so hat diese Disciplin auch einen neuen Anfang, und in dem richtigen Verständniß der Titel: Theologie und theologische Ethik ist demnach das innere Recht der Zusammenfassung beider Disciplinen ausgeschlossen. Es wird sich zeigen, daß nur durch d i e s e Trennung eine Masse von Confusion von übeln practischen Folgen beseitigt werden kann. Denn wenn man auch meint, uno tenore alle dogmatischen und ethischen Probleme abhandeln zu können, so wird man doch in dem locus vom heiligen Geiste die zwei Gesichtspuncte entgegensetzen müssen, durch welche sich überhaupt die theologische Moral von der Theologie unterscheidet. 5–18 Nitzsch … Welt.] am Rand 7 andere] korr. aus Andere 11 bleibt] korr. aus bil 14 Glaubenslehre,] folgt 21 wenn] über <wie> 28 practischen] korr. aus P 9,26 Rothe, Theologische Ethik 1,40 5 Nitzsch, System 4 Anm. 2 9 Nitzsch, System 3 15 Harleß, Christliche Ethik 3
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§ 4 Verhältniß zur Philosophie
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[9] § 4. V e r h ä l t n i ß d e r D i s c i p l i n zur philosophischen Moral.
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1. Die vielfache Vermischung beider, z. B. in der Schule Melanchthons, Wolfs, Kants, Hegels läßt die Unterscheidung beider als sehr schwierig erscheinen. Die Theologie ist nur Wissenschaft durch Anwendung philosophischer Begriffe auf das religiöse Verhältniß und auf die dasselbe ausdrückenden Vorstellungen, also ist auch die theologische Moral von der philosophischen abhängig. Dieser Behauptung treten zwei äußerste Gegensätze von Einwendungen entgegen. Entweder wird die theologische Ethik als blose Modification der philosophischen Ethik und deßhalb als besondere Wissenschaft überflüssig erscheinen oder wird nach Kant als Darstellung eines Handelns auf Autorität gar nicht des wissenschaftlichen Charakters fähig sein. Denn unter Voraussetzung der Identität des Stoffes würde sich nicht sagen lassen, daß die philosophische Moral a p r i o r i s c h , die theologische positiv-empirisch wäre. Denn einen Apriorismus der nicht mit der Empirie sich sättigte giebt es in Anwendung auf das sittliche Wesen des Menschen nicht. Auch ist die philosophische Ethik nicht s u b j e c t i v die theologische nothwendig subjectivobjektiv, sondern auch jene erhebt sich zum Gedanken des objectiven Sittengesetzes und zur Würdigung objectiver Sittlichkeit. Am wenigsten läßt sich der Gegensatz des U n c h r i s t l i c h e n und Christlichen auf beide Disciplinen anwenden. Denn wie die Philosophie ihren Grund und ihr Maaß an der Culturstufe hat, der sie angehört, so ist sie auch christlich geworden. Nicht nur, daß sie einzelne Lebensordnungen die durch das Christenthum erst ethisch begründet sind, z. B. die Monogamie als dem menschlichen Wesen gemäß begreift, nicht nur daß sie die Religion und Kirche in specifisch-christlicher Gestalt anerkennen kann und muß, sondern daß sie das sittliche Wesen im persönlichen Willen anerkennt ist nur Frucht der christlichen Bildung.
1 § 4.] korr. aus § 2. 5 Anwendung] folgt <der> 7 theologische] korr. aus philosophische 7 f. abhängig] korr. aus A 8–12 Dieser … sein.] am Rand statt <Wenn nun aber auch vom theologischen Princip aus alle Ordnungen des menschlichen Lebens construirt werden sollen, jenes aber nur in Uebereinstimmung mit philosophischen Grundsätzen wissenschaftliche Gestalt hat, so erscheint also die theologische Moral nur als Modification der philosophischen, und würde sich nur durch den praktischen Zweck der Kirchenleitung von jener unterscheiden. Rein wissenschaftlich angesehen würde sie also überflüssig sein, was die Dogmatik neben der Religionsphilosophie nicht ist.> 18 f. zum … und] am Rand 1 § 4 bildete im ursprünglichen Ms. A* von § 2 den 1. Absatz, dessen Zählung versehentlich stehen blieb.
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Einleitung
Die Ethik der alten Welt ist in demselben Maaß mit Physik und Politik verflochten, als es der griechisch-römischen Philosophie nicht gelingt, die Einheit des geistigen Selbstbewußtseins zu erkennen. Harleß S. 48. Aber freilich läßt sich mit diesen Allgemeinheiten nichts anfangen. Denn die philosophische Moral auch in der christlichen Welt hat oft genug Principien 5 aufgestellt, die [10] indem sie unter dem Niveau des Christenthums bleiben, nicht zur Construction theologischer Moral angewandt werden dürfen. Welche Kriterien lassen also gewisse Moralprincipien als unterchristlich und demnach als untheologisch erscheinen.
§ 5. F o r t s e t z u n g .
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– Der wiedergeborne und geheiligte Gläubige dessen sittliches Werden die theologische Moral darzustellen hat ist nicht nur im theologischen Sinne übernatürlich bestimmt, sondern auch im philosophischen Sinne nicht nach seinem Naturell bestimmt, sondern des höchsten sittlichen (über seine Individualität wie über die jeweilige Verfassung des Gemeinwesens übergreifenden) End- 15 zwecks bewußter Charakter. Unter dem theologischen Niveau bleiben also alle die moralischen Theorien, welche irgend eine Seite des menschlichen Naturells, also einen menschlichen Trieb zum Princip der Moral machen. Der Selbsterhaltungstrieb, der sein Wirken durch das Streben nach Lust und Vermeidung der Unlust kundgiebt, ist das Princip der Glückseligkeitslehre, philo- 20 sophisch ausgeführt durch die Schulen der Cyrenaiker (Aristipp) und Epikureer, aufgenommen von den französischen Moralisten und wirksam auch bei den theologischen Naturalisten in Deutschland. Der Trieb der Persönlichkeit in der negativen Richtung als Unabhängigkeit ist von den Cynikern (Antisthenes) und Stoikern zum Princip gemacht; in der positiven Richtung als Selbst- 25 liebe von Helvetius, ausgeprägter von Aristoteles, der die geistige Energie des 1–3 Die … 48.] am Rand 7 f. Welche … lassen] korr. aus welches Kriterium läßt 10 § 5. Fortsetzung.] am Rand, in eckigen Klammern (Bleistift) 11 – Der] korr. aus 2. Der 14 f. sittlichen … übergreifenden)] am Rand 24 f. (Antisthenes)] am Rand 3 Harleß, Christliche Ethik 48 10 Im ursprünglichen Ms. A* begann hier von § 2 der 2. Absatz. Bei der Neueinteilung wurde die Ziffer 2. ausradiert und durch den Gedankenstrich ersetzt. 21 Zu Cyrenaiker (Aristipp) s. Erdmann, Grundriß 1,78–81 21 Zu Epikureer s. Erdmann, Grundriß 1,161 f. 24 Zu Cynikern (Antisthenes) s. Erdmann, Grundriß1, 82 f. 25 Zu Stoikern s. Erdmann, Grundriß 1,166–168 26 Zu Helvetius s. Erdmann, Grundriß 2,128
§ 5 Verhältniß zur Philosophie (Fortsetzung)
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Einzelnen als den absoluten Zweck aufstellt, und die hienach gemessene Vollkommenheit als ethisches Princip selbst, ähnlich Wolf: handle so, daß du und Andere vollkommener werden. Der Geselligkeitstrieb ist das Princip der englisch schottischen Moralisten in der Gestalt der Unterordnung des Einzelnen unter die Gesammtheit als Wohlwollen. Alle diese Theorien sind nur Theorien, indem sie den Willen unter den Gesichtspunkt eines bewußten Endzwecks stellen, aber diesen suchen sie eben in der Sphäre des sittlichen Naturells. In den Systemen der Lust ist die Tugend nur als Mittel also nicht als das eigentlich sittliche, in den Systemen der Tugend, wo die Lust nur höchstens als Zugabe geduldet wird, kommt über dem Gemeinschaftlichen das Eigenthümliche zu kurz. Der theologischen Sphäre adäquat sind nur solche Theorien, welche das sittliche Wesen im Gegensatz zum Triebe stellen, unter den Alten P l a t o und hierauf beruht die Analogie seiner Ethik zum Christenthum. Das sittliche Thun richtet sich nach der Idee des Guten, welche nicht blos subjectiver Gedanke sondern transscendente Realität ist. Die Idee des Guten ist unter den Ideen die höchste, [11] welche das gemeinschaftliche Wirken der übrigen vermittelt, identisch mit Gott, dem Weltkünstler dessen Werk im kleinen fortzusetzen die Aufgabe der menschlichen Seele ist, deren ethische Aufgabe also füglich als Verähnlichung mit Gott bezeichnet wird. Der Organismus des gemeinsamen sittlichen Handelns ist der Staat, in dem die Philosophen herrschen; ein Ideal, welches ceteris imparibus in der mittelalterlichen Kirche realisirt ist. Dieselbe ist aber unter Bedingungen gestellt, welche den Ansprüchen des Christenthums zuwiderlaufen. Wie Plato Wissen und Wahrnehmung nur in auschlie12,26 ausgeprägter] am Rand mit aufgehobener Streichung 12,26–3 von … werden.] am Rand 5 Wohlwollen.] Wohlwollen, dazu am Rand gestrichener Zusatz 5 Alle] davor 6 Endzwecks] korr. aus Selbstzwecks 7 suchen] korr. aus Suchen 7 des] folgt <sinnlichen oder> 7–11 In … kurz.] am Rand 11 adäquat] korr. aus adäquater 11 nur solche] über 13 hierauf] am Rand mit Bleistift § 5 (1865) 14 subjectiver] über 20–22 Der … ist.] am Rand 12,26 Zu Aristoteles s. Erdmann, Grundriß 1,147–154 2 Christian Wolff, s. RuV 1,360 f.; Erdmann, Grundriß 2,200 3 Zu englisch schottischen Moralisten s. Erdmann, Grundriß 2,103 f. (Shaftesbury, Hutcheson) 13 Die Randbemerkung § 5 (1865) scheint darauf hinzuweisen, daß bei der Vorlesung WS 1865/66 § 5 hier begann.
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Einleitung
ßenden Gegensatz stellt, so ist ihm die wirkliche Welt eine ungeklärte Mischung der Ideen mit der Materie, und so zerfällt ihm auch die menschliche Seele in die drei Theile des logistikón, jumóv, Èpijumhtikón, und demnach tritt ihm das geistige und sinnliche, das sittliche und begehrliche Element im Menschen in einen schrofferen Gegensatz und in lockerern Zusammenhang, als ihn die christliche Lehre von der Erbsünde darstellt. Indem Plato so wenig wie das ganze Alterthum den Begriff des Willens und der Freiheit findet, indem ihm ethisches und kosmisches zusammenfließt, so kann er das eigentl|ich ethische Problem nicht einmal stellen, geschweige lösen, und anstatt eine positive Sittlichkeit auf dem Wege der Unterwerfung der Triebe vorzuzeichnen, lehrt er auf Grund seines Dualismus die W e l t f l u c h t und erklärt das S t e r b e n w o l l e n für den rechten philosophischen Sinn den Tod für die Heilung der Seele und den höchsten Wunsch des Lebens. Zweitens entfernt sich Platos Ethik von der Analogie zur christlichen Lebensanschauung durch die speciel hellenisch-philosophischen Elemente, durch die Identificirung des Schönen mit dem Guten, welche durch den rein metaphysischen Begriff des Guten und durch den Mangel des Begriffs des Willens näher begründet ist, und welche ohne Versöhnung mit jenen ascetischen Grundsätzen, doch eine Tendenz zu ihrer Ergänzung verrathen; durch die Identificirung des sittlichen Wesens mit dem philosophischen Erkennen, die ebendarauf beruht, und die Unterordnung aller Thätigkeit und alles Genusses des Einzelnen unter die Gemeinschaft in Gestalt des zwingenden Staates, der allerdings das vergrößerte Abbild der Seele ist, deren Theile die entsprechend getrennten Functionen der Staatsglieder begründen aber der Staat gewährleistet nur dem herrschenden Stande, nicht allen Genossen das sittliche Handeln nach der Idee, und erzeugt nicht einen Allen zugänglichen idealen Gemeingeist, sondern fordert den Gehorsam der unteren Stände, um sie ihren besonderen, sinnlich bedingten Lebensinteressen zu entfremden. – Erst Kant hat den Grund zu der philosophischen Moral gelegt, welche dem Christenthum adäquat ist. [12] Er hat dem Willen abgesehen von der Nöthigung in der Sphäre des empirischen 1 stellt] korr. aus steht 1 wirkliche] korr. aus Welt 3 logistikón,] Ms.: logistikòn, 5 und … Zusammenhang,] am Rand 17 näher] über der Zeile 17 f. und … verrathen;] am Rand 19 Wesens] über der Zeile 23 begründen] Ms.: begründen. 23–27 aber … entfremden.] am Rand 26 sie] folgt 28 ist.] Ms.: ist; folgt 3 Zu drei Theile s. Erdmann, Grundriß 1,106.108 15 Zu Platos Gleichsetzung des Schönen mit dem Guten s. Erdmann, Grundriß 1,97 f.
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Characters, die F r e i h e i t von allem Kosmischen, Empirischen, Naturgesetzlichen vindicirt durch die Nachweisung seines transscendentalen, intelligibeln idealen Grundes, welcher sich aller Ableitung nach dem gewöhnlichen Causalitätszusammenhang entzieht, nicht in Zeitfolge zu anderen Ursachen steht, dessen sich die denkende Beobachtung als eines Apriorischen und Allgemeingültigen versichert, um die Eigenthümlichkeit des empirischen Willensverlaufes zu erklären, der durch die unumgängliche Function der Zurechnung von aller anderen Wirklichkeit sich unterscheidet. In jedem Willen ist ein unbedingtes Urtheil über das seinsollende, über die Pflicht gesetzt, welches, mag es nun die Gesinnung leiten oder nicht, dem ganzen Wechsel der Triebe und Begehrungen entgegengesetzt ist, und den eigentlichen Grundwillen des Menschen bezeichnet. Das selbständige Princip des Willens als allgemeingültiges liegt freilich nicht in irgend welchem Inhalte desselben, denn dieser ist nicht identisch, sondern in der kategorischen F o r m des Pflichtimperativs, aber diese Function ist eben unbedingt, apriorisch und von dem Moment der Lust, wie von der göttlichen Auctorität unabhängig. Das Bewußtsein der Pflicht w i d e r s p r i c h t vielmehr den auf die Lust gerichteten B e g e h r u n g e n und T r i e b e n , was insofern materiell wahr ist, als Kant dabei an die sittlich werthlosen sinnlichen Triebe denkt, was aber auch insofern formell wahr ist, wenn es auf eine bestimmte Epoche der sittlichen Entwickelung angewandt wird. Wenn nun die oberste Maxime der praktischen Vernunft: „Handle so, daß die Maxime Deines Willens Princip einer allgemeinen Gesetzgebung sein könne“, f o r m a l i s t i s c h ist, so wird ihr Inhalt danach bemessen, daß die menschliche Person absoluter Zweck ist, und 14,29–1 abgesehen … Characters,] am Rand 4 in … steht,] korr. aus in einzelnen Zeitmomenten stehen, 6–8 um … unterscheidet.] am Rand 14 diese] korr. aus dieser 14 Function] über <Maxime> 16 unabhängig.] korr. aus unabhängig, folgt <sofern in ihr der eigenthümliche Grundwille aufgezeigt ist.> 17–20 was … wird.] in eckigen Klammern (Bleistift) 17 f. materiell] am Rand 20 nun] folgt 22 könne“,] korr. aus können“, folgt 22–16,11 so … Handelns.] am Rand statt (1) des wieder gestrichenen Zusatzes und (2) des sich anschließenden ursprünglichen Textes 1 Handelns] folgt <dem> 3 Welt-] über der Zeile 6 das] korr. aus die 8 als] korr. aus un 11 f. diese Widersprüche] korr. aus dieser Widerspruch 12 Absoluten] folgt 14 in] korr. aus im 18 für … Antriebe] am Rand 21–23 Also … behaupten.] am Rand 23–17,14 Die … construirt wird.] in eckigen Klammern (Bleistift) 30 Schleiermacher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre 52–54; 63 f.
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ermacher durch die absichtliche Gleichgültigkeit gegen den Begriff des Willens seine umfassende Organisirung des ethischen Systems in die Luft gestellt hat. Der Gegensatz von Gut und Böse und der von Freiheit und Nothwendigkeit fällt außer der Ethik in die die Sittenlehre begleitende Beziehung des empirisch Geschichtlichen auf das Ethische. Philosophische Sittenlehre § 91. 104. Aber gerade in Gegenwirkung gegen beide ist die Philosophie, soweit sie überhaupt in Bewegung ist, darauf bedacht, den Begriff des Willens unter dem transscendentalen Gesichtspunkt, aber zugleich im richtigen Verhältniß des Ethos zum Naturell zu entwickeln (Chalybaeus, Schopenhauer, Fichte iunior) Mit diesen Versuchen kann die theologische Ethik um so mehr in Beziehung treten, als von jener Seite die sittliche Nothwendigkeit der Religion in specie der christlichen anerkannt und die religiöse Gemeinschaft als eine Art der sittlichen construirt wird. Denn auch die philosophische Ethik kann nicht, wie Schleiermacher (christliche Sitte S. 75) ihr zumuthet zu allen möglichen Formen des religiösen Elements sich in gleiche Beziehung setzen, [14] sofern sie nur immer aufstelle, daß das Handeln des Menschen seinem religiösen Bewußtsein gemäß sein müsse. Denn dieser Gedanke ist nur möglich für die christliche Religion. Im Heidenthum wie im Judenthum ist das sittliche Handeln als solches entweder noch nicht vom religiösen Handeln unterschieden, oder es ist von demselben unabhängig, oder es ist nach jetzt nothwendigem philosophischem Maaßstab unsittliches. Die Philosophie also, welche die Religion als sittliche Funktion erkennt, kann nur die christliche meinen, und ist deßhalb selbst christlich, und sie kann auch das vom Katholicismus gesetzte Verhältniß zwischen Religion und Sittlichkeit nicht anerkennen, sie ist also näher nur auf dem Culturboden des Protestantismus möglich. Kant Kritik der reinen Vernunft. II. Transscendentale Methodenlehre Zweites Hauptstück Der Kanon der reinen Vernunft. 2. Abschnitt Von dem Ideal des höchsten Gutes.
1 absichtliche] am Rand 3–6 Der … 104.] am Rand 9 richtigen] über der Zeile 10 Schopenhauer] am Rand 14 Denn] am Rand mit Bleistift § 6. (1865) 20 entweder] über der Zeile 21 es ist] über der Zeile 27–29 Kant … Gutes.] am Rand 10 10 10 15 27
Chalybäus, System der speculativen Ethik s. Erdmann, Grundriß 2,748.752 f. Zu Schopenhauer s. Erdmann, Grundriß 2,534–541 Zu Immanuel Hermann Fichte s. Erdmann, Grundriß 2,629 f. 713 Schleiermacher, Die christliche Sitte 75 Kant, Kritik der reinen Vernunft. In: Sämmtliche Werke ed. Hartenstein 3,531
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Einleitung
§ 6. S c h l u ß . – Wenn also gewisse Zweige der philosophischen Ethik so beschaffen sind, und demnach in Congruenz zu der Aufgabe der theologischen Moral stehen, so wird man ethische Begriffe jenes Ursprungs auch in der theologischen Moral als wissenschaftliche Formen verwenden dürfen, wie man ja auch in der Dogmatik nicht ohne den philosophischen Begriff der Freiheit und manche davon abgeleitete auskommen kann; und dies bedeutet nicht eine Auslieferung der Theologie an eine fremde Macht, weil das Verständniß der Freiheit, des Willens eine Frucht der christlich religiösen Bildung ist. Das Moment der Auctorität in der christlichen Sittlichkeit entspricht der Bedingtheit der Sittlichkeit als eines Werdens, und schließt nicht aus, daß man das Gegebene doch als die höchste Vernunft erkennt. Es wird dadurch auch n i c h t w i e d e r philosophische und theologische Ethik v e r m i s c h t , denn wie der Ausgangspunct beider verschieden ist, so auch ihre Aufgabe. Die philosophische geht aus von dem Begriff des Willens überhaupt und gelangt auf dem Wege der Analyse desselben vielleicht zuletzt zur Würdigung des religiösen Grundes des sittlichen Wesens des Einzelnen und der Nothwendigkeit religiöser Gemeinschaft zur Sicherung der sittlichen Aufgabe, aber die philosophische Ethik findet vorher im Willen den Grund des Rechtes und der andern Formen sittlicher Gemeinschaft, die ihren sittlichen Werth an sich haben und hienach gewürdigt werden wollen. Dagegen die theologische Moral [15] setzt gleich mit dem Begriff des religiös begründeten Willens ein, und hat die Aufgabe das individuelle und gemeinsame sittliche Leben von hier aus zu bestimmen und zu beleuchten. Wie also der Begriff vom Willen nur aus der Philosophie aufgenommen werden kann, so sind namentlich die Momente des Rechtes und der humanen und staatlichen Gemeinschaft von daher vorauszusetzen, wenn es sich darum handelt, wie sich die Kirche und wie sich der einzelne Christ zu ihnen verhalten muß. Die theologische Ethik recapitulirt also den gesammten ethischen Stoff von dem Gesichtspunct aus, den die philosophische Ethik vielleicht an ihrem Schlusse erreicht. Der wissenschaftliche Zweck aber, der mit dem praktischen Zwecke der Instruction zur K i r c h e n l e i t u n g verknüpft werden muß, und der sei1 § 6. Schluß.] am Rand 2 – Wenn] korr. aus 3. Wenn 6 f. manche davon] am Rand statt <manche> 10–12 Das … erkennt.] am Rand 23 f. sittliche] korr. aus Sitt 27 handelt] korr. aus H 1 Im ursprünglichen Ms. A* begann hier von § 2 der 3. Absatz. Bei der Neueinteilung wurde die Zahl 3. ausradiert und durch den Gedankenstrich ersetzt. – 1865 wurde die Zäsur zwischen § 5 und § 6 geändert (s. oben S. 17,14).
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§ 7 Verhältniß zur heiligen Schrift
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nen Maaßstab an gewissen kirchlichen Dogmen finden wird, wird dadurch nicht verunreinigt, wenn die Ueberzeugung richtig ist, Dogmatik § 3. daß Philosophie und christliche Religion zwar Gegensätze, aber nicht 5 nothwendig im Widerspruche sind, eine Ueberzeugung, die aber immer ihre praktische Probe an dem Erfolge der theologischen Arbeit sucht. Die theologische Ethik ist neben der philosophischen ebensogut als Wissenschaft möglich wie die P ä d a g o g i k . Ist sie nun im Zusammenhang der Theologie zum b e s o n d e r e n Zweck der Kirchenleitung nothwendig so ist sie doch als besondere Disciplin auch für die philosophische Ethik 10 ebenso wenig gleichgültig als die Dogmatik für die Religionsphilosophie nämlich als Gegenprobe für die Congruenz der philosophischen Ethik mit der christlichen Welt.
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§ 7. V e r h ä l t n i ß d e r t h e o l o g i s c h e n E t h i k zur heiligen Schrift.
Wendt, Die richtige Methode der Anwendung der heiligen Schrift in der theologischen Ethik. Jahrbücher für deutsche Theologie. 1877, Heft 3. Der theologische Charakter der Moral ist aber nicht blos dadurch gewährleistet, daß sie den Verlauf des sittlichen Lebens des Wiedergebornen und das 20 Verhältniß der Kirche zu den übrigen Lebenssphären darstellt und begreift, sondern sie muß auch die theol|ogisch ethischen Begriffe auf die mit dem Christenthum positiv verbundenen sittlichen Ideen begründen, also Schriftbeweis führen. Es wird sich zeigen, daß dies nicht in atomistischer Weise, durch Cumulirung von Citaten geschehen kann, sondern daß die sittlichen Haupt25 ideen des Neuen Testaments selbst nur durch kritische Combination oder combinatorische Kritik flüssig gemacht werden können: Liebe, Freiheit im Geiste, Reich Gottes, sittlicher Beruf, Gesetz.
3 Dogmatik § 3.] am Rand 7–13 Die … Welt.] am Rand 14 § 7.] korr. aus § 3. 14 Ethik] korr. aus Moral 15 heiligen] nachträglich eingefügt 15 Schrift.] folgt 16 f. Wendt, … Heft 3.] am Rand 18 Der] davor 14 Im ursprünglichen Ms. A* begann hier von § 3 der 1. Absatz. Bei der Neueinteilung wurde die Zahl 1. ausradiert. § 7 wurde teilweise abgedruckt in: Schäfer, Ritschl 206 f. 16 Hans Hinrich Wendt, Ueber die richtige Methode
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Einleitung
Muß zeigen, daß der Gesichtskreis der Ethik oder die gemeinschaftlichen religiösen Principien, nach denen das christliche Leben in unserem Lebenskreise eingerichtet werden soll, authentisch seien. Die Ethik als methodische und systematische Darstellung der Regeln des Handelns findet als solche keine Weisungen im Neuen Testament. Ihre Aufgabe der Definition, Ordnung der Begriffe, die Sorge für Vollständigkeit und Gleichmäßigkeit der Darstellung hat sie im wissenschaftlichen Subject, nicht in der Schrift zu suchen. Auf diese sittlichen Ideen kommt es nun aber viel mehr an als auf die Congruenz der ethischen Sätze mit den sittlichen Vorschriften [16] im Neuen Testament. Diese dienen als Beispiele. Und in dem Gebiete dieser ist sogar vielmehr eine nothwendige Incongruenz der theologischen Ethik zu der apostolischen Paränese unumgänglich. Die Voraussetzung der Dogmatik, daß das Christenthum nicht perfektibel sei, daß also das von Christus bewirkte religiöse Verhältniß und seine ursprünglichen Bedingungen noch jetzt gelten, bindet auch die Moral in Hinsicht der ethischen Grundideen. Aber 1. die sittliche Aufgabe des Christenthums in der Welt ist jetzt eine andere, als im Anfange, als wie die Apostel sie darstellten. Denn damals stand die christliche Gemeinde in einer formloseren Gesellschaft und dem feindseligen heidnischen und jüdischen Gemeinwesen gegenüber, und daraus ergaben sich nicht nur Formen der kirchlichen Gemeinschaft, sondern auch sittliche Einzelvorschriften, welche nicht mehr bindend sein können, wo das abendländische Christenthum allgemeines Culturprincip geworden ist z. B. Verhältniß der Christen zum Staat, zur Sclaverei, – Beurtheilung der Armuth. Aber auch abgesehen davon wird der Schriftbeweis nicht bei allen ethischen Problemen so gleichmäßig sein, wie bei den dogmatischen. 2. In manchen Fällen wird der oder jener Neutestamentliche Ausspruch mehr ein Fingerzeig sein, daß ein Problem da sei, als ein Princip der Lösung bieten, z. B. die Äußerungen des Paulus über das Erlaubte. 3. Die unumgänglichen Begriffe von Tugend und Pflicht kommen nicht in der Bibel vor, 19,27 Reich Gottes,] am Rand 1–7 Muß … suchen.] am Rand 1 f. religiösen] über der Zeile 10 Diese … Beispiele.] über der Zeile 15–21,1 Aber 1. die … Denn damals … 2. In manchen … 3. Die unumgänglichen … Endlich 4 kann] korr. aus drei aufeinander folgenden Fassungen: I. Aber die … Denn damals … In manchen … Endlich kann; II. Aber 1. die … Denn 2. damals … 3. In manchen … Endlich 4 kann; III. 1. Die unumgänglichen … Aber 2. die … Denn damals … 3. In manchen … Endlich 4 kann 17 f. in … Gesellschaft und] am Rand 22 f. z. B. … Armuth.] am Rand 25 In … Fällen] korr. aus Für manche 25 Neutestamentliche] korr. aus neutestamentliche 27–21,1 3. Die … Begriffe.] am Rand 27 1 Kor 6,12; 10,23
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§ 8 Eintheilung
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wenn auch der Stoff dieser Begriffe. Endlich 4 kann der theologische Character der Moral nicht dadurch bedingt sein, daß ihre Eintheilung durch irgend welche Neutestamentliche Formeln bezeichnet wird. Denn es ist a priori gar nicht anzunehmen, daß irgend ein Neutestamentlicher Schriftsteller alle ethischen 5 Verhältnisse mit seinem Blick umspannt hat; jedenfalls aber, wenn dies auch der Fall wäre, ist nicht zu erwarten, daß seine Vorstellungen die reflectirte Gestalt haben, um die wissenschaftliche Aufgabe direct zu bezeichnen. Die Moral ist hierin anders bestellt, als die Dogmatik. Die letztere nimmt ihre Gegenstände aus dem Glaubensbekenntniß, die Moral, die es nicht mit credenda zu thun 10 hat, kann ihre Aufgabe nur durch Analyse des Gegenstandes erfüllen, die in keiner Schriftstelle und keinem Glaubensbekenntniß vorgezeichnet ist. NB. Franciskaner, Wiedertäufer, Puritaner, Pietisten sind darauf aus das apostolische Zeitalter ethisch zu copiren, Calvin die Verfassung als göttliches Institut zu behaupten. Unterschied der Schriftbenutzung von den Lutheranern (Brenz). Mittelaltriges Reformationsideal, zuerst bei Joachim 15 von Floris dann noch bei Waldensern, böhmischen Brüdern. Widerspruch zwischen dieser Aufgabe und Luthers Reformation, NB. Witzel.
§ 8. E i n t h e i l u n g – Andererseits ist es nicht nöthig, daß die theologische Moral so eingetheilt 20 werde, daß sie sich unmöglich mit einer philosophischen Eintheilung decke.
Dies ist das Streben von Schleiermacher. Während er auf der einen Seite sich das Verdienst um die philosophische Ethik erworben hat, zu zeigen, daß dieselbe nicht in der Verein[17]zelung der Begriffe Gut, Tugend, Pflicht, sondern 7–11 Die … ist.] am Rand 12–17 NB. … Witzel.] am Rand 12 Pietisten] über der Zeile 16 noch] über der Zeile 16 Widerspruch] korr. aus Wieder 18 § 8. Eintheilung] am Rand 19 – Andererseits] korr. aus 2. Andererseits 12 Zu Franciskaner s. RuV 1,118 f; zu Wiedertäufer und Pietisten ebd. 315; GdP 1,30 f. 13 Zu Calvin s. oben S. 2,4; GdP 1,71 15 Zu Brenz vgl. GdP 71 15 Zu Joachim von Floris … Waldensern, böhmischen Brüdern vgl. GdP 1,19 f. 17 Zu Witzel vgl. RuV 1,135 18 Im ursprünglichen Ms. A* begann hier von § 3 der 2. Absatz. Bei der Neueinteilung wurde die Zahl 2. gestrichen und durch einen Gedankenstrich ersetzt. 21 Schleiermachers philosophische Ethik s. Schleiermacher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre
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nur in deren Zusammenfassung dargestellt werden könne, so hat er das Interesse, die christliche Sittenlehre so zu entwickeln, daß die Elemente derselben dem Inhalt nach den Elementen der philosophischen Ethik nicht widersprechen, der Form nach aber kein Element der einen der der andern gleich sei (christliche Sitte Seite 28). Als Philosoph will Schleiermacher unter jedem der drei Begriffe das Ganze des ethischen Stoffes darstellen, welcher an dem Handeln der Vernunft auf die Natur zum Vorschein kommt, und zwar unter dem Titel G u t das Einssein von Vernunft und Natur als Product des Handelns, und zugleich als fortwirkender Antrieb zu demselben, unter dem Titel T u g e n d , die Arten, wie die Vernunft als Kraft der Natur einwohnt, unter dem Titel P f l i c h t die Verfahrungsarten, wie die Thätigkeit der Vernunft zugleich eine bestimmte auf das besondere gerichtete und zugleich eine allgemeine auf das Ganze gerichtete sein kann. Dagegen faßt er die christliche Sittenlehre als Beschreibung derjenigen Handlungsweise, welche aus der Herrschaft des christl|ich religösen Selbstbewußtseins entsteht (S. 33). Dieses Handeln ist nun nach Schleiermacher entweder ein wirksames, oder ein darstellendes, und in jenem Bereich theils wiederherstellend, theils verbreitend. Beide Lehrformen unterscheiden sich im tiefern Grunde dadurch, daß nach der philosophischen Ethik (§ 91) der Gegensatz von Gut und Böse außerhalb der Ethik in die die Sittenlehre begleitende Beziehung des empririsch geschichtlichen auf das Ethische fällt, während die theologische Sittenlehre in der Beschreibung des reinigenden Handelns die Sünde voraussetzt. Aber näher angesehen ist die christliche Sittenlehre abgesehen von dieser Abweisung nur nach demselben Gesichtspunkt eingetheilt wie die Güterlehre der philosophischen Ethik. Denn wie die Unterscheidung des wiederherstellenden oder reinigenden und des verbreitenden Handelns in concreto sich aufhebt, und also das wirksame und das darstellende Handeln allein in Betracht kommen, so decken sich diese Begriffe mit der in der Güterlehre unterschiedenen organisirenden [18] und symbolisirenden Thätigkeit der Vernunft. Wenn also Schleiermacher Recht hat, daß der ethische Stoff nur in jenen drei Begriffen erschöpft wird, so hat Rothe Recht, auch die theologische Ethik auf dieselben zu begründen. NB. Die Formel: Die Vernunft in Einheit mit der Natur setzen faßt die Kunstthätigkeit und die sittliche Handlungsweise indifferent zusammen. 2 Sittenlehre] korr. aus Sittenlehre, 9 und … demselben,] am Rand 24 f. der … Ethik.] am Rand 33–23,6 NB. … Gemeinschaft.] am Rand 2 Schleiermacher, Die christliche Sitte 28 13 Schleiermacher, Die christliche Sitte 33 19 Schleiermacher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre 52–54 31 Rothe, Theologische Ethik 1,197–204
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Denn darstellendes und verbreitendes Handeln in welche die Güterlehre eingetheilt wird, bezeichnet eben jenes Beides. Das sittliche Handeln aber wird durch jene Formel nicht erschöpft, sondern nur sofern es eine künstlerische Seite hat. Als organisirend bewährt es sich nur, wenn die Handlungen nicht blos die Vernunft in Einheit mit der Natur setzen, sondern die vielen Vernunftträger in geistige Gemeinschaft. Wir können aber beiden in dieser Hinsicht nicht folgen. Wir wollen davon absehen, was überhaupt Schleiermachers Ethik verdächtig macht, die Ignorirung des Begriffes des Willens, bei der er mit jener Formel des Handelns der Vernunft auf die Natur gar nicht das eigentlich ethische Gebiet bezeichnet, ferner den Mangel der Ableitung jener drei Begriffe von dem Willen, endlich die mißliche subjectivistische Haltung jenes Gegensatzes von Vernunft und Natur, der a n s i c h nicht besteht, sondern nur in dem Verhältniß der Wirklichkeit zu unserm Erkennen. Aber wenn wir in allen diesen Beziehungen andere Grundlagen voraussetzen, so entspricht es unsern dialektischen Ansprüchen nicht, in jenen drei Begriffen jedesmal das Ganze nur von anderen Seiten her darzustellen, sondern wir suchen Eintheilungsgründe, welche auf wirklich gegensätzlichen Momenten des sittlichen Processes beruhen, und nicht nur auf anderen Seiten desselben gedachten Gegenstandes. Die Begriffe von Tugend und Pflicht scheinen freilich auf den ersten Blick solche gegensätzliche Momente zu bilden, also unseren Ansprüchen zu genügen. Aber dann ist zunächst der Titel des Gutes im Vergleich mit Tugend und Pflicht mißlich. Die Güterlehre geht auf das reine Ineinander von Vernunft und Natur, die Tugendlehre und Pflichtenlehre auf den beziehungsweisen Gegensatz des allgemeinen und besonderen darin, indem die eine es als erzeugendes, die andere als erzeugtwerdendes betrachtet (§ 118). 1. Tugend ist auch Gut, nach der Schleiermacherschen Definition 2 Pflicht ist von Tugend abhängig 3. Der Gegensatz zwischen Pflicht und Tugend. J e n e direct an die Bezie-
2 wird,] folgt <deckt sich mit> 7 Wir können] Wir davor 7–14 Wir wollen … Erkennen.] in eckigen Klammern (Bleistift) 9 Willens,] folgt 16 Ganze] korr. aus ganze 17 f. auf … gegensätzlichen] korr. aus wirkliche G 18 Momenten … Processes] am Rand statt 19–22 Die … zunächst] am Rand statt 27–24,5 1. Tugend … anderen] am Rand mit Bleistift 26 Schleiermacher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre 80
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hung des Willens auf die Gemeinschaften gebunden, d i e s e relativ selbständig dagegen. S o n s t kehrt derselbe Stoff unter beiden Begriffen wieder 4. Güterlehre ist allgemeiner als Tugend und Pflicht Also ein Allgemeiner, zwei Specielle Theile; aber anders zu betiteln. Denn in dem 2. und 3. Theil sind Tugend und Pflicht nur Begriffe neben anderen Aber jene Definition des Gutes als eines Productes, eines Seienden und Ruhenden setzt den B e g r i f f a u s d e r E t h i k h e r a u s , welche nur auf die Bewegung des Willens sich bezieht und auch die sittlichen Gemeinschaften nicht als fertige ruhende Producte, sondern [19] als sittliche Factoren ebenso wie den einzelnen Willen würdigen muß, und sie ebenso wie diesen dem Tugend- und Pflichtbegriff unterwerfen. Ihre Subsumtion unter den Begriff von Gütern ist auch nach der Seite hin bedenklich, daß noch m e h r u n t e r d e n B e g r i f f d e s G u t e s gehört, als die Producte des sittlichen Willens. Einerseits umfaßt dieser Begriff auch möglicherweise die ganze Lehre von der Tugend, da auch diese die Betrachtung als Product der sittlichen Bildung gestattet. Andrerseits ist Gut nicht nur, was Product, sondern a u c h w a s M i t t e l d e s W i l l e n s ist, oder werden kann, Gesundheit, Vermögen, ja auch die das sittliche Thun begleitende Lust. Und diese Betrachtung möchte eigentlich wohl die richtigere und umfassendere sein, wonach auch alle sittliche Gemeinschaft ein Gut nur ist, sofern sie als Product des gemeinsamen Willens allen Einzelnen zugleich förderliche Bedingung ihres sittlichen Strebens sein wird. Die Güterlehre wäre also vielmehr als L e h r e v o n d e n s i t t l i c h e n M i t t e l n zu fassen, wenn sie wirklich der Tugend- und Pflichtenlehre entgegengesetzt werden soll. umfaßt bei Rothe: a Vom höchsten Gut, in abstracto Das Wesen des sittlichen Processes die sittliche Ausrüstung, Handeln, Gemeinschaft, – b. in concreto Sünde, Erlösung, Reich des Erlösers. Aber der Begriff des Mittels ist zu relativ, als daß er einen besonderen Theil der Ethik begründen sollte, und dann würde die Lehre von den sittlichen Ge6–11 Aber … unterwerfen.] in eckigen Klammern (Bleistift) 7 auf] über der Zeile 11 unterwerfen.] folgt 11 Ihre] korr. aus ihre 18 ja … Lust.] am Rand 20 Gemeinschaft] folgt 21 zugleich] am Rand 25–27 umfaßt … Erlösers.] am Rand mit Bleistift 25 a] über der Zeile 25 Vom … Gut] mit aufgehobener Streichung 25 in abstracto] über der Zeile 25 Rothe, Theologische Ethik, Band 1 wird durch die unter a aufgeführten Begriffe gegliedert, Band 2,1–338 durch die Begriffe unter b.
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meinschaften um so weniger geschickt darunter zu bringen sein, als dieselben nicht minder richtig Bedingung und Zweck des sittlichen Handelns der Einzelnen sind (Hartenstein, Grundbegriffe der ethischen Wissenschaften S. 354 erinnert ferner daran, daß der Güterbegriff da vorherrscht, wo die Ethik Eudämonismus ist, und wo überhaupt der Begriff des Willens noch nicht aufgegangen ist, bei den Alten). Denn wenn es etwa scheinen könnte, als ob man die drei Schleiermacherschen Begriffe auf die Elemente des Zweckbegriffs reduciren könnte, Tugend als Ausdruck des Grundes des sittlichen Handelns, Pflicht als Ausdruck des Zweckes des sittlichen Handelns darstellen, so liegt es in der Untrennbarkeit der Momente dieses Begriffes daß auch die Pflicht ebensogut als Grund, die Tugend ebensogut als [20] Zweck des sittlichen Handelns dargestellt werden könnte. Es ist ein specieller Fehler von Schleiermacher daß er bei der Eintheilung seiner ethischen Begriffe nur die dialektisch zusammengehörigen Seiten auseinandersetzt, die nicht ohne einander angeschaut und gedacht werden können. So in der Güterlehre, daß die Natur Organ und Symbol der auf sie wirkenden Vernunft sei. In der Tugendlehre Gesinnung und Fertigkeit, in der Pflichtenlehre Gemeinschaftbilden und Aneignen. – Wenn T u g e n d u n d P f l i c h t wirklich auseinandergesetzt werden sollen, und wenn man dem entgehen will, daß alle Tugenden auch als Pflichten, und umgekehrt dargestellt werden könnten, weil alles sittliche Sein auch als Sollen und umgekehrt dargestellt werden kann, so handelt es sich um Absteckung gegensätzlicher Gebiete, in welche die eine wie die andere hineingehört. Da bezieht sich Pflicht auf das Gebiet des Handelns, Tugend auf das der Bildung des Willens abgesehen vom Handeln. W e i t e r ist das Handeln direct bezogen auf die sittliche Gemeinschaft, und dieser Begriff so sehr der Exponent des Pflichtbegriffs, daß wie sich zeigen wird Pflichten gegen sich selbst gar nicht den Pflichten gegen andere entgegengesetzt werden können. Die Tugend hingegen kann concret gedacht werden auch abgesehen von dem auf die Gemeinschaft gegründeten Handeln. D r i t t e n s hat die Tugend direct religiöse Begründung, die Pflicht nicht. Dabei ergibt sich w e i -
2 Bedingung] über 8 als Ausdruck des] am Rand statt 8 Grundes] korr. aus als Grund 9 Pflicht] korr. aus ÎGut alsù 14 die] folgt 17 Fertigkeit, in] korr. aus Fertigkeit. In 22 welche] korr. aus welchen 28–26,7 Die … abhängig.] am Rand; davor 3 Gustav Hartenstein, Grundbegriffe der ethischen Wissenschaften 354 15 Vgl. Schleiermacher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre 92 (§ 129) 16 Vgl. Schleiermacher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre 335 (§ 294) 17 Vgl. Schleiermacher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre 436 (§ 329)
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t e r, daß der Begriff der Pflicht kein selbständiger ist, der etwa direct aus dem Begriff von der Freiheit des Willens abgeleitet werden könnte. Sondern Pflicht setzt Gesetz voraus, aber nicht nur dies, sondern auch das Gewissen ist Quelle der Pflicht. Denn Pflicht ist die Form, in welcher das Gewissen das objective Gesetz zum Motiv des Handelns macht. Das Gewissen aber gehört in die Sphäre der Tugend, und so ist bei allem Gegensatz zwischen Pflicht und Tugend jene von dieser abhängig. Aber wird sich nun der T u g e n d begriff construiren lassen lediglich aus dem individuellen Faktor des Willens heraus, abgesehen von der Beziehung auf die Gemeinschaft? Unmöglich. Hieran entscheidet sich aber, daß der Begriff der Tugend oder der subjectiven Moralität nicht so selbständig ist, wie gewöhnlich angenommen wird. Wenn auch der innere Proceß des sittlichen Willens nicht außer Beziehung zur sittlichen Gemeinschaft zu denken ist, so ist er einem Mittelbegriff zwischen individueller und universeller Sittlichkeit untergeordnet, dem Begriff des sittlichen B e r u f s , als der concreten Synthesis jener beiden Momente. [21] Also setzen wir in tieferer Begründung die Pflichtenlehre der Tugendlehre entgegen, so setzt unser zweiter Theil schon den Gegensatz aber auch die untrennbare Zusammengehörigkeit des einzelnen sittlichen Subjects und der Gemeinschaft voraus, und zwar so daß alle nur möglichen Wechselverhältnisse zwischen ihnen stattfinden, die in der Dialektik des Begriffes des Willens vorkommen. Das sittliche Subject tritt ebenso als Grund, Mittel und Zweck der sittlichen Gemeinschaft auf, als diese Grund, Mittel und Zweck für das einzelne Subject wird, und zwar in allen nur möglichen Phasen ihrer Erscheinung. Nun bringt es aber der theologische Character unserer Darstellung mit sich, daß die Grundbestimmungen über das religiös wiedergeborne Subject als sittliches Subject wesentlich positiv dogmatisch gehalten sein werden. Dadurch schon kommt es, daß keine Wiederholungen zwischen dem 2. 3. und 1. 15 Momente.] folgt < Aber ebenso wenig wie die Tugend ist auch die Pflicht ein reiner Begriff der etwa direct aus dem Begriff der Freiheit des Willens abgeleitet werden kann. Pflicht setzt den Begriff des sittlichen Gesetzes voraus, und als Norm des Handelns bezieht sich die Pflicht auf die Gesetze des sittlichen Verkehrs. Aber sie ist [21] nicht die Form dieses objectiven Gesetzes, sondern die Form in welcher das Gewissen die Gesetze des sittlichen Verkehrs als Motiv des Handelns anerkennt, und es wird sich zeigen, daß in diesem Verlauf das durch den sittlichen Beruf bestimmte Gewissen mit den objectiven Normen zur Bildung von Pflichtbegriffen concurrirt. So ergiebt sich bei der Absteckung des Gegensatzes zwischen den Gebieten von Tugend und Pflicht doch eine nothwendige Abhängigkeit der letzteren von der ersteren, und die Nothwendigkeit andere umfassendere Titel für dies Gebiet zu suchen. Zu diesem Zweck ist aber drittens zu beachten, daß der sittliche Beruf eine direct religiöse Wurzel hat, daß aber der Pflichtbegriff nur durch Vermittlung des religiös gegründeten Berufsgewissens auf den religiösen Factor zurückgeht. > 16 f. setzen … so] am Rand 16 f. entgegen,] folgt 20 f. vorkommen.] korr. aus vorkommen, 26 f. werden. Dadurch] korr. aus werden, und
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Theil eintreten, aber weiterhin ist zu beachten, daß alle dogmatischen Aufstellungen vielmehr Probleme stellen als lösen. I. Das religiöse Subject als sittliches und die sittliche Gemeinschaft unter dem religiösen Gesichtspunct. S. 22–89. 5 II. Der Proceß des besondern religiössittlichen Willens. S. 90–118. III. Die Regel des sittlichen Handelns in der Gemeinschaft. S. 119–
26,27 daß] folgt <wir> 6 119–] zu ergänzen 133 als letzte Seite von Ms. A; für Ms. B lauten die Zahlen 22–96, 97–129 und 129–159.
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I. Theil I. Heiligung
[22] I . T h e i l . D a s r e l i g i ö s e S u b j e c t a l s s i t t l i c h e s u n d die sittliche Gemeinschaft unter dem religiösen Gesichtspunct.
Erstes Capitel. Die Heiligung oder Wiedergeburt.
§ 9. 5. D i e H e i l i g u n g i m V e r h ä l t n i ß z u G o t t u n d z u r menschlichen Freiheit. Der Inhalt des Capitels ist schon in der Dogmatik an verschiedenen Stellen vorgekommen. Um die theologische Ethik anzufangen, ist also dasjenige zusammenzufassen, was rein für sich noch nicht theologisch-ethische Lehre ist, sondern dogmatisch-theologische. Das religiöse Subject dessen sittliche Freithätigkeit begriffen werden soll, kann vorweg nur so vorgestellt werden, wie es dem Glauben oder religiösen Verständniß gegenübersteht. Das Urtheil des Glaubens oder das religiöse Verständniß der Dinge stellt nun dieselben in specifische Abhängigkeit von Gott und seinem Wirken. Demnach ist das religiöse Subject von Gott durch den heiligen Geist geheiligt oder wiedergeboren; Gott wirkt in uns Wollen und Vollbringen (Phil. 2,13 vgl. Hebr 13,21). Erst auf Grund dieser religiös verstandenen Qualität soll eine sittliche Freithätigkeit im theologischen Sinne denkbar sein; nach katholischer Lehre soll aber der Stand der iustificatio halb von Gott und halb vom Menschen hervorgebracht sein. – Dogmatik § 74. Der übliche Begriff regeneratio, Ànagénnhsiv hat keinen selbständigen Sinn; er vergleicht nur die Eigenthümlichkeit des religiösen Subjects mit seinem entgegengesetzten Zustand der frühern Zeit. Die positiven Vorstellungen sind zên, zwÄ Èn pneúmati Ágíšw, Ágiazesjai, Ágiasmóv pneúmatov. 2 Thess. 2,13; 1 Petr 1,2. Der religiöse Werth des L e b e n s richtet sich danach, daß Gott der Lebendige ist, zunächst im Gegensatz zu den todten Götzen, als der seiner selbst, der Welt und seines Heilszweckes Mächtige. Das L e b e n im göttlichen Geist ist ferner kein empirisches Verhalten, welches vielmehr in der Formel peripajeîn, stoiceîn Èn pneúmati (Gal. 5,25) davon abgeleitet wird. Uebrigens erhält der Begriff seine Beleuchtung durch die andern
24 pneúmatov] über der Zeile 25 2 Thess. … 1,2.] am Rand mit Bleistift 27 f. als … Mächtige.] am Rand 23 Vgl. Röm 12,11; 15,16; Gal 5,25; 1 Petr 4,6
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gleichen Werthes. Die H e i l i g k e i t und Heiligung tritt schon im Alten Testament für das dem heiligen Gott angehörende Volk auf, und findet die Erklärung nach zwei Seiten hin durch synonyme Ausdrücke. Heilig ist der von Gott zum Eigenthum Erwählte, und heilig ist der Priester, der Gott nahen darf und ihm dienen soll (Exod. 19,6; Num. 16,5). Also ist das der Heiligkeit gleichgeltende L e b e n nicht das natürliche sondern folgt nur göttlicher Willensbestimmung in seiner über die natürlichen Bedingungen hinausgehenden Sphäre. Ferner aber schließt die Heiligkeit die besondere Zweckbeziehung des Lebens auf Gott in sich. Mit der Passivität des Bewirktseins [23] durch Gott ist die Forderung der Activität, die ihren Zweck in Gott findet untrennbar verbunden. – Freilich hört Gott im Neuen Testament auf, der Heilige zu sein, nicht aber die Qualität der Gläubigen als Heiliger. Gott war der Heilige im Bundesverhältniß mit dem E i n e n Volk, dem er sich besonders zugewandt hatte; er ist es nicht mehr indem er in Christus alle Völker und jeden einzelnen Menschen beruft. Hingegen heißt der göttliche Geist im Neuen Testament der h e i l i g e G e i s t , weil in ihm Gott sich jedem Einzelnen zuwendet (1 Petr. 1,2; 2 Th. 2,13), und ihn dadurch heiligt. Der activen Bedeutung der Heiligkeit entspricht ferner das allen Gläubigen im Neuen Testament zugesprochene Priesterrecht (1 Petr. 2,5.9; Apok. 1,6; 5,10; Hebr. 4,16; 7,19; 10,22; 1 3 , 1 5 . 1 6 ; Rom 12,1). Nicht sanctificatio im Sinn der lutherischen Dogmatik, nach Rom 6,19.22. Nach diesen Bestimmungen ergiebt sich auch die Congruenz des religiösen technischen Gebrauchs von L e b e n mit dem allgemeinen Begriff des Wortes. Leben 1. Eindruck ursprünglicher Ursächlichkeit, wodurch die Frage nach höhern Ursachen zurückgedrängt wird, also Selbständigkeit, 2. Zweckursache, 3. Ganzes. Leben ist zunächst passiven Sinnes: H e r v o r g e b r a c h t w e r d e n d u r c h s e i n e n Z w e c k . Auf der Stufe des Geisteslebens aber ist dieser Sinn eo ipso die Darstellung der höchsten und eigenthümlichsten Activität. Denn das Naturleben wird von seinem Zwecke ohne Vermittlung eines Bewußtseins von demselben hervorgebracht; d a s g e i s t i g e L e b e n wird durch den b e w u ß t e n S e l b s t z w e c k hervorgebracht, dies
4 Erwählte] korr. aus erwählte 11–18 Freilich … heiligt.] später mit Bleistift in eckige Klammern gesetzt 22 Nicht … 6,19.22.] am Rand; davor 23 religiösen] folgt
26–29 Leben … Ganzes.] am Rand 33 seinem] korr. aus Seinem
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aber ist der Ausdruck für die Form der eigenthümlichen Freiheit des Ich. Der Neutestamentliche Ausdruck meint nun freilich nicht jedes bewußt geistige Leben, sondern das durch den heiligen Geist Gottes bedingte. Der bewußte Selbstzweck, nach dem der Geist lebt und sich verwirklicht, kann blos einem individuellen Triebe nachgebildet, oder er kann nach einem allgemeinen Gedanken sittlichen Werthes bestimmt sein. Diese Fälle sind überschritten und ausgeschlossen, wenn es sich um Leben im heiligen Geiste handelt. Denn d e r h e i l i g e G e i s t ist zunächst als G e i s t G o t t e s der Gedanke vom göttlichen Selbstzweck in dem sich Gott erkennt; a l s A t t r i b u t e i n e s M e n s c h e n aber ist er dieser Gedanke wie er auf Grund der Offenbarung Gottes in Christo in jedem Gliede der Gemeinde den inhaltlichen Grund der Selbstzweckbewegung des menschlichen Willens bildet. Im heiligen Geiste lebt der, welcher i m G r u n d e nichts anderes als seinen Selbstzweck will, als was der offenbare Selbstzweck Gottes ist (in concreto das Reich Gottes unter den Menschen). Ein solcher behauptet eine Stufe des Characters, die dem zufälligen Spiele der individuellen Triebe, ferner einem egoistischen Endzweck, endlich auch einem allg|emein sittlichen, aber doch noch besondern und untergeordneten, Endzweck entgegengesetzt ist. Jene höchste mögliche Bestimmtheit des sittlichen Characters ist also [24] nicht Folge einer natürlichen Anlage oder Triebes, oder einer dem Gebiete des Naturells angehörigen Willensbestimmtheit; sondern im Vergleich hiemit ist jene Stufe übernatürlich. Aber diese sittliche Bestimmtheit ist im Menschen denkbar, weil seine Bestimmung zum Ebenbilde Gottes dieses Ziel seiner Entwicklung einschließt, und weil durch Christus eine Gemeinschaft der Art gegründet ist; und sie ist zu denken nothwendig weil sonst die Weltordnung nicht realisirt wird, in der jeder Mensch auf die sittliche Gemeinschaft zu allen Menschen angewiesen ist. – Indem nun freilich Gott ausschließlich und zwar durch Mittheilung seines Geistes als der Grund dieses Charakters gedacht werden muß, so ist derselbe weder für die empirische Wahrnehmung noch für das verständige Bewußtsein noch für eine absichtliche und vorsätzliche Bestrebung Gegenstand, sondern ist die intelligible Voraussetzung alles sittlichen Bewußtseins, welchem gemäß die empirische Verfassung des Willens richtig gedeutet werden kann; 1 Form der] am Rand 10 er] korr. aus der 19 ist] über der Zeile 23–32 Aber … sondern ist] am Rand statt 34 kann;] folgt <so ist auch der Stand der Wiedergeburt und der Besitz des heiligen Geistes kein Gegenstand des empirisch unmittelbar verstandes- oder gefühlsmäßigen Bewußtseins, sondern>
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Joh. 3,8. immer nur e i n e v e r m i t t e l t e E r k e n n t n i s seiner selbst kann d i e s e A r t der Verfassung der Persönlichkeit als Voraussetzung aller specifisch religiösen Erfahrungen und sittlichen Absichten constatiren. Diese zeitlose intelligible Art des Begriffes Leben im heiligen Geiste wird im alten Protestantismus durch die Idee der e w i g e n Erwählung durch Gott ausgedrückt. NB. heiliger Geist bezeichnet i d e e l l die transcendente Ursache, die man religiös voraussetzt; e m p i r i s c h die Präcedenz der Gemeinde vor dem Einzelnen. So sehr die wissenschaftliche Form des Gedankens dem Freiheitsbewußtsein des Menschen widerspricht, so ist derselbe seiner Absicht nach vielmehr darauf gerichtet, die Freiheit im concreten Sinne, die apriorische Begründung des Heilsstandes für alles sonst empirische Bewußtsein der Religion im Subject zu sichern. Indem die lutherische Confession diese Basis aufgegeben hat, hat sie den Freiheitsbegriff wie die Heilsordnung in empirischer Weise behandelt; aber ebenso die reformirte, indem sie jenen Gedanken nur verstandesmäßig, wie ein empirisches Object behandelt hat, die ewige Erwählung in die vorzeitliche umgesetzt und ihr e w i g e Verwerfung coordinirt hat, als wäre die Sünde nicht das nur Zeitliche, Zufällige, Empirische im Menschen.
§ 10. 6 D i e H e i l i g u n g o d e r G e r e c h t m a c h u n g n a c h katholischer Lehrdarstellung. Die Probe für die richtige Beziehung des heiligen Geistes auf den intelligi25 beln Begriff der menschlichen Freiheit wird die Gegenüberstellung der ka-
tholischen Lehre von der iustificatio bieten. Indem dieser Begriff gleich regeneratio gesetzt wird, schmeichelt man sich, sowohl das Interesse an der Realität des Gnadenstandes als das an der Freiheit zu befriedigen. Die Freiheit gilt als das Wesen des Menschen welches bei allem Wechsel der sittli30 chen Zustände dasselbe bleibe; man versteht aber darunter das Vermögen,
1 Joh. 3,8.] am Rand 4 Absichten] folgt 5 zeitlose] am Rand 8–10 NB. … Einzelnen.] am Rand 12 widerspricht] korr. aus zu 12 derselbe] am Rand statt <sie ihrer> 16–21 den … Menschen.] teils über der Zeile, teils im freien Teil der Zeile und teils am Rand statt <sich einen wesentlichen Mangel zugezogen.> 24 auf] folgt <den Be>
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in jedem Augenblick das Böse wie das Gute zu wählen und zu vollbringen; liberum arbitrium indifferentiae, die vorgeblich empirische Freiheit. Demgemäß hat weder das Gute noch das Böse einen nothwendigen Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen; das Eine wie das Andere ist nie Product des Willens, sondern nur Object der Aneignung, und dies auch nur momentan, ohne daß eine Eigenthümlichkeit des Willens sich daran bilden könnte. NB. Thomas macht den Anlauf (Prima secundae), diesen Begriff der Freiheit zu überbieten durch den richtigen Gedanken, daß sie die Bewegung nach dem erkannten guten Zweck sei. Aber er behauptet dabei, daß der Wille nothwendig auf das allgemeine Gute sich bezieht, aber in Hinsicht der particularen Güter indeterminirt ist (qu. 13), daß der Habitus dem freien Gebrauch unterliegt (qu. 71), daß die concupiscentia nicht die Unfreiheit bedingt, sondern eine Steigerung der Freiheit (qu. 6), und auch indem Gott den Willen durch die Gnade bewegt, bleibt die Bewegung des Willens zufällig und geht nicht in die Nöthigung auf (qu. 10). [25] Wenn der Begriff zweckmäßig ist, um das Böse als zufällig erscheinen zu lassen, so erscheint aber auch das Gute nicht als nothwendig für den Menschen. Begriff des Verdienstes! Dem entspricht es, daß die vorgebliche Vollkommenheit der ersten Menschen nicht zum Wesen gerechnet, sondern als donum superadditum angesehen wird. Ebenso wird der Umfang der christlichen Tugend nicht als die eigentliche Bestimmung des Menschen erkannt, sondern der übernatürliche Charakter derselben bedeutet eine Ueberschreitung des W e s e n s des Menschen. Nach dem Verlust der-
8–17 NB. … (qu. 10).] am Rand 8 (Prima secundae)] über der Zeile 13 f. concupiscentia] Ms.: concupicentia 20 Begriff … Verdienstes!] am Rand 22–25 Ebenso … Menschen.] am Rand 24 der übernatürliche] korr. aus das Uebernatürliche 8 Summa theologiae II/I q 6 a 1: „Unde, cum homo maxime cognoscat finem sui operis et moveat seipsum, in eius actibus maxime voluntarium invenitur.“ ed. Busa 2,365 a 10 Ebd. q 13 a 6: „… ex necessitate beatitudinem homo vult … Electio autem, cum non sit de fine, sed de his quae sunt ad fidem … [est] … aliorum particularium bonorum. Et ideo homo non ex necessitate, sed libere eligit.“ ed. Busa 2,374 a 12 Ebd. q 71 a 3: „Et sic potior est actus in bonitate vel malitia quam habitus …“ ed. Busa 2,446 c 13 Ebd. q 6 a 7: „… concupiscentia magis facit ad hoc quod aliquid sit voluntarium, quam quod sit involutarium.“ ed. Busa 2,366 b 15 Ebd. q 10 a 4: „… sic Deus ipsam [voluntatem] movet, quod non ex necessitate ad unum determinat, sed remanet motus eius contingens et non necessarius …“ ed. Busa 2,371 a
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selben durch die Sünde ist also das Wesen des Menschen unverkürzt, und es ist nur eine widerspruchsvolle Concession, daß unter der Sünde das liberum arbitrium viribus attenuatum et inclinatum sein soll (Tridentinum sessio VI,1). Deßhalb verhält sich aber auch im iustificatus seine Gerechtigkeit nur in mechanischer Identität zur Freiheit. Freilich wird die iustificatio so beschrieben, daß caritas Dei cordibus inhaeret; aber indem diese iustitia infusa (cap. 7) sein soll, so ist ihr Verhältniß zur Freiheit kein näheres als das der Flüssigkeit zu dem Gefäße. Dieser materialistische Mechanismus erscheint ferner daran, daß die äuß|erlichen Sacramente, Taufe und Buße ex opere operato respective mit einer bloßen attritio des Gemüthes den Zustand herbeiführen, daß er nicht blos durch eine Todsünde verloren werden kann, sondern daß ein stätiges Bewußtsein der iustificatio verboten ist (cap. 9), und daß durch Erfüllung der göttlichen und kirchlichen Gebote die Gerechtigkeit vermehrt werden muß (cap. 10). Deßhalb ist auch kein specifischer Gegensatz zwischen dem Sünder und dem Gerechten denkbar, denn jener soll der ihn berufenden Gnade consentiren und zum Zweck der iustificatio cooperiren können. Deßhalb bietet der katholische Begriff der iustificatio nicht nur keine organische Verbindung zwischen Freiheit und Wiedergeburt, sondern auch deßhalb kein Princip eigenthümlichen sittlichen Lebens und kein Princip zur Ausgestaltung theologischer Ethik. Die Laien sind immer an die Ergänzung durch den Klerus gewiesen, weil Freiheit und Gerechtigkeit immer auseinanderfallen. Aber auch der Klerus unterliegt dem Dualismus der Priester und der Bischöfe, der Bischöfe und des Papstes, ja der Papst ist getheilt in den fehlbaren und sündigen Privatmann und den ex cathedra unfehlbaren Amtsträger. Das abgestufte System findet nur scheinbar eine sittlich einheitliche Spitze. Die katholische Moral ist deßhalb theils blos legislatorisch, theils nicht gegen die philosophische Moral abgrenzbar. (Vgl. Merz, Das System der christlichen Sittenlehre in seiner Gestaltung nach den Grundsätzen des Protestantismus im Gegensatz gegen den Katholicismus. 1841). – Der Begriff der Wahlfreiheit bezeichnet nichts [26] weniger als das Princip der Willensphänomene sondern ein äußerliches Merkmal des Willensverlaufs in einem beschränkten Kreis sittlicher Entwickelung. Je-
7 (cap. 7)] über der Zeile 8 Dieser] Ms.: Diese 8 f. materialistische Mechanismus] am Rand statt 2 Konzil von Trient, 6. Sitzung: Dekret über die Rechtfertigung Kap. 1 DH 1521 6 Konzil von Trient, 6. Sitzung: Dekret über die Rechtfertigung Kap. 7 DH 1530 12 Konzil von Trient, 6. Sitzung: Dekret über die Rechtfertigung Kap. 9 DH 1534 13 Konzil von Trient, 6. Sitzung: Dekret über die Rechtfertigung Kap. 10 DH 1535 28 Heinrich Merz, Das System der christlichen Sittenlehre
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der bestimmte Willensact unterliegt vielmehr der Nöthigung durch das bestimmte Motiv, sei es der Lust oder Unlust, sei es der bewußten Pflicht. Wenn die Möglichkeit von zwei Motiven sich im Gedanken vergegenwärtigt, so folgt der Wille dem nach Verhältniß zum empirischen Charakter stärkern Motiv. Der Unterschied dieser Thatsachen vom thierischen Bewußtsein liegt darin, daß das Thier nur Reize der Lust oder Unlust kennt, und nur zwischen solchen wählt; der Mensch aber kann entweder dem den einzelnen Trieben entsprechenden Lustreiz folgen oder dem allgemeinen Gedanken eines Zweckes. Auch wo ein allgemeiner Endzweck aufgefaßt, aber durch die Befriedigung eines einzelnen Triebes erfüllt ist, ist der Mensch formal frei, sofern er anderen Trieben entprechenden Lustreiz überwinden kann; aber das Moment der Wahl, welche dabei mitwirkt, oder die wirkliche Handlung aufschiebt, oder dahin führt, daß ein starker Antrieb durch die Ueberlegung abgeschwächt und schließlich unwirksam wird, ist das Kennzeichen davon, daß der Mensch sich selbst bestimmt, im Grunde sich als bewußten allgemeinen Endzweck über den einzelnen Antrieben mächtig erweist. Ueber Kant’s Distinction zwischen intelligibler und empirischer Freiheit. Formal und materiell frei in concreto ist er nur, wenn der das Motiv erzeugende allgemeine Endzweck gut, respective wenn der persönliche Selbstzweck mit einem allgemeinen Zwecke respective dem höchsten allgemeinen erfüllt ist, und dadurch die Lustreize der natürlichen individuellen Triebe ausschließt. Je nachdem der Mensch Charakter ist, egoistischer oder sittlich guter kommt er r e g e l m ä ß i g gar nicht in den Fall des Wählens oder Schwankens zwischen entgegengesetzten Motiven; aber die Wahl wird nie ganz ausgeschlossen; im völlig unmündigen Naturell, folgt der Wille ohne Wahl dem gerade erregten einzelnen Lusttriebe. Eine Oscillation, wie sie der katholische Begriff der Freiheit im Allgemeinen als menschliches Wesen setzt, kommt nur in der unreifen Stufe des werdenden Charakters zum Vorschein. Deßhalb convenirt auch der Katholicis-
9 eines] folgt 12–17 aber … erweist.] am Rand statt 16 bewußten] korr. aus S 18 Ueber … Freiheit.] am Rand 19 das] über der Zeile 19 Motiv] korr. aus Motive 22 f. der … Triebe] am Rand 24 regelmäßig gar] am Rand statt 25 f. aber … ausgeschlossen;] am Rand 26 völlig] folgt 18 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, III. Abschnitt, Kap. „Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?“ In: Sämmtliche Werke ed. Hartenstein 4,301–303.
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mus den unreifen Charakteren, und er erhält seine Angehörigen auf dieser Stufe.
§ 11. 7 D a s G e w i s s e n . vgl. Dogmatik § 10. Das Gewissen ist d|ie subjective Gestalt der in § 9 dargestellten Synthese 5 zwischen heiligem Geist und intelligibler Freiheit, in welcher dieselbe
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auch dem empirischen zeitlichen Bewußtsein entgegentritt. Man versteht unter Gewissen im populären Sinn ein Schema von Pflichterkenntniß, die sich in unwillkürlicher geheimnißvoller Weise im bestimmten Fall des Handelns dem Menschen aufnöthigt, in Gestalt eines Urtheils über Pflichtmäßigkeit oder -widrigkeit der beabsichtigten oder vollzogenen Handlung. Wegen des Geheimnisses und der [27] zwingenden Gewalt dieser Erkenntniß nennt man es die Stimme Gottes. Dabei wird vorausgesetzt, daß der auf das Gewissen zurückgeführte Inhalt sittlicher Erkenntniß bei allen Menschen ursprünglich gleich sei; und daß Ungleichheiten nur durch verschuldete Trübung oder Fälschung des Gewissens eingetreten seien. Diese Meinung kann sich aber nur bei unvollständiger Beobachtung behaupten; vielmehr ergiebt sich, daß der sittliche Inhalt des Gewissens auf verschiedenen Religions- und Culturstufen verschiedener Völker und Zeitalter variirt. Identisch ist nur die Form der Function, die zwingende Gewalt zur bestimmten Erkenntniß von Recht oder Unrecht im einzelnen Falle. D e ß h a l b wird allerdings mit Recht das Gewissen mit dem Gedanken von Gott in Beziehung gesetzt. Aber man unterscheidet doch ebenso richtig zwischen Stimme des Gewissens und göttlicher Offenbarung. Diese hat nämlich stets eine Bestimmung für die Gesammtheit und auch der erste Empfänger einer Offenbarung vernimmt göttliches Wort immer so, daß er sich zugleich als Vermittler desselben für die Anderen weiß. Aber die Stimme Gottes im Gewissen bezieht jeder der sie vernimmt, ausschließlich auf sich, und weiß nur sich durch sie gebunden, wie
3 Das] korr. aus D a s c h r i s t l i c h e 4 Gestalt] korr. aus Organ 5 f. in … entgegentritt.] am Rand 8 in] über der Zeile 28 nur sich] umgestellt aus sich nur 28–36,1 gebunden, … auch] über der Zeile 4 Unter dem Einfluß von Wilhelm Gaß, dessen 1869 erschienenes Buch „Die Lehre vom Gewissen“ Ritschl auf dem eingelegten Doppelblatt 28 a.b exzerpiert hat (s. unten S. 211 Beilage III.1), wurde Organ durch Gestalt ersetzt. – § 11 umreißt schon den Inhalt des 1876 erschienenen Vortrags „Ueber das Gewissen“; vgl. OR 2,288 f.
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er sich auch nicht durch fremdes Gewissen gebunden weiß. Dies weist darauf hin, daß die nöthigende Macht des Gewissens ihren Grund n i c h t b l o s in Gott, sondern auch in dem subjectiven Wesen des Menschen hat. Darum ist jedoch das Gewissen nicht individuell mit Ausschluß der Allgemeingültigkeit, vielmehr vorausgesetzt und erprobt, daß das Gewissen denjenigen Pflichtinhalt bezeugt auf derselben Religions- und Bildungsstufe, bei verschiedenen Personen. Daher wurzelt die r i c h t i g e Selbstbeurtheilung, wo sie geltend gemacht wird, im Gewissen, sei es billigend (2 Kor. 1,12; Rom. 9,1; Act. 23,1; Hebr. 13,18; 1 Petr. 3,16; 1 Tim. 3,9; 1,19) sei es mißbilligend (suneídhsiv Ámartiôn Hebr. 9,14; 10,2.22; Rom 2,15). Indem man also jeder für sich an dem Gewissen sein Kriterium hat, traut der Gewissenhafte, wegen der Allgemeingültigkeit des Gewissens auch den Anderen zu, daß sie an ihrem Gewissen ein Kriterium des Wahren und ein Organ für Wahrhaftigkeit Anderer haben (2 Kor. 4,2; 5,11). Freilich ist dies Verhältniß nicht im empirischen Verlaufe des menschlichen Geistes zu entdecken. Vielmehr hat das Gewissen an dem den Menschen aufgenöthigten bestimmten Pflichturtheil nur seine W i r k u n g und E r s c h e i n u n g ; sein Wesen aber ist nur als transscendentale Idee zu fassen, und sein Verhältniß nur bestimmbar zum intelligibeln Begriff der Freiheit. Es schließt nun aber ferner g ö t t l i c h e Auctorität der Art in sich, 1 Petr. 2,19; Rom. 13,5; Hebr. 9,9 daß das Gewissen auf jeder Stufe der Religion nach Maaßgabe der leitenden Gottesidee andern Inhalt producirt; also hat es an der abgestuften Gottesidee sein Maaß. Die heidnische Gottesidee, 1 Kor. 8,7 welche entweder sittlich indifferente Naturmacht, oder beschränkte geistige Persönlichkeit als ästhetisches Ideal aufstellt, findet nur einen sehr engen Spielraum sittlicher Anwendung im Gewissen; die Auctorität liegt in der Sitte und den Gesetzen des Staates. Das israelitisch Alttestamentliche Gewissen 1 nicht] folgt 1 gebunden weiß.] am Rand statt 3 subjectiven] über 4–14 Darum … 5,11).] am Rand 4 jedoch] über der Zeile 5 vielmehr] folgt 10 22] über der Zeile 16 f. den Menschen] am Rand 18–20 sein … Freiheit.] in eckigen Klammern (Bleistift) 18 Idee] korr. aus Function 22 1 Petr. … 9,9] am Rand 26 1 Kor. 8,7] am Rand 29 f. die … Staates.] am Rand
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1 Kor. 10, 25. 27.28 hat gemäß der ethischen Gottesidee einen ausgebreiteten sittlichen Spielraum, hat aber seine Schranke am nationalen Particularismus und dem Gegensatz von Rein und Unrein. Erst bei der Begründung auf die christliche Gottesidee hat das Gewissen die universelle und übernatürliche Tragweite, die man in der Richtung auf sogenannte [28] natürliche Religion dem Gewissen überhaupt beimißt. Wenn nun die Freiheit die Selbstbewegung nach dem bewußten Selbstzweck ist, so ist das christliche Gewissen im heiligen Geiste (Rom 9,1) diejenige Funktion, welche den offenbaren göttlichen Selbstzweck als den Inhalt des persönlichen Selbstzwecks, als letztes Ziel und als letzten Grund der eigenen Freiheit wirksam macht. Das Gewissen von Christen ist schwach (1 Kor. 8,7.10.12), befleckt (Tit. 1,15), gebrandmarkt (1 Tim. 4,2), wo heidnischer Götterglaube oder Lebensgrundsätze mit dem christlichen Glauben verbunden werden, je nach dem Grade der Aggression gegen die christlichen Grundsätze. Es ist selbst die Synthese zwischen heiligem Geist und Freiheit nur mit Hervorkehrung der Form der Subjectivität, während Heiligkeit und Wiedergeburt dieselbe unter objectivem Gesichtspunkt bezeichnen. Wenn hiegegen eingewandt wird, daß das Christenthum als historische Religion seine Anknüpfung nur in der empirischen, verstandes- oder gefühlsmäßigen Erkenntniß, und im empirischen Willensgebiet suche, so hat § 10 gezeigt, daß dies Unternehmen nicht zum Ziele führt. Zu unserer Entscheidung aber sind wir berechtigt, weil auch der Gedanke von Gott in jeder Bestimmtheit nicht Product irgend einer Erfahrungen, sondern überall Voraussetzung der entsprechenden religiösen Erfahrung ist, apriorischer Begriff. So ist auch die Gemeinschaft eines Gottesglaubens, trotz ihrer empirischen und historischen Stiftung nur denkbar, wenn auch der positive Inhalt göttlicher Offenbarung in die intelligible Function der Gewissen der bestimmten Religionsstufe aufgenommen ist. Auch die transscendentale Fähigkeit des Geistes, Erfahrungen zu bilden, unterliegt unmeßbaren historischen Bedingungen im Leben des Subjectes um in Wirksamkeit zu treten. Ebenso ist auch die transscendentale Funktion des Gewissens doch zugleich historisch bedingt.
1 1 Kor. … 28] am Rand 1 25.] mit aufgehobener Streichung 4 Erst] folgt 7 die] folgt 12–15 Das … Grundsätze.] am Rand 22–29 Zu … ist.] in eckigen Klammern (Bleistift) 30–33 Auch … bedingt.] am Rand 21 S. oben S. 31
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§ 12. 8 D i e B e k e h r u n g n a c h l u t h e r i s c h e r und reformirter Lehre. Der Grundbegriff der theologischen Ethik, nachdem er objectiv im Verhältniß zu Gott und zur menschlichen Freiheit, und subjectiv im Verhältnis zum Gewissen festgestellt ist, muß auch noch im Verhältniß dazu betrachtet wer- 5 den, daß die Wiedergeburt oder Heiligung im Subject selbst einer andern Willensrichtung gefolgt ist, der Sünde, kurz daß der, welcher geheiligt ist, eo ipso bekehrt ist. Indem der Erfolg auch in dieser Form durch das religiöse Urtheil auf Gottes Bewirkung zurückgeführt wird, ist es eine wissenschaftliche Forderung, im Zusammenhang der ethischen Würdigung der Person, daß die 10 1 8] korr. aus 7 1 f. nach … Lehre.] über 3–39,2 Der … Tradition.] am Rand statt ) diese bezeichnet den heiligen Geist als die Bedingung der Einwirkung auf den Menschen. Aber indem der jetzt Geheiligte früher Sünder war, so liegt im Zusammenhang der religiösen Vorstellung die Aussage, daß Gott den Menschen bekehrt; dieselbe Thatsache aber will nach dem wissenschaftlichen Freiheitsbegriff als Selbstbekehrung des Menschen gedacht sein.> Dazu am Rand ohne genaue Zuordnung Die nicht gestrichene Fortsetzung dieses Abschnitts wird zum Anfang von § 13. 9 f. Forderung,] folgt 1 Der Text von § 12 bestand ursprünglich aus dem jetzt gestrichenen Anfang (s. textkritischen Apparat) und dem Anfang des jetzigen § 13 (Die empirische … handelt. –). Die oben wiedergegebene Endgestalt des Textes von § 12 setzt sich zusammen aus dem am Rand neu formulierten Anfang (Der Grundbegriff … Tradition), dem samt Überschrift hierher versetzten ursprünglichen § 13 s. unten S. 39,3–42,10 (Die lutherische und … Pietismus.) und dem auf dem eingelegten Blatt 29 a.b hinzugefügten neuen Schluß s. unten S. 42,11–43,22 (Die lutherische Lehre … gilt.)
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Thatsache als die Bekehrung seiner selbst verstanden werde. Den doppelten Sinn hat auch conversio in der theologischen Tradition. [30] D i e l u t h e r i s c h e u n d d i e r e f o r m i r t e L e h r e von Buße und Glaube. 5 Vgl. Schneckenburger, Vergleichende Darstellung des lutherischen und refor-
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mirten Lehrbegriffs II. S. 115–134. Die l u t h e r i s c h e Theologie entspricht der von uns befolgten Untertheilung von dogmatischen und ethischen Sätzen, indem sie denselben Verlauf dogmatisch unter den Titeln der conversio und regeneratio, ethisch unter dem Titel der poenitentia oder intransitiven conversio behandelt. Sofern von dem göttlichen transitiven [31] Act der conversio die regeneratio noch unterschieden wird, wird der Begriff jener auf die Erweckung des Schmerzes über die Sünden beschränkt; sofern conversio auch die regeneratio umfaßt, umfaßt sie auch die Erweckung des der regeneratio entsprechenden gläubigen Vertrauens auf Christus. Diesem weitern Sinne der von Gott durch den heiligen Geist gewirkten conversio congruirt in der poenitentia die Aufeinanderfolge von contritio und fides. Beide Auffassungen des Verlaufes setzen aber den Begriff der illuminatio voraus. Der Mensch muß aus dem G e s e t z die richtige Erkenntniß seiner Sünden gewonnen haben, ehe er durch conversio im engern Sinn, respective contritio, den Schmerz über dieselben, die Furcht vor Gottes Zorn und den Schrecken des Gewissens concipirt; und er muß aus dem Evangelium die Verheißung der Sündenvergebung durch Christus kennen, ehe er regenerirt, respective die fiducia darauf fassen kann. Denn der Wille wird durch den Intellect geleitet. Hollatz S. 832: Differt illuminatio a regeneratione. Illa magis intellectum, haec magis voluntatem respicit. Illa praecedit, haec sequitur. Sofern der Sünder durch das G e s e t z seine Sünde auch nur e r k e n n t , ist dies eine Wirkung des h e i l i g e n G e i s t e s , der dem G e s e t z einwohnt, wenn auch derselbe darum keineswegs dem Sünder gegeben ist, und deßhalb die illuminatio, die der heilige Geist durch das Gesetz wirkt, nur imperfecta, paedagogica, literalis, und keineswegs wie die durch das evangelium spiritua2 Tradition.] folgt Einfügungszeichen für die unterstrichene redaktionelle Bemerkung Anzuschließen die lutherische und reformirte Lehre nämlich der ursprüngliche Anfang von § 13. 3 Die … die] am Rand statt davor der redaktionelle Hinweis zu § 12. 11 der … jener] korr. aus deren Begriff 14 Diesem] korr. aus In diesem 24 f. Hollatz … sequitur.] am Rand 5 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 2,115–134 (§ 21 „Die Bekehrung“). 24 Hollatz, Examen ed. Teller 832 (p 3 sectio 1 c 5 q 11[1] 3kjesiv, observatio 8)
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lis und perfecta ist. Hiedurch ist also auch die Abhängigkeit der intransitiven conversio oder der poenitentia von der göttlichen Gnade respective dem heiligen Geist gesichert. Diese besteht nun blos aus contritio und fides in dieser Reihenfolge, und schließt n i c h t in sich die nova obedientia, das studium bonorum operum, welches nur e f f e c t u s poenitentiae ist, wie die Frucht kein Theil des Baumes ist. Indem also die contritio durch das die Wirksamkeit des heiligen Geistes in sich schließende Mittel des Gesetzes den Willen von der Sünde losreißt, richtet sich die fiducia an dem Evangelium auf, auf Grund des regenerativen Eintrittes des heiligen Geistes in das Herz des Menschen; und findet durch ihr specielles Object, die göttliche Sündenvergebung, ihre specifische Gewißheit in der sie begleitenden consolatio efficax, pax conscientiae, laetitia spiritualis (Hollatz S. 1188), die Merkmale des Abschlusses der poenitentia. – In der r e f o r m i r t e n Theologie Calvini, Institutio christianae religionis III,3. ist die ethische Lehre von der conversio, poenitentia, resipiscentia noch strenger dadurch gebunden, daß nur der ewig Erwählte in Folge seiner wirksamen innern vocatio durch den heiligen Geist, und seiner geheimen insertio in Christum dazu kommen soll. Dem Wortlaut nach [32] ist die Uebereinstimmung mit den Lutheranern, daß die poenitentia in die regeneratio ausläuft. Aber darunter verstehen die L u t h e r a n e r die blos religiöse Qualität des Rechtfertigungsglaubens mit Ausschluß des studium bonorum operum, die R e f o r m i r t e n die vollständige relig|iös sittliche reformatio imaginis dei, einschließlich jenes Merkmals (nr. 9). Nach der ursprünglichen practischen Conception Luthers ist eine Gewißheit der Rechtfertigung im Glauben nur möglich und berechtigt, wo der Glaube in Reciprocität mit der Fähigkeit und dem studium bonorum operum steht. Was l u t h e r i s c h das E n d e der poenitentia ist, gilt r e f o r m i r t schon als subjectives P r i n c i p derselben, die fides. Die Distinction fides et resipiscentia bezeichnet nicht eine zeitliche Reihenfolge wie contritio et fides, sondern Grund und erscheinende Folge; indem die resipiscentia aber in mortificatio und vivificatio zerfällt, so sind diese Glieder vielmehr der lutherischen Reihenfolge zu vergleichen. Aber sie sind durch die fides ganz anders begründet, als durch die illuminatio des Verstandes. Calvin l. c. nr. 20: nemo peccatum umquam odit, nisi prius justitiae 1 intransitiven] korr. aus Îintrasoù 14 Calvini … III,3.] am Rand 23–26 Nach … steht.] am Rand 27 subjectives] über der Zeile 32 f. des Verstandes.] über 12 Hollatz, Examen ed. Teller 1188 (p 3 sectio 2 c 7 q 22 probatio b); vgl. Ausgabe 1707: 2/2,320 14 Calvin, Institutio III 3, CR 30,434–455; ed. Barth 4,55–84 23 Calvin, Institutio III 3,9, CR 30,440; ed. Barth 4,63–65
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amore captus. nr. 1. poenitentiam non modo fidem subsequi, sed ex ea nasci extra controversiam esse debet. nr. 2: non potest homo poenitentiae serio studere, nisi se dei esse noverit. Dei autem se esse nemo vere persuasus est, nisi qui eius gratiam apprehenderit. Die l u t h e r i s c h e Lehre läßt ganz unbeachtet, daß, wenn das Gesetz nach Rom. 7. das Mittel der Sündenerkenntniß ist, der Heilsglaube an den Gesetzgeber allein diese Wirkung möglich macht, und daß der h e i l i g e Geist, wenn das Gesetz sein Organ sein soll, nothwendig eine positive Anknüpfung im subjectiven Glauben haben muß. Dieser Glaube als Grund der contritio oder der mortificatio wird natürlich nicht die Sündenvergebung zum Object haben, sondern nur die absolute Auctorität Gottes zu unserem Heile tritt als timor dei ins Bewußtsein; aber deßhalb hat Calvin doch kaum Recht, ihn von der i n s e r t i o in Christum abhängig zu machen; dann wird die Bekehrung ebenso nur zur Erscheinung einer ewig feststehenden Wirklichkeit, wie auf Grund des Gnadenrathschlusses und seiner empirischen V o r z e i t l i c h e n Auffassung alle geschichtlichen Heilsvorgänge zum wirkungslosen Schein herabgesetzt werden. Mit Recht fordert Calvin einen reicheren Inhalt der vivificatio, als welchen die lutherische fiducia einschließt. nr. 3. quod vivificationem accipiunt pro laetitia, quam recipit animus ex perturbatione et metu sedatus, non assentior, quum potius sancte pieque vivendi studium significet, quod oritur ex renascentia. Nur durch d i e s E n d e der poenitentia ist der relig|iös ethische Sinn des Begriffes verbürgt. – Rechtfertigung und Versöhnung I. § 24.28. Die l u t h e r i s c h e Lehre folgt dem ausschließlichen Interesse, das Schuldgefühl zu überwinden; sie ist empirisch äußerlich, und beruht auf unvollstän-
3 f. nr. 2: … apprehenderit.] am Rand 6 Sündenerkenntniß] am Rand statt <Buße> 7 allein … Wirkung] korr. aus diese Wirkung allein 11 f. tritt … Bewußtsein] am Rand 12 doch kaum] über 13–17 dann … werden.] am Rand statt <der nicht wieder jenen allgemeinen Gedanken, als den speciellen Gedanken der Sündenvergebung verbürgt (am Rand , wenn der Heilserfolg im vollen Sinne erreicht wird.)> 17 Recht] korr. aus demselben Rechte 23 Rechtfertigung … 24.28.] am Rand 24 dem ausschließlichen] am Rand statt <dem> 40,33 Calvin, Institutio III 3,20, CR 30,451; ed. Barth 4,78,19 f. 1 Calvin, Institutio III 3,1, CR 30,434; ed. Barth 4,55,16 f. 3 Calvin, Institutio III 3,2, CR 30,435; ed. Barth 4,56,23–26 18 Calvin, Institutio III 3,3, CR 30,436; ed. Barth 4,58,2–5 23 Ritschl, RuV, Band 1 § 24: „Folgerung [aus Luthers Gedanken von der Rechtfertigung] für die Auffassung der Buße“ (144–151) und § 28 „Lehre Melanchthon’s und Luther’s von der Bekehrung durch Gesetz und Evangelium“ (186–191).
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diger Beobachtung. Die r e f o r m i r t e ist systematisch vollständig und umfaßt sowohl die Rücksicht auf die Beseitigung des Schuldgefühls als die auf die Besserung. Calvin läßt die poenitentia sich durch das ganze Leben hindurchziehen. Nr. 9: haec instauratio non uno momento, vel die, vel anno impletur; sed per continuos, imo etiam lentos interdum profectus abolet deus in electis suis carnis corruptelas, repurgat eos sordibus, sensus eorum ad veram puritatem renovans, quo se tota vita exerceant in poenitentia, sciantque huic militiae nullum nisi in morte esse finem. Die lutherische Lehre kennt eine längere Dauer nur für die illuminatio (Hollatz p. 851) nicht aber für conversio oder poenitentia. Die Folge davon der Pietismus. [29 a] Die lutherische Lehre geht nicht über religiöse Umstimmung hinaus, – die calvinische über die principiell ethische Veränderung hinaus. Calvin hat die ursprüngliche Ansicht Luthers erhalten, – gegen die lutherische Lehre von der poenitentia gelten dieselben Gründe, welche Luther der katholischen Bußpraxis entgegensetzte, die Priorität des Glaubens vor der contritio ist aus logischen theologischen psychologischen Gründen nothwendig. – Man kann die Sünden nur hassen, indem man das Gute liebt, – man kann sich dem Urtheil des Gesetzes zur Rüge der Sünden nur unterwerfen, wenn man den Gesetzgeber als Wohlthäter, respective als den Urheber des Heiles anerkennt, – man kann von der contritio vernünftigermaßen nur dann zur fiducia übergehen, wenn der Keim zu derselben das halbbewußte Motiv zur contritio ist. – L u t h e r s B e i c h t i n s t i t u t / Melanchthon (Visitationsbüchlein 1527 trotz Widerspruchs Agricola’s) lehrt mit Zustimmung Luthers, daß die Sünden aus dem Gesetz erkannt werden, in dessen Begriff der vorläufige Heilsglaube per se eingeschlossen sei. Dies wird nachher vergessen. – Der lutherischen Lehre sucht erst der Hallische Pietismus die Praxis hinzuzufügen, wel3–8 Calvin … finem.] am Rand statt ) das ganze Leben ausfüllt, die Synthese des heiligen Geistes und darin des menschlichen Willens als intelligible Voraussetzung fordert.> 11–43,22 Die … gilt.] Dieser Schluß von § 12. ist auf einem eingelegtem Quartblatt [29 a.b] hinzugefügt, überschrieben Zu § 12. 11 f. Die … hinaus.] über der Zeile 21 ist. –] Die ursprüngliche Fortsetzung Die … vitam. wurde mit Einfügungszeichen später eingeordnet; s. unten S. 43,4–11 22 Luthers Beichtinstitut] über der Zeile 3 Calvin, Institutio III, 3,9, CR 30,440; ed. Barth 4,63,25–65,2 9 Hollatz, Examen 851 ed. Teller (p 3 sectio 1 c 5 q 18); vgl. Ausgabe 1707: 2/1,368 (q 15) 22 Melanchthon, Unterricht der Visitatorn 1528, CR 26,51 f.; ed. Stupperich 1,222,14–27 (Vorrede Luthers); s. RuV 1,188 23 Zu Agricolas Vorstößen 1527 und 1537 s. RuV 3,189 f. 26 Vgl. GdP 2,257–261
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che auf dieselben Fehler hinauskommt, die Luther am Katholicismus zu rügen hatte. – Also die Bekehrung sofern sie subjectiv nur aus Glauben zu begreifen ist, setzt Gnadenwirkung voraus. Wie ist dieser religiös-dogmatische Gesichtspunkt mit der ethischen Auffassung des Vorgangs vereinbar? Die katholische Lehre leitet die contritio von der Gnade ab, diese Bestimmung ist aber praktisch unwirksam, indem die contritio am Gesetze gemessen wird, und entweder oberflächlich oder endlos gründlich ausfällt. Soll jene Lehrbestimmung einen Werth haben, so muß die Gnade im Glauben aufgefaßt werden, also sagt Luther, daß man die Reue so bald wie möglich auf den Glauben hinausführen müsse. – Demgemäß Luthers und Calvins Grundsatz von der poenitentia per totam vitam. [29 b] Die Beschränkung des lutherischen Begriffs von poenitentia auf die Aufhebung des Schuldgefühls mit Ausschaltung des studium bonorum operum rührt jedoch insofern von Luther her, als derselbe seine Gedankenbildung dem Schema des katholischen Begriffes vom sacramentum poenitentiae accommodirt hat. Calvins Abweichung davon ist der Ausdruck seiner systematischen Denkweise. E t h i s c h betrachtet muß der Begriff der Bekehrung auf die Absicht des Guthandelns hinausgeführt werden. Daß die Lutherische Lehre dieses unterläßt, verräth ein Ueberwiegen des religiösen Interesses an der Befreiung von der Schuld über das ethische Interesse an der Umbildung des Willens, welche nur nachträglich aus dem Rechtfertigungsbewußtsein abgeleitet wird, welches in seiner isolirten Haltung als die Hauptsache gilt.
[29] 9 § 13. D i e B e k e h r u n g . S c h l u ß . Die empirische, pelagianische Deutung dieses Begriffs verwickelt sich in der 25 Behauptung, daß der Sünder sich bekehren soll, während doch das Gute
nicht als Product eines bösen Willens gedacht werden kann. Um diesem Wi4–11 Die … vitam.] ursprünglich nach contritio ist. – durch Einfügungszeichen hierherversetzt, s. oben S. 42,21 5 Lehre] folgt 23 § 13. … Schluß.] am Rand; das Folgende war ursprünglich die Fortsetzung des nunmehr gestrichenen Anfangs von § 12. 24 f. der Behauptung] korr. aus den Widerspruch 10 Vgl. die 1. der 95 Thesen. In: Sämtliche Schriften ed. Walch 18,254; WA 1,233. S. auch Ritschl, Unterricht § 58 Anm. f, ed. Axt–Piscalar 80.130. 10 S. oben S. 40,22–26: Calvin, Institutio III, 3,9, CR 30,440; ed. Barth 4,63,25–65,2 23 Der ursprüngliche § 13 bestand aus dem jetzt samt seiner Überschrift nach § 12 versetzten Text s. oben S. 39,3–42,10 (Die lutherische und … Pietismus.) Die oben wiedergegebene Endgestalt des Textes von § 13 wird aus dem ursprünglichen § 12 (abzüglich des gestrichenen Anfangs) und dem auf dem eingelegten Blatt 29 c.d hinzugefügten neuen Schluß gebildet.
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derspruch, so wie um dem Widerspruch der Augustinischen Theorie gegen das Freiheitsbewußtsein zu entgehen, halbirt der Semipelagianismus und der Synergismus das Problem zwischen die beiden Ansprüche, löst es also nicht, sondern schafft es nur bei Seite. – Die religiöse Betrachtung der Bekehrung des Sünders durch Gott schließt bei näherer Betrachtung keineswegs die unbedingte Causalität Gottes in sich; dieselbe ist für Gott selbst nur möglich wo entweder schon oder wo noch böses Gewissen oder Reue über dem sittlichen Gesammtzustand vorhanden ist. Das böse Gewissen als der unwiderstehliche Impuls des Urtheils der Zurechnung des Gesammtzustandes enthält die Gewißheit, daß der göttliche Zweck eigentlich auch der Endzweck des Menschen sei, daß aber sein persönlicher Selbstzweck, wie er empirisch beschaffen ist, im Widerspruch mit jener Bestimmung und Aufgabe sei. Die Bekehrung in der religiösen Auffassung des Vorganges besteht nun darin, daß Gott seinen heiligen Geist in den Grund des Willens des Menschen setzt, also den Gedanken des göttlichen Selbstzweckes mit dem Gedanken des menschlichen Selbstzweckes so identisch setzt, daß diese Synthese der Grund der bisher widerstebenden Willensbewegung wird. Aber dieser Ausdruck für das Bekehrtsein durch Gott ist zugleich der Ausdruck für die concrete Freiheit, also ist zwischen Bekehrung durch Gott und Freiheit zunächst kein Widerspruch. Aber jener religiöse Gedanke schließt auch nicht die ethische Forderung der Selbstbekehrung im richtigen Sinne aus. [30] Denn das Subject des bösen Gewissens, das das Object der Bekehrung durch Gott ist, und das Subject des guten Gewissens, welches von Gott bekehrt ist, ist das Selbst des Menschen. NB. Das böse Gewissen ist die erste Gestalt des Bewußtseins, daß der Einzelne b e r u f e n ist, das Gute zu verwirklichen. Hierin ist sowohl, religiös angesehen, die göttliche Gnade wirksam, als auch, ethisch angesehen, das menschliche Selbstbewußtsein der Freiheit als des Willens zum Guten, welcher die nothwendige Wesensbestimmung des Menschen ist. Das Selbst ist freilich nur auf Grund specieller göttlicher Leitung, und nur durch die Vermittlung des Gedankens vom göttlichen Selbstzweck von der
5 bei … Betrachtung] am Rand 7 oder Reue] am Rand 8 der] korr. aus die 9 Impuls … Urtheils] am Rand statt <Macht> 9 f. enthält] am Rand statt 10 Gewißheit,] folgt <enthalten,> 11 f. wie … ist,] am Rand 19 zunächst] über der Zeile 24 Menschen.] Menschen folgt 25–29 NB. … ist.] am Rand 28 des] folgt 30 auf … specieller] am Rand statt
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Stufe des bösen auf die des guten Gewissens übergegangen. Jener Gedanke war aber schon der Grund des bösen Gewissens, es ist also nichts fremdes in das bekehrte Subject hineingekommen, sondern nur das Verhältniß zwischen der empirischen Willensrichtung und dem Gedanken des göttlichen Selbstzweckes ist aus dem Widerspruch in die Identität gekommen, und dadurch der bisherige Inhalt des sündigen Willens weggeschafft. Also ist die Bekehrung durch Gott als Selbstbekehrung zu denken. Unter diesen Bedingungen ist die praktisch-ethische Zumuthung verständlich, s i c h z u b e k e h r e n , nämlich unter Voraussetzung bösen Gewissens über den gegenwärtigen Zustand, durch Vermittlung der Erkenntniß göttlicher Gnadenführung gutes Gewissen und den Vorsatz guter Willensrichtung zu gewinnen, und als Princip aller Willensbethätigungen zu erhalten gegen die etwaigen Störungen; da der im bösen Gewissen empfundene Widerspruch der empirischen. Willensrichtung und der erkannten persönlichen Bestimmung unerträglich ist; zugleich aber ergiebt sich dabei die Unberechenbarkeit dieses Verlaufs für m e n s c h l i c h e Mittel, weil es sich hiebei um die Bethätigung der eigenthümlichen Freiheit handelt. – [29 c] Allerdings vollzieht sich die Bekehrung, subjectiv angesehen nicht durch einen Proceß des auf sich isolirten Gewissens von seiner bösen Gestalt zu seiner guten. Denn das Gewissen steht immer in Reciprocität mit den Mitteln der positiven Offenbarung Gottes, und diese Reciprocität verbürgt es, daß die Bekehrung objectiv als Wirkung Gottes betrachtet werden muß. Also tritt die explicite Idee von Gott als dem Leiter der sittlichen Weltordnung und das Sittengesetz in die Mitte, um dem Sünder zum bösen Gewissen zu verhelfen, und die Anschauung der göttlichen Gnade und des göttlichen Reiches als menschlicher Endzweck begründet die Gestalt des gu-
1 guten Gewissens] am Rand statt 6 Willens] folgt 7 Gott] folgt 7 denken.] folgt 9 nämlich … Voraussetzung] am Rand statt 9 bösen Gewissens] korr. aus böses Gewissen 9 f. Zustand,] korr. aus Zustand folgt 10 Gnadenführung] folgt 11 f. und den … Störungen;] am Rand statt 11 gewinnen,] Ms.: gewin-// nen, 14 der] korr. aus des 18–46,15 Allerdings … sind.] Zusatz auf eingelegtem Blatt mit dem unterstrichenen Hinweis Schluß von § 13. 23 explicite] korr. aus s
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ten Gewissens, das der Sündenvergebung gewiß ist, und den Impuls zum sittlich guten Leben gewährt. Also verläuft die Bekehrung in allen beiden Gliedern an einer Entwickelung des Glaubens an Gott, der die Furcht vor Gottes Zorn, die Anerkennung des Sittengesetzes, ferner des sittlichen Ideals in Christo schließlich die Versöhnung mit Gott und den Entschluß, dem 5 Gottesreiche zu dienen, subjectiv bedingt, wenn er auch in den ersten Stadien dieses Verlaufes noch nicht als der Heilsglaube zum Bewußtsein gekommen sein mag. Eine Berechnung der Stadien und ihrer Phänomene nach mechanischem Maßstabe ist jedoch verboten. Momentane Bekehrung ist erfahrungsmäßig und ist denkbar bei Lasterhaften. Da nun der übliche Begriff 10 von der Sünde eigentlich der Begriff vom Laster ist, so muthet die hergebrachte lutherische und pietistische Theorie von der Buße jedem Sünder momentane Bekehrung zu. Die Erziehung in der Kirche [29 d] begründet hingegen Erfahrungen und Grundsätze, welche in Calvins Aufstellungen richtig getroffen sind. 15
[33] Z w e i t e s C a p i t e l . D i e N o t h w e n d i g k e i t d e r g u t e n We r k e a u s d e m G l a u b e n , und des Gesetzes für den Gläubigen.
§ 14. 10 D i e l u t h e r i s c h e u n d d i e r e f o r m i r t e L e h r e ü b e r d i e N o t h w e n d i g k e i t d e r g u t e n We r k e .
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Die folgende Darstellung bezieht sich auf die kirchlichen Festsetzungen der Grundlage der Ethik, welche im Gegensatz stehen theils gegen die katholische Vermischung der Gebiete der Rechtfertigung und der guten Werke, theils gegen die in Luthers Wirkungskreis aufgetretenen Ansichten von der Nothwendigkeit der guten Werke zur Seligkeit (Georg Maior, 1552) und von 25 der Beziehungslosigkeit des Gesetzes auf den Gläubigen (Johann Agricola, 1527.1537). Im allgemeinen ist der pluralische Titel der guten Werke für das Gebiet der Ethik sehr oberflächlich und unzureichend. – Die katholische Lehre vermischt die Gebiete der religiösen und der sittlichen Betrachtung, indem
1 der] korr. aus die 4 die] die folgt 14 Grundsätze,] folgt über der Zeile 14 in] über der Zeile 27 f. Im … unzureichend.] in eckigen Klammern (Bleistift) 25 Georg Major, Antwort auff des Ehrwirdigen Herren Niclas von Ambsdorff schrifft 26 S. oben S. 42,23
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sie die von Gott herrührende iustificatio nicht blos unter Mitwirkung des Sünders zu Stande kommen, sondern auch durch die guten Werke des Bekehrten vermehrt werden läßt. (Vgl. § 10). Die Reformation sondert aber beide Gebiete, und ordnet das der sittlichen Selbstthätigkeit dem der religiösen Determination durch Gott unter. Beide bewachte man so sorgfältig in der lutherischen Lehrentwicklung, daß man die Formel Georg Maior’s, bona opera ad salutem necessaria esse, nur deßhalb verwarf, weil man eine Mißdeutung im katholischen Sinne befürchtete. Dabei aber lag zu Grunde, daß das ausschließliche Interesse, den Rechtfertigungsbegriff zu sichern, den ethischen Begriffen stets die nöthige Aufmerksamkeit und Besonnenheit der Behandlung entzog. Mit sehr unzureichendem Beweise aus Eph. 2,5.8 behauptet die F. C . a r t . 4 d e b o n i s o p e r i b u s , daß die Rechtfertigung die ewige Seligkeit in sich schließe, daß also der Glaube ebenso das zureichende und unbedingte Organ für diese wie für jene sei. Hingegen unterscheidet Paulus überall sonst dikaíwsiv und swthría, und begründet diese nicht allein auf den Glauben. Werth des pluralen Ausdrucks, der in der calvinischen wie der lutherischen Theologie die Vorstellung des ethischen Erkenntnißstoffes erschöpft. Denn wenn man fragt, was die sanctificatio sei, so wird die Antwort auf die bona opera lauten. Nach der F. C. ist die Nothwendigkeit der guten Werke beim Gläubigen eine doppelte. 1. sind sie nothwendig als Folgen des Glaubensstandes oder als Zeugniß der Wirksamkeit des heiligen Geistes, wie Früchte am Baume. Diesem Bilde der Naturnothwendigkeit entsprechend wird demgemäß nicht blos ausgeschlossen, daß die guten Werke durch Strafdrohung des Gesetzes erzwungen seien, sondern auch behauptet, daß sie frei, unreflectirt und absichtslos aus dem Glauben hervorgehen. 2. sind die guten Werke nothwendig gemäß dem positiven Willen Gottes, dessen Ordnung einmal ist, daß die Gläubigen in guten Werken wandeln. [34] Beide Gründe auch confessio Helvetica posterior 16 (p. 497). Mit denselben ist nun der Ethik die Aufga-
8–16 Dabei … Glauben.] in eckigen Klammern (Bleistift) 11 sehr unzureichendem] in eckigen Klammern 14–16 Hingegen … Glauben.] in eckigen Klammern 17–20 Werth … lauten.] am Rand 17 in … wie] über <wenigstens in> 3 S. oben S. 31,22 6 FC Sol. Decl. IV 1, ed. Hase 698; BSLK 937,24–936,1 12 FC Epit. IV 7, ed. Hase 589; BSLK 787,35 (dort mit Eph 2,8 begründet); FC Sol. Decl. III 20, ed. Hase 686; BSLK 920,30 (Eph 2,5) 21 Zu (1.) vgl. FC Epit. IV 6; Sol. Decl. IV 9; zu (2.) FC Epit. IV 8; Sol. Decl. IV 7, ed. Hase 589; 701; 589; 700; BSLK 787,19; 941,4; 788,1; 940,4 29 Confessio helvetica posterior XVI, ed. Niemeyer 497; BSRK 193,28
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be gestellt, sie auf Ein Princip zurückzuführen. Wie kommt es, daß jene am Subject haftende Nothwendigkeit mit der objectiven göttlichen Forderung zusammentrifft? Diese Frage ist in der alten Schule nicht aufgeworfen worden, obgleich dort manche Gedanken auftauchen, die dazu hätten führen müssen. Nämlich in beiden Confessionen reflectirt man auch auf einen höchsten Zweckgrund der guten Werke, Catechismus Palatinus 86. ut deus per nos celebretur, Quenstedt, die gloria dei finis principalis bonorum operum. Andrerseits finden die guten Werke eine Zweckbestimmung auch in dem gläubigen Subject. Catechismus Palatinus ut nos quoque ex fructibus de sua quisque fide certi simus; Quenstedt IV,9,8,2.: per bona opera iustificatio nostra quoad nos confirmatur. Endlich wird auf beiden Seiten der von Luther aufgestellte Satz wiederholt, daß die guten Werke die Dankbarkeit des Gerechtfertigten für die göttliche Gnade bethätigten. Schneckenburger, comparative Dogmatik I, S. 39.41 behauptet, die Zweckbestimmung der guten Werke für die Gewißheit des Gnadenstandes des Subjectes sei blos reformirte Lehre; Apologia C. A. III. § 155. der Lutheraner werde dies unerträglich finden, da er jene Gewißheit an anderen Merkmalen erkenne, und vorherrschend die Unvollkommenheit der guten Werke betone, die jene Zweckbestimmung einschränke. Quenstedts Urtheil (vgl. Hollatz S. 1189: qui legem divinam, quantum in hac vitae infirmitate fieri potest, sincere servat, is fidei suae certus est.) dient zur Berichtigung d i e s e r Unterscheidung beider Confessionen. Aber freilich verkennen läßt sich nicht, wie beiläufig und einflußlos jener Satz in der lutherischen Theologie steht. Mit einer gewissen Modification ist Schneckenburgers Beobachtung zu bestätigen. Der Satz, daß der Gläubige durch den Rückschluß aus den guten Werken sich seine Eigenthümlichkeit als Gläubi-
6 höchsten] über der Zeile 10 IV,9,8,2.] am Rand 17 Apologia … § 155.] am Rand 20 jene] korr. aus jener 27–49,1 als … Gerechtfertigter] am Rand 6 Catechismus Palatinus LXXXVI, ed. Niemeyer 450; vgl. BSRK 706,32 7 Quenstedt, Theologia 4,308 9 Catechismus Palatinus LXXXVI, ed. Niemeyer 450; vgl. BSRK 706,33 10 Quenstedt, Theologia 4,308 13 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,39.41; dort auch der Hinweis auf Catechismus Palatinus LXXXVI 17 Apol. IV 276; ed. Hase 116 (III 155); BSLK 214,52 21 Hollatz, Examen ed. Teller 1189 (p 3 sectio 2 c 7 q 22 probatio b 3); Ausgabe 1707: 2/2,320f. 25 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,43
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ger und Gerechtfertigter klar mache, steht im reformirten System in bestimmter Relation zu der Herrschaft der Erwählungslehre, auf welche des Lutherthum verzichtet hat. Hingegen wird der Satz im Lutherthum erst acut durch Spener. Jene reformirte Grundlehre hat weder die Absicht, eine Erschlaffung des Willens und sittlichen Strebens zu begründen, noch den Erfolg, eine solche nach sich zu ziehen. Wo ein gewisser Antinomismus auf dem Gebiet der reformirten Kirche vorkommt, geschieht es im bestimmten Widerspruch mit Calvins Tendenz. Vielmehr ist jene Lehre in ihrer classischen Durchführung Grund einer sittlichen Energie und Ausdauer, und eines praktischen Gemeingeistes, welcher dem Lutherthum abgeht. Aus der Erwählung folgt nämlich nothwendig die perseverantia sanctorum. Da Gott die Heilsvollziehung an den Erwählten auf dem Wege des gemeinsamen [35] kirchlichen Glaubens und der guten Werke geordnet hat, so kann sich Keiner für Erwählt erkennen, der nicht die Ausdauer der Gnade auch auf jenem Wege erfährt, also aus seinen guten Werken und ihrer Stetigkeit die Sufficienz seines Glaubens erkennt. Deßhalb ist die reformirte Heilsansicht ein starker Jmpuls für die Anstrengung des Willens, auch in den guten Werken die völlige Durchführung der Gnade an sich zu erfahren. Canones Dordraceni I,12 (p. 695): De sui ad salutem electione electi certiores redduntur non quidem arcana dei curiose scrutando, sed fructus electionis infallibiles, ut sunt vera in Christum fides, filialis dei timor, dolor de peccatis secundum deum, e s u r i e s e t s i t i s i u s t i t i a e in sese cum spirituali gaudio et sancta voluptate observando. – Schneckenburger stellt freilich diese drastische Eigenthümlichkeit der reformirten Lehre so dar, als ob das thätige Streben und die begleitende Reflexion auf dasselbe der Stamm des reformirten Christenthums sei, etwa gemäß der vorbildlichen Charaktere Zwinglis und Calvin’s, daß aber die Prädestinationslehre nur als Hülfsvorstellung zum Gegengewicht gegen die Annäherung an katholische Werkheiligkeit ins System verarbeitet sei. Vgl. dagegen Schweizer in Theologische Jahrbücher
2 Erwählungslehre] über 3 f. Hingegen … Spener.] am Rand 4 Absicht,] folgt <noch den Erfolg> 11 Erwählung] am Rand statt <praedestinatio> 11 nämlich] über 16 erkennt] Ms.: erkennen 22 in] korr. aus cum 4 Zu Spener vgl. RuV 3,137; Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,69; Gaß, Geschichte der Protestantischen Dogmatik 2,439 11 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,238 18 Canones Dordraceni Kap. 1,12; ed. Niemeyer 695; BSRK 845,8 23 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,41 29 Schweizer, Schneckenburgers vergleichende Darstellung 5 f.
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1856. Heft 1.2. Indem die lutherische Lehrart zuerst auf die perseverantia sanctorum verzichtete, und mit formaler aber wirkungsloser Anerkennung der Prädestinationslehre die Annahme verband, daß auch der Gläubige wieder die Gnade verlieren, aber durch Reue und Glaube, Absolution und Abendmahl wieder hergestellt werden könne, so tritt an die Stelle der refor- 5 mirten Spannung auf Werkthätigkeit und der d a r a n geknüpften Heilsgewißheit die Begründung der jeweilig nöthigen Heilsgewißheit auf die kirchlichen Gnadenmittel, und daneben kommt der auch sonst anerkannte Gedanke von der Bestimmung der guten Werke zur Begründung der Heilsgewißheit zu keiner Bedeutung (Schweizer, Die protestantischen Centraldog- 10 men innerhalb der reformirten Kirche I.)
§ 15. 11 D i e l u t h e r i s c h e u n d d i e r e f o r m i r t e L e h r e von der Bedeutung des Gesetzes für den Wiedergeborenen. Das göttliche Gesetz als das Maaß der guten Werke tritt in der katholischen Lehre ebenso in den Begriff der Justification hinein, wie die guten Werke als Mittel derselben anerkannt werden. Denn die katholische Anschauung vom Christenthum als allgemeinem Object ist von Anfang an auf den Begriff der nova lex begründet. Als die Bedeutung Christi gilt wesentlich die des Gesetzgebers, und seine Funktion als Erlöser ist diesem Beruf nur untergeordnet. Indem die Reformation das Evangelium als den objectiven Inhalt der Offenbarung [36] darstellt, hat sie Christus vorherrschend als Retter und Erlöser, also als den aufgefaßt, der den Menschen etwas leistet, nicht etwas fordert. Demnach sind auch beide Confessionen darin einig, daß das Gesetz nicht in den Vollzug der Justification hineingehört, weil die nach demselben zu messende Willensbewegung sittlicher Art eine andere Art der religiösen Begründung des Subjects voraussetzen muß. Vielmehr vindiciren sie dem Gesetz zunächst seine Bedeutung für den Sünder, um denselben durch Aufstellung der richtigen Handlungsweise und Drohung der Strafe zur Erkenntniß seiner Sünde und zur Sehnsucht nach der Gnade anzutreiben. Neben diesen usus elenchticus seu paedeuticus stellt die FC. 2. den usus politicus, zur Erhaltung der rechtlichen und socialen Ordnung. 3. aber behaupten beide Confessionen auch usus legis für d|en Wiedergeborenen, den die FC. als usus tertius zählt. In der näheren Bestimmung desselben weichen sie charakteristisch 10 f. (Schweizer … I.)] im freien Teil der Zeile und am Rand 10 Vgl. Schweizer, Die protestantischen Centraldogmen 1,548–585: „Verhältniss der beiden protestantischen Lehrweisen am Ende des 16. Jahrhunderts“ 31 FC Epit. VI 1; Sol. Decl. VI 1, ed. Hase 594; 717; BSLK 793,9; 962,6
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voneinander ab. 1. R e f o r m i r t ist das Gesetz ein Bedürfnis des Wiedergebornen als solchen, damit er den Willen Gottes, den er erfüllen soll, wisse, und in Demuth und Furcht Gottes erhalten werde, wenn er die Erhabenheit des vorgesteckten Zieles wahrnimmt. Befreit ist der Wiedergeborne allerdings von der drohenden und verdammenden Stellung des Gesetzes, welche dem Sünder gilt (Helvetica posterior 12. p. 488; Catechismus Genevensis p. 149). 2 L u t h e r i s c h (F. C. art. VI) wird behauptet: Das Gesetz gilt dem Wiedergebornen nicht als solchem, denn als solcher trägt er das Princip des heiligen Geistes in sich, und bringt demgemäß gute Werke als fructus spiritus ohne Reflexion auf Gesetzesvorschrift hervor. Es gilt ihm nur, sofern er noch relativ Sünder ist, sofern der alte Adam seinen festen Sitz noch in Verstand, Wille und allen Kräften hat, und dem Wiedergeborenen einen fortgehenden Kampf wider sich aufnöthigt; sowohl um ihn vor möglichem Irrthum über den richtigen Gottesdienst zu schützen, als auch, um ihm durch Warnung und Drohung den Impuls zum Guthandeln zu geben. Die so hervorgebrachten bona opera sind dann im Wiedergebornen als opera legis von den fructus spiritus qualitativ verschieden. Die l u t h e r i s c h e Einrechnung d i e s e s Merkmals in die Anschauung vom Gesetze bedeutet nicht eine Zustimmung zum Marcionitismus, hat keinen rein objectiven Sinn, sondern ist davon abhängig, daß das Gesetz nur zur Sünde (des Unwiedergebornen oder des Wiedergebornen) in Relation gesetzt wird, und zum Charakter des neuen Menschen als solchen gar nicht. Der Fehler dieser Ansicht ergiebt sich aber aus der Analyse der lutherischen Lehre vom tertius usus. Luther selbst, indem er anschaulich machen will, [37] daß auch Christus unter dem Gesetze gestanden habe (Weihnachtspredigt XII. S. 312–17) sagt: Unter dem Gesetze sein heißt, aus Furcht des Gesetzes Gutes thun und Böses lassen; Christus nun hat f r e i w i l l i g das Gesetz erfüllt, also, zieht Luther gegen seine Absicht den Schluß (S. 317), hat er nur scheinbar unter dem Gesetze gestanden. Ebenso zersetzt sich unter der Analyse der Lehre der FC. ihre Behaup1–7 1. Reformirt … p. 149).] durch Bezifferung nachträglich vor Lutherisch (Zeile 7) gestellt 1 1.] am Rand 7 2] am Rand 11–13 sofern … aufnöthigt;] am Rand 22–52,1 Der … Widersprüche.] in eckigen Klammern 23 Lehre … usus.] am Rand statt 6 Confessio helvetica posterior XII, ed. Niemeyer 488; BSRK 186,48 6 Catechismus Genevensis II, ed. Niemeyer 149; BSRK 137,15; Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,115 7 FC Epit. VI 4, Sol. Decl. VI, 7, ed. Hase 595;719; BSLK 794,13; 964,30 23 Luther, Sämtliche Schriften ed. Walch 12,312–318 (Weihnachtspostille, Predigt über „Die Epistel am Sonntage nach dem Christtage“ über Gal 4,1–8); WA 10/1/1,360,15–366,2; vgl. RuV 1,220–222
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tung in Widersprüche. FC. IV, nr. 8. (p. 590) sagt richtig: libertas spiritus in electis dei non perfecta, sed multiplici infirmitate adhuc gravata est. Aber diese Thatsache wird, um die Unterwerfung des Wiedergebornen unter das Gesetz zu begründen, so gedeutet, daß er noch den alten Adam als Princip des Sündigens an sich hat, der nach Rom. 7. einen unausgesetzten Kampf im Wiedergebornen hervorruft. Eine genauere Vorstellung über die praktische Haltung des Subjects wird nun nicht dargeboten. Entweder muß man annehmen, daß der Wiedergeborene im Moment des Handelns abwechselnd auf den Geist Gottes und dann wieder auf den alten Adam gestimmt ist. Dann sind freilich abwechselnd fructus spiritus und opera legis möglich; aber die letzteren müssen selbst zugleich fructus spiritus sein, da der Pflichtbegriff durch den subjectiven Impuls bedingt ist. Oder man soll annehmen, daß in jedem Momente des Handelns der Kampf zwischen Geist und Fleisch ohne Entscheidung gesetzt ist, dann kommt es gar nicht zum Handeln, weder in der einen noch in der andern Weise. Jedenfalls ist in der Absicht der Lehre die Einheit des persönlichen Charakters verleugnet. Hiegegen besteht nun die r e f o r m i r t e Lehre zu Recht. Denn das Gesetz ist der systematische Ausdruck des allgemeinen höchsten Zwecks, im Verhältniß zu welchem allein concrete subjective Freiheit denkbar ist. Gal. 6,2 bedeutet der nómov Cristoû das objective Gebot der Liebe, im Unterschied von dem subjectiven nómov toû noòv (Rom. 7,23), mit welchem die FC. jenen Begriff fälschlich gleich setzt, um den Gläubigen außer Verhältniß zu einem o b j e c t i v e n Gedanken von Gesetz zu setzen. – Ferner begeht die FC. den Fehler d i e 4 als] korr. aus an 4 f. Princip … an] am Rand 5 nach Rom. 7.] am Rand statt <wenn auch der neue Mensch überwiegt,> 6–16 Eine … verleugnet.] am Rand (davor ) statt 11 f. die … ist.] über den Zeilen statt 17 f. systematische] am Rand 21 fälschlich] folgt 1 Nach FC Epit. IV 13 (Affirmativa VIII) ed. Hase 590; BSLK 788,38 21 Nach der analogen Stelle in Ms. A Seite 34 bezieht sich diese Kritik auf FC Epit. VI 6 (Affirmativa V): „… hanc vivendi rationem divus Paulus vocare solet in suis epistolis legem Christi et legem mentis.“ ed. Hase 596; BSLK 795,6 23 Vgl. FC Epit. VI 6 (Affirmativa V), ed. Hase 596; BSLK 794,43
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F r e i h e i t i m h e i l i g e n G e i s t e a l s N a t u r p r o c e ß zu fassen, der freilich ohne Reflexion auf den gesetzten Zweck vor sich geht. Aber die s i t t l i c h e Freiheit wird nach Absichten gemessen, die Absichten aber richten sich nach der Reflexion auf das objective Gesetz. Der Fehler der lutherischen Lehre richtet sich nur nach der Thatsache, daß gerade der reife Charakter seine Entschlüsse unabsichtlich faßt und ausführt [38] in Congruenz zu seiner Gesammtlebensrichtung; aber dies ist doch nur bei gewohnten Lebensaufgaben als ein abgekürztes Verfahren der Fall; bei gewissen Fällen wird aber auch der vollkommenste Charakter seine Freiheit nur durch die ausdrückliche Unterscheidung von Absichten, Vorsätzen und Entschlüssen bethätigen, und durch Bildung eines Pflichtbegriffs nach Erwägung des allgemeinen und der besonderen gesetzmäßigen Zwecke. A b e r die lutherische Lehre ist in dieser Beziehung die Vorbereitung Kant’s, und enthält das Element in sich, das Gesetz der Freiheit zu entwickeln (Solida declaratio VI. § 5 p. 718) lex divina cordibus iustorum inscripta est. Dadurch ist die Aussicht eröffnet, daß Rechtsgesetz und Sittengesetz unterschieden und dieses von seiner statutarischen Form befreit werde. Darauf ist die reformirte Confession n i c h t eingerichtet. Vielmehr dient die Uebertreibung ceremonieller Vorschriften hier dazu das Gesetz auf der statutarischen Stufe festzuhalten. – Indem die r e f o r m i r t e Theologie den Begriff des Gesetzes für das Leben des Wiedergebornen im positiven Sinne bewahrt hat, hat freilich auch sie alle hier einschlagenden Aufgaben nicht gelöst. Einmal theilt sie mit der lutherischen Theologie den Mangel, daß man nicht zwischen Rechtsgesetz und Sittengesetz unterscheidet, und das Göttliche Gesetz nach den Merkmalen jenes Begriffes bestimmt, wodurch der eigentlich sittlich werthvolle Begriff der Gesinnung außer dem Gesichtskreis bleibt. Ferner findet man im Dekalog den richtigen Ausdruck des göttlichen Gesetzes, der cultisches und sittliches, dies letztere aber in rechtlicher Begrenzung enthält. Indem man nun in der r e f o r m i r t e n Kirche gemäß der hier erstrebten t h e o k r a t i s c h e n Aufgabe den Dekalog zum positiven Gesetzbuch erhob, hat man zwar eine strenge Sitte hervorgerufen, welche der lutherischen in Folge ihrer Grundsätze abgeht. Die reformirte Präcisität oder Puritanismus. 5 richtet … Thatsache] am Rand statt 12–19 Aber … festzuhalten.] am Rand 25 wodurch] korr. aus durch den 27 der] folgt 27 cultisches] korr. aus s 29 f. gemäß … Aufgabe] am Rand 33 Die … Puritanismus.] am Rand 14 FC Sol. Decl. VI 5, ed. Hase 718; BSLK 963,40 33 Zu Präcisität vgl. GdP 1,104.112 u. ö.
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Aber die Deutung der Sabbathsfeier ist nicht einmal Alttestamentlich, sondern pharisäisch, und das Bilderverbot ist Merkmal einer Verkürzung der Ansprüche der religiösen Phantasie und der Phantasie überhaupt, die das ganze Leben reformirter Eigenthümlichkeit vernüchtert. Die puritanische Einengung des Lebens läßt die Volkssitte verrohen. In dieser Hinsicht entspricht 5 auf der l u t h e r i s c h e n Seite dem Mangel sittlicher Strenge eine Frische der Phantasie und eine Förderung des Gemüthes, welche wirklich als fructus spititus auch im religiösen Sinn zu betrachten sind. In der orthodoxen Epoche beider Confessionen bringt es freilich der unentwickelte blos rechtliche Sinn des Gesetzes mit sich, daß die öffentliche kirchliche Meinung mit einer 10 blos bürgerlichen Gerechtigkeit vorlieb nahm, anstatt der eigentlich geforderten idealen iustitia spiritualis. (Tholuck, kirchliches Leben im 17. Jahrhundert I. S. 201 f. 209–14.268.301 ff.). In dieser Hinsicht ist die Orthodoxie die directe Vorbereitung der rationalistischen Verkürzung der religiösen Sittlichkeit, indem man den Unterschied zwischen iustitia civilis und spiritualis nur 15 in der Theorie aufgab, nachdem die Kirche nie expreß auf die Realisirung dieser gehalten hatte.
[39] § 16. 12 D i e g u t e n W e r k e i m V e r h ä l t n i ß zum Zweck der Seligkeit. Dieses Problem wird in der l u t h e r i s c h e n Lehrbildung auf Anlaß der 20 entgegenstehenden Aufstellung Major’s (§ 14) verneint. FC. IV,2: bona opera penitus excludenda, non tantum cum de iustificatione fidei agitur, sed etiam, cum de salute nostra aeterna disputatur, mit Berufung auf Eph. 2,5.8. Als Grund dafür wird geltend gemacht, daß die guten Werke auch im Gläubigen unvollkommen seien, daß wenn man von ihnen die Seligkeit ab- 25 hängig machen wollte, man vielmehr über dies Ziel ungewiß würde. Durch jene Behauptung also würde den bekümmerten Gewissen der Trost geschmälert, und der Werth des Verdienstes Christi beeinträchtigt. Dieselben Rücksichten will man auch auf r e f o r m i r t e r Seite nehmen, und ist bedacht, jeden Schein der Verdienstlichkeit der Werke zu beseitigen, indem 30 man sie doch als nothwendig zur Seligkeit betrachtet: Helvetica posterior 4 f. Die … verrohen.] am Rand 6 Strenge] korr. aus Streb 20 f. auf … (§ 14)] am Rand 31 doch] über der Zeile 12 21 21 31
Tholuck, Kirchliches Leben 1,201 f. 209–214.268. 301–312 S. oben S. 46,25 FC Epit. IV 7 (Affirmativa II), ed. Hase 589; BSLK 787,25 Confessio helvetica posterior XVI, ed. Niemeyer 498; BSRK 194,26
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16: Non sentimus per opera bona nos servari, illaque ad salutem ita esse necessaria, ut absque illis nemo unquam sit servatus. Gratiâ enim, soliusque Christi beneficio servamur, opera necessario ex fide progignuntur. Ac i m p r o p r i e his salus attribuitur, quae p r o p r i i s s i m e adscribitur gratiae. Die Zweideutigkeit dieser Auskunft entfernt Petrus a Mastricht Theologia theoretico-practica p. 640: Reformati ius beneficiorum istorum suspendunt a sola fide, sed possessionem illorum insuper suspendunt a studio bonorum operum. Die Möglichkeit, daß man ohne gute Werke selig werde, wird auf den Fall beschränkt, daß der Tod die Ausführung des auf sie gerichteten Vorsatzes verhindert. Die Formel Mastrichts ist unverfänglich, denn weder liegt in den Worten die Hindeutung auf einen Rechtsanspruch der guten Werke noch erlauben die Prämissen, an solchen zu denken. Wenn vielmehr auch Calvin (III,14,21) die guten Werke als causae inferiores salutis im Widerspruch mit der FC. gelten läßt, so ist durch die Prädestinationslehre gesichert, daß dies nur gilt, weil Gott den Erwählten diesen W e g zur Seligkeit geordnet hat. – Indem nun beide Confessionen sich in diesem Punkte widersprechen, so stützt sich die l u t h e r i s c h e Lehre nur auf die Eine Stelle des Paulus, wo aber sözesjai den ersten Eintritt in die Beziehung zum Heil bezeichnet, also gleich dikaioûsjai genommen werden muß; während Paulus sonst beide unterscheidet, aber eben die swthría von den guten Werken abhängig macht. [40] Die Seligkeit ist nicht nur der Ausdruck der Vollkommenheit der geistigen Gemeinschaft sondern zugleich der Ausdruck der Befriedigung der individuellen Eigenthümlichkeit in der Gemeinschaft. Diese aber kann nicht mit Ausschluß der guten Werke, d. h. der persönlichen Charakterbildung erreicht werden. 2 Kor. 5,10; Gal. 6,9; Kol. 1,4.5; 3,24; Rom. 6,22; Hebr. 12,14; Joh. 3,1–3; 1 Kor. 3,13–15; 2 Tim. 4,8; 1 Thess. 2,19; Phil. 2,16. 1 Joh. 2,28. Die Haltung der lutherischen Lehre erklärt sich vielleicht 1. aus einem richtigen Instinct, indem man in der Fassung des Gesetzes, dem die guten Werke folgen, den R e c h t s begriff, den man nicht auszuscheiden vermocht hatte, wenigstens ahnte, demgemäß die von guten Werken abhängige Seligkeit in Widerspruch mit dem Interesse der Reformation getreten wäre. 2. erhebt sich aber die lutherische Gesammtanschau5 f. Theologia theoretico-practica] am Rand 8 Die] korr. aus Den 8 Möglichkeit] über 18 f. den … also] am Rand 21 macht] folgt 21–27 Die … 2,28.] am Rand 31 in] korr. aus im 5 Petrus van Mastricht, Theologia theoretico-practica 640, zitiert bei Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,79 13 Calvin, Institutio III 14,21, CR 30,578 f.; ed. Barth 4,238 f.
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ung auf keinem Punkt zum entschiedenen Ergreifen der ethischen Aufgabe. Immer herrscht das Interesse der rein religiösen Auffassung auch des ganzen Gebietes der Ethik als der Früchte des Geistes, die aus dem Glauben des Subjects ohne subjective Absicht, nach der objectiven Qualität folgen werden; und § 15. hat ja erwiesen, daß die lutherische Lehrbildung gar nicht die Vorstellung von der Einheit des Gläubigen als ethischen Subjekts erreicht. Selig in seinem Thun Jak. 1,25. NB. Stephan Praetorius: Die Seligkeit ist vielmehr Bedingung der guten Werke, als umgekehrt diese Bedingung jener. Von dem Standpunkt aus erscheint also kein Abstand zwischen iustificatio und salus, sondern indem beide in der göttlichen Bewirkung zusammenfallen, fällt für die letztere jede sonstige menschliche Bedingung fort. 3. wirkt dazu die ursprüngliche Selbstbeobachtung Luthers, die auf allen Punkten des Luthertums durchschlägt, daß der Gläubige, indem er immer nur die Unvollkommenheit seiner Leistungen wahrnehme, alle Stufen des Heiles der göttlichen Gnade nur unter Bedingung des Glaubens verdanken könne. Die r e f o r m i r t e Lehre zeigt auch auf diesem Punkt einen entschiedenen Aufschluß zur Bearbeitung der ethischen Probleme. Aber das Resultat im vorliegenden Fall kann man sich nicht einfach aneignen. 1. hängt der richtige Sinn des Satzes von der Geltung der Erwählungslehre ab; diese kann aber in der Gegenwart nicht als anerkannt vorausgesetzt werden. 2. der Pluralis „gute Werke“ bezeichnet das ethische Gebiet des religiösen Lebens so oberflächlich, und steht in Relation zu der nicht erfolgten Auseinandersetzung der rechtlichen und der sittlichen Beziehung des Gesetzes, daß der ganze Titel anders gefaßt und begründet werden muß. 3. bleibt auch reformirterseits die Frage unbeantwortet, warum Gott den Weg des Erwählten zur Seligkeit durch gute Werke geordnet hat. Erst durch Beantwortung dieser Frage wird jeder Schein von Ueberflüssigkeit wie von Rechtsanspruch der guten Werke weggeräumt.
1 der] korr. aus des 2 auch] korr. aus auf 8 Selig … 1,25.] am Rand 9 f. NB. … jener.] am Rand 16 Heiles] folgt 17 nur] korr. aus ver17 unter … verdanken] unter … ver- am Rand 21 Erwählungslehre] Erwählungs über 9 Stephan Praetorius, Achtundfünfzig … Tractätlein, 1622; Opuscula sacra Praetoriana selecta, 1724; vgl. RuV (2. Aufl.) 1,352; 3,496 f.; vgl. den Brief Ritschls an Ferdinand Kattenbusch vom 28.6.1880, in: Weinhardt, Albrecht Ritschl 66 f.
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[48] D r i t t e s C a p i t e l . D a s B e w u ß t s e i n der Rechtfertigung aus dem Glauben u n d d e r H e i l s g e w i ß h e i t i m Ve r h ä l t n i ß z u d e n We r k e n u n d z u r B e k e h r u n g
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§ 17. 13 D i e U n v o l l k o m m e n h e i t d e r g u t e n W e r k e des Wiedergeborenen.
Da die katholische Lehre die guten Werke als das Mittel der Justification betrachtet, so behauptet sie die Möglichkeit einer vollkommnen Erfüllung des Gesetzes durch den Gläubigen (Tridentinum VI,11). Freilich hebt die be10 schränkende Äußerung pro huius vitae statu divinae legi satisfecisse (cap. 16) die Behauptung auf, und schließt sich der Ansicht der evangelischen Confessionen an. Indessen ist doch klar, daß eine Tendenz auf Legalität in dem Widerspruch des katholischen Grundsatzes gegen die evangelische Lehre absichtlich ausgedrückt ist. Das sittliche Werk des Gläubigen bleibt unvollkom15 men wegen der in ihm nachwirkenden Sünde, und bildet deshalb für Gott keinen Anlaß zum Urtheil unserer Gerechtsprechung (Apologia p. 91.92.121.191; FC. p. 590.678; Helvetica posterior 16. Belgica 24. Scotica 1 Drittes] über 5 § 17.] am Rand statt 6 des Wiedergeborenen.] im freien Teil der Zeile zugefügt 12–14 klar … ist.] am Rand statt 1 Das ursprüngliche Ms. B* enthielt hier als „Drittes Capitel“ mit § 17–20 den Text, der als Fünftes Capitel mit § 24–27 an die jetzige Stelle eingewiesen ist. Was jetzt (Ms. B) als Drittes Capitel mit § 17–20 an dieser Stelle steht, war ursprünglich (Ms. B*) „Viertes Capitel“ mit § 21–24. 9 Konzil von Trient, 6. Sitzung, Dekret über die Rechtfertigung Cap. 11: „De observatione mandatorum, deque illius necessitate et possibilitate“ DH 1539 10 Konzil von Trient, 6. Sitzung, Dekret über die Rechtfertigung Cap. 16: „De fructu iustificationis, hoc est, de merito bonorum operum, deque ipsius meriti ratione“ DH 1545–1550; darin der Satz: „nihil ipsis iustificatis amplius deesse credendum est, quominus plene illis quidem operibus, quae in Deo sunt facta, divinae legi pro huius vitae statu satisfecisse …“ DH 1546 16 Apol. IV 166.172.290; XII 142; ed. Hase 91.92.120 f. 190 f. (III 45.51.169; VI 45); BSLK 194,15; 195,12; 218, 1; 282,34 17 FC Epit. IV 13; Sol. Decl. II 81; ed. Hase 590.678; BSLK 788,38; 905,12 17 Confessio helvetica posterior XVI, ed: Niemeyer 498 f.; BSRK 194,25–33; 195,17–26 17 Confessio belgica XXIV, ed. Niemeyer 375; BSRK 241,32 17 Schottisches Bekenntnis XV, ed. Niemeyer 348; BSRK 255,29
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I. Theil III. Rechtfertigung
15. Catechismus Palatinus 62). Diese Lehre schließt nicht aus, daß die e i n z e l n e n guten Werke nach Vorsatz und Ausführung gesetzmäßig sein können; aber indem die fortwährend noch zu bekämpfende Sünde vielfach die Reinheit der Motive trübt, die Energie der Vorsätze lähmt, pflichtmäßige Handlungen zu unterlassen antreibt, so wird [49] der Zusammenhang der einzelnen sittlichen Werke unter sich und mit der sittlichen Gesammtabsicht unvollkommen, und der Werth der letztern geschmälert. Diese Ueberzeugung wird nun in der l u t h e r i s c h e n Lehre und Praxis überaus stark hervorgehoben, um die Unzufriedenheit des Gläubigen mit seinen Leistungen wach zu erhalten und um ihn anzutreiben, seine Befriedigung nur in der an den Glauben geknüpften Rechtfertigung durch Christus zu suchen. Dies entspricht dem Vorbilde der persönlichen Erfahrungen Luthers, die jedoch in einseitiger Weise die sittlich-religiöse Gesammtanschauung des Luthertums beherrschen. Die Rücksicht auf die stete Unvollkommenheit der guten Werke läßt im Lutherthum den Gedanken an die Möglichkeit und Nothwendigkeit sittlichen Fortschrittes nicht aufkommen, sondern die Aufmerksamkeit wird ausschließlich auf die Sicherung der Rechtfertigung durch den Glauben gerichtet. Das Vorbild Luthers wirkt hier in der Weise ein, daß nur die hypochondrische Aufmerksamkeit auf die eigne Unvollkommenheit und die Disposition zum Zweifel am Heile bei den Wiedergeborenen vorausgesetzt wird, nicht das Vertrauen auf die eigne Leistungsfähigkeit im heiligen Geiste. Für jene Stimmung ausschließlich ist der Gesichtspunkt berechnet, daß das Evangelium der Trost der bekümmerten Gewissen sei, während es der andern Stimmung als Motiv der Demüthigung, und den schlaffen Naturen als Sporn vorgehalten werden müßte. Da nun die energisch Strebenden und von Pflichtbewußtsein Erfüllten nie die große Masse bilden, so ist das Lutherthum in diesem Punkte sehr unpädagogisch, indem es auch dem Nachlässigen und Schlaffen, der die Unvollkommenheit seines Werkes leicht zugesteht, den reichlichen Trost des Evangeliums anbot, worüber die sittliche Zucht und der sittliche Ernst nur Schaden litt, indem nur etwa grobe Laster censurirt, übrigens aber die bürgerliche Rechtschaffenheit für genügend gehalten wird 8 Lehre] korr. aus Lehren 17 f. gerichtet.] folgt 18 Das Vorbild] korr. aus des Vorbildes 18–25 wirkt … müßte.] am Rand statt <wird nun aber gar nicht unterschieden zwischen den an sich werthlosen asketischen Mönchspflichten und den auch für die gesammte religiöse Haltung des Menschen nothwendigen sittlichen Pflichten, die bei aller ihrer bleibenden Unvollkommenheit auch der Forderung eines Fortschreitens unterworfen werden müssen, wenn das richtige Gleichgewicht auch des religiösen Zustandes erhalten werden soll.> 30–59,1 indem … § 15).] am Rand 1 Catechismus Palatinus LXII, ed. Niemeyer 443; vgl. BSRK 699,1
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(oben § 15). (Vgl. Tholuck a. a. O. S. 133.134.166). – Dagegen fordert die r e f o r m i r t e Lehre ein Voranschreiten des Gläubigen in der sittlichen Vollkommenheit. Catechismus Genevensis (Niemeyer p. 149): Tametsi in hac terrena peregrinatione legi nunquam satisfacimus, non tamen hoc supervacuum esse censebimus, quod tam exactam a nobis perfectionem flagitet. Scopum enim, ad quem nos collimare, et metam, ad quam nos eniti convenit, demonstrat, ut quisque nostrum pro modo collatae sibi gratiae ad summam rectitudinem vitam suam componere et maiores subinde progressus facere assiduo studio conetur. cf. Catechismus Palatinus qu. 115. Demnach unterscheidet die reformirte Ascetik [50] bestimmte Stufen im Werke der Heiligung (Schneckenburger I. S. 170.172). Unmittelbar liegt hierin kein Widerspruch gegen die Luthersche Lehre obgleich die lutherische Orthodoxie das gleichartige Streben des Pietismus als Perfectismus verketzerte; aber indem die reformirte Lehre in das ethische Interesse an dem Begriff der Wiedergeburt eintritt, und dadurch den Gesichtskreis des Lutherthums überschreitet, so ergiebt sich wenigstens theoretisch ein Gegensatz beider Lehrformen. Derselbe stützt sich auf die abweichende Verwerthung des Gesetzes für den Wiedergeborenen (§ 15). Denn während auf der reformirten Seite die sittlichen Fortschritte der Gläubigen ihr directes Maaß am Gesetze haben, so dient in der lutherischen Praxis das Gesetz dem Gläubigen vielmehr dazu seine bleibende Sündhaftigkeit zu erkennen, und den Proceß der poenitentia immer wieder zu beginnen. An der reformirten Lehrweise haftet auch nicht der Verdacht einer Förderung der Werkgerechtigkeit. Denn alles noch so hoch gesteigerte sittliche Streben wird durch den Gedanken der perseverantia sanctorum der electio untergeordnet. – Unter den evangelischen Parteien behaupten die M e t h o d i s t e n grundsätzlich die Möglichkeit von Vollkommenheit. Jedoch die 5 esse] über der Zeile 9 qu. 115.] am Rand statt 12 f. obgleich … verketzerte] obgleich … verketzerte, am Rand 24 f. electio] über <praedestinatio> 26 von] über <sittlicher> 26–60,4 Jedoch … Denn] am Rand statt ursprünglich und dann am Rand ersetzt durch Die letzten zwei Sätze Die Lehre … S. 145) sind mit Bleistift in eckige Klammern gesetzt. 4 freilich] korr. aus Freilich 10 f. wenigstens … evangelisch] am Rand statt 12 Ergänzung] korr. aus Vol 12–14 Allein … ihm] am Rand statt 15 auf … Principes] am Rand statt 15 hinweist] über der Zeile 18 f. Schneckenburger … 1863.] am Rand 21 ein] folgt 17 Jacoby, Handbuch des Methodismus 253–270 17 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,181 f. 18 Schneckenburger, Vorlesungen 136–147
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chen Charakters ab. Solcher Irrthum schließt immer Uebereilung, Unbesonnenheit also einen Mangel an Selbstbeherrschung in sich; deßhalb fordert die richtige Selbstbeurtheilung, in solchen Fehlern einen Mangel an Charakterentwicklung also Schuld und zwar wegen Zusammenhanges mit der habitu5 ellen Sünde zu suchen. Indem die methodistische Ansicht oberflächlich und leichtsinnig ist, läßt sie die so bedingte Vollkommenheit als erschlichen erscheinen. 2. liegt eine falsche Unterscheidung zwischen Gottes und Nächstenliebe zu Grunde. Wenn jene vollkommen und diese zugleich aus Irrthum unvollkommen sein darf, so wird angenommen, daß die Gebiete beider Thätig10 keiten auseinanderfallen; aber ihr Gebiet ist identisch. Vgl. unten § 26. Der ganze Titel von den guten Werken und ihrer Unvollkommenheit ist logisch praktisch und biblisch verkehrt. Ihre Forderung ist auf ein Ganzes gerichtet. Die guten Werke nach dem statutarischen Gesetze sind aber an sich nicht nur eine endlose Reihe, sondern auch im Raumschema gränzenlos; man ist zu allen möglichen Liebeswerken gleichzeitig verpflichtet. Das 15 ist widersinnig, die Unvollkommenheit schon ohne die Sünde nothwendig. Ferner aber vgl. 3rgon in der Einzahl Jak. 1,4.25; 1 Petr. 1,17; 1 Kor. 3,13; Gal. 6,4; Phil. 1,22. Unter welchen Bedingungen steht diese Vorstellung?
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§ 18. 14 D a s e t h i s c h e B e d ü r f n i ß d e s W i e d e r g e b o r n e n nach Gerechtsprechung durch Christus.
Da die Werke des Wiedergebornen unvollkommen sind, so kann derselbe sie nicht als Grund seines harmonischen Verhältnisses zu Gott betrachten. Calvin (III, 14,10) erklärt mit Recht für thöricht, daß Gott einmal durch die Sündenvergebung für das vergangene Leben uns für gerecht erklärt hätte, um 25 uns dann dem Streben nach Werkgerechtigkeit zu überlassen. Sondern 1. der Gedanke der Rechtfertigung durch Christus bezeichnet die principiell ge60,24 hängt] folgt 4 f. und … Sünde] am Rand 10 Vgl.] folgt 11–18 Der … Vorstellung?] am Rand 19 § 18.] am Rand statt ; darunter am Rand 25 1.] nachträglich eingefügt 10 S. unten S. 90,10 19 § 18 war ursprünglich (Ms. B*) § 22. 22 Calvin, Institutio III 14,10, CR 30,571; ed. Barth 4,229,16
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I. Theil III. Rechtfertigung
schichtliche Entscheidung des Verhältnisses des Gläubigen zu Gott. Nur indem dieser Gedanke über das Gebiet des wiedergebornen Lebens übergreift, ist die Continuität des sittlichen Lebens des Gläubigen mit seinem Sündenstand gesichert, ist die Ueberordnung der Gemeinschaft des religiös sittlichen Lebens über die individuelle Entwicklung, ist durch die G o t t e s k i n d s c h a f t eine feste Norm der Heilsgewißheit und ein Regulativ sittlichen Selbstbewußtseins im Wechsel und in der Unvollkommenheit der sittlichen Leistungen gegeben. Der Gedanke von der Rechtfertigung für den Glauben ist in der l u t h e r i s c h e n wie r e f o r m i r t e n Dogmatik die Voraussetzung der Lehre von der Wiedergeburt; daraus folgt, daß das Bewußtsein des Wiedergebornen immer auf jenen Gedanken hingewiesen ist. In der k a t h o l i s c h e n Praxis [52] des Lebens kommen aber nur die einzelnen Elemente der Justification zum Bewußtsein; der Gesammtbegriff hat blos objectiv dogmatischen Werth. Hingegen 2. NB. In der Beichte wird die Rechtfertigung durch den Glauben als Surrogat für die eigentlich geltende aber unter den Umständen unwirksame Rechtfertigung durch die Werke dargestellt. Disposition zum Socinianismus! Gerecht hat in den beiden Fällen von Glaube und Werken keinen identischen Sinn, und die Gerechtigkeit durch Glauben schließt die Aufgabe der Gerechtigkeit durch Werke nicht aus; also kann auch jene nicht das Surrogat für diese sein, und macht sie nicht überflüssig. Der Werth der reformatorischen Aussage von der Rechtfertigung durch den Glauben besteht nach Chemnitz, Examen Concilii Tridentini p. 127.134, Calvin, Institutio III, 12.13 in der Beziehung des Bewußtseins auf das Leben des Wiedergebornen. Es hat sich der Streit der Reformation und des Katholicis1 Entscheidung] korr. aus S 1 Gott.] folgt am Rand 4–6 die … Gotteskindschaft] am Rand 9 wie reformirten] über der Zeile 10 Wiedergeburt;] folgt 11 ist.] folgt dazu am Rand <weil das B e w u ß t s e i n von der Rechtfertigung nur im wiedergebornen Leben nachgewiesen werden kann.> ; dieser Randergänzung wird nach der Streichung des ursprünglichen Textes am Rand als Einleitung vorangestellt anschließend aber alles gestrichen. 12 Praxis] korr. aus Lehre 15–22 Hingegen … überflüssig.] am Rand 24 Martin Chemnitz, Examen Concilii Tridentini, 127 f. 134 24 Calvin, Institutio III 12 f., CR 30,553–564; ed. Barth 4,207–220
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mus darum gedreht, ob die Stellung des Wiedergebornen zu Gott bestimmt sei durch den Werth der guten Werke zu denen dieser fähig ist, oder durch den empfänglichen Glauben, der sich auf das in Christus über die zur Gemeinde zu vereinigenden Sünder ausgesprochenen Rechtfertigungsurtheil Gottes richtet. Da jenes Mittel in sich unvollkommen ist, so ist nur dieses zureichend, um sowohl der Verzweiflung am Heile als auch der Versuchung zur Selbstgerechtigkeit entgegenzuwirken. Das Bewußtsein der Rechtfertigung ist in seinem Werthe noch nicht charakterisirt, indem die lutherische Dogmatik es als den Schluß der poenitentia fordert, sondern es ist der religiöse Regulator für das sittliche Selbstbewußtsein und Werthgefühl der Wiedergeborenen, der in jedem Augenblick wirksam muß sein können, sei es daß das Selbstgefühl des sittlichen Lebens zu stark oder zu schwach ist. Aus der Umkehrung der Stellung der iustificatio und regeneratio in der pietistischen Dogmatik Freylinghausen Grundlegung der Theologie. – Ueber die neuere Theologie, Schneckenburger II. S. 40 erklärt sich der häufige Fehler der Pietisten, sich als wiedergeboren zu erkennen an ihrer socialen Gemeinschaft mit gleichdenkenden, an ihrer cliquenhaften Sitte und Redeweise, und auf d i e s e m Grunde der Kindschaft Gottes auf Rechtfertigung bei Gott zu rechnen, obgleich das lieblose Benehmen gegen Andersdenkende, das sie ausüben ihnen Zweifel gegen ihre Gotteskindschaft wie gegen ihr Rechtfertigungsbewußtsein erwecken müßte. und die Pietisten danach verfahren, zugleich aber in ihrer weitern Lebenspraxis den Gegensatz des göttlichen Gnadenurtheils gegen den Werth ihrer Person nicht rein vollziehen. Auf dem ethischen Gebiet des Rechtfertigungsbewußtseins erfolgt auch die zureichende Entscheidung gegen den Osianderschen Rechtfertigungsbegriff. Andreas Osiander nähert sich dem katholischen Begriff insofern, als er iustificatio mit Gerechtmachung übersetzt und gleich 3 f. zur … vereinigenden] am Rand 5 Gottes] über der Zeile 6 der Verzweiflung] der korr. aus die 10–22 sondern … müßte.] am Rand 15 f. Freylinghausen … S. 40] am Rand 18 , an ihrer] folgt <Sitte> 22 ihr] korr. aus ihre 23–25 und … vollziehen.] in eckigen Klammern (Bleistift) 25–64,14 Auf … auf.] in eckigen Klammern 15 Bei Freylinghausen, Grundlegung der Theologie, findet sich die Reihenfolge „Der sechste Artikel von der Wiedergeburt“ 171–181; „Der siebente Artikel von der Rechtfertigung“ 182–194. 16 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 2,40–45 (u. a. Schleiermacher, Steudel, Philippi, I. A. Dorner, C. I. Nitzsch, F. C. Baur) 26 Ritschl, Die Rechtfertigungslehre des Andreas Osiander
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regeneratio setzt; aber er folgt dem Antriebe des Protestantismus, indem er die iustificatio als rein göttliches Werk auffaßt und sie gegen die Bedingtheit durch die Werke freistellt. Seine Grundbegriffe von der Gerechtigkeit im Gläubigen, die Gott und Christus selbst ist, deren Realität Gottes Urtheil folgt, und in der die etwa vorhandenen Sünden verschwinden wie ein Tropfen Tinte im 5 Meer, sind physikalisch, chemisch und nicht ethisch. Das Unpraktische der Theorie haben die zeitgenössischen Gegner des Mannes hervorgehoben. Die Lehre raubt den zerschlagenen Gewissen den ihnen nöthigen Trost. Wenn nach Osiander Gott den Menschen gerechtspricht, weil er ihn gerecht gemacht hat, so hört alle Heilsgewißheit auf, da die Beobachtung der Unvoll- 10 kommenheit der eigenen Werke dem Gläubigen die Gerechtmachung zweifelhaft machen muß, mit ihr aber auch die Gerechtsprechung. Und wenn man sich damit beruhigen soll, daß alle Sünden durch die einwohnende Gerechtigkeit Christi absorbirt werden, so hört die ethische Zurechnung auf.
[53] § 19. 15 D i e s u b j e c t i v e V e r m i t t l u n g der Heilsgewißheit im Gläubigen.
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Melanchthon in der Apologie der C. A. ist aufmerksam auf die Thatsache, daß die fiducia nicht überall da ist, wo doch Rechtfertigung objectiv vorauszusetzen ist. (III. § 21.89.155.229) Die Heilsgewißheit in seria poenitentia gegen die Katholiken und deren Verständniß. Aufforderung stark zu 20 glauben. Sacramente; Gute Werke als Merkmale des Gnadenstandes Obersatz: die Allgemeinheit der göttlichen Gnadenverheißung. – Die Melanchthonische Auskunft ziemlich verschollen, weil sie von Spener als etwas Neues reproducirt wird. – Sie ist unpraktisch, solange die Unvollkommenheit der guten Werke behauptet wird. Deshalb wird die Auskunft seit Spe- 25 ner in dem Anspruch auf Vollkommenheit aufgenommen. Das Thema dieses Paragraphen ist innerhalb der lutherischen Orthodoxie vor dem Auftreten des Pietismus nicht sowohl nicht aufgefaßt, als absichtlich abgewiesen. Und dies bedeutet wieder die Gleichgültigkeit gegen die ethische Auffassung auch der Phänomene der subjectiven Religiosität. Dogmatisch ist 30 es freilich richtig, daß im Bewußtsein von der Rechtfertigung der Glaube nur 10 auf,] folgt <wenn> 15 § 19.] am Rand statt 17–26 Melanchthon … aufgenommen.] am Rand 19 21.89.] über der Zeile 15 § 19 war ursprünglich (Ms. B*) § 23. 17 Apol. IV 142.210.276.350; ed. Hase 86.99.116.134 (III 21.89.155.229); BSLK 188,14; 200,26; 214,52; 227,7 25 Gaß, Geschichte der protestantischen Dogmatik 2,411 f.; vgl. GdP 2,115 f.
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die Empfänglichkeit für den Inhalt des göttlichen Urtheils ist. Aber indem das Lutherthum sich darauf beschränkt, dies zu behaupten, wird ignorirt, daß auch diese Empfänglichkeit einem Werden, Wechsel, Entwicklungsfähigkeit unterworfen ist, daß es unter verschiedenen Bedingungen dem Menschen leichter oder schwerer wird, sich auf die reine Empfänglichkeit für die göttliche Gnade zu stimmen. Vielmehr wird gemäß der Vollkommenheit und Geschlossenheit des göttlichen Urtheils, auf das der Glaube geht, vorausgesetzt, daß auch dieser, so wie er von jenem Inhalt berührt und erweckt wird, sich von den unvollkommenen Momenten der Willensbethätigung specifisch abhebe. Sofern der Beobachtung nicht ausgewichen werden kann, daß der Glaube schwach, spröde, wechselnd ist, so wird hierauf nicht anders Rücksicht genommen, als mit einer Art kategorischem Imperativ, daß man nur entschieden, stark und stetig glauben solle. Diese Zumuthung wird entweder erfüllt, und dann ist in dem Glaubensact die subjective Heilsgewißheit wegen des geglaubten Inhaltes eingeschlossen; oder die Zumuthung wird nicht erfüllt, dann kommt das Gemüth nicht zur Ruhe, und eine Heilsgewißheit ist unmöglich weil das Heilsobject gar nicht angeeignet werden. kann. Die Häufigkeit dieser Fälle scheint dem katholischen Grundsatze (Tridentinum VI,9) Recht zu verschaffen, daß der iustificatus keine zuverlässige und stetige Heilsgewißheit haben könne und daß die Heilsungewißheit nützlich sei, um den Menschen zu spornen, seine Gerechtigkeit durch Gesetzeswerke zu mehren. Gegen diese Lehre sucht Johann Gerhard (Loci VII, 108 f) die lutherische Lehre zu rechtfertigen. Die Heilsgewißheit des Glaubens beruht rein auf dem Object der göttlichen Verheißung; diese ist d|em Gläubigen im göttlichen Worte gegenwärtig und wirkt sich durch dasselbe in das Gemüth ein, denn das testimonium spiritus sancti ist intra verbum und nie extra verbum, etwa in einem den Glauben begleitenden Seligkeitsgefühle. Hingegen [54] hatte schon Bellarmin eingewendet, die Verheißung sei im Worte für Alle enthalten, es frage sich also, mit welchem Rechte der Einzelne sie auf sich selbst anwende, und vermuthet doch nur einen menschlich unsichern Schluß zu dem Behufe. Daß Hiob, Paulus, Johannes die Heilsgewißheit gehabt haben, beweist nur, daß auch ich sie haben k a n n , nicht aber daß ich sie mit Recht, durch den heiligen Geist habe. Gerhard weist freilich die ganze Untersuchung als absurd ab; so wie man weiß, 2 wird ignorirt,] am Rand statt 20 f. und … mehren] in eckigen Klammern (Bleistift) 21 diese] korr. aus 1. Bellarmins Zustimmung zu dieser 2. Bellarmins Vertheidigung dieser 18 Konzil von Trient, 6. Sitzung, Dekret über die Rechtfertigung Cap. 9 „Contra inanem haereticorum fiduciam“, DH 1533 f. 22 Johann Gerhard, Loci theologici, ed. Cotta 7,108 f; ed. Preuss 3,374 27 Bellarmin zitiert bei Johann Gerhard, Loci theologici, ed. Cotta 7,108; ed. Preuss 3,373 f.
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I. Theil III. Rechtfertigung
daß man ein Mensch ist und nicht ein Gespenst, so gewiß sei dem Gläubigen sein Heilsbesitz. Freilich ist es nach dieser Analogie ein richtiges Postulat, daß der Wiedergeborne ein stetiges Bewußtsein von seiner Qualität habe. Aber unser menschliches Selbstbewußtsein ist immer v e r m i t t e l t durch die Empfindung unserer specifischen Selbstbethätigung, und wo diese aufhört, z. B. beim Blödsinnigen, oder auch im Schlafe, ist auch die im Resultat unmittelbare Selbstgewißheit, Mensch zu sein, aufgehoben. Ebenso muß die Heilsgewißheit, gerade wenn sie a priori ist, immer an den empirischen Momenten des wiedergebornen Charakters erprobt werden können. Bei jener Vergleichung aber ist die Ungleichheit nicht zu übersehen, daß unser Menschheitsbewußtsein naturgemäß, unsere Heilsgewißheit übernatürlich ist, also specifischen Selbsttäuschungen unterliegt, wenn nicht das Bewußtsein von der Uebernatürlichkeit des Heilsstandes an den bestimmten Merkmalen von der Natürlichkeit des Bewußtseins unterschieden werden kann. Sofern die l u t h e r i s c h e Kirchenpraxis die Thatsache schwachen Glaubens berücksichtigt, wird die Stärkung durch das Abendmahl empfohlen; denn durch das Sacrament wird das göttliche Verheißungswort dem einzelnen Subject zugeeignet; durch die Verstärkung des Eindruckes des Glaubensobjectes, soll das Gefühl des Glaubensmangels ergänzt oder aufgehoben werden. Hierin liegt aber die Gefahr, die Wirkung des Abendmahls als opus operatum aufzufassen, und die diesem Bedürfniß entsprechende Abendmahls- und Beichtpraxis der lutherischen Kirche ist durch die berechtigte Gegenwirkung des Pietismus gerichtet. – Calvin dieselbe Beobachtung wie Melanchthon III,2,7 sq. Abweichung im Syllogismus practicus: Es kommt nicht auf die specifische Gefühlswärme an; sondern überhaupt auf die Thatsache des Glaubens, weil wenn dieselbe [55] am studium bonorum operum orientirt ist, der Gnadenstand aus der Erwählung feststeht. Beachte beim Falle des Reformirten das Gleichgewicht des Einzelnen in der kirchlichen Gemeinschaft. Die Aufgabe des Lutheraners entbehrt dieses Vorteils. Indessen ist die lutherische Methode nach dem Zeugniß der Schurmann auch in der reformirten Kirche practisirt worden. – 2 daß] folgt <wir> 3 ein] folgt 8 gerade] korr. aus wenn 21 Kirche] folgt 23–31 Calvin … worden. –] am Rand 23 im] über der Zeile 23 Calvin, Institutio III 2,7 ff., CR 30,402 ff.; ed. Barth 4,15 ff. 23 S. oben S. 64,17 (Apologie IV) 30 Mit Anna Maria von Schurmann (1607–1678) befaßte sich Ritschl 1876 auf Anregung der Schrift von Paul Tschackert, Anna Maria von Schurmann, der Stern Utrechts, die Jüngerin Labadies. Ein Vortrag, Gotha 1876 (OR 2,290 f). Vgl. GdP 1,206
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[54] Die r e f o r m i r t e Lehre behauptet ebenfalls, daß der Glaube auf Grund der göttlichen Gnadenverheißung die Gewißheit derselben für das Subject in sich schließt. Aber die sonst auch lutherischerseits anerkannte Thatsache, daß die guten Werke Merkmale der Richtigkeit des Glaubens sind (§ 14), hat für die reformirte Lehrweise eine specifischere Bedeutung. Indem [55] auch Calvin (III,14,19.20) diese Reflexion nur gestattet auf Grund der reinen Glaubensgewißheit weil sonst eine Abweichung in die Werkgerechtigkeit stattfände, so ist das studium bonorum operum darum ein specifisches Mittel der Heilsgewißheit weil es selbst als reine Gabe Gottes und Zeichen seiner Barmherzigkeit gelten muß, ferner aber darum, weil für den Reformirten nicht die Rechtfertigung sondern die auf Perseveranz angelegte ewige Erwählung als der letzte Grund des Heiles gilt. Der Lutheraner der seine Heilsgewißheit nur auf Grund göttlicher Rechtfertigung hat, kann dieselbe momentan ganz ungetrübt und authentisch haben, und es ist etwas verhältnißmäßig überflüssiges, daß ihm die Richtigkeit seines Glaubens aus dessen Früchten klar wird. Aber der Reformirte für den das studium bonorum operum in die poenitentia hineingehört, der nur in l e b e n d i g e m Glauben der Rechtfertigung als eines i h m geltenden Gutes gewiß wird, mißt diese Lebendigkeit, als Folge seiner ewigen Erwählung an dem studium bonorum operum als dem Merkmal seiner Perseveranz und zwar mit Nothwendigkeit (Schneckenburger I, 275). Daraus erklärt sich die verschiedene Deutung des testimonium spiritus sancti. Für den L u t h e r a n e r ist es eingeschlossen in das Verheißungswort, auf das sich der Glaube bezieht, also etwas göttlich objectives. Für den R e f o r m i r t e n ist es das Resultat der Reflexion des vom göttlichen Geiste getragenen menschlichen Geistes auf den Zusammenhang der Momente des Heilsstandes; sofern derselbe als vollständig wahrgenommen wird, wird dies dem menschlichen Geist durch den göttlichen bestätigt. Rerformirterseits wird also ein Wachsthum des Glaubens auch im Verhältniß der Gewißheit der Rechtfertigung anerkannt; und demnach scheint auch die Rechtfertigung selbst in den Perioden des Anfangs, Fortschritts, der Vollendung sich zu entwickeln (Schneckenburger II,73). Diese Unterordnung der objectiven Wirklichkeit unter die subjectiv wechselnden Bedingungen ihrer Auffassung weist aber auch auf Uebelstände der reformirten Lehrweise hin. 1. kann das Bewußtsein der Rechtfertigung wenn der Wechsel der subjectiven Bedingungen auch die Gewißheit des Objects leitet, nicht mehr das Gegengewicht gegen die Heilsunge10 nicht] über der Zeile 29 scheint] folgt <sich> 4 S. oben S. 46,19 5 Calvin, Institutio III 14,19 f, CR 30,577 f.; ed. Barth 4,237 f. 20 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,275 31 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 2,73
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I. Theil III. Rechtfertigung
wißheit bieten, welche aus der Wahrnehmung der Unvollkommenheit der Werke und Unwirksamkeit der Vorsätze hervorgeht. 2. sowie der Gedanke der Praedestination unsicher wird oder wegfällt, so wird die Reflexion auf die guten Werke nicht mehr Erkenntnißgrund für die [56] Rechtfertigung bleiben, sondern Realgrund derselben werden, und hiemit der Uebergang in den Ratio- 5 nalismus Arminianismus Socinianismus gemacht, der zwar nicht die guten Werke als solche, die mangelhaft sind, aber den sie leitenden guten Willen als Grund der Rechtfertigung durch Gott geltend macht.
§ 20. 16 F o r t s e t z u n g . P i e t i s m u s u n d M e t h o d i s m u s . Die Methode der subjectiven Heilsgewißheit bildet das Problem beider Richtungen. Der Pietismus, entstanden auf dem Boden der lutherischen Kirche, weil die kategorische Forderung starken Glaubens zur Heilsgewißheit nicht erfüllt wurde, empfiehlt eine bestimmte Art der subjectiven Thätigkeit als Merkmal des lebendigen Glaubens, in Analogie zu der bisher reformirten Auffassung. Der Methodismus auf dem Boden der reformirten Kirche empfiehlt eine bestimmte Art von objectivem unmittelbarem Eindruck als Merkmal der erfolgten Begnadigung, in Analogie zu der bisher lutherischen Auffassung. Beide Richtungen verknüpfen die Frage nach der subjectiven Heilsgewißheit mit dem Acte empirisch bewußter Bekehrung, und beziehen die Heilsgewißheit aufs ganze Leben nur nach Maaßgabe dieser Erfahrung. Dies ist in der Praxis etwas Neues, da die Kindertaufe und die Erziehung in der Kirche die Bedeutung der in der Dogmatik ausgeprägten Lehren von der poenitentia unwirksam gemacht hatte. – S p e n e r s praktische Wirksamkeit und seine Vorschläge das Kirchenwesen zu reformiren, sind ebenso wenig mit der Richtung des Pietismus solidarisch, als die Thätigkeit Francke’s, die religiös und sittlich verwahrloste Jugend zu heben. Christliche Reformgedanken und Wohlthätigkeitsorganisation sind bei allen theologischen Richtungen gleich möglich, und Hebung und Erschlaffung in dieser Hinsicht fällt nicht nothwendig mit dem Wechsel der theologischen Richtung zusammen. Spener hat eine Menge Vorgänger unter den Orthodoxen des 17. Jahrhunderts, und weder sein Practicismus noch seine Conventikeleinrichtung sind nothwendig im Widerspruch mit 6 Arminianismus Socinianismus] am Rand 9 § 20.] am Rand statt 10 der] korr. aus des 11 entstanden] am Rand 12 f. weil … wurde,] am Rand 19 Acte] folgt 22 Dogmatik] korr. aus Lehre 9 § 20 war ursprünglich (Ms. B*) § 24.
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dem orthodoxen Lutherthum; in seiner Theologie ist er durchaus orthodox, und hat nicht die Absicht die Grenzen zu überschreiten. Dennoch hat er durch einzelne Grundsätze, respective Probleme den Pietismus ins Leben gerufen. Im Gegensatz gegen den Intellectualismus der Orthodoxie behauptet Spener daß nur der Wiedergeborne, also nicht schon der illuminatus die rechte Gotteserkenntniß habe. Hiemit ist auf den Grundgedanken der Reformation zurückgelenkt. Aber weder ist Spener über seine Meinung klar, noch konnte er, sofern er dabei materiell orthodox blieb, seine Gegner [57] davon überzeugen. Indem Spener die enthusiastische Deutung seines Grundsatzes ablehnte (Gaß II, 423) aber keine andere Deutung fand, so konnte er ihn nicht positiv fruchtbar machen. Und wenn die Gegner, auf seine Behauptung eingehend, sagten: Wir haben die rechte Gotteserkenntniß, also sind wir wiedergeboren, – so konnte er sie nicht widerlegen. Der zweite Grundsatz den Spener dem kirchlichen Mechanismus entgegensetzte, ist: Die Rechtfertigung oder Sündenvergebung in Predigt, Absolution, Abendmahl können nur die auf sich beziehen, die l e b e n d i g e n Glauben haben. Er will das Merkmal desselben nicht in ein Friedensgefühl setzen, da gerade die glaubenskräftigsten Menschen dessen so oft entbehren; er greift also auf den Satz Melanchthons und der Reformirten zurück, daß man sie durch die guten Werke als Früchte des Glaubens erkenne. (Gaß II,439). Aber dies ist eine gelegentliche Auskunft, und er hat die Lösung des Problems seinen Nachfolgern hinterlassen. Nur in diesem Maaße ist Spener Urheber des Pietismus; dessen positiver Gedanke hat jenseits seines Gesichtskreises gelegen. Der Heiligungspietismus drängt das Interesse an der Rechtfertigung zurück. Menken: Wir haben ein dringenderes Interesse, von der Macht als von der Schuld der Sünde befreit zu werden. Analogie zum Rationalismus, der nur den comparativen Begriff der Besserung gegen den positiven der Heiligung aufrecht hält. Hasencamp. – Eine besondere Form, der Pietismus F r a n c k e ’ s stellt die Vollziehung des B u ß k a m p f e s als die Probe der Lebendigkeit des Glaubens auf – ist in C o n s e q u e n z der lutherischen Lehre von der poenitentia verfahren (§ 12). Nach dem empirischen Verhältniß
68,31 nothwendig] über 18 den] folgt 18 Melanchthons … Reformirten] am Rand 20 (Gaß II, 439).] am Rand 23–28 Der … stellt] am Rand statt 27 Hasencamp.] über der Zeile 29 auf –] korr. aus auf-/stellte, folgt 29 ist in] korr. aus in 9 Gaß, Geschichte der protestantischen Dogmatik 2,423 20 Gaß, Geschichte der protestantischen Dogmatik 2,439 24 RuV (2. Aufl.) 1,612 27 Zu Johann Gerhard Hasenkamp s. RuV 1,566; GdP 1,578
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I. Theil III. Rechtfertigung
von contritio und fides wird dem Sünder zugemuthet, die ganze Tiefe seiner Sündenschuld zu erkennen, dies seiner Anschauung einzuprägen, die tiefste Gewissenserschütterung sich abzunöthigen, und dann zur fiducia in Christum und pax conscientiae überzugehen, an den vorangegangenen Erfahrungen aber die Probe dafür zu haben, dies mit Recht und Gewißheit erreicht zu haben. Beiträge zur Geschichte A. H. Franckes von Kramer, S. 50 ff. – Proben aus Francke’s Predigten bei Guerike, A. H. Francke S. 68.74.87 (hebt n i e bestimmt hervor, d a ß d i e c o n t r i t i o a u s d e m G e s e t z komme). – Semler, Lebensbeschreibung I. S. 48. Die Methode ist geeignet entweder zu falscher Sicherheit oder zu Heilsverzweiflung zu führen. Denn die contritio muß eine endlose sein, und hat in sich keine Gewähr, wann sie mit Recht aufhören und der fiducia Platz machen muß, weil sie selbst nicht, wie in der reform|atorischen Lehre, aus der fides abgeleitet wird. In der Hinsicht paßt auf den Pietismus, was Calvin über Wiedertäuferische Bußmethode sagt: Omni rationis specie caret eorum deliramentum, qui ut a poenitentia (=contritione) exordiantur, certos dies suis neophytis praescribunt, per quos se in poenitentiam exerceant, quibus [58] demum exactis in evangelicae gratiae communionem ipsos admittunt (III,3,2). Ferner aber ist die pietistische Methode möglichst unlutherisch, sofern ein W e r k des unwiedergebornen Sünders der Grund für den Glauben oder wenigstens der hauptsächliche Erkenntnißgrund für dessen Richtigkeit werden soll. Spangenberg (S. 246) ist vielmehr in der Tendenz des Lutherthums, wenn er sagt, man solle den Bußfertigen vielmehr zu Christus weisen, aber auf einer dem reformirten Lehrtypus entsprechenden Einsicht beruht sein Satz, daß zur vollen Erkenntniß der eigenen Sünde ein sehr geförderter Christenstand gehöre. (Vgl. Hengstenberg Evangelische Kirchenzeitung. 1840. Vorwort). Ecclesiolae aus so methodisch Bekehrten oder sich Bekehren69,30 § 12] korr. aus § 13 1 zugemuthet,] folgt 1 seiner] korr. aus der 6–9 Beiträge … S. 48.] am Rand 14 über] folgt <Jesuitische und> 19 unwiedergebornen] am Rand 20 f. oder … Richtigkeit] am Rand 26–71,6 Ecclesiolae … Einflüsse.] am Rand 69,30 S. oben S. 38,1 6 Francke, Anfang und Fortgang der Bekehrung A. H. Francke’s von ihm selbst beschrieben, in: Kramer, Beiträge zur Geschichte August Hermann Franckes 28–55 7 Guerike, August Hermann Francke 68.74.87 9 Semler, Lebensbeschreibung 1,48 14 Calvin, Institutio III 3,2, CR 30,435; ed. Barth 4,57,7 21 Spangenberg, Idea fidei fratrum 246 (§ 122) 25 Hengstenberg, Vorwort. In: EKZ 26, 1840, 1–4.9–18.17–22.25–31.33–38. 41–46.49–62
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den haben den Stempel der Secte und des antikirchlichen Wesens. Die mildeste und versöhlichste Form der Secte bildet die Verfassung der Brüdergemeinde. Indessen hindert das einerseits nicht überall antikirchliche Tendenz (Liefland), andererseits erklärt sich aus der Aufgeschlossenheit des Herrenhuterthums für die Confessionskirchen die Ueberfluthung derselben durch herrnhutisch-pietistische Einflüsse. In dieser Hinsicht ist der H e r r e n h u t i s c h e Pietismus im Widerspruch mit dem Franckeschen. Zinzendorf selbst erklärt, nie die Erfahrung des Bußkampfes gemacht zu haben (Leben von Reichel S. 90.111). Dagegen stimmt diese Richtung mit der lutherischen und pietistischen Ansicht von dem Ziel der Bekehrung überein, daß dieselbe sich auspräge in „einer festen Ueberzeugung, einem innigen Bewußtsein und einem Gefühl von Gottes Gnade, von seiner Zufriedenheit mit mir, von der Vergebung meiner Sünde, und daß ich ihm nun angenehm sei in seinem lieben Sohne, und dieses Gefühl macht das Herz ruhig und stille“ (Spangenberg S. 252). Der Hallische und der Zinzendorfische Pietismus theilen sich in die beiden Functionen der lutherischen poenitentia, um sowohl die contritio als auch die laetitia spiritualis endlich zu verwirklichen. Wegen der Analogie mit der positiven Seite der Sache steht der Herrnhutische Pietismus dem Luthertum näher als der Hallische, bildet deshalb im 19. Jahrhundert den Uebergang zu der Repristination des Lutherthums. Diese Tendenz beherrscht auch den Pietismus des 19. Jahrhunderts. Wie nun aber die Gesellschafts- und Cultuseinrichtung der Brüdergemeinde nur dazu dient, gewissen Naturen diese Gleichmäßigkeit des religiösen Selbstgefühls zu erhalten; so ist der übrige Pietismus bestrebt, das Gefühl der empirisch bewußten Bekehrung nicht blos zu erhalten sondern zu erproben an der Entfaltung von gewissen Uebungen des allgemeinen socialen Lebens, an der socialen Verbindung mit gleichgesinnten und gleichredenden, an der Uebung gewisser gemeinsamer Unternehmungen wie Heidenmission. In allen möglichen Abstufungen von der höchsten und ehrwürdigsten Lauterkeit und Aufrichtigkeit bis zur intriganten Herrschsucht durch gutartige Beschränktheit des Urtheils und durch gefährliche Bornirtheit hindurch erstreckt sich die Richtung durch die deutsche evangelische Kirche hindurch, und gereicht größtentheils zur Trübung der sittlichen und der theologischen Aufgaben, in welchen die Kirche sich bewegen muß, wenn sie Kirche und nicht Secte sein will. – Der 4 Herrenhuterthums] korr. aus Herrnhuterthums 15–20 Der … Lutherthums.] am Rand 16 poenitentia] korr. aus Poenitentia 18 dem] Ms.: des 33 in] über der Zeile 33 welchen] korr. aus welche 8 Reichel, Leben des Grafen von Zinzendorf 89 f. 111 f. 14 Spangenberg, Idea fidei fratrum 252 (§ 125 frei zitiert)
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I. Theil III. Rechtfertigung
ursprünglich l u t h e r i s c h e Maaßstab der Bekehrung herrscht auch [59] im M e t h o d i s m u s , der unter herrnhutischen Einflüssen entstanden ist. Die Unterschiede zwischen beiden richten sich nach dem zwischen englischer und deutscher Nationalität, reformirtem und lutherischem kirchlichem Hintergrunde, aristokratischer und demokratischer Gemüthsart. Die Hauptpointe ist die Gewinnung einer passiven Gewißheit, daß Christus für m i c h gestorben, m i c h geliebt, mir m e i n e Sünden vergeben hat (Jacoby, Handbuch des Methodismus S. 207.210), ohne daß dies wie in der lutherischen Praxis an die Absolution oder Abendmahl geknüpft würde. Der Erkenntnißgrund hiefür ist die auf die Erregung durch Bußpredigt folgende mit körperlicher Empfindung zusammentreffende bewußte Gemüthsberuhigung. (über Wesley, Jacoby S. 16). Die ansteckende Verbreitung solcher Phänomene macht dieselben nicht imposant, sondern werthlos und beklagenswerth; berechnet auf rohe und lasterhafte Personen. Combinirt das Herrnhutische Interesse an dem Gefühlseindruck mit der zeitlichen Bestimmtheit des Ueberganges dazu, welche aus der Theorie vom Bußkampf folgt. Die Erregung der Phantasie und des Gefühls als subjective Probe der Heilsgewißheit, rein für sich, oder in Begleitung beschränkender socialer Einrichtungen ist keine Lösung unseres Problems. Die pietistische und methodistische Auffassung des Christenthums ist nicht, mit Rothe zu reden, III, S. 367 ff. die blos religiöse im Unterschied von der religiös-sittlichen; Rothes Urtheil paßt etwa auf das lutherische System, dessen Auffassung der poenitentia jenen Richtungen zu Grunde liegt. Pietismus und Methodismus stellen vielmehr den entscheidenden religiösen Vorgang der Bekehrung in das Licht sittlicher Auffassung und reflectirten Strebens, und begründen überhaupt durch die Aufgabe der sittlichen Vollkommenheit ein System religiös sittlichen Lebens, von 11 bewußte] am Rand 11 f. (über … S. 16).] am Rand 13 f. berechnet … Personen.] am Rand 15–17 Combinirt … folgt.] am Rand 18 subjective] korr. aus Pr 21 nicht] über der Zeile, nach dem Komma eingefügt 21 III, S. 367 ff.] am Rand 22 im … der] über 22 Rothes] über 22 f. paßt etwa] über der Zeile 23 System] folgt 24 liegt.] folgt über der Zeile 24–73,3 Pietismus … zurück.] am Rand 7 Jacoby, Handbuch des Methodismus 207.209 f. 12 Jacoby, Handbuch des Methodismus 16 f. 21 Rothe, Theologische Ethik 3,367–377 (§ 996)
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welchem das ursprüngliche Lutherthum fern ist. Aber diese Aufgabe wird vom Boden sektirerischer Stimmung nach einer besonderen Schablone ergriffen, und deßhalb bleiben die Leistungen hinter dem christlichen Ideal zurück. Der gemeinsame Fehler liegt aber darin, daß sie die Bekehrung als göttlichen Act, 5 theils von einem menschlichen Werke, theils von einer bestimmten religiösen Bearbeitung der Seele, theils von dem Eingehen auf gewisse religiös sociale Gemeinschaft so abhängig machen, daß sie e m p i r i s c h auf Stunde angegeben werden könne. Aber die Bekehrung durch Gott ist nie der Erfolg menschlicher contritio, sondern deren apriori (§ 13.14). Indem also auch in diesen 10 Kreisen die subjective Vermittlung der Heilsgewißheit nicht nachgewiesen ist, bleibt dies Hauptproblem des evangelischen Christenthums für uns noch ungelöst. Die herrenhutische Ansicht ist eine Verbesserung der lutherischen Lehre von der poenitentia zugleich mit Abweisung der subjectiven Vermittlung der Heilsgewißheit. Aber indem sie von denselben Einwendungen getroffen 15 wird, wie die lutherische Lehre, rechnet sie auf die sociale Ordnung der Gemeinde, um das Seligkeitsgefühl zu erhalten, schiebt also eine objective Vermittlung vor, die doch nur für gewisse Naturen wahr und segensreich ist.
[60] V i e r t e s C a p i t e l . D a s R e i c h G o t t e s a l s d a s ethische Princip des Christenthums.
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§ 21. 17 D i e N e u t e s t a m e n t l i c h e V o r s t e l l u n g vom Reich Gottes. Das Handeln hat einen sittlichen Werth nur indem es auf einen gemeinsamen Zweck geht, und das Individuum hat den Trieb zu solchem Handeln nur, wenn es den Werth des gemeinsamen Zwecks durch die Erfahrung von 11 f. ungelöst.] folgt am Rand mit Bleistift 1862, 19. December Schluß vor Weihnachten. // 1864, 10. Juni. // 1865, 8. December 12–17 Die … ist.] in kleiner Schrift auf dem Ms. B S. 59 unten noch verbliebenen Platz nachgetragen 12 f. Lehre … mit] über der Zeile 18 Viertes] über 18 f. als … Christenthums.] über und im freien Teil der Zeile 20 § 21.] am Rand statt 22–74,13 Das … Menschen.] am Rand 9 S. oben S. 43,23; 46,19 18 Was jetzt (Ms. B) als Viertes Capitel mit § 21–23 an dieser Stelle steht, war ursprünglich (Ms. B*) „Fünftes Capitel“ mit § 25–27. 20 § 21 war ursprünglich (Ms. B*) § 25.
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I. Theil IV. Reich Gottes
seiner Angehörigkeit zu der entsprechenden Gemeinschaft gemacht hat. Der gemeinsame Zweck des sittlichen Handelns auf Grund des christlichen Glaubens, ist das Reich Gottes. Dessen Begriff das Princip der Theologie überhaupt, der Ethik wie der Dogmatik. Herrschaft Gottes im Alttestamentlichen Sinne! – Absicht Christi in der Gegenwart Mt. 12,28; Lc. 17,20.21; Mc. 4,11–14; 3,34.35. (Gemeinde Mc. 3,14, Mt. 17,25; Anerkennung Jesu als des Königs 8,29.) Vorläufige Projection in die Zukunft, Bild vom Lohn. Herrschaft Gottes durch Christus und sittlicher Gehorsam seiner Gemeindeglieder (Mc. 3,34.35; Mt. 5,20; 6,33; 7,21–23. Veränderung bei den Aposteln. Paulus 1 Kor. 4,20; Rom. 14,17.18. Kol. 1,13; 4,11. Hingegen 2 Thess. 1,5; Jac. 2,5. – Die Synonyme oben. Das Reich Gottes in der Zukunft Verhängniß Gottes und Christi, – aber auch Erzeugniß der Menschen. Das Reich Gottes ist seinem religiösen und dogmatischen Sinne nach Gegenstand christlicher Hoffnung. In dieser Eigenschaft gilt es als ein nur von Gott producirtes und den Menschen zu verleihendes, und zwar als ihr höchstes Gut. Aber weil diese Verleihung an den Menschen an gewisse Bedingungen geknüpft wird, ist es zugleich als Gegenstand sittlichen Strebens dargestellt. (Mth. 6,33). Aber das Verhältniß des Gutes zu dem Streben wird so gedeutet, daß jenes diesem äußerlich hinzugefügt, oder daß der einzelne Strebende in den vom Reich Gottes umschriebenen Raum eintreten werde (Mth. 5,3.10.20; 7,21; 18,3.4.23; 25,34; 2 Thess. 1,5; Jac. 2,5). Das allgemeine Gut, heißt klhronmía (1 Petr. 1,4; Hebr. 9,15; Kol. 3,24; Tit. 3,7), swthría (Hebr. 1,14; 1 Petr. 1,5; 2 Th. 2,13; 2 Tim. 2,10), zwÄ aÌöniov (Mc. 10,17; Joh. 3,36; Jac. 1,12; 1 Petr. 3,7). Die Äußerlichkeit des Verhältnisses wird durch die Vorstellung von dem aequivalenten Lohne geschärft (Mth. 5,12.46; 6,1.2.5.16; Mc. 9,41; Luc. 6,23.35; Joh. 4,36; Kol. 3,24). Der Gedanke ist in einer Reihe von Parabeln ins Einzelne durchgeführt (M t h . 2 0 , 1 – 1 5 ; 24,46.47; 25,14–28; Luc. 12,37; Mc. 10,28–31). Näher ange-
3 Theologie] korr. aus theologischen Ethik 6 Mt. 17,25;] über der Zeile 9 (Mc.] Schlußklammer fehlt im Ms. 14–22 Das … Jac. 2,5).] in eckigen Klammern 14 Das] davor 16 f. , und … höchstes] am Rand 19 (Mth. 6,33).] am Rand 23 Gut,] folgt 25–75,14 Die … bleibe. –] durch Winkel am Rand eingeklammert 29 28–] über der Zeile 11 Der Verweis Die Synonyme oben. geht auf die unten im Haupttext folgenden griechischen Begriffe, die im Ms. oberhalb des Verweises stehen.
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sehen verändert sich aber die Vorstellung von dem Rechtsanspruch des Würdigen an den aequivalenten Lohn, in d|ie Begnadigung des Würdigen durch die unendlich werthvollere Belohnung des Gottesreiches (Mth. 5,46; 6,20; Luc. 6,23.38; 12,33); in specie ist die Belohnung hundertmal mehr werth als die Leistung (Mc. 10,29.30); der über Geringes getreue Knecht wird über Viel gesetzt (Mth. 25,21–23; Luc. 19,11–27), ja über Alles (Mth. 24,46.47; Luc. 12,43.44); wenn der Herr den Knecht bedient, so ist das keine Aequivalenz für das Umgekehrte (Luc. 12,37); und mit dem Werthe des Himmelreichs ist nichts zu vergleichen (Mc. 8,36.37; Mth 13,44–46). Es ist also nur ein Schein, daß die sittliche Leistung einen Rechtsanspruch ans Gottesreich begründet; die Einkleidung ist von dem Bundesverhältniß hergenommen, aber mit dem Vorbehalt, daß die göttliche Gnade durch den Sinn der überschießenden Belohnung als Grund des höchsten Gutes gesichert bleibe. – So bildet sich der Contrast, daß das Gottesreich und die Einzelgüter einmal als Gabe Gottes im Gericht [61] dann wieder als Product menschlicher Thätigkeit von Paulus dargestellt werden (Gal. 6,8; Phil. 2,12; Rom. 14,17; 1 Kor. 4,20). Richtet sich danach, daß der Begriff der activen Gerechtigkeit von Menschen durch die Anerkennung Gottes überhaupt also auch im Endgericht vollendet wird, zur Realisirung der Weltordnung. Gerechtigkeit das gemeinnützige zum Frieden unter den Menschen wirksame Handeln. Gerechtigkeit und Heiligung gleich Pflichtübung und Tugendbildung Jak. 3,13–18; 1 Petr. 2,24; 1,22; 1 Joh. 2,29–3,3; Hebr. 10,32–36; 12,14; Gal. 5,4–6; 2 Kor. 6,6.7; Röm. 6,15–22; 14,17.18. Als Zweck, als Grund und als Mittel des gerechten Handelns entspricht das Reich Gottes dem Begriff des Gutes, als das höchste Gut (im graduellen und im complexen Sinn), als das zugleich gemeinschaftliche und individuelle Gut (Jak. 1,25). – Katholische Auffassung von G o t t als h ö c h s t e m G u t zieht die Bevorzugung der Contemplation vor dem thätigen Leben nach sich. Also unprotestantisch. Aber dieser Widerspruch löst sich, indem das Gottesreich nur von solcher Thätigkeit erreicht respective producirt werden kann, welche um Christi willen, aus dem Glauben an Christus vollzogen wird (Mc. 9,41; 10,29; Mth. 10,37–39; 19,21.29; 5,10.11). Aber nicht nur dies, sondern auch wer an Christus glaubt, und an ihm das Motiv seines Handelns hat, ist schon in das Reich Gottes eingetreten (Mth. 12,28; Kol. 1,13). Also ist das Gottesreich nur so Ziel des Handelns, sei es durch äußere Aneignung, oder als organisches Product, weil die Angehörigkeit zum Gottesreich schon der 14 So … der] am Rand statt 15 einmal … Gericht] am Rand 15 dann wieder] über <desselben> 18–30 Richtet … unprotestantisch.] am Rand
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I. Theil IV. Reich Gottes
Grund solchen Handelns ist. Das Gottesreich ist also nicht einseitig göttliches oder menschliches Product, sondern ein von Gott durch Christus begründeter, durch die Gläubigen zu vollziehender Proceß, welcher ein zugleich göttliches und menschliches Product ergeben wird (Mc. 4,26–29:30–32; Mth. 13,24–30:31.32:33:38.41.43:47–50; 20,1–16; 22,2–14; 25,1–13; Luc. 13,19:20.21). Im Verhältniß zu dem dem Gottesreich correlaten Thun, erscheint der Gedanke des Gottesreiches in der dreifachen möglichen Stellung: als G r u n d der fraglichen Gerechtigkeit, denn es kann kein Handeln um Christi willen geben, was nicht in der durch Christus verwirklichten Keimgestalt des Gottesreiches seinen Grund findet. Das Gottesreich ist Z w e c k der Gerechtigkeit und wird nach Maaßgabe des wirkl|ich zweckmäßigen Handelns von den dazu gehörigen Menschen producirt. Es ist das M i t t e l , durch welches dasjenige Bewußtsein eigenthümlich bestimmt wird, das das Handeln begleitet; d. h. das Bewußtsein im Reich Gottes zu wirken und zu handeln, vermittelt die Heilsgewißheit für den Handelnden, daß nämlich derselbe im höchsten Sinne seinen Heilszweck verwirklicht. Nun bezeichnet aber das Gottesreich nicht einen willkürlichen relativen Zweck, den Gott mit dem Menschen vorhat; sondern das Gottesreich ist die ethische Exposition des göttlichen Selbstzweckes selbst. In der Dogmatik ist erwiesen, Dogmatik § 35. daß Christus als der Sohn Gottes derjenige nothwendige und ewige Gegenstand der göttlichen Liebe ist, in Verhältniß zu welchem Gott seinen persönlichen Selbstzweck hat und realisirt. So ist der vom Vater geliebte Sohn die dogmatische Exposition des Gedankens von der Liebe als dem Wesen Gottes. Aber der Vater liebt auch im Sohne die ewig von ihm erwählte Gemeinde des Gottesreiches; 1 Joh. 2,5; 4,16.17. diese also, sofern sie um Christi willen thätig ist, dient zur weitern Verwirklichung des göttlichen Selbstzweckes der Liebe [62] im Gebiete der sittlichen Freiheit und Menschengemeinschaft; das Reich Gottes ist also die ethische Exposition des göttlichen Selbstzwecks der Liebe. Vgl. § 16. 2 f. begründeter] folgt 6–17 Im … verwirklicht.] in eckigen Klammern 13 Mittel,] folgt <jenes Handelns> 14 begleitet;] am Rand ohne Einfügungszeichen <Jak. 1,25> 21 Dogmatik § 35.] am Rand 28 1 Joh. … 17.] am Rand; folgt <Seligkeit im Thun des Werkes Jak. 2,25.> 33 Vgl. § 16.] am Rand; davor am Rand <Seligkeit unter der Bedingung des sittlichen Werkes!> 33 S. oben S. 54,18
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Wenn das Reich Gottes ein sittlicher Proceß ist, so wird seine Verwirklichung auch schon in der Gegenwart beobachtet werden müssen. Zu diesem Behufe lenkt die katholische Kirche unsere Aufmerksamkeit auf sich. Sie will die von Augustin beschriebene civitas dei in peregrinatione sein. Dies wird darauf begründet, daß der Papst und die Bischöfe die Nachfolger des Petrus und der Apostel seien, deren Privilegien auf sie übergegangen seien. Aber 1. enthält der Auftrag der Apostel keine Uebertragung von Herrschaftsrechten ü b e r die Gemeinde; Freilich doch an Petrus Mth. 16,19, cf. Jes. 22,21.22; Apok. 3,7, aber vergleiche damit Mth. 18,18 als Attribut der Gemeinde. Also auch jenes gilt für Petrus nur als Erstling der Gemeinde. Der Vorzug der Apostel besteht darin daß sie die erste Generation der Gemeinde sind, was nicht übertragen werden kann. 2. ist die katholische Kirche so direct als Staat prädicirt, wie dieser Begriff dem des Reiches Gottes entgegengesetzt ist. Denn dieses ist die Gemeinschaft aus dem Princip der Liebe, jene aus dem Princip des kanonischen Rechtes; 3. müssen die Genossen des Gottesreiches eine positive und stetige Heilsgewißheit haben, eine solche aber wird den katholischen Christen abgesprochen. Also ist die katholische Kirche nicht das Reich Gottes auf Erden. Das Recht und das Reich Gottes stehen zunächst in ausschließendem Gegensatz. Das Recht ist die Ordnung der einzelnen und besonderen Zwecke als solcher, sofern dieselben sich in erscheinenden Handlungen verwirklichen. Die Sittlichkeit des Gottesreiches ist die Ordnung der einzelnen und besonderen Zwecke durch den absoluten göttlichen Zweck in Handlung und Gesinnung und Antrieb. Ferner aber ergiebt sich, daß sowenig das Recht je productives Princip sittlicher Gemeinschaft ist, es doch nothwendiges Mittel jeder derselben ist, Ehe, Familie, bürgerlicher Verkehr, Nationalgemeinschaft, sofern es die freie sittliche Thätigkeit auf
1 § 22.] am Rand statt 8 Herrschaftsrechten] folgt 8 f. über … Gemeinde] über der Zeile 10–14 Freilich … kann.] am Rand 23 f. als … verwirklichen] am Rand 25 f. in … Antrieb.] am Rand 26–78,2 Ferner … sichert.] in eckigen Klammern 29–78,2 sofern … sichert.] am Rand 29–78,1 auf … und] über der Zeile 5 Augustin, De civitate dei 1 praef. init., PL 41,13; CChrSL 47,1, nimmt sich vor, „… civitatem dei … in hoc temporum cursu, cum inter impios peregrinatur … defendere …“
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den Zweck der Gemeinschaft zusammenfaßt und gegen Hemmungen durch die Anderen sichert. Indem das Reich Gottes nach dem Vorbild der Familie als Gemeinschaft der Kinder Gottes aufgefaßt wird, die unter einander Brüder sind; indem das Recht suchen verboten (Mth. 5,39–41), und der Andere auf den Genuß meines Eigenthums angewiesen ist (Vers 42.), endlich der wenn auch mißlungene Versuch der Gütergemeinschaft in der Gemeinde zu Jerusalem scheinen mit dem Begriff des Eigenthums jedes Object rechtlicher Zwecksetzung aus dem Umfang des göttlichen Reiches auszuschließen. Demgemäß scheinen wenigstens die katholischen geistlichen Orden, die dem Einzelnen kein Eigenthumsrecht gestatten, dem Reich Gottes eine besondere Stätte zu bereiten, so wie sie in dieser Hinsicht absichtlich die Bestrebungen der Urgemeinde zu Jerusalem nachahmen. Desgleichen die Wiedertäufer und neuere württembergisch-pietistische Secten (Rapp). Aber zunächst war dies Unternehmen partiell und freiwillig, und schloß das Eigenthumsrecht der Einzelnen nicht grundsätzlich aus (Act. 5,4). Ferner bedeutet [63] Mth. 5,38 ff nicht eine Ausschließung des Eigenthums überhaupt und des Rechtes darauf, sondern nur die Verzichtleistung darauf in den einzelnen Fällen. Dies ist auch endlich unumgänglich, n i c h t wegen der Schwäche der menschlichen Natur, sondern in Folge des Begriffes der sittlichen Freiheit. iustitia civilis. In dem Willen ist a priori angelegt die Nothwendigkeit seinen Selbstzweck zu erstreben und die Nothwendigkeit gemeinsame Zwecke zu erstreben. Beide Anlagen werden nur in untrennbarer Wechselwirkung realisirt. Die Bestimmung zur Freiheit in der Gemeinschaft ist der Grund des Rechtes; die Bestimmung zur Realisirung gemeinsamer Zwecke in der Freiheit ist der Grund der Sittlichkeit. In concreto kann man das Recht nur im Verhältniß zu den sittli-
2 Indem] davor <Es scheint nun aber, als ob das Reich Gottes in dieser Hinsicht den anderen sittlichen Gemeinschaften incongruent wäre.> 2 das … Gottes] korr. aus es 5 42.] folgt ; s. unten S. 88,8 14 f. Desgleichen … (Rapp).] am Rand 23 iustitia civilis.] am Rand 26 Die] korr. aus Jene 26 f. Bestimmung … Gemeinschaft] am Rand statt 27–29 die … Sittlichkeit.] am Rand statt 6 Act 2,44 15 Zu Rapp s. Grüneisen, Abriß 94; vgl. GdP 3,174.181
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chen Gemeinschaftszwecken bestimmen; aber Niemand ist auch zu sittlicher Gemeinschaft fähig außer als Rechtssubject, d. h. indem er auch alle Anderen als solche anerkennt. Den weitesten Umfang des Rechtes ergiebt der Begriff des Eigenthums, d. h. d e s Besitzes, d e s Stoffes für meine Zwecksetzungen, in dessen Ausschließlichkeit für mich und in dessen unumschränkter Verfügung man von den Anderen anerkannt ist. Das Recht auf Eigenthum wird auch immer gewährleistet durch den sittlichen Werth und die sittliche Anerkennung der A r b e i t . Wenn also das Reich Gottes die allgemeine Geltung des Eigenthumsrechtes ausschlösse, so würde es auch den sittlichen Werth der Arbeit beeinträchtigen, Luc 11,41. würde also mit dem Schein einer übersittlichen Gemeinschaft in den Verdacht einer widersittlichen verfallen. Aber jenes ist eben nur Schein; cf. 1 Th. 4,11; 2 Th. 3,10–12. Ferner ist das höchste Motiv zum Sittlichhandeln in der Reihe derselben nur dann das höchste, wenn es alle, welche als untergeordnete Stufen sittlich möglich sind, in sich aufnimmt. Ist also die Arbeit das an sich freilich auch zu unsittlichen Zwecken brauchbare E l e m e n t alles sittlich werthvollen Thuns, so kann die Liebe des Gottesreichs nicht den unmittelbaren Reiz zur Arbeit, das Eigenthum überhaupt ausschließen. Die Anweisung Jesu verlangt nur, daß man um des höchsten sittlichen Zweckes willen, im einzelnen gegebenen Falle aus Liebe auf sein Recht an Eigenthum, an Ehre verzichte, und daß man dadurch bethätige, daß die Rechtsordnung nicht der höchste Zweck, sondern Mittel zum sittlichen Zweck sei. In diesem Sinne aber wird seine Geltung im Allgemeinen auch durch das Reich Gottes vorausgesetzt. Die Analogie des Reiches Gottes mit der Familie bewährt sich unter dieser Bedingung darin, daß wie die Kinder in der Familie n o c h k e i n Eigenthumsrecht ausüben, so soll unter den Kindern Gottes im gegebenen Falle das Recht des Eigenthums, des Ersatzes für eine Ehrenkränkung, der Strafe für eine körperliche Verletzung und dergleichen n i c h t m e h r ausgeübt werden. Aber wie die Glieder der natürlichen Familie den vollen Umfang ihrer Rechtspersönlichkeit erstreben, so setzt das Reich Gottes die allgemeine Geltung der Rechtssphäre als Mittel auch der höchsten sittlichen Aufgabe voraus.
1 aber] über 1 auch zu] am Rand statt 11 Luc. 11,41.] am Rand mit Bleistift 13–19 cf. … ausschließen.] am Rand 23 In] korr. aus ÎOù 24 Geltung] folgt
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[64] § 23. 19 D e r B e g r i f f d e s R e i c h s G o t t e s und der Gerechtigkeit desselben. Zu ergänzen nach Palmer, Lehre vom höchsten Gut, Jahrbücher für deutsche Theologie 5. Band S. 453 f. 1. Die dogmatischen Formen der Lehre vom regnum Christi. 5 a. Wiedertäufer Zwingli. b Luther. c. Calvin (b. c. fortgesetzt in der Dogmatik beider Confessionen) d. Melanchthon e. Puritaner. 2. Pietismus (Coccejus) Kant. 3. Reich Gottes und Beruf siehe unten. 4. Positiver Character der Sittlichkeit 10 5. Zusammenfassung aller Gründe der guten Werke Der ethische Begriff des Reiches Gottes faßt alle die Nothwendigkeitsgründe für die guten Werke zusammen (§ 14). In Beziehung auf Reich Gottes 1 § 23.] am Rand statt 1 Der] folgt <ethische> 2 der] korr. aus die 3 f. Zu … 453 f.] am Rand mit Bleistift 5–81,8 1. … § 17.)] am Rand um die schon vorhandenen Zusätze herum geschrieben 6 Wiedertäufer] über der Zeile 8 Kant.] davor 1 § 23 war ursprünglich (Ms. B*) § 27. 3 Palmer, Die christliche Lehre 453 f. 5 Die am Rand in 7 Ziffern entworfene Disposition war wohl dazu gedacht, den ursprünglichen Wortlaut des ganzen Paragraphen zu ersetzen. Da sie in der Nachschrift Lange (WS 1867/68) noch keine Spuren hinterlassen hat, kann sie frühestens im SS 1869 verfaßt sein. Dagegen enthält die Nachschrift Eck (SS 1878) für den dortigen § 18 „Der vollständige Begriff für das Reich Gottes“ ein Diktat, das weitgehend dem Entwurf am Rand folgt. 6 Zu Wiedertäufer vgl. Ritschl, Prolegomena zu einer Geschichte des Pietismus 21–26.32–36; GdP 1,25; Artikel „Reich Gottes“ 604 f. 6 Zu Zwingli vgl. Ritschl, Artikel „Reich Gottes“ 605 und unten S. 83,10 6 Nach RuV 3,364 Anm. 12 dient als Beleg: Köstlin, Luthers Theologie 2,380 mit den dort angegebenen und von Köstlin interpretierten Stellen. 6 Calvin, Institutio II 15,4.5; IV 12,1; 20,1–3; CR 364.905.1092; ed. Barth 3,475,30; 5,212,11; 471,12. Vgl. RuV 3. Auflage 3,273 Anm. 1 7 Melanchthon, Loci 1559, CR 21,920; ed. Stupperich 2/2,639,2; vgl. RuV 3 (3. Aufl.) 274 f. 7 RuV 3,368 verweist auf Robert Browne, The Life and Manners of All True Christians 1582 8 Ritschl führt den Gebrauch des Begriffes „Reich Gottes“ im Pietismus auf Jodocus von Lodensteyn zurück, der von Coccejus angeregt wurde; s. GdP 1,152.181 8 Ritschl, Artikel „Reich Gottes“ 605 verweist auf Coccejus, Panegyricus de regno dei (1660); GdP 1,140–147. 8 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Erster Teil, II. Buch, 2. Hauptstück V.VII; ed. Hartenstein 5, 134.142 f.
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entsprechen die guten Werke der bestimmungsmäßigen Qualität des Subjects; – dem Selbstzweck Gottes, – dem Interesse der Seligkeit, – dem Bedürfniß nach Heilsgewißheit. [65] 6. Reich Gottes im complexen Sinn. Das Allgemeine innerhalb der besonderen Arten. Evangelischer Begriff im Gegensatz gegen die Absonderlichkeit des Mönchthums. 7. Höchstes Gut; nicht ist Gott höchstes Gut. Katholischer Grundsatz der Contemplation (aus §. 17). [64] Das Reich Gottes verwirklicht sich also in der Gegenwart nicht als eine rechtlich geordnete Gemeinschaft mag dieselbe als Staat oder als Kirche aufgefaßt werden; sondern es w i r d überall da, wo die seinem Princip entsprechende Gerechtigkeit als gemeinsame Aufgabe vollzogen wird (Mth. 6,33); also wo die Praxis aller gemeinsamen sittlichen Zwecke von dem Gedanken des absoluten göttlichen Selbstzweckes geleitet, oder wo die Liebe das Motiv des gemeinsamen sittlichen Handelns ist. Natürlich ist dieser Vorgang nicht empirisch zu messen, da keiner die Motive des Andern völlig durchschauen kann, und da der Erfolg kein reiner Spiegel der Motive ist. Nur die sympathische Ahnung, die auf religiösem Glauben und Hoffnung beruht, kann sich der Verwirklichung des Gottesreiches in der gemeinsamen sittlichen Thätigkeit vergewissern. Dagegen der pietistische Sprachgebrauch, gewisse christliche Unternehmungen, wie Heidenmission empirisch als Reich Gottes zu bezeichnen. Vgl. Lebensbild von A. Knapp S. 291. „Diese Männer beriethen und besorgten in aller Verborgenheit die laufenden Angelegenheiten des Reiches Gottes.“ – Die Gerechtigkeit des Gottesreichs oder die religiöse Sittlichkeit des Christenthums hat durchaus positiven Charakter. Es handelt sich nicht blos um Bekämpfung und Ausrottung der Sünde, sondern um diese, vermittels der Durchführung des Princips des neuen Lebens. dikaiosúnh eÌv Ágiasmón Rom 6,19.22. Denn Christus will als Herr des göttlichen Reichs alles erfüllen und mit seinem Zwecke durchdringen (Eph. 1,23; 4,10). Gemäß der richterlich scheidenden Wirkung Christi ist dieser Gedanke nicht im Sinne einer Wiederbringung aller Dinge verständlich; vielmehr wird der Fortschritt des Gottesreichs in der Menschheitsgeschichte immer begleitet 3 Heilsgewißheit.] folgt als Hinweis auf die Fortsetzung Ms. B S. 65: 6. verte! 13 (Mth. 6,33)] Ms.: Mth. 6,33) 20–24 Dagegen … Gottes.“] am Rand; daneben die Ziffer 2 als Hinweis auf oben S. 80,8 24 Die] daneben am Rand die Ziffer 4. als Hinweis auf oben S. 80,10 28 f. dikaiosúnh … 6,19.22.] über der Zeile 33 Fortschritt] folgt <der Geschichte> 80,13 S. oben S. 46,19 22 Albert Knapp, Lebensbild 291
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und durchkreuzt durch die antichristliche Macht der Sünde. Es ist nun eine religiös-sittliche Aufgabe, Gestalt, Maaß und Ziele solcher Erscheinungen zu verstehen. Der Kosmos ist dazu bestimmt christianisirt zu werden; – der Kosmos kann Christus nicht aufnehmen. Schlimmere Formen des Antichristenthums und des Atheismus neben der fortschreitenden Vertiefung der christlichen Anschauung. So sehr nun der Pietismus dem Gedanken eines gegenwärtigen Anbaues des Reiches Gottes folgt, und im Allgemeinen mit unseren Grundsätzen übereinstimmt, so geneigt ist diese Richtung, aus gewissen Weltbewegungen immer wieder auf das Ende der Weltgeschichte, die Wiederkunft Christi etc. zu rechnen, weil man stets geneigt ist, die Welt in dem schärfern Sinne des Wortes aufzufassen; – und dies, weil man das Reich Gottes empirisch zu denken pflegt; – während der kirchliche Geist auf eine geschichtliche Lösung, Auseinandersetzung, Ueberwindung gewisser widersittlicher Bewegungen hoffen wird. Ein solcher Streit über die Zeichen der Zeit ist auch nur ein Merkmal einer Unfreiheit des religiös sittlichen Impulses im Pietismus. – Der ethische Gedanke des Reiches Gottes fehlt in der Orthodoxie beider Confessionen. Unter den Aemtern Christi kommt zwar bei beiden sein regnum in Betracht. Dies nun wird l u t h e r i s c h durchaus nicht als Motiv einer gemeinsamen verbreitenden und aufbauenden Thätigkeit benutzt; sondern wieder nur als Motiv des Trostes über die fortdauernde Schwachheit des Gläubigen im Kampf gegen die feindseligen regnum Christi spirituale [65] Weltmächte. Dem entspricht, daß auch schon das orthodoxe Lutherthum, nicht erst der Pietismus, eine blos negative, asketische Sittlichkeit vorzeichnet; Quenstedt: exercitium bonorum operum vocari potest militia christiana, weil man sich fortwährend des Teufels, der Welt und des Fleisches erwehren muß; Johann Arnd, wahres Christenthum fesselt die Anschauung immer am Anfangsmoment der Buße, und variirt immer die Gedanken, daß man den Sünden absterben müsse um Christo zu leben. Den Gedanken des Reiches Gottes erwähnt er nur einmal als Bezeichnung des individuellen Heilsgutes, nach der Identität von Rechtfertigung und Seligkeit; eine An4–7 Der … Anschauung.] am Rand 12–14 weil … pflegt; –] am Rand 13 dies,] über <weil> 17 Der] daneben am Rand die Ziffer 5 als Hinweis auf oben S. 80,11 24 regnum … spirituale] am Fuß der linken Spalte 32 des] folgt <su> 24 Apol. XVI,2; ed. Hase 215 (VIII 54); BSLK 307,48 27 Quenstedt, Theologia 4, 309 29 Johann Arndt, Vier Bücher vom wahren Christenthum Buch I Kap. 6: 1,52–60
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schauung positiver sittlicher Production schließt er aus, indem er die irdische Laufbahn als ein Fremdlingsleben nach Hebr. 11,13; 13,14 – bezeichnet. Calvin III,6.7 bestimmt die Aufgabe der Heiligkeit und Hineinbildung in Christus ohne den Begriff des Gottesreiches nur negativ: sich von Sünden reinhalten; sich selbst verläugnen. Er vermag aber den mäßigen Genuß der Güter auch der sinnlichen als Bestimmung des Menschen zu würdigen (cap. 10). Weiterhin erkennt auch Calvin den Begriff des regnum Christi spirituale an. Seine praktische Organisation schließt sich blos an das Verhältniß zwischen Kirche und Staat an, welches er aber nicht d o g m a t i s c h in den Begriff des Reiches Christi aufnimmt. – Gegen Schneckenburger. – Nur Zwingli sagt: regnum Christi est externum. Das Christenthum findet am Staat einen bestimmungsmäßigen gesetzlichen Organismus. Erst Spener hat ähnliche Motive dem Lutherthum zugänglich gemacht, zunächst in der Forderung evangelischer Vollkommenheit und in der Erweckung chiliastischer Hoffnungen auf Bekehrung der Juden, sittliche Vollkommenheit der christlichen Gemeinde. Seit Francke ist die Heidenmission die Gestalt in welcher die Pietisten mit Vorliebe und einem gewissen idealen Schwung das Reich Gottes anbauen, ferner eine Menge Werke christlicher Barmherzigkeit. Aber einen verkümmernden Einfluß übt ihre subjective Religiöse Methode und ihr geschichtlich beschränkter Blick. –
2 nach … 13,14 –] am Rand 2–12 Calvin … Organismus.] am Rand statt 4 f. reinhalten] korr. aus Reinhalten 14 auf] über der Zeile 2 Calvin, Institutio III 6 f., CR 30,501–514; ed. Barth 4,146–161 6 Calvin, Institutio III 10 „Quomodo utendum praesenti vita, eiusque adiumentis“, CR 30,528–532; ed. Barth 4,177–181 7 Genfer Katechismus I ed. Niemeyer 129; BSRK 120,14 f.; vgl. RuV 3,364 10 Nach Schneckenburger, Vergleichende Darstellung, bezieht die reformierte Theologie das königliche Amt Christi sowohl auf die Gnade als auch abgeleiteterweise auf die Tätigkeit der Christen in der Welt (137), indem die Weltgestaltung durch die Glaubenden dogmatisch ein Teil von Christi „eigener Königsherrschaft über die Welt ist“ (138). Nach lutherischer Lehre indes rufe der Gedanke an die Königsherrschaft Christi nur Geduld, Vertrauen und Trost hervor, nicht aber operative Tugenden (140). 10 Zwingli, Brief an Blaurer 4.5.1828, in: Werke edd. Schuler/Schultheß 8,174–184 (176); CR 96,451–467 (454,13–17) 12 Zu Spener s. Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,141 f. 16 Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,142 (ohne Nennung von Franckes Namen)
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Bengels apokalyptische Bestrebungen eignen der Theologie den praktischen Sinn des Begriffes zu, obgleich seine Schule nie die eschatologische Schale in das richtige Verhältniß zu dem ethischen Kern stellt. NB. Leibnitz, K a n t , Schleiermacher. Eine eigenthümliche Gestaltung des lutherischen Gesichtskreises vertritt der Herrnhutianismus, in Spangenberg, idea fidei fratrum. Hier fehlt sogar der Gedanke der Herrschaft Christi; sein Todesleiden gilt als das einzige Motiv der gesammten Frömmigkeit und Sittlichkeit (S. 159.350). Der heilige Geist hat nur die Bestimmung, daß durch ihn die Intuition des Leidens Christi und seiner versöhnenden Wirkung stetig und intensiv werde (S. 271 ff.); die Heiligung findet nur die Bestimmung, daß das in der Bekehrung dem Gläubigen aufgeprägte Bild Christi erhalten und ausgebildet werde (S. 309), und daß die Freundschaft mit Christus und die stille Fröhlichkeit im Umgang mit ihm, die die Traurigkeit ausschließt, erreicht werde (S. 373.375). Die positive Erfüllung der Gebote wird nur aus dem Privatverhältniß zu Gott und dem Heiland abgeleitet, aus der Dankbarkeit gegen die göttliche Gnade (S. 368), aus Rücksicht auf die Liebe, [66] die Gott in ihrer Aufstellung erwiesen hat und auf die Seligkeit, welche die Erfüllung bereitet (S. 363.364). Diese Vermischung der Frömmigkeit und Sittlichkeit rächt sich dann dadurch, daß in der Auslegung des Dekalog das Vertrauen gegen Gott als Gebot behandelt wird (S. 383) und daß das Gebet auf einen Befehl Gottes zurückgeführt wird (S. 405). – Der starke Einfluß herrnhutischer Muster im Kreise des Pietismus prägt demselben gegenwärtig vielfach jenen Charakter bloßer Religiosität auf, den Rothe für die Sache selbst hält. 1–4 Bengels … Schleiermacher.] am Rand 5 f. der … in] am Rand 8 (S. … 350).] am Rand 17 und] korr. aus (S 22 vielfach] am Rand 23 Rothe] folgt 23 für … hält.] im freien Teil der Zeile 1 Zu Bengel s. RuV 1,559–562 4 Zu Leibniz’ Lehre vom höchsten Gut s. Erdmann, Grundriß 2,167 f. 4 Zu Kant s. oben S. 80,8. 4 Schleiermacher, Der christliche Glaube (2. Auflage) § 112,4; KGA I/13.2,225,11–29 6 Spangenberg, Idea fidei fratrum 159.350 (§ 80.168) 8 Spangenberg, Idea fidei fratrum 271 f. (§ 135) 10 Spangenberg, Idea fidei fratrum 309 f. (§ 150) 12 Spangenberg, Idea fidei fratrum 373.375 (§ 178) 14 Spangenberg, Idea fidei fratrum 368 (§ 175) 16 Spangenberg, Idea fidei fratrum 363 f. (§ 173) 18 Spangenberg, Idea fidei fratrum 383 (§ 181) 20 Spangenberg, Idea fidei fratrum 405 (§ 193) 23 Rothe, Theologische Ethik 2,98 (§ 417 Anm.) „Der Conventikel ist die Geselligkeit als rein religiöse.“
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[41] F ü n f t e s C a p i t e l . D i e L i e b e z u G o t t u n d z u m Nächsten als der Inhalt des Gesetzes Christi.
§ 24. 20 B e g r i f f d e r L i e b e . Indem die theologische Darstellung der Lehre von den guten Werken eine 5 Mehrheit von Gründen dazu darbietet (§ 14) ohne daß wir sie bisher auf eine
Einheit zurückführen konnten, so müssen wir uns am Neuen Testament orientiren. Das göttliche Gesetz, nach dem die guten Werke gemessen werden, kann nur für ein bestimmtes Gemeinwesen gelten, und dies ist nach dem Neuen Testament das Reich Gottes; ein Gedanke, der trotz seiner hervorra10 genden Wichtigkeit gar nicht im Gebrauch der alten Theologie ist. Der sittliche Endzweck, das Reich Gottes, findet seine genauere Erklärung durch das Gesetz Christi. Denn man darf erwarten, daß die Bestimmung über die jener Gemeinschaft gemäße Verfahrungsweise die Art derselben deutlicher erkennen läßt. 15 Das Gesetz des Gottesreiches ist die Liebe gegen Gott, aus ganzem Herzen und die Liebe gegen den Nächsten 6v seautón (Mc. 12,28–33; cf. Joh. 13,34). cf. Rom. 13,10; Jak. 2,8; 1 Joh. 2,8 Lc. 10,29 ff. Abstand vom Alten Testament. – vom Hellenismus 20 Antiochos von Ascalon 1 Fünftes] über dazu am Rand NB.!! 3 § 24.] am Rand statt 4–10 Indem … ist.] am rechten Rand in ganzer Länge eingeklammert 9 f. ein … ist.] in eckigen Klammern 11–14 Der … läßt.] am Rand 12 Christi.] folgt <Sonst ist> 16 Mc. 12,28–33] korr. aus Mt 22,39 18 cf. … 10,29 ff.] am Rand 18 Lc. 10,29 ff.] später angefügt 19–21 Abstand … Ascalon] am Rand 1 Was jetzt als Fünftes Capitel mit § 24–27 an dieser Stelle steht, war ursprünglich (Ms. B*) „Drittes Capitel“ mit § 17–20. S. oben S. 57,1. – Zum V. Kapitel im Ganzen gehören die Auszüge aus Thomas von Aquino, Summa theologiae pars secunda secundae mit den Stellen über die Liebe zu Gott und zum Nächsten, die Ritschl auf dem hier eingelegten besonderen Blatt (S. 43 a.b) exzerpiert hat (s. unten S. 214). 3 § 24 war ursprünglich (Ms. B*) § 17 5 S. oben S. 46,19 21 Antiochos von Askalon Begründer der sog. Fünften Akademie, war in Athen der Lehrer Ciceros. Auf dem eingelegten Blatt S. 43 c.d notierte Ritschl aus: Jacob Bernays „Theophrastos’ Schrift über Frömmigkeit“ S. 101 f. die folgenden Sätze, die der Stel-
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Der nächste Anschein des Ausspruches Christi ist der, daß darin zwei neben einander stehende Verfahrungsarten vorgeschrieben werden. Ferner scheint es, als ob zwar die Liebe zu Gott die Aufopferung jedes selbstischen Triebes einschlösse, daß aber die Liebe des Nächsten ihr Maaß an der vorausgesetzten und gestatteten Selbstliebe hätte. Um dies zu entscheiden ist der allgemeine Begriff der Liebe festzustellen. Liebe ist eine eigenthümliche Art des durch das Gefühl für den Werth Anderer vermittelten Willens, und zwar ist derselbe als Liebe immer nur auf andere gleichgeartete Wesen gerichtet. Derjenige Wille aber, der die wechselnden und zufälligen Interessen des Andern fördert, ist noch nicht Liebe, sondern erst wenn das Interesse an dem erkannten eigenthümlichen Selbstzweck des Andern den Willen leitet. Dies Interesse muß aber in stetiger, ununterbrochener, nicht in wechselnder, launischer, abrupter Weise aufgefaßt sein. Demnach ist Liebe derjenige Wille, welcher den Selbstzweck eines andern gleichgearteten Wesens so erstrebt, daß derselbe als Moment des eigenen Selbstzwecks aufgefaßt wird. Das positive Verhalten zum eignen Selbstzweck ist in der Liebe ebenso nothwendig, wie überhaupt der Wille eine in sich zurückkehrende Reflexbewegung ist. Auch in der Liebe zu Gott ist diese Bedingung unumgänglich. Widersinnig ist die quietistische Forderung Fénélons, Lodensteyn.
6 f. durch … vermittelten] am Rand 12 launischer,] korr, aus Lau 20 Lodensteyn.] am Rand lung von Antiochos im Rahmen des hellenistischen Universalismus gewidmet sind: „Der Werth dieses Universalismus wird dadurch verringert, daß der Peripatetiker [Theophrast] die Grenze zwischen Menschheit und Thierreich verwischt. Diese wird von den Stoikern scharf eingehalten, aber deren Gedanke von der Einheit der Menschen wird nicht durch die Macht der Liebe, sondern durch die Beherrschung des Weltstaats – Götter und Menschen – durch einheitliche und unerbittliche Gesetze ausgedrückt; sie erweitern nicht das Gefühl für die Familie zum Gefühl für die Menschheit, sondern ersticken jenes durch dieses (S. 101). Beide Systeme [43 d] verschmolzen durch A n t i o c h u s von Askalon dem Lehrer Cicero’s, bei demselben de finibus 5,23,65: In omni honesto, de quo loquimur, nihil est tam illustre, nec quod latius pateat, quam coniunctio inter homines hominum et quasi quaedam societas et communicatio utilitatum et ipsa caritas generis humani, quae nata a primo satu, quo a procreatoribus nati diliguntur et tota domus coniugio et stirpe coniungitur, serpit sensim foras, cognationibus primum, tum adfinitatibus, deinde amicitiis, post vicinitatibus, tum civibus et iis, qui publice socii atque amici sunt, deinde totius complexu gentis humanae.“ – Cicero, De finibus bonorum et malorum 5,23,65, ed. Schiche 188,22–189,1. – Vgl. auch das erweiterte Zitat aus Cicero in: Ritschl, Unterricht in der christlichen Religion § 10 Anm. b (1. Aufl. 1875) 8; ed. Axt–Piscalar 20.126 19 Zu Fénélons s. Feuerlein, Die Sittenlehre 112 f. 20 Zu Lodensteyn s. GdP 1,155.169 f.
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daß die Liebe zu Gott eventualiter von der Seligkeit absehen müsse. Denn dieses Gefühl ist die nothwendige Begleiterin der Liebe zu Gott, weil diese mit dem Gedanken correlat [42] ist, daß Gott den höchsten denkbaren Werth für den Menschen hat, dieser aber den Willen nur so in Bewegung setzt, wie dieser Werth in dem Lustgefühl anerkannt wird. Auch das Neue Testament gebietet nicht etwa eine formale Selbstlosigkeit in der Liebe. Vielmehr wird wer sein Leben um Christi willen aufopfert es wiedergewinnen (Mc. 8,35; Joh. 12,25), also ist jene Forderung nur unter Bedingung dieser Absicht gemeint. Nur auf eine Menge möglicher Zwecke soll man aus Liebe zu Christus verzichten, die jeweilig den Selbstzweck erfüllen, aber anstatt ihrer soll eben das Interesse an dem Selbstzweck Jesu diesen erfüllen. Auch die freiwillige Aufopferung Christi aus Gehorsam gegen Gott schließt keine formale Selbstlosigkeit in sich, sondern die Absicht auf die eigne Verklärung (Joh. 10,17; 17,4:5). D. h. Christus erstrebt auch in der vollsten Realisirung seiner Liebe gegen Gott und Menschen diejenige Ausgestaltung seines Selbstzwecks, zu welcher er in seinem Verhältniß zu Gott Anlage und. Bestimmung in sich trug. Indem nun die gebotene Nächstenliebe ihr Maaß an dem 6v seautòn sc. Àgapâv findet (Eph. 5,28), so braucht diese Selbstliebe gar nicht nothwendig als Egoismus gedacht zu werden. Vielmehr steht die Erklärung Christi auf einem anderen Felde, als das argumentum ad hominem in der Erklärung der Gerechtigkeit (Mth. 7,12). Dort bezeichnet die Selbstliebe nicht den Widerspruch gegen die Interessen d|es Anderen, den unmoralischen Egoismus, sondern die reine Form der Willensbewegung, sofern in ihr immer das Selbst als Zweck feststeht, und der Wille, indem er daraus hervorgeht, auch in dasselbe zurückkehren muß. – Die Liebe ist dem Umfang der Bethätigung nach das höchste denkbare s u b j e c t i v e sittliche Princip. Es ist der Ausdruck der gebildeten sittlichen Selbständigkeit, welche 2 diese] korr. aus sie 3–5 mit … wird.] am Rand statt <der Reflex der auf Gott [42] gerichteten Liebe in der Selbstempfindung ist.> 4 hat,] folgt 6 Liebe.] korr. aus Liebe zu Christus. 6 f. Vielmehr] korr. aus Sie 7 aufopfert] Ms.: aufopfern 9 f. aus … verzichten] umgestellt aus verzichten aus Liebe zu Christus 18 braucht] über 19 gedacht zu werden] über 21 Mth.] korr. aus Mthh. 25 muß. –] folgt (vor der Streichung in eckige Klammern gesetzt) 25 Die] korr. aus 1. ist die 25 ist] über der Zeile 26 subjective] am Rand 27 der gebildeten] der über <einer>
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die Stetigkeit des Charakters erreicht hat, und zugleich der Grund der umfassendsten sittlichen Gemeinschaft mit allen Gleichartigen, des Gottesreichs. Sie ist der Grund des G u t e n , als des gemeinsamen Uebernatürlichen; sie fordert eine Erkenntnis des W a h r e n im Allgemeinen und Besondern als ihr Mittel; die aus ihr hervorgehenden Handlungen stellen in ihrer 5 Congruenz mit der Idee das s i t t l i c h S c h ö n e dar (Trendelenburg Naturrecht S. 48).
[43] § 25. 21 D i e L i e b e z u m N ä c h s t e n u n d z u m F e i n d e . Der Begriff des Nächsten ist in der zu Grunde liegenden Stelle Lev. 19,18 auf die Volksgenossen beschränkt; aber im Sinne Christi jedenfalls auf alle 10 Menschen erweitert, ohne daß Volksthum oder Religionsgemeinschaft Schranken setzen (Luc. 10,29 ff.; cf. Gal. 3,28; Kol. 3,11). Die gebotene Nächstenliebe ist also allgemeine Menschenliebe, ein Princip des gemeinschaftlichen Handelns, das der antiken Welt fehlt. Der Begriff steht über dem natürlichen Mitleid. Denn der Nächste als Gegenstand der Liebe ist 15 der, welcher als Glied der sittlichen Gemeinschaft vorgestellt ist, dessen Wohl und Tugend zu fördern, meine Pflicht und Lust ist. Das Mitleid richtet sich auf die leidende Naturgröße, und das Motiv desselben ist die Unlust an der Wahrnehmung des Leidens des Andern, welche auf ihre Aufhebung hindrängt. Deßhalb ist das Mitleid an sich weder gut noch böse, aber 20 3–7 Sie … S. 48).] am Rand statt (vor der Streichung in eckige Klammern gesetzt) folgt im freien Teil der Zeile und am Rand (vor der Streichung in eckige Klammern gesetzt) 3 gemeinsamen] über der Zeile 8 § 25.] am Rand statt 14–89,9 Der … schuldig.] am Rand 14 steht] folgt 17 Wohl und] über der Zeile 17 meine] korr. aus mein 17 Pflicht … Lust] über 19 welche] korr. aus welches 6 Trendelenburg, Naturrecht 47 f. 8 § 25 war ursprünglich (Ms. B*) § 18.
§ 25 Liebe zum Nächsten
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es kann im Vergleich mit allgemeinen Zwecken ebenso leicht unmoralisch sein als moralisch. Die allgemeine Menschenliebe als Gesinnung ist nicht erst dann vorhanden, wenn ich alle einzelnen Menschen kenne oder vorstellen kann, sondern ist schon vorhanden, wo nur die Vorstellung der Analogie über die Beurtheilung des nächsten, besondern Lebenskreises hinausführt. Die Stellung des Nächsten, also die Gleichstellung mit dem Familienglied, mit dem Standes- und Volksgenossen, kommt mir gegenüber jedem zu, der überhaupt mit mir in gesellschaftlichen Verkehr tritt, und gegen jeden so mir gegenübergestellten Menschen bin ich die Liebe schuldig. Innerhalb dieses Umkreises wird nun im Neuen Testament noch die B r u d e r l i e b e unterschieden, die dem gewöhnlichen regelmäßigen Verkehr entspricht, den die Christen mit ihres Gleichen hegen (1 Petr. 1,22; Hebr. 13,1; 1 Thess. 4,9; Rom 12,10; 2 Petr. 1,7; 1 Joh.). Es wird sich fragen, ob blos äuß|ere Zweckmäßigkeit und Möglichkeit den Anlaß zu dieser Specialisirung giebt, oder ob ein innerer Grund für die Abstufung Gal. 6,10 wirksam ist. Als das Maaß für die Bruderliebe ist die charakteristische Äußerung Christi über die Versöhnlichkeit zu beachten (Mth. 5,23.24), daß man aus Liebe zum Bruder die Schuld einer Spannung und Entfernung auf sich zu nehmen habe, ohne die Anlässe dazu zu erörtern. Die F e i n d e s l i e b e (Mth. 5,44.45; Luc. 6,35; Rom. 12,20) ist die specifische Probe für den Umfang und die Qualität der allgemeinen Menschenliebe. Denn die Liebe, welche sich nur nach der Gegenliebe richtet, welche auch Sündern möglich ist, ist nur das möglicherweise egoistische, dem Geselligkeitstriebe entsprechende Wohlwollen, welches noch nicht die Stufe der sittlichen Charakterbildung erreicht hat. Die Feindesliebe hebt das Verhältniß zu dem Verfolger über die Sphäre des Rechtes hinaus, welches indem es die Einzelzwecke schützt und ordnet, möglicherweise auch egoistische Zwecksetzungen wahrt und berechtigt. Die Feindesliebe also, die auf die rechtliche Messung des bestehenden Verhältnisses verzichtet, ist sie Probe dafür, daß die Liebe mehr ist, als das natürliche [44] Wohlwollen, das regelmäßig so weit reicht, bis eine Verletzung uns an unser Recht erinnert. Indessen beschränkt Christus die Bethätigung der Liebe gegen die Feinde in eigenthümlicher Weise; die positive Bethätigung der Liebe gegen den Feind soll nur bestehen in dem Segenswunsch und der Fürbitte für ihn, nämlich zum Zweck seiner sittlichen Besserung, und in der Darreichung der gewöhnlichen Mittel der Selbsterhaltung (Mth. 5,44; Rom. 12,20). Dagegen fordert das Gebot nichts weniger als die Anerkennung und Unterstützung derjenigen Zwecke 22 Gegenliebe] korr. aus Gegenlieben 32 Weise;] folgt 33 soll] über der Zeile 36 fordert] über
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des Gegners, wegen deren er uns feind ist; der Selbstzweck des Feindes, soweit er nicht auf Lebenserhaltung beschränkt ist, wird also in der Feindesliebe nur als hypothetisch guter, vermittels der Hoffnung auf zukünftige Änderung seiner Zwecke, in meinen persönlichen Selbstzweck aufgenommen. Persönliche Achtung als Bedingung der Liebe Rom. 12,10. Katholi- 5 sche Liebe gegen die Ketzer. NB. Versöhnlichkeit gegen Brüder und Feindesliebe im Grunde die identische Gesinnung, aber abgestuftes Verfahren, je nach Vorhandensein von Versöhnlichkeit bei dem Andern, oder nicht.
§ 26. 22 D i e L i e b e z u G o t t .
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Wie die Liebe zum Nächsten in einzelnen pflichtmäßigen Handlungen ihre Erscheinung findet, so scheint auch das Gebot der Liebe zu Gott als Grund einer eigenthümlichen Art pflichtmäßiger Handlungen gedeutet werden zu müssen. D. h. es scheint, als ob das Gebiet der Cultushandlungen neben das der sittlichen gestellt werden soll. Diese Ansicht hat den Pharisäismus (Mc. 15 7,11. Mth. 23,23) weiter dahin geführt, wegen des Vorzuges Gottes vor den Menschen die Verpflichtung zu den Cultushandlungen für stärker zu erklären als die zu den sittlichen Leistungen. Freilich liegt das Gegentheil davon in den Worten Christi Mth. 5,23.24; Mc. 2,27.28. Aber hiemit ist noch immer offengelassen, daß die Cultushandlungen den sittlichen der Art nach 20 coordinirt sind, obgleich zu beachten ist, daß dann stets die Consequenz zu der Ueberordnung jener über diese drängen wird. Der Katholizismus tritt dem insoweit grundsätzlich bei, als die Contemplation, die intellectuelle Liebe doch auch nur cultisch und nicht ethisch ist. Allein eine andere Auskunft ertheilt Johannes im ersten Brief. Sofern die Liebe zu Gott unsere Liebe zu 25 den Brüdern begründet (4,11.12), so wird der unsichtbare Gott nicht geliebt, wenn die Liebe dem sichtbaren Bruder versagt wird (Vers 19.20). Deßhalb findet unsere schuldige Liebe gegen Gott ihre Erscheinung und Ver3 vermittels] korr. aus vermittelst 4 in] folgt <den> 5 f. Persönliche … Ketzer.] am Rand 7–9 NB. … nicht.] am Rand 10 § 26.] am Rand statt 15 Diese] folgt 15 f. (Mc. … 23,23)] am Rand statt 17 den] korr. aus dem 19 2,27.28.] Ms.: 2,27.28; korr. aus 2,27.28. am Rand folgt 22–24 Der … ist.] am Rand 10 § 26 war ursprünglich (Ms. B*) § 19.
§ 26 Liebe zu Gott
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wirklichung in der Liebe gegen die Brüder, und die Erweisung der Bruderliebe ist zugleich der Beweis der vollen Gemeinschaft Gottes mit uns (Vers 11.12). Also besteht die Liebe gegen Gott [45] in der Beoabachtung seiner Gebote (5,3) der Hauptinhalt sittlicher Art derselben ist aber die Liebe gegen den Nächsten (3,23). Der von Johannes befolgte Maaßstab ist der, daß sichtbare Handlungen als solche nicht an den unsichtbaren Gott hinanreichen; sofern also die Liebe gegen Gott f o r m e l l von der gegen die Menschen unterschieden werden soll, so kann sie nur in dem innern, noch nicht sichtbaren Willensverlaufe, in den Gesinnungen des Gehorsams, der Ehrfurcht und Demuth gegen Gott nachgewiesen werden, in denen auch die specifische Unterordnung des Menschen gegen Gott ausgedrückt wird, die Gottes Erhabenheit fordert, neben der Gleichartigkeit die uns möglich macht ihn zu lieben. Demnach kann auch Christus als der unsichtbar gewordene Herr nicht Gegenstand einer b e s o n d e r n Liebesäußerung sein, sondern nur Gegenstand der ehrfürchtigen, demüthigen und gehorsamen Gesinnung sein. Zwar hat Christus seine Jünger als Freunde, nicht mehr Knechte, bezeichnet, weil er ihnen den ganzen Willen Gottes anvertraut habe, und unter der Bedingung, daß sie ihn beobachten (Joh. 15,14.15). Allein daraus ist kein Recht zu einer Vertraulichkeit gegen den H e r r n Christus abzuleiten, wie sie in der herrnhutischen Manier des Seelenverkehres mit Christus erkünstelt wird. Dem entspricht bei Zinzendorf die vorherrschende Betonung der Menschlichkeit Christi, und allerdings verletzt die herrnhutische Cordialität und Zärtlichkeit gegen Christus die Idee seiner Gottheit. Die Freundschaftserklärung eines höherstehenden Menschen berechtigt nicht zur Erwiederung dieses Verhältnisses schon nach dem natürlichen Anstandsgefiihl, und die Apostel nennen sich stets doûlov )Ihsoû Cristoû. NB. Die Deckung zwischen Gottes- und Menschenliebe in Hinsicht der Erscheinung folgt daraus, daß das Gottesreich die Erfüllung des göttlichen Selbstzweckes ist. Die Liebe zu Gott aus allen Kräften bedeutet nicht blos den quantitativen Abstand Gottes gegen mich, sondern auch den des Reiches Gottes gegen mich. Liebe gegen Gott und Christus ist das Stichwort aller Mystiker, weil sie beide nicht in der Wechselbeziehung zwischen uns und der Welt suchen, wo durch ihre leitende Stellung der Glaube an sie angezeigt ist. In allem kirchlich gemeinschaftlichen Christenthum hat diese Instanz ihr unveräußerliches Recht. – Sentimentalität des HohenLieds.
20 sie] korr. aus es 21–24 Dem … Gottheit.] am Rand 28–37 NB. … HohenLieds.] am Rand 35 durch … Stellung] über der Zeile
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§ 27. 23 D i e G e s e t z g e b u n g C h r i s t i . Dekalog: A c h t u n g des Nächsten, neutral gegen die Gemeinschaft; man kann achten ohne zu suchen. Indem Christus das Gebot der Liebe gegen Gott und Nächsten ausspricht, so will er damit nur auf das Gesetz des Mose zurückgreifen. Aber da er den Sinn der Nächstenliebe erweitert, und die Gebote, welche dort als einzelne neben anderen stehen, als Hauptgebote auszeichnet, so stellt er sein Gesetz zugleich in Identität und in Gegensatz gegen das mosaische. Beide Beziehungen werden durch die Bergpredigt erläutert, und zugleich warum Jesus kein systematisches Gesetz wie Mose gegeben hat. Ferner wird sich ergeben, in welchem Sinne die von Christus specialisirten Lebensregeln ausführbar sind. – Indem Christus erklärt, das Gesetz nicht auflösen sondern es erfüllen zu wollen, verfährt er im Allgemeinen so wie mit dem mosaischen Gebot der Liebe. Allein in den Proben der plärwsiv (Mth. 5,21 ff) [46] tritt neben den Steigerungen der Pflichten auch manche Ueberschreitung und Beseitigung mosaischer Satzungen auf, und es frägt sich, ob die einzelnen Umdeutungen der mosaischen Gebote das mosaische Gesetz wirklich unversehrt lassen. Mth. 5,17 ist nicht die Rede vom mosaischen Gesetz allein, sondern von der Einheit: Gesetz und Propheten, also von einer Größe, die nicht blos durch Moses sondern auch durch die Propheten vertreten ist, sofern dieselben die Gesetzgebung fortsetzen. Jene Größe ist ferner als das Maaß der sittlichen freipersönlichen Gerechtigkeit (Vers 20) gemeint. Indem also nicht mehr der historische Titel der Heiligkeit aufgefaßt ist, ist die Scheidung des sittlichen von dem ceremoniellen Stoffe vorausgesetzt, und weder nehmen die folgenden Erörterungen auf Ceremonialgebote Rücksicht, noch haben die einleitenden Sätze solche im Sinne. Ferner bezieht sich die conservative Tendenz Christi ausgesprochenermaßen und sachlich nur auf die Gesetzgebung im Ganzen, so wie sie durch die Tendenz der Gerechtigkeit, die Christus festhält, bezeichnet ist; dagegen finden Aufhebungen im Einzelnen statt, sofern ja die Unvollkommenheit der frühern Stufe des Gesetzes darin bestehen muß, daß einzelne Satzungen dem Princip nicht entsprechen. – Der Zusammenhang von 5,21 hat nicht den Sinn die christliche Moralität der pharisäischen Legalität gegenüberzustellen; denn Vers 20 gesteht auch nicht den
1 § 27.] am Rand statt 13 Allgemeinen] folgt <dem am> 24 Stoffe] korr. aus Stoffes 32 5,21] folgt 1 § 27 war ursprünglich (Ms. B*) § 20. 4 Mt 22,37–39 12 Mt 5,17
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§ 27 Gesetzgebung Christi
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Pharisäern Legalität zu, da sie Christus sonst nur als Heuchler bezeichnet; sondern es handelt sich um Proben der Gesetzvollendung im Gegensatz gegen die theils unvollständigen, theils unrichtigen Ordnungen der alten Zeit, mögen dieselben mit den Worten des Moses allein, oder mit pharisäischen Ergänzungen angeführt werden. Die Unvollkommenheit besteht aber in der Vermischung des sittlichen mit dem rechtlichen Gesichtspunkt, deshalb in der statutarischen Gestalt, endlich in der damit zusammenhängenden Rücksichtnahme auf die Sünde. Mc. 10,2–9 Dagegen gilt die Gesetzgebung Christi für das Reich Gottes; dies aber ist gedacht als unäbhängig von nationalen Schranken und eximirt von der Habitualität der Sünde. Die einzelnen von Christus aufgestellten Gebote sind nun so hoch gehalten, und stechen so bedeutend von der durchgängigen Praxis des christlichen Lebens ab, daß die Frage erhoben werden muß, ob sie überhaupt, oder wie sie zur praktischen Ausführung bestimmt sind. – Praxis des heiligen Franz und der Wiedertäufer. Freilich bestimmte Gebote rechnen doch auf be[47]stimmte Handlungen, und so steht im Allgemeinen gewiß die Absicht Christi auf die Erfüllung seiner Anforderungen fest. Aber es kommt darauf an, daß das Lebensgebiet, welchem die Gebote gelten, seine bestimmten Grenzen hat. Grundsatz und Pflichtvorschrift So lange das Reich Gottes noch nicht die Lebensverhältnisse der Menschen ausschließlich beherrscht, so lange haben die Gebote Christi nur eine gebrochene Anwendbarkeit. Indem das mosaische Verbot des Tödtens zum Verbot des Scheltworts gegen den B r u d e r und zum Gebot der unbedingten Versöhnlichkeit mit dem B r u d e r erweitert wird, gilt dies wörtlich für den Verkehr unter den Genossen des Gottesreiches, denjenigen die über ihre sittlichen Grundsätze einverstanden sind. Wo dies nicht der Fall ist, ist Zorn Scheltwort und Bewahrung der eigenen persönlichen Ehre gegen den Unversöhnlichen in der Ordnung. Dem entspricht auch das Verfahren Christi und der Apostel. Vgl. Mc. 3,5; Eph. 4,26. – Mth. 23,17.19; Gal. 3,1; Jak. 2,20. – 6 f. deshalb … in] am Rand statt 9 Mc. 10,2–9] am Rand 15 oder … sie] am Rand 16 Praxis … Wiedertäufer.] am Rand 20 seine] folgt 21 Grundsatz … Pflichtvorschrift] zwischen dem ursprünglichen Text und dem Zusatz am Rand (unten S. 94,1–14) nachträglich eingefügt 22–24 So … Anwendbarkeit.] in eckigen Klammern 26 wörtlich] korr. aus Wörtlich 16 Zu heiligen Franz vgl. GdP 1,15 16 Zu Wiedertäufer vgl. GdP 1,22
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Mth. 12,34; 23,33; 7,6; 15,26; Phil. 3,2. – Joh. 8,44. Die A f f e c t e , acute Momente des Gefühls der Unlust, Äußerungen des Triebes der Selbsterhaltung gegen eintretende Hemmungen, Zorn, Furcht, Mitleid, Eifersucht, erscheinen als sittlich unberechtigt, worin die christliche Ethik mit der stoischen verwandt ist. Als Temperamentsart ist die phlegmatische Natur ebenso zur Sünde der Trägheit disponirt, wie die cholerische zur Uebertretung. Die sittliche Erziehung des phlegmatischen Naturells hat vielleicht weniger Schwierigkeiten zu überwinden, aber nur eine affectvolle Natur hat als Charakter eigenthümlich sittlich verbreitende und anziehende Kraft. Die Affecte sind berechtigt, wenn sie von der Richtung des Willens auf den guten Endzweck beherrscht sind, wenn ihre Äußerung quantitativ verkürzt und jede verletzende Erscheinung, jede Häßlichlichkeit von ihnen entfernt wird. Dann wird der Zorn edel, die Furcht Vorsicht oder Gewissenhaftigkeit, das Mitleid Güte, die Eifersucht Wetteifern im Guten. – (Trendelenburg, Naturrecht 48.) Gerade die Liebe als Gesammtlebensrichtung ruft den rechten Zorn gegen Unwahrhaftigkeit und Gottlosigkeit hervor, und giebt deshalb auch zu zornigen Scheltworten das Recht. Aber freilich ist dabei nach Mc. 3,5 zu beachten, daß der gerechte Zorn von Mitleid und dem Wunsche nach Besserung des Objectes begleitet ist. Die Erklärung Christi über Ehescheidung ist Mth. 5,31.32 nicht ursprünglich und die Gestattung derselben unter Bedingung des Ehebruchs ist im Vergleich mit Mc. 10,11.12 nicht authentisch. Wenn also die Version der Rede bei Mth. 19,9, welche Scheidung unter Bedingung des Ehebruchs und Wiederverheirathung des geschiedenen Theiles gestattet, in der frühsten christlichen Tradition aufkam, so erklärt sich diese Milderung aus der Rücksichtnahme auf faktische Zustände unter den Christen. In gleicher Weise können dann aber nach sittlicher und socialer Zweckmäßigkeit auch andere Ehescheidungsgründe gestattet werden, ebenso wie jener bei Matthäus gestattete zurückgenommen werden kann. (1 Kor. 7,15 gilt nicht der böslichen Verlassung überhaupt, sondern der in Ehen zwischen Heiden und Christen). Das Verbot des E i d e s durch Christus ist ganz allgemein, und nicht blos gegen willkürliche Beschwörungen gerichtet, mit Vorbehalt der öffentlich gebotenen Eide. Ausnahmen: Mth. 26,63 (Mc.14,61.62 nicht); Hebr. 6,16; – Rom. 1,9; 2 Kor. 1,23; Phil. 1,8; 1 Thess. 2,5.10. Jedenfalls ist in der Staatsgemeinschaft, in welche noch der Bestand der Sünde [48] hineinreicht, der Eid unumgänglich, und auch für den Christen Pflicht. Das Verbot, sein Recht gegen einen Gegner zu suchen, ist nothw|endige Folge des Princips 1–14 Die … 48.)] am Rand 2 Äußerungen] über 9 sittlich] über der Zeile 15–17 Gerade … Recht.] in eckigen Klammern 14 Trendelenburg, Naturrecht 48 f.
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der Liebe. Aber schon Paulus gesteht im concreten Falle zu, daß Besitzstreitigkeiten unter Christen vor ein Schiedsgericht von Christen zu bringen sind. Vgl. 1 Kor. 6,5–7; – Joh. 18,22.23; Act. 23,2.3; 16,37; 22,25; 25,9.10. Wo es sich um rein individuelles Recht handelt, gegenüber von Gleichgesinnten, ist 5 Verzicht geboten; aber wo der sittliche Beruf der Person einerseits und habituelle Sünde andererseits concurriren, tritt das Recht in seine Wirksamkeit. Ueberhaupt faßt Mth. 18,15–18 den Fall auf, daß das Bruderverhältniß zwischen Zweien nicht mehr möglich ist, und gestattet unter bestimmten Bedingungen Dispensation davon, also Dispensation von der reinen Liebespflicht. 10 (Weiß, Die Gesetzesauslegung Christi in der Bergpredigt. Studien und Kritiken 1858. Heft 1). Also keine statutarischen Gebote für den einzelnen Fall, sondern Grundsätze, deren Anwendbarkeit im einzelnen Fall ein besonderes Urtheil erfordert. Das Ganze als Regel der Gesinnung, d. h. kein statutarisches sondern ein Gesetz der Freiheit, dessen Grundtypus die persönliche Ge15 sinnung Jesu Christi ist.
[66] S e c h s t e s C a p i t e l . D i e c h r i s t l i c h e F a m i l i e und Freundschaft.
§ 28. 24 D i e E h e . Das Reich Gottes wird als allumfassende sittliche Aufgabe nicht jenseits der besonderen sittlichen Gemeinschaften gelöst, sondern gerade innerhalb des natürlichen Wohlwollens. Auf dem Gebiete des Sittlich Guten ist auch der Theil, die Einzelpersönlichkeit und die engeren besonderen Gemeinschaften, Ganzes, 1. weil beim Guten der Wille ganz ist, 2. weil die besonderen Gemeinschaften nur insofern Güter sind, als sie von dem höchsten Gute durchdrungen, ihm absicht25 lich untergeordnet sind, 3. weil in dem Zusammenhang des sittlichen Handelns nicht blos alles Einzelne und Besondere Mittel des Ganzen und Allgemeinen ist, sondern auch umgekehrt. Wenn das Gottesreich überall da verwirklicht wird, wo die Liebe das Recht 30 zum Mittel herabsetzt, so ist die Familie in ihrer Grundform der Ehe d i e 20
4 gegenüber … Gleichgesinnten,] am Rand 11–15 Also … ist.] am Rand 16 christliche] in eckigen Klammern (roter Farbstift) 19–28 Das … umgekehrt.] am Rand 30 die … Grundform] über der Zeile 10 Weiß, Die Gesetzesauslegung Christi
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Form sittlicher Gemeinschaft, welche die nächste Analogie zum Gottesreich hat, und deßhalb auch am leichtesten mit dem bewußten Zweck des Gottesreiches durchdrungen werden kann. Jene Analogie betrifft aber auch die Bestimmung des Gottesreiches, das ganze Menschengeschlecht trotz aller übrigen physischen und socialen Unterschiede zur sittlichen Einheit zusammenzufassen; denn die verschiedenen Geschlechter, die in der Ehe einen sittlichen Bund eingehen, bilden die äußersten Gegensätze, in welche das Menschengeschlecht auseinandergeht. Als Grund der Familie, durch die Erziehung, ist ferner die Ehe Wurzel aller sittlichen Gemeinschaft, auch zur Fortpflanzung und Ausbreitung des Gottesreichs. Die Ehe hat also ihren sittlichen Werth nicht erst durchs Christenthum empfangen. Demgemäß haben Christus und die Apostel auch nur die Alttestamentliche Auffassung der Ehe anerkennen und auslegen können (Mc. 10,7.8 cf. Gen 2,24; Eph. 5,31). Die Ehe bei den Propheten das Bild der Gemeinschaft Gottes und des zum Gottesreich erwählten Volkes. Mann und Weib sind in der Ehe Ein Fleisch, d. h. E i n e s i t t l i c h e P e r s o n , weil sie Träger Eines in Beiden identischen Selbstzweckes sind. Dazu dient auch die copula carnalis, in welcher jeder Rückhalt aufgegeben wird, und welche durch die Schamhaftigkeit und durch die monogamische Ausschließlichkeit idealisirt, das heißt zur Wirkung wie zum Anlaß der sittlichen Gemeinschaft ausgeprägt wird. In diesem Gedanken ist also d e r Begriff der Liebe schon ausgedrückt, der als Grundgesetz des Gottesreichs auf das Verhältniß aller Menschen zu einander ausgedehnt wird. Gegen diese Deutung könnte eingewendet werden, daß die gegenseitige Liebe der Ehegatten nur den steten Austausch ihrer beiderseitigen Selbstzwecke, nicht aber deren Aufhebung in eine Einheit begründe. Zur Beleuchtung dieser Frage dient es, wie die Apostel dem Mann die Liebe gegen das Weib, dem Weib den Gehorsam gegen den Mann vorschreiben (Kol. 3,18.19; Eph. 5,22–28; 1 Petr. 3,1.7); in Folge dessen der Mann als Haupt des Weibes gilt (Eph. 5,23; 1 Kor. 11,7–9), [67] wie Christus als das der Gemeinde. Hiemit ist wenigstens die Einheit des Selbstzwecks im ehelichen Verhältniß gefordert. In der Liebe des Mannes zum Weibe liegt nothwendig die Anerkennung von deren Ebenbürtigkeit (1 Petr. 3,7). Die Liebe des Weibes zum Mann wird aber geleitet durch das Bewußtsein von der Ungleichheit der Naturen, und von der Nothwendigkeit der 15 f. Die … Volkes.] am Rand 19–22 Dazu … wird.] am Rand 28 dieser] korr. aus dieses 28 wie] folgt <Paulus> 15 Vgl. Ez 16; Hos 2; Mal 2,11
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Unterordnung. Aber dies geschieht, indem nicht das Weib sich zum Mittel des Zweckes des Mannes hergiebt, den sie als einzelnes Subject neben sieh sähe, sondern so, daß sie ihn als Träger des gemeinsamen Verhältnisses achtet. Deßhalb darf auch nicht etwa der Mann auf die weibliche Anschauung der Ungleichheit zwischen beiden eingehen, ohne das Verhältniß zu vernichten. Daß dies normal ist, ist im Unterschied der psychologisch-ethischen Anlage der Geschlechter begründet. Der Wille des Weibes ist stets durch das Gefühl beherrscht und durch die Sitte gebunden. Sittliche Zweckgedanken wirken auf jenen regelmäßig nur durch diese Medien. Der Wille des Mannes ist zwar auch in unzähligen Fällen hiedurch bestimmt, aber nicht nothwendig; sondern seine sittlichen Absichten, Vorsätze, Entschlüsse richten sich eventuell gegen die regelmäßigen Eindrücke seines Gefühls und unabhängig von den sich wiederholenden oder regelmäßigen Zwecken, die die Sitte in sich schließt. Dies gewährleistet die universelle Art des männlichen Willens, erklärt aber auch gerade die Unterordnung des Weibes aus der Rücksicht auf die sittlich normale Ergänzung ihrer Anlage, die dem Manne vergolten wird durch die Sicherheit des sittlichen Taktes und die Mäßigung, welche die Betonung der Sitte der Handlungsweise des Mannes verleiht. – Die richtige von dem christlichen Glauben an Gott getragene Ehe ist also eo ipso eine Stätte zur Vollziehung des Gottesreichs; und mag auch die Ehe im Verhältniß zum Eigenthum und zum Staate auch ihre Rechtsmerkmale nothwendig an sich tragen, so kommt dies in der sittlich geführten Ehe eigentlich gar nicht zum Bewußtsein, und etwaige Störungen werden, wenn die Ehe sittlich gesund ist, nie auf den Maaßstab des Rechtsbewußtseins zurückgeführt werden. – C. A. XVI. De rebus civilibus – ducere uxorem –, nubere. Apologia C. A. XI p. 238: Coniunctio maris et feminae est iuris naturalis. Porro ius naturale vere est ius divinum quia est ordinatio divinitus impressa naturae. Die Ehe ist in dem eben entwickelten Begriff nur als Monogamie denkbar, und ist willkürlich nicht lösbar (Mc. 10,11.12). Die abweichende Version Mth. 19,9 beweist, daß der Standpunkt des Moses (Vers 8) früh in der christ6 ist im] ist über der Zeile 8 beherrscht] korr. aus bedingt 9 regelmäßig nur] am Rand 9 durch] davor 18 der] korr. aus Îdesù 26 C. A. … nubere.] am Rand 27–29 Apol. … naturae.] am Rand 31–98,5 Die … S. 635.] am Rand 26 Confessio Augustana XVI, ed. Hase 14; BSLK 70,9.17 27 Apol. XXIII,9.12, ed. Hase 238 (XI 11 f.); BSLK 335,41 f.; 336,10–12
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lichen Kirche wieder Platz gegriffen hat. Und hienach könnten also noch andere Ehescheidungsgründe gültig werden. Dabei kommt ferner der Unterschied in Betracht, daß die Ehescheidung in der alten Welt Privatsache war, bei uns in Folge des Christenthums Sache der Obrigkeit geworden ist. Vgl. Rothe III, S. 635. Polygamie und Polyandrie treten in der Geschichte nur da auf, [68] wo die Ehe als Mittel zu ökonomischen Zwecken, also nicht sittlicher Selbstzweck ist. Dem Sinne dieser Formen der Ehe analog ist aber auch die Ansicht, daß sie entweder nur Mittel der geregelten und gesicherten Fortpflanzung des Geschlechts oder der Beschränkung der geschlechtlichen Licenz sei. Dies ist im Trauformular der englischen Liturgie mit aller Nacktheit ausgesprochen; und derselben Deutung gemäß erklärt die katholische Lehre den Status virginalis für besser und sittlicher als den Ehestand (Tridentinum Sessio 24. de sacramento Matriomonii can. 10). Hiemit steht die Anerkennung der Ehe als eines Sacramentes gar nicht im Widerspruch, vielmehr in Einklang; denn sie bedeutet, daß der ausgesprochene Entschluß zur Ehe erst dadurch sittlich und vor Gott gültig ist, daß er in Unterordnung unter die Kirche und ihre Ehegesetzgebung geschieht. Die Voraussetzung von der Unreinheit der Ehe entspricht der asket|isch dualistischen Anschauung des sinkenden Heidenthums. Aber auch das Urtheil des Paulus (1 Kor 7) setzt die Ehe unter den berechtigten Werth hinab. Er empfiehlt die Ehelosigkeit (7,7.8.38.40) als das Bessere, und scheint die Ehe nur insofern als ein Gut zu betrachten, als sie die Hurerei einschränkt (7,2.5.9). Denn er nimmt an, daß das gegenseitige Interesse der Ehegatten an einander etwas weltliches ist, und den Dienst Gottes beeinträchtigt (Vers 32–34), also daß die Ehe kein vollständig sittliches Verhältniß im Sinne des Christenthums sei. Freilich contrastirt damit Eph. 5,25 ff. Deutlich ist aber sein Urtheil durch die Rücksicht auf die Zeitverhältnisse bestimmt, und vielleicht auch durch faktische Erfah5 III,] Ms.: IV, 6 also] korr. aus als 9 geschlechtlichen] korr. aus Geschlechtlichen 15 der] korr. aus die 19 f. Aber … Ehelosigkeit] am Rand statt 22–25 Denn … sei.] am Rand 5 Rothe, Theologische Ethik 3,635 f. 10 The Book of Common Prayer Seite K 1 nennt in der Trauungsliturgie „The Form of Solmenization of Matrimony“ als Ursachen, um derentwillen die Ehe geordnet wurde: „First, it was ordained for the procreation of children, to be brought up in the fear and nurture of the Lord, and to the praise of his holy Name. Secondly, it was ordained for a remedy against sin, and to avoid fornication … Third, it was ordained for the mutual society, help and comfort …“ 12 Konzil von Trient, 24. Sitzung, Lehre und Kanones über das Sakrament der Ehe, Kanon 10, DH 1810
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rungen an Ehen, die der sittlichen Idealität entbehrten. Ähnliche Richtung wie die Bedenken des Paulus gegen die Ehe nimmt die Frage der Jünger (Mth. 19,10). Die Ausnahmen, in welchen Jesus die Ehe nicht statuirt, halten die Betrachtung der Ehe als Gut erst recht aufrecht, trotz der Möglichkeit, den Zweck der Ehe zu verfehlen. Ausnahmen gelten 1. wenn natürliche Abneigung gegen die Ehe stattfindet; 2. wenn die socialen Verhältnisse sie unmöglich machen; 3. wenn ein besonderer Dienst im Gottesreich sie als zweckwidrig erscheinen läßt. Der letztere Fall ist der des Paulus. – Der Caelibat des katholischen Klerus [69] der bekanntlich nicht Dogma, aber disciplinarische Ordnung ist, hat den Zweck, die Diener der Kirche, welche selbst Staat sein will, den Bedingungen des nationalen Staatslebens zu entziehen. Deßhalb ist das Institut nicht nach der 3. von Christus bezeichneten Ausnahme zu rechtfertigen. Uebrigens käme doch nach dem Beispiel des Paulus (1 Kor. 7,7) die Frage nach der Gnadengabe bei jedem Einzelnen in Betracht. Denn regelmäßig entspricht der sittliche Zuschnitt der ehelosen Kleriker gar nicht den Bedingungen der vita angelica. – Bei den für Eheschließung verbotenen Verwandtschaftsgraden (Act. 15,29; Lev. 18) handelt es sich um den Gräuel der Blutschande. Es kommt darauf an, das Urtheil über dieselbe auch tiefer zu begründen, als durch den Zweck, den das mosaische Gesetz kundgiebt, die Israeliten von den umgebenden Kanaanitern zu unterscheiden. Als Grund dagegen kann aber weder genügen die äußere Zweckmäßigkeit, noch der horror naturalis, der nicht allgemein nachweisbar ist. Der sittliche Instinct, der solche Verordnung hervorruft, wird erst aus dem nachträglich gewonnenen Begriff von der Ehe gerechtfertigt. Die Ehe hat nämlich ihren Werth nur als Vereinigung solcher Personen, deren Individualitäten verschiedenartig und selbständig ausgebildet waren, und deshalb sich specifisch gegenseitig anziehen. Dies findet sich nicht bei Verwandten, die in steter Gemeinschaft mit einander gestanden haben, und deßhalb die specifische Verwandtenliebe mit einander theilen. Deßhalb sind Ehen naher Verwandter widersittlich. Aber daraus folgt nicht die Gültigkeit der ganzen mosaischen Verordnung, auch für die entfernteren Verwandtschaftsgrade. Denn diese Ausdehnung des Verbotes bezieht sich auf die enge locale und sociale Verschlingung der Familie im nomadischen Leben.
98,26 5,25 ff.] folgt < Näher angesehen betrachtet er aber nicht die Ehe als ein geringeres Uebel im Vergleich mit Unzucht, sondern entschieden als ein Gut (7,9.38) im Gegensatz zu dem Uebel, wenn. auch als ein Gut das geringer ist als das der Ehelosigkeit. Zu dieser soll eine besondere Gnadengabe gehören (7,7), die Ehe soll dem Dienste Gottes hinderlich sein (7,5.32–35).> 9 aber] korr. aus als 14 f. Denn regelmäßig] am Rand statt 20 unterscheiden] korr. aus unterscheidet 22 nachweisbar] korr. aus nachzuweisen
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§ 29. 25 D a s V e r h ä l t n i ß z w i s c h e n A e l t e r n u n d K i n d e r n und der Kinder unter sich. Wenn die Ehe zwei Personen zu Einer verbindet, so bedarf sie eines specifischen Objects, um an demselben den gemeinsamen Selbstzweck zu verwirklichen. Wo Mann und Weib jedes seinen besonderen Beruf namentlich des Erwerbs ausübt, liegt ein Hindernis für die sittliche Führung der Ehe überhaupt vor; wo aber der Mann allein [70] einen eigentlichen Beruf nach Außen hat, da kann sich das Weib doch nur indirect an demselben betheiligen. Deßhalb würde die Einheit der Ehe direct nur auf die gemeinsame Andacht und auf die Geselligkeit beschränkt sein. Jene aber ist keine sittliche Aufgabe im engern Sinn, diese ist nur das sittlich Erlaubte. Specifisches Object der sittlichen Bethätigung der Ehe sind die Kinder, als das gemeinsame Eigenthum, dessen Erhaltung und Erziehung alle die sittlichen Einzelzwecke hervorruft, die den gemeinsamen Zweck der Ehe bilden. Deßhalb erreicht das Weib, welches in der Unterordnung unter den Mann seine persönliche Selbständigkeit verkürzt, ihren positiven sittlichen Beruf als Mutter. Die Liebe der Aeltern zu den Kindern ist nun ebenso wie die Liebe der Ehegatten zu der Gerechtigkeit des Gottesreichs angelegt, der Universalismus des Gedankens desselben ist durch den Gegensatz zwischen der sittlichen Reife und der Unmündigkeit und durch die Verschiedenartigkeit des Geschlechts und der Charakteranlagen der Kinder repräsentirt. Das Ziel der Erziehung ist so hoch wie die sittliche Aufgabe überhaupt, und der Elternliebe ist mehr noch als der in der Ehe die Probe der Selbstverläugnung auferlegt. Diese findet aber unmittelbar ihre Seligkeit in der dadurch gesteigerten und geklärten Innigkeit des ehelichen Verhältnisses, und findet in der gesteigerten Dankbarkeit des Andern den Ersatz für alles durch die Kinder zugezogene Leid. Denn indem die Erziehung der Kinder eine Schule der Tugenden der Selbstbeherrschung, Weisheit, Treue und Barmherzigkeit ist, so ist sie auch wegen der Unsicherheit des beabsichtigten Erfolges eine Schule der Demuth und der Geduld, und diese ist wenigstens für die Ehe ein unverlierbares Gut. Deßhalb fehlt der kinderlosen Ehe der eigenthümliche sittliche Impuls, ohne den auch die aufrichtigste gesellschaftliche Treue ihr Salz verliert und in ihrem Werth für den Andern geschmälert wird. Die Ehrfurcht und die Pietät gegen die Eltern, welche durch eine selbstverläugnende und weise Erziehung erzeugt wird, enthält für die Kinder den Keim des Gottesreiches in sich; denn diese Triebe sind die Bedin20 f. und durch … Kinder] am Rand 27 Kinder] folgt 29 und … Geduld] am Rand 34 weise] korr. aus Weise 34 wird,] folgt 35 Triebe sind] am Rand statt <Stimmung ist>
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gung, ohne welche alle Religionsanweisung und Theilnahme an der häuslichen Cultussitte fruchtlos ist. Wie das irdische Vaterverhältniß seine volle Begründung und Wahrheit in Gottes Vaterschaft findet (Eph. 3,15), und der Gehorsam des Kindes ein directes Vehikel religiöser Ahnung ist (Kol. 3,20; Eph. 6,1), so leistet die kindliche Pietät gegen die Aeltern, wenn sie bei den Irrungen des jugendlichen Selbständigkeitsstrebens Stand hält, die Gewähr für die Rückkehr des Menschen zu Gott. – Das Verhältniß der Geschwister zu einander [71] ist regelmäßig nicht religiös gefärbt. Es wird einerseits durch das natürliche Wohlwollen beherrscht, andererseits durch den Trieb nach Rechtsgleichheit; und jenes Element sträubt sich sowohl wegen der Stärke seiner natürlichen Begründung, als wegen der Begränzung durch den Rechtstrieb gegen die übernatürliche religiöse Auffassung. Deßhalb liegt in diesem Verhältniß viel mehr das Vorbild des Staates als das des Gottesreiches. Die Vertraulichkeit und Anhänglichkeit der Geschwister wird erst dann einer religiösen Begründung fähig, wenn jedes seine persönliche Selbständigkeit gewonnen, seine sittliche Charakterreife erreicht hat, und dann die gemeinsame Pietät gegen die Aeltern sowie die Nachwirkungen der gleichen Erziehung eine eigenthümliche fest begründete Freundschaft bedingen. Wenn das geschwisterliche Verhältniß ebenso wie das kindliche die directe Disposition zum Reich Gottes in sich schlösse, so würde in der normalen Familiengemeinschaft Reich Gottes im Kleinen zu Stande kommen, dann aber die Universalität und die Uebernatürlichkeit dieser Aufgabe gefährdet werden.
§ 30. 26 D i e F r e u n d s c h a f t . Der particulare Boden, den die Familie der Verwirklichung des Gottesreiches 25 darbietet, wird durch die Freundschaft ergänzt. Deßhalb strebt auch das
Kind an der Ergänzung durch die Geschwister vorbei nach anderen Freunden gemäß einem nothwendigen Impuls zu sittlicher Vollendung. Die Freundschaft hat zwar ihre Schranken, weil sie auf individueller Wahlanziehung beruht, und deshalb nicht mit allen Menschen gepflogen werden kann; allein 30 sie ist doch mit verschiedenartigen Individuen gleichzeitig möglich. Als Art der Liebe ist sie der Gegensatz der ehelichen. Die letztere knüpft sich an durch die Ahnung der Congruenz des persönlichen Selbstzwecks des anderen Theils mit mir, und erst so gewinnt man Einsicht und Ausübung der mögli-
3–5 und der … 6,1),] am Rand 7 f. zu einander] am Rand 8 ist] davor 25 ergänzt.] korr. aus ergänzt, folgt 28 ihre] über
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chen gemeinsamen Einzelzwecke. Die Freundschaft knüpft sich immer an die Erfahrung materialer und formaler Gemeinschaft der Einzelzwecke, und begründet darauf das Eingehen in den erprobten persönlichen Selbstzweck des Andern. Demnach wird die Geschwisterliebe im reifern Alter zur Freundschaft; allein die eheliche Liebe, wenn sie überhaupt in ihrer Art normal war, wird nie in Freundschaft übergehen. Der Umstand daß das Neue Testament nie auf Freundschaft hinweist, bedeutet nicht, daß sie eine für das Gottesreich gleichgültige Form der Liebe sei. Die Pflicht der Gastfreundschaft [72] (1 Petr. 4,9; Hebr. 13,2) begründet, nach der Möglichkeit ihrer wiederholten Ausübung gegen dieselben Personen, die Gemeinschaft welche das Gebot der Bruderliebe für alle fordert, welche aber natürlich nicht mit allen in Wirklichkeit tritt. So entspricht also die Freundschaft dem Maaße der Bruderliebe, welches nur gegen einen bestimmten Kreis in wirklich stetige Ausübung tritt. Die Freundschaft bezeichnet eine Stufe höherer sittlicher Bildung, findet in den niederen Erwerbsstufen nicht oft statt. Sofern die Freundschaft sittlichen Werth nur hat, wo sie nicht durch Nutzen oder Vergnügen, sondern durch den uneigennützigen Trieb der Liebe begründet ist, so trägt die der höchsten sittlichen Aufgabe zugewandte Freundschaft das Element des Gottesreiches in sich, auch wenn dies nicht ausdrücklich durch religiöse Reflexion anerkannt ist. Die Liebe als Freundschaft ist kein Widerspruch gegen die Bestimmung zu allgemeiner Menschenliebe. Vielmehr ist die Begränzung der Kraft in ihrer regelmäßigen Anwendung eine Bedingung für ihre Erhaltung und Steigerung. Wie im Berufe. Auch die Freundesliebe zwischen sittlich entwickelten und strebenden Charakteren überwindet in jedem Falle die Schranke des Rechtsverhältnisses und gleicht alle Collisionen nach Maßgabe des Vertrauens aus, daß der Andere meinen Selbstzweck als den seinen anerkennt. Freilich gehört zur Freundschaft im vollen Sinn Gleichheit des allgemeinen Bildungsstandes, keineswegs aber Gleichheit des bürgerlichen Berufes, obgleich in der Berufsgemeinschaft eine Aufforderung zur Freundschaft liegt, und dieselbe ohne ein gewisses Maaß derselben leicht ein Anlaß zu Neid und Haß, oder Verachtung und Lieblosigkeit wird. Die Freundschaft ist normal nur unter Männern. Die Freundschaft zwischen Mann und Weib ist nur möglich wo die Möglichkeit der geschlechtlichen Anziehungskraft wegfällt. Wo hingegen diese ins Spiel kommen kann, ist die Freundschaft vorläufige Maske für die andere Art der Liebe, oder eine Selbsttäuschung. Die Freundschaft zwischen Ehegatten und 12 dem] folgt <möglichen> 14 f. Die … statt.] am Rand 14 bezeichnet] über der Zeile 21–24 Die … Berufe.] am Rand 34–36 nur … Freundschaft] am Rand statt <entweder eine>
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Personen anderen Geschlechts ist vollkommen möglich aber unter der Bedingung einer Gemeinschaft beider Eheleute auch in solchem Verhältniß.
S i e b e n t e s C a p i t e l . Vo l k u n d S t a a t i m Ve r h ä l t n i ß zum Reiche Gottes.
§ 31. 27 D i e e x t r e m e n T h e o r i e n .
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Einerseits wird von Augustin der Begriff des Staates zu dem des Reiches Gottes in solchen Widerspruch gesetzt, daß dem erstern nur die Aufgabe bleibt, sich dem als Kirche aufgewiesenen Reich Gottes als Mittel unterzuordnen. Andrerseits setzt Hegel beide Größen begrifflich identisch, so daß der norma10 le begriffsmäßige Fortschritt der Staatsentwickelung dem Reich Gottes direct zustrebte, als dem Ausdruck für den vollendeten Staat. Gemeinsam haben beide Theorien den Fehler, die Bedeutung des Volks für den Begriff des Staats [73] nicht anzuerkennen. Augustin nemlich abstrahirt seinen Begriff des Staates aus den durch Eroberung zusammengebrachten Weltreichen des Alter15 thums, und erkennt wegen des gewaltsamen Ursprungs dieser Art der Staaten im Staat überhaupt die menschliche Gesellschaft, welche aus dem Princip der Sünde herstammt. Der Brudermörder und Stadtgründer Kain ist der Typus des Staates. Nur soweit als die Sünde ihrem Begriff nach das Gute voraussetzt, und so20 fern sie immer formell ein Gut erstrebt, ist in der civitas terrena etwas Gu-
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Staatsentwickelung] folgt <sich> erkennt] korr. aus verkennt der] korr. aus des Der … Staates.] am Rand Stadtgründer] Ms.: Städtgründer soweit] korr. aus Î ù als] über der Zeile
6 Die Darstellung von Augustins Staatslehre im ersten Teil des § 31 fußt nicht nur auf den wenigen ausdrücklich angeführten Stellen aus dem Werk „De civitate Dei“ (Buch 19, Kap. 13, 21 und 24), sondern hat die ausgedehnte Lektüre des Werks zum Hintergrund, die Ritschl seit der Vorbereitung seiner philosophischen Dissertation „Expositio doctrinae Augustini de creatione mundi, peccato, gratia“ (Halle 1843) geläufig war (vgl. OR 1,71–75). Die folgenden Einzelnachweise sind deswegen nicht erschöpfend, sondern beschränken sich auf solche Stellen, auf die erkennbar Bezug genommen wird. 9 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke 8,320.334 f. 347 f. 13 Augustinus, De civitate Dei XIX,21.24; PL 41,648.655; CChrSL 48,687.695 18 Gen 4,17; Augustinus, De civitate Dei XV 1.5.17; PL 41,438.441.460; CChrSL 48,454,55; 458,34; 479
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tes anzuerkennen, ein Streben nach Frieden, Gerechtigkeit und Ordnung. Die Erfolglosigkeit dieses Strebens im Staat ist aber die Probe für dessen Herkunft aus der Sünde. Denn übrigens beruht die rechtliche Ordnung des Eigenthums darauf, daß der Mensch durch die Sünde die Herrschaft über die Natur verloren hat. Die Ehe soll nicht mehr auf d|en Willen Gottes, sondern auf d|ie Begierde; die Familie nicht auf Gottes- und Nächstenliebe, sondern auf Eigennutz begründet sein; das Staatsleben endlich enthält nichts weniger als die gleiche Ordnung aller Menschen unter Gott, sondern nur die dem Eigennutz dienende Unterwerfung Vieler unter Wenige. Also entbehrt die civitas terrena der wahren Gerechtigkeit (de civitate dei XIX, 21.24). Theoretisches Urtheil 1. Es ist ein Widerspruch das Recht als Product des Unrechtes zu begreifen. Es ist nach Augustin unwillkürliches Zugeständniß (XIX, 13) Die Voraussetzung des Reiches Gottes als der absoluten Sittlichkeit. 2. Das Reich Gottes als Kirche ist selbst nur Rechtsgemeinschaft. Deshalb der Widerspruch zwischen Staat und Kirche der nicht geschlichtet wird durch die Auctorität des Göttlichen über das Menschliche. Sondern der Staat setzt allen anderen Rechtsgemeinschaften ihre Grenzen. Dem Einen Staat gegenüber, welchen die Erfahrung an den auf einander folgenden Weltreichen bis zum römischen darbot, bildet auch die civitas dei Eine Einheit. Diese beruht auf der göttlichen Gerechtigkeit und der Nächstenliebe; sie ist nicht blos jenseitig, sondern von Abel und Seth an in wechselnden Gestalten auf der Erde wirklich; sie ist seitdem eine in der Fremde wandernde, bis sie durch die Aufhebung der gegenwärtigen Weltordnung ihre Heimath in der neuen Welt und ihre volle Ausgestaltung erreicht. Gegenwärtig ist das göttliche Reich in vielen Beziehungen in die Ordnungen der civitas terrena verflochten; sie bestrebt sich nur, sich immer mehr von dieser verunreinigenden Verbindung zu sondern; so lange 12–18 Theoretisches … Grenzen.] am Rand 19 f. welchen … darbot,] am Rand 21 Einheit] folgt wieder gestrichenes Einfügungszeichen für den Zusatz welchen … darbot, s. oben Zeile 19 f. 28 von] Ms.: mit 1 Augustinus, De civitate Dei XIX,17; PL 41,645; CChrSL 48,683 4 Augustinus, De civitate Dei XIX,15; PL 41,643; CChrSL 48,682 f. 5 Augustinus, De civitate Dei XV,17; PL 41,460; CChrSL 48,479 7 Augustinus, De civitate Dei XIX,21.24; PL 41,648.655; CChrSL 48,687.695 13 Augustinus, De civitate Dei XIX,13; PL 41,640; CChrSL 48,678 15 Augustinus, De civitate Dei XIX,14; PL 41,642; CChrSL 48,680 16 Augustinus, De civitate Dei XIX,15.16; PL 41,643 f.; CChrSL 48,682 f. 22 Augustinus, De civitate Dei XV 1.8.15; PL 41,437.445.456; CChrSL 48,453.462.474 26 Augustinus, De civitate Dei XI 1; XVIII 49; PL 41,315.611; CChrSL 48,321.647
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dies Ziel aber noch nicht erreicht ist, gibt das Gottesreich seinen Angehörigen die Anweisung, sich den weltlichen Gesetzen zu fügen, soweit nicht himmlische Pflichten dadurch beeinträchtigt werden, und ferner sucht das Gottesreich den Staat davon zu überführen, daß es in seinem Interesse liegt, das Gottesreich zu fördern. Denn nur dadurch soll der Staat eine sittliche Legitimation gewinnen, die ihm an sich abgeht; d. h. der Staat soll seine eigenen, in der Sünde begründeten Zwecke aufgeben, und sich den Zwecken des Gottesreichs unterordnen. – Nun bezeichnet Augustin mit dem in der Fremde wandernden Gottesreich deutlich [74] genug die katholische Kirche, welche selbst als Staat organisirt war, nicht nur eine aristokratische Verfassung besaß, sondern eine Menge Rechtsinstitute in sich ausgebildet hatte. Immunität der Kleriker, Eherecht, Recht der Erziehung zwischen Staat und Kirche streitig Die Theorie Augustins läuft also darauf hinaus, daß der weltliche Staat sich zum Mittel für den kirchlichen Staat hergeben soll, um überhaupt vom Standpunkt des Christenthums aus als eine von Gott gewollte Größe geachtet zu werden. Diese Theorie begründet die Wiederbelebung des Kaiserthums d. h. der Weltmonarchie im germanisirten Abendland und die Unterordnung desselben unter das Papstthum seit Gregor VII. Gilt auch, wenn man wie Thomas von Aristoteles eine günstigere Vorstellung von der natürlichen Herkunft des Staates hat. Aber hiemit war die Theorie doch nicht verwirklicht, da das Kaiserthum doch nicht alle Staatsgewalt des Abendlandes umfaßte. Vielmehr reagirte der nationale Staat Frankreichs mit Erfolg gegen die höchste Spannung der Theorie durch Bonifaz VIII. Anfang des 14. Jahrhunderts der die Theorie Innocenz des III. befolgt wissen wollte, daß der Papst eigentlich der Inhaber beider Schwerter, und das weltliche Schwert in der Hand der Fürsten nur ein Lehen der Kirche sei. Dagegen trat erstens der Gedanke, daß die Staatsgewalt ein Product der Selbstgestaltung der Nation sei, zweitens daß der Staat ebenso unmittelbar göttliche Ordnung und Stiftung sei, wie die Kirche.
4 in] korr. aus s 13 f. Immunität … streitig] am Rand 21 f. Gilt … hat.] am Rand 26 f. Bonifaz … wollte,] am Rand statt 27 daß der] Ms. versehentlich gestrichen 2 Augustinus, De civitate Dei XIX,17; PL 41,645.; CChrSL 48,683 26 Papst Bonifatius VIII., Bulle „Unam sanctam“ vom 18. November 1302; in: DH 873–875; Friedberg, Die mittelalterlichen Lehren 70 f.; vgl. Ritschl, Unterricht § 53 Anm. c, ed. Axt-Piscalar 72.128 f. 26 Vgl. DH 767; Friedberg, Die mittelalterlichen Lehren 71
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bei Dante und Wilhelm von Occam vgl. F r i e d b e r g , die mittelaltrigen Lehren über das Verhältniß von Staat und Kirche. Zeitschrift für Kirchenrecht VIII. 1869. So kam schon im Mittelalter die Wahrheit an den Tag, daß der Staat auf dem Recht und nicht auf der Sünde, auf einem nothwendigen Element der menschlichen Freiheit nicht auf dem Widerspruch gegen die sittliche Bestimmung des Menschen begründet sei. Diesen Grundsatz hat die Reformation in den symbolischen Schriften recipirt und zum politischen Princip der neuern Geschichte überhaupt erhoben; daß der Mensch trotz der Erbsünde zur iustistia civilis befähigt und an seiner ratio ein selbständiges Princip auch für die politische Gemeinschaft habe. – Hegel versteht unter Staat, in welchem die Gegensätze des objectiven Rechtes und der subjectiven Moralität synthetisch zusammengefaßt werden, den Umfang der verwirklichten Sittlichkeit, die zum Selbstbewußtsein gelangte sittliche Substanz, die Größe, in welcher der göttliche Wille zur Organisation einer Welt entfaltet, in der das subjective und objective Wesen, die sittliche Einzelheit und Allgemeinheit Eins sind. So entspricht dem Staat das ganze Menschengeschlecht als sittlich befähigte Größe. In der Geschichte aber realisirt sich der Staat in allmählichem Fortschritt zu seiner Idee immer durch das Mittel besonderer Volksgeister, bis er die ganze Menschheit umfaßt. Also freilich entspricht kein einzelnes Moment der geschichtlichen Entwicklung des Staats dem Gedanken [75] des Gottesreiches. Aber diese Identität kann nur erstrebt werden, weil der Staat an sich und das Gottesreich im Begriff identisch sind. Diese Theorie ist von R o t h e adoptirt, indem er den Staat als die sittliche Gemeinschaft des Volkes bezeichnet, sofern derselbe die sittliche Aufgabe löst, und sich an der Vollendung der sittlichen Gemeinschaft betheiligt, in welchen aufzugehen die Kirche bestimmt ist. – Indem also diese Ansicht mit der katholischen darin übereinstimmt, daß der Begriff des Volkes kein constitutives Moment für den Begriff des Staats ist, so unterscheidet sie sich von ihr darin, daß sie keinen fixen Gegensatz zwischen Staat und Reich Gottes, sondern ein fließendes Uebergehen des einen ins andere auf Grund der begrifflichen Identität beider annimmt; und dies ist deßhalb der Fall weil der Gegensatz zwi1–3 bei … 1869.] am Rand 13 den Umfang] am Rand statt 16 Eins sind.] am Rand statt 26 f. betheiligt … ist. –] am Rand statt 28 der Begriff] korr. aus das V 1 Friedberg, Die mittelalterlichen Lehren 76–91.120 8 Confessio Augustana XVI; Apol. XVI, ed. Hase 14.214–217; BSLK 70 f.; 307–310 10 Confessio Augustana XVIII, Apol. XVIII, 4, ed. Hase 14.218; BSLK 73,2; 311,22 11 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke 8,320.334 f. 312 f. 24 Rothe, Theologische Ethik 1,423–425; 2,136.145 f. 154
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schen Recht und Sittlichkeit und die Unauflöslichkeit des Rechtes durch die Sittlichkeit nicht erkannt wird. Die Gründe der Ansicht Hegels sind die Mustergültigkeit des antiken Staates, der die Freiheit des Einzelnen durch den Staatszweck bindet, ferner die spinozistische Unterschätzung der persönli5 chen Freiheit. Wie nun aus der Augustinischen Theorie die Unterwerfung des Staates unter die katholische Kirche folgt, so folgert Rothe aus der Hegelschen Theorie das Aufgehen der Kirche in den Staat.
§ 32. 28 D e r e t h i s c h e B e g r i f f v o m S t a a t e . Das Subject des Staates ist immer das Volk, sei es, daß die einfache Stammes10 verwandtschaft die Einheit bedingt, sei es daß das Volk aus einem erobernden
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und aus unterworfenen Stämmen zusammengewachsen ist. Deßhalb entspricht derjenige Staat seinem Begriff noch nicht, der in seinem Umfange unterworfene Volkstheile hegt, die das Bewußtsein eigener Staatsfähigkeit hegen, und deßhalb nur durch den Zwang des Rechtes in dem Staatsverbande erhalten werden. Das Volk ist durch seine Abstammung nicht Naturproduct, sondern da diese schon durch die Ehe vermittelt ist, ferner aber durch den durch Bedürfniß und natürliches Wohlwollen bedingten Austausch aller sinnlichen und geistigen Güter, endlich durch die Erzeugung eines besonderen Volksgeistes in der Production der geistigen Güter, – sittliche Größe. Das Volk ist aber Staat, sofern es durch eine allgemeine Rechtsordnung in sich verbunden ist. Diese beiden Merkmale, Volksthümlichkeit und Recht stehen aber im Begriff des Staats in directer Congruenz. Denn für das Volk ist im Staat das Recht durchaus keine der Freiheit widersprechende Macht, sondern wie das Recht überhaupt Mittel der Freiheit ist, so ist es auch Mittel der Freiheit des staatlich geordneten Volkes und der einzelnen Glieder desselben, so wie Mittel des Wohlwollens zu welchem die Stammgemeinschaft [76] der Grund ist. Im antiken Staate reicht nun das Recht ursprünglich nur so weit wie jenes natürliche Wohlwollen. Daß der Barbar im Umkreis eines anderen Volkes Privatrechte ausüben darf, erfordert bestimmte für den Fremden gegründete Rechtsinstitute. Im modernen Staat ist diese Schranke grundsätzlich nicht vorhanden. 1 und die] korr. aus und das Verhältniß der 15–19 Das … Größe.] am Rand 22–30 Denn … vorhanden.] am rechten Rand in ganzer Länge eingeklammert; das Hinweiszeichen am Anfang und am Ende der Klammer, das auch am Anfang des folgenden Zusatzes am Rand Gegensatz … Gottesreiches. wiederkehrt (s. unten S. 108,1–5), deutet darauf hin, daß dieser Zusatz die eingeklammerte Stelle ersetzen soll. 30 vorhanden.] folgt
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Gegensatz gegen Augustin: Der Staat ein relatives sittliches Gut; hingegen nicht ein Product der Sünde. Augustin verwechselt Grund und Anlaß der Rechtsbildung. Der Staat ist als relatives sittliches Gut, nicht dazu bestimmt, im Reiche Gottes unterzugehen; denn indem er das Recht vertritt, liefert er eine positive Bedingung für die Sittlichkeit des Gottesreiches. Recht: Die den verschiedenen abgestuften Zwecken der Gemeinschaft entsprechende Ordnung der Handlungen, der gemäß 1. die Handlungsweise eine gemeinsame und übereinstimmende sein kann und 2. die sittliche Selbständigkeit und Freiheit eines Jeden möglich macht. § 22. Recht Mittel der Sittlichkeit Subject der Sittlichkeit: Die Völker respective das Volk als Gesellschaft Manchesterhafte Gleichgültigkeit gegen die sittliche Gesellschaft. Socialdemocratische Corruption der Gesellschaft In den Beziehungen: 1. ist der Staat Selbstzweck, in denen 2. Mittel der sittlichen Humanität und Freiheit. D a r i n beruht der sittliche Werth desselben. Für die Sicherung der Einzelzwecke dient das P r i v a t r e c h t , für die geordnete Ausübung der gemeinsamen Zwecke das ö f f e n t l i c h e R e c h t . Beide Functionen sind zusammen, wo immer Staat realisirt wird. Das öffentliche Recht umfaßt das S t r a f r e c h t als das Mittel der Abwehr von Verletzungen der Gesammtheit; und die P o l i z e i g e w a l t , das Mittel zur Förderung der allgemeinen Wohlfahrt. Unter diese Gewalt gehört neben der PräventivPolizei alle rechtmäßige und zwingende Ordnung wirtschaftlicher Unternehmungen, wissenschaftlicher und künstlerischer Bildung, Schutz und Unterstützung der gottesdienstlichen Gemeinschaft. Der Staat ist nicht der Producent in irgend einer dieser Beziehungen, sondern das ist der gebildete und durch Wechselbeziehung schöpferischer Individuen und empfänglicher Mas1–5 Gegensatz … Gottesreiches.] am Rand; vgl. oben S. 107,22–30 6–16 Recht: … desselben.] am Rand 8 und übereinstimmende] über der Zeile 1 S. oben S. 103–105 9 S. oben S. 77,1 12 In der Nachschrift Eck (1878) § 27 S. 262 nennt Ritschl an der analogen Stelle Adam Smith und verweist auf auf den Aufsatz von Braun, Die religiösen und sittlichen Ansichten von Adam Smith (1878) 13 In der Nachschrift Eck (1878) § 27 S. 262 f. führt Ritschl aus: „Unter uns ist die Socialdemokratie der Ertrag der entsprechenden Gesetzgebung, also das gerade Gegenteil von dem, was erstrebt worden ist. Denn in dieser Richtung wird eben nicht die individuelle Freiheit und die an ihr haftende Ungleichheit geachtet, sondern es wird ein System von Gemeinschaftlichkeit der Art erstrebt, in welcher die Gleichheit aller notwendig zur Unterdrückung der Freiheit der meisten führen würde, und zwar würde die Durchführung dieses Systems alle höheren Interessen preisgeben gegen die erstrebte Sicherung des blos sinnlichen Daseins.“
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sen sich bildende Volksgeist; der Staat ist aber die Form des Rechtes, welche diese Wechselbeziehung ordnet und regelt, soweit sie dem Allgemeinen nothwendig ist. – Hieraus ergiebt sich folgender Gegensatz zum Hegelschen Begriff vom Staat. Derselbe ist nicht die sittliche Gemeinschaft des Volkes als solche, weil die sittlichen Aufgaben an sich die Grenze des Volkslebens und der Staatsgemeinschaft überschreiten, schon der Handel, dann aber der Austausch von Wissen und die Vollziehung der religiösen Gemeinschaft als christlicher. Im entgegengesetzten Fall würde man auf den antiken Staat und die Naturreligion herabkommen. Die Gemeinschaft der höchsten sittlichen Zwecke, die Hegel und Rothe Staat nennen, i s t n u r d a s R e i c h G o t t e s . Dies ist die Gemeinschaft aller Völker zum absoluten sittlichen Zweck, der Staat die Gemeinschaft Eines Volkes zur Ordnung der einzelnen und besonderen, auch sittlichen Zwecke. So gewiß nun die sittliche Freiheit an dem Rechte ein nothwendiges Mittel hat, so setzt auch das Reich Gottes nothwendig das Bestehen des Staates voraus (§ 22), und deßhalb ist vom Standpunkt des Reiches Gottes der Staat als eine Gemeinschaft specifisch [77] sittlichen Werthes anzuerkennen. Umgekehrt bedarf der Staat, daß seine Genossen eine bestimmte Religion haben, weil in gewissen Fällen eine religiöse Bürgschaft erforderlich ist, daß das rechtliche Verhalten sittlich begründet ist. Dies der Grund für die Nothwendigkeit und die Möglichkeit der vom Staate geforderten Eide. Die Mennoniten als Ausläufer des Wiedertäuferthums im 16. Jahrhundert steifen sich nur deßhalb auf das wörtliche Verbot des Eides durch Christus, weil sie die römisch-katholische Ansicht von der principiellen Widerchristlichkeit des Staates theilen.
§ 33. 29 D a s c h r i s t l i c h e V o l k s t h u m und der christliche Staat.
Die Forderung des Eides beweist vom Standpunkt des Staates die Anerkennung c h r i s t l i c h e n V o l k s t h u m s . Es fragt sich, ob dieser Gedanke auch für die christliche Ethik zulässig ist. Dagegen scheint zu sein die von 30 Paulus (Gal. 3,28; Kol. 3,9 ff.) behauptete Indifferenz des Volksthums für das Christenthum. Indessen schließt die Coordination der Paare, deren Unterschied für das Christenthum gleichgültig sein soll, den Gedanken aus, daß 13 auch] folgt <der> 21–24 Die … theilen.] am Rand 26 der … Staat.] korr. aus das christliche Staatensystem. 27 vom] korr. aus Îd ù 3 S. oben S. 106,11 15 S. oben S. 77,1
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das Christenthum den natürlichen Unterschied der Nationen auflöse. Der geistige Unterschied der Geschlechter kann nur auch in der Religiösität sich geltend machen; den Unterschied zwischen Herr und Knecht wollen selbst die Apostel nicht aufheben (1 Petr. 2,18–20; 1 Kor. 7,21 ff.); den Vorzug des israelitischen Volks in der christlichen Gemeinde will selbst Paulus nicht aufgehoben wissen. Also kann Paulus nur meinen, daß das Christenthum nicht Religion eines einzelnen Volks sei, daß nicht ein Volk mit Ausschluß der anderen zum Christenthum befähigt sei. Aber er läßt zu, daß die providentielle geschichtliche Entwicklung dem einzelnen Volk eine eigenthümliche Betheiligung am Christenthum und eine eigenthümliche Ausprägung seines gemeinsamen Inhalts möglich macht. Also ist christliches Volksthum in der Perspective der Apostel; und das Neue Testament gewährt nirgends den bestimmten Eindruck, daß nur die Atome des Volkes zum Christenthum berufen, und die Gemeinschaft von Familie und Volk nur zur Erhaltung des Widerspr|uchs gegen dasselbe bestimmt sind. Pietistische Beurtheilung des bürgerlichen Christenthums als bloßen Heidenthums Vielmehr gilt, was er der christlichen Familie zugesteht (1 Kor. 7,14), auch dem Volke von Christen. Das christliche Volksthum ist aber nicht schon danach zu bemessen, daß das Volk einem kirchlichen Bekenntniß angehört, sondern daß die höchsten sittlichen Zwecke, in ihrer positiv christlichen Gestalt in der herrschenden S i t t e anerkannt sind. – Begriff d e r S i t t e Christliche S i t t l i c h k e i t in einem Volke Öffentliche Meinung. C h r i s t l i c h e r S t a a t a. Im d i r e c t e n Sinn: Die päpstliche Kirche des Mittelalters. Die byzantinische Kirche. Zwingli. Seit der Reformation des Abendlandes nur noch katholischer, lutherischer, reformirter Staat möglich. b. also im i n d i r e c t e n Sinn. c. Ist dabei eine bestimmte V e r f a s s u n g s f o r m vorgeschrieben? NB. Der Grundsatz der Brüderlichkeit aller Volksgenossen bei den Socialdemokraten ist die Carrikatur des Christenthums; die Indifferenz der Volksunterschiede für diese Richtung deckt sich mit ihrer feindseligen Haltung gegen Recht und Staat. Die christliche Volksthümlichkeit fordert aber nicht eine gewisse Staatsform. Die Apostel kennen zwar 14 zur … des] am Rand statt 16 f. Pietistische … Heidenthums] am Rand mit Bleistift 23–25 Begriff … Meinung.] am Rand 26–30 Christlicher … vorgeschrieben?] am Rand 27 Zwingli] nachträglich hinzugesetzt 30–33 NB … Staat.] am Rand mit Hinweis z u c . 5 Röm 9,4 f; 11,25–32 31 S. oben S. 108,13
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kein anderes Verhalten der Christen zum Staate als den passiven Gehorsam gegen das römische Kaiserthum, sofern dasselbe unter göttlicher Providenz steht, und Gottes Auctorität repräsentirt (Rom. 13,1–7; 1 Petr. 2,13–17). Man könnte also [78] hieraus folgern, daß das Christenthum nur die despotische oder absolutistische Staatsform begünstige, und, innerhalb derselben, gegen die legitime oder revolutionäre Herkunft der factischen Gewalthaber gleichgültig sei. Diese Anweisung ist aber für das Christenthum ebensowenig kanonisch, wie das Zugeständniß der Sklaverei und die Bevorzugung des ehelosen Standes vor der Ehe. Jene Ansicht richtet sich nach der damaligen Möglichkeit des Verhältnisses der Christen zum römischen Reich, im Vergleich mit den ihnen gestellten Aufgaben. Das römische Weltreich war kein nationaler Staat, es ließ überhaupt keinen andern als passiven Gehorsam zu, und die Christen hatten um so weniger Anlaß, sich anders dazu zu stellen, als revolutionäres Benehmen sie äußerlich und innerlich gefährdet hätte. Allein der nationale Staat nimmt die active Betheiligung auch seiner christlichen Bürger in Anspruch, weil auch das christliche Volksthum und das gemeinsame Recht das Mittel für die sittlichen Aufgaben auch im christlichen Sinne sind. Politisch herabgekommene Völker gerathen auch in Hinsicht ihrer Religiosität und Sittlichkeit in Verfall, während umgekehrt die Epochen angespannten und fruchtbaren Nationalbewußtseins erweckend und stärkend für das christliche Gemeinbewußtsein sind. Es ist falscher Gebrauch des Neuen Testaments, wenn die Schule des politischen Absolutismus die Vorschrift des passiven Gehorsams gegen die Monarchie als Pflicht erweisen und andererseits die Pietisten die Theilnahme an Politik als der Christen unwürdiges weltliches Treiben abweisen. Diese pietistische Stimmung ist im Grunde die Folge der mangelhaften ethischen Begriffsbildung des Lutherthums. NB. Hat das Christenthum einen Anspruch über die Todesstrafe im Staat zu entscheiden? Umgekehrt ist die entschieden ethische Ausarbeitung der reformirten Confessionsanschauung der Grund für die großartige politische Geschichte reformirter Nationen (Niederlande, Cromwell). z u a . Melanchthon: Schutz der ersten Tafel des Gesetzes
3 13,] korr. aus 13) 3 1–7; … 13–17)] am Rand 4 f. despotische …absolutistische] am Rand sche und absolutistische statt <sche> 11 den] Ms.: dem 22 wenn die] die korr. aus außer der 22–24 die Vorschrift … andererseits] am Rand statt 27 f. NB. … entscheiden?] am Rand 32 zu … Gesetzes] am Rand 32 Melanchthon, Loci 1559, CR 21,1011; ed. Stupperich (2. Aufl.) 2/2,763,20
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Freilich zeichnen sowohl Zwingli wie Calvin einen theokratischen Begriff christlicher Gemeinschaft vor, dessen Folgen z. B. in der Geschichte des englischen Puritanismus auch bedenkliche Seiten zeigen. Denn der Gedanke c h r i s t l i c h e n S t a a t e s ist insofern verständig, wenn der Staat die Christlichkeit seiner Angehörigen und ihrer Sitte v o r a u s s e t z t . Allein die theokratische Deutung des Gedankens verwickelt sich in einen Widerspruch. Denn das hieße Religion und Recht identificiren, die begrifflich im Gegensatz zu einander stehen, wenn man religiöse Uebungen als Bedingung des Staatsbürgerrechtes forderte. Christlicher Staat [79] im directen Sinne ist nur die Mittelalterliche katholische Kirche und das Byzantinische Reich gewesen. Seit der Reformation wäre also nur entweder katholischer oder lutherischer oder reformirter Staat möglich, wie in Spanien, wo Häresie als Staatsverbrechen gilt, oder wie bis vor Kurzem in Schweden, wo der Uebertritt zum Katholicismus Verbannung nach sich zog. In Staaten gemischter Bevölkerung ist also auch nur im indirecten Sinn die Christlichkeit des Staates möglich. In derselben Beschränkung kann dann nach dem quantitativ oder qualitativ überwiegenden Confessionstheile von katholischem oder protestantischem Staate geredet werden. – Deßhalb ist auch genau nicht vom christlichen Staatensystem Europas, sondern vom Staatensystem der christlichen Völker Europas zu sprechen. Die kirchliche Einheit des Mittelalters wirkt trotz der confessionellen Spaltung im Abendlande bis heute, so daß die gemeinsame Culturgeschichte sie zu einer Art von Völkerfamilie gestaltet hat. Nur Rußland als griechisch-katholisch gehört nicht dazu. Aber vielleicht soll die kirchliche Spaltung durch christliche Culturgemeinschaft überwunden werden. Deßhalb ist das directe Verhältniß der europäischen Staaten zu einander keineswegs durch die christliche Liebe, sondern nur durch das Völkerrecht und im Nothfalle durch den Krieg geordnet. Der Krieg als Mittel des Schutzes von Recht, Nationalität, Ehre und allen übrigen geistigen Gütern kann nicht durch das Christenthum nach Mtth. 5,21 ausgeschlossen sein. Als die höchste Culturmacht vielmehr muß das Christenthum auch den Krieg sanktioniren, wo er direct als Culturmittel auftritt, und indirect das Culturmittel der körperlichen Uebungen hervorruft. Eine heilige Allianz hat sich als widersinnig erwiesen. Aber das Völkerrecht beruht darauf, daß die abendländischen Völker in verschiedenen Abstufungen im Austausche geistiger Güter stehen, der einem momentanen Mißbrauche der Macht stets ein regulirendes Gegengewicht leistet. 4 verständig,] folgt 10 und … gewesen.] am Rand statt 23–25 Nur … werden.] am Rand 29–34 Der … hervorruft.] am Rand
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Wenn der Einzelne nur insofern sittlich thätig ist, indem er allgemeine Zwecke in seinen persönlichen Endzweck aufnimmt, so folgt aus dem Verhältniß des Einzelnen zum Allgemeinen, daß nur in einer besondern Art der Thätigkeit die allgemeinen Zwecke und der persönliche Endzweck verwirklicht werden. Diese besondre Form der sittlichen Thätigkeit ist der s i t t l i c h e B e r u f . Die verschiedenen sittlichen Gebiete verhalten sich zu diesem Begriff nicht gleichartig, und es bedarf einer Uebersicht über die Arten des Berufs, um über die sittliche Befähigung der einzelnen zu entscheiden. 1. Innerhalb der F a m i l i e sind zu unterscheiden a. die Ehe und das Verhältniß der Ältern zu den Kindern; b. das Verhältniß der Geschwister zu einander, [80] und zu den Aeltern. D i e s e Sphäre b. kann regelmäßig einen sittlichen Beruf nicht begründen. Denn die Verhältnisse derselben sind an sich nur Durchgangspunkte der sittlichen Entwicklung. Die Sorge für die Aeltern wird nie das ganze Leben ausfüllen, und ein Beruf für Geschwister zu sorgen, hat ebenso viel Motive außerhalb als innerhalb des Familienverhältnisses z. B. die Fürsorge einer unverheiratheten Schwester für das Hauswesen eines Bruders. Die Sphäre a. begründet einen ausschließlichen Beruf nur für die Frau, da diese nur durch ihre Thätigkeit in der Familie auch eine indirecte Einwirkung auf das Volksleben ausübt. Denn dem Weibe fehlt die Art des Verstandes und Willens, um einem öffentlichen Beruf vorzustehen (§ 28). Das Weib soll nicht in der Gemeinde öffentlich lehren (1 Kor. 14,34.35; 11,10; 1 Tim. 2,11.12). Deßhalb wird das Weib, wenn es nicht in die Ehe tritt, nur solchen bürgerlichen Beruf gewinnen können, der den Boden der Familie festhält, oder in einer fremden Familie einen familienartigen Boden für die Thätigkeit findet. Dagegen für den Mann ist die Ehe und die Familie zwar auch ein Boden für sittlichen Beruf, aber nicht der ausschließliche; der Mann ist vielmehr vor Allem zu einer Thätigkeit fürs gemeine Beste berufen, und er erreicht seine sittliche Charakterbildung auch ohne Familienleben; während ein Mann, der
3 f. allgemeine … aufnimmt] korr. aus die allgemeinen Zwecke der Familie, des Volkes, des Reiches Gottes mit seinem Einzelzweck verbindet 6 Endzweck] korr. aus Einzelzweck 7 besondre] am Rand statt 7 Thätigkeit] folgt 8 verschiedenen] über 19 Vgl. Rothe, Theologische Ethik 3,279 22 S. oben S. 95,18
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blos Gatte und Vater sein will, sich einer gewissen Charakterlosigkeit nicht entziehen wird. – 2. Innerhalb des ö f f e n t l i c h e n V o l k s l e b e n s eröffnet sich eine ganze Reihe besonderer Arbeitsfelder, die ebenso regelmäßig den Einzelnen ganz in Anspruch nehmen, wie sie sich unter einander ausschließen. Deßhalb bildet sich die Reihe der bürgerlichen Berufe, deren Vertreter im Verhältniß zur bürgerlichen Gesellschaft meistens zu verschiedenen Ständen sich gruppiren. Die allgemeine Voraussetzung des bürgerlichen Berufs ist das Eigenthum, das Object für eigenthümliche Zwecksetzungen in der gemeinsamen Sinnenwelt, als Gegenstand regelmäßiger und eigenthümlicher Arbeit. Der bürgerliche Beruf ist die Form für die stetige Production einer besonderen Art von Eigenthum, für eine stetige Arbeitsleistung in einem besonderen Kreise, sofern dieser Kreis als besonderer gewußt und beabsichtigt wird. Das Besondere kann aber nur gedacht werden in seiner Relation zum allgemeinen Verkehr. Demnach findet bürgerlicher Beruf nicht statt, wenn die Arbeitsleistung in jedem Moment [81] verschiedenartig ist, wenn die Arbeitsleistung in keinem Verhältniß zu den aus der Gemeinschaft sich ergebenden Bedürfnissen steht, endlich wenn keine Arbeit oder nur eine scheinbare vollzogen wird. Das Eigenthum welches in den Arten des bürgerlichen Berufs producirt, durch Austausch erworben und vermehrt wird, besteht entweder aus s i n n e n f ä l l i g e n , oder aus g e i s t i g e n Objecten. a. Die Arbeit an den sinnenfälligen Objecten bezieht sich auf die Lebensmittel; die darauf gegründeten bürgerlichen Berufe zerfallen in die a. der U r p r o d u c t i o n , Ackerbau, Viehzucht, Bergbau, b. der i n d u s t r i e l l e n P r o d u c t i o n , Gewerbe, g. des H a n d e l s , entweder selbständig oder in Verbindung mit jenen Berufen. Nun liegt es im Begriff des Lebensmittels, daß in den auf deren Production, Bearbeitung, Austausch bezogenen Berufen der Gedanke ihrer Unterordnung unter die Lebenszwecke, nämlich die Erhaltung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer einzelnen Glieder eingeschlossen ist. Hierin liegt die ausdrückliche Bestimmung der bürgerlichen Berufe zu sittlichem Beruf, wenn der Inhalt jener nur überhaupt vollständig ausgedacht wird. Dem selbstsüchtigen Motiv zur Betreibung bürgerlichen Berufs wird also auch das Bewußtsein von dem Widerspruch gegen die sittliche Aufgabe nicht fehlen. Deßhalb ist auch die Selbstsucht, wenn sie als Habsucht, Geiz, Betrügerei sich in diese Berufsthätigkeiten hineinlegt, leicht zu constatiren. – b. Die Arbeit an geistigen Objecten begründet den w i s s e n s c h a f t l i c h e n und den k ü n s t l e r i s c h e n Beruf. Diese haben ein anderes und complicirteres Verhältniß zum sittlichen Beruf. Die Production des Wahren und des Schönen bezieht sich nicht auf Mittel des Lebens, sondern auf Zwecke an sich. Beide sind also auf dem 4 Arbeitsfelder,] am Rand statt 7 bürgerlichen Gesellschaft] am Rand statt <Staatsform des Volkes>
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Gebiete der geistigen Thätigkeit, wie es scheint, dem sittlichen Berufe entgegengesetzt. In jenen beiden Berufen handelt es sich auch um Aneignung und Darstellung des Allgemeinen und Allgemeingültigen. Die K u n s t erstrebt die Darstellung der allgemein gültigen Zwecke der natürlichen und geistigen Wirklichkeit in sinnlicher Erscheinung. Die W i s s e n s c h a f t erstrebt die Aneignung des allgemein gültigen Zwecks der Dinge in Anschauung, Begriff, Urtheil, Schluß und Ueberzeugung. Die Kunstthätigkeit und die wissenschaftliche Erkenntniß ist also nur möglich in einem Streben nach Allgemeingültigem. Deßhalb ist es nicht nur leicht, daß der Künstler seine geniale Ungebundenheit und der Gelehrte seine Strenge und Rücksichtslosigkeit auch in der Gesellschaft geltend machen, und zwar ohne sich ein Gewissen daraus zu machen, daß sie den sittlichen Regeln zuwiderhandeln. [82] In dieser Richtung macht aber das Subject fortwährend die Erfahrung der Incongruenz seiner jeweiligen individuellen Fähigkeit gegen die allgemeine Aufgabe. Beide Formen geistiger Production können also nicht ausgeübt werden, ohne daß auf jedem Schritte jene Incongruenz überwunden werde. Die Kunstthätigkeit und das wissenschaftliche Streben nach der Wahrheit fordert Resignation, Geduld und Energie gegen die jeweilig beschränkte Erfahrung und Gemüthsstimmung. D. h. Selbstbeherrschung und Gewissenhaftigkeit sind die Tugenden, ohne welche weder künstlerischer noch wissenschaftlicher Beruf denkbar sind. Da diese Tugenden aber nicht verwirklicht werden, außer im Zusammenhang mit allen übrigen, da umgekehrt diese berufsmäßige Tugendbildung nicht ergänzt werden darf durch untugendhaftes Benehmen außer dem Berufsleben, so ist die sittliche Güte im Allgemeinen nöthig zum Zweck der richtigen Ausübung jener Berufe, und so werden sie sittliche Berufe. Dies erprobt sich insbesondere in folgender Rücksicht. Das Ideal kann nicht in der Kunstthätigkeit erstrebt, und der richtige Werth der Erkenntnißgegen1 wie … scheint,] am Rand 2 Aneignung] über 10–13 Deßhalb … zuwiderhandeln.] am Rand 15 die] folgt 17 werde.] folgt 18 Die … und] über der Zeile 18 das] Ms.: Das 20 Gemüthsstimmung.] folgt 21–116,7 D. h. … so:] am Rand 28 Rücksicht.] folgt
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stände in ihrem allgemeinen Zusammenhang nicht gefühlt werden, ohne daß Künstler und Forscher ohne Selbstsucht und Eitelkeit sich in dem allgemeinen sittlichen Verkehr als sittliche Menschen bewähren. Insbesondere Hiemit ist jedoch nur erst d i e N o t h w e n d i g k e i t d e r s u b j e c t i v e n Tu g e n d b i l d u n g a l s B e d i n g u n g d e s k ü n s t l e r i s c h e n B e r u f s erwiesen, noch nicht die Bestimmung desselben als objectiv sittlicher Beruf. Dies geschieht so: Jedes Kunstwerk, wenn es auch der Absicht des Künstlers gemäß Zweck in sich ist, soll doch seinen Werth erproben am Beifall der Liebhaber. D. h. es muß sich zeigen, daß das Kunstwerk im Gefühl der Genießenden nacherzeugt und so der ideale Eindruck, aus dem es entstanden, fortgepflanzt werde. Diese Art der allgemeinen Kunstbildung muß in der künstlerischen Thätigkeit irgendwie mitbeabsichtigt sein; denn in einer bewußten Gleichgültigkeit dagegen läge nichts weniger als die Garantie richtigen Künstlerberufs. Jene in der allgemeinen Absicht der Kunstthätigkeit einzuschließende Einwirkung auf die allgemeine Kunstbildung hat aber insofern specifisch sittlichen Werth, als auch das sittliche Handeln als Einheit des sittlichen Zweckes und einer eigenthümlichen Erscheinung, eine künstlerische Thätigkeit ist. Deren Ausbildung aber hängt von einer Entsinnlichung des Gefühls, einer Idealisirung des Geschmacks, einer Harmonisirung der Stimmung ab, welche durch die allgemeine Kunstbildung bedingt sein wird. Indem also der Künstler diese Einwirkung seiner Kunst auf die sittliche Bildung kennen und anerkennen muß, muß er seinen Beruf als sittlichen anerkennen. Ebensowenig kann die w i s s e n s c h a f t l i c h e Berufsthätigkeit davon abstrahiren, daß die erstrebte Wahrheit und Allgemeingültigkeit der Erkenntniß ihre Probe an der Belehrung Anderer findet. Indem also diese Art sittlicher Gemeinschaft zwar nicht absichtlich eingeschlossen zu sein braucht, aber auch nicht absichtlich ausgeschlossen [83] sein darf, so weiß sich der wissenschaftliche Forscher in eine Gemeinschaft gestellt, die er sowohl durch Vermehrung der Erkenntniß der Objecte und durch Schärfung des Urtheils auch in Hinsicht der sittlichen Aufgaben zu fördern oder wenigstens nicht zu beschädigen sich bewußt sein muß. Dies betheiligt aber auch seinen wissenschaftlichen Beruf als sittlichen an der sittlichen Gemeinschaft. Eine stärkere Disposition zu dieser Würdigung ihrer Berufe hat übrigens der wissenschaftliche Forscher vor dem Künstler voraus. Die wissenschaftliche Arbeit ist im engsten Sinne eine gemeinschaftliche schließt also auf jedem Schritte die Aufforderung zu sittlicher
3 Insbesondere] folgt 4 erst] über der Zeile 18 Deren] korr. aus ÎJeù 19 , einer] korr. aus, und 26 Gemeinschaft] folgt 31 oder … beschädigen] am Rand
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Selbstverläugnung in sich. Die künstlerische Arbeit isolirt den Künstler und spannt gerade seine individuelle Anlage in der stärksten Weise an; es ist also demselben schwerer gemacht das richtige sittliche Maaß für seine Selbstbeurtheilung zu finden. – c. Den Privatberufen gegenüber stehen die A m t s b e r u f e des öffentlichen Lebens. Ihr gemeinsamer Inhalt ist bei aller Unterscheidung der Verwaltungs- Justiz- Militär-Lehr-Ämter die Aufgabe, dem Volke die Ausübung seines Rechtes und den Character der sittlichen Bildung zu vermitteln. Deßwegen sind diese Berufsarten an sich und unmittelbar sittlicher Natur, und es braucht nicht erst durch einen Schluß oder indirect die sittliche Bestimmung dieser Berufe erwiesen zu werden. Alle Auctorität, die an diesen Arten des Berufs haften soll, ist auch nur begründet durch die sittliche Tüchtigkeit, mit welcher die bestimmte Berufsaufgabe vollständig ausgeübt, und die Grenzen derselben eingehalten werden. Der Mangel der erstern und das Uebermaß des letztern dienen nur dazu, die Auctorität zu erschüttern; und umgekehrt, wo eine allgemeine Erschütterung der öffentlichen Auctorität eintritt, im Falle jeder Revolution, ist zu schließen, daß die Leiter des Staates ihrem Beruf nicht gewachsen gewesen sind, oder ihn überschritten haben, kurz daß sie die sittliche Verpflichtung die in ihremBeruf lag nicht als solche erkannt und ausgeübt haben. – Der sittliche Beruf im Bewußtsein der Besitzlosen, deren Arbeit darin aufgeht sich von Tag zu Tag zu erhalten, oder welche in der Fabrikthätigkeit auf einen ganz engen Wirkungskreis in der Unselbständigkeit gegen die Masse angewiesen sind? Hiemit sind die Arten des sittlichen Berufs erschöpft. Rothe III, S. 278 statuirt noch einen Beruf des geselligen Lebens, und als entsprechenden Stand den Cavalierstand. Rothe subsumirt alle sittliche Thätigkeiten unter den Begriff der Pflicht, und läßt daneben kein Gebiet des Erlaubten übrig, in das doch die Geselligkeit hineingehört. Aber die Geselligkeit [84] ist keine direct sittliche Thätigkeit, da sie allgemeine Zwecke ausschließt, und blos die Individualitäten als solche darstellt. Die Geselligkeit ist freilich widersittlich wenn die Individualität roh und gemein ist, und sie ist der sittlichen Aufgabe congruent, wenn sie ein Anlaß zur Tugendübung ist. Aber vom Begriff der Pflicht ist die Geselligkeit als etwas Erlaubtes eximirt, und kann weder Beruf noch Stand begründen. (Vgl. § 62).
11 Arten] korr. aus Art 12 Tüchtigkeit,] am Rand statt 19 solche] korr. aus solchen 20–23 Der … sind?] am Rand 27 übrig,] folgt 24 Rothe, Theologische Ethik 3,278 Anm. 34 S. unten S. 176,7
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§ 35. 31 D a s V e r h ä l t n i ß d e s s i t t l i c h e n B e r u f s zum Reich Gottes. Rothe § 1025.1026. IV, S. 432 ff. Die hervorragende Geltung des Begriffes des Berufs auf dem Gebiete der sittlichen Thätigkeit wird nicht ausgeschlossen oder überschritten, indem die Sittlichkeit auf die Idee des Reiches Gottes begründet wird. Freilich, wenn man alle bürgerlichen staatlichen geistigen Berufsarten blos zur Welt rechnet, so wird der Begriff auf dem von Johann Arnds „Wahrem Christenthum“ vertretenen Standpunct werthlos. Die abstracte, sich nicht zur Ordnung der sittlichen, Thätigkeit aufschließende Religiosität, die in diesem Buche herrscht, hat für unseren Gegenstand nur die Kategorie, daß der Christen Erbe und Güter nicht in dieser Welt sind, darum sie das Zeitliche als Fremdlinge sich gebrauchen sollen (nach Hebr 13,14). hingegen Calvin III,10,6 und Luther An den Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (im Eingang). de votis monasticis. C. A. II, 5.6. Es ist aber nicht die allgemeine Regel des Gottesreiches in der Aufforderung Christi an seine Jünger enthalten, daß sie, um ihm zu folgen, alles verlassen sollen (Mc. 10,21.28). Dies ist die Bedingung für den Beruf der zukünftigen Apostel. Aber nur in dem Fall, daß der Beruf in der bürgerlichen Gesellschaft und der Familie den religiösen Beruf hindert oder beeinträchtigt, hat der letztere den Vorrang (Mth. 10,37). – Vielmehr erhebt das Christenthum jeden Beruf durch das Zusammentreffen der religiösen Berufung mit ihm zu sittlichem Werthe (1 Kor. 7,20–24). cf. 1 Th. 4,11. 3 Rothe … 432 ff.] am Rand mit Bleistift 8 f. vertretenen Standpunct] über der Zeile und am Rand 14 f. hingegen … monasticis.] am Rand 16 C. A. II,5.6.] am Rand 3 Rothe, Theologische Ethik 3,432–438 8 Nach GdP 1,52 ist an Johann Arndt, Vier Bücher vom wahren Christenthum, Buch I Kapitel 17 (1,157–169) und 23 (1,233–241) gedacht. 14 Calvin, Institutio III 10,6 CR 30,532; ed. Barth 4,180,36 14 Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (1520). In: Sämtliche Schriften, ed. Walch 10,305; WA 6,409,1–8; vgl. Ritschl, Unterricht § 28 Anm. c, ed. Axt-Piscalar 44 15 Wenn de votis monasticis sich auf das Vorhergehende bezieht, dann ist gemeint: Luther, De votis monasticis iudicium (1521); Wittenberger Ausgabe Band 2 (1546), 314; WA 8,646,34 f.; 647,10–12; vgl. Ritschl, Unterricht § 28 Anm. c, ed. Axt-Piscalar 44 f. Bezieht es sich auf das Folgende, dann geht es auf Confessio Augustana XXVII (= II 6) „De votis monasticis“, ed. Hase 32; BSLK 110–119 16 Confessio Augustana XXVI.XXVII, ed. Hase 28.32; BSLK 100.110
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Socialer Beruf und religiöse Berufung sind nämlich nie Resultat empirischer Freiheit oder bewußter Absicht, sondern zu beiden verhält sich der Mensch, äußerlich angesehen, unfrei. Aber wie der Mensch nur durch die Berufung zu göttlichem Heil den vollen Umfang seiner sittlichen Bestimmung und Freiheit gewinnt, so weiß sich der Mensch auch nur im Berufe seiner Fähigkeiten mächtig und zum Widerstande gegen die Beschränkung geschickt, welche von der menschlichen. Gesellschaft ausgeht. Aber allerdings wird sich das sittliche Freiheitsgefühl im Berufe nie so weit erstrecken, um den Eindruck einer Nöthigung zu demselben aufzuheben; im vollsten Maaße nicht, wenn auch der Sklavenstand als Beruf angesehen werden soll. [85] Wenn nun aber unter dem Gesichtspunkt der göttlichen Berufung der specifische Glaube an die väterliche Vorsehung Gottes aufgefaßt wird, so ergiebt sich auch für den Sklavenstand die versöhnende Lösung zwischen Nöthigung und Freiheitsgefühl. Der Sklave, der sich als Kind Gottes weiß, weiß, daß auch die schmähliche sociale Stellung, die ihm aufgenöthigt ist, Gottes Bestimmung gemäß ihm zur Entwickelung seiner sittlichen Anlagen und Erreichung seiner Bestimmung dienen muß (Rom. 8,28). Derselbe Grundgedanke erstreckt sich aber auch auf alle Lebensstellungen; denn so unbedingt ist Niemand von vornherein mit seinem Beruf ausgesöhnt, daß er nicht hin und her der Besinnung darauf bedürfte, daß er in dem ihm von Gott verliehenen Beruf ausharren, dessen Unannehmlichkeiten tragen, aber auch nicht denselben überschreiten dürfe. In dieser durch den Gedanken der Berufung vermittelten Eingliederung des sittlichen Berufsbewußtseins in den Umfang der göttlichen Providenz liegt ferner der Schutz dagegen, daß man seinen Beruf innerhalb der menschlichen Gemeinschaft überschätze, und ihn von den allgemein sittlichen Interessen ablöse. Denn jede Berufsstellung und jedes Standesbewußtsein ist in seiner Weise dieser Gefahr ausgesetzt. Ferner aber ist auch der bürgerliche Beruf, wenn er als sittlich aufgefaßt, und wenn er als Mittel für das Reich Gottes ausgeübt wird, das Gebiet des eigentlichen Dienstes Gottes, den das Christenthum gestattet und fordert. Vergleiche die Beurtheilung des Sklavenstandes (1 Petr. 2,18–20; Kol. 3,22–24; Eph. 6,5–8) und des Apostelberufs (Rom. 1,9; 15,16; Phil. 2,17; Gal. 1,15.16; 1 Kor. 9,16.17). Aller sonst so zu nennende Gottesdienst, wird seinen Werth nur haben in seiner Unterordnung unter den sittlichen Dienst Gottes in der Berufsarbeit. – Andererseits ist der sittliche Beruf auch ein für den Zweck des Gottesreiches nothwendiger Begriff, denn er ist die Form der Freiheit im Gesetz der aus der Erlösung hervorgehenden Autonomie. Dies erprobt sich an der Regel für die Bildung des Begriffes der sittlichen Pflicht in dem unermeßlichen Umfang der 118,25 cf. … 4,11.] am Rand; folgt 6 gegen … Beschränkung] am Rand 20 verliehenen] korr. aus Be 33–36 Andererseits … an der] am Rand statt
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im Allgemeinen gebotenen Liebe. Denn so wie dies Gebot dem Umfange des Gottesreiches entspricht, so kann dasselbe in einem Sinn verstanden werden, der eine aufs Äußerste zersplitterte Thätigkeit fordert und alle Sammlung und Concentrirung ausschließt. Wenn aber der besondere Beruf als die Form unserer sittlichen Thätigkeit erkannt ist, als die Grenze, in der die Aufgabe des Gottesreiches regelmäßig geübt werden muß, so ist die Aufgabe der Nächstenliebe als eine erfüllbare zu erweisen. Hienach ist die Gal. 6,10 bezeichnete Abstufung nicht eine zufällige, [86] sondern nach dem besonderen Berufe der Christen für ihre besonderen Gemeinschaftszwecke bemessen (§ 18.). Also fordert das Christenthum nichts weniger als eine Polypragmosyne, über deren Ausübung die nächsten Pflichen vielleicht vernachlässigt werden. Der Beruf ist die Form des einheitlichen Lebenswerkes (Jak. 1,4; Gal. 6,3.4) worauf man sein Selbstgefühl auch im Verhältniß zu Gott und dessen Gericht stützt (1 Kor. 3,6–8; 4,1–4; 1 Thess. 2,19; Phil. 2,16; Rom. 15,16–18). Exempel an Zinzendorf, Lebensbeschreibung von Reichel (1790) S. 18.40–45.47–49.52.130. Indem er auf den Wunsch seiner Familie ein Hof(Verwaltungs)amt in Dresden annahm, that er es mit dem Vorbehalt, demselben möglichst wenig Zeit und Mühe zu widmen, sondern die Gelegenheit der größern Stadt zu benutzen, um dem Heilande Seelen zu gewinnen. Es gereicht ihm bei dieser vorsätzlichen Untreue gegen sein Amt zur Entschuldigung, daß in seiner Zeit dem Staate kein sittlicher Werth beigemessen wurde, sondern daß der Staat als Privateigenthum der despotischen Fürsten, als Anhang des Hofes betrachtet wurde. Aber unserer Einsicht gemäß ist die Betrachtungsweise unsittlich; aber auch Zinzendorfs späterer Ansicht gemäß. Vgl. Varnhagen S. 263. „Die Ämter in der Gemeinde können auch mit Menschen besetzt werden, die keine Kinder Gottes sind, wenn sie übrigens dazu geschickt sind.“
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§ 36. 32 D a s V o r b i l d C h r i s t i . NB. Apologia C. A. XIII § 48–50: Perfectio est in hoc quod Christus addit (Mth. 19,21): Sequere me. Exemplum obedientiae in vocatione propositum est … Vocationes sunt personales, sicut negotia ipsa variant temporibus et 30 9 (§ 18.)] über der Zeile mit Einfügungszeichen nach dem Punkt 11–14 Der … 15,16–18)] am Rand 12 Jak. 1,4;] über der Zeile 24–26 „Die … sind.“] im freien Teil der Zeile und am Rand 28–121,3 NB … vocationi.] am Rand 9 S. oben S. 88,8 (§ 25!) 14 Reichel, Leben des Grafen von Zinzendorf 18.40–45.47–49.52.130 24 Varnhagen von Ense, Leben des Grafen Ludwig von Zinzendorf, 263 28 Apol. XXVII 48–50, ed. Hase 287; BSLK 391,44–46; 392,4–11
§ 36 Vorbild Christi
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personis, sed exemplum obedientiae est generale. Perfectio erat futura illi iuveni, si huic vocationi credidisset et obedivisset: ita perfectio nobis est, obedire unumquemque vera fide suae vocationi. Abgesehen davon, daß Christi Leben und Leiden Mittel der göttlichen Liebesoffenbarung ist, durch welche nach unserer dogmatischen Erkenntniß die Gemeinde gegründet und die Umwandlung des Menschengeschlechts und seiner geistigen Geschichte herbeigeführt worden ist, wird Christi Leben und Leiden von den Aposteln in der Begrenzung des ethischen Processes als Vorbild der Gläubigen bezeichnet. Denn die im Gottesreich gebotene Liebe macht den Inhalt des persönlichen Lebensbildes aus; und mit Rücksicht auf die Liebe Christi (Eph. 5,2; 1 Kor. 11,1; Rom. 15,7; 1 Joh. 2,6) sowie auf seinen praktischen Gemeinsinn (Phil. 2,5 ff.) sind die hauptsächlichen Aussprüche der Art gemeint. Weiterhin ist daraus gefolgert, daß man um des Vorbildes Christi willen auch leiden müsse (1 Petr. 2,21; 4,13; 2 Kor. 1,5; Kol. 1,24). – Diese apostolischen Anweisungen werden von der m y s t i s c h e n Theologie in dem Sinne verwendet, daß eine asketische Vernichtung der Selbstheit und eine Verzichtleistung auf alle positiven Lebenszwecke herauskommt. Taulers Nachfolge des a r m e n Lebens Christi: Das wahre geistliche Leben ist die Armuth; denn Armuth ist eine Gleichheit Gottes; Gott ist ein von allen Kreaturen abgeschiedenes Wesen, Armuth ist dasselbe; abgeschieden ist, [87] was an nichts haftet, Armuth haftet an nichts außer an Gott. Der Mensch soll arm sein an Erkennen in Bildern, der Mensch soll auch an Gnaden und Tugenden arm sein, sofern sie creatürlich sind, um die einfache Tugend der mystischen Einheit mit Gott zu gewinnen. Vollkommene Armuth des Geistes erfordert auch die Armuth des Leibes. Diejenigen, welche allen Dingen ausgehen äußerlich und innerlich, und eine fleißige Einkehr haben in sich selbst, und lugen, was Gott von ihnen wolle haben, und geben der rechten Wahrheit Statt, an ihnen zu wirken, und dazu sich üben äußerlich in allen Tugenden, und was sie nicht vermögen mit den Werken, mit dem Willen vollbringen, diese sind auf dem Wege der Vollkommenheit, in sie kommt der Geist Gottes, und ziehet sie in sich; und indem sie aller Dinge ledig werden, wirket Gott in ihnen ohne alles Hinderniß; des Menschen Geist wird Ein Geist mit Gott, dadurch daß er Christo nachgehet, wie er uns vorangegangen ist. Seine Werke nach der Gottheit sind zwar nicht 6 f. Gemeinde … herbeigeführt] korr. aus Umwandlung des Menschengeschlechts und seiner geistigen Geschichte begründet 12 praktischen Gemeinsinn] über 18 Das Buch von geistlicher Armut (früher Tauler zugeschrieben) 1,1–4.6.10.114–117; ed. Denifle 3.4.56 f. – Vgl. Ritschl, Untersuchung des Buches von geistlicher Armuth; OR 2,365; 378 f.; vgl. OR 2,378 f.
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I. Theil VIII. Beruf
nachzuahmen, aber seine Werke nach der Menschheit, als arm sein, elend und verschmäht sein, Hunger und Durst haben, Pein leiden und alle Tugenden, die in Christo waren, als demüthig, geduldig, sanftmüthig sein. Denn der wahre Gehorsam, der mit Adam unterging und in Christus wider lebendig ward, ist, daß der Mensch ohne Selbstheit und ohne Ichheit sei (Martensen, Meister Eckart S. 89.90). – Die Theorie verkennt die Bedingungen, unter denen der Wille Zwecke setzt und durch seine Thätigkeit verwirklicht. 1. Wenn Christus Vorbild für unser Handeln ist, so kann der Gedanke nur ausgeführt werden unter der Voraussetzung, daß Christi Zweck auch der unsere werden kann, und daß die Selbstverläugnung, das Leiden, kurz die asketische Seite des sittlichen Lebens in Unterordnung unter den positiven Lebenszweck gefaßt und ihr Werth nur danach bestimmt werde. Indem nun in Christus als dem Endzweck seines Lebens die Darstellung der Liebe Gottes gegen die Menschen und die Stiftung des Gottesreiches erkannt ist, so ist schon § 17 erwiesen, daß die Liebe nicht den persönlichen Selbstzweck ausschließt, ferner, daß das freiwillige Leiden nicht die letzte und höchste Aufgabe Christi ist, sondern nur den Umständen entsprechendes Mittel zur Gründung des Gottesreiches und zur Erreichung der eigenen Verklärung. 2. Zwar ist nicht der Genuß überhaupt Endzweck des Lebens als sittlichen, und Niemand ist berechtigt zu einem bestimmten quantum und quale von Lustempfindung. Aber der Wille strebt überhaupt nur, sofern er durch die Erwartung von Lust gereizt wird, die ihm der Maaßstab für den Werth der erstrebten Güter ist. Ist die allgemeine Selbsterhaltung Bedingung für unsere sittliche Willensbethätigung, so ist nicht Hunger und Durst sittliche Pflicht, sondern die Lust ihrer Befriedigung die erste Bedingung für die Kraftbethätigung des sittlichen Willens. Allerdings kommt in Betracht, daß die sittliche Pflicht wieder der Maaßstab für die Quantität des erlaubten Genusses ist. Aber auch an der sittlichen Pflichterfüllung ist die Erwartung der begleitenden geistigen Lust, die Steigerung des sittlichen Selbstgefühls der unumgängliche Reiz, in welchem sich der Werth der sittlichen Zwecke einprägt. Vgl. Christus Joh 4,34. – 3. Indem jenes sein Beruf als Religionsstifter war, [88] so ordnet sich sein verschiedenartiges Thun und Leiden diesem Begriff unter. Durch diesen Begriff ist erst der specifische Werth der Persönlichkeit und des geschichtlichen Wirkens Christi herzustellen 6 89.90).] folgt Einfügungszeichen für den anschließend gestrichenen Abschnitt In … Seite 143 ff.). s. unten S. 123,30–124,21 19–32 2. … 4,34. –] am Rand 29 f. begleitenden] folgt <sittlichen und> 121,35 Zitate aus „Tauler“, in: Martensen, Meister Eckart 89 f. 15 S. oben S. 85,3 (§ 24!)
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§ 36 Vorbild Christi
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(Dogmatik § 66.70). Also ist auch sein Vorbild nicht blos im Allgemeinen darauf bezogen, daß man die Aufgabe des Gottesreiches dem einzelnen Thun und Leiden Christi absieht, daß man s|einen Gemeinsinn und Selbstverläugnung materiell nachahmt, sondern darauf, daß man aus der Einsicht in den Beruf Christi für das Gottesreich seinen eignen Beruf für dasselbe ableitet und bestimmt. So lange das Gottesreich mit dem Gegensatz der Welt zu ringen hat, bringt die Ausübung des nach dem Zweck des Gottesreiches bemessenen sittlichen Berufs für Jeden ein Maaß von Leiden mit sich. Die Zumuthung 1 Petr. 2,21 bemißt sich danach, daß die erste christliche Gemeinde noch in demselben schroff ausschließenden Verhältniß zur Welt stand, wie Christus selbst; in dem Maaß, als das Reich Gottes Raum in der Welt gewinnt, wird das Leiden geringer oder anderer Art; es wäre also eine Mißdeutung des Vorbildes Christi wenn man, um gleiches wie Christus zu leiden, in berufswidriger Weise Widerstand provocirte oder sein Leben asketisch einzwängte. Verkennung, Mißdeutung, Geringschätzung und Verfolgung erfährt die sittliche Treue und Energie schon von selbst. Damit aber gerade von dieser Seite das Vorbild Christi nicht doch verfehlt werde, ist Phil. 2,5 ff. zu beachten. Christus als das vollkommene Ebenbild Gottes war nach seinen Anlagen dazu berechtigt, eine Herrscherstellung einzunehmen. Nicht nur hat er dieselbe nicht wie Adam in gewaltthätiger Weise erstrebt, sondern auch nicht in directer Ausübung seines Rechtes. Vielmehr hat er sich in die Knechtsstellung zu Gott versetzt, und den Gehorsam gegen Gott bis zum Tode gemäß seiner Erkenntniß seines Berufs vollzogen. Der Gemeinsinn und die Selbstverläugnung in Hinsicht seiner wohlbegründeten Ansprüche an den Menschen sind hier als Züge des Vorbildes Christi aufgestellt, die auch bei der energischen Ausübung des im Gottesreich gegebenen sittlichen Berufes nicht fehlen dürfen. Diese Bedingung ist aber auch eingeschlossen indem Paulus von jedem verlangt, in seinem Beruf sich als doûlov jeoû zu bewähren (1 Kor. 7,22). – 4. Die Abmessung des sittlichen Handelns durch 3 Gemeinsinn] über 4 materiell] über der Zeile 11 als] korr. aus das 12 oder] über 21 directer] korr. aus A 24 Gemeinsinn] korr. aus Demuth 26 Züge] korr. aus Vorzüge 30–124,21 4. … Literatur!] am Rand statt Dieser Abschnitt wurde vor der Streichung durch Einfügungszeichen an eine frühere Stelle des Paragraphen versetzt; s. oben S. 122,6 2 im] korr. aus in folgt <jeder> 8 des Berufs] des über der Zeile 14 sei] korr. aus ist 15–17 voll … hingegen] am Rand 22–27 Abschluß: … Gottes.] am Rand 26 die] folgt 123,30 Zu dem gestrichenen Text (s. textkrit. App.): Nach GdP 2,49 ist das dritte Buch von Johann Arndt, „Vier Bücher vom wahren Christenthum“ „nach dem Muster Taulers gearbeitet“; Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,143 9 Strauß, Leben Jesu für das deutsche Volk 625 f.
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§ 37 Gemeinschaft der Gottesverehrung
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[89 a I] Neuntes Capitel. Die Kirche als selbstthätige Gemeinschaft.
§ 37. 33 Die Gemeinschaft der Gottesverehrung.
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Die Kirche ist die Gemeinschaft der Gläubigen. Sofern sie unter dem religiösen Gesichtspunkt als göttliche Stiftung vorgestellt und mit Glauben wahrgenommen wird, besteht sie nach C. A. 7. unter den Merkmalen der Verkündigung des Wortes Gottes nach reinem Verstand und der Ausübung der Sacramente in ihrer ursprünglichen Form. Dies sind die Mittel, durch welche Gott den Glauben wirkt und die Gemeinde der Gläubigen bildet; sie sind also die Hauptmerkmale für das Wesen und für das Dasein der Kirche. Sie sind aber nicht die einzigen Merkmale. Sofern die Kirche in ihrer Art selbstthätig wird, Subject ihrer Geschichte, treten andere Merkmale hervor. Hierüber sind aber die verschiedenen Theile der christlichen Kirche und die verschiedenen Parteien in der evangelischen nicht einig. Katholisch denkt man die hierarchische Verfassung als das Hauptmerkmal der selbstthätigen Kirche weil von ihr die richtige Lehrüberlieferung und die echte Form der Gottesverehrung abhänge. Einen solchen rechtlichen Maaßstab lehnt die evangelische Kirche ab; weil Recht und Religion sich nicht decken. Nach diesem Maaßstab würden wir zugestehen, überhaupt nicht Kirche zu sein. Auf die Vielheit der staatskirchlichen Bildungen des Protestantismus begründet Rothe das Urtheil, daß seit der Reformation die Kirche immer mehr im Staate verschwinden müsse, weil der Staat als die vollkommene Gemeinschaft der Sittlichkeit auch die adäquate Erscheinung der Frömmigkeit oder Religion sei, das Christenthum aber die absolut sittliche Religion. Nach § 32 ist der Staat nicht die Gemeinschaft der Sittlichkeit als solcher, sondern die Gemeinschaft des Volkes in der relativ sittlichen Gemeinschaft des Rechtes; ferner das sittliche Handeln ist eine Erscheinung der christlichen Religion, aber nicht die einzige. [89 b I] Denn sofern das Christenthum als die absolute sittliche Religion
1 Neuntes] Das 9. Kapitel mit § 37–39 (im Ms. ursprünglich S. 89–96, s. Beilage I.1 unten S. 194) wurde auf zwei Folioblättern neu gefaßt, die mit den Seitenzahlen 89a und b sowie 89c und d versehen sind. Da die Blätter einmal gefaltet und als Quarthefte beschrieben sind, ergibt sich die oben im Text eingefügte Seitenzählung. 23 Staat] folgt 1 Als Neuntes Capitel enthielt Ms. B* zunächst auf S. 89–96 den unten S. 194 Beilage I.1) abgedruckten Text, der noch der Vorlesung WS 1867/68 (V 7) zugrunde lag. Später faßte Ritschl das Kapitel neu auf den eingelegten Blättern S. 89 a I bis 89 c II, wobei er § 38 eine neue Überschrift gab. 5 Confessio Augustana VII, ed. Hase 11; BSLK 61 19 S. oben S. 106,24 23 S. oben S. 107,8
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I. Theil IX. Kirche
doch überhaupt Religion ist, so producirt es einen Cultus im technischen Sinn, und in dieser Hinsicht ist die Gemeinschaft der Christen ecclesia. Die Christen haben die Priesterwürde (1 Petr. 2,4.5.9; Apok. 1,6; 5,10; Hebr. 7,19; 10,22; 13,15.16; Rom. 12,2; Eph. 2,18), das Recht, Gott zu nahen. Ihr Opfer ist das Opfer der Lippen, das Gebet (1 Petr. 2,5; Hebr. 13,15 cf. Hos. 14,3) das Bekenntniß Gottes gleich Dank und Anerkennung der Ehre Gottes (Eph. 1,6), dem das Bitten nur untergeordnet ist (Kol. 3,16; 1,12; 1 Th. 5,18; Phil. 4,6; Hebr. 12,28, V a t e r u n s e r ). Das Bekennen Gottes im Gebet ist die Selbstthätigkeit der Religionsgemeinde, also das wesentlich ethische Merkmal der Kirche. Daneben fordert Jesus, daß man ihn in seiner Würde vor den Menschen bekennen soll (Mth. 10,32 cf. Rom. 10,9.10; Hebr. 3,1; 4,14; 10,23.; 1 Joh. 2,23; 4,15). Dies ist nur indirect eine religiöse Thätigkeit, indem dadurch die religiöse Eigenthümlichkeit dieser Gemeinde von der Welt unterschieden und zur Gewinnung derselben angewendet wird. Dies ist noch weit von einem Lehrbekenntniß entfernt. Ein Ansatz zum antithetischen Bekennen 1 Joh. 4,2; 2 Joh. 7. Indem der Anlaß dazu im Gnosticismus zur vollen Entwicklung kommt, ist die Glaubensregel oder das apostolische Symbol als das erste antithetische Bekenntniß gebildet worden, und in dieser Weise sind alle übrigen kirchlichen Bekenntnisse entstanden, wenn Häresien oder andere Trennungen eintraten. Nur diesen beschränkten und secundären Spielraum haben die theoretischen Bekenntnisse der Particularkirchen. Im Vergleich mit der Bestimmung der Kirche zur E i n h e i t auch als selbstthätige Größe sind [89 b II] die Lehrbekenntnisse zufällig oder hinderlich. Sie sind aber auch für jede Particularkirche nicht wesentliche Merkmale, da sie keine Formeln der Gottesverehrung oder des Gebetes sind. G r u n d l a g e n der Particularkirche sind sie auch nur, wenn man diese als Rechtsgemeinschaft denkt; wie ein Verfassungsgesetz die Grundlage des Staates ist, solange es Rechtskraft hat. Aber wie eine Verfassung doch ihrer Entstehung nach ein Product des Staates ist, und als solches bezeichnet ist durch die Möglichkeit ihrer Aufhebung, so ist jedes kirchliche Bekenntniß gleich Lehrgesetz nur im relativen Sinn Merkmal einer rechtlichen Particularkirche. Ueber diese Beziehungen liegt in den reformatorischen Symbolen nichts vor, da man gar nicht darauf aufmerksam war. Die C. A. hat blos den allg|emein religiösen und dogmatischen Begriff von der Kirche festgestellt und das kirchliche Amt als rechtliches Merkmal der sich selbst vollziehenden Gemeinschaft der Gottesverehrung. C. A. 7 giebt auch nicht indirect die Merkmale der particularen activen Kirche an. Denn pura doctrina evangelii, die Predigt des Göttlichen Worts nach reinem Verstand ist Merkmal der Kirche, indem nicht doctrina, 3 2,4.5.9;] folgt 7 1,12;] folgt <Eph.> 33 Confessio Augustana VII, ed. Hase 11; BSLK 61
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§ 38 Kirche und Reich Gottes
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sondern evangelii betont wird. Unter den Merkmalen der christlichen Vollkommenheit II,6 fehlt das Bekenntniß zu allen Glaubensartikeln, am wenigsten wird eine Lehre vom Abendmahl obligatorisch gemacht, da eine solche auch nicht unter d o c r t r i n a evangelii fallen würde. Diese melanchthoni5 sche Confessio Saxonica und modern lutherische Deutung jenes Artikels nähert sich dem socinianischen Kirchenbegriff in welchem die Kirche gleich Schule definirt wird. Catechismus Racovensis 489: Salutaris Christi doctrina est vera ecclesia. Tenere salutarem Christi doctrinam, est ecclesiae Christi natura non signum.
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[89 a II] § 38. 34 Der Unterschied und das Verhältniß zwischen Kirche und Reich Gottes. Das Bekennen oder Beten ist die Aufgabe der christlichen Gemeinde, welche daraus folgt, daß das Christenthum die vollendet geistige Religion ist. Die Aufgabe des sittlichen Handelns im Reich Gottes folgt daraus, daß es die vollendet sittliche Religion ist. Der Artunterschied beider Functionen ergiebt sich darin, daß jede sittliche Handlung zugleich Selbstzweck und Mittel zu anderen Zwecken ist. Hingegen Cultushandlungen, Gebet und was ihm gleichartig ist, ist immer nur Selbstzweck, und wird mißbraucht, wenn noch ein anderer Zweck nebenherspielt. Das Cultushandeln ist also eine Art darstellenden Handelns wie die Kunst. Aber nicht wie der Kunstgenuß, sondern gemäß der Einsetzung des Willensentschlusses in die Abhängigkeit von Gott, wie das künstlerische Schaffen. Diese Deutung begründet sich auf Rom. 12,1; Kol. 1,22.28. Diese Deutung des Cultus ist in der evangelischen Kirche von Anfang an unkenntlich gemacht durch die Hervorhebung der Predigt und noch mehr durch die Verschiebung des zu predigenden göttlichen Wortes durch Dogmatik. In dem Maaße als dies üblich ist, wird nicht christliche Kirche sondern christliche Schule verwirklicht. Ist aber das Gebet als die Substanz des Gottesdienstes anerkannt, so hat die Predigt die Bestimmung, die gemeinsame Gebetsstimmung anzuregen und zu orientiren, was durch die statutarischen liturgischen Formeln nicht allein befriedigt wird. Von dem Cultus ist das sittliche Handeln als Inhalt des Reiches Gottes 4 auch] über 5 Confessio Saxonica] über der Zeile 15 sittliche] korr. aus S 22 das] korr. aus die 2 Confessio Augustana XXVII 49 f.; ed. Hase 36; BSLK 117,28–118,2 4 Melanchthon, Confessio Saxonica „De ecclesia“, CR 28,409; ed. Stupperich 6,121,16–20 7 Catechesis Racoviensis q 489, ed. Oeder 1018 f.
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I. Theil IX. Kirche
unterschieden. Es ist also zu vermeiden, die Beziehungen der gottesdienstlichen Gemeinschaft, und die rechtlichen Formen [89 c I] dieser Gemeinschaft als Reich Gottes zu bezeichnen. Man kann in jener Beziehung Großes leisten und in dieser Hinsicht unfruchtbar sein Mt. 7,21–23. Aber irreführend ist auch in dieser Hinsicht die Lehre Luthers und Calvins von dem regnum Christi spirituale, welches nur gleich Kirche ist, obgleich Beide vorbehalten, daß dabei keine rechtliche Ordnung mitgedacht werde. Denn Melanchthon ist so indiscret gewesen, das ministerium verbi divini einzurechnen; dann kommt man zu der katholischen Verwechselung von Gottesreich und rechtlich verfaßter Kirche. Aber beide Functionen der christlichen Gemeinde sind auf Wechselwirkung angewiesen. Nach § 23 ist die Thätigkeit im Reich Gottes nicht sinnenfällig; die Zusammengehörigkeit zu diesem Zweck ist also nur erkennbar an der Cultusgemeinschaft. Umgekehrt ist die Cultusgemeinschaft bedingt durch die gegenseitigen sittlichen Hilfsleistungen, die religiöse Erziehung durch die sittliche. Zur religiösen Erziehung gehört nun auch ein Element der Schule und zum richtigen gemeinsamen Beten gehört auch ein vollständiges Verständniß des Christenthums. Deshalb hat die Kirche nach ihrem ethischen Begriff in der Form der Selbstthätigkeit zu Merkmalen das Bekenntniß gleich Gebet und das kirchliche Glaubensbekenntniß oder die Lehrordnung und Cultussitte. Das Wort Gottes und die Sacramente wirken auch von Gott her nur so, wie die Gemeinschaft der Gläubigen sich auch durch jene activen Merkmale vollzieht. Sie sind sowohl Folgen als Bedingungen jener Hauptmerkmale der Kirche. Ebenso sind die Rechtsmerkmale der Kirche namentlich das kirchliche Amt Folge und Bedingungen der ethischen Merkmale der Kirche. Haben aber mit Reich Gottes nichts zu thun.
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[89 d I] § 39. 35 Das Verhältniß der evangelischen Kirche zu den andern Particularkirchen und zu den Secten. Da die Einheit auch für die Kirche im ethischen Sinne ein nothwendiges Merkmal ist, so wird man durch die Erscheinung befremdet, daß die Kirche 30 in vielfacher Weise getrennt ist. Allein diese Thatsache folgt im Allgemeinen
4 leisten] korr. aus L 4–10 Aber … Kirche.] in eckigen Klammern 7 Denn] Ms.: Den 10 und] folgt 5 S. oben S. 80,6; 82,24; 83,7 7 S. oben S. 80,7; 82,24 11 S. oben S. 80,1
§ 39 Kirche und Secten
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aus der nothwendigen Weltstellung des Christenthums. Soll sich dasselbe als die Religion der Menschheit bewähren, so muß es die früheren Bildungszustände in Religion Sitte, Politik innerlich überwinden, muß sie also in sein Gebiet aufnehmen. In der griechischen Kirche wiederholt sich die im altrömischen Staat herrschende Verbindung und Abhängigkeit des Sacerdotium vom Imperium. In der römischen Kirche bedeutet die Herrschaft des Klerus die Combination der platonischen Republik mit dem Manichäismus, daß die Wissenden herrschen, und daß die perfecti die eigentlichen Mitglieder der Religionsgemeinde sind, was in der Person Augustins zusammenkommt. In der schulmäßigen Orthodoxie beider evangelischen Confessionen welche deren Trennung herbeigeführt hat und aufrecht erhält, wirkt der Grundsatz der hellen|ischen Philosophie, daß das theoretische Erkennen die geistige Hauptfunction sei, welche das Fühlen und Wollen beherrscht, welche den Willen zum Guten bestimmt und den Werth der Person feststellt. In den Secten wiederholt sich die Haltung der nacharistotelischen Philosophie, in der Verzweiflung daran, daß die Sittlichkeit anders als im Individuum zu Stande komme und daß eine sittliche Organisation der Menschheit erreichbar sei. Diese Proben scheinen nun aber zu beweisen, nicht daß das Christenthum die außerchristlichen Bildungsmotive überwindet, sondern, daß es von denselben [89 d II] überall getrübt und eingeschränkt wird, daß es abstirbt, wo die unterchristlichen Maaßstäbe ungehindert in den eigentlichen Sinn des Christenthums eingerechnet werden. Dagegen gilt unsere religiöse Hoffnung auf Reformation der Kirche und die Beobachtung, daß in allen Particularkirchen Personen sind, welche die religiöse und sittliche Bestimmung des Christenthums wirklich erfüllen. Insbesondere aber lehrt die Erfahrung im Protestantismus, daß mit der schulmäßigen Orthodoxie bisher immer die Ueberlieferung der Religiosität fortwirkt, welche der Reformation des 16. Jahrhunderts entspricht. Neben der verkrüppelten dogmatischen Tradition wirkt die richtige asketische Tradition, die Gotteskindschaft. – Allerdings ist aller Particularismus Ausdruck der Weltlichkeit, und der absichtliche kirchliche Particularismus ist das Gegentheil der dem Christenthum zustehenden Weltüberwindung. Also ist in jeder Particularkirche Pflicht, nach der Einigung der Kirche zu streben. Diesem Streben können wir freilich keinen direct erfolgreichen Ausdruck geben. Die katholischen Kirchen verschließen sich demselben entweder ganz, oder die römische wählt dazu die falschen Mittel der Intrigue und Gewalt. Aber auch der Vereinigung der beiden evangelischen Confessionen die in der Auffassung der persönlichen Religion 10 17 30 33 37
beider] folgt und … sei.] in eckigen Klammern absichtliche] über der Zeile Streben] folgt der] folgt
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nicht von einander abweichen, stehen eine Menge von nationalen und politischen Gründen, abgesehen von den dogmatischen Vorurtheilen entgegen. Endlich gehört zu einer Union ein quantitatives Gleichgewicht der zu unirenden Particularkirchen, und eine Fortbildung der Lehre von der intellectuellen zu der religiösen Auffassung der Religion, welche vor 50–60 Jahren und seitdem nicht erreicht ist. Hingegen abgesehen von jeder Union [89 c II] ist innerhalb der protestantischen Kirche die Abendmahlsgemeinschaft nicht blos möglich, sondern nothwendig und auch jeder Katholik, der es nicht aus frivolen Rücksichten begehrt zuzulassen. Denn es heißt blos den Particularismus der römischen Kirche nachahmen, wenn man den von Melanchthon (Confessio Saxonica 1551) ausgesprochenden Grundsatz befolgt, der unter den damaligen Verhältnissen begreiflich ist. Es kommt auf die Stiftung Christi an und nicht auf römisches und lutherisches Abendmahl. Unter den obwaltenden Umständen der evangelischen Kirchen ist auch volle Abendmahlsgemeinschaft das genügende Ziel, das zu erstreben ist. – Hingegen das Verhältnis zwischen Kirche und Secten steht anders. Soweit nämlich Mennoniten, Baptisten, Methodisten ihr Princip aufrecht erhalten, und nicht etwa davon zurückweichen, schätzen sie das Verhältniß zwischen Gemeinschaft und Einzelnen gerade umgekehrt als die Kirchen. Diese verstehen den Einzelnen immer als ein Ganzes, was aus dem umfassenden Ganzen in unmeßbarer Weise bedingt ist, und wieder auf dasselbe zurückwirkt. Die Secten verstehen die Gemeinschaft nur als Summe der Einzelnen Bekehrten, welche ihren Stand empirisch nachweisen müssen. Daher haben sie keine Erziehung, und erkennen nicht die Christlichkeit der Christenkinder an, deshalb fristen die Secten ihre Existenz durch Aussaugung der Kirchen, deren Christlichkeit sie theoretisch bestreiten. Diese Controverse spitzt sich in der Frage nach dem Recht der Kindertaufe zu. Sie ist weder apostolische Institution, noch im strengsten Sinne Sacrament, aber sie gewährleistet den Grundsatz der religiösen Erziehung innerhalb der Kirche, und bürgt dafür daß diese ein Ganzes und nicht eine Summe ist.
20 immer] folgt 10 Melanchthon, Confessio Saxonica „De coena Domini“: „Vult hanc publicam sumptionem confessionem esse, qua ostendas, quod doctrinae genus amplectaris, cui coetui te adiungas.“ CR 28,417; ed. Stupperich 6,129,7–9
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§ 40 Einleitung
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[97] I I . T h e i l : D e r P r o c e ß des religiös-sittlichen Willens.
Zehntes Capitel. Die Gotteskindschaft.
§ 40. 36 vgl. § 14. E i n l e i t u n g . 5 Die Aufgabe der theologischen Ethik ist die Darstellung des selbständigen ac-
tiven Lebens aus dem Princip der christlichen Religion. Die Darstellung des sittlichen Processes, der in dem christlichen Subject zu Stande kommt, hat also zur Voraussetzung, daß die Rechtfertigung und die von Gott gesetzte Heiligkeit der Person der intelligible Grund der besonderen sittlichen Wil10 lensbewegung ist, so daß diese trotz des Selbstgefühls der Willensfreiheit im Subject selbst als von Gott abhängig anerkannt werde. Es kommt aber zunächst darauf an, in welcher Gestalt diese intelligible Bestimmtheit des persönlichen Wesens in das empirische Bewußtsein tritt, und so ein Gegenstand des Strebens und der Uebung, überhaupt Aufgabe für den Willen wird. Frei15 lich liegt es in der Natur der intelligibeln Bestimmtheit, daß sie sich nur indirect, im Bewußtsein abspiegelt; die Functionen in denen dies geschieht, werden in dem Begriff der Gotteskindschaft auf den Urheber und Zwecksetzer des sittlichen Processes zurückgeführt. Es kommt also auf die Form und den 5 f. selbständigen activen] am Rand statt <sittlichen> 6 Religion.] korr. aus Religiosität. 8 Rechtfertigung … gesetzte] am Rand 10 ist,] Ms.: ist. 10 f. so … werde.] am Rand 15 f. indirect,] folgt 18–133,7 Es … fide.] am Rand um die schon vorhandenen Zusätze herumgeschrieben statt < Vorher sind aus dem ersten Theile folgende Resultate zu recapituliren. 1. ‚Sittlich im Sinne des Christenthums‘ (korr. aus Religiös-sittlich) ist der Wille, sofern er nicht blos überhaupt durch Einen allgemeinen Endzweck bestimmt ist, sondern sofern er das Reich Gottes als solchen setzt, oder sofern die Liebe das Motiv seines Handelns ist. 2. Die Allgemeinheit des sittlichen Endzwecks wird in dem besonderen sittlichen Berufe zur Bestimmtheit des individuellen Willens, sofern der besondere Beruf die Form ist, in welcher die Uebereinstimmung der ‚individuellen‘ (über <sittlichen>) Anlagen und des allgemeinen Endzwecks verwirklicht wird. 3. Demnach bietet der Begriff des besonderen sittlichen Berufs die concrete Grundlage für den specifisch sittlichen Willensproceß, und für die Anwendung der allgemeinen Regel des sittlichen Handelns auf den Einzelnen, d. h. der Begriff des Berufs ist das Maaß für den Begriff von Tugend und von Pflicht. 4. Die relig|iöse christliche Begründung der ethischen Begriffe wird nicht dadurch verbürgt, daß sie an positiver göttlicher Lehrauctorität gemessen wer4 Zu vgl. § 14. (mit rotem Farbstift) s. oben S. 61,19
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II. Theil X. Gotteskindschaft
Inhalt des Rechtfertigungsbewußtseins an, in welchem die religiöse Selbständigkeit des evangelisch Gläubigen sich bewährt. (Vgl. drittes Capitel § 19) So wie die Orthodoxie beider Confessionen den Frieden des Gewissens, also ein bestimmtes Gefühl zum Attribut des rechtfertigenden Glaubens und zum Abschluß der poenitentia rechnet folgert der Pietismus, daß man dieses erstreben müsse, also durch Meditation, Gebet. Dagegen machen die Kirchlichen geltend, nicht immer treffe dieses subjective Gefühl mit der wirklichen Rechtfertigung zusammen; man sei gerechtfertigt auch wenn man nur einen schwachen Glauben habe, man solle einen starken Glauben hervorrufen durch Vertiefung in das Object. Damit ist doch nur dieselbe Aufgabe gestellt, wie durch den Pietismus. Denn woran soll man die genügende Stärke des Glaubens erkennen, außer an einem deutlichen Selbstgefühl und der Lust daran. Das Object der Meditation ist aber die allgemeine Verheißung, und den medius terminus für die Anwendung auf mich festzustellen will eben auf dem Wege der Orthodoxie und des Pietismus nicht gelingen. Aber die Aufgabe ist überhaupt schief gestellt. Man versichert sich seiner Qualität als Mensch dadurch daß man in d e r Weise thätig ist, nicht dadurch daß man über seine Herkunft grübelt; ebenso des Lebens im heiligen Geist. Also [98] würde die Anweisung folgen: Handle wie ein Gerechtfertigter, dann wirst du dieses Standes gewiß werden. Aber die Rechtfertigung hat nur ein entfernteres Verhältniß zum sittlichen Handelns. Ihr directes Correlat ist die Anerkennung d e r Abhängigkeit von Gott welche durch Rechtfertigung und Versöhnung ausgedrückt ist. Diese religiöse Function zerfällt nach den drei psychologischen Formen in den Vorsehungsglauben, das Gebet, die Demuth und Geduld des Christen. Es sind dieses reformatorische Gedanken, welche in Ascetik und Liederdichtung fortwirken; der Theologie aber sind sie entgangen, weil Luther sie nicht mit der Rechtfertigung sondern mit dem heiligen Geiste in Verbindung gesetzt den, sondern dadurch, daß die menschliche Freiheit die an ihr unverkennbare Schranke nicht an der Natur sondern an der zwecksetzenden Freiheit Gottes findet; demgemäß ist auch die den Begriff [98] des Berufs begleitende Unfreiheit nicht auf scheinbare natürliche Bedingungen, sondern auf das Verhängniß der göttlichen Vorsehung zurückzuführen. ‚5.‘ (Ms.: 4. korr. aus 6.) Hiebei ist aber nicht irgendwelche Gottesidee vorausgesetzt, sondern immer nur die, daß Gott durch Christus Vater der Gläubigen ist; hienach ist das Reich Gottes derjenige menschliche Endzweck, in welchem der wesentliche Selbstzweck Gottes realisirt wird. Hienach ist auch der Begriff der Vorsehung bemessen, welche, indem sie freilich der menschlichen Freiheit eine Schranke setzt, doch dafür bürgt, daß ein dem Menschen gleichartiges Geistwesen, mit einem Zweck, der das Heil des Menschen in sich schließt, die sittliche Existenz des Menschen begründet und regelt. – Das empirische Bewußtsein in welchem sich die persönliche Heiligkeit des Gläubigen abspiegelt, ist die Demuth und der Glaube an die väterliche Vorsehung Gottes.> 2 S. oben S. 64,15 6 Vgl. RuV 3,584
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§ 41 Glaube an Gottes Vorsehung
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hat, und weil man sie nicht zu den Glaubensa r t i k e l n rechnen konnte. – Christliche Vollkommenheit C. A. II,6. Perfectio christiana est serio timere deum et rursus concipere magnam fidem et confidere propter Christum, quod habeamus deum placatum, petere a deo et certe exspectare auxilium in 5 omnibus rebus gerendis iuxta vocationem, interim diligenter facere bona opera et servire vocationi. cf. Art. 16: Evangelicam perfectionem collocant in timore dei et fide.
[100] § 41. 37 D e r G l a u b e a n d i e v ä t e r l i c h e Vo r s e h u n g G o t t e s . 10 Derselbe ist die der persönlichen Versöhntheit entsprechende objective reli-
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giöse Weltanschauung, und Selbstbeurtheilung. Dieser Glaube der für jeden Lebensmoment vollziehbar ist, ist nichts weniger als ein Element sog. natürlicher Religion, sondern in seinem vollen Umfang und entscheidenden Klarheit erst auf dem Boden des Christenthums möglich. Jenes [101] wird im Naturalismus und Rationalismus irrthümlich angenommen, als Folge der orthodoxen Annahme, daß die Vorsehung Gottes ein Stück natürlicher Theologie sei. Aber weder im Heidenthum noch in der hebräischen Religion wird die allgemeine Zweckmäßigkeit der Welt unter Gott erkannt, und die specielle Zwecksetzung, welche Gott dem Einzelnen zuwendet. Im Allgemeinen ungelöstes Problem von Würdigkeit und Glück im Alten Testament. Im Christenthum ist der Vorsehungsglaube möglich und nothwendig, weil Christus und das Reich Gottes als das télov gelten, welches dem wesentlichen Liebeswillen und Selbstzweck Gottes entspricht. Allerdings in der objectiven Darstellung der Dogmatik bedingen sich die allgemeine Weltleitung und die Erlösung durch Gott gegenseitig, aber so, daß die Vermuthung jener durch die Gewißheit dieser bestätigt wird. Im religiösen Selbstbewußtsein aber ist die Gewißheit der Erlösung das subjective Motiv des Vorsehungsglaubens, also dieser die Probe für den status iustificationis. Die Hauptprobe ist freilich die Umkehrung des Urtheils über das Uebel, daß dasselbe nicht mehr Lebenshemmung, sondern wenn es gesellschaftlich ist, Martyrium, wenn es 8 § 41.] korr. aus 42. 10 Versöhntheit] über 10 entsprechende] folgt 11 und Selbstbeurtheilung] über 12 ein] Ms.: eine 15–135,1 als … Erkennens.] am Rand 2 Confessio Augustana XXVII, ed. Hase 36; BSLK 117,32–39 6 Confessio Augustana XVI 4 (frei zitiert), ed. Hase 14; BSLK 71,5–7 8 § 41 trug ursprünglich (Ms. B*) die Paragraphennummer 42 (s. Einleitung S. XXI).
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II. Theil X. Gotteskindschaft
persönlich ist, Erziehungsmittel, aber nicht jedesmal Strafvergeltung ist (Rom. 5,3; Hebr. 12,4–11; [Prov. 3,11.12] 1 Petr. 4,17–19). Daher sind die Leiden Gegenstand der Freude (Jak. 1,2; 1 Petr. 1,6–8; 4,12.13; 2 Kor. 7,4; Hebr. 10,34). Denn die Leiden sind in der Zweckordnung der Welt und mit Berücksichtigung der Einzelnen aufgenommen, welchen Alles zum Guten dienen muß (Rom. 8,28). Unterscheidet sich von der stoischen Ansicht, welche das Leiden als zufällig und deshalb als gleichgiltig setzt. Aber dies durchkreuzt doch die absichtliche teleologische Weltanschauung. Diese Schätzung der Leiden im Christenthum ist nicht die individuelle Nachahmung des Verhaltens Christi. Denn wenn Christus sich als Gegenstand der Fürsorge Gottes ansah, so folgt daraus nicht, daß jeder von uns die gleiche Ansicht von sich gewinnen kann. Nach diesem Maaßstab der Nachahmung könnte man eher [102] von der gleichen Beurtheilung unserer selbst abgeschreckt werden. Aber indem man in Christus den Vertreter des absoluten göttlichen Zweckes erkennt, dem wir als seine Gemeinde nachzutrachten haben, so folgt, daß wir in seiner Gemeinde die Geltung des absoluten Zweckes durch die Weltanschauung zu bewähren haben, in welcher jeder sich in allen Lagen als Gegenstand göttlicher Zwecksetzung zu beurtheilen hat. So verbürgt uns die Anerkennung unserer Abhängigkeit von Gott unsere persönliche Selbständigkeit durch Gott, und die Erhabenheit über alle Hemmungen der Welt. In diesem Sinne rühmen wir uns als Gerechtfertigte unserer Hoffnung, d. h. der Dauer des in der Rechtfertigung gesetzten Verhältnisses (Rom. 5,2; pa%5hsía Hebr. 10,19; 3,6; 4,16; Eph. 3,12; cará 2 Kor. 1,24; Phil. 1,25; Rom. 15,13; 2 Kor. 3,11.12). Ferner in dem Friedensstand mit Gott sorgt man nicht, weil Gott für uns sorgt (Phil. 4,5–7; 1 Joh. 5,14). Man stützt überhaupt sein Selbstgefühl auf den Gott der Vorsehung (Rom. 5,11; 1 Kor. 1,31; 2 Kor. 10,17), auf das Kreuz Christi (Phil. 3,3; Gal. 6,14). Dadurch wird dem Einfluß der Welt in jeder Beziehung seine bestimmende Kraft entzogen, und weiter die Hemmungen von dorther verneint (1 Kor. 1,29; 3,21.23; Jak. 1,12; Rom. 8,32–39); insbesondere die Furcht vor dem Tode aufgehoben (Hebr. 1,14.15). – Der Vorsehungsglaube ist also der Maaßstab der religiösen Selbständigkeit und der religiösen und sittlichen Selbsterhaltung. Als die Verzichtleistung darauf ist der Selbstmord vielmehr ein Verstoß gegen die Religion als gegen die Sittlichkeit. – Der Vorsehungsglaube füllt den V a t e r namen Gottes aus. Ist dieser die specifische Bezeichnung der Art und Weise der christlichen Religion, so jener die specifische
1 nicht jedesmal] über 2 [Prov. 3,11.12]] so Ms. 8 absichtliche] folgt
25 4,5–7] korr. aus 4,5–6 28 seine] folgt 30 Jak 1,12;] über der Zeile
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§ 41 Glaube an Gottes Vorsehung
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Bethätigung im Gebiete des Erkennens. [101] Dagegen begeht die antirationalistische moderne Theologie den Fehler, den Werth dieses Glaubens zu unterschätzen, der auch der alten Orthodoxie nicht eingeleuchtet hat. Was Rothe als unbewußtes Christenthum im Gegensatz zum kirchlichen in unserer Zeit voraussetzt, wird sich nur in diesem Glauben nachweisen lassen. Die Christo gleichartige Gesinnung, die er meint, läßt sich entweder nicht, oder nur in dem Glauben an Gottes väterliche Vorsehung finden, der nur auf seine Gründe zurückgeführt werden muß, um ihn als das eigenthümlich Werthvolle für das Christenthum aufzuzeigen. Denn auf dem Boden des Heidenthums ist der Glaube an eine allgemeine und an eine liebevolle Vorsehung nicht möglich wegen der Mehrheit und wegen der sittlichen Beschränktheit der vorgestellten Götter. Jene schließt die Einheit des Weltzwecks aus, diese läßt auch in der griechischen Tragödie nicht die richtige Deutung des Verhältnisses zwischen menschlicher Freiheit und Schuld finden. Erst der Boden der Alttestamentlichen Religion erzeugt die Prämissen für den Vorsehungsglauben, wenn auch dort die vollständige Durchführung nicht gewonnen wird. In Hinsicht des ganzen erwählten Volkes wird die Erkenntniß erreicht, daß so wie ein Mann seinen Sohn ziehet, so Gott das von ihm erwählte Volk zieht (Deut. 8,5). Hierin ist eingeschlossen, daß auch das Uebel als Strafe der göttlichen Heilsabsicht untergeordnet sei. Aber um die Anwendung dieses Grundsatzes auf den Einzelnen kämpft die israelitische Frömmigkeit in der gesammten didaktischen Poesie, ohne die Bedingungen und Folgerungen der Vatergüte Gottes völlig aufs Reine zu bringen. Das Postulat des Alttestamentlichen Vorsehungsglaubens ist nämlich das Glück des Gerechten und das Unglück des Gottlosen (Ps. 34). Indem also der Gerechte sich im Unglück sieht, führt er dasselbe zunächst auf den Zorn Gottes zurück (Ps. 6) obgleich er sich keiner Bundbrüchigkeit bewußt ist. In den meisten Fällen wird jedoch von der Erfahrung göttlichen Zorns im Unglück auf die eigene Verschuldung geschlossen (Ps. 38). Peinlich wird aber das Problem, indem der Fromme neben s e i n e m Unglück das Glück des Gottlosen gewahr wird. [102] Hierin liegt die doppelte Umkehrung der ursprünglichen Erwartung. Die Schwierigkeit sucht man in verschiedener Weise zu lösen. Ps. 37 tröstet mit der Hoffnung, daß in der Zukunft das Verhältniß in Richtigkeit gebracht werde; zugleich tritt aber eine tiefere Einsicht ein in der Forderung,
2 moderne] korr. aus T 2 f. unterschätzen,] folgt 3–9 Was … aufzuzeigen.] in eckigen Klammern (Bleistift) 9 für … Christenthum] am Rand 32–136,10 Die … an.] in eckigen Klammern (Bleistift) 3 unbewußtes Christenthum nach Birkner, Spekulation 82 Anm. 219 bei Rothe, Nachgelassene Predigten 2,327 f.
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daß der Gerechte sich an Gott genügen lasse (Vers 4), daß er also von dem Postulate äußern Glückes absehe, und in specie daß er sich vor Neid, Zorn und Entrüstung über die gegenwärtige Sachlage bewahre, um nicht zur Sünde versucht zu werden. Die Rechnung auf die schließliche Herstellung der richtigen Verhältnisse wird Ps. 49.73 nicht gemacht, dagegen entwickelt sich die Gewißheit, daß Gott nahe sein Wonne ist (73,28) zu der Aussicht, daß während der Frevler dem Tode anheimfällt, der Gerechte von Gott aufgenommen wird (49,16; 73,24). Indem also die Hoffnung auf Unsterblichkeit bei Gott (vgl. auch Hiob 19,26.27) den Frommen über seine elende Lage tröstet, so gehört doch diese Lösung nur der Aussicht auf die Zukunft an. Es kommt darauf an, daß schon für die gegenwärtige Empfindung der Widerspruch zwischen Verdienst und Unglück verschwinde. Ein solches Ziel erreicht Hiob nicht. Denn der Dichter weist die Frage nach Grund und Ziel des Leidens d|es Gerechten mit der Berufung auf die unvergleichliche Allmacht und unergründliche Weisheit Gottes ab, und verpflichtet (28,28) zur Furcht Gottes, als der wahren Weisheit, und zum Meiden des Bösen, als Verstand. Nur der Prolog erklärt das Leiden aus der versuchenden Prüfung, die ihrem Begriff nach vorübergehend sein wird. Dieser Gedanke auch im Neuen Testament 1 Petr. 1,6.7; 1 Kor. 10,13; Jak. 1,12. Aber daß das Leiden eine Züchtigung, ein Erziehungsmittel auch des Gerechten sei, wie Eliphas ausführt (5,17), lehnt Hiob ab.
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[98 a I] § 42. 38 D i e D e m u t h . Man definirt die Demuth als das Gefühl der Abhängigkeit von Gott; im Allgemeinen richtig, aber zu unbestimmt. Als Ergänzung von Vorsehungsglauben und Gebet ist die Demuth allerdings Gefühl, aber erworbene Gefühlsbe- 25 20 f. wie … ausführt] über <schließt Hiob aus.> 21 lehnt … ab.] am Rand 21 ab.] Hier folgt in Ms. B* der ursprüngliche, bis Seite 104 reichende Abschluß von § 41, der noch bis WS 1867/68 der Vorlesung zugrunde lag, später aber gestrichen wurde. Der gestrichene Text wird unten S. 203,18 als Beilage I.2 mitgeteilt. 22 § 42.] korr. aus § 43.; der schon in Ms. B* S. 98–100 ursprünglich als § 43. gezählte Paragraph wurde neu gefaßt auf einem eingelegten Folioblatt, das mit den Seitenzahlen 98 a und b versehen ist. Das Blatt wurde einmal gefaltet und als Quartheft auf drei Seiten beschrieben (letzte Seite leer); dadurch ergibt sich die oben in den Text eingefügte Seitenzählung. 22 Demuth] folgt 22 § 42. Die Demuth trug ursprünglich (Ms. B*) die Paragraphennummer 41, die dann in 43 umgewandelt wurde; vgl. unten S. 206,11 (Beilage I.3). Als § 43 wurde der Text auf dem eingelegten Blatt neu gefaßt. Durch nochmalige Umstellung erhielt er die jetzige Paragraphennummer
§ 42 Demuth
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stimmtheit, Tugend, und deshalb Selbstgefühl, weil es sich in der Abhängigkeit von Gott die hier gemeint ist, um die eigenthümlich religiöse Gewährleistung der Selbständigkeit gegen die Welt handelt. Aus diesem Zusammenhang ergiebt sich ferner, daß die Idee von Gott, welche die Demuth bedingt, ganz genau begränzt ist, nämlich daß derjenige unser Vater ist, der unparteiisch richtet (1 Petr. 1,17) d. h. die Demuth steht immer unter dem Einfluß der Idee, daß der Erhabene und durch unsere Vorstellung unmeßbare Leiter der gesammten Welt (Rom. 11,33–36) mich zum Gegenstand seiner liebevollen Fürsorge macht. Weil diese Merkmale der christlichen Gottesidee in der Demuth das Selbstgefühl stets so berühren, daß sie nicht in einander aufgehen, so ergiebt sich der Fall, daß die Beziehung der Vorstellung von Gott auf den einzelnen Lebensmoment undeutlich, oscillirend wird. Man kann niemals den bestimmten Lebensmoment so unter die Vorstellung von der väterlichen Liebe Gottes subsumiren, daß nicht die unbegreifliche Erhabenheit seiner Weltleitung die Umrisse der Vorstellung schwankend machte. Ein Gefühl, welches durch eine undeutliche Vorstellung erregt wird ist Stimmung, ein Oscilliren zwischen Lust und Unlust, demgemäß ist die Demuth Stimmung; sie ist in fóbov und verwandten Ausdrücken bezeichnet (Phil. 2,12; Hebr. 12,28; 5,7). Als Stimmung aber kann sie nicht nur [98 b I] den Vorsehungsglauben und das Gebet begleiten, wie sie durch diese Funktionen immer erzeugt wird, sondern auch die gesammte sittliche Handlungsweise (Phil. 2,12), und so gewinnt dieselbe, die an sich in dem Gefühle der Selbständigkeit des Willens wurzelt, ihr christliches Gepräge der Abhängigkeit von Gott. – Timor filialis katholisch. Das Gegenteil der Demuth auf dem nicht religiösen Standpunkt ist das schrankenlose Gefühl menschlicher Selbständigkeit, welches freilich in der Schule des Lebens durch die Gegenwirkung der Welt auch gegen die besten Absichten Erbitterung und Menschenverachtung nach sich zieht, also Stimmungen, welche der Liebe entgegenwirken. Das Gegentheil der Demuth auf dem religiösen Standpunkt ist die Heuchelei, (der Pharisäismus) respective der Fanatismus. Als der Religionsfehler, welcher die ethische Religion als solche verfälscht, stellt sich die Heuchelei als eine falsche Art der Abhängigkeit von Gott und als eine falsche Art der Annäherung zu Gott dar. Jene wird in statutarischen und materiellen Cultusleistungen ausgedrückt, diese in einem Anspruch des Rechtes an Gott vollzogen. Diese Fälschung auch in den Prätensionen des Mönchthums, und in denen des Pietismus, durch bestimmte Manieren und Redensarten sich als die Freunde oder Kinder Gottes darzu-
4 Idee] über 10 Selbstgefühl] folgt 22 in] über 29 Heuchelei,] folgt 32 Annäherung zu] über 36 oder Kinder] über der Zeile
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stellen. Die Heuchelei wird Fanatismus, wenn sie mit ihren Maaßstäben als vorgeblich Göttlichen Ordnungen die Stellung der anderen beurtheilen, oder deren gleiche Haltung erzwingen will. Die Demuth gegen Gott ist kein unmittelbarer Maaßstab für eine bestimmte Haltung den Menschen gegenüber. [98 b II] Sie kann ebensowohl ein tapferes Eingreifen in die sittlichen Verhältnisse der Menschen motiviren, als ein dienstfertiges Eingehen auf deren Bedürfnisse. Denn sie ist die unmittelbare Gewißheit der Freiheit gegen die Welt, wie der Freiheit in Gott. Nach Luther ist der Christ Herr aller Dinge, aber begiebt sich freiwillig in den allseitigen Dienst der Menschen. Die Art, wie die Dogmatiker den Begriff bestimmt haben, ist zu eng und negativ, die christliche Freiheit soll sich bewähren g e g e n den Fluch des Gesetzes, die Knechtschaft der Sünde, das mosaische Ceremonialgesetz, die menschlichen Cultusordnungen in der Kirche, welche das Gewissen nicht verpflichten und übertreten werden können extra casum scandali. Die christliche Freiheit ist vielmehr in dem Gebiet des subjectiven Glaubens an Gottes Vorsehung die Selbständigkeit des Verkehrs mit Gott, welche ebensowenig gehemmt ist durch die Sünde, als sie gebunden ist an irgend welche Vergegenwärtigung menschlicher kirchlicher Vermittelung, die ja übrigens immer anerkannt werden muß, die aber nicht hineinspielt in die Selbstbeurtheilung des Gläubigen, die er in den drei Functionen gegenüber Gott ausübt. Das ist die Bedingtheit der fides salvifica im evangelischen Sinne, während das dogmatische Glauben nach katholischem und orthodoxem Maaße niemals die Abhängigkeit von der klerikalen Vermittlung oder Anleitung ausschließt.
[104] § 43. 39 D a s G e b e t i m N a m e n J e s u .
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Die Demuth und die Ergebung in die göttliche Vorsehung sind als empirische Funktionen des religiösen Bewußtseins dem Wechsel von Stärke und Schwäche ausgesetzt, sind also auch Aufgaben für den sittlichen Willen. Es gehört im gegebenen [105] Falle eine ausdrückliche Uebung des Willens dazu um Hindernisse zu beseitigen, welche Hochmuth oder Kleinmuth 30 mangelhafte Scheu und mangelhaftes Vertrauen zu Gott der Demuth bereiten, und um Zweifel und Murren gegen die göttliche Fügung unserer Schicksale zu überwinden. Das specifische Mittel, durch das die 4 Die] Absatz im Ms. 8–24 Nach … ausschließt.] in eckigen Klammern (Bleistift) 11 und negativ] über der Zeile 11 soll] korr. aus soh 25 § 43.] ursprünglich § 43. dann in § 42. und zuletzt wieder in § 43. geändert 25 im Namen Jesu.] in eckigen Klammern (Bleistift) 31 mangelhafte … Gott] am Rand
§ 43 Gebet
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hier geforderte Entscheidung erreicht, durch das die Uebereinstimmung des Selbstgefühls mit dem erkannten göttlichen Willen absichtlich bewirkt wird, ist das Gebet. 1. Dank die übergreifende Form des Betens, Bitte untergeordnet. Phil 4,6. 2. Das Gebet im vollen Sinne als Bethätigung eines Willensentschlusses, sich Gottes Vorsehung zu fügen 3. Nach 1 Th. 5,17 die habituelle Stimmung in gleicher Richtung 4. Nach Rom 8,15.16.26 die wortlose Beugung und Strebung des Gemüthes nach Gott in Fällen wo die bestimmte Absicht und die deutliche Vorstellung versagen 5. Die Frage der Erhörung der Bitten um die Güter der allgemeinen Selbsterhaltung (Mt. 7,7.8) nach Mc. 14,35.36 zu beurtheilen. 6. Gebet im Namen Christi. Das Dankgebet in seinem ganzen Umfang die absichtliche Anerkennung des faktischen Zustandes, als harmonisch mit der göttlichen Vorsehung. Das Bittgebet Darstellung der Absicht das Gefühl dieser Harmonie zu gewinnen. Insbesondere sofern der Mangel an Demuth und Ergebung ein Merkmal davon ist, daß der das religiös sittliche Personleben begründende heilige Geist Hemmungen seiner Bethätigung erfährt, so entspricht das Gebet zu jenem Zwecke dem G e b e t u m d e n h e i l i g e n G e i s t (Luc. 11,13). Da der heilige Geist nichts Empirisches ist, so setzt dies Gebet nicht etwa voraus, daß der Bittende überhaupt außer Verhältniß zum heiligen Geist stehe; vielmehr umgekehrt ist das Gebet nur möglich, wo das Personleben im heiligen Geist wurzelt, wo es aber darauf ankommt, daß dies Princip allseitige Anwendung auf das Personleben finde. Deßhalb ist solches Gebet auch immer von dem erstrebten Erfolge begleitet. Das Gebet im Namen Jesu, welchem diese Verheißung gegeben ist (Joh. 14,13.14; 16,23.26), setzt ebenfalls voraus, daß die Bittenden in dem Lebenszusammenhang mit Christus stehen, daß Christi Worte in ihnen bleibend sind (15,7), daß man Christi Gebote hält (1 Joh. 3,22), daß man Christi Willen gemäß bittet (5,14.15). In dieser Gedankenreihe ist freilich kein Object des Bittens bezeichnet; der Name Jesu bezeichnet
3 Gebet.] folgt 4–13 1. … Christi.] am Rand, wobei der mit 1. bezifferte Satz den folgenden Sätzen nachträglich vorangestellt wurde. Die sechs Sätze ersetzen wohl den ursprünglichen Text von § 43. 5 2.] korr. aus 1. 7 3.] korr. aus 2. 8 4.] korr. aus 3. 11 5.] korr. aus 4. 13 6.] korr. aus 5. 14–17 Das … Insbesondere] am Rand 15 f. Bittgebet] folgt 17 sofern] Ms.: Sofern
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nun aber das Wesen Christi sofern es offenbar und wirksam ist. Wenn nun das Gebet auf den Namen Jesu gegründet und auf ihn gerichtet ist, so ist das Gebet, dessen Erfolg durch seine Art gewährleistet ist, aus dem heiligen Geist, um den heiligen Geist, in welchem das offenbare Wesen Jesu auf d|en Gläubigen wirksam ist. Die wörtliche Gestaltung des Gebetes um dieses Gut ist frei- 5 lich deßhalb die Regel, weil die Erkenntniß nur durch das Wort gestaltet und fixirt werden kann; aber die Forderung unablässigen Betens (1 Th. 5,17) Kol. 3,17 ist doch nur dadurch erfüllbar, daß dem Begriff des Gebetes schon die Fertigkeit entspricht, in welcher durch den momentanen Gedanken [106] an das Bedürfniß nach göttlicher Begründung das demüthige Selbstgefühl und 10 die Ergebung in den göttlichen Willen erreicht wird. Die Erhörung des Gebetes um die Güter des sinnlichen und nicht specifisch religiösen Lebens (Mth. 7,7.8) ist theoretisch nicht meßbar. Deßhalb hat jedes Gebet der Art doch den Sinn, daß die Demuth und Ergebung in Gottes Willen zur durchgreifenden Lebensstimmung werde. In der Hinsicht ist das Gebet Jesu um die Erhal- 15 tung des Lebens vorbildlich (Mc. 14,35.36), welches das bestimmte Gut nur hypotetisch in Anspruch nimmt, sich aber bei dem Gedanken des göttlichen Willens als dem Gültigen in jeder Hinsicht beruhigt, und ihn dankend anerkennt.
E l f t e s C a p i t e l . D e r r e l i g i ö s - s i t t l i c h e C h a r a k t e r.
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§ 44. 40 D e r U n t e r s c h i e d d e s C h a r a k t e r s v o m N a t u r e l l . Ágiasmóv, Ágnóthv, Ágnízesjai. Jak. 3,17. 1 Joh. 3,3; 1 Petr. 1,22; Hebr. 12,14; 2 Kor. 6,6; Rom. 6,19.22; 12,1.2. 1 Kor. 1,30. Grundsatz Rom. 6,11 Sich so schätzen daß man für die Sünde nicht mehr da sei, indem man durch die Taufe als Glied der Gemeinde Christi nur für 25 den Zweck derselben lebt. Die Schätzung dieser Verhältnisse ist nicht leere Einbildung von etwas Unwirklichem, sondern auf dem Gebiet des Willens das Motiv zur Verwirklichung des guten Charakters
7 f. Kol. 3,17] am Rand 12 specifisch] folgt 18 als] korr. aus in 18 dem … in] am Rand 22 f. Ágiasmóv, … 1,30.] am Rand 24–28 Grundsatz … Charakters] am Rand 21 Zum Begriffspaar Charakter und Naturell vgl. Rothe, Theologische Ethik 2,358–360
§ 44 Charakter und Naturell
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Indem der Wille des Geheiligten Einem Endzweck folgt, behauptet er die Stufe des Charakters; indem dieser Eine Endzweck die Synthese des persönlichen Selbstzwecks mit dem göttlichen Selbstzweck ist, ist er guter Charakter. Er steht im weitern Gegensatz gegen den Willen auf der Stufe des Naturells, im engern gegen den unmoralischen oder bösen Charakter. Diese Beiden Formen des Willens werden in dem theologischen Begriff vom natürlichen Menschen zusammengefaßt. Das Merkmal des C h a r a k t e r s ü b e r h a u p t ist der Gedanke eines persönlichen Endzweckes, welchem alle gedachten Zwecke und alle natürlichen Triebe untergeordnet werden. Das Merkmal des Naturwillens ist der unbeschränkte Wechsel der mannigfaltigen Triebe, welche nach der ihnen entsprechenden Lust streben, und die nur durch das Selbstgefühl des Bedürfnisses nach Lust, nach Harmonie der Außenwelt mit dem Individuum formell zusammengehalten werden. Das Individuum ist freilich das Allgemeine für die einzelnen Triebe der Selbsterhaltung des Rechtes, der Geselligkeit, der Ehre, des Wissens, der Schönheit; aber auf der Stufe des Naturells hat sich das Individuum noch nicht mit Bewußtsein als dies Allgemeine [107] der Triebe gesetzt. Deßhalb findet zwischen der Person und dem gerade wirkenden Triebe kein nothwendiges Verhältniß statt, d. h. ein solches das auf Beurtheilung des Triebes begründet wäre. Das ist die eigentliche Unfreiheit des Willens; da die Freiheit m i n d e s t e n s darin besteht, daß man sich mit Bewußtsein als das Allgemeine in den besonderen Bethätigungen des Triebes setzt, und zwar mit Bewußtsein von einem zureichenden Grunde der gerade erfolgenden Bethätigung. Der Mangel eines allgemeinen Bewußtseins zeigt sich auch darin, daß keine Achtung auf das Bedürfniß Aller nach derselben Lust an denselben Objecten gegeben wird. Diese Stufe des Willens ist nicht gut, aber auch nicht böse im Sinne der Zurechnung. – Die Stufe des Charakters wird b e t r e t e n , indem durch allgemeines Bewußtseim des Ich im Unterschiede von den Trieben, und durch Vergleichung des Triebes mit einem Zweck der Drang des Triebes wenigstens angehalten wird; die Stufe des Charakters wird e i n g e n o m m e n , wo ein persönlicher Endzweck sich die Triebe als Mittel unterordnet, und sie selbst zu einzelnen Zwecken in geordnetem Wechsel erhebt; so daß in dem Wechsel der Bethätigung die Stetigkeit des Endzweckes hindurchgeht. Der Charakter schließt also weder die Triebe noch die Lust überhaupt aus; vielmehr schließt er sie real ein, indem er die Lust idealisirt durch die Erfüllung des Endzweckes;
5 Beiden] korr. aus beiden 13 das] korr. aus dies 23 erfolgenden] korr. aus Erfolge 23–25 Der … wird.] am Rand 30 f. die Triebe] korr. aus den Trieben 34 überhaupt] korr. aus aus 35 die] korr. aus das
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Denn die Lust ist der Maßstab des Werthes eines Gutes oder einer Handlung, und das unmittelbare Motiv jeder Willensbewegung. und er wird insofern durch die Triebe stets begrenzt, als er sich nach der angeborenen Anlage des Individuum richten muß, d. h. nach dem anerschaffenen Verhältniß der Triebe, welches bei Jedem verschieden ist. A u f d e r S t u f e d e s C h a r a k t e r s ergeben sich nun aber z w e i M ö g l i c h k e i t e n . Indem sich der Wille durch Auffassung Eines persönlichen Endzweckes formell als das Allgemeine von seinen Trieben unterscheidet, und dieselben durch Beurtheilung ihres Werthes und ihrer Zweckmäßigkeit sich unterordnet, kann er entweder den Inhalt seines Endzwecks als die Lustbefriedigung Eines Triebes setzen, oder als die Erfüllung von gemein[108]schaftlichen Zwecken, d. h. von sittlichen. Das ist der Unterschied zwischen unmoralischem und moralischem Charakter. Dabei kommt aber in Betracht, daß der Charakterwille überhaupt sich bewußt ist, daß er gemeinschaftliche Zwecke erfüllen s o l l ; daß nur durch solchen Inhalt der Wille seine Allgemeinheit in seinem individuellen Lebensgebiet durchsetzt. Wer nun aber dieses Bewußtsein nicht in sich wirksam macht, sondern wer im Widerspruch damit die Lustbefriedigung durch einen einzelnen Trieb in seinen Endzweck aufnimmt, ist sich einer Verletzung der allgemeinen sittlichen Ordnung durch seinen Egoismus in irgend einem Maaße bewußt, durch die sittliche Zurechnung, welche nur in Geisteskrankheit ihr Ende findet. Der gute Charakter hat aber seinen durch gemeinschaftliche Zwecke erfüllten Endzweck sicher nur, indem er denselben bis auf die höchstmögliche Form derselben ausdehnt. Der gute Charakter, der die niederen Formen sittlichen Endzweckes im Widerspruch gegen die höheren festhalten will, wird doch egoistisch; so wenn im Familiengeist, oder im Patriotismus der höchste sittliche Endzweck gesehen wird. Uebrigens schließt auch der im höchsten Sinne gute Charakter weder irgend einen Trieb überhaupt, noch die accidentelle Lustbefriedigung der Triebe aus, aber die eigenthümliche Lust, die ihm zufällt, ist das Gefühl der Harmonie seiner berufsmäßigen sittlichen Thätigkeit mit seiner Individualität, die Seligkeit. Die Seligkeit hängt in erster Linie an den Functionen der Gotteskindschaft. Der Charakter im christlichen Sinn hat nun an der Aufnahme des göttlichen Selbstzwecks in den persönlichen diejenige denkbar höchste Höhe sittlichen 1 f. Denn … Willensbewegung.] am Rand 10 als die] korr. aus in der 14 ist] korr. aus hat 18 die … durch] am Rand 21 ihr] korr. aus s. 28 accidentelle] am Rand 29 aber die] folgt 30 f. die Seligkeit.] am Rand 32 Die … Gotteskindschaft.] am Rand
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§ 45 Unmoralischer Charakter
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Endzweckes, durch welche die egoistischen Anwandlungen auch in den niederen Sphären sittlicher Aufgaben überwunden werden können, geschweige dessen, daß kein Trieb als solcher der Allgemeinheit sittlichen Bewußtseins sich entzieht. Deßhalb aber ist auch in dieser Form des Charakters die Zu5 rechnung am stärksten, und der volle Begriff der Freiheit in der Macht des Guten über die Triebe realisirt.
[109] § 45. D i e F o r m e n d e s u n m o r a l i s c h e n C h a r a k t e r s .
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Mit vorhergehendem § zusammenzufassen. Auf der Stufe des Charakters sind verschiedene Gegensätze gegen den moralischen Charakter möglich je nachdem der Wille als Träger Eines Endzwecks seine Stellung zu Elementen des Naturells und zu dem allgemeinen sittlichen Zwecke nimmt. 1. Der Eine Endzweck wird in den abstracten persönlichen Selbstzweck und in die individuelle Selbstgenügsamkeit gesetzt, und die anerkannten Beziehungen zu den Interessen der sittlichen Gemeinschaft als Mittel behandelt, der n e u t r a l e C h a r a k t e r. Derselbe beherrscht das Triebleben des Naturells vollkommen, ist in sittlicher Beziehung legal, weil er sich hütet, sein formales individuelles Interesse in Widerspruch mit den allgemeinen zu versetzen. Mit dieser Leidenschaftslosigkeit und sittlichen Neutralität ist leicht eine künstlerische Harmonie der Selbstdarstellung verbunden; aber die Inhaltslosigkeit und Hohlheit solchen Charakters entzieht ihm alles Vertrauen, und alle Wirkungsfähigkeit auf Andere. deilóv Apok. 21,8. Freilich wird solch Charakter nie rein vorkommen, sondern in untergeordneter Weise die Selbstsucht in sich schließen. 2. Der s e l b s t s ü c h t i g e Charakter setzt den persönlichen Selbstzweck als Endzweck in Widerspruch mit den allgemeinen Zwecken. a. Im L a s t e r wird als Inhalt des den allgemeinen Zwecken widersprechenden Selbstzwecks die Befriedigung Eines oder mehrerer Triebe gesetzt, welche der individuellen oder der generischen Selbsterhaltung dienen. Das Laster ist weder unwillkürl|iche habituelle Sünde, noch blos Leidenschaft; sondern die specielle Sünde ist als Laster Gegen4 die] korr. aus ÎZù 8 Mit … zusammenzufassen.] redaktionelle Bemerkung am Rand, der gemäß § 44. und § 45. in der späten Paragraphenzählung unter der roten Paragraphennummer 40 zusammengefaßt werden. 10 als … Endzwecks] am Rand 15 neutrale] am Rand statt < l e b e n s k l u g e > 22 deilóv … 21,8.] am Rand 28 oder … generischen] am Rand 7 Zu § 45 vgl. Rothe, Theologische Ethik 2,391–404
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stand bewußter Absicht. In höheren Stufen des Lasters läßt freilich die gewohnheitsmäßige Ausübung das Merkmal der Absicht nicht immer erkennen; aber solche Stufe ist immer nur die entferntere Wirkung der vorausgehenden Absicht des Lasters, und die Gewohnheit hängt durch die Erinnerung mit der Absicht zusammen. b. Die a l l g e m e i n e geistige b e w u ß t e S e l b s t s u c h t hat als Inhalt des den allgemeinen Zwecken widersprechenden Selbstzweckes einen der auf die Gemeinschaft gerichteten Triebe, also der Geselligkeit und der Ehre; also H e r r s c h s u c h t r e s p e c t i v e H o c h m u t h und E i t e l k e i t . Die Steigerung dieser Selbstsucht gegen das Laster ist erkennbar an dem begleitenden Bewußtsein vom Widerspruch dieser Untugenden gegen die sittliche Pflicht. Denn das Laster ist offen [110] und frech, die Selbstsucht heuchlerisch und tückisch. Im Laster wird das sittliche Bewußtsein abgestumpft ohne darauf gerichtete Absicht, in der Selbstsucht durch absichtlichen Selbstbetrug. 3. Ist auch derjenige Charakter unmoralisch, der in Beziehung auf einen besonderen Abschnitt der allgemeinen Zwecke also auf den engen natürlichen und bürgerlichen Beruf gut ist, aber die darüber hinausgehenden höheren Zwecke nicht anerkennt, also sich in Widerspruch dagegen setzt. Solch Charakter kann in seiner Sphäre aufopfernd und gewissenhaft sein, dagegen von Leidenschaft und selbstsüchtigen Motiven bestimmt, sobald seine Thätigkeit durch ein anderes Gebiet allgemeiner Zwecke in Anspruch genommen wird. Solche einseitige sittliche Virtuosität wird freilich auch in ihrem eigentlichen Gebiete von Eitelkeit und Herrschsucht nicht frei bleiben, indem die Gleichgültigkeit oder Abwendung von den übrigen Lebensaufgaben dadurch gerechtfertigt wird, daß ihr sittlicher Werth bestritten wird, mit einer gewaltsamen Täuschung oder Unterdrückung des Gewissens. 4. Die B o s h e i t setzt den reinen Widerspruch gegen die allgemeinen Zwecke als den persönlichen Selbstzweck. Sie ist Haß des Guten um dieses Hasses willen. Indessen ist eine stetige und durchgreifende Richtung dieser Art schwer nachzuweisen. Die christliche Vorstellung behält diese Bosheit dem Antichrist vor, während freilich die orthodoxe Dogmatik schon die allgemeine erbliche Sünde mit diesem Prädicat ausstattet.
5 allgemeine … bewußte] in eckigen Klammern (Bleistift) 5 geistige] über der Zeile 7 Gemeinschaft] am Rand statt 8 f. respective Hochmuth] am Rand 10 Bewußtsein] korr. aus ÎWidù 14 Selbstbetrug.] folgt ursprünglich der Abschnitt c. Die … ausstattet. welcher als Ziffer 4. durch Umstellungszeichen an das Ende des § versetzt wird (Zeile 26–32). 18 setzt.] korr. aus Î ù 20 sobald seine] korr. aus so seine 26 4.] korr. aus c. 26–32 Die … ausstattet.] ursprünglich vor Abschnitt 3. s. oben Zeile 14
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Wenn man als ä u ß e r n Maaßstab der Moralität des Charakters die Legalität des Handelns anwendet, so entspricht das dem kirchlichen Dogma, daß die guten Werke nothwendig seien, um den Glauben oder den Status regenerationis erkennen zu lassen (§ 14.). Aber die äußere Legalität des Handelns ist kein zureichender Maaßstab für die Güte des Charakters. Denn Handlungen die ihrem Stoff und ihrer Wirkung nach gleich sind, können ihrer Absicht nach entgegengesetzt sein. Deshalb schon geht man von der Beobachtung der einzelnen guten Werke nothwendig auf ihren Zusammenhang in d e m g u t e n We r k Jak. 1,4.25; 1 Petr. 1,17; Apok. 22,12 Gal. 6,4.7–9 2 Kor. 5,10 1 Kor. 3,13–15 1 Thess. 5,13. [111] einer Person vorwärts. Der Zusammenhang dieser Größe liegt aber in der zusammenhängenden Gesinnung der Person, die man nicht durch den kategorischen Schluß von den Wirkungen auf die Ursache, sondern nur durch die sittliche Sympathie mit Anderen erprobt. Dies entspricht der allgemeinen Regel allen Erkennens, daß man nicht nur aus dem Einzelnen das Ganze erkennt, sondern durch die immer zu erprobende Hypothese über das Ganze auch den innern Werth des Einzelnen. G e s i n n u n g ist nun der Gedanke des persönlichen Endzweckes, sofern derselbe Grund einzelner Zwecksetzungen ist. Deßhalb ist sie das Maaß des Charakters, nach dem jeder sich selbst richtig beurtheilen kann. Sie muß die gleiche sein auch bei den verschiedenen Charakteren, deren Verschiedenheit auf Temperament begründet, sich zu den Stufen der Begeisterung und der Bedächtigkeit, der Gefühlserregtheit und der Nüchternheit, der Zähigkeit und der Thatkraft, der Gewöhnlichkeit und der reformatorischen Gewalt gruppirt. Die aus der Gesinnung hervorgehenden Zwecksetzungen bilden ein System von Absichten und Vorsätzen. A b s i c h t ist der Gedanke eines einzelnen Zwecks, sofern er den Gedanken von Mitteln hervorruft; V o r s a t z ist der Gedanke des gewählten Mittels, sofern er als 5 f. regenerationis] folgt 6 (§ 14.)] über der Zeile 12 f. Jak. … 5,13.] am Rand 15 nicht] folgt 16 nur] über 17 der] korr. aus dem 23–27 Sie … gruppirt.] am Rand 25 f. Stufen … Nüchternheit,] korr. aus 6 S. oben S. 46,19
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nächstes Object des Willens gesetzt ist. Den Fortschritt von Absicht zu Vorsatz vermittelt ein primärer Entschluß des Willens, ebenso tritt zwischen Vorsatz und Handlung Ein oder mehrere Entschlüsse; bei diesen Acten wirkt die zu Grunde liegende Absicht als Beweggrund, Motiv. – Die Gliederung jeder Willensbewegung in Absicht und Vorsatz ist freilich dem Bewußtsein, das unsere Handlungen begleitet, meistentheils nicht gegenwärtig; wir handeln in dem Gebiet unserer regelmäßigen Thätigkeit unwillkürlich, ohne bestimmte Vergegenwärtigung von Absicht und Vorsatz. Dies ist aber nur möglich auf Grund der stetigen Gesinnung, und die Unwillkürlichkeit dieser Art ist nicht das Gegentheil der Freiheit, sondern die Bethätigung derselben in ihrer concretesten Art. Deßhalb wird es auch in jedem Moment der Willensbewegung möglich, sie auf jene Gliederung zu analysiren, so wie wir bei ungewohnten Aufgaben uns an der Bildung der Begriffe von Absicht und Vorsatz besinnen. Absichten und Vorsätze sind nun die Merkmale der Gesinnung, ihre Güte oder Schlechtigkeit constatirt die Art der Gesinnung; und sofern die Handlung nicht nach ihrer Legalität, sondern nach ihrer Absicht beurtheilt werden muß, erkennt man die Gesinnung an der Beobachtung der Reihe der durch die Rede kundgegebenen Absichten. Diese [112] aber sind an der Güte oder Schlechtigkeit der Vorsätze direct zu messen. Umgekehrt aber rechtfertigt nicht die Güte der Absicht die dazu gefaßten Vorsätze. Aber jedenfalls ist die Gesinnung schlecht, welche durch gute Absichten schlechte Mittel gerechtfertigt findet. Diese j e s u i t i s c h e M o r a l , welche sich besonders in der casuistischen Behandlung der Vorsätze erweist, ist möglich, weil die formale Behandlung des Freiheitsbegriffes in der katholischen Moral keinen Begriff der Gesinnung aufzustellen vermag (§ 10). Denn wenn auch die jesuitische Casuistik in ihren letzten Consequenzen vom Papst verdammt ist, so steht sie doch überhaupt auf dem Boden katholischer Moral als eine erklärliche Consequenz derselben. Der Begriff der formalen Wahlfreiheit gestattet keinen anderen Begriff vom Selbstzweck des Menschen, als den, daß die Unabhängigkeit der Form des Willens von jedem möglichen Inhalte in jedem Momente
145,30 gewählten] über 1–4 Den … Motiv. –] am Rand 13 besinnen.] folgt 17 f. durch … kundgegebenen] unter der Zeile 20 Aber] aber korr. aus Und 25–147,10 Denn … halten;] am rechten Rand in ganzer Länge eingeklammert und wohl durch den Zusatz am Rand NB … Sorge. ersetzt; vgl. unten S. 147,11–14 22 Zum folgenden Abschnitt jesuitische Moral s. Feuerlein, Die Sittenlehre 55–69 § 10 „Der Jesuitismus“; Feuerlein stützt sich auf Antonio de Escobar, Hermann Busenbaum und Alfons de Liguori sowie auf Pascals Briefe an einen Provinzial. 25 S. oben S. 31,22
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des Gehandelthabens erhalten bleibt. Es kommt deßhalb für die Güte der Person nicht darauf an, daß der individuelle Selbstzweck mit dem absoluten Zweck erfüllt sei, sondern darauf, daß jeder Moment des Handelns oder Entschlusses in Uebereinstimmung mit dem darauf passenden Sittengebote sei, und daß nach dem Schluß der Handlung der Mensch fähig sei, eine gleichartige Handlung auszuüben. Natürlich ist der Mensch in keinem Momente frei in dem strengen Sinne der Inhaltslosigkeit des Willens; aber es kommt für die jesuitische Moral darauf an, dem Willen den möglichst abstracten Inhalt zu vindiciren, und ihn gegenüber den bestimmten Vorsätzen und Entschlüssen unabhängig zu halten; NB. Liebe deinen Nächsten similiter sicut te ipsum. Dieser Grundsatz des Thomas Aquinatus schließt in sich, daß es sittlich berechtigt sei, das eigene Interesse, die Freiheit mit einem reichen Inhalt auszuüben, ohne nach der Pflicht zu fragen. Die Pflicht ist neben dem Recht die geringere Sorge. damit der Mensch für das ihm zugestandene weite Maaß empirischer Ungebundenheit des Willens sich die kirchliche Auctorität gefallen lasse. Indem also die persönliche Ehre, Selbständigkeit und Unabhängigkeit als die mit der Wahlfreiheit gegebenen Güter vorausgesetzt werden (Feuerlein S. 62.63), wird gelehrt, daß 1. alles zum guten Zweck der Erhaltung dieser Güter erlaubt sei, was auch dem Sittengesetz zuwider ist. Jene Rücksicht 2. begründet ferner den P r o b a b i l i s m u s . Zu § 58. Wer im Falle ist, einen Vorsatz oder Entschluß [113] zu fassen, hat sich danach umzusehen was ein Moralist in dem Falle probabel findet, und darf sich nach solcher Vorschrift richten, wenn auch ein Anderer das Gegentheil probabel findet, oder ein Zweiter es weniger probabel findet, oder wenn es dem Fragenden selbst nicht probabel erscheint. Der Beichtvater soll dem Fragenden das bezeichnen, was ein Moralist probabel findet, auch wenn er nicht mit dessen Ansicht übereinstimmt; und es wird ihm zur Todsünde gemacht, wenn er einen Confitenten nicht absolvirt, der für seine Handlung eine probable Meinung einer Autorität anführt. In dieser Doctrin wird die Freiheit von dem Bewußtsein der Zurechnung und seinen Regeln völlig entbunden. 7 aber … kommt] korr. aus also kommt es 11–14 NB … Sorge.] am Rand 19 1.] am Rand 20 2.] am Rand 22 Zu § 58.] am Rand 12 Thomas von Aquino, Summa theologiae II/II q 44 a 7; ed. Busa 2,585; vgl. Beilage III.2 unten S. 214 18 Feuerlein, Die Sittenlehre 62 f. 21 Feuerlein, Die Sittenlehre 58–60. 22 S. unten S. 168,31
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3. Geschmälert wird die Zurechnung, indem nur solche Handlungen als Todsünden gelten sollen, wenn der Handelnde durch gratia actualis im Bewußtsein seiner Pflicht gewesen und im bewußten Widerspruch gegen dieselbe gehandelt hat. Wo also die Ueberlegung gemangelt hat, da fehlt das Merkmal der Todsünde. Dadurch wird geläugnet, daß Uebereilungssünden deßwegen 5 volle Zurechnung erleiden, weil sie aus einem schuldhaften Mangel an Selbstbeherrschung hervorgegen. Gerade ein reifer Charakter muß sich hienach Uebereilungssünden um so schwerer anrechnen. Gregor Magnus, Moralia VIII,20: Quidam dum peccata confitentur, ea nimirum quibusdam vocibus minuunt, dum se non ex toto animo commisis- 10 se ostendunt. Econtra autem electi viri, quando se de minimis accusant, ea utique non quasi parva, sed quasi magna pronuntiant. 4 Endlich schmälern die Jesuiten die Zurechnung durch den Grundsatz daß dasjenige Handeln, welches eine Einwirkung auf Andere hat, schuldlos ist, wenn die Anderen keine Verletzung dadurch empfinden, wenn also die bona 15 fides des Andern keine Schuld am Ersten entdeckt (Feuerlein S. 66).
§ 47. 42 D i e F o r m e n d e r S ü n d e i n d e m r e l i g i ö s - s i t t l i c h e n C h a r a k t e r. Wenn schon die Anwendung des jesuitischen Grundsatzes von der gratia actualis auf den Sünder falsch ist, so ist sie es doppelt in Beziehung auf den 20 Gläubigen. Nach diesem Grundsatz (Pascal, 4. Brief, I. S. 52) soll eine Uebertretung des Sittengesetzes nur dann Sünde sein, wenn die göttliche Gnade im Menschen die Kenntniß seiner Schwäche, die Erkenntniß des Heilandes, die Sehnsucht nach dem Heile und die Bitte um dasselbe erweckt hat. Wenn aber [114] unter solchen Bedingungen, wo nicht nur das 25 Bewußtsein, sondern der Wille auf das Gute gerichtet ist, eine Versuchung zur Gegentheiligen Entscheidung des Willens führt, so ist das die Sünde gegen den heiligen Geist. Mc. 3,28–30; 1 Joh. 5,16; Hebr. 6,4–8; 10,26–31.
1–8 3. Geschmälert … anrechnen.] am rechten Rand in ganzer Länge eingeklammert 1 3.] am Rand 9–12 Gregor … pronuntiant.] am Rand 13 4] am Rand 29 Mc. … 10,26–31.] am Rand 9 Gregor d. Gr., Expositiones in librum primum Regum 5,162 zu 1. Sam 14,43, CChrSL 144, 517,3847–3851; PL 79,392 A 16 Feuerlein, Die Sittenlehre 66. 21 Pascal, 4. Brief. In: Werke 3,52
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Oder wenn nur dieser Fall Sünde ist, so wird ein Gläubiger, dessen Gesinnung im Allgemeinen gut ist, überhaupt sündlos sein, weil er nur in Uebereilung das Gesetz übertreten, demgemäß aber keine Sünde begehen würde. Nach der Gesinnung des religiös-sittlichen Charakters ist derselbe nicht mehr unter der Macht der Sünde, und in d i e s e m Sinne sündigt er nicht mehr (1 Joh. 3,9; 5,1), ist das Subject der perseverantia gratiae. Indem die lutherische Lehre hierauf verzichtet, verzichtet sie auf den Begriff des Charakters. Die Heiligung ist in logisch erster Linie die Stellung des Menschen in einem Vertrauensverhältniß zu Gott trotz seiner Sünden, in zweiter Linie der Gewinn des neuen Lebens aus dem heiligen Geiste; also ist sie keine materielle, mechanische Ausscheidung der Triebe, an die sich bisher vorherrschend die Richtung des sündigen Willens geknüpft hat. Aber wenn der Gläubige leugnet Sünde an sich zu haben, so täuscht er sich (1,8–10). Denn der sittlich begründete Charakter ist eben immer im Werden, und zwar als Product einer solchen Person, welche in ihrem Naturell durch die Sünde gebunden gewesen ist. Sofern nun das Naturell noch nicht vollständig in den Charakter aufgenommen ist, sondern die Triebe noch neben dem Charakter herspielen, so ist auch im religiös sittlichen Charakter noch Sünde. In Beziehung hierauf erklärt Paulus den Leib für das Organ der Sünde, für den Sitz der Begierde und des Widerstrebens gegen den Geist (Gal. 5,16; Rom. 8,13; 13,14; Kol. 3,5), und begründet dadurch die Aufgabe des Ágiasmóv der fortschreitenden Selbstheiligung und -reinigung (1 Th. 4,3–7; Rom 6,19.22; 2 Kor. 7,1). Das ist nicht so gemeint, als ob im Gläubigen nur noch die sogenannten sinnlichen Triebe Grund der Sünde seien; daß also Eitelkeit, Eigensinn, Herrschsucht im Geheiligten nicht vorkämen, hingegen Völlerei und Unzucht. Sondern die Ausdrücke des Paulus sind als symbolische Einheit des Trieblebens zu verstehen ohne Unterscheidung ihrer Arten. Ferner ist nicht gemeint, daß die Sünde im religiös sittlichen Charakter nur als vereinzelte, halb unbewußte, unwillkürliche Uebertretung vorkäme, sondern es ist auch eine gewisse Habitualität sündiger Neigung anzunehmen. Freilich verträgt sich Habitualität sinnlicher Neigung und kleinlicher Eitelkeit schon nicht mit einem soliden, geschweige von einem durch religiösen Ernst getragenen Charakter. Aber Mangel an Selbstbeherrschung, zu große Sicherheit des Entschlusses, Eigensinn in der einmal [115] als richtig erkannten Handlungsweise, Rücksichtslosigkeit gegen die Folgen der eingeschlagenen Handlungsweise, – das sind Untugenden, wegen deren man an dem reli1 Oder] korr. aus Aber 6 5,1),] korr. aus 5,1). 6 f. ist … Charakters.] am Rand 8–12 Die … hat.] am Rand 8 logisch] über der Zeile 14 begründete] korr. aus C 29 Uebertretung] Ms.: Ubertretung korr. aus übertretung
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giösen Werth eines Charakters nicht zweifeln soll, wenn die übrigen Merkmale desselben vorhanden sind. Denn solche Untugenden sind vom Laster zu unterscheiden (Rothe II, S. 397), sofern keine Absicht auf solche Handlungsweise gerichtet ist, und sofern im Allgemeinen die Absicht obwaltet, sie auszuschließen, aber freilich dabei die Ausdauer in der Ausführung der Absicht fehlt. Uebereilung, Mangel an Ueberlegung unterscheidet solche Untugend sowohl vom Laster, wie von der Sünde aus Versuchung, die nothwendig eine Ueberlegung des Vortheils oder des Genusses aus der eventuellen Sünde mit sich bringt. In auffallender Weise zeigt sich habituelle Untugend gerade bei den ausgezeichneten, heldenhaften, reformatorischen Charakteren, auch auf religiösem Gebiet. Solche entbehren des künstlerischen Maaßes und der stetigen Macht über ihr Triebleben, je mehr sie leidentlich von der sie beseelenden Idee ergriffen sind. Eigensinn, A f f e c t und Herrschsucht dienen ihnen freilich dazu, ihre weltgeschichtliche Mission durchzuführen, aber so daß deren sittliche Reinheit verletzt wird. Die Heroen sündigen im Affect, indem der Trieb der Selbsterhaltung gegen Hemmung ihrer Berufsthätigkeit reagirt, und der individuelle Act nicht durch die Rücksicht der Liebespflicht orientirt ist, vielleicht auch nicht durch eine Einsicht in die Lage, welche der N a c h forschende findet, der unmittelbar handelnde nicht. Denn indem sie ihre Besonderheit der Allgemeinheit ihres Zwecks hingeben, und indem die Thatkraft die Ueberlegung überholt, so verstehen sie und achten sie nicht andere Besonderheiten, wenn sie auch demselben Zwecke dienen. Hieraus folgt nicht, daß Sünde leichter vermieden wird, wenn die sittliche Ueberlegung die Thatkraft überwiegt. Denn hier liegt die Gefahr nahe, daß die vorherrschend asketische Behandlung der Untugend die normale Entwicklung der Gesinnung behindert und die Zuversicht zum Handeln lähmt, welche das nothwendige Merkmal unsündlichen Verfahrens ist (Rom. 14,23). Das Urtheil über die Untugend in der christlichen Welt muß immer getragen sein durch die dem Gedanken vom Reich Gottes analoge, außerhalb des Christenthums nicht erreichbare Erkenntniß daß jeder als Sünder an dem gemeinsamen Sündenstand mitschuldig ist. Dadurch wird die Parteisucht aus-
3 solche] folgt 7–10 Uebereilung … bringt.] am Rand 15 Affect] über der Zeile 18–22 Die … nicht.] am Rand 19 Act] korr. aus ÎCharù 31–151,2 Das … gehemmt.] am Rand 3 Rothe, Theologische Ethik 2,397 f. Anm. 1 f.
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geschlossen, die Milde motivirt, und ein Hauptvehikel der Feindschaft unter den Menschen, der Eigensinn gehemmt. In einem z w e i t e n Fall findet sich habituelle Untugend auch im religiösen Charakter im Uebergang von der Unreife zur Reife. Dazu gehört freilich, daß die Untugend als solche erkannt und mit entgegengesetzten Vorsätzen bekämpft wird; es ist hiebei aber auf einen vielleicht lange schwankenden Kampf zu rechnen, indem die noch nicht beherrschten Triebe den Menschen zu Falle [116] bringen; aber auch hiebei ist der Unterschied vom Laster zu beachten, daß keine Absicht auf die erfolgende Sünde herrscht, und daß in jedem einzelnen Rückfall eine sophistische Verdunkelung des Pflichtbewußtseins als Mittel eintritt. Endlich aber wird gerade der religiös geordnete und befestigte Charakter die einzelnen Uebereilungssünden, welche außer Zusammenhang mit dem Charakter zu stehen s c h e i n e n , in der Selbstbeurtheilung gerade als Spuren habitueller Untugend betrachten. Diese Ansicht ist der katholischen Unterscheidung von peccata mortalia und venialia entgegengesetzt, ebenso wie der methodistischen Ansicht, daß gewisse Gesetzübertretungen die Vollkommenheit nicht schmälerten (§ 17). Die habituelle Untugend kann nicht durch negative Askese überwunden werden, Rom. 6,11. sondern nur durch die Stetigkeit der aus der Berufsaufgabe folgenden positiven guten Vorsätze (dikaiosúnh eÌv Ágiasmón Rom. 6,19). Körperliche Askese drängt gerade die geschmälerten Triebe der sinnlichen Selbsterhaltung in den Vordergrund, erreicht also das Gegentheil ihres vorgeblichen Zweckes. Sektirerisch-asketisches Demuthsstreben nährt die Eitelkeit und den Hochmuth. Der Werth der Naivetät! NB. sind die ältesten Christen so vollkommen sittliche Charaktere gewesen? Irvingianismus.
6 die] folgt 7 bringen;] korr. aus bringt; 17 17] korr. aus 21 19 Rom. 6,11.] am Rand 21 (dikaiosúnh … 6,19).] am Rand 23 Zweckes.] folgt am Rand 24 f. Sektirerisch-asketisches … Naivetät!] am Rand 26 f. NB. … Irvingianismus.] am Rand 17 S. oben S. 57,5 27 Mit Irvingianismus wurde die „Katholisch-apostolische Gemeinde“ bezeichnet, an deren Entstehung um 1832 der Londoner Prediger Edward Irving (1792–1834) beteiligt war; vgl. Köstlin, Art. „Irving/Irvingianismus“
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II. Theil XI. Religiös-sittlicher Charakter
§ 48. 43 D i e V e r s u c h u n g . bezeichnet eine andere Form des Sündigens als die Untugend; wird von den älteren Theologen vorherrschend in Beziehung auf die Wiedergeborenen gesetzt; weil die Unwiedergeborenen unter der H e r r s c h a f t der Sünde stehen, also derjenigen Freiheit zum Sündigen entbehren, welche durch den Begriff der Versuchung vorausgesetzt wird. Dieser Gesichtspunkt ist nicht rein, die erste Hälfte des Satzes ist ethische Reflexion die zweite dogmatische. Wenn die letztere gelten soll, so kann auch der Wiedergeborene nicht sündigen (1 Joh. 3,9; 5,18). Umgekehrt gilt nach der ethischen Betrachtung die Versuchung auch für den Unwiedergeborenen (Jak. 1,14.15), wenn derselbe eine Stufe moralischen Charakters erreicht hat, d. h. wenn bei ihm dem Reize des Triebes schon ein allg|emein sittliches Motiv entgegenwirkt. Auf solchen Fall ist der dogmatische Begriff von der völligen Unfreiheit des Sünders nicht anwendbar, und doch auch noch nicht der dogmatische Begriff der Wiedergeburt. Die theologische Ethik hat aber nicht die Aufgabe, alle möglichen Stufen der Charakterbildung zu beleuchten, sondern eben nur die Stufe des geheiligten Charakters, und hienach ist unsere Lehre von der Versuchung abzugrenzen. Deßhalb ist das Maaß [117] dazu nicht von Jak. 1,14.15 zu entlehnen, sondern von der Thatsache, daß Christus Versuchung erfahren und bestanden hat (Hebr. 2,18; 4,15; Mc. 1,13; Luc. 22,28). Aus der Zusammenfassung dieser beiden Neutestamentlichen Stützpunkte ergiebt sich, daß dasjenige Motiv, welches einem normalen Charakter als Versuchung zur Sünde dienen kann, nicht als böse, nicht als Widerspruch gegen den sittlichen Endzweck erscheinen wird. Denn was von vornherein als böse gewußt ist, kann einen sittlich begründeten Charakter als solchen nicht reizen; also auch die Vorstellung Jesu von dem Teufel kann nur als nachträgliches Urtheil Jesu über den Werth versucherischer Motive gelten, dessen Gewinnung das Merkmal für die Ueberwindung der Versuchung ist. Deßhalb ist es auch eine falsche Auslegung von Jak. 1,14.15, daß die b ö s e Lust oder das Fleisch als Sitz habitueller Untugend Versuchungen begründe. Vielmehr wenn die Lust, d, h. das Triebleben versucherische Motive abgiebt, so geschieht dies gemäß seinen sittlich berechtigten und scheinbar erlaubten Ansprüchen, und das Fleisch dient zur Versuchung, nicht weil es böse, sondern weil es schwach ist (Mc. 14,38). Es sind also alle Behauptungen abzuschneiden, die in Folge der Verwechselung von Lust und böser Lust stehen; ebensowenig ist ein zweites coordinirtes Motiv, daß die Welt Grund der Versuchung sei, nach 1 Joh. 5,19; Jak. 4,4. Denn jeder Antrieb nach Lust, der versucherisch sein kann, knüpft sich natürlich an Güter, die zum Umfang der Welt gehören; Lust und 2 bezeichnet … Untugend;] im freien Teil der Zeile 35 f. ist … Motiv,] am Rand statt 36 coordinirtes] über der Zeile
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Welt sind also nur zusammen e i n Motiv der Versuchung, nicht zwei coordinirte; ebenso wenig ist der Teufel als drittes Motv der Versuchung zu zählen, denn derselbe concurrirt nur als eigenthümlicher Exponent des Unwerthes der Welt für den Erlösten. Die directen Hinweisungen auf Versuchung im Neuen Testament sind beschränkten Umfanges, dürfen aber nicht durch willkürliche Combinationen erweitert werden. 1. werden Versuchungen abgeleitet von den Leiden, die die Gegner der religiösen Wahrheit hervorbringen, wie Jesus und die Gemeinde in ihrem Berufe erfuhren, und dieselben werden auf den Satan zurückgeführt, [118] sofern derselbe als Machthaber über die Gegner des Christenthums gilt, der die Christen von ihrem Glauben abtrünnig zu machen sucht (Hebr. 2,18; Luc. 22,28; – Mc. 14,38; 1 Kor. 10,13; Jak. 1,2.12; 1 Petr. 1,6; 4,12; – 1 Th. 3,5; Luc. 22,31.32; 1 Petr. 5,8; Eph. 6,11.12). Das Leiden wird nun insofern versucherisch, weil der durch dasselbe beeinträchtigte Selbsterhaltungstrieb, der das ganze Personleben verbürgt, als ausschließlich berechtigt, und weil die Selbsterhaltung als ein die Berufspflicht möglicherweise aufwiegendes Gut erscheint; während doch der Trieb nach Selbsterhaltung, der die Berufspflicht ausschließt, nur die Stufe des Naturells im Widerspruch mit den Bedingungen des Charakters repräsentirt. skandalon = Versuchung, aus dem begehrenden Triebe Mc. 9,43–47; Mt. 5,29.30; aus Verfolgung Mc. 4,17, von Menschen her 9,42; Mt. 17,27; 1 6 , 2 3 ; von Jesus selbst her Mc. 6,3; 14,27.29; Mt. 11,6; 15,12; Lc. 7,23; Joh. 6,61; 16,1; 1 Petr. 2,8; Rom 9,33; Gal. 5,11; 1 Kor. 1,23 nämlich dadurch daß man ihn nicht richtig versteht, und doch seine Stellung zu ihm nimmt – Zur schwachen Nachgiebigkeit versuchen Rom 14,13.21; 1 Kor. 8,13; Apok. 2,14; Rom 16,17, zur leidenschaftlichen Gegenwirkung versuchen Mt. 17,27; 2 K o r. 1 1 , 2 9 Indifferent 1 Joh. 2,10. 2. erscheinen andere an sich berechtigte Triebe als versucherisch. Zunächst der Trieb nach Besitz (1 Tim. 6,9), nach den Mitteln persönlicher Selbständigkeit, sofern derselbe in Widerspruch mit dem vorausgesetzten sittlichen Endzweck kommen kann, also das Mittel den sittlichen Endzweck zu verdrängen im Begriff ist. Ferner der Geschlechtstrieb (1 Kor. 7,5), der in der Ehe berechtigt ist, aber beeinträchtigt durch asketische Tendenzen der Eheleute die Ehe zu brechen droht. Ferner Gal. 6,1. 3. Die Fälle der Versuchung 3 f. Unwerthes … Erlösten.] Unwerthes (korr. aus Werthes) … Erlösten. am Rand statt 15 ausschließlich] am Rand 19–26 skandalon … 2,10.] am Rand 20 17,27;] folgt <Mc.> 22 1 Petr … 1,23] über der Zeile 24 13.] über der Zeile 25 Rom 16,17] über der Zeile 26 Mt. 17,27] über 33 Ferner … 6,1.] am Rand
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Christi sind nur verständlich von dem Kampfe in Gethsemane aus. Indem Jesus den Wunsch hegt, von den ihm bevorstehenden Leiden verschont zu bleiben, indem er es also momentan für möglich hält, auch ohne Leiden seinen Beruf zu erfüllen, wird versucherisch der Gedanke eines von vornherein als gut anzusehenden Vorsatzes; die nähere Ueberlegung aber führt zu der Erkenntniß, daß das gedachte Mittel zum Zweck nicht ebenso gut ist, wie das andere. So ist die Versuchung Christi im Anfang seiner Laufbahn nur verständlich wenn Jesus im beginnenden Bewußtsein seines Berufes das Auftreten als politischer Machthaber momentan für ebenso gut und sittlich zweckmäßig gehalten hat, als die Bahn des Propheten und des Dulders, respective die vorhergesehenen Leiden empfunden hat als Hemmungen seiner Lebensfreude und diese momentan als ein Gut vorgestellt hat, welche sein Berufsbewußtsein aufwiegen könnte. Die Doppelbitte Mth. 6,13 richtet sich an den Gott der Vorsehung, dagegen Jak. 1,13. daß er uns nur in solche Situationen führe, in denen das Urtheil über die nächste Handlungsweise nicht unsicher und schwankend sein kann, und daß man demgemäß bewahrt bleibe vor dem Bösen, zu welchem man in Kraft der Versuchung kommen [119] kann; nicht gemäß bösem Willen, sondern aus Schwachheit der Einsicht und Schwachheit des Fleisches. Versuchung ist also für den christlichen Charakter ein hypothetischer Grund zum Sündigen, entgegengesetzter Art als die zurückgebliebene Untugend. Sie geht aus einer Reizung von Trieben hervor, welche auf Grund des momentanen Verhältnisses des Menschen zur Welt den Anschein haben, den Werth des gewonnenen oder zu gewinnenden Charakters aufzuwiegen; und die Versuchung wirkt Sünde, sofern die durch äußere Situation herbeigeführte Ueberlegung des scheinbaren Werthes gewisser Güter den Charakter sich selbst untreu macht. 1 aus] über der Zeile 10 Dulders,] Ms.: Dulders. 10–13 respective … könnte.] am Rand 15 dagegen … 1,13.] über der Zeile mit Bleistift 20–155,10 Versuchung … vermeiden.] am Rand statt 23–25 welche … aufzuwiegen;] über <sofern dieselben nicht vom Charakter beherrscht sind, oder, wie der Selbsterhaltungstrieb überhaupt den Charakter möglich macht, dessen Ansprüchen ein Gegengewicht zu leisten ‚scheinen;‘ (korr. aus scheint;)> 26 Ueberlegung] korr. aus Uebereilung 27 scheinbaren … Güter] über <Entschlusses>
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§ 49 Tugend (allgemein)
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In diesem Falle tritt aber keine Sünde gegen den heiligen Geist ein, sondern Gal. 6,1.2. Aber ein Gradunterschied ist zwischen der Verläugnung des Christenthums im Falle der Verfolgung und einer Uebereilung anderer Art. – Mit der Versuchung ähnlich ist der Fall, in welchem ein Impuls habitueller Untu5 gend durch den Willen überwunden wird. Aber deßhalb dürfen doch die beiden Formen der Sünde nicht vermischt werden. Denn im letztern Fall verhält sich der Wille nicht frei gegen die Reizung, und die Entscheidung des Willens gegen sie hängt nicht so von der richtigen Einsicht in den Fall ab, wie bei der eigentlichen Versuchung, deßhalb kommt in beiden Fällen ein verschiedener 10 Grad von Willenskraft in Anwendung um die Sünde zu vermeiden.
Z w ö l f t e s C a p i t e l . D i e Tu g e n d .
§ 49. 44 A. A l l g e m e i n e r B e g r i f f d e r T u g e n d . Der Charakter ist die Stufe des Willens, welche die in dem besonderen Berufe gesetzten Zwecke auf einen Endzweck hin vereinigt. Die Gesinnung ist der 15 Gedanke des persönlichen Endzwecks, sofern er Absichten und Vorsätze hervorruft. Charakter und Gesinnung sind sittlich gut, sofern das GottesReich als ihr Endzweck gesetzt ist. Tugend ist die der guten Gesinnung gemäße Ordnung der Absichten Vorsätze und Entschlüsse, als Product des Willens innerhalb des Charakters selbst. Allerdings ist die Tugend auch Kraft zum Han20 deln; aber dies ist das jenem Begriff untergeordnete, wenn es auch vielfach allein in Betracht gezogen wird. Uebrigens bezieht sich die Pflicht auf das sittliche Handeln in der Gemeinschaft, die Tugend zunächst auf die Bildung des eigenen Charakters. Nur wenn in zweiter Reihe die Tugend auch im Handeln erscheinen wird, so ist zu [120] unterscheiden: Eine Handlung ist pflicht25 mäßig nach ihrem normalen Verhältniß zu dem Zweck der Gemeinschaft; sie ist tugendhaft nach ihrem Verhältniß zur Normalität des begründenden Willens. Als Product des Willens tritt die Tugend in der Pädagogik freilich als eine Aufgabe unter den Begriff der Pflicht. [119] Um so weniger richtig ist es, wenn zugleich der Grundbegriff der Tugend nur unter dem Titel der Pflichten 10 die] folgt 17 die] korr. aus das 18 Ordnung … als] über der Zeile 21 wird.] folgt ursprünglich der Abschnitt Um … gegenüberstellen. der durch Einfügungszeichen ohne Änderung der Satzzeichen weiter unten eingeordnet wird; s. unten Zeile 28–156,6 28 Pflicht.] Ms.: Pflicht; 28–156,6 Um … gegenüberzustellen.] mit Einfügungszeichen hierher versetzt; s. oben Zeile 21
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II. Theil XII. Tugend
gegen sich selbst, als Pflichten tugendhafter Selbstbildung zu Sprache kommt (Rothe). Diese Pflichtbegriffe, indem sie dem unreifen Charakter zugemuthet werden, sind zumal keine ethischen sondern pädagogische Pflichtbegriffe. Die ethischen Begriffe werden in Hinsicht des reifen Charakters gebildet, und deßhalb ist die Tugend nicht als eine Soll dem Pflichtbegriff unterzuordnen, sondern als ein wirklicher Sachverhalt dem Soll gegenüberzustellen. [120] Und sofern die Tugend erzeugende Bewegung des Willens durch die Gesinnung also durch einen bestimmten Gedanken vom persönlichen Endzweck vermittelt ist, so ist die Tugend lehrbar. In diesem Sinne wird sie Object der Pädagogik, respective der Pflichten gegen sich selbst. Nicht durch Verstandesbegriffe, sondern durch Erregung des sittlichen Gemeingefühls, durch Anleitung des Ideals, in der Zusammenwirkung ethischer und aesthetischer Motive. Die Tugenden werden immer hervorgebracht durch die Rückwirkung des entsprechenden Handelns nach Außen auf das Handelnde Subject. Bethätigung der Kraft ist Erwerb und Stärkung derselben. Die Tugend ist Eine, weil der Charakter in seiner Einheit ihr logisches Subject ist, und deßhalb sind auch die mannigfaltigen Tugenden in keinem Subject vollkommen, in welchem eine derselben fehlt oder mangelhaft ausgebildet ist. Die Tugend ist mannigfaltig, sofern die Thätigkeit des auf sich selbst gerichteten Willens entweder die Totalität, oder einzelne Elemente des Charakters sich zum Zwecke seiner Bewegung macht. 1. Diejenigen Tugenden, welche sich aus der Beziehung des Willens auf die Totalität des Charakters ergeben, sind zugleich die, welche das unmittelbare Maaß für den s u b j e c t i v e n Werth des Handelns in der Gemeinschaft bilden. Sie unterscheiden sich nach der Abstufung der Willensäußerung. Der Absicht entspricht die W e i s h e i t , dem Vorsatze die B e s o n n e n h e i t , dem Entschlusse die E n t s c h l o s s e n h e i t und die B e h a r r l i c h k e i t . 2. Die Beziehung des Willens auf die einzelnen Elemente des Charakters richtet sich entweder danach, daß der Charakter auf einen persönlichen Endzweck gegründet ist, durch den die Triebe beherrscht werden, die S e l b s t b e h e r r s c h u n g , – oder danach, daß der persönliche Endzweck mit dem allgemeinen sittlichen Zweck im Berufe identisch ist, die G e w i s s e n h a f t i g k e i t . Oder es kommt darauf an, die den Charakter messende G e s i n n u n g zu erhellen, zu stärken, auszubilden, G ü t e , D a n k b a r k e i t , G e r e c h t i g k e i t . Die Reihenfolge der Darstellung ist so zu nehmen, daß die abstracteren Tugenden den concreteren vorgehen. 3 sondern] folgt 7 Und] Ms.: und 8 durch] über der Zeile 9–15 In … derselben.] In … derselben am Rand 15 Eine] korr. aus einfach 34 Gerechtigkeit.] folgt 35 vorgehen] korr. aus Vorgehen
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§ 50 Selbstbeherrschung
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Die Pflichtbegriffe: Bescheidenheit, Aufrichtigkeit, Dienstfertigkeit, Verträglichkeit sind nicht zugleich als ebenso viele Tugenden darzustellen, denn da sie als Pflichtbegriffe begrenzte Anwendung finden, so können sie unbegränzt ebenso viele Untugenden werden.
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[121] 45 B. D i e T u g e n d e n f o r m a l e r C h a r a k t e r b i l d u n g . § 50. D i e S e l b s t b e h e r r s c h u n g
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ist die im Willen erzeugte Ordnung der Absichten usw., sofern derselbe in der auf sich gerichteten Bewegung seinen persönlichen Endzweck sichert. Derselbe wird gesichert, indem die im Naturell enthaltenen Triebe beherrscht, zu Mitteln des persönlichen Endzwecks gemacht, und nicht etwa in willkürlicher Bewegung neben oder gegen den sittlichen Endzweck gelassen werden. Aber ferner indem das Triebleben dem Endzweck untergeordnet, und die erworbene Fertigkeit, dies zu thun, in der Selbstbeherrschung ausgeübt wird, so werden die Triebe nicht überhaupt gelähmt und unterdrückt, sondern eingeschränkt gemäßigt. Die Selbstbeherrschung im Verhältniß zu den Trieben der sinnlichen Selbsterhaltung ist K e u s c h h e i t , M ä ß i g k e i t ; zu den Trieben der geistigen Selbsterhaltung E i n f a c h h e i t , M ä ß i g u n g , die Fertigkeit dem anderen Achtung zu erweisen, und sich als achtungswürdig zu zeigen. Mth. 7,1; Jak. 4,11.12. (Gegentheil von Eigensinn, Rechthaberei, Eitelkeit). Die Selbstbeherrschung wird nun nicht durch negative Askese, sondern durch Gymnastik erworben, nicht durch Fasten und Ausmergelung, nicht durch absichtliche Schweigsamkeit und künstliche Selbstdemüthigung. Abgestufte Vorsicht des Vermeidens der Versuchungen zur Wollust, Völlerei, Eitelkeit und Rechthaberei. Denn im ersten Fall wird die Aufmerksamkeit auf die sinnlichen Triebe fixirt, anstatt auf den sittlichen Endzweck, im zweiten Fall, auf einen sittlichen Endzweck, der nicht positiv ist, und in den sich wieder der Egoismus hineinlegen kann als verbissener Hochmuth und als raffinirte Eitelkeit. So weist natürlich die Selbstbeherrschung auf die normale Beschaffenheit der Charakterentwicklung als nothwendige Ergänzung hin. Die Selbstbeherrschung wenn sie das Ganze der Tugend sein soll, kommt freilich nicht über die Negation des 1–4 Die … werden.] am Rand 7 ist … usw.] im freien Teil der Zeile und am Rand statt 14 f. eingeschränkt] am Rand 17 Selbsterhaltung] folgt 17–19 Mäßigung, … 4,11.12.] am Rand, Mäßigung, über der Zeile 23 f. Abgestufte … Rechthaberei.] am Rand 23 Versuchungen] folgt 26 Fall] korr. aus fall
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II. Theil XII. Tugend
Trieblebens hinaus. Die Mönchstugend als aparte Bethätigung der Demuth (§ 41) kommt auf die isolirte negative Selbstbeherrschung hinaus, indem die Triebe als das an sich widersittliche überhaupt verneint werden. Zu den allgemeinen Negationen des Eigenthums, der Ehe, der Familie, d. h. des Triebes nach sinnlicher und sittlicher Selbständigkeit und Gemeinschaft, fügen Kar- 5 thäuser und Trappisten eine ganz überwiegende Pflicht der Schweigsamkeit, und die Heroen des Mönchthums Ueberwindung des naturgemäßen Ekels hinzu. Die Culturbedeutung des Mönchthums im Mittelalter erklärt sich nur im Widerspruch mit [122] seinem sittlichen Princip daraus, daß in einer Epoche allgemeiner Culturlosigkeit Gemeinschaften mit geringen Bedürfnissen 10 und strenger Disciplin für die Aufgaben Großes leisten konnten, die sie trotz ihrer Abwendung von der Welt sich auferlegten. § 51. D i e G e w i s s e n h a f t i g k e i t ist die im Willen erzeugte Ordnung der Absichten usw. sofern derselbe in der auf sich gerichteten Bewegung sich seinen sittlichen Beruf in dem Wechsel der verschiedenen sittlichen Aufgaben und der verschiedenen möglichen Willensbewegungen sichert. Ohne die Uebung der Gewissenhaftigkeit verliert der Wille die ihm sittlich nothwendige Grenze seines Berufs, oder, sofern dieselbe äußere Motive für ihn behält, wird er zur lästigen Fessel oder er wird zur charakterlosen Liebhaberei. Sofern der Einzelne Beruf in Familie, bürgerlicher Gesellschaft, Staat, Kirche hat, so bedarf er in allen diesen Beziehungen der Gewissenhaftigkeit, um sich in ihnen zu erhalten; und umgekehrt, jedes Object auf welches Gewissenhaftigkeit angewendet wird, wird dadurch in den Beruf aufgenommen, dem man willkürlich nicht ohne Schaden untreu werden darf. Sofern die ersten Christen in Rom sich aus dem Genuß von Wein und Fleisch ein Gewissen machen, schließen sie diese Vorsicht in ihren Beruf ein. Wenn sie aber durch das Beispiel der Anderen sich zur Abweichung von ihrem Grundsatze verleiten lassen, so sind sie verdammt, weil sie nicht gemäß ihrer Ueberzeugung handeln (Rom. 14,23). Dagegen sind die gleichartigen Leute in Kolossae verdammlich, weil sie ihre eigenthümlichen Enthaltungen und Uebungen, an die sie ihr eignes Gewissen bindet, anderen auf3 Zu] korr. aus ÎFù 11 Großes] korr. aus großes 14 ist … usw.] im freien Teil der Zeile und am Rand statt 16 verschiedenen … der] am Rand 19 er wird] über der Zeile 23 auf welches] korr. aus Îmit Weù 2 S. oben S. 136,22 (§ 42!) 30 Kol 2,16–23
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§ 51 Gewissenhaftigkeit – § 52 Weisheit
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drängen wollen. Denn hierin liegt der Fehler, daß etwas, was als besonderer Beruf Einzelner einen subjectiven Werth für diese hat, als allgemeine Regel gelten soll. Die Gewissenhaftigkeit ist als der hauptsächliche Maßstab für die Bildung der Pflichtbegriffe das was man das gesetzgebende Gewissen nennt. Die falsche Appellation an das Gewissen mit Ablehnung aller übrigen Bestimmungsgründe. Aber der besondere Beruf des Einzelnen ist nicht das höchste Maaß der gemeinsamen Sittlichkeit; und was nach dem besonderen Beruf des Einzelnen dessen Gewissenhaftigkeit bindet, braucht darum nicht Alle zu verpflichten. Also auch diese Tugend wird in ihrer Isolirung von der allgemeinen Charakterbildung Grund sittlicher Fehler. In ihrer Isolirung von Gerechtigkeit, Weisheit, Besonnenheit wird die Gewissenhaftigkeit Eigensinn. Die Selbstbeherrschung und Gewissenhaftigkeit begründen die Selbständigkeit und Ehrenhaftigkeit des Charakters. [123] Die S e l b s t ä n d i g k e i t kommt dem Charakter zu, sofern die Selbstbeherrschung und Gewissenhaftigkeit die Uebereinstimmung des persönlichen sittlichen Endzwecks mit dem besonderen Berufe verbürgen, und es ausschließen, daß erst das Urtheil und die Absicht anderer Personen dem Menschen seinen sittlichen Endzweck und seinen Berufskreis setzen. Die E h r e n h a f t i g k e i t ist vielmehr die Selbständigkeit des Charakters selbst, sofern dieselbe durch das Urtheil der Anderen anerkannt wird und dieselben darauf verzichten, i h r Urtheil als Maaßstab der Sittlichkeit der Person geltend zu machen.
46 C. D i e T u g e n d e n m a t e r i a l e r C h r a k t e r b i l d u n g . 25
§ 52. D i e W e i s h e i t
ist nicht zureichend definirt als die Fertigkeit, gute Zwecke und gute Mittel zu setzen, sondern sie ist die im Charakter producirte Fertigkeit, nach dem besondern Maaß des Berufes und gemäß der allgemeinen Einsicht in das Verhältniß des Subjects zu der umgebenden Welt Èpígnwsiv, gnôsiv bei Paulus Phil. 1,9–11; Rom 12,2; 2 Kor. 6,6; Kol. 30 1,9.10. 1 daß] korr. aus was 1 was] folgt 4 f. Die … nennt.] am Rand 6 f. Die falsche … Bestimmungsgründe.] am Rand 18 erst] korr. aus d 25 Weisheit] Ms.: Weisheit. 28 f. und … Welt] am Rand 30 f. Èpígnwsiv … 1,9.10.] am Rand
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II. Theil XII. Tugend
gute Zwecke und Absichten zu bilden, und durch den Gedanken der Absicht das Urtheil auf die möglichen Mittel hinzulenken. Daß in einem bestimmten Moment das der Absicht entsprechende Mittel zum guten Vorsatze wird, ist freilich durch die Besonnenheit bedingt, ein Beweis, daß die nächsten verwandten Tugenden nicht ohne einander denkbar sind. Der biblische Aus- 5 druck sofía bezeichnet freilich die allgemeine Einsicht in die göttlichen Absichten, nach welchen sich die Lebensführung der Gläubigen zu richten hat (Kol. 1,9.10), und welche nicht einzelne Tugend, sondern die Grundlage für Gesinnung und Charakterbildung ist (Jak. 1,5; 3,17). Die Weisheit als b e s o n d e r e Tugend im Worte sofóv (1 Kor. 3,10; 6,5; – Luc. 21,15; Kol. 10 4,5; Eph. 5,15.16), frónimov (Mth. 24,45; 25,2 ff.). Das letztere Wort entspricht daneben unserem Begriff der K l u g h e i t (Mth. 10,16; Luc. 16,8). Die Klugheit ist diejenige Modification der Weisheit, in welcher die guten Absichten mit Rücksicht darauf gebildet werden, daß das Zwecksetzen und Mittelwählen seine Schranke an den anderen Menschen hat. Hiebei ist die 15 Güte der Absichten durchaus vorbehalten; und mit genauer Bezeichnung der sittlichen Reinheit als Bedingung wird die Klugheit ausdrücklich gefordert Mth. 10,16.
[124] § 53. D i e B e s o n n e n h e i t . Die Stellen Kol. 4,5; Eph. 5,15.16 beurtheilen das Handeln nicht blos mit 20 Rücksicht auf die Weisheit, sondern auch mit Rücksicht auf Besonnenheit und Entschlossenheit. Weisheit ist ohne diese beiden weder denkbar noch wirklich. Besonnenheit ist die im Charakter producirte Fertigkeit, das richtige Maaß der Vorsätze zu üben. Indem nämlich die Absicht den Gedanken mehrerer gleich guter Mittel offen läßt, so wird gemäß der Besonnenheit dasjeni- 25 ge Mittel oder diejenige Reihe von Mitteln zum Vorsatz, welche als zweckmäßiger in jeder Beziehung erscheint. Denn außer dem Verhältniß des Mittels zum gedachten Zweck kommt für die Richtigkeit des Vorsatzes noch das Verhältniß desselben zur eigenen Kraft des Charakters in Betracht, nämlich zu dem Maaße von Selbstbeherrschung und Gewissenhaftigkeit dessen man 30 sich bewußt ist. Die Ueberlegung des Verhältnisses eines Vorsatzes zum Beruf und zu der Gewissenhaftigkeit, deren man sich als erworbene Fertigkeit be9 (Jak. … 3,17).] am Rand 28 Vorsatzes] folgt 31–161,1 Ueberlegung … Besonnenheit.] am Rand legung … Besonnenheit statt 32 zu der] korr. aus zur
§ 53 Besonnenheit – § 54 Entschlossenheit
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wußt ist, ist die Probe der Besonnenheit. Die Ueberlegung des Verhältnisses eines Vorsatzes im Verhältniß zu dem Maaße der eigenen Selbstbeherrschung ist die Uebung der N ü c h t e r n h e i t (1 Petr. 1,13; 5,8; 1 Th. 5,6.8). Derselbe Vorsatz kann nun der Besonnenheit entsprechen, indem er nach der Rück5 sicht auf meine Selbstbeherrschung und Gewissenhaftigkeit, und zwar auf deren geringere Widerstandskraft gefaßt ist, – und kann der K l u g h e i t entsprechen, sofern er mit Rücksicht auf den erwarteten Widerstand der Anderen gefaßt ist. Weisheit und Besonnenheit vollenden sich durch die Entschlossenheit. 10
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§ 54. D i e E n t s c h l o s s e n h e i t (oder der Muth) ist die im Charakter producirte Fertigkeit, die im Verhältniß zu bestimmten Absichten mit Besonnenheit gefaßten Vorsätze in Entschlüsse zu verwandeln. Entgegengesetzt ist die Feigheit oder der Kleinmuth und die Schlaffheit, in denen der Wille beim Vorsatz [125] stehen bleibt. Es giebt auch eine Entschlossenheit des Naturells, welche der Begleitung durch Weisheit und Besonnenheit entbehrt. Wie nun aber der Entschluß primär schon den Fortschritt von der Absicht zum Vorsatz bildet, so ist die Entschlossenheit nicht erst der äußere Abschluß für die verwandten Tugenden, sondern der innere Nerv für Weisheit und Besonnenheit selbst, ja für die Tugendbildung in Selbstbeherrschung und Gewissenhaftigkeit. Wo aber die sittlich begründete Entschlossenheit einem Charakter eignet, da ist das den Charakter begleitende Gefühl der Zuversicht nicht nur ein Regulator des richtigen Handelns, sondern auch schon ein Merkmal für die Fruchtbarkeit in Bildung von Absichten und Vorsätzen. An dem Charisma der pístiv, demgemäß der Mensch besonnen ist, ist vor Allem die Entschlossenheit hervorzuheben, in dem Sinne, wie sie auch die Weisheit und Besonnenheit befruchtet (Mc. 9,19; 11,22.23). Wo die Gewissenhaftigkeit einen Vorsatz verbietet, wird der Entschluß zum Handeln mit innerem Zweifel behaftet sein, und dann ist die blinde Entschlossenheit Merkmal der Sünde (Rom. 14,22.23). Andererseits regelt die Entschlossenheit auch den Werth des Gebetes zur Stärkung der gesammten sittlichen Fertigkeit (Jak. 1,5–8). Denn als Nerv des Charakters bestimmt die Entschlossenheit dessen Gesammtwerth. Hingegen die entschlußlosen Charaktere sind bei aller ihnen zuzugestehenden Weisheit und Beson-
160,32 sich] folgt ; als versehentlich gestrichen 10 Entschlossenheit] korr. aus Entschlossenheit. 15 Begleitung] korr. aus Betheil 16–20 Wie … Gewissenhaftigkeit.] am Rand 23 ein] folgt 26 befruchtet] am Rand statt <modificirt> 31 als Nerv] am Rand statt
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II. Theil XII. Tugend
nenheit nicht werthvoller als die Lasterhaften, weil sie keine Frucht, d. h. kein für die Gemeinschaft nützliches Gesammtwerk hervorbringen (Apok. 21,8). § 55. D i e B e h a r r l i c h k e i t ÚpomonÄ (Luc. 8,15; Rom. 2,7; Hebr. 10,36; 12,1; Apok. 2,2) ist eine Modification der Entschlossenheit. Sie bedeutet nicht die Fertigkeit, den einmal gefaßten Vorsatz oder Entschluß gegen alle Hindernisse festzuhalten; denn dies leistet auch die Untugend des Eigensinnes. Sofern ein Vorsatz in eine Mehrheit von Entschlüssen umgesetzt werden muß, sofern eine Absicht eine Mehrheit von Vorsätzen erzeugt, sofern der Eine Endzweck sich in eine Reihe von Absichten auseinanderlegt, so ist die Beharrlichkeit die im Charakter producirte Fertigkeit, welche den sittlichen Endzweck als letztes Motiv des ganzen Handelns und jede Absicht in ihrem besonderen Kreise als das Motiv wirksam macht, demgemäß immer zweckmäßige Vorsätze und zuversichtliche Entschlüsse hervorgerufen werden. [126] In dieser der Beharrlichkeit entsprechenden Planmäßigkeit des Handelns, werden einzelne Absichten wegfallen, einzelne Vorsätze zurückgenommen werden können, ohne daß dadurch die Beharrlichkeit beeinträchtigt, oder der Wankelmuth an ihre Stelle gesetzt würde. Aber die Stetigkeit des Endzwecks wird durch die Beharrlichkeit immer relativ stetige Absichten, und danach die zweckmäßigen Vorsätze und Entschlüsse begründen. In dem möglichen Wechsel des der Beharrlichkeit unterworfenen Stoffs des Willens ist mitunter der Schein begründet, als ob Beharrlichkeit das Gegentheil von Entschlossenheit wäre. Aber vielmehr ist der Beharrliche immer entschlossen zur Uebung der Selbstbeherrschung und Gewissenhaftigkeit also wenigstens zur Tugendentwickelung wenn auch nicht zum äußeren Handeln im Moment. Es ist Entschlossenheit, eine gewisse Reihe von Absichten und Vorsätzen in dem Moment aufzugeben, wo der Entschluß zum Handeln hätte eintreten sollen, aber aus gewissen Rücksichten nicht zweckmäßig gefaßt werden würde; und dann anstatt des aufgegebenen Planes eine neue Reihe von Absichten und Vorsätzen zu entwerfen, um bei dem Einen Endzweck zu beharren. So ist die Beharrlichkeit neben der Entschlossenheit die Bedingung, unter welcher der Charakter überhaupt in sich Tugend producirt. Im Verhältniß zur Beharrlichkeit besteht auch der sittliche Werth des Leidens, welches ja die Freiheit des Handelns nach außen hemmt (Rom. 5,3.4; Jak. 1,2.3; Hebr. 12,7; 2 Tim. 2,12). Denn unter dieser Bedingung findet die Entschlossenheit des Charakters ihr Object nur an der inneren Tugendbildung. Die Entschlossenheit in Anwendung hierauf ist aber die Beharrlichkeit. 4 10,36;] über der Zeile 4 12,1;] folgt <Jak. 1,3.4;> 30 f. neben … Entschlossenheit] am Rand
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§ 55 Beharrlichkeit – § 56 Gesinnung
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47 D. D i e T u g e n d d e r G e s i n n u n g § 56. I m A l l g e m e i n e n .
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Die Gesinnung ist der Gedanke vom persönlichen sittlichen Endzweck, sofern derselbe Grund von Absichten und Vorsätzen ist (§ 46). Als solcher ist die Gesinnung das bestimmte Mittel auch für die Production aller Tugenden. Aber die Selbsthervorbringung des Charakters schließt auch die Erweiterung, Abklärung, Befestigung der Gesinnung in sich, und deshalb ist auch sie ein Object absichtlicher Ausbildung und ein Ort bestimmter Tugenden. Das Bedürfniß dieser Ausbildung ergiebt sich aus Folgendem. [127] Die Güte der einzelnen Absichten und Vorsätze steht nicht blos in Abhängigkeit von der Güte des allgemeinen Endzwecks, sondern auch im Verhältniß zu dem Rechte der Personen, mit denen man durch die Ausführung der Absichten und Vorsätze in Berührung kommt. Der höchste sittliche Endzweck des Reiches Gottes, welcher die Gesinnung gut macht, schließt allerdings die Liebe gegen den Nächsten in sich; aber in diesem allgemeinen Motive des Handelns ist zunächst der persönliche Selbstzweck des Andern, den man mit dem eigenen identisch setzt in einer idealisirten Auffassung enthalten. In der sittlichen Gemeinschaft als Ganzes, welche als der allgemeine Endzweck gedacht ist, gelten die Einzelnen nicht als Theile, sondern selbst wieder als Ganze. Dadurch wird keine sachliche Objectivität des Handelns erlaubt, sondern eine persönliche Rücksicht vorgeschrieben. Es kommt aber darauf an, daß in den danach bemessenen Absichten und Vorsätzen nicht blos das Sittengesetz sondern auch der empirische Abstand gegen das Ideal zu Gunsten des Andern berücksichtigt werde; bei dessen Nichtbeachtung die liebevollsten Absichten eine Abstoßung und nicht eine Anziehung der Person bewirken würden. Die Gesinnung, welche zu der Höhe und Fertigkeit entwickelt ist, die Absichten und Vorsätze auch nach diesen Rücksichten der Liebe einzurichten, ist G e m ü t h . Also handelt es sich um die Tugenden durch welche die Gesinnung Gemüth wird. Dieselben sind aber verschieden, wenn die gesinnungsmäßigen Absichten auf Menschen gleicher oder ungleicher sittlicher Gesinnung gerichtet werden. In jener Hinsicht ergeben sich G ü t e und D a n k b a r k e i t , und dieser Hinsicht G e r e c h t i g k e i t . Denn es wäre eine falsche und schwache Gemüthlichkeit zu ignoriren, wo ein Charakter, dessen Selbstzweck man in Liebe mit dem eigenen identifi18–21 In … vorgeschrieben.] am Rand 23 f. nicht … werde;] korr aus die Liebe auch den empirischen Abstand berücksichtige, welcher in den Einzelnen sich immer findet; 24 Ideal] folgt 4 S. oben S. 145
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II. Theil XII. Tugend
ciren soll, in egoistischer Weise seinen unsittlichen Interessen nachgeht; es wäre aber gemüthlos, zu ignoriren, unter welchen entschuldigenden Bedingungen solche Person in seine empirische Richtung gekommen sein wird, aus welcher man ihn durch die eigene Liebesübung muß befreien wollen; beides abzumessen bedarf einer bestimmten Fertigkeit der Gesinnung. 5 § 57. I m E i n z e l n e n . Die G ü t e ist die Ordnung der Gesinnung, das pflichtmäßige auf den Zweck der Gemeinschaft gerichtete Handeln zugleich nach dem individu[128]ellen Werthe des Andern zu bestimmen, mit welchem man durch jenes Handeln in Verkehr tritt. t™ê filadelfí˜a filóstorgoi Rom 12,10. Die Güte ist die Tugend, welche die pflichtmäßige Bescheidenheit, Dienstfertigkeit etc. umfaßt, und ihnen den Schein b e s o n d e r e r Tugenden verleiht. Sie ist natürlich im Gegensatz gegen Haß und Neid, welche die Realisirung des Endzwecks des Andern überhaupt, respective in Hinsicht bestimmten Eigenthums verneinen. Ein näherer und engerer Gegensatz innerhalb des Gebietes des sittlich positiv entwickelten Charakters besteht zwischen der Güte und der Rücksichtslosigkeit der auf die sachliche Pflicht gerichteten Gesinnung. Ferner sofern die Güte dem Charakter angehört, unterscheidet sie sich von der dem Naturell angehörenden Gutmüthigkeit. Diese ist an sich zwecklos, hat also auch kein Verhältniß zum höchsten Zweck, sie ist also unstet und unzuverläßig, und möglicherweise von allerlei Untugenden begleitet. – Die D a n k b a r k e i t ist die Ordnung der Gesinnung, durch welche man die auf uns gerichtete Güte der Anderen als solche erkennt, oder die uns fördernden Zwecksetzungen der Anderen auf deren Güte zurückführt. Die 2 gemüthlos,] folgt 7 Ordnung] korr. aus Fertigkeit 7–10 das … tritt.] am Rand statt 8 individuellen Werthe] ellen Werthe über <ellen und momentanen sittlichen Ver[128]faßung> 11 t™ê … 12,10.] am Rand 12–14 Die … verleiht.] am Rand 17 verneinen] Ms.: verneint 19 der auf] der korr. aus des 24 die Ordnung] am Rand statt ; ist versehentlich gestrichen 26 zurückführt.] folgt 26 Die] korr. aus die
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§ 57 Gesinnung im einzelnen
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Dankbarkeit wird nicht richtig bestimmt, wenn man sie als die Güte definirt, welche empfangene Wohltaten zu erwidern bereit ist. Als Tugend der Receptivität hat sie ihren selbständigen Werth neben der Tugend der activen Güte. Sie wird verkannt, und gute Menschen weigern sich dankbar zu sein, sofern sie alle Tugend nach ihrer Kraft zu wirken bemessen, und übersehen, daß die Anschmiegung an andere Persönlichkeiten auch in der Receptivität ein wirksames Organ sittlichen Einverständnisses ist. Innerhalb des Charakters ist das Gegentheil der Dankbarkeit die Verschlossenheit, welche die Rücksichtslosigkeit begleitet. Wer bei seinem Handeln keine Rücksicht auf die Art und Weise der Anderen nimmt, wird auch keine Empfänglichkeit für das Gemüth der Anderen in ihrem auf uns gerichteten Handeln haben, er ist dafür verschlossen. Auf der Stufe des Naturells ist das Gegentheil der Dankbarkeit die Gleichgültigkeit und Theilnahmlosigkeit, die mit effectiver Gutmüthigkeit verbunden sein kann, aber des Maaßes zur Beurtheilung der Gesinnung anderer entbehrt. – Wo der Charakter des Andern den Austausch von Güte und Dankbarkeit unmöglich macht, da ist die tugendhafte Gesinnung doch nicht von der Berücksichtigung der Persönlichkeit des Andern entbunden. Der Repuls, den meine Güte und Dankbarkeit erfährt, berechtigt mich nicht zu Rücksichtslosigkeit und Verschlossenheit, sondern die Tugendbildung prägt sich in diesem Falle aus in der G e r e c h t i g k e i t . Sie ist die Ordnung der Gesinnung, welche die auf den andern gerich[129]teten Absichten und Vorsätze nicht nur nach dem Maaße der höchsten sittlichen Aufgaben, sondern auch nach dem Maaße seiner erkennbaren Charakterentwicklung vollzieht; und diese Beurtheilung richtet sich nach der jedem Charakter zuzumuthenden Selbsterkenntniß, die uns den Abstand vom Ideal vergegenwärtigen muß. Wenn also mein den Andern berührendes Handeln trotz meiner Güte sich nach den sachlichen Rücksichten der Pflicht richten muß, so wird unter der Bedingung meiner Gerechtigkeit keine positive Verletzung und kein directer Widerspruch gegen das persönliche Selbstgefühl des Andern sich damit verbinden. Sittliches Zartgefühl, die durchgebildete Achtung des Andern. Denn die Gerechtigkeit wird unter den gesetzten Umständen M i l d e sein. Unter anderen Umständen aber wird die Gerechtigkeit nur so zum Ausdruck 2–7 Als … ist.] am Rand 4 gute] korr. aus gütige 14 f. anderer] korr. aus Anderer 19 f. sondern … in der] am Rand statt <sondern verpflichtet mich wenigstens zur> 20 Ordnung] korr. aus Fertigkeit 21 f. welche … nur] am Rand statt 31 Sittliches … Andern.] am Rand 33 so] folgt
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II. Theil XII. Tugend
kommen, daß die S t r e n g e den Abstand der erreichten Charakterstufe von dem Ideal nicht verdeckt, sondern offen legt. Aber im Unterschiede derselben von der rücksichtslosen Härte, macht sich doch auch das Interesse an der Person geltend. Die drei Tugenden in ihrer ergänzenden Bethätigung bezeichnen die H u m a n i t ä t des Charakters. 5
§ 58 Pflicht
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III. Theil. D i e R e g e l d e s s i t t l i c h e n H a n d e l n s in der Gemeinschaft.
Dreizehntes Capitel. Das Sittengesetz und die Arten der Pflicht.
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§ 58. 48 D e r B e g r i f f d e r P f l i c h t . Das sittliche Handeln ist ein anderes Product des Charakterwillens als die Tugend. Es ist die Äußerung des Willens, welche sich mit anderen Willen direct in Berührung setzt. Die Tugend als inneres Product des Willens kommt nur indirect im Handeln zur Erscheinung. Allerdings wird alles sittlich gute Handeln auch tugendhaft sein; aber dies Urtheil steht direct nur dem Tugendhaften selbst zu, und ist für d|ie Anderen nur zugänglich, wenn eine vollständige Beobachtung der Motive des Subjects möglich ist. [130] Das Handeln als Äußerung des Willens findet ein anderes Maaß, als in dem Begriff der Tugend enthalten ist. Diese nennt man das Sittengesetz, indem man damit ein objectiv feststehendes, empirisches System von Regeln des Handelns meint, dessen Ursprung von Gott die theologische Ethik in positiver Gestalt nachwies. Sittengesetz gleich das System der Handlungen Vorsätze, Gesinnungen, welche in Beziehung auf alle Verhältnisse der Menschen unter einander nothwendig sind aus dem absoluten Endzweck, respective dem Gedanken des Reiches Gottes. Rechtsgesetz System der Handlungen, welche aus den besonderen Zwecken der Menschen im Staate nothwendig sind. Der mosaische Dekalog gilt nämlich in der alten Schule für den kürzesten aber vollständigen Ausdruck des Sittengesetzes, das ebenso sehr göttliche Ordnung des menschlichen Lebens als Inhalt des angeborenen sittlichen Bewußtseins des Menschen sein sollte. Aber auch der Dekalog, geschweige das ganze mosaische Gesetz umfaßt religiösen cultischen, rechtlichen und sittlichen Stoff ohne Unterscheidung. Nur die Form des Verbotes macht die Zusammenfassung ethischer Regeln mit rechtlichen möglich. Die Form des Gebotes einzelner Hand3 f. Das … Pflicht.] am Rand statt 4 Arten der] über der Zeile 5 Der … Pflicht.] im freien Teil der Zeile und am Rand statt 14 ein] am Rand statt <etwas> 17–21 Sittengesetz … sind.] am Rand 23–25 des … sollte.] am Rand statt <des Sittengesetzes.> 27 macht] über 28 rechtlichen] korr. aus rechtlichen. 28 möglich.] am Rand
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III. Theil XIII. Sittengesetz
lungen würde nur ein rechtliches, gegen die Motive gleichgültiges Maaß ausdrücken. Uebrigens sind nach Paulus die Gläubigen vom mosaischen Gesetz frei, d. h. da Paulus selbst ein Gesetz Christi (Gal. 6,2) anerkennt, das Sittengesetz ist für die Christen etwas von Rechts- und Ceremonialgesetz Verschiedenes. Wenn nun anstatt des Dekalogs: A c h t e deinen Nächsten in allen seinen Verhältnissen das Gesetz Christi: L i e b e deinen Nächsten wie dich selbst in Betracht kommt, so ist sowohl der sittliche Charakter als die alle Handlungen umfassende Geltung dieses Satzes außer Zweifel; aber derselbe ist ja direct keine Regel des Handelns, sondern der Gesinnung. Demnächst scheint die Bergpredigt wenigstens die Probe eines Systems von Gesetz zu enthalten, welches jenem Principe der Gesinnung entspräche. Aber auch die Hauptsätze der Bergpredigt gehen direct nicht auf das Handeln, sondern auf die Vorsätze; oder wo einzelne Handlungen geboten werden, werden sie nur im Verhältniß zur Gesinnung und dann unter Vorbehalt von Bedingungen geboten, an denen erkennbar ist, daß ein Sittengesetz nicht wie ein Rechtsgesetz formulirt werden kann (§ 27). Wenn man die Bergpredigt in dem eingeschlagenen Wege ergänzen wollte, so würde es ein System von Tugendforderungen werden. Demnach scheint es, als ob die richtige Ordnung des sittlichen Handelns darauf zu reduciren wäre, daß man die vollständige [131] Tugend habe und ausübe: Handle immer nach guten Vorsätzen, handle immer tugendhaft. Aber diese allgemeine Regel würde möglicherweise in Widerspruch mit der Besonnenheit kommen, der gemäß im bestimmten Moment überhaupt kein Vorsatz gebildet und überhaupt nicht gehandelt werden dürfte, also auch nicht tugendhaft. Die Formel muß also eingeschränkt werden: Handle immer tugendhaft, wenn du überhaupt handeln mußt. Aber diese Bedingung, welche ihr Maaß nicht am Tugendbegriff findet, erfordert einen neuen Begriff als Maaß: die P f l i c h t . Die Pflicht ist das Urtheil der Nothwendigkeit in dem bestimmten Fall nach dem Sittengesetz zu handeln. Das Sittengesetz ist unbestimmt in Hinsicht der Fälle seiner Anwendung. Die Pflicht ist ein Schluß, welcher die Anwendung als nothwendig bestimmt, durch Vermittlung sittlicher Urtheilskraft als eines Tugenderwerbes. Ebenso absolut wie das Sittengesetz. Umgekehrt der jesuitische Grundsatz des P r o b a b i l i s m u s , daß wegen der allgemeinen Unbestimmtheit des Gesetzes, auch der einzelne Fall nur Wahrscheinlichkeit hat. 2–5 Uebrigens … Verschiedenes.] in eckigen Klammern 5 f. : Achte … Verhältnissen] am Rand 16 27] korr. aus 20 22 und überhaupt] am Rand statt 25 handeln] korr. aus handelst. 25 mußt.] am Rand 26–33 Die … hat.] am Rand 16 S. oben S. 92,1 32 S. oben S. 147,21
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NB. Die Zuversicht (auch bei materiellem Irrthum des Urtheils) ist das Merkmal der absoluten Verbindlichkeit der Pflicht (gegen den Probabilismus). Formaler Gesichtspunkt, wie bei Kant, entscheidend. – Wird jedes Pflichturtheil unter den Umfang des Sittengesetzes begriffen, so producirt die Freiheit das Sittengesetz wie bei Kant. Dieser Begriff leistet dasjenige was man in dem Begriff eines systematischen Sittengesetzes voraussetzt. Aber er ist n i c h t so einfach, wie der Begriff des Sittengesetzes. D i e s e Größe, auch in der Fassung des Gesetzes Christi ist objectiv im formalen Gegensatz gegen den subjectiven Willen gedacht und denkbar. Die Pflicht ist zugleich objectiv und subjectiv, d. h. ihr Begriff ist nur verständlich aus Prämissen und Normen der subjectiven Willensbewegung. Deßhalb ist es unrichtig, das Sittengesetz als den Complex von Pflichtgeboten darzustellen; Pflicht ist nie etwas blos objectiv Gebotenes. Mit Anwendung auf den einzelnen Fall des Handelns und mit Einrechnung dieser subjectiven Bedingtheit der Regel des Handelns mißt Paulus dasselbe nicht am nómov jeoû, sondern am jélhma jeoû (Rom. 12,2; Kol. 1,9.10; 4,12; Eph. 5,17; Phil. 1,9–11). Ueberhaupt bezeichnet jélhma jeoû Rom. 2,18 im Neuen Testament den besondern Willen der Vorsehung (Mth. 6,10), respective die besondere Verfügung menschlichen Berufes durch Gott (Joh 4,34).
§ 59. 49 D i e R e c h t s p f l i c h t . Das Rechtsgesetz für sich betrachtet ist gleichgültig gegen die erzwungene oder die freiwillige, gegen die blos legale oder gegen die gesinnungsmäßige Erfüllung seiner Gebote und Verbote. Aber das Recht ist ein Mittel sittlicher 25 Freiheit, und Consequenz sittlichen Princips und existirt nur in Gemeinwesen, welche sittliche Endzwecke erstreben. Deßhalb muß der sittlich strebende Mensch auch ein sittliches Verhältniß zu dem Rechtsgesetze insgesammt einnehmen, indem er es als Mittel im Verhältniß zu dem sittlichen Endzwecke anerkennt, den er mit der Gemeinschaft theilt. Sofern der gemeinsame End-
1–5 NB. … Kant.] am Rand 8 Sittengesetzes.] korr. aus Sittengesetzes, folgt 8 Christi] folgt <steht> 14–20 Mit … 4,34).] am Rand 17 f. Rom 2,18] über der Zeile 18 den] folgt 20 4,34).] folgt 21 § 59.] davor über der Zeile 28 dem] korr. aus der 28 Endzwecke] korr. aus Endabsicht
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zweck in der Gesinnung herrscht, erstreckt sich auch ein allgemeiner Vorsatz auf das als Mittel der Gemeinschaft dienende Rechtsgesetz. Gemäß dieser Auffassung allgemeiner Rechtspflicht gewinnt man das Bewußtsein der Einheit der vielen und verschiedenen Rechtsgebote, welche ohne dies nur als willkürliche Sammlung erscheinen müßte. Eine thätliche Erfüllung des so aufgefaßten [132] Rechtsgesetzes findet also ihr n ä c h s t e s Maaß nicht an dem objectiven Statut, sondern an dem auf der sittlichen Gesinnung beruhenden Vorsatze, das Rechtsgesetz als Mittel meines sittlichen Endzweckes anzuerkennen. Die R e c h t s p f l i c h t ist also der Gedanke von der aus der Gesinnung begründeten Nothwendigkeit des Handelns nach dem Gesetze, welches als Mittel zur geordneten Gemeinschaft des Handelns und als Bedingung der persönlichen Freiheit anerkannt ist. Ihren Inhalt schöpft die Rechtspflicht aus dem positiven Gesetze, ihre Form ist ein Product des durch die Gesinnung vermittelten subjectiven Willens. In objectiver Beziehung deckt sich der Umfang der Rechtspflicht mit dem Umfang des Gesetzes; worüber das Gesetz nichts bestimmt, oder worüber es kein Gebot und Verbot enthält, das gilt auch für die Gesinnung, die auf die Rechtspflicht gerichtet ist, als erlaubt. Der Begriff des Erlaubten, sofern er der Rechtspflicht correlat ist, und nur durch diese begrenzt wird, ist der Spielraum für die Bethätigung meines individuellen Rechtes, welcher durchaus unantastbar ist. Da es ebenso, wie die Pflicht, nothwendige Form der Bethätigung der sittlichen Freiheit, der Erzeugung des sittlichen Gutes ist. Schon hier gilt die Regel, daß man genau in demselben Maaß Rechte hat, als man Rechtspflichten übt, da die Verletzung der letzteren Einschränkung der Rechte nach sich zieht. Mein rechtliches Recht unterliegt also dem Bedürfniß weiterer sittlicher Begrenzung. Freilich wird durch eine Rücksicht der Billigkeit meine Rechtsbefugniß eine gewisse quantitative Beschränkung erleiden; aber das Verhältniß zwischen Recht und Billigkeit muß unbestimmt durch irgend eine Regel bleiben. Vielmehr sind Fälle denkbar, in welchen es der sittlichen Gesinnung zuwider wäre, das 169,29 der] korr. aus die 169,29–1 gemeinsame Endzweck] am Rand statt 8 f. anzuerkennen.] folgt < Das statutarische Gesetz scheint also nur unter der Bedingung in eine Menge von Pflichten zu zerfallen, daß ich das Rechtsgesetz im Ganzen in meinen gesinnungsmäßigen Vorsatz aufgenommen habe. So werden die einzelnen (folgt ) äußeren Gebote zu ebenso viel inneren ‚Pflichtbegriffen‘ (korr. aus Pflichten) oder zu Urtheilen über die Pflichtmäßigkeit meines gesetzmäßigen Handelns verwandelt.> vor der Streichung in eckigen Klammern (Bleistift). 9 f. von … begründeten] am Rand statt 11 zur geordneten] am Rand statt < zu dem Endzwecke der sittlichen> 11 f. des … Freiheit] am Rand 14 Willens.] folgt < Sie ist also nichts rein Objectives, sondern eine subjectiv-objective Größe.> vor der Streichung in eckigen Klammern (Bleistift) 20–25 Da … Begrenzung.] am Rand 27 quantitative] über der Zeile
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Recht durch die Billigkeit zu beschränken, und vielmehr der sittlichen Gesinnung gemäß, von dem eignen Rechte vollständigen Gebrauch zu machen. Hieraus ergiebt sich, daß die Begriffe: Recht und Billigkeit, indem sie eine Menge von Handlungsweisen unbestimmt lassen, nicht für die höchsten Regeln des sittlichen Handelns gelten können. Durch die Rechtspflichten und [133] die Billigkeitspflichten gewinnt man nur für einen beschränkten Umfang des Handelns eine zuverlässige Regel. Billigkeit: die Beurtheilung desjenigen der in einem Vertragsverhältniß zu mir steht, als sittliche Persönlichkeit, ohne ihn als Glied einer nothw|endig sittlichen Gemeinschaft anzuerkennen. Es ist also nothwendig den Begriff der Pflicht auch noch den höheren ethischen Begriffen anzupassen, also dem Begriff des besondern sittlichen Berufs, und der allgemeinen Liebe. Von hier aus wird es gelingen, auch d a s Handeln bestimmt zu regeln, das im Verhältniß zur Rechtspflicht sittlich unbestimmt bleibt. Aber im Vergleich mit jenen tieferen Pflichtbegriffen ist darauf zu halten, daß dem Begriff der Rechtspflicht sein besonderer Wirkungskreis erhalten bleibe. Man soll seine Kraft sparen, und soll keine Liebespflicht in Bewegung setzen, wo nur eine Rechtspflicht indicirt ist. Ebenso muß das Gebiet des rechtlich Erlaubten überhaupt einen gewissen Bestand behalten. Da das Gesetz keine Denunciation von Vergehen und Verbrechen überhaupt gebietet, so folgt nicht aus der Liebe zur Menschheit die Pflicht, daß ich aus der Denunciation ein Geschäft mache, um dem Bösen nach Kräften entgegenzuwirken.
§ 60. 50 D i e L i e b e s p f l i c h t u n d d i e B e r u f s p f l i c h t im Allgemeinen. 25 Die sittliche Regel für das Gebiet des rechtlich erlaubten Handelns ist nicht
in der Billigkeit enthalten, welche nur eine quantitative und zufällige sittliche Schranke setzt, sondern in dem qualitativ dem Rechte entgegengesetzten Princip der Liebe. Hienach kann das Handeln, das rechtlich blos erlaubt ist, sowohl zur Pflicht werden, als auch verboten sein. 2. Die Liebespflicht also 1 und] korr. aus Îsinù 8–10 Billigkeit: … anzuerkennen.] am Rand 9 Glied] korr. aus Obj 17 soll … und] am Rand 23 f. § 60. … Allgemeinen.] korr. aus V i e r z e h n t e s C a p i t e l . D i e L i e b e s p f l i c h t u n d d i e B e r u f s p f l i c h t (im freien Teil der Zeile i m A l l g e m e i n e n . ) / § 60. D i e L i e b e s p f l i c h t i m A l l g e m e i n e n . 28 das rechtlich] das korr. aus was 23 § 60 setzt sich zusammen aus dem ursprünglichen § 60 und dem ursprünglichen Schluß von § 61.
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begrenzt das rechtlich Erlaubte innerlich (1 Kor. 10,23.24; Rom. 14,20.21). 1. Ferner kann das rechtlich Erlaubte geboten oder verboten sein durch die Berufspflicht. Im Brief an die Kolosser verbietet Paulus dieselbe asketische Praxis, die er an den ersten Christen in Rom nach der Liebespflicht geschont wissen will, nach der Berufspflicht der Gemeinde, ihr Leben nicht Maßstäben zu unterwerfen, die durch Christus außer Geltung gesetzt sind. [136] Der sittliche Beruf begrenzt ferner die Rechtsbefugniß qualitativ. Indem sich der individuelle Wille an die besondere Lebensaufgabe [137] knüpft, um in ihr den höchsten sittlichen Endzweck zu realisiren, so bleibt ihm gar kein Gebiet für formale Freiheit übrig. Denn der berufsgemäße Endzweck setzt eine Ordnung auch für die Thätigkeit, welche neben dem Gebiet der directen Berufspflicht liegt. Die Berufspflicht der Kindererziehung normirt die ganze Handlungsweise, auch wenn dieselbe nicht direct auf jenen Zweck gerichtet ist. Eltern müssen immer darauf achten, daß sie von den Kindern beobachtet werden. Der Geistliche darf sich im gewöhnlichen Leben nicht erlauben, was dem Laien unverwehrt ist; der König nicht solches, was dem Unterthanen noch zusteht. Aber hiedurch wird das Gebiet des Erlaubten nicht durchaus aufgehoben. [133] Demnach fragt es sich, wie sich Liebespflicht und Berufspflicht unter einander verhalten; ob sie abwechselnde [134] coordinirte Maaßstäbe sind, oder ob auch der Begriff der Liebespflicht eine innere Begränzung durch den Begriff des sittlichen Berufs erfahren wird. Im letztern Fall würden sich die beiden Begriffe gegenseitig einschließen, da die sittliche Berufspflicht die Begründung auf die Liebe in sich schließt, jede Liebespflicht aber ebenso durch den Begriff des sittlichen Berufs vermittelt wäre, wie der Begriff der Tugend. Es kommt ja auf eine Regel an nicht für die sittliche Handlungsweise überhaupt, sondern für die einzelne im Moment mögliche Handlung. Hiezu reicht der Begriff der reinen Liebespflicht nicht aus. Dieselbe ist der Gedanke von der Nothwendigkeit des Handelns aus dem Motiv der Liebe, sodaß die bestimmte Handlung sowohl als Mittel zum höchsten 171,29 2.] am Rand 2 1.] am Rand 5 f. der Gemeinde … sind.] am Rand statt ; folgt die unterstrichene redaktionelle Anweisung [Anzuknüpfen F am Schluß von § 61.] 6–18 Der … aufgehoben.] ursprünglich der mit dem Zeichen F versehene und in eckige Klammern gesetzte Schluß von § 61. (vgl. unten S. 176,6); nach diesem Einschub folgt der Rest des ursprünglichen § 60. 22 f. würden … jede] am Rand den … jede statt <de es sittliche Berufspflichten geben, die nicht durch die bestimmte Reflexion auf die Liebe begründet zu werden brauchten; keine> 24 aber] folgt 3 Kol 2,16.20–23
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Zweck wie als Folge meiner Gesinnung gedacht ist. Aber indem z. B. die Gesinnung der Wohltätigkeit die Nothwendigkeit liebevollen Handelns gegen Bedürftige hervorruft, frägt es sich immer noch, ob der Wohlthätige in allen Fällen ihm entgegetretenden Bedürfnisses das Urtheil der Liebespflicht bilden wird oder nicht. Wenn das aber nicht an sich klar ist, so erweist sich der Gedanke der reinen Liebespflicht noch nicht als die gesuchte Regel. Z. B. Ungläubige zu bekehren erscheint gewiß als eine Pflicht christlicher Liebe gegen die Menschen, die man zum Reich Gottes bestimmt achtet, und auf deren Gewinnung für dieses die Gesinnung des Christen gerichtet sein wird; aber dadurch ist nicht begründet eine bestimmte Pflichtübung zu diesem Zweck, also Missionar zu sein. Im Verhältniß zur allgemeinen, aber unbestimmten Liebespflicht erscheint es der katholischen Moral als möglich, die consilia evangelica als eine höhere, über den Pflichtbegriff hinausgehende Regel geltend zu machen. Der Fehler dieses Begriffs besteht darin, daß die speciellen Berufspflichten der Verzichtung auf Besitz (Mc. 10,21) und auf Ehe (1 Kor. 7,8) das Gesetz m a t e r i e l l überschreiten sollen. Die eigentliche Wahrheit ist, daß dieselben die allgemeine Liebespflicht f o r m e l l gliedern. Es muß also noch eine Bedingung geben, nach welcher die Nothwendigkeit des gesinnungsgemäßen Handelns zu berechnen. Denn die reine Liebespflicht ist nur die Regel für die sittliche Handlungsweise, nicht für die einzelne Handlung.
§ 61. D i e b e s t i m m t e L i e b e s p f l i c h t . Ebenso wie die Rechtsbefugniß, wird auch die Bethätigung der liebevollen Gesinnung durch den Beruf qualitativ begrenzt. Die liebevolle Gesinnung, welche die Richtung auf eine bestimmte Handlungsweise im Allgemeinen 25 giebt, [135] begründet eine Nothwendigkeit des Handelns im bestimmten einzelnen Moment, sofern dasselbe unter meinen besondern Beruf subsumirt wird, auch sofern der Fall nur eine bestimmte Analogie oder eine Annähe-
1 z. B.] über der Zeile 7 bekehren] folgt 7 christlicher] am Rand statt <der> 11–17 Im … gliedern.] am Rand 20 Handlung.] folgt vgl. jedoch oben S. 172,5 f. 21 Die] korr. aus D i e d u r c h d e n B e r u f 26 einzelnen] am Rand 26 dasselbe] korr. aus derselbe 27 auch] über der Zeile 12 Vgl. Thomas von Aquino, Summa theologiae II/II q 32 a 5; s. unten S. 214 (Beilage III.2).
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rung zu dem regelmäßigen Kreis meiner sittlichen Aufgaben hat. Nach der Analogie des besonderen Berufes richten sich nämlich die sittlichen G r u n d s ä t z e , nach welchen man auf Grund der sittlichen Gesinnung das pflichtmäßige Handeln bemißt. Sie beschreiben ein engeres Gebiet als die Gesinnung, aber einen weitern Umfang möglicher Fälle, auf welche sie Anwendung finden, als in dem Pflichturtheil der Fall ist. Sie sind als etwas Besonderes dem Berufe analog. Deshalb sind die Grundsätze auch das Maaß der Besonderheit der sittlichen Charaktere; sie sind also nicht für alle gleich, aber sie sind doch fähig ausgetauscht und einem allgemeinen sittlichen Urtheil unterworfen zu werden. Für die Heroen sind sie ganz andere als für das Mittelmaß. Franciscus von Assisi, August Hermann Francke. Die sittlichen Grundsätze sind nun für den Einzel n e n d a s i n n e r e G e s e t z s e i n e s s i t t l i c h e n H a n d e l n s . Als solches nehmen sie aber zur Liebespflicht eine andere Stellung ein, als das Rechtsgesetz zur Rechtspflicht. Denn in dem statutarischen Rechtsgesetz ist der einzelne Fall des pflichtmäßigen Handelns objectiv genau bestimmt. In den sittlichen Grundsätzen aber ist zwar das Verhältniß der Regel zum einzelnen Fall bestimmt bezeichnet; allein der sittliche Grundsatz umfaßt nicht für alle möglichen Fälle alle Merkmale, an welchen das Vorliegen des einzelnen Falles pflichtmäßigen Handelns erkennbar ist. Vielmehr führt mitunter erst noch eine besondere Ueberlegung, daß der vom Grundsatz gemeinte Fall vorliegt, zu dem vollständigen Begriff der Pflicht. In manchen Fällen ist aber diese Ueberlegung mit den Mitteln der Reflexion nicht durchzuführen; da entscheidet das Gewissen oder vielmehr das Urtheil nach der Rücksicht auf die Gewissenhaftigkeit, ob der Fall für die Anwendung des Grundsatzes vorliegt oder nicht. Freilich beweist die Freigebigkeit mit Gewissensfällen, daß man nicht ausgebildete, d. h. an dem Verhältniß des Berufes zu der sittlichen Welt berechnete Grundsätze hat. Dies der Mangel der gegenwärtig sich breit 173,27 nur] über der Zeile 1 der] korr. aus dem 2 Analogie] am Rand statt <Maaßstabe> 7 Sie … analog.] am Rand 8 auch] über der Zeile 9 sie sind also] sie korr. aus sind 9 f. ausgetauscht] folgt 11 f. Für … Francke.] am Rand 20 für … Fälle] am Rand 21 mitunter] über der Zeile 25 f. oder … Gewissenhaftigkeit,] am Rand 27–175,1 Freilich … Kreisen.] am Rand statt
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machenden Praxis in pietistisch-kirchlichen Kreisen. Die concrete Liebespflicht ist also das Urtheil, daß [136] im bestimmten Fall nach dem Motiv der liebevollen Gesinnung und nach der Regel des besonderen sittlichen Grundsatzes nothwendig ist zu handeln. – Die Grundsätze, durch welche der Begriff des besonderen Berufs die liebevolle Gesinnung begrenzt, sind: 2. daß mir bei dem gesinnungsgemäßen Handeln mein Beruf in der mir eigenthümlichen Besonderheit erhalten bleibe; 3. daß indem ich die allgemeinen Zwecke in meinem besonderen Beruf fördere ich mich der indirecten Beeinträchtigung dieses Verfahrens in meinem nicht direct berufsmäßigen Handeln enthalte; 1. daß ich die möglichste Förderung meines Berufs als die mir obliegende Förderung der allgemeinen Aufgaben anerkenne. Also die Gesinnung der Wohlthätigkeit erzeugt nicht eine allen wahrgenommenen Bedürfnissen entsprechenden Umfang von Pflichten des Wohlthuns, so daß man etwa gar alle Bedürfnisse aufsuchen müßte, um sie zu befriedigen. Sondern die P f l i c h t in einem außerordentlichen Falle wohlzuthun bemißt sich nach den Grundsätzen, 1. daß sich das Eigenthum, dessen ich zur Führung meines Berufs bedarf, nicht zerstört werde, falls ich mir nicht die Fertigkeit und Entschlossenheit zutraue, das dazu nöthige Eigenthum wieder zu erwerben; 2. daß ich, indem ich dem Wohlthun nachgehe, nicht meinen Beruf entweder direct vernachlässige oder indirect dadurch schmälere, daß ich die Sammlung und Erholung vernachlässige, die zu demselben nöthig sind. 3. daß ich nicht, indem ich mich in meinem Beruf dem allgemeinen Wohl widme, dasselbe durch die außerordentliche Handlung der Liebe beschädige. (Ebenso die Aufrichtigkeit.) Bei diesen und ähnlichen Grundsätzen, als Schranken für die Gesinnung ist zu beachten, daß sie im Verhältniß zur sittlichen Gesinnung und zu den möglichen sittlichen Aufgaben beschränkende Form sind. Sie schließen die sittliche Begeisterung aus. Es ist also vorzubehalten, daß die höchsten 4 handeln. –] folgt am Rand 5 2.] korr. aus 1. 7 3.] korr. aus 2. 10 1.] korr. aus 3. 15 in … Falle] am Rand 19 meinen] korr. aus d 21–23 3. … beschädige.] am Rand 23 f. Aufrichtigkeit] über < Offenheit> 25 zur … und] am Rand 26 beschränkende] korr. aus beschränkten 26 Form] über
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Aufschwünge sittlicher Gesinnung sich weder an die Schranken des Berufes noch der daraus abgeleiteten Grundsätze binden werden. Aber wenn die sittliche Gesinnung in diesem Fall nicht die Kraft und das Maaß hat, in die Form neuen Berufes einzugehen und demgemäß Grundsätze zu bilden, so geräth sie in die Gefahr widersittlichen Ausgangs. Deßhalb steht die Begeiste- 5 rung an der Schwelle des Eintritts in den Beruf. –
[137] § 62. 51 D a s s i t t l i c h E r l a u b t e Der Begriff wird in praxi auf zweierlei angewendet, auf ein Recht, das ich ausüben kann oder dessen Ausübung ich unterlassen kann, und auf die Erholung. Ad I. ist das Handeln aus Liebe im vollen Umfang nur möglich, wo 10 man im vollen Umfang der gegenseitigen Achtung verbunden ist. Wo diese fehlt, tritt der Fall der Feindschaft ein, der freilich die Liebe nicht aufhebt aber einschränkt, und zwar mit dem Vorbehalte, daß mein persönliches Recht und mein Beruf aufrechterhalten werde. Man pflegt die Geltendmachung dieser Rechte auch unter eine Pflicht gegen sich selbst zu fassen; das 15 ist aber ein Umweg, und ist eben auch facultativ gemeint, so daß es immer als erlaubt gilt, ob man diesen Pflichtbegriff bildet. Ebenso der Eintritt in einen b e s t i m m t e n Beruf. Ad. II. Schleiermacher (über den Begriff des Erlaubten 1826) und mit ihm Rothe läugnet dies. Er beschränkt die Geltung des Begriffs auf die Gebiete des Kindesalters der Rechtsbefugniß und auf die Beur- 20 theilung der sittlichen Handlungen Anderer, behauptet aber, daß für die Selbstbeurtheilung die sittlichen Handlungen ohne Ausnahme nach dem Begriff der Pflicht gemessen werden müßten, also entweder pflichtmäßig oder pflichtwidrig seien. 3 Streng genommen sei nur diejenige Unterbrechung un4 f. so geräth] am Rand 5 Ausgangs.] korr. aus Ausgangs geräth. 5 f. Deßhalb … Beruf.] am Rand 6 Beruf. –] folgt ursprünglich oben S. 172,6–18 Der … aufgehoben. dazu am Rand F ‚zum‘ (korr. aus des) vorigen § 60. 7 Das … Erlaubte] korr. aus Das sittliche Maaß für das Gebiet der erlaubten Erholung und Geselligkeit. 8–18 Der … Ad II.] am Rand 20 des Kinsdesalters] über der Zeile 24–177,20 3 … Gebietes.] am Rand (3 mit rotem Farbstift) statt 8 und … verwandt] über der Zeile 20–178,1 Nur … Ungebildete.] am Rand
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der geistig Ungebildete. Sondern der Begriff der Tugend giebt die indirecte ethische Regel für die Benutzung der erlaubten Erholung und Geselligkeit. Der Ernst des Charakters fordert, daß der Scherz und das Spiel der Individualität sein Maaß an Selbstbeherrschung und Besonnenheit, an Güte und Gerechtigkeit finde, daß die Art der gewählten Unterhaltung durch die Gewissenhaftigkeit begränzt werde, die in jedem Moment die Möglichkeit der Aufnahme der Berufsthätigkeit gewährleistet. Die Anwendung des Begriffs der Tugend in diesem Fall beruht darauf, daß die Einheit des sittlichen Charakters eine ununterbrochene Production von Tugend fordert. Der Pflichtbegriff ist aber darum nicht anwendbar, weil er nur auf das Gebiet des sittlichen Handelns in der sittlichen Gemeinschaft bezogen ist. Hieran zeigt sich, daß von Tugend und Pflicht nicht jedes den ganzen Umfang der ethischen Probleme beherrschen. Die Erholung in der Geselligkeit ist zugleich für die sittliche Charakterbildung nicht zu entbehren als die Gelegenheit, die Andern kennen, achten, lieben zu lernen. Nur negativ begränzt der Pflichtbegriff [139] das Gebiet des Erlaubten, sofern d i e Erholung pflichtwidrig ist, welche die durch den Beruf gebotenen Handlungen beeinträchtigt. Aber die Reflexion, daß gewisse Erholung zum Zweck der Berufstüchtigkeit pflichtmäßig ist, bedient sich des pädagogischen Begriffs von Pflicht. Calvin! Die lutherische Zulassung und die calvinistisch-pietistische Ausschließung
1 Sondern] über 3 des] Ms.: der 12 von] über der Zeile 12 jedes] über 13–15 Die … lernen.] Die … lernen am Rand 15–19 Nur … Pflicht.] am rechten Rand in ganzer Länge eingeklammert 15 negativ] folgt 16 pflichtwidrig] korr. aus Pflichtwidrig 20 Calvin!] am Rand 21–179,2 Die … Wesens.] am Rand 20 Vgl. Schneckenburger, Vergleichende Darstellung 1,110 21 Die lutherische Zulassung wird veranschaulicht auf dem eingelegten Blatt S. 139 a durch das Exzerpt aus Luthers Kirchenpostille zum Evangelium 2. [post] Epiphanias (Joh. 2,1–11; Walch 11,642; WA 17/2,64,16–28): „Ob es denn auch Sünde sei, pfeifen und tanzen zur Hochzeit, sintemal man spricht, daß viel Sünde vom Tanzen kommt? Ob bei den Juden Tänze gewesen sind, weiß ich nicht. Aber weil es Landes Sitte ist, gleichwie Gäste laden, schmücken, essen, trinken und fröhlich sein, weiß ich es nicht zu verdammen, ohn die Uebermaß, so es unzüchtig oder zu viel ist. Daß aber Sünde da geschehen, ist des Tanzens Schuld nicht allein, sintemal auch wohl über Tisch und in der Kirche dergleichen geschehen; gleichwie es nicht des Essens und Trinkens Schuld ist, daß Etliche zu Säuen darüber werden. Wo es aber züchtig zugehet, lasse ich der Hochzeit ihr Recht und Gebrauch, – und tanze immerhin. Der Glaube und die Liebe läßt sich nicht austanzen noch aussitzen, so du züchtig und mäßig darin bist. Die jun-
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der herkömmlichen Formen der Geselligkeit hat ihren Grund ja in der optimistischen und pessimistischen Beurtheilung des menschlichen Wesens. Innerhalb der Geschichte der theologischen Ethik fällt der Pietismus dasselbe rigoristische Urtheil wie Schleiermacher gegen gewisse regelmäßige Formen 5 geselliger Erholung, und gestattet nur Erholung in der f r o m m e n Geselligkeit, und an der religiösen Kunst. Es ist zuzugeben, daß im strengen Sinn nichts von Handlungen der Menschen adiaphoron ist; aber indem der sittliche Werth der Mittel der Geselligkeit an der Tugend zu messen ist, so ist n i c h t zuzugeben, daß Kartenspielen und Tanzen überhaupt und bei jedem 10 ein Hinderniß der Tugendübung seien. Indem der Pietismus Erholung überhaupt nicht ausschließt, aber indem er mit Mißtrauen gegen jede Kunstübung nur die Darstellung der Frömmigkeit auch für die Geselligkeit fordert, profanirt er die Frömmigkeit und verachtet eine wesentliche Seite menschlicher Geistesbildung, die nicht an sich im Widerspruch mit den höchsten Aufgaben 15 ist, deren Anbau vielmehr zur vollendeten Humanität auch des Christen gehört. Vergleiche über die Sittlichkeit des wissenschaftlichen und Künstlerberufs oben § 34.
§ 63. 52 D i e s o g e n a n n t e C o l l i s i o n d e r P f l i c h t e n . 2. Kant erklärt daß ein Widerstreit zwischen verschiedenen Pflichten objectiv 20 nicht eintreten könne. Dies rührt daher, daß sein Begriff von Pflicht lediglich
formal, und deßhalb die Möglichkeit entgegengesetzten Inhalts ausgeschlossen ist, welcher in derselben Zeit und in Beziehung auf dasselbe subjective Handeln nothwendig würde. Indessen gesteht er in anderer Gestalt die Thatsache der Pflichtencollision zu, wenn zwei Gründe zur Verpflichtung ver4 rigoristische] am Rand statt 4 Urtheil] folgt 4 gegen] am Rand statt 5 f. Erholung … Kunst.] am Rand statt <Erholung.> 15 ist,] folgt <sondern> 18 § 63.] über 18 Pflichten.] folgt 19 2.] am Rand mit Bleistift gen Kinder tanzen ja ohne Sünde, das thue auch und werde ein Kind, so schadet dir der Tanz nicht. Sonst wo Tanzen an ihm selbst Sünde wäre, müßte man es auch den Kindern nicht zulassen.“ 3 Vgl. GdP 2,174 f. 17 S. oben S. 114,36 19 Kant, Metaphysik der Sitten, Erster Theil, Einleitung, IV, Vorbegriffe zur Metapysik der Sitten, ed. Hartenstein 7,21.
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schiedener Art und Richtung zu gleicher Zeit eine Nöthigung auf den Willen ausüben. In diesen verschiedenen Gründen ist nämlich auch verschiedener Inhalt der zugemutheten [140] Pflichtübung begründet. In diesem Fall entscheidet nun Kant, daß der stärkere Verpflichtungsgrund den Platz behält, und die geringere Kraft zur Verpflichtung habe das Merkmal, daß der Grund an sich nicht zureichend zur Verpflichtung sein würde. Diese quantitative Abmessung des Werthes der Bestimmungsgründe erlaubt gar keine Entscheidung; oder ein Verpflichtungsgrund der an sich nicht zureicht um eine Handlung nothwendig zu machen, kann nicht mit einem andern collidiren. Kant entzieht sich also nicht der ordinären Betrachtungsweise der Sache als eines objectiven Verhältnisses. 1. Demgemäß lehren Moralisten (Vgl. Rothe III,73 f. 86 f.), daß die höhere Pflicht der niedern vorgeht, – daß die allgemeine Pflicht der besondern vorgeht (also die Pflicht in abstracto der in concreto), – daß die vollkommene der unvollkommenen vorgehe (nur verständlich wenn die vollkommene die Rechtspflicht, die unvollkommene die Liebespflicht bedeutet), – daß die kategorische der hypothetischen vorgeht (gleich abstract und concret), – daß die Religionspflicht jeder andern vorgeht (pharisaeisch), – daß die vorgeht, welche uns den geringsten Vortheil verspricht, – daß man so handeln soll, wie man es bei den Anderen für recht hält, – oder die Pflicht vorziehen, durch die die allgemeine Vollkommenheit am meisten gewinnt. 3. Diesen ziel- und grundlosen Versuchen hat Schleiermacher ein Ende gemacht, indem er Kants Gedanken zum rechten Ausdruck verholfen hat. Die collidirenden Bestimmungsgründe zum Handeln unterscheiden sich nie quantitativ, sondern qualitativ, sofern sie die Ansprüche der verschiedenen Gemeinschaftssphären, in denen das Subject steht, auf dessen Handeln darstellen. Aber diese Ansprüche, wenn sie collidiren, sind eben nicht collidirende Pflichten, sondern collidirende Motive zur Bildung eines Pflichtbegriffs; die Collision aber wird eben dadurch aufgehoben, daß das Pflichturtheil in Beziehung auf das Eine Motiv wirklich gebildet wird. Die Collision der Motive kann übrigens schon in vielen Fällen durch die sittlichen Grundsätze beseitigt sein; [141] aber da die Grundsätze keine mechanische Geltung haben, und nicht für alle Fälle zureichen, so kommen die Collisionen meist vor das Forum des Gewissens d. h. der Gewissenhaftigkeit in der gewohnten Situation. 10 Sache] korr. aus Sachen 11 1.] am Rand mit Bleistift 20 3.] am Rand mit Bleistift 27 f. die … wird] am Rand statt <welche> 28 aufgehoben,] korr. aus aufgehoben wird, 33 Gewissens] korr. aus Gewissens. 11 Rothe, Theologische Ethik 3,73–75.86 f. 21 Gemeint sind wohl die bei Rothe, Theologische Ethik 3,63–75 (§ 856) herangezogenen Stellen aus Schleiermachers Schriften.
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Indem hienach sich ergiebt, daß nur die Selbstbeurtheilung zur Entscheidung über die Pflicht zureicht, so soll nicht behauptet werden, daß das Gewissen immer die richtige Entscheidung in dem Falle giebt, und daß die nachträgliche Ueberlegung nie etwas zu bereuen fände, was subjectiv ganz rein und tadellos gemeint war. Aber der Tugendhafte wird eine größere Sicherheit und Fertigkeit der richtigen Entscheidung solcher Fälle haben, als der unreife Charakter. 2. Collision unter zwei Berufspflichten! Geht die voraus, welche keinen Aufschub leidet. Nur unter Voraussetzung der Tugend und des Berufes lassen sich speciellere Regeln über die sogenannten Pflichtencollisionen geben. 3. Sofern eine Collision zwischen L i e b e s - und B e r u f s p f l i c h t als möglich erscheint, so wird der Schein im Wesentlichen dadurch beseitigt, daß die Liebespflicht nur durch den Gedanken des sittlichen Berufes eine genau bestimmte ist; denn im Beruf hat man das regelmäßige Gebiet seiner Liebespflicht. Wo aber eine außerordentliche Bethätigung der Liebe zugemuthet wird, so geschieht die Entscheidung über die Pflichtmäßigkeit danach, ob ich den Fall unter mein Berufsbewußtsein subsumire oder nicht. – 4 Wenn z w e i nicht durch den Beruf vorgesehene a u ß e r o r d e n t l i c h e L i e b e s b e t h ä t i g u n g e n zusammentreffen, so erfolgt die Lösung, indem durch Bildung des Pflichtbegriffs der Fall unter das ständige Berufsbewußtsein gefaßt wird; was also bei Verschiedenen verschiedene Pflichten ergiebt. In dem bekannten Falle der Nothlüge (Rothe III,70) ist zu entscheiden, daß wenn der, bei dem sich der Verfolger erkundigt, ein Krieger oder durch Leibesstärke ausgezeichnet ist, er den Verfolger entwaffnen muß; wenn nicht, er ihn täuschen muß; denn der bestehende Kriegszustand macht es unmöglich Liebespflichten der Aufrichtigkeit oder Wahrhaftigkeit auszutauschen. – 1. Der B e r u f s pflicht geht die R e c h t s p f l i c h t voran, weil die Rechtsordnung den Verlauf der sittlichen Freiheit also auch die sittliche Aus180,33 d. h. … Situation] am Rand 7 Charakter.] folgt 8 2.] am Rand 8 f. Collision … leidet.] am Rand 11 3.] am Rand korr. aus 2. 16 über] korr. aus d 18 4] am Rand korr. aus 3 27 1.] am Rand 8 Hier begann ursprünglich (Ms. B*) der § 64 mit der Lösung des in § 63 gestellten Problems der Pflichtenkollision. Da die Nachschrift Lange (1867/68) noch die ursprüngliche Zählung bezeugt, stammt die Zusammenfassung zum jetzigen § 63 und die Verminderung der folgenden Paragraphenziffern um eins frühestens aus dem SS 1869. Auch die mit den Randziffern 2, 3, 4, 1 und 5 vollzogene Umdisponierung hat sich in der Nachschrift Lange noch nicht niedergeschlagen. 22 Rothe, Theologische Ethik 3,70
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III. Theil XV. Sittliche Grundsätze
übung des Berufes verbürgt. – 5 Die Collision zwischen ethischen S e l b s t p f l i c h t e n und B e r u f s - oder L i e b e s p f l i c h t e n [142] ist näher angesehen der Widerstreit zwischen Recht und Pflicht. Da nun innerhalb des Berufs diese Collision nicht stattfindet, so beschränkt sich der Fall auf die Collision zwischen p e r s ö n l i c h e m R e c h t und a u ß e r o r d e n t l i c h e r L i e - 5 b e s p f l i c h t . Dies ist der Fall mit den zwei Schiffbrüchigen auf dem Einen Brett (Rothe III,71). Mein Recht ist, mein Leben zu erhalten, wenn ich dabei das gleiche Recht des Andern anerkenne. Eine Erwägung, daß der Andere der menschlichen Gesellschaft nützlicher sei als ich, und ich deßhalb mein Leben opfern muß, um seins zu erhalten, ist in der Lage nicht als pflichtmäßig zu for- 10 dern, weil das Maaß der Lebensgefahr im Verhältniß zur möglichen Hülfe nicht berechnet werden kann. – Die Annahme von Collisionen u n t e r d e n S e l b s t p f l i c h t e n ist durch den richtigen Begriff der Tugend ausgeschlossen, sofern die pädagogische Pflicht immer auf die Nothwendigkeit der Tugendbildung herauskommt. Indem man sich aber in der Einen Tugend übt, gewinnt 15 man auch an Kraft zu den anderen. Abgesehen hievon würde man sich in die unermeßliche Casuistik verlieren, die aus der pädagogischen Behandlung des unreifen Charakters sich ergäbe.
Fünfzehntes Capitel. Die Grundsätze des sittlichen Handelns.
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§ 64. I m a l l g e m e i n e n V e r k e h r m i t d e m N ä c h s t e n . 53 Das Handeln und das ihm gleichgeltende, oder es begleitende und deutende Reden ist das Mittel, wodurch die Gemeinschaft des Willens, also auch in specie der Liebe, unter den Menschen hervorgebracht wird. Das Handeln und Reden aus dem Princip der Liebe ist also das Mittel, wodurch zugleich 25 der Endzweck des Reiches Gottes und der Selbstzweck des Andern als mein eigener Selbstzweck verwirklicht wird. Für die dafür aufzustellenden Grundsätze macht es aber einen Unterschied, ob den äußeren Umständen gemäß der Andere in einer stetigen oder in einer vorübergehenden Berührung mit 1 5] am Rand korr. aus 4 19 Fünfzehntes] korr. aus S e c h z e h n t e s 21 § 64.] korr. aus § 65. 22 53] bei der Einführung der letzten Paragraphenzählung mit rotem Farbstift wurde mit Bleistift die Überschrift Im … Nächsten. eckig eingeklammert und durch Eintheilung ersetzt 25 f. zugleich … und] am Rand 7 Rothe, Theologische Ethik 3,71
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mir steht; ob ich ihn als Träger gleicher sittlicher Gesinnung ansehen oder vermuthen darf oder nicht. Im ersten Dilemma stellt sich [143] die Liebesaufgabe entweder so, daß ich die allgemeine Tugendbildung des Andern, oder daß ich nur besondere oder einzelne Hülfleistungen beabsichtige, in denen 5 eine Förderung seines wie immer beschaffenen Selbstzwecks vollzogen würde. Im andern Dilemma werden entweder alle Grundsätze der Liebespflicht in Geltung gesetzt, oder nur einzelne, deren Geltung die der andern beschränkt. Die Grundsätze selbst gliedern sich in die I. der A c h t u n g der Person des Andern, 10 a. B e s c h e i d e n h e i t , b. A u f r i c h t i g k e i t ; II. der U n t e r s t ü t z u n g der berechtigten Zwecke des Andern, c. W o h l t h ä t i g k e i t , b. D i e n s t f e r t i g k e i t d. W a h r h a f t i g k e i t , a. R e c h t l i c h k e i t ; III. der G e d u l d mit dem Andern in Rücksicht der Schranke seiner Tugend, 15 a. V e r t r ä g l i c h k e i t , b. V e r s ö h n l i c h k e i t .
54 Ad I. NB. Katholische Liebe zu den Ketzern. Vorausgesetzt ist die negative Achtung der Menschenwürde und Schonung des Eigenthums, welche durch die Rechtsordnung erzwungen werden kann und den Standpunkt des Mosaischen Gesetzes bezeichnet. 20 Die Liebe kann im Sinne voller Gemeinschaft nur demjenigen bethätigt werden, der überhaupt einen sittlichen Endzweck hat, oder dazu fähig ist, der als Subject von sittlicher Ehre gekannt, oder als solches vorauszusetzen ist. Dem entsprechend muß ein auf ihn gerichtetes Handeln oder Reden die A c h 25 t u n g ausdrücken, und nach dem Grundsatz der Achtung muß derjenige beurtheilt werden, dem Liebe erwiesen werden soll (Rom. 12,10; 1 Petr. 2,17; Phil. 2,3.). Rothe 4, S. 484 ff. 10 a.] korr. aus b. davor 10 b. Aufrichtigkeit] am Rand 12 f. c. … d. … a.] korr. aus a. … c. … d. und doppelt unterstrichen 17 NB. … Ketzern.] am Rand 18–20 Vorausgesetzt … bezeichnet.] am Rand 18 Vorausgesetzt] korr. aus Voraus setzt 21 Sinne … Gemeinschaft] korr. aus vollen Sinne 21 f. bethätigt werden] über 26 f. 1 Petr. … 2,3.] am Rand 28 Rothe … 484 ff.] am Rand 28 Rothe, Theologische Ethik 3,482–494
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III. Theil XV. Sittliche Grundsätze
Auch wo Grund zu der Annahme ist, daß der Andere einen unmoralischen Charakter hat, der seine Ehre beeinträchtigt, also Verachtung hervorruft, kann der Grundsatz nicht gelten, daß man dieselbe in sich nährt Luc. 18,11; sondern indem man ihm nur nicht Hoch-Achtung e r w e i s t , muß man ihn als einen Besserungsfähigen achten Mc. 2,16.17; 1 Kor. 13,7., oder mindestens die Menschenwürde in ihm anerkennen durch Enthaltung von Beschimpfung und Mißhandlung. Aus demselben Grundsatz ergibt sich die Pflichtwidrigkeit der Tödtung eines Menschen (Mth. 5,21), des Mißbrauchs eines Menschen als Mittels zum eignen Zweck, Verführung eines Weibes, der Verläumdung (Mth. 15,19; Rom. 1,30; Eph. 4,31; Kol. 3,8), des Gebens von Aergerniß. Wo diese zerstörenden Triebe der Achtungslosigkeit gegen Menschen zur Ausbildung gekommen sind, pflegen sie auch von einer Achtungslosigkeit gegen [144] Naturgegenstände begleitet zu sein. Mörder haben mit Thierquälerei angefangen; Zerstörer menschlichen Eigenthums und menschlicher Ehre haben keinen ästhetischen Natursinn. Insofern sind die Äußerungen des Zerstörungstriebes im unreifen Alter in sittlicher Hinsicht für die Tugendbildung nicht gleichgültig, aber es lassen sich daraus keine Pflichten gegen Thiere und Pflanzen deduciren, wie der in christliches Gewand gekleidete Manichäismus es thut indem er den Gegensatz zwischen Natur und Geist neutralisirt. – In specie folgt aus der Achtung gegen den Nächsten der Grundsatz Rothe 4, S. 588. a. der B e s c h e i d e n h e i t , d. h. diejenige pflichtmäßige Einschränkung des Selbstgefühls, welche durch den Gedanken begründet ist, daß die durch mein pflichtmäßiges Handeln und Reden auf den Andern hin zu vollziehende Gemeinschaft einen allgemeinern Inhalt und Zweck hat, als meine Individuali-
3 dieselbe] folgt 3 Luc. 18,11] Luc. 18,11. am Rand 4 Hoch-] am Rand 5 Mc. … 13,7.] am Rand 8 f. des … Weibes,] am Rand 9 eignen] über der Zeile 10 f. 3,8), … Aergerniß.] am Rand statt 14 Thierquälerei] folgt 15 die] korr. aus diese 20 f. der Grundsatz] am Rand 22 Rothe … 588.] am Rand 23 der] korr. aus die 23 diejenige … Einschränkung] korr. aus dasjenige Maaß 24 welche] korr. aus welches 25 zu] folgt 22 Rothe, Theologische Ethik 3,588
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tät. Die Bescheidenheit ist nicht das Gegentheil des Selbstgefühls, sondern dessen sittliche Idealisirung; aber weder enthält sie ein Gefühl der eigenen Vorzüge vor Anderen noch das Gefühl der eigenen Mängel im Vergleich mit Anderen (Rothe S. 589). Thomas a Kempis I,7. Si aliquid boni habueris, crede de aliis meliora, ut humilitatem conserves. Non nocet, si omnibus te supponas, nocet autem plurimum, si vel uni te praeponas. Phil. 2,3.4 In der Bescheidenheit vergleicht man sich überhaupt n i c h t mit den e i n z e l n e n Anderen, sondern mit dem allgemeinen Inhalt der Gemeinschaftsaufgabe, die im Handeln auf den Andern hin zu lösen ist, und dergemäß erst der Gegenstand der Liebe den Ausdruck unserer Achtung in der Mäßigung unseres Selbstgefühls erfordert. Deßhalb ist das mÄ krínete (Mth. 7,1–5) das Gebot des Grundsatzes der Bescheidenheit, und daß dabei die Rücksicht auf den Andern vermittelt ist durch die Rücksicht auf die Aufgabe der sittlichen Gemeinschaft, ist angedeutet durch die Motivirung Rom. 14,4; Jak. 4,11.12. (cf. § 50.). [145] D. h. wenn es auch Abstufungen in der Darstellung der Bescheidenheit giebt, so darf sie nicht überhaupt ausgeschlossen werden. Kein Handeln ist pflichtmäßig, wenn Unbescheidenheit bei ihm concurrirt. Rothe S. 594. Aber die Behandlung Unbescheidener erfolgt durch die Wahrhaftigkeit, hinter welcher die Bescheidenheit zurücktritt. Dieselbe ist die Bethätigung einer widersittlichen Ausbildung des Selbstgefühls, und stuft sich ab als Einbildung, Dünkel, Anmaßung, Hochmuth, Uebermuth. b. Der Grundsatz der A u f r i c h t i g k e i t Rothe S. 538. 2 aber] über der Zeile 3 vor Anderen] korr. aus für Andere 4 S. 589] über der Zeile 5–7 Thomas … praeponas.] am Rand 8 Phil. 2,3.4] am Rand 11 erst] über der Zeile 12 Achtung] folgt <erfordert.> 17 § 50.).] der hier im Ms. B* S. 144 folgende Abschnitt Rothe … Höflichkeit. wird durch die am Rand mit Bleistift geschriebene redaktionelle Bemerkung Conflict zwischen Aufrichtigkeit und Bescheidenheit, unten einzuschieben bei F weiter unten eingeordnet, s. unten S. 187,7–19 20 f. Rothe … zurücktritt.] am Rand 4 Rothe, Theologische Ethik 3,589 5 Tomas a Kempis, De imitatione Christi 1,7; ed. Lupo 24; vgl. Unterricht § 73, ed. Axt-Piscalar 97 17 S. oben S. 157,6 20 Rothe, Theologische Ethik 3,594
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dient zur Bethätigung der Achtung gegen den andern, sofern der Zusammenhang der auf den Selbstzweck des Andern gerichteten Handlung mit der eigenen liebevollen Absicht ausgedrückt werden soll. pflichtmäßige Äußerung des stetigen Gemeinsinns, durch welche man dem Andern bewährt, daß man ihn zum Eingehen sittlicher Gemeinschaft werthschätzt Es kommt beim Handeln oder Reden aus Liebe darauf vor Allem an, daß die einzelne Handlung nicht als zufällig und willkürlich erscheine, denn als solche ist sie kein Mittel persönlicher Gemeinschaft. Rechthaben fälschlich Aufrichtigkeit Ihre Beziehung auf die Förderung des Selbstzwecks des Andern kann aber nur erkannt werden, indem die subjective Ueberzeugung, Absicht und Stimmung des aus Liebe Handelnden erkennbar ist. Die Aufrichtigkeit ist also der Grundsatz, dem gemäß beim Handeln ein positives Verhältniß zwischen meinem Selbstzweck und dem des Andern zum Ausdruck kommt. Das Gegentheil ist die Verstellung respective die Schmeichelei, die der Ueberzeugung zuwiderlaufende scheinbare Bethätigung der liebevollen Achtung des Andern; eine Form der Falschheit, welche nicht von der Absicht, dem Andern zu schaden, eingegeben ist, und deßhalb nicht das Gegentheil der Wahrhaftigkeit ist, sondern welche aus Gleichgültigkeit oder Achtungslosigkeit des Andern hervorgeht (Rothe S. 553), oder eigene selbstsüchtige Interessen verfolgt, indem man den Ausdruck der liebevollen Achtung [146] erheuchelt. Es gibt keine Pflicht der Offenheit oder der Offenherzigkeit (mit Rothe) sondern das sind Temperamentseigenschaften, die auch sittlich fehlerhaft sein können. Der Grundsatz der Aufrichtigkeit gilt nicht gegenüber von Menschen, an deren 185,26 Rothe … 538.] am Rand 4–6 pflichtmäßige … werthschätzt] am Rand 4 stetigen] über der Zeile 4 Gemeinsinns] folgt 10 Rechthaben … Aufrichtigkeit] am Rand 16 f. die der … Andern;] am Rand 17 der] folgt 18 Falschheit] über 21 oder] folgt 24 die] folgt 24 sittlich] über der Zeile 24 können.] folgt 24 Der] korr. aus der 185,26 Rothe, Theologische Ethik 3,538 21 Rothe, Theologische Ethik 3,553 23 Rothe, Theologische Ethik 3,542–545
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gleicher Gesinnung man zu zweifeln Ursache hat, welche uns keine directe Knüpfung einer Gemeinschaft aus Liebe gestatten, welche namentlich selbst nicht aufrichtig sind, oder welche auf unweiser Charakterstufe den Werth der ihnen erwiesenen Achtung nicht zu schätzen wissen. In solchen Fällen ist vielmehr bei dem liebevollen Handeln eine vollständige oder partielle Zurückhaltung Pflicht. [144] Rothe S. 477. Hienach kann auch nicht als eine allgemeine Pflichtaufgabe gelten, was im Neuen Testament über das gegenseitige Ermahnen und Rügen gesagt wird (Mth. 18,15–17; Gal. 6,1; 1 Th. 5,14; 2 Th. 3,14.15; Jak. 5,19.20), und was einen richtigen Sinn hat für engere Gemeinschaft und für geringer [145] entwickelte Persönliche Eigenthümlichkeiten. Sonst müßten wir einen bestimmten Beruf als Legitimation für solches Verfahren fordern, und Bescheidenheit und Weisheit in der Ausübung, wenn das Verfahren Erfolg versprechen soll. Mit Recht wahren wir aber unsere sittliche Freiheit und Verantwortlichkeit gegen die unbescheidene Zudringlichkeit von solchen Fremden, die uns ermahnen, rügen, bekehren wollen. Wo hingegen der Beruf zu solchem Verfahren verpflichtet, ist auch die Bescheidenheit immer zu wahren, wenigstens im Ton, der Geberde, der Wahl der Worte, d. h. H ö f l i c h k e i t . [146] Die Höflichkeit des gesellschaftlichen Verkehrs geräth oft genug in Conflict mit dem Grundsatz der Aufrichtigkeit, denn die conventionellen Schmeicheleien dienen dazu, eine liebevolle Aufmerksamkeit gegen den Andern auszudrücken, die vielfach nicht da ist. Die Behandlung der Sache durch Rothe S. 550 ff. ist gewagt. Allerdings ist unter gleich Gebildeten eine richtige Taxirung conventioneller U e b e r t r e i b u n g e n vorauszusetzen und deren Gebrauch keine directe Pflichtverletzung. Aber die Aufgabe muß sein, die Höflichkeit, d. h. die gesellschaftliche Bescheidenheit mit der Aufrichtigkeit respective Zurückhaltung in Einklang zu setzen. Das ist wahrhaft human! Am wenigsten wahr ist es, daß unsere Gesinnungen in die angewöhnten Phrasen hineinwachsen können und an diesen ein Reizmittel haben (S. 552)! Die Phrasendreher sind und bleiben die eigentlichen Egoisten. 1 Ursache] Ms.: Ursach 2 welche] folgt <selbst> 7–19 Rothe … Höflichkeit.] gemäß redaktioneller Bemerkung hier eingefügt mit Zeichen F (Bleistift, am Rand) s. oben S. 185,17 7 Rothe … 477.] am Rand 21 denn] am Rand statt 28 Das … human!] am Rand 29 Gesinnungen] korr. aus Gesinnung 7 Rothe, Theologische Ethik 3,477 23 Rothe, Theologische Ethik 3,547–575 30 Rothe, Theologische Ethik 3,552
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55 Ad II. Der Grundsatz der R e c h t l i c h k e i t bezieht sich auf die Handlungen, welche einer Messung durch das Recht unterliegen, welche sich also auf den Austausch von Sachen bestimmten Werthes oder auf die Erfüllung von Verträgen beziehen. [147] Aus der Gesinnung heraus, welche das Recht als ein Mittel moralischer Freiheit und sittlicher Gemeinschaft anerkennt, wird der Grundsatz der Rechtlichkeit erzeugt, insofern in dieser Art der Ausübung der Rechtspflichten das geringste Maaß von Liebesübung enthalten ist. Wird nun der Verkehr in den durch das Recht meßbaren Handlungen aus dem Princip der Liebe, also durch die Rechtlichkeit bestimmt, so ist es auch nicht im Sinne dieses Verfahrens, die eigenen Rechte an Andern im strengsten buchstäblichen Maaße geltend zu machen, sondern in der B i l l i g k e i t den mir rechtlich verpflichteten nicht nur als sittliche Persönlichkeit zu achten, sondern ihn auch in seinen berechtigten Zwecken zu unterstützen dadurch, daß ich ihn durch Verfolgung meines Rechtsanspruchs in denselben n i c h t h i n d e r e . Dagegen beziehen sich die d r e i f o l g e n d e n G r u n d s ä t z e auf solches Handeln, welches außerhalb der Rechtssphäre stattfindet, und welches nur dann vollen sittlichen Werth hat, wenn es auch den Schein einer meßbaren Reciprocität ausschließt, d. h. wenn es u n e i g e n n ü t z i g ist. In diesem Sinn ist die D i e n s t f e r t i g k e i t der Grundsatz die berechtigten Zwecke des Nächsten durch unsere persönlichen Leistungen, – die W o h l t h ä t i g k e i t , durch unser Eigenthum, – die W a h r h a f t i g k e i t , durch unser Wissen zu fördern. Unbeschränkt gelten diese Grundsätze im geordneten Verkehr von Freunden (im weitesten Sinn) d. h. wo ein durch erprobtes Vertrauen begründetes Verhältniß der Treue ins Leben getreten ist. Dagegen wo die faktischen Zwecke eines Menschen unmoralisch sind, also er nur nach seinem hypothetisch gebesserten Selbstzweck Gegenstand der Liebe ist, respective Feind! werden die drei Grundsätze in ihrer Ausübung suspendirt, während nur der erste gilt. Uebrigens aber werden jene drei durch den Beruf beschränkt in Beziehung auf solche Menschen, mit denen ein dauernder und genauer Verkehr nicht obwaltet. – In specie ist der sittliche Werth der W o h l t h ä t i g k e i t weder nach dem bloßen Mitleid, noch nach dem orientalischen, asketischen Grundsatz der partiellen Vermögensentsagung bemessen. Rothe S. 499. 1 Ad II.] davor 6 in] korr. aus darin 14 in] korr. aus an 22 diese] korr. aus dieser 27 respective Feind!] am Rand 31 der … Werth] am Rand statt 31 der] fehlt im Ms. 32 asketischen] über der Zeile 34 Rothe … 499.] am Rand
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[148] Die Wohlthätigkeit kann einen sittlichen Zweck an den Bedürftigen nur erreichen als öffentlich organisirte. Man kann sicher sein, daß die Wohlthätigkeit gegen den Bettler ökonomisch und moralisch erfolglos ist. Aber die Privatwohlthätigkeit geordneter Art findet immer Anlässe, und eine derartige Pflichtübung findet immer statt, auch wo man weder jedem Bettler etwas giebt, noch a l l e n möglichen Vereinen angehört. – Rothe S. 545. Die W a h r h a f t i g k e i t unterscheidet sich von der Aufrichtigkeit so, daß j e n e auf die Unterstützung der sittlichen Zwecke des Andern durch mein objectives Wissen, d i e s e auf die Bezeugung der Achtung vor dem Andern durch Eröffnung meiner liebevollen Absicht sich bezieht. Wenn nun aber die Eröffnung meiner Meinung vor dem Andern zu dem Zweck geschieht, um ihn in seinen Zwecken zu fördern, so erscheint das Material der Aufrichtigkeit unter dem Gesichtspunkt der Wahrhaftigkeit. So wie nun die Aufrichtigkeit ihre Schranke an der unmoralischen oder unreifen Art des Andern findet, so auch die Wahrhaftigkeit. Das m o t i v i r t e Verschweigen der Wahrheit ist weder Lüge noch Falschheit. – Das G e g e n t h e i l der Rechtlichkeit ist nicht nur in der verbrecherischen Verletzung des Eigenthums, Raub und Diebstahl, Betrug, Wucher (Ausnutzung der Noth des Andern zu eigenem Gewinn in der Form des rechtlichen Vertrags) sondern auch in der selbstsüchtigen, respective fahrlässigen Unterlassung oder ungenauen und unpünktlichen Erfüllung der Rechtspflichten enthalten. Das Gegentheil der Dienstfertigkeit ist die selbstsüchtige Ungefälligkeit; das Gegentheil der Wohlthätigkeit die Hartherzigkeit; Rothe S. 547. das Gegentheil der Wahrhaftigkeit die absichtlich oder fahrlässig auf Schaden des Andern bedachte oder den eigenen Vortheil bei Beschädigung der Gemeinschaft suchende Schweigsamkeit oder Lügenhaftigkeit. Das Aussprechen eines absichtslosen Irrthums ist nicht Lüge, und die Verhehlung der eigenen 1 an] korr. aus am 5 jedem] am Rand stett <einem> 7 Rothe … 545.] am Rand 19 f. Betrug, … Vertrags)] am Rand; Betrug, nachträglich über der Zeile eingefügt 20 der] folgt 25 Rothe … 547.] am Rand 26 oder fahrlässig] über der Zeile 27 f. bedachte … suchende] am Rand über 28 Das] folgt 29 absichtslosen] am Rand 29–190,3 die … beschädigen.] korr. aus das Gegentheil der eigenen Ueberzeugung 188,34 Rothe, Theologische Ethik 3,499 7 Rothe, Theologische Ethik 3,545 25 Rothe, Theologische Ethik 3,547
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Ueberzeugung ist entweder verschlossene Schweigsamkeit in der Absicht, überhaupt keine Gemeinschaft zu knüpfen, oder Falschheit, um dem Andern zu schaden oder die Gemeinschaft zu beschädigen. Wenn aber die Absicht, dem Andern zu schaden oder die Gemeinschaft zu hemmen, bei der Verstellung ist, so ist die Unaufrichtigkeit auch das Gegentheil der Wahrhaftigkeit, und ist Lüge. Eine unwahre Aussage, welche als solche einen ästhetischen Werth hat, im Drama, in der Ironie und im Scherz ist weder Falschheit noch Lüge. Der Gebrauch der Unwahrheit gegen Kinder, [149] Kranke, Trunkene, leidenschaftlich Erregte respective in der Nothwehr ist nicht eine Lüge, die durch den guten Zweck gerechtfertigt würde, sondern ist überhaupt keine Lüge, da weder die Absicht zu schaden, noch eine Fahrlässigkeit gegen das Wohl des Andern dabei ist. Man verschiebt sich das Problem, wenn man den Fall „Nothlüge“ nennt, da die wesentlichen Merkmale der Lüge diesem Reden der Unwahrheit abgehen. Mit einem feindlichen Angreifer kann ich keine Liebesgemeinschaft üben, und die Feindesliebe hat ihre bestimmten Grenzen (§ 18). Die Wahrhaftigkeit hat ihre Grenzen, wo uns Einer gegenübersteht, dem die Kenntniß der Wahrheit schaden würde. Wenn nun aber einem solchen auch das Schweigen notorisch schädlich wäre, sondern zu seinem wahren Besten geredet werden muß, so ist es pflichtmäßig ihn zu täuschen. Der Unterschied von Täuschen und Belügen liegt aber in der jenes Verfahren begleitenden Absicht der nachherigen Aufklärung. 56 Ad III. Die Geduld mit dem Nächsten ist verschiedenartig, wenn wir bei demselben eine uns conforme Gesinnung und daneben nur noch Spuren der Unreife, und Mängel ästhetischer Art, Temperamentsfehler wahrnehmen, oder wenn wir eine heterogene sittliche Weltanschauung neben gewissen abstoßenden Untugenden bei ihm voraussetzen müssen. Im ersten Fall wird der Grundsatz der Verträglichkeit ohne Schranke durchgeführt und die Versöhnlichkeit leicht erwiesen werden können, wenn auch die indirecten Versuche der Erziehung nicht viel Erfolg abwerfen. Im andern Fall kann die Verträglichkeit es von vorn herein nur auf ein Vermeiden von Conflicten der Grundsätze absehen; wenn aber ein solcher eingetreten ist, so wird die Versöhnlichaussprechen ist zur Lüge noch vielmehr die Falschheit als Gegentheil der Aufrichtigkeit. Sie ist als solche möglich nur in der Absicht, sich selbst zu nützen, nicht, dem Andern zu schaden. 4 oder … hemmen,] am Rand 9 respective … Nothwehr] am Rand 17 schaden] korr. aus Schaden 23 nur] über der Zeile 24 und] über der Zeile 24 Temperamentfehler wahrnehmen,] am Rand statt <wahrnehmen> 25 neben] über 16 S. oben S. 88,8 (§ 25!)
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keit im eigentlichen tiefen Sinn keine Stätte finden, und eine Scheidung der Wege ohne Haß ist das höchste, was erstrebt werden kann. Beide Grundsätze der Geduldübung setzen natürlich voraus, daß man selbst auch Geduld zu erfahren wünscht, und hienach bemißt sich die Regel Mth. 5,23.24. Eine 5 Schranke findet der erste Grundsatz nur durch den Beruf, der keine Verletzung erfahren darf, Die Suspendirung der Verträglichkeit in diesem Fall schließt aber keine Suspendirung der Bescheidenheit in sich; der zweite Grundsatz durch den Conflict moralischer und unmoralischer 10 Standpuncte.
[150] § 65. D i e P f l i c h t e n i n n e r h a l b d e r F a m i l i e .
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I. Vgl. § 28. Die Grundsätze für den Verkehr der Ehegatten unter einander können im Wesentlichen keine Anderen sein, als die im vorigen Paragraphen aufgestellten. Nur werden sie eigenthümlich zusammengefaßt durch die T r e u e , welche aus der Stetigkeit des gegenseitigen Verhältnisses der Liebe folgt, und die Grundsätze der Rechtlichkeit und Wohlthätigkeit finden in einer normalen Ehe eigentlich kein Object, da die sittliche, persönliche Identität weder den selbständigen Bestand der Rechtssphäre, noch den Bestand getrennten Eigenthums zuläßt. – Für den Eintritt in die Ehe ist keine allgemeine Pflicht zu formuliren (Rothe S. 605); denn nicht jeder hat gemäß seiner besonderen Lebensführung den Beruf dazu. Darum fällt aber dieser Schritt nicht unter das unbestimmt Erlaubte, ebensowenig als der Eintritt in den Beruf. Diese Bedingungen der sittlichen Existenz sind für die Anwendung des Pflichtbegriffs vorausgesetzt, fallen nicht unter ihn und unter das Sittengesetz, sondern unter den Begriff des persönlichen sittlichen Rechts und die göttliche Vorsehung und unter die Aufgabe der Tugendbildung. Die gegen göttliche Vorsehung überhaupt oder voreilig gemachte Voraussetzung, daß man den Beruf habe, und zwar speciell mit d i e s e r Person die Ehe zu schließen, ist Grund so vieler sittlich verfehlter Ehen. Rothe S. 640. 2 Grundsätze] folgt <setzen> 7 f. Die … sich;] am Rand 11 § 65.] Ms.: § 66. 12 § 28.] folgt 18 weder] korr. aus jeder 22–27 Darum … Tugendbildung.] am Rand 12 S. oben S. 95,18 20 Rothe, Theologische Ethik 3,605
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III. Theil XV. Sittliche Grundsätze
In dieser Hinsicht muß man sich g r u n d s ä t z l i c h richten nicht blos nach der Neigung, welche an sich unmeßbar ist, und nach der Zustimmung der Aeltern, welche immer einen relativen Werth hat, sondern danach ob man sittlich reif und social selbständig ist, also ob man zureichendes Eigenthum hat oder zu erwerben vermag, und in einem bestimmten Berufe steht. Dann aber kommt es darauf an, daß die gewählte Gattin dem Stande und der Berufsart, der letztern durch Gesinnung und Bildung entspricht, endlich, daß sie derselben kirchlichen Confession und gleichartiger religiöser Ueberzeugung sei. Diese Bedingung ist nicht blos für die Kindererziehung sondern für die Ehe an sich wichtig. Denn Katholicismus und Protestantismus sind nicht coordinirte Zweige, sondern abgestufte Formen des Christenthums (Rothe S. 659). Verschiedenheit religiöser Parteiüberzeugung innerhalb des Protestantismus selbst läßt sich schon überwinden, namentlich da den Frauen regelmäßig eine feste Ausprägung der Art nicht zuzutrauen ist. Wo dies aber der Fall ist, werden sich nur schwache Männer angezogen fühlen, also sich in der Ehe fügen, was zwar nicht schön ist, aber doch in der Theorie erträglich. II. Im Verhältniß zu den Kindern haben Wahrhaftigkeit und Verträglichkeit nur beschränkte Geltung, und aus der Achtung der Eltern gegen die Kinder ergiebt sich nicht Bescheidenheit, sondern Aufmerksamkeit. [151] Durch diese Pflichtübung wird die Ueberlegenheit und zugleich Treue der Eltern ausgeführt, die Factoren der sittlichen Wirkung der Erziehung, welche Ehrfurcht und Vertrauen des Kindes erwecken, und ihm neben dem Spiel des kindlichen Alters den Eindruck von dem Ernst des Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern macht. Die Grenze der Wahrhaftigkeit ist dem unreifen Alter gegenüber durch eine weise Schweigsamkeit geboten. Die Verträglichkeit mit der Untugend ist durch die Aufgabe der Erziehung ausgeschlossen. Aber sie braucht nicht unbedingt der strafenden Strenge zu weichen, sondern gelegentlich einer mit Aufmerksamkeit und Belehrung verbundenen Nachsicht. Die Strafe empfängt ihren sittlichen und bessernden Werth durch die Verbindung mit Aufrichtigkeit und Versöhnlichkeit. Die Wohlthätigkeit muß durch die Aufmerksamkeit beherrscht und gemäßigt sein, damit nicht Verweichlichung und Verziehung erfolge. III. Gegen Dienstboten. Vertragsverhältniß nothwendige Aufforderung zur Billigkeit. Selten überschreitbar, wegen des Rechtshintergrundes und wegen der Leichtigkeit des Mißverständnisses über sittliche Einwirkungen wegen
des Abstandes der Intelligenz und der Standesgewohnheiten. Die Bescheidenheit den Dienstboten gegenüber wird also die Aufrichtigkeit beschränken.
[151 a] § 66. Die Pflichten gegen und in der Kirche. Kirchlichkeit, fraglich nach dem Maaßstabe der Parteien. 5 Ist natürlich nur denkbar als freie Bethätigung der religiösen Gemeinschaft,
wenn nur die Cultusformen immer ihrer Bestimmung entsprächen, übrigens Rechtlichkeit, Dienstfertigkeit, Wohlthätigkeit, Wahrhaftigkeit. Im Verhältniß der Kirchengenossen zu einander Achtung und Verträglichkeit, Toleranz, welche Gränze? 10 Achtung des Lehrstandes gegen die Gemeinde Achtung der Pastoren gegen die Theologen Achtung der verschiedenen Richtungen gegen einander. Kirche oder Schule? Theologische Schule oder ethische? 15 Grenzen der Lehrfreiheit?
3 § 66.] der ganze § 66. mit Bleistift auf einem eingelegten Papierstreifen 3 Der die Kirchenpflichten behandelnde Paragraph findet sich weder in Ms. A noch im ursprünglichen Ms. B*, erscheint aber als § 67 in der Nachschrift Lange (WS 1867/68; V 7). Der in Ms. B eingelegte Papierstreifen enthält die frühestens 1869 mögliche Zählung § 66 und dient anschließend als Stichwortliste für Vorlesung und Diktat. In der Vorlesung WS 1867/68 war die Liste der Stichworte offenbar etwas kürzer als in Ms. B. In den Siebzigerjahren fällt § 66 (wie auch § 65) wieder weg, wie die mit Rotstift geschriebenen Paragraphenzahlen und die späteren Nachschriften zeigen. – Um einen Eindruck zu vermitteln, wie Ritschl mit solchen Stichworten arbeitete, wird unten S. 209 f. § 67 „Die Pflichten im Zusammenhang des kirchlichen Lebens“ aus der Vorlesung 1867/68 mitgeteilt. 8 Vgl. unten S. 209,26 10 Vgl. unten S. 210,14 11 Vgl. unten S. 210,22 12 Vgl. unten S. 210,8
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Beilage I.1 – IX. Kirche
Beilagen
I. Gestrichene Stücke 1. Erstfassung des IX. Kapitels mit § 37–39
[89] N e u n t e s C a p i t e l . D i e K i r c h e als selbstthätige Gemeinschaft.
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§ 37. D i e G e m e i n s c h a f t d e r G o t t e s v e r e h r u n g . Dogmatik § 74.75. Die Kirche als Glaubensgegenstand und ihrem idealen dogmatischen Begriff nach ist die Gemeinschaft der Heiligen, welche als solche durch das Wort Gottes in Predigt und Sacrament hervorgebracht, und deren Wirkliches Vor- 10 handensein an diesen Funktionen erkennbar ist. Der ethische Begriff von der Kirche wird also die Gemeinde der Heiligen zum Gegenstand haben, sofern sie auf Grund jener Bestimmtheit durch Gott im Werden durch ihre Selbstthätigkeit zu dem ihr gesetzten Zwecke der Heiligkeit begriffen ist. Der ethische Begriff von der Kirche ist also von dem geschichtlichen Verlauf der Kir- 15 che zu abstrahiren, in welchem die Gläubigen als die nächsten Producenten ihrer eigenen Gemeinschaft aufgefaßt werden. Die wesentlichen Merkmale dieser Selbstproduction der Kirche können aber verschieden sein, wenn man das kirchliche Selbstbewußtsein in den verschiedenen Epochen der Kirchengeschichte zu Rathe zieht. Für den Standpunkt der Reformation können also 20 nicht die hierarchische Verfassung und die durch sie getragene Lehrtradition als wesentliche Merkmale der Kirche gelten. Denn diejenigen Merkmale werden als wesentlich anzusehen sein, welchen gemäß die werdende Kirche auf
5 selbstthätige] über <s i t t l i c h e > 6 der] korr. aus d e s 6 Gottesverehrung] über 7 § 74.75.] korr. aus § 76.77. 13 f. durch … Selbstthätigkeit] am Rand 3 Das IX. Kapitel mit § 37–39 findet sich in der Endredaktion von Ms. B auf den beiden eingelegten Doppelquartblättern 89 a-d (s. oben S. 125–130). Sie ersetzen die Erstfassung in Ms. B* auf den Seiten 89–96, die hier mitgeteilt werden.
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ihren Zweck gerichtet ist. Die katholische Kirche aber, indem sie jene Merkmale als wesentlich geltend macht, setzt sich schon als Selbstzweck für alle Christen und alle christlichen Richtungen, behauptet die Congruenz der Wirklichkeit mit der Idee der Kirche. Also sind die Merkmale ihrer vorgeblichen Vollkommenheit vielmehr im Widerspruch mit der Anschauung der Kirche als der werdenden, können also für diese nicht wesentlich sein. Um ihrer hierarchischen Verfassung willen wird nun behauptet [90] daß die vollgültige Mitgliedschaft an der Kirche nicht an die innere Gesinnung gebunden sei, daß für diese die Unterscheidung der pii und impii gleichgültig sei; also setzt sich die katholische Kirche nach dem Maaße ihres eigenen Selbstbewußtseins wegen ihrer wesentlichen Merkmale in Widerspruch mit ihrer Bestimmung communio sanctorum zu sein. Die evangelische Stufe der Kirche von welcher also die wesentlichen Merkmale zu abstrahiren sind, strebt weder danach, ein Gottesstaat auf Erden zu sein, noch besitzt sie eine einheitliche Verfassung, sondern ist in eine Menge von Volks- Landes- und Confessionskirchen auseinander gegangen; einzelne ihrer Theile sind so eng mit dem Staat verflochten, daß in gewissen Epochen die Kirche kaum eine besondere Gestalt besaß, und von ihren eigenen Stimmführern als Staatsinstitut erklärt wurde. Auf solche Erscheinungen und auf seinen Begriff vom Staate hat Rothe die Theorie gegründet, daß die Kirche in ihrer evangelischen Richtung überhaupt dazu bestimmt sei, Staat zu werden, ihre bisher noch eigenthümlichen Funktionen in das Staatsleben aufzulösen, wenn auch nur in allmählicher Annäherung an dies Ziel. Denn der Staat als vollkommene Gemeinschaft der Sittlichkeit soll zugleich auch die vollkommene Gemeinschaft der Frömmigkeit sein, weil die Sittlichkeit allein die adäquate Erscheinung der Frömmigkeit also auch allein das Mittel zur vollkommenen Geimeinschaft der Frömmigkeit sein soll (Ethik. II, S. 145). Aber der Staat ist nicht die specifische Gemeinschaft der Sittlichkeit (§ 32), und die Sittlichkeit ist nicht die ausschließliche Erscheinung der Frömmigkeit. Sofern die Frömmigkeit an der Sittlichkeit des Reiches Gottes ihre specifische Erscheinung hat, ist das Gottesreich und nicht der Rothesche Staat die specifische Gemeinschaft auch der Frömmigkeit (§ 26). Sofern nun aber auch die Gemeinde, ecclesia den Anspruch macht, Gemeinschaft der Frömmigkeit zu sein, so frägt es sich, unter welchen Merk1–6 Die … sein.] mit Bleistift in eckige Klammern gesetzt 4 die] über 4 f. ihrer … Vollkommenheit] am Rand 7 nun] über 32 § 26] korr. aus 19 19 27 28 32
S. oben S. 106,24 Rothe, Theologische Ethik 2,145 S. oben S. 107,8 S. oben S. 77,1 (§ 22!)
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malen sie diesen Anspruch rechtfertigt. – Die gemeinschaftliche Thätigkeit in der Gemeinde ist der Cultus, d. h. die gemeinsame Andacht, Dank- und Bittgebet, actives Sich-bekennen zu Gott, welche sich auf die durch die christliche Offenbarung bestimmte Vorstellung von Gott und s|einer Gnade etc. richtet, und sich an die von Christus verordnete gemeinsame und sacramentale Handlung des Abendmahls anlehnt. Priesterthum 1 Petr. 2,4.5.9; 4,18; Apok. 1,6; 5,10; Hebr. 7,19; 10,22; 13,15.16; Rom 12,2; Eph. 2,18. Bekennen zu Gott. 1 Petr. 2,5; Hebr. 13,15 (Hos. 14,3); Eph. 1,6.12.14. Wohlthätigkeit Phil. 4,18; Hebr. 13,16. Bekennen vor den Menschen: Mth. 10,32; Rom 10,9.10; Hebr. 3,1; 4,14; 10,23; 1 Joh. 2,23; 4,15. Antithetisch bekennen 1 Joh. 4,2; 2. Joh. 7. Dank: Kol. 3,16; 1,12; 1 Th. 5,18; Phil. 4,6; Hebr 12,28. Vaterunser Denn die Predigt, als formaler Gegensatz zum Gebet, dient dazu durch Vergegenwärtigung der Offenbarung, die Gebetsstimmung zu wecken, zu ordnen, zu steigern und auf den [91] gemeinsamen Punkt zur richten. Und alle ferneren Thätigkeiten in der Kirche, Betreibung des kirchlichen Bekenntnisses, Religionsunterricht, Armenpflege haben den Zweck, die gottesdienstliche Fähigkeit zu bilden. Also das theologische antithetische Bekenntniß als Lehrgesetz nur untergeordnetes Mittel; dient im Verhältniß zu bestehenden Irrthümern dazu, den reinen Verstand des Evangeliums, sofern dasselbe durch menschliche Rede fortgepflanzt wird, zu sichern. – Bekenntniß Grundlage der Kirche? C. A. 7. Die allgemeinen Thätigkeiten welche der Cultus direct in Anspruch nimmt, sind das Erkennen und das künstlerische Bilden aber als Object einer bestimmten Anstrengung des Willens. paristánein tšô ješô Rom. 12,1; Kol. 1,22.28. Denn das Gebet ist wesentlich ein Act des Erkennens und Bekennens des Erkannten, um gemeinsam zu werden, Erkennen des göttlichen Willens, der Wohlthaten, des eigenen Dankes und der Ergebung des Gemüthes. Das Bekennen als Gemeinsames erfordert aber ein künstlerisches Bilden, da3 actives Sich-bekennen] am Rand 7–15 Priesterthum … Vaterunser] am Rand 13 2.] über der Zeile 14 1 Th. 5,18;] über der Zeile 17 die] korr. aus das 22–26 Also … C. A. 7.] am Rand 22 antithetische] über der Zeile 28–30 aber … Kol. 1,22.28.] am Rand 26 Confessio Augustana VII, ed. Hase 11, BSLK 61
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mit die Erscheinung des gemeinsamen Gedankens im sinnlichen Stoff der Rede ein geordnetes sei, also Rhetorik in Predigt und Liturgie, Musik im gemeinsamen Beten und Bekennen. Nicht erst, soweit auch Handlung in den Cultus hineinreicht, also Geberde oder sacramentaler Act, – sondern schon in den Kunstmitteln, dann im Erkennen ist dem Cultus eine dem sittlichen Handeln entgegengesetzte Art der Thätigkeit zugesprochen. Das künstlerisch-darstellende Handeln ist dem verbreitenden eigentlich sittlichen Handeln entgegengesetzt; ist Selbstzweck in jedem Act; während jeder sittliche Act immer Zweck und Mittel zugleich ist. Die christliche Religion bewährt nun ihre universelle Stellung im menschlichen Geiste dadurch, daß sie beide Richtungen der Bethätigung in der Gemeinschaft sucht. Die Cultusgemeinschaft der Kirche ist aber der christlichen Religion nothwendig auch im Verhältniß zu ihrer Bestimmung zum Gottesreich. Eine directe Gemeinschaft kann in der letztern Art der Thätigkeit nicht erstrebt werden (§ 23), also nur in der erstern Art. Diese aber ist auch nöthig, um der sittlichen Thatkraft eine Ergänzung, Regulirung und Anregung zu verschaffen, während die Unruhe in derselben ihre Gefahren hat. Die Kirche als Cultusgemeinschaft ist also für die theologische Ethik ein nothwendiger Begriff, so wie die ethische Beurteilung der Kirche für die vollständige Feststellung ihres Begriffes und Werthes notwendig ist. Die Merkmale sind nun das GebetsBekenntniß als Act, sofern es die ausgesprochene Ergebung des Willens unter die geglaubte Gnadenvorsehung Gottes ist, und die Cultussitte welche sich in der richtigen Analogie mit den Sacramenten hält, welche als von Christus geordnete und durch unsere Pietät erhaltene Cultusacte zugleich Träger der göttlichen Gnade für die Cultusgemeinde, Organe des göttlichen Gnadenwortes sind. So correspondiren die dogmatischen und die ethischen Merkmale der Kirche. 2 in] nach 3 Nicht erst,] am Rand 3 soweit] korr. aus Soweit 5 eine] folgt entg 6 Das] korr. aus das davor 7 ist] korr. aus sind folgt 7–9 entgegengesetzt; … ist.] gesetzt; … ist. am Rand statt 8 immer] folgt <Mittel und> 9 christliche] über der Zeile 9 nun] über 14 23] korr. aus 27 15 ist] folgt 18 f. so … ist.] am Rand 20 GebetsBekenntniß] Gebets über 20 als Act] über der Zeile 21 f. Ergebung … Gottes] über 14 S. oben S. 80,1
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NB. Das Bekennen und der bekannte Inhalt, das schriftliche Bekenntniß sind niemals das Wesen der Kirche. Das wäre socinianisch. Catechismus Racovensis 489. Salutaris Christi doctrina – est vera ecclesia. – Tenere salutarem Christi doctrinam est ecclesiae Christi natura, non signum.
[92] § 38. D a s k i r c h l i c h e A m t .
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Charismen. Damit das Cultushandeln der Gemeinde der Heiligen ein gemeinsames sei, und, damit die individuelle Religionsbildung der Einzelnen als solche nicht gehemmt werde durch die Bethätigung der Religion Anderer, tritt die geschichtliche Selbstentwickelung der Kirche in die Form des Rechtes. Denn Recht ist die Ordnung von Handlungen nach relativen Zwecken, wodurch das Handeln als gemeinsames verwirklicht und die sittliche Entwicklungsthätigkeit der Einzelnen gesichert werde. Deßhalb wird über den Cultus, die Lehre, die Steuern durch Gesetzgebung entschieden. Aber – Das Werden der Kirche durch die Merkmale des Bekenntnisses und der Cultussitte fordert in jedem Falle die Unterscheidung von Klerus und Laien; jenen Begriff im Sinne von ministerium verbi in Anwendung auf die evangelische Kirche. Denn jede Gemeinschaft sittlicher Art, welche den Willen für bestimmte Zwecke in Anspruch nimmt, ist nur dann geordnet, wenn Beamte, oder ein Beamtenstand mit der Leitung des Ganzen beauftragt ist. Die werdende Kirche bedarf also nach Maßgabe ihrer Merkmale solche Beamten, denen die Ausübung und Fortbildung des gemeinsamen Bekenntnisses, die Uebung und Vollziehung der gemeinsamen Cultussitte regelmäßig übertragen ist. Im Sinn der evangelischen Kirche dürfen dieselben nicht als Priester prädicirt werden, die vonvornherein als Nachfolger der Apostel über der Gemeinde stehen, und denen allein es vorbehalten sei, Gott anstatt der Gemeinde zu nahen oder zu dienen, und deren Gottesdienst stofflich verschieden wäre von dem den Laien in zweiter Linie vorbehaltenen. Vielmehr muß sich der evangelische Begriff vom Amte danach richten, daß alle Christen Priester sind, und daß der allen zustehende Gottesdienst identischen Stoff habe, der auch den den kirchlichen Beamten übertragenen repräsentativen Gottesdienst bildet. Hienach ist die 1–4 NB. … signum.] am Rand 5 § 38. … Amt.] davor 6–14 Charismen. … Aber –] am Rand 24 f. die … und] am Rand 2 S. oben S. 127,7
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Würde des evangelischen kirchlichen Amts nicht anders bedingt, als die jedes andern Amtes in einer sittlichen Gemeinschaft. Sie ist bedingt durch das Maaß der individuellen Gaben, der technischen Ausbildung, der Berufstreue. Wie überall hängt hievon, namentlich vom letztern Umstande die Auctorität des kirchlichen Amtes ab (§ 34 c). Allerdings sind die symbolischen Lehrbestimmungen darauf gerichtet, die Auctorität des kirchlichen Amtes noch anders zu bestimmen, als ein von sittlichen Bedingungen unabhängiges Object. Dies giebt hierarchischen Gemüthern und schlechten Theologen Anlaß, die evangelische Lehre vom Amt in katholisirender Weise zu verschlimmbessern. Die Lehrdarstellung in den Symbolen ist fragmentarisch, sofern sie einerseits den dogmatischen Begriff von der Gemeinde der Heiligen nach den Merkma[93]len von Gottes Wort und Sacrament und daneben die kirchenrechtliche Lehre vom kirchlichen Amte vortragen, welches aus jenem Bgriff nicht abgeleitet werden kann, sondern nur aus dem ethischen, sofern es wesentl|ich politisches Merkmal der Kirche ist, das Gebiet des Rechtes aber nur durch die Bedingungen der sittlichen Gemeinschaft mit der Religion in Beziehung gesetzt werden kann. Das Problem ist nun dies, ob die Auctorität der Kleriker der Christi und der Apostel analog ist, indem das göttliche Wort den Inhalt ihres Amtes bildet, während wir den Inhalt des Amtes nach dem menschlichen kirchlichen Bekenntnisse bestimmt haben. Für die Erkenntniß des Glaubens, also im dogmatischen Sinn wird die Gemeinde der Heiligen durch die Wirksamkeit des Wortes Gottes und der Sacramente. Das Wort Gottes ist aber nur verständlich unter Bedingung der gemeinsamen Einsicht in seinen Inhalt, Zweck, Grund, d. h. in letzter Instanz des kirchlichen Bekenntnisses, und die Sacramente nur bedeutsam im Zusammenhang mit einer allgemeinen Cultussitte. Also verhalten sich die ethischen Merkmale der Kirche zu den dogmatischen, wie Mittel zu Zweck und Grund. Ebenso verhält sich das politische Hauptmerkmal der Kirche nämlich der Klerus als Mittel für die Vollziehung und allseitige Aneignung von Bekenntniß und Cultussitte. Von den drei Kreisen der Merkmale der Kirche verhalten sich also die unteren zu den je oberen, wie Mittel zum Zwecke. Indem nun die Kleriker zunächst nur Techniker des Bekenntnisses und der Cultussitte sind; indem aber das Bekenntniß nur Mittel für das Wort Gottes, die Cultussitte Mittel für d|ie Sacram|ente ist, so können die Kleriker in ihrer directen Function nicht thätig 7 als ein] korr. aus mit einer 11 f. Merkma[93]len] Ms.: Merk-/len 12 f. kirchenrechtliche] am Rand 22 Gottes … Sacramente.] am Rand statt 24 in … Instanz] am Rand 25 nur … mit] am Rand statt 31 je] über der Zeile 5 S. oben S. 117,4
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sein, außer indem sie zugleich regelmäßig Träger des göttlichen Gnadenwortes und Verwalter der Sacramente sind. Das Wort Gottes ist nun aber seines eigenthümlich begründeten Inhaltes wegen auch im Munde des Menschen immer Gottes Wort, das Abendmahl ist auch als menschliche Handlung immer Handlung Christi und Vehikel besonderer göttlicher Gnadenwirkung. Also üben die Kleriker in diesen Beziehungen Functionen göttlicher Wirkung und Auctorität aus, welche über die sittliche Bedingtheit ihres Amtes hinausgeht. Diese göttliche Autorität haftet aber freilich an dem Inhalt des göttlichen Wortes und der Correctheit der Sacramentshandlung, nicht, nach katholischem Begriff an einer [94] bestimmten Form der Uebertragung; ist auch nicht in Anwendung auf die bestimmte Person indelebilis, sondern hängt ab von der Bewahrung der Reinheit der Funktion; ist also selbst sittlich bedingt. In dieser Fassung also widerspricht die göttliche Auctorität des kirchlichen Amtes nicht seiner sittlichen Bedingtheit, sondern ist von dieser selbst abhängig. – Das Bestehen eines Klerus ist zwar das erste aber nicht das einzige Merkmal der politischen Seite an der Kirche oder des politischen Begriffes von der Kirche, desjenigen, wonach die Kirche auch Object des Staats- und Civilrechtes wird, Eigenthumsrechte ausübt, Disciplin und Armenpflege übt, vom Staate anerkannt wird. Diese Verhältnisse sind aber der praktischen Theologie respective dem Kirchenrechte zu überlassen. Dahin gehört in specie das Problem der Disciplin und die Möglichkeit von Ämtern der Localgemeinde und vom Kirchenregiment. Die praktische Theologie hat auch darauf zu achten, wie die verschiedenen Stände der bürgerlichen Gesellschaft eine verschiedene Behandlung von der Kirche erwarten, welche wieder an sie abgestufte Ansprüche des kirchlichen Lebens stellt. Die praktische Theologie endlich hat über die Art und die Grenzen der Missionsthätigkeit zu entscheiden; aber dies alles auf Grund des ethischen Begriffs von der Kirche, und nach richtigem Verständniß seines Verhältnisses zum dogmatischen.
§ 39. D a s V e r h ä l t n i ß z w i s c h e n d e n e v a n g e l i s c h e n Kirchen und Secten.
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Weder nach den politischen noch auch nach den ethischen Merkmalen ist die Kirche eine Einheit geworden. Zunächst ist nicht einmal der ganze Bestand der abendländischen Kirche dem Impuls der Reformation gefolgt. Die katholische Particularkirche ist dabei stehen geblieben, dem politischen Merkmale der Hierarchie alle übrigen Merkmale der Kirche unterzuordnen, und hält 35 ein Bekenntniß fest, das im Widerspruch mit dem Wort Gottes, und eine Cul8 aber] über der Zeile 18 ausübt] korr. aus Ausübt 32 einmal] über der Zeile
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tussitte, die im Widerspruch mit dem ursprünglichen Sinne des Abendmahles ist. Der Unterschied des morgenländischen und abendländischen, des katholischen und evangelischen Christenthums ist S t u f e n unterschied der Religion. Aber auch die Kirche sofern sie der Reformation gefolgt ist, und die richtigen Merkmale der Kirchenbildung anstrebt, ist in eine Mehrheit von Confessionskirchen und von Secten auseinandergegangen. Da aber der ethische Begriff von der Kirche nicht minder auf die Einheit gerichtet ist, als der dogmatische, so ergiebt das Verhältniß zwischen Thatbestand und Begriff die Aufgabe weiter fortgehender Reformation, in specie von Union und Allianz oder Conföderation. erklärt sich die Erscheinung daraus, daß das Maaß in welchem sich das Christenthum mit der Cultur der außerchristlichen Welt und mit der sittlichen Entwickelungsstufe durchdringt, nicht überall mit der gleichen Kraft der Ueberwindung des Unchristlichen verbunden ist. [95] Freilich ist dieser Gedanke nicht anwendbar auf das Verhältniß zwischen der evangelischen und der katholischen so lange sich diese nicht reformirt, sondern uns als eine vom Teufel geleitete Gemeinschaft bezeichnet, – da sie selbst vielmehr Staat und nicht Kirche ist. Im Katholizismus wirkt der Typus der hellenischen und römischen Verbindung von Religion und Staat nach, im griechischen Christenthum die römische Verbindung der Pontificalgewalt mit dem Imperium; im römischen die platonische Prätension, daß die Philosophen, die Wissenden, und die manichäische Prätension, daß die Perfecti, die vollendeten Asketen den Staat, welcher zugleich Religionsgemeinschaft ist, regieren; in der protestantischen schulmäßigen Orthodoxie die hellenische philosophische Prätension, daß das Erkennen die Kraft des Wollens ist; in allem Sektenthum derjenige Typus der nacharistotelischen Philosophie, daß das Ethos immer nur individuell sei und niemals eine adäquate Gestaltung des großen Gemeinwesens möglich mache. Die Union zwischen Lutheranern und Reformirten ist darauf gegründet, daß die Abweichungen zwischen beiden Bekenntnissen im Vergleich mit der identischen Tendenz und der Fortbildung der theologischen Erkenntniß gleichgültig und werthlos geworden sind. Aber weil der Gegensatz der Confessionskirchen durch die Unterschiede der Nationalkirchen durchkreuzt wird, so ist Union nur im engern Kreise direct möglich; die Anlage dazu erstreckt sich aber über den ganzen Umkreis evangelischer Kirchenthümer, weil ein Aus-
1 die] korr. aus das 2–4 ist. … Religion.] am Rand statt . 10 oder Conföderation.] am Rand 11–14 erklärt … ist.] am Rand 19–29 Im … mache.] am Rand 22 platonische] korr. aus phi
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tausch theologischer und asketischer Darstellung des Christenthums in irgend einem Grade sich durch das Gebiet hindurchzieht. Wo freilich Union nicht direct unternommen werden kann, da ist mindestens Conföderation und Allianz geboten, nicht zwischen Privatchristen, sondern als öffentliche Angelegenheit. – Dagegen ist eine Allianz zwischen kirchlichem und sectirerischem Protestantismus widersinnig. Obgleich dieser Gegensatz im Bekenntniß sehr gering, und in der Cultussitte nur in manchen Punkten ausgeprägt ist, ist er viel tiefer als zwischen reformirtem und lutherischem Protestantismus. Denn die Secten haben ein ganz verschiedenes Verständniß der Bedingungen der christlichen Persönlichkeit, und kehren das Verhältniß zwischen dem Einzelnen und der christlichen Gemeinschaft geradezu um. Im Sinne des Sektenthums Methodismus, Baptismus, gilt nur derjenige als Christ, der einen empirischen Verlauf von Bekehrung durchgemacht hat, und denselben an bestimmten Gemüthsbewegungen messen und nachweisen kann. In Consequenz davon verwerfen die Baptisten die Kindertaufe, und fassen die Gemeinschaft der Christen rein als Product der Einzelnen. Dagegen bedeutet der Grundsatz der Kindertaufe in den evangelischen Kirchen, daß jede zum Bewußtsein kommende Bekehrung durch die unwillkürliche und mit dem Verstande unmeßbaren Einflüsse der göttlichen Gnade durch die Gemeinschaft auf den Einzelnen bedingt sei. Hiedurch wird gesichert (§ 9.20), daß die Heiligung oder Wiedergeburt als das prius der christlichen Charakterbildung anerkannt, und nicht als obj|ective empirische Beobachtung oder Absicht behandelt werde. Indem also in individuellen Fällen eine momentane Bekehrung möglich und wahrhaft sein mag, so ist es ein Widerspruch gegen die psychologischen und ethischen Bedingungen der [96] Bekehrung, wenn die Secten sie als empirischen Verlauf für nothwendig erklären. Die Praxis der Kindertaufe können die evangelischen Kirchen freilich nicht als dogmatisch nothwendige Institution erweisen (Dogmatik § 78), sie ist aber möglich in Consequenz des symbolischen Charakters der Taufe, und ist werthvoll als Symbol der kirchlichen Erziehung und der kirchlichen Bedingtheit christlicher Charakterbildung. Hiedurch soll dem Einzelnen, der in der Kirche aufwächst gesichert werden, daß seine Bekehrung auf die göttliche Gnade begründet ist; während umgekehrt keine zuverläßigen Indicien gefunden werden können, daß die Bekehrung vollendet und die Taufe zeitgemäß sei. Die Kirchen und die Secten sind auch in der Beziehung nicht coordinirt, weil die 12 19 20 28 29
Methodismus, Baptismus,] am Rand göttlichen … die] am Rand 20] korr. aus 24 78] korr. aus 80 Consequenz] folgt
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letztern nicht fähig sind, sich durch Erziehung fortzupflanzen, weil sie die Bekehrung in ihrem Sinne nicht in ihrer Macht haben. Also sind sie darauf angewiesen, daß die Volkskirchen bestehen, um deren Saft auszusaugen, wie die Parasitenpflanzen einen Baum, auf dem sie Platz gefunden. Wo solch Verhält5 niß nicht besteht, wie zwischen den alten Taufgesinnten und d|er reform|irten K|irche in Holland, da ist der sektirerische Charakter abhanden gekommen; da ist die Verweigerung der Kindertaufe zufällig; und nur ökonomische und Pietätsgründe fristen den Bestand der Partei. Wenn aber Methodisten und Baptisten mit Gliedern der evangelischen Volkskirchen Allianz eingehen, wel10 che sonst grundsätzlich als Babel bezeichnet werden, so bedeutet dies entweder, daß die Sectirer im Begriff sind ihren falschen Grundsatz über Bekehrung aufzugeben, oder daß die Kinder Gottes aus den Volks- und Landeskirchen im Stillen den sektirerischen Begriffen von Bekehrung zustimmen. Der letztere Fall ist der wahrscheinlichere, da in Folge des in unserem Kirchenthum 15 eingenisteten Pietismus eine starke Hinneigung zur sektirerischen Consequenz verbreitet ist. Solche Allianz ist also ein Symptom von verschiedenartiger oder allseitiger Unklarheit.
2. Gestrichener Schluß von § 41 [102] Aber dieser Gedanke ist die eigentliche Lösung des Problems. Der Ge20 rechte ist nie so gerecht, daß er nicht das Uebel als Strafe ansehen müßte,
aber nicht des zornigen Gottes, sondern des gütigen und gerechten Vaters, der ihn durch das Maaß der väterlichen Strafe von der Sünde reinigen will. Prov. 3,11,12; Hebr. 12,4–11; – 1 Petr. 4,1.2.17.18; 1 Kor. 11,32; Rom 8,28; 5,3 ff. Mc. 9,49. Alle Casuistik in dieser Hinsicht ist durch das Gemeingefühl ausgeschlos25 sen, in dem der Einzelne theilnimmt an der Gesammtschuld und an dem Zusammenhang der Leiden Aller. Diese dem Augenschein widersprechende Beurtheilung der Leiden des Gerechten kann nur aus der Offenbarung in Christus mit gleichbleibender Sicherheit 30 abgeleitet werden, [103] dessen Beruf das Leiden als freiwillige Leistung fordert, und dessen persönliche Eigenthümlichkeit die Combination zwischen Leiden und Zorn Gottes ausschließt. Das Leiden, das auf Grund und zum Zwecke des bestimmten sittlichen Berufs erfahren wird, nimmt vielmehr den 25–27 Alle … Aller.] am Rand 18 Der hier mitgeteilte Text bildete bis mindestens WS 1867/68 (V 7) den letzten Teil von § 41, wo er sich ohne Absatz an das jetzige Ende des Paragraphen anschloß, und wurde später gestrichen. An seine Stelle trat die große Einfügung am Rand gleich nach dem zweiten Satz des Paragraphen (oben S. 133,15–135,1).
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Charakter eines Thuns zum positiven Zweck an, und deßhalb verbürgt die scheinbare Vernichtung des Lebens gerade dessen Erhaltung. Vgl. Joh. 10,17; 12,25; Mth. 10,39; 16,25. Das Vorbild Christi in dieser Hinsicht hat nicht den Sinn, daß man unter allen Umständen das Leiden suchen, und eine asketische Selbstvernichtung unternehmen solle (§ 36); aber es fordert die Ausdauer im Leiden, welches neben unseren Vergehungen, unser Zusammenhang mit dem sündlichen Geschlecht und unser sittlicher Beruf mit sich führt. Wo also dessen Zusammenhang mit eigener Schuld nicht festzustellen ist, soll es nicht blos so hingenommen werden, daß man sich innerlich über die Erfahrung hinwegsetzt, und stumpf oder gleichgiltig dagegen wird, sondern man soll es als Mittel der Reinigung und Bewährung positiv bejahen (Rom. 5,3). 1. Die stoische Geichgültigkeit gegen Leiden setzt den Gedanken voraus, daß das Leiden nicht zur Zweckmäßigkeit der Welt gehört; es ist aber dennoch wirklich, also die Weltanschauung falsch. Die christliche Ergebung in das Leiden erkennt auch das Leiden als zweckmäßig, als Glied der Weltordnung an. 2. Hieran ist zu messen die Bedeutung Christi als des Erlösers. Ein Leiden in Folge von Sünde mit Ausschließung des Schuldgefühls, in dem Gedanken nicht an Zorn, sondern an Liebe Gottes ist die Probe der Aufhebung der Macht der Sünde über mich. Gegen Strauß, der (Die Ganzen und die Halben) Christus nicht will Erlöser nennen lassen, weil doch auch seit Christus noch Sündenmacht zu erfahren ist. – Die Beurtheilung der Leiden als Freude ist nicht sophistisch (Jak. 1,2; 1 Petr. 4,12.13; 2 Kor 7,4; Hebr. 10,34), da nicht die unmittelbare Empfindung ins Gegentheil verkehrt wird (Hebr. 12,11), sondern da nur nicht der erste Eindruck im Gefühl festgehalten, sondern durch das Selbstgefühl des Kindes Gottes überschritten werden soll. Diese Beurtheilung des Leidens ist nichts 3 Das] am Rand 6 f. neben … und] am Rand 7 führt. Wo] korr. aus führt, wo 8 es] folgt 12–16 1. … an.] am Rand 17–22 2. … ist. –] am Rand aus Platzmangel dem Zusatz Zeile 12–16 vorangesetzt 21 weil] folgt <es> 25 f. nur … sondern] korr. aus die Empfindung nur nicht nach dem ersten Eindruck ins Gefühl Îreflectirtù, sondern in dieser Hinsicht 27 soll.] folgt in eckigen Klammern (Bleistift) 5 S. oben S. 120,27 17 Der Ausdruck die Bedeutung Christi als des Erlösers ersetzt die gestrichene Randbemerkung Der Werth Christi als Erlösers oben Zeile 3 (textkrit. App.). 20 Strauß, Die Halben und die Ganzen 48
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weniger als eine Lähmung der Thatkraft durch das Christenthum; sondern das Christenthum führt die Herrschaft des sittlichen Selbstbewußtseins auf einem Gebiete durch, an dessen Grenze eine naturalistische Moral mittelund wirkungslos stehen bleibt. Wenn nun aber das Leiden ein Motiv zum Freiheitsgefühl sein soll, so das Glück eine Motiv des Abhängigkeitsgefühls (Rom. 2,4). Das Glück ist für Manche eine stärkere Probe für die Demuth, als das sog. Unglück. – Das Leiden bezeichnet die äußerste Grenze, bis zu welcher der Glaube an die väterliche Vorsehung Gottes sich bewähren soll; ehe es dahin zu kommen braucht, durchdringt dieselbe Gesinnung das Ganze Gebiet des Lebens, und [104] verknüpft alle Momente der Thätigkeit und der Erfahrungen zur Einheit der religiösen Stimmung und des religiösen Charakters. Der Glaube der Maaßstab der vollen geistigen und sittlichen Selbsterhaltung. Der Selbstmord die vollkommene Verzichtleistung auf den Glauben an die Vorsehung. Die alte Dogmatik kennt den Glauben immer nur in seiner schärfsten Zuspitzung auf die Erfahrung der Sündenvergebung durch den Vater Christi; aber um die Höhenpuncte dieses Gedankens bewegt sich der Glaube an die Vorsehung Gottes in allen übrigen Beziehungen des Lebens, so daß er zu jenem Gedanken hinaufsteigt und von ihm herabsteigt. Der Glaube an die Sündenvergebung ist als Moment der Empfänglichkeit den Momenten der sittlichen Thätigkeit entgegengesetzt; beide Arten menschlichen Verhaltens schließen sich aus; wenn also auch die Momente der Thätigkeit religiös bedingt sein sollen, so kann der Glaube nur in der allgemeinern Richtung auf Gott in ihnen gesetzt sein, als das Vertrauen, auf Gottes Wegen zu wandeln, in seinem Dienste zu wirken, seinen Schutz und Hülfe in jeder gerade nothwendigen Beziehung zu erfahren. Falsche Ansicht der Pietisten, als ob zu dem Glauben an Gottes Vorsehung noch der Glaube an die Sündenvergebung in Christus hinzuaddirt werden müsse. Vielmehr kann man nur verlangen, daß die Ergebung in Gottes Willen auf die Ueberzeugung von Christi Erlösungsthat mit Bewußtsein begründet werde um des Werthes jener vollkommen gewiß zu werden. Ebenso ist nun auch die Bekehrung nur erfolgreich, welche indem sie in das Bewußtsein von Gottes Vaterschaft und unserer Gotteskindschaft ausgeht, ihren Ursprung in der Ahnung hat, daß Gott mich sucht, daß er auf seine For6 für Manche] über der Zeile 13–16 Der … Vorsehung.] am Rand 25 Gott] folgt <mit> 26 Vertrauen] korr. aus ÎVetù 29–33 Falsche … werden.] am Rand 32 Erlösungsthat] folgt <werde> 34–206,9 Ebenso … Psalmen.] in eckigen Klammern
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derung an mich das Recht hat, daß seine Güte auf mich gerichtet ist; und die negative Erkenntniß meiner Sünden aus dem Gesetz ist nur so Mittel der Bekehrung, daß man dazu das Ideal des Menschenlebens in Christus positiv als solches erkennt, und daß in demselben Maaße die Väterlichkeit Gottes zur Gewißheit wird, als der Entschluß gereift ist, in diesem Ideal den Endzweck 5 des eigenen Lebens zu suchen. Alle Schrecken des Gewissens führen hingegen nicht zur Bekehrung, wo sie nicht unter die Güte Gottes (Rom. 2,4) subsumirt sind. In dieser Hinsicht ist die Bekehrung auch im Alten Testament nicht aus dem Gesetze zu studiren, sondern aus den Psalmen. (Rückblick auf § 20.) Frage nach der subjectiven Probe des Gnadenstandes. 10
3. Erstfassung von „§ 42 Die Demuth“
[98] § 43. D i e D e m u t h . fóbov 1 Petr. 1,17; Phil. 2,12; Hebr. 12,28 (eÙlábeia kaì déov). ist diejenige Form des empirischen religiösen Selbstbewußtseins welche der Heiligkeit der Person entspricht, und welche als Tugend zu bezeichnen ist, 15 weil sie ein Product des Willens ist, der sich absichtlich auf die Heiligkeit begründen will. Die Demuth ist durchaus auf Gott, nicht aber auf Menschen bezogen. Sie ist dasjenige Selbstgefühl, welches auf dem Gedanken beruht, daß ich Gottes Eigenthum bin, daß mein ganzes sittliches Wesen unter der Leitung und Beurtheilung Gottes steht, in Gott seinen Grund und sein Ziel 20 findet. Heilige Scheu und heiliges Zutrauen. Also freilich ist die Demuth eine starke Schranke des natürlichen Freiheitsgefühls, aber sie giebt wegen ihrer Begründung auf Gott auch den wahren Halt
3 dazu das] korr. aus das 5 in] folgt <sich> 9 20.] korr. aus Î24.ù 12 43.] korr. aus 41. dazu der doppelt unterstrichene Hinweis NB 13 fóbov … déov).] im freien Teil der Zeile und am Rand 13 eÙlábeia] Ms.: eÙlabeía 14 ist] davor 22 Heilige … Zutrauen.] am Rand 24 sie giebt] über der Zeile 9 S. oben S. 68,9 11 In der Endredaktion von Ms. B findet sich „§ 42. Die Demuth“ auf dem eingelegten Doppelquartblatt S. 98 a.b. Es ersetzt die Erstfassung in Ms. B* S. 98–100, die hier mitgeteilt wird (vgl. Einleitung S. XXIV).
§ 42 Demuth (Erstfassung)
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für das sittliche Selbstgefühl. Freilich wird die Demuth bestimmt durch die Auffassung des Contrastes zwischen göttlicher Allmacht, Allwissenheit und menschlicher Schwäche und Beschränktheit aber nicht minder durch die Auffassung der Harmonie göttlicher Güte, Gerechtigkeit mit den eigentlichen und wahren Bedürfnissen menschlichen Lebens. Sie giebt als Stimmung dem sittlichen Handeln aus dem religiösen Motiv seine individuelle Färbung; aber sie producirt keinen eigenthümlichen Stoff religiösen Handelns, in welchem, als nicht profanem sie sich besonders zur Erscheinung brächte. Wechsel der Eindrücke von Wesensabstand und religiöser Gemeinschaft mit Gott, aber Stetigkeit der freudigen Empfindung im Verhältniß zu Gott, Schmerz in der Berührung mit Profanem. Demuth gegen Menschen ist ein falscher Gedanke; tapeinofrosúnh bezeichnet allerdings auch die Bescheidenheit gegen Menschen, die Mäßigung des Selbstgefühles gegen die Anderen [99] denen man Ehre schuldig ist. Sie ist eine Folge der Demuth, aber nicht die einzige; denn neben ihr steht das berechtigte Selbstgefühl gegen beleidigende Selbstüberschätzung anderer, auch als Folge der Demuth, wenn es darauf ankommt, dem Gottlosen den Werth der Religion und der religiösen Sittlichkeit an der eigenen Person zu demonstriren. Und in diesem Fall ist mit der Demuth auch der Zorn vereinbar, wenn er durch Mitleiden begleitet ist (Mth. 11,29; Mc. 3,5). Freilich giebt es auch eine nachgemachte Art der Demuth, welche die sektirerische und cliquenhafte Frömmigkeit begleitet, welche sich in aparter Miene und Geberde Ausdruck verschaffen will, und einen fanatischen Zorn schon gegen Menschen verschiedener religiöser Richtung, nicht erst gegen Gottlose und Spötter bereit hat (Luc. 18,9–14). Denn die Demuth hat keinen eigenthümlichen Stoff des Handelns, in dem sie zur Erscheinung käme; oder man müßte consequenterweise auf die mönchische Ethik herauskommen. Diese sucht die Demuth auszudrücken, in der Armuth und in der Verzichtleistung auf die persönliche Selbständigkeit und Ehre. Hierin sind die Fehler enthalten, als ob das persönliche Selbstgefühl an sich der Demuth widerspreche, und als ob diese einer besonderen wenn auch nur negativen Erscheinung fähig sei. Dies|er Grundsatz entspricht d|em theoret|ischen Irrthum, als ob das Verhältniß Gottes zur menschlichen Gesellschaft im Christenthum ein negatives sei. Die Folge dieser Fehler ist das Gegentheil des Erstrebten, Hochmuth, Geldgeiz, Herrschsucht (Kol. 2,23). – Die Demuth ist nicht nothwen5–11 Sie … Profanem.] am Rand statt des durch besonderes Zeichen in die nächstfolgende Seite (gemeint ist: Ms. B Seite 100) eingewiesenen Satzes Das … Phil. 2,5 ff.); s. unten S. 208,21–25 5 als Stimmung] über der Zeile 6–8 aber … brächte.] in eckigen Klammern 9 Gott,] folgt 19 Mth. 11,29;] über der Zeile 22 einen] über <mit> 32 ein] korr. aus eines
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dig an specifisches Sündenbewußtsein gebunden und braucht sich nicht besonders an demselben zu nähren, denn sie ist auch Tugend an Christus (Mth. 11,29; Phil 2,5–8). Denn er ist vom Vater geheiligt worden, und dieser ist Christi heiliger Vater (Joh. 10,36; 17,11). Die Demuth ist die Bedingung, unter der Christus bei seinem Bewußtsein Gottes Sohn und Ebenbild zu sein, sein Lebensziel nur so erstrebt, daß er den niedrigen Gehorsam einer gewöhnlichen Menschenstellung über sich nimmt, daß er nicht absichtlich als Herr auftritt, sondern in seinem besonderen Beruf als Gottes Knecht. – Von Anderen wird die Demuth als Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit von Gott definirt. Dagegen ist [100] nichts einzuwenden, wenn man nur den Ausdruck nicht in Schleiermachers Sinne versteht. Denn der versteht ihn von einer intelligibeln Funktion, welche das Freiheitsgefühl ausschließt. Aber in unserem Sinne ist die Demuth empirisches Selbstgefühl, möglicherweise in verschiedenen Momenten ungleich an Stärke und Schwäche, Gegenstand absichtlichen Strebens, und nicht das Gegentheil des Freiheitsbewußtseins auch nach dem Maaße des Verhältnisses zu Gott. Endlich ist die Demuth das bestimmte Merkmal dafür, daß das Leben d|es Menschen überhaupt dem göttlichen Willen folgt. Wo sie fehlt, ist die vorgebliche Unterwerfung des Lebens unter die Leitung Gottes und unter sein Gesetz eine Selbsttäuschung. Das Gefühl der Demuth, wo es gesund ist wird immer oscilliren zwischen dem Wesensabstand und der religiösen Gemeinschaft zwischen Mensch und Gott. [98] Das Gegentheil der Demuth auf dem Boden des nichtreligiösen Lebens ist ein solches Freiheitsgefühl, welches keine Schranke anerkennt, welches also auf eine formale Gottgleichheit ausgeht, also Selbstvergötterung (Rom. 12,3; Phil. 2,5 ff.). [100] Entgegengesetzt auf dem Boden der Religion ist die falsche Sicherheit des Verhältnisses zu Gott in der Heuchelei und im Fanatismus. Sofern die erstere sich überhaupt als eine Art von Religiosität betrachten läßt, 3 er] über Gott 5 und Ebenbild] am Rand 16 Verhältnisses] Ms.: Vhf (?) 19–209,10 Das … Gott. –] am Rand statt Dazu am Rand