Nicolas Hoffmann Birgit Hofmann Zwanghafte Persönlichkeitsstörung und Zwangserkrankungen Therapie und Selbsthilfe
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Nicolas Hoffmann Birgit Hofmann Zwanghafte Persönlichkeitsstörung und Zwangserkrankungen Therapie und Selbsthilfe
Nicolas Hoffmann Birgit Hofmann
Zwanghafte Persönlichkeitsstörung und Zwangserkrankungen Therapie und Selbsthilfe
123
Dr. Nicolas Hoffmann Orber Straße 18 14193 Berlin www.agadaz.de
Dr. Birgit Hofmann Marie-Vögtlin-Weg 18 12205 Berlin www.agadaz.de
ISBN 978-3-642-02513-6 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. SpringerMedizin Springer-Verlag GmbH ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Monika Radecki Projektmanagement: Sigrid Janke Lektorat: Dörte Fuchs, Freiburg Layout und Umschlaggestaltung: deblik Berlin Einbandabbildung: © imagesource.com Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH – Reinhold Schöberl, Würzburg SPIN 12676941 Gedruckt auf säurefreiem Papier
2126 – 5 4 3 2 1 0
Für Gellchen und Zessi
Ein Schiffbrüchiger, der auf eine Insel geraten war und dort sofort einen Galgen gewahrte, war, anstatt darüber zu erschrecken, im Gegenteil beruhigt. Gewiss, er befand sich unter Wilden, aber an einem Ort, wo Ordnung herrschte. Cioran
VII
Vorwort Wenn Zwangskranke über ihre bisherigen gescheiterten Therapien berichten (was leider noch immer häufig vorkommt), so erzählen sie übereinstimmend von typischen Eindrücken, die sie sehr früh an einem möglichen Therapieerfolg hätten zweifeln lassen. Mit am meisten genannt werden: »Er (der Therapeut) machte sich nicht die Mühe, genau nachzufragen« und »Ich merkte sofort, dass er die falschen Fragen stellte« . Die Beobachtungen dieser Patienten weisen unserer Meinung nach auf ein grundlegendes Problem im Umgang mit Zwangkranken hin. Einerseits begründet die Überbewertung neurobiologischer Modelle eine reduktionistische Auffassung der Phänomene des Zwangs. Dadurch scheint das, was die Betroffenen über ihre Störung aussagen könnten, weitgehend an Relevanz zu verlieren. Andererseits stellen wir auf Schritt und Tritt fest, dass die Abläufe sowohl bei der Störung als auch bei der Therapie nach wie vor in hoch abstrakte, im Kern triviale psychologische Modelle gepresst werden, die der Komplexität des realen Geschehens nicht gerecht werden. Man denke nur an Leerformeln wie »Zwei-Faktoren-Modell«, »Habituation« oder »Reaktionsverhinderung« – Begriffe, die von ihrer ursprünglichen Bedeutung weitgehend abgekoppelt wurden und im heutigen unreflektierten Sprachgebrauch nahezu jeden Sinnes beraubt sind. Was in beiden Fällen verloren zu gehen droht, ist ein phänomenologischer Zugang zum Verständnis des Zwangs, aus dem sich psychotherapeutische Maßnahmen ableiten lassen, die auf den Kern der diversen Störungen abzielen. Ein »Phänomen« ist zunächst das »Sich-Zeigende« , das Erscheinende, das, was sich einer interessierten und vorurteilslosen Anschauung als unbestreitbar und unabweisbar präsentiert. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Gesamtwirklichkeit des Menschen in den Mittelpunkt gestellt wird. Dann können wir diesen Menschen beobachten (z.B. bei einer In-vivo-Diagnostik) und ihm Fragen stellen, damit er uns erklärt, was er erlebt (z.B. beim Kontrollieren) oder was in ihm vorgeht (z.B. bei einer absichtlichen Konfrontation). Eine therapeutische Haltung, die diesen Zugang fördert, zeichnet sich durch eine generelle Achtsamkeit gegenüber dem Patienten aus. Sie ist die Alternative zu einer Haltung, die vorgibt, von vornherein zu wissen, um was es geht (»Es wird schon ungefähr so ablaufen wie bei mir« ) und was zu tun ist (»Reizüberflutung oder so etwas Ähnliches macht sich immer gut« ). Die Rechtfertigung für die Arbeit, die wir hier vorlegen, ist der Versuch, Zwangsstörungen aus der Sicht der Betroffenen darzustellen, um so zu einem besseren Verständnis und einer besseren Behandlung dieser Patientengruppe beizutragen. Der Schwerpunkt liegt also auf der Beschreibung der Zustände und der Therapien von eigenen Patienten, die an diversen Formen des Zwangs erkrankt sind, nicht auf statistischen Vergleichen und abstrakten theoretischen Modellen. Aus diesem Grund haben wir auch darauf verzichtet, den »Stand der Literatur« zu referieren, und haben uns weitgehend auf unsere eigenen Beobachtungen, Überlegungen und Erfahrungen beschränkt. Lediglich einem Autor ver-
VIII
Vorwort
danken wir viel: Pierre Janet, dessen auch im Bereich der Zwangserkrankungen bahnbrechendes Werk nicht länger ignoriert werden kann. Dazu tragen sicherlich auch die wichtigen Arbeiten von Willi Ecker und Sascha Gönner bei, die in eigenen Untersuchungen einige Beobachtungen und Einsichten Janets einer empirischen Überprüfung unterzogen haben. Ihre Ergebnisse haben uns auch dazu ermuntert, die zwanghafte Persönlichkeitsstörung in unsere Darstellung einzubeziehen und unseren Ansatz zur Korrektur ihrer Defizite und Exzesse vorzustellen. Die therapeutischen Interventionen, die wir für die diversen Formen von Zwangsstörungen vorstellen, entstammen unserer klinischen Arbeit und haben sich in diesem Rahmen gut bewährt. Außerdem haben wir uns Gedanken über mögliche Selbsthilfemaßnahmen gemacht. Auch diese Maßnahmen wurden von uns erprobt. Einige Texte, die wir vorstellen, stammen aus früheren Publikationen. Immer wieder teilen uns Patienten mit, dass sie von der Lektüre unserer Fachpublikationen profitiert hätten. Das hat uns Mut gemacht, ein Buch zu schreiben, das für beide Gruppen, Therapeuten wie Patienten, mit Nutzen lesbar sein soll. Jeder Leser möge für sich beurteilen, ob und inwieweit uns das gelungen ist. Zu Dank verpflichtet sind wir Frau Monika Radecki und Frau Sigrid Janke vom Springer Verlag und unserer Lektorin Frau Dörte Fuchs, die uns sehr unterstützt haben. Ein besonderer Dank gilt Frau Laja Hepner, die uns seit vielen Jahren bei der Erstellung unserer Manuskripte hilft. Berlin, im Herbst 2009 Birgit Hofmann Nicolas Hoffmann
IX
Die Autoren
Dr. phil. Nicolas Hoffmann
Dr. phil. Nicolas Hoffmann ist seit über 30 Jahren Verhaltenstherapeut, Dozent und Supervisor. Er ist Gründungsvorsitzender des Institutes für Verhaltenstherapie Berlin und Autor und Herausgeber zahlreicher Fachbücher.
Dr. rer. nat. Birgit Hofmann
Dr. rer. nat. Birgit Hofmann ist Psychologische Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie) in freier Praxis und Dozentin. Ehemalige Mitarbeiterin in Forschungsprojekten an der Universität Potsdam und Autorin mehrerer Fachbücher.
XI
Inhaltsverzeichnis 1
Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung
1
1.1
Prolog am Himmel . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
1.2
3
Depersonalisationserscheinungen: Defizite in der körperlichen
Struktur der zwanghaften Persönlichkeits-
und mentalen Kohärenz . . . . . . . . . . . .
59 61
störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
3.1
Depersonalisationserlebnisse . . . . . . . . .
1.2.1 Pessimismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
3.2
Mangelhaftes Erleben körperlicher
1.2.2 Hypermoralität und Anstrengung . . . . . . .
7
Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
1.2.3 Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
3.2.1 Erfahrung instabiler Grenzen . . . . . . . . . .
61
1.2.4 Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10
3.2.2 »Auflösung« der eigenen Person . . . . . . . .
63
3.2.3 Den eigenen Körper nicht mehr spüren . . . .
65 66
1.3
Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung: drei Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
3.3
1.3.1 Alltag als Heimsuchung . . . . . . . . . . . . . .
12
3.4
1.3.2 Familienbande . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
1.3.3 M. Stra-B 98 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
1.4
Mangelhaftes Erleben mentaler Kohärenz . Therapie bei mangelhaftem Erleben körperlicher Kohärenz . . . . . . . . . . . . . .
3.5
Therapie bei zwanghafter Persönlichkeits-
72
Therapie bei mangelhaftem Erleben mentaler Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . .
74
störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
1.4.1 Die innere Lage: Festung und Kerker . . . . .
19
durch Situationserfassung und -analyse . . . .
74
1.4.2 Allgemeine Strategien bei der Therapie . . . .
20
3.5.2 Denken lernen statt Zwangsgrübeln . . . . . .
75
1.4.3 Ein Therapieansatz bei zwanghaften
3.5.1 Training von Gegenwartskonstituierung
3.5.3 Kompensation schwerer Depersonalisations-
Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . .
24
1.4.4 Ziele und Interventionen: ein Überblickk . . . .
26
erscheinungen durch innere Aktivierung . . . 3.6
1.4.5 Ziele: Wertedifferenzierung, Lebensanreicherung . . . . . . . . . . . . . . . .
erscheinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
Absichten und Handlungen . . . . . . . . .
79
4.1
Gewissen und Gewissensqualen . . . . . . .
81
33
4.2
Ein Fall von zwanghaft-skrupelhaftem
36
4.3
spielraumes, Verringerung von 1.4.8 Ziele: Abschließen lernen, Entspannen lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.4.9 Ziele: emotionale Belebung, Förderung von Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5
39
Selbsthilfe bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
1.5.1 Worum geht es bei Ihrer Selbsthilfe? . . . . . .
46
1.5.2 So sollten Sie bei Ihrer Selbsthilfe vorgehen .
47
1.5.3 Veränderungsschwerpunkte und Übungen .
47
Die Zwangskranken . . . . . . . . . . . . . . .
55
83
Therapie bei zwanghaft-skrupelhaftem Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
4.3.1 Gewissen: zwei Gefahren . . . . . . . . . . . . .
86
4.3.2 Wertung des skrupelhaften Gewissens . . . .
86
4.3.3 Prinzipien der Korrektur eines zwanghaftskrupelhaften Gewissens . . . . . . . . . . . . .
88
4.3.4 Einübung von Maßnahmen zur Korrektur eines zwanghaft-skrupelhaften Gewissens . . 4.4
2
Das zwanghaft-skrupelhafte Gewissen: Zweifel an den eigenen moralischen
29
1.4.7 Ziele: Erweiterung des HandlungsHypermoralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
27
1.4.6 Ziele: erhöhte Risikobereitschaft, Mut zur Lücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
Selbsthilfe bei Depersonalisations-
90
Selbsthilfe bei zwanghaft-skrupelhaftem Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
XII Inhaltsverzeichnis
5
Die alltäglichen Kontrollzwänge:
7.3
Mangelndes Vertrauen in das eigene
Struktur von Berührungsvermeidungsund Waschzwängen . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Verhalten bei Routinetätigkeiten . . . . .
93
5.1
Einmal ist keinmal . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
5.2
Normale Kontrollen und zwanghafte
7.4
Therapie bei Berührungsvermeidungsund Waschzwängen . . . . . . . . . . . . . . . . 127
7.4.1 Werdegang des Zwangs: der Weg nach
Kontrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
5.3
Therapie bei alltäglichen Kontrollzwängen
99
5.4
Selbsthilfe bei alltäglichen Kontrollzwängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
unten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 7.4.2 Überwindung des Zwangs: der Weg nach oben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 7.4.3 Kontroverse über die Vorgehensweise bei Wirklichkeitsübungen . . . . . . . . . . . . 132
6
Zwangsgedanken und magisches
7.5
Denken: die Angst, durch eigene
Selbsthilfe bei Berührungsvermeidungsund Waschzwängen . . . . . . . . . . . . . . . . 134
Gedanken und Taten sich selbst und anderen zu schaden . . . . . . . . . . . . . . . 105
8
Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
6.1
Was sind Zwangsgedanken? . . . . . . . . . . 107
6.2
Falldarstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
6.3
Therapie bei Zwangsgedanken . . . . . . . . 112
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
6.3.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
6.3.2 Spezielle Übungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 6.4
Selbsthilfe bei Zwangsgedanken . . . . . . . 116
7
Berührungsvermeidungs- und Waschzwänge: Kontakte mit »gefährlichen« und ekelerregenden Substanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
7.1
Bedrohung und Abwehr . . . . . . . . . . . . . 123
7.2
»Roger hat Müll angefasst, dann mich angefasst und anderes angefasst« . . . . . . 124
1 1 Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung Stürmt den Himmel Ein versteinertes Haupt. Georg Trakl
1.1
Prolog am Himmel – 3
1.2
Struktur der zwanghaften Persönlichkeitsstörung – 5
1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4
Pessimismus – 5 Hypermoralität und Anstrengung Kontrolle – 9 Sorge – 10
1.3
Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung: drei Beispiele – 12
1.3.1 Alltag als Heimsuchung 1.3.2 Familienbande – 16 1.3.3 M. Stra-B 98 – 17
1.4
–7
– 12
Therapie bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung – 19
1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 1.4.5 1.4.6 1.4.7
Die innere Lage: Festung und Kerker – 19 Allgemeine Strategien bei der Therapie – 20 Ein Therapieansatz bei zwanghaften Persönlichkeitsstörungen – 24 Ziele und Interventionen: ein Überblick – 26 Ziele: Wertedifferenzierung, Lebensanreicherung – 27 Ziele: erhöhte Risikobereitschaft, Mut zur Lücke – 29 Ziele: Erweiterung des Handlungsspielraumes, Verringerung von Hypermoralität – 33 1.4.8 Ziele: Abschließen lernen, Entspannen lernen – 36 1.4.9 Ziele: emotionale Belebung, Förderung von Toleranz – 39
1.5
Selbsthilfe bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung
1.5.1 Worum geht es bei Ihrer Selbsthilfe? – 46 1.5.2 So sollten Sie bei Ihrer Selbsthilfe vorgehen – 47 1.5.3 Veränderungsschwerpunkte und Übungen – 47
– 46
3 1.1 · Prolog am Himmel
1.1
Prolog am Himmel
Im September 1953 starb Edwin Hubble, der Mann, der in wenigen Jahren in ebenso knappen wie schnippisch vorgetragenen Mitteilungen die gesamte Sicht von der Welt auf den Kopf gestellt hatte. Von jeher hatten Astronomen angenommen, dass die Sternenwolke, die wir als Milchstraße bezeichnen, das gesamte Universum bilde. Lediglich über die Natur kleinerer Lichtflecken zwischen den Sternen, der sogenannten Nebel, war man sich nicht einig. Nachdem auf einigen Bergen im Südosten Amerikas große Spiegelteleskope aufgestellt worden waren, folgte eine sensationelle Entdeckung der anderen. Mit dem Teleskop auf dem Mount Wilson bei Pasadena war es Hubble gelungen, die Entfernung zu einigen Nebelflecken zu messen. Sie waren Hunderttausende von Lichtjahren entfernt und erwiesen sich als riesige Ansammlungen von Milliarden von Sternen, wie die Milchstraße. In der Tiefe des Raumes verbargen sich Milliarden solcher Sternensysteme. Eine zweite Entdeckung Hubbles war noch überraschender. Diese Welten schienen sich voneinander wegzubewegen, so als sei das ganze Universum mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit auf der Flucht. Aber warum und wieso? Ausgehend von diesen beiden Entdeckungen legte Hubble ein Beobachtungsprogramm fest, das in seiner Komplexität und Aufwendigkeit alles übertraf, was bisher in den Naturwissenschaften unternommen worden war. Es sollte endgültig Klarheit schaffen über die Form, die Ausdehnung, das Alter und das zukünftige Schicksal des Universums. Damit sollte es auch wilden Spekulationen, wie Menschen sie nun einmal nicht lassen können, ein für alle Mal Einhalt gebieten. Kein Preis konnte zu hoch sein, um die Wahrheit ans Licht zu bringen, damit sie der Menschheit ein für alle Mal die Richtung weisen konnte. Drei Jahre vor seinem Tod bestellte Hubble einen jungen Wissenschaftler seines Teams, Allan Sandage, zu sich und unterzog ihn einer Reihe
1
von merkwürdigen Tests, die mehrere Stunden dauerten. So musste er auf fotografischen Platten bestimmte Sternentypen herausfinden, Entfernungen abschätzen und dergleichen mehr. Obwohl Hubble, wie es seiner Natur entsprach, sich danach jeglichen Kommentars enthielt, wurde Sandage kurz darauf zum absoluten Heiligtum, dem Fünff Meter-Teleskop auf dem Mount Palomar, zugelassen und mit wichtigen Aufgaben im Forschungsprogramm betreut. Bei Hubbles plötzlichem Tod fühlte sich Sandage, als habe er einen Vater verloren. Doch mit der Trauer vermischte sich ein ungeheures Gefühl der Verantwortung. »Hubble starb zu früh«, sagte er in jenen Tagen zu einem Kollegen, »und bürdete mir eine schwere Last auf, eine ungeheure Last, nämlich, das Forschungsprogramm fortzuführen. Es ist alles geplant, und nach Hubbles Tod bin nur ich übrig.« Nachdem er sich dazu entschlossen hatte, Hubbles Nachfolge anzutreten, bekannte er sich fortan öffentlich dazu, dass er herausfinden musste, wie das Universum beschaffen ist, in dem wir leben. Damit sollte auch wilden Spekulationen, wie Menschen sie nun einmal nicht lassen können, ein für alle Mal Einhalt geboten werden. Kein Preis konnte zu hoch sein, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Über vierzig Jahren bediente Sandage das Fünff Meter-Teleskop. Tag und Nacht wurde er, wie er sagte, von den »Hunden des Himmels« verfolgt. Er liebte die Einsamkeit im »Beobachtungskäfig«. Seine Aufgabe war einfach: Er musste den Galaxien immer tiefer in den Raum folgen, ihre Helligkeit und eine ganze Reihe von anderen Größen messen und die Werte in ein Diagramm eintragen. In den Nächten, in denen er das Teleskop zur Verfügung hatte, fotografierte er den Himmel. Den Rest der Zeit, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr, wertete er die Platten aus. »Mein Leben besteht darin, mir schwache Flecken auf einer Plastikplatte anzusehen«, meinte er gegenüber einem Besucher. Der fragte: »Wie schaffen Sie denn das?« »Das Geheimnis des
4
1
Kapitel 1 · Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung
Friedens liegt darin, dass man die Welt hergibt«, erklärte ihm Sandage. Doch dann funkelten seine Augen, und er schaute sein Gegenüber scharf an: »Ich weiß nicht, warum ich jetzt mit Ihnen spreche. Leute wie Sie sind oberflächlich im Vergleich zu dem, was ich versuche.« Dem Besucher lief es kalt den Rücken herunter. Ein anderer fragte ihn, wer der beste Astronom der Welt sei. Sandage antwortete: »Nun, der junge Gunn ist ziemlich gut. Wenn er so weiter macht, wird er die Nummer zwei.« Ein Kollege beschrieb Sandage so: »Seine Augen sehen aus wie zwei Feuersteine, wenn er über Wissenschaft redet, sie blinzeln, wenn er von den Sternen erzählt, und glühen in einer Art von baptistischem Eifer, wenn er auf seine Kritiker zu sprechen kommt.« Jahrelang hatten ihn Angriffe auf seine Arbeit verbittert und in eine zunehmende Isolation geführt. Er igelte sich ein und äußerte sich praktisch nur noch in wissenschaftlichen Publikationen. Gegenüber einem seiner Widersacher sagte er einmal: »Sie verlangen von uns, dass wir unser eigenes Forschungsprogramm kritisieren, und das können wir nicht tun. Wir können einfach nicht erkennen, wo wir einen Fehler gemacht haben. Wir glauben aber zu wissen, wo die anderen Forschungsgruppen sich geirrt haben.« Ein anderes Mal äußerte er: »Astronomie ist eine unmögliche Wissenschaft«, und lachte sogar dabei. Doch dann wurde er von einer Sekunde zur anderen todernst und fügte hinzu: »Wir werden Fortschritte machen, wenn mehr ernsthafte und verantwortungsvolle Menschen wie ich sich an ein Teleskop setzen.« Sandage verbrachte die meiste Zeit allein. Seine Ehe war in die Brüche gegangen, weil er seine Familie offenbar so behandelt hatte wie seine wissenschaftlichen Assistenten. Wenn Kleinigkeiten nicht seinen Vorstellungen von Ordnung, Sparsamkeit und Sittsamkeit entsprachen, bekam er einen seiner gefürchteten Zornesausbrüche und verhängte Sanktionen, die niemand aus seiner Umgebung nachvollziehen konnte. Er
war ständig in Sorge, dass ihm die Kontrolle entgleiten könnte, und inspizierte alle und alles mit Argusaugen. Das hielten die Menschen um ihn herum irgendwann nicht mehr aus. Sandage suchte privat nie wieder Anschluss an jemanden. »So etwas will ich kein zweites Mal riskieren, das kostet zuviel Energie«, meinte er. Manchmal kam er doch für kurze Zeit aus seiner selbst gewählten Isolation heraus. So ging er einmal mit einem Kollegen in ein Restaurant nahe dem Observatorium zum Essen. Er zeigte ihm, wie man Galaxien in einer Kaffeetasse erzeugt: Man rührt den Kaffee um und gießt genau in die Mitte einen Klecks Sahne. Weil die Sahne nicht fett genug war, bekam die Galaxie Risse. Trotzdem rief Sandage kurz darauf die Katalognummer der Sternenansammlung aus, die dem Gebilde in der Kaffeetasse am ähnlichsten war. Geradlinig oder fanatisch? Eigenschaften zwanghafter Persönlichkeiten
Wir haben diese kurze Charakterisierung des Wissenschaftlers Sandage einer Reihe von Personen vorgelegt, mit der Bitte, schnell und ohne viel nachzudenken, die ersten Eigenschaften niederzuschreiben, die ihnen dazu einfielen. Die Bilanz ist zunächst durchaus positiv. Die häufigsten Begriffe sind: »Ausdauer«, »Fleiß«, »Ernsthaftigkeit«, »Genauigkeit«, »Leistungsfähigkeit«, »Verantwortlichkeit«, »Beharrlichkeit«, »Geradlinigkeit«, »Selbstständigkeit«, »moralisch hochwertig«, »seiner Sache ergeben« usw. Doch meist tauchen am Schluss dieser Aufstellungen auch einige zwar zaghaft vorgebrachte, aber durchaus kritische Bewertungen auf wie: »eigensinnig«, »von sich eingenommen«, »einseitig«, »perfektionistisch«, »fanatisch«, »intolerant«, »einsam«, »unkreativ« oder gar »unmenschlich«. Niemand kann ernsthaft bestreiten, dass Menschen wie Allan Sandage das darstellen, was wir »starke Persönlichkeiten« nennen: Sie verfolgen einen bestimmten Weg mit großer Tatkraft und Ausdauer, ohne sich dabei durch Schwierigkeiten, gelegentliche Misserfolge oder Kritik ent-
5 1.2 · Struktur der zwanghaften Persönlichkeitsstörung
mutigen zu lassen. Dafür verdienen sie mit vollem Recht unsere Wertschätzung. Doch wenn wir genauer hinsehen, fragen wir uns: Ist es nicht des Guten zu viel? Kommen hier nicht andere, auch wichtige Seiten des Lebens zu kurz? Wie geht es denjenigen, die mit solchen Personen zu tun haben oder sogar von ihnen abhängig sind? Entwickelt sich dieser Mensch nicht letztlich in eine falsche Richtung? Steckt nicht hinter so viel vermeintlicher »Stärke« eine Schwäche, die ein unsicherer und einsamer Mensch zu verbergen sucht? Der Fachausdruck für den Typ Mensch, den wir beschrieben haben, lautet: zwanghafte Persönlichkeit. In besonders extremen Fällen spricht man von einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung. Den Aufbau dieser Persönlichkeitsstörung werden wir im Folgenden näher betrachten.
1.2
Struktur der zwanghaften Persönlichkeitsstörung
Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung ist folgendermaßen aufgebaut: Die Basis bildet eine durchweg pessimistische Grundhaltung dem Leben gegenüber. Die daraus resultierende tief gehende Verunsicherung versucht der zwanghafte Mensch dadurch zu kompensieren, dass er sich ständig bemüht, hochgesteckten Normen und Idealen zu genügen. Dies ist auch verantwortlich für seine Leistung und seine Arbeit. Sein ganzes Leben steht unter dem Zeichen dieser permanenten Anstrengung. Sein Unterfangen erscheint ihm nur dann einigermaßen erfolgversprechend, wenn er ein möglichst großes Maß an Kontrolle, nach außen wie nach innen, einbaut. Doch in Wirklichkeit kann er immer nur partiell Kontrolle erlangen. Daraus muss er einen ständigen Grund zur Sorge ableiten. Sehen wir uns die einzelnen Bestandteile dieser Lebensphilosophie an.
1.2.1
1
Pessimismus
Optimismus ist die feste Überzeugung – oder in gewissen Fällen das unbestimmte Gefühl –, dass die Dinge sich einrichten werden. Der Pessimist hingegen sieht diese Haltung als eine Art tief greifende Weigerung an, den wahren Zustand der Welt auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn als endgültig anzusehen. So geißelt Schopenhauer denn auch den Optimismus »nicht bloß als eine absurde, sondern auch als eine wahrhaft ruchlose Denkungsart«, als »bitteren Hohn gegenüber den namenlosen Leiden der Menschheit«. Der Pessimist nimmt für sich in Anspruch, stark und weitsichtig genug zu sein, um der Wahrheit ins Gesicht zu sehen: Die Dinge richten sich eben in den seltensten Fällen ein. Niederlagen, Leid und Tod um uns herum sind allgegenwärtig. Nicht einmal der eigenen Natur ist über den Weg zu trauen. Selbstsucht und Bösartigkeit prägen den Umgang der Menschen untereinander, wenn man sie sich selbst überlässt. Der extreme Schluss des Pessimisten mag lauten, dass es alles in allem unser Schicksal sein wird, einmal zusammen mit dem Planeten zu vermodern, auf dem unsere kurze, entbehrliche Lauff bahn einst begann. Eine pessimistische Grundhaltung führt immer zu gravierenden Konsequenzen für die eigene Lebensauffassung. Dabei können recht unterschiedliche Positionen entstehen. Eine davon ist die des Zwanghaften. Wir werden sie später ausführlich beschreiben. Doch daneben gibt es andere Wege als den seinen. Die wichtigsten werden nun kurz skizziert. Egoismus oder Mitgefühl? Am Anfang steht für
jeden die Frage: Warum ist die Welt so und nicht anders? Für Schopenhauer ist alles Leben das sinnlose Ergebnis eines blinden Willens, eines Dranges, der ein ständiges Gebären inszeniert, bis hin zu dem des menschlichen Individuums, das sich dann ohne Plan und Ziel eine Zeit lang mit anderen Individuen zerfleischt, bis es »wie
6
1
Kapitel 1 · Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung
durch einen langen Traum« wieder in die alte Bewusstlosigkeit zurückfällt. »Die Welt, ein Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehen, dass eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Tier das lebendige Grab tausend anderer [ist]«. Schopenhauer fordert als Konsequenz eine tief empfundene Ethik des Mitgefühls, bei der die Grenzen zwischen den einzelnen Individuen, die eigentlich durch einen schroffen Egoismus geschaffen werden, ausgeglichen, gemildert und erträglich gemacht werden. Die Vorstellung des Leidens anderer aus dem eigenen Erleben heraus soll zum Mit-Leiden führen und dadurch das Getrenntsein alles Existierenden bis zu einem gewissen Grad aufheben. Ähnlich erklärte Buddha in der ersten Darlegung seiner Lehre im Gazellenhain von Isipathana bei Benares das Erlebnis des Leidens zum universellen Prinzip, das allen empfindenden Wesen gemeinsam ist, und erhob das Mitgefühl mit der leidenden Kreatur zur höchsten Tugend. Auch in der Existenzphilosophie, besonders bei Camus, wird diese Haltung gegenüber den anderen in den Mittelpunkt gestellt. Die Einsicht in das Fehlen jeden tiefen Grundes menschlicher Existenz, in die Sinnlosigkeit unserer täglichen Gewohnheiten und in die Nutzlosigkeit des Leidens bringt die Menschen in eine unerwartete Nähe zueinander. Doch Camus geht in seiner Analyse der menschlichen Existenz noch weiter: Der Mensch wird gerade durch die Absurdität der Welt, in der er lebt, fähig, seine wahren Rechte zu erkennen. Er hat das Recht, sich mit der eigenen Dunkelheit zu konfrontieren, die eigene Hölle zu wählen, und erhält dadurch eine königliche Macht. Darin bestehe auch, so meint er, die verschwiegene Freude des Sisyphos. Die Götter hatten Sisyphos dazu verurteilt, unablässig einen Felsbrocken einen Berg hinaufzurollen, von dessen Gipfel der Stein von selbst immer wieder hinunterrollt. Sie wollten ihn bestrafen und dachten, es gebe keine fürchterlichere Strafe als eine unnötige und aussichtslose Arbeit. Doch Sisyphos
machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Er machte das Schicksal, das die Götter ihm auff erlegen wollten, zu dem seinen. »Der absurde Mensch sagt Ja, und seine Mühsal hat kein Ende.« Doch gleichzeitig schärft uns Camus ein, wir hätten uns Sisyphos als einen freien und deshalb glücklichen Menschen vorzustellen. Im schroffen Gegensatz zu dieser Haltung steht die Verarbeitung des Pessimismus, die Horstmann als »anthropofugale Perspektive« bezeichnet hat. Hier geht der Mensch auf Distanz zu sich selbst und zu anderen, steigt aus dem Gebot der Sympathie gegenüber der eigenen Gattung aus und ist geradezu darauf versessen, alle Bindungen zu kappen. Der böse Gott. Cioran, der diese Position am ex-
tremsten vertritt, zieht, was den Wert des Lebens betrifft, eine ähnliche Bilanz über den Wert des Lebens wie Schopenhauer, hat aber einen anderen Schuldigen ausgemacht: den bösen Gott. »Die kriminelle Aufforderung der Genesis, ›wachset und vermehrt euch‹, konnte nicht aus dem Mund des guten Gottes kommen. ›Seid selten‹, hätte er vermutlich empfohlen, wenn er mitzureden gehabt hätte.« Gegen den wahren Schöpfer aber, einen niederen und viel beschäftigten Gott, den Veranlasser der Ereignisse, und gegen die ganze Menschheit lässt er seine Galle rinnen: »Wie sehr ist mir, Herr, die Schändlichkeit deines Werkes verhasst und dies klebrige Gewürm, das dich beweihräuchert und dir so ähnlich sieht. Indem ich dich hasse, gehe ich dem Zuckerwerk deines Reiches, dem Gefasel deiner Hampelmänner aus dem Weg.« Cioran bleibt dem Grundsatz treu, niemandes Komplize zu sein, vor allem nicht der seiner selbst, und fasst das, was wir auf dieser Welt bewirken können, mit den Worten zusammen: »Ob wir nun die Arme kreuzen oder das Schwert ziehen, auf diesem Schlachthof ist beides gleichermaßen vergeblich.« Depression. Eine solche tief greifende Überzeu-
gung von der Ineffektivität jeglichen Tuns kann,
7 1.2 · Struktur der zwanghaften Persönlichkeitsstörung
wenn es dringend geboten wäre, in das eigene Leben aktiv einzugreifen, zu dem seelischen Kataklysmus führen, den wir Depression nennen. Angesichts der Erlebnisse des Verlustes, des Schmerzes und der Krankheit oder bei der Enttäuschung über unsere unerfüllten Wünsche kommt es dann zu einem totalen inneren Kollaps. Dabei wird nicht nur die Welt als kränkend, ja feindselig angesehen, sondern das eigene Ich wird als nutzloser Knäuel aus Versagen, Angst, Schuld und Hoffnungslosigkeit erlebt. Der Depressive macht also sich selbst zum Schuldigen für das Elend seiner Welt und damit derr Welt. Er zerfleischt sich dafür mit einer Energie, die ihm bei allen anderen Unternehmungen abhanden gekommen ist, besonders bei solchen, durch die er seine eigene Lage zum Besseren wenden könnte. Er verharrt dann wie Shakespeares Richard der Dritte in unversöhnlicher Feindschaft mit sich selbst: »Ich verbünde mich mit der düsteren Verzweiflung und will der ärgste Feind der eigenen Seele sein.« Wie erschöpft von diesem Wüten richtet der Kranke – so müssen wir ihn nennen – einen letzten Hilfeschrei an die anderen, aber gleichzeitig ist ihm schmerzlich bewusst, dass er sie nicht mehr erreicht. Der Schweizer Schriftsteller Hermann Burger schilderte kurz vor seinem Suizid dieses Sterben bei lebendigem Leibe: »Alles lastet so schwer auf der Seele, dass sie eingeht wie eine verdurstende Pflanze. Hat denn kein Mensch auf diesem verkrüppelten Planeten ein Einsehen? Nein, niemand will diese Wüste mit mir teilen, ich bin allein Herr des knirschenden Sandes, der alle meine Gefühle und Gedanken erstickt. [...] Der [...] Depressive ist der Ausgestoßene der Schöpfung, [...] für die Hinterbliebenen ist er bereits gestorben, hinter geschlossenen Jalousien hört er, wie sie über seinen Nachlass verhandeln«. Und schließlich: »Zu Asche sollt ihr werden, denn nirgendwo steht verbrieft, der Mensch habe ein Anrecht auf ein Quäntchen Glück.« Zuletzt verdrängt das »Gefühl der Gefühllosigkeit«, das innere Nichts, alle anderen Regun-
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gen. »Alle Straßen münden in schwarze Verwesung«, klagt Trakl.
1.2.2
Hypermoralität und Anstrengung
Der Depressive fühlt sich als Versager, verantwortlich für das Elend der Welt, und versucht, seine Schuld durch eigenes Leid zu tilgen. Der Zwanghafte hingegen stellt sich auf demselben Hintergrund einer pessimistischen Weltanschauung ein Leben lang die Aufgabe, nichtt schuldig zu werden. In einer Welt, in der Menschen ständig Gefahr laufen zu straucheln, wird sein Leben zu einer einzigen Prüfung, die er um den Preis einer permanenten Anstrengung zu bestehen versucht. Verkürzt kann man sagen, die zwanghafte Persönlichkeit sei in einem permanenten Kampf mit dem eigenen Gewissen begriffen. Das Gewissen ist die Wahrnehmung von der Verwerflichkeit bestimmter Wunschregungen. Haben wir trotzdem verurteilte Wünsche in die Tat umgesetzt, so erleben wir dies als Versagen, das von einem schmerzhaften Gefühl, dem Schuldbewusstsein, begleitet wird. Es geht einher mit einer deutlichen Verminderung des Selbstwertgefühls und mit Buße oder Wiedergutmachungsbestrebungen. Sie haben zum Ziel, das von uns angerichtete Unheil aus der Welt zu schaffen. So soll der Anschluss an die menschliche Gemeinschaft wiedergefunden werden. Das Gewissen ist also vor allem eine strafende Instanz. Es wird ergänzt durch das Ich-Ideal. Damit ist die innere Vorstellung gemeint, wie man sein soll. Das Ich-Ideal enthält die von den Eltern übernommenen gesellschaftlichen Werte, Normen und Ideale und belohnt jede Haltung, die ihm entspricht, mit Zufriedenheit und Stolz. Ideale und Normen. Alle Autoren, die sich mit
der zwanghaften Persönlichkeitsstörung beschäff tigt haben, stellen übereinstimmend fest, dass bei ihr die Ideale besonders hoch gesteckt sind. Die
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Kapitel 1 · Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung
Strafen, die das Gewissen bei Übertretungen über die eigene Person verhängt, sind besonders hart. Bezüglich der Ansprüche des Ich-Ideals kann man geradezu von Hypermoralität sprechen. Sie wird durch eine Erziehung vermittelt, bei der zumindest ein Elternteil eine übermäßige Kontrolle über das Verhalten des Kindes ausübt. Starke Sanktionen werden verhängt, wenn das Kind in einer Art agiert, die nicht absolut mit den Moralvorstellungen des Erziehers übereinstimmt. So wird es ihm unmöglich, eine separate Identität, d.h. auch autonome moralische Ideale, zu entwickeln. So wird der Erwachsene später sein ganzes Leben in enger Anlehnung an die übernommenen elterlichen Normen verbringen. Diese können ergänzt werden durch die Gebote von »Elternersatzpersonen« wie Vorgesetzten, religiösen oder politischen Führern. So entsteht ein überangepasster Charakter mit einem starken Hang zu Konformismus, Untertanengeist bis hin zu blindem Gehorsam gegenüber Autoritäten jeglicher Art. Das gesamte Verhalten wird von inneren Leitsätzen regiert wie: »Es gibt in jeder Situation nur eine Art, sich richtig zu verhalten. Sie muss unbedingt eingehalten werden.« Oder: »Ich muss unbedingt jeden Fehler vermeiden, sonst habe ich keinerlei Anrecht mehr darauf, von mir oder von anderen geachtet zu werden.« Menschenbild. In der Lebenshaltung der zwang-
haften Persönlichkeit bezieht sich der Pessimismus vor allem auch auf die Natur des Menschen. Demnach neigt der Mensch grundsätzlich dazu, schlecht zu sein. Bei dem Menschenbild zwanghafter Persönlichkeiten, also bei der Beurteilung der anderen und der eigenen Person, stehen Fehler im Vordergrund: Menschen sind feige, faul, triebhaft und unbeherrscht. Alles, was »von innen« kommt, aus der Tiefe der eigenen Seele, also Gefühle, Triebe und Bedürfnisse, riecht geradezu nach Schwefel. Es muss mühsam in ein äußerst enges moralisches Korsett geschnürt werden. Nur so kann aus dem Menschen ein
halbwegs brauchbares Wesen werden. Das impliziert für den Zwanghaften eine permanente Anstrengung, will er vor sich selbst bestehen. Arbeit. Darin liegen auch die Wurzeln seiner Ein-
stellung zur Arbeit. Sie verkörpert den Ernst des Lebens schlechthin, ohne sie gibt es keine Daseinsberechtigung. Dabei werden Tätigkeiten bevorzugt, die eine möglichst exakte Handhabung verlangen. Das Rückgrat ist das heilige Schema: Listen, Tabellen, Zahlenreihen, Diagramme und, wenn irgend möglich, Paragraphen disziplinieren auf Schritt und Tritt den zum Abschweifen neigenden Geist und weisen die Frivolität der Phantasie aufs Entschiedenste in die Schranken. Nur die kleinste Lücke, und es droht der Einbruch des Dionysischen in die Einkommensteuererklärung. Bei der Pflichterfüllung, denn sie ist das höchste Gebot, bedarf es keiner applaudierenden Zeugen. Rechte Gesinnung, Ausdauer und Fleiß sind an sich Belohnung genug, wenn auch das Herz dabei ergraut. Diese Haltung kann sich neben der eigentlichen Arbeit auch bis auf die alltäglichsten Banalitäten ausdehnen. Kaum etwas lässt sich leicht, unbeschwert oder entspannt bewerkstelligen. Alles ist Prüfung, Heimsuchung oder wäre Anlass unterzugehen. Schon beim Aufstehen die rechten Gedanken haben, bei der Morgentoilette optimale Hygiene üben, aber sich nicht der Verweichlichung hingeben. Nur eine Krawatte kann die richtige für die heutige Konferenz sein, aber welche ist es? Exakt das Frühstück dosieren, um die optimale Leistungsfähigkeit zu garantieren, beim Nachrichtenhören Wichtiges von Unwichtigem trennen, die Katze gebührend behandeln, aber nicht verwöhnen. Der Abschied von zu Hause hat so zu sein, dass den Pflichten als Familienvater Genüge getan wird, aber trotzdem soll ein Tadel für die Unruhe beim gestrigen Abendessen zum Ausdruck gebracht werden. Und so geht es endlos weiter. Der Tag ist noch jung, aber schon endlos die Zahl der möglichen Stolpersteine, die Anzahl der zu treffenden Ent-
9 1.2 · Struktur der zwanghaften Persönlichkeitsstörung
scheidungen von ganz prinzipieller Bedeutung und großer Tragweite. Auf seinem Sterbebett fragte sich der Grammatiker Plötz: »Soll ich sagen, ich sterbe, oder muss ich sagen, ich liege im Sterben?« Da ihm die Entscheidung schwerfiel, starb er lieber.
1.2.3
Kontrolle
Der Pessimist hat mehrere Möglichkeiten, mit den für ihn im Vordergrund stehenden dunklen Seiten des Lebens umzugehen. Camus hat uns in seiner Deutung des Sisyphos-Mythos dazu angeregt, uns den Mitleidenden zuzuwenden und gemeinsam mit ihnen der Absurdität des Daseins die Stirn zu bieten. Andere fliehen voller Abscheu vor der Welt und vor den Menschen, weil sie zutiefst von der Nutzlosigkeit menschlicher Werke überzeugt sind. Was ihnen bleibt, ist einzig ihre Wut, zu einer Existenz gezwungen zu sein, die ihnen wie eine unerträgliche Zumutung vorkommt. So wird ihr Hohn denjenigen gelten, die sich dumpf damit abfinden oder sich gar dem Delirium der Hoffnung hingeben. Gehören pessimistisch veranlagte Menschen zusätzlich zu denen, die für die Kränkungen des Daseins besonders empfindlich sind, weil sie Pläne, Wünsche und Hoffnungen hegen, ganz im Sinne der Menschengeschäfte, so vermag sie ein ungünstiger Lauf der Dinge in die innere Katastrophe der Depression zu stürzen. Das geschieht vor allem dann, wenn sie keine Möglichkeit sehen, ihre Situation aktiv zum Besseren zu wenden. Der Zwanghafte geht unbewusst einen anderen Weg, doch dieser ist deutlich in der Struktur seines Charakters angelegt. Jeder Mensch benötigt Regeln, um sein Leben zu bewältigen, und vor allem benötigt er sie, um mit anderen zusammenzuleben. Bei Zwanghaften ist dieses Regelwerk besonders eng geknüpft und beherrscht ihr Leben mit einer Intensität, die weit über das hinausgeht, was wir bei anderen Persönlichkeitstypen feststellen.
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Ordnung und Chaos. Der Zwanghafte arbeitet
ständig an seiner Lebensaufgabe. Sie besteht darin, nicht zu den Verwerflichen und Versagern zu gehören, die für alles Elend dieser Welt verantwortlich sind. Das geschieht um den Preis einer permanenten Anstrengung und vieler Entsagungen. Diese kommen ihm allerdings umso weniger schmerzlich vor, je mehr es ihm gelingt, sie als Anzeichen seiner Tugendhaftigkeit umzudeuten. Halt geben ihm bei seiner Aufgabe einfache Verträge mit sich selbst in Form von Gewohnheiten. Sicherheit versucht er aus der ständigen Überwachung und Bewertung seiner Gedanken, Gefühle, Wünsche und Verhaltensweisen zu ziehen. Unmissverständlich müssen die Gesetze sein, denen er sich unterwirft. Seine Ziele haben ihn über jedes Mittelmaß zu erheben, und sein Gewissen muss gnadenlos wüten, wenn er ihnen nicht gerecht wird. Denn, so würde der Zwanghafte formulieren, der Mensch ist ein wildes Tier, das permanent gezähmt werden muss. Jeder Tag ist eine Aneinanderreihung von Prüfungen, bei denen es ums Ganze geht, denn das Leben ist kein Spaß. Auf seinem dornenreichen Weg schließlich hat er unter Einsatz aller, aber auch aller Mittel dafür zu sorgen, dass die anderen, Familie oder Mitarbeiter, Nachbarschaft oder Volksgemeinschaft, genauso wenig vom Pfad der Tugend abweichen. Die wahre Menschenliebe hat hart, kompromisslos und hundertprozentig effizient zu sein. Schließlich muss auch die materielle Welt ständig daraufhin überprüft werden, inwieweit sie noch in Ordnung ist, soll sie ihn doch bei seinen Werken – der Bewältigung seines Daseins und dem Dienst an der Menschheit im Allgemeinen – nicht stören. Zur Ordnung gehört auch, dass Bewährtes bewahrt wird. Was einmal nützlich war, kann es immer wieder sein. Sich von Altem trennen hieße dem Neuen vertrauen. Wer wäre so unbelehrbar und leichtfertig? Was gut genug war, soll es plötzlich nicht mehr sein? Mich befriedigt alles, was sich stapeln lässt. Eingeordnetes und Verbuchtes, das will ich mir bewahren.
10 Kapitel 1 · Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung
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Quirliges gehorcht nicht dem Gesetz, es windet sich und widerstrebt dem Geist. Um mich sei die Burg, ich kenne alle Zinnen. Entscheidungsqual. Der Burg jedoch droht manchmal höchste Not: Die Zinnen wanken. Was ansteht, heißt wohl Entscheidung. Entscheidungen verlangen ihrer unsäglichen Natur zufolge, dass etwas aufgegeben werden muss um einer anderen Sache willen. Somit ist alles sonnenklar. Wir wählen das Bessere. Doch halt: Ist hier nicht Vorsicht bis zum Gehtnichtmehr geboten? Wie war das einst, als ich mich für den Regenschirm entschied und dann keine Spur von Regen fiel? Nur Unannehmlichkeiten, in der Tat. Den Regenschirm im Zweifel also unbedingt zu Hause lassen? Doch halt und nochmals halt! Wenige Tage danach verfuhr ich so und wurde nass. Was also ist zu tun? Klären, klären, nochmals klären, bis die Sache sicher ist. Wie kläre ich? Der Wetterbericht? Unzuverlässig. Das eigene Gefühl? Es schwankt und droht sogar zu täuschen. Was ist zu tun? Wen fragen? Ist jemand kundig und überhaupt erreichbar? Unannehmlichkeiten sind nicht zu ertragen, Nasswerden macht den Körper krank. Sicherheit tut not. Doch wie und wo? Ich sinne, und der Tag vergeht. Möge morgen alles klarer sein, um der gequälten Seele willen. Kontrolle nach innen, Kontrolle nach außen, Kontrolle ist das Maß aller Dinge. In einer Welt, in der die Unbändigkeit des Seins eine ständige Gefahr bedeutet, in der alles zerfließen will und in der die Zeit ständig das gestern Gefestigte zu zerstören droht, ist die Kontrolle das einzige Mittel, das der Auflösung Einhalt gebieten kann. Da es nur eine in der Vergangenheit bewährte Art gibt, durchzukommen, und Experimente ein unerträgliches Risiko bedeuten würden, muss alles bis ins Kleinste mit den eigenen Vorstellungen übereinstimmen: Es gibt nicht mehrere mögliche Ordnungen, sondern die Ordnung und das Chaos. Auch wenn ein Mensch schon lange gescheitert ist und sich immer mehr vom wirklichen
Leben entfernt hat, versucht er noch so lange wie möglich eine Art Ordnung aufrechtzuerhalten, auch wenn sie die Form von sinnlosen Ritualen angenommen hat und zu einer Karikatur des Lebens geworden ist. Der Pedant, der nicht arbeiten kann, wenn seine Bleistifte nicht millimetergenau angeordnet auf dem Schreibtisch liegen, ist nicht bloß jemand, der sich nach der Sicherheit seiner bewährten Welt sehnt. Der Bleistift-Zurechtrücker ist jemand, dessen Ich sich auf der Stelle auflöst, wenn der Teil der Welt, den er mühsam dem Geist unterjocht hat, wieder ins Gebrodel der Strukturlosigkeit zurücksinkt. Es geht auch auf der Schreibtischplatte um Himmel und Hölle, um Rettung oder Verdammnis.
1.2.4
Sorge
Wer sein Leben von einer quasi lückenlosen Kontrolle abhängig macht, muss annehmen, alles sei potenziell kontrollierbar. Wie ist es darum bestellt? Da ist einmal der Versuch, sich ständig so unter Kontrolle zu halten, dass man in jedem einzelnen Fall den eigenen Ansprüchen genügt. Sicherlich gibt es Menschen, die über weite Strecken ihres Lebens ein gutes Gewissen haben, dabei in der Lage sind, Fehler einzugestehen, eventuell Lehren daraus zu ziehen und sich im Wesentlichen so anzunehmen, wie sie sind. Aber aus diesem Holz ist der Zwanghafte nicht geschnitzt. Sein Gewissen ist empfindlicher als das aller anderen. Es ist im Wesentlichen darauf ausgerichtet, jeden noch so kleinen Fehler zu vermeiden. Dabei können Schuldgefühle auch dann auftreten, wenn keine Schuld im eigentlichen Sinne vorliegt, sondern bloß eine Fehlleistung. Der Schweizer Psychologe Piaget hat in einer Reihe spannender Untersuchungen die Entstehung und Entwicklung moralischer Urteile bei Kindern untersucht. Wonach beurteilen sie, ob eine Haltung moralisch gut oder verwerflich ist?
11 1.2 · Struktur der zwanghaften Persönlichkeitsstörung
Jüngere Kinder beurteilen eigene oder fremde Handlungen in erster Linie nach deren Konsequenzen: Ein Kind, das fünf Teller zerbrochen hat, hat schlechter gehandelt als ein anderes, das nur drei zertrümmert hat. Wenn sie älter sind, urteilen sie vor allem nach der Motivation oder Absicht des Handelnden: Wenn einer ungeschickt ist und fünf Teller fallen lässt, so ist seine Tat weniger verwerflich als die eines anderen, der aus Wut absichtlich einen Teller an die Wand wirft. Remanenz. Zwanghafte sind auf dem Hintergrund
ihrer Überzeugung von der Schlechtigkeit der Menschen nicht so schnell bereit, bloßes Missgeschick oder sogar lautere Absichten gelten zu lassen. Ab einer gewissen Ausprägung der Zwanghaftigkeit verfahren sie auch mit der eigenen Person so. Abweichungen werden schwerlich toleriert, und die Zukunftserwartung ist durchweg pessimistisch. Jede Fehltat muss gravierende Folgen haben, denn die Ordnung der Welt wurde gestört, und dafür gibt es kein Pardon. Somit ist die Schwelle dafür, andere und vor allem sich selbst für schuldig zu halten, außerordentlich niedrig. Der Psychiater Tellenbach hat für diesen quasi permanenten inneren Zustand der Beunruhigung den Begriff »Remanenz« geprägt. Er versteht darunter das quälende Gefühl, hinter dem Selbstanspruch zurückzubleiben, fast unabhängig davon, was man gerade wirklich getan hat. Es ist ein ständiges Gefühl des Schuldens gegenüber den Forderungen an sich selbst. Damit kommen wir zu einer scheinbar paradoxen Beobachtung: Je tugendhafter ein Mensch ist und je mehr er sich bemüht, dem gerecht zu werden, umso häufiger und leichter treten Schuldgefühle auf. Wer durch gnadenlose Kontrolle des eigenen Selbst versucht, mit seinem Gewissen ins Reine zu kommen, muss scheitern. Dieses Unterfangen ist selbstquälerisch und letzten Endes aussichtslos, auf jeden Fall ist es ein permanenter Grund zur Sorge. Hypochondrie. Diese Besorgtheit um sich selbst
betrifft beim Zwanghaften oft auch den eigenen
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Körper. Ihm ist das Vitale als solches schon immer suspekt gewesen, zeigt es doch eine gewisse animalische Unbekümmertheit gegenüber seinen Überwachungsbestrebungen und Kontrollansprüchen. Darüber hinaus manifestiert sich der Körper gelegentlich durch Regungen, die nicht unmittelbar und zweifelsfrei einzuordnen sind – ein zusätzlicher Grund zum Misstrauen. Kommen dann noch die typischen Tendenzen zum bedrohungsorientierten Denken hinzu, so läuft jedes noch so bescheidene Lebenszeichen, etwa ein gelegentliches Drücken, Stechen, Pochen oder Flattern, Gefahr, als sicheres Anzeichen eines jäh einsetzenden Endes interpretiert zu werden. Auf diese Weise kann Hypochondrie entstehen, die älteste Krankheit der Menschheit, wie man sie genannt hat. Der Versuch des Zwanghaften, alles unter Kontrolle zu halten, ist wenig erfolgreich: Er führt zu Besorgnis ohne Unterlass. Das, was abgewendet werden sollte, wird dadurch nur angestachelt. Lückenlose Kontrolle nach außen gelingt auch nicht so recht. Der Zwanghafte ist ständig darauf aus, die anderen an seiner Ordnung der Dinge teilhaben zu lassen. Wer über die Wahrheit verfügt, kann nicht zulassen, dass andere umherirren. Wer weiß, was richtiges Handeln ist, muss seinen Mitmenschen mühsame und oft schmerzhafte Experimente ersparen, und das umso mehr, je näher sie ihm stehen. Es hat eine permanente Erziehung zu erfolgen: Die Natur des Menschen verlangt es, dass man ständig um ihn besorgt ist. An dieser Stelle wäre Gleichgültigkeit ein Verbrechen, der Gedanke, dass Ideen oder Ideale austauschbar seien, der Beginn der Auflösung. Der so heftig Umsorgte allerdings erlebt die ihn bei jeder Gelegenheit treffende Sorge nicht selten als moralische Intoleranz und als Gängelei. Er kann sich aber nur schwer dagegen wehren, weil es ja angeblich um seine eigenen Interessen geht. Schließlich ist es die ganze Welt um ihn herum, die dem Zwanghaften Anlass zur Beunruhigung gibt, denn sie funktioniert nicht immer so, wie er es erwartet.
12 Kapitel 1 · Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung
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Unbill überall. Einer unserer Patienten ist jede Nacht bemüht, den nächsten Tag so zu planen, dass möglichst wenig Spielraum bleibt. Ereignisse, die er »nicht bestellt« hat und die wie Geschosse in seinen millimetergenau geregelten Alltag einschlagen, bezeichnet er seit eh und je als »Unbill«. Er drückt damit die höchste Form der Empörung aus, zu der er fähig ist. Unbill: das Flugzeug über dem Haus, wenn er Zeitung liest; Unbill: der Lichtschimmer einer Straßenlaterne durch die stets geschlossenen Vorhänge; Unbill: der Wasserspritzer auf dem Boden, der minutenlang wütend angestarrt werden will. Der Hausbewohner, der ihm zufällig auf der Treppe begegnet, bringt ihn außer sich. Volle Verachtung verdient der Autobusschaffner, der ihn anschaut, zwingt er ihn doch, zurückzuschauen. Unbill: die Krankheit der Tante, denn er muss dem Onkel gegenüber seinen Genesungswunsch ausdrücken, und dies stand nicht auf dem Programm. Unbill zur Potenz: die Bulette, die der Verkäufer diesmal anders verpackt – auf nichts mehr kann man sich verlassen. Unbill schließlich auch diese Gallenkolik. Es bleiben so viele Zeitungen ungelesen. Wann dies nachholen? Und zusätzliche Arztbesuche werden fällig, jeden Zeitrahmen sprengend. Unbill auf Unbill, wohin er auch blickt, Wechsel und Verfall. Der Lebensentwurf des Zwanghaften verlangt, die Welt so, wie er sie vorfindet, in Ordnungg zu bringen. Dadurch sollen ihre unauslotbaren oder gar aufrührerischen Elemente so abgeschwächt werden, dass er sich sicherer darin fühlt. Nicht mit Vertrauen und Zuversicht macht er sich ans Werk, jedoch mit Ernsthaftigkeit, Ausdauer und im tief empfundenen Gefühl der Verantwortung für sich und für andere. Doch er stößt da an seine Grenzen, wo sein Strukturierungswille und seine Absicherungsideologie an der Lebendigkeit in ihm, in den anderen oder sogar in den Dingen scheitern. An dieser Stelle wird der Geist zum Widersacher der Seele – und unterliegt. Dann wird er von Sorgen überflutet, und er reagiert – hierin liegt die Tragik – mit dem Ver-
such, die Kontrollen zu verschärfen. Die Seele schnürt sich noch mehr ein, er versagt sich den letzten freien Atem. Die eigenen Gesetze werden zur unerbittlichen Privatreligion. Gebote und Verbote, nicht mehr nach Sinn befragt, wuchern krebsartig und verdrängen auch die letzte innere Freiheit. Der Alltag wird zur tausendmal eingeübten, immer gleich abgespulten, seelenlosen Pantomime. Das Drehbuch, das für andere verfasst wird, legt jetzt die eigenen Gedanken und Gefühle bis ins Letzte fest. Die Sanktionen, die den Zwanghaften treffen, wenn er es wagt zu improvisieren, fallen immer unmenschlicher aus. Doch wenden wir uns wieder Allan Sandage zu. Er zumindest blickt noch in den Himmel. Aber die Aufgabe, die er übernommen hat (»Nur ich bin übrig«) und mit der er seine Tage und seine Nächte verbringt, hätten die Götter auch Sisyphos stellen können: die Tiefen des Weltalls zu ergründen. Hinter jeder Galaxie, die mühsam erschlossen wird, taucht die nächste auf, und so geht es endlos weiter. Sicher begehrt er immer perfektere Beobachtungsinstrumente, und vielleicht sind ihm alle Mittel recht, um sie zu erlangen. Er kann ja damit in den Himmel blicken, ihn sogar vermessen und die Ergebnisse schön säuberlich notieren. Aber vielleicht lauern vor immer mächtigeren Teleskopen auch die Pforten der Hölle.
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Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung: drei Beispiele
1.3.1
Alltag als Heimsuchung
Das Leben ist eine Anstrengung, die einer besseren Sache würdig wäre. Karl Kraus
Es ist 23.30 Uhr. Das Haus ist einigermaßen ruhig, wenig Verkehr draußen. Keine Flugzeuge mehr. Ein wenig Licht schimmert durch die verschlossenen Gardinen (Unbill!). Trotzdem: Die
13 1.3 · Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung: drei Beispiele
relative Gunst der Stunde ist zu nutzen. Er spricht: »Nun legt er sich hin.« Aber er legt sich nicht hin, denn dann spricht er: »Nun fängt er an. Und er fängt an, dieselbe Abfolge wie jeden Tag, 365-mal im Jahr, seit vielen, vielen Jahren. Er fängt an mit dem Rückblick auf den vergangenen Tag, den 13. Mai, und fragt sich: 1. Wie lange auf gewesen? 2. Wie lange ferngesehen? 3. Welche Sendungen gesehen? 4. Wer ist in den Sendungen aufgetreten? 5. Wie lange Radio gehört? 6. Was gehört? 7. Mit wem tagsüber gesprochen? 8. Was habe ich gesagt? 9. Was haben die anderen gesagt? 10. Besondere Vorkommnisse? 00.15 Uhr: Er spricht: »Er hat den Rückblick gemacht. Nun bereitet er die Vorschau auf den 14. Mai vor.« Er geht in die Küche und beginnt eine Bestandsaufnahme der vorhandenen Lebensmittel, die er einzeln repetiert. Dann macht er den Einkaufszettel, denn morgen ist, wie zweimal pro Woche, Einkaufstag. Er kommt auf 18 Artikel, die einzukaufen sind. Dann wiederholt er die Liste dreimal hintereinander im Kopf, Artikel für Artikel, immer in derselben Reihenfolge. 00.48 Uhr: Er hat den Einkaufszettel geschrieben. Kostenpunkt: 46,48 Euro, denn er kennt die Preise auswendig. Welche anderen Geldausgaben stehen für den nächsten Tag an? Eine Musik-CD: 9,90 Euro, das Fahrgeld: 2,20 Euro, eine Zeitung: 1,00 Euro. »Nun disponiert er.« Das Geld wird der »Kasse« entnommen. Er legt 3 Euro für die Fahrkarte bereit. Der Rest beträgt 0,80 Euro. Er legt 45,68 Euro bereit. Mit dem Restgeld ergibt das den Preis der Lebensmittel. 1 Euro für die Zeitung und 10 Euro für die CD werden entnommen. Restbetrag von der CD: 0,10 Euro. Da er immer 10 Euro als Reserve mitnimmt, sind 19,90 Euro bereitzulegen, ergibt mit dem Restgeld vom Kauf der CD 20 Euro. Das Disponieren endet damit, dass die Rechnung dreimal im Kopf nach-
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vollzogen und die Frage geklärt wird, welcher der mitzuführenden Geldbeträge in welcher Tasche untergebracht wird. 01.12 Uhr: Er beginnt mit der Vorschau auf den nächsten Tag (14. Mai). Er legt sich wirklich hin. Alle Punkte werden lediglich im Kopf aufgezählt oder halblaut gemurmelt. Zuerst das Vorprogramm: 1. Wann aufstehen? 2. Was anziehen? 3. Was muss in den Abfall? (Er versucht sich zu erinnern, was im Mülleimer enthalten ist) 4. Was könnte morgen an Post kommen? 5. Welchen Pudding zum Frühstück, Erdbeere oder Banane? 6. Was ist zu erledigen? Aufzählen. Lebensmitteleinkaufsliste zweimal im Kopf wiederholen. 7. Festlegen der genauen Route (Verkehrsmittel mit Minutenangabe beim Umsteigen usw.) 01.42 Uhr: Das Vorprogramm ist erledigt. Er beginnt mit dem Programm. Die Schritte des Tages werden einzeln mündlich aufgezählt – mit Zeitangaben. 12.10 Uhr: »Erheben«. 12.20 Uhr: Morgentoilette, Frühstück (Banane) und Anziehen. Alle Operationen werden einzeln aufgezählt. 12.50 Uhr: Presseschau im Fernsehen. 13.00 Uhr: Videotext-Tafeln. 13.20 Uhr: Sendungen aussuchen und Videogerät dafür programmieren. 13.50 Uhr: Festlegen, wann gelüftet werden soll. 13.55 Uhr: Mülleimer leeren. Vorher möglichst vergegenwärtigen, was er enthält. 14.03 Uhr: Einkaufsliste einmal im Kopf wiederholen. 14.06 Uhr: Überlegen, wann noch einmal auf die Toilette zu gehen ist. 14.08 Uhr: Den heutigen Weg zur S-Bahn genau festlegen. 14.12 Uhr: Festhalten, wo heute die Berliner Zeitung gekauft wird. Festhalten, vor welchem
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Laden die Schlagzeilen der Bildzeitung gelesen werden (beide Läden dürfen nicht identisch sein). 14.15 Uhr: Endgültig anziehen. 14.20 Uhr: Einkaufsliste einmal im Kopf wiederholen. 14.25 Uhr: Post holen und ungesehen ablegen. 14.30 Uhr: Zehn Minuten fernsehen und fünf Minuten Schlager einer bestimmten Sängerin anhören (Mutmacher). 14.45 Uhr: Überlegen, wem er auf der Treppe und im Flur begegnen könnte. 14.50 Uhr: Er verlässt das Haus. 15.18 Uhr: Einstieg in die S-Bahn. Festlegen, ob heute Fahrgäste angeblickt werden sollen oder nicht. 15.49 Uhr: Ankunft S-Bahn. 15.50 Uhr: Fußweg zu Dr. X. 16.00 Uhr: Ankunft Praxis Dr. X. 16.58 Uhr: Verlassen Praxis Dr. X. 17.03 Uhr: Ankunft S-Bahn. Festlegen, wie die Wartezeit überbrücken. Heute: auff und abgehen. 17.21 Uhr: Einstieg in S-Bahn. Festlegen, ob heute Fahrgäste angeblickt werden sollen oder nicht. 17.52 Uhr: Ausstieg aus der S-Bahn. 17.55 Uhr: Currywürste zum Mitnehmen einkaufen. Festlegen, was zum Verkäufer sagen, wenn a) keine Leute vor dem Stand, b) 1 bis 3 Personen vor dem Stand und c) mehr als 3 Personen da sind. 18.05 Uhr: Weg zum Supermarkt. Einmal Aufsagen der Einkaufsliste im Kopf. Das Original ist in der Westentasche, wird aber nur im Notfall konsultiert. 18.30 Uhr: Einkauf beendet. »Heimmarsch«. 18.46 Uhr: Ankunft zu Hause. Erstes Auspacken. 19.00 Uhr: Fernsehprogramm zum ersten Essen aussuchen. Essen der Würste. 19.25 Uhr: Telefonat mit Y führen. 19.30 Uhr: Beendigung des ersten Essens mit Fernsehen. Zweite Auspackaktion. 19.50 Uhr: Ende der zweiten Auspackaktion. Erstes Kontrollieren der Kassenbons.
20.15 Uhr: Erstes Disponieren für den nächsten Tag. 20.30 Uhr: Erste vorläufige Rückschau auf den bisherigen Tag: Was gesagt, mit wem gesprochen usw. 20.50 Uhr: Beginn des offiziellen Fernsehprogramms. Bei schon laufender Sendung vorher Inhaltsangaben im Programmheft lesen. 22.10 Uhr: Zweites Essen bereitlegen. 22.20 Uhr: Zweiter Teil des Fernsehprogramms. 23.30 Uhr: Rückblick, Vorprogramm und Programm für den nächsten Tag. 03.00 Uhr (ca.): Ab der Beendigung »Feierabend«. Schlager hören, Zeitung lesen usw. 05.30 Uhr: Wiederholen des Programms (Schnelldurchlauf). 06.00 Uhr: Schlafen legen. Nun ist das heutige Programm beendet, die Rolle für den nächsten Tag ist einstudiert. Ohne das geht es nicht. Er hat dann einigermaßen das Gefühl, den nächsten Tag im Griff zu haben. Der Kopf ist halbwegs frei, der Feierabend kann beginnen. Doch schon lärmen die ersten Lastwagen auf der Straße (Unbill!), bald kommt das Licht, dann wird es Zeit, sich schlafen zu legen. Nein, dieses Licht, jedes Mal aufs Neue dieses Licht. Pflicht und Kür. Unser Leben besteht aus Tagen
und jeder Tag sozusagen aus Pflicht und Kür. Die Pflichten werden entweder von außen gegeben, wie die Termine einer beruflichen Tätigkeit, oder sie ergeben sich aus dem geregelten Zusammenleben mehrerer Menschen. Andere mehr oder weniger feststehende Termine fordert der eigene Lebenserhalt: sich ernähren, pflegen, schlafen gehen etc. Sie verlangen zumindest eine gewisse Regelmäßigkeit. Freie Zeit hingegen ist die, über die ich mehr oder weniger nach eigenem Gutdünken verfügen kann. Ohne eine gewisse Regelmäßigkeit in der Zeiteinteilung geht es also nicht. Auch ganz ohne Gewohnheiten kommt niemand aus. Sie geben uns Halt, ersparen uns, permanent neue Entscheidungen treffen zu müssen, und bil-
15 1.3 · Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung: drei Beispiele
den sozusagen das feste Gerüst, um das herum dann freiere Momente wie Improvisationen, Experimente oder mehr vom Gefühl bestimmte Unternehmungen ohne allzu großes Risiko möglich sind. Auch das Vorausplanen über bestimmte Zeitstrecken hat sich bewährt. Unsicheres und Mühsames kann bis zu einem gewissen Grad eingeübt und dadurch mit einem größeren Gefühl der Sicherheit angegangen werden. Der bei der Planung vorweggenommene Wechsel von Anstrengung und Entspannung stimuliert die Motivation und zeigt das Leben vielleicht auch von seiner weniger strengen Seite. Programmierte Zeit. Am vorangegangen Bei-
spiel sehen wir, was aus einer solchen durchaus vorteilhaften Vorgehensweise werden kann, wenn sie in die Klauen des Zwangs gerät. Wie der Gefängnisaufseher seiner selbst wacht hier jemand über das eigene Leben und bearbeitet auch noch die letzte Sekunde. Mit seinen Gedanken an Vergangenem hängen hat durchaus seinen Reiz oder kann nützlich sein: Angenehmes wird noch einmal hervorgehoben und manches im Rückblick entschärft. Hier beginnt alles damit, dass der vergangene Tag wie auf dem Seziertisch zerlegt wird. Der enzyklopädische Virus hat alles befallen: Wie lange, mit wem, welche Wörter (nur keines vergessen!) gingen durch Mund und Ohr? Nur so, schön säuberlich zerteilt, gilt der Tag als gelebt und kann abgehakt werden. Sicherungen gegen Gefahren von innen und außen sind möglich durch das Katalogisieren von Vergangenem, aber vor allem durch das Programmieren und Durchexerzieren der Zukunft. Die Zeit des nächsten Tages wird griffbereit zurechtgelegt; nur in dieser verbrauchsfertigen Welt ist eine schnelle und effiziente Erledigung gewährleistet. Die Schrittfolge wird genau festgelegt und dann auf dem nächtlichen Lager, Exerzierplatz der Verängstigten, abgegangen – auf und ab, auf und ab. Dabei wird kein Unterschied gemacht zwischen Wichtigem und weniger Wichtigem, zwischen der großen Tat und der Routine. Alles ist gleich
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bedeutend, denn es hat denselben Imperativen zu gehorchen. Der erste ist die reine Zweckmäßigkeit. Kein Firlefanz und kein Leerlauf. Das, was Adorno über die Wirkung der industriellen Maschine auf den Menschen gesagt hat, gilt auch von der inneren Maschine, die scheinbar den Zwanghaften antreibt: »Sie macht die Gesten präzise und roh und damit die Menschen. Sie treibt aus der Gebärde alles Zögernde aus, alles Bedächtige. In der Bewegung, welche die Maschine verlangt, liegt schon das Gewaltsame, Zuschlagende [...].« Die Gewalt richtet sich hier allerdings gegen die eigene Person. Sie wird unerbittlich vorangetrieben, keine zufallsbedingten Abläufe mehr, Ausmerzung jedes Überflüssigen. Flexibilität wird immer mehr aus dem täglichen Leben verdrängt, Rhythmus gilt als Störung. Das zweite Diktat resultiert aus der Inflation des Moralischen, die für den Zwanghaften typisch ist. Die Kakophonie dieser permanenten quasi-moralischen Stimme begleitet ihn auf Schritt und Tritt. Wie muss heute an der S-Bahn gewartet werden? Wann muss gelüftet werden? Was soll ich heute zum Zeitungsverkäufer sagen? usw. Der Kontakt zu Menschen wird wie auf einem Anrufbeantworter vorprogrammiert: Ich will nicht zu Hause sein, aber den Kontakt auch nicht ganz abbrechen. Ich sage meinen Satz. Nun sprich du, aber stelle mich dabei nicht vor unlösbare Aufgaben, und bringe vor allem mein Programm nicht durcheinander. Andere Menschen nehmen langsam, aber sicher die Dimension von Programmpunkten ein. Für ein Gespräch sind zwei Minuten vorgesehen, wenn es möglich wäre, wären es bald nur noch Sekunden. Umgang mit der Zeit: Zuerst wird sie eingeteilt, dann in immer kleinere Stücke gerissen. Irgendwann zerbröckeln diese und rinnen dann schließlich durch die Finger wie Staubkörner. Je kürzer die Intervalle zwischen zwei Phasen der Absicherung, umso kürzer auch die zwischen den Sorgen. Die Spannung wächst mit jedem krampff artigen Versuch, sie auszuschalten. Immer müh-
16 Kapitel 1 · Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung
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samer muss die Rolle gelernt werden, auch wenn es sich langsam um ein Ein-Personen-Stück handelt. Am Ende werden es Texte um nichts, und nur der Chor der Uhrmacher nickt gelegentlich noch müde dazu.
1.3.2
Familienbande
Was lehrtest du uns, Verblichener? Du sagtest stets, wir sollten bescheiden und willig bleiben. Robert Walser
»Abgrübeln«. Herr Schwarz ist leitender Biblio-
thekar, verheiratet, mit einem 14-jährigen Sohn. Er ist ein Mensch, der sowohl seinen Beruf als auch sein Familienleben sehr ernst nimmt. Er legt großen Wert auf eine anständige Lebensführung und ist auch bestrebt, diese Haltung anderen, besonders seiner Familie, nahezulegen. Das geht nicht ohne eine gewisse Konsequenz. So wenig wie mit anderen geht er mit sich selbst lax um. Selbstverständlich verlangt er von sich mehr als von anderen. Herr Schwarz hat eine Morgenzeremonie, die ihm ein fruchtbarer Anfang des Tages zu sein scheint. Er nennt es »das Alphabet abgrübeln«. Er vertritt eine eigene Theorie über die Nützlichkeit der Prozedur. Wenn am Morgen, so behauptet er, bestimmte »Wertzentren« im Gehirn aktiviert würden, »strahlten« sie über den ganzen Tag weiter. Das führe zur Mobilisierung von Kraftreserven und zu positiven Assoziationen, die von den Wertzentren ausströmten. Das »Abgrübeln« des Alphabets geht so vor sich: Herr Schwarz sitzt in aufrechter Haltung auf einem Holzschemel, der nur zu diesem Zweck benutzt wird. Auf einem kleinen Tisch liegt eine Liste mit den Buchstaben des Alphabets. Zu jedem Buchstaben ist ein positiver Begriff zu finden, also ein sogenanntes Wertzentrum anzustacheln. Der Begriff wird mit einer spitzen Stahlfeder hinter den entsprechenden Anfangsbuchstaben geschrieben. Gleich danach wird mit Löschpapier das entsprechende Wort auf dem Blatt »fixiert«.
Weitere wichtige Regeln: Jeder Begriff ist nur einmal im Monat zulässig, »damit die Wirkung möglichst breit streut«. Im Zweifelsfall ist auf den bisherigen Niederschriften des jeweiligen Monats nachzusehen. Die Buchstaben X und Y sind nicht besonders wertzentrumträchtig. X wurde daher zum Symbol für Barmherzigkeit und Großzügigkeit ernannt. Dahinter wird an jedem Tag notiert, welche Untat, die Herrn Schwarz zugefügt wurde, jeweils zu verzeihen ist. Y steht für Entsagung: Die Entsagung des Tages wird auserkoren. Er beginnt: Angelus Silesius, Buße, Cor Christi, Demut, Ehre, Fürsorge ... Und so geht es weiter, jeden Tag aufs Neue. Wenn die Wertzentren zufriedenstellend aktiviert sind, fixiert Herr Schwarz jede Eintragung noch einmal mit dem Löschpapier. Dann legt er das Blatt zu den anderen in die Schublade, steht auf und klopft dreimal an die Wand: das Signal für die Ehefrau, ihm Kaffee einzugießen. Wenn Herr Schwarz dann in der Küche erscheint, dampft der frische Kaffee in seiner strahlend weißen Tasse, neben dem Becher mit dem magenschonenden Kräutertee der Gattin. Sie übrigens hat den Auftrag, irgendwann im Laufe des Tages (»möglichst vor 12 Uhr«) die Liste »durchzuarbeiten« und den Vollzug mit ihrer Unterschrift zu bestätigen. Sorge um die Mitmenschen. Neben jedem Heiz-
körper im Hause Schwarz hängt in einer Klarsichthülle folgende »Dienstanweisung«: »Wärme verschafft uns Behaglichkeit und Schutz, besonders im Winter, vor mannigfachen Krankheiten. Aber sie kann auch zur Verweichlichung beitragen und droht bei unrechtem Verbrauch zu einer nicht zu verkraftenden Geldverschwendung zu führen. Deshalb wünsche ich in unser aller Interesse Folgendes befolgt zu wissen: Die Raumtemperatur darf 18 Grad nie überschreiten (siehe Raumthermometer). Für die Regelung der Temperatur in unserem Hause bin in erster Linie ich verantwortlich. Fühlt sich ein anderes Familienmitglied (etwa in meiner Abwesenheit) bemüßigt, einen Heizkörper zu bedienen, so muss zu-
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erst das jeweilige Raumthermometer geprüft werden. Muss er denn schon höher gestellt werden, so merke: Meist tut es auch ein Strich statt zweien. Beim Gebrauch der Wohnung öfters die Raumthermometer konsultieren. Bei Überschreitung der Höchsttemperatur zurückdrehen. Zu unser aller Nutzen. Gez. Schwarz, Familienoberhaupt.« Er hätte hinzufügen sollen: »Nach Diktat vereist.« Als Herr Schwarz seine Stellung als leitender Bibliothekar antrat, wollte er ein Selbsterforschungsformular einführen, überschrieben mit: »Selbstkritische Reflexionen über meine Verstöße gegen die Dienstordnung«. Einmal im Monat bei der Mitarbeiterbesprechung sollte Autokritik geübt werden (»Das einzig Positive, das die Bolschewiken eingeführt haben!«). Die Mitarbeiter lehnten empört ab. Seitdem hat Herr Schwarz nie wieder an einer Geburtstagsfeier teilgenommen.
1.3.3
M. Stra-B 98
Seht ihr mich über Wiesen ziehen, die steif und tot vom Nebel sind? Seht ihr mich angstvoll drüberziehen? Robert Walser
M. Stra-B 98: mit Straßenbahn 98. So lautet die letzte Eintragung des jungen Matthias, 27 Jahre alt, in seinem Tagebuch. Seit Jahren registrierte er jeden Tag lückenlos die wichtigsten Aktivitäten und Ereignisse. Mit der Zeit wurde seine Schrift immer kleiner und filigraner, bis sie praktisch nur noch mit der Lupe zu lesen war. Je feiner und dünner die zum Schluss nur mehr mit aberwitzig gespitzten Bleistiften machbaren Schriftzüge wurden, desto schöner wurde das Gesamtbild: Geheimnisvolle Zeichen in endloser Folge, bis sie am 30. September jäh abbrachen. Am 30.9.1993 kam Matthias vom Fußballtraining nach Hause (m. Stra-B 98), begrüßte die Eltern, die beim Abendbrot saßen, legte seine Trainingssachen schön ordentlich über einen Stuhl
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und ließ Wasser in die Wanne. Dann schloss er einen Föhn an, vergewisserte sich, dass eine eventuelle elektrische Entladung vom Stecker aus nichts in Brand setzen konnte, legte sich in die Wanne, ergriff den Föhn und warf ihn ins Wasser. Weil er so lange vom Tisch fern blieb, suchten ihn die Eltern schließlich. Er lag tot in der Wanne, ein friedvolles Lächeln auf den Lippen, wie die Eltern berichteten. Vier Monate später suchten sie uns auf und brachten die Tagebücher mit. Sie wollten mit uns über ihren Sohn reden, den wir nicht gekannt haben. Wir veröffentlichen dies auf ihren ausdrücklichen Wunsch. Matthias sei ein ernster, aber freundlicher Junge gewesen, der es mit seinen Pflichten, in der Schule und beim Sporttraining immer sehr genau genommen habe. Er habe ihnen schriftlich Rechenschaft abgelegt über jeden Pfennig, den er ausgegeben habe, obwohl die Eltern das nicht verlangt hätten. Die Akribie seiner Aufzeichnungen sei ihnen oft geradezu merkwürdig vorgekommen. Im Umgang mit anderen sei er eher zurückhaltend, um nicht zu sagen schüchtern gewesen. Er sei immer bemüht gewesen, den Eltern möglichst wenig zur Last zu fallen. »Ich will versuchen, möglichst früh auf eigenen Beinen zu stehen«, habe er gesagt. »Ihr habt genug für mich getan.« Die Tagebücher. Nach dem Abitur, das er ohne
allzu großen Aufwand bestand, schrieb Matthias sich an der Freien Universität Berlin in Meteorologie ein. In den folgenden sechseinhalb Jahren berichtete er den Eltern über ein undramatisches, aber alles in allem erfolgreiches Studium. Er ging jeden Morgen aus dem Haus, im Wesentlichen zur Uni, regelmäßig auch zum Training. Er kam nachmittags zurück, etwas wortkarg zwar, den Studienbetrieb betreffend, gab aber auf Fragen bereitwillig Auskunft. Seine Abschlussprüfung sollte am 1. Oktober 1993 sein. Er würde es schon schaffen, beruhigte er die Eltern. Nach seinem Tod fanden die Eltern die Tagebücher. Aus den Eintragungen ging hervor, dass
18 Kapitel 1 · Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung
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er die Universität seit fünf Jahren bis auf zweioder dreimal nicht betreten hatte. Eine Nachfrage an seinem Institut ergab, dass er nie einen Seminarschein erworben hatte und seit Jahren von niemandem gesehen worden war. »Mittwoch, 29. 09.: 9.40 los 19.00 zu v. m. Schw., l. K. M. s. Bf., s, Schillerpk. m. Theater, Sprembgstr. (Fußg.zone), Alter Markt (sehr gut) u. genauso zur., Tauberts. b. z. Bf. Cottbu. | zur. m. »IR«-Zug ohne Zuschlag b. Bf. Lichtbg (SED»Opa« i. Abteil!) M: Cottbus: Ü Bf Lichtebg zum, v. Bf. Cottb., Stadtbu.-Süd., Stadtring, Stadion, Eliaspl. (m. kl. Eisenb.), Spreeuferweg (östl. i. k V.), Spreewdmühle, Schlachthofs., Bonnaskenpl., Hubertstr., Huz. an. v.S.BSav., Kud.Ma-Arzt Röntg-Photos 9 holt b.n.h. gelauf Ü.Kud.«
Die Eintragungen der letzten Jahre: im Wesentlichen Autobuslinien, U-Bahn- und S-Bahnstrecken, zuerst in Berlin-West, dann in Gesamtberlin, bis ins Umland, auch einmal mit dem Zug bis zur polnischen Grenze. Unablässig unterwegs von morgens bis abends, kurze Aufenthalte, hier der schnelle Besuch in einer Bibliothek, da eine Besorgung für die Mutter und dann wieder Strecken. Ganz selten ein Kommentar, der über die Registrierung der Route hinausgeht (SED-»Opa« i. Abteil!). Dann geht es weiter: »Spreeuferweg (östl. i.kv.), Spreewdmühle, SchlachthofS., Bonnaskenpl.« Der Zug rast, die Zeit auch, die Abkürzungen werden immer zahlreicher, in mehreren Schichten übereinander füllen sich die schmalen Spalten des Kalenders mit den Stationen eines infernalischen Karussells, bis »Stra-B 98«. Matthias nahm es sehr genau mit seinen Pflichten. Sicherlich hat er auch sein Studium mit dieser Einstellung begonnen. Wann und wie er an der Gleichgültigkeit und Einsamkeit des Studienbetriebs gescheitert ist, wissen wir nicht. Er hat mit niemandem darüber gesprochen und auch keine Aufzeichnungen darüber gemacht. Vielleicht hat er zunächst beschlossen, eine Pause von einem Semester oder zwei einzulegen, und es den
Eltern verschwiegen, um sie nicht zu alarmieren. An diesem Punkt wird ein Teil seines Lebens zum Ritual. Jeden Morgen verlässt er als Student das Haus und kehrt am Abend als Student zurück. Kein innerer Zusammenbruch zu dieser Zeit, keine Niedergeschlagenheit, zumindest nichts, was der Familie hätte auffallen müssen. Doch die Pause wird länger und länger. Irgendwann wird er gewusst haben, dass sie endgültig ist. Doch der »Arbeitstag« wird lückenlos ausgefüllt, kein Herumsitzen, er reist. Er reist durch die Stadt und um die Stadt herum. Immer und immer wieder. Sicherheit geben ihm Fahrpläne, denen er sich nun endgültig zuwendet. Sie sind genau. Eine Station folgt der anderen, in der vorgegebenen Reihenfolge, in der Wirklichkeit wie auf dem Papier. Kontrolle erlangt man durch sie, auch über das eigene Leben. Wird jeder Schritt am Abend festgehalten, so ist die Lücke im Tagebuch bis in den letzten Winkel ausgefüllt. Der Tag gilt dann als ordentlich gelebt. Die Beziehung zur Familie ist herzlich. Gelegentlich ein beruhigendes Wort über das Studium, kein Grund, sie vor den Kopf zu stoßen und ein Chaos anzurichten. Matthias mag gedacht haben: Wie undelikat könnte doch Auff richtigkeit sein. Das Arbeitsleben? Immer schnellere und größere Kreise um die Stadt, die S-Bahn rattert, immer größere und schnellere Kreise um das eigene Ich. Fahrpläne sind genau. Auf sie ist Verlass. Sie bringen einen sicher an einen Ort und dann an einen anderen Ort, wo man umsteigen kann zu einem weiteren Ort. Ich komme an, auf mich ist Verlass. Und dann jeden Morgen Aufbruch zu neuen Horizonten. Die anderen, (SED-»Opa« i. Abteil!), nun sind sie Mitreisende. Sie wissen es bloß nicht. Es ist gut, Mitreisende zu haben. Sie sind da, können einem aber nicht in die Seele schauen. Der Zwang, sich zu bewegen, von Ort zu Ort, nirgends lange zu bleiben, hat sich verselbständigt. Die Stationen des Lebens sind Stationen geworden. Ist die Angst an der einen, fahr ich zur anderen.
19 1.4 · Therapie bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung
Wann der Entschluss zum Suizid gefallen ist, wissen wir nicht. »Eine solche Tat«, so Camus, »bereitet sich in der Stille des Herzens mit demselben Anspruch vor wie ein bedeutendes Werk.« Die »Abschlussprüfung« naht, doch alles ist so weit weg. Nichts ändert sich, auch am letzten Tag nicht. »Donnerstag, 30. 09. 12.45 los, (Aussetzer!) z, 913. (m): kurz Dortnstr. Brbg. s. Cecilienpl. m. Stra-B 98 zur bs-Bstr. 6.30. Mu z. Ar,m dabei f. M etw eink.geg./ M.v, S-B Grub., Virchows., K. M.s., Pla Babelsbg. Uferw.,Humbr.ring, b. Lange Brü, m. Stra-B 98«
»Stra-B 98« ist nicht die allerletzte Eintragung in Matthias’ Kalender. Etwas abgesetzt dahinter hat er einen winzigen Föhn gezeichnet. Er nahm es sehr genau mit seinen Pflichten.
1.4
Therapie bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung
1.4.1
Die innere Lage: Festung und Kerker
Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung haben zwar auch den Eindruck, dass ihr Leben mühselig, sorgenvoll, ja qualvoll sein kann. Sie machen aber, und das mag auf den ersten Blick verwundern, nicht ihre zwanghafte Art dafür verantwortlich. Im Gegenteil, in ihr sehen sie das, was sie noch über Wasser hält und es ihnen ermöglicht, im »Lebenskampf« zu bestehen. Sie verursacht in der Regel keinen Leidensdruck, wie wir es im psychotherapeutischen Jargon nennen. Wenn sie sich unwohl fühlen, suchen sie die Ursachen dafür meist außerhalb der eigenen Person. Die Anderen verhalten sich unkorrekt, haben kein Verständnis für ihre guten Absichten. Die Gesellschaft ist korrupt, oder die Weltt ist einfach schlecht. Die zwanghafte Persönlichkeit kommt einem manchmal vor wie eine Festung: Sie ist so ange-
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legt, dass es sehr schwer ist, in sie einzudringen. Doch die Mauern sind so dick und so lückenlos verschlossen, dass die Verteidiger sich wie in einem Kerker vorkommen. Nach draußen dürfen sie in den seltensten Fällen: Das Risiko wird als zu hoch eingeschätzt. Das Mauerwerk wird sogar ständig verstärkt und ausgebaut. Bei Persönlichkeitsstörungen fehlt in der Regel die Flexibilität, um je nach Situation die Wertehierarchie zu wechseln und dann jeweils den Weg einzuschlagen, auf dem die ausgewählten Ziele erreicht werden können. Stattdessen verfolgen Betroffene immer dieselbe »Idealrolle«, die total erstarrt in die Zukunft projiziert wird. Lesen Sie bitte das kleine Beispiel von Herrn Schwarz und seinem Sohn (7 Kap. 1.4.9). Was erfahren wir? Als Reaktion auf die halb besorgte, halb ironische Bemerkung seines Sohnes verfällt Schwarz automatisch in die Rolle »strenger Erzieher und Aufklärer«. Er ist nicht in der Lage, z.B. zu antworten: »Das ist aber nett, dass du dich so um mich kümmerst«, und auf diese Art einen anderen Aspekt der Beziehung zu seinem Sohn in den Vordergrund zu stellen. Die starre Konstruktion seines Charakters gibt vor, das würde ihn unglaubwürdig und angreifbar machen, ihn für immer jeglicher Autorität berauben, Verrat an all seinen Idealen einleiten und dadurch auch den Sohn endgültig vom rechten Weg abbringen. Die falsche Reaktion zur falschen Zeit – und alles bricht zusammen. Chaostheorie für Zwanghafte: Wie der Flügelschlag eines Schmetterlings diesseits des Ozeans auf der anderen Seite einen Sturm auslösen kann, so kann der schlecht gespitzte Bleistift eines Lehrers das ganze Erziehungssystem zum Einsturz bringen. Wer das mehrmals am Tag verhindert, auch um den Preis vieler Mühen und persönlicher Entbehrungen, braucht um seine Daseinsberechtigung nicht zu bangen. Nur um den Preis einer ständigen Identitätsarbeit, ohne Rücksicht auf Verluste, vermag ein solcher Mensch halbwegs ein Gefühl der inneren Kohärenz aufrechtzuerhalten. Er befindet sich
20 Kapitel 1 · Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung
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geradezu in einer »Identitätstretmühle« – der Persönlichkeitsgestörte als »atemloser Mensch«. Dadurch wird ein flexibler Rollenwechsel im Umgang mit sich selbst fast unmöglich. Situationen, die ein solches »flexibles Selbst« (Brandstädter, 2007) verlangen würden, überfordern ihn geradezu. Mitmenschen, die etwas anderes als das ewige Abspulen seiner üblichen Demobänder erfahren wollen, werden brüsk zurückgewiesen. So kann es passieren, dass die Verteidigungswälle einmal unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrechen. Das ist dann der Fall, wenn eine schwere Lebenskrise ausbricht, die sehr häufig mit einer Depression einhergeht. Es kann auch dann der Fall sein, wenn schwere Konflikte mit Partnern, Angehörigen oder mit Arbeitskollegen ausbrechen, die dem Betroffenen die Grenzen seiner Art zu leben schmerzhaft vor Augen führen. Damit sind gleichzeitig die beiden Hauptgründe angeführt, die sie therapeutische Hilfe suchen lassen. In beiden Fällen wünschen sich die Patienten in erster Linie Hilfe bei der aktuellen Krise, die ihr Leben in Unordnung gebracht hat, und wir werden uns darauf einstellen. Gleichzeitig stellen sich uns eine Reihe von Fragen: Inwieweit ist es zur Behebung der aktuellen Krise und zur Vermeidung zukünftiger Krisen nicht auch notwendig, zumindest eine Lockerung der zwanghaften Persönlichkeitsstörung zu versuchen? Welches könnten die Ziele dabei sein? Und welche Interventionen wären dazu geeignet? Wie könnten wir erreichen, dass der Patient uns dazu legitimiert und im Rahmen seiner Möglichkeiten mitarbeitet?
1.4.2
Allgemeine Strategien bei der Therapie
Therapieanlass
Patienten mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung suchen in der Regel aus einem der folgenden Anlässe eine Therapie auf:
4 allgemeines Unwohlsein wie körperliche Beschwerden (z.B. Schlaflosigkeit, hypochondrische Ängste) oder Symptombild einer Dysthymie, 4 »Beratungsbedarf« wegen Konflikten mit Angehörigen oder Arbeitskollegen, 4 Arbeitsstörungen (s.a. Hoffmann & Hofmann, 2009), 4 Lebenskrise: Anpassungsstörung (Sinnkrise oder Depression), 4 Zwangsstörung, 4 auf Initiative anderer, vor allem von Angehörigen. Therapeutische Hilfe bei einer aktuellen Schwierigkeit oder Krise
In diesem Stadium steht eine bedingungslose Stützung des Patienten im Vordergrund. Auf dem Hintergrund einer Analyse der aktuellen Schwierigkeiten wird ein »Notfallprogramm« von Maßnahmen zur Verbesserung der gegenwärtigen Situation aufgestellt und in die Wege geleitet. Leidet der Patient z.B. an einer depressiven Verstimmung, so stehen Maßnahmen zur Tagesstrukturierung, zur Kontrolle von Grübeleien und zur Aktivierung im Vordergrund. Von großer Wichtigkeit ist dabei auch die Verhinderung einer Art »Pfropfdepression« (Hoffmann & Hofmann, 2002a). Der Patient wird dabei unterstützt, seine aktuelle geringe Leistungsfähigkeit zu akzeptieren und sich selbst solidarisch durch die aktuelle Krise zu begleiten, statt eine Art sekundäre Depression mit dem Kerngedanken: »Was ist aus mir geworden? Ich bin doch ein totaler Versager« zu entwickeln. Für den Fall, dass der Patient in ganz massive Konflikte mit einem Teil seiner Umwelt geraten ist, werden seine Attributionsmuster (»Die anderen sind schuld«) in keiner Weise infrage gestellt, und es wird versucht, auf dieser Basis entlastende Notfallmaßnahmen einzuführen, die die Lage entschärfen. So kann ein Patient z.B. dazu angeleitet werden, mit seinem rebellischen Sohn einen »Waffenstillstand für ein halbes Jahr« oder
21 1.4 · Therapie bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung
mit einem Partner einen Verhaltensvertrag auf Zeit abzuschließen, dessen Einhaltung in der Therapie begleitet wird. Ist es notwendig, einen Partner zeitweilig mit einzubeziehen, so werden dessen Beschwerden und Veränderungswünsche »publik« und können später in die Überlegungen einbezogen werden. Auch bei solchen Interventionen zur Behebung einer Krise machen sich zwanghafte Züge und Eigenarten selbstverständlich bemerkbar, aber der Therapeut bemüht sich, sie, so gut es geht, gelten zu lassen und »auszuklammern«, um den Patienten nicht noch mehr zu verunsichern oder früh seinen Widerstand hervorzurufen (s. dazu Sachse, 2004). Herausarbeiten und Anbieten von Anreizen zur Veränderung
Eine Analyse der aktuellen Schwierigkeit oder Krise zeigt in den meisten Fällen, dass zwanghafte Persönlichkeitszüge und Reaktionsweisen eine wichtige Rolle im kausalen Bedingungsgefüge spielen. Bei Ansgar B. z.B. brach das zwanghafte Überlebenssystem unter dem Einfluss eines überwältigenden Gefühls zusammen, auf das er in keiner Weise vorbereitet war und mit dem er nicht umgehen konnte. Er, der lebenslange Junggeselle, verliebte sich in eine Nachbarin. Das brachte ihn dazu, sein gesamtes bisheriges Leben, sein einseitiges Wertesystem und sein dichtes, schützendes Gewohnheitsnetz in Zweifel zu ziehen. Er befand, dass er in seinem Alter nicht mehr die Kraft haben würde, diesen verschütteten und nun so jäh aufgebrochenen Bereich seiner Seele weiter, sozusagen als Wunde, offen zu halten, in der Hoffnung auf eine spätere Erfüllung. Das Ergebnis war eine monatelange starke Depression, die ihn an den Rand der Verzweiflung brachte. Bei Schwarz senior hatte die pedantische und lieblose Art, mit der er über Jahre seinen Sohn reglementiert hatte, schließlich dazu geführt, dass sein Sohn rebellierte. Die Mutter schlug sich auf dessen Seite, und Schwarz sah seine Rolle als Familienoberhaupt in zunehmendem Maße be-
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droht. Schließlich suchte er einen Therapeuten auf, mit dem Anliegen, eine professionelle Autorität möge ihm dabei behilflich sein, zu Hause die Ordnung wiederherzustellen. Anhand solcher Lebensepisoden kann dem Patienten Schritt für Schritt und mit großer Vorsicht der zweischneidige Charakter einer zwanghaften Lebensgestaltung aufgezeigt werden: Auf der einen Seite hat sie eine deutliche Schutzfunktion, weil sie Halt und Orientierung gibt, auf der anderen Seite können (anhand der kritischen Lebensepisoden) auch ihre Grenzen sowie die Einschränkungen und Kosten, die sie verursacht, aufgezeigt werden (s.a. Sachse, 2004). Im Laufe der therapeutischen Gespräche werden sich an der einen oder anderen Stelle Hinweise auf Probleme ergeben, die den Patienten auch in seinem »normalen Leben« belasten, jenseits der aktuellen Krise. Wenn die momentane krisenhafte Zuspitzung ausreichend entschärft ist, kann der Fokus mehr auf die Bereiche gelegt werden, die stark mit den Exzessen und Defiziten der zwanghaften Persönlichkeitsstörung des Patienten zusammenhängen. Wir ergänzen die Ergebnisse aus der Analyse der Krise und die Informationen, die sich spontan ergeben, durch die Auswertung eines Bogens (siehe Kasten), der weitere mögliche Anreize für Veränderungen liefern soll. Bitte kreuzen Sie die Aussagen an, von denen Sie sich betroffen fühlen: 4 Manchmal fühle ich mich von der Strenge meines Gewissens richtiggehend beherrscht. 4 Ich stelle manchmal Ansprüche an mich, die mir übertrieben vorkommen. 4 Ich finde mein Leben doch recht einseitig. 4 Mein Bedürfnis, mich immer wieder abzusichern und zu kontrollieren, engt mich manchmal sehr ein. 6
22 Kapitel 1 · Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung
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4 Meine Tendenz, an Details kleben zu bleiben und nichts weglassen zu können, ist oft recht hinderlich. 4 Ich möchte öfter etwas Neues ausprobieren und die ausgetrampelten Pfade verlassen. 4 Ich habe viel Angst, etwas falsch zu machen und gegen irgendeine Regel zu verstoßen. 4 Ich habe Schwierigkeiten, abzuschließen und eine Sache dann aus der Hand zu geben. 4 Ich habe manchmal Probleme, körperlich oder seelisch loszulassen und mich richtig zu entspannen. 4 Ich versuche immer alles über den Verstand zu lösen, Gefühle kommen dabei zu kurz und drohen zu verkümmern. 4 Im Umgang mit mir und mit anderen bin ich doch manchmal etwas intolerant.
In der Regel fühlen sich die Patienten durch einige der Aussagen betroffen und richtig verstanden. Wir machen ihnen dann den Vorschlag, die entsprechenden Bereiche mit ihnen zu besprechen. Die individuellen Zielsetzungen, die sie dabei haben, werden erst einmal nicht hinterfragt. Im Laufe dieser gemeinsamen Gespräche werfen wir im geeigneten Moment die Frage auf, ob wir ihnen nicht doch dabei helfen könnten, etwas an ihrem Verhalten zu verändern. Wenn sie zustimmen, einigen wir uns auf einen ersten Schwerpunkt. Einigung auf Schwerpunkte für die therapeutische Arbeit
Wir fassen noch einmal die Hauptinformationsquellen zusammen, aufgrund derer wir eine Einigung mit dem Patienten über Therapieziele anstreben: 4 Analyse der (zwangsbedingten) Ursachen einer aktuellen Krise,
4 eventuelle Veränderungswünsche und Erwartungen von Partnern, 4 spontane Beschwerden über Einschränkungen und Belastungen durch zwanghafte Persönlichkeitsanteile und deren Verhaltenskonsequenzen, 4 Liste von Aussagen als Anreize zu Veränderungen. Auf dem Hintergrund dieser Informationen und aktueller Patientenwünsche wird ein erstes Therapieziel ausgewählt. Durch eine ausführliche Exploration werden die folgenden Punkte geklärt: 4 Wie lassen sich die Einstellungen, Werte und Normen des Patienten in dem entsprechenden Bereich beschreiben? 4 Welche konkreten Situationen des Alltags werden durch die zwanghafte Infrastruktur bestimmt? 4 Wie lässt sich das konkrete Verhalten des Patienten in diesen Situationen beschreiben? 4 Spielen dabei emotionale Reaktionen eine mitbestimmende Rolle? 4 Kommt es durch das Verhalten des Patienten zu Konflikten mit Teilen seiner sozialen Umgebung? Wie lassen sie sich beschreiben? 4 Kommt es beim Patienten zu inneren Konflikten, etwa durch konkurrierende Bedürff nisse, Werte und Motive? 4 Inwieweit ist er in der Lage, aus mehreren vorhandenen Verhaltenstendenzen diejenige auszuwählen, die in einer konkreten Situation am ehesten zu positiven Konsequenzen führt (s.a. Trautmann, 2009)? Zwei wichtige Einzelstrategien der weiteren Arbeit, das systemimmanente Arbeiten und den experimentierbereiten Umgang mit Widerständen, wollen wir im Folgenden anhand von Beispielen erläutern.
23 1.4 · Therapie bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung
Systemimmanentes Arbeiten am Beispiel (Auflockerung von Normen und des damit einhergehenden Verhaltens)
In den seltensten Fällen führt ein Frontalangriff auf die Prinzipien und Normen zwanghafter Menschen zum Erfolg. Wir empfehlen eine eher indirekte Vorgehensweise, die wir an folgendem Beispiel erläutern wollen. Beispiel. Herr W., 52, ein sehr ernsthafter und
strenggläubiger Mensch, erlitt einen schweren depressiven Zusammenbruch, weil er einmal in einer Extremsituation seiner Frau untreu geworden war. Sie hatte ihm längst vergeben, doch sein Gewissen ließ ihn nicht mehr los. Er bekam die Aufgabe, seine inneren Richtlinien diesbezüglich zu erforschen und kam dann auf Regeln wie: 4 Jede Sünde und jeder Fehler werden unerbittlich von Gott bestraft. 4 Ich habe ein Gelübde, nämlich treu zu sein, gebrochen. 4 Dadurch habe ich jeden Anspruch auf Achtung seitens meiner Familie und auf Selbstachtung verloren. Er sollte sich mit der Hilfe eines Priesters noch einmal mit der Heiligen Schrift auseinandersetzen, um zu prüfen, ob seine Sichtweise der Dinge die einzig vertretbare sei. Am Ende eines längeren Überlegungsprozesses änderte dann schließlich der Patient seine Regeln folgendermaßen ab: 4 In der Bibel steht: »Du darfst nicht ehebrechen«, aber Jesus sagt auch in der Geschichte mit der Ehebrecherin: »Wer ohne Fehl ist, der werfe den ersten Stein.« 4 Ich kann hoffen, dass Gott auch mir vergibt. 4 Wenn ich meine Fehler wiedergutmache, habe ich keine strenge Strafe zu erwarten. Innerhalb desselben Wertsystems, des christlichen Glaubens, war es dem Patienten gelungen, seine Normen zu differenzieren und ihnen einen Teil ihrer Rigidität und Unerbittlichkeit zu nehmen. Das Ergebnis war eine deutliche Stimmungs-
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aufhellung. Er wurde wieder unternehmungslustiger und konnte fortan mit einer größeren inneren Freiheit an die Dinge herangehen (Hoffmann, 2007). Nach derselben Strategie verzichten wir von vornherein darauf, Patienten zu »missionieren« oder »kognitiv umstrukturieren« zu wollen. Wir wollen ihnen eher dabei helfen, ihre Glaubenssätze und ihre Ansichten zu differenzieren, flexibler zu gestalten und damit zu »humanisieren« (Kap. 1.4.7). Umgang mit Widerständen: Therapie als Experiment
Wir versuchen die Angst zwanghafter Menschen vor jeglicher Veränderung zumindest teilweise dadurch außer Kraft zu setzen, dass wir keine verbindlichen Veränderungen vorschlagen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Der Patient darf im Gegenteil seine Prinzipien im Wesentlichen beibehalten, aber er soll einige ihrer lebenserschwerenden Zuspitzungen auf die Probe stellen. Danach kann er auswerten und ist frei, sie in alter oder in leicht modifizierter Form wieder einzuführen. Beispiel. Herr B., Leiter eines mittelständischen
Betriebs, fühlte sich durch die Unflexibilität seiner Lebensführung immer mehr eingeengt. Er vertrat unter anderem den Leitsatz: »Ich muss allen mit gutem Beispiel vorangehen und darf vor allem keine Zeit verlieren. Jede Minute der Arbeitszeit muss unbedingt dazu dienen, etwas Nützliches zu schaffen.« Man kann sich vorstellen, in welchen Spannungszustand ein solcher Mensch allmählich gerät. Herr B. litt dann auch an chronisch schlechter Stimmung, bekam diverse psychosomatische Beschwerden (wie Schlaflosigkeit und leichte Panikattacken) und wurde immer unleidlicher, in der Firma wie zu Hause. Hätten wir ihm direkt verordnet, »die Dinge leichter zu nehmen«, häufiger mal eine Stunde freizumachen, um endlich den Segelschein zu machen und dergleichen mehr, so wäre dadurch sein Widerstand nur angestachelt worden. Er hät-
24 Kapitel 1 · Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung
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te mit seiner Verantwortung für die Arbeitsplätze der Belegschaft, mit der schlechten Geschäftslage usw. argumentiert – alles ehrbare Gründe, allerdings nur an der Oberfläche. In Wirklichkeit war sein hypermoralisches Zwangsdenken für sein Verhalten verantwortlich: »Nur keinen Zollbreit ab vom Weg der Pflicht, das wäre ein gefährliches Sich-gehen-Lassen. Nur wenn ich ständig Leistung bringe, habe ich eine Daseinsberechtigung.« Seine tief liegende innere Unsicherheit und seine pessimistische Haltung mündeten in die scheinbar unerschütterlichen Dogmen, die er nach außen vertrat. In Wirklichkeit waren sie nur dazu da, seine inneren Defizite zu kompensieren. In solchen Fällen, in denen ein direkter »Angriff« auf das zwanghafte System wenig erfolgreich erscheint, führt oft ein indirekter Weg zum Ziel. Schlagen wir ihm doch ein Experiment vor. Begründung: Jeder souverän handelnde intelligente Mensch, der sein Leben im Griff hat, ist selbstverständlich auch in der Lage, einmal etwas Neues auszuprobieren und das Ergebnis selbst zu beurteilen. Welche Rechtfertigung hätte er, sich vor so etwas zu drücken? In den folgenden zwei Wochen (in so kurzer Zeit kann er die Firma nicht ruinieren) soll er seinen Lebensstil geringfügig ändern: Gelegentlich eine Pause machen, zweimal in der Woche eine Stunde nur für sich selbst verwenden (was könnte er dabei für sich tun?), etwas Musik hören (was er früher gern tat) und vielleicht weitere kleine Veränderungen, die ihm spontan einfallen. Wenn er will, wird er bei dem Versuch therapeutisch begleitet. Ein Experiment bedeutet, dass niemand sicher weiß, wie es ausgehen wird. Vielleicht wird er neue Erfahrungen machen, vielleicht aber auch die Bestätigung dafür finden, dass seine bisherige Lebensweise die einzig richtige ist. Man verzichtet auf jede Rechthaberei gegenüber dem Patienten, das Leben wird entscheiden. Am Ende der beiden Wochen wird gemeinsam ausgewertet. Verläuft der Versuch in unserem Sinne erfolgreich, so berichtet er vielleicht: »Am Anfang war ich ängstlich, etwas zu versäumen, und mir war
nicht sehr wohl in meiner neuen Rolle. Ich hatte auch mehrmals Schuldgefühle, weil ich dabei war, mich gehen zu lassen.« Weil er sich aber an seine Zusage gebunden gefühlt habe, habe er weitergemacht, und bald danach seien Empfindungen aufgetreten, die er schon lange nicht mehr verspürt habe. Er sei alles in allem etwas entspannter, und sein Arbeitstag erscheine ihm bunter, weil er sich zwischendurch etwas bewege, Freude an der Musik empfinde und auch einmal bewusst Bäume und ähnliche Dinge wahrnehme. Der Patient verlängert das Experiment mehrmals freiwillig und macht die Erfahrung, dass die Firma trotzdem weiterläuft. Er beginnt zu überlegen, ob sein Leben bislang nicht etwas einseitig gewesen ist und ob es nicht auch andere Werte gibt als nur Leistung. Daran wird dann weiter therapeutisch gearbeitet. Auf diese Weise kann ein Umdenkprozess in Gang gesetzt werden, der langsam seinen Weg macht. Verbessert sich die innere Lage durch solche begleiteten Experimente und wird die Entwicklung auch noch von außen unterstützt, so mag am Ende in der Tat so etwas wie eine schrittweise Persönlichkeitsveränderung stehen.
1.4.3
Ein Therapieansatz bei zwanghaften Persönlichkeitsstörungen
Wir werden nun eigene Therapievorschläge vorstellen, deren Einzelkomponenten je nach Problemlage und Lebenssituation des individuellen Patienten mehr oder weniger wichtig sind. Die von uns vorgestellten Maßnahmen sind, wie wir aus klinischen Erfahrungen wissen, gut geeignet, die einseitigen Überspitzungen und Exzesse bei der großen Mehrzahl der Personen mit zwanghaften Persönlichkeitsstörungen zu korrigieren und abzumildern. Andererseits sollen grundlegende Defizite kompensiert und wichtige neue Lernprozesse eingeleitet werden. Beides steht im Dienste einer erhöhten Flexibilität im alltäglichen Leben.
25 1.4 · Therapie bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung
Allgemeine Vorgehensweise
4 Wir haben eine Anzahl von Bereichen identifiziert, die erfahrungsgemäß die »Schwachstellen« der zwanghaften Persönlichkeitskonstruktion wiedergeben. Sie werden durch die Aussagen angesprochen, von denen die Patienten sich je nach ihrer Problemlage betroffen fühlen. Zu jedem dieser Bereiche haben wir Therapieziele formuliert, die eine Korrektur der entsprechenden Problemlage versprechen. 4 Wir haben therapeutische Interventionen und Übungen ausgewählt, die dabei zum Einsatz kommen können. In diesem Buch schlagen wir jeweils »Musterübungen« vor, mit denen zunächst gezielt gearbeitet werden kann. Sie zeigen die Richtung der Veränderung und die wichtigsten Prinzipien an, die einer positiven Veränderung zugrunde liegen. Wir sind uns aber bewusst, dass eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung nicht mit den wenigen Übungen korrigiert werden kann, die wir hier vorstellen. 4 Unser Ansatz verlangt deshalb, dass in jedem Bereich, der bearbeitet wird, um die Musterübungen herum jeweils andere Übungen zusammen mit dem Patienten überlegt und durchgeführt werden. Sie sind auf die individuellen Bedingungen des Einzelfalls zugeschnitten und tragen den Motiven und Bedürfnissen des Patienten im täglichen Leben besonders Rechnung. Beispiel. Wir möchten dieses Vorgehen an einem
Beispiel verdeutlichen. Herr P., 60 Jahre, berenteter Sachbearbeiter, allein lebend, kommt wegen »nervöser Erschöpfung und Mobbing« in die Therapie. Er sei ständig am Rande dessen, was er noch ertragen könne. Schuld an seinem Zustand seien vor allem der unerträgliche Straßenlärm und der Krawall in seinem Haus, seitdem einige neue Mieter eingezogen seien. Manchmal denke er ans Auswandern oder daran, Amok zu laufen.
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Nach vier Monaten Arbeit an seiner Krise treten andere Gesichtspunkte in den Vordergrund. Er formuliert unter anderem für sich folgendes Ziel: »Meine Tendenz, an Details kleben zu bleiben und nichts weglassen zu können, ist oft recht hinderlich.« Sein Kommentar dazu: »Ich hätte gerne weniger Interessen, weil sie immer zwanghaft ausarten, z.B. meine Suche im Internet nach Filmen, Fußball und vielem anderem mehr. Wenn ich mir z.B. eine Seite über Fußball anschaue, dann muss ich auch andere Spielberichte lesen und komme so vom Hundertsten ins Tausendste. Ich mache immer weiter, obwohl ich den inneren Bezug zu den Informationen schon verloren habe. Ich kriege den Punkt nicht mit, wo sie mich nicht mehr interessieren. Das Weitermachen ist mechanisch. Es gehört einfach zum ›Paket‹ dazu. Es läuft ein inneres Belohnungsprinzip ab. Bei allem schaue und suche und lese ich und wühle in jedem Haufen, irgendwo findet man dann eine kleine Perle, z.B. ein billiges Haushaltsgerät, und das reicht aus, um das ganze Verhalten zu steuern. Mir kommt der Gedanke: ›Guck mal, wenn man nicht durchgeguckt hätte, dann hätte man das gar nicht gefunden.‹ Doch das Wühlen wird immer umfangreicher, immer mehr Sachen werden einbezogen, ohne dass ich es mitbekomme. Es reicht ein kleines Erfolgserlebnis, und dieser Werbeplatz und alle Prospekte in diesem Verteiler werden in das Programm aufgenommen und durchgesehen. Ich habe immer so ein ›Unvollständigkeitsgefühl‹, wie Sie es nennen, mit der inneren Frage: War da nicht etwas, könnte nicht irgendwo noch etwas sein, hätte man da nicht hingehen können, hätte ich da ein Angebot gehabt, usw. Da ist immer ein Verpflichtungsgefühl, und dann verliere ich mich immer mehr in Details, und es wird anstrengend. Irgendwann bin ich müde, der Rücken tut weh, trotzdem muss ich weitermachen. Es ist wie eine Suche nach einem kurzen guten Gefühl. Erst wenn ich körperlich richtig erschöpft bin, dann höre ich auf. Muss das so weitergehen? Wie wird das enden, frage ich mich.«
26 Kapitel 1 · Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung
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Zunächst wird mit dem Patienten zum Bereich »Mut zur Lücke« eine ausführliche Analyse nach dem Schema in Kap. 1.4.2 durchgeführt. Dann werden die individuellen Zielsetzungen festgelegt. Es folgen die Übungen zur »Reduktion von Detailfixiertheit« (Kap. 1.4.6). Die entsprechenden Texte werden gelesen und diskutiert, dann folgen die Übungen 1 und 2. Im nächsten Schritt werden zum selben Thema zusammen mit dem Patienten neue, auf seine Lebensbedingungen zugeschnittene Übungen entworfen und durchgeführt. Er bekommt die Aufgabe, im Internet gezielt nach Informationen über einen neuen Fernseher zu suchen, der ca. 800 Euro kosten soll, bei vorheriger Begrenzung des Suchraumes und der Zeit. Zuerst wird mit dem Patienten zusammen ein Handlungsplan entworfen: 4 Was werde ich tun? Ich werde mir auf jeder Homepage zuerst einen Überblick verschaff fen, um herauszufinden, was wirklich relevant für mich ist. Ich werde klare Prioritäten setzen und nehme mir dabei vor, ein Risiko einzugehen. Mut zur Informationslücke! Falls ich nicht den preiswertesten Fernseher in seiner Klasse finde, werde ich mir sagen können: Ich habe dafür wenig Zeit verschwendet, ich habe gelernt, mich spontan zu entscheiden und mich zu beruhigen und einfach wirklich mal über die Stränge zu schlagen. Das ist doch auch etwas wert! 4 Was ich nicht tun werde: in weiteren Links suchen, ganz ausführliche Erklärungen durchlesen. 4 Sichtung der Informationen und Entscheidungsfindung: Ich habe mir kurze Notizen über die wichtigsten Informationen gemacht. Dann werde ich die Informationen, die ich gesammelt habe, übersichtlich in einer Tabelle darstellen. Ich gebe mir eine Stunde, um mich für einen Fernseher zu entscheiden. Eine einmal getroffene Entscheidung wird nicht rückgängig gemacht. Ich gebe gleich die Bestellung auf und zwinge mich dazu, die Angelegenheit als »erledigt« anzusehen.
Die ersten Übungen werden in Begleitung der Therapeutin ausgeführt, die ihre Hilfe langsam ausschleicht. Der Patient wird dazu angeleitet, die ihm interessant erscheinenden Einsichten in Formeln, Regeln wiederzugeben, aus denen er dann neue Leitlinien und Vorsätze für seinen Alltag gewinnt. Die Arbeit in einem Bereich wird so weit fortgesetzt, wie der Patient es wünscht.
1.4.4
Ziele und Interventionen: ein Überblick
Ziele
Interventionen
Wertedifferenzierung
»Werteaufweichung« und ihre Handlungsimplikationen
Lebensanreicherung
Aufbau alternativer Lebensziele und ihre Handlungsimplikationen
Erhöhte Risikobereitschaft
Abbau exzessiver zwanghafter Kontrollen
Mut zur Lücke
Reduktion von Detailfixiertheit
Erweiterung des Handlungsspielraums
Aufbau einer Experimentierund Probierhaltung
Verringerung von Hypermoralität
Absichtliches Brechen eigener Regeln und Gewohnheiten
Abschließen lernen
Sich von einer Tätigkeit lösen und bewusst abschließen lernen
Entspannen lernen
Neue Bedürfnisse entdecken und ihnen nachgehen
Emotionale Belebung
Sensibilisierung für eigene und fremde emotionale Reaktionen
Förderung von Toleranz
Veränderung des Umgangs mit eigenen und fremden Verfehlungen
27 1.4 · Therapie bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung
1.4.5
Ziele: Wertedifferenzierung, Lebensanreicherung
Bei Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstruktur fällt immer wieder ihre einseitige Orientierung an wenigen, für sie zentralen Werten auf, die die Basis ihrer Weltsicht und ihrer Bestrebungen bilden. Das schlägt sich auch in dem Eindruck nieder, den sie bei anderen hinterlassen. Man schreibt ihnen stets Eigenschaften wie Fleiß, Ausdauer, Ernsthaftigkeit und Gewissenhaftigkeit zu, aber auch solche wie Fanatismus, Perfektionismus und Misstrauen im zwischenmenschlichen Umgang – und das alles oft in einer recht extremen Ausprägung. Es erweist sich so gut wie immer als ein aussichtsloses Unterfangen, ihre grundlegenden Werte und Annahmen über die Welt frontal angreifen zu wollen, mit dem Ziel einer radikalen Umorientierung. Unsere Vorgehensweise ist daher eine andere. Wir bemühen uns, den Patienten dazu zu bringen, seine aktuellen Wertvorstellungen und Annahmen so »aufzuweichen«, dass deren überspitzte, zwanghaft-dysfunktionalen Anteile abgebaut werden können. In einem zweiten Schritt werden andere sinnvolle Lebensziele, die bislang zu kurz gekommen sind, aufgebaut und in die Lebensperspektive integriert. Intervention: »Werteaufweichung« und ihre Handlungsimplikationen (nach Hoffmann & Hofmann, 2008)
Die Intervention erfolgt in mehreren, hier am Beispiel von Herrn B. (den wir in 7 Kap. 1.4.2 vorgestellt haben) illustrierten Schritten. Zunächst formuliert der Patient eine seiner Grundüberzeugungen, die ein wichtiges Element seiner Moral und seiner Weltanschauung bildet. Herr B.: »Ich weiß, dass ich überall, d.h. im Beruf und auch in meiner Familie, eine möglichst vollständige Kontrolle über die Abläufe behalten muss, sonst riskiere ich, dass alles schiefläuft und mir über den Kopf wächst.«
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In einem zweiten Schritt soll er (schriftlich) die praktischen Konsequenzen seiner Annahme in drei Rubriken unterteilen: 1. Gehört zum »Kern«, d.h., das muss ich unbedingtt tun oder lassen. 2. Mehr am Rande (weniger wichtig), ist von Fall zu Fall verhandelbar. 3. Ist sicherlich etwas übertrieben. Es scheint sich bei genauerem Hinsehen um etwas zu handeln, das nicht unbedingt sein muss und sogar mehr schaden als nutzen kann (in der Sprache des Therapeuten handelt es sich um zwanghaff te dysfunktionale Auswüchse einer Haltung). So formulierte Herr B. (auszugsweise) zu Punkt 1 (»gehört zum Kern«): 4 »Ich will (wie bisher) schon in der ersten Minute der offiziellen Arbeitszeit in meinem Betrieb anwesend sein.« 4 »Ich werde weiterhin stichprobenartig einzelne Arbeitsbögen meiner Mitarbeiter durchsehen und sie zur Rede stellen, wenn ich grobe Verstöße feststelle.« 4 »Ich werde am Ende jeden Monats zusammen mit meiner Frau das Haushaltsbuch durchsehen, um gemeinsam zu entscheiden, ob wir Verbesserungen in die Haushaltsführung einbringen.« Zu Punkt 2 (»am Rande, weniger wichtig«) notierte er unter anderem Folgendes: 4 »Ob ich auch unbedingt der Letzte im Betrieb sein muss (wie bisher), werde ich von Fall zu Fall entscheiden (abhängig vom Grad der Belastung am Tag, von eventuellen Plänen mit der Familie usw.).« 4 »Ich werde die Häufigkeit meiner angekündigten Kontrollen in der Werkstatt und im Büro stark reduzieren (zu anstrengend für mich und vermutlich auch schlecht für das Betriebsklima).« Zu Punkt 3 (»etwas übertrieben, möglicherweise schädlich«) schrieb er beispielsweise auf:
28 Kapitel 1 · Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung
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4 »Ich sollte nicht mehr versuchen, den Betrieb ganz allein im Auge zu behalten. Ich werde den Posten eines Stellvertreters für mich ausschreiben und mir ansehen, wer sich darum bewirbt.« 4 »Ich verzichte darauf, Mitarbeiter auszuhorchen, um ‚schwache Stellen‘ aufzuspüren. Das ist meiner unwürdig.« 4 »Meine Kinder müssen mir ab sofort keine Rechenschaft mehr darüber ablegen, wie sie ihr Taschengeld verbraucht haben.« Anschließend werden die neu einzuführenden Veränderungen und die zu unterlassenden, als dysfunktional eingestuften Kontrollen nach subjektivem Schwierigkeitsgrad in eine Rangreihe gebracht. Für einen bestimmten Zeitabschnitt (ein bis zwei Wochen) werden die stufenweisen Veränderungen abgestimmt, die zu realisieren sind. Die Veränderungen werden als »Versuch« oder als »Experiment« angesehen. Der Patient soll selbst entscheiden, welche Effekte dadurch entstehen und wie er sich dabei fühlt. Bei bestimmten, dem Patienten schwierig vorkommenden Veränderungen werden zusätzliche Hilfen in Form von Rollenspielen, Expositionsübungen, Übungen zur Veränderung des inneren Monologs usw. als Hilfestellung angeboten. Die Liste der als dysfunktional und zwanghaft eingestuften Aktivitäten kann laufend ergänzend werden. Auf diese Weise werden die wichtigsten unflexiblen Grundannahmen und Wertvorstellungen, die an der Basis der zwanghaften Persönlichkeit lagen, »aufgeweicht« und differenziert, und ihre neuen Handlungsimplikationen werden in das Leben integriert. Intervention: Aufbau alternativer Lebensziele und ihrer Handlungsimplikationen (nach Hoffmann & Hofmann, 2008)
Bei dieser Intervention handelt es sich um die natürliche Ergänzung der oben beschriebenen Interventionsschritte. In dem Maße, wie sich der
Patient aus dem Würgegriff seiner bisherigen zugespitzten und einseitigen Wertvorstellungen befreit, müssen andere Leitlinien für ein flexibleres, weniger extremes Verhalten aufgebaut werden. Das erfolgt in den im Folgenden erläuterten Schritten. In einem ersten Schritt werden andere Grundannahmen und Werte, die der Patient bisher schon anerkannt hat, die aber bislang eher im Hintergrund standen, im Gespräch mit ihm evoziert. Bei unserem Beispiel-Patienten Herrn B. sind dies folgende Annahmen und Werte: 4 »Es ist wichtig, dass ich neben der Arbeit ein erfülltes Familienleben führe.« 4 »In meinem Alter ist es wichtig, dass ich anfange, mehr Lebensfreude zu entwickeln, und mehr Zeit habe, um Natur und Kunst zu genießen.« 4 »Vielleicht will ich auch mal ein Buch schreiben, um andere an meinen Erfahrungen teilhaben zu lassen.« Im nächsten Schritt werden daraus Handlungsimplikationen abgeleitet: Für einen aus der Liste ausgesuchten Wert wird gemeinsam analysiert, auf welche Art dieser im weiteren Leben mehr zum Tragen kommen kann, respektive welche Veränderungen (vor allem in Form eines Abbaus von zwanghaftem Verhalten) erfolgen müssen, damit das möglich wird. So ist für Herrn B. sein Wunsch, ein besseres Familienleben zu führen, gebunden an Bedingungen wie 4 mehr Zeit dafür zur Verfügung zu haben, 4 im Umgang mit Frau und Kindern weniger gestresst oder erschöpft von der Arbeit zu sein, 4 ein größeres Vertrauen zu seiner Familie herzustellen und dabei weniger mit Kontrolle zu arbeiten, 4 weniger autoritär aufzutreten, nachsichtig zu sein, zu lernen, sich auch in den anderen hineinzuversetzen, statt immer gleich »nach der Regel« zu handeln.
29 1.4 · Therapie bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung
Im nächsten Schritt werden wieder Veränderungen für einen bestimmten Zeitraum abgestimmt, wieder als »Experiment«, dessen Ergebnisse gemeinsam ausgewertet werden. Auf diese Weise werden sukzessive Veränderungen im Leben des Patienten so implementiert, dass seine Wertehierarchie und deren Folgen für sein Verhalten differenziert und angereichert werden.
1.4.6
Ziele: erhöhte Risikobereitschaft, Mut zur Lücke
Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung haben ein recht einfaches Bild von den Geschehnissen auf der Welt: In jedem von uns brodelt tief innen ein gefährliches Gemisch von Triebregungen, die jederzeit drohen, mühsam erarbeitete Strukturen zu zerstören und damit uns alle im Chaos versinken zu lassen. Das kann nur durch ein gnadenlos strenges Regiment von Moralvorstellungen und festen Regeln verhindert werden, die uns bei der Stange und damit auf dem richtigen Pfad halten. Diese rettende Instanz kann allerdings ihre Funktion nur dann erfüllen, wenn sie ernst genommen und so ausgelegt wird, dass das Risiko des Versagens möglichst ausgeschlossen ist und nirgendwo eine noch so kleine Lücke entsteht. Dieser gnadenlose Umgang mit sich selbst und die Akribie, mit der das eigene Leben den Regeln angepasst wird, muss auch an andere Menschen weitergegeben werden, die es wert sind, »gerettet« zu werden. Um diese starre Haltung sich selbst und anderen gegenüber zu relativieren, wollen wir Tendenzen fördern, die zwanghaften Menschen auf den ersten Blick unvorsichtig, suspekt, ja geradezu selbstzerstörerisch vorkommen müssen. Es geht um einen Verzicht auf Absicherung um jeden Preis (durch Kontrollieren) und damit um eine erhöhte Risikobereitschaft. Ferner soll im Interesse einer größeren Transparenz ein »Mut zur Lücke« erreicht werden, d.h. ein bewusster
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Verzicht auf eine Anhäufung von Details, die der Absicherung dienen. Intervention: Abbau exzessiver zwanghafter Kontrollen
Die Kontrollen, die Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeitsstruktur durchführen, sind in der Regel ich-synton. Sie fühlen sich nicht dazu »gezwungen« oder getrieben, sondern sie betrachten sie als Ausdruck einer Art Tugend: Sie selbst sind eben ernste, genaue und gewissenhafte Menschen, die es nicht dem Zufall überlassen, ob sie ihren Pflichten und ihrem Streben nach Perfektion genügen. Sie beklagen höchstens den großen Zeitaufwand und die Mühen, die sie auff wenden müssen, um ein Gefühl der Sicherheit zu erlangen. Vor allem aber beschweren sie sich darüber, dass ihre Mitmenschen wenig Verständnis für ihre Auffassung von Genauigkeit aufbringen. Das zwingt sie selbst dazu, oft im Verborgenen zu agieren oder zu Ausflüchten zu greifen. Beispiel. Ein Patient hatte sich in seiner Not die
folgende Prozedur ausgedacht: Wichtige Briefe oder Dokumente, für die er verantwortlich war, gab er demonstrativ vor den Augen seiner Kollegen »in die Post«, um so zu signalisieren, dass sie abgeschickt werden konnten. Nach Dienstschluss nahm er sie heimlich wieder an sich, um sie nach Hause mitzunehmen. Da las er sie dann wieder und wieder durch. (Die geschlossenen Kuverts öffnete er nach Stasi-Manier über dampfendem Wasser.) Am anderen Morgen landeten die Briefe wieder in der Postmappe und konnten nun wirklich abgeschickt werden, es sei denn, einer von ihnen bereitete ihm trotz allem noch große Sorgen. Er fand dann immer einen Weg, ihn wieder an sich zu bringen. Ein Abbau solcher exzessiver zwanghafter Kontrollen erfolgt durch Expositionen in den im Folgenden beschriebenen Schritten. Übung 1. Die erste Übung findet zusammen mit
dem Therapeuten statt. Der Patient hat einige
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Briefe oder Schriftstücke mitgebracht, die er abschicken will, aber noch nicht durchgesehen hat. Er vergegenwärtigt sich noch einmal die Situation, ihren Zweck und die einzelnen Handlungen, die zu absolvieren sind: Er soll lernen, auf Kontrollen zu verzichten, die er selbst als exzessiv, als besonders zeitraubend oder sogar in einem gewissen Grad als für ihn »demütigend« empfindet. Es geht in keiner Weise darum, »Tugenden« wie Genauigkeit oder Gewissenhaftigkeit »abzutrainieren«. Vielmehr soll er seine Post noch einmal durchsehen, dann für gut befinden und freigeben. Wenn möglich, soll er die Briefe gleich nach der Therapiesitzung in den Briefkasten werfen oder sie zumindest an seiner Dienststelle gleich aus der Hand geben. Das Entscheidende ist, dass er bei der ganzen Übung einen hohen Grad an psychischer Spannkraft erreicht: Er hat ein deutliches Bild von seiner Umgebung, eine klare Vorstellung von dem, was zu tun ist, und fühlt sich als Herr der Lage. Das alles realisiert er zunächst im Dialog mit dem Therapeuten, der Anregungen gibt und Fragen stellt. Der Patient gibt sich ein klares Signal für den Beginn, nimmt einen Brief hervor, liest ihn aufmerksam durch, nicht zu schnell, aber auch nicht schleppend, bringt eventuelle Korrekturen an und befindet ihn schließlich für »korrekt«. Dann gibt er ihn in ein Kuvert und verschließt es. Anfangs werden bei diesem Ablauf und gleich danach mit großer Wahrscheinlichkeit die üblichen Zweifel und Zögerlichkeiten auftreten, die zu den endlos wiederholten Kontrollen geführt haben. An dieser Stelle ist es besonders wichtig, dass der Patient dem gewohnten »Grübelgemisch« ein klares Erleben seiner aktuellen Gegenwart entgegensetzt. Dabei ist der Dialog mit dem Therapeuten, der ein Modell für die Bewältigung der Situation gibt, eine große Hilfe. Hier ein Beispiel: Therapeut (T): »Was machen Sie jetzt als Nächstes?« Patient (P): »Ich sehe nach, ob die Anschrift stimmt ...«
T: »Dann tun Sie es jetzt. Konzentrieren Sie sich ganz darauf.« P: »Herr Reins ... ist richtig geschrieben, mit ›ei‹ ... Ardennenstraße 2 stimmt, Postleitzahl 13620, 13620, richtig. Scheint alles zu stimmen.« T: »Konnten Sie alles klar und deutlich sehen?« P: »Ich denke ja.« T: »Ja oder nein?« P: »Eher ja.« T: »Mit dem ›eher‹ können wir nicht zufrieden sein. Das Kuvert liegt ja noch vor Ihnen. Wollen Sie noch einen Blick darauf werfen, um sich noch einmal abzusichern? Oder sind Sie schon in der Lage, darauf zu verzichten? Horchen Sie in sich hinein, und seien Sie ganz ehrlich mit sich.« P: »Ich denke, ich kann darauf verzichten.« T: »Sind Sie ganz sicher? Dann sprechen Sie jetzt ganz langsam und mit großer innerer Beteiligung nach: ›Ich habe die Adresse durchgesehen und für korrekt befunden. Ich traue mir. Ich werde diesen Brief wegschicken, ohne noch einmal zu kontrollieren.‹ « P: (wiederholt den Satz) T: »Stehen Sie jetzt ganz dahinter?« P: »Ja.« T: »Prima. Dann werden wir jetzt dafür sorgen, dass der Brief gleich wegkommt. Wie geht es Ihnen jetzt?« Bei solchen Dialogen ist es wichtig, dass der Patient eine klare, ichbezogene Sprache führt. Nicht: »man sollte«, »man müsste«, sondern: »Jetzt mache ich dies und stelle jenes fest. Als Nächstes werde ich ...« Über den ganzen Ablauf hinweg soll der Patient nicht in die Situation »hineinfallen« oder hineingezogen werden, sondern eine klare Haltung in sich aufbauen: Er ist der Mittelpunkt, und er handelt nach seinem Plan. Weitere Schritte. Bei der folgenden Übung ist
der Therapeut zwar noch an der Seite des Patienten, der aber die Aufgabe hat, das, was er tut, laut zu kommentieren, wobei der Therapeut nur bei Schwierigkeiten interveniert. Beim nächsten
31 1.4 · Therapie bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung
Schritt ist der Therapeut zwar noch gegenwärtig, aber deutlich im Hintergrund. Er hält sich z.B. im Nebenzimmer auf, damit er nicht »einsehen« kann, was der Patient macht. Nach den Übungen in der Praxis des Therapeuten wird der Patient seine Übungen mit Verzicht auf zusätzliche Kontrollen zu Hause oder an seiner Dienststelle durchführen. Am Anfang ist er dabei, wenn möglich, telefonisch mit dem Therapeuten verbunden. Dann erfolgt nur noch ein kurzer Anruf zu Beginn oder am Schluss der Aktion. Als Prinzip gilt: Sobald es auf einer Stufe gut funktioniert, wird zur nächsten, schwierigeren übergegangen. Auf diese Weise wird die Erleichterung durch die Gegenwart des Therapeuten allmählich ausgeblendet. Bei allen Übungen gilt: Wenn der Patient in Schwierigkeiten gerät (»Habe ich da nicht etwas übersehen?«, »Ich kann mich nicht mehr genau erinnern«, »Muss ich wieder von vorne beginnen?«), soll er die Prozedur stoppen und sich erst einmal beruhigen. Danach fragt er sich: »Was ist eben passiert?«, »Was hat es zu bedeuten?«, »Was werde ich jetzt tun?« Wir verbieten ihm nicht grundsätzlich, eine Kontrolle zu wiederholen. Er soll lediglich zuvor eine klare Entscheidung treff fen und sich sagen: »Ich bin noch beim Üben«, »Ich werde das schon noch lernen«, »Diesmal schaue ich noch einmal nach, aber ich weiß, wie wichtig es für mich ist, dass ich dieses zwanghafte Absichern immer besser überwinde.« Auf diese Weise werden wichtige Aktivitäten der Patienten Schritt für Schritt von exzessiven, zwanghaften Kontrollen befreit, ohne dass Eigenschaften, die sie für moralisch hochwertig halten, je frontal angegriffen und in Frage gestellt werden. Intervention: Reduktion von Detailfixiertheit
Die übermäßige, oft fast ausschließliche Beschäff tigung mit Teilaspekten und Details einer Angelegenheit ist ein Indiz für eine tief liegende Verunsicherung: Man traut sich nicht zu, zum Kern einer Sache vorzudringen, hat zu wenig
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Vertrauen in die eigene Fähigkeit, das Ganze zu durchdringen, um ein eigenes Konzept zu entwickeln und zu vertreten. Durch die Anhäufung von Details versucht man, die eigenen Gedanken und Handlungen so präzise, so »materialisiert« wie möglich zu machen. So strebt man ein Gefühl der Sicherheit an, das es einem erlauben würde, mit ausreichender Gewissheit zu handeln. Das gelingt aber fast nie, im Gegenteil: Die nicht enden wollende Detailfixiertheit führt dazu, dass Handlungen endlos verzögert werden. Berühmte Beispiele. Jean, ein Patient von Pierre
Janet, erhielt von diesem die Empfehlung, für seine Gesundheit medizinische Bäder zu nehmen. Da er zutiefst verunsichert war, ob er die Angelegenheit auch bewältigen könne, verlangte er von Janet in den nächsten Wochen immer wieder Angaben über die genaue Temperatur, den Wasserdruck, die Dauer in Sekunden, die genaue Stelle am Rücken, die der erste Strahl treffen musste, den genauen Verlauf des Strahls auf dem Körper, die Stellen, die nicht getroffen werden durften, die genaue Stelle am Rücken, an der der Strahl absetzen musste, die genaue Strecke, die er zwischen Anfang und Beendigung zurücklegen musste, ferner genaue Angaben über die Gedanken, die er zu Beginn, während und bei Beendigung der Prozedur haben müsse usw. Immer wieder tauchte Jean, der eine Heidenangst davor hatte, sich der Badeprozedur zu unterziehen, mit neuen Fragen auf, die dringend beantwortet werden mussten, bevor er überhaupt ins Auge fasste, mit dem Baden zu beginnen (Janet, 1903; Hofff mann, 1998) Eine solche Detailbesessenheit lässt gelegentlich auch bei großen Künstlern nachweisen. Sie ist dann der Beleg für den großen Respekt, den sie für ihre Kunst haben. So schrieb der französische Schriftsteller Gustave Flaubert am 18. August 1872 an eine Freundin: »Ich habe mich dazu entschlossen, ein Buch anzufangen, das mich viele Jahre beschäftigen wird. Ich weiß jetzt schon, dass man dreifach verrückt sein muss, um ein
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solches Buch zu machen, wie ich es vorhabe.« Dann begann sein Leidensweg. Er las zuerst über 1500 Bücher, die er als Vorbereitung auf sein eigenes minutiös exzerpierte. Er unternahm mehrere Reisen in verschiedene Gegenden, um Land und Leute gründlich zu studieren, denn er musste ja entscheiden, wo er seine beiden Helden ansiedeln wollte. Er schrieb einer Freundin: »Ich beschäftige mich seit Monaten mit Büchern über Gärtnerei, und es ist kein Ende abzusehen.« Denn die Titelhelden Bouvard und Pécuchet sollten irgendwann in seinem Roman einen kleinen Garten anlegen. Er jammerte immerzu: »Dieses verdammte Buch wird mich noch umbringen. Ich leide schlimmer als ein Tier.« Am 1. August 1874 schrieb er den ersten Satz und strich ihn gleich wieder aus. In der Folge benötigte er immer wieder mehrere Wochen, um einen einzigen Satz zu schreiben. Die Jahre vergingen. Die Arbeit ging voran, wenn auch langsam. Obwohl er noch lange nicht fertig war, trug er sich mit dem Gedanken, einen Verleger für sein Buch zu suchen. Er wollte nach Paris reisen, um Gespräche zu führen. Am 8. Mai 1880, einen Tag bevor er sich zu seiner Reise aufmachen f wollte, starb er an einem Gehirnschlag. Obwohl es unvollendet blieb, wurde das Buch zu einem der großen Meisterwerke der Literatur des 19. Jahrhunderts. Klärung im Vorfeld. Um diese Tendenz zur De-
tailfixiertheit bei Menschen mit zwanghafter Persönlichkeit abzuschwächen, reden wir mit dem Patienten zunächst darüber, dass es auf dieser Welt keine objektiven Wahrheiten gibt, schon gar nicht, wenn es um das geht, was Menschen denken und tun. Wenn ein bestimmtes Produkt herzustellen ist (z.B. ein Brief), so ist eine Frage wie: »Wie hat der objektive, perfekte Brief auszusehen?« von vornherein sinnlos, und wenn ich versuche, diesem idealen, »endgültigen« Brief so nahe wie möglich zu kommen, werde ich scheitern. In der Praxis bin ich dann nie ganz zufrieden mit dem, was ich hergestellt habe, und be-
komme ständig das Gefühl, dass hier und da noch Lücken sind. Diese Lücken versuche ich dann in der Regel dadurch zu füllen, dass ich immer mehr Details anhäufe. Die realistische Gegenposition dazu ist die folgende: Ich vergegenwärtige mir zu Beginn, welchen Zweckk mein Brief erfüllen soll. Wenn ich mir darüber im Klaren bin, wird die Aufgabe, die ich zu erfüllen habe, schon konkreter und handhabbarer. Ich frage mich dann nicht: Wie muss dies oder jenes sein?, sondern: Wie mache ich das? Mein Produkt soll auch an den Adressaten angepasst sein. Es ist ein Unterschied, ob ich einen psychologischen Sachverhalt einem Kollegen schildere oder einem Laien, ob ich mich an einen jungen Mann richte oder an einen erfahrenen Erwachsenen. Wenn ich so vorgehe, kann ich die Struktur, die der Brief haben soll, quasi vor mir sehen. Ich kann mir eine relativ sichere Meinung darüber bilden, welche Aussagen meinem Ziel dienlich sind und welche nicht. Wenn der Zweck eines Briefes aus dem Urlaub darin besteht, einer geliebten Person meine Zuneigung zu zeigen, dann werde ich ihr berichten, wie oft und bei welchen Gelegenheiten ich an sie gedacht habe, welche Gefühle ich dabei hatte und was ich alles mit ihr unternehmen möchte, wenn wir wieder zusammen sind. Ich kann auch in zwei Sätzen die Landschaft beschreiben, in der ich Urlaub mache, und das Hotel, in dem ich untergebracht bin. Das gibt dem Ganzen Farbe und regt die Fantasie der Adressatin an. Ich werde mich aber nicht in Details verlieren, die vom Hauptanliegen meines Briefes ablenken könnten. Schreibe ich aber einen Brief an einen Bekannten, der entscheiden möchte, ob er seinen Urlaub am selben Ort verbringen will, werde ich ganz andere Inhalte in den Vordergrund stellen. Ich werde genauere Schilderungen der Landschaft, der Wetterverhältnisse und der Menschen geben. Ich werde das Hotel genau beschreiben, die Zimmerpreise, die Qualität des Frühstücks bewerten und kurz über die Speisekarte im Restaurant berichten. Es wird ein ganz anderer Brief dabei heraus-
33 1.4 · Therapie bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung
kommen – zu Recht, denn er soll ja auch einen völlig anderen Zweck erfüllen. Ein Detail, das in den ersten Brief überhaupt nicht hineinpasst, hat für den zweiten eine klare Bedeutung und sollte nicht fehlen. Bei zwanghaft veranlagten Menschen können wir oft feststellen, dass sich solche Unterschiede verwischen. Sie scheinen die Qualität eines Produktes danach zu bemessen, wie genau sie alle möglichen Sachverhalte darin unterbringen. Man hat dann als Zuhörer oder als Leser das Gefühl, sie kommen vom Hundertsten ins Tausendste, und man wird quasi erschlagen von einer Fülle an Details, mit denen man nichts Rechtes anfangen kann. Das Verhalten der Menschen, die so vorgehen, wirkt schwerfällig und pedantisch. Man weiß nicht richtig, was sie wollen, und der Umgang mit ihnen kann ziemlich bald höchst unangenehm werden. An dieser Stelle wollen wir mit unseren Übungen ansetzen. Übung 1. Eine Übung besteht darin, dass der
Patient (mündlich oder schriftlich) einen Sachverhalt erzählt, eine Zusammenfassung eines Artikels herstellt, ein Bild schildert, eine Landschaft beschreibt usw. Zunächst legt er sich Rechenschaft darüber ab, welche Ziele damit erfüllt werden sollen und wer der Adressat ist. Dann erstellt er seine Version. Nach der Übung (mündliches Material kann aufgezeichnet werden) erfolgt die gemeinsame Auswertung, hauptsächlich nach folgenden Gesichtspunkten: 4 Welchen allgemeinen Eindruck macht das Ergebnis? 4 Lässt sich der Zweck klar erkennen, oder ist eine Art »Standardprodukt« herausgekommen? 4 Ist dieses eine konkrete Detail der Sache eher dienlich, oder wirkt es störend? 4 Fehlt an dieser Stelle etwas, was dem Zweck nach erforderlich wäre? Bei schriftlichen Berichten können Korrekturen vorgenommen werden, bei aufgezeichneten
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mündlichen soll der Patient nach der gemeinsamen Korrektur das Ganze wiederholen. Während des Verfertigungsprozesses soll er (besonders am Anfang) häufiger (z.B. alle fünf Zeilen oder nach jeder Minute) innehalten und Bilanz ziehen, indem er sich fragt: 4 Halte ich die große Linie, die sich nach der Aufgabenstellung ergibt, auch durch? 4 Bin ich dabei, mich in unnützen Details zu verlieren? Im letzteren Fall soll er erst einmal eine kurze Pause machen. Sie ist notwendig, um die evozierten Gedächtnisinhalte zu reaktivieren. Er holt sich noch einmal seine Absicht ins Gedächtnis und macht dann weiter. Übung 2. Eine weitere Übung besteht darin,
denselben Sachverhalt (z.B. einen Arbeitstag) der Reihe nach mit drei verschiedenen Intentionen zu beschreiben, z.B. einmal für den Partner zu Hause, dann für einen Kollegen, der in dieselbe Abteilung kommen soll, und schließlich für eine Stammtischrunde. Auf diese Weise wird der Patient allmählich mehr und mehr für die »determinierenden Tendenzen« sensibilisiert, die sich aus einer Aufgabenstellung ergeben. Er lernt, sich immer besser auf den jeweiligen Zweck und auf den jeweiligen Adressaten einzustellen, und erlangt auf diese Art eine immer größere Sicherheit, einen klareren Blick für das Wesentliche und nicht zuletzt einen größeren Mut zur Lücke – jenseits von Gleichmacherei und Pedanterie.
1.4.7
Ziele: Erweiterung des Handlungsspielraumes, Verringerung von Hypermoralität
Inkludenz. Mit »Inkludenz« bezeichnet der
Psychiater Hubertus Tellenbach (1974) die innere Haltung eines Menschen, der sich nur in unveränderten, vertrauten und altbekannten Struktu-
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ren einigermaßen sicher fühlt. Die dadurch entstehende scheinbare Enge seines Lebens empfindet er nicht als Einschränkung, sondern als Halt gebende Selbstbeschränkung, die ihn beschützt und gegen bedrohliche Veränderungen abschirmt. Dieses Moment der Inkludenz ist typisch für den geringen Spielraum zwanghafter Persönlichkeiten, die jedem Gedanken an einen Wechsel ihrer Lebensbedingungen skeptisch gegenüberstehen, ja sich geradezu dagegen sträuben. Aber nicht nur der äußere, auch der innere Spielraum ist extrem eingeengt. Eigene Gedanken und Wünsche, ja beinahe alle Regungen werden misstrauisch registriert und daraufhin untersucht, ob sie denn noch mit dem wichtigen Normen- und Regelwerk vereinbar sind, das die ganze Seele durchzieht. Kommt der geringste Zweifel daran auf, so werden sie an die Kette gelegt. Kaum etwas ist locker und leicht, allzu schnell wird gewertet. Alles muss als moralisch einwandfrei ausgewiesen werden – und vieles besteht die strenge Probe nicht. »Ein Grab ist doch immer die beste Befestigung wider die Stürme des Schicksals«, hat Lichtenberg einmal boshaft bemerkt. Eine zwanghafte Persönlichkeit mit ihrer schwerfälligen Standhaff tigkeit ist offenbar eine der nächstbesten, müssen wir feststellen. Aber auch sie ist nicht unangreiff bar. Es fällt immer schwerer, sich an unvermeidbare Veränderungen anzupassen, und es geschieht oft um den Preis eines zeitweiligen inneren Zusammenbruchs, wie bei einer Depression. Neben dieser Resistenz gegenüber Veränderungen lässt sich Inkludenz durch einen Mangel an Flexibilität, Spontaneität und Gelassenheit im Alltag bestimmen: Flexibilität, wenn es darum geht, auf Anforderungen mit Veränderungen von außen differenziert zu reagieren; Spontaneität im eigenen Tun und Handeln, sodass man auch einmal etwas außerhalb des »Programms« machen kann, wenn Lust und Laune dazu animieren; schließlich Gelassenheit aufgrund von Vertrauen in den Fluss und in die Dynamik der Dinge. Diese drei Qualitäten gilt es zu fördern, und hier
setzen wir mit unseren Veränderungsvorschlägen an. Intervention: Aufbau einer Experimentierund Probierhaltung
Wenn zwanghafte Menschen etwas unternehmen, so tun sie dies in der Regel, um etwas zu bewirken, d.h., sie haben ein klares Ziel dabei. Sie gehen auf die Straße, um an einen bestimmten Ort zu gelangen, sie betreten ein Kaufhaus, um etwas Spezielles zu kaufen, und sie setzen sich in ein Lokal, um etwas zu essen oder um jemanden zu treffen. Beispiel. Ansgar B. führt uns die vermeintliche
Zweckgebundenheit jeglichen Tuns auf eindrucksvolle Art und Weise vor Augen: Er bezieht zwei Tageszeitungen, die er nach Feierabend nicht nur liest, sondern »durcharbeitet«. Dabei füllt er täglich zwei Rubriken in zwei verschiedenen Heften. Die eine ist mit »Gut gelungene Formulierungen« überschrieben, die andere, knallrot, enthält »grammatikalische Fehler und schlechte Ausdrucksweisen«. Jede Zeitung erhält am Ende des Jahres eine Kopie seiner Exzerpte. Nie kam eine Reaktion. Aber das wundert ihn nicht. So sind halt die Menschen. Doch die Arbeit geht weiter, meint Ansgar B. Am Sonntagnachmittag zwischen 14 und 17 Uhr macht er einen Spaziergang und inspiziert dabei öffentliche Baustellen. Er bewertet die Fortschritte nach einem komplizierten Notensystem und benachrichtigt auch mal ein übergeordnetes Amt. So verbindet Ansgar B. immerzu das Angenehme mit dem Nützlichen. Das Angenehme? Das Nützliche? Um die Tendenz abzubauen, immer etwas »Nützliches« tun zu müssen, wollen wir mit den im Folgenden beschriebenen Übungen eine Experimentier- und Probierhaltung aufbauen. Vorab besprechen mit dem Patienten den Begriff der »zweckfreien Unternehmung«. Eine zweckfreie Unternehmung beinhaltet kein von vornherein festgelegtes Ziel, sondern wird unternom-
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men, um etwas Neues auszuprobieren oder um ein kleines Experiment zu unternehmen. Erste Aufgaben. Anschließend sprechen wir mit
ihm Aufgaben wie die folgenden ab: 4 Der Patient soll mindestens drei Stunden in einem Kaufhaus verbringen, ohne die Absicht, etwas zu kaufen. 4 Er soll in ein ihm relativ unbekanntes Viertel der Stadt gehen und sich dort umsehen. 4 Er soll sich in sein Auto setzen und ohne feste Richtung losfahren. Während der Übung soll er sich folgende Fragen stellen: 4 Wie fühle ich mich? 4 Was ist neu für mich? 4 Was interessiert mich? 4 Was möchte ich als Nächstes ausprobieren? Viele Patienten fühlen sich am Anfang solcher Übungen relativ unbehaglich und kommen sich in der jeweiligen Umgebung ausgesprochen fremd vor, weil sie ja, im vollsten Sinne des Wortes, dort »nichts zu suchen« haben. Doch nach einiger Zeit und einigen Übungen treten positive Gefühle in den Vordergrund. Sie berichten darüber, dass sie ein leichtes Abenteuergefühl beschleicht, dass sie sich immer mehr entspannen, dass sie anfangen, sich für bestimmte Aspekte zu interessieren, und dass sie dabei geradezu spannende Aha-Erlebnisse registrieren (»So ist das also, das hätte ich nicht gedacht ...«). Statt die alten Pfade zum x-ten Male abzugehen, wohl wissend, was sie erwartet, dürfen sie einen Blick hinter die Kulissen werfen, Ungewohntes aufspüren und auch, wie es unser Ziel ist, neue Seiten an sich entdecken und sich auf eine Art erleben, die sie bislang nicht kannten. Weitere Übungen. In dem Maße, wie die Patien-
ten sicherer werden, leiten wir sie auch dazu an, im Umgang mit Menschen Neues auszuprobie-
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ren, ohne dass das Ganze peinlich oder zu einer Mutprobe werden soll. So sollen sie z.B. 4 andere Menschen, z.B. Kellner oder Reinigungskräfte, bei der Arbeit beobachten und ihnen anschließend ein paar Fragen dazu stellen, 4 den Betrieb in einem Wettbüro beobachten, 4 sich die Spontaneität von Kindern beim Spielen ansehen usw. 4 sich drei Menschen aussuchen, die ihnen sympathisch erscheinen, und sich fragen, welche Eigenschaften sie ihnen zuschreiben (und dieselbe Übung auch mit ihnen unsympathisch erscheinenden Personen durchführen). Es ist nicht immer leicht, zwanghafte Menschen zu überreden, ihre übliche Ernsthaftigkeit und Leistungsbezogenheit zu überwinden, und sie zu solchen ihnen erst einmal überflüssig erscheinenden Aktionen zu bewegen. Doch fast immer entdecken sie mit der Zeit etwas an sich selbst, das ihnen zu denken gibt. Das kann dann in der Therapie, oft mit großem Gewinn, besprochen werden. Intervention: Absichtliches Überschreiten eigener Regeln und Gewohnheiten Regeln. Experimente können auch in Bezug
auf die tägliche Lebensführung durchgeführt werden. Scheinbar unabänderliche Regeln wie: »Ich muss während meiner gesamten Arbeitszeit jede Minute etwas Nützliches tun« werden für eine bestimmte Zeit außer Kraft gesetzt, mit dem Ziel, die Ergebnisse zu registrieren und auszuwerten. Dann wird sich der Patient zusammen mit dem Therapeuten ein Urteil darüber bilden, ob er das Experiment für eine bestimmte Zeit fortsetzen soll oder ob die betreffende Regel jetzt schon differenziert oder gar aufgehoben werden kann. Hält der Patient die Ergebnisse des Experiments nicht für überzeugend, kann er die Regel wieder in Kraft setzen. Eine solche Vorgehensweise haben wir am Beispiel von Herrn B. kurz vorgestellt (7 Kap. 1.4.2).
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Gewohnheiten. Die Regelmäßigkeit von Ge-
wohnheiten gibt uns Halt. Sie befreit uns auch davon, uns ständig entscheiden zu müssen. Eine einigermaßen präzise Automatik diktiert uns einen Teil unseres Tuns. Doch wir riskieren auch, dass Gewohnheiten zu viel Macht über uns gewinnen. Montaigne (1953) beschreibt die Macht der Gewohnheit sehr treffend so: »Denn fürwahr eine herrische und heimtückische Schulmeisterin ist die Gewohnheit. Sie legt uns ganz allmählich und unvermerkt ihr Joch auf; sie hat sich nach sanften und demütigenden Anfängen mithilfe der Zeit eingenistet und sesshaft gemacht. Nun zeigt sie uns nach und nach ein furchtbares und tyrannisches Gesicht, gegen das wir nicht einmal mehr frei den Blick erheben dürfen. Im schlimmsten Fall sehen wir sie auf Schritt und Tritt die Regeln der Natur vergewaltigen. Was wird dann aus uns?« Gewohnheiten werden unangemessen, wenn die eigene Lebenssituation sich verändert hat, man aber trotzdem an der alten Routine festhält, aus Risikoscheu oder aus Angst vor jeglicher Veränderung (»Man weiß nie, was dann passiert!«). Um die oft erdrückende Macht von Gewohnheiten aufzulockern, empfehlen wir die im Folgenden beschriebene Vorgehensweise. Beispiel. Nehmen wir an, ein Patient hat die Ge-
wohnheit, jeden Tag, bevor er das Haus verlässt, auf den Cent genau die Beträge, den er für verschiedene Ausgaben braucht, auf seine einzelnen (sieben!) Taschen zu verteilen. Ohne diese »Sicherheitsmaßnahme« fühlt er sich völlig hilff los und ausgeliefert. Wir klären zuerst die folgenden Fragen: 4 Lässt sich die Entstehung dieser Vorgehensweise zurückverfolgen? 4 Wie waren die Umstände damals, und welchen Zweck hatte die Vorgehensweise ursprünglich? 4 Welche Vorteile hat sie heute? Welche Nachteile hat sie heute?
4 Wenn die Nachteile überwiegen: Wie ist die Prozedur zu verändern, um mehr Handlungsspielraum zu erlangen? 4 Was traut der Patient sich schon zu, und wie können Veränderungen Schritt für Schritt eingeführt werden (z.B. das Geld für Fahrscheine und Verpflegung in eine, das für sämtliche Einkäufe in eine zweite Tasche legen, dann zum Gebrauch einer Geldbörse übergehen usw.) Die einzelnen Veränderungsschritte können mehrmals mithilfe der Technik der »kognitiven Probe« in der Vorstellung durchgespielt werden. Dann wird ein Experiment auf Zeit verabredet, das anschließend gemeinsam ausgewertet wird.
1.4.8
Ziele: Abschließen lernen, Entspannen lernen
Bei Menschen mit zwanghafter Persönlichkeitsstörung sind die Standards für Leistungen sehr hoch. Sie verspüren, auch wenn die eigentlichen sinnvollen Ziele erreicht sind, das ständige Gefühl des Nichtgenügens. Tellenbach (1974) hat dieses Phänomen »Remanenz« genannt. Es ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass das Bestrafungssystem im Gegensatz zum Belohnungssystem ständig aktiv ist. Das führt auch dazu, dass letztlich Ziele gesetzt werden, die kaum Bezug zum eigenen Selbstsystem haben, in dem die wirklichen Bedürfnisse gespeichert sind (das Selbstsystem ist in der rechten Gehirnhemisphäre angesiedelt). Stattdessen kommen eher selbstferne und wenig flexible Perfektionsziele ins Bewusstsein, von denen sich die Patienten schwer lösen können (Kuhl, 2001). Das führt auch dazu, dass der Akt des Abschließens immer wieder hinausgezögert wird und dem Betroffenen sehr schwer fällt. Abschließen wird im Sinne eines permanenten Perfektionsstrebens gleichgesetzt mit: sich mit einem minderwertigen Produkt zufriedengeben. Wenn
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der bewusste klare Akt des Abschließens fehlt, geschieht die Beendigung einer Handlung mehr beiläufig: durch Ermüdung, Ablenkung oder weil die Situation keine weitere Arbeit mehr ermöglicht. Ein Abschluss, der auf diese Art erfolgt, wird nicht mit einer nutzbringenden Auswertung der Handlungen und ihrer Ergebnisse verbunden, sondern geht eher unter und wird gleich durch die nächste zu erbringende Leistung abgelöst. Es fehlt auch jedes Gefühl des Triumphes, das besagt, dass man erfolgreich war und eines seiner Ziele erreicht hat. Auf diese Weise hat der Betroffene den Eindruck, dass er ständig an einem nützlichen Produkt arbeiten oder weiterarbeiten muss. Einfache, leicht erfüllbare »kleine« Bedürfnisse wie das Bedürfnis nach Entspannung werden weitgehend ignoriert – mit dem Ergebnis einer steigenden Anspannung. Möglichkeiten der Anspannungsreduktion in Form von Pausen werden vernachlässigt, ja geradezu missachtet. Pausen machen. Der natürliche Lebensrhyth-
mus besteht in etwa 75 Prozent Anspannungg und 25 Prozent Pause (beim Atmen, Herzschlag usw.). Pausen helfen, Erlerntes zu festigen und Unwichtiges aktiv zu vergessen, sodass das wirklich Bedeutungsvolle im Blick behalten werden kann. Experimente zum Problemlösen zeigen übereinstimmend, dass Menschen, die ein Problem kurz, aber mit Pausen dazwischen bearbeiten, viel rascher Lösungen finden als Menschen, die länger an dem Problem arbeiten durften, denen aber keine Pause gewährt wurde. Ohne Pause kommt man schwer zu einem neuen Überblick und hält daher an falschen Lösungswegen länger fest. Pausen sind also für ein effektives Tun unerlässlich. Je besser man abschalten und sich eine einigermaßen genussvolle Pause gönnen kann, desto höher ist der Wirkungsgrad des späteren Tuns (Hoffmann & Hofmann, 2009).
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Intervention: Sich von einer Tätigkeit lösen und bewusst abschließen lernen
Bei Tätigkeiten, die wir im Alltag verrichten, besonders bei der Arbeit, tauchen Gedanken auf wie: 4 Könnte ich nicht noch ...? 4 Müsste ich nicht noch unbedingt ...? 4 Vielleicht fehlt hier noch etwas? 4 Wäre es nicht sicherer, wenn ich ...? Solche Gedanken sind typische Anzeichen für einen zwanghaften Perfektionismus und darin begründete Arbeitsstörungen. Im Endeffekt sagen sie uns, dass unser Produkt nie gut genug ist, das wir (nach nicht näher definierten Kriterien) weiter daran arbeiten müssen und unter keinen Umständen die Kontrolle darüber aufgeben können. Letzten Endes mündet das Ganze entweder in eine Art Größenwahn (»Jetzt werde ich es der Welt aber zeigen!«) oder in die Angst davor, sich zu stellen und sein Produkt herzuzeigen. So erhält alles, was wir tun, den Charakter des ewig Vorläufigen – nichts wird je fertig und kann mit gutem Gewissen der Welt als unsere ureigene Leistung präsentiert werden. Abschließen im Alltag üben. Falls in Ihrem All-
tag bei Arbeiten oder bei Handlungen, die Sie verrichten, solche Gedanken und die damit einhergehenden typischen Gefühle der Unsicherheit auftauchen, empfehlen wir Ihnen, folgendermaßen dagegen vorzugehen: 1. Vergegenwärtigen des Sinns, den die Tätigkeit haben soll (»Ich will die Digitalfotos vom letzten Urlaub für eine Präsentation sortieren und den Schwiegereltern schicken.«) 2. Nach Ausführung der Arbeit das Ergebnis begutachten und den Wert der Arbeit anhand des Zweckes, den sie erfüllen soll, einschätzen (»Wegen des Zeitdrucks habe ich die Fotos nur unter vier Kategorien sortiert. Das ist für mich unüblich wenig, da ich mir normalerweise sehr lange den Kopf darüber zerbreche, welche Feinkategorien eingeführt werden
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müssten. Deswegen beschleicht mich jetzt der Gedanke: ›Das ist nicht genügend, das ist grob und primitiv, die Schwiegereltern könnten das lieblos und schlampig finden.‹«) Abstoppen und sich ein Handlungssignal geben (»Dieses Gefühl gibt mir ein Signal dafür, eine energische Haltungg gegen mein übliches perfektionistisches Getue einzunehmen, das ich zur Genüge kenne und das mich schon so viel Zeit und Energie gekostet hat.«) Auf sich selbst besinnen; inneres und äußeres Aufrichten und deutliches energisches Positionieren (»Ich bestimme, wie viele Kategorien angemessen sind. Aus meiner Sicht reichen vier Kategorien völlig aus. Sie geben einen guten Überblick über unseren Urlaub, und ich ahne jetzt schon, wie sich die Schwiegereltern freuen werden. Sollten sie unerwarteterweise daran etwas auszusetzen haben, dann können wir darüber reden.«) Klare Entschlussfassung (»Ich mache jetzt nicht weiter rum, drücke auf die Taste und schicke die Bilder los.«) Wertung des eben Geschehenen (»Ich bin stolz, dass ich so energisch mit der Situation umgegangen bin, ich mache Fortschritte, alles wird immer klarer in meinem Kopf.«) Vorsatz fassen (»Ich nehme mir vor, bei zukünftigen Situationen genauso oder noch energischer gegen meine Tendenz, kein Ende zu finden, vorzugehen.«)
Intervention: Neue Bedürfnisse entdecken und ihnen nachgeben
»Kleine« Bedürfnisse, die nichts mit Leistung zu tun haben, »einfache« Situationen, die nicht von prinzipieller Bedeutung sind, fallen zwanghaften Menschen schwer. Sie gelten ihnen eher als Anlässe, zu trödeln und sich mit Oberflächlichem zufriedenzugeben. Für sie zählen der große Anlass, um die eigene Ernsthaftigkeit unter Beweis zu stellen, und die große Geste mehr. Um zwanghafte Patienten an die einfachen, entspannenden Dinge des Lebens heranzuführen und ihnen
mehr Lebendigkeit einzuflößen, ist am Anfang die Autorität des Therapeuten oft unerlässlich. Das ist am besten durch dessen Gegenwart bei den ersten Übungen gewährleistet. Übung 1. Mit der Vornahme, die Welt mit neuen
Augen zu sehen, gehen Therapeut und Patient auf eine belebte Straße, einen Markt oder Ähnliches. Sie sind nicht in Eile, sie schlendern an den Läden und an den vielen Menschen vorbei. Der Patient bekommt die Aufgabe, seinen Blick schweifen zu lassen (statt wie sonst »röhrenförmig« fokussierend nur das in den Blick zu nehmen, was ihm bedeutsam erscheint). Er soll alles aufzählen, was ihm sympathisch ist, was ihn interessiert und ihn im wahrsten Sinne des Wortes anzieht. Er zählt diverse Gegenstände auf, die er wie nebenbei erblickt, Menschen mit einer bestimmten Kleidung, farbenfrohe Gegenstände, Blumen usw. – Wahrnehmungen, die geeignet sind, ihn positiv und froh zu stimmen. Nach dieser ersten Phase soll der Patient spontan dorthin gehen, wo es ihm am besten gefällt oder wohin ihn ein Bedürfnis (z.B. der Wunsch, etwas zu essen) zieht. Nun stehen beide an einem Eiskiosk. Auch hier gilt: Der Patient soll einen Weitwinkelblick einnehmen, nicht jede Zeile genau durchlesen, nicht alle Preise registrieren usw. Er trifft die spontane Entscheidung: »Ich esse eine Kugel Nougat- und eine Kugel Erdbeereis.« Beide setzen sich auf einen Stuhl. Etwaige Verspannungen werden bewusst gelockert. Der Patient hat nichts anderes zu tun, als einfach da zu sein und sein Eis zu genießen. Treten Grübeleien auf, wie oft in Ruhephasen, so soll der Patient sie wahrnehmen, akzeptieren (»Es ist in Ordnung, wenn dieser Gedanke kommt«) und wenn möglich vertagen und weiterziehen lassen. Der Gedanke ist nicht aus der Welt, der Patient kann sich später damit beschäff tigen. Übung 2. Derselbe Patient klagt: Es darf ihm zu
Hause nicht gut gehen. Wenn er versucht, zur
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Ruhe zu kommen, so treten sofort Gedanken auf an zu erledigende Einkäufe, Briefe, die zu schreiben sind, und andere Pflichten, die ihn sehr schnell einengen und beunruhigen. Liest er Zeitung, dann nur für eine vorher genau festgelegte Zeit und auf einem unbequemen Stuhl in der Küche, »so als dürfte es mir nie richtig gut gehen.« Mit dem Patienten werden Übungen mit auff steigendem Schwierigkeitsgrad abgesprochen, die in Richtung »Es sich allmählich gemütlich machen und dabei zu Genuss und Ruhe kommen« gehen. Die ersten Aufgaben sind: 4 Auf dem Sessel im Wohnzimmer die Zeitung lesen, ohne sich anzulehnen. 4 Sich beim Lesen anlehnen. 4 Die Beine hochlegen. 4 Ein Kapitel in einem »nutzlosen« Buch (d.h. kein Fachbuch) lesen. Vor den ersten Übungen ruft der Patient kurz den Therapeuten an, der ihn ermuntert. Übung 3. Der Patient hört zwar Musik, aber nur
bei anderen und in Konzerten, »nicht zu Hause, da, wo Musik nicht hingehört«. Auch hier werden abgestufte Ziele festgelegt: Die Zeit des Musikhörens wird von anfangs zehn Minuten bis zu einer Stunde erhöht. Die Prozedur fällt dem Patienten anfangs schwer, aber nach drei Wochen hat er sein Ziel erreicht und kann die Musik einigermaßen genussvoll erleben. Er fühlt sich danach heiterer und leichter. Die Intrusion von Pflichtgedanken wird zwar wahrgenommen und registriert, aber es gelingt ihm immer besser, die Aufmerksamkeit sofort auf die Musik zu lenken.
1.4.9
Ziele: emotionale Belebung, Förderung von Toleranz
Der Umgang zwanghafter Personen mit Emotionen
Emotionen zeigen uns an, ob unsere grundlegenden Bedürfnisse in einer bestimmten Situa-
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tion eher befriedigt oder eher frustriert werden. Sie lenken uns entweder durch eine positive Empfindung in eine bestimmte Richtung oder durch eine negative Empfindung von einer bestimmten Richtung weg. So signalisiert uns Freude das unmittelbare oder baldige Eintreten eines von uns gewünschten Ereignisses, während Angst ein Anzeichen für eine Bedrohung ist. Ärger oder Wut treten dann auf, wenn wir eine Grenzüberschreitung oder einen Angriff seitens eines anderen erkennen, und Traurigkeit zeigt uns einen erlittenen oder bevorstehenden Verlust an. Der zwanghafte Mensch gilt zu Recht als jemand, der den eigenen Gefühlen extrem skeptisch gegenübersteht, ihnen misstraut und sie eher als einen Einbruch von schwer einzuschätzenden und unkontrollierbaren Elementen wertet. Seine Sicht und seine Bewertung der Dinge basieren auf Verstand und Moral. Insofern erscheint er seinen Mitmenschen nicht selten als verkopft, kühl bis kalt, ja bisweilen als herzlos. Aber nicht nur die eigenen Emotionen, sondern auch die der anderen machen ihm zu schaff fen, wenn er sie überhaupt wahrnimmt und richtig deuten kann. Häufig interpretiert er sie als Anzeichen für ein disziplinloses Sich-gehen-Lassen. In konkreten Lebenssituationen empfindet er sie als fehl am Platz, als Störung und als Bedrohung. Er kann sie also weder bei sich selbst noch bei anderen als brauchbare Leitlinien des Handelns ansehen. Meist übergeht er sie, und wenn er sie überhaupt registriert, dann neigt er dazu, sie mit pseudorationalen Überlegungen zu überspielen und zuzudecken. Mit dem Versuch einer Förderung der Emotionen bei zwanghaften Menschen verfolgen wir vor allem zwei Ziele: 1. den Aufbau einer weniger einseitigen Informationsgewinnung und -verarbeitung, 2. eine größere Durchlässigkeit für Signale von der eigenen Person und von anderen. Informationsgewinnung und -verarbeitung.
Bei zwanghaften Menschen steht eine gedank-
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liche Verarbeitung und Bewertung von Situationen im Vordergrund. Sie überlegen, vergleichen, bilden Zusammenhänge, ziehen Schlüsse usw. Doch auch dann, wenn die kognitive, d.h. die gedankliche Evaluation einer Situation eine einigermaßen eindeutige Einschätzung vermittelt, reicht sie häufig nicht aus, um eine Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Verhalten zu treffen. Erst wenn Gefühle daran beteiligt sind, erhalten wir ein vollständiges Erleben, das uns erlaubt, mit einiger Sicherheit zu handeln. Kognitive Prozesse und gefühlsbedingte Einschätzung wirken immer zusammen. Entscheidend ist ihr Verhältnis zueinander. Und das ist bei Menschen mit zwanghafter Persönlichkeit ganz eindeutig in Richtung »Verstand« verschoben. Das beraubt sie einer wichtigen Informationsquelle und lässt sie oft so einseitig erscheinen. Dazu eine Anekdote. Ein Bewerbungsgespräch. Als der Baron Philippe de Rothschild in den 1960er-Jahren einen neuen Direktor für seine Bank suchte, traf er sich unter einem Vorwand in einem Pariser Restaurant mit einem jungen Mann, der ihm empfohlen worden war: Georges Pompidou. Dieser hatte gerade sein Studium an der Elitehochschule École Normale Supérieure mit einer Doktorarbeit über Charles Baudelaire abgeschlossen und ein Buch darüber veröffentlicht. Sie redeten beim Essen über Literatur, das französische Hochschulsystem, die aktuelle Damenmode, Bordeaux-Weine und dies und jenes. Beim Kaffee fragte de Rothschild völlig unvermittelt: »So, kommen wir zur Sache. Wollen Sie den Posten des Direktors meiner Bank? Nicht nur zum Repräsentieren, sondern als richtiger Leiter. Ja oder nein?« Auf den Einwand Pompidous, er habe doch nicht die geringste Ahnung von Finanzen, entgegnete der Baron: »Wissen Sie, junger Mann, das ist völlig unwichtig für mich. Ich habe Sie kennengelernt. Sie haben mir interessante Dinge erzählt, die ich bisher nicht wusste, und mich damit amüsiert. Ich habe festgestellt, dass
Sie anständig Hummer essen können. Vor allem habe ich mich in Ihrer Gegenwart die ganze Zeit wohlgefühlt. Es kann kein Fehler sein, Sie einzustellen. Das nötige Fachwissen wird jemand wie Sie sich in kurzer Zeit aneignen. Wollen Sie den Posten? Ja oder nein?« (Und wie wir wissen, gehen die Rothschilds nicht leichtfertig mit ihrem Geld um!) Pompidou nahm an. Einige Jahre später wurde er als Nachfolger de Gaulles der zweite Präsident der Fünften Republik. Wie hätte ein anderer dieses Vorstellungsgespräch geführt, jemand, der alte Orden sammelt, statt wie Philippe de Rothschild nahezu seine ganze Freizeit auf seinem Weingut im Haut-Médoc zu verbringen? Durchlässigkeit für Signale. Gefühle liefern uns
überlebenswichtige Informationen über eigene Zustände und Bedürfnisse. Bei zwanghaften Menschen ist dieses Informationssystem schlecht entwickelt, verkümmert oder von verstandesmäßigen Prozessen überlagert. Deshalb wirken sie steif, unflexibel, von ihren Bedürfnissen abgeschnitten – kurz: wie Automaten. So fühlen sie sich auch oft und beschreiben sich als innerlich leer. Daraus ziehen sie allerdings keine anderen Schlussfolgerungen als die, dass sie ihr System des Effizienzstrebens und der moralischen Vorschriften noch enger machen müssen. Vor allem in der Interaktion mit anderen spielt das Lesenkönnen der Signale von Emotionen eine bedeutende Rolle. Wenn es versagt, fehlt eine grundlegende regulierende Funktion im Zusammenleben von Menschen. Beispiel. Nachdem Herr Wand das Geschäft, das
seine Frau und er jahrzehntelang erfolgreich betrieben hatten, von einem Tag auf den anderen verkauft hatte, kam er nach Hause, teilte ihr den Sachverhalt lapidar mit, ging in die Küche und holte sich ein Bier. Sie berichtet: »Ich war so erschlagen, dass ich den ganzen Abend kaum ein Wort herausbekam. Er selbst sprach gar nicht mehr darüber, vermutlich, weil es ein Fußball-
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länderspiel im Fernsehen gab.« Am anderen Morgen beim Frühstück legte er ihr einen sehr detailliert ausgearbeiteten Plan von dem vor, was in den nächsten Wochen zu tun war, um den Verkauf abzuwickeln. Auf ihre Frage: »Warum hast du das denn so plötzlich getan? Warum hast du nicht mit mir darüber geredet?«, sagte er: »Wir haben doch im letzten Urlaub darüber gesprochen. Ich habe eine gute Gelegenheit ergriffen. Ich gehe davon aus, dass es auch in deinem Sinne ist.« Damit war die Angelegenheit für ihn erledigt. In den nächsten Tagen und Wochen wurde Frau Wand zunehmend niedergeschlagen und apathisch. Sie verbrachte zuerst halbe, dann ganze Tage zu Hause auf der Couch, während er draußen zu tun hatte. Ihr Mann merkte offensichtlich nichts und sprach sie auch nicht auf ihren Zustand an. Gelegentlich berichtete er von Erfolgen bei den letzten Geschäften und sagte dann jedes Mal: »Ich gehe davon aus, dass es auch in deinem Sinne ist.« Als ihr Zustand sich weiter verschlechterte, sagte er: »Du wirkst etwas müde. Ich kann es nicht übersehen. Melde dich doch einmal bei deinem Frauenarzt an.« Der Frauenarzt fand, sie sei gesund, und empfahl ihr einen »Tapetenwechsel«. Herr Wand kaufte ihr ein Flugticket für eine Insel. Als er erfuhr, dass sie dort einen Suizidversuch unternommen hatte, holte er sie ab. Frau Wand erzählt: »Die ganze Zeit saß er neben mir im Flugzeug und sagte kein Wort. Kurz vor der Landung informierte er mich: ›Ich habe mit einem Arzt geredet und dir ein Zimmer in einer Klinik reservieren lassen. In einer der besten. Mir ist egal, was es kostet. Einige deiner Sachen habe ich schon dorthin gebracht. Ich werde dich jeden Samstag um 16 Uhr besuchen. Gute Besserung.‹« Intervention: Sensibilisierung für eigene und fremde emotionale Reaktionen
Eine Intervention zur Sensibilisierung für eigene und fremde Gefühle kann auf folgende Arten erfolgen:
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4 Durch die Erläuterung der wichtigen Rolle von Gefühlen. 4 Durch eine Anleitung zum Entdecken von eigenen Gefühlen im Alltag. Dabei wird mit dem Patienten ein bestimmtes Gefühl wie Zufriedenheit oder Freude abgesprochen, das er dann in seinem Alltag »suchen geht«. Er fragt sich häufiger: »Verspüre ich jetzt so etwas wie Freude?«, oder er fragt sich am Abend: »Gab es heute Situationen, bei denen ich das Gefühl, wenn auch nur im Ansatz, verspürt habe?« Um ihm noch einmal vorzuführen, wie sich das entsprechende Gefühl »anfühlt«, können am Anfang der Übung frühere Episoden aus seinem Leben reaktiviert werden, bei denen er zweifelsfrei Freude empfunden hat. 4 Durch Wahrnehmen- und Lesenlernen der Gefühle anderer. Dabei wird der Patient dazu angeleitet, Menschen aus seiner Umgebung (im Bus, im Büro, zu Hause) genauer anzusehen (ihr nonverbales Verhalten, ihre Körperhaltung, ihren Gesichtsausdruck) und Vermutungen anzustellen, was in ihnen vorgeht, ob sie Emotionen verspüren, und wenn ja, welche, und welche Bedürfnisse sie bewegen. Menschen, die ihm nahestehen, soll er einmal »mit anderen Augen« beobachten und versuchen, auf ihren jeweiligen Gefühlszustand zu schließen. Er soll sich auch fragen, ob eine Botschaft für ihn darin enthalten ist (»Der scheint sich über mich zu ärgern, was werde ich wohl in seinen Augen falsch gemacht haben?«), was sie in ihm auslöst und ob sie ihm irgendein Handeln nahelegt. 4 Durch das Wahrnehmenlernen eigener Gefühle in Alltagssituationen: In seinem täglichen Leben soll sich der Patient häufiger fragen: »Was geht gefühlsmäßig jetzt in mir vor, und welches Verhalten bringt dieses Gefühl mir nahe?« 4 Durch die Technik der emotionszentrierten Erinnerungsdifferenzierung (Hoffmann & Hofmann, 2002a).
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Emotionszentrierte Erinnerungsdifferenzierung. Bei dieser Technik wird der Patient zu-
nächst gebeten, der Reihe nach kurze Skripts über seine Erinnerungen an wichtige Szenen und Episoden aus seinem Leben zu verfassen, z.B. an die Zeit seines Abschlussexamens, an seine Hochzeitsreise oder an seinen ersten Tag in seiner Dienststelle usw. Erfahrungsgemäß fallen die Erinnerungen in ihrer ersten Version recht »emotionslos« aus. Meist handelt es sich um sachliche Berichte oder Schilderungen, die zwar Ansichten und Wertungen enthalten, aber kaum Emotionen. Im zweiten Schritt werden die einzelnen Szenen oder Erzählungen im Gespräch mit dem Therapeuten so genau wie möglich aktualisiert. Durch Befragung wird der Patient dazu angeleitet, sich auf Details zu besinnen, das Verhalten anderer Personen näher zu beschreiben, sich an damalige eigene Stimmungen und Gefühlsregungen zu erinnern. Als Ergebnis der gemeinsamen Arbeit soll er dann ein neues Skript über das Ereignis verfassen, das diese genaueren Informationen enthält. Schließlich werden die beiden Skripte nebeneinandergelegt und miteinander verglichen: 4 Wodurch unterscheiden sich die beiden Skripte? 4 Welches kommt der Wirklichkeit am nächsten? 4 In welchem sind mehr Informationen über den Patienten und über andere enthalten? 4 Wie hätten sich die zusätzlichen Informationen damals verwerten lassen, auch zum eigenen Vorteil? 4 Was kann der Patient für sein jetziges Vorgehen daraus lernen? Toleranz
Menschen mit zwanghafter Persönlichkeitsstörung stehen sich selbst, d.h. dem Kern ihres Wesens, misstrauisch und voller Zweifel und Unsicherheiten gegenüber. Da könnte etwas in ihnen und an ihnen sein, das nichts Gutes ver-
heißt. Deshalb sind sie ständig bemüht, eine Überlebensstrategie zu entwickeln, mit der sie sich an die Kandare nehmen. Ein dichtes Regelund Normenwerk, das sozial angemessen erscheint, schnürt sie ein und soll sie daran hindern, »auf dumme Gedanken zu kommen«. Ihr Selbstwertgefühl machen sie davon abhängig, wie gut es ihnen gelingt, sich diesen Regeln und Normen unterzuordnen – im Vergleich zur »laschen« Art ihrer Mitmenschen. Sie beurteilen andere danach, ob sie ähnliche Vorstellungen vom Ernst des Lebens und der Kompromisslosigkeit, mit der man seine Aufgaben erfüllen muss, vertreten und wie reibungslos sie sich der Moral und den Diktaten ihres »Mentors« (des Zwanghaften) unterordnen. Fragen, die sie stellen, Zweifel, die sie äußern, selbstständiges Denken und Tun sind höchst suspekt und erscheinen wie der Anfang einer Revolte, die droht, alles Geordnete und Bewährte zum Einsturz zu bringen. Beispiel. Herr Schwarz, der im Beruf und auch zu
Hause durchaus seinen Mann steht, neigt, wenn er kränkelt, zu einer Wehleidigkeit, die man geradezu als hypochondrisch bezeichnen kann, selbst wenn es sich nur um eine leichte Erkältung handelt, denn: »Man weiß ja nie, wie das enden kann.« Als er einmal in einem solchen Zustand zum bestimmt zwanzigsten Mal an diesem Tag seinem Thermometer entgegengefiebert hatte und die Ergebnisse der Messungen schön säuberlich in sein Gesundheitsbuch eintrug, sprach ihn sein 14-jähriger Sohn mit den Worten »Du misst aber oft Fieber!« an. Diese für andere sicher harmlos klingende Bemerkung löste bei Herrn Schwarz eine Art Erdrutsch bzw., da das Ganze sich im Winter abspielte, eine Lawine aus. Der Sohn wurde ans Krankenbett zitiert, musste sich einen halbstündigen Vortrag über »Sorgfalt im Umgang mit der eigenen Gesundheit« anhören und wurde dazu verpflichtet, ein eigenes Gesundheitsbuch anzulegen. Darin sollte er nach einem Schema, das der Vater nach seiner Genesung (»Wenn ich über-
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haupt wieder gesund werde«) für ihn ausarbeiten wollte, Eintragungen vornehmen. Außerdem sollte er gleich mehrere Passagen aus dem Werk über Erziehung auswendig lernen, an dem der Vater seit Jahren arbeitete. Schließlich wurden ihm als Sanktion für seine Respektlosigkeit die erlaubten Ausgehzeiten am Wochenende um eine Stunde gekürzt. Der Sohn sagte nichts. Was hätte er auch sagen sollen? Intervention: Veränderung des Umgangs mit eigenen Verfehlungen
Ein zwanghafter Mensch ist mit einer außerordentlichen Sensibilität für schuldhafte Verfehlungen ausgestattet, und es scheint für ihn nur eingeschränkte Möglichkeiten der Schuldentlastung zu geben, auch wenn eine solche in den Augen seiner Mitmenschen durchaus legitim wäre. Jede noch so kleine Verfehlung, die er sich vorwirft, erzeugt in ihm einen Druck, der sich leicht potenziert: Aus dem Sünder wird dann ein Verbrecher. Wir fassen diese Entwicklung zunächst zusammen und beschreiben dann, wie wir sie unterbrechen können. Ertappt sich ein solcher Mensch bei einer Verfehlung in seinem Sinne, so tritt zuerst eine Schreckreaktion mit starker körperlicher Anspannung auf. Gedanklich geht es dann meist schon nicht mehr um »irgendeinen Fehler«, sondern das Leben steht sozusagen still, es geht um alles oder nichts. Nach kurzer Zeit treten Katastrophenbefürchtungen auf, die zu der jeweiligen Tat passen: »Ich werde gekündigt. Ich komme ins Gefängnis. Ich werde verdammt. Meine Frau trennt sich von mir. Ich werde existenziell vernichtet.« Ein Relativieren und gedankliches »Herabregulieren« ist dann oft nicht mehr möglich. Das Selbstbestrafungssystem wird aktiviert und äußert sich in starken Selbstvorwürfen (Kuhl, 2001). Man ist sich selbst auf unverzeihliche Art untreu geworden und hat sich aus der Gemeinschaft der Menschen ausgeschlossen. Man steht wie der einsame Angeklagte in einer Welt, die einem wie ein riesiges, bedrohliches Gericht vorkommt.
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Vorbereitende Erläuterungen. Um gegen diesen
hier geschilderten Verlauf zu agieren, geben wir zunächst einige vorbereitende Erläuterungen: 4 Ein Schuldgefühl ist ein schmerzhaftes Gefühl der Missbilligung sich selbst gegenüber. Es ist eine Reaktion auf ein persönliches Vergehen, die mit Bedauern verbunden ist. Der Sinn des Schuldgefühls besteht nicht darin, den, der es empfindet, »fertigzumachen« oder zum Verzweifeln zu bringen. Es soll vielmehr zu einer Wiedergutmachung und zu einem Ausgleich führen. Dadurch stärkt es die Bindungen in sozialen Beziehungen und erleichtert ein humanes Zusammenleben. Ferner hat es zum Ziel, den Betroffenen für die Zukunft zu »bessern«. 4 Anschließend wird auf den unterschiedlichen Schweregrad von Verfehlungen hingewiesen. Verfehlungen sind nicht alle gleich gravierend. Um das zu verdeutlichen, soll der Patient auf einer einfachen Skala von 0 bis 100 verschiedene mögliche Verfehlungen nach seinen subjektiven Maßstäben einordnen: Was bekommt den Schweregrad 100? Welche Tat setzt er auf 80, welche auf 60, 40, 20? (Später kann er versuchen, eigene Verfehlungen, die Schuldgefühle auslösen, dort einzuordnen.) 4 Schuldgefühle auslösende eigene Taten entstehen immer in einem bestimmten inneren und äußeren Kontext. Das wird an eigenen Beispielen erarbeitet. Dadurch werden sie nicht wertneutral, aber besser verständlich. 4 Schuldgefühle sollen zu konstruktiven, für die eigene Person und für andere förderlichen Ergebnissen bearbeitet werden. Abstoppen. Um das Abgleiten in Katastrophen-
befürchtungen und Selbstvorwürfe zu verhindern, soll der Patient, sobald er nach einem Fehler die ersten Reaktionen (Schreck, Erstarren) verspürt, den Prozess abstoppen, indem er sein Gehirn sozusagen »einfriert«: »Halt, bleib ruhig, jetzt keine Panikreaktion.« Das begleitet er durch
44 Kapitel 1 · Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung
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körperliche Gegenbewegungen gegen die innere Starre: Er erweitert den Brustraum durch tiefes Atmen und lockert Schultern, Arme und Handgelenke als Voraussetzung für Denkflexibilität. Erhöhung der Selbstdistanz. Um die Distanz zu
sich selbst zu erhöhen und auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, soll der Betroffene nun versuchen, die vorangegangene Situation so zu beurteilen, als sei jemand anders betroffen. Er stellt sich folgende Fragen: 4 Was ist wirklich passiert? 4 Aktivierung des inneren Anklägers: Woraus ergibt sich die eigentliche Schuld der Tat? 4 Aktivierung des inneren Verteidigers: In welchem inneren und äußeren Kontext ist die Tat erfolgt? Ergeben sich daraus mildernde Umstände? Umgang mit Schuldgefühlen. Für einen kons-
truktiven Umgang mit Schuldgefühlen sind die folgenden Fragen zu klären, und die Ergebnisse sind in die Tat umzusetzen: 4 Gebe ich zu, dass das, was ich getan habe, nicht in Ordnung ist? 4 Gibt es jemanden, mit dem ich über die Angelegenheit reden sollte? 4 Wie ist die Angelegenheit als Ergebnis meiner Überlegungen schweregradmäßig einzuordnen? 4 Bereue ich aufrichtig, was ich getan habe? 4 Sind irgendwelche Wiedergutmachungen zu leisten (Entschuldigung, materielle Wiedergutmachung usw.)? 4 Welche ernsten Vorsätze fasse ich für die Zukunft? 4 Bin ich in der Lage, mir zu verzeihen? Falls nicht: Was muss noch getan werden, damit ich es kann? Intervention: Veränderung des Umgangs mit fremden Verfehlungen
Menschen mit zwanghaft-autoritärer Persönlichkeitsstruktur neigen zu »autoritären Aggressio-
nen«. Damit ist die Tendenz gemeint, nach anderen Ausschau zu halten, die konventionelle Werte verletzen, und sie dafür zu bestrafen. Ein Beispiel dafür ist die Dienstanweisung, die Herr Schwarz seinen Mitarbeitern aufzwingen wollte (7 Kap. 1.3.2): Er wollte sie dazu bewegen, Autokritik zu betreiben, um sie anschließend dafür zurechtweisen zu können. Autoritäre Aggression besteht aber auch darin, bei einem Menschen, der sich angeblich einer Verfehlung schuldig gemacht hat, nach weiteren – gegenwärtigen oder vergangenen – Sünden zu suchen, um ein möglichst vollständiges Bild seines Versagens zu erlangen. Wir versuchen unsere Patienten dazu zu bewegen, auf solche Manöver zu verzichten, strikt bei der aktuell gegebenen Situation zu bleiben und nicht zu einem inquisitorischen Rundumschlag auszuholen. Wir begründen dies damit, dass es darum geht, sich mit bestimmten konkreten Taten auseinanderzusetzen und nicht einen Menschen in seiner Gesamtheit zu verurteilen. Persönliche Betroffenheit. Die Reaktion auf die
Verfehlungen anderer ist dann besonders heftig und kompromisslos, wenn der Beobachter sich dadurch von jemandem, zu dem er eine enge Beziehung unterhält, persönlich angegriffen fühlt. Die »Tat« kommt ihm dann vor wie ein absichtliches Sabotieren all der Bemühungen, mit denen er versucht hat, dem Betreffenden Moral, Sitte und Anstand beizubringen. Die Bemerkung, die Schwarz junior über das Fiebermessen seines Vaters machte, kam bei diesem daher folgendermaßen an, wie er später berichtete: »In einem Augenblick, in dem ich wehrlos an mein Krankenlager gefesselt war, nutzte mein Sohn heimtückisch die Gelegenheit, um zu rebellieren – gegen mich und gegen all das Gute, das ich ihm im Laufe der Jahre beizubringen versucht habe. So war das alles umsonst. Jetzt rächt sich die ungesunde Art, mit der meine Frau ihn verwöhnt und verzärtelt hat.« Macht der »Beleidigte« sich die Mühe, den »Täter« nach der Bedeutung einer Bemerkung zu
45 1.4 · Therapie bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung
fragen, oder lässt er sich die Motive seines Handelns erläutern, so ergibt sich meist ein anderes Bild, das nicht so einseitig und nicht nur auf die eigene Person bezogen ist. Wenn es nicht möglich ist, den »Täter« auf diese Weise einzubeziehen, kann die einseitige, ichbezogene Interpretation des Beleidigten durch kognitive Therapie infrage gestellt und differenziert werden (»Herr Schwarz, Sie gehen davon aus, dass Ihr Sohn Ihnen seine Missachtung zeigen wollte. Das ist erst einmal eine Annahme. Welche Gründe könnte er noch gehabt haben, diese Bemerkung zu machen?«). Theorie der »bösen Tat«. Zwanghafte haben ne-
ben ihrer persönlichen Betroffenheit meist eine recht einseitige »Theorie der bösen Tat«. Sie lautet etwa folgendermaßen: »Der Täter war völlig frei und konnte sich zwischen gut und böse entscheiden. Er wusste genau, was richtig gewesen wäre, und hätte sich ohne Schwierigkeit dazu bekennen können. Stattdessen hat er sich aus Nachlässigkeit, aus niederen Motiven oder um sich einen Vorteil zu verschaffen, für das Falsche entschieden. Das ist unverzeihlich und kann nur Ärger und Abscheu in einem erregen.« Bei einer solchen Interpretation gibt es keinerlei Bereitschaft, den »Täter« zu verstehen, auf ihn zuzugehen oder ihm gar zu helfen. Wir wollen in der Therapie anhand der Analyse konkreter Beispiele aufzeigen, dass die Verhältnisse nicht immer so klar sind. Menschen können nicht immer klar zwischen richtig und falsch trennen. Sie stehen auch unter dem Einfluss von Gefühlen, befinden sich in einer Notlage oder werden von anderen beeinflusst. Handlungen geschehen also in einem bestimmten Kontext. Wer die Gesamtsituation versteht, kann zu einem besseren und fundierteren Urteil gelangen als jemand, der bei dem geringsten Indiz für Schuld gleich losschlägt. (Zu Demonstrationszwecken soll der Therapeut die Verhaltensanalyse einer eigenen »bösen Tat« vornehmen.)
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Empathie statt Strafe. Zwanghafte neigen dazu,
Verantwortung für den Täter zu übernehmen, allerdings auf dem Hintergrund einer recht einseitigen »Besserungstheorie«. Sie gehen davon aus, dass sich Menschen dadurch bessern, dass sie massiv für ihre Verfehlungen bestraft werden. Dann lernen sie, sich so zu verhalten, dass sie eine erneute Strafe abwenden können. Eine psychologisch fundiertere Theorie der Besserung gründet sich auf die Trias Empathie – Verständnis – Hilfestellung. Sie erzielt langfristig besserte Ergebnisse, schädigt weniger die Beziehung des »Erziehers« und des »zu Erziehenden« und sorgt für ein humaneres Klima im Umgang miteinander. Wenn es schon nicht gelingt, Patienten ganz auf ihre autoritären Denkweisen und Handlungen verzichten zu lassen, so wollen wir sie zumindest mit einer alternativen Sichtweise bekannt machen. Mitmenschlichkeit. Egal, wie man einen »Sün-
der« betrachtet und wertet, man darf ihm niemals die menschliche Solidarität aufkündigen. Ein eindrucksvolles Beispiel, diesmal aus der Perspektive eines Gequälten, gibt uns ein tibetanischer Mönch. Danach gefragt, wie es ihm gelingen konnte, in einem Foltergefängnis zu überleben, erzählte er: »Als die beiden mich folterten und ich riesige Schmerzen hatte, überkam mich plötzlich ein großes Mitgefühl mit ihnen. Wie konnten sie eine so schreckliche Arbeit an Menschen verrichten? Was für arme, irregeleitete Wesen. Mich überkam daraufhin plötzlich eine Art tiefer und gelassener Ruhe. Die Schmerzen spürte ich viel weniger, und ich konnte mich innerlich immer mehr von der Situation lösen.« Was war geschehen? Dadurch, dass der Mönch auf der konkreten menschlichen Ebene blieb und sogar mit Mitleid auf abscheulich handelnde Menschen reagierte, konnte er sich selbst unter solch widrigen Bedingungen über die Situation erheben. Hass hätte seine Schmerzen nur noch verstärkt. So aber wuchs er im vollsten Sinne des Wortes über sich hinaus.
46 Kapitel 1 · Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung
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Umso mehr sollten jene, die in der überlegenen Position sind, eine gewisse Souveränität behalten und andere weiter als ihre Mitmenschen ansehen, auch wenn diese sich etwas zuschulden haben kommen lassen. Aus einer »galaktischen« Perspektive, d.h. wie von einem fremden Stern betrachtet, sind immer alle untrennbar miteinander verbunden: Sünder und Richter, Beleidiger und Beleidigte, Gefangene und Gefängniswärter, Helden und Versager, Tragöden und Clowns – alles eine Mischpoke. Perspektivwechsel. Wundt meinte, Weisheit sei
Einsicht in die Grenzen des menschlichen Lebens. Ein Rat an unsere Patienten: Gehen Sie auf einen Friedhof in Ihrer Nähe. Stellen Sie sich einmal vor einen beliebigen Grabstein. Lesen Sie den Namen, die Geburts- und Sterbedaten. Dann stellen Sie sich diesen Menschen in Ihrer Fantasie vor. Wer wird er oder sie gewesen sein? Wie war sein Leben? Wie mag er ausgesehen haben als Kind, Jugendlicher, Erwachsener? Welche großen Wünsche hatte er wohl in seiner Jugend? Wovon hat er geträumt? Wie viel davon ist in Erfüllung gegangen, wie viel nicht? Ob er auch gehasst hat, Schuld empfunden hat, Ärger und Angst? Hing er auch an Normen und an scheinbar absoluten Werten, die ihn unfrei machten und blockierten, bis er zu einer bloß noch funktionierenden Maschine wurde? Musste das bei ihm so sein? Soll das bei mir so sein? 4 Lohnt es sich, nicht nur am Gesetz, sondern am Buchstaben des Gesetzes kleben zu bleiben? 4 Lohnt es sich, Menschen, die Fehler machen, wie ich auch, zu verdammen und ein Leben lang zu verfolgen? 4 Kann ich mich nicht durch Vergebung, durch Versöhnung mit ihnen ein Stück frei machen? 4 Ich möchte dankbar sein, dass ich lebe, dass ich da bin, ich möchte mein Leben ganz und gar annehmen. 4 Ich möchte mich aussöhnen. 4 Ich will auch allen Menschen dankbar sein, die mir bis jetzt geholfen haben.
1.5
Selbsthilfe bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung
1.5.1
Worum geht es bei Ihrer Selbsthilfe?
Wir gehen davon aus, dass Sie keinerlei Bedürfnis verspüren, ein »anderer Mensch« zu werden. Wir haben auch keinerlei Ambitionen, Ihre Persönlichkeit »umzustrukturieren« oder philosophisch »umzukonditionieren« (wenn dies denn möglich wäre). Sie gehören – einmal abgesehen von Ihrer Individualität und Ihrem lebensgeschichtlichen Werdegang – zu einer Gruppe von Persönlichkeiten, die einige gemeinsame Züge aufweisen. Diese Persönlichkeitszüge sind an sich alle hochwertig und stellen eine nützliche Ausstattung zur Lebensbewältigung dar. Außerdem stellen Sie hohe Ansprüche an sich und an andere und sind bereit, Opfer zu bringen, um sie zu erfüllen. Das alles sind Tugenden, die so bedeutsam sind, dass viele Menschen Sie darum beneiden. Doch für einige dieser Tugenden gilt, was so häufig im Leben gilt: Weniger wäre mehr. Sie merken an einigen Stellen, dass es zu viel wird, dass Sie zu unflexibel reagieren und anfangen, sich beengt zu fühlen. Wir haben Sie in diesem Buch mit recht extremen Beispielen konfrontiert, bei denen Sie sich mit Recht gesagt haben werden: So ist das nicht bei mir. Das haben wir getan, um ganz deutlich zu machen, um was es geht. Wenn Sie dennoch den Entschluss fassen, etwas verändern zu wollen, dann möchten wir Ihnen dabei helfen. Doch Sie behalten die ganze Zeit über die Kontrolle. Lassen Sie sich nichts einreden, hinter dem Sie nicht stehen können. Lassen Sie sich nicht von etwas abbringen, was Ihnen wichtig und zentral für Ihre Person erscheint. Bitte beantworten Sie zunächst der Reihe nach die Fragen des folgenden Fragebogens.
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47 1.5 · Selbsthilfe bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung
Aussage
Ja
Nein
»Ich bin mit meinem jetzigen Leben völlig zufrieden.« Für den Fall, dass Sie »nein« angekreuzt haben: a) »Mein Problem besteht hauptsächlich darin, dass die Menschen um mich herum sich ändern müssen.« b) »Mein Problem besteht auch darin, dass ich mich ändern sollte.« Für den Fall, dass Sie auch b. angekreuzt haben: a. »Ich fühle mich richtig krank und hilflos, ich möchte professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.« b. »Ich traue mir zu, meine Probleme mittels Selbsthilfe in Angriff zu nehmen.« Für den Fall, dass Sie b. angekreuzt haben, schlagen Sie bitte Kap. 1.4.2 auf, und stellen Sie fest, von welchen der Aussagen Sie sich betroffen fühlen.
1.5.2
So sollten Sie bei Ihrer Selbsthilfe vorgehen
1. Suchen Sie sich einen ersten Ansatzpunkt für Ihren Veränderungsversuch. Setzen Sie sich hin, und überlegen Sie, welche Erfahrungen Sie in diesem Bereich in letzter Zeit (die letzten zwei bis drei Wochen) gemacht haben, und registrieren Sie das, was Ihnen in diesem Zusammenhang wichtig erscheint. Machen Sie sich knappe (ganz knappe!) Notizen dazu. 2. Lesen Sie als Nächstes in diesem Buch das zu Ihrem Problem passende Kapitel. 3. Führen Sie die passende Übung (s. u.) anhand eines Inhalts, der Ihnen repräsentativ für das Problem erscheint, ein erstes Mal durch. Überlegen Sie, welche Schlussfolgerungen sich für Sie daraus ergeben, und setzen Sie sie in die Tat um, so gut die Umstände es zulassen. Wiederholen Sie eventuell die Übungen in leichten Variationen, oder überlegen Sie sich selbst neue, die dasselbe Ziel verfolgen. 4. Gehen Sie erst zum nächsten Punkt über, wenn Sie feststellen können, dass Sie mit dem vorangegangenen schon einige Fortschritte gemacht haben. 5. Wenn Sie wollen, können Sie zeitweilig eine Person Ihres Vertrauens zu Ihrem »Coach« machen. Sie können das jeweilige Problem mit ihm oder ihr besprechen und gemeinsam
planen, wie Sie vorgehen wollen. Sie können Schwierigkeiten erörtern und mit ihm oder ihr die Ergebnisse besprechen. 6. Wir sind überzeugt, dass die Übungen, die wir Ihnen vorschlagen, zu einer Verbesserung Ihres Zustands führen und nicht zu einer Verschlechterung. Sollten Sie aber trotzdem Probleme bekommen, an einer Stelle nicht weiterwissen oder gar so etwas wie eine länger andauernde depressive Verstimmung bemerken, dann holen Sie sich professionellen Rat.
1.5.3
Veränderungsschwerpunkte und Übungen
»Manchmal fühle ich mich von der Strenge meines Gewissens richtiggehend beherrscht.« Ein zu starres und zu strenges Gewissen verlangt immer die gleiche Routine bei der Einhaltung von Regeln und bei der Befolgung von Gewohnheiten. Lesen Sie dazu Kap. 1.4.7. Übung 1
4 Suchen Sie sich eine Regel aus, die Sie seit geraumer Zeit strikt befolgen. 4 Können Sie zurückverfolgen, wie sie entstanden ist (z.B. aufgrund des Einflusses anderer
48 Kapitel 1 · Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung
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4
4
4
Menschen wie Eltern, aufgrund bestimmter Erfahrungen usw.)? Planen Sie das folgende Experiment, um den aktuellen Sinn und Wert der Regel zu überprüfen: Setzen Sie die Regel für die Zeit von ..... (Tagen) außer Kraft, indem Sie sich nicht mehr daran halten. Registrieren Sie die Ergebnisse: Wie haben Sie sich dabei gefühlt? Eher besser? Eher schlechter? Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus der Auswertung? Wollen Sie die Regel in der alten Form wieder einführen? Wollen Sie sie variieren? In welcher Weise? Setzen Sie die Regel für einen Zeitraum von ..... (Tagen, Wochen) erneut außer Kraft, und werten Sie die Ergebnisse neu aus.
Übung 2
4 Suchen Sie sich eine Gewohnheit aus, an die Sie sich seit geraumer Zeit strikt halten. 4 Können Sie zurückverfolgen, wie sie entstanden ist (z.B. aufgrund des Einflusses anderer Menschen, etwa der Eltern, aufgrund bestimmter Erfahrungen usw.)? 4 Planen Sie das folgende Experiment, um den aktuellen Sinn und Wert der Gewohnheit zu überprüfen: Setzen Sie die Gewohnheit für die Zeit von ..... (Tagen) außer Kraft, indem Sie sich nicht mehr daran halten. 4 Registrieren Sie die Ergebnisse: Wie haben Sie sich dabei gefühlt? Eher besser? Eher schlechter? 4 Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus der Auswertung? Wollen Sie die Gewohnheit in der alten Form wieder einführen? Wollen Sie sie variieren? In welcher Weise? 4 Setzen Sie die Gewohnheit für einen weiteren Zeitraum von ..... (Tagen, Wochen) außer Kraft, und werten Sie die Ergebnisse wieder neu aus.
»Ich stelle manchmal Ansprüche an mich, die mir übertrieben vorkommen.« Lesen Sie dazu Kap. 1.4.5.
Übung 3: »Werteaufweichung« und Folgen für das Handeln
Formulieren Sie eine Grundüberzeugung oder einen Wert, der ein wichtiges Element Ihrer persönlichen Moral bildet. Solche Werte und Überzeugungen werden häufig wiedergegeben durch einen Satz wie: »Du musst unbedingt ...« oder »Du darfst unter keinen Umständen ...«. Differenzieren Sie die praktischen Konsequenzen der Überzeugung nach drei Bereichen: 1. Kern: muss ich weiter unbedingt tun oder lassen. 2. Mehr am Rande: von Fall zu Fall verhandelbar. 3. Zwanghafte Auswüchse, die ich verändern möchte. Bringen Sie das, was Sie verändern möchten, in eine Rangfolge nach dem Schwierigkeitsgrad, und entscheiden Sie, womit Sie anfangen wollen. Planen Sie für einen bestimmten Zeitabschnitt, welche konkreten Veränderungen zu realisieren sind. Das Ganze wird als Versuch oder als Experiment angesehen. Wenn der Versuch beendet ist, werten Sie ihn aus nach Kriterien wie: 4 Wie habe ich mich dabei gefühlt? 4 Hat sich der Versuch eher positiv oder negativ auf mein Leben ausgewirkt? 4 Wie haben andere auf mich reagiert? Ziehen Sie Ihre Schlussfolgerungen daraus, und überlegen Sie, ob und wie Sie weitermachen.
»Ich finde mein Leben doch recht einseitig.« Lesen Sie dazu Kap. 1.4.5. Übung 4: Aufbau alternativer Lebensziele und Folgen für das Handeln
4 Suchen Sie sich ein Lebensziel aus, das bislang nicht »in vorderster Reihe« Ihres Denkens und Ihrer Bemühungen stand. Orientieren Sie sich dabei an dem, was Ihnen früher wert-
49 1.5 · Selbsthilfe bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung
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voll war, was Sie bei von Ihnen geschätzten Menschen beobachten können usw. 4 Überlegen Sie, welche Veränderungen in Ihrem Leben stattfinden müssen, damit Sie dieses Ziel besser verfolgen können. 4 Womit möchten Sie beginnen? Machen Sie einen Plan, wie Sie vorgehen wollen. Werten Sie die Ergebnisse aus, und ziehen Sie Ihre Schlussfolgerungen daraus.
trolle gesehen habe. Dieses unangenehme Gefühl zeigt mir lediglich eine gewisse Aufgeregtheit in meinem Gehirn an, es sagt aus, dass das, was ich gemacht habe, nicht in Ordnung sei.« 4 Setzen Sie sich weiter dem Gefühl aus. Werden Sie dabei nicht klein und zaghaft, sondern bleiben Sie Herr oder Herrin der Situation: Alles läuft nach Ihren Regeln.
»Mein Bedürfnis, mich immer wieder abzusichern und zu kontrollieren, engt mich manchmal sehr ein.« Lesen Sie dazu Kap. 1.4.6.
Übung 6: Ja/Nein-Denken lernen oder Ohne-Netz-Übungen
Übung 5: Selbstgeleitete Exposition zum Abbau von Kontrollen
4 Suchen Sie sich eine Tätigkeit aus, bei der Sie sich Ihrer Meinung nach zu häufig oder zu lange kontrollieren oder bei der Sie zu Hilfsmitteln greifen, wie dem, jemand anderen einzuschalten. Denken Sie dabei an Tätigkeiten wie Briefe schreiben, Berichte verfassen, eine Auflistung machen usw. 4 Fassen Sie den festen Entschluss, es dann bei einer einmaligen Kontrolle zu belassen. Versetzen Sie sich in einen Zustand hoher innerer Spannkraft. Lesen Sie dazu Kap. 1.4.6. Führen Sie die entsprechende Tätigkeit konzentriert durch, und überprüfen Sie einmall die Richtigkeit. Lernen Sie, immer mehr sich selbst zu vertrauen. 4 Schließen Sie den Vorgang ab, in dem Sie z.B. den Brief abschicken oder den Bericht aus der Hand geben. Wenn trotz Ihrer bewussten und verantwortungsvollen Kontrolle ein schlechtes Gefühl bis hin zu Angst auftritt, setzen Sie sich diesem Gefühl aus. Sagen Sie sich: »Ich bin darauf gefasst, dass so etwas bei den ersten Malen auftritt. Ich habe viel zu lange meinem irrationalen Kontrollbedürfnis nachgegeben, aber damit ist jetzt Schluss. Ich übernehme die Verantwortung für das, was ich getan habe, und für das, was ich bei meiner Kon-
Lesen Sie dazu Kap. 1.4.6. Bei dieser Übung geht darum, auf nicht enden wollende Absicherungen zu verzichten, wieder einfache Ja/Nein-Entscheidungen zu treffen, im täglichen Leben wieder spontan handeln zu lernen. Wenn Ihnen beispielsweise wieder einmal der Gedanke kommt: »Habe ich meine Wohnungsschlüssel auch wirklich dabei?«, dann fangen Sie nicht an, sie zu suchen, um sich wieder einmal abzusichern. Sie sagen sich auch nicht: »Die Wahrscheinlichkeit, dass ich sie vergessen habe, liegt bei 0,0013 Prozent«, sondern Sie sagen ganz einfach: »Ja, ich habe sie dabei. Ich nehme sie immer mit, wenn ich aus dem Haus gehe.« Diese Rückkehr zu einfachem, alltäglichem Denken in Ja/Nein-Kategorien bedarf einer gewissen Übung. Aber je mehr Sie sie beherrschen, desto sicherer werden Sie mit der Zeit. Sie lernen, sich auf eine neue Art zu vertrauen, statt ständig an sich selbst herumzumäkeln und alles, was Sie tun, erst einmal in Frage zu stellen. Nutzen Sie kleine, alltägliche Begebenheiten, die Ihr Bedürfnis nach zusätzlicher Absicherung und Kontrolle reizen, um diese »neue Einfachheit« im Umgang mit sich selbst und mit der Welt zu praktizieren. Haben Sie keine Angst, Sie könnten auf diese Weise oberflächlich, leichtsinnig oder gar gewissenlos werden. Der Kern Ihrer Persönlichkeit wird sich dadurch nicht ändern, und Sie können Ihre starken Seiten, auf die Sie zu Recht oft stolz sind, ohne Weiteres beibehalten.
50 Kapitel 1 · Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung
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»Meine Tendenz, an Details kleben zu bleiben und nichts weglassen zu können, ist oft recht hinderlich.« Lesen Sie dazu Kap. 1.4.6. Übung 7
Schildern Sie schriftlich einen Sachverhalt, schreiben Sie eine Zusammenfassung eines Artikels, beschreiben Sie ein Bild, eine Landschaft usw. Legen Sie sich dabei zunächst Rechenschaft darüber ab, welche Ziele damit erfüllt werden sollen und wer der gedachte oder wirkliche Adressat ist. Dann erstellen Sie Ihre Version. Werten Sie Ihr Produkt nach einiger Zeit aus, hauptsächlich nach folgenden Gesichtspunkten: 4 Welchen allgemeinen Eindruck macht das Ergebnis? 4 Lässt sich der Zweckk klar erkennen, oder ist eine Art Standardprodukt herausgekommen? 4 Ist dieses eine konkrete Detail der Sache eher dienlich, oder wirkt es störend? 4 Fehlt an dieser Stelle etwas, was für den entsprechenden Zweck noch erforderlich wäre? Bringen Sie die notwendigen Veränderungen an, und schließen Sie das Ganze dann ab. Bloß kein Perfektionismus! Jede Sache könnte man endlos verändern. Ob man sie damit auch immer besser machen würde, ist eine völlig andere Sache. Haben Sie den Mut, festzustellen (wiederum nach dem Ja/Nein-Prinzip): »Es ist jetzt für mich in Ordnung. Ich lasse es jetzt so, wie es ist.« Treffen Sie diesen Entschluss so energisch, wie Sie nur können, und richten Sie sich unbedingt danach. Übung 8
Diese Übung besteht darin, denselben Sachverhalt der Reihe nach mit drei verschiedenen Intentionen zu beschreiben (z.B. einmal für den Partner zu Hause, einmal für einen Arbeitskollegen, einmal für einen entfernten Bekannten usw.). Lernen Sie, sich immer besser auf den jeweiligen Zweck und den jeweiligen Adressaten einzustellen. Auf diese Weise erlangen Sie einen im-
mer sicheren Blick für das Wesentliche und nicht zuletzt einen größeren Mut zur Lücke.
»Ich möchte öfter etwas Neues ausprobieren und die ausgetrampelten Pfade verlassen.« Lesen Sie dazu Kap. 1.4.7. Übung 9: Aufbau von Probierund Experimentierverhalten
Machen Sie eine Reihe »harmloser« Experimente, die darin bestehen, dass Sie kleinere Neuerungen und Veränderungen ausprobieren. Wir geben Ihnen hier ein paar beispielhafte Anregungen, aber es ist wichtig, dass Sie außerdem eigene Ideen verwirklichen: 4 Stellen Sie in Ihrer Wohnung einige Sachen um, verrücken Sie ein Möbelstück usw. 4 Richten Sie an Ihrem Arbeitsplatz eine »private Ecke« ein, in die Sie einige ganz persönliche Dinge stellen, deren Sinn nur für Sie erkenntlich ist. 4 Machen Sie vermehrt kleine Pausen bei der Arbeit, in denen Sie sich ganz bewusst entspannen. 4 Experimentieren Sie mit Musik. Stellen Sie sich z.B. ein kleines Radio an Ihren Arbeitsplatz, hören Sie Musik beim Frühstück usw. Welche Musikrichtung »bekommt« Ihnen im Moment am besten? Was löst sie in Ihnen aus? 4 Probieren Sie einmal einen Spaziergang ins Blaue. Suchen Sie z.B. einen Stadtteil auf, den Sie kaum kennen. 4 Versuchen Sie, auf alten Wegen neue Dinge zu entdecken. Sehen Sie sich endlich einmal die Häuser an, an denen Sie seit Jahren vorbeigegangen sind, ohne sie je bewusst wahrzunehmen. 4 Beobachten Sie Menschen auf der Straße. Sehen Sie mit neuen Augen, wie sie aussehen, was sie tun usw. 4 Führen Sie kleine Gespräche mit ihnen. 4 Sensibilisieren Sie sich für Farben. Suchen Sie z.B. ganz bewusst nach der Farbe Gelb.
51 1.5 · Selbsthilfe bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung
4 Experimentieren Sie ein wenig mit Ihrer Kleidung. Kaufen Sie sich etwas, was Sie schon immer tragen wollten. 4 Eigene Vorschläge: ... Die oberste Regel bei dieser Übung lautet: Sie probieren etwas Neues aus und führen einige vertretbare und verantwortungsvolle Experimente durch. Entscheidend ist, was sich für Sie daraus ergibt. Werten Sie also aus, ob Ihre Launen und Stimmungen davon berührt werden, ob sich etwas in Ihnen verändert, ob Sie alte Dinge neu wahrnehmen oder Neues entdecken. Am Allerwichtigsten ist allerdings der allmähliche Aufbau einer neugierigen Probier- und Experimentierhaltung, die Sie immer wieder dazu bewegen wird, sich nicht mit dem Alten zu begnügen, sondern dafür zu sorgen, dass Ihr Leben reicher und interessanter wird.
»Ich habe Schwierigkeiten, abzuschließen und eine Sache dann aus der Hand zu geben.« Lesen Sie dazu Kap. 1.4.8. Übung 10
Lesen Sie die Übungen in Kap. 1.4.8. Sie können sie auch gut ohne Therapeuten durchführen.
»Ich habe manchmal Probleme, körperlich und seelisch loszulassen und mich richtig zu entspannen.« Lesen Sie Kap. 1.4.8. Übung 11
Lesen Sie die Übungen in Kap. 1.4.8. Sie können sie auch gut ohne Therapeuten durchführen.
»Im Umgang mit mir und mit anderen bin ich doch manchmal recht intolerant.« Lesen Sie Kap. 1.4.9.
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Übung 12: Den Menschen suchen
Beschäftigen Sie sich eine Zeit lang mit einem Menschen, dessen Verhalten Ihnen nicht gefallen hat, mit dem Sie nicht einverstanden waren oder über den Sie sich richtiggehend geärgert haben. Versuchen Sie nun im nächsten Schritt, so gut es geht, von dem Verhalten, das Sie ablehnen, abzusehen, und den Menschen zu suchen, der dahintersteht. Stellen Sie sich folgende Fragen: 4 Was hat er für positive Seiten? 4 Was kann er und macht er gut? 4 Was gefällt mir an ihm? 4 Was ist mir an ihm sympathisch? 4 Was habe ich Gutes über ihn gehört? Versuchen Sie, diesen Menschen, wenn er Ihnen über den Weg läuft, mit anderen Augen zu sehen, ohne dass Ihre Kritik an ihm den ganzen Menschen in einem negativen Licht erscheinen lässt. Nun setzen Sie das, was Sie Neues an ihm entdeckt haben, in Beziehung zu dem Teil seines Verhaltens, der Ihnen nicht gefallen hat oder den Sie noch immer ablehnen. Beantworten Sie dabei folgende Fragen: 4 Ist das Gesamtbild so eindeutig negativ, wie es mir bisher vorgekommen ist? 4 Lohnt es sich, viel Energie darauf zu verwenden, ihn in Gedanken oder beim Umgang immer wieder zu bekämpfen? 4 Könnte ich ihm nicht etwas toleranter und großzügiger begegnen, ohne meine Prinzipien außer Acht zu lassen oder sogar zu verraten? 4 Wie könnte ich die so eingesparte Energie in Positives und Schönes investieren? Übung 13: Eine Übung vor und auf dem Friedhof
Denken Sie an eine »alte Rechnung«, die Sie noch mit jemandem offen haben. Sie oder er hat Sie getäuscht, gekränkt, beleidigt, hat Sie bloßgestellt oder Ihnen Schaden zugefügt. Kurzfristig aufkeimende Rachepläne ließen sich nicht verwirklichen. Inzwischen ist Ihre ganze innere Haltung
52 Kapitel 1 · Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung
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in eine Art chronische Verbitterungg übergegangen. Ihr Gerechtigkeitssinn ist zutiefst verletzt. Es breitet sich die überwertige Idee aus, dass gerade diese Episode für alles, was in Ihrem Leben schiefläuft, verantwortlich ist. Sie sitzen daran so fest, dass Sie überzeugt sind, dass nichts mehr weitergeht, bis diese Angelegenheit aus der Welt geschafft ist. 4 Suchen Sie einen Friedhof auf zu einer Zeit, in der Sie möglichst ungestört durch andere eine Zeit lang Ihren Gedanken und Gefühlen nachhängen können. Stellen Sie sich mit dem Rücken zum Eingang hin, und vergegenwärtigen Sie sich so intensiv wie möglich die Episode aus Ihrem Leben, um die es geht. Stellen Sie sich Ihren Kontrahenten genau vor, sein Aussehen und die Art, wie er sich Ihnen gegenüber verhalten hat. Halten Sie alle Gedanken und Gefühle, die dabei hochkommen, aus. Versuchen Sie nicht, sie zu verdrängen oder zu »verarbeiten«. Die Konfrontation damit soll mindestens fünf Minuten dauern. Dann können Sie eine kleine Pause machen und, um die Intensität zu steigern, noch einmal von Neuem anfangen. 4 Drehen Sie sich um, und betreten Sie den Friedhof. Gehen Sie langsam die Wege zwischen den Gräberreihen ab. Sehen Sie sich an, wie einzelne Menschen durch Grabsteine, Inschriften, Blumenschmuck usw. eine letzte sichtbare Spur auf der Erde hinterlassen haben. Bleiben Sie an einzelnen Gräbern stehen, lesen Sie die Inschriften, und versuchen Sie, sich die entsprechenden Menschen vorzustellen. Wie sahen sie zu Lebzeiten wohl aus? Was hatten sie für Träume und Hoffnungen? Welche konnten sie verwirklichen, welche nicht? Welches Leid und welche Ängste haben sie durchlebt? Was mögen sie sich gegenseitig alles angetan haben? Hat sich das gelohnt? Jetzt liegen sie da, im Tode vereint. Vielleicht gab es auch Menschen, die sie richtiggehend als ihre Feinde angesehen haben, und vielleicht liegen
diese Feinde gar nicht so weit entfernt von ihnen in der übernächsten Allee, dort hinter dem großen Baum. Was hat all das für Ihr eigenes Leben zu bedeuten? 4 Bleiben Sie so lange, wie das, was Sie erleben, Ihnen tief und wertvoll erscheint.
»Ich versuche immer alles über den Verstand zu lösen; Gefühle kommen dabei zu kurz und drohen zu verkümmern.« Lesen Sie zunächst Kap. 1.4.9. Übung 14
4 Versuchen Sie sich nach und nach für eigene und fremde Gefühle zu sensibilisieren, und lernen Sie, sie als Signale zu deuten. Führen Sie jeweils an verschiedenen Tagen folgende Übungen durch: 4 Suchen Sie sich am Morgen ein bestimmtes Gefühl aus, und gehen Sie es dann den Tag über »suchen«. Versuchen Sie es neu zu entdecken, auch wenn es nur im Ansatz auftritt. Fragen Sie sich abends: Gab es heute Situationen, bei denen es aufgetreten ist? 4 Treffen Sie jeden Tag mindestens zwei spontane Entscheidungen. Überlegen Sie dabei nicht allzu lange, und wägen Sie nicht immer wieder ab, sondern treffen Sie die Entscheidungen »aus dem Bauch heraus«, weil ein Gefühl Ihnen ein Handlungssignal gegeben hat oder einfach, weil Ihnen »danach ist«. 4 Suchen Sie in Ihrer Umwelt gezielt nach Schönem, Interessanten und Neuem. 4 Beachten Sie vermehrt Dinge oder Situationen, von denen Sie sich »berührt« fühlen. Fragen Sie sich, was sie für Ihr Leben bedeuten und was Sie daraus machen könnten. 4 Versuchen Sie, auch wenn Sie kaum oder gar nicht darin geübt sind, kleine Skizzen von Dingen, die Ihnen gefallen, anzufertigen. Fotografieren Sie mal wieder, oder schildern Sie anderen Menschen, was Sie gesehen oder erlebt haben.
53 1.5 · Selbsthilfe bei zwanghafter Persönlichkeitsstörung
4 Achten Sie vermehrt auf den Gesichtsausdruck und die Körperhaltung anderer Menschen. Fragen Sie sich, ob eine Botschaft für Sie darin enthalten ist. (»Die schaut mich so nett an – die scheint mich zu mögen«), was die Botschaft in Ihnen auslöst und ob sie Ihnen irgendein Handeln nahelegt. Auf den Prozess vertrauen
Wir hoffen, bei Ihnen in dem einen oder anderen Bereich einen Umdenkprozess in Gang gesetzt zu haben, der langsam seinen Weg macht. Viele neue Erfahrungen sind dazu erforderlich. Das Ergebnis sollte sein: weniger Pessimismus, weniger zwanghafte Kontrolle, weniger Sorge, größere Experimentierfreudigkeit, mehr Gelassenheit, ein innigeres Verhältnis zu anderen und vor allem mehr Selbstvertrauen. Dazu abschließend eine Anekdote: Emanuel Lasker, der 27 Jahre lang Schachweltmeister war, sagte einmal: »Seine Figuren entwickeln und dann auf ihre Wirkung vertrauen, das ist kein schlechter Grundsatz, nicht nur beim Schach.« Sein damals größter Rivale war Siegbert Tarrasch, ein Nürnberger Arzt, in Schachkreisen »Praeceptor Germaniae« (Lehrmeister Deutschlands) genannt. Er vertrat beim Schach die »reine Lehre« und baute auf »eherne Prinzipien«. Wenn er sie nur konsequent anwende, so könne er gar nicht verlieren. In jeder Stellung gebe es nur einen richtigen Zug. Man müsse ihn nur finden. Die Beschäftigung mit dem Gegner, gar mit seiner »Psychologie«, sei reine Zeitverschwendung. Vor einem Wettkampf wollte ihm Lasker versöhnlich die Hand reichen, aber Tarrasch blieb steif stehen, verbeugte sich und sagte: »Ihnen, Herr Dr. Lasker, habe ich nur drei Wörter zu sagen: Schach und Matt!« 1908 kämpften Lasker und Tarrasch um die Weltmeisterschaft. Lasker gewann acht zu drei. Für seine Niederlage machte Tarrasch das »Seeklima« verantwortlich. Die Begegnung fand in Düsseldorf statt.
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2 2 Die Zwangskranken Sie gehen umher, entwürdigt durch die Müh, sinnlosen Dingen ohne Mut zu dienen, und ihre Kleider werden welk an ihnen, und ihre schönen Hände altern früh. Rainer Maria Rilke
57 2 · Die Zwangskranken
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Bei der Beschreibung der zwanghaften Persönlichkeit haben wir Menschen kennengelernt, denen eine gewisse Lebensphilosophie gemeinsam ist. Diese Philosophie ist keineswegs von vornherein als unsinnig oder ungesund zu bezeichnen. Nur in ihren Auswüchsen kann die Grenze zum Krankhaften überschritten werden. Wir sprechen dann von einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung. Bei den Zwangserkrankungen haben wir es dagegen mit seelischen Störungen zu tun, die mehr oder weniger gravierend sein können, die jedoch keinesfalls als bloß übersteigerte Varianten einer an sich brauchbaren Art zu leben zu sehen sind. Wir haben es vielmehr mit Menschen zu tun, deren Verhältnis zu sich selbst und zur Welt deutlich gestört ist. Eben deshalb bezeichnen wir sie dem heutigen Verständnis entsprechend als psychisch krank. Andererseits sind ihre seelische Verfassung und ihre Art zu leben nicht so beeinträchtigt, dass sie überhaupt nicht mehr in der Lage wären, sich angemessen zu verhalten. Sie sind oft fähig, ihren Beruf auszuüben oder befriedigende Beziehungen zu anderen einzugehen. Ihre Erkrankung ist daher nicht dem Bereich der Psychosen zuzuordnen. All diesen Zuständen ist das Erlebnis des Zwangs gemeinsam. Was ist darunter zu verstehen?
Druck auch einmal etwas tun, was wir nicht wollen, oder wir mögen im Nachhinein feststellen, dass wir uns an der einen oder anderen Stelle geirrt haben. Doch in der Regel ist unser Leben »ganzheitlich«: Wir sind so, wie wir sind. Ganz anders ist das Erleben von Zwangskranken. Hier einige typische Äußerungen: 4 »Ich habe manchmal ein ganz merkwürdiges und beängstigendes Gefühl, wenn ich von einem Stuhl aufgestanden bin, so als könne ein Stück von mir darauf zurückgeblieben sein.« 4 »Der Gedanke, ich könnte mich im Gerichtssaal, mitten in meinem Plädoyer, plötzlich ausziehen, verfolgt mich Tag und Nacht. Ich weiß, dass es Quatsch ist, aber ich werde diese entsetzliche Vorstellung nicht los.« 4 »Ich sehe jeden Abend, dass der Gasherd aus ist, aber ich kann nicht aufhören, an den Schaltern herumzudrehen, immer und immer wieder.« 4 »Jedes Mal, wenn ich Luft ausatme, quält mich der Gedanke, ich könnte damit Menschen um mich herum vergiften.« 4 »Immer wenn ich auf die Straße gehe, habe ich das Gefühl, dass Hundekot mich richtig anspringt. Ich muss mich dann stundenlang waschen.«
Vom Zwang beherrscht. Selbst Menschen mit
Solche Erlebnisse, wie Betroffene sie beschreiben, sind uns weitgehend unbekannt. Bei Zwangskranken aber kann dieses Erleben so ausgeprägt sein, dass es über weite Strecken ihr Leben beherrscht. Sie leben dann wie in zwei Welten: Auf der einen Seite müssen sie ganz normalen Aufgaben gerecht werden: Sie pflegen ihre Partnerschaft, kümmern sich um ihre Kinder, erfüllen die Anforderungen ihres Berufs. Gleichzeitig aber sind sie gezwungen, sich mit ihrer »dunklen« Seite, mit der Welt des Zwangs, auseinanderzusetzen. Sie müssen ständig auf der Hut sein, um die Bedrohungen, die ihnen ihre Zwangsgedanken signalisieren, abzuwehren, und stets versuchen, einige Sicherheit darüber zu erlangen, dass
einer zwanghaften Persönlichkeit, denen wir in vielen Fällen doch aus unserer Sicht recht extreme Einstellungen und Verhaltensweisen attestieren, leben so im Einklang mit ihnen, dass sie sie als voll und ganz zur eigenen Person gehörig erleben. Umso mehr sind wirr in unserem täglichen Leben meist im Einklang mit uns selbst. Auf dem Hintergrund unserer persönlichen Geschichte und unter dem Einfluss der Situation, in der wir stecken, leben wir unser Leben. Die Gedanken, die uns durch den Kopf gehen, die Gefühle, die wir verspüren, und erst recht das, was wir tun, erleben wir als unsere bzw. unseres, und wir stehen dazu. Wir können unter äußerem
58 Kapitel 2 · Die Zwangskranken
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ihnen dies gelungen ist. Diesen Teil ihres Lebens wollen sie so lange wie möglich vor ihren Mitmenschen geheim halten. Bedrohung und Abwehr. So besteht jede Zwangs-
erkrankung aus zwei Anteilen: Auf der Bedrohungsseite finden wir Gedanken und Gefühle, die in irgendeiner Form eine Gefahr für den Betroff fenen oder für andere signalisieren. Betroffene fühlen sich vor allem bedroht: 4 durch das Erleben von Defiziten in ihrer körperlichen und mentalen Kohärenz, 4 durch Zweifel an ihren eigenen moralischen Absichten und Handlungen, 4 durch mangelndes Vertrauen in das eigene Verhalten bei Routinetätigkeiten, 4 von der Angst, durch eigene Gedanken und Taten sich selbst oder anderen zu schaden, 4 durch reale oder vermeintliche Berührungen mit »Gefahr bringenden« und ekelerregenden Substanzen. Auf der Abwehrseite finden wir die Maßnahmen, die der Zwang vorschreibt, um die Bedrohung zu verhindern oder zu neutralisieren. Die Grundlagen dieser Abwehr sind eine permanente Selbstüberwachung und Maßnahmen vielfältiger Art, jeweils passend zu der Bedrohung, die im Vordergrund steht. In der Regel liegen solche Maßnahmen deutlich außerhalb des Bereichs »normaler« Vorsichtsmaßnahmen. Sie werden von den Betroffenen auch nicht als Ausdruck ihrer positiven Eigenschaften und Charakterzüge, kurz: als Tugenden, erlebt wie bei der zwanghaften Persönlichkeit. Zwangskranke berichten: »Ich weiß, dass mein Verhalten außer Kontrolle geraten ist, aber nur so kann ich mich einigermaßen gegen Gedanken und Gefühle wehren, die mich sonst überfluten würden.« Doch die Erleichterung ist kurz. Allmählich werden die vermeintlichen Schutzmaßnahmen zum größten Problem und drohen das Leben zu ersticken. Das ist das Grunddilemma der Zwangskranken, die existenzielle Falle, in der sie festsitzen.
Wir werden in den folgenden Kapiteln die entsprechenden Zustände für jeden Bereich anhand von Beispielen schildern, kommentieren und erläutern. Anschließend geben wir Anregungen für die Therapie und für die Selbsthilfe.
3 3 Depersonalisationserscheinungen: Defizite in der körperlichen und mentalen Kohärenz Denn Ich ist ein anderer. Arthur Rimbaud
3.1
Depersonalisationserlebnisse – 61
3.2
Mangelhaftes Erleben körperlicher Kohärenz – 61
3.2.1 Erfahrung instabiler Grenzen – 61 3.2.2 »Auflösung« der eigenen Person – 63 3.2.3 Den eigenen Körper nicht mehr spüren
– 65
3.3
Mangelhaftes Erleben mentaler Kohärenz – 66
3.4
Therapie bei mangelhaftem Erleben körperlicher Kohärenz – 72
3.5
Therapie bei mangelhaftem Erleben mentaler Kohärenz – 74
3.5.1 Training von Gegenwartskonstituierung durch Situationserfassung und -analyse – 74 3.5.2 Denken lernen statt Zwangsgrübeln – 75 3.5.3 Kompensation schwerer Depersonalisationserscheinungen durch innere Aktivierung – 77
3.6
Selbsthilfe bei Depersonalisationserscheinungen – 77
61 3.2 · Mangelhaftes Erleben körperlicher Kohärenz
3.1
Depersonalisationserlebnisse
Ein Gefühl von Kohärenz haben wir dann, wenn wir uns körperlich oder mental als ein zusammenhängendes intaktes Ganzes erleben. Das Gegenteil davon sind Depersonalisationserscheinungen. Pierre Janet (1926) beschreibt Depersonalisation als das negative Gefühl, nicht ganz vollständig, nicht ganz lebendig und nicht ganz wirklich zu sein. Damit ist ein Zustand gemeint, in dem eine Person sich gegenüber ihrem früheren Sein stark verändert fühlt. Teile ihres Körpers kommen ihr fremd vor oder scheinen zu »fehlen«. Der höchste Grad der Störung im Körpererleben ist dann erreicht, wenn die Person sich so leblos fühlt, als sei sie ein bloßer Schatten. In der Depersonalisation fühlen Betroffene sich wie Roboter oder wie Marionetten, weil Bewegungen gefühlsmäßig nicht mehr als von der eigenen Person ausgeführt wahrgenommen werden. Was sein Denken betrifft, so beklagt sich ein depersonalisierter Mensch meist über »Gedankenleere«. Wenn Gedanken auftauchen, entgleiten sie ihm in eine Art Nebelwelt, ohne dass er das Gefühl hätte, sie festhalten zu können. Auch das Vertrauensverhältnis zur eigenen Identität (»Ich bin ich«) erscheint in einigen Fällen so gestört, dass man zu mühsamen Ritualen greift, um sich zu vergewissern, dass man überhaupt da ist und die eigene Person ist. Trotz massiver Störungen bleibt der Realitätsbezug erhalten. Solche Menschen sind nicht »verrückt« oder psychotisch, obwohl sie oft massive Angst haben, es zu sein oder zu werden. Betroff fene versuchen in der Regel, ihre Zustände, die sie selbst nicht verstehen, vor anderen zu verbergen. Oft dauert es Jahre, bis sie überhaupt mit irgendjemandem darüber sprechen. Suchen sie professionelle Hilfe auf, kommt es leider häufig zu Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen. Wichtige Erscheinungsformen mangelnder körperlicher und mentaler Kohärenz werden im Folgenden beschrieben und kommentiert.
3.2
Mangelhaftes Erleben körperlicher Kohärenz
3.2.1
Erfahrung instabiler Grenzen
3
Viktor traut seiner Hand nicht mehr
Viktor ist 22 Jahre alt, Student und stark an Politik interessiert. Im Zentrum seiner politischen Meinung steht eine tief greifende Antipathie gegen alles »Linksextreme«. So geht er allem aus dem Weg, was auch nur im Entferntesten mit der von ihm gehassten »perversen Weltanschauung« zu tun haben könnte. Bis hierher können viele von uns ihm gut folgen. Doch Viktors Antipathie ist auf eine andere Ebene »übergesprungen«. Seit fünf Jahren ist er an einer Zwangsstörung erkrankt. Im Zentrum seines Zwangssystems steht die Idee, dass er auch im körperlichen Sinne mit nichts in Berührung kommen darf, das mit Linksextremismus, Kommunismus oder Stasi-Ideologie zu tun hat. Wenn er mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist, so achtet er peinlich darauf, keine Mitfahrer zu berühren, die ihm z.B. durch lange Haare oder ein »ungepflegtes« Äußeres suspekt erscheinen, einer extremen »linken« Ideologie anzuhängen. Glaubt er dennoch, dass eine solche Berührung – etwa im Gedränge – erfolgt sein könnte, muss die Kleidung gereinigt werden, und er duscht sehr lange. In der schlimmsten Phase seiner Erkrankung war Viktor nicht mehr in der Lage, sich draußen zu bewegen, etwa zur Uni zu fahren, wenn die Mutter ihn nicht begleitete. Wie war es dazu gekommen? Eines Tages musste Viktor im Flur einer Bibliothek an einem Kommilitonen vorbei, der ihm »nicht einwandfrei« vorkam. Er versuchte, einen möglichst großen Abstand zu halten. Dabei tauchten die üblichen Fragen und Zweifel auf: Gehört der zu diesem Abschaum? Hoffentlich hat er kein Buch angefasst, das ich benutzen muss. Ist er vielleicht auch in der Mensa gewesen? Und dann durchzuckte ihn plötzlich ein Gedanke wie ein Blitzschlag: Könnte es sein, dass ich ihn nicht
62 Kapitel 3 · Depersonalisationserscheinungen: Defizite in der körperlichen und mentalen Kohärenz
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nur berührt habe, sondern ihm sogar im Vorbeigehen die Hand gegeben habe? Wenn ich das getan hätte, hätte ich mich ja zu seinem Komplizen gemacht und all das verraten, was mir wert und heilig ist. Wie kann ich sicher sein, dass ich es nicht getan habe? Viktor blieb stehen und starrte auf seine rechte Hand. Wie fühlte sie sich an? So, als hätte sie gerade eine andere Hand berührt? War sie leicht gerötet vom Kontakt? Wie groß war der Abstand zwischen ihnen beiden beim Vorbeigehen gewesen? Um wie viel kann man sich verschätzen, wenn man versucht, das zu klären? Viktor kam nicht von der Stelle. Er versuchte wieder und wieder, das Geschehen in seinem Kopf »zurückzuspulen«. Wo genau bin ich gegangen? Kann ich mich an einen Blickkontakt erinnern? Wie fühlt sich ein Händedruck an? Habe ich so etwas gespürt? Wie kann ich sicher sein, dass ...? Und so ging es weiter, mindestens eine halbe Stunde lang. Zu Hause wurde viel gewaschen an diesem Abend, und seine Mutter musste mindestens ein Dutzend Handtücher bereitlegen. Nach dieser Episode hielt Viktor, wenn er aus dem Haus ging, seine Hände zu Fäusten geballt tief in seinen Taschen vergraben. Das half jedoch nur kurz. Dann trat die Angst wieder auf, er könne trotz aller Willensanstrengung blitzartig eine Hand aus der Tasche ziehen und sie einer »gefährlichen Person« entgegenstrecken. Er fing an, sich die rechte Hand zu bandagieren, als sei sie verletzt. Die Eltern ließen sich mit einer oberflächlichen Erklärung abspeisen. Doch diese Maßnahme erwies sich als sehr unbequem, weil er am Computer arbeiten und in Büchern blättern musste, so dass er dieses Kontrollmittel bald wieder aufgab. Er fing an, den Kontakt zu Menschen so weit wie möglich zu vermeiden. Als er eines Tages an der Uni eine Arbeit schreiben sollte, erzählte er seiner Mutter etwas von seiner Not. Die verstand zwar nicht genau, wo das Problem für ihn lag, spürte aber, wie sehr er in Bedrängnis war, und fragte: »Wie kann ich dir denn helfen?« Viktor
traute sich, es auszusprechen: »Geh doch den Weg mit mir, und weich mir nicht von der Seite. Das wäre eine Riesenhilfe. Im Prüfungsraum komme ich schon zurecht.« Und so ging Viktor immer häufiger in Begleitung seiner Mutter aus dem Haus. Kreuzten sie jemand, der ihm nicht hundertprozentig »rein« vorkam, fragte er: »Bist du sicher, dass ich ihm nicht die Hand gegeben habe?« »Ja.« »Bist du auch ganz sicher?« »Ja doch.« »Hast du auch genau hingesehen?« »Ja, ich sag’s dir doch.« »Bitte sag es noch einmal.« »Du hast ihm nicht die Hand gegeben.« So konnte es eine Zeit lang weitergehen. Es war übrigens völlig gleichgültig, ob Viktor im Abstand von 50 Zentimetern oder von drei Metern an der betreffenden Person vorbeigegangen war. In diesem Stadium seiner Krankheit spielte das keine Rolle mehr. Heikos Manteltaschen. Ein anderer junger Mann
unterwegs. Wiederum mit seiner Mutter. Und auch ihre Aufgabe besteht darin, ihrem Sohn ständig zu versichern, dass er nicht mit dem »Horrorstoff« seines Zwangssystems in Berührung gekommen ist. Wer ein Gespräch der beiden aufschnappen würde, würde seinen Ohren nicht trauen oder das Ganze für einen geschmacklosen Witz halten. Die Mutter: »Nein, du hast keinen Hundekot aufgehoben und in die Manteltasche gesteckt. Ich habe es ganz genau gesehen: Du hast dich nicht gebückt. Du hast dich auch nicht gebückt und bist dann mit der Hand an den Mund gefahren. Warum muss ich dir das alles immer zehnmal sagen? Wenn ich schon dabei sein muss, dann hör doch wenigstens auf mich. Es wäre übrigens auch unmöglich gewesen, es zu tun. Wir sind mindestens drei bis vier Meter neben dem Hundehaufen vorbeigegangen. Weißt du, wie weit vier Meter sind? Nein, ich gehe jetzt nicht zurück, um nachzusehen, ob der Haufen noch da liegt. Nein, diesmal mache ich es nicht.« Kommentar. Wir haben es in beiden Fällen mit
dem Phänomen der Erfahrung instabiler Grenzen zu tun. Die beiden Zwangskranken erleben
63 3.2 · Mangelhaftes Erleben körperlicher Kohärenz
keine klare Grenze mehr zwischen ihrer Person, ihrem Körper und bestimmten Menschen oder Dingen, die eine starke Vermeidungsreaktion bei ihnen auslösen. Das Gefühl, das sie beim Gedanken an einen Kontakt befällt, ist eine Mischung aus Angst und Ekel. Egal, wie groß die objektive Distanz zu den gefürchteten Objekten wirklich ist, sie bekommen kein Gefühl einer klaren Trennung zwischen dem eigenen Ich und dem, was für sie der Inbegriff von Schmutz, Unreinheit, Besudelung und Bösartigkeit darstellt. Ihr ganzes Denken und ihre Gefühle scheinen so damit verseucht, dass sie sich nicht mehr davon abgrenzen können. Sie erleben kritische Situationen so, als würden diese Dinge sie richtiggehend »anspringen« oder als würden sie selbst danach greifen und damit das Schlimmste und Ekligste vollführen, was sich im Sinne ihrer Zwangsgedanken damit anstellen lässt. Ein weiteres Beispiel für eine solche gefühlte Auflösung der Körpergrenzen ist Herr W., ein Rechtsanwalt, der sich gezwungen fühlt, folgende Kontrollen durchzuführen, bevor er seine Kanzlei verlässt: Wenn er allein im Büro ist, sucht er einen kleinen Raum neben der Ausgangstür auf. Dort zieht er sich nackt aus und kontrolliert Abschnitt für Abschnitt seines Körpers. Wonach er Ausschau hält? Ob nicht irgendwelche Mandantenakten oder Schriftstücke »beim Vorbeigehen« an seinen Körper gelangt sind. Wäre das der Fall, könnte er sie draußen auf der Straße verlieren. Welche Katastrophe! Welch ein Skandal! »Rechtsanwalt W. verstreut geheime Mandantenpapiere auf der Straße.« Es wäre das berufliche und soziale Ende. Aus demselben Grund wird jedes Kleidungsstück ausführlich ausgeschüttelt. Er beeilt sich. Es ist spät, und er will nach Hause. Er hat ohnehin so wenig Zeit für die Familie. Trotzdem dauert das Ganze bis zu einer Stunde, Abend für Abend. Auch hier löst sich das Gefühl der Abgeschlossenheit des eigenen Körpers auf. Alles Mögliche könnte an der eigenen Oberfläche kleben bleiben oder gar eindringen. Die Betroffenen
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können nicht mehr unterscheiden, was wirklich an sie herankommt und was nicht. Sie verlieren das Gefühl für die gemeinsame Realität aller Menschen (»So etwas gibt es nicht!«) und isolieren sich immer weiter in einer autistischen eigenen Welt. Doch die Störung kann noch tiefere vitale Schichten befallen.
3.2.2
»Auflösung« der eigenen Person
Herr T. will sich nicht verlieren
Wir lesen in den (für die Therapie angefertigten) Aufzeichnungen von Herrn T., 52 Jahre: »27. Januar (Dienstag). Auf dem Weg zur S-Bahn. Ständig musste ich zurückschauen. Auf Fugen konnte ich nicht treten. Wenn ich ein Stück gelaufen bin, habe ich gewartet, dass nachfolgende Personen meinen Weg auch gegangen sind. Erst dann konnte ich weitergehen. Auch bei der Eingangstür zum S-Bahnhof habe ich abgewartet, dass nach mir auch andere Personen durch diese Tür gehen. Erst dann bin ich zum Bahnsteig runtergegangen. 28. Januar (Mittwoch): Die Wohnungsauflösung steht jetzt an. Es macht mir große Schwierigkeiten, mich von Gegenständen zu trennen. Es sind oft kleine Gegenstände, die mir sehr nahe sind. Wenn ich sie wegwerfe oder sie jemand gebe, sind sie für mich nicht mehr erreichbar, so als wenn ich alles im Blickfeld behalten müsste, das mich betrifft. Friseur: Aufzustehen, ohne den Stuhl sehr lange zu kontrollieren, ist sehr schwierig. Die nächste Schwierigkeit ist, meine Tasche zu öffnen, mein Portemonnaie herauszunehmen und zu bezahlen. Ich habe immer das Gefühl, etwas zu verlieren. Ich versuche, wenn es geht, immer den Fußboden zu kontrollieren. Wonach? Weiß ich auch nicht ganz genau. 29. Januar (Donnerstag): Musste unter einem Baugerüst durchgehen. Das hat mir Riesen6
64 Kapitel 3 · Depersonalisationserscheinungen: Defizite in der körperlichen und mentalen Kohärenz
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schwierigkeiten gemacht. Bin mindestens fünf-, sechsmal wieder zum Ausgangspunkt zurückgegangen und habe dann versucht, wieder durch das Gerüst durchzukommen. Doch jedes Mal hatte ich nicht das Gefühl, ganz durchgekommen zu sein, und musste dann wieder von vorne anfangen. Ich habe nur damit aufgehört, weil ich sehr unter Zeitdruck geriet. Das schlechte Gefühl hat noch lange angehalten.«
Kommentar. Herr T. leidet hauptsächlich an äu-
ßerst bedrohlichen Empfindungen, die sich um das Thema »Gefahr der Auflösung des eigenen Körpers« drehen. Solche oder ähnliche Empfindungen kennen wir nicht. Darum ist es für uns auch so schwierig, seine innere Not nachzuvollziehen. Menschen im Normalzustand haben das Gefühl, einheitlich und zusammenhängend zu sein. Herr T. fühlt sich in kritischen Situationen nicht mehr als stabiles, zusammenhängendes Ganzes, sondern so, als würden Teile von ihm sich ablösen und sich vom Rest »trennen«, um im Nichts zu verschwinden. Versuchen wir diese Empfindungen anhand von einigen Erlebnissen von Herrn T. zu verdeutlichen: Schwierigkeiten, auf Fugen zu treten: Er berichtet anlässlich einer gemeinsamen Übung über das Gefühl, dass die Fuge ihn »durch den Körper hindurch teilen könnte«. Eine andere Fantasie ist, dass Teile seines Körpers darin versinken und so für immer seiner Kontrolle entgleiten könnten. Hier zeigt sich eine tief greifende Angst vor Zerfall und Spaltung. »Ständig musste ich zurückschauen«: Herr T. wird oft von dem quälenden Gefühl begleitet, etwas zu verlieren oder etwas von sich zurückzulassen. Dabei denkt er meist nicht daran, seine Brieftasche oder den Schlüsselbund zu verlieren und dadurch große Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen zu müssen. Es geht vielmehr darum, dass ein Teil von ihm sich von seinem Körper abgespalten haben könnte. Dadurch kommt es zum Erleben eines »Unvollständigkeitsgefühls«, auf das wir noch zu sprechen kommen werden. Da-
mit einher geht die Angst, dass sich der »verlorene Teil« für immer seiner Kontrolle entziehen könne. Das Zurückschauen und auch das häufige Zurückgehen sind Versuche, durch Kontrollen einigermaßen Sicherheit darüber zu erlangen, dass so etwas nicht stattgefunden hat. »Habe ich gewartet, dass nachfolgende Personen meinen Weg auch gegangen sind«: Besonders schwer fällt es ihm, eine Straße zu überqueren oder durch eine Tür zu gehen. Das Gefühl, das er danach sucht und so schwer findet, ist ein »Vollständigkeitsgefühl« (»Bin ich ganzz auf der anderen Seite angekommen?«) Die Frage kann sich auch schon nach einer bestimmten Wegstrecke stellen. Erst wenn er dieses Gefühl einigermaßen erlangt hat, traut er sich weiterzugehen. Um die Prozedur abzukürzen, hat er im Laufe der Zeit eine besonders trickreiche Form der Kontrolle erfunden: Er beobachtet Menschen, die z.B. an derselben Stelle wie er gerade die Straße überqueren. Kann er feststellen, dass sie ganz auf der anderen Seite angekommen sind, zieht er daraus den Schluss, dass das wohl auch bei ihm der Fall gewesen sein wird (obwohl er das entsprechende Gefühl noch nicht ganz hat). »Es macht mir große Schwierigkeiten, mich von Gegenständen zu trennen«: Die Angst, die Kontrolle über etwas zu verlieren, gilt vor allem für Gegenstände, die ihm besonders nahe sind. Er meint: »Komisch. Es ist besser, zu wissen, dass sie vernichtet sind. Das ist erträglicher als der Gedanke, dass es sie noch gibt, dass sie aber außerhalb meines Blickfeldes sind oder dass ich sie ein für alle Mal nicht mehr erreichen kann.« »Ich musste immer wieder unter dem Gerüst durchgehen«: Dies muss er tun, um das Gefühl der Vollständigkeit zu erlangen, um sicher zu sein, dass er ganzz durchgekommen ist. Wie so häufig wird abgebrochen, nicht weil sich die Gefühlslage befriedigend entwickelt hat, sondern weil äußere Umstände es verlangen.
65 3.2 · Mangelhaftes Erleben körperlicher Kohärenz
3.2.3
Den eigenen Körper nicht mehr spüren
Als ihr schlimmstes Erlebnis bezeichnen Patienten manchmal, dass sie ihren eigenen Körper nicht mehr spüren können. Sie sind kaum dazu in der Lage, das Fehlen dieses Körpererlebnisses in Worte zu fassen. Wir zeigen an einem Beispiel, wie sich eine solche Entfremdung von sich selbst im Leben einer jungen Frau auswirkt und zu welchen extremen Maßnahmen sie greift, um sich einigermaßen zu finden und zurechtzufinden. Anna »nimmt sich auf«
Mit 17 Jahren musste Anna nach vielen Querelen mit ihrer Mutter zwei Jahre in einem von katholischen Schwestern geführten Internat verbringen. In der zweiten Woche ihres Aufenthaltes, nachdem sie verstanden hatte, wie die Dinge dort abliefen, und sich dessen bewusst geworden war, dass sie für zwei lange Jahre dort eingesperrt sein würde, hatte sie eines Morgens gleich nach dem Aufwachen ein Erlebnis, das sie als »grauenvoll« schilderte. Sie berichtete: »Ich spürte – nichts. Ich spürte mich selber, d.h. meinen Körper, überhaupt nicht, so, als sei er mir über Nacht abhanden gekommen. Ich bestand aus einer Art Kopf, denn ich merkte ja, dass ich nichts mehr spürte, aber auch der Kopf kam mir ganz fremd vor. Hielt ich mir eine Hand vor die Augen, so hatte ich nicht das Gefühl, dass es meine Hand war, obwohl ich ja den Ring erkannte, den ich zum Geburtstag erhalten hatte. Ich fing an, hektisch im Zimmer auf und ab zu laufen, vermutlich, weil ich dachte, ich sei noch nicht ganz wach. Ich ging unter die Dusche. Kaum ein Gefühl. Es änderte so gut wie nichts an meinem Zustand. Dann lief ich wieder auf und ab, starrte auf einzelne Möbelstücke, um wenigstens etwas klar zu sehen und zu erleben. Plötzlich sah ich eher zufällig in den Spiegel und starrte lange mein Gesicht an. Damals fing das an, was ich seitdem ›Aufnehmen‹ nenne. Es entwickelte sich ein Ritual, das sich mir eisern aufdrängte und das zur unabdingbaren
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Voraussetzung für den weiteren Verlauf des Tages gehörte. Es zwang mich, am Morgen viel früher aufzustehen, als es die Hausordnung verlangt hätte. Ich hatte ja das zu machen, was ich ›Aufnehmen‹ nannte. Aufzunehmen war jeden Morgen das Zimmer, aber vor allem mein Körper. Beim Aufnehmen des Zimmers ging ich von Möbel zu Möbel und von Gegenstand zu Gegenstand, stellte mich davor und musste mir mit offenen Augen ein möglichst klares Bild der Umrisse und der Einzelheiten machen. Aber das war sozusagen nur der Anfang, die Vorbereitung, denn in Wirklichkeit ging es ja um die Aufnahme meines Körpers. Sie ging folgendermaßen vonstatten: Den Kopf, vor allem das Gesicht, Hals, Schultern und einen großen Teil des Oberkörpers konnte ich ja im Spiegel sehen. Ich begann mit den Haaren, ging dann zur Stirn über und so fort. Jeder Teil musste aufgenommen werden: Ich musste mir, wie gesagt, ein möglichst klares Bild der Umrisse und der Einzelheiten machen. Das fiel mir oft schwer, weil die Bilder verschwammen, die Konturen sich auflösten oder Einzelheiten zu einem diffusen Ganzen verschmolzen. Dann versuchte ich mich wieder zu konzentrieren und erst dann, wenn die entsprechenden Teile für längere Zeit ein einigermaßen vollständiges und ausreichend klar wahrnehmbares Ganzes zu bilden schienen, galt der Teil für ›aufgenommen‹. Erst dann konnte ich zum nächsten übergehen. Wenn ich einen Teil aufgenommen hatte, hatte ich auch das Gefühl, ihn besser zu spüren, obwohl es noch immer nicht ganz zufriedenstellend war. In die Teile des Körpers, die ich nicht im Spiegel betrachten konnte, musste ich mich ›einfühlen‹. Erst wenn das Gefühl klar und deutlich wurde und eine Zeit lang so blieb, konnte ich davon ablassen. Nur nach der ›Aufnahme‹ des Körpers fühlte ich mich in der Lage, den Tag anzufangen und mich seinen Prüfungen und Belastungen zu stellen. Aber oft schwankte ich hin und her, ob der Vorgang als ›richtig abgeschlossen‹ gelten könne, und litt dann sehr. Dann befreite mich meist das Klingelzeichen, das zum ersten Gottesdienst rief, aus
66 Kapitel 3 · Depersonalisationserscheinungen: Defizite in der körperlichen und mentalen Kohärenz
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meiner Qual. Oft aber musste ich aus einem Gefühl des Unerledigten heraus bei der Messe Teile der Aufnahme nachholen. Das war ein besonders mühsames Unterfangen, da ich ja das, was ich ›nachbearbeiten‹ musste, nicht richtig einsehen konnte. Zusätzlich fühlte ich mich durch den Singsang, der vom Altar her zu mir drang, in meiner Konzentration gestört.«
es ihr gelang, sich jeden Morgen in einen einigermaßen funktionsfähigen Zustand zu versetzen. Anna konnte auf diese Prozedur verzichten, als sie das Internat verließ und zu ihrer Mutter zurückzog.
3.3
Mangelhaftes Erleben mentaler Kohärenz
Kommentar. Anna schildert die Entstehung ihrer
Krise im Internat so: »Als ich nach dem ersten Gespräch mit der autoritären, mir kalt und übermächtig erscheinenden Leiterin auf mein Zimmer ging, überkam mich plötzlich ein diffuses und zielloses Gefühl. Ich empfand meinen Körper ganz merkwürdig, als wäre ich klein in meinem eigenen Körper und füllte ihn nicht aus, als sei ich zur Mitte hin klein, verschrumpelt. Die Diffusität und die Orientierungslosigkeitt wurden immer stärker. Ich selbst war gar nicht mehr da. Alles um mich herum erschien bedrohlich. Ich hatte das Gefühl, keinen Halt mehr im Leben zu haben, keinen Halt mehr in mir selbst zu finden, und ich fühlte mich existenziell extrem bedroht. Ich muss dann doch irgendwie eingeschlafen sein, und als ich am anderen Morgen aufwachte, spürte ich – nichts mehr.« Anna beschreibt hier den Beginn eines seelischen Zustandes, den Pierre Janet (1903) »Psychasthenie« genannt hat. Er wirkt sich sowohl auf das Körperempfinden als auch auf die mentalen Fähigkeiten aus und geht einher mit einem Unwohlsein, einem Zustand der Beunruhigung, kurz: einem »Unvollständigkeitsgefühl«. Wir müssen davon ausgehen, dass die von der psychasthenischen Krise Betroffenen in einer Lebenssituation stehen, die sie zumindest zeitweilig überfordert. Um diesen Zustand abzumildern und sich in der Wirklichkeit dann doch zurechtzufinden, entstanden bei Anna dann die ersten Zwangsgedanken und Zwangshandlungen, die die Defizite des Spannungsabfalls kompensieren sollten. So entstand das Ritual des »Aufnehmens«, mit dem
Auch die Angst vor einem Mangel an mentaler Kohärenz quält viele Patienten. Sie erleben in vielen Situationen, dass ihnen in zunehmendem Maße eine Leistung erschwert ist, die Pierre Janet (1903) »mentale Synthese« genannt hat. Die Sinnesorgane, das Gedächtnis und unsere Vorstellungskraft stellen uns zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens eine ganze Reihe von Einzelelementen zur Verfügung, die zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden müssen. Erfolgt dies unzureichend, so erlangen wir nur ein verschwommenes, geisterhaft undeutliches Bild der Gegenwart und der Wirklichkeit. Dadurch sind wir nur schlecht in der Lage, uns an die jeweiligen Lebensbedingungen anzupassen und zielgerichtet zu handeln. Wie sich solche Schwierigkeiten bei der mentalen Synthese im Anfangsstadium bei einem jungen Mann bemerkbar machen und wie er versucht, darauf zu reagieren, zeigt das folgende Beispiel. Friedrich hat viel vom Vater gelernt
Friedrich ist 21 Jahre alt und Student der Betriebswirtschaft. Sein Vater, Ingenieur und Erfinder, sorgte dafür, dass zu Hause eine strikte, von ihm wohldurchdachte Ordnung herrschte. Es gab zwei Zimmer, die von ihm allein okkupiert wurden und die die anderen Familienmitglieder nicht betreten durften. Lediglich eine Hausangestellte machte dort unter Anleitung des Hausherrn, der ihr jeden Handgriff diktierte, periodisch sauber. Für den Rest der gemeinschaftlichen Wohnung galt der vom Vater verfasste »Raumnutzungs-
67 3.3 · Mangelhaftes Erleben mentaler Kohärenz
plan«. Darin war akribisch festgelegt, wer was wo wann durfte und zu unterlassen hatte. So konnte sich die Ehefrau zwar im Bad waschen, durfte aber dort unter keinen Umständen ihre Haare kämmen, seit ihr Mann in einer Woche mehrere Haare im Waschbecken gefunden hatte, die sein ästhetisches Empfinden aufs Tiefste verletzt hatten. Dieses Verbot galt auch für die Tochter. Beide hatten derlei ans Animalische grenzende Verrichtungen in ihren Zimmern und sonst nirgendwo auszuführen. Friedrich wuchs in einem dichten Regelwerk auf, das den Erwerb derjenigen Werte gewährleistete, die der Vater als das Fundament jeglicher Zivilisation ansah. Neben dem Sinn für Ordnung, Sauberkeit und Pünktlichkeit sollten auch sein Denken und sein Wissensdurst schon sehr früh geweckt werden. Etwa ab Friedrichs sechstem Lebensjahr veranstaltete sein Vater regelrechte Examina für ihn. Zu diesem Anlass durfte Friedrich sogar das Arbeitszimmer des Vaters betreten, in ordentlicher Straßenkleidung und mit auff rechtem Gang, denn der Vater hatte jede Lässigkeit verboten und rügte ihn oft für seine »verweichlichte« und »unmännliche« Art. Neben dem Schulstoff, der wiederholt wurde, kam dann unvermutet eine Frage wie: »Was ist eine Wendeltreppe?« Friedrichs Antwort, eine mit dem Zeigefinger in der Luft angedeutete Spirale, wurde aufs Schärfste gerügt und als Beleg für seine intellektuelle Ungenauigkeit entlarvt. Die korrekte Antwort wäre gewesen: »Eine Treppe, die sich spiralförmig um eine senkrechte Achse windet.« Der Vater gab ihm auch Aufgaben für die nächsten Tage, etwa »Prüfe dein Gewissen jeden Abend vor dem Schlafengehen, und stelle die fünf größten Fehler fest, die du am jeweiligen Tag begangen hast.« Wenn möglich, sollten Korrektur und Wiedergutmachung in derselben Woche erfolgen. Zusätzlich: Überlegungen über die Vor- und Nachteile des Feedback-Prinzips. Auf diese Weise dagegen gefeit, sich entweder zu einem gehirnlosen Luftikus oder zu einem zynischen Bonvivant zu entwickeln, ging Friedrich
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seinen aufrechten Gang. Doch schon sehr früh nahmen seine Ernsthaftigkeit und sein intellektueller Durchdringungswille Züge an, die ihn sich auf eine Art mit Dingen beschäftigen ließen, die ihm selbst allmählich übertrieben und seltsam vorkam. Anlässlich einer Zugfahrt zur Großmutter väterlicherseits – er muss ungefähr 17 Jahre alt gewesen sein – hatte er ein merkwürdiges Erlebnis. Er fürchtete die Großmutter sehr, weil sie ihn noch strenger behandelte als sein Vater, und er bildete sich ein, seinen Ferienaufenthalt nur dann korrekt antreten zu können, wenn er sich zuvor ein genaues Bild der neuen Situation gemacht hatte. Alles andere erschien ihm oberflächlich und unvorsichtig. So versuchte er, sich zuerst im Kopf eine genaue Vorstellung des Ankunftsbahnhofs zu machen. Wie waren die Gleise angeordnet? Wie war der Grundriss des Gebäudes? Wie sahen die einzelnen Räume aus? Womit waren sie ausgestattet? Diese Aufgabe fiel ihm nicht leicht, obwohl er dort schon drei- oder viermal aus dem Zug gestiegen war. Dann ging er zum Grundriss des großmütterlichen Hauses über und machte sich an die einzelnen Zimmer und die darin enthaltenen Möbel und Gegenstände. Er war nun schon über eine halbe Stunde bei seiner sonderbaren Arbeit und spürte, wie sich eine lähmende Müdigkeit über ihn zu legen begann. Eine Pause durfte er sich nicht gönnen, denn die Zeit drängte, und der Gedanke, bei seiner Ankunft die Bestandsaufnahme nicht abgeschlossen zu haben, weckte blankes Entsetzen in ihm. Der Gedanke »Wozu mache ich das alles?« kam ihm zunächst nicht, denn die Pflicht hatte sich ihm mit einer solchen Selbstverständlichkeit aufgedrängt, dass an Zweifel oder gar an Widerspruch nicht zu denken war. Friedrich stieg aus dem Zug – mit rasenden Kopfschmerzen, erschöpft und den Tränen nahe. Die Großmutter musterte ihn verächtlich, murmelte etwas von mangelnder Widerstandskraft der Jugend und verordnete ihm gleich nach dem Frühstück, von dem Friedrich kaum einen Bissen
68 Kapitel 3 · Depersonalisationserscheinungen: Defizite in der körperlichen und mentalen Kohärenz
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herunterwürgen konnte, Gartenarbeit. Zur Ertüchtigung und zum Verjagen von Flausen jeglicher Art. Friedrich, der sich zu Beginn kaum für fähig hielt, den Spaten auch nur zu halten, fühlte sich nach ein paar Minuten wesentlich besser, ja geradezu kräftig, und begann sogar, Spaß an der Arbeit zu haben. Das Mittagessen schmeckte ihm vorzüglich, und die Ferien nahmen ihren Lauf. »Bestandsaufnahmen« – so nannte er sie – wie im Zug wurden ihm allmählich zur Gewohnheit. Sah er eine wichtige Situation auf sich zukommen, die in irgendeiner Hinsicht kritisch war oder ihn mit einem unabweislichen Handlungsbedarf zu konfrontieren drohte, so versuchte er, so gut wie möglich wenigstens die Räumlichkeiten, in denen das Ganze stattfinden sollte, abzuklären – meist ein mühsames und zeitraubendes Unterfangen, aber es brachte ihm eine gewisse Sicherheit im Vorfeld. Zumindest hatte er das Gefühl, seine Pflicht getan und sich auf seine Anliegen, so gut er konnte, vorbereitet zu haben. Zu Beginn seines Studiums bekam Friedrich massive Schwierigkeiten. Er war sehr fleißig, und seine schriftlichen Leistungen waren einwandfrei, doch bei den mündlichen Prüfungen versagte er regelmäßig. Er war immer schon etwas schüchtern gewesen. Freie Rede war nicht seine Sache, und so hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, nicht zu vermeidende verbale Aktionen möglichst Wort für Wort vorzuformulieren. Das erwies sich als ein zweischneidiges Schwert. Es gab ihm zwar manchmal ein Gefühl der Sicherheit, wenn er einen fertigen Satz, den er mehrmals wiederholen konnte, in seinem Kopf parat hielt (so z.B. auf dem Weg nach Hause und in Erwartung der Frage des Vaters: »Was hast du heute gelernt?«), aber gleich bei der ersten mündlichen Prüfung führte die Maßnahme zur Katastrophe. Friedrich stand über eine Stunde vor Beginn der Prüfung vor dem Zimmer des Professors, weil er erfahrungsgemäß viel Zeit benötigte, sich auf wichtige Situationen einzustimmen und seinen Überlegungen Raum zu lassen, sich zu ent-
falten und sich zu stabilisieren. Da kam ihm der Gedanke, er müsse seine Antworten auf die wichtigsten Fragen, die unter den Studenten als »todsicher« galten, noch einmal vorbereiten, ja geradezu vorformulieren. Das Ausmaß der nun unter Zeitdruck zu verrichtenden Arbeit erschreckte ihn, aber die Aufgabe hatte sich wieder einmal als unabweisbar aufgedrängt. Und Friedrich begann: »Welches sind die Rechte der Aktionäre? Erstens: Aktionäre leiten nicht selbst das Unternehmen, aber sie führen es über Bevollmächtigte, die sie für einen bestimmten Zeitraum ernennen und die sie absetzen können, wann immer sie es wünschen. Nein, zu ungenau. Also. Erstens: Die Aktionäre sind nicht diejenigen, denen die direkte Leitung des Unternehmens obliegt. Dennoch sind sie es, die das Unternehmen führen, auf dem Weg der Ernennung von Handlungsbevollmächtigten, die ihre Leitungsfunktion für den Zeitraum ausüben, über den die Aktionäre befunden haben. Allerdings können die Aktionäre die Handlungsbevollmächtigten jederzeit per Beschluss absetzen. – Unmöglich. Jetzt ganz ruhig. Die Frage kommt bestimmt. Erstens: Der Personenkreis der Aktionäre (wobei hier auch an juristische Personen zu denken ist) ist nicht identisch mit dem Personenkreis, dem die unmittelbare Führung des Unternehmens aufgetragen ist. Dennoch sind die Aktionäre in Wirklichkeit diejenigen Personen, die die Führung des Unternehmens ausüben, und zwar auf folgendem nun zu beschreibenden Weg: Bei regelmäßigen oder zu besonderen Gelegenheiten einberaumten Versammlungen haben die Aktionäre das Recht, Personen zu benennen und sie mit Handlungsvollmachten auszustatten. Gleichzeitig befinden sie über die Dauer des Zeitraums, für die die Vollmachten der damit ausgestatteten Personen ihre Gültigkeit haben. Ein zusätzliches, ergänzendes und wichtiges Recht der Aktionäre ist es, das Mandat der Handlungsbevollmächtigten jederzeit widerrufen zu können. In dem Fall verlieren die Handlungsbevollmächtigten ihre
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Vollmacht, und der Vorgang der Ernennung von Handlungsbevollmächtigten, denen die Leitung des Unternehmens obliegt, muss neu in die Wege geleitet werden.« Friedrich hatte begonnen, hektisch auf und ab zu laufen, halblaut vor sich hinmurmelnd und seine Gedanken durch rhythmische Gesten untermalend. Dann hielt er wieder inne, der Verzweiflung nahe: Er war noch beim ersten Teil der ersten Frage. Wenn jemand an ihm vorbeiging, bemühte er sich wegzuschauen, um nicht aufzufallen und als verrückt, nervlich zerrüttet oder gar alkoholisiert zu gelten. Friedrich hielt sich an der Wand fest, dann riss er sich los, raffte seine Sachen zusammen und ergriff die Flucht. Auf dem Weg nach Hause war er dem Schluchzen nahe. Wie sollte er das dem Vater erklären? Er machte sich an die Ausarbeitung der den Sachverhalt verdeutlichenden Sätze. Friedrich fing sich wieder. Das Studium lief besser, und es erwachten, seinem Pflichtgefühl an die Seite tretend, nun auch andere Bedürfnisse, denen er auf seine besonnene Art ebenfalls Rechnung zu tragen hatte. Nach dem ersten Kinobesuch mit einer Kommilitonin setzten sich beide in ein gemütliches Lokal, um noch ein wenig zusammen zu sein. Friedrich bestritt entgegen seiner Gewohnheit die Unterhaltung. Er unternahm es zunächst, alle Filme aufzuzählen, die der Regisseur gedreht hatte. Dann versuchte er, die wichtigsten Filme zusammenzutragen, bei denen die Hauptdarsteller des heutigen Films mitgewirkt hatten. Nicht dass er mit kinematografischem Spezialwissen hätte prahlen wollen, es war vielmehr eine Art Bedürfnis, den Abend auf eine intellektuell zufriedenstellende Art abzuschließen, das ihn antrieb. Die junge Dame schien dieses Bedürfnis nur bedingt zu teilen und verabschiedete sich bald, nicht ohne dass Friedrich sie an die einzelnen U-Bahn-Stationen erinnert hätte, die sie auf dem Nachhauseweg zu durchfahren hatte. Ein paar Wochen später traf er sie Arm in Arm mit einem Kommilitonen, der ein T-Shirt trug mit der Aufschrift »Born to be wild«.
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Kommentar. Friedrichs zunehmende Schwierig-
keit, komplexe Situationen zu beherrschen, indem er die einzelnen Elemente zu einem Ganzen zusammenfügt, um auf diesem Hintergrund zielführend handeln zu können, zeigt sich in immer mehr Lebensepisoden. Dann greift er unbewusst zu sehr einfachen Mitteln, um doch noch eine Art von Kontrolle zu erlangen. Er berichtet: »Bei einem Bibliotheksbesuch konnte ich mich nicht gut konzentrieren, geschweige denn entscheiden, welche Bücher ich zur Prüfungsvorbereitung benötigte. Plötzlich merkte ich, dass ich dabei war, die Bücher in den Regalen zu zählen, dann zu registrieren, welche einen roten Einband hatten, und dann für jedes Regal den Prozentsatz der roten Einbände auszurechnen. Ich erschrak zutiefst und fragte mich: Bist du dabei, völlig zu verblöden?« Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang sein Verhalten vor der mündlichen Prüfung. Die Aufgabe, die er sich auferlegt hat, nämlich seine Antworten vorzuformulieren und auf sich zu »übertragen«, führt zu einer ausufernden Zwangsgrübelei über immer neue Ausdrucksformen, die sich immer mehr von den Erfordernissen der zu bewältigenden Wirklichkeit lösen und sich am Ende völlig verselbstständigt haben. Auch im Zug auf dem Weg zur Großmutter verspürt er ein Bedürfnis, sich auf die Situation vorzubereiten, kennt er doch die gnadenlose Art, in der die Großmutter jedes seiner Worte und jede seiner Gesten kommentiert und sanktioniert. Auch hier entgleist die Vorbereitung und wird zu einem zwanghaften, abstrakten und nutzlosen Unterfangen fernab von jeglicher Realität. Statt die Situation, die ihn erwartet, abzuschätzen, zu werten und daraus angemessene Handlungspläne abzuleiten, »nimmt« er »auf«, ähnlich wie Anna: Bahnhofsgrundrisse, Möbel, Gleise, mit Nippes verzierte Kommode usw. So registriert er das, was am weitesten von der gefürchteten Realität entfernt ist, und übt dadurch eine Art Pseudokontrolle aus. Durch diese Vorgehensweise scheint er häufig zunächst eine Art
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Beruhigung zu erlangen. Deshalb behält er sie bei und baut sie immer mehr aus. Frank will sichergehen
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Bei Frank ist die Erkrankung weit fortgeschritten. Hier sein Erlebnisbericht: »Die Kontrolle der Wohnung ist endlich geschafft. Über eine Stunde hat es gedauert, ich fühlte mich heute besonders leer und unsicher dabei. Die Gegenstände erschienen mir undeutlich, wie weit entfernt. Ich musste immer wieder daran herummanipulieren, um ihnen mehr Realitätsgehalt zu geben. Doch das Gefühl, dass sie ›real‹ sind, stellte sich besonders schwer ein. Doch nun muss ich gehen, endlich kann ich doch gehen. Der große Spiegel im Flur. Ich gehe mit abgewandtem Gesicht daran vorbei. Wenn ich hineinschaue und dann weiter will, bekomme ich so schwer das Gefühl, nicht ›drinnen‹ geblieben zu sein. Richtig aus dem Spiegel herauszukommen ist so schwierig. Das Gefühl, dass ein Teil von mir drinnen geblieben sein könnte, ist so unheimlich. Ich muss dann immer wieder versuchen, ganz herauszukommen, und die Zeit vergeht. Ich komme mir dabei so fremd, so unwirklich vor. Bin ich es? Wer bin ich? Bin ich ganz? Ich weiß, es klingt idiotisch, aber so ist es. Also mit abgewandtem Gesicht am Spiegel vorbei. Die Lampen im Schlafzimmer kamen mir heute so unwirklich vor. Kann man bei einer Lampe, die nicht wirklich erscheint, sicher sein, dass sie nicht brennt? Nein, nicht schon wieder nachsehen. Schnell raus. Die Zeit drängt. Kontrolle der Haustür, wie gehabt. Ich stehe vor der Haustür. Stehe ich vor der Haustür? Bin ich das? Bin ich ganz draußen? Kontrolle der Wände. Sind es die weiß getünchten, fleckenübersäten Wände meines Flurs? Es scheinen die Wände meines Flurs zu sein. Weiter. Beim Treppenhinuntersteigen werden die Stufen gezählt. 32 müssen es sein, dann ist es die Treppe, die zur Eingangstür des Hauses führt. 32. Und nun die Briefkästen zählen, zwölf sind es. Ich zähle sie zweimal.
Ich mache das alles schon so lange, dass ich gar nicht mehr darüber nachdenke, was ich da eigentlich mache. Ich muss ja funktionieren, muss ja leben, muss zur Arbeit, zum Arzt oder zu meiner Freundin. Da kann ich mir keine Experimente leisten. Die Haustür erscheint so merkwürdig eng. Komme ich da durch? Komme ich da ganz durch? Ich stehe auf der Straße. Bin ich ganz durchgekommen? Ich habe solche Mühe, diesen Körper als meinen eigenen zu fühlen. Heute ist alles besonders mühsam. Jetzt bloß nicht wieder ins Haus, um zu überprüfen, ob ich auch nichts verloren habe. Seit dem Verlust meiner Scheckkarte, der mir so viele Unannehmlichkeiten und Scherereien bereitet hat, habe ich häufig das Gefühl, ich könnte etwas verloren haben. Ein scheußliches Gefühl. Ständiges Zurückgehen und Nachschauen wird richtiggehend zum Bedürfnis, aber wenn ich ihm immer nachgebe, hört das Leben ganz auf. Also weiter. Die Fassaden der Häuser auf dem Weg zur U-Bahn abzählen und prüfen, ob sie in der richtigen Reihenfolge sind (ich kenne sie auswendig). Eingang zur U-Bahn: Buchstabieren der Station. Ist es die richtige? Tausendmal bin ich an dieser Stelle in die U-Bahn eingestiegen, aber es nützt nichts. Zweimaliges Buchstabieren der Station. Fahrt ereignislos. Abzählen der Stationen. Verlassen des Wagens. Ganz? Treppenstufen zählen. 27. Bin ich ganz aus der Station heraus? Ich versuche, meinen Körper zu spüren. Vollständig? Unvollständig? Vollständig: Ein ausreichend sicheres Gefühl stellt sich ein. Kontrollieren und Buchstabieren der drei Straßenschilder, die von dort, wo ich stehe, einsehbar sind. Bin ich an der richtigen Stelle? Nie habe ich auch nur annähernd die Gewissheit, bis ich meinen Zirkus abgezogen habe. Auf dem Weg zum Haus meiner Freundin. Abzählen und Kontrollieren der Häuserfassaden. Wie eine Kulisse kommt mir das alles vor. Vor
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dem Haus. Vor dem Haus? Eingangstür anstarren. Ich kann hineingehen. Abzählen der Stufen. Kontrollieren des Flurs. Vor der Haustür die zwei Messingknöpfe: Da sind sie. Ich läute, sie macht auf. Ich sehe sie heute etwas verschwommen. Ist sie es? Ist sie ganz da? Ich bin nicht verrückt. Ich habe bloß diese merkwürdigen Zustände, mit denen ich leben muss und niemand sonst von euch. Sie steht vor mir und lächelt mich an. Ich schäme mich, aber ich muss sie abchecken. Es dauert nicht lange, aber ich muss dieses schlechte Gefühl loswerden. Jetzt trete ich ein und fange an, mich etwas zu freuen.« Kommentar. Zu den zahlreichen Depersonalisa-
tionserlebnissen, die Frank durch ein dichtes Netzwerk an Kontrollen zu kompensieren sucht, tritt eine starke Derealisation hinzu: Die eigene Umgebung erscheint ihm in zunehmendem Maße unwirklich und fremd. In seinem großen Roman »Der Ekel« beschreibt Sartre (1982, S. 13) das erste Auftreten solcher Derealisationserlebnisse aus der Sicht seines Haupterzählers: »In meinen Händen, zum Beispiel, ist etwas Neues, eine bestimmte Art, meine Pfeife oder meine Gabel anzufassen. Oder aber ist es die Gabel, die jetzt eine bestimmte Art hat, sich anfassen zu lassen, ich weiß es nicht. Als ich eben mein Zimmer betreten wollte, bin ich wie angewurzelt stehen geblieben, weil ich in meiner Hand einen kalten Gegenstand spürte, der mich durch eine Art Eigenpersönlichkeit auf sich aufmerksam machte. Ich habe die Hand aufgemacht, ich habe hingesehen: Ich hielt ganz einfach die Türklinke. Heute Morgen in der Bibliothek, als Ogier P. mich begrüßen kam, habe ich zehn Sekunden gebraucht, um ihn wiederzuerkennen. Ich sah ein unbekanntes Gesicht, mit Mühe ein Gesicht. Und dann war da seine Hand, wie ein dicker weißer Wurm in meiner Hand. Ich habe sie sofort losgelassen, und der Arm ist schlaff herabgefallen.«
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Mit der Zeit breiten sich solche Entfremdungsgefühle aus und können ein Ausmaß erreichen, wie wir es bei Frank gesehen haben. Um sich in einer solchen in Auflösung begriffenen Welt halbwegs zurechtzufinden, scheint es naheliegend, sich primitiver Kontrollmaßnahmen wie Zählen zu bedienen, um das Gefühl zu haben, die Situation einigermaßen im Griff zu behalten. Alle Erscheinungsformen der Depersonalisation und Derealisation kommen dadurch zustande, dass der Bezug zu den wirklichen Bedürfnissen, Werten, Überzeugungen, kurz: zum eigenen lebendigen Selbst, durch äußere Einwirkungen verloren geht oder blockiert wird. Ist das Gesamtsystem des Selbst blockiert, kann es nicht mehr automatisch die Welt zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen, das der Befriedigung eigener Bedürfnisse dient. So kommt es zu Unordnung, Diffusität. Eine Orientierung ist auf dieser Grundlage nicht mehr möglich. Jetzt erfolgt ein künstliches Zusammensetzen der Einzelelemente der Welt und der eigenen Anteile. Eine Ganzheit entsteht aber nur durch den Zugang zum lebendigen Fühlen und zu den eigenen wirklichen Bedürfnissen. Eine Leidensgenossin von Frank, die von Berufs wegen viel fliegen musste und dabei oft in München landete, hatte sich aus ihrer Not heraus eine andere »Strategie« erarbeitet, um »das Gefühl zu bekommen, wieder in München zu sein«. Sie stellte sich am Flughafen vor Schilder, Plakate, Flugankündigungen usw., die das Wort »München« enthielten, und buchstabierte langsam, mit möglichst großer innerer Beteiligung: M – Ü – N – C – H – E – N, ging dann zum nächsten Objekt und wiederholte die Prozedur. Das führte sie so lange durch, bis sie einigermaßen das Gefühl hatte, »in München angekommen zu sein« – oft zehn- bis zwölfmal hintereinander.
72 Kapitel 3 · Depersonalisationserscheinungen: Defizite in der körperlichen und mentalen Kohärenz
3.4
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Therapie bei mangelhaftem Erleben körperlicher Kohärenz
Die für die Therapie geeigneten Übungen haben primär eine Sensibilisierung für die Wahrnehmung der eigenen Person zum Ziel. Darüber hinaus geht es um das Spüren der Abgrenzung von der unmittelbaren Umgebung (Gefühl für Distanz und Entfernung). Im Folgenden geben wir einige Beispiele für geeignete Übungen. Konzentration auf verschiedene Körperteile
Zunächst werden einfache Aufmerksamkeitsleistungen geübt. Der Patient konzentriert sich abwechselnd auf verschiedene Körperteile, versucht sie so deutlich wie möglich zu spüren und seine Konzentration immer länger aufrechtzuerhalten. Entscheidend bei dieser Übung ist nicht ihr Inhalt, sondern die Art der Ausführung. Der Patient soll immer wieder darauf achten, den Körperteil, auf den er sich konzentriert, zu »beseelen« und als einen Teil seiner selbst zu erleben. Um das zu gewährleisten, ist am Anfang die Gegenwart des Therapeuten sehr nützlich. Falls dieser merkt, dass die Aufmerksamkeit des Patienten nachlässt und er »abrutscht«, bringt er ihn wieder zur Aufgabe zurück. Er verstärkt ihn für gute Ansätze, zögert aber auch nicht, die Übung abzubrechen, falls er merkt, dass eine zu starke Ermüdung auftritt. Bewegungsübungen
Ziel dieser Übungen ist es, den eigenen Körper und vor allem die an einer Bewegung beteiligten Gliedmaßen deutlich zu spüren. Eine erste Reihe von Übungen besteht darin, einfache Bewegungsabläufe durch Zeichnen auf Papier abwechselnd mit der rechten und der linken Hand zu vollziehen. Als Vorlage können Skizzen von Malern wie Kandinsky oder japanische Kalligrafie-Übungen dienen. Die meisten Patienten haben damit am Anfang beträchtliche Schwierigkeiten. Ihre Bewegungen sind äußerst kurz angesetzt, fragmentiert und ohne jeden Schwung. Sie werden dann durch verbale Instruktionen und durch Mo-
delldarbietungen dazu angeleitet, zuerst eine einfache Zeichnung zu erfassen, sich die auszuführende Bewegung vorzustellen und sie dann rasch in einem Zug auszuführen. Wenn dies immer besser gelingt, werden sie instruiert, die Figur auf dem Papier zu vergrößern und sie schließlich mit großen, ausholenden und »runden« Bewegungen in die Luft zu zeichnen. Eine zweite Reihe von Übungen besteht in »Blitzaufgaben«, d.h. improvisierten Bewegungsabläufen, die nach ausführlichen Erläuterungen in den Therapiesitzungen eingeführt werden. Die Patienten bekommen unvorbereitet Instruktionen wie: 4 »Stehen Sie jetzt auf. Gehen Sie ins Nebenzimmer. Ziehen Sie Ihr Hemd aus. Falten Sie es zusammen. Legen Sie es ab, ziehen Sie es wieder an, und kommen Sie zurück.« 4 »Stehen Sie auf. Setzen Sie sich abwechselnd auf jeden Stuhl im Raum. Machen Sie insgesamt drei Runden.« Bei allen Bewegungsabläufen sollen die Patienten lernen, sich mit großer Achtsamkeit auf ihren »Körper in Bewegung« zu konzentrieren und sich dabei als lebendiges Wesen zu fühlen. Übungen zur willentlichen Ausführung von Bewegungen
Bei diesen Übungen kommt es darauf an, dass der Patient im Vorfeld der Ausführung bestimmter Handlungen den Willensakt, der diesen Handlungen vorausgeht, bewusst registriert. Die folgende Übung kann z.B. auf einem kleinen Wochenmarkt durchgeführt werden: 4 Der Therapeut leitet den Patienten abwechselnd dazu an, bestimmte Handlungen auszuführen und andere zu unterlassen: »Ergänzen Sie jetzt den Satz: ›Ich will jetzt hier auf der Stelle ...‹, und führen Sie die entsprechende Handlung aus.« 4 Oder: »Ergänzen Sie: ›Ich will jetzt unter keinen Umständen ...‹, und beachten Sie, was in Ihnen vorgeht.«
73 3.4 · Therapie bei mangelhaftem Erleben körperlicher Kohärenz
4 Der Patient wird immer wieder nach seinen Empfindungen, Gedanken und Gefühlen befragt, mit dem Ziel, ein starkes Erleben der Wirklichkeit und der eigenen Vollständigkeit in den einzelnen Situationen herzustellen. Förderung des Gefühls für Entfernungen, bewusstes Erleben der eigenen Körpergrenzen
Hierbei handelt es sich um Übungen, bei denen der Patient seine Entfernung zu bestimmten Personen und Gegenständen registriert und einschätzt und dann bewusst vergrößert oder reduziert. Er soll z.B. auf der Straße bewusst in einer Entfernung von drei Metern an jemand vorbeigehen, einer anderen Person immer näher kommen, schließlich jemand im Gedränge leicht rempeln usw. Um den Patienten zu ermutigen und zu motivieren, kann der Therapeut anfangen, die andere Person zu spielen. Der Therapeut kann den Patienten auch auffordern, sich mit seiner Hand verschiedenen auf dem Tisch liegenden Gegenstände zu nähern oder sich von ihnen zu entfernen, sie anzufassen oder bewusst nicht anzufassen usw. Herstellung eines Gefühls für körperliche Integrität bei komplexen Handlungen
Komplexe Abläufe werden in Expositionssituationen geübt, mit dem Ziel, ein größeres Gefühl der körperlichen Präsenz und der Integrität herzustellen. Bei der hier beispielhaft beschriebenen Übung mit Herrn T. (7 Kap. 3.2.2) werden die im Folgenden erläuterten Schritte gemeinsam absolviert. Ziele aktualisieren. Zunächst aktualisieren wir
die Ziele der Übung: Der Patient soll wieder lernen, sich in natürlichen Lebenssituationen ganz normal zu bewegen und einen starken Bezug zur Wirklichkeit herzustellen, um das eigene Ich zu stärken. Zwanghafte Abwehrhandlungen wie Stehenbleiben, Sichumdrehen usw. sind nach Möglichkeit zu unterlassen.
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Orientieren. Auf der Straße wird der Patient er-
muntert, sich zuerst zu orientieren und laut mit dem Therapeuten zu sprechen, um sich zu aktivieren und einen Bezug zu der ihn umgebenden Wirklichkeit herzustellen, z.B.: »Ich bin hier in der Orber Straße vor der Praxis meines Therapeuten. Ich stehe mit den eigenen Beinen fest auf der Erde und kann den Druck an den Fußsohlen spüren. Ich atme voll durch, kann meine Muskeln anspannen und bin voll da.« Die Wahrnehmung des Patienten richtet sich nun nach außen: »Jetzt schaue ich mich um. Rechts sehe ich eine Häuserfront ... Links sehe ich Bäume ... Ich bin zwar etwas angespannt, aber ich fühle mich präsent.« Es wird darauf geachtet, dass der Patient in jedem Satz das Wort »Ich« verwendet und sich dabei möglichst als ein Subjekt wahrnimmt, das die Übersicht über die Welt um sich herum wahrnimmt. Vorsatz fassen. Nun fasst der Patient unter An-
leitung einen Vorsatz für die aktuelle Übung. Er soll sich fragen: Was will ich jetzt erreichen? Er kann sich z.B. vornehmen, den Weg bis ans Ende der Straße zurückzulegen, ohne sich dabei durch zwangsbedingte Störungen wie Zurückschauen unterbrechen zu lassen. (Angemessene Laufbewegungen wurden vorher geübt.) Es ist wichtig, dass der Patient sich selbst sein Ziel setzt. Wenn er seine Vornahme schafft, hat er einen großen Schritt getan, aber es ist auch in Ordnung, wenn er beschließt, abzubrechen oder sein Ziel unterwegs zu verändern. Selbstverpflichtung. Der Patient trifft den ener-
getisierenden Entschluss, mit der Handlung, die er sich vorgenommen hat, auch wirklich anzufangen. Die Energie resultiert daraus, dass er sich sowohl mental wie körperlich auf die auszuführende Handlung fokussiert. Ausführung. Der Patient fängt an, »ganz normal«
die Straße entlangzulaufen. Wenn es sich ergibt, tritt er dabei auch auf Fugen, farbige Platten usw., ohne zu den üblichen Zwangsabsicherungen zu
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greifen. Er registriert dann zwar seine Empfindungen, Unsicherheiten und erhöhte Anspannung, geht ihnen aber nicht aus dem Weg, sondern stellt sich ihnen voll und ganz. Wenn der Patient das Bedürfnis äußert, mit dem Therapeuten über seinen inneren Zustand zu sprechen, wird dem stattgegeben. Er berichtet dann über seine Erlebnisse, die als Komponenten seiner zwanghaften Reaktion interpretiert werden, und wird ermutigt, trotz allem seinen Weg fortzusetzen, wenn er sich das zutraut.
Handelns. Sie gewährleistet auch das, was wir »Gegenwartskonstituierung« nennen, und vermittelt damit ein Lebensgefühl, das man als »Sichvoll-in-der-eigenen-aktuellen-Wirklichkeit-Fühlen« umschreiben kann. Damit ist ein Gefühl angesprochen, dessen Fehlen von depersonalisierten und an Unvollständigkeitsgefühlen leidenden Personen besonders beklagt wird, z.B. von Patienten, die an Kontrollzwängen leiden (Kap. 5).
3.5.1
Flexibilisierung. Der Patient wird ermutigt, sein
Verhalten zu variieren, z.B., indem er abwechselnd große und kleine Schritte macht. Er geht auch eine kleine Strecke mit geschlossenen Augen und spürt den Boden unter den Füßen. Das fällt ihm am Anfang recht schwer, kann aber nach einigem Üben geradezu Spaß machen. Nach und nach wird die therapeutische Unterstützung reduziert. Nachdem der Patient einige Übungen allein durchgeführt hat, werden die Ergebnisse besprochen und die nächsten Schritte geplant. Es ist in diesem Stadium wichtig, den Fortgang unterstützende Gefühle wie Zufriedenheit, Entschlossenheit und Stolz zu aktivieren und zu intensivieren. Auf diese Weise werden immer komplexere Handlungen in die Übungen einbezogen, vor allem auch solche, die üblicherweise durch zwanghafte Einschübe gestört werden.
3.5
Therapie bei mangelhaftem Erleben mentaler Kohärenz
Unter mentaler Synthese versteht Janet die Fähigkeit, die Elemente, die zu jedem Zeitpunkt des Lebens von den Sinnesorganen, vom Gedächtnis und von der Vorstellungskraft zur Verfügung gestellt werden, zu einem einzigartigen neuen Gesamtbild zusammenzufügen. Sie stellt eine wichtige Adaptation an sich verändernde Lebensbedingungen dar und ist eine notwendige Voraussetzung für die Koordination zielgerichteten
Training von Gegenwartskonstituierung durch Situationserfassung und -analyse
Bei diesen Übungen geht es darum, zunächst relativ einfache, dann zunehmend komplexe Sachverhalte wie abstrakte Bilder, Fotografien oder reale Situationen mithilfe des Therapeuten bewusst wahrzunehmen und »wirklich« zu erleben. Dabei hält sich der Patient an die im Folgenden am Beispiel eines abstrakten Bildes illustrierten Schritte. Überblick gewinnen. Zunächst geht es darum,
sich einen ersten Überblick zu verschaffen. »Das ist ein viereckiges Bild, höher als breit. Ein hellbrauner Hintergrund mit verschiedenfarbigen geometrischen Figuren und Linien.« Raster bilden. Der Inhalt wird in große Einheiten
gegliedert, und die Hauptelemente werden erfasst: »Vom Hintergrund hebt sich in der Mitte des Bildes ein großes schwarzes Dreieck ab, das auf der Spitze steht. Daneben gibt es oben und unten zwei Kreise. Der untere ist schwarz, der obere hellrosa und schwarz umrandet. Über das Dreieck sind vier gerade Linien gelegt und eine gekrümmte. Unten hebt sich neben dem großen Kreis eine Art Balken ab, auf dem sechs farbige Dreiecke auf der Spitze stehen.« Verstehen. Nun werden die einzelnen Elemente
verglichen und miteinander in Beziehung gebracht: »Das große schwarze Dreieck berührt mit
75 3.5 · Therapie bei mangelhaftem Erleben mentaler Kohärenz
seiner Spitze den schwarzen Kreis. Beide zusammen sehen aus wie ein Ausrufungszeichen und heben sich sehr stark von dem Hintergrund ab. Der kleine helle Kreis scheint neben dem oberen Rand des Dreiecks zu schweben. Die Linien über dem Dreieck haben auch etwas Leichtes und machen das Ganze weniger streng.« Eigene Befindlichkeit. Jetzt geht es darum, die eigene Befindlichkeit wahrzunehmen und mit dem Ganzen und einzelnen Teilen in Zusammenhang zu bringen: »Das tiefe Schwarz wirkt etwas bedrückend auf mich, so als würde es mich in das Bild hineinziehen. Zuerst hatte ich mich fast erschrocken. Aber der helle Kreis und die farbigen Linien lockern doch alles auf. So bleibt bei näherer Betrachtung das Dunkle, Störende im Hintergrund. Es ist zwar da, aber es verliert nach und nach seine Bedrohlichkeit. Wenn man sich auf etwas Schönes und Lebendiges konzentriert, darf man nicht vergessen, dass trotzdem der Ernst des Lebens sozusagen im Hintergrund da ist.« Gegenwartskonstituierung. Nach weiteren fünf
Minuten allein mit dem Bild: »Wissen Sie, ich habe mich nie mit moderner Kunst beschäftigt, in unserer Familie hatte man für so etwas kein Verständnis. Auch in der Schule haben wir nie etwas über solche Dinge gehört. Nun habe ich mich fast eine halbe Stunde mit diesem Bild beschäftigt, und es hat mich letztlich doch sehr interessiert. Am Anfang hatte ich Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren, aber jetzt habe ich das Gefühl, dass ich die Situation sozusagen im Griff habe. Ich denke doch, ich bin einigermaßen klargekommen, und ich fühle mich gar nicht so schlecht. Ich hoffe allerdings, dass Sie wissen, wozu das alles gut ist.« Bei jedem Schritt soll der Patient eine möglichst nachhaltige und klare mentale Arbeit verrichten, um ein deutliches Erleben seiner Eindrücke zu gewährleisten. Bei Anzeichen von Konzentrationsmangel, von Ermüdung oder Abschweifung führt ihn der Therapeut wieder zu
3
seiner Aufgabe zurück. In dem Maße, wie der Patient die leichteren Inhalte besser bewältigen kann, kann zu komplexeren Situationen übergegangen werden. So wird z.B. – zu Anfang zusammen mit dem Therapeuten – ein Postamt oder ein Geschäft aufgesucht. Im frühen Stadium der Übungen soll der Patient nur aufnehmen und sein Erleben innerlich organisieren, ohne zu agieren und sich sozial besonders zu exponieren. Dies ist weiteren Schritten vorbehalten.
3.5.2
Denken lernen statt Zwangsgrübeln
Beim Zwangsgrübeln als Ausdruck des Erlebens mangelhafter mentaler Kohärenz entwickeln sich ständig Gedanken ohne wirklichen Wert und ohne Beziehung zum Handeln. Sie erreichen nie ein Stadium, in dem sie den Betroffenen das Gefühl der Sicherheit hinsichtlich eines bestimmten Sachverhalts geben. Sie drehen sich um alles Mögliche, aber eines vermögen sie nicht: ein klares und deutliches Bild der Gegenwart zu vermitteln, das einen in die Lage versetzen würde, angemessen und zielgerichtet zu handeln. Dafür ist die Aufmerksamkeit nicht genug auf das aktuelle Leben gerichtet. Es geht eher um Peripheres. Am Anfang des Zwangsgrübelns stehen sehr häufig Emotionen, die sich nicht adäquat entwickeln und nicht an ihren Endpunkt gelangen. Das Gegenteil von Zwangsgrübeln ist Denken in einem geordneten Problemlöseprozess. Um den Patienten den Unterschied zwischen Grübeln und Denken zu verdeutlichen, geben wir ihnen als Beispiel die schriftliche Aufzeichnung zweier Arten, gedanklich mit demselben Problem (»Ich will meinen Sohn in den Kindergarten bringen«) umzugehen. Zwei Beispiele. Beim Zwangsgrübeln sieht der
Umgang mit dem Problem in etwa so aus: »Ich will meinen Sohn in den Kindergarten bringen. Er muss unbedingt dorthin, obwohl ich lange
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nicht davon überzeugt war. Ich habe mir Sorgen darüber gemacht, was ihm alles dort passieren könnte. Wie mache ich das bloß jetzt? Mein Auto springt nicht an. Das ist immer so: Ich bin ein Pechvogel. Ist es wirklich Pech? Ist es nicht meine eigene Schuld? Bin ich nicht richtig mit dem Auto umgegangen? Ich bin so zerstreut in letzter Zeit, kann mich so schlecht konzentrieren. Neulich hätte ich fast statt der Apfelsaftflasche die mit Biospülmittel angesetzt. Wird das denn nie besser? In einer solchen Verfassung werde ich die Prüfung im März nie schaffen. Wie bringe ich ihn bloß in den Kindergarten? Ich habe den Kindergartenbesuch viel zu oft abgelehnt. Könnte es sein, dass ich das Auto, ohne es zu merken, sabotiert habe, vielleicht um doch, wenn auch unbewusst, meinen Kopf durchzusetzen? Meine Frau war ja von Anfang an dafür. Wenn ich wirklich ihre Pläne zunichtemachen will, ist das im Grunde genommen ganz schlimm. Was bin ich bloß für ein Mensch? Auf der einen Seite ...« Ein zielgerichteter Denkvorgang hingegen verläuft in etwa folgendermaßen: »Ich will meinen Sohn in den Kindergarten bringen. Was ist der Unterschied zwischen dem, was ich will, und dem, was ich habe? Die Entfernung. Was verändert die Entfernung? Mein Auto. Mein Auto springt nicht an. Was ist nötig, damit es anspringt? Eine neue Batterie. Wo gibt es neue Batterien? In der Autowerkstatt. Ich möchte, dass die Werkstatt mir eine neue Batterie einsetzt, aber die Werkstatt weiß nicht, dass ich eine brauche. Worin besteht die Schwierigkeit? In der Kommunikation. Was ermöglicht Kommunikation? Ein Telefon. Was ist also zu tun? Ich telefoniere, um mit der Werkstatt zu sprechen. Sie soll mir eine neue Batterie bringen, damit ich mit dem Auto fahren kann, um schließlich meinen Sohn in den Kindergarten zu bringen« (nach Newell & Simon, 1973, S. 416). Bei der Diskussion über diese beiden Beispiele versuchen wir vor allem, den Patienten die charakteristischen Unterschiede aufzuzeigen: Bei dem Grübelprozess wird nicht zielgerichtet Ordnung geschaffen und dann gehandelt, sondern
der Betroffene versucht ständig, allerdings ohne viel Erfolg, seine innere Befindlichkeit zu regulieren. Bei dem Problemlöseprozess wird erst das Ziel festgestellt, und dann werden die Hindernisse auf dem Weg dorthin identifiziert. Anschließend werden sinnvolle Maßnahmen überlegt, die die Überwindung der Hindernisse und damit die Erreichung des Ziels gewährleisten. Analyse und Korrektur. Im nächsten Schritt sollen
einige für den Patienten typische Grübelsequenzen analysiert und rückwirkend anhand des Modells des zielgerichteten Problemlöseprozesses korrigiert werden. Nehmen wir z.B. Friedrichs Reise zu seiner Großmutter (7 Kap. 3.3): Während der ganzen Zugfahrt verspürt Friedrich Ansätze von Angst und Sorge darüber, wie die Ferien bei seiner strengen Großmutter wohl verlaufen werden, aber dieses Gefühl entfaltet sich nicht und regt ihn nicht zu einem problemlösenden Denkprozess an. Dieser hätte wie folgt aussehen können: »Was ist mein Ziel? Ich möchte einen angenehmen, möglichst erfreulichen Urlaub verbringen. Welche Bedingung könnte mich daran hindern, mein Ziel zu realisieren? Die strenge und gnadenlose Art, mit der meine Großmutter manchmal mit mir umgeht, vor allem dann, wenn ich in ihren Augen etwas falsch gemacht habe. Wie kann ich damit umgehen? Was sollte ich tun? 4 Ich werde von Anfang an möglichst nett und freundlich, aber innerlich distanziert zu ihr sein. 4 Ich werde, so gut es geht, ihre Marotten akzeptieren und mich wenn möglich darauf einstellen. 4 Wenn sie mich trotzdem mal anschnauzt, werde ich versuchen, es mir nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen. 4 Ich werde möglichst viel Zeit draußen verbringen und zwei Freundschaften reaktivieren, um nicht so oft allein mit ihr zu sein. 4 Sollte es trotz allem unangenehm werden, werde ich unter einem Vorwand den Urlaub abbrechen.«
77 3.6 · Selbsthilfe bei Depersonalisationserscheinungen
Auf diese Weise erarbeiten wir mit dem Patienten ähnliche Skripts für Problemlöseprozesse am Beispiel von Situationen, die sie üblicherweise zu langen Grübelsequenzen veranlassen.
3.5.3
Kompensation schwerer Depersonalisationserscheinungen durch innere Aktivierung
Wir haben am Beispiel von Frank (7 Kap. 3.3) gesehen, wie ein Mangel an inneren Orientierungsprozessen es nahelegt, sich zwanghaft äußere Orientierungsmarken zu suchen, um sich an ihnen sozusagen vorwärtszuhangeln (Zählen von Briefkästen usw.). Ziel der Therapie bei solchen Depersonalisationszuständen ist eine Reaktivierung von inneren Prozessen, damit Lebenssituationen wieder einen größeren Wirklichkeitsgehalt erlangen und die Person sich wieder »ausgefüllter« und vollständiger fühlt. Wir besprechen mit dem Patienten, dass bei Aktionen wie die Wohnung zu verlassen und sich auf den Weg zur Freundin zu machen eine Fülle von Phänomenen wie Verhaltenspläne und Absichten, Erinnerungen, Assoziationen und Gefühle auftreten können, die wieder aktiviert werden sollen. Es geht also darum, dass der Patient lernt, solche Situationen stärker und vollständiger zu erleben, sodass die zwanghafte Ausrichtung auf äußere Orientierungspunkte mit der Zeit immer überflüssiger wird. Ein so »angereichertes« Beispiel der Situation »Besuch der Freundin« sieht dann etwa folgendermaßen aus: Frank steht in der Wohnung vor seiner Wohnungstür. Es ist Samstag, 14.30 Uhr. Er sieht sich die Tür an und bemerkt den rissigen braunen Farbanstrich, der am unteren Teil fast ganz abgeblättert ist. »Ich muss sie dringend streichen, wie so manches in der Wohnung«, sagt er sich. »Spätestens im Frühjahr werde ich mich daranmachen. Meine Freundin hat versprochen, mir dabei zu helfen. Das kann vielleicht ganz nett werden, trotz der Plackerei.« Er wird jetzt die
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Wohnung verlassen, um zu ihr zu fahren. Gegen 15.15 Uhr wird er bei ihr sein, und er freut sich darauf. Das Treffen letzten Samstag war etwas misslungen wegen des Streits über die nächsten Ferien. »Heute werden wir alles Notwendige in Ruhe klären«, nimmt er sich vor. Und auch, sie nicht ständig zu unterbrechen, um sich durchzusetzen. Er geht auf die Tür zu, legt die Hand auf die Klinke und öffnet sie mit einer beherzten Bewegung. Er hat seinen Feierabend mehr als verdient. Er hat seit neun Uhr an der Vorbereitung auf die nächste Klausur geschuftet und ist gut vorangekommen. Er ist stolz auf sich, aber auch froh, jetzt endlich aus dem Haus zu kommen. Die Sonne scheint, und er freut sich auf den Spaziergang, den sie später machen werden. Nur raus hier. Er schließt die Tür, fast wirft er sie zu. Nun schließt er ab, zweimal, rund und energisch: »So, zu.« Er nimmt die Stufen fast im Laufschritt. Draußen ist es hell, nicht wie in dem vergammelten Hausflur. Vor morgen früh muss er den Flur nicht mehr sehen. Bei gemeinsamen Expositionen versuchen wir, diese inneren Prozesse durch Fragen, Anregungen und Hinweise zu evozieren, mit dem Ziel, dass dem Patienten dies mit der Zeit immer besser selbst gelingt. Dadurch erhalten bislang stark depersonalisiert erlebte Lebensepisoden nach und nach wieder ihren vollen, lebendigen Wirklichkeitsgehalt.
3.6
Selbsthilfe bei Depersonalisationserscheinungen
Sie können fast alle der oben beschriebenen Übungen auch in Form einer Selbsthilfe, d.h. ohne Anleitung durch einen Therapeuten, durchführen. Dabei können Sie folgendermaßen vorgehen: 4 Wählen Sie jeweils einen inhaltlichen Schwerpunkt aus. Ein wichtiges Kriterium dafür sind Ihre aktuellen Schwierigkeiten. Lesen Sie den dazugehörigen Text. 4 Wählen Sie einen günstigen Zeitpunkt für die Ausführung der Übungen. Ein ungünstiger
78 Kapitel 3 · Depersonalisationserscheinungen: Defizite in der körperlichen und mentalen Kohärenz
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Zeitpunkt ist dann gegeben, wenn Sie zu müde sind oder wegen großer Sorgen keinen »freien Kopf« haben. Vor einer Übung können Sie sich auch bewusst ausruhen, um mehr Energie zur Verfügung zu haben. Fragen Sie sich vor jeder Übung, worum es dabei geht und was Sie dabei lernen wollen. Ihre Übung sollte nicht zu lange dauern. Es hat keinen Sinn, sie so auszudehnen, dass Sie sich dadurch in eine Erschöpfung treiben. Zögern Sie nicht, eine Übung auch einmal abzubrechen, falls Sie das Gefühl haben, dadurch überfordert zu sein. Fragen Sie sich nach jeder Übung, welche Erfahrungen Sie gemacht haben, was Sie gelernt haben, welche Schwierigkeiten aufgetreten sind und wie Sie weitermachen wollen. Ärgern Sie sich nicht über sich selbst, wenn etwas nicht ganz gelungen ist. Das kostet nur Energie und bringt Sie nicht weiter. Gehen Sie verständnisvoll und freundschaftlich mit sich um. Würdigen Sie auch kleine Fortschritte. Denken Sie daran, dass sich daraus nach und nach große positive Veränderungen ergeben können.
4 4 Das zwanghaft-skrupelhafte Gewissen: Zweifel an den eigenen moralischen Absichten und Handlungen Denn um Qual, Schmerz und Tränen wegen unserer Sünden zu verspüren, ist jegliche Erwägung von Freude und Fröhlichkeit hinderlich. Vielmehr will ich Schmerz empfinden und Qual verspüren, dadurch, dass ich mehr den Tod und das Strafgericht ins Gedächtnis bringe. Ignatius von Loyola
4.1
Gewissen und Gewissensqualen – 81
4.2
Ein Fall von zwanghaft-skrupelhaftem Gewissen – 83
4.3
Therapie bei zwanghaft-skrupelhaftem Gewissen – 86
4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4
Gewissen: zwei Gefahren – 86 Wertung des skrupelhaften Gewissens – 86 Prinzipien der Korrektur eines zwanghaft-skrupelhaften Gewissens – 88 Einübung von Maßnahmen zur Korrektur eines zwanghaft-skrupelhaften Gewissens – 90
4.4
Selbsthilfe bei zwanghaft-skrupelhaftem Gewissen – 91
81 4.1 · Gewissen und Gewissensqualen
4.1
Gewissen und Gewissensqualen
Nach einer Untersuchung über die Entstehung des Gewissensbegriffs kam es in der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts zu einer Rückbesinnung des Menschen auf sich selbst. In diesem Rahmen erfolgten auch erste Überlegungen zum persönlichen Gewissen. Noch Homer sagt nichts über ein Gewissen seiner Helden. Demnach entspringen ihre Entscheidungen auch nicht ihrem Inneren. Es sind die Götter, die für die Menschen planen, entscheiden und deren Willen lenken. Deshalb kann der Mensch ihnen die Schuld für seine Taten anlasten. Eine Wendung zur Selbsterkenntnis äußert sich in dem altgriechischen Sprichwort »Erkenne dich selbst«, das die Überlieferung mit dem Orakel von Delphi und der Seherin Pythia in Zusammenhang bringt. Sokrates machte diesen Leitsatz zur Grundlage seines Handelns und beriet sich mit seinem Daimonion, der personifizierten Form des Gewissens. Paulus übernahm das entsprechende griechische Wort für Gewissen und verwandte es in seinen Briefen. Damit wurde eine rege Auseinandersetzung über das Thema in Gang gesetzt, die in der mittelalterlichen Scholastik einen Höhepunkt erreichte und später im Luthertum und im Calvinismus fortgeführt wurde. Aus christlicher Sicht wurde das Gewissen zu einer Gegebenheit der gesamten Menschheit, die durch das »Ereignis Christus« gefestigt und gestärkt wurde. Es manifestiert sich letztlich als persönliche Entscheidung im Gewissensurteil, und als solche kann es sich irren. – Man ahnt, welche Probleme dadurch auf zwanghafte Menschen zukamen und zukommen (Pfeiffer, 1990). So waren die ersten Personen, die sich sozusagen von Berufs wegen mit einigen Phänomenen des Zwangs zu beschäftigen hatten, Seelsorger. Zwangsgedanken galten bis ins 19. Jahrhundert hinein als Störungen des religiösen Erlebens. Sie wurden als das Werk Satans angesehen, der Seelen auch dadurch ins Verderben zu stürzen sucht, dass er sie durch übergroße Gewissenhaftigkeit
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und Skrupel verwirrt. Das Ergebnis war eine Art religiöse Melancholie, die den Betroffenen nicht selten an den Rand der Verzweiflung brachte, der einzigen unverzeihbaren Sünde. Wodurch solche Selbstzweifel genährt wurden, zeigt ein kurzer Auszug aus den »Geistlichen Übungen« des Ignatius von Loyola (2008, S. 17). In Bezug auf die Gewissenserforschung zur Vorbereitung der Beichte heißt es dort: »Man sündigt, wenn der Gedanke, schwer zu sündigen, kommt und der Mensch ihm Gehör schenkt, indem er ein wenig dabei verweilt oder einiges sinnliche Wohlgefallen hinnimmt oder wenn einige Nachlässigkeit beim Verwerfen dieses Gedankens vorhanden ist.« Was heißt »ein wenig« dabei verweilen? Wo fängt »einiges Wohlgefallen« an, wann ist »einige Nachlässigkeit« am Werk? Man ahnt die antizipatorischen Höllenqualen, die ängstliche Gemüter beim Versuch, diese Fragen zu beantworten, durchlitten haben müssen. Auch dem Verfasser dieser Richtlinien waren Gewissensbisse nicht fremd. Er selbst beschreibt die Krise, die er in Maresa durchlitten hatte (2008, S. 21; dabei spricht er von sich in der dritten Person): »Obwohl die Generalbeichte, die er in Montserrat abgelegt hatte, mit großer Gewissenhaftigkeit und von Anfang bis Ende in schriftlicher Form erfolgt war, schien es ihm doch manchmal so, wie wenn er bestimmte Sünden nicht gebeichtet hätte, und dann war er sehr betrübt. [...] Er beichtete nochmals und war trotzdem nicht zufrieden. [...] Schließlich riet ihm ein Geistlicher der Kathedrale, dass er nochmals alles aufschreiben müsse, woran er sich erinnern konnte. So verfuhr er, und nachdem er gebeichtet hatte, wurde er dennoch von schrecklichen Skrupeln angefallen. Seine Zweifel wuchsen noch mehr, und er war sehr niedergeschlagen. Er wusste, dass sie ihm großen Schaden zufügten und es gut wäre, sich ihrer zu entledigen, aber dennoch gelang es ihm nicht.«
82 Kapitel 4 · Das zwanghaft-skrupelhafte Gewissen: Zweifel an den eigenen moralischen Absichten und Handlungen
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Ein neuer Beichtvater befahl ihm, sich nur mit solchen vergangenen Sünden zu befassen, die ihm »ganz eindeutig« erschienen. Doch Ignatius, dem sie alle »ganz eindeutig« erschienen, verbrachte sieben Stunden am Tag damit, auf Knien zu beten. Er kasteite sich auf jede nur erdenkliche Art, versuchte sich ständig seiner vergangenen Sünden zu entsinnen, schweifte in Gedanken von Missetat zu Missetat und wurde das Gefühl nicht los, er müsse erneut zur Beichte. Es gab damals sicherlich viele, die von solchen Ängsten befallen waren, und auch heute wird es noch viele geben. Zur Zeit von Ignatius entstand – insbesondere in den romanischen Ländern – eine umfangreiche Fachliteratur, die Priester über die Natur von Skrupeln aufklären sollte und ihnen Hilfestellung im Umgang mit betroffenen Gläubigen gab. Wir zitieren aus einer damaligen »Anleitung zur Seelenführung« (Bossuet, 1885, S. 211): »Skrupulanten fallen besonders beim Gebrauch der heiligen Sakramente auf: Sie verbringen ihre Zeit damit, sich endlos zu erforschen. Es genügt ihnen nicht, um die Reue gebeten und sie erhalten zu haben, sie müssen sie geradezu körperlich spüren. Um das zu erreichen, sind neue Anstrengungen und nochmals der Versuch, richtig zu bereuen, vonnöten. Erscheinen sie endlich zur Beichte, geraten sie wieder völlig durcheinander. Sie werden unsicher, wissen nicht mehr, was sie gesagt haben oder was sie sagen wollten. Dann sind wieder lange Reden, Wiederholungen und allerlei Umstände an der Tagesordnung. Bekommen sie die Absolution, neue Schrecknisse. Haben sie endlich den Beichtstuhl verlassen, so kehren sie in Bälde dorthin zurück, weil sie meinen, sie hätten sich schlecht ausgedrückt oder der Beichtvater hätte nicht alles verstanden.«
Doch derselbe große Prediger belässt es nicht bei der »Diagnose« und findet tröstende Ratschläge für die in Not geratenen Seelen, die sich an ihn
wenden. Aus einem Brief an Madame Albert de Luynes (Bossuet, 1885, S. 224): »Ich versichere Ihnen, meine Tochter, dass Ihre letzte Beichte ganz hervorragend und voll zufriedenstellend war. Sie brauchen sie nicht zu wiederholen oder durch eine ausgedehntere zu vervollständigen. Das wäre nicht nur unnütz, sondern Ihrem Seelenzustand ausgesprochen abträglich. Sie dürfen auch einem gewissen Gedanken, der angeblich darin besteht, dass Sie alle Ihre guten Vorsätze über Bord werfen wollen, weder Aufmerksamkeit noch gar Glauben schenken. Jedes Mal, wenn Herr Zwanghaft wieder auftaucht, so sagen Sie sich: dies ist lediglich eine Versuchung, und dann gehen Sie Ihren Weg unbeirrt weiter. Ich verbiete Ihnen, sich über Ihre vergangene Beichte Sorgen zu machen. Ich verbiete Ihnen, sie ganz oder partiell zu wiederholen, vor wem auch immer. Dieses Verbot würde auch für den Fall gelten, wo Sie auf dem Sterbebett lägen. Es würde bloß Ihren Geist verwirren, und diese tief greifende Verwirrung würde sie daran hindern, sich wichtigen Taten zu widmen. Entfernen Sie sich also von den Skrupeln, und kehren Sie stattdessen wieder zu den hohen Taten zurück, die da sind: Hingabe an Gott und Vertrauen in seine Barmherzigkeit sowie Dienst am Nächsten. Fehlt dieses Vertrauen, so gibt es nur Unsicherheiten für alle Seelen, aber besonders für so fein veranlagte wie Ihre, Madame.«
Eine zwanghafte Suche nach der eigenen moralischen Integrität findet nicht immer auf dem Hintergrund religiöser Gebote und Verbote statt, sondern auch auf dem Hintergrund allgemein moralischer Verpflichtungen. Doch wo fangen sie an, und wo enden sie? Was ist Pflicht? Was ist Zwang? Wann urteilt das Gewissen einigermaßen sicher? Wann gerät es aus dem Lot?
83 4.2 · Ein Fall von zwanghaft-skrupelhaftem Gewissen
4.2
4
Ein Fall von zwanghaft-skrupel- Buße für den nächsten Tag nachgedacht. Sie behaftem Gewissen stand meist aus einem freiwilligen Verzicht auf
Friedhelm steht vor den Scherben
Wenn Friedhelm an das Haus dachte, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte, so fielen ihm zuallererst die Möbel ein, die er so gehasst hatte: wuchtig, massiv, düster, fast schwarz, keinen Raum für Leichtes oder Farbiges, geschweige denn Fröhliches lassend. Auch das Bett, in dem er schlafen musste, war keineswegs kindgemäß, eher ein Riesenbett für zwei Erwachsene, in dem er sich wie verloren fühlte, anstatt Geborgenheit und nächtliche Ruhe zu finden. Auch in anderen Lebenssituationen waren Geborgenheit und Frieden wahrlich nicht seine Grundgefühle. Es waren vielmehr Angst, Scham und ein nagendes Gefühl der Schuld, die ihn fast überall begleiteten. Es begann mit der Schule. Wenn er das Gefühl hatte, an einem bestimmten Schultag gegen eine seiner Pflichten verstoßen zu haben, durch Unaufmerksamkeit, Schwäche oder gar durch mutwillige Bösartigkeit, ergriff ihn am Abend in seinem gehassten Bett eine solche Angst vor Strafe, dass er aufstehen musste, um Buße zu tun und eine Art Wiedergutmachung zu tätigen. Er nahm dann z.B. ein altes Schulheft und zeichnete besonders schlampig ausgeführte Buchstaben nach. Er fragte sich dabei nicht, ob eine solche Quälerei irgendeinen Sinn hatte. Er führte sie durch, bis ihm der Kugelschreiber vor Müdigkeit aus der Hand fiel. Danach fand er etwas Schlaf, wenn auch einen oberflächlichen und leicht störbaren Schlaf. Das Bett wurde für Friedhelm allmählich zu einem Ort der Gewissensprüfung, der Reue und der Buße. Hatte er den Verdacht, im Laufe des Tages irgendeine Verfehlung begangen zu haben, so analysierte er sie am Abend in seinem Bett ausführlich. Bestand auch nur der geringste Zweifel an der Reinheit seiner Gedanken oder Taten, so musste er eine Reue empfinden, deren Echtheit durch neue Analysen für einwandfrei befunden werden musste. Dann wurde über eine
etwas, was ihm Freude gemacht hätte. Doch das waren bloß Kindereien angesichts dessen, was noch kommen sollte. Trotz aller Unbequemlichkeit seiner Schlaff gelegenheit regte sich dann doch mit den Jahren eine dunkle Seite bei ihm, die sein Gewissen bis aufs Äußerste strapazierte. Schreckliche Kämpfe spielten sich in ihm ab, aber schließlich gab er immer häufiger seinem Drang nach und fing an, sich selbst zu befriedigen. Er erschrak jedes Mal zu Tode vor diesem traurigen Beweis seiner lüsternden Animalität und ekelte sich schrecklich vor dem, was sie an seinem Körper bewirkte. Er nahm sich vor, es nie wieder zu tun, und fing spätestens am übernächsten Tag wieder damit an. Doch das – entsetzlich genug – war noch lange nicht das Entsetzlichste. Obwohl stets bemüht, sich mit großer Genauigkeit von den traurigen Resten seiner Versündigung zu reinigen und keine Spur davon zu hinterlassen, drängten sich mit der Zeit in zunehmendem Maße Gedanken und Fragen auf, die er weder einordnen noch unter Kontrolle halten konnte. Konnte es nicht sein, dass ... War denn wirklich jedes Risiko ausgeschlossen? War es zu hundert Prozent unmöglich, dass er nach einer seiner sexuellen Orgien durch harmlos aussehende Berührungen die Mutter oder die zwei Jahre ältere Schwester – schwängerte? Friedhelm fing an, nach seinen Verfehlungen den Kontakt mit den beiden zu vermeiden, denn trotz der allgemeinen hohen hygienischen Sitten in der Familie ließ ihn der Gedanke nicht los. Über das »Wie?« dachte er keine Sekunde nach. Damals nicht und auch heute nicht. Viele andere Ängste, mögliches moralisches Versagen betreff fend, gesellten sich hinzu. Er musste sich mit ihnen auseinandersetzen, um die Möglichkeit eigener Schuld zu widerlegen und dadurch ein bisschen Frieden zu erlangen. Dennoch nagten ständig Zweifel an ihm, und wenn der eine etwas nachließ, tauchte der nächste schon auf.
84 Kapitel 4 · Das zwanghaft-skrupelhafte Gewissen: Zweifel an den eigenen moralischen Absichten und Handlungen
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Friedhelm heute. Nur ein paar Auszüge seines Leidensweges: Friedhelm hat Angst, im Hausflur und am Treppengeländer durch Berührung Spuren zu hinterlassen – vor allem dann, wenn er mit seiner Frau intim geworden ist –, die dann zur Schwängerung einer seiner Nachbarinnen führen könnten. Dieser Gedanke, der nach seiner Pubertät 15 Jahre »geruht« hatte, tauchte wieder auf, nachdem Friedhelm von einem Lehrgang nach Hause kam, bei dem er eine seiner Kolleginnen recht attraktiv gefunden hatte. Auf seinem Weg vom Büro nach Hause sucht er die Umgebung seiner Arbeitsstelle nach spitzen Gegenstände oder Scherben ab, die auf der Erde liegen. Ginge er daran vorbei, ohne sie unschädlich zu machen, könnte es sein, dass einer der Menschen, mit denen er beruflich zu tun hat, dadurch zu Schaden kommen könnte. Mit großer Vehemenz würde man ihn für eine solch unverzeihliche Nachlässigkeit haftbar machen, mit dem Ergebnis einer totalen Vernichtung seiner persönlichen und sozialen Existenz. Friedhelm ist auch schon von zu Hause wieder aufgebrochen, um eine bestimmte Stelle aufzusuchen, weil er das schlechte Gefühl nicht loswurde, möglicherweise etwas übersehen zu haben. Andenken. Von einem Familienurlaub brachte
Friedhelm einen besonders schönen kleinen Stein mit. Nachdem er erfahren hatte, dass das entsprechende Land »Kunstdiebstähle« scharf ahndete, begann er eine lange anonyme Korrespondenz, um den Stein zurückerstatten zu können. Niemand reagierte. Schließlich schickte er ihn mit einem anonym gehaltenen Entschuldigungsbrief an die zuständige Botschaft. Selbstverständlich trug er bei der gesamten Wiedergutmachungsaktion Handschuhe und deponierte das kleine Paket in einer Poststelle am anderen Ende der Stadt. Alpenglühen. Bei einer Schulung mit Mitarbei-
tern seiner Firma in den österreichischen Alpen zündete sich Friedhelm bei einem Spaziergang im Überschwang einer neu empfundenen Freiheit
eine Zigarette an (was seine Frau nie hätte erfahren dürfen, geschweige denn seine Mutter). Kaum auf seinem Zimmer angelangt, begann er sich entsetzlich davor zu fürchten, dass er durch Unauff merksamkeit halb Tirol in Brand gesetzt haben könnte. Er schaute angestrengt von seinem Balkon in die Berge, immer auf der Suche nach einem verräterischen Feuerschein, rief (anonym selbstverständlich) mehrere Feuerwehrdienststellen an und bat sie, nach Bränden Ausschau zu halten. Er war drauf und dran, wieder in die Nacht aufzubrechen, um zu retten, was noch zu retten war, doch davon hielt ihn dann schließlich ein unangenehmer Ostwind ab, der um seinen Balkon pfiff. Kommentar. Für den zwanghaft-skrupelhaften Menschen sind Gelegenheiten, bei denen er (seinen Befürchtungen nach) moralisch versagen könnte, allgegenwärtig, auch wenn solche »riskanten Situationen« anderen völlig banal oder nichtssagend erscheinen. Friedhelm z.B. bat seine Großmutter vor 15 Jahren um eine Briefmarke und fragt sich noch immer, ob es sein kann, dass er statt einer zwei Briefmarken aus der Schublade genommen hat. Er versucht immer wieder, in Gedanken zurückzuverfolgen, wie die Situation damals genau war, doch die Zweifel wollen nicht verstummen. Einer seiner Kollegen äußerte einmal, ihm sei alles zu viel und er habe die Nase voll. Friedhelm reagierte nicht besonders empathisch, doch er begann den Kollegen ab diesem Moment ständig zu beobachten und nach Anzeichen einer schweren Depression mit akuter Suizidalität zu suchen. Er beschaffte sich Fachliteratur, um den Zustand des Kollegen besser einschätzen zu können. War er nicht moralisch verpflichtet, ihn anzusprechen? War er nicht verpflichtet, Kontakt zu dessen Frau aufzunehmen und ihr seine Bedenken mitzuteilen? Für den Fall, dass es dem Kollegen immer schlechter ginge, nähme er dann nicht eine schwere moralische Schuld auf sich, wenn er nicht intervenierte? Er könnte doch (anonym selbstverständlich) den Sozialpsychiatrischen
85 4.2 · Ein Fall von zwanghaft-skrupelhaftem Gewissen
Dienst auf den Kollegen aufmerksam machen. Wie sah der Kollege übrigens heute Morgen aus? Schienen nicht seine Bewegungen seltsam verlangsamt? Was hat er genau gesagt? So geht es dann eine Zeitlang weiter, meist, bis der nächste Anlass zu skrupelhafter Selbstquälerei die alte Situation ablöst. Magisches Denken. Bei zwanghaften Befürch-
tungen kann an einigen Stellen überdies »magisches Denken« ins Spiel kommen. Damit bezeichnen wir den Glauben einer Person, durch die Ausführung oder die Unterlassung bestimmter Gedanken oder Handlungen einen direkten, durch physikalische Gesetzmäßigkeiten nicht erklärbaren Einfluss auf Menschen oder Dinge ausüben zu können (Hoffmann & Hofmann, 2008). Friedhelm, der Naturwissenschaften studiert hat, weiß genau, dass es physiologisch ausgeschlossen ist, durch Berühren eines Treppengeländers eine Spur zu hinterlassen, die so beschaff fen ist, dass eine Nachbarin durch Berühren dieser Spur schwanger wird. Genau genommen hat er sich nie mit der Frage, ob dies möglich ist, und wenn ja, wie und auf welchem Weg, beschäftigt. Wir finden dieses Phänomen häufig bei Zwangskranken und nennen es »Denkverbot« (Hofff mann & Hofmann, 2008): Der Zwang, der einem alles Mögliche vorgaukelt, verbietet dem Betroff fenen gleichzeitig, sich mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit dieser Inhalte zu beschäftigen. Es ist therapeutisch völlig nutzlos, die Betroff fenen immer wieder auf die Unmöglichkeit ähnlicher von ihnen befürchteter Konsequenzen hinzuweisen, an ihren »gesunden Menschenverstand« zu appellieren, sie Wahrscheinlichkeiten ausrechnen zu lassen, um diesen blödsinnigen Gedanken (zusammen mit den ihn begleitenden Gefühlen!) doch abzustellen. Eine solche Vorgehensweise ist allein schon deshalb falsch, weil sie das Erleben des Kranken nicht trifft. Friedhelms erziehungsbedingte konfliktbeladene und ungeklärte Haltung zu seiner Sexualität führt nach einem entsprechenden Akt bei ihm zu einem Ge-
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fühl der »Sündhaftigkeit« und des moralischen Versagens, das so stark ist, dass es sich über die von ihm berührten Treppengeländer auf andere Menschen wie die Nachbarinnen zu übertragen droht: In seinen Augen besteht das Risiko, dass er sie über sein Sperma mit seiner Schuld ansteckt. Sie würden dann ein uneheliches Kind zur Welt bringen müssen, ein Höhepunkt der Verwerflichkeit. »Wenn ich etwas Schlechtes getan habe und jemanden oder etwas anfasse, dann fühle ich mich, als würde das Böse von mir überspringen«, stellt er einmal fest. Dies muss er auf jeden Fall zu verhindern versuchen, um nicht neue Schuld auf sich zu laden. Genauso wie der Regenmacher nicht überlegt, auf welche Art seine gemurmelten Formeln über physikalische Prozesse einen Regenguss auslösen können, genauso denkt Friedhelm nicht über naturwissenschaftlich fundierte Mittel und Wege nach, durch die eine Schwangerschaft bei der Nachbarin ausgelöst werden könnte. Beide erleben sich in ihrem magisches Denken als in einer direkten Beziehung zu höheren Mächten oder zu einer höheren Wirklichkeit stehend. Beim Regenmacher sind es gute, hilfreiche Mächte, beim Zwangskranken geht es immer um mögliche negative Konsequenzen, also letzten Endes um Böses, Sündhaftes und Verwerfliches. Das muss der Kranke um den Preis permanenter Unruhe und ständiger Zweifel bekämpfen. Die ständigen Grübeleien des skrupelhaften Menschen haben die Funktion, die Möglichkeit solcher Vorfälle mit schlimmen Konsequenzen möglichst auszuschließen. »Wie muss ich mich verhalten, damit so etwas nicht passieren kann? Wie habe ich mich eben genau verhalten? War es richtig so? Kann ich ausschließen, dass ich dabei einen schlimmen Fehler oder auch nur eine Unachtsamkeit begangen habe, die geradewegs ins Verderben führt?« Durch eine ständige Selbstbefragung versucht der Zwanghafte, das Aufkommen von Schuldgefühlen zu verhindern oder sich davon zu befreien. Das gelingt ihm, wenn überhaupt, nur für
86 Kapitel 4 · Das zwanghaft-skrupelhafte Gewissen: Zweifel an den eigenen moralischen Absichten und Handlungen
kurze Zeit, denn das Zwangssystem ist so angelegt, dass er Zweifel nie vollständig ausräumen kann. Werden die Schuldgefühle übermächtig, dann sucht er in seiner Not nach Möglichkeiten der Buße und der Wiedergutmachung, allerdings auf eine Art, die wieder vom Zwang geprägt ist.
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4.3
Therapie bei zwanghaft-skrupelhaftem Gewissen
4.3.1
Gewissen: zwei Gefahren
Das Gewissen ist eine unverzichtbare Instanz des Menschen, die es ihm erlaubt, seine Gedanken und Taten auf dem Hintergrund von Normen, Geboten und Verboten zu bewerten, die er im Laufe seines Lebens verinnerlicht hat. Insofern stellt es eine wichtige Korrektur seiner Lebensführung und seines Zusammenlebens mit anderen dar. Ein solch positives Instrument kann unter zweierlei Bedingungen selbst zum Problem werden: In dem einen Fall urteilt es zu »vergröbert« und lässt dem Menschen fast alles durchgehen, weil es nur im Extremfall Alarm schlägt. Es kann so schwach ausgeprägt sein, dass wir bei betroff fenen Menschen Störungsbilder wie das der »antisozialen Persönlichkeit« feststellen, die kaum moralische Skrupel kennt. Bei den Fällen, die uns hier interessieren, haben wir es jedoch mit dem entgegengesetzten Phänomen zu tun: Das Gewissen geht bei seinem Urteil zu »verfeinert« vor. Es lässt dem Menschen fast nichts durchgehen, weil es bei der geringsten Gelegenheit mit einer Vehemenz Alarm schlägt, die den Betroffenen ständig tausend Schrecken einjagt. Er ist dann ständig dabei, sein Tun und Lassen nach Hinweisen auf mögliche Verfehlungen zu durchsuchen, um nur nichts zu übersehen, bevor es zu spät ist. Wenn wir versuchen, mit therapeutischen Mitteln die Not solcher Zwangskranker zumindest zu lindern, so empfiehlt sich der im Folgenden beschriebene Weg.
4.3.2
Wertung des skrupelhaften Gewissens
Konsequenzen. Zunächst besprechen wir mit
dem Betroffenen die folgende These: Eine Steigerung der Empfindlichkeit des Gewissens für mögliche eigene Verfehlungen führt nicht zu zusätzlichen positiven Ergebnissen für die eigene Person oder für andere, sondern zu durchweg schädlichen Effekten. Von Betroffenen wird oft die gegenteilige Ansicht vertreten: »Ich kann nicht streng genug mit mir sein, wenn es darum geht, ein anständiger Mensch zu bleiben«, »Sicher wirken meine Ängste oft übertrieben, aber das ist mir lieber so, als wenn ich oberflächlich und rücksichtslos wäre« usw. Eine solche Haltung nähert den skrupelhaften Zwangskranken an die zwanghafte Persönlichkeit an, die ja in übertriebenen Selbstkontrolltendenzen eher eine Tugend sieht. Doch Zwanghafte wissen meist, dass ihre Reaktionen in bestimmten Situationen von ihnen selbst (wenn die Brisanz der Angelegenheit nachgelassen hat) und von anderen kaum noch nachvollzogen werden können. An dieser Stelle setzen wir mit unserer These von den schädlichen Auswirkungen übergroßer Skrupelhaftigkeit an. Auch in so gut wie in allen Religionen werden extreme Skrupel nicht als Vorsichtsmaßnahmen im Dienste Gottes angesehen, sondern im Gegenteil als Versuchung des »Feindes«, der die Seele dadurch ins Verderben stürzen will. Eine ähnliche Warnung vor extremer Skrupelhaftigkeit kann man auch bei nicht religionsbedingten Moralvorstellungen aussprechen. Bühne des Zwangs. Wir zeigen die negativen Kon-
sequenzen eines skrupelhaften Gewissens noch einmal auf: Das zwanghaft-skrupelhafte Gewissen entfernt den Menschen immer mehr von den wahren Aufgaben des Lebens. Ernsthafte moralische Fragen werden immer häufiger auf einem Nebenkriegsschauplatz »ausgetragen«, auf einer Art »Kasperletheaterbühne« (Hoffmann & Hofmann, 2008): Dort wird dann durch einfache Manipula-
87 4.3 · Therapie bei zwanghaft-skrupelhaftem Gewissen
tionen nach außen hin scheinbar den moralischen Pflichten Genüge getan. So wischt Friedhelm Treppengeländer ab oder fasst sie erst gar nicht an. Durch zwanghaftes Agieren erspart er sich schon sein Leben lang, sich mit seiner Haltung zu seiner Sexualität auseinandersetzen zu müssen: Welches sind meine Wünsche und Bedürfnisse? Was ist mir erlaubt? Was ist nicht vertretbar? Welchen Stellenwert soll Sexualität in meinem Leben haben? Statt »besser« zu werden, werden zwanghaftskrupelhafte Menschen auf diese Weise eher oberflächlicher. Die Auseinandersetzung mit den komplexen Problemen, die der Zwanghaftigkeit zugrunde liegen, verdrängen sie immer wieder durch kurzfristiges Agieren auf der Zwangsebene. Trotzdem kommt es zu permanenten Selbstzweifeln und innerer Unruhe. Dadurch geht die Sicherheit im Umgang mit den echten Dingen des
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Lebens immer mehr verloren. Die ganze Energie fließt schließlich in die Scheinauseinandersetzungen auf der zwanghaften Ebene und fehlt immer mehr beim konstruktiven Umgang mit sich selbst und mit anderen. An diese Diskussion schließen sich die im Folgenden erläuterten therapeutischen Schritte an. Hilfen beim Bilden von Maßstäben: Vergleich »eigener« und »fremder« Wirklichkeit
Am Beispiel einer kritischen Situation aus dem Alltag des Patienten wird ein Vergleich zwischen seinem (zwanghaften) Erleben der Wirklichkeit und dem Erleben eines fremden Menschen, den er schätzt, vorgenommen. Dabei kann auch der Therapeut als »fremde Person« fungieren. Die folgende Tabelle illustriert dieses Vorgehen am Beispiel des Verhaltens in der Umgebung des Arbeitsplatzes.
Situation: Verhalten in der Umgebung des Arbeitsplatzes Zwanghafte Wirklichkeit
Wirklichkeit eines anderen Menschen
Meine Aufgabe nach der Arbeit ist: 4 Dafür zu sorgen, dass niemand (schon gar kein Kind) in Gefahr gerät. 4 Mich zu Hause mit der Familie zu beschäftigen und auszuruhen.
Meine Aufgabe nach der Arbeit ist: 4 Möglichst früh nach Hause zu kommen. 4 Auf dem Weg ganz eindeutige Gefahrenquellen zu beseitigen. (»Eindeutig« heißt: Die meisten Menschen würden sie auch so einschätzen.)
Mein Verhalten dabei: 4 Den Boden genau absuchen. 4 Alle sichtbaren spitzen Gegenstände wie Scherben und Nägel beseitigen. 4 Darauf achten, dass ich nicht dabei gesehen werde. 4 Schließlich reiße ich mich los, um überhaupt wegzukommen.
Mein Verhalten dabei: 4 Lockerer, entspannter Gang nach Hause. Mich auf den Abend freuen. 4 Kurz stoppen, um etwas zu entschärfen (ein- bis zweimal im Monat).
Ergebnisse meines Verhaltens: 4 Unzufriedene Familie wegen Zeitmangels. 4 Ob ich wirklich etwas Positives bewirke, ist nicht bekannt.
Ergebnisse meines Verhaltens: 4 Mehr Zeit zu Hause, angenehmes Klima. 4 Ob ich wirklich etwas Positives bewirke, ist nicht bekannt.
Eigene Befindlichkeit: 4 Stark angespannt, in Eile, trotzdem oft keine Ruhe zu Hause (schlechtes Gewissen)
Eigene Befindlichkeit: 4 In Ordnung.
Schlussfolgerungen: 4 Meine Maßstäbe für meine Aufgaben und für mein Verhalten sollten verändert werden.
Schlussfolgerungen: 4 Es kann bleiben wie bisher.
Korrekturen: 4 4 4
Korrekturen: 4 Keine 4 4
88 Kapitel 4 · Das zwanghaft-skrupelhafte Gewissen: Zweifel an den eigenen moralischen Absichten und Handlungen
Biografische Einordnung der Entstehung des zwanghaft-skrupelhaften Gewissens
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Wenn es gelungen ist, dem Patienten zu verdeutlichen, dass Teile seiner Denkweise und seines Verhaltens Anteile einer »psychischen Störung« darstellen, und wenn er anfängt, ihre Dynamik zu verstehen, dann stellt er sich automatisch die Frage: »Warum ist das so bei mir?« Die Frage nach den individuellen Bedingungen, die zu seiner Störung geführt haben, lässt sich meist auf der Grundlage der biografischen Gegebenheiten, die wir von ihm kennen, sehr gut gemeinsam klären. Wir finden dann meist Momente wie: 4 ein während der Kindheit vorherrschendes düsteres Klima mit Überbetonung von Versagen und Versündigung, 4 massive Bestrafungen für Verfehlungen, die für den Betroffenen nicht nachvollziehbar sind, 4 auf wenig Selbstwert und Selbstvertrauen auff bauende Erziehungsmaßnahmen, 4 elterliche oder andere Modelle von Skrupelhaftigkeit, 4 starke spätere Versagenserlebnisse, die mit starken Schuldgefühlen einhergehen, 4 ein starres Regel- und Tabuisierungssystem. Wenn der Patient in der Lage ist, diesen Teil von sich und seine Entstehung besser zu verstehen, so kann das allein schon zu einer Abschwächung seiner überzogenen Reaktionen führen. Er kann sich dann sagen: »Diese Reaktionen sind das Ergebnis meiner Lebensumstände und gehorchen nicht ewigen, unantastbaren moralischen Grundsätzen. Es ist also möglich, sie kritisch zu hinterfragen und zu verändern.« Nach der Vermittlung dieser Einsichten stellt sich die Frage, wie die übertrieben »verfeinerten« Kategorien (für Gefahr, für Schuld usw.) des zwanghaft-skrupelhaften Gewissens an die Normalität anderer Menschen angenähert werden können.
4.3.3
Prinzipien der Korrektur eines zwanghaft-skrupelhaften Gewissens
Die beiden Arten prosozialen Verhaltens unterscheiden lernen
Soziale Verantwortung scheint eine angeborene Eigenschaft zu sein, und diesbezügliche moralische Regeln finden sich in allen Gesellschaften. Handeln im Dienste anderer (in Form von Hilfeleistung, Beistehen bei Gefahr usw.) kann auf zweierlei Arten motiviert sein: 1. Die Hilfeleistung geschieht freiwillig – aus Mitgefühl für das Schicksal anderer und aus dem echten Bestreben, an deren Wohlbefinden mitzuwirken. 2. Die Hilfeleistung ist vorwiegend egoistisch motiviert. Sie ist praktisch erzwungen, weil die eigene seelische Dynamik keine andere Alternative zulässt. Wenn Friedhelm in der Umgebung seiner Dienststelle so gut wie jede Scherbe zu beseitigen versucht (wenn die Umstände es erlauben), so liegt diesem Verhalten die folgende innere Überlegung zugrunde: »Wenn auch nur eine theoretische Möglichkeit besteht, dass jemand sich an dieser Scherbe verletzen könnte, dann muss ich sie beseitigen, denn ich habe sie nun einmal wahrgenommen. Wenn ich nichts tue, dann werden wieder massive Schuldgefühle auftreten, und ich finde den ganzen Abend keine Ruhe. Darüber hinaus könnte es sein, dass jemand gesehen hat, wie ich an der Scherbe vorbeigegangen bin und nichts unternommen habe. Er könnte mich wegen unterlassener Hilfeleistung anzeigen. Dann wird ein Prozess kommen, man wird mir meine Stelle kündigen, und ich bin sozial total erledigt ... Nein, ein solches Risiko kann ich nicht eingehen.« Das zwanghafte Verhalten von Friedhelm ist primär durch Angst vor Strafe bedingt. Diese Angst ist bei ihm so stark, dass er praktisch an keiner Stelle in der Lage ist, ihr ein Stoppsignal entgegenzusetzen. Patienten müssen lernen, dies
89 4.3 · Therapie bei zwanghaft-skrupelhaftem Gewissen
zu tun und ihr zwanghaftes Absicherungsverhalten von klar prosozial motiviertem Verhalten zu unterscheiden. Ja/Nein-Denken lernen, statt mit Wahrscheinlichkeiten zu »argumentieren«
Ein zentrales Kriterium beim Einschätzen der Verantwortung für einen bestimmten Sachverhalt (z.B. eine Scherbe auf der Straße) ist das der Vorhersehbarkeit von möglichen negativen Konsequenzen. Jemand macht sich beim Unterlassen einer Hilfeleistung dann schuldig, wenn er auff grund seiner Vorkenntnisse hätte wissen müssen, dass durch das Unterlassen (z.B. das Nichtaufheben der Scherbe) negative Konsequenzen für andere mit ausreichend großer Wahrscheinlichkeit auftreten können. An dieser Stelle (und bei ähnlichen Fragen) verfolgen Zwanghafte die folgende »Strategie«: »Wenn das Auftreten von etwas Negativem nicht hundertprozentig ausgeschlossen werden kann, dann habe ich es mit einer Situation zu tun, die mir Angst machen muss.« Diese Argumentation gilt auch für geringe, geringste und gegen Null tendierende Wahrscheinlichkeiten. Auf diese Weise wird alles (im Negativen) über einen Kamm geschoren, statt differenziert und flexibel auf die jeweilige Sachlage zu reagieren. Die Angst und das schlechte Gewissen sind kaum abzustellen. So können wir im eigenen Interesse und im Interesse anderer im täglichen Leben nicht vorgehen. Wir müssen dem Patienten aufzeigen, dass wir alle in den meisten Fällen des täglichen Lebens nicht »in Wahrscheinlichkeiten«, sondern nach dem Ja/Nein-Prinzip denken und handeln. Wenn wir etwa das Gebäude Hauptstraße Nr. 15 betreten wollen, weil wir dort etwas zu erledigen haben, dann fangen wir auch nicht an, darüber zu grübeln, wie wahrscheinlich es ist, dass jemand über Nacht die Nummernschilder der Häuser vertauscht hat, sondern wir sagen uns: »Da steht die 15, da trete ich jetzt ein.« Wenn wir den Portier nach der Dienststelle fragen, die wir aufsuchen wollen, und er gibt uns eine Auskunft, dann fra-
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gen wir uns auch nicht, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass es sich bei ihm in Wirklichkeit um den Komparsen einer Sendung wie »Verstehen Sie Spaß?« handelt, der die Aufgabe hat, die Leute zu verwirren und in falsche Büros zu schicken. Und wir fangen erst recht nicht an, ihn zu beobachten, um uns ein genaueres Bild von ihm zu machen, sondern wir richten uns nach dem, was er uns eben gesagt hat. Dabei wissen wir sehr wohl, dass es die entsprechende Sendung wirklich gibt! Statt zu sagen: »Die Wahrscheinlichkeit, dass er mich hereinlegen will, beträgt immerhin etwa 0,0001 Prozent, also Vorsicht«, handeln wir, weil wir es eilig haben und noch andere sinnvolle Dinge erledigen wollen. Genauso sollen Zwanghafte lernen, Situationen realistisch einzuschätzen und ihr Verhalten flexibel an ihrem Ziel auszurichten. In dem einen Fall hebe ich etwas auf, das auf der Straße liegt, und beseitige es (wir alle haben das wohl schon mehrmals getan, und zu Recht), und in einem anderen Fall sage ich mir: »Dies stellt keine unmittelbare Gefahr dar«, oder ich »übersehe« es sogar, auch zu Recht. Das können wir tun, weil wir gelernt haben, dass dieses Verhalten nach menschlichem Ermessen ohne jede Brisanz ist. Kommt es dann doch anders, als die »Gemeinschaft der nicht zwanghaften Menschen« es erwartet hat, dann trifft sie dafür keine persönliche Schuld. Suche nach einem »zweiten Gefühl« und einem zweiten Urteil
Die erste Reaktion des zwanghaften Menschen auf kritische Situationen ist oft eine starke Angstreaktion (Beispiel Friedhelm: »Da liegt ein spitzer Gegenstand, jemand könnte sich schwer verletzen, und das ist dann meine Schuld«). Bleibt er auf diesem ersten Gefühl »sitzen«, dann wird er anfangen, nach einigem Hin und Her hektisch zu agieren, um die vermeintliche Gefahr zu beseitigen und sich dadurch »reinzuwaschen«. Aber er kann auch folgendermaßen reagieren: Er verspürt Angst und sagt sich erst einmal: »Stopp. Was ist hier jetzt wirklich los? Also: Wie-
90 Kapitel 4 · Das zwanghaft-skrupelhafte Gewissen: Zweifel an den eigenen moralischen Absichten und Handlungen
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der ist bei mir, wie so häufig, die Angst ausgelöst worden, die ich zur Genüge kenne. Was habe ich (in der Therapie) darüber gelernt? Sie ist ein Teil meines Zwangsproblems. Sie ist kein verlässlicher Hinweis darauf, dass wirklich eine echte Gefahrensituation gegeben ist. Immer dasselbe, ich habe es langsam satt!« An dieser Stelle fördert er in sich ein Gefühl der Sättigungg (»Genug!«) und des Ärgers darüber, dass ihn der Zwang immer wieder hereinlegen und zu einem Verhalten zwingen will, das er später, wie andere Menschen auch, völlig überzogen finden wird. Der Ärger sollte aber nur auf den Zwang bezogen werden und nicht auf die eigene Person, da Selbstvorwürfe das Selbstvertrauen untergraben und anfälliger für Zwänge machen. Er sagt sich: »Diesmal nicht!«, und setzt seinen Weg fort. Durch systematisches »Heranholen« dieses zweiten Gefühls, verbunden mit einem zweiten Urteil, kann der quasi automatisierte zwanghafte Ablauf unterbrochen werden. Körperliche Positionierung
In dem Moment, in dem der Patient bestrebt ist, dem üblichen zwanghaften Ablauf Gegenmaßnahmen (zweites Gefühl, zweites Urteil) entgegenzusetzen, ist es wichtig, dass er sich auch körperlich anders positioniert. Normalerweise neigt er in einer Zwangssituation dazu, sich innerlich kleinzumachen und hektisch zu agieren, um den Druck so schnell wie möglich loszuwerden. Statt sich auf diese Weise nach außen »auszubreiten«, soll er erst einmal zu sich »zurückkehren«. Er soll 4 seinen Körpermittelpunkt spüren: dazu die Füße hüftbreit auf den Boden stellen und in den Knien etwas einknicken, um den Körperschwerpunkt nach unten in die Mitte zu verlagern. Man fühlt sich dann fester, sicherer, geerdeter und zugleich flexibler; 4 seine Körpergrenzen spüren, um sich als ein abgeschlossenes Ganzes zu empfinden, das nicht nach allen Seiten hin diffundiert. So kann sich der Patient in Ruhe ein Bild von der Situation machen;
4 seine Muskeln spüren: etwa durch Ballen der Fäuste und bewusstes Ein- und Ausatmen. Der Patient erlebt sich jetzt als jederzeit aktionsbereit, aber er wählt eine energische, reflektierte Form von Aktion, statt anzufangen, wie ein kopfloses Huhn herumzuhüpfen. Auf diese Weise körperlich anders als üblich positioniert, kann er auch die Denkflexibilität erlangen, die es ihm erlaubt, die Situation realistisch einzuschätzen. Lenkung der Aufmerksamkeit auf die wirklichen Lebensaufgaben
Friedhelm ist nicht primär »Lebensretter der ganzen Stadt in Sachen spitze Gegenstände«; sondern übt einen anspruchsvollen Beruf aus, ist Familienvater mit zwei Kindern, im sozialen Bereich sehr engagiert, ein großer Freund klassischer Musik usw. In dem Maße, wie es ihm gelingt, die Energie, die durch sein zwanghaftskrupelhaftes Gewissen verpulvert wird, allmählich umzulenken, wird sie ihm für sein »richtiges Leben« zur Verfügung stehen. Das gilt allgemein, aber er kann diese Umlenkung auch in kritischen Situation praktizieren: Nach der Unterbrechung des üblichen zwanghaften Ablaufs wird er augenblicklich seine ganze Aufmerksamkeit auf einen nicht zwanghaften wichtigen Teil seines weiteren Tages umlenken: »So, jetzt gehe ich schnurstracks nach Hause und werde heute Abend ...«
4.3.4
Einübung von Maßnahmen zur Korrektur eines zwanghaftskrupelhaften Gewissens
Vorstellungsübungen
Zunächst einigen sich Patient und Therapeut auf eine Anzahl kritischer Situationen, die nach dem subjektiven Schwierigkeitsgrad für den Patienten gestaffelt werden. Begonnen wird mit einer einfacheren Szene. Der Therapeut schildert dem
91 4.4 · Selbsthilfe bei zwanghaft-skrupelhaftem Gewissen
(entspannt sitzenden oder liegenden) Patienten zuerst den äußeren Rahmen, z.B. so: Therapeut (T): »Sie sind im Büro. Sie merken, dass eine Ihrer Kolleginnen nicht zur Arbeit erschienen ist. Sie hatten am Tag zuvor eine Auseinandersetzung mit ihr. (Der Patient hat die Aufgabe, sich die Szene so intensiv wie möglich vorzustellen.) T: »Als Erstes bekommen Sie einen großen Schreck. Stellen Sie sich das Gefühl vor. Was spüren Sie körperlich? Was sind Ihre ersten Gedanken?« (Der Patient ergänzt). T: »Dann setzt sich der Gedanke fest: ›Es könnte ja sein, dass unser gestriger Disput ihn krank gemacht hat. Muss ich jetzt etwas unternehmen? Soll ich versuchen, Kontakt zu ihm herzustellen? Riskiere ich nicht, dass er schwer krank wird oder sich sogar etwas antut? Er sah ohnehin schon so schlecht aus. Das wäre dann einzig und allein meine Schuld ...‹ Versuchen Sie sich ganz in diese innere Lage hineinzuversetzen. Schon sind Sie dabei, zum Telefon zu greifen und unter irgendeinem Vorwand bei ihm anzurufen. Stellen Sie sich das intensiv vor, mit allen Gedanken und Gefühlen, die Ihnen dabei kommen ... So, und jetzt sagen Sie zu sich: ›Stopp, das werde ich jetzt mal genauer überdenken.‹ Sie richten sich auf, straffen Ihre Muskeln ... Machen Sie es jetzt. Und dann sagen Sie sich ...«
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4 Sie suchen eine Situation mittleren Schwierigkeitsgrades aus, z.B. das Überqueren eines Parkplatzes ohne akribisches Absuchen des Bodens. Der Patient spricht laut über das, was in ihm vorgeht. 4 Er ist vor allem bemüht, dabei auftretende Gedanken, Gefühle und Verhaltenstendenzen nicht »wegzudrücken«, sondern sich ihnen erst einmal voll und ganz zu stellen. 4 Gerät er in Versuchung, zu einer seiner üblichen zwanghaften Absicherungen zu greifen, so stoppt er den Ablauf, geht in die Vogelperspektive und betrachtet die Situation von einer anderen Warte aus. Er sucht ein zweites Gefühl und ein neues Urteil und trifft dann einen klaren Entschluss über sein weiteres Verhalten. Auf diese Weise gewinnt er immer mehr Vertrauen in sein nicht zwangsbedingtes Urteil und kann sein Verhalten mit immer weniger Schuldgefühlen danach ausrichten. Der Therapeut tritt bei diesen Übungen immer mehr in den Hintergrund, und nach ein paar gemeinsamen Übungen agiert der Patient allein.
4.4
Selbsthilfe bei zwanghaftskrupelhaftem Gewissen
Umgang mit Schuldgefühlen
Der Patient übt auf diese Weise in seiner Vorstellung die Prozesse, die ihm später in der Wirklichkeit erlauben werden, seine zwangsbedingten Verhaltensmuster zu unterbrechen und sein Denken, seine Gefühle und sein Verhalten in adäquatere Bahnen zu lenken. Übungen in realen Situationen
Zuerst ist der Therapeut bei den Übungen gegenwärtig, um den Patienten zu ermuntern, zu beruhigen, seine Aufmerksamkeit auf die wichtigen Elemente der Situation zu lenken, ihn bei seinen Bewältigungsversuchen zu unterstützen und ihn aufzufangen, falls er in Schwierigkeiten gerät.
Wenn Sie zu extremer Skrupelhaftigkeit neigen und oft an Schuldgefühlen leiden, sollten Sie sich erst einmal Ihren Gefühlen stellen. Versuchen Sie, sie nicht zu verleugnen oder zu verdrängen. Lassen Sie sie auf sich wirken. 4 Was spüren Sie körperlich? 4 Welche Einzelgefühle können Sie feststellen? 4 Welche Hauptgedanken sind damit verbunden? 4 Was würden Sie am liebsten tun? Versuchen Sie, die konkreten Auslöser des Schuldgefühls festzustellen. Distanzieren Sie sich dabei von pauschalen oder allgemein negativen
92 Kapitel 4 · Das zwanghaft-skrupelhafte Gewissen: Zweifel an den eigenen moralischen Absichten und Handlungen
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Aussagen wie: »Ich habe schon wieder alles falsch gemacht«, »Es wird schon wieder zu einer Katastrophe kommen, und ich werde massiv dafür büßen« usw. Stellen Sie sich im Gegenteil die klare Frage: »Was ist wirklich geschehen?« »Habe ich etwas konkret gedacht, getan, nicht getan, das dieses Schuldgefühl in mir auslöst?« Bedenken Sie: Ein Schuldgefühl ist ein Alarmsignal und sollte ernst genommen werden. Es sagt Ihnen, dass etwas nicht ganz glattläuft. Es ist aber noch keineswegs der Beweis dafür, dass Sie eine Verfehlung oder gar eine schwere Verfehlung begangen hätten. Es ist und bleibt in erster Linie ein Gefühl, aber kein Wahrheitskriterium, egal, wie stark oder überzeugend das Gefühl wirkt. Bedenken Sie weiter, dass verschiedene Menschen verschieden reagieren. Das gilt auch für die Schwere der Anlässe, die bei ihnen Schuldgefühle auslösen. Sie gehören zu der Gruppe von Menschen, die sehr schnell und oft auch bei geringen Anlässen dazu neigen, sich schuldig zu fühlen. Kehren Sie zu dem konkreten Anlass Ihres jetzigen Schuldgefühls zurück, und analysieren sie ihn. 4 Um welche Situationen geht es? Was war wirklich? 4 Was haben Sie getan (respektive nicht getan)? 4 Waren andere Menschen daran beteiligt? In welcher Form? 4 Wie gravierend schätzen Sie das, was geschehen ist, ein? 4 Gibt es eine Begründung für Ihr Verhalten? Was hat Ihr Verhalten wirklich bewirkt? Was hat andere Ursachen? 4 Stellen sich außer Schuldgefühlen andere Gefühle bei Ihnen ein? 4 Treffen Sie Ihr abschließendes (zweites) Urteil.
4 Können Sie für die Zukunft irgendwelche Vorsätze fassen? 4 Wie können Sie sich in Zukunft besser gegen vorschnelle übertriebene Schuldgefühle wappnen?
Wie sollten Sie jetzt mit der Situation umgehen? 4 Können Sie aktuell etwas tun, jemanden informieren, etwas wiedergutmachen? 4 Auch wenn Sie vielleicht nicht alles hundertprozentig richtig gemacht haben, können Sie trotzdem zu sich stehen und sich vergeben?
Wenn Sie immer mehr Situationen auf diese Weise bewältigen, wird das abschließende Urteil, das von Ihrem Gewissen ausgeht, immer sicherer werden, und Sie werden sich und anderen viele unnütze, ja oft schädliche, ausschließlich zwangsbedingte Exzesse ersparen.
Womit wollen Sie sich jetzt beschäftigen? Leitfaden für die Selbsthilfe im Umgang mit kritischen Situationen
4 Es handelt sich um die folgende Situation: … 4 Mir kommen zuerst folgende Gefahrgedanken: … 4 Bei mir stellen sich folgende Gefühle ein: … 4 Ich spüre die folgenden körperlichen Reaktionen: … 4 Ich habe den folgenden zwanghaften Drang: … Aber nun stoppe ich die Situation erst einmal ab und gehe folgendermaßen vor: 4 Ich frage mich: »Was ist wirklich passiert?« 4 Ich mobilisiere mich körperlich. 4 Ich versuche, an weitere Gefühle heranzukommen. 4 Mein zweites Urteil über die Situation lautet: … 4 Ich werde mich jetzt folgendermaßen verhalten: … Wenn ich dem Zwang widerstehe, kann es sein, dass Unsicherheit, Angst und Zweifel erst einmal ansteigen. 4 Damit gehe ich folgendermaßen um: … 4 Ich fühle mich immer sicherer, dass ich mich richtig verhalten habe, und mir kommen folgende Gedanken: …
5 5 Die alltäglichen Kontrollzwänge: Mangelndes Vertrauen in das eigene Verhalten bei Routinetätigkeiten »Hebel senkrecht – in Ordnung!« (4 x 4-mal) Dr. X, Professor für Festkörperphysik, vor seinem Küchenfenster
5.1
Einmal ist keinmal – 95
5.2
Normale Kontrollen und zwanghafte Kontrollen – 96
5.3
Therapie bei alltäglichen Kontrollzwängen – 99
5.4
Selbsthilfe bei alltäglichen Kontrollzwängen – 102
95 5.1 · Einmal ist keinmal
Bei vielen Zwangskranken können alltägliche Routinetätigkeiten zu Problemen, ja zu wahren Dramen werden. Andere Menschen führen ihre morgendliche Toilette, das Abschließen des Autos oder das Abschicken eines Briefes wie nebenbei aus, mit geringer Aufmerksamkeit und quasi automatisiert. Für eine Gruppe von Zwangskranken sind dies hingegen kaum zu bewältigende Situationen, die sie immer wieder in die Nähe der Verzweiflung bringen. Es sieht so aus, als hätten sie dabei jedes Vertrauen in ihr Urteilsvermögen und in ihr eigenes Verhalten verloren. Wir zeigen das Problem an einem Beispiel auf, das wir dann kommentieren.
5.1
Einmal ist keinmal
Bernhard traut seinen Augen nicht
Ein wesentlicher Faktor der Entstehungsbedingungen der Störung scheint die Tatsache zu sein, dass Bernhard in seiner Jugendzeit das Gefühl hatte, keinen Privatbereich zu haben. Immer bestand die Gefahr, dass seine Brüder sein Zimmer durchwühlten und veränderten. Er durfte keine »kleinen Geheimnisse« haben und war außerstande, sich gegen diese Übergriffe zu wehren. Außerdem hatte er ständig den Eindruck, nur durch das Erbringen von Leistungen die Zuneigung und Anerkennung der Eltern zu erlangen. Die Zwangsymptomatik trat vor ungefähr einem Jahr auf, nachdem er den Arbeitsplatz gewechselt hatte. In seinem neuen Job hatte er das Gefühl, nicht gleichzeitig qualitativ wie quantitativ ausreichende Leistungen erbringen zu können. Trotz aller Bereitschaft war es ihm unmöglich, und dies belastete ihn sehr. Die Zwangssymptomatik spielte sich hauptsächlich im häuslichen, in geringerem Maße auch am Arbeitsplatz ab. Dabei hatte sie von vornherein den Charakter eines symbolischen Schutzes der eigenen Person, der eigenen Integrität und des Intimbereiches. Verhaltensbeobachtungen und
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Selbstbeobachtungen des Patienten ergaben unter anderem die im Folgenden geschilderten Situationen, bei denen der Zwang im Vordergrund steht. Morgentoilette. Bernhard berichtet, dass er sei-
ne Morgentoilette immer nach dem gleichen Schema vollzieht: zuerst Zähne putzen, dann duschen, dann eine Zigarette rauchen. Dann kämmt er sich die Haare und rasiert sich. Nach Beendigung beschleicht ihn ein unsicheres Gefühl, der Drang, sich zu vergewissern, ob er auch alles ordentlich erledigt hat: »Habe ich auch an alles gedacht? Habe ich nichts vergessen? Habe ich alles richtig gemacht?« Er kehrt dann zurück ins Badezimmer, berührt die Zahnbürste, um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich nass ist und dass er sich die Zähne geputzt hat. Dann fasst er sich ins Gesicht, um sicherzugehen, dass er sich wirklich rasiert hat, kontrolliert seine Haare und kämmt sie noch einmal durch. Diese Vorgänge erfolgen mit einer großen Anstrengung, die sich sowohl körperlich wie auch emotional zeigt. Danach ist er etwas beruhigt und verlässt das Badezimmer, um sich dem weiteren Tagesgeschehen zuzuwenden. Kurze Zeit später überfällt ihn jedoch ein neues Unsicherheitsgefühl mit dem Gedanken: »Ist auch wirklich alles erledigt?« Körperlich empfindet er dann meist Herzrasen, innere Unruhe und den Drang, erneut ins Badezimmer zurückzukehren. Wenn er zurückkehrt, zählt er meist alle Vorgänge noch einmal laut auf: »Zähne geputzt, geduscht, Haare gekämmt, Gesicht rasiert« usw. Dabei zählt er die einzelnen Punkte auch an seinen Fingern ab. Während dieses Vorgangs sinken emotionale Anspannung und körperliche Erregung wieder. Diese Kontrollvorgänge wiederholen sich noch bis zu dreimal, bis er es schafft, sich wirklich dem weiteren Tagesgeschehen zuzuwenden. An sogenannten »stressigeren« Tagen, an denen er viele Termine und Verpflichtungen hat, geschehen die Kontrollvorgänge bis zu siebenmal. Meist nimmt der Vorgang über eine Stunde in Anspruch.
96 Kapitel 5 · Die alltäglichen Kontrollzwänge: Mangelndes Vertrauen in das eigene Verhalten bei Routinetätigkeiten
»Richtig« putzen. Wenn Bernhard sein Bad
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putzt, dann muss er es »richtig« machen. So putzt er z.B. die Toilettenschüssel und das Waschbecken und geht anschließend noch einmal mit dem Finger über jede kleine Stelle und kontrolliert, ob sie auch wirklich »geputzt« ist. Hat er zwei bis drei Teile geputzt, so setzt er sich zur Erholung ins Wohnzimmer und raucht eine Zigarette. Bald kommen ihm Zweifel, ob er die Gegenstände auch wirklich geputzt hat. Er kehrt wieder zurück, um die geputzten Gegenstände zunächst mit Blicken zu kontrollieren. Meist reicht das nicht, und es beginnt eine neue »Fingerkontrolle«. Das Ausmaß der Sauberkeit im konventionellen Sinne ist beim Putzen und bei den Kontrollen sekundär. Es geht lediglich darum, ob der Vorgang »richtig«, d.h. im Sinne seines Zwangssystems, vollzogen wurde. Dann geht die Putzprozedur weiter: Badezimmermatte ausbürsten, Spiegelschrank reinigen usw. Wiederholt werden Pausen eingelegt, die sich wie oben beschrieben abspielen. Zum Schluss wird noch einmal jeder einzelne Gegenstand angeschaut. Diese Kontrollen werden noch zwei- bis dreimal durchgeführt. Das Putzen seines kleinen Badezimmers kann, wie er sagt, drei Stunden in Anspruch nehmen. Weitere Kontrollen. Wenn Bernhard ins Auto
steigt, um zur Arbeit zu fahren, kontrolliert er die Funktion des Lichts, der Hupe, der Zentralverriegelung. An jeder roten Ampel schaut er, ob die Beifahrertür geschlossen ist, ob sein Sicherheitsgurt gerade sitzt, ob die Tür verriegelt ist, ob die Fenster zu sind. Danach prüft er an den Armaturen den Kilometerstand, den Benzinverbrauch und die Uhrzeit. Oft ist er noch nicht fertig mit den Kontrollen, wenn die Ampel schon auf Grün gesprungen ist. Das Autofahren ist schrecklich für ihn: »Ich bin schon sehr müde und erschöpft, wenn ich an meiner Arbeitsstelle angekommen bin.« Wird am Arbeitsplatz ein neuer Dienstplan erstellt, entfernt Bernhard ihn von der Wand und
schreibt ihn ab. Anschließend kontrolliert er ihn noch einmal. Das findet er sinnvoll. Anschließend vergleicht er ihn noch sechs- bis siebenmal mit seinen Aufzeichnungen, wofür er zehn bis fünfzehn Minuten benötigt. Zu Hause wird der Dienstplan für die einzelnen Tage in sein Notizbuch übertragen. Hiernach erfolgen meist wieder sechs bis sieben Kontrollen, die in der Regel eine halbe Stunde dauern (Kucharzyk, 1997).
5.2
Normale Kontrollen und zwanghafte Kontrollen
Kontrollen, wie wir sie in diesem Beispiel gesehen haben, unterscheiden sich in wichtigen Punkten von normalen, nicht zwanghaften Kontrollen, wie wir sie alle aus unserem Alltag kennen, z.B. wenn wir aus bestimmten Gründen genauer vorgehen wollen, etwa weil etwas besonders Wichtiges auf dem Spiel steht. Eine solche Situation ist z.B. dann gegeben, wenn wir unsere Wohnung für längere Zeit verlassen und es niemanden gibt, der zwischendurch nach dem Rechten schauen kann. Also sehen wir genauer nach und brauchen dafür vielleicht etwas mehr Zeit als sonst. Es gibt auch Menschen, z.B. Menschen mit einer zwanghaften Persönlichkeit, die aus ihrem Wertesystem heraus (»Absicherung gegen alle Risiken ist oberste Pflicht, sonst bricht alles zusammen«) bestrebt sind, alles so perfekt wie möglich durchzuführen, um möglichst alle Risiken auszuschließen. Aber selbst ihre Kontrollen unterscheiden sich radikal von den Kontrollen Zwangskranker. Worin liegen die Unterschiede? Die Kontrollen Zwangskranker sind unzureichend geplant und realisiert
Ein allein lebender Patient beschreibt, wie er vor dem Schlafengehen einen Wasserhahn kontrolliert: »Zunächst drehe ich den Hahn mehrmals zu (obwohl er bereits zu war). Ich versuche ihn anzuschauen, aber ich kriege kein klares Bild. Dann halte ich eine Hand in unterschiedlichen Stellun-
97 5.2 · Normale Kontrollen und zwanghafte Kontrollen
gen unter den Wasserauslauf. Dabei muss ich mir krampfhaft vorstellen, wie es wäre, wenn der Hahn tropfen oder laufen würde. Schließlich halte ich die Handinnenfläche längere Zeit unter den Auslauf und denke, dass sich, wenn es tropft oder läuft, die Handinnenfläche mit Wasser füllen oder überlaufen müsste. Dabei muss ich mir den Wassertropfen bzw. den Wasserstrahl vorstellen. Anschließend hocke ich mich vor das Waschbecken und beobachte krampfhaft, ob Wasser austritt. Dabei zweifle ich meist an, einen eventuellen Wasseraustritt überhaupt sehen zu können. Ich bilde mir dann ein, Wasser wäre ja durchsichtig und insofern nicht sichtbar. Vom Wasserhahn entferne ich mich deshalb mit noch größerer Angst als zuvor.« An dieser Beschreibung fällt auf, dass die Kontrollhandlungen diffus und unorganisiert sind. Wir sprechen in einem solchen Fall auch vom Fehlen einer »Regulationsgrundlage«, die unser Verhalten in einer bestimmten Situation nach einem sinnvollen und zielführenden Plan ausrichtet. Zuerst dreht der Patient den Hahn auf und zu. Er sieht sich nicht in der Lage, mit ausreichender Sicherheit zu sehen, ob Wasser läuft. Dann versucht er zu unterscheiden, ob er mit der Hand unter dem Hahn Wasser spürtt oder nicht. Auch das führt zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis. Dann hockt er sich vor das Waschbecken, versucht wieder »krampfhaft«, wie er immer wieder betont, hinzuschauen, und so geht es weiter. Er pendelt dabei zwischen verschiedenen Wahrnehmungskanälen hin und her. Nichts von dem, was er unternimmt, führt zu einem Erlebnis, das für ihn zufriedenstellend wäre. Wenn er sich dann doch vom Hahn losreißt, ist die Angst meist größer als zuvor. Das Erleben Zwangskranker während der Kontrollen ist »unvollständig«
Die beiden Zwangskranken, die wir hier vorgestellt haben, beklagen (wie fast alle ihre Leidensgenossen) dasselbe Problem, das ihnen sogar die banalsten Routinetätigkeiten »zur Hölle« macht:
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Ihr Erleben der Situation und dessen, was sie tun, ist so »unvollständig«, dass sie immer von Neuem anfangen »müssen«, um ein ausreichendes Gefühl der Sicherheit herzustellen (s. dazu auch Kap. 3). Herr B. beispielsweise kehrt zurück ins Badezimmer und berührt die Zahnbürste, um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich nass ist und er sich die Zähne geputzt hat (vor zwei Minuten!). Dieser Vorgang wird mehrmals wiederholt. Wie kommen solche merkwürdigen Erlebnisstörungen zustande bei Menschen, die in den Bereichen ihres Lebens, die nicht vom Zwang betroff fen sind, ganz normal funktionieren, ja oft sogar zu intellektuellen Hochleistungen fähig sind? Das, worunter sie leiden, ist eine schwer zu beschreibende innere Verfassung (Janet, 1903; Hoffmann, 1998; Ecker & Gönner, 2006 u. 2007). Die Betroff fenen haben die Empfindung, dass ihre seelischen Aktivitäten bis hin zum Verhalten unvollständig sind. Sie sind nicht sicher, dass der entsprechende Akt als »vollendet« oder abgeschlossen gelten kann. Eigene Handlungen erscheinen fremd oder wie von ihrer Person losgelöst. Es fehlt die Sicherheit, dass wirklich sie es sind, die sie ausführen. Deshalb »zählen« die Handlungen dann nicht und müssen oftmals wiederholt werden. Die folgenden Aussagen illustrieren Varianten dieser Erfahrung von Zwangskranken: 4 »Ich habe den Knopf ausgestellt, weiß es auch, habe aber trotzdem nicht das Gefühl, dass ich es getan habe.« 4 »Ich saß im Dunkeln und weinte bitterlich, weil ich nicht das Gefühl bekam, dass ich die Lampe auch wirklich ausgeknipst hatte.« 4 »In Wirklichkeit drehe ich nicht an den Hähnen, sondern an etwas an mir selber. Ich sehe ja, dass die Hähne in Ordnung sind, aber mein Gefühl sagt mir, dass etwas nicht in Ordnung ist, und so fange ich wieder mit den Hähnen an, denn an ihnen kann man ja wirklich drehen. Ich strenge mich dabei besonders an, werde immer hektischer und verliere völlig den Überblick.«
98 Kapitel 5 · Die alltäglichen Kontrollzwänge: Mangelndes Vertrauen in das eigene Verhalten bei Routinetätigkeiten
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Jeder Versuch einer angemessenen Therapie bei dieser Form von Zwangsstörungen muss diese Phänomene berücksichtigen, sonst gelingt es nicht, die Kranken zu verstehen. Dann setzt man Fehlinterpretationen über den Ursprung der Störung in die Welt wie »übertriebener Perfektionismus« oder »eine besonders ausgeprägte Vorsicht« als Charaktereigenschaft.
tasche mit zur Arbeit nimmt, um sie ständig unter Kontrolle zu haben. Wenn uns Patienten über solche Erlebnisse berichten, müssen wir sie unbedingt ernst nehmen: Einzig allein ihrr Erleben zählt, nicht das, was unser sogenannter gesunder Menschenverstand uns über die Möglichkeit und Unmöglichkeit von Vorgängen suggeriert.
Zwanghafte können bei ihren Kontrollen nur schwer Stoppsignale setzen
Zwangskranke haben bei ihren Kontrollen nicht immer dieselben Ziele wie wir
Ein Patient hat sich gewaschen und hängt das Handtuch auf. Danach will er den Raum verlassen, aber er bleibt stehen. Man merkt, dass es heff tig in ihm arbeitet. Die innere Arbeit, die er in diesem Moment verrichtet, nennt er »in meinem Kopf klären«. Das wird nötig, weil das Gefühl, dass er das Handtuch »richtig« aufgehängt hat, sich nicht einstellt und er infolgedessen auch nicht das Gefühl bekommt, dass der Vorgang abgeschlossen ist. Er versucht also genauestens zu rekapitulieren, wie er es aufgehängt hat, und ist dabei lange Zeit nicht in der Lage, ein Stoppsignal zu setzen, das den Vorgang beenden würde. Das ist schon deshalb so schwierig, weil er auch auf Nachfrage völlig unfähig wäre, anzugeben, wie denn ein Handtuch aufgehängt sein müsste, damit er es als »richtig« aufgehängt ansähe. »Richtig aufgehängt« bedeutet für ihn lediglich: »Ich habe jetzt das Gefühl bekommen, dass es richtig aufgehängt ist.« Dieses Gefühl versucht er in sich herzustellen.
Wenn wir etwas kontrollieren, dann tun wir das meistens, um einen möglichen Schaden abzuwenden. Infolgedessen neigen wir dazu, allen Zwangskranken ein ähnliches Motiv für ihre Kontrollen zu unterstellen. Bei einem Großteil der zwanghaften Kontrollierer spielt der Gedanke an einen möglichen Schaden jedoch überhaupt keine Rolle (Hoffmann, 1998). Es sind vielmehr Versuche, Phänomene wie das Unvollständigkeitsgefühl zu überwinden, die sie immer wieder zu neuen Kontrollen veranlassen. Diese These wurde vor kurzem empirisch gestützt auch für Persönlichkeitsgestörte. Ecker und Gönner (2007, S. 11) schreiben dazu: »Die Zusammenhänge zwischen unvollständigkeitsassoziierten Zwängen und zwanghaften Persönlichkeitsmerkmalen werden in hohem Maße durch Unvollständigkeitserleben moderiert. Dies stützt die Vermutung, dass Unvollständigkeitsgefühle ein wichtiges Bindeglied zwischen Zwängen und zwanghaften Persönlichkeitsakzentuierungen darstellen.« Aus Fehlern beim Verstehen der Patienten können dann »Therapien« wie die folgende abgeleitet werden: Man versucht den Patienten zu beweisen, wie unwahrscheinlich das Eintreten eines bestimmten Schadens wäre. Man versucht ihnen aufzuzeigen, dass das Leben auch dann weiterginge, wenn der Schaden eintreten würde, usw. »Verkauft« wird das Ganze dann meist unter dem ehrenvollen Namen »kognitive Therapie«, ist aber nicht nur völlig unnütz, sondern vermittelt den Betroffenen auch den Eindruck, dass sie überhaupt nicht verstanden werden.
Zwanghafte Kontrollen gehorchen nicht immer den Gesetzen der Logik
Eine Patientin berichtet, dass es ihr, bevor sie ihre Wohnung verlässt, durchaus passieren kann, dass sie ihre alten Kerzen genau kontrolliert, obwohl sie weiß, dass sie seit Monaten nicht mehr gebrannt haben. Wenn sie am Abend zuvor im Wohnzimmer eine Zigarette geraucht hat, muss sie nachsehen, ob sie keine Glut im Wäscheschrank des Schlafzimmers feststellen kann. Das Sicherheitsbedürfnis in Bezug auf die alten Kerzen kann so groß sein, dass sie sie in ihrer Hand-
99 5.3 · Therapie bei alltäglichen Kontrollzwängen
5.3
Therapie bei alltäglichen Kontrollzwängen
Die Ziele einer Therapie bei dieser Form von Kontrollzwängen ergeben sich direkt aus den Anomalien, die zwanghafte Kontrollen von normalen unterscheiden. Jede menschliche Handlung bildet sich nach einem inneren Modell und wird nicht nur vollzogen, sondern auch in Bezug auf ihre Ergebnisse geprüft. Im Prinzip handelt es sich um zwei Elemente ein und derselben Tätigkeit. Das Abschließen einer Tür beinhaltet eine Reihe von Einzelhandlungen wie den Schlüssel in die Hand nehmen, ins Schloss einführen, einoder zweimal umdrehen usw. Am Ende der Kette erfolgt meist eine Kontrolle des Ergebnisses, etwa indem man die Hand auf die Klinke legt, sie niederdrückt, einmal daran zieht oder Ähnliches. Gibt die Tür nicht nach, dann gilt sie als abgeschlossen (und damit der Vorgang auch!). Eine solche geordnete und undramatische Vorgehensweise, bei der die Endkontrolle organisch in den Handlungsablauf integriert ist, gibt ein brauchbares Modell ab für die Vorgehensweise, die auch Zwangskranke erlernen sollen. Wenn sie ihre Haustür abgeschlossen haben, müssen sie nicht darauf verzichten, einmal und angemessen zu prüfen, ob sie auch wirklich zu ist. Sie haben dasselbe Recht dazu wie unauffällige, nicht zwangskranke Personen. Damit sie in der Lage sind, so vorzugehen, müssen allerdings eine Reihe von Lern- und Übungsschritten vorangehen (s.a. Hoffmann & Hofmann, 2008). Diese Schritte werden im Folgenden erläutert. Schaffung einer angemessenen Regulationsgrundlage für Kontrollen
Um das übliche diffus-unstrukturierte Vorgehen der Patienten durch geordnete, zielführende Handlungen zu ersetzen, wird gemeinsam eine neue Regulationsgrundlage aufgestellt.
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Kontrollinhalte festlegen. Zunächst wird festge-
legt, was (so normal wie schon möglich) kontrolliert werden und in welcher Reihenfolge dies geschehen soll. So wird z.B. festgelegt, was jemand checken will, bevor er seine Wohnung verlässt, oder eine Stationsschwester stellt fest, was zu überprüfen ist, bevor sie die Station der nächsten Schicht übergibt. Es ist in diesem Stadium sinnlos, mit Betroffenen darüber zu streiten, ob sie eine bestimmte Sache kontrollieren dürfen oder nicht. Sie sollen das letzte Wort behalten, allerdings kann der Therapeut seine Meinung dazu sagen. Wichtig wird nachher nicht sein, was sie kontrollieren, sondern wie sie dabei vorgehen. Geht es um eine größere Anzahl von Kontrollen, so soll eine schriftliche Liste verfertigt werden, die die Patienten anfangs als Gedächtnisstütze benutzen können. Beurteilungskriterien aufstellen. In einem
nächsten Schritt werden präzise Kriterien für das Treffen der Unterscheidung »in Ordnung/nicht in Ordnung« festgelegt. Wie wir an einigen Beispielen gesehen haben, beurteilen Zwangskranke Gegenstände oder Situationen nicht nach eindeutigen Kriterien, die ihnen voll bewusst sind, sondern treffen merkwürdige, schwer nachvollziehbare »Gefühlsentscheidungen«. So berichtet uns eine Patientin über ihre Verzweiflung wegen des Umstandes, dass sie (im Dunkeln sitzend, wie sie bemerkt) nicht das Gefühl bekommt, die Lampe wirklich ausgeknipst zu haben, und infolgedessen auch nicht von ihr lassen kann. Solche diffusen Beurteilungen müssen durch klar ausweisbare Common-sense-Kriterien ersetzt werden, die jeweils von Therapeut und Patient gemeinsam aufgestellt werden. Eine Lampe z.B. soll dann »in Ordnung« sein, wenn kein Lichtschein von ihr ausgeht (zum Vergleich kann die Lampe in der Vorbereitungsphase abwechselnd ein- und ausgeschaltet werden), und von einem Elektroherd kann man dann ablassen, wenn der schwarze Punkt an allen drei Schaltern auf null steht. Die Pillendosis für die Patientin X wird von der
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Kapitel 5 · Die alltäglichen Kontrollzwänge: Mangelndes Vertrauen in das eigene Verhalten bei Routinetätigkeiten
Schwester dann für in Ordnung befunden, wenn sie die auszugebende Dosis jedes Medikamentes einmall mit der verordneten Menge verglichen hat. Für den Anfang kann auf der Liste der zu prüfenden Gegenstände das jeweilige Kriterium hinter jedem Gegenstand notiert werden.
Am Anfang wird der Patient also lernen, sehr strukturiert vorzugehen. Je besser er dies beherrscht und je weniger störende Zwangsgedanken auftreten, desto mehr wird sich sein Verhalten sukzessive an eine »normale« Vorgehensweise, wie wir sie alle praktizieren, anpassen.
Abläufe festlegen. Die Patienten sollen lernen, bei ihren Kontrollen einfach und energisch zu handeln. Wenn man sich ihr zwanghaftes Verhalten genau schildern lässt oder sie bittet, es in einer Art »Trockenübung« vorzumachen, so kann man feststellen, dass viele zwangsbedingte Momente wie überflüssige Zergliederungen von Verhaltenseinheiten, das Zählen von Bewegungsabläufen (um die Übersicht zu behalten) oder zahlreiche Wiederholungen desselben Vorgangs enthalten sind. Oft werden auch »Hilfsmittel« eingesetzt wie Markierungen an Gegenständen usw. Das alles soll ersetzt werden durch einen nicht hektischen, aber flüssigen Ablauf mit runden, organischen Bewegungen. Dazu können am Anfang »Modelldarbietungen« (meist in der Praxis des Therapeuten) oder »Trockenübungen«, d.h. Übungen der Bewegungsabläufe in einer Situation, die für den Patienten ohne Brisanz ist, eingesetzt werden: Der Patient stellt sich (in einer inneren Verfassung, die wir noch beschreiben werden) vor eine Lampe, schaut konzentriert hin, beurteilt den aktuellen Zustand der Lampe anhand des festgelegten Kriteriums, trifft sein Urteil »Lampe in Ordnung«, dreht sich um und richtet seine Aufmerksamkeit auf die nächste Situation. Durch solche Übungen werden besonders das »Lassen« des Gegenstandes und der Abzug der Aufmerksamkeit davon trainiert – als Alternative zu typisch zwanghaftem »Klebenbleiben«. Die wichtigsten Anteile der neuen Regulationsgrundlage sind also: 4 Was wird kontrolliert? 4 Anhand welcher Kriterien wird kontrolliert? 4 Wie und in welcher psychischen Verfassung wird kontrolliert?
Erlernen von Maßnahmen zur Überwindung des Unvollständigkeitsgefühls
Die Durchführung der neu zu lernenden nicht zwanghaften Vorgehensweisen in kritischen Situationen wird nicht gelingen, wenn der Patient über keine verlässlichen Mittel verfügt, um seine innere Verfassung in Richtung Überwindung des Unvollständigkeitsgefühls zu verändern. Der Weg, den wir vorschlagen, setzt voraus, dass der Patient in der Lage ist, eine ausreichend große innere Spannkraft herzustellen. Wir empfehlen ihm dazu z.B. die im Folgenden beschriebenen Übungen, die in den Gesamtablauf der Kontrollen integriert werden. Innere Mobilisierung. Vor Beginn der Kontrolle
steht der Patient in lockerer, aber gerader und auff gerichteter Körperhaltung an seinem Ausgangspunkt. In einem ersten Schritt richtet er seine Aufmerksamkeit nach außen und nimmt eine räumliche Orientierungg vor: »So, ich stehe jetzt in der Tür meines Badezimmers. Ich blicke um mich und bekomme jetzt ein klares Bild meiner Umgebung. Ich stehe mit den Beinen fest auf dem Boden. Ich kann auch meine Schultern und meine Arme etwas lockern. Mein Kopf ist klar. Ich bin im Vollbesitz meiner körperlichen und geistigen Kräfte. Ich werde jetzt gleich die Situation aktiv angehen und bewältigen. Ich verstärke noch einmal meine innere Spannkraft, balle die Faust und fühle mich voll da. Der Zwang wird diesmal nicht das Kommando übernehmen, sondern ich.« Ist der Therapeut bei dieser Übung am Anfang anwesend, kann er dem Patienten durch einen Dialog helfen, diesen Zustand einer größeren inneren Spannkraft herzustellen. Hat der Patient dabei Schwierigkeiten, so kann der Therapeut
101 5.3 · Therapie bei alltäglichen Kontrollzwängen
durch eine Intervention wie die folgende eingreifen: Therapeut (T): »Wie fühlen Sie sich gerade?« Patient (P): »Ich bin irgendwie nicht ganz da – dieser unangenehme Zustand, wie ich ihn so oft erlebt habe.« T: »Sagen Sie laut: ‚Ich erlaube mir, nicht ganz da zu sein.‘ Sagen Sie das dreimal laut und verständlich.« (Zweck: Dadurch soll die Angst und die Verunsicherung diesem Zustand gegenüber abgesenkt werden. Das Unvollständigkeitsgefühl wird als weniger fremd erlebt und in das eigene Selbst »hineingenommen«, also integriert. Dadurch wird der »erlaubte« Zustand leichter fassund handhabbar und somit veränderbar.) P (dreimal): »Ich erlaube mir, nicht ganz da zu sein.« T: »Massieren Sie sich jetzt die Stelle über der linken Brust zwischen Schlüsselbein und Brustwarze. ... Ballen Sie jetzt Ihre Hände zu festen Fäusten. ... Schlagen Sie die Fäuste mehrmals mit den Handkanten, also der Kleinfingerseite, gegeneinander.« (Zweck: Durch die Faustübung spürt der Patient seinen Willen stärker und erzeugt ein nachdrückliches, entschlossenes »Ich-bin-da«Körpergefühl und damit ein klares Daseinsgefühl.) T: »Spüren Sie in Ihrem Körper einen Unterschied im Vergleich zu vorher? Worin besteht er?« Erlernen des Umgangs mit Störungen
Oft merken Patienten (besonders am Anfang) während des Ablaufs der Kontrolle, dass ihre Konzentration nachlässt oder dass sie irgendwo »kleben bleiben«. Es kommt dann zu einem inneren Monolog wie: »Habe ich das jetzt richtig gesehen? Ich habe so stark das Bedürfnis, mit der Hand nachzuprüfen. Ich bin mir gar nicht mehr sicher. O Gott, jetzt fängt das wieder an ...« In einem solchen Fall soll der Patient den gesamten Ablauf stoppen und sich sagen: »So, jetzt bin ich aus dem Takt gekommen. Jetzt werde ich mich erst einmal sammeln.«
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Spürübung. Meist beschreiben Patienten in
einem solchen Moment ein mit dem Unsicherheitsgefühl verbundenes körperliches Unbehagen, das sich oft als Druckgefühl in der Magengegend oder knapp darüber äußert, aber auch im Brust- oder im unteren Bauchbereich liegen kann. 4 Der Patient soll versuchen, seine Verfassung mit einem Bild zu verbinden, z.B.: »Ich spüre einen grauen Klumpen in der Magengegend«, »Ich habe etwas wie einen Stein im Bauch« usw. 4 Der Patient soll nun mit seinem Bewusstsein in die Mitte des Bildes gehen. Anschließend soll er mehrmals genau in diese Mitte hineinatmen. 4 Als Nächstes spürt er in diese Stelle und berichtet über sein Befinden. Oftmals verändert sich das Bild. So kann sich beispielsweise schon jetzt ein Auflockern des Klumpens, Steins oder eines anderen unangenehmen Bildes zeigen. Das Gesamtbefinden bessert sich. 4 Zur Förderung der Selbstakzeptanz und damit der Gelassenheit sagt der Patient: »Ich erlaube mir (das Bild XY)«. Dieser Vorgang des In-die-Mitte-Gehens, Hineinatmens, Spürens kann einige Male wiederholt werden (nach Oberhauser, 2009). Dann kann der Patient sich wieder »mobilisieren«, wie wir es oben beschrieben haben. Anschließend macht er weiter mit seinen Kontrollen, ohne wieder zu dem zurückzukehren, was schon »erledigt« war. Umgang mit Restspannung
Zwangskranke empfinden auch nach in unserem Sinne erfolgreich absolvierten Kontrollen oft eine diffuse, unangenehme körperliche Erregung, die einhergeht mit Gedanken wie: »Hab ich auch alles richtig gesehen? Hab ich auch alles richtig gemacht? Hab ich auch nichts übersehen?« usw. Es besteht dann die Versuchung, diese Spannung durch zwanghaftes Grübeln, vor allem durch das »Rekapitulieren« vergangener Situationen (»Wie
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Kapitel 5 · Die alltäglichen Kontrollzwänge: Mangelndes Vertrauen in das eigene Verhalten bei Routinetätigkeiten
war das genau vor der Lampe, wo habe ich gestanden ...?«), auflösen zu wollen. Stattdessen empfehlen wir unseren Patienten, eine solche Restspannung als integralen Bestandteil der Zwangssymptomatik anzusehen. Sie sollen sie geradezu erwarten und nicht überrascht oder enttäuscht über sich selbst sein, wenn sie auftritt. Wichtig ist allerdings, dass der Patient diese Restspannung richtig versteht und einordnet. In seinem zwanghaften Erleben interpretiert er sie schnell als ein Anzeichen dafür, dass etwas an den kontrollierten Situationen nicht in Ordnung sein könnte. Das ist eine Fehlinterpretation. Die Restspannung zeigt lediglich an, dass seine Zwangssymptomatik noch nicht ganz beseitigt ist, dass sie es aber bald sein wird, wenn er auf dem richtigen Weg weitermacht. Als erste Maßnahme soll er sich noch einmal sagen: »Ich hatte einen ganz klaren Kopf bei meinen Kontrollen. Ich vertraue mir! Es gibt nichts weiter zu tun.« Dann soll er seine Aufmerksamkeit auf das »normale Leben« umleiten. Meist lässt die Anspannung nach einiger Zeit nach. Wenn ein Patient trotzdem noch einmal nachsehen will, so soll er einen klaren Entschluss fassen und es dann tun. Wir besprechen dann mit ihm die Situation und analysieren genau, was für die erneute Kontrolle ausschlaggebend war und wie er weitere Kontrollen beim nächsten Mal verhindern kann. Es wird aber in keiner Weise zu Vorwürfen oder einer anderen Form von Bestrafung kommen.
4 Entschluss: Der Patient gibt sich ein klares Signal, dass er die Absicht in eine Handlung umsetzen will, und fängt an. 4 Ausführung: Wichtig ist, dass jeder Patient nach jeder Teilkontrolle immer wieder klar sein Urteil verbalisiert. 4 Abstoppen bei Schwierigkeiten. 4 Abschluss: Nach den Kontrollen folgt eine abschließende Stellungnahme (»Ich habe das jetzt so gemacht, wie ich es mir vorgenommen hatte. Es ist in Ordnung«). Begleitung. Zu Beginn der Übungen kann der
Therapeut an der Seite des Patienten stehen und ihm im Dialog helfen, die einzelnen Schritte zu absolvieren. Dann entfernt er sich (er steht z.B. vor der Wohnungstür), sodass er nicht mehr »einsehen« kann, was der Patient macht oder nicht macht. In einem nächsten Stadium kann er während der Kontrollen in telefonischem Kontakt mit dem Patienten stehen und interveniert nur dann, wenn es zu Schwierigkeiten kommt. Dann wird auch diese Form von Begleitung gelockert. Der Patient ruft z.B. dann an, wenn er die Handlung abgeschlossen hat. Später ruft er nur jedes dritte Mal an usw. Im günstigsten Fall kann der Patient seine Übungen nach der gemeinsamen Einübung der einzelnen Schritte von Anfang an allein durchführen. Es ist dann allerdings notwendig, ihn besonders am Anfang durch regelmäßige begleitende Sitzungen in der Praxis zu unterstützen.
Einübung der gesamten Sequenz in der Wirklichkeit
Wir fassen noch einmal die wichtigsten Einzelschritte zusammen: 4 Innere Mobilisierung. 4 Eventuell zusätzliche Übungen zur Überwindung des Unvollständigkeitsgefühls. 4 Absichtserklärung: Der Patient verbalisiert, was er jetzt tun wird. Er beschreibt kurz den inneren Zustand, in dem er vorgehen will, und wie er vorgehen will.
5.4
Selbsthilfe bei alltäglichen Kontrollzwängen
Lesen Sie zunächst, was wir über die Unterschiede zwischen normalen und zwanghaften Kontrollen geschrieben haben, und sehen Sie sich unsere Therapievorschläge an. Sie werden in der Lage sein, die grundlegenden Prinzipien auch ohne Therapeutenbegleitung anzuwenden. Doch zu-
103 5.4 · Selbsthilfe bei alltäglichen Kontrollzwängen
vor möchten wir Sie bitten, ein paar wichtige Überlegungen anzustellen. Gewinnen Sie neues Vertrauen in die eigene Person
Die Probleme, die Sie bei der Ausführung bestimmter Tätigkeiten haben, wenn diese von einem Unvollständigkeitsgefühl und zwanghaften Verhaltensmustern erschwert werden, sind Ihnen schon unzählige Male aufgefallen. Vielleicht haben Sie daraus den Schluss gezogen, dass grundsätzlich etwas mit Ihnen nicht stimmt. Möglicherweise ist Ihnen der Gedanke gekommen, dass etwas in Ihrem Gehirn unwiderruflich gestört ist oder dass Sie aufgrund von negativen Einflüssen (z.B. in Ihrer Kindheit) eine bleibende Unfähigkeit entwickelt haben, mit dem Leben so umzugehen wie andere. Vielleicht sind Ihr Selbstwertgefühl und Ihre Selbstsicherheit dadurch so angegriffen, dass Sie keine Hoffnung mehr sehen, irgendwann wieder ohne größere Schwierigkeiten leben zu können. All diese negativen Annahmen über Ihre Person und über Ihr weiteres Schicksal sind falsch. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit einmal auf die andere Seite: Was funktioniert alles gut und fast reibungslos in Ihrem Leben? Was können Sie ohne Störungen tun? Welche Erfolge haben Sie im Laufe Ihres Lebens erzielt? Was haben Sie erreicht? Wo werden Sie gebraucht? Welche Menschen halten zu Ihnen, vertrauen Ihnen, suchen Ihre Nähe oder mögen Sie ganz einfach? Hat das alles nichts zu bedeuten? Ohne den Zwang bagatellisieren zu wollen: Er steht keineswegs für Ihre ganze Person. Daneben verfügen Sie über viele Ressourcen und Stärken, die Sie auch einsetzen können, um Ihre Zwänge in den Griff zu bekommen. Welche stehen Ihnen dafür zur Verfügung? Werfen Sie einen neuen Blick auf »Horrorsituationen«
Ob es Wasserhähne sind oder Türschlösser, Briefe oder volle Aschenbecher, das Absperren des Au-
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tos oder ein Telefongespräch: Oft haben Sie das Gefühl, es mit Horrorobjekten oder -situationen zu tun zu haben, die Ihnen die Freude am Leben rauben, Sie kleinmachen oder Sie sogar beherrschen. Wir möchten nicht, dass Sie sich mit dieser Art, Ihre Zwänge zu erleben, abfinden, und wir wollen, dass Sie anfangen, sich innerlich dagegen aufzulehnen. Fangen Sie doch mit einer ganz einfachen Übung an. Übung. Stellen Sie sich (in einer für Sie nicht kri-
tischen Situation, z.B. dann, wenn Sie nicht anschließend aus dem Haus gehen müssen) vor einen Wasserhahn, der Ihnen oft Schwierigkeiten macht, und schauen Sie sich ihn einfach einmal an. Was sehen Sie? Eine aus Metall geformte Vorrichtung, weder schön noch hässlich, an sich weder gut noch böse. Sie wurde erfunden und wird gebraucht, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Wenn Sie den Hahn durch ein paar einfache Handgriffe bedienen, stellt er Ihnen das Wasser zur Verfügung, das Sie benötigen. Er ist etwas, das für Sie konstruiert wurde und das Sie nach Belieben benutzen können. Also nichts Erschreckendes, nichts, was Sie in Gefahr bringen könnte, wenn Sie ihn zweckdienlich benutzen, nichts, vor dem Sie Angst haben müssten. Jetzt werfen Sie einen zweiten Blick darauf, sozusagen »von oben herab«. Im Umgang mit diesem Ding sind Sie der Chef. Sie beherrschen die Situation. Das Ding ist da, um von Ihnen benutzt zu werden. Bei jedem weiteren Umgang damit werden Sie sich zum Subjekt der Situation machen, und der Wasserhahn hat zu »gehorchen«. Sie haben die Macht in der Hand. Der Wasserhahn kann gar nichts. Lassen Sie dieses Gefühl der Entschlossenheit in sich wachsen. In Zukunft werden Sie die Dinge in die Hand nehmen und für Ihre Zwecke nutzen. Sie werden sich nie mehr kleinmachen oder davor davonlaufen. Das ist vorbei, ein für alle Mal. Versuchen Sie dieses Gefühl jedes Mal, wenn Sie an diesem Hahn vorbeigehen, zu reaktivieren.
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Kapitel 5 · Die alltäglichen Kontrollzwänge: Mangelndes Vertrauen in das eigene Verhalten bei Routinetätigkeiten
Auf diese Weise können Sie auch mit anderen »Horrorobjekten« umgehen, die ab jetzt den Platz in Ihrem Leben einnehmen werden, der ihnen zusteht: Sie sind etwas, das voll und ganz von Ihrem Willen beherrscht wird. Lernen Sie eine neue Art, Ihr Verhalten zu organisieren
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Am Anfang Ihrer Selbsthilfe sollten Sie nicht versuchen, von Ihrem aktuellen zwanghaften Chaos gleich in den gewünschten problemlosen Endzustand zu gelangen. Führen Sie alle Zwischenschritte aus, die wir auch Patienten mit therapeutischer Begleitung empfehlen. Als Erstes werden Sie sich für das, was Sie verändern wollen, einen neuen Plan machen, d.h. eine neue Regulationsgrundlage schaffen. Gehen Sie dabei so vor, wie wir es in 7 Kap. 5.3 beschrieben haben. Sagen Sie sich bitte nicht: »Das habe ich nicht nötig!«, sondern bauen Sie Ihre zukünff tigen Erfolge sorgfältig und solide auf. Das führt Sie am verlässlichsten dorthin, wo Sie hinkommen wollen: in ein Leben, das weitgehend ohne demütigende und energiefressende Zwänge verläuft. Lernen Sie eine neue Art, sich zu mobilisieren
Wir haben Ihnen Informationen über die inneren Zustände und Unsicherheiten gegeben, die Ihnen in der Vergangenheit so viel Schwierigkeiten gemacht haben – Stichwort: Unvollständigkeitsgefühl. Wir haben Ihnen auch einige Übungen gezeigt. Wenn Sie sie beherrschen, werden Sie lernen, Ihre innerliche Verfassung immer mehr in eine positive Richtung zu verändern. Jedes Mal, wenn Sie spüren, dass sich ein kritischer Zustand (»Ich fühle mich wie in Watte, wie nicht ganz da ...«) anbahnt, reagieren Sie augenblicklich und ganz energisch dagegen. Sie können auch gerne eigene neue Mittel und Wege ausprobieren, um ein größeres Maß an geistiger Konzentration und körperlicher Spannkraft herzustellen. Die Hauptsache ist, dass Sie sie oft und ernsthaft üben, bis sie immer besser wirken.
Lernen Sie eine neue, nicht zwanghafte Art der Kontrolle
Bei Ihren ersten Versuchen auf Ihrem neuen Weg sollten Sie sich so genau wie möglich an die Schritte halten, die wir in 7 Kap. 5.3 beschrieben haben. Doch seien Sie beruhigt: So müssen Sie nicht Ihr Leben lang vorgehen. Diese Schritte sind nur am Anfang notwendig, weil sie dazu dienen, Ihr Gehirn dort umzuorganisieren, wo der Zwang es bislang (zeitweilig) in Unordnung gebracht hat. Noch einmal: Wenn Sie die von uns geschilderte Vorgehensweise gut beherrschen, werden Sie merken, dass Sie immer sicherer werden und anfangen können, Ihre Kontrolle über sich selbst ein wenig zu lockern. Sie werden sich dann z.B. sagen: »Das muss ich nicht nachsehen. Ich weiß jetzt schon, dass es in Ordnung ist.« Sie werden sich auch immer sicherer fühlen bei der Herstellung der (nicht zwanghaften) Ordnung, die für Sie wichtig ist. Vieles wird nach und nach wieder annähernd automatisch ablaufen, und Sie werden sehen, dass Sie sich darauf verlassen können und dass Sie die Dinge richtig machen. Doch das wird der zweite Schritt sein. Beginnen Sie mit dem ersten. Es wird sich für Sie lohnen.
6 6 Zwangsgedanken und magisches Denken: die Angst, durch eigene Gedanken und Taten sich selbst und anderen zu schaden Sein eigener Stirnknochen verlegt ihm den Weg, an seiner eigenen Stirn schlägt er sich die Stirn blutig. Franz Kafka
6.1
Was sind Zwangsgedanken? – 107
6.2
Falldarstellungen – 108
6.3
Therapie bei Zwangsgedanken – 112
6.3.1 Grundlagen – 112 6.3.2 Spezielle Übungen – 113
6.4
Selbsthilfe bei Zwangsgedanken – 116
107 6.1 · Was sind Zwangsgedanken?
6.1
Was sind Zwangsgedanken?
Das zentrale Element dieser Variante von Zwängen sind Zwangsgedanken. Sie betreffen immer die Möglichkeit vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Unheils. Dabei sagen sie aus, dass durch eine eigene Handlung (z.B. das Hinaufsteigen einer Treppe) jemand anderer (z.B. eine Mutter mit einem Säugling auf dem Arm) zu Schaden gekommen sein könnte (»Ich könnte sie heruntergestoßen haben, ohne es zu wollen oder ohne es überhaupt zu merken«). Ist ein solcher Gedanken öfter aufgetreten, dann fange ich an, die entsprechende Situation zu fürchten und eventuell zu vermeiden. Zwangsgedanken betreffen immer die eigene Person. Sie geben nicht äußere Tatbestände wieder (z.B., dass eine Mutter mit Säugling auf der Treppe gestrauchelt sein könnte), sondern einzig und allein die möglichen negativen Auswirkungen der eigenen Person, eigener Handlungen oder Gedanken auf andere. Zwangsgedanken sind nie Aussagen (»So ist es gewesen«), sondern Fragen nach dem Muster »Könnte es sein, dass …?«. In einigen Fällen betrifft der mögliche Schaden den, der die Zwangsgedanken hat, selbst: Ich könnte z.B., wenn ich eine Brücke überquere, »einfach« herunterspringen, ohne dass ich die geringsten Suizidabsichten habe. In einem Menschen, der Zwangsgedanken hat, taucht also typischerweise ein Verdacht gegen sich selbst auf. Die Gedanken gehen in der Regel einher mit einem starken Schrecken, gefolgt von einem Angstgefühl. Auch bei Zwangsgedanken gibt es eine zweite Seite. In dem Moment, in dem der Gedanke (mit dem entsprechenden Affekt) ins Bewusstsein gedrungen ist, beginnt die Abwehr dagegen. Auf der gedanklichen Ebene (»Wie war das vor zwei Minuten ganz genau, als ich die Treppe hinaufgegangen bin?«) und in einigen Fällen auch auf der Verhaltensebene (»Dann sehe ich eben einmal nach«) versucht der Betroffene, Sicherheit darüber zu gewinnen, dass der entsprechende Sachverhalt (»Habe die Frau hinuntergestoßen«) nicht
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eingetroffen ist (Hoffmann & Hofmann, 2005a). Diesen Vorgang, dessen Verständnis für die Therapie unerlässlich ist, möchten wir im Folgenden etwas genauer darstellen. Entstehung von Zwangsgedanken. Zunächst
verspürt der Patient eine Art unspezifische Bedrohung. Dabei ist er bloß mit einer Beschäftigung befasst, die normalerweise quasi automatisiert – d.h. auf einer relativ niedrigen Bewusstseinsstufe – abläuft: Er steigt z.B. die Treppe zu seinem Büro hinauf. Nun wird er ganz plötzlich durch einen Reiz aufgeschreckt, der sich für Außenstehende als etwas Harmloses und Banales darstellen würde, etwa ein Schatten oder ein undefinierbares Geräusch. Er hält inne, und sein Bewusstseinsstrom reißt kurz ab. Er fragt sich: »Was war das eben?« Dabei fühlt er sich auf eine merkwürdige Art wie existenziell losgelöst von der konkreten Situation, so als würde er schweben oder fallen. Eine eindeutige und ihn befriedigende Antwort auf seine Frage will sich nicht einstellen. Es fällt ihm nichts ein, was benennbar wäre. Das ist aus unserer Sicht auch nicht weiter verwunderlich, denn in Wirklichkeit ist ja auch nichts Nennenswertes geschehen. An dieser Stelle schießen die eigentlichen Zwangsgedanken ein und füllen sozusagen die Lücke. Sie tauchen immer in Form von Fragen auf und lauten z.B.: »Könnte es sein, dass gerade jemand an mir vorbeigegangen ist? Habe ich ihn angerempelt und die Treppe hinuntergestoßen? Könnte es sein, dass ich es aus einer Art Kontrollverlust heraus getan habe? Oder war bei mir ein kriminelles Motiv am Werk, das mir nicht bewusst ist?« Unvollständige Erinnerung. In diesem Moment
fällt der Patient aus jedem existenziellen Sicherheitsgefühl heraus und steht innerlich vor dem Abgrund. Bleibt ihm die Zeit, will er meist akribisch rekonstruieren, was wirklich gewesen sein könnte, mit dem Ziel, die Möglichkeit einer solch verbrecherischen Handlung auszuschließen. Aber er erinnert sich an nichts Präzises, real Fass-
108
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Kapitel 6 · Zwangsgedanken und magisches Denken
bares. Das wiederum bedeutet für ihn, dass er keine klare Vorstellung vor diesem Stück seiner eigenen Vergangenheit hat. Das Erleben solcher vermeintlicher Erinnerungslücken macht ihm noch mehr Angst. Er schließt daraus, dass das, was er tut, nicht unbedingt verlässlich vom Bewusstsein begleitet ist und dass er seiner Auff merksamkeit und seinem Erinnerungsvermögen nicht recht trauen kann. Womöglich hat er ja schon öfter etwas getan, woran er sich später nicht mehr genau erinnert. Das hieße aber auch, dass er grundsätzlich keine verlässliche Kontrolle über sein Handeln oder über seine Motive hat. Die Verunsicherung steigt. Wann immer es möglich ist, beginnt er detektivisch zu recherchieren, ob er etwas Auffälliges findet, gerät dabei aber immer stärker in einen Zustand des Unvollständigkeitserlebens und der inneren Auflösung. Patienten berichten, dass sie in immer mehr Situationen das Gefühl bekommen, dass ihr Wille sich geradezu auflöst und dass ihre Hände sich ihrer Kontrolle entziehen. Magisches Denken. Es gibt auch folgende Vari-
ante der Störung: Wenn beim Ausführen bestimmter Handlungen (z.B. beim Einkaufen von Lebensmitteln) negative oder tabuisierte Gedanken auftreten (»Ich habe bei Gutfried-Wurst an einen Friedhof gedacht«), dann könnte das dazu führen, dass (wieder auf magischem Wege) Menschen, die einem lieb sind, etwas Schlimmes widerfährt. Um das zu verhindern, muss der Zwangskranke beim Einkauf von Lebensmitteln stets bestrebt sein, nur an gute Sachverhalte zu denken. Wenn ihm das einmal nicht gelungen ist, darf er, um sicherzugehen, die eingekaufte Ware nicht verzehren, sondern muss sie wegwerfen. In anderen Fällen besteht die Vorstellung, dass eigene Gedanken (»Könnte es sein, dass mein Schwager sich umbringt?«) durch eine Art magische Wirkung zu dem gedachten Sachverhalt führen könnten (»Er bringt sich um, weill ich es gedacht habe«). Wir haben es in solchen Fällen
auch mit magischem Denken zu tun. Solche Gedanken dürfen dann nicht gedacht werden. Wenn sie dennoch auftreten, muss zumindest versucht werden, sie zu »neutralisieren«. Das kann (im Sinne des Zwangs) etwa durch das bewusste Denken von »Gegengedanken« geschehen (»Gott ist barmherzig, er wird seine Seele retten«). Das gehäufte Auftreten von Zwangsgedanken kann zu schweren Schuldgefühlen führen: »Könnte das bedeuten, dass ich ihm wirklich den Tod wünsche, ohne dass es mir bewusst ist?« Wir wollen diese Abläufe anhand einiger Fallbeispiele verdeutlichen.
6.2
Falldarstellungen
Carola, 26 Jahre Suizid. Carola berichtet: »Vor drei Tagen erfuhr
ich in den Lokalnachrichten, dass ein junger Mann, der ein paar Straßenzüge von unserer Wohnung entfernt lebte, sich aufgehängt hatte. Keiner wusste so recht, warum, und das war besonders schrecklich. Im Haus sprach man darüber, dass er schon immer sehr zurückgezogen und eigenbrötlerisch gewesen sei. Es schien, als hätte er plötzlich den Verstand verloren. Dann kam mir der Gedanke: Könnte ich so etwas tun? Dieser Gedanke jagte mir zuerst einen Schrecken ein, aber dann schob ich ihn beiseite und sagte mir: Was für ein Blödsinn. Doch dann fiel mir ein, dass ich in letzter Zeit bei der Arbeit besonders dann, wenn ich mich stark anstrengen musste oder wenn jemand in meiner Nähe war, der mich irritierte, ein merkwürdiges Gefühl verspürt hatte. So, als sei ich nicht ganz bei mir, als würde ich mechanisch handeln, ohne zu wissen, was ich tue. Könnte ich so etwas tun, ohne es zu wollen oder weil ich die Kontrolle über meinen Willen verloren habe? Dieser Gedanke machte mir erst richtig Angst. Ist denn so etwas möglich? Kann es sein, dass ich mich umbringen will, ohne es zu wissen? Der Gedanke ließ mich nicht mehr los.
109 6.2 · Falldarstellungen
Eines Tages stritten zwei Männer im Autobus neben mir, und einer sagte zum anderen: ›Häng dich doch auf.‹ Seitdem verfolgt mich der Gedanke des Aufhängens. Ich entwickelte ein phobisches Verhalten bezüglich aller schnur-, strick-, bandund kabelförmigen Gebilde wie Telefonkabel, elektrische Kabel von verschiedenen Geräten, Wäscheleinen, von der Decke hängende Beleuchtungskabel und ähnliche Dinge. Ich vermied es, sie anzufassen oder auch nur in ihre Nähe zu kommen, und durfte dabei nicht auffallen. War es nicht zu vermeiden, so drückte ich mein Kinn mit aller Kraft auf die Brust, um die Fläche des Halses möglichst klein zu machen und zu verstecken.« Fahrradfahren. Sie berichtet weiter: »Ich machte
eine Tour mit dem Fahrrad, und weil ich mich körperlich wieder einmal etwas fordern wollte, fuhr ich ziemlich schnell. Ich bog um eine Ecke und hatte plötzlich das Gefühl, etwas gestreift zu haben. Ich versuchte zurückzuschauen, konnte aber nichts sehen, da ich ja um die Ecke gefahren war. Ich wurde unruhiger, fuhr langsamer und versuchte mich zu erinnern, ob ich etwas gesehen hatte oder nicht. Hatte ich etwas gestreift, vielleicht angefahren oder sogar umgefahren? Hatte ich ein Geräusch vernommen? Ich hielt an, stieg vom Rad und inspizierte es. Es war nichts zu sehen. Ich stand da, wusste nichts Genaues und wurde in zunehmendem Maße unruhig, ja ängstlich. Zögernd, aber auch etwas ärgerlich stieg ich aufs Rad und fuhr zurück. Es kam mir albern vor, aber ich musste Gewissheit haben. Ich bog wieder um die Ecke und fuhr langsam in die Richtung, aus der ich gekommen war. Auf den ersten Blick war nichts Außergewöhnliches zu sehen. Bloß der Radweg am Rande des Bürgersteigs und ein paar Passanten. Keine Menschenansammlung, nichts. Aber das Gefühl des Unbehagens und der Unsicherheit wollte nicht weichen. Hätte ich etwas oder jemanden angefahren, so hätte ich es doch deutlich merken müssen. Aber es ging alles so schnell, und ich fühlte mich so schusselig, so unklar im Kopf seit einigen Tagen. Ich blickte
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mich weiter angestrengt um und suchte nach irgendetwas, ich wusste selbst nicht, wonach. Widerwillig beschloss ich, dass die Radtour damit beendet war. Ich rollte langsam nach Hause und hatte den Eindruck, etwas ruhiger zu werden. Da sah ich in meiner Straße eine Frau mit einem Kinderwagen. Das traf mich wie ein Keulenschlag. Habe ich den Kinderwagen angestoßen? Ich war mit voller Geschwindigkeit um die Ecke gerast, unkonzentriert, wie so oft in letzter Zeit. Aber ich hatte nichts bemerkt. Doch konnte ich meinen Sinnen noch trauen? Wie oft hatten sie sich in letzter Zeit als unzuverlässig erwiesen, wie oft hatte ich nicht richtig gewusst, ob ich etwas wirklich getan hatte oder nicht. Ein kleines Baby in einem Kinderwagen, das Unschuldigste, das Hilfloseste, was es gibt – und ich, unverantwortlich rasend, in einer Verfassung, in der ich mir nicht über den Weg trauen konnte. Es war grässlich, so furchtbar hatte ich mich noch nie im Leben gefühlt. Am liebsten wäre ich wieder zurückgefahren, hätte in den Hauseingängen gesucht, die Anwohner befragt. Aber ich fühlte mich zu schwach dazu. War es nicht bloß Feigheit, die Angst davor, der Wahrheit in die Augen zu blicken? Kein Gefühl der Verantwortung! Die Augen zu und weiter! Feige und egoistisch, bis zum nächsten Mal. Bis wieder etwas passiert, durch meine Schuld? Das nächste Mal? Bis wieder etwas passiert? Durch meine Schuld? Durch meine Schuld.« Fortschritt der Erkrankung. »Die Hölle begann
von Neuem. Diesmal schlimmer denn je. Die entscheidende Frage, die mich in tausend Varianten quälte, war: Könnte ich, ohne es zu wollen, jemand anderem schlimm schaden? Hatte ich noch so viel Kontrolle über mich selbst, dass ich so etwas ausschließen konnte? Verspürte ich eine Art Impuls, Böses zu tun? Konnte ich einen solchen Drang unter Kontrolle halten? Was war ich für ein Mensch, wenn mir dauernd solche schlimmen Gedanken durch den Kopf gingen? War ich schlecht, verdorben, oder hatte ich noch eine
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Kapitel 6 · Zwangsgedanken und magisches Denken
Spur Verantwortungsgefühl? Hatte ich schon früher Menschen geschadet und war aus lauter Verantwortungslosigkeit darüber hinweggegangen? Hatte ich es verdrängt? War nicht eben wieder so eine Situation? Was musste ich tun, um sicherzugehen, dass nichts geschehen war? Was durfte ich überhaupt noch tun, um kein allzu großes Risiko für andere zu sein? Wie konnte ich mich absichern? Wie ging das weiter? Würde es immer schlimmer werden? Wurde ich verrückt? War ich schon verrückt? Würde das je enden? Was sollte ich bloß tun?« Carola stieg nicht mehr aufs Rad. Den Eltern erklärte sie das mit »Muskelschwäche«. Aber es kam Schlag auf Schlag: Zu Hause hatte sie Angst, Geschirr oder Glas zu zerbrechen, sodass sich die Eltern an den Scherben verletzen könnten. Beim Warten auf den Bus hatte sie Angst davor, Passanten vor den Wagen zu schubsen. Angst, in der Menge jemanden von hinten zu erwürgen. Angst auf Treppen und Rolltreppen, andere zu Fall zu bringen. Angst, mit Chemikalien das Essen der Eltern zu vergiften, Angst, sie mit spitzen Gegenständen zu verletzten, Angst, auf der Straße im Vorbeigehen kleine Kinder oder ältere Menschen zu verletzen – um nur die wichtigsten Ängste zu nennen. Kommentar Extreme Inhalte. Typischerweise haben Zwangs-
gedanken extreme Inhalte. Es geht nicht darum, ob ich ein Sünder bin, sondern ob ich unwiderruflich der Verdammnis verfallen bin. Eine junge Frau fragt sich nicht, ob sie manchmal wütend auf einen Menschen ist und ihn am liebsten zum Teufel jagen würde, sondern ob sie vielleicht wie eine Hexe durch die Welt jagt und auf Schritt und Tritt andere vernichtet – mit allen erdenklichen Mitteln, die auch nur assoziativ damit verknüpft werden können. Die für andere unmittelbar sichtbare Absurdität der entstehenden Gedankenverknüpfungen ist auch dem Kranken bis zu einem gewissen Grad bewusst, sodass schon Le Grand du Saule von »Verrücktheit bei klarem Verstand« gesprochen hat.
Der Zwangsgedanke ist so angelegt, dass das, was einem das Heiligste und Teuerste ist, verletzt und vernichtet zu werden droht, und das durch eigene Schuld. Man gibt sich also nicht mit Kleinigkeiten ab. In welch extremer Verfassung muss ein Mensch sich befinden, um auf Erklärungen und Hypothesen zum eigenen Innenleben zu kommen, die immer den schlimmsten möglichen Fall repräsentieren? Starke Selbstzweifel. Die Krankheit bricht meist
in einer Lebenslage aus, die durch schwere persönliche Krisen gekennzeichnet ist. Diese betreff fen sehr häufig Unsicherheiten in der Definition der eigenen Identität. Sie ist brüchig geworden. Die Grenzen zwischen dem Selbst und dem Außen sind unscharf und durchlässig. Der Zustand der Betroffenen ist dann durch eine starke »Konfusion der Gefühle« gekennzeichnet, die mit Depersonalisations- und Unvollständigkeitsgefühlen einhergeht. In solchen Zeiten ist das Erleben ganz allgemein durch eine starke Labilität geprägt. Die Selbstzweifel in Bezug auf die eigene Person, ihre Motive und zukünftigen Handlungen werden dann – meist anlässlich einer banalen Episode – durch typische Zwangsgedanken kompensiert. Diese sind immer ein Ausdruck der eigenen grundlegenden Unsicherheit und beinhalten sozusagen das Allerschlimmste, was aus diesem Zustand heraus geschehen könnte. Die permanente Abwehr dieser »schlimmstmöglichen Hypothese« lässt nur ein minimales Kohärenzgefühl entstehen, das zudem ständig gefährdet ist. Neben der Unsicherheit über die eigene Person drücken sich in der Störung auch immer Zweifel an der Beziehung zu anderen Menschen aus. Dadurch, dass ständig die Möglichkeit schwerster persönlicher Schuld auftaucht und mühsam abgewehrt werden muss, geraten die Kranken immer mehr in eine äußerst spannungsgeladene Lage anderen gegenüber und in eine zunehmende Isolation. Im Extremfall sind sie nach längerer Dauer der Krankheit fast nur noch durch ihre Zwangssymptome an die anderen gebunden.
111 6.2 · Falldarstellungen
Zwei Welten. Ein weiteres Charakteristikum der
Ängste zwangskranker Menschen ist, dass sie nicht immer »realistisch« (in unserem Sinne) sein müssen, um den Betroffenen Schrecken einzujagen. An dieser Stelle zeigt sich einer der irritierendsten Aspekte des Umgangs mit Zwangskranken. Wir haben es mit Menschen zu tun, die wie in zwei Welten leben und gewissermaßen zwei Denk- und Gefühlssysteme haben. Manchmal steht das im Vordergrund, was wir mit ihnen teilen. Wir befinden uns dann auf dem Boden einer realistischen Wirklichkeitseinschätzung. Hier herrschen die Gesetze der Naturwissenschaften: Damit ein Auto fahren kann, benötigt es Treibstoff. Wenn eine Zigarettenkippe drei Tage alt ist, kann sie die Wohnung nicht in Brand stecken usw. Zwangskranke Personen können in vielen Situationen ihres Lebens reibungslos funktionieren. Sie verhalten sich so wie wir auch und sind zu großen Leistungen fähig. Doch daneben gibt es die andere Seite ihres Denkens und Fühlens. Sie steht unter dem Einfluss von »Gedankengängen«, die wir an einem erwachsenen Menschen nicht mehr nachvollziehen können. Die Gefahr ist dann groß, dass wir Zwangskranke nicht ernst nehmen, ihre Störung fehldiagnostizieren und in der Therapie ungeduldig fordern, dass sie doch endlich anfangen sollen, die Welt so zu sehen und zu erleben wie wir. Das geht selten gut. Den Zwiespalt zwischen den zwei Welten eines Zwangskranken verdeutlicht das folgende Beispiel. Dr. Morten
Dr. Morten sitzt in einer Konferenz über Neuinvestitionen. Alles läuft wie am Schnürchen, wie es bei Profis üblich ist. Bei Meinungsverschiedenheiten hat er meist das letzte Wort. Doch die Zeiger der Uhr rücken unerbittlich auf elf Uhr zu. Dr. Morten kennt die Unruhe, die ihn auf Konferenzen um diese Zeit beschleicht und sich ständig steigert. Er wird dann in zunehmendem Maße nervös, aber keiner merkt ihm je etwas an. Er steht auf und geht auf und ab. Das ist in seiner
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Position erlaubt. Doch sein Blick verfolgt nicht die Kurven, die ein Zuarbeiter an die Wand projiziert. Er nähert sich dem Papierkorb, der am Kopfende des Konferenztisches steht. Die Angst presst ihm den Magen zusammen. Er schaut in den Papierkorb, dann an die Wand, dann wieder in den Korb. Es ist so ein Gewühl, man kann nichts richtig erkennen. Dr. Morten sagt wie beiläufig: »Ist das nicht …?«, und greift hastig in den Korb. Unklare Eindrücke, keine Sicherheit, keine Beruhigung. Dr. Morten setzt sich wieder an seinen Platz. Es ist kurz vor elf Uhr. Wie immer um diese Zeit erscheint ein technischer Mitarbeiter der Firma, buckelt überhöflich und stellt Getränke ab. Dr. Mortens Angst steigt noch einmal sprunghaft. Seit einem Jahr immer derselbe absurde Gedanke: Es könne etwas Wertvolles, nein, kein Dokument, ein Lebewesen oder so etwas im Papierkorb sein und durch Beförderung in den Müll vernichtet werden. Der Bürodiener kommt zurück und fängt an, die Aschenbecher in einen Metallbehälter zu leeren. Dann nähert er sich dem Papierkorb, und nun kommt die Frage, die bei Morten jedes Mal Entsetzen auslöst: »Reißwolf oder Müll, Herr Direktor?« Beides ist gleich tödlich. Es gibt kein Zurück. »Reißwolf, Herr Schmidt«, murmelt der Direktor und spürt die unerbittlichen Zacken der Maschine wie im eigenen Fleisch. Schwindendes Gefühl der Kontrolle. Wir haben
an vielen Beispielen das Leid beschrieben, das bei starken Depersonalisations- und Unvollständigkeitsgefühlen entstehen kann. Die Widerstandskraft gegenüber Zwangsgedanken kann dadurch so geschwächt werden, dass jedes Gefühl der Kontrolle über das Verhalten schwindet, bis die Betroffenen sich sozusagen freiwillig Schritt für Schritt aus der menschlichen Gemeinschaft entfernen und isolieren. (Wohlgemerkt: Es geht dabei bloß um das Gefühl der Kontrolle. In Wirklichkeit tun diese Menschen ja nichts Abartiges.) Es geht dabei immer wieder um den verzweifelten Versuch, jedes Risiko auszuschließen, dass
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Kapitel 6 · Zwangsgedanken und magisches Denken
sie etwas tun könnten, was andere ihnen – aus ihrer Sicht – nicht verzeihen würden. Vermittelt eine Gegenmaßnahme kein ausreichendes Gefühl der Sicherheit, wird die nächste draufgepackt. Man bekommt als Zeuge solcher Entwicklungen das Gefühl, dass auch das letzte Stück Selbstachtung den falschen Götzen des Zwangs geopfert wird – und es verschlägt einem fast den Atem. Laura, 24 Jahre
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Die Patientin berichtet: »Große Angst habe ich vor dem Telefonieren, denn ich könnte ja etwas Falsches oder etwas Unfreundliches zu der Person am Telefon sagen. Genauso habe ich Angst, im Hintergrund etwas Falsches zu sagen, wenn jemand aus meiner Familie telefoniert. Ich glaube dann immer, schlimme Sätze gesagt zu haben, und dann frage ich immer denjenigen, der telefoniert hat, drei-, vier-, fünfmal, ob er mich im Hintergrund reden gehört hat, während er telefonierte. Ich frage denjenigen dann sehr oft, weil ich immer glaube, ihn nicht richtig verstanden zu haben. Vor einiger Zeit habe ich meine Zwangsfragen immer aufgeschrieben, und derjenige, dem ich diese Zwangsfrage aufschrieb, sollte sie mir beantworten. Ich malte neben jede Frage ein Kästchen mit Ja und ein Kästchen mit Nein, und die betreffende Person sollte die Frage dann beantworten und mir den Fragezettel wieder zurückgeben. Oft dachte ich dann, ich hätte zu demjenigen gesagt, er solle die Fragen auf dem Zettel alle mit Ja bzw. alle mit Nein beantworten. Deshalb habe ich dieselben Fragen noch mal auff geschrieben und demjenigen dann mit fest verschlossenem Mund zum Beantworten gegeben. Mein Mund war deshalb verschlossen, damit ich nicht wieder sagen konnte, wie derjenige meine Fragen beantworten soll. Eine Zeit lang habe ich das Haus nicht verlassen und mich sehr oft mit verklebtem Mund in mein Zimmer eingesperrt, wenn Besuch kam, um nichts Falsches zu sagen. Ich habe meinen Mund auch verklebt, sobald das Telefon betätigt
wurde, um im Hintergrund nichts Falsches zu sagen.«
6.3
Therapie bei Zwangsgedanken
6.3.1
Grundlagen
Zwangsgedanken sind in Wirklichkeit Fragen, die der Kranke an sich selbst (und sekundär auch an andere zur eigenen Beruhigung) richtet. Sie entstehen auf dem Hintergrund gravierender Selbstzweifel und Unvollständigkeitsgefühle. Das Erleben der eigenen Person und der Wirklichkeit ist so diffus, dass ein Zwangskranker nie ganz sicher sein kann, dass sowohl der eigene Wille als auch die eigenen Taten sich nach den Prinzipien richten, denen er sich verpflichtet fühlt. Stellt er sich deren mögliche Überschreitung vor, so geschieht das in Form extrem verwerflicher Taten. Deshalb muss er immer versuchen sicherzugehen, dass er keine solche Tat begangen hat oder begehen wird. Auf diese Weise kommt es zu endlosen kognitiven oder motorischen Kontrollen und symbolisch-magischen Beschwörungen, Annullierungen oder Wiedergutmachungsversuchen. So kann ein Zwangskranker bis zu der Frage gelangen, ob er überhaupt der Mensch ist, für den er sich immer gehalten hat. Alle Zwangsgedanken haben gemeinsam, dass sie ein Thema vorgeben, das wenig ausformuliert ist. Der Gedanke an sich ist recht abstrakt und verhaltensfern. Bedingungen der Ausführung werden nicht spezifiziert und bleiben vage. Der Kranke erschrickt vor einem Gedanken, wird an allen Ecken und Enden Angst einflößend daran erinnert, unternimmt alles Mögliche dagegen, aber fragt sich so gut wie nie, um was es eigentlich wirklich geht. Daraus ergeben sich gute Ansatzpunkte für die Therapie. Wir schlagen eine therapeutische Vorgehensweise in folgenden Schritten vor: 1. Identifizierung des Zwangsgedankens und Analyse der Entstehungsbedingungen, 2. Konkretisieren,
113 · Therapie bei Zwangsgedanken
3. Variieren und Aufweichen, 4. Distanz zum Zwangsgedanken herstellen, 5. Einüben der Bewältigung in Wirklichkeitsübungen, 6. Umorientierung.
6.3.2
Spezielle Übungen
Identifizierung des Zwangsgedankens und Analyse der Entstehungsbedingungen
Es ist für den Patienten sehr wichtig, Zwangsgedanken immer besser von »normalen Gedanken,« d.h. Gedanken, die seine eigenen Werte und Bedürfnisse ausdrücken, zu unterscheiden. Anhand von Beispielen können ihm die Unterschiede recht plausibel verdeutlicht werden. So ist z.B. der Gedanke eines Vaters: »Hoffentlich verstaucht sich mein Sohn bei der Bergwanderung nicht den Fuß« ein ganz normaler Gedanke. Hingegen ist der Gedanke: »Könnte es sein, dass ich ihn plötzlich von einem Felsen hinunterstoße?« ein typischer Zwangsgedanke. Es ist für den Patienten auch wichtig, die Zwangsgedanken nicht als etwas völlig Fremdes und Unerklärliches anzusehen, sondern als etwas, das zu einem konkreten Zeitpunkt in seinem Leben aufgetaucht ist und als Ausdruck von inneren Nöten, Zweifeln und Konflikten verstanden werden kann. Deshalb versuchen wir auch, zusammen mit dem Patienten die Geschichte seiner Zwangsgedanken zu rekonstruieren und verständlich zu machen. Wir schlagen vor, dabei nach dem folgenden Schema vorzugehen: 4 Wie lautet der Gedanke? 4 Gibt es Varianten? 4 Welche Gefühle gehen damit einher? 4 Was spricht dafür, dass es sich um einen Zwangsgedanken handelt? 4 Wie sicher bin ich, dass es sich um einen Zwangsgedanken handelt? 4 Wann ist der Zwangsgedanke (oder ein ähnlicher Gedanke) in meinem Leben zum ersten Mal aufgetaucht?
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4 Welche äußeren Lebensumstände und welche innere Verfassung standen damals für mich im Vordergrund? 4 Sehe ich irgendwelche Zusammenhänge mit meinen aktuellen Zwangsgedanken? 4 Wie oft ungefähr taucht der Zwangsgedanke zum jetzigen Zeitpunkt auf? 4 Gibt es typische, sich oft wiederholende Anlässe dafür? 4 Wie reagiere ich üblicherweise auf den Zwangsgedanken? 4 Wie würde ich gerne darauf reagieren? 4 Was bedeutet für mich die Tatsache, dass ich den Zwangsgedanken habe? Konkretisieren Verbale Konkretisierung. Carola wurde eine Zeit
lang von dem Gedanken gequält, dass sie beim Mithelfen in der Küche das Essen der Eltern mit Chemikalien vergiftet haben könnte. Sie wurde in der Therapie angeleitet, mit der Therapeutin Fragen wie die folgenden zu besprechen und zu beantworten: 4 Wann könnte die Gefahr am größten sein, am Wochenende oder in der Woche? 4 Am Wochenende eher am Samstag oder am Sonntag? 4 Am Sonntag eher beim Frühstück, beim Mittag- oder beim Abendessen? 4 Während oder vor dem Essen? 4 Könnte vor dem Essen das Gift eher in die Suppe, zum Fleisch oder in die Beilagen kommen? 4 Welches Gift käme in die Suppe? 4 Wenn es um ein Spülmittel geht, um welche Marke handelt es sich? 4 Welche Menge müsste mindestens in die Teller gelangen, damit eine erhebliche Vergiftung ausgelöst wird? 4 Ab welcher Dosis könnte der Tod eintreten? 4 Würde sich dadurch die Farbe oder der Geschmack der Suppe verändern? 4 Wo steht üblicherweise die Flasche mit dem Spülmittel?
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Kapitel 6 · Zwangsgedanken und magisches Denken
4 Auf welche Arten und Weisen könnte das Gift auf die Teller gelangen? 4 Wie müsste die Flasche umgekippt werden, damit Gift auf beide Teller gelangt? usw.
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Durch eine solche Vorgehensweise wird der üblichen Grübelsuchtt des Zwangs eine ähnlich geartete, therapeutisch verordnete entgegengesetzt. Die Fragen betreffen aber nicht das »Ob«, das aus einer endlosen Aneinanderreihung prinzipiell nicht zu beantwortender Fragen besteht: »Habe ich gestern …?«, »Werde ich morgen …?« Hier geht es um das mögliche »Wie«. Die schrecklichen Vorgänge, um die sich die Zwangsgedanken drehen, werden durch die Fragetechnik einer kleinteiligen, akribischen Bearbeitung unterzogen, die der üblichen Struktur eines Zwangsgedankens (vage, nicht ausformuliert, wirklichkeitsfern) diametral entgegengesetzt ist. Darüber hinaus tauchen solche Fragen dann unwillkürlich auch im alltäglichen Zwangsgeschehen auf – und das wirkt sich ausgesprochen störend auf die zwanghaften Denkabläufe aus. Bewegungsebene. Der Konkretisierung auf
der verbalen Ebene folgt eine Konkretisierungg auf der Bewegungsebene. Carola beispielsweise wurde angeleitet, mit zwei Tellern und der Spülmittelflasche zu experimentieren. So lernen Zwangspatienten, dass die Aktionen, die sie ausführen, doch recht komplex sind. Dabei treten Empfindungen vor allem kinästhetischer Art auf, die in ihren abstrakten Gedanken über denselben Vorgang gar nicht vorgesehen sind. Beim Ablauf der Handlung gibt es an vielen Stellen die Gelegenheit, »wach« zu werden und sich zu fragen: »Was mache ich da?« Das »Gefühl« nach der Ausführung einer solchen Aktion ist auch ein ganz anderes als das, was Carola hat, wenn ihr Zweifel kommen, ob sie etwas getan haben könnte. Ihr Zwangsgedanke, sie könnte beim Radfahren mit einem Kinderwagen zusammengestoßen sein, wurde auf folgende Art konkretisiert und simuliert: Wir stellten in einer ruhigen Straße einen Gartenstuhl auf den Bürgersteig, und Carola
musste schnell um die Ecke fahren und den Stuhl von vorne, von der Seite usw. rammen. Auch hier war das »Gefühl« nach der Ausführung ganz anders als während der Zwangsgrübelei. In der konkreten Realität wird die Handlung selbstbewusst und klar wahrgenommen. Darauf kann man sich in jederr Situation verlassen. Variieren und Aufweichen
Zwangsgedanken sind in der Form, in der sie erlebt werden, verkürzt und »festgefahren«. Sie bestehen oft aus einer Art plötzlichem Impuls, einem Bild oder einem Wort. Der Patient versucht sie zu vermeiden, wegzudrängen oder unschädlich zu machen. Durch eine besondere Art der Auseinandersetzung damit gelingt es oft, sie aufzuweichen, sodass sie einen guten Teil ihres Schreckens verlieren. Es handelt sich dabei um eine neue Variante der Gedankenexposition (nach Hoffmann, 1998). Wir schlagen vor, nach folgendem Schema vorzugehen, das wir hier am Beispiel von Carolas Angst, sie könnte sich in ihrem Zimmer durch Aufhängen das Leben nehmen, vorstellen: 4 Welche anderen Handlungen könnten zu einer schweren persönlichen Verletzung führen? Bringen Sie die einzelnen Möglichkeiten in eine Rangreihe nach Gefährlichkeit. 4 An welchen anderen Orten könnte es zur Ausführung des Zwangsgedanken (sich auff zuhängen) kommen? Schätzen Sie die einzelnen möglichen Tatorte nach ihrer Gefährlichkeit ein, und fertigen Sie Skizzen von den gefährlichsten möglichen Tatorten an. 4 Was könnten Sie anderes in Ihrem Zimmer tun, als sich aufzuhängen? 4 Welche anderen schlimmen Taten könnten Sie begehen, wenn Sie sich schaden wollten? Bringen Sie sie nach der Größe des möglichen Schadens in eine Rangreihe. 4 Was würden Sie vor einer möglichen Ausführung der Tat eventuell noch gerne tun? 4 Nennen Sie andere mögliche Gedanken, die einen schlimmeren Inhalt haben als Ihre Zwangsgedanken.
115 6.3 · Therapie bei Zwangsgedanken
Distanz zum Zwangsgedanken herstellen
Wir besprechen gemeinsam folgende Fragen: 4 Wie gut oder wie schlecht würde die eventuelle Ausführung des Zwangsgedankens zu meinen Werten und Bedürfnissen passen? Für »passt sehr gut« steht: … Für »passt gar nicht« steht: … 4 Welche Umstände meiner Lebensgeschichte würden sehr gut zu dem Zwangsgedanken passen? Welche würden gar nicht dazu passen? 4 Habe ich (nachweislich) schon jemals in meinem Leben etwas Ähnliches getan? (Wenn ja, beschreiben Sie genau den Hergang). 4 Habe ich Pläne, die durch eine eventuelle Ausführung des Zwangsgedanken gestört oder unmöglich gemacht würden? 4 Wie würde ich XY gegenüber begründen, dass ich Gefahr laufe, den Zwangsgedanken eventuell auszuführen? 4 Nennen Sie drei wichtige Personen in Ihrem Leben. Beschreiben Sie jeweils, welche gemeinsamen Ziele Sie mit ihnen in Ihrem weiteren Leben verbinden werden, was Sie zusammen tun wollen usw. 4 Welche Gefühle könnte ich mit den Zwangsgedanken verbinden? (z.B. Angst, weil …, Wut, weil …, Gelassenheit, weil … usw.) Dialog mit dem Zwang. Die Patienten werden
angehalten, sich den Zwang als eine Art Person vorzustellen und mit ihm zu kommunizieren (Hoffmann & Hofmann, 2008). Sie fragen, wie der Zwang sie sehen will (z.B.: »Ich will dich beherrschen. Ich will dich ohnmächtig, hilflos und minderwertig sehen. Du kannst dir selbst nicht über den Weg trauen« usw.), und beginnen dann eine Auseinandersetzung mit ihm. Für ein solches Rollenspiel kann auch eine Technik wie die des »leeren Stuhls« eingesetzt werden. Patienten merken dabei sehr schnell, dass sich hinter den Verdächtigungen und Dro-
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hungen des Zwangs immer dieselben starren und sinnlosen »Leerformeln« verbergen und dass sie selbst im Grunde genommen etwas ganz anderes wollen. Einüben der Bewältigung in Wirklichkeitsübungen
Wirklichkeitsübungen sind absichtlich arrangierte Situationen, die eine Konfrontation mit denjenigen Reizen gewährleisten, die erfahrungsgemäß die Zwangsgedanken hervorrufen. Sie sollen den Patienten die Möglichkeit geben, dank ihrer neu gewonnenen Einstellung zu ihren Zwangsgedanken (zweifelsfreie Identifizierung als Zwangsgedanken, größte innere Distanz usw.) die Situation (und damit die Gedanken) immer besser zu bewältigen. Im Laufe der Übungen werden die Zwangsgedanken erfahrungsgemäß immer schwächer und seltener (s. dazu Hoffmann & Hofmann, 2008). Es können aber auch neue Gedanken auftreten, die z.B. Episoden aus dem Leben eines Patienten betreffen und mit starken Gefühlen einhergehen. Diese Gedanken können die Patienten in der Regel mit ihrem Therapeuten oder ihrer Therapeutin besprechen. Wirklichkeitsübungen können nach Schwierigkeitsgrad gestaffelt werden. Die einzelnen Schritte, die der Patient dabei ausführt, haben wir in Kap. 5.3 schon beschrieben. Am Anfang ist der Therapeut oft gegenwärtig, um die notwendigen Lernprozesse zu fördern, doch diese Hilfestellung wird allmählich zurückgenommen. Vor der Exposition. Wirklichkeitsübungen be-
dürfen einer intensiven Vorbereitung und Nachbereitung. Wir schlagen vor, bei der Vorbereitung nach dem folgenden Schema vorzugehen: 4 Um die Bewältigung und den Abbau meiner Zwangsgedanken weiter zu fördern, bin ich bereit, mich folgenden Situationen im Rahmen von Wirklichkeitsübungen zu stellen: … 4 Ich akzeptiere, dass dabei Zwangsgedanken auftreten können. Ich bin nicht nur darauf gefasst, sondern ich nehme mir vor, sie
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Kapitel 6 · Zwangsgedanken und magisches Denken
herauszufordern, d.h., sie geradezu »suchen« zu gehen. Es geht dabei um folgende Zwangsgedanken: … 4 Was bedeutet es für mich, wenn solche Gedanken auftreten? (Die unzutreffende Antwort bitte durchstreichen.) a) Es gibt eine unmittelbare Gefahr für andere und für mich. b) Meine Zwangsstörung ist noch nicht ganz geheilt. 4 Einen Zwangsgedanken erkenne ich an folgenden Merkmalen: …
4 Wie gut ist mir der Umgang mit dem Gedanken gelungen? 4 Welche Schwierigkeiten sind dabei aufgetreten? 4 Habe ich insgesamt den Eindruck gehabt, dass ich die Situation gut bewältigt und mich dem Zwang gegenüber als »Subjekt« gefühlt habe (und nicht als »Objekt« des Zwangs)? 4 Was habe ich bei dieser Übung gelernt? 4 Was wird mein nächster Schritt sein? 4 Worauf will ich besonders achten? Umorientierung
Wie soll ich mit auftretenden Zwangsgedanken umgehen? 4 Ich weiß, dass ich mich ihm erst einmal stellen muss, d.h., ich muss ihn erst einmal aushalten und nicht gleich wegdrücken. 4 Ich weiß auch, dass ich mich vor allem dem Gefühl stellen muss, das ihn begleitet. 4 Ich weiß, dass ich mich dann von dem Gedanken distanzieren muss. Das erreiche ich dadurch, dass ich über ihn sage: »Du bist im Grunde genommen etwas ganz Fremdes, das durch ungünstige, aber nachvollziehbare Umstände in meinem Kopf gelandet ist und dort sein Unwesen treibt. Du gehörst nicht zu mir. Ich will dich loswerden, und das gelingt umso besser, je weniger Angst ich vor dir habe.« Dann werde ich aus dem Gedanken »aussteigen«. Ich kann mir dabei durch das folgende Bild helfen lassen: … Schließlich ziehe ich meine Aufmerksamkeit von dem Gedanken ab und lenke sie auf ein Stück meines »wahren Lebens«. Nach der Exposition. Zur Nachbereitung emp-
fehlen wir das folgende Schema: 4 Ich habe mich der folgenden Situation ausgesetzt: … 4 Sind Zwangsgedanken dabei aufgetaucht? Wenn ja, welche? 4 Wie sehr habe ich andere oder mich dadurch gefährdet gesehen?
Von einem passiven, durch seine Zwangsgedanken terrorisierten Objekt soll der Betroffene allmählich wieder zum Subjekt seines Lebens werden. Das Ich als eigene Steuerinstanz führt nach Plan Handlungen aus, die auf den eigenen Wünschen und Vorsätzen aufgebaut sind. Die Unterschiede zwischen »etwas wollen« und »etwas nicht wollen« werden deutlicher. Wenn gewollte Handlungen ausgeführt werden, dann entsteht ein klares und deutliches Bild der Vorgänge, und das Gedächtnis ist in der Lage, die großen Züge dieser Handlungen verlässlich zu rekonstruieren. Es gelingt immer besser, Zwangsgedanken, die sich wie im Nebel abspielen, als Teile eines realitätsfernen Selbstbetrugs zu entlarven.
6.4
Selbsthilfe bei Zwangsgedanken
Verwechseln Sie die Inhalte Ihrer Zwangsgedanken nicht mit Ihrer Persönlichkeit
In Ihrem Gehirn ist der Zwang nicht in dem Bereich gespeichert, in dem Ihre Persönlichkeit gespeichert ist, sondern in dem System, in dem Ihre Gewohnheiten niedergelegt sind. Daher ist er auch so beharrlich! Deshalb: Verwechseln Sie nicht das, was Ihre Zwangsgedanken beinhalten, mit den Einstellungen, Werten und Absichten, die Ihrer wahren Persönlichkeit entsprechen. Ihr Ich ist kein Gemisch aus Ihrer nicht zwanghaften
117 6.4 · Selbsthilfe bei Zwangsgedanken
Person und Ihren Zwangsgedanken. Ihr Ich drückt sich dann aus, wenn Sie sich Ihre Zwangsgedanken wegdenken. Der Zwang ist ein von außen kommendes Fremdsteuerungssystem, das durch ungünstige Umstände im Laufe Ihres Lebens in Ihr Gehirn eingedrungen ist und schleunigst wieder daraus entfernt werden soll. Noch einmal: Wenn Sie als Mutter Ihr Kind lieben und sein Wohlergehen als Ihr höchstes Gut betrachten, so ist das Ihre Wahrheit. Wenn Sie dagegen gelegentlich Zwangsgedanken aggressiven Inhalts haben (»Könnte es sein, dass ich mein Kind verletze, etwa aus einem Impuls heraus oder weil ich in Wirklichkeit eine Art Monster bin?«), entsprechen diese Gedanken nichtt Ihrem tiefsten Inneren. Zwangsgedanken betreffen fast immer gerade die Menschen, die einem am liebsten sind, und die Taten, die ihnen am abscheulichsten erscheinen. Sie sind lediglich Fremdkörper, entstanden aus einer Reihe von »Unfällen«, die sich in Ihrem Leben ereignet haben. Zwangsgedanken werden nicht in die Tat umgesetzt
Aus den hier erläuterten Fakten ergibt sich auch Folgendes, das Sie sich immer vor Augen halten sollten: Zwangsgedanken, egal welchen Inhalts, sind nicht die Vorläufer Ihrer Handlungen. Es ist nicht so, dass Sie zuerst einen Zwangsgedanken haben (»Könnte es sein, dass ich mir beim Rasieren aus irgendeinem Impuls heraus die Nase abschneide?«) und diesen dann bald in die Tat umsetzen werden. Eine Zwangserkrankung ist eine Art Erlebnisstörung: In vielen Situationen erleben Sie sich selbst und die Wirklichkeit diffus und unscharf. Sie fühlen sich bedroht durch Umstände, die andere schwer nachvollziehen können. Sie grübeln über die Vergangenheit und über die Zukunft nach und kommen dennoch nicht aus den Zweifeln heraus. Sie erleben sich nicht mehr als einheitlich und haben überhaupt nicht mehr das Gefühl zu wissen, was Sie wollen. Doch eines ist die Zwangskrankheit mit Sicherheit nicht: Sie ist
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keine Verhaltensstörung in dem Sinne, dass Sie Dinge tun würden, die nicht Ihrer wahren Persönlichkeit entsprechen. Sie werden sich eben nichtt aus »irgendeinem Impuls heraus« die Nase abschneiden. Solche Gedanken können bedrohlich, ja schrecklich für Sie sein, aber – dessen können Sie sicher sein – sie kündigen nicht Handlungen gleichen Inhalts an. Sie sind wie Nebelgespenster, die Sie immer wieder umschwirren, aber sie nehmen nie eine reale Form an und werden daher nie Wirklichkeit. Sie können Ihren Funktionen, Ihren Wahrnehmungen, Ihrer Urteilsfähigkeit und Ihren Handlungen voll vertrauen! Suchen Sie wieder Anschluss an Ihre wahre Persönlichkeit, Ihre Werte und Bedürfnisse
Es soll Ihnen immer öfter und besser gelingen, Ihre Bedürfnisse aufzuspüren und ihnen mit gutem Gewissen und mit Wohlbehagen nachzugehen. Dies gilt auch für die realen Situationen, mit denen Sie sich konfrontieren werden, um Ihre Zwangsdanken herauszufordern. Dadurch aktivieren Sie das, was wirklich wichtig für Sie ist und Ihnen ein erfülltes Leben ermöglicht. Gelegentlich werden Sie feststellen, dass das falsche Sicherheitsdenken des Zwangs (»Das darfst du nicht riskieren. Du könntest dabei etwas Schlimmes tun … Begib dich nicht in eine solche Gefahr«) versucht, Sie von Dingen abzuhalten, die Sie im Grunde Ihres Wesens bejahen. Entscheiden Sie sich in einem solchen Fall für das wahre Leben. Wenn Sie es noch nicht ganz schaff fen, dann versuchen Sie zumindest, die Freiräume auszuloten, die Ihnen der Zwang schon lässt. Füllen Sie sie aus, und experimentieren Sie damit, sie immer weiter auszudehnen. Fragen Sie sich öfter: Was ist wirklich wichtig in meinem Leben? Was will ich für mich und für andere? Wenn Sie sich solche Fragen ernsthaft stellen und so gut, wie es schon geht, danach handeln, wird sich Ihre wahre Person immer mehr aus der Zwangsjacke des krankhaften Systems befreien.
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Kapitel 6 · Zwangsgedanken und magisches Denken
Setzen Sie dem Zwang Ihre wahren Gefühle entgegen
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Die einzigen Gefühle, die der Zwang Ihnen zu bieten hat, sind Angst, ein falsches und bröckelndes Sicherheitsgefühl, wenn Sie sich ihm beugen, und eine große innere Leere, wenn er Sie immer mehr beherrscht. Doch in Ihnen »schlummert« sozusagen die ganze Palette Ihrer natürlichen Gefühle, die Ihr Leben wieder menschlicher und tiefer werden lassen, wenn sie zum Vorschein kommen. All diese Gefühle eignen sich dafür, gegen den Zwang eingesetzt zu werden: 4 Freude am wahren Leben, 4 Zuneigung und Liebe als Ihre wirkliche Haltung gegenüber Menschen, die Ihnen etwas bedeuten, 4 Ärger und Wut gegenüber dem Fremdsteuerungssystem, das Sie tyrannisiert und Sie zu ersticken droht, 4 Trauer über das, was Sie alles versäumen, wenn der Zwang Sie beherrscht und Sie ihm wieder nachgeben, 4 Trotz und Auflehnung (»Ich will nicht mehr!«), 4 Zuversicht und Vertrauen in Ihre wahre Persönlichkeit, 4 und schließlich die Hoffnung auf ein Leben, das immer mehr vom Zwang befreit ist. Versuchen Sie, bei jeder Gelegenheit Ihre wahren Gefühle zur Geltung zu bringen. Sie werden Sie leiten und Ihnen den Weg zeigen. Machen Sie sich klar, dass Sie mit Ihrer Krankheit nicht allein sind
Lesen Sie die Fallgeschichten, die wir Ihnen in 7 Kap. 6.2 vorgestellt haben, und unsere Kommentare dazu. Sie werden vieles von dem wiedererkennen, was Sie in Ihrem eigenen Zwangssystem erleben. Sie können daraus ersehen, dass Sie mit Ihren Problemen nicht allein dastehen. Ferner können Sie feststellen, dass Ihre Zwangsgedanken nicht etwas sind, was einzigartig und
typisch für Sie ist, sondern eine Art Einheitsstörung, die viele ganz verschiedene Menschen befallen kann. Die Tatsache, dass Ihre Zwangsgedanken nicht aus der Tiefe Ihrer Persönlichkeit entspringen (wichtig!), sondern denen anderer Menschen ganz ähnlich, ja in vielen Fällen identisch mit ihnen sind, soll Ihnen Hoffnung geben: Je weniger Ihre Zwangsgedanken zu Ihnen gehören, desto besser können Sie sich davon befreien. Doch weil das nicht so leicht ist, empfehlen wir Ihnen, bei Ihrer Selbsthilfe in den von uns vorgeschlagenen Schritten vorzugehen. Auf diese Weise werden Zwangsgedanken erst einmal objektiviert, und ihre Entstehung wird verdeutlicht. Sie werden entmystifiziert, und ihre Lebensferne wird entlarvt. Dadurch, dass Sie immer mehr die Angst vor ihnen verlieren, ja geradezu anfangen, mit ihnen zu spielen und eine gesunde Distanz zu ihnen aufzubauen, werden Ihre Zwangsgedanken immer handhabbarer und leichter zu bewältigen. Stellen Sie sich Ihren Zwangsgedanken in der Wirklichkeit
In dem Maße, wie Sie das Lügensystem Ihrer Zwangsgedanken immer besser durchschauen und immer mehr Selbstvertrauen im Umgang damit entwickeln, werden Sie mutiger und können sich ihnen stellen, um sie zu bewältigen und abzubauen. Deshalb sind die Wirklichkeitsübungen so wichtig. Doch achten Sie dabei auf Folgendes: 4 Schätzen Sie eine Reihe von kritischen Situationen nach ihrem Schwierigkeitsgrad ein (0 = keine Schwierigkeit, 10 = extrem schwierig). Der Schwierigkeitsgrad Ihrer Übungen sollte am Anfang zwischen 2 und 4 liegen. Auf diese Weise sind erste Erfolge leichter zu erreichen. 4 Gehen Sie dabei immer in den Schritten vor, die wir in Kap. 6.3.2 beschrieben haben. Ihr Vorgehen sollte klar und energisch, aber nicht verkrampft sein. An kritischen Stellen kön-
119 6.4 · Selbsthilfe bei Zwangsgedanken
nen Sie ruhig laut mit sich reden. Das hilft Ihnen, in der Realität zu bleiben (außerdem merkt es so gut wie kein Mensch). 4 Üben Sie nicht bei großer Erschöpfung, wenn Sie unter starkem Stress stehen oder niedergeschlagen sind. Der Zwang nimmt dann häufig zu. Nehmen Sie solche Phasen an. Sie gehen vorüber, und dann können Sie wieder anfangen, gegen den Zwang vorzugehen. 4 Treten bei der Übung Zwangsgedanken auf, so ist das nicht als Niederlage zu werten. Gegen Sie damit um, wie wir es in Kap. 6.3.2 beschrieben haben. In einigen Situationen werden Sie Gefühle wie Traurigkeit, Wut usw. erleben, auf die Sie nicht gefasst sind, und es werden vielleicht Erinnerungen an Ihr früheres Leben auftreten. Solche »Einschübe« zeigen, dass die Zwangsstrukturen sich zu lockern beginnen, und sind positiv zu werten. Sie können sich ruhig damit beschäftigen, ohne sich allerdings ganz »hineinfallen« zu lassen. Sagen Sie sich: »Das sind meine wahren, echten Gefühle. Sie sind normal und nicht krankhaft.« Sagen Sie sich zu den Erinnerungen: »So war das. Ich muss damit leben und werde es auch schaffen.« Wenn Sie sich während einer Übung überfordert oder erschöpft fühlen, dann sagen Sie sich nicht: »Da muss ich jetzt durch.« Gehen Sie solidarisch und verständnisvoll mit sich um. Nach einer erfolgreichen Übung sollten Sie sich belohnen und möglichst Zufriedenheit und Stolz empfinden. Vergessen Sie nicht: Der Zwang arbeitet immer mit Selbstzweifeln und baut auf Ihrem geschwächten Selbstvertrauen auf. Wenn Sie Ihr Selbstvertrauen immer wieder stärken, bilden Sie ein gutes Fundament gegen den Zwang.
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7 7 Berührungsvermeidungs- und Waschzwänge: Kontakte mit »gefährlichen« und ekelerregenden Substanzen Ich zeig dir die Angst in einer Handvoll Staub. T. S. Eliot
7.1
Bedrohung und Abwehr – 123
7.2
»Roger hat Müll angefasst, dann mich angefasst und anderes angefasst« – 124
7.3
Struktur von Berührungsvermeidungs- und Waschzwängen – 125
7.4
Therapie bei Berührungsvermeidungs- und Waschzwängen – 127
7.4.1 Werdegang des Zwangs: der Weg nach unten – 127 7.4.2 Überwindung des Zwangs: der Weg nach oben – 129 7.4.3 Kontroverse über die Vorgehensweise bei Wirklichkeitsübungen
7.5
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Selbsthilfe bei Berührungsvermeidungs- und Waschzwängen – 134
123 7.1 · Bedrohung und Abwehr
7.1
Bedrohung und Abwehr
Die brutalste Form des Einsetzens von zwanghaften Vorstellungen, die jemanden ein Leben lang beschäftigen, ja terrorisieren können, kennen wir aus Geschichten von Kranken, die an dem Zwang leiden, unter allen Umständen die Berührung mit bestimmten Menschen oder Objekten zu vermeiden, die als Träger von »gefährlichen« oder widerlichen Substanzen gelten. Der grundlegende Affekt dabei ist Ekel, weniger Angst, meist eine Mischung von beiden. Dann treten die beiden Affekte in einer typischen Reihenfolge auf: Es besteht oft panische Angst vor der Möglichkeit einer Berührung. Erfolgt sie, dann tritt Ekel auf, der auch nachher noch anhält, bis er mit »einschlägigen« Mitteln beseitigt ist. Die Furcht vor realen Gefahren wie Krankheit infolge von Ansteckung scheint dabei in vielen Fällen sekundär zu sein. Oft hat man den Eindruck, dass der Kranke sich ihrer bedient, um seinen Widerwillen einigermaßen »rational« zu begründen, vor sich und vor anderen. Eine Patientin meinte: »Ich weiß es noch ganz genau. Erst fühlte ich mich unrein, wenn ich bestimmte Menschen berührt hatte. Dann fragte ich mich, wo die Gefahr herkommen könnte, und dann kam mir der Gedanke, sie könnten HIV-infiziert sein und dergleichen mehr. Ganz habe ich nie daran geglaubt. Aber es war erst einmal eine Erklärung für meinen Widerwillen vor bestimmten Menschen. Und ich konnte damit operieren. Keine Erklärung für mein Gefühl zu haben hätte mir noch mehr Angst gemacht.« (Hoffmann, 2005, S. 10) Das Gefühl, dass Ekliges an Menschen, an Dingen, aber auch an unserem Körper und besonders an den Händen kleben bleiben kann, erklärt die zwei »Gesetzmäßigkeiten« zwanghaften Denkens, die bei der Krankheit eine wichtige Rolle spielen: Die »Ekelmaterie« ist durch Berührung endlos übertragbar und verliert auch in endloser Verdünnung nicht ihr Gefahren- oder Ekelpotenzial. Damit werden auch die für
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Zwangskranke »naturgegebenen« Mittel verständlich, die ihnen geeignet erscheinen, Ekliges zu eliminieren: meist Waschen und Wischen. Bei Zwangskranken können »ideelle« Substanzen ein identisches Ekel- oder Gefahrenpotenzial haben wie materielle (z.B. Schmutz oder Viren). »Todesmaterie« ist das, was in ihrem Erleben an den Händen klebt, wenn sie eine Todesanzeige in der Zeitung berührt haben. »Vateriges« ist das, was ein Paket verseucht hat, das der gehasste Vater angefasst haben könnte. Beide gelten, ähnlich wie materielle Substrate, als endlos übertragbar und »abwaschbar«. Die innere Distanz zu den zwanghaften Vorstellungen kann von Situation zu Situation sehr stark variieren. So hat z.B. eine Patientin (eine voll praktizierende Ärztin) Angst davor, sie könne durch Sperma schwanger werden, das von Männern wie Frauen ausgehen könne, an den Dingen haften bleibe und durch Berührung übertragen werde. Die innere Distanz zu diesem Gedanken liegt auf einem Kontinuum zwischen der Meinung, die man Zwangskranken in der Literatur (fälschlicherweise) immer wieder unterstellt (»Ich weiß ja, dass es Quatsch ist, aber …«), und dem quasi Wahnhaften. Die beste Bezeichnung ist in vielen Fällen die der »überwertigen Idee« (Hoffmann & Hofmann, 2008). Patienten mit einer Angststörung befürchten, dass ihnen etwas passiert, z.B. ein Unglück oder ein Versagen des eigenen Körpers wie bei der Panikerkrankung. Zwangskranke mit Berührungsvermeidungszwängen befürchten, dass sie selbst etwas tun, nämlich Ekel- oder Angsterregendes berühren und weiterverbreiten. Es geht also um eine tief greifende Verunsicherung bezüglich der eigenen Handlungen. Diese Verunsicherungg bezieht sich sowohl auf das Risiko einer Berührung als auch auf die Abwehrmaßnahmen, die dagegen eingesetzt werden und von denen man nie sicher sein kann, ob sie auch ausreichend sind. Sehen wir uns ein Beispiel dieser Störung an.
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Kapitel 7 · Berührungsvermeidungs- und Waschzwänge: Kontakte mit »gefährlichen« und ekelerregenden Substanzen
7.2
»Roger hat Müll angefasst, dann mich angefasst und anderes angefasst«
»Es war mir endlich gelungen, die Tüte, in der ich die verseuchte Hose aus dem letzten Pfingsturlaub zur Reinigung gebracht hatte, in die Mülltonne zu werfen. Über Monate hatte sie in der Rumpelkammer gelegen, ganz in der Ecke, in alte Zeitungen eingewickelt. Mit dickem, undurchlässigem Packpapier habe ich endlich das Zeitungsknäuel, in dem die Plastiktüte war, umwickelt (dabei hatte ich selbstverständlich Gummihandschuhe an, die ich ebenfalls gleich in den Müll geworfen habe) und das Ganze in die Mülltonne befördert. Ich war sehr vorsichtig beim Transport der verseuchten Sachen und habe sehr genau auff gepasst, mit dem Paket weder meine Kleidung noch die Haustür, noch irgendetwas anderes zu berühren. Die Badezimmertür hatte ich vorsorglich geöffnet und das Desinfektionsmittel und die Seife so hingelegt, dass ich beide aufheben konnte, ohne zu riskieren, das Waschbecken zu berühren. So viele Umstände wegen dieser blöden Plastiktüte, in der die verseuchte Hose aus dem letzten Sommerurlaub monatelang eingewickelt war, weil es mir zu kompliziert erschien, sie in die Reinigung zu bringen. Ich habe es schließlich dann doch geschafft, sie hinzubringen, allerdings in ein Geschäft, das weit von unserem Wohnort entfernt ist und das ich dann nur noch einmal betreten habe, um die Hose abzuholen. Hätte ich sie in unsere Reinigung gebracht, so wären mir unsere Sachen, die dort gereinigt werden, nie mehr einwandfrei vorgekommen. Unser Urlaub war alles in allem sehr schön. Aber zwei Tage nach unserer Rückkehr erzählte ich meinem Hausarzt davon, auch, dass ich öfter über Wiesen gelaufen bin, auf denen Schafe und Pferde weideten. Das seien schöne Tiere, meinte der Hausarzt, aber man müsse aufpassen, sie hätten Tetanus im Darm. Nun erinnerte ich mich, dass Pferde- und Schafskot auf der Wiese gelegen hatte und ich unausweichlich damit in Berüh-
rung gekommen sein muss. Glücklicherweise ist Roger nicht mit über die Wiesen gelaufen und immer auf dem Feldweg geblieben. Ich war entsetzt. Als ich vom Arzt nach Hause kam, versuchte ich krampfhaft, mich zu erinnern, wie ich den Koffer gepackt hatte und mit was die Hose, die ich auf den Wiesen getragen hatte, in Berührung gekommen war. Ich konnte mich aber nicht mehr genau erinnern und beschloss, diesen Teil des Problems zu bereinigen, indem ich alle Kleidungsstücke, die wir in Irland dabei hatten, einer dreifachen Desinfektion unterzog und die waschbaren Textilien mittels einer dreifachen Waschung entseuchte. Ich musste sehr vorsichtig vorgehen, damit Roger das nicht mitbekam. Die Schuhe, die ich damals getragen hatte, und die anderen Sachen (glücklicherweise konnte ich mich noch daran erinnern, welche es waren) habe ich unter tausenderlei Vorsichtsmaßnahmen weggeworfen, in eine Mülltonne am Ende der Straße, muss ich gestehen. Hätte ich sie in unsere gebracht, so hätte ich die Tonne nicht mehr benutzen können. Es war mir sehr peinlich, eine fremde Mülltonne zu benutzen, jemand hätte mich ja dabei beobachten und sich Fragen stellen können. Nach vielerlei inneren Kämpfen hatte ich beschlossen, die Hose, auch wenn sie zu den am allermeisten verseuchten Sachen zählte, doch zu behalten, weil sie neu war und mir sehr gefiel. So landete sie in der Plastiktüte. Heute habe ich mich dann also überwunden und die doch einigermaßen gut gesicherte Plastiktüte in unsere Mülltonne gegeben, da ich mich nicht traute, die Prozedur mit der Zweckentfremdung fremder Müllentsorgungsutensilien zu wiederholen. Dabei habe ich selbstverständlich darauf geachtet, mit dem Paket nicht den Rand der Tonne zu berühren, und ich glaube, das ist mir gelungen. Die Tonne musste ich leider erst mal offen lassen, denn ich hatte ja den Griff mit den Plastikhandschuhen berührt, die auch an das verseuchte Paket gekommen waren. Nach dem Reinigen meiner Hände hätte ich ihn mit Desinfektionsmitteln eingesprüht und den Deckel dann
125 7.3 · Struktur von Berührungsvermeidungs- und Waschzwängen
mit einem Holzstab, der für solche Zwecke hinter dem Haus bereitliegt, zugestoßen. Doch zuvor sprühte ich meine Hände und Unterarme zuerst viermal hintereinander mit einem Desinfektionsmittel ein, wobei jeweils darauf zu achten war, dass jeder Finger sowie Handflächen und Unterarme von allen Seiten ungefähr gleichmäßig mit dem Mittel in Berührung kamen. Die heikelsten Stellen sind die Zwischenräume zwischen den Fingern, weil ich sichergehen muss, dass auch solche schwer zugänglichen Stellen vom Mittel erreicht werden. Nach jedem Einsprühen lasse ich das Mittel drei Minuten einwirken und spüle es dann unter fließendem lauwarmem Wasser ab, wobei dieselben Vorsichtsmaßnahmen zu beachten sind wie beim Einsprühen: Das Wasser muss ungefähr gleichmäßig alle vier Seiten der zu behandelnden Körperteile erreichen, und auch dabei stellen die Zwischenräume zwischen den Fingern ein Problem dar. Nach der Desinfektion erfolgt die viermalige Reinigung mit Seife, zuerst zweimal mit normaler Toilettenseife, dann zweimal mit Liposan Soft. Dabei stellen sich sowohl beim Einseifen wie beim Abspülen dieselben Probleme wie oben. Vor Beendigung der Reinigungsprozedur darf selbstverständlich das Waschbecken nicht berührt werden, weil sonst eine Übertragung von Tetanus erfolgen könnte und das Becken verseucht wäre, was eine äußerst mühsame Reinigungsaktion zur Wiederherstellung seiner Gefahrlosigkeit erfordern würde. Da ich die Wasserhähne vorsorglich vor dem Anfassen des verseuchten Pakets aufgedreht hatte, konnten sie nach Beendigung der ganzen Aktion ohne Gefahr zugedreht werden. Das Händeabtrocknen erfolgte mit einem frischen, bereitgelegten Handtuch, das ich danach doch vorsichtshalber gleich in die Waschmaschine gab, die schon halb voll war, aber zum Glück keine besonders heiklen Sachen wie Unterwäsche enthielt. Ich war gerade mit dem Händewaschen fertig und schickte mich an, den Rest meiner Arbeit hinter dem Haus (das Schließen der Tonne) zu
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verrichten, da betrat Roger, der in letzter Zeit selten mittags vorbeikommt, von hinten das Haus. Er kam auf mich zu, umarmte mich und sagte: ›Du brauchst mir nichts zu essen zu machen. Ich habe mir am Imbiss Pommes gekauft und auf dem Heimweg gegessen. Übrigens: Der Deckel der Mülltonne war offen. Das ist nicht sehr hygienisch, weißt du.‹ Mir schoss ein riesiger Schreck, eine große Panik in den Körper. Dann ging Roger in Richtung Schlafzimmer und Kleiderschrank und Bett und murmelte etwas von ›Hemd wechseln bei der Hitze‹, und mit einem Satz war ich bei ihm und krallte mich an ihm fest.«
7.3
Struktur von Berührungsvermeidungs- und Waschzwängen
Entstehung der Bedrohung und »Kettenbildung«
Die obige Schilderung ist ein nachempfundener Erlebnisbericht, der eine wahre Episode im Leben der 41-jährigen Patientin Dagmar wiedergibt und die typischen Denkweisen einer Zwangskranken in einer solchen Situation enthält. Wir haben gesehen, wie Dagmar – auf dem Hintergrund einer spezifischen Vorgeschichte – nach einer eher beiläufigen Bemerkung ihres Arztes praktisch von einer Sekunde zur anderen eine panische Angst vor dem »Gefahrenstoff« Pferdeund Schafskot entwickelte. Der Kontakt mit dieser Substanz erschien ihr umso gefährlicher, als damit stillschweigend zwei Annahmen einhergingen, die nur im Denken von Zwangskranken auffindbar sind. Die erste Annahme betrifft die Möglichkeit der endlosen Weiterverbreitung eines Stoffes durch Berührung, das, was wir »Kettenbildung« nennen. Roger hat den verseuchten Griff der Tonne bei der Entsorgung der Pommesfrites-Tüte angefasst. Seine Hand, die rechte, wie Dagmar annimmt, ist in ihren Augen verseucht, d.h., der Gefahrenstoff haftet an ihr. Er berührt die Türklinke – die damit ebenfalls »verseucht« ist – und betritt das Haus. Er umarmt seine Frau.
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7
Kapitel 7 · Berührungsvermeidungs- und Waschzwänge: Kontakte mit »gefährlichen« und ekelerregenden Substanzen
Jetzt ist Dagmars Kleidung an dieser Stelle nicht mehr einwandfrei, vielleicht hat er mit der »schlechten Hand« auch ihre Haut berührt. Er setzt sich kurz hin und legt die Hand auf den Tisch. Jetzt ist die Tischplatte kontaminiert. Was hat er noch alles angefasst? Es könnte sein, dass Dagmar, ohne es zu wissen, eine dieser Stellen berührt und so, wiederum unabsichtlich, »die Seuche« weiter verbreitet. Dann könnte keine einzige Stelle in der Wohnung mehr als sauber, d.h. als nicht reinigungsbedürftig, gelten. Aber jetzt kommt das Schlimmste: Roger geht Richtung Schlafzimmer. Dort befindet sich das, was unbedingt sauber gehalten werden muss: die Wäsche und das Bett. Die Katastrophe, die er dort anrichten könnte, wäre kaum noch wiedergutzumachen. Allen Berührungsängsten und den damit einhergehenden Wasch- und Abwischzwängen liegt diese Idee der möglichen Kettenbildung zugrunde, ohne dass dieser Gedanke je kritisch geprüft würde. Seine Brisanz erhält er aber erst durch die zweite implizite Annahme: Der Gefahrenstoff behält, auch wenn er auf diese Weise endlos »verdünnt« wird, in der Vorstellung der Zwangskranken sein gesamtes Gefahrenpotenzial, in unserem Beispiel also die Möglichkeit einer Ansteckung mit Tetanus. Nur unter Berücksichtigung dieser unter Hygienegesichtspunkten völlig unrealistischen, aber für die Kranken selbstverständlich erscheinenden Annahmen ist das Verhalten von Menschen, die an Berührungsvermeidungszwängen leiden, überhaupt zu verstehen. Waschen als Abwehr
Die Art und Weise, wie dann mit der »Gefahr« umgegangen wird, ist wiederum typisch. Das Händewaschen Zwangskranker z.B. ist nicht die übliche Prozedur, die wir, mit Variationen, alle kennen. Ihm liegt ein Ritual zugrunde, das individuell verschieden sein kann, das aber in jedem Fall peinlich genau eingehalten werden muss. Immer tragen diese Rituale perfektionistische Züge, d.h., sie dienen einer maximalen Absicherung. So
muss z.B. gewährleistet sein, dass Wasser und Seife »in ausreichender Menge« an alle Körperstellen kommen. Während des Waschvorganges stellt sich ein Zwangskranker immer wieder uns unsinnig erscheinende Fragen, die aber für ihn sehr quälend sind, weil er glaubt, sie beantworten zu müssen, obwohl sie grundsätzlich nicht beantwortbar sind, so z.B. die Frage: »Ist der linke Mittelfinger von allen Seiten ausreichend mit Seife versorgt, oder muss die Prozedur sicherheitshalber wiederholt werden?« Hilfsmittel. Um bei den ihnen lebensnotwendig
erscheinenden Reinigungsvorgängen einigermaßen den Überblick zu behalten, fangen die Patienten an, Bewegungen exzessiv zu unterteilen und mit Zahlen zu operieren, um ihre Handlungen eindämmen zu können. Ein Patient schildert, wie er eine Hand waschen muss, damit sie »richtig« gewaschen ist: »Jede Hand hat acht Seiten (!). Jede Seite ist nummeriert. Die Seiten werden der Reihe nach zuerst mit Wasser zweimal vorbehandelt, dreimal hauptbehandelt und zweimal nachbehandelt. Dann dieselbe Prozedur mit Seife, die in der aktiven Hand liegt. Dann folgt die andere Hand nach demselben Prinzip. Da die schon behandelte Hand in dem Maße, wie sie zu der aktiven wird, von der noch unbehandelten kontaminiert wird, muss die gesamte Prozedur noch fünfmal wiederholt werden, damit die gegenseitige Kontamination ›ausgeschlichen‹ werden kann.« Solche Prozeduren sind das Ergebnis eines endlos scheinenden Abwehrkampfes gegen die meist vorhandenen Unvollständigkeitsgefühle, die die eigenen Handlungen so diffus und unscharf erscheinen lassen, dass sich die Frage stellt: »Habe ich es überhaupt getan oder mir nur vorgestellt?« Fremdkontrolle. Als letzte Maßnahme in diesem
Kampf ist das Sich-bewusst-unter-Fremdkontrolle-Stellen zu erwähnen. Fast alle Patienten berichten, dass Tätigkeiten ihnen in Gegenwart
127 7.4 · Therapie bei Berührungsvermeidungs- und Waschzwängen
anderer leichter fallen. Lediglich wenn diese extrem drängen oder kritisch kommentieren, kann es zu einer zusätzlichen Verunsicherung kommen. Ist das nicht der Fall, wird fremde Präsenz in der Regel als von außen gegebene Strukturierungshilfe erlebt, die scheinbar etwas erzeugt, was den Kranken fehlt: »Wenn jemand da ist, fühle ich mich nicht so allein und auf mich zurückgeworfen, sondern ich fühle mich aktiver und klarer.« Das ist auch dann der Fall, wenn es nicht darum geht, die Verantwortung für das eigene Tun weiterzugeben. »Dadurch, dass jemand da ist, komme ich ein Stück weit aus dem eigenen Morast heraus.« Es kommt offensichtlich zu einer Erhöhung der inneren Spannkraft, ein Umstand, der sich positiv auf das Unvollständigkeitsgefühl auswirkt.
7.4
7
Therapie bei Berührungsvermeidungs- und Waschzwängen
Berührungsvermeidungs- und Waschzwänge brechen oft mit großer Vehemenz in das Leben Betroffener ein. Praktisch von einem Tag zum anderen ändert sich ihre Welt. In anderen Fällen geschieht dies mehr in Etappen. Bei beiden Verläufen stehen die Menschen erschrocken und verständnislos einem Geschehen gegenüber, das sie schlecht oder gar nicht einordnen können. Deshalb ist es am Anfang einer Therapie (und vor Selbsthilfeempfehlungen) wichtig, den Patienten die einzelnen Etappen der Entstehung ihrer Erkrankung, so gut es geht, verständlich zu machen.
Kampf zwischen Gut und Böse
Das Eigentümliche an dieser Form von Zwängen besteht darin, dass das allgemein menschliche Thema der Angst vor anderen und vor dem Leben sich sozusagen materialisiert. Berührungen mit für »unrein« gehaltenen Menschen oder Objekten hinterlassen eine Art materielles Substrat, das am eigenen Körper kleben bleibt und geradezu eine Art Hauthalluzination hervorruft. Die Welt wird nun radikal zweigeteilt: Die Welt draußen hat endgültig ihre Harmlosigkeit verloren, Gefahren und Anlässe für Ekel lauern überall. »Überall kann etwas Unberechenbares passieren, es ist, als ob man durch Heckenschützen liefe. Wo Menschen sind, ist nichts kontrollierbar – das ist das Schlimmste«, sagen so oder in ähnlicher Weise viele Patienten. Die eigene Welt und ihre Heiligtümer (eigener Körper, eigene Wohnung, Schlafzimmer, Bett, Wäsche, Schrank) gelten als Orte der absoluten Reinheit. Ein permanenter und mühseliger Abwehrkampff ist vonnöten, um das Eindringen des Unreinen zu verhindern. Die eigene Lebenssituation ist zwar furchtbar, hat sich andererseits aber geordnet, ist überschaubarer und einfacher geworden: Man kann klar zwischen Gut und Böse unterscheiden und weiß, was zu tun ist.
7.4.1
Werdegang des Zwangs: der Weg nach unten
Schwächung der Person. Die Zwangsstörung
entwickelt sich in mehreren Etappen, die wir im Folgenden darstellen und näher erläutern wollen. Zunächst kommt es infolge einer durch äußere, nicht selten plötzlich hereinbrechende Umstände oder durch innere Verunsicherung hervorgerufenen Krise zu einem labilen Zustand, der durch erhöhte Gefühlsregungen gekennzeichnet ist. Häufig zeigt sich eine große Orientierungslosigkeit, die verhindert, dass der Patient klar Stellung beziehen kann. Eine Art »Auflösung« eigener Grenzen setzt ein. Ein solcher Zustand macht verletzlich und schwächt die Widerstandskraft gegenüber weiteren negativen Eindrücken. Konfusion der Gefühle. Der beschriebenen
Schwächung folgen oft durch spezifische Ereignisse ausgelöste starke, in der Regel unerwartete negative Emotionen. Dann beginnt die Entwicklung der Erkrankung. Die am häufigsten auftretenden Gefühle sind Schmerz, Trauer, Einsamkeit, Angst, Ekel und Wut, aber auch das Gefühl
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7
Kapitel 7 · Berührungsvermeidungs- und Waschzwänge: Kontakte mit »gefährlichen« und ekelerregenden Substanzen
des Verlassenseins. Die Patienten beschreiben sehr eindringlich die Intensität dieser Gefühle. Typische Beschreibungen sind: »Ich fühlte mich plötzlich wie ein kleines, verlassenes Kind und habe die Hand der Mutter gesucht.« Oder: »Eine Mischung aus Angst, Trauer und Wut überfiel mich, und ich war wie gelähmt.« Ein wichtiges Merkmal dieser emotionalen Zustände ist die »Konfusion der Gefühle«: »Ich wusste nicht, ob ich maßlos wütend war oder Angst hatte. Dann nahm der Ekel wieder überhand, und gleichzeitig fühlte ich mich von aller Welt verlassen«, berichtet eine Patientin. Ein weiteres Charakteristikum ist, dass die Gefühle in den Betroffenen »stecken bleiben«. Es kommt nicht zu einer vollen Entfaltung und zu einem Ausdruck nach außen, geschweige denn zur Einleitung eines den Gefühlen gemäßen Verhaltens. So fühlte eine junge Frau, die nicht genau wusste, ob ihr Vater sie in der Nacht sexuell belästigt hatte oder nicht, eine totale Blockade. Sie gestand sich ihre negativen Gefühle dem Vater gegenüber nicht zu und konnte sie auch nicht ausdrücken. Daher war auch kein befreiender Schlag nach außen möglich. Details werden zentral. Typischerweise geraten
nun Details der Außenwelt ins Zentrum der Auff merksamkeit. Ein Beispiel: Ein junger Mann erinnert sich an Demütigungen während seiner Schulzeit. Als Klassenbester, der beim Sport ein völliger Versager war, wurde er verspottet und gequält, besonders auf dem Sportplatz der Schule, der mit rotem Sand belegt war. Jahre später, als er sich unglücklich verliebt hatte und sich viele Sorgen um seine Zukunft machte, geriet er in eine Krise. Kurz nach einem besonders kränkenden Verhalten der jungen Frau, in die er sich verliebt hatte, kam es zu einer zufälligen Berührung mit einer Substanz, die ihn an den roten Sand des Sportplatzes erinnerte. Augenblicklich setzte sich die Idee fest, und der rote Sand des Sportplatzes wurde zum Inbegriff für Demütigung, Unglück und Gefahr. Seitdem meidet der junge Mann die
Umgebung seiner alten Schule und alle Menschen, von denen er weiß, dass sie in der Nähe wohnen. Draußen ist er in ständiger Angst vor »Rötlichem« auf Gehsteigen, an Hauswänden usw. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ist er nie ganz sicher, nicht mit etwas Rötlichem in Kontakt gekommen zu sein. Je nach dem Grad seiner Beunruhigung können die Wasch- und Reinigungsprozeduren endlos dauern. Anstatt die Gesamtlebenssituation im Auge zu behalten und mit einer lösungsorientierten Verarbeitung der unglücklichen Umstände zu beginnen, rücken bei Zwangskranken Details der Außenwelt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie werden zu Symbolen für die schmerzlichen Empfindungen, die im Innern vorherrschen. Zweiteilung der Welt. Im Denken der Zwangs-
kranken lassen sich die gefährlichen und ekelerregenden Substanzen durch Berührung endlos übertragen. Das führt zwangsläufig dazu, dass sie in der sie umgebenden Welt zwischen »reinen« und »unreinen« Teilen unterscheiden. »Unrein« ist alles, was mit der tabuisierten Substanz kontaminiert wurde oder kontaminiert sein könnte. »Rein« ist all das, was der Patient vor der Kontamination bewahren kann, auch wenn dies immer mühsamer wird. Etablierung des Abwehrverhaltens. Der junge
Mann in unserem Beispiel meidet nicht nur die Umgebung des Sportplatzes, sondern alle Menschen, die in dessen Nähe wohnen. Kommt es zu einer zufälligen Berührung, so muss er die für ihn realen »Sandspuren« mühsam abwaschen und abwischen. Er hat ständig Angst davor, dass dieser Sand durch endlose Übertragung in die Wohnung eingeschleppt werden könnte. Dadurch würden alle seine persönlichen Gegenstände kontaminiert, und er könnte sie nicht mehr benutzen. Dieser Abwehrkampff nimmt einen großen Teil des Tages in Anspruch. Immer wieder müssen die Mittel zum Einsatz kommen, die das Zwangssystem vorschreibt.
129 7.4 · Therapie bei Berührungsvermeidungs- und Waschzwängen
Denkverbot. Von diesem Abwehrkampf voll in
Beschlag genommen, hört der Betroffene auf, sich Fragen über den Sinn seines Tuns zu stellen. Die Gedanken und Gefühle, die der Zwang hervorruft, gelten als »letzte Wahrheit« und werden nicht mehr infrage gestellt. Vervollkommnet werden lediglich die Mittel, die im Abwehrkampf eingesetzt werden.
7.4.2
7
Überwindung des Zwangs: der Weg nach oben
Besinnung auf sich selbst
Die Besinnung auf sich selbst ist der erste der Schritte, die wir zur Überwindung des Zwangs vorschlagen. Sie geschieht durch die gemeinsame Erörterung elementarer Fragen, den Patienten betreffend.
Überwucherung des Lebens. Die Betroffenen
entfremden sich immer mehr von den eigenen wahren Bedürfnissen. An die oberste Stelle der Bedürfnispyramide tritt ein Bedürfnis nach Sicherheit im Sinne des Zwangssystems. Der »reine« Lebensraum schrumpft immer stärker, und es müssen immer mehr Einschränkungen in Kauf genommen werden. Das führt nicht selten zu einer sozialen Isolierung und zu »Sekundärschäden« im sozialen und im beruflichen Bereich, die später manchmal sehr schwer rückgängig zu machen sind. Eine Patientin, die zunächst Ekel vor dem unwürdigen Verhalten ihres Ehemanns empfand, übertrug diesen Ekel schließlich auf alles, was dieser berührt haben konnte, auch auf ihre Tochter und auf die Enkelin, die ihren Mann manchmal besuchten. Die Stadtviertel, in denen die drei sich aufhielten, galten als »unrein«. Auch der unmittelbar zugängliche Bereich ihrer Wohnung war »unrein«. Deshalb mussten von draußen kommende Dinge gesäubert und gewaschen werden. Geld war unrein, denn schließlich hätte der Mann es berührt haben können. Deshalb mussten Geldscheine einen Tag auf dem Balkon liegen bleiben, bevor sie benutzt werden konnten. Die Tochter und die Enkelin besuchten sie grundsätzlich nur in einer bestimmten »Schutzkleidung«, die in einer Ecke aufbewahrt wurde. Und so ging es endlos weiter.
Wer bin ich? Der Patient ist ein Mensch, der
ein Anrecht auf eine personale Lebensführung hat. Er hat Bedürfnisse, Interessen und Werte und will sein Leben danach gestalten. Dabei ist er ein aktiv Handelnder, der Energie in bestimmte Vorhaben investiert, die er für wertvoll erachtet. Was will ich? Der Patient soll sich auf seinen Le-
bensentwurf besinnen: Welche Ziele will er kurzfristig, mittelfristig und langfristig realisieren, und nach welchen Plänen will er dabei vorgehen? Um diesen Zielen mit Aussicht auf Erfolg nachzugehen, muss er bestimmte Fähigkeiten wieder »freilegen«, damit er sich kritischen Situationen zu stellen und sie zu bewältigen vermag. Wenn jemand beispielsweise seine beruflichen Ziele realisieren will, dann muss er in der Lage sein, Geschäftspartnern angstfrei die Hand zu geben, an einem Essen außerhalb der eigenen Wohnung teilzunehmen, ohne seinen Teller mit einem Tuch abzudecken, und Geschäftspapiere in Gegenwart anderer zu sichten, ohne sie vorher mit einer Lupe auf minimale rötliche Flecken (sprich: Blutspuren) zu untersuchen. Was behindert mich dabei? Der Patient muss
das Sicherheitsverhalten überwinden, das seine Zwangserkrankung ihm diktiert. Gelingt ihm das nicht, überwuchert der Zwang systematisch sein Leben und droht es zu ersticken. Er ist etwas Fremdes, das unsinnige Befehle gibt und ständig auf ein falsches Sicherheitsbedürfnis hinsteuert (»Du darfst unter keinen Umständen etwas ris-
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Kapitel 7 · Berührungsvermeidungs- und Waschzwänge: Kontakte mit »gefährlichen« und ekelerregenden Substanzen
kieren!«). Die wahren Bedürfnisse treten immer mehr in den Hintergrund, und der Zwang behindert in höchstem Maße die Realisierung der eigenen Lebenspläne. Besseres Kennenlernen des Zwangs Sättigungscharakter. Der Zwang hat nicht viel
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Fantasie. Er hat fast immer dieselben »Argumente«, die sich um einige überwertige Ideen drehen. Er verrät sich sogar meistens 4 durch dieselben Worte, meist Zweifel säende Konjunktive: »Vielleicht hast du …«, »Vielleicht hast du nicht …«, »Es könnte sein, dass …«, »Kannst du völlig ausschließen, dass …?« 4 durch Anweisungen wie: »Du musst«, »Du solltest«, »Du darfst nicht« usw. Es geht dabei immer um Gewohntes, Einfaches und Alltägliches. Die elementarsten Lebensbezüge werden aus ihrer Selbstverständlichkeit herausgerissen und infrage gestellt. Entstehungsgeschichte. Anhand der Lebensge-
schichte des Patienten wird der typische Werdegang des Zwangs, wie wir ihn in Kap. 7.4.1 dargestellt haben, rekonstruiert. Dadurch wird dem Patienten verdeutlicht, dass er nicht an einer geheimnisvollen, unverständlichen Krankheit leidet. Er versteht die Zusammenhänge zwischen bestimmten Ereignissen in seiner Lebensgeschichte und der negativen Entwicklung, die zur Zwangssymptomatik geführt hat. Diagnostische Wirklichkeitsübungen. Um den
Zwang »in Aktion« zu beobachten, werden Wirklichkeitsübungen durchgeführt. Bei der in Kap. 7.2 vorgestellten Patientin Dagmar z.B. beginnen wir mit einer Status-quo-Erhebung. Dagmar, die trotz großer innerer Widerstände gelegentlich in ein bestimmtes Kaufhaus geht, betritt das Kauff haus jetzt in Gegenwart der Therapeutin. Sie soll sich dabei annähernd so verhalten wie sonst auch. Sie vermeidet es, Menschen zu streifen, geht sol-
chen in verdächtiger Kleidung (»Der könnte vom Land kommen«) besonders weiträumig aus dem Weg. Sie setzt sich auf keinen Stuhl, es sei denn, sie hat festgestellt, dass die Person, die vorher darauf gesessen hat, einigermaßen »unsuspekt« war. Mit zunehmender Hektik versucht sie, die Sache hinter sich zu bringen, und tätigt zwei notwendige Einkäufe. Sie realisiert wie üblich einen Kompromiss zwischen den Diktaten des Zwangs und den Notwendigkeiten des Lebens. Zwar versucht sie, so gut es geht, ihre Interessen zum Tragen zu bringen, doch ihr Verhalten wird vor allem von den Motiven des Zwangs bestimmt: Vermeidung der negativen Affekte sowie Minimierung des Risikos, die Gefahrensubstanz in die eigene Wohnung einzuschleppen. Die Therapeutin versucht bei dieser Übung in keiner Weise, das Verhalten der Patientin zu beeinflussen oder sie sogar zu bewegen, zwanghafte Reaktionen zu unterlassen. Sie stellt lediglich Fragen, um die Abläufe besser zu verstehen und um einen Selbstbeobachtungsprozess bei der Patientin in die Wege zu leiten. Durch Fragen wie: »Was tun Sie jetzt? Wie fühlen Sie sich dabei?«, »Kennen Sie dieses Gefühl aus anderen Situationen?«, »Warum machen Sie das jetzt gerade so?«; »Stehen Sie voll dahinter?« oder »Gibt es etwas, was Sie jetzt lieber tun würden?« versucht sie zum einen, den Zwang durchschaubarer zu machen. Außerdem versucht sie auch schon vorsichtig, die andere Seite der Wünsche und Bedürfnisse der Patientin anzusprechen, um die Diskrepanz zwischen ihrem aktuellen Verhalten und dem, was sie am liebsten tun würde, sichtbar zu machen. Der nächste Schritt ist eine ausführliche Auff arbeitung der Übung, die möglichst kurz danach erfolgen soll. Dabei werden z.B. folgende Themen bearbeitet: 4 Wann haben Sie dieses Kaufhaus zum ersten Mal betreten? 4 Welche schönen Sachen haben Sie sich dort gekauft? 4 Welche Erinnerungen verbinden Sie damit?
131 7.4 · Therapie bei Berührungsvermeidungs- und Waschzwängen
4 Können Sie sich an besonders angenehme Episoden erinnern? 4 Was haben Sie dort gern gemacht? 4 Wen haben Sie dort getroffen? usw. Nach der Aktualisierung früherer positiver Erlebnisse und Bedürfnisse wird auf die derzeitige Zwangssituation eingegangen: 4 Wie war es gestern? Worin unterscheiden sich Ihre gestrigen Erlebnisse von früheren Erlebnissen? 4 Welche Konsequenzen hat das für Sie? 4 Wie fühlen Sie sich dabei? 4 Was bedeutet das für Sie? 4 Was stört Sie besonders dabei? Anhand der Erlebnisse bei der Übung und der Unterschiede zu früheren Erlebnissen im Kauff haus wird die grundsätzlich negative Rolle, die der Zwang im Leben der Patientin spielt, noch einmal herausgearbeitet. In einer weiteren Übung kann die Patientin die Starrheit, die Primitivität und den Sättigungscharakter des Zwangs erleben – etwa nach dem Motto: »Jetzt schaue ich mir mal an, was der Zwang alles mit der überwertigen Idee ›Tetanus‹ verbindet und zu welch unsinnigem Verhalten er mich zwingen will.« Therapeutische Wirklichkeitsübungen. Wirk-
lichkeitsübungen mit therapeutischem Charakter haben das Ziel, das Meideverhalten der Patientin allmählich dadurch abzubauen, dass sie auftretende Zwangsgedanken und die damit einhergehenden Gefühle immer besser bewältigt. Aus einer Hierarchie von potenziell belastenden Situationen werden Situationen ausgesucht, denen sich die Patientin stellen soll – allein oder, besonders am Anfang, gemeinsam mit dem Therapeuten. Dabei werden die Grundfunktionen des Selbst trainiert. Dazu gehört der Wille, die Fähigkeit zur Bildung sinnvoller Ziele, Planungsfähigkeiten und das Herstellen einer flexiblen und experimentellen Probierhaltung, anstatt abstrakten, toten Zwangsregeln zu folgen.
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Vor jeder Übung wird der Patientin erläutert, dass es darum geht, zu lernen, den Wirklichkeitsbezug wieder herzustellen und sich wieder »normal« zu verhalten. Die Dinge der Welt sind für sie da und nicht umgekehrt. Das eigene Ich mit seinen wirklichen Bedürfnissen und Werten soll aktiviert und gestärkt werden. Die Patientin wird versuchen, zwanghafte Abwehrhandlungen so weit wie möglich zu unterlassen, und immer wieder feststellen, wie weit sie schon auf dem Weg der Bewältigung ihres Zwangs fortgeschritten ist. Als Übungssituationen werden solche ausgewählt, deren Bewältigung einen sichtbaren Nutzen für die Patientin zeigt. Deshalb wird jede Übung in einen Bezug zum Lebensentwurf der Patientin gestellt, damit sie genau erkennt, warum die Übung wichtig für sie ist. Gelegentlich treten bei solchen Übungen Gedanken und Gefühle auf, die eher unerwartet kommen. So kann z.B. statt Ekel und Angst vor einem vermeintlichen Gefahrenstoff plötzlich Trauer auftreten, die dann in Wut übergeht. Die Patientin erinnert sich dabei an die brutalen Reinigungsaktionen, mit denen ihre hypochondrische Mutter sie traktierte, wenn sie als Kind vom Spielen kam, und wie der Vater sich dabei über sie lustig machte. Solche Erlebnisse decken einen Teil der Vorgeschichte der aktuellen Zwangserkrankung auf und können dabei behilff lich sein, die völlige Sinn- und Nutzlosigkeit des Zwangs und seine Funktion als Symbol für frühere Zeiten zu entlarven. So wird allmählich die Rückkehr der Patientin in die »wahre Welt« eingeleitet. Gleichzeitig soll sie die Realisierung ihrer Lebensziele in den Vordergrund ihres Denkens und Fühlens stellen. Auf diese Weise können die Figur-Hintergrund-Verschiebungen, die der Zwang eingeleitet hat, rückgängig gemacht werden. Zur Figur werden wieder die wahren Bedürfnisse, Gefühle und Aktionen der Patientin. In den Hintergrund treten immer mehr die Symbole, auf die sie im Zwang ihre ganze Aufmerksamkeit umgelenkt hat.
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Kapitel 7 · Berührungsvermeidungs- und Waschzwänge: Kontakte mit »gefährlichen« und ekelerregenden Substanzen
7.4.3
Kontroverse über die Vorgehensweise bei Wirklichkeitsübungen
Nicht selten wird die therapeutische Vorgehensweise bei Zwangserkrankungen in Fachkreisen kontrovers diskutiert, und man hört gelegentlich die Behauptung, die Methode der »Reizüberflutung« mithilfe der sogenannten Gefahrenstoffe sei die wirksamste und das »einzig Wahre« in der Verhaltenstherapie. So erhalten z.B. Patienten mit Berührungsängsten vor »HIV-suspekten Objekten« die Instruktion, mit bloßer Hand in Mülleimern zu wühlen und dann die Finger in den Mund zu stecken. Eine andere Patientin wurde in einer Klinik mit der »Aufgabe« konfrontiert, mit nackten Füßen auf gebrauchten (d.h. mit Blut durchtränkten) Hygieneartikeln »herumzutanzen« und sich dann an den folgenden Tagen bewusst nicht die Füße zu waschen. Abgesehen von der Geschmacklosigkeit solcher »Therapieanleitungen« sind sie vom Theoretischen her mehr als kritisch zu beurteilen. Es besteht die nicht zu unterschätzende Gefahr, dass Patienten dabei in extremen Unlustgefühlen stecken bleiben. Unlustgefühle aktivieren im Gehirn ein System, das auf Details gerichtet ist. Eine zu lange Fixierung auf dieses System kann zum Verlieren des Überblicks führen und so die Kontrollgefühle schwächen. Die ganze weitere Aktivität des Patienten findet dann vorwiegend in der linken Gehirnhälfte statt, die kaum Bezug zu Bedürfnissen und Sinnerleben hat, sondern das abstrakte, sinnleere Analysieren fördert. Aktivierung des Selbstsystems. Werden hinge-
gen Übungen in einen sinnvollen größeren, für den Betroffenen bedeutungsvollen Rahmen gebracht, anstatt »künstliche« Übungen durchzuführen, dann wird ein anderes System aktiviert. Es ist in der rechten Gehirnhälfte zu finden und verantwortlich für Fühlen und ganzheitliches Sinnerleben. Es umfasst alle unsere bisherigen Erfahrungen, Gefühle, Überzeugungen, Werte unseres eigenen Lebens, unseres Selbst. Auf diese
Weise kommt man bei den Übungen in direkten Kontakt mit eigenen Bedürfnissen (»Oh, die Schokolade schmeckt gut, die ich gerade in dem ›verdächtigen‹ Geschäft gekauft habe. Das ist gar nicht so schlecht. Mir ist zwar noch ganz komisch, ich bin unruhig und angespannt, kann aber auch die positiven Seiten sehen und zunehmend erleben«). Dieses wichtige, im Gedächtnis repräsentierte System erhebt den Betroffenen wieder zum Subjekt, das sein Leben nicht zwangsgeleitet, sondern bedürfnisorientiert ausrichten will und zunehmend auch kann. Es fördert auch die Motivation für die oftmals nicht leichten Übungen und das Gefühl, wieder »voll da« zu sein (weil man ja, wie bereits beschrieben, das richtige Gedächtnissystem, das eigene ganze Selbstsystem, aktiviert hat.) Kriterien für gute Übungen. Deshalb ist es wich-
tig, dass man sich solche Gegenstände oder Situationen für seine Übungen aussucht, die sinnerfüllt, möglichst sofort in den Alltag integrierbar und mit Erfolgserleben und Stolz verknüpft sind. Die Vorgehensweise sollte sich zudem nicht zu weit von natürlichen Standards entfernen. Wenn eine Übung z.B. darin besteht, dass ein Patient sich drei Tage nicht waschen darf, ist die Wahrscheinlichkeit entsprechend groß, dass er sich einfach »austrickst«. So berichtet eine Patientin: »Da habe ich mir einfach Tücher gekauft und mich damit gesäubert. Ich konnte den Sinn nicht erkennen, und es war einfach zu viel. Als ob ein Zwang auf den Zwang gesetzt würde. Dabei will ich doch nur ein freieres und mit Sinn erfülltes Leben führen!« Subjektkonstituierung. Bei unserer Vorgehens-
weise sehen wir die Patienten immer in erster Linie als freie, entscheidungsfähige Subjekte, deren wichtigste Funktionen wir fördern wollen. Wir sprechen von »Subjektkonstituierung«. Patienten sollen bei Übungen möglichst häufig die Ich-Form benutzen und werden dazu angeleitet, nicht in der dritten Person mit sich umzugehen.
133 7.4 · Therapie bei Berührungsvermeidungs- und Waschzwängen
Aussagen, auf die wir dabei besonders Wert legen, sind: 4 »Ich fühle« (Gefühlsblockaden heben sich auf, Sinnerleben wird spürbarer). 4 »Ich möchte« (Bedürfnisse, Wünsche und wirkliche Werte werden deutlicher). 4 »Ich will« (höheres Energieerleben, Interessen können energischer vertreten werden). 4 »Ich kann und werde es für mich umsetzen« (mehr Mut, Erfolgswillen und innere Klarheit). Das aktive Ich mit all seinen wichtigen Funktionen tritt so mehr und mehr in den Vordergrund in den Zwangsbereichen, die dadurch auf natürlichere und verlässlichere Art aufgelöst werden als in lebensfremderen und eher künstlichen Übungen. Die Unterschiede zwischen den beiden Prozeduren wollen wir noch einmal anhand eines Beispiels aufzeigen, das zunächst den Versuch einer »Reizüberflutung« mit »Gefahrenstoffen« schildert, durch die eine »Gewöhnung« hervorgerufen werden sollte. Der betroffene Patient schilderte uns seine damalige innere Situation. Im zweiten Teil des Beispiels praktiziert er nach einigen Anleitungen spontan das, was wir Subjektkonstituierung nennen. In knappen Worten: Er besinnt sich auf seine Lebensgeschichte, distanziert sich vom Zwang und nimmt sein Leben wieder in die Hand. Beispiel. Ein 36-jähriger Patient mit Kontamina-
tionsängsten, -ekel und Waschzwängen (subjektiver Gefahrenstoff: krebserregende Katzenstreu) sitzt zwei Stunden aufrecht im Baderaum einer psychiatrischen Station, beide Arme bis zu den Ellbogen in zwei Säcken mit Katzenstreu. Er soll »habituieren«. Seine damalige innere Situation schilderte er uns (sehr verkürzt, wie man vermuten kann) folgendermaßen: »Nun saß ich da und dachte mir, na gut, da musst du durch. Obwohl mir das Zeug verdammt unsympathisch war und auch ein bisschen eklig vorkam (es juckte geradezu), war es auszuhalten. Ich dachte bloß, hoffent-
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lich kommt niemand herein, die müssten mich ja für bescheuert halten. Angst hatte ich nicht, schon gar nicht vor Krebs. Ich bin ja hier bei Ärzten, die sind ja da, um zu heilen, und nicht, um mich in Lebensgefahr zu bringen. Außerdem ist diese Katzenstreu sicher eine andere als die, womit damals (vor drei Jahren) die Katze meiner Freundin versorgt wurde. Ich fing an, mich total zu langweilen, und dachte: Hoffentlich ist alles bald vorbei.« Als der Patient am Tag nach der Prozedur wieder in seine Wohnung zurückkehrte, berührte er wie eh und je die Türklinke nur mit dem kleinen Finger der linken Hand, nachdem er sechs Lagen Papiertaschentücher um die Hand gewickelt hatte, und wusch seine Hand danach sechsmal. Als er ein Dreivierteljahr später im Rahmen einer ambulanten Therapie zum ersten Mal die Türklinke normal anfasste, die Hand längere Zeit darauf liegen ließ und sich hinterher nicht wusch, waren folgende Gedanken vorausgegangen: »Jetzt stehe ich wieder vor dieser verdammten Tür. Ich erinnere mich noch genau daran, wie meine damalige Freundin sie anfasste, nachdem sie den Käfig mit der kranken Katze abgestellt hatte. Die Katze hatte sich auf dem Weg übergeben und unter sich gemacht, gelblich und widerlich. Mir wird heute noch übel, wenn ich daran denke (das Ganze fand in einer Zeit ständiger Streitereien kurz vor der Trennung statt). Zu dieser Zeit hatte ich auch in der Zeitung gelesen, Katzenstreu könne krebserregend sein. Ich bekam eine riesige Angst davor und vermutete den Stoff überall in meiner Wohnung und auf allen Gegenständen. Jetzt kann ich denselben Zirkus wie immer veranstalten mit den Papiertüchern und so. Das ödet mich schon an. Zehnmal habe ich mit dem Therapeuten vor dieser verdammten Tür gestanden und sollte sie mal anfassen, mal nicht, mal ganz, dann wieder nur mit einem Finger. Muss ich denn immer noch so an der Vergangenheit kleben und den ganzen elenden Zwang mit mir herumschleppen? Die Katze ist tot, die Freundin in
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Kapitel 7 · Berührungsvermeidungs- und Waschzwänge: Kontakte mit »gefährlichen« und ekelerregenden Substanzen
Amerika, und ich spiele hier noch immer den Hampelmann. Ich will jetzt nach Hause, verdammt, und ich werde die Tür jetzt öffnen wie vor diesem ganzen Albtraum.«
Setzen Sie sich damit auseinander, und erarbeiten Sie sich statt dieser Floskeln eine konstruktive Haltung, die Ihnen hilft, sich mit Ihrem Zwang auseinanderzusetzen. Kompromisse eingehen. Jedes Zwangssystem,
7.5
Selbsthilfe bei Berührungsvermeidungs- und Waschzwängen
Bilanz ziehen. Der erste der von uns empfohle-
7
nen Schritte für die Selbsthilfe lautet: Ziehen Sie Bilanz. Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal die Ziele und Pläne, die Sie haben. Vergegenwärtigen Sie sich die Hemmungen und Störungen, die durch Ihre Zwangssymptomatik bei der Verwirklichung dieser Ziele und Pläne entstehen. Ziehen Sie Bilanz, und begründen Sie noch einmal, warum Sie etwas gegen den Zwang unternehmen werden. Reflektieren. Der zweite Schritt besteht darin,
dass Sie noch einmal die Struktur Ihres Zwangs reflektieren und sich vergegenwärtigen, wie er in Ihr Leben eingedrungen ist.
konsequent zu Ende gedacht, würde die totale Lähmung des Lebens bedeuten. Bedenken Sie: Auch das, was Sie jetzt tun, und die Art, wie Sie sich verhalten, stellt schon einen Kompromiss dar zwischen dem, was der Zwang Ihnen diktiert, und den Notwendigkeiten des Lebens. Wenn es Ihnen nicht gelingt, in nächster Zeit ganz aus Ihrem Zwangssystem »auszusteigen«, und Sie trotzdem Fortschritte machen wollen, so werden Sie neue Kompromisse eingehen müssen. Nehmen Sie sich dabei vor, immer mehr die Interessen des Lebens (und damit die Ihren) in den Vordergrund zu stellen und den Zwang immer stärker zurückzudrängen. Gehen Sie wichtige Bereiche Ihres Lebens in Gedanken durch, und fragen Sie sich, wie solche förderlichen Kompromisse konkret aussehen könnten. Geeignete Übungen wählen. Stellen Sie sich,
Gedankenexperiment. Machen Sie dann ein
Gedankenexperiment. Denken Sie an eine Person, die Sie gut kennen und sehr bewundern. Und nun malen Sie sich aus, wie sie denken und handeln würde, wenn sie dieselbe Zwangssymptomatik hätte wie Sie. Wie würde sie Ihnen vorkommen? Was würde übrig bleiben von all dem, was Sie an ihr schätzen und mögen? An welchen Stellen wäre sie eingeschränkt? Wodurch wäre sie behindert? Was würden Sie ihr raten? Konstruktive Haltung. Hüten Sie sich vor Ein-
stellungen wie: 4 »Gegen Zwänge kann man nichts machen.« 4 »Bei mir ist alles anders.« 4 »Ich bin zu schwach, um etwas gegen meinen Zwang zu unternehmen.« 4 »Ich darf an keiner Stelle ein Risiko eingehen.«
um Fortschritte zu machen, konkreten Situationen, und bedenken Sie bei jeder Übung, welchen Stellenwert sie für Ihre weiteren Lebenspläne hat. Wir geben Ihnen ein Beispiel: Wenn Dagmar ihre berufliche Tätigkeit wieder aufnehmen will, muss sie zwangsläufig mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren. Dabei werden ihr (vor allem am Anfang) typische, aus ihrem Zwangssystem stammende bedrohliche Gedanken in den Sinn kommen wie: »Dieser Mann sieht aus, als würde er mit seinen dicken Schuhen öfter über Wiesen und Felder laufen. Vielleicht kommt er von einem Bauernhof. Vielleicht verbreitet er Spuren von verseuchtem Tierkot um sich« usw. Damit sie nun nicht aus dem Bus steigt und flüchtet oder völlig aufgelöst im Büro erscheint und erst einmal lange im Waschraum verschwindet, muss sie unter anderem folgende Situationen zu tolerieren lernen:
135 7.5 · Selbsthilfe bei Berührungsvermeidungs- und Waschzwängen
4 In einem Bus fahren, obwohl vielleicht in ihrem Sinne »suspekte« Personen mitfahren. 4 Sich auf einen freien Sitz setzen, ohne ihren »Vorgänger« gesehen zu haben. 4 Nicht aus der Bahn geworfen werden, wenn eine »suspekte Person« sie im Gedränge gestreift hat. Ihre Übungen werden also darin bestehen, Bus zu fahren, egal, wer mitfährt, und dann absichtlich ihr besonders »gefährlich« erscheinende Personen zu streifen. An dieser Stelle müssen wir auf einen ganz wichtigen Umstand hinweisen, der oft vernachlässigt wird: Es reicht nicht, sich den gefürchteten Reizen zu stellen (Reizexposition), sondern es ist absolut notwendig, sich auch den Gefühlen zu stellen, die dadurch ausgelöst werden. Solche Übungen sind also nur dann wirksam und tragen zum Abbau des Zwangserlebens bei, wenn auch eine »Reaktionsexposition« durchgeführt wird. Das bedeutet: Die unangenehmen Gefühle dürfen nicht gleich »weggedrückt« oder überspielt werden, sondern die Patientin stellt sich ihnen, nachdem sie sie als einen integralen Bestandteil ihres Zwangs identifiziert hat. Sie spürt ihnen nach und benennt auch die körperlichen Anteile (Anspannung, Unruhe etc.). Sie wird merken, dass die bedrohlichen Gefühle und Gedanken immer mehr von ihrem Schrecken verlieren und dass sie mehr Distanz dazu bekommt. Am Ende wird sie die vom Zwang besetzten Menschen, Dinge und Situationen wieder annähernd so normal erleben wie vor dem Beginn ihrer Erkrankung. Im Anschluss an solche Übungen dürfen natürlich auch keine exzessiven Reinigungs- und Waschaktionen (über die normalen Hygienemaßnahmen hinaus) durchgeführt werden: Die Kleidung ist normal in den Schrank zu hängen. Einmal Händewaschen nach der Rückkehr nach Hause ist erlaubt, aber sonst nichts, bis zur normalen Abendtoilette. Auf diese Weise werden Situationen, die notwendigerweise zur Verwirklichung Ihrer Lebens-
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ziele gehören, so weit vom Zwang befreit, dass Sie sie in Zukunft verlässlich und ohne allzu große Aufregung durchhalten. Sich dem Zwang widersetzen. Folgen Sie dem
Zwang ab jetzt nicht mehr blind oder aus Gewohnheit. Fragen Sie sich immer wieder: 4 Warum muss ich das angeblich so tun? 4 Warum musste ich es früher nicht so tun? 4 Warum müssen es andere nicht so tun? 4 Warum muss es Herr X nicht so tun? usw. Sammeln Sie Kräfte und Argumente gegen den Zwang. Treffen Sie die Entscheidung, sich ihm immer stärker zu widersetzen. Nehmen Sie sich kleine, aber energische Schritte dabei vor. Wagen Sie immer mehr Experimente. Erwarten Sie keine Wunder, sondern lediglich ständige Fortschritte. Als Modell dafür stellen wir Dagmars Bericht über dieses Stadium ihres »Weges nach oben« vor: »Als ich zum ersten Mal anlässlich einer Autobusfahrt anfing, solche verbotenen Warum-Fragen zu stellen, um alles nicht mehr als selbstverständlich hinzunehmen, erhielt ich eine ›Antwort‹, die mich sehr erschütterte: Es war so, als würde der Zwang mir sagen: ›Ich will dich klein und hilflos sehen, ich bin stark, du bist nichts.‹ Ich hörte nicht plötzlich ›Stimmen‹, ich war die ganze Zeit bei normalem Bewusstsein und war nicht ›verrückt‹ geworden. Im Gegenteil: Zum ersten Mal nahm ich die Dinge, die der Zwang von mir verlangte, nicht mehr automatisch hin, so als seien sie das einzig Mögliche und Sinnvolle. Ich war also sozusagen auf einer höheren Bewusstseinsstufe, verglichen mit dem üblichen Zustand, der ganz vom Zwang beherrscht wurde. Als ich mich von dem ersten Schreck und der anschließenden Traurigkeit, die die ›Antwort‹ auslöste, erholt hatte, fing ich an, mir diese Frage immer öfter zu stellen, und erlebte dabei ein Gefühl, das ich schon lange nicht mehr kannte: Ich fing an, mich in zunehmendem Maße innerlich
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Kapitel 7 · Berührungsvermeidungs- und Waschzwänge: Kontakte mit »gefährlichen« und ekelerregenden Substanzen
aufzulehnen, und verspürte einen immer größeren Widerwillen gegen die einseitigen und absurden Botschaften des Zwangs. Ich fühlte mich mit der Zeit ihm gegenüber flexibler. Aber es geschah noch etwas sehr Wichtiges: Es traten Erinnerungen auf an meinen Vater, der mir ständig eine ähnliche ›Lebensphilosophie‹ vermittelt hatte. (›Pass auf‹, ›Überall lauern Gefahren‹, ›Die Welt ist schlecht, dreckig‹, ›Du schaffst es nicht‹ usw.). Ich fing an, mich zunehmend davon zu distanzieren und mich auf mich selbst zu besinnen. Ich war bemüht – aus heutiger Erwachsenensicht – meine eigenen Ansichten zu entwickeln wie: ›Ganz so ist die Welt nun auch wieder nicht‹, ›Ich bestimme klar über mich selbst‹, Das sehe ich ein, dies aber nicht‹, Ich will nicht mehr so hilflos und so klein sein‹. Es dauerte längere Zeit, bis ich diese neuen Erlebnisse klar aussprechen konnte, aber ich bekam in zunehmendem Maße das Gefühl, selbst über mein Leben bestimmen zu können. Ich begann zu experimentieren, wurde mutiger und probierte vieles aus, das ich mir schon lange nicht mehr zugetraut hatte. Ja, mit der Zeit bekam ich geradezu so etwas wie Lust, den Zwang herauszufordern. So streifte ich z.B. ganz bewusst eine bestimmte ›gefährliche‹ Person mit meinem Mantel und fragte mich dann fast trotzig: ›So, was nun? Geht die Welt jetzt unter?‹ Ich versuchte, in mich hineinzuhorchen, ob sich auf der Stelle ein unerträglicher Ekel oder eine maßlose Angst einstellen würde, und zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass dem nicht so war. Zu Hause hängte ich meinen Mantel ganz bewusst an den üblichen Haken. Ein leichtes Unbehagen kam auf – und die sattsam bekannten Gedanken an eine endlose Weiterverbreitung von irgendwelchen Gefahrenstoffen. Ich blieb ganz bewusst vor dem Mantel stehen, und nach einiger Zeit packte mich eine Art Wut über meine ganze verfahrene Lebenssituation. Dann legte ich ganz bewusst die Hand auf den Mantelsaum und hielt sie mir vor die Augen. Nichts geschah. Die Hand fühlte sich an wie immer.
Dann überkam es mich. Ganz langsam, aber mit einer sicheren und entschlossenen Bewegung fuhr ich mir mit der Hand durch die Haare. Ich werde diesen Augenblick nie vergessen. Wut, Trotz, Angst vor der eigenen Courage und alle möglichen anderen Gefühle mischten sich und machten schließlich einer Empfindung des Stolzes, ja fast des Triumphes, und einem großen Freiheitsgefühl Platz. Es war nicht das Ende der Zwangserkrankung, aber ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Besserung.« Kontinuierlich üben. Wenn Sie üben, dann üben
Sie möglichst kontinuierlich. Kleine, verlässliche Fortschritte sind besser als einmalige Mutproben, die nicht zu bleibenden Veränderungen führen. Versuchen Sie, bei den Übungen immer mehr Ihren natürlichen Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen Raum zu geben. In diesem Sinne sind die Situationen, denen Sie sich bewusst stellen, nie nur Übungssituationen, sondern wichtige Etappen in Ihrem Leben, in denen Ihr wahres Ich sich immer mehr entfalten kann. Wenn Sie sich nicht in der Lage fühlen zu üben, z.B., weil Sie stark unter Stress stehen, erschöpft oder niedergeschlagen sind, dann entscheiden Sie ganz bewusst: »Heute kann ich nicht üben.« Eine klare, bewusste Entscheidung gegen eine Übung ist besser als ein Vermeiden mit schlechtem Gewissen und Selbstvorwürfen. Abwehrseite kontrollieren. Vergessen Sie nicht:
Übungen bestehen nicht nur darin, dass Sie sich ganz bewusst den im Sinne des Zwangs kritischen Elementen stellen, sondern auch darin, dass Sie ganz bewusst die Abwehrseite des Zwangs (hier meistens das Waschen) unter Kontrolle halten. Häufig versucht der Zwang, Sie »auszutricksen«, indem er Ihnen zuflüstert: »Draußen kannst du ja machen, was du willst, aber zu Hause wird dann alles wieder abgewaschen.« Diese Falle müssen Sie vermeiden, indem Sie immer klarer zwischen »normaler« Hygiene und zwangsbedingten symbolischen Waschungen unterschei-
137 7.5 · Selbsthilfe bei Berührungsvermeidungs- und Waschzwängen
den und diese so reduzieren, wie Sie dazu schon in der Lage sind. Wenn Sie dennoch unnötige Waschungen durchführen, z.B., weil Sie vermuten, mit etwas »Unreinem« in Kontakt gekommen zu sein, so nehmen Sie sie zumindest nicht als selbstverständlich und notwendig hin. Sehen Sie sich dabei wie aus der Vogelperspektive zu, und sagen Sie sich: »Was mache ich denn da bloß wieder? Wieder dieses krankhafte, unnütze Zeug. Ganz kann ich noch nicht davon lassen. Es würde mich noch zu sehr beunruhigen. Aber es wird höchste Zeit, dass ich wieder zu einem normalen Leben zurückkehre!« Sich ganz annehmen. Versuchen Sie bei Ihren Übungen immer, sich als »ganze Person« zu erleben und auch so zu handeln. Wenn Sie z.B. das Gefühl haben, dass Ihre rechte Hand sich »dreckig« anfühlt und nicht mehr zu Ihnen gehört, weil Sie etwas »Schmutziges« damit angefasst haben, so versuchen Sie, sie wieder anzunehmen und zu einem natürlichen Teil Ihres Körpers zu machen. Sie sehen sie an, bewegen sie ein bisschen und führen ein kleines Gespräch mit ihr: »Ich sehe ja, dass du meine gute alte Hand bist, die mir seit so vielen Jahren vertraut ist. Der Zwang will mir jetzt einreden, dass du unrein geworden bist und nicht mehr zu mir gehörst. Aber das akzeptiere ich nicht. Du bist nach wie vor ein Teil von mir. Du bist genauso wie der Rest von mir ein Teil meines Körpers, und dabei bleibt es.« Mit ein bisschen Übung können Sie sich viele sinnlose Wasch- und Reinigungsaktionen ersparen, wenn Sie auf diese liebevolle und solidarische Art mit Ihrem Körper umgehen und dem Zwang dadurch trotzen.
7
Subjekt des eigenen Lebens werden. Integrie-
ren Sie alle Ihre Fortschritte in das Bild, das Sie von sich selbst haben. Sie werden immer experimentierfreudiger und mutiger und können immer mehr zum wahren Subjekt Ihres Lebens werden. Schritt für Schritt werden Sie wieder Sie selbst. Der Albtraum des Zwangs nimmt immer weniger Raum in Ihrem Leben ein, und Sie spüren immer mehr, dass Ihnen noch große und schöne Dinge bevorstehen.
8 8
Nachwort
141 8 · Nachwort
Eine Beschäftigung mit der Welt des Zwangs kann einem wie eine Reise an das andere Ende des Lebens erscheinen. Da sind sie: Allen voran der, der sich als Wächter der Sitte, der Genauigkeit und der Stabilität etabliert hat, der aber voller Angst ist vor der geringsten unerwarteten Regung seines Selbst. Dann droht die Festung zusammenzubrechen – trotz aller ihrer Zinnen. Dann die, denen das einfache Leben abhanden gekommen ist: Sie sind ständig in Sorge, sich selbst zu verlieren oder sich ganz aufzulösen. Dann die, die alles, was sie denken und tun, als verdächtig erleben. In ihrem Gewissen geht es ständig um Leben oder Tod. Dann die, die vor jedem Wasserhahn in die Knie gehen. Andere sind als Hexen und Heilige unterwegs. Mit größter Anstrengung retten sie die Welt vor ihren eigenen Gedanken und Taten. Und schließlich die, die die Reinsten der Reinen sein müssen, aber deren Haut sich langsam auflöst. Geschichten von begrabenen Leben also? Nein. Hinter diesen absurden Verwirrungen von Gehirnen und Seelen finden wir jedes Mal einen Menschen, dessen Schicksal wir immer besser verstehen und der uns anrührt. So andersartig ist er gar nicht, verglichen mit uns. Wenn man die Biografien betrachtet, die schließlich zu den abwegigsten Zwangssymptomen geführt haben, dann hat man den Eindruck, dass »es« an drei oder vier kritischen Kreuzwegen in die falsche Richtung gegangen ist. Hätte Annas Mutter wieder geheiratet und wäre sie zufriedener mit ihrem Leben geworden, so hätte sie ihre Tochter nicht in ein Internat gegeben. Hätte im Internat eine liebevolle, kompetente Erzieherin sich Annas gleich zu Beginn angenommen, so hätte Anna Mut gefasst, ein oder zwei Freundinnen kennengelernt und sich den ganzen Tag »ganz da« gefühlt. Friedrichs Onkel, der sich auf seine alten Tage eine Champagnerkellerei in Epernay zugelegt hat, hätte seinen Neffen für einen Monat nach Paris einladen und ihn mit den vielfältigen Reizen dieser an Reizen ja wahrlich nicht armen Stadt bekannt machen können – immerhin ist er Stamm-
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gast in einigen Etablissements. Dann würden wir wohl erleichtert feststellen können, dass Friedrich auch viel von seinem Onkel gelernt hat. Wenn wir die Lebensgeschichten von Zwangskranken betrachten, haben wir oft den Eindruck, dass sie, abgesehen von allen anderen Einflüssen, oft auch »Pech« gehabt haben – oder zumindest kein Glück –, aber lassen wir das; es war so, wie es war. Doch in dem Moment, in dem wir anfangen, mit den Patienten zu arbeiten, sind sie sicherlich an einem neuen kritischen Punkt angelangt. Sie können sich mit aller Kraft an die fragwürdige Sicherheit klammern, die ihre Zwangssymptomatik ihnen angeblich garantiert. Aber sie können sich auch, wie Alfred Adler es verlangt, von ihren Irrtümern trennen und sich ohne Wenn und Aber dem Leben mit all seinen Unannehmlichkeiten und Risiken wieder stellen. Die erste heilsame Einsicht auf dem Weg zur Besserung oder zur Genesung ist eine ganz banale: Die Zeit der Extrawürste ist vorbei. In dem Maße, in dem Zwangskranke dies einsehen und anfangen, an sich zu arbeiten, entdecken sie ihre wirklichen Bedürfnisse, positiven Werte und Wünsche wieder. Ihre Gefühle erwachen langsam aus der Erstarrung, und sie berichten, oft voller Erstaunen, dass sie sich wieder lebendig fühlen. Dieser Zustand erscheint ihnen als großer Fortschritt, auch wenn gelegentlich alte Gefühle der Trauer, der Angst und des Verlassenseins auftauchen. Ihr zunehmend selbstbestimmtes, klares Handeln gibt ihnen das Gefühl, eine reale, intakte Person zu sein, die immer mehr zum Subjekt ihres eigenen Lebens wird. Vielleicht wird es nicht in jedem Fall wieder Sommer, geschweige denn Frühling werden, aber doch immerhin Herbst. Hören wir dazu Georg Trakl: Der dunkle Herbst kehrt ein voll Frucht und Fülle, Vergilbter Glanz von schönen Sommertagen. Ein reines Blau tritt aus verfallener Hülle; Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen. Gekeltert ist der Wein, die milde Stille Erfüllt von leiser Antwort dunkler Fragen.
Anhang Literatur – 145 Sachverzeichnis – 149
Literatur
147 Literatur
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Sachverzeichnis
151
A
Besinnung auf sich selbst 128
Entscheidungsfindung 26
Bewegungsabläufe 100
Entscheidungsqual 10
Bewegungsübungen 72
Entschlossenheit 103
Abgrenzung 72
biografische Einordnung 88
Entschluss 102
Abschließen 36, 37
Buße 7, 83
Entschlussfassung 38
Absicherungsideologie 12
Entstehungsgeschichte 129
Absicherungsverhalten,
Erfolgserleben 131
zwanghaftes 89 Abstoppen 38, 43, 102
C
Abwehr 58, 110, 125 Abwehrkampf 125, 126, 127
A–G
Erinnerung 119 – Erinnerungslücken 108 – Erinnerungsvermögen 108
Chaos 9
– unvollständige 107
Abwehrseite 58
Erleben, zwanghaftes 102
– kontrollieren 135
Erleben von Zwangskranken 57
Achtsamkeit 72 Aggressionen, autoritäre 44
D
Aktivierung
Erlebnisstörung 97, 117 Existenzphilosophie 6 Experimente 24, 28, 35, 50, 51, 134
– des Selbstsystems 131
Demütigungen 127
– Gedankenexperiment 133
– innere 77
Denkverbot 85, 128
Experimentierhaltung 34
Angst, Ängste 63, 64, 82, 84, 110,
Depersonalisation 61, 71, 110
Expositionen 29
– Selbsthilfe 77
– Nachbereitung 116
Angstreaktion 89
– Therapie 77
– selbstgeleitete 49
Annullierung 112
Depression 7, 9, 20
– Vorbereitung 115
Anreize zur Veränderung 21
Derealisation 71
Anspannung 37, 74, 102
Detailfixiertheit, Reduktion von 26,
126
Anstrengung 7, 95
31, 32
F
anthropofugale Perspektive 6
Details, Kleben an 25, 50
Arbeit 8
Dialog mit dem Zwang 115
Arbeitsstörungen 37
Diffusität 66, 71
Familienbande 16
Aufmerksamkeit 39, 72, 90, 116
Distanzieren 91
Festung 19 Flexibilisierung 74 Freiheitsgefühl 135
B
E
Bedrohung 58
Ekel 63, 122, 126, 127
Bedrohungsseite 58
Ekelmaterie 122
Bedürfnisse 38, 39, 71, 117, 128,
Emotionen 39, 42, 126
129, 130, 131, 132, 135
Fremdkontrolle 125
G
– Förderung von 39
Gedankenexperiment 133
Belebung, emotionale 39
– 7 auch Gefühle 41
Gefühle 39, 41, 52, 89, 91, 113, 116,
Berührungsvermeidungs- und
– Signale für 40
Waschzwänge 121 – Selbsthilfe 133
emotionszentrierte Erinnerungsdifferenzierung 41
118, 119, 130, 131, 134, 145 – Konfusion der 110, 126 – 7 auch Emotionen 40
– Struktur 124
Empathie 45
Gegenwartskonstituierung 74
– Therapie 126
Entfremdung 65, 71
Genauigkeit 29
152
Sachverzeichnis
Gewissen 7, 9, 10, 47, 81, 82, 86, 92 – Gewissensbisse 81
J
L
– Gewissensprüfung 83 – zwanghaft-skrupelhaftes 83, 85,
Ja/Nein-Prinzip 49, 50, 89
86, 88, 90, 91
Lage, innere 19
Gewohnheiten 36, 47 – Überschreiten von 35 Grenzen 110, 126
Lebensanreicherung 27
K
– instabile 61, 62 Grübeln 75, 85, 101 – »Abgrübeln« 16
126 Kettenbildung 124, 125
– Grübelsucht 114
Klebenbleiben 100
– Zwangsgrübeln 75
Kohärenz 61 – körperliche 61, 72 – mentale 66, 74, 75
Haltung 8, 38 – konstruktive 133
Lebensgeschichten 145 Lebensgestaltung, zwanghafte 21 Lebenskrise 20
Kampf zwischen Gut und Böse
– Grübelgemisch 30
H
Labilität 110
Lebensphilosophie 5 Lebensziele – Aufbau alternativer 48
M
Kompromisse 133 Konkretisieren 113
magisches Denken 85, 108
– Bewegungsebene 114
Mobilisierung 100, 104
Kontrollen 9, 10, 30, 96, 98, 100,
Mut zur Lücke 26, 29, 33, 50
101, 102, 104
– starre 29
– Abbau von 29, 49
Handlungsspielraum 33
– Abläufe festlegen 100
Heiligtümer 126
– Beurteilungskriterien 99
Hypermoralität 7, 33
– normale 96
Hypochondrie 11
– Regulationsgrundlage 99, 100, 104
N Normen 8, 23, 42 – Auflockerung von 23
– Verzicht auf 31
I
– zwanghafte 96, 98, 99 Kontrollhandlungen 97 Kontrollinhalte 99
O
Ideale 7
Kontrollzwänge 93
Identität 110
– Selbsthilfe 102, 103
Ordnung 9, 12, 104
Identitätstretmühle 20
– Therapie 99
Orientieren 73
Inflation des Moralischen 15
Körper 65, 70, 136
Orientierung 100
Informationsverarbeitung 39
– Auflösung des 64
Orientierungslosigkeit 66, 126
Inkludenz 33, 34
Körpergefühl 101
Integrität 95
Körpergrenzen 63, 73, 90
– moralische 82
kritische Situationen, Umgang
Intentionen 33
mit 92
P Pausen 37 Pedanten 10 Perfektionismus 37
153
G–W
Sachverzeichnis
Persönlichkeit 116, 118
Selbstsystem 131
Unvollständigkeitserleben 108
Perspektivwechsel 46
Selbstverpflichtung 73
Unvollständigkeitsgefühl 25,
Pessimismus 5, 8
Selbstvertrauen 118, 119
Pflichten 14, 18
Selbstwertgefühl 42, 103
Pflichtgedanken 39
Selbstzweifel 81, 87, 110, 119
– überwinden 100
Positionierung, körperliche 90
Sichergehen 70
Urteil 90, 91, 92
Präsenz, körperliche 73
Sicherheitsdenken 117
Urteile
Probier- und Experimentier-
Sicherheitsverhalten 128
– moralische 10
Signale 39, 40, 52
Urteilsvermögen 95
verhalten 50 Probierhaltung 34, 130
Situationserfassung 74
Problemlöseprozess 76
Skrupel 81, 86
Pseudokontrolle 69
Skrupulanten 82
Psychasthenie 66
Sorge, Sorgen 10, 12
64, 66, 98, 101, 102, 104, 112, 126
V
– um die Mitmenschen 16
R
Spannkraft 30, 100, 104, 126
Verantwortung 88
Spürübungen 101
Verbitterung 52
Stoppsignale 98
Verfehlungen 88
Strafe 45
– eigene 43, 86
Reaktionsexposition 134
Subjekt
– fremde 44
Realitätsgehalt 70
– der Situation 103
Verlassensein 127
Reflektieren 133
– des eigenen Lebens 116,
Vermeidungsreaktion 63
Regeln 35, 42, 47
136
Versagen 88
– Überschreiten eigener 35
Subjektkonstituierung 131
Verunsicherung 122
Reizexposition 134
Synthese, mentale 66, 74
Vogelperspektive 91, 136
Reizüberflutung 131, 132
systemimmanentes Arbeiten 23
Vollständigkeitsgefühl 64
Remanenz 11
Vorsatz 73
Restspannung, Umgang mit
Vorstellungsübungen 90
101 Risikobereitschaft 29
T
Ruhe 39 Tendenzen, determinierende 33
W
Theorie der »bösen Tat« 45
S
Toleranz 39
Waschen 122, 125, 135 Waschzwänge 7 Berührungsvermeidungs- und Waschzwänge
Sättigung 90 Schaden 98, 109
U
Schuld 85, 110
Werte 27, 48, 117, 132 Werteaufweichung 27, 48 Wertedifferenzierung 27
Schuldentlastung 43
Üben
Wertsystem 23
Schuldgefühle 43, 86, 88, 91, 92
– kontinuierliches 135
Widerstände, Umgang mit 23
Schutz, symbolischer 95
Umorientierung 116
Wiedergutmachung 44, 83,
Selbstakzeptanz 101
Unbill 12
Selbstdistanz 44
Unheil 107
Wirklichkeit 87
Selbstsicherheit 103
Unsicherheitsgefühl 95
– zwanghafte 87
84
154
Sachverzeichnis
Wirklichkeitsübungen 115, 118 – diagnostische 129 – therapeutische 130 – Vorgehensweise 131
Z Zeit – programmierte 15 – Umgang mit der 15 Zielsetzungen, individuelle 22 zwanghafte Persönlichkeitsstörung – Alltag 12 – Selbsthilfe 46 – Struktur 5 – Therapie 19, 24 – Therapieanlass 20 – Therapieziele 22 Zwangsgedanken 107, 110, 111, 114, 116, 117, 118 – Distanz zum 115 – Entstehung 107 – Identifizierung 113, 115 – Inhalte 110, 116 – Therapie 112 – variieren und aufweichen 114 Zwangsgrübelei 69, 114 Zwangsgrübeln 75 Zweck 32, 37, 50 Zweifel 83, 129 Zweiteilung der Welt 57, 111, 128