Nr. 319
Zitadelle im Eis Der Weg zur Burg des schlafenden Gottes von Clark Darlton
Sicherheitsvorkehrungen haben verh...
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Nr. 319
Zitadelle im Eis Der Weg zur Burg des schlafenden Gottes von Clark Darlton
Sicherheitsvorkehrungen haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt worden, denn der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederaufgetauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan und Razamon, der verbannte Berserker, sind die einzigen, die den »Wölbmantel« unbeschadet durchdringen können, mit dem sich die geheimnisvollen Herren von Pthor ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Atlan und Razamon gelangen auf eine Welt der Wunder und der Schrecken. Das Ziel der beiden Männer, zu denen sich inzwischen der Fenriswolf gesellt hat, ist es, die Herren der FESTUNG, die Beherrscher von Pthor, aufzuspüren und schachmatt zu setzen, auf daß der Menschheit durch die Invasion kein Schaden erwachse. Nach vielen gefahrvollen Abenteuern, die am Berg der Magier ihren Anfang nahmen, haben Atlan und Razamon durch die Zerstörung des Kartaperators der irdischen Menschheit bereits einen wichtigen Dienst geleistet. Jetzt – bei ihrer Flucht aus dem zerstörten Moondrag – halten sich die Kampfgefährten in östliche Richtung. Sie gelangen dabei zur ZITADELLE IM EIS …
Zitadelle im Eis
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan und Razamon - Die beiden Wanderer sollen dem Eisgott geopfert werden. Fenrir - Atlans und Razamons treuer Begleiter. Marxos - Ein Magier auf dem Weg zur Eiszitadelle. Forel Wargoon - Oberhaupt der Wargoons von Cafoort. Karel Wargoon - Ein gewissenloser Bandit und Mörder.
1. Je weiter sie nach Osten vordrangen, desto kälter wurde es. Atlan schätzte, daß sie in den vergangenen Tagen etwa siebzig Kilometer zurückgelegt hatten. Die völlig zerstörte Stadt Moondrag lag nun weit hinter ihnen. Alle Hoffnung, die ehemalige Schaltstation in Betrieb nehmen zu können, hatte sich zerschlagen. Neben Atlan marschierte Razamon mit verkniffenem Gesicht. Er hatte seit der überhasteten Flucht aus Moondrag nicht viel gesprochen, eigentlich nur auf Fragen geantwortet und dabei noch so getan, als sei das von seiner Seite aus ein gewaltiges Entgegenkommen. Der dritte im Bund war Fenrir, der Wolf. Er trottete hinter den beiden Männern her, ohne in seiner ständigen Wachsamkeit nachzulassen. Immerzu sah er sich nach allen Seiten um und streckte die Nase in den Wind, der ihm die Witterung einer Gefahr unvermeidbar zugetragen hätte. Seit gestern gab es keine Vegetation mehr, nur noch Eis. Streckenweise hatte das Eis bereits zehn Kilometer östlich von Moondrag angefangen, aber immer wieder hatte es freie Flächen und flache Täler gegeben. Gras wuchs hier, auch vereinzelte Büsche und manchmal sogar ein paar verkrüppelte Bäume. Dann wurde es kälter und die eisfreien Zonen weniger, bis es schließlich keine mehr gab. Dem Wolf schien der plötzliche Temperatursturz nichts auszumachen, aber die beiden Männer besaßen nichts als ihre bunte und ziemlich leichte Kleidung, die kaum wärmte. Der Mangel an jeglicher Ausrüstung hat-
te nur den einen Vorteil, daß sie nichts mitschleppen mußten. Nachts hatten sie zu schlafen versucht, aber die Kälte hatte sie immer wieder hochgejagt und weitergehen lassen. Sie wären sonst erfroren. Heute schien wieder die Sonne, aber die Temperaturen lagen weit unter dem Gefrierpunkt. Manchmal war im Norden das Meer zu sehen, eine dunkle und scheinbar unbewegliche Fläche, die sich bis zum Horizont dehnte. Dazwischen schimmerte über dem Wasser die transparente Mauer des Energieschirms, der Pthor von dem Reich der Menschen trennte. Und dreißig bis fünfzig Kilometer südlich lag die sonnendurchglühte Wüste Fylln, in der augenblicklichen Situation ein unerfüllbarer Traum von Wärme und Geborgenheit. Ihr Ziel lag nicht im Süden, sondern weit im Osten. Gestern hatte Razamon gesagt: »Wir müssen die Quelle des Flusses Xamyhr erreichen und zuvor das Gebiet der Eisküste durchqueren. Etwa zweihundertfünfzig Kilometer. Dann beginnt die Dunkle Region, an die ich keine Erinnerung mehr habe. Wenn wir dem Fluß folgen, erreichen wir nach weiteren zweihundert Kilometern dessen Mündungsdelta, nördlich der FESTUNG, unserem eigentlichen Ziel. Dort wenden wir uns nach Süden.« Razamons Erinnerung war nur bruchstückhaft. Man hatte ihm vor Tausenden von Jahren sein Gedächtnis genommen, als man ihn auf der Erde zurückließ. Mit Atlan war er nach Atlantis/Pthor zurückgekehrt, als es wieder auftauchte, um Rache an den Herren der FESTUNG zu nehmen. Atlan hingegen wollte nichts anderes, als daß dieser teuflische Kontinent wieder dorthin verschwand,
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Clark Darlton
woher er gekommen war: in eine andere Dimension, in eine andere Zeit, vielleicht auch in einen anderen Raum. Gegen Mittag stieg die Temperatur ein wenig an, blieb aber noch immer unter dem Gefrierpunkt. Atlan steuerte auf eine nach Süden gelegene Mulde zu und blieb stehen. »Wir sollten die Gelegenheit nutzen, um ein paar Stunden zu ruhen. In der Sonne ist es warm, und der Nordhang schützt uns vor dem kalten Wind.« Razamon nickte zustimmend und ging in die Hocke. Dann aber streckte er sich einfach lang auf dem Eis aus. »Wir dürfen nicht zu lange schlafen, das wäre gefährlich«, sagte er und brach sein Schweigen. »Fenrir sollte uns rechtzeitig wecken.« Sie lagen dicht nebeneinander, um sich zu wärmen. Unter sich spürten sie die Kälte des Eises, und von oben her schien die Sonne herab. Fenrir rollte sich einige Meter abseits zusammen und steckte die Schnauze in das dichte Bauchfell. »Wir werden von selbst wach«, meine Atlan zuversichtlich. »Dafür sorgt schon die Kälte. Glaubst du, daß es weiter östlich schlimmer wird?« »Ich weiß es nicht mehr, aber ich glaube schon. Ich kann mich nur erinnern, daß es im Gebiet der Dunklen Region nicht mehr so kalt ist. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg.« »Wir werden ihn schon schaffen«, brummte Atlan und schloß die Augen. Er war sofort eingeschlafen.
* Es war Nachmittag, als sie erwachten. Die Sonne war weitergewandert und tiefer gesunken. Die Kälte setzte wieder ein. Fenrir war nicht da. Atlan erhob sich und stieg auf den Hügel. Die Bewegung brachte sein Blut wieder in Wallung. Razamon kam langsam nach. »Er wird auf der Jagd sein, er muß noch mehr Hunger haben als wir.«
Atlan lutschte auf einem Stück Eis herum. »Wenigstens haben wir keinen Durst zu leiden.« Er deutete nach Süden. »Da kommt er, der Ausreißer …« Fenrir kam herbeigetrottet und leckte sich das Maul. Er mußte ein kleineres Tier getötet und gefressen haben. Vielleicht gab es hier so etwas wie Schneehasen. »Vielleicht wäre es besser«, sagte Atlan nach einem Rundblick, »wir würden uns überhaupt etwas südlicher halten, mehr der Wüste Fylln zu. Da ist es wärmer. Es wäre kein großer Umweg.« »Jeder Kilometer zählt doppelt«, widersprach Razamon. »Außerdem ist die Eisregion sicherer. Niemand verirrt sich hierher, und ich glaube auch nicht, daß jemand hier wohnt. Wir haben keine Waffen, nicht einmal ein Messer. Ich schlage vor, wir marschieren weiter nach Osten. In zwei oder drei Tagen haben wir das Eis hinter uns.« Atlan zuckte die Schultern. »Wie du meinst, Razamon.« Diesmal trottete Fenrir vor ihnen her und sicherte, obwohl es allem Anschein nach nichts zu sichern gab. Das Gelände war ziemlich eben und daher übersichtlich. Lediglich im Osten begrenzten einige weißschimmernde Hügel und sogar Berge die Sicht, aber die Täler dazwischen schienen breit und flach zu sein. Sie kamen nicht sehr schnell voran, weil sie immer wieder auf dem Eis ausrutschten und ständig aufpassen mußten, wollten sie nicht hinfallen. Wenn sie einen Hügel überquerten, waren sie oft genug gezwungen, auf allen vieren weiterzukriechen. Fenrir sah ihnen interessiert zu, als halte er das für ein neues Spiel. Zwei Stunden später blieb Razamon stehen. »Das sind Eisberge«, sagte er und sah nach Osten, wo die Gipfel der weißen Erhebungen im Schein der untergehenden Sonne rötlich schimmerten. »Oder natürliche Berge, die mit Eis und Schnee bedeckt sind. Vielleicht sollten wir doch nach Süden ausweichen.«
Zitadelle im Eis Atlan stand neben ihm. Aufmerksam betrachtete er die Berge, von denen ihm einer durch seine regelmäßige Form besonders auffiel. Er erinnerte an eine auf ihrer Schnittfläche ruhende Kugel und war vielleicht dreißig Meter hoch, wenn die Entfernung nicht täuschte. Jedenfalls war er niedriger als die anderen Berge seiner Umgebung. »Ich denke, wir gehen ein Stück weiter, Razamon. Siehst du den wie eine Kuppel geformten Hügel, ganz links von den übrigen? Glaubst du, daß er durch Zufall entstanden sein könnte?« Razamon kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Aufmerksam studierte er das Objekt, dann schüttelte er den Kopf. »Sieht in der Tat aus wie eine Kuppel. Vielleicht haust da ein Einsiedler – und vielleicht hat der was zum Essen für uns. Wenn Gefahr droht, wird Fenrir uns schon rechtzeitig warnen.« »Es wird bald dunkel, wir müssen uns beeilen.« Sie legten die restlichen zwei oder drei Kilometer im Eiltempo zurück und näherten sich dann vorsichtig und möglichst in Deckung einiger flacher Erhebungen bleibend der gläsernen Kuppel, hinter deren halbtransparenten Wänden es dunkel schimmerte. Fenrir lief voraus, zeigte aber keine Gefahr an. Bald zweifelte Atlan nicht mehr daran, es mit einem künstlichen Bauwerk zu tun zu haben. Quadratische Eisblöcke waren aufeinandergeschichtet und mit darauf geschüttetem Wasser verschmolzen worden. So war die Kuppel entstanden. Sie umrundeten sie, konnten aber nicht sofort den Eingang finden. Aber sie sahen undeutlich, daß innerhalb der Kuppel Kisten und andere Behälter aufgestapelt waren. »Ein Depot, ein Vorratslager«, stellte Atlan verblüfft fest. »Für wen?« »Vielleicht steht es schon Jahrhunderte hier«, hoffte Razamon und suchte vergeblich nach frischen Spuren. Er fand keine. »Das Fehlen von Spuren besagt nicht viel, zuge-
5 geben. Ein einziger Schneesturm verwischt sie. Aber wir sollten nicht so pessimistisch sein. Also, was ist? Wie kommen wir hinein?« »Wir müssen durch die Eiswand, denn es gibt keine Tür.« »Die ist einen halben Meter dick, und wir haben kein Werkzeug.« »Hier ist sie dünner«, rief Atlan plötzlich, nachdem er einige Schritte weitergegangen war. »Höchstens zwanzig Zentimeter. Vielleicht doch eine Art Tür.« Razamon betrachtete das an dieser Stelle tatsächlich durchsichtigere Eis und stellte fest, daß der fragliche Bezirk fast rechteckige Formen besaß. Rechts davon waren roh geschnittene Eiswürfel aufgestapelt, daneben lag ein ganzer Haufen zertrümmerter Eisbrocken. »Die Haustür«, sagte Razamon, sich seiner Sache absolut sicher. »Du hast recht, Atlan. Sie schlagen die Tür ein, wenn sie kommen, um Vorräte abzuholen und setzen sie später einfach wieder zusammen. Das können wir auch.« »Womit?« »Das wirst du gleich sehen, warte hier!« Razamon winkelte die Arme an und setzte sich in Trab. Er lief um die Kuppel herum, von Fenrir begleitet. Wenig später tauchte er von der anderen Seite kommend wieder auf, in beiden Händen einen schweren Stein haltend. Keuchend blieb er stehen, als er bei der »Tür« anlangte. Er ließ den Stein fallen. »Ich sah ihn schon früher, achtete aber nicht darauf. Jetzt fiel er mir wieder ein.« Atlan bückte sich und hob den Stein auf. »Der wird genügen«, sagte er und schleuderte ihn mit voller Wucht gegen die Eiswand. Es entstanden mehrere Risse und ein Loch in der Mitte. »Jetzt du!« Razamon traf ein wenig höher. Ein zweites Loch entstand, mit dem ersten durch weitere Risse verbunden. Atlan schlug heftig mit der geballten Faust gegen die brüchige Stelle, ehe sein Freund erneut werfen konnte. Ein großes Stück brach ab und fiel in das Innere der Kuppel.
6 Der Rest war einfach. Razamon klopfte sogar sehr vorsichtig, um die Öffnung nicht zu groß werden zu lassen, und als Atlan ihn nach dem Grund fragte, meinte der Atlanter: »Die Sonne geht unter, und es wird kalt. Vielleicht ist es da drinnen auch nachts nicht so eisig wie hier draußen. Ein paar Stunden Schlaf würden uns verdammt guttun.« Wenn Razamon »verdammt« sagte, meinte er es ernst und duldete keinen Widerspruch. Atlan wußte das und grinste. »Daran habe ich auch schon gedacht. Also – hinein! Zuerst Fenrir, damit er uns warnen kann, wenn jemand dort auf uns wartet.« Der Wolf begriff schnell, was von ihm erwartet wurde. Willig ließ er sich durch die Öffnung schieben und half nach besten Kräften nach. Den Rest schaffte er allein. Mit einem Satz war er in der Kuppel verschwunden, in der es dämmerig geworden war. Razamon folgte Fenrir, dann erschien sein Kopf wieder in der Öffnung. »Du kannst nachkommen und dich wundern, mein Freund. Wir haben ein unverschämtes Glück gehabt. Diese Nacht, da gehe ich jede Wette ein, werden wir herrlich und warm schlafen.« »Ist die Kuppel, oder was es auch sein soll, vielleicht geheizt?« »Das nicht gerade, aber wir haben genug zum Zudecken.« Atlan kroch durch das Loch und wurde von Razamon aufgefangen. Dann stand er vor einem Depot an lebenswichtigen Vorräten, die den Rest des Marsches durch die Eiswüste zu einem Spaziergang werden zu lassen versprachen. Haufenweise lagen dicke Pelzjacken mit Kapuzen herum, innen gefüttert und ebenfalls mit schwarzem Pelz besetzt. Daneben stapelten sich dunkelbraune Lederhosen und schwere Pelzstiefel, die jeder noch so tiefen Temperatur standhielten. Warme Handschuhe vervollständigten das Bekleidungslager. In den Kisten befanden sich Trockenfleisch und Trockengemüse. Daneben lager-
Clark Darlton ten praktische Tragebeutel mit Lederriemen zum Umhängen, außerdem ähnlich gefertigte Wasserbeutel, ebenfalls aus dichtem Leder. »Wir haben das Paradies gefunden«, meinte Razamon und stöberte in den Schätzen herum. »Und warm ist es hier! Ich fange an zu schwitzen. Oder ist das nur die Aufregung?« »Nein, es ist warm!« bekräftigte Atlan. »Das wird die schönste Nacht meines Lebens.« »Übertreibe nicht«, dämpfte Razamon seine Begeisterung. »Du lebst viel zu lange, als daß man dir das glauben könnte. Aber ich muß mich korrigieren: Die Kuppel scheint in der Tat geheizt zu sein. Von selbst ist es nicht so warm hier.« Sie wanderten durch die von den aufgestapelten Kisten gebildeten Gänge und gelangten so in die Mitte der Kuppel. Zu ihrem Erstaunen gab es hier einen runden, freien Platz, der fast an eine kleine Arena erinnerte. Im Zentrum des Platzes fiel ihnen eine muldenartige Vertiefung auf, in der Wasser stand. Kein gefrorenes Wasser, sondern warmes und dampfendes Wasser! »Daher also die Wärme! Eine heiße Quelle?« sagte Atlan verblüfft. »Sicher, es soll sie hier geben«, entsann sich Razamon. »Jene, die das Depot anlegten, taten es über einer heißen Quelle. Wir müssen ihnen dankbar sein für ihre Rücksichtnahme …« »… die bestimmt nicht uns galt«, unterbrach ihn Atlan und sah zu, wie Fenrir um die Quelle kreiste und schnupperte. »Füllen wir Wasser in Beutel, damit es abkühlt. Fenrir hat Durst.« »Und ich werde mich um unser Abendessen kümmern«, versprach Razamon und eilte davon.
* Trotz ihrer Müdigkeit schliefen sie nicht sofort ein.
Zitadelle im Eis Fenrir lag ausgestreckt und mit vollem Bauch in unmittelbarer Nähe der Quelle und jaulte im Traum. Atlan und Razamon ruhten auf einem pompösen Lager aus Pelzjacken und Lederhosen. Sie brauchten sich nicht zuzudecken, denn es war warm genug in der Kuppel. Das Abendessen war großartig gewesen. Trockenfleisch und Trockengemüse waren mangels eines geeigneten Behälters einfach in die heiße Quelle geworfen worden. Nach einer Stunde hatte sich in der Kuppel ein köstlicher Duft verbreitet, und aus der ehemaligen Quelle war ein natürlicher Suppentopf geworden. Die beiden Männer hatten die Köstlichkeit mit den Händen ausschöpfen müssen, da auch die Löffel oder Gabeln fehlten. Das Wasser erneuerte sich wieder, nachdem sie den Zufluß geöffnet hatten. Der Rest der sich immer mehr verdünnenden Mahlzeit floß durch eine Rinne ab und verschwand in einer Bodenspalte. »Wir nehmen genügend Vorräte mit, damit wir auf keine Kontakte angewiesen sind«, schlug Razamon vor und gähnte. »Schade, daß wir keinen Zugor gefunden haben, so ein Ding würde uns einen schönen Marsch ersparen.« »Wir schaffen jetzt den Rest des Weges leicht zu Fuß«, tröstete ihn Atlan. »Vor allen Dingen werden wir nicht mehr unter der Kälte zu leiden haben. Sagtest du nicht, weiter östlich gäbe es auch heiße Quellen?« »Mehr als hier, soweit ich mich erinnere. Aber das kann sich alles geändert haben. Du weißt ja, wieviel Jahrtausende vergangen sind.« »Etwa zehn.« »Richtig. Aber die Quellen beschäftigen mich weniger, denn das Wasser in den Beuteln friert nicht so schnell, wenn wir es am Körper tragen. Darin lassen sich Fleisch und Gemüse leicht zubereiten. Was mich stört, ist die Tatsache, daß wir noch immer keine Waffe haben.« »Ich habe das lange Seil«, erinnerte ihn Atlan. »Leider war nur eins vorhanden. Man
7 kann nie wissen, wie man es gebrauchen kann.« »Ein Seil ist keine Waffe«, widersprach Razamon. »Und ob! Ich kann sehr gut ein Lasso werfen. Außerdem soll das Gelände weiter im Osten schwieriger werden – du hast es sogar selbst behauptet. Da kann ein Seil von großem Nutzen sein.« »Ich habe ja auch nichts dagegen, daß du es mit dir herumschleppst. Aber ein gutes Messer wäre mir lieber gewesen; oder gar ein Waggu!« »Solange wir niemandem begegnen, wären Waffen nur unnötiger Ballast. Die Gegend scheint ja wirklich menschenleer zu sein.« »Und was ist mit dem Depot? Glaubst du, Geister hätten es angelegt? Ich nicht! Es scheint übrigens ein illegales Depot zu sein, vielleicht ein Lager mit Diebesgut. Jemand hat die Sachen hier versteckt.« »Mir ist im Augenblick alles egal«, murmelte Atlan, der nun doch müde wurde. Die Wärme trug viel dazu bei. »Ist noch etwas Wichtiges?« Razamon rollte sich auf die Seite und stützte den Kopf in die Hände. »Wieso?« »Weil du es gleich sagen mußt, sonst schlafe ich ein.« Enttäuscht ließ sich der Atlanter wieder in die Pelze zurücksinken. »Nein, nichts mehr. Vielleicht fällt mir morgen etwas ein.« »Gute Nacht«, murmelte Atlan. »Gute Nacht«, gab Razamon zurück und gähnte erneut. Es war stockdunkel geworden.
* Die Nacht verlief ohne jeden Zwischenfall, und als die beiden Männer am anderen Morgen erwachten, fühlten sie sich ausgeruht und kräftig. Die Kälte außerhalb der Kuppel war vergessen, aber sie wußten, daß sie wieder in sie hinein mußten. Diesmal allerdings gut ausgerüstet und mit warmer
8 Kleidung versehen. Der Weitermarsch würde gegen das, was hinter ihnen lag, ein wahres Vergnügen werden. Fenrir kehrte von einer Inspektionsrunde durch die Kuppel zurück. Geduldig wartete er, bis Razamon ein grobes Stück Dörrfleisch in heißem Wasser weichgesotten und ihm zugeworfen hatte. Dann erst frühstückten auch die Männer. Das Licht brach sich tausendfach in den Eiskristallen, als die Sonne aufging und die Strahlen die Kuppel erreichten. Mit einem Schlag wurde es hell. Als sei der Sonnenaufgang ein Kommando gewesen, stand Fenrir plötzlich auf, begann leise zu knurren und schlich in Richtung des Ausgangs davon. Sein Nackenfell war gesträubt. Atlan hielt Razamon fest. »Warte noch! Fenrir hat etwas gewittert, das Gefahr bedeuten kann. Vielleicht sind die Besitzer des Depots eingetroffen.« »Glaubst du wirklich, daß es sie gibt?« »Natürlich, alles deutet darauf hin. Vergiß nicht, daß wir unbewaffnet sind.« Razamon knurrte etwas Unverständliches und duckte sich hinter die Kisten. Als Fenrir nicht zurückkam, flüsterte Atlan: »Los, wir müssen nachsehen, ehe wir überrascht werden. Bleib in Deckung!« Vorsichtig schlichen sie sich in Richtung Ausgang und erblickten den Wolf, der vor der »Tür« stand und immer noch leise knurrte. Hinter der transparenten Eiswand bewegten sich Schatten – große und menschenähnliche Schatten. Mehr als drei oder vier Dutzend. Sie trugen ebenfalls Pelzkleidung und in den Händen Gegenstände, die sofort an Waffen erinnerten. Aber es waren keine Waggus, keine energetischen Lähmpistolen. Sie erinnerten vielmehr an kleine Gewehre. Die Gestalten schienen zu beratschlagen, was sie unternehmen sollten. Zweifellos hatten sie draußen Spuren entdeckt, dann das Loch in der Tür und schließlich Fenrir, der ihnen den Eintritt verwehrte.
Clark Darlton Atlan sah, daß einer der Unbekannten seine Gefährten beiseite drängte und bis zum Loch im Eis vorkam. Ohne den Kopf in das Innere der Kuppel zu strecken, rief er in Pthora, der Sprache von Atlantis: »He, wir wissen, daß ihr da drinnen seid! Kommt heraus, sonst holen wir euch! Aber schnell! Und schickt das Biest weg, ehe wir es töten.« Atlan warf Razamon einen fragenden Blick zu: Der Atlanter verstand. Es war besser, wenn er mit den Leuten sprach. »Fällt uns nicht ein, uns einfach von euch abschlachten zu lassen, Freunde. Kommt doch herein, wenn ihr etwas von uns wollt!« »Ich würde nicht so frech sein«, gab der Unbekannte zurück. »Ihr habt keine Chance.« »Haben wir doch! Die Lebensmittel reichen für ein paar Jahre. Wollt ihr uns vielleicht so lange belagern?« Während Razamon mit den Fremden redete, beobachtete Atlan jede ihrer Bewegungen. Der Sprecher blieb eine Weile stumm, dann tauchte sein Gesicht in dem Eisloch auf. »Na schön, vielleicht hattet ihr nur Hunger und wolltet essen, das ist kein Verbrechen. Wenn ihr bezahlt, lassen wir euch laufen.« »Bezahlen? Womit denn?« »Na, mit Quorks, womit denn sonst?« »Wir haben keinen einzigen Quork mehr, sie wurden uns abgenommen.« »Das glauben wir erst dann, wenn wir euch durchsucht haben. Wieviel Diebe seid ihr eigentlich?« »Mehr als ihr«, log Razamon, obwohl er wissen mußte, wie sinnlos das war. Der Fremde lachte. »So, mehr als wir? Ihr habt aber nur die Spuren von zwei Männern hinterlassen. Wie habt ihr das nur gemacht?« Atlan nickte Razamon zu und löste ihn ab. »Wir möchten mit euch verhandeln«, sagte er. »Ist das möglich, oder wollt ihr uns töten, ohne uns anzuhören?« »Wir werden euch anhören«, versprach
Zitadelle im Eis der Fremde. »Gut«, antwortete Atlan. »Dann wartet. Wir werden kommen.« Er duckte sich wieder hinter die Kisten. »Bist du verrückt?« zischelte Razamon ihm zu. »Die bringen uns um, ehe wir auch nur den Mund aufmachen können.« Atlan schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Aber es spielt auch keine Rolle, was wir glauben oder nicht, denn sie sind in der Überzahl. Für uns bedeuten sie eine unüberwindliche Streitmacht. Außerdem ist mir etwas aufgefallen. Ich habe das Gesicht des Anführers gesehen.« »Na und? Kennst du ihn vielleicht?« »Ihn selbst nicht, aber wir beide kennen jemanden aus seiner Familie. Erinnerst du dich an die beiden jungen Burschen, die uns in der Wüste Fylln, am Rand des Dämmersees, vor den Riesenskorpionen retteten?« »Die beiden Wargoons?« »Richtig! Sie wanderten vor Jahrzehnten von hier aus nach Süden. Die Kerle da draußen müssen Verwandte von ihnen sein, denn sie haben die gleichen gelben Gesichter mit den Schlitzaugen. Unsere beiden Retter benahmen sich zwar merkwürdig, machten aber einen gutmütigen Eindruck. Warum sollen die Burschen hier anders sein?« »Die Wargoons also …?« Razamon schien sich an etwas erinnern zu wollen, das lange zurücklag, aber es gelang ihm nicht. »Na schön, wir können es ja versuchen …« Sie richteten sich auf und hängten sich die Tragbeutel um. Später kamen sie vielleicht nicht mehr dazu. Atlan hatte sich das Seil so um den Körper gewickelt, daß es von der Pelzjacke verdeckt wurde. Dadurch wirkte er dicker und stärker. Das Gesicht, das ihnen neugierig entgegenblickte, sah nicht gerade vertrauenerweckend aus. Das lag weniger an dem spärlichen Spitzbart, der höchstens aus einem Dutzend langer Haare bestand, sondern mehr an der harpunenähnlichen Waffe. Von dem eingespannten Geschoß war nur die mit Widerhaken versehene Spitze zu erkennen.
9 Sie war auf die beiden Männer gerichtet. »Da seid ihr ja, ihr Diebe! Dann steigt mal schön durch das Loch, damit wir uns in Ruhe unterhalten können.« »Kommt doch herein, hier ist es wärmer.« »Damit ihr uns einzeln den Schädel einschlagen könnt? Nein, lieber nicht. Was ist mit dem Wolf?« »Er tut nichts, wenn man ihn nicht angreift.« Razamon sagte: »Du bleibst besser hier, Atlan, während ich vorgehe.« Laut genug erwiderte Atlan: »Die Vorsicht ist unnötig, Razamon, wir haben es, so glaube ich, mit ehrlichen Bewohnern der Eisküste zu tun. Vielleicht sind es sogar Verwandte unserer Freunde im Süden, der Familie Wargoon.« Seine Worte erzielten die beabsichtigte Wirkung. »He, was hast du eben gesagt? Die Familie Wargoon? Kennt ihr sie denn?« Atlan nickte und blieb vor dem Ausgangsloch stehen. Die Harpune wurde zurückgezogen. »Richtig, die Familie Wargoon. Sie wohnt in dem Dorf Kaarv nördlich des Dämmersees. Sie hätte uns sicherlich Grüße für euch aufgetragen, wenn wir damals schon gewußt hätten, daß wir euch hier oben an der Eisküste begegnen.« »Es ist schon lange her, daß die Familie nach Süden zog. Komm, ich helfe dir …« Atlan kroch durch das Loch. Razamon schob Fenrir nach und folgte dann selbst. Der Wolf verzog sich abseits, setzte sich und beobachtete die Gruppe mit aufmerksamen Blicken. Der Anführer hielt seine Waffe schräg im Arm. »Ich bin Forel Wargoon und das Oberhaupt der Siedlung Cafoort, damit ihr gleich Bescheid wißt. Und wer seid ihr?« Razamon erzählte ihm eine glaubhafte Geschichte, wobei ihm zustatten kam, daß niemand auf Pthor so recht wußte, wer ein paar Dutzend Kilometer weiter hauste. Die
10 Herren der FESTUNG sorgten aus unerfindlichen Gründen schon dafür, daß es nicht zuviel Kontakte zwischen den Bewohnern des Kontinents gab. Somit klang Razamons Geschichte durchaus glaubhaft. »So, so«, machte Forel Wargoon und versuchte, die Reaktion seiner Männer an ihren Gesichtern abzulesen. »Und da kamt ihr zufällig und völlig ausgehungert in diese Gegend und fandet das Depot. Kam euch wohl gerade recht, was?« »Allerdings«, gab Atlan zu. »Wir hielten es für herrenlos.« »Ist unsere einzige Reserve, wenn ihr es genau wissen wollt. Ja, wie ist es denn nun mit der Bezahlung? Dann könnt ihr alles behalten, was ihr gestohlen habt.« Noch einmal versicherte Atlan, keinen einzigen Quork zu besitzen, was den sichtbaren Unwillen der Sippe hervorrief. Nach einer kurzen Beratung mit seinen Männern entschied Forel: »Also gut, ihr könnt das Zeug vorerst behalten, aber ihr werdet uns zu unserem Dorf begleiten. Dort sehen wir dann weiter.« »Sind wir eure Gefangenen?« Forel grinste breit. »Nun, sagen wir, ihr seid unsere Schuldner. Das klingt wohl besser, obwohl ich da eigentlich keinen großen Unterschied entdecken kann. Denn ihr bleibt so lange bei uns, bis die Schuld bezahlt ist.« Das klang wenig ermutigend, aber Atlan sah keine andere Möglichkeit, als sich zu fügen. Etwa fünfzig oder sechzig Wargoons hatten sie umringt, und alle waren bewaffnet. Gegen eine solche Obermacht kämpfen zu wollen, wäre glatter Selbstmord gewesen. »Gut, wir werden euch begleiten, dann sehen wir weiter«, sagte Atlan endlich, nachdem er einen Blick des Einverständnisses mit Razamon getauscht hatte. »Aber der Wolf bleibt bei uns.« »Wir haben nichts dagegen einzuwenden, solange er nicht frech wird. Dann allerdings wären wir gezwungen, Dörrfleisch aus ihm zu machen.« »Der ist schrecklich zäh«, versuchte Raz-
Clark Darlton amon, dem Chef der Familie Wargoon den Appetit zu nehmen. Forel teilte acht Mann zur Bewachung ihrer »Schuldner« ein und verschwand mit dem Rest in der Eiskuppel, um die Bestände zu kontrollieren. Dann wurde die Tür wieder verschlossen und Wasser darüber geschüttet. Die Spuren wurden verwischt, soweit das auf dem Eis möglich war. Als sich der Zug nach Osten zu in Bewegung setzte, gingen Atlan und Razamon in der Mitte, immer von einigen Männern bewacht. Fenrir trottete ein paar Dutzend Meter abseits der Kolonne nebenher. Forel gesellte sich nach einiger Zeit zu ihnen. »Wir sind noch vor Anbruch der Nacht im Dorf«, teilte er ihnen mit, ohne daß sie ihn gefragt hätten. »Diese gelegentlichen Inspektionen unseres Depots sind notwendig, das hat die heutige ja wohl bewiesen. Zum Glück kommen nicht viel Fremde in diese abgelegene Gegend.« »Was habt ihr mit uns vor?« fragte Razamon. Forel machte ein undurchdringliches Gesicht. »Das wird sich finden, ich kann nicht allein entscheiden. Das letzte Wort haben immer die Priester.« »Die Priester?« Razamon war ehrlich erstaunt. »Ihr habt Priester?« »Gloophys Priester«, bestätigte Forel mit einem Unterton des Bedauerns. Er schien nicht gut auf diese Priester zu sprechen zu sein, konnte aber wohl nichts gegen ihre Existenz unternehmen. »Gloophy ist der Gott der Familie Wargoon.« Er sah Razamon an. »Willst du mehr darüber wissen?« »Es interessiert mich schon deshalb, weil diese Priester anscheinend mehr zu sagen haben als du, Forel.« Diesmal hielt Forel mit seinem Ärger nicht zurück, sprach jedoch so leise, daß ihn seine Männer nicht hören konnten. »Sie sind eine Plage, diese Priester, aber das Volk hört auf sie. Sie üben eine schlimme Macht aus, und sie nutzen sie. Sie lassen
Zitadelle im Eis andere für sich arbeiten und versprechen ihnen dafür die Rückkehr des Gottes Gloophy, der ihnen das Paradies einrichten wird. Purer Aberglaube, wenn ihr mich fragt.« »Wer ist dieser Gott eigentlich?« »Gloophy …« Forel überzeugte sich davon, daß ihn außer seinen beiden Gefangenen niemand hören konnte. »Er kam vor langer Zeit in unser Land, als es noch frei von Eis und Not war. Es gab Wälder und reichlich Wild. Unsere Vorfahren lebten an den Gestaden eines warmen und freundlichen Meeres, den ganzen Tag schien die Sonne. Und dann erschien Gloophy, so berichteten die Priester. Damit begann das Unglück.« »Warum wird ein Gott verehrt, der Unglück brachte?« »Dafür gibt es immer Entschuldigungen. Gloophy brachte das Unglück nicht mit Absicht, aber sein Atem war so kalt, daß das ganze Land im Eis erstarrte. Er selbst wurde das Opfer seiner eigenen Größe, denn das Eis begrub ihn lebendig. Er schlief ein, aber eines Tages wird das Eis auftauen und ihn freilassen. Dann wird er zu uns kommen und für seine treuen Anhänger das Paradies erschaffen.« »Aha, das also ist es, was die Priester versprechen?« »Ja, genau das ist es. Nur wer sich getreu an ihre Gebote hält, für ihren Unterhalt sorgt und ihre Opferfeste feiert, wird Einlaß in dieses Paradies finden. Die anderen bleiben in der Eiswüste zurück.« »Zu denen wirst du dann aber auch zählen«, prophezeite ihm Atlan. Forel nickte, ohne sonderlich traurig zu wirken. »Das nehme ich allerdings auch an, aber ich mache mir nur wenig Gedanken über künftige Dinge. Für mich zählt nur die Gegenwart. Ich habe euch beim Diebstahl erwischt, also muß ich euch zurück ins Dorf bringen, damit die Priester über euer Schicksal entscheiden können.« »Und wie wird das aussehen?« »Das weiß ich nicht.« Es war Mittag geworden. Warm schien
11 die Sonne vom Himmel herab. Alle Wargoons hatten ihre Pelzjacken geöffnet, und auch Atlan begann zu schwitzen. Fenrir war weit vorausgelaufen. Er stand auf einem flachen Hügel. Seine Silhouette hob sich gegen den Horizont ab. »Ein treues Tier«, sagte Forel anerkennend. »Ihm wird nichts geschehen.« Atlan glaubte, eine Betonung auf dem Wörtchen »ihm« bemerkt zu haben, enthielt sich aber jeder Äußerung. Sein Gefühl, daß Forel in einer moralischen Klemme steckte, verstärkte sich. Der Anführer der Wargoons war nicht unsympathisch, aber er besaß nicht die Macht, die zu besitzen er vorgab. Er stand unter der Fuchtel der Priester, ohne deren Wohlwollen er niemals Oberhaupt der Sippe geworden wäre. Vom Hügel aus war die Sicht nach Osten wieder frei. Vor ihnen lag Cafoort.
* Die Siedlung bestand aus etwa hundert kugelförmigen Eishütten, an Iglus erinnernd. Sie waren ringartig um den in der Mitte liegenden Dorfplatz angeordnet, in dessen Zentrum eine zehn Meter hohe Statue stand. Sie hatte kein Gesicht und keine Gliedmaßen. Wahrscheinlich hatten auch ihre Schöpfer keine Vorstellung davon, wie ihr Gott Gloophy eigentlich ausgesehen hatte. Frauen und Männer kamen dem Zug entgegengelaufen. Atlan schätzte, daß hier etwa fünfhundert Wargoons leben mußten. Forel hatte berichtet, daß sie in erster Linie von der Jagd und vom Fischfang lebten. Das Meer war nicht weit, und nur wenige Kilometer südlich gab es eine spärliche Vegetation, die eine Unmenge von Kaninchen und andere Tiere ernährte. Forel hatte Fragen zu beantworten, verlor aber schon bald die Geduld. »Schert euch nach Hause!« rief er seinen Untertanen zu. »Morgen werden wir in einer Beratung entscheiden, was mit den Gefangenen zu geschehen hat.«
12 Die Menge begleitete den Zug ins Dorf, wo er sich auflöste. Atlan betrachtete die riesige Statue des Gottes. Sie war aus blankpoliertem Eis gehauen und reflektierte das Sonnenlicht tausendfach und in allen Farben des Regenbogens. Für abergläubische Gemüter ein imposanter Anblick. Forel näherte sich ihnen. »Kommt, ich bringe euch in eure Hütte. Bleibt in ihr, wenn ihr keinen Ärger haben wollt. Einer der Priester wird euch heute noch aufsuchen und mit euch reden. Dazu mein Rat: Wer viel spricht, sagt oft wenig. Und umgekehrt. Merkt euch das.« Sie folgten ihm in eine Hütte direkt am Rand des Dorfplatzes. Sie schien unbewohnt zu sein. In der Mitte war eine kalte Feuerstelle. Oben in der Eiskuppel schimmerte ein kleines Loch. Es diente der Lüftung und dem Rauchabzug. Razamon sah sich um. »Ungemütlich«, protestierte er. »Keine Betten.« »Man wird euch Felle bringen, und Feuer. Eure Vorräte dürft ihr vorerst noch behalten. Wir sehen uns morgen.« Er ging, ohne eine Antwort abzuwarten. Etwas später brachten zwei Männer Holz, Wasser und zwei Töpfe. Dazu hölzerne Löffel. Wortlos verschwanden sie wieder, nachdem sie das Holz mit einer Fackel entzündet hatten. Razamon zog die Jacke aus, als es wärmer geworden war. Er setzte sich auf die großzügig zur Verfügung gestellten Felle. »Und was nun?« erkundigte er sich und sah Atlan etwas ratlos an. »Sind wir nun Gefangene oder nicht? Draußen lungern immer so ein paar von den Kerlen herum. Sie sind bewaffnet.« »Warten wir ab, was der Priester zu sagen hat«, riet Atlan und machte es sich ebenfalls bequem. »Stell den Topf mit Wasser aufs Feuer. Ich habe schon wieder Hunger.« Fenrir erschien erst nach einiger Zeit. Wahrscheinlich war er ums Dorf gestrichen, um sich zu orientieren. Man hatte ihn nicht verjagt, sondern einfach nicht beachtet. Fo-
Clark Darlton rel mußte entsprechende Anweisungen gegeben haben. Der Wolf legte sich dicht neben das Feuer und starrte in die Flammen, als denke er nach. Razamon bereitete die übliche Suppe, die sie dann mit den Löffeln gleich aus dem eisernen Topf verspeisten. Fenrir bekam sein Stück Fleisch, das er lustlos herunterschlang. Draußen begann es schon zu dämmern, als der Priester kam.
* Rein äußerlich unterschied er sich von Forel und den anderen Männern schon dadurch, daß er statt der Pelzjacke ein farbenprächtiges Gewand trug, das wohl seine Würde hervorheben sollte. Gebückt kam er durch den niedrigen Eingang und richtete sich dann wieder auf. Er schien darauf zu warten, daß man ihn mit der ihm zustehenden Ehrerbietung empfing. Razamon blieb sitzen und warf ein Fell in die Mitte der Hütte. »Setz dich, damit wir reden können.« Atlan beschloß, vorerst einmal etwas diplomatischer zu sein. Er stand auf und trat auf den Priester zu. »Wir begrüßen dich und freuen uns über deinen Besuch. Er zeigt uns, daß wir nicht in die Hände eines wilden und den Göttern nicht ergebenen Volksstammes gefallen sind. Der Hunger trieb uns dazu, einige Dinge dem Depot zu entnehmen, und wir sind bereit, sie eines Tages zurückzugeben.« Der Priester verzog keine Miene, als er sich setzte. »Ihr habt gestohlen, und Gott Gloophy bestraft die Diebe. Er nimmt keine Entschuldigung an.« »Aber es war nur der Hunger …« »Gloophy verlangt Opfer von seinen Kindern, sonst werden sie das Paradies, das er für sie schaffen wird, niemals sehen.« »Wir sind nicht Gloophys Kinder!« brauste Razamon wütend auf, schwieg aber, als er Atlans warnenden Blick auffing.
Zitadelle im Eis Der Priester zog die Augenbrauen in die Höhe. »Alle sind seine Kinder, auch ihr! Und ich bin sein Vertreter im Eisland. Ich frage euch nicht, woher ihr kommt. Und die Frage, wohin ihr gehen werdet, ist nun überflüssig geworden. Gloophy wird euch gnädig empfangen und euch verzeihen.« Razamon hielt den Kopf etwas schief und belauerte den Priester. »Kannst du dich nicht deutlicher ausdrücken, Priester? Warum müßt ihr immer so geheimnisvoll daherreden, daß es kein Mensch versteht?« »Morgen wird meine Sprache deutlicher sein«, versprach der Buntgekleidete. Ehe er aufstehen konnte, fragte Atlan: »Wir müssen weiter nach Osten zum Fluß Xamyhr. Kennst du einen sicheren Weg dorthin?« »Im Osten wohnt Gloophy, und es gibt keinen sicheren Weg zu ihm. Das schwere Eis umgibt und schützt ihn, es wacht über seinen langen Schlaf.« Atlan wußte aus der Geschichte der Menschheit, daß jeder Mythos seinen realen Ursprung hatte. Selbst Zukunftsvisionen entstammten der Erinnerung des Unterbewußtseins. Es mußte also einst ein Wesen gegeben haben, das Gloophy genannt wurde und zum Gott avanciert war. Niemand wußte das besser als dieser Priester. Der erhob sich nun endgültig und schritt zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. »Verbringt diese Nacht in Frieden, denn morgen werdet ihr Gott Gloophy näher sein denn je zuvor.« Razamon starrte hinter ihm her, bis er verschwunden war. »Das hört sich nicht gerade sehr freundlich an«, knurrte er. »Ich kenne solche Sprüche – auch von meinem Aufenthalt auf der Erde her. Den Göttern nahe sein – das bedeutet fast immer den Tod.« Atlan legte ein Stück Holz nach. Fenrir, der sich während der Unterhaltung mit dem Priester ruhig verhalten hatte, knurrte leise im Halbschlaf.
13 »Ich fürchte, du hast recht, Razamon. Wir sollten uns etwas einfallen lassen.« »Flucht?« »Sie haben uns alles gelassen – Bekleidung und Vorräte. Ich bin überzeugt, daß dieser Forel uns wohlgesinnt ist. Er haßt die Priester, kann aber offiziell nichts gegen sie tun, weil sie zu mächtig sind. Wenn wir flüchten, darf er nichts damit zu tun haben.« »Natürlich nicht, ist doch klar. Ich frage mich nur, wie wir unbemerkt aus dem Dorf herauskommen sollen. Schließlich kann er es nicht wagen, seine Männer einzuweihen. Es kann Verräter unter ihnen geben, die alles dem Priester berichten.« Atlan stand auf und sah vorsichtig durch das Türloch. Dann kam er zurück und setzte sich wieder. »Die Wächter sind noch da. Draußen ist es schon dunkel geworden. Auf dem Dorfplatz lodert ein Feuer, rundherum haben sich die Wargoons versammelt. An Flucht ist jetzt nicht zu denken.« Sie sprachen, wenn sie allein waren, kein Pthora, damit sie niemand verstehen konnte. Die Gefahr des Belauschtwerdens bestand also nicht. »Wir sollten ein paar Stunden schlafen«, schlug Razamon vor.
* Es mußte gegen Mitternacht sein, als Atlan durch ein Geräusch geweckt wurde, das er nur zu gut kannte: Fenrir knurrte warnend. Atlan blieb ganz ruhig liegen. Das Feuer war niedergebrannt, aber die restliche Glut verbreitete noch einen schwachen Schimmer. »Ganz ruhig, Fenrir!« flüsterte er. Draußen vor der Eishütte war ein vorsichtiges Tappen, dann verdunkelte sich der Eingang, der durch die Reflexion des Sternenlichtes auf dem Eis ein wenig erhellt wurde. Jemand stattete ihnen einen heimlichen Besuch ab. »Forel?« flüsterte Atlan.
14 Es folgte ein erleichtertes Aufatmen. »Ja, ich bin's, Fremder. Du bist noch wach?« »Komm herein und setz dich. Ich habe dich erwartet.« »Du hast mich erwartet?« Forel Wargoon betrat endgültig die Hütte und blieb einen Moment stehen, damit seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Dann setzte er sich. »Warum?« Inzwischen war auch Razamon erwacht und rutschte samt seiner Felle näher an die glimmende Asche heran. Atlan berichtete Forel vom Besuch des Priesters und seinen geheimnisvollen Andeutungen. »Ich habe es mir gedacht«, gab Forel beklommen zu. »Damit hat er schon das Urteil vorweggenommen. Sie wollen euch Gloophy opfern.« »Opfern?« preßte Razamon hervor. »Darum also das Gerede von dem Kerl, der wie ein Papagei aussah.« »Ich muß euch, glaube ich, eine Menge erklären«, sagte Forel. »Damit ihr das alles versteht.« »Was hilft uns das, wenn wir tot sind?« fragte Razamon ärgerlich. »Noch lebt ihr«, hielt Forel ihm entgegen. »Und ihr werdet auch morgen leben und nicht in Gefahr sein. Ein Opferfest bedarf der Vorbereitungen. Die Wargoons müssen zuerst eisklar werden und so ihre Verbundenheit zu Gloophy erreichen. Vorher darf kein Opfer gebracht werden.« »Ich verstehe kein Wort«, gab Razamon zu. »Es werden Löcher in das Eis gehackt, in die wir steigen müssen. Die Priester wollen es so. Nackt steigen wir also in die Eislöcher, und die Kälte vertreibt alle bodenbedingten Gedanken aus unseren Gehirnen. Wir werden eisklar, und erst damit sind wir bereit für das Opfer, das die Priester dem Gott darbringen. Das Fest kann also frühestens übermorgen stattfinden.« »Außerdem muß erst das Urteil gefällt werden.«
Clark Darlton »Es steht schon fest«, gab Forel zu. »Und darum bin ich hier. Ich hatte gehofft, die Priester würden diesmal darauf verzichten, ihre Macht zu demonstrieren, aber wahrscheinlich war es ein Fehler von mir, für eure Freilassung zu plädieren. Ich hätte euch in der Kuppel lassen sollen.« »Dann hätte einer deiner Begleiter dich verraten.« Atlan schüttelte den Kopf. »Wenn du uns hilfst, können wir in dieser Nacht fliehen.« »Nicht in dieser, Fremder! Aber in der danach folgenden. Ich werde meine Vorbereitungen treffen. Ihr müßt euch dann nach Süden wenden. Niemand wird euch dorthin folgen.« »Wir müssen nach Osten, zur Dunklen Region.« »Nein!« Forels Ausruf verriet sein Erschrecken. »Um dorthin zu gelangen, müßt ihr das schwere Eis überqueren, und das würde euren sicheren Tod bedeuten. Noch niemals kehrte jemand von dort zurück.« Atlan beugte sich vor. »Das schwere Eis …? Ich hörte diesen Ausdruck schon einmal. Was ist das eigentlich, das schwere Eis?« »Das weiß niemand. Wir wissen nur, daß von dort in jedem Jahr die Flugmaschine kommt, um unsere Schätze abzuholen.« Das wird ja immer verrückter, dachte Atlan. »Flugmaschine … Schätze?« Forel räusperte sich. »Sie kommt von der Eiszitadelle, mehr wissen wir nicht. Sie holt unsere Pelze, die Lederwaren und auch das Dörrfleisch. Das ist ja auch der Grund, warum wir heimlich im Westen das Depot errichtet haben. Wenn uns die Maschine eines Tages mal alles abnehmen sollte, haben wir einen Vorrat.« »Diese Eiszitadelle liegt also im Gebiet des schweren Eises?« vergewisserte sich Atlan. »So wurde uns mitgeteilt. Die Priester sagen es auch.« »Nicht ganz ohne Grund«, vermutete Razamon, der sich ungewohnt schweigend ver-
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hielt. »Geht also nicht nach Osten«, riet Forel noch einmal. »Obwohl euch kein Wargoon dorthin folgen würde.« »Dann werden wir nach Osten gehen. Wir fürchten das schwere Eis nicht. Und wie stellst du dir unsere Flucht vor, Forel?« »Ich werde euch morgen abend meinen Plan mitteilen, bis dahin geduldet euch. Ihr solltet heute nur wissen, daß ich euch helfen möchte. Aber niemand darf davon erfahren.« »Du hast unser Wort«, versprach Atlan. »Gut.« Forel Wargoon erhob sich. »Ich gehe jetzt, um keinen Verdacht zu erregen. Es werden ständig Wachen vor der Hütte sein, verlaßt sie also nicht. Morgen ist das anders.« »Wir werden uns ausschlafen«, knurrte Razamon und fügte hinzu: »Und noch vielen Dank, Forel. Bist ein anständiger Kerl.« Der Wargoon verschwand. Atlan und Razamon machten es sich wieder auf ihren Pelzen bequem. Fenrir schlief schon wieder. »Das sind ja eine Menge Neuigkeiten, die wir erfahren haben, Atlan. Aber wenn dieser Forel nicht bereit gewesen wäre, uns zu helfen, säßen wir hübsch in der Klemme. Wir hätten die Flucht auf eigene Faust unternehmen müssen.« »Ich möchte nur wissen, was es mit dem schweren Eis auf sich hat«, sann Atlan vor sich hin. »Wir werden es herausfinden«, meinte Razamon. »Gute Nacht!« »Schlaf gut!« gab Atlan zurück und deckte sich zu. Er sah dem anderen Tag mit einem gewissen Interesse entgegen. Aber auch mit einiger Sorge.
2. Man holte sie am frühen Vormittag ab. Zwei der buntgekleideten Priester begleiteten vier Wargoons, die mit Harpunen bewaffnet waren. Man nannte diese Harpunen
»Pektos«, wie sie später erfuhren. Es waren primitive, aber äußerst gefährliche Waffen. Niemand dachte daran, den Gefangenen Fesseln anzulegen, aber das wäre auch überflüssig gewesen. Am hellichten Tag konnte es aus dem Dorf keine Flucht geben. Man brachte sie zum Platz, wo noch immer das Feuer loderte, das schon gestern abend gebrannt hatte. Männer und Frauen standen in einem großen Kreis herum, Kinder waren nicht zu sehen. Sie schienen die Hütten nur selten verlassen zu dürfen. Atlan bemerkte, daß einige der Männer damit beschäftigt waren, kopfgroße Steine in den Flammen des Feuers zu erhitzen. Wenn sie fast glühend waren, wurden sie mit Eisenstangen hervorgeholt und zum Rand des Platzes gerollt. Dort ordnete man sie derart, daß Abstände vorhanden waren – und ließ sie in das schmelzende Eis hinabsinken. Mit Pickeln wurde nachgeholfen und die entstehenden Löcher vergrößert. Atlan mußte an das denken, was Forel ihnen gestern gesagt hatte. Die Wargoons hatten schon damit begonnen, alles für das Opferfest vorzubereiten. Das Urteil stand schon jetzt fest. Würdevoll kamen die Priester herbeigeschritten, allen voran der Bunte, der die Gefangenen gestern in ihrer Hütte aufgesucht hatte. Sie nahmen auf primitiv zusammengebastelten Stühlen Platz und scheuchten zu nahe stehende Wargoons mit herrischen Handbewegungen fort. »Dort drüben ist Forel«, flüsterte Razamon und machte eine kurze Bewegung mit dem Kopf, um die Richtung anzudeuten. »Er hat mir zugeblinzelt.« »Sei ruhig jetzt, das ist besser«, hauchte Atlan. Er hatte Forel auch schon gesehen. Das Oberhaupt der zahlreichen Sippen stand in der ersten Reihe einer Gruppe von Männern, deren Gesichter finster wirkten. Ob der Ausdruck offener Mißbilligung den Priestern oder den Gefangenen galt, war nicht festzustellen. Wenn Atlan mit einem Frage und Ant-
16 wortspiel bei der Verhandlung gerechnet hatte, so sah er sich getäuscht. Lediglich Forel mußte vortreten und einen kurzen Bericht über die Festnahme der Diebe abgeben, dann durfte er wieder an seinen Platz zurückkehren. Dann wandte sich der Oberpriester der Statue des Eisgottes zu, breitete beide Arme aus und verharrte in dieser Stellung gut zwanzig Minuten. Jeder mußte fest davon überzeugt sein, daß er nun Zwiesprache mit Gloophy hielt und um seinen Rat ansuchte. Als er sich wieder den Gefangenen zuwandte, blitzte gespielter Zorn in seinen Augen. »Gloophy hat das Urteil über euch gefällt«, sagte er mit donnernder Stimme. »Aber das Opfer, das ihr ihm bringen sollt, bedeutet zugleich eine große Gnade für euch. Was unseren tapferen Kriegern nur für kurze Zeit vergönnt sein darf, die Klärung der Gedanken durch das heilige Eis, soll euch für alle Zeiten vergönnt sein. Gloophy wird euch für immer zu sich nehmen in sein Reich. So lautet das Urteil, und morgen soll es vollstreckt werden.« Ohne eine Reaktion abzuwarten, gab er seinen Mitpriestern einen Wink und wandelte durch die sofort entstehende Gasse der auseinanderweichenden Wargoons davon, von seinen Helfern gefolgt. »Kurz und bündig«, knurrte Razamon. Auf seiner Stirn war eine steile Falte entstanden. »Ich möchte am liebsten …« »Sei still! Du könntest alles verderben, wenn du jetzt einen Wutanfall bekommst. Wir haben Zeit bis morgen.« Forel kam auf sie zu, begleitet von einigen Männern. »Kommt, wir bringen euch zurück in die Hütte.« Atlan und Razamon gehorchten wortlos. Sie konnten nicht wissen, welcher der Wargoons auf ihrer Seite stand und welcher nicht. Eine unvorsichtige Bemerkung konnte alles verderben und auch Forel in größte Gefahr bringen. Fenrir hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Er lag noch immer auf seinem alten
Clark Darlton Platz dicht beim Feuer. Ein Topf mit Wasser stand auf einem Eisengestell über den Flammen. Forel folgte ihnen in die Hütte. Leise sagte er: »Verhaltet euch ruhig, während draußen das Eisbaden beginnt.« »Und was soll nun geschehen?« flüsterte Razamon. »Vorerst nichts. Ruht euch aus. Ich werde nach euch sehen, sobald die Dämmerung einsetzt. Bis dahin dürft ihr nichts unternehmen.« Razamon ließ sich auf den Fellen nieder. »Was hat dieser Priester eigentlich mit uns vor?« Forel sah nach draußen, dann erst antwortete er: »Vor der Statue Gloophys wird eine Grube in das Eis geschmolzen, in die man euch morgen bei Sonnenaufgang legen wird. Dann wird diese Grube mit klarem Meerwasser gefüllt, das unsere Leute holen werden. Das Wasser wird schnell gefrieren. Eure Körper werden sich bis in alle Ewigkeit nie mehr verändern, und selbst unsere Kindeskinder werden euch noch zu Füßen des Eisgotts ruhen sehen.« Razamon starrte ihn an, seine Hände ballten sich zu Fäusten. Weiß traten die Knöchel hervor. Atlan legte ihm die Hand auf den Arm. »Ganz ruhig!« mahnte er, aber seine Stimme zitterte ein wenig. Zu Forel gewandt fuhr er fort: »Euer Priester hat eine blühende Phantasie, und euer Gloophy muß ein grausamer Gott gewesen sein. Ist Ähnliches auch schon mit Leuten deines Volkes geschehen?« »Ja, Fremder, oft genug. Aber es ist nun das erstemal, daß ein solches Opfer direkt zu Füßen des Eisgotts gebracht werden soll.« »Eine ganz besondere Ehre, die wir zu schätzen wissen«, preßte Razamon mühsam hervor. »Diesen Kerl sollte man ebenfalls konservieren, als abschreckendes Beispiel. Mann, Forel, wie könnt ihr euch nur so drangsalieren lassen? Tut doch endlich was
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dagegen!« Forel schüttelte traurig den Kopf. »Es ist unmöglich. Die Priester herrschen absolut, weil unsere Männer und Frauen Angst vor der Rache Gloophys haben. Versucht das zu verstehen. Wir können nichts tun.« »Und doch willst du uns helfen?« »Ja, denn es ist meine Schuld, daß ihr hier seid. Ihr habt mir eine lange und merkwürdige Geschichte erzählt, die mir gefallen hat. Euer Weg kann und darf hier an der Eisküste nicht zu Ende sein.« »Danke«, sagte Atlan und gab ihm die Hand. »Aber sei vorsichtig und teile uns deinen Plan rechtzeitig mit. Hast du Vertraute unter deinen Männern?« »Sie werden heute nacht die Wache übernehmen«, versicherte Forel und zog sich abrupt zurück. Draußen hörten sie ihn mit den Männern sprechen, dann entfernten sich seine Schritte. Nur noch das Geräusch der Eispickel war zu hören.
* Am Nachmittag wurde es stiller. Atlan, der ein wenig geschlafen hatte, ging vorsichtig vor bis zum Eingang und spähte hinaus. Rechts von der Hütte stand einer der Wächter, in der Hand seine Pekto. Links standen zwei weitere, die sich leise unterhielten. Der Dorfplatz war gut zu übersehen. Zehn Männer arbeiteten mit Hilfe glühender Steine an der Eisgrube zu Füßen Gloophys. Darüber breitete sich eine Wolke von Wasserdampf aus. Nackt und vor Kälte an allen Gliedern zitternd, standen Männer und Frauen in den fertiggestellten Eislöchern, um die »erdgebundenen Gedanken aus ihrem Bewußtsein zu vertreiben«. Sie machten sich eisklar, was immer das auch bedeuten mochte. Atlan zog den Kopf wieder zurück und
setzte sich. »Nun?« fragte Razamon und streichelte Fenrir. Atlan teilte ihm seine Beobachtungen mit. »Die Priester sind raffiniert bis auf die Knochen. Indem sie ihre Gläubigen ordentlich durchfrieren lassen, wecken sie in deren Unterbewußtsein den Haß gegen uns, die an der Prozedur indirekt schuld sind. Damit wiederum wird bewirkt, daß die eigene Schuld geringer wird, wenn man uns tötet.« »Das ist mir zu kompliziert«, gab Razamon zu und warf Gemüse und Fleisch in das siedende Wasser. »Essen wir lieber schon jetzt, denn mit vollem Magen kann ich schlecht marschieren. Und ich fürchte, das werden wir die ganze Nacht tun müssen, wenn wir die Region des schweren Eises erreichen wollen.« Langsam vergingen die Stunden, aber dann begann es endlich zu dämmern. Der Eissarg für die Verurteilten war inzwischen fertiggestellt worden. Noch im Bereich der Wärme des Feuers standen die Holzgefäße mit Wasser, das über die Delinquenten geschüttet werden sollte. Dahinter wuchtete Gloophy, von dessen Eiskörper der Schein des Feuers in glühenden Farben zurückgeworfen wurde. Atlan und Razamon hatten gegessen, bis sie nicht mehr konnten. Die Wasserbeutel waren frisch gefüllt, und die Vorräte würden mindestens eine Woche reichen. Um im entscheidenden Augenblick keine Zeit verlieren zu müssen, hatten sie alles für einen sofortigen Aufbruch vorbereitet. Tragbeutel und Pelzbekleidung lagen griffbereit. Als es dunkel geworden war, sah Atlan wieder nach draußen. Das Feuer vor dem Götzenbildnis brannte nur niedrig. Die Wärme würde gerade ausreichen, das Wasser in den Kübeln nicht gefrieren zu lassen. Nur ein einzelner Mann saß im flackernden Schein und warf ab und zu ein Stück Holz in die Glut. Die Wargoons hatten sich in ihre Hütten zurückgezogen, bis auf jene, die noch in den Eislöchern standen und den Willen ihres
18 Gottes erfüllten. Atlan glaubte, ihre Zähne bis zur Hütte klappern zu hören. »Ich sehe keine Wächter mehr«, flüsterte er Razamon zu. »Forel kann sie unmöglich abgezogen haben. Damit würde er sich selbst zu sehr gefährden. Hoffentlich taucht er bald auf.« »Hoffe ich auch, denn ich bin die Warterei leid.« Sie mußten noch zwei Stunden warten, dann hörten sie ein vertrautes Geräusch. Fenrir regte sich nicht, er kannte Forel bereits. »Hört gut zu«, sagte der Wargoon und blieb stehen. »Die beiden Wächter machen ständige Runden durch das Dorf und inspizieren regelmäßig alle halbe Stunde diese Hütte. Ihr müßt euch also aus dem Dorf schleichen, wenn sie hier waren. Ihr habt dann dreißig Minuten Vorsprung.« »Das ist verdammt wenig«, knurrte Razamon. »Warum nicht die ganze Nacht?« »Unmöglich! Es darf kein Verdacht auf uns fallen. Wenn die beiden Männer die Hütte nach ihrem Rundgang leer finden, müssen sie Alarm schlagen. Es wird abermals eine halbe Stunde vergehen, bis die Verfolgung organisiert ist. Bis zur Grenze, also dort, wo das schwere Eis beginnt, ist es ein Tagesmarsch. Von dort an seid ihr sicher. Für die Verfolger aber wird es unmöglich sein, in der Dunkelheit eure Spuren zu finden. Ich werde versuchen, sie auf den Gedanken kommen zu lassen, ihr wäret nach Süden geflohen.« »Ein paar Stunden Vorsprung genügen«, gab Atlan zu. »Was ist mit Waffen?« »Neben der Hütte liegen zwei Pektos. Und ein Beutel mit Pfeilbolzen.« Fenrir knurrte leise und warnend, dann erhob er sich langsam und blickte in Richtung Eingang. Atlan folgte dem Blick und sah dort eine hohe Gestalt stehen, die vorher nicht da gewesen war. Das Feuer war niedergebrannt und verbreitete keine Helligkeit mehr, trotzdem wußte er sofort, wer sie überrascht hatte. Der Oberpriester trat vor, in der Hand ei-
Clark Darlton ne Pekto, die er auf Forel richtete. »Ich habe alles vernommen, was du sagtest, Verräter. Du wirst zusammen mit diesen Dieben in die Grube gelegt – ein Privileg, das du nicht verdientest. Du hast es nur meiner Gnade zu verdanken, wenn ich nicht …« »Faß, Fenrir!« Razamon sprach es nicht sehr laut aus, aber der Wolf verstand. Atlan handelte, noch ehe Fenrir sprang, und riß Forel mit einem Ruck zu Boden, so daß der Bolzen von des Priesters Harpune dicht an seinem Kopf vorbeischwirrte und sich in das Eis der Hüttenwand bohrte. Dann war Fenrir über dem Priester der Wargoons. Dem blieb keine Zeit mehr, einen Schrei auszustoßen, so blitzschnell fand der Wolf seine Kehle und biß zu. Lautlos sackte der Mann im bunten Gewand zu Boden. Er war sofort tot. Fenrir zog sich auf seinen Platz zurück. Eine Weile herrschte bedrücktes Schweigen, dann jammerte Forel: »Ich bin verloren, und nicht nur ich. Die übrigen Priester werden ein fürchterliches Strafgericht abhalten, dem alle meine Freunde zum Opfer fallen. Was soll ich nur tun? Ich kann nicht mit euch über das schwere Eis gehen … ich kann es nicht!« Atlan beruhigte ihn: »Laß uns überlegen, Forel. Natürlich lassen wir dich nicht im Stich, aber dieser Priester mußte sterben. Er hätte dein Geheimnis verraten, so aber kann er es nicht mehr. Warum nutzen wir nicht den Aberglauben deines Volkes aus? Die Priester selbst haben ihn verbreitet, sie können ihn also auch nicht widerrufen.« »Wie meinst du das?« fragte Razamon verständnislos. Atlan lächelte in die Dunkelheit hinein. »Jeder kann sehen, daß der Priester durch den Biß eines Tieres getötet wurde. Kein Mensch brachte ihn um. Wir bringen ihn hinaus und legen ihn in die Grube, die er uns zudachte, dann schütten wir das Wasser über
Zitadelle im Eis ihn. Wenn sie ihn morgen finden, werden sie ihn unter dem Eis zu den Füßen seines Gottes liegen sehen. Gloophy hat ihn gnädigerweise zu sich geholt.« »Draußen ist ein Mann beim Feuer«, sagte Forel. »Er gehört nicht zu meinen Vertrauten.« »Um den werde ich mich kümmern«, erbot sich Razamon. »Wann haben die beiden Wächter ihre Runde beendet?« »Jeden Moment.« »Gut, dann warten wir solange.« Schweigend saßen sie um das endgültig erlöschende Feuer. Forel und der tote Priester lagen verborgen unter einigen Fellen, damit sie niemand sehen konnte, wenn jemand in die Hütte blickte. Dann hörten sie die Schritte der Wärter. Eine Fackel wurde durch die Tür gestreckt. Ihr Schein beleuchtete die scheinbar schlafenden Gefangenen und wurde von den Augen Fenrirs reflektiert. Befriedigt gingen die beiden Wargoons weiter. Dann ging alles sehr schnell. Razamon schlich vor, betäubte den Mann am Feuer mit einem Fausthieb und schaffte ihn beiseite. Dann holten sie den Priester, legten ihn in den eisigen Sarg und leerten die Wasserbehälter über ihn aus. Das Wasser begann sofort zu gefrieren. Der Abschied von Forel war überstürzt, aber Atlan war überzeugt, daß man ihm keine Schuld an der Flucht der Gefangenen geben würde. Die Priester würden genug damit zu tun haben, sich über ihren neuen Oberhirten zu einigen. Jeder von ihnen würde an der Nachfolge interessiert sein. Sie nahmen ihr Gepäck, die beiden Pektos und verließen das Dorf. Forel sah ihnen nach, bis sie in der Dunkelheit verschwunden waren. Auf dem Weg zu seiner Hütte begegnete er den Wächtern. »Geht eine weitere Runde, ehe ihr nach den Gefangenen seht«, flüsterte er ihnen zu. Sie nickten stumm ihr Einverständnis. Als Forel in seinen Fellen lag, begann sein Verstand langsam zu verarbeiten, was
19 geschehen war. Sein größter Widersacher war tot, von einem herumstreifenden wilden Tier angefallen und zu Tode gebissen. Niemand würde wissen, wie er in den Eissarg gekommen war, und die anderen Priester würden die ersten sein, die es als Wunder bezeichneten. Nein, auf ihn – Forel – würde kein Verdacht fallen. Er begann leichter und freier zu atmen. Mit einem Gefühl neuer Zuversicht lag er da und wartete auf das Alarmgeschrei der beiden Wächter.
3. Atlan, Razamon und Fenrir marschierten die ganze Nacht, bis im Osten der Morgen zu dämmern begann. Viel hatten sie nicht von einer Verfolgung bemerkt. Als sie eine Stunde unterwegs gewesen waren, hatten sie hinter sich die hellen Punkte von Fackeln gesehen, die sich ziellos in der Dunkelheit bewegten. Die meisten von ihnen wanderten nach Süden. Wenige nur folgten ihnen in östlicher Richtung. Das Gelände hatte sich kaum verändert. Die wenigen Hügel, die sie vor zwei Tagen gesehen hatten, lagen längst hinter ihnen. Während der Nacht waren sie über eine glatte Eisfläche gegangen und schnell vorangekommen. Doch nun, als im Osten die Sonne aufging, sahen sie eine gewaltige Eisbarriere vor sich aufragen, die sich wie ein unüberwindlicher Riegel zwischen sie und ihr Ziel schob. »Das muß die Grenze sein«, murmelte Razamon und setzte automatisch einen Fuß vor den anderen. »Möchte wissen, ob wir da eine Lücke finden.« Atlans Zuversicht schwand, je näher sie dem Hindernis kamen. Die Barriere mochte fast dreißig Meter hoch sein und erstreckte sich wie eine glatte, schimmernde Mauer von Norden nach Süden. Es schien weder Vorsprünge noch Einschnitte zu geben, die eine Besteigung erleichtert hätten. Die einzige Möglichkeit war
20 das Umgehen im Süden, aber das hätte einen weiteren Tagesmarsch Umweg bedeutet. Sie näherten sich der Wand bis auf wenige hundert Meter und hielten an, um zu überlegen. Fenrir, der keine Müdigkeit zu kennen schien, lief weiter bis zur Barriere und dann an ihr entlang, als wolle er die richtige Stelle zur Überwindung des Hindernisses allein durch seine ausgezeichnete Witterung finden. »Wir haben immerhin das Seil«, sagte Atlan nicht ohne eine gewisse Genugtuung. Razamon nickte und meinte spöttisch: »Na, ist das nicht fabelhaft? Wir werfen es einfach in die Höhe, und dann klettern wir daran empor. Feine Sache!« »Klar«, meinte Atlan in gleichem Tonfall. »Und dann klettert Fenrir hinterher.« Sie grinsten sich an, wurden aber schnell wieder ernst, als am westlichen Horizont einige Dutzend dunkle Punkte auftauchten, die sich in ihre Richtung bewegten. Die Verfolger hatten ihre Spur endlich gefunden. »Nun wird es aber Zeit«, stellte Atlan fest. »Komm!« Erst als sie vor der senkrecht aufragenden Eiswand standen, wußten sie, daß nur noch ein Wunder sie retten konnte. Ohne Bergsteigerausrüstung kam hier niemand hoch, selbst nicht der geschickteste Kletterer. Außerdem war da noch der Wolf, den man nicht zurücklassen wollte. Fenrir … Sie hörten ihn weiter südlich bellen und heulen. Aber er war nicht zu sehen. »Was hat er denn?« fragte Razamon und nahm die Beutel wieder auf, die er abgestellt hatte. »Wo steckt er überhaupt?« Das Gelände vor der Barriere war flach und übersichtlich, trotzdem war Fenrir nirgendwo zu sehen. War er vielleicht in eine Eisspalte gestürzt? Nein, dann hätte sein Geheul ganz anders geklungen. »Ob er etwas entdeckt hat?« »Wahrscheinlich«, sagte Atlan sarkastisch. »Sonst würde er sich nicht so anstel-
Clark Darlton len. Sehen wir nach, viel Zeit haben wir ohnehin nicht mehr, dann müssen wir uns auf die Verteidigung vorbereiten. Lebendig kriegen mich die Priester nicht!« »Ein zweites Mal kann Forel uns bestimmt nicht helfen …« Sie schlitterten über das Eis, so beeilten sie sich. Plötzlich sahen sie den Wolf. Er stand oben auf der dreißig Meter hohen Eisbarriere und blickte schweifwedelnd zu ihnen herab. Razamon blieb ruckartig stehen, rutschte natürlich aus und setzte sich hin. Atlan hielt langsamer an. Suchend wanderte sein Blick an der steilen Eiswand entlang, aber er entdeckte nichts, das an einen leichten Aufstieg erinnerte. Die dunklen Punkte im Westen kamen näher und wurden größer. »Wo ist er bloß?« fragte Razamon und stand vorsichtig auf. »Ich sehe nichts als die glatte Wand.« Atlan zuckte die Schultern. »Fenrir kann nicht fliegen, also gibt es einen Weg nach oben. Wahrscheinlich ist es nur ein schmaler Spalt, den man leicht übersieht. Los, weiter! Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.« Wenn man unmittelbar vor der Barriere stand, wirkte sie doppelt so hoch. Aber nicht mehr unüberwindbar. Fenrir war dafür der lebende Beweis. Der Wolf war verschwunden, aber sie hörten ihn noch heulen. Es war offensichtlich, daß er ihnen den Weg zeigen wollte. »Soll er doch nochmal 'runterkommen«, keuchte Razamon. »Wir finden es auch so«, gab Atlan zurück. Sie hasteten nach Süden, immer dicht an der Eiswand entlang, um den Aufstieg nicht zu verpassen. Die Verfolger waren jetzt nur noch zwei oder drei Kilometer entfernt und mußten sie entdeckt haben, wenn sie nicht gerade blind waren. Atlan stutzte, als er den schmalen Spalt sah, an dem er fast vorbeigegangen wäre. Er war gerade breit genug, einen Mann durch-
Zitadelle im Eis zulassen. Einen Mann oder einen Wolf. »Das muß es sein!« Razamon holte ihn ein und blieb stehen. »Ein Riß im Eis!« Atlan quetschte sich durch den Spalt, der schon nach wenigen Metern breiter wurde. Trotzdem mußte er sich vorstellen, was passieren würde, wenn sich die durch den Riß getrennte Barriere wieder zusammenschob. So betrachtet, stand er auf dem Grund einer dreißig Meter tiefen Gletscherspalte. Aber Fenrir hatte diese dreißig Meter Höhenunterschied überwunden, also mußte es auch einen Weg nach oben geben. Razamon stand neben Atlan. Die beiden Männer erblickten eine bizarre und unheimliche Landschaft, in die das Tageslicht senkrecht von oben hereinfiel. Gläserne Säulen und Türmchen gaukelten ihnen eine erstarrte Märchenlandschaft vor, dazwischen klafften dunkle Höhlen und Risse in den Eiswänden. »Da vorn ist so etwas wie ein Pfad«, sagte Atlan und ging weiter. »Er muß durch Zufall entstanden sein.« Natürlich war es kein richtiger Pfad, aber immerhin führte er nach oben. Sie hörten Fenrir lauter heulen. Er hatte wahrscheinlich jetzt die Verfolger gewittert. Zwischendurch bellte er und wies den Männern die Richtung. Es war ein beschwerlicher Weg, denn der Boden war glatt und trügerisch. Immer wieder rutschten sie aus und wären unweigerlich abgestürzt, wenn die bizarren Eisformationen ihnen keinen Halt geboten hätten. Endlich hatten sie es geschafft. Fenrir begrüßte sie freudig und tat ganz so, als seien sie nun für alle Zeiten in Sicherheit. Dabei hatten sie lediglich nur ein Hindernis genommen, und niemand konnte wissen, wie viele noch vor ihnen lagen. War mit dem schweren Eis diese Barriere gemeint? Atlan ging vor zum Abbruch und sah in die Eiswüste hinab, aus der sie gekommen waren. Etwa fünfzig Wargoons waren es, die sich am Fuß der Barriere versammelt hatten und zu den Verfolgten emporsahen. Keiner
21 von ihnen schien Lust zu verspüren, die Jagd fortzusetzen. Atlan winkte ihnen abschiednehmend zu und kehrte zu Razamon und Fenrir zurück. »Die sind wir los«, sagte er und deutete nach Westen. »Der Höhenunterschied von dreißig Metern bleibt bestehen, wir haben also praktisch nur eine Schwelle erstiegen. Aber das Gelände scheint schwieriger zu werden. Überall sind Spalten und Täler, eine phantastische Landschaft, wie von Riesen in einem Sandkasten aufgebaut.« »Nur daß es kein Sand ist, sondern Eis. Du hast recht: Sieht nicht gut aus. Gegen das, was vor uns liegt, war das Bisherige nur ein harmloser Spaziergang. Ich gebe zu: Ich bin nicht begeistert.« »Gute hundert Kilometer bis zur Dunklen Region …« Atlan strich Fenrir geistesabwesend durch das Nackenfell. »Nun werden wir endlich das Seil gebrauchen können.« »Bin ich froh, daß du keine anderen Sorgen hast …« Ohne noch einen Blick nach hinten zu werfen, setzten sie ihren Marsch fort. Es war inzwischen früher Nachmittag geworden.
* Zwei Stunden später hatte Razamon für das Seil nur noch bewundernde Blicke übrig. Er hatte die Führung übernommen und ging voran. Fenrir folgte ihm dicht auf den Fersen, zehn Meter dahinter bildete Atlan den Abschluß der kleinen Marschkolonne. Bisher hatte es keine nennenswerten Schwierigkeiten gegeben, und sie waren gut vorangekommen. Tiefe Spalten waren meist nur schmal und kündigten sich durch auffällige Risse im Eis an. Breite Spalten hatten immer sanfte Gleithänge, die man hinabschlitterte und dann auf ihrem Grund weiterging, bis sie von selbst wieder ausliefen. Atlan war es leid geworden, Razamon zum Anseilen überreden zu wollen. Der Atlanter lehnte es stur ab, »an die Leine ge-
22 nommen zu werden«, wie er sich ausdrückte. Außerdem befände man sich nicht im Hochgebirge, wo er eine solche Vorsichtsmaßnahme noch akzeptieren würde, wenn es unbedingt sein müsse. Während der letzten fünf Kilometer hatten sie etwa fünfzig Meter an Höhe verloren. An manchen Stellen kam der nackte Fels zum Vorschein. Die Eisdecke konnte nicht mehr so dick sein wie vorher. »Hast du nicht das Gefühl, daß es wärmer wird?« Atlan war stehengeblieben und tastete an einer Felswand entlang, nachdem er sich die Handschuhe ausgezogen hatte. »Es gibt richtige eisfreie Zonen hier. Woran mag das liegen?« »Wenn wir wie bisher Weiterrennen, fange ich noch an zu schwitzen«, übertrieb Razamon und gab Fenrir einen Brocken Dörrfleisch. »In ein oder zwei Stunden wird es dunkel. Ich bin für eine Pause.« »Erst dann, wenn es dunkel wird«, lehnte Atlan ab. »Übrigens liegt vor uns eine Nebelbank. Hast du schon mal Nebel über dem Eis gesehen?« »Hier ist so ziemlich alles möglich. Du meinst also, wir sollen weiter?« »Meine ich allerdings. Außerdem suchen wir uns für die Nacht einen bequemeren Platz als diesen.« Razamon stolperte weiter. Atlan begann sich über die neuen Eisformationen zu wundern. Statt der bisher üblichen Spalten und Schluchten gab es immer mehr … er fand nicht den richtigen Ausdruck für die brunnenähnlichen Schächte, die immer wieder den Weg blockierten. Ebensowenig konnte er sich erklären, wie sie entstanden sein mochten. Er fuhr erschrocken zusammen, als er Razamons plötzlichen Aufschrei hörte, und als er aufblickte, sah er nur noch, wie der Atlanter verzweifelt mit den Armen in der Luft herumfuchtelte und nach einem Halt suchte. Dann war er verschwunden. Die Einbruchstelle befand sich auf einer runden Eisfläche, die höchstens fünf Zenti-
Clark Darlton meter dick war. Sie hatte ihn nicht tragen können. Fenrir hingegen hatte sie ohne Zwischenfall passiert. Atlan warf sein Gepäck ab und rutschte bis zur Einbruchstelle vor. »Razamon! Bist du verletzt?« »Knie geprellt, sonst alles in Ordnung! Mann, ist das eine Rutschbahn.« Seine Stimme klang dumpf und hohl. »Hörst du mich?« »Wie tief bist du gefallen?« »Keine Ahnung, zehn Meter vielleicht. Hier unten ist Wasser.« »Wasser?« »Warmes Wasser, ob du es glaubst oder nicht!« Erst jetzt bemerkte Atlan den feinen Nebel, der aus dem Loch stieg. »Eine warme Quelle wahrscheinlich. Jetzt weiß ich auch, wie die Löcher entstanden sind. Bist du naß geworden?« »Bis zum Bauchnabel stehe ich in der Brühe. Tut ja ganz gut, so ein warmes Bad, ich frage mich nur, wie ich hier wieder herauskommen soll.« Atlan rutschte zurück und mußte unwillkürlich grinsen. Er löste das Seil und ließ es in den Schacht hinab. »Aufpassen, das Seil! Mach eine Schlinge und halte dich daran fest … oder besser: Befestige deine Ausrüstung daran, die ziehe ich zuerst hoch.« Wenig später waren die Beutel mit Lebensmittel und Wasser in Sicherheit, auch die Pekto war unversehrt geblieben. Aber dann wurde es anstrengend. Razamon war nicht gerade leicht, aber er half mit, so gut er konnte. Als sein Kopf endlich über der trügerischen Eisfläche erschien, stieß Fenrir ein freudiges Gejaule aus. Atlan zog ihn auf die sicheren Felsen. »Na, was hätten wir wohl ohne das Seil gemacht?« fragte er nicht ohne Genugtuung. Razamon schüttelte sich. »Keine Ahnung«, gab er zu und tastete an seiner Hose herum. »Die ist naß, und trocken wird sie auch nicht von alleine.« Die Temperatur schwankte um den Gefrierpunkt. Immer noch zu kalt, um die Ho-
Zitadelle im Eis sen auszuziehen und zu trocknen. Was fehlte, war ein Feuer, aber hier gab es nichts zum Verbrennen. Außerdem hatten die Männer kein Feuerzeug bei sich. »Dort unten ist mehr Nebel, also gibt es auch offene heiße Quellen. Während wir deine Sachen trocknen, kannst du dich ins warme Wasser legen. Das wäre doch eine Lösung.« »Das ist so ziemlich das Verrückteste, was ich bisher hörte«, knurrte Razamon. Sie nahmen ihr Gepäck wieder auf und marschierten weiter. Diesmal blieb Fenrir zurück, und Atlan übernahm die Spitze. Er hatte sich das Seil um den Leib geschlungen, am anderen Ende war der Atlanter befestigt. Er hatte nicht einmal protestiert. Es war eine riesige Senke, in die sie hinabstiegen. Nur an den Hängen war noch Eis, der Boden war meist felsig und eisfrei. Einmal bückte sich Atlan und tastete das Gestein ab. Als er sich aufrichtete, lächelte er zufrieden. »Warm, richtig warm! Wir werden nicht frieren in dieser Nacht.« »Und so etwas nennt sich schweres Eis«, kommentierte Razamon. In der Talsenke entdeckten sie den ersten Pflanzenwuchs. Gras und verkrüppelte Büsche wuchsen am Rand winziger Bäche, die aus Felsspalten kamen und in anderen wieder versickerten. Humus war durch den Wind angeweht worden und bot der kümmerlichen Vegetation spärlichen Halt. In einiger Entfernung glitzerte die Fläche eines kleinen Sees. »Das ist ja ein richtiges Paradies«, freute sich Razamon. »Und das mitten in einer unzugänglichen Eiswüste! Es ist unfaßbar!« Der See war von einem breiten Grasstreifen eingeschlossen. Das Gelände stieg nach allen Seiten sanft an. Riesige Felsbrocken boten Schutz vor dem Wind, der über die Senke dahinstrich. Sie fanden einen günstigen Lagerplatz unter einer überhängenden Wand, keine fünf Meter von den Ufern des Sees entfernt. Das Wasser dampfte. Atlan hielt die Hand hin-
23 ein. »Etwa dreißig Grad, gerade recht für ein Bad.« Während Razamon nackt im seichten Wasser lag, brachte Atlan die nasse Kleidung zum Gipfel eines Hügels, wo der Wind besonders kräftig wehte. Er hing sie über die Äste eines verkrüppelten Baumes. In ein paar Stunden würden Hose und Unterwäsche getrocknet sein. Auf dem Rückweg kam er an einer Quelle mit kochendem Wasser vorbei, das sich in einem kleinen Felsbecken sammelte und dann durch eine Rinne abfloß. »Hier gibt es sogar Fische im See!« empfing ihn Razamon. »Die müssen sich an die hohe Temperatur gewöhnt haben. Etwas heißer, und sie würden gleich gekocht.« Das brachte Atlan auf eine Idee. Aus einem Ast fertigte er sich einen primitiven Speer an, und keine zehn Minuten später hatte er drei ansehnliche Fische aus dem See geholt. Er nahm sie aus und warf sie in die kochende Quelle. Razamon aß, während er der Länge nach im Wasser lag. »Auch das passiert mir heute zum erstenmal«, gab er kauend zu. Fenrir bekam seinen Anteil und unternahm noch einen Streifzug, nachdem er gefressen hatte. »Schlaf nur nicht ein«, riet Atlan und wickelte sich in seinen Pelz. »Nimm das Seil.« Razamon grinste und band sich fest. Der Gedanke, im Schlaf in tieferes Wasser zu rutschen, war ihm unsympathischer als das Seil.
* Als Atlan am anderen Morgen erwachte, lag Razamon bereits wieder angezogen dicht neben ihm in seinem Pelz und schnarchte, als habe er die ganze Nacht kein Auge zugetan. Vorsichtig erhob er sich, um das Frühstück zu besorgen. Die Kochquelle mußte ausgenutzt werden.
24 Nun erst sah er, daß sich in dem See nicht nur Fische aufhielten. Zwei Seehunde tummelten sich in seiner Mitte und spielten miteinander. Fenrir stand am Ufer und sah interessiert zu. Er schien Lust zu verspüren, bei der lustigen Jagd mitzumachen. Atlan fing diesmal vier Fische, dann weckte er Razamon. »Faultier, wir müssen bald weiter! Alles trocken geworden?« »Trocken und sauber!« erwiderte Razamon mit anzüglichem Unterton. »Ein Bad hätte dir wahrlich auch nicht geschadet.« Atlan versicherte, daß er sich noch einigermaßen frisch fühle, und bereitete die Fische zum Frühstück vor. Mit einem Gefühl der Wehmut nahmen sie dann Abschied von dem warmen See und brachen auf. Als sie die Senke verlassen hatten, spürten sie wieder den kalten Wind aus dem Norden. Die Vegetation hörte auf, das Eis wurde wieder dicker. Nach wenigen hundert Metern Marsch befanden sie sich erneut in der typischen arktischen Landschaft der Eisküste von Pthor. Immer mehr Hindernisse mußten umgangen werden, was Zeit und Kraft kostete. Meist jedoch waren die Hänge der niedrigen Berge nicht zu steil, so daß sie ohne besondere Anstrengung erstiegen werden konnten. Vom Gipfel eines solchen Berges aus war die Sicht nach Osten zu plötzlich frei. Der über der zerklüfteten Ebene liegende Nebel deutete auf weitere heiße Quellen hin, aber von Vegetation war nichts zu bemerken. Auch nackte und eisfreie Felsen waren nicht zu sehen, dafür jedoch phantastisch anmutende Eisformationen, die an erstarrte Skulpturen und kristallene Burgruinen erinnerten. »Ein Gebirge?« Razamon deutete unsicher in Richtung der bizarren Erhebungen, die aus der Ebene emporragten. »Sieht so aus, als bestünde zwischen den vielen kleinen Gipfeln ein Zusammenhang. Sie scheinen durch Mauern aus Eis verbunden zu sein.« Atlan antwortete nicht. Mit zusammengekniffenen Augen sah er hinüber zu dem
Clark Darlton nicht sehr großen Massiv und versuchte, Razamons Vermutung mit seiner eigenen in Einklang zu bringen. Die Gipfel erinnerten an Türme und Giebel, die durch eine unvorstellbare Hitzeeinwirkung geschmolzen und dann wieder erstarrt waren. So etwa sahen die Stahlkonstruktionen moderner Bauwerke nach einem atomaren Überfall aus. »Ein riesiger Eisberg, der mal hier angetrieben wurde?« Atlan schüttelte langsam den Kopf. »Das ist kein Eisberg, Razamon. Ich glaube, wir haben die geheimnisvolle Eiszitadelle gefunden.« »Ja, natürlich!« Der Atlanter schien richtig erleichtert zu sein, endlich die Erklärung für die seltsame Erscheinung in der Ebene gefunden zu haben. »Das Ding sieht aus wie eine riesige Burg aus Eis. Dort also hausen die Kerle, die den Wargoons ihre Pelze abnehmen …« »Ganz so sicher scheint mir das nicht zu sein«, sagte Atlan. Der Wind aus dem Norden war kalt und trieb die Nebelschwaden an der Zitadelle vorbei nach Süden. Manchmal verschwanden Teile des mächtigen Gebildes im Dunst, um dann plötzlich wieder aufzutauchen. Das Bauwerk mit seinen Türmen und Zinnen schien sich unaufhörlich zu verändern, aber das war natürlich eine optische Täuschung. »Sie ist uns genau im Weg«, stellte Razamon nach einiger Zeit fest. »Wenn wir sie umgehen wollen, müssen wir uns nach Süden wenden. Ein ziemlicher Umweg, wenn du mich fragst.« »Warum sollen wir uns die Festung nicht ansehen? Bemerkst du Anzeichen von Leben dort? Ich nicht.« »Und was hoffst du zu finden?« »Keine Ahnung.« Schweigend und ihrer Sache durchaus noch nicht sicher, wanderten sie weiter. Das Gelände fiel stetig ab, wenn auch nur langsam und ohne größere Hindernisse. Südlich der Burg schossen in unregelmäßigen Abständen gewaltige Rauchsäulen in die Höhe und fielen dann wieder zurück. Das heiße
Zitadelle im Eis Wasser der Geysire schmolz tiefe Löcher und Rillen in das Eis. Je näher sie der eisigen Festung kamen, desto höher schienen die glitzernden Wälle zu sein, die sie wie ein Ring einschlossen. Auf den ersten Blick wirkte die Burg uneinnehmbar, doch davon ließ Atlan sich nicht entmutigen. Auch Razamon schien nun endgültig vom Fieber des Entdeckers gepackt worden zu sein. Er schritt kräftiger aus, so daß Atlan Mühe hatte, ihm zu folgen. Fenrir trottete zwischen ihnen. Sein Nackenfell war gesträubt, und manchmal knurrte er leise und warnend, aber sein ganzes Verhalten deutete noch nicht auf eine akute Gefahr hin. Atlan mußte unwillkürlich an den Eisgott Gloophy denken. Der Sage nach ruhte er irgendwo unter dem Eis und wartete auf den Tag seines Erwachens. Für einen Gott konnte es keinen würdigeren Platz als diese Zitadelle geben … Sollte die Sage hier ihren Anfang genommen haben? Das Leben der Wargoons wurde vom Aberglauben geprägt, und sicherlich waren die Priester nicht die einzigen, die das auszunutzen verstanden. Nicht umsonst hatten sie die Zone des schweren Eises zum verbotenen Gebiet erklärt. Sie mußten zumindest die Wahrheit ahnen und wollten verhindern, daß sie jemals bekannt wurde. Wer aber waren diese anderen, die mit der Flugmaschine kamen, um die Wargoons auszuplündern? Auch sie sprachen von der Eiszitadelle und behaupteten, sie wohnten in ihr. Taten sie das nur, um sich die Wargoons gefügig zu machen? Mit jeder Minute, dachte Atlan, gibt es einen Grund mehr, sich um diese Eiszitadelle zu kümmern und ihr Geheimnis zu ergründen. Über der unwirklich anmutenden Landschaft lag bedrückendes Schweigen, wenn man von gelegentlichen Ausbrüchen der Geysire absah. Sie wirkte leblos und voller Drohung. Und mitten in ihr wuchtete wie ein schlafender Riese die Festung aus Eis.
25 »Sie besteht nicht nur aus Eis.« Es war, als hätte Razamon die Gedanken seines Freundes erraten. »An manchen Stellen kommt ein dunkelfarbiges Material zum Vorschein, vielleicht Fels oder Steinquader. Damit wurde sie gebaut, und mit der Zeit vereiste sie, da es hier nur selten taut. Soviel Wärme geben die Geysire auch wieder nicht ab. Sie zieht mit dem Wind nach Süden.« Sie standen auf der letzten Erhebung der Westseite und befanden sich etwa auf gleicher Höhe des Eiswalls, der sich um die Zitadelle legte. So sehr Atlan seine Augen auch anstrengte, er fand keine einzige Lücke in der etwa zehn Meter hohen Mauer, deren Kern wahrscheinlich ebenfalls aus Fels bestand. Aber der ganze Komplex war riesig groß. Man würde ihn umrunden müssen, um einen Weg ins Innere zu finden. Fenrir war ein Stück vorgelaufen, hinab in das hier übersichtliche Vorfeld der Festung. Er blieb stehen und sah zurück zu den Männern. Es schien, als wolle er sie auffordern, ihm zu folgen. »Er will nach Norden, vielleicht hat er etwas gewittert.« Atlan klopfte Razamon auf die Schulter. »Gehen wir, sonst wird es noch Abend, bis wir etwas gefunden haben.« Sie näherten sich der Eismauer bis auf fünfzig Meter und hielten sich in dieser Entfernung. Sie reichte gerade, um noch die Spitzen der Türme und Zinnen hinter dem Wall sehen zu können. Wenn sie geglaubt hatten, weiter nördlich gäbe es keine heißen Quellen und Geysire mehr, sahen sie sich getäuscht. Die warmen Bäche hatten auch hier das Gelände verformt und schmale Täler gebildet, die durchquert werden mußten. Der Eiswall setzte sich ohne Unterbrechung fort. Erst als sie etwa zehn Minuten nach Norden marschiert waren, bog der Wall allmählich in östliche Richtung ab. Sie folgten ihm in der üblichen Entfernung von fünfzig Metern. Wieder veränderte sich das Gelände. Es wurde flacher und übersichtlicher. Von der Zitadelle aus gerechnet mochte der ebene Streifen fast einen Kilometer breit sein,
26 dann begannen wieder die üblichen Hügel und Eisschluchten. Razamon freute sich: »Jetzt kommen wir schneller voran. Ich glaube ja nicht, daß wir an der Nordseite einen Eingang finden, der Süden wäre wahrscheinlich günstiger. Aber eine Vermutung ist so gut wie die andere.« Fenrir war weit vorgelaufen. Es war ein beruhigendes Gefühl, den Wolf als Sicherung dabei zu haben. Seine Nase war besser als die der beiden Männer, und er würde eine Gefahr lange vor ihnen bemerken. Sie schritten schneller voran, während hinter ihnen die Sonne langsam nach Westen wanderte. Nicht mehr lange, dann würde es zu dämmern beginnen. Und bis jetzt hatten sie noch nichts erreicht. Fenrir wartete, bis sie ihn eingeholt hatten, dann lief er wieder vor. Als er einen Vorsprung von zwanzig Metern hatte, geschah etwas Unheimliches. Atlan und Razamon sahen es gleichzeitig, da sie zufällig in dieselbe Richtung blickten. Fenrir knickte plötzlich mit allen vier Beinen ein und platschte auf den Bauch. Dabei stieß er ein jämmerliches Jaulen aus und versuchte offensichtlich, wieder auf die Füße zu gelangen. Seine Bewegungen waren so, als hätte er sich sämtliche Knochen gebrochen. Razamon begann sofort zu rennen, um dem Tier zu helfen. »Warte! Sei vorsichtig!« rief Atlan und lief hinter ihm her. Er konnte sich den seltsamen Vorgang nicht sofort erklären, und die Vermutung, die er hatte, erschien ihm zu phantastisch. Fenrir arbeitete sich mühsam Zentimeter für Zentimeter voran, dabei heulte er, als sei er in eine Fußfalle geraten. Er lag platt auf dem Eis, als drücke ihn ein unsichtbares Gewicht nieder. Selbst den Kopf schien er nicht mehr anheben zu können. Razamon beherzigte Atlans Warnung nur halb, indem er langsamer als zuvor lief. Die Pekto und die Tragbeutel hatte er fallen lassen, um die Hände frei zu haben. Er war
Clark Darlton noch fünf Meter von Fenrir entfernt, als er einen Schrei ausstieß und stürzte. Unwillkürlich hatte er die Hände vorgestreckt, um den Aufprall abzumildern, aber Atlan sah, daß die Arme wie Gummi einknickten. Dann lag Razamon mit dem Gesicht nach unten auf der glatten Eisfläche und rutschte langsamer werdend weiter, bis er neben Fenrir endlich zur Ruhe kam. Atlan war mit einem Ruck stehen geblieben, zehn Meter von den beiden Gestürzten entfernt. Wenn er ihnen helfen wollte, durfte er keinen Schritt mehr weitergehen. So unglaublich es auch schien, aber seine Vermutung hatte sich bestätigt. Fenrir und Razamon waren in eine Zone höherer Schwerkraft geraten. Ihr Gewicht mußte sich verdoppelt oder gar verdreifacht haben. Der Begriff »Das schwere Eis« hatte plötzlich einen Sinn bekommen.
* »Ruhig liegen bleiben«, warnte er und begann das Seil abzuwickeln. »Jede Bewegung kostet Kraft. Wie fühlst du dich?« »Schwer!« gab Razamon mühsam zurück und versuchte trotz Atlans Warnung, sich auf dem Eis zu drehen. Es gelang ihm auch. »Das müssen an die drei Gravos sein!« »Eine hübsche Falle. So, ich werfe dir jetzt das Seil zu. Binde es dir um den Leib und packe Fenrir am Nackenfell. Ich denke schon, daß ich euch beide zugleich herausziehen kann, sind ja nur ein paar Meter. Vielleicht kannst du auch nachhelfen.« Das Seil flog ein kleines Stück völlig normal durch die Luft, aber dann wurde es von der unsichtbaren Kraft der erhöhten Schwerkraft fast senkrecht in die Tiefe gerissen. Razamon konnte es nicht erreichen, so sehr er sich auch streckte. Atlan mußte mehrmals werfen, ehe seine Berechnung stimmte. Razamon zog das Seilende zu sich heran und stöhnte vor Anstrengung bei der geringsten Bewegung. Mühsam gelang es ihm, es unter seinem Bauch durchzuschieben und zu verknoten.
Zitadelle im Eis Fenrir lag nun dicht neben ihm. Mit letzter Kraftreserve krallte er die rechte Hand in das Fell des Wolfes und blieb dann erschöpft liegen. Atlan suchte nach einem festen Halt für seine Füße, was nicht so einfach war. Aber zum Glück lagen Razamon und Fenrir auf einer glatten Eisfläche, die Reibung war nur gering. Immerhin machte sich das erhöhte Gewicht bemerkbar. Meter um Meter zog Atlan sie hinter sich her, bis er plötzlich ein Nachlassen des Seils spürte. Fenrir sprang auf und bellte freudig, obwohl er sicherlich nicht begriffen hatte, was geschehen war. Auch Razamon erhob sich, band aber das Seil nicht los. »Erhöhte Gravitation, kein Zweifel. Kann es sich da um eine besonders große Ansammlung reinen Erzes handeln?« Atlan schüttelte den Kopf. »Nein, das ist eine Schutzeinrichtung jener, die die Zitadelle bauten. Ein künstliches Gravitationsfeld, um ungebetene Gäste fernzuhalten. Die Leute müssen technisch ganz schön auf Draht gewesen sein. Du hast recht, wir bleiben besser angeseilt. Ich fürchte, wir werden noch mehr Überraschungen erleben.« »Vielleicht ist es besser, wenn wir nicht so nah an dem Eiswall bleiben. Außerdem wird es bald zu dämmern anfangen. Wir brauchen einen warmen Platz für die Nacht.« »Willst du schon wieder baden?« Razamon grinste. »Na ja, geschwitzt habe ich eben schon ganz ordentlich:« Sie wichen nach links aus und folgten dann parallel der Burgmauer in einem Abstand von fünfhundert Metern. Das Anseilen erwies sich als überflüssige Vorsichtsmaßnahme, denn die Schwerkraft veränderte sich nicht mehr. Wahrscheinlich befanden sich diese raffinierten Fallen nur in unmittelbarer Nähe der Zitadelle. Sie schafften es noch bis zu jener Stelle der Mauer, die am weitesten nordöstlich lag. Hier bog sie wieder nach Süden ab.
27 Die Sonne war untergegangen, und es dämmerte bereits stark. Die Sicht war schlecht, und so war nicht mehr zu erkennen, was sie im Süden erwartete. In der Nähe eines sprudelnden Geysirs fanden sie eine kahle und von unterirdischen Quellen erwärmte Felsplatte, die von halb abgeschmolzenen Eiswänden umgeben war. Da an dieser Stelle auch kein Wind wehte, konnten sie sogar ihre Pelzjacken ausziehen. Razamon grub mit den Händen am Rand des Geysirs ein Loch, in das er heißes Wasser leitete. Es gab wieder Trockengemüse und Dörrfleisch. Dann lagen sie lang ausgestreckt auf dem warmen Felsen und sahen hinauf in den bewölkten Nachthimmel. Nur vereinzelt schimmerten ein paar Sterne durch Wolken und Nebelschwaden. »Wer hat diese verdammte Burg gebaut«, murmelte Razamon schläfrig. »Das möchte ich doch zu gerne wissen …« »Vielleicht finden wir morgen einen Durchschlupf. Wir müssen nun so oder so nach Süden und dann wieder nach Osten gehen.«
4. Der Magier Marxos haßte alles, was ihm unbekannt war, und kein einziger Magier in der Großen Barriere von Oth kannte die Herren der FESTUNG. Trotzdem dienten sie ihnen, wenn auch jeder auf seine Art. Marxos dachte nicht daran, diesen Unbekannten sein Wissen mitzuteilen oder zur Verfügung zu stellen. Einsam hauste er in seiner kleinen Felsenburg auf dem Gipfel eines Berges im Westteil der Barriere und widmete sich seinen Studien. Es mochte auch auf Pthor Leute geben, die Magie mit Zauberei gleichsetzten, und damit unterlagen sie einem grundlegenden Irrtum. Magie war Wissenschaft, die sich mit geheimem Wissen mischte. Magie erforschte Dinge, die es einst gegeben hatte und die in Vergessenheit geraten waren. Sie befaßte sich mit Kenntnissen fremder Zivilisationen und Erfahrungen, die einem Unein-
28 geweihten als Zauberei erscheinen mußten. Von seiner Burg aus sah Marxos weit nach Norden, wo die Straße der Mächtigen und dahinter die furchtbare Ebene Kalmlech lag, in der die Horden der Nacht hausten. Der Magier hatte viel von den Geschehnissen im Norden gehört, aber seine Forschungen hinderten ihn daran, sich selbst um diese geheimnisvollen Dinge zu kümmern. Ihn beschäftigte das Phänomen des Nachbarberges, das er erst kürzlich entdeckt hatte, als er eine Wanderung unternommen hatte. Als er einen schmalen Felsgrat entlangging, hatte sich sein Gewicht plötzlich ohne jeden Grund verdoppelt, und fast wäre er in den Abgrund gestürzt. Nur der Umstand, daß er sich geistesgegenwärtig an einem Felsvorsprung festklammerte, rettete ihm das Leben. Auf dem Berg lebte kein Magier, es konnte sich demnach nicht um eine Falle für Unbefugte handeln. Es mußte sich um ein natürliches Phänomen handeln, dessen Geheimnis er ergründen wollte. Er mußte sich nach einigen Jahren eingestehen, daß ihm das nicht gelungen war, wenn er auch weitere Stellen mit erhöhter Schwerkraft gefunden hatte. Aber ein anderer Erfolg war ihm beschieden worden. In mühseliger Arbeit hatte er die Famulka erdacht und gebaut. Die Famulka war eine zweizackige Gabel aus bestem Stahl, die an eine ganz normale Wünschelrute erinnerte. Marxos brauchte nur die beiden Enden fest in die Hand zu nehmen, und schon deutete der Griff der stählernen Gabel in jene Richtung, in der die Gravitation variierte, ob sie nun geringer oder höher als normal war. Die Stärke des Ausschlags verriet dem Magier die Höhe der Abweichung. Mit Hilfe der Famulka erforschte Marxos den herrenlosen Berg und stellte große Lager an Edelmetallen fest. Dieses Wissen behielt er für sich und teilte es nicht den gelegentlich auftauchenden Technos mit, die ebenfalls den Herren der FESTUNG dienten.
Clark Darlton Vor nicht sehr langer Zeit traf er am Fuß seines Berges einen einsamen Wanderer, der die Barriere durchqueren und zum Südmeer wollte. Marxos warnte ihn vor den Gefahren, die überall auf ihn lauerten, aber der Fremde war nicht von seinem Vorhaben abzubringen. Während sie sich unterhielten, erwähnte der Unbekannte, daß er hoch aus dem Norden komme und seltsame Abenteuer zu bestehen gehabt habe. Er sei durch die Senke der verlorenen Seelen gewandert, wo unbegreifliche Dinge vor sich gingen, die niemand enträtseln könne. Aber das größte Geheimnis für ihn sei die Zitadelle an der Eisküste, die von Geistern bewohnt sein müsse. Geister hatten Marxos schon immer fasziniert, und so fragte er den Fremden nach Strich und Faden aus. Viel konnte er allerdings nicht erfahren, aber es genügte, seine Neugier zu wecken und einen Entschluß zu fassen. Insbesondere in dem Augenblick, in dem der Fremde die Gravitationsfallen erwähnte, die jedem den Zutritt zu der Eiszitadelle verwehrten. Er hatte sich hastig von dem Fremden verabschiedet und war auf seine Burg zurückgekehrt, wo er sofort mit den Vorbereitungen für seine lange Wanderung quer durch Pthor begann. Marxos war ein Riese, zwei Meter groß, breit gebaut und muskulös. Aus seinem bronzefarbenen Gesicht leuchteten zwei grüne Augen, die jedes Hindernis zu durchdringen schienen. Seine halblangen, schwarzen Haare hingen stets über den Kragen seines weißen Pelzes, den er zum Schutz gegen die Kälte der Berge trug. Im Ledergürtel steckte die Famulka, auf der anderen Seite sein Jagdmesser. Zu seiner Ausrüstung gehörte auch ein Feuerzeug, das er selbst gebastelt hatte. Er besaß keine Freunde, von denen er sich hätte verabschieden müssen. Im Gegenteil: Er mißtraute den anderen Magiern und zog es vor, seine Burg heimlich bei Nacht zu verlassen, um nicht beobachtet zu werden. So machte er sich eines Tages auf den
Zitadelle im Eis Weg nach Norden, um das Geheimnis der Eiszitadelle zu ergründen. Im ersten Jahr seiner Wanderung überquerte er die Straße der Mächtigen und die Ebene Kalmlech, in der er ungeahnte Abenteuer zu bestehen hatte. Im zweiten Jahr durchschwamm er den Fluß, den man den Regenfluß nannte, und gelangte so in die Senke der verlorenen Seelen, wo er von Technos verfolgt und einmal sogar gefangengenommen wurde. Nur mit Mühe gelang ihm die Flucht nach monatelanger Gefangenschaft. Im dritten Jahr wanderte er am Ostrand der Wüste Fylln entlang und erreichte endlich die Zone des ewigen Eises. Nun erst kam ihm sein langer Pelz zustatten, der vorher oft zur Last geworden war. Die Kälte erinnerte ihn an die Berge im Süden, und sie tat ihm gut. In diesen Regionen begegnete er niemandem mehr. Einmal nur traf er mit einem Trupp von Jägern zusammen, die ihn aber fürchteten und fast wie einen Halbgott behandelten. Soviel er herausfand, hielten sie ihn für einen gewissen Gloophy, und klugerweise ließ er sie in diesem Glauben. Und dazu hatte er auch allen Grund. Weiter südlich, an den Ufern des Regenflusses, hatte er ein merkwürdiges Erlebnis gehabt. Auf seiner Wanderung durch die Uferwälder, die vor der Senke der verlorenen Seelen lagen, war er einem Einsiedler begegnet, der in einem Baumhaus sein Leben fristete. Zwei Tage war er dessen Gast, und der alte Mann redete viel und gern. Das Gespräch kam unvermeidlich auf die Eiszitadelle, und da wurde der Alte plötzlich recht schweigsam. Marxos drang in ihn und flehte ihn an, mehr darüber zu verraten, denn die Zitadelle sei aus vielen Gründen sein Ziel. Endlich kramte der Einsiedler uralte vergilbte Schriften aus einer Truhe hervor und breitete sie auf dem roh gezimmerten Tisch der Baumhütte aus. Am anderen Tag las Marxos sie durch, und er fand vieles von dem bestätigt, was
29 ihm der Wanderer durch die Barriere angedeutet hatte. Die ungeheuerlichste Neuigkeit jedoch war die Behauptung, in der Eiszitadelle würde ein Antimateriewesen gefangengehalten. Darunter konnte sich Marxos eine ganze Menge vorstellen, und für ihn war die weitere Schilderung durchaus verständlich. Dieses Wesen sollte versehentlich in die Hände der Herren der FESTUNG gefallen sein und konnte nicht mehr unschädlich gemacht werden, ohne daß Pthor vernichtet worden wäre. So hatte man es in der Zitadelle isoliert und für alle Zeiten gefangengesetzt. Es war Marxos nicht klar, wie es gelungen sein konnte, organische Antimaterie derart zu neutralisieren, daß sie keinen Schaden mehr anrichtete. Er wollte es jedoch herausfinden! Und nun traf er die Jäger der Wargoons, für die das fremde Wesen allem Anschein nach zu einem Gott geworden war. Ihre Religion war aus einer Sage entstanden, deren Ursache tatsächliche Begebnisse sein mußten. Ohne viel zu reden, ließ er sich von den Jägern bedienen, nachdem er ihnen das mühsam gesammelte Holz in Brand gesteckt hatte, was sein Ansehen noch mehr steigerte. Sie sprachen von dem schweren Eis, ohne mehr darüber auszusagen. Auch die Zitadelle erwähnten sie, schienen sie aber nie in ihrem Leben gesehen zu haben. Immerhin konnten sie ihm die ungefähre Lage beschreiben. Marxos verbrachte die Nacht bei den Wargoons, trennte sich aber dann nach Sonnenaufgang von ihnen. Sie zogen in nordwestlicher Richtung davon, während er nach Norden ging. Fünf Tage wanderte er durch die Eiswüste, bis er endlich am Horizont die bizarren Umrisse der sagenhaften Eiszitadelle sah. Er hatte sein Ziel erreicht.
* Das war nun schon einige Wochen her.
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Clark Darlton
In einer Felsenhöhle unter der Eisdecke hatte er einen guten Unterschlupf gefunden. Seitlich sprudelte eine heiße Quelle aus dem Gestein, die gleich wieder im Boden versickerte und die Höhle erwärmte. Marxos trug seinen Pelz nur noch dann, wenn er sein Versteck verließ, um die Umgebung der Zitadelle zu erkunden. Mit Hilfe seiner Famulka entdeckte er die Zonen der erhöhten Schwerkraft, ohne allerdings eine befriedigende Erklärung für das Phänomen zu finden. Seiner Meinung nach handelte es sich um künstlich erzeugte Gravitationsfelder, die schon vor Urzeiten angelegt worden sein mußten und noch immer funktionierten. Er fand außerdem mehrere Lücken in dem riesigen Eiswall, der die Festung umgab. Sie waren allerdings ausnahmslos durch Gravitationsfallen abgesichert, in die auch er sich nicht begeben konnte. Seine Famulka warnte ihn immer rechtzeitig vor diesen Gebieten, und es gelang ihm, sie zu umgehen. Gestern erst stand er zum erstenmal vor einer Tür, die direkt in das Innere der Festung zu führen schien. Vergeblich hatte Marxos versucht, die schwere eiserne Tür zu öffnen. Mit einem Felsbrocken, den er mühsam durch das Sperrgebiet geschleppt hatte, klopfte er gegen die verschlossene Pforte, aber niemand kam, um sie zu öffnen. Erschöpft, aber nicht entmutigt kehrte er in seine Höhle zurück. Morgen war auch noch ein Tag, und dann würde er es noch einmal versuchen. Er wollte das Geheimnis lüften, das über der Eiszitadelle lag. Niemand würde ihn daran hindern können. Auch nicht die Toten, die er gesehen hatte.
* Nach Süden zu wurde das Gelände erneut schwieriger. Nach einer erholsamen Nacht waren Atlan, Razamon und Fenrir wieder aufgebro-
chen. Tiefe Schluchten erschwerten das Gehen und zwangen zu Umwegen, hinzu kam die ständige Angst vor neuen Gravitationsfeldern. Sie kamen nur unendlich langsam voran, weil jeder Schritt die plötzliche Gewichtszunahme und damit den Sturz bringen konnte. Zum Glück übernahm Fenrir freiwillig die Führung. Gegen Mittag überquerten sie eine zerklüftete Eisbarriere mit tausend Höhlen und Schluchten. Der Abstand zur Zitadelle betrug nun fast zwei Kilometer, da auch dort das Gelände unzugänglich schien. Als die Sonne am höchsten stand, erreichten sie den Rand der Barriere. Wortlos sahen sie hinab in das vom Eis eingeschlossene Tal. Es war nahezu rund und schien keinen zweiten Ausgang zu haben, aber das konnte täuschen. Nach Westen zu, in Richtung der Zitadelle, wurden die Eishänge einladend flach und bildeten fast eine Schneise. Durch sie gelangte man ohne besonders auffällige Hindernisse bis zur Burgmauer. Aber das war es nicht, was Atlan und Razamon für längere Zeit verstummen ließ. Vielmehr war es der Anblick des Tales selbst. Die Talsohle war ziemlich eben und wirkte ungefährlich und harmlos. Daß sie keins von beiden war, bewiesen die regungslos herumliegenden Körper der verschiedensten Lebewesen, von denen die meisten bereits mit einer Eisschicht umgeben waren, die sie für alle Zeiten konservierte. Das ganze Tal war ein einziger Friedhof. Razamon holte tief Luft, dann sagte er: »Es sind auch Wargoons dabei, sie müssen das Gebot ihrer Priester mißachtet haben. Aber ich sehe auch Angehörige anderer Völker. Sieh dort links! Das war einmal ein Fahrzeug. Die plötzlich einsetzende Schwerkraft hat es förmlich auseinanderbrechen lassen. Daneben liegen die unglücklichen Passagiere. Sie haben keinen Schritt mehr tun können …« Atlan nickte.
Zitadelle im Eis »Eine Falle, eine teuflisch perfekte Todesfalle, in die wir ebenfalls hineingerannt wären, hätte uns dieser Anblick nicht rechtzeitig gewarnt. Die Schwerkraft muß ungleich höher sein als an jener Stelle, die du ausprobiert hast.« »Vor allen Dingen scheint sie unregelmäßig aufzutreten, sonst sähe es da unten anders aus.« »Wie meinst du das?« »Ganz einfach. Würde sie an allen Stellen gleichmäßig hoch sein, lägen die Gruppen der Verunglückten nicht so verstreut herum. Sie lägen alle am Rand des Tales. Du siehst jedoch, daß es einigen dieser Leute gelungen ist, fast bis zur Talmitte vorzustoßen, dann erst hat es sie erwischt. Es muß also auch im Tal selbst noch Zonen mit normaler Gravitation geben.« »Also Wege?« »Richtig! Bloß – wie findet man sie?« Auf diese Frage gab es vorerst noch keine Antwort. Nach einigem Überlegen beschlossen sie, das Tal einfach im Osten zu umgehen, sich aber so dicht an seinem Rand zu halten, daß sie es immer unter Beobachtung hatten. Bald marschierten sie wieder nach Süden. Die Sonne blendete sie, denn sie stand vor ihnen. Ihre Strahlen wurden vom Eis reflektiert und trafen mit jedem Schritt ihre Augen in einem anderen Winkel. So entging ihnen die in einen weißen Pelz gehüllte riesige Gestalt, die weit vor ihnen jenseits des Tales auf einem Hügel stand und sie beobachtete. Razamon war stehengeblieben und sah hinab ins Tal. »Was ist das dort?« fragte er und deutete hinab. Atlan folgte seinem Blick. In einer Einbuchtung und nur schlecht einzusehen stand eine halb zertrümmerte Flugmaschine auf eingeknickten Landebeinen. Die drei Rotoren auf dem dosenförmigen Körper schienen unbeschädigt zu sein. Die Kabine befand sich seitlich hinter einer transparenten Kuppel.
31 In ihr saßen zwei reglose Gestalten. Atlan sagte langsam: »Sie ist nicht vereist und kann noch nicht lange hier sein. Sie erinnert mich an die Erzählungen der Wargoons. Vielleicht ist es jene Maschine, die ihre Pelze abholt. Ich frage mich nur, wieso sie in diese Falle geriet. Die Besatzung mußte sie doch kennen.« »Wenn sie, wie behauptet wird, in der Zitadelle wohnen, allerdings, aber vielleicht haben sie gelogen. Ob die beiden Kerle in der Kuppel noch leben?« »Kaum, Razamon. Sonst müßten wir versuchen, ihnen zu helfen. Sie sind eingeschlossen und können sich nicht bewegen.« »Das können sie auch nicht, wenn sie schon tot sind.« Atlan bückte sich und nahm einen Eisbrocken auf, holte weit aus und schleuderte ihn in Richtung des Wracks. Unter normalen Umständen hätte er es auch getroffen, aber der bogenförmige Flug des Wurfgeschosses wurde plötzlich unterbrochen. Senkrecht stürzte der Eisbrocken in die Tiefe und zersplitterte in tausend Stücke. »Ziemlich happig«, stellte Razamon trocken fest. »Das hält niemand aus, schon gar nicht eine Flugmaschine. Ich wundere mich, daß sie nicht total zerstört wurde. Sie muß wie ein Stein heruntergefallen sein.« »Vielleicht flog sie sehr niedrig, oder die Gravitationsfelder reichen nicht sehr hoch. Jedenfalls kann es nur ein Sturz aus wenigen Metern Höhe gewesen sein. Ich fürchte, helfen können wir hier keinem mehr. Und wenn es uns erwischt, wird uns auch keiner helfen.« »Und wie sollen wir in die Zitadelle gelangen, wenn wir kein Risiko eingehen?« »Das weiß ich noch nicht, wenn ich ehrlich sein soll. Aber wir werden es auf jeden Fall versuchen.« Sie gingen vorsichtig weiter und erreichten schließlich die Südseite des Tals. Dahinter lag wieder eine zerklüftete Ebene mit Hügeln und Schluchten, aus denen der weiße Nebel der Geysire stieg. Im Westen bog der Schutzwall der Zita-
32 delle ab. Ein wenig ratlos machten sie halt. Der Hang hinab ins Tal war an dieser Stelle besonders flach und an einigen Stellen sogar eisfrei. Wären die Zonen der erhöhten Schwerkraft nicht gewesen, so hätte Atlan keine Sekunde gezögert, jetzt das Tal zu erkunden, um einen Zugang zur Zitadelle zu finden. Aber die vielen Toten waren Warnung genug. Außerdem näherte sich die Sonne schon wieder den Bergen im Südwesten. In einer Stunde setzte die Dämmerung ein. Diesmal bückte sich Razamon, um einen Eisbrocken aufzuheben. Er warf ihn mit aller Kraft schräg nach oben über das Tal, damit er so weit wie möglich flog. Und das tat er auch, ohne seine Flugbahn abrupt zu verändern. Erst als er schon aufgeschlagen war und weiterrollte, blieb er plötzlich wie festgenagelt liegen. »Es gibt tatsächlich regelrechte Gravitationsschleusen«, murmelte Atlan beeindruckt. »Mit Hilfe solcher Würfe könnten wir sie herausfinden, wir müßten nur einen Plan dazu machen. Wenn wir dann mit aller Vorsicht Stück für Stück in das Tal eindringen, könnte es uns gelingen, an die Zitadelle heranzukommen. Der Zugang wäre frei, denn der Ringwall ist hier unterbrochen.« »Das ist es ja gerade, was mich stutzig macht«, gab Razamon zu. »Sieht mir zu einladend aus, und die armen Kerle im Tal sind ja auch darauf hereingefallen.« Atlan nickte, dann meinte er: »Heute ist es schon zu spät, aber wir haben die ganze Nacht Zeit, es uns zu überlegen. Morgen sehen wir dann weiter.« »Hier oben ist es ziemlich kalt, besonders nachts. Suchen wir einen geschützteren Platz.« Er deutete nach Süden. »Da sind Geysire.« Fenrir hatte die ganze Zeit über ein paar Dutzend Meter abseits gestanden, die Nase hoch in die Luft gestreckt, als wittere er etwas Verdächtiges. Aber er knurrte nicht. Er war sich also seiner Sache noch nicht sicher. In einer schmalen und tiefen Schlucht, die
Clark Darlton gut zugänglich war, fanden sie einen geeigneten Lagerplatz. Fenrir kam zwar mit ihnen, verschwand dann aber wieder, nachdem er sein Stück Dörrfleisch verschlungen hatte. Das war nicht ungewöhnlich. Vielleicht hatte er Wild gewittert, von dem niemand wissen konnte, wie es in dieser lebensfeindlichen Umwelt überlebte. Sie schliefen erst nach einer langen Diskussion ein, und als sie am anderen Morgen erwachten, war Fenrir noch immer nicht zurückgekehrt. Dem Wolf mußte etwas zugestoßen sein.
* Fenrir hatte an diesem Abend eine Witterung aufgenommen, aber er konnte sie nicht definieren. Der Wind schlug öfters um, und er bekam den fremdartigen Geruch nur dann in die Nase, wenn er für Sekunden aus dem Süden wehte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, ob die Witterung Gefahr bedeutete oder nicht. Es handelte sich auch nicht um ein Kaninchen oder sonst ein Kleinwild, das in dieser Eiswelt sein Dasein fristete. Es mußte etwas anderes sein. Fenrir geduldete sich, bis er seine Fleischration erhalten hatte, dann machte er sich auf die Suche. Meist kam der Wind aus Norden, was seine stille Jagd erschwerte. Seine Beute allerdings war südlich von ihm. Wie weit, das allerdings wußte er nicht. Ihm blieb nur die Möglichkeit, solange nach Süden zu laufen, bis er die Witterung aus dem Norden zugeweht erhielt. Dann würde es leicht für ihn sein, die Quelle des Geruchs aufzustöbern. Er durchquerte Schluchten und schroffe Eishänge, rutschte mehrmals in der einfallenden Dämmerung in steile Täler hinab, kam aber immer wieder heraus, ohne sich zu verletzen. Die lockende Witterung verlor er schließlich ganz, ohne sich jedoch dadurch verwirren zu lassen. Er wußte, daß er sie unweigerlich wiederfinden mußte, wenn er nur weit genug nach Süden wanderte.
Zitadelle im Eis Inzwischen war es dunkel geworden. Aus dem Trab Fenrirs war ein vorsichtiges Vorantappen geworden. Er kam nur noch langsam vorwärts, und als er zum erstenmal daran dachte, die nun aussichtslos erscheinende Suche abzubrechen, erreichte ihn der fremdartige Geruch genau aus nördlicher Richtung. Und nun blieb sie. Er machte kehrt und witterte. Dann kannte er die Richtung. Schon nach wenigen Metern mußte er vom bisherigen Pfad abweichen, den er gekommen war. Damit geriet er erneut in unbekanntes Gelände. Er konnte sich nur noch auf seinen Geruchssinn verlassen, denn viel zu sehen war nicht mehr. Das Eis reflektierte zwar das Licht der Sterne, und er hatte gute Augen, aber auch ihnen entging manches, das ihnen am hellen Tag nicht entgangen wäre. Die Witterung wurde immer deutlicher. Die Beute konnte nicht mehr weit entfernt sein. Hundert Meter vielleicht oder zweihundert. Fenrir hörte nichts Verdächtiges. Lautlos schlich er durch die Nacht über das hier glatte Eisfeld dahin. Wasserdampf mischte sich unter die Witterung, weiter vorn mußte ein Geysir sein. Geysire, das wußte der Wolf inzwischen, waren günstige Lagerplätze … Nur für den Bruchteil einer Sekunde war er unachtsam, aber sie genügte, ihn in eine natürliche Falle tappen zu lassen. An dieser Stelle mußte einst eine heiße Quelle gewesen sein, die aus unerfindlichen Gründen wieder versiegte. Vorher jedoch hatte sie einen runden Kessel mit überhängenden Wänden aus dem Eis geschmolzen, gut sieben oder acht Meter tief. Fenrir rutschte, verlor den Halt und stürzte in den perfekten Käfig. Zum Glück erlitt er außer einigen Prellungen keine ernsthaften Verletzungen, aber er saß fest. Ohne fremde Hilfe kam er hier nicht mehr heraus. Fast eine halbe Stunde saß er auf dem Grund des Kessels, über sich den runden Ausschnitt mit dem Nachthimmel und den Sternen. Er begann zu frieren. Einige Luft-
33 wirbel brachten ihm wieder die Witterung zu, nah und sehr frisch. Der Lagerplatz von Atlan und Razamon war zu weit entfernt, sie hätten sein hilfesuchendes Jaulen nicht gehört, wohl aber der Fremde, den zu suchen er aufgebrochen war. Also blieb Fenrir ruhig. Um nicht völlig steif zu werden, blieb er in Bewegung. Der Boden des Kessels besaß etwa vier Meter Durchmesser. Wie ein Gefangener in seiner Zelle lief er immerzu an seinem Rand entlang. Es war eine lange Nacht, in der er viele Kilometer zurücklegte, ohne auch nur einen einzigen Meter weiterzukommen. Dann – endlich – dämmerte der Morgen. Fenrir blickte an den steilen Eiswänden hoch, sah aber nur den Himmel über sich. Es gab keinen Vorsprung, auf den er hätte springen können, und sieben Meter schaffte er nicht aus dem Stand heraus senkrecht nach oben. Ihm blieb keine andere Wahl, obwohl die Witterung noch immer vorhanden war. Er mußte das Risiko eingehen, hilflos in einer Falle getötet zu werden. Aber vielleicht hörten ihn auch Atlan oder Razamon und kamen rechtzeitig. Er stieß die Schnauze in die sich langsam erwärmende Luft und begann mit einem Heulkonzert, das selbst Tote aus ihren Gräbern geholt hätte. Fenrir legte eine Pause ein, um sich zu erholen, dann begann er von neuem. Diesmal noch lauter und viel jämmerlicher. Und dann sah er plötzlich oben am hellen Rand des Eiskessels einen weißen Schatten auftauchen, der gegen den Himmel allerdings fast schwarz wirkte. Ein bronzefarbenes Gesicht sah zu ihm herab, von einer Pelzkapuze umrahmt. In der Hand hielt das Wesen ein großes Messer. »Wo kommst denn du her?« fragte der Fremde in Pthora. »So weit im Norden. Unten in der Barriere von Oth gibt es Wölfe, aber doch nicht hier oben? Du bist der erste, den ich sehe, und wie es scheint, kennst du die Gefahren dieser verrückten Gegend
34 nicht.« Fenrir verstand den Sinn der Worte, aber er konnte nicht antworten. Die Witterung verriet ihm, daß nicht er sein Opfer, sondern sein Opfer ihn gefunden hatte. Dazu noch in einer hoffnungslosen Lage. Wenn doch nur Atlan und Razamon kämen! Erneut begann er zu jaulen, vermischt mit einem hellen Bellen, das Vorsicht gebot. Wenn er seine Freunde warnen wollte, knurrte oder bellte er, je nach Lage der Dinge. Diesmal mußte er laut bellen, damit sie ihn hören konnten. »Ruhig, mein Freund«, sagte der Fremde. »Ich werde dir nichts tun, sondern dir helfen. Aber sei vorsichtig und greife mich nicht an, wenn ich dich herausgezogen habe. Mein Messer bleibt griffbereit. Und nun warte ein wenig …« Fenrir hörte auf zu jaulen und heulen. Er setzte sich in die Mitte des Kessels und blickte unentwegt nach oben. Der Fremde war verschwunden. Er hörte ihn oben rumoren, und dann erschien wieder sein Gesicht, diesmal allerdings ohne die Pelzkapuze und die weiße Pelzbekleidung. Die hielt er in der Hand, an dem langen Lederriemen befestigt. »Ich hoffe, es wird reichen«, sagte der Fremde und kniete sich am Rand des Eiskessels nieder. »Beiß dich im Pelz fest und laß nicht los. Ich ziehe dich zu mir herauf.« Fenrir begriff bald, was von ihm erwartet wurde. Selbst wenn er weniger Intelligenz besessen hätte, wäre ihm schon sein Instinkt zu Hilfe gekommen. Der Pelz des Fremden war gut zwei Meter lang, der Riemen fast drei. Durch eine Lederschlaufe war er mit dem Pelz verbunden. Das machten insgesamt fünf Meter. Hinzu kam der halbe Meter vom Arm des Fremden, der am Rand des Kessels auf dem Bauch lag und sich so weit wie möglich vorgeschoben hatte. Als Fenrir sich auf die Hinterbeine stellte, erreichten seine Zähne gerade den Rand des Pelzes. »Ja, so ist es richtig!« rief der Fremde zu
Clark Darlton ihm herab. »Und nun beiße zu und halte dich fest!« Er lachte dröhnend. »Aber hier darfst du dann nicht mehr zubeißen, verstanden …?« Fenrir schlug die Reißzähne in den Pelz und stemmte sich mit allen vier Füßen von der Eiswand ab. Als der Fremde zu ziehen begann, half er mit, so gut es ging. Er spürte, wie seine Zähne fast auszubrechen drohten, aber er gab nicht nach. Zentimeter für Zentimeter wurde er in die Höhe gezogen, ohne daß der Fremde eine Ruhepause eingelegt hätte. Fenrir konnte ihn nun nicht mehr sehen, aber der obere Rand des Kessels kam näher und näher. Der Riemen verschwand, dann rutschte auch der Pelz über den abgerundeten Rand. Fenrir folgte. Mit letzter Kraft klammerte er sich noch fest. Und dann, endlich, spürte er wieder festen Boden unter den Füßen. Er ließ den Pelz los und stand da, an allen Gliedern zitternd, aber diesmal nicht vor Kälte, denn eine plötzliche Schwäche war es, die ihn umzuwerfen drohte. Vielleicht mißverstand der Fremde ihn, jedenfalls stand er mit dem Rücken gegen einen Eisblock gelehnt, das Messer in der rechten Hand. Aber er griff nicht an, sondern er wartete. Fenrir wedelte mit dem Schweif, um ihm zu zeigen, daß er nichts vor ihm zu befürchten habe. Das schien sein Retter sofort zu verstehen, denn er lächelte und ließ die Hand mit dem Messer sinken. In diesem Augenblick hörte der Wolf Atlans Stimme: »Fenrir! Melde dich! Wo steckst du denn?« Der Fremde, der den Riemen gelöst und den Pelz wieder angelegt hatte, blieb reglos stehen. Dann schnallte er sich hastig den Gürtel um und schob das Messer in die Scheide. Er hatte den Wolf am Vortag mit zwei Männern gesehen und wußte, daß es sich um ein gezähmtes Tier handelte, darum hatte er ihn auch gerettet. Aber er wußte nicht, wie sich die beiden
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Männer ihm gegenüber verhalten würden. Woher sollten sie wissen, daß er ihren Wolf vor dem sicheren Tod gerettet hatte? Fenrir bellte dreimal, dabei sah er Marxos an und wedelte wieder mit dem Schwanz. Eine Geste, die nicht mißverstanden werden konnte. Marxos stand wieder mit dem Rücken an den Felsen gelehnt, die Hand am Griff des Messers. Fenrir kam zu ihm und ließ sich demonstrativ zu seinen Füßen nieder. Marxos verstand die Geste des Zutrauens und der Dankbarkeit. Er begann sich über die Intelligenz des Tieres zu wundern. So ein Wolf fehlte ihm noch als Begleiter auf seinen langen Wanderungen. Dieser hier aber hatte schon einen Herrn. Oder sogar zwei. Ruhig und gefaßt erwartete er sie.
5. »Das kann nur Fenrir sein!« Razamon stand etwas oberhalb des Lagerplatzes und lauschte. Nun hörte auch Atlan das Jaulen des Wolfes, und dazwischen das helle Bellen. »Er muß etwas entdeckt haben, oder er sitzt in einer Falle. Sonst würde er das nicht tun.« Atlan griff nach seiner Pekto. »Hast du die Richtung?« »Genau im Süden! Bring meine Harpune mit, das andere Zeug lassen wir hier liegen. Wir holen es später.« Razamon hatte sich die Richtung an einigen markanten Punkten gemerkt, so daß sie den Weg auch fanden, als Fenrir ruhig geworden war. Als sie einen flachen Hang erstiegen hatten, hörten sie den Wolf ganz in der Nähe dreimal bellen. Sie umrundeten eine niedrige Eiswand und sahen einen gut zwei Meter großen, breitschultrigen Mann in weißem Pelz, der ihnen mit blauen Augen neugierig entgegenblickte. Fenrir lag schweifwedelnd zu seinen Füßen, als hätte er einen alten Freund nach vielen Jahren wiedergefunden. Atlan ließ die erhobene Pekto sinken.
Razamon folgte seinem Beispiel. Der Fremde nahm die Hand vom Griff des Messers. »Ich bin Marxos«, sagte der Mann im weißen Pelz. »Ich habe den Wolf aus der Eisgrube gezogen, sonst wäre er darin verhungert.« Atlan legte seine Harpune auf den eisigen Boden und ging mit ausgestreckter Hand auf Marxos zu. Er stellte sich und Razamon vor und sagte dann: »Wir sind dir zu großem Dank verpflichtet, Marxos, denn der Wolf Fenrir ist unser guter Freund. Ohne dich wäre er verloren gewesen, wenn wir ihn nicht gefunden hätten. Was tust du hier in dieser Eiswüste?« »Das ist eine lange Geschichte, aber ich erzähle sie euch gern, wenn ihr mir die eure berichtet. Vielleicht haben wir das gleiche Ziel und könnten uns gegenseitig helfen. Ich bin nun schon seit einigen Wochen hier und kenne einige der Gefahren, die uns erwarten. Gestern sah ich euch bereits, darum wußte ich auch, daß der Wolf nicht wild ist.« »Darum hast du ihn gerettet?« »Wahrscheinlich hätte ich es auch getan, wenn er wild wäre, nur hätte ich dann vorsichtiger sein müssen. Er heißt also Fenrir? Ein seltsamer Name.« »Aber kein unbekannter, Marxos. Man kennt diesen Namen auf vielen Welten.« »Du willst die Eiszitadelle erkunden?« fragte Razamon geradeheraus, und als Marxos nickte, gab er zu: »Wir auch! Aber wir sind erst seit gestern hier. Die Wargoons hatten uns gefangen und wollten uns ihrem Gott Gloophy opfern. Zum Glück gelang uns rechtzeitig die Flucht.« Marxos lachte, bis ihm die Tränen kamen. »Sie wollten euch opfern …? Das ist zu komisch, denn als ich ihnen vor langer Zeit begegnete, hielten sie mich für diesen Gloophy. Wahrscheinlich sehe ich ihm ähnlich.« »Kein Wunder, bei dem weißen Pelz.« Atlan streichelte Fenrir, der sich erhoben hatte. »Du wirst hungrig sein.« Er stand auf und klopfte Marxos auf die breiten Schultern. »Komm mit, wir haben noch genug zu
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essen für alle.« »Auch ich besitze noch eingefrorene Fleischvorräte. Wenn wir uns zusammentun, halten wir es schon eine Weile aus.« Er führte sie zu seiner Höhle und zeigte ihnen stolz seine Kühlkammer im Hintergrund. Fenrir leckte sich genießerisch das Maul, als er die Kaninchen, Vögel und Fische sah, die ausgenommen und tischfertig auf dem Eis lagen. Marxos grinste und lud sich eine Riesenportion auf den Arm. »Zuerst ein Festmahl, dann reden wir über die Zukunft.« Dann erst zeigte er ihnen seinen mühsam, weit im Süden eingesammelten Holzvorrat, der bei den beiden Männern noch mehr Bewunderung hervorrief als die Kaninchen, Vögel und Fische. Fenrir war das Holz gleichgültig. Er hätte seinen Anteil an dem bevorstehenden Festmahl auch roh verzehrt.
* Das Feuer, das sie auf einer Felsplatte entzündet hatten, brannte langsam nieder. Sie mußten sparsam mit dem Holz umgehen, denn hier im Norden gab es kaum Baum oder Strauch. »So habt ihr auch nicht mehr entdeckt als ich«, sagte Marxos nach langem Austausch ihrer bisherigen Erfahrungen. »Natürlich kenne ich die Gravitationsfallen – etwas anderes sind sie nicht. Die Erbauer haben sie angelegt, um Besucher von der Zitadelle fernzuhalten. Das Interessanteste von allem ist aber das Todestal.« »Wir haben es gesehen«, warf Razamon ein. »Ich weiß, denn ich habe euch gestern beobachtet. Wahrscheinlich seid ihr zum gleichen Schluß gekommen wie ich: Wenn es überhaupt einen Weg in die Zitadelle gibt, dann durch das Tal! Ich habe keinen anderen Eingang entdecken können.« »Eingang? Es gibt einen?« »Ja, es gibt einen. Ein eisernes Tor, massig und massiv. Ich habe es zu öffnen ver-
sucht, aber es ist mir nicht gelungen.« Atlan schüttelte den Kopf. »Du bist durch das Tal gegangen, ohne getötet zu werden? Wie ist das möglich?« Marxos lächelte sein breites und freundliches Lächeln. »Ich habe meine Famulka«, eröffnete er seinen neuen Freunden und zog die metallene Gabel aus seinem Gürtel. »Sie hat mir den Weg gezeigt.« Ausführlich berichtete er nun über seine Wünschelrute und wie sehr sie ihm schon von Nutzen gewesen war. »Sie kann natürlich keine Wunder vollbringen, wenn sie mir auch die gefährlichen Zonen rechtzeitig verrät. Aber diese Zonen treten spontan auf.« »Spontan?« wunderte sich Razamon. »Ja, allerdings. Sie bleiben daher auch nicht konstant. Wenn ich also einen Weg mit viel Mühe markiere, so kann ich ihn nicht einfach wieder zurückgehen, weil sich inzwischen die Felder mit erhöhter Schwerkraft verlagert haben könnten. Sie sind nicht konstant und bleiben nicht an derselben Stelle. Sie wandern.« »Das macht alles noch komplizierter«, bemerkte Razamon enttäuscht. »Wenn es keine konstanten Gravitationsschneisen gibt, ist ein Durchkommen unmöglich.« »Das würde ich nicht sagen«, widersprach Marxos aus Erfahrung. »Ich habe es doch selbst ausprobiert. Wichtig ist nur, daß man mit der Famulka nicht nur in einer Richtung sichert, sondern nach allen Seiten. So wird man vor einer herannahenden Gravitationszone rechtzeitig gewarnt und kann ausweichen.« »Das Tor, hat es ein Schloß?« fragte Atlan. Marxos nickte. »Ja, ein seltsames Schloß. Wenigstens nehme ich an, daß es eins ist.« »Wie sieht es aus?« »Eigentlich ist es nur ein kleines, quadratisches Loch auf der rechten Seite. Ich nehme an, man braucht einen Schlüssel, um innen einen Riegel zu lösen.«
Zitadelle im Eis Atlan erkundigte sich sehr eingehend nach Größe und Tiefe des Loches, bis es Razamon zu bunt wurde. »Man könnte glauben, du wolltest ins nächste Kaufhaus gehen und dir einen Schlüssel bestellen.« »So ähnlich, aber vielleicht haben wir den Schlüssel schon jetzt bei uns. Wir werden ja sehen.« Als es dunkel geworden war, sagte Marxos plötzlich: »Kommt mit, ich will euch etwas zeigen.« Erstaunt folgten sie ihm hinauf zum südlichen Talhang, auf dem sie gestern schon gestanden hatten. Links blinkte der Eiswall im matten Licht der Sterne, dahinter waren die verschwommenen Umrisse der Zitadelle undeutlich zu erkennen. Atlan entsann sich, bei Tageslicht an der Frontseite des Hauptgebäudes eine vereiste Figur gesehen zu haben, die einst ein Künstler dort verewigt haben mußte. Sie war riesengroß und hatte nur ein einziges Auge mitten auf der Stirn. Auf dem pyramidenförmigen Aufbau stand eine zwanzig Meter hohe »Antenne«, die allerdings mehr wie eine gigantische Lanze aussah. Jetzt allerdings war nicht viel zu erkennen. Die länglichen Fensterhöhlen waren wie dunkle Löcher in einem Eisberg. Atlan hätte sich nicht gewundert, wenn hinter ihnen plötzlich Licht geschimmert hätte. »Nicht die Zitadelle wollte ich euch zeigen«, unterbrach Marxos das erwartungsvolle Schweigen der beiden Männer. »Seht hinab ins Tal. Bemerkt ihr da etwas?« Sie folgten der Aufforderung ihres neuen Freundes, konnten aber außer einigen Nebelschleiern, die in der Dunkelheit schwach zu leuchten schienen, nichts sehen. Dazwischen gab es völlig schwarze Regionen, lichtlos und voller Drohung. »Der Nebel …«, flüsterte Razamon. »Es ist kein Nebel«, unterbrach ihn Marxos. »Es hat lange gedauert, bis ich es herausgefunden habe. Es ist ein schwacher Lichtschimmer, der die Zonen erhöhter Gravitation markiert. Nachts also sind sie zu er-
37 kennen, bei Tage jedoch unsichtbar. Fällt euch auf, daß die Dunkelzonen sehr schmal sind und Wegen gleichen? Das sind die begehbaren Schneisen, aber ihr seht, daß es auch Sackgassen gibt. Wehe, wenn man da hineingerät und sie schließen sich hinter einem. Dann gibt es kein Entkommen mehr.« Unendlich langsam nur veränderten sich die schimmernden Felder, wurden größer und kleiner, und wanderten in unterschiedlichen Richtungen durch das Tal. Manchmal kreuzten sie die sicheren Dunkelzonen und ließen sie so zu Todesfallen werden. Wieder ergriff Marxos das Wort: »Ich habe das alles von hier oben aus lange genug beobachtet und festgestellt, daß in den Veränderungen eine gewisse Methodik liegt, so als geschähen sie nach einem ganz bestimmten und vorprogrammierten Muster. Wenn man es sich einprägen kann und wenn man in der Lage ist, das Wandern der Gravitationszonen genau vorauszuberechnen, hat das Tal seine Schrecken verloren. Aber dazu braucht man sehr viel Zeit.« »Ist es dir gelungen?« fragte Razamon leicht erregt. »Leider noch nicht, aber ich werde es trotzdem heute wieder versuchen. Für euch ist es noch zu früh.« »Wir kommen mit«, protestierte Atlan. »Ich werde allein gehen«, lehnte Marxos kategorisch ab. Behutsam zog er die Famulka aus seinem Gürtel. »Versteht doch, Freunde, es soll nur ein Test sein, der meine bisherigen Berechnungen bestätigt. In zehn Minuten etwa beginnt dort unten im Tal das neue Programm der wandernden Lichtfelder. Ich kenne diesen Teil fast auswendig. Er wiederholt sich alle fünf Stunden.« »Es ist zu riskant bei Nacht …« »Im Gegenteil: Nur nachts ist es einigermaßen sicher, weil die optische Orientierung hinzukommt. Tagsüber glaubt man zwar, mehr zu sehen, aber in Wirklichkeit ist man blind. Ich werde in einer Stunde zurück sein.« Vergeblich versuchte Atlan, Marxos zu überreden, wenigstens ihn mitzunehmen,
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während Razamon mit dem Seil in Bereitschaft blieb. »Es ist sinnlos, mein Entschluß steht fest. Wenn mein Versuch gelingt, werden wir morgen gemeinsam gehen und das Tor zur Zitadelle öffnen. Bleibt hier und beobachtet die leuchtenden Zonen. Prägt euch ihre Bewegung ein und achtet vor allen Dingen darauf, welche dunklen Schneisen von den Lichtzonen überlagert werden. Sie sind es, die den Tod bringen.« »Wenn wir uns alle drei anseilen«, begann Razamon, aber eine Handbewegung Marxos ließ ihn verstummen. »Noch fünf Minuten …« »Also gut.« Atlan griff in Fenrirs Nackenfell, damit er dem Magier nicht folgen konnte. »Dann geh allein. Wir halten das Seil bereit. Rufe uns, wenn du in Gefahr bist.« »Es kann sein, daß es länger als nur eine Stunde dauert«, erwiderte Marxos nur. Dann stieg er den flachen Hang hinab und tauchte in der weit nach oben reichenden Dunkelzone unter. Ein paarmal noch sahen die Zurückgebliebenen seinen weißen Pelz aufschimmern und hörten, wie seine Stiefel über das Eis rutschten, dann war er verschwunden. Eine unheimliche Stille lag plötzlich über dem Tal.
* Sie mußten Fenrir festbinden, um zu verhindern, daß er Marxos folgte. Der Wolf witterte die Gefahr, und sein Instinkt drängte ihn, seinem Retter beizustehen. Aber er wäre nicht weit gekommen. Atlan beobachtete das sich langsam verschiebende Muster der schimmernden Gravitationsfelder und versuchte, ein System hineinzubringen. Es dauerte auch nicht lange, bis er es gefunden hatte. Die Zonen höherer Schwerkraft schnitten in bestimmten Zeitabständen die ungefährlichen Dunkelschneisen ab und überlagerten sie oft völlig, so daß es für den, der sich in ihnen aufhielt, kein Entkommen mehr geben konnte. Andererseits bildeten sich immer
wieder Lücken, durch die man zur nächsten Schneise gelangte, wenn man schnell und geschickt genug war – und den Weg kannte. Der Zweck war sonnenklar: Das Tal war ein ungefährlicher Zugang zur Eiszitadelle für jeden, der das Geheimnis kannte und von dem periodisch wiederkehrenden Muster wußte. In dieser Hinsicht hatte Marxos sich nicht getäuscht. Die Frage war nur, ob er es lange und sorgfältig genug studiert hatte, um sich nicht zu irren. Nach drei Stunden war er noch immer nicht zurück. »Er hätte gerufen«, versuchte Razamon sich zu beruhigen. »Vielleicht …« Fenrir zerrte an seinem Seil und winselte leise. Gegen Mitternacht hielt Razamon es nicht mehr aus. »Wir müssen ihn suchen! Wir können nicht einfach hier herumstehen und nichts tun.« »Es wäre in der Dunkelheit sinnlos und gefährlich. Wir würden ihn niemals finden. Morgen, wenn es hell wird, können wir ihn vielleicht schon von dieser Stelle aus sehen und ihm helfen. Er ist kräftig und wird die höhere Gravitation schon aushalten, auch wenn er sich nicht mehr von der Stelle bewegen kann.« »Und warum ruft er nicht um Hilfe, wenn er noch lebt?« »Weil ihm die Schwerkraft die Lungen zusammenpreßt – oder weil er so klug ist, uns nicht unnötig gefährden zu wollen. Wenn auch wir in die Falle geraten, ist er mit Sicherheit ebenfalls verloren.« Razamon biß die Zähne zusammen. Er wußte, daß Atlan recht hatte. Dann, als er etwas sagen wollte und in Atlans Richtung sah, bemerkte er weit im Osten einen kleinen Lichtpunkt, der sich bewegte. Es konnte kein Stern sein. Aber es war auch kein Feuer, denn der Lichtschein, der von ihm ausging, war stetig und ruhig, ohne zu flackern. »Was ist das?« fragte er heiser. »Dort
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…!« Atlan schwieg lange, dann meinte er: »Jemand kommt, vielleicht mit einem Fahrzeug. Es wird wohl besser sein, wir ziehen uns in Marxos' Höhle zurück. Hier können wir im Augenblick nichts mehr tun.« »Geh vor, ich behalte das Licht im Auge.« Atlan zerrte Fenrir mit sich, der absolut am Talrand bleiben wollte. In der Höhle band er das Seil um einen schweren Eisblock, um die Hände frei zu haben. Er schob die noch warmen Aschenreste beiseite und streckte sich auf dem Felsen aus. Später würde er Razamon ablösen.
* Razamon beobachtete das näherkommende Licht, aus dem allmählich zwei wurden, je näher es kam. Atlans Vermutung schien sich zu bestätigen. Von Osten her näherte sich der Zitadelle zielbewußt ein Fahrzeug, dessen Lenker die Landschaft der Eisküste genau kennen mußte, sonst hätte er die Fahrt in der Dunkelheit kaum gewagt. Oder hatte er einen anderen Grund, nicht bei Tageslicht zu reisen? Razamon fand immer wieder zwischendurch Zeit, ins Tal hinabzuschauen, konnte aber nichts von Marxos entdecken. Vielleicht war es dem Magier inzwischen sogar gelungen, das Tor zu öffnen und in die Zitadelle einzudringen. Die Lichter des Fahrzeugs tauchten manchmal in einer Senke unter, um dann – ein gutes Stück näher – wieder aufzuleuchten. Sie kamen in fast gerader Linie direkt auf das Tal zu. Dann, noch gut tausend Meter entfernt, hielt das Fahrzeug an. Razamon hörte gedämpfte Stimmen an sein Ohr dringen. Der Wind stand günstig und kam von Norden. Er konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde, aber es mußte ein Dialekt sein. »Etwa ein halbes Dutzend«, murmelte er vor sich hin. »Zuviel für uns, wenn sie be-
waffnet sind …« Als ein Feuer drüben am jenseitigen Talrand aufflackerte, erloschen die beiden Lichter. Razamon konnte undeutlich einige Gestalten erkennen, die sich um das Feuer bewegten. Dann wurde es ruhiger, aber jemand schien Wache zu halten, denn die Flammen loderten stets auf, wenn Brennmaterial nachgelegt wurde. Die Neuankömmlinge warteten auf den Anbruch des Tages. Razamon schrak zusammen, als Atlan kam, um ihn abzulösen. »Nichts?« »Wenn du Marxos meinst – nichts. Die Kerle mit dem Fahrzeug lagern einen Kilometer von hier entfernt am Talrand. Sie haben uns gerade noch gefehlt!« »Sobald es hell wird, werden wir wissen, mit wem wir es zu tun haben. Vielleicht können sie uns helfen.« »Ich mißtraue jedem hier«, knurrte Razamon. »Marxos war eine Ausnahme. Wo ist übrigens Fenrir?« »Angebunden und schläft. Du verschwindest jetzt besser auch. In zwei Stunden wird es hell.« »Dann bin ich wieder hier«, versprach Razamon und ging. Atlan sah ihm nach, dann widmete er sich wieder der Beobachtung des Tals mit den wandernden Leuchtzonen. Er hätte nicht zu sagen vermocht, ob er das augenblickliche Muster schon einmal gesehen hatte oder nicht. Als es dämmerte, flackerte das Lagerfeuer drüben am Talrand wieder auf. Das Fahrzeug schälte sich allmählich aus der Dunkelheit und wurde sichtbar. Es handelte sich um eine Art Raupenschlepper mit großer Ladefläche, die mit Pelzen überdacht war. Sieben oder acht Gestalten lagen dicht beim Feuer, unförmig und undefinierbar in ihren dicken Pelzmänteln, mit denen sie sich zugedeckt hatten. Atlan stand hinter einem Eisblock geduckt, um nicht gesehen zu werden. Jetzt galt seine ganze Aufmerksamkeit dem Tal.
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Die leuchtenden Felder waren nicht mehr ausfindig zu machen, und die dunklen Schneisen normaler Gravitation blieben ebenfalls verschwunden, als habe die Sonne sie verscheucht. Vergeblich hielt Atlan nach einem weißen Pelz Ausschau. Marxos war nirgends zu sehen. Razamon kam herbei, Fenrir an der Leine. Die Nackenhaare des Wolfes waren gesträubt. Er knurrte leise und witterte in Richtung des fernen Lagerfeuers. »Wer kann das sein?« fragte Atlan. »Keine Ahnung, es gibt zuviel Völkerstämme auf Pthor. Es hat wenig Sinn, wenn wir uns bemerkbar machen. Sie würden nur über uns herfallen.« »Warum sollten sie?« »Weil niemand, der sich in dieser verrückten Gegend herumtreibt, ein reines Gewissen haben kann – uns eingeschlossen. Die Kerle da drüben haben etwas vor, und wir werden sie dabei beobachten. Kann sein, daß sie uns den Weg in die Burg zeigen.« »Und Marxos?« Razamon sagte, und es sollte gleichgültig klingen: »Der sorgt schon für sich selbst. Ich nehme an, er ist bereits im Innern der Zitadelle.« »Na schön.« Atlan sah noch einmal hinüber zum rauchenden Lagerfeuer der Fremden, dann ging er hinter den Eisblock und reckte sich. »Es genügt, wenn einer von uns Wache hält. Ich bereite inzwischen das Frühstück vor.« »Guter Gedanke«, versicherte Razamon und tätschelte Fenrir. »Wir haben nämlich einen Bärenhunger …« Als Atlan in der Höhle war, kam sie ihm merkwürdig leer und verlassen vor. Erst jetzt wurde ihm bewußt, wie sehr Marxos fehlte, obwohl sie ihn erst einen Tag kannten.
6. Eine Familie der Wargoons war vor Jahrzehnten durch das Gebiet der Eisküste nach
Osten gezogen und hatte sich am Rand der Dunklen Region niedergelassen. Niemand war vor ihren Piratenzügen sicher, und mit der Zeit verwilderten sie völlig. Das Gesetz der Gastfreundschaft hatte für sie keine Gültigkeit. Sie töteten jeden, der ihnen begegnete, auch wenn er sich ihnen friedfertig näherte. In der ersten Zeit ihres freiwilligen Exils hatte die Familie, etwa dreißig Personen insgesamt, noch den alten Eisgott Gloophy verehrt und ihm Opfer dargebracht, dann erlosch allmählich das Interesse an ihm. Als die zweite Generation heranwuchs und die Geschichten ihrer Väter zu begreifen begann, starb der alte Gott endgültig. Gloophy war nichts als eine Sage, und um das den letzten Zweiflern zu beweisen, mußte das Geheimnis der Eiszitadelle gelüftet werden, die von der ersten Generation weit im Süden umgangen worden war. Einmal waren drei entschlossene, junge Wargoons nach Westen gezogen, zu Fuß und nur mit ihren Pektos bewaffnet. Sie waren nie mehr zurückgekehrt. Nun, Jahre später, entschloß sich Karel Wargoon, der Spur der Verschollenen zu folgen. Er fand sieben Freunde, die ihn begleiten wollten. Die Aussichten waren heute besser als damals. Seitdem der Zugor mit drei Insassen notgelandet war, besaßen die Ost-Wargoons deren Waggus, weitreichende Lähmstrahler, mit denen sich jeder Gegner gefahrlos erledigen ließ. Der Zugor war bei der Landung so beschädigt worden, daß er nicht mehr fliegen konnte. Keiner der Wargoons besaß genügend technische Kenntnisse, um die Flugscheibe zu reparieren, also nahm man sie kurzerhand auseinander und verteilte die einzelnen Teil an die Mitglieder der Familie. Die drei Technos aber erlebten das nicht mehr. Sie waren kurz nach der Gefangennahme getötet worden. Bei einem anderen Beutezug in südlicher Richtung hatte man das Raupenfahrzeug mitgehen lassen. Niemand wußte, wie es
Zitadelle im Eis funktionierte, aber man fand heraus, wie es zu bedienen war. Die Energiequelle schien unerschöpflich zu sein. Die Aufregung im Dorf war verständlich, als die jungen Jäger mit dem Beutefahrzeug heimkehrten. Von diesem Augenblick an kannte Karel Wargoon seine Aufgabe. Gemeinsam mit seinen sieben Vertrauten bereitete er die Expedition in aller Heimlichkeit vor, um dann den Familienrat vor die vollendete Tatsache zu stellen. Es gab tagelange Diskussionen, bis die Mehrheit endlich dem gewagten Unternehmen zustimmte. Karel bekam das Fahrzeug und zwei der drei Lähmwaffen. Natürlich fehlten Lebensmittel und genügend Pektos auch nicht, selbst getrocknetes Holz wurde mitgenommen, da jeder wußte, daß im Norden der Eisküste kein Brennmaterial gefunden werden konnte. Endlich, nach zwei Tagen Fahrt, tauchte im Westen die Silhouette der Zitadelle auf. Man machte Rast und wartete die Nacht ab, um von eventuellen Bewohnern der Festung nicht gesehen zu werden. Dann fuhr man weiter, bis dicht an den Rand des Tales, das in den Berichten der Väter stets eine besondere Rolle gespielt hatte. Hier verbrachten die acht Wargoons den Rest der Nacht. Karel Wargoon schlief nicht. Immer wieder wanderte sein Blick über das in der Dunkelheit der Nacht liegende Tal hinüber zu den gut erkennbaren Umrissen der Eiszitadelle, deren Geheimnis ihn von Kind an fasziniert hatte. Der Gott Gloophy sollte dort in einem Eisblock schlafen und auf den Tag seiner Wiederkehr warten. Karel war entschlossen, diesen falschen Gott eigenhändig aufzuwecken. Es wurde höchste Zeit, mit dem alten Aberglauben aufzuräumen. Vor allen Dingen schon deshalb, weil dieser Aberglaube den Herren der FESTUNG mehr nützte als allen anderen. Als es dämmerte, schälten sich Einzelheiten aus dem aufsteigenden Nebel, der das Tal ausfüllte. Der zehn Meter hohe Wall um die Zitadelle bereitete Karel Wargoon keine Sorgen. Er war sicher, daß sie eine günstige
41 Stelle zum Überklettern finden würden. Nach und nach erwachten seine Begleiter. Das Feuer wurde wieder angefacht und dann der bevorstehende Einsatz besprochen. Inzwischen wurde auch der Talboden nebelfrei und die Sicht klar. Karel Wargoon ging mit zwei Männern bis zum Rand der Ebene vor und blieb dann wie erstarrt stehen. Langsam nur dämmerte ihm die Erkenntnis, daß die im Dorf erzählten Schauergeschichten einen wahren Kern besaßen. Dort unten im Tal war etwas, das jeden Eindringling erbarmungslos tötete. »Wir werden es an einer anderen Stelle versuchen müssen«, entschied er, nachdem er zum Feuer zurückgekehrt war. »Vier von uns bleiben hier und lassen das Tal und die Schneise zur Zitadelle nicht aus den Augen. Ich selbst werde mit den restlichen drei Männern um die Burg herumfahren, um sie zu erkunden.« Da niemand einen besseren Vorschlag hatte, setzte sich das Fahrzeug wenig später in Bewegung und verschwand in nördlicher Richtung. Obwohl die Grundmauern der Zitadelle insgesamt kaum einen halben Kilometer im Quadrat maßen, zwangen tiefe Schluchten und Risse im Eis zu gewaltigen Umwegen. Als Karel sich zwei Stunden nach Beginn der Erkundungsfahrt von Westen her wieder dem Lager näherte, wußte er, daß der Weg in die Zitadelle nur vom Tal her möglich war.
* Atlan und Razamon hatten sich ein wenig vom Rand des Tales zurückgezogen, um ein besseres Versteck zu finden, von dem aus sie gefahrlos die Fremden beobachten konnten, ohne selbst entdeckt zu werden. Fenrir verhielt sich ruhig, mußte aber festgebunden bleiben. Sein ganzes Benehmen deutete darauf hin, daß ihm die Neuankömmlinge überhaupt nicht sympathisch waren. »Ich wundere mich«, sagte Atlan, als sie sich in einer Mulde auf dem flachen Hügel
42 südlich das Tales niedergelassen hatten, »daß diese Burschen da drüben so vorsichtig sind. Sie müssen also Kenntnisse von den Gefahren haben, die ihnen drohen.« »Kein Wunder, denn sie haben ja Augen im Kopf. Eine deutlichere Warnung als die Toten im Tal kann es überhaupt nicht geben.« Razamon wirkte nervös. »Ich mache mir ernstliche Sorgen um Marxos. Vielleicht hat er aber auch die Fremden bemerkt und bleibt in einem Versteck.« »So wird es sein«, stimmte Atlan nur zu gern zu. »Aha, sie haben sich geteilt. Die Hälfte bleibt beim Feuer zurück, die anderen werden eine Erkundungsfahrt unternehmen. Hoffentlich geraten sie mit dem Kasten nicht in eine Gravitationsfalle. Aber vielleicht ist der Motor stark genug und schafft es.« »Von mir aus können sie hängenbleiben«, knurrte Razamon böse. »Sie hindern uns daran, Marxos zu suchen. Überhaupt bringen sie unser ganzes Konzept durcheinander. Warum gehen wir nicht einfach hin und sagen ihnen, sie sollen sich zum Teufel scheren?« Atlan antwortete nicht sofort. Er wußte, daß Razamon in gewisser Hinsicht recht hatte. Die acht Wargoons konnten sich Tage und Wochen hier aufhalten, und dann war eine Begegnung der beiden Gruppen unvermeidlich. »Wir warten, bis das Fahrzeug mit den anderen vier zurückkommt. Wenn sie eine bessere Stelle gefunden haben, werden alle von hier verschwinden.« »Und wenn nicht?« »Nehmen wir Kontakt auf.« »Mit den vier Kerlen dort würden wir leichter fertig als mit acht.« »Mag sein, ist aber nicht sicher. Wir kennen ihre Bewaffnung nicht. Eine Waggu genügt, und wir kommen niemals nahe genug an sie heran, um unsere Pektos wirksam einzusetzen.« Razamon knurrte etwas Unverständliches und schwieg. Selten war er mit einer Situation so unzufrieden gewesen wie mit dieser. Zwei Stunden später kam das Fahrzeug
Clark Darlton von Westen her zurück und ratterte dicht an ihrem Versteck vorbei. Zum Glück übertönte das Geräusch das plötzliche Aufheulen Fenrirs, der die Witterung der Wargoons voll in die Nase bekam. Der Raupenschlepper bog nach Norden ab und hielt beim Lagerfeuer. Die vier Männer sprangen ab und gesellten sich zu den übrigen. Man schien zu beraten. Fenrir hatte sich wieder beruhigt. Razamon fingerte an seiner Harpune herum. Ursprünglich war der schwere Pfeilbolzen mit einem Seil befestigt, damit das Geschoß nicht verlorengehen konnte, wenn ein verletztes Tier damit floh. Wahrscheinlich stammte die Waffe aber auch noch aus jener Zeit, als die Wargoons auf dem Meer jagten. Razamon und Atlan hatten die Seile abgeschnitten, um den Aktionsradius der Pekto nicht einzuschränken, außerdem besaßen sie einige Ersatzpfeile. Die im Inneren des Holzrohrs angebrachte Feder war ungemein stark. Sie konnte das Geschoß bis zu achtzig Meter weit ziemlich zielsicher schleudern. Eine Waggu hingegen wirkte noch auf mehr als hundert Meter. Atlan sagte: »Um unserer eigenen Sicherheit willen müssen wir uns abwartend verhalten, Razamon, werde also nicht nervös. Natürlich könnten wir uns auch einfach nach Süden absetzen, um dann außer Sichtweite der Wargoons wieder nach Osten abzubiegen, aber ich gebe zu, daß mich die Eiszitadelle reizt. Jetzt mehr denn je. Außerdem müssen wir uns um Marxos kümmern. Im Augenblick jedoch …« »Schon gut, ich verstehe dich ja.« Er sah wieder hinüber zu der Gruppe. »Sie steigen in ihr Fahrzeug. Was haben sie vor?« Die Beratung war zu Ende, man schien sich zu einem Entschluß durchgerungen zu haben. Ohne das noch schwach brennende Feuer zu löschen, warfen die acht Männer ihr Gepäck auf die Ladefläche und stiegen auf. Zwei saßen vorn bei den Kontrollen. Dann setzte sich der Raupenschlepper in Bewegung.
Zitadelle im Eis Er fuhr genau auf das Tal zu, erreichte den flachen Hang – und fuhr weiter. Sie mußten sehen, was unten im Tal auf sie wartete, aber allem Anschein nach begriffen sie nicht, welcher Natur die Gefahr war, die alle ihre Vorgänger getötet hatte. Sie fuhren in ihr sicheres Verderben. »Wollen wir sie nicht wenigstens warnen?« fragte Razamon. Atlan nickte. »Jetzt haben wir keine andere Wahl, als uns bemerkbar zu machen. Komm! Du auch, Fenrir, aber du bleibst an der Leine.« Sie kamen aus ihrem Versteck und beeilten sich, ihren alten Beobachtungsposten auf dem Südhang zu erreichen. Von hier aus konnten sie das ganze Tal bis zum Nordrand übersehen. Das Fahrzeug der Wargoons kam von Osten und war nur noch wenige Dutzend Meter über der eigentlichen Talsohle. Es wich dem seltsamen Fluggerät aus, das ihm im Weg stand. Atlan richtete sich auf und begann mit beiden Armen zu winken. In diesem Augenblick legte Fenrir den letzten Rest von Gehorsam ab. Razamon, der die Leine übernommen hatte, war auf den plötzlichen Ruck nicht vorbereitet, mit dem der Wolf sich losriß. Die lange Leine hinter sich herschleppend, rannte das Tier mit weiten Sätzen auf dem Talrand entlang auf die Stelle zu, an der die Wargoons gelagert hatten. »Komm zurück!« brüllte Razamon erschrocken. »Fenrir!« Die Wargoons wurden erst jetzt auf die Tatsache aufmerksam, daß sie nicht allein waren. Sie sahen die beiden Männer oben auf dem Hügel stehen, dann erblickten sie den Wolf, der ihnen jedoch nicht mehr folgte. Karel hielt das Fahrzeug an. Atlan und Razamon gingen nun ebenfalls in Richtung des nur noch glimmenden Lagerfeuers der Wargoons, hielten sich jedoch außer der nicht genau bekannten Reichweite eventuell vorhandener Lähmstrahler. »He, ihr da!« rief Razamon, so laut er
43 konnte. »Kommt heraus aus dem Tal und fahrt nicht weiter! Ihr seht doch, was passiert.« Es war nicht sicher, ob sie ihn verstanden, ihre Reaktion jedenfalls war nicht gerade freundlich. Einer der Wargoons auf der Ladefläche des Raupenschleppers erhob sich und zielte mit seiner Waggu auf Fenrir, der kaum hundert Meter entfernt war. Eine Sekunde später fiel der Wolf um, als habe ihn der Schlag getroffen. Er lag da und rührte sich nicht mehr. Ein zweiter Wargoon nahm sich Atlan und Razamon vor, aber die Entfernung war wohl zu groß. Die beiden Männer spürten das unangenehme Kribbeln in ihren Gliedern, als die abgeschwächten Lähmstrahlen sie durchdrangen. »Diese Hornochsen!« schimpfte Razamon und riß seine Pekto hoch. »Wenigstens einen Gruß will ich ihnen zurückschicken …« Er zielte zwar in Richtung des Fahrzeugs, aber die Spitze des Pfeilbolzens zeigte mit einer Neigung von fünfzig Grad hinauf in den Himmel. So hoffte er, die dreihundert Meter zu überwinden, die ihn von seinem Ziel trennten. Das Geschoß surrte aus dem hölzernen Lauf, stieg ein gutes Stück in die Höhe, wurde dann aber urplötzlich und noch hundert Meter von dem Fahrzeug entfernt jäh senkrecht nach unten gerissen. Es hatte eine Zone überhöhter Gravitation nicht überqueren können. Die Wargoons brüllten vor spöttischer Begeisterung, obgleich sie selbst auch keinen Erfolg zu verzeichnen hatten. Immerhin fuhren sie nicht weiter, obwohl es nicht mehr weit bis zur Talsohle war. Wahrscheinlich wollten sie verhindern, daß die beiden Fremden ihnen folgten und so ebenfalls den erhofften Eingang zur Zitadelle fanden. »Ich hole Fenrir«, sagte Razamon, aber Atlan hielt ihn am Ärmel fest. »Nein, bleib hier. Ihm ist nichts geschehen. In ein oder zwei Stunden ist er wieder auf den Beinen. Wenn du zu ihm gehst, ge-
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rätst du in den Wirkungsbereich der Lähmstrahler.« »Und was sollen wir tun? Hier warten, bis wir schwarz werden?« Atlan nickte in Richtung Tal. »Sie scheinen einen Plan gefaßt zu haben. Sieh nur …!«
* Karel Wargoon steckte in der Klemme. Er sah die vereisten Toten und zertrümmerten Gegenstände im Tal, ohne dafür eine Erklärung zu finden. Kein Gegner war zu entdecken, also konnte auch keine akute Gefahr bestehen. Und dann, als sie fast die Talsohle erreicht hatten, tauchten die beiden Fremden mit ihrem Wolf auf. Das Tier war schnell außer Gefecht gesetzt, aber die beiden Männer hielten sich außerhalb der Reichweite der Waggus auf. Allerdings konnten sie mit ihren Pektos auch nicht viel ausrichten. »Ihr bleibt im Fahrzeug«, entschied er endlich und bezeichnete vier seiner Begleiter. »Rührt euch nicht von der Stelle, bis wir zurück sind. Wir müssen die beiden Kerle da oben unschädlich machen, und zwar sofort.« »Vielleicht gehören sie zur Zitadelle und könnten uns den Eingang zeigen«, wagte jemand einen Einwand. »Töten können wir sie dann immer noch.« Karel nickte. »Vielleicht hast du recht«, stimmte er zu. »Kommt!« Zusammen mit seinen drei Begleitern ging er den Weg zurück, den sie mit ihrem Fahrzeug gekommen waren. Nur Karel trug eine Lähmwaffe, die andere blieb bei den vier Wargoons im Tal. Atlan und Razamon hatten die Zwischenzeit genutzt, geduckt und außer Sichtweite der Wargoons zu der Stelle zu laufen, an der Fenrir immer noch reglos lag. Sie zogen ihn hinter einen großen Eisbrocken und untersuchten ihn hastig. Der Wolf lebte und atmete gleichmäßig, aber er war paralysiert. »Er kommt bald wieder zu sich«, hoffte
Atlan und band das Seil fest. »Komm, wir dürfen die Wargoons nicht aus dem Auge verlieren.« Rechtzeitig erreichten sie den Talrand, um die vier Männer den Hang heraufkommen zu sehen. Drei von ihnen hielten ihre Pektos schußbereit, während der vierte eine Waggu trug. Sie waren jetzt noch hundert Meter entfernt. »Ich rufe sie an«, flüsterte Atlan Razamon zu, der seine Pekto ebenfalls gespannt hatte. »Wenn sie feindlich reagieren, müssen wir den Wargoon mit der Lähmwaffe sofort außer Gefecht setzen. Mit den anderen werden wir dann notfalls leicht fertig.« Razamon nickte stumm und zielte auf Karel Wargoon. Atlan erhob sich aus der Deckung, aber nur so weit, daß er sofort wieder untertauchen konnte. »Kommt nicht weiter!« rief er. »Wir wollen mit euch verhandeln.« Tagsüber schienen die Zonen höherer Gravitation nicht so zahlreich zu sein wie in der Nacht, oder die Wargoons hatten unverschämtes Glück. Die Fallen hatten sie bisher verschont. Karel Wargoon rief seinen Begleitern etwas zu, die sofort seitwärts hinter einigen Erhebungen Deckung suchten. Er selbst blieb stehen, seine Waggu bis in Brusthöhe erhoben. Er sah den Fremden oben am Hang, wenn auch nur den Kopf. Aber das spielte für die Lähmwaffe keine Rolle. Sie durchdrang so lächerliche Hindernisse wie Eis oder nicht zu starke Felsen. »Wer bist du?« fragte er, die Finger bereit zum Feuerdruck. »Nicht dein Gegner. Verlaßt das Tal, es birgt furchtbare Gefahren für euch.« Karel lachte spöttisch. »Gefahren? Ihr beide bedeutet keine Gefahr für uns. Selbst wenn ihr Waggus besitzt, so könnt ihr uns nichts anhaben, denn unsere vier Gefährten unten im Tal würden uns decken. Sie befinden sich außer Reichweite.« »Die Gefahr droht von der Zitadelle.«
Zitadelle im Eis »Was wißt ihr von ihr?« »Darüber wollten wir mich euch reden.« »Einverstanden, aber nur zu meinen Bedingungen.« »Was verstehst du darunter?« »Ich möchte euch gefesselt an meinem Feuer sitzen sehen.« Nun mußte Atlan lachen. Neben ihm flüsterte Razamon: »Sei vorsichtig, er bereitet sich zum Lähmschuß vor. Ich habe ihn genau im Visier und kann nur hoffen, daß meine Berechnung richtig ist. Die Flugbahn des Bolzens wird gestreckter sein, also fliegt er auch weiter.« »Dann versuche uns zu fesseln«, rief Atlan hinunter. »Nichts leichter als das«, gab Karel Wargoon zurück und betätigte seine Waffe. Das war der Augenblick, den Razamon vorausberechnet hatte. Noch bevor sich der Lauf der Waggu um Zentimeter anheben konnte, um sein Ziel zu treffen, löste er den Bolzenpfeil aus seiner Federverankerung. Das schwere Geschoß raste aus dem Holzrohr schräg nach unten. Die Flugbahn veränderte sich kaum und überquerte zum Glück auch keine Gravitationszone. Die stählerne Doppelspitze traf Karel Wargoons Brust, durchdrang den Pelz und schleuderte den Mann zu Boden, noch während das Bündel der Lähmenergie vergeblich versuchte, ein Ziel zu finden. Karel Wargoon war sofort tot. Für einige Sekunden waren die drei anderen Wargoons vor Entsetzen starr und unfähig zum Handeln. Dann ließ einer von ihnen seine Pekto fallen und stürzte sich auf die Waggu, die Karels Händen entglitten war. Atlans Pfeil traf ihn in den Nacken. Im Todeskampf schleuderte er die Waggu ins Tal hinab. Die restlichen zwei Wargoons, führerlos und verwirrt, gaben auf. Schreiend rannten sie hinab ins Tal zu ihrem Fahrzeug und den zurückgebliebenen Gefährten, die Zeuge des Vorgangs geworden waren und nicht wußten, wie sie sich verhalten sollten.
45 Da Karel tot war, übernahm sein engster Freund Segmel Wargoon die Führung der Gruppe. »Weiterfahren, in Richtung Zitadelle!« Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung, kaum daß die beiden Männer auf die Ladefläche gesprungen waren. Oben auf dem Hang hatten sich nun die beiden Fremden aufgerichtet und winkten mit den Armen. Sie riefen etwas, das im Tal nicht mehr verständlich war. Ihre Gesten besagten jedoch eindeutig, daß die Wargoons sofort umkehren sollten. »Den Gefallen tun wir ihnen nicht«, sagte Segmel wütend. »Und wehe, wenn wir hier fertig sind, dann werden sie für Karels Tod büßen, und wenn ich sie mit den Händen erwürgen müßte …« Das Wrack der Flugmaschine lag nun hinter ihnen. Sie hatten die Einbuchtung umfahren und erreichten endlich die eigentliche Talsohle. »Sie sind verrückt!« sagte Razamon. »Sie fahren in ihr sicheres Verderben.« »Wir haben es zu verhindern versucht, uns trifft keine Schuld.« Atlan ging zu Fenrir, der sich zu regen begann. Er redete ihm gut zu und rieb den Brustkorb, um die Luftzufuhr zu erhöhen. Der Wolf erholte sich erstaunlich schnell und war bald wieder auf den Beinen. Inzwischen näherte sich der Raupenschlepper der breiten Schneise, die direkt in Richtung der Zitadelle führte. »Es muß jeden Augenblick passieren, oder die Fallen sind abgeschaltet worden.« Razamons Gesicht verriet Unsicherheit, und so etwas wie eine schwache Hoffnung. »Wenn wir es nur wüßten, dann könnten wir ihnen folgen.« »Reiner Zufall«, vermutete Atlan. »Sie werden ihr Ziel nicht erreichen.« Das Fahrzeug wich einigen vereisten Körpern aus, die keine humanoiden Formen besaßen. Dieser kleine Umweg besiegelte das Schicksal der restlichen sechs Wargoons. Atlan und Razamon studierten den schrecklichen Vorgang mit nur scheinbarer
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Gelassenheit und Sorgfalt, um daraus ihre Lehren zu ziehen. Sie hatten alles versucht, die Wargoons von ihrem Vorhaben abzubringen, aber es war ihnen nicht gelungen. Das Fahrzeug schien plötzlich vorn schwerer zu werden. Eine unsichtbare Last drückte die Frontseite der Raupenkette tief in das splitternde Eis hinein, ohne die Fahrt merklich zu verlangsamen. Der Schwung des Gewichts verhinderte ein schnelles Bremsen. Nach zehn Metern erst hielt das Gefährt an, aber da war es bereits zu spät. Als die beiden Männer hinter den Kontrollen auf ihren Sitzen zusammensackten, als das Führerdach der Kabine eingedrückt wurde, begriffen die vier Wargoons auf der Ladefläche noch immer nicht, was geschah. Eine Sekunde später befanden auch sie sich in der Zone der erhöhten Schwerkraft und wurden zu Boden geschleudert. Ein ungeheures Gewicht senkte sich blitzschnell auf sie herab und erdrückte sie.
tigen Tip gegeben. Nachts sind die Dunkelschneisen sichtbar, und außerdem wissen wir, daß sie nach einem ganz bestimmten System wandern.« »Es gibt mehrere Programme, aber eins von ihnen kenne ich ziemlich genau«, gab Atlan zu, schon wieder halb überzeugt. »Vielleicht würden wir es tatsächlich schaffen …« »Wir werden es schaffen!« sagte Razamon in einem Ton, der kaum Widerspruch duldete. Atlan nickte langsam. »Also gut, dann heute nacht.« Er sah hinab ins Tal zu dem halb ins Eis gedrückten Fahrzeug der Wargoons. »Wir sind wieder allein und haben keine Ablenkung zu befürchten. Fenrir wird sich bis dahin auch wieder erholt haben.« Sie erreichten Marxos' Höhle und versuchten zu schlafen, um bei Anbruch der Nacht frisch und ausgeruht zu sein. Was vor ihnen lag, war alles andere als ein Spaziergang.
7. Atlan holte tief Luft und setzte sich. »Ein Teufel muß diese tödliche Falle entwickelt haben«, murmelte er erschüttert. »Ich überlege, ob wir unser Vorhaben nicht besser aufgeben sollen. Ziehen wir weiter nach Osten, denn dort wollten wir ja auch eigentlich hin.« Razamon schüttelte den Kopf. »Jetzt erst recht nicht! Außerdem: Vergiß Marxos nicht! Vielleicht braucht er unsere Hilfe.« »Wenn er in eine Falle geraten ist, kommt jede Hilfe zu spät, das hast du selbst gesehen. Und wenn er in die Festung eingedrungen ist, hat er sein Wort nicht gehalten. Was also willst du?« »Na schön, lassen wir Marxos aus dem Spiel, aber glaubst du nicht auch, daß die Geschichte mit dem gefangenen Antimateriewesen auch wichtig für uns ist? Natürlich ist es gefährlich, das Tal zu durchqueren, aber schließlich hat Marxos uns einen wich-
* Noch bevor sich die Dämmerung in Dunkelheit verwandelte, standen sie auf dem Südhang und warteten. Fenrir war wieder ans Seil gelegt worden und sollte die Führung übernehmen. Razamon hielt ihn und würde ihn sofort aus der Gefahrenzone zerren, wenn er in eine solche hineingeriet. Den Abschluß sollte Atlan übernehmen, ebenfalls angeseilt. So würde einer dem anderen helfen können, ohne sich selbst in Gefahr begeben zu müssen. Allmählich wurde es dunkel, und gleichzeitig hoben sich die matt schimmernden Todesfallen immer deutlicher hervor. Dazwischen lagen die harmlosen Dunkelzonen, meist nur sehr eng und schmal. Bis Mitternacht beobachteten sie das abrollende Programm der wandernden Leuchtzonen und waren sicher, daß sie eins von ihnen einigermaßen kannten. Es würde in zehn Minuten wieder beginnen.
Zitadelle im Eis »Es sind drei gefährliche Fallen eingebaut«, sagte Atlan. »Dreimal schließt sich die Gasse der normalen Schwerkraft, und dann gibt es kein Entkommen mehr. Es ist wichtig, daß wir diese Strecken so schnell wie möglich hinter uns bringen. Notfalls mußt du Fenrir antreiben, wenn er zu langsam geht. Oder du gehst vor.« »Er weiß genau, worum es geht«, verteidigte Razamon den klugen und tapferen Wolf. »Wir haben noch fünf Minuten …« Das alte vorprogrammierte Muster löste sich allmählich auf, um dem neuen Platz zu machen. Wie bei einer Lightshow wanderten die nebelhaft und bizarr geformten Zonen scheinbar unwillkürlich und ohne jede Ordnung durch das Tal, überschnitten sich oder trennten sich derart, daß sie zufällige Gassen bildeten. Gassen, von denen die meisten nichts als tödliche Fallen waren. Es war wie ein sich ständig verändernder Irrgarten. »Gleich kommt die richtige Schneise«, sagte Atlan und deutete hinab auf den Hang. »Wir müssen den schmalen Ausläufer nehmen, der wie ein Schlauch nach unten führt. Wir haben Zeit, denn er schließt sich nicht so schnell. Siehst du weiter unten den runden dunklen Fleck? Von ihm aus werden drei Dunkelpfade in verschiedene Richtungen wegführen. Wir nehmen den zur Talmitte. Dort biegt er scharf nach links ab. Die anderen beiden schließen sich nach wenigen Sekunden.« Razamon nickte in der Dunkelheit und hielt Fenrir kurz an der Leine. Er sah die Schneise näherkommen, und als sie den Hang erreichte, ging er los. Fenrir übernahm die Führung und zog ungestüm an dem Seil, so daß Razamon ein Stück mitgeschleift wurde, ehe er wieder festen Fuß auf dem Eis fassen konnte. Atlan wartete, bis sich das Seil straffte, dann folgte er. Es war eine Wanderung durch sich langsam bewegende Nebelschwaden, die knapp einen Meter über dem eisigen Boden des Tales endeten. Der Dunkelpfad war so schmal,
47 daß er zwei nebeneinander gehenden Männern keinen Platz geboten hätte. Ein Schritt abseits bedeutete schon Gefahr. »Nach links!« rief Atlan, als sie den runden Fleck Sicherheit erreichten. Razamon dirigierte Fenrir, der sofort begriff, was von ihm verlangt wurde. Instinktiv mied er den Nebel, wenn er auch keine Übersicht über das vorprogrammierte Wandern der gefährlichen Zonen haben konnte. Er befolgte jeden Druck und jeden Zug der Leine, die ihn mit Razamon verband. Von hinten gab Atlan seine Anweisungen: »Jetzt den rechten Pfad, aber schnell. Es sind etwa fünfzig Sekunden, dann schließt er sich, weil er zugleich von zwei Leuchtfeldern überlappt wird.« Sie hasteten durch die Gasse und erreichten abermals einen nahezu dreißig Meter durchmessenden Kreis absoluter Dunkelheit. Um sie herum wogte der Nebel und folgte seiner Programmierung. Der Dunkelpfad, durch den sie hierher gelangt waren, hatte sich längst wieder geschlossen. Vor ihnen lagen drei weitere. »Welcher ist es?« fragte Razamon etwas nervös. Atlan zögerte. »Ich glaube, der in der Mitte.« »Du glaubst?« fauchte Razamon ihn wütend an. »Wir müssen ganz sicher sein …!« »Ganz ruhig bleiben!« ermahnte ihn Atlan. »Es war irgendwo eine raffinierte Falle eingebaut … das hier muß sie sein. Ja, sie ist es, ich erkenne es an den drei toten Wargoons dort, die immerhin bis hierher gelangten.« Die vereisten Leichen schimmerten schwach im Nebel der Gravitationszonen. »Die Schneisen schließen sich!« rief Razamon entsetzt. »Wir sind abgeschnitten!« »Sehr richtig«, gab Atlan ohne jede Erregung zu. »Wir sind also richtig.« »Das verstehe ich nicht!« Razamon hielt Fenrir eisern fest, der unbedingt weiter wollte. »Die unbekannten Konstrukteure wollten, daß ein unbefugter Eindringling überhastet einen der drei Gänge wählt. Ich habe mir das
48 Programm genau gemerkt. Alle drei Gänge werden in wenigen Minuten von der überhöhten Gravitation überlagert. Es gibt kein Entkommen für jene, die ihnen folgten.« »Und wir …?« »Abwarten. Es dauert keine drei Minuten – jetzt noch zwei.« »Und dann?« »Und dann Beeilung!« In Richtung Zitadelle wichen die Nebel plötzlich auseinander; eine neue Gasse entstand, aber nur diese einzige. »Los, weiter!« rief Atlan drängend. »Sie bleibt nur zehn Sekunden geöffnet.« Fenrir und Razamon stürmten in die Dunkelzone hinein und folgten ihr. Sie war breiter als die anderen und führte genau auf die Zitadelle zu – oder zumindest direkt in Richtung der plötzlich wieder sichtbaren Mauer. Vom Talrand aus hatte es so ausgesehen, als gäbe es sie hier nicht. »Halt!« rief Atlan, als die Dunkelgasse zu Ende war. Die Nebelfelder lagen nun hinter ihnen. »Ab hier ist es gefahrlos. Wir müssen nur das letzte Hindernis abwarten.« »Ein letztes Hindernis?« fragte Razamon, ziemlich entnervt. »Ein Feld, das ohne jede Ankündigung alle drei Minuten unmittelbar vor uns entsteht und uns den Weg abschneidet. Es bleibt etwa sechzig Sekunden, dann verschwindet es wieder.« »Warum umgehen wir es nicht einfach?« »Weil es das ganze Tal umgibt.« Knapp dreißig Sekunden später schimmerte es vor ihnen auf. Nach beiden Seiten dehnte es sich aus, soweit man sehen konnte. In Richtung der Festung allerdings nur knapp ein Dutzend Meter. In den drei Minuten normaler Schwerkraft eine leicht zu überwindende Strecke. Fünfzig Meter weiter schimmerte der Eiswall, der die Zitadelle einschloß. Aber rechts schimmerte noch etwas anderes durch den Nebel hindurch. Es war ein weißer Fleck, etwa zwei Meter lang, und er hatte die Umrisse eines großen menschlichen Körpers.
Clark Darlton »Marxos!« rief Razamon, als er ihn sah. »Er scheint es nicht geschafft zu haben, der arme Kerl. Und dafür ist er jahrelang unterwegs gewesen und hat alle Gefahren auf sich genommen. Er hätte das Programm sorgfältiger studieren sollen.« »Ob er noch lebt?« »Unmöglich! Wir können ihm nicht mehr helfen.« »Verdammt!« sagte Razamon wütend. »Ich habe ihn gern gehabt. Und Fenrir auch.« »Vorsicht! Der Nebel teilt sich wieder! Weiter!« An dem reglosen Körper Marxos' vorbei gelangten sie in eine Senke, die in der Art einer flachen, hohlen Gasse direkt zum Eiswall führte. Auf einen dunklen, rechteckigen Fleck zu. »Das muß das Tor sein, das Marxos erwähnte.« Atlan drehte sich um und sah, daß sich die Nebel wieder vereinigten. Der Rückweg war erneut für eine halbe Minute abgeschnitten. »Es liegt unter dem Niveau der Zitadelle, wenn mich nicht alles täuscht. Dahinter liegt vielleicht ein Gang.« »Ein kompliziertes Türchen«, knurrte Razamon und betrachtete die Eiswände rechts und links. »Wir können nur durch das Tor, oder zurück durch das Tal.« Als sie vor dem Tor standen, begriffen sie, was Marxos gemeint hatte.
* Gut zweieinhalb Meter hoch und anderthalb breit schien die metallene Wand im Eis des Walls verankert zu sein, was natürlich unsinnig gewesen wäre. Sie mußte einen ebenfalls eisernen Rahmen besitzen, der sie hielt. Der Boden vor der Tür war glatt, so als sei das Eis mehrmals geschmolzen und immer wieder gefroren. Die Füße der beiden Männer fanden kaum einen Halt. »Und wie sollen wir das Ding öffnen?« fragte Razamon und löste Fenrir vom Seil. »Sagte Marxos nicht etwas von einem
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Loch?« »Hier ist es«, erwiderte Atlan, der mit den Fingern die Tür abgetastet hatte. »Auf der rechten Seite. Ziemlich groß, aber mit der Hand komme ich nicht hindurch.« »Du erwähntest doch etwas von einem Schlüssel …« »In zwei Stunden dämmert es«, murmelte Atlan, ohne auf die Bemerkung einzugehen. »Wir werden uns beeilen müssen, wenn wir es noch schaffen wollen.« Er nahm den Vorratsbeutel ab und legte ihn auf das Eis. Auch die Pekto schien ihn bei seinem Vorhaben zu stören, denn er plazierte sie neben den Beutel. Dann nahm er einen Bolzenpfeil, prüfte ihn mit den Fingerspitzen und näherte sich wieder der Tür. Razamon konnte in dem schwachen Licht nur undeutlich sehen, was Atlan tat. Aber er ahnte, was sein Freund vorhatte. Atlan fummelte mit der Pfeilspitze an dem Loch herum, bis es ihm endlich gelang, sie in schräger Haltung einzuführen. Der erste Widerhaken rastete hörbar ein. Die beiden folgenden waren zu groß, aber der Abstand zwischen dem ersten und den beiden anderen genügte vollauf, um aus dem Bolzenpfeil einen perfekten Dietrich zu machen. Trotzdem dauerte es eine geschlagene halbe Stunde, bis ein knackendes Geräusch den ersten Erfolg ankündigte. »Drücken, mit aller Kraft!« keuchte Atlan. »Ja, auf der rechten Seite, wo der Riegel ist. Ich glaube, ich konnte ihn zurückschieben.« Razamon stemmte sich mit der Schulter gegen das eiserne Tor, aber es rührte sich nicht. Erst als er für einen Augenblick nachließ, um neue Kräfte zu sammeln, knackte es erneut in dem Schloß. Atlan hatte die Pfeilspitze um neunzig Grad drehen können. Geistesgegenwärtig drückte Razamon. Langsam ging die Tür nach innen auf. Im Osten begann es zu dämmern. In diesem Augenblick geschah etwas Unvorhergesehenes.
*
Atlan wollte einen Schritt zurücktreten, um Razamon mehr Platz zu lassen, und rutschte aus. Unwillkürlich griff er zu und erwischte die rechte Kante der sich öffnenden Tür. Razamon sprang hinzu, um ihn festzuhalten und vor einem Sturz zu bewahren. Er zog ihn nach außen, und Atlan hielt weiter fest. Im letzten Moment ließ er die Tür los, damit seine Finger nicht zerquetscht wurden. Mit einem dumpfen Laut schloß sich die Tür wieder. Razamon und Atlan standen wieder draußen, ohne den dunklen Gang betreten zu haben, der hinter der Tür schräg in die Tiefe führte. Fenrir knurrte, als fühle er sich um eine Beute betrogen. Die Dämmerung im Osten wurde heller. Im Tal verblaßten die schimmernden Zonen allmählich und vermischten sich mit den heller werdenden Dunkelgassen, die nun unkenntlich wurden. Der Rückzug war damit abgeschnitten. »So ein Pech!« schimpfte Razamon, aber Atlan zuckte nur die Schultern und meinte: »Es spielt keine Rolle, ob wir tagsüber oder bei Nacht in die Zitadelle eindringen. Wir wissen nun, daß wir das Tor öffnen können, warum also sollten wir den gefahrvollen Weg durch das Tal zurückgehen?« »Da hast du auch wieder recht«, gab Razamon zu. »Möchte wissen, warum ich mich immerzu völlig umsonst ärgere. Scheint eine meiner Angewohnheiten zu sein.« »Trotzdem möchte ich noch kurz nach Marxos sehen. Jetzt ist es hell.« »Richtig, den hätten wir in der Aufregung fast vergessen.« Sie gingen zurück bis zu der Stelle, an der sie nachts den leuchtenden Ring gesehen hatten, der nun unsichtbar geworden war. Marxos lag lang ausgestreckt, aber merkwürdig flach und zusammengedrückt auf dem Eis und rührte sich nicht. Er mußte den Weg durch die Gravitationszonen bis hierher gefunden haben, war dann jedoch vom sicheren Pfad abgewichen und von dem letz-
50 ten Sicherungsriegel überrascht worden. In dieser Zone war die Schwerkraft offensichtlich besonders hoch, eine letzte Sperre für jene, die es bis hierher geschafft hatten. »Da ist nichts mehr zu machen«, murmelte Razamon bedrückt. »Wir müssen ihn dort liegen lassen.« Atlan biß sich auf die Lippen. Dann nickte er. »Nein, nichts mehr. Wir haben ihm einiges zu verdanken und können nichts für ihn tun.« Er holte tief Luft. »Komm, Razamon, vor uns liegt das Geheimnis der Eiszitadelle. Marxos wollte es lüften, wir handeln also in seinem Auftrag, wenn wir es tun.« Ohne weitere Worte kehrten sie zum Tor zurück, wo Fenrir sie erwartete. Diesmal gingen sie systematischer vor. Die Pfeilspitze, Atlans provisorischer Nachschlüssel, steckte noch in dem Loch, aber der Widerhaken hatte die Nute in dem Riegel verloren, der wieder zugeschnappt war. Fast eine halbe Stunde dauerte es, bis er endlich mit hörbarem Knacken einrastete. Atlan versuchte, die Hand nicht zu bewegen. »Jetzt mußt du drücken, vorsichtig und mit Gefühl. Aber erst dann, wenn ich dir das Zeichen gebe.« Behutsam drehte er den Bolzen, dann nickte er Razamon zu. Dreimal verpaßten sie den richtigen Augenblick, dann hatten sie es geschafft. Die Tür quietschte in ihren Angeln und ging langsam nach innen auf. Jetzt erst hatte Atlan Zeit, ihre Dicke festzustellen. Es waren mindestens zwölf bis fünfzehn Zentimeter massives Metall. Sie mußte einige Zentner wiegen. Während Razamon sich gegen sie stemmte und festhielt, rollte Atlan einen schweren Eisbrocken heran und schob ihn zwischen Türkante und Rahmen. Nun konnte sie sich nicht mehr von selbst schließen. Inzwischen war es hell geworden. Im Osten ging die Sonne auf, war aber des Talhangs wegen noch nicht zu sehen. Fenrir schnüffelte an den abgelegten Vorratsbeu-
Clark Darlton teln und jaulte leise. »Er hat Hunger«, sagte Razamon. »Ich übrigens auch. Wie wäre es mit einem kleinen Frühstück, ehe wir in die Zitadelle eindringen?« Atlan schätzte den durch den Eisblock gehaltenen Spalt auf fünfzig Zentimeter Breite, bequem genug jedenfalls, um sie durchzulassen. Was dahinter lag, war nicht zu erkennen, jedenfalls führte der Gang schräg in die Tiefe, nicht besonders steil. Der Boden schien eisfrei zu sein. »Einverstanden. Wer weiß, wann wir wieder Zeit dazu haben.« Sie mußten sich mit einer kalten Mahlzeit begnügen, denn es gab keine heiße Quelle in der Nähe. »Vielleicht gibt es eine Alarmanlage, und wenn jemand in der Zitadelle haust, dann weiß er bereits von uns. Er weiß, daß wir das Tal durchquert und das Tor geöffnet haben.« Atlan nickte kauend. »Natürlich ist er informiert, aber das müssen wir in Kauf nehmen. Zu dumm, daß der eine Wargoon die Lähmwaffe noch wegwerfen konnte. Sie rollte den Talhang hinunter, für uns unerreichbar.« »Die Pektos sind auch nicht schlecht, das haben wir ja gesehen.« Als sie fertiggegessen hatten, packten sie alles wieder in die Vorratsbeutel. Nun, da sie ihr Ziel erreicht hatten und vor dem geöffneten Eingang zur Eiszitadelle standen, zögerten sie wie auf geheime Absprache, ihn zu betreten. Das Gefühl, einer unfaßbaren und grauenhaften Gefahr entgegenzugehen, hatte sich der beiden Männer bemächtigt. Auch Fenrir schien diese Gefahr zu ahnen. Unschlüssig strich er an dem Torspalt vorbei, zögerte – und ging weiter. »Pthor hat viele Geheimnisse«, murmelte Razamon. »Ich habe es dir von Anfang an gesagt.« »Wir müssen sie lösen, oder die Erde ist verloren. Was glaubst du, wieviel Zeit inzwischen vergangen ist? Auf der Erde, mei-
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ne ich.« »Du meinst außerhalb von Pthor? Was dort Stunden sind, können hier Tage und Wochen sein. Das genaue Verhältnis ist mir nicht bekannt, außerdem variiert es, soweit ich mich erinnere. Sonst hätten auf Pthor Jahrmillionen vergehen müssen, während auf der Erde seit dem letzten Auftauchen von Atlantis nur zehntausend Jahre verstrichen.« Er lächelte flüchtig. »Ich muß feststellen, daß meine verlorengegangene Erinnerung nach und nach zurückkehrt. Leider aber nicht in dem Maß, wie es für uns beide gut wäre. Es ist noch immer so, als taste ich mich im Halbdunkel durch ein fremdes Land.« »Immerhin haben wir schon einige Lichtungen gefunden«, philosophierte Atlan, »die uns bei der Orientierung halfen.« Razamon deutete auf das Tor und den dahinterliegenden Gang. »Ob das auch so eine Lichtung ist? Sieht mir viel eher wie der lichtlose Weg in die Unterwelt aus.« Fenrir stand breitbeinig zwei Meter vor dem finsteren Spalt und knurrte leise und drohend. Atlan sagte: »Ich glaube, wir sollten nicht noch mehr Zeit verlieren. Machen wir uns doch nichts vor, Razamon. Wir haben beide Angst, in die Zitadelle einzudringen. Aber es wäre sinnlos, jetzt umkehren zu wollen.«
»Wer spricht von Umkehr, mein Freund?« Razamon stand auf, nahm seinen Vorratsbeutel und die Pekto. Den Beutel hing er sich um, dann spannte er die Feder der Harpune. »Ich bin bereit.« Atlan erhob sich langsam. Auch er nahm Beutel und Pekto. »Fenrir, wir sind soweit. Bleibe bei uns, wir nehmen dich jetzt nicht an die Leine.« Atlan rollte das Seil zusammen, es paßte noch in den halbleeren Beutel. »Also dann los …« Sie warfen einen letzten Blick hinauf zum Himmel und zu der höhergestiegenen Sonne, und es war wie ein Abschied für eine lange Zeit. Der Gang führte in Nacht und Finsternis. Razamon ging voran, dicht hinter ihm Fenrir mit gesträubtem Nackenfell. Atlan atmete noch einmal tief die frische Schneeluft ein, dann nahm er die Pekto in die Armbeuge und folgte den beiden. Über ihren Köpfen war die zehn Meter dicke Eisdecke des Walls, der die Zitadelle umgab. Ein Hindernis, das sie nun überwunden hatten. Was aber lag vor ihnen …?
ENDE
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