THOMAS WEIDE
Im Eis gefangen
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
1. - 70. Tausend Die Tatsachenreihe erscheint monatlich Deutsc...
93 downloads
1658 Views
510KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
THOMAS WEIDE
Im Eis gefangen
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
1. - 70. Tausend Die Tatsachenreihe erscheint monatlich Deutscher Militärverlag • Berlin 1968 Lizenz-Nr. 5 Umschlag: Karl Fischer Lektor: Rolf Dieter Burgdorff Vorauskorrektor: Elfriede Sell Hersteller: Lydia Herkt Gesamtherstellung: III/9/1 Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
Das „Attentat" Kamanin selbst erzählte mir die Geschichte. Zuerst winkte er ab. „Ach, das ist doch längst vergessen ..." Dann redete er sich in Feuer, und ich hörte in der Hitze eines Moskauer Spätsommertags eine Geschichte von Eis und Schnee. Wir saßen mitten in Moskau, im Haus der Nachrichtenagentur APN, das sich, ein paar Schritte nur vom Puschkinplatz, hinter dem mächtigen Rücken des Kinos „Rossija" versteckt. Der General, kaum mittelgroß, fast schmächtig wirkend, lächelte freundlich, aber ich konnte sehen, daß es nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen zählte, Interviews zu geben. Ich fragte, wie lange ich ihn aufhalten dürfte. Kamanin sah auf die Uhr. „Na, ein schwaches Stündchen." Ich beeilte mich, ihn über die Kosmonauten auszufragen, um Zeit für das geplante „Attentat" zu gewinnen. Als ich mich zwei Tage zuvor nach Beljajew und Leonow erkundigt hatte, hatte man mir bei APN gesagt: „Die beiden sind noch im Urlaub, aber Sie können General Kamanin sprechen!" - „Kamanin?" fragte ich, „ist das der Kamanin ..." - „Ja", sagten sie, „das ist der Kamanin." In diesem Augenblick war die Idee des „Attentats" geboren. Als sich das schwache Stündchen allmählich neigte, nahm ich Kurs auf den kritischen Punkt. „Genosse General, jetzt sind Sie Kommandeur der Kosmonauten ..." - „... Kommandeur, Chef, Freund, Vater, Patenonkel
und so weiter..." - „. .. könnten Sie noch ein paar Worte über Ihr persönliches Leben sagen?" „Ach, das lohnt kaum. Ich bin seit meiner Jugend Flieger. Im Kriege habe ich zuerst eine Division, später ein Fliegerkorps kommandiert. Das Kriegsende habe ich in Prag erlebt. Wir haben nicht schlecht gekämpft: Vierundsiebzig Männer aus meinem Korps sind mit dem Titel ,Held der Sowjetunion' ausgezeichnetworden." , Vorsichtig, viel zu vorsichtig schoß ich den ersten Pfeil ab. „Sie sind doch auch ..." - „Jaja, aber das ist lange her . .. Nach dem Kriege war ich vorübergehend stellvertretender Chef der Zivilluftfahrt, anschließend sieben Jahre Vorsitzender der Gesellschaft für Sportfliegerei, dann setzte ich mich noch einmal auf die Schulbank in der Akademie für Generalstabsoffiziere. Das ist mein Leben. Da ist nicht viel zu erzählen ..." Jetzt war der entscheidende Augenblick gekommen. Ich schoß den zweiten Pfeil ab. „Da bin ich ausnahmsweise gar nicht Ihrer Ansicht", sagte ich schnell, „da ist zum Beispiel die Sache mit der ,Tscheljuskin'." Kamanin lachte. „Ach, die alte Geschichte ..." „Damals sind Sie doch ,Held der Sowjetunion' geworden?" - „Ja, und ich war sogar der erste, zwar nicht der Numerierung nach, aber in der Praxis." -„Waren Sie auch der erste auf dem Eis?" - „Nein, das war Ljapidewski. Da schwamm meine Gruppe ja noch mit der ,Smolensk' irgendwo im Ochotskischen Meer zwischen Sachalin und Kamtschatka." Der Pfeil saß irn Ziel. Und so wurden aus einem schwachen Stündchen zwei volle Stunden.
Der Auftrag Am Abend des 16. Februar 1934 sitzt der Flieger Nikolai Kamanin mit einigen Kameraden beim Abendbrot. Langsam kriecht die Dämmerung über das weite Rollfeld des Flugplatzes. Plötzlich schrillt das Telefon. Der Stab meldet sich: Kamanin zum Chef! Kamanin ist der jüngste Staffelkommandeur des Flugplatzes. Zehn der kleinen Doppeldecker unterstehen seinem Kommando. Auf dem Wege zum Stabsgebäude gehen ihm alle möglichen Sünden der vergangenen Tage durch den Kopf. Bei der letzten Übung ist alles in Ordnung gegangen. Oder doch nicht? Der Kommandeur stakst mit langen Schritten durch das Zimmer. Sein Gesicht ist verschlossen. Dicke Luft, denkt Kamanin, salutiert und setzt zur Meldung an. Der Chef winkt ab und bleibt dicht vor Kamanin stehen. „Sie haben von der ,Tscheljuskin' gehört?" fragt er. „Selbstverständlich", bejaht Kamanin. „Es besteht die Möglichkeit. . .", sagt der Kommandeur und nimmt seinen Marsch durch das Zimmer wieder auf, „vielleicht besteht die Chance, die Besatzung mit Flugzeugen zu retten. Wie denken Sie darüber?" Kamanin versteht die Frage richtig. Die Hand am Mützenschirm, antwortet er: „Ich bin bereit." „Ich habe nichts anderes erwartet", erwidert der Kommandeur trocken, aber er drückt Kamanin doch die Hand. „Ich denke, wir schicken fünf oder sechs Maschinen. Wen schlagen Sie als Piloten vor?" Wenige Tage später werden im Hafen von Wladiwostok sieben Flugzeuge vom Typ R-5 und zwei vom Typ U-2 auf dem Deck des Dampfers „Smolensk"
vertäut, der alsbald mit voller Fahrt nach Norden dampft. Am 7. März meldet der Kapitän der „Smolensk": „In der Nacht letzte Kurilen-Insel passiert - dichter Nebel vor der Küste Kamtschatkas - seit drei Tagen schwere See, Windstärke acht - Deck mit Eiskruste überzogen." An diesem 7. März sitzen die Schiffbrüchigen schon dreiundzwanzig Tage auf dem Eis. Am 13. Februar nachmittags um 15.30 Uhr ist der Dampfer „TscheIjuskin" 155 Meilen vom Nordkap und 144 Meilen von Kap Uelen, durch Eispressung erdrückt, untergegangen.
Die „Tscheljuskin", das erste Passagierschiff der Welt, das den nördlichen Seeweg bezwang
Blinder Passagier an Bord Am 12. Juli 1933 hat die „Tscheljuskin" Leningrad verlassen. Auf der Kommandobrücke steht Wladimir Iwanowitsch Woronin, der erfahrenste Polarkapitan der Sowjetflotte, neben ihm der Leiter der Expedition, Professor Otto Juljewitsch Schmidt. An Bord befinden sich hundertundvier Personen: Matrosen, Heizer, Wissenschaftler, Journalisten, Kameraleute, Stewardessen, ein Flieger und die Ablösung für die Besatzung der Wrangel-Insel. Seit vier Jahren hat das Eis kein Schiff von Wladiwostok mehr durchgelassen, jetzt versucht es die „Tscheljuskin" auf dem weiten Weg von Westen her. Der künftige Chef der WrangelInsel, Buiko, schleppt unermüdlich sein anderthalbjähriges Töchterchen Alla über Deck. Übrigens wird Alla nicht die jüngste Inselbewohnerin sein: Die Frau des Geodäten Wassiljew steht kurz vor der Entbindung. In Murmansk hievt ein Hafenkran ein kleines blaues Flugzeug an Deck. Der Flieger Babuschkin springt brüllend von einem Bein aufs andere. Daß die Kerle nur nicht das Flugzeug zerschlagen! Dann hebt der Kran Kühe an Bord, denen vor Angst fast die Augen aus dem Kopf fallen. Jetzt brüllen die Matrosen: „Brich den Kühen nicht die Beine!" Ferkel quieken, Seeleute fluchen. So ähnlich muß es kurz vor Ausbruch der Sintflut auf Noahs Arche zugegangen sein. Unbemerkt hat sich in dem Durcheinander ein rothaariger Bursche in den Kohlenbunker geschlichen, wo ihn auf hoher See der Maschinist Martissow entdeckt. „Wer sind Sie?" fragt Professor Schmidt.
Der blinde Passagier reckt seine sommersprossige Stupsnase. „Ein Polarenthusiast - jagen Sie mich nur nicht weg. Ich gehe mit Ihnen durch Feuer und Wasser!" Schmidt schüttelt den Kopf. „Tut mir leid, mein Lieber, alle Plätze sind besetzt, die Verpflegung ist genau berechnet." Der Polarenthusiast arbeitet zwei Tage tüchtig im Kesselraum. Als die Felsen von Nowaja Semlja aus dem Dunst auftauchen, steigt er auf den Holzfrachter „Arkos" um. Die erste Eisscholle durchschneidet der Vordersteven der „Tscheljuskin" im Karischen Meer an der Ostküste von Nowaja Semlja am Nachmittag des 13. August. Woronin manövriert geschickt durch jede Rinne offenen Wassers, aber bald dehnt sich vor dem Dampfer eine geschlossene Eisdecke. Die erste Bewährungsprobe: Das Schiff bebt, dann schiebt sich der Rumpf langsam auf das Eis und zerdrückt es. Am Abend zieht der erste Eisberg vorbei. Alle lehnen an der Reling. „Wie eine gotische Kathedrale mit abgeschossenem Turm", sagt der Schriftsteller Muchanow. Alle zwei Stunden stoppt das Schiff, der Hydrologe Chmysnikow und der Hydrobiologe Schirschow holen Wasserproben aus dem Meer, die sie schleunigst ins Labor tragen, wo die Chemikerin Lobsa inmitten von Gläsern, Zylindern und Primuskochern sitzt Am Nachmittag des nächsten Tages erschüttert ein schwerer Stoß den Schiffskörper. Schmidt stürzt an Deck. Was ist geschehen? Vordersteven und einige Spanten sind beschädigt: Wasser dringt in den Laderaum ! Das Leck ist mit einem Zementpflaster schnell geschlossen, die Spanten werden verstärkt. Professor
Schmidt hat inzwischen schon berechnet, daß der Stoß der Explosion einer sechszölligen Granate gleichkommt. Die ganze Nacht hindurch schleppen sämtliche Männer, die keinen anderen Dienst haben, Kohlen vom Bug zum Heck: Das Gewicht von tausend Tonnen hätte den gepanzerten Teil des Bugs unter Wasser gedrückt.
Auf Barents' Spur In Schönschrift malt Kapitän Woronin am Morgen des 31. August 1933 die letzten Neuigkeiten in sein Logbuch: „Um 08.10 Uhr wurde den zur Überwinterung auf die Wrangel-Insel fahrenden Ehegatten Wassiljew ein Kind weiblichen Geschlechts geboren. Das Neugeborene erhielt zu Ehren des Karischen Meeres den Namen Karina . . . Um 08.15 Uhr kamen wir aus dem Eis in die offene See." Am nächsten Morgen ankert der Dampfer „Tscheljuskin" am Kap Tscheljuskin, dem nördlichsten Punkt des asiatischen Festlands, benannt nach dem russischen Steuermann Tscheljuskin, der im Jahre 1742 als erster die Nordspitze Asiens umfuhr, um Sibiriens Küste zwischen den Mündungen des Jenissei und der Lena zu erforschen. Siebenhundert oder achthundert Jahre vor Tscheljuskin - so genau weiß das niemand - fuhr schon ein Norweger namens Ottar durch die Barentssee, die damals noch gar nicht so hieß, ins Weiße Meer. Auch nicht weiter kam 1553 ein britisches Schiff unter Kapitän Chancellor. Er landete an der Mündung der Nördlichen Dwina. Man geleitete Chancellor nach Moskau, wo der geschäftstüchtige Engländer dem Zaren Iwan IV. verschiedene Handelsprivilegien
abschwatzte. So begannen die diplomatischen Beziehungen Rußlands mit der britischen Krone. Die beiden anderen Schiffe der englischen Expedition blieben verschollen, bis Pelztierjäger sie im folgenden Winter in einer Bucht der Halbinsel Kola entdeckten, mit dreiundachtzig Erfrorenen an Bord. Vier Jahrzehnte später versuchten es die Holländer Barents und Rijp. Drei Jahre rannten sie vergeblich gegen das Eis an. Der südliche Weg zu den östlichen Gewürzländern um das Kap der Guten Hoffnung war längst entdeckt und befahren - der nördliche blieb verriegelt. Im dritten Jahr überwinterte Barents an der Nordostecke von Nowaja Semlja: die erste Polarüberwinterung in der Geschichte der Seefahrt. Sie kostete Barents das Leben. Schlecht ausgerüstet, mangelhaft vorbereitet, erforschte die Große Nordische Expedition die Küsten Sibiriens: Malygin, die Gebrüder Laptjew, TscheIjuskin und Vitus Bering, der im Juli 1741 die Nordwestecke Amerikas entdeckte und jene schmale Wasserstraße zwischen Asien und Amerika durchfuhr, die heute seinen Namen trägt. Bering und seine Gefährten ahnten nicht, was wir heute wieder wissen: daß fast hundert Jahre vor ihnen der Kosak Semjon Iwanowitsch Deshnjow dieselbe Entdeckung gemacht hatte, als er vom Eismeer in den Stillen Ozean gesegelt war. Aber damals genügten hundert Jahre vollauf, um Entdeckungen in irgendeiner Kanzlei zu begraben und aus dem Gedächtnis der Zeitgenossen zu löschen. Finanziert von dem sibirischen Kaufmann Sibirjakow, bewältigte der schwedische Forscher Nordenskiöld auf seinem Schiff „Vega" als erster die bisher unbezwungene Nordost-Durchfahrt.
Aber Nordenskiöld verließ den Atlantik 1878, und als er den Pazifik ansteuerte, schrieb man bereits 1879: Die „Vega" hatte eine Überwinterung in Kauf nehmen müssen. Solche Verzögerung konnte sich kein Kaufmann leisten. Sibirjakows kühner Plan, Sibirien auf seinen gewaltigen Strömen von Norden her mit europäischen Waren zu versorgen, war vorerst gescheitert. Der Amerikaner De Long, ursprünglich in San Francisco gestartet, um den vermeintlich verschollenen Nordenskiöld zu retten, wollte das Eismeer in WestOst-Richtung bezwingen. Aber er kam nicht weit. Vom Eis zerquetscht, ging die „Jeannette" unter. Drei Jahre später fanden Eskimos an der Küste Grönlands auf einer Eisscholle Kleidungsstücke und einen Zettel: De Longs letztes Lebenszeichen. Mehr Glück hatte 1914 der Russe Wilkizki. In umgekehrter Richtung, von Wladiwostok nach Archangelsk, wiederholte er Nordenskiölds Fahrt durch die nordöstliche Durchfahrt. Aber vor der Taimyr-Halbinsel mußte auch Wilkizki überwintern. Sein Zeitgenosse und Landsmann Sedow verließ Archangelsk, nachdem die Zarenhymne dreimal gespielt worden war. Sein Dampfer „St. Phokas" war reichlich mit Heiligenbildern, jedoch nicht mit einer Funkanlage ausgerüstet. Bei dem Versuch, den Nordpol mit Hundeschlitten zu erreichen, kam Sedow ums Leben. Marineminister Grigorowitsch zeigte sich empört über die eigenmächtige Urlaubsübertretung des Marineoffiziers Sedow und erklärte: „Schade, daß der Halunke nicht zurückgekehrt ist, ich hätte ihn vor Gericht gestellt."
Was dem Kaufmann Sibirjakow mißlang, vollbrachte der Eismeerfrachter „Sibirjakow". Ohne Heiligenbilder, dafür mit Funkanlage und anderen nützlichen Dingen reichlich ausgestattet, verließ dieses sowjetische Handelsschiff am 28. August 1932 Archangelsk. Am 1. Oktober empfingen sibirische Radiostationen folgenden Funkspruch: „Eismeerfrachter ,Sibirjakow' erreichte segelnd die Ostspitze des asiatischen Festlands." Ein segelnder Frachter im Eismeer? Das Eis hatte seinem Bezwinger die Schrauben regelrecht abgeschlagen. So mußte sich die „Sibirjakow" die letzten zwölf Tage dem Wind anvertrauen. Mit selbstgenähten Notsegeln aus Persennings vollendete sie die erste Fahrt durch das Eismeer in einer Navigationsperiode. Das Telegramm, das den Triumph meldete, war unterzeichnet: Schmidt. Otto Juljewitsch Schmidt, geboren 1891, Mathematiker, Geologe, Polarforscher, war mit fünfundzwanzig Jahren Privatdozent für Mathematik, wurde 1919 Mitglied der Kommunistischen Partei, arbeitete nacheinander in den Volkskommissariaten für Ernährung, Finanzen, Bildungswesen und Statistik, leitete den sowjetischen Staatsverlag, saß im Präsidium der Staatlichen Plankommission, redigierte die Große Sowjet-Enzyklopädie, beteiligte sich an einer PamirExpedition, segelte, inzwischen Chef des Arktis-Instituts, mit der „Sibirjakow" durch das Eismeer und entwickelte zwischendurch eine neue kosmogonische Theorie, nach der die Planeten durch Zusammenballung aus Meteoritenwolken entstehen, ursprünglich kalt sind und sich nur allmählich erwärmen - bevor er im
Sommer 1933 mit der „Tscheljuskin" erneut auf große Eismeerfahrt ging. Über den Zweck dieser Fahrt sagte Professor Schmidt am Tage der Abreise: „Auf einem Schiff ist der große nordöstliche Seeweg bereits passiert worden. Die Fahrt der ,Sibirjakow' hat die Passierbarkeit des Eismeeres bewiesen, und diese bedarf keiner Nachprüfung. Unsere Aufgabe ist es, den Weg zu erschließen und jenen Typ des Frachtschiffs herauszufinden, nach dem wir die Frachterflotte für den Norden bauen müssen." Die „Tscheljuskin", erst im selben Jahr in Kopenhagen vom Stapel gelaufen, hatte eine Wasserverdrängung von 3 600 Tonnen, die Maschinen eine Stärke von 2 400 PS. „Der Schiffskörper", sagte Schmidt, „ist seiner Stärke nach ein Mittelding zwischen einem gewöhnlichen Schiff und einem Eisbrecher. Die Form seines Rumpfes ist so berechnet, daß er das Eis zwar nicht zerschlagen, aber auseinanderschieben soll."
Im Eis gefangen Kamanin steht an der Reling und starrt in das milchige Grau der endlosen Nebelwand, die Kamtschatkas Ostküste verhüllt. Wenn er nicht wüßte, daß die „Smolensk" fährt, wenn er nicht das Vibrieren der Planken spürte, er müßte glauben, sie kämen nicht vom Fleck. Das Schiff schlingert und stampft. Eiszapfen hängen an allen Aufbauten. Mit besorgten Blicken umkreist Kamanin seine Flugzeuge, mindestens zehnmal am Tag. Und auch nachts klettert er manchmal an Deck. Zuerst haben die Matrosen von der Wache
gelächelt. „Wir passen schon auf, schlaf dich aus ..." Allmählich haben sie sich an den ruhelosen Nachtwandler gewöhnt. Nikolai Kamanin ist jetzt siebenundzwanzig Jahre alt. Dies ist sein erster Sonderauftrag, das erste große Abenteuer, die erste schwere Bewährungsprobe seines jungen Lebens, in dem es nichts Außergewöhnliches gegeben hat, wenn man es als gewöhnlich gelten läßt, daß der Sohn einer Weberin und eines Schusters Fliegeroffizier geworden ist. Aber darüber wundert sich 1934 in der Sowjetunion niemand mehr. Schon der halbwüchsige Nikolai träumte vom Fliegen. Da hockte er noch, über den Dreifuß gebeugt, neben seinem Vater in der Schuhmachergenossenschaft seines Heimatstädtchens Melenki im Gouvernement Wladimir und besohlte schiefgelaufene Absätze. Als er zwanzig Jahre alt war, wurde aus dem Traum Wirklichkeit: Zum erstenmal spürte Kamanin den Steuerknüppel eines Flugzeugs in der Hand. Jetzt, da er mit seinen Genossen unterwegs ist, die Schiffbrüchigen zu retten, kennt das ganze Land seinen Namen, das ganze Volk vertraut seinem Mut und seiner Flugkunst als Kommandeur dieser Gruppe von Fliegern. Kamanin vertraut seinen Flugzeugen und seinen Kameraden. In einem Interview mit der „Iswestija" 'sagt er: „Die Flugzeuge unserer Konstrukteure entsprechen durchaus den Anforderungen, die bei Flügen unter den Bedingungen des Polarwinters an sie zu stellen sind. Sie können auf Schneekufen und auf Rädern landen. Die Flieger sind erfahrene Piloten, mit den Bedingungen des hohen Nordens vertraut. Wir wollen unsere Flugzeuge mit dem Schiff mindestens
bis in die Bucht der Vorsehung bringen und von dort nach Kap Uelen fliegen. Das ist ein Flug von etwa viereinhalb Stunden. Von Uelen aus werden wir dann zum Schmidt-Lager starten." Kamanin ahnt nicht, was ihm und seinen Kameraden bevorsteht. In grauer Vorzeit, lange bevor der russische Admiral Ferdinand Petrowitsch Baron von Wrangel in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die sibirische Eismeerküste bereiste und jene unbewohnte Insel entdeckte, die seinen Namen erhielt, hatten Tschuktschen-Jäger an sonnigen Tagen vom Kap Jakan aus in der Ferne die Felsen einer unbekannten Insel gesehen. Die Wrangel-Insel liegt kaum zweihundert Kilometer vom Festland entfernt. Trotzdem bleibt sie für die „Tscheljuskin"-Expedition unerreichbar. Im Norden versperrt dickes Packeis den Weg. Professor Schmidt und Kapitän Woronin legen einen neuen Kurs fest. Sie wollen von Südosten aus der DeLong-Straße die Insel ansteuern — vergeblich. Außer Walrossen, Seehunden und Robben leben auf der Wrangel-Insel vier Europäer und vierundsechzig Eskimos. Ihre Funkanlage arbeitet schon seit einem Jahr nicht mehr, die Brennstoffvorräte sind erschöpft. Die erste Ablösung ging 1931 mit dem Dampfer „Tschukotka" im Eis unter. Die zweite Ablösung näherte sich 1932 der Insel auf zwanzig Kilometer, dann türmte sich das Eis zu unüberwindlichen Bergen: Der Dampfer „Sowjet" mußte, das Ziel vor Augen, umkehren. Die dritte Ablösung auf der „Tscheljuskin" besteht aus vierzehn Männern und fünf Frauen, die ein zerlegbares Haus mit sieben Räumen, eine neue
Funkanlage, Akkumulatoren, Lebensmittel für drei Jahre, Fibeln der Eskimosprache und zwei Kinder mitbringen. Aber weder die Menschen noch die Fibeln werden die Wrangel-Insel erreichen. Der Polarwinter ist stärker als die „Tscheljuskin". Das Eis nimmt den Dampfer gefangen, der jetzt nur noch eine Chance hat: mit dem Eis treibend die Beringstraße zu erreichen. Professor Schmidt telegrafiert: „Kap Serdze-Kamen passiert. Leck an Steuerbord, das wir Schließen. Eis treibt uns zurück. Rudergestänge verbogen. Manövrieren stark erschwert." Wenige Tage später: „Noch 70 Kilometer bis zur Beringstraße. Fahrt durch schweres Eis." Dann treibt ein Südoststurm das Eis mit dem Schiff sechs Tage lang wieder zurück. Der Dampfer steckt mitten in einem Eisfeld von etwa hundert Kilometern Länge. An den Rändern ist das Eis schwächer, aber die „Tscheljuskin" braucht für fünfhundert Meter fünf volle Tage. Dann scheint es trotz allem geschafft. Am 3. November meldet Schmidt: „Kap Deshnjow passiert. ,Tscheljuskin' in der Beringstraße." Das Schiff nimmt Kurs Süd und quält sich mühsam durch die Eisdecke. Am 5. November schimmert drei Kilometer voraus das offene, eisfreie Wasser des Stillen Ozeans ... Da geschieht das Unfaßbare: Von den japanischen Inseln rast ein Taifun nach Norden, der das Eis und mit ihm die „Tscheljuskin" unbarmherzig ins Eismeer zurücktreibt. Am 18. November meldet Schmidt: „Wir treiben zwischen Wrangel-Insel und Festland. Unsere Lebens-
mittelvorräte reichen für mehr als ein Jahr. Von 600 Tonnen Kohle wollen wir 350 Tonnen für den kommenden Sommer sparen. Unser Plan für die Überwinterung ist bis ins einzelne ausgearbeitet..." Am meisten fürchtet Schmidt für das Schiff die Eispressungen im Frühjahr. Aber das Frühjahr erlebt die „Tscheljuskin" nicht mehr.
Die Katastrophe Die Katastrophe beginnt am Mittag des 13. Februar 1934. Nach dem Essen klettert Kapitän Woronin wie gewöhnlich auf das Eis hinab, wo der Physiker Fakidow sein Zelt aufgeschlagen hat. Fakidow, sonst ein überaus höflicher Mann, erwidert den Gruß des Kapitäns nicht. Wie hypnotisiert starrt er auf seine Instrumente. Woronin lächelt, aber sein Lächeln erstirbt, als sich der Physiker aufrichtet und ihm in die Augen blickt. „Was ist los?" fragt der Kapitän. „Das Eis", sagt Fakidow, „das Eis wandert.. ." Woronin begreift sofort die Antwort des Physikers. Der Kapitän steht kaum wieder auf der Kommandobrücke, als sich die Eisschollen wie Wellenkämme mit ohrenbetäubendem Krachen übereinanderschieben und sich zu bizarren Felsen von acht bis zehn Meter Höhe auftürmen. Mit Windstärke sieben fegt ein schwerer Schneesturm über das Deck. Das Thermometer zeigt dreißig Grad unter Null. Plötzlich entsteht an Backbord senkrecht zum Schiff ein feiner, schmaler Riß im Eis. Die Stewardessen oder die Journalisten, die zum erstenmal das Polarmeer erleben, würden den harmlosen kleinen
Spalt glatt übersehen i oder sich sogar noch über ihn freuen. Kapitän Woronin weiß, was bevorsteht. Er befiehlt: „Alle Mann an Deck" und „Notvorräte ausladen". Die Männer haben eben mit der Arbeit begonnen, als der Spalt sich verbreitert. Wie von einer unsichtbaren Faust geschoben, pressen sich Eisblöcke gegen die Schiffswand. Die Platten biegen und wölben sich. Als die erste Naht reißt, ist kein Halten mehr. Wie Kugeln aus einem Gewehr fliegen die Nietenköpfe knallend in das Schneetreiben. In Sekunden ist die Backbordseite vom Bug bis zum Heck aufgerissen. Die Wassermassen überfluten zuerst die Maschinenräume, dann das Vorderschiff. Schnell sinkt der Bug unter Wasser. Die Frauen und die beiden Kinder sind schon in Sicherheit: in Fakidows Zelt. Die Männer schuften keuchend und trotz der beißenden Kälte schwitzend, um zu retten, was zu retten ist. Jeder weiß, was er zu tun hat. Keine Spur einer Panik. Säcke mit Zucker, Reis, Kleidung fliegen durch die Luken der Laderäume. Benzinfässer rollen über das Eis. Der Flieger Babuschkin und ein paar Helfer ziehen das Flugzeug vom Deck, als es sich auf gleicher Höhe mit dem Eis befindet. Der Bug ist längst verschwunden, das Heck hebt sich langsam. In seiner Kabine sitzt der Funker Krenkel und jagt pausenlos die Meldung vom Untergang der „TscheIjuskin" in den Äther. Als das Wasser in den Kabinen mittschiffs schon knöcheltief steht, schreit Bobrow, Schmidts Stellvertreter: „Jetzt holt eure eigenen Sachen, und vergeßt die Dokumente nicht." Während Krenkel seine Funkanlage demontiert, springen einer nach dem anderen auch die Matrosen
über Bord. Mironow hält Koffer und Schlafdecke in der Rechten, unter den linken Arm hat er sich sein Schachbrett geklemmt. Der Steuermann Markow preßt krampfhaft seine Tagebücher und den dritten Band des „Stillen Dons" an sich. Das Heck hebt sich jetzt rasch. Es kann nur noch Sekunden dauern. An Deck stehen noch drei Männer: Professor Schmidt, Kapitän Woronin und der Wirtschaftsleiter, Boris Mogilewitsch. Schmidt springt als erster. Als er sich aufrichtet, sieht er, daß Woronin und Mogilewitsch miteinander sprechen. Mogilewitsch hält seelenruhig die unvermeidliche Pfeife zwischen den Zähnen. „Springt herunter, zum Teufel noch mal!" brüllt Schmidt. Im selben Augenblick geht das Heck mit einem scharfen Ruck in' die Höhe. Woronin, der gleichzeitig springt, fliegt aufs Eis, neben ihm ein dicker Balken. Mogilewitsch hat sich festgehalten. „Spring doch endlich" schreit es im Chor von unten. Und er springt aufs Oberdeck. Die Pfeife fliegt in hohem Bogen davon. Als Mogilewitsch sich aufrichtet, sieht er die restlichen Fässer und Balken vom Heck auf sich zukommen. Sie begraben ihn und reißen ihn in die Tiefe. Sekunden später ist die „Tscheljuskin" verschwunden. Auf dem Wasser ein wildes Chaos von Rettungsbooten, Kisten, Balken und Fässern. Es ist halb vier Uhr nachmittags. Die Nacht bricht herein. Im wilden Schneesturm hält Professor Schmidt den ersten Appell ab. Auf dem Eis stehen zweiundneunzig Männer, in Fakidows Zelt sitzen zehn Frauen und zwei Kinder, die jetzt zweijährige Alla und Karina, die bald ihr erstes halbes Jahr vollendet.
Mut allein genügt nicht in der Hölle Eines Morgens - Kamanin hat wieder mehrmals in der Nacht nach den Flugzeugen gesehen - klopft es heftig an seine Kabinentür. Kamanin fährt hoch. Draußen steht ein Matrose. „Sie möchten bitte zum Kapitän kommen." Kamanins erster Gedanke: die Flugzeuge aber dann hätte der Matrose doch etwas gesagt. Noch ein wenig benommen vom Schlaf, klettert er nach oben. Stumm weist der Kapitän mit einer Kopfbewegung hinaus auf das aufgewühlte Beringmeer. Jetzt reißt Kamanin die Augen auf. Auf den Wellen tanzen, silbern-bläulich glänzend, Eisschollen. „Eis ... .", sagt Kamanin. „Ja, Eis", sagt der Kapitän wütend. „Unsere Fahrt ist zu Ende." „Wegen der paar Schollen . . ." „Warten Sie ab", sagt der Kapitän, „heute mittag ist Schluß, Die ,Smolensk' ist kein Eisbrecher." Der Kapitän behält recht. Gegen Mittag muß er sein Schiff stoppen. Voraus eine geschlossene Eisdecke, so weit das Auge reicht. „Wo sind wir?" fragt Kamanin. „Etwa auf der Höhe von Kap Oljutorski." Die anderen Piloten hocken schon über einer Karte. Alle reden aufgeregt durcheinander. Nur ihr Kommandeur schweigt vorerst einmal. „Das sind ja mindestens tausendzweihundert, wenn nicht tausenddreihundert Kilometer", schreit Piwenstein. „Luftlinie, mein Lieber", sagt Molokow ärgerlich, „Luftlinie."
Und sie wissen alle, daß sie nicht von Kap Oljutorski auf einer schnurgeraden Linie zur Untergangsstelle der „Tscheljuskin" fliegen können. Ihre Flugzeuge haben einen Aktionsradius von dreihundert bis dreihundertfünfzig Kilometern ... Das bedeutet: Sie müssen sich sozusagen in Sprüngen von einer Siedlung zur nächsten, von einer Tankstelle zur anderen, an die Schiffbrüchigen heranpirschen - in einer Zickzacklinie von mindestens zweitausend Kilometern! In stundenlangen Gesprächen in ihren engen, verqualmten Kajüten haben sie immer wieder ihren Plan durchgesprochen: mit dem Schiff möglichst dicht, wenn es geht, bis auf zweihundert oder dreihundert Kilometer, an die Unglücksstelle heran, die Flugzeuge aufs Eis befördern und starten . .. Demidow schlägt mit der Hand auf die Karte. „Von wegen zweihundert zweitausend!" Plötzlich, wie auf Verabredung, blicken sie alle ihren schweigenden Kommandeur an. „Tja", sagt Kamanin, und das ist sein erster und letzter Satz in dieser Debatte, „dann werden wir eben zweitausend Kilometer fliegen." Es ist Mitte März, mehr als einen Monat nach der Katastrophe, als der Dampfer „Smolensk" am Kap Oljutorski vor Anker geht. Tag und Nacht basteln die Mechaniker an den Flugzeugen. Sie montieren und demontieren zugleich. Die Haltevorrichtungen für Bomben, die Maschinengewehre, die Zielgeräte werden entfernt, jedes überflüssige Schräubchen. Dann pumpen und stopfen sie die Maschinen buchstäblich bis zum Rand voll mit Treibstoff, Ersatzteilen und warmer Kleidung. Als Kamanins „Tauben" endlich startbereit
sind, tobt ein Schneesturm über das Land, der jeden Gedanken an einen Flug einfach davonfegt. Ein Taifun in Wladiwostok, dreitausend Kilometer südlich, ist eine Katastrophe. Ein Schneesturm hier oben im Norden ist die Hölle. Die Flieger rennen in ihren Hütten auf und ab wie die Tiger im Käfig und starren Voll ohnmächtiger Wut hinaus in das grauweiße, tobende Chaos, in dem es nichts zu sehen gibt. Zwei Piloten, die nicht zu Kamanins Gruppe gehören, versuchen zu starten, als der Sturm ein wenig nachläßt. Kamanins Leute schauen ihren Kommandeur fragend und flehend an. Doch der schüttelt den Kopf. „Mut genügt hier nicht. Mit zerschlagenen Maschinen retten wir keinen Menschen." Die beiden SCH-2 gewinnen nach dem Start etwa fünfzehn Meter Höhe. Dann packt eine Riesenfaust die Maschinen und drückt sie wieder zu Boden. Hart schlagen sie auf. Die Piloten kommen mit dem Schrecken davon, ihre Flugzeuge fallen für die Rettungsaktion aus. Endlich, am 21. März, auf den Tag einen Monat nach ihrer Abreise aus Krasnojarsk, starten Kamanin, Molokow, Piwenstein, Demidow und Bestandshijew von einem kleinen zugefrorenen See aus und nehmen Kurs auf Maina-Pylgin, vierhundertfünfzig Kilometer nördlich von Kap Oljutorski. Kamanin ertappt sich immer wieder dabei, daß er auf seinen Motor horcht. Schon vier Stunden ist die Staffel in der Luft, und eigentlich müßte sie längst am Ziel sein. Aber darüber macht sich Kamanin keine Sorgen: Der heftige Gegenwind verringert ihre Geschwindigkeit erheblich. Seine Blicke wandern immer wieder
hinüber zu den Kameraden links und rechts und nach unten. In diesen vier Stunden hat er noch nicht ein einziges Fleckchen entdeckt, auf dem ein Flugzeug auch nur die Spur einer Chance hätte, ohne Bruch zu landen. In eisiger Schönheit strahlen die scharfen, spitzen Kuppen der Berge im gleißenden Sonnenlicht. Aber die fünf Motoren, sowjetische Produktion vom Typ M-17, dröhnen ruhig und gleichmäßig. Nach fünf Stunden tauchen endlich die Zelte und Häuschen der Tschuktschen-Siedlung auf. Aufgabe des Kommandeurs ist es, einen Landeplatz zu suchen. Landezeichen auszulegen und die anderen einzuweisen. Als die Maschinen ausrollen, sind die Benzintanks so gut wie leer. Es ist höchste Zeit gewesen. Am nächsten Morgen passiert die erste Panne. Bestandshijews Mechaniker bricht in der Eile den Hahn eines Kühlers ab. Was tun? Kamanin ruft die Piloten zusammen. Den Kühler auszubauen, zu löten und wieder einzubauen kostet Stunden. „Und der Tag hat hier nur sechs Stunden", sagt Piwenstein. „Ihr müßt fliegen", sagt Bestandshijew leise. „Ich komme nach." Kamanin klopft ihm leicht auf die Schulter. „Du hast recht. Wir haben genug Zeit verloren." , Sie fliegen direkt in einen Schneesturm hinein, der ihnen mit Windstärke zehn entgegenrast. Der Geschwindigkeitsmesser zeigt hundertsechzig Kilometer an, tatsächlich schaffen sie kaum hundert in der Stunde. Sie verlieren einander aus den Augen. Kamanin starrt nur noch auf den Höhenmesser, dessen Nadel wilde Sprünge vollführt. Alle paar Sekunden sackt die Maschine durch, von Luftwirbeln in die Tiefe
gerissen. Kamanin kämpft verzweifelt um Höhe. Jeder Meter kann über Leben und Tod entscheiden. Als er noch freie Sicht gehabt, haben die überladenen Flugzeuge knapp hundert, im günstigsten Fall zweihundert Meter über den zerklüfteten Berggipfeln geschaukelt.. . Wie Kinderspielzeuge, so geht es Kamanin durch den Kopf. Wer hat das gesagt? Am Tag vor der Abreise hat er in der Bibliothek des Fliegerklubs herumgestöbert, um irgend etwas über den hohen Norden zu finden. Er hat es bald wieder aufgegeben. Wenn die Autoren recht haben, und sie alle kennen den Norden aus eigener Erfahrung, dann ist er ein Selbst-
Die ungewöhnliche Odyssee der „Tscheljuskin"-Besatzung: Die gestrichelte Linie zeigt die Drift, das Kreuz die Untergangsstelle der „Tscheljuskin"
mörder. In einem der Bücher hat er auch den Satz gelesen: „Mächtige Luftwirbel spielen mit den Flugzeugen, als wären es Kinderspielzeuge." Und Kamanin erinnert sich auch, wie es weitergeht. Die ganze Küste um Anadyr — und er flog jetzt in diesem Augenblick nach Anadyr — sei eine gefährliche Gegend, heißt es da. „Immer herrschen dort Nebel oder Schneestürme. Flüge über die unerforschten Berge sind ein gewagtes Unternehmen. Wenn hier der Motor versagt, gibt es keine Rettung für den Flieger. Selbst wenn er in den Tälern einen Landeplatz finden sollte - wer soll ihn finden?" Dies ist das Land, hat Kamanin im Buch eines anderen Kenners gelesen, in dem der Speichel in der Luft gefriert und als kleines Eisklümpchen in den Schnee fällt. Hier verursachen beim Sprechen die Worte im Mund ein Geräusch, als ob man zwei Stückchen verharschten Schnee aneinander reibt. Hier muß man den Hunden Strümpfe aus Rentierfellen anziehen, weil sich sonst die erfrorene Haut ihrer Pfoten durchscheuert und vereist. Dies ist das Land, wo einem im Zelt die Haare am Kissen festfrieren. Dies ist das Land, über dem vier winzige Flugzeuge im Schneesturm über die Berge taumeln. Als sie nach einer halben Stunde, die ihnen wie eine Ewigkeit erscheint, plötzlich aus den Wolken auftauchen, sind es nur noch drei. Kamanin schaut nach links und rechts, da ist Piwenstein, da schaukelt Molokow. Wo ist Demidow? Oben, unten: nichts. Kamanin zieht eine kleine Schleife. Hinter ihnen: nichts. In der Dämmerung landen sie in Anadyr, wieder mit dem letzten Rest Treibstoff. Erschöpft klettert Kamanin aus
seinem Sitz. Da kommt schon Molokows Mechaniker gelaufen. „Demidow ist umgekehrt. Ich hab's gesehen."
Not macht erfinderisch In den ersten zehn Tagen nach der Katastrophe treibt das Eis, auf dem die Schiffbrüchigen sitzen, achtundzwanzig Kilometer nach Nordwesten, weg von der Küste. Die „Tscheljuskin"-Leute spüren nichts davon, und zu ihrem Glück bleibt ihnen kaum Zeit, über ihr Schicksal nachzudenken In zwei Tagen bauen sie eine Holzbaracke, in der alle Frauen, die beiden Kinder und fünf Männer untergebracht werden. Der Ofen wird mit Petroleum betrieben, das aus einem Behälter unter der Decke durch eine dünne Metallröhre, die von einem Rettungsboot stammt, zum Ofen läuft, der eigentlich nur ein leeres eisernes Faß ist. Das „notgedrungene Erfindungswesen", wie die Schiffbrüchigen ihre Improvisationen nennen, steht in hoher Blüte. Die Zelte überspannen sie mit Sperrholzdächern. Chemische Gefäße, Flaschenböden und abgewaschene Fotoplatten ersetzen Fensterglas. Aus leeren Konservenbüchsen entstehen Tassen und Schöpflöffel, aus Segeltuch Handschuhe und Angeln für die Türen, aus Holz Löffel und Türklinken, aus Watte Rasierpinsel und aus der größten zusammenhängenden glatten Eisfläche, fünf Kilometer vom Lager entfernt, ein Flugplatz mit einer Länge von hundertfünfzig und einer Breite von fünfhundert Metern. Am Rand des Feldes werden drei Mann in einem Zelt stationiert, die es ständig beobachten.
Am 20. Februar meldet ein Funkspruch den Start des ersten Flugzeugs. Dreißig Männer begleiten die Frauen und die beiden Kinder zum Flugplatz. Sie warten anderthalb Stunden, dann kommt die Enttäuschung : Das Flugzeug hat nach Kap Uelen umkehren müssen. Vier Tage später wiederholt sich alles. Diesmal warten sie drei Stunden, bevor sie sich schweigend auf den Heimweg machen. Zurückgekehrt, finden sie das Lager in zwei Teile gespalten: auf der einen Seite die Baracke, auf der anderen die Zelte. Aber die Verbindung ist durch eine Bretterbrücke schon wieder hergestellt. Am späten Abend kommt die Nachricht, das Flugzeug habe das Lager nicht gefunden und sei nach siebenstündigem Suchen umgekehrt.
Rettung ohne Genehmigung „Ich muß fliegen", sagt der Flieger Ljapidewski, der im Bett liegt und schwitzt. „Sie bleiben, wo Sie sind." Mißbilligend schaut die resolute kleine Krankenschwester auf das Thermometer. „Wegen einer lächerlichen Erkältung ..." „Mit neununddreißig Grad Fieber fliegt man nicht von mir kriegen Sie jedenfalls keine Erlaubnis." „Dann muß es eben ohne Ihre Genehmigung gehen", sagt Ljapidewski. Er weiß, daß er mit seiner bei der Polarstation stationierten ANT-4 der „Tscheljuskin"-Expedition am nächsten liegt. Und auch er hat wie Kamanin geantwortet: „Ich bin bereit."
Am 5. März um 23.35 Uhr Moskauer Zeit startet Ljapidewski mit dem Beobachter Petrow und dem Bordmechaniker Rukowski vom Flugplatz Uelen. Das Thermometer zeigt dreiunddreißig Grad unter Null. Kaum in der Luft, reißt Ljapidewski seine Brille herunter. Die Gläser beschlagen so stark, daß er nichts mehr sieht. Schnell stülpt er sich eine Fellmaske über. Nach zwei Stunden taucht aus der Eiswüste ein winziger schwarzer Punkt auf, der sich als Baracke entpuppt, nicht weit davon der Flugplatz, auf dem drei Männer Landezeichen auslegen. Ljapidewski landet ohne Mühe. Die Männer umarmen einander nach alter russischer Sitte. Gierig schlürfen die Flieger im Zelt heißen Kakao. Dann laden sie aus, was sie mitbrachten: ein ausgeweidetes Rentier, Akkumulatoren für die Funkanlage, Lampen und Spaten. Unterdessen zieht eine Karawane vom Lager zum Flugplatz. Wassiljew und Buiko ziehen die Schlitten mit ihren kleinen Töchtern, dahinter stapfen die Frauen, am Schluß keuchen die Männer, die sich die Ziehgurte der Hundeschlitten um die Schultern gelegt haben. Nach einer halben Stunde stoßen sie auf eine frische, breite Wasserrinne. Sie gehen am Rande des Spalts entlang, um einen Übergang zu suchen. Plötzlich ein schwaches Geräusch, alle blicken hoch in den verhangenen Himmel, da, ein dunkles Kreuz: das Flugzeug! Das erste Flugzeug! Sie sind nicht mehr allein! „Sie haben uns gefunden!" schreit Buiko, und alle schwenken ihre Mützen und winken. Der Wassergraben ist jetzt dreißig Meter breit. Die Männer stoßen ein paar Eisschollen ins Wasser, legen ein Brett hinüber.
„Bindet mich an", sagt der Maschinist Petja Petrow, „ich versuch' es." „Lassen Sie doch den Unsinn", ruft Schmidt. Aber Petrow läuft schon, das Brett kippt, Petrow fällt ins Wasser, schwimmt ein paar Stöße, krabbelt auf eine Eisscholle und schüttelt sich prustend und triefend bei fast vierzig Grad Kälte. Die anderen zögern noch, ob sie lachen oder schimpfen sollen, da brüllt Petrow: „Seht euch doch um, das Boot kommt!" Tatsächlich schleifen und schieben sechs Männer ein Boot über den Schnee. „Wir haben vom Aussichtsturm gesehen, daß ihr nicht weiterkommt." Ljapidewski bringt die zehn Frauen und die beiden Kinder, Alla und Karina, sicher nach Kap Uelen. Als er aus der Maschine steigt, sieht er am Rand des Flugfelds die kleine Krankenschwester stehen. Sie strahlt ihn an. Er lächelt müde. Da macht sie schnell ein strenges Gesicht. „Marsch, ins Bett!" „Ich komme schon", sagt Ljapidewski, „aber da warten noch zweiundneunzig ..." Diese zweiundneunzig Menschen erleben in dieser Nacht eine böse Überraschung: Das Eis unter der Baracke birst und reißt das feste Haus in zwei Stücke.
Gebirge ohne Personalien Während Anfang März das alles geschah: die Frauen und Kinder in Sicherheit, die Baracke zerrissen, schwamm Kamanin mit seiner Staffel an Bord der „Smolensk" noch irgendwo vor der Küste Kamtschatkas und hoffte und bangte zugleich, daß für ihn und seine Kameraden nichts mehr zu tun bleiben würde.
Jetzt, Ende März, hockte er immer noch in Anadyr, gut tausend Kilometer vom Schmidt-Lager entfernt, und die zweiundneunzig Männer saßen immer noch auf ihrer Eisscholle. Wenn der ewige Schneesturm nur für ein paar Stunden nachließ, startete Ljapidewski zum Schmidt-Lager. Dreimal mußte er umkehren, weil der linke Motor aussetzte. Am 14. März flog er von Uelen nach Wankarem, um Öl und Wärmebeutel für die Motoren zu holen. In Wankarem aber kam er auf dem Hundeschlitten an, sein Flugzeug lag zerschlagen irgendwo auf dem Eis. Auf Ljapidewskis ANT-4 durften die Schiffbrüchigen nicht mehr hoffen ... Seit sechs Tagen warten die drei Flieger auf das Ende des Schneesturms. Piwenstein liest stundenlang, Molokow, der Mann mit den eisernen Nerven, schläft auf Vorrat, Kamanin steht meist am Fenster, stumm, die Hände auf dem Rücken verkrampft. Anadyr versinkt im Schnee. Einmal am Tag kriechen sie durch die Schneewehen zu ihren „Tauben", obwohl sie doch nichts ändern können. Die Maschinen sind völlig eingeschneit, nur die Spitzen der Antennen schauen noch heraus. Trotz der Schutzplanen ist der Schnee in die Motoren eingedrungen. Als das Unwetter endlich abklingt, rennen sie mit Spaten hinaus, um die Flugzeuge frei zu schaufeln. Stundenlang stochern sie mit äußerster Vorsicht in den Motoren herum, um den festgepreßten Schnee zu entfernen. Einheimische schlagen steinharte Eisklumpen von der Startbahn. Die Hausfrauen stellen ihre größten Töpfe auf den Herd, um Wasser zum Anlassen der Motoren warm zu machen. Als es soweit ist,
können sie ihre Kinder in dem Wasser baden: Dicker Nebel senkt sich auf das Städtchen. An Fliegen ist nicht zu denken. Die ganze Nacht halten die Flieger Wache bei ihren „Tauben". Feuchter Schnee rieselt vom Himmel, der allmählich in Regen übergeht. Dann sinkt die Temperatur, die Flugzeuge überziehen sich mit einer Eiskruste. Am Morgen aber geschieht das Wunder: zuerst nur ein schmaler Streifen blauen Himmels, dann ein warmer Südwind, der die Wolken zerfetzt und ihre Reste in fünf Minuten nach Norden treibt, so daß die Sonne über Anadyr strahlt und das Eis von den Flugzeugen wäscht. Jetzt lacht sogar Kamanin. „Warmes Wasser", sagt er, „so schnell wie möglich, die Motoren anlassen." Eine Stunde später sind sie in, der Luft. Dies ist ihr letzter Sprung. Das Ziel heißt Kap Wankarem an der Nordküste der Tschuktschen-Halbinsel. Luftlinie mindestens fünfhundert Kilometer wenn sie Luftlinie fliegen können. Das ist es, was Kamanin ununterbrochen durch den Kopf geht. Er rechnet zum hundertstenmal, während seine Hände mechanisch die Steuerung bedienen. Der Treibstoff reicht, die Zeit reicht, sechs Stunden bis zur Dämmerung, wenn nichts dazwischenkommt. Zwischen ihnen und Wankarem liegt auf jeden Fall wieder ein Gebirge. Wie hoch sind seine Gipfel? Das weiß kein Mensch. Kamanin hat jeden Landsmann und jeden Einheimischen, der nur ein paar Brocken Russisch versteht, gefragt. „Verdammt hoch", haben die meisten geantwortet, „zweitausend Meter oder dreitausend, wer soll das wissen, die Berge sind doch noch nicht vermessen."
Kamanin schaut auf seine Karte. Da steht in großen Buchstaben schräg über die Landschaft, so wie das Gebirge jetzt tatsächlich vor ihm liegt, das Wort „Gebirge", sonst nichts, keine Zahl, nichts: Berge ohne Personalien. Als Kamanin seine Augen von der Karte hebt, sieht er am Horizont eine formlose weiße Masse auftauchen. Nebel? Wolken? Nach drei Minuten weiß er Bescheid: Ein neuer Schneesturm fegt über die Berge. Die drei Maschinen fliegen in achthundert Meter Höhe, links und rechts manchmal ein paar Wolkenfetzen, über ihnen eine fast geschlossene Decke. Sie müssen steigen, der Schneesturm kommt und das Gebirge. Die überladenen Flugzeuge gewinnen nur sehr langsam an Höhe, aber schließlich sind sie doch auf dreitausend Meter geklettert, an den oberen Wolkenrand. Unter ihnen Berge und Sturm. Es ist heller Wahnsinn, in Wolken über ein unbekanntes Gebirge zu fliegen, in dem ein Schneesturm tobt. Das wissen sie alle drei. Aber Kamanin trägt die Verantwortung. Er muß sich entscheiden. Er sucht ein Loch in der Wolkendecke. Ohne Wolkenloch in die „Waschküche" hinabzustoßen wäre glatter Selbstmord. Er zieht ein paar Kurven, links, rechts, nicht das winzigste Loch. Er wartet noch eine Minute und noch eine. Wir müssen durch, denkt er, wir müssen einfach, sie warten doch auf uns, jeder Tag ist kostbar ... Aber wir retten sie nur, wenn wir heil hinkommen. Noch eine Minute, dann schwenkt Kamanin ab, die anderen folgen ihm, Kurs Ost. Bald schimmert unter ihnen das dunkle Wasser der HeiligenKreuz-Bucht. Hier ist das Wetter ruhig. Kamanin
entdeckt am Ufer fünf Tschuktschen-Zelte. Sie landen sicher und steuern ihre Flugzeuge bis kurz vor die Zelte. Die Tschuktschen machen große Augen und lächeln verlegen. Keiner von ihnen spricht Russisch. Die Flieger verstehen immerhin so viel, daß die Siedlung Kainergin heißt. Eilig lassen sie Kühlwasser und Öl ab, schlagen ihr Zelt auf, dann kommt auch schon der Schneesturm. Das Thermometer zeigt achtundvierzig Grad unter Null. Sie ziehen sich alles an, was sie haben, und schlafen wunderbar. Als sie aufwachen, herrscht mollige Wärme im Zelt: Sie sind eingeschneit, über ihrem Zelt liegt mindestens ein Meter Schnee. Anderthalb Tage liegen sie in ihrem eingedrückten Bau. Jeder Schritt nach draußen ist nicht nur sinnlos, sondern auch gefährlich. Warm, wie sie sind, würden sie in dem schneidenden, rasenden Sturm unweigerlich erfrieren. Aus dem Zelt sind sie schnell heraus, an den Flugzeugen arbeiten sie wieder einen ganzen Tag, um sie startklar zu machen. Am nächsten Morgen, am 1. April, der seltene Glücksfall eines sonnigen, wolkenlosen Frühlingstages. Die drei Flugzeuge nehmen Kurs auf Wankarem. Über der Tundra das herrlichste Wetter, aber über dem Anadyr-Gebirge türmen sich wieder die Wolken. Das gleiche Bild wie vor drei Tagen, das gleiche vergebliche Suchen nach einer Lücke. Sie fliegen verzweifelt kreuz und quer, dann müssen sie zurück. Mit finsteren Mienen klettern sie, nach Kainergin zurückgekehrt, aus ihren Maschinen. Für die Welt sind die drei Flieger verschollen. Die „Iswestija" hat schon am 31. März gemeldet, daß die Staffel aus unbekannten Gründen ihren Kurs geändert
hat und seitdem verschwunden ist. Auf der ganzen Tschuktschen-Halbinsel machen sich Einheimische mit Hundeschlitten auf die Suche nach den vermißten Fliegern.
Der Mann, der sieben Flugzeuge überlebte Für Augenblicke hält das Land den Atem an: Schaffen es die Flieger nicht? Ljapidewskis Flugzeug fällt aus, die ganze Kamanin-Staffel, fünf erfahrene Flieger, vermißt. .. Warum muß man überhaupt alles auf die" Flugzeuge setzen? Gibt es keine anderen Möglichkeiten, die Schiffbrüchigen zu retten? Es gab außer der von Ljapidewski bereits erprobten praktischen Möglichkeit noch drei theoretische: Eisbrecher, Hundeschlitten und den Marsch der „Tscheljuskin"-Leute über das Eis. Sofort nach der Katastrophe brach der Leiter der Polarstation in Kap Uelen, Choworstanski, mit zwanzig Hundeschlitten zur Unfallstelle auf. Treibeis zwang ihn zur Umkehr. Auf die Hundeschlitten durfte man nicht mehr rechnen. Die Eisbrecher hätten natürlich eine echte Chance gehabt, aber zum Unglück lagen alle, die in Frage kamen, im Reparaturdock. Die zur Leitung der Rettungsarbeiten gebildete Kommission unter dem stellvertretenden Regierungschef Kuibyschew ordnete an, daß die Eisbrecher „Krassin" in Leningrad und „Litke" in Wladiwostok beschleunigt repariert werden und danach sofort auslaufen sollten. Aber darauf konnte man nicht warten. Konnten die Schiffbrüchigen über das Eis zur Küste
laufen? Das Nordkap lag zweihundertsiebenundsiebzig Kilometer vom Lager entfernt, Kap Uelen zweihundertfünfundsechzig Kilometer — in der Luftlinie. Auf dem Marsch bedeutete das mindestens die doppelte Strecke, weil man aufgetürmtem Packeis und Rissen ausweichen mußte - von den Gefahren ganz zu schweigen. Und sie müßten alles mitschleppen: Zelte, Werkzeug, Lebensmittel... Die Stärksten würden vielleicht, wenn sie sehr viel Glück hatten, das Land erreichen, die Schwächeren, die Älteren niemals. Alle Hoffnungen ruhen also auf den Fliegern. Außer der Kamanin-Staffel sind noch fünf andere Flieger unterwegs zum Schmidt-Lager, die besten Polarpiloten der Sowjetunion. Lewanewski und Slepnew fliegen als Passagiere - über Berlin nach London, fahren mit dem Dampfer von Southampton nach New York, durchqueren Amerika, fahren wieder mit dem Dampfer bis Seattle, wieder mit der Bahn bis Whitehurst, dem nördlichsten Bahnhof Kanadas, und schließlich wieder mit dem Flugzeug nach Fairbanks auf Alaska. Mit ihnen reist Uschakow, der Beauftragte der Regierungskommission. Es ist eine Reise um die halbe Welt, um die sie mancher beneidet, aber die drei haben keinen Spaß daran. Sie fühlen sich unbehaglich in Flugzeugen, die sie nicht selbst steuern, sie trommeln nervös gegen die Fensterscheiben von Expreßzügen, die durch das Land zu schleichen scheinen, sie rennen ruhelos über das Deck von Dampfern, die nicht vom Fleck kommen. Es vergeht mehr als ein Monat, bis sie endlich am Ziel sind. Während die drei Weltreisenden irgendwo auf dem Ozean schwimmen, starten in Chabarowsk drei andere
Flieger zum Flug in den eisigen Norden: Galyschew, Doronin und Wodopjanow. Galyschew ist der Mann, der im Bürgerkrieg aus den Resten abgestürzter Flugzeuge neue zusammengebastelt und mit diesen „fliegenden Särgen" tollkühne Flüge unternommen hat. Galyschew ist der Mann, der als erster den Kältepol von Werchojansk überflogen hat, wo die Temperatur auf minus siebzig Grad absinkt. Und Galyschew ist der Mann, der mutterseelenallein Passagiere und Mannschaft des im Eis eingeschlossenen Dampfers „Stawropol" gerettet hat. Wodopjanow überlebte den Absturz von sieben Flugzeugen. Vor einem Jahr erst fand man ihn nachts auf dem Eis des Baikalsees neben seinem toten Mechaniker und dem zertrümmerten Flugzeug. Als man seine Verletzungen zählte, kam man auf sechsundzwanzig Wunden. Die Ärzte schworen, daß dieser Mann niemals mehr ein Flugzeug steuern würde. Ein halbes Jahr später flog er mit den Matern der „Prawda" täglich von Moskau nach Leningrad. Jetzt, ein Jahr nach diesem Absturz, steuert er sein Flugzeug wieder über den Baikal, mitten durch einen Schneesturm, der ihm jede Sicht raubt. Während Wodopjanow, Doronin und Galyschew verzweifelt, mit erzwungenen Pausen gegen die Stürme ankämpfen, die auch Kamanins Staffel zu Boden zwingen, startet Lewanewski am 30. März mit Uschakow und dem amerikanischen Mechaniker Lavery vom Flugplatz Nome auf Alaska.
Bruchlandung Über der Beringstraße kämpft Lewanewski gegen heftigen Wind, der in der Nähe von Kap Uelen zum Sturm umschlägt, dann aber wieder nachläßt. Dafür kommen Wolken, die tief über dem Land hängen. Lewanewski will unter der Wolkendecke bleiben, so muß er bis auf achtzig Meter hinuntergehen. Am Kap Onman plötzlich dicker Nebel. Lewanewski biegt sofort nach Norden ab, aufs Meer hinaus. Im nächsten Moment taucht direkt vor ihm ein mächtiger Felsen auf. Die Maschine scheint sich direkt in die Steinwand hineinzubohren. Lewanewski reißt das Flugzeug hoch, es steht fast senkrecht und fegt um Haaresbreite über den Felsen hinweg, Uschakow und Lavery schauen sich ohne ein Wort an. Im nächsten Augenblick muß Lewanewski das Manöver wiederholen. Jetzt steigt er schnell in die Höhe. Bis tausend-einhundert Meter Nebel, bei tausendfünfhundert Metern Schneesturm, bei zweitausend Metern Regen, bei zweitausenddreihundert Metern beginnen die Tragflächen zu glänzen. Bald überzieht eine zwei Finger dicke Eisschicht das ganze Flugzeug, das spürbar an Auftrieb und Geschwindigkeit verliert. Die Maschine sackt unaufhaltsam ab, die Nase neigt sich nach unten, Lewanewski zieht sie mit Mühe noch einmal in die Horizontale, aber es ist aussichtslos. Lewanewski schaut nach unten — Eis, so weit er sehen kann. Beim ersten Aufsetzen wird die linke Kufe weggerissen. Lewanewski startet durch, und die Maschine hebt sich schwerfällig einige Meter in die Luft. Was nun? Mit einer Kufe kann man nicht landen, fliegen kann man
nur so lange, wie der Treibstoff reicht. Der Pilot setzt erneut zur Landung an. Bei der ersten Berührung bricht die zweite Kufe. Lewanewski zieht das Flugzeug wieder hoch. Die Scheibe seiner Pilotenkanzel ist durch die Vereisung völlig blind geworden. Er schlägt sie mit der Faust ein und setzt zum drittenmal zur Landung an. Das Flugzeug stößt hart auf, rutscht krachend und schleudernd über das Eis und bleibt wenige Meter vor einem dicken Eisblock stehen. Lewanewski hängt regungslos in seinem Sitz. Uschakow rüttelt ihn an der Schulter. Da hebt der Pilot langsam den Kopf. Sein Gesicht ist blutüberströmt. Uschakow reißt einen Koffer auf, zerfetzt ein Hemd in Streifen und verbindet notdürftig Lewanewskis blutenden Kopf. Dann läuft er zur nahen Küste, findet ein einsames Tschuktschenzelt. Eine uralte Frau und ein etwa vierzehnjähriger Junge zeigen ihm den Weg zur nächsten Siedlung, acht oder zehn Kilometer entfernt. Als Uschakow mit einem Hundeschlitten zurückkommt, steht Lewanewski schon wieder, wenn auch noch leicht schwankend, auf den Beinen. Am nächsten Morgen fahren sie nach Kap Wankarem. Ihr Flugzeug aber ist verloren. Vermißt, aber nicht verloren ist die Staffel Kamanins. Die Piloten sitzen zu dritt in ihrem Zelt in Kainergin. Ihre Flugzeuge stehen sozusagen vor der Tür. Es ist Abend, das Wetter hat sich beruhigt. Der alte, grauhaarige Tschuktsche, offenbar die Respektperson in dieser winzigen Fünfzeltesiedlung, hat lange in den Himmel geschaut, Kamanin auf die Schulter geklopft und sein einziges russisches Wort hervorgekramt: „Gut, gut..." Dabei zeigt er in den Himmel. „Na hoffentlich",
sagt Kamanin. Der Alte grinst und wiederholt immer wieder sein „gut, gut". „Also, wenn der Alte recht behält, können wir morgen früh fliegen", sagt Kamanin und schaut seine beiden Gefährten an. „Was machen wir?" Er ist der Kommandeur, und er hat auch schon seinen Plan im Kopf, aber es ist nicht seine Art, einfach Befehle zu erteilen. Molokow und Piwenstein sind keine schlechteren Flieger als er. Piwenstein zuckt die Achseln. „Wir müssen es noch einmal versuchen, was bleibt uns übrig." „Und wenn es wieder schiefgeht?" „Wir müssen eben durch . . ., willst du hier sitzenbleiben?" „Nein", sagt Kamanin, „aber der Sprit reicht nur noch für einen Anlauf, und wenn wir wieder umkehren müssen, dann sitzen wir tatsächlich hier fest und können ein paar hundert Kilometer mit dem Hundeschlitten fahren, um uns irgendwo neuen Sprit zu besorgen." Das ist für Kamanin eine lange Rede gewesen. Er holt denn auch tief Luft. Molokow, der bisher geschwiegen hat, fährt sich mit der Hand durch sein dickes dunkles Haar. „Vielleicht sollten wir einen kleinen Umweg machen, das verdammte Gebirge links liegenlassen ..." Genau das ist Kamanins Idee. „Wir fliegen nicht direkt nach Norden, sondern hoch zur Beringstraße. In Deshnjow liegt genug Treibstoff, auch für unsere Motoren. Wir verlieren dabei allerdings einen Tag, aber ..." „In Ordnung", sagt Piwenstein, „du hast recht." Am nächsten Morgen starten sie, sobald die Dämmerung weicht. Das Wetter ist gut. Wind wie immer, aber kein Sturm, kein Schneetreiben.
Über der Laurentius-Bucht meldet Piwenstein: „Nur noch für zehn Minuten Sprit." Kamanin schaut sofort nach unten: Wasser, nichts als Wasser, rechts der Ozean, links die Steilküste, ein Gewirr aus Felsen, dahinter die Hänge des Gebirges und an den Flugzeugen Schneekufen. Jetzt nicht die Nerven verlieren. Irgendwo muß ein Fleckchen Erde sein für unsere Kufen. Kamanin zieht eine leichte Linkskurve. Schwarze, zackige Felsen, dazwischen aber entdeckt er ein schmales, silbernes Band: ein zugefrorenes Flüßchen. Sie landen hintereinander. „Mit dem letzten Tropfen", sagt Piwenstein. „Ich hab' noch zehn Liter Reserve ..." Piwenstein winkt ab. „Zehn Liter durch drei. Teilt sie euch, und haut ab. Ich hab' da drüben ein paar Zelte gesehen. Wo Zelte sind, sind auch Hundeschlitten. Ich komme schon durch." „Red keinen Unsinn", murmelt Kamanin. Aber er weiß, daß Piwensteins Vorschlag richtig ist. Schweigend kippt er Molokow fünf Liter in den Tank. Gegen Abend landen sie beide in Kap Deshnjow, wo sie Slepnew finden, der aus Alaska herübergekommen ist.
Sisyphus mit Hoffnung Mit Schweinefleisch, Zwieback, in Öl gebacken, und Kakao feiern die „Tscheljuskin"-Leute am 13. März das „Jubiläum" ihres Schiffbruchs. Sie leben jetzt vier Wochen auf dem Eis. „Selbstverständlich führen wir kein Luxusleben",
berichtet Professor Schmidt, „doch wir haben alles, was wir brauchen ... Während dieses Monats gab es im Lager keine einzige ernsthafte Erkrankung, nicht einmal erfrorene Gliedmaßen ... Der körperliche und moralische Zustand des Kollektivs ist ausgezeichnet .. ." Alle Telegramme Schmidts strahlen Ruhe und Optimismus aus. Aber das ganze Land weiß, welche Sorge den Expeditionsleiter Tag und Nacht nicht verläßt: Wenn die warmen Tage kommen, kann der feste Boden, auf dem die Schiffbrüchigen jetzt stehen, unter ihren Füßen wegschmelzen. Noch allerdings steht die Quecksilbersäule konstant auf achtundzwanzig Grad unter Null. Doch alle denken an den kommenden Sommer. Mit einem glühenden Draht brennt der Heizer Jermilow in die Furnierplatte, mit der sein Zelt innen ausgeschlagen ist, die Worte „1934 ,Tscheljuskin', Schmidt-Lager, Tschuktschensee". „Wozu machst du dir die Mühe?" fragt sein Zeltnachbar. „Für die Wissenschaft", erwidert Jermilow ernst, „im Sommer wird das ganze Lager fortgespült, vielleicht treibt meine Platte irgendwo an Land, dann wissen sie, wie die Strömung läuft." Bald findet Jermilow eifrige Nachahmer. Seit dem 28. Februar hat die Agentur TASS einen täglichen Nachrichtendienst für die Schiffbrüchigen eingerichtet, der über verschiedene Funkstationen am Eismeer läuft. Die erste Meldung, die im SchmidtLager eintrifft, lautet: „Am 27. Februar, 7 Uhr abends, aus Berlin in Moskau per Flugzeug eingetroffen :
Dimitroff, Popow, Tanew . . . Dimitroff wird auf den Schultern vom Flugzeug getragen ..." Wenige Tage später löst eine Nachricht besonders heiße Diskussionen aus: „Auf Eisfeld im Kaspischen Meer 800 Fischer mit Frauen, Kindern, Geräten, Pferden abgetrieben. Sofort Hilfsmaßnahmen getroffen, Flugzeuge mobilisiert. Nach letzten Nachrichten der Flieger haben die 800 Fischer feste Eisfelder gefunden und nähern sich der Küste. 34 Fischer durch Dampfer von Eisscholle gerettet..." So erfahren die Schiffbrüchigen, was auf der „großen Erde" geschieht, und das ist gut so. Wer Langeweile hat, beginnt zu grübeln. Schmidt und die anderen Parteimitglieder sorgen dafür, daß niemand Zeit findet, auf dumme Gedanken zu kommen. In der verbliebenen Hälfte der Baracke hält Professor Schmidt abends Vorlesungen über Dialektik. Die schon auf dem Schiff gegründeten Sprachzirkel kommen wieder zusammen. Und in den Zelten wird vorgelesen: Verse und Erzählungen von Puschkin und Scholochows dritter Band des „Stillen Dons". Die Zimmerleute rufen sich gegenseitig nur noch mit den Namen der Puschkinschen Helden, die sie untereinander verteilt haben. An windstillen Abenden geht der Professor mit seinem Stellvertreter Bobrow noch einmal durch das Lager. Über ihnen der Sternenhimmel, ringsum die schwarzen Schatten der Zelte, aus denen Rauch und Feuerfunken aufsteigen. Auf dem Aussichtsturm bewegt sich leise die Fahne. Die Bauleute singen irgendein trauriges Lied, im Zelt der Matrosen dudelt das gerettete Grammophon. „Beinahe wie im Ferienlager", sagt Schmidt, und sie lachen beide.
Ende März meldet Professor Schmidt: „Der Flugplatz, auf dem Ljapidewski landete, ist zerstört. Auf dem angrenzenden Eisfeld haben wir eine ebenso große Landebahn vorbereitet. Außerdem sind wir dabei, näher am Lager noch einen Reserveplatz anzulegen ... Neue Risse gibt es im Lager nicht. Auf dem Weg zum Flugplatz ein großer Spalt. Wir setzen mit dem Boot über." Einige Tage später teilt der Professor mit, daß auch der neue Flugplatz fertig ist, daß der Südwind die Eisscholle aber um fünfundzwanzig Kilometer nach Nordwesten getrieben hat. „Während der letzten Woche ist es viel wärmer geworden..." Eines Abends meldet sich der Flieger Babuschkin beim Expeditionsleiter. „Es ist soweit. Morgen können wir starten." Wochenlang hat er mit seinem Mechaniker Walawin an der beschädigten kleinen SCH-2 herumgebastelt, nun kommt die Probe. Babuschkin startet zweimal, einmal mit seinem Mechaniker, einmal mit Professor Schmidt, und zieht übermütige Schleifen über den Zelten. Er fliegt wieder! Babuschkin hat schon fast nicht mehr daran geglaubt. Keine Ersatzteile, kein richtiges Werkzeug. Drei Tage nach seinem ersten Aufstieg wird es Ernst. Babuschkin zieht eine Kurve über der Eisscholle, auf der neunzig Männer stehen und winken, und geht auf Südkurs. Nach anderthalb Stunden landet er sicher in Kap Wankarem. Jetzt beginnen die entscheidenden Tage. Am 6. April fliegen Kamanin, Molokow und Slepnew von Kap Deshnjow, dem äußersten Zipfel der Sowjetunion an der Beringstraße, nach Kap Wankarem. Inzwischen ist
Nachricht über ihre verschollenen Kameraden Demidow und Bestandshijew eingetroffen. Beide mußten in der Taiga notlanden. Demidow geriet in dichten Nebel und verlor die Orientierung. Bei der Landung brach eine Kufe. Zum Glück war er von der Grenzwache in Anadyr beobachtet worden, die sofort Hundeschlitten ausschickte. Bestandshijew landete etwa fünfzig Kilometer von Anadyr entfernt und machte sich zusammen mit seinem Bordmechaniker Rasin zu .Fuß auf den Weg. Unterwegs verloren sie sich. Halberfroren erreichte Rasin die Siedlung. Die Bewohner suchten mit Hundeschlitten die ganze Nacht hindurch und fanden schließlich Bestandshijew. Fünf Flieger - Ljapidewski, Lewanewski, Demidow, Bestandshijew und Piwenstein - fallen also endgültig aus. Wodopjanow, Galyschew und Doronin sitzen in Anadyr im Schneesturm fest. Die ganze Verantwortung lastet nun auf den drei Piloten, die in Wankarem darauf warten, den letzten Sprung über das Eismeer zu wagen. Die neunzig Männer im Schmidt-Lager kennen nur noch eine Aufgabe: Flugplätze bauen. Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht arbeiten sie in drei Schichten. Kaum haben sie ein Feld halbwegs geebnet, gerät das Eis in Bewegung und verwandelt die glatte Fläche in einen Trümmerhaufen bizarrer Brok-ken, auf denen auch der routinierteste Kunstflieger nicht landen kann. Die Männer aber haben inzwischen längst den nächsten Landeplatz in Angriff genommen - wie Sisyphus, der sagenhafte König von Korinth, der seine Sünden in der Unterwelt abbüßte, indem er am steilen Hang einen Felsbrocken hinauf-
wälzte, der immer wieder hinunterrollte. Sisyphus allerdings schuftete ohne Hoffnung, die „Tscheljuskin"-Leute dagegen hoffen zuversichtlich, daß ihre Sisyphusarbeit sie errettet. Sie haben nur wenige Brecheisen, Spitzhacken und Spaten. Ihre wichtigsten Werkzeuge sind ihre Hände, mit denen sie die losgebrochenen Eisbrocken aufheben und wegschleppen. Es ist eine furchtbare Arbeit, wie sie keiner von ihnen je geleistet hat. Aber niemand murrt, niemand resigniert. Am 6. April ist der dritte Flugplatz halb fertig. Am nächsten Morgen läßt der Wind nach, der Himmel klärt sich auf. In diesen hellen Himmel hinein starten Kamanin, Molokow und Slepnew.
Landung in der Eiskiste Kamanin ist jetzt die Ruhe selbst. Wenn wir von Wladiwostok nach Wankarem gekommen sind, dann schaffen wir auch noch die zweihundertfünfzig oder zweihundertsiebzig Kilometer bis zum Lager Hauptsache, sie haben einen anständigen Landeplatz vorbereitet. Ab und zu schaut Kamanin nach unten. Bis jetzt hat er noch keinen Quadratmeter entdeckt, auf dem man ohne Bruch landen könnte. Als sie etwa die Hälfte der Strecke hinter sich haben, beginnt Kamanins Motor zu streiken. Die Umdrehungszahl sinkt, das Flugzeug auch. Kamanin überlegt: An Landen ist nicht zu denken, ich muß zum Lager oder zurück, die Genossen da vorn auf dem Eis warten seit Wochen auf die rettenden Flugzeuge, aber was nützt ihnen eine defekte Maschine? Ist der Schaden
ernst, so kann man ihn nur in Wankarem reparieren. Also zurück. Kamanin fliegt eine Linksschleife und geht auf Gegenkurs. Molokow folgt ihm, Slepnew bleibt auf dem alten Kurs. Kamanin quält sich eine Stunde, um die immer mehr absackende Maschine bis zum Flugplatz in der Luft zu halten. Der Vergaser ist verstopft. In fieberhafter Eile säubern sie die Leitungen, tanken und starten von neuem. Das erste, was Slepnew vom Schmidt-Lager sieht, ist der Aussichtsturm, auf dem im Wind die rote Fahne flattert. Er tippt Uschakow, der mit dem Rücken zu ihm sitzt, auf die Schulter und zeigt auf den Turm. Für Sekundenbruchteile sehen sie einander in die lachenden Augen. Dann konzentriert sich Slepnew voll auf die Landung. Uschakow sieht nichts, er spürt nur, daß der Pilot dreimal zur Landung ansetzt und die Maschine jedesmal im letzten Moment wieder hochreißt, endlich beim viertenmal rutschen und schlittern die Kufen über das Eis, zuletzt gibt es einen kleinen Stoß, und die Maschine neigt sich auf die Seite. Ein bißchen kurz, die Landebahn ... Vermummte Menschen rennen über das Eis. Uschakow läßt zuerst die acht Hunde heraus, die er aus Wankarem mitgenommen hat. Sie purzeln über das Eis, froh, der unheimlichen, ratternden Kiste entronnen zu sein. Die Wächter vom Turm erzählen später, sie hätten mit Entsetzen beobachtet, wie das Flugzeug zur Seite kippte, sich aber beruhigt, als sie Menschen aussteigen sahen, dann jedoch sehr gestaunt, daß diese Menschen auf allen vieren vom Flugzeug wegliefen ... Eine Stunde und zehn Minuten brauchen Uschakow und Slepnew, um sich auf einem schmalen Pfad zwi-
schen dem Packeis zum Lager durchzuschlängeln. Unterwegs kommen sie kaum zum Luftholen, pausenlos werden sie mit Fragen überschüttet. Uschakow, der Beauftragte der Regierung, hat sich doch ein wenig Sorgen um die Moral der Männer gemacht. Aber als das Lager auftaucht, hat noch keiner gefragt, wann sie denn zum Festland zurückfliegen und wieviel sie mitnehmen können und wen . . . Im Lager kommt Bobrow auf ihn zu, drückt ihm die Hand, zieht ihn in ein Zelt und sagt, indem er ihm eine Tasse reicht: „Hier, trink den heißen Kakao, und iß unser selbstgebackenes Brot, und dann rauch eine Pfeife, und nachher kommst du mit in die Baracke und berichtest uns über die innen- und außenpolitische Lage und vor allem über den siebzehnten Parteitag." Uschakow erinnert sich an sein erstes Funkgespräch, das er von Wankarem mit dem Lager führte. Am Apparat war sein alter Freund Krenkel. Sie begrüßten sich, dann bat Uschakow: „Ernst, hol mir doch mal Otto Juljewitsch an den Apparat." „Ich werde es ihm ausrichten", erwiderte Krenkel, „aber ob er kommt, ist fraglich. Er hält nämlich gerade seine fällige Vorlesung über dialektischen Materialismus." Lächelnd verspricht Uschakow, den erbetenen Vortrag zu halten. Er ahnt nicht, was ihm in den beiden nächsten Nächten bevorsteht. In der ersten beantwortet er tausendundeine Frage. Die Versammlung dauert viereinhalb Stunden, hinterher im Zelt ziehen sich die Gespräche bis zum Morgengrauen hin. In der zweiten Nacht kämpft Uschakow um sein Leben.
Generalleutnant Kamanin Es ist die grauenvollste aller Nächte, die er im Polareis verbracht hat. Bevor diese Nacht anbricht, landen Kamanin und Molokow auf dem Eis. Niemand kann diese Situation besser schildern als Kamanin selbst. So erinnert er sich nach mehr als dreißig Jahren an die entscheidenden Minuten. „Als wir das Lager erreichten, begrüßte uns eine winkende Menschenmenge. Wir zogen ein paar Kreise und sahen uns den Flugplatz erst einmal in Ruhe an. Ich kann nicht behaupten, daß er uns besonders viel Vertrauen einflößte. Der Platz war elend klein, höchstens dreihundertfünfzig Meter lang
und achtzig bis hundert Meter breit, eine Art flache Kiste, deren Wände aus Eisblöcken bestanden. Und in dieser Kiste mußten wir nun landen. Was mit Slepnew geschehen war, sah ich auf den ersten Blick. Seine Maschine lag auf der Seite. Vermutlich war er die ganze Strecke durchgerast und hatte am Ende unliebsame Bekanntschaft mit dem Eis gemacht. Es war völlig klar, man hatte nur dann eine Chance, wenn man möglichst weit vorn aufsetzte. Kam man erst in der Mitte auf, dann sah die Sache schlecht aus. Ich flog also ganz niedrig an, nur ein paar Handbreit, vielleicht zehn oder fünfzehn Zentimeter über den Eisschollen, gerade so, daß die Kufen das Eis nicht berührten. Trotzdem brachte ich die Maschine erst im zweiten Drittel der Landebahn auf das Eis. Ich sah hinten am Ende Slepnews Flugzeug und fürchtete, daß meine Maschine gleich daneben liegen würde. So entschloß ich mich zu einer wahrhaft barbarischen Bremsmethode. Ich riß die Maschine mit dem Seitensteuer herum und raste auf den Rand des Feldes auf die Eiswand zu, kurz, vor dem Aufprall riß ich sie auf die andere Seite herum, und so schlitterte ich im Zickzack hin und her. Ich verlängerte auf diese Weise meinen Bremsweg, und es klappte tatsächlich: Genau einen Meter vor der hinteren Packeiswand stand meine Flugzeugnase still... Die ,Tscheljuskin'-Leute zogen meine Maschine schnell zur Seite, um Platz zu schaffen für Molokow. Er war ein ausgezeichneter Flieger, aber vielleicht hatte er ein bißchen mehr Geschwindigkeit als ich, jedenfalls stießen die Kufen seiner Maschine noch gegen den Rand der Eisschollen, das Flugzeug kippte, ging hinten
hoch und blieb in dieser Lage stehen. Zum Glück war nichts weiter geschehen, nur die Verspannung des Doppeldeckers gerissen ..." Nach der ersten stürmischen Begrüßung kommt natürlich die Frage: Wieviel Leute könnt ihr mitnehmen? Ja, das ist die Frage. „Mal sehen, wieviel wir 'reinkriegen", sagt Kamanin. „Eigentlich habe ich ja nur einen Doppelsitzer für uns beide." Und er weist auf seinen Mechaniker und auf sich selbst. „Wenn ihr die fünf Kranken mitnehmen könntet, das wäre gut", sagt Professor Schmidt. „Und Sie?" fragt Kamanin, „Sie sind doch auch krank." Schmidts Stellvertreter Bobrow hat ihm eben am Zelteingang noch schnell zugeflüstert, daß Schmidt hohes Fieber hat. Aber der Professor schneidet ihm das Wort ab. „Ich bin der Leiter dieser Expedition, also bin ich selbstverständlich auch der letzte, der vom Eis geht." Nachdem sie die Verspannung an Molokows Flugzeug notdürftig repariert haben, stopfen sie zwei der Kranken zu Kamanin, drei zu Molokow und starten. So erreichen an diesem Abend, während sich die Zurückgebliebenen in der Baracke versammeln, um Uschakow zu hören, der Matrose Lomonossow, der Zoologe Stachanow, der Oberheizer Kisseljew, der Kochgehilfe Koslow und der Oberfunker Iwanjuk, die „große Erde". Gegen zwei Uhr in der Nacht schrecken die Männer im Lager mit einem Schlag auf. Starke Stöße erschüttern das Eis. In einer Minute ist alles auf den Beinen. Direkt auf die schon einmal zerrissene Baracke zu bewegt sich mit ungeheurem Krachen, zischend wie eine wütende
Schlange, eine etwa zwölf Meter hohe Eismauer. Trotzdem entsteht keine Panik. Jeder kennt seinen Platz, jeder weiß genau, was er zu tun hat. Bis zum letzten Augenblick tragen die Bewohner der Baracke Kleidung, Werkzeuge, Apparate und Lebensmittel auf das Eis. Dann versinkt die Baracke endgültig, zerquetscht wie eine Streichholzschachtel. Nur ein einzelner schwerer Balken wird wie aus einem Katapult hoch hinausgeschossen und kracht weit entfernt auf das Eis. Die Eismauer wandert auf die beiden Rettungsboote zu. In letzter Sekunde reißen die Männer das eine zur Seite, das andere wird emporgehoben und von einem Eisblock buchstäblich in den nächsten hineingedrückt. Zusammengepreßt explodiert eine Kiste mit Paraffinzündhölzern und läßt das Eis in allen Regenbogenfarben aufleuchten. Aber in diesen Minuten hat niemand Sinn für schaurig-schöne Schauspiele, auch Uschakow nicht, dem wir die Schilderung dieser Nacht verdanken. Nichts, was eine Polarnacht bescheren kann, ist Uschakow fremd. Drei Jahre hat er, der Sohn eines Kosaken vom Amur, die Wrangel-Insel erforscht und sie mit Eskimos besiedelt. Zwei Jahre war er Chef der Insel Sewernaja Semlja und verkörperte in dieser Zeit in einem Gebiet von siebenunddreißigtausend Quadratkilometern - das ist die Fläche der Bezirke Dresden, Cottbus, Frankfurt (Oder), Leipzig und Neubrandenburg - fünfundzwanzig Prozent der Inselbevölkerung und war das einzige Mitglied der Kommunistischen Partei. In diesen zwei Jahren, von denen acht Monate in ewiger Nacht verstrichen, zeichnete
Uschakow mit seinen Gefährten die zweitausend Kilometer lange Küste auf. Uschakow kennt alle Tücken und Gefahren des Eismeeres. Aber eine solche Nacht hat auch er noch nicht erlebt. Langsam hebt sich die Eisscholle, auf der das Lager steht, und bedeckt sich mit feinen Rissen. Das wandernde Eis hat sich unter die Scholle geschoben. Es besteht die Gefahr, daß sie in tausend kleine Stückchen auseinanderbricht und das ganze Lager in die Tiefe reißt. Zum Glück verlangsamt sich die Bewegung der Eismauer. Sie reißt noch einen Teil der Küche nieder und bleibt dann genau achtzehn Meter vor dem ersten Zelt stehen. Als die Gefahr für das Lager gebannt ist, birst die Fläche des Flugplatzes, zunächst an vier Stellen, später in viele kleine Teile. Die Wachmannschaft stürzt zu Slepnews immer noch beschädigtem Flugzeug und zieht es auf eine Eisinsel. Vorsichtshalber nimmt der Pilot Höhensteuer und Stabilisierungsflosse ab. Nach bangen Stunden steht die Maschine gegen Abend ohne neue Schäden auf dem Reserveflugplatz. Zwei Tage hält das schlechte Wetter Kamanin und Molokow in Wankarem fest. Slepnew wartet im Lager auf die Ersatzteile, die Kamanin ihm mitbringen soll. Galyschew, Doronin und Wodopjanow graben in Anadyr ihre Maschinen aus dem Schnee und telegrafieren, daß sie direkt über die Berge nach Wankarem fliegen wollen. Darauf antwortet ihnen Kuibyschew: „Erinnere noch einmal daran, daß eure Großflugzeuge von entscheidender Bedeutung für die Rettung der ,Tscheljuskin'-Besatzung sind und daß ihr mit größter Vorsicht vorgehen und jeden günstigen Augenblick benutzen müßt. Man verlangt von euch
keine Bravourstücke, sondern unbedingte Rettung der ganzen Expedition. Ist es richtig, daß ihr den gewagten Flug über den Bergrücken gewählt habt? Wird man nicht auch euch noch retten müssen? Ich will euch erfahrenen Fliegern, die viel durchgemacht haben, die Flugrichtung nicht vorschreiben, fliegt, wenn ihr sicher seid, aber es ist meine Pflicht, euch zu sagen, daß der Heroismus darin besteht, die ,Tscheljuskin'-Besatzung unter allen Umständen zu retten, nicht aber in Luftkunststücken. - Ihr müßt es besser wissen. - Wählt eure Flugrichtung, wie ihr wollt, aber rettet die ,Tscheljuskin'-Leute! - Gruß Kuibyschew." Am nächsten Morgen beim Start versagt Galyschews Motor. Die Mechaniker schütteln wütend die Köpfe und heben schließlich ratlos die Schultern. Nichts zu machen. Galyschew drückt seinen Gefährten schweigend die Hand. Doronin und Wodopjanow starten. Am Abend meldet Wodopjanow nach Moskau : „Kreml - Kuibyschew - nach Kompaß über Gebirge geflogen - durch starken Seitenwind abgetrieben - am Nordkap herausgekommen und glücklich gelandet starten morgen früh nach Wankarem -Wodopjanow."
Das verheimlichte Telegramm In der ersten Dämmerung des 10. April steigen Kamanin und Molokow wieder auf. Sie bringen Slep-new die Ersatzteile und fliegen an diesem Tag dreimal zum Lager und zurück. Slepnew bastelt stundenlang an seinem Flugzeug und fliegt abends mit sechs Schiffbrüchigen nach Wankarem.
Im Laufe des Tages verschlechtert sich Schmidts Zustand. Das Fieber steigt auf vierzig Grad. Nikitin, der Arzt, vermutet Brustfell- oder Lungenentzündung. Aber der Professor weigert sich hartnäckig, das Lager zu verlassen. In der folgenden Nacht empfängt Krenkel eine Regierungsdepesche aus Moskau. Wie gewöhnlich sitzt er in einer Ecke des geräumigen Zeltes. Schmidt liegt still in seinem Schlafsack. Sobald der Apparat zu ticken beginnt, schlägt er die Augen auf und sieht Krenkel erwartungsvoll an. Er hat darauf bestanden, daß das Funkgerät in seinem Zelt bleibt, und Krenkel liest ihm gewöhnlich jeden einlaufenden Funkspruch sofort vor. Diesmal jedoch schüttelt der Funker den Kopf und verläßt das Zelt. Die Depesche lautet: „Schmidt, Bobrow - In Anbetracht Ihrer Krankheit fordert Regierungskommission Sie auf, die Expedition an Stellvertreter Bobrow zu übergeben ... Sie sollen gemäß Anweisung Uschakows nach Alaska fliegen Alle lassen Sie grüßen - Sind von Ihrer Rückkehr überzeugt - Kuibyschew." „Haben Sie es ihm gesagt?" fragt Bobrow. „Ich hab's nicht übers Herz gebracht", erwidert Krenkel, „aber es gibt ja keine andere Lösung." „Na, dann muß ich wohl. . .", murmelt Bobrow. Er setzt sich auf eine leere Kiste und kritzelt auf einen Notizblock : „Moskau - Kreml - Kuibyschew. - Ihre Verfügung entgegengenommen - Schmidt wird in Begleitung des Arztes Nikitin nach Wankarem befördert — Bobrow." Das Telegramm in der Hand, das Funkjournal unter dem Arm, betritt Bobrow das Zelt des Expedi-
tionsleiters. Professor Schmidt begrüßt Bobrow nur mit den Augen. Er scheint sehr schwach. Bobrow setzt sich ächzend auf das Fußende von Schmidts Lagerstatt. „Die Flugzeuge arbeiten großartig", sagt er langsam, „gestern haben sie zweiundzwanzig Leute abtransportiert. Jetzt sind nur noch die Kräftigsten hier - mit einer Ausnahme ..." „Und wer ist das?" fragt Schmidt. Bobrow spürt am Klang der Stimme, daß der Professor wirklich nicht an sich selbst denkt. „Na, Sie", sagt Bobrow unsicher, „jetzt sind Sie an der Reihe." „Bobrow, ich bitte Sie, das ist doch beschlossene Sache, Sie sind der vorletzte, ich bin der letzte." Bobrow versucht zu lächeln, es gelingt ihm nur halb. „Die Umstände wandeln sich, Otto Juljewitsch, wir sind doch Dialektiker, man kann die Reihenfolge ändern." „Kommt überhaupt nicht in Frage, Alexej Nikolajewitsch, ich bin der letzte." Jetzt schreit Bobrow fast: „Begreifen Sie doch, wenn eine neue Eispressung kommt, die Zelte können zerstört werden, wir müßten Sie ungeschützt ins ' Freie legen ... Und wenn es mit Ihnen schiefgeht, wäre das nicht ein Skandal? Dann heißt es, sie haben nicht einmal ihren kranken Chef retten können." „Es geht nicht", sagt Schmidt eigensinnig, „eben weil ich der Chef bin." Bobrow klebt das schweißnasse Hemd am Leib. „Es ist genug, Otto Juljewitsch", sagt er mühsam, „Sie waren lange genug Chef, jetzt bin ich Chef." „Bis jetzt hat mich noch keiner abgesetzt." „Ach, was soll ich reden, da, lesen Sie..." Und er reicht
Schmidt das Funkjournal. Schmidt liest, läßt das Buch sinken, schließt die Augen und liegt eine Minute regungslos. Dann schaut er Bobrow an. „Was befehlen Sie, Genosse Chef?" Bobrow, der aufgestanden ist, stürzt zu Schmidt, und sie umarmen sich. „Also, wie lautet Ihr Befehl?" „Daß Sie abfliegen, heute noch, ein geheiztes Flugzeug ist schon unterwegs." Tatsächlich hat Molokow den offenen Beobachtersitz verkleidet und mit einem Akku beheizt. Ein Hundeschlitten fährt den Kranken zum Flugplatz. Schmidt hat immer noch vierzig Grad Fieber, und im Freien herrscht bitterer Frost, dreißig Grad unter Null. In einem Schlafsack warm verpackt, wird der Professor in die Maschine gehoben. Molokow startet sofort. In Wankarem übernimmt Slepnew den Kranken in sein repariertes geschlossenes Flugzeug und bringt ihn in das amerikanische Krankenhaus in Nome auf Alaska. Viermal landet Molokow an diesem 11. April auf dem Eis, dreimal Kamanin. „Wenn wir bloß mehr Leute in die Kiste kriegten", stöhnt Kamanin, als sie sich nach dem ersten Flug in Wankarem treffen. „Ja", sagt Molokow, „ich hab' auch schon überlegt ... Was hältst du von den .Zigarren' ?" Kamanin klopft mit der Faust gegen einen der zigarrenförmigen Fallschirmbehälter, die unter jeder Tragfläche ihrer kleinen Maschinen hängen. „Es müßte gehen", sagt er nachdenklich, „aber du kannst keinen zwingen, da hineinzukriechen, die Dinger sind doch bloß aus Sperrholz." Zuerst will denn auch keiner das Risiko wagen. „Jungs,
wir haben extra Luftlöcher gebohrt", versucht Kamanin zu scherzen. Aber die Leute auf dem Eis beklopfen die „Zigarren" voller Mißtrauen und schütteln die Köpfe. So gern sie möglichst schnell auf die „große Erde" zurück möchten, keiner hat Lust, in letzter Minute, das rettende Ziel vor Augen, sein Leben aufs Spiel zu setzen. „Die Dinger halten", beteuert Molokow, „sonst würden wir euch überhaupt nicht da 'reinlassen . . ., wir können euch nicht zwingen, aber denkt daran, daß das Wetter wieder umschlagen kann."Plötzlich schreit eine junge Stimme: „Freiwillige vor!" Geschlossen meldet sich eine Komsomolzenbrigade. Jetzt muß sogar die Reihenfolge ausgelost werden. Was nun geschah, schildert Kamanin drei Jahrzehnte später folgendermaßen: „Drei Mann in unserer kleinen .Kiste' - das war uns schon verdammt eng vorgekommen. Jetzt lernten wir, daß man mit unseren Zweisitzern sage und schreibe sieben Personen befördern konnte. Ich saß vorn im Pilotensitz. In den hinteren Sitz stopften wir vier Menschen, wie, weiß ich heute noch nicht. Und je einen Mann preßten wir in die beiden ,Zigarren'. Sie steckten Kopf und Arme hinein, dann packten wir sie an den Beinen und schoben den Rest hinterher. Mancher mußte seine Pelzjacke ausziehen, weil er sonst auch mit Gewalt nicht in den engen Trichter hineingepaßt hätte. So waren wir also insgesamt sieben Mann in einem zweisitzigen Flugzeug. Das schlimmste war der Start mit der überladenen Maschine. Bekanntlich muß ein Flugzeug eine Minimalgeschwindigkeit erreichen, wenn es sich in die Luft
erheben und sich dort halten will. "Wird sie unterschritten; so fällt es wie ein Stein zur Erde. Andererseits bestand die Gefahr, daß ich gegen das Packeis raste, wenn ich die Startgeschwindigkeit steigerte und doch nicht hochkam. Ich bekam jedesmal eine Gänsehaut, wenn ich mit dem zitternden, schwankenden Flugzeug Zentimeter über den dicken Eisbrocken schwebte."
Die letzte Nacht „Im Lager ist es still geworden", schreibt Professor Schmidts Gehilfe Kopussow am 12. April in sein Tagebuch. „Die Küche arbeitet nicht mehr. Zehn Zelte stehen leer. Wir sitzen alle in drei Zelten beieinander, keiner schläft, wir reden die ganze Nacht hindurch. Um 4 Uhr wird gefrühstückt, dann packen wir unsere Sachen und gehen zum Flugplatz." Das liest sich fast, als wäre es in der Sommerfrische geschrieben. Aber noch immer schweben die Schiffbrüchigen in jeder Minute in Lebensgefahr. Das Eis kann wieder wandern, ein neuer Sturm losbrechen. Als erster landet an diesem 12. April Kamanin. Er steigt gar nicht erst aus, wendet und startet sofort, als die „Passagiere" verstaut sind. Dann kommt - als erster der Dreiergruppe aus Chabarowsk - Doronin. Er landet sicher, nimmt drei Mann auf, beim Start jedoch kommt er nicht rechtzeitig hoch. Es geht glimpflich ab, aber die linke Kufe und der Schwanzsporn sind gebrochen. Alle anwesenden Mechaniker stürzen sich auf das defekte Flugzeug. Nach sechs Stunden ist der Schaden behoben, und Doronin geht auf Südkurs.
Am Nachmittag holt auch der zweite Mann der Gruppe aus Chabarowsk, Wodopjanow, vier Mann vom Eis. Als die Nacht hereinbricht, sind noch sieben Männer und acht Hunde auf dem Eis: Bobrow, der neue Chef, Woronin, der Kapitän der „Tscheljuskin", Boris Gromow, der Korrespondent der „Iswestija", der Funker Krenkel und Iwanow, der Bootsmann Sagorski und der Maschinist Pogossow. In dieser letzten Nacht stöhnt und knirscht das Eis ununterbrochen. An allen Ecken entstehen neue Risse. Das Lager liegt öde und verlassen auf dem unruhigen, bebenden Boden. Wenn das Eis einen Augenblick verstummt, hört man in einem der leeren Zelte einen Petroleumkocher surren, den die Bewohner abzustellen vergessen haben. Alle bleiben wach. Nur Krenkel, der seit Tagen kaum ein Auge zugemacht hat, wirft sich auf seinen Schlafsack und schläft wie ein Toter. „Diese Nacht verbrachte ich ohne Schlaf", erzählte Kapitän Woronin später. „Im Zelt brannte eine Laterne. Ich steckte den Petroleumkocher an, kochte mir Tee, wusch das Geschirr ab, räumte alles auf und ließ nach Seemannsart einen Vorrat an Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen zurück, die ein auf diese Eisscholle verschlagener Mensch brauchen könnte. Ich wollte nicht, daß das Schmidt-Lager, wenn wir es verlassen hatten, jenen chaotischen Lagern ausländischer Expeditionen ähnelte, die ich zum Beispiel neunzehnhundertneunundzwanzig auf der Rudolf-Insel gesehen habe. In der Morgendämmerung trat ich an die Luft. Der Himmel war klar, ringsum herrschte jetzt Stille. Dann meldeten die Funker, daß drei Flugzeuge unterwegs
seien, um uns zu holen. Ich verrammelte den Eingang zum Zelt, damit kein Eisbär sich an den zurückgelassenen Lebensmitteln gütlich tun könnte. Als ich fertig war, merkte ich, daß ich meine Mütze vergessen hatte. Ich machte ein Brett locker, holte die Mütze und vernagelte die Tür von neuem. Kaum war ich fertig, vermißte ich meine Handschuhe. So mußte ich die Tür noch einmal öffnen, bevor ich sie endgültig verschloß." Keine Minute in all den schweren Wochen hat die Sonne so gestrahlt wie am Morgen dieses letzten Tages. Die sieben Männer packen ihre Habseligkeiten zusammen. Sie reden viel durcheinander, klopfen einander ohne ersichtlichen Grund auf die Schultern und lachen schallend. Krenkel hört Tanzmusik aus Alaska. „Wenn sie mir kein Flugzeug schicken, das ein Büfett mit alkoholischen Getränken hat, bleibe ich hier", ruft er. Die in acht Wochen aufgestaute Spannung beginnt sich langsam zu lösen. Dann kommt doch noch eine Schrecksekunde. Krenkel hockt plötzlich wieder zusammengekrümmt, wie es seine Art ist, wenn er sich konzentriert, über seinem Funkgerät. Die anderen verstummen allmählich und schauen auf ihren Funker. „Wodopjanow hat die Orientierung verloren", sagt Krenkel leise. „Bei dem Wetter?" fragt Woronin ungläubig. Während über dem Lager die Sonne strahlt, gerät Wodopjanow knapp fünfzehn Minuten nach dem Start von Wankarem in dicken Nebel. Rechts sieht er gerade noch die Spitze der Koliutschin-Insel, dann ist er in der „Waschküche". Er irrt eine Stunde und zehn Minuten
umher, dann gibt er es auf und kehrt nach Wankarem zurück. Mittags, kurz nach halb eins, empfängt Krenkel neue Nachricht: Kamanin, Molokow und Wodopjanow sind gestartet. Die Männer laufen zum Vorratslager und stecken einige ölfässer in Brand. Eine mächtige schwarze Wolke quillt langsam in den blauen Himmel hinauf. Als die drei Flugzeuge auftauchen, schickt Krenkel seinen letzten Funkspruch in den Äther: „SchmidtLager - habe nichts mehr zu funken - Sendung beendet." Dann montiert er die Funkanlage ab und verstaut sie auf einem Schlitten. Die Männer machen sich auf
Retter und Gerettete auf dem Roten Platz: Professor Otto Schmidt (vorn), neben ihm Nikolai Kamanin
den Weg zum Flugplatz. Sie gehen langsam. Keiner spricht ein Wort. Die laute Fröhlichkeit ist verflogen. öfter, als der beschwerliche Weg sie zwingt, bleiben sie stehen und schauen zurück auf die Zelte, die immer kleiner werden. Kamanin landet als erster, dann Molokow, dann Wodopjanow. Es geht alles glatt, sie haben sich an das Eis gewöhnt. „Das sind ja nicht sieben Passagiere", sagt Molokow, als die kleine Karawane näher kommt, „das sind fünfzehn! Wohin stecken wir denn die Hunde?" „In die Zigarren", sagt Kamanin und ergreift den ersten. Der Hund strampelt und winselt, aber es hilft nichts, er muß in die enge Sperrholzkiste, drei seiner Brüder folgen ihm; zu viert eng aneinandergedrückt. fügen sie sich, immer noch leise winselnd, in ihr Schicksal. Dann ist der Augenblick gekommen, auf den sie alle so lange gewartet haben. Auf den Tag, fast auf die Stunde genau zwei Monate nach dem Untergang der „Tscheljuskin", am frühen Nachmittag des 13. April 1934, steigen die letzten Schiffbrüchigen in die Flugzeuge. Die festgelegte Reihenfolge wird streng eingehalten: Krenkel als drittletzter, Kapitän Woronin als vorletzter, Expeditionsleiter Bobrow als letzter. Die Flieger starten kurz hintereinander. Die Passagiere brauchen nicht darum zu bitten, jeder zieht noch eine Abschiedsrunde über dem Lager, bevor er auf Südkurs geht. Die Zelte verschwinden schnell im Packeis. Das letzte, was die „Tscheljuskin"-Leute von ihrem verlassenen Lager sehen, ist die rote Fahne auf dem Aussichtsturm, die im Wind flattert.
Wo sind sie geblieben? Das also ist die alte Geschichte von Eis und Schneestürmen, die mir Kamanin an einem heißen Moskauer Sommertag erzählt hat. Damals, 1934, stiftete die Sowjetregierung den Ehrentitel „Held der Sowjetunion" als „höchsten Grad der Auszeichnung für Heldentaten", und die ersten, die ihn erhielten, waren die Flieger Ljapidewski, Lewanewski, Molokow, Kamanin, Slepnew, Wodopjanow und Doronin. Ihnen allen und ihren Bordmechanikern wurde außerdem der Leninorden verliehen und eine Prämie in Höhe eines Jahresgehalts ausgezahlt. Sämtliche Mitglieder der „Tscheljuskin "Besatzung wurden mit dem Orden des Roten Sterns ausgezeichnet. Fünf der sieben Fliegerhelden sind noch am Leben. Lewanewski stürzte 1937 über der Arktis ab. Doronin, später Ingenieur in einer Flugzeugfabrik, starb im Jahre 1951. Molokow, heute Rentner, flog noch viele Jahre im hohen Norden, bevor er nach dem zweiten Weltkrieg in die Leitung der sowjetischen Fluggesellschaft „Aeroflot" eintrat. Slepnew hält heute noch Vorträge über die Arktis. Ljapidewski arbeitet auf einem leitenden Posten in der Flugzeugindustrie, deren stellvertretender Minister er während des zweiten Weltkrieges war. Der Bordflieger der „Tscheljuskin", Babuschkin, landete 1937 am Nordpol, wofür auch er als Held der Sowjetunion ausgezeichnet wurde. Ein Jahr später stürzte er ab. Woronin, der alte Seebär, starb, wie er es sich ge-
wünscht hatte, auf der Kommandobrücke eines Eisbrechers mitten im Eismeer. Ernst Krenkel, der Funker, wurde 1937 zum zweitenmal weltberühmt und wurde diesmal auch Held der Sowjetunion, als er mit Wodopjanow zum Nordpol flog. Heute ist er in einem wissenschaftlichen Institut in Moskau tätig. Professor Otto Juljewitsch Schmidt organisierte jene Flüge zum Nordpol und die Errichtung der Station „Nordpol I". Er starb im September 1956 in Moskau. Die kleine Karina Wassiljewa, geboren am 31. August 1933 an Bord der „Tscheljuskin", ist inzwischen auch schon vierunddreißig Jahre alt. Sie hat in Leningrad Geologie studiert und lebt jetzt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen David und Alexander in Grusinien. Als der genesene Professor Schmidt am 15. Mai 1934 in Washington eintraf, gab er dem dortigen TASSKorrespondenten ein Interview. Der Untergang eines so wertvollen Schiffes, wie es die „Tscheljuskin" gewesen sei, sei natürlich sehr betrüblich, sagte Schmidt, aber er sei trotzdem mit den Ergebnissen der Expedition zufrieden. Fast das gesamte wissenschaftliche Material habe gerettet werden können. Und wörtlich sagte Schmidt: „Die Ergebnisse unserer Expedition haben die Auffassung bestätigt, daß der nördliche Seeweg befahrbar ist. Der nördliche Seeweg wird den wichtigsten Handelsweg zwischen dem Westen und dem Osten der Sowjetunion bilden . . . Während ich diese Geschichte aufschrieb, erschien in der, Presse folgende Meldung aus Moskau: „Die ,Nowoworonesh', das erste sowjetische Schiff, das über den nördlichen Seeweg Transitgüter von Westeuropa
nach Japan befördern wird, hat in den vergangenen Tagen in Le Havre, Antwerpen, Rotterdam und Hamburg Fracht an Bord genommen und ihre Reise begonnen." Der zehntausend Kilometer lange sowjetische nördliche Seeweg wurde im Sommer 1967 zum erstenmal für ausländische Schiffe freigegeben. Durch die nördliche Route verkürzt sich die Fahrzeit für Schiffe von London nach Yokohama um zwei Wochen. Außerdem sinken die Transportkosten um fünfzehntausend Pfund.