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ATLAN - Intrawelt 4 Gefangen im Himmelsnetz Autor: Wim Vandemaan In der Milchstraße schreibt man das Jahr 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung – das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht. Atlan, der relativ unsterbliche Arkonide, hält sich jedoch nicht in seiner Heimatgalaxis auf, sondern in Dwingeloo. Dort kämpft er auf scheinbar verlorenem Posten gegen die mysteriösen Lordrichter und deren Heerscharen. Jüngst jedoch gelang ihm der Kontakt zu einer Widerstandsorganisation, und von dieser wurde Atlan um Hilfe gebeten: Als eines der wenigen Wesen, die jemals .hinter den Materiequellen. waren, sei es ihm als Einzigem möglich, in die die geheimnisvolle Intrawelt einzudringen und von dort den Flammenstaub zu besorgen. Atlan verschafft sich Zutritt in die gigantische Hohlwelt. Dort gerät er überraschend an Peonu, einem Diener der Chaotarchen, der ihm einen Teil der Seele raubt. Der Arkonide ist ihm seitdem auf merkwürdige – und unangenehme – Art und Weise verpflichtet. Gemeinsam mit dem Echsenwesen Jolo und Albia, der Hohen Frau, ist Atlan nunmehr unterwegs zu einer Gondelstation, der einzigen Möglichkeit, die Intrawelt schnell zu durchreisen: Dort allerdings wird er wahrscheinlich GEFANGEN
Wim Vandemaan
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Gefangen im Himmelsnetz
Karaporum nicht, wo die Savanne in der 1. Mittagssonne glühte. Abwärts 467 Tage zu früh sterben, dachte Abertack. Während er stürzte, erwachte eine Abertack stürzte in den Tod. Emotion, die er vorher sehr selten erlebt Es war der 8533. Tag nach seiner hatte. Er ertappte sich dabei, wie er den Erweckung, also würde er lange vor jenem Aufschlag vorwegnahm, sich seinen Tod Tag 9000 sterben, an dem seine vorstellte und wie ihm darüber unbehaglich biologische Uhr angehalten wurde. wurde. 467 Tage früher, um genau zu sein. Sogar unwohler als an solchen Tagen, an Ein vorzeitiger, überflüssiger Tod. denen die Grün-Nomaden überfällig waren Zumal er sich Hoffnung gemacht hatte, in und Abertack sich um den Nachschub an die Flachstation GEM-45 befördert zu Rohspeise sorgte. werden. Eine Rangerhöhung, die mit einer Der Metabolismus eines Maulspindlers erheblichen Verlängerung seiner war zwar bestens darauf eingerichtet, die biologisch bewussten Existenz verbunden Basismasse in Seil-Substanz umzudauen, wäre. aber er hatte weder Zeit noch Möglichkeit, Leben als Gratifikation. sich den Sand und die Mineralmischung Viele Kilometer unter selbst zu beschaffen. Die Hauptpersonen des Romans: sich erkannte er den Die Nomaden fütterten ihn, Rundkegel in seinem Atlan – Der Arkonide sucht Zugang zum und er hatte sich schon oft System der Maulspindler mattroten Energiemantel gefragt, in wessen Auftrag. und auf dem Gipfel die Albia – Die »Hohe Frau« spielt nach eigenen Er fiel so schnell, dass die Regeln Gondelstation, die er als Luft um ihn herum ein zuständiger Maulspindler Jolo – Das Echsenwesen bleibt nicht einmal Pfeifen erzeugte, in dem das sich selbst treu wartete. Am Fuß des leise, unaufhörliche Tafelberges sah er den Abertack – Ein Maulspindler in der Bredouille Summen und Surren des Hain der Duum-Bäume Dunkelhein – Ein Bahnhofsdirektor hat Pech Seiles unterging. mit seinen Gästen als winzigen 467 Tage zu früh - was für roten Flecken. Er hatte es Foda – Die Baronin will eine alte Rechnung eine Verschwendung! immer genossen, in ihrem begleichen Er stellte sich vor, wie sein Schatten zu pausieren, wenn er trank und Leib auftreffen würde, wie die sechs die Sand- und Mineralienmischung Laufarme brachen, absprangen, wie sein verdaute, die er von den Grün-Nomaden Leib aufplatzen, sein Kopf von der Wucht erhielt. Die Bäume, deren glühende des Aufpralls in den Rumpf gestoßen Früchte ihm die Mischung noch würde, wie seine Spindel dabei in Stücke bekömmlicher werden ließen. riss. Er stellte sich all dies vor und nährte Er stürzte, und da er viele Kilometer leeren damit diese befremdliche Emotion, bis sie Raum unter sich hatte, schaute er sich um. in voller Blüte stand. Er sah alles. Und er erkannte: Das, was er bei dieser Unter ihm lag die Parzelle Karaporum. Vorstellung empfand, war Angst! Weit in der Ferne zeichneten sich blass die Todesangst. Grenzgebiete der Parzellen Echthnis und Dieses Gefühl stand gar nicht in seinem Dariae ab. Deutlicher konnte er die genetischen Programm. Denn seine Randzonen der Nachbarparzellen Falva Erwecker hatten es weder für ihn noch für und Poricium ausmachen. Der übliche die anderen seiner in vitro gezeugten Art graue Schleier von Regenwolken stand an vorgesehen. Dennoch wusste Abertack aus der Grenze zwischen Poricium und Gesprächen mit anderen Maulspindlern, Karaporum. Poricium wurde mit Regen dass vielen von ihnen diese Emotion nicht getränkt. Unerklärlicherweise überfuhren fremd war. die tiefgrauen Wolken die Grenze zu Wozu aber diente Angst vor dem Tod?
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Wim Vandemaan Wie hieß es doch in dem alten Lied, das Hortorok, der Lehrer, ihm und den anderen Maulspindlern seiner Produktionsreihe in der Frühphaseninstruktion immer wieder vorgesungen hatte? »Leben ist eine kurze Passage, ewig ist nur das Netz.« Das dreidimensionale Netz, das den Himmelsraum dieser endlosen Hohlwelt ausfüllte, die eine ganze Lichtsekunde durchmaß. Das Netz und sein Gondelsystem, das Hunderte und Tausende Kilometer hoch über der Bodenschale die einzige Schnellverbindung von Parzelle zu Parzelle der Intrawelt ermöglichte. Das Netz, aus dem Abertack vor einigen Minuten gestürzt war... * Stunden zuvor ... Abertack startete an diesem Morgen früh von seiner Gondelstation XACK331. Er stieg auf den Mast, hängte die zweigeteilte Spule, die oben aus seinem Schädel wuchs, nah bei der Endlosschlaufe in den Gondelfaden ein. Der Faden schmeckte frisch und schadlos. Das Fadenlager in seinem Leib war bis an den Rand gefüllt, Abertack hatte die Mineralmischung des letzten Abends gut verdaut und die Masse in Gondelfaden umgewandelt. Nun hatte er etwa einen Fünfundzwanzigsteltag Zeit, bis der Faden zäh wurde und sich verfestigte. Aber eigentlich drängte ihn nichts, denn er hätte den gehärteten Stoff wieder aufweichen können, genau wie die Fadenstücke, die er bereits vor Taghunderten eingesetzt hatte. Er musste sie dazu erneut durch seine Spindel laufen lassen und dort mit einem Sekret seiner Spulenschleimhaut tränken. Kein anderer als der Maulspindler selbst vermochte, einen einmal ausgespindelten Faden wieder aufzuweichen. Nachdem er sich eingeklinkt hatte, kletterte er mit seinen sechs Laufarmen den Faden in einem Tempo hinauf, das anderen Völkern der Intrawelt irrwitzig vorgekommen wäre.
Gefangen im Himmelsnetz Aber der Maulspindler hatte das Seil mit den zweigeteilten Klauen seiner Laufarme fest und sicher im Griff und berauschte sich an der Geschwindigkeit seines Aufstiegs. Er passierte den in mattem Rot glimmenden Schirm. Kilometer um Kilometer brachte er zwischen sich und den Boden der Weltenschale und tastete das Seil lückenlos auf mikroskopisch kleine Läsionen ab. In etwa 80 Kilometern Höhe wurde er fündig. Es war ein Schaden, wie er ihn in den letzten Tagtausenden einige Male, wenn auch nur selten vorgefunden hatte. Das Seil schmeckte mürbe und zerlassen, es musste vom Kot der Trijzinen getroffen worden sein, Flugschlangen aus der Parzelle Falva, die von Zeit zu Zeit im Luftraum über Karaporum Wilderten. Die Trijzinen setzten den Kot meist als Waffe ein, um unter ihnen fliegende Beutetiere zu schlagen, denn er war ätzend und mit einer betäubenden. Substanz durchsetzt. Der Kot war der einzige Abertack bekannte Stoff, der dem Faden zusetzen konnte. Manchmal, wenn ihre Heliumkissen sich erschöpft hatten, klammerten sich die Trijzinen an den Seilen des Gondelsystems fest und erleichterten sich so lange, bis sie genug Ballast abgeworfen hatten, um weiterzufliegen. Abertack löste das angegriffene Stück großzügig heraus und spann synchron ein frisches ein. Er verabscheute es, wenn sein Abschnitt besudelt wurde, und auch die Spannen vor und hinter dem Schadstück schmeckten ihm unrein. Danach kletterte er noch einige Kilometer höher, fand aber keinen weiteren erneuerungsbedürftigen Abschnitt. Abertack hatte sich einen Arbeitsplan zugelegt, den er peinlich genau beachtete. Die übrigen Regionen des Seils hatte er in den vorigen Tagen inspiziert. Für heute war die Arbeit getan. Er machte sich an den Abstieg. Er klemmte den Faden zwischen die Spulen, dann ließen seine Klauen los. Und abwärts ging's.
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Wim Vandemaan Seine Spulen speichelten Öl aus. Das Öl absorbierte die Reibungshitze der rasenden Fahrt und schützte so die empfindliche Spindel. Abertack genoss die Fahrt und jauchzte, wie er auf die im hellen Licht liegende Parzelle Karaporum zuschoss. Wie hatte Hortorok, sein Lehrer, immer gesagt? »Das Leben ist nur eine kurze Passage ...« Oh, Hortorok, das Leben mochte eine Passage sein, aber was für eine! Es war ein Kopfsprung, ein Salto in die Ewigkeit und Abertack gab sich einen Schwung zur Seite und begann, während der Fahrt um die Achse des Seiles zu kreisen. Es fühlte sich an wie Überschläge im freien Fall, Er jagte in Spiralen dahin und schrie seine Lebenslust, seinen Triumph hinaus. Und um der Sache noch einen besonderen Kitzel zu geben, um noch mehr Rasanz zu gewinnen, lockerte er den Griff seiner Spulen ein wenig. In diesem Moment fegte eine heftige Böe über ihn hin und pflückte ihn, der nicht mehr schnell genug wieder fest zupacken konnte, ein ganzes Stück vom Seil. Abertack streckte die Laufarme nach dem rettenden Faden aus, aber die Klauen klackten ins Leere. Und sein Sturz begann. * Der Luftstrom wirbelte die Millionen bunter Härchen durcheinander, die aus seinem hornhautbedeckten Unterleib wuchsen. Unterhalb der Hornhaut befand sich ein klauendicker Hohlraum, der von Knochenplatten in einzelne Würfel unterteilt war. In diesen Kuben schwamm als teilkristallisierte Gallerte der Otholit, das Gleichgewichtsorgan des Maulspindlers. Das innere Organ hielt über die unzähligen verschiedenfarbigen Härchen Kontakt zur Außenwelt. Es war ein Präzisionsinstrument, ein Meisterstück des Biodesigns seiner Erwecker. Aber auch der Otholit konnte ihm nicht zurück ans Seil helfen, obwohl es in greifbarer Nähe neben ihm zu hängen schien.
Gefangen im Himmelsnetz Je näher der Boden kam, desto größer wurde dieses exotische Gefühl in ihm, die Todesangst, die ihm nicht zustand. 467 Tage zu früh. »Rechne die Tage nicht, nähre das Netz!«, hörte er Hortorok. »Denn das Leben ist nur eine Passage, das Netz aber ist ewig!« Vielleicht, dachte er, wird mein Leib nicht nur in zwei, drei Teile zerbrechen, sondern es zersprengt ihn in unzählige Fragmente, sodass ich spurenlos sterben werde. Das Einzige, was von ihm bleiben würde, wären einige Stücke Faden, winzige Elemente des dreidimensionalen Gondelnetzes. Das Netz hatte ewigen Bestand, sein Tod würde es nicht beeinträchtigen. Insofern würde er, was auch immer geschah, doch nicht restlos vergehen, sein Werk bliebe. Was ihn andererseits kaum tröstete. Plötzlich spürte Abertack ein leichtes Ziehen; sein Dhedeen löste sich von ihm. Das Vogelwesen, der Symbiont, der auf unbegreifliche Art als Universaldolmetscher in der Intrawelt fungierte, hatte seinen transparenten Schnabel aus Abertacks Leib zurückgezogen und flatterte von ihm fort. Ein schlechtes Zeichen. Tief unter ihm tauchte ein Schwarm Trijzinen auf. Sie kreisten über einem Teilstück der Parzelle; vielleicht hatten sie einen jungen Lonbal erspäht, der sich von seinem Muttertier getrennt hatte. Dann würden sie in ihrer Angriffsformation auf ihn hinabstoßen, die schweren Tiere zuerst, ihn mit ihrem Kot betäuben, die Schneider des Schwarms würden das wehrlose Tier in Stücke reißen, die leichten Trägertiere die Fleischportionen in ihren Gemeinschaftshorst in Falva fliegen. Abertack war nur noch wenige hundert Meter über dem kreisenden Schwarm und konnte schon das Knattern ihrer Stimmen hören. Sie sprechen sich hier oben ab, dachte er erstaunt. Aus irgendeinem Grund hatte der Trijzinen-Schwarm den Gondelfaden zum Mittelpunkt seines Kreises gemacht.
Wim Vandemaan Abertack bebte zwar nun vor Angst, aber er witterte seine Chance. Er spreizte alle Laufarme so weit wie möglich. Eine der Trijzinen schaute hoch und eräugte ihn. Das Tier kreischte einen knatternden Warnruf. Die übrigen Flugschlangen brauchten einen Moment, um zu verstehen, dass die Gefahr von oben kam normalerweise jagte kein Tier auch nur annähernd so hoch wie die Trijzinen, geschweige denn über ihnen. Dieser Moment genügte Abertack. Er prallte auf eine junge Trijzine, die nur wenig größer war als er selbst. Das Tier kippte ab und wurde mit in die Tiefe gerissen. Abertack krallte sich mit allen Klauen in ihrem Leib fest. Eine Klaue riss den linken Heliumsack des Tieres auf, das Gas entwich zischend, die Trijzine schrie auf. »Halt mich fest, ich hab dich, ich lass dich nicht los!«, brüllte Abertack. Er kletterte auf den Rücken des Tieres, das in Panik versuchte, die anderen Heliumkissen aufzublasen. Gleichzeitig warf die Flugschlange unkontrolliert Kot ab. »Lass das sein, lass!«, rief Abertack und schlug die. Trijzine mit einer Klaue, als handelte es sich um ein Reittier, das durchging und das man zur Vernunft bringen musste. Sein Sturz verlangsamte sich deutlich. Die Schlange wand sich, biss nach ihm, schüttelte sich. Abertacks Klauen konnten unbezwinglich festhalten, und für einige Augenblicke dachte er, er würde die Flugschlange in den Griff bekommen, es würde irgendwie gut ge hen. Hortorok, hilf!, flehte er inständig. Doch statt Hortorok kam eine andere Trijzine zu Hilfe - aber nicht ihm, sondern seinem »Reittier«. Sie fuhr von oben auf ihn herab, und versuchte, ihn vom Rücken zu stoßen. Immer noch ließ Abertack nicht los und riss, als er unter den Maulstößen und Bissen der anderen Trijzine abzurutschen begann, ganze Fleischbrocken aus dem Schlangenleib. Und dann war es vorbei. Die blutenden Fetzen in der Klaue, stürzte er weiter. Aber jetzt war der Boden schon
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Gefangen im Himmelsnetz sehr nah, überschattet von den Kronen der Duum-Bäume. Und in die stürzte er in diesem Moment. Verzweifelt schlug er mit den Laufarmen um sich, um mit den Klauen etwas zu fassen, festzuhalten. Die Äste brachen und splitterten. Abertack traf auf einen wuchtigen Querstamm, der unter seinem Gewicht quietschte und sich bog, aber standhielt. Der Aufprall presste Abertack die Luft aus dem Leib; halb betäubt rutschte er seitwärts vom Stamm ab, während die Klauen ziellos umherschnappten. Wieder war kein Halt mehr. Für einen Moment wimmerte Abertack. Endlich schlug er auf den Boden auf. Bevor er irgendeinen Schmerz empfand, hörte er einen dumpfen Schlag wie aus der Ferne, gefolgt von einem Knistern, das sich anhörte wie Glas, das jemand unter dem Fuß zermahlte. Wahrscheinlich war er eine Weile bewusstlos. Danach erhob er sich, sehr mühsam, denn irgendwie klebte er am Boden fest. Er tat einige Schritte, aber der Boden entzog sich ihm, fiel zur Seite ab, schwankte. Eines seiner Beine knickte weg. Was ist denn mit mir los?, fragte sich Abertack. Er war einige Meter aus der Trümmerlandschaft aus zerbrochenen und zersplitterten Ästen fort, als der bislang verschwommene Blick seiner hinteren Facettenaugen klar wurde. An der Aufschlagstelle machte er kleine, glitzernde Pfützen aus. Jetzt kam der Schmerz. Sein Unterleib fühlte sich zerrissen und zerstückelt an. Abertack begriff, was geschehen war. Der Aufprall hatte die Hornschicht an seinem Unterleib aufplatzen lassen, hatte offenbar auch ganze Stücke aus der Hornplatte gerissen. Aus den offen gelegten Kammern war die. Otholitgallerte ausgeflossen. . Etwas flatterte vor seinen. Augen, schien zu torkeln und ließ sich dann auf der Oberseite seines Körpers nieder. Abertack verspürte den Stich, mit dem der Dhedeen sich wieder mit ihm in eine körperliche
Wim Vandemaan Verbindung setzte. Sofort begann das Tier, etwas Blut aus dem Maulspindler zu saugen - der Flug schien den orangefarbenen Vogel erschöpft zu haben. »Großer Fall, großer Fall«, formten sich die Gedanken des Dhedeens in seinem Kopf. Mühsam kam Abertack voran. Er stieg auf den Rundkegel. Nie war ihm der Weg so weit erschienen. Immer wieder schrie er auf vor Schmerz und auch vor Scham Abertack, der Abgestürzte! Öl plätscherte ungehindert aus seinen Maulspulen und rann ihm in kleinen Bächen in die Hautfalten des Halsansatzes. Abertack weinte. Unter Schmerzen humpelnd erreichte er endlich das Wärterhäuschen neben der Plattform seiner Station. Von der Endlosschlaufe aus erstreckte sich der Gondelfaden hoch in den Himmel, sein Faden. Abertack folgte dem Seil mit den Blicken, und ihm wurde vom bloßen Schauen übel. Die Vorstellung, mit seinem beschädigten Gleichgewichtssinn auf den Faden zu steigen, entsetzte ihn und ließ das Öl noch stärker rinnen. Die Höhe, die ihm früher Lust bereitet hatte, versetzte ihn nun in Furcht und Schrecken. Hortorok, hilf!, flehte er. Er, der Maulspindler, hatte sich die absurdeste aller Phobien zugezogen. Ich bin höhenkrank!, dachte er voller Panik! Ich bin ein Krüppel. 2. Man muss auch mal ein Spiel verlieren können »Küsse mich, beglücke mich«, wandte sich Albia, die Hohe Frau, in ihrem Singsang an Jolo. Sie beugte ihren Kopf zu dem klein gewachsenen Echsenabkömmling hinab und spitzte ihre Froschlippen. Jolo bog seinen Leib flexibel zur Seite, legte sein Gesicht vor lauter Ratlosigkeit in Falten und quiekte konsterniert: »Wozu sollte ich das tun?« »Mein Tag war bislang so freudlos«, verkündete Albia und ließ ihre blanken Zahnschneiden sehen. »Und außerdem«, ihre Fühler pendelten dicht über Jolos
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Gefangen im Himmelsnetz warzige Schnauze, »außerdem riechst du so Phantasie anregend!« »Ich kann und will deine Eizellen - oder worin du dein Genmaterial verwahrst nicht befruchten.« »Wer sagt denn, dass ich dich zur Vervielfältigung meiner Erbinformation brauche? Ein Kuss«, hauchte sie, »entfaltet doch einen ganz anderen Zauber! Komm schon, zier dich nicht, du Echsenmann!« »Atlan!« Jolo setzte das Gesicht eines Kindes auf, dem ein junger Flegel im Sandkasten gerade die Schaufel geraubt hatte und das sich nun um Schutz und Beistand an den Vater wendete: »Sag ihr, dass dieser Flirt völlig fruchtlos ist!« »Dieser Flirt ist völlig fruchtlos«, informierte ich Albia. Verdammter Jolo, verdammte Intrawelt, verdammter Flammenstaub!, dachte ich. Du hast vergessen, den Schuldigen an deiner misslichen Lage zu benennen, wisperte der Extrasinn. Denk nicht einmal den Namen!, gab ich scharf zurück und hatte das Gefühl, in eine entsetzliche schwarze Leere zu stürzen. Sei nicht so zimperlich. Logisch betrachtet fehlt dir nichts. Was wusste der Logiksektor schon? Er war zwar ein Teil von mir, aber das, was gemeinhin »Seele« genannt wird, war kein Teil von ihm. Er war der Verstand, der kalte, klare, mitunter spöttische Verstand, aber das Herz, die Emotion, das war etwas ganz anderes. Ich bin befleckt, gab ich zurück. Missbraucht, gedemütigt, beraubt und unheilbar verletzt. »Ach, ihr Männer«, erwiderte Albia zischelnd, richtete den vorderen Teil ihres Schneckenleibes auf und trippelte schneller. Eigentlich hätte ich über die Szene lachen sollen, und möglicherweise war sie mir sogar vorgespielt worden, um mich zu belustigen. Albia war eine Spielerin, und professionelle Spieler sind meist gute Psychologen. Vielleicht wollte sie die gedrückte Stimmung in unserer Gruppe heben. Aber nach Lachen war mir nicht zumute. Ich war übellaunig und gereizt.
Wim Vandemaan 16,3 Millionen Lichtjahre von der Milchstraße entfernt und gestrandet in einer Hohlkugel, deren Dimension jede Vorstellungskraft sprengte: der Intrawelt. Der planetenförmige Körper hatte keinen natürlichen Ursprung, sondern war ein Artefakt, ein stellares Bauwerk. Und wer immer diese Welt in der Galaxis Dwingeloo erbaut hatte, der gebot über eine so weit fortgeschrittene Technologie, dass arkonidisch-terranische Großtaten wie die Errichtung des Planetendreiecks um die Sonne Arkon oder die Konstruktion eines Riesenroboters wie OLD MAN dagegen als Basteleien erschienen. Aber das war nicht der Grund für meine Verstimmung. Sondern Peonu!, dachte ich. Bravo, Spross alten Arkon-Adels, gratulierte der Logiksektor. Du musst dich deiner Angst endlich stellen. Ich will es nur vergessen, gab ich zurück. Ist dir überhaupt nicht klar, was dieser Bastard mir angetan hat? Mentales Schweigen. Dann: Sag es, sprich es aus. Bei allen Sternengöttern! Ich marschierte hinter Albia her, gefolgt von Jolo, und dachte an die Begegnung mit dem »Eremiten« zurück, der ... »Wie lange noch?«, erkundigte ich mich bei meinen Begleitern. »Nicht mehr lange«, gab Albia vergnügt zurück. »Lange genug, um mehrmals zu verhungern«, zischte Jolo mit Leichenbittermiene. »Und zu verdursten.« Vor drei Tagen hatten wir unseren Marsch durch die Savanne von Karaporum wieder aufgenommen. Karaporum war im Vergleich zum regnerischen Poricium eine trockene Landschaft. Eine Durststrecke. Die Münder trockneten immer wieder rasch aus; der Schweiß zog einen Film über die Haut. Meiner Rechnung nach mussten wir, wenn ... Peonu uns nicht in die Irre geführt hatte, noch etwa einen Tagesmarsch von der Gondelstation XACK-331 entfernt sein. Ohne Zugang zum Gondelsystem würde ich eine Ewigkeit brauchen, um die Intrawelt zu durchqueren und - hoffentlich-
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Gefangen im Himmelsnetz letztlich den Flammenstaub zu finden. Und eine Ewigkeit hatte ich trotz Zellaktivator nicht, denn er wurde »draußen« benötigt, im Kampf gegen die Lordrichter. Er hat mich seelisch vergewaltigt, mir einen Teil meiner Identität genommen. Ich brauchte nur daran zu denken und fühlte mich wieder in die Hütte zurückversetzt, in der es geschehen war. Wir waren gekommen, um Beistand zu suchen, und ... ich war ... Du bist in eine Falle gelaufen, die dir Peonu mit Hilfe Jolos gestellt hatte. Jolo, der ebenfalls von dem Chaosknecht seelisch beraubt wurde. Sei ehrlich mit dir selbst: Nach allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit war so etwas schon lange fällig. Du kämpfst seit vielen Lebensaltern als Normalsterblicher an vorderster Front und bist immer heil davongekommen. Ich fühlte, wie meine Wangen vor Scham brannten. Das ist etwas anderes. Ich... Du hast dich durch deinen Zellaktivator und deine Aura als Ritter der Tiefe immer ziemlich sicher gefühlt. Alle Kosmokratendiener erkannten sie an dir und halfen dir - oder schadeten dir zumindest nicht. Nahezu alle Kampfmittel, die andere Lebewesen umbringen würden, werden von deinem Zellaktivator rasch unschädlich gemacht oder geheilt, vor Klingen und anderem bringt dich deine Fitness in Sicherheit ... Du hast vergessen, dass es nicht nur die Kosmokraten und nicht nur die normalen Geschöpfe des Universums gibt. Ich schnaubte, was Jolo zu einem scheelen Blick verleitete. Trotzdem. Stell dich nicht so an. Deine Wunde ist nicht sichtbar, sie ist immateriell, und sie schadet dir nicht. Ich kann sie nicht einmal richtig wahrnehmen. Und trotzdem ist sie da. Du verstehst das nicht. Ich verstehe vielleicht mehr als du ahnst. Aber gib dich deinen Gefühlen nicht hin. Schließ sie weg, und eines Tages werden wir Mittel und Wege, finden, dich zu heilen und Peonu zu bestrafen. Bestimmt hat auch
Wim Vandemaan er vergessen, dass es noch andere, mächtigere Wesen gibt als ihn. »Kann sein«, antwortete ich und bemühte mich, das Bild aus meinem Kopf zu bekommen, das Peonu zeigte und das mein Denken besudelte. »Sprichst du wieder mit deinem Cueromb?«, erkundigte sich Jolo neugierig. Ich schüttelte verwirrt den Kopf. »Was? Oh, nein.« »Gut so«, lobte mich das Echsenwesen, »schließlich verstehst du es so wenig wie wir.« Er lächelte oder grimmassierte zumindest so, als wäre das seine Absicht. Der Cueromb ... dieses mysteriöse Multifunktionswerkzeug mit Hammer, Kelle, Schaufeln in verschiedenen Größen, Handbohrer und der sonderbaren Eigenschaft, vor sich hin zu flüstern ... Hielt man den Cueromb etwa bis auf Unterarmlänge ans Ohr, vernahm man ein leises, fernes Rufen wie aus einem abgrundtiefen Schacht. Die Sprache klang schön und vage vertraut, sodass man glaubte, sie verstehen zu müssen. Aber mein Dhedeen übersetzte mir nichts. Hielt man den Cueromb unmittelbar ans Ohr, verklang die Stimme. Ich trug das Gerät, das sehr leicht war und sich ungemein praktisch anfühlte, an den Arm gebunden. »Du hast nicht zufällig noch etwas zu essen?«, sprach Jolo nach kurzem Atemholen weiter. »Mich hungert ganz und gar.« »Schau nicht so!«, befahl ich ihm. »Wo nichts ist, ist auch nichts zu holen.« Mit Jolo musste man hart sein, denn sonst konnte er einen zu praktisch allem überreden. Der Echsenähnliche, der mir bis knapp über die Hüfte reich=te, besaß ein erstaunlich ausdrucksstar kes Gesicht, um es milde auszudrücken. Dieses Gefühlschamäleon war in der Lage, Mimiken anderer Lebewesen, ja sogar anderer Arten so täuschend echt nachzustellen, dass sie im Gegenüber echte Emotionen auslösten: Angst, Ekel, grenzenloses Vertrauen oder auch den dringenden Wunsch, ihm zu helfen. Ich nahm mir immer wieder vor aufzupassen,
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Gefangen im Himmelsnetz dass er mich mit dieser Gabe nicht manipulierte. Ich rieb die blauen Flecken an meinen Unterarmen. Es waren Andenken an Jolos Saugnäpfe, die sich in meine Haut gepresst hatten, während ich ihn aus dem Wasser des Grenzflusses Zanf rettete. Weil er mich: so flehentlich angeschaut hatte. Am Fluss hatte ich auch Albia, die Hohe Frau, kennen gelernt, zusammen mit der wohlgeformten Vischgret und mit Ritz Toyd. Der armen Vischgret, die an warme Mahlzeiten glaubte, saubere Unterkünfte und komfortable Schuhe. Dem armen, redseligen, großspurigen Blubbler Ritz Toyd, den Peonu ohne jede Regung hatte aufspießen und abschlachten lassen - nur, weil er mir zu Hilfe geeilt war. Schon wieder Peonu ... Fort aus meinen Gedanken! Ich glaubte ein mentales Seufzen zu hören. Genau das ist es, was du leisten musst nicht er. Er hat einen Teil meiner Seele als Geisel, protestierte ich. Dann tu, was ich dir rate: Blocke ihn ab, soweit du kannst. Du darfst nicht den Fehler vieler Geiseln machen und damit beginnen, dich deinem Geiselnehmer verpflichtet zu fühlen. Oh, keine Sorge. Ich werde mich niemals mit ihm identifizieren, wenn es das ist, worauf du hinauswillst. »Vorsicht«, warnte Albia und riss mich aus unseren gemeinsamen Gedanken. Ihre beiden Fühler bebten: »Lonbals! Wir hielten an und duckten uns noch tiefer in das übermannshohe, messerscharfe Gras. Die Spitzen der gelben und violetten, lanzettförmigen Blätter wogten in der Brise. Lonbals waren drei Meter lange Jagdechsen, die an der Spitze der Nahrungskette von Karaporum standen, und so benahmen sie sich auch: selbstsicher und völlig furchtlos. Echsenkönige der Savannenwelt. Sie genossen die Hitze des Tages, die sie besonders gewandt machte, während die gleich warmen, säugetierähnlichen Lebewesen der Savanne ermatteten.
Wim Vandemaan In der kühlen Nacht hingen die. Lonbals starr auf Baumstämmen. Aber in diesen Stunden waren auch wir mit Rücksicht auf Jolo nicht allzu beweglich. Oder ich hätte seinen kältesteifen Körper tragen müssen. Jolo und ich hielten die Buschmesser ausgestreckt vor uns. Lonbals waren, bis sie wirklich angriffen, so gut wie unsichtbar, getarnt von ihrem wechselfarbigen Panzer, der sich der Umgebung anpasste. Albia stand ruhig da, ihre drei Armpärchen hielten still, die Fühler bewegten sich, sie witterte. Sie konnte die Tiere riechen. »Vorüber«, verkündete Albia nach einer Weile. Also schlugen wir mit den Messern ins Gras und mähten uns einen Weg. Albia folgte uns, auf den Tausenden Beinchen ihres hinteren Schneckenleibes trippelnd. Der vordere Teil war hoch aufgerichtet und überragte mit seinen etwa 1,30 Metern Jolo um einen Kopf. Und um was für einen Kopf! Ihre Augen glupschten groß in die Welt, ihr Froschmaul war in ständiger Bewegung. Denn wenn sie auch vom Äußeren einer Riesenschnecke glich, gehörte sie von ihrem Metabolismus her zu den Wiederkäuern. Mit einem hörbaren, von weit her ertönenden Knacks erlosch die künstliche Sonne der Intrawelt. Jetzt würde die Dämmerstunde beginnen und die Intrawelt in ihren rötlichen Schimmer tauchen. »Suchen wir uns ein Nachtlager«, schlug ich vor. Ich streckte einen Arm in Richtung Jolo aus, er verstand, ergriff den Arm und schlängelte sich hoch auf meine Schulter. Von dort konnte er über die Wipfel des gelb-violetten Grasmeeres schauen. In den Kältestunden machten sich die Dropits auf ihre Beutezüge, ameisenähnliche Wesen, die alles fraßen, was ihnen vor die Mandibeln kam. Sie mieden die Hitze des Tages - und sie fürchteten Feuer. Jolo machte einen geeigneten Platz aus. In einer Senke standen sechs, sieben Bäume beieinander. Die Kronen leuchteten in einem tiefen Rot; von einigen Ästen hingen Früchte herab, die die Form eines
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Gefangen im Himmelsnetz mehr oder weniger gleichschenkligen Dreiecks hatten und leicht von innen heraus glühten. Biolumineszenz lockt an, erinnerte mich mein Extrasinn, und zwar Geschlechtspartner oder Beute. Albia war meinen Blicken gefolgt und sagte: »Das sind Duum-Bäume. Recht häufig hier. Ihre Früchte sind essbar, sehr nahrhaft.« Jolo schmatzte gierig. Ich schlug mit dem Buschmesser einige der Leuchtfrüchte ab. Selbst wenn sie einige für mich unverträgliche Stoffe enthalten sollten - mein Zellaktivator würde damit fertig werden. Albia und Jolo griffen zu. Albia schien sich am besten mit den Früchten auszukennen; sie schälte sie mit ihren sechs Händen ab. Die Leuchtstoffe saßen in der Schale; das Fruchtfleisch selbst sah hellgelb, fast durchsichtig aus. Sie reichte mir etwas, und ich biss hinein. Die Frucht war saftig und schmeckte ein wenig nach süßem Pfefferminz, mit einem leicht bitteren Beigeschmack. Jolo aß, wie immer, Unmengen. Ich war schnell satt und kümmerte mich um Feuer. Ich hatte noch nicht herausgefunden, ob das Universalwerkzeug, das ich Peonu abgenommen hatte, auch über ein Feuerzeug verfügte. Aber ich kam mit den Feuersteinen gut zurecht. Jahrtausendealte Übung. Sternenpfadfinder, witzelte mein Extrasinn. Bald brannten ein paar Zweige, die trocken unter dem Duum-Baum gelegen hatten. Ich legte nach. Albia ließ sich am Feuer nieder. Jolo erkletterte einen der Duum-Bäume. Sein Knorpelskelett erlaubte ihm groteske Windungen und Verrenkungen, er schlängelte sich förmlich ins Geäst hinauf und spähte von dort aus ins Land. Es war der erste Aussichtspunkt seit Tagen. Die Dämmerung vertiefte sich. Jolo kam wieder herabgeklettert. Sein biegsames Gesicht verzog sich, bis er auf mich wirkte wie ein Kind, das sich über einen gelungenen Streich klammheimlich freute.
Wim Vandemaan Also wurde ich neugierig. »Nun sag schon«, forderte ich ihn auf. »Ich habe den Rundkegel entdeckt. Die Gondelstation«, verriet er. »Bist du sicher?« »Einziger Rundkegel in Sichtweite.« »Wie weit von hier?« »Morgen Mittag sind wir da«, schätzte Jolo. »Gut gemacht«, lobte ich widerwillig. Jolo sah gierig auf die Reste der Früchte. »Iss nur.« Jolo griff zu und schlang das Obst hinunter. »Machen wir ein Spielchen?«, fragte Albia. Sie kramte mit einem ihrer Ärmchen etwas aus ihrem Bauchbeutel hervor - ein kleines Paket aus Papiersternen. Sie mischte die Papierstücke mit allen sechs Händen. Es sah aus wie eine JongleurNummer. Dann verteilte sie. Jolo lehnte ab und blieb bei seinem Obst. »Ich kenne das Spiel nicht«, wandte ich ein. »Einfaches Spiel, eindrückliches Spiel, du wirst verstehen«, sang die Hohe Frau; dann fragte sie: »Worum spielen wir?« Ich zuckte die Achseln. »Ich habe nichts von Wert dabei.« »Wir spielen um einen Gefallen«, entschied Albia. »Es wird dir gefallen!« . Ich nickte. Wir nahmen unsere Papiersterne auf. Den nicht verteilten Rest packte Albia in die Mitte. Sie begann, die Papiersterne auszulegen und gegen solche vom Stapel auszutauschen. Die Regeln hatte sie immer noch nicht verraten. Die Hohe Frau schaute mich mit ihren Augen an, die wegen der fehlenden Lider nackt und etwas starr wirkten. Belauerte sie mich? Ich hielt meine Sternkarten in der Hand und betrachtete sie. Die Papiere waren voller mir unbekannter Symbole. Plötzlich entzündeten sich zwei oder drei der Spielkarten. Ich schrie überrascht auf und warf sie von mir. Albia kicherte: »Schneller denken, schneller legen!« Sie hatte mittlerweile ihre Karten abgelegt und fügte die Sternzacken wie bei einem Puzzle ineinander. Die vollendete Kartenreihe
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Gefangen im Himmelsnetz leuchtete in allen Farben des Regenbogens auf. »Gewonnen«, sagte Albia mit einer geschäftsmäßigen Stimme. »Du schuldest mir einen Gefallen.« * Es war dunkel geworden. Jolo starrte in den Himmel. Hinten - oder oben -, unendlich weit von hier, flackerte ein kleiner Punkt. »Das muss Mehira Azuman sein, die Feuerparzelle. Ich habe gehört, dort brennt es immerzu. Schön, nicht wahr?« »Du findest Feuer schön?«, fragte ich. Der Echsische antwortete nicht sofort. »Es erinnert mich an Flammenstelen zu Hause. Manchmal loderten die StelenParks ganze Wochen, und wir konnten die Nacht außerhalb unserer Tiefbauten verbringen, ohne in Kältestarre zu fallen.« »Aber hier«, warf ich ein, »erträgst du die Nachtkälte ganz gut, nicht wahr?« Jolo starrte mich an. »Ganz gut? Ich ertrage sie nur, wenn ich mich mäste.« Er isst so viel, um sein Verdauungssystem auf Hochtouren zu bringen. Je mehr Energie er sich zuführt, desto schneller kann er sich bewegen. Bewegung setzt Wärme frei. Auf diese Weise erhöht er seine Körpertemperatur - hier und in anderen Parzellen, deren Klima kühler ist als das seiner Heimatparzelle, schloss mein Extrasinn. Ich nickte. Jolo sah mich wieder forschend an. Die Nacht verlief ereignislos. Am anderen Morgen weckte mich ein Schrei: »Feuer, Feuer!« Ich fuhr hoch. Die Sonne war bereits eingeschaltet, hatte aber noch nicht wieder die volle Leuchtkraft erreicht. Am Rand des Duum-Hains loderten Flammen auf. »Was hast du getan?«, rief ich Jolo zu, der dort vor den Flammen auf und ab hüpfte und »Feuer!« schrie. Ich lief hin. Jolo setzte ein so unschuldiges Gesicht auf, dass man ihn auch dann für harmlos und unbeteiligt gehalten hätte, wenn er mit
Wim Vandemaan zwei rauchenden Pistolen auf einer Leiche gestanden hätte. Als ich näher kam, sah ich im Feuer ein ganzes Knäuel von wurmähnlichen, fingerlangen Wesen sich krümmen. »Brätst du dir ein Frühstück?« Jolos vollständige Unschuld verdoppelte sich noch einmal. ' Albia kam herbeigetrippelt und sah in die Flammen. »Das sind Homrim, Feuerwürmer«, erklärte sie. »Sie brauchen das Feuer, um sich zu erneuern, um sich zu paaren.« Und die Savanne braucht das Feuer, damit der Boden fruchtbar bleibt, erläuterte mein Logiksektor. Alles ist fein aufeinander abgestimmt hier. Ja, dachte ich, aber wer hat es abgestimmt? Wer hat diese Miniaturwelten eingerichtet? Wer hat ihr Klima programmiert, wer hält sie in Gang? Auf Terra spielen Kinder mit Miniaturraumhäfen, und sie können einstellen, ob ihre Raumschiffe auf Sauerstoffplaneten landen, auf Gasriesen, Gravohöllen, auf Hitzeplaneten mit Bleiseen ., gab mein Extrasinn zu bedenken. Du meinst, das alles sind Modellwelten? Spielplätze? Biologisch-klimatologische Museen. Zuchtlandschaften. Laboratorien, setzte der Logiksektor die Reihe der Denkmöglichkeiten fort. Eine Brise kam auf und fachte das Feuer an. Die Würmer wurden durchscheinend und glitten ineinander. »Wir sollten los, bevor das Feuer sich ausbreitet und uns einschließt«, drängte Albia und wedelte unruhig mit den Ärmchen. Wie auf ihren Befehl hin loderte das Feuer auf, kletterte zu den Spitzen der Gräser und flammte darüber hinaus. Wir eilten zurück zu unserem Lagerplatz, sammelten hastig unsere Habseligkeiten ein und folgten Jolo, der die Richtung vorgab. Der Savannenbrand verfolgte uns, die Flammenfront knatterte laut, und wir mussten immer wieder rennen, um zumindest einen leichten Vorsprung zu halten. Das Feuer stob auch in die Breite.
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Gefangen im Himmelsnetz Einmal entdeckte ich weit links von uns eine Gruppe unwirklich anmutender, großer Tiere, einige gelb-violett gezeichnet wie das Savannengras, andere grün-blau gefleckt. Lonbals, schloss mein Logiksektor. Sie jagen normalerweise wohl in ihrer Tarnzeichnung, aber an der Feuerfront können sie ihre Tarnung aufgeben: Die kleineren Savannentiere fliehen vor dem Feuer - die Lonbals brauchen sie nur noch ... ... zu ernten, ergänzte ich in Gedanken. Und offenbar hatte das Feuer die Tafel reich gedeckt, denn die Jagdechsen verschwendeten keinerlei Aufmerksamkeit an uns. Plötzlich erhob sich hinter uns ein Geknister und Prasseln, als zerknülle jemand Plastikfolien. Ich blickte mich um. Aus den brennenden Lanzettenhalmen sprühten Funken - wie ich zunächst dachte. Doch die Myriaden von winzigen Partikeln stoben nicht in die Luft, sondern fielen rasch zu Boden. Das Gras profitiert vom Brand, kommentierte der Logiksektor. Die Flammen verbrennen alle Pflanzen, und das Gras streut noch in den Brand seinen Samen in die fruchtbare Erde. Die Samenkörner stecken wahrscheinlich in hitzebeständigen Hüllen. Auf der ganzen Front ging nun ein Feuerwerk von Samenkörnern los. Aber ich konnte das Naturschauspiel nur einen Augenblick lang bestaunen, dann wurde ich von der Feuerwalze weitergetrieben und schloss zu Albia und Jolo auf. Als wir von unserer Flucht nahezu erschöpft waren - angestrengt von den ewigen Spurts, ausgelaugt von der Hitze, die sich vor dem Feuer herwälzte -, schlug der Wind zu unserem Glück um und trieb das Feuer zurück. Wir blieben unbehelligt. Und ungeröstet. Am späten Vormittag stießen wir auf die Reste einer der Stangen, mit denen irgendjemand die wichtigsten Handelswege der Parzelle markiert hatte. Die Flagge war abgerissen, die Stange zerbrochen. »Wenn das nicht für sorgfältige Pflege spricht ...« , murmelte ich.
Wim Vandemaan Mittlerweile konnten wir den Tafelberg gut sehen, den Rundkegel, auf dessen Gipfel die Gondelstation XACK331 liegen sollte. Laut Peonu. An den zu denken mir Übelkeit bereitete. Der mich irgendwie unter seiner geistigen Beobachtung oder sogar Kontrolle hatte, indem er mich mit sich verbunden hatte. Am Mittag erreichten wir den Rundkegel. Ich beschirmte meine Augen mit der Hand und sah hinauf. Vierzig oder fünfzig Meter über uns machte ich eine Art Mast oder Türmchen aus. Von ihm aus lief ein dünnes Seil in den Himmel hoch. Dass es sich bewegte, merkte man an seinem leisen, kaum hörbaren Singen. Daneben zeigten sich die Umrisse eines größeren, elliptischen Körpers, der aussah wie eine Zigarre für Titanen. Oder wie ein Zeppelin. Das musste die Gondel sein. Das nähere Gelände der Station war durch einen Maschendrahtzaun abgesperrt. Das Zaunmaterial leuchtete rötlich. Ich bückte mich und hob ein Stück Holz auf, das ein früherer Sturm hierhin geweht hatte. Das Scheit war ausgetrocknet und wog kaum etwas. Ich warf es gegen den Zaun. Das Holzstück traf auf und verglühte geräuschlos in einer bläulichen Flamme. Gondelstation? Endstation! 3. Reisende aus der Gegenrichtung Schuon fühlte sich offenbar prächtig. Er scherzte mit Drogg, der biomechanischen Lok, und lachte laut über seine eigenen Witze. Drogg nuschelte hin und wieder kurze Antworten, an denen jeder Dhedeen verzweifelte. Vielleicht, dachte Euphloden, war Drogg einfach zu erschöpft, um sich deutlich zu äußern. Schließlich fuhren sie die Tage und Nächte durch. Kurz vor Tagesmitte schlug Drogg eine neue Richtung ein. Schuon ließ ihn gewähren und erklärte Euphloden: »Drogg hat ein Wasserloch gefunden.« Tatsächlich kam nach etwa einer Stunde ein Gehölz in Sicht, auf das Drogg zuhielt.
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Gefangen im Himmelsnetz Es ging nun. schneller voran, Drogg schnaufte und grunzte. Dann sah Euphloden den silbrigen Spiegel des Wassers durch die Äste einiger verkrüppelt aussehender Sträucher schimmern. Drogg verlangsamte sein Tempo kurz vor dem Gehölz und brach sich gemütlich, aber unwiderstehlich Bahn. Am Ufer des Gewässers fuhr er seinen Stirnrüssel aus und saugte das Wasser hektoliterweise ein, füllte sich Magen und Retroblase. Schuon rollte aus dem Tender. Sein Leib war kugelrund, soweit sich das unter den fetten Hauttüchern erkennen ließ, die vom Halsansatz aus einander überlappten und bis zum Boden reichten. Euphloden hatte bislang nicht herausgefunden, ob unter diesen Hautvorhängen Beine liefen oder Schuon sich auf andere Weise fortbewegte. Schuon schaukelte auf das Wasserloch zu, tätschelte im Vorüberschaukeln Drogg und platschte dann selbst ins Nass. Auch Euphloden stieg aus. Er rutschte und schlängelte sich zunächst über den Boden, aber die Erde war rau, uneben, steinig, sodass er endlich Blut in seine Laufarme pumpte, sie versteifte und dadurch lauffähig machte. So stakste er zum Wasserloch. Das Wasser wirkte verdreckt, trüb, unappetitlich; Euphloden scheute zurück. Seufzend erinnerte er sich an die Zisternen voll reinen, klaren Rinnwassers in den Kronen der Edemen-Wälder und an die durchsichtigen Fluten der Regenwüste von Krynné. Aber in ganz Krynné gab es keine intakte Bodenstation der Maulspindler und damit keinen Zugang zum Himmelsnetz, weswegen Euphloden dem Rat seines Meta-Vaters Knoodt gefolgt war und sich auf den Weg nach Karaporum gemacht hatte. Schuon rollte durchs Wasserloch, spritzte mit den gewaltigen Armen, prustete, lachte und schwankte dabei an der Oberfläche hin und her. Entweder war der Tümpel nicht sehr tief, oder Schuon war dank seiner Fettmassen unsinkbar. Euphloden stand einige Meter von Drogg entfernt am Ufer und sah dem doppelten
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Wim Vandemaan Schauspiel - der saufenden Lok und dem badenden Schuon - zu, als es passierte. * Die Echse tauchte ohne Vorwarnung aus dem gelb-violetten Grasmeer auf. Mit fließenden, ineinander übergehenden Bewegungen, mit großer Anmut, wie Euphloden voll widerwilliger Bewunderung anerkannte, sprang sie in Richtung Tümpel. Euphloden dachte: Ich sollte fliehen!, aber durch den Blutmangel im Kopf, den er durch die Versteifung seiner Beine herbeigeführt hatte, war er beduselt, träge geworden. Als Schuon die Echse endlich auch bemerkte, schrie er Drogg eine Warnung zu. Aber die biomechanische Lok war ins Trinken vertieft. Die Schuppen der über drei Meter langen Echse verfärbten sich. Zu Beginn ihres Angriffs hatte sie eine gelbviolette Zeichnung getragen, wie das umliegende Savannenland. Nun, noch im Sprung, nahm sie die aschgraue Färbung des Gehölzes an. Euphloden sah dem Schauspiel fasziniert, aber wie unbeteiligt zu. Die Echse sprang Drogg an und schlug ihre Zähne tief in die schwarze, lederne Haut, glitt aber an einigen metallischen Verhärtungen wieder ab, rutschte auf den Boden und knarrte zornig, schüttelte den Kopf einige Male hin und her und setzte wieder an. Diesmal musste sie eine weichere, nachgiebigere Fläche aus rein biologischem Material erwischt haben, denn sie konnte sich verbeißen. Überrascht sah Euphloden, wie Schuon sich aus dem geöffneten Seitenfenster des Tenders herauslehnte. Wie war er dort hineingekommen - er hatte doch eben noch im Wasser geschaukelt?! Euphloden fuhr seine Augenstiele aus. Schuon hielt in den Händen seiner Arme, die ihm aus dem langen, biegsamen Muskelhals hervorwuchsen, einen Schießprügel, einen zugleich wuchtig und doch schlank wirkenden Stock mit einer
Gefangen im Himmelsnetz Verdickung am hinteren Ende und einer Öffnung in dem vorderen, spitzen Teil. Schuon legte mit dem Gerät in aller Ruhe auf die Echse an, während Drogg wie am Spieß schrie. Es gab einen kleinen Blitz direkt am Gerät und gleichzeitig einen erstaunlich lauten Donner, eine dicke Rauchwolke erhob sich aus dem Gerät, und die Echse schrie hoch und spitz auf. Schuon hantierte mit dem Schießprügel und einigen kleineren Utensilien. Kurz darauf folgte ein zweiter Donner- und Blitzschlag. Die Echse ließ von Drogg ab und wandte sich zur Flucht. Euphloden stelzte auf Drogg zu und kletterte in den Tender. Er griff nach einer Schlaufe, die aus dem Dach der Tenderkabine herauswuchs, hängte sich kopfunter daran auf und ließ das Blut zurückfließen, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Schuon lachte schon wieder und hielt das Kleinstgewitter-Gerät Euphloden triumphierend vor die ausgefahrenen Augen: »Ein Schießprügel. Er war nicht ganz billig, aber ich habe mir gleich gedacht: Was soll der Geiz? Und siehe da es war eine gute Investition!« Drogg blutete aus einer Wunde. Es war dickes rotes Blut, das offenbar Eisen als Sauerstoffträger enthielt und nicht Kupfer wie in grünem Euphloden-Blut. Schuon behandelte die Wunde, wobei er Drogg ab und an beruhigend zugrunzte. * Die folgenden Tage saß Euphloden apathisch hinter Schuon im Tender. Die öde, fast baumlose Savannenlandschaft setzte ihm zu. Die Lauf- und Kuppelachsen von Droggs Holzwalze stampften, der aus verholzten Fasern und Pechflechten bestehende Kesselleib ächzte, sein Pflug bahnte sich einen Weg durch die Lanzetthalme der Savanne. Schuon lachte, und wieder einmal hatte Euphloden den Witz nicht begriffen. Sein Leib schüttelte sich geradezu vor Heiterkeit. Das Gesicht wies zwei Augen über dem Mund auf, war aber nicht stabil.
Wim Vandemaan Es wirkte wie ein Tuch, das entweder spannungslos herabhing oder von einem inneren Wind wie ein Segel aufgebläht wurde. Drogg ächzte und stöhnte. Wenn Euphloden es richtig verstand, dann hatte Schuon die Lok, die aus biologischen wie aus mechanischen Komponenten bestand, bei einem seiner dubiosen Geschäfte in einer fernen Parzelle erworben - einer Parzelle hinter der Sonne, wie Schuon prahlte, als wäre er bereits einmal auf der gegenüberliegenden Seite der Intrawelt gewesen. Also genau dort, wo Euphloden hin wollte. Wohin er musste, wenn er das Universale Rezept bekommen wollte für seinen Brudersohn, seine Lieblingsknospe, sein Ein und Alles, das seit dem Ereignis im Koma lag. Er wusste nichts Sicheres über das Universale Rezept, nur, dass es das letzte Mittel bei hoffnungslosen Fällen sein sollte. Und dass es in einer Parzelle namens Opalo Panca ausgestellt würde irgendwo in der transsolaren Schalenhälfte der Intrawelt. Natürlich planten weder er noch Schuon, mit Drogg dorthin zu gelangen. Das hätte sie viele Jahre ihres Lebens gekostet. Deswegen hofften beide, Zugang zum Gondelsystem der Maulspindler zu erhalten und so auf die lange Reise zu gehen. Wenn man ihre Reisegründe denn akzeptierte. Schuon plagten keine Zweifel - schließlich trieben ihn seine unbezweifelbar wichtigen Geschäfte, die für jedermann von enormer Bedeutung waren. Jedenfalls laut Schuon. Euphloden konnte nur hoffen, dass man seinen Grund anerkannte - letzte Rettung zu suchen für seinen Brudersohn, seine Lieblingsknospe. Drogg kam mit lautem Knurren zum Stehen und murmelte etwas. Euphlodens Dhedeen konnte keine Übersetzung liefern, aber Schuon dolmetschte: »Er will etwas äsen.« »Gut«, stimmte Euphloden zu, obwohl es ihn drängte. Was hätte er auch sagen
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Gefangen im Himmelsnetz sollen. Schließlich war er auf Schuons Wohlwollen angewiesen - ohne die biomechanische Lok wäre die Reise ins Innere von Karaporum für Euphloden eine Qual gewesen. Zwar besaß er als Kopffüßler sechs Beine, aber die waren überwiegend auf das Leben in den Kronen der EdemenWälder von Krynné angepasst, wo Euphloden und die anderen Umen sich von Ast zu Ast schwangen und beträchtliche Entfernungen im Sprung zurücklegen konnten. Auf ebener Erde tat sich Euphloden schwer. Er konnte die Beine für kurze Zeit durch maximale Blutzufuhr versteifen, aber, nach einigen Minuten fühlte er sich schlapp und unkonzentriert. Sein Instinkt trieb ihn dann zurück in die Wipfel einer Edeme, wo er sich kopfunter hängte und sein Hirn wieder mit Blut auftankte. Aber in Karaporum gab es keine EdenrenWälder. Schuon wuchtete und rollte inzwischen aus dem Tender. »Halt das«, wies er Euphloden an und reichte ihm seinen Schießprügel, den er seit dem Überfall am Wasserloch nicht mehr aus der Hand gelegt hatte. Euphloden nahm den Schießprügel und legte ihn vorsichtig auf dem Boden des Tenders ab. Seit jeher war ihm jede Gewalt zuwider, besonders aber seit dem Vorfall, der seinen Brudersohn getroffen hatte. Schuon rumorte jetzt auf dem Dach des Tenders, den Drogg als Anhänger hinter sich herzog, wobei dicke, lederne Riemen Drogg und den Tender verbanden - eine Mischung aus Zügel, Geschirr und Kupplung. Euphloden fuhr seine Stielaugen aus und versuchte, aus der Öffnung in der Seitenwand des Tenders nach oben zu blicken, konnte aber Schuon nicht entdecken. Schuon polterte an der Seitenwand herunter und wuchtete sich wieder in den Tender. Er verkündete: »Ich habe sie gesehen, hierdurch.« Dabei hielt er ein hölzernes Rohr hoch, das an beiden Enden mit einer transparenten Haut verschlossen war. Drinnen schwappte es leise. »Ein Fernsicht-Drogg«, erläuterte Schuon.
Wim Vandemaan Euphloden hatte Drogg bislang für einen Eigennamen gehalten. Nun überlegte er, ob es eine Bezeichnung für all die fremdartigen biomechanischen Gerätschaften war, über die Schuon anscheinend verfügte. »Wen hast du gesehen?«, fragte Euphloden. »Wen?« Schuons Gesicht blähte sich auf. »Werd wach, du humorloser Hirnfisch die Gondelstation natürlich! Nur noch ein paar Stündchen, und wir sind am Ziel. Und dann - dann, mein Lieber, gehen wir auf die ganz, ganz große Geschäftsreise!« Seit jenem verhängnisvollen Tag lebte Abertack in einem Zwiespalt: Einerseits scheute er den Aufstieg zur Flachstation GEM-45 so, wie der Übelmeinende Kuzmuzz das Gerechte Licht der Erwecker mied. Andererseits bereitete ihm der Gedanke Unbehagen, seinen Abschnitt des Netzes sich selbst zu überlassen. Wer sollte die Schäden beheben, wie sie beispielsweise durch den Kot der Trijzinen entstehen konnten? Denn das Netz sollte ewig sein, und er wollte teilhaben an dieser Ewigkeit. Also raffte er sich fünf Tage nach seinem Absturz auf: »Das Netz braucht Wartung, das Netz braucht Wartung«, hämmerte er sich ein. Er erhob sich unter Schmerzen von seinem Ruhepolster und schleppte sich ins Freie. Da lag die Gondel, ausgekuppelt. Und da war das Gondelseil, das leer durchlief. Abertack klemmte das Seil zwischen die Spulen und griff mit den Klauen zu. Schon das Recken der Beine verursachte einen neuen, ziehenden Schmerz. Er zog sich hoch, wie unter Zeitlupe, langsamer als je zuvor. Der Otholit pochte, und er glaubte, den Mangel an Gallerte zu spüren - ein hohles, betäubendes Gefühl. Aber er kämpfte sich hoch. Meter um Meter. Etwa zwei Kilometer über Grund fiel ihn die Panik an wie ein wildes Tier und schüttelte ihn durch. Er glaubte zugleich in die Tiefe und in die Höhe zu stürzen. Unverdaute Mineralmasse trat, mit Magensäure versetzt, aus dem Mund und verklebte die Spulen. Er knickte seine
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Gefangen im Himmelsnetz Beine dreifach, wickelte sie förmlich ums Seil und klammerte sich mit den Klauen fest. So hing er bebend vor Angst und Schmerz am Seil, das leicht vibrierte, und wimmerte: »Hortorok, hilf!« Erst nach Minuten löste sich der Krampf ein wenig, und Abertack ließ sich abwärts gleiten. Das Erbrochene an den Spindeln behinderte den Ölfilm, sodass die Spulen am Ende wund waren. Die nächsten drei Tage verbrachte Abertack erschöpft und ausgelaugt auf dem Ruhepolster. Selbst der Gang hinab zu den Duum-Bäumen war ihm unmöglich. Erst am vierten Tag trieb ihn der Hunger den Berg hinab. Seitdem unterzog er sich nur hin und wieder der Mühe des Aufstiegs, auch wenn jede Wartungsbesteigung neue Panikattacken in ihm auslöste und er oft genug wie ein Kind um Hortoroks Beistand wimmerte. Den Aufstieg bis zur Flachstation hatte er fast gänzlich gemieden. Nur ein einziges Mal hatte er einem Reisewilligen die Legitimation nicht absprechen können, hatte die Gondel eingekuppelt und den Gast die endlos hohe Strecke in den Himmel hinein gefahren. Es waren die schlimmsten viereinhalb Stunden seiner gesamten Tagtausende gewesen. Abgesehen von der Fahrt zurück, die noch einmal schlimmer war, weil sie der Form nach etwas wie ein Sturz war - wenn auch ein Sturz in extremer Verlangsamung. Außerdem hatte er während der Gondelfahrt das furchtbare Gefühl, anders als beim Aufstieg zu Fuß die Sache nicht in den eigenen Klauen zu haben. Auch wusste er nicht, wie die Flachwächter seinen Körperschaden aufnehmen würden. Der erhabene Dunkelhein entschied als Befehlshaber des Gondelbahnhofes maßgeblich über seine dienstliche Beurteilung; er galt als Perfektionist. Und was immer Abertack noch war - perfekt war er nicht mehr. Hätte er sich in die medizinische Versorgung der Station begeben, dann hätte er den Sturz einräumen müssen und
Wim Vandemaan zugeben, dass er ihn durch seinen Übermut mit verursacht hatte - und das wäre seine endgültige Disqualifikation. Er hatte die Verletzungen seiner Hornplatte also vorsichtshalber mit Stofftüchern verhängt und den Schmerz verbissen. Denn immer noch war ihm ein Rest Hoffnung verblieben, am Ende seiner 9000 Tage zu den Flachwächtern erhoben zu werden, sodass seine biologische Uhr weiter und weiter laufen durfte. Für die Instandhaltung der Bodenwege zu seiner Station allerdings hatte er keine Sorge mehr getragen, ja, er hatte den GrünNomaden, die ihn mit Faden-Rohstoff versorgten, angedeutet, dass er die Entfernung von Wegmarken für einen wunderbaren Scherz halten würde. Und er hoffte, dass die Nomaden den Wink verstanden hatten. Wirklich waren seit Dutzenden von Tagen keine Reisewilligen mehr eingetroffen. Auch gestern hatte niemand vorgesprochen. Der Maulspindler war deswegen nur kurz in den Duum-Hain gegangen, um einen Beutel überreife Früchte vom Boden aufzulesen und sie auf den Gipfel und in sein Wärterhäuschen zu tragen. Sie schmeckten zwar wie gewohnt bittersüß, aber auch leicht angefault. Er hätte, obwohl das Strecken ihm noch Schmerzen bereitete, doch einige frische Glutfrüchte pflücken, statt nur das Fallobst aufsammeln sollen. Nun, er würde es morgen versuchen. 4. An den Feuern der Intrawelt Gondelstation? Endstation! Natürlich sind Anlagen von zentraler Bedeutung bestens gesichert, wies mich mein Extrasinn zurecht. So verfahren die meisten Zivilisationen, warum sollte es gerade in der Intrawelt anders sein? Gib doch nicht gleich auf! Sieh dich um! Finde einen Weg! Jolo sammelte noch ein paar Steine auf und warf nun einen nach dem anderen in die Hochenergiebarriere, als würde das das Ergebnis verändern. Alle vergingen lautlos
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Gefangen im Himmelsnetz in einer blauen Stichflamme. Der rötliche Energiezaun reichte etwa 30 Meter in die Höhe, seine Ränder bogen sich aufeinander zu. Damit war das Gelände auch vor einem unbefugten Betreten von oben, aus der Luft, geschützt. Lediglich das Seil blieb von der hochenergetischen Sicherheitsmaßnahme unberührt. »Wer baut solche Schutzwälle?«, fragte ich laut und erbost, als sei der Zaun zu meiner persönlichen Belästigung eingerichtet worden.. Nehmen wir uns da nicht ein bisschen zu wichtig?, schalt mich mein Extrasinn denn auch sofort. »Das ist ja mörderisch! Eine Mauer mit Dorndraht hätte gereicht«, stimmte Albia zu. Aber das war es nicht, worauf ich hinauswollte. »Gehen wir die Tür suchen? Ich meine: So was muss es hier doch geben, nicht wahr?« Da hatte die Hohe Frau zweifellos Recht, doch mich beschäftigte eine andere Frage: Wer, wenn nicht die Schöpfer der Intrawelt, konnte an diesem Ort solche Hindernisse aufbauen? Schließlich mussten alle »Besucher« jegliches technische Gerät zurücklassen. Ich betrachtete das Gerät, das ich mir um den Arm gebunden hatte. Jegliches? Vielleicht, erwog der Logiksektor, war der Zugang früher anders reglementiert. Großzügiger, sodass die Mitnahme von Hightechgerät erlaubt war Oder gewisse Besucher erhielten Ausrüstung, sobald sie eingetroffen waren. »Hallo? Bist du noch da?«, Jolo zupfte mich an der Hand. »Sollen wir uns nicht ein bisschen umsehen?« Wir wanderten um das Gelände, das vom Hochenergiezaun abgesperrt war. Nach einiger Zeit hörte ich eine Stimme murmeln; aber wir waren noch zu weit, als dass der Dhedeen hätte verstehen und übersetzen können. Endlich fanden wir ziemlich genau auf der anderen Seite einen Torrahmen im Zaun, etwa zwei Meter groß. Der Rahmen glühte gelb, der umrahmte Raum war durchsichtig. Jolo warf den obligatorischen Stein. Er verglühte im scheinbaren Nichts.
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Wim Vandemaan Aber genau von dort ertönte auch die Stimme. Sie klang für meine Ohren weich, weiblich, freundlich und zugleich geschäftsmäßig - das Timbre einer Stewardess aus den personalintensiven frühen Tagen der kommerziellen Raumfahrt. Von hier aus hatte ich keine Schwierigkeiten mehr, zu verstehen, was die Stimme flüsterte: »Legitimation ist im Morgengrauen möglich. Legitimation ist im Morgengrauen möglich. Legitimation« * In der Nähe des Torrahmens befand sich eine kleine Gruppe von Duum-Bäumen. Wir schlugen unser Lager in ihrem Schatten auf und verbrachten den Tag wartend oder, was Jolo angeht, ununterbrochen essend. Ab und an verschlang er die Früchte, ohne sie geschält zu haben. »Du wirst noch von innen heraus zu leuchten anfangen, mein Lieber!«, warnte ich ihn. »So wird mein Leuchtkörper ein wenig Licht in dein düsteres Leben bringen«, erwiderte er und futterte weiter. Gegen Abend hatte er sich wieder überfressen. Seine Eingeweide produzierten eine wenig appetitliche Geräuschkulisse. Er kochte etwas Wasser in einer Tasse auf und zerbröselte einige graublaue Brocken fester Substanz darin. Kurz darauf stieg ein penetranter Geruch nach saurer Erde aus der Tasse auf. Jolo schlürfte und schmatzte. »Muss das sein?«, fragte ich genervt. »Es dient meiner Gesundheit«, rechtfertigte er sich. Ich fühlte mich immer noch unwohl; irgendetwas stimmte nicht, aber ich wusste nicht, was. Vielleicht war meine üble Laune ansteckend, denn auch Albia, die Hohe Frau, wirkte auf mich unruhiger, ungeduldiger als sonst. Sie hatte begonnen, sich zu kratzen, als plage sie ein großer Juckreiz.
Gefangen im Himmelsnetz Als sie uns eines ihrer Spiele vorführte, eine Mischung aus Jongleurkunststück und Hütchenspiel, entglitt ihr eines der Elemente, eine blassblaue Kugel, die auf dem Boden in tausend Splitter zersprang. So ungeschickt hatte ich sie noch nie gesehen. Kurz nachdem sich die Sonne der Intrawelt ausgeschaltet hatte, begann Jolo einen Verdauungsspaziergang, in dessen Verlauf er sich offenbar auch ein wenig Erleichterung verschaffen wollte. Jedenfalls kam er nach wenigen Augenblicken zurückgelaufen und winkte mit beiden Handtatzen. »Wir bekommen Besuch«, rief er. * Ich darf behaupten, dass ich im Laufe meines nicht eben kurzen Lebens etliche absonderliche Fahr- und Flugzeuge gesehen und oft auch benutzt habe. Aber was in dieser roten Stunde auf uns zukam, würde in meinem fotografischen Gedächtnis einen Ehrenplatz erhalten: Vor uns pflügte eine Art Lokomotive durchs Hochgras. Wie eine prähistorische Dampfmaschine stieß sie durch zwei oder drei kleine Schornsteine Wölkchen in die Luft. Das ganze Ding schien einerseits wie aus Holz gefertigt, geschreinert, gedrechselt und anschließend mit metallischen Teilen beschlagen zu sein; andererseits wirkte es auf unbestimmte Art organisch. Die Räder waren breit, eigentlich schon Walzen, und hatten die elfenbeinerne Farbe von frei liegenden Knochen. Das Ding besaß etwas wie ein Gesicht mit einem richtigen Mund, aus dem es verhalten ächzte und stöhnte wie unter einer schweren Last; und an den Achsen wölbten sich hin und wieder enorme Muskelpakete. Schweiß rann dem Ding in Bächen von den Seiten, wurde in kupfernen Gefäßen aufgefangen und über ein Pumpoder Adernsystem dem Kreislauf wieder zugeführt. Diese lebende Lok zog einen Anhänger oder Tender hinter sich her. Als das ganze Gebilde kurz vor dem DuumWäldchen zum Stehen kam und der Passagier
Wim Vandemaan ausstieg, während die Lok hörbar verschnaufte, wurde mir klar, warum die Reise so anstrengend gewesen sein musste: Aus dem Tender stieg - oder besser: rollte eine ungeheuer fettleibige Gestalt. Ich glaubte zunächst, dass das Wesen sich über und über mit Teppichen behängt hatte, sah dann aber, dass die herabwallenden Bahnen, die da übereinander lagen, aus Haut und Fettmasse bestanden. Bekleidet war es nur mit einigen Schnüren und Bändern, die seine imposante Erscheinung in wirren Mustern umspannten. Auf dem kugelrunden Leib, der sich schwankend auf uns zubewegte, saß ein enormer Hals, der mit zwei Armen bewehrt war. Und auf dem Hals thronte ein Kopf, dessen Gesicht eigenartig unstet war, mal eingedrückt, mal flach, mal ausgestülpt wirkte. »Ich grüße euch, Mitbewerber!«, rief uns das Wesen zu. »Ich darf mich vorstellen: Mein Name ist Schuon Pezzanpal, Edelhändler von Aflar, Ehrenkonsul der Handelskammer Unserer Dreizehn Wohlhabenheiten und DroggAlleinvertreter in den Parzellen Krynné, Falva, Echthnis, Dariae, Honnuran und selbstverständlich Karaporum. Immer im Interesse der Kundschaft unterwegs und wenn es sein muss - auch überwegs, wie man sagt!« Er wies mit einem seiner Halsarme auf den Gondelfaden und lachte schallend. »Ich darf mich ans Feuer setzen, liebe Konkurrenten, ja?« Er rollte, indem er sich zwischen uns hindurchzwängte, auf unser Lagerfeuer zu wie ein riesenhaftes Stehaufmännchen, drehte sich, ohne die Laufrichtung zu ändern, einmal um die Körperachse und rief nach hinten: »Nun komm schon, Trockenfischchen!« Für einen Moment staunte ich, wie man das vor sich hin schnaufende und - wenn man dem Duft glauben konnte - seine Verdauungswinde ablassende lebende Fahrzeug Trockenfischchen nennen konnte, als ich sah, dass sich noch ein anderer Passagier aus dem Tender wand. Dieser zweite Fahrgast sah aus wie ein Kopffüßler mit sechs oder sieben Tentakeln. Zunächst glitt das Wesen auf diesen Körperanhängen die Außenwand
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Gefangen im Himmelsnetz des Tenders herab und einige Meter über den Boden, dann zögerte es einen Moment und schien sich zu konzentrieren. Kurz darauf schwollen die Tentakel an und streckten sich, und das Wesen erhob sich wie auf Stelzen. So kam es etwas ungelenk auf uns zu, hielt kurz inne und verbeugte sich unmerklich. Es fuhr seine beiden Augen auf Stielen aus und starrte zunächst zu Jolo herab, blickte dann Albia an und schließlich mich. Seine Augen waren auffallend menschenähnlich und von strahlendem Blau. Schließlich sprach er mich an: »Ich grüße euch im Namen der ganzen Brutgemeinschaft der schwebenden Nester von Krynné!« »Trockenfisch, komm! Wir machen es uns gemütlich«, ertönte wie ein Donnergrollen die Stimme des ebenso wuchtigen wie weitgereisten Kaufmannes. * Lagerfeuer machen seit Urzeiten gesprächig - ohne unbedingt die Wahrheit ans Licht zu fördern. Ich möchte nicht wissen, wie viele Raumschlachten gewonnen, Frauen, Männer und Mischwesen geliebt, Schätze entdeckt und wieder verloren, Sternenreiche gegründet und zerstört worden sind nur in den Erzählungen an diesen phantastischen Feuern. Deswegen war ich mir auch unsicher, wie viel von dem, was an unserem Feuer erzählt wurde, glaubwürdig war. Zumal es in der Regel Schuon war, der Anekdoten aus seinem ereignisreichen Leben zum Besten gab. Meist mit einer Pointe, die ihn zu einem gewaltigen Gelächter hinriss, , die außer ihm aber niemand verstand. »Ihr seht noch recht jung aus«, sprach er mich zwischendurch an. »Aber vielleicht habt auch Ihr schon etwas erlebt, Atlan, mein Junge?« »Nichts, was der Rede wert wäre«, gab ich zurück. Immerhin erfuhren wir, dass Schuon in Sachen Drogg handelte - ohne dass mir
Wim Vandemaan trotz mehrmaligen Nachfragens klar wurde, was Drogg eigentlich bezeichnete: einen Gegenstand, eine Art von Gegenständen, ein bestimmtes Bauprinzip oder vielleicht einfach eine Herkunft. »Ein interessantes Schmuckstück - oder Werkzeug - oder beides habt Ihr da am Arm«. Schuon beugte seinen Hals in Richtung Cueromb und streckte seine Hand danach aus. »Ihr wärt bereit, es gegen einen guten Drogg zu tauschen?« »Leider ein Familienerbstück«, gab ich zurück, »das in der Familie bleiben muss.« »Ein jedes Ding gehört dem, der es am meisten begehrt, sagt man in der Handelskammer Unserer Dreizehn Wohlhabenheiten.« »Es ist absolut unverkäuflich«, bekräftigte ich. »Was Ihr nicht sagt«, murmelte Schuon und lehnte sich wieder zurück. Jolo grummelte der übervolle Magen, trotzdem verlangte er noch nach Früchten. Selbst aufzustehen und welche abzupflücken, sah er sich aber außerstande. »Ich gehe«, bot sich der Kopffüßler an, dessen Name, wie ich gehört hatte, Euphloden war. Euphloden versteifte seine Beine und erhob sich dann. Er musste meinen erstaunten Blick bemerkt haben und fragte: »Das sieht für Knochenläufer immer wunderlich aus, nicht wahr? Wir festigen unsere Extremitäten, indem wir Blut in sie hineinpumpen.« »Das Prinzip ist mir vertraut«, erwiderte ich. »Du tust das auch, mit deinen Gliedern?« »Nicht mit allen«, erklärte ich ihm. »Die meisten meiner Glieder haben ja Knochen.« »Ja«, sagte Euphloden, und es klang ein wenig mitleidig. »Eine sehr unflexible Einrichtung eurer Evolution. Und wann schreitet ihr zur Versteifung des nicht knochenhaltigen Gliedes?« »Nur bei besonderen Gelegenheiten«, wich ich aus. »Zu Familienfeiern?«, fragte Euphloden nach. »Ja«, sagte ich, »etwas in der Art.«
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Gefangen im Himmelsnetz * Euphloden kam mit dem Obst zurück, ließ seine Beine erschlaffen und setzte sich. »Ich gebe zu, dass ich besorgt bin«, begann er leise. »Das Gondelsystem ist meine letzte Hoffnung, nach Opalo Panca zu gelangen.« Er verstummte und sah mich an. Ich nickte ihm aufmunternd zu, und er schien diese Geste zu verstehen. »Aber dafür muss ich erst einmal die Erlaubnis des Maulspindlers dieser Bodenstation erhalten, zur Flachstation auffahren zu dürfen. Erst dort kann ich ins weite Himmelsnetz umsteigen, einen Weg nach Opalo Panca finden... « Er gab ein Geräusch von sich, das wie Seufzen klang. Dann fragte er in die Runde: »Wie schätzt ihr eure Chancen ein, zum Gondelsystem zugelassen zu werden?«. »Ich weiß es nicht«, antwortete ich ehrlich. »Wovon hängt die Legitimation eurer Meinung nach ab?« »Man sagt«, begann Schuon, »dass es von Vorteil sei, ein bestimmtes Ziel angeben zu können. Lustreisen sind ausgeschlossen. Und erkaufen kann man sich den Zugang nicht«, was er hörbar bedauerte. »Es heißt, es soll gut sein, wenn die Reise in sich sinnvoll ist oder wenn sie in gewisser Weise notwendig oder unumgänglich ist«, fuhr Euphloden fort. »Und der Reisende sollte«, ergänzte Schuon, »gewisse Kenntnisse aufweisen, mathematisch-ökonomischer Natur. Und außerdem« - er begann dröhnend zu lachen - »kann natürlich Charme nicht schaden!« »Sagt man auch, dass es hilft, schon einmal hinter den Materiequellen gewesen zu sein oder die Aura eines Ritters der Tiefe zu haben?«, fragte ich. Für einen Moment schwiegen alle. »Ritter welcher Tiefe?«, fragte Schuon nach. »War nur so eine Idee«, sagte ich, wickelte mich in meine Decke und drehte mich vom Feuer fort. Ich fühlte mich immer noch zerschlagen, fehlerhaft. »Was denn für Materiequallen?«, hörte ich Schuon noch grummeln. Dann musste ich eingeschlafen sein.
Wim Vandemaan 5. Eine ganz besondere Diät Eine unbestimmte Unruhe weckte mich. Peonu!, fuhr mir zusammenhanglos durch den Kopf. Ich setzte mich mit einem leisen Ächzen auf. Es war finster, obwohl die Nacht meinem Gefühl nach längst hätte enden müssen. Ich fror. Das Feuer war erloschen. Jolo, du elender Nichtsnutz, dachte ich wütend. An seiner Stelle hätte ich auch einen Sack Reis zur Nachtwache einteilen können. Oder ein totes Pferd. Allerdings war beides gerade nicht vorrätig. Von den Duum-Bäumen trieb ein schwaches, bitter-süßes Aroma herüber. Das rötliche Glimmern ihrer Früchte ließ sie geisterhaft aus der Nacht hervortreten, doch reichte es nicht, ihre Umgebung mehr als schattenhaft zu erhellen. Ich zog die Beine an, legte die Arme darum und lauschte in die Dunkelheit. Von dort, wo Schuon sein abstruses Fahrzeug geparkt hatte, erklang ein sonores Schnurren, Schnarchen oder Schmatzen - wahrscheinlich träumt es vom Grasen, dachte ich. Aber da war noch etwas ... »Albia?«, rief ich leise. »Zu geringer Einsatz, meine Herren, da spiel ich nicht mit ...« , murmelte sie im Schlaf. »Jolo?« Keine Antwort. Euphloden, der etwas melancholisch wirkende Kopffüßler, hatte sich zum Schlaf kopfunter in einen der DuumBäume gehängt. Eigentümlicherweise hatte er keine Angst, weder vor den Lonbals noch vor den Dropits, und wollte nicht beim Feuer bleiben. Scheinbar vermittelten die Baumkronen ihm mehr Geborgenheit. Womit er Recht hat, stellte mein Extrasinn fest und mahnte: Aber Vorsicht auch mit Euphloden - vielleicht lullt er dich nur ein. Hier ist nichts, was es scheint, und er muss nicht so harmlos sein, wie du meinst, du Narr! Ich hielt nach Schuon Ausschau, der eigentlich beim Feuer hätte liegen sollen,
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Gefangen im Himmelsnetz aber ich konnte in diesem roten Schattenlicht keinerlei Umrisse ausmachen. Der, die oder das Drogg schnaufte auf, schmatzte. Und wieder dieses andere Geräusch, wie ein erstickter Ruf aus der Ferne. Ich stand auf, griff vorsichtshalber nach dem Buschmesser und ging behutsam fort von den Duum-Bäumen in Richtung lebende Lok. Erst in diesem Moment fühlte ich, dass ich den Cueromb nicht mehr am Arm trug. Ich stutzte - ich hatte das Artefakt auf keinen Fall abgeschnallt! Erbost beschleunigte ich meine Schritte. Ich war beraubt worden, und ich konnte mir denken, von wem: Ein jedes Ding gehört dem, der es am meisten begehrt. Als ich der Lok schon sehr nahe sein musste, hörte ich, dass in ihr noch eine zweite Stimme etwas vor sich hin grummelte, murmelte - oder rufen wollte. Es klang dumpf, wie durch einen Knebel, aber ich erkannte es doch. Jolo? Jolo! « In diesem Moment sprang mich etwas an und überrollte mich förmlich. Das Buschmesser wurde mir von der Wucht des Aufpralls aus der Hand geschlagen, obwohl ich es wirklich nicht nachlässig gehalten hatte. Muskulöse Arme umschlangen meine Brust und pressten die Knochenplatte zusammen, dass mir die Luft aus der Lunge pfiff. Ich versuchte einige DhagorGriffe, aber sie führten entweder ins Leere oder prallten von seiner überwältigenden Fleischmasse ab. Drogg hat mich überfahren!, dachte ich entsetzt. Drogg steht still und verdaut, korrigierte mich der Logiksektor. Dem Gewicht nach ist es Schuon. Ich schlug mit der Stirn in die Fleischmassen, ohne Effekt. Dann biss ich zu. Ich bekam einen der Hautlappen Schuons zu fassen und schlug meine Zähne mit aller Kraft meines Kiefers hinein. Schuon heulte auf. Sein Griff lockerte sich. Ich schmeckte Eisen zwischen den Zähnen. Obwohl ich mein Ziel nicht sehen konnte, schlug und trat ich blindwütig zu. Mit einem Klack sprang in diesem Moment die
Wim Vandemaan Kunstsonne an. Unmittelbar darauf wurden die Dinge sichtbar. Schuon lag vor mir auf dem Boden und schaukelte wie ein umgeworfenes Stehaufmännchen. Aber so wie ein Stehaufmännchen erhob er sich gleich auch wieder. Ich wirbelte herum und trat ihm mit hochgerecktem Bein ins Gesicht. Schuon schrie auf. Das Gesichtssegel war über die Länge eines Fingers aufgeplatzt. Weißer, zäher Dampf entwich der Platzwunde, Schuon schrie immer weiter. Vorsicht! Hinter dir!, mahnte der Extrasinn. Ich fuhr herum. Lautlos hatte sich Drogg genähert und hinter mir aufgebaut. Die vordere der beinernen Walzen kam mit unvermuteter Geschwindigkeit auf mich zu; ich sprang zur Seite. Drogg, der nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte, drehte zwar ab, erwischte aber den hinter mir hin und her pendelnden Schuon an der Schulter. Ich hatte nur einen kurzen Blick auf das Maul der biomechanischen Lok werfen können. Das Maul war dreieckig, wie bei einem überdimensionalen Insekt und halb geöffnet. Und aus dem halb offenen Maul hingen zwei strampelnde, mir wohl bekannte Beine. »Jolo«, rief ich, »was bei den Göttern der Intrawelt tust du dort drinnen?« Woher diese lokalinhärente Religiosität?, erkundigte sich mein Extrasinn interessiert. Weil ich nicht glauben kann, dass einer der seriösen Götter Arkons sich für diesen Schwachkopf einsetzen würde, gab ich zurück. Ich setzte Drogg nach, der etwas desorientiert im Kreis fuhr. Das biomechanische Ding schien auf einen Befehl seines Herrn zu warten. Ich überholte Drogg und starrte auf das Beinpaar. Von innen klangen dumpfe Rufe. »Jolo«, rief ich wieder, »was tust du da drin?« »Was ich hier tue?«, verstand ich die entgeisterte Antwort. »Was schon? Ich lasse mich fressen!«
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Gefangen im Himmelsnetz Voller Zorn und Wut - Wut auf Jolo, Wut auf Schuon, Wut auf diese ganze verdrehte, wahnwitzige Intrawelt trommelte ich mit den Fäusten auf Drogg ein. Drogg stieß mit dem Pflug nach mir. Oberhalb des Mauls entdeckte ich eine blassrosa Stelle von der Größe einer Kinderstirn. Hier war die Haut nicht borken- oder lederartig starr wie sonst alles an Droggs Leib, sondern fast durchscheinend. Ein dichtes Aderngeflecht, das langsam pulsierte, durchzog dieses Areal. An dieser Stelle könnte Drogg sensibel sein - vielleicht sogar schmerzempfindlich!, riet der Logiksektor. Also zielte ich dorthin. Zunächst schlug ich mit der Faust hinein, dann drehte ich mich leicht ab und stieß mit dem Ellenbogen zu. Drogg seufzte tief und machte einen Satz nach vorne, ich entwich mit einem Sprung und landete im Savannengras. Eine der scharfen Halmkanten schnitt in meinen Handrücken. Ich zerrte ein Stück Stoff von meiner Jacke und umwickelte so schnell wie möglich eine Hand damit. So geschützt, umfasste ich einige der übermannshohen Halme, brach sie und riss sie an der Bruchstelle ab. Neu bewaffnet stürzte ich mich auf Drogg und fuhr ihm damit über die empfindliche Stelle. Das Wesen fuhr aus der Stirn einen dürren Rüssel aus und versuchte sich damit zu verteidigen. Aber wozu dieser Rüssel auch immer diente, zur Abwehr taugte er nicht. Ziellos schlug er durch die Luft. Ich traf die sensible Stelle wieder und wieder. Sofort zeigten sich kleine Schnitte. Ein jammernder Laut entfuhr dem Maul, und es klappte auf. Ich warf die Halme zur Seite und zog Jolo heraus, dessen Arme mit einer Schnur auf den Rücken gefesselt waren. Als ich ihm die Fessel lösen wollte, biss eines ihrer Enden zu. Überrascht hielt ich mir den Handrücken. Die Bissstelle juckte entsetzlich. Ich ignorierte das Jucken und griff Jolo beim Gürtel seiner Hose, sodass ich ihn besser tragen konnte. Ich warf Jolo neben dem Buschmesser auf den Boden, drehte ihn auf den Bauch, griff
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Wim Vandemaan das Messer und setzte es an der lebenden Fessel an. »Tu das nicht!«, hörte ich eine weinerliche Stimme rufen. Ich schaute mich um. Schuon stand hinter mir. * Abertack erwachte mit dem Klacken der Sonne. Fast augenblicklich setzte der Unterleibsschmerz wieder ein, der ihn seit seinem Sturz vor 419 Tagen peinigte. Sein Geheimnis, von dem er niemandem erzählen durfte, weil er damit seine Invalidität offenbart und damit jede Chance verspielt hätte, doch noch in den Kreis der Flachwächter aufgenommen zu werden. Sein verschwiegener Schmerz, sein einziger Vertrauter. Er erhob sich vom Ruhekissen, löste den Nachtverband von seinem Leib und sah voller Missmut, dass trotz des Verbandes wieder Gallerte auf das Polster getropft war. Die Wunde wollte und wollte sich nicht endgültig schließen. Der Gallerteflecken roch leicht säuerlich. Abertack reinigte sich und legte dann neue Stoffbänder an, um die Wunde zu verhüllen. Er hatte die Stoffbahnen mit kleinen Motiven aus seiner Jugend bestickt, damit die Flachwächter, die er hin und wieder zu Gesicht bekam, den Verband für ein Kleidungsstück oder für Schmuck hielten. Er war sich nicht sicher, ob Dunkelhein seine Maskerade nicht längst durchschaut hatte. Nur einmal war Abertack ihm nach seinem Absturz auf der Flachstation begegnet; Dunkelhein war grußlos an ihm vorübergegangen. Abertack hatte sich bei Wiestein, seinem Kontaktier, möglichst unauffällig erkundigt, ob Dunkelhein sich negativ über ihn geäußert hätte. »Dunkelhein? Oh, mach dir keinen Kummer, der hat zurzeit alle Klauen voll zu tun. Wir haben Teloracs auf der Station. Sie sorgen für Unruhe, wie du dir denken kannst«, hatte Wiestein erklärt und Abertack dabei mit kalter Neugier betrachtet. Und das wohl nicht aus
Gefangen im Himmelsnetz kunstsinnigem Interesse an Abertacks Stickereiei:. Die Stickereien zeigten die Lebensfabrik, aus deren In-vitro-Matrizen Abertack mit den anderen seiner Baureihe gestiegen war. Sie zeigten das vergleichsweise winzige Trainingsnetz, in dem Abertack unter Aufsicht Hortoroks geübt hatte, und es zeigte - wenn auch nicht sehr gut getroffen - den alten Hortorok selbst. Gereinigt und angekleidet trat Abertack ans Fenster seines Häuschens. Er faltete die sechs Arme über seinem Kopf zusammen und brummte ehrfürchtig das Morgenlied aller Maulspindler, wie Hortorok es ihm zuerst vorgesungen hatte: »Sei dir bewusst, dass dein Bewusstsein vergeht. Spinne dich ein in das Netz, denn nur das Netz besteht.« Dann trat er vor das Wärterhäuschen und machte sich an den Abstieg. Wahrscheinlich, beruhigte er sich, würde auch heute niemand die Legitimation begehren. Er würde nur ein paar DuumFrüchte pflücken, sonst nichts. Keine Gäste, keine Anfrage, keine Legitimation, kein Aufstieg. Vielleicht würde es ein ruhiger Tag werden. * »Tu das bitte nicht!«, wiederholte Schuon. »Warum nicht?«, wollte ich wissen. »Drogg würde sterben«, erklärte Schuon. »Sterben? Dieses bissige - Ding? Warum übrigens nicht? Warum sollte ich es nicht umbringen? Hier - es hat mich gebissen!« »Es ist Drogg«, erläuterte mir Schuon fassungslos, »es ist doch Drogg!« Inzwischen war - vom Lärm, vom Licht oder von beidem - Albia erwacht und hatte sich unserer kleinen Privat-Arena genähert. Offenbar hatte sie einiges mitbekommen, denn sie teilte Schuon mit: »Wenn du etwas von uns willst, mein lieber Konkurrent, musst du es bezahlen.« Dann setzte sie hinzu: »Wir sind Profis!« Es war mir zwar unbegreiflich, was das für ein Argument sein sollte, Schuon aber leuchtete es offenbar ein.
Wim Vandemaan »Gut«, sagte er, »ich zahle.« Er zog ein handspannengroßes hölzernes Rohr unter einem seiner Hautlappen hervor, dessen Oberfläche teils aus Borke zu bestehen schien, teils 'aus polierten Messingaufschlägen. Wenn man näher hinsah, zeigten sich dünne blaue Äderchen, die die Messingplättchen verbanden und leicht pulsierten. »Was ist das?«, fragte ich. »Das ist ein Fernsicht-Drogg. Ein äußerst seltenes Stück. Sehr wertvoll«, behauptete er und hielt es mir hin. Ich nahm es in die Hand. Es fühlte sich warm an, die Borke rau, die messingähnlichen Elemente waren glatt und deutlich kühler. Ich hatte das Gefühl, dass in dem Rohr eine Flüssigkeit leicht hin und her- schwappte. An beiden Enden war es mit einer transparenten Membran verschlossen. Ich hob das Gerät ans Auge und schaute hindurch. Es vergrößerte tatsächlich - und zwar beträchtlich. »Gut«, stimmte ich zu. »Binde ihn frei, gib mir den Cueromb zurück. Du und deine Lok, ihr verschwindet, und wir sind quitt.« Ich verstaute den Drogg in einer meiner Taschen. Schuon beugte sich zu Jolo hinab, pfiff, und die Fessel löste sich. Sie schlängelte sich von Jolos Handgelenken fort und kroch heim unter einen von Schuons Hautlappen. Unter einem anderen Lappen zog er den Cueromb hervor und gab ihn mir zurück. »Interessantes Gerät, deine . kleine Plaudertasche ...«, murmelte Schuon. Ich hob den Cueromb probehalber an mein Ohr. Er raunte wie eh und je. Jolo erhob sich. Sein Magen knurrte, sonst gab er keinen Kommentar. »Nur aus Neugierde«, fragte ich: »Das mit dem Cueromb verstehe ich ja - aber was sollte das ganze Manöver eigentlich?« »Drogg«, sagte Schuon, indem er auf die biomechanische Lok zeigte, »hat seit Tagen nur Savannengras und Wasser gegessen. Das ist auf die Dauer nicht gesund. Manchmal braucht er etwas Zufütterung, eine besondere Diät.«
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Gefangen im Himmelsnetz »Aha«, sagte ich und schaute auf die besondere Diät, die sich immer noch die Handgelenke mit den Tatzen rieb. Schuon versorgte Droggs Wunden; über seine eigene Platzwunde hatte er eine Art Augenklappe geklebt. Er war schon wieder guter Dinge. Vorsicht, wiederholte sich mein Logiksektor, hier ist nichts, wie es scheint. Schuon wuchtete sich in den Tender, schaute aus einem Seitenfenster und rief: »Nichts für ungut, liebe Konkurrenten, alles in allem war es doch ein großer Spaß. Hier, ich habe sogar noch ein Souvenir für euch - Augenblick, wo hab ich's nur ...« »Guten Morgen allerseits - suchst du vielleicht das hier, Schuon?«, meldete sich in diesem Augenblick Euphloden. Er stand auf seinen aufgepumpten Beinen und hielt etwas in der Hand, was wie eine primitive, aber durchaus funktionstüchtige Muskete aussah. »Nicht böse sein. Ich mag zwar keine Waffen, aber ich habe mir erlaubt, den Schießprügel über Nacht mit in die Baumkrone zu nehmen. Karaporum ist voller Geschöpfe, die nicht ganz geheuer sind.« Wie wahr, dachte ich und schaute Schuon an. Der Edelhändler von Aflar und Ehrenkonsul der Handelskammer Seiner Dreizehn Wohlbeleibtheiten fluchte und tauchte ganz im Tender unter. Euphloden trat an mich heran und überreichte mir die Waffe. Ich untersuchte das gute Stück. Es ähnelte einem alten Perkussionsgewehr, wie man es auf Terra im frühen 19. Jahrhundert benutzte: Der Hahn schlägt auf ein Zündhütchen, das mit Knallquecksilber gefüllt ist. Der Feuerstrahl entzündet die Pulverladung. Pulver hatte das Gewehr keines mehr auf der Pfanne, und die Zündhütchen fehlten auch. Aber vielleicht könnte ich mir bei Bedarf das Nötige zusammenmischen. »Leichtes Spiel, leichter Gewinn!«, befand Albia. Zu leichter Gewinn, unkte mein Extrasinn. Ich sichtete die Blessuren, die ich mir während der Auseinandersetzung zugezogen hatte, und dachte: Leicht? Das kann man so oder so sehen.
Wim Vandemaan Als alles schwieg, kam mir die Stimme wieder zum Bewusstsein, die seit dem Sonnenangang aus dem honiggelben Glühen des Torrahmens ins Nichts - oder zu uns allen - gesprochen hatte: »Legitimation ist im Morgengrauen möglich. Legitimation ist im Morgengrauen möglich ...« Ich drehte mich zum Torbogen um. Das honigfarbene Glühen war erloschen. Und da stand etwas im offenen Tor. Etwas - oder jemand? 6. Welchen Sinn hat deine Reise? Abertack erschrak, als er die Unmenge von Bewerbern sah, die sich an diesem Morgen eingefunden hatten. Schon nach wenigen Schritten hatte er diesen Haufen ausgemacht, wenn auch nur undeutlich und durch die Maschen des Zaunes verwischt. Er machte eine große, unförmige Gestalt aus, die sich allerdings nicht bewegte, und vier kleinere. Die Gestalten waren in heftiger Bewegung und bildeten immer neue Konstellationen - sie kämpfen miteinander, begriff Abertack allmählich. Offenbar meinten die Bewerber, sie müssten sich ihre Zugangsberechtigung erstreiten - vielleicht, weil sie glaubten, dass die Legitimationen zahlenmäßig begrenzt waren. Gute Idee, dachte Abertack erfreut. Und vielleicht blieben so auch die meisten Bewerber schon auf der Strecke. Oder missdeutete er die Situation? Aus dem einen groß gebauten Wesen löste sich ein zweites, kleineres - war er Zeuge eines Geburtsvorganges? Vermehrten sich die Aspiranten jetzt auch noch während der Wartezeit? Als Abertack das Tor erreichte, hatte sich der Tumult wieder gelegt. Er löschte das Sperrfeld und verharrte. Ein Bipede stand ganz in der Nähe, ein Zweibeiner, aus dessen Kopf unzählige weiße Fäden hingen - vielleicht ein Artverwandter, dachte Abertack, obwohl die Zweibeinigkeit nicht unbedingt dafür sprach. Wenn Abertack sich aufrichtete, überragte er den Fadenträger um einige
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Gefangen im Himmelsnetz Klauenbreiten. Waren die Beine aber in Ruheposition geknickt, musste Abertack zu ihm aufschauen. Jetzt traten auch die übrigen Gestalten näher: Da war ein kleinerer Bipede, haarlos vielleicht das Junge des Großgewachsenen? Ein weiterer Bewerber ähnelte einem Gastropoden, der mit sechs Armpärchen unruhig in der Gegend herumfuchtelte, offenbar voller Nervosität vor der Aufnahmeprüfung für das Gondelsystem. Schließlich kroch da noch ein Wesen über den Boden, das irgendwie gestrandet wirkte: Es lag auf dem Boden, hatte fünf oder sechs Tentakel von sich gestreckt und starrte Abertack aus zwei hellblauen Augen an, die auf Teleskopstäben schwankten - wie Blüten auf einem Blumenstiel. Nur das ganz große, kolossale Ding im Hintergrund hielt still. Abertack wurde gewahr, dass es sich um ein hybrides Geschöpf handelte, um eine biologischtechnische Chimäre. Abertack begab sich auf die Projektionsfläche für das Periphere Büro und aktivierte es. Während sich die energetischen Strukturen aufbauten und entfalteten, warf Abertack einen Blick auf die wartende Gesellschaft. Als wäre der Haufen von vier Bewerbern noch nicht schlimm genug, entstand wieder Bewegung, und zwar bei diesem Koloss, der im Hintergrund ruhte. Eine fünfte Gestalt, drall, aber voller Elan, entstieg dem hinteren Teil der Chimäre und schwankte und wankte mit unbegreiflichem Tempo auf die ganze Gesellschaft zu. So viel zum Thema »ruhiger Tag«, dachte Abertack voller Pein. * Ich versuchte, das Wesen, das aus dem Torrahmen auf uns zustolzierte, mit etwas mir Bekanntem zu vergleichen, denn irgendwie kam mir das Ganze - oder doch ein Detail an ihm - seltsam vertraut vor. »Guten Tag!«, rief ich ihm zu. Ohne zurückzugrüßen oder auch nur ein Zeichen
Wim Vandemaan zu geben, dass es uns wahrgenommen hatte, schritt das Geschöpf auf sechs Beinen an unserer Gruppe vorbei. Die Beine waren vielleicht einen halben Meter lang, behaart und an drei Gelenken knickbar, was seinem Gang etwas Taumelnd-Tänzelndes verlieh. Hinter ihm aktivierte sich das Sperrfeld wieder, aber die Stewardessen-Stimme blieb stumm. Der - oder die - Fremde ähnelte grob einem Weberknecht oder einer Spinne, allerdings waren die sechs Beine für diesen Vergleich unverhältnismäßig kurz und kräftig. Sein Leib glich einem ovalen bis runden Sitzkissen von gut einem halben Meter Dicke; er durchmaß sicher mehr als eineinhalb Meter. Auf dem Körperkissen befand sich ein Kopf, dessen vier Facettenaugen ihm einen völligen Rundumblick gewährten. Oben auf dem Kopf saß etwas wie eine kleine, organische Krone mit zwei festen, stumpfen Zacken oder Zapfen. Vielleicht war das Wesen für akustische Reize nicht empfänglich. Ich begann, ihm zu winken, aber auch darauf reagierte es nicht. Wütend kratzte ich die juckende Stelle an der Hand. Wenige Meter von der Barriere aktivierte sich plötzlich etwas: Unter einem Summton entstand ein kastenförmiges Gebilde,_ das nur vage sichtbar war und in der Luft zu schwimmen schien. Eine Fata Morgana, dachte ich zunächst. Ein Energiefeld. Ein Feld aus Formenergie!, verbesserte mich der Logiksektor. Formenergie in einer Low-TechUmgebung - das wird ja immer besser!, dachte ich. Wir kommen dem fern der Sache näher. Das Gebilde stabilisierte sich: ein etwa drei Meter hoher, sechs bis sieben Meter langer Kasten aus purer Energie, der bläulich leuchtete, aber weitgehend transparent war. Innerhalb des Containers bildeten sich nun weitere Strukturen heraus: Ich bemerkte etwas wie ein Polster oder einen Hocker die Form wandelte sich noch, als schwanke sie, welche Sitzgelegenheiten für welche Körperbauform sie darstellen sollte.
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Gefangen im Himmelsnetz »Die Sprechstunde hat begonnen«, schrillte uns das Wesen plötzlich mit einer unglaublich hohen, durchdringenden Stimme an, die klang, als hätte der Stationswärter zu viel Helium genascht. »Mein Name ist Abertack, der für XACK331 zuständige Maulspindler. Wer eine Legitimation für die Beförderung durch das Gondelsystem begehrt, spricht bei mir vor. Man tritt einzeln ein!« Dann begab er sich zur Seite des durchsichtigen Kastens. Es machte Zweibeinern wie mir zwar immer wieder Probleme, mich in den Bewegungsablauf von Vielbeinern hineinzudenken, dennoch schien mir, dass der Gang dieses Maulspindlers etwas Irritierendes hatte. Einen Defekt. Er hinkt, analysierte mein Logiksektor. Ich machte einen Schritt voran. Genau in diesem Moment wurde ich von hinten angerempelt und zur Seite gestoßen, und Schuon rollte an mir vorbei. Beiläufig versetzte er mir noch einen so heftigen Schlag gegen die Brustplatte, dass mir die Luft wegblieb. Ich hatte ihn nicht kommen hören, so leichtfüßig - hatte er Füße? - war er herangeglitten. »Unaufschiebbare Termingeschäfte«, dröhnte er wie zur Entschuldigung, lachte laut und steuerte, als würde er von ihm magnetisch angezogen, auf den Container zu. Und dann folgte er dem Wesen, das sich Maulspindler Abertack nannte, hinein. * Abertack ließ sich auf das energetische Polster sinken. Wie immer glaubte er, die Härchen seines Unterleibsfelles gestreichelt zu fühlen - selbst dort, wo die Bandagen die Wunden verdeckten. Dann fuhr er die Sicherheitsschranke hoch, die einen Moment lang leise knisterte. Für den ersten Gast formte der BüroService eine Mulde. »Welchen Sinn hat deine Reise?«, stellte Abertack die rituelle Eröffnungsfrage. Der Bewerber nannte eine langatmige, geschwätzige Selbstbezeichnung. Danach ließ er einen unartikulierten Donner hören
Wim Vandemaan - eine Geräuschfolge, die Abertacks Dhedeen mit lustig, lustig übersetzte -, und sprach dann: »Was sollen wir lange drum herumreden, mein Herr Gondelbeamter. Es geht ja allein um die Legitimation zur Reise hinauf zur Flachstation. Dort erst beginnt die große Fahrt. Hier beginnt nur die kleine. Dennoch ist mir an Eurem Wohlwollen gelegen, und Eure Zustimmung für die kurze Passage würde ich zu schätzen wissen. Hoch zu schätzen, wie Sie sehen.« Damit legte er drei Säckchen auf die lichtdurchlässige, aber tragfähige Tischplatte zwischen sich und Abertack. Abertack verharrte reglos. Die Säckchen wurden geöffnet. Aus dem ersten Beutel schüttete der Applikant ein grünlich glitzerndes Pulver, aus dem zweiten rollten einige reine Diamanten, aus dem dritten packte er vorsichtig etwas aus, was wie ein winziges Modell der biomechanischen Chimäre draußen aussah. »Na, such dir schon eines davon aus!«, forderte er Abertack mit einem neuen Donnergrollen auf. Abertack betrachtete das Modell. Ihm ging durchaus ein gewisser Kunstverstand nicht ab. Schließlich hatte er selbst die kleinen Szenen gestickt, die seine Bandagen zierten - oder tarnten. Aber dieses Ding war einfach ebenso hässlich wie das Original. Was, bei Hortorok, sollte er damit? Schuon bemerkte, worauf sich Abertacks Aufmerksamkeit richtete. »Drogg ist noch sehr, sehr jung. Ich würde es dir mit der derzeit aktuellsten Pflege- und AusbauAnleitung überlassen. Und in wenigen tausend Tagen kannst du dich damit frei über sämtliche Ebenen von Karaporum bewegen! « In einigen tausend Tagen?, dachte Abertack voller Verzweifelung. Aber er sagte bloß: »Warum sollte ich über sämtliche Ebenen ...« »Nun, dann das Glimmer-Pulver«, unterbrach Schuon ihn. »Es ist lupenrein, absolut unverschnitten. Und es sorgt für Ekstasen, Ekstasen, wie du sie ... Oh, mein Herr Gondelbeamter, du wirst glauben, du fliegst!«
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Gefangen im Himmelsnetz Beglückende Vorstellung, dachte Abertack, und ihm wurde bei der bloßen Vorstellung übel. Plötzlich erkannte er, was der Bewerber beabsichtigte. Hätte Schuon in den Facetten eines Maulspindlers lesen können, so wäre er vor der Entgeisterung, die mit einem Mal darin stand, zurückgeschreckt. »Das ist ein Bestechungsversuch, nicht wahr?«, fragte er. »Be-stech-ungs-versuch?«, fragte Schuon und sah seinen Dhedeen ratlos an. »Was immer das sein soll - nein. Ich möchte mir schlicht die Passage kaufen. Kaufen, verstehst du? Ich bin Kauf-Mann, kein Bestech-ungs-versuchsMann! « Abertack, sprachlos angesichts dieser Infamie, desaktivierte die Energiewand und griff nach einem der Diamanten. Er führte ihn an seine Spulen. Der hochverdichtete Kohlenstoff schmeckte kräftig, scharf, unverdorben. Wie konnte ein Kauf-Mann es wagen, Dinge von solcher Reinheit in die Klauen zu nehmen? »Exzellente Ware«, pries Schuon an und schob Abertack die übrigen Diamanten behutsam zu. Abertack stieß sie zurück und baute die Energiewand wieder auf. »Begehren abgelehnt«, verkündete er. * Schuon kam mit knatterndem Gesichtssegel auf uns zu. Man musste nicht Kosmospsychologie studiert haben um zu verstehen, dass er mit seinem Anliegen nicht durchgedrungen war. »Könntet Ihr mir bitte für einen Augenblick meinen Schießprügel vermieten, junger Mann?«, fragte er mich barsch. Ich lehnte ab und sagte: »Dann trennen sich unsere Wege wohl.« »Wieso? Weil dieser geschäftsuntüchtige Abersack Euch den Zugang gewähren sollte? Vergesst es! Er ist taub selbst für die stärksten Argumente.« Dann drehte er sich um die eigene Achse zum Container und rief in Richtung Maulspindler: »Irgendwann wird dir jemand mächtig ...«
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Wim Vandemaan Schuon drehte ab. Ich schaute nach vorne. Euphloden schob sich gerade in das blaue Büro des Maulspindlers. * Für den nächsten Kunden baute der Service einen Bogen, an dem sich der Gast mit einigen seiner Tentakel unter Geräuschen aufhängte, die Abertacks Dhedeen mit dankbar, dankbar übersetzte. »Welchen Sinn hat deine Reise?« Euphloden erzählte. Abertack hörte zu. Die Rede war von Euphlodens Jungem, seinem Brudersohn; von einem unbeschwerten Leben in den schwebenden Nestern von Krynné. »Wir hatten ein Nest im Zentrum der Krone, wir hatten sogar schon eine eigene Melodie! «, erklärte Euphloden. Er pfiff einige Töne, lachte dann ein seltsam papierenes Lachen und erzählte weiter. Von einem verheerenden Ereignis, das Hekatomben von Umen das Leben gekostet hatte, das näher zu bezeichnen aber ein frommer Eid ihn hinderte; von der Suche verzweifelter Umen nach ihren Knospen, von Leichen, Leichenteilen, verbranntem Fleisch; davon, wie er seinen Brudersohn am Boden gefunden hatte, in einer grünen Lache Blut, die Augen ausgefahren, die Stiele starr, noch am Leben, aber unansprechbar. Wie dieser Brudersohn im Koma lag. Wie die Heiler ihn an die Alt-Stöcke angepflanzt hatten, ohne dass sich sein Zustand aufgehellt hatte. Wie nichts ihn hatte wecken können. Wie er, Euphloden, sich endlich entschlossen hatte, Hilfe in der fernen Parzelle Opalo Panca zu suchen, das Universale Rezept, das das letzte Mittel bei hoffnungslosen Fällen sein sollte. Und dass diese Parzelle irgendwo auf der transsolaren Seite der Intrawelt läge, und das hieß: außer Reichweite, wenn man nicht das legendäre Gondelsystem benutze, das den Himmel der Intrawelt durchspann. Das Himmelsnetz, wie Euphloden es nannte. Abertack dachte nach, dann fragte er: »Ist der Brudersohn mit dir identisch?«
Gefangen im Himmelsnetz »Ja - und nein«, erwiderte Euphloden. »Er ist zwar mein Gen-Identikat, aber natürlich auch ein ganz eigenes Lebewesen.« »Sinn der Reise wäre es also bloß, ein Leben zu retten, das dazu noch gar nicht endgültig aufgehört hat? Und zwar ein fremdes Leben?« »Ja«, gab Euphloden zu. Abertack richtete sich leicht auf und beugte sich näher zum Kunden, wobei er die energetische Barriere fast berührte. »Kein Leben, zumal kein fremdes, sollte uns so viel wert sein. Du musst noch viel lernen, Bewerber Euphloden. Leben ist eine kurze Passage, ewig ist nur das Netz.« Dann beendete er - wenn auch mit einem Hauch von Zweifel, wie ihm zu seiner eigenen Verwunderung auffiel - die Audienz: »Begehren abgelehnt!«. * Die nächsten beiden Ansucher fertigte Abertack in aller Kürze ab. Der Echsenhafte versuchte ihm glaubhaft zu machen, dass er der medizinischpsychiatrische Betreuer eines Verrückten sei, des Bipeden mit den weißen Fäden, der offenbar unter einer vollständigen Desorientierung litte. Dabei schnitt der Echsische ständig Gesichter, die Abertack als Maulspindler aber nicht zu deuten wusste. »Begehren abgelehnt!« Danach krabbelte das gastropodische Wesen hinein, stellte sich als Hohe Frau vor, erzählte irgendwelches Brimborium von einer Großen Staatsund Klassenlotterie in den Glückshäusern der Parzelle Badabam, welche ohne die Anwesenheit höchstselbiger Schnecke die rechte Glorie vermissen lassen würde. Abertack vermochte dem Geplärr der Hohen Frau kaum zu folgen. Nicht nur ihr Vortrag wirkte fahrig, verwirrt, auch sie selbst schwankte und bebte auf undefinierbare Weise. Sie flehte, verlangte, heischte und begehrte, bettelte, pochte auf den Tisch, forderte mit frecher Stimme, voller Zorn, hielt inne, wie erschrocken von ihrem eigenen Auftritt.
Wim Vandemaan Mit ihr stimmt etwas nicht, dachte Abertack. So jemanden konnte er unter keinen Umständen ins Netz lassen. Die Ablehnung ihres Gesuches war zwingend. Die vierte Ablehnung übrigens. Langsam kam seine Verwaltung in Schwung. Vielleicht würde es also doch noch ein guter Tag. Er würde sich zurückziehen, der Flachstation per Funk eine Leermeldung durchgeben, die Gondel reinigen. In 48 Tagen endete seine Dienstzeit hier unten. Wer könnte ihm einen Fehler oder auch nur Nachlässigkeiten vorwerfen? Er hatte sich gut gehalten. Auch Hortorok könnte alles in allem mit ihm zufrieden sein. Genügte das nicht, ihn in die Flachstation zu erheben? Dort hätte er die Möglichkeit, sich auf die Gondelwartung, das Routieren durch die Intrawelt oder die Betreuung von Gondelpassagieren zu spezialisieren. Idealerweise ließe sich eine vollständige Freistellung vom Seildienst erreichen. Der Fadenträger riss ihn aus seinen Träumen. Er war lautlos eingetreten und hatte sich vor Abertack aufgebaut. Der Service bildete aus dem Boden einen Hocker herauf. Aber der Fadenträger blieb stehen und schaute sich in aller Ruhe im Peripheren Büro um. »Welchen Sinn hat deine Reise?«, brach Abertack das Schweigen., »Ich bin unterwegs zu den Erbauern des Gondelsystems«, sagte der Fadenträger. Hortorok, dachte Abertack im ersten Augenblick und legte schockiert alle sechs Glieder über seiner Spindel zusammen. Der Echsenartige hatte Recht: ein Wahnsinniger! 7. Wahrscheinlichkeitsrechnungen Während die Kandidaten ihre Bewerbungen im energetischen Container vortrugen, beobachtete ich Abertack, meist mit dem bloßen Auge, hin und wieder mit dem Fernsicht-Drogg. Das Ding funktionierte ausgezeichnet. Wenn ich es an die Augen hob, veränderte sich irgendetwas im Inneren der Röhre - die
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Gefangen im Himmelsnetz Flüssigkeit schwappte, auch wenn ich die Hand ganz still hielt. Dehnte sie sich aus, zog sie sich zusammen, kristallisierte sie vielleicht? Wie auch immer: Das Bild, das mir die biomechanische Gerätschaft lieferte, war erstaunlich klar und präzise. Der Maulspindler hatte auf der entfernteren Seite hinter einer Art Tisch Platz genommen. Sein Leib war mit Bändern umwickelt, auf denen winzige, bunte Szenen aufgemalt waren. Waren es Kleidungsstücke? Rangabzeichen? Schärpen? Bandagen?, ergänzte mein Extrasinn. Denk an den möglichen Schaden hm Bewegungsapparat! Alle Bewerber wurden abgewiesen obwohl sie doch kaum dieselben oder auch nur ähnliche Reisezwecke vortrugen. Wenn sie dennoch erfolglos blieben, dann, weil der Maulspindler gar keine Gäste will!, zog der Logiksektor den naheliegenden Schluss. Jolo kam zurück. Der Misserfolg stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Nun«, fragte ich, »hast du nicht die richtigen Fratzen geschnitten?« »Dieser angebliche Maulspindler hat überhaupt kein Mienenspiel!«, zischte Jolo beleidigt. »Aber wenn du es besser kannst ...« Bald trippelte Albia aus dem Container hervor. Sie schien regelrecht erschüttert, wankte ein wenig. Oder schauspielerte die Gute? Und nun, war ich an der Reihe. * Als Atlan in die Gondel stieg, machte Schuon Drogg reisefertig. Albia trippelte zu ihm hinüber. Auch Euphloden hielt sich bei der biomechanischen Lok auf. »Alsdann«, sagte Euphloden, »ich wünsche euch noch eine gute Fahrt.« »Du kommst nicht mit?«, fragte Schuon erstaunt. »Willst du zu Fuß in deine Apotheken-Parzelle?« »Vor allem möchte ich nicht als Notration für Drogg mitfahren«, erklärte Euphloden.
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Wim Vandemaan Schuon grummelte etwas. Während Euphloden langsam fortrutschte, setzte der Kaufmann seine Reisevorbereitungen fort. »Sind wir sehr in Eile, haben wir große Hast?«, fragte Albia beiläufig. »Wir haben alle Zeit der Welt«, antwortete Schuon. »Die wirklich großen Geschäfte warten auf den wirklich großen Geschäftsmann.« »Zeit für ein Partiechen Jayrah?« »Du spielst das sakrale Spiel der Kaufmannsgilde von Honnuran?« »Nun, ich habe mehr davon gehört, als dass ich es wirklich spiele. Ich beherrsche vielleicht einige Grundregeln. Aber ich würde gerne noch die eine oder andere Finesse lernen ...« »Worum spielen wir?«, fragte Schuon. »Oh, um nutzlose Kleinigkeiten. Wichtig ist nur das Spiel, nicht der Gewinn. Vielleicht - um die Munition für das Gewehr?« ' »Damit du sie diesem gewalttätigen Echsenfreund aushändigst?« Albia produzierte das, was sie für ein glockenhelles Lachen hielt. »Dem Echsenfreund? Der Echsenfreund ist nicht Albias Freund. Ich garantiere dir, dass er nichts, aber auch gar nichts von meinem Gewinn erfahren wird!« Schuon lachte lauthals. »Du glaubst, du könntest gegen mich gewinnen? « »Nichts ist unmöglich in der Intrawelt«, hauchte Albia demütig. * Wenn man störrische Subalterne vor sich hat, gibt es einen uralten Trick. Man herrscht sie an: »Kann ich bitte mal Ihren Chef sprechen?« - und fixiert sie dabei so, dass sie merken, nach dieser Unterredung wird es ihnen an den Kragen gehen oder an das entsprechende Teil ihrer Landestracht. Ich trat in den Container und schaute mich herausfordernd um, ich inspizierte das Gebilde geradezu. Zwischen der Seite des Maulspindlers und dem Rest des Raumes stand ein Energieschirm, der ab und an leise knisterte. Nach jedem Knistern roch die Luft brenzlig. Jeder Besucher tat gut
Gefangen im Himmelsnetz daran, nicht über den Tisch und auf die Seite des Maulspindlers zu fassen. Die Bilder auf den Stoffbahnen, die den Leib des Maulspindlers umhüllten, waren nicht gemalt, wie ich sah, sondern mit bunten Garnen aufgestickt. Sehr kunstfertig ... »Welchen Sinn hat deine Reise?«, brach Abertack das Schweigen. Ich spannte ihn für einige Augenblicke auf die Folter - effektvoll, wie ich hoffte. Dann sagte ich: »Ich bin unterwegs zu den Erbauern des Gondelsystems! « Abertack faltete die sechs Glieder über seinem Kopf zusammen - betete er? »Dazu - kann ich dich in keinem Fall legitimieren! « Ich lachte. »Ich brauche keine zusätzliche Legitimation. Ich bin bereits legitimiert.« »Wodurch?« »Durch meinen Auftrag. Ich habe die Erbauer über einen geplanten Anschlag auf das System zu informieren, ein Attentat auf das komplette Gondelsystem! « Der Maulspindler schwieg. »Abertack - begreifst du überhaupt, was ich sage?«, herrschte ich ihn an. Dann folgte ich meiner Intuition und fragte: »Oder ist etwas nicht in Ordnung mit dir? Bist du nicht entscheidungsfähig? Fehlt dir irgendetwas?« Er richtete sich auf. »Fehlen?« »Abertack, es geht um das Netz. Das komplette Netz könnte zerstört werden! « »Lüge! Das Netz ist ewig!«, schrillte Abertack voller Inbrunst. »Also bin ich ein Lügner?«, setzte ich nach. »Abertack, bin ich ein Lügner?« »Ja! Ja, ja, ja! Nichts als ein Lügner.« »Warum sollte ich lügen?« »Weil du die Legitimation willst!« »Natürlich, die Legitimation. Und du bist ganz sicher - nur das? Abertack, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich lüge? 100 Prozent? 1,01 Prozent? Oder doch ein wenig weniger? 99,9 Prozent? 99,8? Und wie hoch ist also die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Anschlag, zu einem verheerenden Anschlag auf das Netz kommt, Maulspindler? Ist die Wahrscheinlichkeit wirklich null, Abertack? Ganz und gar null? Oder könnte
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Wim Vandemaan es in der Intrawelt in Zukunft heißen: >Das Netz würde heute noch funktionieren, es wäre immer noch ewig, hätte dieser Maulspindler Abertack damals nicht geglaubt, die Drohung einer Sabotage wäre ein Scherz gewesen!