Reiner Keller Wissenssoziologische Diskursanalyse
Interdisziplinäre Diskursforschung Herausgegeben von Reiner Keller,...
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Reiner Keller Wissenssoziologische Diskursanalyse
Interdisziplinäre Diskursforschung Herausgegeben von Reiner Keller, Achim Landwehr, Wolf-Andreas Liebert, Martin Nonhoff
Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich im deutschsprachigen Raum in den Geschichts-, Sprach- und Politikwissenschaften, in der Soziologie und in angrenzenden Disziplinen eine lebendige und vielfach vernetzte Szene der diskurstheoretisch begründeten empirischen Diskurs- und Dispositivforschung entwickelt. Die interdisziplinäre Reihe trägt dieser neuen interdisziplinären Aufmerksamkeit Rechnung. Sie bietet ein disziplinenübergreifendes Forum für die Entwicklung der Diskurstheorien sowie der empirischen Diskurs- und Dispositivforschung und stärkt dadurch deren Institutionalisierung. Veröffentlicht werden • thematisch zusammenhängende inter- und transdisziplinäre Bände, die sich mit ausgewählten Theorien, Methodologien und Themen der Diskurstheorie sowie der empirischen Diskurs- und Dispositivforschung beschäftigen; • disziplinspezifische Monographien und Diskussionsbeiträge, die theoretische, methodologische und methodische Reflexionen sowie Forschungsergebnisse aus einzelnen Disziplinen bündeln; und • herausragende Theorie- und Forschungsmonographien.
Reiner Keller
Wissenssoziologische Diskursanalyse Grundlegung eines Forschungsprogramms 3. Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
3. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17837-0
Inhalt
2
Einführung
11
1.1 Möglichkeiten und Ziele einer soziologischen Diskursanalyse
11
1.2 Die Gliederung der Arbeit
18
Etappen der Wissenssoziologie
21
2.1 Die soziale Bedingtheit des Wissens
24
2.1.1 Von der Ideenlehre zur Ideologiekritik: Karl Marx und Friedrich Engels
27 29
Durkheim
33
2.1.2 Die Seinsverbundenheit des Wissens: Karl Mannheim 2.1.3 Die soziale Herkunft und Funktion der Klassifikationen: Emile
2.2 Die soziale Konstruktion des Wissens
37
2.2.1 Wissen als soziale Konstruktion: Peter L. Berger/Thomas Luckmann 2.2.2 Eine strukturalistisch-konstruktivistische Wissensanalyse: Pierre
40
Bourdieu
49
Ludwig Fleck zu den Social Studies of Science
54
2.2.3 Der empirische Konstruktivismus der Wissenschaftsforschung: Von
2.3 Die kommunikative Konstruktion des Wissens 2.3.1 Cultural und practice turn: Die neue Konjunktur der
60
2.3.2 Der systemtheoretische Konstruktivismus von Niklas Luhmann 2.3.3 Das interpretative Paradigma
60 64 66
2.4 Wissensgesellschaft
88
2.5 Perspektiven der Wissenssoziologie
93
Wissenssoziologie
6 3
4
Inhalt
Diskurs: Wissen und Sprachgebrauch
97
3. I Die Geschichte des Diskursbegriffs
99
3.1.1 Die frühe Begriffsentwicklung 3.1.2 Die Karriere des Diskursbegriffs seit den 1950er Jahren 3.1.3 Zwischen Discourse Analysis und Diskurstheorie: Diskursforschung heute
109
3.2 Der "Planet Foucault"
122
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6
124 126 131 136 142
Verschwunden wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand? Das Programm einer Kritischen Ontologie Diskursanalyse als Archäologie des Wissens Diskursanalyse als Genealogie von Macht/Wissen-Regimen Foucault vergessen? Zwischenbilanz: Bausteine der Diskurstheorie für eine Wissenssoziologische Diskursanalyse
99 102
149
3.3 Diskurstheorien nach Foucault
151
3.3.1 Perspektiven der kritischen Diskursforschung 3.3.2 Die postmarxistische Diskurstheorie von Emesto LaclauiChantal Mouffe 3.3.3 Der Kreislauf der Kultur: Das Diskurskonzept der Cultural Studies 3.3.4 Eine Bilanz der Nachfolge
151 160 166 173
3.4 Perspektiven der Diskursforschung
174
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
179
4. I Die diskursive Konstruktion der Wirklichkeit
180
4.1.1 Desiderate der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie 4.1.2 Der Einbau der Diskursperspektive 4.1.3 Das Theorie- und Forschungsprogramm
180 185 187
4.2 Die wissenssoziologische Grundlegung der Diskursperspektive
193
4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5
195 205 209 223 228
Zeichen, Typisierungen, Diskursuniversum Diskursive Ereignisse Soziale Akteure und Diskurse Diskurse und Praktiken Diskursive Formationen: Spezialdiskurse und öffentliche Diskurse
Inhalt
5
7
4.3 Grundbegriffe
233
4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4
233 235 240 252
Überblick Diskurs Inhaltliche Strukturierung Die Materialität der Diskurse
4.4 Fragestellungen
262
4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5
263 265 266 266 267
Wie werden Diskurse erzeugt? Wie werden Phänomene konstituiert? Was sind die Machtwirkungen der Diskurse? Diskurse und Alltagswissen Typen diskursiver Formationen
4.5 Methodologie
268
4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5
269 272 273 274 276
Ein Diskurs über Diskurse: Selbstreflexivität und Konstruktivismus Verstehen und Erklären Diskursforschung ist Interpretationsarbeit Die Adaption qualitativer Methoden Mehr als Textanalyse
4.6 Bilanz
276
Diskurse und Sozialer Wandel
279
5.1 Eine neue Grammatik der Verantwortlichkeit
280
5.2 Risikoereignisse, Risikodiskurse und symbolische Ordnung
289
5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4
293 297 300 306
Ein fliegender See Risikoereignisse Distanziertes Mitleiden und kollektives Drama Die Konkurrenz der Interpretationen
5.3 Bilanz und Ausblick: Die Politik der Diskurse
314
6
Ein Resümee
317
7
Literaturverzeichnis
327
"Heutige Kommentare betonen nicht nur die Brüche und Paradigmenwechsel, sondern auch die Ähnlichkeiten und Kontinuitäten zwischen älteren und neueren Traditionen: beispielsweise zwischen Webers klassischer interpretativer ,Soziologie der Bedeutung' und Foucaults Betonung des ,Diskursiven'." (Stuart Hall 2002: 111 [1997]) "Ich wünschte mir, dass meine Bücher eine Art tool-box wären, in der die anderen nach einem Werkzeug kramen können, mit dem sie auf ihrem eigenen Gebiet etwas anfangen können." (Michel Foucault 2002a: 651 [1973]) "Wie ist es möglich, daß subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird? Oder, in der Terminologie Webers und Durkheims: Wie ist es möglich, daß menschliches Handeln (Weber) eine Welt von Sachen hervorbringt? So meinen wir denn, daß erst die Erforschung der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit - der ,Realität sui generis' - zu ihrem Verständnis fuhrt. Das, glauben wir, ist die Aufgabe der Wissenssoziologie." (Peter L. Berger/Thomas Luckmann 1980: 20 [1966]) "Eine Aufgabe, die darin besteht, (...) die Diskurse (...) als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen." (Michel Foucault 1988a: 74 [1969])
Vorwort zur zweiten Auflage Gewiss freut es jede Autorin, jeden Autor, wenn ein Buch schon nach kurzer Zeit eine Neuauflage erfahrt. Im Falle der "Wissenssoziologischen Diskursanalyse" ist das vielleicht auch ein Indiz dafür, dass die sozialwissenschaftliche Untersuchung gesellschaftlicher Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken in den letzten Jahren in Gestalt vielfaltiger Suchbewegungen stark an Bedeutung gewonnen hat. In diesem Zusammenhang formuliert die vorgeschlagene Diskursperspektive einen Beitrag zur Erneuerung wissenssoziologischer Programmatiken für die Gegenwartsanalyse. In mancher Rezension der ersten Auflage wurde davon gesprochen, das Buch wolle zugleich ein Forschungsprogramm und dessen empirische Einlösung vorstellen. Allerdings habe ich in der ersten Auflage explizit darauf hingewiesen, dass es mir in dieser Arbeit nicht um die empirische Umsetzung geht. Entsprechende Erwartungen kann ich deswegen nur auf die von mir genannten oder durchgeführten Studien verweisen. Vorschläge zum konkreten Vorgehen sind in meiner "Einführung in die Diskursforschung" enthalten, auch in einigen zwischenzeitlich erschienenen Artikeln. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die Herausarbeitung der theoretischen Grundlagen, Konzepte und Ziele der Wissenssoziologischen Diskursanalyse. Das vorletzte Kapitel diskutiert mögliche gegenwartsdiagnostische Einsätze und Erträge der Diskursperspektive fur die Soziologie. Für die zweite Auflage habe ich formale Korrekturen vorgenommen und die Literatur aktualisiert. An wenigen Stellen wurden (kleinere) Ergänzungen der Argumentation eingefügt. Aufgrund des großen Interesses und vieler entsprechender Nachfragen habe ich mich entschlossen, ein Diskussionsforum zu Fragen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse einzurichten. Die genaue Organisationsform stand zum Zeitpunkt der Drucklegung dieser Auflage noch nicht fest. Informationen dazu sind über meine Webseite verfügbar. R.K.
1 Einführung
1.1 Möglichkeiten und Ziele einer soziologischen Diskursanalyse Die vorliegende Arbeit entwickelt in Auseinandersetzung mit der Wissenssoziologie sowie mit verschiedenen diskurstheoretischen Perspektiven - insbesondere mit der Foucaultschen Diskurstheorie - die theoretische Grundlegung und das Konzept einer eigenständigen wissenssoziologischen Diskursanalyse. Sie verknüpft mit Hermeneutischer Wissenssoziologie und Diskursforschung zwei Traditionen der sozialwissenschaftlichen Analyse von Wissen, die bislang nur sporadisch miteinander in Kontakt getreten sind und entwickelt daraus einen systematischen Vorschlag zur Analyse der diskursiven Konstruktion symbolischer Ordnungen. Eine in der Hermeneutischen Wissenssoziologie eingebettete und auf die Untersuchung ,institutioneller Diskurse' bezogene Diskursanalyse kann verschiedene Defizite und Probleme der vorliegenden diskursorientierten Programmatiken beheben: •
•
• • • •
•
Sie verfugt, bezogen auf die existierenden Ansätze der Diskurstheorie, über ein theoretisches Gerüst, das Prozesse der gesellschaftlichen Objektivierung von symbolischen Ordnungen ebenso erfasst wie die Rückwirkung dieser Ordnung auf soziale Akteure und deren subjektive Sinnkonstitution. Sie vermeidet die in Diskurstheorien implizierte Ontologisierung bzw. Verdinglichung der Diskurse durch die Einfuhrung eines Akteurskonzepts, mit dem soziale Akteure sowohl als diskursiv konstituierte wie als regelinterpretierend Handelnde, als aktive Produzenten und Rezipienten von Diskursen verstanden werden. Sie begreift Institutionen im Sinne des interpretativen Paradigmas der Soziologie als umstrittene, vorübergehend kristallisierte symbolische Strukturen der Ordnung von Welt, die das individuelle Handeln zugleich ermöglichen und beschränken. Sie historisiert die soziologische Analyse von Wissen und Praktiken und vermittelt zwischen handlungs- und struktur- bzw. institutionentheoretischen Ansätzen der Sozialwissenschaften. Sie bezieht die wissenssoziologische Perspektive auf das von ihr bisher vernachlässigte Feld historisch orientierter Gesellschaftsanalysen und erweitert dadurch den Gegenstandsbereich der Hermeneutischen Wissenssoziologie selbst. Sie begreift Diskursanalyse als unumgängliche Interpretationsarbeit. Deren methodische Kontrolle kann und muss über hermeneutisch reflektierte Vorgehensweisen erfolgen, sofern Diskursforschung als ein empirisches Unternehmen der Sozialwissenschaften konzipiert wird. Im Unterschied zu den weitgehend intransparenten Analyseschritten vorhandener Diskurstheorien schließt sie dazu an die Methodologie und das Methodenspektrum der qualitativ-interpretativen Sozialforschung an. Sie versteht sich als Form der grounded theory, d.h. als ein zur Selbstkorrektur fähiger Prozess der Theoriebildung auf empirischer Grundlage, und nicht, wie verschiedene
R. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, DOI 10.1007/978-3-531-17837-0_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
12
•
Einfuhrung diskurstheoretische Programme, als deduktive Anwendung oder Nachweis des selbstbezüglichen Funktionierens einer abstrakten Diskursordnung. Erst dadurch erreicht die Analyse von Diskursen die Tiefenschärfe, die notwendig ist, um das komplexe Wechselspiel zwischen Wirklichkeitskonstruktion, Wirklichkeitsobjektivierung sowie den Interessen und Strategien sozialer Akteure als kontingenten sozialen Ordnungsprozess zu verstehen.
Wie lässt sich in einer ersten und vorläufigen Annäherung das Diskursverständnis der Wissenssoziologischen Diskursanalyse konturieren? Mit Michel Foucault begreift sie Diskurse als Praktiken, "die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen" (Foucault 1988a: 74 [1969]). Damit wird zunächst deutlich, dass es um mehr als Text- oder Ideenanalyse geht. Die Diskursforschung interessiert sich nicht nur fur die im Zeichengebrauch konstruierten Gegenstände, sondern auch fur den Konstruktionsprozess selbst, also die Bedeutungsgenerierung als strukturierten Aussagezusammenhang und regulierte Handlung. Im Unterschied zu Foucault betont sie die Rolle der handelnden Akteure im Prozess der Diskursproduktion und Diskursrezeption. Im Anschluss an Foucault beschäftigt sie sich mit den gesellschaftlichen Effekten von Diskursen. Als Diskurse bezeichne ich institutionell-organisatorisch regulierte Praktiken des Zeichengebrauchs. In und vermittels von Diskursen wird von gesellschaftlichen Akteuren im Sprach- bzw. Symbolgebrauch die soziokulturelle Bedeutung und Faktizität physikalischer und sozialer Realitäten konstituiert. Der Wissenssoziologischen Diskursanalyse geht es um die Erforschung der Prozesse der sozialen Konstruktion von Deutungs- und Handlungsstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. kollektiven Akteuren und um die Untersuchung der gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse. Die Bedeutung von Zeichen, Symbolen, Bildern, Gesten, Handlungen oder Dingen ist in sozial, räumlich und historisch situierten - deswegen wandelbaren - Zeichenordnungen mehr oder weniger stark festgelegt. Sie wird im konkreten Zeichengebrauch bestätigt, konserviert oder auch verändert. Insoweit ist jede fixierte Bedeutung eine Momentaufnahme in einem sozialen Prozess, der eine unendliche Vielfalt von möglichen Lese- und Interpretationsweisen zu generieren vermag. Diskurse lassen sich als Anstrengungen verstehen, Bedeutungen bzw. allgemeiner: mehr oder weniger weit ausgreifende symbolische Ordnungen auf Zeit zu stabilisieren und dadurch einen verbindlichen Sinnzusammenhang, eine Wissensordnung in sozialen Kollektiven zu institutionalisieren. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse beschäftigt sich mit diesem Zusammenhang zwischen dem Zeichengebrauch als sozialer Praxis und der (Re-)Produktion/Transformation von gesellschaftlichen Wissensordnungen. Wissenssoziologische Diskursanalyse ist keine spezifische Methode, sondern eine innerhalb der Soziologie theoretisch fundierte Forschungsperspektive auf besondere, eben als Diskurse begriffene Forschungsgegenstände. Von Wissenssoziologischer Diskursanalyse wird gesprochen, weil diskursorientierte Perspektiven aufgrund ihrer Forschungsinteressen in der Tradition soziologischer Wissensanalyse verortet werden können und von einer Anbindung an diese Tradition profitieren. Spezifischer wird damit ein Konzept der Diskursanalyse vorgestellt, das einen Brückenschlag zwischen handlungsund strukturtheoretischen Traditionen der Wissenssoziologie anvisiert. Dieser Ansatz trägt dazu bei, den Gegensatz zwischen Wissensanalysen, die auf die Emergenz kollektiver
Einführung
13
Wissensordnungen fokussieren, und solchen, in denen die Definitionskämpfe gesellschaftlicher Akteure betont werden, zu überwinden. Die vor allem durch Auseinandersetzungen mit dem Werk des französischen Philosophen Michel Foucault ausgelöste gegenwärtige Konjunktur diskursorientierter Theoriebildungen und Forschungen zeigt sich in verschiedenen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen, bspw. in Geschichts-, Sprach-, Literatur- und Politikwissenschaften oder der Soziologie. 1 Der Bezug auf den Begriff Diskurs erfolgt meist dann, wenn sich die theoretischen Perspektiven und Forschungsfragen nicht nur auf die sprachpraktische Konstitution und Konstruktion von, Welt' im konkret-alltäglichen Zeichengebrauch beziehen, sondern dabei auch zugrunde liegende Struktunnuster bzw. den Zusammenhang von institutionellen Settings sowie konventionalisierten Regeln, Fonnen und Inhalten der Bedeutungs(re-) produktion in den Blick nehmen. Soziologische Studien, die in jüngerer Zeit im deutschsprachigen Raum an Foucault anknüpfen, erschließen im Dickicht zwischen diskurstheoretischer Fundierung und empirisch-methodischer Umsetzung neue Gegenstandsbereiche und Fragestellungen für die Soziologie. Die vorliegende Arbeit versteht sich als systematisierender Beitrag in und zu dieser Entwicklung. Sie geht davon aus, dass eine Einbettung des Diskurskonzepts in die (Henneneutische) Wissenssoziologie möglich ist und der Soziologie wichtige Impulse zu geben vennag. 2 Das entfaltete Programm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse visiert eine Vermittlung Foucaultscher Konzepte mit der durch Peter L. Berger und Thomas Luckmann begründeten wissenssoziologischen Tradition an. Schon eine solche Ankündigung unterläuft die gängigen Kanonisierungen oder ,Stammesbildungen ' dieser unterschiedlichen Theoriepositionen und kann entsprechende Irritationen auslösen. Zu betonen ist deshalb, dass mit dem auszuführenden Vorhaben die bestehende erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretische, wissenschaftsprogrammatische und methodologische Unvereinbarkeit der Theorieprogramme von Berger/Luckmann einerseits, von Foucault andererseits nicht bestritten wird. Auch geht es mir weder um den Nachweis von Konvergenzen beider Theorieentwicklungen noch um überzogene oder gar ,imperiale' Anstrengungen der Vereinnahmung. Das Vorhaben lässt sich angemessener mit der Kategorie der Übersetzung zwischen Theoriesprachen bzw. Sprachspielen beschreiben. Das Übersetzen ist, wie Jacques Derrida (I 997) bemerkt, eine zugleich ,notwendige' und letztlich ,unmögliche' Aufgabe. Im Vokabular der Aktor-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour, Michel Callon u.a. bezeichnet "Übersetzung" zwischen zwei alternativen Deutungsangeboten: "Ein drittes Ziel, das keinem der beiden ursprünglichen Handlungsprogramme mehr entspricht. (...) Diese Ungewißheit der Ziele nenne ich eine Übersetzung. (...) Es geht bei Übersetzungen nicht um den Wechsel von einem Vokabular zu einem anderen, wie beispielsweise vom Französischen ins Englische, als ob die beiden Sprachen unabhängig voneinander bestünden. Wie Michel Serres verstehe ich unter Übersetzung eine Verschiebung oder Versetzung, eine AbweiVgl. Keller (1997b, 2004) und die Beiträge in KellerIHirseland/SchneiderNiehöver (2001,2003). Ich konzentriere mich auf den zunächst notwendigen Schritt einer wissens soziologischen Begründung der Diskursforschung. Im Anschluss daran wäre dann eine Auseinandersetzung mit den neueren Entwicklungen der Medien- und Kommunikationstheorien sowie mit den verschiedenen Öffentlichkeitstheorien zu führen. Bspw. schließt der Medientheoretiker Friedrich Kittler (1995) direkt an Foucault an. Vgl. zum Überblick über Medientheorien Kloock/Spahr (2000), Pias u.a. (1999), Leschke (2003); zu Theorien öffentlicher Kommunikation BentelelRühl (1993), BenteleIHaller (1997), Bentele (2003); zu Konzepten von Öffentlichkeit Imhof (2003), Habermas (1990), Neidhardt (1994), Dewey (1996), Pellizzoni (2003). I
2
14
Einführung chung, Erfindung und Vermittlung, die Schöpfung einer Verbindung, die in dieser Form vorher nicht da war und in einem bestimmten Maße zwei Elemente oder Agenten modifiziert." (Latour 1998: 34)3
Die zu diskutierenden Fragen lauten in diesem Zusammenhang: Wie lassen sich Konzepte, Ideen und Anregungen der Foucaultschen Diskurstheorie innerhalb der Wissenssoziologie gewinnbringend reformulieren? Welche Veränderungen bringt dies für die Wissenssoziologie? Und welche neuen Perspektivierungen von Gegenstandsbereichen werden dadurch ermöglicht? Angestrebt wird damit eine konstruktive Weiterführung wissenssoziologischer Theoriebildung. Dementsprechend steht nicht die umfassende, exegetisch-werktreue Rekonstruktion der genannten Klassiker im Vordergrund. Ziel ist das auf gegenwärtige soziologische Belange bezogene Erkunden von Ansatzpunkten einer solchen Übersetzung und die Erprobung ihrer Möglichkeit auch dann, wenn damit einzelne Positionen oder Absichten der herangezogenen Werke ignoriert oder modifiziert werden bzw. ihnen widersprochen wird. 4 Nancy Fraser hat in ihren Bemühungen um eine Vermittlung zwischen Kritischer Theorie und Poststrukturalismus eine solche Haltung folgendermaßen beschrieben: "Wir sollten die pragmatistische Haltung einnehmen, daß es eine Vielfalt verschiedener Blickwinkel gibt, von denen aus soziokulturelle Phänomene verstanden werden können. Welcher am besten ist, hängt von den Zwecksetzungen ab. (...) Da wir in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Aufgaben übernehmen, muß es uns möglich sein, verschiedene theoretische Werkzeuge aufzugreifen und beiseite zu legen. (... ) Konzeptionen des Diskurses sollten allgemein genauso wie Konzeptionen der Subjektivität als Werkzeuge behandelt werden, nicht als das Eigentum kriegftihrender metaphysischer Sekten. Ein solcher pragmatistischer Ansatz (... ) gründet (... ) in der Ansicht, daß soziale Phänomene eine irreduzibel signifikatorische Dimension enthalten und nicht objektivistisch verstanden werden können. (... ) Ein pragmatistischer Ansatz macht aber ausdrücklich, was wir bereits gesehen haben: diskursive Phänomene können ganz nach Situation und Zielsetzung aus mehreren verschiedenen Blickwinkel fruchtbar angegangen werden." (Fraser 1993b: 157f)
Die beabsichtigte Grundlegung einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse möchte ich in sechs Thesen formulieren: I.
2.
Die vorliegende Arbeit begreift die Hermeneutische Wissenssoziologie, die sich im Anschluss an die Theorie der Wissenssoziologie von BergerlLuckmann herausgebildet hat, als umfassendes wissenssoziologisches Paradigma. Dieses Paradigma entwickelt ein theoretisches Gerüst sowohl für Prozesse der gesellschaftlichen Objektivierung von Wissen als auch für diejenigen der sozialisatorischen Aneignung und kreativen Interpretation kollektiver Wissensbestände. Die bisherige Entfaltung dieses Ansatzes unterliegt spezifischen Engführungen auf die Untersuchung der Wissensbestände individueller Akteure in ihren alltagspraktischen, privaten oder professionellen Handlungskontexten hin. Diese Einseitigkeit hat ihre
Vgl. auch Latour (1995: 261ft) im Anschluss an Callon (1986), der den Begriff zur Bezeichnung der Strategien von Naturwissenschaftlern benutzt, die andere ,Aktanten' für ihre Zwecke mobilisieren, in dem sie die Passungsfahigkeit ihrer Vorhaben für deren eigene Anliegen betonen. 4 In Keller (2004) diskutiere ich Formen der empirisch-methodischen Umsetzung. J
Einfiihrung
3.
4.
5.
6.
15
Grundlage in kontingenten Entwicklungslinien und folgt keineswegs notwendig oder gar zwingend aus der theoretischen Grundposition. Zur Analyse der Prozesse institutioneller Wissensproduktion und öffentlicher Wissenszirkulation hat die Henneneutische Wissenssoziologie bislang jedoch kein angemessenes theoretisch-konzeptuelles Vokabular entwickelt. Zur Behebung dieses Defizits können Konzepte der Foucaultschen, auf Diskurse bezogenen Wissenssoziologie in die Henneneutische Wissenssoziologie übersetzt und eingebaut werden. Als Wissenssoziologische Diskursanalyse ist Diskursforschung dann ein Bestandteil- unter anderen - der Henneneutischen Wissenssoziologie. Die Auslotung der in diesem Sinne bestehenden Vennittlungspotenziale kann sich auf Weiterfiihrungen der phänomenologischen Tradition der Wissenssoziologie im Symbolischen Interaktionismus stützen. Der Symbolische Interaktionismus bietet mit seinen Karriere-Untersuchungen sozialer Probleme in öffentlichen Arenen Ansatzpunkte zum Einbau einer Diskursperspektive in die Wissenssoziologie, ohne diese systematisch zu entfalten. Umgekehrt kommen Adaptionen der Foucaultschen Diskurstheorie in verschiedenen gegenwärtigen Ansätzen der Diskursanalyse - etwa im Rahmen der Cultural Studiesdurch ihren verstärkten Rekurs auf soziale Akteure dem anvisierten Vorhaben entgegen. Die Verankerung des Diskurskonzepts in der Wissenssoziologie hat Vorzüge in zweierlei Hinsicht: Für die Henneneutische Wissenssoziologie selbst eröffnet sie neue Gegenstandsbereiche und Fragestellungen. Der bisherigen Diskursforschung bietet sie eine Anknüpfung an die im interpretativen Paradigma der Soziologie entwickelten Kompetenzen des qualitativen Methodenzugangs.
Mit dem Vorschlag der systematischen Einbindung des Diskurskonzepts in die (Wissens-) Soziologie ist nicht nur, bezogen auf die Henneneutische Wissenssoziologie, ein Binnenvorhaben der Theorieerweiterung verknüpft. Vielmehr verbinde ich damit auch ein Interesse an verschiedenen gegenwartsdiagnostischen Fragen, die in der vorgeschlagenen Perspektive empirisch untersucht werden können. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse eignet sich in besonderem Maße zur Analyse derjenigen Phänomene und Fragen des sozialen Wandels, die unter den Begriffen der WissensgesellschaJt, der !nformationsgesellschaJt, der KommunikationsgesellschaJt, der RisikogesellschaJt etc. diskutiert werden. Diese sozialwissenschaftlichen Gegenwartsbestimmungen und die anschließenden Forschungen nutzen bislang weder die Potenziale der wissenssoziologischen Tradition noch diejenigen der Diskursforschung, obwohl dies doch nahe liegt, da sie ungeachtet ihrer Unterschiedlichkeit durchgängig auf die Bedeutung gesellschaftlicher Wissensverhältnisse, der Infonnationsflüsse und Kommunikationsprozesse sowie deren Wandel verweisen. Wie wir heute unsere Wirklichkeit(en) wahrnehmen, ist nicht nur - und vielleicht nicht einmal mehr hauptsächlich - durch lebenspraktische Erfahrungen und Begegnungen mit signifikanten Anderen bestimmt. Auch die prägende Kraft tradierter Deutungs- und Handlungsmuster hat deutlich abgenommen. An die Stelle überlieferter symbolischer Ordnungen treten die massenmedial vermittelte, ausgedehnte und beschleunigte Welterfahrung einerseits, die wissenschaftliche und professionelle Wissensproduktion und deren Sedimentierung in die außerwissenschaftliche Deutungs- und Handlungspraxis andererseits. Diese permanente Erzeugung und Verstreuung von Wissen ist zur allgegenwärtigen Tradition der modemen Gesellschaften ge-
16
Einführung
worden. Das Konzept der Wissenssoziologischen Diskursanalyse formuliert hier ein Angebot, wie solche Prozesse aus wissenssoziologischer Perspektive untersucht werden können. So hat sich Michel Foucault als wichtigster Impulsgeber diskursorientierter Perspektiven in seinem Programm einer "Geschichte der Gegenwart" mit der Herausbildung neuer, wissenschaftlich-professioneller Wissensfelder und deren Umsetzung in machtvolle Institutionen und gesellschaftliche Praktiken beschäftigt. In den Sozialwissenschaften wies im letzten Jahrzehnt etwa Anthony Giddens darauf hin, dass sich modeme Gesellschaften als "posttraditionale" Gefüge von anderen historischen Gesellschaftsformationen dadurch unterscheiden, dass sie ein reflexives Verhältnis zu sich selbst auf Dauer gestellt haben, welches auf die in ihnen entstehenden Phänomene der Enttraditionalisierung reagiert und sie zugleich befördert. Soziale Praktiken und das diesbezügliche gesellschaftliche Wissen stehen unter wissenschaftlich-professioneller Dauerbeobachtung und sind in einen ständigen intervenierenden Feedback-Prozess eingebunden (Giddens 1996).5 Dieser institutionalisierte Reflexionsprozess ist das vielleicht bedeutsamste Merkmal gesellschaftlicher Modernität. Die These einer besonderen Eignung des Diskurskonzepts zur Untersuchung der damit angesprochenen Prozesse sozialen Wandels und gesellschaftlicher Modernisierung lässt sich im Rekurs auf das Konzept der "Defmitionsverhältnisse" entfalten, das Ulrich Beck (1988: 24 u. 211 ff; 1999: 328) im Kontext seiner Risikoanalyse eingeführt hat. Beck betont damit den Konstruktcharakter und die Wissensabhängigkeit der Risikowahrnehmung sowie die daraus sich entfaltenden Konflikt- und Wandlungspotenziale: "Dieser Begriff der ,Definitionsverhältnisse' ist als Parallelbegriff zu dem der Produktionsverhältnisse von Karl Marx und zwar in der Weltrisikogesellschaft konzipiert. Gemeint sind damit Regeln, Institutionen und Ressourcen, welche die Identifikation und Definition von Risiken bestimmen. Es handelt sich dabei um die rechtliche, epistemologische und kulturelle Matrix, in welcher Risikopolitik organisiert und praktiziert wird." (Beck 1999: 328)
Man muss die von Beck vorgenommene Zuordnung der Analyse solcher Definitionsverhältnisse auf Risikophänomene nicht übernehmen. Als Definitionsverhältnisse lassen sich ganz allgemein die gesellschaftlichen Wissensverhältnisse begreifen, also all die Institutionen, Organisationen, Mechanismen und Akteure der gesellschaftlichen Wissensproduktion und -zirkulation. Während damit eine bestehende Wissens-Ordnung bezeichnet ist, kann man von Wissenspolitiken sprechen, um die Rolle der Prozesse und Akteure mit ihren Interessen und Strategien zu erfassen, die dieses Gefuge durchlaufen, stabilisieren oder verändern. Es gilt jedoch auch diesen Begriff vor einschränkenden Festlegungen zu bewahren. So spricht Nico Stehr (2000, 2003) von Wissenspolitik, um ein neu entstehendes Politikfeld zu bezeichnen: die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche Kontrolle der Wissenschafts- und Technikentwicklung. Doch Wissenspolitik findet nicht nur hier statt - letztlich verwechselt Stehr die Fokussierung öffentlicher Aufmerksamkeit mit der Sache selbst. Sehr deutlich hatte schon Clifford Geertz (1973) vor langer Zeit dar-
Giddens (1991) hat das am Beispiel der Ratgeberliteratur zu individuell-biographischen Entscheidungsproblemen verdeutlicht, aber die Diagnose lässt sich für alle gesellschaftlichen Praxisfelder verallgemeinern (Fairclough 2001). Ob bzw. welche Folgen dies hat und wie die konkreten Aneignungsformen aussehen, ist eine empirische Frage, die zur Grundlage neuerlicher Beobachtung und Wissensgenerierung führt oder führen kann. 5
Einfuhrung
17
auf hingewiesen, dass man Wissen als eine Form der Politik begreifen könne, und nicht von ungefähr hatte Michel Foucault den Konnex von Macht und Wissen hervorgehoben. Mit seiner "Wissenssoziologie der Armut" liefert bspw. Lutz Leisering (1993) einen Beitrag zur Untersuchung gesellschaftlicher Definitionsverhältnisse und Wissenspolitiken in einem ganz anderen Gegenstandsbereich. Eva Barlösius (200 I) oder Luc Boltanski und Eva Chiapello (Boltanski/Chiapello 1999) verweisen auf die Wissenspolitiken des Neoliberalismus. Die verschiedensten Autorinnen der Frauen- und Geschlechterforschung untersuchen seit langem die Definitionsverhältnisse der Modeme mit Bezug auf die Festschreibung von biologischem und sozialem Geschlecht (z.B. Honegger 1991). Umfassend hat Peter Wagner (1995) die Genese der modemen Staatenbildung im Medium des (sozialwis- . senschaftlichen) Wissens als diskursvermittelte Konturierung von Wissensverhältnissen rekonstruiert. Definitionsverhältnisse und Wissenspolitiken sind also allgemeine Konzepte zur Analyse gesellschaftlicher Wissenszirkulation, die nicht nur rur die Bestimmung von wissenschaftlich-technisch induzierten Risikolagen Anwendung finden können. Eine vergleichbare Offenheit gilt auch rur den Begriff des Diskurses. Als Prozessbegrifffür eine der sozialwissenschaftlichen Analyse zugängliche Gestalt der Wissenspolitiken verweist er auf die Ereignisse, Aussagen, Akteure und Praktiken, in denen Wissen aktualisiert, verbreitet, angegriffen, bestritten, verändert und verworfen wird. Dazu zählen öffentliche Problemdiskurse ebenso wie wissenschaftliche Spezialdiskurse in unterschiedlichsten Themenfeldern und Fachgebieten, wobei "Risikodiskursen" (Lau 1989) sicherlich in den vergangenen Jahrzehnten ein zentraler Stellenwert in der öffentlichen Aufmerksamkeit zukommt. Das Programm einer Untersuchung gesellschaftlicher Definitionsverhältnisse und Wissenspolitiken als Analyse von Diskursen stellt jedoch eine umfangreiche wissenssoziologische Agenda dar. Um die Wissens-Ordnung von Gesellschaft als permanenten Prozess zu verstehen, müssen, wie dies Law (1994), Link (1997), KendalVWickham (1999) oder Wagner (1990, 1995) je unterschiedlich fordern, die Praktiken, Akteure und institutionellen Felder untersucht werden, die solche Ordnungen erzeugen, stabilisieren oder transformieren. Darin genau liegt die Leistung des Diskurskonzeptes rur die Soziologie: • •
• • •
Wissenssoziologische Diskursanalyse zielt auf die soziohistorisch orientierte Rekonstruktion von Diskursen, um deren Verläufe zu verstehen und auf der Grundlage der gewonnen Erkenntnisse zu erklären. Ihr geht es damit um die Nachzeichnung der Schließung kontingenter Entwicklungen im Prozess institutioneller Wirklichkeitsbestimmung, um die Aufklärung über bestehende und verworfene Alternativen sowie über die Interessen, Strategien und Handlungsressourcen der in den erwähnten Prozessen agierenden Akteure. Sie entwickelt dabei allgemeine theoretische Kategorien und Hypothesen über typisierbare Formen und Mechanismen von Diskursen. Über einzelne Diskursverläufe hinaus untersucht sie die Herausbildung typisierbarer Diskursformationen und die Prozesse ihrer soziohistorischen Transformation. Als eine zwischen mikro- und makrotheoretischen Herangehensweisen der Soziologie vermittelnde Analyse gesellschaftlicher Wissensprozesse zielt sie auf die empirische Untersuchung von Formen, Ausmaß und Folgen gesellschaftlicher Definitionsverhältnisse und Wissenspolitiken.
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Einruhrung Damit versteht sie sich als klassisches wissenssoziologisches Programm gesellschaftlicher Selbstbeobachtung und Selbstaufklärung.
1.2 Die Gliederung der Arbeit Die vorliegende Untersuchung ist in sechs Kapitel gegliedert. Das nachfolgende Kapitel 2 rekonstruiert die unterschiedlichen Herangehensweisen, Forschungsfragen und Forschungsgegenstände auf dem Gebiet der Wissenssoziologie. Dabei zeichne ich die Entwicklung wissenssoziologischer Fragestellungen seit ihren Anfangen in der "Deutschen Ideologie" von Karl Marx und Friedrich Engels über Karl Mannheim, die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie, die Wissenschaftsforschung u.a. bis hin zu den aktuellen Theorieund Forschungsansätzen der wissenssoziologischen Analyse kommunikativer Gattungen und der symbolisch-interaktionistischen Rekonstruktion der Karriere sozialer Probleme in öffentlichen Diskursen nach. In den verschiedenen Etappen ihrer Konsolidierung erweitert die Wissenssoziologie (besser wäre: die Wissenssoziologien) sukzessive ihr theoretisches Programm und ihre Fragestellungen auf neue Gegenstandsbereiche. Gleichzeitig lässt sich eine Akzentverschiebung oder Umstellung von einem eher theoretisch-reflektierenden Ansatz der Ideenanalyse hin zur empirischen Untersuchung der ,tatsächlichen' Konstruktionsprozesse beobachten, die in eine Fokussierung der kommunikativen Konstruktion des Wissens münden. Abschließend erläutere ich in einer ersten Annäherung, inwieweit das Programm einer wissenssoziologischen Diskursforschung, d.h. die Umstellung von der kommunikativen auf die diskursive Konstruktion des Wissens eine wichtige Erweiterung der wissenssoziologischen Perspektive darstellt. In Kapitel 3 wende ich mich Traditionen der sozial- und geisteswissenschaftlichen Wissensanalysen zu, die mit dem Begriff des Diskurses operieren. Die Entwicklung diskursorientierter Zugänge zu Prozessen der gesellschaftlichen Wissensproduktion und Wissenszirkulation greift zwar zunächst in spezifischer Weise auf die Durkheimsche Grundlegung der Wissenssoziologie zurück und verknüpft diese mit Überlegungen der sprachwissenschaftlichen Theoriebildung, entfernt sich dann aber zunehmend von ihrer soziologischen Herkunft. Beide Traditionen - die Wissenssoziologie einerseits, die Diskurstheorie und Diskursanalyse andererseits - bestehen weitgehend ohne wechselseitige Berührungspunkte und Kenntnisnahme. Die Rekonstruktion diskurstheoretischer und diskursanalytischer Ansätze zielt auf die Konturierung derjenigen theoretischen Annahmen, Konzepte und ,Eigenheiten' der Diskursperspektive, die in entsprechender Modifikation rur die Ausarbeitung einer diskursorientierten Wissenssoziologie notwendig sind. Zunächst betrachte ich dazu die Geschichte des Diskursbegriffs bis hin zu seiner Durchsetzung als wissenschaftliches Konzept im französischen Strukturalismus und Poststrukturalismus. Daran anschließend diskutiere ich das gegenwärtige Spektrum und die aktuellen Konjunkturen der Diskursforschung. Diskurstheorien und diskursanalytische Forschungsprogramme bewegen sich zwischen verschiedenen disziplinären Herkünften und rekurrieren bislang kaum auf Theorieangebote der Soziologie. Auch können sie in einem soziologischen Bezugsrahmen nicht als bekannt vorausgesetzt werden. Deswegen erläutere ich ihre paradigmatischen Ausprägungen in exemplarischer Form. Der Schwerpunkt des Kapitels liegt auf der Diskussion der Foucaultschen Diskurstheorie und der damit verknüpften Herausarbeitung der Bausteine einer diskursbezogenen Erweiterung der Wis-
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senssoziologie. Die Ausarbeitung dieser ,Denkwerkzeuge' innerhalb des "Planeten Foucault" (Paul Veyne) bleibt für soziologische Forschungszwecke in mancherlei Hinsicht unzureichend. Deswegen wende ich mich nach der Auseinandersetzung mit Foucault den wichtigsten neueren diskurstheoretischen und diskursanalytischen Ansätzen zu. Diese nehmen für sich in Anspruch, die Foucaultschen Impulse in je unterschiedlichen Programmatiken der empirischen Diskursforschung weiter zu entwickeln. Aus der Beschäftigung mit den verschiedenen Weiterführungen diskursanalytischer Programmatiken insbesondere in den Ansätzen der Kritischen Diskursforschung, der Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe und den diskursorientierten Zweigen der Cultural Studies lassen sich Hinweise und Hilfen für die Soziologisierung der Foucaultschen Diskurstheorie gewinnen. Diese werden im Abschluss des Kapitels resümiert. In Kapitel 4 erfolgt der Hauptschritt der Argumentation: die Grundlegung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse. Dazu diskutiere ich einleitend, inwiefern die wissenssoziologische Theorie von BergerlLuckmann zwar zunächst die Sphäre der institutionellen Wissensproduktion und -ordnung von Gesellschaften in ihrem theoretischen Rahmen entwickelt, dann jedoch Weichenstellungen vornimmt, durch die eine Bearbeitung der damit aufgeworfenen Fragen aus ihrem Blick gerät. An dieser als Defizit beschriebenen Lage, die sich in die Weiterentwicklung der Hermeneutischen Wissenssoziologie hinein verlängert, setzt der auf die Analyse von Diskursen bezogene Erweiterungsvorschlag an. Die vorgenommene Übersetzung (im oben ausgeführten Sinne) der in Kapitel 3 rekonstruierten diskurstheoretischen Bausteine in die Wissenssoziologie bezieht sich auf die zeichentheoretischen Annahmen, das Verhältnis von Diskurs und diskursivem Ereignis, die Rolle der Akteure, das Verständnis von Praktiken und die Beziehung zwischen diskursiven Formationen, Spezialdiskursen und öffentlichen Diskursen. Daran anschließend entwickele ich ausgehend von einer Definition und Erläuterung des Diskursbegriffs der Wissenssoziologischen Diskursanalyse den grundbegrifflichen Rahmen einer solchen Perspektive anhand von Konzepten zur Erfassung der inhaltlichen Strukturierung von Diskursen einerseits, zur Analyse ihrer material-konkreten Erscheinung andererseits. Mit diesem Begriffsgerüst werden im nächsten Schritt exemplarische Fragestellungen verknüpft. Zu den zentralen Aufgaben einer entsprechenden Diskursforschung gehört die Untersuchung von Formen der Diskursproduktion, die Analyse der darin vorgenommenen Phänomenkonstitution sowie die mit diesen Prozessen verbundenen Effekte von Diskursen in gesellschaftlichen Praxisfeldern, ihr Verhältnis zu den Wissensvorräten und Deutungspraktiken der ,Akteure des Alltags' sowie der Vergleich von diskursiven Formationen. Abschließend diskutiere ich methodologische Implikationen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse. Im Einzelnen erläutere ich ihren selbst-reflexiven Standpunkt als Diskurs über Diskurse, das Vorhaben einer Rekonstruktion und Erklärung diskursiver Prozesse, den interpretativen Charakter dieses Unternehmens, die Besonderheiten des diskursanalytischen Zugriffs auf qualitative Methoden der Sozi alforschung sowie die notwendige Lösung von der Textzentriertheit der bisherigen Diskursforschung. Im nachfolgenden Kapitel 5 greife ich die weiter oben formulierte These auf, dass sich das Forschungsprogramm einer Wissenssoziologischen Diskursforschung in besonderem Maße zur Analyse von Prozessen des sozialen Wandels eignet, die unter den zeitdiagnostischen Etiketten der Wissensgesellschaft, der Risikogesellschaft u.a. verhandelt werden. Zunächst diskutiere ich zusammenfassend die Ergebnisse der bisherigen Umwelt- und Risikodiskursforschung im Hinblick auf die dort sichtbar werdenden Veränderungen ge-
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sellschaftlicher Diskursordnungen in den letzten beiden Jahrzehnten. Am Beispiel der in Gestalt von Risikodiskursen auftretenden Deutungsarbeit sozialer Akteure an Umwelt- und Technikkatastrophen und den dadurch konstituierten gesellschaftlichen Erfahrungslagen rekonstruiere ich dann die Diskursdynamik moderner Wissensverhältnisse als Zusammenspiel von Ereignissen und Diskursen. Damit kann gezeigt werden, wie ein wissenssoziologisch-diskursanalytischer Zugang zu gesellschaftlichen Wissenspolitiken und Definitionsverhältnissen Möglichkeiten der empirischen Analyse von soziokulturellen Transformationsprozessen eröffnet. In diesem Sinne konstituiert die Wissenssoziologische Diskursanalyse eine umfangreiche Forschungsagenda zur Politik der Diskurse. Das abschließende Kapitel 6 resümiert die einzelnen Schritte der Argumentation. Christoph Lau, Angelika Pofer! und Willy Viehöver haben Entwürfe der vorliegenden Arbeit mit hilfreichen Kommentierungen versehen. Dafür danke ich ihnen vielmals. Gewidmet ist das Buch meinen Eltern und meinen Kindern: Mar!ene, der großen Unermüdlichen, und Eva, der kleinen Mutigen.
2 Etappen der Wissenssoziologie
In den Sozialwissenschaften besteht ein Grundkonsens darüber, dass die Beziehungen der Menschen zur Welt durch kollektiv erzeugte symbolische Sinnsysteme oder Wissensordnungen vermittelt werden. 6 Die verschiedenen soziologischen Paradigmen unterscheiden sich nach dem theoretischen, methodischen und empirischen Stellenwert, den sie dieser Einschätzung einräumen. Der Begriff ,Wissenssoziologie' bezieht sich auf heterogene theoretische Positionen und unterschiedliche Forschungsinteressen, die sich mit der sozialen Genese, Zirkulation und den Effekten von Wissen beschäftigen. Diese Positionen haben sich weitgehend unabhängig von diskurstheoretischen und diskursanalytischen Analysen der Wissensprozesse entwickelt, trotz einiger ,Abstammungsgemeinsamkeiten' in der Soziologie Durkheims. Unter dem Begriff des Wissens werden sehr unterschiedliche Phänomene verstanden: elaborierte gesellschaftliche Ideensysteme wie Religionen oder politische Weltanschauungen, naturwissenschaftliche Faktizitätsbestimmungen, implizites, inkorporiertes Können, alltägliche Klassifikationsschemata etc. Wissen bezeichnet also nicht nur sach- oder faktizitätsbezogene, durch Erfahrung gewonnene und revidierbare Kognitionen, sondern auch Glaubensvorstellungen, Körperpraktiken, Routinen alltäglicher Lebensfuhrung usw., die als Kenntnisse aufgezeichnet sein können, als Vermögen den Individuen zukommen oder als gesellschaftlicher Bestand bspw. in Institutionen tradiert werden.? Schon von ihrer Entstehung als Disziplin an hatte sich die Soziologie mit Fragen nach gesellschaftlicher Herkunft, Stabilisierung, Bedeutung und Folgen objektivierter Wissensordnungen beschäftigt und damit an das Programm der ursprünglichen französischen ,Ideologie', der Lehre von den Ideen angeknüpft. 8 Ungeachtet der Vielfalt und Heterogenität wissenssoziologischer Reflexionen zeigen sich im Durchgang durch das historische und gegenwärtige Spektrum der Ansätze verschiedene Entwicklungslinien, die der nachfolgenden Diskussion orientierend zugrunde liegen. 9 Robert Merton sprach 1949 von funf LeitGrundlegend fUr die Thematisierung symbolischer Formen in den Sozialwissenschaften sind die Arbeiten von Cassirer (1972,1994); vgl. zu einem positiven Bezug von Foucault auf die Arbeiten von Cassirer Foucault (2001: 703). Hülst (1999) verfolgt die wissenssoziologischen und sprachtheoretischen Symbolkonzepte von Durkheim über Mead und Schütz bis zu Bourdieu. 7 Vgl. zur vie1fliltigen Bedeutung von "Wissen" in der Wissenssoziologie bspw. McCarthy (1996), Maasen (1999), Knoblauch (2005); zur ideologiekritischen Tradition Ritsert (2002) und Hirseland/Schneider (200 I); zum interpretativen Paradigma Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (1981), Abels (1998), Keller (2008a). Auf die Diskussionen über "implizites Wissen" (Polanyi 1985) gehe ich hier nicht weiter ein; sie spielen in der Wissenssoziologie eine untergeordnete Rolle (vgl. auch Böhle u.a. 200 I; HeymannlWengenroth 200 I). 8 Vgl. dazu den historischen Rück- und Überblick von Ritsert (2002). 9 Vgl. als Überblicke Maasen (1999), Knoblauch (2005) und eher lückenhaft, aber mit stärkeren Bezügen zur Ideologiekritik Ritsert (2002). Ich konzentriere mich hier auf die Hauptströmungen der Wissenssoziologie. Sie werden von unterschiedlichen Entwürfen einer "Soziologie des Nichtwissens" begleitet, die von Georg Simmels Reflexionen über das Geheimnis und die Geheime Gesellschaft, Mertons Konzept des spezifischen Nichtwissens (Merton 1987), das wissenschaftlich konturiert zum Anhaltspunkt weiterer Forschung wird, allgemeinen wissenssoziologischen Konzeptualisierungen des Nichtwissens und seiner Funktion in Gesellschaften bei Smithson 6
R. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, DOI 10.1007/978-3-531-17837-0_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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fragen der ,klassischen' Wissenssoziologie und diskutierte die unterschiedlichen Antworten der soziologischen Klassiker darauf (vgl. Kapitel 2.1). Die Entfaltung wissenssoziologischer Programrnatiken kann entlang dieser Fragen als mehrfache Akzentverschiebung rekonstruiert werden: Zunächst nimmt die Wissenssoziologie ihren Ausgangspunkt in der Analyse der sozialen Bedingtheit bzw. Standortgebundenheit des Wissens. In den 1960er Jahren tritt an die Stelle dieser Forschungsinteressen die Beschäftigung mit der sozialen Konstruktion des Wissens. In jüngerer Zeit geraten spezifische und grundlegende Modi dieser Konstruktion, insbesondere Kommunikationsprozesse und soziale Praktiken in den Blick. Diese Akzentverschiebung ist zugleich eine empirische Konkretisierung des wissenssoziologischen Forschungsprogramms, die als Bewegung von der allgemeinen theoretischen Reflexion über die Präzisierung der theoretischen Grundlagen bis hin zur Spezifizierung konkreter Gegenstandsfelder und Forschungskonzepte erfolgt. Im Einzelnen rekonstruiere ich die Entwicklung der Wissenssoziologie in folgenden Schritten: 10 Kapitel 2.1 diskutiert die Entstehungsphase der modernen Wissenssoziologie. Die "existentiellen Grundlagen des Wissens" (Robert Merton) stehen hier im Zentrum der wissenssoziologischen Reflexion. Als Ausgangsproblem erscheinen zunächst die Fragen nach den sozialen Grundlagen der Wissensentstehung bzw. der sozialen Bedingtheit des gesellschaftlichen und individuellen Wissens. Diese werden bei Kar! Marx und Friedrich Engels in der gesellschaftlichen Organisation der menschlichen Arbeit lokalisiert. Kar! Mannheim generalisiert die Marxschen Konzepte hin zur Untersuchung der allgemeinen ,Standortgebundenheit und Seinsbezogenheit des Denkens'. Er betont, dass unterschiedlichste Faktoren - Generationenlagen, raum-zeitliche Kontexte wie Stadt/Land-Differenzen, Gruppeninteressen u.a. - die soziale Strukturierung des Denkens auf individueller und kollektiver Ebene prägen. Auch fuhrt Mannheim in die Wissenssoziologie die Frage nach ihrem eigenen Standort, also die Perspektive der Selbst-Reflexion ein, die von da an weite Teile der Soziologie beschäftigen wird. Emile Durkheim und Marcel Mauss schließlich betonen verallgemeinernd die soziale Funktionalität von Wissensordnungen und richten den Blick auf gesellschaftliche Kollektiverfahrungen und soziale Strukturen als Grundlagen der Wissensgenese. In Kapitel 2.2 zeichne ich die ,Neuauflage' der Wissenssoziologie in den 1960er und 1970er Jahren nach. Angesichts der hier ansetzenden Beschäftigung mit der sozialen Konstruktion des Wissens lässt sich von einer konstruktivistischen Wende der Wissenssoziologie sprechen. Mit dem Begriff der Konstruktion rückt die Praxis der Wissenserzeugung in den Mittelpunkt. Dies geschieht einmal im wissenssoziologischen Programm des sozialen Konstruktivismus, wie es Peter Berger und Thomas Luckmann in ihrem Buch über "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" (BergerlLuckmann 1980 [1966]) formulieren. 11 In Frankreich entwirft Pierre Bourdieu seine Sozialtheorie der Praxis und macht mit dem Konzept des Habitus einen spezifischen Vorschlag zur soziologischen Analyse (1985), Popitz (1968), Ravetz (1987) bis hin zu den neueren Überlegungen von Beck (1999) zur Bedeutung des Nichtwissens in Risikokonflikten reichen. Vgl. dazu als Überblick Wehling (2001). 10 Die Darstellung konzentriert sich im Rahmen des vorliegenden Vorhabens auf die wichtigsten Protagonisten. Sie wäre bspw. um das wissenssoziologische Werk von Aaron Gurvitch (1971), Werner Stark (1960) oder Norbert Elias (1987) u.a. zu ergänzen, sofern es um eine lückenlose Geschichte der Wissenssoziologie ginge. Große Nähe zu wissenssoziologischen Theorien hat auch das in Frankreich von Serge Moscovici entwickelte sozialpsychologische Konzept der Sozialen Repräsentationen (Moscovici 1988; Flick 1995). 11 Vgl. zur Unterscheidung verschiedener Spielarten des Konstruktivismus Knorr-Cetina (1989).
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inkorporierter Wissens- als Sozialstrukturen. Er belegt sein theoretisches Programm mit dem Etikett des strukturalistischen Konstruktivismus. Eine dritte Spielart der Erneuerung der Wissenssoziologie entwickelt sich mit der Forschungsprogrammatik des empirischen Konstruktivismus, also in der ethnomethodologisch informierten und ethnographisch arbeitenden Laborforschung im Rahmen der neueren Wissenschaftsstudien (Social Studies of Science). Kapitel 2.3 diskutiert die vorerst letzte Etappe der Entfaltung der wissenssoziologischen Traditionen. Diese Phase, die Mitte der 1970er Jahre ansetzt, kann in Anlehnung an Begrifflichkeiten von Thomas Luckmann und Hubert Knoblauch als Verschiebung von der "sozialen" zur kommunikativen Konstruktion der Wirklichkeit und des Wissens bezeichnet werden. 12 Im Kontext einer mehrfach diagnostizierten, wissenssoziologisch inspirierten kulturalistischen oder auch ,praxeologischen' Wende der allgemeinen Soziologie fokussiert die Analyse des Wissens nunmehr zunehmend auf den Sprachgebrauch und die Kommunikationsprozesse, in denen Wissen gesellschaftlich zirkuliert. Niklas Luhmann bspw. entwirft in seinem radikal-konstruktivistischen Programm einer kommunikationstheoretisch fundierten Systemtheorie eine eigene Perspektive der Wissenssoziologie. In der Tradition der sozialphänomenologisch begründeten Wissenssoziologie machen Thomas Luckmann, Jörg Bergmann und Hubert Knoblauch mit dem Konzept der kommunikativen Gattungen einen Vorschlag zur Untersuchung der sprachlichen Organisationsmuster, in denen sich die gesellschaftliche Wissenszirkulation im Sprachgebrauch vollzieht. Im Kontext von sozialkonstruktivistischer Wissenssoziologie und Symbolischem Interaktionismus entstehen Ansätze der Untersuchung öffentlicher Diskurse, die den gesellschaftlichen Aushandlungsprozess von Problemdefmitionen und Handlungsoptionen in den Blick nehmen. Dabei handelt es sich um die bislang einzige, genuin der Soziologie zurechenbare Perspektive der Diskursforschung. 13 Kapitel 2.4 befasst sich mit der Verwendung des Wissensbegriffs in den gegenwartsdiagnostischen Diskussionen über Wissensgesellschaft. Diese beschäftigen sich mit der These einer veränderten sozio-ökonomischen und kulturellen Bedeutung von insbesondere wissenschaftlichem, ökonomischen und professionellem Wissen und erörtern die sich daraus auf gesellschaftsstruktureller Ebene ergebenden Konsequenzen. In den von Daniel Bell, Nico Stehr u.a. gefuhrten Debatten spielen die Ansätze der Wissenssoziologie keine Rolle. Sofern hier jenseits der Aggregation statistischer Daten empirische Konkretisierungen vorgenommen werden, geht es in erster Linie um die Verwendung wissenschaftlichen Wissens in unterschiedlichen Handlungsfeldern, ohne dass auf das theoretische Vokabular und die methodischen Werkzeuge der Wissenssoziologie rekurriert wird. Die bisherige ,Soziologie der Wissensgesellschaft' kann also paradoxerweise nicht der Wissenssoziologie zugerechnet werden. Sie könnte jedoch durch eine Bezugnahme auf die Wissenssoziologie ihre 12 Knoblauch (1995) spricht mit Bezug auf die Berger/Luckmannsche Wissenssoziologie von deren "kommunikativer Wende". 13 Das von Michel Foucault in den 1960er Jahren ohne Bezüge auf die Soziologie vorgestellte diskurstheoretische Programm nimmt ebenfalls die öffentliche Sprachzirkulation zum Ausgangspunkt. Es ließe sich als Diskurskonslruktivismus ohne Konstrukteure bezeichnen und damit im Hinblick auf die hier erläuterten wissenssoziologischen Ansätze verorten. In Auseinandersetzung mit der Soziologie, aber doch in überwiegend eigenständiger Theoriebildung haben auch die Cultural Sludies als Variante des social constructionism Vorschläge zur Analyse der Prozesse gesellschaftlicher Wissens- oder Kulturkreisläufe entwickelt. Ich gehe auf diese Ansätze im nachfolgenden Kapitel 3 ein.
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Empirie deutlich verbessern. Umgekehrt bietet die These der Wissensgesel1schaft der Wissenssoziologie einen Weg zur Beschäftigung mit makrostrukturel1en Phänomenen des sozialen Wandels, die sie bisher vernachlässigt hat. 14 Das in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagene Diskurskonzept zielt auf eine entsprechende Vermittlung. Kapitel 2.5 resümiert die verschiedenen Etappen der Wissenssoziologie und zeigt die Anschlusspunkte auf, an denen eine diskursorientierte Perspektive die Überlegungen zur sozialen und kommunikativen Konstruktion des Wissens aufgreifen und weiterentwickeln kann. Dadurch lässt sich gleichzeitig eine forschungsprogrammatisch hilfreiche Relationierung des Verhältnisses von Wissenssoziologie und, Wissensgesellschaft' erreichen.
2.1 Die soziale Bedingtheit des Wissens In seiner 1949 erschienenen Bilanz der Etablierungsphase wissensbezogener Perspektiven in der Soziologie fasste Robert Merton (1985: 223 ff) die zentralen Fragestel1ungen des klassischen wissenssoziologischen Programms in fünf Punkten zusammen. Die Beantwortung dieser Fragen durch Karl Manereichen die Möglichkeiten einer erweiterten hermeneutischen Wissenssoziologie verdeutlichen.
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In der "Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" taucht der Begriff des Diskurses nicht auf. Dennoch finden sich an verschiedenen Stellen Hinweise auf systematisierte und institutionalisierte Formen der Wissensproduktion sowie auf die Bedeutung der Sprache für die Wissensvermittlung, die eine diskursanalytische Perspektive anschließbar machen. So wird etwa davon ausgegangen, dass es in modemen Gesellschaften zur Ausdifferenzierung von Sonderwissensbeständen kommt, die von Expertengruppen getragen werden und spezifische Subsinnwelten mit entsprechenden Zugangsregeln, Praktiken und Rückwirkungen auf den Alltag konstituieren. 288 Träger dieser in ihrer Produktion und Reproduktion auf Dauer gestellten Sonderwissensbestände sind die Professionen, die verschiedenen wissenschaftlichen Subdisziplinen und die gesellschaftlich ausdifferenzierten Praxisfelder, etwa Religion, Wirtschaft oder Politik. BergerlLuckmann sprechen von "theoretischen Stützkonzeptionen" wie Mythen, Theologie oder Wissenschaft und von "semantischen Feldern", die spezifisches Wissen bündeln, anhäufen und weitergeben. Unabdingbar dafür ist die Sprache, die letztlich nichts anderes ist als ein Bestand an verfügbaren Typisierungen, eine Institutionalisierung des gesellschaftlichen Wissensvorrats insgesamt: "Die objektivierte soziale Welt wird von der Sprache auf logische Fundamente gestellt. Das Gebäude unserer Legitimationen ruht auf der Sprache, und Sprache ist ihr Hauptargument." (BergerlLuckmann 1980: 69)
Sie erwähnen Formen der Kontrolle über den Zugang zu und den Verbleib in sozialen Subsinnwelten, etwa Therapien für potenzielle Abweichler (ebd.: 90 ft). Die Stufen der Legitimierung reichen von der Benutzung bestimmter "Vokabularien" über "theoretische Postulate", "explizite Legitimationstheorien" bis hin zu ausgearbeiteten "symbolischen Sinnwelten" (ebd.: 49ft): "Legitimation ,erklärt' die institutionale Ordnung dadurch, dass sie ihrem objektivierten Sinn kognitive Gültigkeit zuschreibt." (BergerlLuckmann 1980: 100)
Neben die Frage nach der Wissensstruktur tritt diejenige nach der Arbeitsteilung und Sozialstruktur, nach den Interessekonstellationen, Macht-, Herrschafts- und Beziehungsgefügen zwischen Personen, Gruppen, Akteuren, Organisationen, Praktiken, Artefakten und manifesten institutionellen Strukturen, die solche Ordnungen stabilisieren oder transformieren. BergerlLuckmann haben damit sehr konkrete Vorstellungen über die gesellschaftliche Einbettung und Wirkung von ,Ideen': "Institutionen und symbolische Sinnwelten werden durch lebendige Menschen legitimiert, die ihren konkreten gesellschaftlichen Ort und konkrete gesellschaftliche Interessen haben. Die Geschichte von Legitimationstheorien ist immer ein Teil der ganzen Geschichte der Gesellschaft. ,Ideengeschichte', abgetrennt vom Fleisch und Blut der allgemeinen Geschichte, gibt es nicht. Aber wir betonen nochmals: solche Theorien sind keineswegs nur Reflexe ,unterschwelliger' institutioneller Prozesse. Die Beziehung zwischen den Theorien und ihren gesellschaftlichen Stützformationen ist immer dialektisch. (...) Wirklichkeitsbestimmungen haben die Kraft der Selbstverwirklichung. Theorien können in der Geschichte realisiert werden (...) Der in der Bibliothek des Britischen Museums brütende Karl Marx ist zum exemplarischen Fall dieser Mög288
Vgl. Schüt:zJLuckmann (1979: 363 ff; 1984).
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lichkeit der Geschichte geworden. Sozialer Wandel muß also immer in dialektischer Beziehung zur Ideengeschichte gesehen werden." (ebd.: 137)
Strukturdetenninistische Annahmen, also bspw. marxistische Ansätze, die Ideensysteme nur als Ausdruck von Produktionsverhältnissen betrachten, werden entschieden abgelehnt. Gleichzeitig befiirworten sie ein Konzept der Wechselwirkung zwischen Institutionen und ,Theorien', das auch letzteren zugesteht, Realität zu verändern. Sie betonen die Dialektik zwischen Ideen, Institutionen und sozialem Wandel. Doch im Selbstwiderspruch dazu konzipieren sie an anderer Stelle weite Teile dieses Wissen als, bloße Ideen', seine Analyse als soziologisch weniger bedeutsame Ideengeschichte (ebd.: 16, 21). Den Ideen wird so ein sekundärer Platz gegenüber dem ,,Allerweltswissen" zugewiesen, das wegen seiner Bezogenheit auf die Handlungsprobleme des Alltags fiir die Soziologie wesentlich wichtiger sei: "Allerweltswissen, nicht ,Ideen' gebührt das Hauptinteresse der Wissenssoziologie, denn dieses ,Wissen' eben bildet die Bedeutungs- und Sinnstruktur, ohne die es keine menschliche Gesellschaft gäbe." (BergerlLuckmann 1980: 16)
In expliziter Absetzung von den Klassikern der Wissenssoziologie fixieren Berger/Luckmann damit die Hauptaufgabe der wissenssoziologischen Forschung in der Untersuchung des Alltags- oder Jedermann-Wissens, nicht in den ,großen' Ideengebäuden und Weltbildern und der darauf bezogenen ,Weltanschauungs-Interpretation' der wissenssoziologischen Klassiker Scheler oder Mannheim, denen es nicht gelungen war, die Analyse der "Ideen" in empirische Soziologie zu überfuhren. In ihrem anti-idealistischen Impetus übersehen sie jedoch, dass theoretische Ideen und Modelle bzw. expertengestützte Wirklichkeitsinterpretationen in das Allerweltswissen der Individuen einsickern und ihre Handlungsweisen mehr oder weniger handlungs- bzw. deutungspragmatisch mitformen - gerade darin liegt ja ein konstitutives Moment moderner posttraditionaler Gesellschaften. Der vorgeschlagenen Hinwendung zum Alltag entgeht die enorme Bedeutung der institutionellen Wissensbestände fiir die Gesamtkonstitution der gesellschaftlichen Wirklichkeilsverhältnisse. Letztlich erweist sich hier der Begriff der Ideen als zu unspezifisch und undifferenziert, um Wissenspolitiken auf der gesellschaftlichen Meso- und Makroebene zu benennen. Die aus der Schützschen Tradition stammende statische Rede von "Wissensbeständen" und "Wissensvorräten" befördert zusätzlich eine Reduktion, weil sie auf Träger, Container usw. dieses Wissens verweist. Dies lässt sich vor dem Hintergrund der dem Ansatz zugrunde liegenden Sozialisationstheorie von Mead vergleichsweise unproblematisch auf individuelle Akteure beziehen, aber nur schwerlich auf das gesellschaftliche Institutionengefiige. 289 So betonen also Berger/Luckmann die Bedeutung der Ideen, um sie paradoxerweise im gleichen Atemzug fiir unbedeutend zu erklären. Diese Abwertung erweist sich als folgenreich und ist vielleicht fiir die merkwürdige Stellung der "Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" verantwortlich. Einerseits handelt es um eines der erfolgreichsten soziologischen Bücher überhaupt. Andererseits mündet die "gesellschaftliche Konstruktion" in die mikrosoziologischen Analysen der Rekonstruktion von Deutungsleistungen individueller Akteure, die nicht in Bezug zur Ebene der kollektiven Wissensvorräte gesetzt werden. So lassen sich zumindest die Akzentsetzungen der bisherigen Umsetzung der Ein solches Akteurskonzept ist jedoch vergleichsweise statisch und bedarf seinerseits einer genaueren Klärung. Vgl. dazu die Hinweise in Kapitel 4.2.3.
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Henneneutischen Wissenssoziologie beschreiben. Der theoretischen Vereinseitigung korrespondiert dort das empirische Vorgehen. Vergleichsweise selten geraten Fonnen kollektiver Wissensproduktion und -vennittlung, gesellschaftliche Grundlagen der Wissensverteilung oder machtvolle Strukturierungsprozesse symbolischer Ordnungen, kurz: die institutionelle Seite und die Prozesshajtigkeit der Wissensflüsse in den Blick. Daran ändern auch vereinzelte, stärker makrosoziologisch ausgerichtete Anwendungen des Theorieprogramms durch seine Protagonisten nichts. So definieren Berger/Berger/Kellner (1987) in ihrer Studie über das "Unbehagen in der Modernität" weitgehend folgenlos als wichtige Aufgabe der Wissenssoziologie: "den Zusammenhang zwischen den Bewußtseinsstrukturen und einzelnen Institutionen und institutionellen Prozessen herzustellen. Mit anderen Worten, die Wissenssoziologie befaßt sich stets mit dem Bewußtsein im Zusammenhang einer spezifischen gesellschaftlichen Situation. Für diese Aufgabe muß die Phänomenologie durch die konventionelleren Werkzeuge der soziologischen Analyse von Institutionen ersetzt werden. Hier verwenden wir wiederholt den Begriff der Träger; d.h. wir analysieren bestimmte Institutionen und institutionelle Prozesse als die gesellschaftliche Basis bestimmter Bewußtseinsstrukturen. Anders ausgedrückt, jede Art von Bewußtsein ist nur unter besonderen sozialen Bedingungen plausibel. Diese Bedingungen nennen wir eine Plausibilitätsstruktur. (...) Von Ivan Illich haben wir den Begriff des Pakets (,package') übernommen, womit wir eine empirisch gegebene Kombination von institutionellen Prozessen und Bewußtseins-Bündeln meinen." (BergerlBergerlKellner 1987: 19f)
Weiter oben in Kapitel 2.3.3 habe ich bereits verschiedene Weiterruhrungen und Modifikationen der wissenssoziologischen Perspektive von Berger/Luckrnann diskutiert. Das von Garfinkel entworfene Programm der Ethnomethodologie lässt sich als empirische Radikalisierung der Konstruktionsperspektive verstehen. Seine Konzentration auf die Regelmuster der Herstellung von Realität in konkreten Handlungs- bzw. Interaktionssequenzen reduziert jedoch den Analysefokus noch stärker, als dies schon bei Berger/Luckmann der Fall ist. 290 Der Neo-Institutionalismus entwickelt die Institutionenperspektive des Ansatzes weiter und beschäftigt sich vor allem mit politischen Institutionen, deren Legitimation und symbolischen Gehalten, verliert dabei jedoch tendenziell die Wissensdimension wieder aus den Augen. Das von Luckmann u.a. adaptierte Programm der Erforschung und Inventarisierung kommunikativer Gattungen impliziert eine stärkere Hinwendung zu den Prozessstrukturen der Wissenszirkulation, obwohl seine Anwendung auf Klatsch, Tischgespräche etc. bislang dem beschriebenen Reduktionismus der "Gesellschaftlichen Konstruktion" folgt. 291 Demgegenüber kommen die vorgestellten Analysen öffentlicher Diskurse im Rahmen des Symbolischen Interaktion ismus oder der erweiterten Beschäftigung mit "Kommunikationskulturen" (Hubert Knoblauch) einer prozessorientierten Untersuchung der Wissens- und Wirklichkeitskonstruktion durch kollektive Akteure in umfassenderen Konfliktarenen sehr viel näher. Mit dem Hinweis auf kommunikative Gattungen und die Analyse öffentlicher Definitionskonflikte sind die wichtigen Fäden benannt, die in einer diskurstheoretischen Ergän290 Der empirische Konstruktivismus der Wissenschaftsforschung schließt zwar in seinen Begründungen an diese Radikalität an; auf der Ebene der durchgeführten Untersuchungen wird dies jedoch zurück genommen und mit traditionelleren soziologischen Vorgehensweisen verknüpft (vgl. Kapitel 2.2.3). 291 Vgl. dazu Knoblauch (2000), GünthnerlKnoblauch (1997), Bergmann (1987) oder Keppler (1994). Für die Wissenssoziologische Diskursanalyse bietet deswegen die Analyse institutioneller Kommunikation eine wichtige Ergänzung (vgl. etwa DrewlHeritage 1992, Heritage 1997).
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zung und Erweiterung der Henneneutischen Wissenssoziologie aufgegriffen werden können. 292 Summa summarum geht es der Wissenssoziologischen Diskursanalyse darum, die diskutierten Defizite durch eine Akzentverschiebung von der Konzentration auf die Wissensbestände und Deutungsleistungen individueller Akteure des Alltags hin zur Analyse von diskursiven Prozessen der Erzeugung, Zirkulation und Manifestation kollektiver Wissensvorräte auszugleichen. Sie betont in diesem Sinne, auch wenn dies nicht immer explizit benannt wird, die Kompatibilität der pragmatistischen Tradition des Symbolischen Interaktionismus mit der sozialkonstruktivistischen Henneneutischen Wissenssoziologie und knüpft explizit in ihrer theoretischen Grundlegung wie in den Vorschlägen zum methodischen Vorgehen an beide an, um sie mit einigen Überlegungen Foucaults zur Diskursperspektive zu verbinden. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse stellt ein theoretisches Vokabular und eine empirische Perspektive zur Verfugung, um solche Wissenspolitiken (nicht nur) der posttraditionalen Gesellschaften als Diskurse zu untersuchen. Sie schlägt damit der Henneneutischen Wissenssoziologie eine Fortführung vor, die notwendig wird, wenn sie ihrem erneuerten theoretischen und empirischen Anspruch als umfassendes wissenssoziologisches Paradigma gerecht werden will.
4.1.2 Der Einbau der Diskursperspektive Der Einbau der Diskursperspektive in die Henneneutische Wissenssoziologie stützt sich zunächst auf die bereits von Berger/Luckmann fonnulierten Bezüge zur Ebene der kollektiven Wissensvorräte. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse übersetzt den daran anschließenden Gedanken der ,,kommunikativen" Konstruktion der Wirklichkeit in denjenigen der diskursiven Konstruktion und bestimmt dadurch ihren Untersuchungsgegenstand. Als Diskurse werden unterscheidbare handlungspraktische und institutionelle Strukturierungen gesellschaftlicher Wissenspolitiken zum Gegenstand der erweiterten Henneneutischen Wissenssoziologie. Die Diskurstheorie von Foucault und deren Weiterfuhrungen liefern Vorschläge und Anregungen fur die Ausarbeitung eines entsprechenden Begriffsgerüstes (vgl. Kapitel 3.2. und 3.3). Dazu zählt nicht nur die Untersuchung des Sprachgebrauchs. Eine Beschäftigung mit Diskursen bedeutet auch die Analyse der Praktiken und Dispositive, die gesellschaftliche Handlungsfelder strukturieren (vgl. Kapitel 4.3): "Indeed, for Foucault the familiar objects of the social world (whether they be death, disease, madness, sexuality, sin or even mankind itself) are not 'things' set apart from and independent of discourse but are realized only in and through the discursive elements which surround the objects in question. Things, then, are made visible and palpable through the existence of discursive practices, and so disease or death are not referents about which there are discourses but objects constructed by discourse. As the discourse changes, so too do the objects of attention. A discourse moreover, is not merely a narrow set of linguistic practices which reports on the world, but is composed of a whole assemblage of activities, events, objects, settings and epistemological precepts. The discourse of pathology, for example, is constructed not merely out of statements about diseases, cells and tissues, but out of the whole network of activities and events in
Dazu zählt auch die in Kapitel 2.2.3 vorgestellte Forderung von Golinski (1998) nach einer erweiterten Diskursperspektive des interpretativen Ansatzes innerhalb der science studies.
292
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Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse which pathologists become involved, together with the laboratory and other settings within which they work and in wh ich they analyze the objects of their attention." (Prior 1989: 3)
Weiter oben in Kapitel 3.2.6 hatte ich diejenigen theoretischen und begrifflichen Vorschläge Foucaults zusammengefasst, die in der Ausarbeitung einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse berücksichtigt werden müssen. Ich möchte dies noch einmal kurz rekapitulieren: Der Begriff ,Diskurs' bezeichnet strukturierte und zusammenhängende (Sprach-) Praktiken, die Gegenstände und gesellschaftliche Wissensverhältnisse konstituieren. Einzelne diskursive Ereignisse aktualisieren diesen Zusammenhang. Die Diskursperspektive richtet sich auf die Ebene der gesellschaftlichen Wissensformationen und -politiken, deren Konturen, Genese, Entwicklung, Regulierungen und Folgen ("Machtwirkungen"). Sie versteht sich als empirisches Forschungsprogramm: Diskurse werden auf der Grundlage entsprechender Datenmaterialen untersucht. Die einzelnen Äußerungen werden nicht als singuläre Phänomene analysiert, sondern im Hinblick auf ihre typische Gestalt als ,Aussage'. Gewiss werden die Äußerungen in einem materialen Sinne durch einzelne Sprecher produziert. Letztere agieren jedoch nicht als einzigartige Subjekte, sondern sind - in der Sprache der Soziologie - Rollenträger, welche die sozio-historisch geformten und institutionell stabilisierten Regeln der Diskursproduktion in einem doppelten Sinne ,aktualisieren': Sie setzen sie ein, realisieren sie also in ihrem Tun und bringen sie gleichzeitig auf den ,neuesten Stand'. Die Diskursanalyse interessiert sich für die Formationsmechanismen von Diskursen, die Beziehung zwischen Diskursen und Praktiken sowie die strategisch-taktische Diskurs-Performanz sozialer Akteure. Eine Übersetzung der Vorschläge von Foucault u.a. in die wissenssoziologische Tradition von Berger/Luckmann ist keineswegs gezwungen, sein großformatiges wissenschaftstheoretisches Programm zu übernehmen. Sie muss sich jedoch um eine Soziologisierung der Foucaultschen Programmatik bemühen bzw. prüfen, ob und inwieweit eine stärkere handlungs- oder akteurstheoretische Wendung der Diskurstheorie möglich ist. Dafür spielen die weiter oben behandelten Weiterentwicklungen der Foucaultschen Position eine wichtige Rolle. Abschließend möchte ich an dieser Stelle noch einmal die bisher deutlich gewordenen Berührungspunkte zwischen der wissenssoziologischen und der diskurstheoretischen Tradition bilanzieren: •
Die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie enthält eine Grundlagentheorie zur Erklärung der Entstehung und Institutionalisierung gesellschaftlicher Wissensvorräte. Die institutionelle Strukturierung des Wissens und der Wirklichkeit wird von den Individuen sozialisatorisch angeeignet und als Rollenangebot mehr oder weniger eigensinnig übernommen. Diesen Vorstellungen korrespondieren in der diskurstheoretischen Perspektive die emergente Strukturierung der Wissensregime bei Foucault oder die theoretische Figur der "ideologischen Staatsapparate" bei Althusser sowie die darin eingebundenen Subjektpositionen. Allerdings nehmen diese Ansätze gegenüber der allgemeinen Gedankenfigur der Wissenssoziologie eine Reduktion auf ,Unterwerfungsfunktionen' vor und übersehen die fundamentale Dialektik von Zwang und Ermöglichung des Handelns durch Institutionen. 293
Althussers Position formuliert einen doppelten Reduktionismus, weil sie die erwähnte ,Unterwerfung' im Unterschied zu Foucault noch einmal marxistisch interpretiert, also auf Klassenherrschaft bezieht.
293
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse •
•
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Der Symbolische Interaktionismus bezieht die wissenssoziologische Perspektive auf die Karriere sozialer Probleme in öffentlichen Arenen und begreift die entsprechenden Auseinandersetzungen als konflikthafte Diskurse zwischen sozialen Akteuren. Foucaults spätere Überlegungen zu einer stärker auf das Diskurshandeln in Sprachspielen bezogenen Diskurstheorie zielen ebenfalls auf die Beschäftigung mit Akteuren, Strategien und Taktiken der Diskursproduktion, auch wenn er dies nicht konsequent in empirische Forschung umsetzt. Sein Interesse an der Untersuchung von phänomenbezogenen, historisch kontingenten ,Problematisierungsweisen' hat Affinitäten zur Etikettierungsforschung und Labelingtheorie, wie sie im symbolischen Interaktionismus entwickelt wurden. Es wird dann im Rahmen der Cultural Studies stärker akteursbezogen ausgearbeitet. Letztere zeigen viele Parallelen zum Symbolischen Interaktionismus, rücken aber ähnlich wie die kritische Diskursforschung und die postrnarxistische Diskurstheorie von LaclauJMouffe Herrschaftsbeziehungen in den Vordergrund. Das in der Wissenssoziologie adaptierte Konzept der kommunikativen Gattungen impliziert die Idee der sozialen Strukturierung von Kommunikationsprozessen bzw. einzelnen Kommunikationsereignissen in einem ähnlichen Sinn, wie dies die Critical Discourse Analysis formuliert. Kommunikative Gattungen verweisen in ihrer Realisierung auf entsprechende Kommunikationspraktiken, wie sie auch den diskurstheoretischen Überlegungen zu Diskursen als (regulierten) Praktiken (der Diskursproduktion) zugrunde liegen. Während die Wissenssoziologie dieses Konzept bisher in erster Linie auf Kommunikationsprozesse des Alltags und Herstellungsleistungen der sozialen Akteure bezog, steht in der Diskursperspektive die institutionelle Einbindung und Regulierung im Vordergrund. Kommunikative Gattungen interessieren die Diskursanalyse insoweit, wie sie als geregelte Kommunikationspraktiken in Diskursen zum Einsatz kommen. Sie beschäftigt sich jedoch nicht mit einzelnen Gattungen, sondern mit kommunikativen Mustern als Bestandteilen der Entfaltung von Diskursen.
4.1.3 Das Theorie- und Forschungsprogramm Unter dem Begriff der Wissenssoziologischen Diskursanalyse schlage ich einen Ansatz der Diskursforschung vor, der sich von den in Kapitel 3 diskutierten Perspektiven in theoretisch-programmatischer und in methodischer Hinsicht unterscheidet. 294 Auf der Ebene der theoretischen Grundlegung geht es um eine Vermittlung von Annahmen der eher strukturtheoretisch angelegten Wissenssoziologie respektive Diskurstheorie von Michel Foucault in die Tradition der handlungstheoretischen Wissenssoziologie im Anschluss an Berger/Luckmann und das interpretative Paradigma der Soziologie. 295 In methodischer HinSiehe dazu Keller (2001; 2003b; 2004). Genau genommen müsste ich von wissenssoziologisch-hermeneutischer Diskurstheorie und Diskursanalyse sprechen. Die obige Bezeichnung steht dafür als Kürzel. Einen in Teilen ähnlichen, jedoch sprachwissenschaftlich fundierten Ansatz hat Dietrich Busse (1987) skizziert. Vgl. auch die in Kapitel 2.3.3 diskutierten, allerdings kaum systematisch ausgearbeiteten Diskursperspektiven innerhalb des interpretativen Paradigmas. 295 Ettliche Forschungsprojekte haben das Programm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse bereits aufgegriffen (vgl. z.B. Niehaus/Schröer 2004; Christmann 2004; Dyk 2006; Bechmann 2007; Truschkat 2007; dazu und zur allgemeinen Diskussion des Programms auch die Beiträge in KellerlHirseland/SchneiderNiehöver 2005; weitere Hinweise über laufende Arbeiten sind zu finden im Diskussionsforum zur Wissenssoziologischen Diskurs294
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sicht kann dadurch die empirische Diskursforschung mit der dortigen Methodenentwicklung verknüpft werden, insbesondere mit der neueren qualitativen Sozialforschung, wie sie unter dem Dach einer "Sozialwissenschaftlichen Hermeneutik" (HitzlerlHoner 1997) versammelt ist. 4.1.3.1
Erweiterungen der Hermeneutischen Wissenssoziologie
Die bisherige Entfaltung der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie unterliegt spezifischen theoretisch-begrifflichen und empirischen Engfiihrungen, die in der Konzentration auf individuelle Akteure als Träger von Wissensbeständen in ihren alltagspraktischen, privaten oder professionellen Handlungskontexten deutlich werden (vgl. Kapitel 4.1.2). Die damit verbundenen wissenssoziologischen Fragestellungen reduzieren sich auf die Analyse von basalen Typisierungsprozessen fur Handlungsprobleme des Alltagshandelns und der Professionen, Allerwelts-Wissensvorräte oder die Ethnographie kleiner Lebenswelten,z96 Durchgehend stehen dabei die Individuen als Wissensträger und be-deutende Akteure im Mittelpunkt des Interesses. Eine solche Präferenz wird durch die Autoren der "gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" nahe gelegt. Sie ist jedoch, wie neben der vorangegangenen Diskussion auch die Analysen der Karrieren sozialer Probleme im Symbolischen Interaktionismus (Kapitel 2.3.3.2) deutlich machten, nicht zwangsläufig damit verbunden, sondern hat ihre Grundlage in kontingenten Entwicklungen der theoretischen Grundposition. Aus den genannten Gründen hat die Hermeneutische Wissenssoziologie bislang kein Begriffsgerüst zur Analyse gesellschaftlicher Wissenspolitiken als Diskurse entwickelt. Dessen Ausarbeitung ist Gegenstand der vorliegenden Studie. Damit wird eine programmatische Erweiterung der theoretischen Grundlegung der Hermeneutischen Wissenssoziologie anvisiert, die ihr neue Gegenstandsbereiche und Fragestellungen eröffnet. Die Behebung des erläuterten Defizits erfolgt im Rückgriff auf Konzepte der Foucaultschen Diskurstheorie, die ich als poststrukturalistische Wissenssoziologie interpretiere. Foucaults Vorschläge können in die Hermeneutische Wissenssoziologie übersetzt werden. Dadurch wird eine Systematisierung der im interpretativen Paradigma bislang nur rudimentär und zufallig eingeführten Diskursperspektive möglich. Die diskursanalytische Erweiterung der sozialkonstruktivistischen Wissensanalyse stützt sich auf deren Weiterfiihrungen im Symbolischen Interaktionismus. Umgekehrt kommen die in Kapitel 3.3 diskutierten Adaptionen der Foucaultschen Diskurstheorie etwa im Rahmen der Cultural Studies durch ihren bei Foucault zwar angelegten, aber hier verstärkten Rekurs auf soziale Akteure dem analyse, das gerade eingerichtet wird; entsprechende Kontakthinweise sind beim Autor erhältlich). Im englischsprachigen Raum verknüpfen Prior (1989) oder Silverman (1987) die Diskurstheorie Foucaults mit Fragestellungen des interpretativen Paradigmas. So untersucht Prior (1989) die Beziehungen zwischen öffentlichen bzw. medizinischen Diskursen, ,privaten', d.h. alltagsweltlichen Diskursen und sozialen Praktiken, die Feststellung von und Umgang mit Todeseintritt betreffen. Silverman (1987) rekonstruierte Diskurse und Konstitutionsprozesse des Sozialen in klinischen Settings. Clarke (2005) erweitert die späten theoretischen und methodologischen Arbeiten von Anselm Strauss um Perspektiven der Aktor-Netzwerk-Theorie im Anschluss an Bruno Latour und um diskurstheoretische Überlegungen im Anschluss an Michel Foucault. Sie spricht in diesem Zusammenhang von einer "situational analysis", die darauf ziele, die verschiedenen Kontextdimensionen sozialer Phänomene, zu denen eben auch Diskurse gehören, in der qualitativen Analyse zu berücksichtigen. Diese Vorhaben weist einige Parallelen zur Wissenssoziologischen Diskursanalyse gesellschaftlicher Wissensverhältnisse auf. 296 Auf einige Ausnahmen - die neueren Arbeiten von Reichertz oder Knoblauch - wurde bereits hingewiesen.
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anvisierten Vorhaben entgegen. Der Diskursbegriff einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse ist dann so zu fassen, dass unterschiedliche Ebenen diskursiver Arenen oder Felder unterschieden werden können. Dabei geht es insbesondere darum, die Foucaultsche Perspektive auf institutionelle Spezialdiskurse mit dem Interesse des Symbolischen Interaktionismus rur öffentliche Diskurse zu verbinden. 297 Für die wissenssoziologische Diskursforschung sind schließlich die struktur- und praxistheoretischen Überlegungen von Anthony Giddens (1979, 1984, 1987, insbes. 1992) bedeutsam, die ich weiter unten in Kapitel 4.2.2 aufgreife. 298 Giddens ist, ähnlich wie Bourdieu (vgl. Kapitel 2.2.2), um eine Vermittlung von struktur- und handlungstheoretischen Ansätzen der Soziologie bemüht. Im Unterschied zu Bourdieu vermeidet er jedoch eine Engfiihrung dieser Zusammenhangsannahmen auf die Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen. Giddens verbindet in seiner Theorie der Strukturierung poststrukturalistische Positionen mit Überlegungen des interpretativen Paradigmas und entwickelt daraus eine allgemeine Sozialtheorie, ohne jedoch eine explizite Wissenssoziologie vorzulegen oder zu verfolgen. 299 Er begreift Handeln - und damit auch kommunikatives Handeln - in Analogie zu Wittgensteins Theorie der Sprachspiele als kreative und rekursive Reproduktion oder Veränderung von Strukturmustern; diese existieren im konkreten Handlungsvollzug, der sie aktualisiert, in ihrer Gültigkeit bestätigt und fortschreibt, der sie aber unter bestimmten Bedingungen auch in Frage zu stellen, zu unterlaufen oder zu transformieren vermag. Dies bezeichnet Giddens (1992: 71) als "Dualität von Struktur". Das tatsächliche Geschehen ist keine direkte Folge der zugrundeliegenden Strukturen bzw. "Regeln und Ressourcen", sondern Ergebnis des aktiv-interpretierenden Umgangs sozialer Akteure mit diesen Orientierungsmustern. Deswegen unterscheidet sich der konkrete Sprachgebrauch mit seinen Möglichkeiten der Welt(um)deutung von den starren Code-Systemen des Strukturalismus: "Hervorzuheben ist, dass der Strukturierungsansatz Signifikation als Strukturdimension und symbolische Ordnungen sowie damit verbundene Diskursformen als selbstverständlichen Bestandteil institutioneller Ordnungen begreift. Sie (... ) gehen elementar in soziale Strukturierungsprozesse, in Produktions- und Reproduktionsweisen von Gesellschaft(en) ein. Sinnstiftung, Symbolsysteme, Diskurse erscheinen damit gerade nicht als Phänomene, die als ,Kultur' der ,Struktur' (oder der ,Gesellschaft' schlechthin) entgegengesetzt, von ,weicherer' und somit geringerer Bedeutung als ,harte' institutionelle Fakten und Gehäuse seien (...) Bezogen auf den inneren Aufbau von Signifikationsstrukturen zeigen sich Strukturdualitäten, also Vermittlungen von Struktur und Praxis, in zweifacher Weise: Sinnkonstitution geht so zum einen auf Prozesse der Kommunikation und Bedeutungsverleihung von Akteuren, zum anderen auf die strukturelle Ordnung von Zeichensystemen und Codes zurück, die Raster bzw. ,Bedeutungsgitter' markieren. Entschieden abzulehnen sei jedoch ein ,Rückzug in den Code' - ein Vorwurf, der sich insbesondere an die Semiotik und strukturalistische Zeichentheorie richtet. Plädiert wird demge297 Vgl. zu anders akzentuierten Verknüpfungen des Symbolischen Interaktionismus mit Foucaultschen Konzepten Castellani (1999) und jetzt Clarke (2005). 298 Es gibt bislang nur wenige Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis der Position von Giddens zur sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie (vgl. Ivänyi 1999 und Pofer1 2004: 33ft). 299 In der diskurstheoretischen Entwicklung hat dies Norman Fairclough am deutlichsten ausgearbeitet (vgl. Kap. 3.3.1). Sieht man von der ideologiekritischen Vereinseitigung der Crilical Discourse Analysis ab, dann ist ihr Vorschlag zur Konzeptualisierung des Verhältnisses von einzelnem diskursivem Ereignis und Diskurs durchaus überzeugend. Allerdings geraten in ihrer praktischen Umsetzung zum einen die "Formationsregeln" aus dem Blick, von denen Foucault sprach; zum anderen, verliert' sie seine Bezugnahme auf die Produktion und Zirkulation von Wissensbeständen.
190
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse genüber flir eine analytische Vorrangstellung der Semantik, die als Herstellung und Vermittlung von Bedeutung bzw. Sinn im Handeln operiert." (Poferl2004: 46f)
Aufgabe der Wissenssoziologie ist nicht nur die Deskription der empirischen Vielfalt von subjektiven, typisierbaren Wissensvorräten, sondern auch die Analyse der kollektiven und institutionellen Prozesse, in denen spezifisches Wissen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit wird. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse begreift Institutionen im Sinne des interpretativen Paradigmas der Soziologie als umstrittene, vorübergehend kristallisierte symbolische Strukturen der Ordnung von Welt (Gusfield 1981), die Handeln zugleich ermöglichen und beschränken. Sie historisiert die soziologische Analyse von Wissen und Praktiken und vermittelt zwischen handlungs- und struktur- bzw. institutionentheoretischen Ansätzen. Damit bezieht sie die wissenssoziologische Perspektive auf das von dieser bisher vernachlässigte Feld historisch orientierter Gesellschaftsanalysen. Als Wissenssoziologische Diskursanalyse ist Diskursforschung ein Bestandteil - unter anderen - der Hermeneutischen Wissenssoziologie. 4.1.3.2 Das Primat der sozialkonstruktivistischen Wissensanalyse Die Perspektive der diskursiven Konstruktion der Wirklichkeit greift die Wende der wissenssoziologischen Tradition zum "kommunikativen Paradigma" (Thomas Luckmann; vgl. Kapitel 2.3.3.1) auf, fokussiert sie jedoch in spezifischer Weise auf Kommunikationszusammenhänge, die als Diskurse begriffen werden. Es geht ihr damit nicht, wie dem Programm der Gattungsanalyse, um die Rekonstruktion und Bilanzierung des kommunikativen Haushaltes einer Gesellschaft. Stattdessen interessiert sie sich rur kommunikative Gattungen nur insoweit, wie sie als Bestandteile von Diskursen erscheinen. Die Rede von der diskursiven Konstruktion der Wirklichkeit bezieht sich auf solche Strukturierungsprozesse. Sie fragt nicht nur nach Praktiken des Sprachgebrauchs, sondern nach den diskursiven Formationen, in denen sie erscheinen. Ein solcher Vorschlag basiert auf der Annahme, dass es möglich und sinnvoll ist, einen genuin soziologischen Ansatz der Diskursanalyse im interpretativen Paradigma und hier insbesondere in der Hermeneutischen Wissenssoziologie zu verankern. Die Verankerung des Diskurskonzepts in der Wissenssoziologie hat Vorzüge in zweierlei Hinsicht: Der Hermeneutischen Wissenssoziologie selbst eröffnet sie neue Gegenstandsbereiche und Fragestellungen. Der bisherigen Diskursforschung bietet sie eine angemessenere soziologische Entfaltung des Akteurskonzepts und eine Anknüpfung an Kompetenzen des qualitativen Methodenzugangs innerhalb des interpretativen Paradigmas. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse versteht sich als Vorschlag zur Entfaltung grundlegender Potenziale der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie unabhängig davon, ob dies mit der ursprünglichen Intention von Peter Berger und Thomas Luckmann in Einklang stehen mag oder nicht. Umgekehrt verabschiedet sie sich auch von dem Ziel werkgetreuer Nachfolgen des Foucaultschen Ansatzes. Foucaults Diskurstheorie sensibilisiert rur die Bedeutung von Macht und institutionellen (Vor-)Strukturierungen von Sprecherpositionen und legitimen Inhalten, d.h. ftir Diskurse als strukturierte und strukturierende Strukturen. Im Symbolischen Interaktionismus und der wissenssoziologischen Tradition von Berger/Luckmann rückt die Handlungsgrundlage, dialektische Gestalt und Prozesshaf-
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191
tigkeit der "gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" in den Mittelpunkt. Das Primat des wissenssoziologischen Ansatzes ergibt sich aus vier Überlegungen: •
•
•
•
BergerlLuckmann und die daran anschließende Tradition der Hermeneutischen Wissenssoziologie entwerfen eine Wissensperspektive, die Bewusstseinsleistungen im Konstitutionsprozess der Wirklichkeit systematisch berücksichtigt, ohne den emergenten Charakter kollektiver Wissensordnungen zu ignorieren. Sie verfugt, bezogen auf die existierenden Ansätze der Diskurstheorie, über ein umfassenderes theoretisches Gerüst, das Prozesse der gesellschaftlichen Objektivierung von symbolischen Ordnungen ebenso erfasst wie die Rückwirkung dieser Ordnung auf soziale Akteure, deren Interpretationsleistungen, Praktiken und Sinnkonstitutionen. Die handlungs- und prozessorientierte Perspektive von BergerlLuckmann erlaubt gegenüber Foucault die Betonung der Rolle gesellschaftlicher Akteure in den Machtspielen des Wissens, ohne dabei in einen naiven Subjektivismus zu verfallen. Sie vermeidet gleichermaßen die in Diskurstheorien implizierte Ontologisierung bzw. Verdinglichung der Diskurse durch die Einfuhrung eines Akteurskonzepts, mit dem soziale Akteure sowohl als diskursiv konstituierte wie als regelinterpretierend Handelnde, als aktive Produzenten und Rezipienten von Diskursen verstanden werden. Erst dadurch erreicht die Analyse von Diskursen die Tiefenschärfe, die notwendig ist, um das komplexe Wechselspiel zwischen Wirklichkeitskonstruktion, Wirklichkeitsobjektivierung sowie den Interessen und Strategien sozialer Akteure als kontingenten sozialen Ordnungsprozess zu verstehen. Diskursanalyse ist trotz Foucaults gegen den Marxismus gerichteten und einige Verwirrung stiftenden Bonmots, ein "glücklicher Positivist" (Foucault 1988a: 182) zu sein, unumgänglich Interpretationsarbeit. 30o Als empirisch orientierte soziologische Unternehmung bedarf sie einer methodischen Reflexion und Kontrolle ihrer Interpretations-, d.h. Verstehens- und Erklärungsprozesse. Dazu stellt die fortgeschrittene Methodologie der qualitativ-interpretativen Sozialforschung angemessene Vorgehensweisen und Werkzeuge bereit. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse gesellschaftlicher Wissenspolitiken und Wissensverhältnisse greift deswegen auf die vorhandene, breit fundierte interpretative Methodologie und den entsprechenden Methodenkanon der qualitativen Sozialforschung zurück. Allerdings sind im Hinblick auf das methodische Vorgehen einige gegenstandsspezifische Modifikationen vorzunehmen. 301 Diese ergeben sich aus Besonderheiten des sozialwissenschaftlich konstruierten und konturierten Gegenstandes ,Diskurs'. Der Methodenreichtum der Soziologie erlaubt einen weitergehenden empirischen Zugang zu Diskursen, als dies den sprachwissenschaftlich und diskurstheoretisch verankerten Analysen möglich ist. Diese Erweiterung besteht in erster Linie in der Möglichkeit zur Lösung vom Text als isoliertem Dokument. Angefangen bei der Sekundäranalyse über Interviews, (teilnehmende) Beobachtung bis hin zur Ethnogra-
300 "Wenn man an die Stelle der Suche nach den Totalitäten die Analyse der Seltenheit, an die Stelle des Themas der transzendentalen Begründung die Beschreibung der Verhältnisse der Äußerlichkeit, an die Stelle der Suche nach dem Ursprung die Analyse der Häufungen stellt, ist man ein Positivist, nun gut, ich bin ein glücklicher Positivist, ich bin sofort damit einverstanden." (Foucault 1988a: 182) 301 Vgl. dazu Keller (2004).
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192
phie der Diskurse (Keller 2003b /02 kann sie diskursive Praktiken und Diskursverläufe über unterschiedlichste methodische Zugänge, auf verschiedenen Ebenen ihrer kontextuellen Einbettung, mitunter gar in actu rekonstruieren und eine Vielzahl von Datenformaten zueinander in Beziehung setzen. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse versteht sich damit als ein zur Selbstkorrektur fahiger Prozess der Theoriebildung auf empirischer Grundlage im Sinne der "grounded theory" (Strauss 1998), und nicht, wie verschiedene diskurstheoretische Programme, als deduktive Anwendung oder Nachweis des selbstbezüglichen Funktionierens einer abstrakten Diskursordnung.
4.1.3.3
Zielsetzungen
Die Wissenssoziologische Diskursanalyse ist eine Spielart der Hermeneutischen Wissenssoziologie neben anderen. Entgegen einem häufigen allgemeinen Missverständnis gegenüber Diskurstheorien bzw. Diskursanalysen handelt es sich bei ihr nicht um eine Methode, sondern um ein sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm zur spezifisch fokussierten Untersuchung der "Objektivität der Ordnungen und ihrer kommunikativen Konstruktion" (Sprondei 1994) in Diskursen. Das anvisierte Programm der Diskursforschung findet bereits mit der theoretischen Grundlegung von Berger/Luckmann seine allgemeinere Einbettung in neueren Synthesebemühungen zwischen Kultur- und Praxistheorien, wie sie das weiter oben in Kapitel 2.3.1 erwähnte Schlagwort des "practice turn" andeutet (Reckwitz 2003). Diskurse, verstanden als analytisch abgrenzbare Ensembles von Praktiken und Verläufen der Bedeutungszuschreibung, denen ein gemeinsames Strukturierungsprinzip zugrunde liegt, sind raum-zeitlich sowie sozial strukturierte Prozesse. Dieses Diskursverständnis impliziert ein dynamisches Konzept von symbolischen Ordnungen, von "culture in action" (Swidler 1986) oder Kultur als konflikthaftem "Diskursfeld" (Schiffauer 1995). Die Ziele der Wissenssoziologischen Diskursanalyse können wie folgt beschrieben werden: Sie rekonstruiert Prozesse der sozialen Konstruktion, Zirkulation und Vermittlung von Deutungs- und Handlungsweisen auf der Ebene von institutionellen Feldern, Organisationen, sozialen Kollektiven und Akteuren. Im Anschluss daran untersucht sie die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse. Eine solche Perspektive unterstellt die Normalität der symbolischen Kämpfe, des Wettstreits der Diskurse. Dabei handelt es sich nicht um ein bloßes Wetteifern der Ideen, im Gegenteil: Betont werden sollen die wirklichkeitskonstituierenden Effekte symbolischer Ordnungen und die Beschaffenheit von Diskursen als einer konkreten und materialen, also wirklichen gesellschaftlichen Praxis. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse fragt nach sozialen Konventionalisierungen und Strukturierungen symbolischer Ordnungen und nach symbolischen Strukturierungen sozialer Ordnungen. Sie analysiert institutionell stabilisierte Regeln der Deutungspraxis und interessiert sich rur die Definitionsrolle beteiligter Akteure. Sie zielt nicht zuletzt auf die Objektivierungen und Konsequenzen von Diskursen in Gestalt von Artefakten, sozialen Praktiken, Kommunikationsprozessen und Subjektpositionen. Den Zusammenhang zwischen einzelnem Aussageereignis und Gesamtdiskurs formuliert sie als Dualität von Struktur, d.h. als Aktualisierung, Reproduktion oder Transformation einer Diskursstruktur, die nur in dieser Aktualisierung existiert. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse beschäftigt sich mit Prozessen und 302
Vgl. den Exkurs in Kapitel 4.3.4.3.
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
193
Praktiken der Produktion und Zirkulation von Wissen auf der Ebene der institutionellen Felder der Gegenwartsgesellschaften. Thr Forschungsgegenstand ist - mit anderen Worten - die Produktion und Transformation gesellschaftlicher Wissensverhältnisse durch Wissenspolitiken, d.h. diskursiv strukturierte Bestrebungen sozialer Akteure, die Legitimität und Anerkennung ihrer Weltdeutungen als Faktizität durchzusetzen. Sie begreift damit sozialen Wandel nicht nur als sozialstrukturellen Prozess, sondern als Verschiebung von Wissensregirnen. Die soziohistorisch orientierte Analyse der Schließung kontingenter DiskursEntwicklungen im Prozess institutioneller Wirklichkeitsbestimmung dient der Aufklärung über bestehende und verworfene Alternativen sowie über Interessen, Strategien und Handlungsressourcen der beteiligten sozialen Akteure. Dazu entwickelt die Wissenssoziologische Diskursanalyse allgemeine theoretische Kategorien sowie erklärende Hypothesen über Formen und Mechanismen von Diskursverläufen. Über einzelne Diskurse hinaus untersucht sie die Herausbildung typisierbarer Diskursformationen und ihren historischen Wandel. Sie vermittelt damit zwischen mikro- und makrotheoretischen soziologischen Analysen gesellschaftlicher Wissensprozesse und versteht sich als klassisches wissenssoziologisches Programm gesellschaftlicher Selbstbeobachtung und Selbstaufklärung. Das schließt nicht aus, gegebenenfalls zur normativen Einschätzung diskursiver Verläufe auf verfiigbare philosophische Begründungspotenziale wie etwa die Habermassche Diskursethik zurückzugreifen. Mit diesen Ausfiihrungen ist eine große Bandbreite möglicher Forschungsfragen umrissen. Dieses Spektrum muss in empirischen Untersuchungen spezifiziert, d.h. gegenstandsbezogen akzentuiert und methodisch umgesetzt werden. 4.2 Die wissenssoziologiscbe Grundlegung der Diskursperspektive Nachdem ich vorangehend erläutert habe, inwiefern ein Einbau diskurstheoretischer Überlegungen spezifische Einseitigkeiten der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie überwindet und welche Zielsetzungen damit verknüpft sind, möchte ich nun zeigen, inwieweit wichtige Konzepte der Foucaultschen Diskurstheorie innerhalb der Wissenssoziologie reformuliert werden können und welche Erweiterungen dazu gegebenenfalls notwendig sind. Im Einzelnen geht es um die Klärung der folgenden Fragen: 1.
2.
3.
Erstens diskutiere ich die zeichen- und sprachtheoretischen Grundlagen der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie. Geprüft wird, inwiefern die Wissenssoziologie den Zeichengebrauch als soziale Praxis innerhalb eines Diskursuniversums (universe ofdiscourse) begreift (Kap. 4.2.1). Zweitens geht es um die Konzeption des Zusammenhangs zwischen einzelnen diskursiven Ereignissen (Aussageereignissen) und übergreifenden Diskursstrukturen. Die Wissenssoziologie selbst hat hier bislang unzureichende Vorschläge vorgelegt, die der Ergänzung bedürfen (Kap. 4.2.2). Im dritten Schritt frage ich nach den Akteurskonzepten der wissenssoziologischen und der diskurstheoretischen Tradition und diskutiere, welche Elemente der Diskurstheorien mit dem handlungstheoretischen Ansatz der Wissenssoziologie vereinbar sind (Kap. 4.2.3).
194 4. 5.
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse Viertens geht es um die Beziehung zwischen Diskursen und Praktiken. Sie ist in der bisherigen Diskurstheorie nur unzureichend bestimmt und gibt deswegen immer wieder Anlass zu Missverständnissen (Kap. 4.2.4). Fünftens wird das Verhältnis von öffentlichen Diskursen zu den Spezialdiskursen und diskursiven Formationen erläutert, von denen Foucault mit Blick auf wissenschaftliche Disziplinen oder institutionelle Felder spricht (Kap. 4.2.5).
Die folgenden Abbildungen I und 2 illustrieren in schematischen Überblicken das Verhältnis zwischen Diskursen, diskursiven Ereignissen, Akteuren und Praktiken, wie es anschließend entfaltet wird: Abbildung 1:
A K T
U
A L I S I E
R U
N G
Dialektik zwischen Diskurs und diskursiven Ereignissen
DISKURS R
E A L I S I E
R U
R,g'J"'P""'tiO' AKTEURE
Pr ktiken
N G
0
I A L E K T I K
DISKURSIVE EREIGNISSE ~ Erläuterung: Akteure beziehen sich auf Diskurse, um Praktiken zu vollziehen, die Aussageereignissen zugrunde liegen. Dadurch werden Diskurse realisiert. Dieser Prozess aktualisiert gleichzeitig die Diskursstruktur im Sinne einer wechselseitigen Beeinflussung.
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
Abbildung 2:
195
Diskurse und diskursive Ereignisse im Zeitverlauf
Diskurs (Formationsregeln; institutionell stabilisiert) i
.~
~
Reproctukti;n/ ransformatlOn
s o
~~ Akteure ...
Z
I A L R A
diskursive Ereignisse
U M
diskursive Ereignisse...
DElb
DElx Zeitachse
Erläuterung: Diskursive Ereignisse erscheinen sozialräumlich gleichzeitig an verschiedenen Orten bzw. sukzessive am selben Ort oder anderswo. Akteure orientieren ihre Praktiken an den bestehenden Diskursen (Regeln und Ressourcen), auf die sie sich interpretierend beziehen. Die Diskursstrukturen werden dadurch aktualisiert, also reproduziert bzw. (in unterschiedlichen Graden) transformiert und zur Grundlage anschließender Aussageereignisse.
4.2.1 Zeichen, Typisierungen, Diskursuniversum Die von BergerlLuckmann vorgenommene Beschreibung von Wissensbeständen als sozial typisierten Deutungs- und Handlungsroutinen, die nach Maßgabe der pragmatischen Relevanzgesichtspunkte, Aneignungs- und Auslegungsformen sozialer Akteure zum Einsatz kommen, scheint zunächst nur schwerlich mit dem diskurstheoretischen Blick auf Sprachgebrauch vereinbar zu sein. In der diskurstheoretischen Tradition gelten Zeichen als Bestandteile konventionalisierter Systeme der Differenzbildung, die durch den Zeichengebrauch entstehen und sich zu Diskursen verdichten. Während Foucault mit seinem Programm insbesondere die Formationsregeln der Diskursproduktion anvisierte, haben sich bspw. LaclauJMouffe stärker mit den bedeutungsstrukturierenden Momenten der Diskurse auseinander gesetzt (vgl. Kapitel 3.3.2). Im Kern geht es dabei um Überlegungen, die aus der ,strukturalen' Tradition und deren sprachpragmatischer Wendung in der Diskurstheorie stammen: Die Bausteine eines Diskurses - die Begriffe, Theorien, Deutungsmuster, KlassifIkationen usw., die er transportiert - erhalten ihren Sinngehalt aus dem Relationsgefüge, das durch ihren Gebrauch erzeugt und reproduziert wird, und in das sie unweigerlich eingebunden sind. Dazu gehört zum einen die Binnenstruktur der Deutungselemente innerhalb eines Diskurses, zum anderen die Außenbeziehungen, d.h. das, was jeweils als nicht thematisiertes die ausgeschlossenen Bezugsdifferenzen bildet. So wie Niklas Luhmann (1984:
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100t) darauf verweist, dass jede Begriffsanwendung eine Unterscheidung vornimmt und dadurch "bezeichnet", eine Differenz markiert, so beschreiben LaclaulMouffe Diskurse als Systeme von Differenzen, die in ihren Ein- und Ausschlüssen spezifische Bedeutungsqualitäten erzeugen. Bspw. erhält die Chiffre der ,Freiheit' eine sehr unterschiedliche praktische Ausdeutung, je nachdem, in welchen Diskurskontext sie eingebaut wird. In keinem Fall hat sie Bedeutung aus sich heraus. Die verschiedenen Kritiken des Strukturalismus hatten, ähnlich wie Wittgenstein, insistiert, dass der Gebrauch der Zeichen und Symbole in konventionalisierten Sprachspielen ihre Bedeutung bestimmt. Wie stellt sich dieses Verhältnis von Zeichengebrauch und diskursiv stabilisierten Signifikationsstrukturen in den Begriffen der Hermeneutischen Wissenssoziologie dar? Ich behaupte, dass hier kein großer Gegensatz zur Diskurstheorie existiert. Dies kann in Auseinandersetzung mit den Traditionen der pragmatistischen Semiotik, in denen das Zeichenkonzept von Alfred Schütz und BergerlLuckmann steht, gezeigt werden. Einen wichtigen Hinweis darauf liefert die Verwendung des aus der pragmatistischen Zeichenlehre stammenden, u.a. von Mead benutzten Begriffs "universe of discourse" (vgl. Kap. 3.1.1) - des Diskursuniversums, in dem allein Zeichen ihre Bedeutung haben - durch Schütz. 303 In seiner frühen Erläuterung sprachsoziologischer Fragestellungen betonte auch Thomas Luckmann Konvergenzen zwischen strukturalistischer und pragmatistischer Sprachtheorie. Dort verweist er auf den engen Zusammenhang von Sprach- und Wissenssoziologie und spricht von dem BergerlLuckmannschen Programm als einer "sprachsoziologisch interessierten und relevanten Version der Wissenssoziologie" (Luckmann 1979: 12t). Im Unterschied zur strukturalistischen Semiotik von Saussure (Kap. 3.1.2) entwickeln Charles S. Peirce, George Herbert Mead oder Charles Morris eine Zeichentheorie, welche die Zeichenanwendung als auf einen Zeichenkontext bezogene Interpretation begreift und dabei auch von Diskursen spricht. 304 Charles Morris schlägt 1938 im Anschluss an Peirce, Mead u.a. eine dreidimensionale Semiotik vor, die aus Syntaktik, Semantik und Pragmatik besteht. Die Pragmatik beschäftigt sich demnach mit den Beziehungen zwischen Zeichen und ihren Interpreten bzw. Interpretationen, die Semantik untersucht die Beziehungen zwischen den Zeichen und den Objekten, auf die sie bezogen sind, und die Syntaktik fokussiert die Beziehungen der formalen Relationen der Zeichen untereinander: "Pragmatik ist der Teil der Semiotik, der sich mit dem Ursprung, den Verwendungen und den Wirkungen der Zeichen im jeweiligen Verhalten beschäftigt; Semantik befaßt sich mit der Signifikation der Zeichen in allen Signifikationsmodi; Syntaktik beschäftigt sich mit ZeichenDarauf verweist Hanke (2002: 157). Vgl. zum Pragmatismus bei Schütz auch Srubar (1988). Als kleine Randbemerkung zum imaginären Aufeinandertreffen von Schütz und Foucault erlaube ich mir den Hinweis, dass die "Gesammelten Aufsätze" von Schütz zunächst in englischer Sprache in einer Kollektion des Husserl-Archivs erschienen sind, zu deren Redaktionsgruppe neben Maurice Merleau-Ponty, Paul Ricreur u.a. auch Jean Hyppolite gehörte, dessen Schüler Foucault war und dem er die Schlussworte seiner Eröffnungsrede am College de France widmete (Foucault 1974b: 49ft). 304 Es geht mir hier nicht um eine Diskussion der Entwicklung dieser Variante der Semiotik bis hin zur zeitgenössischen Sprachtheorie, sondern um grundlegende Elemente bezüglich des wissenssoziologischen Typenkonzeptes. Ernst Cassirers "Philosophie der symbolischen Formen" lässt sich ebenfalls in diese semiotische Tradition einordnen (Paetzold 1993: 46; Cassirer 1972; 1994). Die Frage nach den sprachlich konstituierten Weltbildern steht in der durch Humboldt begründeten neueren Tradition der Sprachphilosophie (Paetzold 1993: 69). Dem liegt auch Cassirers Sprach- und Menschenverständnis zu Grunde: die Wirklichkeit ist dem Menschen nur in Gestalt des gesellschaftlich-historischen Symbolnetzes gegenwärtig; der Mensch, das "animal symbolicum", lebt in einen symbolischen Universum. 303
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kombinationen, ohne ihre spezifischen Signifikationen oder ihre Relation zu dem jeweiligen Verhalten zu berücksichtigen. Wenn Pragmatik, Semantik und Syntaktik so verstanden werden, können sie innerhalb einer verhaltensorientierten Semiotik interpretiert werden, wobei die Syntaktik die möglichen Zeichenkombinationen, die Semantik die Signifikation von Zeichen und damit das interpretante Verhalten, ohne das es keine Signifikation gibt, und die Pragmatik die Entstehung, die Verwendungen und Wirkungen von Zeichen im Gesamtverhalten der Zeicheninterpreten untersucht." (Morris 1981: 326; vgl. auch Morris 1972; 1977) Im soziohistorischen Prozess des Sprachgebrauchs bilden sich entlang der institutionellen Einbettungen und Praxisfelder bzw. Funktionsoptimierungen verschiedener "Sprachzwecke" "Sprachspezialisierungen" aus, die von Morris als "Diskurstypen" bezeichnet werden (Morris 1981: 215ft). Mit dem Begriff "Diskurs" belegt er entsprechende soziale Konventionalisierungen und Institutionalisierungen des Sprachgebrauchs: "lm Laufe der Zeit haben sich verschiedene Spezialisierungen dieser Alltagssprache herausgebildet, damit bestimmte Zwecke adäquater erftillt werden können. Diese Sprachspezialisierungen werden Diskurstypen genannt. Bücher werden z.B. als wissenschaftlich, mathematisch, poetisch, religiös usw. klassifiziert, und im Rahmen dieser umfassenderen Klassifikationen gibt es fast unbegrenzte Unterabteilungen und Überschneidungen." (Morris 1981: 215) Aus der Kombination von SignifIkationsmodi und Formen des Zeichengebrauchs entwickelt Morris eine Diskurstypologie, die bspw. den wissenschaftlichen Diskurs vom fIktiven, rechtlichen, poetischen, moralischen, religiösen, politischen usw. Diskurs unterscheidet. Innerhalb der pragmatistischen Sprachphilosophie fmdet jedoch schon vorher der Diskursbegriff Verwendung. Dabei geht es um die Vorstellung vom "Diskursuniversum", die Ähnlichkeiten mit Wittgensteins Konzeption der "Sprachspiele" aufweist (Schalk 1997/98: 92ff; Wittgenstein 1990). Der Begriff der Sprachspiele bezeichnet bei Wittgenstein abgrenzbare Aussageweisen, die durch spezifIsche Regeln und Eigenschaften ihres Gebrauchs unterscheidbar sind. (vgl. Kap. 4.2.2). Peirce und Mead beziehen sich mit dem Konzept des universe of discourse in ihren Theorien darauf, dass sich die Bedeutung sprachlicher Äußerungen erst vor dem Hintergrund eines Bedeutungskontextes in Gestalt des sozialen Diskursuniversums ergibt, das die implizierten Prozesse der Kodierung und Dekodierung reguliert. JOS Dieses Diskursuniversum ist - so Mead - ein gemeinsames (geteiltes) soziales Bedeutungssystem, das durch eine Gruppe von Individuen erzeugt wird, die an einem sozialen Prozess der Erfahrung und des Verhaltens teilhaben: "This universe of discourse is constituted by a group of individuals (...) A universe of discourse is simp1y a system of common or social meanings." (George Herbert Mead: Mind, Self and Society. Chicago 1963: 89f; zitiert nach Schalk 1997/98: 97) In der deutschen Übersetzung der entsprechenden Passagen des Meadschen Werkes ist statt von einem Diskursuniversum von einem logischen Universum die Rede: J06 305 Schalk verortet die Herkunft des Begriffs in der Logik von Boole (George Boole: An Investigation ofthe Laws ofThought, 1854); zur Beziehung zwischen Peirce und Boole vgl. Peirce (1993). 306 Die Wahl des Übersetzers ist vermutlich der erwähnten Herkunft des Begriffs geschuldet und verweist auf die immanente (logische) Stimmigkeit eines solchen Bedeutungshorizontes. Herbert Marcuse spricht in seiner Studie
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Die Existenz des Diskursuniversums ist also Bedingung tUr die Generalisierbarkeit von Symbolen bzw. umgekehrt: Das Diskursuniversum wird in der sozialen Praxis der Gruppe konstituiert und bildet ihren gemeinsamen Deutungshorizont. Es besteht aus den von allen geteilten Zeichen und Symbolen (Schalk 1997/98: 97) und erzeugt die Wirklichkeit der Welt tUr das jeweilige Kollektiv (einschließlich dessen eigener Existenz): Erst und nur die (sprachliche) Symbolverwendung ermöglicht das Auftreten und die Differenzierung von Situationen und Objekten, "da sie Teil jenes Mechanismus ist, durch den diese Situationen oder Objekte geschaffen werden" (Mead 1973: 117). Die pragmatistischen Zeichen- und Symboltheorien sprechen von Diskurstypus bezüglich abgrenzbarer Konventionalisierungen des Sprachgebrauchs, von Diskursuniversum im Hinblick auf die Stabilisierung von Sinnordnungen als Voraussetzung und Folge des Zeichengebrauchs in sozialen Kollektiven. Ein solcher Diskursbegriff ist mit diskurstheoretischen Positionen wie derjenigen des späteren Foucault vereinbar, die sich von einem Saussureschen Sprachverständnis ausgehend hin zu Wittgensteins Sprachspielkonzept oder der Sprachtheorie von Bakhtin und Volosinow (s. Kapitel 2.3.3.1; Kapitel 3.1.2) bewegen und die soziale Regulierung des Sprachgebrauchs als Praxis fokussieren. 308 Schalk konstatiert deswegen in ihrer Bilanz der Entwicklung des Diskursbegriffs zusammenfassend: "Für die modernen Bedeutungsvarianten des Diskursbegriffs, der nun weniger strukturelle Charakteristika der mündlichen Rede bezeichnet, sondern vielfach die Bedingungen von Sprache und Bedeutung in den Blick nimmt (Morris, Lyotard, FoucauIt), ist 3. die im Umfeld des amerikanischen Pragmatismus entstehende Kategorie des ,universe of discourse' von entscheidendem Einfluß. Sprachlich oder allgemein zeichenhaft repräsentierte Bedeutung (,meaning') existiert jeweils nur im weiteren Kontext bestehender ,Sprachspiele" die entweder die Extension eines sprachlichen Ausdrucks sanktionieren (Boole, Peirce, Mead) oder gar die Möglichkeiten sprachlicher Artikulation eines Gegenstandes reglementieren (Foucault, Lacan)." (Schalk 1997/98: 103)
über den "eindimensionalen Menschen" von der "Absperrung des Universums der Rede" (Marcuse 1987: 103 ff [1964]) und erläutert nach einem einleitenden Zitat von Roland Barthes spezifische sprachliche Entfremdungs-, Verdinglichungs- und Herrschaftsprozesse. Im englischen Originaltext ist - vielleicht in Anspielung auf die pragmatistische Tradition und Öffentlichkeitstheorie - von "The Closing of the Universe of Discourse" die Rede [Marcuse, H. (1964): One Dimensional Man. Boston, S. 84ft]. 307 Für Mead ergibt sich die Möglichkeit der Verständigung über die Grenzen von Sprachgemeinschaften hinweg durch den "logischen Diskurs" als Grundlage des "universalen" oder "allgemeinen" Diskurses - Ideen, die der später von Haberrnas und Apel entworfenen Diskursethik nahe stehen (vgJ. ebd.). 308 VgJ. Schalk (1997/98: IOlf), Potter (200Ia), Collins (1999), Maybin (2001).
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Die Zeichen- und damit auch Wissenstheorie von Alfred Schütz bzw. Peter Berger und Thomas Luckrnann bewegt sich innerhalb dieser Grundlegungen der pragmatistischen Tradition. 309 Schütz selbst benutzt an verschiedenen Stellen in seinen Schriften den Begriff des "universe of discourse" im Sinne eines sozial erzeugten und dem einzelnen Handelnden vorgängigen Deutungszusammenhangs. 310 Zwar führt er dieses Konzept nicht systematisch ein, aber in gewisser Hinsicht lässt sich seine Zeichen-, Kommunikations- und Wissenstheorie als Ausarbeitung einer Theorie des" universe 0/ discourse " verstehen. Bspw. schreibt Schütz in seinen Ausführungen über die "Welt der wissenschaftlichen Theorie": "All this, however, does not mean that the decision of the scientist in stating the problem is an arbitrary one or that he has the same ,freedom of discretion' in choosing and solving his problems which the phantasying self has in filling out its anticipations. This is by no means the case. Of course, the theoretical thinker may choose at his discretion, only determined by an inclination rooted in his intimate personality, the scientific field in which he wants to take interest and possibly also the level (in general) upon which he wants to carry on his investigation. But as soon as he has made up his mind in this respect, the scientist enters a preconstituted world of scientific contemplation handed down to hirn by the historical tradition of his science. Hencelorth. he will participate in a universe 01 discourse embracing the results obtained by others. methods worked out by others. This theoretical universe of the special science is itself a finite province of meaning, having its peculiar cognitive style with peculiar implications and horizons to be explicated. The regulative principle of constitution of such a province of meaning, called a special branch of science, can be formulated as folIows: Any problem emerging within the scientific field has to partake of the universal style of this field and has to be compatible with the preconstituted problems and their solution by either accepting or refuting them. Thus the latitude for the discretion of the scientist in stating the problem is in fact a very small one." (Schütz 1973b: 250; Herv. d. Verf.i ll
In Bezug auf die Möglichkeit wissenschaftlicher Theoriebildung führt er aus: "Theorizing (00') is, first, possible only within a universe of discourse that is pregiven to the scientist as the outcome of other people's theorizing acts." (Schütz 1973b: 256)312
309 Schütz diskutiert dort die Zeichen- und Symboltheorien von Alfred North Whitehead, Charles W. Morris, Ernst Cassirer, Susanne K. Langer, insbes. auch von Edmund Husserl und Henri Bergson u.a. Leitend für seine Diskussion und die von ihm vorgeschlagene Zeichentheorie ist die Orientierung am "pragmatischen Motiv" der "natürlichen Einstellung im Alltag" und insgesamt die Rezeption der pragmatistischen Theorien von William James, John Dewey oder George Herbert Mead (vgl. Schütz 1971d,t). Neben den erwähnten Autoren ist auch seine Auseinandersetzung mit Positionen von Gottfried Wilhelm Leibniz, Max Scheler und Jean Paul Sartre für die Ausarbeitung seiner eigenen phänomenologischen Position bedeutsam (Schütz 1971: 113ft). 310 Vgl. etwa Schütz (l973a: 110; 1973b: 250,256; 1973c: 323). In der deutschen Übersetzung werden verschiedene Begriffe zur Übertragung von ,universe of discourse' (,gemeinsame Sprache', Welt des Dialogs u.a.) benutzt. In keinem Fall taucht das Konzept selbst auf. 311 Die deutsche Übersetzung der Passage lautet: ,,(...) Sobald der Wissenschaftler sich aber entschieden hat, betritt er die bereits vorkonstituierte Welt wissenschaftlichen Denkens, die ihm von der historischen Tradition seiner Wissenschaft überliefert worden ist. Von nun an wird er an einer Welt des Dialogs teilnehmen. Diese umfaßt die Ergebnisse, die von anderen erarbeitet, Probleme, die von anderen gestellt wurden, Lösungen, die andere vorgeschlagen und Methoden, die andere entwickelt haben. (...)." (Schütz 1971d: 288; Herv. d. Verf.) 312 Auch hier wählt die deutsche Übersetzung einen anderen Begriff. So lautet die entsprechende Passage: ,,(...) Theoriebildung (ist) erstens nur innerhalb einer Welt wissenschaftlichen Dialogs möglich, die dem Wissenschaftler als Ergebnis fremder theoretischer Handlungen vorgegeben ist." (Schütz 1971d: 294)
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Schließlich heißt es im Kontext seiner Überlegungen über die Notwendigkeit der weitreichenden Übereinstimmung von Relevanzsystemen als Grundlage fur "erfolgreiche Kommunikation" (Schütz 1971f: 373): "The greater the differences between their system of relevances, the fewer the chances for the success of the communication. Complete disparity of the system of relevances makes the establishment ofa universe discourse entirely impossible." (Schütz 1973c: 323)313 Schütz verdeutlicht damit, dass typisierende und typisierte Zeichen immer in einem umfassenden Bedeutungshorizont eingebunden sind, der aus dem Zeichengebrauch innerhalb eines Kollektivs entstanden ist und diesen prägt: "Mit dem Zeichen, dem bezeichneten Objekt und dem Bewußtsein des Deutenden von diesem Verhältnis entwickelt Schütz einen triadischen Zeichenbegriff, der den Zeichenprozeß umfassend zu erfassen versucht und sowohl handlungs- wie auch subjektbezogen ist. Dieser eröffnet die Einsicht in die zuvor auch von Saussure als Arbitrarität des sprachlichen Zeichens benannte ,Beliebigkeit des Bedeutungsträgers', wonach die Beziehung zwischen dem Zeichenträger und seiner Bedeutung willkürlich, das heißt arbiträr beziehungsweise konventionell ist. (... ) Da Zeichen und Bezeichnetes qua Arbitrarität nicht miteinander verbunden sind, wird die fur das Zeichen konstitutive Repräsentationsbeziehung als Konstruktionsleistung von seinem Interpreten hergestellt, der in einem fundierenden Akt des Auffassens (...) dieses nicht als es selbst, sondern nach anderen Deutungsschemata etwa als Repräsentant ftir Bewußtseinserlebnisse eines Sprechers interpretiert. Von den drei Größen der Zeichenrelation ist folglich eines das Subjekt oder der Interpret des Zeichens, der ,stillschweigend als bereits in Kommunikation mit seinen Mitmenschen stehend angenommen wird, so daß die Zeichen- oder Symbolrelation von Anfang an eine öffentliche ist', und aufgrund dessen wird neben einem denkenden Ich (ego cogitans), ,welches die Zeichen setzt', stets auch ein solches mitgedacht, ,welches die Zeichen deutet', bleibt also der kommunikative Charakter von Zeichensetzung und -deutung durchgängig erhalten." (Hanke 2002: 62f) 314 Schütz schließt mit seiner Sprach- und Zeichentheorie, abgesehen von seiner Ablehnung der behavioristischen Elemente, zustimmend an die Positionen von Morris u.a. an, insbesondere an deren Betonung der Interpretationsprozesse im Zeichengebrauch. Die Verschränkung von Zeichen-, Kommunikations- und Wissenstheorie bei Schütz lässt sich wie folgt zusammenfassen: Soziale Kollektive sind Kommunikationsgemeinschaften, die ihre symbolischen Ordnungen in Zeichensystemen typisieren und objektivieren - sie erzeugen ein gemeinsames Diskursuniversum. Diese Typisierungen werden als kollektiver WissensAls Beispiel für ein "Höchstmaß an Übereinstimmung" gelten ihm "hochformalisierte und standardisierte Fachsprachen". In der deutschen Übersetzung lautet die oben zitierte Passage so: "Je größer der Unterschied zwischen ihren Relevanzsystemen, je geringer die Möglichkeiten fur eine erfolgreiche Kommunikation. Bei gänzlich verschiedenen Relevanzsystemen kann es nicht mehr gelingen, eine ,gemeinsame Sprache' zu finden" (Schütz 1971 f: 373). 314 Schütz erwähnt auch die Saussuresche Sprachtheorie und verweist auf das Konzept der Arbitrarität des Zeichens. Insgesamt bezieht er sich jedoch stärker auf den schon bei Aristoteles formulierten Gedanken der sozialen Konventionalisierung von Zeichen: "Wir folgen der Feststellung des Aristoteles, daß ,ein Name ein durch Konvention signifikanter Laut ist (... )' (,De Interpretatione,' l6a 19) (...) Nach Aristoteles ist demnach die Sprache, und künstliche Zeichen im allgemeinen, eine Sache der Konvention. Der Begriff der Konvention aber setzt das Vorhandensein der Gesellschaft voraus wie auch schon die Möglichkeit einer gewissen Verständigung, vermittels welcher ,Konventionen' festgelegt werden können." (Schütz 1971f: 336). 313
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vorrat gespeichert und in Sozialisationsprozessen subjektiv angeeignet. Sie funktionieren dann, bezogen auf das individuelle Erleben, gleichzeitig als Schemata der aktiven Erfahrung oder Wahrnehmung (Apperzeption) und als solche der über das Zeichen hinausweisenden Deutung, der Appräsentation, also der Interpretation des Wahrgenommenen und des intervenierenden DeutenslHandelns (vgl. Kap. 2.3.3.1). Der Appräsentationsprozess, d.h. der Schluss von einem Zeichen auf eine nicht-präsente Referenz beinhaltet vier Dimensionen: die Apperzeption (Wahrnehmung) eines Zeichenphänomens; die eigentliche Appräsentation als Verweisrelation (etwa die Zurechnung eines Kreidestriches als Schriftzeichen), ein Referenzschema (der Bereich der Gegenstände, auf die verwiesen wird) und eine allgemeine Rahmen- oder Deutungsordnung (welcher Code - bspw. die deutsche Sprache - liegt dem zugrunde).315 Schütz verweist entschieden darauf, dass die entsprechenden Appräsentationsleistungen sich nicht nur auf ein isoliertes Zeichen bzw. Objekt beziehen, sondern auf ein Netz von Verweisungen, in das es eingebunden ist: 316 "Es gibt aber weder in der unmittelbaren noch in der analogischen Erfahrung so etwas wie ein isoliertes Objekt, das ich beziehungslos erfahren haben könnte. leder Gegenstand ist Gegenstand innerhalb eines Felds, zum Beispiel eines Wahrnehmungsfelds; jede Erfahrung ist von einem Horizont umgeben; beide gehören zu einem bestimmten Bereich (einer ,Ordnung'), der seinen eigenen Stil hat. (...) Ein mathematisches Objekt, zum Beispiel ein gleichseitiges Dreieck, verweist auf alle Axiome und Theoreme, welche dieses mathematische Objekt definieren, wie auch auf alle Theoreme usw., die im Begriff der Dreieckigkeit und der Gleichseitigkeit gründen, so auf ein regelmäßiges Viereck und schließlich auf eine geometrische Figur im allgemeinen." (Schütz 1971 f: 344)
Schütz spricht auch von den verschiedenen Symbolsystemen etwa der Kunst, Religion, Politik und Philosophie, die nur in loser Verbindung zueinander stehen und ein besonderes Merkmal der Gegenwart darstellen (ebd.: 384). Damit sind letztlich die Diskurstypen bezeichnet, die auch Charles Morris (s.o.) unterschieden hatte. Mehr oder weniger umfangreiche symbolische Ordnungen funktionieren als Apperzeptions- und Appräsentationssysteme, die ausgehend vom konkret-praktischen Zeichengebrauch die Möglichkeit sinnhafter Bezüge zu einer zeichenextemen Wirklichkeit konstituieren. Sie bilden "einen Sinnzusammenhang, der unter Umständen als institutionalisiertes, von allen Mitgliedern einer sozialen Gruppierung geteiltes Verweisungsschema diesen zu Gebote steht." (Srubar 1988:233)
Das kollektiv erzeugte Diskursuniversum bildet also die Grundlage und Voraussetzung des Funktionierens von Apperzeptions- und Appräsentationsprozessen. Typisierungsvorräte im Sinne der Hermeneutischen Wissenssoziologie sind nichts anderes als Differenz-Systeme von Zeichen, die durch den Zeichengebrauch sozialer Kollektive entstehen und sich durch ihren wechselseitigen Bezug bzw. ihre Abgrenzung zugleich unterscheiden und konstituieren. Historisch sind sie dem einzelnen Individuum und Bewusstsein immer schon als mehr oder weniger stark fixierter ,Bestand' vorgängig. Das wichtigste Beispiel rur ein solches Vgl. die Zusammenfassung der Zeichentheorie von Schütz bei Hanke (2002: 57ft). Dies wird auch deutlich in seiner Diskussion der Studien von Marcel Granet über chinesische Klassifikationssysteme (vgl. Schütz 1971f: 385ft). 315
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Zeichen- und Wissenssystem ist sowohl rur Schütz wie rur Berger/Luckmann die Sprache (vgl. Kap. 2.2.1 und 2.3.3.1): "Die sprachliche Benennung von Dingen und Ereignissen beinhaltet die Bildung typischer Konstruktionen und Generalisierungen, eine sich an Relevanzen orientierende sprachliche Ordnung, die als ,Schatzkammer vorgefertigter verfügbarer Typen' auch Teil der Lebenswelt ist und die Ableitung sozial vermittelten Wissens ermöglicht. Sprachliche Bezeichnung ,mit einem bestimmten Wort' dient der Einordnung in den Gesamtzusammenhang der Erfahrung und somit dem Verstehen." (Hanke 2002: 67f)
Die im Sprachgebrauch erfolgende semantische und taxonomische Festlegung von Typisierungsmustem ermöglicht subjektive Orientierungen und Handlungen in der Welt qua Institutionalisierung eines Zeichensystems, das als Institution im Sinne des Institutionenbegriffs von Gehlen Deutungsprozesse sowohl ermöglicht wie auch einschränkt: "Diese Leistung der Sprache beruht auf der Festlegung der Darstellungsfunktion der Zeichen, ihrer semantisch-taxonomischen Erstarrung im System." (Schüt:zJLuckmann 1984: 208)
Das quasi-ideale Bedeutungs-System Sprache ist Voraussetzung einer Entsubjektivierung der individuellen Deutungspraxis, d.h. der geschichtlich-gesellschaftlichen Bestimmung der subjektiven Orientierung des Einzelnen in der Lebenswelt. Sie ist ein soziohistorisches Produkt von Institutionalisierungsprozessen und so der geschichtlich situierten Sozialwelt vorausgesetzt. Die Zugangschancen zur Sprache sind sozial ungleich verteilt; die unterschiedliche und ungleiche soziale Verteilung des Wissens hängt damit unmittelbar zusammen. Sprachverwendung ist eine durch soziale und sozialstrukturelle Konventionalisierungen geregelte gesellschaftliche Praxis: "Sprachen entstehen in ihrer Besonderheit, in ihrer inneren phonologisch-syntaktischen und lexikalischen Gliederung wie in ihrer äußeren Schichtung in Register und Lekte, grundSätzlich unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie werden dann auch unter verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen verwendet; die Art und Weise des Gebrauchs über die Generationen hinweg wirkt sich wiederum auf Stabilität und Wandel der Sprachstruktur und Sprachschichtung aus. Demnach bestimmt Gesellschaftsstruktur Sprache auf zweifache Weise. Eine besondere geschichtliche Sozialstruktur hat eine besondere Kette typischer kommunikativer Vorgänge gesteuert: diese brachten - über Stabilisierung und Wandel schon vorhandener Elemente - eine bestimmte Sprachstruktur und Schichtung hervor. Zum anderen regelt aber eine gegebene Sozialstruktur mehr oder minder verbindlich und in mehr oder minder funktionsbezogener Weise die typischen Verwendungen der vorhandenen kommunikativen Mittel in typischen Situationen, begonnen mit den frühen Phasen des Spracherwerbs (...) bis zur institutionellen Festlegung semantischer, syntaktischer und rhetorischer Elemente der Kommunikation. (... ) Darüber hinaus wird der aktuelle Gebrauch kommunikativer Mittel in konkreten Situationen gesellschaftlich geregelt. Die Regelungen können aus streng bis lose gehandhabten negativen und positiven Selektionsregeln bestehen. Dazu gehören Verbote wie Worttabus, Verpönungen bestimmter Stilvarianten in gewissen Situationen oder gegenüber bestimmten Personentypen, Gebote für den Gebrauch bestimmter Sprachformen oder ganzer Sprachschichten wie in der verbindlichen (symmetrischen oder asymmetrischen) Benutzung statusbedingter Anredeformeln, Stilvarianten usw. (...) Der Gebrauch kommunikativer Mittel ist also sowohl von der geschichtlich verfügbaren Struktur der kommunikativen Mittel wie von der konkreten gesellschaftlichen
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Regelung kommunikativer Vorgänge bestimmt (...) Der aktuelle Gebrauch kommunikativer Mittel setzt sich ebenfalls aus Regelbefolgung, Routine und aus dem - wenn auch noch so eingegrenzten - Handeln in der Wir-Beziehung zusammen. Daraus ergibt sich Strukturerhaltung und Strukturwandel." (Schütz/Luckmann 1984: 209f)
Damit sich die erwähnten Zeichen/Typisierungen zur sprachlichen Gestalt eines komplexen, sozial geteilten "universe of discourse" (SchützJLuckmann 1984: 327) bzw. eines kollektiven Wissensvorrates stabilisieren können, ist historisch-genetisch eine gewisse Kongruenz der Handlungsrelevanzen notwendig - das ist nicht zuletzt ein Grundthema der "Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit". Der Gebrauch der Typisierungen ist dann zwar sozial reguliert, aber nicht vollständig determiniert. Es besteht also prinzipiell eine gewisse Freiheit des Deutens und Handelns in konkreten Situationen sowie ein Überangebot an Verständigungsformen und Mustern für Sinnzuschreibungen. Gesellschaften unterscheiden sich nach dem bereitgestellten Spektrum solcher Wahlmöglichkeiten. Allerdings gerät in der an Schütz anschließenden Wissenstheorie der "Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" die Analyse der Wissensvorräte, Typisierungen und Zeichensysteme allzu monolithisch und fcillt hinter ihre pragmatistischen Grundlagen zurück. Dies zeigt Norbert Schröer (1999; 2002) in seiner Rekonstruktion der von Luckmann vorgelegten, unmittelbar die Schützschen Ausfuhrungen aufgreifenden Sprachsoziologie und Konstitutionsanalyse sprachlicher Zeichensysteme. Luckmann fundiere damit letztlich, so Schröer, strukturalistische Sprach- und Kommunikationstheorien und böte eine insgesamt problematische Überwindung der Frontstellung zwischen strukturalistischen Sprachtheorien und pragmatischen Kommunikationstheorien an, die in eine systemische Erstarrung von Sprache münde. Was ist damit gemeint? Wie erläutert, begreifen Schütz, Berger und Luckmann Sprache als soziale Institution, ihre Entstehung als Institutionalisierungsprozess. Ein Sprachsystem ist ein gesellschaftlich erzeugtes quasi-ideales System von Typisierungen, das in seiner Genese aus face-to-face Interaktionen entsteht, zunehmend davon abgelöst wird und unterschiedliche Anonymisierungsgrade erreicht. Die Verwendung dieses historisch entstandenen Sprachsystems wird über Gebrauchsregeln bzw. Sprachpraktiken (kommunikative Gattungen) ermöglicht: "Luckmann geht davon aus, dass sich im fortwährenden intersubjektiven Spiegelungsprozess in historischen Gesellschaften kulturspezifisch ideale Zeichensysteme abheben, flir deren konkrete Verwendung eben diese Gesellschaften dann spezifische Verwendungsregeln, sozusagen Binnenpragmatiken, zur Verfligung stellen. Diese Verwendungsregeln sind sowohl sozialstruktureIl (soziale Verteilung der Sprache) als auch situationspragmatisch (typisches Sprechen in typischen Situationen) geprägt." (Schröer 2002: 112)
Diese Sprachkonzeption ist mit dem von Saussure entwickelten Sprachmodell kompatibel, da sie zwischen dem abstrakten Zeichensystem und der Regulierung seiner Anwendung durch kommunikative Gattungen unterscheidet. Eine solche Idealisierung der systemischidealen Stabilität von Sprache als Signifikationszusammenhang widerspricht jedoch den Grundpositionen der wissenssoziologischen Theorie selbst, die ja die (relative) Kreativität der Deutungsleistungen individueller Akteure sowie die Permanenz der gesellschaftlichen Konstruktion betont. Sie widerspricht auch dem Konzept der Diskursuniversen, das zwar soziale Konventionalisierungen der Deutungszusammenhänge anvisiert, jedoch von einem
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pennanenten ,Fließgleichgewicht' zwischen deren Reproduktion und Transfonnation ausgeht. Schröer (1999; 2002) sieht die Ursachen des Defizits der Luckmannschen Sprachsoziologie in dessen unzulänglicher Lösung des "Perspektivitätsproblems", d.h. der Frage, wie die Perspektivität der Weltwahrnehmung des individuellen Bewusstseins in der Verständigung überwunden wird. Als Erklärung dafür werde von Luckmann lediglich auf die Genera/these der Reziprozität der Perspektiven bei Schütz verwiesen. 317 Demgegenüber müsse auf der Vorstellung einer prinzipiellen Heterogenität gesellschaftlicher Zeichen- und Symbolordnungen insistiert und dann eine ,mittlere' Gebrauchsebene der sozialen Konventionalisierung von Verwendungsweisen angenommen werden: "Bezieht man die unausrottbare und in komplexen Gesellschaften an Bedeutung gewinnende Perspektivität der Erfahrungsbildung in die Konstitutionsanalyse sprachlicher Zeichensysteme entsprechend ein, dann ist der Verzicht auf eine sprachliche Zentralperspektive, auf ein ideales Zeichensystem, nicht vermeidbar. In den Vordergrund kommunikationssoziologischer Betrachtung rücken an ihrer Statt (a) die Pragmatiken mittlerer Reichweite, die sozialstruktureIl oder situations- und handlungstyppragmatisch gerahmt relativ stabile Ähnlichkeitsbereiche und in diesem Zusammenhang relativ stabile Zeichensysteme mittlerer Reichweite ohne Rückbindung an eine sprachliche Zentralperspektive aus sich heraustreiben und (b) das Zusammenspiel dieser Bereiche, das zu immer neuen Ausdifferenzierungen, Modifikationen und Passungen fUhrt." (Schröer 2002: 116f)
Ich schlage vor, die von Schröer als Lösung des Problems der relativen Übereinstimmung der Deutungsperspektiven erwähnten Pragmatiken mittlerer Reichweite als Diskurse zu begreifen und zu analysieren. Im Sinne der pragmatistischen Konzeption des Diskursuniversums wird der Aufbau gemeinsamer und geteilter Signifikationsstrukturen als (sozialer) Prozess begriffen, der zwischen Reproduktionen und Transfonnationen solcher Sinnordnungen oszilliert. Seine gesellschaftlichen Konventionalisierungen beziehen sich nicht nur auf die fonnalen Ablaufstrukturen des Sprachgebrauchs, wie das Konzept der kommunikativen Gattungen nahe legt, sondern auch auf die Inhalte der entsprechenden "Sprachspiele" oder "Diskurstypen", also die Bedeutungsgehalte von Zeichen bzw. Typisierungen und Wissen, die Ausführung der weiter oben erwähnten Appräsentationsbeziehungen innerhalb eines Diskursuniversums. Aus der Perspektive der Wissenssoziologischen Diskursanalyse lässt sich so das Problem des Verhältnisses von sozial stabilisierten Signifikationsstrukturen (Differenzstrukturen auf der Bedeutungsebene der Diskurse) und der reproduzierenden oder transfonnierenden Bedeutungszuweisung im aktiven Zeichengebrauch interpretierender Akteure angemessen begreifen. Im Sinne der Dualität von Struktur werden in diskursiven Praktiken Bedeutungshorizonte als Apperzeptions- und Appräsentationsschemata generiert und vorübergehend konventionalisiert. Sie liegen als instruierende Regeln den diskursiven Praktiken wiederum zugrunde und werden im praktischen Gebrauch aktualisiert,
Diese These besagt, dass die Intersubjektivität der Lebenswelt auf zwei Idealisierungen des Bewusstseins beruht: zum einen der Unterstellung, der oder die Andere würde an meiner Stelle die Dinge so sehen wie ich und vice versa; zum zweiten die Annahme der ausreichenden Übereinstimmung der jeweiligen Relevanzsysteme, also die Ausklammerung von Zutlilligkeiten des individuellen Lebenslaufes und der darin gemachten Erfahrungen (vgl. Schütz 1971a: 12ff; 1971f: 364ff; SchützfLuckmann 1979: 87ft). 317
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also zugleich reproduziert und gegebenenfalls erneuert bzw. verändert. 318 Ihre Anwendung setzt immer Interpretationsleistungen der beteiligten Akteure voraus.
4.2.2 Diskursive Ereignisse Die Diskussion der zeichentheoretischen Grundlagen der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie hat ergeben, dass der Zeichengebrauch im Deuten und Handeln innerhalb eines Kollektivs Zeichensysteme institutionalisiert bzw. konventionalisiert. So entsteht ein strukturierter Zusammenhang von differenzbildenden Typisierungen, der wiederum konkrete SignifIkationsprozesse oder Sprachereignisse anleitet. Wie lässt sich dieser Zusammenhang genauer bestimmen? Der Begriff Diskurs bezeichnet einen Strukturierungszusammenhang, der verstreuten diskursiven Ereignissen zugrunde liegt. Kommunikative Äußerungen wie Zeitungsmeldungen, Flugblätter, Vorträge u.a. bspw. zum Hirntod (Schneider 1999), zur Humangenetik (Waldschmidt 1996), zum Klimawandel (Viehöver 1997) können an zeit-räumlich und sozial sehr weit auseinander liegenden Orten erscheinen, von unterschiedlichsten sozialen Akteuren fur diverse Publika hergestellt sein und dennoch einen typisierbaren Kerngehalt, eine typische ,,Aussage" im Sinne Foucaults enthalten, also Teil ein und desselben Diskurses sein. Darauf zielt ja gerade das Diskurskonzept - einen Begriff fur die Typik disparater empirischer und als Ereignisse singulärer Äußerungen zur Verfugung zu stellen. Für einen solchen Strukturierungszusammenhang hat die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie bislang und abgesehen von wenigen Hinweisen auf Routinehandlungen und Normbefolgung kein überzeugendes Deutungsangebot gemacht. Ich bezeichne im Anschluss an Foucault mit dem Begriff des diskursiven Ereignisses bzw. des Aussageereignisses die typisierbare materiale Gestalt von Äußerungen, in der ein Diskurs in Erscheinung tritt. 319 Aussageereignisse sind in diesem Sinne diejenige Teilmenge aller sprachlichen bzw. Kommunikations-Ereignisse, denen Diskurse als Strukturierungsprinzipien zugrunde liegen. Das Verhältnis von Diskurs und diskursivem Ereignis entspricht dem Verhältnis von Struktur bzw. Strukturierung und einzelner Handlung (Praktik). Aus der Handlung entsteht die Struktur, aus der Struktur im Prozess der Strukturierung die Handlung. Ohne Aussageereignisse gibt es keine Diskurse; ohne Diskurse können Aussageereignisse nicht verstanden, typisiert und interpretiert werden. Dieses Verhältnis von Diskurs und diskursivem Ereignis bildet die Dualität von Struktur. Das Foucaultsche Diskursverständnis lässt sich in eine solche Perspektive integrieren: Foucaults Analyse zielt ja gerade durch die empirische Ebene der manifesten Äußerungen, Dokumente und Aussagen Dabei sind in der Regel kleinere Sinnverschiebungen gemeint, die nur soweit reichen, wie sie noch unter dem Bedeutungshorizont eines typisierenden Schemas gefasst werden können, da ansonsten keine Anschlussmöglichkeiten bestehen. Eine größere Differenz wird eher als etwas ,komplett Neues' wahrgenommen. 319 Foucault selbst sprach von "Aussage" in Bezug auf den typisierbaren Gehalt von singulären, verstreuten Äußerungen (vgl. Kap. 3.2.3). Foucault verwendet den Begriff des diskursiven Ereignisses zur Bezeichnung des normalen und typischen Aussageereignisses innerhalb eines Diskurses bzw. unterscheidet zwischen normalen oder banalen diskursiven Mikroereignissen und seltenen diskursiven Makroereignissen (vgl. dazu die Diskussion bei Link 1999). Schwab-Trapp (2001, 2003) dagegen spricht im Hinblick auf besondere Ereignisse in einem Diskursverlauf, die bspw. inhaltliche Wendepunkte markieren, von einem "diskursiven Ereignis". Inwieweit und worin eine solche prägende Sonderrolle einzelner Ereignisse besteht, muss in der empirischen Rekonstruktion gezeigt werden. Vgl. dazu auch Kap. 5. 318
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hindurch auf die Regeln der Diskurserzeugung. Diskurse werden von ihm als Strukturzusammenhänge begriffen, die konkreten Praktiken (Handlungen) der Aussageproduktion zugrunde liegen. Diese Praktiken und Aussagekomplexe können im Hinblick auf Formationsregeln, d.h. auf institutionelle Orte des Sprechens, formale und inhaltliche Regelmäßigkeiten, auf Reglementierungen dessen, wer was wo mit welchen Konsequenzen sagen kann, untersucht werden. Der Zusammenhang zwischen einzelnem diskursiven Ereignis und Gesamtdiskurs kann als aktualisierende Reproduktion oder Transformation einer Diskursstruktur verstanden werden, die nur in dieser Aktualisierung realisiert wird. Peter Wagner (1990) spricht im Anschluss an Giddens von "Diskursstrukturierung", wenn sich aus verstreuten Aussageereignissen nach und nach die empirische, typisierbare Gestalt eines solchen diskursiven Strukturzusammenhangs entwickelt,320 Eine solche Struktur ist strukturiert - also Ergebnis vergangener Prozesse der Strukturbildung - und strukturierend im Hinblick auf die Spielräume zukünftiger diskursiver Ereignisse. 321 Das tatsächliche Geschehen ist keine direkte Folge der Strukturmuster und Regeln, sondern Ergebnis des aktiv-interpretierenden Umgangs sozialer Akteure mit diesen Orientierungsmustern. Die analytische Unterscheidung von Struktur und Handeln bezieht sich auf zwei Seiten der "Wirklichkeit strukturierter Handlungssysteme" (Giddens 1988: 290). Giddens (1992) defmiert Strukturen als Regeln und Ressourcen, die konkreten Handlungsereignissen (Praktiken) sowohl zugrunde liegen als auch in diesen immer wieder erzeugt werden: 322 "Eine der Hauptaussagen der Theorie der Strukturierung ist, dass die Regeln und Ressourcen, die in die Produktion und Reproduktion sozialen HandeIns einbezogen sind, gleichzeitig die Mittel der Systemreproduktion darstellen (der Strukturdualität)." (Giddens 1992: 71)
Ein Beispiel rur diese Gedankenfigur der Rekursivität ist der Satz: "Dieser Satz enthält Subjekt, Prädikat, Objekt". Er greift nicht nur auf die erwähnten Sprachregeln zurück, um sie inhaltlich zu benennen, sondern er reproduziert gleichzeitig das entsprechende Bauprinzip rur Sätze, ihre grammatikalische Struktur. Giddens unterscheidet weiter normative Regeln von Regeln der Bedeutungserzeugung bzw. "Signifikationscodes". Ressourcen, die ihrerseits nur im deutenden Zugriff als solche verrugbar sind, werden aufgeteilt in "autoritative Ressourcen", die aus der Koordination von Handlungen entstehen, und "allokative Ressourcen", die aus der Kontrolle über unterschiedlichste Materialitäten resultieren. Dieser Differenzierung entsprechen - so Giddens - drei "Strukturierungsmodalitäten" als konkrete Ausprägung der Dualität von Struktur in Interaktionen, die in unterschiedliche Typen von Institutionen eingebettet sind. Die Regeln der Bedeutungskonstitution verweisen auf die im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung besonders bedeutsame Strukturierung durch Sinnstiftung, auf Kommunikations- und Signifikationsprozesse bzw. die Ebene der Sinnkonstitution, die in symbolischen Ordnungen und "Diskursformen" (Giddens 1992: 84) ihren institutionellen Niederschlag fmden. Einen zweiten Bereich bilden die 320 Maarten Hajer (1995,2003) bezeichnet als Diskursstrukturierung den Prozess des Hineinwirkens eines Diskurses in ein gesellschaftliches Praxisfeld. 321 Vgl. Giddens (1992: 67 ff, 85 f., 352 fl); Wittgenstein (1990) oder auch Bourdieu (1993). 322 In der neueren soziologischen Theorie hat Giddens damit die adäquateste Formulierung für die wechselseitige Bedingtheit, Ermöglichung und Erzeugung von Handeln und Strukturen formuliert. Vgl. dazu auch die Zusammenfassung der Position von Giddens zur "Verflechtung von Struktur und Handeln" bei Pofer! (2004: 37ft).
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Fonnen der mehr oder weniger stark fonnalrechtlich institutionalisierten Legitimation und damit einhergehender Sanktionsweisen, die sich auf die erwähnten nonnativen Regeln, also Rechte, Verpflichtungen, Verhaltenserwartungen u.a. richten. Als dritte Strukturierungsmodalität nennt Giddens schließlich die Fonnen der Herrschaft. Diese beziehen sich auf die erwähnten (politischen bzw. ökonomischen) Autorisierungen und Al1okationen von Ressourcen und damit auf Phänomene der Macht. Auch die Strukturierungsmodalitäten bezeichnen analytische Unterscheidungen von faktisch miteinander verwobenen Phänomenen. Bedeutsam ist schließlich die habituelI-routinehaft vol1zogene Aktualisierung von Strukturen im Handeln (praktisches Bewusstsein) bzw. in gesel1schaftlichen Praktiken und die Möglichkeit ihrer reflexiven Einholung in der kognitiven Zuwendung, die Giddens als "diskursives Bewusstsein" bezeichnet. 323 Strukturen basieren auf den "bewußt vollzogenen Handlungen situierter Akteure, die sich in den verschiedenen Handlungskontexten jeweils auf Regeln und Ressourcen beziehen (00') Struktur ist den Individuen nicht ,äußerlich'; in der Form von Erinnerungsspuren und als in sozialen Praktiken verwirklicht, ist sie in gewissem Sinne ihren Aktivitäten eher ,inwendig' als ein - im Sinne Durkheims - außerhalb dieser Aktivitäten existierendes Phänomen." (Giddens 1992: 77ff)
Giddens entwickelt dieses Konzept in Anlehnung an den Regelbegriff von Ludwig Wittgenstein. Letzterer bestimmt Regeln als soziale Institutionen und Institutionen wiederum als kol1ektive Prozesse mit selbstreferentiel1em, perfonnativem Charakter (Bloor 1997; Lane 1974). Die ,Führung' durch Regeln muss nicht über bewusst-reflexive Zuwendung vennittelt sein: "Ganz allgemein widerspricht Wittgenstein der Vorstellung, daß die Regeln (00') ihre Wirkung in der Art eines Kausalzwangs entfalten. Er sagt z.B., dass wir die Beweisführung nicht als einen Prozeß, der uns zwingt, sondern eher als einen Prozeß betrachten sollten, der uns führt." (Bouveresse 1993: 50).
Dieses Regelverständnis lässt sich durch den Institutionenbegriff von Arnold Gehlen erhellen: Institutionen bieten Routinelösungen für Handlungsprobleme, die nicht als kausaler Zwang wirken, aber deren Befolgung Vorteile der ,Kraftersparnis' bringt. Solche Regeln instruieren die Ausführung sozialer Praktiken (Giddens 1992; Joas 1996; Renn 2003). Es handelt sich nicht um Vorschriften oder vol1ständig detenninierende Erzeugungsmechanismen, sondern um ,Spielanleitungen', die praktisch-pragmatisch interpretiert werden. In diesem Zusammenhang von Regeln zu sprechen, verweist also keineswegs auf einen strengen Detenninismus, aber doch auf die notwendige Grundlage der Abstimmung und Aufeinanderbezogenheit von ,Spielzügen': Die Regeln sichern die Gemeinsamkeit, den Zusammenhang von Interaktions- und Kommunikationsprozessen. Bei ihrer Aktualisierung handelt es sich um eine (gewiss: mehr oder weniger) kreative Interpretationsleistung gesel1schaftlicher Akteure, die sie für ihre praktischen Zwecke, Strategien, Taktiken, Kontexte hin nutzen, auslegen und miterzeugen, um ihre Spielzüge durchzuführen. Diskurs ist der Begriff für ein unterscheidbares Sprachspiel, das mit seiner spezifischen Struktur typisierbaren Aussageereignissen zugrunde liegt. Das Konzept der Formationsregeln wird in der "Diskursiv" wird hier von Giddens im Sinne einer bewussten Reflexion von Gründen, Mitteln, Zielen usw. benutzt, nicht im Verständnis der Diskurstheorien.
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Wissenssoziologischen Diskursanalyse im Sinne von Giddens Verständnis der Regeln und Ressourcen reinterpretiert und eingesetzt. Bezogen auf dessen Strukturkonzept lässt sich dann festhalten, dass Diskurse • • •
normative Regeln für die (formale) Art und Weise der Aussageproduktion bereit stellen (z.B. legitime kommunikative Gattungen), Signiflkationsregeln für die diskursive Konstitution der Bedeutung von Phänomenen anbieten,324 Handlungsressourcen (Akteurspotenziale) und materiale Ressourcen (Dispositive) für die Erzeugung und Verbreitung von Bedeutungen mobilisieren.
Dadurch und in dieser Hinsicht leiten sie die Praktiken sozialer Akteure an, die konkrete Aussageereignisse ,material' erzeugen. Diskurskonstitutive Regeln der Selektion von Sprechern und Inhalten sind immer auch Regeln der Exklusion. Nicht jede(r) erfüllt die Kriterien und verfügt über die Ressourcen oder Kapitalien, die für die Teilnahme an einem spezifischen Diskurs vorausgesetzt sind. Und auch die spezifische Definition der Wirklichkeit, die ein Diskurs vorgibt, schließt andere Varianten aus. Insoweit verweist der Diskursbegriff unmittelbar auf den Begriff der Macht. Diskursstrukturen sind zugleich Machtstrukturen; diskursive Auseinandersetzungen sind machthaltige Konflikte um Deutungsmacht. Die Einheit der Struktur, d.h. des Diskurses ist ein notwendiges Hilfskonstrukt der sozialwissenschaftlichen Beobachtung, eine unumgängliche Hypothese zur Erklärung der Typisierbarkeit und des (weitgehenden) Wiederholungscharakters singulärer Ereignisse. 325 In der Abfolge solcher Ereignisse werden durch die Kontingenz der historisch-situativen Bedingungen und des Handeins hindurch Diskursstrukturen von sozialen Akteuren reproduziert oder transformiert. 326 Diese Vorstellung weist Parallelen zur Ethnomethodologie Vgl. zu den beiden ersten Punkten die Erläuterungen im vorangehenden Abschnitt 4.2.2. Diskurse sind der sozialwissenschaftlichen Analyse nicht direkt als reale Entitäten zugänglich. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Beobachter-Unterstellung, eine nach groben Kriterien (z.B. Leitbegriffe, spezifische Bezüge auf Praxis felder) vorgenommene Zusammenhangsvermutung im Hinblick auf beobachtbare, dokumentierte, aber zugleich disparate, verstreute weltliche (Aussage-) Ereignisse. Die Attribution solcher Ereignisse zu einem abgrenzbaren Diskurs kann zunächst nur vermutet werden - sonst ließe sich kein entsprechendes DatensampIe zusammentragen. Dann sind es jedoch Fragen der empirischen Analyse, inwieweit sich die (heuristischen) Vorannahmen als zutreffend erweisen, und welche formalen sowie inhaltlichen Merkmale einen spezifischen Diskurs kennzeichnen. 326 Dieser Zusammenhang wird ebenfalls deutlich in der Diskussion des Verhältnisses von Struktur und Ereignis bei Marshall Sahlins, der gegen das Primat der Strukturen bei Saussure und Levi-Strauss einwendet: "Es fällt auf, daß der allzu einfache Dualismus zwischen ,Ereignis' und ,Struktur' begriffliche Probleme verursacht. Was gemeinhin ,Ereignis' genannt wird, ist selbst etwas Vielschichtiges: Es ist sowohl ein Phänomen von eigener Kraft und Gestalt und mit eigenen Ursachen und Bedeutungen, die diese seine Eigenschaften im kulturellen Kontext annehmen, wobei ,Bedeutung' hier in ihrer doppelten Bedeutung von Sinn und Wichtigkeit zu verstehen ist. In Wahrheit handelt es sich um ein Argument mit drei Begriffen - Geschehen, Struktur und Ereignis -, in welchem das Ereignis als Beziehung zwischen den anderen beiden begriffen werden muss." (Sahlins 1992a: 91t). "In früheren Studien habe ich den Ereignisprozeß, d.h. die Art und Weise, wie kulturelle Kategorien in konkreten Kontexten durch das interessegeleitete Handeln der historischen Akteure und die Pragmatik ihrer Interaktion aktualisiert werden, als eine ,Konjunktion von Strukturen' beschrieben. (...) Das Ereignis entfaltet sich als eine Konjunktion verschiedener struktureller Ebenen, die durch Phänomene unterschiedlicher Ordnungen gekennzeichnet sind (...) Daß das Ereignis eine einzigartige Realisierung einer allgemeinen Struktur sei, ist daher nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit ist, daß dieses einzigartige Ereignis eine neue allgemeine Ordnung realisiert." (SahIins 1992a: 116) Vgl. dazu auch KapitelS. 324
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GarfInkeIs auf: hier wie dort geht es um die Herstellung gesellschaftlicher Ordnung als Ergebnis einer permanenten Produktion in einzelnen Sprach- und Handlungsereignissen, die aber nicht als spontane und chaotische verstanden werden, sondern als diskursiv strukturierte Praktiken. 327 Diskurs-Struktur, diskursives Ereignis, Praktiken und Akteure bilden damit letztlich die vier Bausteine des Theoriegebäudes ,Diskurs '. 4.2.3 Soziale Akteure und Diskurse Vorangehend habe ich die Kategorie der Akteure als Vermittlungsinstanz zwischen Diskursen und Aussageereignissen eingeführt. Soziale Akteure greifen in ihrer diskursiven Praxis die in Gestalt von Diskursen verfügbaren Regeln und Ressourcen der Deutungsproduktion auf oder reagieren als Adressaten darauf. Der diskurstheoretische Ansatz der Wissenssoziologischen Diskursanalyse behauptet damit, dass die Bestimmung von Diskursen als Praktiken eines Akteurskonzeptes bedarf. 328 Erst dann wird verständlich, wie es zur mehr oder weniger kreativen Ausführung von solchen Praktiken kommt: "Die Strukturen agieren im Medium menschlicher Unternehmungen" (Sahlins 1992: 118). Praxistheorien können keineswegs auf die Vorstellung von Handlungsträgerschaft, also von Akteuren verzichten. Im Ansatz der Hermeneutischen Wissenssoziologie werden Akteure zweifach bestimmt: "Einmal (...) als selbstreflexives Subjekt, das in der alltäglichen Aneignung soziale Wissensbestände ausdeutet und sie prüft, sie differenziert oder zusammenfasst. Zum anderen versteht er ihn als Adressaten von Wissensbeständen und darin eingelassenen Wertungen." (HitzlerlReichertzJSchröer 1999b: 13)
In den Diskussionen um Diskurstheorie und Poststrukturalismus hat kaum ein Begriff mehr Streit und Missverständnisse ausgelöst als die Kategorie der Akteure oder des "Subjekts".329 Im Kern handelt es sich dabei um Verwirrungen in zweierlei Hinsicht: einmal um Inkompatibilitäten zwischen philosophischen und soziologischen Subjekt- bzw. Akteurskonzeptionen, zum anderen um Probleme, die das Verhältnis zwischen Sprecherpositionen und Subjekt- bzw. Adressatenpositionen betreffen. Ich möchte zunächst kurz auf diese Auseinandersetzungen eingehen und daran anschließend das Akteurskonzept der Wissenssoziologischen Diskursanalyse erläutern. Den Anlass des erwähnten philosophischen Streites bot Foucaults radikales Insistieren auf der diskursiven Konstitution des modemen Subjekts, auf dessen historisch-sozialer Genese und Kontingenz. Diese Position kommt in dem von ihm vorgeschlagenen Begriffsapparat und in einigen pointierten Thesen zum Ausdruck: "Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen lohn Law (1994) hat in einer an solche Überlegungen anschi ießenden Zusammenfiihrung von Symbolischem Interaktion ismus, Poststrukturalismus und der Aktor-Netzwerk-Theorie die moderne Gesellschaft als beständige Ordnungsleistung begriffen. Vgl. auch KendallIWickham (2001). J28 Vgl. auch Kapitel 4.2.4. 329 Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 3.2. 327
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Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse können, aber dessen Form oder Verheißung wir im Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken gerieten, wie an der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens es tat, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand." (Foucault 1974a: 462)
Foucault begreift im Rekurs auf die etymologischen Herkünfte und Konnotationen des Subjektbegriffs - ,sujet' kann auch "Untertan" bedeuten, ,assujetter' heißt ,unterwerfen' das modeme Selbst einerseits als unter die Subjektpositionen unterworfen, die durch Diskurse (und Praktiken) zur Verrugung gestellt werden. Ganz im Sinne der Durkheimschen Soziologie spielt das einzelne Subjekt oder individuelle Bewusstsein keine bedeutende, sinnstiftende Rolle; Bedeutungskonstitution erfolgt allein auf der Diskursebene, die bei Foucault an die Stelle des "Kollektivbewusstseins" tritt. Das Subjekt unterwirft sich schließlich selbst durch die praktische Ausruhrung von "Technologien des Selbst" (Foucault/Martin/Martin 1993), die ihrerseits im Medium der Diskurse entstanden sind. Dieses Selbstverhältnis wird von Foucault jedoch positiv konnotiert: es ist als historisch konstituierte "Sorge um sich" Grundlage des Handeins auch gegen äußere Wissens- und Herrschafts-Zumutungen. 33o Es ist also bei Foucault niemals der souverän und rur sich intelligibel Handelnde als ahistorisches Subjekt, wie ihn die modeme Bewusstseinsphilosophie voraussetzte. Wenn sich in der Geschichte unterschiedlichste Subjekt- oder Akteurskonzeptionen rekonstruieren lassen, so kann keineswegs von einer linearen oder evolutionären Entwicklungsgeschichte des ,zu sich kommenden Subjektes' ausgegangen werden, das in der Gegenwart erreicht wird. Foucaults Forschungsprogramm ist, wie er selbst an verschiedenen Stellen betonte, eine Untersuchung der soziohistorischen Genese, der Genealogie des modemen abendländischen Subjektverständnisses im Medium von Diskursen und Praktiken. Er versteht dieses Projekt als Beitrag zur gesellschaftlichen Selbst-,Aufklärung', die mit der Suche nach Potenzialen der Kontingenz, der ,Freiheit' und ,Befreiung' von tradierten Subjektivierungsweisen verbunden ist (Foucault 1990).331 Foucaults Programmatik einer ,empirischen' Analyse der Historizität der Subjektgenese versteht sich als Alternative zum philosophischen Subjektverständnis. Sie zielt gegen verschiedene Spielarten der Bewusstseinsphilosophie, sofern sie die Leistungen des Bewusstseins auf ein mit sich identisches, sich selbst transparentes Subjekt beziehen, das in seinem Grundvermögen der Selbstreflexivität und des Vernunftgebrauchs außerhalb der Geschichte steht: "Wenn es aber einen Weg gibt, den ich ablehne, dann ist es der (man könnte ihn, ganz allgemein gesagt, den phänomenologischen Weg nennen), der dem beobachtenden Subjekt absolute Priorität einräumt, der einem Handeln eine grundlegende Rolle zuschreibt, der seinen eigenen Standpunkt an den Ursprung aller Historizität stellt - kurz, der zu einem transzendentalen Bewusstsein führt. Mir scheint, daß die historische Analyse des wissenschaftlichen Diskurses letzten Endes Gegenstand nicht einer Theorie des wissenden Subjekts, sondern vielmehr einer Theorie diskursiver Praxis ist." (Foucault 1974a: 15) Zu solchen abgelehnten Positionen zählen, folgt man Foucaults Aufzählungen, die Existenzialphänomenologie und der marxistische Existenzialismus von Sartre, die Phänomenolo330 3J1
Vgl. dazu Foucault (1987; 1989a,b,c; 2004a). Vgl. dazu die Zusammenfassung bei Schäfer (1995) und Florence (1984).
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gien von Husserl und Merleau-Ponty, der Rationalismus von Descartes, der Kantsche Idealismus oder die systemisch-idealistische Philosophie von Hegel etc. Er wendet sich im Rückgriff auf die Saussurresche Sprachtheorie oder die Freudsche Konzeption des Unbewussten auch gegen die im Rekurs auf die Marxschen Frühschriften entwickelten marxistischen Vorstellungen der Aufhebbarkeit von Entfremdung, die eben ein Wissen um die Authentizität der Subjekte unterstellen. Friedrich Nietzsche, Pierre Klossowski, Maurice Blanchot und Georges Bataille sind - unter anderen - Foucaults ,Gewährsleute' rur die radikale Ablehnung des Subjekts als fundierender Kategorie: 332 "Nietzsche, Blanchot et Bataille sont les auteurs qui m'ont permis de me liberer de ceux qui ont domine ma formation universitaire au debut des annees 1950: Hegel et la phenomenologie. Faire de la philosophie, alors, comme du reste aujourd'hui, cela signifiait principalement faire de I'histoire de la philosophie; et celle-ci procedait, delimitee d'un cöte par la theorie des systemes de Hegel et de j'autre par la philosophie du sujet, sous la forme de la phenomenologie et de l'existentialisme. (...) c'etait Sartre qui etait en vogue avec sa philosophie de sujet. Point de rencontre entre la tradition phenomenologique universitaire et la phenomenologie, Merleau-Ponty developpait le discours existentiel dans un domaine particulier comme celui de I'intelligibilite du monde, du reel. Cest dans ce panorama intellectuel qu'ont mOri mes choix: d'une part, ne pas etre un historien de la philosophie comme mes professeurs et, d'autre part, chercher quelque chose de totalement different de l'existentialisme: cela a ete la lecture de Bataille et de Blanchot et, a travers eux, de Nietzsche. Qu'est-ce qu'ils ont represente pour moi? D'abord une invitation a remettre en question la categorie du sujet, sa suprematie, sa fonction fondatrice." (Foucault 1994a:48)
Und wenig später erläutert er im selben Interview: ,,11 y a un point commun entre tous ceux qui, ces quinze demieres annees, ont ete appeles 'structuralistes' et qui pourtant ne I'etaient pas, a I'exception de Levi-Strauss, bien entendu: Althusser, Lacan et moL Quel etait, en realite, ce point de convergence? Une certaine urgence de reposer autrement la question du sujet, de s'affranchir du postulat fondamental que la philosophie fran'raise n'avait jamais abandonne, depuis Descartes, renforce par la phenomenologie. Partant de la psychanalyse, Lacan amis en lumiere le fait que la theorie de l'inconscient n'est pas compatible avec une theorie du sujet (au sens cartesien, mais aussi phenomenologique du terme) (... ) La linguistique, les analyses qu'on pouvait faire du langage, Levi-Strauss donnaient un point d'appui rationnel acette mise en question (...) Althusser a remis en question la philosophie du sujet, parce que le marxisme fran'rais etait impregne d'un peu de phenomenologie et d'un peu d'humanisme, et que la theorie de I'alienation faisait du sujet humain la base theorique capable de traduire en termes philosophiques les analyses politico-economiques de Marx. (... ) On sait que sa reponse a ete tout a fait negative. C'est tout cela qu'on a appele 'structuralisme'. Or le structuralisme ou la methode structurale au sens strict n'ont servi tout au plus que de point d'appui ou de confirmation de quelque chose de beaucoup plus radical: la remise en question de la theorie du sujet." (Foucault 1994a: 52)
Vgl. insgesamt Foucault (J994a,b) zur Entstehungsgeschichte seiner Position gegen die damalige Phänomenologie und den Marxismus in Frankreich, die ihre exemplarische Verkörperung bei Sartre fanden; siehe auch Foucault (200Ia). Habermas (1985: 344ft) verweist allerdings auf entsprechende Selbstkritiken innerhalb der idealistischen Philosophietradition, bspw. bei Schiller, Fichte oder Schelling. 332
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Die Kritik am philosophischen Bewusstseinsbegriff und Subjektverständnis mündet bei Foucault in das empirische Forschungsprogramm der Archäologie und Genealogie von Wissens- bzw. Diskursformationen sowie Praktiken der Subjektbildung als ,FremdUnterwerfung' einerseits, als ,Sorge um sich' und Selbstpraktik andererseits, die der historisch relativen Freiheit zum Handeln zugrunde liegt. Wenn die Welt und ihre Phänomene vollständig im Medium des Wissens bzw. der Praktiken und also historischer Diskursformationen konstituiert sind, kann es eine außergeschichtliche Referenz des Subjektes nicht geben. Der Mensch, das Subjekt ist immer das, was in historischen Wissensformationen als solches gedacht sowie praktisch erzeugt wird. Seine Identität ist keine absolute konstitutive Eigenleistung, sondern stammt aus den Diskursen und Praktiken, die sich ,in ihm kreuzen' .333 Das "Ende des Menschen" bedeutet das Ende einer soziohistorisch spezifischen Repräsentation des Menschen und - so Foucault - zugleich das Ende der Möglichkeit, diese Vorstellung vom, Wesen des Menschen' zur ontologisch abgesicherten Grundlage einer sich darauf berufenden emanzipatorischen Philosophie zu erheben. Dies fuhrt Foucault nun keineswegs zur Affirmation oder Gleichgültigkeit gegenüber den modemen Subjekten. Aus seiner These der Unmöglichkeit einer positiven, außerhalb der Geschichte stehenden Definition des Menschseins folgt zwar die Verabschiedung darauf aufbauender Versuche, nicht aber diejenige des Bemühens um ,Aufklärung'. An die Stelle der philosophischen Begründung von positiven Möglichkeiten tritt vielmehr eine Nachzeichnung der ,Weisen der Unterwerfung', deren Rekonstruktion den gesellschaftlichen Akteuren oder Bewegungen selbst die Möglichkeiten und Kontingenzen verdeutlicht - und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen in deren Hände legt. Einem spezifischen historischen Subjekt-Verständnis ,unterworfen' zu sein, bedeutet keineswegs Machtlosigkeit. Foucaults Unterstützung der Gefangnisbewegungen bspw. zeigt sehr deutlich, dass er durchaus an sozialen Akteuren und Möglichkeiten der Veränderung von gesellschaftlichen Formationen einschließlich der Subjektpositionen festhielt. 334 Die Irritationen und Konflikte, die aus und um diese(r) Foucaultschen Position entstanden, stammen u.a. daher, dass Foucault sie mitunter zur Grundlage begriffstechnischer Umstellungen macht, die auch im benutzten Vokabular verdeutlichen, dass auf einen Begriff des Menschen, des Subjekts, aber auch der Akteure verzichtet werden sollte. 335 Dies wird exemplarisch deutlich in dem Hinweis auf die Funktion des "Autors" als Zurechnungsmechanismus in Diskursen (Foucault 1988b und Foucault 1974b), die an Luhmanns Konzept der "Person" als Adresse von Kommunikationen erinnert (Luhmann 1984: I25ff; 429ft). Andererseits sind solche Positionen so neu nicht. Schon George Boole bezeichnete in seinen 1854 erschienenen "Investigation of the Laws of Thought" das "universe of discourse" als das ultimative "Subjekt" des Diskurses:
33J Vgl. die daran anschließende und sich zusätzlich auf Lacan beziehende Subjektkonzeption von LaclaulMouffe (Kapitel 33.2). 334 Seine eigene Weigerung, sich nicht auf ein konsistentes oder kohärentes Argumentieren durch die Werkgeschichte hindurch festlegen zu lassen, übernimmt diese Position fur die Schreibtätigkeit des "Planeten Foucault" selbst (vgl. dazu Schäfer 1995 und Kapitel 3.2). J35 In Kapitel 3.2 habe ich erläutert, dass Foucault von einer eher strukturalen Diskursperspektive zu einem Programm der Diskursanalyse wechselt, in dem Diskurse als Sprachspiele begriffen und Strategien, Taktiken, Praktiken, also letztlich Handlungen berücksichtigt werden (vgl. Kapitel 3.2.4 und 3.2.6). Auf handlungstheoretische Elemente der Foucaultschen Machtanalyse verweist Honneth (1985: I68ff).
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"Dem Wort ,Mensch' komme beispielsweise die Aufgabe zu, das Denken zu veranlassen, aus einen gegebenen Diskursuniversum die dadurch bezeichneten Individuen auszuwählen" (Schalk 1999: 94).
Auch die frühe Wissenssoziologie von Marx über Durkheim, Mannheim oder - in Bezug auf wissenschaftliches Wissen - Fleck hatte seit langem, wie in Kapitel 2 erläutert, eine individualisierende Bestimmung von Prozessen gesellschaftlicher Wissensproduktion verworfen und betont, sowohl das Denken wie auch das Wissen und die Sprache seien ihrem Wesen nach Gruppenprozesse, Zurechnungen auf Personen also nichts anderes als soziale Konventionen. In Foucaults Diskurstheorie treten an die Stelle der Bezugnahme auf erfinderische Subjekte in der traditionellen Wissenschaftsgeschichte oder ,große Akteure' der politischen Geschichtsschreibung Analysen der institutionell-diskursiven Formationsregeln und -prozesse von Sprecherpositionen einerseits, diejenigen der Rekonstruktion von MachtWissens-Praktiken etwa in Gestalt von Technologien (der Erzeugung) des Selbst andererseits. Foucaults Untersuchung der diskursiven und praktischen Konstitution der Subjekte, die er, wie in Kapitel 3.2 erläutert, um Hinweise auf deren Strategien in Sprachspielen ergänzt, fmdet ein marxistisches Äquivalent in dem von Louis Althusser vorgeschlagenen Konzept der ,Anrufung' ("Interpellation") von Subjekten durch die institutionellen und ideologischen "Staatsapparate" (Althusser 1977). Dort geht es darum, dass institutionelle Mechanismen Subjektpositionen erzeugen und an die Individuen adressieren - ein Gedanke, der, wie in Kapitel 3.3 erläutert, in der Kritischen Diskursforschung und vor allem in der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe aufgenommen wurde. Die Foucaultsche Alternative zur Bewusstseinsphilosophie hat heftige Reaktionen insbesondere innerhalb der kritischen Philosophietradition der Frankfurter Schule ausgelöst (vgl. Kapitel 3.2.1 und 3.2.5). Bspw. insistierte Seyla Benhabib wie ganz ähnlich Jürgen Habermas, Axel Honneth, Manfred Frank u.a. auf der Unhintergehbarkeit bestimmter subjekttheoretischer Grundannahmen - "Selbstreflexivität, die Fähigkeit, nach Prinzipien zu handeln, rationale Verantwortlichkeit für die eigenen Handlungen sowie die Fähigkeit, einen Lebensplan in der Zukunft zu entwerfen, kurz gesagt: eine Art von Autonomie und Rationalität" (Benhabib 1993a: 13) - für die Möglichkeiten einer kritischen (und in ihrem Argumentationszusammenhang: feministischen) Gesellschaftsphilosophie und -theorie: 336 "Die starke Version der These vom ,Tod des Menschen' wird wohl am besten von Jane Flax' eigenem Satz zusammengefaßt: ,Der Mensch ist für immer im Gewebe der fiktiven Bedeutung gefangen, in der Kette der Bezeichnung, in der das Subjekt nur eine weitere Position in der Sprache darstellt.' Das Subjekt löst sich also in die Kette der Bezeichnung auf, als deren Initiator es einst gedacht wurde. Mit dieser Auflösung des Subjekts in eine bloße, weitere Position in der Sprache' verschwinden selbstverständlich auch Konzepte wie Intentionalität, Verantwortlichkeit, Selbstreflexivität und Autonomie. Das Subjekt, das nur noch eine, weitere Position in der Sprache' ist, vermag nicht mehr, jene Distanz zwischen sich selbst und der Bezeichnungs-
Eine exemplarische Konfrontation der Positionen findet sich in der Auseinandersetzung zwischen Benhabib, Butler, Fraser und Comell über die Möglichkeiten des Feminismus aus Sicht der Kritischen Theorie und des Foucaultschen Poststrukturalismus (BenhabiblButler/ComelllFraser 1993).
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Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse kette, in die es eingebettet ist, zu meistern und zu schaffen, die es ihm ermöglichte, auf die Bezeichnungen zu reflektieren und sie kreativ zu verändern." (Benhabib 1993a: 13)337
Gegen die diskursive Überdetennination der Akteure im Foucaultschen Theoriegebäude hatte auch, wenngleich wesentlich moderater als die Vertreter der Frankfurter Schule, Michel de Certeau (1980) mit dem Hinweis auf die Kreativität des Handelns als ,Taktiken' argumentiert. 338 Es ist hier nicht der Ort, die verschiedenen Positionen innerhalb dieses philosophischen Streites wiederzugeben, der letztlich unauflösbar zwischen konkurrierenden philosophischen Paradigmen geführt wurde. 339 Mittlerweile hat die Heftigkeit der Auseinandersetzungen jedoch abgenommen, ohne dass die eine oder andere Position für sich einen eindeutigen ,Sieg' reklamieren könnte. So sieht bspw. Peter V. Zima (2000: 40ft) wichtige Einsichten auf beiden Seiten: Jedes Plädoyer für eine befreite Subjektivität müsse zunächst die historisch-sprachliche Detenniniertheit analysieren, um sinnvolle Vorschläge zu entwickeln. Umgekehrt hätten die Vertreter der Kritischen Theorie zu Recht vor einer Neigung zur Verabsolutierung der Strukturen bei Foucault oder Althusser gewarnt, welche bestehende Wahlmöglichkeiten des Einzelnen unterschätze. 34o Im Ergebnis habe sich eine Position entwickelt, die wichtige Argumente beider Seiten aufgreife: "Insofern kann Subjektivität (...) als sich wandelnde Identität und als Einheit in der Vielfalt aufgefaßt werden. Es kommt darauf an, von einer Auffassung der Subjektivität als statischer Identität oder als ,Zustand der völligen Beharrung' (Frank) abzurücken, um sich ein Subjekt vorstellen zu können, dessen Individualität als sozialisierte Natur, dessen Subjektivität als Kultur nur als Prozesse oder dynamische Einheiten denkbar sind." (Zima 2000: 42)341
Die Auseinandersetzung um den Subjektbegriff ist, wie Zima (2000: 43) bemerkt, in der Soziologie wesentlich weniger bedeutsam als in den philosophischen Kontroversen. Überträgt man die erwähnte Debatte in soziologisches Terrain, dann entspricht sie (allenfalls) der dort von Anbeginn vorhandenen, in der Gegenüberstellung von Durkheim und Weber exemplarisch zum Ausdruck kommenden Spannung zwischen holistischen oder strukturbzw. systemorientierten Paradigmen und individualistischen oder handlungstheoretischen Ansätzen. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Foucaultsche Position durchBenhabib bezieht sich hier auf Jane Flax: Psychoanalysis. Feminism and Postmodernism in the Contemporary West. Berkeley 1990. 338 Seine Argumente bilden heute einen der wichtigsten Anknüpfungspunkte für die Wiedereinführung von Akteurskonzepten in die Diskurstheorie im Rahmen der Cultural Studies. Dosse (1995, 1996, 1997) diskutiert in seinem Überblick über die Geschichte des Strukturalismus die Bandbreite der Subjektkritik ebenso wie die, Wiederkehr' der Akteure/Subjekte ab den 1970er Jahren. Vgl. auch das entschiedene Plädoyer von Manfred Frank (1986) für die "Unhintergehbarkeit von Individualität" und die in Kapitel 3.1.2.2 erläuterte allgemeine Kritik am Strukturalismus. 339 Vgl. dazu die Diskussion kritischer Einwände in Schäfer (1995: 103ft) und weiter oben Kapitel 3.2.5 sowie bspw. Meyer-Drawe (1990) und Zima (2000). Habermas begreift seine Theorie des kommunikativen HandeIns als einen alternativen "Ausweg aus der Subjektphilosophie" (Habermas 1985: 344ft). 340 Die oben erläuterte Diskurstheorie von LaclaulMouffe trägt dem mit ihrem Konzept der Artikulation Rechnung (vgl. Kapitel 3.3.2). 341 Zima nennt dieses Subjektverständnis im Anschluss an Bakhtins Konzepte des Sprachgebrauchs als Dialog, ArtikuJationspraxis und Diskurs "dialogische Subjektivität" (vgl. Zima 2000: 365ff; insbes. 374ft). Schon Mead hatte ein vergleichbares dynamisches Verständnis von Identität entwickelt. 337
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aus kompatibel mit der soziologischen Grundannahme der sozialen Prägung oder Formung des Handeins und der Individuen ist, ja letztlich als eine historische Soziologie des modernen Individuums und seines Selbstverständnisses gelesen werden kann. Dafür gibt es in der Soziologie von Max Webers "Protestantischer Ethik" (Weber I978) über Marcel Mauss (1978) ethnologisch-soziologische Analyse der Kategorie der "Person" aus dem Jahre 1938, die Foucault gewiss bekannt war, bis hin zu den bereits durch Foucault inspirierten Studien von Charles Taylor über die "Quellen des Selbst" (Taylor 1994) oder von Volker Knapp und Alois Hahn zu Bekenntnissen, Beichten und Geständnissen (HahnIKnapp 1986; Hahn 2000) u.a. zahlreiche Entsprechungen. 342 Schon die frühe Soziologie bei Durkheim oder Weber hatte nicht nur das Individuum als soziohistorisch konstituiertes gedacht, sondern, wie anhand der Geschichte der Wissenssoziologie deutlich wurde, sowohl das Handlungsvermögen, das Wissen und die Kategorien der Weltdeutung insgesamt in ihrer sozialen und historischen Bedingtheit untersucht. An die Stelle der prinzipiellen Paradigmendifferenz zwischen Bewusstseinsphilosophie und Diskurstheorie treten in der Soziologie graduell unterschiedliche Akzentuierungen, die ihren gemeinsamen Konsens in der sozialen Prägung des einzelnen Bewusstseins haben. Schließlich macht die Soziologie in ihren verschiedenen Varianten und Analysen des "Homo Sociologicus" (Ralf Dahrendorf) gerade die soziale und historische Konstitution der individuellen Identität in Sozialisationsprozessen bzw. Habitusformungen und des Handeins in Rollenbeziehungen zum Gegenstand empirischer Forschungen. Sie beschäftigt sich nicht im emphatischen Sinne mit ,dem' Subjekt, sondern mit unterschiedlichen, historisch konstituierten und situierten sozialen Akteuren. Axel Honneth hatte deswegen bemerkt, eine entsprechende soziologische Wendung der Foucaultschen Theorie läge nahe: "Foucault erkennt die theoretischen Fehler, die eine Geschichtsphilosophie begeht, wenn sie die Vorstellung einer ,Stifterfunktion des Subjekts' auf soziale Prozesse überträgt; um den metaphysischen Fallstricken dieser geschichtsphilosophischen Konzeption zu entgehen, muß er die Grundbegriffe seiner neuen Konzeption von Beiklängen der traditionellen Reflexionsphilosophie freihalten. Anstatt nun jedoch die Singularität des historischen Subjekts, dem die Leistungen der Konstitution zugemutet werden, in Frage zu stellen und durch das überzeugendere Modell einer Pluralität von historischen Akteuren zu ersetzen, schlägt Foucault den entgegengesetzten Weg einer Elimination des Subjektbegriffs überhaupt ein. Er zieht nicht den monologischen Charakter der Reflexionsphilosophie in Zweifel, sondern eskamotiert das ihr zugrundeliegende Denkmodell überhaupt." (Honneth 1985: 136)
Neben der grundsätzlichen Frage nach den Subjektvorstellungen bedarf noch eine weitere Erscheinungsform von Subjekten in Foucaults Arbeiten einer genaueren Betrachtung. Foucault vermengt in seiner als Alternative zur Bewusstseinsphilosophie vorgestellten Diskurstheorie letztlich sehr verschiedene Aussagen über den Stellenwert sozialer Akteure, die für die Zwecke wissenssoziologischer Diskursforschung auseinander gehalten werden müssen. Zum einen geht es ihm um die Sprecherpositionen und -rollen innerhalb von Diskursen, d.h. um die institutionellen Regulierungen der Zugänge von Akteuren zum legitimen Vollzug diskursiver Praktiken, zu den gesellschaftlichen Orten, von denen aus ,ernsthaft' gesprochen werden darf. Zweitens fokussiert Foucault die in Diskursen formulierten Subjektpositionen, Positionierungsprozesse und Identitätsschablonen für seine Adressaten. Drittens 342
Vgl. Foucaults Bezug auf Weber in Foucault (1993: 10).
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schließlich verweist er in engem Bezug zum vorangehenden Punkt auf die daraus entstehende praktische Formung der Subjekte in den diskursiv-praktischen Technologien des Selbst. Dahinter steht sein gegen Teile der Phänomenologie gerichtetes Programm der historischen Situiertheit und Kontingenz der wechselseitigen Konstitution von Subjekten und Objekten, der Abhängigkeit der Erfahrungsformen von den Modi des Wissens und Wahrsprechens, der Normativität und der Subjektkonstitution. Der Wandel in Foucaults Subjektverständnis, der mit seinem Spätwerk assoziiert wird, bezieht sich darauf, dass dort neben die Subjektivierung als Fremd-Unterwerfung des Subjekts nunmehr auch der Modus einer Selbstbildung, einer "Sorge um sich" tritt, durch die das Subjekt nicht Fremdherrschaft unterworfen ist, sondern sich selbst leitet. Auch die Formen der Selbst-Regierung sind jedoch immer durch historische Wissens- und Praxisformationen konstituiert: "Zunächst denke ich allerdings, daß es kein souveränes und konstitutives Subjekt gibt, keine universelle Form des Subjekts, die man überall wiederfinden könnte. Einer solchen Konzeption vom Subjekt stehe ich sehr skeptisch, ja feindlich gegenüber. Ich denke hingegen, daß das Subjekt sich über Praktiken der Unterwerfung konstituiert bzw. - auf autonomere Art und Weise über Praktiken der Befreiung und der Freiheit." (Foucault 1984a: 137f) "In den Jahren vor dem zweiten Weltkrieg und noch mehr danach war die Philosophie in Kontinentaleuropa und in Frankreich von der Philosophie des Subjekts beherrscht. Ich meine damit, daß die Philosophie es als ihre Hauptaufgabe betrachtete, die Abstammung aller Erkenntnis und aller Bedeutung von dem sinnstiftenden Subjekt aufzuzeigen. Die Wichtigkeit dieser Frage verdankte sich der Einwirkung Husserls (...) Im nachhinein weiß mans bekanntlich immer besseralso lassen Sie mich sagen, daß es zwei mögliche Auswege aus der Subjektphilosophie gab. Der erste war die Theorie der objektiven Erkenntnis als Analyse der Bedeutungssysteme, als Semiologie. Das war der Weg des logischen Positivismus. Der zweite Weg war der einer Schule der Linguistik, Psychoanalyse und Anthropologie, die unter ,Strukturalismus' lief. Diese beiden Richtungen habe ich nicht eingeschlagen (...) Ich habe eine andere Richtung ausprobiert. Um aus der Subjektphilosophie herauszukommen, habe ich eine Genealogie des modemen Subjekts als einer historischen und kulturellen Realität versucht, d.h. als etwas, was sich eventuell ändern kann (was natürlich politisch wichtig sein kann). In diesem allgemeinen Projekt kann man zwei Verfahren anwenden. Beschäftigt man sich mit modemen theoretischen Konstruktionen, so hat man es mit dem Subjekt im allgemeinen zu tun. So habe ich die Theorien vom Subjekt als sprechendem, lebendem, arbeitendem Wesen im 17. und 18. Jahrhundert zu analysieren versucht. Man kann sich aber auch mit dem mehr praktischen Verständnis befassen, das man in den Institutionen vorfindet, in denen bestimmte Subjekte Objekte von Erkenntnis und Beherrschung wurden: Asyle, Gefängnisse usw. Ich wollte die Verstehensformen studieren, die das Subjekt über sich selber schafft. Aber nachdem ich mich diesem Problemtyp zugewandt hatte, mußte ich meine Meinung in mehreren Punkten ändern. Lassen Sie mich eine Art Selbstkritik einfügen. (...) Ich aber wurde mir mehr und mehr bewußt, daß es in allen Gesellschaften noch einen anderen Typ von Technik gibt: Techniken, die es Individuen ermöglichen, mit eigenen Mitteln bestimmte Operationen mir ihren eigenen Körpern, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer eigenen Lebensftihrung zu vollziehen, und zwar so, daß sie sich selber transformieren (...) Nennen wir diese Techniken Technologien des Selbst. Will man die Genealogie des Subjekts in der abendländischen Zivilisation analysieren, so hat man nicht nur Techniken der Beherrschung, sondern auch Techniken des Selbst in Betracht zu ziehen." (Foucault in Foucault/Sennett 1984: 35f)
In der Sprache der Soziologie handelt es sich bei den Sprecherpositionen um Positionen in institutionellen bzw. organisatorischen Settings und daran geknüpfte Rollenkomplexe.
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Soziale Akteure sind dann Rollenspieler, die solche Positionen einnehmen. Hier spielt in der Soziologie die Subjektivität, Autonomie und Souveränität der auf die Positionen gesetzten Subjekte eine untergeordnete Rolle bzw. wird (nur) insoweit zum Thema, wie sie dafur ausschlaggebend sein kann, welches Maß an Rollendistanz, -interpretation und -performanz tatsächlich im Rollenspiel zum Tragen kommt. Rollen werden seit den Einwänden des interpretativen Paradigmas gegen die strukturfunktionalistischen Ansätze in den 1960er Jahren nicht mehr als determinierende Mechanismen beschrieben, sondern als Regeln oder Spielanleitungen, die in der Interpretation, Kreativität und dramaturgischen Kompetenz bzw. Performanz der Rollenspieler mit ,Leben' erfullt werden. 343 Das soziologische Vokabular von Institutionen, Rollen, Regeln, Ressourcen, Interessen und Strategien individueller oder kollektiver, immer aber sozialer Akteure kann fur eine entsprechende Analyse der Strukturierungen von Sprecherpositionen in Diskursen genutzt werden. Die in Diskursen als Subjektpositionen vorgenommenen Positionierungen sozialer Akteure - bspw. als Problemverursacher, Objekt von notwendigen Interventionen oder potenzielle Nachfrager nach spezifischen Leistungen - erzeugen zunächst nichts anderes als typisierte Interpretationsschemata und Identitätsangebote, die als Bestandteile des historisch kontingenten gesellschaftlichen Wissensvorrates den sozialen Akteuren angetragen und bspw. in verschiedensten Sozialisationsprozessen angeeignet werden (können). Schon Mead hatte solche Prozesse als sprachlich-symbolisch vermittelte Verlagerung von Gesellschaft - in Gestalt des generalisierten Anderen - in das je individuelle Bewusstsein gedacht. Schließlich zeigt der Verweis auf Webers Analyse der "protestantischen Ethik", dass die Soziologie von je her die Soziogenese des modernen Individuums einschließlich der Praktiken der Lebensfuhrung und des Selbstbezugs - also das, was Foucault als" Technologien des Selbst" (Foucault/MartinJMartin 1993) zusammenfasst - zu ihrem empirischen Forschungsgegenstand erklärt hatte. Die Hinweise auf die soziologische Normalität der Vorstellungen einer Pluralität von sozial geprägten Akteuren entdramatisiert die Debatten über das "Ende des Menschen". Es ist deswegen auch nicht zufällig, dass die von Dosse (1995; 1997: 427ft) fur das Frankreich der 1970er Jahre beschriebene "Rückkehr der Akteure" und die erneuerte "Humanisierung der Humanwissenschaften" von unterschiedlichen soziologischen Schulen - etwa dem methodologischen Individualismus von Raymond Boudon, der auf Max Weber und Georg Simmel rekurriert, der Akteurssoziologie von Alain Touraine mit ihrer Betonung der Gestaltungsmacht sozialer Bewegungen, der Ethnomethodologie, dem interpretativen Paradigma u.a. - beeinflusst wird. Eine besondere Bedeutung fur diese von Dosse gleichermaßen als interpretative und pragmatistische Wende beschriebene Entwicklung der französischen Sozialwissenschaften insgesamt besitzen die angelsächsischen analytischen Sprachphilosophien, insbesondere das Spätwerk Wittgensteins, die durch Übersetzungen der Arbeiten von Karl Otto Apel und Jürgen Habermas beförderte Wiederentdeckung des Pragmatismus sowie der pragmatistischen Semiotik von Peirce oder Morris und schließlich die Hermeneutik von Paul Ricoeur, die in Auseinandersetzung mit der hermeneutischen Tradition eine Akzentverschiebung weg von der Orientierung am Nachvollzug subjektiv ge343 Ich kann an dieser Stelle das Rollenkonzept nicht weiter diskutieren. Vgl. zum Rollenbegriff in der Hermeneutischen Wissenssoziologie Pfadenhauer (1999). Stäheli (2000) argumentiert im Rückgriff auf Foucault u.a., die poststrukturalistischen Ansätze würden bestimmte Engführungen des Rollenkonzeptes überwinden. Dies mag für das alte strukturfunktionalistische Rollenverständnis gelten, scheint mir aber fur die interpretativen Rollenmodelle nicht überzeugend belegt.
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meinten Sinnes oder der Bestimmung ,wahrer Sinngehalte' hin zur Bedeutung der Interpretations- und Rezeptionsprozesse vornimmt und gleichzeitig auf der Konstitution menschlicher Welterfahrung im Medium der Erzählung und des Sinns insistiert (vgl. Dosse 1995): "Devant la crise des grands paradigmes unitaires (fonctionnalisme, marxisme, structuralisme), ainsi que parallelement, des reponses holistes et deterministes aux questions sociales, que ce soit par l'intermediare du tout-Etat ou de la main invisible du marche, les nouvelles approches theoriques misent sur un ressourcement pragmatique de la theorie de l'action, une dynamisation des 'ateliers de la raison pratique' et, plus generalement, pourrait-on-dire, une 'humanisation des sciences humaines'. 11 ne s'agit pas pour autant d'un retour pur et simple au sujet ou 11 une forme d'humanisme precritique, mais d'un reequilibrage, d'un changement d'echelle qui permet de s'interroger au niveau de l'individu sur ce qui fonde l'''etre-ensemble'', le lien social. (... ) Cette attention aux mediations (...) s'inscrit donc bien dans un veritable toumant pragmatique (...) Ce toumant pragmatique accorde une position centrale 11 I'action dotee de sens, rehabilite l'intentionnalite et les justifications des acteurs dans une determination reciproque du faire et du dire (... ) Le toumant pragmatique s'inscrit aussi dans un espace median entre expJication et comprehension dans la recherche d'une troisieme voie (...) Cette inflexion pragmatique et interpretative renoue bien entendu avec les preoccupations d'auteurs classiques mais parfois reveres 11 distance, comme Max Weber, ou carrement negJiges, comme Simmel (... ) Pour saisir les formes de I'action, les nouveaux travaux reprennent 11 leur compte Ja tradition phenomenologique et hermeneutique qui leur perrnet de definir un paradigme interpretatif thematisant le faire dans le dire. I1s utilisent aussi les travaux de la philosophie analytique pour mieux saisir le vouloir des acteurs dans l'effectuation meme de l'action. Le fait social est pertyu comme fait semantique, porteur de sens. (...) La notion de dialogique, introduite par Michael Bakhtine, informe egalement ces nouvelles recherches du fait de I'accent mis sur le caractere polyphonique du discours, sur son heterogeneite enonciative (...) Action: tel est sans doute le maHre mot de Ja cristalIisation en cours (...) Le basculement en cours est aussi l'occasion d'une grand rencontre intelIectuelle et generationelle avec un philosophe qui a traverse dans I' ombre la periode precendente, justement parce qu'il incamait Ja philosophie de l'agir et du sens, Paul Ricceur. On le retrouvera tout au long du deploiement des multiples facettes du nouveau paradigme comme la ressource essentielle des orientations actuelles." (Dosse 1995: 12ff)
Foucault selbst hatte mit seiner Hinwendung zur genealogischen Untersuchung von MachtWissen-Regimen, von Gouvernementalität und Herrschaft (vgl. Kapitel 3.2.4) durchaus sozialen Akteuren und ihren Strategien oder Taktiken in seinen materialen Analysen Rechnung getragen, ohne jedoch ein eigenes handlungstheoretisches Konzept rur solche Handlungsträgerschaften zu entwickeln. 344 Der von ihm in diesem Zusammenhang vorgenommene Rekurs auf Praktiken, d.h. auf sozial konventionalisierte Handlungsmuster, löst dieses Problem nicht, denn der Vollzug von Praktiken bedarf einer performativinterpretatorischen Leistung sozialer Akteure. 345 Genau dies ist der Punkt, auf dem die Wissenssoziologische Diskursanalyse im Rahmen der Hermeneutischen Wissenssoziologie insistiert: Während Foucault die Konstituiertheit der Subjekte und Praktiken durch die emergenten Diskursformationen und Wissensregime betont, verweist die Hermeneutische Wissenssoziologie auf die Unverzichtbarkeit der Annahme von nach Maßgabe des kontingenten soziohistorischen Kontextes, d.h. der existierenden Wissensvorräte, Motivvokabularien und Handlungsweisen, also alles in allem: relativ individuierten (sozialen) Akteuren, die sich in 344 345
Vgl. dazu auch die am Ende von Kapitel 3.2.5 zitierte Passage aus Foucaults Einleitung zum "Fall Riviere". Vgl. dazu die Erläuterungen zur Dualität von Struktur im vorangehenden Abschnitt 4.2.2.
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der aktiven Auseinandersetzung mit solchen Strukturvorgaben befinden (Knoblauch/Raab/ Schnettler 2002). Gewiss versteht sich die Hermeneutische Wissenssoziologie als handlungstheoretischer Ansatz, für den die Intentionalität des Einzelbewusstseins unabdingbare Voraussetzung für die zugleich individuellen und sozialen Konstitutionsprozesse von Sinn, für das Erleben, Erfahren und Deuten sozialer Wirklichkeit ist. Diese individuellen Konstitutionsleistungen sind jedoch nur möglich vor dem Hintergrund und im Rahmen eines historisch gegebenen, sozial konstruierten Wissensvorrates und der von ihm zur Verfügung gestellten Wahrnehmungs- bzw. Erfahrungs-, Deutungs- und Handlungsschemata. Diese Position beruht auf der vor- oder protosoziologischen, mundan- bzw. sozialphänomenologischen Weiterführung der Husserlschen Phänomenologie durch Schütz, der sie mit der verstehenden Soziologie Webers, den Sprach- und Symboltheorien des Pragmatismus bei Dewey, James oder Mead kombiniert. 346 Sie darf nicht mit der von Foucault kritisierten Phänomenologie von Husserl, Merleau-Ponty oder der marxistisch-existentialistischen Position Sartres verwechselt werden. Exemplarisch für eine solche Fehleinschätzung der sozialkonstruktivistischen Position, die diese auf ,überholte Bewusstseinsphilosophie' reduziert, ist deren Darstellung bei Reckwitz (2000, 2003) oder folgende Argumentation, die aus der Perspektive der Objektiven Hermeneutik formuliert ist: "Im Paradigma der Bewußtseinsphilosophie wurde Sinn an die Ich-Leistungen der Subjekte gebunden und auf der Ebene subjektiver Intentionalität verortet. Diese Anbindung erweist sich jedoch als eine aporetische: Das Subjekt, seinerseits ein sinnhaft Konstituiertes, wurde immer schon als Konstitutivum von Sinn vorausgesetzt. Zur Auflösung bringen läßt sich diese Aporetik erst dann, wenn Sinn von seiner Anbindung an das monologische Subjekt der Bewußtseinsphilosophie befreit und nicht mehr primär von der Ebene subjektiver Intentionalität her bestimmt wird. Sinn ist nicht mehr - wie in der bewußtseinsphilosophischen Tradition von Kant bis Husserl und in den von diesen Lagern beeinflußten subjektivistischen Handlungstheorien im Lager der Sozialwissenschaften - am monologischen Subjekt festzumachen." (Wagner 1993: 318)
Wagner verweist auf die Theorien von Mead oder Bourdieu als Beispiele für nichtsubjektivistische Begründungen der Sinngenese in Interaktionsprozessen und sieht insbesondere in Meads Symbol-Theorie der historischen Entstehung von Sinn aus der Interaktion Vorteile gegenüber der Schützschen Konzeption. Er übersieht dabei jedoch, dass Schütz durchaus die Meadsche Symbol- und Sozialisationstheorie rezipiert hatte und sowohl Kommunikationsprozesse wie auch die Sprache und die kollektiven Wissensvorräte als unabdingbare Voraussetzung der Möglichkeiten historisch konstituierter und situierter Intentionalität betrachtete. Schütz beschäftigt sich jedoch mit einem anderen Thema: Es geht ihm im Unterschied zu Mead nicht um das Problem der historisch-genetischen Entstehung von Symbolgebrauch als Differenzkriterium von Mensch und Tier und auch nicht um die Konstituierung der menschlichen Bewusstseinstätigkeiten in der Sozialisation, sondern darum, wie Prozesse der Sinnzuweisung und des Fremdverstehens auf der Grundlage eines existie-
346
Vgl. zur Entwicklung der phänomenologischen Position von Schütz insbes. Srubar (1988).
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renden gesellschaftlichen Wissens-, also Typisierungsvorrates gedacht und untersucht werden können. 347 Bereits bei Schütz wird die gesellschaftliche Formung und Vorraussetzung der Sinnkonstitution durch das Bewusstsein betont - es ist der überwiegend sprachlich gespeicherte gesellschaftliche Wissensvorrat an Typisierungen von Deutungs- und Handlungsweisen, der die Sinnzuschreibungen, Verstehens- und Kommunikationsprozesse sowie die wechselseitigen Handlungs-Abstimmungen zwischen Akteuren möglich macht. Das Bewusstsein der einzelnen Subjekte ist immer sozial geformtes Bewusstsein in einer soziohistorisch konkreten Welt, das auf kollektive Motivvokabularien, Wissensvorräte usw. zurückgreift. Es bleibt zwar in einem radikalen Sinne von Außen unzugänglich, interagiert und kommuniziert jedoch im Medium der Wissensvorräte und damit der Sprache. Diese bilden die Grundlage und Bedingung hinreichender Verständigung. Schütz setzt das Vorhandensein von Mustern der Sinnattribution als sozialisatorisch vermittelt voraus und fragt dann nach den sozialen Konventionalisierungen sowie den Funktionsweisen der Apperzeptions- und Appräsentationsprozesse, mit denen sich das Bewusstsein wahrnehmend und deutend auf sein Erleben bezieht. Berger/Luckmann wenden dieses Programm in die empirische Wissenssoziologie. Die sozialphänomenologischen Arbeiten aus dem Schützschen Werk einschließlich der von Thomas Luckmann auf der Grundlage des Schützschen Nachlasses ausgearbeiteten "Strukturen der Lebenswelt" (SchützJLuckmann 1979, 1984) werden aus der Perspektive der sozialkonstruktivistisch-hermeneutischen Wissenssoziologie als "proto-soziologisch", also der Soziologie vorgelagert bezeichnet. Sie gehören nicht zu ihrem Forschungsprogramm, ihrem Gegenstands- und Anwendungsbereich, sondern klären im besten Falle die Grundlagen der individuellen und sozialen Prozessierung von Sinn bzw. Bedeutungen. 348 Aus der Perspektive der Hermeneutischen Wissenssoziologie formuliert Jo Reichertz deswegen pointiert Vorbehalte und Einwände gegen das Projekt der (Sozial-)Phänomenologie und seinen unüberwindbaren Einschränkungen: "Die Methode der phänomenologischen Reduktion (auch Epoche genannt) möchte zu den ,Sachen' selbst dadurch, daß man bei der Welterkenntnis die eigenen Vorstellungen von Welt von allen sozialen Einkleidungen befreit und zugleich alle Vorstellungen von Welt ihrer historischen Deutung entledigt. Ziel ist es, den ,sozialen Schleier' wegzuziehen, in der Hoffnung, auf diese Weise der Dinge selbst ansichtig zu werden. Dieses Verfahren ist insbesondere von den Vordenkern der Wissenssoziologie sehr stark favorisiert worden. Eine Auseinandersetzung mit diesem Verfahren hat in den letzten Jahren zu der (nicht von allen Phänomenologen geteilten) Erkenntnis geführt, daß man so nicht bei den Sachen selbst, sondern vor allem und einzig in der ,Sprache landet', daß man also die Perspektivität keineswegs verliert." (Reichertz 1999: 335) 347 Wagner (1993) oder Schneider (2002: 180) rekonstruieren den Versuch von Mead, die evolutionäre Entstehung von Sinn und damit die menschliche Fähigkeit zum Symbolgebrauch aus dem Prozess der Interaktion abzuleiten. Vgl. zu den Positionen von Schütz und Mead jeweils Schneider (2002), zu den Bezügen auch Hanke (2002) sowie die Ausführungen von Schütz (l97Id,f) in seinen Gesammelten Werken und die Kapitel 2.2.1, 2.3.3 und 4.2.1. Wagners Kritik an Schütz ist typisch für eine verkürzte und oberflächliche Rezeption seines Werkes, wie sie auch bei Habermas zum Ausdruck kommt, der Schütz vorwirft: "die Gesellschaft erscheint als ein objektives Netz von Beziehungen, das (...) als normative Ordnung den transzendental vorverständigten Subjekten über den Kopf gestülpt (wird)" (Habermas 1985: 369). Vgl. auch die entsprechende Diskussion der Position von Schütz bzw. SchützlLuckmann in der "Theorie des kommunikativen Handeins" (Habermas 1981 b: 192ft). 348 Vgl. dazu Luckmann (1979a, 1983, 1999), Hitzier (1988), Honer (1999), Eberle (2000) sowie die Diskussion und Anwendung der sozial phänomenologischen Vorgehensweise bei Kurt (2002).
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Die Hermeneutische Wissenssoziologie und mit ihr die Wissenssoziologische Diskursanalyse gehen davon aus, "daß sich Wirklichkeit in Bewusstseinstätigkeiten konstituiert und daß historische Welten gesellschaftlich konstruiert werden" (Luckrnann 1999: 19).349 Die Unverzichtbarkeit der Annahme konstituierender Bewusstseinsleistungen impliziert jedoch nicht, diese Leistungen als diejenigen eines transzendentalen Bewusstseins im Sinne der eingangs erwähnten Bewusstseinsphilosophien zu begreifen. Die gedankliche Konstitution und Sinnstiftung ist nur möglich auf der Basis eines gesellschaftlichen Typisierungsvorrates, der den einzelnen Subjekten historisch vorgängig existiert und in permanenten Kommunikationsvorgängen vermittelt wird. Individuen sind damit den soziohistorischen Transformationen, Komplexitäten und situativen Bedingungen der Wissensformationen insoweit unterworfen, als diese den Sinnhorizont ihrer Lebenswelt bilden. 350 Gleichzeitig agieren sie als mehr oder weniger eigen-willige Interpreten dieser Wissensvorräte. Erst dadurch sind sie in der Lage, Strukturen in dem in Kapitel 4.2.2 erläuterten Sinne zu realisieren und zu aktualisieren. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse zielt dann nicht auf die (sozial-) phänomenologische Rekonstruktion typisierbarer Bewusstseinsleistungen, sondern auf die Analyse und Erklärung der diskursiven Konstruktion gesellschaftlicher Wissensbestände einschließlich derjenigen Elemente, die sich auf Sprecherpositionen, Selbsttechnologien und Subjektpositionen im Sinne diskursiv adressierter Subjekte richten. Sie verwechselt jedoch nicht vorschnell die diskursiv vorgestellten Subjektpositionen mit den tatsächlichen Deutungs- und Handlungs-Praktiken der Akteure des Alltags. Soziale Akteure sind Adressaten von Wissensbeständen und darin eingelassenen Wertungen, aber auch nach Maßgabe der soziohistorischen und situativen Bedingungen selbstreflexive Subjekte, die in ihrer alltäglichen Be-Deutungsleistung soziale Wissensbestände als Regelbestände mehr oder weniger eigen-sinnig interpretieren (HitzlerlReichertzlSchröer 1999b: 11 ff; Schröer 1997a). Die Wissenssoziologische Diskursanalyse interessiert sich im Einklang mit den Akteurskonzepten der Cultural Studies und des Symbolischen Interaktionismus nicht für die Individualität singulärer Subjekte, die sich in Sprecherpositionen oder Subjektpositionen einbinden (müssen) und die darauf bezogenen Rollenerwartungen bzw. Rollenspiele handhaben. Als soziologische Analyseperspektive fokussiert sie soziale Akteure, Prozesse, Grundlagen und Folgen der diskursiven Konstruktion der Wirklichkeit. Sie kann durch die Beibehaltung der Unterscheidung zwischen sozialen Akteuren und Sprecher- bzw. Subjektpositionen auch die Spielräume der Einbindung in und Auseinandersetzung mit Diskursen und Praktiken zum Thema machen - im Gegensatz zur Foucaultschen oder anderen diskurstheoretischen Positionen, bei denen diese Momente in eins fallen. Als Rollenspieler in oder Adressaten der Diskurse verfolgen soziale Akteure dann institutionelle (diskursive) Interessen ebenso wie persönliche ,Projekte' und ,Bedürfnisse'. Sie greifen dabei auf legitime und illegitime Strategien, Taktiken und Ressourcen des Handelns zurück. Doch das, was als Interesse, Motiv, Bedürfnis oder Zweck verfolgt wird, ist im selben Maße Ergebnis von kollektiven Wissensvorräten und diskursiven Konfigurationen, wie die Wahrnehmung und Einschätzung der Wege und Mittel, die dabei zum Einsatz kommen. Vgl. auch Soeffner/Hitzler (1994); zur Unterscheidung der objektiven, subjektiven und situativen Bedeutung von Zeichen im Anschluss an Schütz auch HitzierlKeIler (1989: 95). 350 Ein Indiz dafür ist die Kompatibilität von Analysen der Genese moderner Subjekt- und Identitätskonzepte in der hermeneutisch-wissenssoziologischen Tradition mit den entsprechenden Untersuchungen Foucaults. Vgl. bspw. Soeffner (I 992a). 349
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Welchen Stellenwert nimmt hier schließlich das Konzept des ,souveränen Subjekts' ein? Ich habe am Beginn der Erläuterungen des vorliegenden Abschnitts bereits darauf hingewiesen, dass die Soziologie generell von der sozialen Formung als unhintergehbarer Grundlage der individuellen Handlungs- und Reflexionsfahigkeiten ausgeht. Eine vollkommene Souveränität im Sinne eines außerhalb der historischen Bedingungen stehenden Subjekts ist fiir sie deswegen undenkbar. Allerdings unterscheiden sich die soziologischen Paradigmen nach den Freiheitsgraden, die sie dem individuellen Handeln und den Subjekten zuschreiben. Die Bourdieusche Praxistheorie bspw. behauptet hier einen weitreichenden Strukturdeterminismus, der die Individuen zumindest solange zu Marionetten ihres Habitus und damit der Struktur sozialer Felder macht, wie sie nicht soziologisch darüber aufgeklärt sind und sich reflexiv dazu verhalten können. Die Hermeneutische Wissenssoziologie vertritt ähnlich wie Giddens Strukturierungstheorie einen, weicheren' Standpunkt. Sie betont ebenso wie Foucault, Bourdieu u.a., dass die soziohistorischen Wissensregime in Gestalt mehr oder weniger komplexer und konsistenter Motivvokabularien, Deutungs- und Handlungsmustern etc. den jeweils unhintergehbaren Horizont der Wirklichkeitswahrnehmung einschließlich der Wahrnehmung des eigenen Selbst bilden. Reflexionen, Handlungsentwürfe und Selbstverständigungen finden unabänderlich in diesem geschichtlichen Deutungshorizont bzw. Diskursuniversum statt. Im Unterschied zu Foucault oder Bourdieu hält sie aber daran fest, dass soziale Akteure fahig sind, sich im Rahmen der ihnen soziohistorisch verfiigbaren Mittel nach Maßgabe eigener ,Sinnsetzung' und auch kreativ auf die situativen Erfahrungen und institutionellen Erwartungen zu beziehen, in die sie eintauchen. Durch ihre reflexiven und praktischen Interpretationen der strukturellen Bedingungen können sie auch deren Transformation herbeifiihren. 351 Das alles ist keineswegs - auch nicht in der Hermeneutischen Wissenssoziologie! - mit der Kontrolle der Handlungsfolgen durch die Akteure und ihre Intentionen zu verwechseln. Selbstverständlich finden habituell oder bewusst vollzogene Handlungen unter strukturellen Voraussetzungen statt bzw. greifen darauf zurück, die nicht von ihnen selbst erzeugt wurden oder kontrolliert sind, und ebenso selbstverständlich hat Handeln beabsichtigte und unbeabsichtigte, gesehene und ungesehene Konsequenzen, die als Struktureffekte zu Vorbedingungen von Anschlusshandlungen werden. 352 Der objektivierte kollektive Wissensvorrat ist ja gerade ein nicht vom einzelnen Bewusstsein intendierter Bestand symbolischer Ordnungen. Er bezeichnet ein soziales ,Produkt', das aus unzähligen historischen Deutungs- und Handlungsereignissen entstanden ist und auch nicht auf einen kollektiven Entwurf zurückgefiihrt werden kann. Resümierend ist an dieser Stelle festzuhalten, dass die Wissenssoziologische Diskursanalyse eine dreifache Relationierung von Diskursen und Akteuren vornimmt: Eine solche Fähigkeit oder Kompetenz der Akteure bildet den Fluchtpunkt von FoucauIts "Hermeneutik des Subjekts". Vgl. dazu die Diskussion weiter oben. Peter Wagner (1990) hat in einer dazu affinen Studie die WechseIprozesse der Konstituierung der unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen (Soziologie, Politikwissenschaften, Ökonomie, Recht) in Auseinandersetzung mit der Etablierung der Nationalstaaten in Deutschland, Frankreich und Italien untersucht. Er betont die Rolle von Diskurskoalitionen, also strategischen Zusammenschlüssen von Akteuren aus unterschiedlichen institutionellen Arenen, in den Konflikten zwischen konkurrierenden Diskursen. 352 Hier besteht in der Hermeneutischen Wissenssoziologie durchaus weiterer Klärungsbedarf. Entsprechende Auseinandersetzungen - bspw. mit der Theorie von Bourdieu - sind bislang jedoch randständig bzw. nicht sehr weit gediehen (z.B. Meuser 1999). Vgl. auch die Hinweise von HitzIer (1999: 297) auf die handlungsdeterminierende Wirkung sozialer Strukturzusammenhänge. 351
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Sprecherpositionen bezeichnen Orte des legitimen Sprechens innerhalb von Diskursen, die von sozialen Akteuren unter bestimmten Bedingungen (bspw. nach Erwerb spezifischer Qualifikationen) als Rollenspieler eingenommen und interpretiert werden können. Subjektpositionen/ldentitätsangebote bezeichnen Positionierungsprozesse und ,Muster der Subjektivierung', die in Diskursen erzeugt werden und sich auf Adressaten(bereiche) beziehen (bspw. die Rolle des Ratsuchenden der humangenetischen Expertise). Selbsttechnologien werden als modellhaft ausgearbeitete, handlungspraktisch verfügbare Anweisungen zur Subjektivierung begriffen. Soziale Akteure sind Individuen oder Kollektive, die sich auf die erwähnten Sprecheroder Subjektpositionen beziehen und diese nach Maßgabe ihrer mehr oder weniger eigen-willigen Rolleninterpretationen und -kompetenzen einnehmen und ausführen, also realisieren.
Abschließend möchte ich zumindest darauf hinweisen, dass die Hermeneutische Wissenssoziologie, deren Grundannahmen über Subjektwerdung und Identitätsbildung primär auf der Meadschen Sozialisationstheorie beruhen, vor dem Hintergrund der diskurstheoretisch poststrukturalistischen Argumente und der zeitdiagnostischen Verweise auf Prozesse der Enttraditionalisierung bzw. Individualisierung einer weiteren Klärung des Verhältnisses von Akteuren, Handlungsträgerschaften, Subjektivität und Identität bedarf. Als These lässt sich an dieser Stelle im Anschluss an die diskurstheoretischen Überlegungen formulieren, dass diskursiv erzeugte, massenmedial zirkulierende Subjektpositionen und Identitätsangebote, die mehr oder weniger hegemoniale Stellungen einnehmen, an die Stelle der Tradition treten und zu wechselnden Identifikationen und Artikulationen im Sinne von LaclauIMouffe einladen. Damit wäre ein Identitäts- und Subjektivierungsmodus angesprochen, der den Rahmen sozialpsychologischer und soziologischer Sozialisations- und Identitätstheorien einschließlich der Rede von Patchwork-Identitäten (Keupp u.a. 1999; Keupp/Höfer 1997) verlässt, ohne jedoch als Beleg für "Sinnbasteln" (Hitzier 1988: 147) einerseits oder ständig sich verändernde "proteische" Erscheinungen (ebd.: 168) andererseits gelten zu können. Eher ginge es vielleicht, wie ansatzweise in den Cultural Studies, um ein Verständnis von seriellen oder "transitorischen" Identitäten und den "Prozesscharakter des Selbst" (RennIStraub 2002). 4.2.4 Diskurse und Praktiken Bisher habe ich gezeigt, dass die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie von einem Zeichenkonzept ausgeht, welches Zeichen als Typisierungen innerhalb eines Wissensvorrates begreift, der kollektiv erzeugt wird und ein universe of discourse ausbildet. Das Verhältnis von Diskursen und einzelnen diskursiven Ereignissen wurde als "Dualität von Struktur" (Anthony Giddens) entfaltet. Der praktische Vollzug des Ereignisses erforderte schließlich den Einbezug einer Kategorie sozialer Akteure. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen kann die Klärung der beiden verbleibenden Punkte vergleichsweise knapp erfolgen. Es geht dabei zunächst um das wissenssoziologische Verständnis von Praktiken und dann (in Kapitel 4.2.5) um das Verhältnis von diskursiven Formationen bzw. Spezial-
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diskursen im Sinne Foucaults zu den öffentlichen Diskursen, die von den Diskursperspektiven des Symbolischen Interaktionismus untersucht werden. Foucault bezieht sich in mehrerlei Hinsicht auf Praktiken. Praktiken sind einerseits Handlungsvollzüge in der Diskursproduktion, andererseits geregelte Handlungsweisen außerhalb der Diskurse. So defmiert er Diskurse als Praktiken, welche die Gegenstände erzeugen, von denen sie handeln. Bereits eingangs der vorliegenden Arbeit habe ich darauf hingewiesen, dass die Wissenssoziologische Diskursanalyse an dieses Diskurskonzept anschließt. Foucault rekurriert zugleich - etwa in Bezug auf seine Analyse der historischen Entwicklung von "Überwachen und Strafen" (Foucault 1977) - auf einen allgemeinen Begriff der Praktiken als den geregelten und tradierten Handlungsweisen in gesellschaftlichen Praxisfeldem. Diskursive Praktiken bilden insoweit die Sonderform von Praktiken, welche der Produktion und Zirkulation von Diskursen zugrunde liegen. Weiter oben in Kapitel 2.3.1 wurde argumentiert, dass die neueren Entwicklungen der Wissenssoziologie Affmitäten zu dem aufweisen, was in jüngerer Zeit als "practice turn" innerhalb des "cultural turn" der Soziologie beschrieben wird. 353 Als Praktiken gelten dort beobachtbare und typisierbare Handlungsweisen, die sozial konventionalisierten und tradierten Muster, etwas zu tun. Das betrifft nicht nur "Kochen", "Wohnen", "Gehen in der Stadt", sondern auch die Praktiken des (wissenschaftlichen) Schreibens, des Theoretisierens u.a., also die gesamte Bandbreite der "Kunst des HandeIns" (Certeau 1988).354 An die Stelle des verstehenden Nachvollzugs eines subjektiv gemeinten Sinnes im Anschluss an Weber setzen die Praxistheorien die aus der sozialwissenschaftlichen Beobachtungsposition vorgenommene Beschreibung der typisierbaren Regelmäßigkeiten von Handlungsvollzügen. 355 Sie sehen darin einen großen Vorteil gegenüber sinnorientierten, ,mentalistischen' oder ,textidealistischen' Vorgehensweisen,356 da auf die Rekonstruktion der subjektiven Handlungsmotivation verzichtet werden könne; von sozialwissenschaftlichem Interesse sei demgegenüber die Analyse der sozialen Konventionalisierung der Handlungsabläufe. Eine solche Position übersieht jedoch das in den vorangegangenen Abschnitten vorgestellte Bindeglied zwischen Struktur und Handlung, d.h. die menschliche Trägerschaft der Praktiken, die Interpretationskompetenz und Handlungsfähigkeit sozialer Akteure, die der Vollzug von Praktiken unweigerlich erfordert. Ich möchte deswegen sowohl in Bezug auf Foucault wie auch gegenüber den verschiedenen Ansätzen des practice turn behaupten, dass die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie sehr wohl ein entsprechendes Konzept beinhaltet, auch wenn es nicht unter dem Begriff der Praktiken ausgearbeitet ist. Zudem ermöglicht sie Es handelt sich dabei um eine Mischung aus ethnomethodologischen Ansätzen, der Bourdieuschen Theorie der Praxis, der Giddensschen Strukturierungstheorie, Handlungstheorien im Anschluss an den Pragmatismus oder die (Nach-)Wittgensteinsche Sprachspiel-Philosophie. Vgl. SchatzkilKnorr-Cetina/Savigny (2001), Reckwitz (2000, 2002, 2003), Höming (1999), Swidler (200 I). 1m Kontext dieser Entwicklungen formuliert Laurent Thevenot in seiner Ausarbeitung einer pragmatistischen Handlungstheorie die stärksten Bezüge zu den verschiedenen wissenssoziologischen Traditionen (vgl. Thevenot 1998 und Thevenot 2001). 354 Vgl. zu den erwähnten Beispielen die klassische und für den practice turn einflussreiche Studie von Certeau (1980; dt. 1988) sowie deren Ergänzung durch GiardlMayol (1980). 3S5 ,Praxistheorie' meint hier also nicht die marxistische Tradition. 356 Mit Blick auf Alfred Schütz' Arbeit über den "Sinnhaften Aufbau der sozialen Welt", die Anfang der 1930er Jahre erschien, verortet Reckwitz die sozialphänomenologische Tradition in der 'Sackgasse' des Mentalismus. Er ignoriert die daran anschließende Wissenssoziologie völlig bzw. verweist nur in einer Fußnote darauf, diese enthalte Parallelen zum Praxisparadigma (Reckwitz 2003; vgl. auch ähnlich die verkürzte Darstellung der Position von Schütz in Reckwitz 2000). 353
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durch ihr Insistieren auf der Eigen-Sinnigkeit der sozialen Akteure als Träger und Interpreten der Praxisvollzüge einen gegenüber den erwähnten Ansätzen umfassenderen theoretischen und empirischen Zugang zu sozialen und damit auch zu diskursiven Praktiken. Eine erste Annäherung an das versteckte Praxiskonzept der Hermeneutischen Wissenssoziologie liefern die frühen ethnomethodologischen Krisenexperimente von Garfmkel u.a. Dort wurde die soziale Konventionalisierung von Praktiken in Gestalt von ,scripts', also typischen und typisierbaren Routinen des Handlungsvollzugs in alltäglichen Situationen - der Begrüßung, des Familienessens, des Restaurantbesuchs etc. - untersucht. Garfinkel und seine StudentenInnen inszenierten bewusste und mehr oder weniger weit reichende ,Ausfälle' aus den erwarteten Routineabläufen und testeten deren Folgen (Garfinkel 1967). Ein ähnliches Skript-Modell liegt auch den Untersuchungen über "kulturelle Modelle" ("cultural models") oder "cognitive maps" in der kognitiven Anthropologie zugrunde. 357 Beide Ansätze verweisen mit der Skripthaftigkeit der Abläufe von Praktiken auf gesellschaftlich standardisierte Handlungsrepertoires bzw. Formen des typisierten Routinewissens über Handlungsvollzüge hin, über das soziale Akteure mehr oder weniger kompetent verfügen (müssen), um die entsprechenden Handlungen sozial angemessen zu vollziehen. Dies ist genau die Art und Weise, wie Praktiken in der Wissenssoziologie zum Thema werden: SchützfLuckmann (1979: 133ff; 172ft) unterscheiden für die Ebene des lebensweltlichen Wissensvorrates der Subjekte zwischen "Grundelementen des Wissensvorrates" (das "Wissen um die Begrenztheit der Situation" und die "Struktur der subjektiven Erfahrungen"), den "Routinen im Wissensvorrat" und den "spezifischen Teilinhalten", d.h. dem kognitiv repräsentierten Wissensbestand. Wie die zuletzt erwähnten Teilinhalte ist auch das Routinewissen biographisch erworben: "Wissenserwerb ist die Sedimentierung aktueller Erfahrungen nach Relevanz und Typik in Sinnstrukturen, die ihrerseits in die Bestimmung aktueller Situationen und Auslegung aktueller Erfahrungen eingehen." (Schütz/Luckmann 1979: 154). "Das mehr oder minder wandelbare Gewohnheitswissen (... ) ist selbstverständlich das Resultat von Erfahrungssedimentierung. Es unterscheidet sich von den expliziten Teilelementen des Wissensvorrates dadurch, daß es, ähnlich wie die Grundelernente, immer vorhanden ist. Die Elemente des Gewohnheitswissens werden nicht mehr als Wissenselemente, als selbständige Erfahrungsthemen erfaßt, sondern sind im Horizont des Erfahrungsablaufs mitgegeben." (ebd.: 173) SchützfLuckmann differenzieren das Routinewissen in "Fertigkeiten", "Gebrauchswissen" und "Rezeptwissen": "Gehen muß gelernt werden. Schwimmen muß gelernt werden, mit Eßbesteck zu essen muß gelernt werden, sogar einem Tennismatch zuzuschauen, muß in gewissem Sinn (ganz abgesehen vom Erlernen des objektiven Sinns der Spielregeln) erlernt werden. (... ) Wir wollen solche, auf die Grundelemente des gewohnheitsmäßigen Funktionierens des Körpers aufgestufte gewohnheitsmäßige Funktionseinheiten der Körperbewegung (im breitesten Sinn) Fertigkeiten nennen. Auf Fertigkeiten beruhend, aber nicht mehr zum gewohnheitsmäßigen Funktionieren des Körpers eigentlich gehörend, ist ein Bereich des Gewohnheitswissens, den wir Gebrauchswissen nennen wollen. Es gibt im täglichen Leben, noch genauer, in der Wirkzone der Alltagswelt, bestimmte Handlungsziele und dazu gehörige ,Mittel zum Zweck', die nicht mehr die geringste
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Vgl. Holland/Quinn (1987), StrausslQuinn (1997), D'Andrade (1995).
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SchützlLuckmann beziehen sich mit dieser Analyse verschiedener Bausteine des Routinewissens auf das eingeübte körperliche Know How, das Handlungsvollzüge begleitet bzw. ihnen zugrunde liegt. Mit dem Begriff des "Rezeptwissens" erfolgt jedoch schon eine weitgehende Annäherung an explizite Wissensbestände bzw. das "Handlungsrepertoire " - die möglichen Arten von Handlungen und die Weisen ihres Vollzugs -, das in historisch situierten Gesellschaften den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern als kollektiver Wissensbestand zur Verfügung steht: ,,(Der) praktische Kern jedes gesellschaftlichen Wissensvorrats (umfaßt) ein Handlungsrepertoire. (...) Dieses Repertoire kann ftir alle Gesellschaftsmitglieder fast das gleiche sein (...), oder es kann in unterschiedlichen sozialen Klassen und Institutionenbereichen sehr verschiedene Handlungsmuster beinhalten. Wenn das letztere zutrifft, kann man nicht mehr von einem Handlungsrepertoire mit gewissen Varianten sprechen, sondern nur noch von "Bündeln von Handlungsrepertoires", die wohl aber noch um ein gemeinsames allgemeines Grundrepertoire geflochten sind. Das allen gemeinsame Handlungsrepertoire wird, wie der Ausdruck schon besagt, an alle werdenden und lernenden Mitglieder einer Gesellschaft vermittelt, meist und zum großen Teil schon in den frühesten Sozialbeziehungen (Primärsozialisation), während die Sonderrepertoires, die an gesellschaftlich vordefinierte Typen und Rollen (insbesondere Berufsrollen) gebunden sind, dementsprechend selektiv und meist erst später (Sekundärsozialisation) vermittelt werden. Jedenfalls gibt es keine Gesellschaft, in der die Vermittlung des gesellschaftlichen Wissens - insbesondere in seinem Kern, dem gemeinsamen Handlungsrepertoire - nicht einigermaßen systematisch geregelt wäre. Was immer der Begriff eines ,vergesellschafteten Menschen' bedeuten mag, auf jeden Fall und vor allem bezieht er sich auf die Art und Weise, wie der Mensch handelt: sein Handlungsrepertoire muß im wesentlichen dem gesellschaftlichen Handlungsrepertoire entnommen sein." (Luckmann 1992: 98)
Der in der Entwicklung der Diskurstheorien favorisierte Begriff der Praktiken bezeichnet nichts anderes als Handlungsmuster, die durch den kollektiven Wissensvorrat als Handlungsrepertoire zur Verfügung gestellt werden, ein sozial konventionalisiertes, mehr oder weniger explizit gewusstes Rezept- oder Skript-Wissen über die ,angemessene' Art und Weise von Handlungsvollzügen. Dieses Wissen kann einerseits in gesellschaftlichen Praxisbereichen, also in Bezug auf spezifische Handlungsprobleme oder -anlässe durch experimentierendes und erprobendes Handeln entstehen, sich dort tradieren und (weiter-) entwickeln. Unter modemen Bedingungen gesellschaftlicher Enttraditionalisierung sowie der auf Expertensystemen basierenden Dauerbeobachtung und Reform gesellschaftlicher Praxis
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wird es in wesentlichen Elementen auch durch die Ausarbeitung theoretischer Modelle des Handelns angeleitet (Giddens 1991). Wenn Foucault in seiner Diskurstheorie auf die Verknappung von Sprecherpositionen bspw. durch BildungszertifIkate zu sprechen kommt, dann bedeutet dies nichts anderes als ein Hinweis auf knapp gehaltene Möglichkeiten der Sozialisation in spezifIsche Praktiken der legitimen Diskursproduktion. Der Erwerb entsprechenden Skriptwissens, ,tacit knowledge' etc. wird als Kompetenz durch entsprechende Zeugnisse zertifIziert. D.h. mit anderen Worten tur die Wissenssoziologische Diskursanalyse, dass sie mit der expliziten Einfuhrung des Konzepts der Praktiken in die Wissenssoziologie das beschreibt, was dort bislang als typisierte Handlungsmuster und subjektiv angeeignete Wissenselemente kollektiver Wissensvorräte untersucht wurde. Sie interessiert sich mit dieser Wendung nicht fur die individuelle Kompetenz oder Performanz dieses Skriptwissens, sondern fur seine soziale Konventionalisierung und seine Bedeutung in Diskursverläufen. Eine solche Perspektivenverschiebung ist weniger ungewöhnlich als dies zunächst erscheinen mag. Sie wurde bereits in der wissenssoziologischen Tradition mit deren kommunikativer Wende, d.h. mit der Hinwendung zur Analyse kommunikativer Gattungen vol1zogen (vgl. Kap. 2.3.3.1). Mit der Idee der kommunikativen Gattungen hatte die Wissenssoziologie, wie oben erläutert, ein Konzept der Sprachtheorie von Bakhtin und Volosinow übernommen, das auch in der Entwicklung der Diskurstheorien eine wichtige Rolle spielte und dort die pragmatische Wende, also die Analyse des praktischen Sprachgebrauchs, der diskursiven Praktiken und Sprachspiele orientierte. 358 1m Unterschied zu den diskurstheoretischen Perspektiven richtet sich jedoch die konversationsanalytisch geHirbte Untersuchung kommunikativer Gattungen auf Muster des Sprachgebrauchs in kommunikationellen Settings der ,Alltagsebene' , die niedrige Grade der Organisiertheit besitzen. Die Analyse kommunikativer Gattungen zielt dort auf die Rekonstruktion typisierbarer Ablaufmuster von sprachlichen Interaktionen. Der von Jörg Bergmann (1987) untersuchten Gattung "Klatsch" entspricht so die Praktik des ,Klatschens'. Kommunikative Gattungen sind nichts anderes als nach unterschiedlichen Zwecksetzungen oder Problemstellungen typisierte Praktiken sprachlicher Verständigung: "Was immer wir kommunikativ tun, wir verwenden dabei in der Regel bestimmte Formen, die wir nicht selbst erfunden haben, sondern die uns als Teil unseres Wissensvorrates zur Verfügung stehen. Sind diese Formen fest vorgeprägt und weisen einen bestimmten Komplexitätsgrad auf, so reden wir von Gattungen. (...) Kommunikative Gattungen bezeichnen diejenigen kommunikativen Prozesse, die von typischen Akteuren in besonderen Interaktionssituationen als Lösungen eines wiederkehrenden Problems hervorgebracht werden. (...) Sie unterscheiden sich von ,spontanen' kommunikativen Vorgängen dadurch, daß die Interagierenden sich in einer voraussagbaren Typik an vorgefertigten Mustern ausrichten." (Günthner/Knoblauch 1997: 281ft)
Kommunikative Gattungen bezeichnen damit eine besondere Form des typisierten Skriptwissens, das sich auf die Strukturierung von Kommunikationsprozessen bezieht. In der bisherigen Ausfuhrung verzichtet die wissenssoziologische Analyse kommunikativer Gattungen - mit Ausnahme von Knoblauch (1995) - auf die Verknüpfung von Gattungsper358 Vgl. Günthner/Knoblauch (1997) zur Wissenssoziologie, Potter (2001a), Maybin (2001) und Collins (1999) zur Diskurstheorie. Siehe auch Bakhtin (1986; 1998).
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spektive und inhaItsbezogener Wissensanalyse. Genau dies ist jedoch ein zentraler Bestandteil der Analyse diskursiver Praktiken innerhalb der Wissenssoziologischen Diskursanalyse. Als diskursive Praktiken bezeichne ich typische realisierte Kommunikationsmuster, sofern sie in einen Diskurszusammenhang eingebunden sind. Sie sind nicht nur, wie in der Gattungsforschung, in Bezug auf ihre formale Ablaufstruktur rur die Diskursforschung von Interesse, sondern ebenso sehr im Hinblick auf die von Foucault unterschiedenen Formationsregeln, ihren Einsatz durch soziale Akteure und ihre Funktion in der Diskursproduktion. Diskursive Praktiken sind beobachtbare und beschreibbare typische Handlungsweisen der Kommunikation, deren Ausführung als konkrete Handlung - ähnlich wie im Verhältnis zwischen typisierbarer Aussage und konkret-singulärer Äußerung - der interpretativen Kompetenz sozialer Akteure bedarf und von letzteren aktiv gestaltet wird. Dabei können durchaus eigen-willige und ideosynkratische Ausruhrungsweisen solcher Praktiken entstehen, doch die Wissenssoziologische Diskursanalyse interessiert sich primär rur die typischen Vollzüge der Handlungsmuster. Diskursive Praktiken sind nur eine mögliche Form von Praktiken (vgl. Kapitel 4.3.4.2). Die Wissenssoziologische Diskursanalyse unterscheidet davon diskursgenerierte Modellpraktiken, d.h. Muster rur Handlungen, die in Diskursen rur deren Adressaten konstituiert werden. Schließlich werden Praktiken als diskursunabhängig in unterschiedlichen gesellschaftlichen Praxisfeldern entstandene, tradierte und vollzogene Handlungsmuster rur sie im Zusammenhang ihrer Fragestellung bedeutsam.
4.2.5 Diskursive Formationen: Spezialdiskurse und öffentliche Diskurse Ein letzter Punkt, der im Rahmen der wissenssoziologischen Einbettung der Diskursperspektive erläutert werden soll, betrifft das Verhältnis von diskursiven Formationen, Spezialdiskursen und öffentlichen Diskursen. Foucault hatte mit Blick auf die abgrenzbaren institutionellen Bereiche und Praxisfelder einer Gesellschaft - wie Recht, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik - vorgeschlagen, die Formationsregeln der dort auffindbaren Diskurse zu untersuchen (vgl. Kapitel 3.2.3). Die spezifizierbaren Formationsregeln bewahren die Diskurse vor ihrer wechselseitigen Verschmelzung oder Auflösung. Alle Diskurse, die nach den selben Formationsregeln gebildet werden, bilden zusammen eine von anderen abgrenzbare diskursive Formation. Dabei interessierte ihn weniger, welche inhaltlichen Konkurrenzen und Gegensätzlichkeiten innerhalb der Diskurse existieren, sondern gerade die gemeinsamen Diskursregeln hinter kontroversen Positionen. Die soziale und zeiträumliche Eingrenzung bzw. Ausdehnung solcher Diskurse fasste FoucauIt in Abhängigkeit von seinen Fragestellungen. Wie seine Analysen in der "Ordnung der Dinge" (FoucauIt I974a) verdeutlichen, kann die Ebene, auf der entsprechende Formationsbildungen untersucht werden, durchaus unterschiedlich angesetzt werden. Im diachronen Vergleich historischer Epochen treten bspw. Gemeinsamkeiten zwischen synchronen diskursiven Formationen auf, die diese von denjenigen der anderen Epochen unterscheidbar machen. Foucault spricht hier von den verschiedenen "Epistemen" (s.o.). Innerhalb einer historischen Diskurskonfiguration werden jedoch die Unterschiede zwischen den gleichzeitig vorhandenen diskursiven Formationen deutlich - sonst wären sie eben nicht als Diskurse des Rechts, der Medizin, der Ökonomie etc. erkennbar. Je genauer sich der beobachtende Blick auf eine einzelne diskursive Formation richtet, desto stärker werden wiederum die darin gegenein-
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ander abgegrenzten und rekonstruierbaren ,Subformationen' deutlich: Innerhalb des Rechts bspw. können Diskurse des Haftungsrechts von solchen des Strafrechts, des Staatsrechts etc. durch ihre voneinander (in einigen Punkten) abweichenden Formationsregeln spezifiziert werden. Diese Beispiele machen deutlich, dass die Untersuchung diskursiver Formationen als Typisierungsprozess angelegt ist, der in Abhängigkeit von den jeweiligen Fragestellungen der Analyse mit unterschiedlicher Tiefenschärfe betrieben werden kann. Unabhängig davon, auf welcher Ebene der Feinanalyse diskursive Formationen rekonstruiert werden, bleibt festzuhalten, dass Foucault sich kaum fiir konkrete inhaltliche Auseinandersetzungen bspw. zwischen einzelnen Teildiskursen des Rechts interessierte - zumindest hat er nur selten, wie etwa im weiter oben zitierten Fall des "Pierre Riviere" explizit sein Interesse an der phänomenbezogenen Gegenüberstellung und Konfrontation unterschiedlicher Diskurse geäußert (Foucault 1975). Sein generalisierender Blick zielte auf die allen gemeinsamen Formationsregeln und deren ,Machtwirkungen' , unabhängig von den singulären inhaltlichen Ausfuhrungen. Bezogen auf die Analyse von "Technologien des Selbst" in den verschiedenen Bänden von "Sexualität und Wahrheit" (Foucault 1989a,b,c) bedeutet dies bspw. die Untersuchung der allgemeinen Subjektkonstitution in den Praktiken der Beichte, den Ratgebern zur Lebensfuhrung usw., abstrahierend von den zwischen verschiedenen ,Schulen' variierenden und konkurrierenden konkreten Ausfuhrungen. Auf den ersten Blick bestehen damit enorme Unterschiede zwischen dem Foucaultschen Interesse an diskursiven Formationen einerseits, und der in Kapitel 2.3.3.2 erläuterten Diskursforschung des Symbolischen Interaktionismus. Letzterer greift, wie erläutert, das sozialkonstruktivistische Programm auf und bezieht es auf die Untersuchung der bzw. des "öffentlichen Diskurse(s)". Public Discourse bezeichnet hier politisch-argumentative Auseinandersetzungen über gesellschaftliche Problemfelder, an denen sich, vermittelt über die Massenmedien und diverse andere öffentliche Arenen die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit beteiligt.359 Spezifischer werden damit in der erwähnten Forschungstradition die Karrieren ,sozialer Probleme' - wie bspw. Drogenmissbrauch - auf der öffentlichen Agenda, die beteiligten Akteure und die jeweiligen Effekte der Definitionskonflikte untersucht. Es handelt sich hier nicht notwendig um tatsächliche Diskussionsprozesse und argumentative Auseinandersetzungen, auch wenn solche ,kommunikativen Veranstaltungen' in Diskursverläufen statthaben können. Schon gar nicht geht es um die Idee ihrer Geregeltheit als eines deliberativen Prozesses: Anders als im Rahmen der Habermasschen Diskursethik wird keineswegs unterstellt, dass in solchen Konflikten nur (bessere) Argumente eine Rolle spielen (sollten) oder dass sich ,vernünftige' Lösungen konstituieren - der konkrete Ablauf und seine Implikationen ist vielmehr Gegenstand der empirischen Fragestellung. Dabei wird der Diskursbegriff eher unspezifisch und mitunter konfliktparteiübergreifend fur die Definitionskämpfe um einen umstrittenen Problemgegenstand (z.B. Hilgartner/Bosk 1988), in anderen Fällen fiir Komplexe abgrenzbarer Akteure und Positionen innerhalb solcher Auseinandersetzungen (z.B. Gamson/Modigliani 1987) eingesetzt. Die entsprechende Diskursforschung des Symbolischen Interaktionismus hat sich dann im Unterschied zu Foucault mit historisch ,kleinformatigeren' Karrieremechanismen solcher Diskurse, mit den Schöttler (1997) und Link (1999) verweisen gegen den Haberrnasschen Diskursbegriff darauf, dass von Diskursen ,über' ein Thema oder einen Problernzusammenhang im Foucaultschen Sinne streng genommen nicht gesprochen werden kann, weil es dort um allgemeine Formationsregeln gehe. In meinem Vorschlag geht es darum, inwiefern zwar nicht die Position von Haberrnas, aber doch diejenige des Symbolischen Interaktionismus mit der Foucaultschen Vorstellung verknüpft werden kann.
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beteiligten Akteuren, ihren Strategien und Ressourcen sowie mit den festgeschriebenen Inhalten und deren institutionel1en Konsequenzen beschäftigt.360 Das vorgeschlagene Konzept der Wissenssoziologischen Diskursanalyse zielt darauf, diese sehr unterschiedlich konzipierten Herangehensweisen an Diskurse aufeinander zu beziehen, d.h. die Foucaultschen Vorschläge zur Analyse von durch Formationsregeln voneinander unterscheidbaren Spezialdiskursen mit derjenigen der Untersuchung öffentlicher Diskurse im Symbolischen Interaktionismus zu vermitteln. Gegenüber den Analysen des Symbolischen Interaktionismus hat dies den Vorteil einer stärkeren Systematisierung und Durchdringung der untersuchten Prozesse; gegenüber der Foucaultschen Diskurstheorie werden die Inhalte der Auseinandersetzungen stärker akzentuiert - die bei ihm freilich nie ganz so bedeutungslos waren, wie es seine formalen Konzepte in der "Archäologie des Wissens" suggerierten. Gegenstände der Wissenssoziologischen Diskursanalyse sind dann sowohl öffentliche Diskurse wie auch institutionel1e - also in gewissem Sinne teilöffentliche - Spezialdiskurse im Foucaultschen Verständnis. Sie werden im Hinblick auf ihre Träger, auf übereinstimmende oder unterschiedliche Formationsregeln und inhaltliche Positionierungen sowie deren Effekte untersucht. Die konkrete Akzentuierung im Rahmen dieser Möglichkeiten wird erst nach Maßgabe der jeweiligen Forschungsfragen entschieden. Das nachfolgende Schaubild veranschaulicht diesen Zusammenhang:
360
Vgl. den Exkurs in Kapitel 3.1.5.
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse Abbildung 3:
231
Diskursformationen: Spezialdiskurse, öffentliche Diskurse
Diskursformationen: Spezialdiskur e (SD) -----
Öffentliche Dis urse (ÖD)
Diskursformationen: SD 1-- SD2--....--DSn
ÖD 1--ÖD2--...ÖDn
K1;m'/~ ~I Diskursformationen: SD1a, SD 1b, SD 1,c....
ÖD1a, ÖD1b, ÖD1c....
konkurrierende Diskurspositionen: S
ÖD1ax, ÖD1ay, ÖD1az...
Erläuterung: Die Analyse kann sich auf den verschiedenen Ebenen auf Formationsregeln und innerhalb derselben Formationen auf konkurrierende Diskurspositionen beziehen. Je spezifischer auf untergeordnete Ebenen diskursiver Formationen fokussiert wird, desto deutlicher treten - auch in institutionellen Settings - unterschiedliche inhaltliche Positionen (z.B. wissenschaftliche Paradigmen) in den Vordergrund. Die Darstellung enthält zur Illustration einige Beispiele für Diskursformationen bzw. Diskurse auf den verschiedenen Ebenen. Sie kann nach unten verlängert werden. Die konkrete Zahl der konkurrierenden Diskurse ist eine empirische Frage. Spezialdiskurse unterscheiden sich sowohl durch Gegenstandskonstitution wie durch Formationsregeln. Für öffentliche Diskurse ist ebenfalls eine Grobunterscheidung nach Gegenstandskonstitutionen möglich. Inwiefern dem zusätzlich abgrenzbare Formationsregeln entsprechen, wäre empirisch und im (auch internationalen) Vergleich unterschiedlicher Öffentlichkeiten und Arenen zu zeigen.
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Diese Konzeption der Wissenssoziologischen Diskursanalyse folgt der weiter oben in Kapitel 3.2.6 erwähnten pragmatistischen Interpretation der Foucaultschen Diskurstheorie, die sich auf seine Hinweise zu den Auseinandersetzungen, Strategien und Machtkämpfen im Rahmen der Diskurse als Sprachspiele bezieht. Daran anschließende Weiterfiihrungen, die Diskurse als konflikthafte Auseinandersetzungen zwischen gesellschaftlichen Akteursgruppen begreifen, hatten bereits die Diskurstheorie von LaclauIMouffe und die Diskursperspektive der Cultural Studies vorgenommen (vgl. Kap. 3.3.2 u. 3.3.3). Bspw. wendet die Diskurstheorie von LaclauIMouffe den Diskursbegriff auf öffentliche Diskurse an, die sich gerade nicht auf ein eindeutig institutionell strukturiertes oder geregeltes Feld abbilden lassen. Die Cultural Studies beziehen sich ähnlich wie der Symbolische Interaktionismus auf öffentliche Definitionsprozesse und rekurrieren dazu auf eine akteursbezogen modifizierte Foucaultsche Diskursperspektive. Beide Positionen schließen an Michel Pecheux an, der die Bezüge zwischen verschiedenen Diskursen als "Interdiskurs" bezeichnete (ChareaudeauJMaingueneau 2002: 324ff). Jürgen Link spricht im Hinblick auf öffentliche Diskurse davon, dass "auch der zivilgesellschaftliche Interdiskurs Diskurs im Sinne Foucaults ist, d.h. auch in seinem Falle ritualisierte Redeformen, Handlungsweisen und Machteffekte gekoppelt sind." (Link 1988: 48)
Sowohl bei der Analyse von Spezialdiskursen wie bei der Analyse öffentlicher Diskurse wird von rekonstruierbaren Regeln und Ressourcen, also Diskurs-Strukturen ausgegangen, die einzelnen diskursiven Ereignissen zugrunde liegen. Auch öffentliche Diskurse bestehen - und dies macht sie anschließbar an die Foucaultsche Perspektive - aus unabhängigen Aussageereignissen, die an verschiedensten Orten und zu unterschiedlichen Zeiten erscheinen, typisierbare Regelmäßigkeiten aufweisen und - wenn auch nicht als unmittelbare Interaktionen unter Bedingungen der Kopräsenz - als Aushandlungsprozesse im Sinne der "Definition der Situation" (William 1. Thomas) begriffen werden können. In solchen Diskursen geht es um die Festlegung der kollektiven symbolischen (Problem-)Ordnung durch die weitestgehende Wiederholung und Stabilisierung gleicher Aussagen in singulären Äußerungen. Beide Diskursformen, also institutionelle Spezialdiskurse und allgemeinäffentliche Diskurse werden von der Wissenssoziologischen Diskursanalyse als diskursive Formationen betrachtet und im Hinblick auf ihre Formationsregeln und Verläufe, das in ihnen festgeschriebene Wissen und dessen Effekte untersucht. Die Nachzeichnung der Ausbildung konkurrierender Subdiskurse innerhalb solcher diskursiven Formationen ist eine Angelegenheit der empirischen Diskursforschung. Ob sich die Analyse auf die gemeinsamen Strukturen konkurrierender Subdiskurse innerhalb einer diskursiven Formation, auf ihre strukturellen Unterschiede oder den Vergleich unterschiedlichster Formationsweisen, auf Verläufe der Diskurse sowie deren Verhältnis zu extradiskursiven Praxisfeldem bezieht, wird nach dem jeweiligen Erkenntnisinteresse zu entscheiden sein - keine dieser Perspektiven ist per se aus dem Forschungsprogramm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse ausgeschlossen. Mit diesen Überlegungen ist die Einbettung der Diskursperspektive in die Hermeneutische Wissenssoziologie abgeschlossen. Nachfolgend diskutiere ich die wichtigsten Arbeitsbegriffe dieses Ansatzes.
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4.3 Grundbegriffe 4.3.1
Überblick
Vor dem Hintergrund der vorangehenden Entfaltung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse im Hinblick auf ihr Zeichen- bzw. Typenkonzept, ihr Verständnis des Zusammenhangs von Diskursen und diskursiven Ereignissen, ihre allgemeine Konzeption der Akteure und Praktiken sowie ihre Vorstellung der Relation von diskursiven Formationen, öffentlichen Diskursen und Spezialdiskursen möchte ich nun die wichtigsten Grundbegriffe dieses Ansatzes im Überblick erläutern. Spezifischer geht es mir dabei um Defmitionen der diskurstheoretischen bzw. diskursanalytischen Konzepte, die in die Hermeneutische Wissenssoziologie eingefiihrt werden müssen, um das wissenssoziologisch-diskursanalytische Forschungsprogramm umzusetzen. Dessen Fokus richtet sich auf die Wissenspolitiken in institutionellen Feldern der Gesellschaft: etwa im Recht, in der Politik, in der massenmedialen Öffentlichkeit, den Wissenschaften oder den Professionen. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse rekonstruiert Prozesse der sozialen Konstruktion von Sinn-, d.h. Deutungsund Handlungsstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. sozialen (kollektiven) Akteuren nicht als singuläre (Aussage-)Ereignisse, sondern als strukturierte Zusammenhänge, d.h. eben: als Diskurse. Sie analysiert die gesellschaftlichen Ursachen und Wirkungen dieser Prozesse. Das schließt unterschiedliche Dimensionen der Rekonstruktion ein: diejenige der Bedeutungsproduktion ebenso wie diejenige von Handlungspraktiken, Artefakten, institutionellen/strukturellen und materiellen Kontexten sowie gesellschaftlichen Folgen. Im Wesentlichen geht es dabei um die Annahme institutionell gestützter Formationsregeln fur die Beteiligung an Diskursen und die formulierbaren Inhalte, um eingesetzte Ressourcen und vorgenommene Phänomenkonstitutionen. Diskursen kommt Historizität und soziale Emergenz zu: sie sind einzelnen situierten sozialen Akteuren vor- und nachläufig, nicht Ergebnis eines singulären begründenden Aktes, sondern ihrer Verfiigungsgewalt in mehr oder weniger großen Teilen entzogen, auch wenn sie ohne die praktische Artikulation in Handlungen unbedeutend wären. 361 Die diskursive Konstruktion der Wirklichkeit operiert immer in einem konfliktuellen symbolischen Ordnungs- und Wissensgefiige, einem historischen Feld von Diskurskonfigurationen bzw. WissensverhäItnissen. Neben den Regeln diskursiver Formationen spielen Ressourcenverteilungen eine zentrale Rolle fiir die Teilnahme am kommunikativen Austausch und fiir die formulierbaren Inhalte. Dies alles lässt sich in drei Sätzen formulieren: Wer darf legitimerweise wo sprechen? Was darf/kann dort wie gesagt werden? Welche Konsequenzen sind damit verbunden? Diskurse existieren nur insoweit, wie sie durch soziale Akteure realisiert werden. In modemen Gesellschaften sind solche Akteure in vielfacher Weise in diskursiv strukturierte symbolische Kämpfe über Realitätsdefmitionen eingebunden; dies gilt nicht nur fiir öffentliche Diskussionsprozesse, sondern, wie bspw. die Wissenschaftsforschung (Latour 1987) gezeigt hat, auch für die binnenwissenschaftliche Erzeugung und wissenschaftsexterne ,Durchsetzung' von Wissen. Dabei geht es um Bestimmungen dessen, was faktisch der Fall ist, und um politische, moralische, ästhetische Maßstäbe der Bewertung. Damit sind insgeDas Verhältnis von ,Kontrolle der Akteure durch den Diskurs' und ,Kontrolle von Akteuren über den Diskurs' ist dann eine in konkreten Fällen je spezifisch zu beantwortende empirische Frage.
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samt Formen der inhaltlichen Strukturierung von Diskursen angesprochen: Die beteiligten Akteure nutzen in der Verfolgung ihrer Interessen symbolisch-kulturelle Mittel, um ihren Erzählungen Gehör zu verschaffen: verbreitete Metaphern, geläufige Deutungsmuster u.a. Diskurse nehmen in verschiedener Weise materiale Gestalt an: Soziale Akteure, die als Sprecher in Diskursen in Erscheinung treten, die jeweiligen Sprecherpositionen besetzen und mitunter ex- oder implizite Diskurskoalitionen bilden, verfUgen über unterschiedliche und ungleich verteilte Ressourcen der Artikulation und Resonanzerzeugung. Diskurse werden in spezifischen Praktiken aktualisiert und in Form von Dispositiven objektiviert bzw. institutionalisiert. Der Begriff der Praktiken verweist darauf, dass es sich um gesellschaftlich regulierte Verhaltensmuster handelt, die aus Akteursperspektive als Handlungen vollzogen werden. Diskurse stellen nicht nur die Bedeutungsstrukturen unserer Wirklichkeit her und damit in gewissem Sinne diese selbst, sondern sie haben auch andere reale Folgen, Effekte bzw. ,Machtwirkungen' im Sinne Foucaults. Die anschließende tabellarische Zusammenstellung gibt einen Überblick über den konzeptuellen Rahmen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse. Die wichtigsten der erwähnten Konzepte werden nachfolgend vorgestellt. Im Einzelnen geht es zunächst um den Begriff des Diskurses selbst (4.3.2). Daran anknüpfend erläutere ich einige Konzepte zur Analyse der inhaltlichen Strukturierung von Diskursen (4.3.3). Abschließend formuliere ich Vorschläge zur Erfassung der konkreten Materialität der Diskurse in Gestalt von Akteuren, Diskurskoalitionen, Praktiken und Dispositiven (4.3.4).
Überblick: Grundbegriffe der Wissenssoziologischen Diskursanalyse: Adressat/Publikum: Der- bzw. diejenigen, an die sich ein Diskurs richtet oder von denen er rezipiert wird. Akteur(e}: Individuelle oder kollektive Produzenten der Aussagen; diejenigen, die unter Rückgriff auf spezifische Regeln und Ressourcen durch ihre Interpretationen und Praktiken einen Diskurs (re-) produzieren und transformieren. Aussage: Der typisierbare und typische Gehalt einer konkreten Äußerung bzw. einzelner darin enthaltener Sprachsequenzen, der sich in zahlreichen verstreuten Äußerungen rekonstruieren lässt. Außerung: Die konkret dokumentierte, flir sich genommen je einmalige sprachliche Materialisierung eines Diskurses. Diskurs: Eine nach unterschiedlichen Kriterien abgrenzbare Aussagepraxis bzw. Gesamtheit von Aussageereignissen, die im Hinblick auf institutionell stabilisierte gemeinsame Strukturmuster, Praktiken, Regeln und Ressourcen der Bedeutungserzeugung untersucht werden. Diskurs/eid, diskursives Feld: Arena, in der verschiedene Diskurse um die Konstitution bzw. Definition eines Phänomens wetteifern. Diskurs/ormation (oder diskursive Formation): Bezeichnung flir einen abgrenzbaren Zusammenhang von Diskurs(en), Akteuren, Praktiken und Dispositiven (z.B. die modeme Reproduktionsmedizin). Diskurs/ragment: Aussageereignis, in dem Diskurse mehr oder weniger umfassend aktualisiert werden (z.B. ein Text); Haupt-Datengrundlage der Analyse. Diskursive Praktiken: Kommunikative Muster der Aussagenproduktion, die sich bspw. textförmig materialisieren (z.B. Presseerklärungen, wissenschaftliche Artikel, Vorträge). Diskursives Ereignis/Aussageereignis: Die sprachliche Realisierung eines Diskurses als Aussage; gegenüber dem Begriff der Äußerung liegt hier der Akzent auf der Typik und Diskurszugehörigkeit.
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Diskurskoalition: Eine Gruppe von Akteuren, deren Aussagen dem seIben Diskurs zugerechnet werden können (z.B. durch Benutzung der gleichen ,story line'); der Zusammenschluss kann, muss aber nicht bewusst bzw. strategisch erfolgen. Diskursregime: Beziehung zwischen Diskursen und Praxisfeldern und/oder zwischen Diskursen. Diskursstrategien: Argumentative, rhetorische, praktische Strategien zur Durchsetzung eines Diskurses (z.B. ,black boxing', d.h. die Etablierung unhinterfragbarer Grundannahmen; Protestveranstaltungen, um massenmediale Aufmerksamkeit zu erzielen; Besetzung von institutionellen Schlüsselpositionen). Dispositiv: Die materielle und ideelle Infrastruktur, d.h. die Maßnahmenbündel, Regelwerke, Artefakte, durch die ein Diskurs (re-)produziert wird und Effekte erzeugt (z.B. Gesetze, Verhaltensanweisungen, Gebäude, Messgeräte). Interpretationsrepertoire: 362 Das typisierte Ensemble von Deutungsbausteinen, aus denen ein Diskurs besteht und das in einzelnen Äußerungen mehr oder weniger umfassend aktualisiert wird. Öffentlicher Diskurs: Diskurs mit allgemeiner Publikumsorientierung in der massenmedial vermittelten Öffentlichkeit Praktiken: Muster flir Handeln bzw. Handlungsvollzüge, die sprachlicher oder nicht-sprachlicher Art sein können (z.B. Überwachen, Strafen, Hände waschen), die in bestimmten Fällen einem Diskurs zurechenbar sind (z.B. symbolische Gesten, Kleidungsstile in religiösen Diskursen), sich davon aber auch mehr oder weniger unabhängig und eigendynamisch in Praxisfeldern entwickeln können. Praxisfelder: Analytisch als diskursunabhängig oder -extern bestimmte, unterschiedlich spezialisierte Bereiche der sozialen Praxis. Spezialdiskurs: Diskurs innerhalb von gesellschaftlichen Teilöffentlichkeiten, z.B. wissenschaftlichen Kontexten. Sprecherposition: Mit Rollensets verknüpfte, institutionell-diskursive strukturierte Orte flir legitime Aussagenproduktion innerhalb eines Diskurses (z.B. akademische Grade). Story line: ,Roter Faden' eines Diskurses, durch den die verschiedenen Bestandteile des Interpretationsrepertoires verknüpft werden. Subjektposition: Im Diskurs konstituierte Subjektvorstellungen und Identitätsschablonen fur seine möglichen Adressaten (z.B. angebotene Kollektiv-Identität; Modelle des ,umweltbewussten Bürgers'); auch Positionierungsvorgaben flir Akteure, auf die ein Diskurs Bezug nimmt bzw. über die er spricht (bspw. als ,Problemverursacher', ,Helden'). Wissen: Das, was im Sinne der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie als Wissen behauptet wird; Bestandteile des kollektiven Wissensvorrates (z.B. Symbolische Ordnungen, die in Diskursen als adäquate Bestimmung von, Wirklichkeit' behauptet werden; Modelle flir Deuten und Handeln u.a.).
4.3.2 Diskurs Als Diskurs bezeichne ich einen Komplex von Aussageereignissen und darin eingelassenen Praktiken, die über einen rekonstruierbaren Strukturzusammenhang miteinander verbunden sind und spezifische Wissensordnungen der Realität prozessieren. Dieser Strukturzusammenhang umfasst die den Ereignissen gemeinsamen Regeln und Ressourcen der Diskursformation. Er bezieht sich auf die Konstitution der Inhalte und auf die Äußerungsmodalitäten. Im Anschluss an Michel Foucault nenne ich Außerung das konkrete, für sich genommen je einmalige Aussageereignis. Demgegenüber meint Aussage bereits eine Ebene des
362
Vgl. zum Begriff des interpretationsrepertoires Potter/Wetherell (1995).
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Typischen und Typisierbaren: die gleiche Aussage kann in ganz unterschiedlichen Äußerungen und situativ-singulären Gestalten getroffen werden. Einzelne sprachliche Äußerungen enthalten "Diskursfragmente" (Siegfried Jäger). Das diskursanalytische Untersuchungsinteresse richtet sich weder auf die situative Einmaligkeit noch auf die Summe der einzelnen Äußerungen, sondern auf ihren strukturellen Zusammenhang als diskursive Ereignisse (Aussageereignisse). Nicht jedes Sprachereignis - bspw. eine Begrüßung - ist automatisch Bestandteil eines Diskurses, nur weil es als soziale Praxis konventionalisiert ist. Im hier verfolgten Verständnis handelt es sich bei Diskursen um strukturell verknüpfte Aussagenkomplexe, in denen Behauptungen über Phänomenbereiche auf Dauer gestellt und mit mehr oder weniger starken Geltungsansprüchen versehen sind. Diskurse sind - in einer anderen Wendung der eingangs fonnulierten Definition - spezifizierbare und konventionalisierte Ensembles von Kategorien und Praktiken, die das diskursive Handeln sozialer Akteure instruieren, durch diese Akteure handlungspraktisch in Gestalt von diskursiven Ereignissen produziert bzw. transfonniert werden und die soziale Realität von Phänomenen konstituieren.J 63 Diskussionen sind kommunikative Veranstaltungen, in denen verschiedene Diskurse aufeinander treffen (können). Beispiele für Diskurse im bezeichneten Sinne wären der Diskurs über Hirntod (Schneider 1999), der Diskurs der Humangenetik (Waldschmidt 1996), der allgemeine Umweltdiskurs (Dryzek 1997) bzw. spezifischer die Ozon-Diskurse (Litfm 1994), die Diskurse über Sauren Regen (Hajer 1995), Hausmüll (Keller 1998), der neoliberale Managementdiskurs (Boltanski/Chiapello 1999) etc. 364 Diskurse existieren als relativ dauerhafte und regelhafte, d.h. zeitliche und soziale Strukturierung von (kollektiven) Prozessen der Bedeutungszuschreibung. Sie sind Ausdruck und Konstitutionsbedingung des Sozialen zugleich, werden durch das Handeln von sozialen Akteuren real, stellen spezifisches Wissen auf Dauer und tragen zur Verflüssigung und Auflösung institutionalisierter Deutungen und scheinbarer Unverfügbarkeiten bei. Diskurse kristallisieren und konstituieren Themen in besonderer Fonn als gesellschaftliche Deutungs- und Handlungsprobleme. Diskursive Fonnationen sind abgrenzbare Diskursgruppierungen, die weitgehend denselben Fonnationsregeln folgen. Als Diskursfelder bezeichne ich soziale Arenen, in denen Diskurse wechselweise in Konkurrenz stehen. Der Begriff der Diskursverhältnisse oder Diskursregime bezeichnet die Beziehungsgefüge zwischen Diskursen und/oder Diskursen und Praxisfeldem. Mit dieser Definition werden Diskurse als tatsächliche, manifeste, beobachtbare und beschreibbare soziale Praxis bestimmt, die ihren Niederschlag in unterschiedlichsten natürlichen Dokumenten, im mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch findet. Die Realisierung von Diskursen erfolgt im praktischen Handeln sozialer Akteure - dies ist eine erste Fonn ihrer Materialität. 365 Sie liegen diesem Handeln orientierend zugrunde und werden dadurch als Struktur- und Signifikationszusammenhang ,wirklich'. Ein Flugblatt, ein Zeitungsartikel oder eine Rede im Rahmen einer Demonstration aktualisieren bspw. einen umweltpolitischen Diskurs in unterschiedlicher konkreter Gestalt und mit verschiedener empirischer Reichweite, aber mit dem gleichen Aussagewert. Die vorliegende Arbeit selbst trägt zur Reproduktion eines soziologischen Diskurses bei. Diskurse unterliegen den Be363 Je nach Forschungsinteresse können Diskurse bspw. nach ihrer Phänomenkonstitution oder nach institutionellen Feldern voneinander abgegrenzt werden. 364 Vgl. dazu weitere Beispiele in Kapitel 5.1. 365 Eine zweite Form diskutiere ich weiter unten als Dispositiv (vgl. Kapitel 4.3.4).
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dingungen institutioneller Trägheit: einzelne diskursive Ereignisse aktualisieren und reproduzieren eine Diskursstruktur nie völlig identisch, sondern immer in Form mehr oder weniger weitreichender Abweichungen. 366 ,Aktualisierung' kann also in zweifachem Sinne verstanden werden: als Überruhrung einer Diskursstruktur in ein tatsächliches Ereignis und als damit einhergehende Modifikation bzw. Einpassung in die aktuellen Bedingungen eines situativen Kontextes. Qualitativ gewichtige Transformationen von Diskursen können in den seltensten Fällen auf ein einzelnes solches Ereignis bezogen werden. Sie entstehen vielmehr aus der Summe von Abweichungen in einer Art Wechsel vom quantitativen zum qualitativen Effekt. In welchem Sinne wird nun davon gesprochen, dass Diskurse eine diskursexterne Realität konstituieren? Zunächst und sehr allgemein ist damit das gemeint, was Berger/Luckmann bereits mit dem Verweis auf die "Konversationsmaschine Sprache" bezeichnet hatten (vgl. Kapitel 2.2.1; 2.3.3.1) und was letztlich auch in der Wittgensteinschen Verknüpfung von Sprachspielen und Lebensformen zum Ausdruck komme 67 Der in einem Diskursuniversum wiederholte und in der Wiederholung stabilisierte Gebrauch von Zeichen bzw. Typen im Sinne von Schütz setzt über die weiter oben beschrieben Apperzeptions- und Appräsentationsfunktionen eine umfangreiche Wissensordnung der Wirklichkeit, die als ,ausgezeichnete' Realität betrachtet wird. 368 Die Welt gewinnt ihren je spezifischen Wirklichkeitscharakter rur uns durch die Aussagen, die Menschen - in Auseinandersetzung mit ihr - über sie treffen, wiederholen und auf Dauer stellen. Solche Aussagen stiften nicht nur die symbolischen Ordnungen und Bedeutungsstrukturen unserer Wirklichkeit, sondern sie haben auch reale Konsequenzen: Gesetze, Statistiken, Klassifikationen, Techniken, Artefakte oder Praktiken bspw. können als Diskurseffekte analysiert werden. Die soziale Realität des Hirntodes entsteht aus dem typisierbaren Gehalt der Summe aller Äußerungen über den Hirntod, einschließlich derjenigen, die sich auf die Entwicklung und den Einsatz von Messinstrumenten, die Erfassung von körperlichen Stoffwechselprozessen und die Interpretation von Messwerten beziehen. Der Begriff der Konstitution ist also hier in einem starken Sinne gemeint und bezeichnet Effekte der diskursiven Konstruktion von Wissen in mehrfacher Hinsicht: •
Soziale Akteure geben Diskursen in Gestalt von Dispositiven und Praktiken eine in unterschiedlichen Graden stabilisierte konkret-materiale Erscheinung.
366 Es handelt sich notwendig um eine stetige Balance zwischen Wiederholung und Differenz. Dabei überwiegen die Anteile der Wiederholung, da sonst kein Wiedererkennungswert besteht. 367 "Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen." (Wittgenstein 1990: 106) 368 Bei SchützlLuckmann heißt es: Die alltägliche Lebenswelt "ist der Wirklichkeitsbereich, an der der Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt. Die alltägliche Lebenswelt ist die Wirklichkeitsregion, in die der Mensch eingreifen und die er verändern kann, indem er in ihr durch die Vermittlung seines Leibes wirkt. Zugleich beschränken die in diesem Bereich vorfindlichen Gegenständlichkeiten und Ereignisse einschließlich des HandeIns und der Handlungsergebnisse anderer Menschen, seine freien Handlungsmöglichkeiten. Sie setzen ihm zu überwindende Widerstände wie auch unüberwindliche Schranken entgegen. Ferner kann sich der Mensch nur innerhalb dieses Bereichs mit seinen Mitmenschen verständigen, und nur in ihm kann er mit ihnen zusammenwirken. Nur in der alltäglichen Lebenswelt kann sich eine gemeinsame kommunikative Umwelt konstituieren. Die Lebenswelt des Alltags ist folglich die vornehmliche und ausgezeichnete Wirklichkeit des Menschen." (SchützlLuckmann 1979: 25) Die Rede von der "ausgezeichneten Wirklichkeit" ("paramount reality") geht zurück auf William James, mit dessen Konzepten sich Schütz auseinandersetzt (vgl. Schütz 1971 d (19451 und Schütz 1971f[1955]).
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• •
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse Diskursiv erzeugtes und institutionalisiertes Wissen liefert im Sinne der Typenlehre von Schütz die signifikatorischen Grundlagen zur Wahrnehmung (Erfahrung) und Deutung von Phänomenen sowie der darauf bezogenen ,angemessenen' Handlungsformen. Diskurse bilden darüber hinaus Begründungen (Legitimationen) fur die gesellschaftliche Anerkennung solchen Wissens aus. Sie stellen dazu kognitive, moralische und ästhetische Bewertungsmaßstäbe zur Verfugung. Diskurse erzeugen ,know how' im Sinne der mehr oder weniger weit reichenden instrumentellen Befähigung zum Handeln hinsichtlich der jeweiligen Phänomenbereiche. Sie sind damit wiederum an der Herstellung von (bereichsspezifisch agierenden) sozialen Akteuren beteiligt.
Ohne zu bestreiten, dass die sozialen Konventionen über das, was als Evidenz oder hinreichende Plausibilität fur Phänomenqualitäten gilt, sehr unterschiedlich sein können, behaupte ich im Einklang mit der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie oder auch dem Sozialkonstruktivismus von Hacking (1999), dass die Unhintergehbarkeit der Wissensoder Signifikationsstrukturen keinen prinzipiellen Unterschied zwischen natürlichen und sozialen Phänomenen kennt. 369 So ist Alfred Schütz darin zuzustimmen, dass "nicht die ontologische Struktur, sondern der Sinn unserer Erfahrungen die Wirklichkeit konstituiert" (Schütz 1971 f: 393).370 Damit ist weder die Existenz physikalischer Prozesse noch deren Wirken gegen menschliche Definitionsbemühungen bezweifelt. 371 Dies bedeutet auch nicht, dass soziale Definitionsprozesse über unbegrenzte Freiheitsgrade verfugen: "Wenn eine Situation als wirklich definiert wird, so hat das gewiß Auswirkungen, doch diese beeinflussen die Vorgänge vielleicht nur sehr am Rande; manchmal fallt nur der Schatten einer Störung einen Augenblick lang auf die Szene, wenn man nachsichtig an diejenigen denkt, die die Situation falsch definieren wollten (...) (Ob man nun ein Theater oder eine Flugzeugfabrik auf die Beine stellen will, man muß ftlr Parkplätze und Garderoben sorgen, und das sollten wirkliche Parkplätze und Garderoben sein, für die man auch eine wirkliche Diebstahlversicherung abschließen sollte.)." (Goffman 1980: 9; vgl. auch Kapitel 4.3.2.2)
Die diskursiven Bemühungen um die Ordnung und Stabilisierung gesellschaftlicher Signifikationsprozesse finden nicht in einer tabula rasa, also in einem leeren oder weißen Raum der Bedeutungsgenese statt, sondern sind eingebunden in die soziohistorisch geformten und institutionell stabilisierten Wissensverhältnisse sozialer Kollektive. Deswegen sind die Chancen und Ressourcen der Festschreibung von Wirklichkeiten zwischen Diskursen sehr unterschiedlich verteilt - historisch bietet die Ablösung religiöser durch wissenschaftliche Diskurse der Naturbeschreibung das dafur eindrucksvollste Beispiel. Nicht jeder diskursive Anspruch auf Wirklichkeitsgeltung hat also gleiche Anerkennungspotenziale. Es ist eine empirische Frage, ob Diskurse gesellschaftliche ,Machteffekte' hervorrufen, vielleicht sogar zur fraglos geltenden Wirklichkeit werden; es ist ebenfalls eine Sache der Empirie, aufgrund welcher Mechanismen und Ressourcen dies geschieht.
369 370 371
Eine Gegenposition dazu vertritt nach wie vor Searle (1999). Schütz (z.B. 1971a: 10 [19531 oder 1971f: 402) schließt explizit an das Thomas-Theorem an. Vgl. auch schon die entsprechenden Argumente von Blumer (1981).
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Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass die Wissenssoziologische Diskursanalyse nicht nur einzelne oder isolierte Diskurse in den Blick nimmt, sondern gesellschaftliche Diskursfelder bzw. Diskursfigurationen, in denen sich mehrere Diskurse begegnen. Michel Foucault hatte Diskurse nach den institutionellen Feldern und Gegenstandsbereichen typisiert, in denen sie zirkulieren und so wissenschaftliche von religiösen, juristischen, wirtschaftlichen oder politischen Diskursen differenziert. Charles W. Morris unterschied ganz ähnlich zwischen verschiedenen Diskurstypen und benannte damit spezifische Stilmerkmale und Inhalte von Diskursfeldern als Abgrenzungskriterium (vgI. Kap. 4.2.1). Auch die Wissenssoziologische Diskursanalyse eignet sich zur empirisch begründeten Typenbildung in Bezug auf Diskursfigurationen. Dabei bestehen über die eben erwähnten Abgrenzungen hinaus unterschiedliche Gruppierungsmöglichkeiteh für einen entsprechenden Diskursvergleich jenseits der evidenten thematischen Heterogenität: •
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Eine erste, weiter oben in Kapitel 4.2.5 bereits eingeführte Unterscheidung von Diskurskonfigurationen bezieht sich auf die Zugangsbedingungen und Adressatenkreise und wurde dort als Gegensatz von Spezialdiskursen vs. öffentlichen Diskursen vorgestellt. Eine zweite Gruppierungsmöglichkeit könnte entlang der Grade der Übereinstimmung von Diskursen in einem Diskursfeld entwickelt werden, also etwa antagonistische Spaltungen, in Teilen oder vollständig übereinstimmende Problemdefinitionen zum Kriterium nehmen. Hajers Untersuchung der Diskurse über Sauren Regen (Hajer 1995) belegt bspw. für die Situation in Großbritannien eine starke antagonistische Spannung von Diskursen (ähnlich wie in der bundesdeutschen Hausmülldiskussion, vgl. Keller 1998), während die Situation in den Niederlanden durch eine weitgehende Übereinstimmung in der Problemdefinition gekennzeichnet ist, die mit Divergenzen in Bezug auf Maßnahmenkataloge einhergeht. Eine dritte Möglichkeit der Relationierung diskursiver Felder besteht in der Frage nach den Verhältnissen von Heterogenität, Marginalisierung und Hegemonie, also bezogen darauf, ob wenige oder viele Diskurse in einem Feld konkurrieren und ob dabei hegemoniale Positionen einzelner Diskurse bestehen bzw. welche Präsenz einem Diskurs in einem solchen Feld zugeschrieben werden kann. So zeigt etwa Viehövers (1997, 2003a,b) Untersuchung der Klimadiskurse in Deutschland die Konkurrenz von sechs unterschiedlichen Klimanarrationen, wobei im Zeitverlauf ein Diskurs eine hegemoniale Position einnimmt. Schließlich können Diskurse durch ihre Akzentsetzungen bspw. danach unterschieden werden, ob sie in erster Linie Fragen der ,Faktizität' von Tatsachen oder ethischmoralische Wertfragen behandeln, ästhetische Kriterien thematisieren, Maßnahmen entwickeln oder dramatisierend Probleme auf die öffentliche Agenda setzen. Es ist möglich, dass Diskurse im Verlauf ihrer zeitlichen Entfaltung verschiedene der genannten Schwerpunktsetzungen vornehmen bzw. in unterschiedlicher Weise Kombinationen oder typisierbare Verknüpfungen mit Diskursen aus anderen Diskursfeldern herstellen. Die in Kapitel 5 behandelten Umwelt- und Risikodiskurse liefern dazu exemplarische Beispiele.
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4.3.3 Inhaltliche Strukturierung Zur Analyse der inhaltlichen Strukturierung von Diskursen schlage ich die Unterscheidung von Deutungsmustem, Klassifikationen, Phänomenstrukturen und narrativen Strukturen vor. Dabei handelt es sich um allgemeine Konzepte, die aus der wissenssoziologischen Tradition stammen bzw. darin eingepasst werden können. Diese in Diskursen spezifisch ausgewählten und verknüpften Strukturierungselemente bilden zusammen das diskurstypische Interpretationsrepertoire (Keller 1998: 36). Es enthält die Bausteine, die innerhalb eines Diskurses "fiir die Interpretation von Handlungen, der eigenen Person und gesellschaftlicher Strukturen im Sprechen verwendet werden" (Potter/Wetherell 1995: 188 t). 372 4.3.3.1
Deutungsmuster
Als allgemeiner Begriff bezeichnet Deutungsmuster die "Organisation der Wahrnehmung von sozialer und natürlicher Umwelt in der Lebenswelt des Alltags" (LüderslMeuser 1997: 58). Der Begriff des ,Musters' verweist auf den Aspekt des Typischen - es handelt sich um allgemeine Deutungsfiguren, die in konkreten Deutungsakten zum Einsatz kommen und dabei in unterschiedlicher sprachlich-materialer Gestalt manifest werden. Darüber hinaus meint die Rede von einem ,Muster' auch, dass hier mehrere, durchaus verschiedene Wissens- bzw. Deutungselemente und bewertende Bestandteile verknüpft werden. Bedeutungen liegen in den Diskursen nicht als lose Zeichenpartikel, sondem in Gestalt von Deutungsmustem vor. Deutungsmuster werden in der wissenssoziologischen Tradition als kollektive Produkte begriffen, die im gesellschaftlichen Wissensvorrat vorhanden sind und sich in konkreten sprachlichen Äußerungen manifestieren. 373 Die Konstitution und Aufbereitung des Themas oder Referenzphänomens eines Diskurses erfolgt durch die diskursspezifische Erzeugung neuer oder die Verknüpfung bereits bestehender allgemeiner Deutungsmuster, die im kollektiven Wissensvorrat einer Gesellschaft verfiigbar sind. Es handelt sich dabei um typisierende und typisierte Interpretationsschemata, die in ereignisbezogenen Deutungsprozessen aktualisiert werden. Deutungsmuster organisieren individuelle bzw. kollektive Erfahrungen und sie implizieren meist Vorstellungen (Modelle) angemessenen Handeins. Sie stiften dadurch Sinn. Eine Deutung ist die Verknüpfung eines allgemeinen Deutungsmusters mit einem konkreten Ereignis-Anlass. Dies kann mehr oder weniger bewusst und strategisch erfolgen. Der Begriff des Deutungsmusters visiert also eine gesellschaftlich konventionalisierte Deutungsfigur, einen ,Typus', der die Wahrnehmung und Deutung von Phänomenen anleitet. Dieser Typus verknüpft unterschiedliche Deutungselemente zu einer kohärenten (nicht notwendig: konsistenten) Deutungsfigur, die in unterschiedlicher manifester Gestalt auftreten kann. Die Parallelen zwischen dem Deutungsmusterkonzept und dem Schützschen Verständnis der Funktionsweise von Typisierungen im Rahmen der alltäglichen Auslegungsrelevanzen sozialer Akteure sind offensichtlich. Deutungsmuster sind eine Art Typisierung auf höherer Aggregatebene: 374 Zum Interpretationsrepertoire können auch typische Metaphern etc. gerechnet werden; weitere Begrifflichkeiten sind vorgestellt in Keller (2004). 373 Alfred Schütz spricht in seiner frühen Arbeit über den "Sinnhaften Aufbau der sozialen Welt" in vergleichbarer Weise von "Deutungsschema" bzw. Deutungsschemata (Schütz 1974 (1932)). 374 Auch Goffmans Begriff des "Rahmens" besitzt Affinitäten zum Deutungsmusterkonzept. 372
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"Für das Individuum sind Deutungsmuster zugleich Wahmehmungs- und Interpretationsform der sozialen Welt, Schemata der Erfahrungsaufordnung und Horizont möglicher Erfahrungen sowie Mittel zur Bewältigung von Handlungsproblemen." (Meuser/Sackmann 1992a: 16)375
Die neuere bundesdeutsche Diskussion über Deutungsmuster setzte mit einem Text von Ulrich Oevermann aus dem Jahre 1973 ein. Oevermann begreift Deutungsmuster als verinnerlichte kognitive Gebilde, die für soziale Kollektive gelten und die Angemessenheitsurteile von Individuen als eine Art "tacit knowledge" bzw. ,,mentale Disposition" leiten. Deutungsmuster entwickeln sich - so Oevermann - aus der handlungspraktischen Bewältigung wiederkehrender Handlungsprobleme der Alltagspraxis, etwa Fragen der Kindererziehung, des Umgangs zwischen Lebenspartnern u.a.: 376 "Deutungsmustern wird die Funktion zugerechnet, für die alltägliche Bewältigung dieser Problemstellungen verbindliche Routinen zur Verfligung zu stellen und damit das Leben angesichts dieser Problemstellungen praktikabel und erträglich zu machen." (Oevermann 2001c: 539)
Die von Oevermann vorgenommene Verknüpfung mit ,objektiv' bestehenden Deutungsund Handlungsproblemen der Alltagspraxis als Voraussetzung und Grundlage der Entstehung von Deutungsmustern schränkt ihr Verständnis jedoch (bewusst) stark ein. Deutungsmuster werden dann anderen Wissensproduktionen - etwa wissenschaftlichem Wissen - gegenübergestellt, um danach zu fragen, wie solche Wissensformen die Deutungsmuster (als "naturwüchsige Alltagstheorien") modifizieren bzw. von diesen gefiltert und adaptiert werden. Diese Vereinseitigung des Deutungsmusterbegriffs ist jedoch in zweierlei Hinsicht problematisch: Zwar geht sie davon aus, dass die angesprochenen Deutungs- und Handlungsprobleme der Alltagspraxis insoweit kollektiven Charakter haben, als sie alle Mitglieder eines sozialen Kollektivs betreffen und die individuelle Bearbeitung auf die tradierten Deutungsmuster zurückgreift, d.h. diese nicht selbst erfinden, wohl aber zur Anwendung bringen muss. Doch wie schon die Beispiele deutlich machen, liegt dem ein reduziertes Verständnis von Alltagspraxis zugrunde, das berufliches Handeln sowie Handlungs- und Deutungsprobleme der kollektiven Entscheidungsebene sozialer Gruppen vernachlässigt. Darüber hinaus ist fraglich, ob angesichts der von Giddens beschriebenen Vgl. auch Meuser/Sackmann (1992), LüderslMeuser (1997: 64 fl). Freilich legt schon die Fonnulierung dieser Handlungsprobleme die Frage nahe, ob sie sich so fur die alltagspraktisch Handelnden oder für die Sozialforscher stellen: "Der Grundgedanke war ein einfacher: Auf der einen Seite haben wir ein kollektiv vereinheitlichendes, gemeinsames Handlungsproblem in seiner objektiven Gegebenheit vor uns, im Falle unseres Projekts das Problem der Sozialisation: Wie gelingt es mir, meine Kinder zu verantwortungsvollen, selbständigen Subjekten zu erziehen? Dieses Problem zieht in seiner Krisenhaftigkeit eine Deutungsbedürftigkeit nach sich. Es ist so gravierend, dass es nicht jedes Mal von neuem gewissennaßen von Null aus gelöst werden kann und muß, sondern jede einzelne Sozialisationspraxis sich auf voreingerichtete Traditionen oder eben: Deutungsmuster - wie von selbst stützen können muss. Auf der anderen Seite stehen also den objektiven Handlungsproblemen, worin sie im einzelnen auch immer bestehen mögen, kollektiv verbürgte, in konkreten Milieus oder Lebenswelten verankerte Muster ihrer routinisierten Deutung gegenüber, die einen veralltäglichten Umgang mit diesen Problemen ennöglichen." (Oevennann 2001b: 37) Zu den "objektiv krisenträchtigen" Problemstellungen der Alltagspraxis zählen nach Oevennann die Aufrechterhaltung von Gerechtigkeit, der Umgang mit der Endl ichkeit des Lebens, mit der Geschlechterdifferenz, der Lösung von Beziehungskonflikten, dem Umgang mit Krieg und Frieden usw. Oevennann sieht hier Ähnlichkeiten zu den Konzepten der Auslegungsrelevanz bei Alfred Schütz (vgl. SchützfLuckmann 1979: 224fl). Andererseits betont er die Übereinstimmung des Deutungsmusterkonzepts mit dem Habitusbegriffbei Bourdieu (Oevennann 2001b: 45; vgl. Kap. 2.2.2). 375
376
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Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
Reflexivitätsschleife moderner Gesellschaften, also der Dauerbeobachtung und Refonnierung von Handeln durch Expertensysteme, von stabilen kollektiven Deutungstraditionen im Sinne Oevennanns überhaupt noch ausgegangen werden kann. Hier setzen in jüngerer Zeit Plaß/Schetsche (2001) mit ihrer Kritik an der Oevennannschen Fassung des Deutungsmusterbegriffs an, um ihn im Einklang mit anderen gebräuchlichen Verwendungsweisen (LüdersJMeuser 1997) auf die Ebene der kollektiven Wissensproduktion und -zirkulation in massenmedialen Öffentlichkeiten und kulturindustrielien Netzwerken auszuweiten (vgl. Kap. 2.3.3.2). Oevennann deutet dieses Problem mit seinen Hinweisen auf die "Szientifizierung des Alltagswissens" (Oevennann 2001b: 72) oder die "Versozialwissenschaftlichung von Identitätsfonnationen" (Oevennann 1988) allenfalls an, ohne daraus die notwendigen Konsequenzen - eine Verankerung des Deutungsmusterbegriffs auf der Ebene der kollektiven Wissensvorräte und ein Verständnis von Diskursen als Prozessen der Generierung und Vermittlung solcher Deutungsmuster - zu ziehen. 377 LüdersJMeuser (1997) unterscheiden zwischen einer "strukturtheoretischen" und einer "wissenssoziologischen" Perspektive auf Deutungsmuster. Zur ersteren zählen sie als ,harte' Variante die erwähnte Oevennannsche Fassung von Deutungsmustern als "latenten Sinnstrukturen", wie er sie in seinem Ansatz der Objektiven Henneneutik entwickelt (Reichertz 1997b). Als ,weiche' Variante innerhalb der strukturtheoretischen Konzeption bezeichnen sie den Deutungsmusteransatz im Rahmen des Symbolischen Interaktionismus und der Henneneutischen Wissenssoziologie: 378 "Deutungsmuster in diesem Sinne werden als historisch, in Interaktionen ausgebildete Interpretationsmuster der Weltdeutung und Problemlösung begriffen. Im Gegensatz zur (,harten', Anm. d. Verf.) strukturalen Position wird dabei die generierende und gestaltende Rolle handlungsfähiger Subjekte betont (00') Bezogen auf das Konzept des Deutungsmusters bedeutet dies, daß diese den einzelnen Subjekten gegenüber zwar gesellschaftlich insofern vorgängig sind, als das einzelne Subjekt in ein bereits vorhandenes, historisch ausgebildetes, sprachlich repräsentiertes System von Regelstrukturen, Wissensbeständen und gesellschaftlicher Praxis hineingeboren und sozialisiert wird; doch diese sozialen Strukturen existieren weder unabhängig von den Handlungen der Subjekte noch fUhren sie ein Eigenleben (00')'" (LüderslMeuser 1997: 62f)
Unter dem Etikett einer "wissenssoziologischen Perspektive" verhandeln LüdersJMeuser (1997: 64) die Verortung von Deutungsmustern auf der Ebene des gesellschaftlichen Wissensvorrates bzw. kollektiver kultureller Konstrukte. Sie illustrieren dies am Beispiel einer von Yvonne Schütze durchgeführten kulturgeschichtlichen Untersuchung über das Deutungsmuster "Mutterliebe", dessen Entstehung und Entwicklung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein. Schütze (1992) "entlarvt den ,Mutterinstinkt' als kulturelles Konstrukt, das sich im Zuge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse mit Beginn der bürgerlichen Gesellschaft herausbildet. (00') In der Deutung der Mutterliebe als natürlicher Eigenschaft der Frau ist mehreres vereint: normative Aufforderung, soziale Platzierung, Legitimierung der Geschlechterordnung und Identitätsentwurf. Mit seinen Hinweisen auf die Transformation von Normalvorstellungen über Erwerbsbiographien, Geschlechtermodelle, Phänomene des Rechtsextremismus läge ein solcher Schritt durchaus nahe. 378 Dieser Gebrauch des Deutungsmusterbegriffs entwickelte sich im Kontext der Biographieforschung der 1980er und 1990er Jahre und schließt u,a. an Kar! Mannheims "dokumentarische Methode der Interpretation" an, Vgl. Bohnsack (1997), Lüders (1991), Meuser/Sackmann (1992), Plaß/Schetsche (2001), 377
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In dem Maße, in dem Mütter ihre Situation im Rahmen dieses Deutungsmusters wahrnehmen und entsprechend dessen normativem Gehalt handeln, erzeugen sie genau die Wirklichkeit, welche die Gültigkeit des Musters bestätigt." (LüderslMeuser 1997: 65f)
Die von Lüders/Meuser vorgenommene Klassifikation der Fassungen des Deutungsmusterbegriffs ist jedoch nicht überzeugend. Unter Beibehaltung der Differenzierung zwischen einer "strukturtheoretischen" Variante einerseits, einem "wissenssoziologischen" Gebrauch andererseits, schlage ich vor, ersterer nur die Objektive Hermeneutik zuzurechnen und demgegenüber die Perspektive des Symbolischen Interaktionismus und der Hermeneutischen Wissenssoziologie zum wissenssoziologischen Deutungsmusterparadigma zu zählen. Damit würde der in Kapitel 2.3.3.2 erläuterten Erweiterung des Symbolischen Interaktionismus Rechnung getragen, die ja gerade kollektive Deutungskontlikte in ihren Untersuchungsradius einbezieht und sich keineswegs nur auf die Interaktionsordnung des Alltags, sondern auch auf kollektive, diskursiv konstituierte Handlungsprobleme richtet. Das zitierte "Deutungsmuster Mutterliebe" liefert in diesem Sinne ein hilfreiches Beispiel rur die erweiterte wissenssoziologische Perspektive, an der sich die Wissenssoziologische Diskursanalyse orientiert. Dabei wird deutlich, wie Deutungsmusteranalyse als Bestandteil von Diskursanalysen betrieben werden kann: Diskursanalyse bezieht sich nicht nur auf die Rekonstruktion der Abfolge solcher Deutungsmuster und ihre historischen Erscheinungsformen, sondern sie betrachtet ihre Genese und ihre Veränderungen als Ergebnis der diskursiven Deutungsarbeit sozialer Akteure. Sie überträgt das Deutungsmusterkonzept auf den Diskurskontext und richtet sich damit auf die Prozesse ihrer Formung, Verhandlung und Transformation durch soziale Akteure, die in ihrer Diskurspraxis in institutionellorganisatorische Felder und symbolische Kämpfe eingebunden sind. Der Begriff des Deutungsmusters bezeichnet dann grundlegende bedeutungsgenerierende Schemata, die durch Diskurse verbreitet werden und nahe legen, worum es sich bei einem Phänomen handelt. Diskurse verknüpfen verschiedene Deutungsmuster zu spezifischen Deutungsarrangements. Sie rekurrieren dabei auf den gesellschaftlich verrugbaren Wissensvorrat solcher Muster; sie vermögen jedoch auch - und gerade das zeichnet Diskurse aus - neue Deutungsmuster zu generieren und auf der gesellschaftlichen Agenda zu platzieren. Ein exemplarisches Beispiel darur ist das Deutungsmuster des "unhintergehbaren Risikos" von komplexen Technologien (Keller 2003a), das in und durch die verschiedenen Umweltdiskurse der letzten Jahrzehnte Eingang in die gesellschaftlichen Wissensvorräte gefunden hat. Insbesondere die amerikanische Bewegungsforschung hat darauf hingewiesen, dass soziale Akteure im Rahmen von Diskursen Deutungsmuster unter strategischen Gesichtspunkten auswählen, um ihr Mobilisierungspotenzial zu vergrößern (SnowlBenford 1988).379 4.3.3.2
Klassifikationen
Eine zweite, das Konzept der Deutungsmusteranalyse ergänzende inhaltliche Erschließung von Diskursen besteht in der Untersuchung der Klassifikationen (und dadurch: der Qualifi379 Hinweise zur Rekonstruktion von Deutungsmustem finden sich bei LüderslMeuser (1997) und - in Bezug auf die Diskursanalyse - bei Keller (2003a, 2004).
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Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
kationen) von Phänomenen, die in ihnen und durch sie vorgenommen werden. Klassifikationen sind aus der Perspektive der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie eine mehr oder weniger ausgearbeitete, formalisierte und institutionell stabilisierte Form sozialer Typisierungsprozesse, wie sie von Berger/Luckmann im Anschluss an Schütz beschrieben werden. Im Rückbezug auf diese Analysen der Entstehung und Funktionen basaler Typisierungsprozesse wird die performative Wirkung von Klassifikationen deutlich: Sie ordnen nicht - im Sinne einer Repräsentationsperspektive - vorgefundene Wirklichkeit in adäquate Kategorien ein, sondern sie schaffen die Erfahrung dieser Wirklichkeit und ihre Deutung. Der normale Vollzug unserer Alltagsroutinen besteht in einem ununterbrochenen Prozess des Klassifizierens im Rückgriff auf die subjektiv angeeigneten kollektiven Wissensvorräte. Es gibt "eine Form der Vertrautheit, in der Gegenstände, Personen, Eigenschaften, Ereignisse zwar nicht als ,gleich', aber als ,ähnlich' bestimmten früher erfahrenen Gegenständen, Personen, Eigenschaften oder Ereignissen erfaßt werden, wobei die in der aktuellen Situation vorherrschenden Relevanzstrukturen keine über diese ,Ähnlichkeit' hinausgehenden Bestimmungen verlangen. Diese Form von Vertrautheit beruht also auf der im Wissensvorrat angelegten Typik." (SchützlLuckmann 1979: 277).
Die Sprache selbst ist letztlich nichts anderes als ein sozial objektiviertes Bedeutungs"System typisierender Erfahrungsschemata" (ebd.), ein sozial-historisch vorgegebenes Typisierungsraster, das den Einzelnen "von selbständiger Typenbildung entlastet" (Schütz/ Luckmann 1979: 277ff; vgl. auch ebd., 174ff).38O In der bundesdeutschen Soziologie der letzten Jahrzehnte hat vor allem Niklas Luhmann (1984) darauf hingewiesen, dass jeder Sprach- bzw. Begriffsgebrauch klassifiziert, also Unterscheidungen trifft zwischen dem spezifisch Benannten, seiner mit- und gleichzeitig nicht-benannten ,Rückseite' und einem unspezifischen Verweisungshorizont des Nicht-Gemeinten' .381 Jeder klassifizierende Akt ist ein Vorgang der Entscheidung. Jean-Franl(ois Lyotard (1987) machte deutlich, dass jede sprachliche Äußerung als ,Akt der Macht' verstanden werden kann, weil sie eine spezifische Wirklichkeit, einen bestimmten Begriff setzt und damit andere Möglichkeiten ausschließt. Berger/Luckmann (1980) zeigten in der "Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit", in welcher Weise Institutionen kollektives Wissen ,verkörpern' und die Realität der Gesellschaftsmitglieder durch KlassifLkationsprozesse strukturieren.
Zwischen den neueren Überlegungen von Eco (2000) zur Anwendung kognitiver Schemata im Prozess der Weltauslegung und den Arbeiten von Schütz bestehen interessante, bislang meines Wissens nicht diskutierte Parallelen. 381 Luhmann bezieht dies auf die basalen Codestrukturen gesellschaftlicher Funktionssysteme (wahr/falsch; zahlen/nicht-zahlen etc.) und orientiert sich an George Spencer Brown (Luhmann 1984: 100f; Luhmann 2004b: 75ft). Spencer Brown wies, wie Alfred Schütz u.a. darauf hin, dass Wahrnehmung immer auf Unterscheidung beruht. "Unterscheiden" ist ein Prozess kategorialer Zuweisung (Bezeichnung), bei dem Grenzen zwischen Phänomenen gezogen werden, eine Seite hervorgehoben und durch einen Begriff bezeichnet wird. Einen Versuch der Nutzung dieses Konzeptes fur konkrete Textanalysen macht die "Differenztheoretische Textanalyse" (TitscherlWodaklMeyerNetter 1998: 234ft). Problematisch ist an deren Vorgehensweisejedoch die implizierte Suche nach ,passenden Gegensätzen' (Differenzen im Sinne der Systemtheorie). Aus der Perspektive einer pragmatistischen Sprachtheorie - bspw. derjenigen Wittgensteins - muss betont werden, dass die ,nicht-mitgenannte Differenzfolie' keineswegs abstrakt bestimmt werden kann, sondern immer nur aus dem konkreten Sprachspiel, bspw. in der Rekonstruktion widerstreitender Diskurse, erfasst werden kann. 380
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Die soziale und damit auch sozialwissenschaftliche Bedeutung von Klassifikationen hat insbesondere Mary Douglas (I 991) in einer Analyse der Zusammenhänge von Institutionalisierungs- und Klassifikationsprozessen betont. Douglas beschäftigt sich dort im Anschluss an die wissenssoziologischen Programme von Emile Durkheim und Ludwig Fleck (vgl. Kapitel 2.1.3 und 2.2.3) mit dem von Durkheim aufgeworfenen Problem der Herkunft von Klassifikationssystemen. Institutionen werden als kollektive Güter betrachtet, zu deren Erzeugung und Bestandswahrung soziale Akteure beitragen. Das in ihnen und durch sie verkörperte Wissen bzw. Handlungsmuster bedarf der Legitimation, um Zustimmungen der Mitglieder einer Gruppe oder Gesellschaft zu finden. Dafür werden zunächst basale Klassifikationen herangezogen, insbesondere Analogien zur Natur, in denen gesellschaftliche Hierarchien zum Ausdruck kommen: "Institutionen erzeugen Gleichheit. Gesellschaftlich begründete Analogien fassen disparate Dinge zu Klassen zusammen und verleihen ihnen einen moralischen wie auch politischen Gehalt. So beginnt die Folge, die Levi-Strauss uns in seiner neueren Arbeit aus dem Jahre 1983 vorgestellt hat, mit der Natur im Unterschied zur Kultur und setzt sich dann auf mehreren Ebenen fort. Elemente, die auf derselben Seite der Taxonomie stehen, werden dabei unvermeidlich in einen Zusammenhang gebracht, zum Beispiel ,männlich' mit ,Kultur', ,weiblich' mit ,Tier'." (Douglas 199 I: 107ft). 382
Institutionen implizieren komplexe Klassifikationssysteme, welche die Individuen mit Einteilungen der WeIt versorgen. Das besondere Merkmal moderner Gesellschaften besteht - so Douglas im Anschluss an Durkheim - darin, dass individuell präferierte und kollektive Klassifikationen auseinander fallen bzw. beständige Kämpfe um Klassifikationen bestehen. 383 In der Diskursforschung hatte Michel Foucault mit dem Hinweis auf die Bedeutung von Klassifikationen schon lange zuvor eines seiner wichtigsten Werke eröffnet: In der "Ordnung der Dinge" erwähnt er einleitend, ein Zitat von Jorge Louis Borges habe ihn zunächst zum Lachen gebracht und dann zu seinem Unternehmen angeregt. Dieses Zitat lautet folgendermaßen: "In einer ,gewissen chinesischen Enzyklopädie' heißt es, daß ,die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, t) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, I) und so
Vgl. auch den von Pierre Bourdieu anlässlich einer Festschrift fur Levi-Strauss verfassten Beitrag über "Das Haus und die verkehrte Welt" in Bourdieu (1976), der sich mit den verschachtelten Aufteilungen der Welt der algerischen Berberstämme in weibliche und männliche Bereiche beschäftigt. 383 Douglas bezieht sich hier auf die Wissenssoziologien von Durkheim und Fleck, ohne BergerfLuckmann zu erwähnen, obwohl zahlreiche Parallelen zwischen diesen Zugängen bestehen. Im Unterschied zu letzteren betont sie die Funktionalität und den Charakter von Institutionen als ,kollektives Gut', weniger den Aspekt ihrer Konstruktion. Deutlich wird allerdings dabei, was die Wissenstheorie von BergerfLuckmann dem Werk von Durkheim verdankt. In ihrer Studie über "Ritual, Tabu und Körpersymbolik" hatte wiederum Douglas (1981) daraufverwiesen, dass sie Begegnungen mit Thomas Luckmann grundlegende Revisionen und Einsichten ihrer Kulturtheorie schulde. Die Kompatibilität von Klassifikationsanalysen der Durkheim-Tradition mit Alfred Schütz' Zeichen- und Typenkonzept wird auch deutlich in der Schützschen Diskussion von chinesischer Symbolordnungen auf der Grundlage der Studien von Marcel Granet (Schütz 1971f: 3861). 382
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Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen." (Jorge Louis Borges, zit. nach Foucault 1974a: 17)
Die von ihm herausgearbeiteten "episteme" sind unterscheidbare Grundschemata der Wissensorganisation, die für spezifische historische Abschnitte einem je besonderen Modell folgen (vgl. Kapitel 3.2.3). Schon seine zuvor erschienenen Untersuchungen über die "Geburt der Klinik" (Foucault 1972 [1963]) sowie "Wahnsinn und Gesellschaft" (FoucauIt 1973 [1961]) beschäftigen sich mit den diskursiven und praktischen Klassifikationen, die Gesundes von Krankem, Nicht-Medizinisches von Medizinischem, den Wahnsinn von der Vernunft unterscheiden. Diese Hinweise verdeutlichen, dass Klassifikationen kontingente Modelle der Wirklichkeitskonstitution durch ,Gruppenbildungen' sind, eine spezifische "Formkategorie sozialen Wissens" (Plaß/Schetsche 2001) neben anderen. 384 Sie beziehen sich nicht nur auf die Einteilung von Tatsachen, sondern ebenso auf moralische und ästhetische Bewertungen von Phänomenen als gut oder böse, schön/hässlich/erhaben etc. Zu den basalen Klassifikationen (nahezu) aller Gesellschaften gehört bspw. die Unterscheidung von Natur und Gesellschaft, die mit unterschiedlichen Attributionen von Verantwortung verknüpft ist. Erving Goffinann bezeichnet die Differenz von Natur/Gesellschaft als einen "primären Rahmen". Primäre Rahmen sind solche, deren Anwendung "von den Betreffenden so gesehen wird, daß sie nicht auf eine vorhergehende oder ,ursprüngliche' Deutung zurückgreift (...) Im täglichen Leben unserer Gesellschaft empfindet, ja macht man einen einigermaßen klaren Unterschied zwischen zwei großen Klassen primärer Rahmen: natürlichen und sozialen. Natürliche Rahmen identifizieren Ereignisse, die als nicht gerichtet, nicht orientiert, nicht belebt, nicht geleitet, ,rein physikalisch' gesehen werden; man führt sie vollständig, von Anfang bis Ende, auf ,natürliche' Ursachen zurück. Man sieht keinen Willen, keine Absicht als Ursache am Werke, keinen Handelnden, der ständig auf das Ergebnis Einfluß nimmt. Bezüglich dieser Ereignisse ist kein Erfolg oder Mißerfolg vorstellbar; es kommen keine negativen oder positiven Sanktionen ins Spiel. Es herrscht vollständiger Determinismus, vollständige Determination (...) In gewissem Maße geht man davon aus, daß (... ) gewisse Voraussetzungen wie etwa die Vorstellung von der Erhaltung der Energie oder von einer einzigen, nicht umkehrbaren Zeit auf alle zutreffen. Elegante Formen dieser natürlichen Rahmen finden sich natürlich in den physikalischen und biologischen Wissenschaften. (... ) Soziale Rahmen dagegen liefern einen Verständnishintergrund für Ereignisse, an denen Wille, Ziel und steuerndes Eingreifen einer Intelligenz, eines Lebewesens, in erster Linie des Menschen, beteiligt sind (... ) Es liegen hier also Handlungen vor, keine bloßen Ereignisse (...) Man verwendet den gleichen Ausdruck ,Kausalität' für die blinde Naturwirkung und die von einem Menschen beabsichtigte Wirkung; erstere wird als unbegrenzte Kette verursachter und verursachender Wirkungen gesehen, letztere so, daß sie irgendwie mit einer bewußten Entscheidung beginnt. In unserer Gesellschaft geht man davon aus, daß intelligente Wesen in die Naturvorgänge eingreifen und deren Determiniertheit ausnützen können, falls sie nur die natürlichen Zusammenhänge berücksichtigen. Des weiteren geht man davon aus, daß, vielleicht mit Ausnahme der reinen Phantasie oder des reinen Denkens, alles, was jemand tun möchte, ständig natürlichen Einschränkungen unterworfen ist, und daß wirksames Handeln die Ausnützung statt Nichtbeachtung dieser Verhältnisse verlangt. Selbst wenn zwei Menschen im Kopf miteinander Dame spielen, müssen sie doch noch Mitteilungen über die Züge austauschen, was einen physikalisch wirksamen, willensgeVgl. auch die Hinweise auf die wissenssoziologischen Traditionen der Untersuchung von Klassifikationen im Anschluss an Durkheim und Mauss (Kapitel 2.1.3) sowie auf die Ausfiihrungen zu Bourdieu (2.2.2).
384
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steuerten Gebrauch der Stimme beim Sprechen oder der Hand beim Schreiben erfordert. Die Vorstellung ist also die, daß zwar Naturereignisse ohne intelligenten Eingriff erfolgen, intelligente Handlungen aber nicht erfolgreich sein können, wenn man sich nicht auf die Naturordnung einläßt. Damit läßt sich jedes Stück einer sozial orientierten Handlung teilweise innerhalb eines natürlichen Schemas analysieren. (...) Wenn ein Untersuchungsbeamter nach der Todesursache fragt, möchte er eine Antwort nach dem natürlichen Schema der Physiologie haben; fragt er nach der Todesart, so möchte er eine auf dramatische Weise soziale Antwort haben, die etwas beschreibt, was durchaus zu einem Vorsatz gehören kann." (Goffman 1980: 31 f1)385
In einer der ersten Studien der empirisch-konstruktivistischen Wissenschaftsforschung hatte David Bloor nachgezeichnet, inwiefern sowohl die Konstruktion wie auch die Anwendung von Klassifikationen auch und sogar im Bereich des naturwissenschaftlichen (und mathematischen) Wissens - Bloor bezieht sich hier auf die angewandte Chemie und die experimentellen Vorgehensweisen in den Labors von Justus Liebig in Gießen und Thomas Thomson in Glasgow in den I620er Jahren - als kontingente soziale Prozesse und im Kontext unterschiedlicher politischer Strategien begriffen werden können: "Ein steter Strom von Entscheidungen ist hinsichtlich der Klassifikationsgrenzen erforderlich: Entscheidungen darüber, welche Gesetze beibehalten werden sollen, wenn die Erfahrung widersprüchliche Ergebnisse liefert oder wenn wir durch gegensätzliche Interpretationen auf die Probe gestellt werden (...) Strategische Entscheidungen müssen die vielen taktischen Entscheidungen überwachen." (B1oor 1981: 321)386
Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang nicht nur die Kontingenz und Strukturierungsleistung von Klassifikationen, sondern auch ihre performative Wirkung, die nicht nur dann zu Tage tritt, wenn etwa administrative ethnische Kategorisierungen zur Grundlage von Selbstbeschreibung und Identitätspolitik ethnischer Gruppen werden bzw. solche Gruppen erst durch den Klassifikationsprozess herstellen, wie dies unter anderem in der GenderForschung und verschiedenen Untersuchungen zur ,Identitätspolitik' beschrieben wurde, sondern auch darin zum Ausdruck kommen, dass Klassifikationen die Art und Weise unserer Erfahrung von Phänomenen konstituieren. 387 Vgl. zu weiteren Beispielen für die Funktionsweise der Natur/Gesellschafts-Differenz Luckmann (1999) oderin völl ig anderem Kontext - Latour (1995b). Im Rahmen des aktuell laufenden DFG-Sonderforschungsbereichs 536 "Reflexive Modemisierung" untersucht das Projekt A-2 unter dem Titel "Vergesellschaftung von Natur Naturalisierung von Gesellschaft" die handlungspraktischen Implikationen und die Transformationen dieser Differenz in verschiedenen institutionellen Feldern der modemen Gesellschaft (LaulKeller 2001). 386 Vgl. Bloor (1976) und die Analysen von Barry Schwartz (1981) über "Vertical Classifications". Umberto Eco (2000; vgl. Kapitel 5) hat in seinen Essays über "Kant und das Schnabeltier" diskutiert, wie die Entwicklung der modemen naturwissenschaftlichen Klassifikationen verschiedene Kuriositäten zu verarbeiten hatte. Die neuere Wissenschafts- und Technikforschung weist auf die zunehmende Hybridität soziotechnisch-natürlicher Phänomene hin, die einerseits klassifikatorische Uneindeutigkeit erzeugen und andererseits gerade im Sinne Ecos neue Klassifikationswettbewerbe auslösen. Gerade deswegen sind die Prozesse und Versuche der Herstellung klassifikatorischer Ordnung durch Diskurse von großer Bedeutung (vgl. Kapitel 5). 387 Gesellschaftliche Klassifikationsprozesse und ihre Folgen werden zunehmend Gegenstand sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. Einen wichtigen Beitrag zur Analyse der Klassifikationen sozialer Ungleichheit liefert Berger (1987). Sehr deutlich zeigt Elisabeth Beck-Gemsheim (2002) am Beispiel der deutschen Ausländerstatistik und in Bezug auf Debatten über Gastarbeiterintegration, die Bildungssituation von Jugendlichen und deutschausländische Ehen, wie etablierte kategoriale Entscheidungen - hier: zwischen Deutschen/Nicht-Deutschen spezifische Wirklichkeitsordnungen erzeugen, die in starkem Kontrast zu anderen Beschreibungsformen stehen und deswegen zu Fehlwahrnehmungen der Bedeutung und Lebenssituation von DeutschenINichtdeutschen führen. 385
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Wie jeder Sprachgebrauch klassifiziert also auch die Sprachverwendung in Diskursen die Welt, teilt sie in bestimmte Kategorien auf, die ihrer Erfahrung, Deutung und Behandlung zugrunde liegen. Zwischen Diskursen fmden Wettstreite um solche Klassifikationen statt, bspw. darüber, wie (potenzielle) technische Katastrophen zu interpretieren sind und welche Konsequenzen damit verbunden werden sollten (vgl. Kapitel 5).388 Diskurse klassifizieren jedoch nicht nur in diesem Sinne implizit durch ihren besonderen Zeichengebrauch, sondern sie entwerfen auch explizite Klassifikationsschemata für die Wirklichkeitsbereiche, von denen sie handeln. Deren Wirkung hängt letztlich davon ab, ob sie in Gestalt entsprechender Dispositive institutionalisiert werden und dadurch Handlungspraxis anleiten. 389 Gegenstand der Wissenssoziologischen Diskursanalyse sind beide Klassifikationsweisen. 4.3.3.3
Phänomenstruktur
Neben Deutungsmustern und Klassifikationen ermöglicht das Konzept der Phänomenstruktur einen dritten und komplementären Zugang zur Ebene der inhaltlichen Strukturierung von Diskursen. Bereits in der konstituierenden Phase der Wissenssoziologie hatte Karl Mannheim den Begriff der ,,Aspektstruktur" eingeführt (vgl. Kapitel 2.1.2), um die Art und Weise der Konstruktion von Sachverhalten zu benennen, also das, was in Bezug auf ein Phänomen erfasst wird. Bestandteile einer solchen Aspektstruktur sind - so Mannheim die benutzten Begriffe einschließlich ihrer Bedeutungsdifferenz zu anderen möglichen Begriffen, der Zusammenhang dieser Begriffe, Kausalschemata, die "vorausgesetzte Ontologie" u.a. (Mannheim 1969: 234). Das Konzept der Phänomenstruktur greift solche Überlegungen auf und bezieht sie darauf, dass Diskurse in der Konstitution ihres referentiellen Bezuges (also ihres ,Themas') unterschiedliche Elemente oder Dimensionen ihres Gegenstandes benennen und zu einer spezifischen Gestalt, einer Phänomenkonstellation verbinden. Das Konzept der Phänomenstruktur bezeichnet keineswegs Wesensqualitäten eines Diskurs-Gegenstandes, sondern die entsprechenden diskursiven Zuschreibungen. Bspw. erfordert die Konstruktion eines Themas als Problem auf der öffentlichen Agenda die Behandlung verschiedener Dimensionen durch die Protagonisten und im Rückgriff auf argumentative, dramatisierende und evaluativ-bewertende Aussagen: die Bestimmung der Art des Problems oder des Themas einer Aussageeinheit, die Benennung von Merkmalen, kausalen Zusammenhängen (Ursache-Wirkung) und ihre Verknüpfung mit Zuständigkeiten Vgl. als weitere Beispiele die Analysen von Krankheitsstatistiken u.a. bei BowkerlLeigh Star (2000) oder von Kriminaldelikten bei Manning (1988). Desrosieres (1993) untersuchte die Entwicklung der französischen, englischen und deutschen Sozialstatistiken, Berufsklassifikationen u.a. Zimmermann (2003) analysierte die Genese der deutschen Arbeitslosenstatistik. Prior (1997) zeigt am Beispiel einer irischen Klassifikation über Ursachen für Geistesverwirrung - u.a. Enttäuschung, Liebe und Eifersucht, religiöse Erregung, Stolz, Kindsgeburt, Hitzeschlag -, dass Borges ,absurde' chinesische Klassifikation nicht so weit hergeholt ist, wie es zunächst den Anschein hat. Vgl. auch Barlösius (200 I) u.a.m. 388 Der ,Kampf der Klassifikationen' war ein zentrales Thema Bourdieus (vgl. Kapitel 2.2.2). 389 Ein Beispiel dafür ist die Klassifikation und Erfassung des Müllaufkommens nach Orten des ,Müllanfalls' Haushalte, Gewerbe, Industrie, Bau - , die einen anderen Eindruck von ,abfallarmen Produkten' erzeugt als eine Müllerfassung entlang der Produktlebenswege: Ein im Endergebnis ,abfallarmes' Produkt kann so in der Gesamtbilanz als überaus abfallträchtig erscheinen, und umgekehrt. Entsprechend würden andere Konsequenzen für die Konsumpraxis gefordert.
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(Verantwortung), Problemdimensionen, Wertimplikationen, moralischen und ästhetischen Wertungen, Folgen, Handlungsmöglichkeiten u.a. Vor allem die Untersuchungen der öffentlichen Karriere sozialer Probleme im Kontext des Symbolischen Interaktionismus haben entsprechende Dimensionen benannt und sehen in ihrer ,gelingenden' Konstruktion ein wesentliches Merkmal erfolgreicher Mobilisation von Zustimmung (Gerhards 1992; Schetsehe 1996). Ich schlage allerdings vor, statt von Problemdimensionen von Phänomenstrukturen zu sprechen, um eine begriffliche Fokussierung auf umstrittene gesellschaftlichpolitische Issues (,Probleme') zu vermeiden. Diskurse konstituieren auch da ihre Gegenstände im Hinblick auf unterschiedliche Dimensionen, wo sie sich nicht im Wettbewerb bzw. Konflikt mit gegnerischen Diskursen befmden. Aus der bisherigen Diskursforschung lassen sich einige wichtige Elemente solcher Phänomenstrukturen gewinnen. Von zentraler Bedeutung sind bspw. die Subjektpositionen, die ein Diskurs konstituiert, und die in verschiedener Hinsicht differenziert werden können. So nehmen Diskurse Positionierungen von sozialen Akteuren als Helden, Retter, Problemfälle, vernünftig und verantwortungsvoll Handelnde, Bösewichte etc. vor. Dies erfolgt jedoch nicht nur im Hinblick auf die ,Agenten' der von ihnen angebotenen Erzählung, sondern auch in Bezug auf die verschiedenen Adressaten eines Diskurses, bspw. im humangenetischen Expertendiskurs die Herstellung eines beratungsbedürftigen Subjektes (Waldschmidt 1996; 2003). Dazu zählen auch diskursgenerierte Modellpraktiken, welche fiir die durch einen Diskurs definierten Handlungsprobleme Handlungsanweisungen zur Verfügung stellen (vgl. Kapitel 4.3.4.2). Die tatsächlichen Bausteine der Phänomenstruktur eines Diskurses sind nicht vor der Materialanalyse bekannt, sondern sie müssen aus den Daten - und dort aussageübergreifend - erschlossen werden. Einzelne Diskursfragmente enthalten dazu in der Regel nur partielle Elemente. Die folgende Tabelle illustriert den Gedanken der Phänomenstruktur am Beispiel meiner Analyse öffentlicher Auseinandersetzungen über das Hausmüllproblem, bezogen auf den französischen hegemonialen Abfalldiskurs (Keller 1998: 232):390
Vgl. auch Hajers Darstellung von Bausteinen der britischen und niederländischen Diskurse über Sauren Regen in Hajer (1995,2003).
390
250 Abbildung 4:
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse Beispiel für die Erfassung einer Phänomenstruktur
Dimensionen Ursachen
Verantwortung (Zuständigkeit)
Inhaltliche Ausführune: Bsp.: administrativer Abfalldiskurs Abfall als, Sauberkeitsproblem '; Diskrepanz zwischen Mengenaufkommen und Entsorgungs- bzw. Verwertungsinfrastruktur: • Wohlstandswachstum, ökonomischer und technischer Fortschritt, Konsumbedürfnisse der Verbraucher -> Anstieg des Abfallaufkommens • Abfall als Problem defizitärer Müllentsorgung auf Deponien • Abfall als Problem mangelnder staatsbürgerlicher Verantwortung und Disziplin • Abfall als Problem nationaler Zahlungsbilanz/Rohstoffnutzung • Abfall als Problem internationaler Wettbewerbsbedingungen
•
• •
Politik/staatliche Administration (muss in Abstimmung mit der Wirtschaft Rahrnenprogramme der Abfallpolitik erarbeiten und durchsetzen) Gebietskörperschaften, Wirtschaft (eigenverantwortliche Umsetzung der politischen Vorgaben) Bürger/Gesellschaft (Aufgabe irrationaler Ängste, egoistischer Ablehnungen; Übernahme von Verantwortung für die Abfälle und Akzeptanz der Technologien)
Handlungsbedarf/ Problem lösung
Niedriges Problem level; technische Beherrschung der Abfallsituation ist möglich durch Verwertung und Beseitigung. Maßnahmen: • großtechnischer Ausbau und Optimierung der Entsorgungs- und der Verwertungsinfrastruktur • Akzeptanzschaffung für Entsorgungsinfrastruktur durch Kommunikation und Partizipation • umfassende Mobilisierung staatsbürgerlicher Verantwortung (Kommunen, Wirtschaft, Verbraucher)
Selbstpositionierung
Vertreter der wissenschaftlich-technischen, ökonomischen und pragmatischen Vernunft, des zivilisatorischen (soziokulturellen/-technischen) Fortschritts; Staat als Wahrnehmer des Kollektivinteresses
Fremdpositionierung
• •
Zivilgesellschaftliche Akteure (Gebietskörperschaften, Wirtschaft, ~ürger) zeigen mangelndes Verantwortungsbewusstsein, irrationale Angste und Verdrängung Irrationalismus und Fundamentalismus der deutschen Abfallpolitik, Tarnmantel für Wirtschaftsprotektionismus
Dingkultur/ Wohlstandsmodell
Kein Gegenstand der Abfalldiskussion; folgt unverfugbaren Modernisierungsdynamiken und Marktrationalitäten; materielles Wohlstandsmodell; Freiheit der Bedürfnisse (Produktion und Konsum)
Wertbezug
• • •
•
Staat sichert Kollektivinteresse (Wohlstand, Fortschritt, Modernität) (Faktische und moralische) Sauberkeit des öffentlichen Raumes Natur als (national knappe) Ressource, deren Nutzung optimiert werden kann Identität von derzeitiger Gesellschaftsform und ,gutem Leben'
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
251
Die analytische Beschreibung der Phänomenstruktur kann sich an verschiedenen Konzepten der grounded theory (Strauss 1998) orientieren und richtet sich auf zwei Aspekte: 391 I.
2.
Die dimensionale Erschließung bezieht sich auf die allgemeine Zusammensetzung der Phänomengestalt: Die Dimensionen, aus denen ein Phänomen diskursiv konstituiert wird, können sich in einem diskursiven Feld zwischen verschiedenen, miteinander konkurrierenden Diskursen mehr oder weniger stark gleichen bzw. unterscheiden. Sie werden in abstrahierender Form erschlossen, etwa in dem Sinne, dass festgehalten wird, ob kausale Zusammenhänge, Eigen- und Fremdetikettierungen (Identitätsmarker), Verantwortungszuschreibungen, Lösungsbedarf usw. überhaupt als relevante Größen durch den Diskurs selbst eingefuhrt werden. Im Sprachgebrauch der grounded theory geht es hier um die Entwicklung von Kodes, d.h. um die Generierung abstrakter Kategorien zur Benennung einzelner Aussage- und Diskursbausteine durch die verschiedenen Stufen des offenen, axialen und selektiven Kodierens. 392 Wie differenziert dies erfolgt, also ob bspw. Haupt- und Nebenursachen oder -folgen usw. unterschieden werden, hängt von den konkreten Fragestellungen ab. Die inhaltliche Ausführung der im ersten Schritt rekonstruierten Dimensionen kann nach dem situativ-kontextuellen Anlass eines diskursiven Ereignisses variieren und sich auch zwischen Diskursen erheblich unterscheiden. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse zielt hier auf eine typisierende Rekonstruktion der Gehalte, auf die Regeln oder Prinzipien dessen, was als Inhalt in Frage kommt, nicht auf die summarische Zusammenstellung all dessen, was in ,Originalzitaten' - die durchaus fiir Darstellungsund Illustrationszwecke benutzt werden können - gesagt wurde. Durch die Analyse der verschiedenen Aussagen hindurch lassen sich so Kodierfamilien bilden, d.h. Zuordnungen unterschiedlicher Merkmalsausprägungen zu den entsprechenden KodeKategorien wie Ursachen, Konsequenzen, Korrelationen, Randbedingungen, Prozesse, Typen, Identitäten u.a. (Glaser 1978).393
4.3.3.4 Narrative Strukturen Ein letztes Moment der inhaltlichen Gestalt von Diskursen ist an dieser Stelle zu benennen: Als Erzählstrukturen, story lines, plots, scripts bzw. narrative Strukturen können diejenigen strukturierenden Momente von Aussagen und Diskursen bezeichnet werden, durch die verschiedene Deutungsmuster, KlassifIkationen und Dimensionen der Phänomenstruktur (z.B. Akteure, Problemdefmitionen) zueinander in spezifIscher Weise in Beziehung gesetzt werden. Narrative Strukturen sind nicht einfach nur Techniken der Verknüpfung sprachlicher Elemente, sondern als "mise en intrigue" (Paul Ricreur), als konfIgurativer Akt der Verknüpfung disparater Zeichen und Aussagen in Gestalt von Erzählungen ein Grundmodus der menschlichen Ordnung von Welterfahrung. 394 Als Aussagen haben sie performativen Charakter: sie konstituieren (bestreitbare) Weltzustände als Erzählungen, in denen es Eine genauere Diskussion der Vorgehensweise und weitere Literaturbezüge sind in Keller (2004) enthalten. Vgl. dazu Strauss (1998: 56ffund 92ft) mit detaillierten Erläuterungen, Hilfsfragen, Beispielanalysen usw. 393 Vgl. Keller (2003b); Strauss (1998: 54ff; 90ff); Flick (2002: 257ft); TitscherlWodaklMeyerNetter (1998: 95ft); diskursanalytische Anwendungen auch bei Diaz-Bone (2002: 198ft), Viehöver (2003a). 394 Vgl. vor allem Ricreur (1988: 57; 1998), Viehöver (2001). 391
392
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handelnde Akteure, Ereignisse, Herausforderungen, Erfolge und Niederlagen, ,Gute' und ,Böse' etc. gibt. Die Erschließung der narrativen Strukturen von Diskursen kann sich auf unterschiedliche Ebenen richten und Haupt- von Nebenerzählungen, allgemeine oder generalisierende Narrationen von illustrierenden Beleg- oder Beweisgeschichten unterscheiden. Die dem kulturellen Wissensvorrat entstammenden oder auch im Diskurs selbst erzeugten Bausteine werden im jeweiligen Diskurs zu einer besonderen ,Erzählung' zusammengeführt, auf einen referentiellen Anlass bezogen und über einen roten Faden, eine story line zu Diskursen integriert. 395 Narrative Strukturen umfassen abgrenzbare Episoden (von der Einleitung bis zur Schlussfolgerung), Prozesse, das Personal bzw. die Aktanten und ihre spezifischen Positionierungen, die Raum- und Zeitstrukturen sowie die Dramaturgie (den plot) der Handlung (Viehöver 2001, 2003a,b). In synchroner Hinsicht verknüpfen sie die unterschiedlichen Deutungselemente eines Diskurses zu einem zusammenhängenden, erzählbaren Gebilde. 396 In diachroner Perspektive werden dadurch die Aktualisierungen und Veränderungen der Diskurse im Zeitverlauf verbunden. Sie liefern das Handlungsschema für die Erzählung, mit der sich der Diskurs erst an ein Publikum wenden kann (Poferl 1997) und mit der er seine eigene Kohärenz im Zeitverlauf konstruiert. Durch den Rückgriff auf eine story line können Akteure diskursive Kategorien sehr heterogener Herkunft in einem mehr oder weniger kohärenten Zusammenhang aktualisieren. Dadurch entsteht der für öffentliche Diskurse typische Hybridcharakter. Von Bedeutung ist dabei insbesondere die Herstellung von Kausalzusammenhängen durch "causal stories" (Stone 1989) und die Betonung von Handlungsdringlichkeiten im Rahmen von Dramen und Moralgeschichten. Kollektive Akteure aus unterschiedlichen Kontexten (z.B. aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft) koalieren bei der Auseinandersetzung um öffentliche Problemdefinitionen durch die Benutzung einer gemeinsamen Grunderzählung, in der spezifische Vorstellungen von kausaler und politischer Verantwortung, Problemdringlichkeit, Problemlösung, Opfern und Schuldigen formuliert werden. Probleme lassen sich (ent)dramatisieren, versachlichen, moralisieren, politisieren oder ästhetisieren. Akteure werden aufgewertet, ignoriert oder denunziert. Angesprochen sind damit Deutungs- oder Argumentationseffekte, die etwa innerhalb politischer Diskurse in der Regel intendiert, wenn auch nicht unbedingt vollständig kontrolliert sind. Ein illustratives Beispiel für die Analyse der narrativen Strukturen von Diskursen bietet die Untersuchung der Klimadebatte von Viehöver (2003a).397
4.3.4 Die Materialität der Diskurse Nach der Erläuterung wichtiger Konzepte zur Erschließung der inhaltlichen Strukturierung von Diskursen möchte ich nun kurz auf ihre manifeste Erscheinung oder Materialität eingehen. Selbstverständlich lassen sich schon die Inhalte nur als tatsächliche Dokumente des Sprachgebrauchs erschließen. Darüber hinaus sind es aber die sozialen Akteure (4.3.4.1) und ihr Vollzug von Praktiken (4.3.4.2), welche den diskursiven Ereignissen zugrunde liegen, deren Gesamtgestalt die Form eines Diskurses zugeschrieben werden kann (vgl. 395 396 397
Vgl. Gamson (1988b), Hajer (1995), Keller (1998). Also zu einen ,account' im Sinne des Ethnomethodologie. Vgl. dazu Kapitel 5.
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Kapitel 4.2). Schließlich werde ich kurz auf den Begriff des Dispositivs (4.3.4.3) eingehen, der die konkrete Institutionalisierung von Diskursen bezeichnet. 4.3.4.1
Akteure, Diskurskoalitionen
Weiter oben in Kapitel 4.2.3 hatte ich zwischen den Sprecherpositionen im Rahmen der (Re-)Produktion eines Diskurses und seinen inhaltlich im Hinblick auf Positionierungen von Handlungsträgern, Rezipienten, Adressaten oder Betroffenen konstituierten Subjektpositionen unterschieden. Die Analyse von Subjektpositionen erfolgt zum einen im Kontext der Untersuchung der inhaltlichen Strukturierung und gegebenenfalls im Anschluss daran im Hinblick auf die Rezeptions- und Aneignungsprozesse dieser Positionen durch soziale Akteure, also die ,Machtwirkungen' von Diskursen. An dieser Stelle geht es mir nun um die Seite der Diskursproduktion, also um Sprecherpositionen und die individuellen oder kollektiven sozialen Akteure, die diese Positionen einnehmen. Diskurse sprechen nicht rur sich selbst, sondern werden erst durch Akteure und deren Sprachakte ,lebendig'. Soziale Akteure schaffen die entsprechenden materiellen, kognitiven und normativen Infrastrukturen eines Diskurses und orientieren sich in ihren (diskursiven) Praktiken an den Regeln der jeweiligen Diskursfelder, bspw. an den Publikationszwängen der Medienberichterstattung oder des wissenschaftlichen Diskurses. Sie agieren im Diskurs und aus dem Diskurs heraus. Sie tun dies in institutionell strukturierten Zusammenhängen wie Universitäten oder Parlamenten, aber auch am häuslichen Schreibtisch oder in den Massenmedien. Sie treten auf als Sprecher und Repräsentanten mehr oder weniger großer sozialer Gruppen (Experten, Parteien, Protestgruppen, Professionen, Organisationen). Sprecherpositionen innerhalb von Diskursen bilden ein in vielerlei Hinsicht gegliedertes und mehr oder weniger hierarchisches Netz von institutionell konfigurierten Rollensets und damit einher gehenden ,Chancen auf Gehör', rur die je nach Stellenwert in der Diskurshierarchie unterschiedliche Qualifikationsanforderungen als Voraussetzung bestehen. Spezialdiskurse konstituieren hier die strengsten Verknappungsprozeduren (bspw. in der Wissenschaft durch Ausbildungsgänge), während öffentliche Diskurse eher heterogene Qualifikationen kennen, die in symbolisches Kapital im Sinne Bourdieus konvertierbar sind. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse interessiert sich rur Akteure, die Sprecherpositionen einnehmen, nicht als individuelle Subjekte, sondern als soziale Rollenträger der Diskurse. Die Einnahme der entsprechenden Positionen kann sich mehr oder weniger zufällig aus den individuell verfolgten beruflichen Karrierewegen (etwa innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin) ergeben, auf bewusstem Engagement beruhen (etwa bei sozialen Bewegungen) oder durch Positionierungsprozesse im Rahmen diskursiver Auseinandersetzungen erzwungen sein (also bspw. durch herausfordernde Diskurse verursacht). Als Rollenträger vertreten die Diskursakteure die Interessen ihrer Organisationen in und durch die Einschaltung in Diskursverläufe bzw. in dem Maße, wie eine solche Organisation von einem spezifischen Diskurs abhängt, die ,Interessen dieses Diskurses'. Als Subjekte vermögen sie nebenbei alle möglichen anderen individuellen Interessen zu verfolgen, doch dies ist nicht Gegenstand der Diskursanalyse. Die Einnahme von Sprecherpositionen kann sich auf einzelne diskursive Ereignisse beziehen oder eine mehr oder weniger durchgehende Identifikation mit einem Diskurs erlauben. Soziale Akteure vermögen gleichzeitig bzw.
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sukzessive Sprecherpositionen in sehr verschiedenen Diskursen bzw. Diskursfeldern einzunehmen, etwa dann, wenn Sprecher politischer Debatten sich parallel in mehrere Diskurse einklinken. Sie kann in Abhängigkeit von Zuständigkeitsprofilen auch weitgehend innerhalb eines einzigen Diskurses angelegt sein. Im Unterschied zu den politikwissenschaftlichen spieltheoretischen Adaptionen der Theorie rationaler Wahl betont die Wissenssoziologische Diskursanalyse im Einklang mit den anderen Ansätzen der Diskurstheorie, dass die sozialwissenschaftliche Analyse nicht vorschnell die Eindeutigkeit von (Klassen-) Interessen, Machtpositionen etc. unterstellen und als Erklärungsprinzip für Diskursprozesse einsetzen sollte (vgl. Kapitel 3.1.5.4). Sie muss basale Motivierungen für die Erzeugung diskursiver Ereignisse annehmen und gesteht zu, dass Interessen sozialer Akteure in Diskursen bzw. Texten nicht explizit ausgeführt sein müssen, es also ,geheime' Argumente hinter den verbalisierten Positionen geben kann. Problematisiert wird jedoch der unmittelbare Kurzschluss von Akteursinteressen auf Diskurspositionen, die so lediglich als Rhetorik erscheinen. Die Verfolgung von Interessen wird als eine Motivation, aber nicht als das primäre unabhängige Erklärungsprinzip für die stattfindende Art und Weise der diskursiven Konstruktion der Wirklichkeit betrachtet. Die Diskursperspektive betont damit, dass die gleichen Interessen mit sehr unterschiedlichen inhaltlichen Positionen verknüpft werden können, dass Diskurskonfrontationen auch neue Zulässigkeiten, Legitimationen, moralische Positionen u.a. erzeugen, die sowohl die Wahrnehmung von Interessen wie auch ihre Versprachlichung und Verfolgung transformieren. Sie betont schließlich, dass gegenüber solchen Interesselagen die diskursiven Weisen ihrer Bearbeitung nicht vernachlässigt werden dürfen. Bspw. konstituieren Diskurse über die moralische Legitimität von unternehmerischem Handeln im Zusammenhang mit der Verlagerung von Produktionsstätten, der Ausbeutung von Billigarbeitskräften etc. mitunter einen Rechtfertigungsdruck, der Unternehmen dazu führt, nicht die Verfolgung von Profitinteressen aufzugeben, aber die Realisierung dieser Interessen auf anderem Wege anzugehen. 398 Die Diskursperspektive verweist also, wie schon Charles W. Mills mit seinem Konzept der Motivvokabularien (s.o. Kapitel 2.1.2), sowohl auf die diskursive Konstruktion dessen, was als Interesse gilt, als auch auf die diskursiv konstituierte Beziehung zwischen Interessen und den Mitteln ihrer Verfolgung. Das Bestehen von Interessen selbst entscheidet noch keineswegs über die Art und Weise ihrer Umsetzung. Sie können deswegen der Analyse nicht als ursächlich erklärend vorausgesetzt werden. 399 Diskurs-Akteure benutzen verschiedene Ressourcen und Strategien der Diskursproduktion. Sie erzeugen Faktenwissen, argumentieren, dramatisieren, moralisieren, mobilisieren gängige Alltagsmythen, Klischees, Symbole, Bilder für ihre Zwecke. Sie entwickeln eine Geschichte, in der die Rollen von Gut und Böse verteilt sind und die Handlungsprobleme benannt werden. Sie konstituieren dadurch ihre eigene (kollektive) Identität. In diskursiven Auseinandersetzungen bilden soziale Akteure durch ihre Einnahme von Positionen im Diskurs, durch den Rekurs auf eine gemeinsame story line implizite oder explizite Diskursgemeinschaften (Wuthnow 1989) bzw. Diskurs-Koalitionen (Hajer 1995, Keller 1998). Innerhalb von großen gesellschaftlichen Akteursaggregaten - Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Protestbewegungen u.a. - sind unterschiedliche, auch gegensätzliche Diskurspositionen möglich. Es wird also keine Identität von Diskurs und kollektiver Akteurs398 399
Das bezeichnet eine Möglichkeit, wie sich eine Diskursperspektive mit Interessen auseinandersetzt. Vgl. dazu am Beispiel der "Ozon-Diskurse" Litfin (1994).
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gruppe vorab unterstellt. Innerhalb von Akteursgruppen können unterschiedliche Diskurse adaptiert, vertreten und verlassen werden. Abgesehen von wenigen initialen Momenten der frühen Formierung und diskursiven Strukturbildung sind Diskurse und ihre institutioneller Unterbau den sozialen Akteuren strukturell vorgeordnet. Nicht einzelne Akteure, sondern Diskurse als strukturierte Aussagekonfigurationen regulieren die Bedingungen der Zulassung von Akteuren zu Sprecherpositionen. Soziale Akteure agieren also nicht als freie Gestalter der Diskurse. Sie sind ihnen andererseits auch nicht bedingungslos unterworfen oder ausgeliefert. Als aktiv wahrnehmende und regelinterpretierend Handelnde setzen sie ihre Handlungskompetenzen in diskursiven Ereignissen und im Vollzug diskursiver Praktiken ein. Nicht zuletzt daraus entsteht die Diskursdynamik. Das wissenspolitische Makrogeruge der Produktion, Aufrechterhaltung und Transformation von gesellschaftlichen Wissensvorräten lässt sich so als vielfach verschachtelte Struktur von Diskursen und Akteuren begreifen, die zueinander in unterschiedlichen Beziehungen stehen. 4.3.4.2
Praktiken
Der Begriff der Praktiken bezeichnet sozial konventionalisierte Arten und Weisen des Handeins, also typisierte Routinemodelle rur Handlungsvollzüge, die von unterschiedlichsten Akteuren mit mehr oder weniger kreativ-taktischen Anteilen aufgegriffen, ,gelernt', habitualisiert und ausgeruhrt werden. 40o Praktiken fmden sich in allen gesellschaftlichen Handlungsfeldern und auf allen Ebenen des individuellen und kollektiven Handeins. Ich unterscheide im Folgenden entlang der möglichen Beziehungen zwischen Diskursen und Praktiken drei Typen solcher Muster fiir Handlungsvollzüge: (1) diskursive und nichtdiskursive Praktiken der Diskurs(re)produktion, (2) diskursgenerierte Model/praktiken und (3) diskursexterne Praktiken. (1) Diskursive und nicht-diskursive Praktiken der Diskurs(re)produktion Zunächst kann von Praktiken der Diskurs(re)produktion gesprochen werden, um die Regulierungen des Sprachgebrauchs und der Bedeutungszuweisung zu bezeichnen, die diskursiven Ereignissen zugrunde liegen. Es handelt sich um Muster legitimer Äußerungsformen und Handlungsweisen im Diskurs, die seine Realität konstituieren: etwa (Regeln rur) die Verfassung wissenschaftlicher Texte, legitime Vortragsstile, den Einsatz visueller Zeichenformate, Kleidungsstile, Anredeweisen u.a., auch die Schrift- oder Sprach-Genres bzw. kommunikative Gattungen auf institutionell-organisatorischer Ebene. Solche Praktiken sind gesellschaftlich mehr oder weniger allgemein verrugbar. Sie können rur einzelne Diskurse oder ganze Diskursfelder spezifischen Charakter haben (etwa wissenschaftliche Diskurse, Protestdiskurse, öffentliche Diskurse). So kann sowohl vom Diskurs der modemen Physik und seinen Attributen (Vorlesungen, Laborexperimente usw.) als auch etwa vom Diskurs des radikalen Umweltschutzes und den daran gekoppelten Praktiken (Formulierung von Utopien, Demonstrationen u.a.) gesprochen werden. Die Praktiken der Diskurs(re)produk400
Vgl. weiter oben die Kapitel 2.3.1 und 4.2.4.
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tion können noch einmal unterschieden werden in diskursive Praktiken und nichtdiskursive Praktiken. Zu ersteren gehören die Praktiken des Sprach- bzw. Zeichengebrauchs. Dazu zählen die Fonnen und Modelle angemessenen Reden und Schreibens in verschiedenen institutionellen Feldern, auch entsprechende Regulierungen des Einsatzes von Zeichen oder Bildern, die eine Geschichte erzählen. Es handelt sich bspw. um Regeln für die Erzeugung wissenschaftlicher Texte, für Interventionen in öffentliche Auseinandersetzungen etc., also die verschiedensten Strukturierungen der expliziten Signiftkationsakte, aus denen Diskurse bestehen und die von sozialen Akteuren angeeignet bzw. vollzogen werden müssen, sofern sie als Sprecher in einem Diskurs fungieren (können) und Gehör fmden (wollen). In Expertenkontexten muss gezielt und systematisch unter Nutzung von Fachvokabular und argumentativen Regeln gesprochen oder geschrieben werden. Es gilt, speziftsche Regeln der Deutungsproduktion - etwa disziplinäre Standards - zu beachten. Öffentliche Diskurse sind demgegenüber stärker an ,allgemeinverständliche' Deutungsund Begründungsweisen, an emotionale Appelle und dergleichen mehr gebunden. Kommunikationsprozesse können in unmittelbarer Anwesenheit von Anderen stattftnden oder medienvennittelt größere Publika einbeziehen. 40' Zweitens existiert eine Fonn der Praktiken, die, obwohl sie direkt auf die Produktion bzw. Reproduktion von Diskursen bezogen ist, selbst nicht-diskursiven Charakter im vorangehenden Sinne hat. Diese nicht-diskursiven Praktiken der Diskurs(re)produktion umfassen symbolisch aufgeladene Handlungsweisen innerhalb eines Diskurses, die seine Geltung durch ihren Vollzug stützen, aktualisieren und reproduzieren. Ein exemplarisches Beispiel dafür ist die Geste des ,sich Bekreuzigens' eines Priesters während des Gottesdienstes. Dazu zählt auch das Tragen speziftscher, eine symbolische Differenz markierender Kleidung z.B. durch Ärzte, die symbolische Dramaturgie von Inszenierungen der Autorität und Zuwendung, nicht-sprachliche Kompetenzdarstellungen USW. 402
(2) Diskursgenerierte Modellpraktiken Eine zweite, davon unterschiedene Fonn der Praktiken wird in Diskursen im Rahmen der inhaltlichen Strukturierung ihrer Gegenstandsbereiche als Modelle für die vom Diskurs adressierten diskursexternen Praxisfelder konstituiert. Ich bezeichne solche Praktiken als diskursgenerierte Modellpraktiken. Diese Muster des Handelns können sich sowohl auf Kommunikationsprozesse wie auf nicht-sprachliche oder nicht-zeichenbezogene Handlungsvollzüge richten. Ein Beispiel für den ersten Fall ist die Beichte als speziftsche religiöse Praxis des kommunikativen Kontaktes zwischen Priestern als Vertretern eines Diskurses und den adressierten Gläubigen. Für den zweiten Fall kann exemplarisch auf die Formen der Müllsortierung verwiesen werden, die in den deutschen Abfalldiskursen der 1980er Jahre konzipiert und dann durch die Vennittlung gesetzlicher Verordnungen impUnterschieden werden muss dabei zwischen Arenen der systematischen Diskursproduklion einerseits, und solchen der Diskursaktualisierung andererseits. Sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte etwa sind Orte der Produktion von Diskursen; das dort konstruierte Wissen mag dann über verschiedene Vermittlungsebenen auch Allerwelts- oder ,Jedermann-Konversationen' erreichen und dort aktual isiert werden. Dies geschieht jedoch nicht systematisch und hat nur geringen Einfluss auf die systematische Diskursproduktion. Dennoch tragen letztlich auch solche Aktualisierungsformen ihrerseits zur Reproduktion von Diskursen bei. 402 Vgl. dazu auch Pfadenhauer (2003). 401
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lementiert wurden. Dabei wird zugleich deutlich, dass die diskursiv generierten Modelle ihren praktischen Vollzug zwar anleiten, aber nicht völlig determinieren. Es bestehen also Freiheitsgrade der tatsächlichen Realisierung solcher Modellpraktiken.
(3) Diskursexterne Praktiken Eine letzte Ebene von Praktiken bilden schließlich die in gesellschaftlichen Praxisbereichen (Handlungsfeldern) alltäglich tradierten und routinisierten Arten und Weisen, etwas zu tun, die zwischen Verharrung und beständiger Veränderung zunächst eine von Diskursen unabhängige Ebene der Handlungsvollzüge bilden und ebenfalls sowohl sprachliche wie nichtsprachliche Handlungsweisen umfassen. Diese Praktiken bezeichne ich als diskursexterne Praktiken. Dazu zählen bspw. die eher heterogenen Praktiken des Gehens, Kochens, Wohnens, Lesens (GiardJMayol 1980; Certeau 1980), des Klatschens (Bergmann 1987) oder der Führung von Tischgesprächen (Keppler 1994), aber auch solche Praktiken wie die von Foucault untersuchten Formen des Überwachens und Strafens (Foucault 1977), die in spezifischen Praxisfeldern konzentriert und tradiert werden, sofern sie sich gleichsam durch Erfahrungsbildung in entsprechenden Handlungskontexten und Berufstraditionen entwickelt haben und nicht Resultat diskursbasierter Modellkonstruktionen sind. 403 Allerdings ist gerade die Unterscheidung zwischen den beiden letztgenannten Formen von Praktiken nicht leicht zu treffen, da Prozesse der Enttraditionalisierung und der Dauerbeobachtung durch Expertensysteme sich heute auf alle gesellschaftlichen Praxisbereiche beziehen. Ein illustratives Beispiel bieten modeme polizeiliche Verhörpraktiken, die zunächst als Ergebnis einer erfahrungsbasierten Tradition des Verhörens verstanden werden könnten. Doch eine historische Analyse zeigt, dass genau das, was heute quasiselbstverständlich praktiziert wird, im 19. Jahrhundert diskursiv als Modell zur Verbesserung der Verhörpraxis eingefuhrt wurde (Niehaus/Schröer 2004). Dennoch ist es hilfreich, zunächst eine diskursunabhängige Ebene der Praktiken anzunehmen und die Beziehungen zwischen Diskursen und dieser Ebene zum Gegenstand der Analyse zu machen. Nur so kann die Eigen-Willigkeit der "Taktiken" (Michel de Certeau) des Alltags im Umgang mit den diskursiven Zumutungen in der Analyse berücksichtigt und ein vorschneller Kurzschluss von Positionen im Diskurs auf Handlungsvollzüge in der Praxis vermieden werden, auch wenn Mischungsverhältnisse oder konjunkturelle Dominanzen des ein oder anderen Typus zu vermuten sind. Erst so fmdet die taktische Kreativität der Akteure des Alltags im Umgang mit Diskursen ihren angemessenen Platz. 404 Tabellarisch lassen sich die verschiedenen Kategorien der Praktiken beispielhaft illustrieren:
Die Etiketteliteratur belegt, dass aueh Rezeptwissen und Handlungsrepertoires der Alltagspraxis wie etwa die Führung von Tisehgespräehen, das Halten eines Glases ete. zum Gegenstand von diskursiver Bearbeitung und Fixierung von Modellpraktiken werden kann (vgl. Handsehuh-HeißlLau 2003). 404 Vgl. dazu weiter unten den Exkurs zur "Ethnographie der Diskurse". 403
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Abbildung 5:
Typen von Praktiken 40s
Praktiken
der Diskurs(re)produktion
sprachlich bzw. zeichenförmig
z.B. Schreiben, Predigen, Vortragen, Bildergeschichten
nichtzeichenf6rmig
z.B. symbolische Gesten (Segnung); das Tragen spezifischer Kleidung; demonstrieren
4.3.4.3
diskursgenerierte Modelle z.B. Ärztliche Diagnose, Beratungsgespräche
diskursextern tradiert
kommunikative Gattungen des Alltags (Klatschen; Begrüßen etc.) z.B. Müllsortieren z.B. Gehen, Kochen, im Haushalt; spezi- eingeübte alltagsprakfische Hygieneprak- tische oder professiotiken nelle Routinen (z.B. tradierte Arbeitsweisen)
Dispositive
Diskurse antworten auf (mehr oder weniger) selbst konstituierte Deutungs- und Handlungsprobleme. Im Rahmen ihres eigenen Prozessierens oder angeregt durch diskursexterne Anlässe erzeugen sie ,Definitionen der Situation' und verknüpfen damit Handlungskonzepte. Die sozialen Akteure, die einen Diskurs tragen, schaffen eine entsprechende Infrastruktur der Diskursproduktion und Problembearbeitung, die mit dem Begriff des Dispositivs bezeichnet werden kann. Dispositive sind die tatsächlichen Mittel der Machtwirkungen eines Diskurses. Dispositive vermitteln als ,Instanzen' der Diskurse zwischen Diskursen und Praxisfeldern (Praktiken). Ein Dispositiv ist der institutionelle Unterbau, das Gesamt der materiellen, handlungspraktischen, personellen, kognitiven und normativen Infrastruktur der Produktion eines Diskurses und der Umsetzung seiner angebotenen ,Problemlösung' in einem spezifischen Praxisfeld. Dazu zählen bspw. die rechtliche Fixierung von Zuständigkeiten, formalisierte Vorgehensweisen, spezifische (etwa sakrale) Objekte, Technologien, Sanktionsinstanzen, Ausbildungsgänge u.a. Diese Maßnahmenkomplexe sind einerseits Grundlagen und Bestandteile der (Re-) Produktion eines Diskurses, andererseits die Mittel und Wege, durch die ein Diskurs in der Welt interveniert. Beispielsweise ist das Duale System der Mülltrennung Teil des Dispositivs eines spezifischen Abfalldiskurses (Keller 1998). Bezogen auf die Umsetzung der im Diskurs generierten Model/praktiken gehören dazu die Werbebroschüren, die statistische und prozessbezogene Logistik der Beschreibung und Erfassung des Mülls, die Sammelbehälter, Anweisungen zur Mülltrennung oder Verträge mit den Kommunen. Dazu zählen sowohl die entsprechenden juristischen Verordnungen, die MitarbeiterInnen des DSD, die zahllosen Grünen Punkte, letztlich auch die Praktiken der Mülltrennung und -säuberung, denen sich die Menschen unterwerfen. Mit Bezug auf die Ebene der Diskurs(re)produktion wären die diskursiven Interventionen der verschiedenen Vorstands-, Sprecher- und Pressegremien
Ich spreche hier von nicht-zeichenförrnigen Praktiken, sofern keine Verwendung ausgebildeter Zeichensysteme vorliegt. Damit ist nicht bestritten, dass solche Praktiken Signifikationen vornehmen oder anbieten, also Bedeutungen transportieren.
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sowie der ForschungsstelIen zu nennen, die mit ihren StelIungnahmen, Broschüren usw. eine bestimmte Konstruktion des AbfalIproblems verbreiten und legitimieren. Wissenssoziologische Diskursanalyse ist also nicht nur Kontextanalyse, Kommunikations-, Text- oder Bildforschung; sie ist gleichzeitig Fallstudie, Beobachtung, sogar ethnographische Verdichtung, die den Zusammenhang von Aussageereignissen, Praktiken, Akteuren, organisatorischen Arrangements und Objekten als mehr oder weniger weit historisch und sozial-räumlich ausgreifende Prozesse in den Blick nimmt - zumindest könnte sie dies sein. Die Bestandteile eines Dispositivs sind, wie das Beispiel zeigt, sehr heterogen und gehören unterschiedlichen institutionelIen Kontexten an. Dispositive sind Mittel und Versuche der Diskurse, Wirkungen außerhalb ihrer selbst zu erzeugen, die Welt und Wirklichkeit nach ihrem Bilde zu gestalten. Ein von Foucault untersuchtes Beispiel ist das klinische Setting eines Krankenhauses (Foucault 1972). Die Kleidung des Personals, die medizinischen Instrumente, die Praktiken ihrer Handhabung u.a. haben ihren Ursprung im Zusammentreffen zwischen spezifischen Diskursen, dem dort kanonisierten Wissen, der entworfenen Modellpraxis und den bestehenden gesellschaftlichen Praxisfeldern der Krankenbehandlung. Dispositive werden von sozialen Akteuren in dem Maße geschaffen, wie sie einen Diskurs institutionalisieren. Es handelt sich dabei um Ordnungen der Praxis bzw. entsprechende Ordnungsprozesse und -bemühungen, deren tatsächliche Reichweite vermutlich selten dem diskursiv projektierten ModelI entspricht und die alIe mehr oder weniger transitorischer Natur sind (vgl. Kendall/Wickham 2001; Law 1994). Wenn solche Dispositive aus einer diskursorientierten Perspektive als Ordnungen der Praxis untersucht werden - wie dies Michel Foucault selbst am Beispiel von "Überwachen und Strafen", der Beichtpraktiken u.a. getan hat (Foucault 1977, 1989a) - dann wird damit nicht eine ,eins zu eins' sich volIziehende Determination eines Praxisfeldes durch einen Diskurs behauptet. Das wäre sicherlich in mehrerlei Hinsicht naiv, weil dabei die taktische Kreativität sozialer Akteure sowie die Konkurrenz, Heterogenität und Inkonsistenz des Zugriffs unzähliger DiskurselDispositive auf Praxis unterschätzt würde. Allerdings geht es darum, das Verhältnis einer konkret beobachteten, mehr oder weniger geordneten Praxis zu den alIgemeinen ModelIen dieser Praxis zu bestimmen, die ihre Herkunft in einem oder mehreren darauf bezogenen Diskursen haben (können). Die situative Realisierung der Ordnung von Praktiken innerhalb eines Praxisfeldes kann dann als kreative, selektive und taktische Aneignung bzw. Ablehnung von solchen diskursiv prozessierten Mustern verstanden werden. Exemplarisch für eine entsprechende Vorgehensweise steht die von Angelika Poferl (2004) vorgelegte Studie über die "ökologische Frage als Handlungsproblem" auf der Ebene des privaten AlItags. Sie fragt zunächst nach den diskursiven Konstruktionen von ,umweltgerechtem Handeln' und den damit entworfenen Handlungserwartungen bzw. Subjektpositionen, um dann die typisierbare Heterogenität der Auseinandersetzung mit den diskursiven Zumutungen durch soziale Akteure in ihrer alItäglichen Handlungspraxis zu rekonstruieren. Dabei wird deutlich, dass die betreffenden Diskurse die Ordnungen der Praxis keineswegs determinieren, dass sie aber dennoch genau die Handlungsprobleme mitkonstituieren, zu denen sich die betroffenen Akteure positionieren müssen. Die in Gestalt von Dispositiven entworfene Relationierung von Diskursen und außerdiskursiven Praxisfeldern kann also nicht als einseitiger Formierungsprozess gefasst werden; ihre konkrete Gestalt ist eine empirische Frage. Ich gehe davon aus, dass im Gegensatz zur ursprünglichen sozialkonstruktivistischen Ausgangsposition in den GegenwartsgeselIschaften große Teile des AlIgemein-
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bzw. Alltagswissens in zunehmendem Maße in Diskursen erzeugt und über entsprechende Dispositive - im hier verstandenen Sinne - vermittelt werden. Erst im Anschluss an die Untersuchung der diskursiven Konstruktion und Vermittlung von Wissensbeständen lassen sich dann Fragen nach dem Zusammenhang von subjektiver Rezeption bzw. Aneignung und gesellschaftlichen Wissensvorräten angemessen stellen. 406 Die Bearbeitung entsprechender Fragestellungen kann in Gestalt einer Ethnographie der Diskurse erfolgen, deren Grundzüge ich im nachfolgenden Exkurs kurz erläutere. Exkurs: Möglichkeiten einer Ethnographie der Diskurse Foucault hatte sich in seinen Analysen der Genealogie von Macht-Wissenskomplexen nicht nur mit wissenschaftlichen Disziplinen beschäftigt. In "Überwachen und Strafen" (Foucault 1977) bspw. werden Analysen der Diskurse - und das meint bei Foucault dann neben den theoretischen Feldern (etwa des Strafrechts) auch die Gefängnisordnungen und andere anonyme Gebrauchstexte gesellschaftlicher Praxis - neben Interpretationen der tradierten Praktiken des Überwachens und Strafens gestellt, die ihm durch ihre Beschreibung in Dokumenten zugänglich sind. Diese Praktiken werden als eigenständige Ebene gesellschaftlicher Prozesse betrachtet. Berühmt ist in dieser Hinsicht sicherlich die Eröffnungssequenz, die in vielen Details die Hinrichtung eines Vatermörders durch Vierteilung am 2. März 1757 beschreibt. In anderer Akzentsetzung betonen auch Laclau und Mouffe in ihrer Diskurstheorie die Praktiken der Artikulation in Diskursen. Die Hinweise auf unterschiedliche Arten von Praktiken, die erwähnten Dispositive und die eigen-willigen Rezeptionsweisen sozialer Akteureein Grundgedanke der Hermeneutischen Wissenssoziologie oder der Rezeptionsästhetik, der auch in den Rezeptionstheorien der Cultural Studies u.a. entfaltet wird - fUhren mich zu dem Bereich, den ich als Ansatzpunkt einer Ethnographie der Diskurse bezeichnen möchte, und der vielleicht nicht nur der Diskursforschung, sondern auch der Ethnographie Perspektiven eröffnet. Unter Ethnographie verstehe ich mit Knoblauch (2001 b: 131) einen Ansatz, der sich "durch die Einnahme einer Binnenperspektive, die Untersuchung eines naturalistischen Feldes sozialer Praxis und durch den Einsatz der teilnehmenden Beobachtung auszeichnet, die in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen mit anderen Methoden zum Einsatz kommen." Es lässt sich natürlich leicht behaupten, dass "in einer globalen Ökonomie von Zeichen und Räumen (...) die Ethnographie die Verbindung zwischen Ereignissen, Praktiken und Diskursen berücksichtigen (muss)." (Winter 2001a: 55 im Anschluss an Clifford 1992). Aber was kann das bedeuten? Eine stärkere Zuwendung zur Analyse von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken sowie zur materialen Gestalt von Dispositiven kann, so lautet mein Vorschlag, durch die Ausarbeitung eines Ansatzes der Diskursethnographie geleistet werden, der über die gängige Ethnographie der Kommunikation hinausgeht. 407 Für die Zwecke der Diskursforschung lassen sich Strategien einer "fokussierten Ethnographie" adaptieren: Die Fokussierung reflektiere, so Knoblauch, "eine gesellschaftliche Entwicklung, deren Einheiten in diesem Falle nicht - wie im Paradigma der Ethnologie - Lebensgemeinschaften sind, sondern Handlungs- und Kommunikationszusammenhänge." Sie stellt Fragen nach der "situativen, milieuhaften oder institutionellen Typik" von Handlungstypen, Formen der Problembearbeitung oder Interaktionsmustern." (Knoblauch 2001b: 137) Die Ethnographie gewinnt in dem Maße fUr die Diskursforschung an Bedeutung, wie letztere sich fUr die Praxis der Diskursproduktion, der Dispositive und der Diskursrezeption zu interessieren beginnt. Es ist deswegen vielleicht nicht ganz zufällig, dass Knoblauch in seinem zitierten Beitrag über eine fokussierte Ethnographie Ein wichtiges Beispiel für die Analyse solcher Prozesse bilden die Untersuchungen lokaler Wissenserzeugung in der Arzt-Patient-Interaktion von Aaron Cicourel (1985, 1986). 407 Vgl. Saville-Troike (2003), Cameron (2001: 53ft), Keller (2003b), Knoblauch (200Ib: 131), Lüders (2000), Hirschauer/Amann (1997). 406
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gerade solche Untersuchungen (wie die Laborforschungen der in Kapitel 2.2.3 erläuterten Social Studies of Science) erwähnt, die Affinitäten zu einer erweiterten empirischen Diskursforschung im Sinne der Wissenssoziologischen Diskursanalyse aufweisen. Ich unterscheide vier Ansatzpunkte einer ethnographisch fokussierten Zugangsweise zu Diskursen: (l) Die Detailanalyse der diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken der Diskursproduktion, (2) die Detailanalyse der Einrichtung und Nutzung von Dispositiven, (3) die Detailanalyse der RezeptionJAneignung/Auseinandersetzung mit Diskursen in gesellschaftlichen Praxisfeldern und (4) das Verhältnis von Diskursen und Alltagswissen. Ein potenzieller Ort der Zusammenarbeit zwischen Ethnographie und Diskursforschung ist bspw. die Untersuchung von Praxisorten der Diskursproduktion und -reproduktion, etwa wissenschaftlichen oder politischen Settings. Diskurse werden in konkreten Kommunikationssituationen erzeugt, die ethnographisch erschlossen werden können. Dazu wäre der analytische und interpretative Fokus einer solchen Ethnographie eben auf die Produktion eines Diskurses auszurichten. Weitere Ansatzpunkte lassen sich an dieser Stelle als Ethnographie des Verhältnisses von Situationen, Alltagswissen, Praxisfeldern und Diskursen zusammenfassen. Der Kulturanthropologe James Clifford (1992) und einige andere Autoren aus dem Kontext der Cultural Studies weisen seit einiger Zeit gegen die Idyllen ,unberührter' Ursprünglichkeit und die ethnologisch-ethnographische Unterstellung der Abgeschlossenheit lokaler Kulturen auf die Bedeutung u.a. von Diskursen für das Verständnis ethnographischer Gegenstandsbereiche hin. Ihr Argument fordert einen radikal anderen Blick auf das Lokale als Ort der Überkreuzung, Vermischung, des Patchworks aus Strömen von Menschen, Erfahrungen, Dingen und historischen sowie zeitgenössischen Diskursen. Überträgt man diese Haltung auf Anwendungen fokussierter Ethnographie in modemen Gesellschaften, dann bedeutet sie eine zusätzliche Aufmerksamkeit für das, was von außen in die untersuchten Zusammenhänge (Felder) hineinwirkt. So schlägt bspw. Miller (1994, 1997) einen Brückenschlag zwischen Ethnographie, Konversationsanalyse und der Diskursanalyse im Anschluss an Foucault vor. Der geforderten Ethnographie institutioneller Diskurse gehe es darum, wie die konkrete Praxis der Wirklichkeitskonstruktion auf transsituatives Wissen zurückgreift bzw. eine solche Wirklichkeit mit aufbaut, welcher Ressourcen sich Individuen dabei bedienen u.a. Gesa Lindemann (2002, 2003) kontrastiert in ihrer kürzlich vorgelegten, ethnographisch informierten Untersuchung des medizinischen Settings der Hirntoddiagnostik, bei der es um Grenzziehungen zwischen Sozialem und Nicht-Sozialen geht, den medizinischen und medizin-ethischen Diskurs mit der Praxis der Diagnostik auf der Intensivstation. 1m angelsächsischen Kontext werden schon seit längerer Zeit ethnographische Fragestellungen mit an Foucault angelehnten diskurstheoretischen Perspektiven verknüpft. Miller hat Langzeitstudien in organisatorischen Settings der Familientherapie durchgeführt und kann zeigen, wie innerhalb von zwölf Jahren Diskurse und Praktiken der Familientherapie sich begrifflich und konzeptionell verändern (vgl. Miller 1997; auch Leuenberger 2002). Prior (1989) untersuchte die soziale Organisation des Todes in Belfast anhand von öffentlich-institutionellen und lebensweltlichen Diskursen und Praktiken. Conley/O'Barr (1990) führten eine exemplarische Diskursethnographie über Abläufe der lokalen Rechtsprechung durch. 40B Mit der vorgeschlagenen Konzeption einer Diskursethnographie geht es summa summarum um die detaillierte Analyse von Prozessen der Diskursproduktion einerseits, um das Verhältnis zwischen Diskursen, Praxisfeldern und Alltagswissen andererseits. In diesem Sinne könnte die Ethnographie eine wichtige korrigierende Position gegenüber der Diskursforschung dahin gehend einnehmen, dass sie letztere vor ,idealistischen' Fehlschlüssen, also vor dem unmittelbaren Kurzschluss von Diskurs und Praxis bewahrt. Erst der Kontakt mit dem Feld und die Arbeit im Feld kann zeigen, dass selbst in totalen Institutionen, in Organisationen, institutionellen Feldern und im ,privaten Alltag' gegenüber Diskursen vielfältige Möglichkeiten und Techniken der Positionierung, der Rezeption, der Modifikation, des subversiven Unterlaufens, der inneren Distanzwahrung u.a. existieren können, die freilich 408 Weitere Möglichkeiten der Diskursethnographie werden deutlich in den Untersuchungen von Silverrnann (1987), Manning (1988) und Cicourel (1986).
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gerade ihre konkreten Möglichkeiten und Spezifika erst in Auseinandersetzung mit ersteren ausbilden. Exkurs Ende
4.4 Fragestellungen Das skizzierte konzeptuelle Gerüst erlaubt der Wissenssoziologischen Diskursanalyse die Bearbeitung einer Vielzahl möglicher Fragestellungen in der empirischen Forschung. Diese richten sich auf die Rekonstruktion und Erklärung von Diskursentwicklungen einschließlich der gesellschaftlichen Diskurseffekte. Diskurse lassen sich z.B. daraufhin untersuchen, wie sie entstanden sind, welche Aushandlungsprozesse in der Konstruktion des Diskurses stattfinden, welche Veränderungen sie im Laufe der Zeit erfahren, wer ihre Protagonisten und Adressaten sind u.a. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse bezeichnet damit ein genuin sozialwissenschaftliches und wissenssoziologisches Forschungsprogramm. Sie kann sehr unterschiedliche Aspekte fokussieren, die von mikroskopischen Einzelfallanalysen der Diskursproduktion bis zu historisch weit ausholenden Zusammenhangsanalysen reichen, und muss entsprechend eine forschungspragmatische Auswahl treffen. Der anschließende Überblick stellt die wichtigsten Fragemöglichkeiten zusammen.
Überblick: Fragestellungen wissenssoziologischer Diskursforschung: • • • • • • • • • • • • • • • •
Wie ist ein spezifischer Diskurs entstanden, wann taucht er auf oder verschwindet wieder? Wie, wo, mit welchen Praktiken und Ressourcen wird ein Diskurs (re-)produziert? Welche sprachlichen und symbolischen Mittel und Strategien werden eingesetzt? Welche manifesten und/oder latenten typisierbaren Inhalte kognitiver, moralisch-normativer und ästhetischer Art werden vermittelt? Welches Wissen (Deutungen und Problem lösungen) wird also erzeugt und verbreitet? Welche Phänomenbereiche werden dadurch wie konstituiert? Welche Formationen der Gegenstände, der Äußerungsmodalitäten, der Begriffe, der Strategien enthält ein Diskurs? Was sind seine Formationsregeln, Strukturierungsprozesse und -modalitäten? Wie ist er intern strukturiert und reguliert? Welche Aushandlungsprozesse finden in der Konstruktion eines Diskurses statt? Was sind die entscheidenden Ereignisse im Verlauf eines Diskurses und wie verändert er sich mit der Zeit? Wie schlägt sich ein Diskurs in Dispositiven nieder? Auf welcher Infrastruktur baut er auf? Welche Akteure (Protagonisten) besetzen mit welchen Ressourcen, Interessen, Strategien die Sprecherpositionen? Wer ist Träger, Adressat, Publikum des Diskurses? Welche Aneignungsweisen lassen sich nachzeichnen? Welche Bezüge enthält der Diskurs zu anderen, historisch vorangehenden oder parallelen, konkurrierenden Diskursen? Wie lässt sich ein Diskurs auf raum-zeitlich mehr oder weniger weit ausgreifende soziale Kontexte beziehen? Welche gesellschaftlichen Folgen und Machwirkungen (Effekte) gehen von einem Diskurs aus, und wie verhalten sich diese zu gesellschaftlichen Praxisfeldem und ,Alltagsrepräsentationen'?
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Was sind also die rekonstruierten Merkmale eines Diskurses bzw. eines diskursiven Feldes, die Formationsregeln, Diskursstrategien usw.? In welchem Verhältnis stehen Diskurse zu anderen zeitgenössischen oder historischen Diskursen? Können typische diskursive Formationen unterschieden werden? Was sind die Kriterien? Was ist die gesellschaftliche Bedeutung dieser Unterschiede? Welche historisch synchronen und diachronen Gruppierungen und Differenzierungen von bzw. zwischen Diskursen sind möglich? Wie verhalten sich soziohistorischer Kontext, diskursive Felder, Diskurse, Praktiken und Dispositive zueinander? Welche Erklärungen für die rekonstruierten Strukturierungsprozesse von und durch Diskurse(n) können formuliert werden? Wie sind ihr Entstehen, ihre Verläufe und Wirkungen zustande gekommen? In welchem Verhältnis stehen die Ergebnisse zu anderen Perspektiven und Aussagen über denselben oder ähnliche Untersuchungsgegenstände? Werden jene dadurch widerlegt, ergänzt, bestätigt? Welche gesellschaftlichen Phänomene werden dadurch erklärt? Welche Größen spielen dabei eine Rolle? Welche Beziehungen bestehen zwischen diesen Erklärungen und anderen sozialwissenschaftlichen Herangehensweisen?
Nachfolgend werden die wichtigsten Untersuchungsfragen kurz und in gebündelter Form erläutert. Es geht um Fragen der Diskursproduktion, der Rolle von Akteuren, der Konstitution von Phänomenen, um die Effekte von Diskursen, ihr Verhältnis zu unterschiedlichen Praxisfeldern und Alltagsrepräsentationen sowie den Vergleich von Diskurstypen. Dabei ist vorausgesetzt, dass vorab ein oder mehrere Diskurse bzw. ein diskursives Feld, ein Kontlikt-, Ereignis- oder Gegenstandsbereich bestimmt wurde(n), dem (denen) das Forschungsinteresse gilt.
4.4.1
Wie werden Diskurse erzeugt?
Diskursanalysen interessieren sich dafur, an welchen institutionellen Orten und damit korrespondierenden Regeln, durch welche (kollektiven) Akteure oder Ereignisse Diskurse verbreitet werden. Dabei geht es nicht um die Suche nach einer ,ersten Quelle', aber doch um die rur die jeweilige Fragestellung erforderliche Konturierung der raum-zeitlichen Situierung, Verbreitung und Verläufe eines Diskurses. Die Frage nach der Erzeugung von Diskursen richtet sich auf die diskursiv-institutionelle Regulierung und Besetzung von Sprecherpositionen durch soziale Akteure. Bspw. befahigt der Abschluss spezifischer formaler Qualifikationsstufen erst zur Teilnahme an wissenschaftlichen Diskursen; in öffentlichen Diskursen kann ein erzielter Prominentenstatus oder Verbandssprecherposten ähnliche Funktionen errullen. Solche Sprecherpositionen werden dann von unterschiedlichen sozialen Akteuren (Rollenträgem) eingenommen. Auch wenn ein Diskurs in verstreuten Aussageereignissen in Erscheinung tritt - etwa ein umweltpolitischer Diskurs im Rahmen lokaler Abendveranstaltungen an verschiedenen Orten der Bundesrepublik - so lassen sich doch diskursinterne Strukturierungen und Hierarchiebildungen feststellen, z.B. im Sinne der Prominenz oder des öffentlichen Ansehens bestimmter und bestimmbarer Akteure
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(Schwab-Trapp 2001, 2003). Machtressourcen wie Geld, Wissen, symbolisches, ökonomisches, soziales oder kulturelles Kapital spielen eine wichtige Rolle, um die Verbreitung von Diskursen, das Zusammenspiel der daran beteiligten Akteure und ihre Außenwirkungen zu verstehen. Solche Ressourcen haben nicht notwendig (nur) diskursinternen Ursprung; sie konstituieren sich im Zusammenspiel von Diskursen, Sprechern und Publikum. Symbolisches Kapital bspw. kann sicherlich in strategischer Absicht aufgebaut werden; ob dies funktioniert, hängt jedoch auch von den Adressaten, dem Publikum, den allgemeinen "Kapitalverteilungen" (Pierre Bourdieu) in einem Diskursfeld ab. Die Frage, wie viele unterschiedliche Diskurse in einem Diskursfeld um die Phänomenkonstitution ringen, muss empirisch und theoretisch geklärt werden: Je tiefer die Analyse in einen spezifischen Diskurs eindringt, desto größer ist wahrscheinlich die Zahl unterscheidbarer Subdiskurse. Ausschlaggebend ist hier die vor dem Hintergrund der Fragestellung theoretisch zu bestimmende Abstraktionsebene rur die jeweilige ,Einheit' eines Diskurses. Dies kann das institutionell-organisatorische Setting sein: Von Diskursen lässt sich, wie bei Foucault, vergleichsweise leicht anhand wissenschaftlicher Disziplinen oder spezifischer religiöser Bekenntnisse sprechen. Dort sind Sprecherpositionen klar bestimmt (etwa durch Ausbildung, Qualifikationskriterien, Glaubensbekenntnisse). Öffentliche Diskurse haben demgegenüber eine diffusere Sprecherstruktur und andere Regeln der Formulierung legitimer Inhalte, die den Funktionslogiken der Massenmedien folgen: Es mögen Journalisten, Politiker, Bewegungsaktivisten, Wissenschaftler, Unternehmer, Popstars u.a. sein, die durch ihr symbolisches Kapital oder ihre institutionelle Position legitimiert bzw. anerkannt sind, Beiträge dazu liefern. Deswegen gewinnt hier die thematische Referenz eines Diskurses stärkere Bedeutung. Letztlich geht es aber bei der Bestimmung jedes Diskurses um eine Analyse von situierten Aussagepraktiken mit thematischen Referenzen. Öffentliche Protestdiskurse bspw. im Bereich der Umweltpolitik lassen sich in ihrer themenspezifischen Karriere zurückverfolgen bis zur ersten massenmedialen Berichterstattung. Auch die Entwicklung wissenschaftlicher, medizinischer oder therapeutischer Diskurse ist rekonstruierbar. Die Fragen nach dem wer, wie, wann und wo sind rur ein Verständnis der Formationsregeln, ihrer Veränderungen und Effekte, ihrer Struktur usw. von Bedeutung. So zeigt die Analyse öffentlicher Diskurse über das Hausmüllproblem in der Bundesrepublik Deutschland, dass dieses schon vor dem Entstehen der Umweltbewegung ein kontrovers diskutiertes Thema in den Massenmedien war, an dem sich unterschiedliche Akteure - Bundesministerien, Wirtschaftsverbände, Behörden, Kommunen usw. - beteiligten (Keller 1998). Diskurse verbreiten sich - werden verbreitet!409 - in mehr oder weniger regulierten und anonymisierten Kommunikationsprozessen, unter Zuhilfenahme unterschiedlichster Ressourcen: über Diskussionsveranstaltungen, Massenmedien (Filme, Reportagen, Nachrichten, Feuilletons, Talkshows, Internet u.a.), Ratgeberliteratur, Gesetzestexte und sonstige Regelwerke, über Fachbücher und Belletristik oder professionell-therapeutisches Handeln, über politische Aushandlungsprozesse, Demonstrationen sozialer Bewegungen und wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Bei der Untersuchung öffentlicher Diskurse stehen meist die Berichterstattung in den Massenmedien, parlamentarische Veranstaltungen sowie Wenn davon gesprochen wird, eine Diskurs ,tue' dies oder das, so ist dies immer ein Kürzel fur den Zusammenhang von Struktur, Akteuren und Praxis im Sinne der zugrunde liegenden Dualität von Struktur, oder, anders formuliert, für die Wechselbeziehung zwischen der objektivierten Wirklichkeit und den Artikulationspraktiken der Akteure.
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die darauf bezogenen Aktivitäten engagierter Akteure im Vordergrund. Max Weber (1978) analysierte in seiner "Protestantischen Ethik", die als Diskursanalyse gelesen werden kann, religiöse Ratgeberliteratur für Rezepte methodischer Lebensführung. Wissenschaftliche Spezialdiskurse zirkulieren in entsprechenden Fachmagazinen, -publikationen und tagungen. Die wissenssoziologische Diskursforschung kann über die interview- und textbasierte Analyse von Aussageereignissen und deren Kontexten hinaus in einer vertiefenden Diskursethnographie einzelne Diskursereignisse einer detaillierten Rekonstruktion unterziehen.
4.4.2 Wie werden Phänomene konstituiert? Diskurse produzieren und prozessieren Deutungszusammenhänge, die Wirklichkeit in spezifischer Weise konstituieren. Dies hat Folgen für die Diskursforschung, insbesondere fur die Datenerhebung: Wenn Gegenstände durch Diskurse erst in ihrer spezifischen, erkennbaren Gestalt geschaffen werden, kann nicht einfach vom Gegenstand ausgehend ein Diskurs erschlossen werden. Ein ähnliches Problem besteht bei der Rede von "Themen" als Identifikationsmarker und Kriterium fur die Einheit eines Diskurses (Knoblauch 200la), da Themen diskursspezifisch sehr unterschiedlich behandelt werden können. Die Identifikation der Daten fur eine Diskursanalyse ist deswegen ein eher offener Suchprozess in verschiedene Richtungen, der sich immer nur vorläufig an Themen, Referenzphänomenen, Schlüsselbegriffen usw. orientieren kann. Denn ein wesentliches Ziel der Diskursforschung ist ja gerade die Beantwortung der Frage, welche(s) Wissen, Gegenstände, Zusammenhänge, Eigenschaften, Subjektpositionen usw. durch Diskurse als ,wirklich' behauptet werden, mit welchen Mitteln - etwa Deutungsschemata, Klassifikationen, Phänomenstrukturen, story lines, moralische und ästhetische Wertungen - dies geschieht, und welche unterschiedlichen Formationsregeln und -ressourcen diesen Prozessen zugrunde liegen. Die sprachpraktische Wirklichkeitskonstruktion in Diskursen funktioniert über Differenzbildungen und Bedeutungs- bzw. Sinnverkettungen. Mit anderen Worten: sie enthält immer auch im- oder explizite Ausschließungen anderer Deutungsmöglichkeiten, Abwertungen konkurrierender Positionen, Positionierungen von Handlungsträgern, Bezüge zu weiteren unterstützenden Konzepten usw. Diskursproduzenten sind bemüht, Lesarten eines Diskurses anzuleiten und liefern dazu appellierende, kommentierende oder bilanzierende Texte. Diskurse verbreiten Positionierungsvorschläge für soziale Handlungsträger und bieten Subjektpositionen fur potenzielle Adressaten bzw. Publika an. So zeigt Waldschmidt (1996), wie der humangenetische Beratungsdiskurs der Experten seine Klientel als Subjekte mit spezifischen Qualitäten und Bedürfnissen defmiert, auf die seine Angebote passgenau zugeschnitten sind. In der Diskurstheorie und -forschung haben insbesondere Ernesto Laclau und Chantal Mouffe sowie daran anschließende Arbeiten den Blick auf solche Identitätsmarkierungen in Gestalt von Differenzbildungen - z.B. nach dem Muster eines positivierten, die Adressaten einbeziehenden ,Wir' gegenüber negativierten ,Anderen' - in politischen Diskursen gerichtet (vgl. Kapitel 3.3.2). Die Frage nach den Deutungsstrukturen, die in einem Diskurs aufgebaut und im zeitlichen Verlauf stabilisiert oder modifiziert werden, fuhrt auch zur Analyse der eingesetzten sprachlich-rhetorischen Mittel im Hinblick auf Strategien und Mechanismen der Resonanzerzeugung in einem soziokulturellen Kontext: Wie werden Emotionen geweckt? Welche
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Vergleiche werden gezogen, um zu überzeugen? Arbeitet ein Diskurs mit Fachsprache, verfremdenden Mitteln der Abstraktion, mit Polemisierungen? Und inwieweit handelt es sich dabei um Besonderheiten eines spezifischen Diskurses? So bedürfen Fachdiskurse in der Regel der Übersetzung in andere Sprachspiele und narrative Formen, wenn sie öffentliche Aufmerksamkeit finden und gesellschaftliche Wirkung entfalten sollen. Bspw. hat in der öffentlichen Auseinandersetzung über Klirnaveränderungen der Gebrauch der Treibhaus-Metapher die breite Rezeption eines spezifischen Klimadiskurses beschleunigt (Viehöver 2003a).
4.4.3
Was sind die Machtwirkungen der Diskurse?
Diskurse existieren als tatsächlicher Sprachgebrauch in historisch-institutionell situierten Aussageereignissen und in der materialen Gestalt von Dispositiven. Die "machtwirkungen" (Jürgen Link) eines Diskurses erscheinen in seiner ,innerweltlichen Objektivierung' bspw. in Gestalt materialer Objekte (Gebäude, Technologien etc.), Praktiken (z.B. des Strafvollzugs, der Müllbehandlung) und Texte (Gesetzesbeschlüsse, formalisierte Handlungsanleitungen u.a.). Dispositive beziehen sich einerseits reflexiv auf die Diskursproduktion selbst oder greifen andererseits unter spezifizierbaren Bedingungen in die Praxisfelder ein, die ein Diskurs zu seinem Gegenstand erklärt. Gerade Foucault hat immer wieder auf die Trennung und das Zusammenspiel von Diskursen und Praktiken aufmerksam gemacht, angefangen bei entsprechenden Gesetzestexten über die Einrichtung von institutionellen Bearbeitungsroutinen bis hin zur architektonischen Gesamtheit eines Gebäudes, z.B. eines Gefangniskomplexes. Gleichzeitig betont er die Möglichkeit und das Vorkommen relativ unabhängiger und je eigendynamischer Entwicklungen von Diskurs und Praxis. 4lO Zunächst sind daher die Ebenen der Entwicklung von Praktiken und Diskursen getrennt zu behandeln. Es ist zum einen eine Frage der theoretischen und empirischen Anstrengung (und Fantasie), ob und wie rekonstruiert werden kann, dass Diskurse dann entsprechende Zusammenhänge herstellen bzw. organisieren. Zum anderen muss Diskursanalyse auch mit der Möglichkeit rechnen, dass Diskurse keine bzw. nur minimale Machtwirkungen über ihre eigene (Re)Produktion hinaus entfalten. Was jeweils die diskursinternen oder externen bzw. gesellschaftlichen Ursachen für unterschiedliche Wirkungsweisen sind, ob eine Typik solcher Prozesse beobachtet werden kann - dies alles sind Fragen, die erst im Vergleich unterschiedlicher diskursiver Formationen und Praxisfelder diskutiert werden können (vgl. 4.4.5).
4.4.4 Diskurse und Alltagswissen Eine weitere mögliche Akzentuierung der Fragestellungen einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse richtet sich auf die Prozesse der Rezeption und Auseinandersetzung mit den diskursiven Deutungsangeboten in praktischen Handlungskontexten, alltäglich-IebensVgl. Foucault (1973; 1974a,b) mit Blick auf Diskurse, Foucault (1977; 1989a,b,c) mit stärkerer Betonung von Praktiken. Inga Truschkat (2007) hat im Rückgriff auf die Wissenssoziologische Diskursanalyse eine Analyse des "Kompetenzdiskurses" und seiner Bedeutung für Bewerbungsgespräche vorgelegt. 410
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weltlichen Kommunikationsprozessen und auf der Ebene des Alltags- oder JedermannWissens. 411 So fmden sich in innerfamiliären Aushandlungen einer gerechten Teilung der Hausarbeit Argumente feministischer Gleichheitsdiskurse. Auseinandersetzungen über die ,richtige' Erziehung der Kinder enthalten Versatzstücke aus naturwissenschaftlichen und pädagogischen Diskursen, die über unterschiedliche Verbreitungskanäle in den Massenmedien zirkulieren. Stammtischgespräche karikieren neoliberale ökonomische Diskurse usw. Diskursorientierte Perspektiven können den Blick mithin darauf richten, wie Alltagswissen, Alltagsrepräsentationen oder "subjektive Sinnwelten" einschließlich der entsprechenden Praktiken durch Prozesse diskursiver Wissenserzeugung und Vermittlung mitgeformt werden. Diese Mit-Formung betrifft nicht nur die ,kognitive Ebene', sondern reicht bis in mehr oder weniger bewusste Routinen, Körperpraxen und intime Körpererfahrungen hinein, wie bspw. Jackson/Scott (2007) im Hinblick auf den weiblichen (und männlichen) Orgasmus argumentieren. Die Subjekte des Alltags sind in ihrer Lebenspraxis keine Marionetten diskursiv geformter Denk- und Handlungsanleitungen. Sie agieren vielmehr als mehr oder weniger kreativ-interpretierende "Sinnbastler" (Ronald HitzIer) im gesellschaftlichen Kontext unterschiedlichster diskursiver Felder und Auseinandersetzungen. 412 Allerdings setzt die Verfolgung solcher Fragestellungen, will sie nicht vorschnell Stereotypen (re-) produzieren, die Kenntnis und Analyse entsprechender Diskurse und eine genaue Untersuchung der jeweiligen Alltagsphänomene voraus. 413
4.4.5
Typen diskursiver Formationen
Als letzte Möglichkeit diskursbezogener Fragestellungen möchte ich abschließend auf den systematischen Vergleich diskursiver Formationen hinweisen (vgl. Kapitel 4.2.5). Ein solcher Vergleich kann sich auf historisch diachrone Abfolgen von Diskursregimen beziehen oder gleichzeitig bestehende Diskursformationen in einem binnenstaatlichen, trans- oder internationalen Bezugsrahmen untersuchen. Er setzt zunächst voraus, dass sich über einzelne Diskurse und Diskursfelder hinaus Typen von Diskursen konstruieren lassen. Kriterien einer solchen Typenbildung liefern die unterschiedlichen Formationsregeln von Diskursen, die der Unterscheidung von wissenschaftlichen, religiösen, ökonomischen, politischen Diskursen etc. zugrunde liegen. Mögliche Gruppierungen lassen sich auch entlang der Zusammensetzung von Diskurskoalitionen oder der institutionellen Settings vornehmen. Auf der Grundlage solcher Typenbildungen können dann Hierarchie-, Wechsel- und Ignoranzverhältnisse zwischen diskursiven Formationen sowie Transformationen der gesellschaftlichen Wissensverhältnisse beschrieben und erklärt werden. Beobachtbar werden 411 Solche Fragen wurden - allerdings nur selten mit Rekurs auf den Diskursbegriff - im Rahmen der in Kapitel 2.4. diskutierten Studien zur Verwendungsforschung bearbeitet. Vgl. dazu auch den Exkurs zur Ethnographie der Diskurse weiter oben. Erste Studien aus dem Kontext der Hermeneutischen Wissenssoziologie, die solche Fragestellungen verfolgen, sind Poferl (2004), Niehaus/Schröer (2004) und Christmann (2004). 412 Vgl. am Beispiel des Verhältnisses von Umweltdiskussion und ökologischer Alltagspraxis Poferl (2004); der erwähnte eigen-willige Umgang mit Diskursen ist ein wichtiges Thema der Cultural Studies (s.o. Kapitel 3.3.3). Jackson/Scott (2007) betonen die Dringlichkeit der Ergänzung poststrukturalistischer Foucaultscher Perspektiven um Ansätze des Symbolischen Interaktionismus, um Körpererfahrungen angemessen zu analysieren. 413 Die empirische Umsetzung der kritischen Diskursforschung setzt hier zwar an, erweist sich jedoch in dieser Hinsicht als defizitär (vgl. Kapitel 3.3.1).
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auch gesellschaftliche Aufeinanderfolgen diskursiver Regime, bspw. unterschiedliche hegemoniale Situationen öffentlicher Diskursfonnationen, Konjunkturen von stärker dramatisierenden, moralisierenden oder ,faktenbezogenen' Diskursverhältnissen, die Mischungen von explizit konflikthaften bzw. eher hannonistisch-hegemonialen Diskurslagen u.a. Der internationale Vergleich solcher Diskurskonfigurationen leistet einen wichtigen Beitrag zur Erklärung unterschiedlicher Entwicklungen der Wissensverhältnisse moderner Gesellschaften. Die Analyse der Erosion nationalstaatlich gebundener Diskursregime (die man als ,Wissensnationen' bezeichnen könnte; vgl. Kap. 5) durch die Entstehung transnationaler Diskurse kann zeigen, ob, inwiefern und rur welche Wissensbereiche sich ein entsprechender kosmopolitischer Bereich der Phänomenkonstitution entwickelt, der seinerseits die nationalen Wissensverhältnisse in ihrer Autonomie und ihrem Bestand in Frage stellt. 4.5 Methodologie Abschließend zu den Ausruhrungen des vorliegenden Kapitels möchte ich noch kurz auf die zentralen methodologischen Implikationen und Prämissen des Ansatzes eingehen. Der vorgestellte Fragenkatalog deutet schon darauf hin, dass die Diskursforschung multimethodisch ansetzt und unterschiedliche Daten und Zugänge - unter bestimmten Fragestellungen auch quantifizierende Vorgehensweisen - in Beziehung setzt. Die Auswahl der konkreten Erhebungs- und Analyseverfahren muss in Abstimmung mit den spezifischen diskurstheoretischen Grundannahmen und den Forschungsinteressen erfolgen. Die Knappheit von Ressourcenausstattungen, d.h. Personal-, Zeit- und Geldmangel, aber in vielen Fällen auch die (Un-)Möglichkeiten des Datenzugangs zwingen zu Einschränkungen und Schwerpunktbildungen im Forschungsprozess. Nur in seltenen Ausnahmefällen - wenn überhauptkann das gesamte Spektrum der genannten und möglicher weiterer Fragen im Rahmen eines einzigen Forschungsvorhabens bearbeitet werden. Deswegen lässt sich kein Standardmodell fiir alle Fälle der Wissenssoziologischen Diskursanalyse vorstellen. Guilhaumou (2003) betont zu Recht, dass gerade die Nicht-Standardisierung und Offenheit diskursanalytischer Vorgehensweisen Spielräume der Kreativität und Chancen rur überraschende neue Erkenntnisse erst möglich macht. Im Zentrum des Vorgehens stehen überwiegend textfonnige Daten, d.h. ,natürliche' Aussageereignisse bzw. deren Protokolle. Als interpretative Analytik (Dreyfus/Rabinow 1987) kombiniert die Wissenssoziologische Diskursanalyse eine analytisch genaue Zerlegung von Aussageereignissen mit Schritten ihrer henneneutisch reflektierten und kontrollierten Interpretation. Da Diskursanalysen notwendig henneneutische Ansätze sind, rur die die Welt das "Ensemble der durch Texte eröffueten Bezüge" (Ricoeur 1978: 90) darstellt und sie sich unabkömmlich im "Paradigma der Textinterpretation" (Ricoeur 1977, 1978) bewegen, implizieren sie selbst da Textauslegungen, wo sie sich in erster Linie auf fonnale Strukturen oder materiale Praktiken konzentrieren. Die Verankerung der Diskursanalyse im Kontext der Henneneutischen Wissenssoziologie bedeutet, dass ForscherInnen über ihren Forschungsprozess reflektieren und Auswertungsstrategien wählen, die methodisch kontrollierbar Vorurteile ausschließen sowie die argumentativ begründete Erzeugung und Selektion von Textinterpretationen erlauben. Insoweit vollzieht die Wissenssoziologische Henneneutik wie die neuere sozialwissenschaftliche Henneneutik überhaupt unabdingbar einen Prozess der Text-Dekonstruktion, also seiner analytischen Zerlegung und Rekon-
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struktion, auch wenn dies nicht in dem philosophisch-emphatischen Sinn gemeint ist, mit dem Jacques Derrida diesen Begriff eingefuhrt hat (Derrida 1990a; Culler 1999). Dies schließt nicht aus, auch quantifizierte Daten einzusetzen, mit denen Aussagen über Typisches kontrolliert, Verbreitungsgrade von Diskursen zugänglich gemacht, Ressourcen eines Diskurses analysiert werden können. Die nachfolgenden methodologischen Erläuterungen beziehen sich im Einzelnen auf • • • • •
die Selbstreflexivität und den Konstruktivismus der Diskursforschung als Diskurs über Diskurse (4.5.1), den Anspruch der verstehenden Rekonstruktion und der Erklärung diskursiver Verläufe und Effekte sowie die damit einhergehenden Begründungsanforderungen (4.5.2), ihren unhintergehbaren Charakter als Interpretationsarbeit (4.5.3), den Einsatz und die spezifische Adaption qualitativer Methoden (4.5.4) und ihre über die Erfassung von Texten hinausgehenden Datengrundlagen (4.5.5).
4.5. I Ein Diskurs über Diskurse: Selbstreflexivität und Konstruktivismus
Die Wissenssoziologische Diskursanalyse zeichnet sich wie alle diskursorientierten Ansätze durch ein Verhältnis der Selbstreflexivität aus. So wie die Wissenssoziologie nicht nur die Standortgebundenheit und soziale bzw. kommunikative Konstruktion von Wissen untersucht, sondern selbst ein Prozess der standortbezogenen sozialen und kommunikativen Konstruktion von Wissen ist, so fuhrt auch die Diskursforschung in ihren unterschiedlichen Anwendungen selbst einen bzw. zahlreiche Diskurse über Diskurse, die sich nach den Regeln der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen ausrichten. 414 Hier wie da lässt sich dem Problem der Selbstbezüglichkeit nicht durch ,unkonventionelle' Schreibstrategien entgehen, wie das Teile der in Kapitel 2.2.3 vorgestellten Wissenschaftsforschung versucht harten. 415 Startdessen ist zum einen auf die insbesondere von Pierre Bourdieu wiederholt eingeforderte Selbstreflexion der Forschenden im Hinblick auf die Standorte, Zwänge und Vorurteile ihres eigenen Diskurses zu verweisen (z.B. Bourdieu/Wacquant 1996). Darüber hinaus handelt es sich bei der Diskursforschung um Beobachtungsperspektiven auf andere Diskurse, deren Resultate sich über methodisch kontrollierte Zugangsweisen begründen müssen, sofern sie sich der Auseinandersetzung über ihr ,Zutreffen', ihre Berechtigung und ihren Erkenntniswert im Prozess der weiteren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen stellen wollen. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse schließt so an eine u.a. von Jo Reichertz formulierte Position an: "Eine reflexiv gewordene Wissenssoziologie ist ein gutes Gegengift gegen gedankenlosen Empirismus, theorieloses Forschen und Meßinstrumentengläubigkeit. Sie ist jedoch keinesfalls ein Vorwand oder gar eine theoretische Begründung für methodische und methodologische Beliebigkeit. (...) Denn es ist keineswegs gesagt, daß mit der Unhintergehbarkeit der Perspektivität von Erkenntnis der Weg für wohlforrnulierte Beliebigkeit eröffnet ist. Diesseits dieser fruchtlosen Alternative von ,Alles-oder-Nichts' erstreckt sich eine weite Region von Aussagen, die weDaraufverweist insbesondere Bublitz (I 999a, 2001). Ein Echo finden diese Strategien in den Debatten über die Möglichkeiten einer postempiristischen Ethnographie (Berg 1999).
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Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse der völlig gültig noch völlig ungültig sind, und die man durchaus als ,besser' oder ,schlechter' einordnen kann. Denn (wie Geertz bemerkt) aus der Tatsache, daß man in Krankenhäusern keine völlig keimfreien Umgebungen herstellen kann, folgt gerade nicht, daß man Operationen genauso gut auch in Kloaken vornehmen kann." (Reichertz 1999: 327f)416
Die Wissenssoziologische Diskursanalyse orientiert sich, wie die Henneneutische Wissenssoziologie insgesamt, an folgenden, im Anschluss an Reichertz (1999: 332ft) zusammengefassten Leitideen: • • • • • • •
Die von ihr getroffenen Aussagen über einen Untersuchungsgegenstand müssen begründet werden (können). Sie stellen sich einer bewertenden Einschätzung im Hinblick auf ihre Angemessenheit und ihr Zutreffen (deren letzter unerreichbarer Fluchtpunkt die Differenz von wahr und falsch bleibt). Verfolgt wird eine Haltung des methodischen Zweifels und der Ernsthaftigkeit in der Bearbeitung der Forschungsfragen. Sie unterstellt, dass soziale Akteure keine Marionetten sind, sondern aktiv Handelnde, die sich an Deutungen orientieren. Sie zielt auf die Rekonstruktion von typisierbarem und typisiertem Sinn. Sie rekurriert dabei, soweit möglich und erforderlich, auf natürliche Daten. Sie speist damit eine neue Deutung in die Wissensverhältnisse einer Gesellschaft ein.
Die zusätzlichen Hinweise auf die Unhintergehbarkeit abduktiver Schlüsse durch Reichertz (2002) implizieren, dass auch in der qualitativen (Diskurs-)Forschung die vollständige Transparenz und Kontrolle der Vorgehensweisen eine uneinholbare Messlatte bleibt. Sowohl Aussagen über einzelne Daten als auch generalisierende Hypothesenbildungen und Schlussfolgerungen müssen ausargumentiert und begründet werden. Grundlegend lassen sich dabei Grenzziehungsprobleme von Fragen der Geltungsbegründung unterscheiden. Als Grenzziehungsprobleme bezeichne ich verschiedene Entscheidungssituationen, die bei der Datengewinnung empirischer Untersuchungen auftreten. Dazu zählen insbesondere das Problem der Bestimmung von Untersuchungszeiträumen und -gegenständen, die Fragen der Eingrenzung und des Zusammenhangs des auszuwertenden Materials und das Problem der Zuordnung von Dokumenten/Praktiken bzw. einzelnen Inhalten zu Diskursen. Die verschiedenen Schritte der Dateninterpretation müssen im Hinblick auf die Geltungsansprüche einer Untersuchung begründet werden. Im Einzelnen handelt es sich dabei bspw. um die Entscheidung zwischen verschiedenen Vorgehensweisen bei der Feinanalyse, um die Relationierung heterogener Datengrundlagen bzw. die Triangulation unterschiedlicher methodischer Zugänge, den Schluss von Einzeldokumenten auf Diskurse, das Problem der Sättigung des Analyseprozesses - wann ist alles Wichtige erfasst? - und schließlich um den Prozess der theoretischen Abstraktion und Interpretation, also der Fonnulierung von Aussagen über den gesamten Diskurs und die Bedeutung der Ergebnisse. 417 Wie die bisherigen Ausführungen verdeutlichen, sind die Fragen der Selbstreflexivität und des Konstruktivismus der Wissenssoziologischen Diskursanalyse eng miteinander 416 417
Vgl. Geertz (1983: 42t); innerhalb der Henneneutischen Wissenssoziologie auch Hitzier (1999: 302ft). Vgl. Reichertz/Schröer (1994); Keller (2003a); Flick (2002: 317ft).
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verknüpft. Zeitgleich mit dem expliziten Bekenntnis der Wissenssoziologie zum Konstruktivismus in den 1960er Jahren haben die Diskurstheorien ebenfalls eine entsprechende konstruktivistische Position eingenommen (Burr 1997).418 Konstruktivismus bedeutet keine Flucht aus der Wirklichkeit und ihrer mitunter schmerzlichen Materialität, auch wenn manche diskurstheoretische Studien solche Assoziationen wecken bzw. zeigen, dass eine gewisse Gefahr der ,Entwirklichung' oder des ,Diskursidealismus' besteht. 419 Diskurse sind zunächst ja tatsächlich und materialiter stattfindende Sprachhandlungen und Kommunikationsprozesse, die (bestreitbare) Aussagen und Wissensbestände prozessieren. Die konkrete Existenz der Diskurse und Dispositive wird also vorausgesetzt - keineswegs bestritten. Die involvierten Akteure greifen auf unterschiedliche Ressourcen (rhetorische Mittel, Kapitalien, institutionelle Mechanismen u.a.) zurück und sind in praktisch-symbolische Kämpfe um die Legitimität bzw. die Geltungsansprüche ihrer Beiträge bemüht. Hajer (1997) hat eine solche Diskursperspektive als "institutionellen Konstruktivismus" bezeichnet. Konstruktivismus bedeutet als Grundhaltung eines diskurstheoretischen und -analytischen Programms, die Analyse auf die gesellschaftliche Herstellung der ,Ordnung der Dinge' im Medium der diskursiven Wissenspolitiken zu richten, also die Kontingenz der symbolischen Ordnung zum Ausgangspunkt der Fragen nach denjenigen Prozessen zu machen, die sie in vorübergehend fixierte Kristallisationen und Strukturzusammenhänge transformiert. Dabei wird weder die Widerständigkeit von Wirklichkeit noch die unabhängig von Sinnzuweisungen bestehende Existenz von physikalischen Phänomenen und Prozessen geleugnet, wohl aber die Zulässigkeit eines naiven Objektivismus bestritten, der die Herstellung von Fakten ausblendet und bei seiner Berufung auf deren Geltung übersieht, welche Bedeutungs-Unterstellungen er immer schon voraussetzt. ,Realistisch' ist eine Wissenssoziologische Diskursanalyse also insoweit, wie sie einem ,schwachen Realismus' im Sinne der pragmatistischen Tradition anhängt. Diese verzichtet auf die Annahme, dass Sprache dem Wesen der Dinge entspricht, unterstellt aber sehr wohl, dass Benennungen, Bedeutungszuschreibungen, Aussagen über die Faktizität von ,Tatsachen' unterschiedlichsten Evidenz- und Konsistenzprüfungen unterliegen und sich praktisch-pragmatisch bewähren können und müssen. Diese Position vertritt im Grundsatz bereits der Symbolische Interaktionismus im Anschluss an die pragmatistische Erkenntnistheorie (Blumer 1981). Es kann also nicht alles über alles in beliebiger Weise und handlungspraktisch erfolgreich gesagt und getan werden. Entsprechend sind Gewichtungen oder Bewertungen von Diskursen durchaus möglich (Hacking 1999; Schetsche 2000). Doch die Kriterien der Beurteilung von Evidenzen, Bewährungen, Inkonsistenzen sind ihrerseits Teil von Diskursen - in diesem Sinne gibt es kein Entkommen aus dem Netz der Bedeutungen. 42o Bezogen auf die frühe Wissenssoziologie könnte man schon bei Fleck von einem expliziten Konstruktivismus sprechen. Aber auch Marx, Durkheim oder Mannheim vertreten implizit konstruktivistische Argumente (vgl. Kapitel 2). 419 Vgl. dazu schon das in KapiteI2.1.1 erwähnte Zitat, mit dem MarxJEngels einen solchen Vorwurf gegen den Idealismus ihrer Zeit richten; zur Beständigkeit dieser Einwände vgl. Hacking (1999) und Edwards/Ashmore/ Potter (1995). 420 Vgl. auch Darier (1999). In der soziologischen Diskussion über den Wirklichkeitsstatus sozialer Probleme besteht ein ähnlicher Sachverhalt, seit solche Probleme als soziale Konstruktionen und Karrieren untersucht werden und diskutiert wird, ob die Soziologie dann konsequenter Weise darauf verzichten müsse, Aussagen zur tatsächlichen Existenz von Problemlagen zu formulieren (Schetsche 2000). Vergleichbare Fragen beschäftigen viele Auseinandersetzungen um die Erkenntnismöglichkeiten des sozialwissenschaftlichen Konstruktivismus. Ich 418
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4.5.2 Verstehen und Erklären Das Programm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse zielt in Analogie zu einer Formulierung, mit der Hans-Georg Soeffuer (1999) das Anliegen der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie beschreibt, auf die Rekonstruktion der diskursiven Konstruktion der Wirklichkeit. Ein solches Vorhaben impliziert ein Moment des Verstehens und ein Moment des Erklärens, die beide jedoch als miteinander, verwickelte' Elemente der wissenschaftlichen Rekonstruktion gelten können. Rekonstruiert und verstanden werden sollen zunächst die Erscheinungsweisen und Verläufe der jeweils untersuchten Diskurse. Dieser Schritt der Diskursanalyse richtet sich auf die Regeln, Akteure und Inhalte der Diskursproduktion. Er erfasst die Mechanismen der Diskursformation in Gestalt eingesetzter kommunikativer Gattungen, institutioneller Strukturierungen von Sprecherpositionen, die Ausfüllung dieser Rollen durch tatsächliche ,Sprecher', die Konstruktion des Wissens und der Welt, die sie dabei vornehmen, die Kontexte und Diskursfelder, in die Diskurse einbezogen sind, die Veränderungen der Diskurse, die Diskursverläufe und -effekte, die daraus bzw. zwischen konfligierenden Diskursen entstehenden Dispositive der Weltintervention u.a. Eine solche Rekonstruktion impliziert einerseits eine typisierende Deskription, andererseits einen Prozess der Dekonstruktion. Von typisierender Deskription lässt sich sprechen, weil' es nicht um die Beschreibung der Einmaligkeit diskursiver Ereignisse geht, sondern um das Herausarbeiten typischer ,Diskursgestalten" allgemeiner Regeln, Aussagen, Subjektpositionen, Entwicklungen und Maßnahmen. Um einen Prozess der Dekonstruktion im oben erläuterten Sinne handelt es sich deswegen, weil Aussageereignisse in einem Vorgang interpretativer Erschließung zerlegt, auf allgemeinere Kategorien bezogen, auf Muster befragt, auf Konsistenzen, Implikationen u.a. geprüft, also einem kontrollierten Schritt der konstruktiven methodischen De- und Restrukturierung ausgesetzt werden. Erklärungen oder besser: Erklärungshypothesen formuliert die Wissenssoziologische Diskursanalyse in zweierlei Richtung: Zum einen beabsichtigt sie, bezogen auf Diskurse, die Formulierung von Annahmen über Gründe und Zusammenhänge für die rekonstruierten Diskursentwicklungen. Zum anderen geht es um Erklärungen der gesellschaftlichen Folgen oder Effekte von Diskursen. Für beide Erklärungsebenen können verschiedene diskursimmanente oder diskursexterne Faktoren bedeutsam sein. Dazu zählen etwa Konsistenzen der Deutungsproduktion in Diskursen und Erfolge der Stabilisierung sowie Anerkennung der Diskursproduktion, institutionelle Konventionen und Dynamiken gesellschaftlicher Praxisfelder, sozialstrukturelle Entwicklungen und gesellschaftliche Kontexte, divergierende bzw. konfligierende Interessen sozialer Akteure mit unterschiedlichen Diskursressourcen sowie gesellschaftliche Macht- bzw. genauer: Herrschaftsbeziehungen u.a. Die Konzentration auf Diskurse impliziert also keinen Verzicht auf die Analyse von Interessen, Strategien, Macht- bzw. Herrschaftsverhältnissen oder sozialstrukturellen Faktoren. Sehr wohl muss sie, um die Produktion und die Wirkung der Worte zu analysieren, institutionelle Rahmenbedingungen, Sprecherressourcen und -positionen etc. berücksichtigen. Ohne die Einseitigkeiten der kritischen Diskursforschung zu übernehmen, kann die wissenssoziolofolge dem von Hacking (1999) im Anschluss an Andrew Pickering formulierten Plädoyer für Robustheitsprüfungen. Es gibt ,Evidenzgeneratoren und -irritationen' für soziale Konstruktionen. Das hat Alfred Schütz in seinen Analysen der pragmatisch motivierten Auslegungsroutinen des Alltagshandelns sehr schön beschrieben (Schütz) Luckmann 1979).
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gische Analyse von Diskursen gerade danach fragen, wie Interessen mit Deutungen - und letztere wiederum mit Praktiken - verkoppelt werden und inwiefern sich die Rede von Interessen selbst als Deutung und Diskurs erweist. Gerade hierin liegt ein besonderer Anreiz des soziologischen Zugangs. Erst eine soziologische Perspektive kann so auch die Sprachzentriertheit der bisherigen Diskursforschung überwinden, gerade weil sie im Unterschied zu sprachwissenschaftlich fundierten Ansätzen in der Lage ist, das von Foucault angesprochene Geruge diskursiver Fonnationen nicht nur textimmanent, sondern über verschiedene Datenfonnate und methodische Triangulationen erschließen zu können. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse steht also zwischen den Extremen eines marxistischen Ideologieverdachts, der bereits vor der Analyse die Interessensgebundenheit und Funktionalisierung der Wissenszirkulation kennt, einerseits, eines ethnomethodologischen Verzichtpostulats andererseits, das nur gelten lässt, was in einer Interaktion, in einem konkreten Kommunikationsereignis getan und zum Thema wird. Sie entbindet damit nicht von der Verpflichtung zur sorgfältigen Rekonstruktion und Vorsicht gegenüber vorschnellen Pauschalerklärungen rur diskursive Prozesse. Zugleich wird darauf bestanden, dass Diskursforschung über entsprechende Generalisierungen und die Berücksichtigung ,diskursexterner' Faktoren Beziehungen zur allgemeinen Soziologie herstellen muss, wenn sie venneiden will, klassifikatorisch-beschreibend Diskursverlauf an Diskursverlauf zu reihen. Nur dadurch kann eine Wissenssoziologische Diskursanalyse als Programm der sozialwissenschaftlichen Theorieentwicklung, Erkenntnisproduktion und Gesellschaftsanalyse erfolgreich auf Dauer gestellt werden. 421 4.5.3 Diskursforschung ist Interpretationsarbeit
Diskursanalyse ist immer und notwendig ein henneneutischer Prozess der Textauslegung. Die Auseinandersetzung um die Methoden der Diskursforschung war zunächst durch strukturalistische Attacken gegen ,die' Henneneutik und einen damit explizit verknüpften Überlegenheitsanspruch standardisierter Analyseverfahren meist linguistischer bzw. lexikometrischer Herkunft gegenüber den ,unkontrollierten' henneneutisch-interpretativen Vorgehensweisen geprägt. Sie reproduzierte insoweit einen wissenschaftlichen Machtkampf im Frankreich der 1960er Jahre (vgl. Kapitel 3.1.2). Vor allem die französische analyse du disco urs trat mit dem Anspruch an, über automatisierte quantifizierende Auswertungsverfahren den subjektiven Faktor des Forschers auszuschalten und damit eine genuin wissenschaftliche und objektive Textanalyse erst zu begründen (Williams 1999; Guilhaumou 2003). Doch nicht zufällig gilt dieses Programm in seiner Radikalität als gescheitert, und ebenso wenig ist es ein Zufall, dass Dreyfus/Rabinow (1987) den Foucaultschen Ansatz als "interpretative Analytik" bezeichnet haben, also als einen Ansatz, der Interpretation und analytisches Vorgehen zusammenbringt. Diskursanalysen implizieren selbst da Bedeutungsauslegungen, wo sie sich auf fonnale Strukturen, Dinge oder Praktiken konzentrieren. Auch die erwähnte analyse du disco urs versteht sich nunmehr vielfach als "interpretative Disziplin" (Guilhaumou 2003). Wie die sozial konstruktivistische Wissenssoziologie im Allgemeinen beinhaltet auch die Wissenssoziologische Diskursanalyse im Besonderen weitreichende sozial- bzw. gesellschaftstheoretische Bezüge. Vgl. zur Diskurstheorie als Gesellschaftstheorie auch Bublitz (1999a, 2001).
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Von Hermeneutik oder Interpretation zu sprechen, bedeutet im Zusammenhang der Diskursanalyse nicht die Suche nach den subjektiven, möglicherweise verborgenen Absichten eines Textautors oder nach seinem Klassenstandpunkt. Es geht auch nicht darum, einem Aussageereignis eine ,wahre', ,absolute' bzw. ,objektive' Bedeutung zuzurechnen. Die neuere sozialwissenschaftliche Hermeneutik beschäftigt sich im Anschluss an die Arbeiten von Hans-Georg Soeffner (1989) mit den Möglichkeiten und Strategien der methodischen Kontrolle von Interpretationsprozessen. Sie wird in genau dieser Hinsicht für die Diskursforschung relevant (Keller 2005a). Sicherlich gibt es - wie schon Ricoeur (1977, 1978) feststellt - keine festen Regeln und kein Rezeptwissen mit Erfolgsgarantie für die Entwicklung überzeugender Deutungshypothesen. Vielmehr spielen abduktive Schlüsse, also Ideen, Einfalle, Geistesblitze, die aus der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Datenmaterial entstehen, eine wichtige Rolle (Reichertz 2002). Konkurrierende Interpretationen und alternative Vorgehensweisen sind immer möglich und - in gewissen Grenzen, mit guten Gründen - legitimierbar. Gerade darin liegt, wie Ricoeur betont, auch die Chance der Generierung ,besserer' Interpretationen. Dennoch - wenn Soziologie empirische Wissenschaft, nicht aber Roman oder Reportage sein will, ist der Anspruch an die prinzipielle Offenlegung und Nachvollziehbarkeit der Interpretationsschritte aufrecht zu erhalten. Dies wiederum erfordert eine methodische Systematik des Vorgehens und gilt unabhängig davon, ob subjektive oder kollektive Wissensvorräte bzw. die diese anzeigenden oder dokumentierenden Formen der Entäußerung untersucht werden. Hier schließt die Wissenssoziologische Diskursanalyse an die qualitative Sozialforschung im Rahmen der Sozialwissenschaftlichen Hermeneutik an: "Die Methodik der qualitativen Sozialforschung zielt also mit ihren besonderen Verfahren der Datenerhebung wie der Datenauswertung darauf, die wissenschaftliche Rekonstruktion (von) Wirklichkeitskonstruktionen zu systematisieren und zu kontrollieren. Die qualitativen Methoden sind dabei weniger als Rezepturen denn als Sensibilisierungen für typische Probleme - wie Adäquanz, Stimmigkeit, Zuverlässigkeit, Gültigkeit und Überprüfbarkeit - des Forschungsprozesses zu begreifen." (HitzlerlHoner 2002: 758)422
4.5.4 Die Adaption qualitativer Methoden Die Diskursforschung stützt sich überwiegend auf natürliche Daten, also mündliche, schriftliche, audiovisuelle Aussageereignisse, beobachtbare Praktiken, seltener auch materiale Objekte aus dem Untersuchungsfeld. Zusätzlich werden durch Interviews oder Fokusgruppen, auch durch fokussierte Ethnographie u.a. neue Daten erzeugt. Welchen Umfang das empirische Material haben sollte, um gültige Aussagen über den oder die spezifisch interessierenden Diskurs(e) zu treffen, ergibt sich aus den verfolgten Fragestellungen bzw. muss im Hinblick darauf begründet werden. Generell lässt sich das zusammengestellte Material unter zwei Gesichtspunkten betrachten. Zum einen dient es der Information über das Feld. Zum anderen liegt es als Dokument der Rekonstruktion der Diskurse, ihrer materialen sowie sprachlichen Mittel und ihrer inhaltlichen Bedeutungen zugrunde. Dabei muss der Stellenwert der analysierten Dokumente im Hinblick auf den oder die Diskurs(e) begründet werden. Das zusammengetragene Material fungiert als diskursinterner oder disDas Zitat wurde von mir geringfilgig modifiziert: im Original ist von "alltäglichen Wirklichkeitskonstruktionen" die Rede. Vgl. dazu die Ausführungen im Anschluss an Reichertz (1999) in Kapitel 4.5.1.
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kursexterner Kontext zu den detailliert untersuchten Einzeldaten. Wie die Arbeit am einzelnen Text vollzogen wird, ob beispielsweise sequenzanalytische Vorgehensweisen, die Methode der dokumentarischen Interpretation oder Verfahren kontrollierter Kategorienbildung zum Einsatz kommen, und wie sie mit Beschreibungen formaler Strukturen sowie externen Kontextdaten verknüpft werden, kann nicht ex cathedra festgelegt werden. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse begreift Texte, Praktiken oder Artefakte nicht als Produkte subjektiver oder objektiver Fallstrukturen, sondern als Manifestationen gesellschaftlicher Wissensordnungen und -politiken. Sie bilden die wichtigste Grundlage einer wissenssoziologischen Rekonstruktion der diskursiven Produktion, Stabilisierung und Veränderung kollektiver Wissensvorräte. Der Gegenstand Diskurs erfordert jedoch eine spezifische Adaption der vorliegenden Methoden qualitativer Sozialforschung und Textauswertung in zweierlei Hinsicht (vgl. Keller 2004, 2007):423 •
•
Ein wichtiger Unterschied zwischen Diskursanalysen und anderen Ansätzen der interpretativen oder qualitativen Sozialforschung liegt in der Annahme textübergreifender Verweisungszusammenhänge in Gestalt von diskursiven Strukturen der Aussageproduktion. Einzelne Aussageereignisse stehen nicht für einzelne ,Typen' (wie bspw. in der Biographieforschung); sie bilden nicht notwendig nur einen Diskurs - und diesen auch noch vollständig - ab. Entsprechend müssen verschiedene Feinanalysen solcher Daten zueinander in Beziehung gesetzt und Diskurse daraus sukzessive rekonstruiert werden. Diese Aggregation von Einzelergebnissen zu Aussagen über ,den' Diskurs markiert den zentralen Unterschied zu den meisten qualitativen Ansätzen, die pro Text (in der Regel Interviews) von einer in sich konsistenten und geschlossenen Sinn- oder Fallstruktur ausgehen, d.h. einen Text als vollständiges Dokument genau eines Falles betrachten. Typisch für die diskursanalytische Perspektive auf ,natürliche' Texte ist gerade die Annahme des heterogenen und partiellen Vorkommens diskursspezifischer Elemente. Wissenssoziologische Diskursanalysen stehen vor dem Problem großer Textsammlungen. Die qualitativen Verfahren der Datenanalyse kommen meist bei kleinen Textmengen zum Einsatz und eignen sich nur bedingt für die umfangreichen Textkorpora der Diskursforschung. Sie müssen deswegen an diskursanalytische Forschungsinteressen angepasst werden. Analysen sind sowohl qualitativ rekonstruierend als auch (zuweilen) quantifizierend-messend angelegt. Quantifizierende Zugänge rekonstruieren zunächst an einzelnen Texten Kategorien, die zur Grundlage inhaltsanalytischer Codierbögen für größere Textrnengen werden. Qualitative Ansätze benützen verschiedene Strategien der Korpusreduktion wie z.B. die Auswahl von Schlüsselstellen, Schlüsseltexten oder die theoriegeleitete Reduktion des Materials im Anschluss an die grounded theory, um einen bearbeitbaren Datenumfang zu erhalten.
Vgl. HitzlerlHoner (1997), SoeffnerlHitzler (1994), Soeffner (1979, 1989), (Hitzier 2000), HitzlerlReichertzl Schröer (l999a), Bohnsack (1999), Flick (2002), FlicklKardorfflSteinke (2000), GarzlKraimer (1991), Schröer (1994), Aufenanger/Lenssen (1986).
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4.5.5 Mehr als Textanalyse Bislang untersucht die Diskursforschung - unabhängig davon, welches diskursanalytische Paradigma betrachtet wird - nahezu ausschließlich Texte: Bücher, Gesetze, Gerichtsurteile, Flugblätter, Informationsbroschüren, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Interviews, Gesprächsaufzeichnungen u.a. Die Konzentration auf schriftlich fixierte Daten folgt verständlicherweise und begründet aus ihren zentralen Fragestellungen. Daneben greifen Diskursanalysen zu Informations- und Interpretationszwecken auf unterschiedliche Formen des Kontextwissens und zugängliche Materialien über das Forschungsfeld - wissenschaftliche Sekundärliteratur; verrugbares Allgemeinwissen etc. - zurück, um ihre Fragestellungen zu bearbeiten. Die Fokussierung auf Texte, die rur die qualitative Sozialforschung insgesamt gilt, ist jedoch in mehrfacher Hinsicht ergänzungs- oder erweiterungsbedürftig. Angesichts der enormen Bedeutung von audiovisuellen Medienformaten und -inhalten (Fernsehen, Film, Fotografie, Comics, Werbung) werden sich wissenssoziologische Diskursanalysen zukünftig stärker mit der Analyse und Interpretation solcher Daten befassen müssen. Dabei können Anschlüsse an die Cultural Studies hilfreich sein. Eine vergleichbare Erweiterung diskursanalytischer Perspektiven erfordert der Einbezug von nichttextformigen, aber gleichwohl bedeutungstragenden Bestandteilen von Dispositiven sowie der Praxisfelder, auf die Diskurse treffen. Für die Soziologie ergibt sich eher als in den Geschichtswissenschaften die Möglichkeit, die Produktion und Rezeption von Diskursen in actu zu erfassen und zu analysieren. Sie kann sich dazu verschiedener Beobachtungs- und Protokollmethoden, Formen der Gesprächsaufzeichnung sowie darauf bezogener Analysestrategien bedienen. Dadurch wird die Vermeidung text- oder gesprächsidealistischer Fehlschlüsse von ,dem' Diskurs auf ,die' Praxis erleichtert. Im Sinne der Triangulation (Flick 2002: 330ft) geht es darum, unterschiedliche methodische Perspektivierungen eines Untersuchungsgegenstandes in Beziehung zu setzen. Methodisch lässt sich hier an die sozialwissenschaftliche Tradition umfassender Fallstudien anschließen. 424 4.6 Bilanz Im vorliegenden Kapitel wurde die Grundlegung einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse in runf Schritten vorgenommen. Zunächst hatte ich erläutert, inwiefern die bisherige Hermeneutische Wissenssoziologie ein Defizit der sozialkonstruktivistischen Wissenstheorie von BergerlLuckmann - die Konzentration auf ,Jedermann-Wissen' - aufgreift und sowohl in ihrer theoretischen Programmatik wie auch in ihren empirischen Forschungen verlängert. Diese einseitige Akzentuierung des wissenssoziologischen Programms folgt nicht zwingend aus der ursprünglichen Theorie. Die dort formulierten Überlegungen zur gesellschaftlichen Objektivierung, Institutionalisierung und Legitimation von kollektiven Wissensvorräten stellen im Gegenteil ein breites Fundament rur die soziologische Analyse kollektiver Wissensverhältnisse zur Verrugung. Aus Foucaults Diskurstheorie wurden dann die zentralen Elemente einer diskurstheoretischen und diskursanalytischen Perspektive gewonnen, an denen die Grundlegung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse ansetzt. Vgl. die Vorschläge zur methodischen Umsetzung in Keller (2004), zur Filmanalyse die Hinweise bei Christmann (2004: 71ft).
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Diese verstehe ich als Ergänzung und Weiterführung der Henneneutischen Wissenssoziologie. Von einer Ergänzung kann gesprochen werden, weil dadurch der Bereich institutioneller bzw. diskursiv strukturierter gesellschaftlicher Wissensverhältnisse und -politiken als Bestandteil der wissenssoziologischen Fragestellungen bestimmt und eröffuet wird. Um eine Weiterführung handelt es sich insofern, als die Henneneutische Wissenssoziologie dadurch gezwungen ist, in Auseinandersetzung mit anderen wissensanalytischen Programmatiken ihre eigenen Begrifflichkeiten und Perspektiven zu reflektieren und gegebenenfalls zu modifizieren. Insgesamt geht es darum, die wissensanalytische Orientierung der Diskursperspektive aufrecht zu erhalten und nicht durch die Analyse von Sprachgebrauch zu ersetzen (Keller 2006). In der vorliegenden Arbeit habe ich dies im Hinblick auf das Verhältnis von Zeichen, Typen und Diskursuniversum, die Beziehung zwischen Diskurs und diskursiven Ereignissen, das Verständnis von sozialen Akteuren, Sprecher- und Subjektpositionen, den Begriff der Praktiken sowie die Relationierung von diskursiven Fonnationen, Spezialdiskursen und öffentlichen Diskursen ausgeführt. Daran anschließend wurden die wichtigsten Arbeitsbegriffe der Wissenssoziologischen Diskursanalyse vorgestellt: ihr Verständnis von Diskurs, Akteuren, Praktiken, Dispositiven, Phänomenkonstitutionen etc. Damit sind - ohne Anspruch auf Endgültigkeit und Vollständigkeit - zentrale konzeptionelle Vorschläge fonnuliert. Da ich die Wissenssoziologische Diskursanalyse als offenes und empirisches Forschungsprogramm begreife, ist sie in dem Maße zu Weiterentwicklungen und Fortschreibungen des entfalteten Vokabulars gezwungen, wie dies sich aus den Annahmen einer datenbasierten Theorie- und Konzeptbildung im Rahmen der Bearbeitung konkreter Forschungsfragen als notwendig erweist. Das gilt in gleicher Weise für die exemplarisch hergeleiteten Forschungsfragen und die Diskussion methodologischer Implikationen. Auch hier handelt es sich um orientierende Vorschläge, die im Zuge der empirischen Umsetzung des anvisierten Programms komplettiert und modifiziert werden können und müssen. Mit diesen Überlegungen schließe ich die Grundlegung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse im Rahmen der vorliegenden Studie ab. Im nachfolgenden Kapitel 5 diskutiere ich am Beispiel gesellschaftlicher Risikodiskurse, wie eine solche Perspektive auf den sozialen Wandel moderner Gesellschaften als Veränderung von gesellschaftlichen Wissensverhältnissen im Medium von Wissenspolitiken bzw. Diskursen und schließlich als soziokulturellen Transfonnationsprozess gerichtet werden kann.
5 Diskurse und Sozialer Wandel
Im vorangehenden Kapitel 4 habe ich die Grundlagen sowie das Forschungsprogramm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse entwickelt. Bereits in der Einleitung und in verschiedenen Teilkapiteln der vorliegenden Arbeit wurde darauf verwiesen, dass die Wissenssoziologie im Allgemeinen und die Wissenssoziologische Diskursanalyse im Besonderen ein bislang nicht genutztes, aber hilfreiches Instrumentarium zur Verfiigung stellen, um die soziologischen Gegenwartsdiagnosen der Wissensgesellschaft, der Kommunikationsgesellschaft u.a. empirisch zu untersuchen. Diese These möchte ich im Folgenden exemplarisch erläutern. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse analysiert gesellschaftliche Definitions- bzw. Wissensverhältnisse und die sich darin entfaltenden Wissenspolitiken sozialer Akteure als Diskurse, d.h. als historisch spezifische und spezifizierbare Prozesse und Praktiken im Medium sprachvermittelter Auseinandersetzungen. Sie nähert sich damit den Formen des sozialen Wandels, die in gegenwärtigen Zeitdiagnosen behauptet werden, auf der Ebene einer soziokulturellen Transformation der gesellschaftlichen Wissensregime. 42S Sozialer Wandel ist fiir Individuen und Organisationen nicht nur ein "Handlungsproblem" (HitzIer 2000; Poferl 2004), sondern ebenso sehr und vielleicht sogar primär ein Deutungsprob/ern. Ich schlage deswegen vor, sozialen Wandel als soziokulturellen Transformationsprozess zu begreifen, der durch Diskurse vermittelt wird. Dies betrifft nicht nur die mit dem Konzept der Wissensgesellschaft meist angesprochenen Transformationen des Verhältnisses von Sozialstruktur, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, sondern auch bspw. Identitätspolitiken und lebensstilbezogene Kämpfe um Anerkennung, also diejenigen Prozesse, die Giddens (199 Ia: 209ft) unter dem Begriff der "Iife politics" zusammenfasst. Dazu gehört auch die Ablösung nationalstaatlich organisierter Diskurs- und Wissensordnungen - das, was man als Wissensnation 426 bezeichnen könnte - durch entsprechende transnationale Formationen und Öffentlichkeiten, der Wandel von ökonomischen Leitbildern (Boltanski/Chiapello 1999), die Veränderungen der Relationierung von Natur und Kultur in den gegenwärtigen Biopolitiken427 oder die Herausforderung an etablierte WisDie in Kapitel 3.2 angesprochene Gouvernementalitäts-Forschung verfolgt im Anschluss an Foucault ähnliche Interessen, konzentriert sich jedoch auf die Formen und Veränderungen der Subjektkonstitution, die mit biopolitischen Wissensfeldern, ökonomischen und staatlichen Transformationen einhergehen und als Herrschaftseffekt begriffen werden. 426 Diese spezifische Wissenskonfiguration ließe sich im Rekurs auf Jürgen Links Konzept des "Normalismus" (Link I997) als normalisierende und normalisierte nationalstaatliche Konfiguration der Binnenbeobachtung begreifen. "Normalismus" bezeichnet eine normative Überhöhung erfasster statistischer Durchschnittswerte, also den Fehl-Schluss von der ,Normal'verteilung auf das, was als "normal" zu gelten habe und zur Grundlage des institutionellen Gefüges wird. Verschiedene Beiträge in Laborierrrrom (2003) rekonstruieren die Formierung nationalstaatlicher Wissensverhältnisse, vgl. etwa die Analyse von Zimmermann (2003) über die Entstehung und Implikationen der deutschen Arbeitslosenstatistik. Der Begriff der Wissensnation ist demjenigen der ,Sozialnation' nachempfunden. Ich danke Angelika Poferl für den Hinweis auf das letztere Konzept. 427 Der gegenwärtige Gebrauch des Begriffs der 'Biopolitik' schließt meist an Foucaults Konzept der Bio-Macht an (Foucault 1989a; Dreyfus/Rabinow 1987; FeherlHeller 1995). Aktuelle Diskussionen beziehen sich auf unter425
R. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, DOI 10.1007/978-3-531-17837-0_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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sensregime, die von den sozialen Bewegungen ausgegangen sind und noch ausgehen (Melucci 1996; Nash 2000). 1m vorliegenden Kapitel greife ich aus den möglichen Gegenstandsbereichen einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse die umwelt- und technikpolitischen Konfliktfelder heraus. Dabei handelt es sich um ein bevorzugtes Thema der neueren soziologischen und politikwissenschaftlichen Diskursforschung seit Anfang der 1990er Jahre. Kapitel 5.1 stellt zunächst im Rekurs auf zentrale Studien die wichtigsten Ergebnisse der Umweltdiskursforschung zu allgemeinen Charakteristika und Veränderungen von Diskursverhältnissen vor. Daran anschließend und im Rückgriff auf einige der in Kapitel 4 formulierten Kategorien entwickle ich in Kapitel 5.2 eine theoriegeleitete Interpretation der öffentlichen Dynamik der Risikodiskussion als Zusammenspiel von katastrophischen Ereignissen, etablierten Wissensverhältnissen und herausfordernden Diskursen. Es handelt sich hierbei nicht - das möchte ich ausdrücklich betonen - um die Vorstellung einer exemplarischen empirischen Diskursanalyse. Ein solches Unternehmen würde den Umfang der vorliegenden Studie übersteigen. Vielmehr argumentiere ich vor dem Hintergrund empirischer Untersuchungen, um zu zeigen, wie aus einer entsprechenden Diskursforschung verallgemeinerbare Hypothesen über Prozesse des sozialen Wandels jenseits der Ergebnisse von Einzelstudien gewonnen werden können. 428 Die Dynamik der Risikodebatten setzt unter Bedingungen ihrer massenmedialen Vermittlung und jenseits der einzelnen Diskursverläufe spezifische Logiken des Wandels von Wissensregimen und damit der soziokulturellen Transformation frei. Dabei wird der Zusammenhang von Diskursen und sozialem Wandel deutlich: Spezifische Ereignisse generieren Gelegenheitsstrukturen, in denen gesellschaftliche Wissensverhältnisse durch diskursiv formierte Wissenspolitiken sozialer Akteure herausgefordert werden. Ob und wie daraus Transformationen der Wissensregime, der symbolischen und institutionellen Ordnungen entstehen, hängt wesentlich von Zulassungschancen zu den Arenen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und von dem Beharrungsvermögen der bestehenden Institutionengefuge ab. 1m abschließenden Kapitel 5.3 resümiere ich die Ausfuhrungen unter dem Begriff einer Politik der Diskurse, deren Untersuchung Gegenstand einer allgemeinen Wissenssoziologischen Diskursanalyse des sozialen Wandels wäre.
5.1 Eine neue Grammatik der Verantwortlichkeit Seit den 1960er Jahren ist es den verschiedenen Umweltbewegungen gelungen, im Rahmen zahlreicher Risikodiskurse (Lau 1989), also gesellschaftlicher Definitionskonflikte über Art, Ausmaß, Betroffenheiten, Verantwortlichkeiten in Umwelt- und Technikkontroversen, wie sie insbesondere in den westlichen Industriestaaten gefuhrt wurden, einem spezifischen
schiedlichste Bereiche der Genforschung, der Reproduktionsmedizin und der Biodiversität. Vgl. dazu bspw. Geyer (2001), Heins/Flitner (1998), Fox Keller (1998), Gottweis (1998), Waldschmidt (1996), Schneider (1999). 428 Diese Studien arbeiten meist mit Diskursbegriffen im Anschluss an Foucault, die Social Studies of Science und das interpretative Paradigma bzw. allgemeiner den angelsächsischen Kontext des Sozialkonstruktivismus. Sie besitzen zahlreiche Affinitäten zum hier entwickelten Programm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse und haben seine Ausarbeitung teilweise beeinflusst.
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"Motivvokabular" (Charles W. Mills) - der Sorge um Natur 429 - breite öffentliche Resonanz zu verschaffen. Diese Auseinandersetzungen haben zunächst mit dem, was man ,Natur-Gesellschafts-Interaktionen' nennen könnte, einen neuen Phänomenbereich konstituiert, der bis dahin weitgehend außerhalb der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit lag. Gewiss bauen alle Gesellschaften auf den materialen Austauschbeziehungen und Stoffflüssen zwischen Natur und Gesellschaft auf. Die umwelt- und risikopolitischen Auseinandersetzungen haben jedoch die wechselseitigen Gefährdungsbeziehungen bzw. insbesondere die menschliche Selbstgefährdung durch die gesellschaftliche Überformung von Natur in ihren Mittelpunkt gestellt. In diesem Zusammenhang entstanden neue Wissensgebiete, soziale Akteursgruppen und institutionelle Dispositive. Zugleich wurde damit eine neue Grammatik der individuellen und kollektiven Verantwortlichkeit konstituiert, die verschiedene Parameter - das Vorsorgeprinzip, die Sorge um zukünftige Generationen, einen globalisierten Verantwortungsbezug, das Nachhaltigkeitsprinzip u.a. - umfasst und etliche institutionelle Neuerungen und Wissensfelder mit sich brachte. 430 In den Begriffen der Diskursanalyse handelt es sich hier bspw. um neue Subjektpositionen fur Individuen und soziale Kollektive. Beide werden als fur Umweltprobleme mehr oder weniger verantwortliche Akteure mit spezifischen Handlungspotenzialen konstituiert, wobei deutliche Tendenzen zur Individualisierung von Kollektivverantwortungen beobachtbar sind (Poferl 2004).431 Als zentrales Konzept fur die entsprechenden Debatten und institutionellen Mechanismen fungiert der Risikobegriff, der seit den Studien über "Risk and Culture" (Douglas/Wildavsky 1982), "Risikogesellschaft" (Beck 1986) und die "Soziologie des Risikos" (Luhmann 1991) breite soziologische und gesellschaftliche Anwendung findet. In historischen Untersuchungen haben Ewald (I993) oder Bonß (I995) gezeigt, wie ,Risiko' als abgrenzbares Wissensmodell entstanden ist und zur Grundlage von Versicherungstechnologien wurde, die fur den praktischen Umgang mit ,Risiken' ein Handlungsmodell zur Verfugung stellten. 432 Angesprochen sind damit spezifische Wissensverhältnisse der modemen Gesellschaften. Mitchell Dean, einer der Protagonisten der Gouvemementalitätsforschung, sieht in der Untersuchung der Risiko-Regime eine zentrale Aufgabe gegenwärtiger Wissensanalysen. Aus der Perspektive der Govemmentality Studies bestehe die kritische Aufgabe der Sozialwissenschaften darin, "(to) investigate the different modes of calculation of risk and the moral and political technologies within wh ich such calculations are to be found. Most importantly, it will investigate what I would call the 'regime of govemment' in which risk is imbricated and the political programmes and social imaginaries that deploy risk and its techniques and draw their inspiration from it. Diese Sorge um Natur ist kein (oder zumindest nicht nur) Selbstzweck, sondern geht einher mit der Sorge um körperliche Gesundheit bzw. Unversehrtheit der körperlichen Natur des Menschen. Insoweit könnte man im Aufgreifen einer Formulierung Foucaults (1989c) von der Sorge um Natur als ,Sorge um sich' sprechen. 430 Vgl. dazu bspw. Latour (l995a), Lamontrrhevenot (2000) sowie die detaillierte sprachwissenschaftliche Analyse des Umweltdiskurses als "cultural discourse" bei HarrelBrockmeierlMühlhäusler (1999). 4J1 Ein exemplarisches Beispiel dafiir ist die Individualisierung der Abfall-Verantwortung (Keller 1998: 248ft). 432 Vgl. zur sozialwissenschaftlichen Risikodebatte einführend Lupton (1999), zur umfangreichen historischsystematischen Aufarbeitung der Genese moderner Risikokonzepte auch Bernstein (1997). Die soziologische Risikoforschung hat in den vergangenen Jahrzehnten eine beeindruckende Bandbreite empirischer Untersuchungen vorgelegt (vgl. die Überblicke in Japp 2000; Grundmann 1999a, BanselBechmann 1998; Bechmann 1997; Johnson/Covello 1987; Kron/Krücken 1993; Krimsky/Golding 1992; als Fallstudie bspw. ChateauraynaudfTorny 1999). 429
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Diskurse und Sozialer Wandel What is important about risk is not risk itself, but the forms of knowledge that make it thinkable from statistics, sociology, and epidemiology to management and accounting, the techniques that discover it from the calculus of probabilities to the interview, the social technologies that seek to govem it from risk screening, case management and social insurance to situational crime prevention, and the political rationalities and programmes that deploy it, from those that dreamt of a welfare state to those that imagine an advanced liberal society of prudential individuals and communities." (Dean 1998: 25)433
So kann die Risikogesellschaft als eine Form der Wissensgesellschaft, ihre Analyse als eine Aufgabe der Wissenssoziologie begriffen werden. Auch Ulrich Beck hatte mit seiner in Kapitel I erwähnten Forderung nach einer Analyse der "Definitionsmachtverhältnisse" der Risikogesellschaft die Wissensverhältnisse zum zentralen Gegenstand soziologischer Analyse erhoben (Beck 1988: 24; 21lff).434 Tatsächlich liefert die umwelt- und technikbezogene Diskursforschung der letzten Jahrzehnte die empirische Wissenssoziologie der Definitionsverhältnisse, die Dean oder Beck einfordern. Karen Litfin (1994) begründet die Prominenz der Diskursansätze innerhalb dieses Forschungsfeldes mit der gewachsenen Bedeutung des Wissens in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über Risiken und Gefahren. 435 Politikwissenschaftliche Forschungen beschäftigen sich in diesem Zusammenhang in erster Linie mit Fragen nach dem Verhältnis von Ideen, Wertvorstellungen, Deutungsmustern u.a. zu strategischem Handeln und Machtpositionen in Umweltkonflikten. Soziologische Studien konzentrieren sich stärker auf die Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion in solchen Auseinandersetzungen. 436 Herbert Gottweis fasst die Implikationen eines diskursanalytischen Zuganges zu diesen Themenbereichen exemplarisch zusammen: "For social scientists the most important analytic message of poststructuralism may be the need to pay careful attention to the complicated ways in which language and discourse are used to constitute social, economic, scientific, or political phenomena, to endow them with meaning, and to influence their operation. Accordingly, 1 interpret the genetic engineering controversy as Dean fonnuliert dies als kritischen Einwand gegen das Konzept der Risikogesellschaft, das zu wenig auf die Wissensregime achte. Wie oben im Text gezeigt wird, ist dieser Vorwurfjedoch unbegründet. 434 "Was damit im einzelnen gemeint ist, läßt sich durch vier Fragen umreißen: (I) Wer - welche gesellschaftliche Instanz und Autorität - legt fest, wie hannlos oder gefahrenvoll Produkte und Nebenfolgen sind? Liegt die Verantwortung bei denjenigen, die Risiken erzeugen und die von diesen profitieren, oder bei denjenigen, die von ihnen aktuell oder potentiell betroffen sind, oder bei öffentlichen Akteuren? (2) Welche Art von Wissen oder Nichtwissen über Ursachen, Dimensionen, Akteure etc. wird dabei herangezogen bzw. als solches anerkannt? Bei wem liegen die Beweislasten? (3) Was gilt als ,hinreichender Beweis'? Und dies in einer Welt, in der notwendigerweise alles Gefahren- und Risikowissen sich immer in den Voraussetzungen der Wahrscheinlichkeitstheorie bewegt. (4) Im Falle, daß Gefahren und Zerstörungen erkannt und anerkannt werden, wer entscheidet über Haftungsfragen, über Kompensationen, Kosten für die davon Betroffenen und über angemessene Fonnen zukünftiger Kontrolle und Regulation?" (Beck 1999: 328) 435 Litfin (1994) fuhrt dies exemplarisch in ihrer Untersuchung der Rolle von "knowledge brokern" in den "OzonDiskursen" aus. Bislang liegen erst ansatzweise systematisierende Bilanzen dieser Forschungen (z.B. Hajer 2003a) vor. Darier (1999) versammelt verschiedene Beiträge aus dem Kontext der Gouvernementalitätsforschung. Dabei ist auffallig, dass auf der Ebene empirischer Untersuchungen die theoretischen Abgrenzungskämpfe keine große Rolle spielen. Darier (1999a) etwa verknüpft Überlegungen von Michel Foucault, Ulrich Beck und Klaus Eder (1988). Vgl. auch die Studien von MyersonfRydin (1996), Dryzek (1997), Ham\/BrockmeierlMühlhäusler (1999), für Hinweise auf weitere Diskursstudien zu Umweltdebatten Keller (1998). 436 Vgl. dazu die Beiträge auf der Hamburger Konferenz ,Does Discourse matter?' im Juni 2003. Die dortigen Vorträge und ihre Bibliographien enthalten zahlreiche weitere Verweise auf Studien zu den nachfolgend angeführten Gegenstandsbereichen (vgl. www.agchange.de). 433
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a process that was inseparable from the mapping - the social construction - of the political, economic and scientific worlds. I emphasize the importance of interpretations, framings and definitions in the construction of reality, subjectivity, and identity in the realms of science and politics. That is, I argue that there is a need to examine how discourses and narratives - stories that create meaning and orientation - constitute the policy field of genetic engineering. What are the parameters of state regulation? What counts as a rationale for state support? Who is constructed as a legitimate actor in an policy field? How is the boundary between state and civil society defined and regulated? Which strategies demarcate science from nonscience, and how does scientific knowledge contribute to the shaping of social identity?" (Gottweis 1998: 3)
Die von Gottweis angesprochenen Punkte werden in den diskursanalytischen Studien von Litfin (1994), Hajer (1995), Keller (1998), Viehöver (1997) oder Gottweis (1998) deutlich, die sich auf unterschiedliche Themenfelder der Risikokontroversen beziehen. Die Ergebnisse dieser Studien lassen sich wie folgt kurz bilanzieren: Litfin (1994) analysierte in einer detaillierten Fallstudie die Verhandlungen, die zum Montrealer Protokoll über Maßnahmen zum Schutz der Ozonschicht führten. Der Beschluss von Montreal gilt als erstes globales Abkommen zur Bekämpfung von Umweltproblemen. Entgegen verschiedenen offiziellen Lesarten der VerhandJungsprozesse und des Abschlussprotokolls zeigt Litfin, dass die festgelegten Bestimmungen schädigender Substanzen und die ausgehandelten Vorgehensweisen keineswegs aus einer unter Gesichtspunkten wissenschaftlichen Faktenwissens zwangsläufigen Problemanalyse resultierten. Vielmehr können die Aushandlungen als beständige Abstimmungsprozesse zwischen ,Interessen' und ,Wissen' beschrieben werden, in denen keine dieser beiden Größen unverändert bleibt, und in der ,Wissensagenten' bzw. "knowledge broker" eine zentrale Rolle spielen: "Jt became increasingly evident that ,knowledge' was not simply a body of concrete and objective facts but that accepted knowledge was deeply implicated in questions of framing and interpretation and that these were related to perceived interests. Although the range of uncertainty was narrow, atmospheric science did not provide a body of objective and value-free facts from wh ich international cooperation emerged. Rather knowledge was framed in light of specific interests and preexisting discourses so that questions of value were rendered as questions of fact, with exogenous factors shaping the political salience of various modes of interpreting that knowledge." (Litfin 1994: 6) Litfin konstatiert für den Ablauf der Verhandlungsprozesse insbesondere eine Dominanzverschiebung zwischen verschiedenen Diskursen, an deren Ende der vorher weniger bedeutsame ,VorsorgeDiskurs' eine Vorrangstellung erhält. 437 Hajer (1995; 1997) untersuchte die politischen Auseinandersetzungen über das Problem des Sauren Regens in Großbritannien und den Niederlanden. Für Großbritannien stellt er die Konkurrenz zwischen einem traditional-pragmatischen und einem ,öko-modernistischen' Diskurs fest, in deren Auseinandersetzung nach und nach zwar das Bestehen eines Problems ,Saurer Regen' öffentlichpolitisch anerkannt wird. Die politischen Regulationsmuster greifen jedoch auf eine traditionelle endof-pipe Lösungsstrategie (Rauchgasentschwefelung, Katalysatoren, Aufbereitungsanlagen für Gülle) zurück. Strategien antizipierender Vorsorge wurden zwar im Diskurs gefordert, aber nicht beschlossen. Demgegenüber kann für die niederländische Beschäftigung mit dem Problem des Sauren Regens kaum von einer Kontroverse gesprochen werden. Tatsächlich wird hier sofort und unisono die Existenz eines entsprechenden Handlungsbedarfs anerkannt; kontrovers sind dann jedoch die Mittel der Schadensbekämpfung. Hier stehen sich zwei Varianten apokalyptischer Warnungen gegenüber - ein zu schnelles Handeln gefährde das Wachstum, ein zu zögerliches Handeln gefährde die Umwelt. Im Endergebnis werden auch hier regulatorische Maßnahmen mit end-of-pipe-Charakter beschlossen: "Der Saure-Regen-Diskurs offenbart also ein Paradoxon. Während der Saure Regen letztendlich als 437
Vgl. dazu auch die Studie von Grundmann (1999b).
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eine allgemein akzeptierte programmatische Angelegenheit behandelt wurde und eine neue ,kognitive Wirklichkeit' erzeugte, die eine veränderte politische Vorgehensweise nahelegte, erbrachten die gewählten Lösungen keine materielle Umsetzung dieser neuen Sichtweise. Der Saure Regen wurde vielmehr mit äußerst pragmatischen Lösungen bekämpft. Hier stellt sich nun die Frage, ob ökologische Modernisierung am Ende überhaupt jemals mehr war als ein bloßes Set von story lines, eine rein diskursive ,Verzierung', während es doch die normalen institutionellen Routinen sind, die letztendlich die Art der Regulierung bestimmten. Obwohl sich eine solche Lesart zunächst aufdrängt, zeigt eine institutionell-konstruktivistische Betrachtung, daß dies den tatsächlichen empirischen Befunden nicht gerecht wird." (Hajer 1997: 113) Hajer interpretiert diese Diskrepanz zwischen diskursiver Problemkonstitution und beschlossenen Maßnahmen als Resultat der ,Mikro-Mächte' des Beharrungsvermögens der industriegesellschaftlichen Institutionen, die bemüht sind, neue Probleme und Anforderungen in ihre bekannten Routinen zu integrieren. In meiner eigenen Untersuchung öffentlicher Diskussionsprozesse über die Bewältigung des Müllproblems in Deutschland und Frankreich (Keller 1998) konnte ich zeigen, dass in Deutschland zwei Diskurse um die angemessene Problemdefinition konkurrierten. Diese Diskurse wurden als strukturkonservativer Diskurs einerseits, als kulturkritischer Diskurs andererseits bezeichnet. Beide Diskurse benutzten zu Mobilisierungszwecken katastrophische Szenarien, sei es der Wachstumsgefahrdung, sei es der Umweltzerstörung. Die Mobilisierungserfolge des kulturkritischen Diskurses zwangen seinen Gegenpart nach und nach zur Integration von Elementen der kulturkritischen Problemdefinition in die eigene Diskursposition. In Frankreich stellte sich die öffentliche Debatte über das Müllproblem von Beginn an als Präsenz eines hegemonialen, durch den Staat formulierten Diskurses dar, der ritualistisch die Problemkontrolle verkündete und gleichzeitig für Missstände zivilgesellschaftliche Akteure verantwortlich machte. In beiden Ländern wurden schließlich vergleichbare ,endof-pipe' ansetzende Maßnahmenbündel beschlossen, wobei die deutschen Regulierungen deutlich ,strenger' ausfielen. Ähnlich wie die Niederlande in der Studie von Hajer spielte hier Deutschland auf der europäischen Ebene die Rolle des ,Antreibers'. Vermittelt über die EU wurde im Falle des Sauren Regens Großbritannien, im Falle des Müllproblems Frankreich zu eigenen Maßnahmen gezwungen. 438 Viehöver (1997) untersuchte öffentliche Diskurse über Klimawandel und konnte nachweisen, dass sechs Diskurspositionen mit unterschiedlichen narrativen Potenzialen um die angemessene Probleminterpretation konkurrierten. Den Erfolg der Treibhaus-Position in der bundesdeutschen Öffentlichkeit sieht Viehöver im Wesentlichen in der überlegenen Resonanzfiihigkeit der narrativen Elemente dieser Erzählung selbst begründet. Demgegenüber war bspw. in Großbritannien zwischenzeitlich auch die ,Sonnenfleckentheorie' vergleichsweise verbreitet. 439 Herbert Gottweis (1998) hat sich in vergleichender Perspektive mit Diskursen und Regulationspolitiken in Bezug auf die Gentechnologie beschäftigt. Die Diskurskonstellationen in Großbritannien, Deutschland und Frankreich haben sehr unterschiedliche Regulierungsweisen der Gentechnologie erzeugt. In Großbritannien und Deutschland hätten - so Gottweis - aufgrund der spezifischen diskursiven Konstellation die sozialen Bewegungen einen vergleichsweise stärkeren Einfluss auf die Dringlichkeit einer Regulierung ausgeübt. Dies sei in Frankreich keineswegs der Fall gewesen. Gleichzeitig habe die starke Polarisierung zwischen Gegnern und Befürwortern in Deutschland ein hohes Misstrauensverhältnis zwischen den Protagonisten erzeugt. Demgegenüber sei die Basis für Verhandlungen in Großbritannien sehr viel besser gewesen. Hinter diesen kulturellen Differenzen stünden unterschiedliche Meta-Narrationen über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft. In allen drei Ländern seien jedoch neue Regulationssysteme entstanden, die sich um den ,Master-Signifier' des Vorsorgeprinzips organisierten und die Praxis der Gentechnologie stabilisierten. Gleichwohl sind die öffentlichen Debatten nicht abgeschlossen (ebd.: 320f):"A number ofstructural similarities in the riskregulation policy responses in Germany, France, and Britain have been considered. The evolving 438 439
Vgl. auch die weiteren Analysen zu Mülldebatten von Viehöver (2000) und die Hinweise in Keller (1998). Vgl. auch Viehöver (2003a), Ulbert (1996) und Weingart/Engels/Pansegrau (2002).
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policy narratives intermediated between the changed contexts of regulatory policymaking and the transformed discursive constellation by establishing a new system of regulation that, at its core, transIated a precautionary approach to genetic engineering as an integral element of biotechnology industrial policy and, at the same time, marginalized more radical positions (... ) from the field of social positivity. This demonstrates that policymaking attempts to establish hegemonic reality definitions not by eliminating opposition but by re-absorbing discourses of polarity into a system of 'Iegitimate differences' and by defining the locations where differences can be articulated. The demands of the critics were not rejected; they were partially absorbed and thus transformed from statements of antagonism into 'Iegitimate differences.' The Gesetz zur Regelung der Gentechnik and the British Environmental Protection Act document this strategy of splitting the resistance by separating an 'acceptable' critique from forms of resistance that could be removed from the field of social positivity and (potentially) vilified as expressions of irrationalism." (Gottweis 1998: 319f).440
Eine Querschnittsbetrachtung dieser und weiterer diskursorientierter Studien der Umweltund Risikoforschung verdeutlicht im Hinblick auf die darin sichtbar werdenden Veränderungen von Diskursverhältnissen mehrere Entwicklungen, die ich nachfolgend kurz erläutere. 441 Im Einzelnen handelt es sich dabei um • • • • •
Veränderungen der Rolle und Wahrnehmung des wissenschaftlichen Wissens in öffentlichen Diskursen (1), die Entstehung neuer Sprecherpositionen (2), die Multiplikation von Diskursarenen (3), die Unterschiedlichkeit länderspezifischer Diskursverhältnisse und Prozesse der Transnationalisierung von Diskursen (4), komplexe Beziehungen zwischen Diskursen und institutionellem Wandel (5).
(1) Die Uneindeutigkeit des wissenschaftlichen Wissens
Zunächst wird deutlich, dass in Umwelt- bzw. Risikokontroversen sowohl die Wissensbasis wie auch die Interpretation von Akteursinteressen und Interventionsstrategien verhandelbare Konstrukte sind. Wissenschaftliches Wissen fungiert dabei keineswegs als primäre Ressource der Schließung von Auseinandersetzungen, sondern als ein Konflikt- und Interpretationsfeld unter anderen. Gleichwohl sind die entsprechenden Auseinandersetzungen ohne wissenschaftliches Wissen überhaupt nicht zu ruhren. So kommt dieser Wissensform also eine ambivalente Rolle zu: Einerseits ist sie grundlegend und unabdingbar rur die von unterschiedlichen Diskurspositionen beanspruchte angemessene Beschreibung der, faktischen Realität' von Problemzuständen. Andererseits ,belegt' die Veröffentlichung wissenschaftlicher Kontroversen, dass unterschiedlichste Interessen in die Konstruktion und Interpretation wissenschaftlicher Fakten unauflösbar eingebunden sind. Exemplarisch verdeutlicht dies Litfins (1994) Analyse der "Ozon-Diskurse", in der die Autorin im Rückgriff auf ihre 440 Vgl. ergänzend die Diskursstudien im Feld der Gentechnologie von Waldschmidt (1996), Braun (2000), Lösch (200 I), Lernke (2002). 441 In historischer Hinsicht mögen die hier rur das Phänomen einer Etablierung der ,ökologischen Frage' getroffenen Feststellungen immer wieder beobachtbar sein (bspw. im Rahmen der frühen Auseinandersetzungen über die ,soziale Frage'), denn sie markieren zunächst einen Unterschied zu den je bis dahin bestehenden Merkmalen der Diskursregime.
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Forschungsergebnisse gegen Ansätze argumentiert, die von homogenen Staatsinteressen und eindeutigen Handlungsempfehlungen auf der Grundlage wissenschaftlicher Problemdefinitionen ausgehen, wie etwa das Konzept der "epistemic communities" von Haas (1992).442 Diese Arbeit zeigt auch, dass wissenschaftliches Wissen in solchen Auseinandersetzungen nicht hinreicht, um diskursive Kontroversen zu beenden, zumindest nicht in dem Maße, wie noch in den Jahrzehnten zuvor auf Expertenwissen rekurriert wurde, um ,Sachprobleme' zu lösen. Viehövers (1997) Verweis auf sechs konkurrierende "KlimaErzählungen", die nicht nach klimawissenschaftlichen Kriterien verglichen und auf ein konsensuelles Modell reduziert werden können, deutet ebenfalls die Bedeutung von ,Ungewissheit' und ,Nicht-Wissen' in den entsprechenden Entscheidungsprozessen an, die mittlerweile Gegenstand soziologischer Analysen geworden sind (vgl. Pellizzoni 2003; Wehling 2001). Tatsächlich verweisen die Studien der Umweltdiskursforschung durchweg eher auf die politische Schließung von Entscheidungsprozessen trotz bestehender Uneindeutigkeit der wissenschaftlichen Interpretationen. Durch Umweltkontroversen wurde so nicht nur im Hinblick auf die ,Faktenbeschreibung', sondern auch bezogen auf Handlungsempfehlungen die Uneindeutigkeit des exakten Wissens auf die öffentliche Agenda gesetzt. Dies bedeutet keinen Verzicht auf wissenschaftliche Argumente (im Gegenteil!), aber eine Relativierung ihres Stellenwertes im politischen und diskursiven Prozess. Öffentliche Risiko-Diskurse sind hybride Gebilde, in denen wissenschaftliches Wissen und Sachargumentation mit Dramatisierungen von Problemdringlichkeiten und Moralisierungen des Handlungsbedarfs verknüpft werden.
(2) Neue Sprecherpositionen Ein weiteres Moment, das in der UmweIt- und Risikodiskursforschung deutlich wird, betrifft die Ausbildung neuer Sprecherpositionen. Bspw. zeigt meine eigene Untersuchung über die Genese und den Verlauf der öffentlichen Auseinandersetzungen über das Hausmüllproblem seit Mitte der 1960er Jahre, wie zunächst die Kritik der staatlichen Müllpolitik von Experten im Rahmen der etablierten institutionellen Kompetenzzuweisungen, d.h. im Feld zwischen Politik, Administration, Wirtschaft und Wissenschaft formuliert wird. Sehr schnell bilden sich jedoch mit der Abfallbewegung in Gestalt zahlreicher Initiativen und Vereine soziale Gruppen und Akteure aus, die sich entsprechende Sachkompetenzen aneignen und im Rahmen der öffentlichen Kontroversen neue Sprecherpositionen etablieren. Sie artikulieren ihre Positionen nicht im Namen spezifischer institutioneller Interessen, sondern treten als Repräsentanten einer engagierten Zivilgesellschaft in den öffentlichen Streit ein. Empirische Indikatoren dieses Prozesses liefern u.a. die Gründung der Partei Die Grünen, die Ausbildung von ökologischen Forschungsinstituten und Initiativen bis hin zu den heute etablierten Nichtregierungsorganisationen Greenpeace etc., die Gründung von eigenen Zeitschriften über Müllbehandlung, auch Demonstrationen, Medienberichterstattungen, Dokumente und Einladungen zu Diskussionsrunden. Diese Entstehung und Durchsetzung neuer Sprecherpositionen kann als Erosion etablierter moderner Diskursformationen begriffen werden, in denen Sprecherpositionen vergleichsweise eindeutig den jeweiligen Experten der Spezialöffentlichkeiten von Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft 442
Vgl. auch die Analysen zur Ozonloch-Debatte von Grundmann (I 999b).
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vorbehalten waren. Das eroberte und zugeschriebene symbolische Kapital der neuen Akteure, die ihnen attestierte Legitimität der Beteiligung an Problemdiskursen, ergeben sich nicht allein aus der Ressource universaler Moral oder Interessen, mit denen sie ihre Anliegen begründen. Sie folgen vielmehr auch aus ihrer Kapazität zur eigenständigen Ressourcenmobilisierung, die in der Generierung von wissenschaftlichem Problemwissen zum Ausdruck kommt. Solche Wissensressourcen bilden eine unabdingbare Grundlage der notwendig wissensbasierten Konfrontation und Herausforderung etablierter Deutungsweisen in Umwelt- und Technikkonflikten.
(3) Die Multiplikation der Diskursarenen Eng mit diesen Prozessen verbunden ist die Multiplikation von Diskursarenen. Dies ist nicht einfach eine technikinduzierte Folge der Explosion massenmedialer Verbreitungsformen bis hin zum zeitgenössischen Internet-Chat. Vielmehr bestand eine der politischen Reaktionen auf die skizzierte Entfaltung diskursiver Kontroversen in Umwelt- und Technikfeldern in der gezielten Einrichtung neuer Foren der Auseinandersetzung, angefangen bei Enquetekommissionen über Runde Tische, Konsensgespräche bis hin zu den unterschiedlichsten Mediationsverfahren oder Anhörungsprozeduren in konkreten Standortentscheidungen für technische Dispositive. 443 Dazu zählen auch die Gründung eigener Zirkulationsmedien für entsprechende thematische Auseinandersetzungen innerhalb der herausfordernden Risikodiskurse. Die neuen, netzwerkartig verbundenen Diskursarenen tragen in vielen Fällen keineswegs per se zur Schließung diskursiver Kontroversen bei, sondern regen zunächst die empirische Verstreuung von Artikulationen an, d.h. sie bieten Foren für die Aktualisierung konkurrierender Diskurse. 444
(4) Länderspezifische Diskursverhältnisse und Transnationalisierung der Diskurse Die verschiedenen international vergleichend angelegten Diskursanalysen - bspw. Hajers Untersuchung der Kontroverse um den Sauren Regen, Gottweis' Gentechnik-Studie oder meine eigene Untersuchung der Mülldebatten - zeigen, dass themen- und länderspezifisch unterschiedliche Diskurse bzw. Diskurskoalitionen um das legitime Wissen über und die Definition von Sachverhalten konkurrieren. Diese durch die nationalen institutionellen Traditionen und Akteurskonfigurationen geprägten Diskursverhältnisse erzeugen je spezifische Dynamiken von öffentlichen Auseinandersetzungen, Schließungen der Kontroversen und institutionellen Bearbeitungen der Gegenstandsbereiche. Unter Bedingungen des öffentlichen Diskurspluralismus, wie er für die bundesdeutsche Mülldebatte oder die niederländische Diskussion über Sauren Regen gilt, sind sukzessive Annäherungen der konkurrierenden Diskurspositionen feststellbar. Vgl. etwa Eder/BarthelDreyer (1996), Callon/Lascoumes/Barthe (2001). Dabei wurde oft auf das Habermassche Modell der Diskursethik rekurriert, das ein deliberatives Ablaufmodell fur Diskussionen zur Verfügung stellt (vgl. Keller/Poferl 2000; Kap. 3.1.3). 444 In der politikwissenschaftlichen Diskussion weist das Konzept der ,govemance' in eine ähnliche Richtung. Damit werden Prozesse der gesellschaftlichen Selbstregulierung durch Netzwerke unterschiedlichster Akteure bezeichnet, die an die Stelle herkömmlicher Steuerung durch Regierungssysteme treten (vgl. Schultze 2002). 443
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Die herangezogenen Untersuchungen belegen weiter einen Prozess der sozial-räumlichen Entgrenzung von Diskursen. Diskurse nehmen dabei nicht nur transnationalen Charakter an, sondern stellen selbst Weltereignisse und Transnationalität her. 445 Das dafur eindrucksvollste Beispiel der Umwelt- und Risikodiskussionen liefert sicherlich die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl einschließlich der grenzüberschreitenden RadioaktivitätsWolke, die, wie Poferl (1997) zeigt, eine sehr unterschiedliche diskursive Bearbeitung erfährt und dadurch entsprechend verschiedene ,Ereignisreichweiten' ausbildet (vgl. Kap. 5.2).446 Die Aufhebung etablierter sozialräumlicher Grenzziehungen kann sich auch, wie am Beispiel der von Litfin untersuchten Ozon-Diskurse oder dem von Viehöver u. a. analysierten Diskurs über Klima-Wandel deutlich wird, unmittelbar aus der Konstitution des betreffenden Gegenstandsbereiches, hier also: globalen Anliegen, ergeben. In anderen Fällen - bspw. in den Studien von Hajer oder Keller - ist es die ,kleinformatigere' Ebene transnationaler Stoffflüsse und Regulierungspolitiken, welche die diskursiven Grenzerosionen erzeugt, ohne gleich den gesamten Diskursen transnationalen Charakter zu geben. Die Diskurse über Klimawandel, Ozonloch, Sauren Regen oder Müllbeseitigung konstituieren durch die Art und Weise ihrer Problembestimmung zugleich die transnationale Reichweite des jeweiligen Problemzusammenhangs, d.h. gegebenenfalls auch die Notwendigkeit der Einsetzung transnationaler Regime. (5) Diskurse und institutioneller Wandel In den risikogesellschaftlichen Handlungsfeldern ist das Verhältnis zwischen (herausfordernden) Diskursen und etablierten institutionellen Praktiken weder als komplette Transformation existierender Dispositive noch als unverändertes Weiterbestehen angemessen bestimmt. Diskursanalysen bieten hier nicht nur Rekonstruktionen, sondern auch Erklärungen dafur, warum und wie sich die Verschränkung zwischen Diskursen und Praktiken konkret und je unterschiedlich gestaltet. Als erklärende Faktoren werden etwa überlegene Leitmetaphern und story lines (Viehövers 1997, 2003a), unterschiedliche Strukturen der Öffentlichkeit (Keller 1998) oder das Beharrungsvermögen der bestehenden institutionellen Apparate (Hajer 1995) herausgearbeitet bzw. akzentuiert. Zwischen der Positionierung neuer Gegenstände auf der öffentlichen Agenda und in institutionellen Settings und der Neukonfiguration institutioneller Arrangements bestehen also komplexe Beziehungen. 447 So sind, auch das zeigen die Studien, eine Vielzahl entsprechender Dispositive entstanden, angefangen bei der Neuorientierung wissenschaftlicher Forschungsprogramme über die Schaffung von Ministerien, Kommissionen und internationalen Regimen bis hin zu den bekannten Öko-Zertifikaten u.a., die in bestehende institutionelle Praktiken eingelagert bzw. mit ihnen verknüpft werden. Diskursanalysen vermeiden hier einen naiven ObjektiHepp (2002b: 871) spricht allgemein von "kommunikativer Deterritorialisierung". Vgl. zu entsprechenden Potenzialen transnationaler bzw. globalisierter Kommunikationsprozesse Meyrowitz (1990a,b), Münch (1995) sowie die Beiträge in HepplLöffeiholz (2002). 446 Poferl zeigt, dass sie in einem deutschen Diskurssegment - dafür steht in ihrer Analyse die Frankfurter Allgemeine Zeitung - als Problem der technischen und politischen Rückständigkeit des damaligen ,Ostblocks' interpretiert wird, während eine andere, in der Süddeutschen Zeitung vertretene Diskursposition sie als generelle Weltangelegenheit der Menschheit deutet. 447 Dies ließe sich auch fur weitere Diskursstudien, etwa zum Himtod (Schneider 1999), zeigen. 445
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vismus bezüglich ihres Gegenstandsbereichs ebenso wie den direkten Kurzschluss von Deutungen auf Handlungen (Praktiken). Gerade die analytische Trennung von Zeichengebrauch und Handlungsweisen ist notwendig, um deren praktische Relationierung zu rekonstruieren. Die Untersuchungen der diskursiven Auseinandersetzungen um die Transformation gesellschaftlicher Definitionsverhältnisse im Bereich der Umwelt-, Wissenschafts- und Technikpolitiken belegen zwar eine vergleichsweise große Trägheit bestehender institutioneller Arrangements und beugen dadurch einer naiven Überschätzung (etwa angesichts schneller Verbreitungen eines entsprechenden ,Vokabulars') der Machtwirkungen neuer Diskurse VOr. 448 Sie zeigen jedoch auch und vor allem, wie solche Dispositive herausgefordert, ihrer Fraglosigkeit enthoben und unter Rechtfertigungsdruck gesetzt werden, sich also insgesamt einem Prozess der Delegitimation ausgesetzt sehen, aus dem sie verändert hervorgehen. Vor dem Hintergrund dieser Bilanzierung wichtiger Veränderungen der Diskursregime im Feld umweltpolitischer Auseinandersetzungen wende ich mich im folgenden Abschnitt der breiteren sozialen Dynamik zu, die aus dem Zusammenspiel von Umwelt- und Technikkatastrophen mit Risikodiskursen entsteht und - unter spezifischen Bedingungen - in eine allgemeine gesellschaftliche Transformation von Wissensverhältnis-' sen münden kann. 5.2 Risikoereignisse, Risikodiskurse und symbolische Ordnung Vorangehend habe ich im Rekurs auf exemplarische Studien der Umweltdiskursforschung Ergebnisse und Möglichkeiten der Diskursperspektive bei der Untersuchung gesellschaftlicher Wissensregime und Wissenspolitiken verdeutlicht. 449 Dabei stand die Konzentration auf die themenspezifischen Verläufe oder Karrieren von Diskursen und Konfliktfeldem in politischen Entscheidungsprozessen im Vordergrund. Daran anschließend lässt sich jedoch mit Blick auf die öffentlichen Arenen gesellschaftlicher Definitionskonflikte allgemeiner danach fragen, welche Mechanismen, Bedingungen oder Ereignisse überhaupt die gesellschaftliche Dynamik von diskursiven Auseinandersetzungen in Gang setzen, und welche Die Trägheit wird, wie die Analysen zeigen, auch dadurch unterstützt, dass die institutionellen Gefüge sich im Schnittpunkt bzw. Zugriff verschiedener Diskurse - nicht nur der Umweltdebatten! - befinden. So argumentieren die Vertreter der Governmentality Studies zu Recht, dass Risikodiskurse nur ein Diskursfeld moderner Gesellschaften darstellen, das in Konkurrenz zu anderen Diskursfeldern steht. Will man die Transformationspotenziale dieses Feldes angemessen einschätzen, so darf insbesondere die in den 1970er Jahren ansetzende Ökonomisierung (Neoliberalisierung) des Gesellschaftlichen nicht vernachlässigt werden. Vgl. dazu das Schwerpunktheft von Discourse & Society (2002), dort insbesondere den Beitrag von ChiapellolFairclough (2002), auch GeelHulll Lankshear (1996) und BoltanskilChiapello (1999). Dean (1998) bspw. verweist auf die neoliberale Multiverantwortlichkeit der Subjekte in Bezug auf ihre Lebensführung, d.h. auf die in Prozesse der Individualisierung einfließenden Vervielfaltigungen der Lebensbereiche, die der permanenten Evaluation nach Effizienzkriterien unterworfen werden. Aus der Perspektive der Diskurstheorie hat vor allem Norman Fairclough (1996; 1999) auf die Globalisierung entsprechender diskursiver Praktiken hingewiesen. In Anlehnung an Habermas (1981) ließe sich in diesem Zusammenhang von einer diskursiven "Kolonialisierung der Lebenswelt" sprechen. Das Hineinwirken expertenbasierter Diskurse in Alltagspraktiken betrifft freilich nicht nur die neoliberale Gedankenfigur der IchAG. Vielmehr erzeugen die soziokulturell und arbeitsmarkt-induzierten Prozesse der Individualisierung und Enttraditionalisierung permanent Situationen der Multioptionalität, auf die unterschiedlichste Beratungsdiskurse reagieren. 449 Die Wissenssoziologische Diskursanalyse systematisiert und erweitert die dort im Einzelnen sehr unterschiedlich entfalteten Diskursperspektiven in einem allgemeineren Bezugsrahmen. 448
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Effekte davon ausgehen. Die Relation von Diskursen und Ereignissen oder allgemeiner: von Struktur und Ereignis ist ein altes Thema der strukturalistischen und poststrukturalistischen Debatten. Es geht dabei um das Verhältnis von Strukturreproduktion und Strukturtransformation in den Aktualisierungen, die ein Diskurs erfährt, meist um den Zusammenhang von einzelner sprachlicher Äußerung und zugrunde liegenden Sprachstrukturen (vgl. Kapitel 3.1.2 und 4.2.2). Darüber hinaus lässt sich jedoch aus soziologischer Perspektive auch nach dem Verhältnis von symbolischer Ordnung und gesellschaftlichen Ereignissen fragen: Unter welchen Bedingungen passen sich letztere in bestehende Ordnungen ein? Wann zeigen sie ,transformierende' Qualitäten, generieren also neue Deutungsangebote? Symbolische Ordnungen werden in der Perspektive der Wissenssoziologischen Diskursanalyse als historisch kontingente Fixierungen von Sinnstrukturen begriffen, die durch Diskurse, Praktiken und Dispositive hergestellt werden. Nur selten bzw. in vergleichsweise kleinen Kollektiven - wenn überhaupt - kann von einer einzigen widerspruchsfreien symbolischen Ordnung gesprochen werden. Für modeme Gesellschaften ist von unterschiedlichen, auch konkurrierenden Ordnungsprozessen auszugehen, die in Abhängigkeit von ihrem lnstitutionalisierungsgrad eine mehr oder weniger starke hegemoniale Position einnehmen. Schon Berger/Luckmann (Kapitel 2.2.1), Gusfield (Kapitel 2.3.3.2) oder Laclau/Mouffe (vgl. Kapitel 3.3.2) hatten darauf hingewiesen, dass diese Strukturierungen ein ,Fließgleichgewicht' bilden, d.h. immer mehr oder weniger in Veränderung begriffen sind. Michel Foucaults Konzept der Genealogie forderte die Rückverfolgung der Herkunft solcher Sinn-Setzungen durch Raum und Zeit. Damit rückt die Ausbildung und Verbreitung neuer Diskurse in Auseinandersetzung mit den bestehenden symbolischen Ordnungen und deren Transformationen in den Mittelpunkt der Diskursanalyse. Diese Fragen sind Gegenstand der folgenden Ausruhrungen. In der pragmatistischen sozialkonstruktivistischen Tradition der Wissenssoziologie von Schütz, Berger und Luckmann werden die alltäglichen Deutungsvorgänge als Routineanwendungen von Typisierungen begriffen, die aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat stammen und individuell angeeignet wurden (vgl. Kap. 2.2.1, 2.3.3.1, 4.2.1, 4.3.3.2). Zunächst folgen solche Aufrnerksamkeitsroutinen dem ,Sparsamkeitsprinzip' und den momentanen Relevanzstrukturen des Deutens und Handelns in einer fraglos gegebenen Wirklichkeit, d.h. der bevorzugten ,Erkenntnis des Bekannten'. Erst da, wo sie auf Probleme stoßen, irritiert werden, weil Phänomene als kategorial oder klassifikatorisch uneindeutig erscheinen und hinreichende Motivationen zur Aufhebung dieser Uneindeutigkeit bestehen, beginnt die Suche nach oder Konstruktion von neuen, passungsfähigeren Typisierungen. SchützlLuckmann (1979: 30ft) illustrieren die Normalitätsunterstellungen der alltäglichen Routineauslegungen und das Verhältnis zwischen dem "fraglos Gegebenen und dem Problematischen" am Beispiel eines Waldspazierganges und Pilzfundes. Ob hinreichende Typisierungen zur Bestimmung eines Erfahrungsgehaltes als ,Pilz' verrugbar sind, hängt einerseits von den situativen Motivationen ab (will ich ihn essen?), andererseits aber auch von den Passungen der Phänomengestalt zu den kategorialen Bestandteilen einer Typisierung (gibt es zwei Meter hohe Pilze?). Vergleichbare Routinen und Irritationserfahrungen fmden sich auch in gesellschaftlichen "Subsinnwelten", etwa in der Wissenschaft: Umberto Eco hat vor einigen Jahren am Beispiel der Entdeckung des Schnabeltieres darüber berichtet, welche Kreativitätspotenziale freigesetzt werden, wenn die gängigen klassifikatorischen Praktiken der Zoologie auf ,lebendigen Widerspruch' treffen:
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"Es war so groß wie ein Maulwurf, hatte kleine Augen, die Vorderbeine wiesen vier Krallen auf, die mit einer Membran verbunden waren, die größer war als jene, die die Krallen der Hinterbeine verband. Das Tier hatte einen Schwanz, einen Entenschnabel und schwamm mit den Beinen, die es auch zum Graben seiner Höhle benutzte. Es war zweifellos ein Amphibium (...) Schnabeltiere werden später als Fisch-, Vogel- und Vierftißernatur beschrieben (...) Bewick schreibt, man sollte nicht versuchen, es nach den üblichen Klassifikationskriterien einzuordnen, sondern sich damit zu begnügen, diese merkwürdigen Tiere so zu beschreiben, wie sie uns erscheinen." (Eco 2000: 277ft)
Wiederum auf einer abstrakteren Ebene fragte Marshall SahIins danach, wie ganze Gesellschaften ungewöhnliche Ereignisse und kollektive Erfahrungen in ihre bestehenden symbolischen Ordnungen einpassen bzw. unter welchen Bedingungen sich daraus Transformationen dieser Ordnungen selbst entwickeln. Sahlins zufolge entstehen Neuerungen symbolischer Ordnungen aus der Diskrepanz zwischen Ereignissen und gesellschaftlich verrugbaren Interpretationsschemata. Soziale Akteure reagieren darauf mit Kreativitäe So "Da die zufälligen Handlungsbedingungen (...) nicht unbedingt der Bedeutung entsprechen müssen, die eine bestimmte Gruppe ihnen zuschreibt, nehmen die Menschen eine kreative Überprüfung ihrer überkommenen Schemata vor, und insofern wird die Kultur historisch durch das Handeln verändert. Man kann sogar von einer ,strukturellen Transformation' sprechen, die durch die Veränderung gewisser Bedeutungen die Beziehungen der kulturellen Kategorien zueinander verändert, mithin eine, Systemveränderung, bewirkt." (Sahlins 1992b: 7)
Die Überlegungen von Sahlins folgen dem Gedanken der pragmatistischen Tradition, dass Routineauslegungen durch ,abweichende' Phänomengestalten irritiert und ,problematisch' werden. Seine Übertragung dieser Annahme auf die Ebene symbolischer Ordnungen und gesellschaftlicher Kollektiverfahrungen hilft, die Mechanismen der gesellschaftlichen Resonanz von Risikodiskursen zu verstehen. Im Anschluss an die Überlegungen von Schütz!Luckmann, Eco und Sahlins lässt sich die These formulieren, dass Irritationserfahrungen aufder Ebene kollektiver Wissensvorräte bzw. symbolischer Ordnungen zum Katalysator von Diskursen werden, die, neue' Interpretationen generieren und damit in Konkurrenz und Herausforderung zu den etablierten Diskursformationen treten. Die Ursachen und das Erscheinungsbild solcher Irritationen und Probleme sind vielfältig. Sie mögen in der Begegnung mit Anderem, Fremdem, Unvertrautem liegen, in den Bemühungen um Vertiefungen wissenschaftlichen und technischen Wissens, der Gestaltung bzw. Optimierung gesellschaftlicher Handlungsfelder, in der erfolgreichen Artikulationspraxis sozialer Diskurs-Akteure oder in Ereignissen, die sich eindeutigen Routineauslegungen entziehen als eine Art ,soziale Schnabeltiere'. Herausfordernde bzw. neue Diskurse entstehen und verbreiten sich in solchen Konstellationen des Deutens und Handeins. Die ereignisinduzierte Generierung von Diskursen möchte ich nachfolgend exemplarisch am Beispiel der Um-
SahIins diskutiert dies in Bezug auf symbolische Ordnungen der Hawaiinsulaner, die 1779 die Ankunft des ,Captain Cook' zu verarbeiten hatten. Vgl. auch Sahlins (1986, 1992a). Hans Joas (1996) hat im Anschluss an den Pragmatismus und Giddens Theorie der Strukturierung eine soziologische Theorie der "Kreativität des HandeIns" eingefordert.
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welt- und Technikdebatten, d.h. also der Entfaltung von Risikodiskursen verdeutlichen. Der Argumentationsgang lässt sich in folgenden Thesen zusammenfassen: 451 • •
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Das Erscheinen von Risikodiskursen in gesellschaftlichen Arenen wird durch besondere Ereigniskonstellationen - (potenzielle) Risiko-Ereignisse452 - ausgelöst, die Anlässe rur gesellschaftliche Irritationserfahrungen erzeugen. Solche Ereignisse werden dann zum Auslöser von Interpretationskonjlikten (Risikodiskursen), wenn soziale Akteure motiviert sind, bestehende Deutungen und Verantwortungskonstruktionen hinsichtlich der Ereignisabläufe zum Gegenstand ihrer Artikulationspraxis zu machen. In dieser Konkurrenz der Interpretationen spielt wissenschaftliches Wissen die entscheidende Rolle in der ,Faktenbeschreibung' . Die gesellschaftliche Verbreitung von Risikodiskursen und die dadurch vermittelte kollektive Risikoerfahrung ist jedoch eingebettet in ein komplexes Gefüge von Resonanzbedingungen der Massenmedien, in denen wissenschaftliches Wissen nur eine Größe neben anderen darstellt. Für Risiko-Ereignisse können zwei typische Ereignisformen unterschieden werden, deren Entfaltung je spezifische Diskursdynamiken in Gang setzt, welche die bestehenden symbolischen Ordnungen herausfordern. Unter den Bedingungen ihrer massenmedialen Beobachtung erzeugen diese Ereignisse serielle Erfahrungen eines distanzierten Mitleidens und nehmen die Gestalt sozialer (kollektiver) Dramen an, in denen die symbolischen Ordnungen selbst zum Konfliktgegenstand werden. Solche Konflikte entfalten sich in den öffentlichen Arenen als Diskurse, die in einen Wettstreit der Klassifikation treten und konkurrierende Narrationen über die Referenzereignisse prozessieren. Die Wirkungen dieser Diskurse hängen von den Resonanzstrukturen gesellschaftlicher Öffentlichkeiten und der institutionellen Trägheit und Stabilisierung der bestehenden Wissensregime ab. Ereignisse erzeugen mithin Gelegenheitsstrukturen für diskursive Rekonfigurationen symbolischer Ordnungen und soziokulturelle Transformationsprozesse, ohne dass von einem Automatismus solcher Effekte auszugehen ist.
Nachfolgend wird zunächst gezeigt, inwiefern katastrophischen Ereignissen eine Irritationswirkung im hier relevanten Sinn zugeschrieben werden kann. Ausschlaggebend darur ist, so werde ich argumentieren, ihr in Anerkennungskonflikten durchgesetzter Hybridcharakter zwischen Natur und Gesellschaft (Kapitel 5.2.1). Daran anschließend unterscheide ich zwei Entfaltungsformen solcher Ereignisse - die Zeitlupen-Katastrophe und die Zeitraffer-Katastrophe - mit je spezifischen Implikationen rur die etablierten Wissensordnungen (Kapitel 5.2.2). Die kollektive Ereigniswahmehmung ist in beiden Fällen eine Erfahrung 451 Es handelt sich hier, wie einleitend betont, nicht um eine exemplarische empirische Umsetzung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse, sondern um eine darauf aufbauende theoriegeleitete Interpretation von Prozessen des sozialen Wandels. 452 Im Folgenden spreche ich synonym von Risiko-Ereignissen, Risiko-Katastrophen, risiko-katastrophischen Ereignissen oder katastrophischen Ereignissen. Ich beziehe mich damit immer auf die neueren umwelt- und technikbezogenen Kontroversen, in denen die Zurechnung von Katastrophen, Schädigungen usw. nicht eindeutig auf Natur oder göttliche Fügung erfolgt, sondern strittig ist.
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aus der Distanz. Kapitel 5.2.3 diskutiert, wie sich in diesen Prozessen eine Form der massenmedial vermittelten kollektiven Katastrophenerfahrung und des distanzierten Mitleidens herausbildet, durch welche Katastrophen zum Mittelpunkt eines sozialen Dramas werden, an dem Gesellschaften ihre symbolische Ordnung prüfen. Diese Prüfung entfaltet sich in der Auseinandersetzung konkurrierender Diskurse, die ereignis-generalisierende Deutungsmuster bzw. Narrationen anbieten (Kapitel 5.2.4). Prinzipiell können drei Konstellationen dieser diskursiven Kämpfe um symbolische Ordnungen und institutionelle Gefüge unterschieden werden. Inwiefern in diesem Zusammenhang diskursiv erzeugte soziokulturelle Transformationen wahrscheinlich sind, werde ich in Kapitel 5.2.5 erläutern. 453
5.2.1 Einfliegender See "Das ist das Tal des Unglücks: Schlamm, Schweigen, Einsamkeit und auf der Stelle begreifen, daß all dies endgültig ist; da ist nichts mehr zu tun oder zu sagen. Fünf Dörfer, Tausende von Menschen, gestern noch da, heute sind sie Erde, und niemand hat Schuld; niemand konnte das vorhersehen. Im Atomzeitalter könnte man sagen, eine saubere Katastrophe, die Menschen hatten nicht ihre Finger im Spiel: Die Natur hat alles gemacht, und die ist weder gut noch böse, sondern gleichgültig. Und solche Katastrophen sind nötig, um das zu begreifen! (...) Niemand von uns kleinen Mücken wäre noch am Leben, würde die Natur sich tatsächlich entschließen, uns den Krieg zu erklären (... )."
Mit diesen Worten kommentiert der Journalist Giorgio Bocca in der Tageszeitung II Giorno am Freitag, dem 11. Oktober 1963, die Katastrophe am italienischen Stausee von Vajont, in der fast 2000 Menschen getötet werden (zitiert nach PaoliniNacis 2000: 7).454 Was ist passiert? Eine enorme Steinmasse (260 Mio. m3) löst sich von einem Berg am Seeufer und stürzt in kürzester Zeit in den See. Dort erzeugt sie eine Flutwelle von 160 Metern Höhe und einem Wasservolumen von 50 Mio. m3 • Die Hälfte dieses Wassers flutet über den Staudamm und zerstört innerhalb von vier Minuten die fünf Dörfer Longarone, Pirago, Rivalta, Villanova und Fae. Bocca liefert in seinem Kommentar eine klassische Interpretation: Es handelt sich - wieder einmal - um ein Beispiel für die ewige Geschichte von der Arroganz des Menschen gegenüber der Natur - einer Natur, die einmal mehr diesem Menschen die Grenzen seiner prometheischen Phantasien vor Augen führt. So reiht sich die Katastrophe von Vajont in die Serie der Katastrophen ein, die die tragische Geschichte der Menschheit begleiten. Nach dem Tod Gottes ist es nun also die Natur selbst, die in einem solchen Ereignis ursächlich ,handelt', sich gegen den Menschen wendet, ihn in seine Schranken weist, selbst da, wo er sein Bestes gab: "Ein Stein ist in ein Glas gefallen, das Wasser ist auf die Tischdecke gelaufen. Das ist alles. Nur daß der Stein so groß wie ein Berg war, das Glas ein paar hundert Meter hoch und unten auf der Tischdecke Tausende von Menschen standen, die sich nicht wehren konnten. Und das Glas ist nicht einmal zerbrochen; man kann den, der es gebaut hat, nicht beschimpfen, denn das Glas war gut gemacht, nach allen Regeln der Kunst, ein Zeugnis der Ausdauer und des Mutes der Vgl. dazu auch Keller (2000a; 2003c). Vgl. zur Vajont-Katastrophe, den erwähnten Daten, Stellungnahmen und Ereignissen das faszinierende Buch über den "Fliegenden See" von PaoJiniNacis (2000).
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Diskurse und Sozialer Wandel Menschen. Der Vajont-Damm war und ist ein Meisterwerk. Auch in ästhetischer Hinsicht." (Dino Buzzati, Corriere de la Sera, Freitag, Il. Oktober 1983; zit. nach PaoliniNacis 2000: 9)
Sieben Jahre nach der Katastrophe, im Oktober 1970, werden der Direktor der staatlichen Aufsichtsbehörde für Staudämme (Servicio Dighe), Sensidone, und der Direktor der Abteilung rur Wasserkraftwerke der SADE455 , Biadone, vor Gericht als umfassend verantwortlich rur Bergrutsch, Überschwemmung und Totschlag befunden und zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Der Kassationshof in Rom erklärt Biadene und Sensidone wenige Monate später, im März 1971, aus mehreren Gründen rur "schuldig an einer einheitlichen Katastrophe: Überschwemmung mit erschwerenden Umständen aufgrund der Vorhersagbarkeit des Geschehens, einschließlich Bergrutsch und Tötung." (PaolinilVacis 2000: 199)
Tatsächlich bringt die sorgfältige Rekonstruktion des Ereignisses eine umfassende Vorgeschichte der Ankündigung der Katastrophe an den Tag; vor allem die italienische Journalistin Tina Merlin, aber auch einige Experten hatten entsprechende Berurchtungen und Warnungen formuliert. Durch diese Reinterpretation wird die Vajont-Katastrophe in einer völlig anderen menschlichen Geschichte und narrativen Struktur situiert: sie wird zum exemplarischen Fall der "Risikogesellschaft" (Ulrich Beck). Im Nachhinein erscheinen vorangehende Warnungen, Befürchtungen, der gesamte Ungewissheitshorizont einer drohenden und zugleich menschlich (mit-)verursachten Katastrophe berechtigt und bestätigt. Damit erhalten der Stausee sowie seine natürliche und soziale Umgebung den Status "riskanter, ausufernder Verwicklungen", um Begriffe aufzugreifen, die der französische Wissenschaftssoziologe Bruno Latour kürzlich vorgeschlagen hat. Im Anschluss an die Diskussionen über "Risikogesellschaft" unterscheidet Latour "risikolose Objekte (auch: Objekte ohne Risiko) oder moderne Objekte, im Gegensatz zu riskanten (oder ausufernden) Verwicklungen (,objets sans risque ou modernes par opposition 11 attachements risques ou echeveles'): Dieser Ausdruck soll daran erinnern, dass die ökologischen Krisen nicht einen bestimmten Typ von Wesen betreffen (zum Beispiel die Natur, die Ökosysteme), sondern eine bestimmte Weise, alle Wesen herzustellen: mit den riskanten Verwicklungen bleiben die unerwarteten Konsequenzen, die Herstellungsweise und der Hersteller verknüpft, während sie von den Objekten im eigentlichen Sinn losgelöst erscheinen." (Latour 2001: 298)
Latour, der sich in zahlreichen Untersuchungen mit der Erzeugung wissenschaftlicher Fakten und technischer Artefakte beschäftigte, hat vor dem Hintergrund seiner Studien Anfang der 90er Jahre die These formuliert, die modemen Gesellschaften seien "niemals modem gewesen" (Latour 1995b). Gemeint ist damit eine Auseinanderfallen von gesellschaftlicher Repräsentation bzw. symbolischer Ordnung und tatsächlicher wissenschaftlich-technischer Praxis. Demnach unterscheiden sich modeme Gesellschaften von anderen Gesellschaftsformen durch die institutionalisierte sowie naturwissenschaftlich stabilisierte Trennung und Societa Adriatica di Elettricita; bis 1962 ein Privatuntemehmen; seit 1963 als staatliches Unternehmen Teil der italienischen Elektrizitätsgesellschaft ENEL (PaoliniNacis 2000).
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Grenzziehung zwischen Natur und Gesel1schaft; während der Bereich der Natur zum Gegenstand ,objektiver', naturwissenschaftlich erkennbarer Zusammenhänge avanciert, gilt der Bereich der Gesel1schaft als Ort der politischen Gestaltung. Unterschiedlichste "Reinigungsprozesse" tragen zur Aufrechterhaltung dieser Grenzziehung bei. Al1erdings entspreche diese symbolische Ordnung moderner Gesel1schaften keineswegs ihrer wissenschaftlich-technischen Praxis; vielmehr handle es sich um eine Selbsttäuschung, die die tatsächliche Ko-Produktion von Natur und Gesel1schaft in wissenschaftlich-technischen Handlungszusammenhängen verkenne. Aus diesem Missverhältnis resultiere nun wiederum die Dynamik moderner ökologischer Gefährdungen und technischer Risikophänomene; erforderlich seien neue, der skizzierten Praxis adäquatere Regulierungsinstitutionen. 456 Bezogen auf das skizzierte Beispiel der Katastrophe von Vajont lässt sich von einer narrativen Verschiebung sprechen: zunächst erscheinen Natur (etwa die Berge), Objekte (wie der Damm) und Gesel1schaft (Dörfer, Organisationen) säuberlich getrennt und ihr Arrangement wissenschaftlich-technisch kontrol1ierbar. Der Damm ist ein "risikoloses, modemes Objekt" und die Katastrophe entsteht aus dem eigenmächtigen, nicht vorhersehbaren Agieren von Natur. Doch in den nachträglichen Gerichtsprozessen wird eine neue Geschichte von Vajont entfaltet, die, gestützt auf unterschiedlichste, den Dammbau begleitende Belege, den Komplex von Bergen, Tälern, Wasser, Damm, Dörfern und Organisationen in anderer Weise zu einer "riskanten Verwicklung" verknüpft und im Sinne Latours die ,tatsächliche Gestalt' des Geschehens enthül1t: Was, aus der Feme besehen, nur ein einfaches Naturereignis zu sein schien, erweist sich mit zunehmender Annäherung als Ergebnis von Mischungsprozessen unterschiedlichster Bestandteile, die üblicherweise nach dem Anteil der darin implizierten menschlichen Handlungs- und Entscheidungsprozesse differenziert und voneinander geschieden werden: als ,natürlich' (d.h. mit der Natur als Verursacher), als ,technologisch' (d.h. als technisches Versagen) oder als ,gesel1schaftlich' (d.h. als menschliches Versagen).457 Diese Komponenten entfalten aber gerade in ihrem komplexen Zusammenwirken eine besondere Dynamik. Bereits einige Jahre vor Latour hat der Organisationssoziologe CharIes Perrow (1986, 1988) auf der Grundlage vergleichender Fal1studien über technische Katastrophen dafur plädiert, die Unmöglichkeit eindeutiger und unumstritten zurechnender Unterscheidungen anzuerkennen: jedes sozio-technische System sei ein hybrides System, das gerade wegen seiner Hybridität ein Unfal1- oder Katastrophenpotenzial in sich berge; dieses Potenzial steige mit verschiedenen Systemeigenschaften, insbesondere mit der interaktiven Komplexität und der engen Kopplung der Bestandteile. Perrows Analyse lässt sich über den Bereich sozio-technischer Organisationsformen hinaus durch die Hereinnahme von ,Natur' in die erwähnten hybriden Komplexe erweitern und dadurch mit den Argumenten Latours verknüpfen: sofern man nicht Natur nach ihrem Ende, zumindest nach dem Verlust ihrer ,Natürlichkeit', insgesamt als ebenfal1s sozio-technisches System begreifen will, lässt sich Latours Argument kann hier nur sehr knapp wiedergegeben werden; vgl. dazu Latour (l995b) und Latour (2001); zur Bedeutung und Transformation der Natur/Gesellschafts-Differenz in modemen Gesellschaften siehe LaufKeIler (2001). In seinem Buch über "Das Parlament der Dinge" (im Original: "Politiques de la nature" ,Naturpolitiken') modifiziert Latour seine Reflexionen über die Moderne unter dem Eindruck der Diskussion zur "Risikogesellschaft" und skizziert ein Tableau (un)möglicher institutioneller Konsequenzen (Latour 2001); zu den Übereinstimmungen und Divergenzen zwischen Latour und Beck vgl. auch Latour (2003) 457 Gesellschaften sind, wenn sie Verantwortung zuschreiben wollen, dazu gezwungen, solche, Verwicklungen' (symbolisch) zu ,entwickeln' (LaufKeIler 2001). 456
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von hybriden Komplexen sprechen, die gesellschaftliche, technische und natürliche Bestandteile miteinander verwickeln. Helga Nowotny hat in Bezug auf die gegenwärtige Dynamik naturwissenschaftlicher Erkenntnisse davon gesprochen, dass Tatsachen ihre Eindeutigkeit, d.h. ihre eindeutige Klassifizierbarkeit verlieren (Nowotny 1999). Ähnlich wird in der Wissenschafts- und Technikforschung auch von Donna Haraway die Zunahme hybrider Phänomene festgestellt, die sich eindeutigen Zurechnungen auf Natur, Gesellschaft oder Technik entziehen (Haraway 1995). Wir erleben gewissermaßen eine ,Invasion der Schnabeltiere', die die geläufigen modemen Klassifizierungspraktiken unterlaufen (Eco 2000). AIlerdings beruht schon die Anerkennung einer solchen Hybridität auf wissensbasierten geseIlschaftlichen Definitionskonflikten, d.h. der diskursiven Artikulationspraxis sozialer Akteure und dem von ihnen genutzten bzw. generierten (wissenschaftlichen) Wissen. ,Erfolgreiche' Definitionen hybrider Situationen erleichtern entsprechende Positionierungen in nachfolgenden Ereignissen. Der Hybridcharakter von Risiko-Katastrophen steht dann am Ausgangspunkt der diskursiven Dynamik ihrer weiteren sozialen Verarbeitung, weil er als Einfallstor rur die Irritation des Fraglosen, der etablierten Routineauslegungen wirkt und diese ,problematisch' werden lässt. Er selbst ist, wie das Beispiel der Gerichtsprozesse im Anschluss an die Katastrophe von Vajont zeigt, keine selbstverständliche Phänomenqualität, sondern seinerseits bereits in interessebezogenen diskursiven Auseinandersetzungen konstituiert. Wenn hier dennoch vom Hybridcharakter solcher Katastrophen gesprochen wird, so ist damit zunächst nur bezeichnet, dass sie als Ereignisse genügend Evidenzen bereitstellen, um zum Aufhänger rur symbolische Kämpfe zu werden. Auf weIchen Faktor - Natur, Technik/Gesellschaft - dann die Zurechnung erfolgt oder inwiefern die Hybridität selbst zum Fokus wird und ob dies konsensuell geschieht, ist das Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen Diskursen, deren Deutungsangeboten und themenbezogenen ,Schließungserfolgen'. Die Hochwasserkatastrophen des Jahres 2002 in verschiedenen Regionen der Bundesrepublik und zahlreichen weiteren Ländern liefern ein weiteres Beispiel rur solche Hybridphänomene: Flussbegradigungen, Oberflächenversiegelungen, starke Regenfalle und sogar der menschlich induzierte ,Klimawandel' addieren sich zu einer Situation, die ein enormes Dramatisierungspotenzial in sich birgt. Stündliche Pegelstandsmeldungen, Sondersendungen ,live' vor Ort, Bilder von Menschen, die in ihren Häusern verharren, Menschen, die alles aufgeben müssen, Wasserfluten, die Häuser und Dörfer zerstören, der Einsatz der Rettungskräfte, die Suche nach Schuldigen, das Erscheinen wichtiger Parteipolitiker, dies alles beschreibt nur einen Bruchteil der Bausteine, aus der sich die öffentliche Wahrnehmung des Ereignisses zusammensetzt. 458 Die massenmedial zirkulierenden Narrationen von Verlust, Schmerz, Wut, Verzweiflung, Hilfe und Schuld machen ein breites Publikum zu unmittelbaren und gleichzeitig distanziert betroffenen sowie distanziert mitleidenden Teilnehmern der Ereignisse. Die Hybridkatastrophe wird dadurch zum Auslöser eines sozialen Dramas, in dem nicht nur die konkreten Geschehnisse Thema sind, sondern eine allgemeine gesellschaftliche Selbstverständigung über existenzielle Fragen des kollektiven Daseins und die Angemessenheit der symbolischen Ordnungen erfolgt.459 Ich möchte deswegen Zur Flutkatastrophe sind verschiedene Bild-Dokumentationen und Bücher erschienen; vgl. stellvertretend Kachelmann (2002). 459 Die Tschernobyl-Katastrophe kann in dieser Hinsicht als exemplarisch gelten (vgl. Poferl 1997). Ein solches Kollektiv entspricht nicht notwendig einem Land oder einem spezifischen Territorium, eher einem symbolischen 458
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vorschlagen, die Verbreitung von Risikodiskursen in modemen Gesellschaften durch ihre massenmediale Einbindung in solche Dramen zu verstehen. Risiken realisieren sich in einer Serie angekündigter oder eingetretener katastrophischer Ereignisse, die zum Kristallisationspunkt entsprechender diskursiver Auseinandersetzungen werden. In einigen Gesellschaften - genauer: nach spezifischen Kriterien abgrenzbaren Räumen massenmedialer Allgemeinöffentlichkeit - resultiert daraus eine Infragestellung der traditionellen industriegesellschaftlichen Strategien der Zukunfts- und Fortschrittskontrolle. Dort entsteht eine kollektive Erfahrung der "Risikogesellschaft". Die Vajont-Katastrophe zeigt in diesem Sinne Wirkungen noch lange nach dem Ende der Geschehnisse - jenseits der konkreten Ereignisse, Schicksale, Schäden - in Gestalt der massenmedial verbreiteten "Chronik einer angekündigten Katastrophe", die ein enormes Publikum anzieht und als Mobilisierungsressource gegen vergleichbare Vorhaben genutzt werden kann: "Die Geschichte einer Naturkatastrophe, die keine war, schlug in Italien 50 000 Leser und 3,5 Millionen Fernsehzuschauer in ihren Bann. Eine wahre Katastrophe, größer und schlimmer als der Untergang der Titanic. ,Buch des Monats' im Stern!" (PaoliniNacis 2000; Umschlagtext)
Risikokatastrophen und entsprechende Warnungen verketten sich zu einer Folge von tatsächlichen oder potenziellen Schadens-Ereignissen, die im Rahmen ihrer diskursiven Verarbeitung den paradoxen Eindruck eines einzigen, aber andauernden Ereignisses ,Risikogesellschaft' erzeugen. Risikodiskurse fokussieren die Klassifikationsprobleme, die durch hybride Mensch-Artefakt-Natur-Kopplungen und deren (potenzielle) Schadenswirkungen entstehen und entwerfen von da aus Neuinterpretationen der symbolischen Ordnungen von Normalität. 46o
5.2.2 Risikoereignisse Ein Ereignis wird zum Ereignis nur vor dem Hintergrund der Banalität und Routine des Alltags. Diese Normalität existiert nicht aus sich heraus; sie ist vielmehr Ergebnis einer permanenten Produktion. Im Falle der Risiko-Katastrophen kann man die symbolischen, institutionellen und technischen Infrastrukturen der modemen Gesellschaften als Grundlagen dieser Herstellung ihrer spezifischen Normalität begreifen. 461 Dazu zählen die Strategien der naturwissenschaftlichen Grenzreinhaltung zwischen Natur und Gesellschaft, von denen Latour (l995b) spricht, auch die hohe Wertschätzung für Problemlösung durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt, das dabei gewonnene Wissen und ein entsprechendes Risikomanagement als quasi-natürliche, routinisierte Technologien der Welt-Beherrschung. So könnte man zumindest sehr knapp einige Leitideen der Modeme charakterisieren, die in den konkreten institutionellen Strukturen der Gegenwartsgesellschaften ihren Niederschlag Raum. Die jeweilige Reichweite ist eine empirische Frage und kann bspw. einen gemeinsamen Sprachraum bzw. das Mediennetz abbilden, das sich daraufhin orientiert. 460 Vgl. jetzt auch als weitere Beispiele Böschen (2003) über die Bedeutung von Seveso, Pettenkofer (2003) über die Rolle der Katastrophen in der deutschen Umweltbewegung und Viehöver (2003b) über die "Klimakatastrophe". 461 Vgl. allgemein zu einer solchen Perspektive Link CI 997), Law (1994), Wagner (1995), KendalllWickham (2001).
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gefunden haben. Die von ihnen ausgehende Nonnalisierungsleistung ist zugleich öffentliches Versprechen und materialer Prozess. Aber durch genau diesen Prozess selbst wird als nicht-intendierte Konsequenz die Möglichkeit fiir das plötzliche Auftauchen, die schockierend-erschütternden Ausmaße katastrophischer Risiko-Ereignisse und deren massenmediale Skandalisierung erst geschaffen. Peter Wagner oder John Law sprechen allgemein im Hinblick auf solche Normalitätsherstellungen von der "organisierten Modeme" als einem Prozess permanenter diskursiv-praktischer Herstellung von Ordnung bzw. Ordnungsbemühungen. 462 John Law (1994) hatte an ethnomethodologische Konzepte angeschlossen und in der Zusammenführung von Symbolischem Interaktionismus, AktorNetzwerk-Theorie und Foucaultscher Diskurstheorie einen konzeptuellen Rahmen entworfen, um die Prozesse des "Organisierens von Modernität" für die Soziologie zu erschließen. Gavin Kendall und Gary Wickham (Kendall/Wickham 2001) haben mit Blick auf Defizite der Cultural Studies diese Zusammenftlhrung weiter ausgearbeitet und auch ausgeführt, wie eine Perspektive auf die gesellschaftlichen Ordnungskonflikte die an Foucault anschließenden Governmentality Studies weiterzuführen vermag. Während Law, Kendall und Wickham ein Forschungsprogramm für die Sozialwissenschaften skizzieren, hat Peter Wagner (1995) etwa zeitgleich mit der Veröffentlichung von Laws Plädoyer in seiner "Soziologie der Moderne" exemplarisch die gesellschaftsanalytischen Möglichkeiten eines solchen Zugangs ausgelotet. Wagner stützt sich dabei auf eine akteurstheoretisch unterbaute Foucaultsche Diskurstheorie, auf die pragmatistische Soziologie der Konventionen von Luc Boltanski und Laurent Thevenot und insbesondere auf die Giddensche Theorie der Strukturierung mit ihrer Betonung der Regeln und Ressourcen, der Institutionen als sozialen Konstruktionen und Konventionalisierungen sozialer Praktiken. In seiner Analyse der historischen Abfolge relativ stabilisierter Regime von Diskursen, Repräsentationen, Praktiken der Allokation und der Herrschaftsausübung in den Ländern der westlichen Moderne konstatiert er drei unterschiedliche Konfigurationen der Konventionalisierung von Institutionen, also Praktiken und Repräsentationsweisen: die restringierte liberale Moderne des 19. Jahrhunderts, die anschließende Phase der organisierten Modeme bis in die 1960er Jahre und schließlich die Dekonventionalisierung des Regimes der organisierten Moderne durch Prozesse der Pluralisierung von Praktiken und Repräsentationen, deren Regime-Fluchtpunkt noch nicht benennbar sei. 463
Eine genauere Betrachtung der Verlaufstrukturen unterschiedlicher Risiko-Katastrophen führt, bezogen auf Fonnen der Konstitution, des Ablaufs und der Bearbeitung solcher Phänomene, zu zwei Typen katastrophisch-riskanter Ereignisse, die als Zeitlupen-Ereignis und als Zeitraffer-Ereignis bezeichnet werden können. Das Zeitlupen-Ereignis 464 ist durch die öffentliche Konstruktion der Ereignisqualität im Rahmen eines ausgedehnten Konflikts über die Anerkennung einer möglicherweise bestehenden Gefahr charakterisiert; dabei werden insbesondere die Wissensbestände der Experten zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Exemplarische Beispiele für einen solchen Typus katastrophischer Ereignisse sind
Die These der Pennanenz der Konstruktion von Ordnung liegt auch der Wissenssoziologie von BergerlLuckmann oder Soeffner zugrunde (vgl. BergerlLuckmann 1980; Soeffner 1992). 463 Individualisierung, Globalisierung, aber auch die neoliberale Subjektkonzeption des Selbst-Unternehmers gehören zu den Mechanismen dieser Pluralisierung, die im positiven Falle, so Wagner, in ein Regime der erweiterten liberalen Modeme münden könne. Poferl (1999) spricht gegenwartsdiagnostisch von der experimentellen Situation einer "Gesellschaft im Selbstversuch". 464 Ich greife damit einen Begriff auf, den Philippe Roqueplo (1986, 1989) in seinen Analysen über Sauren Regen und das Waldsterben benutzt hat. 462
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das Ozonloch, der Treibhauseffekt, die Asbestdiskussion oder die BSE-Krise. 465 Im Unterschied dazu konfrontiert das Zeitraffer-Ereignis eine Gesellschaft (ein Publikum) auf einen Schlag mit seinem Auftauchen und Ablauf. Soziale Kollektive sind dann unmittelbar von enormen Schäden betroffen; der dramatische Verlauf einer solchen Katastrophe bringt das Vertrauen in die institutionellen und technischen Sicherheitsdispositive sowie in die Stabilität des Alltags zum Kippen. Erst im Nachhinein richtet sich hier der Blick auf einen bestehenden Anerkennungskonflikt vor der eingetretenen Katastrophe: "Katastrophen werden immer von irgendwem vorhergesagt" (Perrow 1986: 400). Exemplarische Beispiele fur diesen Ereignistyp sind neben dem "fliegenden See" die erwähnten Überschwemmungen, die Katastrophen von Bhophal, Sandoz, Tschernobyl sowie die anderen "normalen Unfälle", von denen Perrow (1988) spricht. Letztlich ist es dabei unerheblich, inwieweit die immer schon durch Deutungen vermittelten Phänomengestalten selbst, oder ,nur' ihre diskursiv-kommunikative Aufbereitung sich unterscheiden. Jeder der beiden Typen impliziert je spezifische Potenziale der Mobilisierung und Fokussierung öffentlicher Aufinerksamkeil. Vor dem Hintergrund alltäglicher Normalität entfalten sich beide Ereignistypen mit unterschiedlichen diskursiven Konsequenzen. Das Zeitlupen-Ereignis tritt zunächst als Interpretationskonjlikt zwischen Experten und Gegen-Experten in öffentliche Erscheinung; einige Experten übernehmen die Rolle des ,Alarmschlagens' (Bernstein/Jasper 1996). Sie wenden sich an ein allgemeinöffentliches Publikum und bilden - bspw. zusammen mit einer sozialen Bewegung - die Kollektivperson eines "moralischen Unternehmers" (Becker 1981; Giesen 1983), d.h. eines Diskursakteurs oder einer Diskurskoalition aus. Dieser kündigt die Katastrophe an und kämpft rur die institutionelle Anerkennung einer Gefährdung fur menschliche Gesundheit, Natur oder ,die Umwelt'. Eingefordert und betont werden menschliche Verursachungsketten, politische Verantwortungsübernahmen sowie die Möglichkeiten, einzugreifen und das Eintreten der Katastrophe zu verhindern, zumindest die Folgen zu mildem. Für die massenmedialen Aufinerksarnkeitsstrukturen (s.u.) sind solche Auseinandersetzungen zunächst nur bedingt von Interesse; sie gewinnen an Resonanz, wo sich Expertenkonflikte polarisieren, soziale Akteure mobilisieren und mögliche Schäden und Betroffenheiten potenzieren. Sie werden in dem Maße rur Berichterstattung relevant, wie sich argumentative Siege der jeweiligen Herausforderer, d.h. also tatsächliche Schäden, realisierte Bedrohungen abzeichnen. Solche Anerkennungskonflikte können zunächst lange Zeiträume umfassen und sich dann sehr schnell zur konkreten Gestalt einer eintretenden (wahrgenommenen) Katastrophe verdichten. Roqueplo hat dies am Beispiel des Waldsterbens analysiert: Während eines Zeitraumes von etwa 3-4 Jahren lernt die deutsche Öffentlichkeit durch die massenmediale Bilderzirkulation, die entsprechenden Zeichen zu erkennen und den ,sterbenden Wald' tatsächlich zu sehen, zu erleben. 1984 demonstrieren in München mehr als 200 000 Menschen gegen die Ursachen des Waldsterbens; den Worten eines französischen Experten zufolge war ganz Deutschland im "Schockzustand" (Ouest France, 12.11.84). Mit der Einruhrung des bleifreien Benzins und des Katalysators leitet die Bearbeitung dieser angekündigten Risiko-Katastrophe die Phase der Renormalisierung ein. 465 Vgl. etwa zur Diskussion über Dioxin, FCKW u.a. Böschen (2000). Organisationen verwenden einige Mühe darauf, die Zirkulation solcher Warnungen zu unterbinden (vgl. Bernstein/Jasper 1996; Deiseroth 2001; FortunlBernstein 1998)
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Das Zeitlupen-Ereignis fokussiert also durch den öffentlich geführten Defmitionskonflikt die Frage nach der Gültigkeit des Expertenwissens sowie nach seinem Status in einer Gesellschaft und verdichtet sich gewissermaßen spät - aber unter aller Augen - zur Katastrophe. Das Zeitraffer-Ereignis erscheint demgegenüber in Gestalt einer plötzlichen, schicksalhaften Quasi-Naturkatastrophe. Seine Verlaufsdynamik setzt die Alltagsnormalität und -routine, und damit auch das Vertrauen in Techniken und technologische Kontrolldispositive auf einen Schlag außer Kraft. Präziser: auch ein solches Phänomen wird zum Gegenstand von Defmitionskonflikten; da in diesem Falle jedoch die Schäden mehr oder weniger deutlich sichtbar sind, fokussiert der Konflikt auf die Sicherheitsrnaßnahmen, auf menschliches Handeln, Zufälle, die angewandten Technologien sowie die Konsequenzen, die daraus gezogen werden müssen (Perrow 1988). Das Zeitraffer-Ereignis kristallisiert nicht nur diesen Konflikt, sondern liefert Evidenzen, denen schwerlich widersprochen werden kann. Der hierfür exemplarische und globale Fall war die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, aber auch kleinere Katastrophen gehören zu diesem Typus. 466 Bspw. gab es am 22. Februar 1993 einen Unfall im Chemiewerk von Hoechst nahe bei Frankfurt. Während ein Unternehmenssprecher öffentlich erklärte, die entwichene Substanz sei "nur minder giftig", zeigten Fernsehbilder Säuberungsmannschaften in Schutzanzügen, die die Straßen von der Substanz reinigten; die Polizei forderte Eltern dazu auf, ihre Kinder nicht im Freien spielen zu lassen usw. (Kesselring 1997; KepplingerlHartung 1995). Ein solches Ereignis erschüttert unweigerlich die Alltagsroutine, deren inhärente materielle und symbolische Stabilität. Die Phase der Renormalisierung kann dann Jahre dauern. Durch die Kommunikation solcher Katastrophen nehmen Gesellschaften zur Kenntnis, dass gegebene Sicherheitsversprechen nicht garantieren, dass es nicht vielleicht morgen schon eine Katastrophe geben kann, die alles verändert. Dieser Katastrophentypus stellt also die etablierte Logik der Fortschrittskontrolle durch wissenschaftlich-technisches Wissen und Technikeinsatz in Frage, das privilegierte Mittel der Zukunftskontrolle. Die Erfahrungen und diskursiven Auswirkungen einer einzigen Katastrophe genügen, um die ausgedehnten Zeiten ereignisloser Routine auszuradieren. In einem solchen Fall verstärkt die Katastrophenbearbeitung die ausgelösten Prozesse, denn sie veröffentlicht die ereignisbezogenen Konflikte über Verantwortlichkeiten, Interessen und Moral sowie die logischen, technischen und logistischen Grenzen der Kontrolle. Für massenmediale Risikokommunikation ist das Zeitraffer-Ereignis der Stoff, aus dem Medienträume gemacht sind: Bilder, Schicksale, Kämpfe, Schuld und Sühne können augenblicklich medial verbreitet werden und konstituieren im ,besten Falle' noch während des Ereignisablaufs - die allgemeine gesellschaftlichöffentliche Risikoerfahrung als Mitleiden trotz Distanz.
5.2.3 Distanziertes Mitleiden und kollektives Drama Die unmittelbare Erfahrung einer technischen oder ökologischen Katastrophe ist in unseren Gesellschaften überaus seIten. Mit Ausnahme derjenigen, die in einem lokalen Kontext direkt betroffen sind - wie etwa im Beispiel der erwähnten Stausee-Katastrophe von Vajont In Frankreich dauerte es mehrere Jahre, bis die staatlichen Institutionen öffentlich Folgen dieser Katastrophe für das eigene Land zugegeben haben. Das zeigt, dass die Klassifikation als Zeitraffer- oder Zeitlupenereignis bezüglich desselben Ereignisses unterschiedlich eingesetzt werden kann.
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- ist die kollektive Risikoerfahrung eine Erfahrung aus der Distanz. Schon vor einigen Jahren hat Meyrowitz (1985) in seiner Analyse der kulturellen Auswirkungen des Fernsehens darauf hingewiesen, dass dadurch die Bedeutung lokaler Kopräsenz für die Kenntnis von Ereignissen abnimmt und der "Ortssinn" verschwindet: "Am 24. November 1963 erschoß lack Ruby den mutmaßlichen Mörder von Präsident lohn F. Kennedy, Lee Harvey Oswald. Die tödlichen Schüsse wurden live in Millionen amerikanischer Haushalte übertragen. Die Zuschauer, die das Geschehen vor dem Bildschirm verfolgten, würden wahrscheinlich heute noch jederzeit behaupten, sie wären Augenzeugen des Mordes gewesen - sie wüßten ,aus erster Hand', wie es passiert ist. Ob man nun das Fernsehen mit ,Erfahrungen aus erster Hand' auf eine Stufe stellt oder nicht - eines ist offensichtlich: Das Fernsehen und die elektronischen Medien allgemein haben die Bedeutung der physischen Präsenz für das Erleben sozialer Ereignisse ganz gewaltig verändert. (...) Direkte und vermittelte Kommunikation waren früher zwei völlig verschiedene Dinge. Das ist nicht länger der Fall." (Meyrowitz 1990a: 9)
Auch kollektive Risiko- und Katastrophenerfahrungen werden durch die massenmediale Aufbereitung unterschiedlicher Interpretationen des katastrophischen Ereignisses vermittelt. 467 Solche Deutungen werden von den verschiedenen sozialen Akteuren - Experten, sozialen Bewegungen, Politikern, Unternehmen, Massenmedien (die selbst keine homogene Gruppe bilden) - vorgenommen und in Diskursen verbreitet. Erst dadurch nimmt ein breites Publikum an den Ereignissen teil. Für einen Prozess der Katastrophenerfahrung aus der Distanz ist das Attentat vom 11. September 2001 in New York das Beispiel par excellence. Mit einem Schlag existiert - während eines ganzen langen Tages - nur ein einziges Ereignis in den Medien und im globalen Maßstab. 468 Die Massenmedien bzw. massenmedial hergestellten Öffentlichkeiten sind der primäre Ort moderner gesellschaftlicher Risikokommunikation, auch wenn sie in der soziologischen Risikodebatte und der psychologischen Forschung über Risikoeinschätzungen eine untergeordnete Rolle spielen. 469 Zwar hat die psychologische Forschung einige Faktoren ermittelt, die für die subjektive Risikoeinschätzung wichtig sind, Z.B. das vermutete Ausmaß oder die ,Schrecklichkeit' eines Schadens sowie seine Bekanntheitsgrade, ohne jedoch danach zu fragen, woher die BeurteiVgl. dazu auch Luhmanns Diskussion der "Realität der Massenmedien" und ihrer Funktion in modemen Gesellschaften (Luhmann 2004a). Hier ließe sich, bezogen auf die Funktionsweise der Medien in und fur die gesellschaftliche Ereigniswahrnehmung, eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Medientheorien von Baudrillard, McLuhan, Kittler u.a. anschließen (vgl. dazu einfuhrend Kloock/Spahr 2000 und Leschke 2003). Dies würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen. 468 Vgl. dazu jetzt die Analysen von Junge (2003) und Chouliaraki (2004). 469 Ich benutze hier den Begriff der Risikokommunikation wie Teile der Medien- und Kommunikationsforschung (Ruhrmann 2003) als allgemeine Chiffre fur die massenmedial vermittelte Thematisierung hypothetischer oder tatsächlicher Katastrophenereignisse. In einem spezifischeren Sinne bezieht sich ,Risikokommunikation' auf die Kommunikationsstrategien politischer, wissenschaftlicher und ökonomischer Akteure bei Schadensereignissen. Dabei geht es meist um Fragen der Optimierung solcher Strategien (vgl. auch dazu Ruhrmann 2003). Vor kurzem haben Tulloch/Lupton (2001) bezüglich der biographischen Bedeutung von Aids-Risiken Ulrich Beck vorgeworfen, die Medien nicht angemessen in seiner Theorie der Risikogesellschaft zu berücksichtigen. Allerdings weist Beck in seinen Schriften immer wieder auf die Bedeutung der Massenmedien hin. Luhmann (2004b) hat zwar Prozesse "ökologischer Kommunikation", d.h. Kommunikation über Umweltthemen in verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssystemen zum Thema gemacht, sich dabei aber nicht mit den Massenmedien beschäftigt. In seiner späteren Veröffentlichung über das System der Massenmedien bilanziert er Teile der Medienforschung und entwickelt einige Konzepte, die an die hier verfolgte Perspektive anschlussfähig sind (Luhmann 2004a). 467
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lungsgrundlagen der entsprechenden Einschätzungen stammen. 470 Demgegenüber bezieht der Ansatz der social amplification of risk (Pidgeon/Kasperson/Slovic 2003) ähnlich wie die hier zugrunde gelegte Wissenssoziologische Diskursanalyse einen erweiterten sozialen Kontext und insbesondere auch die Massenmedien in die Analyse der gesellschaftlichen Risikoerfahrungen ein: "Dieser Ansatz betont das dynamische Zusammenwirken verschiedener sozialer Prozesse. Die zentrale Annahme ist dabei, dass einzelne (faktische oder auch hypothetische) Risikoereignisse (z.B. ein Störfall oder die Exposition von Menschen mit einer Noxe) gesellschaftlich erst dann wirksam werden, wenn sie in der Gesellschaft kommuniziert werden. Risikoereignisse werden dabei zu Signalen, die eine Reihe von Transformationsprozessen durchlaufen. Das heißt, sie werden von Individuen, Gruppen oder Institutionen wahrgenommen und interpretiert (...) Eine Schlüsselrolle kommt auch der Darstellung des Risikoereignisses in den Medien und der dabei stattfindenden Kontextsetzung und Emotionalisierung zu. Individuelle oder institutionelle Reaktionen - z.B. Proteste oder Risikoregulationsmaßnahmen - sind die Folge. Die Auswirkungen sind dann oft nicht nur auf die von einem Risikoereignis direkt Betroffenen beschränkt, sondern können sich auch auf andere Teile der Gesellschaft, auf Unternehmen oder ganze Wirtschaftszweige ausdehnen. Diese Reaktionen sind selbst wieder Signale, die die Wahrnehmung und Interpretation des Risikothemas in der Gesellschaft beeinflussen." (SchützJWiedemann 2003: 552f).471
Sicherlich wurden in Gestalt von Mythen, Epen u.a. immer schon Katastrophenerfahrungen aus zweiter Hand in Form erzählbarer Geschichten - mit Helden, Opfern, Bösewichten, Schicksalsschlägen und einer sich daraus ergebenen Moral - gesellschaftlich kommuniziert. Unter den Bedingungen moderner Massenmedien verschiebt sich jedoch eine solche ex post Teilnahme hin zur merkwürdig distanziert-involvierten Beteiligung in Echtzeit: Bilder, Tränen, Schreie, Wut, Trauer, Ohnmacht, Anklagen, Ängste werden ,live' übermittelt und lassen jeden zum unmittelbaren Zeugen werden, der sofort in den aktuellen Nachvollzug, die Betroffenheit durch und aktive Aneignung bzw. Kommentierung des Ereignisses eintreten kann. 472 Nicht zufällig korrespondiert der diagnostizierte Anbruch der Risikogesellschaft der Einführung und Verbreitung des Fernsehens, das unter den Bedingungen seiner Pluralisierung und Privatisierung eine ungeheure Geschwindigkeit und Dramaturgie des bildvermittelten ,dabei Seins' entwickelt hat. Die modeme öffentliche Wahrnehmung von Katastrophen als riskante Ereignisse, d.h. als hybride Komplexe von Natur, Technik und Sozialem erfolgt im Medium massenmedialer Aufbereitungen und in Gestalt entsprechender, bild- und tonunterlegter Katastrophennarrationen. Erst die kommunikativen Folgewirkungen von Katastrophen stiften deren gesamtgesellschaftliche Ereignisqualität als flüchtig-serielle und zugleich dramatische Phänomene. Kehren wir zum Beispiel der Katastrophe von Vajont zurück. Die von PaolinilVacis (2000) vorgestellte Rekonstruktion der Vorgeschichte des "fliegenden Sees" verdeutlicht zunächst den lokalen Charakter des Staudammprojektes. Im Zusammenspiel der interessierten Organisationen und Experten - und auch aus der Sicht der berichtenden Medien - wird ein fortschrittliches Bauvorhaben mit nationaler Bedeutung vorangetrieben und in be-
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Vgl. dazu Slovic (1987,1992), JungermanniSlovic (1997), RennlRohrmann (2000). Vgl. zum Überblick über weitere Ansätze zur Analyse gesellschaftlicher Risikowahrnehmung ebd. Dies gilt, mit einigen Modifikationen, auch fur angekündigte bzw. potenzielle Katastrophen.
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stimmten Momenten symbolisch-rituell öffentlich zelebriert. Warnende, kritische Stimmen sind vorhanden, aber marginalisiert. Der dann stattfindende Bergrutsch mit seinen katastrophalen Folgen rückt die Region in das Blickfeld der gesamten italienischen und darüber hinaus in weite Teile der europäischen Öffentlichkeit. Die Bilder der Verwüstung, des Leidens machen ein breites Publikum zu ,unmittelbaren' Teilnehmern. Die gesellschaftliche Suche nach Verantwortlichkeit und Verantwortung beginnt, und die Stimmen der Kritik erreichen eine enorme Legitimation ex post. Die massenmediale Risikokommunikation appelliert im Unterschied zu den primären, auf wissenschaftlich-technisches Wissen rekurrierenden Anerkennungskämpfen um den Hybridcharakter von Katastrophen in erster Linie an Sinne und Gefühle, allgemeiner: an ästhetische Wahrnehmungsqualitäten. Sie erzeugt einen breiten Teilnehmerkreis, der trotz seiner räumlichen Distanz zu den Ereignissen diese ,miterlebt' . Eine solche Verallgemeinerung der Teilnahme bedient sich unterschiedlicher Strategien der Diskursivierung eines Ereignisses. Dazu zählen Live-Bilder, Betroffeneninterviews, Töne, aber auch die Einbettung in erzählbare Geschichten von Leid und Hoffnung, Glück und Unglück, Helden und Schurken. Beides zusammen, also die narrative Aufbereitung der Phänomene und die diskursivierte massenmediale Verallgemeinerung der Erfahrung sind Voraussetzungen dafiir, dass entsprechende Ereignisse in den dadurch erreichten Öffentlichkeiten den Status kollektiver Dramen einzunehmen vermögen, an denen solche Kollektive grundlegende Fragen ihrer symbolischen und institutionellen bzw. materialen Ordnung prüfen: Die Massenmedien "berichten nicht isoliert über einzelne Risiken und die dazu bekannten wissenschaftlichen Fakten, sondern stellen die Risiken in einen sozialen Handlungszusammenhang. Solche Darstellungen erfolgen oft in einer emotionalisierenden Weise: es geht um Skandalgeschichten, Enthüllungsstories oder Katastrophenerzählungen. Dargestellt werden z.B. die Personen und ihre Rollen im ,Risikodrama' (Täter, Opfer) und die Motive, aus denen heraus ein Risiko entsteht. Solche Emotionalisierungen der Risikodarstellung können die intuitive Risikobeurteilung beeinflussen. Experimentelle Untersuchungen haben gezeigt, dass etwa die Darstellung eines ,objektiv' gleichen Schadensfalls oder Risikos zu unterschiedlichen Beurteilungen der Schwere des Schadens bzw. Risikos fUhren kann, je nachdem ob diese Darstellung so erfolgt, dass sie Empörung hervorruft oder aber Nachsicht bewirkt bzw. neutral ist. Darstellungen, die Empörung induzieren, fUhren zu höheren Risikourteilen als Darstellungen, die neutral sind oder Nachsicht mit dem Risikoverursacher nahe legen." (SchützlWiedemann 2003: 552).
Sicherlich gibt es gewaltige Unterschiede zwischen den verschiedenen Katastrophen, welche die menschliche Geschichte durchziehen, sowohl bezüglich ihrer konkreten Auswirkungen wie auch im Hinblick auf ihre Ursachen und Gesamtfolgen. Aber trotz ihrer sehr unterschiedlichen konkreten Auswirkungen erzeugen all diese tatsächlichen oder potenziellen Katastrophen durch ihre massenmediale Repräsentation hindurch ein Mitempfinden aus der Feme, eine Art Schicksalsgemeinschaft, die sich bis hin zur Weltebene ausdehnen kann. Luc Boltanski (1993) analysierte die Mechanismen des "Leidens aus der Distanz" im Hinblick auf den Zusammenhang von massenmedial vermittelten Bildern des Elends bspw. Fotografien hungernder, sterbender Kinder - mit der Bereitschaft zur Unterstützung von humanitärem Engagement, also etwa von NGOs wie ,Ärzte ohne Grenzen' oder Hilfswerken wie Misereor. Anhand einer Untersuchung philosophischer und künstlerischintellektueller Positionen zur Erfahrung des Leidens anderer bei Adam Smith, Hannah
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Arendt, dem Marquis de Sade u.a. rekonstruiert er drei Topiken der Betrachtung: die Anklage und Suche nach Schuldigen, das Mitempfinden und schließlich die ästhetische Distanzierung im Sinne einer Abwertungsgeste gegenüber den Opfern. In den beiden ersten Fällen, also der Anklage und dem Mitempfmden erhält das wahrnehmende Individuum durch die vermittelten Bilder die Ressourcen, um mit anderen in seiner Umgebung in Kommunikationsprozesse über das Leid einzutreten, von seinen Empfmdungen zu berichten, sich das ,Herz zu erleichtern', seiner Empörung ,Luft zu machen' usw. Die daran anschließbaren Reaktionen sind - so Boltanski - zum einen die Wortergreifung, der öffentliche Protest, zum anderen die unterstützende Hilfeleistung. Auch die massenmediale Katastrophenberichterstattung bezieht ein großes Publikum in das konkrete Leiden der Katastrophenerfahrung ein. Sie appelliert an Emotionen, an das Empfmden, das Mitgefühl mit den Betroffenen, die Empörung über die ursächlichen Mechanismen und die Ängste, man könne selbst - beim nächsten Mal - unmittelbar betroffen sein. 473 Im Vordergrund stehen ästhetische Erfahrungen, das gemeinsame Wahrnehmen, Erleben und Erleiden, das über entsprechende mediale Inszenierungen vermittelt wird. Erst die dadurch entstehende Gestalt ,entfernter' bzw. distanzierter Betroffenheit erklärt die weitere öffentliche Dynamik der Katastrophenerfahrungen. Ihr wesentliches Merkmal ist, dass sie unter Bedingungen der Handlungsentlastetheit erfolgt; der Status des aus der Distanz teilnehmenden Zuschauers enthält eine besondere Kombination von ästhetischmoralischer Involviertheit und der Möglichkeit, diese in generalisierte Empörung zu transformieren, da man selbst gerade nicht unter Handlungsdruck angesichts faktischer Betroffenheit leidet. Erst unter dem Blick des distanziert teilnehmenden Zuschauers, nicht demjenigen des lokal eingebundenen Geschädigten, entsteht das Puzzle der Serialität, in dem sich die verschiedenen Katastrophen, unabhängig davon, an welchem Ort der Welt sie stattfinden, zur risikogesellschaftlichen Gestalt verdichten. Gerade die entlastetete Betroffenheit erlaubt die Unterstützung eines allgemeinen risikokritischen Diskurses, der allerdings unter Bedingungen des massenmedialen Katastrophen-'zappings (hoppings)' mit seiner ständigen Verdrängung - angesichts anderer skandalisierbarer Ereignisse - rechnen muss. Die mobilisierende gesellschaftliche Dynamik katastrophischer Risikoereignisse entsteht weder einzig aus den von ihnen verursachten reellen Schäden noch aus den davon berührten konkreten Interessen auf Seite betroffener Organisationen (z.B. Unternehmen, Krankenkassen, Versicherungen) oder Individuen, obgleich deren Tatsächlichkeit und Bedeutung nicht bestritten wird. Sie beruht vielmehr auf ihrem Doppelcharakter: Einerseits erscheinen solche Katastrophen bei ihrem Auftauchen wie Naturkatastrophen, die durch massenmediale Verbreitung ein ganzes Kollektiv unterschiedslos treffen; deswegen erzeugen sie das Kollektivgefühl der Zugehörigkeit zu einer Schicksalsgemeinschaft, selbst für ein Publikum, das sich in weiter Entfernung zum lokalen Kontext befindet und von dem Ereignis nur durch massenmediale Vermittlung erfährt. Gleichzeitig können solche Ereignisse als nichtintendierte Folgen menschlicher Entscheidungen und sozio-technischer Praktiken interpretiert werden. Dadurch werden sie zum Skandal, dadurch lässt sich Empörung erzeugen und fokussieren - Wer hat das Ereignis herbeigeführt? Wer haftet für die Schäden? Wer hat falsche Sicherheitsversprechen abgegeben? Wer verantwortet ,unsere' Sicherheit? 473 Im Rekurs auf Boltanski rekonstruiert Chouliaraki (2004), wie unterschiedliche massenmediale Präsentationen des 11. September unterschiedliche Reaktionsweisen nahelegen.
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Damit zeigt das katastrophische Risikoereignis Merkmale, die von der Anthropologie bzw. der Ethnologie kollektiven Dramen474 zugeschrieben werden: Es unterbricht in sehr tiefgehender, existentieller Weise die Stabilität und Kontinuität einer materiellen und symbolischen Ordnung. Um seinen Sinn zu verstehen, ist es notwendig, darüber eine oder mehrere Geschichten zu entwickeln und das Ereignis in entsprechende Rituale der gemeinsamen Situationsbewältigung einzubinden. 475 Individuen und Kollektive eignen sich solche Ereignisse durch Diskurse und darin formulierte Narrationen an, die das, was passiert ist, in ein kohärentes Ganzes, eine erzählbare Geschichte einfügen (Palmlund 1992, Viehöver 2003a,b), die sich in den verschiedenen Stufen des Ereignisablaufs durch szenischritualhafte Inszenierungen materialisiert. In solchen Narrationen gibt es natürlich Helden, Betrüger, Opfer, Verantwortliche, Retter, Tragik, Trauer, Glück und Unglück, Handlungen und Gefühle, das ganze Spektrum des wirklichen Lebens, und, nicht zu vergessen, eine Lektion, die daraus gelernt werden kann. Die Bilder der Katastrophe, die Rituale ihrer Inszenierung und Bewältigung und die Opposition, der Konflikt zwischen den verschiedenen implizierten Interessen und Moralen erzeugen eine Dynamik der Dramatisierung, die sich auf unterschiedlichste Gestaltungslemente - z.B. wissenschaftliche Haltungen (die Fakten sprechen für sich) oder rhetorische Elemente (der jeweils andere lügt, banalisiert, übertreibt) - stützt. Die Vorliebe der Medien rur konfrontatorische und stereotype Argumente verstärkt diesen Prozess. Durch die massenrnediale Verallgemeinerung des Teilnehmerkreises avancieren Risiko-Katastrophen zu Kristallisationspunkten sozialer Dramen und kollektiver Reflexionen über die bestehenden symbolischen, institutionellen und materialen Ordnungen der Welt. Der französische Soziologe Michel Maffesoli hat solche Prozesse der Entstehung von Gemeinschaftsgefiihl durch Gemeinschaftserfahrung in sozialen Gruppen mit dem Begriff der "aisthesis" beschrieben, d.h. mit einer ästhetischen Erfahrung, die vor allem auf die Gemeinsamkeit der emotionalen Empfindung hinweist. Eine solche Erfahrung appelliert an die sinnliche Wahrnehmung, an Geruhle und die Identifikation mit - in diesem Fall - den Leidenden, nicht an Kognitionen oder Rationalität (Maffesoli 1988; 1990).476 Diese Idee lässt sich von der Ebene konkreter sozialer Gruppen auch auf durch massenrnediale Vermittlung hergestellte Risiko-Gemeinschaften übertragen. Die erwähnte Dynamik erzeugt im Horizont des Alltags immer wieder eine Stimmung der Instabilität, der Unsicherheit, der Ungewissheit, die das Vertrauen in die Institutionen und Organisationen untergräbt, von denen die Stabilität der modemen Gesellschaften abhängt. In solchen Momenten wird die Risikogesellschaft zur Gejahrengemeinschaft. 477 Die Serialität der Katastrophen erzeugt eine Serialität der Vergemeinschaftungserfahrungen, eine Reihung von Kollektividentitäten, deren räumlich-zeitliche Ausdehnung flüchtig ist, aber die herkömmlichen sozialen
Vgl. dazu Turner (1989), Palmlund (1992), Poferl (1997). Dazu zählen bspw. die Politikerbesuche und -ansprachen am Katastrophenort sowie die entsprechenden massenmedial vermittelten Bilder. 476 Maffesoli schließt dabei an Webers Konzept der Vergemeinschaftung sowie seine Analyse der (religiösen) Gemeinde an. Vgl. zum Vorschlag einer fur solche Prozesse der ,aisthesis' sensiblen Soziologie und das daran anknüpfende Konzept der zunehmenden "Tribalisierung" der Welt auch Renaud (1984), Miranda (1986) und kürzlich Halas (2002). 477 Beck (2002: 76ft) spricht im Anschluss an die Öffentlichkeitstheorie von lohn Dewey von der Gemeinschaftsstiftung durch öffentliche Folgenreflexion anlässlich von Risikophänomenen. 474 475
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Beziehungen und Grenzziehungen von Familien, Klassen und Nationen überschreitet. 478 In Gestalt kollektiver Dramen fungieren katastrophische Ereignisse als Katalysatoren der Restabilisierung oder Transformation etablierter Wirklichkeitsordnungen.
5.2.4 Die Konkurrenz der Interpretationen 5.2.4.1
Massenmedien und Risikodiskurse
Die massenmediale Vermittlung von risiko-katastrophischen Ereignissen wird zur Grundlage einer kollektiven Katastrophenerfahrung aus der Distanz, in deren Konsequenz die entsprechenden Kollektive die Tragfahigkeit ihrer symbolischen Ordnung prüfen. Eine genauere Betrachtung dieser Vermittlungsprozesse fuhrt zur Unterscheidung von Bedingungen massenmedialer Risikokommunikation, die eine Berichterstattung begünstigen, einerseits, und den Strukturmerkmalen von Risikodiskursen, die Interpretationsangebote fur die Katastrophen anbieten, andererseits. Was sind die wichtigsten Bedingungen der massenmedialen Risikoberichterstattung?479 Da sich ,Wirklichkeit' in ihrer Ereignisfulle, Reichhaltigkeit und Komplexität einer umfassenden medialen Thematisierung entzieht, sind die Medien zu ständigen Selektionsentscheidungen im Hinblick auf aufzunehmende Inhalte gezwungen. Sie strukturieren damit, worauf sich die allgemeine Aufinerksamkeit gesellschaftlicher Öffentlichkeiten richtet (Luhmann 2004a). Unter den Faktoren der Medienberichterstattung, die in der Medien- und Kommunikationsforschung unterschieden werden, sind im vorliegenden Zusammenhang insbesondere Nachrichtenwerte, das professionelle agenda building und die Erzeugung kultureller Resonanz durch spezifische Deutungsmuster von Bedeutung. 48o Alle diese Faktoren verweisen auf diskursive Strukturierungsleistungen bzw. Formations- und Produktionsprozesse von Diskursen, wie sie in Kapitel 4.3 und 4.4 beschrieben wurden. Risiken- bzw. Katastrophenereignisse fugen sich vorzüglich in massenmediale Aufmerksamkeitsstrukturen, die sich auf die Sensation, das Spektakel, den Skandal, das Dramatische, die Anomalie, also das, was nicht erwartet wird, richten: "Journalistische Risikoberichterstattung lässt sich ebenfalls durch kognitive Strategien (Heuristiken) charakterisieren, deren Funktion es ist, intuitive Wahrnehmung und vereinfachende Bewertungen von Ereignissen zu ermöglichen und diese Bewertungen unter Zeitdruck als Risiken Das tragische Beispiel der Erzeugung einer solchen transnationalen Schicksalsgemeinschaft durch einen anderen Katastrophentypus lieferte der terroristische Anschlag auf das World Trade Center im September 2001. 479 Die medien- und kommunikationswissenschaftliche Risikokommunikationsforschung beschäftigt sich mit den Kommunikationsstrategien sozialer Akteure und den Kommunikationsprozessen in öffentlichen Arenen. Sie fragt nach Auswahlkriterien der Berichterstattung, nach Darstellungsforrnen, nach Prozessen des Agenda Setting, der medialen Konstruktion von Wirklichkeit, der Rolle von dramatisierenden und moralisierenden Elementen u.a. Vgl. dazu den Gesamtüberblick bei Ruhrrnann (2003) sowie Eichhorn (1996), GlogerlKlinkelRenn (2002), Goerke (1999), Keller (1995, 1997a), Allan/Carter/Adam (2000), Anderson (1997), BonfadellilMeier (1993), Custenl Anderson (1997), Brand/EderlPoferl (1997), Meier (2002), MeierlSchanne (1996), Haan (1995) und KrügerlRußMahl (1991). 480 Vgl. allgemein zum entsprechenden Stand der Medien- und Kommunikationsforschung die Beiträge in BentelelBrosius/Jarren (2003); zu den hier angesprochenen Faktoren zusätzlich Bonfadelli (2002), Burkart (1998), Rössler (1997), Kaase/Schulz (1989), Merten/SchmidtlWeischenberg (1994), Neidhardt (1994), Schulz (1976), Staab (1990). 478
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darzustellen. Gemäß diesem kognitionstheoretischen Ansatz zeigt sich, dass Journalisten eher über eingetretene Schadensereignisse als über Prozesse der Risikogenese berichten (...) Medien berichten eher aktuell über die vergleichsweise seltenen und außergewöhnlichen Risiken als über die wahrscheinlicheren ,Alltags'-Risiken, die keinen Nachrichtenwert aufweisen. Wenn Journalisten über außergewöhnliche Risiken berichten, betonten sie die Schwere und die Wahrscheinlichkeit möglicher Schäden. In der Regel wird versucht, Risiken kausal nach dem Verursacherprinzip zu bewerten und darzustellen. (...) Über riskante Entwicklungen wird erst dann berichtet, wenn konkrete Personen betroffen sind und die Schäden auffallen. Journalisten berichten eher über Risiken in der geografischen Nähe bzw. in der verwandten westlichen Kultur als über Risiken in entfernten Regionen und in fremden Kulturen. Risiken werden personalisiert dargestellt: Gesucht und gefunden werden verantwortliche ,Täter' und betroffene ,Opfer' (... )" (Ruhrmann 2003: 544; vgl. auch Ruhrmann 2001)481
Der auf solche Selektionskriterien bezogene Begriff der Nachrichtenwerte bezeichnet ein komplexes, aus verschiedenen Bestandteilen oder Dimensionen aggregiertes Konzept fur Strukturierungsmerkrnale massenmedial zirkulierender öffentlicher Diskurse. Nachrichtenwerte sind keine ,objektiven' Wesensqualitäten von Ereignissen, sondern journalistische Zuschreibungen, die den Auswahlroutinen und -evidenzen der medialen Diskursvermittlung folgen. Dazu zählen bspw. die ,Negativität' eines Ereignisses, sein ,Sensationsgrad' , die Aktualität, die Berühmtheit oder Zahl betroffener Personen, die Verfugbarkeit von ,brauchbaren' Bild- und Tonmaterialien u.a. Je nach Ausprägung sprechen dann einige dieser Faktoren fur eine Berichterstattung, andere eher dagegen (Keller 1997a). Zur Berichterstattung drängt jedoch nicht das ungefilterte Katastrophenereignis ,an sich'. Es bedarf vielmehr - auch in der Nachbereitung plötzlicher, in großem Ausmaß schädigender Katastrophen - einer umfassenden Arbeit daran, die entsprechende Aufinerksamkeit zu erzeugen und dann über einen gewissen Zeitraum zu gewährleisten. Diese Feststellung fuhrt zu einer nächsten Bedingung massenmedialer Risikokommunikation: die Vorbereitung von Informationen, Deutungen, Geschichten über ein Geschehen durch soziale Akteure, die außerhalb der Medien als Diskursakteure agieren (Politiker, soziale Bewegungen, Experten, Organisationen). Dies kann durch die Inszenierung von Ereignissen (Demonstrationen, Konferenzen, Interviews usw.) erfolgen, die dazu bestimmt sind, die Aufinerksamkeit eines Publikums zu erreichen, um spezifische Positionen zu vermitteln. Dazu gehört auch die Vorformulierung von Diskursmaterialien wie Texten bzw. Berichten, die den jeweiligen Textgattungen und Präsentationsformaten der Medien angepasst sind. All das lässt sich unter dem Begriff des professionellen agenda setting bzw. agenda building oder der public relations zusammenfassen (Baerns 1985).482 Tatsächliche oder angekündigte Katastrophen werden von einem beständigen Strom aus inszenierten diskursiven und nicht-diskursiven Begleit-Ereignissen flankiert und kommentiert. Dabei spielen nicht nur die neuen sozialen Bewegungen bzw. die daraus hervorgegangenen Organisationen eine wichtige Rolle: Bei der BSE-Krise waren entsprechende Aktionen der Bauern zu beobachten; jede Öltankerhavarie erzeugt Kommentierungswettläufe zwischen VerDaran setzen Kritiken an, die der Medienberichterstattung eine, Verzerrung der Realität' attestieren und, Technikfeindlichkeit' vorwerfen. Vgl. Ruhrmann (2003: 543t). Dem kontrastieren Vorwürfe, die Komplexität und das Ausmaß von Umweltproblemen nicht angemessen wiederzugeben (vgl. Keller 1995). 482 Vgl. Bentele (2003), Rössler (1997), Keller (1995), BrandlEderlPoferl (1997), Baringhorst (1998), Grewenig (1993). Exemplarisch wird dies deutlich an der Medienarbeit von Greenpeace (vgl. Rossmann 1993; KrügerIMüller-Hennig 2000). 481
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tretern unterschiedlicher Industrien und Organisationen. Die Infrastrukturen des agenda building sind ein unmittelbarer Ausdruck der gesellschaftlichen Definitionsverhältnisse oder Diskursordnungen. Im Schatten angekündigter oder eingetretener RisikoKatastrophen verändern sie sich durch Ressourcenverschiebungen, Professionalisierungsprozesse u.a., nicht zuletzt auch im Wechselspiel mit der gesellschaftlich-kulturellen Resonanz der Katastrophen. Ein letztes Faktorenbündel der Medienberichterstattung, das hier neben den massenmedialen Selektionskriterien und der als agenda building betriebenen Diskurspolitik sozialer Akteure genannt werden muss, sind die verschiedenen Deutungs-Mechanismen zur Erzeugung kulturellen Resonanzen. Mit dem Begriff der "kulturellen Resonanz" bezieht sich William Gamson (l988b) auf die in öffentlichen Diskursen verbreiteten Deutungsschemata, die ein Ereignis interpretieren. Während das Ereignis selbst das Potenzial, den Anlass stiftet, muss sich seine öffentliche Erzählung auf einen Kollektivvorrat an Mythen, allgemein bekannten Geschichten und verrugbaren Deutungsmustern beziehen, um ein Publikum anzuziehen, verstehbar zu sein, zu mobilisieren und Emotionen zu wecken. Die Aufmerksamkeit kann dadurch erregt werden, dass auf emotional stark besetzte Deutungsmuster, historische Vergleiche u.a. rekurriert wird, also auf solche Mittel des kulturellen Werkzeugkastens, denen in der kulturellen Tradition eines Kollektivs besonderes Gewicht zukommt. Die jeweils zirkulierenden Interpretationen sind die Quelle der sozialen und kollektiven Bedeutung eines Ereignisses, und nicht, zumindest nicht so sehr, die tatsächliche Wirklichkeit der Schäden. Ein gelungenes Beispiel rur Resonanzerzeugung war der von Greenpeace inszenierte Kampf um die Bohrplattforrn ,Brent Spar', der nach dem bekannten biblischen kulturellen Plot eines ,David gegen Goliath'-Konflikts inszeniert war und sich mit seiner Dramaturgie erfolgreich öffentliche Aufmerksamkeit sicherte. Greenpeace setzte in diesem dramatischen und symbolischen Kampf das Spektrum verrugbarer Medientechnologien ein und mobilisierte in einer Art Umweltkrimi die Emotionen und Aufmerksamkeiten einer breiten deutschen Öffentlichkeit über mehrere Tage hinweg. Eine solche massenmediale Ereignisrepräsentation lädt das Publikum zu einem Identifikationsprozess ein, der mit demjenigen bei großen Sportereignissen vergleichbar ist. Man kann davon ausgehen, dass mit der Globalisierung der Diskurse, die nicht länger auf nationale oder regionale Medienträger bezogen sind, sondern eher transnationale oder globale Publika anvisieren und erzeugen, entsprechend der Vorrat an Bausteinen kultureller Resonanz globalisiert wird. 483 Die angesprochenen Strukturen und Funktionsweisen der Medien variieren erheblich zwischen und auch innerhalb von Ländern. Die beschriebenen Selektionsprozesse, die sich sowohl auf die Auswahl der zu berichtenden Ereignisse als auch auf die Art und Weise der Berichterstattung selbst richten, ruhren zu länderspezifisch sehr unterschiedlichen Ergebnissen 484 - das ist eine Ursache nationaler Unterschiede der öffentlichen Risikoerfahrung. Wenn bspw. die Nichtregierungsorganisation Greenpeace in der bundesdeutschen Öffentlichkeit ihre Positionen in den Medien lancieren kann, so ist das ein Zeichen rur ihr enormes symbolisches Kapital in diesem Aufmerksamkeitsraum; wenn im Unterschied dazu die Vgl. anlässlich des Holocaust bspw. die Beiträge im European Journal for Social Theory 1/2001, Levy/Sznaider (2001); allgemein dazu Robins (1998). 484 Mit ,länderspezifisch' ist hier der nach wie vor überwiegend nationalstaatlieh orientierte Aufrnerksamkeitsund Mitteilungsraum der Medien gemeint. 483
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französischen Medien Greenpeace einfach ignorieren, kann man von einem sozialen Akteur ohne Glaubwürdigkeit sprechen. Dadurch nehmen katastrophische Risikoereignisse sehr unterschiedliche konkrete Erfahrungsgestalten an. 485 Obwohl die Massenmedien eine Präferenz rur Skandale und Katastrophen (aller Art) aufweisen, verrugen sie doch gleichzeitig über eine ausgeprägte Neugier rur das Neue, die positiven Folgen und Zukunftsverheißungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts; auch die entsprechende Berichterstattung hat deswegen ihren öffentlichen Platz. So wie unsere Gesellschaften derzeit mit den neuen elektronischen Medien einen gewaltigen technischen Boom sehr positiv erleben, so lässt sich auch keineswegs behaupten, die Massenmedien seien per se ,technikfeindlich'. Eine Analyse der Anteile der Katastrophenberichterstattung an der gesamten Technikberichterstattung in verschiedenen deutschsprachigen Zeitschriften weist durchgehend im gesamten 20. Jahrhundert fiir Schadenmeldungen nur einen Umfang von etwa 10% aller Berichte aus (Dröge/Wilkens 1991). Beschäftigt man sich jedoch mit dem, was das gesellschaftliche Mitleiden erregt, dann sind es doch gerade die katastrophischen Anteile, die Resonanz [mden - das Publikum wird durch die großen Momente des Spektakels bewegt, sowohl als positives Glücksereignis wie als Katastrophe (Busse 2000). Demgegenüber tritt die positive Technikberichterstattung in ihrer öffentlichen Bedeutung weit zurück. 5.2.4.2
Kontroll- vs. Gefahrendiskurse
Die massenmediale Kommunikation über drohende oder eingetretene Katastrophen prozessiert sehr unterschiedliche Geschichten über solche Ereignisse. Insbesondere da, wo Katastrophen als Hybridphänomene im oben skizzierten Sinne gedeutet werden können, treffen konjUgierende Risikodiskurse aufeinander: Die Massenmedien sind dann Austragungsort symbolischer Kämpfe zwischen konkurrierenden Diskursen. Die diskursive Aufbereitung der Katastrophen nimmt die Gestalt einer Narration an - sie werden zum Kemelement einer oder mehrer Geschichten, die darüber erzählt werden (können). Erst die Einbettung in die Form der Erzählung macht das Geschehen kommunizierbar und damit rur die Rezeption durch ein nicht unmittelbar anwesendes Publikum erfahr- und verstehbar. Der Verweis auf die diskursive Einbettung solcher Geschichten, die einen spezifischen Sinn der Ereignisse anbieten, bedeutet, dass sie keinen singulären Charakter haben, sondern diskursive Regelmäßigkeiten aufweisen, die sich auf ihre Formen (hier vor allem: Medienformate) und Inhalte (typisierbare Deutungsmuster, story lines etc., vgl. Kapitel 4.3.3) erstrecken. Typischerweise handelt es sich dabei um Diskurse, die Querverbindungen zwischen verschiedenen (wissenschaftlichen, politischen, ökonomischen u.a.) Spezialdiskursen herstellen und einen öffentlichen (Inter-) Diskurs ausbilden. Die ereignisbezogenen Aussagen werden an verschiedensten massenmedialen und gesellschaftlichen Orten und Arenen aktualisiert. Die Produzenten und Akteure der Diskurse formieren sich zu konkurrierenden Diskurskoalitionen, die sowohl die inhaltlichen Problembeschreibungen der jeweiligen Gegner wie auch deren prinzipielle Legitimität als Sprecher in Frage stellen und fiir sich selbst die angemes-
485
Vgl. etwa Roqueplo (1986), Hajer (1995), Keller (1998), Gill (2003).
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sene Position reklamieren. 486 Die entsprechenden Diskurspositionen müssen dabei nicht notwendig neu erfunden werden. Hybrid-katastrophische Ereignisse liefern Gelegenheiten rur das ,Kramen in kulturellen Werkzeugkisten'. Diskursakteure aktualisieren in ihren Strategien der Resonanzerzeugung verrugbare kulturelle Repertoires bspw. der Technikkritik oder des Naturbezugs, ohne dass dies als einfache Fortsetzung oder Neuauflage vergangener Diskurse (oder Traditionen) verstanden werden sollte. 487 Unbenommen der konkreten Realität katastrophischer Ereignisse wird damit doch die Bedeutung "sozialer Definitionsverhältnisse" (Beck 1999: 149) oder der "Ordnungen des Diskurses" (Foucault 1974b) deutlich, die solche Interpretationen ermöglichen und strukturieren. Die nationalstaatlich begrenzten oder transnational geöffneten, durch Sprache und massenmediale Infrastrukturen strukturierten Reichweiten solcher Risikodiskurse erzeugen den gesellschaftlichen Erfahrungsraum einer Katastrophe. Der Vorschlag von Lars Clausen (1994), Katastrophen per se als Beispiel rur "krassen sozialen Wandel" zu betrachten, greift deswegen zu kurz. Die gesellschaftliche Resonanz der Diskurse über ein katastrophisches Ereignisses entscheidet über die von ihm ausgehenden Wandlungsimpulse. Die in Kapitel 5.1 angesprochenen unterschiedlichen Dynamiken der Umweltdiskurse in verschiedenen modemen Gesellschaften sind die Folge der je spezifischen institutionell-diskursiven Strukturierungen der angesprochenen Interpretationskonflikte. Prinzipiell können sich zwei Typen von Risikodiskursen aus einem Risikoereignis entfalten. 488 Erwart- und beobachtbar ist zunächst ein Diskurs, der um Beherrschungs-, Kontroll- und Normalisierungsversprechen bemüht ist, also auf die Externalisierung von Schuldfragen setzt - auf Natur, Gott, den Zufall oder bedauerliches menschliches Versagen im Einzelfall. Er kann als ,beruhigender Kontrolldiskurs' bezeichnet werden. Zur ,Entschuldung' und Entverantwortlichung von beteiligten Entscheidungsinstanzen und Organisationen ist diese Diskursposition bemüht, das katastrophische Ereignis zu naturalisieren oder als schicksalhaft und außergewöhnlich bzw. spezifisches technisches/organisatorisches Versagen zu normalisieren - im Falle des Vajont-Unglücks bspw. durch die zitierte Zuschreibung auf ,die Natur', in anderen Fällen durch den Hinweis auf unglückliche Umstände, menschliche oder technische Fehler, die sich in dieser Form nicht wiederholen werden. 489 Von Normalisierung zu sprechen, meint hier nicht die Bestreitung des Ereignisses, sondern entweder die Betonung seines fatalen, tragischen und unabsehbaren Ausnahmecharakters, der gerade deswegen nicht als Bezugspunkt der Infragestellung der materiellen und symbolischen Strukturen eines Kollektivs herangezogen werden kann, oder aber seine auf technische oder organisatorische Komponenten eindeutig zurechenbare Verursachung. Wenn Konsequenzen gezogen werden müssen, dann bestehen diese in der Verbesserung technischer Schutz- und Kontroll-Dispositive gegen das Unvorhersehbare. Damit Vgl. als exemplarische Fallstudien Viehöver (1997), Keller (1998), Hajer (1995), Litfin (1994), auch die Beiträge in Darier (1999). 487 Vgl. im Unterschied dazu die Positionen von Eder (1988) oder Gill (2003). 488 Die konkrete Anzahl ist eine empirische Frage. Vgl. zur Unterscheidung von konkurrierenden Sub-Diskursen auch Kapitel 4.2.5. 489 Perrow (1986) zeigt sehr deutlich, wie sich bei "normalen Unfallen" beteiligte Organisationen wechselweise Schuld zuschreiben, um der eigenen Haftung zu entgehen bzw. das Versagen der anderen zur Ereignisursache zu erklären. Dieser Interessenskonflikt innerhalb des Kontrolldiskurses liefert dem herausfordernden Diskurs wichtige Anknüpfungspunkte rur seine Gegennarration. Auf die wachsende Bedeutung moralischer Diskurse verweist Münch (1995). 486
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soll die von der Katastrophe angeschlagene institutionelle und symbolische Infrastruktur restabilisiert, das Ereignis in die Fraglosigkeit der bestehenden Routinen rückübersetzt werden. Die Notwendigkeit einer solchen Interpretation der Phänomene ergibt sich nicht zuletzt aus den Legitimitäts-, Selbstschutz- und Bestandserhaltungserfordernissen der in den Ereignissen involvierten Entscheidungsinstanzen bzw. institutionellen Felder und Akteure. Ihre Sprache ist die Sprache der Versachlichung. Der herausfordernde Gegendiskurs bemüht sich stattdessen um die Skandalisierung der Katastrophe durch Verweise auf ihre Absehbarkeit, menschliche Hergestelltheit und Vermeidbarkeit. Im Rückgriff auf die weiter oben angesprochenen Konzepte Bruno Latours geht es hier also darum, Artefakte, Natur und Soziales nicht als getrennte Entitäten, sondern als notwendig riskante und damit gefahrenträchtige Verwicklungen zu konturieren. 490 Dieser ,Gefahrendiskurs' stellt die modeme Idee der sicheren Kontrollgesellschaft in Frage und setzt an ihre Stelle die kollektive Not und Bedrohtheit einer Gefahrengemeinschaft. Er will andere Konsequenzen der Ereignisse, befurwortet eine strukturelle Veränderung des Arrangements von Natur, Artefakten und Sozialem - die Katastrophe wird hier zum Anlass einer (eingeforderten) soziokulturellen Strukturtransformation der symbolischen Ordnung. Zu Mobilisierungszwecken arbeitet dieser Diskurstyp mit Mitteln ästhetischer Inszenierung, mit den ausgelösten Erschütterungen, Skandalisierungen, Dramatisierungen und Moralisierungen, setzt sowohl auf Argumente und Wissen wie auch auf gefilhlsbetonte Bilder und Metaphern. Dadurch wird ein Ereignis zum Symbol oder Mahnmal fur eine falsche Fortschrittskonzeption, zur Warnung und Aufforderung, den gewählten Weg zu überdenken, zu verlassen, solange es noch geht. Die Risikokommunikation in modemen Massenmedien bietet diesem Diskurs vergleichsweise günstigere Verbreitungsbedingungen als dem weiter oben skizzierten Kontrolldiskurs. Die serielle Folge eingetretener Katastrophen akkumuliert sich zu einer Summe von Belegen filr seine Berechtigung. Darauf kann sich das Referenzsystem der massenmedialen Öffentlichkeit als modemes Kollektivgedächtnis immer wieder beziehen und damit permanent die bestehende symbolische Ordnung unter Spannung halten. Bezogen auf die Präsenz der unterschiedenen Risikodiskurstypen - der beruhigende Kontrolldiskurs einerseits, der herausfordernde Gefahrendiskurs andererseits491 - in den Arenen massenmedial vermittelter Öffentlichkeiten ergeben sich drei Kombinationsmäglichkeiten, die ich kurz erläutern möchte: So sind zunächst relative bis absolute Dominanzen eines Diskurstypus vorstellbar, die von mehr oder weniger starken Marginalisierungen des anderen Typus - bis hin zu seiner Verdrängung ins Außerhalb gesellschaftlicher Allgemeinöffentlichkeit - begleitet werden. Dominiert in einer ersten Variante einer solchen Hegemonialität der Typus des Kontrolldiskurses, dann entsteht in den Kollektiven, die über ein spezifisches Netz massenmedialer Vermittlung erreicht werden, keine generalisierte 490 Wenn man von der Existenz mindestens zweier Diskurse ausgeht, bedeutet dies noch nicht, dass beide in der öffentlichen Diskussion vertreten sind (vgl. Keller 1998). 491 Selbstverständlich bedienen sich beide Diskurstypen ästhetisierender und ,sachlicher' rhetorischer bzw. dramaturgischer Mittel. Das ergibt sich einerseits aus massenmedialen Vermittlungsanforderungen und Mobilisierungsbedingungen, andererseits aber auch aus der hohen Legitimität des Sacharguments - das im übrigen ebenfalls seine eigenen ästhetischen Qualitäten entfaltet - in öffentlichen Definitionskonflikten, der unter modernen Bedingungen kein Herausfordererdiskurs zu entkommen vermag. Dennoch bedient sich die Herausforderung aufgrund ihrer spezifischen Ressourcenkonstellation stärkerer ästhetisch-mobilisierender Elemente, um massenmediale Resonanz zu erreichen.
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risikogesellschaftliche Erfahrung. Eine dauerhaft stabilisierte Dominanz des Gefahrendiskurses als zweite Möglichkeit eines hegemonialen Verhältnisses erscheint dagegen aus verschiedenen Gründen als unwahrscheinlich: Zunächst wäre damit eine gesellschaftliche Selbsterfahrung als ständig bedrohte, verunsicherte Gefahrengemeinschaft verbunden, die zu einer schnellen Infragestellung und Ablösung der zentralen institutionellen Arrangements fuhren könnte. Erzeugen die entsprechenden Bemühungen nicht eine gewisse ,Beruhigung' und Transformation des Gefahren- zum Kontrolldiskurs, so ist eine allgemeine Haltung des Fatalismus, der ebenso undurchschau- wie unkontrollierbaren Schicksalsabhängigkeit erwartbar. Andererseits schwächt gerade die wiederholte Konfrontation mit katastrophalen Ereignissen deren Ereignisqualität: in diesem Sinne "normale Unfälle" haben kaum noch mobilisierende Wirkungen oder Nachrichtenwertigkeit. Wahrscheinlicher ist deswegen drittens neben der möglichen Hegemonialität des Kontrolldiskurses das Vorkommen von synchron und diachron unterschiedlich ausgeprägten Mischungsverhältnissen, zeit- und ereignisbezogenem Oszillieren zwischen beiden Diskursformen, die dann wechselweise aufeinander reagieren und in einen Wettlauf der Interpretation eintreten. Empirische Belege fiir das tatsächliche Vorkommen und konkrete Verhältnis der hier theoretisch abgeleiteten Typen des Risikodiskurses - den mit einem kognitiven Bias versehenen Kontrolldiskurses und den konkurrierenden, ästhetisierend-dramatisierenden Gefahrendiskurs - liefern die teilweise bereits in Kapitel 5.1 erwähnten Diskursanalysen einzelner Themen der Umwelt- und Risikodiskussion. 492 Diese Untersuchungen zeigen an unterschiedlichen Themenfeldern nicht nur die Existenz oder das Fehlen konkurrierender Diskurse innerhalb nationaler Kontexte, sondern auch die länderspezifischen Differenzen der zirkulierenden Interpretationen katastrophischer Ereignisse. Über diese DeskriptionlRekonstruktion hinaus erklären sie die beobachteten Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der öffentlichen Bedeutung und gesellschaftlichen Erfahrung der technisch-ökologischen Risiken aus den Mechanismen der Diskursproduktion und -konkurrenz als Ergebnis eines performativen Prozesses, einer permanenten Produktion und Reproduktion von symbolischen Ordnungen. Eine besondere Rolle kommt dabei den historisch gewachsenen Strukturierungen gesellschaftlicher Öffentlichkeiten zu. In den letzten Jahrzehnten wurde mehrfach ein neuerlicher "Strukturwandel der Öffentlichkeit" im Zusammenhang mit der zivilgesellschaftlichen Einmischung in öffentliche Problemdebatten konstatiert (Eder 1996; Habermas 1990; 1994).493 Damit ist ein Wandel in der Ordnung öffentlicher Diskurse anvisiert, der sich seit den 60er Jahren in den national organisierten Öffentlichkeiten moderner Gesellschaften mit 492 Dazu zählen unter anderem Hajers (1995) Analyse der Diskussion über Sauren Regen in Großbritannien und den Niederlanden, Roqueplos (1989) Untersuchungen über den Sauren Regen in Europa, meine eigene Studie über die Hausmülldebatten in Frankreich und Deutschland (Keller 1998), die Analysen zur Klimadebatte von Viehöver (1997) sowie Weingart/EngelslPansegrau (2002), Poferls (1997) Rekonstruktion der, Tschernobyl Media Story' u.a. Vgl. dazu auch Eder (1988), BrandlEderlPoferl (1997), AllaniCarter/Adam (2000), Anderson (1997), ThevenotILafayelMoody (2000), Lascoumes (1994) sowie zur Gentechnologie-Debatte BonfadellilDahinden (2002) und Gill (2003). 493 Überblicke über verschiedene Öffentlichkeitstheorien geben Imhof (2003) und Pellizzoni (2003). Jürgen Habermas erwähnt einen neuen Elan der öffentlichen Sphäre, der seiner eigenen negativen Prognose von Anfang der 60er Jahre widerspricht (Habermas 1990, 1994); Ronald Inglehart stellt eine steigende Nachfrage nach politischer Partizipation fest (Inglehart 1998). Klaus Eder (1996) verweist auf die Rolle der Umweltbewegungen in diesem Prozess. Vgl. zur aktuellen Debatte über Transformationen von Öffentlichkeit auch Eder/Kantner (2000), BenteleIHaller (1997), Ferree/GamsoniGerhardslRucht (2002), Gerhards (200 I), Neidhardt (1994).
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unterschiedlichen Graden und Geschwindigkeiten vollzieht. Als allgemeine Merkmale dieses Wandels gelten die Pluralisierung der sich an öffentlichen Diskussionen und Diskursen beteiligenden Akteure, die Erosion der Autorität wissenschaftlichen Wissens bzw. wissenschaftlicher Expertise in den öffentlichen Prozessen der Entscheidungsfindung, die mit der Anerkennung vielfaltiger wissenschaftlicher Unentscheidbarkeit einhergeht, und die Fragmentierung der öffentlichen Arenen in zahlreiche, mehr oder weniger miteinander vernetzte Teilöffentlichkeiten. Wissenschaftliches Wissen hat dadurch seinen autoritativen Status bei der Schließung diskursiver Kontroversen eingebüßt (Pellizzoni 2003). Die katastrophischen Risikoereignisse spielen in diesem Prozess der Transformation von Öffentlichkeiten eine wichtige, den Wandel befördernde Rolle, weil sie im Sinne der skizzierten Prozesse neuen Diskursen, Akteuren und Argumenten eine Plattform der Artikulation verschaffen. Das Verhältnis zwischen katastrophischen Ereignissen und ihrer massenmedialen Kommunikation in Gestalt konkurrierender Diskurse ist durchaus ambivalent. Das Ansteigen des Potenzials oder der Zahl tatsächlicher Risiko-Katastrophen kann gerade unter den Bedingungen ihrer massenmedialen Verbreitung zur Normalisierung oder Banalisierung der Risikoerfahrung beitragen, d.h. dass sie - je mehr es davon gibt, sie zum Thema werden, je öfter medial erzeugte Teilnehmerperspektiven entstehen, je weniger Steigerungseffekte erzielbar sind - ihren Status der (mobilisierenden) Ereignisse verlieren und zur kollektiven Routine werden, von der sich die Medien - und ihr Publikum - gelangweilt abwenden. Sie fungieren dann auch für die massenmediale Risikokommunikation nicht länger als ,interessante Themen'. Je seltener man von Risiko-Katastrophen spricht, desto stärker bleibt ihre situative Wirkung als massenmediale Gefahren- und Gemeinschaftserfahrung. Je häufiger sie zum Medienthema werden, desto routinisierter wird ihre Walunehmung; sie verlieren letztlich ihren mobilisierenden Status und ihre Themenfahigkeit. Die risikogesellschaftliche Gefahrendiskurs erscheint dann (vorübergehend) als Ideologie ohne empirische Basis. Ungeachtet dieser Ambivalenz zeigen die vorliegenden Studien, dass risikoinduzierte Gefahrendiskurse in mancherlei Hinsicht Veränderungen der institutionellen Arrangements der Wissensproduktion bzw. der Wissensverhältnisse moderner Gesellschaften ausgelöst haben. Dazu zählen bspw. die Etablierung neuer Leitbilder und institutioneller Dispositive des gesellschaftlichen Zukunftsmanagements in Gestalt der Konzepte von ,nachhaltiger Entwicklung', risikobezogenen Vorsorge-Strategien und entsprechenden Suchheuristiken der Wissensgenerierung, die in Kapitel 5.1 als neue Grammatik der Verantwortlichkeit bezeichnet wurden. Dazu zählen auch die Einrichtung von Foren der kommunikativen Bearbeitung von risikobezogenen Entscheidungen und der Einbezug neuer legitimer Akteure in diese Diskussionen sowie nicht zuletzt die verschiedenen Veränderungen großund kleintechnischer Prozesse oder alltäglicher Praktiken des Konsums u.a. Gewiss fallen solche Veränderungen (bislang) weniger radikal aus, als dies entsprechende Diskurspositionen fordern. Darin zeigt sich das fortdauernde Gewicht der Kontrolldiskurse, das Beharrungsvermögen der durch sie geformten Dispositive und Praktiken sowie ihre Kompetenzen im Umgang mit der Herausforderung. 494 Allerdings wird erst die künftige Betrachtung in einem längerfristigen Zeithorizont eine abschließende Einschätzung über die Reichweite der anvisierten Transformationsprozesse geben können. 494
Vgl. dazu Hajer(1995, 1997).
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5.3 Bilanz und Ausblick: Die Politik der Diskurse In den vorangehenden Abschnitten habe ich zunächst in Kapitel 5.1 die wichtigsten Ergebnisse der Umweltdiskursforschung zusammengefasst. Im anschließenden Kapitel 5.2 wurde dann diskutiert, inwiefern Risikoereignisse unter Bedingungen der modemen massenmedialen Öffentlichkeiten Chancenstrukturen für die Verbreitung von Diskursen erzeugen, die solche Ereignisse der kollektiven Erfahrung zugänglich machen und sie im Hinblick auf die vorhandenen symbolischen Ordnungen justieren. Resümierend lassen sich die verschiedenen Prozesse und Mechanismen diskursiver Wissenspolitiken in ihrem Verhältnis zu Formen des sozialen Wandels, die hier exemplarisch am Beispiel der Risikodiskurse erläutert wurden, mit dem Begriff einer Politik der Diskurse bezeichnen. Ich greife damit Überlegungen auf, die im angelsächsischen Raum bspw. in der Unterscheidung zwischen den ,politics ofculture' und der ,culture ofpolitics' deutlich werden (Nash 2000). Während die ,Kulturen der Politik' einen spezifischen Stil politischer Auseinandersetzungen und Prozesse sowie eine darauf gerichtete Analyseperspektive bezeichnen, betont das Konzept der ,Politiken der Kultur' die politischen Implikationen kultureller Prozesse, bspw. die Strukturierung von gesellschaftlichen Entscheidungsoptionen durch die Art und Weise der Bedeutungszuweisung zu einem Phänomen. Analog bezieht sich das Konzept einer Politik der Diskurse auf die ,politischen' Implikationen diskursiver Prozesse. Dies meint nicht (nur) das im engeren Sinne politische Feld der Gesellschaft, obwohl auch und gerade dort die Umweltdebatten durchaus prägend intervenierten. Vielmehr geht es darüber hinaus um die Veränderungen institutioneller Praktiken und Dispositive in verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsfeldern, um die Prozesse der Ein- und Ausschließung von Akteuren in die diskursiven Formationen, um die Thematisierung der inhärent politischen Qualität von Sinnzuschreibungen in diskursiven Prozessen. Wo liegen in diesem Zusammenhang die Möglichkeiten des in der vorliegenden Arbeit entwickelten Ansatzes der Wissenssoziologischen Diskursanalyse? In erster Linie handelt es sich dabei um ein prozessorientiertes empirisches Forschungsprogramm, das in der Lage ist, sozialen Wandel in modemen Gesellschaften als Veränderung bzw. Transformation, als soziale Konventionalisierung und Dekonventionalisierung von Diskursen und Praktiken in den Blick zu nehmen. In diesem Sinne kann die entwickelte Diskursperspektive die Durchfuhrung empirischer Wissensanalysen des sozialen Wandels anleiten. Sie lässt sich freilich auch unabhängig von einer solchen gesellschaftstheoretisch inspirierten Fragestellung fur die in Kapitel 4.4 skizzierten ,kleinformatigeren' Anliegen nutzen. Diskursiv konfigurierte Wissenspolitiken erweisen sich über den angesprochenen Bereich der Risikodiskurse hinaus zugleich als wichtige Antriebskräfte des sozialen Wandels einerseits, als darauf bezogene Interpretationen dessen, ,was vor sich geht' andererseits. Auf ihrer Bedeutung zu insistieren, heißt weder, einem kurzschlüssigen Idealismus zu verfallen, den schon Marx und Engels verwarfen, noch umgekehrt einem absoluten Primat der Praxis zu folgen wie in einigen Adaptionen der marxistischen Ideologiekritik, die Ideen nur als Anhängsel und Effekt betrachten. Vielmehr bedeutet es, Diskurse als Realität und Form der Praxis zu begreifen, die wechselseitige Ko-Produktion von Ideen und Praktiken im Auge zu behalten und die sozialkonstruktivistische Tradition der Wissenssoziologie in diesem Sinne zu interpretieren. In den Worten Foucaults geht es also um Diskurse als Praktiken, die Gegenstände konstituieren. Sie tun dies jedoch nicht in einem leeren, gleichsam ,unbesprochenen' Raum, sondern in einem komplexen Gefuge von diskursiven Ordnungs-
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prozessen, die mit unterschiedlichen Ressourcen und in unterschiedlichen Stadien der institutionelIen Kristallisation alIesamt um die (vorübergehende) Fixierung von symbolischen Sinn- und Praxisstrukturen ringen. Strukturen sind in den Worten von Joseph Gusfield (1981) ,als Ordnungsmuster eingefrorene Prozesse', die jederzeit aufgetaut, d.h. zum Gegenstand von geselIschaftlichen Auseinandersetzungen werden können.
6 Ein Resümee
Gegenstand der vorliegenden Untersuchung war das Forschungsprogramm einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse. Dieser Ansatz wurde als Ergänzung und Weiterfuhrung der Hermeneutischen Wissenssoziologie vorgestellt, die ihrerseits in der Tradition der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie steht. Die Entfaltung einer diskursorientierten Perspektive der Wissenssoziologie erfolgte in drei Schritten: Zunächst habe ich im 2. Kapitel anhand der historischen Entwicklung wissenssoziologischer Fragestellungen diskutiert, inwiefern verschiedene Etappen, Konjunkturen und Schwerpunktsetzungen der Wissenssoziologie unterschieden werden können. In diesen sukzessiven Phasen werden ihre ursprünglichen Fragen nach der sozialen Bedingtheit des Wissens in Analysen seiner sozialen Konstruktion und später dann in diejenigen nach seiner kommunikativen Konstruktion überfuhrt. Die jeweiligen Veränderungen bezeichnen eher Akzentverschiebungen als komplette Neuorientierungen. Mit der Verlagerung geht eine Konkretisierung der theoretischen Positionen und eine Umsetzung wissenssoziologischer Perspektiven in empirisch bearbeitbare Forschungsfragen einher, die sich als Verschiebung von der Ideenanalyse zur Beschäftigung mit Wissen und Sprache in konkreten Handlungsvollzügen beschreiben lässt. So wird etwa die von Durkheim und Mauss aufgeworfene Frage nach der gesellschaftlichen Entstehung und der sozialen Bedeutung von KlassifIkationssystemen sowohl in der Bourdieuschen Soziologie der Praxis wie auch in der empirisch-konstruktivistischen Wissenschaftsforschung aufgegriffen. Während Bourdieu sich fur die Funktion von KlassifIkationen in gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen interessiert, beschäftigen sich die Social Studies of Science mit den sozialen Grundlagen ihrer Genese und Durchsetzung im Sinne eines praktischen Herstellungsprozesses. In davon unterschiedener Weise bezieht sich die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie auf die von Marx, Durkheim oder Mannheim aufgeworfenen Problemstellungen. Sie analysiert die Konstruktionen und Zirkulationen von Wissen in der gesellschaftlichen AlltagsweIt, also in verschiedensten Bereichen des privaten oder professionellen HandeIns, nicht nur, wie die Wissenschaftsforschung, in entsprechenden wissenschaftlichen Settings. Mit der Analyse kommunikativer Gattungen rückt sie die Bedeutung der Kommunikationsmuster fur die Wissenszirkulation in den Vordergrund. Die - von Hubert Knoblauch in seinem Konzept der "Kommunikationskulturen" mit der Hermeneutischen Wissenssoziologie verknüpfte - Perspektive des Symbolischen Interaktionismus fuhrt erstmals den Begriff des Diskurses in die wissenssoziologische Tradition ein. Diskurse werden hier im Kontext des Pragmatismus und der daran anschließenden soziologischen Tradition als öffentliche Aushandlungsprozesse und DefInitionskonflikte zwischen konkurrierenden sozialen Akteuren betrachtet. Etwa zeitgleich entsteht auch in den Social Studies of Science eine Perspektive der Diskursanalyse, die sich an das interpretative Paradigma und die soziologischen sowie sprachwissenschaftlichen Varianten der Konversationsanalyse anlehnt und auf die Analyse des Sprachgebrauchs in Kommunikationsprozessen innerhalb des Wissenschaftsbetriebes
R. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, DOI 10.1007/978-3-531-17837-0_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Ein Resümee
zielt. Allerdings entwickelt sich aus diesen Ansätzen keine systematisierte wissenssoziologische Perspektive der Diskursforschung. Die erläuterten Schritte von der Beschäftigung mit der sozialen Bedingtheit über die Betonung der Konstruktion des Wissens und schließlich der Hinwendung zu Kommunikationsprozessen als dem ,Medium' der Wissenskonstruktion münden jedoch keineswegs in ein theoretisch umfassendes Paradigma der Wissenssoziologie. Im Gegenteil kann heute eher von einer unverbundenen Heterogenität von Ansätzen ausgegangen werden, die sich wechselseitig kaum zur Kenntnis nehmen und nicht bemüht sind, eine integrierende Programmatik zu entwickeln. Insoweit sind die verschiedenen Sammelbewegungen der 1980er Jahre, die in Kapitel 2.3.1 erwähnt wurden, weitgehend folgenlos geblieben. Während die Social Studies of Science und der Symbolische Interaktionismus für unterschiedliche aktuelle angelsächsische Varianten der Wissenssoziologie stehen und Bourdieus Theorie der Praxis sowie die wissenssoziologischen Elemente des (Post-)Strukturalismus ihre Entwicklung in Frankreich prägten, verkörpert im deutschen Sprachraum die Hermeneutische Wissenssoziologie wissenssoziologische Perspektiven. Luhmanns systemtheoretische Entwürfe der Wissensanalyse haben demgegenüber keine größere Bedeutung gewonnen. Insgesamt zeigt ein Resümee der Geschichte der Wissenssoziologie deren Ambivalenzen: Zum einen hat sie die Perspektiven der allgemeinen Soziologie in kaum zu überschätzender Weise geprägt und den Wissensbezug des sozialen Handelns in allen theoretischen Paradigmen als unhintergehbare Größe fest verankert. Auf der anderen Seite wird sie als Spezialsoziologie betrieben, die Probleme hat, ihren Gegenstandsbereich hinreichend von anderen Spezialsoziologien abzugrenzen, zumindest dann, wenn sie sich nicht darauf beschränkt, formale Strukturierungen des Wissens - etwa die Typen seiner sozialen Verteilung, die Möglichkeiten der Vergegenwärtigung von Vergangenheit und Zukunft u.a. - zu analysieren, sondern sich mit spezifischen Gegenstandsfeldern beschäftigt. Die Hermeneutische Wissenssoziologie umfasst heute unterschiedliche Ansätze, deren Gemeinsamkeit in der Konzentration auf Kommunikationsprozesse und Rekonstruktionen von Wissen in der privaten und beruflichen Alltagspraxis besteht. ,Institutionelle Wissensprozesse' entgehen bislang ihrer Aufmerksamkeit. Auch bleibt ihre allgemeine Rede von der kommunikativen Konstruktion des Wissens zu unspezifisch, als dass sich daraus eine zusammenführende Orientierung der verschiedenen Vorgehensweisen ergeben könnte. An diesen Defiziten setzt das Konzept einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse in zweifacher Hinsicht an: Erstens schlägt es der Hermeneutischen Wissenssoziologie eine Erweiterung ihrer Fragestellungen im Hinblick auf die Analyse der Produktion und Zirkulation kollektiver Wissensbestände vor. Die Hermeneutische Wissenssoziologie wird es sich, will sie dem Vorwurf eines naiven Alltagsrealismus entgehen, nicht länger, leisten' können, die Ebenen der institutionell-organisatorischen Wissensprozesse unter den Bedingungen einer posttraditionaJen Gesellschaft zu vernachlässigen. Zweitens wird dafür plädiert, die Perspektive der ,kommunikativen Konstruktion' für diese Zwecke in der theoretischen Perspektive einer diskursiven Konstruktion des Wissens zu bündeln. Mit der Wissenssoziologischen Diskursanalyse steht der Hermeneutischen Wissenssoziologie ein Theorie- und Forschungsprogramm zur integrierten Analyse der genannten Prozesse zur Verfügung. Erst damit kann sie ein Programm angemessen verfolgen, das bspw. von Hans-Georg Soeffner so formuliert wurde:
Ein Resümee
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"Vor allem geht es darum, die Formung unserer Alltagswirklichkeit und unseres Alltagshandelns durch Institutionen, Produkte, Weltsichten, kollektive ,Mentalitätsfiguren', Handlungsmuster und Wissensformen zu zeigen. Sie alle werden im menschlichen Handeln modelliert, gewinnen dort ihre Gestalt und Wirklichkeit und wirken ihrerseits auf menschliches Handeln zurück. Kurz: Es geht auch um die Rückwirkung der gesellschaftlichen Konstruktionen auf ihre Konstrukteure. Die Analyse versteht sich damit als Rekonstruktion der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit." (Soeffner I 992c: 477)
Im 3. Kapitel habe ich die weitgehend ohne Bezüge zur Wissenssoziologie verlaufene Karriere diskursorientierter Ansätze der Wissensanalyse vorgestellt. Die zentrale Position innerhalb der Diskurstradition nimmt das Werk Michel Foucaults ein. Daran knüpfen verschiedene erläuterte Weiterführungen der Diskursforschung an. Gegenwärtig kann hier ähnlich wie in der Wissenssoziologie von einem Nebeneinander unterschiedlicher Theorieund Forschungsprogrammatiken gesprochen werden, zu deren wichtigsten die kritische Diskursforschung, die Diskurstheorie von Lac1auIMouffe und der Diskursansatz innerhalb der Cultural Studies gehören. Aus Foucaults Arbeiten wurden Hinweise darauf gewonnen, welche Ansatzpunkte für eine Einbettung der Diskursperspektive in die Wissenssoziologie bestehen, welche Grundfragen dabei beantwortet werden müssen und welche Diskursdimensionen ein adäquater begrifflicher Apparat erfassen muss. Ein solcher Anschluss an Foucault impliziert weder die Übernahme seiner erkenntnistheoretischen Positionen noch eine komplette Anlehnung an seine Konzepte; er unterstellt auch nicht die Kompatibilität oder Konvergenz seiner diskurstheoretischen Wissensanalyse mit derjenigen der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie. Allerdings zeigte sich, dass Foucault entgegen mancher Lesarten seines Werkes durchaus der Bedeutung von Akteuren, Praktiken und Handeln zunehmend Rechnung getragen und sein Diskursverständnis entsprechend modifiziert hatte, auch wenn dies nicht in einer theoretisch-methodologischen Positionsbestimmung festgehalten wurde, die derjenigen innerhalb der "Archäologie des Wissens" vergleichbar wäre. Die verschiedenen, Foucaultsche Anregungen mehr oder weniger stark aufgreifenden Variationen der Diskursperspektive in kritischer Diskursforschung, den Cultural Studies oder der Diskurstheorie von Lac1auIMouffe verbinden die Diskursperspektive mit anderen disziplinären Interessen, bspw. den Sprach- und Politikwissenschaften, der marxistischen Ideologiekritik u.a. Die Weiterentwicklungen der Diskurstheorie beziehen sich in der kritischen Diskursforschung auf die Hinwendung zur detaillierten Analyse einzelner Sprachereignisse bzw. diskursiver Ereignisse. Lac1auIMouffe greifen mit ihrem Konzept der "Artikulation" die Überlegungen zu den Funktionsweisen von Sprecher- und Subjektpositionen im Foucaultschen Werk auf und verknüpfen sie mit einem spezifischen Akteursverständnis. Die Cultural Studies schließlich akzentuieren vergleichsweise stärker die Rolle sozialer Akteure und symbolischer Kämpfe im "Kreislauf der Kultur". In der Gesamtbilanz wird so gegenüber der ursprünglichen Foucaultschen Konzeption eine stärkere Einbindung von Akteuren, eine explizite Aufnahme der Beschäftigung mit Diskursinhalten und eine Hinwendung zur Detailanalyse einzelner diskursiver Ereignisse deutlich. Allerdings treten dabei sowohl der Wissensbegriff wie auch die Verortung der Diskursperspektive im Hinblick auf die Analyse gesellschaftlicher Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken zunehmend in den Hintergrund. Das 4. Kapitel beschäftigte sich mit den verschiedenen Schritten einer Grundlegung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse. Dabei wurde zunächst gezeigt, inwieweit eine
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solche Diskursperspektive der Analyse von gesellschaftlichen Wissensverhältnissen und Wissenspolitiken als Diskurse auf die Behebung vorhandener Einseitigkeiten der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie zielt. Dann habe ich vor dem Hintergrund der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie verschiedene Grundelemente eines solchen Ansatzes - seine Konzepte des Zeichengebrauchs, des Verhältnisses von Diskursen und diskursiven Ereignissen, der Akteure und Praktiken sowie schließlich das Verständnis von diskursiven Formationen, Spezialdiskursen und öffentlichen Diskursen - erläutert. In einigen Fällen konnte die Wissenssoziologische Diskursanalyse hier direkt an bestehende überlegungen anknüpfen; teilweise erwies sich ein Rekurs auf andere Ansätze als notwendig. Im Einzelnen wurde gezeigt, dass die Konzepte des Zeichengebrauchs innerhalb der sozialphänomenologischen bzw. sozialkonstruktivistischen Tradition der Wissenssoziologie in der pragmatistischen Semiotik verankert sind, die einerseits mit dem Begriff des Diskursuniversums eine Vorstellung dafür entwickelt hat, wie soziale Akteure in ihren Interpretations und Interaktionsprozessen gemeinsame Deutungshorizonte ihrer WeItwahrnehmung erzeugen, und die andererseits bereits auf Diskursspezialisierungen hinwies, also die Ausdifferenzierung unterscheidbarer Konventionalisierungen des Sprachgebrauchs und der inhaltlichen Fokussierung. Das Verhältnis zwischen Diskurs und diskursivem Ereignis konnte im Anschluss an Giddens Konzept der Dualität von Struktur bestimmt werden. Diskurse sind dann Strukturzusammenhänge von Regeln und Ressourcen der Produktion und Distribution von Aussagen, welche die praktischen Handlungsvollzüge sozialer Akteure anleiten. Diskursive Ereignisse entstehen also nur aus dem konkreten Handeln bzw. in den Praktiken sozialer Akteure. Solche Akteure können als Rollenspieler in institutionellen Settings verstanden werden, die in der Verfolgung von Handlungszielen Diskurse (re-) produzieren und auch verändern. Als Sprecherpositionen wurden in diesem Zusammenhang die institutionellen Orte des legitimen Sprechens in Diskursen bezeichnet; davon habe ich Subjektpositionen als Positionierungen von Akteuren durch Diskurse bzw. als diskursiv angebotene Identitätsschablonen unterschieden. Auf solche Angebote von Subjektpositionen reagieren die adressierten Rezipienten nach ihren mehr oder weniger eigenwilligen Auslegungsweisen. Auch der Begriff der Praktiken wurde in mehrfacher Hinsicht differenziert. Obwohl die Hermeneutische Wissenssoziologie selten explizit von Praktiken spricht, verfügt sie doch mit ihren Konzepten des Routinewissens, des kollektiven Handlungsrepertoires, der kommunikativen Gattungen u.a. über vergleichbare Vorstellungen von konventionalisierten Handlungsvollzügen, an denen sich soziale Akteure orientieren. Unterschieden wurden Praktiken der Diskurs(re)produktion von im Diskurs entwickelten Modellpraktiken und von außerdiskursiven Praktiken in gesellschaftlichen Handlungsfeldern. Ein letzter Punkt der Klärung betraf die Beziehungen zwischen dem Konzept der diskursiven Formationen und der Unterscheidung von Spezialdiskursen bzw. öffentlichen Diskursen. Hier wurde argumentiert, dass sowohl Spezialdiskurse wie auch öffentliche Diskurse im Hinblick auf ihre Formationsregeln und Effekte untersucht werden können. Inwieweit sich das Analyseinteresse dabei auf die Konkurrenz inhaltlicher Diskurspositionen oder auf die gemeinsamen Formationsregeln innerhalb diskursiver Felder richtet, muss nach den konkreten Forschungsinteressen bestimmt werden und kann nicht, wie einige, sich auf Foucault berufende Positionen behaupten, daraus abgeleitet werden, dass nur eine spezifische Defmition von Diskursen zugelassen wird, die viele mögliche Gegenstands- und Anwendungsbereiche der Diskursperspektive ausschließt. Das Verhältnis von Formationsregeln und konkurrierenden Gegenstandskonstitutionen in Spezialdiskursen bzw. öffentlichen
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Diskursen wurde deswegen als Ebenenverhältnis und analytische Unterscheidung im Forschungsprozess eingeruhrt. Nach dieser zunächst programmatischen und dann theoretischen Grundlegung habe ich, bezogen auf die inhaltliche Strukturierung und die Materialität von Diskursen, verschiedene Grundbegriffe der Wissenssoziologischen Diskursanalyse vorgestellt und die damit verbundenen Fragestellungen erläutert. Zum vorgeschlagenen Vokabular gehören, bezogen auf die inhaltliche Strukturierungsebene, die Begriffe des Deutungsmusters, der Klassifikationen, der Phänomenstruktur und der narrativen Struktur. Die Erfassung der Materialität von Diskursen wurde durch die Konzepte der Akteure, Praktiken und Dispositive anvisiert. Damit ist die Bearbeitung verschiedenster Forschungsfragen im Hinblick auf Diskurse möglich: die Rekonstruktion und Erklärung ihrer Verläufe, die Analyse ihrer gesellschaftlichen Folgen, der Vergleich von Diskurstypen oder Diskursformationen, die Untersuchung der Beziehungen zwischen Diskursen und gesellschaftlichen Praxisfeldern sowie dem Alltags- und Praxiswissen sozialer Akteure u.a. Die Grundlegung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse wurde mit einer Erörterung ihrer wichtigsten methodologischen Implikationen - ihrem konstruktivistischen und selbstreflexiven Status als Diskurs über Diskurse, ihrer Programmatik der Rekonstruktion und Erklärung von Diskursprozessen, ihrem unhintergehbar interpretativen Charakter, den notwendigen Adaptionen qualitativer Methoden der Sozialforschung und ihrer umfassenden Datenbasis - abgeschlossen. Kapitel 5 bezog die skizzierte Forschungsprogrammatik auf ein konkretes Feld gesellschaftlicher Wissenspolitiken - die Umwelt- und Risikodiskurse der letzten Jahrzehnte, um exemplarisch zu verdeutlichen, wie eine wissenssoziologisch-diskursanalytische Perspektive über die Untersuchung einzelner Diskurse hinaus auf Phänomene des sozialen Wandels und der soziokulturellen Transformation gerichtet werden kann. Aus einer systematisierenden Zusammenschau der Vielzahl einzelner themenbezogener Diskursforschungen im erwähnten Gegenstandsbereich wurden mehrere folgenreiche Veränderungen der Erscheinungsformen von Diskursen rekonstruiert. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, wie gesellschaftliche Diskursdynamiken aus dem Zusammenspiel von diskursexternen Ereignissen (hier: potenzielle Gefährdungen, eingetretene Katastrophen) und den Wissenspolitiken sozialer Akteure unter Bedingungen der massenmedialen Vergesellschaftung erklärt werden können und welche Konsequenzen sich daraus rur soziokulturelle Transformationsprozesse ergeben. Mit dem Ansatz der Wissenssoziologischen Diskursanalyse ist keineswegs die Behauptung einer kompletten Kompatibilität oder Konvergenz der jeweiligen theoretischen Perspektiven und der damit verknüpften Forschungsprogramme verbunden. Dies gilt nicht nur rur die Positionen von Berger/Luckmann und Foucault, sondern auch allgemein rur die Gegenüberstellung von wissenssoziologischen und diskurstheoretischen bzw. diskursanalytischen Ansätzen. Inwieweit innerhalb dieser Forschungstraditionen vergleichbare Unterschiede im Grundsätzlichen bestehen - etwa zwischen dem Sozialkonstruktivismus und dem Systemkonstruktivismus, der Critical Discourse Analysis und der Diskurstheorie von LacIauIMouffe - wäre gesondert und fallspezifisch zu diskutieren. Die von mir eingenommene Perspektive in Bezug auf die damit angesprochenen Theorieverhältnisse habe ich mit dem Begriff der Übersetzung bezeichnet. Nachdem zunächst gezeigt werden konnte, inwiefern sich die wissenssoziologische Tradition zunehmend auf die Beschäftigung mit dem Sprachgebrauch und den Kommunikationsprozessen als Grundlagen der Wissenszirkulation hin bewegte, und umgekehrt die diskurstheoretische Perspektive nach und nach ihre
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abstrakt-verdinglichte Diskurskonzeption aufgibt und stärkere Bezüge zu Handlungen (Praktiken) und sozialen Akteuren einbaut, hat die Diskussion der diskurstheoretischen Entwicklungen verschiedene Grundelemente der Diskursperspektive hervorgehoben, die in den theoretischen Rahmen der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie vermittelt wurden. Dies implizierte sowohl eine Modifikation der von Foucault entwickelten Konzepte wie auch eine Ergänzung des geläufigen wissenssoziologischen Vokabulars. Dadurch wurde die Entfaltung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse als Bestandteil der Hermeneutischen Wissenssoziologie möglich. Einer solchen Vorgehensweise liegt eine theoriekonstruktive Haltung zugrunde, die davon ausgeht, dass eine Weiterentwicklung soziologischer Perspektiven und Fragestellungen nur dann gelingen kann, wenn sie eine angemessene Balance zwischen der Bewahrung gewonnener Erkenntnisse und der Erkundung neuer Denkmöglichkeiten findet. Dies lässt sich durchaus als Absage an eine auf Dauer gestellte werkgetreue Rekonstruktion von Klassikerpositionen verstehen, die zu implizieren scheint, dass dort mit unhintergehbarer Autorität das Endgültige formuliert wurde. Mit Ronald Hitzier, der sich auf sein eigenes Programm der erfahrungsorientierten Analyse von "Sinnwelten" bezieht, lässt sich gleichzeitig - und hier: im Hinblick auf die vorgestellte Diskursperspektive! - festhalten: "Eine Reduktion soziologischer Erkenntnisinteressen insgesamt auf ein solches Programm würde denn wohl das Weltdeutungs- und Wirklichkeitskonstruktions-Potential des Faches tatsächlich auch eklatant beschneiden - und das ,ohne Not'. Dementsprechend ist dies kein Plädoyer für eine Total-Revision soziologischer Fragestellungen." (HitzIer 1999: 297)
Das Primat der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie rur eine Wissenssoziologische Diskursanalyse folgt aus ihrer umfassenden theoretischen Ausgangsposition in Bezug auf gesellschaftliche Wissensverhältnisse. Sie begründet unabhängig von Spezifizierungen fiir einzelne Wissensbereiche oder Wissensfelder - wie bspw. im empirischen Konstruktivismus der Science Studies - und ohne theoretisches Vor-Urteil über die Art der jeweiligen Wissensbeziehungen - wie bspw. in der Bourdieuschen Theorie der Praxis - eine dialektische Konzeption der Wissensprozesse als Zusammenhang von Objektivierung, Institutionalisierung und subjektiv-sozialisatorischer Aneignung des Wissens durch soziale Akteure und in deren praktischem Handeln (einschließlich des kommunikativen Handeins), das wiederum als aktive Interpretationsleistung verstanden wird. Damit wird die Ontologisierung oder Metaphysik der Diskurse vermieden, die in diskurstheoretischen Ansätzen anklingt. In der Fortruhrung dieser Annahmen hat sich die Hermeneutische Wissenssoziologie insbesondere mit der methodischen Kontrolle der soziologischen Forschungsprozesse befasst und wichtige Potenziale der qualitativen Sozialforschung begründet. Der Anschluss an diese Reflexionen auf methodische Zugänge bildet einen weiteren wesentlichen Vorteil, der sich fiir die Diskursperspektive aus der Einbettung in die Wissenssoziologie ergibt. Dadurch kann der Eindruck methodischer Intransparenz oder gar Beliebigkeit, der die bisherige Diskursforschung begleitet, vermieden und durch das Angebot einer prinzipiellen intersubjektiven Nachvollziehbarkeit der Vorgehensweisen ersetzt werden. Ein gegenläufiger Zugang, also eine Aufnahme der wissenssoziologischen Fragestellungen in die diskurstheoretischen Perspektiven erweist sich dagegen trotz deren zunehmender Anerkennung von Akteursleistungen als problematischer. Das wichtigste Argument gegen eine solche Strategie besteht in der theoretischen Ausgangsposition der Diskurstheo-
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rien, die sich nur auf einen spezifischen (institutionellen) Bereich des Wissens richtet und trotz aller Bezüge auf soziale Akteure auf dem Fundament einer quasi-ontologisierten Annahme der Selbst-Entwicklung gesellschaftlicher Wissensregime in Diskursen basiert, die keine Vorstellung der Vermittlung zwischen ,objektiven' und ,subjektiven' Wissensvorräten zulässt. Demnach kann also Diskursforschung nur als eine unter mehreren Umsetzungen oder Anwendungen der Hermeneutischen Wissenssoziologie betrieben werden - nicht umgekehrt. Auch die Wissenssoziologische Diskursanalyse bleibt unweigerlich ein konstruktivistischer Diskurs über Diskurse, d.h. eine Beobachtung, Beschreibung, Rekonstruktion und Erklärung von Diskursverläufen im Hinblick auf deren interne sowie externe Einflussgrößen und Effekte nach Maßgabe seiner eigenen Formationsregeln. Sie speist die Ergebnisse dieser Fremdbeobachtung von Diskurspraxis wiederum als klassisches soziologisches Aufklärungsangebot in wissenschaftliche und vielleicht auch öffentliche Diskurse ein; allein dadurch schon verändert sie unabdingbar ihren Gegenstandsbereich. Ihre Rekonstruktion und Erklärung von Diskursen legitimiert sich durch den Ausweis sozialwissenschaftlicher Verfahren, also durch die methodische Kontrolle der Schritte, mit deren Hilfe die Aussagen über Diskurse gewonnen werden. Sie betreibt dies im Sinne der grounded theory, d.h. als Theorieperspektive, die zur Selbstkorrektur und Weiterentwicklung ihrer Grundkonzepte und -annahmen nach Maßgabe der Auseinandersetzung mit empirischen Gegenstandsbereichen in der Lage ist. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse erlaubt auch eine empirische Untersuchung der Prozesse, die unter den zeitdiagnostischen Stichworten der Wissensgesellschaft u.a. diskutiert werden. Sie schlägt vor, Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken als Diskurse zu begreifen, die darin vorgenommenen Gegenstandskonstitutionen oder auch die Strukturen diskursiver Regime und deren Veränderung zum Gegenstand wissenssoziologischer Analysen zu machen. Damit wird die Wissensproduktion nicht (nur) als reine Bestandsgröße und ökonomische Ressource in den Blick genommen, sondern hinsichtlich der mit ihr einhergehenden Transformationen gesellschaftlicher Erfahrungsund Deutungsweisen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen werden zum Gegenstand weiterer wissenschaftlicher Diskurse, die ihre Inhalte aufuehmen, ihre Vorgehensweisen kritisieren, ihre formalen Annahmen weiterfuhren oder widerlegen mögen. Sie reihen sich ein in die Verkettung von Aussagen, die das gesellschaftliche Gewebe und den ,Dschungel' von Prozessen symbolischer Ordnung konstituieren. Wenn davon gesprochen wurde, dass die Wissenssoziologische Diskursanalyse mit ihrem Diskurskonzept sowohl auf ein Verstehen wie auf ein Erklären von gesellschaftlichen Wissensverhältnissen und Wissenspolitiken zielt, so sind damit nicht die subjektiven Perspektiven der Diskursproduzenten anvisiert, sondern die durch Rekonstruktionsprozesse zu leistende Formulierung eigenständiger und übergreifender Verstehens- und Erklärungsperspektiven. Es geht in Rück- und Anbindung an die analysierten empirischen Materialien um die Entwicklung von Thesen, die aus einer Beschäftigung mit dem Forschungsgegenstand resultieren und dessen Selbstbeschreibungen nicht als ,letztes Wort' akzeptieren, also auf der Möglichkeit und Notwendigkeit ihrer sozialwissenschaftlichen Irritation bestehen. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse versteht sich insoweit als klassisches soziologisches Programm gesellschaftlicher Selbstaufklärung. Ob die Bearbeitung solcher Fragestellungen mit Formen der ,Diskurskritik', also der Entwicklung begründeter kritischer Maßstäbe zur normativen Bewertung von Diskursprozessen etwa im Hinblick auf die Streuung der Zugänge zu Sprecherpositionen,
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die Verteilung von Ressourcen der Diskursproduktion, die Bedeutung von Argumentationsprozessen u.a. verbunden werden, hängt von den jeweiligen Erkenntnisinteressen ab, die mit ihrer Umsetzung verbunden sind. Vor dem Hintergrund des dargelegten Forschungsprogramms lassen sich verschiedene Anschlussfragen benennen, deren Beantwortung den Rahmen der vorliegenden Untersuchung übersteigt. Neben der weiteren Klärung von Konzepten und Vorgehensweisen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse gehören zu den wichtigsten Diskussionskomplexen, die sich aus dem Vorschlag einer Einbindung der Diskursforschung in die Wissenssoziologie ergeben bzw. in der weiteren Auseinandersetzung mit dieser Position geklärt werden müssen, die Fragen des Vergleichs und der Typisierung von Diskursformationen, die Erörterung des Verhältnisses der Diskursperspektive zu den verschiedenen Medientheorien sowie die Beziehung zu Theorien (des Wandels) gesellschaftlicher Öffentlichkeiten. Ich möchte abschließend zumindest kurz andeuten, in welchen Richtungen entsprechende Klärungen angegangen werden könnten: •
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Ein erster Fragekomplex betrifft die Beziehungen zwischen diskursiven Formationen und Diskursregimen. In der vorliegenden Studie habe ich mich primär mit dem Vokabular und den Fragestellungen der Diskursforschung in Bezug auf einzelne Diskursverläufe beschäftigt. Im Zuge der Umsetzung einer solchen Perspektive lassen sich vor dem Hintergrund der Forschungsergebnisse und im Rückgriff auf vorliegende Diskursstudien aus anderen Kontexten Überlegungen und Hypothesen dazu gewinnen, ob allgemeine Charakteristiken der Entwicklung von Diskursen, Wissensverhältnissen und Diskurspolitiken festgestellt werden können. Dabei geht es nicht so sehr um die großformatigen Fragen nach ,historischem Fortschritt' und Entfaltungspotenzialen kommunikativer Rationalität, aber um die Analyse von typisierbaren Abfolgen, Konjunkturen oder ,Sperrklinkeneffekten' , um die Frage nach Diskursgruppierungen und ihrer gesellschaftlichen Resonanz. Bspw. könnte in diesem Zusammenhang untersucht werden, ob gegenwärtig eine ,Säkularisierung' (natur-)wissenschaftlicher Diskurspositionen beobachtbar ist, die analog zur historischen Ablösung der religiösen Deutungshoheit durch die wissenschaftliche Erkenntnisproduktion letztere in ihrer Geltungskraft - nicht notwendig in ihrem Geltungsanspruch - relativiert und anderen Diskursformen unterordnet. Im Ländervergleich könnten entsprechend Fragen nach nationalen und internationalen Konjunkturen diskursiver Formationen untersucht werden, nicht zuletzt auch deren Stellenwert vor dem Hintergrund entstehender transnationaler oder globalisierter Diskursverhältnisse. Ein zweiter Komplex von Anschlussfragen betrifft das Verhältnis zwischen der skizzierten Diskursperspektive und den neueren Medientheorien bzw. den medien- und kommunikationswissenschaftlichen Untersuchungen über die Formen und Folgen der modemen massenmedialen Vergesellschaftung. Die Soziologie insgesamt hat sich hier bislang nur ansatzweise mit der Bedeutung der Wirklichkeitsvermittlung über Massenmedien in posttraditionalen Gesellschaften beschäftigt. Aus der Perspektive der diskurstheoretisch orientierten Wissenssoziologie ginge es hier ähnlich wie in den Cultural Studies um die Fragen der Beziehungen zwischen Diskursproduktionen und arenen, medienexternen und medieninternen Akteuren sowie den Rezeptionsweisen der dort zirkulierenden Deutungen. Die Medientheorien haben verschiedene Interpretationsangebote und Thesen entwickelt - bspw. Baudrillards Annahmen über die Ab-
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lösung einer Ordnung der Produktion durch eine Ordnung der Simulation oder Kittlers Reflexion auf die Bedeutung der Medienform für das gesellschaftliche Wissen - , deren Implikationen für die Wissenssoziologische Diskursanalyse diskutiert werden müssen. Vergleichbare Auseinandersetzungen wären in Bezug auf alternative soziologische Erklärungsparadigmen wie System- und Strukturtheorien, in Bezug auf die in den Analysen der Wissensgesellschaft beschriebenen Strukturtransformationen des wissenschaftlichen ,Betriebes' oder im Hinblick auf Theorien und Wandlungsprozesse von Öffentlichkeit zu führen. Die Formen und Prozesse gesellschaftlicher Öffentlichkeit werden von Diskursverläufen, Transformationen des Mediensystems, sozialen Ereignissen und gesellschaftlichen Strukturveränderungen beeinflusst. Bspw. haben die Umwelt- und Risikodebatten der letzten Jahrzehnte im Zusammenspiel mit der Wissenschaftsforschung die öffentliche Wahrnehmung und Rolle von wissenschaftlichem Wissen und entsprechenden Expertisen vom Status der autoritativen Geltung in denjenigen konfligierender Interessenlager und Positionen transfomiert. Diese Veränderung geht einher mit einer Bereicherung der Arenen öffentlicher Auseinandersetzungen durch neue Akteure und mit ihrer Aufsplitterung in eine Vielzahl themen- und bereichsspezifischer Teilarenen, die dennoch keine Spezialöffentlichkeiten im herkömmlichen Sinne, also bspw. entlang der Trennlinien funktionaler Differenzierung bilden, sondern an den verschiedensten Orten Akteure und Diskurse aus unterschiedlichen Praxisfeldern in öffentliche Auseinandersetzungen führen.
Mit diesen Hinweisen auf Anschlussfragen und Diskussionspunkte, die sich aus der Grundlegung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse ergeben, beschließe ich die Ausführungen. Alles in allem sollte in der vorgestellten Perspektive der Wissenssoziologischen Diskursanalyse deutlich geworden sein, dass die Möglichkeiten der Wissenssoziologie bei weitem nicht ausgeschöpft sind. Vielmehr gilt nach wie vor, was BergerlLuckmann vor fast vier Jahrzehnten so formulierten: "Vor der Wissenssoziologie liegt ein weites, offenes Feld empirischer Probleme" (BergerlLuckmann 1980: 199).
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