Michel Foucault Wahnsinn und Gesellschaft Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft
Suhrkamp
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Michel Foucault Wahnsinn und Gesellschaft Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft
Suhrkamp
T i t e l der O r i g i n a l a u s g a b e : »Histoire de la folie« A u s dem Französischen v o n Ulrich K o p p e n D i e deutsche A u s g a b e w u r d e im Einverständnis mit dem A u t o r geringfügig g e k ü r z t .
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft: e. Gesdiithte d. Wahns im Zeitalter d. Vernunft / Michel Foucault. [Aus d. Franz. von Ulridi Koppen]. - I. A u f l . Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973. (Suhrkamp-Taschenhuch Wissenschaft; 39) Einheitssadit.: Histoire de la folie (dt.> ISBN 3-518-27639-$ NE: GT suhrkamp taschenbuch wissensAafb 39 Erste A u f l a g e 1973 ® 1961 b y Librairie P i o n , Paris © dieser A u s g a b e S u h r k a m p V e r l a g , F r a n k f u r t am M a i n 1969 A l l e R e d i t e vorbehalten S u h r k a m p Taschenbuch V e r l a g Drude: N o m o s Verlagsgesellschaft, B a d e n - B a d e n Umschlag nach E n t w ü r f e n v o n W i l l y Fleckhaus u n d R o l f S t a u d t 7
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Inhalt
Vorwort 7 Erster Teil 1. Stultifera Navis 19 2. Die große Gefangenschaft 68 3. Erfahrungen mit dem Wahnsinn 99 4. Die Irren 129 Zweiter
Teil
Einleitung 157 1. Der Irre im Gürten der Arten 170 2. Die Transzendenz des Deliriums 206 3. Gestalten d s Wahnsinns 255 I. Die Gruppe der Demenz 25 6 II. Manie und Melancholie 268 m. Hysterie und Hypochondrie 285 4. Patienten und Ärzte 308 Dritter Teil Einleitung 349 1. Die große Furcht 358 2. Die neue Trennung 391 3. Vom rechten Gebrauch der Freiheit 43 5 4. Die Entstehung des Asyls 482 Schluß Der anthropologische Kreis 539 Bibliographie
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Vorwort
Pascal sagt: »Die Menschen sind so notwendig verrückt, daß nicht verrückt sein nur hieße, verrückt sein nach einer anderen Art von Verrücktheit.« Und Dostojewskij schreibt einmal: »Man wird sich seinen eigenen gesunden Menschenverstand nicht dadurch beweisen können, daß man seinen Nachbarn einsperrt.« Die Geschichte dieser anderen A r t des Wahnsinns ist zu schreiben, dieser anderen Art, in der die Menschen miteinander in der Haltung überlegener Vernunft verkehren, die ihren Nachbarn einsperrt, und in der sie an der gnadenlosen Sprache des Nicht-Wahnsinns einander erkennen. Wir müssen den Augenblick dieser Verschwörung wiederfinden, bevor er im Reich der Wahrheit endgültig errichtet und durch den lyrischen Protest wiederbelebt worden ist. Man muß in der Geschichte jenen Punkt Null der Geschichte des Wahnsinns wiederzufinden versuchen, an dem der Wahnsinn noch undifferenzierte Erfahrung, noch nicht durch eine Trennung gespaltene Erfahrung ist. Die Beschreibung dieser »anderen Art« des Wahnsinns vom Ursprung ihrer Kurve an wird sich als nötig erweisen, die auf beiden Seiten ihrer Bewegung die Vernunft und den Wahnsinn als künftig äußerliche, für jeden Austausch taube und beide gewissermaßen als tote Dinge herunterfallen läßt. Dabei handelt es sich um ein zweifellos heikles Gebiet, bei dessen Durchforschen man auf den Vorteil endgültiger Wahrheiten verzichten muß und sich stets nur durch das leiten lassen darf, was wir vom Wahnsinn wissen können. Keiner der Begriffe der Psychopathologie darf - selbst und vor allem im impliziten Spiel der Retrospektionen eine organisatorische Rolle spielen. Konstitutiv ist lediglich die Geste, die den Wahnsinn abtrennt, und nicht die Wissenschaft, die in der nach der einmal vollzogenen Trennung wiedereingetretenen Ruhe entsteht. Ursprünglich ist dabei die Zäsur, die die Distanz zwischen Vernunft und Nicht-Vernunft herstellt. Der Griff, in den die Vernunft die Nicht-Vernunft nimmt, um ihr ihre Wahrheit des Wahnsinns, des Gebrechens oder der Krankheit zu entreißen, leitet sich entfernt davon her. Wir werden also von dieser primitiven Auseinandersetzung sprechen müssen, ohne einen Sieg anzunehmen und ohne ein Recht auf einen Sieg zu haben. Wir werden auch von den oft in der Geschichte
wiederholten äußerlichen Bewegungen zu sprechen haben, wobei wir alles, was endgültige Gestalt und Ruhe in der Wahrheit ausmachen kann, in der Schwebe lassen; und wir müssen von jener Geste des Einschnitts, jener eingenommenen Distanz, jener zwischen der Vernunft und dem, was sie nicht ist, hergestellten Leere sprechen, ohne uns je auf die Fülle zu stützen, die zu sein sie vorgibt. Dann und nur dann kann das Gebiet sichtbar werden, in dem der wahnsinnige Mensch und der Mensch der Vernunft bei ihrer Trennung noch nicht getrennt sind und in einer sehr ursprünglichen, sehr groben Sprache, die noch vorwissenschaftlich ist, den Dialog über ihren Bruch beginnen, der auf flüchtige Weise bezeugt, daß sie noch miteinander sprechen. An dieser Stelle sind Wahnsinn und Nichtwahnsinn, Vernunft und Niditvernunft konfus miteinander verwickelt, untrennbar von dem Moment, daß sie noch nicht existieren, und füreinander und in Beziehung zueinander in dem Austausch existierend, der sie trennt. Mitten in der heiteren Welt der Geisteskrankheit kommuniziert der moderne Mensch nicht mehr mit dem Irren. Auf der einen Seite gibt es den Vernunftmenschen, der den Arzt zum Wahnsinn deligiert und dadurch nur eine Beziehung vermittels der abstrakten Universalität der Krankheit zuläßt. Auf der anderen Seite gibt es den wahnsinnigen Menschen, der mit dem anderen nur durch die Vermittlung einer ebenso abstrakten Vernunft kommuniziert, die Ordnung, physischer und moralischer Zwang, anonymer Druck der Gruppe, Konformitätsforderung ist. Es gibt keine gemeinsame Sprache, vielmehr es gibt sie nicht mehr. Die Konstituierung des Wahnsinns als Geisteskrankheit am Ende des achtzehnten Jahrhunderts trifft die Feststellung eines abgebrochenen Dialogs, gibt die Trennung als bereits vollzogen aus und läßt all die unvollkommenen Worte ohne feste Syntax, die ein wenig an Gestammel erinnerten und in denen sich der Austausch zwischen Wahnsinn und Vernunft vollzog, im Vergessen versinken. Die Sprache der Psychiatrie, die ein Monolog der Vernunft über den Wahnsinn ist, hat sich nur auf einem solchen Schweigen errichten können. Ich habe nicht versucht, die Geschichte dieser Sprache zu schreiben, vielmehr die Archäologie dieses Schweigens. Die Griechen hatten eine Beziehung zu etwas, das sie hybris nannten. Diese Beziehung erschöpfte sich aber nicht in einer Verurteilung; die Existenz eines Trasymachos oder eines Kallikles zeigen es genügend,
selbst wenn uns ihr Gespräch schon mit der überzeugenden Dialektik des Sokrates bemäntelt überkommen ist. Aber der griechische Logos besaß nichts Gegenteiliges. Der abendländische Mensch hat seit dem frühen Mittelalter eine Beziehung zu etwas, das er vage benennt mit: Wahnsinn, Demenz, Unvernunft. Vielleicht verdankt die abendländische Vernunft einiges von ihrer Komplexität gerade dieser vagen Daseinsform, so wie die sophrosyne der sokratischen Redner einiges der drohenden hybris verdankt. Auf jeden Fall stellt das Verhältnis von Vernunft und Unvernunft für die Kultur des Abendlandes eine der Dimensionen ihrer Ursprünglichkeit dar; schon lange vor Hieronymus Bosch hat dieses Verhältnis die abendländische Kultur begleitet und wird ihr auch über Nietzsche und Artaud hinaus noch folgen. Was also bedeutet diese Gegenüberstellung unterhalb der Sprache der Vernunft? Wohin könnte uns eine Frage führen, die der Vernunft nicht in ihrem horizontalen Werdegang folgte, sondern die versuchte, dieser konstanten Vertikale in der Geschichte zu folgen, die durch die ganze europäische Kultur hindurch die Vernunft dem, was sie nicht ist, das Maß der eigenen Maßlosigkeit gegenüberstellt? Auf welches Gebiet würden wir uns begeben, das weder die Geschichte der Erkenntnis noch ganz einfach Geschichte ist, das weder von einer Wahrheitsteleologie noch von einer rationalen Kausalreihe beherrscht wird? Zweifellos auf ein Gebiet, wo es eher um die Grenzen als um die Wesenseinheit einer Kultur geht. Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben - dieser obskuren Gesten, die, sobald sie ausgeführt, notwendigerweise schon vergessen sind - , mit denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt; und während ihrer ganzen Geschichte sagt diese geschaffene Leere, dieser freie Raum, durch den sie sich isoliert, ganz genau soviel über sie aus wie über ihre Werte; denn ihre Werte erhält und wahrt sie in der Kontinuität der Geschichte; aber in dem Gebiet, von dem wir reden wollen, trifft sie ihre entscheidende Wahl. Sie vollzieht darin die Abgrenzung, die ihr den Ausdruck ihrer Positivität verleiht. Da liegt die eigentliche Dichte, aus der sie sich formt. Eine Kultur über ihre Grenzerfahrungen zu befragen, heißt, sie an den Grenzen der Geschichte über eine Absplitterung, die wie die Geburt ihrer Geschieh-, te ist, zu befragen. Dann nämlich finden sich in einer Spannung, die immer auf dem Weg ist, sich zu lösen, die zeitliche Kontinuität einer dialektischen Analyse und - an den Toren der Zeit - die Aufdeckung einer tragischen Struktur miteinander konfrontiert.
Im Zentrum dieser Grenzerfahrungen der abendländischen Welt fällt selbstverständlich die Erfahrung mit dem Tragischen selbst auf. Nietzsche wies auf die Struktur des Tragischen hin, auf der die Geschichte des Abendlandes aufbaut und die nichts anderes ist als die Ablehnung, das Vergessen und das stumme Zurücksinken der Tragödie. Viele andere Erfahrungen gravitieren um diese eine, die im Mittelpunkt steht, weil sie das Tragisdie mit der Dialektik der Geschichte gerade in der Ablehnung der Tragödie durch die Geschichte verbindet. Jede Erfahrung an den Grenzen unserer Kultur zeichnet eine Grenzlinie ein, die zugleich eine ursprüngliche Abgrenzung bedeutet. In der Universalität der abendländischen Ratio gibt es den Trennungsstrich, den der Orient darstellt: der Orient, den man sich als Ursprung denkt, als schwindeligen Punkt, an dem das Heimweh und die Versprechen auf Rückkehr entstehen, der Orient, der der kolonisatorischen Vernunft des Abendlandes angeboten wird, der jedoch unendlich unzugänglich bleibt, denn er bleibt stets die Grenze. Er bleibt Nacht des Beginns, worin das Abendland sich gebildet hat, worin es aber auch eine Trennungslinie gezogen hat. Der Orient ist für das Abendland all das, was es selbst nicht ist, obwohl es im Orient das suchen muß, was seine ursprüngliche Wahrheit darstellt. Die Geschichte dieser großen Trennung während der Entwicklung des Abendlandes müssen wir schreiben und in ihrer Kontinuität und in ihrem Wechsel verfolgen; zugleich müssen wir sie aber auch in ihrer tragischen Versteinerung erscheinen lassen. Man muß auch von anderen Trennungen sprechen. In der lichtvollen Einheit der Erscheinungswelt, der absoluten Trennung des Traums, den der Mensch auf seine eigene Wahrheit hin zu befragen sich nicht versagen kann - sei es die seines Schicksals oder die seines Herzens - , die er aber nur jenseits einer wesentlichen Ablehnung befragt, die ihn konstituiert und in die Lächerlichkeit der Traumdeutung zurückdrängt. Man muß auch die Geschichte, und zwar nicht nur in ethnologischen Termini, der sexuellen Verbote schreiben. Man muß in unserer Kultur von den ständig sich bewegenden und obstinaten Formen der Repression sprechen und nicht nur, um die Chronik der Moral und der Toleranz zu verfassen, sondern um als Grenze der abendländischen Welt und als Ursprung ihrer Moral die tragische Abtrennung der glücklichen Welt der Lust an den Tag zu bringen. Man muß schließlich und endlich von der Erfahrung mit dem Wahnsinn sprechen. Die folgende Untersuchung ist also nur die erste und wahrscheinlich
die einfachste der langen Forschungen, die im Lichte der großen nietzsdieanischen Forschungen die Dialektik der Geschichte mit den unbeweglichen Strukturen der Tragik konfrontieren will. Was also ist der Wahnsinn in seiner allgemeinsten, aber konkretesten Form für denjenigen, der von Anfang an jede Ingriffnahme des Wahnsinns durch die Wissenschaft ablehnt? Wahrscheinlich nichts anderes als das Fehlen einer Arbeit. Welche Stellen kann die Existenz des Wahnsinns im Werden einnehmen, wie ist ihre Spur? Wahrscheinlich werden es nur einige schmale Falten sein, die wenig beunruhigen und die große vernünftige Ruhe der Geschichte nicht verändern. Haben diese ganzen nichtigen Worte, diese Dossiers über ein nicht entzifferbares Delirium, die der Zufall der Gefängnisse und der Bibliotheken nebeneinander gestellt hat, irgendein Gewicht gegenüber den wenigen entscheidenden Worten, die das Werden der abendländischen Vernunft bestimmt haben? Gibt es in dem Universum unserer Reden für die tausende von Seiten einen Platz, auf denen Thorin, ein Lakai, der kaum lesen und schreiben konnte, und »tobsüchtiger Dementer«-1 am Ende des siebzehnten Jahrhunderts seine Visionen der Flucht und das Bellen seines Schreckens niedergeschrieben hat? A l l das ist nur verfallene Zeit, ärmliche Anmaßung einer Entwicklung, die die Zukunft ablehnt, etwas im Werden, das unwiederbringlich weniger als die Geschichte Dieses »Weniger« müssen wir befragen, indem wir es von vornherein von jedem negativen Indiz befreien. Seit seiner ursprünglichen Formulierung legt die historische Zeit ein Schweigen auf etwas, das wir in der Folge nur noch in den Begriffen der Leere, der Nichtigkeit, des Nichts erfassen können. Die Geschichte ist nur auf dem Hintergrund einer geschichtlichen Abwesenheit inmitten des großen Raumes voller Gemurmel möglich, den das Schweigen beobachtet, als sei er seine Berufung und seine Wahrheit: »Ich werde Wüste jenes Schloß nennen, das D u warst, Nacht jene Stimme, Abwesenheit dein Gesicht.« Diese dunkle Region ist doppeldeutig, denn sie ist reiner Ursprung, weil aus ihr die Sprache der Geschichte, die allmählich aus so viel Konfusion die Formen ihrer Syntax und die Konsistenz ihres Vokabulars gewinnt, entstehen wird, und gleichzeitig Bodensatz, sterile Uferfläche der Worte, einmal durchlaufener und sofort vergessener Sand, ι Paris, Bibliothèque de l'Arsenal ; Ms. 12 ο23 und 12 024.
der in seiner Passivität nur die leere Spur der voraus erhobenen Gestalten bewahrt. Das große Werk der Geschichte der Welt ist unauslöschlich von einem Fehlen einer Arbeit begleitet, das sich in einem jeden Augenblick erneuert, das aber unverändert in seiner unvermeidlichen Leere die ganze Geschichte durchläuft. Bereits vor der Geschichte geschieht dies, weil dieses Fehlen bereits in der ganz einfachen, ursprünglichen Entscheidung und auch noch nach ihr vorhanden ist, weil sie im letzten durch die Geschichte gesprochenen Wort triumphieren wird. Die Fülle der Geschichte ist nur in dem leeren und zugleich bevölkerten Raum all jener Wörter ohne Sprache möglich, die einen tauben Lärm denjenigen hören lassen, der sein Ohr leiht, einen tauben Lärm von unterhalb der Geschichte, das obstinate Gemurmel einer Sprache, die von allein spricht, ohne sprechendes Subjekt und ohne Gesprächspartner, auf sich selbst gehäuft, in der Gurgel geballt, und die noch zusammenbricht, bevor jegliche Formulierung erreicht ist, und ohne Aufsehen in das Schweigen zurückkehrt, aus dem sie sich nie befreit hat. Es ist die verkalkte Wurzel des Sinnes. Das ist aber noch kein Wahnsinn, sondern der erste Einschnitt, von dem aus die Abtrennung des Wahnsinns möglich ist. Diese Abtrennung ist die Wiederaufnahme, die Erneuerung, die Organisation jener Zäsur in der gedrängten Einheit der Gegenwart. Die Wahrnehmung, die der abendländische Mensch von seiner Zeit und seinem Raum hat, läßt eine Struktur der Ablehnung erscheinen, von der aus man eine Rede denunziert, indem man sagt, sie sei nicht Sprache, eine Geste denunziert, indem man sagt, sie sei nicht Tat, und eine Gestalt denunziert, indem man sagt, sie habe kein Recht, in der Geschichte Platz zu nehmen. Diese Struktur ist konstitutiv für das, was Sinn und NichtSinn ist, oder vielmehr für jene Reziprozität, durch die sie miteinander verbunden sind. Diese Struktur allein kann über jene allgemeine Tatsache berichten, daß es in unserer Kultur keine Vernunft ohne Wahnsinn geben kann, selbst wenn die rationale Kenntnis, die man vom Wahnsinn erwirbt, ihn reduziert und ihn entwaffnet, indem sie ihm den zerbrechlichen Status eines pathologischen Fehlers verleiht. Die Notwendigkeit des Wahnsinns während der ganzen Geschichte des Abendlandes ist mit jener entscheidenden Geste verbunden, die vom Lärm des Hintergrundes und seiner Monotonie eine bedeutungsvolle Sprache abhebt, die sich in der Zeit übermittelt und vollendet. Man kann es kurz fassen und sagen, daß er an die Möglichkeit der Geschichte gebunden ist.
Jene Erfahrungsstruktur des Wahnsinns, die völlig von der Geschichte abhängt, die aber an ihren Grenzen und dort ruht, wo diese sich ent scheidet, ist der Gegenstand dieser Untersuchung. Es handelt sich nicht um eine Geschichte der Erkenntnis, sondern der rudimentären Bewegungen einer Erfahrung. Es ist nicht die Geschichte der Psychiatrie, sondern des Wahnsinns selbst in seinen A u f wallungen vor jedem Erfaßtwerden durch die Gelehrsamkeit. Man müßte also mit aufmerksamem Ohr sich jenem Geraune der Welt zuneigen und versuchen, so viele der Bilder, die nie in der Poesie ihren Niederschlag gefunden haben, so viele Phantasmen wahrzunehmen, die nie die Farben des Wachzustandes erlangt haben. Ohne Zweifel ist das eine im doppelten Sinne unmögliche Aufgabe; einmal, weil sie uns dazu zwingen würde, den Staub jener konkreten Schmerzen, jener unsinnigen Worte zu rekonstruieren, die nichts in der Zeit festhält; dann, weil diese Schmerzen und Worte vor allem nur in der Geste der Trennung, die sie bereits denunziert und meistert, existieren und sich selbst und den anderen gegeben sind. Nur im A k t der Trennung, und von ihm ausgehend, kann man sie als noch nicht von ihm abgesonderten Staub denken. Die Wahrnehmung, die diese Worte im ungebändigten Zustand zu erfassen sucht, gehört notwendig zu einer Welt, die sie bereits in den Griff genommen hat. Die Freiheit des Wahnsinns versteht sich nur von der Höhe der Festung her, die ihn gefangenhält. Er verfügt nun aber »nur über die grämlichen Personenstandsangaben seiner Gefängnisse, seiner stummen Erfahrung als Verfolgter, und wir haben unsererseits nur seinen Steckbrief«. Die Geschichte des Wahnsinns schreiben, wird also heißen: eine Strukturuntersuchung der historischen Gesamtheit - Vorstellungen, Institutionen, juristische und polizeiliche Maßnahmen, wissenschaftliche Begriffe - zu leisten, die einen Wahnsinn gefangenhält, dessen ungebändigter Zustand in sich selbst nie wiederhergestellt werden kann. Da uns jene unzugängliche, ursprüngliche Reinheit fehlt, muß die Strukturuntersuchung zu jener Entscheidung zurückgreifen, die Vernunft und Wahnsinn gleichzeitig trennt und verbindet. Sie muß versuchen, den ständigen Austausch, die dunkle, gemeinsame Wurzel und die ursprüngliche Gegeneinanderstellung zu entdecken, die ebensosehr der Einheit wie der Opposition von Sinn und Irrsinn einen Sinn verleiht. So wird die blitzartige Entscheidung wiedererscheinen können, die innerhalb der geschichtlichen Zeit heterogen, aber außerhalb dieser ungreifbar ist, die jenes Gemurmel dunkler Insekten von der Sprache der Vernunft und den Versprechungen der Zeit trennt.
Ist es erstaunlich, daß diese Struktur vor allem während der hundertfünfzig Jahre, die der Bildung einer Psychiatrie, die von uns als positiv betrachtet wird, voraufgegangen sind und die diese herbeigeführt haben, sichtbar geworden ist? Das klassische Zeitalter - von Willis zu Pinel, von den Anfällen Orests bis zur Maison du sourd und zu Juliette - bedeckt genau jene Periode, in der der Austausch zwischen dem Wahnsinn und der Vernunft seine Sprache, und zwar auf radikale Weise, verändert. In der Geschichte des Wahnsinns zeigen zwei Ereignisse mit einzigartiger Klarheit diese Veränderung: 1657 wird das Hôpital général gegründet und gibt es die »große Gefangenschaft« der Armen; 1794 werden die in Bicêtre Angeketteten befreit. Zwischen diesen beiden besonderen und symmetrischen Ereignissen geschieht etwas, dessen Ambiguität die Verfasser der Geschichte der Medizin in Bedrängnis gebracht hat. Die einen sehen darin die blinde Repression innerhalb eines absolutistischen Regimes und die anderen eine fortschreitende Entdeckung des Wahnsinns in seiner positiven Wahrheit durch die Wissenschaft und die Philanthropie. Tatsächlich bildet sich unterhalb dieser reversiblen Bedeutungen eine Struktur, die diese Doppeldeutigkeit nicht löst, die aber darüber entscheidet. Diese Struktur ist es, die über die Veränderung von der mittelalterlichen und humanistischen Erfahrung mit dem Wahnsinn hin zu jener Erfahrung berichtet, über die wir verfügen und die den Wahnsinn innerhalb der Geisteskrankheit einordnet. Im Mittelalter und in der Renaissance war die Auseinandersetzung des Menschen mit der Demenz ein dramatisches Gespräch, das ihn den tauben Kräften der Welt gegenüberstellte, und die Erfahrung mit dem Wahnsinn verschleierte sich damals in Bildern, in denen es um die Frage des Sündenfalls, der Erfüllung, des Tiers, der Verwandlung und der ganzen wunderbaren Geheimnisse der Gelehrsamkeit ging. In unserer Zeit schweigt die Erfahrung mit dem Wahnsinn in der Ruhe einer Gelehrsamkeit, die den Wahnsinn, weil sie ihn zu gut kennt, vergißt. Die Veränderung von der einen hin zur anderen dieser Erfahrungen ist jedoch in einer Welt ohne Bilder und Positivität, in einer Art schweigender Transparenz vor sich gegangen, die als stumme Institution, kommentarlose Geste, unmittelbares Wissen eine große unbewegliche Struktur erscheinen läßt. Diese Struktur gehört weder zum Drama noch zur Erkenntnis, sondern ist der Punkt, an dem die Geschichte sich im Tragischen immobilisiert, durch das sie zugleich begründet und abgelehnt wird, (m Zentrum dieses Versuchs, die klassische Erfahrung mit dem Wahnsinn in ihren Rechten und ihrem Werden zur Geltung zu bringen,
wird man folglich eine bewegungslose Figur finden: die einfache Trennung zwischen Tag und Dunkelheit, zwischen Schatten und Lidit, zwischen Traum und Wachsein, zwischen der Wahrheit der Sonne und den mitternächtlichen Kräften. Dies ist eine elementare Figur, die die Zeit nur als unbegrenzte Wiederkehr der Grenze annimmt. Dieser Figur kam es auch zu, den Menschen in ein mächtiges Vergessen zu bringen. Diese große Trennung lernte er zu beherrschen und auf sein eigenes Niveau zu reduzieren. Er lernte, in ihr Tag und Nacht herzustellen, die Sonne der Wahrheit dem schwachen Licht seiner Wahrheit unterzuordnen. Dadurch, daß er seinen Wahnsinn gemeistert hat, ihn in den Kerkern seines Blicks und seiner Moral gefangen hat, indem er ihn befreite, dadurch, daß er ihn entwaffnet hat, indem er ihn in eine Ecke seiner selbst zurückdrängte, war es dem Menschen möglich, schließlich jene Beziehung von sich selbst zu sich selbst herzustellen, die man »Psychologie« nennt. Dazu war es notwendig, daß der Wahnsinn aufhörte, Nacht zu sein, und flüchtiger Schatten im Bewußtsein wurde, damit der Mensch behaupten konnte, seine Wahrheit zu besitzen und sie in der Erkenntnis zu entschlüsseln. In der Rekonstitution dieser Erfahrung mit dem Wahnsinn hat sich wie von selbst eine Geschichte der Bedingungen geschrieben, unter denen die Psychologie möglich wurde. Im Laufe dieser Arbeit habe ich mich des Materials bedient, das von bestimmten Autoren gesammelt worden ist. Ith habe es jedodi so gering wie möglich gehalten und nur in den Fällen dazu gegriffen, in denen ich nicht an die Dokumente herankam. Ich mußte außerhalb jeder Beziehung zu einer psychiatrischen »Wahrheit« jene Worte und Texte für sich sprechen lassen, die von unterhalb der Sprache stammen und die nicht dazu geschaffen waren, zu einer Rede zu werden. Vielleicht ist, jedenfalls in meinen Augen, der wichtigste Teil dieser Arbeit der Anteil, den ich den in den Archiven gefundenen Texten überlassen habe. In den übrigen Teilen war es möglich, in einer A r t rückhaltsloser Relativität zu bleiben, keinen Ausweg in einem psychologischen Gewaltakt zu suchen, der die Karten umgedreht und die verkannte Wahrheit denunziert hätte. Es durfte nur vom Wahnsinn in Beziehung zur »anderen Art« gesprochen werden, die sie in eine unendliche Auseinandersetzung mit dem Wahnsinn verwickelt. Es war also eine Sprache ohne Unterstützung notwendig, eine Sprache, die mit in das Spiel eintrat, jedoch den Austausch ermöglichte, eine Sprache, die, indem
sie sich selbst ständig wiederbesann, in einer ununterbrochenen Bewegung bis zum Kern vordrang. Es handelte sich darum, um jeden Preis das Relative aufrechtzuerhalten und absolut verstanden zu werden. In diesem einfachen Problem des Ausdrucks verbarg sich und drückte sich die besondere Schwierigkeit des Unternehmens aus. Es war vonnöten, eine Trennung und eine Auseinandersetzung, die notwendig diesseits bleiben müssen, weil jene Sprache nur jenseits ihrer selbst einen Sinn annimmt, auf die Höhe der Sprache der Vernunft zu bringen. Es bedurfte auch einer ziemlich neutralen Sprache, die relativ frei von wissenschaftlicher Terminologie, sozialen oder moralischen O p tionen war, damit sie so nahe wie möglich an jene primitiv miteinander verketteten Worte herankommen konnte und damit jene Distanz aufgehoben wurde, durch die sich der moderne Mensch gegen den Wahnsinn absichert. Diese Sprache mußte aber offen genug sein, damit jene entscheidenden Worte ohne Verrat darin eindringen konnten, durch die sidi die Wahrheit des Wahnsinn und der Vernunft für uns konstituiert hat. Ich habe also nur eine Methode beibehalten, die auch in einem Text von Char enthalten ist, in dem sich zugleich die drängendste und zurückhaltendste Definition der Wahrheit findet: »Ich nahm den Dingen die Illusion, die sie erzeugen, um sich vor uns zu bewahren, und ließ ihnen den Anteil, den sie uns zugestehen.«2 Hamburg, den j . Februar i960
2 René Char, Suzerain - Lehnsherr, in: Poésies - Dichtungen, zweisprachige Ausgabe Frankfurt 19$9, S. 239.
Erster Teil
ι. Kapitel
Stultifera Navis Am Ende des Mittelalters verschwindet die Lepra aus dem Abendland. A m Rande der Gemeinden, vor den Stadttoren öffnen sich gleichsam große Uferflächen, die das Böse nicht mehr heimsucht, die es aber steril und für lange Zeit unbewohnbar zurückgelassen hat. Über Jahrhunderte hinweg gehören diese Flächen nicht zur menschlichen Welt. Sie ruhen vom vierzehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert und erleben durch eigenartige Beschwörungen eine neue Inkarnation des Bösen, eine neue Fratze der Angst, von neuem magische Reinigungs- und Vertreibungsaktc. Vom hohen Mittelalter bis zum Ende der Kreuzzüge hatten die Leprosorien, Stätten der Verdammnis, ihre Zahl in ganz Europa um ein Vielfaches vergrößert. Nach Mathieu Paris sollen es im ganzen christlichen Abendland bis zu 19 000 gewesen sein.1 Jedenfalls werden um 1266, in der Zeit, als Ludwig V I I I . für Frankreich eine Regelung hinsichtlich der Leprosorien trifft, mehr als 2000 registriert. Allein in der Diözese von Paris gab es bis zu 43, darunter Bourg-le-Reine, Corbeil, Saint-Valère und das unheilvolle Champ-Pourri; auch Charenton zählte man dazu. Die beiden größten befanden sich in unmittelbarer Nähe von Paris - Saint-Germain und Saint-Lazare 1 - : wir werden ihre Namen in der Geschichte eines anderen Übels wiederfinden. Denn vom fünfzehnten Jahrhundert an leeren sich die Gebäude. SaintGermain wird im Jahrhundert darauf ein Haus für junge Sträflinge, und vor der Zeit des heiligen Vinzenz gibt es in Saint-Lazare schon nicht mehr als einen Leprakranken, den »sieur Langlois, praticien en cour laïc«. Das Leprosorium von Nancy, das zu den größten Europas gehörte, zählt unter der Régence von Marie de Médicis nur noch vier Kranke. Den Memoiren von Catel ist zu entnehmen, daß es in Toulouse am Ende des Mittelalters 29 Hospitäler gegeben habe: sieben waren Leprosorien, aber am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts findet man nur noch drei genannt: Saint-Cyprien, Arnaud-Bernard und Saint-Michel.3 Das Verschwinden der Lepra wird gern gefeiert: ι Zitiert bei Philibert Collet, Vie de saint Vincent de Paul, 3 vols., Paris 1818, 6d. I,S. 293. 2 Vgl. J. Lebeuf, Histoire de la ville et de tout le diocèse de Paris, Paris 1754-1758. j Vgl. H. M. Fay, Lépreux et cagots du Sud -Ouest, Paris 1910, S. 285.
1635 zum Beispiel unternehmen die Bewohner von Reims eine feierliche Prozession, um Gott dafür zu danken, daß er ihre Stadt von dieser Geißel befreit hat.·' Seit etwa einem Jahrhundert schon unterstanden die Kontrolle und Neuordnung des ungeheuren Vermögens, das Grund und Boden der Leprosorien darstellten, der königlichen Macht. Franz I. hatte durch eine Verfügung vom 19. Dezember 1 j43 eine Zählung und Inventarisierung durchführen lassen, »um der großen Unordnung, die damals in den Leprosorien herrschte, abzuhelfen«. Heinrich IV. ordnet seinerseits durch ein Edikt von 1606 eine Oberprüfung der Rechnungsbücher an; »das dadurch gewonnene Geld sollte für die verarmten Adligen und im Krieg verletzte Soldaten« verwendet werden. Eine weitere Kontrolle wird am 24. Oktober 1612 angeordnet, um diesmal das überschüssige Geld für die Ernährung der Armen zu benutzen.5 Die Frage der Leprosorien wurde in Frankreich nicht vor dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts geregelt, und die wirtschaftliche Bedeutung des Problems beschwor mehr als einen Konflikt herauf. Es gab im Jahre 1677 noch 44 Leprosorien allein in der Provinz des Dauphiné.6 Am 20. Februar 1672 überschrieb Ludwig X I V . die Güter aller Krankenpflege-Orden und militärischen Orden den Lazaristen und den Karmelitern. Sie wurden beauftragt, die Leprosorien des Königreiches zu verwalten. 7 Etwa 20 Jahre später wird das Edikt von 1672 annulliert, und durch eine Serie von gestaffelten Maßnahmen, die sich vom März 1693 bis zum Juli 1695 erstrecken, werden die Vermögen der Leprosorien den anderen Hospitälern und den Wohlfahrtseinrichtungen überschrieben. Die wenigen Leprakranken, die über die noch existierenden 1200 Häuser verstreut sind, werden in Saint-Mesmin in der Nähe von Orléans zusammengeführt. 8 Diese Vorschriften finden zuerst ihre Anwendung in Paris, w o das Parlament die betreffenden Einkünfte den Einrichtungen des Hôpital général zuführt; dieses Beispiel wird durch die Rechtsprechung in den Provinzen befolgt; Toulouse überträgt das Vermögen seiner Lepro4 P.-A. Hildenfinger, La Léproserie de Reims du XII' au Λ ' V I I ' siècle, Reims 1906, S. 233. î Nicolas Dclamare, Traité de Police, 4 vols., Paris 173S, Bd. I, S. 637-039. 6 Jean P. Moret da Bourchenu, Histoire du Dauphins, 2 vols., Genève 1722, Bd. II, S. 171. 7 Luigi Cibrario, Précis historique des ordres religieux de Saint-Lazare et de SaintMaurice, Lyon 1860. 8 Jacquc5-N.-M. Rödler, Notice historique sur la maladrerie des Chatelliers de Saint-Hilaire-Saint-Mesmin, Orléans 1866.
sorien dem Hospital der Unheilbaren (1696); der Besitz von Beaulieu in der Normandie wird dem Hôtel-Dieu in Caen zugeschlagen, der von Voley geht an das Krankenhaus von Sainte-Foy über.5 Außer Saint-Mesmin bleibt allein die geschlossene Station von Ganets bei Bordeaux als Zeuge. Für anderthalb Millionen Insassen haben England und Schottland im zwölften Jahrhundert allein 220 Leprosorien eingerichtet. Aber schon im vierzehnten Jahrhundert macht sich darin Leere bemerkbar; als Richard III. im Jahre 1342 eine Untersuchung über die Station von Ripon anordnet, gibt es dort keine Leprakranken mehr; er überläßt den Armen das Vermögen der Einrichtung. A m Ende des zwölften Jahrhunderts hat der Erzbischof Puisel ein Hospital gegründet, in dem 1434 nur noch zwei Plätze für Leprakranke reserviert waren, für den Fall, daß man welche fände. 10 Im Jahre 1348 gibt es im großen Leprosorium von Saint-AIban nur noch drei Kranke. Das Hospital von Romenall in Kent wird 24 Jahre später wegen Mangel an Leprakranken aufgegeben. Das im Jahre 1078 erbaute und nach dem heiligen Bartholomäus benannte Leprosorium in Chatam hat zu den größten in England gehört; unter Elisabeth gibt es darin aber nicht mehr als zwei Personen, und es wird 1627 endgültig geschlossen." Audi in Deutschland nimmt die Zahl der Leprakranken, wenn auch ein wenig langsamer, ab; auch hier bekommen die Leprosorien eine Neubestimmung. Diese Entwicklung wird wie in England durch die Reformation beschleunigt, die den Stadtverwaltungen die Wohlfahrtseinrichtungen und Krankenanstalten anvertraut; so geschieht es in Leipzig, in München und in Hamburg. 1542 wird das Vermögen der Leprosorien von Schleswig-Holstein den Hospitälern übergeben. Der Bericht eines Stuttgarter Beamten von IJ89 läßt erkennen, daß seit j o Jahren keine Leprakranken mehr in dem für sie bestimmten Haus waren. In Lipplingen wird das Leprosorium sehr bald mit Unheilbaren und Irren belegt." Dieses seltsame Verschwinden war wahrscheinlich nicht die lang gesuchte Wirkung obskurer medizinischer Praktiken, sondern das unmittelbare Ergebnis jener Absonderung und, nach dem Ende der 9 J.-A. U . Chevalier, Notice historique sur la maladrerie des Voley près Romans, Romans 1870, S. 61. 10 John M. Hobson, Some Early and Later Houses of Pity, London 1926, S. 12-13. IT Charles A . Mercier, Leper Houses and Médiéval Hospitals, London 1915, S. 19. 12 Virchow, in: Archiv zur Geschichte des Aussatzes, Bd. 19, S. 71 und 80; Bd. 20, S. y 11.
Kreuzzüge, audi die Folge des Bruches mit den orientalischen A n steckungsherden. Die Lepra zieht sich zurück und hinterläßt ohne Bestimmung jene niedrigen Orte und jene Riten, die nicht dazu bestimmt waren, sie zu heilen, sondern sie in einer geheiligten Entfernung zu halten, sie — in einer inversen Exaltation — zu bannen. Ohne Zweifel aber halten sich länger als die Lepra und zwar noch zu einer Zeit, als schon seit Jahren die Leprosorien leer sind, jene Werte und jene Bilder, die sidi mit der Gestalt des Leprakranken verbunden haben, jener Sinn des Ausschlusses, die soziale Bedeutung dieser insistenten und zu fürchtenden Gestalt, die man nicht fortschafft, ohne einen Kreis der Verdammnis um sie gezogen zu haben. Wenn man den Leprakranken auch aus der Öffentlichkeit und der Gemeinschaft der Kirche entfernt, ist seine Existenz doch immer ein Hinweis Gottes, weil sie zugleich seinen Zorn und seine Güte zeigt: »Mein Freund«, sagt das Rituale der Kirche von Vienne, »es gefällt unserem Herrn, daß du von dieser Krankheit befallen bist, und unser Herr läßt dir eine große Gnade zuteil werden, wenn er dich strafen will für Böses, das du in dieser Welt getan hast.« Und im gleichen A u genblick, da er von den Händen des Priesters und seiner Assistenten gressu rétrograda aus der Kirche gezogen wird, versichert man dem Leprakranken, daß er noch immer Zeugnis für Gott ablegt: »Und obwohl du von der Kirche und der Gemeinschaft der Gesunden getrennt bist, wirst du dennoch nicht der Gnade Gottes entbehren.« Bei Bruegel wohnen die Leprakranken, und zwar für immer, aus der Entfernung dem Aufstieg auf den Kalvarienberg bei, auf den ein ganzes Volk Christus begleitet, und als hieratische Zeugen des Bösen erfüllen sie ihr Heil in und durch dieses Ausgeschlossensein: in einer seltsamen Umkehrbarkeit, die der der guten Taten und Gebete entgegengesetzt ist, werden sie durch die Hand, die sich nicht nach ihnen streckt, gerettet. Der Sünder, der den Leprakranken an seiner Tür sich selbst überläßt, öffnet ihm den Weg zum Himmel. »Deshalb habe Geduld in deiner Krankheit, denn unser Herrgott verachtet dich nicht wegen deiner Krankheit und hält dich nicht von seiner Gemeinschaft fern; wenn du aber Geduld hast, wirst du gerettet werden wie der Aussätzige, der vor der Tür des neuen Reichen starb und direkt ins Paradies getragen wurde.«' 3 Das Ausgesetztsein ist ihm Rettung. Sein Ausschluß bietet ihm eine andere Form der Kommunion. Die Lepra verschwindet, die Leprakranken sind fast vergessen, aber 13 Rituale der Diözese v o n Vienne, gedruckt unter Erzbisdiof G u i de Poissieu. gegen 1478. Zitiert bei Charret, Histoire de l'Église de Vienne, S. 752.
die Strukturen bleiben. Oft kann man an denselben Orten zwei oder drei Jahrhunderte später die gleichen Formeln des Ausschlusses in verblüffender Ähnlichkeit wiederfinden. Arme, Landstreicher, Sträflinge, und »verwirrte Köpfe« spielen die Rolle, die einst der Leprakranke innehatte, und wir werden sehen, welches Heil von diesem Ausschluß für sie selbst erwartet wird oder für diejenigen, die sie ausschließen. Mit einem ganz neuen Sinn und auf einer völlig anderen Entwicklungsstufe bestehen die Formen fort, insbesondere jene bedeutendere Form einer rigorosen Trennung, die in sozialem Ausschluß, aber geistiger Reintegration besteht. Doch wir wollen nicht vorgreifen. Die Lepra wurde zunächst von den Geschlechtskrankheiten abgelöst. Plötzlich, am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, treten sie an die Stelle der Lepra wie legitime Erben. In verschiedenen Leprosorien nimmt man Geschlechtskranke auf: unter Franz I. versucht man zunächst, sie im Hospital der Gemeinde von Saint-Eustache, dann dem von Saint-Nicolas einzuschließen, die beide bis dahin als Leprosorien gedient haben. Zweimal, unter Karl V I I I . und im Jahre I J J 9 hat man ihnen in Saint-Germain-des-Prés verschiedeneBaracken und Hütten zugewiesen, die einst für die Leprakranken gebraucht wurden.'·' Bald ist die Zahl der Geschlechtskranken so groß, daß man andere Gebäude errichten muß »an bestimmten, geräumigen Stellen unserer Stadt und der Vorstädte, von Nachbarn abgetrennt«.1* Eine neue Lepra ist entstanden, die die Stelle der ersten einnimmt. Nicht ohne Schwierigkeiten übrigens, nicht ohne Konflikte, denn die Leprakranken haben Angst. Sie sträuben sich dagegen, die Neuankömmlinge in der Welt des Schreckens aufzunehmen: »Est mirabilis contagiosa et nimis formidanda infirmitas, quam etiam detestantur leprosi et ea infectos secum habitare non permittant«."6 Wenn sie auch ältere Rechte haben, diese ••abgetrennten« Orte zu bewohnen, sind sie nicht zahlreich genug, um diese Rechte durchzusetzen; die Geschlechtskranken nehmen überall bald ihre Stelle ein. 14 Albert-B.-E. Pignot, L'Hôpital du Midi et ses origines, Paris 1885, S. 10 und 48. IJ Nach einem Manuskript der Archives de l'Assistance publique (Dossier: PetitesMaisons; Bündel N r . 4). ί 6 Trithemius, Chronicon Hisangiense; zitiert v o n Potton in seiner Übersetzung von Ulrich von Hutten: Sur la maladie française et sur les propriétés du bois de gaïac, Lyon 186$, S. 9.
Dennoch sind es nicht die Geschlechtskrankheiten, die im klassischen Zeitalter die Rolle, die die Lepra im Mittelalter gespielt hat, übernehmen. Trotz der ersten Ausschlußmaßnahmen finden sie bald ihren Platz unter den anderen Krankheiten. Wohl oder übel nimmt man die Geschlechtskranken in den Hospitälern auf. Das Hôtel-Dieu in Paris läßt sie zu.' 7 Mehrmals versucht man, sie zu verjagen, aber vergeblich, denn sie mischen sich immer wieder unter die übrigen Kranken.18 In Deutschland baut man ihnen besondere Häuser, nicht um sie auszuschließen, sondern um sie zu behandeln; in Augsburg gründen die Fugger zwei Hospitäler dieser Art. Nürnberg stellt einen A r z t ein, der versichert, »die malafrantzos vertreiben« zu können.' 9 Denn diese Krankheit ist im Gegensatz zur Lepra sehr schnell ein medizinisches Problem geworden, das ausschließlich die Ärzte angeht. Uberall kümmert man sich um Behandlungsmethoden. Der Orden des heiligen Cosimus übernimmt von den Arabern den Gebrauch des Quecksilbers20; im Hôtel-Dieu in Paris benutzt man vor allem den Theriak. Dann ist besonders das Guajakholz in Mode, das, wenn man Fracastor in seiner Syphilidis und Ulrich von Hutten glauben will, wertvoller als das Gold Amerikas ist. Die Anwendung von Schwitzkuren ist allgemein verbreitet. Die Geschlechtskrankheiten reihen sich also im sechzehnten Jahrhundert in die Klasse der Leiden ein, die eine Behandlung verlangen. Natürlich gibt es auch moralische Urteile, aber diese Perspektive ändert nichts daran, daß die Geschlechtskrankheiten in erster Linie medizinisch gesehen werden. 2 ' Es ist interessant festzustellen, daß unter dem Einfluß der Internierungen, so wie sie sich im siebzehnten Jahrhundert entwickelt haben, die Geschlechtskrankheiten sich in einem gewissen Maße aus ihrem medizinischen Kontext gelöst und neben dem Wahnsinn in einem moralischen Raum des Ausgeschlossenseins angesiedelt haben. Tatsächlich müssen wir das wirkliche Erbe der Lepra in einem sehr komplexen
17 Die erste Erwähnung der Geschlechtskrankheit in Frankreidi findet sich in einer Redinung des Hôtel-Dieu; zitiert bei Léon Brièle, Collection de documents pour servir à l'histoire des hôpitaux des Paris, 4 vols., Paris 1881-1887, III, Faszikel 2. 18 Vgl. den Beridit eines Besuchs im Hôtel-Dieu im Jahre 1J07 bei Pignot, a. a. O., S. 12;. 19 Richard Goldhahn, Spital und Arzt von einst bis jetzt, Stuttgart 1940, S. 110. 20 Béthencourt gibt ihm den Vorrang vor jeder anderen Behandlung in seinem Nouveau carême de pénitence et purgatoire d'expiation v o n 1527. 21 Trotz seines Titels ist das Werk v o n Béthencourt ein rein medizinisdies Buch.
Phänomen suchen, das sich anzueignen die Medizin noch sehr lange Zeit brauchen wird. Dieses Phänomen ist der Wahnsinn, der erst nach einer fast zwei Jahrhunderte währenden Latenzzeit die Rolle der Lepra als Heimsuchung in den Ängsten der Menschen übernimmt und gleich ihr Reaktionen der Trennung, des Ausschlusses und der Reinigung hervorruft, die sich jedoch ganz klar mit ihr verbinden. Bevor der Wahnsinn etwa in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts bezähmt wird und bevor man dafür die alten Riten bemüht, ist er unweigerlich mit allen größeren Erfahrungen der Renaissance verbunden. Seine ständige Gegenwart und einige seiner wesentlichen Gestalten wollen wir uns zunächst kurz vor Augen führen. Die einfachste dieser Gestalten und zugleich die mit der größten Symbolkraft ist ein Gegenstand, der in der imaginären Landschaft der Renaissance zum ersten Mal erscheint; bald soll er eine bevorzugte Stelle einnehmen: es ist das Narrenschiff, ein eigenartiges, trunkenes Boot, das die ruhigen Flüsse des Rheinlandes und die flämischen K a näle hinuntergleitet. Das Narrenschiff ist natürlich eine literarische Schöpfung, wahrscheinlich dem alten Zyklus der Argonauten entnommen, der kurz zuvor unter den großen mythischen Themen wieder zu frischem Leben gekommen ist und dem man in den burgundischen Staaten institutionelle Form gegeben hat. Die Beschreibung solcher Schiffe, deren Mannschaft aus imaginären Helden, ethisch vorbildlichen oder gesellschaftlichen Typen sich auf eine große symbolische Reise begibt, die ihnen, wenn nicht das Glück, dann wenigstens die Gestalt ihres Schicksals oder ihrer Wahrheit bringt, entspricht dem Geschmack der Zeit. So schreibt Symphorien Champier nacheinander eine Nef des princes et des batailles de Noblesse (1502), dann eine Nef des Dames vertueuses (1J03); die Blauwe Schute von Jacop van Oestvoren (1413), das Narrenschiff von Brant (1497) stehen neben einer Nef de Santé und dem Werk von Josse Badius: Stultiferae naviculae scaphae fatuarum mulierum (1498). Selbstverständlich gehört das Bild von Bosch zu dieser Traumflotte. Aber von all diesen fabulösen oder satirischen Schiffen hat nur das •Narrenschiff« wirklich existiert, denn diese Schiffe, die ihre geisteskranke Fracht von einer Stadt zur anderen brachten, gab es wirklich. Es geschah oft, daß die Irren ein Wanderleben führten. Häufig jagte man sie aus der Stadt und ließ sie in der freien Landschaft umherlau-
fen, wenn man sie nicht einer Gruppe von Händlern oder Pilgern anvertraute. So verfuhr man besonders oft in Deutschland. In Nürnberg hat man in der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts 6z Irre festgestellt, von denen 31 verjagt wurden. Für die 50 folgenden Jahre lassen sich noch 21 Vertreibungen nachweisen, obwohl es sich dabei nur um die Irren handelte, die von den Stadtbehörden festgenommen worden waren. 21 Oft übergab man sie Schiffern: in Frankfurt wurden 1399 Schiffer damit beauftragt, die Stadt von einem Irren zu befreien, der nackt umherlief. In den ersten Jahren des fünfzehnten Jahrhunderts entfernte man einen straffälligen Irren auf die gleiche Weise aus Mainz. Oft setzten die Schiffer die unbequemen Passagiere schneller wieder an Land, als sie es versprochen hatten, was zum Beispiel jener Schmied aus Frankfurt beweist, der zweimal aus der Stadt entfernt worden war und zweimal wiederkam, bevor er endgültig nach Kreuznach verbracht wurde. 23 Oft haben die Städte Europas diese Narrenschiffe sich ihrem Hafen nähern sehen müssen. Der genaue Sinn dieses Brauches ist nicht leicht zu erkennen, man könnte denken, daß es sich um eine allgemeine Maßnahme der Ausweisung handelt, mit der die Stadtbehörden die vagabundierenden Irren belegen. Diese Hypothese reicht nicht aus, um allen Fällen Rechnung zu tragen, denn noch bevor man den Bau eigener Häuser für die Geisteskranken in Angriff nimmt, kommt es vor, daß sie in den Hospitälern aufgenommen und als Geisteskranke gepflegt werden. Im Hôtel-Dieu in Paris hat man besondere Schlafzellen für sie in den Schlafsälen eingerichtet24; im übrigen hat es in der Mehrzahl der europäischen Städte während des ganzen Mittelalters und der Renaissance einen Ort gegeben, der für die Einschließung der Geisteskranken bestimmt war. In Melun ist es zum Beispiel das Châtelet 2 ', in Caen der berühmte Narrenturm 2i , in Deutschland die zahllosen Narrentürme, wie die Tore von Lübeck oder der Jungfer in Hamburg 27 . Die 22 Theodor Kirchhoff, Geschichte der Psychiatrie, Leipzig 1912. 23 Georg L. Kriegk, Heilanstalten und Geisteskranke im mittelalterlichen Frankfurt am Main, Frankfurt 1863. 24 Vgl. die »Comptes de l'Hôtel-Dieu«, X I X , 190 und X X , 346. Zitiert bei Ernesi Coyccque, L'HStel-Dieu de Paris au Moyen Age, histoire et documents, ζ vols., Paris 1889-1891, Bd. I, S. 109. 2 j Archives hospitalières de Melun, Fonds Saint-Jacques, Ε 14, 6y. 16 Aristide Joly, Du sort des aliénés dans la Basse-Normandie avant 1789, Caen 1868. 27 Vgl. Jonas L. von Hess, Hamburg topographisch, politisch und historisch beschrieben, 3 Bde., Hamburg ' 1 8 1 0 - 1 8 1 1 , Bd. I, S. 344—345; und Esdienburg, Ge-
Irren werden also nicht unterschiedslos verjagt, und wir können folglich annehmen, daß man nur die Fremden unter ihnen vertreibt, während jede Stadt bereit ist, sich um die Geisteskranken in der eigenen Bürgerschaft zu kümmern. Tatsächlich finden wir in den Rechnungsbüchern bestimmter mittelalterlicher Städte Subventionen und Stiftungen, die für die Pflege der Geisteskranken bestimmt sind.28 Jedoch das Problem ist so einfach nicht, denn es gibt Orte, an denen die Irren zahlreicher als anderswo sind. A n erster Stelle kommen die Pilgerorte: Saint-Mathurin de Larchant, Saint-Hildevert de Gournay, Besançon und Gheel, wohin Pilgerreisen organisiert und manchmal von den Städten und Hospitälern finanziell unterstützt werden. 2 ' Möglicherweise sind diese Narrenschiffe, die die Vorstellungen der Menschen während der ganzen Frührenaissance bewegt haben, Pilgerschiffe, stark symbolische Schiffe mit Geisteskranken auf der Suche nach ihrer Vernunft. Die einen fahren die Flüsse des Rheinlandes abwärts in Richtung Belgien und nach Gheel, die anderen fahren den Rhein hinauf in Richtung Jura und Besançon. Aber es gibt andere Städte, Nürnberg etwa, die sicher keine Pilgerorte gewesen sind und die dennoch eine große Zahl von Irren aufnehmen, viel mehr auf jeden Fall, als die Stadt selbst an Zahl stellen kann. Diese Irren werden auf Stadtkosten untergebracht und ernährt, und dennoch werden sie nicht behandelt, sie werden ganz einfach in die Gefängnisse geworfen. 30 In manchen bedeutenden Städten, Reise- und Marktzentren, so kann man annehmen, wurden die Irren von den Händlern und Schiffern in stärkerer Anzahl mitgebracht und dort teil ich te unserer Irrenanstalt
und Bericht über dieselbe
in den letzten
fünf
Jahren,
Lübecker Blätter X (1844). ΐ8 Ζ . Β. erhält 1461 eine Frau v o n der Stadt H a m b u r g 14 Taler, w e i l sie sich um die Irren kümmern soll. V g l . Η . B . Gernet, Mittheilungen geschichtc Hamburgs,
aus der älteren
Medicinal-
H a m b u r g 1869, S. 79. In Lübeck bedenkt 1479 ein gewisser
Gerd Sunderbedc in seinem Testament »den armen dullen Luden«. Zitiert bei H e i n rich Laehr, Gedenktage
der Psychiatrie,
Berlin 1893, S. 320.
29 Es kommt sogar v o r , d a ß Ersatzleute bezahlt w e r d e n : »Einen M a n n bezahlt, der Schwester Robine neun T a g e lang ersetzen soll u n d nach Saint-Mathurin de Larchant geschickt worden ist, weil sie k r a n k und phrenetisdi ist. E r erhält 8 sols ρ.« Vgl. die »Comptes de l'Hôtel-Dieu«, X X I I I , bei C o y e c q u e , a. a. O . ich ihnen vollends entzogen, und nur mit Schwierigkeit lassen sich einige Spuren wiederfinden. Allein einige Seiten von de Sade und das Werk Goyas bezeugen, daß dieses Verschwinden nicht mit völliger Vernichtung gleichgesetzt werden kann, sondern daß diese tragische trf-hrung im Dunkel der Nächte des Denkens und der Träume fortb teht; und daß es sich im sechzehnten Jahrhundert nicht um eine rdikale Zerstörung, sondern lediglich um eine Okkultation handelt. I>ie tragische und kosmische Erfahrung des Wahnsinns wird durch exklusiven Privilegien eines kritischen Bewußtseins mit einer iske versehen. Deshalb kann die klassische Erfahrung und durch hindurch die moderne Erfahrung des Wahnsinns nicht als eine 'Iständige Figur betrachtet werden, die schließlich dadurch zu ihrer •tiven Wahrheit gelangte; sie ist eine fragmentarische Figur, die ; mißbräuchlich als erschöpfend gibt. Sie ist ein Ensemble, das durch es, was ihm fehlt, das heißt durch alles, was es verbirgt, aus dem ichge-wicht gebracht ist. Unter dem kritischen Bewußtsein des hnsinns und seinen philosophischen oder wissenschaftlichen, moJien oder medizinischen Formen ist noch immer ein taubes tragiÖcwußtsein wach. vrden in einer anderen Untersuchung zeigen, daß die Erfahrung mit dem ' Jicn und seine Reduktion vom sechzehnten bis zum achtzehnten JahrhunJit als ein Sieg der humanistischen und ärztlichen Theorien über das alte, Universum des Aberglaubens interpretiert werden darf, sondern als die 'auinahme in einer kritischen Erfahrung der Formen, die einst die Drohun>: r Zerrissenheit der Welt getragen haben.
Die letzten Worte Nietzsches, die letzten Visionen van Goghs haben es aufgeweckt. Wahrscheinlich hat am äußersten Punkt seines Weges Freud begonnen, es zu verspüren: es sind seine großen Ängste, die er durch den mythologischen Kampf der Libido und des Todestriebes hat symbolisieren wollen. Dieses tragische Bewußtsein schließlich hat sich auch im Werke Artauds ausgedrückt, in diesem Werk, das, wenn das Denken des zwanzigsten Jahrhunderts ihm Aufmerksamkeit schenken wollte, diesem die dringendste aller Fragen und diejenige, die am wenigsten dazu geeignet ist, den Frager dem Taumel entkommen zu lassen, gestellt hat, in diesem Werk, das unaufhörlich verkündet hat, daß unsere Kultur ihre tragische Feuerstelle verloren hat, seit dem Tage, an dem sie den großen Sonnenwahnsinn der Welt, die Ängste, in denen sich unaufhörlich das »Leben und der Tod des Feuersatans« erfüllen, aus sidi verbannt hat. Diese fernsten Entdeckungen und nur sie allein sind es, die uns heute das Urteil gestatten, daß die Erfahrung des Wahnsinns, die sidi vom sechzehnten Jahrhundert bis heute erstreckt, ihre besondere Gestalt und den Ursprung ihres Sinnes jener Abwesenheit, jener Nacht und all dem, was sie erfüllt, verdankt. Die schöne Geradheit, die das rationale Denken bis zur Analyse des Wahnsinns als Geisteskrankheit führt, muß man in einer vertikalen Dimension neu interpretieren. Dann wird klar, daß er unter jeder seiner Formen auf eine vollständigere, gefährlichere Art auch diese tragische Erfahrung verbirgt, die er indes nicht völlig zu minimisieren vermocht hat. Am Schlußpunkr des Zwanges war das Aufsplittern nötig, dem wir seit Nietzsche beiwohnen. Wie aber haben sidi im sedizehnten Jahrhundert die Privilegien der kritischen Reflexion konstituiert? Wie haben sie schließlich die Erfahrung des Wahnsinns konfisziert, so daß an der Schwelle des klassischen Zeitalters alle tragisdien Bilder, die in der voraufgehenden Epodie evoziert worden waren, sidi in Sdiatten aufgelöst haben? Witfand diese Bewegung ein Ende, über die Artaud sagte: »Mit einer Wirklichkeit, die ihre vielleicht übermenschlichen, aber natürlichen Gesetze hatte, hat die Renaissance des sedizehnten Jahrhunderts gebrochen; und der Humanismus der Renaissance war keine Vergrößerung des Menschen, sondern bedeutete seine Herabsetzung.« 5 ' Fassen wir kurz in dieser Entwicklung zusammen, was zum Verständ81 Artaud, Vie et mort de Satan le Fett, Paris 1949, S. 17.
nis der Erfahrung, die die Zeit der französischen Klassik mit dem Wahnsinn gemacht hat, unerläßlich ist. i) Der Wahnsinn wird eine Bezugsform der Vernunft, oder vielmehr, Wahnsinn und Vernunft treten in eine ständig umkehrbare Beziehung, die bewirkt, daß jede Wahnsinnsform ihre sie beurteilende und meisternde Vernunft findet, jede Vernunft ihren Wahnsinn hat, in dem sie ihre lächerliche Wahrheit findet. Wahnsinn und Vernunft werden aneinander gemessen, und in dieser Bewegung reziproker Beziehungen weisen beide einander ab, stützen sich aber gegenseitig. Das alte christliche Thema, daß die Welt in den Augen Gottes Wahnsinn sei, verjüngt sich im sechzehnten Jahrhundert in dieser engen Dialektik der Reziprozität. Der Mensch glaubt, klar zu sehen und daß er das rechte Maß der Dinge sei; die Kenntnis, die er hat und die er von der Welt zu haben glaubt, bestärkt ihn in seinem Wohlgefallen: Denn wenn wir am lichten Tage die Erde anschauen oder das, was uns umgibt, so wähnen wir wohl, ein starkes und durchdringendes Sehvermögen zu besitzen.« Wenn wir die Augen aber auf die Sonne selbst richten, sind wir gezwungen zuzugeben, daß unser Verständnis für die irdischen Dinge » ( . . . ) gegen die Sonne geradezu Schwachsichtigkeit ist' . Diese gewissermaßen platonische Hinwendung zur Sonne des Seins enthüllt jedoch mit der Wahrheit nicht die Grundlagen der Erscheinungsformen, sie enthüllt lediglich den Abgrund unserer eigenen Unvernunft: »Aber wenn wir einmal anfangen, unsere Gedanken auf Gott emporzurichten, ( . . .) wird das ( . . . ) , was uns als Weisheit wundersam Eindruck machte, ( . . .) grausig als schlimmste Narrheit i-tfenbar; was die Maske der Tugend an sich trug, wird als jämmerlichste Untüchtigkeit erfunden.« 81 Im Geiste bis zu Gott aufzusteigen .nd den Wahnsinnsabgrund, in den wir getaucht sind, zu ergründen, • 'edeutet ein und dasselbe. In der Erfahrung Calvins ist der Wahninn das dem Menschen eigene Maß, wenn man ihn mit der maßlosen Vernunft Gottes vergleicht. i'er Geist des Menschen in seiner Endlichkeit ist nicht so sehr ein unkt des großen Lichts wie ein Bruchstück des Sdiattens. Die partie und vorübergehende Wahrheit der Ersdieinungswelt ist seiner .'grenzten Intelligenz nicht zugänglich. Sein Wahnsinn entdeckt nur ίκ: Kehrseite der Dinge, ihre Nachtseite, den sofortigen Widerspruch ihrer Wahrheit. Indem er sich bis zu Gott erhebt, muß der Mensch : ! C .Uvin. Unterricht in der christlichen Religion (Institutio ebristianae lUrictzt u. bearbeitet v. Otto Weber, Neukirchen S. 2.
religio-
nicht allein über sich selbst hinauswachsen, sondern sidi völlig seiner wesentlichen Schwäche entreißen, in einem Sprung den Gegensatz der irdischen Dinge und ihrer göttlichen Essenz überwinden, denn was in den Erscheinungen von der Wahrheit hindurchschimmert, ist nicht ihr Reflex, sondern ihr grausamer Widerspruch: »Alle Dinge haben zwei Ansehen,« sagt Sebastian Franck, »denn Gott hat sidi vorgenommen. ewig mit der Welt Widerpart zu halten und ihr den Schein zu lassen, selbst (aber) die Wahrheit und das Ding für sidi und die Seinen zu behalten. ( . . .) Darum kann vor Gott in der Wahrheit nicht sein, wie es vor der Welt scheint, sondern jedes Ding ist umgekehrt, und ein umgewendeter Silenus.«"3 Der Abgrund des Wahnsinns,\n den die Mensdien getaucht sind, ist dergestalt, daß die Erscheinungsform der Wahrheit, die sidi darin findet, deren rigoroser Widerspruch ist. Aber das ist noch nicht alles: dieser Widersprudi zwischen der Erscheinungsform tind der Wahrheit ist bereits im Innern der Erscheinungsform selbst gegenwärtig, denn wenn die Erscheinungsform in sidi selbst kohärent wäre, wäre sie zumindest eine Anspielung auf die Wahrheil und wie deren leere Form. Man muß diese Umkehrung in den Dinger selbst entdecken — eine Umkehrung, die von dieser Zeit an ohne feste Riditung oder vorher festgesetzten Endpunkt ist. Sie verläuft nidit von der Erscheinungsform zur Wahrheit, sondern von der Erscheinungsform zu einer anderen soldien, die die erste verneint, dann von neuem zu etwas, das diese Negation bestreitet und ableugnet, so daB die Bewegung nie angehalten werden kann und daß Erasmus sogar vor dieser großen Konversion, die Calvin oder Franck verlangen sidi durch die tausend kleineren Konversionen, die die Ersdieinunp« weit ihm in ihrem eigenen Niveau vorschreibt, angehalten fühlt. Der umgestürzte Silen ist nidit das Symbol der Wahrheit, die Gott un·, entzogen hat, er ist viel mehr und viel weniger: das Symbol der Dinge selbst an der Oberfläche der Erde, diese Verwicklung der Gegensätze. die uns vielleicht für immer den einzigen und geraden Weg zur Wahrheit raubt. Es »ist bekannt, daß alle menschliche Dinge, gleicii den Silenen des AIcibiades, von innen ein anderes Gesicht haben, ι von außen: man sieht den Tod, und findet das Leben; man sieht das Leben, und findet den Tod; das Schöne ist häßlich, das Reiche ,trrr das Sdiändliche herrlich, das Gelehrte ungelehrt ( . . . ) ; kurz, öffne den Silen, so wirst alles verkehrt finden.«84 Alles ist in den sofortig! Sebastian Franck, Paradoxa, hrsg. von Heinridi Ziegler, Jena 1909, S. S- (J !7' undS. 125 (§ 91). 84 Erasmus, a. a. O., S. 53 f.
Widerspruch getaucht, alles veranlaßt den Menschen, von sich aus seinem eigenen Wahnsinn zuzustreben. A n der Wahrheit des Wesens der Dinge und an der Wahrheit Gottes gemessen ist die ganze menschliche Ordnung nur Wahnsinn. 8 ' Wahnsinn ist in dieser Ordnung auch die Bewegung, durch die man versucht, sich ihr zu entreißen, um zu Gott zu gelangen. Im sechzehnten Jahrhundert, mehr als in jeder anderen Epoche, genießt der Brief an die Korinther ein unvergleichliches Prestige: »Ich rede töricht; ich bins wohl mehr (als sie)« (2. Korinther 11,23). Wahnsinn ist auch dieser Verzicht auf die Welt, ist auch die vollständige Hingabe an den dunklen Willen Gottes, ist auch jene Suche, deren Endpunkt man nicht kennt, und dies alles sind alte, den Mystikern vertraute Themen. Bereits Tauler evoziert diesen Weg der Absage an den Wahnsinn der Welt, der zugleich Hingabe an finsterere und traurigere Wahnsinns•urmen ist: »Dis schiffelin ist in die höhin gefürt, und dar zu das der mensche in diser not stat von verlossenheit, so stot in im uf alles das •etrenge und alle die bekorunge und alle die bilde und die unselikeit (.. .)».86 Das ist die gleiche Erfahrung, von der Nikolaus von Cues igt: -Wenn der Mensch das Erkennbare aufgibt, wird seine Seele ie geisteskrank.« Auf dem Wege zu Gott ist der Mensch mehr als je Jem Wahnsinn ausgesetzt, und der Hafen der Wahrheit, zu dem ihn hließlich die Gnade bringt, ist er etwas anderes für ihn als ein Abrund der Unvernunft? Die Weisheit Gottes ist, wenn man ihren Glanz ihrnehmen kann, keine lange verschleierte Vernunft, sondern eine unermeßliche Tiefe. Das Geheimnis bewahrt darin all seine Dimenlunen des Geheimnisses, der Widerspruch hört nicht auf, sich darin rnmer noch zu widersprechen, unter dem Zeichen jenes bedeutenderen Widerspruches, der verlangt, daß das eigentliche Zentrum der 1 ..isheit der Taumel jeden Wahnsinns ist. »Herr, dein Rat ist ein zu tiefer Abgrund«.8? Und was Erasmus aus der Ferne erkennt, als er Aen sagt, Gott habe das Mysterium des Heils selbst den Weisen rKirgen und so die Welt durch den Wahnsinn selbst gerettet88, hat Nikolaus von Cues in seiner Gedankenbewegung ausführlich gesagt, Oer Piatonismus der Renaissance, vor allem seit dem sechzehnten Jahrhundert, Piatonismus der Ironie und der Kritik. ' Tauler. a. a. O.. S. 171. Ein Hinweis darauf findet sich bei Maurice de G a n Valeur du temps dans la pédagogie spirituelle de JeanTauler,Paris 195(3, S. 62. - ' ilvin. Sermon II sur l'Épître aux Éphésiens, in: Calvin, Textes choisis par jagnebin et K. Barth, Paris 1948, S. 74. tn«mui, a. a. O., S. 190 f.
während er seine schwache menschliche Vernunft verlor, die nur Wahnsinn in dem großen höllischen Wahnsinn der Weisheit Gottes ist: »Und in allem Sprechen bleibt sie unaussprechbar, in aller Einsicht uneinsehbar, für jedes Maß unmeßbar, für jedes Ende unbeendbar, für jede Bestimmung unbestimmbar, für jede Verhältnissetzung unverhältnismäßig, für jede Vergleichung unvergleichbar, für jede Darstellung undarstellbar, für jede Gestaltung ungestaltbar, ( . . •) weil sie für jede Beredtheit unausdrückbar bleibt, kann man sich keine Begrenzung dieser sie ausdrückenden Redeweisen denken, denn unausdenkbar bleibt für jeden Gedanken Dasjenige, durch, in und aus dem alles ist.« 8 ' Der große Kreis ist jetzt geschlossen. Im Verhältnis zur Weisheit ist die Vernunft des Menschen nur Wahnsinn, im Verhältnis zur geringen Weisheit der Menschen ist die Vernunft Gottes in die essentielle Bewegung des Wahnsinns miteingeschlossen. Im großen Maßstab gemessen, ist alles Wahnsinn, im kleinen Maße gemessen, ist das Alle? selbst Wahnsinn. Das heißt, daß es Wahnsinn immer nur in Beziehung zu einer Vernunft gibt, aber die ganze Wahrheit der letzteren besteht darin, einen Augenblick einen Wahnsinn, den sie ablehnt, erscheinen zu lassen, um sich ihrerseits in einem Wahnsinn, der sie auflöst, zu verlieren. In einem bestimmten Sinne ist der Wahnsinn nichts: der Wahnsinn der Menschen nichts angesichts der höchsten Vernunft, die allein über das Sein verfügt, und der Abgrund des fundamentaler Wahnsinns nichts, weil er so nur für die zerbrechliche Vernunft der Menschen ist. Die Vernunft aber ist nichts, weil diejenige, in derer Namen man den menschlichen Wahnsinn anprangert, sich, wenn man schließlich zu ihr gelangt, nur als ein Taumel herausstellt, in dem Ji. Vernunft schweigen muß. So wird, unter dem starken Einfluß des christlichen Denkens, die große Gefahr, die das fünfzehnte Jahrhundert hatte aufsteigen sehen, beschworen. Der Wahnsinn ist keine stumme Macht, die die Welt zun' Platzen bringt und phantastisches Blendwerk enthüllt; er enthüllt im Aufbrechen der Zeiten nicht die Gewalttaten der Bestialität oder de; großen Kampf zwischen Wissen und Verbog. Er ist in den unbestimr» ten Zyklus eingebaut, der ihn an die Vernunft bindet. Beide bestätigen und verneinen sich gegenseitig. Der Wahnsinn besteht nicht met; r losgelöst in der Nacht der Welt: er besteht nur durch eine Relativita? 89 Nikolaus von Cues, Der Laie über die Weisheit. Idiota de sapientia, überse von Elisabeth Bohnenstädt, 2. durchgesehene Auflage, Leipzig 1944, S. 48.
zur Vernunft, die sie sich gegenseitig vernichten läßt, indem sie sie einander retten läßt. 2) Der Wahnsinn wird eine der eigentlichen Formen der Vernunft, in die er sich integriert, indem er entweder eine ihrer geheimen Stärken oder eines ihrer darstellenden Momente oder eine paradoxe Form, in der er sich seiner selbst bewußt werden kann, bildet. Auf jeden Fall hat der Wahnsinn nur Sinn und Geltung im Feld der Vernunft selbst. Der Eigendünkel ist unsere natürliche Erbkrankheit. Das jämmerlichste, zerbrechlichste Geschöpf unter allen ist der Mensch und zu gleicher Zeit das hochmütigste. Es fühlt und sieht sich hienieden im Staub und Auskehricht hingeworfen und angebunden und genietet an die schlechteste, unbeseelteste und der Verwesung nächste Klasse aller Tiere der ganzen Schöpfung im untersten Stockwerk ihres Gebäudes, und am entferntesten von der Feste des Himmels, und doch will es sich anmaßen, sich über den Kreislauf des Mondes hinauf zu setzen, und den Himmel zum Schemel seiner Füße zu machen. Es ist durch den Dünkel dieser Einbildung, daß es sich Gott gleichstellt.«'0 Die schlimmste Form menschlichen Wahnsinns ist es, nicht das Elend, in Jem man eingeschlossen ist, nicht die Schwäche, die einen daran hindert. zum Guten und Wahren zu gelangen, zu erkennen, nicht zu wissen, welcher Teil des Wahnsinns der eigene ist. Diese Unvernunft ibzulehnen, die das Zeichen der eigenen Lebensbedingung selbst ist, heißt, sich daran hindern, jemals vernünftig von der eigenen Vernunft Gebrauch zu machen. Denn falls es Vernunft gibt, dann indem man liesen ununterbrochenen Kreis der Weisheit und des Wahnsinns in •cm klaren Bewußtsein ihrer Reziprozität und ihrer möglichen Trennung akzeptiert. Die wahre Vernunft ist nicht rein von jeder Kompromittierung mit dem Wahnsinn, im Gegenteil, sie muß die Wege, Jie dieser ihr vorschreibt, einschlagen. »So stehet mir für eine Weile ev. ihr Töchter Jupiters, bis ichs bewiesen habe, jene glänzende Weiseil. die hochberühmte Burg der Glückseligkeit, werde nur denen geschlossen, die sich ihr unter dem Schutze der Narrheit nähe• n.· Aber dieser Weg, wenn er auch zu keiner endgültigen Weisheit hrt, wenn auch die Burg, die er verspricht, nur ein Spiegelbild und meuerter Wahnsinn ist, dieser Weg ist in sich selbst der Weg der isheit, wenn man ihm folgt in gerade dem Wissen, daß es der des
> "lichel de Montaigne, Gesammelte Schriften (übers, von Johann Joachim Bode), Jen und Leipzig 1908 ff., Bd. III, S. 212. hrasmus, a. a. O., S. 57.
Wahnsinns ist. Das nichtige Schauspiel, den eitlen Lärm, dieses Gewirr von Geräuschen und Farben, durch das die Welt nie etwas anderes als die Welt des Wahnsinns ist, muß man akzeptieren, sogar in sidi aufnehmen, aber in dem klaren Bewußtsein ihrer Abgeschmacktheit, dieser Abgeschmacktheit, die sowohl die des Zuschauers als auch die des Schauspiels ist. Dem muß man nicht das ernsthafte Ohr leihen, das man der Wahrheit leiht, sondern jene oberflächliche Aufmerksamkeit - Mischung aus Ironie und Geselligkeit, aus Leichtigkeit und geheimem Wissen, das sich nicht düpieren läßt - , die man gewöhnlich den Jahrmarktspielen widmet; »aber bey Leibe ja nidit ein solches (Ohr), das Sie den ehrwürdigen Kanzelrednern zuwenden, sondern ein solches, das Marktsdireyern, Possenspielern und Lustigmachern immer offen steht; ein solches, wie ehedem unser Midas dem Pan ein stattliches Paar zuwendete«»2. Das eigentliche Wesen der Weisheit erfüllt sich in dieser farbenreichen und lärmenden Unmittelbarkeit, in dieser leichten Akzeptation einer unwahrnehmbaren Ablehnung sicherer als in der langen Suche nach der versteckten Wahrheit. Durch Besdileichung, durch den ihm gewährten Empfang schließt die Vernunft den Wahnsinn ein, umzingelt ihn, wird sich seiner bewußt und kann ihn einordnen. Wo aber ihn einordnen, wenn nicht in der Vernunft selbst, als eine ihrer Formen und vielleicht eine ihrer Quellen? Zweifellos gibt es zwischen den Formen der Vernunft und den Wahnsinnsformen grolSf und beunruhigende Ähnlichkeiten, denn woran erkennt man bei einer sehr klugen Handlung, daß sie von einem Irren vollzogen worden ist. und bei der irrsinnigsten der Wahnsinnstaten, daß sie von einem gewöhnlich klugen und gemäßigten Mann getan worden ist: »Die Weisheit und der Wahnsinn,« sagt Charron, »sind sehr benachbart. Es ist nur eine halbe Umdrehung von der einen zum anderen. Das sieht man bei Handlungen der geisteskranken Menschen.«" Aber diese Ähnlichkeit, selbst wenn sie die vernünftigen Leute verwirren muß, dien; der Vernunft selbst. Und während sie in ihrer Bewegung die größte?; Heftigkeiten des Wahnsinns mit sich bringt, gelangt die Vernunft dadurch an ihre höchsten Grenzen. Als Montaigne Tasso in seiner Umnachtung besucht, verspürt er eher Verdruß als Mitleid, aber im Grunde noch mehr Bewunderung als alles andere; Verdruß, ohr·.
92 Erasmus, a. a. O., S. 3. 93 Pierre Charron, De la Sagesse, livre I « , chap. X V , in der Ausgabe von Amau- y Duval, Paris 1820, Bd. I, S. 130.
Zweifel, zu sehen, daß die Vernunft, dort wo sie ihre Gipfel erreichen kann, dem tiefsten Wahnsinn unendlich nahe ist: »Wer weiß es nicht, wie unmerklich die Nachbarschaft zwischen der Verrücktheit und der crößten Erhabenheit des freien Geistes und einer außerordentlich »urzüglidien Tugend ist?« Aber dies ist ein Gegenstand paradoxaler Bewunderung. Denn ist es nicht ein Zeichen dafür, daß aus dem gleichen Wahnsinn di^ Vernunft ihre seltsamsten Quellen schöpft? Wenn Tasso. - ( . . . ) einer der scharfsinnigsten, muntersten und nach der alten reinen Dichtkunst vortrefflich gebildetesten Dichter, den nur jemals Italien aufzuweisen hatte ( . . . ) « , sich jetzt » ( . . . ) in diesem iämmerlichen Zustande ( . . . ) , da er sich selbst überlebt hatte ( . . . ) « befindet, verursacht das nicht »seine mörderische Lebhaftigkeit, dieei helle Licht, das ihn verblendete? diese ununterbrochene und gepannte Hinsicht auf die gesunde Vernunft, die ihn am Ende um seine Vernunft gebracht hat? dieses ausgezeichnete und mühsame Forschen nach Wissenschaften, das ihn endlich dumm gemacht hat wie ein Vieh? Jiese seltene Fähigkeit der Seele, die ihn endlich aller dieser sonderbaren Tätigkeit seiner Seele beraubt hat?«" Wenn der Wahnsinn die nstrengung der Vernunft sanktioniert, bedeutet das, daß er durch die Lebhaftigkeit der Bilder, die Heftigkeit der Leidenschaft, diesen .'oßen Rüdszug des Geistes auf sich selbst, an dieser Anstrengung vilhat. Was zum Wahnsinn gehört, bildet die gefährlichsten, weil Juristen Instrumente der Vernunft. Es gibt keine starke Vernunft, -ich nicht an den Wahnsinn wagen müßte, um mit dem Werk zu \de zu kommen, »kein großer Geist, in den sich nicht der Wahnsinn rrnidite ( . . . ) . In diesem Sinne haben mitunter die Weisen und die njitsdiaffensten Dichter es für gut befunden, in einer Art Irrsinn •liier Fassung zu geraten.«" Der Wahnsinn ist ein hartes, aber wentliches Moment bei der Arbeit der Vernunft. Selbst in seinen au•ischeinlichen Siegen zeigt sich und triumphiert durch ihn die Verunit. Für sie ist der Wahnsinn nur ihre lebendige und geheime Kraft." ihrend der Wahnsinn allmählich an Schlagkraft verliert und sich Idizeitig sein Stellenwert verändert, hat die Vernunft, die ihn umossen hat, ihn gleichsam aufgenommen und in sich verpflanzt. Die ideutige Rolle jenes skeptischen Denkens oder vielmehr jener Verfall, die sich so lebhaft der sie begrenzenden Formen und ihr widerAontaigne. a. a. O., Bd. III, S. 286. -I ( larron. a. a. O., S. 130. • .'iL im gleichen Sinne Saint-Êvremond, Sir Politik would be, j . A k t , 2. Szene.
sprechenden Kräfte bewußt ist, führte zur Entdeckung des Wahnsinns als einer der ihr eigenen Gestalten - was eine A r t ist, jede mögliche äußere Macht, jede mögliche, nicht reduzierbare Feindseligkeit, jedes mögliche Zeichen von Transzendenz zu beschwören, aber gleichzeitig zur Versetzung des Wahnsinns ins Zentrum der eigenen Arbeit, ihn dadurch als ein wesentliches Moment der eigenen Natur bezeichnend. Und jenseits von Montaigne und Charron, aber in dieser Bewegung, die den Wahnsinn in das Wesen der Vernunft einreiht, sieht man den Bogen der Pascalschen Überlegung sich abzeichnen: »Die Menschen sind so notwendig verrückt, daß nicht verrückt sein nur hieße, verrückt sein nach einer anderen A r t von Verrücktheit.« 57 In dieser Überlegung wird die lange Arbeit, die mit Erasmus begonnen hat, aufgenommen: durch die Entdeckung eines der Vernunft immanenten Wahnsinns und dann durch eine von dort ausgehende Spaltung in einen »wahnsinnigen Wahnsinn« einerseits, der jenen der Vernunft eigenen Wahnsinn ablehnt und durch diese Ablehnung ihn vermehrt und, während er ihn vermehrt, in den einfachsten, geschlossensten und unmittelbarsten Wahnsinn stürzt, und in einen »klugen Wahnsinn« andrerseits, der den Wahnsinn der Vernunft annimmt, ihm lauscht, seine Stadtrechte anerkennt, sich von seinen lebendigen Kräften durchdringen läßt, aber sich dadurch in Wirklichkeit stärker vor dem Wahnsinn schützt als die stets von vornherein überwundene obstinate Ablehnung. Die Wahrheit des Wahnsinns ist von diesem Augenblick an nur noch ein und dasselbe wie der Sieg der Vernunft und bedeutet endgültige Meisterung, denn die Wahrheit des Wahnsinns heißt, in die Vernunfl integriert, eine ihrer Gestalten, eine Kraft und gleichermaßen ein augenblickliches Bedürfnis der Selbstversicherung zu sein. Vielleicht liegt darin das Geheimnis seines häufigen Vorkommens am Ende des sechzehnten und zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts ir der Literatur, einer Kunst, die in ihrer Anstrengung, die sich suchende Vernunft zu zähmen, die Anwesenheit des Wahnsinns, ihres Wahnsinns anerkennt, ihn umzingelt, ihn einkreist, um letztlich über ihn zu triumphieren. Spiel eines barocken Zeitalters. Wie im Denken vollzieht sich hier ein Prozeß, der zur Bestätigung der tragischen Erfahrung des Wahnsinns in einem kritischen Bewußtsein führt. Übergehen wir im Augenblick dieses Phänomen und wender 97 Biaise Pascal, Gedanken, Darmstadt 1964, S. 69.
uns jenen indifferenten Gestalten zu, die man ebenso im Don Quichotte wie in den Romanen von Scudéry, im König Lear wie im Theater von Rotrou oder von Tristan FHermite finden kann. Beginnen wir mit der bedeutendsten und auch dauerhaftesten - denn noch im achtzehnten Jahrhundert sind die kaum verwischten Formen davon erkennbar' 8 : dem Wahnsinn durch literarische Identifikation. Seine Züge sind unumstößlich von Cervantes festgelegt worden. Aber das Thema wird unermüdlich wieder aufgenommen: in direkten Adaptationen (der Don Quichotte von Guérin de Bouscal wird 1639 aufgeführt; zwei Jahre später Le Gouvernement de Sancho Pança vom gleichen Autor), Neuinterpretationen einer besonderen Episode (Les Folies de Cardenio von Pichou sind eine Variation über das Thema des »zerlumpten Ritters« der Sierra Morena), oder auf mehr indirekte Weise in Satiren auf den phantastischen Roman (wie in der Fausse Gleite von Subligny, und innerhalb der Erzählung selbst in der Episode der Julie d'Arviane). Die Schimären übertragen sich vom Autor auf den Leser, aber was auf der einen Seite Phantasie ist, wird auf der anderen Phantasma, die List des Schriftstellers wird in voller Naivität als Gestalt der Wirklichkeit aufgefaßt. Äußerlich ist das nur die einfache Kritik von Phantasieromanen, aber dahinter steht die tiefe Unruhe über die Beziehungen zwischen Wirklichkeit und Phantasie im Kunstwerk und vielleicht auch über die undurchsichtigen Beziehungen zwischen phantastischer Erfindung und den Faszinationen des Deliriums. »Die Erfindung der Künste verdanken wir den aus der Ordnung geratenen Phantasien; die Eigenart der Maler, Dichter und Musiker ist nur ein höflich gemäßigter Ausdruck, um ihren Wahnsinn tu bezeichnen.«" In ihrem Wahnsinn werden zwar die Werte eines mderen Zeitalters, einer anderen Kunst, einer anderen Moral in Frase gestellt, aber, unstimmig und wirr in einem gemeinsamen Phanta•egebilde eigenartig voneinander bloßgestellt, spiegeln sich darin luch alle, selbst die fernsten Formen der menschlichen Phantasie, i 'ieser ersten Form unmittelbar benachbart ist der Größenwahnsinn, bei dem sich aber der Wahnsinnige nicht mit einem literarischen Vorbild identifiziert, sondern mit sich selbst, vermittels einer eingebildeten Adhäsion, die es ihm erlaubt, sich alle Eigenschaften zu verleihen und alle Tugenden oder Kräfte, deren er nicht teilhaftig ist. Er tritt im achtzehnten Jahrhundert, insbesondere nach Rousseau, begegnet die Vorstell t .hr häufig, daß Romanlektüre und Theatervorstellungen wahnsinnig maAcn. V g l . T e i l l l , K a p i t e l 4 . -•iint-Évremond, Sir Politik tuould be, j . A k t , 2. Szene.
das Erbe der alten Philautia des Erasmus an. Als Armer ist er reich, als Häßlicher sieht er gern sein Spiegelbild, noch mit dem Pferdehuf am Fuß hält er sich für Gott. Beispiel dafür ist der Lizentiat aus Osuna, der sich für Neptun hält100, ist auch das lächerliche Schicksal der sieben Gestalten aus den Visionnaires™, des Chateaufort im Pédant joué, das von Richesource in Sir Politik. Dieser Wahnsinn ist unzählbar, und er hat so viele Gesichter, wie die Welt Charaktere, Neigungen, notwendige Illusionen birgt. Selbst in seinen extremsten Formen ist es der am wenigsten extreme Wahnsinn. Er ist im Herzen jedes Menschen die eingebildete Beziehung, die dieser mit sich unterhält. Im Größenwahn schlagen sich die alltäglichsten seiner Fehler nieder, und ihn anzuklagen, ist das erste und letzte Element jeder moralischen Kritik. In den moralischen Bereich der Welt gehört auch der Wahn der gerechten Strafe. Durch das Durcheinander des Geistes straft er die Unordnung des Herzens, hat aber noch andere Kräfte: die Strafe, die er auferlegt, multipliziert sich mit sich selbst in dem Maße, in dem sie durch die Bestrafung die Wahrheit enthüllt. Die Gerechtigkeit dieses Wahnsinns hat für sich, daß sie wahrheitsgetreu ist. Wahrheitsgetreu, weil bereits der Schuldige in dem nichtigen Wirbel seiner Phantasmen verspürt, was der Schmerz seiner Strafe in Ewigkeit sein wird: Eraste in Mélite sieht sich bereits von den Eumeniden verfolgt und von Minos verurteilt. Wahrheitsgetreu auch, weil das den Augen aller verborgene Verbrechen in der Nacht dieser seltsamen Bestrafung an den Tag dringt. Der Wahnsinn liefert in jenen geisteskranken Worten, die man nicht bezähmen kann, seinen eigenen Sinn aus, er sagt in seinen Wahngespinsten seine geheime Wahrheit, seine Schreie sprechen für sein Gewissen. So enthüllt das Delirium von Lady Macbeth »denen, die nicht wissen dürften« die Worte, die lange Zeit nur den »tauben Kopfkissen« anvertraut waren. 102 Schließlich der letzte T y p des Wahnsinns: der der verzweifelten Leidenschaft. Die in ihrem Exzeß enttäuschte Liebe, vor allem die durch 100 Miguel de Cervantes Saavedra, Der geniale Hidalgo Don Quichotte Mancha, deutsch von L u d w i g Braunfels, Leipzig 1953, 2. Teil, I . K a p i t e l .
von Jr
101 In den Visionnaires sieht man einen feigen Hauptmann, der sidi für Adiill häl; einen schwülstigen Dichter, einen unwissenden Liebhaber der Poesie, einen eingebi· deten Reichen, ein Mädchen, das sidi v o n allen geliebt glaubt, eine Pedantin, die as dem Gebiet der Komödie alles beurteilen zu können glaubt, und schließlich eine. J sidi für eine Romanheldin hält. 102 Macbeth, y. A k t , 1. Szene.
die Fatalität des Todes getäuschte Liebe hat keinen anderen Ausweg als den Wahnsinn. Solange er ein Objekt hat, ist der Liebeswahn mehr Liebe als Wahnsinn; sich selbst überlassen, setzt er sich in der Leere des Deliriums fort. Ist dies die Bestrafung einer zu sehr sich ihrer Heftigkeit hingebenden Leidenschaft? Zweifellos, aber diese Bestrafung ist zugleich eine Milderung; über die irreparable Abwesenheit breitet sie das Mitleid der Anwesenheit imaginärer Gestalten, im Paradox der unschuldigen Freude oder im Heroismus des Verfolgungswahns findet sie die verschwundene Form wieder. Wenn sie zum Tode führt, so ist dies ein Tod, in dem die sich Liebenden nie wieder getrennt sein werden. Das ist das letzte Lied Ophelias, das ist das Delirium Aristes in der Folie du Sage, aber das ist vor allem der bittere und süße Wahnsinn des König Lear. Sei Shakespeare verbindet sich der Wahnsinn mit dem Tode und dem Mord, bei Cervantes gehorchen die Formen der beliebigen Willkür des Imaginären. Diese großen Vorbilder werden aber von Imitatoren umgedeutet und entwaffnet. Zweifellos sind sie beide mehr Zeugen tiner tragischen Erfahrung des Wahnsinns, die im fünfzehnten Jahrhundert entstand, als solche einer kritischen und moralischen Erfahrung des Wahnsinns, obwohl sich diese in ihrer eigenen Epoche entwickelte. Außerhalb der Zeit schaffen sie die Verbindung mit einem sinn, der im Verschwinden begriffen ist und dessen Kontinuität sich •>ur noch in der Nacht vollzieht. Indem man aber ihr Werk und was •ufrechterhält mit den Bedeutungen, die bei ihren Zeitgenossen der Nachahmern entstehen, vergleicht, wird man entziffern können. JS 'ich in der literarischen Erfahrung des Wahnsinns zu Beginn des wbzehnten Jahrhunderts ereignet. 3ei Cervantes oder Shakespeare nimmt der Wahnsinn stets eine exme Stelle in dem Sinne ein, daß er ohne Ausweg ist; nichts bringt ;hr iemals zur Wahrheit oder Vernunft zurück. Er führt nur zur Zerr ^.nheit und von dort zum Tode. Der Wahnsinn mit seinen leeren W irrten ist keine Leerheit. Leere, die ihn füllt, ist »eine Krankheit, die \.r meine Kunst geht«, wie der Arzt über Lady Macbeth sagt; es ist -5itc die Fülle des Todes: ein Wahnsinn, der eines Arztes nicht besondern allein die göttliche Gnade braucht.103 Die von Ophelia iliciUich wiedergefundene süße Freude versöhnt sie mit keinem lv- ihr wahnsinniger Gesang ist dem Wesentlichen ebenso nah wie · Frauenschrei«, der in den Gängen des Schlosses von Macbeth i i i e f ' · . t. Akt. i. Szene.
ankündigt, daß »die Königin tot ist«.104 Gewiß vollzieht sich der Tod von Don Quichotte in einer friedlichen Landschaft, die im letzten Augenblick mit der Vernunft und der Wahrheit Verbindung gewonnen hat. Plötzlich ist sich der Wahnsinn des Ritters seiner selbst bewußt geworden und löst sidi vor seinen eigenen Augen in Dummheit auf. Aber ist diese plötzliche Weisheit seines Wahnsinns etwas anderes, als »habe ihn eine neue Narrheit befallen«? Diese Zweideutigkeit ist endlos reversibel und kann schließlich nur durch den Tod selbst gelöst werden. Der aufgelöste Wahnsinn muß ein und dasselbe sein wie das drohende Ende; »und sie hielten es für ein Zeichen seines nahenden Todes, daß er sich so leicht von einem verrückten zu einem gescheiten Menschen umgewandelt habe«. Aber der Tod selbst bringt keinen Frieden: der Wahnsinn wird nochmals triumphieren - lächerlich ewige Wahrheit, jenseits des Endes eines Lebens, das sich doch durch dieses Ende selbst vom Wahnsinn befreit hat. Ironisch wird Don Quichotte von seinem wahnsinnigen Leben verfolgt und nur durch seinen Wahnsinn unsterblich; der Wahnsinn ist noch das unzerstörbare Leben des Todes: »Der vielkühne Junker liegt hier, ein Held von hohen1 Streben, dessen Ruhm zur Sonne fliegt; und der Tod hat selbst sein Leben nicht durch seinen Tod besiegt.«10' Bald aber verläßt der Wahnsinn jene fernen Regionen, in denen Cervantes und Shakespeare ihn angesiedelt hatten. Und in der Literatu! am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts nimmt er überwiegend eimmittlere Stelle ein; so bildet er eher den Knoten als die Auflösung eher die Peripetie als das bevorstehende Ende. In der Ökonomie der Roman- und Dramenstrukturen an eine andere Stelle gerückt, gestatet er das Auftreten der Wahrheit und die Rückkehr der Vernunft. Er wird nämlich nicht mehr in seiner tragischen Realität, in seiner absoluten Zerrissenheit, die ihm den Zugang zur anderen Welt bietet, betrachtet, sondern lediglich in der Ironie seiner Illusionen. Er ist L ne wirkliche Strafe mehr, sondern das Bild der Strafe, also falsch. Schein. Er kann nur mit dem Schein eines Verbrechens oder der Hin sion eines Todes verbunden sein. Wenn Ariste in der Folie du Saçe bei der Nachricht vom Tode der Tochter wahnsinnig wird, so desha1 weil diese nicht wirklich tot ist; wenn in Mélite Eraste sich von de Eumeniden verfolgt und zu Minos geschleppt sieht, geschieht dies ν gen eines doppelten Verbrechens, das er hätte begehen können, da 104 Macbeth, 5. Akt, 5. Szene. 105 Cervantes, Don Quichotte, 2. Teil, 74. Kapitel.
hätte begehen wollen, aber das tatsächlich keinen wirklichen Tod zur Folge gehabt hat. Der Wahnsinn ist seines dramatischen Ernstes beraubt: er ist Strafe oder Verzweiflung nur in der Dimension des Irrtums. Seine dramatische Funktion besteht nur insofern fort, als es sich um ein falsches Drama handelt, eine schimärische Form, in der nur vermutete Vergehen, eingebildete Morde, kurzfristige Entrückungen enthalten sind. Trotz dieses Fehlens von Ernst ist der Wahnsinn wesentlich, wesentlicher noch als zuvor, denn wenn er die Illusion auf den Gipfel treibt, löst sidi die Illusion, von ihm ausgehend, auf. Im Wahnsinn, in den ihr Irrtum sie eingeschlossen hat, beginnt die Gestalt unfreiwillig den Faden zu entwirren. Sie sagt, indem sie sidi anklagt, ohne es zu wollen, die Wahrheit. In Mclite zum Beispiel haben sich die Listen, derer ich der Held bedient, um die anderen zu täuschen, gegen ihn gewandt, und er ist ihr erstes Opfer geworden, weil er am Tode seines Rivalen und seiner Geliebten schuldig zu sein glaubte. Aber in seinem I 'elirium beschuldigt er sidi, eine Serie von Liebesbriefen erfunden zu haben; die Wahrheit kommt ans Licht in und durch den Wahnsinn, 1er durch die Illusion eine Auflösung provoziert, tatsächlich ganz illein das wirkliche Imbroglio, dessen Wirkung und Ursache zugleich >.r ist. auflöst; in anderen Worten: der Wahnsinn ist die falsche Beirafung eines falschen Endes, aber durch seine eigene Kraft bringt er iai wahre Problem ans Licht, das dann wirklich gelöst werden kann. '•Iii dieser gleichzeitig doppeldeutigen und zentralen Funktion des ihnsinns spielt der Autor des Ospital des Fous, wenn er ein Liebespaar darstellt, das, um seinen Verfolgern zu entgehen, sidi wahnsin* Lcllt und sich unter Wahnsinnigen versteckt; in einem gespielten hnsinnsanfall gibt das Mädchen, das als Junge verkleidet ist, vor, sich :ür ein Mädchen zu halten - was es wirklich ist - , und sagt so, ••ch Jie gegenseitige Aufhebung dieser beiden Verstellungen, die hrheit. die letztlich siegen wird. • r Wahnsinn ist die reinste, die totalste Form des Quiproquo: er 'ml das Falsche für wahr, den Tod für das Leben, den Mann für brau, die Verliebte für die Erinnye und das Opfer für Minos. - yr er ist auch die am stärksten benötigte Form des Quiproquo in Jramatischen Ökonomie, denn er bedarf keines äußeren Elemen•im zur wirklichen Auflösung zu kommen. Es genügt, wenn er • Illusionen bis zur Wahrheit treibt. So ist er, im Herzen der .tur selbst, in ihrem mechanischen Zentrum, gleichzeitig fingierter Abshluß. der einen geheimnisvollen Wiederanfang enthält, und
der erste Schritt zu dem, das wie die Versöhnung mit der Vernunft und der Wahrheit erscheinen wird. Er setzt den Punkt, in dem offensichtlich das tragische Schicksal der Personen konvergiert und von dem aus wirklich die Linien aufsteigen, die zum wiedergefundenen Glück führen. In ihm stellt sidi das Gleichgewicht her, aber er verschleiert dieses Gleichgewicht unter der Wolke der Illusion, unter der fingierten Unordnung; die Strenge der Architektur verbirgt sich unter der geschickten Anordnung dieser unkontrollierten Heftigkeiten. Diese plötzliche Lebhaftigkeit, diese Zufälligkeit der Gesten und der Worte, dieser Wahnsinnssturm, der plötzlich die Linien zerstört, die Haltungen erschüttert, den Faltenwurf zerknittert, während die Fäden nur noch fester gezogen werden, — das ist der eigentliche T y p des barocken trompe-l'œil. Der Wahnsinn ist der große trompe-l'œil in den tragikomischen Strukturen der vorklassischen Literatur." 36 Das war Scudéry wohlbekannt, als er in seiner Comédie des Comédiens das Theater des Theaters schaffen wollte und sein Stück von Anfang an in das Spiel der Illusionen des Wahnsinns legte. Ein Teil der Schauspieler muß die Rolle der Zuschauer spielen und die anderen die Rollen der Schauspieler. Einerseits muß also das Dekor scheinbar als Wirklichkeit angenommen werden, das Spiel als Leben, während tatsächlich in einem wirklichen Dekor gespielt wird; andererseits mul< scheinbar gespielt und der Schauspieler dargestellt werden, während in der Wirklichkeit ganz einfach Schauspieler die Spielenden sind. Dies ist ein doppeltes Spiel, in dem jedes Element um eine Stufe überstiegen wird, indem es so den erneuerten Wechsel von Wirklichkeii und Illusion, der selbst der dramatische Sinn des Wahnsinns ist, bildet. »Ich weiß nicht,« sagt Mondory im Prolog des Stückes von Scudéry, »welche Ungereimtheit meine Mitspieler heute zeigen, aber si;en nervöser Konvulsionen, die als epileptisch bezeichnet werden, ufgenommen wird, unter den wirklichen Epileptikern schnell die Krankheit erhalten, die es vorher nicht hat, und hat in der langen Zeit, die sein Alter ihm zu leben noch in Aussicht stellt, keine andere Hoffnung auf Heilung als die selten vollkommenen Anstrengungen 5er Natur.« Die Wahnsinnigen »werden als unheilbar beurteilt, wenn e in Bicêtre ankommen, und erhalten dort keine Behandlung ( . . . ) . 1 )hwohl es keine Behandlung für die Wahnsinnigen gibt ( . . . ) , erlancn mehrere von ihnen die Vernunft wieder.«204 Tatsächlich läßt das -hlen medizinischer Pflege, abgesehen von der vorgeschriebenen Vi'•t. das Hôpital général ungefähr in die gleiche Situation kommen Uer erste dieser Ärzte war Raymond Finot, dann, bis 172s, Fermelhuis; danach Ερτ 11725-1762), Gaulard (1762-1782) und Philip (1782-1792). Im achtzehnten mndert verfügten sie über Assistenten. V g l . Paul Delaunay, Le monde médical η au XVIIIe siècle, Paris 1906, S. 72 f. — In Bicêtre gab es am Ende des achtln Jahrhunderts einen »chirurgien gagnant maîtrise«, der die Krankenabtei-mal täglich besuchte, zwei Mitarbeiter und einige Schüler hatte. V g l . MémoiOère Richard, Ms. der Bibliothèque de la Ville de Paris, f ° 23. :ph-Marie Audin-Rouvière, Essai sur la topographie physique et médicale "H dissertation sur les substances qui peuvent influer sur la santé des habi' une cité, Paris, An II, S. 105-107.
wie jedes Gefängnis. Die dort geltenden Regeln sind etwa die gleichen, wie sie die Ordonnance über die Strafjustiz von 1670 für die Ordnung aller Gefängnisse vorsieht: »Wir erwarten, daß die Gefängnisse sicher und in jeder Weise für die Gesundheit der Gefangenen so eingerichtet sind, daß diese nicht darunter leidet. Den Kerkermeistern und Türknechten wird befohlen, die in den Kerkern eingeschlossenen Gefangenen mindestens einmal täglich aufzusuchen und Unseren Verwaltern Meldung zu machen über die Gefangenen, die krank sind, damit sie von den Ärzten und Chirurgen der Gefängnisse besucht werden können, wenn solche vorhanden sind.«"' Wenn es einen A r z t im Hôpital général gibt, dann heißt das nicht, daß man bewußt dort Kranke einsperrt, sondern daß man die Krankheit unter denjenigen befürditet, die bereits interniert sind. Man fürchtet das berühmte »Gefängnisfieber«. In England verwies man gern auf den Fall von Gefangenen, die ihre Richter während der Gerichtsverhandlung angesteckt hatten, und man erinnerte daran, dal? Internierte nach ihrer Befreiung ihren Familien die im Gefängnis erworbene Krankheit weitergegeben haben-06: »Es gibt Beispiele für die schrecklichen Auswirkungen auf in Höhlen und Türmen zusammengedrängte Mensdien, in denen die Luft sich nicht erneuern kann ( . . . ) ; diese verdorbene Luft kann das Herz eines Eichenstammes verderben, in das sie nur durch den Kork und das Holz dringt.«307 Dit ärztlidie Pflege ist der Internierungspraxis aufgepfropft, um bestimmte Wirkungen auszuschließen. Sie bildet weder ihren Sinn noch ihn Ursadie. Die Internierung ist keine erste Anstrengung auf dem Wege zur Hr· spitalisierung des Wahnsinns in seinen verschiedenen Krankheit1· aspekten, sondern sie stellt vielmehr eine Gleichsetzung der Geiste kranken mit allen anderen Sträflingen dar, wie jene seltsamen iun stischen Formulierungen bezeugen können, die die Irren nicht Je" Hospitalpflege anvertrauen, sondern sie zum Aufenthalt darin verdammen. In den Registern von Bicêtre finden sich Bemerkungen *·ιί folgende: »Von der Conciergerie kraft eines Erlasses des Parlament hierher gebracht, der ihn zur Einsperrung auf Lebenszeit im Seh' Bicêtre verurteilt, wo er wie die anderen Geisteskranken behand 20Ç Titel X I I I in François-André Isambert, Rccucil françaises, 29 vols., Paris 1821-1S33, Bd. 18, S. 393.
général des
ancienne
206 Auf diese Weise sollte die ganze kleine Stadt Axminster in Devonshir achtzehnten Jahrhundert angesteckt worden sein. 207 Howard, a. a. O., Bd. I, S. 14.
werden soll.«208 Behandelt zu werden wie die anderen Geisteskranken heißt nicht, eine medizinische Behandlung zu erhalten. 20 ' Es heißt, daß der Internierte die Strafvorschriften befolgen, die Übungen ausführen und den Gesetzen der Erziehung gehorchen muß. Eltern, die ihren Sohn in die Charité in Senlis gebracht hatten, weil er »toll« gewesen ist und in »geistiger Unordnung« lebte, verlangen seine Überführung nach Saint-Lazare, »weil sie nicht die Absicht haben, ihren Sohn umkommen zu lassen, wenn sie auch einen Befehl zu seiner Einsperrung gewünscht haben, sondern weil sie lediglich die Absicht hatten, ihn zu bessern und seinen fast verlorenen Geist wieder zu ordnen«.210 Die Internierung ist zur Besserung bestimmt, und wenn man ihr ein Ziel setzt, so ist das nidit die Heilung, sondern eher die artige Reue. François-Marie Bailly, ein »Kleriker mit Tonsur, der Organist ist«, wird 1772 »aus den Gefängnissen von Fontainebleau auf Befehl des Königs nach Bicêtre überführt mit der Anweisung, ihn dort drei Jahre gefangen zu halten«. Dann ergeht ein neuer Urteilsspruch der Propstei am 20. September 1773, »der den genannten Bailly bis zu seiner völligen Gesundung unter den Geitessdiwadien« zu halten befiehlt. 211 Die Zeit, die die Internierung bestimmt und begrenzt, ist niemals nur die moralische Zeit der Verinderungen und der Weisheit oder die Zeit, in der die Bestrafung ihn hrer Wirkung unterzieht. E« ist nicht verwunderlich, daß die Internierungshäuser wie Gefängii t sind und daß oft diese beiden Institutionen miteinander vervdiselt worden sind, so daß man die Geisteskranken ziemlich leidigültig in die einen oder die anderen gesperrt hat. Als 1806 ein mitee mit der Untersuchung der Situation der »armen Mondsüchvn in England« beauftragt wird, zählt es 1765 Wahnsinnige in den rkhouses, 113 in den Zuchthäusern.212 Wahrscheinlich gab es im ufe des achtzehnten Jahrhunderts darin noch mehr, denn Howard Oer Fall von Claude Rémy. Paris, Bibliothèque de l'Arsenal, Ms. 12685. rrst am Ende des achtzehnten Jahrhunderts erscheint die Formel »Behandelt TU Arzneien versorgt wie die anderen Irren«. Befehl von 1784 für den Fall bourgeois: »Aus dem Gefängnis der Conciergerie kraft eines Erlasses des Par: in das Zuchthaus des Schlosses Bicêtre überführt, damit er dort in Gewahrsam .n, ernährt, behandelt und wie die anderen Irren mit Arzneien versorgt wird.« •'aris- Bibliothèque de l'Arsenal, Ms. 11396, f ü s 40 und 41. • 1 S'bliothèquc de l'Arsenal, Ms. 12686. : D. Tukc, a . a . O . , S. 117. Die Zahlen lagen wahrscheinlich viel höher, weil • V.-chen später Sir Andrew Halliday 112 internierte Irre in N o r f o l k zählt, 'ujmitee nur 42 gefunden hatte.
erinnert als an ein nicht seltenes Faktum an jene Gefängnisse, »wo man die Idioten und die Irren einsperrt, weil man sie nicht an anderen Orten fern von der Gesellschaft, die sie beunruhigen und verwirren, zu halten vermag. Sie dienen den grausamen Vergnügungen der Gefangenen und der müßigen Zuschauer bei den Gelegenheiten, bei denen viele Leute zusammenkommen. Oft beunruhigen und erschreit· ken sie diejenigen, die mit ihnen eingesperrt sind. Man pflegt sie überhaupt nicht.«" 3 In Frankreich ist es ebenfalls häufig, daß man in der Gefängnissen Irren begegnet. Das trifft natürlich für die Bastille zu· dann findet man auch in Bordeaux, im Fort du Hâ, im Arbeitshaus in Rennes, in den Gefängnissen von Amiens, Angers, Caen und Poitie· wahnsinnige Insassen.2"· In den meisten der Hôpitaux généraux siru' die Geisteskranken ohne irgendeine Unterscheidung mit allen and. ren Insassen oder Internierten zusammengesperrt. N u r die Tobsüch tigsten werden in Kammern gehalten, die für sie reserviert sind: »In allen Hospitälern hat man alte, zerfallene, feuchte, schlecht aufg. teilte und in keiner Weise für eine solche Bestimmung errichtete Gebäude den Geisteskranken überlassen, ausgenommen einige Kammer einige Kerker, die speziell für sie errichtet worden sind. Die Tobsürt tigen bewohnen diese abgetrennten Räume, während die ruhigen Gr steskranken und die als unheilbar bezeichneten mit den Armen un Bedürftigen vermengt werden. In einer kleinen Zahl von Hospi7< in denen man Gefangene in dem Teil unterbringt, der die Zwani abteilung genannt wird, wohnen diese Internierten mit den Gefam: nen zusammen und werden den gleichen Bedingungen unter* fen.«"i Diese Tatsachen sind sehr schematisch dargestellt, und erst wenn i» sie einander annähert und sie nach ihren Ähnlichkeiten gruppi ' gewinnt man den Eindruck, daß zwei Erfahrungen mit dem Wati: sinn im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert nebeneinai) stehen. Die Ärzte der folgenden Epoche achten zumeist nur auf allgemeine »Pathetische« der Situation der Geisteskranken. Ob; haben sie das gleiche Elend, überall die gleiche Unfähigkeit, zu len, wahrgenommen. Für sie gibt es keinen Unterschied zwisdier Beschäftigung in Bicêtre und den Sälen des Hôtel-Dieu, z w · Bedlam und irgendeinem Arbeitshaus. Dennoch ist es eine irredu: 213 214 Des 21 j
Howard, a. a. O., Bd. I, S. 19. J. Esquirol, Des établissements consacrés aux aliénés en France, 1818. imaladies mentales, Paris 1838, Bd. 2, S. 138. Esquirol, a . a . O . , Bd. 2, S. 137.
Tatsache: in bestimmten Häusern werden Irre nur in dem Maße aufgenommen, wie sie theoretisch heilbar sind; in anderen nimmt man -ie nur auf, um sich ihrer zu entledigen oder um sie wieder aufzurichten. Wahrscheinlich sind die zuerst genannten Häuser am seltensten und die kleinsten. Es gibt nämlich im Hôtel-Dieu weniger als achtzig Wahnsinnige, während es im Hôpital général mehrere Hunderte, "•elleicht Tausende gibt. So sehr diese beiden Erfahrungen bezüglich 'hrer Ausdehnung und ihrer numerischen Bedeutung auch voneinander abweichen mögen, so haben sie doch ihre Besonderheit. Die Er'ahrung mit dem Wahnsinn als Krankheit, mag sie noch so beschränkt .in, kann nicht verneint werden. Sie ist paradoxerweise zur gleichen Zeit festzustellen wie eine andere Erfahrung, in der der Wahnsinn ™t der Internierung, der Bestrafung, der Zucht zu tun hat. Diese Nebeneinanderstellung ist das Problem, und sie kann wahrscheinlich !abei helfen, zu verstehen, welchen Status der Wahnsinn in der klashen Welt hatte und wie die A r t der Perzeption definiert werden iuß, die man von ihm hatte. »n ist versucht, zur einfachsten Lösung zu greifen und diese Nebeninderstellung in einer impliziten Dauer, in der unwahrnehmbaren tspanne eines Fortschreitens zu lösen. Die Irren des Hôtel-Dieu, Mondsüchtigen von Bedlam sind dann die, die bereits den Status tranken erlangt haben. Das würde bedeuten, daß man sie besser -her als die anderen erkannt und isoliert und zu ihren Gunsten Hospitalbehandlung eingeführt hätte, die bereits diejenige vorinehmen scheint, die das neunzehnte Jahrhundert mit vollem " illen Geisteskranken zugestehen sollte. Die anderen, die man Unterschied in den Hôpitaux généraux, den workhouses, den häusern oder Gefängnissen antrifft, beurteilt man leicht als eine Serie von Kranken, die noch nicht von einer medizinischen ^ ihrr.ehmung aufgegriffen worden sind, die sich zu diesem Zeiti noch entwickelte. Man denkt dann gerne, daß alte Glaubensangen oder der bürgerlichen Welt eigene Auffassungen die ' . t r a n k e n in einer Definition des Wahnsinns einschließen, die nklare Weise mit den Verbrechern und der sehr gemischten ''er Àsozialen zusammenbringt. Das ist ein Spiel, dem sich mit -:en Jie Verfasser der Geschichte der Medizin hingeben, die in -rnierungsregistern und durch die Annäherung der Worte Jie testen medizinischen Kategorien erkennen wollen, in die Γ ithologie in der Ewigkeit der Gelehrsamkeit die Geistes-
kranken eingeteilt hat. Die »Illuminaten« und »Geisterseher« entsprechen wahrscheinlich unseren an Halluzinationen Leidenden - »ein Geisterseher, der sich vorstellt, himmlische Erscheinungen zu haben«, »ein Illuminât mit eigenartigen Enthüllungen«; die Debilen und bestimmte Leute, die an organischer oder seniler Demenz leiden, sind wahrscheinlich in den Registern als »Imbezile« bezeichnet - »ein Imbeziler, der durch furchtbare Ausschweifungen mit Wein so geworden ist«, »ein ständig redender Imbeziler, der sich den Kaiser der Türken oder Papst nennt«, »ein Imbeziler ohne Hoffnung auf Besserung«; man trifft auch Formen des Deliriums, die man vor allem durch ihre pittoresk-absurde Seite charakterisiert — »ein Einzelner, der von Leuten verfolgt wird, die ihn töten wollen«, »ein Mann, der völlig geisteszerrüttet ist und Pläne macht«, »ein Mann, der ständig elektrisiert ist und dem man Ideen von anderen übermittelt«, »eine Art Irrer, der dem Parlament Gedenkschriften überreichen will«. 2,6 Für die Ärzte ist es von großem Gewicht und eine wertvolle Hilfe 2 ' 7 , feststellen zu können, daß es unter der Sonne des Wahnsinns stets Halluzinationen, stets Delirien in den Reden der Unvernunft gegeben hat und daß man dieselben Ängste in allen diesen ruhelosen Herzen finden kann. Die Mentalmedizin erhält daher die ersten Kautionen ihrer Ewigkeit. Und wenn sie ein schlechtes Gewissen haben könnte, wäre sie wahrscheinlich beruhigt, wenn sie erkennte, daß das Objekt ihrer Untersuchung vorhanden ist, das sie in der kommenden Zeit erwartete. Für denjenigen, der sich eines Tages über den Sinn der Internierung und die Art, wie sie sich in die Reihe der medizinischen Einrichtungen hat hineinzwängen können, beunruhigen wollte, mui! es eine gewisse Stärkung sein, wenn er davon träumen kann, daß aul jeden Fall es Irre waren, die man einschloß, und daß in dieser dunklen Praktik sich bereits das verbarg, was für uns die Gestalt einer immanenten medizinischen Gerechtigkeit annahm. Den Wahnsinnigen, die man internierte, fehlte fast nur noch die Bezeichnung Geiste kranke und der medizinische Status, den man den offensichtlichster· und am besten zu erkennenden unter ihnen gewährte. Wenn man einr solche Analyse vornimmt, erwirbt man auf billige Weise ein glückliches Bewußtsein einerseits hinsichtlich der Gerechtigkeit der Gi216 Diese Vermerke finden sich in den Tableaux des ordres du Roi pour l'inearchu tion à l'Hôpital général und in den États des personnes détenues par ordre du roi Charenton et à Saint-Lazare in der Bibliothèque de l'Arsenal. 217 Ein Beispiel für diese A r t des Vorgehens haben wir bei H . Bonnafous-Seriec. La Charité de Senlis, Paris 1936.
schichte und andererseits hinsichtlich der Ewigkeit der Medizin. Die Medizin wird durch eine vormedizinische Praxis verifiziert, und die Geschichte wird durch eine A r t sozialen, spontanen, unfehlbaren und reinen Instinkts gerechtfertigt. Es genügt, diesen Postulaten ein festes Vertrauen in den Fortschritt hinzuzufügen, damit man nur noch den dunklen Weg nachzeichnen muß, der von der Internierung - einer schweigsamen Diagnose, die durch eine Medizin erstellt wird, die noch nicht in der Lage ist, sich zu artikulieren - zur Hospitalisierung verläuft, deren erste Formen im achtzehnten Jahrhundert bereits den Fortschritt vorwegnehmen und symbolisch ihr Ende andeuten. Aber unglücklicherweise liegen die Dinge komplizierter. Man kann allgemein sagen, daß die Geschichte des Wahnsinns in keinem Fall als Rechtfertigung und als Hilfswissenschaft für die Pathologie der Geisteskranken dienen kann. Der Wahnsinn macht in der Entwicklung seiner historischen Wirklichkeit in einem bestimmten Moment eine Kenntnis der Aliénation in einer A r t von Positivität möglich, die ihn als Geisteskrankheit einkreist. Aber nicht diese Erkenntnis ist es, die die Wahrheit seiner Geschichte bildet und sie insgeheim von ihrem Ursprung an belebt. Wenn wir während einer bestimmten Zeit haben glauben können, daß seine Geschichte darin ihr Ende fand, so war das deshalb möglich, weil wir nicht erkannt haben, daß der Wahnsinn als Erfahrungsgebiet sich niemals in der medizinischen Erkenntnis oder paramedizinischen Erkenntnis erschöpfte, die man von ihm gewinnen konnte. Dennoch könnte die Tatsache der Internierung an sich dafür als Beweis dienen. Wir müssen einen Augenblick darauf zurückkommen, was die Gestalt des Irren vor dem siebzehnten Jahrhundert sein konnte. Man neigt dazu zu glauben, daß er sein persönliches Merkmal nur von einem bestimmten medizinischen Humanismus erhalten hat, als sei die Gestalt seiner Individualität stets nur etwas Pathologisches gewesen. Tatsächlich hatte der Irre, lange bevor er den medizinischen Status ^rwarb, den ihm der Positivismus gegeben hat, bereits im Mittelalter dne Art persönlicher Kompaktheit erhalten. Dies war wahrscheinlich mehr eine Individualität der Rolle als des Kranken. Der Wahnsinnige. den Tristan simuliert, und der »derve«, der im Jeux de la feuillée .rsdieint, haben bereits ziemlich besondere Werte, um Rollen zu kon' dtuieren und in den vertrautesten Landschaften Platz zu nehmen. Der Wahnsinnige bedurfte nicht der Determinationen durch die Mediin. um zu seinem Individualreidi zu gelangen. Der Ring, mit dem ~an ihn im Mittelalter umgeben hat, reichte dazu aus. Diese Indivi-
dualität ist aber weder fest noch völlig unbeweglich geblieben. Sie hat sich in der Renaissance gelöst und gewissermaßen reorganisiert. Seit dem Ende des Mittelalters ist sie durch die Sorgfalt eines bestimmten medizinischen Humanismus bezeichnet worden. Das geschah möglicherweise unter dem Einfluß, den der Orient und das arabische Denken mit ihrer determinierenden Rolle ausgeübt haben. Tatsächlich scheint man in der arabischen Welt sehr früh wirkliche Hospitäler gegründet zu haben, die den Geisteskranken vorbehalten waren, so zum Beispiel in Fez bereits im siebten Jahrhundert 1 ' 8 , vielleicht auch in Bagdad gegen Ende des zwölften Jahrhunderts 2 '', ganz bestimmt aber in Kairo im Laufe des dreizehnten Jahrhunderts. Dort wird eine A r t Seelenkur praktiziert, zu der Musik, Tanz, Schauspiel und der Vortrag wunderbarer Erzählungen gehören. Ärzte leiten die Behandlung und entscheiden über einen Abbruch, wenn sie die Behandlung als erfolgreich erkannt haben.220 Es ist auf jeden Fall kein Zufall, wenn die ersten Hospitäler für Geisteskranke in Europa genau gegen Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts in Spanien gegründet worden sind. Es ist ebenfalls bezeichnend, daß die Barmherzigen Brüder, die mit der arabischen Welt sehr vertraut sind, weil sie den Rüchkauf der gefangenen Christensklaven praktizieren, das Hospital in Valencia eröffnet haben. Die Initiative dazu ist von einem Mönch dieses Ordens im Jahre 1409 ergriffen worden. Weltliche, vor allem reiche Händler, unter ihnen zum Beispiel Lorenzo Salou, hatten es übernommen, den Grund und Boden zusammenzubringen. 22 ' 1425 wurde dann das Hospital in Saragossa gegründet, dessen kluge Ordnung Pinel fast vier Jahrhunderte später noch bewundern sollte: große Aufnahmebereitschaft für Kranke aus allen Ländern, Kranke aller Regierungen, aller Glaubensbekenntnisse, wie die Inschrift urbi er orbi es bezeugt; und jenes Leben im Garten, das die Verirrung der Geister durch die jahreszeitliche Ordnung »der Ernten, der Weinlauben, der Weinernte und der Olivenernte« rhythmisiert.222 Weiter218 Journal of Mental Science, Bd. 10, S. 256. 219 Journal of Psychological Medecine, 1850, S. 426. Die entgegengesetzte AnsicV wird von Johann Baptist Ullerspergcr, Die Geschichte der Psychologie und Psych, atrie in Spanien, "Würzburg 1871, vertreten. 220 F. Sandwith, »The Cairo Lunatic Asylum«, in: Journal of Mental Science, ßd 34. S. 473-474· 221 Der König von Spanien und, am 26. Februar 1410, der Papst gaben ihre Z. Stimmung. Vgl. H . Laehr, Gedenktage der Psychiatrie, Berlin 1893, S. 417. 222 Philippe Pinel, Traité médico-philosophique sur l'aliénation mentale οrauch des Bilsenkrautes, des Stramoniums, des Opiums, des Safrans i-mäß den Beobachtungen von Rey, von Bautain, von Barere), Vor-
handensein eines Tumors, von Kopfwürmern und Schädeldeformationen. Ebenso viele positive Ursachen gibt es, die aber niemals zum selben negativen Resultat führen, zum Bruch des Geistes mit der äußeren Welt und dem Wahren: »Die von der Demenz Befallenen sind in allen Dingen sehr nachlässig und indifferent; sie singen, lachen und amüsieren sich ohne Unterschied über das Böse wie über das Gute. Hunger, Kälte und Durst ( . . . ) werden in ihnen sehr gut spürbar, aber sie sind deshalb nie niedergeschlagen. Sie spüren auch die Eindrücke, die die Gegenstände auf die Sinne ausüben, aber sie wirken nie davon beeindruckt.«' 3 ' So überlagern sich, aber ohne reale Einheit, die fragmentarische Positivität der Natur und die allgemeine Negativität der Unvernunft. Als Form des Wahnsinns wird die Demenz nur von außen erlebt und gedacht, als Grenze, an der sich die Vernunft in einer unzugänglichen Abwesenheit aufhebt. Trotz der Beständigkeit in der Beschreibung hat der Begriff keine integrierende Kraft, das Sein der Natur und das Nicht-Sein der Vernunft finden darin nicht ihre Einheit. Dennoch verliert sich der Begriff der Demenz nicht in einer völligen Indifferenz. Er wird in der Tat durch zwei benachbarte Begriffsgruppen begrenzt, deren erste bereits sehr alt ist, deren zweite sich hingegen in der Epoche der Klassik herauslöst und zu definieren beginnt. Die Unterscheidung zwischen Demenz und Phrenesie gehört zur Tradition. Diese Unterscheidung kann man leicht auf der Ebene der Anzeichen treffen, weil die Phrenesie stets von Fieber begleitet ist, während die Demenz eine fieberfreie Krankheit ist. Das Fieber, durch das die Phrenesie charakterisiert wird, gestattet, gleichzeitig ihre nahen Ursachen und ihre Natur zu bezeichnen: sie ist Entzündung, übertriebene Wärme des Körpers, schmerzhaftes Brennen im K o p f , Heftigkeit der Bewegungen und der Sprache, eine A r t allgemeinen Kochens des ganzen Individuums. Cullen charakterisiert sie am Ende des achtzehnten Jahrhunderts noch durch diese Kohärenz in der Beschaffenheit: »Die sichersten Zeichen für Phrenesie sind ein heftiges Fieber, ein starker Kopfschmerz, Rötungen und Schwellungen des Kopfes und der Augen, langanhaltendes Wachsein. Der Kranke kann den Eindruck von Licht und den geringsten Lärm nicht vertragen. Er ist heftigen und wütenden Bewegungen ausgesetzt.«'40 Ihr ferner Ursprung 139 Dufour, a . a . O . , S. 358f. 140 Cullen, a. a. O., S. 143.
hat Anlaß zu zahlreichen Diskussionen gegeben. Alle jedoch ordnen sich dem Thema der Wärme unter, wobei die beiden Hauptfragen sind, ob sie im Gehirn selbst entstehen kann oder immer eine diesem übermittelte Eigenschaft ist, und ob sie mehr durdi einen Bewegungsexzess oder durdi einen Stillstand des Blutes hervorgerufen wird. In der Polemik zwischen La Mesnardière und Duncan bringt der erste zur Geltung, daß das Gehirn ein feuchtes und kaltes, völlig mit Flüssigkeiten und wässerigen Stoffen durchtränktes Organ ist, und es deshalb unvorstellbar wäre, daß es sidi entzündet. »Diese Entzündung ist genau so unmöglich, wie Feuer auf einem Fluß ohne irgendeinen Trick brennen zu sehen.« Der Verteidiger Duncans leugnet nidit, daß die Haupteigenschaften des Gehirns denen des Feuers entgegengesetzt seien, aber es hat einen lokalen Trieb, der seiner substantiellen Natur widerspricht: »Da es über den Eingeweiden liegt, ist es leicht den Dünsten der Küche und den Ausatmungen des ganzen Körpers ausgesetzt«; darüber hinaus ist es »von einer unendlichen Zahl Venen und Arterien, die es umgeben und die sich leicht in seiner Substanz reinigen können«, umgeben und durchdrungen. Außerdem gibt es jene Eigenschaften der Weichheit und der Kälte, die das Gehirn charakterisieren und es für fremde Einflüsse, sogar für diejenigen, die seiner ursprünglichen Natur am meisten widersprechen, leicht durchdringbar machen. Während die warmen Substanzen der Kälte widerstehen, können sich die kalten erwärmen. Das Gehirn ist, weil es weich und feucht ist, folglich kaum in der Lage, sich gegen einen Exzeß der anderen Eigenschaften zu verteidigen.«'* 1 Die Gegensätzlichkeit der Eigenschaften wird dann zum eigentlichen Grund ihrer Substitution. Aber immer öfter wird das Gehirn als Hauptsitz der Phrenesie angesehen. Man muß die These von Fem als eine bemerkenswerte Ausnahme betrachten, für den die Phrenesie der Verstopfung der überlasteten Eingeweide zuzuschreiben ist, die »vermittels der Nerven ihre Unordnung dem Gehirn mitteilen«.' 42 Für die große Mehrheit der Autoren des achtzehnten Jahrhunderts hat die Phrenesie ihren Sitz und findet ihre Ursachen im Gehirn selbst, das zu einem der Zentren organischer Wärme geworden ist: das Wörterbuch von James legt ihren Ursprung genau in »die Membranen des Gehirns« 1 «; 141 Anonym, Apologie pour Monsieur Duncan, S. 1 1 3 - 1 1 5 . 142 Fem, De la nature et du siège de la phrénésie et de la paraphrénêsie (in Göttingen verteidigte These, Vorsitz Schröder), zit. nach Gazette salutaire vom 27. März 17SÎ, Nr. 13. 143 James, Dictionnaire universel de médecine (frz. Übersetzung), Bd. y, S. 547.
Cullen geht so weit, anzunehmen, daß die Gehirnsubstanz selbst sich entzünden kann; nach ihm ist die Phrenesie »eine Entzündung der eingeschlossenen Teile und kann entweder die Membranen des Gehirns oder die Hirnsubstanz selbst angreifen«.' 44 Diese außerordentliche Wärme wird im Rahmen einer Pathologie der Bewegung leicht verstanden, aber es gibt eine Wärme physischen und eine Wärme chemisdien Typs. Die erste ist Bewegungsexzessen zuzuschreiben, die zu zahlreidi, zu häufig und zu schnell werden und dadurch eine Erhitzung der Teile hervorrufen, die unablässig gegeneinander gerieben werden: »Die entfernten Ursachen der Phrenesie liegen in all dem, was die Membranen oder die Substanz des Hirns direkt erregt, und vor allem in dem, was den Kreislauf des Blutes in ihren Gefäßen besdileunigt, wie zum Beispiel, wenn man den unbedeckten Kopf der brennenden Sonne aussetzt, in den Leidenschaften der Seele und in bestimmten Giften.«' 4 ' Die Wärme diemischen Typs wird hingegen durdi die Bewegungslosigkeit hervorgerufen. Die Verstopfung mit sidi aufhäufenden Substanzen läßt diese zunächst wachsen, dann fermentieren; so gehen sie in eine Art von Wallungen über, die eine große Hitze freiwerden lassen: »Die Phrenesie ist also eine heftige, fiebrige Entzündung, die durdi eine zu große Blutanhäufung und durch die Unterbrechung des Blutkreislaufes in den kleinen Arterien, die in den Hirnmembranen verteilt sind, hervorgerufen wird.«' 4 ' Während der Begriff der Demenz abstrakt und negativ bleibt, organisiert sich hingegen der der Phrenesie um qualitativ präzise Themen, wodurch er ihre Ursprünge, ihre Ursachen, ihren Sitz, ihre Anzeichen und Auswirkungen in die imaginäre Kohäsion, in die quasi spürbare Logik der körperlichen Wärme integriert. Eine Dynamik der Entzündung verfügt über sie: ein unvernünftiges Feuer bewohnt sie. ein Brand in den Fibern oder ein Wallen in den Gefäßen, Flamme oder Kochen, das spielt keine Rolle. Die Diskussionen konzentrieren sidi immer mehr um dasselbe Thema, das integrative Kraft hat: die Unvernunft als heftigste Flamme des Körpers und der Seele. Die zweite Gruppe von Begriffen, die sich als mit der Demenz verwandt erweisen, betrifft die »Stupidität«, die »Imbezillität«, die »Idiotie« und die »Einfältigkeit«. In der Praxis werden Demenz und 144 Gullen, Λ. a. O., S. 142. 145 C u l l e n , a . a . O . . S . 145. 146 James, .1. a. O.. Bd. j . S. 547.
Imbezillität als Synonyme behandelt.1''7 Unter dem Namen Morosis versteht Willis ebenso die hinzugetretene Demenz wie die Stupidität, die man bei Kindern von den ersten Lebensmonaten an beobachten kann. In allen Fällen handelt es sich um einen Befall, der zugleich die Erinnerung, die Vorstellungskraft und die Urteilskraft umgreift.'*8 Dennoch wird allmählich die Trennung nach Altersstufen vollzogen, und im achtzehnten Jahrhundert ist diese dann gesichert: »Die Demenz ist eine Art Unfähigkeit, richtig zu urteilen und zu überlegen; sie hat nach den verschiedenen Altersstufen, in denen sie sich zeigt, verschiedene Namen erhalten. In der Kindheit nennt man sie gewöhnlich Dummheit und Einfältigkeit; Imbezillität heißt sie, wenn sie sich in das Vernunftsalter erstreckt oder in ihm auftritt; wenn sie im Alter auftritt, kennt man sie unter dem Namen Faselei oder Infantilität.«'*> Diese Unterscheidung hat nur chronologischen Wert, weil weder die Symptome noch die Natur der Krankheit sich entsprechend dem Alter ändern, in dem sie aufzutreten beginnt. Höchstens »diejenigen, die dement sind, zeigen von Zeit zu Zeit einige Kräfte ihres alten Wissens, was die Stupiden nicht tun können«. 1 ' 0 Allmählich vertieft sich der Unterschied zwischen Demenz und Stupidität: es ist keine zeitliche Unterscheidung mehr, sondern ein Gegensatz der Aktionsart. Die Stupidität wird auf dem Gebiet des Gefühls wirksam: der Imbezile ist für Licht und Lärm unempfindlich, der Demente ihnen gegenüber indifferent. Der erste nimmt nicht wahr, der zweite vernachlässigt, was sich ihm anbietet. Dem einen wird die Realität der äußeren Welt verweigert, dem anderen ist ihre Wahrheit unbedeutend. Diese Unterscheidung ungefähr nimmt Sauvages in seiner Nosologie wieder auf, für den die Demenz »sich von der Stupidität darin unterscheidet, daß die von Demenz befallenen Personen die Gegenstände genau spüren, was den Stupiden verloren geht, aber die Dementen achten nicht darauf, geben sich deshalb keine Mühe, betrachten die Gegenstände in völliger Indifferenz, verachten die Folgen und lassen sich daraus keine Schwierigkeiten entstehen.« 1 ' 1 Weli j - Vgl. beispielsweise; »Ich habe Mgr. le duc d'Orléans darüber Bericht erstattet, ' i a< Sie mir freundlicherweise über den Zustand von Imbezillität und Demenz geigt haben, in dem Sie die Dardelle gefunden haben.« Archives de la Bastille, äibliothique de l'Arsenal, Ms. 10808, f ° 137. US W i l l i s . a . a . O . , B d . 2 . S . 26$. 14» Durour, a . a . O . , S. 357. \ . a . O . . S . 359. : ' · Sauvages, a. a. O - Bd. 7· S. 334 f.
dien Unterschied muß man aber zwischen der Stupidität und den angeborenen Sinnesschwächen machen? Läuft man nicht Gefahr, wenn man die Demenz als eine Störung des Urteilsvermögens und die Stupidität als eine Fehlerhaftigkeit in der Wahrnehmung behandelt, einen Blinden und einen Taubstummen mit einem Imbezilen zu verwechseln? 1 ' 2 Ein Artikel in der Gazette de médecine nimmt das Problem 1762 angelegentlich einer Beobachtung bei Tieren auf. Es handelt sich um einen jungen Hund: »Jeder wird sagen, daß er blind, taub, stumm und ohne Geruchssinn ist (sei es von Geburt an, sei es durch irgendeinen Unfall, der ihn kurz nach seiner Geburt getroffen hat), so daß er kaum mehr als das vegetative Leben hat und ich ihn als ungefähr zwischen Pflanze und Tier gestellt einordnen würde.« Es kann sich bei einem Wesen, das nicht dazu bestimmt ist, in vollem Sinne die Vernunft zu besitzen, nicht um die Frage der Demenz handeln; aber handelt es sich wirklich um eine Sinnesstörung? Die Antwort ist nicht leicht, weil »er ziemlich schöne Augen hat, die Lichteindrücke wahrzunehmen scheinen. Er stößt sich indessen an allen Möbeln und tut sich oft weh. Er hört Geräusche und selbst helle Geräusche, so wie der Ton einer Pfeife ihn verwirrt und erschreckt. Man hat ihm aber nicht seinen Namen beibringen können.« Also weder die Sehkraft noch das Gehör sind betroffen, sondern jenes Organ oder jene Fähigkeit, die die Empfindung in Wahrnehmung umbildet, indem sie aus einer Farbe einen Gegenstand, aus einem Geräusch einen Namen macht. »Dieser allgemeine Defekt all seiner Sinne scheint nicht aus irgendeinem ihrer äußeren Organe zu kommen, sondern lediglich aus dem inneren Organ, das die modernen Naturforscher sensorium commune nennen, und das die alten die sensitive Seele nennen, die für Empfang und Gegenüberstellung der Bilder, die die Sinne übermitteln, geschaffen ist, so daß jenes Tier, ohne zu sehen, sieht, ohne zu hören, hört, denn es hat nie eine Wahrnehmung ausbilden können.« 1 " Was in der Seele oder in der Geistestätigkeit der Empfindung am nächsten ist, wird durch die
152 In der Praxis wird man lange die Imbezillität als eine Mischung aus Wahnsinn und Sinnesschwäche betrachten. Ein Befehl vom 11. April 1779 schreibt der Oberin der Salpêtrière vor, Marie Flehet aufgrund von Berichten aufzunehmen, die vor Ärzten und Chirurgen unterzeichnet sind, »die feststellen, daß die genannte Fiche dement und taubstumm geboren worden ist«. Bibliothèque Nationale, Collectior Joly de Fleury, Ms. 1235, f ° 89. IJ3 Anonymer Artikel in der Gazette de médecine, Bd. 3, N r . 12, Mittwoch, ceFebruar 1762, S. 89-92.
Wirkung der Imbezillität gleichsam paralysiert, während in der Demenz das Funktionieren der Vernunft gestört wird, und zwar in den von der Empfindung am ehesten freien und losgelösten Bereichen. Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts werden sich Imbezillität und Demenz nicht mehr so sehr durch die Frühzeitigkeit ihrer Gegensätzlichkeit, auch nicht mehr durch den Befall der Eigenschaft unterscheiden, sondern durch Qualitäten, die ihnen allein gehören und insgeheim die Gesamtheit ihres Auftretens bestimmen werden. Für Pinel ist der Unterschied zwischen Imbezillität und Demenz insgesamt der der Unbeweglichkeit und der Bewegung. Beim Idioten gibt es eine Lähmung und Schläfrigkeit »aller Funktionen des Verstandes und der moralischen Affekte«; sein Geist bleibt in einer A r t Erstarrung verhaftet. Bei der Demenz dagegen denken die wesentlichen Funktionen seines Geistes, aber sie denken leer und folglich in einer äußersten Beweglichkeit. Die Demenz ist gewissermaßen eine reine Bewegung des Geistes, ist ohne Konsistenz oder Nachdruck, eine ständige Flucht, die nicht einmal die Zeit in der Erinnerung überwachen kann: »Schnelle Abfolge oder vielmehr alternative, nicht unterbrochene A b folge von Ideen und isolierten Handlungen, von leichten oder ungeordneten Gefühlsregungen mit Vergessen jedes vorausgehenden Zustands.«'M In diesen Bildern verfestigen sich die Begriffe von Stupidität und Imbezillität; der der Demenz ebenfalls, der allmählich aus seiner Negativität herauskommt und in einer gewissen Intuition der Zeit und der Bewegung erfaßt zu werden beginnt. Wenn man aber diese beieinander liegenden Gruppen der Phrenesie und der Imbezillität, die sich um qualitative Themen ordnen, beiseite läßt, kann man sagen, daß der Begriff der Demenz an der Oberfläche der Erfahrung bleibt, und damit ganz nahe der allgemeinen Idee der Unvernunft und weit entfernt vom wirklichen Zentrum, in dem die konkreten Gestalten des Wahnsinns entstehen. Die Demenz ist der einfachste der medizinischen Begriffe der Aliénation und damit am wenigsten den Mythen, den moralischen Wertungen, den Träumen der Vorstellungskraft ausgesetzt. Trotz allem ist er auf geheimste Weise inkohärent, nämlich in dem Maße, in dem er der Gefahr all dieser Zugriffe entgeht; Natur und Unvernunft bleiben in ihm an der Oberfläche ihrer abstrakten Allgemeinheit, kommen nicht zu ihrer Zusammensetzung in imaginären Tiefen wie jenen, in denen die Begriffe der Manie und der Melancholie ihren Beginn nehmen. v-i Pinel, Nosographie philosophique
(Ausgabe von 1818), Bd. 3, S. 130.
II. Manie und Melancholie Der Begriff der Melancholie war im sechzehnten Jahrhundert zwischen einer bestimmten Definition durch die Symptome und einem Erklärungsprinzip, das im Begriff, der sie bezeichnet, selbst verborgen war, eingeschlossen. Man findet auf der Seite der Symptome alle delirierenden Ideen, die sich ein Individuum über sich selbst bilden kann: »Einige unter ihnen glauben, Tiere zu sein, deren Stimme und Gesten sie nachahmen. Einige denken, sie seien Glasgefäße, und aus diesem Grunde weichen sie vor den Passanten in der Furcht zurück, von diesen zerschlagen zu werden. Andere fürchten den Tod, den sie sich jedoch meist selber geben. Und wieder andere stellen sich vor, sie seien irgendeines Verbrechens schuldig, so daß sie zittern vor Angst, sobald sie einen auf sich zukommen sehen, weil sie annehmen, daß man ihnen die Hand auf die Schulter legen, sie gefangensetzen und nach einer Verurteilung hinrichten werde.«'» Diese delirierenden Themen bleiben isoliert und erschüttern nicht die Gesamtheit der Vernunft. Sydenham wird noch beobachten können, daß die Melancholiker »Leute sind, die, davon abgesehen, sehr brav und vernünftig sind, und die einen außerordentlich durchdringenden und scharfsinnigen Verstand haben. Daher hat Aristoteles auch mit Recht die Beobachtung gemacht, daß die Melancholiker mehr Geist haben als die anderen. « , j i Nun wird diese so klare, so kohärente, symptomatische Einheit durch ein Wort bezeichnet, das ein ganzes Kausalsystem impliziert, das der Melancholie: »Bitte betrachten sie die Gedanken der Melancholiker, ihre Worte, ihre Visionen und Handlungen von nahe, dann werden sie erkennen, wie alle ihre Sinne durch einen in ihrem Gehirn verbreiteten melancholischen Saft verdorben sind.« 1 ' 7 Ein partielles Delirium und die Aktion der schwarzen Galle stehen im Begriff der Melancholie beieinander, zunächst ohne andere Beziehungen als eine nicht einheitliche Konfrontation zwischen einer Gesamtheit von Zeichen und einer bedeutungsvollen Benennung. Im achtzehnten Jahrhundert wird nun die Einheit gefunden werden, oder vielmehr ein Austausch wird vollzogen - die Eigenschaft dieses kalten und schwarzen Saftes ist nämlich hauptsächlich zur Färbung des Deliriums, zu ι j 5 Johann Weyer, Cinq livres de l'imposture et tromperie des diables (frz. Übersetzung von J. Grévin), Paris 1567, S. 222. 156 Sydenham, Dissertation sur l'affection hystérique, in: ders., a. a. O., S. 399. 157 Weyer, a. a. O., S. 222.
seinem eigenen Wert gegenüber der Manie, der Demenz, der Phrenesie und zum wesentlichen Prinzip seiner Kohäsion geworden. Und während noch Boerhaave die Melancholie lediglich als »ein langes, hartnäckiges und fieberfreies Delirium, während dem der Kranke stets von ein und demselben Gedanken besessen ist« 1 ' 8 , definiert, legt Dufour einige Jahre später das Gewicht seiner Definition auf die »Furcht und die Traurigkeit«, die jetzt den Teilcharakter des Deliriums erklären müssen: »Daher kommt es, daß die Melancholiker die Einsamkeit lieben und die Gesellschaft meiden; das läßt sie auch dem Gegenstand ihres Deliriums oder ihrer beherrschenden Leidenschaft, wie immer sie aussehen mag, mehr zugetan sein, während sie für den ganzen Rest gleichgültig erscheinen.«'" Die Festlegung des Begriffes ist nicht durch eine neue Strenge bei der Beobachtung oder durch eine Entdeckung auf dem Gebiet der Ursachen geschehen, sondern durch eine qualitative Übermittlung, die von einer in der Bezeichnung implizierten Ursache zu einer bedeutungsvollen Wahrnehmung bei den Auswirkungen verläuft. Lange Zeit, bis zum Beginn des siebzehnten Jahrhunderts, blieb die Diskussion über die Melancholie in der Tradition der vier Säfte und ihrer wesentlichen Eigenschaften gefangen. Diese Eigenschaften waren fest und gehörten einer Substanz zu, die alleine als Ursache angesehen werden kann. Für Fernel ist der melancholische Saft, mit der Erde und dem Herbst verwandt, ein sucus »von dicker Konsistenz, kalt und in seinem Temperament trocken«.'60 Aber in der ersten Hälfte des Jahrhunderts wird eine breite Diskussion über den Ursprung der Melancholie ausgelöst.' 6 ' Muß man notwendig ein melancholisches Temperament haben, um von der Melancholie befallen zu werden? Ist der melancholische Saft stets kalt und trocken, kommt es nicht voi, daß er warm und feucht ist? Ist es eher die Substanz, die handelt, oder die Eigenschaften, die sich mitteilen? Man kann auf folgende Weise zusammenfassen, was im Laufe dieser langen Auseinandersetzung festgelegt wurde: i. Die Kausalität der Substanzen wird immer mehr durch eine Bewegung der Eigenschaften ersetzt, die ohne die Hilfe irgendeines TräI 58 Hermannus Boerhaave, Aphorismes (frz. Obersetzung), Paris 1745, N r . 1089. 159 Dufour, a . a . O . , S. 3J7· l i o Jean Fernel, Universel medicina, Frankfurt 1607, S. I i i . 161 Der Grund für diese Auseinandersetzung war, ob man die Besessenen den Melancholikern gleichsetzen könne. In Frankreich waren die Protagonisten dafür Duncan und La Mesnardière.
gers sich unmittelbar vom Körper zur Seele, vom Saft zu den Ideen, von den Organen zum Benehmen übermitteln. So ist für den Verteidiger Duncans der beste Beweis dafür, daß der melancholische sucus die Melancholie hervorruft, das Auffinden der Eigenschaften der Krankheit im Saft: »Der melancholische Saft hat viel eher die notwendigen Bedingungen, um die Melancholie hervorzurufen, als eure phantastischen Zornesarten, weil er durch seine Kälte die Quantität der Lebensgeister herabsetzt, sie durch seine Trockenheit befähigt, lange Zeit die A r t einer starken und hartnäckigen Vorstellungskraft zu bewahren, und durch seine schwarze Farbe sie ihrer Helligkeit und natürlichen Subtilität beraubt.«' 62 2. Außer dieser Mechanik der Eigenschaften gibt es eine Dynamik, die in jeder Eigenschaft die darin eingeschlossene Kraft analysiert. So können die Kälte und die Trockenheit mit dem Temperament in Konflikt geraten, und so werden aus dieser Opposition Zeichen der Melancholie entstehen, die um so heftiger sind, als es einen Kampf gibt: die Kraft, die den Sieg davonträgt und mit sich all die reißt, die ihr widerstehen. So verfallen ihr die Frauen, denen ihre Natur kaum den Weg zur Melancholie weist, mit um so größerer Schwere: »Sie werden durch die Melancholie grausamer behandelt und heftiger erregt, weil die Melancholie ihrem Temperament in stärkerem Maße entgegengesetzt ist und sie sie von ihrer natürlichen Konstitution mehr entfernt.« 163 3. Manchmal aber kommt der Konflikt im Innern einer Eigenschaft zum Ausbruch. Eine Eigenschaft kann sich selbst bei ihrer Entwicklung verändern und zum Gegenteil dessen werden, was sie war. Das geschieht, wenn »die Eingeweide sich erhitzen, alles im Körper brät ( . . . ) , alle Säfte verbrennen«. Dann kann diese ganze Glut in kalte Melancholie zurückfallen und dadurch »fast das gleiche, was ein Zufluß an Wachs in einem umgestürzten Leuchter hervorruft«, bewirken. »Dieses Erkalten des Körpers ist die gewöhnliche Wirkung, die auf unmäßige Hitze folgt, wenn diese ihre Kraft verloren hat.··"1Es gibt eine Art Dialektik der Eigenschaft, die frei von jenem substantiellen Zwang, von jeder primitiven Zuweisung durch Umkehrungen und Widersprüche läuft. 161 Apologie pour Monsieur Duncan, S. 63. 163 A . a . O . , S. 93 f. 164 Hippolyte Jules de la Mesnardière, Traité de la mélancolie, sçavoir si elle est la cause des effets que l'on remarque dans les possédées de Loudun, La Flèche i6v, S. 10.
4· Schließlich können die Eigenschaften durch die Zufälle, durch die Umstände, die Lebensbedingungen verändert werden, so daß ein Wesen, das trocken und kalt ist, warm und feucht werden kann, wenn seine Lebensart es in diese Richtung neigt. So geschieht es den Frauen, denn sie »leben in Muße, ihr Körper transpiriert weniger als der der Männer, die Wärme, die Lebensgeister und die Säfte bleiben im Inneren«.16' Die Eigenschaften werden, so von der substantiellen Unterstützung, in der sie gefangen geblieben waren, befreit, eine organisatorische und in den Begriff der Melancholie integrierende Rolle spielen können. Einerseits werden sie aus den Symptomen und Manifestationen ein bestimmtes Profil der Traurigkeit, der Schwärze, der Langsamkeit und der Unbeweglichkeit heraustrennen. Andererseits werden sie eine kausale Hilfe umreißen, die nidit mehr die Physiologie eines Saftes, sondern die Pathologie einer Idee, einer Furcht, eines Schreckens sein wird. Die kranke Einheit wird nicht von den beobachteten Zeihen, den angenommenen Ursachen her definiert, sondern sie wird aus halber Entfernung und oberhalb der einen und der anderen wie eine bestimmte qualitative Kohärenz wahrgenommen, die ihre Gesetze für Übermittlung, Entwicklung und Transformation hat. Das ist die geheime Logik dieser Eigenschaft, die das Werden des Melancholiebegriffs, nicht aber die medizinische Theorie bestimmt. Das steht seit den Texten von Willis in aller Evidenz vor Augen. Beim ersten Blick wird die Kohärenz der Analysen in seinen Texten auf der Ebene der spekulativen Überlegung gesichert. Die Erklärung wird bei Willis völlig von den Lebensgeistern und ihren Bewegungscigenheiten hergenommen. Die Melancholie ist »ein Wahnsinn ohne Fieber oder furor, der von Furcht und Traurigkeit begleitet ist«. In dem Maße, in dem sie Delirium ist - das heißt wesentlicher Bruch mit der Wahrheit - , liegt ihr Ursprung in einer ungeordneten Bewegung der Lebensgeister und in einem defekten Zustand des Gehirns; aber kann man jene Furcht, jene Unruhe, die die Melancholiker »traung und furchtsam« machen, allein durch die Bewegungen erklären? tiann es eine Mechanik der Furcht und einen Kreislauf der Lebensgeister geben, der der Traurigkeit eigen ist? Das ist für Descartes eine Evidenz; für Willis ist sie es bereits nicht mehr. Die Melancholie •ann nicht wie eine Paralyse, eine Apoplexie, ein Schwindelgefühl 1er eine Konvulsion behandelt werden. Im Grunde kann man sie Apologie pour Monsieur Duncan, S. 8 j f .
nidit einmal als eine einfache Demenz analysieren, obwohl das melancholische Delirium eine gleiche Unordnung in der Bewegung der Lebensgeister vermuten läßt. Die Störungen in der Mechanik erklären zwar das Delirium — diesen jedem Wahnsinn, jeder Demenz, jeder Melancholie gemeinsamen Irrtum —, aber nidit die dem Delirium zugehörige Eigenschaft, die Farbe der Traurigkeit und der Furcht, die seine eigenartige Landschaft wiedergeben. Man muß in das Geheimnis der Diathesen eindringen.' 66 Inzwischen sind es die essentiellen, in der Körnung der zarten Materie verborgenen Eigenschaften, die über die paradoxen Bewegungen der Lebensgeister Rechnung ablegen. In der Melancholie werden die Lebensgeister durch eine Bewegung, aber durch eine schwache Bewegung fortgetragen, ohne Kraft oder Gewalt: in einer Art unfähiger Stoßerei, die nicht die vorgebahnten Wege oder die offenen Spuren (aperta opercula) nimmt, sondern die Hirnsubstanz durchdringt, indem sie unaufhörlich neue Poren schafft; trotzdem weichen die Lebensgeister nicht sehr weit auf den Wegen, die sie schaffen, ab Sehr schnell verringert sich ihre Bewegung, erschöpft sich ihre Kraft, und die Bewegung hört auf: »non longe perveniunt«.'6? So kann eine ähnliche Störung, die allen Delirien gemeinsam ist, an der Oberfläche weder jene heftigen Bewegungen noch jene Schreie, die man bei der Manie und der Phrenesie beobachtet, hervorrufen. Die Melancholie wird niemals zum furor: Es ist ein Wahnsinn an den Grenzen seiner Unfähigkeit. Dieses Paradox hängt mit den geheimen Veränderungen der Lebensgeister zusammen. Gewöhnlich haben sie eine gewissermaßen unmittelbare Schnelligkeit und die absolute Transparenz der Lichtstrahlen, aber in der Melancholie sind sie mit Nacht beladen und werden »dunkel, undurchsichtig, finster«-. Die Bilder der Dinge, die sie zum Gehirn und zum Geist tragen, sind »mit Schatten und Finsternis« verschleiert.167 Sie sind also schwerer geworden und einem dunklen chemischen Dunst näher als dem reinen Licht. Dieser chemische Dunst soll mehr saurer als schwefliger oder alkoholischer Natur sein, denn in den Säuredämpfen sind die Partikel beweglich und sogar zur Ruhe unfähig, ihre Aktivität jedoch ist schwach und ohne Tragweite. Wenn man sie destilliert, bleibt nur ein geschmackloses Wasser im Destillierkolben. Die" sauren Dünste haben doch die gleichen Eigenschaften wie die Melancholie, während die i«« Willis, a. a. O., Bd. 2, S. 238 f. 167 A . a. O., Bd. 2, S. 242.
alkoholischen Dämpfe, die stets zum Brennen bereit sind, mehr an die Phrenesie denken lassen, die schwefligen Dämpfe mehr an die Manie, weil sie von einer heftigen und unablässigen Bewegung ergriffen sind. Wenn man also »den formellen Grund und die Ursachen« der Melancholie suchen müßte, wäre es in den Dämpfen, die vom Blut in das Gehirn steigen und zu einem sauren und korrosiven Dampf degeneriert wären.' 68 Die Analyse von Willis wird augenscheinlich von einer Melancholie der Lebensgeister und einer ganzen Chemie der Säfte geleitet, aber in Wirklichkeit ist der Leitfaden vor allem durch die unmittelbaren Eigenschaften der melancholischen Krankheit gegeben worden: eine kraftlose Unordnung und dann jener beschattete Geist, mit jener sauren Schärfe, die das Herz und das Denken zerfrißt. Die Chemie der Säuren ist nicht die Erklärung der Symptome, sondern es ist eine qualitative Wahl: eine ganze Phänomenologie der melancholischen Erfahrung. Ungefähr siebzig Jahre später haben die Lebensgeister ihren wissenschaftlichen Zauber verloren. In den flüssigen und festen Elementen des Körpers sucht man das Geheimnis der Krankheit. Der Dictionnaire universel de médecine, den James in England veröffentlicht hat, schlägt im Artikel >Manie< eine vergleichende Ätiologie dieser Krankheit und der Melancholie vor: »Es ist evident, daß das Gehirn der Sitz all der Krankheiten dieser A r t ist ( . . . ) . Darin hat der Schöpfer, wenn auch auf eine unwahrnehmbare Weise, den Aufenthalt der Seele, des Geistes, des Genies, der Vorstellungskraft, die Erinnerung und alle Empfindungen ( . . . ) festgelegt. All diese edlen Funktionen werden verändert, verschlechtert, vermindert und völlig zerstört werden. wenn das Blut und die Säfte, die in ihrer Eigenschaft und in ihrer Quantität einen Mangel haben und nicht mehr auf einförmige und gemäßigte Weise zum Hirn gebracht werden, darin mit stürmischer Heftigkeit zirkulieren, oder sich langsam, schwierig oder zaudernd verhalten.* 16 ' Dieser schlaffe Lauf, diese verstopften Gefäße, dieses schwere und beladene Blut kann das Herz nur mit Mühe im Organismus verteilen, und es bietet eine Schwierigkeit beim Eindringen in die so feinen, kleinen Äderchen des Gehirns, in denen die Zirkulation sehr schnell erfolgen muß, damit die Denkbewegung aufrechterhalten wird. Diese ganze ärgerliche Behinderung erklärt die Melancholie. Schwere und Verstopfung sind wieder die primitiven • Λ. JL O., Bd. 2, S. 240. ^1 !> james, a. a. O., Bd. 6, S. 112J, Artikel Manie.
Eigenschaften, die die Analyse leiten. Die Erklärung wirkt sich als eine Verschiebung der in der Bewegung, dem Benehmen, den Worten des Kranken wahrgenommenen Eigenschaften zum Organismus hin aus. Man geht vom qualitativen Begreifen zur vermuteten Erklärung über, aber dieses Begreifen überwiegt ständig und läßt die theoretische Kohärenz zurücktreten. Bei Lorry stehen die beiden großen medizinischen Erklärungsformen, die festen Stoffe und die flüssigen Stoffe, beieinander, beschneiden sich schließlich wieder und gestatten, zwischen zwei Arten von Melancholie zu unterscheiden. Die eine findet ihren Ursprung in den festen Stoffen und ist die nervöse Melancholie. Eine besonders starke Empfindung erschüttert die Fibern, die sie empfangen, wodurch die Spannung in den anderen Fibern steigt, die zugleich fester und vibrationsintensiver werden. Aber die Empfindung läßt, wenn sie noch stärker wird, die Spannung in den anderen Fibern derartig ansteigen, daß sie vibrationsunfähig werden. Sie befinden sich dann in einem so steifen Zustand, daß der Blutkreislauf dadurch angehalten und die Lebensgeister unbeweglich werden. Die Melancholie ist eingetreten. In der andern Krankheitsform, der »flüssigen Form«, sind die Säfte mit schwarzer Galle durchsetzt, wodurch sie dicker werden. Das mit diesen Säften beladene Blut wird schwerer und stagniert in den Hirnhäutchen, so daß die wichtigsten Organe des Nervensystems zusammengepreßt werden. Man findet auch dort die Steifheit der Fibern, aber sie ist in diesem Teil nur eine Folge des Phänomens der Säfte. Lorry unterscheidet zwei Arten der Melancholie, tatsächlich ist es aber die gleiche Gesamtheit der Eigenschaften, die der Melancholie ihre wirkliche Einheit sichert, die von ihm nacheinander in zwei Erklärungssysteme gebracht wird. Allein das theoretische Gebäude hat sich halbiert. Der qualitative Erfahrungshintergrund bleibt der gleiche. Die symbolische Einheit wird gebildet durch die Langsamkeit der flüssigen Stoffe, durch die Verdunkelung der Lebensgeister und den Dämmerschatten, den sie über die Bilder der Dinge werfen, durch die Viskosität eines schwer in den Gefäßen dahinfließenden Blutes, durch die Verdickung der schwarz, tödlich und beißend gewordenen »vapeurs«, durch Eingeweidefunktionen, die verlangsamt und klebrig wie von Leim verzögert worden sind. Diese Einheit ist mehr spürbarer als begrifflicher oder theoretischer Art und gibt der Melancholie die ihr eigenen Schriftzeichen. Mehr als eine genaue Beobachtung organisiert diese Arbeit die Gesamtheit der Zeichen und die Erscheinungsart der Melancholie neu.
Das Thema des partiellen Deliriums verschwindet immer mehr als Hauptsymptom der Melancholiker und macht qualitativen Gegebenheit wie der Traurigkeit, der Bitterkeit, dem Geschmack, der Einsamkeit, der Unbeweglidikeit Platz. A m Ende des achtzehnten Jahrhunderts wird man Wahnsinnsarten ohne Delirium, die jedoch durch die Trägheit, durch die Verzweiflung, durch eine Art dumpfen Stupors charakterisiert werden, leicht als Melancholie klassifizieren.' 70 Und bereits im Dictionnaire von James geht es um die Frage einer apoplektischen Melancholie ohne delirierende Idee, in der die Kranken »nicht aus dem Bett aufstehen wollen; ( . . . ) wenn sie stehen, laufen sie nur, wenn sie von ihren Freunden oder ihren Bediensteten gezwungen werden. Sie meiden die Menschen nicht, scheinen aber dem, was man ihnen sagt, keine Aufmerksamkeit zu schenken; sie antworten nicht.«' 7 ' Wenn in diesem Fall die Bewegungslosigkeit und das Schweigen die Diagnose der Melancholie bestimmen, so betrifft sie die Personen, bei denen man nur Bitterkeit, Langsamkeit und den Wunsch nach Einsamkeit beobachtet. Ihre Bewegung darf keine Illusionen auslösen noch ein rasches Urteil über Manie gestatten. Es handelt sich bei diesen Kranken wohl um eine Melancholie, denn »sie meiden die Gesellschaft, lieben einsame Orte und irren umher, ohne zu . wissen, wohin sie gehen. Sie sind geblicher Farbe, haben eine trockene Zunge, wie jemand, der sehr erregt ist, trockene, hohle, nie von Tränen benetzte Augen. Ihr ganzer Körper ist trocken und ausgebrannt, ihr Gesicht düster und mit Traurigkeit bedeckt.«' 72 Die Analysen der Manie und ihre Entwicklung im Laufe des klassischen Zeitalters gehorchen einem gleichen Kohärenzprinzip. Willis setzt begriffsweise Manie und Melancholie gegeneinander. Der Geist des Melancholikers ist völlig mit der Überlegung beschäftigt, so daß die Vorstellungskraft in Muße und Ruhe verharrt. Bei den Maniakalischen hingegen sind Phantasie und Vorstellungskraft durch einen ständigen Fluß stürmischer Gedanken beschäftigt. Während der Geist des Melancholikers sich auf einen einzigen Gegenstand fixiert, aber ihm allein unvernünftige Proportionen aufzwingt, verformt die Manie Begriffe und Vorstellungen. Oder sie verlieren ihre Kongruenz 170 Beispiel eines Soldaten, der melancholisch wurde, als er von den Eltern eines von ihm umworbenen Mädchens abgewiesen wurde. Observation de Muzzel, in: Gazette salutaire, 17. März 1763. 171 James, a. a. O., Bd. 4, Artikel »Mélancolie«, S. 1 1 1 5 . V i A . a . O . , S. 1214.
oder ihr repräsentativer Wert wird verfälscht. Auf jeden Fall wird die Gesamtheit des Denkens in ihrer wesentlichen Beziehung zur Wahrheit getroffen. Die Melancholie schließlich wird immer von Traurigkeit und Angst begleitet. Beim Maniakalisdien hingegen erfüllen diese Funktionen Wagemut und furor. O b es sidi um Manie oder Melancholie handelt, die Ursache des Übels liegt immer in der Bewegung der Lebensgeister. Diese Bewegung aber ist bei der Manie eine besondere: sie ist anhaltend, heftig, stets in der Lage, neue Poren in die Hirnsubstanz zu bohren, und sie bildet gewissermaßen die materielle Stütze der inkohärenten Gedanken, der explosiven Gesten, der ununterbrochenen Reden, die die Manie verraten. Diese ganze schädliche Beweglichkeit ist doch auch die des Höllenwassers, das aus schwefelhaltiger Flüssigkeit besteht, jenen aquae stygiae, ex nitro, vitriola, antimonio, arsenico, et similibus exstillatae. Die Partikel dieses Wassers befinden sich in ständiger Bewegung, sie sind fähig, in jeder Materie neue Poren und neue Kanäle zu schaffen, und besitzen genug Kraft, um sich in die Ferne auszubreiten, genau wie die manischen Geister, die fähig sind, alle Teile des Körpers in Bewegung geraten zu lassen. Das Höllenwasser nimmt in dem Geheimnis seiner Bewegungen alle Bilder auf, in denen die Manie ihre konkrete Form annimmt. Es konstituiert auf unauflösbare Weise gleichzeitig den chemischen Mythos und gewissermaßen die dynamische Wahrheit der Manie. Im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts wird das Bild mit all seinen mechanischen und metaphysischen Implikationen der Lebensgeister in den Nervenkanälen oft durch das im strengeren Sinne physische Bild (das jedoch noch mehr symbolischen Wert hat) einer Spannung ersetzt, der die Nerven, Gefäße und das ganze System der organischen Fibern unterworfen sein sollten. Die Manie wird dann als eine bis zum Paroxysmus getriebene Spannung der Fibern erklärt, der Maniakalische als eine A r t Instrument, dessen Saiten durch die Wirkung einer übertriebenen Zusammenziehung bei der entferntesten und zartesten Erregung zu vibrieren beginnen. Das manische Delirium besteht in einer ununterbrochenen Vibration der Empfindsamkeit. Durch dieses Bild hindurch präzisieren sich die Unterschiede zur Melancholie und organisieren sich in einer strengen Antithese: der Melancholiker ist nicht mehr in der Lage, eine Resonanz zur äußeren Welt zu bilden, weil seine Fibern entspannt oder durch eine zu große Spannung (man sieht, wie die Mechanik der Spannungen ebenso die melancholische Unbeweglichkeit wie die manische Bewegung erklärt) unbeweglich geworden sind: nur noch einige Fibern klingen im Melancholiker wider.
nämlich die genau dem Punkt seines Deliriums entsprechenden. Der Maniakalisdie hingegen vibriert bei jedem Reiz, sein Delirium ist universell. Die Erregungen verlieren sich bei ihm nicht in der Dicke seiner Bewegungslosigkeit, wie das bei dem Melancholiker der Fall ist. Wenn sein Organismus sie wiedergibt, sind sie vervielfacht, als ob die Maniakalischen in der Spannung ihrer Fibern eine zusätzliche Kraft gesammelt hätten. Das ist es im übrigen, was sie ihrerseits unempfindlich werden läßt, nicht im schläfrigen Sinn der Melancholiker, sondern sie sind von einer Unempfindlichkcit, die voller innerer Vibrationen und Spannungen ist. Wahrscheinlich deshalb »fürchten sie weder die Kälte, noch die Hitze, zerreißen sie ihre Kleider, schlafen sie ganz nackt im strengsten Winter, ohne kalt zu werden«. Deshalb setzen sie auch an die Stelle der wirklichen Welt, obwohl diese sie unaufhörlich beunruhigt, die irreale und schimärische Welt ihres Deliriums: »Die wesentlichen Symptome der Manie rühren daher, daß die Gegenstände sich den Kranken nicht so darstellen, wie sie tatsächlich sind.«'" Das Delirium der manisch Kranken wird nicht durch einen besonderen Fehler der Urteilskraft determiniert; es beruht auf einem Fehler der Übertragung der Sinneseindrücke zum Gehirn, einer Informationsstörung. In der Psychologie des Wahnsinns überträgt sich die alte Vorstellung von der Wahrheit als »Übereinstimmung des Denkens mit den Dingen« in der Metapher einer Resonanz, einer Art musikalischer Treue der Nervenfiber zu den Sinneseindrücken, die sie vibrieren lassen. Dieses Thema der maniakalischen Spannung entwickelt sich außerhalb tiner Medizin der festen Körper, in noch qualitativeren Anschauungen. Die Steifheit der Fibern bei manisch Kranken gehört stets zu einer trockenen Landschaft. Die Manie wird regelmäßig von einer Erschöpfung der Säfte und einer allgemeinen Trockenheit im ganzen Organismus begleitet. Das Wesen der Manie ist wüstenartig und sandig. Bonet versichert in seinem Sepulchretum, daß die Gehirne der manisch Kranken so, wie er sie hat beobachten können, ihm stets trocken vorgekommen sind und von großer Härte und Zerreibbarkeit waren.'" Später wird Albrecht von Haller ebenfalls finden, daß das Gehirn des Maniakalischen hart, trocken und zerbrechlich ist.'" Menuret erinnert an eine Beobachtung von Forestier, der deutlich zeigt, daß ein zu -» Encyclopédie, Artikel »Manie«. "4 Bonet. Sepulchretum, S. 205. -t Haller, Elementa physiologiae, nnc 1763), S. 571-574.
lib. X V I I , Sectio prima, § 17; Bd. j (Lau-
großer Flüssigkeitsverlust einen manischen Zustand hervorrufen kann, weil er die Gefäße und die Fibern austrocknet. Es handelt sidi um einen jungen Mann, der, »nachdem er im Sommer geheiratet hatte, durch übertriebenen Geschlechtsverkehr mit seiner Frau maniakalisch wurde«. Dufour hat festgestellt, gemessen und aufgezählt, was andere annehmen oder sidi vorstellen, was sie in einer Quasi-Perzeption sehen. Er hat im Laufe einer Autopsie einen Teil der Marksubstanz des Gehirns eines im manischen Zustand Verstorbenen entnommen und aus diesem einen »Kubus von sechs Linien in jeder Richtung« herausgeschnitten. Er hat dabei festgestellt, daß dessen Gewicht geringer war als das eines Kubus gleichen Inhalts bei einem gewöhnlichen Gehirn: »Diese Ungleichheit im Gewicht, die zunächst von geringer Bedeutung erscheint, ist große Aufmerksamkeit wert, wenn man den spezifischen Unterschied zwischen der Gesamtmasse des Gehirns eines Irren und des eines gesunden Menschen betrachtet; dieser Unterschied beträgt sieben Quant bei erwachsenen Menschen, bei denen die gesamte Masse des Gehirns gewöhnlich drei Pfund wiegt.«' 76 Das Austrodcnen und die Leichtigkeit des Gehirns von Maniakalischen lassen sich also auf der Waage feststellen. Diese innere Trockenheit und Hitze werden obendrein an der geringeren Mühe ablesbar, mit der die Maniakalischen große Kälte ertragen. Es steht fest, daß man manisch Kranke nackt im Schnee hat spazieren sehen'77, daß man die Räume in den Anstalten, die sie bewohnen, nicht zu heizen braucht'78, daß man sie sogar durch Kälte heilen kann. Seit van Helmont praktiziert man gern das Untertauchen der manisch Kranken in Eiswasser, und Menuret versichert, daß er einen Maniakalisdien gekannt hat, der nach einem Gefängnisausbruch mehrere Meilen durch heftigen Regen ohne Hut und fast ohne Kleidung zurückgelegt hat und dadurch wieder völlig gesund geworden ist.'7» Montchau hat einen manisch Kranken geheilt, in dem er ihm »aus möglichst großer Höhe Eiswasser über den Körper sdiüiten ließ«, und wundert sich nicht über ein sehr günstiges Ergebnis. Er 176 Dufour, a . a . O . , S. 370f. 177 Encyclopédie, Artikel »Manie«. 178 Diese Vorstellung findet man noch bei Daquin, a . a . O . , S. 6 7 f . und bei Pinel Sie gehörte auch zu den Internierungspraktiken. In einem Register in Saint-Lazai. heißt es über Antoine de la H a y e Monbault: »Kälte, sei sie noch so streng, beeindrucke ihn nicht.« Bibliothèque Nationale, Fonds Clairambault, 9S6, S. 117. 179 Encyclopédie, ,-S
Artikel »Manie«.
sammelt, um dieses Phänomen zu erklären, alle Äußerungen über organische Erhitzung, die seit dem siebzehnten Jahrhundert vorgekommen sind: »Man braucht nicht überrascht zu sein, daß Wasser und Eis eine so plötzliche und so vollkommene Heilung zu einer Zeit hervorgerufen haben, in der das Blut kochte, die Galle tobte und alle rebellierenden Säfte Verwirrung und Erregung in alle Körperteile bringen.« Durch den Kälteeindrude »haben sich die Gefäße mit größerer Heftigkeit zusammengezogen und sich von den sie übersättigenden Flüssigkeiten befreit. Die Erregung der festen Teile, die durch die extreme Wärme der Säfte, die sie enthielten, hervorgerufen wurde, hörte auf, und die Nerven entspannten sich. Der Lauf der Lebensgeister, die sich unregelmäßig nach allen Seiten bewegten, stellte sidi wie in natürlichem Zustand her.«'80 Die Welt der Melancholie war feucht, schwer und kalt. Die der Manie ist trocken, heiß und besteht gleichzeitig aus Heftigkeit und Zerbrechlichkeit. Eine Welt, die eine nicht spürbare, aber überall manifeste Hitze trocken, zerreibbar und stets bereit macht, sich unter der Wirkung feuchter Frische zu beruhigen. In der Entwicklung all dieser qualitativen Vereinfachungen nimmt die Manie gleichzeitig ihre Weite und ihre Einheit an. Sie ist wahrscheinlich wie am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts als »Toben ohne Fieber« betrachtet worden. Jenseits dieser beiden Charakterisierungen, die nur Signalcharakter hatten, hat sich eine perzeptive Grundform entwickelt, die der wirkliche Organisator der klinischen Tabelle gewesen ist. Als die erklärenden Mythen verwischt sind und die Säfte, Lebensgeister, festen und flüssigen Körper nicht mehr umlaufen, bleibt nur noch das Schema der kohärenten Eigenschaften, die nicht mehr genannt werden. Was jene Dynamik der Wärme und der Bewegung langsam zu einer für die Manie charakteristischen Konstellation gruppiert hat, wird jetzt als ein natürlicher Komplex, als eine unmittelbare Wahrheit der psychologischen Beobachtung gesehen. Was man als Wärme wahrgenommen, als Bewegung der Lebensgeister vorgestellt, als Spannung der Nervenfibern geträumt hatte, wird man künftig in der neutralisierten Durchsichtigkeit der psychologischen Begriffe wiedererkennen: übertriebene Lebhaftigkeit der inneren Eindrücke, Sdinelligkeit in der Assoziation von Ideen, Unaufmerksamkeit gegenüber der äußeren Welt. Die Beschreibung von de La Rive zeigt bereits diese Klarheit: -Die äußeren Gegenstände üben auf den Geist der Kranken nicht r i : Mnntdiau, Observation envoyée à la Gazette salutaire, N r . 5, 3- Februar 1763.
denselben Eindruck aus wie auf den eines gesunden Menschen. Diese Eindrücke sind schwach, und er schenkt ihnen selten Aufmerksamkeit. Sein Geist ist fast völlig durdi die Lebhaftigkeit der Ideen absorbiert, die der verwirrte Zustand seines Gehirns bewirkt. Diese Ideen haben einen Grad an Lebhaftigkeit, der den Kranken glauben läßt, daß sie wirkliche Gegenstände darstellen, so daß er dementsprechend urteilt.«' 8 ' Man darf aber nidit vergessen, daß diese psychologische Struktur der Manie, so wie sie am Ende des aditzehnten Jahrhunderts auftaudit, um sidi zu fixieren, nur die oberflächlidie Zeichnung einer sehr tiefen Organisation ist, die umschlagen wird und die sich gemäß halbperzcptiven, halbimaginären Gesetzen einer Welt der Eigenschaft entwickelt hat. Wahrsdieinlidi erinnert dieses ganze Universum der Feuchte und der Kälte, der Wärme und der Trockenheit das ärztliche Denken am Vorabend des Positivismus daran, an weldiem Himmel es entstanden ist. Aber diese Ladung Bilder ist nidit nur eine einfache Erinnerung, sie ist auch Arbeit. Um die positive Erfahrung mit der Manie oder auch der Melandiolie zu bilden, mußte man auf einem Horizont von Bildern diese Gravitation von durch ein ganzes System affektiver und sensibler Zugehörigkeiten voneinander angezogenen Eigenschaften haben. Wenn die Manie und die Melandiolie künftig das Aussehen angenommen haben, das unsere Wissenschaft ihnen zuerkennt, liegt das nidit daran, daß wir im Laufe der Jahrhunderte gelernt haben, »die Augen für ihre wirklidien Zeidien zu öffnen«. Es liegt auch nidit daran, daß wir bis zur Transparenz hin unsere Wahrnehmungen gereinigt haben. Es liegt daran, daß in der Erfahrung mit dem Wahnsinn diese Begriffe um bestimmte qualitative Grundformen herum integriert worden sind, die ihnen ihre Einheit und ihren Bedeutungszusamnienhang verliehen haben, sie letztlich wahrnehmbar gemadit haben. Man ist von einer begrifflichen Signalisierung, die sehr einfach war (fieberfreier Furor, delirierende und fixe Idee) zu einem qualitativen Feld gelangt, das offensiditlich weniger organisiert, leiditer, weniger präzis abgegrenzt war, das jedoch allein wahrnehmbare, erkennbare, in der globalen Erfahrung mit dem Wahnsinn wirklieb vorhandene Einheiten hat bilden können. Der ßeobachtungsraum dieser Krankheiten ist in Landschaften abgesteckt worden, die ihnen auf dunkle Weise ihren Stil und ihre Struktur gei S ι De La Rive, »Sur un établissement pour la guérison des aliénés«, in; Bibliothèque Britannique, Bd. 8, S. 304.
geben haben. Einerseits war das ein trockengelegter, quasi diluvialer Raum, in dem der Mensch taub, blind und schläfrig all dem gegenüber bleibt, was nicht sein einziger Schrecken ist. Das ist eine bis zum Extrem vereinfachte und in einem einzigen ihrer Details maßlos vergrößerte Welt. Auf der anderen Seite steht eine brennende und wüstenartige, panische Welt, in der alles Flucht, Unordnung und plötzliche Spur ist. Die Strenge dieser Themen in ihrer kosmischen Form — nicht die Annäherungen einer beobachtenden Klugheit - haben die Erfahrung, die bereits beinahe unsere Erfahrung ist, mit der Manie und der Melancholie geordnet. Willis mit seiner Beobachtungsgabe und der Reinheit seiner ärztlichen Wahrnehmung gibt man die Ehre, den manisch-depressiven, oder sagen wir, den manisch-melancholischen Wechsel »entdeckt« zu haben. Tatsächlich ist das Vorgehen von Willis von großem Interesse. Zunädist jedoch in folgendem: der Übergang von einem Zustand zum anderen wird nicht als eine Tatsache der Beobachtung perzipiert, deren Erklärung dann zu entdecken wäre, sondern vielmehr als Folge einer tiefen Affinität, die zur Ordnung ihrer geheimen Natur gehört. Willis zitiert keinen einzigen Fall eines solchen Wechsels, den er hätte beobachten können. Was er zunächst entziffert hat, ist eine innere Verwandtschaft, die seltsame Verwandlungen nach sich zieht: •Nach der Melancholie muß man die Manie behandeln, die so viel Affinitäten zu jener hat, daß diese Zustände oft von einem in den anderen wandeln.« Tatsächlich kommt es bei melancholischer Diathese vor, daß sie, wenn sie sich verschlimmert, zum Furor wird. Das Toben hingegen kann, wenn es abnimmt und an Kraft verliert und vielleicht ganz zur Ruhe kommt, zur schwarzgalligen Diathese umschlagen.'Si Für einen strengen Empirismus handelt es sich dabei also um zwei miteinander verbundene Krankheiten oder auch um zwei aufeinanderfolgende Symptome ein und derselben Krankheit. In der Tat teilt Willis das Problem nicht in Termini von Symptomen oder in Termini einer Krankheit, sondern versucht lediglich, die Verbindung zweier Zustände in der Bewegung der Lebensgeister zu finden. Bei len Melancholikern, so erinnern wir uns, waren die Lebensgeister dunU and finster. Sie warfen ihre Dunkelheit auf die Abbilder der ••nge und bildeten im Licht der Seele das Heraufsteigen eines Schat.ns. Dagegen bewegen sich die Lebensgeister bei der Manie in einem Ti.llis. a.a. O., Bd. 2, S. 255.
ständigen Funkeln. Sie werden durch eine unregelmäßige, stets erneuerte Bewegung getragen, die nagt und verschlingt und, selbst wenn kein Fieber vorhanden ist, ihre Wärme ausstrahlt. Die Affinität zwischen Manie und Melancholie ist evident: es ist keine Affinität der Symptome, die sich in der Erfahrung miteinander verketten, sondern eine besonders starke und viel evidentere Affinität in den Landschaften der Vorstellungskraft, die, in einem gleichen Feuer, Rauch und Flamme verbindet. »Wenn man sagen kann, daß in der Melancholie das Gehirn und die Lebensgeister durch einen Rauch und irgendeinen dichten Dampf verdunkelt werden, scheint die Manie eine A r t durch sie geöffneten Brand zu beleben.«'83 Die Flamme löst in ihrer lebhaften Bewegung den Rauch auf, aber dieser erstickt, wenn er zurückfällt, die Flamme und beseitigt ihre Helligkeit. Die Einheit der Manie und der Melancholie ist für Willis keine Krankheit, sondern ein geheimes Feuer, in dem Flammen und Rauch kämpfen, sie ist das tragende Element jenes Lichts und jenes Schattens. Jeder oder beinahe jeder der Ärzte des achtzehnten Jahrhunderts weiß etwas von der Nähe der Manie und der Melancholie. Dennoch lehnen es mehrere ab, darin zwei Manifestationen ein und derselben Krankheit zu sehen.'8* Viele stellen eine Abfolge fest, ohne eine symptomatische Einheit wahrzunehmen. Sydenham zieht es vor, das Gebiet der Manie selbst aufzuteilen in (auf der einen Seite) die gewöhnliche Manie, die »einem zu erregten und zu bewegten Blut zuzuschreiben ist«, und (auf der anderen Seite) eine Manie, die im allgemeinen zur »Stupidität wird«. Diese »kommt von der Schwäche des Blutes, das eine zu lange Fermentation seiner geistigen Teile beraubt hat«.' 8 ' Noch öfter gesteht man zu, daß die Abfolge von Manie und Melancholie ein Phänomen der Verwandlung oder der fernen Kausalität ist. Für Lieutaud verliert eine Melancholie, die lange Zeit dauert und sich in ihrem Delirium verschlimmert, ihre traditionellen Symptome und nimmt eine eigenartige Ähnlichkeit mit der Manie an: »Der letzte Grad der Melancholie hat große Ähnlichkeit mit der Manie.« 18 ' Aber der Status dieser Analogie ist nicht erarbeitet worden. Für Dufour ist die Verbindung noch schwächer: es handelt sich um eine ferne kausale Verkettung, bei der die Melancholie die Manie hervorrufen kann, ebenso »die Würmer in den Bögen an der Stirn 183 184 185 186
Ebda. Zum Beispiel d'Aumont im Artikel »Mélancolie* in der Encyclopédie. Sydenham, Médecine pratique, S. 629. Joseph Lieutaud, Précis de médecine pratique, 2 vols., Paris 1759, Bd. 1, S. 204.
oder erweiterte krampfaderartige Blutgefäße«.' 8 ? Ohne die Unterstützung durdi ein Bild gelangt keine Beobachtung zur Transformation einer feststehenden Abfolge in eine symptomatische Struktur, die zugleich genau und wesentlich ist. Wahrscheinlich verschwindet das Bild der Flamme und des Rauches bei den Nachfolgern von Willis, aber noch im Innern der Bilder vollendet sich die ordnende Arbeit, werden die Bilder immer funktionaler, immer besser in die großen physiologischen Themen von der Blutzirkulation und der Erhitzung eingegliedert und immer mehr von den kosmischen Gestalten entfernt, denen Willis sie entnahm. Bei Boerhaave und seinem Kommentator van Swieten bildet die Manie ganz natürlich einen höheren Grad als die Melancholie, nicht nur infolge einer häufigen Verwandlung, sondern durch die Wirkung einer notwendigen dynamischen Verkettung: die Hirnflüssigkeit, die bei dem Schwarzgalligen zum Stillstand kommt, gerät nach Ablauf einiger Zeit in Bewegung, denn die schwarze Galle, die die Eingeweide übersättigt, wird durch ihre Unbeweglichkeit »schärfer und bösartiger«. Es bilden sich in ihr sdiärfere und feinere Elemente, die, vom Blut zum Hirn getragen, dann die große Erregung der Maniakalisdien hervorrufen. Die Manie unterscheidet sich also von der Melancholie nur durch einen Grundunterschied. Sie ist die natürliche Folge der Melancholie, entsteht durch die gleichen Ursachen und läßt sich gewöhnlich mit den gleichen Mitteln behandeln.'88 Für Hoffmann ist die Einheit der Manie und der Melancholie eine natürliche Wirkung der Bewegungsund Stoßgesetze. Was aber reine Mechanik beim Ursprung ist, wird zur Dialektik in der Entwicklung des Lebens und der Krankheit. Die Melancholie charakterisiert sich tatsächlich durch die Unbeweglichkeit, das heißt, daß das verdichte Blut das Hirn, in dem es sich in Überfülle ansammelt, verstopft. Dort, wo es zirkulieren müßte, neigt es zum Stillstand und ist in seiner Schwere bewegungslos geworden. Wenn aber die Schwere die Bewegung verlangsamt, läßt sie gleichzeitig den Stoß in dem Moment heftiger werden, in dem er sich ereignet. Das Gehirn, die es durchlaufenden Gefäße, sogar seine Substanz neigen, wenn sie mit größerer Kraft getroffen werden, zu größerem Widerstand, also zur Verhärtung, und durch diese Verhärtung wird das schwer gewordene Blut mit größerer Kraft zurückgeschickt. Seine Bewegung nimmt zu, und bald ist die Erregung vorhanden, die die 187 Dufour, a. a. O., S. 369. 188 Boerhaave, Aphorismes, N r . 1 0 8 und 1119. Vgl. Geerard van Swieten, Commentaria Boerhaavi Apborismos, Paris 1753, Bd. 3, S. 519 f.
Manie charakterisiert.' 8 ' Man ist also ganz natürlich vom Bild einer regungslosen Vollstopfung zu dem der Trockenheit, der Härte, der lebhaften Bewegung gekommen, und zwar durch eine Verkettung, in der die Prinzipien der klassischen Mechanik in jedem Augenblick verbogen, abgeleitet und durch die Treue gegenüber imaginären Themen verfälscht werden, die die wirklichen Organisatoren dieser funktionalen Einheit sind. In der Folgezeit kommen andere Bilder hinzu, haben aber keine konstitutive Rolle mehr zu spielen. Sie werden nur wie ebenso viele erklärende Variationen über das Thema einer künftig ermittelten Einheit funktionieren. Das bezeugt zum Beispiel die Erklärung, die Spengler für den Wechsel zwischen Manie und Melancholie vorschlägt. Sein Prinzip entspricht dabei dem Modell der galvanischen Säule. Zunächst soll eine Konzentration der Nervenkraft und der entsprechenden Flüssigkeit an einer bestimmten Stelle des Systems erfolgen. Lediglich dieser Sektor ist erregt, der Rest befindet sich im Ruhezustand: das ist die melancholische Phase. Wenn sie aber zu einem bestimmten Intensitätsgrad anschwillt, breitet sich diese lokale Ladung plötzlidi im ganzen System aus, das sie mit großer Heftigkeit während einer bestimmten Zeit erregt, bis die Entladung vollkommen ist: das ist die manische Phase. 1 ' 0 Auf dieser Ebene der Elaboration ist das Bild zu komplex und zu vollständig, ist es einem zu entfernten Modell entnommen, um eine ordnende Rolle in der Perzeption der pathologischen Einheit spielen zu können. Es wird hingegen von jener Wahrnehmung hinzugezogen, die ihrerseits auf vereinigenden, aber elementareren Bildern beruht. Diese Bilder sind insgeheim im Text des Wörterbuchs von James vorhanden, der als einer der ersten den manisch-depressiven Zyklus als beobachtete Wahrheit, als von einer befreiten Wahrnehmung leicht lesbare Einheit angibt. »Es ist absolut notwendig, die Melancholie und die Manie auf eine einzige Art Krankheit zu reduzieren und infolgedessen beide mit einem Blick zu prüfen, denn wir finden in unseren Versuchen und täglichen Beobachtungen, daß sie beide den gleichen Ursprung und die gleiche Ursache haben ( . . . ) . Die genauesten Beobachtungen und die Erfahrung aller Tage bestätigen das gleiche, denn wir sehen, daß die Melancholiker, vor allem diejenigen, du 189 Friedrich Hoffmann, Medidna rationalis systematica, 4 vols., Halle 1718-1739. Bd. 4, S. 188 f. 190 Lorenz Spengler, Briefe, welche einige Erfahrungen der elektrischen Wirkunger, in Krankheiten enthalten, Kopenhagen 1754.
schon lange diese Disposition haben, leicht zu Maniakalischen werden und, wenn die Manie aufhört, die Melancholie von neuem beginnt, so daß es, je nach dem Zeitpunkt, einen Wechsel von einer zur anderen gibt.« 1 ' 1 Was sich im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert unter der Wirkung der Bilder konstituiert hat, ist also eine Wahrnehmungsstruktur und nicht ein begriffliches System oder nur eine symptomatische Gesamtheit. Der Beweis dafür liegt darin, daß qualitative Verschiebungen, genau wie in einer Wahrnehmung, sich vollziehen können, ohne daß die Gesamtgestalt geändert wird. So wird Cullen in der Manie wie in der Melancholie ein »Hauptobjekt des Deliriums«' 91 entdecken und umgekehrt die Melancholie »einem trockeneren und festeren Gewebe der Marksubstanz des Hirns« zuweisen 1 ' 3 . Das Wesentliche ist, daß die Arbeit sich nicht von der Beobachtung ausgehend an die Konstruktion erklärender Bilder gemacht hat, sondern daß im Gegenteil die Bilder die ursprüngliche synthetische Rolle gesichert haben, daß ihre ordnende Kraft eine Wahrnehmungsstruktur ermöglicht hat, in der letzten Endes die Symptome ihren Bedeutungswert annehmen und sich als sichtbare Präsenz der Wahrheit ordnenkönnen.
III. Hysterie und Hypochondrie In dieser Frage stellen sich zwei Probleme. 1) In welchem Maße ist es legitim, sie als Geisteskrankheiten oder wenigstens als Formen des Wahnsinns zu behandeln? 2) Hat man das Recht, sie so zusammen zu behandeln, als bildeten sie ein virtuelles Paar, das dem ähnelte, das sehr früh durch die Manie und die Melancholie gebildet wurde? Ein Blick auf die Klassifikationsschemata genügt, um zu zeigen, daß die Hypochondrie nicht immer neben der Demenz und der Manie 'teht. Die Hysterie findet darin sehr selten Platz. Plater spricht weder von der einen noch der anderen als von einer Läsion der Sinne. Am Ende des klassischen Zeitalters wird Cullen sie noch in eine anlere Kategorie als die der fieberfreien Wahnsinnszustände setzen. Er :ählt die Hypochondrie »zu den Kraftlosigkeiten oder Krankheiten, Jie in einer Schwäche oder in einem Verlust der Bewegung innerhalb - Cullen. a . a . O . , B d . 2, S. 315. ; Ebda. 19} A . a . O . , S . 323.
der vitalen oder animalischen Funktionen« bestehen, und die Hysterie »zu den krampfartigen Affekten der natürlichen Funktionen«. 1 '* Außerdem sind in den nosographischen Tabellen diese beiden Krankheiten selten in logische Nachbarschaft gestellt oder nur in Form einer Opposition angenähert. Sauvages klassifiziert die Hypochondrie unter den Halluzinationen - »Halluzinationen, die nur die Gesundheit betreffen« — und die Hysterie unter den Formen der Konvulsion. 1 " Linné benutzt die gleiche Aufteilung. 1 ' 6 Beide sind der Lehre von Willis treu, der die Hysterie in seinem Buch De morbis convulsivis und die Hypochondrie in dem Teil von De anima brutorum untersucht hat, der von den Krankheiten des Kopfes handelt, -wobei er ihr den Namen passio colica gab. Es handelt sich in der Tat um zwei ziemlich verschiedene Krankheiten. In dem einen Fall sind die geweckten Lebensgeister einem reziproken Druck unterworfen, der an ihre Explosion glauben lassen könnte, und rufen jene unregelmäßigen oder außernatürlichen Bewegungen hervor, die ihr wahnsinniges Gesicht in der hysterischen Konvulsion finden. In der passio colica hingegen werden die Lebensgeister wegen einer Substanz erregt, die ihnen feindlich und unangemessen ist (infesta et inproportionnata). Sie rufen dann Störungen, Erregungen, corrugationes in den empfindlichen Fibern hervor. Willis rät, sich nicht durch bestimmte Analogien bei den Symptomen überraschen zu lassen. Sicher hat man erlebt, daß die Konvulsionen Schmerzen hervorrufen, als könnte die heftige Bewegung der Hysterie das Leiden der Hypochondrie bewirken. Aber diese Ähnlichkeiten täuschen. Non eadem, sed nonnihil diversa materies est.197 Unter diesen ständigen Unterscheidungen der Nosographen vollzieht sich aber eine langsame Arbeit, die immer mehr die Hysterie und die Hypochondrie anzunähern bestrebt ist, als seien sie zwei Formen ein und derselben Krankheit. Richard Blackmore veröffentlicht 1725 einen Treatise of Spleen and Vapors, or Hypochondriacal and Hysterical Affections. Darin werden die beiden Krankheiten als zwei Va194 A . a . O., S. 128 und 272. 195 Sauvages, a. a. O . ; die Hysterie setzt er in die 4. Klasse (Spasmen), die Hypochondrie in die 8. Klasse (vesaniae). 19Ä K a r l von Linné, Genera morborum. Die Hypochondrie gehöre zur Kategorie »imaginär« der Geisteskrankheiten, die Epilepsie zur Kategorie »angespannt« der konvulsiven Leiden. 197 Vgl. die Polemik mit Nathanael Highmore, Exercitationes duae, prior de pa'· sione hysterica, altera de affectione hypoàondriaca, Oxoniae ififio, und De passionr hysterica, responsio epistolaris ad Willisium, London 1Î70.
rianten desselben Leidens beschrieben, entweder eine »krankheitserregende Konstitution der Lebensgeister« oder eine »Disposition der Lebensgeister, aus ihren Reservoirs herauszugehen und zu verfliegen«. Bei Whytt, in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, ist die Annäherung ohne Fehler, und künftig wird das System der Symptome identisch sein: »Ein außergewöhnliches Gefühl der Kälte und der Wärme, die Schmerzen in verschiedenen Teilen des Körpers, die Ohnmachtsanfälle und die Konvulsionen aufgrund von vapeurs, die K a talepsie und der Tetanus, Winde im Magen und in den Eingeweiden, ein unersättlicher Appetit auf Speisen, Erbrechen schwarzer, eiteriger Flüssigkeit, ein plötzlicher und reichlicher Fluß hellen und klaren Urins, Auszehrung oder nervöse Atrophie, nervöses oder spasmisches Asthma, nervöser Husten, Herzklopfen, unregelmäßiger Puls, regelmäßiger Kopfschmerz, Schwindelgefühle und Betäubungszustände, Verminderung und Schwächung der Sehkraft, Entmutigung, Niedergeschlagenheit, Melancholie oder sogar Wahnsinn, Alpträume oder der Inkubus.«'98 Andererseits erreichen Hysterie und Hypochondrie im Laufe des klassischen Zeitalters langsam das Gebiet der Geisteskrankheiten. Mead konnte noch über die Hypochondrie schreiben: »morbus totius corporis est«, dem Text von Willis über die Hysterie muß man aber seine wirkliche Bedeutung geben: »Unter den Frauenkrankheiten genießt die Hysterie einen so schlechten Ruf, daß sie wie die semi-damnati die Fehler zahlreicher anderer Leiden zu tragen hat. Wenn eine Krankheit von unbekannter Natur und verborgenem Ursprung bei einer Frau so auftritt, daß ihre Ursache nicht sichtbar wird und die therapeutische Indikation ungewiß ist, klagen wir sofort den schlechten Einfluß des Uterus an, der in den meisten Fällen nicht verantwortlich ist, und anläßlich eines ungewissen Symptoms erklären wir, daß sich etwas Hysterisches irgendwo verbirgt; wir nehmen als Gegenstand unserer Fürsorge und Heilmittel das, was so oft der Zufluchtspunkt großer Ignoranz gewesen ist.«'" Den traditionellen Kommentatoren dieses Textes, der unvermeidlich in jeder Untersuchung über die Hysterie zitiert wird, sei gesagt, daß er nicht bedeutet, daß Willis ein Fehlen einer organischen Begründung bei den Symptomen der Hysterie geahnt hat. Er sagt lediglich, und zwar ausdrückt e Whytt, Traité des maladies nerveuses, Bd. 2, S. 1-132. Vgl. eine ähnliche A u f teilung bei Claude Rcvillon, Recherches sur la cause des affections xes. Appelées communément vapeurs, Paris 1779, S. 5 f. im Willis, De morbis convulsivis, in: ders., a. a. O., Bd. 1, S. 529.
hypocondria-
lidi, daß der Begriff der Hysterie alle Phantasmen, und zwar nidit desjenigen, der sidi für krank hält, sondern des niditwissenden A r z tes enthält, der etwas zu wissen behauptet. Die Tatsache, daß die H y sterie von Willis zu den Krankheiten des Kopfes gerechnet wird, beweist nicht mehr, daß er daraus eine Geistesverwirrung macht. Das beweist lediglich, daß er den Ursprung der Hysterie einer Veränderung der Natur, des Ursprungs und des ersten Weges der Lebensgeister zuschreibt. Dennoch gehören am Ende des achtzehnten Jahrhunderts Hypochondrie und Hysterie beinahe problemlos zu den Waffen der Geisteskrankheit. 1 7 5 j veröffentlicht Alberti in Halle seine Dissertation De morbis imaginariis hypochondriacorum, und Lieutaud muß, während er die Hypodiondrie durdi das Spasma definiert, anerkennen, daß »der Geist ebenso und vielleicht mehr betroffen ist als der Körper. Daher rührt es, daß der Begriff Hypochonder beinahe ein beleidigender Name geworden ist, den die Ärzte, die gefallen wollen, möglichst vermeiden.«200 Die Hysterie hält Raulin nicht für eine organische Realität, jedenfalls in seiner ursprünglichen Definition, in der er sie vorab zu einer Pathologie der Vorstellungskraft zählt: »Diese Krankheit, in der die Frauen die unterschiedlichsten Absurditäten erfinden, übertreiben und wiederholen, deren eine außer Maß geratene Vorstellung fähig ist, ist mitunter epidemisch und ansteckend geworden.«201 Es gibt also im Zeitalter der französischen Klassik für die Hysterie und die Hypochondrie zwei wesentliche Entwicklungslinien. Die eine davon nähert sie so weit einander an, daß sie einen gemeinsamen Begriff bilden, den der »Nervenkrankheit«. Die andere Linie verrückt ihre Bedeutung, ihren gewöhnlichen pathologischen Halt, der zur Genüge durch ihren Namen angezeigt wird, und neigt dazu, sie allmählich in das Gebiet der Geisteskrankheiten neben die Manie und die Melancholie zu stellen. Diese Integration hat sich aber nicht wie für die Manie und die Melancholie auf der Ebene der primitiven, in ihren imaginären Werten perzipierten und geträumten Eigenschaften vollzogen. Man hat es dabei mit einem anderen Integrationstypus zu tun. Die Ärzte der klassischen Epoche haben wohl versucht, die der Hyste20a Lieutaud, a. a. O., 2. Ausgabe 17Ä1, S. 127. 201 Joseph Raulin, Traité des affections vaporeuses du sexe, Paris 1758, Discours préliminaire, S. X X .
rie und der Hypochondrie zugehörigen Eigenschaften zu entdecken, aber sie sind nie dazu gelangt, jene Kohärenz, jene qualitative Kohäsion wahrzunehmen, die der Manie und der Melancholie ihr eigenartiges Profil gegeben hat. Alle Eigenschaften sind gegensätzlich invoziert worden, haben einander beseitigt, indem sie das Problem unberührt ließen, was diese beiden Krankheiten in ihrer inneren Natur seien. Ziemlich oft ist die Hysterie als Wirkung einer inneren Hitze perzipiert worden, die im ganzen Körper eine Erhitzung und ein — in Konvulsionen und Spasmen unaufhörlich manifestiertes - Kochen verbreitet. Diese Wärme ist vielleicht mit der Liebesglut verwandt, mit der die Hysterie bei den Mädchen, die einen Mann suchen, und den jungen Witwen, die ihren Gatten verloren haben, so oft verbunden ist. Die Hysterie ist von Natur aus brennend, ihre Anzeichen verweisen eher auf ein Bild als auf eine Krankheit. Dieses Bild hat Jacques Ferrand am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts in seiner ganzen materiellen Präzision gemalt Er gefällt sich, in seiner Maladie d'amour ou mélancolie erotique zu erkennen, daß die Frauen öfter liebestoll sind als die Männer. Mit welcher Kunst aber verstehen sie, es zu verbergen! »Darin ist ihr Gesichtsausdruck dem von Destillierkolben ähnlich, die nett auf Ringen sitzen, ohne daß man das Feuer draußen sieht, wenn man aber unter den Destillierkolben schaut und die Hand auf das Herz der Damen legt, findet man an beiden Stellen eine große Glut.« 2 " Ein durch sein symbolisches Gewicht, durch seine affektiven Überladungen und das ganze Spiel seiner imaginären Bezüge herrliches Bild. Lange Zeit nach Ferrand wird man die Frage nach den Eigenschaften der feuchten Hitze wiederfinden, um die geheimen Destillationen der Hysterie und der Hypochondrie zu charakterisieren, aber das Bild wird zugunsten eines abstrakteren Motivs verwischt. Bereits bei Nicolas Chesneau ist die Flamme des weiblichen Destillierkolbens schon farbloser: »Ich behaupte, daß die hysterische Leidenschaft keine einfache Erscheinung ist, sondern daß man unter diesem Namen verschiedene Übel zusammenfaßt, die durch einen bösen Dunst, der sich irgendwie erhebt, verdorben ist und eine außergewöhnliche Erhitzung zeigt, verursacht werden.«" 3 Für andere hingegen ist die Hitze, die von den Weichen aufsteigt, völlig zoz Jacques Ferrand, De la maladie de l'amour ou mélancolie érotique, Paris 1623, S. 164. 203 Nicolas Chesneau, Observationum medicarum libri quinque, Paris 1672, Such 3, Kapitel 14.
trocken: die hypochondrische Melandiolie ist eine »warme und trockene« Krankheit, die durch »Säfte gleicher Beschaffenheit« verursacht wird.204 Aber bestimmte Autoren nehmen keine Wärme in der Hysterie oder in der Hypodiondrie wahr. Nach ihrer Auffassung berühr die diesen Krankheiten eigene Besdiaffenheit dagegen auf der Mattigkeit, der Regungslosigkeit und einer den stehenden Säften eigenen kalten Feuchtigkeit: »Ich meine, daß diese hypochondrischen und hysterischen Besdiwerden, wenn sie von einiger Dauer sind, davon abhängen, daß die Fibern des Gehirns und der Nerven entspannt, schwach, aktionslos und unelastisdi sind. Sie hängen auch davon ab. daß die Nervenflüssigkeit völlig kraftlos ist.«20' Kein Text bezeugt wahrsdieinlidi diese qualitative Beweglidikeit der Hysterie besser als das Budi von George Cheyne, Tbc Englisb Malady. Darin erhält die Krankheit ihre Einheit nur auf eine abstrakte Weise aufrecht, und ihre Symptome sind in verschiedene qualitative Gebiete geteilt und Medianismen zugeschrieben, die jeder dieser Regionen eigen sind. Alles, was Spasma, Krampf, Konvulsion ist, gehört zu einer Pathologie der Wärme, die durch »salzige Partikeln« und durch »schädliche, scharfe oder beißende Dünste« symbolisiert werden. Alle psychologischen oder organischen Zeichen der Schwäche hingegen - »Niedergeschlagenheit, Ohnmadit, Inaktivität des Geistes, Lethargie. Melancholie und Traurigkeit« - manifestieren einen Zustand der zu feudii und zu sdilaff gewordenen Fibern (wahrsdieinlidi unter der Wirkung kalter, zäher und dicker Säfte, die sowohl die serumhaltigen als auch die bluthaltigen Drüsen und Gefäße verstopfen). Die Paralyse bedeutet gleidizeitig ein Erkalten und eine Immobilisierung der Fibern »eine Unterbrediung der Vibrationen«, die in gewisser Weise in Jer allgemeinen Bewegungslosigkeit der festen Körper eingefroren sind. In dem Maße, wie die Manie und die Melancholie sich bequem in Jen·. Register der Eigenschaften niederschlugen, finden die Phänomene Je: Hysterie und der Hypochondrie nur schwer darin Platz. Die Medizin der Bewegung ist ihnen gegenüber ebenso unentsdiiedct und ihre Analysen sind ebenso beweglich. Es ist ziemlich klar - hinsichtlich der Perzeption wenigstens, die nidit ihre eigenen Bilder abweist —, daß die Manie mit einem Bewegungsexzeß verwandt war. Die Melandiolie hingegen hat mit einer Verlangsamung der Ben 204 Thomas a Murillo, Novissima 1672, S. SSti. 20J Malcolm Flemvng, Neitropathia libri très, Amsterdam 1741, S. $0 f.
bypocbondriacac
mclandioluic
sive de morbis bypocbondriacis
curalio.
1-
et bysic
ung zu tun. Für die Hysterie und ebenfalls für die Hypochondrie ist die Wahl schwierig zu treffen. Stahl optiert eher für eine Zunahme des Gewichts des Blutes, das zugleich so an Menge zunimmt und so dick wird, daß es nidit mehr regelmäßig durch die Venen zu laufen vermag. Es neigt zur Stagnation und Uberfüllung, und die Krise setzt durdi die Anstrengung ein, die es unternimmt, um sich entweder durch die oberen oder die unteren Teile einen Ausweg zu suchen.201' Für Önerhaave und für van Swieten rührt die hysterische Bewegung von tiner zu großen Beweglichkeit aller flüssigen Stoffe her, die eine solche Leichtigkeit und Unbeständigkeit annehmen, daß sie durch die geringste Bewegung in Verwirrung geraten: »Bei schwacher Konstitution ist das Blut aufgelöst. Es gerinnt kaum, und das Serum ist ohne Konsistenz, ohne Qualität. Die Lymphflüssigkeit ähnelt dem Serum, und das tun auch andere Flüssigkeiten, die diese hervorbringen, ( . . . ) . ι 'adurch wird es wahrscheinlich, daß die hysterische Leidenschaft und dir hypochondrische Krankheit, die als eiterfrei bezeichnet werden, η den Dispositionen oder dem besonderen Zustand der Nerven'bern abhängen.« Dieser Empfindlichkeit und Beweglichkeit muß "ian die Ängste, die Spasmen, die besonderen Schmerzen zuschreiben, •he so leicht von den »Mädchen, die blasse Farben haben, und von den Leuten verspürt werden, die sich dem Studium und der Meditation mgeben-.20" Die Hysterie ist entweder beweglich oder unbeweglich, 'üssig oder schwer, unregelmäßigen Vibrationen ausgesetzt oder J irch stagnierende Säfte schwer geworden. Man ist nicht dazu gekörnten. den ihren Bewegungen eigenen Stil zu entdecken, i >ie gleiche Ungenauigkeit herrscht in den chemischen Analogien. Für .anee ist die Hysterie ein Produkt von Fermentationen, genau ge-i. der Fermentation der »in verschiedene Teile des Körpers getrienen Salze- mit »den dort befindlichen Säften«.208 Für andere ist sie η alkalischer Natur. Ettmüller hingegen meint, daß die Leiden dier Art zur Folge von sauren Reaktionen gehören, »die nahe Ursache 'ür ist die saure Krudität des Magens. Wenn der Milchsaft sauer ist, -i die Qualität des Blutes schlecht. Es liefert keine Lebensgeister .hr. Die Lymphe wird sauer und die Galle kraftlos. Das Nerven' -.-m erfährt Erregungen, der verdorbene Magensaft ist weniger bc-
'icori; Ernst Stahl, De mala hypochondriaco, in: ders., Theoria medica Vera, Hille .'7oS, S. 447. : ' V->n Swieten, a. a. O., S. 12 F. Lance. Traité des vapeurs, Paris 1689, S. 41-60.
•weglich und zu sauer.«"' Viridet versucht hinsichtlich der »Dünste, die in uns aufsteigen«, eine Dialektik der alkalischen und sauren Reaktionen zu rekonstituieren, deren Bewegungen und heftiges Aufeinandertreffen im Gehirn und den Nerven die Anzeichen der Hysterie und der Hypochondrie hervorrufen. Bestimmte Lebensgeister, die besonders gelöst sind, sollen Laugensalze sein, die sidi mit großer Geschwindigkeit bewegen und in Dünste verwandeln, wenn sie eine zu große Feinheit erreicht haben. Es gibt aber andere Dünste, die verflüchtigte Säuren sind. Der Äther gibt diesen genügend Bewegung, um sie zum Hirn und in die Nerven zu tragen, wo »sie, wenn sie Alkalisalze treffen, unendliche Übel anrichten«." 0 Das ist eine eigenartige, fehlende Stabilität in den Eigenschaften dieser hysterischen und hypochondrischen Leiden, eine seltsame Konfusion ihrer dynamischen Eigenschaften und des Geheimnisses ihrer Chemie. So einfach das Ablesen der Manie und der Melancholie am Horizont der Eigenschaften erschien, so zögernd erscheint die Entzifferung dieser Leiden. Ohne Zweifel ist jene imaginäre Landschaft der Eigenschaften, die für die Konstituierung des Paares Manie und Melancholie entscheidend war, in der Geschichte der Hysterie und der Hypochondrie sekundär geblieben, wo sie wahrscheinlich nur die Rolle eines stets erneuerten Dekors gespielt haben. Das Wandern der H y sterie ist nidit wie das der Manie durch dunkle Eigenschaften der Welt erfolgt, die in einer ärztlichen Vorstellungskraft reflektiert wurden. Der Raum, in dem die Hysterie ihr Maß gefunden hat, ist von anderer Natur. Es ist, in der Kohärenz seiner organischen und moralisdien Werte, der Raum des Körpers. Gewöhnlich weist man Le Pois und Willis die Ehre zu, die Hysterie von den alten Mythen der Uterusversdiiebungen befreit zu haben. Liebault nahm, als er das Buch von Marinello übersetzte oder vielmehr für das siebzehnte Jahrhundert adaptierte, trotz einiger Einschränkungen noch die Idee einer spontanen Bewegung der Gebärmutter an. Wenn sie sich bewegt, »gesdiieht das, damit sie bequemer liegt. Sie tut es nicht aus Klugheit, auf Befehl oder animalischen Stimulus hin, sondern aus natürlichem Instinkt, um die Gesundheit zu bewahren und den Genuß von etwas Schönem zu haben.« Wahrscheinlich erkennt man ihr nicht mehr die Fähigkeit zu, ihren Sitz zu 209 Ettmiiller, Disscrtatio de mala bypocbondriaco, in: ders., a . a . O . , S. 571. 210 Viridet, Dissertation sur les vapeurs, Y v c r d o n 1726, S. 50-62.
ändern und den Körper zu durchlaufen, wobei sie ihn im Zuge ihres Wanderns durch Stöße erschüttert, denn sie ist an ihrem Hals durch Bänder, Gefäße und schließlich durch die Haut des Bauchfelles »eng befestigt«. Dennoch kann sie ihren Platz wechseln: »Die Gebärmutter kann also, obwohl sie so eng an die Teile, die wir beschrieben haben, angeheftet ist, daß sie ihren Platz nicht wechseln kann, doch oft ihren Ort verändern und ziemlich heftige, dem Körper der Frau fremde Bewegungen ausführen. Diese Bewegungen sind unterschiedlich, aufsteigend, absteigend, konvulsiv, vagabundierend, mitunter fällt sie auch nach vorn. Sie steigt zur Leber auf, zur Milz, zum Zwerchfell, zum Magen, zur Brust, zum Herz, zur Lunge, zur Kehle und zum Kopf.« 2 " Die Ärzte des klassischen Zeitalters werden fast alle einstimmig eine ähnliche Erklärung ablehnen. Seit dem Beginn des siebzehnten Jahrhundert kann Le Pois über die hysterischen Konvulsionen schreiben: »Eorum omnium caput esse parentem, idque non per sympathiam, sed per idiopathiam.« Genauer gesagt: ihr Ursprung liegt in einer Häufung der flüssigen Körper im hinteren Teil des Schädels: »So wie ein Fluß aus dem Zusammenfließen aus der großen Zahl kleiner Gewässer entsteht, die ihn nach ihrer Vereinigung bilden, so häuft sich auch durch die Bögen, die an der Oberfläche des Gehirns sind und am hinteren Teil des Kopfes enden, die Flüssigkeit wegen der schrägen Position des Kopfes an. Die Wärme der Teile bewirkt dann, daß die Flüssigkeit sich erwärmt, den Ursprung der Nerven erreicht ( . . .).«212 Willis unternimmt seinerseits eine minutiöse Kritik der Erklärung mit Hilfe der Gebärmutter. Vor allem von den Beschwerden des Gehirns und des Nervensystems sollen nach ihm »die ganzen Verwirrungen und Unregelmäßigkeiten, die bei dieser Krankheit mit der Bewegung des Blutes geschehen«, abhängen.213 Dennoch haben all diese Analysen dadurch nidit die Rede von einer wesentlichen Verbindung zwischen der Hysterie und der Gebärmutter beseitigt. Diese Verbindung wird aber anders konzipiert, sie wird nicht mehr als die Bahn eines wirklichen Platzwechsels quer durdi den Körper reflektiert, sondern als eine A r t tauber Verbreitung durch die organischen Wege und die nahestehenden Funktionen. Man kann nicht sagen, daß der Sitz der Krankheit das Gehirn m Jean Liébault, Trois livres des maladies et infirmités des femmes, Paris 1609, S. 380. 212 Carolus Piso, Observationes medicae (1618), 1733 erneut von Boerhaave herausgegeben (sectio 2, § 2, K a p . V I I , S. 144). 213 Willis, De äffectionibushystericis,
in: ders., a . a . O . , Bd. 1, S. 63$.
geworden sei, noch daß Willis eine psychologische Analyse der H y sterie möglidi gemacht hat. Das Gehirn spielt aber jetzt die Rolle des Relais und Verteilers eines Obels, dessen Ursprung die Eingeweide sind. Die Gebärmutter verursacht Hysterie wie alle anderen Eingeweide.2I,t Bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts, bis zu Pinel, werden Uterus und Matrix in der Pathologie der Hysterie gegenwärtig bleiben 21 ', aber dank einer privilegierten Diffusion durch die Säfte und Nerven und nicht durch eine besondere Geltung ihrer Natur. Stahl rechtfertigt die Parallele von Hysterie und Hypochondrie durch eine eigenartige Annäherung der Menstruation und der Hämorrhoiden. Er erklärt in seiner Analyse der spasmischen Bewegungen, daß das hysterische Leiden ein ziemlich heftiger Schmerz ist, »der von Spannungen und Kompressionen begleitet wird und sich vor allem unterhalb der Weichen spüren läßt«. Man nennt es hypochondrisches Leiden, wenn es die Menschen befällt, » bei denen die Natur sich bemüht, ein Zuviel an Blut durch Erbrechen oder die Hämorrhoiden abzustoßen«. Hysterisches Leiden nennt man es, wenn es die Frauen befällt, bei denen »der Verlauf der Menstruation nicht so ist, wie er sein müßte. Zwischen den beiden Beschwerden gibt es jedoch keinen wesentlichen Unterschied.«216 Die Meinung von Hoffmann ist ganz ähnlich, trotz so vieler theoretischer Unterschiede. Die Ursache der Hysterie liegt in der Matrix - Erschlaffen und Schwäche - , aber der Sitz des Übels muß wie für die Hypochondrie im Magen oder in den Eingeweiden gesucht werden. Das Blut und die Lebenssäfte fangen an, » in den membranartigen und nervendurchzogenen Häuten der Eingeweide« zu stagnieren. Darauf folgen Störungen im Magen, die sich von dort aus im ganzen Körper verbreiten. Im Zentrum des Organismus liegend, dient der Magen als Relais und verbreitet die Beschwerden, die von den inneren und verborgenen Höhlen des Körpers kommen: »Es besteht kein Zweifel, daß die spasmischen Beschwerden, die die Hypochonder und Hysteriker verspüren, ihren Sitz in den nervösen Teilen und vor allem in den dünnhäutigen Teilen des Magens und der Eingeweide haben, von w o sie durch den Interkostalnerv dem Kopf, der Brust, den Nieren, der Leber und allen wichtigen Organen des Körpers vermittelt werden.« 217 214 "Willis, De morbis convulsivis, in: ders., a . a . O . , Bd. i , S . 536. 215 Pinel zählt die Hysterie zu den »névroses de la génération« (Nosographie philosophique). 216 Stahl, a. a. O., S. 453' 217 Hoffmann, a. a. O., Bd. 4, 3. Teil, S. 410.
Die Rolle, die Hoffmann die Eingeweide, die Nerven und den Interkostalnerv spielen läßt, ist bedeutsam für die Art, in der das Problem im Zeitalter der Klassik gestellt wird. Es handelt sich nicht so sehr darum, der alten Lokalisierung durch die Gebärmutter zu entgehen, sondern das Prinzip und den Verlauf eines unterschiedlichen, polymorphen und so im ganzen Körper verteilten Leidens zu entdecken. Man muß Rechenschaft ablegen über Beschwerden, die ebenso den Kopf wie die Beine befallen, sich durch eine Paralyse oder durch ungeordneten Bewegungen übermitteln und entweder die Katalepsie oder die Schlaflosigkeit mit sich bringen können. Kurz, es handelt sich um ein Leiden, das den körperlichen Raum mit einer solchen Geschwindigkeit und dank solcher Listen durchläuft, daß es im ganzen Körper virtuell präsent ist. Es ist unnötig, den Wechsel des ärztlichen Horizonts zu betonen, der sich von Marinello bis zu Hoffmann vollzogen hat. Nichts bleibt mehr von jener berühmten Beweglichkeit übrig, die man dem Uterus zuschrieb und die ständig in der hippokratischen Tradition aufgetaucht ist; nichts, außer vielleicht einem bestimmten Thema, das jetzt um so deutlicher hervortritt, als es nicht mehr in einer einzigen ärztlichen Theorie bewahrt bleibt, sondern sich identisch in der Nachfolge der spekulativen Begriffe und der "Erklärungsschemata fortsetzt. Dieses Thema ist das des dynamischen Durcheinanders des körperlichen Raumes, das eines Aufsteigens der unteren Kräfte, die, nachdem sie zu lange unter Zwang standen und gewissermaßen verstopft waren, in Bewegung geraten, zu kochen beginnen und schließlich ihre Unordnung mit oder ohne Vermittlung des Gehirns im ganzen Körper verbreiten. Dieses Thema ist nahezu bis zum Beginn des achtzehnten Jahrhunderts trotz der völligen Reorganisation der physiologischen Begriffe unbeweglich geblieben. Seltsamerweise wird es sich im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts, ohne daß es einen theoretischen oder experimentellen Umsturz in der Pathologie gegeben hätte, plötzlich ändern, seine Bedeutung wechseln - einer Dynamik des körperlichen Raums wird eine Moral der Sensibilität nachfolgen. Erst dann werden die Begriffe von Hysterie und Hypochondrie sich drehen und endgültig in die Welt des Wahnsinns eintreten. Wir müssen jetzt versuchen, die Entwicklung dieses Themas in jeder seiner drei Etappen wiederherzustellen: 1. Eine Dynamik der organischen und moralischen Durchdringung; 2. eine Physiologie des körperlichen Zusammenhangs; 3. eine Ethik der nervlichen Sensibilität.
Wenn der körperliche Raum als eine feste und zusammenhängende Einheit verstanden wird, kann die ungeordnete Bewegung der H y sterie und der Hypochondrie nur von einem Element kommen, dem seine extreme Feinheit und unaufhörliche Beweglichkeit gestatten, in den durdi die festen Stoffe besetzten Platz einzudringen. Wie Highmore sagt, können die Lebensgeister »wegen ihrer feurigen Dünne sogar in die dichtesten und kompaktesten Körper eindringen ( . . . ) und wegen ihrer Aktivität den ganzen Mikrokosmos in einem einzigen Augenblick durchdringen«. 1 ' 8 Die Geister rufen in allen Teilen des Körpers, für die sie nidit bestimmt sind, tausend verschiedene Anzeichen für Störungen hervor, wenn ihre Beweglichkeit übertrieben, ihre Durchdringung ungeordnet und stürmisch verläuft. Für Highmore wie für Willis, seinen Gegner, und ebenfalls für Sydenham ist die Hysterie die Krankheit eines unterschiedslos für alle Anstrengungen der Lebensgeister durdidringbar gewordenen Körpers, so daß sich an die Stelle der inneren Ordnung der Organe der zusammenhanglose Raum der passiv der ungeordneten Bewegung der Lebensgeister unterworfenen Massen setzt. Diese »bewegen sich stürmisch und in großer Zahl in diesem oder jenem Teil, verursachen dort Krämpfe oder sogar Schmerzen ( . . . ) , stören die Funktion der O r gane, und zwar nicht nur derjenigen, die sie verlassen, sondern auch derjenigen, in die sie eindringen, wodurch die betroffenen Organe notwendig infolge der ungleichen Verteilung der Lebensgeister, die den Gesetzen der Lebensökonomie völlig entgegengesetzt ist, stark geschädigt werden.« 2 "' Der hysterische Körper wird so jener spirituum ataxia ausgesetzt, die außerhalb jedes organischen Gesetzes und jeder funktionalen Notwendigkeit sidi nacheinander aller disponiblen Räume des Körpers bemächtigen kann. Die Wirkungen sind nach den betroffenen Gebieten jeweils verschieden, und das vom reinen Ursprung seiner Bewegung her undifferenzierte Übel nimmt gemäß den Räumen, die es durchfährt, und den Oberflächen, an die es stößt, unterschiedliche Gestalt an: »Wenn sie sich im Bauch anhäufen, werfen sie sich mit Kraft und in großer Menge auf die Muskeln des Larynx und des Pharynx, rufen Krämpfe in der ganzen Breite, die sich durchlaufen, hervor und verursachen im Bauch eine Schwellung, die einer großen Kugel ähnelt.« Die hysterische Beschwerde verursacht ein wenig weiter oben, »indem sie sich auf 218 H i g h m o r e , a . a . O . 2 i j Sydenham, Dissertation
196
sur l'affection
hystérique,
in: ders., a . a . O . , S. 400 f.
den Grimmdarm und das Gebiet, das unterhalb der Herzgrube liegt, einen unerträglichen Schmerz, der der Darmgicht ähnelt«. Steigt das Übel noch höher, dann wirft es sich auf die »vitalen Teile und verursacht ein so heftiges Herzklopfen, daß der Kranke nicht daran zweifelt, daß die Anwesenden den Lärm, den das Herz macht, während es gegen die Rippen schlägt, hören können«. Wenn es schließlich »den äußeren Teil des Kopfes zwischen Schädel und Hirnschalhaut befällt und an einer Stelle sitzen bleibt, löst es dort einen unerträglichen, von starkem Erbrechen begleiteten Schmerz aus ( . . J e d e r Teil des Körpers determiniert selber und durch die ihm eigene Natur die Form des Symptoms, das auftreten wird. Die Hysterie erscheint so als wirklichste und täuschendste der Krankheiten. Als wirklichste erscheint sie, weil sie auf einer Erscheinung der Lebensgeister beruht, und als illusorisch deshalb, weil sie Symptome hervorruft, die durch eine den Organen inhärente Störung hervorgerufen scheinen, während in ihnen lediglich auf der Ebene der Organe eine zentrale oder vielmehr allgemeine Störung Gestalt annimmt. Die Regellosigkeit der inneren Bewegung nimmt an der Oberfläche des Körpers das Gesicht eines auf einen Teil beschränkten Symptoms an. Das Organ imitiert seine eigene Krankheit, wenn es wirklich durch ordnungslose und unmäßige Bewegung der Lebensgeister getroffen wird. V o n einem Bewegungsfehler im inneren Raum her weist das Organ eine Störung auf, die wie eine es speziell betreffende aussieht. Auf diese Weise imitiert die Hysterie »beinahe alle Krankheiten, die den Menschen befallen, denn in welchem Teil des Körpers sie auch begegnen mag, ruft sie sofort die diesem Teil des Körpers eigenen Symptome hervor, und wenn der A r z t nicht über sehr viel Erfahrung und Klugheit verfügt, wird er sich leicht täuschen und einer diesem oder jenem Teil essentiellen oder eigenen Krankheit Symptome zuschreiben, die allein von Hysterie herrühren«.121 Das sind die Listen eines Leidens, das in homogener Bewegung den Körper durchläuft und sich unter spezifischen Gesichtern manifestiert. Die A r t aber ist hier nicht authentisch, sondern nur vom Körper gespielt. Je bequemer der innere Raum durchdringbar ist, um so häufiger wird die Hysterie und um so zahlreicher werden ihre Aspekte sein. Wenn aber der Körper fest und widerstandsfähig ist, der innere Raum dicht, geordnet und auf entschiedene Weise in seinen verschiedenen Gebie220 A . a . O . , S. 395 f. 221 A . a . O., S. 394.
ten heterogen ist, sind die Symptome der Hysterie selten und werden ihre Wirkungen einfach bleiben. Trennt nicht genau dies die weibliche von der männlichen Hysterie, oder, wenn man so will, die H y sterie von der Hypochondrie? Weder die Symptome noch die Ursachen bilden tatsächlich das Trennungsprinzip zwischen den Krankheiten, sondern die räumliche Festigkeit des Körpers und sozusagen die Dichte der inneren Landschaft: »Außer dem Menschen, den man als äußeren bezeichnen kann, und der aus den sinnlich wahrnehmbaren Teilen besteht, gibt es einen inneren Menschen, der durch das System der Lebensgeister gebildet wird und nur mit geistigem Auge sichtbar ist. Der letztere, der eng verbunden und sozusagen mit der körperlichen Konstitution vereinigt ist, ist in seinem Zustand mehr oder weniger gestört, je nachdem, ob die Prinzipien, die die >Maschine< bilden, mehr oder weniger Festigkeit von der Natur erhalten haben. Deshalb befällt diese Krankheit viel mehr Frauen als Männer, weil sie eine viel empfindlichere, weniger feste Konstitution haben und ein weicheres Leben führen, an die Freuden oder Bequemlichkeitén gewöhnt sind und nicht viel zu leiden haben.« Bereits in den Zeilen dieses Textes stellt jene räumliche Dichte eine ihrer Bedeutungen klar. Sie ist gleichzeitig moralische Dichte. Der Widerstand der O r gane gegenüber der ungeordneten Durchdringung von Seiten der Lebensgeister bildet vielleicht nur ein und dieselbe Sache wie jene Seelenkraft, die in den Gedanken und in den Wünschen Ordnung herrschen läßt. Jener innere, durchtränkbar und porös gewordene Raum ist letzten Endes nichts als das Erschlaffen des Herzens. Das erklärt, warum so wenig Frauen hysterisch werden, wenn sie einem harten und mühsamen Leben ausgesetzt sind, daß sie dagegen sehr zur H y sterie neigen, wenn sie ein weiches, müßiges, luxuriöses und schlaffes Leben führen oder wenn irgendeine Sorge ihren Mut niederdrückt: »Wenn die Frauen mich wegen einer Krankheit befragen, deren N a tur ich nicht feststellen kann, frage ich, ob das Leiden, über das sie klagen, sie nicht befällt, wenn sie Ärger haben. ( . . . ) Wenn sie dies bestätigen, bin ich voll davon überzeugt, daß ihre Krankheit hysterische Beschwerden sind.«211 Wir haben also in einer neuen Formel die alte moralische Anschauung, die aus der Gebärmutter seit Hippokrates und Piaton ein lebendes und unaufhörlich bewegliches Wesen gemacht hatte und die räumliche Anordnung seiner Bewegungen eingeteilt hatte. Diese Anschau222 Ebda.
ung perzipierte in der Hysterie die unbezähmbare Erregung der Lüste bei denjenigen, die eben nicht die Möglichkeit haben, sie zu befriedigen, und nicht die Kraft, sie zu bezähmen. Das Bild vom bis zur Brust und bis zum Kopf hinaufsteigenden weiblichen Organ gab einer Umwälzung in der großen platonischen Dreiteilung und in der Hierarchie, die ihre Unbeweglichkeit fixieren sollte, einen mythischen Ausdruck. Bei Sydenham, bei den Schülern von Descartes ist die moralische Anschauung identisch, aber die räumliche Landschaft, in der sie sich ausdrückt, hat sich geändert. An die Stelle der vertikalen und hieratischen Ordnung Piatons hat sich ein Volumen gestellt, das von unaufhörlich beweglichen Teilen, deren Unordnung nicht mehr genau Revolution von unten nach oben, sondern gesetzloser Wirbel in einem umgestürzten Raum ist, durchlaufen wird. Dieser »innere Körper«, den Sydenham mit »dem geistigen Auge« zu durchdringen suchte, ist nicht der objektive Körper, der sich dem fahlen Blick einer neutralen Beobachtung bietet. Er ist der Ort, an dem sich eine bestimmte Art, den Körper vorzustellen und seine inneren Bewegungen zu entziffern, und eine bestimmte Art, moralische Werte hineinzulegen, treffen. Das Werden erfüllt sich, die Arbeit vollzieht sich auf der Ebene jener etfe'sc&en Perzeption. In ihr beugen und neigen sich die stets biegsamen Bilder der ärztlichen Theorie, und die großen moralischen Themen vermögen sich in ihr ebenfalls zu formulieren und ihre ursprüngliche Gestalt langsam zu verändern. Dieser durchdringbare Körper muß dennoch ein zusammenhängender Körper sein, denn die Zerstreuung des Leidens durch die Organe ist nur die Umkehrung einer Verteilerbewegung, die ihm gestattet, von einem zum anderen zu gelangen und sie nacheinander alle zu befallen. Wenn der Körper des hypochondrischen oder hysterischen Kranken ein poröser, von sich selbst getrennter, durch das Eindringen des Übels ausgeweiteter Körper ist, kann dieses Eindringen sich nur dank der Unterstützung eines bestimmten räumlichen Zusammenhangs vollziehen. Der Körper, in dem die Krankheit zirkuliert, muß andere Eigenschaften haben als der Körper, in dem die verteilten Symptome des Kranken auftauchen. Dieses Problem beschäftigt die Medizin des achtzehnten Jahrhunderts und macht aus der Hypochondrie und der Hysterie Krankheiten »des Nervensystems«, das heißt idiopathische Krankheiten des allgemeinen Agens aller Sympathien. Die Nervenfiber ist mit bemerkenswerten Eigenschaften ausgestattet,
die ihr erlauben, die Integration der heterogensten Elemente zu sichern. Es ist bereits erstaunlich, daß die Nerven, die die unterschiedlichsten Eindrücke wiedergeben sollen, überall und in allen Organen von gleicher Natur sein sollten. »Der Nerv, dem seine Entfaltung im Hintergrund des Auges gestattet, den Eindruck einer so feinen Materie wie des Lidits aufzunehmen, und der im Hörorgan, der für die Vibrationen klingender Körper empfindlich wird, unterscheiden sich durdi ihre Natur in nichts von denen, die gröberen Sinneseindrücken wie dem Tasten, dem Geschmack, dem Geruch dienen.«" 3 Diese Identität in der Natur bei unterschiedlicher Funktion sichert die Möglichkeit einer Kommunikation zwischen den örtlich entferntesten und physiologisch unähnlichsten Organen: »Diese Homogenität in den Nerven des Lebewesens in Verbindung mit den zahlreichen Kommunikationen, die sie gemeinsam bewahren, ( . . . ) stellt zwischen den Organen eine Harmonie her, die oft einen oder mehrere Teile an den Affekten teilhaben läßt, durch die andere Teile verletzt werden.«"* Noch erstaunlicher aber ist, daß eine Nervenfiber gleichzeitig die Erregung der willkürlichen Bewegung und den auf dem Sinnesorgan hinterlassenen Eindruck tragen kann. Tissot faßt dieses doppelte Funktionieren in ein und derselben Fiber wie die Kombination aus einer WeWewbewegung auf, wenn es sich um die willkürliche Erregung handelt (»das ist die Bewegung einer in einem weichen Reservoir, zum Beispiel in einer Blase, eingeschlossenen Flüssigkeit, das ich zusammendrücken würde und das die Flüssigkeit durch eine Röhre austreten ließe«) und aus einer körperförmigen Bewegung hinsichtlich der Empfindung (»das ist die Bewegung einer Reihe von Elfenbeinkugeln«). So können Empfindung und Bewegung sich gleichzeitig im selben N e r v vollziehen." 3 Jede Spannung und jedes Erschlaffen in der Nervenfiber wird gleichzeitig die Bewegungen und die Empfindungen verändern, wie wir es in allen Nervenkrankheiten beobachten können." 6 Ist es trotz dieser vereinigenden Kräfte des Nervensystems sicher, daß man durch das wirkliche N e t z seiner Fibern den Zusammenhang der sehr verschiedenen Störungen, die die Hysterie und die H y p o chondrie charakterisieren, erklären kann? Wie soll man sich die Verbindungen zwischen den Zeichen vorstellen, die überall im Körper 223 Pressavin, Nouveau traité des vapeurs, L y o n 1770, S. 2 f. 224 A . a . O . , S. 3. 22j Tissot, Traité des nerfs et de leurs maladies, Paris 1778-1780, Bd. 1, S. 99 f . 22Ä A . a. O., Bd. 2, S. 270-292.
das Vorhandensein eines nervlichen Leidens zeigen? Wie und durch welche Verkettungslinie kann man erklären, daß bei verschiedenen »zarten und sehr empfindlichen« Frauen ein berauschendes Parfum, die zu lebhafte Erzählung eines tragischen Ereignisses oder auch der Anblick eines Kampfes einen solchen Eindruck machen, daß sie »Ohnmachtsanfälle oder Konvulsionen erleiden«?117 Man würde vergeblich suchen, denn es gibt keine genaue Verbindung der Nerven, keinen von vornherein gezogenen Weg, sondern nur eine Aktion aus der Distanz, die eher zur Ordnung einer physiologischen Solidarität gehört. Das liegt daran, daß die verschiedenen Körperteile eine sehr »determinierte Fähigkeit besitzen, die entweder allgemein und über das ganze System der Lebensökonomie ausgedehnt ist, oder eine besondere ist, das heißt eine, die sich in erster Linie in ganz bestimmten Teilen auswirkt«. 118 Diese sehr unterschiedliche Eigenheit sowohl »der Fähigkeit, etwas zu empfinden, als auch der, sich zu bewegen«, gestattet den Organen, zu korrespondieren, zusammen zu leiden, auf eine, obwohl ferne, Erregung zu reagieren: das ist die Sympathie. Tatsächlich vermag Whytt nicht die Sympathie in der Gesamtheit des Nervensystems zu isolieren, noch sie streng in Beziehung zur Empfindsamkeit und zur Bewegung zu definieren. Die Sympathie existiert in den Organen nur in dem Maße, in dem sie durch Vermittlung der Nerven darin empfangen wird. Sie ist um so mehr gekennzeichnet, als deren Beweglichkeit 119 größer ist, und gleichzeitig ist sie eine der Formen der Sensibilität: »Jede Sympathie, jeder Konsensus setzt Gefühl voraus und kann folglich nur durch die Vermittlung der Nerven, die die einzigen Instrumente sind, mit deren Hilfe sich die Empfindbarkeit vollzieht, erlangt werden.« 130 Das Nervensystem aber wird hier nicht mehr zur Erklärung der genauen Übermittlung einer Bewegung oder einer Empfindung hinzugezogen, sondern um in ihrer Gesamtheit und ihrer Masse die Empfindsamkeit des Körpers gegenüber seinen eigenen Phänomenen und jenes Echo zu rechtfertigen, das er sich selbst durch das Volumen seines organischen Raumes gibt. Die Nervenkrankheiten sind wesentlich Störungen der Sympathie und setzen einen allgemeinen Alarmzustand des Nervensystems voraus, der jedes Organ dafür empfindlich macht, daß es in Sympathie mit irgendeinem anderen treten kann: »In einem solchen Zustand 227 228 229 230
Whytt, a. a. O., Bd. 1, S. 24. A . a. O., Bd. 1, S. 23. A . a . O . , B d . 1, S. 51. A . a . O . , Bd. 1, S. $0.
von Empfindlichkeit des Nervensystems werden die Leidenschaften der Seele, die Fehler in der Lebensweise, der abrupte Wechsel von Hitze und Kälte oder von Schwere und Feuchtigkeit der Atmosphäre sehr leicht die krankheitstragenden Symptome entstehen lassen, so daß man sich mit einer solchen Konstitution keiner festen und konstanten Gesundheit erfreuen wird. Gewöhnlich aber wird man eine kontinuierliche Abfolge von mehr oder weniger großen Schmerzen verspüren.« 23 ' Wahrscheinlich wird diese erbitterte Sensibilität durch Zonen von Gefühllosigkeit und gleichsam durch Schlafzonen kompensiert. In einer allgemeinen Weise sind die Hysteriker diejenigen, bei denen diese innere Sensibilität ausgeprägter ist, während sie bei den Hypochondern im Gegenteil relativ abgestumpft ist. Ganz gewiß gehören die Frauen zur ersten Kategorie, ist doch die Gebärmutter mit dem Gehirn das Organ, das am meisten Sympathien mit der Gesamtheit des Organismus unterhält. Es genügt, das »Erbrechen zu nennen, das im allgemeinen die Entzündung der Gebärmutter begleitet. Ekelgefühle, unregelmäßiger Appetit, der der Empfängnis folgt, das Zusammenziehen des Zwerchfells und der Bauchmuskeln zur Zeit der Niederkunft, Kopfschmerzen, Hitze und Rückenschmerzen, Kolik in den Eingeweiden, die beim Herannahen der Menstruation spürbar werden.«232 Der ganze weibliche Körper wird von dunklen, aber eigenartig direkten Wegen der Sympathie durchzogen, er ist stets in einer unmittelbaren Komplizität mit sich selbst, so daß er für die Sympathien gewissermaßen einen Ort absoluten Privilegs bildet. Von einer Extremität seines organischen Raumes zur anderen schließt er eine ständige Möglichkeit der Hysterie ein. Die sympathetische Sensibilität ihres Organismus, die durch den ganzen Körper strahlt, verurteilt die Frau zu jenen Nervenkrankheiten, die man vapeurs nennt. »Die Frauen, bei denen das System allgemein beweglicher ist als bei den Männern, sind den Nervenkrankheiten in stärkerem Maße ausgesetzt, die sich bei ihnen auch in beträchtlicherem Umfang finden.«233 Whytt versichert, Zeuge dessen gewesen zu sein, daß »der Schmerz eines Zahnleidens bei einer jungen Frau, deren Nerven schwach waren, Konvulsionen und eine Gefühllosigkeit hervorriefen, die mehrere Stunden dauerten und sich erneuerten, wenn der Schmerz stärker wurde.« Die Nervenkrankheiten sind Krankheiten des körperlichen Zusam2JI A . a . O . , B d . i , S. iz6l. 232 A . a . O . , Bd. 1, S. 47. 233 A . a . O . , Bd. i , S . 166 f.
menhangs. Ein sich selbst sehr naher Körper, der mit jedem seiner Teile zu vertraut ist, und ein organischer Raum, der irgendwie eng zusammengezogen ist, sind jetzt zum gemeinsamen Thema der H y sterie und der Hypochondrie geworden. Das stärkere Zusammenrücken des Körpers in sich nimmt bei bestimmten Autoren die Gestalt eines genauen, zu genauen Bildes an. Das ist bei dem berühmten, von Pomme beschriebenen »Einschrumpfen des Nervensystems« der Fall. Ähnliche Bilder maskieren das Problem, beseitigen es aber nicht und verhindern nicht die Fortsetzung der Arbeit. Ist diese Sympathie im Grunde eine verborgene Eigenschaft jeden Organs — jenes »Gefühl«, von dem Cheyne sprach - oder eine wirkliche Verteilung auf dem Weg über ein Zwischenelement? Ist die pathologische Ähnlichkeit, die die Nervenkrankheiten charakterisiert, Verschlimmerung dieses Gefühls oder größere Beweglichkeit dieses durchbrochenen Körpers? Es ist eine seltsame, aber wahrscheinlich für das ärztliche Denken im achtzehnten Jahrhundert charakteristische Tatsache, daß, während zur gleichen Zeit die Physiologen sich bemühen, die Funktionen und die Rolle des Nervensystems (Sensibilität und Reizbarkeit, Empfindung und Bewegung) sehr genau einzukreisen, die Ärzte in konfuser Weise jene Begriffe in der undeutlichen Einheit der pathologischen Wahrnehmung benutzen und sie gemäß einem ganz anderen Schema als dem von der Physiologie vorgeschlagenen artikulieren. Empfindbarkeit und Bewegung werden nicht unterschieden. Tissot erklärt, daß das Kind mehr als jeder andere sensibel ist, weil alles in ihm leichter und beweglicher ist.234 Die Reizbarkeit in dem Sinne, in dem Haller darunter eine Eigenschaft der Nervenfiber verstand, wird mit der Reizung verwechselt, die als krankhafter Zustand eines Organs verstanden wird, der durch eine längere Aufregung hervorgerufen wird. Man wird zugeben, daß die Nervenkrankheiten Erregungszustände sind, die mit einer äußersten Mobilität der Fiber verbunden sind. »Man sieht mitunter Personen, bei denen die geringste Ursache beträchtlichere Bewegungen hervorruft als diejenigen, die bei gesunden ausgelöst werden. Sie können nicht den geringsten fremden Eindruck aushalten. Das geringste Geräusch, das schwächste Licht verursacht bei ihnen schon außergewöhnliche Symptome.« 23 ' In dieser wil234 Tissot, a. a. O., Bd. 1, S. 274. 235 A . a . O . , Bd. i , S . 301.
lentlich aufrechterhaltenen Ambiguität des Begriffs der Reizung kann die Medizin am Ende des achtzehnten Jahrhunderts tatsächlich den Zusammenhang zwischen der Disposition (Reizbarkeit) und dem krankhaften Ereignis (Reizung) zeigen. Aber sie kann gleichzeitig das Thema einer einem Organ eigenen Störung, das, wenn auch in einer ihm eigenen Einzigartigkeit, einen allgemeinen Befall verspürt (diese trotz allem diskontinuierliche Kommunikation wird durch die dem Organ eigene Sensibilität gesichert), und die Idee der Verteilung einer selben Störung im ganzen Organismus aufrechterhalten, die ihn in jedem seiner Teile zu erreichen vermag (die Beweglichkeit der Fiber sichert diesen Zusammenhang trotz der verschiedenen Formen, die sie in den Organen annimmt). Wenn aber der Begriff der »gereizten Fiber« diese Rolle erzwungener Konfusion hat, gestattet er andererseits in der Pathologie eine entscheidende Unterscheidung. Einerseits sind die Nervenkranken die reizbarsten, das heißt die empfindlichsten: Schwäche der Fiber, Empfindlichkeit des Organismus, aber auch leicht beeindruckbare Seele, unruhiges Herz, zu lebhafte Sympathie all dem gegenüber, was um den Menschen herum vorgeht. Diese A r t universaler Resonanz - gleichzeitig Empfindung und Beweglichkeit - bildet die erste Determination der Krankheit. Die Frauen, die »eine zerbrechliche Fiber« haben, die sich in ihrer Muße durch die lebhaften Bewegungen in ihrer Vorstellungskraft leicht erregen lassen, sind öfter von Nervenleiden befallen als der »robustere, trockenere, durch die Arbeiten ausgebranntere« Mann. 236 Dieser Erregungsüberschuß hat die Besonderheit, daß er in seiner Lebhaftigkeit die Seelenempfindungen abschwächt und mitunter völlig erlöschen läßt, als übersteige die Sensibilität des nervlichen Organs die Fähigkeit, selbst zu fühlen, die die Seele hat, und beseitige zu ihrem eigenen Vorteil die Multiplizität der Empfindungen, die ihre extreme Mobilität hervorruft. Das Nervensystem »ist in einem solchen Erregungs- und Reaktionszustand, daß es dann unfähig ist, der Seele das zu übermitteln, was es verspürt. Alle seine Eigenschaften sind durcheinandergebracht, sie liest sie nicht mehr.«237 So zeichnet sich die Idee einer Sensibilität ab, die nicht Empfindung ist, und von einer umgekehrten Beziehung zwischen jener Zartheit, die ebenso zur Seele wie zum Körper gehört, und einem bestimmten Schlaf des Gefühls, der die nervlichen Erschütterungen
23« A . a. O., Bd. I, S. 278 f. 237 A . a . O . , B d . j , S. 302f.
daran hindert, bis zur Seele zu gelangen. Die Bewußtlosigkeit des H y sterikers ist nur die Umkehrung seiner Sensibilität. Jene Beziehung konnte der Sympathiebegriff nicht definieren, der durch jene Vorstellung von der Reizbarkeit herangetragen worden ist, die so wenig ausgearbeitet und im Denken der Fachleute der Pathologie noch so konfus war. Aber durch diese Tatsache verändert sich die moralische Bedeutung der »Nervenkrankheit« in tiefem Maße. Solange die Nervenleiden mit den organischen Bewegungen der unteren Körperteile (selbst auf den vielfältigen und konfusen Wegen der Sympathie) in Verbindung gebracht wurden, stellten sie sich in eine bestimmte Ethik der Begierde: sie waren die Vergeltung eines rohen Körpers; man wurde von zu großer Heftigkeit krank. Künftig ist man krank, weil man zuviel empfindet, und leidet an einer äußersten Solidarität mit allen Wesen in der Umgebung. Man wird nicht mehr durch seine geheime Natur gezwungen, sondern ist Opfer all dessen, was an der Oberfläche der Welt den Körper und die Seele herausfordert. Gleichzeitig ist man viel unschuldiger und viel schuldiger an all dem. Unschuldiger, weil man durch die ganze Erregung des Nervensystems in eine um so größere Bewußtlosigkeit gezogen wird, je mehr man krank ist. Schuldiger und viel schuldiger ist man, weil alles, woran man sich in der Welt gekettet hat, das Leben, das man geführt hat, die Empfindungen, die man gehabt hat, die Leidenschaften und die Vorstellungen, die man mit zu großer Gefälligkeit kultiviert hat, in die Nervenerregung einfließt und darin gleichzeitig seine natürliche Auslegung und moralische Bestrafung findet. Das ganze Leben endet damit, daß es sich nach diesem Erregungszustand beurteilt: Mißbrauch unnatürlicher Dinge23®, die Ortsansässigkeit in Städten, Lektüre von Romanen, Theatervorstellungen 2 «, unmäßiger Eifer in den Wissenschaften240, »zu lebhafte sexuelle Leidenschaften oder jene verbrecherische, ebenso moralisch tadelnswerte wie physisch schädliche Gewohnheit« 24 '. Die Unschuld des Nervenkranken, der nicht einmal mehr die Erregung seiner Nerven spürt, ist im Grunde die gerechte Bestra238 Luft, Nahrungsmittel und Getränke, Sdilaf und Wachsein, Ruhe und Bewegung, Ausscheidungen und Vorhaltungen, Leidenschaften. Vgl. u. a. Tissot, Traité des nerfs, Bd. 2, S . 3 f . 239 V g l . Tissot, Essai sur les maladies des gens du monde. 240 Jean-Baptiste Pressavin, Nouveau traité des vapeurs, L y o n 1770, S. 15-55· 222-224. 241 A . a . O . , S. 65.
fung einer tieferen Straffälligkeit, die ihn die Welt hat der Natur vorziehen lassen. »Ein furchtbarer Zustand! ( . . . ) Das ist die schwere Strafe aller verweichlichten Seelen, die die Untätigkeit in gefährliche Leidenschaften gestürzt hat und die, um sich den von der Natur auferlegten Arbeiten zu entziehen, alle trügerischen Meinungen ergriffen haben ( . . . ) . So werden die Reichen für die erbarmungswürdige Anwendung ihres Reichtums bestraft.«1-·2 Wir stehen am Vorabend des neunzehnten Jahrhunderts: die Reizbarkeit der Nervenfiber wird ihre physiologische und pathologische Bestimmung erhalten.143 Was sie im Augenblick im Gebiet der Nervenkrankheiten hinterläßt, ist trotz allem etwas sehr Wichtiges. Auf der einen Seite ist es die völlige Annäherung der Hysterie und der Hypochondrie an die Geisteskrankheit. Durch die Hauptuntersdieidung zwischen Sensibilität und Empfindung treten sie in das Gebiet der Unvernunft ein, von dem wir gesehen haben, daß es durch das wesentliche Moment des Irrtums und des Traumes, das heißt der Blindheit, charakterisiert wird. Solange die vapeurs Konvulsionen oder fremdartige sympathetische Kommunikationen waren, die durch den Körper verlaufen, selbst als sie zur Besinnungslosigkeit und zum Verlust des Bewußtseins führten, waren sie nicht Wahnsinn. Aber sobald der Geist durch das Übermaß seiner eigenen Sensibilität blind wird, erscheint der Wahnsinn. Andererseits gibt diese Reizbarkeit dem Wahnsinn einen neuen Inhalt von Straffälligkeit, von moralischer Sanktion und gerechter Bestrafung, der nicht der klassischen Erfahrung eigen war. Sie belastet die Unvernunft mit all diesen neuen Werten. Anstatt aus der Blindheit die Bedingung der Möglichkeit aller Manifestationen des Wahnsinns zu machen, beschreibt sie ihn als psychologische Wirkung eines moralischen Fehlers. Dadurch wird das bloßgestellt, was es an Wesentlichem in der Erfahrung der Unvernunft gab. Was Blindheit war, wird zur Bewußtlosigkeit werden, was Irrtum war, wird zur Verfehlung werden, und alles, was im Wahnsinn die paradoxe Manifestation des Nicht-Seins bezeichnete, wird natürliche Strafe eines moralischen Übels werden. Zusammenfassend kann man sagen, daß diese ganze vertikale Hierarchie, die die Wahnsinnsstruktur zur Zeit der französischen Klassik vom Zyklus der materiellen Ursachen bis zur Transzendenz des Deliriums konstituierte, jetzt einstürzen und sich 242 Louis Sébastien Mercier, Tableau de Paris, 12 vols., Amsterdam 1783, Bd. 3, S. 199. 243 François-Joseph-Victor Broussais, De l'iritation 30 6
et de la folie, Paris 2 ι839·
an der Oberfläche eines Gebiets verteilen wird, das bald die Psychologie und die Moral gemeinsam besetzen und sich gegenseitig streitig madien werden. Die »wissenschaftliche Psychiatrie« des neunzehnten Jahrhunderts ist möglich geworden. In diesen »Nervenleiden« und diesen »Hysterien«, die schnell ihre Ironie ausüben werden, nimmt sie ihren Anfang.
4- Kapitel
Patienten und Ätzte Die ärztlidie Praxis und das ärztliche Denken haben im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert nicht die Kohärenz, in der sie sich heute befinden. Wir haben bereits gesehen, in welcher Unabhängigkeit sich Hospitalisierung und Internierung von der Medizin befanden. Jedoch stehen sogar in der Medizin Theorie und Therapie in unvollkommener Reziprozität. Die Behandlung des Wahnsinns im Hospital war ausgeschlossen, weil dessen Hauptaufgabe in der Zucht und Bestrafung lag. Indessen entwickelten sich während der ganzen Zeit der französischen Klassik die Behandlungsformen im Bereich außerhalb der Anstalten weiter. Umfangreiche Kuren für Wahnsinnige wurdén entwickelt, deren Ziel nicht so sehr die Sorge um die Seele wie die Heilung des ganzen Individuums, der Nervenfiber und der Vorstellungskraft war. Der Körper des Irren wurde als feste und sichtbare Form seines Leidens betrachtet. Daher rühren auch jene Kuren, deren Sinn einer moralischen Perzeption und moralischen Therapie des Körpers entliehen war. Einige der wesentlichen therapeutischen Vorstellungen, die den Kuren zugrunde lagen, sollen nun untersucht werden. i . Die Konsolidierung. Es gibt im Wahnsinn, selbst in seinen heftigsten Formen, eine Komponente der Schwäche. Wenn die Lebensgeister dabei unregelmäßigen Bewegungen unterworfen sind, liegt es daran, daß sie nicht genug Kraft und Gewicht haben, um der Schwere ihres natürlichen Laufes zu folgen. Wenn man sooft Krämpfe und Konvulsionen bei den Nervenleiden antrifft, so liegt die Ursache dafür in zu großer Beweglichkeit, zu großer Reizbarkeit oder Empfindlichkeit für Vibrationen der Nervenfiber. A u f jeden Fall fehlt es ihr an Robustheit. Unter der offen sichtbaren Heftigkeit des Wahnsinns, die mitunter die Kraft der Maniakalisdien in beträchtlichem Maße zu vervielfachen scheint, gibt es stets eine geheime Schwäche, einen wesentlichen Mangel an Widerstand. Das Toben des Irren ist in Wahrheit nur passive Heftigkeit. Man wird also nach einer Kur suchen, die den Lebensgeistern und den Nervenfibern eine Kraft gibt, aber eine ruhige Kraft, eine von keiner Unordnung mobilisierbare Stärke so groß wird von Anfang an ihre Biegsamkeit gegenüber dem Lauf des Naturgesetzes sein. Mehr als das Bild der Lebhaftigkeit und der
Stärke ist es das der Robustheit, das sich aufdrängt und die Grundform eines neuen Widerstandes, einer frischen Elastizität, die jedoch unterworfen und bereits domestiziert ist, enthält. Man muß eine der Natur entnehmbare Kraft gewinnen, um die Natur ihrerseits zu stärken. Man träumt von Heilmitteln, »die sozusagen Partei ergreifen« und den Lebensgeistern »die Ursache ihrer Fermentation zu besiegen helfen«. Partei der Lebensgeister zu ergreifen, heißt gegen die nichtige Bewegung zu kämpfen, der sie wider Willen unterworfen sind. Das heißt auch, ihnen die Möglichkeit zu geben, dem ganzen chemischen Sieden, durch das sie erhitzt und verwirrt werden, zu entgehen. Und schließlich heißt es, ihnen genug Festigkeit zu geben, um den Dünsten zu widerstehen, die sie zu ersticken, untätig werden zu lassen und in ihrem Wirbel fortzutragen versuchen. Gegen die Dünste stärkt man die Lebensgeister »durch die stinkendsten Gerüche«. Eine unangenehme Empfindung belebt die Lebensgeister, die sich in gewisser Weise dagegen auflehnen und sich kraftvoll dahin begeben, wo der Angriff zurückzuwerfen ist. Z u diesem Zwecke wird man »Teufelsdreck, Ambraöl, verbranntes Leder, verbrannte Federn und schließlich alles, was der Seele lebhafte und unangenehme Gefühle verschaffen kann«, benutzen. Gegen die Fermentation muß man Theriak, »antiepileptischen Spiritus von Charras« und vor allem das berühmte Wasser der Königin von Ungarn geben.24,1 Die Schärfe verschwindet, die Lebensgeister nehmen darauf wieder ihr richtiges Gewicht an. Schließlich empfiehlt Lange, um ihnen ihre genaue Beweglichkeit wiederzugeben, daß man die Geister den Empfindungen und zugleich den Bewegungen unterwirft, die angenehm, gemessen und regelmäßig zugleich sind: »Wenn die Lebensgeister getrennt und aus ihrer Einheit gelöst werden, bedürfen sie ihre Bewegung beruhigender Heilmittel und solcher, die sie in ihre natürliche Situation zurückbringen, wozu die Gegenstände gehören, die der Seele ein Gefühl des süßen und gemäßigten Vergnügens geben, angenehme Düfte, Spaziergänge an herrlichen Orten, der Anblick von Personen, die gewöhnlich gefallen, und die Musik.«24' Diese feste Zartheit, eine angemessene Schwere, schließlich eine Belebung, die nur zum Schutze des Körpers bestimmt ist, 244 Mme de Sevignc benutzte es viel und fand es »gut gegen Traurigkeit« (vgl. die Briefe vom 16. und 20. Oktober 1675 in: dies., Œuvres, Bd. 4, S. 186 und 193). Das Rezept dafür wird genannt bei Marie de Maupeou, Mme François Fouquet, Recueil de remèdes faciles et domestiques, Paris 1678, S. 381. 245 Lange, Traité des vapeurs, S. 243-245.
sind die geeigneten Mittel, um dem Organismus die zerbrechlichen Mittel zu konsolidieren, die den Körper und die Seele kommunizieren lassen. Wahrscheinlich gibt es aber keinen besseren Stärkungsprozeß als die Anwendung des Körpers, der zugleich der festeste und gelehrigste, der widerstandsfähigste, aber in den Händen eines Menschen, der ihn nach seinen Zielen zu schmieden versteht, der biegsamste ist: das Eisen. Das Eisen enthält in seiner privilegierten Natur alle Eigenschaften, die schnell widersprüchlich werden, wenn man sie isoliert. Nichts widersteht besser als Eisen, nichts gehorcht besser. Es ist in der Natur vorhanden, aber es steht auch allen menschlichen Techniken zur Verfügung. Wie könnte der Mensch die Natur anders unterstützen und ihr durch ein sichereres Mittel (das heißt durch ein der Natur näheres und dem Menschen besser unterworfenes) einen Zusatz an Kraft verleihen als durch die Anwendung des Eisens? Man zitiert stets das alte Beispiel von Dioskorides, der der Trägheit des Wassers stärkende Kraft gab, die ihm fremd war, indem er einen Stab glühenden Eisens hineintauchte. Die Hitze des Feuers und die ruhige Mobilität des Wassers und jene Strenge eines Metalls, das so lange behandelt worden war, bis es weich war, — all diese Elemente zusammen brachten dem Wasser stärkende, belebende, konsolidierende Kräfte, die es dem Organismus weitergeben konnte. Das Eisen ist aber außerhalb jeder Zubereitung bereits wirksam. Sydenham empfiehlt es in sehr einfacher Form: durch direktes Schlucken von Eisenfeilspänen.2·16 Whytt hat einen Mann gekannt, der, um sich von einer Schwäche der Magennerven zu heilen, die einen Zustand permanenter Hypochondrie mit sich brachte, jeden Tag bis zu 230 Körner nahm.247 Mit all diesen Kräften verbindet das Eisen die bemerkenswerte Eigenschaft, sich direkt, ohne Zwischenstufe oder Transformation zu vermitteln. Was es weitergibt, ist nicht seine Substanz, sondern seine Kraft. Paradoxerweise löst es sich, obwohl es so resistent ist, im Organismus sofort auf, ohne ihm etwas anderes als seine Eigenschaften zu verleihen, also keinen Rost oder Abfall. Es ist klar, daß hier eine ganze Bilderwelt vom wohltuenden Eisen das diskursive Denken bestimmt und sogar die Beobachtung überwiegt. Wenn man experimentiert, so geschieht das nicht, um eine positive Verkettung an den Tag zu bringen, sondern diese unmittelbaren Kommunikationen der Eigenschaften
24 6 Sydenham, Dissertation sur l'affection hystérique, in: ders., a. a. O., S. 57 1 · 247 Whytt, Traité des maladies nerveuses, Bd. 2, S. 149.
einzukreisen. Wright läßt einen Hund Marssalz nehmen. Er beobachtet, daß eine Stunde später der Chylos, wenn man ihn mit Tinktur von Walliser Nüssen vermischt, nicht die dunkle Purpurfarbe anzeigt, die er annehmen würde, wenn das Eisen assimiliert worden wäre. Das heißt, daß das Eisen, ohne sich in die Verdauung zu mischen, ohne in das Blut überzugehen, ohne substantiell in den Organismus einzudringen, direkt die Membranen und Fibern stärkt. Mehr denn als festgestellte Wirkung erscheint die Konsolidierung der Lebensgeister und der Nerven eher wie eine operative Verwandlung, die eine Kraftverlagerung ohne jegliche diskursive Dynamik impliziert. Die Kraft geht über durch Kontakt, außerhalb jeden substantiellen Austausches und jeder Kommunikation der Bewegungen. z. Oie Reinigung. Verstopfung der Eingeweide, Aufwallen falscher Ideen, Fermentation von Dünsten und heftige Bewegungen, verdorbene flüssige Stoffe und Lebensgeister lassen den Wahnsinn eine ganze Serie von Therapien fordern, von denen jede mit einem gleichen Reinigungsvorgang verbunden werden kann. Man träumt von einer A r t totaler Reinigung: der einfachsten, aber auch der unmöglichsten der Kuren. Sie würde in einem Austausch des überladenen, verdickten, völlig mit scharfen Säften und schwarzer Flüssigkeit angefüllten Blutes durch ein helles und leichtes Blut bestehen, dessen neue Bewegung das Delirium auflösen würde. 1662. hatte Moritz Hoffmann die Bluttransfusion als Heilmittel für die Melancholie vorgeschlagen. Einige Jahre später hat die Idee einen ziemlichen Erfolg gehabt, so daß die Philosophische Gesellschaft von London eine Versuchsserie mit den in Bedlam eingeschlossenen Patienten vorschlägt. Der mit dem Unternehmen beauftragte Arzt, Allen, lehnt es ab.2<s Aber Denis versucht die Bluttransfusion an einem seiner Kranken, der an durch Liebe ausgelöster Melancholie leidet. Er nimmt elf Unzen Blut ab, die er durch eine leicht geringere Menge ersetzt, die er der Schenkelarterie eines Kalbes entnimmt. A m nächsten Tag wiederholt er den Vorgang, aber die Operation umfaßt diesmal nur einige Unzen. Der Kranke beruhigt sich. Am folgenden Tag ist sein Geist klarer, und bald ist er völlig geheilt. »Alle Professoren der Schule für Chirurgie bestätigten es.« 2 " Die Technik wird allerdings trotz einiger späterer Versuche sehr schnell aufgegeben. 2s ° 248 Heinrich Laehr, Gedenktage der Psychiatrie, Berlin 1893, S. 316. 249 Gregory Zilboorg, History 0} Psychiatry, S. 275 f. Ettmüller empfahl die Transfusion lebhaft in Fällen von melancholischen Delirien (Chirurgia transfusoria, 1Ä82). 250 Die Transfusion wird als Heilmittel für den Wahnsinn noch genannt von
Man wird vorzugsweise die Medikationen anwenden, die dem Verderben vorbeugen. Wir wissen »aus einer mehr als dreitausendjährigen Erfahrung, daß Myrrhen und Aloe die Leichen bewahren«.1*1 Diese Veränderungen der Körper sind nun von gleicher Natur wie diejenigen, die die Krankheiten der Säfte begleiten. Nidits ist also empfehlenswerter gegen die vapeurs als Mittel wie Myrrhen, Aloe und vor allem das berühmte Elixier des Paracelsus. 1!2 Man muß aber mehr tun als dem Verderb vorbeugen, man muß ihn zerstören. Daher rühren die Therapien, die die Veränderung selbst angreifen und entweder die verdorbenen Substanzen abzuleiten oder die verderbenden Substanzen aufzulösen versuchen. Es handelt sich also um Tediniken der Ableitung und solche der Zerstörung. Zu den ersten gehören alle eigentlichen physischen Methoden, die an der Oberfläche des Körpers Verwundungen - zugleich Infektionszentren, die den Organismus freimadien, und Austrittszentren zur äußeren Welt - zu schaffen streben. So erklärt Fallowes den wohltuenden Medianismus seines oleum cepbalicum. Beim Wahnsinn »verstopfen sdiwarze Dünste die sehr feinen Gefäße, durch die die Lebensgeister hindurch müßten«. In diesem Fall ist das Blut in seiner Bewegungsrichtung gehemmt, es verstopft die Adern im Gehirn, in denen es stagniert, wenn es nidit von einer konfusen Bewegung erregt wird, »die die Ideen verwirrt«. Das oleum cepbalicum hat den Vorteil, »kleine Pusteln auf dem Kopf« hervorzurufen, die man mit ö l einreibt, um ihre Austrocknung zu verhindern, so daß der Ausgang »für die im Hirn fixierten schwarzen Dünste« geöffnet bleibt.-" Verbrennungen und Ätzungen auf dem ganzen Körper haben jedoch die gleidie Wirkung. Man nimmt sogar an, daß Hautkrankheiten wie Krätze, Ekzeme, Pocken ebenfalls einen Wahnsinnsanfall beenden könnten. Der Verderb verläßt dann die Eingeweide und das Gehirn, um sich an der Oberfläche des Körpers auszubreiten und sich dann zu befreien. A m Ende des Jahrhunderts wird man die Gewohnheit annehmen, in den hartnäckigsten Fällen von Manie die Krätze künstlich zu übertraPierrc Dionis, Cours d'opération de chirurgie, Paris 1710 (Demonstration VIII. S. 408) und von Manjer, Bibliothèque médico-pratique, 3, Buch 9, S. 334 f. 251 Lange, a.a. O., S. 251. 252 Lieutaud, Précis de médecine pratique, S. 620 f. 253 Thomas Fallowes, The best method for the cure of lunaticks. Witb some accoinit of the incomparable Oleum cepbalicum used in the same, London 1705, zitiert bei Daniel Hack Tuke, Chapters in the History of the Insane in the British Islcs, London 1S 82, S. 93 f.
gen. Doublet empfiehlt in seiner Instruction von 178$ den Hospitaldirektoren, wenn die Aderlasse, Purganzen, Bäder und Duschen eine Manie nicht haben beenden können, zu »Ätzungen, Haarseilen, oberflächlichen Abszessen und der Übertragung der Krätze zu greifen«. 1 ' 4 Aber die Hauptaufgabe besteht in der Auflösung der Fermentationen, die durch ihre Bildung im Körper den Wahnsinn bestimmt haben.155 U m das zu tun, benutzt man in erster Linie abgekochte bittere Kräuter. Die Bitterkeit hat alle scharfen Kräfte des Meerwassers, sie reinigt, indem sie abnutzt, sie übt ihre Korrosion auf alles aus, was das Leiden an Unnützem, an Ungesundem und an Unreinem im Körper und oder in der Seele hat deponieren können. Der bittere und aktive Kaffee ist für die »fetten Personen nützlich, deren dicke Säfte nur noch mit Mühe zirkulieren«. 256 Er entzieht Flüssigkeit, ohne zu brennen, denn es ist die Eigenheit so gearteter Substanzen, die überflüssigen Feuchtigkeitsmengen ohne gefährliche Hitze aufzulösen. Es gibt im Kaffee gewissermaßen ein Feuer ohne Flamme, eine Reinigungskraft, die nicht kalziniert. Kaffee entfernt die Unreinheiten: »Die ihn gebrauchen, spüren nach einer langen Erfahrung, daß er den Magen wieder herrichtet, daß er dessen überflüssige Feuchtigkeit aufnimmt, daß er Blähungen beseitigt, das Eiweiß im Mastdarm auflöst, den er einer zarten Reinigung unterzieht, und — was in besonderem Maße beachtlich ist - er verhindert, daß Dämpfe in den Kopf steigen, und mildert folglich die Schmerzen und das Stechen, das man gewöhnlich im Kopf verspürt. Schließlich gibt er den Lebensgeistern Kraft, Stärke und Sauberkeit, ohne in ihnen irgendeinen Eindruck von Hitze zu hinterlassen, nicht einmal bei den erhitztesten Personen, die an seinen Gebrauch gewöhnt sind.«257 Der Empfehlung von Whytt zufolge soll man den Personen, »deren Nervensystem sehr empfindlich ist«, die bittere, jedoch auch Spannkraft verleihende Fieberrinde geben. Sie ist wirksam bei »Schwäche, Entkräftung und Niedergeschlagen2Ç4 François-Joseph Doublet, Traitement qu'il faut administrer dans les différentes espèces de folie, in: Instruction par Doublet et Colombier (Journal de médecine. Juli 1785). 2 j j Der Dictionnaire von James schlägt folgende Genealogie der verschiedenen Alienationen vor: »Die Manie hat allgemein ihren Ursprung in der Melancholie, Jic Melancholie in den hypochondrischen Leiden der unreinen und verdorbenen siiftc, die langsam in den Eingeweiden zirkulieren ( . . . ) « . Dictionnaire universel de •ίedecine, Bd. 4, S. 1126, Artikel »Manie«. M" Thirion, De l'usage et de l'abus du café. Thèse soutenue .i Pont-à-Mousson, 1-03 (vgl. den Beridit in der Gazette salutaire, N r . 3 7 , 1 j . September 1763). 3ir Paris, Bibliothèque de l'Arsenal, Ms. 4528, Ρ i i j .
heit«. Zwei Jahre einer Kur, die lediglich aus einer Fieberrindentinktur besteht und von Zeit zu Zeit für höchstens einen Monat unterbrochen wird, genügen, um eine nervenkranke Frau zu heilen.*'8 Für empfindliche Personen muß man die Fieberrinde »mit einem im Geschmack angenehmen, bitteren Stoff« verbinden. Wenn aber der Organismus heftigeren Attacken widerstehen kann, kann man nur allzu dringlich das Vitriol, mit Fieberrinde vermischt, empfehlen. Zwanzig oder dreißig Tropfen eines Vitriolelixiers sind vortrefflich. 1 " Natürlich werden Seife und Seifenprodukte nicht die entsprechenden Wirkungen in dieser Reinigungsprozedur verfehlen. »Die Seife löst fast alles Geronnene auf.« l6 ° Tissot denkt, daß man die Seife direkt verzehren kann und daß sie viele Nervenleiden beruhigen wird, aber sehr oft genügt es, morgens auf nüchternen Magen, allein oder mit Brot »seifiges Obst« zu essen, das heißt: Kirschen, Erdbeeren, Stachelbeeren, Feigen, Orangen, Trauben, reife Birnen und »andere Früchte dieser Art«. l f i l Es gibt jedoch Fälle, in denen die Umstände so ernst sind und der Widerstand so irreduzibel, daß keine Seife die Verstopfung lösen kann. Man benutzt dann den löslichen Weinstein. Muzzel hatte als erster die Idee, Weinstein gegen »Wahnsinn und Melancholie« zu verschreiben, und veröffentlichte zu dieser Frage mehrere Beobachtungen. 161 Whytt bestätigt sie und zeigt gleichzeitig, daß der Weinstein als Reinigungsmittel wirkt, weil er vor allem gegen die Leiden der Verstopfung wirksam ist. »Soweit ich es bemerkt habe, ist der lösliche Weinstein bei manischen und melancholischen Leiden, die von schädlichen, in den Hauptwegen angehäuften Säften herrühren, nützlicher als bei den Leiden, die durch einen Fehler im Gehirn hervorgerufen werden.« 163 Unter den Lösungsmitteln erwähnt Raulin noch den Honig, Kaminruß, orientalischen Safran, Kellerasseln, Pulver aus Krebsfüßen und den Bezoardstein.16* Auf halbem Wege zwischen diesen inneren Auflösungsmethoden und den äußeren Techniken der Ableitung findet man eine Serie von Praktiken, von denen die häufigsten auf der Anwendung des Essigs beruhen. Der Essig löst als saure Flüssigkeit die Verstopfung auf und 258 Whytt, a. a. O., Bd. 2, S. 145. 259 Ebda. 160 Raulin, Traité des affections vaporeuses, Paris 175 8, S. 339. 261 Tissot, Von der Gesundheit der Gelehrten, Zürich 1708. 2Ä2 Muzzel, zitiert in der Gazette salutaire vom 17. M ä r z 1763. 263 Whytt, a. a. O., Bd. 2, S. 364. 264 Raulin, a. a. O., S. 340.
zerstört die in der Fermentation begriffenen Körper. Bei äußerer Anwendung aber kann er als ableitendes Mittel dienen und die schädlichen Säfte und Flüssigkeiten nach außen ziehen. Es ist etwas Eigenartiges und für das therapeutische Denken jener Epoche charakteristisch, daß man keinen Widerspruch zwischen den beiden Verfahrensweisen sieht. Aufgrund dessen, daß der Essig von Natur reinigend und ableitend ist, wird er auf jeden Fall gemäß dieser doppelten Determination wirken, so daß möglicherweise eine dieser beiden Aktionsarten nicht mehr auf eine rationale und diskursive Weise analysiert werden kann. Er wird sich also direkt, unvermittelt, durch den einfachen Kontakt der beiden natürlichen Elemente entfalten. So empfiehlt man das Einreiben des Kopfes und des Schädels (der möglichst glatt rasiert sein sollte) mit Essig.26' Die Gazette de médecine erwähnt den Fall eines Empirikers, dem es gelungen war, eine große Anzahl Irrer durch eine sehr prompte und einfache Methode zu heilen. Sein Geheimnis besteht in folgendem: »Nach einer Purganz taucht er ihre Füße und Hände in Essig, läßt sie in dieser Stellung, bis sie einschlafen oder bis sie aufwachen, und die meisten von ihnen sind beim Erwachen wieder geheilt. Er läßt auch auf dem rasierten Kopf des Kranken zerstoßene Blätter vom Dipsacus oder der Weberdistel anwenden.«266 3. Das Untertauchen. Hier kreuzen sich zwei Themen, das der Reinwaschung mit allem, was mit den Reinigungs- und Wiedergeburtsriten verwandt ist, und das der Durchtränkung (ein Thema, das in größerem Maße physiologisch ist), die die wesentlichen Eigenschaften der flüssigen und der festen Stoffe modifiziert. Trotz ihres unterschiedlichen Ursprungs und der Entfernung zwischen den Ebenen ihrer begrifflichen Elaboration bilden sie bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts eine ziemlich kohärente Einheit, so daß der Gegensatz nicht als solcher verspürt wird. Die Vorstellung von der Natur mit ihren Ambiguitäten dient ihnen als Element der Kohäsion. Das Wasser als einfache und primitive Flüssigkeit gehört zum Reinsten in der Natur. Alles, was der Mensch an zweifelhaften Modifikationen dem guten Wesen der Natur hat hinzufügen können, hat die Wohltätigkeit des Wassers nicht verändern können. Als die Zivilisation, das Leben in Gesellschaft und die durch die Lektüre von Romanen oder Theaterstücken hervorgerufenen imaginären Wünsche Nervenleiden hervor265 Franz Wilhelm Muzzel, Medizin und Chirurgie, Berlin 1764, Bd. 2, S. 54-60. 266 Gazette de médicine, Mittwodi, 14. Oktober 176t, N r . 23, Bd. 2, S. 215-216.
gerufen haben, nimmt die Rückkehr zur Reinheit des Wassers den Sinn eines Reinigungsrituals an. In dieser transparenten Frische gelangt man wieder zu seiner Unschuld. Gleichzeitig aber gibt das Wasser, das die Natur in die Komposition aller Körper hat einfließen lassen, jedem sein eigenes Gleichgewicht wieder. Es dient als universaler physiologischer Regulator. Alle diese Themen sind von Tissot, dem Schüler Rousseaus, in einer ebenso moralischen wie ärztlichen Vorstellungskraft verspürt worden: »Die Natur hat das Wasser allen Nationen als einzigen Trank gezeigt. Sie hat ihm die Kraft gegeben, alle Sorten Speisen aufzulösen. Es ist für den Gaumen angenehm. Wählt also ein schönes kaltes, süßes und leichtes Wasser. Es wird euch die Eingeweide stärken und reinigen. Die Griechen und Römer betrachteten es als Universalheilmittel.« aS ' Der Brauch des Untertauchens reicht weit in der Geschichte des Wahnsinns zurück. Die in Epidaurus vorgenommenen Bäder beweisen es bereits, und die kalte Anwendung muß ein gängiges Mittel in der ganzen Antike gewesen sein, denn wenn man Coelius Aurelianus glauben kann, wurde bereits damals gegen ihren Mißbrauch protestiert.2'8 Im Mittelalter hat man in Fällen von Manie - der Tradition entsprechend - den Kranken mehrmals ins Wasser getaucht, »bis er seine Kraft verloren hat und sein Toben vergessen war«. Sylvius empfiehlt in den Fällen von Melancholie und Phrenesie Durchtränkungen.2'? Es handelt sich also um eine Neuinterpretation, wenn man, wie es im achtzehnten Jahrhundert geschieht, die Nützlichkeit der Bäder als eine plötzliche Entdeckung von van Helmont erklärt. Nach Menuret soll diese Erfindung, die aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts stammen soll, das glückliche Resultat des Zufalls sein. Man transportierte einen stark gefesselten Dementen auf einem Wagen. Er konnte sich jedoch aus seinen Ketten befreien, sprang in einen See, versuchte zu schwimmen, wurde aber besinnungslos. Als man ihn herausfischte, hielt ihn jeder für tot, aber schnell kam er wieder zu Bewußtsein, und seine Sinne waren plötzlich wieder geordnet, so daß er noch »lange lebte, ohne irgendeinen Wahnsinnsanfall zu haben«. Diese Anekdote war angeblich ein Lichtblich für van Helmont, der sich daranmachte, die Geisteskranken sowohl in Meer- als auch in Süß267 Tissot, a. a. O . 268 Aurelianus, De morbis acutis, I, 11. Asclepiades verwandte gern Bäder gegen die Geisteskrankheiten. Nach Plinius soll er Hunderte von verschiedenen Bädern erfunden haben. Historia naturalis, Buch 26. 269 Sylvius, Opera medica, Amsterdam 1680, De methodo medendi, Buch I, K a p . 14.
wasser zu tauchen. »Die einzige Aufmerksamkeit hat dem Umstand zu gelten, daß man sie plötzlich und unvorhergesehen ins Wasser taucht und sie sehr lange darin läßt. Man braucht nicht um ihr Leben zu bangen.«*?0 Die Genauigkeit des Berichts ist von untergeordneter Bedeutung. Auf jeden Fall ist damit in dieser anekdotischen Form gesichert, daß seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts die Badekur unter den hauptsächlichen Therapien des Wahnsinns einen Platz einnimmt oder wiedereinnimmt. Als Doublet kurz vor der Französischen Revolution seine Instruction verfaßt, schreibt er für die vier großen pathologischen Formen, die er kennt (Phrenesie, Manie, Melancholie, Imbezillität), die Anwendung von regelmäßigen Bädern und für die ersten beiden Male den Gebrauch von kalten Duschen vor. 27 ' Zu jener Zeit hatte Cheyne bereits seit langem all denen empfohlen, »die ihr Temperament stärken müssen«, in ihrem Haus Bäder einzurichten und diese alle drei oder vier Tage zu benutzen. W o »sie nicht die Möglichkeit dazu haben, sollten sie auf irgendeine A r t jedesmal, wenn sich eine entsprechende Möglichkeit bietet, im See oder im fließenden Wasser baden«.272 Die Privilegien des Wassers sind in einer ärztlichen Praxis evident, die durch die Sorge, flüssige und feste Stoffe im Gleichgewicht zu halten, beherrscht wird. Denn neben den Kräften, einen Stoff zu durchdringen, die das Wasser an erste Stelle unter den Erfrischungen setzen, hat es in dem Maße, in dem es zusätzliche Eigenschaften wie die Kälte und die Hitze erhalten kann, zusammenziehende, erfrischende oder erwärmende Kraft; es kann sogar die festigende Wirkung haben, die man Körpern wie dem Eisen zuschreibt. In der flüssigen Substanz des Wassers ist das Spiel der Eigenschaften tatsächlich sehr beweglich. So wie es leicht in das Gewebe aller Stoffe eindringt, läßt es sich bequem von allen qualitativen Einflüssen durchsetzen, denen es ausgesetzt wird. Paradoxerweise kommt die Universalität seiner Anwendung im achtzehnten Jahrhundert nicht von der allgemeinen Anerkennung seiner Wirkung und seiner Aktionsart, sondern von der Leichtigkeit, mit der man seiner Wirksamkeit die widersprüchlichsten 270 Jean-Jacques Menuret, Mémoires Histoire, S. 5 6.
de l'Académie
royale des sciences,
1734.
271 Doublet, a . a . O . 272 George Cheyne, Tractatus de infirmorum sanitate tuenda, London 172Î, Paris 1742. Zitiert bei Rostaing, Réflexions sur les affections vaporeuses, Paris 1768, S.7JÎ.
Formen und Modalitäten zuschreiben kann. Es ist Anlaß aller möglidien therapeutischen Sätze und bildet eine unerschöpfliche Reserve von operationeilen Metaphern. In diesem flüssigen Element vollzieht sich der universale Austausch der Eigenschaften. Selbstverständlich erfrischt das kalte Wasser, sonst würde man es nicht bei der Behandlung der Phrenesie oder der Manie benutzen, bei denen, da es sich um mit der Hitze zusammenhängende Krankheiten handelt, die Lebensgeister in Wallung geraten, die festen Stoffe sich ausdehnen und die flüssigen sich so weit erhitzen, daß sie verdampfen und das Gehirn dieser Kranken »trocken und zerreibbar« zurücklassen, wie es jeden Tag in der Anatomie festgestellt werden kann. Vernünftigerweise zitiert Boissieu das kalte Wasser unter den wesentlichen Mitteln der erfrischenden Kuren. In Form eines Bades ist das Wasser das wichtigste »hitzedämpfende« Mittel, das dem Körper die feurigen Partikeln entreißt, die darin zu zahlreich enthalten sind. In Form von Getränken ist Wasser ein Mittel, das »verlangsamt und verdünnt«, das den Widerstand der flüssigen Stoffe gegenüber dem Wirken der festen vermindert und dadurch indirekt die allgemeine Hitze des Körpers senkt.*" Man kann aber ebensowohl sagen, daß das kalte Wasser erwärmt und daß das warme abkühlt. Genau diese These wird von Darut aufgestellt. Die kalten Bäder verjagen das Blut aus der Peripherie des Körpers und »drängen es mit großer Kraft zum Herzen zurück«. D a das Herz aber der Sitz der natürlichen Wärme ist, beginnt das Blut, sich dort zu erhitzen, und zwar um so mehr, »als das Herz, das allein gegen die anderen Teile des Körpers kämpft, neue Anstrengungen zur Verdrängung des Blutes und zur Oberwindung des Widerstandes der Kapillaren unternimmt. Daher ist die Zirkulation sehr intensiv, die Aufteilung des Blutes, der Flüssigkeitsgrad der Säfte, die Beseitigung der Übersättigung, die Zunahme der Kräfte der natürlichen Wärme, des Appetits, der Verdauungsvorgänge und der Aktivität des Körpers und des Geistes ebenfalls.« Das Paradox des heißen Bades ist symmetrisch: es zieht das Blut ebenso an die Körperoberfläche wie alle Säfte, die Transpiration und die nützlichen oder die schädlichen Flüssigkeiten. Dadurch werden die Lebenszentren verwaist, das Herz funktioniert nur noch in verlangsamtem Tempo, und der Organismus kühlt dadurch ab. Das ist eine Tatsache, die »jene Ohnmachtsanfälle, 273 Barthélemy-CamilIe Boissieu, Mémoire échauffantes, Dijon 1770, S. 37-55.
sur les méthodes
rafraîchissantes
et
jene Abnahme der Lebenskräfte ( . . . ) , jene Schwäche, jenes Nachlassen, jene Mattigkeit und jener Mangel an Kraft« bestätigen, die stets den zu häufigen Gebrauch von heißen Bädern begleiten. 174 Die Polyvalenz des Wassers ist so reich, seine Eignung, sich seinen Eigenschaften zu unterwerfen, ist so groß, daß es vorkommt, daß es seine Wirkung als flüssiger Stoff verliert und wie ein austrocknendes Heilmittel wirkt. Das Wasser kann die Feuchtigkeit verbannen. Darin wird das alte Prinzip similia similibus wiedergefunden, wenn auch in einem anderen Sinn und durch Vermittlung eines sehr sichtbaren Medianismus. Für bestimmte Autoren trodcnet das kalte Wasser aus, während die Hitze dagegen die Feuchtigkeit des Wassers bewahrt. Tatsächlich weitet die Hitze die Poren des Organismus, dehnt seine Membranen und gestattet der Feuchtigkeit, sie durch einen sekundären Effekt zu durchtränken. Die Hitze bahnt der Flüssigkeit ihren Weg, und darin liegt gerade die Gefahr, daß alle heißen Getränke schädlich werden können, die man im siebzehnten Jahrhundert gebraucht und mißbraucht: Erschlaffung, allgemeine Feuchtigkeit, Weichheit des ganzen Organismus, das bedroht diejenigen, die zu viele Aufgüsse zu sich nehmen. D a dies die unterscheidenden Züge im weiblichen Körper im Gegensatz zur männlichen Trockenheit und Festigkeit sind 27 ', droht der Mißbrauch heißer Getränke zur allgemeinen Verweiblidiung des Menschengeschlechts zu führen: »Man wirft nicht ohne Grund den meisten Männern vor, daß sie degeneriert seien, weil sie die Weichheit, Neigungen und Gewohnheiten der Frau übernommen haben. Es fehlte nur noch die Ähnlichkeit in der körperlichen Konstitution. Der Mißbrauch der Erfrischungsgetränke würde sehr schnell die Verwandlung beschleunigen und die beiden Geschlechter in Aussehen und Moral fast ähnlich machen. Es ist ein Unglück für das Menschengeschlecht, wenn dieses Vorurteil seine Macht über das Volk ausdehnt. Es gäbe keine Landmänner, keine Handwerker und Soldaten mehr, weil sie bald jeder Kraft und Stärke entbehrten, die in ihrem Beruf nötig sind.«27ä Beim kalten Wasser übertrifft die Kälte alle anderen Kräfte der Feuchtigkeit, weil sie die Gewebe zusammenzieht und für jede Durchtränkung verschließt: »Sehen wir nicht, wie unsere Gefäße, wie das Gewebe unseres Fleisches sich zusammenzieht, 274 Darut, Les bains froids sont-ils plus propres à conserver la santé que les bains àaudsl Thèse 1763 (Gazette salutaire, N r . 47). 275 Beauthêne, a. a. O., S. 13. 27S Pressavin, a . a . O . , Avant-propos, unpaginiert. Vgl. audi Tissot, a . a . O . : »Aus der Teekanne fließen die meisten Krankheiten.«
wenn wir uns in kaltem Wasser waschen oder von Kälte durchdrungen sind?« 2 " Die kalten Bäder haben also die paradoxe Eigenheit, den Organismus zu konsolidieren, ihn gegen die Weichheit der Feuchtigkeit zu schützen, »allen Teilen Kraft zu geben«, wie H o f f mann sagte, »und die zusammenziehende Kraft des Herzens und der Gefäße zu erhöhen«.2?3 Bei anderen qualitativen Anschauungen verändert sidi die Beziehung jedoch. Dann trocknet die Hitze die befeuchtenden Kräfte des Wassers aus, während die Frische sie aufrechterhält und sie unaufhörlich erneuert. Gegen die Nervenkrankheiten, die einer »Schrumpfung des Nervensystems« und einer »Austrocknung der Membranen« zuzuschreiben sind2?', empfiehlt Pomme keine heißen Bäder, die Helfer der im Körper herrschenden Hitze wären, sondern laue oder kalte Bäder, die das organische Gewebe zu durchdringen und ihm seine Weichheit zu geben in der Lage sind. Diese Methode wird in Amerika spontan praktiziert 280 , und in der Entwicklung der K u r sind ihre Wirkungen und ihr Mechanismus für das bloße Auge sichtbar, denn auf dem höchsten Punkt der Krise schwimmen die Kranken im Badewasser oben - so sehr hat die innere Hitze die Luft und die flüssigen Stoffe ihres Körpers vertrieben. Aber wenn sie lange im Wasser bleiben, »drei, vier oder sogar sechs Stunden täglich«, tritt die Erschlaffung ein, durchtränkt das Wasser fortschreitend die Membranen und die Fibern, wird der Körper schwerer und sinkt natürlich auf den Grund des Wassers.28' A m Ende des achtzehnten Jahrhunderts erschöpfen sich die Kräfte des Wassers im Übermaß seiner qualitativen Reichtümer: kalt kann es wärmen, heiß kann es erfrischen; statt zu befeuchten, kann es sogar festigen und durch die Kälte versteinern oder ein Feuer durdi seine eigene Hitze unterhalten. Alle wohl- und übeltuenden Kräfte kreuzen sich unterschiedslos im Wasser. Es ist mit allen möglichen Komplizitäten ausgestattet und bildet im ärztlichen Denken ein elastisches und beliebig anwendbares therapeutisches Grundmittel, dessen Wir277 Rostaing, a. a. O., S. 75. 278 Hoffmann, a. a. O., Bd. 2, Sectio 2, § 5. V g l . auch Nicolas Chambon de M o n taux, Des maladies des femmes, 2 vols., Paris 1784, Bd. 2, S. 469: »Die kalten Bäder trocknen die festen Körper aus.« 279 Pierre Pomme, Traité des affections vaporeuses des deux sexes, Paris ' 1 7 6 7 , S. 20 f. 280 Lionet Chalmers, Journal de médecine, November 1759, S. 388. 281 Pomme, a . a . O . , Anm. auf S. s8.
kung in den verschiedensten Physiologien und Pathologien verständlich wird. Es hat soviel Wertigkeiten, so viele verschiedene Anwendungsmöglichkeiten, daß es alles festigen und schwächen kann. Wahrscheinlich ist jene Polyvalenz mit all den Diskussionen, die dann daraus entstehen, dafür verantwortlich gewesen, daß es neutralisiert wurde. Zur Zeit Pinels ist das Wasser immer noch in Anwendung: aber ein inzwischen wieder völlig klares Wasser, dessen qualitative Beladungen man aufgehoben hat und dessen Anwendungsart nur noch mechanisch sein kann. Die bis dahin weniger noch als Bäder und Getränke angewendete Dusche wird in diesem Augenblick zur privilegierten Technik. Paradoxerweise findet das Wasser über alle physiologischen Variationen der voraufgehenden Epoche hinweg seine einfache Reinigungsfunktion wieder. Die einzige Eigenschaft, mit der man es belädt, ist die Heftigkeit. Es soll in einem unwiderstehlichen Fluß sämtliche Unreinheiten, die sich im Wahnsinn bilden, fortreißen. Durch seine eigene Heilkraft soll es das Individuum auf seinen einfachsten möglichen Ausdruck, auf seine winzigste und reinste Existenzform reduzieren, um es so einer zweiten Geburt zu überlassen. Es handelt sich, so erklärt Pinel, »um die Zerstörung bis hin zu den primitivsten Spuren der närrischen Ideen der Geisteskranken, was nur so geschehen kann, daß man sozusagen diese Ideen in einem dem Tode ähnlichen Zustand verschüttet«.281 Daher kommen die berühmten in Asylen wie in Charenton am Ende des achtzehnten und am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts angewandten Techniken: die Dusche im eigentlichen Sinne - »der Geisteskranke wird in einem Sessel festgebunden und unter einen Behälter mit kaltem Wasser gestellt, der sich durch ein weites Rohr genau auf seinen Kopf entleert«; und die Überraschungsbäder - »der Kranke geht die Korridore im Erdgeschoß entlang, kommt in einen viereckigen, gewölbten Raum, in dem ein Bassin eingebaut ist; man dreht ihn um und stürzt ihn ins Wasser«. 18 ' Diese Heftigkeit versprach die Wiedergeburt durch eine Taufe. 4. Die Regulierung der Bewegung. Wenn der Wahnsinn tatsächlich eine unregelmäßige Bewegung der Lebensgeister, eine ungeordnete Bewegung der Fibern und Ideen ist, dann ist er auch Verschlämmung des Körpers und der Seele, Stagnation der Säfte, Unbeweglichkeit der Nervenfibern in ihrer Steifheit, Fixierung der Ideen und der A u f 282 Pinel, Traité médico-philosophique
(...),
Paris, A n I X , S. 324.
283 Esquirol, Des maladies mentales, Bd. 2, S. 225.
merksamkeit auf ein Thema, das nach und nach alle anderen verdrängt. Es handelt sich dann darum, dem Geist und den Lebensgeistern, dem Körper und der Seele die Beweglichkeit wiederzugeben, die ihr Leben ausmacht. Diese Beweglichkeit jedoch muß gemessen und kontrolliert werden, damit man vermeidet, daß sie zu einer leeren Erregung der Fibern wird, die den Reizen der äußeren Welt nidit mehr gehorchen. Die Idee, die dieses therapeutische Thema belebt, ist die Wiederherstellung einer Bewegung, die sich nach der weisen Beweglichkeit der äußeren Welt ordnet. Da der Wahnsinn ebenso taube Unbeweglichkeit, hartnäckige Fixierung wie Unordnung und Erregung sein kann, besteht die Kur darin, bei einem Kranken eine Bewegung auszulösen, die sowohl regelmäßig wie wirklich in dem Sinne ist, daß er den Bewegungsgesetzen der Welt gehorchen muß. Man erinnert gern an den festen Glauben der Antike, in der man den verschiedenen Gang- und Laufarten heilsame Wirkungen zuschrieb. Das einfache Gehen soll danach gleichzeitig den Körper geschmeidig und fester madien. Das Laufen in ständiger Beschleunigung auf gerader Strecke verteilt angeblich die Säfte und Flüssigkeiten besser im körperlichen Raum, während es gleichzeitig das Gewicht der Organe vermindert. Der Lauf in bekleidetem Zustand erwärmt, läßt die Gewebe zarter werden und macht die zu steifen Fibern geschmeidiger.2"4 Sydenham empfiehlt vor allem Spazierritte für Fälle von Melancholie und Hypochondrie: »Das Beste, was idi bisher zur Stärkung des Blutes und der Lebensgeister kennengelernt habe, ist tägliches Reiten und audi Spazierfahrten, die etwas länger und ohne Wagendach stattfinden. Diese Übung entledigt durch die verstärkten Stöße, die der Lunge und vor allem den Eingeweiden im Unterleib zugefügt werden, das Blut von exkrementeilen Säften, die noch darin sind, und gibt den Fibern Spannkraft, stellt die Funktion der Organe wieder her, belebt die natürlidie Hitze und entleert durch die Transpiration oder auch anders die verbrauchten Säfte oder stellt sie in ihrem ursprünglichen Zustand wieder her, löst Verstopfungen auf und öffnet alle Gänge. Sdiließlich erneuert dieses Unterfangen, durch die ständige Bewegung, die es im Blut auslöst, gewissermaßen das Blut und gibt ihm eine außergewöhnliche Stärke.« 28 ' Das Rollen der See, von allen Bewegungen der Welt die regelmäßigste, natürlichste und der kosmischen Ordnung entsprechendste - de l'Ancre hatte es für das menschliche 284 Jean Pierre Burette, Mémoire pour servir à l'histoire de la course chez les Anciens, Mémoires de l'Académie des Belles-Lettres, Bd. III, S. aSy. 285 Sydenham, Dissertation sur l'affection hystérique, in: ders., a . a . O . . S. 42t.
Herz so gefährlich gehalten, weil es ihm soviel zufällige Versuchungen, unwahrscheinliche und stets unerfüllte Träume biete und in starkem Maße das Abbild des bösen Unendlichen sei - , dieses Rollen wird im achtzehnten Jahrhundert als ein privilegiertes Regulativ der organischen Beweglichkeit betrachtet. In ihm bricht die Natur mit ihrem Rhythmus. Gilchrist schreibt einen ganzen Traktat »on the use of sea voyages in medecine«. Whytt findet das Heilmittel für die Anwendung bei Melancholikern wenig angebracht. Es ist »schwierig, solche Kranke dazu zu bewegen, eine lange Seereise zu unternehmen, aber ein Fall von hypochondrischen vapeurs muß genannt werden, bei dem die Beschwerden (es handelte sich um einen jungen Mann) plötzlich aufhörten, als er zu einer vier- oder fünfwöchigen Seereise gezwungen wurde«. Die Reise hat außerdem folgendes Interesse. Sie wirkt direkt auf den Ablauf der Ideen, oder wenigstens auf einem direkten Wege, weil dieser nur durch die Empfindung verläuft. Die Unterschiedlichkeit der Landschaft löst die Obstination des Melancholikers. Auch dieses alte Heilmittel wurde seit der Antike angewandt, aber das achtzehnte Jahrhundert schreibt es mit einer völlig neuen Eindringlichkeit vor, und die Arten variieren zwischen einer wirklichen Reise und imaginären Reisen in der Literatur und beim Theater.*86 Le Camus schreibt zur »Erschlaffung des Gehirns« in allen Fällen von vapeurs vor: »Spaziergänge, Reisen, Reiten, Übungen im Freien, Tanz, Schauspiele, amüsante Lektüre, Beschäftigung, die die liebgewonnene Idee vergessen machen können.«287 Durch die Schönheit und die Abwechslung der Landschaft kann ein Aufenthalt auf dem Lande die Melancholiker ihrer einzigen Sorge entreißen, »indem er sie von Orten fernhält, die die Erinnerung an ihre Schmerzen wachrufen«. 188 Umgekehrt kann die Erregung der Manie durch gute Effekte einer regelmäßigen Bewegung ausgeglichen werden. Es handelt sich hier nicht mehr darum, in Bewegung zu setzen, sondern um eine Regulierung der Erregung, um das plötzliche Anhalten des Laufes und um die Konzentration der Aufmerksamkeit. Die Reise wird nicht durch unaufhörliche Brüche und Mangel an Zusammenhang wirksam werj 8 i Nach Lieutaud gehört die Behandlung der Melancholie nicht zur Medizin, sondern »zur Zerstreuung und Übung« (a. a. O., S. 203). Sauvages empfiehlt Wanderungen zu Pferd wegen der Abwechslung der Eindrücke (Nosologie, Bd. 8, S. 30). 287 Antoine Le Camus, Medecine pratique, 17Ä9-1772, zitiert von Pomme, Nouveau recueil des pièces (...), Paris 177Γ, S. 7. 188 Nicolas Chambon de Montaux, Des maladies des femmes, Bd. 2, S. 477 f.
den, sondern durch die Neuigkeit der Gegenstände, die einem begegnen, und die Neugier, die geweckt wird. Die Reise muß gestatten, einen Geist, der jeder Regel entgeht und sidi in der Vibration seiner inneren Bewegung sidi selbst entzieht, von außen zu fassen. »Wenn man Gegenstände oder Personen bemerken kann, die ihre Aufmerksamkeit von der Verfolgung ihrer regellosen Ideen ablenken und ein wenig auf anderes lenken können, muß man sie den Maniakalischen oft vorstellen, und man hat von einer Reise deshalb oft Vorteile, weil sie die Folge der alten Ideen abbricht und neue fesselnde Gegenstände bietet.« 28 ' Die Therapie der Bewegung, die für die Abwechslungen, die sie in die Melancholie bringt, oder für die Regelmäßigkeit, die sie der Manie auferlegt, angewandt wird, verbirgt die Idee eines Ergriffenwerdens des wahnsinnig gewordenen Geistes durch die Welt. Sie ist zugleich ein »Verfallen in Gleichschritt« und eine Konversion, denn die Bewegung schreibt ihren Rhythmus vor, bildet aber durch ihre Neuheit oder Unterschiedlichkeit einen konstanten Aufruf für den Geist, daß er sich selbst verläßt und in die Welt zurückkehrt. Wenn tatsächlich immer noch in der Technik des Untertauchens die ethischen, fast religiösen Erinnerungen der Reinwaschung und der zweiten Geburt sidi verbargen, dann kann man in diesen Kuren durch Bewegung noch ein symmetrisches, moralisches, jedoch dem ersten entgegengesetztes Thema wiedererkennen. Es handelt sich um die Rückkehr zur Welt, darum, sidi ihrer Weisheit anzuvertrauen, in der man in der allgemeinen Ordnung seinen Platz einnimmt und dadurch den Wahnsinn, der das Moment reinster Subjektivität ist, vergißt. Man sieht, wie, bis in den Empirismus der Heilmittel hinein, sich die großen Organisationsstrukturen der Erfahrung mit dem Wahnsinn im Zeitalter der französischen Klassik wiederfinden. Irrtum und Verfehlung, Unreinheit und Einsamkeit zugleich ist der Wahnsinn. Er ist von der Welt und der Wahrheit zurückgezogen, ist aber genau dadurch in das Böse eingeschlossen. Sein doppeltes Nichts besteht darin, daß er sichtbare Form jenes Nicht-Seins ist, in dem das Böse besteht, und daß er in der Leere und in der gefärbten Erscheinungswelt seines Deliriums das Nicht-Sein des Deliriums hervorbringt. Er ist völlig rein, weil er nichts ist, abgesehen von dem ohnmächtigen Punkt seiner Subjektivität, der jede Präsenz der Wahrheit entzogen ist. Und er ist völlig 289 Cullen, Institutions de médecine pratique, Bd. 2, S. 317. A u f dieser Vorstellung beruhen auch die Techniken, durch Arbeit zu heilen, durch die im achtzehnten Jahrhundert die Existenz von Werkstätten in den Hospitälern gerechtfertigt werden.
unrein, weil dieses Nichts, das er ist, das Nicht-Sein des Bösen ist. Die Heiltechnik, bis hinein in ihre von imaginärer Intensität beladenen physischen Symbole - Konsolidierung und Wieder-in-Bewegung-setzen einerseits und Reinigung und Untertauchen andererseits - , ordnet sich insgeheim nach diesen beiden grundlegenden Themen. Es handelt sich gleichzeitig darum, den Menschen seiner ursprünglichen Reinheit wiederzugeben und ihn seiner reinen Subjektivität zu entreißen, um ihn in die Welt einzuführen; das Nicht-Sein zu vernichten, das ihn sich selbst entfremdet, und ihn der Fülle der äußeren Welt, der festen Wahrheit des Seins wieder zu öffnen. Die Techniken werden noch längere Zeit als ihr Sinn vorhanden sein. Wenn außerhalb der Erfahrung mit der Unvernunft der Wahnsinn einen rein psychologischen und moralischen Status erhalten haben wird, wenn die Beziehungen des Irrtums und des Fehlers, durch die der Klassizismus den Wahnsinn definierte, in dem einzigen Begriff der Straffälligkeit zusammengefaßt sein werden, werden die Techniken, wenn auch mit einer viel engeren Bedeutung, noch beibehalten bleiben. Man wird nur noch eine mechanische Wirkung oder eine moralische Strafe suchen. Auf diese Weise werden die Regulierungsmethoden der Bewegung in der berühmten »Rotationsmaschine« degenerieren, deren Mechanismus und Wirksamkeit Mason C o x am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts zeigt2110: Ein lotrechter Pfeiler wird gleichzeitig an der Decke und im Fußboden befestigt. Man schnallt den Kranken auf einem Stuhl oder einem horizontal hängenden, um den Pfeiler beweglichen Arm fest. Dank eines wenig komplizierten Räderwerks verleiht man der »Maschine den gewünschten Grad an Geschwindigkeit«. C o x nennt eine seiner eigenen Beobachtungen. Es handelt sich um einen von der Melancholie mit einer Art Stupor geschlagenen Mann: »Sein Teint war schwarz und bleifarben, seine Augen gelb und seine Blicke ständig auf die Erde gerichtet. Seine Gliedmaßen schienen unbeweglich, seine Zunge war trocken und paralysiert, sein Puls langsam.« Man wirft ihn auf die Rotationsmaschine, gibt ihm eine immer schnellere Bewegung. Die erreichte Wirkung übertrifft die Hoffnung, man hat nämlich diesen Menschen zu schnell bewegt. An Stelle der melancholischen Steifheit hat er jetzt die manische Erregung. Sobald aber die erste Wirkung vorüber ist, fällt der Kranke in seinen ursprünglichen Zustand zurück. Man modifiziert den Rhyth-
290 Man fragt sich, ob der Erfinder der Rotationsmaschine Maupertuis, Darwin oder der Däne Katzenstein war.
mus, läßt die Maschine sehr schnell drehen, wobei man sie aber in regelmäßigen Abständen brutal abstoppt. Die Melancholie wird verjagt, ohne daß die Rotation die manische Erregung hat auslösen können. 2 ' 1 Diese »Zentrifugierung« der Melancholie ist für den neuen Gebrauch der alten therapeutischen Themen sehr charakteristisch. Die Bewegung zielt nicht mehr darauf ab, den Kranken der Wahrheit der äußeren Welt wiederzugeben, sondern darauf, lediglich eine Folge innerer, rein mechanischer und rein psychologischer Wirkungen hervorzurufen. Nicht mehr der Präsenz des Wahren ordnet sich die Kur unter, sondern einer funktionalen Norm. In dieser Neuinterpretation der alten Methode wird der Organismus nicht mehr in Beziehung zu sich selbst und zu seiner eigenen Natur gebracht, während in der ursprünglichen Version seine Beziehung zur Welt, sein wesentliches Band zum Sein und zur Wahrheit wiederhergestellt werden sollte. Wenn man hinzufügt, daß die Rotationsmaschine sehr bald als Drohund Strafmittel benutzt wurde 2 ' 2 , sieht man, wie die schweren Bedeutungen, die die therapeutischen Methoden während des ganzen klassischen Zeitalters getragen haben, sich verflüchtigt haben. Man begnügt sich damit, mit den Mitteln, die einst dazu dienten, die Verfehlung zu verdammen und den Irrtum in der Rückverwandlung des Wahnsinns in die eklatante Wahrheit der Welt aufzulösen, zu regulieren und zu bestrafen. 1771 schrieb Bienville hinsichtlich der Nymphomanie, daß es Gelegenheiten gibt, in denen man sie heilen kann, »indem man sich mit den Behandlungen der Vorstellungskraft begnügt. Aber es gibt keine oder fast keine, bei der die physischen Heilmittel allein eine Radikalkur bewirken können.« 2 ' 3 Etwas später schreibt dann Beauchêne: »Vergeblich würde man die Heilung eines vom Wahnsinn befallenen Mannes versuchen, wenn man dazu nur physische Mittel benutzte ( . . . ) . Die materiellen Heilmittel hätten nie einen vollen Erfolg ohne Rückgriff auf die Hilfe, die ein gerechter und gesunder Geist einem Schwachen und Kranken geben muß.«2'·1 Diese Texte enthüllen nicht die Notwendigkeit einer psychologischen
291 Mason C o x , Practical observations on insanity, London 1804, frz. Übersetzung i8ofi, S. 49 f. 292 Vgl. Esquirol, a. a. O., Bd. 2, S. 225. 293 Bienville, La nymphomanie, S. 136. 294 Beauchêne, a. a. O., S. 28 f.
Behandlung, sie bezeichnen eher das Ende einer Epoche, in der der Unterschied zwischen Medikamenten für den Körper und moralischen Behandlungen vom ärztlichen Denken noch nicht akzeptiert worden war. Die Einheit der Symbole beginnt sich aufzulösen, und die Techniken befreien sich aus ihrer globalen Bedeutung. Man verleiht ihnen nur noch eine regionale Wirksamkeit auf Körper und Seele. Von neuem ändert die K u r ihre Richtung: Sie wird nicht mehr von der bedeutsamen Einheit der um ihre hauptsächlichen Eigenschaften geordneten Krankheit getragen, sondern muß sich Segment für Segment verschiedenen, sie zusammensetzenden Elementen zuwenden. Sie bildet eine Folge partieller Destruktionen, in denen psychologischer Angriff und physischer Eingriff beieinanderstehen, sich ergänzen, aber nie sich durchdringen. Tatsächlich ist das, was sich für uns bereits als Skizze einer psychologischen Behandlung darstellt, für die Ärzte, die sie im klassischen Zeitalter anwandten, nichts derartiges gewesen. Seit der Renaissance hatte die Musik alle heilenden Kräfte wiedergefunden, die ihr die Antike zugeschrieben hatte. Vor allem waren ihre Wirkungen auf den Wahnsinn bemerkenswert. Schenck hat einen Mann, »der in tiefe Melancholie verfallen war«, geheilt, indem er ihn »Instrumentalkonzerte hören ließ, die ihm besonders gefielen«.195 Auch Albrecht heilt einen Delirierenden, nachdem er alle anderen Mittel vergeblich versucht hat, mit Gesang, den er während eines seiner Anfälle »in Form eines kleinen Liedes, das den Kranken weckte, ihm gefiel, ihn zum Lachen brachte und für immer seinen Paroxysmus auflöste, vortragen ließ«.JsS Man zitiert sogar Fälle von durch Musik geheilter Phrenesie.1" Diese Beobachtungen verleiten jedoch nie zu psychologischen Interpretationen. Wenn die Musik heilt, so geschieht das durch ihre Wirkung auf das menschliche Wesen in seiner Gesamtheit, indem sie ebenso direkt und ebenso wirkungsvoll den Körper wie die Seele selbst durchdringt. Diemerbroek hat einen Pestkranken gekannt, der
195 Johann Georg Schenck von Grafenberg, Observationes medicorum variorum libri VII, Frankfurt 1654, S, 128. 296 Johannes 'Wilhelmus Albrecht, Tractatus physicus de effectibus mitsicis in corpus animatum, Leipzig 1734, § 314. 297 Histoire de l'Académie royale des sciences, 1707, S. 7, und 1708, S. 22. Vgl. auch J.-L. Royer, De vi soni et musicae in corpus humanum, Thèse Montpellier, Desbonnets, Effets de la musique dans les maladies nerveuses, in: Journal de médecine, Bd. 59, S. 556, und Joseph Roger, Traité des effets de la musique sur le corps kumain, Paris 1803.
durch Musik geheilt worden ist.2»8 Wahrscheinlich wird man nicht mehr, wie es noch Porta getan hat, argumentieren, daß die Musik in der materiellen Wirklichkeit ihrer Klänge die geheimen, in der Substanz der Instrumente verborgenen Kräfte bis zum Körper trägt. Wahrsdieinlidi glaubt man nidit mehr mit Porta, daß die an einer Erkrankung der Lymphdrüsen Leidenden durch »eine frische Weise, die auf einer Stechpalmflöte gespielt wird«, oder die Melancholiker durch »eine sanfte, auf einer Helleborusflöte gespielte Weise erleichtert werden«, oder daß man »eine mit Rittersporn oder Knabenkraut für die impotenten und kalten Männer gemachte Flöte« benutzen sollte.2»'' Wenn aber die Musik die in den Substanzen verborgenen Kräfte nidit mehr transportiert, ist sie dank der Eigenschaften wirksam, die sie dem Körper auferlegt. Sie bildet sogar die strengste aller Mechaniken, weil sie in ihrem Ursprung nichts anderes als Bewegung ist, jedoch, einmal zum Ohr gelangt, sogleich ein qualitativer Effekt wird. Der therapeutische Wert der Musik rührt daher, daß sich diese Transformation im Körper auflöst, daß die Eigenschaft sich wieder in Bewegung zerlegt, daß das Angenehme der Empfindung im Körper wieder zu dem wird, was es stets gewesen ist: regelmäßige Bewegungen und Gleichgewicht der Spannungen. Der Mensch als Einheit von Seele und Körper durchläuft in einer umgekehrten Riditung den Zyklus der Harmonie, indem er vom Harmonischen zum Harmonie Hervorbringenden hinuntersteigt. Die Musik löst sich darin auf, aber die Gesundheit wird wiederhergestellt. Es gibt jedoch noch einen anderen, noch direkteren und wirksameren Weg. Hier spielt der Mensch nicht mehr jene negative Rolle des Anti-Instruments, sondern reagiert, als sei er selbst das Instrument: »Wenn man den menschlichen Körper nur als eine Sammlung von mehr oder weniger gespannten Fibern ansieht und dabei von ihrer Sensibilität, ihrem Leben, ihrer Bewegung abstrahiert, wird man mühelos begreifen, daß die Musik auf die Fibern die gleiche Wirkung ausüben muß wie auf die Saiten benachbarter Instrumente.« Der Resonanzeffekt braudit nicht den stets langeil und komplexen Wegen der auditiven Empfindung zu folgen. Das Nervensystem vibriert mit der Musik, die die Luft füllt. Die Fibern sind wie ebenso viele »taube Tänzerinnen«, deren Bewegungen sidi im Einklang mit einer Musik, die sie nicht hören, vollziehen. In diesem Fall vollzieht sidi im Innern des Körpers von der Nervenfiber bis zur
298 Diemerbroek, De peste, Amsterdam 1665, Buch 4. 299 Porta, De magici naturttli, zitiert in Encyclopédie, Artikel »Musique«..
Seele die Rekomposition der Musik; die Harmonie gebende Struktur des Gleichklangs führt dadurch wieder das harmonische Funktionieren der Leidenschaften herbei.300 Der Gebrauch der Leidensdiaft in der Therapie des Wahnsinns darf nicht als eine Form psychologischer Wirkung der Arzneien betrachtet werden. Die Leidenschaft gegen die Formen der Demenz zu benutzen, heißt nichts anderes, als sidi an die Einheit von Seele und Körper im strengsten Sinne zu halten, sidi eines Vorgangs im doppelten System ihrer Wirkungen und in der unmittelbaren Korrespondenz ihrer Bedeutungen zu bedienen. Den Wahnsinn durch die Leidensdiaft zu heilen, setzt voraus, daß man sich in den reziproken Symbolismus von Seele und Körper stellt. Die Angst wird im achtzehnten Jahrhundert als eine der Leidenschaften betrachtet, die beim Irren hervorzurufen sich sehr empfiehlt. Man meint, daß sie das natürliche Komplement der den Maniakalisdien und Tobsüchtigen auferlegten Zwänge ist. Man träumt sogar von einer A r t Dressur, die bewirken würde, daß jeder Wutanfall bei einem Maniakalisdien sofort von einer Angstreaktion begleitet und kompensiert wird: »Durch die Kraft triumphiert man über das Toben des Maniakalisdien. Die Wut kann durch Entgegenstellen der Furcht gehemmt werden. Wenn der Schrekken vor einer Strafe und einer öffentlichen Schande sich im Geist mit den Wutanfällen verbindet, kann nidit eines ohne das andere auftreten. Gift und Gegengift sind untrennbar.«301 Aber die Angst ist nicht nur auf der Ebene der Auswirkungen der Krankheit wirksam. Die Krankheit selbst wird von der Angst erreicht und ausgelöscht. Die Angst hat in der Tat die Eigenheit, das Funktionieren des Nervensystems fest zu fügen, seine zu beweglichen Fibern in gewisser Weise zu versteinern, all ihren ungeordneten Bewegungen eine Bremse zu sein: »Die Angst ist eine Leidenschaft, die die Erregung des Gehirns vermindert, und kann infolgedessen dessen Auswüchse und vor allem den Zornesausbruch der Maniakalisdien beruhigen.«301 Wenn das antithetische Paar der Angst und der Wut gegen die maniakalische Reizung wirksam ist, kann es in umgekehrter Richtung gegen die schlecht motivierte Furcht der Melancholiker, der Hypochonder ,ca Encyclopédie, Artikel »Musique«. Vgl. ebenso Tissot, Traité des nerfs, Bd. 2. S. 418 f., für den die Musik eines »der primitivsten Heilmittel ist, weil sie ihr Vorbild im Gesang der Vögel hat«. 321 Mexander Crichton, On mental diseases, zitiert bei Elias Rcgnault, Du degré Je compétence des médicins, Paris 1828, Seite 187 f. 302 Cullen, a. a. O., Bd. 2, S. 307.
und all derer benutzt werden, die ein lymphatisches Temperament haben. Tissot nimmt die traditionelle Idee wieder auf, daß die Wut eine Entladung der Galle ist, und meint, daß sie ihre Nützlichkeit bei der Auflösung der im Magen und im Blut angehäuften entzündbaren Stoffe hat. Indem sie die Nervenfibern einer stärkeren Spannung unterwirft, verleiht ihnen die Wut größere Kraft, stellt sie die verlorene Spannkraft wieder her und gestattet so der Furcht, sich a u f z u l ö s e n . 3 0 3 Die Kur mit Hilfe der Leidenschaft beruht auf einer konstanten Verwandlung der Eigenschaften und der Bewegungen. Sie impliziert stets, daß sie unmittelbar in ihrer dem Körper eigenen Modalität zur Seele übertragbar sind und umgekehrt. Man muß, so sagt Scheidemantel in dem Traktat, den er dieser Form der Kur widmet, sie benutzen, »wenn die Heilung im Körper Veränderungen benötigt, die mit denen identisch sind, die jene Leidenschaft hervorrufen«. Und in diesem Sinne kann sie der universale Ersatz jeder anderen Therapie sein. Sie ist nur ein anderer Weg, um die gleiche Wirkungsfolge hervorzurufen. Zwischen einer K u r mit Hilfe der Leidenschaften und einer K u r aufgrund von Rezepten der Pharmakologie gibt es keinen Unterschied in der Natur, sondern nur eine Verschiedenheit in der A r t des Zugangs zu diesen Mechanismen, die dem Körper und der Seele gemeinsam sind. »Man muß sich der Leidenschaften bedienen, wenn der Kranke mit H i l f e der Vernunft nicht dazu gebracht werden kann, das zu tun, was für die Wiederherstellung seiner Gesundheit notwendig ist.«30·» Es ist also im strengen Sinne nicht möglich, den für uns unmittelbar entzifferbaren Unterschied zwischen physischen Medikationen oder psychischen und moralischen Medikationen im Zeitalter der Klassik als eine gültige Unterscheidung oder wenigstens als eine bedeutungsgeladene Unterscheidung zu benutzen. Der Unterschied wird in aller Tiefe erst von dem Tag an zu existieren beginnen, an dem die Angst nicht mehr als Methode benutzt wird, die Bewegung aufzuhalten, sondern als Strafe; wenn die Freude nicht mehr die organische Erweiterung, sondern die Belohnung bedeuten wird; wenn die Wut nicht mehr eine Antwort auf die beabsichtigte Erniedrigung sein wird; kurz: wenn das neunzehnte Jahrhundert durch Erfindung der berühmten »moralischen Methoden« den Wahnsinn und seine Heilung
303 Tissot, Traité des nerfs, B d . 2. 304 V o l c m a r Sdieidemantel, Die Leidenschaften w ä h n t bei Pagel-Neuburger, Handbuch
als Heilmittel
der Geschidite
betrachtet,
der Medizin,
1787. E r -
B d . 3, S. fiio.
in das Spiel der Straffälligkeit eingeführt haben wird.30* Die Unterscheidung des Physischen und des Moralischen ist in der Medizin der Geisteskrankheiten erst in dem Moment ein praktischer Begriff geworden, in dem die Problematik des Wahnsinns sich hin zu einer Befragung der verantwortlichen Person verlagert hat. Der rein moralische Raum, der dann definiert wird, gibt genau die Maße jener psychologischen Innerlichkeit an, in der der moralische Mensch zugleich seine Tiefe und seine Wahrheit sucht. Die physische Therapie versucht in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Heilmethode des unschuldigen Determinismus zu werden, während die moralische Behandlung die der mangelhaften Freiheit zu werden trachtet. Die Psychologie als Heilmethode ordnet sich künftig um die Bestrafung. Bevor sie zu beruhigen versucht, richtet sie das Leiden in der Strenge einer moralischen Notwendigkeit ein. »Wendet keinen Trost an, denn er ist unnütz. Greift nicht zu Überlegungen, sie überzeugen nicht. Seid nicht mit den Melancholikern traurig, eure Traurigkeit würde die ihre unterstützen. Versucht nicht, mit ihnen fröhlich zu sein, es würde sie verletzen. Viel Kaltblütigkeit und, wenn es notwendig ist, Strenge. Eure Vernunft soll ihr Verhaltensmaßstab werden. Eine einzige Saite vibriert noch bei ihnen: die des Schmerzes. Seid mutig genug, sie anzurühren.«3"6 Die Heterogenität des Physischen und des Moralischen im ärztlichen Denken ist nicht aus der Definition, die Descartes von den Substanzen gegeben hat, hervorgegangen. Anderthalb Jahrhunderte nachkartesianischer Medizin haben diese Trennung auf der Ebene ihrer Probleme und Methoden nicht zu assimilieren, noch die Unterscheidung der Substanzen als einen Gegensatz von Organischem und Psychologischem zu verstehen vermocht. O b die klassische Medizin nun kartesianisch oder antikartesianisch war, sie hat Descartes' metaphysischen Dualismus auf Kosten der Anthropologie durchzusetzen versucht. Als die Trennung vollzogen wurde, geschah das nicht in einer erneuerten Treue gegenüber den Méditations, sondern durch ein der Verfehlung neu gegebenes Privileg. Allein der Gebrauch der Strafe hat bei dem 305 Guislain hat folgende Liste der moralischen Beruhigungsmittel: das Abhängigkeitsgefühl, die Drohungen, ernste Worte, Angriffe auf die Eigenliebe, Isolierung, Einschließung, Strafen (Rotationsstuhl, brutale Duschen, Repressionssessel von Rush), manchmal Hunger und Durst. Joseph Guislain, Traité sur les phrénopathies ou Doctrine nouvelle des maladies mentales. Brüssel 2 i 835, S. 405-433. 30Î François Leuret, Fragmens psychologiques, Paris 1834, ein typisches Beispiel, S. 308-321.
Irren die körperlichen und die seelischen Medikationen getrennt. Eine rein psychologische Medizin ist erst an dem Tag möglich geworden, an dem der Wahnsinn in die Schuldhaftigkeit gedrängt wurde. Das könnte jedoch ein Aspekt der ärztlichen Praxis während des klassischen Zeitalters stark in Abrede stellen. Das psychologische Element scheint in seiner Reinheit seinen Platz unter den Techniken zu haben. Wie sollte man sonst die Bedeutung erklären, die der Ermahnung, der Oberzeugung, der Überlegung und dem ganzen Dialog zugemessen wird, den der A r z t in der Klassik mit seinen Kranken, unabhängig von der K u r durch körperliche Heilmittel, unterhält? Wie sollte man erklären, daß Sauvages in Übereinstimmung mit allen seinen Zeitgenossen schreiben kann: »Man muß Philosoph sein, um die Seelenkrankheiten heilen zu können. Denn da der Ursprung dieser Krankheiten nichts anderes ist als ein heftiger Wunsch nach einer Sache, die der Kranke als ein Gut erachtet, gehört es zur Pflicht des Arztes, ihm mit soliden Gründen zu beweisen, daß das von ihm so heiß ersehnte ein scheinbares Gut und in Wirklichkeit ein Übel ist, damit er ihn so von seinem Irrtum befreit.«3"7 Tatsächlich ist diese Annäherung an den Wahnsinn nicht mehr und nicht weniger psychologisch als alle, von denen wir bereits gesprochen haben. Die Sprache, die Formulierungen der Wahrheit oder der Moral haben den Körper direkt im Griff. Es ist wiederum Bienville in seinem Traktat über die Nymphomanie, der zeigt, wie die Annahme oder die Ablehnung eines ethischen Prinzips den Ablauf organischer Prozesse direkt verändern kann.3"8 Dennoch gibt es einen Naturunterschied zwischen den Techniken, die in der Modifikation gemeinsamer Eigenschaften des Körpers und der Seele bestehen, und jenen, die in der Einschließung des Wahnsinns durch eine Rede bestehen. In einem Fall handelt es sich um eine Technik der Metaphern auf der Ebene einer Krankheit, die eine Naturveränderung bedeutet, während es sich im anderen Fall um eine Sprachtechnik auf der Ebene eines als Gespräch der Vernunft mit sich selbst perzipierten Wahnsinns handelt. In dieser letzten Form entfaltet sich jene Kunst auf einem Gebiet, in dem der Wahnsinn in Begriffen von Wahrheit und Irrtum in jedem Sinne des Wortes »behandelt« wird. Es hat, kurz gesagt, während des ganzen klassischen Zeitalters eine Nebeneinanderstellung 307 Boissier des Sauvages, a. a. O., Bd. 7, S. 39. 3=8 Bienville, a. a. O., S. 140-153.
zweier technischer Welten in den Therapien des Wahnsinns gegeben. Die eine beruht auf einer impliziten Mechanik der Eigenschaften und wendet sich an den Wahnsinn insoweit, als er wesentlich Leidensdiaft ist, das heißt insoweit er ein bestimmtes Gemisch (Bewegung und Eigenschaft) ist, das dem Körper und der Seele gleichzeitig zugehört. Die andere beruht auf einer diskursiven Bewegung der mit sich selbst räsonierenden Vernunft und wendet sich an den Wahnsinn als Irrtum, als doppelte Nichtigkeit der Sprache und des Bildes, an den Wahnsinn als Delirium. Der strukturelle Zyklus der Leidenschaft und des Deliriums, der die klassische Erfahrung mit dem Wahnsinn bildet, erscheint hier in der Welt der Tediniken wieder, jedoch in einer synkopierten Form. Seine Einheit zeichnet sich darin nur entfernt ab; sichtbar wird jedoch unmittelbar in großen Lettern die Dualität, ja fast die Opposition der Methoden, die Krankheit in der Medizin des Wahnsinns zu unterdrücken, und der Formen, die Unvernunft einzukreisen. Diese lassen sich auf drei wesentliche Gestalten zurückführen. X. Das Wecken. D a das Delirium der Traum der nicht schlafenden Personen ist, muß man die Delirierenden dem Quasi-Schlaf entreißen und sie aus dem träumerischen, den Bildern ausgelieferten Wachsein zurückrufen zu einem authentischen Wachsein, in dem der Traum vor den Gestalten der Perzeption verschwindet. Dieses absolute A u f w a chen, das die Formen der Illusion eine nadh der anderen verabschiedet, wird von Descartes am Anfang seiner Méditations verfolgt, der es paradoxerweise im Bewußtsein des Traums selbst, im Bewußtsein des getäuschten Bewußtseins findet. Bei den Irren aber muß die Medizin das Aufwachen herstellen, indem sie die Einsamkeit der kartesianischen Seele in die autoritäre Intervention des seines Wachseins in der Illusion des Eingeschläfertseins sicheren Wachen transformiert: dieser Querweg schneidet dogmatisch den langen Weg Descartes' ab. Was Descartes am Ende seines Schlusses und in der Verdoppelung eines Bewußtseins entdeckt, das sich nie von sich selbst trennt und sich nie halbiert, erlegt die Medizin in der Trennung des Arztes und des Kranken von außen auf. Der A r z t reproduziert in Beziehung zum Irren das Moment des cogito in Beziehung zur Zeit des Traums, der Illusion und des Wahnsinns. Dieses cogito ist völlig äußerlich, dem Nachdenken selbst völlig fremd und kann sich ihm nur in der Form eines Hereinbrechens aufdrängen. Diese Struktur des Hineinbrechens des Wachseins ist eine der konstantesten Formen der Therapien des Wahnsinns. Sie nimmt manch-
mal die einfachsten, zugleich bildreichsten und mit unmittelbaren Kräften am meisten ausgestatteten Aspekte an. Man gibt zu, daß ein aus nächster Nähe abgefeuerter Gewehrschuß ein junges Mädchen von Konvulsionen geheilt hat, die sie sich infolge eines sehr heftigen Kummers zugezogen hatte.3"5 Ohne bis zu der imaginären Verwirklichung der Weckmethoden zu gehen, erzielen die plötzlichen und starken Emotionen das gleiche Resultat. In diesem Geiste hat Boerhaave seine berühmte Heilung von an Konvulsionen leidenden Insassen in Harlem durchgeführt. Im Hospital der Stadt war eine Epidemie von Konvulsionen ausgebrochen. Die krampflösenden Mittel wirkten selbst bei hoher Dosis nicht mehr. Boerhaave ordnete an, »daß man mit glühenden Kohlen gefüllte Öfen herbeischafft und darin Eisenhaken einer bestimmten Form zum Glühen bringt. Danach sagt er mit lauter Stimme, daß man, nachdem alle anderen bis dahin zur Heilung der Konvulsionen angewandten Mittel nicht geholfen haben, nur noch ein einziges Mittel anwenden könne, nämlich mit einem glühenden Eisen an einer bestimmten Stelle am Arm der weiblichen und männlichen Personen, die von Konvulsionen befallen sind, das Fleisch bis zum Knochen herunterzubrennen.« 3 '" Langsamer, aber auch der Wahrheit sicherer, in deren Richtung er sich öffnet, ist der Wachzustand, der von der Weisheit selbst und ihrem insistenten, imperativen Wandern durch die Landschaften des Wahnsinns kommt. Von diesen Weisheiten in ihren verschiedenen Formen erwartet Willis die Heilung der Wahnsinnsarten. Für die Imbezilen muß es sich um eine pädagogische Weisheit handeln: »Ein eifriger und mit Hingabe arbeitender Lehrer muß sie völlig erziehen« : man muß ihnen sehr langsam das beibringen, worin Kinder in den Schulen unterrichtet werden. Für die Melancholiker bedarf man einer Weisheit, die sich am Beispiel der strengsten und evidentesten Formen der Wahrheit orientiert: Alles, was es an Imaginärem in den Delirien der Melancholiker gibt, wird sich im Licht einer unbestreitbaren Wahrheit auflösen. Deshalb »sind ihnen die mathematischen und chemischen Studien« stark empfohlen. Für die anderen ist es die Weisheit eines wohlgeordneten Lebens, die ihr Delirium reduzieren würde. Man braucht ihnen keine andere Wahrheit aufzudrängen als die des täglichen Lebens. Wenn sie in ihrem Hause bleiben, »müssen sie weiterhin ihre Geschäfte führen, ihre Familie leiten und ihren Be309 Histoire de l'Académie des sciences, 17S2. Bericht, vorgetragen von Lieutaud. 310 Zitiert bei Whytt, a. a. O., Bd. 1, S. 296.
sitz, ihre Gärten, ihre Obstgärten und Felder ordnen und bebauen«. Die Genauigkeit einer sozialen Ordnung, die von außen und, falls nötig, mit Zwang auferlegt wird, kann allmählich den Geist der Maniakalisdien zum Geist des Lichts zurückbringen: »Dafür wird der Irre, der in ein Spezialhaus gebracht wird, vom A r z t wie von klugen Helfern behandelt, so daß man ihn stets bei seiner Pflicht, der richtigen Haltung und den guten Sitten halten kann, indem man ihm Ermahnungen, Vorhaltungen und sofort verhängte Strafen zukommen läßt.« 3 " Allmählich wird im Laufe des klassischen Zeitalters das autoritäre Wecken des Wahnsinns seinen ursprünglichen Sinn verlieren, um sich darauf zu begrenzen, nie mehr etwas anderes als Wiedererinnerung des moralischen Gesetzes, Rückkehr zum Guten, Treue gegenüber dem Gesetz zu sein. Was Willis noch als Neueröffnung gegenüber der Wahrheit verstand, wird von Sauvages nicht mehr völlig verstanden, der von Luzidität im Erkennen des Guten spricht: »So kann man diejenigen wieder zur Vernunft bringen, die falsche Prinzipien der Moralphilosophie zu deren Verlust gebracht haben, vorausgesetzt, daß sie mit uns prüfen wollen, welche die wahren Güter sind und welche man den anderen vorziehen muß.« 3 ' 1 Der A r z t muß bereits nicht mehr als Weckender, sondern als Moralist wirken. Gegen den Wahnsinn hält Tissot ein »reines und tadelloses Bewußtsein für ein ausgezeichnetes Schutzmittel«. 3 ' 3 Und bald wird für Pinel das Wecken für die Wahrheit keine Bedeutung mehr in der Heilung haben, sondern lediglich der Gehorsam und die blinde Unterwürfigkeit: »Ein fundamentales Prinzip für die Heilung der Manie ist in einer großen Zahl der Fälle zunächst der Rückgriff auf eine energische Repression und im Anschluß daran das Einschlagen von wohlwollenden Wegen.« 3 ' 4 2. Die Theaterdarstellung. Wenigstens dem Anschein nach handelt es sich um eine dem Wecken streng gegenübergestellte Technik. Das Delirium war dort in seiner unmittelbaren Hitzigkeit der geduldigen Arbeit der Vernunft konfrontiert. Entweder in der Form einer langsamen Pädagogik oder in der Form eines autoritären Einbruchs drängte sich die Vernunft von selbst und wie mit dem Gewicht ihres eigenen Seins auf. Das Nicht-Sein des Wahnsinns, die Nichtigkeit seines Irrtums mußten schließlich wohl dem Druck der Wahrheit weichen. Hier 311 312 1:3 314
Willis, Opera, Bd. 2, S. 261. Boissier de Sauvages, a. a. O., Bd. 7, S. 28. Tissot, Von der Gesundheit der Gelehrten. Pinel, Traité médico-philosophique, S. 222.
nun spielt sidi das therapeutische Vorgehen völlig im Raum der Vorstellungskraft ab. Es handelt sich um eine Komplizität des Irrealen mit sich selbst. Das Imaginäre muß in sein eigenes Spiel eintreten, freiwillig neue Bilder hervorrufen, auf der Linie des Deliriums delirieren und ohne Opposition oder Konfrontation, ja, paradoxerweise, ohne sichtbare Dialektik heilen. Die Gesundheit muß die Krankheit umzingeln und sie im Nichts besiegen, in dem die Krankheit eingeschlossen ist. Die Vorstellungskraft »kann, wenn sie krank ist, nur durch die Wirkung einer sehr gesunden und geübten Vorstellungskraft geheilt werden ( . . . ) . Es ist gleichgültig, ob die Vorstellungskraft des Kranken durch Angst, durch einen lebhaften und schmerzhaften Sinneseindruck oder durch eine Illusion geheilt wird.« 31 ' Die Illusion kann vom Illusorischen heilen, während allein die Vernunft vom U n vernünftigen befreien kann. Wie sieht dann also die wirre Kraft dieses Imaginären aus? In dem Maß, in dem es zum Wesen des Bildes gehört, sich als Realität darzustellen, gehört es umgekehrt zur Wirklichkeit, ein Bild vorspielen zu können und sich als aus der gleichen Substanz bestehend auszugeben und so zu tun, als verfüge sie über die gleiche Bedeutung. Ohne Stoß, ohne Bruch kann die Wahrnehmung den Traum fortsetzen, seine Lücken füllen, ihn in dem bestätigen, was er an Unsicherem besitzt, und ihn zu seiner Erfüllung führen. Wenn die Illusion als ebenso wahr wie die Wahrnehmung erscheinen kann, kann die Wahrnehmung ihrerseits sichtbare, unabweisbare Wahrheit der Illusion werden. Das erste Moment der Kur durch »Theaterdarstellung« besteht darin, die Irrealität des Bildes in die perzeptive Wahrheit zu integrieren, ohne daß diese jener zu widersprechen oder sie zu bestreiten scheint. Lusitanus erzählt so von der Heilung eines Melancholikers, der sich bereits auf der Erde wegen der Größe der Sünden, die er begangen hatte, verdammt glaubte. In der Unmöglichkeit, ihn durch vernünftige Argumente zu überzeugen, daß er gerettet werden könnte, akzeptiert man sein Delirium, läßt ihm einen weißgekleideten Engel mit einem Schwert in der Hand erscheinen, der ihm nach einer strengen Mahnrede verkündet, daß ihm seine Sünden vergeben worden sind. 3li A n Hand dieses Beispiels sieht man, wie sich das zweite Moment ab315 Allard Hülshoff, »Discours sur les penchants, lu à l'Académie de Berlin«, in: Gazette salutaire, 17. August 1769, N r . 33. 31S Zacutus Lusitanus, Praxis medica (1637), observatio 45, S. 43 f.
zeichnet. Die Darstellung im Bild genügt nicht, man muß die delirierende Rede fortsetzen. Denn in den wahnsinnigen Äußerungen des Kranken gibt es eine Stimme, die spricht, die seiner Grammatik gehorcht und einen Sinn ausspricht. Grammatik und Bedeutung müssen derart aufrechterhalten werden, daß die Darstellung des Phantasmas in der Wirklichkeit nicht wie das Gleiten aus einem Register in das andere, wie die Übersetzung in eine neue Sprache mit einem veränderten Sinn erscheint. Die gleiche Sprache muß sich weiterhin hören lassen, wobei sie der Strenge ihrer Rede ein neues deduktives Element hinzufügt. Dieses Element ist jedoch nicht gleichgültig. Es handelt sich nidit um die Fortsetzung des Deliriums, sondern um den Versuch, es während der Fortsetzung zu beenden. Man muß es zu einem Zustand des Paroxysmus und der Krise führen, in dem es ohne jede Hilfe eines fremden Elements mit sich selbst konfrontiert und mit den Forderungen seiner eigenen Wahrheit in Diskussion gebracht wird. Die wirkliche und perzeptive Rede, die die delirierende Sprache der Bilder verlängert, muß also, ohne den Gesetzen der letzteren zu entgehen oder ihre Souveränität zu verlassen, in Beziehung zu ihr eine positive Funktion erfüllen. Sie strafft diese Sprache um ihre wesentlichen Elemente. Wenn sie sie mit dem Risiko realisiert, sie zu bestätigen, dann geschieht das zu ihrer Dramatisierung. Man nennt den Fall eines Kranken, der sich für tot hielt und wirklich daran zu sterben drohte, daß er nidits aß. »Eine Gruppe, die sich weiß angemalt hatte und wie Tote gekleidet war, betritt sein Zimmer, stellt einen Tisch auf, trägt Wein herbei und beginnt vor seinem Bett zu essen und zu trinken. Der halbverhungerte Sterbende schaut zu, man fragt ihn, warum er im Bett bleibe, überzeugt ihn davon, daß die Toten wenigstens soviel essen wie die Lebenden. Und er nimmt diese Gewohnheit an.«3'7 Im Innern einer zusammenhängenden Rede lösen die Elemente des Deliriums, die in Widerspruch geraten, die Krise aus. Diese Krise ist auf sehr doppeldeutige Weise gleichzeitig eine ärztliche und eine dramatische. Die ganze Tradition der abendländischen Medizin seit Hippokrates wird dabei plötzlich - und nur für wenige Jahre - wieder eine der Haupterfahrungen des Theaters anschneiden. Man sieht, wie sich das große Thema einer Krise abzeichnet, die eine Konfrontation des Wahnsinnigen mit seinem eigenen Sinn, der Vernunft mit der Unvernunft, der klugen List des Menschen mit der Blindheit des Wahnsinnigen abzeichnet, eine Krise, die den \ n Hülshoff, a. a. O .
Punkt bezeichnet, an dem die gegen sidi selbst gekehrte Illusion sich für die Blendung der Wahrheit öffnet. Diese Öffnung ist der Krise stets bevorstehend, sie bildet mit ihrer unmittelbaren Nähe das wesentliche Moment der Krise. Sie ist aber nicht durch die Krise gegeben. Damit die Krise ärztlich und nicht nur dramatisch, damit sie nicht nur Vernichtung des Menschen, sondern reine und einfache Beseitigung der Krankheit, kurz, damit diese dramatische Darstellung des Deliriums eine reinigende Wirkung der Komik habe, muß in einem bestimmten Augenblick eine List eingeführt werden. 3 ' 8 Eine List oder wenigstens ein Element, das heimlich das autonome Spiel des Deliriums verändert und es während dessen unaufhörlicher Bestätigung nicht mit seiner eigenen Wahrheit verbindet, ohne es gleichzeitig mit der Notwendigkeit seiner Unterdrückung zu verketten. Das einfachste Beispiel dieser Methode ist die bei den delirierenden Kranken angewandte List, die sich einbilden, in ihrem Körper einen Gegenstand oder ein außergewöhnliches Tier wahrzunehmen: »Wenn ein Kranker ein bestimmtes Tier in seinem Körper eingeschlossen glaubt, muß man so tun, als entferne man es daraus. Handelt es sich um den Bauch, kann man ein Reinigungsmittel nehmen, das den Körper heftig erschüttert, und man kann ein entsprechendes lebendes Tier in das Gefäß werfen, ohne daß der Kranke es bemerkt.«31» Die Inszenierung verwirklicht das delirierende Objekt, kann dies aber nicht tun, ohne es zu veräußerlichen, und wenn es dem Kranken eine perzeptive Bestätigung seiner Illusion gibt, dann nur. indem sie ihn gewaltsam von der Illusion befreit. Die künstliche Wiederherstellung des Deliriums bildet die wirkliche Distanz, innerhalb derer der Kranke seine Wahrheit wiederfindet. Manchmal jedoch bedarf es nicht einmal dieser Entfernung. Innerhalb der Quasi-Wahrnehmung des Deliriums kann sich durch List ein Element der Wahrnehmung zunächst schweigend festsetzen, dessen fortschreitende Bestätigung aber das ganze System in Frage stellen wird. In ihm und in der Wahrnehmung, die sein Delirium bestätigt, perzipiert der Kranke die befreiende Wirklichkeit. Trallion berichtet, wie ein Arzt das Delirium eines Melancholikers auflöste, der sich einbildete, keinen Kopf mehr zu haben und an dessen Stelle eine Leere zu verspüren. Der A r z t spielt bei diesem Delirium mit, er akzeptiert, auf Verlangen des Kranken jenes Loch zu stopfen, und setzt ihm eine 318 Lusitanus, a. a. O., S. 43: »Hic omnivarius morbus ingenio et astutia curandu« est.« 319 Encyclopédie,
Artikel »Mélancolie«.
firolie Bleikugel auf den K o p f . Bald überzeugen die daraus herrührende Unbequemlichkeit und das schnell schmerzende Gewicht den Kranken davon, daß er einen K o p f hat.320 Schließlich kann die List und ihre Funktion einer komischen Reduzierung mit Hilfe des Arztes, jedoch ohne direkten Eingriff seinerseits, durch das spontane Spiel im Organismus des Kranken sichergestellt werden. Im oben genannten Fall des Melancholikers, der tatsächlich daran zu sterben drohte, daß er keine Nahrung mehr zu sich nahm, weil er sich für tot hielt, bewegt ihn die Theaterinszenierung eines Totenmahls zum Essen. Diese Nahrung richtet ihn wieder auf, »der Gebrauch von Speisen läßt ihn wieder ruhiger werden«, und dadurch, daß die organische Störung verschwindet, löst sich auch das Delirium auf, das untrennbar Ursache und Wirkung davon war. 32 ' So wird der wirkliche Tod, der aus dem eingebildeten Tod resultieren würde, von der Realität allein durch die Aufführung eines irrealen Todes ferngehalten. Der Wechsel des Nichts-Seins mit sich selbst hat sich in diesem Spiel vollzogen: das Nicht-Sein des Deliriums hat sich auf das Sein der Krankheit übertragen und hat sie allein durch die Tatsache beseitigt, daß es durch die dramatische Aufführung aus dem Delirium vertrieben worden ist. Oie Vollendung des Nicht-Seins des Deliriums im Sein erreicht seine Beseitigung als Nicht-Sein selbst. Dies geschieht durch den reinen Mechanismus seines inneren Widerspruches, einen Mechanismus, der gleichzeitig Wortspiel und Spiel der Illusion, Sprachspiel und Bilderspiel ist. Das Delirium wird wirklich in seinem Nicht-Sein beseitigt, weil es wahrgenommenes Sein wird. D a aber das Sein des Deliriums völlig in seinem Nicht-Sein liegt, wird es als Delirium beseitigt. Und ieine Bestätigung in der dramatischen Phantasie gibt es einer Wahrheit wieder, die es, in dem sie es im Wirklichen gefangenhält, aus der Wirklichkeit selbst vertreibt und in der nicht delirierenden Rede der Vernunft verschwinden läßt. }. Die Rückkehr zum Unmittelbaren. D a der Wahnsinn Illusion ist, kann sich die Heilung des Wahnsinns, wenn es stimmt, daß man sie mit Hilfe des Theaters bewirken kann, ebensosehr und noch direkter durch die Beseitigung des Theaters vollziehen. Den Wahnsinn und .eine nichtige Welt direkt der Fülle einer Natur anzuvertrauen, die aidit täuscht, weil ihre Unmittelbarkeit nicht das Nicht-Sein kennt, heißt, gleichzeitig den Wahnsinn seiner eigenen Wahrheit (weil der >20 Ebda. ι) Hühhoff, a. a. Ο
Wahnsinn als Krankheit letzten Endes ein natürliches Sein ist) und seinem nächsten Widerspruch auszuliefern (weil das Delirium als inhaltslose Erscheinung das Gegenteil des oft geheimen und unsichtbaren Reichtums der Natur ist). Dieser Widerspruch erscheint so wie die Vernunft der Unvernunft in jenem doppelten Sinne, daß sie deren Ursachen enthält und gleichzeitig deren Unterdrückungsprinzip verbirgt. A u f jeden Fall muß man festhalten, daß diese Themen nicht dem klassischen Zeitalter in seiner vollen Dauer zeitgleich sind. Obwohl sie sich der gleichen Erfahrung der Unvernunft zuordnen, folgen sie den Themen der Theateraufführung nach. Ihre Erscheinung zeigt den Moment an, in dem die Frage nach dem Sein und der Illusion zu schwinden und einer Problematik der Natur Platz zu machen beginnt. Die Spiele der dramatischen Illusion verlieren ihren Sinn, und an die Stelle der künstlichen Techniken der imaginären Aufführung stellt man die einfache und vertrauliche Kunst einer natürlichen Reduktion. Dies geschieht in einem doppeldeutigen Sinne, da es sich ebenso um eine Reduktion durch die Natur wie um eine Reduktion auf die N a turhandelt. Die Rückkehr zum Unmittelbaren ist die Therapie par excellence, weil sie die rigorose Ablehnung der Therapie ist. Sie heilt in dem Maße, in dem sie Vergessen jeder Pflege ist. In der Passivität des Menschen gegenüber sich selbst, im Schweigen, das er seiner Kunst und seinen Kunstgriffen auferlegt, entfaltet die Natur eine Aktivität, die sich zum Verzicht genau reziprok verhält. Wenn man sie nämlich näher betrachtet, ist diese Passivität des Menschen eine wirkliche Aktivität; wenn der Mensch sich dem Medikament anvertraut, entgeht er dem Gesetz der Arbeit, das die Natur selbst ihm auferlegt; er dringt in die Welt des Kunstgriffes und der Gegen-Natur ein, von der sein Wahnsinn nur eine der Manifestationen ist. Während er diese Krankheit nicht kennt und in der Aktivität der natürlichen Wesen wieder einen Platz einnimmt, gelangt der Mensch in einer scheinbaren Passivität, die indessen nichts anderes ist als eine fleißige Treue, zur Heilung. So erklärt Bernardin de Saint-Pierre, wie er sich von einem »eigenartigen Übel« befreite, in dem »er wie ödipus zwei Sonnen sah«. Die Medizin hatte ihm ihre Hilfe geboten und ihn gelehrt, daß »der Herd seines Leidens in den Nerven lag«. Vergeblich wendet er die stärksten Medikamente an; er bemerkt schnell, daß die Ärzte selbst von ihren Heilmitteln getötet werden: »Jean-Jacques Rousseau verdanke ich die Wiedergenesung. Ich hatte in seinen unsterblichen Schriften unter anderen Naturweisheiten gelesen, daß der Mensch zur
Arbeit und nicht zum Meditieren geschaffen ist. Bis dahin hatte ich meine Seele ausgebildet und meinen Körper ruhen lassen. Ich wechselte meine Lebensart, stärkte den Körper, während ich die Seele ruhen ließ. Ich verzichtete auf die Mehrzahl der Bücher, bildete zu den Werken der Natur, die zu all meinen Sinnen eine Sprache sprachen, die weder die Zeit noch die Nationen verändern können. Meine Geschichte und meine Tagebücher waren die Gräser der Felder und Wiesen. Nicht meine Gedanken näherten sich ihnen mühsam wie im System der Menschen, sondern ihre Gedanken kamen in tausenderlei angenehmen Formen zu mir.«322 Trotz der Formulierungen, die bestimmte Schüler Rousseaus dafür haben vorschlagen können, ist diese Rückkehr zum Unmittelbaren weder absolut noch einfach. Der Wahnsinn erscheint nämlich, selbst wenn er hervorgerufen und durdi das erhalten wird, was es in dei Gesellschaft an Allerkünstlichstem geben kann, in seinen heftigsten Formen wie der wilde Ausdrude der primitivsten menschlichen Wünsche. Der Wahnsinn im Zeitalter der Klassik rührt, wie wir gesehen haben, von den Bedrohungen der Bestialität her, einer Bestialität, die durdi die Beutemacherei und den Mordinstinkt völlig beherrscht wird. Den Wahnsinn der Natur auszuliefern, wäre in einer unkontrollierten Umkehr die Hingabe an jene Wut der Gegennatur. Die Heilung des Wahnsinns setzt also eine Rückkehr zu dem voraus, was unmittelbar nicht im Verhältnis zum Wunsch, sondern im Verhältnis zur Vorstellungskraft ist. Diese Rückkehr trennt vom Leben des Menschen und seinen Freunden all das Künstliche, Irreale und Imaginäre. Die Therapien durch überlegtes Eintauchen in das Unmittelbare setzen insgeheim die Vermittlung einer Weisheit voraus, die in der Natur das, was zur Gewalt gehört, von dem trennt, was zur Wahrheit gehört. Darin liegt der ganze Unterschied zwischen dem Wilden und dem Landmann. »Die Wilden (. ..) führen eher das Leben eines fleischfressenden Tieres als das eines vernünftigen Wesens.« Das Leben des Landmanns dagegen »ist wirklich glücklicher als das des Weltmannes«. Auf Seiten des Wilden steht das unmittelbare Verlangen ohne Disziplin, ohne Zwang, ohne wirkliche Moral. Auf Seiten des Landmannes das Vergnügen ohne Vermittlung, das heißt ohne nichtige Verlockung, ohne Erregung oder imaginäre Erfüllung. Was in der Natur und ihren unmittelbaren Kräften den Wahnsinn heilt, ist das Vergnügen, aber
.22 Bernardin de Saint-Pierre, Préambule i8i8.Bd.7, S. n - 1 4 .
de l'Arcadie,
in: ders., Œuvres,
Paris
ein Vergnügen, das einerseits das Verlangen nichtig werden läßt, ohne es auch nur unterdrücken zu müssen, weil es ihm im voraus eine Fülle der Befriedigung bietet, und auf der anderen Seite die Vorstellungskraft lächerlich macht, weil es spontan die glückliche Präsenz der Wirklichkeit bringt. »Die Vergnügungen gehören zur ewigen Ordnung der Dinge. Sie existieren unveränderlich. U m sie zu bilden, bedarf es bestimmter Bedingungen ( . . . ) . Diese Bedingungen sind nicht willkürlich, sie sind von der Natur gegeben. Die Vorstellungskraft kann nicht kreativ werden, und der Mensch, sei er auch noch so von den Vergnügungen begeistert, könnte die seinen nicht erhöhen, es sei denn, er verzichtet auf all diejenigen, die nicht den natürlichen Charakter tragen.«' 23 Die unmittelbare Welt des Landmannes ist also eine von Weisheit und Maß umgebene Welt, die vom Wahnsinn in dem Maße heilt, in dem sie die Wünsche und Bewegungen der davon hervorgerufenen Leidenschaften unnütz werden läßt, und in dem Maße ebenfalls, in dem sie alle Möglichkeiten eines Deliriums mit dem Imaginären verringert. Was Tissot unter »Vergnügungen« versteht, das ist dieses unmittelbare Heilmittel, das gleichzeitig von der Leidenschaft und von der Sprache, also von den beiden großen Themen der menschlichen Erfahrung, aus denen die Unvernunft entsteht, befreit wird. Vielleicht hat die Natur als konkrete Form des Unmittelbaren noch eine fundamentalere Kraft in der Unterdrückung des Wahnsinns. Sie hat nämlich die Macht, den Menschen von seiner Freiheit zu befreien. In der Natur — wenigstens in der, die durch den doppelten Ausschluß der Heftigkeit des Verlangens und der Irrealität des Phantasmas gemessen wird - wird der Mensch wahrscheinlich von den sozialen Zwängen (die ihn dazu zwingen, »zu kalkulieren und die Bilanz seiner imaginären Vergnügungen zu ziehen, die so heißen, es aber nicht sind«) und von der unkontrollierbaren Bewegung der Leidenschaften befreit. Durch diese Tatsache wird er sanft und wie vom Innern seines Lebens selbst durch das System der natürlichen Verpflichtungen gefangen. Der Druck der gesündesten Bedürfnisse, der Rhythmus der Tage und Jahreszeiten, die zwanglose Notwendigkeit, sich zu ernähren und Schutz zu finden, zwingen die Unordnung des Irren zu einer regelmäßigen Observanz. Was die Vorstellungskraft an zu Fernem erfindet, wird mit dem zusammen abgewiesen, was das Verlangen an zu Drängendem verbirgt. In der Sanftheit eines Vergnügens, das kei313 Tissot, Traité sur les maladies des gens de lettres, S. 90-94.
nen Zwang darstellt, findet sidi der Mensch mit der Weisheit der Natur verbunden, und diese Treue in Form der Freiheit löst die Unvernunft auf, die den extremen Determinismus der Leidenschaft und die extreme Phantasie des Bildes in ihrem Paradox nebeneinanderstellt. So beginnt man, in diesen aus Ethik und Medizin gemischten Landschaften von einer Befreiung des Wahnsinns zu träumen. Diese Befreiung darf in ihrem Ursprung nicht als Entdeckung der Menschlichkeit der Irren durch die Philanthropie, sondern als ein Verlangen verstanden werden, den Wahnsinn für die sanften Zwänge der Natur zu öffnen. Das alte Dorf Gheel, das, seit dem Ende des Mittelalters, noch die jetzt vergessene Verwandtschaft zwischen der Internierung der Irren und dem Ausschluß der Leprakranken bezeugte, erfährt in den letzten Jahren des achtzehnten Jahrhunderts eine plötzliche Neuinterpretation. Was an ihm die ganze heftige, pathetische Trennung der Welt der Irren und der Welt der Menschen bezeichnete, trägt jetzt die idyllischen Werte der wiedergefundenen Einheit zwischen Unvernunft und Natur. Dieses Dorf bedeutete einst, daß die Wahnsinnigen untergebracht waren und daß so der Mensch der Vernunft vor ihnen geschützt war. Jetzt manifestiert es, daß der Irre befreit ist und sich in dieser Freiheit, die ihn mit den Naturgesetzen auf eine Ebene stellt, wieder an den Vernunftmenschen anpaßt. Nach dem Bild, das Jouy davon zeichnet, sind in Gheel »vier Fünftel der Einwohner wahnsinnig, aber wahnsinnig in der ganz anderen Bedeutungskraft, und genießen ohne Behinderung die gleiche Freiheit wie die anderen Bürger ( . . . ) . Gesunde Nahrung, reine Luft, der ganze Apparat der Freiheit wird ihnen vorgeschrieben, dem auch die größte Zahl von ihnen nach einem Jahr die Gesundheit verdankt.« 324 Obwohl sich in den Institutionen noch nichts wirklich geändert hat, beginnt der Sinn der Internierung und des Ausschlusses, sich zu verändern. Er nimmt langsam positive Werte an, und der neutrale, leere, nächtliche Raum, in dem man einst die Unvernunft wieder in ihr Nichts verwandelte, beginnt, sich mit einer Natur zu bevölkern, der der befreite Wahnsinn sich unterwerfen muß. Die Internierung als Trennung von Vernunft und Unvernunft ist nicht beseitigt, aber im Innern ihrer Zeichnung läßt der von ihr eingenommene Raum natürliche Kräfte erscheinen, die viel zwingender für den Wahnsinn und viel geeigneter sind, ihn in seinem Wesen zu unterwerfen, als das ganze alte System der 324 Zitiert bei Esquirol, a. a. O., Bd. 2, S. 294.
Grenzen und der Repression. Von diesem System muß man den Wahnsinn befreien, damit er in dem Raum der Internierung - der jetzt mit positiver Wirksamkeit beladen ist — sich seiner wilden Freiheit entledigen und die Forderungen der Natur annehmen kann, die für ihn gleichzeitig Wahrheit und Gesetz sind. Als Gesetz bezwingt die N a tur die Heftigkeit des Verlangens, als Wahrheit reduziert sie die Gegen-Natur und alle Phantasmen des Imaginären. Pinel beschreibt diese Natur im Zusammenhang mit dem Hospital in Saragossa folgendermaßen: darin wird eine »Art Gegengewicht zu den Geistesverwirrungen durch die Lieblichkeit und die Anziehungskraft des Ackerbaus, durch den natürlichen Instinkt des Menschen für die Bebauung der Erde und die Vorsorge durch die Früchte seiner Arbeit« hergestellt. »Vom Morgen an sieht man sie ( . . . ) sich heiter in den verschiedenen Teilen der großen Einfriedung verteilen, die zum Hospiz gehört, sich die den Jahreszeiten entsprechenden Arbeiten eifrig teilen, Getreide, Gemüse, Suppengemüse anbauen, sich nacheinander um die Ernte, den Weinanbau und die Weinernte, die Olivenernte kümmern und abends in ihrem einsamen Asyl Ruhe und einen ruhigen Schlaf finden. Die dauernde Erfahrung hat in diesem Hospiz gezeigt, daß dies das sicherste und wirksamste Mittel ist, wieder vernünftig zu werden.«3-* Unter den konventionellen Bildern findet man leicht einen strengen Sinn. Die Rückkehr zum Unmittelbaren hat nur in dem Maße eine Wirkung gegen die Unvernunft, in dem es sich um ein hergerichtetes und von sich selbst getrenntes Unmittelbares handelt. In diesem Unmittelbaren muß die Gewalt von der Wahrheit getrennt, die Wildheit von der Freiheit gelöst werden, und die Natur muß aufhören, sich in den phantastischen Gestalten der Gegen-Natur wiederzuerkennen. In dieser Unmittelbarkeit muß die Natur von der Moral vermittelt werden. In einem so hergerichteten Raum wird der Wahnsinn niemals mehr in der Sprache der Unvernunft reden können, in der so vieles die natürlichen Phänomene der Krankheit übersteigt. Er wird völlig in einer Pathologie liegen. Diese Transformation haben die späteren Epochen als positiven Erwerb aufgefaßt und als das Auftauchen wenn nicht einer Wahrheit so wenigstens dessen betrachtet, was die Erkenntnis der Wahrheit möglich macht: diese Transformation muß aber vor dem Auge der Geschichte als das erscheinen, was sie gewesen ist: als Reduzierung der klassischen Erfahrung mit der Unvernunft auf eine streng moralische Perzeption des 325 Pinel, a. a. O., S. 238 f.
Wahnsinns, die insgeheim als Kern für alle Auffassungen dienen wird, die das neunzehnte Jahrhundert für die Zukunft als wissenschaftlich, positiv und experimentell gelten läßt. Diese Verwandlung, die sich in der zweiten Häfte des achtzehnten Jahrhunderts vollzogen hat, ist zunächst in die Tediniken der Heilung hineingeglitten. Sehr schnell ist sie aber offen wahrnehmbar von den Reformatoren übernommen worden und hat die große Neuordnung der Erfahrung mit dem Wahnsinn in den letzten Jahren des Jahrhunderts bestimmt. Pinel wird sehr schnell schreiben können: »Wie wichtig es ist, zur Vorbeugung der Hypochondrie, der Melancholie oder der Manie den unveränderlichen Gesetzen der Moral zu folgen !«'26
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Ebda.
Dritter Teil
Einleitung
»Eines Nachmittags war ich dort, beobachtete viel, sprach wenig und hörte sowenig als möglich, als eine der wunderlichsten Personnagen zu mir trat, die nur jemals dieses Land hervorbrachte, wo es doch Gott an dergleichen nicht fehlen ließ. Es ist eine Zusammensetzung von Hochsinn und Niederträchtigkeit, von Menschenverstand und Unsinn (...).« In dem Augenblick, in dem der Zweifel seine Hauptgefahren erreichte, wurde Descartes bewußt, daß er nicht irre sein konnte. Er war bereit, noch lange und bis hin zum bösen Genius anzuerkennen, daß alle Kräfte der Unvernunft sein Denken umwachten. Als Philosoph aber, als der er mit Entschlossenheit zweifelte, konnte er nicht »einer jener Irren« sein. Rameaus Neffe weiß sehr wohl, daß er irre ist; darin besteht eine seiner hartnäckigsten Gewißheiten. »(Ehe er anfängt, seufzt er tief, bringt seine beiden Hände vor die Stirne, dann beruhigt er seine Gesichtszüge und sagt:) Ihr wißt, ich bin unwissend, töricht, närrisch, unverschämt, gaunerisch ( . . ).«* Dieses Bewußtsein, wahnsinnig zu sein, ist noch recht zerbrechlich. Es ist kein abgeschlossenes, geheimes und souveränes Bewußtsein, mit den tiefen Kräften der Unvernunft zu kommunizieren. Rameaus Neffe hat ein sklavisches Bewußtsein, das für alle "Winde offensteht und für die Blicke der anderen durchdringbar ist. Er ist wahnsinnig, weil man es ihm gesagt hat und ihn als Wahnsinnigen behandelt hat: »Man hat mich lächerlich haben wollen, und dazu habe ich mich gebildet.« 2 Die Unvernunft in ihm ist sehr oberflächlich, ohne weitere Tiefe als die der Meinung, dem Unfreiesten unterworfen und durch das denunziert, was es in der Vernunft an Zerbrechlichstem gibt. Die Unvernunft steht völlig auf der Ebene des nichtigen Wahnsinns der Menschen. Sie ist vielleicht nichts anderes als dieses Spiegelbild. Welche Bedeutung hat also jene unvernünftige Existenz, die Rameaus Neffe auf eine Weise darstellt, die für seine Zeitgenossen noch geheimnisvoll, für unseren Rückblick jedoch entscheidend ist? Es handelt sich um eine Existenz, die sich fern in die Zeit eingräbt und ΐ Denis Diderot, Rameaus Neffe, Basel o. J., S. 28.
2 A.a.O.,S.Ê9.
sehr alte Gestalten, darunter unter anderem ein sdielmenhaftes Aussehen aufnimmt, das an das Mittelalter erinnert und audi die modernsten Formen der Unvernunft ankündigt, die mit Nerval, Nietzsche und Antonin Artaud zeitgenössisch sind. Rameaus Neffen in dem Paradox seiner seherischen und dennoch im achtzehnten Jahrhundert unbemerkten Existenz zu befragen, bedeutet, sich leicht nach rückwärts versetzt in den zeitlichen Ablauf der Entwiddung zu stellen. Gleichzeitig heißt es aber, sidi zu gestatten, die großen Strukturen der Unvernunft in ihrer allgemeinen Form zu bemerken, die in der abendländischen Zivilisation etwas unterhalb der Zeit der Historiker ruhen. Vielleicht wird Le Neveu de Rameau uns durch die angestoßenen Gestalten seiner Widersprüche hastig lehren, was es in den Umkehrungen, die die Erfahrung der Unvernunft im klassischen Zeitalter erneuert haben, an Wesentlichem gab. Wir müssen ihn als ein verkürztes Paradigma der Geschichte befragen. D a er im Aufblitzen eines Augenblicks die große gebrochene Linie bezeichnet, die vom Narrenschiff bis zu den letzten Worten Nietzsches und vielleicht bis zu den Schreien Artauds verläuft, wollen wir versuchen, das in dieser Gestalt Verborgene zu erkennen und zu erfahren, wie sich im Text von Diderot die Vernunft, der Wahnsinn und die Unvernunft gegeneinandergestellt, welche neuen Beziehungen sich zwischen ihnen ergeben haben. Die Geschichte, die wir in diesem letzten Teil schreiben müssen, liegt innerhalb des durch die Worte des Neffen geöffneten Raumes. Sie wird aber selbstverständlich weit davon entfernt sein, ihn in seiner Gesamtheit zu umfassen. Als letzte Gestalt, in der Wahnsinn und Unvernunft sich vereinigen, ist der Neffe Rameaus derjenige, in dem der Augenblick der Trennung gleichzeitig präfiguriert ist. In den folgenden Kapiteln werden wir versuchen, die Bewegung jener Trennung in ihren ersten anthropologischen Phänomenen nachzuzeichnen. Lediglich in den letzten Texten von Nietzsche oder bei Artaud jedoch wird sie für die abendländische Gesellschaft ihre philosophischen und tragischen Bedeutungen annehmen. Die Gestalt des Irren erscheint also im Neffen Rameaus wieder. Es ist ein Wiedererscheinen in Form eines Narrenspiels. Wie der Narr des Mittelalters lebt er inmitten der Form der Vernunft, ein wenig am Rande wahrscheinlich, da er nicht wie die anderen ist, aber dennoch integriert, da er als ein Ding zur Verfügung der vernünftigen Leute, als ein Besitz, den man sich zeigt und übergibt, vorhanden ist. Man besitzt ihn als ein Objekt, obwohl er sogleich die Doppeldeutigkeit
dieses Besitzes denunziert, denn wenn er für die Vernunft ein Gegenstand zur Aneignung ist, ist er außerdem für sie ein notwendiger Gegenstand. Dieses notwendige Bedürfnis berührt den Inhalt und den Sinn ihrer Existenz. Ohne den Irren wäre die Vernunft ihrer Realität beraubt, wäre sie leere Monotonie, Langeweile mit sich selbst, tierische Wüstenei, die sich selbst ihren eigenen Widerspruch vor Augen hielte: »Oh gewiß! Jetzt, da ich sie nicht lachen mache, haben sie Langeweile wie die Hunde.« 3 Aber eine Vernunft, die nur in dem Besitz des Wahnsinns sie selbst ist, hört auf, sich durch die unmittelbare Identität mit sich selbst definieren zu können, und verfremdet sich in dieser Zusammengehörigkeit: »Wer weise wäre, hätte keine Narren; wer einen Narren hat, ist nicht weise, und ist er nicht weise, so ist er ein Narr, und vielleicht wäre der König der Narr seines Narren.« 4 Die Unvernunft wird zur Ursache der Vernunft, und zwar in dem Maße, in dem die Vernunft sie nur insofern anerkennt, als sie sie besitzt. Was in der lächerlichen Gestalt des unwillkommenen Gastes nur Narrenspiel war, enthüllt letzten Endes eine bedrohende Kraft der Lächerlichkeit. Das Abenteuer von Rameaus Neffen erzählt die notwendige Unstabilität und die ironische Umkehrung jeder Urteilsform, die die Unvernunft als sich äußerlich und nicht essentiell denunziert. Die Unvernunft greift allmählich zu dem zurück, das sie verurteilt, und erlegt ihm eine A r t rückschreitender Sklaverei auf, denn eine Weisheit, die mit dem Wahnsinn eine reine Urteils- und Definitionsbeziehung herzustellen glaubt - »der da ist ein Irrer« - , hat von vornherein eine Beziehung des Besitzes und dunkler Zugehörigkeit hergestellt: »Der da ist mein Irrer«; er ist es in dem Maße, in dem ich vernünftig genug bin, seinen Wahnsinn zu erkennen, und diese Erkenntnis die Markierung, das Zeichen, gewissermaßen das Emblem meiner Vernunft ist. Die Vernunft kann keinen Wahnsinn feststellen, ohne sich selbst in den Besitzverhältnissen in Frage zu stellen. Die Unvernunft ist nicht außerhalb der Vernunft befindlich, sondern und gerade in und von ihr umhüllt, besessen und verdinglicht. Für die Vernunft gibt es nichts Innerlicheres, nichts Transparenteres, nichts oifener Dargebotenes. Während die Weisheit und die Wahrheit für die Vernunft immer unendlich zurückgezogen sind, ist der Wahnsinn stets nur das, was die Vernunft von allein besitzen kann. »Lange gab 3 A . a . O . , S . 30.
4 A.a.O..S. 68.
es keinen wirklich betitelten Narren des Königs; niemals hat jemand den Titel eines Weisen des Königs getragen.«' Da kündigt sich der Triumph des Wahnsinns erneut in einem doppelten Wahnsinn an, in einem Zurückfließen der Unvernunft in Richtung der Vernunft, die ihre Gewißheit nur im Besitz des Wahnsinns sicherstellt, und in einem Rückgriff auf eine Erfahrung, in der beide sich unbegrenzt implizieren; »nicht wahnsinnig zu sein, hieße wahnsinnig zu sein auf eine andere A r t von Wahnsinn«. Dennoch ist diese Implikation von einer völlig anderen A r t als die, die die abendländische Vernunft am Ende des Mittelalters und während der ganzen Renaissance bedrohte. Sie bezeichnet nicht mehr jene dunklen und unzugänglichen Regionen, die sich für das Imaginäre in der phantastischen Mischung der Welten am äußersten Punkt der Zeit transkribierten; sie enthüllt die irreparable Zerbrechlichkeit der Zugehörigkeitsbeziehungen, den unmittelbaren Sturz der Vernunft in den Besitz, in dem sie ihr Sein sucht: die Vernunft verfremdet sich in der Bewegung, in der sie Besitz von der Unvernunft ergreift. In diesen wenigen Seiten von Diderot nehmen die Beziehungen von Vernunft und Unvernunft ein völlig neues Gesicht an. Das Schicksal des Wahnsinns in der modernen Welt ist darin auf seltsame Weise präfiguriert und fast bereits enthalten. Von dort ausgehend, zieht eine gerade Linie jenen unwahrscheinlichen Weg, der mit einem Zug bis zu Antonin Artaud verläuft. Beim ersten Blick würde man den Neveu de Rameau in die alte Verwandtschaft der Irren und Narren stellen und ihm die ganzen ironischen Kräfte, die sie einst besessen hatten, wiedergeben. Spielt er nicht in der gleichen Erhellung der Wahrheit die Rolle des Unaufmerksamen, die er solange im Theater innehatte und die der Klassizismus völlig vergessen hatte? Kommt es nicht oft vor, daß die Wahrheit in den Spuren seiner Impertinenz aufleuchtet? Diese Irren »(unterbrechen) die lästige Einförmigkeit, die wir durch unsere Erziehung, unsere gesellschaftlichen Konventionen, unsere hergebrachten Anständigkeiten eingeführt haben. Kommt ein solcher in eine Gesellschaft, so ist er ein Krümdien Sauerteig, das das Ganze hebt und jedem einen Teil seiner natürlichen Individualität zurückgibt. Er schüttelt, er bewegt, bringt Lob oder Tadel zur Sprache, treibt die Wahrheit hervormacht rechtliche Leute kenntlich, entlarvt die Schelme.«6 5 Ebda. 6 A . a. O., S. 17.
Wenn der Wahnsinn sich aber vornimmt, die Wahrheit ihren Weg durch die Welt gehen zu lassen, geschieht das nicht mehr, weil seine Blindheit mit dem Wesentlichen durch eigentümliche Gelehrsamkeiten kommuniziert, sondern allein dadurch, daß er blind ist. Seine Kraft besteht nur aus Verirrung: »Wenn wir etwas Gutes sagen, so soll es, wie bei Narren und Schwärmern, der Zufall getan haben.- 7 Das soll wahrscheinlich heißen, daß der Zufall die einzige notwendige Verbindung zwischen Wahrheit und Irrtum ist, der einzige Weg paradoxer Gewißheit. Und in diesem Maße erscheint der Wahnsinn, als Exaltation dieses Zufalls, eines weder gesuchten noch gewollten, sondern sich selbst überlassenen Zufalls, als die Wahrheit der Wahrheit und ebensosehr als manifester Irrtum; denn den manifesten Irrtum bilden sowohl jenes Sein, das er ist, wie jenes Nicht-Sein, das den Irrtum ausmacht, wenn sie ans volle Licht gebracht sind. Dort nimmt der Wahnsinn für die moderne Welt eine neueBedeutung an. Auf der einen Seite ist die Unvernunft das unmittelbar Nächste des Seins und in ihm am stärksten verwurzelt. Alles, was sie an Weisheit, an Wahrheit und Vernunft opfern oder beseitigen kann, macht das Sein, das sie manifestiert, nur reiner und drängender. Jede Verspätung, jeder Rückzug dieses Seins, jede Vermittlung sind ihr unerträglich: »Lieber will ich sein, und selbst ein impertinenter Schwätzer sein, als nicht sein.«8 Rameaus Neffe hat Hunger und sagt es. Was es in Rameaus Neffen an Gefräßigem und Schamlosem gibt, alles was in ihm an Zynismus wiederentstehen kann, ist keine Hypokrisie, die sich dafür entscheidet, ihre Geheimnisse auszuplaudern; denn sein Geheimnis ist gerade, kein Hypokrit sein zu können. Rameaus Neffe ist nicht die Kehrseite "on Tartuffe, er manifestiert lediglich den unmittelbaren Druck des Seins in der Unvernunft, die Unmöglichkeit der Vermittlung.' Gleichzeitig ist die Unvernunft aber dem Nicht-Sein der Illusion ausgeliefert und erschöpft sich in der Nacht. Wenn sie sich aus Interesse auf das reduziert, was es im Sein an Unmittelbarstem gibt, spielt sich gleichzeitig das, was es an Entferntestem, Zerbrechlichstem, am wenigsten • A . a . O . , S. 23. A. a. O., S. 26. Ü- Interesse in Rameaus Neffe zeigt genau jene Pression des Seins und jenes Mcn einer Vermittlung. Man findet die gleiche Gedankenbewegung bei de Sade Jer wo in scheinbarer Nachbarschaft es die Umkehrung der Philosophie des .tresses- ist (Vermittlung hin zur Wahrheit und Vernunft), der man im achtzehn'ahrhundert laufend begegnet.
Konsistentem in der Erscheinungswelt gibt. Sie ist gleichzeitig der Zwang des Seins und die Pantomime des Nicht-Seins, die unmittelbare Notwendigkeit und die unendliche Reflexion des Spiegels. »Und dann ist die gezwungene Stellung, in der uns das Bedürfnis hält, das allerschlimmste. Der bedürftige Mensch geht nicht wie ein andrer: er springt, er kriecht, er krümmt sidi, er schleppt sidi und bringt sein Leben zu, indem er Positionen erdenkt und ausführt.« 10 Als Zwang des Bedürfnisses und Nachäffen des Unnützen bildet die Unvernunft in einer einzigen Bewegung jenen Egoismus ohne Unterstützung oder Trennung und jene Faszination durch das Äußerste im Unwesentlichen. Rameaus Neffe ist jene Simultaneität, jene übertriebene Extravaganz in einem systematischen Willen zum Delirium, und zwar bis zu dem Punkt, daß sie bei vollem Bewußtsein und als totale Erfahrung der Welt ausgeübt wird: »Wahrlich, was Ihr die Pantomime der Bettler nennt, ist der große Hebel der Erde.«" Selber jener Lärm, jene Musik, jenes Schauspiel, jene Komödie zu sein, sich als Ding und als illusorisches Ding zu verwirklichen, dadurch nidit nur Ding, sondern Leere und Nichts zu sein, die absolute Leere jener absoluten Fülle zu sein, durch die man von außen fasziniert wird, endlich der Taumel jenes Nichts und jenes Seins in ihrem flugartigen Kreis zu sein und dies gleichzeitig bis zur totalen Vernichtung eines sklavenhaften Bewußtseins und bis zur höchsten Verherrlichung eines souveränen Bewußtseins zu sein, das ist wahrsdieinlidi der Sinn des Neveu de Rameau, der im achtzehnten Jahrhundert und lange bevor die Worte von Descartes völlig verstanden werden, eine Lektion erteilt, die viel antikartesianischer ist als Locke, Voltaire oder auch Hume. Der Neveu de Rameau in seiner menschlichen Realität, in jenem schwächlichen Leben, das der Animalität nur durch einen Namen entgeht, der nicht einmal der seine ist (Sdiatten eines Schattens), ist jenseits und diesseits jeder Wahrheit das Delirium (das als Existenz realisiert wird) des Seins und des Nicht-Seins des Realen. Wenn man hingegen bedenkt, daß es der Plan von Descartes war, den Zweifel vorübergehend bis zum Auftauchen des Wahren in der Realität der evidenten Idee zu ertragen, sieht man, daß der Nicht-Kartesianismus des modernen Denkens in dem, was er an Entscheidendem enthalten kann, nicht mit einer Diskussion über die eingeborenen Ideen oder der Inkriminierung des ontologisdien Arguments beginnt, sondern genau bei dem Text des Neveu de Rameau, bei jener Existenz, die er i o A . a. O., S. 10S. ΐ ΐ A . a. O., S. rro.
in einer Umkehrung bezeichnet, die nidit vor der Epoche von Hölderlin und Hegel verstanden werden konnte. Was sich darin in Frage gestellt findet, ist wiederum dies, worum es sich im Paradoxe sur le comédien handelt. Es ist aber auch die Umkehrung davon; nicht mehr das, was von der Realität im Nicht-Sein des Schauspiels durch ein kaltes Herz und eine luzide Intelligenz vorgebracht werden soll, sondern das, was vom Nicht-Sein der Existenz sich in der nichtigen Fülle der Erscheinungswelt verwirklichen kann, und zwar durch Vermittlung des zum äußersten Gipfel des Bewußtseins gelangten Deliriums. Es ist nidit mehr notwendig, nach Descartes tapfer alle Unsicherheiten des Deliriums, des Traums, der Illusionen zu durchqueren, es ist nidit mehr notwendig, die Gefahren der Unvernunft zu überwinden. Aus der Tiefe der Unvernunft heraus kann man sich Fragen über die Vernunft stellen, und die Möglichkeit ist erneut vorhanden, das Wesen der Welt in der Kreisbewegung eines Deliriums zu erfassen, das in einer der Wahrheit äquivalenten Illusion das Sein und das NichtSein des Realen totalisiert. Im Herzen des Wahnsinns nimmt das Delirium einen neuen Sinn an. Bis dahin wurde es völlig im Raum der Verirrung definiert als Illusion, falscher Glaube, schlecht begründete Meinung, der man aber hartnäckig anhängt, und umhüllte all das, was ein Denken hervorbringen kann, wenn es nicht mehr in das Gebiet der Wahrheit gestellt ist. Jetzt ist das Delirium der Ort einer ständigen und augenblicklichen Konfrontierung, der Konfrontierung des Bedürfnisses und der Faszination, der Einsamkeit des Seins und des Glitzerns der Erscheinungswelt, der unmittelbaren Fülle und des Nicht-Seins der Illusion. Nichts ist von seiner alten Verwandtschaft mit dem Traum losgeknüpft, aber das Gesicht ihrer Ähnlichkeit hat sich verändert. Das Delirium ist nicht mehr die Faszination dessen, was es an Subjektivstem im Traum gibt. Es ist nicht mehr das Gleiten hin zu dem, was Heraklit bereits den ίδιος κόσμος nannte. Wenn es sich noch in einer Verwandtschaft mit dem Traum befindet, dann durch alles das, "as im Traum Spiel der lichten Erscheinungswelt und der tauben Realität, Zwang der Bedürfnisse und Sklaverei der Faszinationen, und alles das, was in ihm Dialog ohne Sprache des Tages und des Lichtes ist. Traum und Delirium kommunizieren nicht mehr in der Nacht der Blindheit, sondern in jener Helle, in der das Unmittelbarste im ->cin sich dem gegenüberstellt, was es an unendlich Reflektiertem in 1er Spiegelungen der Erscheinungswelt gibt. Jenes Tragische wird
durch das Delirium und den Traum bedeckt und gleichzeitig in der ununterbrochenen Rhetorik ihrer Ironie manifestiert. Die tragische Konfrontation der Bedürfnisse und der Illusion in einer traumdeuterischen Weise, die bereits Freud und Nietzsche ankündigt, ist im Delirium des Neveu de Rameau gleichzeitig die ironische Wiederholung der Welt, ihre zerstörerische Rekonstruktion auf dem Theater der Illusion: » ( . . . ) schrie, sang mit Gebärden eines Rasenden und machte ganz allein die Tänzer, die Tänzerinnen, die Sänger, die Sängerinnen, ein ganzes Orchester, ein ganzes Operntheater, sich in zwanzig verschiedene Rollen teilend, laufend, innehaltend, mit der Gebärde eines Entzückten, mit blinkenden Augen und schäumendem Munde. Es war eine Hitze zum Umkommen, und der Schweiß, der den Runzeln seiner Stirne, der Länge seiner Wange folgte, vermischte sich mit dem Puder seiner Haare, rieselte und befurchte den Oberteil seines Kleides. Was begann er nicht alles! Er weinte, er lachte, er seufzte, blickte zärtlich, ruhig oder wütend. Es war eine Frau, die in Schmerz versinkt, ein Unglücklicher, seiner ganzen Verzweiflung hingegeben, ein Tempel, der sich erhebt, Vögel, die beim Untergang der Sonne sidi in Schweigen verlieren. Bald Wasser, die an einem einsamen und kühlen Orte rieseln oder als Gießbäche von Bergen herabstürzen, ein Gewitter, ein Sturm, die Klage der Umkommenden, vermischt mit dem Gezisch der Winde, dem Lärm des Donners, es war die Nacht mit ihren Finsternissen, es war der Schatten und das Schweigen.«' 2 Die Unvernunft findet sich nicht wie eine flüchtige Präsenz der anderen Welt wieder, sondern hier, in der entstehenden Transzendenz jeden expressiven Aktes, bereits von der Quelle der Sprache her, in jenem Augenblick, der gleichzeitig den Charakter eines Beginns und eines Endes hat, in dem der Mensch sich selbst äußerlich wird, weil er in seiner Trunkenheit das aufnimmt, was es in der Welt an Innerlichstem gibt. Die Unvernunft trägt nicht mehr jene fremden Gesichter, in denen das Mittelalter sie zu erkennen liebte, sondern die unwahrnehmbare Maske des Vertrauten und Identischen. Die Unvernunft ist gleichzeitig die Welt selbst und dieselbe Welt, nur durch die dünne Oberfläche der Pantomime von sich selbst getrennt. Ihre Kräfte sind nidit mehr die der Entwurzelung, ihr gehört es nicht mehr zu. das auftauchen zu lassen, Avas radikal anders ist, sondern die Welt im Kreis immer des Gleichen drehen zu lassen. i i A . a. O., S. 90.
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Aber in diesem Taumel, in dem die Wahrheit der Welt sidi nur im Innern einer absoluten Leere aufrechterhält, trifft der Mensch audi die ironische Perversion seiner eigenen Wahrheit an, und zwar in dem Moment, in dem sie vom Traum der Innerlichkeit zu den Formen des Austausches übergeht. Die Unvernunft stellt dann einen anderen bösen Geist dar, nicht mehr den, der den Menschen von der Wahrheit der Welt trennt, sondern den, der gleichzeitig mystifiziert und entmystifiziert, bis zur extremen Entzauberung jene Wahrheit von sich selbst verzaubert, die der Mensch seinen Händen, seinem Gesicht und seiner Sprache anvertraut hat; ein böser Geist, der nicht mehr in Aktion tritt, wenn der Mensch zur Wahrheit vordringen will, sondern wenn er der Welt eine Wahrheit wiedergeben will, die seine eigene ist, und wenn, in die Trunkenheit des Sensiblen gestürzt, worin er sich verliert, er schließlich »unbeweglich, stumpf, erstaunt« bleibt.' 3 Nicht mehr in der Perzeption liegt die Möglichkeit des bösen Geistes, sondern im Ausdruck. Der der Lächerlichkeit des Unmittelbaren und des Sensiblen ausgelieferte und in ihnen durch jene Vermittlung, die er selbst ist, verfremdete Mensch ist der Gipfel der Ironie. Das Lachen des Neveu de Rameau präfiguriert und reduziert die ganze Bewegung der Anthropologie des neunzehnten Jahrhunderts. Im ganzen nachhegelianischen Denken wird der Mensch durch die Arbeit des Geistes und der Vernunft von der Gewißheit zur Wahrheit schreiten. Seit langem aber hatte Diderot bereits verstehen lassen, daß der Mensch unaufhörlich von der Vernunft zur nicht-wahren Wahrheit des Unmittelbaren zurückverwiesen wird, und zwar durch eine mühelose Vermittlung, eine stets auf dem Grunde der Zeit ausgeführte Vermittlung. Jene ungeduldige Vermittlung, die gleichzeitig äußerste Distanz, absolute Promiskuität und völlig negativ ist, weil sie keine andere Kraft hat als eine subversive, aber völlig positiv ist, weil sie in dem fasziniert ist, was sie unterdrückt, ist das Delirium der Unvernunft - die rätselhafte Gestalt, in der wir den Wahnsinn wiedererkennen. In seinem Unterfangen, um durch den Ausdruck die sensible Trunkenheit der Welt, das drängende Spiel des Bedürfnisses und der Erscheinungswelt wiederherzustellen, bleibt das Delirium ironischerweise alleine: das Leiden des Hungers bleibt ein unauslotbarer Schmerz.
A. a. O.. S. 90 f.
I. Kapitel
Die große Furcht Das achtzehnte Jahrhundert konnte den Sinn, der in Rameaus Neffen freigesetzt wurde, nicht genau verstehen. Dennoch geschah in der gleichen Epoche, in der der Text geschrieben wurde, etwas, das eine entscheidende Änderung versprach. Seltsamerweise erscheint jene Unvernunft, die in der Distanz der Internierung zur Seite geschoben worden war und sich fortschreitend in den natürlichen Formen des Wahnsinns verändert hatte, beladen mit neuen Gefahren und gleichsam ausgestattet mit einer anderen Kraft, in Frage zu stellen. Was aber das achtzehnte Jahrhundert davon zunächst wahrnimmt, ist nicht die geheime Frage, sondern lediglich die soziale Verlassenschaft: zerrissene Kleidung, Arroganz in Lumpen, jene Frechheit, die man erträgt und deren beunruhigende Kräfte man durch eine amüsierte Nachsicht zum Schweigen bringen muß. Das achtzehnte Jahrhundert hätte sich in Rameaus Neffen nicht wiedererkennen können, aber es war vollständig in dem Ich gegenwärtig, das ihm als Gesprächspartner und sozusagen als der nicht ohne Verschwiegenheit und mit einer stummen Unruhe amüsierte »Anzeiger« dient, denn es ist das erste Mal seit der großen Internierung, daß der Wahnsinnige wieder zur gesellschaftlichen Gestalt wird, es ist das erste Mal, daß man das Gespräch mit ihm wieder aufnimmt und ihn aufs neue befragt. Die Unvernunft erscheint wieder als T y p , was wenig bedeutet, aber sie erscheint immerhin wieder und nimmt langsam einen vertrauten Platz in der sozialen Landschaft ein. Zehn Jahre vor der Revolution wird Mercier sie ohne großes Erstaunen wiedertreffen: »Geht in ein anderes C a f é ; ein Mann sagt Euch in einem ruhigen und gesetzten Ton ins Ohr: »Mein Herr, Sie können sich die Undankbarkeit der Regierung mir gegenüber nicht vorstellen und werden nicht glauben, wie blind sie gegenüber ihren Interessen ist. Seit dreißig Jahren habe ich meine eigenen Geschäfte vernachlässigt, habe ich midi nachdenkend, träumend und berechnend in mein Büro eingeschlossen, habe ich ein Projekt entworfen, mit dem man alle Staatsschulden bezahlen könnte. Danach habe ich ein anderes entworfen, um den König zu bereicherr und ihm Einkünfte in Höhe von 400 Millionen zu sichern; dann eir anderes, um England, dessen Name allein schon mir zuwider ist, endgültig niederzuschlagen ( . . . ) . Während ich völlig mit diesen ausfüh
liehen Operationen, die die ganze Anwendung des Genies verlangen, beschäftigt war, habe ich meine häuslichen Mißstände mit Zerstreuung behandelt, und einige wachsame Gläubiger haben mich drei Jahre Gefängnis gekostet ( . . . ) . Aber da sehen Sie, mein Herr, wozu der Patriotismus dient, dazu, unbekannt und als Märtyrer seines Vaterlandes zu sterben.