Tove Jansson
Die Mumins Eine drollige Gesellschaft Aus dem Schwedischen neu übersetzt von Birgitta Kicherer Mit Bilder...
498 downloads
1632 Views
418KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Tove Jansson
Die Mumins Eine drollige Gesellschaft Aus dem Schwedischen neu übersetzt von Birgitta Kicherer Mit Bildern von Tove Jansson
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Lizenzausgabe der Süddeutschen Zeitung GmbH, München für die Süddeutsche Zeitung junge Bibliothek 2005 Copyright: © deutschsprachige Übersetzung von Birgitta Kicherer: 2001 Arena Verlag GmbH, Würzburg Titel- und Innenillustrationen: Tove Jansson Umschlaggestaltung und Layout: Eberhard Wolf Projektleitung: Dirk Rumberg Produktmanagement: Gabriella Hoffmann, Sabine Sternagel Redaktion: Roswitha Budeus-Budde, Hilde Elisabeth Menzel Satz: vmi, Manfred Zech Druck und Bindearbeiten: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN-10: 3-86.615-123-3 ISBN-11: 978-3-86.615-123-9
Einleitung Erstes Kapitel Zweites Kapitel Drittes Kapitel Viertes Kapitel Fünftes Kapitel Sechstes Kapitel Letztes Kapitel
Einleitung
An einem grauen Morgen fiel der erste Schnee im Mumintal. Dicht und lautlos kam er angehuscht, und innerhalb von ein paar Stunden war alles weiß. Mumin stand auf der Treppe und sah zu, wie das Tal sich eine Winterdecke überzog. Heute Abend beginnen wir unseren Winterschlaf, dachte er zufrieden. Irgendwann im November pflegen das alle Mumintrolle zu tun – eine recht vernünftige Angewohnheit, wenn man Dunkelheit und Kälte nicht leiden mag. Mumin schloss die Tür, ging zu seiner Mutter hinein und sagte: »Der Schnee ist da.« »Ich weiß«, sagte die Muminmutter. »Ich habe euch schon die Betten hergerichtet, mit den allerwärmsten Decken. Du schläfst in der westlichen Dachkammer zusammen mit dem kleinen Schnüferl.« »Aber das Schnüferl schnarcht so laut«, wandte Mumin ein. »Darf ich nicht lieber mit dem Schnupferich in einem Zimmer
schlafen?« »Wie du willst«, sagte die Muminmutter. »Dann schläft das Schnüferl eben in der östlichen Dachkammer.« So bereiteten sich die Muminfamilie und alle ihre Freunde und Bekannten umständlich und sorgfältig auf den langen Winter vor. Die Muminmutter deckte den Tisch auf der Veranda, jeder bekam eine Tasse voller Tannennadeln (wenn man vorhat, drei Monate lang zu schlafen, muss man sich nämlich den Bauch mit Tannennadeln voll schlagen, das ist wichtig). Als das Abendessen beendet war – es hatte wirklich nicht besonders gut geschmeckt –, wünschten alle einander ein bisschen ausführlicher als sonst eine gute Nacht, und dann sagte die Muminmutter, sie sollten sich die Zähne putzen. Anschließend ging der Muminvater durchs Haus, schloss sämtliche Türen und Fensterläden und hüllte den Kronleuchter in ein Mückennetz, damit er nicht einstaubte. Und dann kroch ein jeder in sein Bett, bereitete sich eine gemütliche Mulde, zog die Decke über die Ohren und dachte an was Schönes. Nur Mumin seufzte leicht und sagte: »Jedenfalls verlieren wir eine Menge Zeit!«
»Keine Spur«, sagte der Schnupferich. »Wir werden träumen. Und wenn wir wieder aufwachen, ist es Frühling …« »Ja …«, murmelte Mumin, der bereits in das Dämmerland der Träume hinübergeglitten war. Draußen fiel der Schnee unhörbar und dicht. Er bedeckte bereits die Treppe und hing schwer über Dach und Gesims. Bald würde das ganze Muminhaus eine einzige weiche, runde Schneewehe sein. Die Uhren hörten auf zu ticken, eine nach der anderen. Der Winter war da.
Erstes Kapitel
An einem Frühlingsmorgen um vier Uhr flog der erste Kuckuck durchs Mumintal. Er ließ sich auf dem Dach des blauen Muminhauses nieder und rief acht Mal. Da es sehr zeitig im Frühjahr war, klang seine Stimme noch etwas heiser. Dann flog er weiter gen Osten. Mumin wachte auf und lag eine Zeit lang einfach da und sah an die Decke, ohne zu begreifen, wo er sich befand. Er hatte hundert Nächte und hundert Tage geschlafen, und jetzt wimmelten die Träume noch um ihn herum und wollten ihn wieder in den Schlaf zurückziehen. Doch als er sich hin und her drehte, um eine neue gemütliche Schlafkuhle zu finden, entdeckte er etwas, das ihn plötzlich hellwach werden ließ. Das Bett des Schnupferichs war leer. Mumin setzte sich auf. Ja, der Hut des Schnupferichs war auch
verschwunden. »Allerhand«, sagte Mumin. Er tapste ans offene Fenster und sah hinaus. Aha, der Schnupferich hatte die Strickleiter benützt. Mumin hievte sich über das Fenstersims und kletterte vorsichtig mit seinen kurzen Beinen hinunter. In der feuchten Erde waren die Spuren des Schnupferichs deutlich zu erkennen. Sie flitzten mal hierhin, mal dorthin. Ab und zu hüpften sie kreuz und quer, sodass man ihnen nur schwer folgen konnte. Der Schnupferich ist guter Laune, sagte Mumin sich. Hier hat er einen Purzelbaum geschlagen, das ist ganz eindeutig. Plötzlich hob Mumin die Nase und horchte. Irgendwo in der Ferne spielte der Schnupferich auf seiner Mundharmonika, und zwar spielte er sein fröhlichstes Lied: »Alle kleinen Tiere tragen Schleifen am Schwanz«. Mumin lief auf die Musik zu. Unten am Fluss saß der Schnupferich auf dem Brückengeländer. Er hatte sich seinen alten Hut tief über die Ohren gezogen und ließ die Beine überm Wasser baumeln. »Hallo«, sagte Mumin und setzte sich neben ihn. »Hallo, hallo«, sagte der Schnupferich und spielte weiter.
Die Sonne war soeben überm Wald aufgegangen und schien ihnen jetzt mitten ins Gesicht. Sie blinzelten ihr entgegen, schwenkten die Beine über dem funkelnd dahinströmenden Wasser und fühlten sich unbekümmert und freundschaftlich. Auf diesem Fluss waren sie schon vielen erstaunlichen Abenteuern entgegengesegelt. Und auf jeder Reise hatten sie neue Freunde gefunden und ins Mumintal mit zurückgebracht. Der Muminvater und die Muminmutter hießen alle Neuankömmlinge ruhig und freundlich willkommen, stellten zusätzliche Betten auf und vergrößerten den Esstisch. So war das Muminhaus zu einem Wimmelhaus geworden, wo jeder tat, wozu er gerade Lust hatte – ohne sich um den morgigen Tag Sorgen zu machen. Zwar passierten dort mitunter aufregende und auch schreckliche Dinge, aber dafür wurde es auch keinem von ihnen jemals langweilig – was natürlich ein großer Vorteil war. Als der Schnupferich beim letzten Vers seines Frühlingsliedes angelangt war, steckte er die Mundharmonika in die Tasche und fragte: »Ist das Schnüferl schon wach?« »Glaube ich nicht«, sagte Mumin. »Das
Schnüferl schläft immer eine Woche länger als alle anderen.« »Dann werden wir es wecken«, sagte der Schnupferich entschlossen und hüpfte vom Brückengeländer. »Heute ist so ein schöner Tag, da müssen wir was Besonderes unternehmen.« Unterm Fenster der östlichen Dachkammer pfiff Mumin ihr geheimes Signal: drei normale Pfiffe und dann ein langer Pfiff auf den Pfoten (was bedeutete: Es tut sich was!). Das Schnüferl hörte auf zu schnarchen, aber in seiner Kammer blieb alles still. »Noch einmal!«, sagte der Schnupferich, worauf sie mit verdoppelten Kräften lospfiffen. Da flog das Fenster auf. »Ich schlafe!«, schrie das Schnüferl verdrießlich. »Sei nicht sauer! Komm lieber gleich runter«, sagte der Schnupferich. »Wir haben was Besonderes vor.« Da richtete das Schnüferl seine schlafknittrigen Ohren auf und kam die Strickleiter herabgeklettert (dabei sollte vielleicht erwähnt werden, dass unter sämtlichen Fenstern Strickleitern hingen, weil
das Treppenlaufen den Bewohnern des Muminhauses zu lange dauerte). Der Tag versprach tatsächlich schön zu werden. Überall tauchte halb verschlafenes kleines Getier auf, das jetzt nach dem langen Winterschlaf umherwuselte und die Welt neu begrüßte. Kleider wurden gelüftet und Häuser repariert, und aller Orten bereitete man sich auf vielerlei Art auf den neuen Frühling vor. Ab und zu blieben Mumin, der Schnupferich und das Schnüferl stehen, um bei Bauarbeiten zuzuschauen oder irgendwelchem Gezanke zuzuhören (in den ersten Frühlingstagen, so kurz nach dem Winterschlaf, ist man morgens nämlich oft sehr mieser Laune). In manchen Bäumen hockten Baumgeister auf den Zweigen und kämmten ihr langes Haar, und in den Schneeresten an den Nordseiten der Bäume buddelten Mäusekinder und Kleinwusler lange Tunnels. »Frohen Frühling!«, grüßte eine ältere Blindschleiche. »Wie war der Winter?« »Danke, ausgezeichnet«, antwortete Mumin. »Und Sie? Haben Sie gut geschlafen?« »Bestens«, sagte die Blindschleiche. »Empfehlungen an die Eltern!« So und ähnlich unterhielten sie sich mit den
Leuten, denen sie begegneten. Aber je höher sie den Berg hinaufkletterten, desto einsamer wurde die Gegend, und schließlich sahen sie nur noch vereinzelte Mäusemütter beim Frühjahrsputz. Hier war es überall nass. »Igitt, ist das scheußlich«, sagte Mumin und hob die Füße bei jedem Schritt hoch aus dem schmelzenden Schnee. »So viel Schnee ist ungesund, das ist nichts für einen Mumin, sagt meine Mutter immer.« Und dann musste er niesen. »Hör mal, Mumin«, sagte der Schnupferich. »Mir kommt da eine Idee. Was hältst du davon, wenn wir bis auf den Berggipfel hinaufklettern und dort einen Steinhaufen errichten, um zu zeigen, dass vor uns noch niemand dort gewesen ist?« »Ja, toll!«, rief das Schnüferl und flitzte davon, um Erster zu sein. Oben auf dem Gipfel tanzte der Frühlingswind unbehindert um sie her und ringsum erstreckte sich der blaue Horizont. Im Westen lag das Meer, im Osten wand sich der Fluss in die Einsamen Berge hinein, im Norden breiteten die großen Wälder ihren Frühlingsteppich aus und im Süden stieg
Rauch aus dem Schornstein des Muminhauses, weil die Muminmutter Kaffee kochte. Aber von all dem sah das Schnüferl nichts. Ganz oben auf dem Berggipfel lag nämlich ein Hut, ein hoher schwarzer Zylinder. »Irgendjemand ist schon hier gewesen!«, schrie das Schnüferl. Mumin hob den Hut auf und sah ihn an. »Ein sehr schöner Hut«, stellte er fest. »Vielleicht passt er dir, Schnupferich?« »Nein, nein«, wehrte der Schnupferich ab, der seinen alten grünen Hut liebte. »Der ist mir viel zu neu!« »Dann will Vater ihn vielleicht haben«, überlegte Mumin. »Nehmen wir ihn einfach mit«, sagte das Schnüferl. »Aber jetzt will ich nach Hause. Mein Magen hat fürchterlichen Kaffeedurst. Und wie steht’s mit euch?« »Genauso!«, sagten Mumin und der Schnupferich mit Nachdruck. So kam es, dass sie den Hut des Zauberers fanden und mit nach Hause nahmen, ohne zu ahnen, dass sie das Mumintal dadurch zu einem Tummelplatz für allerlei Arten von Zauberei und unerklärlichen Vorkommnissen machten.
Als Mumin, der Schnupferich und das Schnüferl auf die Veranda kamen, hatten die anderen bereits gefrühstückt und waren in verschiedene Richtungen verschwunden. Nur der Muminvater saß noch da und las die Zeitung. »Aha, ihr seid auch schon aufgewacht«, sagte er. »Steht erstaunlich wenig in der Zeitung heute. Ein Bach hat einen Damm gesprengt und einen Ameisenstaat vernichtet. Alle sind gerettet worden. Außerdem ist der erste Kuckuck heute Morgen um vier in Richtung Osten durchs Tal geflogen.« »Schau mal, was wir gefunden haben«, sagte Mumin stolz. »Einen schwarzen Zylinder für dich, Vater.« Der Muminvater untersuchte den Hut sehr genau und setzte ihn dann vor dem Wohnzimmerspiegel auf. Der Hut war etwas zu groß und rutschte ihm so weit über die Ohren, dass er kaum darunter hervorschauen konnte, aber insgesamt sah er doch sehr eindrucksvoll damit aus. »Mutter!«, schrie Mumin. »Komm mal her und sieh dir Vater an!« Die Muminmutter öffnete die Küchentür und blieb sehr erstaunt auf der Schwelle stehen.
»Kleidet er mich?«, fragte der Muminvater. »Ja, das finde ich schon«, sagte die Muminmutter. »Ja, doch, du siehst richtig männlich aus damit. Er ist nur irgendwie ein kleines bisschen zu groß.« »Ist es so besser?«, fragte der Muminvater und schob den Hut in den Nacken. »Hm«, machte die Muminmutter. »Sieht wirklich gut aus, aber ich glaube, ohne Hut siehst du würdevoller aus.« Der Muminvater besah sich von vorn und von der Seite im Spiegel, dann stellte er den Hut mit einem Seufzer auf die Kommode. »Du hast Recht«, sagte er. »Ist ja ganz unnötig, sich so herauszuputzen.« »Wahre Schönheit braucht keinen Schmuck«, sagte die Muminmutter freundlich. »Esst noch mehr Eier, Kinder, ihr habt den ganzen Winter nur von Tannennadeln gelebt!« Und damit verschwand sie wieder in die Küche hinaus. »Aber was machen wir jetzt damit?«, fragte das Schnüferl. »So ein schöner Hut!« »Ihr könnt ihn ja als Papierkorb benutzen«, schlug der Muminvater vor. Danach zog er sich in den oberen Stock zurück, um seine Memoiren zu schreiben, das große Buch, das von Muminvaters wildbewegter Jugend
handelte. Der Schnupferich nahm den Hut und stellte ihn zwischen der Kommode und der Küchentür auf den Boden. »So, jetzt habt ihr wieder ein neues Möbelstück«, stellte er fest und grinste dabei, er hatte nämlich wenig Verständnis dafür, dass man an Besitztümern Freude haben kann. In dem alten Anzug, den er trug, seit er auf die Welt gekommen war (wo und wie, das wusste niemand), fühlte er sich sehr wohl, und der einzige Besitz, den er nicht verschenkt hatte, war seine Mundharmonika. »Habt ihr fertig gefrühstückt? Dann gehen wir jetzt raus und schauen nach, was der Snork und das Snorkfräulein vorhaben«, schlug Mumin vor. Aber bevor er in den Garten hinausging, warf er seine Eierschalen in den Papierkorb, weil er (manchmal) ein ordentlicher Mumin war. Dann war das Wohnzimmer leer. In der Ecke zwischen der Kommode und der Küchentür stand der Hut des Zauberers mit den Eierschalen darin. Und jetzt geschah etwas sehr Eigenartiges. Die Eierschalen begannen sich zu verwandeln. Es ist nämlich so: Wenn etwas lange genug
im Hut eines Zauberers liegen bleibt, verwandelt es sich in etwas ganz anderes – in was, das kann man nie im Voraus wissen. Ein Glück, dass der Hut zu groß für den Muminvater gewesen war, denn wenn er ihn auch nur etwas länger auf dem Kopf behalten hätte, dann weiß nur der Beschützer aller kleinen Tiere, was aus ihm geworden wäre. So aber trug der Muminvater nur ein leichtes Schädelbrummen davon, das am Nachmittag schon wieder vorbei war. Die Eierschalen dagegen blieben im Hut liegen und veränderten allmählich ihre Form. Sie behielten ihre weiße Farbe, wuchsen und wuchsen jedoch und wurden weich und flauschig. Nach einer Weile füllten sie den Hut ganz und gar aus. Und schließlich lösten sich fünf kleine runde Wolken von der Hutkrempe und segelten auf die Veranda hinaus, dort federten sie weich die Treppenstufen hinab und hielten in einigem Abstand über dem Boden in der Luft an. Der Hut des Zauberers war inzwischen wieder leer. »Ist ja allerhand«, sagte Mumin. »Brennt es irgendwo?«, fragte der Snork beunruhigt. Regungslos schwebten die Wolken vor
ihnen, ohne ihre Form zu verändern, als würden sie warten. Das Snorkfräulein streckte sehr vorsichtig eine Pfote aus, um einen Wolkenzipfel zu berühren. »Es fühlt sich an wie Watte«, stellte sie erstaunt fest. Die anderen kamen näher und fassten die Wolken ebenfalls an. »Wie ein kleines Kissen«, sagte das Schnüferl. Der Schnupferich stupste behutsam gegen eine der Wolken. Sie glitt ein Stückchen weiter und hielt dann wieder an. »Wem gehören die?«, fragte das Schnüferl. »Wie sind die überhaupt auf die Veranda gekommen?« Mumin schüttelte den Kopf. »So was Komisches hab ich noch nie erlebt«, sagte er. »Ist vielleicht besser, wir sagen es Mutter.« »Nein, nein«, rief das Snorkfräulein. »Die können wir selbst untersuchen!« Und damit zog sie eine der Wolken herunter und strich sie mit der Pfote glatt. »Ganz weich!«, sagte das Snorkfräulein. Und in der nächsten Sekunde saß sie schon auf der Wolke und wippte kichernd auf und ab.
»Ich will auch eine haben!«, schrie das Schnüferl und kletterte auf die nächste Wolke. »Hoppla hopp!« Aber als er hopp! sagte, erhob sich die Wolke und beschrieb einen eleganten kleinen Bogen durch die Luft. »Du meine Güte!«, rief das Schnüferl. »Sie hat sich bewegt!« Jetzt stürzten sich alle auf je eine Wolke und riefen: »Hopp! Hoppla hopp!« Wie große, folgsame Kaninchen segelten und hüpften die Wolken hin und her. Der Snork kam als Erster dahinter, wie man sie lenken konnte: Ein sanfter Druck mit dem einen Fuß genügte, und schon schwenkte die Wolke herum. Mit beiden Füßen – volle Fahrt voraus. Ein leichtes Wackeln mit dem Hinterteil – und die Wolke stieg nach oben, bis man mit dem Wackeln aufhörte. Das war ganz unglaublich lustig. Sie wagten sich bis in die Baumwipfel hinauf und bis aufs Dach des Muminhauses. Mumin hielt mit seiner Wolke vor dem Fenster des Muminvaters und schrie: »Kikeriki!« (Er war so hingerissen, dass ihm nichts Witzigeres einfiel.) Der Muminvater ließ seinen Memoirenstift fallen und stürzte ans Fenster.
»Bei meinem Schwanz!«, rief er aus. »Bei meinem Schwanz!« Mehr brachte er nicht heraus. »Das hier gibt doch ein schönes Kapitel für deine Memoiren«, sagte Mumin und lenkte seine Wolke dann ans Küchenfenster und rief: »Hallo, Mutter!« Die Muminmutter schälte gerade Kartoffeln fürs Mittagessen und hatte es sehr eilig. »Was hast du dir jetzt schon wieder ausgedacht, mein kleiner Mumin«, sagte sie. »Pass nur auf, dass du nicht runterfällst!« Unten im Garten hatten der Snork und der Schnupferich inzwischen etwas Neues erfunden – sie sausten mit voller Fahrt auf einander zu und stießen mit einem weichen Rums zusammen. Wer zuerst runterfiel, hatte verloren. »Warte, jetzt werd ich’s dir zeigen!«, schrie der Schnupferich und presste die Fersen in die Seiten seiner Wolke. »Vorwärts!« Aber der Snork wich geschickt seitwärts aus und griff dann hinterhältig von unten an. Die Wolke des Schnupferichs kenterte, worauf er kopfüber ins Beet fiel und ihm sein Hut über die Nase gedrückt wurde. »Dritte Runde!«, schrie das Schnüferl, das
als Schiedsrichter ein Stück weit über den beiden andern flog. »Zwei zu eins! Auf die Plätze! Fertig! Los!« »Wollen wir zusammen einen kleinen Flug machen?«, schlug Mumin dem Snorkfräulein vor. »Gern«, sagte das Snorkfräulein und lenkte ihre Wolke neben die seine hinauf. »Wo sollen wir hinfliegen?« »Wir könnten den Hemul überraschen«, meinte Mumin. Sie flogen eine Runde über den Garten, konnten den Hemul aber auf keinem seiner üblichen Plätze entdecken. »Normalerweise geht er nie weit fort«, sagte das Snorkfräulein. »Als ich ihn das letzte Mal sah, hat er gerade seine Briefmarken sortiert.« »Aber das war vor einem halben Jahr«, bemerkte Mumin. »Oh, stimmt ja!«, sagte das Snorkfräulein. »Seitdem haben wir ja geschlafen.« »Hast du gut geschlafen?«, fragte Mumin. Das Snorkfräulein segelte graziös über einen Baumwipfel und überlegte kurz, bevor sie antwortete: »Ich hatte einen Traum, aber der war gar nicht schön!«, sagte sie dann. »Ein unheimlicher Mann mit einem Zylinder auf
dem Kopf, der mich angrinste.« »Komisch«, sagte Mumin. »Ich hab genau den gleichen Traum gehabt. Hatte der Mann auch weiße Handschuhe an?« »Ja, genau.« Das Snorkfräulein nickte. Darüber mussten beide eine Weile nachdenken, während sie sachte durch den Wald glitten. Plötzlich erblickten sie den Hemul, der mit den Pfoten auf dem Rücken und gesenkter Schnauze durch die Gegend wanderte. Mumin und das Snorkfräulein schwebten im Gleitflug hinab, und als sie neben ihm angelangt waren, riefen sie beide gleichzeitig: »Guten Morgen!« »Huch!«, schrie der Hemul. »Hilfe, was bin ich erschrocken! Man darf nicht so plötzlich bei mir aufkreuzen, da kann mir das Herz in der Kehle stecken bleiben, das wisst ihr doch ganz genau!« »Oh, entschuldige«, sagte das Snorkfräulein. »Hast du schon gesehen, worauf wir reiten?« »Sehr eigenartig«, sagte der Hemul. »Aber ich bin es ja inzwischen gewöhnt, dass ihr eigenartige Sachen macht. Und jetzt gerade bin ich schwermütig.« »Warum denn das?«, fragte das Snorkfräulein mitfühlend. »An so einem
schönen Tag wie heute?« Der Hemul schüttelte den Kopf. »Ihr würdet mich sowieso nicht verstehen«, sagte er. »Wir versuchen’s mal«, sagte Mumin. »Hast du schon wieder einen Fehldruck verloren?« »Im Gegenteil«, seufzte der Hemul. »Ich habe sie alle. Jeden einzelnen. Meine Briefmarkensammlung ist komplett. Nichts fehlt mehr.« »Na, ist doch wunderbar!«, sagte das Snorkfräulein ermunternd. »Bitte, ich hab doch gleich gewusst, dass ihr mich nicht versteht«, sagte der Hemul. Mumin und das Snorkfräulein wechselten besorgte Blicke. Aus Rücksicht auf die traurigen Gefühle des Hemuls ließen sie ihre Wolken kurz rückwärts segeln, um ihm dann hinter seinem Rücken zu folgen. Der Hemul stapfte trübselig weiter, während Mumin und das Snorkfräulein darauf warteten, dass er sein Herz erleichterte. Und nach einer Weile rief der Hemul aus: »Ha! Sinnlos!« Und noch etwas später: »Wozu das alles! Von mir aus kann man meine Briefmarkensammlung als Klopapier
benützen!« »Aber Hemul!«, wandte das Snorkfräulein empört ein. »Wie kannst du so was sagen! Deine Briefmarkensammlung ist doch die beste, die es überhaupt gibt!« »Ja, das ist es ja gerade!«, rief der Hemul verzweifelt aus. »Sie ist komplett! Es gibt keinen einzigen Fehldruck, keine Briefmarke mehr, die ich nicht gesammelt habe. Gar nichts mehr! Was soll ich jetzt nur tun?« »Ich glaube, mir geht allmählich ein Licht auf«, sagte Mumin nachdenklich. »Du bist kein Sammler mehr, nur noch ein Besitzer, und das macht überhaupt nicht so viel Spaß.« »Genau«, murmelte der Hemul bedrückt. »Gar keinen Spaß.« Er blieb stehen und wandte ihnen sein vergrämtes Gesicht zu. »Lieber Hemul«, sagte das Snorkfräulein und strich ihm vorsichtig über die Pfote. »Ich hab eine Idee. Wie wäre es, wenn du anfängst, etwas ganz anderes zu sammeln, etwas ganz Neues?« »Ja, das ist tatsächlich eine Idee«, gab der Hemul zu, sah aber immer noch vergrämt aus, weil er der Ansicht war, nach einem so großen Kummer könne man sich nicht so ohne weiteres freuen.
»Schmetterlinge zum Beispiel?«, schlug Mumin vor. »Unmöglich«, sagte der Hemul, wobei sich seine Stirn schon wieder umwölkte. »Die sammelt mein Cousin väterlicherseits. Und den kann ich nicht ausstehen.« »Und wie wär’s mit Seidenbändern?«, fragte das Snorkfräulein. Dafür hatte der Hemul nur ein Schnauben übrig. »Schmuck?«, fuhr das Snorkfräulein hoffnungsvoll fort. »Wer Schmuck sammelt, wird bestimmt nie fertig!« »Quatsch«, sagte der Hemul. »Ja, dann fällt mir wirklich nichts mehr ein«, sagte das Snorkfräulein. »Wir werden uns etwas für dich ausdenken«, versprach Mumin tröstend. »Mutter weiß bestimmt Rat. Ach, übrigens, hast du den Bisam irgendwo gesehen?« »Der schläft noch«, sagte der Hemul schwermütig. »Er sagte, es sei unnötig, so früh aufzustehen, und damit hat er wahrhaftig Recht.« Mit diesen Worten setzte der Hemul seine einsame Wanderung durch den Wald fort. Mumin und das Snorkfräulein lenkten ihre
Wolken bis über die Baumwipfel hinauf und schwebten dann sachte schaukelnd im Sonnenschein. Sie überlegten hin und her, was der Hemul sammeln könnte. »Muscheln?«, schlug das Snorkfräulein vor. »Oder Hosenknöpfe«, sagte Mumin. Doch die Wärme machte sie so schläfrig, dass sie nicht mehr denken mochten. Sie legten sich auf ihren Wolken auf den Rücken und guckten in den Frühlingshimmel, wo die Lerchen sangen. Und plötzlich erblickten sie den ersten Schmetterling. Wenn der erste Schmetterling, den man sieht, gelb ist, gibt es einen fröhlichen Sommer, das weiß ja jeder. Ist der Schmetterling weiß, wird der Sommer eher friedlich (über schwarze und braune Schmetterlinge wollen wir lieber gar nicht erst reden, das ist viel zu traurig). Aber dieser Schmetterling war golden. »Was hat das wohl zu bedeuten?«, überlegte Mumin. »Einen Goldschmetterling habe ich noch nie gesehen.« »Golden ist noch besser als gelb«, sagte das Snorkfräulein. »Das wirst du schon noch sehen!« Als Mumin und das Snorkfräulein zum
Abendessen nach Hause kamen, begegnete ihnen ein freudestrahlender Hemul auf der Treppe. »Na?«, fragte Mumin. »Was ist es denn geworden?« »Pflanzen!«, schrie der Hemul. »Ich werde botanisieren! Das hat der Snork sich ausgedacht. Ich werde Pflanzen sammeln, bis ich das schönste Herbarium der Welt habe!« Dann breitete der Hemul seinen Rock∗ aus, um ihnen seinen ersten Fund zu zeigen. Inmitten von Erde und Laub lag ein kleiner dünner Gelbstern. »Gagea lutea«, erklärte der Hemul stolz. »Die Nummer eins meiner Sammlung. Fehlerfreies Exemplar.« Dann ging er ins Haus und leerte alles auf dem Esstisch aus. »Schieb das rüber an die Ecke«, sagte die Muminmutter, »hier kommt der Suppentopf hin. Sind alle da? Schläft der Bisam noch?« »Wie ein Stein«, sagte das Schnüferl. »Habt ihr es schön gehabt heute?«, fragte die ∗
Der Hemul lief immer in einem Kleid herum, das er von seiner Tante mütterlicherseits geerbt hatte. Vermutlich tragen alle Hemule Röcke. Sehr eigenartig, aber so ist es nun einmal. – Anm. d. Autors
Muminmutter, als sie sämtliche Teller gefüllt hatte. »Ganz wunderschön!«, schrie die ganze Familie. Als Mumin am nächsten Morgen zum Holzschuppen ging, um die Wolken herauszulassen, waren sie alle fünf verschwunden. Und niemand kam auf die Idee, dass ein paar Eierschalen, die inzwischen wieder im Hut des Zauberers lagen, etwas damit zu tun haben könnten.
Zweites Kapitel
Eines Tages, als ein warmer, stiller Sommerregen aufs Mumintal fiel, beschlossen Mumin und seine Freunde, drinnen im Haus Verstecken zu spielen. Das Schnüferl stand in einer Ecke, hielt sich die Pfoten vor die Augen und zählte laut. Als es bei zehn angekommen war, fuhr es herum und begann zu suchen – zuerst in den üblichen Ecken und Winkeln, dann in den schwierigeren Verstecken. Mumin lag mit einem etwas mulmigen Gefühl unterm Verandatisch. Das hier war kein besonders guter Platz, das fühlte er. Garantiert würde das Schnüferl die Tischdecke hochheben, und dann wäre er dran. Mumin sah sich suchend um, bis sein Blick auf den schwarzen Zylinder fiel, den jemand in eine Ecke gestellt hatte. Wenn das keine glänzende Idee war! Das Schnüferl käme nie darauf, den Hut hochzuheben. Geschwind kroch Mumin
lautlos in die Ecke und zog sich den Zylinder über den Kopf. Der Hut ging ihm nur bis an den Bauch, aber wenn er sich richtig klein machte und den Schwanz hineinstopfte, würde er bestimmt ziemlich unsichtbar sein. Mumin kicherte vor sich hin, als er hörte, wie die andern alle nach und nach gefunden wurden. Der Hemul hatte sich offenbar wieder einmal unterm Sofa versteckt, das war jedes Mal der einzige Platz, der ihm einfiel. Jetzt rannten sie alle durchs Haus und suchten Mumin. Er wartete und wartete, aber schließlich bekam er Angst, dass ihnen die Sucherei langweilig werden könnte, daher kroch er aus dem Hut hervor, streckte den Kopf durch die Tür und rief: »Kuckuck!« Das Schnüferl starrte ihn lange an und sagte dann ziemlich unwirsch: »Was soll das heißen – Kuckuck?« »Wer ist das überhaupt?«, flüsterte das Snorkfräulein. Die andern schüttelten den Kopf und sahen Mumin schweigend an. Der arme Mumin! Im Hut des Zauberers war er in ein seltsames Tier verwandelt worden. Alles Runde an ihm war schmal geworden und
alles Kleine groß. Und das Komische an der Sache war, dass er selbst als Einziger nicht sehen konnte, was mit ihm passiert war. »Jetzt staunt ihr, was!«, sagte Mumin und trat auf seinen langen, staksigen Beinen einen wackligen Schritt vor. »Ihr habt ja keine Ahnung, wo ich gewesen bin!« »Das interessiert uns nicht«, sagte der Snork. »Aber du siehst so hässlich aus, dass man tatsächlich staunt.« »Ihr seid aber unfreundlich«, murmelte Mumin betrübt. »Ihr habt wohl zu lange suchen müssen. Und was machen wir jetzt?« »Als Erstes solltest du dich vielleicht vorstellen«, bemerkte das Snorkfräulein steif. »Wir wissen ja gar nicht, wer du bist.« Mumin sah sie verblüfft an, doch dann sagte er sich, dass das hier wohl ein neues Spiel sein musste. Er lachte begeistert und rief: »Ich bin der König von Kalifornien!« »Und ich bin die Snorkschwester«, sagte das Snorkfräulein. »Das hier ist mein Bruder.« »Ich heiße Schnüferl«, sagte das Schnüferl. »Ich bin der Schnupferich«, sagte der Schnupferich. »Ihr seid ganz schön langweilig«, sagte Mumin. »Hättet euch ruhig was Lustigeres
ausdenken können! Jetzt gehen wir raus, ich glaube, es klart auf.« Er trat auf die Treppe hinaus, und die andern kamen sehr erstaunt und ziemlich misstrauisch hinterher. »Wer ist das da?«, fragte der Hemul, der draußen vor dem Haus saß und die Staubgefäße einer Blume zählte. »Das ist der König von Kalifornien«, erklärte das Snorkfräulein unsicher. »Soll der jetzt auch hier wohnen?«, erkundigte sich der Hemul. »Das muss Mumin entscheiden«, sagte das Schnüferl. »Ich möchte bloß wissen, wo er steckt.« Mumin lachte. »Manchmal bist du richtig witzig«, sagte er. »Ich schlage vor, wir machen uns auf die Suche nach Mumin!« »Kennst du ihn denn?«, fragte der Schnupferich. »Nun«, sagte Mumin, »das kann man wohl sagen. Ehrlich gesagt, sogar ziemlich gut!« Er platzte fast vor Begeisterung über das neue Spiel und fand, dass er großartig darauf einging. »Wann hast du ihn kennen gelernt?«, wollte das Snorkfräulein wissen.
»Wir sind gleichzeitig auf die Welt gekommen«, antwortete Mumin und wäre vor Vergnügen fast explodiert. »Aber er ist ein fürchterlicher Lackaffe. Mit dem kann man es ja keine fünf Minuten aushalten!« »Pfui! So was darfst du nicht über Mumin sagen!«, protestierte das Snorkfräulein heftig. »Mumin ist der beste Mumin auf der Welt und wir haben ihn alle schrecklich gern!« Mumin war hingerissen. »Tatsächlich?«, sagte er. »Also, ich finde ja, dass Mumin ein richtiges Ekel ist.« Da brach das Snorkfräulein in Tränen aus. »Verschwinde«, sagte der Snork drohend. »Sonst setzt es was!« »Aber, aber«, sagte Mumin verwundert. »Das war doch bloß ein Spiel! Ich freue mich riesig, dass ihr mich so gern habt.« »Das tun wir überhaupt nicht!«, schrie das Schnüferl mit schriller Stimme. »Los, zeigt es ihm! Nichts wie fort mit dem abscheulichen König, der unseren Mumin so schlecht macht!« Und damit fielen sie über den armen Mumin her. Er war viel zu verdattert, um sich verteidigen zu können, und als er endlich wütend wurde, war es zu spät, denn da lag er
bereits zuunterst in einem einzigen boxenden und schreienden Kuddelmuddel aus Armen, Schwänzen und Pfoten. Die Muminmutter kam auf die Treppe heraus. »Was ist denn in euch gefahren, Kinder!«, rief sie. »Hört sofort mit dieser Rauferei auf!« »Sie verhauen den König von Kalifornien!«, schluchzte das Snorkfräulein. »Und mit Recht!« Mumin krabbelte mitgenommen und wütend hervor. »Mutter!«, schrie er. »Die haben als Erste angefangen! Drei gegen einen, das ist unfair!« »Ja, das muss ich zugeben«, sagte die Muminmutter ernst. »Aber du hast sie bestimmt vorher geärgert. Wer bist du überhaupt, du kleines Tier?« »Hört endlich mit diesem dummen Spiel auf!«, schrie Mumin. »Ihr seid kein bisschen komisch. Ich bin der Mumin, und da auf der Treppe steht meine Mutter. Und damit basta!« »Nie im Leben bist du der Mumin«, sagte das Snorkfräulein verächtlich. »Mumin hat kleine hübsche Ohren, aber deine sehen aus wie Topflappen!« Mumin fasste sich verwirrt an den Kopf und
erwischte zwei schrecklich große, zerknitterte Ohren. »Aber ich bin der Mumin!«, rief er verzweifelt aus. »Warum glaubt ihr mir denn nicht?« »Mumins Schwänzchen hat gerade die richtige Größe, aber deiner sieht aus wie eine Flaschenbürste«, sagte der Snork. Mit zitternden Pfoten fasste Mumin nach hinten. Oh, tatsächlich! »Deine Augen sind groß wie Suppenteller«, sagte das Schnüferl. »Mumin hat kleine, freundliche Augen!« »Stimmt genau«, bestätigte der Schnupferich. »Du bist ein Betrüger!«, entschied der Hemul. »Glaubt mir denn niemand?«, rief Mumin aus. »Mutter, schau mich genau an. Du musst doch dein eigenes Muminkind erkennen?« Die Muminmutter sah ihn genau an. Lange blickte sie in seine angsterfüllten Telleraugen und sagte dann ruhig: »Ja, du bist mein Mumin.« Und im selben Augenblick begann er sich zu verwandeln. Augen, Ohren und Schwanz schrumpften, während die Schnauze und der Bauch wuchsen. Und schließlich stand Mumin
in all seiner Pracht wohlbehalten vor ihnen. »Komm in meine Arme«, sagte die Muminmutter. »Natürlich werde ich mein eigenes kleines Muminkind immer wiedererkennen.« Etwas später am selben Tag saßen Mumin und der Snork in ihrem Geheimversteck unter dem Jasminbusch, wo man von einer grünen runden Blätterhöhle umgeben war. »Ja, aber irgendjemand muss dich doch verwandelt haben«, sagte der Snork. Mumin schüttelte den Kopf. »Ich hab nichts Ungewöhnliches gesehen«, sagte er. »Und ich hab weder was gegessen noch irgendwelche gefährlichen Wörter ausgesprochen.« »Aber vielleicht bist du versehentlich in einen Zauberring getreten«, meinte der Snork. »Nicht dass ich wüsste«, sagte Mumin. »Ich bin die ganze Zeit nur unter dem schwarzen Hut gehockt, den wir als Papierkorb benützen.« »In dem Hut drin?«, fragte der Snork zweifelnd. »Ja, genau«, bestätigte Mumin. Sie überlegten noch eine Weile. Dann riefen beide gleichzeitig aus: »Das muss es sein!«, und starrten einander an.
»Komm!«, sagte der Snork. Sie gingen auf die Veranda hinauf und näherten sich mit größter Vorsicht dem Hut. »Er sieht eigentlich ganz gewöhnlich aus«, sagte der Snork. »Ich meine, abgesehen davon, dass ein Zylinder immer etwas ziemlich Ungewöhnliches ist.« »Aber wie wollen wir dahinter kommen, ob er tatsächlich daran schuld war?«, fragte Mumin. »Ich krieche jedenfalls kein zweites Mal rein!« »Vielleicht könnte man jemand anders hinein locken«, schlug der Snork vor. »Aber das wäre ganz schön gemein«, wandte Mumin ein. »Woher wollen wir wissen, dass er wieder normal wird?« »Nehmen wir eben einen Feind«, sagte der Snork. »Hm«, sagte Mumin. »Weißt du einen?« »Die große Ratte auf dem Abfallhaufen«, sagte der Snork. Mumin schüttelte den Kopf. »Die lässt sich nicht reinlegen.« »Na, und was ist mit dem Ameisenlöwen?« »Das ist gut«, sagte Mumin. »Der hat meine Mutter einmal in eine Grube runtergezogen und ihr Sand in die Augen gescharrt.«
Sie holten eine große Dose und machten sich auf den Weg, um den Ameisenlöwen zu suchen. Die hinterhältigen Gruben des Ameisenlöwen sucht man am besten am Sandstrand, daher wanderten sie zum Meer hinunter. Es dauerte nicht lange, da entdeckte der Snork eine große, runde Grube. Eifrig winkte er Mumin zu sich her. »Hier ist er!«, flüsterte der Snork. »Aber wie locken wir ihn in die Dose?« »Überlass das nur mir«, flüsterte Mumin zurück. Er nahm die Dose und vergrub sie etwas weiter entfernt mit der Öffnung nach oben im Sand. Dann sagte Mumin mit lauter Stimme: »Also, diese Ameisenlöwen, das sind doch echte Schwächlinge!« Er machte dem Snork ein Zeichen, worauf beide erwartungsvoll in die Grube starrten. Dort unten bewegte sich der Sand, aber zu sehen war nichts. »Unglaubliche Schwächlinge!«, fuhr Mumin fort. »Die brauchen viele Stunden, um sich im Sand zu vergraben, das kannst du mir glauben!« »Ja, aber …«, begann der Snork zweifelnd. »Doch, doch«, sagte Mumin und winkte ihm wie wild mit den Ohren. »Viele Stunden!«
In diesem Moment schoss ein bedrohlicher Kopf mit wütend rollenden Augen aus der Sandgrube herauf. »Hast du Schwächling gesagt!«, fauchte der Ameisenlöwe. »Ich vergrabe mich innerhalb von drei Sekunden, weder mehr noch weniger!« »Es wäre schön, wenn Sie uns zeigen würden, wie man das macht«, sagte Mumin schmeichelnd. »Damit wir es auch wirklich glauben können.« »Ich werde euch mit Sand voll spritzen«, knurrte der Ameisenlöwe zornig. »Und wenn ich euch in meine Grube runtergescharrt habe, fresse ich euch auf!« »Nein, bitte nicht«, bat der Snork erschrocken. »Zeigen Sie uns lieber, wie man in drei Sekunden rückwärts in den Sand kriecht!« »Wenn Sie es hier oben machen, können wir es besser sehen«, warf Mumin ein und zeigte auf den Fleck, wo die Dose vergraben war. »Glaubt ihr etwa, ich werde euch Rotznasen irgendwelche Kunststückchen vorführen?«, schnaubte der Ameisenlöwe höhnisch. Doch dann konnte er der Versuchung nicht widerstehen, ihnen zu zeigen, wie stark und
schnell er war. Mit verächtlicher Miene kletterte er aus seiner Grube heraus und fragte hochmütig: »Nun, wo soll ich mich vergraben?« »Hier.« Mumin deutete auf den Fleck. Der Ameisenlöwe zog die Schultern hoch und sträubte die Mähne gar fürchterlich. »Passt auf!«, brüllte er. »Jetzt verschwinde ich unter die Erde, aber wenn ich zurückkomme, fresse ich euch auf. Eins, zwei, drei!« Wie ein wirbelnder Propeller bohrte sich der Ameisenlöwe rückwärts in den Sand, geradewegs in die Dose hinein, die unter ihm versteckt war. Das dauerte tatsächlich nur drei Sekunden, oder vielleicht eher zweieinhalb, weil er so schrecklich wütend war. »Schnell den Deckel drauf!«, schrie Mumin. Sie scharrten den Sand weg und schraubten den Deckel mit großer Kraft fest. Dann holten sie die Dose mit vereinten Kräften herauf und rollten sie nach Hause. Der Ameisenlöwe tobte und brüllte drinnen in der Dose, aber seine Stimme wurde vom Sand erstickt. »Schrecklich, dass er so wütend ist«, sagte der Snork. »Ich wage mir gar nicht
vorzustellen, was passieren würde, wenn er rauskäme.« »Er kommt nicht raus«, sagte Mumin ruhig. »Und wenn er es tut, hoffe ich, dass er in etwas Scheußliches verwandelt wird!« Als sie beim Muminhaus ankamen, rief Mumin seine Freunde herbei, indem er die Pfoten in den Mund steckte und drei lange Pfiffe ausstieß – das bedeutete: Etwas Unglaubliches ist passiert. Die andern kamen aus allen Richtungen angesaust und scharten sich um die Dose mit dem Schraubverschluss. »Was habt ihr da drin?«, erkundigte sich das Schnüferl. »Einen Ameisenlöwen«, erklärte Mumin stolz. »Einen echten, wütenden Ameisenlöwen, den wir gefangen haben!« »Das war aber mutig von euch!«, rief das Snorkfräulein voller Bewunderung aus. »Und jetzt wollen wir ihn in den Hut schütten«, sagte der Snork. »Damit er ein Gruseltier wird, genau wie es mir passiert ist«, fügte Mumin hinzu. »Wie soll man das verstehen? Drück dich bitte deutlicher aus!«, forderte der Hemul ihn auf.
»Weil ich mich in diesem Hut versteckt hatte, bin ich verwandelt worden«, erklärte Mumin. »Das haben wir ausgetüftelt. Und jetzt werden wir das nachprüfen, indem wir feststellen, ob der Ameisenlöwe auch in etwas anderes verwandelt wird.« »Aber dann kann er sich ja in der Himmel weiß was verwandeln!«, schrie das Schnüferl. »Plötzlich wird er was viel Gefährlicheres als ein Ameisenlöwe und frisst uns alle auf!« Kurz herrschte Schweigen, während alle entsetzt dastanden, die Dose anguckten und den gedämpften Tönen lauschten, die aus der Dose drangen. »Oh, oh, oh«, sagte das Snorkfräulein ängstlich, während alle Farbe von ihr wich.∗ »Am besten, wir verkriechen uns unterm Tisch, während der Ameisenlöwe verwandelt wird. Den Hut decken wir einfach mit einem dicken Buch zu«, schlug der Snork vor. »Zu jedem Experiment gehört auch, dass man was riskiert! So, und jetzt kippen wir ihn hinein!« Das Schnüferl witschte sofort unter den Tisch, um sich zu verstecken. Mumin, der Schnupferich und der Hemul hielten die Dose ∗
Bei heftigen Gemütsbewegungen pflegen die Snorks die Farbe zu wechseln. – Anmerkung d. Autors
über den Hut des Zauberers, während das Snorkfräulein zitternd den Deckel aufschraubte. In einer Wolke aus Sand plumpste der Ameisenlöwe in den Hut, worauf der Snork blitzschnell ein Lexikon voller ausländischer Wörter darüber legte. Dann stürzten sie allesamt unter den Tisch, um sich zu verstecken. Nichts geschah. Sie linsten unter der Tischdecke hervor und warteten mit wachsender Spannung. Alles blieb unverändert. »So ein Reinfall«, sagte das Schnüferl. »Alles bloß Bluff!« Im selben Augenblick begann das Lexikon mit den ausländischen Wörtern zu schrumpfen. Vor lauter Aufregung biss das Schnüferl dem Hemul in den Daumen. »Pass gefälligst auf!«, fuhr der Hemul das Schnüferl an. »Du hast mir in den Daumen gebissen!« »Oh, entschuldige«, sagte das Schnüferl. »Ich hab geglaubt, es sei meiner.« Inzwischen kräuselten sich die Seiten des Lexikons mehr und mehr, bis sie an welkes Laub erinnerten. Und all die ausländischen Wörter krochen zwischen den Seiten hervor und fingen an, auf dem Boden
umherzukrabbeln. »Ist ja allerhand!«, sagte Mumin. Und jetzt passierte noch etwas – von der Hutkrempe begann Wasser zu tropfen, immer mehr, bis es sich in Strömen über den Teppich ergoss und die ausländischen Wörter sich an den Wänden hinaufretten mussten. »So was! Der Ameisenlöwe ist bloß in Wasser verwandelt worden«, stellte der Schnupferich enttäuscht fest. »Ich glaube, das ist der Sand«, flüsterte der Snork. »Der Ameisenlöwe selbst kommt noch!« Also warteten sie weiter unter schier unerträglicher Spannung. Das Snorkfräulein verbarg den Kopf in Mumins Armen, und das Schnüferl piepste vor Entsetzen. Und da tauchte plötzlich der winzigste Igel der Welt auf dem Rand des Hutes auf. Der Igel war nass und struppig, er streckte die Schnauze in die Luft, schnupperte und blinzelte. Ein paar Sekunden lang herrschte Totenstille. Dann fing der Schnupferich an zu lachen. Und als er Luft holen musste, lachten die anderen weiter. Sie brüllten vor Lachen und kullerten aus purer Freude unterm Tisch über den Boden. Der Einzige, der ihre Freude nicht
teilte, war der Hemul. Erstaunt sah er seine Freunde an und sagte: »Ja, aber wir haben doch erwartet, dass der Ameisenlöwe verwandelt wird! Wenn ich nur begreifen könnte, warum ihr immer um alles so einen Wirbel macht.« Währenddessen wackelte der kleine Igel feierlich und leicht melancholisch zur Verandatür hinüber und die Treppe hinunter. Aus dem Hut strömte mittlerweile kein Wasser mehr, aber auf der Veranda hatte sich ein richtiger kleiner See gebildet. Und die vielen ausländischen Wörter krabbelten an der Verandadecke herum. Nachdem die Mumineltern erfahren hatten, wie alles zusammenhing, beschlossen sie sehr ernst, der Hut des Zauberers müsse unschädlich gemacht werden. Also rollten sie ihn vorsichtig hinunter zum Fluss und warfen ihn dort ins Wasser. »Das war also die Erklärung für die Wolken und das Gruseltier«, sagte die Muminmutter, während sie alle dastanden und dem Hut nachblickten. »Das mit den Wolken hat aber Spaß gemacht«, versetzte Mumin leicht verstimmt. »Vielleicht wären ja noch mehr
herausgekommen!« »Oder noch mehr Flutwellen und ausländische Wörter«, sagte seine Mutter. »Wenn ich daran denke, wie es auf der Veranda aussah! Und dieses kleine Krabbelzeug – ich habe keine Ahnung, wie ich es loswerden soll. Überall kriecht es mir im Weg herum und bringt das ganze Haus durcheinander!« »Aber die Wolken haben jedenfalls Spaß gemacht«, murmelte Mumin trotzig. An diesem Abend konnte Mumin nicht einschlafen. Er lag im Bett und sah in die helle Juninacht hinaus. Die Nacht war voller einsamer Rufe, voller Huschen und Tanz und Blumenduft. Der Schnupferich war noch nicht nach Hause gekommen. In solchen Nächten wanderte er oft allein mit sich und seiner Mundharmonika durch die Gegend. Aber heute Nacht war weit und breit kein Mundharmonikaspiel zu hören. Wahrscheinlich war der Schnupferich irgendwo auf Entdeckungsreise. Bald würde er sein Zelt am Flussufer aufschlagen und sich weigern, im Haus zu schlafen … Mumin seufzte. Er fühlte sich traurig, ohne einen Grund dafür zu haben.
Im selben Moment ertönte unterm Fenster ein schwacher Pfiff. Mumins Herz hüpfte vor Freude. Er schlich sachte ans Fenster und sah hinaus. Der Pfiff bedeutete: Geheimnisse! Unterhalb der Strickleiter stand der Schnupferich und wartete. »Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«, fragte er, als Mumin ins Gras heruntergeklettert kam. Mumin nickte eifrig. Der Schnupferich beugte sich vor und flüsterte noch leiser: »Der Hut ist ein Stück flussabwärts auf einer Sandbank angeschwemmt worden.« Mumins Augen leuchteten auf. Der Schnupferich hob fragend die Brauen. »Hast du Lust?«, hieß das. »Und ob!« Als Antwort wackelte Mumin kurz mit den Ohren. Wie Schatten huschten sie durch den taunassen Garten zum Fluss hinunter. »Er liegt hinter der zweiten Flussschleife«, erklärte der Schnupferich mit gedämpfter Stimme. »Eigentlich ist es unsere Pflicht, ihn zu retten. Das Wasser, das in ihn reinfließt, färbt sich nämlich rot. Alle, die weiter unten am Fluss wohnen, werden fürchterlich
erschrecken, wenn sie dieses unheimliche Wasser sehen.« »Daran hätten wir denken müssen«, sagte Mumin. Er war stolz und froh, dass er mitten in der Nacht mit dem Schnupferich unterwegs sein durfte. Bisher hatte der Schnupferich seine nächtlichen Wanderungen immer alleine unternommen. »Hier irgendwo muss es sein«, sagte der Schnupferich. »Dort, wo der dunkle Streif im Wasser anfängt. Kannst du’s sehen?« »Nein, nicht besonders gut«, sagte Mumin, der durch die schummrige Dunkelheit einher stolperte. »Ich hab keine Nachtaugen, so wie du.« »Wenn ich nur wüsste, wie wir ihn herüberbringen sollen«, sagte der Schnupferich und blickte auf den Fluss hinaus. »Zu dumm, dass dein Vater kein Boot hat.« Mumin zögerte. »Falls das Wasser nicht zu kalt ist, kann ich ganz gut schwimmen«, sagte er schließlich. »Das traust du dich dann doch nicht«, bezweifelte der Schnupferich. »Und ob ich mich traue!«, gab Mumin zurück und wusste plötzlich, dass er genau das tun würde. »In welcher Richtung liegt der
Hut?« »Schräg gegenüber«, sagte der Schnupferich. »Drüben bei der Sandbank ist es nicht mehr tief. Aber pass auf, dass du keine Pfote in den Hut steckst! Fass ihn lieber von außen an!« Mumin ließ sich in das sommerlich warme Wasser gleiten und schwamm in den Fluss hinaus, wo ihn eine starke Strömung packte. Kurz wurde ihm ein bisschen bang, doch dann erblickte er die Sandbank und etwas Schwarzes, das dort lag. Er steuerte mit dem Schwanz näher hin und spürte gleich darauf Sand unter den Pfoten. »Alles klar?«, rief der Schnupferich leise vom Ufer herüber. »Alles klar!«, antwortete Mumin und watete auf die Sandbank hinauf. Er sah, wie sich ein dunkles Rinnsal aus dem Hut in den Fluss ergoss. Das rote Zauberwasser! Mumin tauchte eine Pfote in das Wasser und schleckte vorsichtig daran. »Ist ja allerhand!«, murmelte er. »Schmeckt wie Himbeersaft! Unglaublich, aber jetzt brauchen wir bloß den Hut mit Wasser zu füllen, dann haben wir jede Menge Saft!« »Na, hast du ihn?«, rief der Schnupferich besorgt.
»Ich komme!«, antwortete Mumin, schlang den Schwanz um den Hut zu einem festen Knoten und watete wieder ins Wasser hinaus. Es war ziemlich anstrengend, mit dem schweren Hut im Schlepptau gegen die Strömung zu schwimmen, und als Mumin ans Ufer kroch, war er sehr erschöpft. »Hier hast du den Hut«, schnaufte er stolz. »Na, großartig«, sagte der Schnupferich. »Aber wo bringen wir ihn jetzt hin?« »Nicht ins Muminhaus«, sagte Mumin. »Und der Garten ist auch keine gute Idee. Da könnte ihn jemand finden.« »Was hältst du von der Höhle?«, fragte der Schnupferich. »Dann müssen wir das Schnüferl in unser Geheimnis einweihen«, sagte Mumin. »Die Höhle gehört ihm.« »Ja, das werden wir wohl tun müssen«, sagte der Schnupferich unschlüssig. »Aber eigentlich ist er noch recht klein für so ein großes Geheimnis.« »Ja«, stimmte Mumin mit ernster Stimme zu. »Und dies ist das erste Mal, dass ich etwas tue, das ich meinen Eltern nicht erzählen kann.« Der Schnupferich nahm den Hut in die Arme und ging am Fluss entlang zurück. Als sie bei
der Brücke ankamen, blieb er plötzlich stehen. »Was ist?«, flüsterte Mumin ängstlich. »Kanarienvögel!«, flüsterte der Schnupferich überrascht. »Da sitzen drei gelbe Kanarienvögel auf dem Brückengeländer. Was haben die mitten in der Nacht hier draußen verloren?« »Was fällt dir ein! Ich bin überhaupt kein Kanarienvogel«, piepste der erste Vogel. »Ich bin ein Fisch!« »Wir sind anständige Fische, alle drei!«, trillerte sein Nachbar. Der Schnupferich schüttelte den Kopf. »Da siehst du, was der Hut anrichtet«, sagte er. »Diese drei kleinen Fische sind natürlich in ihn reingeschwommen und verwandelt worden. Jetzt begeben wir uns lieber schnurstracks zur Höhle, um den Hut dort zu verstecken!« Auf dem Weg durch den Wald blieb Mumin dem Schnupferich immer dicht auf den Fersen. Zu beiden Seiten des Weges wurde geraschelt und gehuscht, und das kam ihnen fast ein bisschen unheimlich vor. Ab und zu starrten kleine leuchtende Augen hinter den Stämmen hervor, und aus den Baumkronen oder aus dem Unterholz drangen immer wieder Rufe an ihr
Ohr. »Eine schöne Nacht!«, hörte Mumin eine Stimme hinter sich sagen. »Ja, sehr schön!«, erwiderte er mutig, worauf ein dünner Schatten an ihm vorbeiglitt und im schummrigen Gebüsch verschwand. Am Strand war es heller. Meer und Himmel bildeten eine einzige blassblaue, schimmernde Fläche. Aus weiter Ferne erschollen einsame, lockende Vogelrufe. Der Morgen graute bereits. Der Schnupferich und Mumin trugen den Hut des Zauberers zur Höhle hinauf und stellten ihn umgedreht in die hinterste Ecke, damit nichts in die Hutöffnung hineinfallen konnte. »Das hier war bestimmt das Beste, was wir tun konnten«, sagte der Schnupferich. »Und stell dir vor, falls wir die fünf kleinen Wolken zurückkriegten!« »Ja, das wär nicht schlecht!«, sagte Mumin, der am Eingang der Höhle stand und in die Nacht hinausblickte. »Aber ich weiß nicht, ob es dadurch noch schöner werden könnte, als es jetzt gerade ist …«
Drittes Kapitel
Als der Bisam am nächsten Morgen wie gewohnt mit seinem Buch »Über das Unnötige« hinausging und sich in die Hängematte legte, riss der Strick, worauf er auf den Boden plumpste. »Unverantwortlich!«, sagte der Bisam, während er sich von der Decke befreite. »Tut mir wirklich Leid«, sagte der Muminvater, der gerade seine Tabakspflanzen goss. »Hoffentlich haben Sie sich nicht verletzt?« »Das ist unwesentlich«, sagte der Bisam düster und zog an seinem Schnurrbart. »Von mir aus kann sich die Erde auftun, das berührt mich nicht. Aber ich mag es nicht, in eine lächerliche Lage versetzt zu werden. Das ist unwürdig!« »Aber außer mir hat es ja niemand gesehen«, versuchte der Muminvater zu beschwichtigen. »Schlimm genug!«, sagte der Bisam. »Wenn man bedenkt, was ich hier bei Ihnen schon
alles durchgemacht habe! Letztes Jahr zum Beispiel ist ein Komet auf mich gefallen. Das war ja nicht weiter tragisch. Aber Sie werden sich vielleicht noch daran erinnern, dass ich mich auf die Schokoladentorte Ihrer Frau gesetzt habe! Und das war äußerst peinlich, meiner Würde ausgesprochen abträglich! Jetzt finde ich in meinem Bett Haarbürsten vor – ein sehr abgeschmackter Scherz. Nicht zu reden von …« »Ich weiß, ich weiß«, unterbrach ihn der Muminvater zerknirscht. »Aber dieses Haus ist nun mal kein ruhiges Haus. Und Stricke werden im Laufe der Jahre eben dünner …« »Das dürfen sie aber nicht«, versetzte der Bisam. »Wenn ich mir das Genick gebrochen hätte, wäre es natürlich nicht weiter schlimm gewesen. Aber stellen Sie sich vor, die andern hätten zugeschaut! Nun denn, jetzt gedenke ich mich in die Einsamkeit zurückzuziehen, ein Leben in Ruhe und Abgeschiedenheit zu führen und allem zu entsagen. Das ist mein fester Entschluss.« »Donnerwetter«, sagte der Muminvater beeindruckt. »Wo denn?« »In der Höhle«, erklärte der Bisam. »Dort kann niemand meine Gedanken mit
irgendwelchen dummen Scherzen stören. Sie dürfen mir zweimal täglich Essen bringen. Aber nicht vor zehn Uhr.« »Gut«, sagte der Muminvater demütig. »Sollen wir Ihnen irgendwelche Möbel hintragen?« »Das können Sie tun«, sagte der Bisam etwas freundlicher. »Aber nur das Allernotwendigste. Ich verstehe, dass Sie es nicht böse meinen, aber Ihre Familie hat mich an die Grenzen meiner Geduld getrieben.« Damit nahm der Bisam sein Buch und seine Decke und wanderte langsam den Hang hinauf. Der Muminvater seufzte eine Weile vor sich hin, dann fuhr er damit fort, die Tabakspflanzen zu gießen, und hatte bald alles vergessen. Als der Bisam in der Höhle ankam, fühlte er sich sehr zufrieden. Er breitete die Decke auf dem sandigen Boden aus, nahm darauf Platz und fing sofort an zu denken. Das tat er ungefähr zwei Stunden lang. Alles war still und friedlich, und durch den Spalt im Dach der Höhle schien die Sonne mild auf seinen einsamen Zufluchtsort. Ab und zu, wenn der Sonnenstrahl weiterwanderte, rückte der Bisam ebenfalls ein Stückchen weiter.
Hier werde ich für immer bleiben, dachte er. Dieses ganze Herumgehüpfe und Gerede und Häuser bauen und Essen kochen und Besitz anhäufen ist doch vollkommen unnötig! Befriedigt sah er sich in seinem neuen Zuhause um. Dabei fiel sein Blick auf den Hut des Zauberers, den Mumin und der Schnupferich in der hintersten Ecke versteckt hatten. Der Papierkorb, sagte sich der Bisam. Aha, der steht jetzt hier. Nun, für irgendwas wird er wohl gut sein. Er dachte noch eine Weile und beschloss dann, sich ein Nickerchen zu gönnen. Also rollte er sich in seine Decke ein und legte sein Gebiss in den Hut, damit es nicht sandig wurde. Dann schlief er ruhig und wohlgemut ein. Im Muminhaus gab es Pfannkuchen zum Frühstück, einen großen gelben Pfannkuchen mit Himbeermarmelade. Außerdem gab es die Grütze von gestern, aber weil niemand Appetit darauf hatte, wurde beschlossen, sie bis morgen aufzuheben. »Heute hätte ich Lust, irgendwas Ungewöhnliches zu tun«, sagte die Muminmutter. »Schließlich ist es doch ein Grund zum Feiern, dass wir diesen
unheimlichen Hut losgeworden sind, und außerdem wird man ganz trübsinnig, wenn man immer nur am selben Fleck sitzt.« »Wie wahr!«, stimmte der Muminvater zu. »Wir machen einen Ausflug irgendwohin. Was sagt ihr dazu?« »Wir sind doch schon überall gewesen. Es gibt gar nichts Neues mehr!«, wandte der Hemul ein. »Das muss es aber geben«, sagte der Muminvater. »Und wenn es nichts Neues gibt, dann denken wir uns eben etwas aus. Los, Kinder, hört auf zu essen – wir nehmen das Essen mit.« »Darf man das aufessen, was man schon im Mund hat?«, fragte das Schnüferl. »Sei nicht albern«, sagte die Muminmutter. »Packt rasch alles ein, was ihr mitnehmen wollt, Vater möchte nämlich jetzt sofort aufbrechen. Aber nehmt nichts Unnötiges mit. Dem Bisam schreiben wir einen Zettel, damit er weiß, wo wir sind.« »Bei meinem Schwanz!«, rief der Muminvater aus und fasste sich an die Stirn. »Das hatte ich vergessen! Wir sollten ihm ja Essen und Möbel in die Höhle bringen!« »In die Höhle?«, schrien Mumin und der
Schnupferich wie aus einem Mund. »Ja, der Strick der Hängematte ist gerissen«, erklärte der Muminvater. »Und da sagte der Bisam, er könne nicht mehr denken und wolle allem entsagen. Ihr hättet ihm Bürsten ins Bett gelegt und alles Mögliche sonst noch. Und dann ist er in die Höhle umgezogen.« Mumin und der Schnupferich wurden ganz blass und warfen einander einen Blick voller Entsetzen zu. Der Hut!, dachten sie. »Na, das ist doch nicht so schlimm«, sagte die Muminmutter. »Wir machen einen Ausflug an den Strand und nehmen gleichzeitig das Essen für den Bisam mit.« »Den Strand kennen wir doch schon«, quengelte das Schnüferl. »Können wir nicht woanders hinfahren?« »Ruhe!«, sagte der Muminvater mit Kraft. »Mutter will baden. Jetzt gehen wir!« Die Muminmutter stürzte davon, um zu packen. Sie holte Decken, Kochtöpfe, Birkenrinde, Kaffeekannen, Berge von Essen, Sonnenöl, Zündhölzer, alles, worauf, worin und womit man isst, sie packte Regenschirme ein, warme Sachen, Magenpulver, Kochlöffel, Kissen, Mückennetze, Badehosen, eine Tischdecke sowie ihre Handtasche. Sie rannte
hin und her und überlegte, was sie vergessen haben könnte, und schließlich sagte sie: »Jetzt ist alles fertig! Ach, wird das schön, sich am Meer ausruhen zu dürfen!« Der Muminvater packte seine Pfeife und seine Angelrute ein. »Seid ihr endlich so weit?«, fragte er. »Und habt ihr auch bestimmt nichts vergessen? Auf geht’s!« Damit zogen sie los in Richtung Strand. Das Schnüferl, das sechs kleine Schiffchen hinter sich herzog, bildete das Schlusslicht. »Ob der Bisam wohl was angestellt hat?«, flüsterte Mumin dem Schnupferich zu. »Hoffentlich nicht!«, flüsterte der Schnupferich zurück. »Aber irgendwie mache ich mir doch Sorgen.« In diesem Augenblick blieben alle so plötzlich stehen, dass dem Hemul fast die Angelrute ins Auge gefahren wäre. »Wer schreit denn da!?«, rief die Muminmutter aufgeregt. Der ganze Wald hallte von wildem Geheul wider. Irgendwas oder irgendjemand kam laut knurrend vor Entsetzen oder Wut auf sie zugepoltert. »Versteckt euch!«, schrie der Muminvater.
»Ein Ungeheuer kommt auf uns zu!« Aber noch bevor jemand fliehen konnte, tauchte der Bisam mit weit aufgerissenen Augen und gesträubtem Schnurrbart auf. Er fuchtelte mit den Pfoten und stieß zusammenhangslose Reden aus, die niemand so recht verstand, aus denen aber hervorging, dass er sehr zornig war, vielleicht hatte er auch Angst, oder er war zornig, weil er Angst hatte. Dann galoppierte er weiter in Richtung Mumintal. »Was ist bloß in den Bisam gefahren?«, fragte die Muminmutter erschüttert. »Wo er doch sonst immer so ruhig und würdevoll ist!« »Sich so aufzuführen, nur weil der Strick der Hängematte gerissen ist«, murmelte der Muminvater und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er hat sich darüber aufgeregt, dass wir vergessen haben, ihm sein Essen zu bringen«, sagte das Schnüferl. »Jetzt können wir es selber aufessen.« Bekümmert setzten sie ihre Wanderung zum Strand fort. Aber Mumin und der Schnupferich schlichen voraus und nahmen eine Abkürzung zur Höhle. »Durch den Eingang können wir nicht reingehen, das ist zu gefährlich«, erklärte der
Schnupferich. »Falls DAS DA noch in der Höhle sein sollte. Also klettern wir lieber nach oben und gucken durch den Spalt im Dach.« Schweigend krabbelten sie den Berg hinauf und schlängelten sich auf Indianerart zur Dachöffnung vor. Unendlich vorsichtig spähten sie in die Höhle hinunter. Dort sahen sie den Hut des Zauberers stehen, und der war leer. Die Decke des Bisams war in einer Ecke gelandet, sein Buch in einer anderen. Die Höhle lag verlassen da. Aber im Sand waren seltsame Spuren zu sehen, als ob jemand dort getanzt hätte und umhergehopst wäre. »Diese Spuren stammen aber nicht von den Pfoten des Bisams!«, sagte Mumin. »Ich frage mich, ob das überhaupt Pfoten sind«, sagte der Schnupferich. »Die sehen sehr eigenartig aus.« Ängstlich um sich blickend kletterten sie wieder hinunter. Weit und breit war jedoch nichts Gefährliches zu sehen. Sie erfuhren nie, was dem Bisam so fürchterliche Angst eingejagt hatte, er weigerte sich nämlich, darüber zu sprechen.∗ ∗
Wenn du wissen willst, in was das Gebiss des Bisams verwandelt wurde, kannst du ja deine Mutter fragen. Sie
Unterdessen war die übrige Gesellschaft am Strand angelangt. Dort standen sie jetzt aufgeregt redend und gestikulierend beisammen. »Sie haben ein Boot gefunden!«, schrie der Schnupferich. »Komm schnell, das müssen wir sehen!« Es stimmte tatsächlich. Ein richtiges großes Segelboot, weiß und grün gestrichen, komplett mit Riemen und Fischkasten! »Wem gehört das?«, keuchte Mumin, als er angekommen war. »Niemandem!«, sagte der Muminvater triumphierend. »Es ist hier an Land getrieben. Ein Geschenk des Meeres!« »Es braucht einen Namen!«, rief das Snorkfräulein. »Wäre Schnecklein nicht niedlich!?« »Selber Schnecklein!«, schnaubte der Snork verächtlich. »Ich würde ›Der Seeadler‹ vorschlagen.« »Nein, es muss was Lateinisches sein«, schrie der Hemul. »Muminates Maritima!« »Ich hab’s zuerst gesehen!«, schrie das Schnüferl. »Also darf ich ihm auch den Namen aussuchen. SCHNÜFERL wär doch genau weiß es bestimmt. -Anm. d. Autors
richtig. Das ist so schön klangvoll.« »Meinst du, ja«, sagte Mumin. »Jetzt seid mal alle still, Kinder!«, sagte der Muminvater. »Gebt Ruhe. Ist doch klar, dass Mutter den Namen wählt. Dies ist ihr Ausflug.« Die Muminmutter errötete. »Wenn ich das nur kann!«, sagte sie bescheiden. »Der Schnupferich hat so viel Phantasie. Er macht das bestimmt besser.« »Na, ich weiß nicht«, sagte der Schnupferich geschmeichelt. »Aber um ehrlich zu sein, hab ich gleich von Anfang an gedacht, ›Einsamer Wolf‹ wäre sehr eindrucksvoll.« »Nein!«, rief Mumin. »Mutter muss wählen.« »Na gut, ihr Lieben«, sagte die Muminmutter. »Hoffentlich findet ihr mich nicht lächerlich und altmodisch. Aber ich hab mir gedacht, das Boot soll einen Namen haben, der an all das erinnert, was wir damit unternehmen wollen – und da würde ›Das Abenteuer‹ doch gut passen.« »Prima! Ganz prima!«, schrie Mumin. »Jetzt müssen wir es taufen! Mutter! Hast du irgendwas dabei, das aussieht wie eine Sektflasche?« Die Muminmutter suchte in allen ihren Körben nach der Saftflasche.
»Ach, wie dumm!«, rief sie aus. »Ich scheine doch tatsächlich den Saft vergessen zu haben!« »Aber ich habe doch extra noch gefragt, ob alles dabei ist«, sagte der Muminvater. Alle ließen die Köpfe hängen. Mit einem Boot in See zu stechen, das nicht anständig getauft ist, kann Unglück bedeuten! Da hatte Mumin eine glänzende Idee. »Gib mir die Kochtöpfe«, sagte er. Dann füllte er die Töpfe mit Meerwasser und trug sie hinauf zur Höhle und zum Hut des Zauberers. Als er zurückkam, hielt er seinem Vater einen Topf mit Verwandlungswasser hin und sagte: »Probier mal!« Der Muminvater trank einen Schluck und machte ein zufriedenes Gesicht. »Wo hast du das denn aufgetrieben, mein Sohn?«, fragte er. »Geheim, geheim«, antwortete Mumin. Dann füllten sie ein Marmeladeglas mit Verwandlungswasser und zerschlugen es am Bug des Segelbootes, während die Muminmutter voller Stolz den Spruch aufsagte, den alle Mumins immer bei Taufen zu sagen pflegen: »Hiermit taufe ich dich für Zeit und Unzeit auf den Namen ›Das Abenteuer‹,«
Alle schrien hurra, dann wurden Körbe, Decken, Regenschirme, Angelruten, Kissen, Kochtöpfe und Badehosen an Bord verfrachtet, und schließlich segelte die Muminfamilie mit ihren Freunden aufs wilde grüne Meer hinaus. Es war ein schöner Tag, allerdings nicht ganz klar, da sich ein leichter Dunstschleier über die Sonne gelegt hatte. »Das Abenteuer« spannte sein weißes Segel und schoss wie ein Pfeil hinaus zum Horizont. Die Wellen klatschten an die Seiten des Bootes, der Wind sang, und Seetrolle und Seejungfrauen tanzten um den Bug. Das Schnüferl hatte seine sechs kleinen Boote in einer Reihe hintereinander angebunden, und jetzt segelte die ganze Flotte im Kielwasser einher. Der Muminvater saß am Steuerruder, und die Muminmutter gönnte sich ein kleines Nickerchen. So ruhig wie jetzt hatte sie es sonst nur selten. Hoch über ihnen kreisten große weiße Vögel. »Wohin wollen wir fahren?«, fragte der Snork. »Auf eine Insel!«, bat das Snorkfräulein. »Ich bin noch nie auf einer Insel gewesen!« »Gut, dann tun wir das«, entschied der Muminvater. »Bei der ersten Insel, die wir
sehen, gehen wir an Land.« Mumin saß ganz vorn im Bug und hielt Ausschau nach Untiefen. Wie verzaubert starrte er in das grüne Wasser, das der Bug des »Abenteuers« mit einem weißen Bart aus Schaum durchschnitt. »Ju-hu!«, rief Mumin hingerissen. »Wir fahren zu einer Insel!« Weit draußen im Meer lag die einsame Insel der Hatifnatten, umgeben von schäumender Brandung. Dort versammelten sich die Hatifnatten einmal im Jahr, bevor sie wieder auf ihre endlosen Wanderungen rund um den Erdball loszogen. Aus allen Himmelsrichtungen kamen sie an, stumm und ernst mit ihren kleinen weißen, leeren Gesichtern. Warum sie ihr Jahrestreffen überhaupt abhielten, ist schwer zu sagen, da sie ja weder hören noch sprechen können und ihren Blick nie auf etwas anderes richten als auf die fernen Ziele, zu denen sie unterwegs sind. Vielleicht finden sie es ja trotz allem schön, einen Ort zu haben, wo sie zu Hause sind und wo sie sich ausruhen und Bekannte treffen können. Das Jahrestreffen findet immer im Juni statt, und so kam es, dass die
Muminfamilie und die Hatifnatten ungefähr gleichzeitig auf der einsamen Insel ankamen. Wild und verlockend erhob sich die Insel aus dem Meer, festlich geschmückt mit Kränzen aus weißer Brandung und von grünen Bäumen gekrönt. »Land in Sicht!«, schrie Mumin, worauf sich alle über die Reling hingen, um zu gucken. »Die Insel hat einen Sandstrand!«, rief das Snorkfräulein. »Und einen guten Hafen«, stellte der Muminvater fest und kreuzte elegant zwischen den Riffen hindurch ans Ufer. Das »Abenteuer« fuhr weich auf den Sand hinauf, und Mumin hüpfte mit der Fangleine an Land. Bald wurde auf dem Strand eifrig herumgewimmelt und hin und her gerannt. Die Muminmutter schleppte Steine für eine Feuerstelle herbei, um den Pfannkuchen darauf aufzuwärmen, sie sammelte Holz, breitete die Tischdecke im Sand aus und beschwerte die Ecken mit kleinen Steinen, damit die Decke nicht davongeweht wurde. Sie reihte alle Tassen auf und vergrub die Butterdose im Schatten eines Steins in feuchtem Sand, und schließlich stellte sie einen Strauß mit Strandnelken mitten auf die Decke.
»Können wir dir mit irgendwas helfen?«, fragte Mumin, als alles fertig war. »Ihr müsst die Insel erforschen«, antwortete seine Mutter (die genau wusste, dass dies sein sehnlichster Wunsch war). »Wer weiß, vielleicht gibt es hier ja Gefahren.« »Ja, genau«, sagte Mumin und machte sich mit den Snorkgeschwistern und dem Schnüferl auf, um das Südufer zu erkunden, während der Schnupferich, der mit Vorliebe allein auf Entdeckungstour ging, am Nordufer entlangstromerte. Der Hemul nahm seine Botanisierschaufel, seine grüne Botanisiertrommel und das Vergrößerungsglas mit und wanderte geradewegs in den Wald hinein. Er vermutete, dass dort seltene Pflanzen wuchsen, die bisher noch niemand entdeckt hatte. Aber der Muminvater setzte sich auf einen Stein, um zu angeln. Und die Sonne kroch langsam auf den Nachmittag zu, während sich in der Ferne eine Wolkenbank überm Meer bildete. Mitten auf der Insel befand sich eine von blühendem Gebüsch umgebene grüne Lichtung. Hier hatten die Hatifnatten ihren geheimen Treffpunkt, wo sie jedes Jahr zur
Mittsommerzeit zusammenströmten. Ungefähr dreihundert waren bereits eingetroffen, vierhundertfünfzig wurden noch erwartet. Stumm huschten sie durchs Gras und verneigten sich feierlich voreinander. Mitten auf der Lichtung hatten sie einen hohen Pfahl aufgerichtet, an dem ein großes Barometer hing. Jedes Mal, wenn sie an dem Barometer vorbeikamen, verneigten sie sich tief, und das sah ziemlich komisch aus. Währenddessen wanderte der Hemul durch den Wald, ganz hingerissen von den seltenen Blumen, die ihm überall entgegenleuchteten und die so ganz anders waren als die im Mumintal. Ihre Farben waren kräftiger und tiefer, die Formen viel ungewöhnlicher. Doch der Hemul sah nicht, dass die Blumen schön waren, er zählte bloß die Staubgefäße und murmelte vor sich hin: »Dies ist das zweihundertneunzehnte Exemplar meiner Sammlung!« Schließlich kam er zur Lichtung der Hatifnatten. Eifrig im Gras stochernd wanderte er darauf hinaus und hob den Blick erst, als er mit dem Schädel gegen den Pfahl der Hatifnatten prallte. Da sah er sich erstaunt um.
Noch nie im Leben hatte er so viele Hatifnatten auf einem Haufen gesehen. Auf der ganzen Lichtung wimmelten sie herum und starrten ihn mit ihren kleinen, blassen Augen an. Ob die wohl bösartig sind, überlegte der Hemul beunruhigt. Sie sind zwar klein, aber beängstigend zahlreich! Er sah das große blanke Barometer an. Es stand auf Regen und Wind. »Eigenartig«, sagte der Hemul und blinzelte in die Sonne. Dann klopfte er an das Barometer, das daraufhin ein gutes Stück fiel. Doch da begannen die Hatifnatten drohend zu rascheln und näher zu rücken. »Ist ja schon gut«, sagte der Hemul erschrocken. »Hab überhaupt nicht vor, euer Barometer mitzunehmen!« Aber die Hatifnatten hörten ihn nicht. Raschelnd und Pfoten wedelnd rückten sie immer näher. Dem Hemul blieb das Herz in der Kehle stecken. Schnell sah er sich nach einer Rettungsmöglichkeit um. Der Feind umgab ihn wie eine Mauer und kam unaufhaltsam näher. Und zwischen den Baumstämmen wimmelten neue Hatifnatten hervor, alle stumm und mit unbeweglichen Gesichtern.
»Fort mit euch!«, schrie der Hemul. »Husch! Husch!« Aber die Hatifnatten ließen sich nicht aufhalten. Da raffte der Hemul seine Röcke und kletterte an dem Pfahl hinauf. Der Pfahl war zwar schrecklich glitschig, aber das Entsetzen verlieh dem Hemul unhemulige Kräfte, sodass er schließlich zitternd an der Spitze des Pfahls saß und das Barometer umklammert hielt. Die Hatifnatten waren unterdes am Fuß des Pfahls angelangt. Und dort warteten sie nun. Sie bedeckten die ganze Lichtung wie ein weißer Teppich, und als der Hemul sich vorstellte, was geschehen würde, wenn er runterfiel, wurde ihm schlecht. »Hilfe«, schrie er mit schwacher Stimme. »Hilfe! Hilfe!« Doch der Wald schwieg. Da steckte er zwei Finger in den Mund und pfiff: dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. SOS. Der Schnupferich, der am nördlichen Strand entlangwanderte, hörte den Notruf des Hemuls. Als er sich die Richtung klar gemacht hatte, schoss er davon, um zu helfen. Der ferne Pfiff wurde lauter. Jetzt muss er ganz in der
Nähe sein, dachte der Schnupferich und schlich vorsichtig weiter. Zwischen den Bäumen wurde es heller. Er sah die Lichtung, die Hatifnatten und den Hemul, der sich an den Pfahl klammerte. »Sieht nicht gut aus«, murmelte der Schnupferich, dann rief er: »Hallo! Ich bin da! Wie hast du es geschafft, die friedlichen Hatifnatten so zu ärgern?« »Hab doch bloß an ihr Barometer geklopft«, jammerte der Hemul. »Und das ist übrigens gefallen. Bitte, lieber Schnupferich, versuch dieses abscheuliche Gelichter zu verscheuchen!« »Muss kurz überlegen«, sagte der Schnupferich. (Von dieser Unterhaltung hörten die Hatifnatten nichts, da sie ja keine Ohren haben.) Nach einer Weile rief der Hemul: »Überleg ein bisschen schneller, Schnupferich, ich rutsche nämlich gleich runter!« »Hör zu!«, sagte der Schnupferich. »Weißt du noch, damals, als Wühlmäuse im Gemüsebeet waren? Der Muminvater vergrub eine Menge Pfosten, auf denen Windrädchen saßen. Und als die Rädchen sich drehten, begann der Boden zu beben, und das machte
die Wühlmäuse so nervös, dass sie verschwanden.« »Deine Geschichten sind immer sehr interessant«, sagte der Hemul bitter. »Mir ist nur nicht klar, was sie mit meiner traurigen Lage zu tun haben!« »Einiges«, sagte der Schnupferich. »Begreifst du denn nicht? Die Hatifnatten können weder sprechen noch hören und sehen außerdem sehr schlecht. Aber dafür ist ihr Gefühl besonders empfindlich. Versuch mal, mit dem Pfahl ruckweise hin und her zu wackeln! Bestimmt werden die Hatifnatten spüren, dass der Boden vibriert, und erschrecken. Das geht ihnen nämlich durch und durch!« Der Hemul versuchte auf dem Pfahl hin und her zu schaukeln. »Ich falle runter!«, schrie er ängstlich. »Schneller, schneller!«, rief der Schnupferich. »Mit kleinen, ganz kleinen Ruckern!« Der Hemul ruckelte hin und her, und nach einer Weile wurde es den Hatifnatten unbehaglich unter den Fußsohlen. Sie begannen heftiger zu rascheln und sich unruhig zu bewegen. Und dann flohen sie Hals
über Kopf, genau wie die Wühlmäuse es getan hatten. Im Nu war die Lichtung leer. Der Schnupferich spürte, wie die Hatifnatten an seinen Beinen entlangstrichen, als sie sich in den Wald zurückzogen. Das brannte wie Nesseln. Der Hemul ließ aus purer Erleichterung den Pfahl los und fiel ins Gras herunter. »Oh mein Herz!«, jammerte er. »Jetzt ist es mir wieder in der Kehle stecken geblieben. Nichts als Unruhe und Aufregung, seit ich in die Muminfamilie gekommen bin!« »Nun beruhige dich erst mal«, sagte der Schnupferich. »Immerhin bist du ja glimpflich davongekommen!« »Dieses abscheuliche Gelichter!«, schimpfte der Hemul. »Zur Strafe werde ich jedenfalls das Barometer mitnehmen!« »Lass das lieber bleiben«, warnte der Schnupferich. Doch der Hemul hakte das große, glänzende Barometer ab und klemmte es sich triumphierend unter den Arm. »So, jetzt gehen wir zurück«, sagte er. »Ich hab einen Riesenhunger.« Als der Schnupferich und der Hemul am Strand ankamen, saßen die anderen bereits
beim Essen. Es gab gebratenen Hecht, den der Muminvater geangelt hatte. »Hallo!«, rief Mumin. »Wir sind um die ganze Insel rumgelaufen! Auf der anderen Seite gibt’s lauter gefährliche, wilde Felsen, die steil ins Meer abfallen!« »Und wir haben eine Menge Hatifnatten gesehen«, erzählte das Schnüferl. »Mindestens hundert.« »Sprich bitte nicht davon!«, bat der Hemul. »Das verkrafte ich momentan nicht. Aber hier dürft ihr meine Kriegstrophäe sehen!« Worauf er voller Stolz sein Barometer mitten auf die Tischdecke stellte. »Oh, wie schön! Und wie das glänzt!«, rief das Snorkfräulein aus. »Ist das eine Uhr?« »Nein, das ist ein Barometer«, erklärte der Muminvater. »Daran kann man ablesen, ob es schönes Wetter gibt oder Sturm. Manchmal kann man sich sogar darauf verlassen.« Er klopfte an das Glas und legte sein Gesicht in besorgte Falten. »Es gibt tatsächlich Sturm!«, sagte er. »Ein großer Sturm?«, fragte das Schnüferl ängstlich. »Sieh selbst«, sagte der Muminvater. »Das Barometer zeigt auf 00, und tiefer kann ein
Barometer nicht fallen. Das heißt, falls es uns nicht zum Narren hält.« Aber danach sah es wirklich nicht aus. Der Dunst hatte sich zu einem grau-gelben Schleier verdichtet, und draußen am Horizont sah das Meer eigenartig schwarz aus. »Wir müssen nach Hause fahren«, sagte der Snork. »Noch nicht!«, bat das Snorkfräulein. »Wir haben die Felsen am anderen Ufer noch gar nicht richtig erforscht. Und gebadet haben wir auch noch nicht!« »Warten wir doch erst mal ab, was passiert«, meinte Mumin. »Jetzt nach Hause zu fahren, wo wir diese Insel eben erst entdeckt haben, wäre wirklich zu dumm!« »Aber wenn ein Sturm kommt, können wir überhaupt nicht mehr fahren«, wandte der vernünftige Snork ein. »Toll!«, rief das Schnüferl. »Wir bleiben für immer hier!« »Ruhe, Kinder! Ich muss nachdenken«, sagte der Muminvater, ging hinunter zum Strand, schnupperte in der Luft, drehte den Kopf hin und her und runzelte die Stirn. In der Ferne grollte der Donner. »Ein Gewitter!«, sagte das Schnüferl. »Huch,
ist das schrecklich!« Über dem Horizont erhob sich eine bedrohliche Wolkenwand – dunkelblau, mit kleinen hellen Wolkenfetzen davor. Hier und da zuckte ein schwacher Lichtschein übers Meer. »Wir bleiben!«, entschied der Muminvater. »Die ganze Nacht!«, schrie das Schnüferl. »Ich glaube schon«, sagte der Muminvater. »Baut jetzt lieber schnell ein Haus auf, der Regen wird nämlich gleich hier sein!« Das »Abenteuer« wurde weit ans Ufer heraufgezogen, und dann errichteten sie in fliegender Hast am Waldrand ein Haus aus dem Segel und den Decken. Die Muminmutter dichtete die Seiten mit Moos ab, und der Snork hob ringsum einen Graben aus, in den das Regenwasser abfließen konnte. Alle rannten hin und her, um ihre Sachen in Sicherheit zu bringen. Inzwischen strich ein leichter Windhauch durch die ängstlich rauschenden Bäume. Das Donnergrollen kam näher. »Ich geh auf die Landzunge hinaus und schau mir das Wetter an«, sagte der Schnupferich, zog sich den Hut fest über die Ohren und machte sich auf den Weg. Allein und glücklich wanderte er auf die äußerste Spitze der
Landzunge hinaus und lehnte sich dort mit dem Rücken an einen großen Stein. Das Meer hatte seinen Gesichtsausdruck verändert. Inzwischen war es schwarz-grün, die Wellen trugen Schaumkronen, und die Riffe leuchteten gelb wie Phosphor. Feierlich grollend zog das Gewitter von Süden heran. Es spannte seine schwarzen Segel über dem Meer aus und wuchs über den halben Himmel. Die Blitze flackerten unheilvoll. Es kommt direkt auf die Insel zu, dachte der Schnupferich und erschauerte vor Glück und Spannung. Er blickte geradewegs in das heranrückende Unwetter hinein. Und plötzlich sah er einen kleinen schwarzen Reiter auf einem schwarzen Pferd. Sie waren nur für einen Augenblick vor dem kreideweißen Kamm der Wolkenwand sichtbar, der Mantel des Reiters flatterte wie ein Flügel, sie stiegen höher … Dann waren sie in einem blendenden Blitzeschwarm verschwunden, und der Regen kam wie eine graue Gardine über das Wasser angeweht. Ich habe den Zauberer gesehen, dachte der Schnupferich. Das muss der Zauberer mit seinem schwarzen Panther gewesen sein! Dann gibt es sie also wirklich, dann ist das nicht bloß ein altes Märchen …
Der Schnupferich machte kehrt, hüpfte und rannte zu den anderen zurück und schaffte es in letzter Minute, ins Zelt zu schlüpfen. Schwere Tropfen schlugen bereits an das Segeltuch, das im Sturm klatschte. Obwohl es noch lange nicht Abend war, wurde die Welt in Dunkelheit gehüllt. Das Schnüferl hatte sich ganz und gar in eine Decke eingerollt, weil es sich so sehr vor dem Donner fürchtete. Die andern hockten eng aneinander gepresst da. Die Blumen des Hemuls verbreiteten ihren starken Duft in dem Zelt. Inzwischen krachte der Donner bereits in nächster Nähe los. Immer wieder wurde ihr Unterschlupf vom weißen Licht der Blitze durchzuckt. Mit lautem Poltern zog das Gewitter seine eisernen Wagen über den Himmel, und das Meer schmetterte voller Raserei seine gewaltigsten Wellen gegen die einsame Insel. »Dem Himmel sei Dank, dass wir nicht draußen auf dem Meer sind«, sagte die Muminmutter. »Ojemine, ist das ein Wetter.« Das Snorkfräulein steckte zitternd ihre Pfote in die des Mumins, worauf Mumin sich sehr beschützend und männlich fühlte. Das Schnüferl lag unter seiner Decke und schrie.
»Jetzt ist es direkt über uns!«, sagte der Muminvater. Und im selben Augenblick schoss ein zischender Riesenblitz auf die Insel herab, gefolgt von einem knatternden Donnerschlag. »Ha, das war ein Treffer!«, sagte der Snork. Es war tatsächlich ein wenig unheimlich. Der Hemul hielt sich den Kopf. »Lärm und Aufregung! Nichts als Lärm und Aufregung!«, murmelte er. Nach und nach verzog sich das Gewitter gen Süden. Der Donner entfernte sich immer mehr, die Blitze wurden schwächer. Schließlich rauschte nur noch der Regen auf sie herab, während das Meer dröhnend an die Strände schlug. Das mit dem Zauberer erzähle ich ihnen lieber noch nicht gleich, dachte der Schnupferich. Sie haben so schon Angst genug. »Komm raus, Schnüferl«, sagte er. »Es ist vorbei.« Das Schnüferl befreite sich blinzelnd von seiner Decke. Es war leicht verlegen, weil es so fürchterlich laut geschrien hatte, gähnte daher laut und kratzte sich hinterm Ohr. »Wie spät ist es?«, fragte es. »Kurz vor acht«, sagte der Snork.
»Ich glaube, da gehen wir alle am besten ins Bett«, sagte die Muminmutter. »Immerhin waren das ganz schön viele Aufregungen heute.« »Aber wir könnten doch noch nachschauen, wo der Blitz eingeschlagen hat, wäre das nicht spannend?«, sagte Mumin. »Morgen«, sagte die Muminmutter. »Morgen werden wir alles untersuchen, dann schwimmen wir auch im Meer. Jetzt gerade ist die Insel bloß nass und grau und ungemütlich.« Dann deckte sie alle schön mit ihren Decken zu und schlief selbst mit ihrer Tasche unterm Kopfkissen ein. Draußen nahm der Sturm zu. In das Brausen der Wellen mischten sich seltsame Geräusche: Stimmen und rennende Schritte, Gelächter und der Klang großer Glocken weit draußen auf dem Wasser. Der Schnupferich lag still da und lauschte und träumte und dachte an seine Reisen um die Welt. Bald muss ich mich wieder auf den Weg machen, dachte er. Aber jetzt noch nicht.
Viertes Kapitel
Mitten in der Nacht wachte das Snorkfräulein auf. Irgendwas hatte ihr Gesicht gestreift. Sie traute sich nicht, den Kopf zu heben und nachzuschauen, schnupperte bloß unruhig um sich her. Es roch angebrannt! Das Snorkfräulein zog sich die Decke über den Kopf und rief halblaut: »Mumin, Mumin!« Mumin wachte sofort auf. »Was ist?«, fragte er. »Irgendwas Gefährliches ist ins Zelt gekommen!«, sagte das Snorkfräulein unter der Decke. »Ich fühle, dass hier was Gefährliches im Zelt ist!« Mumin starrte in die Dunkelheit hinaus. Ja, tatsächlich! Da war etwas … Blass leuchtende Gestalten, die zwischen den Schlafenden hin und her huschten. Mumin schüttelte den Schnupferich wach. »Schau mal!«, flüsterte er entsetzt. »Gespenster!« »Nein«, sagte der Schnupferich. »Das sind
Hatifnatten. Das Gewitter hat sie elektrisch gemacht und darum leuchten sie jetzt. Verhalt dich ganz ruhig, sonst kriegst du vielleicht einen elektrischen Schlag!« Die Hatifnatten schienen etwas zu suchen. Sie durchstöberten sämtliche Körbe, und der angebrannte Geruch wurde immer stärker. Plötzlich versammelten sie sich in der Ecke, wo der Hemul schlief. »Glaubst du, sie wollen ihm was antun?«, fragte Mumin aufgeregt. »Bestimmt suchen sie bloß nach dem Barometer«, sagte der Schnupferich. »Ich hab ihn noch davor gewarnt, es mitzunehmen. Jetzt haben sie es gefunden!« Mit vereinten Kräften schleppten die Hatifnatten das Barometer hervor. Um es besser in den Griff zu kriegen, kletterten sie auf den Hemul hinauf. Inzwischen war der Geruch nach Angebranntem sehr stark. Das Schnüferl wachte auf und beklagte sich. Im selben Augenblick erzitterte das ganze Zelt von einem fürchterlichen Gebrüll. Ein Hatifnatt war dem Hemul auf die Schnauze getreten. Im Nu waren alle wach und auf den Beinen.
Ein unbeschreibliches Durcheinander entstand. Ängstliche Fragen vermischten sich mit Schmerzgeheul, wenn jemand auf einen Hatifnatt getreten war und sich verbrannt oder einen elektrischen Schlag abbekommen hatte. Der Hemul raste im Kreis herum und schrie vor Schreck und verwickelte sich dabei so sehr in das Segel, dass das ganze Zelt über ihnen zusammenkrachte. Alles war ganz schrecklich. Das Schnüferl behauptete hinterher, sie hätten mindestens eine Stunde gebraucht, um sich aus dem Segel zu befreien (möglicherweise hat es ein wenig übertrieben). Aber als sie dann endlich darunter hervorkrabbelten, waren die Hatifnatten mit ihrem Barometer schon im Wald verschwunden. Und keiner hatte Lust, sie zu verfolgen. Der Hemul steckte seine Schnauze unter lautem Jammern in den nassen Sand. »Das geht entschieden zu weit!«, schimpfte er. »Warum wird es einem armen, unschuldigen Botaniker unmöglich gemacht, sein Leben in Ruhe und Frieden zu verbringen!« »Weil das Leben nicht friedlich ist«, erklärte der Schnupferich begeistert. »Es regnet nicht mehr«, stellte der
Muminvater fest. »Seht ihr, Kinder, der Himmel ist klar! Bald wird es hell.« Die Muminmutter stand fröstelnd da und hielt ihre Handtasche fest, während sie auf das stürmische nächtliche Meer hinaussah. »Sollen wir ein neues Zelt errichten und wieder schlafen gehen?«, fragte sie. »Das lohnt sich nicht«, sagte Mumin. »Wir wickeln uns lieber in unsere Decken und warten, bis die Sonne aufgeht.« Also setzten sie sich dicht nebeneinander in einer Reihe an den Strand. Das Schnüferl wollte in der Mitte sitzen, weil ihm das am sichersten schien. »Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie schrecklich es war, als irgendwas in der Dunkelheit mein Gesicht streifte«, sagte das Snorkfräulein. »Das war noch schlimmer als das Gewitter!« Sie saßen da und blickten in der heller werdenden Nacht aufs Meer hinaus. Der Sturm hatte sich etwas beruhigt, aber die Brandung schlug immer noch mit lautem Tosen an den Strand. Im Osten begann der Himmel zu verblassen. Es war sehr kalt. Und da, im ersten Morgengrauen, sahen sie, wie die Hatifnatten die Insel verließen.
Ein Boot nach dem andern glitt schattenhaft hinter der Landzunge hervor und steuerte aufs Meer hinaus. »Ein Glück!«, sagte der Hemul. »Hoffentlich brauche ich nie mehr einen Hatifnatt zu sehen.« »Wahrscheinlich suchen sie sich jetzt eine neue Insel«, vermutete der Schnupferich. »Eine geheime Insel, die niemand jemals finden kann!« Und mit sehnsüchtigen Blicken folgte er den leichten Kähnen der kleinen Weltenwanderer. Das Snorkfräulein hatte den Kopf in Mumins Schoß gelegt und schlief. Jetzt tauchte am östlichen Horizont der erste Lichtstreifen auf. Ein paar Wolkenfetzen, die der Sturm vergessen hatte, färbten sich rosarot, dann erhob die Sonne ihr glänzendes Haupt aus dem Meer. Mumin beugte sich vor, um das Snorkfräulein zu wecken, und da entdeckte er etwas Schreckliches! Ihre hübschen Stirnfransen waren abgebrannt! Das musste geschehen sein, als der Hatifnatt an ihr entlanggestrichen war. Was würde sie sagen, was sollte er nur machen, um sie zu beruhigen und zu trösten? Eine Katastrophe!
Das Snorkfräulein schlug die Augen auf und lächelte. »Weißt du, was«, sagte Mumin schnell. »Ich bin ganz schön komisch. Irgendwie gefallen mir inzwischen junge Damen ohne Haare viel besser als solche mit Haaren!« »Ach, tatsächlich!«, sagte das Snorkfräulein erstaunt. »Warum denn das?« »Haare haben so was Unordentliches an sich!«, behauptete Mumin. Das Snorkfräulein hob sofort ihre Pfoten, um ihre Frisur zu richten, doch ach!, da fand sich nichts mehr. Fassungslos starrte sie die versengten Reste in ihrer Pfote an. »Du hast eine Glatze gekriegt«, sagte das Schnüferl. »Das steht dir wirklich gut«, tröstete Mumin. »Oh nein, weine bitte nicht!« Doch das Snorkfräulein warf sich in den Sand und vergoss bittere Tränen über den Verlust ihrer wichtigsten Zier. Alle scharten sich um sie und versuchten sie aufzumuntern. Vergebens! »Schau mich an, ich bin glatzköpfig auf die Welt gekommen«, sagte der Hemul. »Und ich fühle mich ehrlich gesagt recht wohl damit!« »Wir reiben dich tüchtig mit Öl ein, dann
wachsen deine Haare bestimmt wieder«, versicherte der Muminvater. »Und dann werden sie lockig!«, sagte die Muminmutter. »Ist das auch wirklich wahr?«, schluchzte das Snorkfräulein. »Und ob das wahr ist!«, versprach die Muminmutter. »Ja, stell dir doch mal vor, wie hübsch du mit Locken aussehen wirst!« Das Snorkfräulein hörte auf zu weinen und setzte sich auf. »Schau die Sonne an!«, sagte der Schnupferich. Frisch gewaschen und schön stieg sie aus dem Meer. Die ganze Insel funkelte und strahlte nach dem Regen. »So, jetzt spiele ich ein Morgenlied«, sagte der Schnupferich und holte seine Mundharmonika hervor. Dann sangen alle mit lauter Stimme: »Fort ziehn die Schatten, die Sonne geht auf! Und alle Hatifnatten verschwinden zuhauf. Der Wind bläst fester, der Himmel wird klar. Und dem Snork seine Schwester
kriegt lockiges Haar! Jo-ho!« »Auf ins Wasser mit euch!«, rief Mumin. Im Nu hatten alle ihre Badehosen an und stürzten sich in die Brandung (nur der Hemul und der Muminvater und die Muminmutter nicht, die fanden es noch zu kalt). Glasgrün und weiß rollten die Wellen über den Sand. Oh, ein morgenmunterer Mumin zu sein und in glasgrünen Wellen zu tanzen, während die Sonne aufgeht! Die Nacht war vergessen, und ein neuer langer Junitag lag vor ihnen. Wie Tümmler tauchten sie durch die Wogen und segelten auf den Wellenkämmen auf den Strand zu, wo das Schnüferl im seichten Wasser spielte. Der Schnupferich ließ sich weiter draußen auf dem Rücken treiben und guckte in den blauen, durchsichtigen Himmel hinauf. Unterdes kochte die Muminmutter zwischen den Steinen Kaffee und suchte nach der Butterdose, die sie im feuchten Sand vor der Sonne versteckt hatte. Aber sie suchte vergeblich, der Sturm hatte die Dose mitgenommen.
»Was soll ich ihnen denn jetzt aufs Brot tun?«, klagte die Muminmutter. »Bestimmt schenkt uns der Sturm dafür irgendwas anderes«, sagte der Muminvater. »Nach dem Kaffee machen wir eine Entdeckungstour am Strand entlang und schauen nach, was das Meer angeschwemmt hat!« Und das taten sie. An der anderen Seite der Insel erhoben Felsen ihre blank geschliffenen Rücken aus dem Wasser. Dazwischen konnte man unvermutet auf kleine Zipfel aus muschelübersätem Sand stoßen, die versteckten Tanzplätze der Meerjungfrauen, oder auf schwarze, geheimnisvolle Schluchten, aus denen das dumpfe Dröhnen der Brandung wie Schläge gegen eine eiserne Tür heraufdrang. Hier und da tat sich zwischen den Klippen eine kleine Höhle auf, dann wiederum stürzten die Felswände steil in runde Kessel aus zischenden Wasserwirbeln hinab. Jeder zog auf eigene Faust los, um Strandgut und Wrackteile zu suchen. Das war ungeheuer spannend, weil man ja die seltsamsten Dinge entdecken konnte, die es oft unter großen Gefahren und Mühen aus dem Meer zu retten
galt. Die Muminmutter kletterte zu einem kleinen Sandfleck hinunter, der im Schutze von riesigen Felsblöcken lag. Im Sand wuchsen ganze Büschel von blauen Strandnelken und Strandhafer, der im Wind raschelte und pfiff. Die Muminmutter legte sich an ein windgeschütztes Plätzchen. Hier unten sah sie nichts als den blauen Himmel und die Strandnelken, die über ihrem Kopf schaukelten. Ich ruhe mich bloß kurz aus, sagte sie sich. Aber bald darauf schlief sie tief und fest in dem warmen Sand. Der Snork dagegen lief auf den höchsten Felsen hinauf. Von hier aus konnte er die ganze Insel überblicken, sie kam ihm vor wie ein Blumenstrauß, der auf dem unruhigen Meer einhertrieb. Weit hinten sah er das Schnüferl wie einen kleinen Punkt nach Wrackteilen suchen, der Hut des Schnupferichs leuchtete in der Ferne, mitten im Wald grub der Hemul eine seltene Orchidee aus … Und dort! Das musste die Stelle sein, wo der Blitz eingeschlagen hatte – zweifellos! Ein riesiger Felsblock, größer als zehn Muminhäuser, war wie ein Apfel vom Blitz gespalten worden, die beiden Hälften
waren seitlich auseinander gekippt und hatten einen senkrechten Spalt gebildet. Erwartungsvoll zitternd kletterte der Snork in die Schlucht und sah an den dunklen Felswänden hinauf. Dort war der Blitz hineingefahren! Rußschwarz zeichnete sich sein Verlauf im entblößten Innern des Gesteins ab. Aber direkt daneben lief ein anderer Streifen, und der war leuchtend hell! Gold, das musste Gold sein! Der Snork begann mit seinem Taschenmesser an dem Streifen herumzukratzen. Ein kleines Goldkorn löste sich und fiel ihm in die Pfote. Glühend vor Eifer pulte er ein Stück nach dem anderen los und brach immer größere Stücke heraus. Und schon bald hatte er alles ringsum vergessen und sah nur noch die strahlenden Goldadern, die der Blitz an den Tag gebracht hatte. Der Snork war kein Strandräuber mehr, jetzt war er ein Goldgräber! Währenddessen hatte das Schnüferl einen bescheidenen kleinen Fund gemacht, der ihn aber mindestens genauso sehr freute. Er hatte einen Schwimmgürtel aus Kork gefunden. Stellenweise war der Gürtel zwar etwas morsch, aber er passte dem Schnüferl wie angegossen. Jetzt kann ich mich auch in tiefes
Wasser hinaustrauen!, dachte das Schnüferl. Bestimmt lerne ich jetzt genauso gut schwimmen wie die andern. Da wird Mumin aber staunen! Ein Stück weiter weg, inmitten von Rinde, Netzschwimmern und Tang entdeckte es einen Bastteppich, eine fast unbeschädigte hölzerne Schöpfkelle und einen alten Stiefel ohne Absatz. Lauter wundervolle Schätze, wenn man sie selbst dem Meer entrissen hat! Dann erblickte das Schnüferl Mumin, der im Wasser stand und an irgendwas zerrte und zog. An irgendwas Großem! Verflixt, dass ich das nicht als Erster gesehen habe!, dachte das Schnüferl. Was um alles in der Welt mag das sein! Mittlerweile hatte Mumin seinen Strandfund geborgen und rollte ihn jetzt vor sich her über den Sand. Das Schnüferl reckte und streckte den Hals – und dann sah es, was es war. Eine Boje! Eine große farbenprächtige Boje! »Ju-hu!«, rief Mumin. »Was sagst du nun?« »Die ist nicht schlecht«, sagte das Schnüferl mit kritisch schief gelegtem Kopf. »Aber was hältst du hiervon? Und er reihte seine Funde im Sand auf. »Der Korkgürtel ist gut«, sagte Mumin.
»Aber was kann man mit einem halben Holzschöpfer anfangen?« »Wenn man ganz schnell schöpft, wird’s schon gehen«, meinte das Schnüferl. »Hör mal! Was hältst du von einem Tausch? Ich geb dir für die olle Boje nicht nur den Bastteppich, sondern auch die Schöpfkelle und den Stiefel.« »Nie im Leben«, sagte Mumin. »Aber möglicherweise den Korkgürtel gegen diesen geheimnisvollen Talisman, der aus einem fernen Land hier angetrieben ist.« Und damit zog er ein sonderbares Ding aus hohlem Glas hervor und schüttelte es. Lauter Schneeflocken wirbelten in der Glaskugel hoch, um sich dann über ein kleines Häuschen mit Fenstern aus Silberpapier zu senken. »Oh«, sagte das Schnüferl. Und in seinem Herzen, das viel zu sehr an Sachen hing, spielte sich ein heftiger Kampf ab. »Guck mal!«, sagte Mumin und schüttelte den Schnee wieder hoch. »Ich weiß nicht«, rief das Schnüferl verzweifelt aus, »ich weiß wirklich nicht, was mir lieber ist, der Schwimmgürtel oder der Wintertalisman! Mir bricht das Herz!« »Das ist bestimmt der einzige Schneetalisman, den es zur Zeit auf der Welt
gibt«, sagte Mumin. »Aber auf den Schwimmgürtel kann ich nicht verzichten!«, jammerte das Schnüferl. »Bitte, lieber Mumin, können wir das kleine Schneegestöber nicht teilen?« »Hm«, machte Mumin. »Erlaub mir bitte, dass ich es wenigstens ab und zu in der Hand halten darf«, bat das Schnüferl. »Sonntags?« Mumin überlegte eine Weile. Dann sagte er: »Ja. Du darfst es sonntags und mittwochs haben.« Ein gutes Stück weiter weg erkundete der Schnupferich den Strand. Er lief so nah wie möglich an die fauchenden Wellen heran, und wenn sie nach seinen Stiefeln schnappten, hüpfte er lachend zurück. Ganz schön ärgerlich für die Wellen! Kurz vor der Landzunge stieß der Schnupferich auf den Muminvater, der Balkenreste und Bretter aus dem Wasser barg. »Gut, was?«, schnaufte der Muminvater. »Daraus werde ich einen Steg für das ›Abenteuer‹ bauen!« »Soll ich dir helfen, das Holz herauszuholen?«, fragte der Schnupferich. »Nein, nein!«, sagte der Muminvater erschrocken. »Das schaffe ich allein. Such dir
was Eigenes zum Rausholen!« Hier gab es eine Menge Sachen aus dem Meer zu retten, aber nichts, was den Schnupferich interessiert hätte. Kleine Fässer, ein halber Stuhl, ein Korb ohne Boden und ein Bügelbrett. Lauter schweres, lästiges Zeug. Der Schnupferich steckte die Pfoten in die Taschen und pfiff. Er hopste vor den Wellen herum und wich ihnen aus, um ihnen dann gleich wieder hinterherzurennen und sie zu foppen. Und jedes Mal, wenn sie ihn fangen wollten, hüpfte er wieder davon, den ganzen langen, einsamen Sandstrand entlang. Aber draußen auf der Landzunge kletterte das Snorkfräulein zwischen den Felsen umher. Sie hatte ihre abgesengten Stirnfransen unter einem Kranz aus Meereslilien versteckt und suchte jetzt nach irgendeinem Strandgut, das die anderen mit Staunen und Neid erfüllen würde. Und nachdem alle es bewundert hätten, würde sie es Mumin schenken (natürlich nur, falls es nichts mit Schmuck zu tun hatte). Es fiel ihr nicht leicht, zwischen all den Steinen herumzuklettern, und ihr Kranz drohte die ganze Zeit weggeweht zu werden. Wenigstens stürmte es jetzt nicht mehr so heftig. Das Meer hatte seine zornigen, grün schäumenden
Farben gegen friedliche Blautöne eingetauscht, und die Schaumkronen der Wellen wirkten inzwischen nicht mehr bedrohlich, sondern eher wie eine Zier. Das Snorkfräulein krabbelte auf ein schmales Kiesbett am Rand des Wassers hinunter. Aber dort fand sie nichts außer ein bisschen Tang und Schilf und ein paar Bretterreste. Missmutig wanderte sie weiter zur Landspitze hinaus. Die andern sind immer so tüchtig, nur ich bringe nie was zu Stande, dachte das Snorkfräulein vor sich hin. Die können auf Eisschollen herumhüpfen und Dämme in Bächen bauen und Ameisenlöwen fangen. Ich würde gern was Unerhörtes machen, ganz alleine für mich, und Mumin dann damit beeindrucken. Seufzend blickte sie auf den verlassenen Strand hinaus. Und blieb plötzlich stehen und bekam Herzklopfen. Weit draußen an der Landspitze … Oh nein, das war zu schrecklich! Da lag jemand mit dem Kopf unter Wasser und schlug sachte gegen die Ufersteine! Jemand sehr, sehr Großes, zehnmal so groß wie das kleine Snorkfräulein! Ich muss schnell die andern holen, dachte sie, blieb aber stehen. »Sei jetzt nicht schon wieder so ein
Angsthase!«, sagte das Snorkfräulein zu sich selbst. »Du musst nachschauen, wer das ist!« Worauf sie sich zitternd der unheimlichen Gestalt näherte. Es war eine große Frau … Eine große Frau ohne Beine … wie entsetzlich! Das Snorkfräulein machte ein paar ängstliche Schritte und blieb dann verblüfft stehen. Die große Frau war aus Holz! Und sie war wunderschön. Ihr ruhiges, lächelndes Gesicht mit den roten Wangen und Lippen leuchtete durch das klare Wasser und die runden blauen Augen waren weit offen. Auch die Haare waren blau, sie ringelten sich in langen gemalten Locken über die Schultern. »Das ist eine Königin«, sagte das Snorkfräulein andächtig. Die Hände der schönen Dame lagen gekreuzt über der Brust, auf der goldene Blumen und Ketten leuchteten, von den schlanken Hüften floss das Kleid in weichen, roten Falten herab. Und das alles war aus bemaltem Holz. Das einzig Unerklärliche war bloß, dass sie keinen Rücken hatte. Fast ein zu schönes Geschenk für Mumin, überlegte das Snorkfräulein. Aber er soll sie trotzdem haben! Gegen Abend kam ein stolzes Snorkfräulein,
auf dem Bauch der hölzernen Königin sitzend, in die Bucht angepaddelt, wo das »Abenteuer« lag. »Hast du etwa ein Boot gefunden?«, fragte der Snork. »Wie tüchtig von dir, dass du es ganz allein hergebracht hast«, sagte Mumin voller Bewunderung. »Das ist eine Galionsfigur!«, erklärte der Muminvater, der in seiner Jugend zur See gefahren war. »Die Seeleute schmücken den Bug ihrer Schiffe oft mit einer schönen Königin aus Holz.« »Warum denn?«, fragte das Schnüferl. »Weil sie wollen, dass ihre Schiffe möglichst prächtig aussehen«, sagte der Muminvater. »Aber warum hat sie keinen Rücken?«, wollte der Hemul wissen. »Weil sie damit am Bug befestigt ist, natürlich«, sagte der Snork. »Das begreift ja selbst ein neugeborenes Mäusekind!« »Ans ›Abenteuer‹ kann sie nicht genagelt werden, dazu ist sie zu groß«, sagte der Schnupferich. »Schade!« »Ach, die schöne Dame!«, seufzte die Muminmutter. »Wenn man bedenkt – so schön zu sein und gar nichts davon zu haben!«
»Was willst du damit machen?«, fragte das Schnüferl. Das Snorkfräulein senkte lächelnd die Augen. Dann sagte sie: »Ich möchte sie Mumin schenken.« Mumin brachte kein Wort heraus. Mit hochrotem Kopf trat er vor und verbeugte sich. Das Snorkfräulein machte verwirrt einen Knicks, und das Ganze sah aus wie bei einer Einladung. »Schwester«, sagte der Snork. »Du hast noch nicht gesehen, was ich gefunden hab!« Stolz zeigte er auf einen großen Goldhaufen, der im Sand lag und leuchtete. Dem Snorkfräulein fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Echtes Gold!«, hauchte sie. »Da gibt es noch viel, viel mehr!«, prahlte der Snork. »Ein ganzer Berg aus Gold!« »Und ich darf alles aufheben, was von allein runterfällt, und es für mich behalten«, sagte das Schnüferl. Oh, wie wurden alle Funde dort am Strand bewundert! Die Muminfamilie war plötzlich reich geworden. Aber das Kostbarste waren doch die Galionsfigur und das kleine Schneegestöber in der Glaskugel. Es war ein schwer beladenes Boot, das schließlich von der einsamen Insel über das
leicht bewegte Meer davonsegelte. Im Schlepptau hatte es ein großes Floß aus Balken und Brettern, und die Last bestand aus Gold, einem Wintertalisman, einer großen, farbenprächtigen Boje, einem Stiefel, einer halben Schöpfkelle aus Holz, einem Schwimmgürtel und einem Bastteppich, und vorne im Bug lag die Galionsfigur und blickte aufs Meer hinaus. Neben ihr saß Mumin und hatte seine Pfote auf ihr schönes blaues Haar gelegt. Er war sehr glücklich! Das Snorkfräulein sah die beiden ab und zu an. Ach, wenn ich doch auch so schön wäre wie die Holzkönigin, dachte sie. Jetzt habe ich nicht mal mehr meine Stirnfransen … Sie war überhaupt nicht mehr so froh wie vor kurzem. Nein, sie war fast betrübt. »Magst du die Holzkönigin?«, fragte sie. »Sehr!«, sagte Mumin, ohne aufzusehen. »Aber du hast doch gesagt, dass dir junge Damen mit Haaren nicht gefallen«, sagte das Snorkfräulein. »Und übrigens ist sie ja bloß gemalt!« »Aber so wunderschön gemalt!«, sagte Mumin. Das Snorkfräulein machte ein finsteres
Gesicht. Mit einem Tränenkloß im Hals starrte sie ins Meer und wurde allmählich grau. »Die Holzkönigin sieht doof aus!«, sagte sie schließlich zornig. Da schaute Mumin auf. »Warum bist du denn grau?«, fragte er verwundert. »Aus keinem besonderen Grund!«, sagte das Snorkfräulein. Rasch kletterte Mumin vom Bug herunter und setzte sich neben sie. »Weißt du, was?«, sagte er nach einer Weile. »Die Holzkönigin sieht tatsächlich sehr doof aus!« »Ja, nicht wahr?«, sagte das Snorkfräulein und wurde wieder rosa. Die Sonne sank langsam dem Abend entgegen, und die langen, blanken Dünungen färbten sich gelb und golden. Alles wurde gelb und golden, das Segel, das Boot und alle, die darin saßen. »Erinnerst du dich noch an den goldenen Schmetterling?«, fragte Mumin. Das Snorkfräulein nickte müde und glücklich. In weiter Ferne lag die einsame Insel flammend im Sonnenuntergang.
»Was habt ihr mit dem Gold vor, das der Snork gefunden hat?«, erkundigte sich der Schnupferich. »Damit verzieren wir die Blumenbeete«, sagte die Muminmutter. »Natürlich bloß mit den größeren Stücken, die kleinen würden zu unordentlich aussehen.« Danach schwiegen alle und beobachteten, wie die Sonne ins Meer eintauchte und die Farben verblassten und in Blau und Violett übergingen, während das »Abenteuer« sachte heimwärts schaukelte.
Fünftes Kapitel
Es war irgendwann Ende Juli, und im Mumintal herrschte große Hitze. Selbst den Fliegen war es zu heiß zum Summen. Die Bäume wirkten müde und staubig, der Fluss trocknete aus und floss als dünnes, braunes Rinnsal zwischen gelben Wiesen dahin. Das Wasser taugte nicht mehr dazu, um im Hut des Zauberers Saft daraus zu machen (der Hut war übrigens wieder zu Ehren gekommen und stand unterm Spiegel auf der Kommode). Tag für Tag schien die Sonne in das zwischen den Hügeln versteckte Tal. Alles Kleingetier verkroch sich in seine kühlen Erdhöhlen, die Vögel schwiegen. Aber Mumins Freunde machte die Hitze so nervös, dass sie anfingen, sich zu streiten. »Mutter«, sagte Mumin, »sag uns, was wir tun sollen! Wir zanken uns bloß, und es ist so heiß!« »Ja, das habe ich gemerkt«, sagte die Muminmutter. »Ich glaube, ich wäre euch
ganz gern ein Weilchen los. Warum zieht ihr nicht für ein paar Tage in die Höhle? Dort ist es kühler, und wenn ihr Lust habt, könnt ihr den ganzen Tag im Wasser liegen und euch beruhigen.« »Dürfen wir in der Höhle auch übernachten?«, fragte Mumin begeistert. »Natürlich!«, sagte die Muminmutter. »Und kommt mir ja nicht nach Hause, bevor ihr wieder guter Dinge seid.« Es war sehr spannend, für längere Zeit in die Höhle zu ziehen. Die Petroleumlampe stellten sie mitten in den Sand. Jeder buddelte sich eine Mulde, die seiner persönlichen Form und Schlafhaltung entsprach, und machte sich dort sein Bett. Der Proviant wurde in sechs gleich große Haufen geteilt, bestehend aus Rosinenpudding und Kürbismus, Bananen, Pfefferminzbonbons und Maiskolben, außerdem gab es einen Pfannkuchen zum Frühstück. Gegen Abend kam ein kleiner Wind auf und flog verloren über den Meeresstrand. Die Sonne ging in rotem Dunst unter und füllte die Höhle mit ihrem warmen Licht. Der Schnupferich spielte Dämmerungslieder, und das Snorkfräulein hatte ihren lockigen Kopf in
Mumins Schoß gelegt. Nach dem Rosinenpudding waren alle friedlich und freundlich gestimmt, und als die Dämmerung übers Meer angekrochen kam, fanden sie es gerade angenehm gruselig. »Die Höhle, die hab ich damals ganz allein entdeckt«, sagte das Schnüferl. Und keiner hatte Lust, ihm zu sagen, das hätten sie inzwischen schon hundertmal gehört. »Traut ihr euch, was Unheimliches zu hören?«, fragte der Schnupferich und zündete die Lampe an. »Wie sehr unheimlich denn?«, wollte der Hemul wissen. »Ungefähr wie von hier bis zur Tür oder noch ein wenig länger«, sagte der Schnupferich. »Wenn du dir darunter was vorstellen kannst.« »Nein, ganz im Gegenteil«, antwortete der Hemul. »Erzähl einfach drauflos, dann sage ich Bescheid, wenn ich mich fürchte.« »Gut«, sagte der Schnupferich. »Jetzt werde ich euch eine Geschichte erzählen, die ich einmal von einer Gafsa zu hören bekam, als ich klein war. Am Ende der Welt liegt ein Schwindel erregend hoher Berg, rußschwarz
und seidenglatt, umhüllt von Wolken, der steil ins Bodenlose abstürzt. Auf seiner höchsten Spitze steht das Haus des Zauberers, und das sieht so aus.« Der Schnupferich malte ein Haus in den Sand. »Hat es denn keine Fenster?«, fragte das Schnüferl. »Nein«, sagte der Schnupferich. »Und auch keine Tür, der Zauberer kommt nämlich immer auf dem Rücken seines schwarzen Panthers durch die Luft nach Hause. Nachts ist er draußen unterwegs, um Rubine in seinem Mantel zu sammeln.« »Was sagst du da?!«, rief das Schnüferl mit gespitzten Ohren. »Rubine! Wo kriegt er die denn her?« »Der Zauberer kann sich in alles verwandeln, was er will«, erklärte der Schnupferich. »Und dann kann er in die Erde kriechen, sogar bis auf den Meeresgrund, wo die verborgenen Schätze liegen.« »Und was macht er mit den vielen Edelsteinen?«, fragte das Schnüferl neidisch. »Nichts. Er sammelt sie bloß«, sagte der Schnupferich. »Ungefähr so, wie der Hemul seine Pflanzen sammelt.« »Hast du was gesagt?«, kam vom Hemul, der
in seiner Sandmulde aufgewacht war. »Ich hab gerade erzählt, dass der Zauberer das ganze Haus voller Rubine hat«, sagte der Schnupferich. »Sie liegen in großen Haufen am Fuße der Mauern und manche sind in die Wände eingelassen, wo sie wie Raubtieraugen leuchten. Das Haus des Zauberers hat kein Dach, und die Wolken, die darüber fliegen, sind rot wie Blut vom Widerschein der Rubine. Die Augen des Zauberers sind ebenfalls rot und leuchten im Dunkeln.« »Jetzt wird’s mir unheimlich«, sagte der Hemul. »Erzähl bitte ein bisschen vorsichtiger!« »Dieser Zauberer muss ganz schön glücklich sein«, seufzte das Schnüferl. »Das ist er überhaupt nicht«, sagt der Schnupferich. »Er wird erst glücklich, wenn er den Königsrubin gefunden hat. Der Königsrubin ist fast so groß wie der Kopf des schwarzen Panthers, und wenn man in ihn reinschaut, ist es, als würde man fließendes Feuer sehen. Der Zauberer hat schon auf sämtlichen Planeten nach dem Königsrubin gesucht, sogar auf dem Neptun – aber gefunden hat er ihn nicht. Inzwischen hat er sich zum Mond aufgemacht, um in den
Mondkratern zu suchen, er glaubt aber kaum, dass er Glück haben wird. Denn eigentlich vermutet der Zauberer den Königsrubin auf der Sonne. Und dorthin kann er nicht kommen. Er hat es zwar schon ein paar Mal versucht, aber es ist zu heiß. So, und das ist die Geschichte, welche die Gafsa mir erzählt hat.« »Eine schöne Geschichte«, sagte der Snork. »Gib mir noch ein Pfefferminzbonbon.« Der Schnupferich schwieg kurz, dann sagte er: »Das ist nicht nur eine Geschichte. Alles ist wahr.« »Ich hab schon die ganze Zeit geglaubt, dass es wahr ist«, rief das Schnüferl. »Das mit den Edelsteinen klingt einfach zu glaubwürdig!« »Und woher will man wissen, dass es den Zauberer gibt?«, fragte der Snork misstrauisch. »Ich hab ihn gesehen«, sagte der Schnupferich und zündete seine Pfeife an. »Auf der Insel der Hatifnatten hab ich den Zauberer gesehen, wie er mitten im Gewitter auf seinem Panther durch die Luft geritten ist.« »Aber du hast uns nichts davon gesagt!«, rief Mumin aus. Der Schnupferich zuckte die Schultern. »Ich liebe eben Geheimnisse«, sagte er. »Übrigens hat diese Gafsa mir erzählt, der Zauberer trage
immer einen schwarzen Zylinder.« »Das darf doch nicht wahr sein!«, schrie Mumin. »Das muss er sein!«, rief das Snorkfräulein. »Ja, tatsächlich«, sagte der Snork. »Was denn?«, fragte der Hemul. »Um was geht es hier eigentlich?« »Um den Hut, natürlich«, sagte das Schnüferl. »Um den schwarzen Zylinder, den ich im Frühjahr gefunden habe! Um den Zauberhut! Der muss ihm vom Kopf geweht worden sein, als er zum Mond fuhr!« Der Schnupferich nickte. »Aber was ist, wenn der Zauberer zurückkommt, um seinen Hut zu holen?«, sagte das Snorkfräulein aufgeregt. »Ich würde mich nie trauen, in seine roten Augen zu schauen!« »Bestimmt ist er noch oben auf dem Mond«, sagte Mumin. »Ist es weit dorthin?« »Ziemlich weit«, sagte der Schnupferich. »Übrigens dauert es wahrscheinlich eine ganze Weile, bis er sämtliche Krater durchsucht hat.« Eine Zeit lang herrschte beunruhigtes Schweigen. Alle mussten an den schwarzen Hut denken, der zu Hause unterm Spiegel auf der Kommode stand.
»Dreh die Lampe noch ein bisschen auf«, bat das Schnüferl. »Habt ihr was gehört?«, flüsterte das Snorkfräulein. »Da draußen …« Alle starrten auf den schwarzen Eingang der Höhle und horchten. Schwache, ganz schwache, leichte Geräusche – vielleicht die leisen Schritte eines Panthers? »Das ist der Regen«, sagte Mumin. »Es regnet. Jetzt schlafen wir erst mal.« Darauf kroch jeder in seine Sandgrube und wickelte sich in seine Decke. Mumin löschte die Lampe und schlief beim leichten Geprassel des Regens ein. Der Hemul wachte davon auf, dass seine Schlafmulde voller Wasser war. Draußen vor der Höhle fiel ein warmer, leise flüsternder Sommerregen, und an den Wänden liefen kleine Bäche und Wasserfälle herab, es war, als wäre alles Wasser von außerhalb und innerhalb der Höhle ausgerechnet in die Schlafmulde des Hemuls geströmt. »Nichts als Elend«, sagte der Hemul vor sich hin, wand sein Kleid aus und trat vor die Höhle, um sich das Wetter anzuschauen. Das sah in allen Richtungen gleich aus, grau, nass und trübselig. Der Hemul überlegte, ob er
Badelust verspürte, doch das tat er nicht. Nichts hat mehr seine Ordnung auf der Welt, dachte der Hemul betrübt. Gestern war es zu heiß und jetzt ist es zu nass. Ich geh lieber wieder rein und leg mich schlafen. Die Schlafmulde des Snorks sah am trockensten aus. »Rück ein wenig zur Seite«, sagte der Hemul. »In mein Bett hat es reingeregnet.« »Pech gehabt«, sagte der Snork und drehte sich auf die andere Seite. »Darum wollte ich eigentlich in deiner Mulde schlafen«, erklärte der Hemul. »Sei nicht so snorkmäßig kaltschnäuzig.« Doch der Snork knurrte bloß kurz und schlief weiter. Da fühlte der Hemul, wie sein Herz rachsüchtig wurde, und grub einen Kanal, der von seiner eigenen Schlafmulde zu der des Snorks führte. »So was Unhemulisches!«, beschwerte sich der Snork und richtete sich in seiner nassen Decke auf. »Aber ich hätte nie geglaubt, dass dir etwas so Pfiffiges einfällt!« »Die Idee ist mir einfach so zugeflogen«, sagte der Hemul vergnügt. »Und was machen wir heute?« Der Snork streckte die Schnauze zur
Höhlenöffnung hinaus und besah sich den Himmel und das Wasser. Dann sagte er sachkundig: »Angeln. Weck die andern, dann bereite ich so lange das Boot vor!« Damit wanderte der Snork zu dem nassen Strand hinunter und hinaus auf den Steg, den der Muminvater gebaut hatte. Er schnupperte kurz aufs Meer hinaus Es war windstill und regnete sachte, jeder Tropfen bildete einen schönen Ring auf dem blanken Wasser. Der Snork nickte vor sich hin und holte die Kiste mit der längsten Langleine aus dem Bootshaus. Dann zog er den Fischkasten unter dem Steg hervor, setzte sich hin, um die Haken mit Ködern zu bestücken, und pfiff derweil das Jagdlied des Schnupferichs. Als die andern aus der Höhle kamen, waren alle Vorbereitungen fertig. »Na, da seid ihr ja endlich«, sagte der Snork. »Hemul, hol den Mast herunter und steck die Rudergabeln ein.« »Müssen wir unbedingt angeln?«, fragte seine Schwester. »Beim Angeln passiert nie etwas, und außerdem tun mir die kleinen Fische immer so Leid.« »Ja, aber heute wird etwas passieren«, sagte der Snork. »Setz dich in den Bug, da bist du
nicht im Weg.« »Warte, ich helf dir«, schrie das Schnüferl, packte die Kiste mit der Langleine und landete mit einem Satz auf der Bootskante, worauf das Boot heftig wippte, die Kiste mit der Langleine umkippte und die Hälfte ihres Inhalts sich in der Rudergabel und dem Anker verfing. »Ausgezeichnet«, sagte der Snork. »Ganz ausgezeichnet. Seefest, verhält sich vorschriftsmäßig ruhig im Boot, und all das. Und natürlich – Respekt vor anderer Leute Arbeit. Ha!« »Willst du ihn denn nicht ausschimpfen?«, fragte der Hemul verwundert. »Schimpfen? Ich?« Der Snork lachte düster. »Seit wann hat der Kapitän was zu sagen? Werft die Leine einfach ins Wasser, irgendwas wird schon hängen bleiben.« Und damit verkroch sich der Snork unter der Achterbank und zog sich eine Persenning über den Kopf. »Allerhand«, sagte Mumin. »Schnupferich, übernimm du die Ruder, dann entwirren wir so lange dieses elende Durcheinander. Schnüferl, du bist ein Esel.« »Ja, stimmt«, sagte das Schnüferl dankbar. »An welchem Ende fangen wir an?«
»In der Mitte«, entschied Mumin. »Aber pass auf, dass du deinen Schwanz nicht auch noch reinverwickelst!« Und dann ruderte der Schnupferich das »Abenteuer« langsam aufs Meer hinaus. Während all dies geschah, ging die Muminmutter durch ihr Haus und war sehr guter Dinge. Der Regen rauschte sanft auf den Garten herab. Überall herrschte Ruhe, Ordnung und Stille. »Jetzt wird es aber wachsen!«, sagte die Muminmutter zu sich selbst. »Ach, tut das gut, sie alle in der Höhle zu wissen!« Sie bekam Lust, ein wenig aufzuräumen, und begann Strümpfe, Orangenschalen, seltsame Steine, Rindenstückchen und Ähnliches einzusammeln. In der Spieldose entdeckte sie ein paar Grünpflanzen, die der Hemul vergessen hatte, in seine Pflanzenpresse zu legen. Die Muminmutter drehte sie zu einem Knäuel zusammen, während sie gedankenverloren dem leisen Rauschen des Regens lauschte. »Jetzt wird es aber wachsen!«, wiederholte sie und ließ das Knäuel fallen. Es fiel direkt in den Hut des Zauberers, doch das merkte die Muminmutter nicht. Sie zog sich in ihr
Zimmer zurück, um ein Schläfchen zu machen, sie liebte es nämlich über alles, beim Geräusch des Regens, der aufs Dach fiel, einzuschlafen. Aber in der Meerestiefe lauerte die Langleine des Snorks. Sie lag schon seit ein paar Stunden dort und lauerte, und das Snorkfräulein kam fast um vor Langweile. »Es geht um die Spannung«, erklärte Mumin. »Immerhin kann an jedem Haken was dranhängen.« Das Snorkfräulein seufzte leicht. »Aber trotzdem«, sagte sie. »Wenn man den Haken runterlässt, steckt ein halber Köderfisch dran, und wenn man ihn wieder raufzieht, hängt da bloß ein ganzer Barsch. Man weiß doch, dass da ein ganzer Barsch dranhängt.« »Oder überhaupt nichts!«, sagte der Schnupferich. »Oder ein Knurrhahn«, sagte der Hemul. »Frauenzimmer verstehen so was eben nicht«, entschied der Snork. »Jetzt können wir mit dem Einholen beginnen. Aber dass mir niemand schreit dabei. Langsam! Immer schön langsam!« Der erste Haken kam herauf. Er war leer.
Der zweite Haken kam herauf. Er war ebenfalls leer. »Das beweist bloß, dass die Fische tief unten sind«, sagte der Snork. »Dafür sind sie umso größer. So, und jetzt seid bitte still.« Er zog noch vier weitere leere Haken herauf und sagte: »So ein Schlaumeier. Holt sich einfach sämtliche Köder. Muss ja riesig sein.« Alle hingen über die Reling und starrten in die schwarze Tiefe, in der die Langleine verschwand. »Was ist das wohl für ein Fisch?«, fragte das Schnüferl. »Mindestens ein Mameluk«, sagte der Snork. »Bitte sehr, noch zehn leere Haken!« »Ach ja, ach ja«, seufzte das Snorkfräulein. »Von wegen ach ja, ach ja!«, fuhr ihr Bruder sie an und zog weiter an der Leine. »Seid gefälligst still, sonst verscheucht ihr ihn!« Haken um Haken kam in die Langleinenkiste. Büschel aus Seegras und Tang. Kein Fisch. Kein einziger. Plötzlich schrie der Snork: »Aufgepasst! Er hat angebissen! Ich bin ganz sicher, dass er angebissen hat!« »Der Mameluk!«, schrie das Schnüferl. »Jetzt müsst ihr euch zusammennehmen«,
sagte der Snork mit erkämpfter Ruhe. »Totenstille! Hier kommt er!« Die Leine war nicht mehr so straff gespannt, aber tief unten im grünen Dunkel schimmerte etwas Weißes. Vielleicht der blasse Bauch des Mameluks? Wie ein Bergrücken erhob sich etwas aus der geheimnisvollen Landschaft des Meeresgrunds und näherte sich der Wasseroberfläche … etwas Gewaltiges, Bedrohliches, Unbewegliches. Grün und bemoost wie der Stamm eines Riesenbaumes glitt es unter dem Boot herauf. »Der Kescher!«, schrie der Snork. »Wo ist der Kescher!« Und im selben Augenblick wurde die Luft von lautem Dröhnen und weißem Schaum erfüllt. Eine ungeheure Woge hob das »Abenteuer« auf ihren Kamm und schleuderte die Langleinenkiste umgekippt auf die Bootsplanken. Dann wurde es genauso plötzlich wieder ruhig. Nur die abgerissene Leine baumelte melancholisch über die Bordkante und riesige Wasserwirbel zeigten den Weg des Ungeheuers an. »Na, glaubst du immer noch, dass es ein Barsch war?«, fragte der Snork seine
Schwester mit einem sehr eigenartigen Tonfall. »Einen solchen Fisch kriege ich nie mehr. Und richtig froh werde ich auch nie mehr.« »An dieser Stelle ist sie gerissen«, sagte der Hemul und hielt die Leine hoch. »Irgendwas sagt mir, dass sie zu dünn war.« »Hast du noch mehr Weisheiten auf Lager?«, sagte der Snork und hielt sich die Pfote vor die Augen. Der Hemul wollte etwas entgegnen, doch da versetzte der Schnupferich ihm einen Tritt ans Schienbein. Im Boot wurde es ganz still. Dann sagte das Snorkfräulein vorsichtig: »Vielleicht sollten wir noch einen Versuch machen? Die Fangleine wird bestimmt halten.« Der Snork schnaubte nur. Nach einer Weile murmelte er: »Und was ist mit dem Haken?« »Dein Taschenmesser«, sagte das Snorkfräulein. »Wenn du beide Klingen herausklappst und den Schraubenzieher und den Pfriemen, dann wird er doch wohl irgendwo hängen bleiben!?« Der Snork nahm die Pfote von den Augen und sagte: »Ja, aber der Köder?« »Der Pfannkuchen«, sagte seine Schwester. Der Snork ließ sich die Sache eine Weile
durch den Kopf gehen, während alle vor Spannung die Luft anhielten. Schließlich sagte er: »Falls der Mameluk überhaupt Pfannkuchen frisst«, und da war klar, dass die Jagd weitergehen würde. Das Taschenmesser wurde mit einem Stück Draht, das der Hemul in der Tasche hatte, an der Fangleine festgebunden, der Pfannkuchen wurde auf das Messer gespießt und alles schließlich ins Meer gesenkt. Sie warteten schweigend. Plötzlich wippte das »Abenteuer«. »Psssttt!«, machte der Snork. »Er hat angebissen!« Das Boot schwankte noch einmal, diesmal stärker. Und dann kam ein heftiger Ruck, der die ganze Gesellschaft zu Boden schleuderte. »Hilfe!«, schrie das Schnüferl. »Er frisst uns auf!« Das »Abenteuer« tauchte die Nase ins Wasser, richtete sich dann wieder auf und schoss in wilder Fahrt aufs Meer hinaus. Die Fangleine lag gespannt wie eine Saite vor dem Boot, und wo sie ins Wasser verschwand, erhoben sich zwei weiße Schaumbärte. Offenbar mochte der Mameluk Pfannkuchen.
»Ruhe!«, schrie der Snork. »Ruhe an Bord! Jeder Mann auf seinen Posten!« »Hoffentlich taucht er nicht!«, rief der Schnupferich, der an den Bug vorgekrochen war. Doch der Mameluk preschte geradeaus, immer weiter aufs Meer hinaus. Bald lag der Strand wie ein schmaler Streifen hinter ihnen. »Wie lange hält er das wohl durch?«, fragte der Hemul. »Notfalls müssen wir die Fangleine durchschneiden«, sagte das Schnüferl. »Sonst müsst ihr es auf eure Kappe nehmen«. »Niemals!«, rief das Snorkfräulein und schüttelte ihre Stirnfransen. Jetzt ließ der Mameluk seinen gewaltigen Schwanz durch die Luft wirbeln, schwenkte um und steuerte wieder auf die Küste zu. »Er wird schon etwas langsamer«, schrie Mumin, der hinten im Boot kniete und das Kielwasser im Auge behielt. »Ich glaube, er wird allmählich müde!« Der Mameluk war müde, aber gleichzeitig auch wütender. Er zerrte an der Leine, schoss hin und her und versetzte das »Abenteuer« in geradezu lebensgefährliches Schwanken. Manchmal verhielt er sich ganz ruhig, um sie
zu täuschen, dann zischte er wieder mit solcher Kraft davon, dass die Wellen über den Bug hereinschlugen. Da holte der Schnupferich seine Mundharmonika heraus und spielte das Jagdlied und die andern stampften den Takt dazu, dass die Bodenplanken bebten. Und siehe da! Im selben Moment streckte der Mameluk seinen riesigen Bauch in die Luft. Ein größerer Mameluk ward noch nie gesehen. Sie betrachteten ihn schweigend. Dann sagte der Snork: »Ich hab ihn doch noch erwischt!« »Ja!«, sagte seine Schwester stolz. Während sie den Mameluk an Land bugsierten, nahm der Regen zu. Das Kleid des Hemuls war durchnässt, und der Hut des Schnupferichs hatte ganz und gar seine Form verloren. »In der Höhle ist es jetzt wahrscheinlich ziemlich nass«, sagte Mumin, der frierend an den Rudern saß. »Mutter macht sich vielleicht Sorgen«, fügte er nach einer Weile hinzu. »Du meinst also, dass wir sozusagen jetzt irgendwann wieder nach Hause können?«, fragte das Schnüferl. »Ja, um den Fisch zu zeigen«, sagte der Snork.
»Wir gehen nach Hause!«, entschied der Hemul. »Manchmal sind ungewöhnliche Sachen ja ganz gut. Ich meine, unheimliche Geschichten und nass werden und allein mit allem fertig werden und so. Aber auf die Dauer ist das alles einfach nicht gemütlich.« Sie hatten Bretter unter den Mameluk geschoben und trugen ihn jetzt mit vereinten Kräften durch den Wald. Das aufgerissene Maul war so groß, dass sich die Zweige der Bäume in seinen Zähnen verhakten, und er war so ungeheuer schwer, dass sie bei jeder Wegbiegung ausruhen mussten. Inzwischen goss es wie aus Kübeln. Als sie das Mumintal erreichten, war das Haus vor lauter Regen nicht zu sehen. »Wir lassen ihn kurz hier liegen«, schlug das Schnüferl vor. »Nie im Leben«, sagte Mumin empört. Also gingen sie weiter, bis sie in den Garten kamen. Plötzlich blieb der Snork stehen und sagte: »Wir haben uns verlaufen.« »Unsinn«, sagte Mumin. »Dort steht doch der Holzschuppen und da unten ist die Brücke.« »Ja, aber wo ist das Haus?«, fragte der Snork. Seltsam, sehr seltsam. Das Muminhaus war
verschwunden. Es war ganz einfach nicht mehr da. Sie legten den Mameluk in den Goldsand vor der Treppe. Das heißt, die Treppe gab es auch nicht mehr. Stattdessen … Aber vorher muss berichtet werden, was im Mumintal geschehen war, während Mumin und seine Freunde sich auf Mamelukenjagd befanden. Wie schon erwähnt, hatte die Muminmutter sich zum Schlafen zurückgezogen. Aber kurz davor hatte sie die Grünpflanzen des Hemuls zu einem Ball zusammengedreht und in den Hut des Zauberers fallen gelassen. Wenn sie nur nie aufgeräumt hätte! Während das Haus im nachmittäglichen Schlummer dalag, begannen die Grünpflanzen nämlich auf verzauberte Art zu wachsen. Langsam schlängelten sie sich aus dem Hut des Zauberers heraus und krochen auf den Boden hinunter. Ranken und Triebe tasteten sich an den Wänden hinauf, kletterten an Vorhängen und Kaminklappenschnüren hoch, wanden sich durch Ritzen, Ventile und Schlüssellöcher hindurch. In der feuchten Luft öffneten sich Blütenknospen und Früchte reiften mit gespenstischer Geschwindigkeit heran. Riesige Blattbüschel wanderten die
Treppe hinauf, Schlingpflanzen krochen zwischen den Tischbeinen umher und hingen wie Schlangennester von den Deckenlampen herab. Das Wachstum erfüllte das Haus mit einem leisen Rascheln, manchmal ließ sich ein ganz zarter Knall vernehmen, wenn eine Riesenblüte aufsprang oder eine Frucht auf den Teppich plumpste. Aber die Muminmutter sagte sich, das sei bloß der Regen, drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter. Im Zimmer nebenan saß der Muminvater und schrieb seine Memoiren. Seit er den Bootssteg gebaut hatte, war nichts Aufregendes mehr passiert, über das er hätte schreiben können, daher war der Muminvater dazu übergegangen, stattdessen seine Kindheit zu beschreiben. Dabei wurde er so gerührt, dass er fast weinen musste. Er war immer ein ungewöhnliches und begabtes Kind gewesen, das von niemandem verstanden worden war. Als er älter wurde, war er genauso unverstanden und hatte es in jeder Hinsicht schrecklich schwer. Der Muminvater schrieb und schrieb und stellte sich vor, wie alle ihr Verhalten bereuen würden, wenn sie seine Memoiren lasen. Da wurde er wieder guter
Laune und sagte sich: »Geschieht ihnen recht!« Im selben Augenblick kullerte eine Pflaume aufs Papier herab und hinterließ einen großen blauen Fleck. »Bei meinem Schwanz!«, rief der Muminvater aus. »Jetzt sind die Kinder wieder da!« Doch als er sich umdrehte, starrte er in ein von gelben Beeren übersätes Gestrüpp hinein. Er fuhr hoch, worauf sofort eine Menge blauer Pflaumen auf den Schreibtisch herabregnete. Über die Zimmerdecke erstreckte sich ein dichtes Geäst, das langsam immer größer wurde und seine grünen Triebe dem Fenster entgegenstreckte. »Hallo!«, schrie der Muminvater. »Wach auf! Komm her!« Die Muminmutter fuhr hoch. Voller Staunen betrachtete sie ihr Zimmer. Es war voller weißer kleiner Blumen, die an zarten Fäden herabhingen, und zwischen jeder Blüte saßen zierliche Blattrosetten. »Oh, wie schön«, sagte die Muminmutter. »Bestimmt hat Mumin sich das hier ausgedacht, um mir eine Freude zu machen.« Vorsichtig schob sie den dünnen
Blumenvorhang beiseite und stieg aus dem Bett. »Hallo!«, schrie der Muminvater hinter der Wand. »Mach auf! Ich komme hier nicht mehr raus!« Die Muminmutter versuchte vergeblich die Tür aufzuschieben. Die kräftigen Stämme der Schlingpflanzen hatten sie hoffnungslos verbarrikadiert. Da schlug die Muminmutter das Fenster in der Tür zum Treppenhaus ein und krabbelte mühsam durch das Loch. Über der Treppe rankten sich Feigenbäume, und das Wohnzimmer war der reinste Urwald. »Ojemine«, sagte die Muminmutter. »Da steckt natürlich wieder dieser Zauberhut dahinter.« Dann setzte sie sich hin und fächelte sich mit einem Palmenblatt die Stirn. Der Bisam tauchte aus dem Farnkrautwald des Badezimmers auf und bemerkte mit kläglicher Stimme: »Da sieht man mal wieder, was das Pflanzensammeln für Folgen hat! Ich hab diesem Hemul nie so recht über den Weg getraut!« Und die Lianen wuchsen zum Schornstein hinaus, kletterten übers Dach und hüllten das ganze Muminhaus in einen üppigen grünen Teppich.
Aber draußen im Regen stand Mumin und starrte den großen grünen Hügel an, auf dem Blüten unaufhörlich ihre Kelche öffneten und Früchte von Grün zu Gelb und von Gelb zu Rot heranreiften. »Hier lag es jedenfalls mal«, stellte das Schnüferl fest. »Es ist mittendrin«, sagte Mumin düster. »Da kommt niemand rein und niemand raus. Nie mehr!« Der Schnupferich trat näher und schnupperte voller Interesse. Keine Fenster, keine Tür. Nichts als ein dichter, wilder Teppich aus rankenden Pflanzen. Er packte eine der Ranken und zog daran. Sie war zäh wie Gummi und ließ sich partout nicht abreißen, dafür schlang sie ganz nebenher einen Trieb um seinen Hut und hob ihn hoch. »Schon wieder Zauberei«, sagte der Schnupferich. »Das wird allmählich lästig.« Währenddessen rannte das Schnüferl um die zugewachsene Veranda. »Das Kellerfenster!«, schrie es. »Das Kellerfenster ist offen!« Mumin kam angestürzt und spähte in das schwarze Loch hinein. »Los, nichts wie rein«, sagte er entschlossen.
»Aber schnell, bevor es hier auch zuwächst!« Also krochen sie einer nach dem andern in den dunklen Keller hinunter. »He!«, schrie der Hemul, der als Letzter an der Reihe war. »Ich passe da nicht durch!« »Dann musst du eben draußen bleiben und auf den Mameluk aufpassen«, sagte der Snork. »Du kannst ja so lange das ganze Haus botanisieren.« Und während der arme Hemul draußen im Regen vor sich hin brummte, tasteten die andern sich die Kellertreppe hinauf. »Wir haben Glück«, sagte Mumin. »Die Tür ist offen. Da sieht man, wie gut es ist, wenn man nicht immer so ordentlich ist!« »Das war ich. Ich hab vergessen, sie abzuschließen«, sagte das Schnüferl, »also habt ihr es mir zu verdanken!« Als sie heraufkamen, bot sich ihnen ein bemerkenswerter Anblick. Der Bisam saß in einer Astgabel und futterte Birnen. »Wo ist Mutter?«, fragte Mumin. »Sie versucht deinen Vater aus seinem Zimmer herauszuhauen«, sagte der Bisam bitter. »Hoffentlich ist der Bisamhimmel ein friedlicher Ort, mit mir ist es nämlich bald vorbei!«
Sie horchten. Gewaltige Axthiebe ließen das Laubwerk ringsum erzittern. Ein lautes Krachen, dann ein Freudenschrei. Der Muminvater war befreit! »Mutter! Vater!«, schrie Mumin und bahnte sich einen Weg durch den Urwald bis zur Treppe. »Was habt ihr während meiner Abwesenheit bloß angestellt?« »Ja, mein liebes Kind«, sagte die Muminmutter. »Wahrscheinlich waren wir wieder mal nicht vorsichtig genug mit dem Hut des Zauberers. Aber kommt doch herauf. Ich hab im Wandschrank einen Brombeerbusch entdeckt!« Es wurde ein wundervoller Nachmittag. Sie spielten ein Urwaldspiel, in dem Mumin Tarzan war und das Snorkfräulein Tarzans Freundin Jane. Das Schnüferl durfte Tarzans Sohn sein, und der Schnupferich spielte den Schimpansen Cheeta. Der Snork hatte sich ein Gebiss aus Apfelsinenschalen gemacht*. Jetzt kroch er damit durchs Unterholz und stellte ganz allgemein den Feind dar. »Tarzan hungry«, sagte Mumin und kletterte an einer Liane hoch. »Tarzan eat now!« *
Frag deine Mutter; die weiß, wie man das macht. – Anmerkung d. Autors.
»Was sagt er?«, fragte das Schnüferl. »Er sagt, dass er jetzt essen wird«, erklärte das Snorkfräulein. »Das ist Englisch und das Einzige, was er kann. Alle, die in den Urwald kommen, sprechen Englisch.« Oben auf dem Kleiderschrank stieß Tarzan sein Urwaldgebrüll aus, das sofort von Jane und seinen wilden Freunden beantwortet wurde. »Na, schlimmer als so kann es jedenfalls nicht werden«, murmelte der Bisam. Er hatte sich im Farnkrautwald versteckt und sich ein Handtuch um den Kopf gewickelt, damit ihm nichts in die Ohren wuchs. »Jetzt entführe ich Jane!«, rief der Snork und schleppte das Snorkfräulein am Schwanz in seine Höhle unter dem Wohnzimmertisch. Als Mumin in sein Nest im Kronleuchter zurückkam, entdeckte er sofort, was passiert war. An einer raffiniert verknoteten Liane ließ er sich zum Boden herab, brachte den Dschungel mit seinem Kriegsruf zum Erzittern und stürzte hervor, um Jane zu retten. »Ojemine«, seufzte die Muminmutter. »Aber immerhin scheinen sie sich zu amüsieren.« »Das tu ich auch«, sagte der Muminvater. »Gib mir doch bitte eine Banane.«
Auf diese Art verging die Zeit äußerst vergnüglich bis zum Abend. Die Kelletür wuchs zu, doch das kümmerte niemand, und an den armen Hemul dachte auch niemand. Der Hemul saß immer noch in seinem klatschnassen Kleid draußen und hütete den Mameluk. Ab und zu aß er einen Apfel oder zählte die Staubgefäße einer Urwaldblume, aber die meiste Zeit seufzte er nur. Der Regen hatte aufgehört und es begann zu dämmern. Und im selben Augenblick, als die Sonne unterging, geschah etwas mit dem grünen Hügel, der das Muminhaus umschloss. Genauso schnell, wie er gewachsen war, begann er jetzt zu welken. Die Früchte schrumpften und fielen zu Boden. Die Blumen ließen die Köpfe hängen und die Blätter rollten sich zusammen. Erneut war das ganze Haus von Rascheln und Knistern erfüllt. Der Hemul sah ein Weilchen zu, dann ging er hin und zog leicht an einem Zweig. Der Zweig brach sofort ab und war trocken wie Zunder. Da hatte der Hemul eine Idee. Er sammelte einen hohen Haufen aus Reisig und Ästen, ging zum Holzschuppen, holte Streichhölzer und zündete dann mitten auf dem Gartenweg ein flammendes Feuer an.
Froh und zufrieden setzte sich der Hemul neben das Feuer und trocknete sein Kleid. Nach einer Weile kam ihm noch eine Idee. Mit überhemulischen Kräften zog er den Schwanz des Mameluken ins Feuer. Gebratener Fisch war sein Lieblingsessen. Nachdem die Muminfamilie und ihre ausgelassenen Freunde sich einen Weg durch die Veranda gebahnt und die Tür aufgestoßen hatten, erblickten sie daher einen sehr glücklichen Hemul, der bereits ein Siebtel des Mameluks aufgegessen hatte. »Du bist doch ein rechtes Mondkalb!«, sagte der Snork. »Jetzt hab ich meinen Fisch nicht wiegen können!« »Du kannst mich ja wiegen und das dazuzählen«, schlug der Hemul vor, der heute einen seiner hellen Tage hatte. »So, und jetzt verbrennen wir den Urwald!«, entschied der Muminvater, worauf sie das ganze Gestrüpp aus dem Haus herausschleppten und das größte Feuer machten, das jemals im Mumintal gesehen wurde. Dann brieten sie den Mameluk seiner ganzen Länge nach in der Glut und aßen ihn bis zur Nasenspitze auf. Aber noch lange danach
stritten sie darüber, wie lang er gewesen sei – von der Treppe bis hinunter zum Holzschuppen oder nur bis zu den Fliederbüschen?
Sechstes Kapitel
An einem frühen Morgen Anfang August kamen Tofsla und Vifsla über den Berg gewandert, ungefähr an derselben Stelle, wo das Schnüferl den Hut des Zauberers gefunden hatte. Auf dem Gipfel blieben sie stehen und schauten hinunter ins Mumintal. Tofsla hatte eine rote Mütze auf dem Kopf und Vifsla trug einen großen Koffer. Sie hatten einen sehr weiten Weg hinter sich und waren ziemlich müde. Zwischen den Birken und Apfelbäumen zu ihren Füßen stieg morgendlicher Rauch aus dem Schornstein des Muminhauses. »Ein Rauchsla«, sagte Vifsla. »Da wird etwas gekochselt«, sagte Tofsla und nickte. Dann machten sie sich auf den Weg hinunter ins Tal und unterhielten sich dabei auf jene seltsame Art, die nur den Tofslas und Vifslas eigen ist und nicht von allen verstanden wird, aber die Hauptsache war ja, dass sie selbst wussten, um was es
ging. »Glaubselst du, dass wir reinkommseln dürfseln?«, fragte Tofsla. »Kommselt drauf an«, sagte Vifsla. »Habsla keine Angst, wenn sie bösla sind.« Sehr vorsichtig huschten sie zum Haus hinüber und blieben schüchtern vor der Treppe stehen. »Trauen wir uns anzuklopfseln?«, fragte Tofsla. »Was ist, wenn jemand rauskommselt und schreiselt?« Im selben Augenblick streckte die Muminmutter den Kopf zum Fenster heraus und schrie: »Kaffee!« Tofsla und Vifsla erschraken so fürchterlich, dass sie sich durch die Luke in den Kartoffelkeller stürzten. »Ih«, rief die Muminmutter aus und fuhr zusammen. »Da sind bestimmt zwei Ratten soeben in den Keller geschlüpft. Schnüferl, lauf runter und bring ihnen ein bisschen Milch.« Dann erblickte sie den Koffer, der noch vor der Treppe stand. »Auch noch Gepäck«, sagte sie. »Ojemine. Dann bleiben sie hier.« Und damit machte sie sich auf die Suche nach dem Muminvater, weil sie ihn bitten
wollte, noch zwei weitere Betten zu machen. Aber nur zwei sehr, sehr kleine. Unterdes hatten Tofsla und Vifsla sich so tief in den Kartoffeln vergraben, dass nur noch ihre Augen zu sehen waren, und dort warteten sie voller Entsetzen darauf, was nun mit ihnen geschehen würde. »Jedenfalls kochseln sie Kaffsla«, murmelte Vifsla. »Jetzt kommselt jemand!«, flüsterte Tofsla. »Keinsla Mucksla!« Die Kellertür knarrte. Auf der obersten Treppenstufe stand das Schnüferl und hielt in der einen Pfote eine Laterne und in der anderen einen Teller Milch. »Hallo! Wo seid ihr?«, rief das Schnüferl. Tofsla und Vifsla krochen noch tiefer und hielten einander ganz fest. »Wollt ihr ein bisschen Milch?«, rief das Schnüferl etwas lauter. »Der will uns reinlegseln«, flüsterte Vifsla. »Wenn ihr glaubt, ich habe vor, den halben Tag hier rumzustehen, dann täuscht ihr euch«, sagte das Schnüferl verärgert. »Entweder seid ihr böse oder dumm. Ein paar doofe alte Ratten, die nicht mal genügend Verstand haben, um durch die Haustür reinzukommen!«
Doch da sagte Vifsla ernsthaft gekränkt: »Selbstla Rattsla!« »Aha, auch noch Ausländer«, sagte das Schnüferl. »Da hole ich lieber die Muminmutter.« Er schloss die Kellertür ab und rannte in die Küche. »Na, wollten sie die Milch haben?«, fragte die Muminmutter. »Sie sprechen Ausländisch«, sagte das Schnüferl. »Unmöglich zu verstehen, was die sagen!« »Wie klang das?«, fragte Mumin, der mit dem Hemul am Küchentisch saß und Kümmel kleinstieß. »Selbstla Rattsla«, sagte das Schnüferl. Die Muminmutter seufzte. »Na, dann gute Nacht!«, sagte sie. »Wie soll ich jetzt rausfinden, was sie sich an ihrem Geburtstag zum Nachtisch wünschen oder wie viele Kissen sie unterm Kopf haben wollen!« »Wir müssen eben ihre Sprache lernen«, meinte Mumin. »Es klingt nicht schwierig. Attsla, uttsla, ittsla.« »Ich glaube, ich verstehe sie«, sagte der Hemul nachdenklich. »Wahrscheinlich haben sie dem Schnüferl gesagt, dass er eine alte
kahle Ratte ist.« Das Schnüferl wurde rot und warf den Kopf in den Nacken. »Dann sprich doch du mit ihnen, wenn du so schlau bist!«, sagte er. Der Hemul trottete zur Kellertreppe hinüber und rief freundlich: »Willkommsla, Willkommsla!« Tofsla und Vifsla streckten die Köpfe aus dem Kartoffelhaufen und guckten ihn an. »Milchsla! Gutsla!«, fuhr der Hemul fort. Da huschten Tofsla und Vifsla die Treppe hinauf und ins Wohnzimmer hinein. Das Schnüferl sah sie an und stellte fest, dass sie viel kleiner waren als er selbst. Das stimmte ihn gleich etwas freundlicher. Herablassend sagte er: »Hallo. Nett, euch zu sehen.« »Danksla gleichfallsla!«, sagte Tofsla. »Kochselt ihr Kaffsla?«, fragte Vifsla. »Was haben sie jetzt gesagt?«, erkundigte sich die Muminmutter. »Sie haben Hunger«, sagte der Hemul. »Aber von Schnüferls Aussehen halten sie immer noch nicht besonders viel.« »Dann kannst du ihnen ausrichten«, sagte das Schnüferl aufgebracht, »dass ich in meinem
ganzen Leben noch keine solche Milchsuppengesichter gesehen habe!« »Schnüferl bösla«, erklärte der Hemul. »Dummsla!« »Bitte kommt doch herein und trinkt mit uns Kaffee«, sagte die Muminmutter nervös und zeigte Tofsla und Vifsla den Weg zur Veranda. Der Hemul kam hinterher, sehr stolz auf seinen neuen Rang als Dolmetscher. Und so wurden Tofsla und Vifsla in den Haushalt der Muminfamilie aufgenommen. Sie machten nicht viel Wesens, liefen meistens nur Hand in Hand herum. Den Koffer hatten sie stets überall mit dabei. Aber als die Dämmerung kam, wurden sie spürbar unruhig, rannten die Treppe rauf und runter und versteckten sich unterm Teppich. »Was istla denn losla?«, erkundigte sich der Hemul. »Die Morra kommselt!«, flüsterte Vifsla. »Die Morra? Wer ist das denn?«, fragte der Hemul leicht erschrocken. Tofsla riss die Augen auf, bleckte die Zähne und versuchte sich so groß wie möglich zu machen. »Grausamsla!«, sagte Vifsla. »Türsla schließelen vor der Morra!« Der Hemul lief
zur Muminmutter und sagte: »Sie behaupten, dass eine grausame Morra hierher kommt. Wir müssen nachts sämtliche Türen abschließen!« »Aber wir haben doch bloß einen einzigen Schlüssel – den für die Kellertür«, sagte die Muminmutter besorgt. »Ach, diese Ausländer.« Und damit ging sie zum Muminvater, um die Angelegenheit mit ihm zu besprechen. »Wir müssen uns bewaffnen und Möbel vor die Türen schieben«, sagte der Muminvater. »So eine grausame Morra kann gefährlich sein. Ich werde im Wohnzimmer eine Alarmglocke anbringen, und Tofsla und Vifsla dürfen unter meinem Bett schlafen.« Aber Tofsla und Vifsla hatten sich bereits in einer Schublade verkrochen und weigerten sich, herauszukommen. Kopfschüttelnd ging der Muminvater zum Holzschuppen, um seine Flinte zu holen. Draußen hatte sich schon die dunkle Sommernacht über den Garten gesenkt und ihn mit samtschwarzen Schatten gefüllt. Vom Wald kam düsteres Rauschen, und die Glühwürmchen waren mit ihren Taschenlampen unterwegs. Ein klein wenig unheimlich war es dem
Muminvater dann doch, als er hinausging, um die Flinte zu holen. Wenn diese Morra jetzt hinter irgendeinem Busch lauerte? Man wusste ja nicht einmal, wie sie aussah. Und vor allem nicht, wie groß sie war. Als der Muminvater wieder auf die Veranda kam, schob er das Sofa vor die Tür und sagte: »Das Licht muss die ganze Nacht brennen! Jeder von uns muss in Alarmbereitschaft sein, und der Schnupferich muss heute Nacht im Haus schlafen.« Es war unerträglich spannend. Der Muminvater klopfte an die Schublade in der Kommode und sagte: »Wir werden euch beschützen!« Aber in der Schublade blieb alles still. Da zog der Muminvater sie heraus, um nachzuschauen, ob Tofsla und Vifsla schon entführt worden waren. Aber sie lagen friedlich schlafend da, neben sich hatten sie ihren Koffer. »Vielleicht gehen wir doch schlafen«, sagte er. »Aber ein jeder muss sich bewaffnen!« Eifrig redend zogen sie sich ängstlich in ihre Zimmer zurück, und nach und nach breitete sich Stille im Muminhaus aus. Nur die Petroleumlampe brannte einsam auf dem Wohnzimmertisch.
Es schlug zwölf, und es schlug eins. Kurz nach zwei wachte der Bisam auf und merkte, dass er hinausmusste. Verschlafen tappte er auf die Veranda hinaus. Dort blieb er verblüfft vor dem Sofa stehen, das die Tür versperrte und sehr schwer war. »Was für Einfälle«, murmelte der Bisam und zog aus Leibeskräften an dem Sofa. Worauf die Alarmglocke, die der Muminvater angebracht hatte, natürlich losschrillte. Im Nu war das Haus voll von Geschrei, Flintenschüssen und dem Getrampel vieler Füße. Alle kamen mit Äxten, Scheren, Steinen, Spaten, Messern und Harken bewaffnet ins Wohnzimmer gestürzt. Als sie den Bisam erblickten, blieben sie stehen und starrten ihn an. »Wo ist die Morra?«, schrie Mumin. »Quatsch, das war doch ich«, sagte der Bisam ärgerlich. »Ich wollte nur kurz hinaus, um mich zu erleichtern. Eure alberne Morra hatte ich ganz vergessen.« »Na, dann geh jetzt sofort hinaus«, sagte der Snork. »Aber mach das nicht noch einmal!« Und damit riss er die Verandatür weit auf. Da – sahen sie die Morra. Jeder von ihnen sah sie. Regungslos saß die Morra unterhalb
der Treppe auf dem Gartenweg und starrte sie mit runden, ausdruckslosen Augen an. Sie war nicht besonders groß und allzu gefährlich sah sie auch nicht aus. Man spürte bloß, dass sie entsetzlich böse war und unendlich lange warten konnte. Und das war sehr unheimlich. Niemand griff sie an. Sie blieb eine Zeitlang sitzen, dann glitt sie in die Dunkelheit des Gartens davon. Aber an der Stelle, wo sie gesessen hatte, war der Boden gefroren. Der Snork schloss die Tür und schüttelte sich. »Arme Tofsla und Vifsla«, sagte er. »Hemul, schau mal nach, ob sie wach sind.« Sie waren wach. »Ist sie fortsla?«, fragte Vifsla. »Schlaftla ruhigsla weiter«, sagte der Hemul. Tofsla seufzte leicht und sagte: »Ein Glücksel!« Und dann verzogen sie sich mit dem Koffer in die hinterste Ecke der Schublade, um weiterzuschlafen. »Kann man jetzt wieder ins Bett gehen?«, fragte die Muminmutter und stellte die Axt weg. »Tu das ruhig«, sagte Mumin. »Der
Schnupferich und ich bleiben wach und passen auf, bis die Sonne aufgeht. Aber leg deine Tasche sicherheitshalber unters Kopfkissen.« Also blieben die beiden allein im Wohnzimmer, wo sie bis zum Morgen Poker spielten. Und von der Morra war in dieser Nacht nichts mehr zu hören. Am nächsten Morgen kam der Hemul bekümmert in die Küche und sagte: »Ich hab mit Tofsla und Vifsla gesprochen.« »Und, was ist denn jetzt schon wieder?«, fragte die Muminmutter mit einem Seufzer. »Die Morra ist hinter dem Koffer der beiden her«, teilte der Hemul mit. »So ein Untier!«, rief die Muminmutter aus. »Wie kann man ihnen nur ihre kleinen Habseligkeiten wegnehmen wollen!« »Ja, nicht wahr«, sagte der Hemul. »Da ist nur eins, das die Sache etwas kompliziert macht. Es sieht ganz danach aus, dass der Koffer der Morra gehört.« »Hm«, machte die Muminmutter. »Das macht das Ganze tatsächlich schwieriger. Am besten, wir reden mit dem Snork, der kann immer alles so gut ordnen und klären.« Der Snork interessierte sich sehr dafür. »Ein bemerkenswerter Fall«, sagte er.
»Darüber müssen wir eine Sitzung abhalten. Alle treffen sich um drei Uhr bei den Fliederbüschen, um die Angelegenheit zu erörtern.« Es war ein schöner, warmer Nachmittag, voller Düfte und Bienen. Der Garten leuchtete bunt wie ein Verlobungsstrauß in den üppigen Farben des Spätsommers. Die Hängematte des Bisams war zwischen den Büschen aufgespannt und mit einem Plakat versehen, auf dem zu lesen stand: Ankläger der Morra. Der Snork selbst saß wartend auf einer Kiste und hatte eine Perücke aus Holzwolle aufgesetzt. Man sah sofort, dass er der Richter war. Ihm gegenüber saßen Tofsla und Vifsla hinter einem Brett, das ganz eindeutig den Stand der Angeklagten darstellte. »Ich bitte darum, ihr Ankläger sein zu dürfen«, sagte das Schnüferl (das nicht vergessen hatte, dass Tofsla und Vifsla ihn eine kahle alte Ratte genannt hatten). »Dann bin ich ihr Verteidiger«, erklärte der Hemul. »Und ich?«, fragte das Snorkfräulein. »Du bist die Stimme des Volkes«, sagte ihr
Bruder. »Die Muminfamilie stellt die Zeugen. Was den Schnupferich betrifft, kann er das Protokoll über die Gerichtsverhandlung führen. Aber bitte ordentlich!« »Fragt sich nur, warum die Morra keinen Verteidiger hat«, sagte das Schnüferl. »Nicht nötig«, sagte der Snork. »Die Morra ist im Recht. Also, seid ihr so weit? Auf die Plätze. Wir fangen an.« Er klopfte dreimal mit einem Hammer auf die Kiste. »Begreifselst du wasla?«, fragte Tofsla. »Keinsla bissla«, sagte Vifsla und blies einen Kirschkern auf den Richter. »Ihr dürft euch erst äußern, wenn ich es sage«, erklärte der Snork. »Ja oder nein. Sonst nichts. Gehört besagter Koffer euch oder der Morra?« »Jasla!«, sagte Tofsla. »Neinsla!«, sagte Vifsla. »Schreib auf, dass sie sich widersprechen!«, schrie das Schnüferl. Der Snork klopfte auf die Kiste. »Ruhe!«, rief er. »Jetzt frage ich zum letzten Mal, wem der Koffer gehört.« »Unsla!«, sagte Vifsla. »Sie sagen, dass er ihnen gehört«, übersetzte
der Hemul. »Heute früh haben sie das Gegenteil behauptet.« »Na, dann brauchen wir ihn der Morra nicht zu geben«, sagte der Snork erleichtert. »Allerdings schade um meine ganzen Vorbereitungen.« Tofsla streckte sich und flüsterte dem Hemul etwas zu. »Tofsla sagt Folgendes«, teilte er mit. »Nur der Inhalt der Tasche gehört der Morra.« »Ha«, sagte das Schnüferl. »Hab ich mir doch gleich gedacht. Die Sache ist völlig klar. Die Morra kriegt ihren Inhalt zurück und die Milchsuppengesichter behalten ihren blöden Koffer.« »Das ist überhaupt nicht klar!«, rief der Hemul kühn. »Es geht nicht darum, wem der Inhalt gehört, sondern darum, wer das größere Recht darauf hat. Die rechte Sache am rechten Platz! Ihr habt alle die Morra gesehen. Jetzt frage ich euch, sah sie aus wie jemand, der ein Recht auf den Inhalt hat?« »Stimmt«, sagte das Schnüferl erstaunt. »Du bist ja gar nicht so dumm! Aber denkt daran, wie einsam die Morra gerade deshalb ist, weil niemand sie gern hat und sie niemanden mag. Der Inhalt ist vielleicht das Einzige, was sie
hat! Soll ihr das auch noch genommen werden? Einsam und ausgestoßen in der Nacht«, fuhr das Schnüferl mit bebender Stimme fort, »von Tofslas und Vifslas um ihren einzigen Besitz betrogen …« Das Schnüferl schneuzte sich und konnte nicht fortfahren. Der Snork klopfte auf die Kiste. »Die Morra braucht keine Verteidigungsrede«, stellte er fest. »Außerdem ist dein Standpunkt gefühlsbetont, genau wie der des Hemuls. Die Zeugen sind an der Reihe! Äußert euch!« »Wir haben Tofsla und Vifsla sehr gern«, teilte die Muminfamilie mit. »Die Morra haben wir von Anfang an nicht leiden können. Wir wären sehr traurig, wenn sie ihren Inhalt zurückkriegen sollte.« »Recht muss Recht bleiben«, sagte der Snork feierlich. »Hier ist Sachlichkeit gefragt! Insbesondere, da Tofsla und Vifsla nicht zwischen Recht und Unrecht unterscheiden können. Das ist angeboren, dafür können sie nichts. Ankläger der Morra, was hast du zu sagen?« Doch der Bisam war in der Hängematte eingeschlafen.
»Nun«, sagte der Snork. »Es hat ihn wohl nicht interessiert. Ist alles gesagt worden, was gesagt werden muss, bevor ich mein Urteil verkünde?« »Entschuldigung«, ließ sich die Stimme des Volkes vernehmen, »aber würde es nicht zur Klärung beitragen, wenn wir erfahren, woraus dieser Inhalt eigentlich besteht?« Tofsla flüsterte wieder etwas. Der Hemul nickte. »Das ist ein Geheimnis«, sagte er. »Für Tofsla und Vifsla ist der Inhalt das Schönste, was es überhaupt gibt, aber für die Morra ist es bloß das Kostbarste.« Der Snork nickte mehrere Male und legte die Stirn in Falten. »Ein schwieriger Fall«, sagte er. »Tofsla und Vifsla haben gute Gründe vorgebracht, aber trotzdem unrecht gehandelt. Und Recht muss Recht bleiben. Ich muss nachdenken. Ruhe bitte.« Zwischen den Fliederbüschen wurde es ganz still. Die Bienen summten, der Garten flammte im Sonnenschein. Plötzlich strich ein kalter Lufthauch übers Gras. Die Sonne verschwand hinter Wolken, und der Garten färbte sich grau. »Was war das?«, fragte der Schnupferich und
hob den Stift vom Protokoll. »Sie ist wieder hier«, flüsterte das Snorkfräulein. In dem gefrorenen Gras saß die Morra und starrte sie an. Langsam ließ sie den Blick zu Tofsla und Vifsla hinüberwandern. Da begann sie zu knurren und langsam näher zu rutschen. »Hilfsla!«, schrie Tofsla. »Rettelet unsla!« »Halt, Morra«, sagte der Snork. »Ich habe dir etwas zu sagen!« Die Morra hielt an. »Inzwischen habe ich fertig überlegt«, sagte der Snork. »Sind Sie damit einverstanden, dass Tofsla und Vifsla den Inhalt des Koffers kaufen dürfen? Was ist Ihr Preis?« »Hoch!«, sagte die Morra mit eisiger Stimme. »Genügt mein Goldberg auf der Insel der Hatifnatten?«, fragte der Snork. Die Morra schüttelte den Kopf. »Hu, ist das hier kalt«, sagte die Muminmutter. »Ich hole mir schnell einen Schal.« Sie lief durch den Garten, wo der Frost auf den Spuren der Morra angekrochen kam, und auf die Veranda hinauf. Und dort kam ihr eine Idee. Glühend vor Begeisterung nahm sie den Hut des Zauberers.
»Wenn die Morra ihn nur zu schätzen weiß!« Als die Muminmutter zur Gerichtsverhandlung zurückkam, stellte sie den Hut ins Gras und sagte: »Das hier ist das Kostbarste im ganzen Mumintal! Wissen Sie, was aus diesem Hut alles herausgewachsen ist? Die schönsten kleinen lenkbaren Wolken, Verwandlungswasser und Obstbäume! Der einzige Zauberhut auf der Welt!« »Beweise!«, sagte die Morra höhnisch. Da legte die Muminmutter ein paar Kirschen in den Hut. Alle warteten mit angehaltenem Atem. »Wenn sie sich nur nicht in was Scheußliches verwandeln«, flüsterte der Schnupferich dem Hemul zu. Aber sie hatten Glück. Als die Morra in den Hut schaute, lag dort eine Handvoll Rubine. »Na bitte!«, sagte die Muminmutter erfreut. »Und stellen Sie sich erst mal vor, was passiert, wenn man zum Beispiel einen Kürbis hineinlegt!« Die Morra sah den Hut an. Sie sah Tofsla und Vifsla an. Dann sah sie wieder den Hut an. Es war ihr anzumerken, dass sie nachdachte, was das Zeug hielt. Schließlich schnappte die Morra sich den Hut
des Zauberers und glitt wortlos wie ein grauer, kalter Schatten davon. Ab da sahen sie die Morra nie wieder im Mumintal, und auch den Hut des Zauberers sahen sie nie mehr. Auf einen Schlag begannen die Farben wieder zu leuchten und der Sommer ging summend und duftend weiter. »Dem Himmel sei Dank, dass wir diesen Hut losgeworden sind«, sagte die Muminmutter. »Jetzt hat er ausnahmsweise mal etwas Vernünftiges bewirkt.« »Aber unsere Wolken waren sehr nett«, sagte das Schnüferl. »Und im Urwald Tarzan spielen war auch schön«, sagte Mumin melancholisch. »Das gingselte ja gutsla!«, sagte Vifsla vergnügt und nahm den Koffer, der die ganze Zeit im Stand der Angeklagten gewesen war. »Phänomenalsla«, sagte Tofsla und nahm Vifsla an der Hand. Dann gingen sie miteinander zum Muminhaus zurück, während die andern dastanden und hinter ihnen herblickten. »Und was haben sie jetzt gesagt?«, fragte das Schnüferl. »So was wie ,Bis später’», sagte der Hemul.
Letztes Kapitel
Es war Ende August. Die Eulen riefen in der Nacht, und große schwarze Schwärme von Fledermäusen kreisten lautlos über dem Garten. Der Wald war voller Lichter, das Meer rauschte unruhig. Erwartung und Traurigkeit lagen in der Luft, und der Mond stand groß und glühend über dem Tal. Mumin hatte schon immer die allerletzten Sommerwochen am liebsten gehabt, ohne recht zu wissen, warum. Wind und Meer hatten einen neuen Klang, alles roch nach Veränderung, die Bäume schienen wartend dazustehen. Ich habe das Gefühl, dass heute was Ungewöhnliches passieren wird, dachte Mumin. Er war aufgewacht und lag jetzt im Bett und guckte an die Decke. Es muss sehr früh am Morgen sein und das Wetter wird schön, dachte er weiter. Dann wandte er den Kopf und sah, dass das Bett des Schnupferichs leer war.
Und genau in dem Moment hörte er das geheime Signal unterm Fenster, einen langen und zwei kurze Pfiffe. Was für Pläne hast du heute?, bedeutete das. Mumin sprang aus dem Bett und lief zum Fenster. Der Garten lag noch im Schatten, und es war kühl. Und dort unten stand der Schnupferich und wartete. »Ju-hu«, rief Mumin, aber nur ganz leise, um die andern nicht zu wecken, und kletterte dann die Strickleiter hinunter. »Hallo«, sagte er. »Hallo, hallo«, sagte der Schnupferich. Sie wanderten zum Fluss hinunter, setzten sich aufs Brückengeländer und ließen die Beine überm Wasser baumeln. Die Sonne war schon über die Waldwipfel gestiegen und schien ihnen mitten ins Gesicht. »Genau so sind wir im Frühling hier gesessen«, sagte Mumin. »Wir waren aus dem Winterschlaf erwacht und es war der erste Tag. Die andern schliefen noch alle.« Der Schnupferich nickte. Er flocht Schilfboote, die er den Fluss hinuntersegeln ließ. »Wohin fahren die?«, fragte Mumin. »An Orte, wo ich nicht bin«, sagte der
Schnupferich. Ein Boot nach dem anderen verschwand um die Flussbiegung. »Beladen mit Zimt, Haifischzähnen und Smaragden«, sagte Mumin. Der Schnupferich seufzte. »Du hast vorhin Pläne erwähnt?«, sagte Mumin. »Hast du selbst welche?« »Ja«, sagte der Schnupferich. »Ich habe einen Plan. Aber das ist einer von den einsamen, du weißt schon.« Mumin sah ihn sehr lange an. Dann sagte er: »Du willst fort.« Der Schnupferich nickte. Sie blieben sitzen und baumelten mit den Beinen, ohne etwas zu sagen. Der Fluss strömte weiter unter ihnen, immer weiter, fort zu jenen fremden Gefilden, nach denen der Schnupferich sich sehnte und die er ganz alleine aufsuchen würde. »Wann fährst du?«, fragte Mumin. »Jetzt gleich!«, sagte der Schnupferich und schmiss alle Schilfboote auf einmal ins Wasser. Er hüpfte vom Brückengeländer und schnupperte die Morgenluft. Ein guter Tag zum Wandern. Der Bergrücken lag rot in der Sonne, der Weg wand sich hinauf und verschwand auf die andere Seite hinunter. Dort
lag ein neues Tal, und danach kamen neue Berge … Mumin sah zu, wie der Schnupferich sein Zelt zusammenpackte. »Bleibst du lange fort?«, fragte er. »Nein«, sagte der Schnupferich. »Am ersten Frühlingstag bin ich wieder da und pfeife unter deinem Fenster. Der Winter geht schnell vorbei!« »Ja«, sagte Mumin. »Also dann, leb wohl.« »Leb wohl«, sagte der Schnupferich. Mumin blieb auf der Brücke stehen. Er sah den Schnupferich immer kleiner und kleiner werden, bis er schließlich zwischen Birken und Apfelbäumen verschwand. Aber nach einer Weile hörte er die Mundharmonika. Der Schnupferich spielte »Alle kleinen Tiere tragen Schleifen am Schwanz«. Jetzt ist er froh, dachte Mumin. Die Musik wurde immer schwächer, bis nichts mehr zu hören war. Da schlich Mumin durch den taunassen Garten zurück. Auf der Treppe fand er Tofsla und Vifsla, die dort in der Sonne kauerten. »Gutsla Morgsla«, sagte Tofsla. »Guten Morgen«, sagte Mumin, der inzwischen gelernt hatte, ihre Sprache zu
verstehen, nur das Sprechen fiel ihm noch schwer. »Hast du geweinselt?«, fragte Vifsla. »Woher denn«, sagte Mumin. »Aber der Schnupferich hat sich auf die Reise gemacht.« »Wie schadsla«, sagte Tofsla mitfühlend. »Wirst du vielleichtsla wieder frohsla, wenn du Tofsla auf die Nasla küssen darfselst?« Mumin küsste Tofsla freundlich auf die Nase, sah danach aber auch nicht fröhlicher aus. Da steckten Tofsla und Vifsla die Köpfe zusammen und flüsterten lange miteinander. Dann teilte Vifsla feierlich mit: »Wir haben beschlosselen, dir den Inhaltsla zu zeigelen.« »Den aus dem Koffer?«, fragte Mumin. Tofsla und Vifsla nickten eifrig. »Kommsel, kommsel«, sagten sie und schlüpften unter die Hecke. Mumin kroch hinterher. Mitten im dichtesten Gebüsch stieß er auf ein geheimes Versteck, dessen Boden Tofsla und Vifsla mit Federn geschmückt hatten. In den Zweigen hingen Muscheln und weiße Steine. Kein Licht drang hier herein. Niemand, der an der Hecke vorbeiging, konnte ahnen, dass sich dort ein geheimes Plätzchen befand. Auf einem
Bastteppich stand der Koffer. »Der Teppich da gehört dem Snorkfräulein«, sagte Mumin. »Sie hat ihn gestern gesucht.« »Jasla«, sagte Vifsla. »Sie konnte ja nichtsla ahnselen, dass wir ihn gefundselen hatten.« »Hm«, sagte Mumin. »Und jetzt wollt ihr mir also zeigen, was ihr in eurem Koffer versteckt habt?« Tofsla und Vifsla nickten begeistert. Sie pflanzten sich zu beiden Seiten des Koffers auf und begannen ernsthaft zu zählen: »Einsla! Zweisla! DREISLA!« Und damit öffneten sie den Deckel, der mit einem Knall hochfuhr. »Ist ja allerhand!«, sagte Mumin. Die ganze kleine Laubhöhle wurde von einem milden, roten Licht erfüllt. Vor Mumin lag ein Rubin, groß wie der Kopf eines Panthers, glühend wie der Sonnenuntergang, lebendig wie Feuer und Wassergefunkel. »Gefällt er dirsla?«, fragte Tofsla. »Ja«, antwortete Mumin mit schwacher Stimme. »Weinselst du jetztla nicht mehrsla?«, fragte Vifsla. Mumin schüttelte den Kopf. Tofsla und Vifsla seufzten zufrieden und setzten sich hin, um den Edelstein zu
betrachten. Still starrten sie voller Entzücken in ihn hinein. Der Rubin wechselte seine Farbe wie das Meer. Manchmal war er nur hell, dann überzog ihn ein Rosenschimmer, wie bei einem Schneegipfel, wenn die Sonne aufgeht – und plötzlich schossen dunkelrote Flammen aus seinem Innern hoch. Dann wiederum erinnerte er an eine schwarze Tulpe, deren Staubgefäße aus kleinen Funken bestanden. »Oh, wenn der Schnupferich das nur sehen könnte!«, sagte Mumin. Lange, lange blieb er dort stehen. Die Zeit verstrich sehr langsam, und ihm gingen große Gedanken durch den Kopf. Schließlich sagte er: »Das war schön. Darf ich irgendwann wiederkommen und den Rubin noch mal anschauen?« Aber Tofsla und Vifsla antworteten nicht. Da kroch Mumin wieder aus der Hecke hinaus. In dem blassen Tageslicht drehte sich ihm der Kopf, sodass er sich erst mal ins Gras setzen musste, um sich zu erholen. Wirklich allerhand, dachte er. Wenn das nicht der Königsrubin ist, den der Zauberer auf dem Mond sucht, beiße ich mir in den
Schwanz. Unglaublich, dass jemand so Kleines wie Tofsla und Vifsla ihn die ganze Zeit in ihrem Koffer gehabt haben! Mumin versank in tiefe Gedanken und merkte nicht einmal, dass das Snorkfräulein durch den Garten gewandert kam und sich neben ihn setzte. Nach einer Weile stupste sie ihn vorsichtig an der Schwanzspitze. Mumin fuhr zusammen. »Ach, du bist das!«, sagte er. Das Snorkfräulein lächelte. »Hast du schon meine neue Frisur gesehen?«, fragte sie und wandte den Kopf hin und her. »Na so was!«, sagte Mumin. »Du denkst an was anderes«, sagte das Snorkfräulein. »An was zum Beispiel?« »Du meine Morgenrose, das kann ich dir nicht sagen«, entgegnete Mumin. »Aber mein Herz ist schwer, weil der Schnupferich abgereist ist.« »Ist das wahr?« »Ja. Aber er hat sich vorher von mir verabschiedet. Ich war der Einzige, den er geweckt hat, um sich zu verabschieden«, sagte Mumin. Sie blieben im Gras sitzen und spürten, wie die Sonne immer höher stieg und wärmte. Das Schnüferl und der Snork kamen auf die Treppe
heraus. »Hallo«, begrüßte sie das Snorkfräulein. »Wisst ihr schon, dass der Schnupferich in den Süden gereist ist?« »Ohne mich!«, rief das Schnüferl aufgebracht. »Manchmal muss man alleine sein«, sagte Mumin. »Du bist noch zu klein, um das zu verstehen. Wo sind die andern?« »Der Hemul ist fort, um Pilze zu suchen«, teilte der Snork mit. »Und der Bisam hat seine Hängematte reingeholt, weil es ihm nachts allmählich zu kalt wird. Übrigens ist deine Mutter heute sehr schlechter Laune!« »Verärgert oder traurig?«, fragte Mumin erstaunt. »Eher traurig, glaube ich«, sagte der Snork. »Dann muss ich sofort zu ihr«, sagte Mumin und stand auf. »Das ist ja schrecklich.« Die Muminmutter saß auf dem Wohnzimmersofa und sah unglücklich aus. »Was ist denn?«, fragte Mumin. »Mein liebes Kind, etwas Entsetzliches ist passiert«, sagte seine Mutter. »Meine Handtasche ist verschwunden. Und ohne die bin ich verloren! Ich habe überall gesucht, aber sie ist nirgends!«
»Das ist ja fürchterlich«, sagte Mumin. »Wir müssen sie für dich finden!« Und damit ging ein gewaltiges Gesuche los. Nur der Bisam weigerte sich, daran teilzunehmen. »Von allem Unnötigen«, sagte er, »sind Taschen das Allerunnötigste. Überlegt mal. Die Zeit verstreicht und die Tage kommen und gehen genau wie immer, egal, ob Frau Mumin ihre Tasche hat oder nicht.« »Das ist ein Riesenunterschied«, sagte der Muminvater. »Ohne Handtasche ist mir die Muminmutter ganz fremd. Ich habe sie bisher noch nie ohne gesehen!« »War viel drin?«, fragte der Snork. »Nein«, sagte die Muminmutter. »Nur ein paar Sachen für alle Fälle. Trockene Socken und Bonbons und Draht und Magenpulver und so.« »Was kriegen wir als Belohnung, wenn wir sie finden?«, erkundigte sich das Schnüferl. »Was ihr wollt!«, sagte die Muminmutter. »Ich bereite euch ein großes Fest und zum Mittagessen gibt’s lauter Nachtisch und keiner braucht sich zu waschen oder früh schlafen zu gehen!« Da ging die Suche mit verdoppelten Kräften
weiter. Sie durchsuchten das ganze Haus. Sie suchten unter Teppichen und Betten, im Herd und im Keller, auf dem Dachboden und auf dem Dach. Sie suchten im ganzen Garten, im Holzschuppen und unten am Fluss. Nirgends eine Tasche. »Du hast sie doch hoffentlich nicht beim Bäumeklettern oder beim Schwimmen dabeigehabt?«, fragte das Schnüferl. »Nein«, sagte die Muminmutter. »Ach, was bin ich unglücklich!« »Wir verschicken Telegrammblätter!«, schlug der Snork vor. Und das taten sie. Die Telegrammblätter erschienen sofort mit zwei großen Neuigkeiten. »DER SCHNUPFERICH VERLÄSST DAS MUMINTAL!«, stand da zu lesen. »Geheimnisvolle Abreise im Morgengrauen!«, und mit noch größeren Buchstaben: »HANDTASCHE DER MUMINMUTTER VERSCHWUNDEN! Keinerlei Hinweise! Die Suche läuft. Einmaliges Sommerfest als Finderlohn!« Kaum hatte sich die Neuigkeit herumgesprochen, ging im Wald, auf den Bergen und am Meer ein emsiges Gerenne und
Gelaufe los. Jede einzelne Waldmaus machte sich auf die Suche. Nur die Alten und Kraftlosen blieben zu Hause, und das ganze Mumintal hallte wider von Rufen und eiligen Schritten. »Ojemine«, sagte die Muminmutter. »Da habe ich was angerichtet!« Dabei wirkte sie aber ganz zufrieden. »Wasla suchselen sie denn?«, fragte Vifsla. »Meine Handtasche, natürlich«, sagte die Muminmutter. »Deine schwarzla?«, fragte Tofsla. »Die mit den viersla kleinselen Fächlern? Und mit dem kleinsla rundsla Spiegsel?« »Was hast du gesagt?«, fragte die Muminmutter. Sie war zu unruhig, um sich konzentrieren zu können. »Die schwarzla mit viersla Fächlern drinsla«, sagte Tofsla. »Ja, ja«, sagte die Muminmutter. »So, geht jetzt brav raus zum Spielen und macht euch um mich keine Sorgen!« »Was meinselst du?«, sagte Vifsla, als sie im Garten draußen waren. »Ich ertragsel es nicht, dass sie so traurigsla ist«, sagte Tofsla. »Dann kriegselt sie die Taschla halt wieder«,
sagte Vifsla mit einem Seufzer. »Aber es war schönsla, in den kleinen Fächlern zu schlafselen.« Also schlüpften Tofsla und Vifsla in ihr geheimes Versteck, das noch niemand entdeckt hatte, und zogen die Tasche der Muminmutter unter den Rosenzweigen hervor. Es war Punkt zwölf Uhr, als Tofsla und Vifsla mit der Handtasche durch den Garten angeschleppt kamen. Der Habicht erblickte sie als Erster und verkündete die Nachricht sogleich im ganzen Mumintal. Neue Telegrammblätter wurden überallhin verschickt: »DIE HANDTASCHE DER MUMINMUTTER GEFUNDEN! Tofsla und Vifsla sind die Finder! Bewegende Szenen im Muminhaus!« »Ist das wirklich wahr!«, rief die Muminmutter aus. »Ach, wie wundervoll! Wo habt ihr sie gefunden?« »In den Büschselen«, sagte Tofsla. »Sie war so gutsla zum Schlafselen …« Aber im selben Moment kamen die Gratulanten durch die Tür gestürmt, daher erfuhr die Muminmutter nie, dass ihre Tasche von Tofsla und Vifsla als Schlafzimmer benützt worden war (und das war vielleicht gut
so). Im Übrigen dachten jetzt alle nur noch an das große Sommerfest. Bevor der Mond aufging, musste alles fertig sein. Wie herrlich, ein großes Fest vorbereiten zu dürfen, wenn man weiß, dass es lustig wird und dass all die richtigen Leute kommen werden! Sogar der Bisam zeigte Interesse. »Ihr müsst viele Tische aufstellen«, sagte er. »Kleine Tische und große. An ungewöhnlichen Plätzen. Bei großen Festen will niemand immer am selben Fleck sitzen bleiben. Es wird noch schlimmer als sonst in der Gegend herumgehopst werden, befürchte ich. Und die leckersten Sachen müsst ihr gleich zu Anfang anbieten. Später ist es nicht mehr so wichtig, was die Leute kriegen, dann sind sie nämlich sowieso schon guter Laune. Und stört sie möglichst nicht mit Darbietungen, Liedern und solchem Zeug, sondern lasst sie selbst das Programm sein.« Nachdem der Bisam diese erstaunlichen Lebensweisheiten geäußert hatte, zog er sich zu seiner Hängematte zurück, um sein Buch »Über das Unnötige« zu lesen. »Was soll ich nur anziehen?«, fragte das Snorkfräulein nervös. »Den blauen
Haarschmuck aus Federn oder das Perlendiadem?« »Nimm die Federn«, sagte Mumin. »Einfach nur Federn an den Ohren und an den Fußgelenken. Vielleicht noch zwei, drei Stück im Schwanzbüschel.« »Danke!«, sagte das Snorkfräulein und rannte davon. In der Tür stieß sie mit dem Snork zusammen, der gerade voll beladen mit bunten Lampions ankam. »Pass gefälligst auf!«, sagte er. »Du zerquetschst ja die ganzen Lampions! Wenn ich nur wüsste, wozu Schwestern gut sein sollen!« Damit marschierte er in den Garten hinaus und machte sich daran, die Lampions in den Bäumen aufzuhängen. Währenddessen arrangierte der Hemul die Feuerwerkskörper an geeigneten Stellen. Da gab es blauen Sternenregen, Feuerschlangen, bengalische Schneestürme, Silberfontänen und Raketen. »Ich bin so fürchterlich gespannt«, sagte der Hemul. »Können wir nicht probeweise eine einzige Rakete loslassen?« »Bei Tageslicht sieht man sie nicht«, erklärte der Muminvater. »Aber wenn du willst, kannst du eine Feuerschlange nehmen und im Kartoffelkeller anzünden.«
Der Muminvater stand auf dem Gartenweg. Vor sich hatte er mehrere Fässer, in denen er rote Bowle mixte. Er setzte die Bowle mit Rosinen und Mandeln, eingelegtem Lotus, Ingwer, Zucker und Muskatblüten an, gab ein, zwei Zitronen dazu und noch ein paar Liter Vogelbeerlikör, damit das Ganze den rechten Pfiff bekam. Ab und zu probierte er, wie die Bowle schmeckte. Sie schmeckte sehr gut. »Nur eins ist schade«, sagte das Schnüferl. »Wir kriegen keine Musik, weil der Schnupferich nicht da ist.« »Dann verstärken wir eben unsere alte Spieluhr«, sagte der Muminvater. »Alles findet eine Lösung! Wenn wir zum zweiten Mal anstoßen, dann auf den Schnupferich.« »Und auf wen stoßen wir beim ersten Mal an?«, fragte das Schnüferl hoffnungsvoll. »Auf Tofsla und Vifsla, natürlich«, sagte der Muminvater. Die Vorbereitungen wurden immer umfangreicher. Sämtliche Bewohner des Tales und des Waldes, der Berge und des Strands schleppten Essen und Getränke an, und alles wurde auf den Tischen im Garten ausgebreitet. Berge von leuchtenden Früchten und große
Platten voller lecker belegter Brote, und auf sehr kleinen Tischchen unter den Büschen gab es Nüsse und Blätter, an Halmen aufgefädelte Beeren, süße Wurzeln und Weizenähren. Die Muminmutter rührte den Pfannkuchenteig in der Badewanne, weil die Schüsseln nicht groß genug waren. Dann trug sie elf riesige Töpfe mit Eingemachtem und Marmelade aus dem Keller (der zwölfte war leider geplatzt, als der Hemul seine Feuerschlangen im Keller losließ, aber das war nicht weiter schlimm, weil Tofsla und Vifsla das meiste aufschleckten). »Unglaubslalich!«, sagte Tofsla. »So vielsla Aufslaregung bloß wegen unsla!« »Ja, ich verstehsla das auch nicht«, sagte Vifsla. Tofsla und Vifsla hatten die Ehrenplätze an dem größten Tisch. Als es so dunkel geworden war, dass die Lampions angezündet werden konnten, schlug der Hemul auf einen Gong, und das bedeutete: »Jetzt fangen wir an! Anfangs ging alles sehr feierlich zu. Alle hatten sich so fein wie möglich herausgeputzt und fühlten sich daher ein bisschen steif. Man grüßte und verneigte sich und sagte: »Ein Glück, dass es nicht regnet«,
und »Wie schön, dass die Tasche gefunden worden ist.« Niemand traute sich Platz zu nehmen. Der Muminvater hielt eine kleine Begrüßungsansprache, in der er erklärte, warum dieses Fest überhaupt stattfand, dann dankte er Tofsla und Vifsla. Anschließend sagte er ein paar Worte über den kurzen nordischen Sommer und darüber, dass alle nach Herzenslust fröhlich sein sollten, und dann begann er von seiner Jugend zu erzählen. Doch da kam die Muminmutter mit einem ganzen Schubkarren voller Pfannkuchen angefahren, und alle klatschten in die Hände. Gleich wurde es viel weniger feierlich, und kurz darauf war das Fest in vollem Gang. Überall im Garten, ja, im ganzen Tal standen kleine beleuchtete Tische. Feuerfliegen und Glühwürmchen funkelten im Gebüsch, und die Lampions in den Bäumen schaukelten wie große farbenfrohe Früchte in der nächtlichen Brise. Eine Rakete flog in stolzem Bogen in den dunklen Himmel und explodierte hoch oben in einem Regen aus weißen Sternen, die sachte, sachte auf das Tal niedersanken. Alle kleinen
Tierchen streckten die Schnauzen dem Sternenregen entgegen und riefen: »Hurra!« Es war wundervoll! Und jetzt zischte die Silberfontäne hoch, jetzt wirbelte der bengalische Schneesturm über die Baumwipfel! Und jetzt rollte der Muminvater ein großes Fass mit roter Bowle den Gartenweg herunter. Alle kamen mit ihren Gläsern angerannt, und der Muminvater füllte Tassen und Schüsseln, Rindenbecher, Muscheln und Blätterkelche. »Ein Prosit auf Tofsla und Vifsla!«, rief das ganze Mumintal. »Hurra, hurra, hurra!« »Hurrasla!«, schrien Tofsla und Vifsla und stießen miteinander an. Dann stieg Mumin auf einen Stuhl und sagte: »Hiermit erhebe ich das Glas auf den Schnupferich, der heute Nacht in den Süden wandert, allein, aber bestimmt genauso glücklich wie wir. Wir wollen ihm einen guten Zeltplatz wünschen und ein frohes Herz!« Und noch einmal hob das ganze Tal die Gläser. »Das hast du schön gesagt«, bemerkte das Snorkfräulein, als Mumin sich wieder hingesetzt hatte. »Nun ja«, sagte Mumin bescheiden. »Aber
ich hatte es mir im Voraus ausgedacht!« Der Muminvater trug die Spieluhr in den Garten und schloss einen großen Verstärker an. Im Nu war das ganze Tal erfüllt von Tanzen, Hüpfen und Stampfen, Schwirren und Flattern. Die Baumgeister tänzelten mit wehenden Haaren in der Luft, und in den Lauben schwangen würdevolle ältliche Mäusepaare das Tanzbein. »Darf ich bitten!«, sagte Mumin und verbeugte sich vor dem Snorkfräulein. Aber als er den Kopf hob, erblickte er einen glänzenden Rand über den Baumwipfeln. Der Augustmond! Größer denn je glitt er hervor, orange-gelb, leicht ausgefranst an den Rändern, wie eine eingemachte Aprikose. Der Mondschein fiel geheimnisvoll auf das Mumintal herab und füllte es mit Licht und Schatten. »Heute Nacht kann man sogar die Mondkrater sehen«, sagte das Snorkfräulein. »Schau mal!« »Dort muss es schrecklich einsam sein«, überlegte Mumin. »Der arme Zauberer, der jetzt da oben herumläuft und sucht!« »Wenn wir ein gutes Fernglas hätten, könnten wir ihn bestimmt sehen«, meinte das Snorkfräulein.
»Ja, schon«, sagte Mumin. »Aber jetzt wollen wir tanzen!« Und das Fest ging mit noch größerem Schwung weiter. »Bist du müdsla?«, fragte Vifsla. »Neinsla«, sagte Tofsla. »Ich denksel nach. Alle sind so liebsla zu unsla. Machen wir ihnen auchsla eine Freudsla!« Tofsla und Vifsla flüsterten eine Weile miteinander, nickten und flüsterten wieder. Dann krochen sie in ihr geheimes Versteck. Als sie wieder herauskamen, hatten sie den Koffer dabei. Es war schon einiges nach zwölf, als der ganze Garten plötzlich von einem rosenroten Licht erfüllt wurde. Alle hörten auf zu tanzen, weil sie ein neues Feuerwerk vermuteten. Aber es waren nur Tofsla und Vifsla, die ihren Koffer geöffnet hatten. Der Königsrubin lag im Gras und leuchtete schöner denn je. Die Feuer, die Lampions, ja, sogar der Mond verblassten und verloren ihren Glanz. Still versammelten sich alle in immer größeren und dichteren Scharen andächtig um den flammenden Edelstein. »Dass es etwas so Schönes überhaupt gibt!«, rief die Muminmutter aus.
Und das Schnüferl seufzte tief und sagte: »Tofsla und Vifsla haben’s gut!« Aber der Königsrubin leuchtete wie ein rotes Auge auf der nächtlich dunklen Erde, sodass der Zauberer oben auf dem Mond ihn entdeckte. Er hatte seine Suche aufgegeben und saß müde und traurig am Rand eines Kraters und ruhte sich aus, während sein schwarzer Panther ein Stück weiter weg schlief. Der Zauberer begriff sofort, was der rote Punkt dort unten auf der Erde bedeutete. Es war der größte Rubin der Welt, der Königsrubin, den er seit hunderten von Jahren suchte! Er fuhr hoch und starrte mit glühenden Augen auf die Erde, während er seine Handschuhe anzog und sich den Mantel umhängte. Die Juwelen, die er darin gesammelt hatte, ließ er zu Boden fallen – der Zauberer fragte nur nach einem einzigen Edelstein, und den würde er in weniger als einer halben Stunde in den Händen halten. Der Panther warf sich mit seinem Herrn auf dem Rücken in die Luft hinaus. Schneller als das Licht jagten sie durch den Weltraum. Zischende Meteore kreuzten ihren Weg, Sternenstaub blieb wie Schnee am
Mantel des Zauberers hängen. Unter ihm erstrahlte der rote Funke immer stärker. Er hielt geradewegs auf das Mumintal zu, wo der Panther schließlich mit einem letzten weichen Satz auf dem Berg landete. Die Bewohner des Mumintales saßen noch in stilles Betrachten versunken vor dem Königsrubin. Sie wähnten, in seinen Flammen alle ihre schönsten, kühnsten und kostbarsten Gedanken und Taten zu sehen, und verspürten plötzlich Lust, das alles noch einmal zu denken und zu erleben. Mumin erinnerte sich an seine Nachtwanderung mit dem Schnupferich und das Snorkfräulein dachte daran, wie stolz sie die Holzkönigin erobert hatte. Und die Muminmutter glaubte wieder im warmen Sand in der Sonne zu liegen und den Himmel zwischen den wippenden Köpfen der Strandnelken zu sehen. Jeder von ihnen befand sich weit weg in irgendeiner Erinnerung. Und daher fuhren alle zusammen, als eine kleine weiße Maus mit roten Augen aus dem Schatten hervorschlüpfte und zum Königsrubin vorhuschte. Eine schwarze Katze folgte ihr und streckte sich im Gras aus. Soweit allgemein bekannt war, wohnte keine
weiße Maus im Mumintal und auch keine schwarze Katze. »Miez, Miez!«, machte der Hemul. Doch die Katze schloss einfach die Augen und würdigte ihn keiner Antwort. »Guten Abend, Base!«, sagte die Waldmaus. Die weiße Maus sah sie mit ihren roten Augen an und bedachte sie mit einem langen, finsteren Blick. Der Muminvater brachte zwei Becher, um den beiden Neuankömmlingen Bowle anzubieten, doch sie nahmen keine Notiz von ihm. Eine gewisse Verstimmung kroch übers Tal, es wurde geflüstert und gerätselt. Tofsla und Vifsla wurden unruhig. Sie nahmen den Rubin, legten ihn wieder in den Koffer und schlossen den Deckel. Doch als sie den Koffer davontragen wollten, erhob sich die weiße Maus auf den Hinterpfoten und wuchs. Sie wurde fast so groß wie das Muminhaus. Sie wurde zu dem Zauberer in den weißen Handschuhen und mit den roten Augen, und als er schließlich seine volle Größe erreicht hatte, setzte er sich ins Gras und sah Tofsla und Vifsla an. »Du hässlelicher Kerlsla, geh wegsla!«, sagte
Vifsla. »Wo habt ihr den Königsrubin gefunden?«, fragte der Zauberer. »Gehtselt dich gar nichtsla an!«, sagte Tofsla. Niemand hatte Tofsla und Vifsla je so mutig gesehen. »Seit dreihundert Jahren suche ich ihn«, sagte der Zauberer. »Er ist für mich das Wichtigste auf der ganzen Welt!« »Für unsla auchsla!«, sagte Vifsla. »Du kannst ihnen den Königsrubin nicht wegnehmen«, sagte Mumin. »Er ist ehrlich von der Morra erworben!« Aber Mumin erwähnte nicht, dass der Königsrubin für den alten Hut des Zauberers erworben worden war (wobei der Zauberer jetzt ja einen neuen aufhatte). »Ich brauche eine Stärkung«, sagte der Zauberer. »Das hier geht mir allmählich auf die Nerven.« Die Muminmutter kam sofort mit Pfannkuchen und Marmelade angerannt und reichte ihm einen großen Teller. Während der Zauberer aß, trauten sich alle ein bisschen näher heran. Jemand, der Pfannkuchen mit Marmelade aß, konnte nicht
allzu gefährlich sein. Mit so jemand konnte man reden. »Schmeckselt es gutsla?«, fragte Tofsla. »Danke, ja«, antwortete der Zauberer. »Hab die letzten fünfundachtzig Jahre kein einziges Mal Pfannkuchen bekommen!« Sofort tat er allen Leid, worauf man noch näher rücken konnte. Als der Zauberer fertig gegessen hatte, wischte er sich den Schnurrbart und sagte: »Ich kann euch den Königsrubin nicht wegnehmen, denn das, was gekauft worden ist, muss erneut gekauft oder aber verschenkt werden. Könnt ihr mir den Rubin nicht für, sagen wir mal, zwei Diamantenberge und ein Tal voller gemischter Edelsteine verkaufen?« »Neinsla!«, sagten Tofsla und Vifsla. »Und schenken könnt ihr ihn mir auch nicht?« »Neinsla!«, sagten Tofsla und Vifsla. Der Zauberer seufzte. Er überlegte eine Weile und sah traurig aus. Dann sagte er: »Feiert bitte weiter. Ich werde ein bisschen für euch zaubern. Jeder darf sich was wünschen! Die Herrschaften Mumin zuerst.« Die Muminmutter zögerte kurz. »Müssen es sichtbare Sachen sein?«, fragte
sie. »Oder dürfen es auch Ideen sein. Falls Sie verstehen, was ich meine.« »Ja klar«, sagte der Zauberer. »Sachen sind natürlich einfacher, aber mit Ideen müsste es auch klappen, denke ich.« »Dann hätte ich gern, dass Mumin nicht mehr dem Schnupferich nachtrauert«, sagte die Muminmutter. »Ich wusste gar nicht, dass man es mir ansieht«, sagte Mumin und bekam rote Ohren. Doch der Zauberer wedelte kurz mit seinem Mantel, und sogleich flog die Melancholie aus Mumins Herz heraus. Seine Sehnsucht wurde zu Erwartung, und das fühlte sich viel besser an. »Ich habe eine Idee!«, rief Mumin. »Bitte, lieber Zauberer, lass den ganzen Esstisch, mit allem, was darauf ist, zum Schnupferich fliegen, wo immer er gerade sein mag!« Im selben Augenblick erhob sich der Tisch zwischen die Baumwipfel und schwebte nach Süden, mit Pfannkuchen und Marmelade, mit Früchten und Blumen und Bowle und Bonbons sowie mit dem Buch des Bisams, das er auf die Tischecke gelegt hatte. »Was soll der Unsinn!«, sagte der Bisam. »Ich muss doch sehr darum bitten, dass mein
Buch sofort zurückgezaubert wird!« »Getan ist getan!«, sagte der Zauberer. »Aber Sie sollen ein neues Buch haben. Bitte sehr, der Herr!« »Über das Notwendige«, las der Bisam. »Aber das ist ja ganz falsch! Mein Buch handelte von allem Unnötigen!« Doch der Zauberer lachte nur. »Ich glaube, jetzt bin ich an der Reihe«, sagte der Muminvater. »Aber die Wahl fällt mir sehr schwer! Ich habe mir eine Menge Sachen überlegt, aber nichts davon ist richtig gut. Ein Gewächshaus baue ich mir lieber selbst, das macht mehr Spaß. Eine Jolle ebenfalls. Übrigens habe ich das meiste!« »Aber vielleicht brauchst du ja gar nicht selbst zu wünschen«, schlug das Schnüferl vor. »Dann kannst du mich stattdessen zweimal wünschen lassen!« »Na ja«, sagte der Muminvater. »Aber wenn man sich schon mal was wünschen darf …« »Du musst dich ein wenig beeilen«, sagte die Muminmutter. »Wünsch dir doch einen ganz besonders schönen Einband für deine Memoiren!« »Ja, das ist gut«, sagte der Muminvater und wurde wieder froh. Alle stießen bewundernde
Rufe aus, als der Zauberer einen mit Perlen besetzten Einband aus Gold und rotem Saffianleder überreichte. »Jetzt darf ich!«, rief das Schnüferl. »Ein eigenes Boot! Ein Boot in Form einer Muschel mit einem purpurnen Segel! Der Mast muss aus Palisanderholz sein und alle Rudergabeln aus Smaragden!« »Das war nicht wenig«, sagte der Zauberer freundlich und schwenkte seinen Mantel. Alle hielten den Atem an, aber kein Boot ließ sich blicken. »Hat es nicht hingehauen?«, fragte das Schnüferl enttäuscht. »Doch, natürlich hat es das«, sagte der Zauberer. »Aber ich habe das Boot unten an den Strand gelegt. Dort wirst du es morgen finden.« »Mit Rudergabeln aus Smaragd?«, fragte das Schnüferl. »Auf jeden Fall! Vier Stück und eine als Reserve«, sagte der Zauberer. »Der Nächste.« »Also«, sagte der Hemul. »Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich den Botanisierspaten, den der Snork mir geliehen hat, abgebrochen. Daher würde ich unbedingt einen neuen brauchen.«
Dann machte er einen wohlerzogenen Knicks∗, als der Zauberer den neuen Botanisierspaten überreichte. »Wird man nicht müde, wenn man so viel zaubert?«, fragte das Snorkfräulein. »Von so leichten Sachen sicher nicht!«, sagte der Zauberer. »Und was wünschst du dir denn, mein kleines Fräulein?« »Das ist vielleicht etwas schwieriger«, sagte das Snorkfräulein. »Darf ich flüstern?« Nachdem sie fertig geflüstert hatte, sah der Zauberer leicht erstaunt aus und fragte: »Bist du dir sicher, dass sie passen werden?« »Ja! Ganz bestimmt!«, hauchte das Snorkfräulein. »Na, dann!«, sagte der Zauberer. »Von mir aus!« Im nächsten Moment ging ein Ausruf des Erstaunens durch die Menge. Das Snorkfräulein stand vor ihnen und sah ganz verändert aus. »Was hast du mit dir angestellt!«, rief Mumin empört aus. ∗
Der Hemul macht einen Knicks, weil es ein bisschen lächerlich wirkt, wenn man sich in einem Kleid verbeugt. – Anmerkung d. Autors
»Ich hab mir die Augen der Holzkönigin gewünscht«, sagte das Snorkfräulein. »Du hast doch gesagt, dass du sie so schön findest!« »Ja, aber«, murmelte Mumin unglücklich. »Gefallen sie dir nicht?«, fragte das Snorkfräulein und brach in Tränen aus. »Na, na, kleines Fräulein«, sagte der Zauberer. »Wenn es nicht das Richtige war, kann doch dein Bruder die alten Augen zurückwünschen!« »Ja, aber ich hatte mir was ganz anderes vorgestellt«, protestierte der Snork. »Wenn meine Schwester sich dämliche Sachen wünscht, ist das doch nicht meine Schuld!« »Was hattest du dir denn vorgestellt?«, fragte der Zauberer. »Eine Rechenmaschine!«, antwortete der Snork. »Eine Maschine, die ausrechnet, was gerecht oder ungerecht ist, gut oder schlecht.« »Das ist zu schwierig«, sagte der Zauberer und schüttelte den Kopf. »Da muss ich passen.« »Na, dann eben eine Maschine, die schreiben kann«, sagte der Snork. »Meine Schwester sieht mit ihren neuen Augen doch genauso gut!« »Ja, aber sie sieht nicht genauso gut aus«,
sagte der Zauberer. »Bitte!«, schluchzte das Snorkfräulein, das inzwischen einen Spiegel aufgetrieben hatte. »Wünsche mir meine alten kleinen Augen zurück! Ich sehe ja fürchterlich aus!« »Also gut«, sagte der Snork edelmütig. »Du sollst sie haben, um der Familienehre willen. Aber ich hoffe, dass du ab jetzt ein bisschen weniger eitel bist.« Das Snorkfräulein sah wieder in den Spiegel und stieß einen Ruf des Entzückens aus. Ihre alten gemütlichen Augen saßen wieder an ihrem Platz, nur die Augenwimpern waren tatsächlich ein klein wenig länger geworden! Strahlend umarmte sie ihren Bruder und rief: »Liebling! Schatz! Du kriegst eine Maschine, die schreiben kann, als Frühlingsgeschenk!« »Lass das«, sagte der Snork verlegen. »Wenn Leute zuschauen, gibt man sich doch keinen Kuss. Ich hab’s nicht ausgehalten, dich in diesem schrecklichen Zustand anzugucken, das ist alles.« »So, und nun sind nur noch Tofsla und Vifsla von den Hausbewohnern übrig«, sagte der Zauberer. »Ihr kriegt einen gemeinsamen Wunsch, denn euch kann man ja nicht auseinander halten!«
»Willselst du dir denn nicht selbtsla was wünschselen?«, fragte Tofsla. »Das kann ich nicht«, sagte der Zauberer betrübt. »Ich darf nur für andere wünschen, mich selbst kann ich nur in verschiedene Dinge verwandeln!« Tofsla und Vifsla starrten ihn an. Dann steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten lange miteinander. Danach sagte Vifsla feierlich: »Wir haben beschlosselen, für dich zu wünschelen, weil du liebsla bist. Wir wollen einen Rubinsla haben, der genauso großla und schönsla ist wie unsersla!« Alle hatten den Zauberer lachen gesehen, aber niemand vermutete, dass er lächeln konnte. Jetzt breitete sich jedoch ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er war so froh, dass es überall sichtbar wurde, an seinen Ohren, an seinem Hut, an seinen Stiefeln! Ohne ein Wort zu verlieren, schwenkte er seinen Mantel über das Gras, und siehe da! Erneut wurde der Garten von rosenroten Flammen erfüllt – vor ihnen lag ein Zwilling des Königsrubin, ein Königinnenrubin! »Jetzt bist du aber frohsla!«, sagte Tofsla. »Und ob!«, rief der Zauberer und hüllte das leuchtende Kleinod zärtlich in seinen Mantel.
»Jetzt dürfen alle Waldmäuse, Tierchen und Hopsler im ganzen Tal sich wünschen, was ihr Herz begehrt! Ich werde eure Wünsche erfüllen, bis der Morgen graut, denn vor Sonnenaufgang muss ich wieder zu Hause sein.« Nun ging das Fest erst richtig los! Vor dem Zauberer wand sich eine lange Schlange aus piepsenden, lachenden, brummenden und quietschenden Waldbewohnern, die alle einen Wunsch erfüllt haben wollten. Wer etwas Dummes wünschte, durfte seinen Wunsch wiederholen, der Zauberer war nämlich glänzender Laune. Alle schwangen mit neuer Kraft das Tanzbein, und Schubkarren voller frischer Pfannkuchen wurden unter den Bäumen angefahren. Der Hemul ließ einen Feuerwerkskörper nach dem andern los, und der Muminvater brachte seine Memoiren in ihrem schönen Einband heraus und las über seine Kindheit vor. Noch nie war so ausgiebig im Mumintal gefeiert worden! Oh Wonne, wenn man alles aufgegessen und ausgetrunken hat, wenn man über alles geredet und sich die Füße müde getanzt hat und dann in der stillen Stunde vor Sonnenaufgang zum
Schlafen nach Hause gehen darf! Der Zauberer fliegt ans Ende der Welt und die Mäusemutter kriecht unterm Gras in ihr Loch, aber beide sind gleich glücklich. Und am allerglücklichsten ist vielleicht Mumin, der mit seiner Mutter durch den Garten nach Hause geht, während der Mond im Morgengrauen verblasst und die Bäume sich leicht im Morgenwind wiegen, der vom Meer hereinweht. Jetzt zieht der kühle Herbst ins Mumintal – denn sonst könnte es ja nicht wieder Frühling werden.