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Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Science Fiction Spezial
Visionen 1
'Visionen' ist eine kost...
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Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Science Fiction Spezial
Visionen 1
'Visionen' ist eine kostenlose Science Fiction Anthologie von www.WARP-online.de, dem Fantastik Magazin. Alle Rechte der Geschichten und Bilder verbleiben bei den jeweiligen Autoren und Künstlern.
Visionen 1 Copyright 2003 WARP-online Herausgeber: www.WARP-online.de Satz und Layout: Bernd Timm Alle Texte und Bilder sind bereits jeweils einzeln bei www.WARP-online.de erschienen und zur Veröffentlichung durch WARP-online freigegeben. Die Magazin-Reihe ist eine Sammlung von Beiträgen, die zusätzlichen Kreis interessierter Leser anspricht und die Namen der Autoren und Künstler bekannter macht. Weder das Fehlen noch das Vorhandensein von Warenzeichenkennzeichnungen berührt die Rechtslage eingetragener Warenzeichnungen.
1000 Seiten Fantastik www.WARP-online.de bringt das ganze Spektrum der Fantastik: Bilder, Geschichten, Artikel, Projekte, Reportagen, Interviews, Wissenschaft, Comic, Kostüme, SF-Kabarett, Lyrik, Film-& TV-Projekte, Modelle und mehr!
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Inhalt Cover von Gerhard Börnsen Was Aliens an Geld bringen
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von Max-Leonhard von Schaper Filme, Bilder, ruft die Zeitungen an, wir brauchen Kameras, Aufnahmegeräte und Stadien. Das wird live in Fernsehen und Internet übertragen, natürlich gegen Gebühren, und Magazine, ja wir brauchen eigene Magazine dafür.
Orbit
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von Thomas Kohlschmidt Richte Deine Blicke in einer kalten Nacht in den Himmel und denke an das Geheimnis im Orbit...
Zeitsturm
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von Heiner Lösmann Die Zeitkriege toben. Unerbittlich wird über die Herrschaft über Jahrhunderte gerungen. Dabei gibt es fatale Unfälle...
Lust
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von Thomas Kohlschmidt Stell dir vor, du bist ein Alien, weit weg von Zuhause und allein in einem Raumschiff, daß durch die Energie von Orgasmen angetrieben wird. Eine verrückte Idee? In der Tat, und das ist noch nicht alles.
Drei Welten
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von Andreas Schlichte Der Gilde-Händler wollte eigentlich nur ein paar gute Geschäfte auf dem Planeten machen, bevor die Ungebundenen ihn ausplündern würden. Aber auf ´Mutters Welt´ laufen nicht nur die Uhren anders...
Zu den Sternen
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von Thomas Kohlschmidt An Bord der Raumstation MIR häufen sich die technischen Katastrophen. Kosmonaut Vladimir bekommt unheimliche Visionen, und er meint endgültig den Verstand zu verlieren. Aber es kommt anders.
F.R.S.
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von Holger Grandpair Rowl Antube hat lange gezögert: Was kann er schon gegen die gnadenlose Maschinerie des Zukunftsregimes unternehmen? Die Chronik einer Unterwerfung und eines Widerstandes.
Das Dämmerungsvolk Von Ulrike Nolte Wird sich die Hoffnung des Volkes von „Biotop 57“ erfüllen? Für Manche sind sie nur ein GenPool...
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Was Aliens an Geld bringen von Max-Leonhard von Schaper
Filme, Bilder, ruft die Zeitungen an, wir brauchen Kameras, Aufnahmegeräte und Stadien. Das wird live in Fernsehen und Internet übertragen, natürlich gegen Gebühren, und Magazine, ja wir brauchen eigene Magazine dafür.
14.00 Uhr, Dunst legt sich auf den Flughafen, auf dem nur ein Helikopter auf dem Platz in der Nähe der verlassenen Startbahn steht. Gras ist durch den Plaston gewachsen, die Farbe verblasst, und die Leuchtfolien für die Start- und Landebenen flattern im Wind. Die große Kuppel am Hauptgebäude ist eingestürzt, und die Fensterscheiben sind herausgebrochen worden von Arbeitslosen und Schrotthändlern. Verlassen und zerbrochen, der ideale Platz für Geschäfte, oder? "Filme, Bilder, ruft die Zeitungen an, wir brauchen Kameras, Aufnahmegeräte und Stadien. Das wird live in Fernsehen und Internet übertragen, natürlich gegen Gebühren, und Magazine, ja wir brauchen eigene Magazine dafür." Ruft der Mann im dunklen Anzug aus. Er ist aufgestanden und deutet mit den Händen die riesigen Geldbeträge an, die mit seinen Ausführungen über den Tisch gehen werden. Die beiden anderen Männer bleiben jedoch lässig in ihren Sesseln sitzen. Der Mann im dunklen Anzug nimmt jetzt einen Stift in die Hand und reißt ein Blatt von seinem Block, kritzelt Zahlen und Namen auf das Papier und schiebt es dann aufgeregt dem einen zu. Dieser beachtet es nicht und sagt nur: "Ja. Ich weiß sehr wohl, was wir brauchen und was es uns bringt. Und wissen sie was? Mein Kollege und ich sind darüber einig: sie kriegen den Auftrag und wir beide hoffen, dass sie damit genug Geld machen können um die Schweiz zu kaufen. Aber wir als... Vermittler brauchen unser Entgelt..." "Natürlich, sagen sie wie viel, tausend Millionen? Zehntausend? Südafrika? Sagen sie was!" fällt der Mann im dunklen Anzug dem Vermittler ins Wort. "Warten sie und lassen sie mich aussprechen: Wir wollen kein Geld, noch Grundbesitz. Was wir wollen ist ein Vertrag." "Ein Vertrag?" fragt der Geschäftsmann verdutzt. "Aber... nun gut, was für einen wollen sie? Ein Prozent des Gewinns? Die Rechte an der Mitbestimmung für die Agrarpolitik? Einen Vertrag für den Zweitkontakt? Ich kann ihnen alles besorgen!" "Wirklich alles?" fragt der zweite Vermittler und steht auf. "Was wir wollen ist etwas komplizierter. Sehen sie, seit der letzten Rezession hat sich in den Vereinigten Emiraten ein Druck aufgebaut. Öl wird immer bedeutender und seit den Attentaten auf die Wissenschaftler der Wasserstoff-Forschung und den Bomben in Tokyo, hat sich die Welt geändert. Die USA hat sich isoliert, die Ölreserven von Alaska sind nur noch für US-Angelegenheiten da, die Nordsee ist geplündert und Antarctica ist noch immer verstrahlt. Diese chronischen Risse der Strahlenschilde werden häufiger und Teile von Südamerika sind schon betroffen. Das Öl für den Betrieb ist rar, und das Plutonium ist nicht sicher, wie uns Irkuts gezeigt hat. Schätzungen sagen, dass die Strahlung noch an die Zehn- bis Zwanzigtausend Jahre stabil bleiben wird. Aber ohne Energie werden wir unsere falsche Atmosphäre wohl bald verlieren. Tja... Die Erde ist ein sterbendes Pflaster. Und das was wir anbieten ist die Rettung. Kontakt zu einer Spezies, die nicht auf der Erde lebt sondern... mit Raumschiffen fliegen kann, die schneller als das Licht fliegen, die Möglichkeit auszuwandern, der große Exitus, die Diaspora, als das bieten wir. Und sie... bieten uns was? Geld? Wir wollen einen Vertrag auf den Stopp der Rassenverfolgungen in Europa. Wir wollen, dass unsere Art endlich akzeptiert wird. Und dieser Vertrag soll uns die Gesetze dafür erkaufen! Wir wollen einen Vertrag, in dem steht, dass alle Staaten der Welt jede Rasse gleich behandelt und unsere Spezies nicht länger untergeordnet wird. Wir wollen Akzeptanz. Ist die Welt nicht bereit Toleranz zu geben, wird sie sterben." 4
Der zweite Vermittler setzt sich wieder, der Geschäftsmann blickt ihn mit erstauntem Gesicht an. "Jetzt wissen sie, was wir wollen, nun?" fragt der erste Vermittler. Der Geschäftsmann setzt sich, blickt von einem zum anderen und öffnet und schließt den Mund ohne einen Ton herauszukriegen. Dann fasst er sich und fängt an zu sprechen: "Also dass... wird nicht unmöglich sein. Menschen können geändert werden, Gesetze wie diese dürften kein Problem sein." Ein Lächeln legt sich auf die Züge des Geschäftsmannes. Dieser Vertrag ist lächerlich, denkt er sich, Hauptsache sie unterzeichnen und geben mir die Frequenz. Und dann zur Hölle mit diesen Zentphilen. Diese Krüppelhörner sind doch nur durch Zufall darauf gestoßen und jetzt wollen sie GLEICHBERECHTIGUNG, Scheiß Krüppelhörner. Der Mann holt aus seiner Tasche einen Vertrag, setzt ihn auf und unterzeichnet. Dann dreht er ihn den beiden zu. Diese unterzeichnen und holen ein Gerät hervor, dass eine Zahl anzeigt: 126,1° Die Frequenz! Der Geschäftsmann nimmt den Apparat, steckt ihn in die Tasche und holt eine Pistole hervor, drückt zweimal ab und steckt sie wieder weg. Als er aufsteht lässt er etwas fallen, ein kleines Röhrchen mit einer weißen Substanz. Diese Substanz zerfließt beim Aufprallen auf dem Boden und ein Schaum bildet sich, der sich rasend im ganzen Raum verteilt, die beiden Leichen und den Tisch umfließt. Der Geschäftsmann wartet kurz und geht dann durch den Schaum aus dem Raum. Minuten später hört man nur ein kleines Blopp und der angestaute Druck im Schaum entlädt sich. Ein Krachen und Donnern ist die Folge. Und hinter dem Helikopter, der nun hoch in der Luft Richtung Brasilia fliegt, explodiert das alte Hauptgebäude des Flughafens.... Und unter hämmernden Regen landet er, der Mann steigt aus und rennt in ein Auto, grüßt den anderen Mann darin und zeigt ihm das Gerät. Dieser andere Mann hat ein Schildchen angesteckt, das ihn als Staatspräsidenten der Neuen Zentralregierung Südamerikas auszeichnet. "Wie ich sehe ist alles zu unserer Zufriedenheit verlaufen, kommen sie, ich habe eine Direktleitung zum Radioteleskop New Hampshire in den Anden legen lassen. Die Strahlenrisse im Schirm werden größer. Das Emirat hat wieder eine Sperre gelegt und der Generator steht seit zwei Tagen still. Wir müssen jetzt in Kontakt kommen, Feuerland glüht schon." Der Präsident entreißt dem Geschäftsmann das Gerät und übermittelt die Zahl dem Radioteleskop. "Jetzt müssen wir nur noch vier Minuten warten, dann ist alles neu eingestellt." Zufrieden lehnen sich beide in die Polster des Wagens. Blitze, Feuer, und Hitze, dann Dunkel Mit einem Ruck lösen sich die beiden in Kutten gekleideten Zentphilen aus ihrer Verbindung. Mit einem kleinen Blitz lösen sich die beiden Hörner voneinander und die beiden blicken sich traurig an. Schweigend stehen sie auf und verlassen den dunklen Raum, treten hinaus in den Flur und gehen ihn entlang. Auf dem Weg in die Versammlungshalle treffen sie viele und jedem wagen sie nicht in die Augen zu schauen, sie schütteln nur den Kopf. Und jedesmal hört man beim Weitergehen die Anrufung an die Morgendämmerung. Dann erreichen die beiden die Halle und treten ein. Tausend und mehr Zentphilen stehen hier eng an eng und warten. Die beiden Schweigenden schütteln nur den Kopf und ein Schluchzen geht durch die Reihen, Rufe nach Hilfe und Unverständnis gehen durch die Halle. Dann fängt einer an vor sich hin die Anrufung zu murmeln. Und wie auf einen Befehl sprechen nun alle die Worte, die seit sieben Jahren durch Munde der Zentphilen gehen, die Worte der Morgendämmerung. Es ist ein Ritual, das kurz vor dem Tod gesprochen wird. Und nur ein junger Zentphil spricht sie nicht, sondern schaut aus dem Fenster, sieht die Sonne in ihrem wahren Antlitz und schreit auf. Niemand beachtet ihn und seinen Tod, sondern nur die Anrufung zählt. Und durch das Fenster dringt die Sonne ein und tötet alle, verbrennt ihre Haut und läßt sie schreien. Zuletzt stürzt das Gebäude ein, geschmolzen sind die Pfeiler zum Stützen. Ein kleines Piepen an einer Wetterstation in der Nähe zeigt an, dass die Strahlungswerte Tausend mal zu stark sind; der Schild ist gebrochen.
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Der Präsident zuckt zusammen als ein kleines Piepen dem Empfang ankündigt: Die Verbindung ist hergestellt, jetzt wird der Erstkontakt hergestellt! Er richtet sich auf und drückt Empfang: "....So so so, we don't know..." tönt der alte Song aus dem Lautsprecher. Der Präsident dreht den Kopf, schaut den Geschäftsmann an und weiß: Die Erde ist verloren. Die Frequenz war falsch, das Raumschiff der Aliens hat eine andere, die Zentphilen haben falsch gespielt, oder aber davon gewußt, klar... das falsche Gerät, und nach dem Vertrag vielleicht das echte? Oder doch nie eine Chance? Und als die ersten Tränen kommen stoßen schon die Strahlen der Sonne durch die getönte Scheibe, lassen das Polster und die Kleidung brennen und Blasen schlagen auf der Haut. Nur noch Schreie sind zu hören, doch keiner hört sie, da die Welt verbrennt... aus Dummheit.
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Orbit von Thomas Kohlschmidt
Richte Deine Blicke in einer kalten Nacht in den Himmel und denke an das Geheimnis im Orbit...
In kalten Nächten stand er allein auf den Feldern vor der Stadt. Hier wurde der Himmel nicht von den abertausend Lampen aufgehellt, sondern breitete sich in tiefstem Schwarz von Horizont zu Horizont aus. Die Sterne stachen klar hervor und blinzelten. Der Wind blies schneidend, sodass es ihm in den Ohren schmerzte. Er war froh, so eine dicke Jacke gekauft zu haben. Ein wenig sah er aus wie der MichelinMann aus der Reifen-Werbung: wulstig und rund. Aber hier draußen sah ihn sowieso niemand. Wer würde sich hier in der Finsternis auch sonst noch herumtreiben? Man saß jetzt für gewöhnlich im Kreis der Lieben und unterhielt sich, spielte Spiele, knabberte Salzgebäck oder sah fern. Einige Freaks mochten auch um kühlen Blaulicht ihrer PC-Schirme hocken und Lara Croft durch Tempel jagen, gefangen in steril-schwülen Wunschträumen. Ihn ging das alles nichts an. Er starrte stets nach oben. Dabei vergaß er die Zeit. Ganz langsam wanderten die Sternbilder von Osten nach Westen, und grelle Punkte zogen inmitten der fernen Sonnen ihre Bahnen. Da war der rötliche Mars, heute nahe dem Bild des Orion, dort blitzte Merkur. Er hüstelte und fingerte in der rechten Jackentasche nach seiner Tüte voll Salmis, denn ihm wurde oft der Mund trocken. Am Rande des Feldes konnte er gegen den dunklen Himmel die dürren Zweige der Bäume erkennen. Wie überdimensionale Forken standen sie da, nackt und entblättert. Bald würde es Schnee geben, der Frost überzog das Land mit Reif. In der Ferne bellte ein Hund, hupte zuweilen ein Auto. Manchmal hörte er Flugzeuge, ohne jedoch ihre Positionsleuchten in der Nacht ausmachen zu können. Unsichtbar waren sie. Unsichtbar... Seine Gedanken wanderten stets, so wie seine Blicke, tasteten am Himmel. Irgendwo da oben mußte auch sein Gefährt sein. Er hatte es zum ersten Mal als Junge gesehen, im Traum. Später hatte er es versucht zu malen. Er besaß heute noch einige der ungelenken FilzstiftZeichnungen von früher. Dann hatte er ähnliche Gebilde in Fernseh-Serien entdeckt. Stolze Maschinen, die die Weiten des Alls durcheilten. Und er hatte davon gelesen. Jeder Zeitungsartikel wurde ausgeschnitten. Über die Jahre war eine beachtliche Sammlung entstanden. Berichte, sortiert nach `Raumfahrt´, `UFOs` und `SF`. Hunderte von Bildern besaß er nun. Romane zu dem Thema, Comics, Modelle. Und er hatte selbst angefangen, das Fahrzeug zu suchen. Er hatte so manche Nacht besessen gemalt oder geschrieben, um seine Proportionen abzugreifen, seine Natur zu erfassen, seinen Geist einzufangen. Und die Bestimmung! Er war zu einem Phantasten geworden, einem Künstler, der verzweifelt und besessen sein Ziel verfolgte. Er suchte nicht die blaue Rose oder das Antlitz des ewig Weiblichen, nicht Gott oder die Letzte Wahrheit. Er suchte sein Schiff. In Nächten wie dieser wußte er, dass es da oben auf ihn wartete. Er war sein Captain, vor Jahrzehnten verschollen. Er mußte wohl sein Gedächnis verloren haben, aber sein Unterbewustes funktionierte noch. Es schickte ihm pausenlos Signale. 7
Signale, die ihm täglich bedeuteten, dass er kein Mensch war und nicht auf diesen trostlosen Planeten gehörte. Die Weiten warteten, die Wunder der Existenz, da draußen. Und wenn er ganz genau hinsah, glaubte er einen Schimmer zwischen den Sternen zu sehen. Er richtete sein Fernrohr darauf und kniff die Augen zusammen. Das mußte es da oben sein: Sein Schiff im Orbit. Es wartete schon so lange treu auf seine Rückkehr. "Eines Tages", flüsterte er, "Eines Tages..."
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Zeitsturm von Heiner Lösmann
Die Zeitkriege toben. Unerbittlich wird über die Herrschaft über Jahrhunderte gerungen. Dabei gibt es fatale Unfälle...
Daren rannte über den nassen Asphalt hinüber zum Temporal-Schiff. Sein Helm scheuerte im Nacken, und Wasser rann ihm über das müde Gesicht. Seine Bartstoppeln zwickten am Kragenwulst. "Scheiße", dachte er, "Das wird diesmal knapp." Er erreichte die Leiter zum Einstiegsschott, wuchtete sich den Rucksack noch einmal in anderer Position über die Schulter und schaute gegen den trommelnden Regen nach oben. Die Aggregate des Kampf-Zeiters glühten bereits, pulsten im Vorwärm-Modus. Er stemmte sich die Stiegen hoch. Was für ein Gewicht so ein Einsatz-Pack doch hatte. Schweiß mischte sich in das Wasser vom Himmel und perlte ihm in die Augen. Endlich war er oben und im Trockenen. Das Schott fuhr zischend herunter. "Ah, Daren. Sie sind mal wieder der Letzte! Machen Sie zu, kommen Sie hier rüber!" Commander Paulsson stand in voller Montur im Mannschafts-Hangar. Breitbeinig hatte er sich vor dem Bodenschlepper aufgebaut und funkelte ihn scheinbar böse an. "Aye, Sir!" versuchte Daren zackig zu sagen, aber es gelang ihm nur eine matte, nachlässige Variante. "Hoffentlich schaffen wir das Auftauchen aus unserem Zeitstrom noch!" dachte er verzweifelt. Die alte Angst des modernen Kriegers. Fast konnte man sich die Zeit der Regional-Kriege zurückwünschen. Da fanden Kriege wenigstens innerhalb einer Zeit statt und verwüsteten höchstens Lebensräume... Daren schleppte sich hinüber in 'Reih und Glied', zu den Kameraden, die schon vor Paulsson strammstanden. Er ließ den Rucksack zu Boden gleiten und stellte sich in Hab-Acht-Stellung davor, wie alle. Er spürte ein Vibrieren unter seinen Füßen, das typische Anspringen der Antriebs-Aggregate. Der Kampf-Zeiter erwachte zum Leben. "Männer!" schrie der Commander wie immer zu Beginn einer Mission, "Uns erwartet wieder einmal eine Bergungs-Aktion, 1125 Jahre strom-abwärts." Daren zog sich der Magen zusammen. Das war einer der umkämpftesten TemporalAbschnitte: die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, die Ära der ersten Nuklear-Waffen. Jeder hier wußte, daß das eine von drei Sperr-Zonen war. Zivile Zeitschiffe durften hier nicht in Eintauch-Geschwindigkeit gehen, räumlich gesprochen. Daren hatte sich zwar inzwischen daran gewöhnt, aber es fiel ihm immer noch schwer sich unter einer 'Zeitreise-Geschwindigkeit' den Grad der Verzerrung des Temporalgefüges vorzustellen und den sogenannten realitiven Schiffswinkel zum nächsten Zeitstrahl. "Wir werden zusammen mit der '4. Zeitsturm-Staffel' einfliegen. Cox und Krauss werden die beiden Geschwader jenseits des Parallel-Stroms übernehmen. Wir gehen mit diesem und drei weiteren Zeitern direkt in unseren Strom!" "Wenn es nur nicht wieder zu einem Cross-Over kommt...", stöhnte der Mann neben Daren. "Wenn wir dabei noch in Inter-Zeit sind, könnten wir vielleicht kompensieren", antwortete er dem Hünen, der aber schüttelte den Kopf. Okay, so eine Kompensation hatte erst zwei-dreimal geklappt. Beim erfolgreichen ZeitEinsatz kam es eben darauf an, zwischen parallel in der Inter-Zeit liegenden TemporalStrömen hindurchzutauchen und ein Verschlingen ähnlicher Daseins-Schienen zu vermeiden. 9
Sonst konnte es leicht geschehen, daß Teilwelten des Zeitstrom-Spektrums zerstört wurden. Die Kriege der letzten Standard-Zeit-Jahre hatte im Zeitspektrum schon mehrere TotSchneisen gerissen. Daren fühlte Wut in sich aufsteigen. Er würde seine Heimat in den Weiten der Alternativzeiten bis zuletzt verteidigen. Er wäre jederzeit und überall bereit für den Erhalt seiner Realität zu sterben. Das wäre allemal besser als bei der Rückkehr eine entartete Realität vorzufinden, in der InterZeit zu stranden oder schließlich in einen x-beliebigen Zeitstrom hinabzukippen. Wie viele Kameraden waren schon so verschollen, verschwunden in einem unwirtlichen Teil des Spektrums.Der Zeiter schwang sich, verpackt in ein Kissen aus Temporalfeldern, Jahrzehnte am Zeitstrahl ihrer Welt zurück. Der Bereich der Inter-Zeit war visuell nicht zu erfassen. Früher hatte Daren nach Fenstern im Schiff gesucht und später erfahren, daß diese erst nach Eintauchen in die Standard-Zeit innerhalb eines angeflogenen Zeitstroms geöffnet wurden. Dann begann das räumliche Sehen. "Im Inter-Zeit-Abschnitt Z52/308 ist unser '27-stes' in ein Minenfeld der 'Armada' geraten. Hohe Verluste. Abstürze über einen Zeitraum von 32 Standard-Jahren in unseren TemporalStrom hinein. Wir sollen einen der frühesten Abstürze sichern und bergen! Dazu müssen wir am Minenfeld vorbei und an einer Einheit mit Gegen-Zeit-Werfern." "Oh, Mann!" stöhnte der Hüne wieder, "Uns bleibt auch nichts erspart." Paulsson warf seinen Kopf herum, fixierte den Soldaten aus bösen Augen und schlich dann wie ein Panther auf ihn zu. "Sparen Sie sich Ihre destruktiven Einwürfe, Zeit-Maat Jadan! Wenn es Ihnen hier zu heiß wird, sollten Sie Ihren gepflegten Zucker-Arsch vielleicht lieber zur Regional-Marine verfrachten!" Dann wandte er sich wieder an die zwölfköpfige Mannschaft ihres Zeiters. "Besetzt die Geschütze. In fünf bis sechs Minuten Bordzeit geht es los. Minen-Ortung läuft. Soweit alles klar, noch Fragen?" "Ja", sagte Daren, "Gibt es Meldungen darüber, ob es bereits Temporal-Strom-Umlenkungen seit unserem Start gegeben hat?" "Nein, Daren. Negativ. Wir gehen im Moment davon aus, daß unsere Heimat existiert. Weswegen sind wir sonst hier?" "Für Rache, Sir!" Der Commander sah ihn für Sekunden ausdruckslos an, dann sagte er: "Das wäre Stufe Zwei. Verlassen Sie sich drauf!" Daren atmete tief aus. Dieses war das größte Grauen der heutigen Kriege, wenn es dem Gegner gelang in den frühen Zeitstrom einzutauchen und den bis dahin natürlichen Gang der Dinge zu verändern. So zu verändern, daß der Feind der Zukunft einfach verschwand oder rechtzeitig Sklave wurde. Sollte so eine Manipulation von der 'Armada' vergenommen worden sein, waren sie mit diesem Schiff wenigstens noch rausgekommen.Ein Ruck lief durch den Zeiter. Die erste Explosion war erfolgt. Zeitminen waren teuflische Dinger. Während Daren zu seinem Kampfstand hochstieg, sah er vor seinem geistigen Auge diese harmlos scheinenden Zylinder auftauchen. Die 'Armada' war seit Beginn des 3. Zeitkrieges auf diese Mordmaschinen spezialisiert, der 'Zeitsturm' setzte mehr auf Gegen-Zeit-Felder. "Laßt die Dinger nicht näher als drei Sekunden Relativ-Zeit an uns heran!" schrie ihnen Paulsson von unten zu. "Ich bin doch kein Anfänger mehr", murmelte Daren und startete das Abwehr-Programm seines Feld-Werfers. Es würde jetzt darum gehen, das Zeitfeld der Minen aufzureißen, bevor diese ihrerseits die kontinuum-verzerrenden Kräfte des Schiffes stören konnten. Es würde zu einer Art 'Armdrük10
ken' von Kraft und Gegenkraft kommen. Der Verlierer würde seine Inter-Zeit-Integrität verlieren und durch den raschen Übergang auf das Unterniveau über viele Minuten hinweg zerrissen werden. Daren nannte soetwas eine 'Zeit-Explosion'. Paradox fand er es immer wieder, daß der zerstörte Gegner in seinen Raumkoordinaten noch unversehrt bleiben konnte, nur seine Zeit-Struktur war desolat. "Auf die gute alte Raum-Zeit-Stabilität!" zischte er grimmig und sah auf dem Peilschirm seiner Überwachungszone mehrere Minen heran driften. Dieser Schirm rechnete Zeitdistanzen in räumliche Darstellung um, damit die Konstellationen vom menschlichen Gehirn verarbeitet werden konnten. Daren versuchte jetzt nicht daran zu denken. "Weg mit den Scheißern, zack!" Er steuerte die Parameter des Abwehrprogrammes auf höchsten Freiheitsgrad. Vier Sekunden jenseits des Zeiters desintegrierte die erste Mine , dann erwischte es schon die Nächste. Das fing gut an. Seine Kameraden schienen ebenfalls Erfolg zu haben. Er konnte Jubel aus mehreren Kampfständen hören. Dazwischen tönte der Commander: "Sehr gut, Männer! Aber werdet nicht übermütig! Voll drauf!" Zack, Zack, Zack und nochmal... Ein mächtiger Schlag dröhnte durch das Schiff. Verdammt! Das mußte ein Treffer der 'Armada' sein. Gegen-Zeit-Felder! Sie legten sich so schnell 'schräg' zur bisherigen Inter-Zeit-Koordinate, daß die Kompensatoren nicht hinterher kamen. Die Mannschaft wurde in ihre Sessel gedrückt. Schmerz zuckte durch Darens Brustkorb. Er mußte husten. Wie oft hatte es ihn in diesem Krieg schon fast erwischt? Er rang nach Luft. Sein Feld-Werfer putzte wieder mehrere Minen beiseite. Die Todes-Teppiche der 'Armada' wurden immer größer. Er hatte oft schon den Verdacht gehabt, daß sie Waffen-Nachschub aus parallelen Zeitströmen bezogen. Der Nachrichtendienst des 'Zeitsturms' hatte wiederholt merkwürdige Nachrichten aus ungewöhnlichen Spektrum-Zonen aufgefangen. Leider waren diese verschlüsselt und verstümmelt gewesen. "Hauptsache unser Inter-Zeit-Krieg mischt sich nicht mit dem zwischen anderen Zeitströmen." So ein Multi-Crossover wäre nicht einmal mehr von ihren besten strategisch-taktischen Rechengehirnen zu meistern. Das wäre Schach auf unendlich vielen Ebenen, Jonglieren mit Milliarden von Bällen. "Scheißer!" schrie Daren. Das Schiff schlingerte wieder, irgendwo tönte ein Alarm. Er warf einen Blick über seine Schulter zurück und hinunter durch das Bodenluk in den MannschaftsHangar. Dort flackerte rotes Not-Licht. "Die haben uns doch wohl nicht erwischt?" Er mußte Panik niederkämpfen. Das Blut schoß ihm in die Ohren, für einen Moment wurde ihm schwindelig. Seine Atemzüge klangen viel zu laut. Schweiß lief wieder durch seinen Stoppelbart. "Wir sind gleich durch!" Das war der Commander. Daren setzte sich in seinem Kampf-Sitz auf und kniff die Augen zusammen. Die Peilung zeigte jetzt nur noch sechs Minen in seinem Abschnitt an. "Euch geb' ich die Breitseite..." Die Leuchtpunkte auf dem Schirm blendeten sich einer nach dem anderen aus, bis auch der Letzte verschwunden war. Geschafft. Der Zeiter glitt auf seinem Felderkissen in Eintauch-Position. Datenreihen liefen mit unvorstellbarer Geschwindigkeit durch die Speicher-Module der Bordrechner, wurden verglichen, 11
sortiert, verdichtet, umgeformt und nach programmatisch vorgeschriebenen Rhythmen neu verteilt. Das Ping-Pong-Spiel der beteiligten Dateien und Programme zog jetzt die Energien des Schiffes zu sich. Nicht benötigte Komponenten wurden abgeschaltet oder zumindest heruntergefahren. Es würde dunkler und kälter. "Eintritt in vier Sekunden Bordzeit!" Was hatte der Commander gesagt? Sie würden Mitte des 20. Jahrhunderts in den Strom springen. Nuklear-Zeitalter. Aber über die Regional-Koordinaten hatte er nichts gesagt. "Hauptsache der Bordcomputer weiß Bescheid..." Ein Ziehen lief durch seinen Magen. Die Sequenz begann. Vier, Drei, Zwei... Das Schiff wurde von Irgendetwas gepackt. "Treffer der 'Armada'!!" schrie es in Darens Kopf, da war der Countdown zuende, und sie verließen schlagartig die Inter-Zeit. Die Fensterschotten surrten und glitten beiseite. Wirbelnde Wolken kamen jenseits der entspiegelten Scheiben zum Vorschein. Sie brausten über den Himmel, also lag ihr Einsatzgebiet nicht in Neuseeland, wo ihre Basis über 1000 Jahre in der Zukunft lag. Er sackte in seinen Sessel zurück und starrte eine Weile auf die tobenden Gewalten da draußen. Bizarre Schwaden türmten sich auf und zerissen, Luftwirbel heulten. "Mannschaft zum Briefing!" befahl der Cammander, und so mußte sich der müde Soldat von dem Naturschauspiel abwenden und hinabsteigen. Er eilte durch den Hangar zu seiner Position. "Männer, das war ausgezeichnet! Ein sauberer Durchbruch! Wir befinden uns nun im Jahr 1947. Genauer gesagt ist es die Nacht zum 2. Juli 1947. Unser Auftrag besteht darin, einen abgestürzten Zeiter unseres Gen-Kommandos zu bergen, bevor die Menschen dieser Zeit das Schiff entdecken. Die Entdeckung unserer Technologie in den politisch instabilen Zeiten des 20. Jahrhunderts könnte verheerende Folgen haben und die Zukunft, so wie wir sie kennen, auslöschen. Aber das dürfte hoffentlich jedem klar sein: Beim Bergungseinsatz darf keinesfalls Kontakt zur Bevölkerung aufgenommen werden oder Ausrüstung zurückbleiben." "Sir, wieviele Gen-Soldaten sind in dem abgestürzten Schiff?" "Drei. Spezial-1B-Mutanten. Erweiterte Hirnkapazität, konfigurierte Augen." Da erscholl eine Sirene. "Verdammt, was...?" Alle sahen sich erstaunt an. Der Commander ging zur Zentralkonsole und warf ein paar Blikke auf die Displays. Dann verdunkelte sich sein Gesicht. "Die Mission wurde automatisch vom Rechner abgebrochen. Der letzte Treffer der 'Armada' hat uns böser erwischt als vermutet. Bevor wir hier in dieser Zeit stranden und nicht mehr starten können heißt es Abpfiff für uns. Scheiße!" Daren fühlte die Enttäuschung durch alle Knochen fahren. Das Schiff schwang zurück in die Inter-Zeit, vorbei an den Gewitterwolken über dem kargen Osten von New Mexico, zwischen Corona und Roswell.
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Lust von Thomas Kohlschmidt
Stell dir vor, du bist ein Alien, weit weg von Zuhause und allein in einem Raumschiff, daß durch die Energie von Orgasmen angetrieben wird. Eine verrückte Idee? In der Tat, und das ist noch nicht alles.
Drei Wochen Bordzeit waren vergangen, und Xelvver stand am Rande des Wahnsinns. Er atmete schwer. Seine Augen tränten und brannten wie Feuer. Die ganze Zeit hatte er gekämpft, nur um jetzt zu einem Häuflein Elend zusammenzuschmelzen. Wenn das seine Kameraden daheim wüßten, sie würden ihn mit Spott und Hohn überziehen: "Sowas kann auch nur Dir passieren, Xelvver! Das ist ja zum totlachen!" Ja, anfangs hatte er sich auch noch amüsiert, aber die Heiterkeit war längst verflogen. Wieder zuckte Schmerz seinen Nacken hinauf, teilte sich am Stammhirn in unzählige Ströme und drang in sämtliche Hauptneuronen ein, nur um noch weiter zu verzweigen, bis in die letzten Verästelungen der Synapsen zu perlen und hier zu explodieren. Er hatte gelbe Punkte vor den Augen. Sie tanzten, tanzten, tanzten... Xelvver stieß ein Stöhnen aus. Speichel troff ihm aus dem Mund und klatschte vor ihm auf die Konsole. Unwillig wischte er den Schleim mit dem Ärmel seiner verschwitzten Uniform beiseite. Dafür, daß er nun schon drei Wochen über den Termin hinaus war, ging es ihm wahrscheinlich noch recht gut, versuchte er sich zu sagen. An Schlaf war seit dem Ausfall des Ero-Trons nicht mehr zu denken gewesen. Kein Wunder also, daß er vor seinem eigenen Gesicht erschrecken mußte, wenn er es in den Spiegelungen der Konsolen und Holo-Schirme wie einen kranken Mond herüberleuchten sah. Alt und faltig sah es aus. "Ich habe selbst schuld", murmelte er, "Warum fliege ich auch allein auf so eine Tour. Jetzt kann mir niemand helfen." Nach Jahren der braven Arbeit in Teams hatte er sich immer öfter dabei erwischt, wie er unter dem kühlen Nachthimmel von Halsed gestanden und zu den Sternen aufgeblickt hatte. Ja, in den letzten Jahren hatte Xelvver ein zunehmendes Drängen gespürt, dem Trubel seines Postens zu entfliehen, all diesem Gehacke in den Hierarchien der Kuben und Sphären. Die Einsamkeit der Sterne hatte Sehnsüchte geweckt, Träume von Ruhe und Weite. Er widerstand ein weiteres Mal dem Schmerz in Kopf und Unterleib, der ihn aber erneut an seine Lage erinnerte: Er war gefangen in einem dahinrasenden Scout-Schiff, das eine fremde Sternenwüste absuchte; gefangen in einem vor Lust glühenden Körper, der sich in wenigen Tagen unweigerlich selbst zerstören würde, wenn es keinen Drang-Bruch gab. Aber wo sollte die Erlösung herkommen? Das verfluchte Ero-Tron war hinüber, die Ersatz-Module bekam Xelvver nicht mehr zusammen und ein Gegenpol-Partner war schließlich nicht zu erreichen. Es war zum Auswachsen! "Meine Konzentration ist schon von dem Energie-Stau geschwächt. Ich kann kaum noch an etwas anderes denken, als..." Vor seinem geistigen Auge tauchte wieder diese aufreizende Hexe auf. Sie leckte sich die Lippen, sie wippte mit den langen Beinen, sie fuhr sich mit der Hand über den strammen Bauch und hin zu ihrem Geschlecht, das Luder. Er mußte hecheln und schüttelte den dröhnenden Kopf. "Ver-schwin-de! Hau ab, Miststück!" keifte er und schlug auf die Armlehne seines Pilotensessels, daß es dröhnte. 13
So konnte es nicht weitergehen. Er brauchte unbedingt die Reiz-Sequenz! Nur sie würde ihn erlösen können und seinen Körper beruhigen. Zu Hause auf Halsed kam es zwischen den sechs Geschlechtern rund einmal pro Mondzyklus zur lustvollen Verschmelzung, also etwa einmal pro Woche Bordzeit. Jede Entladung zwischen zwei gegenpoligen Partnern schuf an die 5000 Nachkommen in einer einzigen Nacht. Es war wie die Entfesslung eines Energietornados, in dessen Innerem sich die neuen Wesen einfanden. Das Wunder dieser Geburt war den Halsedern bis heute ein Rätsel. Es hatte nichts gemein mit den Fortpflanzungs-Arten all der vielen anderen Völker, denen die Halseder während ihrer zahlreichen Reisen durch den Weltraum begegnet waren. Es gab keine Zeit der Schwangerschaft, keine Eier, keine Larven oder Zellteilungen, nichts von alledem, nur diesen Blitz der Schöpfung, geradeso, als würden sich die Energien der Lust direkt manifestieren und zu Leben werden. Viele Halseder sahen darin die reinste aller möglichen Geburts-Formen. Gleichzeitig war es ein wunderbares Beispiel dafür, daß sich die Natur nicht aufhalten ließ, selbst wenn tödlichste Strahlungen eines Schwarzen Loches 98-Prozent der Kinder schon in den ersten Stunden tötete. Der 'Schlund', nur drei Lichtjahre von Halsed entfernt, hatte bisher nicht gewonnen... Und auch die rauhe Natur Halseds mit ihrer Winterhölle nicht. Xelvver knurrte und knetete seinen schmerzenden Leib. Alles schien seinen Preis zu haben: Um unter solchen Umständen als Volk überleben zu können war es wohl notwendig, daß sich die Halseder in fast allen grundlegenden Dingen des Daseins von anderen Lebewesen des Universums unterschieden. So war kein Halseder in der Lage ganz allein für sich die Schlüsselreiz-Sequenz zu erzeugen und sich selbst von Lust zu befreien. Xelvver atmete tief durch. Die Hexe hatte seinen Geist verlassen. Vorläufig. Trotzdem zitterten seine Hände immer noch und es gelang ihm nicht, sich auf das komplizierte Schaltmuster des Ersatz-Trons zu konzentrieren. "Jetzt hast Du Dein großes Abenteuer und Deine fantastische Freiheit, Du dämlicher Idiot!" Nein, es hatte keinen Zweck, er bekam das Ersatzgerät wirklich nicht installiert. Xelvver fegte die Tron-Teile beiseite und stieß einen Wutschrei aus. Dann lehnte er sich in den Sitz zurück und schloß erschöpft die Augen. Es war zu spät! Jeder Halseder wußte was geschah, wenn man die Erleichterung zu lange hinausschob: Der Geist trübte sich, der Leib wurde fiebrig, der Aggressionslevel stieg und schließlich starb man an einem Bio-Energie-Kollaps. Könnte er sich doch nur selbst helfen! Aber die Schöpfung hatte wohl sicherstellen wollen, daß solch titanische Entladungen von Lustenergie nicht verschwendet würden. Sein Blick fiel auf die über den Boden verstreuten Tron-Teile. Die technische Nutzung orgasmischer Energien war auf Halsed nur sehr begrenzt und erst seit wenigen Jahrhunderten zugelassen, hauptsächlich für Antriebe von Fernraumern. Deren weite Reisen wurden erst durch die Wandlung der stärksten Kraft möglich, die die Halseder kannten: Ihrer Lust! Xelvver hatte dieser Technologie immer vertraut. Die Antriebe der Ero-Impuls-Technik basierten darauf, daß Halseder ihre Körper über spezielle Adapter, die Trons, an Energie-Speicher ihrer Schiffe anschlossen. Die Ero-Trons erregten die verbundenen Halseder mit der simulierten Schlüsselsequenz, diese gaben ihre orgasmischen Entladungen in die Speichersilos der Schiffsantriebe ab und ermöglichten den Raumern damit weitere Flugtage im All. Sie selbst erlangten für kurze Zeit Erleichterung und einen geklärten Geist. "Blöder Plasma-Sturm!" keuchte er und ballte die Hände zu Fäusten. Normalerweise hielten die Module jeder bekannten Energie stand, was ja allein schon deswegen nötig war, um die extremen orgasmischen Entladungen geeignet abzufangen, zu bündeln und getaktet in die Speichereinheiten abzugeben. Die Umformer-Komponenten der Trons waren mit Duranium ummantelt... Aber gegen Unfälle war wohl nichts und niemand je sicher.
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"Das durchgebrannte Teil kann ich jedenfalls vergessen, ebenso das Ersatzmodul", machte er sich jetzt ohne Ausflüchte klar, "Damit hat das Schiff gerademal noch Energie genug für drei Tage. Mit den Reserve-Puffern komme ich auf zwei Wochen! Das reicht nie und nimmer für einen Heimflug!" Xelvver starrte auf den Frontschirm der Zentrale und auf die unzähligen Sterne, die wie Schneeflocken in einer halsedischen Winternacht vorbeiwirbelten. Such-Programme liefen auf Hochtouren, Scanner durchforschten das Dunkel. Sie hielten nach Zivilisationen Ausschau, die sich mit ihren Merkmalen im Fahndungsraster verfingen. Xelvver selbst hatte dieses Raster aus allerlei Parametern geflochten und das Netz gespannt, das nun über tausende von Sternensysteme glitt. Er ließ eine Rasse suchen, die den Halsedern ähnelte. Dabei mußten evolutionäre Entwicklung, bio-genetische Prägung, sozio-kulturelles Millieu und technologischer Standard in definierten Bandbreiten passen. Xelvver verstand nicht allzuviel von Fahndungsrastern, aber die Standardprogramme der üblichen Scout-Schiffe waren sehr benutzerfreundlich gehalten. sodaß es selbst ihm gelungen war, einen 'Rassen-Scan erster Ordnung' zu programmieren und 'Online' zu setzen. "Das ist meine letzte Chance", dachte Xelvver angestrengt, "Ich muß etwas finden, daß die Schlüsselreiz-Sequenz auslösen kann." Er hatte allerdings nicht viel Hoffnung und erregte sich erneut schmerzhaft. Die Hexe wollte sich wieder in seine Gedanken drängen. Der Halseder bäumte sich unter Qualen auf und wand sich in seinem Sessel. Er spürte, wie sich einmal mehr Wut in seine Gier mischte. "Ich werde wahnsinnig! Ahhhhhh. Verdammt...Los, Du mieser Scout, finde endlich was da draußen! All diese nutzlosen Sterne!" Warum konnten ihm diese Welten nicht helfen? Was waren das da draußen nur für sinnlose Rassen, für abartige Wesenheiten? Ihre nichtsnutzigen Sonnen schienen ihn hämisch anzufunkeln, während sie vorbeiglitten. Tausende von Sternen verhöhnten ihn und seine gestaute Kraft. "Ihr Schweine!" gröhlte er in einem Anfall von Hass, "Lacht Ihr mich aus? Ja, das ist lächerlich, was?" Er hörte ihr Gewieher, ihr hysterisches Gegacker, oder war das seine eigene Stimme? Immer öfter dachte er an die Bordkanonen. Er würde ihnen allen das Maul stopfen! Die Hexe lachte ihn schelmisch an. Warum nicht? Ihm wurde noch heißer, seine Haut glühte. Es wäre nur ein kleiner Befehl. Unterlichtflug, Zielerfassung, Bumm! Bumm! Xelvver kicherte jetzt. "Bumm! Bumm!" keuchte er. Das erotische Phantom spreizte langsam die Beine... Warum nicht? Ja, warum eigentlich nicht? Da riß die Stimme des Bordcomputers ein Loch in seinen Wahn, durch das er die Zentrale des Scouts sehen konnte. "Zielerfassung positiv! Planet mit Identmuster vorraus. Anflug-Folge ausgelöst. Einschwenken in getarnten Orbitalflug: Vier Stunden!" Xelvver wimmerte in seinem Sessel, und die Hexe verschwand in rot-wirbelnden Nebeln. Sie hauchte ihm einen Kuß zu. *** Er hatte den kleinen blauen Planeten unter der gelben Sonne mehrmals genauestens gescannt. Die Unmengen an gewonnenen Daten waren zig-fach durch den Bordcomputer ausgewertet worden. Dort unten lebte eine Spezies, deren Technik weit weniger entwickelt war, als die der Halseder. Sie bewegte sich dabei aber immerhin noch im akzeptablen Rahmen. Auf jeden Fall waren die Wesen agressive und lustbetonte Gestalten, die neugierig und experimentierfreudig waren. Vielleicht konnten sie Xelvver retten! Der Bordcomputer hatte ihm Koordinaten auf den Schirm gezaubert, die einen ausgesuchten Punkt auf dem Globus markierten, und er hatte die Sprache der dort ansässigen Lebensformen per linguistischer Fernanalyse und Injektiv-Memorium gelernt. Als er in einem Transporttun15
nel aus Energie hinabglitt, war es an seinem Ziel gerade früher Abend. Er sah bereits beim Einschweben die vielen glitzernden Lichter. Der Halseder hatte sich in einen Schirm gehüllt, sodaß ihn niemand sehen konnte. Er schritt, geschwächt aber von neuer Zuversicht getragen, dem sonderbaren Bauwerk entgegen, das ihm der Bordcomputer empfohlen hatte. Auf dem Dach des Hauses, das irgendeine Art von Tempel darzustellen schien, glühten große Schriftzeichen. Xelvver buchstabierte mühsam: "Eros-Center". Mehrere Bewohner des Planeten strebten mit mühsam unterdrückter Eile, wie es schien, an einem Glitzervorhang vorbei und verschwanden. Seine Lust erlaubte ihm keine ausgiebigen Beobachtungen, Xelvver blieb kaum noch Zeit. Als er unsichtbar durch die verspiegelten Gänge nach innen gelangte, bemerkte er überall die rot-blinkenden Strahler. Gestöhne war zu hören, das offenbar aus versteckten Lautsprechern kam. Diese Aliens mußten sonderbare Wesen sein, befand er und beobachtete, wie eine der fremdartigen Gestalten eine Tastenkombination an einer der vielen Türen drückte, diese aufglitt und sich sofort wieder schloß, nachdem der Planetenbewohner eingetreten war. Das Leuchtschild über dem Eingang sprang von 'Frei' auf 'Belegt'. Xelvver versuchte es an der Tür daneben. Sekunden später stand er in einer engen Kabine und sah die Tür hinter sich zugleiten. Augenblicklich erstrahlte ein rotes Licht. Eine glühende Gestalt erschien vor ihm, offenbar ein Hologramm. "Willkommen im Eros-Center! Hier werden geheimste Wünsche erfüllt. Die Bedienung des Cybersex-Projektors ist ganz einfach. Ich werde Dir dabei helfen, ordendlich auf Touren zu kommen..." Das Wesen aus Licht war so hässlich, daß Xelvver sich fast erbrechen mußte. Es hatte lediglich zwei Beine und zwei Arme, einen Kopf mit nur zwei Augen und eine Fülle sonderbarer Fäden drumherum, die wie gesponnenes Umpfrim aussah. Das Wesen war bleich und besaß keinerlei Tentakel oder reizvolle Schuppungen. Und es verzog sein ekliges Gesicht zu einer Fratze. "Als erstes mußt Du Dich entkleiden und die 45 Stimulator-Einheiten an Deinem Körper befestigen. Das Schema auf dem Bildschirm dort wird Dir helfen. Danach wählst Du Deinen erotischen Traumpartner und die Akt-Art. Das ist schon alles! Für 30 Minuten zahlst Du nur 23 Euro. Bei Fragen drücke einfach F1! Viel Vergnügen..." Das graulige Wesen verschwand, und Xelvver war erleichtert. Er begutachtete den Projektor, dessen primitive Funktionen er auch in geistig blockiertem Zustand gut erfassen konnte, und zog seine Uniform aus. Er hatte die 45 Stimulatoren in Windeseile angebracht, wobei er sich nicht nach dem Schema richtete. Eigentlich hätte er gut 65 Anschlüsse gebraucht, aber in einer Notsituation mußte man eben flexibel sein. Die Partnerwahl war das Hauptproblem: Alle 456 Standard-Partner waren völlig unakzeptabel, und so stellte er auf 'Freie Programmierung' und in den sogenannten 'Pervers-Modus', wasimmer das auch zu heißen hatte. Er versuchte sich an die Hexe zu erinnern. Seine Erregung stieg wieder ins Qualvolle, aber das half ihm, ein klareres Bild vor Augen zu haben, während seine sieben Hände über die Konsolen flogen. Er programmierte das mindestens nötige Maß an Schuppung, die üblichen sechs Beine und sieben Arme, 16 Augen und den glitschigen Rückenkamm. Entzückend! Wie wär's noch mit so einem aufreizenden Tentakelkranz dort hinten? Ja, perfekt! Xelvver war jetzt ganz zitterig und verfehlte den 'Aktiv'-Knopf mehrmals. Die Akt-Art war ihm egal, da wählte er 'Grundform 12b', dann hauchte eine Stimme: "Es geht los, mein Süßer!" und dann wurde das Licht gedämpft. "Hoffentlich nimmt das Ding meine Programmierung an, sonst ist dies das Ende!" dachte er verzweifelt. "Eintritt in den Lust-Modus, entspann Dich..!" flüsterte es ihm in das Mittlere seiner drei Ohren. ***
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"Das Eros-Center in Dortmund ist durch eine Explosion in den frühen Abendstunden vollständig verwüstet worden. Wie durch ein Wunder wurde niemand ernsthaft verletzt. Es entstand ein Schaden in Millionenhöhe. Die Ursache des Unglücks ist zur Stunde noch unklar. Augenzeugen berichten von einem starken Blitz, der aus einer der Kabinen gedrungen war. Die Polizei schließt ein Attentat der 'Liga gegen Unmoral und Techno-Lust, LUTL, nicht aus. Möglicherweise handelt es sich aber auch um einen Anschlag des Kommandos 'Zurück zur Natur'. Wir werden Sie weiter informieren, sowie neue Einzelheiten bekannt werden!" Xelvver trennte die Audio-Verbindung und streckte sich wohlig in seinem Sessel. Das erste Mal seit Wochen war er ohne Schmerzen, ja mehr noch: Er fühlte sich behaglich und frei. In diesem gelösten Zustand war sein Geist zur Höchstform aufgelaufen und die Installation des Ersatz-Ero-Trons nur eine Sache von 15 Minuten gewesen. "Jetzt geht es nach Hause", flötete er und warf einen letzten Blick auf den sonderbaren blauen Planeten. Dann sprang der Scout zwischen die Sterne, beschleunigte auf 'Überlicht' und verließ diesen Teil der Galaxis für immer.
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Drei Welten von Andreas Schlichte
Der Gilde-Händler wollte eigentlich nur ein paar gute Geschäfte auf dem Planeten machen, bevor die Ungebundenen ihn ausplündern würden. Aber auf ´Mutters Welt´ laufen nicht nur die Uhren anders...
Martabor wußte nun, daß sie sich beeilen mußten. Der Chef der Ortung hatte ihm vor wenigen Minuten alle Befürchtungen bestätigt: Ein Explorations-Schiff der Freihändler war aus dem Hyperraum getreten und hatte offensichtlich damit begonnen, diesen Sektor zu scannen. Also witterte man auch bei den Ungebundenen, genau so wie in der Zentrale der Gilde, der Martabor angehörte, die Möglichkeit zu lukrativen Geschäften. `Neue Beschaffungsmärkte` lautete seit geraumer Zeit das Zauberwort, und in jeder strategischen Zukunftsanalyse war die Rohstoff- und Primärwaren-Versorgung als Engpass erkannt worden. Der Wohlstand der Gesellschaft stand auf dem Spiel. Martabor wußte nur zu gut, daß die merkantile Mechanik der Gesellschaft immer gut geölt sein wollte. Die verschachtelten Märkte mußten stets optimal zueinander ausgerichtet werden, Bedürfnisse und Mangel, Ideen und Möglichkeiten, Waren und Geld sowie Macht und Kompromisse, all das war in einer komplizierten Matrix des Wollens einzulagern, in der man das Schicksal zu versuchen und den Weg des Besten zu erstreiten hatte. "Welcher Schmerz auch immer der Preis sei!" murmelte Martabor und kniff seinen Mund zu einem Spalt zusammen, der sein knochiges Gesicht noch entschlossener aussehen ließ. Als wäre es in den letzten Zyklen nicht schon schwer genug für die Gilden gewesen mit all den Engpässen und Konjunktureinbrüchen zu leben, nun erhob sich die Horde der Ungebundenen immer dreister, und drang auf sämtlichen Gebieten der Politik und Wirtschaft ein. Die Freihändler, Wesen ohne Ehre und Kodex, sickerten wie schleichendes Gift durch alle Fugen und Ritzen der Staatsmaschine, bildeten einen klebrigen Film über auch noch dem letzten Zahnrad der Gesellschaft und begannen diese nach ihren Vorstellungen zu formen. Martabors Magen zog sich in Abscheu und Ekel zusammen. Es waren Korruption und Anarchie, was die Ungebundenen förderten, denn im Schatten des Chaos konnten sie billig unredliche Geschäfte machen, bei denen sie für wenig Einsatz unverhältnismäßig viel Profit machen konnten, natürlich auf Kosten Dritter. Martabor wollte niemals so werden, wie diese selbstgefälligen Feistlinge, die sogar vor Erpressungen und Mord nicht zurückschreckten, um ihren Reichtum explosiv zu steigern. Für die Gilden und Martabor waren Handel und Geschäft nach wie vor ritterliche Disziplinen. Es wurde hart gestritten, zäh verhandelt, offen diskutiert und nicht kapituliert, auch nicht vor dem stärksten Partner oder Konkurrenten, aber es wurde immer der Kodex gewahrt: 'Jeder Gewinn kostet einen Verlust. Schmerz und Entbehrung sind Fundamente des Erfolgs.' Und somit war Geld letztlich die Maßeinheit für überwundenen Mangel, der krönende Lorbeer für all das sportliche Ringen und Symbol für wahrhaftige Kraft. Denn Siege unter fairen Bedingungen waren wirkliche Siege, und keine beschämenden Schein-Triumphe, die auf Feigheit, Neid und Hass fußten, wie bei den Ungebundenen. Ein Schiff der korrupten Freihändler war also einige Lichtjahre von diesem Planeten hier aufgetaucht. Das gab der Wirtschaftsdelegation von Martabor lediglich einen Zeitvorsprung von höchstens zwei Tagen. Der Kaufmann erhob sich, atmete tief aus und schritt dann mit wallendem, schwarzen Umhang um seine hageren Schultern den Gang hinunter, der ihn zum Hangar führen sollte. In wenigen Minuten würde er, zusammen mit einigen seiner fähigsten Erstkontakter, zu dem neu entdeckten Planeten hinabfliegen um mit dessen Bevölkerung Verhandlungen aufzunehmen. 18
Womöglich gab es hier ein interessantes Warenangebot, und ein Export würde Vorteile für beide Seiten bieten. Martabor spürte Erregung in seiner Brust aufsteigen. Das Auftauchen der Ungebundenen setzte die Besatzung des Gildeschiffs zwar unter Druck, aber die Ehre würde nachher um so größer sein. Würde es Martabor und seinen Mitarbeitern gelingen, Ausschließlichkeitsverträge mit den Planetenbewohnern abzuschließen, bevor die Freihändler erschienen, dann würde das hier zu einem gesicherten neuen Markt der Gilde werden. Zum Glück waren die Ungebundenen feige: Sie würden es nie wagen, der Gilde offen in die Quere zu kommen. Als wenige Minuten später das Shuttle aus dem Hangar glitt, um seinen Abstieg zur Oberfläche des Planeten zu beginnen, sah Martabor stolz auf sein Schiff zurück. Die 'Handelsstern' zog eine majestätische Bahn im Orbit. "Wir werden reich zurückkehren!" dachte der Kaufmann. "Ich spüre es!"
"Willkommen auf Welt!" sagte die junge Frau und streckte Martabor einen glitzernden Stab entgegen. Der Kaufmann lächelte gewinnend, verbarg aber nur mit Mühe seine Verunsicherung. Man hatte ihm und seine fünf Gefährten nach der Landung den Weg zur 'Residenz der Mutter' gewiesen. Nun also standen sie vor einer wunderschönen jungen Frau mit merkwürdig menschlichen Zügen und langem blonden Haar. Sie schenkte ihnen ein Lächeln aus freundlichen Augen. Martabor berührte ehrerbietend das Zepter von Mutter und beugte kurz sein Haupt. "Habt' Dank für den freundschaftlichen Empfang. Mein Name ist Martabor, und dies sind meine Kollegen Razaban, Koldin, Scherbok, Wrando und Xerrer. Wir sind Gesandte der Gilde von Makömie. Wir sind gekommen, um Euch und Euer Volk kennenzulernen und ebenso Wissen über unsere Gesellschaft anzubieten." "Wissen? Das ist ein wunderbares Angebot, Gildenmann", sagte Mutter. "´Wissen´ teilen und ´Wissen mehren´ sind Tugenden, die wir schätzen auf Welt." Sie schien noch stärker aus ihrem Gesicht heraus zu leuchten, und Martabor fühlte sich von diesem sonderbaren Wesen berührt. Eine große Kraft ging von Mutter aus. "Ob sie ein Feld aus reinem Geist ist?" fragte sich der Kaufmann und schielte auf seinen Scanner, den er am Arm trug. Das Gerät zeigte Energiedichte 34 an, keine bekannten Elemente! Stofflichkeit: ja, erkennbare Struktur: nein! Martabors Herz schlug aufgeregt. "Vielleicht stellen wir fest", fuhr er mit leicht zitternder Stimme fort, "daß unsere beiden Gesellschaften Vorteile erlangen könnten, indem wir kooperieren und Waren austauschen..." "Waren?", fragte Mutter. "Ich weiß nicht, was du meinst, Gildenmann!" "Güter zur Befriedigung von Bedürfnissen. Nahrung, Kleidung, Energie..." Mutter lachte. "Das könnt ihr gern bei uns bekommen!" Martabor fiel ein Stein vom Herzen, und auch seine Begleiter nickten nun zufrieden. Ein guter Anfang war gemacht worden. "Wunderbar! Wir haben im Tausch vieles anzubieten. Ihr werdet mit unseren Angeboten sicher zufrieden sein!" "Wir sind zufrieden!", sagte Mutter. "Und wir erst!", freute sich der Kaufmann mit dem schwarzen Umhang. "Dürfen wir Eure Welt kennenlernen?" Für gewöhnlich drängte Martabor nicht so stark voran, sondern ließ sich bei Geschäftsanbahnungen genügend Zeit, bis alles den Weg des Unvermeidlichen fand, diesmal aber war in ihm eine Ungeduld, die sich nicht allein mit der Anwesenheit der Ungebundenen erklären ließ. Mutter irritierte ihn. Er fühlte deutlich, daß ein sonderbares Geheimnis sie umgab, sie und diesen Planeten...-
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"Sicherlich, Gildenmann!", rief Mutter, raffte ihr weißes Gewand und wies ihnen mit dem Stab den Weg. "Ich zeige euch Welt!
Die Stunden waren wie im Fluge vergangen, oder waren es Tage gewesen? Martabor senkte einmal mehr vergeblich den Blick auf seinen Chronometer. Ebensowenig wie der Scanner irgend etwas von Welt analysieren konnte, war der Zeitmesser in der Lage, korrekte Anzeigen zu liefern. "Wären Tage vergangen, dann wären hier bereits Landetruppen der Freihändler aufgetaucht", dachte er und bekam ein noch flaueres Gefühl. Immerhin konnte das jederzeit geschehen. Außerdem fingen er und seine Begleiter innerlich an zu 'schwimmen'. Alles schien ihnen zu entgleiten. Mutters Lächeln geisterte durch seinen Sinn, auch jetzt noch, wo sie alle längst wieder allein mit sich und ihren Eindrücken der Führung im Gästetrakt von Welt saßen. Martabor schloß seine Augen, aber die Bilder blieben. Er wußte, daß es hier still war, aber er hörte noch immer diese Klänge, diese Melodien. "Sie haben womöglich unser Gehirn durch den Wolf gedreht!", dachte Martabor, aber seine aufkeimende Angst und Aggression verwehten, ehe sie seine Seele ergreifen konnten, und er blieb nur verwirrt. Sie hatten zusammen mit Mutter einen Kubus aus transparentem Material betreten und waren dann plötzlich überall zugleich auf Welt gewesen. Die Eindrücke dieses Momentes pulsten gerade wieder durch sein Inneres, wie eine Woge aus Erkenntnis, die ihn hinwegspülte und zum hilflosen Treibgut machte. Er sah zum wiederholten Male die Weiten von Welt, all die Berge und Flüsse, die Meere und Wüsten, die Städte und Dörfer, die Fontänen aus Feuer und himmelhohen Skulpturen aus Eis. Und er sah die wimmelnden Wesen der Tiefe, die Gestalten des Windes - kleine geflügelte Silberwürmer - und die mächtigen, geschuppten Kolosse der Ebenen, die - mal sechsbeinig, mal achtbeinig - Staubfahnen hinter sich herzogen, die man weit über den Horizont hinaus sehen konnte. Er hörte ihr Schnauben, roch und schmeckte den würzigen Staub, kurz danach Millionen Früchte, mild und scharf, süß und bitter. Er spürte die Kälte eines unsichtbaren Windes, die Hitze einer getrommelten Melodie, und die Trommeln waren Milliarden Herzen, die Licht durch Billionen von Zellen schossen und durch Kristallwände wirbelten, die das Licht auffächerten zu bunten Kaskaden. Schließlich riß ihn der pulsierende Strom in eine Kathedrale aus Ruhe und Logik und wohltuender Dämmerung. Alles wurde still, bis nur seine Atemzüge blieben und eine Erinnerung an Mutters Lächeln. Martabor drehte sich nach einer kleinen Ewigkeit zu seinen Kollegen um und sah in ihren Gesichtern sein eigenes Erstaunen gespiegelt. Aber diese Verwirrung wich langsam einem Gefühl von Weite und Glück, eine Entspannung, die tiefer griff, als die Kaufleute es jemals für möglich gehalten hätten. Mutter erschien in einer Robe aus Licht. "Ihr könnt gern hier bei uns leben", hauchte sie. "Wa...was ist mit uns geschehen?", fragte Martabor. "Ich weiß es nicht." "All...diese...Bilder und Töne, diese Freiheit! Wir haben auf Welt nichts Böses gesehen. Gibt es keinen Hunger? Keine Kriege? Was ist mit Krankheiten? Schmerzen? Verzweiflung?" "Ich weiß es nicht." Martabor setzte sich auf. Mutter stand jetzt zwischen ihnen im Raum, und ihr langes Haar wogte als fremde Energie, die sich ihren nutzlosen Scannern weiterhin entzog. "Gildenmänner, ihr wolltet uns ...Güter...anbieten. Zeigt mir jetzt davon, damit ich verstehe, was ihr mit 'Vorteil' meintet."
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Die Männer sahen sich betreten an. Sicherlich, sie hatten ihre Musterkoffer mitgebracht - einer davon beherbergte sogar einen Holo-Projektor mit einem kleinen Syntheziser - und die Gilde konnte Steine, Metalle und Gewürze besorgen, ebenso edle Tuche, Kleider und Haushalts-Maschinen und natürlich auch Industrie-Ausstattungen aller Art, Fahrzeuge für zivile und millitärische Nutzung, Waffen, Medikamente, Genkulturen und vieles mehr, aber Martabor erschien dies alles plötzlich wie Ramsch eines alten Krämerladens. Rührender Trödel, mehr nicht. "Mutter, kann es sein, daß ihr Wesen ohne Grenzen seid?" "Wir beziehen unsere Energien aus dem Hyperraum und wandeln sie zu allem, was wir brauchen. Ich weiß nur, daß wir trotzdem eines Tages sterben müssen", sagte das Wesen namens Mutter ruhig. Martabor schüttelte den Kopf. "Das ist unglaublich. Wenn es für euch keinen Kampf gegen die Zwänge gibt, wozu lebt ihr dann? Was tut ihr die ganze Zeit?" "Wir leben." "Wozu?" "Ich weiß es nicht." Der Kaufmann spürte noch immer einen Nachhall der Wärme und Freude in sich, die ihm Mutter auf Welt gezeigt hatte, und er fühlte soetwas wie Neid aufsteigen. "Und wir wollten euch mit Geld kommen...", stöhnte er. Bei dem Wort 'Geld' zuckte Mutter plötzlich zusammen. "Geld!", sagte sie, und zum ersten Mal verloren ihre Augen etwas von der strahlenden Freude und Jugend. "Ihr seid Wesen des Geldes?", fragte sie mit leiser Stimme. "Das sind wir!" verkündete Razaban, einer von Martabors Kollegen, voller Stolz. "Wir verdienen uns unser Geld mit eisernem Willen und mit der Würde des Kodex!" "Vor Zeiten waren schon einmal Fremde auf Welt", raunte Mutter. "Sie boten uns etwas, daß sie 'Geld' nannten für unsere Energien. Leider verstanden wir nicht, was sie meinten. Das muß sie beleidigt haben!" "Was ist geschehen?", fragte der Kaufmann mit dem schwarzen Umhang. "Die Fremden haben uns solange bedrängt, bis wir ihr 'Geld' genommen haben, um sie glücklich zu machen. Als die Geld-Wesen dann mit ihren Schiffen und Containern kamen, um die Energien zu erhalten, mußten sie erkennen, daß sie sie nicht mitnehmen konnten. Die GeldWesen wurden sehr wütend. Sie nannten uns 'Betrüger' und 'Vertrags-Brecher` - was immer das auch heißen mochte - und wir schlugen vor, sie sollten doch bleiben und auch ihre 'Kunden' hierher einladen, von denen sie immerzu sprachen." "Und dann?," wollte Martabor wissen. "Dann nannten sie das 'nicht profitabel' und 'zu kostenintensiv'. Sie wurden sehr wütend. Mit Objekten, die sie 'Strahler' nannten, haben sie Tausende von uns in den Tod geschickt. So starben viele von uns vor ihrer Zeit, obwohl wir ihnen ihr 'Geld' zurückgegeben hatten. Dann sind sie endlich verschwunden." "Meine Güte!", entfuhr es Martabor. Das mußten Vertreter einer Rasse gewesen sein, die die Mentalität der Ungebundenen hatten. "Wann war das?" "Das war vor Zeiten." Die Kaufmänner der Gilde sahen sich betreten an, und es entstand eine Stille im Raum, die sich schwer auf sie alle legte. "Bitte geht!", sagte Mutter. "Bitte geht und fügt uns diesmal keinen Schaden zu, GeldWesen!" Martabor räusperte sich und schluckte seine Bitterkeit über das Gehörte herunter.
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"Ja, Mutter, wir werden gehen. Habt' Dank für Eure Gastfreundschaft. Leider leben wir in verschiedenen Welten, die so wenig miteinander gemein haben, daß wir uns trennen müssen bevor ein Unheil geschieht." Sie nickte, und noch einmal überflutete ihre Freundlichkeit die Männer von Makömie. "Lebt wohl!" Martabor wandte sich mit einem Ruck von der Welt-Königin ab und sagte zu seinen Kollegen: "Kommt! Hier gibt es keine Geschäfte zu machen. Hier können wir nichts geben, also dürfen wir auch nichts nehmen!" Sie wußten, daß er recht hatte und folgten ihm. Auf dem Weg zu ihrem Shuttle sagte Martabor dann plötzlich: "Wenn wir zurück auf dem Schiff sind, nehmen wir Kontakt zu den Ungebundenen auf." "Was hast du vor?" "Wir werden ihnen ein Geschäft anbieten, das sie von diesem Planeten ablenkt. Ich will nicht, daß sie hier jemals landen!" "Ein Geschäft mit den Ungebundenen?" fragte Kollege Koldin ungläubig, "Da zahlt man doch nur drauf!" "In diesem Fall nicht", erwiderte der hagere Kaufmann mit dem bleichen Gesicht seinem verwirrten Untergebenen. Als sie wenig später mit ihrem Shuttle zu den Sternen zurückkehrten, lehnte sich der GildeMann in seinem Sitz zurück und schloß die Augen. Noch immer lächelte Mutter in ihm, und er wünschte sich sehr, daß ein Hauch ihrer Kraft bei ihm bleiben würde. "Vielleicht kann man doch etwas davon mitnehmen!", dachte er und begann ganz leise vor sich hinzusummen. ENDE
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Zu den Sternen von Thomas Kohlschmidt
An Bord der Raumstation MIR häufen sich die technischen Katastrophen. Kosmonaut Vladimir bekommt unheimliche Visionen, und er meint endgültig den Verstand zu verlieren. Aber es kommt anders.
Vladislav hatte wieder schlecht geschlafen. Er war schweißgebadet mit Kopfschmerzen erwacht und hatte sich aus der Ruheposition in den Mittelgang gewälzt. Nun ruderte er zu einem der Sitze herüber und ließ sich daraufgleiten. Die Luft an Bord der MIR war über 30 Grad heiß, seit wieder eine Pumpe im Kühlkreislauf ausgefallen war. Die Reservepumpe hatte nicht verhindern können, daß der Druck in der Leitung auf Null gefallen war. "Scheiß-Hitze!" fluchte der Kosmonaut und griff sich eine der Schwerelosigkeits-Flaschen mit Wasser. Gierig sog er die Flüssigkeit in sich auf. "Nicht zuviel!" dachte er, "Denk an das Trinkwassersystem!" Auch diese Anlage war defekt geworden. Das Drehen der Raumstation hatte offenbar nicht viel gebracht. Die bereits aufgeheizten Stationsteile kühlten nur sehr langsam ab. Die Iso-Schichten, die sie sonst vor der Kälte des Raumes schützten, verhinderten nun ein rasches Abstrahlen der Überwärme. Und der O2-Gehalt der Luft war trotz der Sauerstoffkerzen weit unter Optimum. Gregor hat es nicht geschafft", stöhnte Vladislav und setzte die Flasche ab. Von seinem Mund stiegen kleine Wasserperlen in der Kabine auf und zerstoben nach der Kollision mit Deckenkabeln und Armaturen zu feinen Nebeln. In den letzten drei Tagen hatte eine Hiobsbotschaft die nächste gejagt, ein Teilsystem nach dem andere war ausgefallen oder zumindest in der Leistung zurückgeblieben. Ausgerechnet Wasser und Luft waren knapp geworden. Und der Strom machte auch Ärger, seit der Lage-Regelungs-Sensor der MIR versagt hatte und die Automatik auf Reservesystem umgeschaltet hatte. Während des Drei-minütigen Umschaltens hatten die Gyros angefangen, die Station um alle drei Achsen zu drehen. Dadurch waren die Solarzellenausleger aus dem Sonnenbereich herausgeschwenkt. Bis die Lage per Handbetrieb wieder geklärt worden war, war den Batterien eine ganze Menge Saft entgangen. "Engpässe und Pannen, ein feines Geschäft", murmelte Vladislav und setzte sich vorsichtig im Sitz auf um einen Blick auf die Checklisten zu werfen. Diese baumelten, in Plastikfolie eingeschweißt, von den Armaturen des NASA-Experiments GRAVOS 4 herunter. Ja, richtig. Heute wären die Testreihen zur 0-G-Kristallisation dran. "Keine Chance", dachte der Russe wütend, heute würden die notwendigsten Notreparaturen weitergehen. Ein Raumspaziergang stand an, um einen Solarausleger neu zu verankern, der seit dem ScheißGedrehe der Station im Scharnier wackelte. Er stellte sich vor, wie er die schweißige Enge des Raumanzuges wie einen überhitzten Waschlappen auf seinem Körper fühlen würde und danach keine Abkühlung in der MIR würde erwarten können. Der Kopf pochte, und der Kosmonaut spürte einen furchtbaren Durst. "Spare Wasser!" Er seufzte und stellte die Flasche weg. Gregor und David waren zu dieser Zeit sicher drüben im Kvant-1 Modul. Okay, er würde sie gleich mal anfunken. Aber zuerst... WAS WAR DAS??? Für Sekunden konnte er nicht richtig sehen..! "Was ist dda....he!" Vladislav schüttelte den Kopf hin und her und fuhr sich mit der Hand über die Lider. Grelle Kreise drehten sich plötzlich vor seinen Augen, Funken schienen in der Kabine zu tanzen. Dann war es wieder wie vorher, alles klar. Sein Herz hämmerte, er spürte Schweiß sich von seiner Stirn lösen und davonschweben. Das prickelte seltsam...
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"Was war das, ....meine Güte. Ein Schwächeanfall...oder...?" "He, Vlad, was grunzt Du da drüben wie ein Erdferkel?" knisterte Davids Stimme unvermutet über Bordfunk herüber. "Hast Du endlich ausgedröhnt, fauler Kerl? Dann mach Dich auf die Socken und lös mich ab." Das war Gregor gewesen, der unverschämte Hüne, der andauernd in der Luftschleuse quersaß. "Hallo Leute", schnaufte Vladislav und versuchte locker zu klingen, "Ich komme sofort. Aber nur dann, wenn Gregor seinen fetten Hintern aus der Luke nimmt!" "Kein Thema", hörte er den Amerikaner kichern, "Ich habe unseren lieben Gregor extra für dich an die Decke gehängt. Er baumelt im Moment kopfüber. Sieht richtig süß aus!" "Paß auf, daß ich Dir nicht auf die Glatze kotze!" frötzelte Gregor. "Gut, das Risiko gehe ich als mutiger Kosmonaut ein! Ich komme sofort!" lachte Vladislav und lehnte sich zurück. Das Blut raste durch seine Adern. "Wenn ich jetzt noch krank werde, ist alles aus. Der nächste Orbiter kam erst in drei Wochen." Bis dahin mußte alles an Bord der MIR wieder im grünen Bereich sein, und sie würden Überstunden einlegen müssen, um die durch die Pannen versäumten Experimente einzuholen. Unten in Kaliningrad würde man sonst toben, die NASA und ESA waren auch schon so genug unter Druck. "Wir sind bald nur noch Handlanger der Industrie!" ärgerte sich der Kosmonaut mit dem dröhnenden Schädel. Das durften er und seine Kollegen eben nie vergessen: Kosmonaut zu sein hieß nicht mehr ein Held der Sterne zu sein, ein Nationalsymbol für Mütterchen Rußland und die Sowjetstaaten, oder gar ein Pionier für die Menschheit oder ein Symbol für Volkerverständigung in internationalen Wissenschaftsteams. Heute waren sie Akkord-Arbeiter der Zukunftsindustrien, die ihre Experimente für viel Geld hier im Orbit in Auftrag gaben und die Raumfahrt nur solange sponsorten, wie für sie Gewinne oder Marktanteile auf neuen Märkten abfielen. 'Anwendungsorientierte Experimente nannte sich die Produktstudien. Grundlagenforschung wurde immer mehr durch Zweckforschung verdrängt! NNNEEIIIN. Der Schwindel kam ohne jede Vorwarnung zurück: Glühende Wirbel drehten sich hinter der Stirn, eine sonderbare Schwäche zog durch sein Rückgrat. Und Panik erfaßte ihn. HHHIIILLLFEE...Ahhhh, nein! Vladislav bekam einen Griff an der Konsole rechts neben sich zu fassen und zog sich im Sitz ein Stück nach oben. War da eine Stimme? Irgendwo dahinten redete doch jemand... "Gregor, David.....", stammelte er und wußte nicht, ob überhaupt ein einziges Wort seinen Mund verließ. "Hilfe....helft mir!" Er drehte sich jetzt um sich selbst, paddelte plötzlich frei in der Kabine und schrie. Seine Angst explodierte. "AHHHHHHHHHH!" * Zuerst war da nur das Empfinden von Kälte; wohltuende Kälte. Und Ruhe. Dunkelheit...war er etwa blind geworden? Nach dem letzten grellen Blitz war er offenbar in Bewußtlosigkeit versunken und erwachte nun wieder. "Ist die MIR etwa hochgegangen? Ein Raumunfall...?!" Eine Welle von Angst gesellte sich zu seiner Irritation. Vladislav spürte sein Körpergefühl zurückkehren. "Ich lebe noch...oder?" Er versuchte seine Augen zu öffnen, bis er merkte, daß sie die ganze Zeit offen waren und er in eine endlose Schwärze starrte. War das der Kosmos? -
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Dann kam das Klingeln im Kopf, ein Ziehen hinter den Augen, ein Kribbeln an den Schläfen...und dann sah er die Bilder! Es begann als Schillern und Wogen. Ein Schemen erschien, dann ein Weiterer. Waren das Gesichter? Sahen sie ihn an? Das mußten Gregor und David sein. "Sie haben mich gefunden und beugen sich über mich!" dachte Vladislav und versuchte Worte zu formen, aber es gelang nicht. Er konnte nur diesen fließenden, wabernden Zerrbildern menschlicher Gesichter entgegenglotzen und seine Angst niederhalten. Er war so hilflos... "Entspanne Dich...entspanne Dich!" versuchte er sich zu suggerieren. Dann zuckte wieder ein Blitz, raste seine Sehnerven entlang und zerstob mitten in seinem Hirn in Millionen kleiner Sonnen, die wie Querschläger durch seinen Schädel schwirrten. Er schrie wie am Spieß, aber lautlos, und war plötzlich wieder mitten in der heißen Kabine der MIR. * "Was war das!! Was ist mit mir los?!!" Der Kosmonaut hing kraftlos zwischen zwei Anzeigegeräten zur Bordkontrolle und einem Wandschrank mit Heliumflaschen. Er bekam kaum Luft, drohte zu hyperventilieren. Er tastete hektisch um sich und verhedderte sich in einem Kabelgeflecht. Das brachte ihn schlagartig zur Besinnung. "Nichts zerreißen!!" fuhr es durch seinen Kopf, der sich wie ein geklopftes Beefsteak anfühlte. Vladislav wandte seinen Kopf zur Seite und erkannte, daß er mit seiner Herumtoberei offenbar eine Wandluke geöffnet hatte, aus der nun Kabelsalat heraushing, sein linker Arm mittendrin. "Das sind Kabel der Bordkommunikation! Vorsichtig...vorsichtig!" In den nächsten Minuten war er hochkonzentriert. Er löste seine Finger nach und nach aus den feinen Drähten und den ummantelten Kabeln, biß sich dabei auf die Zunge und konnte erst aufatmen, als die Luke wieder geschlossen war und die Kontrolleuchten weiterhin 'Online' anzeigten. Das war gerade noch mal gut gegangen. Er ließ sich erschöpft auf den Sitz zurückgleiten und rieb sich die Schläfen, auf denen immer noch ein Echo des sonderbaren Kribbelns tanzte, das ihn so plötzlich, zusammen mit den Lichterscheinungen und der Schwärze, heimgesucht hatte. "Ich muß halluzinieren!" dachte er. Das wäre schließlich auch kein Wunder bei der Hitze, dem knappen Sauerstoff, zuwenig Wasser und zuviel Streß! Was sollte er tun? Ihm war nach Ausruhen. Aber das ging nicht. Unmöglich! Gregor hatte gerade eine Doppelschicht hinter sich und mußte dringend schlafen! Und David kannte sich an Bord nicht gut genug aus, um in Krisenzeiten alleine alles zu steuern. Außerdem konnten selbst zwei Mann die Reparaturen nur mühsam schaffen. Andererseits konnte Vladislav das Sonnensegel vergessen. Ein Raumspaziergang war in diesem Zustand undenkbar. "Wenn mich der Schwindel da draußen packt bin ich verloren!" Nein, nein. Wenn er Gregor und David etwas davon sagen würde, dann würden sie ihn zur Ruhe schicken und ein völlig übermüdeter Gregor würde womöglich Fehler begehen. "Und was ist, wenn ein totkranker Vladislav Fehler begeht?" Er schüttelte den Gedanken unwillig ab. "Beiß die Zähne zusammen! Fall jetzt nicht aus! Das ist dein erster wirklich wichtiger MIR-Einsatz. Versau ihn nicht! Denk an Katherina und Stov, wie stolz sie auf dich sind..." Vladislav stöhnte.
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Stolz, ja, wie sein Vater, der all die Jahre hart dafür gespart hatte, daß sein Sohn ins Sternenstädtchen konnte. Und all das Gekrieche vor den Funktionären...damit er nun zusammen mit anderen Traumtänzern in dieser...beschissenen Dose im Kosmos steckte, um Mikrometeoriten für MAKROTECH INC. zu vermessen oder später Turnschuhwerbung machen zu können. "Alter Zyniker", murmelte er und versuchte über seine Bitterkeit zu lachen. Aber der Schmerz in der Brust blieb. "Wenigstens für die krebskranken Kinder in Tscholgo bist du ein Held, zu dem sie aufsehen können, bis sie...bis sie..." Irgendwie hatte er plötzlich Tränen in den Augen, und die waren aus Wut entstanden. Wut über den Niedergang der Träume, darüber, daß alle ewig auf ihnen herumhackten. Diese ganze Meute von profilierungssüchtigen Politikern und engstirnigen Skandal-Journalisten liebte es geradezu, alles in den Dreck zu reden. "Auf der Erde haben wir schließlich genug Probleme!" hörte er sie sagen. Wieviel Entwicklungshilfe könnte man schon bezahlen, wieviel Hilfslieferungen in Kriegsgebiete, wenn man die Weltraum-Projekte stoppen würde. "Und jetzt geht diese...blöde...Gurke...aus den Nähten und mir ist schlecht. Ich falle aus wie ein Sportler mit Sehnenriß kurz vor der Olympiade!" Nach all den Desastern der letzten Monate hier auf MIR konnte es der endgültige Todesstoß sein, jetzt zu versagen. Das wäre Wasser auf den Mühlen all derer, die schon lange ein Ende ihrer Missionen anstrebten und das teure Zukunftsprojekt 'Internationale Raumstation ALPHA' verhindern wollten. Er preßte seine Lippen zusammen und verbot sich zu weinen. "Ach, verdammt...verdammt..." Er wurde seltsamerweise ruhiger. Seine Spannung war über die Klippe gerutscht. Vladislav seufzte und massierte wieder seine Schläfen. Wieviel Zeit war vergangen? Gregor wartete! Gerade, als er sich zum Chronometer beugen wollte, geschah es erneut: Ein Blitzschlag jagte durch alle Nerven, gebündelt ins Gehirn. "AHHHHH, BIIITTTTEEEEE NIIIIIIICHT!!!" * Die Kälte kannte er schon, ebenso die Stille. Ob wieder dieses Kribbeln und Klingeln kommen würde? Diese sonderbaren Visionen von Gesichtern? Das Schillern und Säuseln, wie das Mal davor? Vladislav bemerkte, daß er diesmal sehr viel weniger Angst hatte. Der Wissenschaftler in ihm war erwacht und führte aufmerksam Protokoll über alle Wahrnehmungen. Er hatte wieder die Augen offen und wartete. Die Zeit schien zu vergehen. Er hing irgendwo im Nichts. Leere. Ruhe. Finsternis. Plötzlich kam ihm ein fürchterlicher Gedanke: Was wäre, wenn es für alle Zeiten so bliebe? Diese Stille. Absolute Schwärze. Vielleicht war dies der Tod! Hatte er an Bord der MIR einen tödlichen Schwächeanfall gehabt, einen Hirnschlag? - Meine Gott, wie waren die Symptome für Hirnschlag? Diese Blitze im Kopf, mehrmals!!!! Er war allein! Völlig allein im Nichts!! Panik sprang in ihm hoch, nacktes Entsetzen. Das war doch möglich! Er war tot!!! "Aber ich spüre meinen Körper noch!" dachte er verzweifelt. Gab es soetwas wie Ganzkörper-Phantomschmerzen wenn man starb? Lief sein Gehirn jetzt langsam herunter bis zum Stillstand? Aus der Panik wurde Grauen.
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Und in diesem Moment, als seine Seele zu gefrieren schien, sah er den ersten Funken. Er war erst nur ein winziger leuchtender Punkt, weitete sich dann aber zu einem Feuerball aus. "Ein Leuchten am Ende des Tunnels", dachte Vladislav, "Davon reden Leute mit Nahtod-Erfahrung doch immer...ich hatte recht!" Aber es erschienen weitere glühende Punkte, schwollen zu Kugeln aus Licht an und begannen, wie Motten, um seinen Kopf zu schwirren. Fast hoffte er, sie würden einen Raum ausleuchten, aber in der absoluten Dunkelheit gab es weder Schattenwurf noch Lichtreflektionen irgendwelcher Art. Wie unwirklich alles war. "Das macht auch die Stille", dachte Vladislav. Er zuckte zusammen, als die Lichtbälle, die immer zahlreicher geworden waren, urplötzlich allesamt kollidierten. Strahlendes Licht, Gleißen, Sonnenhelle. Er schloß die Augen aber sah es weiterhin. Dann waren da wieder Bilder im Kopf. "Die Schemen kommen!" Er wurde aufgeregter, und gleichzeitig spürte er Erleichterung darüber, dem dunklen Gefängnis zu entrinnen. Bizarre Formen erhoben sich vor ihm aus dem Lichtvorhang. Gezackte Scheiben glitten auf ihn zu, besetzt mit Millionen von Lichterperlen in allen Farben. Dann schälten sich zeppelinartige, metallisch glänzende...Fische (?) aus dem Leuchten. Daneben sah er wabernde Kegel, transparent und durchsetzt mit Organellen. "Wie gigantische Pantoffeltierchen!" dachte Vladislav. Jetzt gesellten sich zu diesen Objekten Schwärme von kleinen, vogelähnlichen Schatten hinzu. Vor Vladislav erhob sich so nach und nach ein Anblick, der ihn immer mehr an etwas erinnerte. Er dachte nach. Ein pulsierendes, längliches Tier (?) erschien. Wie ein Aal schlängelte es sich durch das Gewimmel der anderen Erscheinungen. Ja, das war es: Das alles erinnerte den Kosmonauten an Aufnahmen von Korallenriffen, über denen die erstaunlichsten Meerestiere wimmelten; pralles Leben in unglaublicher Variation und Vielfalt. Die Objekte dort drüben sahen wirklich wie See-Anemonen aus, jene dort wie Langusten. Aber...jetzt erkannte er es, und es durchfuhr ihn wie ein warmer Schauer: Das waren keine Lebewesen, das waren Raumschiffe. Tatsächlich! Und die Kreise waren gigantische Raumstationen, gewaltige Städte im Kosmos. Um sie herum herrschte reger Verkehr. Gleiter aller Welten des Universums kamen und gingen, wechselten pausenlos ihre Position. Frachtschiffe, Passagierraumer, kleinere Privatjets. Das da drüben war eine prächtige Raum-Yacht. Und da: Ein spinnenartig geformtes Schiff aus reiner Energie. "Woher weiß ich das alles denn auf einmal?" wunderte sich der Kosmonaut. Soviel Schönheit hatte er noch niemals vorher gesehen. Die Fahrzeuge schwebten unter ihm, neben ihm, vor ihm, in seinem Kopf. Einfach überall. Er sah das Leuchten der Triebwerke, das Blinken Tausender Positionsleuchten und das Schwenken von Sensorleisten. Dann fixierten sich seine Augen auf einen roten Punkt, der größer wurde, langsam golden wurde, erbleichte, ins Silberne wechselte und schließlich zu einem Raumschiff wurde, dessen Bauart ihm bekannt vorkam: Das war ein Schiff der Erde! Es war ein gewaltiges Etwas aus Stahl, angetrieben von bläulich schimmernden Energien am Heck und versehen mit Markierungen an den Rumpfseiten. Fast glaubte Vladislav `United States of Amerika' dort zu lesen, aber es hieß anders...wie hieß es? Er strengte sich an, die Buchstaben zu erfassen. `United` stimmte. `United...' Nein, keine Chance. Der Raumer war hinter einer der großen Stationen verschwunden, und Vladislav wartete vergeblich darauf, daß er wieder hervorkam. Dann schien die Perspektive zu kippen. Der Kosmonaut konnte jetzt sehen, daß die Schiffschwärme über einem Planeten wogten, der nichts mit der Erde gemein hatte. Er war wie aus Eis gegossen, sah kalt und majestätisch aus und wanderte um eine grünliche Sonne. Vladislav wußte von Milliarden von Lebewesen da unten...
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Dann erloschen alle Eindrücke mit einem Schlag, und ein Kribbeln war in der rechten Hand zu spüren. Ehe er darauf reagieren konnte, fühlte er unendliche Erleichterung in seine Seele fahren. Eine unsichtbare Hand schien ihn am Kopf zu streifen, und dann gab es den grellen Blitz im Kopf, den er schon kannte und nun seltsamerweise freudig begrüßte... * Er war wieder in der heißen Raumstation erwacht. Die Luft war immer noch so stickig wie vorher. Vladislavs Körper war klebrig von Schweiß, aber sein Kopf schmerzte nicht mehr. Im Gegenteil: So kristallklar hatte er schon lange nicht mehr denken können. Wann war er das letzte Mal so wach gewesen? Er war ganz von einem warmen Gefühl ausgefüllt, einem unsichtbaren Glanz umgeben. Es war ihm, als höre er das Echo einer verwehenden Melodie, die er kannte, aber nicht bewußt erinnern würde. "Was war d...das..?" flüsterte er. In seiner rechten Hand entdeckte er einen durchsichtigen Stein. Der Kosmonaut hob ihn direkt vor seine Augen und sah ihn an. Er war unregelmäßig geformt, von Schlieren durchzogen und funkelte im fahlen Licht der MIR, wie all diese kristallinen Auswürfe aus dem Erdinneren, die man nach Vulkanausbrüchen oftmals finden konnte. Als sich sein Blick in das Glitzern des Steins versenkte, glaubte Vladislav wieder das Echo der Melodie zu ahnen. Es entzog sich seinem Verstand, seinen Sinnen, aber nicht seinen Gefühlen. Seit Tagen zum ersten Mal begann Vladislav zu lächeln. Er steckte den sonderbaren Fund in die Brusttasche seiner Kombination und erhob sich aus dem Sitz. Er wollte nun endlich Gregor ablösen. Der Fettarsch schlief sonst noch an der Decke ein, wie so eine dusselige Fledermaus. Mit kräftigen Bewegungen zog sich der Russe sicher durch die Kabine und in den Tunnel zum Kvant1 Modul hinein. Er bemerkte erst viel später, als er im Raumanzug zu den Solarzellen schwebte, daß er die ganze Zeit vor sich hinsummte.
ENDE
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F.R.S. von Holger Grandpair
Rowl Antube hat lange gezögert: Was kann er schon gegen die gnadenlose Maschinerie des Zukunftsregimes unternehmen? Die Chronik einer Unterwerfung und eines Widerstandes.
Rowl Antube wusste, dass er einem wahrhaft als fatal zu bezeichnenden Irrtum aufgesessen war. Die gesicherte Erkenntnis, dass neben ihm viele weitere Menschen, ja geradezu ein ganzes Volk Opfer jenes unglückseligen Falles von fehlerhafter Weitsicht und Urteilsvermögen geworden war, vermochte ihm fürwahr keinerlei Trost zuzusprechen. Denn hierzu war es bereits weitaus zu spät. Unruhig ging er in seinem Zimmer auf und ab und blickte zuweilen unmotiviert und dennoch in einem Zustand hoher Anspannung aus dem Fenster hinaus, wobei ihm ein jedes Mal die relative Verlassenheit und Trostlosigkeit der einstmals so prachtvollen und mit Leben und Freude beglückten Straßen auffallen musste und ihn fortwährend mit Trübsal erfüllte. Die Zeiten hatten sich geändert, und für lange Zeit hatte von jenem schleichenden Prozess niemand Notiz genommen, sondern alles Denken und Handeln stets den anderen überlassen, worauf niemand dem Unerwünschten in den Weg zu stellen sich aufmachte und dasselbe auf diese Weise letztlich zum Unvermeidlichen mutieren ließ. Rowl setzte sich wieder auf seinen samtweichen, mit hellgrünem Polster bezogenen Lehnstuhl, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und verschloss seine Augen. In vollem Maße war er sich bewusst, dass sein letztes Warten angebrochen war. Das Warten auf seine Henker, die ihn für seine Tat zur Rechenschaft zu ziehen trachteten und die fraglos niemand aufzuhalten in der Lage sein würde. Sadonate war ein noch sehr junger Staat, er war gegen Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts aus Teilgebieten mehrerer einstmals souveräner Staatsgebilde entstanden und hatte erst nach mehr als einem Jahrzehnt durch den E.A., den Earth Senate, der sich dereinst aus dem Sicherheitsrat der United Nations gegründet hatte, seine Anerkennung gefunden. Allerdings musste der Einfluss jenes Gremiums auf innerstaatliche Geschicke zu dieser Zeit ohnehin als recht begrenzt bezeichnet werden. Niemand wusste in späteren Tagen mehr mit Genauigkeit zu sagen, wer oder was letztendlich dafür verantwortlich zeichnete, dass irgendwann in den siebziger oder achtziger Jahren des vergangenen, scheinbar so unsagbar lange zurückliegenden Jahrhunderts die Vielzahl der unaufhörlich an gänzlich verschiedenen Schauplätzen der Erde stattfindenden kriegerischen Auseinandersetzungen mit einem Male zu einer wahrhaften Verselbstständigung gelangten und schließlich zu einem gewaltigen Flächenbrand eskalierten. Hervorzuheben ist jedoch ohne Zweifel die Bedeutung sich als unüberwindbar erweisender innerstaatlicher Konflikte vor allem kultureller, wirtschaftlicher und religiöser Natur. Kaum noch jemand vermochte damals zu unterscheiden zwischen Freund und Feind, zwischen Verteidiger und Aggressor, zwischen Selbstverteidigung und feigem Mord. Das G.W.N. – das Global World Net –, welches schon seit langer Zeit das Internet abgelöst hatte und als Herzstück einen mit unsagbar hoch entwickelter künstlicher Intelligenz versehenen Computer-Chip aufwies, brach innerhalb weniger Stunden in vollem Maße zusammen, worauf die Gesamtheit aller Medien-, Versorgungs- und Sicherheitsanlagen ihre Funktion aufgaben und ein unbeschreibliches Chaos unweigerlich losbrechen musste. Der einzige Grund, weshalb die Menschheit zu diesem Zeitpunkt nicht vollends vom Angesicht der Erde vertilgt wurde, war jener, dass neben allen weiteren technischen Errungenschaften auch die schwere Kriegsmaschinerie vom Zusammenbruch der weltweit vernetzten Computer betroffen war. Dennoch verfügten die unzähligen, plötzlich ins Tageslicht tretenden Warlords über ein beträchtliches Arsenal an konventionellen Waffen, welches genügte, um ein erbarmungsloses und scheinbar nimmer enden wollendes Blutvergießen in Gang zu set29
zen. Zweifellos wurden mehrfach auch Substanzen biologischen und chemischer Natur zum Töten von Menschen verwandt, doch sollte sich hierzu nach Beendigung der offenen Feindseligkeiten niemand bekennen und aufgrund der allseits verbreiteten mangelnden Bereitschaft zur Aufarbeitung des Geschehenen wurde auch kein einziger entsprechender Fall jemals nachgewiesen und dokumentiert. Schließlich trat beinahe ebenso rasch, wie einige Jahre zuvor das globale Kriegsgeschehen begonnen hatte, ein sich innerhalb weniger Wochen auf alle Kontinente ausbreitender Frieden ein, der einen prüfenden Blick auf das Ausmaß des sich Ereigneten ermöglichte. All dies, was innerhalb vieler Jahrhunderte in mühsamer Arbeit errichtet wurde, war mit einem Schlag dem Erdboden gleichgemacht worden, unzählige Unschuldige mussten Folter und Tod erleiden, und das möglicherweise Schlimmste von allem war, dass die wenigen den Schrecken Überlebenden ihre Menschlichkeit für immer eingebüßt hatten. Im Folgenden ereignete sich eine Vielzahl von Selbsttötungen, und Seuchen und Knappheit an Nahrung und Wasser trugen das Übrige dazu bei, dass die Zahl der die Erde bevölkernden Männer und Frauen abermalig dezimiert wurde und kaum noch die Aussicht auf die Rückkehr zu einem vernunftbehafteten und mit Glück und der Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse gesegneten gesellschaftlichen Dasein gegeben war. Viele einstmals wirtschaftlich und politisch unsagbar bedeutsame Regionen verwaisten vollends infolge der sich anschließenden Wanderungen, während in anderen Gebietschaften große Siedlungen entstanden, welche schon sehr bald in vielerlei Hinsicht zu wachsen und zu florieren begannen. In jenen Tagen der Neuordnung und Neuorientierung entstand auch Sadonate, eine der zahlreichen, in ihren Anfangstagen von der übrigen Welt vergessenen und unabhängigen Siedlungen, die größtenteils aus Flüchtlingen bestand und aufgrund der vergleichsweise geringen Zahl an einstigen Soldaten in rascher Weise zu einem Konsens hinsichtlich der anstehenden Aufgaben fand und überdies nur unbedeutend von kriminellen Elementen geplagt wurde. Dies alles geschah zu Beginn der neunziger Jahre des einundzwanzigsten Jahrhunderts, als Menschen, die des Mordens und des Hasses leid waren, aus verschiedenen, vom Krieg besonders betroffenen und über alle Maßen verheerten Regionen in einem im relativen Sinne weitgehend verschont gebliebenen Landstrich zusammenkamen und sich dort zu einer Gemeinschaft zusammenrauften, welche dem einzigen Zwecke diente, den einzelnen Männern, Frauen und Kindern das Überleben zu ermöglichen. Jene Flüchtlinge waren ein ethisch bunt zusammengewürfelter Haufen, die teilweise überaus gegensätzlich erscheinende religiösen und kulturellen Ideologien und Gebräuche mit sich brachten. Dennoch funktionierte die Zweckgemeinschaft, und tatsächlich gelang es den friedliebenden Menschen, während sie sich vor den letzten Atemzügen des Krieges verbargen, ein Leben in Entbehrung und Genügsamkeit zu führen, verbunden jedoch stets mit einem tief in ihrem Innern erglühenden Funken an Glück, was eine Empfindung darstellte, welche ihnen schon seit langen Zeiten nicht mehr wahrzunehmen vergönnt gewesen war. Rowl war im Krieg aufgewachsen und hatte die Staatsgründung als Kind miterlebt. Er war Angehöriger einer dunkelhäutigen Familie, die vor der schrecklichen Entwicklung eine gutsituierte und angesehene Position in der Gesellschaft ihres Heimatlandes innehatte. Sein Vater Hector Antube war studierter Volkswirt, der eine ausgezeichnete berufliche Stellung als Berater eines größeren Finanzinstitutes ausfüllte und nebenbei als Kommunalpolitiker und in verschiedenen gemeinnützigen Organisationen tätig war. Nur mit größtmöglichem Widerwillen griff er nach Beginn der militärischen Wirren zu den Waffen, die man ihm zur Verteidigung des Landes aufzwang, worauf er bereits nach weniger als zwei Tagen an einer der zahlreichen Fronten als vermisst gemeldet wurde und darum über seinen Tod kein Zweifel bestehen konnte. Seine Frau Padolena Antube zögerte, nachdem sie jene Schreckensnachricht erreichte, keinen einzigen Augenblick, sie nahm ihren Sohn und dessen jüngere Schwester Consteeze, packte einige wenige Sachen zusammen, die ihnen geblieben waren, und machte sich auf in Richtung 30
einer Örtlichkeit, an welcher sie Zuflucht vor Gewehrsalven und Granatenexplosionen vorzufinden hoffte. Menschen wie Padolena fanden sich zuhauf in dem neu zu entstehenden Staat ein, namentlich solche, denen teils furchtbare Geschicke widerfahren waren und die dennoch genügend an Mut und Energie aufbrachten, um unter ihren Mitmenschen Zuversicht und wenigstens einen Ansatz von Frohsinn zu verbreiten und auf diese Weise dem Fortbestand der menschlichen Gemeinschaft einen berechtigten Sinn zu verschaffen. So zog sie in alleiniger Verantwortung ihre Kinder groß und schenkte ihnen die Gelegenheit zu einem besseren und glückseligeren Dasein wie es deren Eltern beschieden war. Rowl zeigte bereits seit früher Kindheit Interesse für weltpolitische Ereignisse und insbesondere die schicksalhaften Umstände, die letztlich zum Tod seines Vaters geführt hatten. Die Gründung von Sadonate – ein Prozess, der sich bis zu seinem Abschluss über mehrere Jahre hinzog –, erlebte er als für jene Thematik hochempfänglicher Jugendlicher, so dass es keineswegs verwundern konnte, dass er sich für eine journalistische Tätigkeit als beruflichen Werdegang zu entscheiden suchte und konsequenterweise bei einer zunächst in unregelmäßigen Abständen und später zum seriösen Tagesblatt sich entwickelnden Zeitung anheuerte. Tag für Tag zog er mit Fahrrad oder Bus durch die Siedlungen, die langsam zu befestigten und mit einer funktionierenden Infrastruktur ausgestatteten städtischen Gebilden anwuchsen, hielt sich stets mit Papier und Bleistift bewaffnet und forschte nach Meinungen, Missständen sowie positiven und hoffnungsvoll stimmenden Umständen, ehe er in die Redaktion zurückkehrte, seine Erkenntnisse und Ansichten niederschrieb und sich anschließend bis spät in die Nacht einer Form von Selbststudium von allen möglichen Wissensgebieten, mit dem Schwerpunkt der Geschichte jedoch stets, mit ganzem Herzen zu widmen sich aufmachte. Mit höchstem Interesse verfolgte er die Ausarbeitung eines künftig die Geschicke des Landes bestimmenden politischen Systemes, wozu sich eine große Anzahl von Männern und Frauen für mehrere Tage zu einer diskreten Tagung zusammenfand, welches die Nachempfindung einer der in der Vergangenheit wenigstens für eine lange Zeit funktionierenden Demokratien zum erklärten Vorbild hatte. Da jedoch selbst aus jenen Systemen einstmals radikale Strukturen erwuchsen, drängten viele der Anwesenden auf die Einrichtung einer Vielzahl von Kontrollmöglichkeiten und Abhängigkeiten sowie auf die Stellung der obersten Staatsgewalt auf eine sehr breit gefächerte Basis. Da aufgrund der schrecklichen Ereignisse niemand jenen Mahnern zu widersprechen getraute, wurde getreu deren vorgebrachter Einwände eine derjenigen staatlichen Formen gewählt, in welchen das Element der Volksherrschaft am deutlichsten hervorzutreten wusste. Im Ergebnis stand schließlich der Beschluss der Einrichtung eines aus etwa hundert Personen bestehenden Parlamentes sowie eines regierenden Rates aus zehn Mitgliedern, welche ihrerseits von den parlamentarischen Abgeordneten gewählt wurden. Beide Gremien sollten alle vier Jahre durch allgemeine, gleiche Wahl bestätigt oder neu geordnet werden. Hinzu trat eine vollends unabhängige Justiz sowie der sogenannte Rat der peacekeeper – der Friedensbewahrer –, welcher aus den qualifiziertesten Juristen bestehen und die Arbeit von Parlament und Rat der Regierenden überwachen sollte. Alles in allem handelte es sich um ein fürwahr ausgeklügeltes, mit besten willentlichen Ansätzen versehenes politisches System, das jedoch verschiedene, letztlich in unheiligen Auswüchsen endende Schwachstellen aufweisen sollte. Rowl zeigte sich mit den anfänglichen Bemühungen der ersten Volksabgeordneten sehr zufrieden, so dass er überaus wohlwollend darüber zu berichten suchte. Gleichfalls ließ er in seiner Kolumne, die ihm das daily peace news-Blatt bald zur Verfügung stellte, keine Gelegenheit aus, vor drohendem, neuerlich aufflammendem Konfliktpotenzial zu warnen und mit dem mahnenden Zeigefinger auf das Grauen der Vergangenheit zu verweisen. Symptomatisch für jene Zeit war, neben einer wahrhaftigen, wenn auch nicht als euphorisch zu bezeichnenden Aufbruchsstimmung, die zumindest unterschwellig stetig vorhandene Furcht vor einem neuerlichen Krieg, welcher der Menschheit fraglos des letzten Lebenswil31
lens berauben würde. Aus diesem Grunde war das Wort peace ein unverzichtbarer Bestandteil der Kultur nicht nur in Sadonate, sondern praktisch in allen, zu dieser Zeit neu entstehenden Ländern der Erde, welche die gleichen Sorgen und Ängste ohne jede Einschränkung teilten. Und obgleich die Beziehungen zwischen den Staaten sich im Folgenden überaus positiv entwickelte und geradezu ungeahnte Ausmaße an Toleranz, Vertrauen und gegenseitigem Respekt erreichte, blieb jene Kultur der Furcht unausrottbar in den Köpfen der Menschen verankert, und eben dieses war möglicherweise der Grund für die Unabwendbarkeit der Geschehnisse, wie sie sich schon sehr bald zu ereignen anschickten. Am einem achten Oktober wurde ein gewaltiger öffentlicher Akt zelebriert, in dessen pompösen Verlauf die Begründung des Staates Sadonate offiziell verkündet wurde. Jener Tag war fraglos ein Datum der Freude für jeden Menschen, der in seinen Grenzen Zuflucht suchte und auf eine bessere Zukunft hoffte, und unübersehbar waren im Rahmen jener Feierlichkeiten die Werte von Frieden, Gleichheit und Toleranz, die als Fundament einer stabilen, dauerhaften Ordnung dienen sollten. Einen wahrlich hohen Stellenwert innerhalb der Grundsätze und Vorsätze der Gesellschaft von Sadonate nahm unter anderem die strikte Trennung von Staat und Religion ein. Die Befürworter jener Reglementierung argumentierten geradezu unwiderlegbar damit, dass neben den verschiedenen Rassenzugehörigkeiten insbesondere die großen, von ihrer alleinigen Wahrhaftigkeit überzeugten Weltreligionen für die überwiegende Zahl der Konflikte der Vergangenheit verantwortlich zeichneten und in zahllosen Fällen für alle Zeiten fürwahr unüberwindliche Gräben zwischen den Menschen zu verursachen wussten. Die ersten beiden Jahre der Existenz des Landes vergingen ohne wesentliche Auffälligkeiten, die gewählten Vertreter leisteten gute Arbeit, wenn diese erforderlich war und hielten sich darüber hinaus aus jeglichen Bereichen heraus, die offenkundig auch ohne ihre Mithilfe den allgemeinen Wünschen entsprechend zu verlaufen schienen. Während jener Zeit lernten die Menschen, die dereinst den verschiedensten Kulturkreisen entstammten, miteinander zu leben und einander zu respektieren, was seine Vervollkommnung fand durch den gemeinsamen, fleißbehafteten Willen zur Erschaffung eines wirtschaftlichen Wohlstandes, der jedem der hier lebenden Männer und Frauen zugute kommen sollte. Als zum ersten Male eine Neuwahl der politischen Funktionsträger anstand, wurden, wie nicht anders zu erwarten, sowohl das Parlament als auch der von diesem letztlich zu bestimmende Rat der Regierenden in ihren wesentlichen Teilen bestätigt, da das Volk mit seinen Vertretern in hohem Maße zufrieden war und es somit keinen Anlass zu weitreichenden Änderungen erkannte. Obgleich jeder der Mitglieder des regierenden Rates dem anderen in jeder Hinsicht gleichgestellt war, vermochten im Laufe der Zeit doch drei von ihnen durch besondere Qualifikation und Durchsetzungskraft hervorzutreten. Es waren dies zum einen ein über fünfzig jähriger, hellhäutiger und grauhaariger Mann, der über einen Meter neunzig groß gewachsen war und vor dem Krieg zunächst als Geschäftsführer ein innovatives Unternehmen aus der Energiebranche geleitet und sich zuletzt der Politik als Wirtschaftsexperte zugewandt hatte, wo er durch seine ruhige, diplomatische und niemals verletzende Art überaus positiv aufzufallen wusste. Sein Name war Owen Rosberg. Seat Muhammar hatte hingegen als Anwalt innerhalb seines Heimatstaates gearbeitet und war dort zu weitreichender Berühmtheit gelangt, da er sich nimmer scheute, selbst die renommiertesten Firmen sowie staatstragende Personen und Idole vor Gericht zu zitieren. Er war ein sechsundvierzigjähriger, ausgewiesener Rechtsexperte und zudem ein beredsamer Mann, der einem wahrlich jedes Wort im Munde herumzudrehen vermochte. Schließlich war da Méline Atungo, eine fünfzig Jahre alte Schwarze, die aus Rowls Heimatland stammte und sich ähnlich wie Padolena durch eiserne Willenskraft und Lebensmut quasi aus dem Nichts emporgearbeitet hatte. Vor dem Krieg hatte sie ein Leben als Mutter, Hausfrau und Gelegenheitsarbeiterin geführt, und nachdem ihr Mann und ihre beiden erwachsenen Söhne gefallen waren und sie die zunächst damit verbundenen depressi32
ven Gedanken vertrieben hatte, hatte sie sich entschieden, in Sadonate einen neuen Anfang zu wagen und Verantwortung zu übernehmen. Und in der Tat vermochte sie mit Wortgewalt und Unbestechlichkeit in den Vordergrund zu treten und sich sowohl als Mahnerin wie auch als Macherin schon sehr bald allseitigen Respekt und hohes Ansehen in der Bevölkerung zu erwerben. Nachdem sie Anfangsjahre verflogen waren, und die zweite Amtsperiode der Regierung zur Hälfte vorüber war, hatte sich der ökonomische Aufschwung zu einem ersten Wohlstand geführt, der selbstverständlich nicht jeden einzelnen Bürger betraf. So bildete sich langsam eine vermögende Schicht heraus, während andere – sei es aus welchen Gründen auch immer – weiterhin in bescheidenen Verhältnissen zu leben gezwungen blieben. Jene zweifellos nur als natürlich zu bezeichnende Ungleichverteilung führte unweigerlich zu ersten Anflügen von Neid und Gier und somit zu einer Steigerung der Kriminalität und einem Rückzug von ganzen Familien zu Religion und ureigener Tradition. Jene Entwicklung war zu diesem Zeitpunkt gleichwohl keinesfalls als vorherrschend oder für die demokratischen, friedlichen Verhältnisse gar als bedrohlich zu erachten, doch blieben sie Menschen, welche die Zustände aufmerksam betrachteten und in hoher Furcht vor einer Rückkehr zu Zwietracht und Gewalt lebten, keineswegs verborgen. Und einer von ihnen war Rowl Antube. Rowl war mittlerweile zum Chefredakteur des daily peace news aufgestiegen und ließ es sich nicht nehmen, weiterhin eine Vielzahl von Kommentaren und Berichterstattungen selbst zu verfassen sowie bei vielen Gelegenheiten die Tätigkeit eines Korrespondenten auszuüben und sich stets um Informationen direkt von den Straßen zu bemühen. Mit unvergleichlicher Lebhaftigkeit warnte er in seinen Artikeln vor einer Entfremdung innerhalb der Gesellschaft Sadonates, die durch den in seinen Augen zu schwachen Staat mitnichten aufzuhalten wäre. Sehr wohl vermittelte er den Angehörigen des regierenden Rates seine ehrlich gemeinte Anerkennung angesichts deren aufopferungsvoller Arbeit, doch fürchtete er die Entstehung von zahllosen kleinen, zunächst im Untergrund ihr Dasein führende Gruppierungen, die einstmals möglicherweise zur Herbeiführung tiefer und gewalttätiger innerstaatlicher Krisen befähigt sein könnten. In Rowls Äußerungen spiegelte sich die oftmals konfuse, teils irrational anmutenden Besorgnisse der Bevölkerung, insbesondere des intellektuellen und besitzenden Teils, wider, die einerseits große Furcht vor einer Totalisierung des Staates hatte, andererseits jedoch dem Volk keine vollendete Mündigkeit zutraute und darum vor noch mehr als allem anderen vor extremistischen Tendenzen zu warnen suchte. Denn eben jene waren es, die während des vergangenen Jahrhunderts in eine weitreichende Spaltung innerhalb der führenden Wirtschaftsnationen gemündet waren und diese schließlich ins Verderben führten. Ein Zwiespalt, welcher sich letztendlich als unmöglich zu überwinden erwies. Der Mann, der sich zunächst von jedermann unbeachtet letztlich in die mächtigste Position innerhalb des Staates manövrierte und das Verderben damit auslösen sollte, war Warren Hamilton. Hamilton war ein Weißer von achtunddreißig Jahren, der in seinem Heimatstaat als Staatsanwalt gearbeitet hatte und damit eine überaus ausgeprägte juristische Qualifikation aufwies. Bereits damals wusste er durch brennenden Ehrgeiz aufzufallen, der sich darin äußerte, dass er die Gesamtheit seiner Zeit für seinen beruflichen Werdegang aufwand, darum weder Freundeskreis noch Beziehung oder Hobby kannte, stets mit hervorragenden theoretischen Ergebnissen glänzte und letztlich aufgrund seiner praktischen Erfolge einen steilen Aufstieg zu verzeichnen vermochte. Jäh wurde seine Karriere durch den Beginn des Krieges unterbrochen, in dessen Verlauf er untertauchte, sich verbarg und erst sehr spät in plötzlicher Weise in den Siedlungen des späteren Sadonate auftauchte. Hier erhielt er von Beginn an die Gelegenheit zu einem Neuanfang, indem er unmittelbar nicht nur eine Anstellung in den staatlichen
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Justizorganen erhielt, sondern darüber hinaus sogar dem Rat der peacekeeper zugeordnet wurde. In dem fürwahr rundweg als demokratisch zu bezeichnenden politischen System des Staates nahmen die peacekeeper von Anfang an eine Ausnahmestellung ein, da sie zum einen die Macht hatten, jegliches Entscheiden und Handeln der anderen Organe durch ihr Veto mit Nichtigkeit zu versehen, und zum anderen praktisch nicht mehr ihres Amtes zu entheben waren. Dieser unzweifelhafte Fehler, welcher sich in den Staatsapparat eingeschlichen hatte, sollte sich in Verbindung mit der schwachen Stellung der Regierung als über alle Maßen verhängnisvoll erweisen. Warren Hamilton war nicht nur von krankhaften Ehrgeiz und Selbstsucht, sondern ebenfalls von einem hochgradigen Drang nach Macht erfüllt, wie sich schon sehr bald offenbaren sollte. Und die Beschaffenheit jenes Systemes der Gleichheit hatte unweigerlich zur Folge, dass ein mit Willen, Tatkraft und Durchsetzungsvermögen ausgestatteter Mensch letztendlich sehr wohl hervorzutreten wusste. Es dauerte nicht sehr lange, ehe es dem ehemaligen Staatsanwalt innerhalb der aus zwölf Personen bestehenden Riege der peacekeeper eine wortführende Rolle einzunehmen gelang und beträchtlichen Einfluss auf seine Kollegen und Kolleginnen zu gewinnen vermochte. Mitnichten trat er bereits zu dieser Zeit nach außerhalb seines beruflichen Bereiches hervor, denn zunächst konzentrierte er sich darauf, seine Herrschaft dort zu festigen. Der Rest der Vollendung seiner Zielsetzungen, so mutmaßte er mit Gewissheit, würde als Folge dessen beinahe von alleinig nachfolgen. Unmöglich kann genau nachvollzogen werden, auf welche Weise Hamilton die übrigen Mitglieder des kontrollierenden Rates zu seinen Getreuen zu verändern vermochte, doch geschah dies innerhalb weniger Jahre und ohne jegliches Aufsehen. Im Laufe jener Zeit verließen nicht weniger als fünf Mitglieder aus freien Stücken und infolge privater Interessen – so die offiziellen Verlautbarungen – die peacekeeper und tauchten aus der Öffentlichkeit in die Versenkung nieder. Unabhängig davon ist unstrittig, dass er aufgrund seiner beruflichen Qualifikation, seiner Fähigkeit der Menschenführung und des auf vermeintlicher Logik beruhenden Enthusiasmus seiner Ideen und Visionen seine Mitmenschen zu jeder Zeit in seinen unheiligen Bann zu ziehen wusste. Auf jeden Fall gelangte er in die Position des uneingeschränkten Sprechers und Meinungsführers der peacekeeper, und seine Vorschläge und Anregungen fanden in deren Mitte ungeteiltes Gehör und Zustimmung, was ihm in eine als einzigartig zu bezeichnende Ausgangslage beförderte. Das erste Mal trat er in den Vordergrund, als das Parlament eine Neuerung der Steuergesetzgebung gerade abgesegnet hatte. Die Reform war das Werk von Owen Rosberg und trug der Forderung der führenden Unternehmer des Landes Rechnung, die Abgabenlast für Unternehmen zu senken und somit deren Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und auf diese Weise die Arbeitslosigkeit zu senken. Im gleichen Atemzug wurden zudem einige betriebswirtschaftliche Reglementierung fallengelassen, so dass unter anderem der Schutz vor Kündigungen weitgehend ausgehöhlt wurde. Jenes Bündel von Gesetzesentwürfen hatte innerhalb der Volksvertretung heftige Diskussionen ausgelöst, ehe es letztlich mit einer knappen Mehrheit das Parlament passierte. Es war ein Akt der Liberalisierung, der als Reaktion auf die Tatsache gewertet werden konnte, dass zunehmend Jugendliche keine berufliche Tätigkeit fanden und demzufolge in die Kriminalität abrutschten. Darüber hinaus blieb jedoch die Handschrift Owen Rosbergs unverkennbar, der als Unternehmer lange Zeit auf Seiten der Arbeitgeber gestanden und die Vertretung deren Interessen noch immer überzugewichten suchte. Auf jeden Fall bot das Gesetzeswerk Warren Hamilton die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte. Waren die peacekeeper seit der Staatsgründung Sadonates bislang noch kaum in Erscheinung getreten, so fand dies nunmehr ein jähes und aufsehenerregendes Ende. Unmittelbar nachdem 34
die neuen Vorschriften in Kraft gesetzt waren, trat Hamilton vor das Volk und hielt eine auf allen Sendern und Kanälen live zu empfangende Rede, die auf brennende Weise Emotionalität zu vermitteln wusste. Unübersehbar bewegt erhob er den mahnenden Zeigefinger und verkündete, dass einige der gewählten Abgeordneten ihrer Pflicht, die Gesamtheit des Volkes zu vertreten, nur äußerst unzureichend nachkamen und offensichtlich die Interessen von einigen wenigen in den Vordergrund stellten. Vollende Verständnislosigkeit zeigte er für das soeben Beschlossene, denn dies hätte unverkennbar einzig die Zementierung und Erweiterung der Kluft zwischen Arm und Reich, die Degradierung des Arbeiters und Angestellten zum Objekt der Wankelmütigkeit der Unternehmer und schließlich eine Zerrüttung des Staates zur Folge. Mit feierlichen Worten erklärte er zuletzt, dass alle zwölf Angehörige des Rates der peacekeeper die Gesetze für verfassungswidrig erachteten und diese somit ohne jeden Verzug außer Kraft zu setzen wären. Damit endete der erste öffentliche Auftritt Hamiltons, und die Zuhörer in allen Teilen des Landes schwankten zwischen tiefster Verblüffung und spontan geäußerter Zustimmung und Bewunderung. Der Rat der Regierenden hatte keinerlei Wahl als die Reform ad acta zu legen und als einzigen Kommentar mit einem Schulterzucken darauf zu verweisen, dass das mit Rechtsexperten besetzte, zur Kontrolle befugte Organ das letzte Wort hatte und bekanntlich immerzu verschiedene Meinung existieren würden, die man stets respektieren müsse. Es dauerte nicht sehr lange Zeit, ehe die peacekeeper sich neuerlich zu Wort meldeten, dieses Mal jedoch keineswegs als Reaktion auf eine Initiative eines anderen gesetzlichen Organes, sondern gänzlich aus eigenem Antrieb heraus. Obgleich zu diesem Zeitpunkt keinerlei konkreter Anlass ersichtlich war, trat Warren Hamilton vor die Öffentlichkeit, schilderte einige in seinen Augen sich in letzter Zeit rapide verschlechternden Umstände innerhalb des Staates und betonte, dass dies dem Hohen Rat – womit er das Gremium, welchem er angehörig war, meinte – keineswegs verborgen blieb. Namentlich erwähnte er eine Verschärfung der sozialen Spannungsfelder, wie Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität und die Verschiedenheit der ethischen Gruppen. Infolgedessen sahen er und seine elf Kollegen und Kolleginnen keine andere Alternative als dem Rat der Regierenden eine Ermahnung zu erteilen und sie energisch darum zu ersuchen, zukünftig die Vertretung des ihnen vertrauenden Volkes in besserer und wünschenswerterer Weise zu verrichten. Zwar ist zu konstatieren, dass in Sadonate zu dieser Zeit in der Tat die Phase des ersten großen Aufschwungs und der damit einhergehenden Euphorie vorüber war und von einer Blüte mitnichten mehr gesprochen werden konnte, doch waren die Umstände andererseits in keiner Weise auch nur annähernd als so unvorteilhaft und düster zu bezeichnen, wie Hamilton sie fraglos bewusst darzustellen suchte. Die Wahrheit war, dass der noch junge Staat von so etwas wie Normalität ergriffen wurde, welche beinhaltet, dass ein gewisses, begrenztes Maß an negativen Faktoren als unvermeidlicher Bestandteil eines gesellschaftlichen Zusammenlebens akzeptiert werden muss. Und so und keineswegs anderweitig verhielt es sich ebenfalls in diesem Falle. Der Wortführer des kontrollierenden Rates jedoch wusste jedoch sehr wohl um die in den Geschehnissen der Vergangenheit begründeten Ängste der Bewohner und deren erhöhter Sensibilität hinsichtlich jedem noch so geringfügig erscheinendem Konfliktpotenzial. Und aus diesem Grunde fand er Gehör und rege Zustimmung, während die eigentlichen Volksvertreter in ungläubiges Entsetzen verfielen. Hier war das erste Mal, dass Rowl hinsichtlich Hamilton das Wort ergriff. Genauer gesagt widmete er ihm die Hauptschlagzeile in seiner Zeitung und zusätzlich noch zwei weitere Seiten, in welchen er den vermeintlichen Tatsachen, die der peacekeeper geschildert hatte, auf den Grund zu gehen versuchte, zahlreiche Beispiele hierfür anführte, in leidenschaftlicher Weise selbst ähnliche, mahnende Worte formulierte und bei jeder Gelegenheit den tapferen Angehörigen des kontrollierenden Rates mit Lob bedachte. Wahrhaftig war dies der Beginn einer Art von freundschaftlicher Zusammenarbeit zwischen den beiden Männern, denn Warren Hamilton wurde unmittelbar nach Erscheinen jener Aus35
gabe beim Herausgeber der daily peace news vorstellig und sprach ihm seinerseits seine Bewunderung für dessen engagierte und an Kritik niemals sparende Arbeit aus. Anschließend wiederholte und intensivierte Hamilton seine Sorgen über den friedlichen Fortbestand von Sadonate und klagte insbesondere über die schwache und untätige Regierung, die offenkundig einzig auf den Eintritt in den bezahlten Ruhestand hoffe und mitnichten mehr irgendwelche dringend benötigte Verantwortung zu übernehmen wagte. Unzweifelhaft verfügte Warren Hamilton über eine geradezu überwältigend charismatische Ausstrahlung, welche in Verbindung mit der Eigenschaft eines begnadeten Redners, einer in hohem Maße ausgeprägten Verschlagenheit und der bedingungslosen Bereitschaft zur Anwendung von Tücke und List eine wahrlich unwiderstehliches Konglomerat darzustellen wusste. Letztendlich war er als niemand geringeres als ein geborener Verführer zu bezeichnen. Rowl Antube führte mehrere Gespräche mit seiner Mutter über den unaufhörlich steigenden Einfluss des peacekeepers, und Padolena wurde nicht müde, ihren Sohn mit Warnungen zu versehen, selbst nachdem sie Hamilton bei einem Familienessen, zu welchem Rowl seinen erklärten Freund eingeladen hatte, kennenlernte und in den Genuss seines nicht zu leugnenden Charmes gelangte. Alles Zureden seitens seiner Mutter vermochte jedoch nichts zu bewirken, denn mit ihren Mahnungen sollte sie noch für lange Zeit alleine stehen. Selbst Rowls jüngere Schwester zeigte sich von dem vornehmen, stets fröhlich gelaunten Mann in hohem Maße begeistert, so dass ihr Bruder sich gar um eine Verabredung zwischen Consteeze und dem Juristen bemühte, was dieser allerdings unter erheblichem eigenem Bedauern mit der Begründung seines notorischen Zeitmangels ablehnen musste. Dann kam der Tag, an dem das Unvermeidliche einkehren sollte. Warren Hamilton hatte sich hierzu hervorragend vorbereitet und alle seine Anhänger um sich geschart. Und er hatte einen Zeitpunkt gewählt, der überaus günstig erschien, denn der Rat der Regierenden übte sich im Rahmen einer anstehenden haushaltspolitischen Entscheidung in Uneinigkeit und heftiger Debatte. Nachdem die Vorlage eines Gesetzesentwurfes abermals verschoben wurde, trat der Rat der peacekeeper eines Abends zu besten Sendezeit ohne jede Ankündigung vor die Öffentlichkeit, worauf Warren Hamilton eine als bedeutungsschwangere und folgenschwere Rede zu halten sich aufmachte. Die geradewegs in jedes Wohnzimmer von Sadonate übertragenen Worte enthielten in groben Zügen eine Anklageschrift wider die Unfähigkeit der regierenden Politiker und zählten eine Reihe von Unzulänglichkeiten und sogenannten Verstößen gegen die Interessen des Volkes auf. Letztendlich handelte es sich jedoch keineswegs um die Missbilligung einiger weniger vom Parlament gewählter Personen, sondern um die konsequente in Frage Stellung des gesamten politischen Systemes. Ohne jede Umschweife gelangte der Redner somit letzten Endes zu der drastischen Forderung, die staatlichen Strukturen umgehend umzugestalten und übergangsweise dem die verfassungsmäßigen Rechte und Werte kontrollierenden Rat die politische Führung zu übertragen, bis ein neuartiges, modernisiertes, demokratisches System ausgearbeitet sei. Jene unverblümt vorgetragene Beanspruchung des Machtmonopols umkleidete Hamilton mit allerlei Bedauern, dem Ausmalen düsterer Alternativprognosen sowie der unverkennbar zur Schau getragenen Demonstration seines offenkundig breitgefächerten Rückhaltes. So erschienen an seiner Seite nicht nur alle weiteren elf Mitglieder des Rates der peacekeeper, sondern ebenfalls weitere hochdekorierte Juristen, einige parlamentarische Politiker, mehrere Prominente aus verschiedenen Gesellschaftsbereichen, Unternehmer sowie Rowl Antube als Vertreter der Mediengewalt. Dies alles genügte, um einen Eindruck von unmissverständlicher Entschlossenheit zu vermitteln und die Regierenden unter beträchtlichen Handlungsdruck zu versetzen.
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Während die Mehrheit des Volkes eher verblüfft und mit abwartender Passivität reagierte, traten die zehn Mitglieder des regierenden Rates eilends zusammen, da Hamilton ihnen den Auftrag zur Entscheidung binnen achtundvierzig Stunden gegeben hatte. Während jener Frist wagte kaum jemand der Tagenden, das Wort zu erheben und seine Auffassung unmissverständlich kundzutun, abgesehen von Méline Atungo, die keinerlei Hehl aus ihrer Abneigung gegenüber Warren Hamilton und der ihrer Ansicht nach vorhandenen Unrechtmäßigkeit der Einmischung des kontrollierenden Rates in die politischen Geschehnisse machte. Nachdem die beiden Tage schließlich vergangen waren, erklärte ein sichtlich gealterter Owen Rosberg, dass der Rat der Regierenden noch zu keiner abschließenden Einigung gelangt war und man noch zwei weitere Tage zur Entscheidungsfindung benötige. Die peacekeeper akzeptierten dies, so dass sich die gewählten Volksvertreter ein weiteres Mal zusammenfinden konnten. Die Diskussion entwickelte sich zu zunehmender Lebhaftigkeit und stand fürwahr auf Messers Schneide. Am nächsten Morgen wurde Méline Atungo tot aufgefunden. Sie lag gefesselt, geknebelt und mit durchgeschnittener Kehle direkt vor dem Regierungsgebäude unter einer Straßenlaterne. Jene Warnung erwies sich als unmissverständlich. Die Regierenden ergaben sich in ihr Schicksal und gestatteten dem Rat der peacekeeper, solange die politischen Gewalten zu vereinigen bis ein modifiziertes, demokratisches System ausgearbeitet sei. Von diesem Augenblick an begann Rowl Antube, sich von Warren Hamilton zu entfremden. Niemand vermochte, die Ermordung von Méline Atungo dem Wortführer der peacekeeper beweiskräftig anzulasten und niemand bestand darauf, sich auf die Suche nach Täter und Motiv zu begeben, doch jedermann hatte einen unsagbar erschreckend anmutenden Verdacht, den er jedoch nimmer auszusprechen wagte. Rowl zog sich im Folgenden aus der Politik zurück, er schrieb keinerlei Kolumnen mehr darüber, teilte niemanden seine Ansichten und Hoffnungen mit und zog sich zusehends in Abgeschiedenheit zurück. Selbst Padolena hörte für lange Zeit nichts mehr von ihrem Sohn, einzig mit Consteeze wechselte er hin und wieder am Telefon einige Worte. Auch seine Schwester hatte inzwischen ihr Meinungsbild bezüglich des charmanten, wortgewandten Juristen gewandelt und sich mit Befremdung und Abneigung von ihm abgewandt. Hamilton zögerte nunmehr nicht lange und bemühte sich, vollendete Tatsachen zu schaffen, was ihn letztendlich auch gelingen sollte. Zunächst erklärte er, dass der Rat der peacekeeper zu dieser schweren Stunde das ihm angetragene Ersuchen wahrnehmen und sich sogleich an die Arbeit begeben wolle. Als erste Handlung seiner als provisorisch deklarierten Amtszeit rief er die Schaffung einer speziellen Polizeieinheit aus, die sogenannte peace force, die möglicherweise auftretende Konflikte sofortig bekämpften und somit zur Friedenssicherung erheblich beitragen sollten. Die peace force wurde speziell auf Warren Hamilton vereidigt und in konsequenter Weise auf Gehorsam und Bedenkenlosigkeit gedrillt. In Krisenzeiten kam ihr das Recht zu, in jedwedem Bereich der inneren Sicherheit die sachbearbeitende Behörde darzustellen und damit uneingeschränkten Vorrang vor Polizei und Militär zu genießen. In den nachfolgenden Wochen und Monaten sollte die zahlenmäßige Stärke jener Einheit unentwegt weiter ausgebaut werden, bis sie schließlich allgegenwärtig war und die regulären Polizeibehörden einzig noch zu Maßnahmen minderer Bedeutungskraft herangezogen wurden. Hamilton beließ die entmachtete Polizei ebenso wie das Militär jedoch im Augenschein der Öffentlichkeit, so dass der Eindruck einer zumindest in Grundzügen funktionierenden demokratischen, rechtsstaatlichen Ordnung nicht vollends verwischt wurde. In gleicher Weise verfuhr er mit Parlament und dem Rat der Regierenden, denn mitnichten löste er jene Gremien auf, sondern sprach ihnen weiterhin die Ausübung der Staatsgewalt zu, wenn diese auch bei vielen Gelegenheiten den Rat der peacekeeper einzuholen gezwungen waren. Im Ergebnis bedeutete dies nichts anderes, als dass regierender Rat und Parlament für die Öffentlichkeit den Schein einer Balance zwischen den Kräften zu wahren suchten, während Ha37
milton jedwede Entscheidung in alleiniger Regie traf und wahrhaft niemand sich ihm zu widersprechen getraute. Innerhalb der regelmäßigen, zur belanglosen Farce degradierten Sitzungen des regierenden Rates war es einzig Seat Muhammar, der einstige Jurist, der sich seinem Wesen nicht dauerhaft zu entfremden vermochte und immer wieder kritische Worte hinsichtlich der gegenwärtigen Ordnung fand. Am liebsten hätte er Hamilton und zahlreiche weitere Personen verklagt und vor der gesamten Öffentlichkeit bloßgestellt, so wie er es in früheren Tagen mit Erfolg praktizierte. In diesem Fall sollte er jedoch mitnichten mehr die Gelegenheit zu solch Handeln erhalten, denn eines Tages erschien er nicht mehr an seinem Arbeitsplatz, ebenso wenig wie seine Frau seinen Aufenthaltsort nennen konnte. Er war verschwunden, und sollte niemals wieder gefunden werden. Etwa eine Woche später rief Warren Hamilton im Rahmen eines Staatsaktes die Begründung der Federal Republic of Sadonate auf. Mit jener Umbenennung wollte der peacekeeper ein Zeichen setzen, dass man sich von dem vorangegangenen Zustand der Schwäche und mangelnden Ordnung zu verabschieden gedachte und nunmehr endlich die langersehnte Stabilität gefunden hatte. Eine weitere Woche später und damit beinahe exakt zwei Wochen nach dem Verschwinden von Seat Muhammar schoss sich Owen Rosberg im Keller seines Wohnhauses eine Kugel in den Mund. Owen Rosberg, die herausragende Person innerhalb des Rates der Regierenden von Sadonate, der für die Staatsgründung maßgeblich mitverantwortlich zeichnete, war in seinen letzten Tagen zu einem abgemagerten, kalkweißen und immer häufiger stotternden Gespenst, zu einer Karikatur seines einstigen, überaus stolzen Selbst verkommen. Sein Lebensmut war gesunken und mit diesem und seiner Hoffnung auf bessere Tage hatte auch sein Wille zum weiteren Dasein ein jähes Ende gefunden. Warren Hamilton war nunmehr beinahe am Höhepunkt seiner Machtentfaltung angelangt. Er und die sich ständig vermehrende Schar seiner Getreuen hatten die drei wesentlichen Staatsgewalten inne und die Medien wagten zumindest nicht, auch nur den leisesten Anflug von Kritik an den gegenwärtigen Zuständen zu äußern. Somit verblieb zur endgültigen Festigung seiner Macht einzig noch ein weiterer Bereich, und dieser war die Religion. Im Folgenden begann er damit, zahlreiche Vertreter der verschiedenen, in der Federal Republic of Sadonate existenten Religionsgemeinschaften um sich zu scharen und ihnen den Auftrag zu geben, eine Synthese ihrer geistigen Ideologien sowie des Zeremonialwerks zu kreieren, die bei der überwiegend Mehrheit der Bevölkerung im Laufe der Zeit Akzeptanz finden würde. Jene neue Religion bezeichnete er als Sadonismus. Wahrlich viele seiner Getreuen hatten ihrem Anführer von jenem Ansinnen zunächst abgeraten, doch allesamt sollten sie eines besseren belehrt werden. Hamilton gelang es fürwahr mittels einer als annähernd perfekt zu bezeichnenden Marketingstrategie, dem Volk sein neuartiges theologisches Verständnis näherzubringen, wobei er sehr darauf bedacht war, zu Anbeginn die über viele Jahrhunderte gewachsenen Gewohnheiten und Ansichten keineswegs zu ändern zu versuchen, sondern diese ganz im Gegenteil unverfälscht in das Gesamtkonzept mit einzubeziehen. Erst nach Eintreten der anfänglichen Erfolge, als die ehemals Angehörigen einstmals widerstreitender Religionen sich unter demselben Dach zu ihren Gebete niederließen und den Worten des gleichen Priesters lauschten, da reifte in seinem Kopf eine weitere Idee, die darauf gründete, dass er an den theologischen Bestrebungen wahrhaftigen Gefallen gefunden hatte. Warren Hamilton entschied sich, nicht einzig ein politischer Führer zu bleiben, sondern sich darüber hinaus zu einem geistlichen Oberhaupt zu entfalten. Alle jene Entwicklungen glückten selbst dem mittlerweile zu staatlicher Allgewalt gelangten peacekeeper nicht innerhalb kurzer Zeit, doch letztendlich erreichte er fürwahr jene absolute, unangreifbare Position innerhalb des Staates, die er sich bestenfalls in seinen kühnsten Träu38
men erwünscht hatte. Er hatte das einstmals in Freiheit gegründete Land in einen vollendeten Polizeistaat verwandelt, in dem die Angehörigen der peace force unentwegt Präsenz zeigten und jeden Verstoß gegen geltende Gesetze, zu denen auch das Äußern von Kritik an der politischen Führung gehörte, mit unbarmherziger Härte bestraften. Daneben existierte mit der security force eine Art Geheimdienst, dem insbesondere das Ausfindigmachen innerstaatliche Aufrührer als Aufgabe auf den Weg gegeben war. Die Marionettenregierung, die sehr rasch Nachfolger für Owen Rosberg, Seat Muhammar und Méline Atungo gefunden hatte, blieb weiterhin installiert und ordnete sich hilflos in das makabre Spiel mit ein. Weiterhin entbrannte ein religiöser Eifer, der Sadonismus kehrte ein selbst in die kleinste Hütte, und Sadonate wurde letztlich zu einem gottesfürchtigen Religionsstaat. Uneingeschränktes Oberhaupt desselben war Warren Hamilton, der bei seinen immer seltener werdenden Auftritten in der Öffentlichkeit ausschließlich ein schwarzes Priestergewand trug und seine Worte einzig noch in Form von Predigten von sich gab. Die einfachen Leute fügten sich in ihr neues Dasein, da sie des Krieges und Widerstandes überdrüssig waren, aber auch, da ihr Führer ihrem Leben einen höheren Sinn und das Gefühl von Stärke und Bedeutung zu vermitteln vermochte. Nicht in ihr Bewusstsein drangen hingegen Tatsachen, welche die Kehrseite der Medaille aufweisen sollten. So hatte Hamilton den in seinen Anfangstagen zu Wohlstand gelangten Staat innerhalb weniger Monate bis kurz vor den wirtschaftlichen Ruin geführt, so dass Armut, Hunger und Seuchen allenthalben kursierten. Zudem hatte seine radikaler Kurs Sadonate in völlige Isolation getrieben, was so weit reichte, dass er zuletzt gar Satellitenfernsehen untersagte, da er den nachteiligen Einfluss fremdartiger Anreize auf die blinde Gefolgsamkeit seines Volkes fürchtete. Und schließlich war brutale, auf keinerlei rechtsstaatlichen Prozesse gestützte Gewalt an der Tagesordnung, so dass Furcht und Angst das Land regierten und in ihren eiskalten Würgegriff nahmen. Gerüchten zufolge arbeiten Hamilton und seine Helfershelfer sogar bereits an dem noch entfernten Ziel, andere Staaten ebenfalls unter seine Herrschaft zu zwingen, wozu er angeblich mit der Ausbildung von Terroristen und der Anwerbung dubioser Wissenschaftler begonnen hatte. Rowl Antube hatte jener Entwicklung zugesehen und ohne jede Taten die Errichtung und Sicherung der Schreckensherrschaft seines einstigen Freundes verfolgt. Zu Anbeginn, selbst nach der Ermordung Méline Atungos, hatte er Hamilton, jenem solch charmanten und intelligenten Mann, keinerlei Schlechtigkeit zuzutrauen gemocht, eine Einschätzung, welche sich nach einiger Zeit jedoch unweigerlich wandeln musste. Im Folgenden hatte die Einstellung in ihm die Oberhand erlangt, dass, sollte tatsächlich ein furchtbarer Prozess in Gang gesetzt worden sein, andere ebenso gut den Widerstand beginnen konnten. Warum sollte ausgerechnet er aufstehen und sich gegen drohendes Ungemach erheben, wenn niemand anderes sich zu solchem anschickte? Schließlich, nachdem es ohnehin bereits zu spät war, wurde auch Rowl von tiefgehender Furcht ergriffen, so dass er mitnichten wagte, auch nur einen einzigen Akt mangelnder Anpassung an das Geforderte zu demonstrieren. Bis zum heutigen, mehr als zwei Jahre nach Warren Hamiltons erstmaliger Erklärung des Machtanspruchs gelegenen Tag. Rowl stand auf und ging abermals ans Fenster, und noch immer herrschte überwiegend Verlassenheit auf der Straße vor seinem Fenster. Plötzlich jedoch fuhr ein großer, schwarzer Wagen mit quietschenden Reifen vor, worauf vier Männer hastig ausstiegen und sich in Richtung der Eingangstür des Redaktionsgebäudes der daily peace news begaben. Die Männer trugen dunkle Uniformen und Schusswaffen, deren Griff sie bereits fest umklammert hielten. Seinen Entschluss hatte er bereits vor etwa drei Wochen gefasst, da es ihm nicht mehr in den Spiegel zu sehen gelang, ohne pure Verachtung zu empfinden. Somit sammelte er in den folgenden Tagen alle Fakten, die er über Hamiltons Schreckensregime zu erhalten vermochte, suchte Beispiele für Polizeigewalt sowie für Armut und Hungerstod und holte Informationen über den Wohlstand und Frieden in benachbarten Ländern ein. 39
Dies alles packte er in eine Sonderausgabe der Samstagsauflage seiner Zeitung und ließ diese in einer großangelegten und rasch durchgeführten, nächtlichen Aktion kostenlos in nahezu alle Haushalte von Sadonate verteilen. Die Austräger wussten hierbei nicht, welchen Inhalt die in einem Streifband verpackte daily peace news enthielt, sie taten einzig etwas, für das sie sehr gut bezahlt wurden. Auf diese Weise flatterte einem jeden Bürger eine vielseitige Anklageschrift gegen Warren Hamilton, die peacekeeper, die peace force und all jene, die mit dem System in Verbindung standen, ins Haus. Das Außergewöhnliche und unzweifelhaft Aufsehenerregende an jener Veröffentlichung war jedoch, dass es sich hierbei mitnichten um eine Anschuldigung einzig der aktiven Täter handelte, sondern darüber hinaus insbesondere um die Beschuldigung aller passiven „Mittäter“, die durch ihre mangelnde Bereitschaft zum zeitigen Widerstand der schicksalhaften Entwicklung erst den Weg ebneten. Rowl hörte, wie die Schritte die Treppe hinaufkamen und sich unaufhaltsam seiner Türe näherten. Nur noch einige Augenblicke, dann würden sie ihn fortbringen, worauf er das Licht der Welt niemals wieder erblicken würde. Ein Irrtum ist es zu hoffen, dass der schlimmste Zustand der Dinge bereits erreicht ist und ohne eigenes Hinzutun sich selbst zu überwinden sich anschickt. Ein Irrtum ist es zu erwarten, dass andere dann zu handeln sich aufmachen, wenn man selbst die Augen zu verschließen und die Hände in Untätigkeit und Unschuld zu waschen gedenkt. Ein Irrtum ist es gleichwohl zu wünschen, den Menschen mit Gewalt dauerhaft in irgendeiner Weise zu beeinflussen zu vermögen. Manchmal sind Wagnis und Opfer als unverzichtbar zu erachten. Es ist niemals zu spät.
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Das Dämmerungsvolk von Ulrike Nolte
Wird sich die Hoffnung des Volkes von „Biotop 57“ erfüllen? Für Manche sind sie nur ein GenPool...
Jack duckte sich und hielt den Atem an. Der Schildträger rannte in gleichmäßigem Schritt über die Ebene, das gelbe Steppengras brach unter seinen Füßen. Er hatte den Blick starr auf den Boden geheftet, und die stundenlange, eintönige Bewegung, der rhythmisch schwankende Anblick der Erde vor seinen Füßen hatte ihn in einen angenehmen Trancezustand gewiegt. Die Landschaft um ihn herum war zu einem Gefühl schläfriger Unwirklichkeit verschwommen, die Halbsonne brannte prickelnd auf seinem Gesicht. Seine Gefährten folgten ihm in einer breit gefächerten Formation, Linker und Rechter Speerwerfer an seiner Seite, die Lassos, Messer und Pfeilbläser in gestaffelten Reihen hinter ihnen. Der Boden vibrierte unter dem gleichmäßigen Rythmus ihrer Schritte. Das Geräusch war hypnotisch wie das Pochen des Blutes, wie der dumpfe Klang der BurduTrommeln. Der tiefe Ton der Trommeln schien noch immer durch die Erde nachzuhallen. Er begleitete sie auf ihrer Jagd, und Schildträger sah in schläfriger Zeitlosigkeit die Bilder der Zeremonie vor sich aufflammen. Flackernde Gestalten wanderten in roten Schatten über das Innere seiner Augen: Ein Feuer brannte hoch in der Nacht. Das grausame Auge des Tages hatte sich geschlossen, und nur die blaue Göttin warf Helligkeit auf ihre sterblichen Kinder. Die Frauen hatten ihre perlengeschmückten Gewänder ausgegraben. Nun erhob sich die Oberste Priesterin aus ihrer kühlen Lehmgrube und hielt den Jagdschild hoch, so dass das Gesicht der Göttin sich in seiner blanken Oberfläche spiegeln konnte. "Aus ihrem Leib sind wir gekommen", rief sie in das dröhnende Pochen der Burdu hinein, "und zu ihr werden wir zurückkehren, wie der Schild uns verspricht. Seht das Zeichen!" Sie senkte den Schild. Sie alle konnten die Buchstaben lesen, die groß und rot, in weit sichtbarer Schrift das Mysterium der Dame Terra verkündeten: Space Project, Mission 82. Schildträger rannte über die Ebene, und die näherkommenden Berge legten sich wie eine schwarze Wand vor den Himmel. Linker Speerwerfer hielt gähnend die Hand vor den Mund. Der Reflex pflanzte sich durch die Reihen fort, es war Zeit für eine Rast. Nur die Frauen konnten eine ganze Umdrehung hindurch wandern, ohne müde zu werden. Sie verfolgten die Herde, trieben sie gegen die Bergkette. Wenn die Männer ankamen, würde das Schlachten beginnen. Schildträger warf seine Waffen weit sichtbar zur Seite. Die Jäger ließen sich erschöpft zu Boden fallen und gruben sich in die staubige Erde ein, mehr aus Gewohnheit als Notwendigkeit. Es war ein Tag der Halbsonne, die Göttin stellte sich schützend vor ihre Kinder, und das weißglühende Auge konnte Krankheit und Tod nur gegen ihren gleichgültigen Rücken werfen. Einer der Pfeilbläser sang ein eintöniges Lied: ‘Nie bin ich etwas anderes gewesen, als das Rohr, mit dem ich ziele. Nie will ich etwas anderes sein, als das Rohr, mit dem ich treffe. Ich will zufrieden sein, Herrin.’ Wie als Antwort lief ein leichtes Zittern durch die Erde. Schildträger runzelte die Stirn. Er schaute zum Himmel auf, fragend, witternd. Von Osten kommend lief ein fauchendes Geräusch durch die Luft, und er fühlte, wie sich jedes einzelne Haar seines Rückenfells aufstellte. Ein seltsames Gefühl durchlief seinen Körper, als würde 41
alle Schwere aus seinen Knochen fließen. Das Licht veränderte sich und flackerte fahl in einer kränklichen Tönung. Ein scharfer Ruck ging durch die Erde. Schildträger atmete schneller. Er wusste, was geschehen würde. Es war in den Liederchroniken verzeichnet. Er schrie eine Warnung, und gleich darauf bäumte sich der Boden auf, die Sonne fiel aus ihrer Bahn. Eine Sturmwand raste über ihn hinweg, die Himmelsrichtungen falteten sich ineinander und stürzten ins Leere. Sein Ortsinstinkt flatterte umher wie ein Kompass ohne Magnetfeld. Dann war alles vorbei, genauso plötzlich, wie es begonnen hatte. Schildträger stand auf. Er sammelte seine Waffen wieder ein und sagte sachlich, ohne daß seine Stimme zitterte: "Wir brauchen eine Priesterin, um die Chronik zu singen. Wir werden die Frauen einholen, so schnell wir können." Er hob den Schild als Zeichen der Befehlsgewalt und sah Erleichterung in den Gesichtern des Rudels. Er zog den Waffengurt fester, dann lief er mit ihnen seiner Angst davon, auf die Berge zu.
* Morgaine Haller war Terranautin. Es war ihr Traumberuf, solange sie denken konnte. Wenn sie sich an ihre Kindheit erinnerte, sah sie eine kleine Mädchengestalt vor dem riesigen Wohnzimmerfenster stehen und in den Himmel starren. Dort oben in der fahlblauen Leere brannte die Sonne, vor der man sich im Schatten verbergen musste, die ihre Haut noch schwärzer und ihr Haar noch blonder färbte. Und im lockenden, gefährlichen Licht des Tages trieb strahlend eine zweite Erde. Der Planet hing dort gewaltig und schwerelos im blauen Nichts, widersinnig wie ein träge schwebender Marmorblock ... Sie hatte inzwischen eine Entdeckung gemacht: Aus der Nähe betrachtet war Terraluna sehr viel weniger romantisch. Sie schlug sich ein säurespritzendes Insekt von der Stirn und versuchte zur gleichen Zeit, sich aus einem Schlingpflanzengestrüpp loszureißen. Schon am Nachmittag der Landung hatte sie Biotop 57 auf den Namen ‘Der fleischfressende Dschungel’ getauft. Bald darauf hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben gewünscht, sie hätte sich an die Geburtsplanung ihrer Eltern gehalten und wäre Pianistin geworden. Stattdessen war sie auf die exzentrische Idee gekommen, bei der Firma anzuheuern und sich zur Überlebenskünstlerin ausbilden zu lassen. Nun ja, immerhin hatte es funktioniert: Die drei hormongestylten Muskelmänner aus ihrem Team waren tot, und sie, die Kleine mit den Klavier-Genen, lebte immer noch. Fragte sich nur, wie lange. Pedro hatte es gleich am ersten Tag erwischt. Ein Erdloch hatte ihn mit einem lauten Schmatzen eingesogen, und was immer sich darin befand, hatte sich von den Elektroschocks seines Schutzanzugs wenig beeindrucken lassen. Gelison war irgendwann einfach verschwunden. Sie wusste bis heute nicht, wie und wo der Dschungel sich über dieses Frühstückshäppchen hergemacht hatte. Und Fred ... Über Fred wollte sie jetzt wirklich nicht nachdenken. Direkt vor ihrer Nase seilte sich etwas aus den Bäumen ab, das wie eine blau gepunktete Tulpenblüte aussah. Nach ihren bisherigen Erfahrungen war sie sicher, dass es Reißzähne besaß. Auf Terraluna galt einzig und allein das Gesetz der Evolution, ‘Fressen und Gefressenwerden’. Nicht sehr überraschend, denn genau zu diesem Zweck war der Mond entworfen worden: um möglichst schnell einen möglichst exotischen Genpool zu entwickeln. Er hatte zwar eine Atmosphäre aber kaum einen Strahlenschutz, seine Oberfläche war aufgeteilt in abgeschlossene Lebensräume mit kleinen Populationen, berechnet nach dem Modell der Galapagosinseln. Gebirgszüge zerteilten das Land, sie waren so regelmäßig wie die Hochhausreihen von Manhattan, und aus der Entfernung sah der Mond aus wie ein riesiges Schachbrett. Aber trotz all dieser Voraussetzungen war Morgaine noch nie in etwas derartiges Fremdartiges hineingestolpert wie in Biotop 57.
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Die Evolution hatte sich hier mit einer Geschwindigkeit vorangefressen, die viele Spezies in etwas vollkommen Außerirdisches verwandelt hatte. Morgaine wartete geradezu darauf, dass eine Horde Aliens aus den Bäumen fiel, um sie dem großen Gott Bk3pt zum Fraß vorzuwerfen. Im Augenblick musste sie allerdings nur mit einer bissigen Tulpe fertig werden. Das gleiche hatte sie auch mit Fred gemacht. Sie hatte ihm die Kleidung ausgezogen, ein paar Körperproben entnommen und sie mit einem Gefahrenaufkleber versehen an das Labor geschickt. Er hätte die Krankheit unmöglich überleben können. Sie versuchte, das Bild seines mit gelben Blasen überzogenen Gesichts aus ihrem Gedächtnis zu löschen. Wenn die Firma auch nur ein Prozent der hier gesammelten DNS auf ihren Namen patentieren ließ, dann konnte sie sich eine Kleinstadt kaufen. Biotop 57 war eine Hölle, aber es würde sie unverschämt reich machen. Entschlossen marschierte sie weiter, entfernte sich mit jedem Schritt von der Gebirgskette, auf die das Team die ganze erste Woche zugesteuert war. Man hatte ihnen befohlen, nach spätestens zwölf Tagen auf dem Bergplateau zu sein, um sich ein Shuttle zu rufen. Aber nun, da der Rest der Truppe ihr nicht mehr auf die Finger sah, hatte sie nicht vor, sich daran zu halten. Sie vermisste den Schutz ihrer Kollegen nicht besonders, eigentlich war das Team nie mehr gewesen als ein zusammengewürfelter Haufen Einzelkämpfer. Und was konnte nach zwölf Tagen schon passieren, das nicht gleich in den ersten Minuten hätte schiefgehen können? Mit diesem Gedanken hob sie ihren Fixierer, um ein hasenähnliches Tier zu lähmen, das sich neugierig vor ihr aufgestellt hatte, als plötzlich der Erdboden zu zittern begann. Sie runzelte die Stirn und machte eine Bemerkung an das Protokollgerät in ihrem Kieferknochen. Dann lief ein seltsames Geräusch durch die plötzliche Stille. Sie wandte den Kopf, es kam von Osten, und es wurde immer lauter ...
* Die Dämmerung war vorüber und eine gleißende Vollsonne stand am Himmel, als das Rudel endlich die Bergkette erreicht hatte, an deren Wand die Frauen lagerten. Niemand dachte daran, sich einzugraben, obwohl die Hitze in flimmernden Luftspiegelungen über dem verdorrten Gras lag. Die Priesterin hatte ihre astronomischen Instrumente hervorgeholt und beobachtete fatalistisch den ungewohnten Tanz der Himmelskörper, das weiße Auge, die blaue Göttin und die tote Schwester. Eine grausame Zeit stand ihrem Volk bevor. Nach Generationen war wieder ein Wandel eingetreten, und wer wusste, wie ihre Welt danach aussehen würde? Sie hob die Hände, und als alle sich ihr zugewandt hatten, begann sie die Worte der Chronik zu zitieren, die von den früheren Stufen ihrer Metamorphose erzählte. Von den Überlebenstechniken, die jede Kultur im Augenblick ihrer Zerstörung an die nächste weitergegeben hatte ... "Vielleicht werden unsere Enkel Felder pflügen. Vielleicht werden unsere Enkel in den Zweigen hoher Bäume leben. Vielleicht wird unsere Welt ein kaltes Meer und unser Heim ein Dorf aus Flößen. Dies ist die Kunst der Bauern: Nehmt ein Korn und grabt es in die Erde, nehmt von der Ähre nur die besten Körner -" Es war beruhigend, ihr zuzuhören, dachte Schildträger. Der monotone Singsang ihrer Stimme, der Werkzeuge, Bauanleitungen, Arbeitstechniken aufzählte und damit versprach, dass die Menschheit auch diesmal überleben würde. So wie sie immer überlebt hatten, jeden mörderischen Zyklus, über hunderte von Zeiten. Es dauerte fast den ganzen Tag, bis die Priesterin ihr Lied beendet hatte. Als der letzte Ton verklungen war, erhob sich Schildträger gleichzeitig mit dem Rest des Rudels und ging auf die Bergwand zu. Sie begannen den Hang hinaufzuklettern, in einem langen, geordneten Zug. Jeder wusste, was bei einem Wandel zu tun war. Sie würden auf den vier Plateaus, an denen die Gebirgsketten sich kreuzten, auf die Völker der umliegenden Täler treffen und ihr Erbe mit ihnen vereinigen.
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Tatsächlich kam ihnen auf dem Bergkamm bereits die erste Abgesandte entgegen. Die Frau hatte ihren ganzen Körper in einen geschlossenen Anzug gehüllt. Schildträger nahm an, dass ihr Volk zu kälteempfindlich für größere Höhen war. Ihr langes, fast weißes Kopfhaar wehte im Wind. Ihm gefiel der Gedanke, dass einige seiner Kinder dieses eigenartige Erbe in sich tragen würden ... Morgaine wäre alles andere als begeistert gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass die exotische Gestalt, der sie so plötzlich gegenüberstand, sie bereits in seinen Stammbaum einplante.
* Die Terranautin hatte bei der Katastrophe den größten Teil ihrer Ausrüstung verloren. Ihr war nichts anderes übrig geblieben, als die Expedition aufzugeben. Sie hatte der Bodenstation durch das Protokollgerät ihren gesamten Vorrat an Beleidigungen zugeschrien, aber was nütze das? Niemand in der Firma wäre je auf die Idee gekommen, eine Mitarbeiterin der Sicherheitsstufe 2 darüber zu informieren, dass Terraluna eine neue Rotationsbahn erhalten sollte. Und so hatte die Druckwelle der künstlich verlangsamten Umdrehungsgeschwindigkeit sie einen Abhang hinabgefegt, ihr beinahe das Genick gebrochen und sie unter einem Gewirr ausgerissener Bäume zurückgelassen. Glücklicherweise war sie durch ihren Schutzanzug vor den schlimmsten Auswirkungen der Biotop-Reorganisation bewahrt worden. Aber die Waffen, die Detektoren, die Medikamente und alles andere befand sich nun in einer meterdicken Masse aus toten Pflanzen und schlammiger, aufgewühlter Erde. Es hatte zwei unvergesslich grässliche Tage gedauert, bis es ihr gelungen war, sich wenigstens bis an die Gebirgswand durchzuschlagen. Sie haderte noch immer laut mit ihrem Schicksal, während sie sich die letzten Meter zum Gipfel hinaufkämpfte. Dann blieb ihr das letze Wort im Halse stecken. Sie sah eine Gruppe von Menschen am Rand des Bergkamms auftauchen, deutlich abgehoben gegen den klaren Mittagshimmel. Terraluna hatte menschliche Bewohner ... Das war eine ungeheuerliche Entdeckung! Es musste sich um die Nachfahren eines verunglückten Schiffes handeln, die man hier ihrem Schicksal überlassen hatte. Vermutlich hatte sie ein uraltes Langzeitexperiment mit menschlichem Erbgut wiederentdeckt! Wenn sie sich diese Leute patentieren ließ, dann würde sie das sogar für die Tortur der vergangenen Tage entschädigen. Ihre genetische Struktur musste absolut fremdartig sein. Außer den Gesichtern waren ihre Körper vollständig mit weichem, flaumigen Fell bedeckt, wie der Pelz eines Embryos im vierten Schwangerschaftsmonat. Der Sinn dieser Regression war offensichtlich. Es musste die Hautkrebsrate um mindestens die Hälfte reduzieren. Morgaine schaute auf ihre eigenen schwarzen Hände herunter. Alles, was man auf der Erde bisher gegen die UV-Strahlung gefunden hatte, war negroide Hautpigmentierung. Mit ein bisschen Werbung könnte sich dieses fremde Gen zu einem echten Verkaufschlager entwickeln. Sie sah schon die Reklametafeln vor sich: ‘Man trägt wieder Pelz.’ Noch dazu wirkte diese Spezies gar nicht unattraktiv. Das männliche Wesen vor ihr trug als einzige Kleidung einen Waffengurt und ein Paar Lederschuhe, und das kurze, sandfarbene Fell gab seinem Körper eine leopardenhafte Eleganz. Er lächelte sie mit blitzenden weißen Zähnen an und gestikulierte in Richtung des Landeplateaus. Dann marschierte er davon, offenbar überzeugt, dass sie ihm folgen würde. Diese unspektakuläre Reaktion war nicht unbedingt, was sie von einem Erstkontakt erwartet hatte. Aber es entsprach ihren Plänen, und so ließ sie sich bereitwillig von der Gruppe umringen und sanft in Richtung der Hochebene drängen. Dabei flüsterte sie unaufhörlich biologische Daten in ihr Protokollgerät. * Es dauerte nicht allzu lange und das Plateau lag vor ihnen. Ein kreisrunder Platz in der Mitte bestand aus blankem Stein, der Rest der Ebene war mit einem dünnen Wald aus birkenähnli44
chen Bäume überzogen. Schildträger stellte fest, dass das Volk der Malu schon vor ihnen den Treffpunkt erreicht hatten. Wie eine grasende Gazellenherde kamen sie langsam durch die Baumlandschaft gezogen und schauten mit träumerischer Gleichgültigkeit auf die Gruppe der Neuankömmlinge. Ihre Augen waren groß und dunkel, ihre schlanken Körper schienen eigenartig biegsam, die ganze Herde befand sich in ständiger sanfter Bewegung. Schildträger wandte sich der Frau an seiner Seite zu, deren Erbe ihm besser gefiel. Er berührte sie auffordernd, presste seinen Mund an ihren, aber sie wehrte ihn ab. Er war überrascht, trotzdem wich er mit einer entschuldigenden Verbeugung zurück. Die Völker hatten verschiedene Sitten, und das war gut so: Nur in der Vielfalt lag ihre Chance zu überleben. Wenn das Land vom Wandel erfasst wurde, dann konnten am ehesten die Mischlinge der Veränderung standhalten, das hatte die Erfahrung gelehrt. Gemischte Kinder waren stärker, vielseitiger, sie konnten sich in völlig neue Richtungen entwickeln. Am Ende würde immer das Erbe sich durchsetzen, das am besten geeignet war, in der fremdgewordenen Umgebung zu überleben. Da die bleichhaarige Frau noch nicht bereit zu einer Paarung war, machte sich Schildträger auf die Suche nach einer anderen Partnerin, und er brauchte nicht lange zu warten. Eine der Malu kam witternd unter den Bäumen hervor und drehte mit der typischen langsamen Grazie ihrer Herde den Hals nach ihm um, bis sich das Gesicht fast über dem Rücken befand. Dann schmiegte sie sich an seinen Körper und begann, auffordernde Gebärden mit der Hüfte zu machen. Dabei verlor ihr Blick nichts von seiner tranceartigen Gelassenheit. Schildträger atmete den leicht bitteren Geruch ein, der ihrem Körper entströmte. Es war ein angenehmer Duft, und was sie mit ihm anstellte, war nicht weniger angenehm. Es tat ihm beinahe leid, als sie nach wenigen Minuten wieder aufstand und sich gleichgültig ihren Bäumen zuwandte. Ohne sich noch einmal umzusehen, kletterte sie den nächstliegenden Stamm empor und begann mit stoischer Ruhe, die Birkenblätter abzuweiden. * Morgaine hatte sich währenddessen in die Mitte des betonierten Landeplatzes gestellt und das Signal gesendet. Glücklicherweise brauchte sie nicht lange auf Antwort zu warten. Eine silberne Transporteinheit fiel lautlos aus dem Himmel herab. Nach ihrer Flugbahn zu urteilen wurde sie von einem Bodenpiloten ferngesteuert. Morgaine gab die Anweisung, dass sie ein paar Probeexemplare der beiden Völker für die Labors brauchte, und die Maschine eröffnete gehorsam das Feuer. Zwei Männchen und zwei Weibchen jeder Sorte fielen getroffen zu Boden, die anderen flüchteten in den Birkenwald. Morgaine sammelte die wertvollen Körper auf und trug sie vorsichtig in den Kühlraum. Sie waren unterernährt und nicht besonders schwer. Zufrieden nahm sie Kontakt mit der Bodenkontrolle auf, um zu melden, dass sie bereit zum Abheben war. Sie schnallte sich an ihrem Sitz fest, legte den Sicherheitsschalter um - und gleich darauf traf sie ein elektrischer Schlag aus der Rückenlehne, der ihren Kopf nach hinten riss und schwarze Striemen über ihren Rücken brannte. Durch einen Nebel schmerzender Unwirklichkeit fühlte sie, wie ein Wartungsroboter sie losschnallte, sie den Metallgang entlangschleifte und aus der Türluke warf. Dann hob die Transporteinheit hinter ihr ab, genauso lautlos, wie sie gekommen war. Sie hätte wissen müssen, dass die Firma die Patentrechte mit niemandem teilen würde. Mit flüsternder Stimme schrie sie Verwünschungen in ihr Protokollgerät, bis ihr Kehlkopf versagte und der Himmel schwarz wurde. Dann schloss eine haarige Hand sanft ihre Augenlider, und ihre letzten Gedanken waren: ‘Verdammt, als Pianistin wäre mir das nicht passiert.’
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