Verformung und Schädigung von Werkstoffen der Aufbau- und Verbindungstechnik
Steffen Wiese
Verformung und Schädigung von Werkstoffen der Aufbauund Verbindungstechnik Das Verhalten im Mikrobereich
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Dr.-Ing. Steffen Wiese Fraunhofer-Center für Silizium-Photovoltaik CSP Walter-Hülse-Str. 1 06120 Halle Deutschland
[email protected] ISBN 978-3-642-05462-4 e-ISBN 978-3-642-05463-1 DOI 10.1007/978-3-642-05463-1 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: WMXDesign GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)
Vorwort
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Vorwort Dieses Buch ist aus den Bedürfnissen universitärer Forschung und Lehre entstanden. Der Autor beschäftigt sich seit ca. 15 Jahren mit den Fragen des werkstoff- und bruchmechanischen Verhaltens von Weichloten in kleinstvolumigen Kontakten der Mikroverbindungstechnik in der Elektronik. In dieser Zeit erreichte ihn eine große Anzahl von Anfragen - vor allem von Doktoranden, aber auch von Ingenieuren aus der Industrie - aus welchen die grundsätzlichen Verständnisprobleme bei der Behandlung von Schadensfällen bzw. der Beurteilung der Zuverlässigkeit (mikro-)elektronischer Aufbauten offensichtlich wurden. Ausgehend von diesem konkreten Beratungsbedarf entstand die Idee, wesentliche Grundlagen dieses interdiziplinären Gebietes in einem Buch zusammenzufassen. Im Mittelpunkt des Buches stehen Zuverlässigkeits- und Lebensdauerfragen in Zusammenhang mit mikroskopisch kleinen Bauteilstrukturen, wie sie für die Mikroelektronik und Mikrosystemtechnik typisch sind. Diesem zentralen Thema nähert sich das Buch über eine systematische und detaillierte Darstellung des mikrostrukturellen Aufbaus von Werkstoffen, der Werkstoffverformung sowie des Verlaufes von Materialschädigungen, die letztlich den Ausfall von Bauteilstrukturen herbeiführen. Hierbei werden besonders die Beziehungen zwischen diesen drei Säulen der thermomechanischen Zuverlässigkeit aufgezeigt, um so zu einer verständlichen und übersichtlichen Darstellung von Ursache-Wirkung-Beziehungen zu gelangen, welche Voraussetzung für ein rationales Verständnis der Auswirkung der Miniaturisierung von Bauteilstrukturen ist. Eine konkrete Vorstellung des abstrakten Begriffes der miniaturisierten Bauteilstrukturen als auch das Verständnis für die Besonderheiten einer technologisch bedingten Zuverlässigkeitsproblematik werden dabei zunächst in einem vorangestellten Kapitel durch eine Beschreibung des Gebietes der Aufbau- und Verbindungstechnik der Mikroelektronik vermittelt. Abschließend widmet sich das Buch in mehreren Kapiteln konkreten auf die Werkstoffforschung im Mikrobereich bezogenen Themen, in denen spezielle experimentelle Untersuchungsmethoden, konkrete Versuchsergebnisse als auch sich daraus ergebende Schlussfolgerungen bezüglich der Werkstoffmodellierung und der entwicklungsbegleitenden Werkstoffuntersuchung dargestellt werden. Dabei wird besonders der Werkstoffuntersuchung im Mikrobereich viel Platz eingeräumt und an vielen konkreten Beispielen werden ihre methodischen Besonderheiten gegenüber der klassischen Werkstoffprüfung erläutert. Das Buch hat das Ziel, einer breiten Gruppe von Nichtexperten (Studenten, Doktoranden, Entwicklungsingenieure, Quereinsteiger) den Einstieg in die Problematik der Schadensfälle und Zuverlässigkeit elektronischer Aufbauten zu ermöglichen und so viel Hintergrundwissen an Grundlagen- und Spezialkenntnissen zu vermitteln, dass der Leser in die Lage versetzt wird, Projekte zu planen und zu leiten, Fachartikel zu verstehen und ihre Ergebnisse in Bezug auf die eigenen Zuverlässigkeitsprobleme richtig einzuordnen. Ein großer Teil des Buches widmet sich der Thematik der Prüfmaschinen (klassisch und im Mikrobereich). Zu diesem Thema existiert kaum (klassische Werk-
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Vorwort
stoffprüfung) bzw. keine Literatur (Werkstoffprüfung im Mikrobereich). Der Nutzen für den Leser besteht darin, dass er einen tiefen Einblick in die spezielle Problematik der Werkstoffprüfung im Mikrobereich bekommt. Besonders für Entwicklungsingenieure in der Industrie, die über die Anschaffung von Prüftechnik entscheiden müssen, als auch für Doktoranden/Wissenschaftler, die spezielle Messungen vornehmen wollen, sind diese kritischen und gegenüber Firmenprospekten neutralen Darstellungen hilfreich. Die Art der Darstellung ist so gehalten, dass eine unnötige Mathematisierung bei der Erläuterung der verschiedenen Sachverhalte vermieden wurde. Mathematische Terme wurden nur an solchen Stellen eingesetzt, an denen die Komplexität eines Sachverhaltes eine entsprechende Abstraktion verlangt. Dies soll die Zugänglichkeit auch für Leser aus mathematikfremden Studienrichtungen (z.B. Chemie, Materialkunde, Wirtschaftsingenieurwesen) erleichtern. Gleichzeitig wurden für die Erläuterung allgemeiner Sachverhalte stets solche Beispiele ausgewählt, die im konkreten Anwendungsfeld elektronischer Aufbauten in der Mikroelektronik zu finden sind, um so die zu vermittelnden Sachverhalte für Praktiker in der Industrie fassbar zu machen. Das Buch, welches aus einer Habilitationsschrift hervorgegangen ist, entstand am Institut für Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik an der Technischen Universität Dresden, Fakultät Elektrotechnik und Informationstechnik. Besonders möchte ich mich bei Prof. Dr.-Ing. habil. K.-J. Wolter für seine Bereitschaft bedanken, mich an seinem Institut aufzunehmen und mir dort Bedingungen einzuräumen, welche ich für meine wissenschaftliche Forschung benötigte. Herrn Prof. Dr. rer. nat. habil. B. Michel vom Fraunhofer Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration, Berlin und Herrn Prof. Dr. rer. nat. habil. W. H. Müller von der Technischen Universität Berlin danke ich für ihre gutachterliche Tätigkeit sowie für die vielen kritischen, aber immer fruchtbaren wissenschaftlichen Diskussionen, die wir in den vergangenen Jahren geführt haben. Ohne die Unterstützung durch die Mitarbeiter des Institutes wären die sehr umfangreichen experimentellen Untersuchungen nicht möglich gewesen. Mein Dank gilt in diesem Zusammenhang vor allem den Doktoranden meiner Arbeitsgruppe Herrn Dr.-Ing. M. Röllig, Herrn Dipl.-Ing. M. Müller, Herrn Dipl.-Ing. K. Meier, Herrn Dipl.-Ing. R. Metasch, Herrn Dipl.-Ing. S. Schindler. Im Zusammenhang mit der Erstellung des Manuskriptes gilt mein besonderer Dank Frau C. Hasenauer für die sorgfältige Anfertigung der Zeichnungen. Die Untersuchungen wurden durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (Förderkennzeichen WI 2030/1-1 und WI 2030/1-2) gefördert. Der DFG sei ausdrücklich für die von ihr gewährte finanzielle Unterstützung gedankt, ohne die die Anfertigung dieser Arbeit nicht möglich gewesen wäre.
Leipzig, im Januar 2010
Steffen Wiese
Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis 1 Problematik ........................................................................................................ 1 1.1 Ausfälle in elektronischen Aufbauten ....................................................... 1 1.2 Rolle der Werkstoffuntersuchung im Entwicklungszyklus ........................ 4 1.3 Werkstoffverhalten und Miniaturisierung .................................................. 8 1.4 Verformungsverhalten von Metallen ....................................................... 10 1.4.1 Bedeutung .......................................................................................... 10 1.4.2 Verformungsverhalten ....................................................................... 12 1.5 Untersuchungsmethoden .......................................................................... 15 1.6 Ziel der Arbeit .......................................................................................... 17 2 Untersuchungsgegenstand ................................................................................ 19 2.1 Zusammenhang zwischen Gegenstand und Methodik der Untersuchung 19 2.2 Wesen und Entwicklung des Untersuchungsgegenstandes ...................... 22 2.2.1 Begriff der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik .......... 22 2.2.2 Inhalt der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik ............ 23 2.2.3 Entwicklung der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik .. 24 2.3 Architektur elektronischer Aufbauten ...................................................... 27 2.3.1 Grundkonzept und Aufbauhierarchie................................................. 27 2.3.2 Erste Verbindungsebene .................................................................... 29 2.3.3 Zweite Verbindungsebene ................................................................. 41 2.3.4 Architekturentwicklung .................................................................... 55 2.3.5 Strukturabmessungen in elektronischen Aufbauten .......................... 59 2.4 Thermisch-mechanische Problematik elektronischer Aufbauten ............. 61 2.4.1 Ursachenherkunft .............................................................................. 61 2.4.2 Grundlegende physikalische Ursachen .............................................. 63 2.4.3 Aspekte der Architektur- und Entwicklungskonzeption .................... 65 2.4.4 Werkstoffphysikalische Seiteneffekte ............................................... 68 2.4.5 Belastungsszenarien ........................................................................... 68 3 Struktur metallischer Werkstoffe ..................................................................... 71 3.1 Zusammenhang zwischen Verformung und strukturellem Aufbau ......... 71 3.2 Struktureller Aufbau ................................................................................. 73 3.2.1 Strukturebenen ................................................................................... 73 3.2.2 Atomarer Aufbau ............................................................................... 78 3.2.3 Werkstoffgefüge ................................................................................ 83 3.3 Legierungen .............................................................................................. 94 3.3.1 Formen von Legierungen ................................................................... 94 3.3.2 Eutektische Systeme .......................................................................... 95 3.3.3 Systeme mit intermediären Phasen .................................................... 99 3.3.4 Andere Systeme ............................................................................... 100 3.3.5 Drei- und Vielstoffsysteme .............................................................. 103
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3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen ...............................104 3.4.1 Entstehung des Erstarrungsgefüges ..................................................104 3.4.2 Erstarrungsgefüge von Sn-Basis-Loten ............................................113 3.5 Gefügeveränderung .................................................................................134 3.5.1 Gefügeveränderung durch thermische Belastung .............................134 3.5.2 Gefügeveränderung durch thermisch-mechanische Belastung .........139 4 Elastische Verformung ....................................................................................143 4.1 Phänomenologie der elastischen Verformung ........................................143 4.2 Physikalischer Hintergrund der elastischen Verformung .......................144 4.2.1 Verzerrung des Kristallgitters ...........................................................144 4.2.2 Nichtlinearität der elastischen Verformungsreaktion .......................146 4.3 Beschreibung der elastischen Verformung .............................................147 4.3.1 Elastizitätsmodul ...............................................................................147 4.3.2 Die Querkontraktionszahl .................................................................151 4.3.3 Der Schubmodul ...............................................................................152 4.3.4 Der Bulkmodul .................................................................................152 4.3.5 Richtungsabhängigkeit der elastischen Konstanten ..........................153 4.3.6 Temperaturabhängigkeit der elastischen Konstanten .......................156 5 Plastische Verformung ....................................................................................157 5.1 Phänomenologie der plastischen Verformung ........................................157 5.1.1 Erscheinungsformen .........................................................................157 5.1.2 Verformungsmechanismenkarten .....................................................158 5.2 Kinetik der plastischen Verformung .......................................................160 5.2.1 Versetzungsbewegung ......................................................................160 5.2.2 Versetzungskinetik ............................................................................164 5.2.3 Bedeutung der Kinetik der Versetzungsbewegung für die Beschreibung und Charakterisierung der plastischen Verformung ................172 5.3 Niedertemperaturplastizität .....................................................................174 5.3.1 Merkmale ..........................................................................................174 5.4 Hochtemperaturplastizität .......................................................................179 5.4.1 Merkmale ..........................................................................................179 5.4.2 Beschreibung des zeitabhängigen Verformungsverhaltens ..............182 5.4.3 Grundmechanismen ..........................................................................185 5.5 Wechselverformung ................................................................................201 5.5.1 Merkmale ..........................................................................................201 5.5.2 Beschreibung der Wechselverformung .............................................203 5.5.3 Mechanismencharakteristik bei Wechselverformung .......................207 5.5.4 Materialgedächtniseffekte .................................................................211
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6 Schädigung ..................................................................................................... 213 6.1 Technische Ursachen von Ausfällen ...................................................... 213 6.2 Materialphysik der Schädigung .............................................................. 215 6.2.1 Problematik der Ursacheninterferenz ............................................... 215 6.2.2 Wichtige nichtmechanische Schädigungsmechanismen .................. 216 6.2.3 Mechanismen der mechanischen Schädigung von Werkstoffen ...... 219 6.3 Modellierung der Materialschädigung ................................................... 235 6.3.1 Problematik der Schädigungsmodellierung ..................................... 235 6.3.2 Bruchmechanische Konzepte ........................................................... 236 6.3.3 Empirische Ermüdungsmodelle ....................................................... 261 6.3.4 Kontinuums-Schadensmechanik ...................................................... 269 7 Experimentelle Untersuchungsmethoden ....................................................... 273 7.1 Problematik der experimentellen Untersuchung .................................... 273 7.2 Entwicklung, Ziele und Verfahren der klassischen Werkstoffprüfung .. 275 7.2.1 Historische Entwicklung .................................................................. 275 7.2.2 Verfahren und Ziele ......................................................................... 276 7.2.3 Entwicklung miniaturisierter Versuche ........................................... 280 7.3 Werkstoffprüfung für stark miniaturisierte Proben ............................... 282 7.3.1 Grundproblematik ............................................................................ 282 7.3.2 Besonderheiten der Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben ....... 283 7.4 Probekörper für miniaturisierte Versuche .............................................. 306 7.4.1 Ziele der Probengestaltung .............................................................. 306 7.4.2 Idealisierte Bulkproben .................................................................... 309 7.4.3 Idealisierte Mikroproben .................................................................. 312 7.4.4 Reale Mikroproben .......................................................................... 318 7.5 Realisierungen von Prüfmaschinen für miniaturisierte Proben ............. 323 7.5.1 Prüfmaschinenkonzepte ................................................................... 323 7.5.2 Kleinlastprüfmaschinen ................................................................... 325 7.5.3 Prüfmaschinen für Scherversuche an kleinvolumigen Kontakten ... 333 7.5.4 Ring-Pin-Prüfmaschinen für Lot in Durchkontaktierungen ............ 346 8 Experimentelle Ergebnisse ............................................................................. 349 8.1 Bewertung des Datenmaterials ............................................................... 349 8.2 Einstoffsystem - Zinn ............................................................................. 350 8.2.1 Auswahl des Datenmaterials ............................................................ 350 8.2.2 Elastische Eigenschaften .................................................................. 351 8.2.3 Instantanplastische Verformung ...................................................... 353 8.2.4 Kriechverhalten ................................................................................ 355 8.3 Zweistoffsystem mit Mischkristallbildung - Zinn Blei ......................... 356 8.3.1 Auswahl des Datenmaterials ............................................................ 356 8.3.2 Elastische Eigenschaften .................................................................. 359 8.3.3 Instantanplastische Verformung ...................................................... 361 8.3.4 Kriechverhalten ................................................................................ 369
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8.3.5 Rissausbreitungsverhalten ................................................................379 8.4 Zweistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber ...............................386 8.4.1 Auswahl des Datenmaterials .............................................................386 8.4.2 Elastische Eigenschaften ...................................................................388 8.4.3 Instantanplastische Verformung .......................................................390 8.4.4 Kriechverhalten .................................................................................394 8.5 Dreistoffsystem mit Teilchenhärtung - Zinn Silber Kupfer ....................418 8.5.1 Auswahl des Datenmaterials .............................................................418 8.5.2 Elastische Eigenschaften ...................................................................419 8.5.3 Instantanplastische Verformung .......................................................422 8.5.4 Kriechverhalten .................................................................................425 8.5.5 Rissausbreitungsverhalten an Flip-Chip-Kontakten .........................445 9 Schlussfolgerungen und zukünftige Herausforderungen .................................447 9.1 Mechanik und Werkstoffphysik für die Elektronik ................................447 9.2 Der Größeneffekt in Werkstoffstrukturen elektronischer Aufbauten .....450 9.2.1 Ausgangspunkt ..................................................................................450 9.2.2 Auswertung des Datenmaterials an Sn-basierten Loten ...................452 9.2.3 Bezug zur Werkstoffstruktur der Lotlegierungen .............................458 9.2.4 Schlussfolgerungen bezüglich der Mikrofügetechnologien .............460 9.3 Modelle - Schnittstelle zwischen Experiment und Simulation ...............461 9.4 Gestaltung einer entwicklungsbegleitenden Werkstoffdatenermittlung .467 9.4.1 Erfordernisse .....................................................................................467 9.4.2 Retrospektive der eigenen Untersuchungen .....................................469 9.4.3 Ableitungen für die Zukunft einer entwicklungsbegleitenden Werkstoffdatenermittlung .................................................................471 Literaturverzeichnis ..............................................................................................475 Weiterführende Literatur zu den Kapiteln............................................................509 Sachverzeichnis ....................................................................................................511
1.1 Ausfälle in elektronischen Aufbauten
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1 Problematik 1.1 Ausfälle in elektronischen Aufbauten Ausfälle sind ein Phänomen, welches eng mit der technischen Entwicklung verbunden ist. Besonders bei der Einführung neuer Konstruktions- und Funktionsprinzipien oder bei Werkstoffsubstitutionen zur Gewichtseinsparung und Kostensenkung kommt es gehäuft zum Versagen bestimmter technischer Strukturen. In der Geschichte der Technik wurden diese Ausfallprobleme sehr oft durch eine iterative Weiterentwicklung überwunden, welche zum einen die Anwendung neuer Prinzipien oder Werkstoffe erlaubte, auf der anderen Seite jedoch einen hohen Grad der Zuverlässigkeit einer technischen Konstruktion gewährleistete. Die Zuverlässigkeit, d. h. die Aufrecherhaltung einer bestimmten technischen Funktion über einen definierten Zeitraum, war und ist ein die technische Entwicklung begrenzender Faktor. Aus diesem Grund ist die Beschäftigung mit Ausfällen und Versagen in technischen Strukturen ein wichtiger Baustein für die Konstruktion neuartiger technischer Anordnungen. Auch bei der Entwicklung der modernen Elektronik, welche nach der Erfindung des Transistors Ende der vierziger und mit der Entwicklung des Konzeptes der integrierten Schaltkreise während der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts mittlerweile in allen Bereichen der Technik und Gesellschaft Einzug gehalten hat, spielt das Auftreten von Ausfällen eine bedeutende Rolle. Die geradezu explosionsartige Entwicklung der Elektronikanwendungen wurde nur durch die ständige Veränderung des Aufbaus mikroelektronischer Bauelemente sowie der für ihre Herstellung notwendigen Technologien möglich. Diese Veränderungen waren verbunden mit einer exponentiellen Verkleinerung der Transistorabmessungen zur Erhöhung der Integrationsdichte, d. h. Transistoren pro Fläche, bei gleichzeitiger Vergrößerung der Chipflächen mit dem Ziel der Erhöhung des Gesamtintegrationsgrades, d. h. Transistoren pro integriertem Schaltkreis. Diese dynamische Entwicklung führte nicht nur im Gebiet der Halbleitertechnik zu einem erheblichen Bedarf an der systematischen Untersuchung von Ausfällen in den sich permanent verändernden Strukturelementen integrierter Schaltkreise, sondern erzeugte - wenngleich mit etwas Verzögerung - auch bei dem angrenzenden Gebiet der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik ein vergleichbares wissenschaftlich-technisches Betätigungsfeld. Zwar war die Aufbau- und Verbindungstechnik, welche sich vorrangig mit der physischen Systemintegration, d. h. der Verbindung verschiedener spezialisierter Bauelemente (z. B. Sensoren, Speicher- und Logikschaltkreise, Leistungstreiber) zu kompletten Geräten (elektronischen Systemen), befasst, zunächst in der Lage, mit den von ihr entwickelten Techniken zum Aufbau elektronischer Geräte integrierte Schaltkreise weiterverarbeiten zu können, jedoch zog die dynamische Entwicklung in der Halbleitertechnik bald eine drastische Erhöhung des Entwicklungstempos in der Aufbau- und Verbin-
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1 Problematik
dungstechnik nach sich, um die steigenden Anforderungen durch höhere Anschlusszahlen und Integrationsdichten befriedigen zu können. Dieser Prozess ist durch eine Reihe tiefgreifender Änderungen in den Aufbaustrukturen, in den Herstellungstechnologien sowie im Werkstoffeinsatz gekennzeichnet. Durch diese permanenten Veränderungen entstehen jedoch auch immer wieder neue Ausfälle, von denen ein Großteil auf eine thermisch-mechanische Beanspruchungsproblematik zurückzuführen ist. Darunter fallen Ausfälle, deren Ursache entweder thermischer oder mechanischer Natur ist. In den meisten Fällen liegt jedoch eine Kombination thermischer und mechanischer Ursachen vor. Durch diesen Umstand hat das zur Elektrotechnik gehörende Gebiet der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik in der Frage der Zuverlässigkeit von Einzelstrukturen bzw. Aufbauten einen großen Grad an Gemeinsamkeit mit den in Teilgebieten des Maschinen-, Anlagen- oder Fahrzeugbaus gestellten Fragen zur Betriebssicherheit von Anlagen bzw. Bauteilen. In Abb. 1.1 sind Totalausfälle an einem Lotkontakt eines elektronischen Aufbaus sowie einer Turbinenschaufel gegenübergestellt. In beiden Fällen führten thermisch-mechanische Beanspruchungen während des Betriebes zu einem letalen Riss, welcher die Aufrechterhaltung der technischen Funktion dieser Strukturen beendete. Durch solche Gemeinsamkeiten in den Fragen der Ausfallproblematik ergibt sich für die Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik auf den ersten Blick die Möglichkeit der transdisziplinären Nutzung der in den anderen Gebieten bereits erarbeiteten Methoden zur Lösung der Ausfallproblematik. Anders als bei der Konstruktion von großtechnischen Anlagen, wie Kraftwerken, Schiffen, Schienenfahrzeugen, Flugzeugen oder Ölplattformen, spielte die tiefgehende wissenschaftliche Beschäftigung mit dem mechanischen Verformungs- und Schädigungsverhalten der eingesetzten Werkstoffe bei der Entwicklung, Konstruktion und Fertigung elektronischer Geräte in den letzten Dekaden eine eher untergeordnete Rolle. Zwar waren bestimmte Ausfälle in großtechnischen Anlagen als auch in elektronischen Geräten auf eine vergleichbare Ursache -
Abb. 1.1 Bilder vergleichbarer Schadensfälle in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik und im Anlagenbau: Metallografischer Querschliff vom Bruch in einer Flip-Chip-Lotverbindung (links); Bruchfläche einer zerborstenen Turbinenschaufel aus [1] (rechts)
1.1 Ausfälle in elektronischen Aufbauten
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wechselnde thermische und mechanische Beanspruchungen - zurückzuführen, jedoch waren die Strategien, mit denen versucht wurde, diese Problematik zu bewältigen, verschiedene. Um die Zuverlässigkeit elektronischer Geräte zu gewährleisten, welche z. B. mit einer neuen Technologie bzw. einem erhöhten Technologieniveau realisiert werden sollten, wurden entsprechende Versuchsmuster in unterschiedlichen Realisierungsvarianten aufgebaut und verschiedenen Umwelttests, welche einen beschleunigten Ausfall hervorriefen, unterzogen. Aus den so ermittelten Testausfällen ging hervor, ob eine Realisierungsvariante unter dem Aspekt der Zuverlässigkeit für eine Massenproduktion tauglich war bzw. welche Schwachstellen an den bisher getesteten Realisierungsvarianten verbessert werden mussten, um zu einer zuverlässigen Lösung zu gelangen. Ein solches Vorgehen war für die Konstruktion und Realisierung eines hochseetauglichen Öltankers oder gar eines Atomkraftwerkes natürlich undenkbar. Für die Konstruktion solcher großtechnischen Realisierungen war ein methodisches Vorgehen notwendig, welches durch geeignete wissenschaftliche Durchdringung der Problematik die Wahrscheinlichkeit eines Ausfalls weitgehend minimierte. Aus diesem methodischen Vorgehen entwickelten sich zum einen das eher theoretisch geprägte Wissenschaftsgebiet der Berechnung von kritischen mechanischen Beanspruchungen in technischen Strukturen sowie das eher experimentell geprägte Gebiet der Charakterisierung des Verformungs- und Schädigungsverhaltens von Werkstoffen. Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurden von akademischer Seite verstärkt Versuche unternommen, die von anderen Gebieten der Ingenieurwissenschaft bekannte Methodik der theoretischen Beurteilung der Zuverlässigkeit elektronischer Aufbauten durch Berechnung kritischer Beanspruchungen auch bei der Konstruktion elektronischer Geräte einzusetzen. Um die Jahrhundertwende wurde diese methodische Veränderung in der Zuverlässigkeitsarbeit auch von den FuE-Abteilungen großer Elektronikkonzerne anerkannt. So formulierte Zhang von der Philips CFT in verschiedenen Aufsätzen [2, 3], dass der traditionelle Entwurfsansatz über Trail-and-Error-Methodik (d. h. Entwurf, Aufbau und Test einer Variation verschiedener physischer Prototypen) gegenwärtig nicht mehr wettbewerbsfähig sei, da er nicht garantiere, dass ein Packageentwurf Leistungs- und Zuverlässigkeitskriterien erfülle und gleichzeitig schnell, ökonomisch und umweltfreundlich produziert werden könne. Aus dem derzeitigen Stand und den voraussehbaren Tendenzen der Entwicklung in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik lässt sich aus der momentan entstandenen Ausfallproblematik ableiten, dass unbekannte Zuverlässigkeitseigenschaften sich zu einem erheblichen Moderator bei der Umsetzung neuer Technologien entwickeln könnten. Daher scheint eine tiefgehende wissenschaftliche Beschäftigung mit dem mechanischen Verformungs- und Schädigungsverhalten der eingesetzten Werkstoffe in Zusammenhang mit Simulationstechniken und nummerischen Bewertungsverfahren notwendig, um mangelnde Zuverlässigkeit bei zukünftigen Produktlösungen zu verhindern.
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1 Problematik
1.2 Rolle der Werkstoffuntersuchung im Entwicklungszyklus Durch den Einsatz von Simulationstechniken zur Analyse thermisch-mechanischer Schädigungsprozesse lässt sich eine Bewertung der Zuverlässigkeitseigenschaften neuartiger elektronischer Aufbaukonzepte während der Entwurfsphase durchführen. Im Gegensatz zu traditionellen Vorgehensweisen soll diese Bewertung nicht mehr durch Aufbau und Erprobung physischer Technologie- bzw. Produktdemonstratoren erfolgen, sondern Teil einer virtuellen Prototypenentwicklung, -erprobung und -optimierung sein. Dieses unter den englischen Termini „UpfrontModeling“, „Virtual-Reliability-Methodology“ oder „Virtual-Prototyping“ zusammengefasste Vorgehen wird momentan als Lösungsmethodik für die mit zukünftigen Produktentwicklungen verbundenen Probleme, welche aus dem Zwang der stetigen Miniaturisierung und Integrationserhöhung und dem damit verbundenen Einsatz immer komplexerer Herstellungsverfahren resultieren, gesehen [4-6]. Dadurch sollen z. B. die relativ langen Vorlaufzeiten (mehrere Jahre) für die Entwicklung neuer Bauelementetypen für integrierte Schaltkreise befriedigt werden, indem sowohl die Komponentenzuverlässigkeit (First-Level-Reliability) als auch die Bauteilzuverlässigkeit (Second-Level-Reliability) für die Verarbeitung und den Betrieb eines neu konzipierten Bauelementetyps über Simulationsuntersuchungen bewertet werden [5]. Zur Bewertung neuer Aufbaukonzepte sowie zur Ableitung von Gestaltungshinweisen werden in der Regel verschiedene Typen von Analysen durchgeführt. Zu den gebräuchlichsten Analysen zählen dabei [7]: • Die Lokalisierung von Gebieten kritischer thermo-mechanischer Beanspruchungen. Hieraus lassen sich wichtige Hinweise ableiten, welche die Durchführung von Experimenten zur Beschleunigung von Ausfallmechanismen, wie z. B. Temperaturwechseltests, wesentlich effektivieren können, indem der Umfang der durchzuführenden Experimente beschränkt wird und eine gezielte Suche nach zu erwartenden Ausfällen, z. B. durch metallografische Präparationen, erfolgen kann. • Parameterstudien zur Optimierung gestaltungs- und materialtechnischer Kombinationen in neuartigen Aufbaukonzepten. Durch verschiedene Hypothesen über die geometrische Gestaltung neuer Aufbauten und über die für solche Aufbauten einzusetzenden Werkstoffe lassen sich virtuell Aufbaukonzepte optimieren, ohne dass dafür physisch existierende Prototypen realisiert werden müssen. Dieses Vorgehen spart in erheblichem Maße Zeit und Kosten im Entwurfsprozess. • Die Vorhersage von zu erwartenden Lebensdauern eines Aufbaukonzeptes bei Belastung durch einen spezifischen Qualifizierungstest (z. B. Temperaturwechseltest). Ohne Aufbau von Prototypen und ohne Durchführung zeitraubender Tests können neue Aufbaukonzepte bezüglich der zu erwartenden Lebensdauern bewertet werden, wodurch sich weitgehend aussichtslose Konzepte frühzeitig aussortieren lassen.
1.2 Rolle der Werkstoffuntersuchung im Entwicklungszyklus
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Abb. 1.2 FEM-Simulation thermomechanischer Beanspruchungen in elektronischen Aufbauten: Metallografischer Querschliff der Lotstelle eines Chipkondensators (CC 1812) in einer Vergrößerung von X 100 (links), FEM-Netz eines Viertels des Chipkondensators (Symmetrieausnutzug) auf einem Verdrahtungsträgersegment (rechts)
Zur Durchführung von Simulationen hat sich die den verschiedenen Softwarepaketen, wie ANSYS, ABAQUS oder MARC, zugrunde liegende Methode der Finiten Elemente (FEM) als die effektivste herausgestellt (Abb. 1.2). Dadurch ist es methodisch möglich, zielgerichtet und mit einem gut kalkulierbaren Zeitaufwand die zum Teil komplexen geometrischen Verhältnisse der verschiedenen Einzelstrukturen in elektronischen Aufbauten nachzubilden. Weiterhin erlauben die genannten Softwarepakete die Berücksichtigung nichtlinearer Materialeigenschaften, welche bei den in elektronischen Aufbauten verwendeten Werkstoffen elementar sind. Zur Erzielung aussagekräftiger Ergebnisse mit FEM-Simulationen sind jedoch eine Reihe von Vorbereitungen notwendig. Diese umfassen mindestens die Kenntnis der folgenden drei die Simulationsergebnisse bestimmenden Faktoren [7, 8]: • Geometrie: Die konkrete Anordnung der Einzelstrukturen mit ihren spezifischen Abmaßen müssen dem Simulationsprogramm vorgegeben werden. Dabei ist zu entscheiden, welche Details, z. B. komplizierte Geometrien von Phasenübergängen, entsprechend vereinfacht werden, um den Simulationsaufwand in vernünftigen Grenzen zu halten. • Belastung: Der Verlauf der Temperatur- bzw. der mechanischen Belastungen (z. B. bei Biegung oder Vibration) müssen vorgegeben werden. • Werkstoffeigenschaften: Bestimmte Materialeigenschaften müssen den dargestellten Einzelstrukturen zugewiesen werden. Diese umfassen in der Regel mechanische, d. h. E-Modul, Querkontraktionszahl, Fließgrenze etc., gegebenenfalls auch thermische Größen, d. h. Wärmeleitfähigkeit etc., und Koppelgrößen, wie den thermischen Ausdehnungskoeffizienten.
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1 Problematik
Der praktische Einsatz von Simulationstechniken im Entwurfszyklus während der letzten Jahre hat gezeigt, dass besonders die Bereitstellung von Werkstoffdaten eine sehr aufwendige und methodisch noch nicht vollständig durchdrungene Aufgabe ist. Dabei ist zu beobachten, dass sich die Werkstoffdatenermittlung seit der Einführung von FEM-Simulationstechniken im Entwurfszyklus elektronischer Aufbauten zunehmend verselbstständigt. Ausschlaggebend für die Emanzipation der experimentellen Untersuchung des Verformungs- und Schädigungsverhaltens von der ihr funktionell übergeordneten Gesamtaufgabe der Simulationsuntersuchung sind sowohl der zeitliche als auch der methodische Aspekt, in dem sich die experimentelle Untersuchung der Werkstoffe und die eigentlichen Simulationsuntersuchungen gegenüberstehen. Alle bisherigen Erfahrungen deuten darauf hin, dass der für experimentelle Werkstoffuntersuchungen benötigte Zeitumfang ein Vielfaches des für die eigentliche Simulationsuntersuchung benötigten beträgt und dass dieses Verhältnis tendenziell steigt. Wird die Ausgangsintention des Einsatzes von Simulationstechniken betrachtet, so wird klar, dass der erhebliche zeitliche Aufwand, welcher mit der Ermittlung bestimmter Werkstoffeigenschaften verbunden ist, dem eigentlichen Konzept der virtuellen Prototypenentwicklung entgegenwirkt, da einer der wesentlichen Vorteile dieses Ansatzes in der Verkürzung von Entwicklungszeiten gesehen wird. Aus dieser zeitlichen Diskrepanz ergibt sich die Notwendigkeit, zeitintensive Werkstoffuntersuchungen dem Prozess der virtuellen Prototypenentwicklung vorzulagern, sodass alle mit einem hohen zeitlichen Untersuchungsaufwand verbundenen Werkstoffeigenschaften bereits zu Beginn einer simulationsgestützten Bewertung und Optimierung neuartiger Aufbaukonzepte vorliegen, um die durch den Einsatz von Simulationstechniken angestrebten zeitlichen Verkürzungen bei der Erarbeitung aussichtsreicher Aufbaukonzepte innerhalb der Entwurfsphase erreichen zu können. Aufgrund dieses zeitlichen Aspektes teilen sich die für den Zweck von Simulationsuntersuchungen betriebenen Werkstoffcharakterisierungen in den Bereich der methodisch unaufwendigen, schnell durchführbaren Standarduntersuchungen, wie E-Modul-Bestimmung, und in den Bereich methodisch oder zeitlich sehr aufwendiger Charakterisierungen, wie z. B. Kriechversuche, auf. Durch die notwendige Vorverlegung zum eigentlichen Simulationsprozess verlieren alle mit hohem zeitlichen oder methodischen Aufwand verbundenen experimentellen Werkstoffuntersuchungen jedoch ihre unmittelbare Unterordnung gegenüber der Simulationsuntersuchung im konkreten Entwurfsprozess (Abb. 1.3). Dies hat wiederum weitreichende Folgen für die Kernfragen, welche durch die experimentelle Charakterisierung von Werkstoffeigenschaften beantwortet werden sollen. Da durch die mit der Vorverlegung verbundene Loslösung von konkreten Simulationsuntersuchungen auch keine gezielten Anforderungen der Simulation an die Werkstoffuntersuchung gestellt werden können, müssen die Untersuchungsziele für diese Werkstoffcharakterisierungen aus anderen Ansätzen, d. h. allgemeinen Betrachtungen zur Entwicklung von Aufbaukonzepten, abgeleitet werden, um dem Ziel der Bereitstellung relevanter Werkstoffdaten gerecht zu werden.
1.2 Rolle der Werkstoffuntersuchung im Entwicklungszyklus
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Problemstellung
Design of Experiment
Simulationsrechnung Materialdatenbestimmung
Verkürzung
Vorverlegung
Materialdatenbestimmung
Response Surface Model (Antwortfläche)
Zuverlässigkeitskriterien erfüllt?
Abb. 1.3 Schematische Darstellung der Zeiteinsparung im Entwicklungsprozess durch Vorverlegung der Werkstoffuntersuchung zur Bereitstellung von Werkstoffdaten
Die dargestellte Loslösung und Verselbstständigung der Werkstoffcharakterisierung hat weitreichende Folgen für die Ausrichtung von Experimenten und die Entwicklung experimenteller Methoden. Waren zunächst konkrete Probleme bestimmter Aufbaukonzepte, wie z. B. die Bewertung der Zuverlässigkeit von Flip-Chip-Aufbauten [9-13], bestimmend für Zielrichtung und Umfang werkstoffund schädigungsmechanischer Charakterisierungen, so entstehen im Zuge der Verselbstständigung den konkreten Untersuchungen übergeordnete Untersuchungsziele. Diese übergeordneten Untersuchungsziele sind auf eine langfristige Beantwortung grundsätzlicher Fragestellungen ausgerichtet, welche sich aus den verschiedenen konkreten Charakterisierungsaufgaben ergeben. Aus der schrittweisen Beantwortung dieser Fragestellungen ergeben sich Möglichkeiten der Qualifizierung und Weiterentwicklung der bisher erarbeiteten Methoden zur Werkstoffcharakterisierung als auch eine bessere wissenschaftliche Durchdringung der mit der Charakterisierung verbundenen werkstoffphysikalischen Grundeffekte [14-16].
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1 Problematik
Die übergeordneten Untersuchungsziele ergeben sich aus verschiedenen mit den Werkstoffen und der Aufbautechnik der Elektronik zusammenhängenden Aspekten. Zu den wichtigsten zählen dabei das Verformungsverhalten, der funktionelle Einsatz der verschiedenen Werkstoffklassen in elektronischen Aufbauten, die zu erwartende Entwicklung der Aufbaukonzepte und die zu erwartenden thermischmechanischen Problemfelder in elektronischen Aufbauten. Grundsätzlich teilen sich die übergeordneten Untersuchungsziele nach den Werkstoffklassen Metalle und Polymere auf. Die Werkstoffklasse der Keramiken erfordert aufgrund ihres vergleichsweise einfach charakterisierbaren mechanischen Verhaltens keine übergeordneten Grundlagenuntersuchungen. Die grundsätzliche Unterscheidung der übergeordneten Untersuchungsziele nach metallischen und polymeren Werkstoffen hängt mit der sehr verschiedenen Werkstoffstruktur, dem sich daraus ergebenden qualitativ unterschiedlichen Verformungs- und Schädigungsverhalten und der unterschiedlichen funktionellen Verwendung in elektronischen Aufbauen zusammen. Gemeinsam ist den Werkstoffen beider Klassen ein komplexes, von Temperatur-, Zeit- und Herstellungsbedingungen abhängiges Verformungs- und Schädigungsverhalten, welches in der Regel eine sehr umfangreiche Werkstoffcharakterisierung und Modellierung notwendig macht. Aufgrund der allgemeinen strukturellen Aufbauprinzipien werden polymere Werkstoffe in der Regel als großflächige Trägerwerkstoffe eingesetzt, während metallische Werkstoffe in dünnen Schichten auf ihnen aufgebracht und strukturiert werden. Obwohl eine solche funktionelle Aufteilung nicht generell auf alle Bereiche elektronischer Aufbauten zutrifft, zeigt sich, dass Verformungs- und Schädigungsverhalten metallischer Werkstoffe grundsätzlich im Zusammenhang mit den Aspekten geringer Werkstoffabmessungen (also miniaturisierter Werkstoffstrukturen) diskutiert wird, während die Fragen der Miniaturisierung für die Charakterisierung polymerer Werkstoffe eine geringe bis keine Bedeutung haben.
1.3 Werkstoffverhalten und Miniaturisierung Im Zuge der Herstellung miniaturisierter elektro-mechanischer Systeme durch die Nutzung mikroelektronischer Verfahrenstechniken (MEMS) wurde klar, dass sich die mechanischen Eigenschaften von Werkstoffen in mikroskopischen Strukturgrößen deutlich von denen in gewöhnlichen Abmessungen unterscheiden. Dieser Größeneffekt der mechanischen Eigenschaften von Werkstoffen wurde zunächst vor allem im Zusammenhang mit der Entwicklung der Mikrosystemtechnik besprochen. Die Strukturen, an denen Größeneffekte beobachtet wurden, waren Dünnschichten oder stark miniaturisierte mechanische Elemente, wie z. B. Mikropinzetten oder Mikrofedern [17-21]. Ihre typischen Strukturabmessungen lagen im μm-Bereich. Aus diesem Grund war es zunächst unklar, ob sich diese Größeneffekte auch in Strukturelementen elektronischer Aufbauten zeigten, deren kleinste Abmessungen wenigsten mehrere μm betragen.
1.3 Werkstoffverhalten und Miniaturisierung
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Besonders umstritten war dabei beispielsweise die Frage nach größenabhängigen Kriecheigenschaften des eutektischen Zinn-Blei-Lotes Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre. Die Lotkontakte, in denen dieser Werkstoff verwendet wurde, hatten Abmaße im Bereich zwischen 0.1 mm ...1 mm, wobei je nach Alterungszustand mittlere Korngrößen im Bereich von ca. 5 μm ... 30μm für die Lotkontakte ermittelt wurden. Bei Berechnungen zum Schädigungsverhalten der Lotkontakte [22, 23] wurde auf eine Beschreibung des konstitutiven Verhaltens zurückgegriffen, welche aus Versuchen zum superplastischen Verhalten des SnPbSystems stammten [24-26]. In diesen Versuchen wurde extrudiertes Material mit Korngrößen zwischen 1...10 μm verwendet. Im Vergleich mit späteren Untersuchungen an realen Lotkontakten [27-29] stellte sich jedoch heraus, dass das an großvolumigen Proben aufgenommene Materialverhalten bei der gleichen Korngröße zwar ein vergleichbares qualitatives Kriechverhalten hatte, jedoch eine um Größenordnungen höhere Kriechgeschwindigkeit aufwies. In späteren Untersuchungen an dünnen Lotspalten wurde außerdem eine umgekehrte Abhängigkeit der Kriechgeschwindigkeit von der Korngröße wie in den Untersuchungen zur Superplastizität an großvolumigen Proben festgestellt [30], ohne dass dafür eine befriedigende werkstoffphysikalische Erklärung gefunden werden konnte. Die Schwierigkeit, die den Diskussionen, wie z. B. den um die Größenabhängigkeit des Kriechverhaltens in Lotkontakten, zugrunde lag, resultierte aus dem mangelhaften Verständnis der materialphysikalischen Hintergründe des Größeneffekts. Der Größeneffekt ist kein einzelnes Phänomen, sondern ergibt sich aus einer Kombination verschiedener werkstoffphysikalischer Erscheinungen. Für metallische Werkstoffe - welche innerhalb dieser Arbeit im Zusammenhang mit dem Größeneffekt betrachtet werden - werden bisher vor allem die Gefügeabhängigkeit mechanischer Eigenschaften sowie Gradienten- und Oberflächeneffekte als Auslöser für größenabhängige mechanische Eigenschaften gesehen. Die Gefügeabhängigkeit mechanischer Eigenschaften ist eine schon lange bekannte werkstoffphysikalische Erscheinung. Die Tatsache, dass die Größe intrinsischer struktureller Elemente, Körner, Phasen oder Ausscheidungen eines Werkstoffes, sehr stark seine mechanischen Eigenschaften bestimmt, wurde zunächst im Zusammenhang mit der gezielten Erzeugung bzw. Verbesserung mechanischer Eigenschaften metallischer Werkstoffe verwendet. Zu den bekanntesten Effekten zählen dabei die Hall-Petch-Beziehung, der Orowan-Effekt und der Friedel-Effekt. Während durch Ausnutzung dieser Effekte, d. h. durch Einstellung bestimmter Korn- und Ausscheidungsgrößen, die mechanischen Eigenschaften von Werkstoffen in makroskopischen Strukturgrößen gezielt eingestellt werden können, ergibt sich aufgrund der gleichen Effekte in mikroskopischen Strukturabmessungen oft eine unbeabsichtigte Änderung der mechanischen Eigenschaften. Der durch die Gefügeabhängigkeit hervorgerufene Größeneffekt kommt in der Regel aufgrund der durch kleine Abmessungen hervorgerufenen qualitativen Unterschiede bei der Formierung eines Werkstoffes, z. B. beim Erstarren oder Aufwachsen, zustande. Gradienteneffekte, welche die mechanischen Eigenschaften von Werkstoffen beeinflussen können, sind darauf zurückzuführen, dass die Größe mikrostrukturel-
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1 Problematik
ler Elemente gegenüber dem Verlauf einer Beanspruchung nicht zu vernachlässigen ist. In metallischen Werkstoffen sind Beanspruchungsgradienten mit einer stärkeren Biegewirkung auf das Kristallgitter verbunden, wodurch ein plastisches Abgleiten hervorgerufen werden kann, welches wiederum zu einer beträchtlichen Verfestigung des Werkstoffs führt. Sehr eindrucksvoll wurden Gradienteneffekte in einem Experiment von Stolken und Evans [31] demonstriert, welche einen Biegeversuch an einer weichgeglühten Nickelfolie durchführten. Die größte Verfestigung (400%) wurde dabei beim kleinsten Verhältnis zwischen der Dicke und Länge der gebogenen Folie erreicht. Für bestimmte Strukturen, wie z. B. dünne Schichten, können Größeneffekte durch ein verändertes Verhältnis von Volumen zu Oberflächen zustande kommen. Oberflächen stellen eine Materialgrenze dar, an der qualitativ andere Gesetzmäßigkeiten herrschen als im Materialinneren. Wird beispielsweise eine polykristalline metallische Schicht betrachtet, so ist davon auszugehen, dass Versetzungen diese an freien Oberflächen sehr leicht verlassen können, wodurch sich die Verformbarkeit der Schicht erhöht. Ist die metallische Oberfläche jedoch beispielsweise durch einen Oxidfilm bedeckt, so stauen sich Versetzungen an dieser auf, was zu einer Verfestigung führt. Da der Einfluss der Oberflächeneffekte auf die Gesamtverformung der Schicht umso größer wird, je dünner diese ist, ergibt sich daraus eine Größenabhängigkeit der mechanischen Eigenschaften. Aus den aufgeführten werkstoffphysikalischen Erscheinungen wird deutlich, wie verschieden die Hintergründe für Größeneffekte des mechanischen Verhaltens in Werkstoffen sein können. Aus diesem Grund ist bei der Bewertung experimenteller Erkenntnisse, welche durch Versuche an miniaturisierten Proben gewonnen wurden, eine sehr differenzierte Betrachtungsweise nötig. Neben der eigentlichen Größe können auch andere Randbedingungen, wie z. B. veränderte Herstellungsbedingungen, Ursache experimentell beobachteter Veränderungen im mechanischen Verhalten sein.
1.4 Verformungsverhalten von Metallen 1.4.1 Bedeutung
1.4.1.1 Werkstoffmodelle in Simulationsrechnungen Um die mechanische Integrität eines elektronischen Aufbaus bewerten zu können, ist es notwendig, die Verformungen der einzelnen Strukturelemente dieses Aufbaus unter bestimmten Belastungen zu berechnen. Eine wichtige Voraussetzung für derartige Berechnungen ist die Kenntnis des Verformungsverhaltens eines Stoffes, welche darüber Auskunft gibt, welchen Widerstand ein aus diesem Werkstoff bestehendes Strukturelement der Verformung unter einer bestimmten Belas-
1.4 Verformungsverhalten von Metallen
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tung entgegenbringt. Das generelle Verformungsverhalten eines metallischen Werkstoffs ist jedoch sehr komplex und hängt von einer Vielzahl äußerer und innerer Faktoren ab. Aus diesem Grund ist es nahezu unmöglich, eine vollständige Beschreibung des Verformungsverhaltens eines Werkstoffes anzufertigen. Stattdessen werden Beschreibungen angestrebt, die die wichtigsten Merkmale des Verformungsverhaltens eines Werkstoffes unter definierten Grenzen für die Wahl äußerer Parameter (Temperatur, Last) und innerer Parameter (Gefüge, Verformungszustand) widerspiegeln. Um solche Beschreibungen anzufertigen, d. h. das Verformungsverhalten eines Werkstoffes richtig zu modellieren, ist es notwendig, die wichtigsten Erscheinungsformen der Verformung den entsprechenden Randbedingungen der Verformung zuzuordnen.
1.4.1.2
Experimentelle Untersuchung und Physik der Verformung
Neben seiner Bedeutung für die Berechnung der Verformungsreaktion in der Simulation von Beanspruchungsfällen ist die genaue Vorstellung über das qualitative Verformungsverhalten auch bei der Charakterisierung der mechanischen Eigenschaften eines Werkstoffes sehr wichtig. Dies gilt besonders wenn - wie für die mechanische Bewertung neuer elektronischer Aufbaukonzepte angestrebt (vgl. 1.2) - die Werkstoffcharakterisierung dem Entwurfsprozess zeitlich begrenzt vorgelagert ist. Aus der zweckgebundenen Aufgabe, relevante und hinreichend genaue Werkstoffmodelle für Simulationsrechnungen zur Verfügung zu stellen, ergeben sich an die Werkstoffdatenermittlung besondere Anforderungen. Die spezifische Problematik der experimentellen Charakterisierung wird daher im Wesentlichen durch zwei Aspekte bestimmt. Der erste hängt mit den in 1.3 besprochenen Größeneffekten des mechanischen Verhaltens von Metallen zusammen und erwächst aus dem Zweifel der Übertragbarkeit der an makroskopischen Probekörpern gewonnenen Daten auf den Mikrobereich. Unter diesem Aspekt müssen vor allem methodische Fragen, welche mit Versuchsaufbauten und dem Probekörperaufbau zusammenhängen, gelöst werden. Der zweite Aspekt wird durch die zeitlichen und evolutionären Charakteristika des Entwurfszyklus für neue elektronische Aufbauten hervorgerufen. Verschiedene Entwicklungsstufen elektronischer Aufbauten sind sehr oft durch erhebliche materialtechnische Veränderungen gekennzeichnet, da strukturelle und technologische Innovationen oft unzureichend sind, um die mit der permanenten Steigerung der Integrationsdichte verbundenen Probleme vollständig zu lösen. Bevor materialtechnische Veränderungen vorgenommen werden können, ist es im Vorfeld eines Entwurfszyklus jedoch erforderlich, durch einen Selektionsprozess geeignete Werkstoffe für bestimmte konzeptionelle Veränderungen in elektronischen Aufbauten zu finden. Für viele der in diesem Selektionsprozess betrachteten Werkstoffe liegen jedoch in der Regel keine oder nur wenige Materialdaten vor. Durch diesen Umstand ergibt sich für die experimentelle Untersuchung des mechanischen Verhaltens die Notwendigkeit, in einem zeitlich begrenzten Rahmen
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1 Problematik
einen Werkstoff mit weitestgehend unbekannten Eigenschaften zu charakterisieren. Dies erfordert eine sehr effektive Untersuchungsmethodik. Günstig erweist sich hierbei ein iteratives Vorgehen, wobei bei jeder Iteration ein Abgleich zwischen dem ermittelten Verformungsverhalten, der zugrunde liegenden Werkstoffphysik und dem aus der Simulationsrechnung der ermittelten Verformungsreaktion abgeleiteten Lastbereich vorgenommen wird. Dabei lässt sich aus den werkstoffphysikalischen Modellen die Art der durchzuführenden Versuche, z. B. Kriechversuch, ableiten, wobei gleichzeitig aus den gewonnenen Experimentalergebnissen der tatsächliche Geltungsbereich der Modelle im durch den aus der Verformungsreaktion abgeleiteten Lastbereich (z. B. Spannung, Dehnungsrate, Temperatur) eingeschätzt werden kann. Ein solches Vorgehen erfordert eine genaue Kenntnis der zugrunde liegenden werkstoffphysikalischen Mechanismen, da die Annahme nicht zutreffender Werkstoffmodelle zu Fehlinterpretationen der prinzipbedingt nicht sehr umfangreichen Experimentalergebnisse führen kann.
1.4.2 Verformungsverhalten
1.4.2.1 Begriff, Darstellung und Ermittlung des Verformungsverhaltens Das Verformungsverhalten eines Werkstoffes kennzeichnet den Zusammenhang zwischen der äußeren Belastung und der dadurch in einer aus dem Werkstoff bestehenden Struktur (d. h. in einem Bauteil) hervorgerufenen Gestaltänderung. Da es eine nur vom Werkstoff abhängige Eigenschaft verkörpert, bezieht sich das Verformungsverhalten in der Regel auf eine relative Gestaltänderung eines in der Struktur befindlichen Volumenelementes und dessen Beanspruchung durch eine äußere Belastung. Dabei ist es üblich, beide Größen für allgemeine Betrachtungen zum Verformungsverhalten auf eindimensionale Parameter - die Dehnung zur Beschreibung der Gestaltänderung und die Spannung zur Beschreibung der Beanspruchung - zu reduzieren. Hintergrund dieser Vereinfachungen ist die Tatsache, dass die meisten technisch genutzten metallischen Werkstoffe polykristallin sind und keine richtungsabhängigen Eigenschaften aufweisen. Die Umrechnung mehrdimensionaler Spannungs- und Dehnungszustände in eindimensionale Größen erfolgt über sogenannte Vergleichshypothesen, unter denen die von Huber-MisesHensky die am meisten verwendete ist. Die mit diesen Umrechnungen verbundenen Ungenauigkeiten sind insofern akzeptabel, da die Erfahrung ist, dass es eine exakte quantitative Vorhersage des gesamten Verformungsverhaltens unter komplexen Bedingungen nicht gibt [32] und dass es bei der experimentellen Bestimmung mechanischer Eigenschaften zu nicht unerheblichen Unsicherheiten kommt. Selbst bei einer scheinbar einfach zu bestimmenden Größe, wie der Fließspannung von metallischen Werkstoffen, gehen Frost und Ashby von einem Fehler von ± 10 % aus. Bei schwieriger zu bestimmenden Eigenschaften, wie dem Kriechverhalten, wird sogar ein Unterschied von zwei Größenordnungen für die Dehnungs-
1.4 Verformungsverhalten von Metallen
e
13
s
a)
b)
t s
t e
c)
d)
t
t
Abb. 1.4 Spannungs-Dehnungs-Diagramm, zusammengesetzt aus dem zeitlichen Verlauf von Spannung und Dehnung während des Versuches
rate bei gleicher Spannung angenommen [33]. Ursache dieser Unsicherheiten ist neben Messabweichungen vor allem die Schwierigkeit, die vielfältigen strukturellen Merkmale metallischer Stoffe zu erfassen und zu beschreiben, um zwischen verschiedenen Experimenten vergleichbare Verhältnisse zu schaffen. Zur Beschreibung des Spannungs-Dehnungs-Zusammenhangs wird das Werkstoffverhalten im Zugversuch betrachtet, bei dem die Probe eine homogene einachsige Beanspruchung erfährt. Im Versuch soll die Probe entweder einer Dehnungsbeanspruchung (Abb. 1.4a) oder einer Spannungsbeanspruchung (Abb. 1.4b) ausgesetzt und die Verformungsreaktion in Form der Spannungsantwort (Abb. 1.4c) bzw. der Dehnungsantwort (Abb. 1.4d) aufgezeichnet werden. Da die Zeit bei niedrigen homologen Temperaturen ( T ≤ 0, 3 ⋅ Ts ) für die meisten Metalle und Legierungen zumeist eine untergeordnete Rolle spielt, können die aus den beiden Versuchen für bestimmte Zeitpunkte existierenden Dehnungs-Spannungspaare bzw. Spannungs-Dehnungswerte in einem Spannungs-Dehnungs-Diagramm aufgetragen werden. Die sich aus den beiden Versuchen ergebenden Kurven liegen möglicherweise wegen ihres unterschiedlichen Zeitbezuges der Dehnung bzw. Spannung nicht ganz genau übereinander, jedoch ergibt sich in erster Näherung eine Kurve, welche das grundsätzliche Verformungsverhalten eines Metalls oder einer Legierung beschreibt.
14
1 Problematik
Das typische Aussehen von Spannungs-Dehnungs-Diagrammen für Metalle und ihre Legierungen ist in Abb. 1.5 skizziert. Folgt man dem Pfad des SpannungsDehnungs-Zusammenhanges, so stellt sich die typische Verformungscharakteristik von Metallen unter den eingangs genannten Bedingungen dar. Es ist zu erkennen, dass das Material zunächst der aufgebrachten Beanspruchung einen erheblichen Verformungswiderstand entgegensetzt, dass dieser aber bei Überschreiten einer bestimmten Spannung σF bzw. Dehnung εF deutlich zu sinken beginnt und das Material der fortan aufgebrachten Beanspruchung einen sehr viel geringeren Verformungswiderstand entgegen bringt. Dieser Wechsel im Verformungswiderstand markiert den Wechsel zwischen zwei Arten der Verformung, welche im entsprechenden Bereich dominieren - der elastischen Verformung ( 0 < σ < σF ) und der plastischen Verformung ( σ ≥ σF ) . Beide Arten der Verformung unterscheiden sich sowohl in den ihnen zugrunde liegenden mikrophysikalischen Mechanismen als auch in der phänomenologisch erfassbaren Gestalt der Verformung. Um die grundlegenden Unterschiede zwischen diesen beiden Arten der Verformung darzustellen, sollen beide in den folgenden Abschnitten getrennt voneinander behandelt werden, wobei sowohl der Zusammenhang zwischen phänomenologischen Erscheinungsformen und mikrophysikalischen Mechanismen als auch die Bedeutung und Anwendung der mit ihnen verbundenen typischen Werkstoffparameter besprochen werden soll.
s
elastisch
plastisch
sF
E
e Abb. 1.5 Charakteristisches Spannungs-Dehnungs-Diagramm metallischer Werkstoffe
1.4.2.2 Arten der Verformung Das Grundproblem bei der Beschreibung der Verformung von Metallen ist, dass es eine Vielzahl von funktionalen Zusammenhängen zwischen verschiedenen die Verformung bestimmenden Parametern gibt. Aus werkstoffphysikalischer Sicht existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Mechanismen, welche das Verformungsverhalten von Metallen dominieren können, was eine einheitliche Betrachtung
1.5 Untersuchungsmethoden
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schwierig macht. Neben der grundsätzlichen Einteilung in elastische und plastische Verformung existieren für die plastische Verformung eine Reihe von verschiedenen Erscheinungsformen und Mechanismen. Um eine Übersicht über die verschiedenen, die plastische Deformation von Metallen dominierenden Mechanismen zu erhalten, wurde von Ashby und Frost [33] die Schaffung einer "Deformation Mechanism Map", ein Begriff, der in der deutschsprachigen Literatur als "Verformungsmechanismuskarte" oder "-landkarte" übersetzt wird, vorgeschlagen. Eine solche Karte soll alle für ein Material publizierten Daten auf der Basis der für die plastische Verformung formulierten theoretischen Modelle zusammenfassen. Obwohl sich aufgrund der Vielzahl von Eingangsparametern eine große Reihe von Karten ergäbe, sind nach Ansicht von Frost und Ashby vor allem Scherspannung-Temperatur-Diagramme mit überlagerten Äquidehnungsratelinien für den ingenieurtechnischen Gebrauch nützlich. Mithilfe der den Karten überlagerten Äquidehnungsratelinien ist z. B. der für einen konkreten Belastungsfall auftretende Hauptmechanismus der plastischen Verformung leicht ablesbar und damit die für die Modellierung des Deformationsverhaltens des Metalls notwendige Gleichung ableitbar.
1.5 Untersuchungsmethoden Die Problematik des Größeneffektes im mechanischen Verhalten von metallischen Werkstoffen hat wohl die größten Implikationen auf die Art und Weise, in der das Werkstoffverhalten zweckmäßigerweise untersucht werden muss. Die Frage der Größenabhängigkeit als wichtige Einflussgröße auf das mechanische Verhalten zieht die Notwendigkeit erheblicher Veränderungen der Untersuchungsmethodik gegenüber der klassischen Werkstoffprüfung nach sich. Die grundsätzliche Schwierigkeit bei der experimentellen Untersuchung des mechanischen Verhaltens besteht darin, dass dieses von einer großen Zahl äußerer und innerer Zustandsvariablen beeinflusst wird. Um die vielfältigen Phänomene des Deformations- und Schädigungsverhaltens qualitativ und quantitativ fassbar zu machen, ist es erforderlich, eine große Anzahl beschreibender Kennwerte bzw. Parameter experimentell zu ermitteln, damit die vielen Einzelreaktionen des Materials bei Veränderung der äußeren und inneren Zustandsvariablen möglichst exakt wiedergegeben werden können. Bei der Bestimmung von Materialparametern spielt vor allem der Bezug zu den durch werkstoffphysikalische Betrachtungen gefundenen halbquantitativen Beschreibungen eine wichtige Rolle. Diese physikalisch ausgerichteten Betrachtungen führen dazu, dass die Werkstoffparameter in der Regel nicht direkt aus den experimentellen Rohdaten, sondern über den Umweg der Modellierung der mechanischen Werkstoffreaktion bestimmt werden müssen. Die Aufgabe der Modellierung und somit auch die der Extraktion von Werkstoffparametern wird wesentlich erleichtert, wenn eine entsprechend einfache und
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1 Problematik
klare Gestaltung des Werkstoffexperiments vorgenommen wird. Hierzu zählen die Wahl einer einfach zu definierenden Belastung auf eine günstige Probekörperform (z. B. eine auf die Symmetrieachse einer Doppelschulterprobe aufgebrachte Zugbelastung), sodass ein einfach zu simulierender einachsiger Beanspruchungszustand im Material entsteht. Dadurch kann aus der probekörperabhängigen KraftLängenänderungs-Kurve durch eine einfache Reskalierung eine probekörperunabhängige, das Materialverhalten beschreibende Kurve erzeugt werden. Außerdem gestaltet sich durch die Wahl günstiger experimenteller Randbedingungen das Aufbringen einer definierten Beanspruchung auf die Probe (z. B. die Aufrechterhaltung einer konstanten Dehnungsrate während des Experiments) wesentlich einfacher. Das Bestreben nach einfach auszuwertenden Versuchen führte in der klassischen Werkstoffprüfung zu bestimmten Prinzipien beim Aufbau von Prüfmaschinen. Bei der Entwicklung einer experimentellen Versuchsmethodik für die Untersuchung stark miniaturisierter kleinvolumiger Proben besteht eine der wichtigen Fragen darin, ob an den bisher erarbeiteten Prinzipien zum Aufbau von Prüfmaschinen weiterhin festgehalten werden soll oder ob aufgrund der stark veränderten Problematik die Erarbeitung neuer Konzepte zweckmäßig ist. Dabei existiert eine große Bandbreite von Ansätzen, welche sich von der Adaption bisheriger Prüfanlagen für den Bereich kleinvolumiger Proben über die Fortführung bisheriger Konzepte in kleinen Dimensionen bis zu völlig neuen Konzepten beim Prüfmaschinenaufbau erstreckt. Für den Vergleich experimenteller Ergebnisse ist es daher sehr wichtig, die Möglichkeiten der einzelnen Konzepte, ihre Stärken und ihre Schwächen miteinander zu vergleichen. Dies setzt eine Diskussion der Eignung neuartiger Konzepte in Bezug auf die veränderten Ziele der experimentellen Untersuchungen voraus. Eine solche Diskussion muss dabei über die sehr einfache Argumentation über Auflösung und Genauigkeiten von Kraft- und Verschiebungsmessungen hinausgehen, da die Aussagekraft experimentell ermittelter Werkstoffdaten von sehr vielen Gegebenheiten des tatsächlichen experimentellen Aufbaus abhängt. Ohne diese sehr komplizierte Diskussion über die konzeptionelle Entwicklung experimenteller Versuchsaufbauten ist es jedoch sehr schwierig, die Grenzen bestimmter Untersuchungsmethoden und damit den Gültigkeitsbereich der experimentell ermittelten Werkstoffdaten genau abzustecken. Im Gegensatz zur klassischen Werkstoffprüfung mit ihren oftmals einfach zu handhabenden als auch zu vermessenden großvolumigen Prüfkörpern bestehen im Bereich der experimentellen Untersuchung kleinvolumiger Proben sehr oft konkrete technisch-konzeptionelle Grenzen für eine ausreichende Genauigkeit einer Messung. Die Analyse dieser Grenzen sowie die Ableitung eines konzeptionell veränderten Vorgehens zur Werkstoffuntersuchung sind daher sehr wichtige Voraussetzungen für die spätere Erarbeitung relevanter Werkstoffmodelle.
1.6 Ziel der Arbeit
17
1.6 Ziel der Arbeit Da die traditionelle Methodik der Zuverlässigkeitsabsicherung kaum noch den Anforderungen an den Entwurfszyklus elektronischer Baugruppen und Geräte gerecht werden kann, macht sich eine starke methodische Veränderung in der Zuverlässigkeitsanalyse erforderlich. Anstelle empirischer Beziehungen zur Lebensdauervorhersage und eines heuristischen Vorgehens bei der Absicherung der Zuverlässigkeitseigenschaften muss ein detailliertes Verständnis über die einen Ausfall verursachenden Mechanismen treten, welche eine theoretische Beschreibung des Schädigungsprozesses über wissenschaftlich begründete Modelle zulässt. Nur so lassen sich die an die an zukünftige Entwurfsprozesse gerichteten nicht miteinander einherlaufenden Ansprüche der Erzielung kürzerer Entwicklungszeiten und niedrigerer Kosten bei Beibehaltung befriedigender Zuverlässigkeitseigenschaften erreichen. Der vielversprechendste Ansatz besteht darin, genaue Berechnungs- und Bewertungsmethoden zu nutzen, wie sie in anderen Bereichen der Technik, z. B. dem Fahrzeugbau, der Luft- und Raumfahrttechnik oder dem Kraftwerksbau, schon lange eingesetzt werden. Durch Anwendung erprobter Simulationsverfahren, wie z. B. der Finite-Elemente-Methode, ergibt sich die Möglichkeit, die Beanspruchung an verschiedenen Stellen eines elektronischen Aufbaus während eines willkürlichen Belastungsprofiles verhältnismäßig genau errechnen zu können. In Verbindung mit geeigneten Bewertungsverfahren, z. B. bruchoder schädigungsmechanischen Konzepten, können aus diesen Berechnungen Aussagen über die Art und Größe einer lokal zu erwartenden Schädigung gewonnen werden. Um diesen Ansatz auf dem Gebiet der Aufbau- und Verbindungstechnik im Sinne hochpräziser Aussagen zur Schädigungsentwicklung tatsächlich verwirklichen zu können, ist neben der effektiven und zweckmäßigen Anwendung von Berechnungs- und Bewertungsmethoden auf die verschiedenen Problemfälle bei elektronischen Aufbauten vor allem auch eine genaue Kenntnis des mechanischen Verhaltens der in den elektronischen Aufbauten eingesetzten Werkstoffe notwendig. Ohne eine genaue Vorstellung über die z. T. vielschichtigen physikalischen Phänomene der Verformung und Schädigung der Werkstoffe kann auch der Erkenntnis- und Genauigkeitsgewinn, welcher sich durch die verfeinerten und sehr komplexen Beanspruchungsanalysen auf der Basis moderner Berechnungsmethoden, wie FEM-Simulationen, ergeben könnte, nicht genutzt werden, da die durch die Berechnungsmethodik grundsätzlich erzielbare hohe Genauigkeit immer durch die ungenauen Kenntnisse zum Werkstoffverhalten beschnitten würde. Diese Problematik wird in besonderer Weise dadurch verschärft, dass durch die besonderen geometrischen Verhältnisse der einzelnen Strukturen innerhalb elektronischer Aufbauten das Verformungs- und Schädigungsverhalten der Werkstoffe nicht mehr größenunabhängig betrachtet werden kann. Die Einbeziehung dieser größenabhängigen Phänomene des Verformungs- und Schädigungsverhalten ist in Bezug auf die Genauigkeit der Beanspruchungs- und Schädigungsanalysen, vor allem für den Bereich der metallischen Werkstoffe, von ausschlaggebender Bedeutung (vgl. 1.2).
18
1 Problematik
Durch das Vorhandensein des Größeneffekts gehen die mit der Beschreibung des Verformungs- und Schädigungsverhaltens von metallischen Werkstoffen verbundenen Ziele weit über Aufgaben einer klassischen Werkstoffdatenermittlung hinaus. Für die erfolgreiche Umsetzung einer neuen Methodik zur genauen Berechnung und Bewertung von Schädigungsprozessen ist daher eine umfangreichere Betrachtung des mechanischen Werkstoffverhaltens notwendig, welche sich nicht nur auf eine einfache Messung und Modellierung des mechanischen Verhaltens beschränkt, sondern darüber hinaus auch die Zusammenhänge zwischen diesem Verhalten und der Werkstoffstruktur hinterfragt und auch die Zusammenhänge zwischen den strukturellen Werkstoffeigenschaften und den spezifischen technologischen und topografischen Besonderheiten elektronischer Aufbauten aufdeckt. Aus dem dargestellten Bestreben eines umfassenden Verständnisses über die Verformung und Schädigung metallischer Strukturen in elektronischen Aufbauten als Vorausetzung wissenschaftlich begründeter Modelle und theoretischer Betrachtungen zur Verwirklichung neuartiger Methoden der Zuverlässigkeitsbewertung während des Entwicklungszyklus elektronischer Baugruppen und Geräte macht sich unter der aus materialwissenschaftlicher Sicht bedeutenden Problematik des Größeneffektes im mechanischen Verhalten metallischer Werkstoffe eine Klärung verschiedener Sachverhalte notwendig: • Welche Belastungen sind für elektronische Aufbauten typisch und wie kommen diese zustande? • Welche geometrischen Abmessungen besitzen metallische Strukturen in elektronischen Aufbauten? Werden sich diese Abmessungen in Zukunft verändern, sodass es zu einer deutlichen Verkleinerung kommt? • Wie wirkt sich der Herstellungsprozess und die geometrische Größe der metallischen Strukturen auf ihr Werkstoffgefüge aus? • Welche Zusammenhänge bestehen zwischen bestimmten mechanischen Eigenschaften und dem Gefüge metallischer Werkstoffe? • Wirkt sich Verformung und Schädigung auf das Werkstoffgefüge aus und hat diese Änderung des Gefüges wiederum eine Rückwirkung auf die Verformungs- und Schädigungseigenschaften eines metallischen Werkstoffs? • Wie lässt sich das mechanische Verhalten metallischer Werkstoffe allgemein erfassen? • Welche Besonderheiten bestehen, wenn das mechanische Verhalten in kleinvolumigen Strukturen erfasst werden soll? Die Klärung dieser verschiedenen Sachverhalte im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung soll über eine systematische Betrachtung erfolgen, welche sich aus Einzelbetrachtungen zum Untersuchungsgegenstand, zum Aufbau der Werkstoffe, zur Physik der Verformung, zur Phänomenologie der Verformung und Schädigung sowie zur experimentellen Untersuchung zusammensetzt.
2.1 Zusammenhang zwischen Gegenstand und Methodik der Untersuchung
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2 Untersuchungsgegenstand 2.1 Zusammenhang zwischen Gegenstand und Methodik der Untersuchung
Homologe Temperatur ( T/Ts )
Bei Beschäftigung mit der Schädigung und der Verformung von Werkstoffen besteht das Bemühen, alle dazu notwendigen Betrachtungen nur auf einen bestimmten Werkstoff oder eine Werkstoffklasse zu richten, ohne dabei Bezug auf ein konkretes technisches Artefakt zu nehmen. Eine solche Methode der Betrachtung geht davon aus, dass die der Verformung und Schädigung zugrunde liegende Physik für eine bestimmte Werkstoffklasse, z. B. Metalle, gleich ist und sich folglich die für ein bestimmtes technisches Problem erarbeiteten Untersuchungsmethoden und Bewertungsverfahren auf ein anderes technisches Problem übertragen lassen, sofern bei diesem Werkstoffe der gleichen Klasse, d. h. Werkstoffe mit vergleichbarem qualitativen Verhalten, eingesetzt werden. Bei der Übertragung der an verschiedenen Problemfällen des Fahrzeug-, Anlagen- und Maschinenbaus entwickelten Untersuchungsmethoden und Bewertungsverfahren der Materialprüfung auf scheinbar vergleichbare Problemfälle der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik zeigten sich die Grenzen einer vom konkreten technischen Artefakt unabhängigen Betrachtungsweise. Besonders deutlich wurde dies beim Versuch, das Kriechverhalten von eutektischem Zinn-Blei-
1,0
Titanlegierung
Nickelsuperlegierung
Stahllegierung
Pb95Sn5
Sn63Pb37 125 °C
0,8 1050 °C
0,6
125 °C 650 °C
650 °C
-55 °C
0,4 -55 °C
25 °C
0,2
25 °C
1600
1500
25 °C
1400
400
300
200
100
Schmelztemperatur ( °C )
Abb. 2.1 Vergleich der homologen Temperaturen verschiedener Konstruktionswerkstoffe im Maschinen- und Anlagenbau und in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik. Die auf den Schmelzpunkt des jeweiligen Materials bezogenen Einsatztemperaturen von konventionellen Lotwerkstoffen in elektronischen Aufbauten liegen höher als die von für den Anlagen- und Maschinenbau konzipierten Hochtemperaturlegierungen (adaptiert aus [34]).
20
2 Untersuchungsgegenstand
Lot zu beschreiben. Hierzu wurde eine große Anzahl experimenteller Charakterisierungen [35-48] durchgeführt, welche zu einem großen Spektrum von Ergebnissen und Auffassungen über das Kriechverhalten von eutektischem Zinn-Blei-Lot führten, die wiederum eine umfangreiche Diskussion über die Art und Weise der Charakterisierung und der Bewertung der Kriechdaten auslöste [49-52]. Zunächst konzentrierte sich die Diskussion auf einen Größeneffekt [54-55], später wurden jedoch auch andere Aspekte, wie die des Modellansatzes [56], der Belastungsprofile [57] und der Herstellungsbedingungen, einbezogen [44]. Obwohl die Frage nach dem Kriechverhalten des eutektischen Zinn-Blei-Lotes bis heute nicht abschließend beantwortet werden konnte, zeigen die bisher für diesen technischen Problemfall gewonnenen Erkenntnisse, dass eine vom konkreten technischen Artefakt entkoppelte Betrachtung des Schädigungs- und Verformungsverhaltens, zumindest in Bezug auf die mit der Aufbau- und Verbindungstechnik in Zusammenhang stehenden Problemfälle, nicht zu einer befriedigenden Beschreibung des Materialverhaltens führt. Um die sehr starken Unterschiede zwischen den in letzter Zeit in der Aufbauund Verbindungstechnik auftretenden und den oft zitierten klassischen Problemfällen, wie denen im Anlagenbau [33, 58, 59], deutlich zu machen, soll exemplarisch die thermomechanische Ermüdung eines Lotkontaktes in einer elektrischen Schaltung und einer Turbinenschaufel in einem Kraftwerk miteinander verglichen werden. Ein solcher Vergleich wird sehr oft vorgenommen [59], da in beiden Fällen zum einen eine Temperaturänderung die alleinige Ursache des Entstehens mechanischer Beanspruchungen im Werkstoff ist und zum anderen beide Werkstoffe, z. B. die Sn-Ag-Cu-Legierung des Lotkontaktes und der Cr-Mo-V Stahl der Turbinenschaufel, hohe Einsatztemperaturen haben, bei denen diffusionskontrollierte Verformungsmechanismen wie das Kriechen dominieren (Abb. 2.1). Der oftmals einzige betrachtete Unterschied zwischen beiden Problemfällen ist die Größe der kritischen Strukturen. Zwar ist dies eine wichtige Ursache für Veränderungen im Materialverhalten, bei einer näheren Betrachtung ist jedoch festzustellen, dass Lotkontakte trotz ihres geringen Volumens von V = ( 10 –7 …10 –13 )m 3 eine ausreichende Zahl von Körnern besitzen, um sie wie großvolumige polykristalline Strukturen betrachten zu können. Größere Unterschiede zwischen beiden Problemfällen ergeben sich, wenn die Funktion der kritischen Strukturen sowie Problemursachen in den unterschiedlichen Anwendungen miteinander verglichen werden. Die primäre Funktion der Turbinenschaufel ist mechanische Kraftübertragung. Die Temperaturwechsel, durch die die thermomechanische Ermüdung der Schaufel zustande kommt, werden prinzipbedingt beim Anfahren und Abschalten einer Dampfturbine in einem Kraftwerk hervorgerufen. Im Gegensatz dazu ist primäre Funktion eines Lotkontaktes keine mechanische, sondern die Herstellung eines elektrischen Kontakts. Die Ursache für die thermomechanische Ermüdung des Lotkontaktes liegt im kostengünstigen Aufbau der elektronischen Baugruppe und ist nicht prinzipieller Natur. Die Temperaturwechsel werden bis auf die wenigen Fälle starker Eigenerwärmung der Bauelemente in der Regel durch die Umwelt eingebracht, z. B. Elektronik im Motorraum eines Kfz, und haben mit dem Prinzip der
2.1 Zusammenhang zwischen Gegenstand und Methodik der Untersuchung
21
elektrischen Schaltung nichts zu tun. Für den Lotkontakt ergeben sich im Gegensatz zur Turbine sehr undefinierte Belastungsbedingungen, durch die der Ausfall hervorgerufen wird. Gleichzeitig muss die Lebensdauer der Strukturen anders bewertet werden. Während beim Lotkontakt ein nahezu komplettes Zerreißen des Kontaktes nicht zum Verlust der elektrischen Funktion führt (Abb. 2.2) und damit Risslängen von bis zu 95% der Bauteilabmessungen akzeptabel sind, muss eine Turbinenschaufel aufgrund der mit den hohen Beschleunigungen verbundenen Kräfte schon bei geringen Schädigungsgraden ausgetauscht werden. Ein Versagen der Struktur muss bei der Turbinenschaufel aufgrund der gewaltigen Folgeschäden unbedingt vermieden werden, ein Versagen eines Lotkontaktes ist hingegen unkritisch und führt nicht notwendigerweise auch zum elektrischen Ausfall, da sich auch zwischen zwei aufeinanderliegenden Bruchflächen ein ausreichender Strompfad ergeben kann.
a)
b)
Abb. 2.2 Zusammenhang zwischen elektrischem und mechanischem Ausfall. In [60] wurde die Zuverlässigkeit verschiedener bleifreier Lote untersucht. Dabei wurden sowohl elektrische Messungen zum Kontaktwiderstand als auch metallografische Querschliffe zur Bewertung der mechanischen Degradation der Lotkontakte angefertigt. Die dargestellten Querschliffe dokumentieren den Zustand von Lotverbindungen an Chipwiderständen (Typ 0805) auf FR4-Leiterplatten mit NiAu-Oberflächenmetallisierung, die einer Anzahl von 2000 Temperaturwechseln von -40 °C bis +125 °C ausgesetzt wurden. Während der mechanisch vollkommen geschädigte Lotkontakt in Bild a) gleichzeitig auch einen elektrischen Ausfall aufweist, wurde beim äquivalent mechanisch geschädigten Kontakt in Bild b) lediglich eine Erhöhung des Kontaktwiderstandes von ΔR = 164 mΩ festgestellt, was in der Regel nicht zu einer Einschränkung der elektrischen Funktion führt.
22
2 Untersuchungsgegenstand
Diese durch die konkrete Anwendung hervorgerufenen Unterschiede bei der Funktion der kritischen Strukturen sowie Ursachen ihres Ausfall erfordern neben des in 1.3 besprochenen Größeneffektes trotz einer sehr vergleichbaren Physik des Ausfalls ein angepasstes Vorgehen bei der Untersuchung und Bewertung relevanter Materialeigenschaften und schränken eine einfache Übertragung bekannter Untersuchungsmethoden auf qualitativ andere technische Problemfälle ein. Die Frage, wie ein eingesetzter Werkstoff untersucht werden muss und wie die Ergebnisse dieser Untersuchungen zu bewerten sind, wird bei einem sehr komplexen Werkstoffverhalten, wie dem Verformungsverhalten von Metallen bei hohen Temperaturen, nicht allein durch die elementaren Mechanismen der Verformung bestimmt, sondern auch durch Aspekte, die sich durch den konkreten technischen Problemfall ergeben. Aus diesem Grund ist es wichtig, den Untersuchungsgegenstand und die Ursachen für die dort entstehenden (thermisch-) mechanisch verursachten Ausfälle zu verstehen.
2.2 Wesen und Entwicklung des Untersuchungsgegenstandes 2.2.1 Begriff der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik Beim Begriff der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik gibt es Unterschiede in der Bezeichnung des Gebietes zwischen der deutschen Sprache und der für dieses Gebiet maßgeblichen englischen Sprache. Im Englischen wird es als „Electronics Packaging“ oder schlicht als „Packaging“ bezeichnet, ein Begriff, welcher im Deutschen zunächst keine sinnvolle Entsprechung hat. Der Begriff ist dem Substantiv „Package“ bzw. dem Verb „to pack“ entlehnt. Neben seiner Bedeutung, Dinge in einem schützenden Behälter unterzubringen, bedeutet „to pack“ auch gleichzeitig, Dinge auf engstem Raum zu komprimieren [61, 62]. Dementsprechend versteht man im Ingenieurwesen unter einem „Package“ eine Baugruppe oder einen Aufbau im Sinne einer kompakten geschlossenen Baueinheit [63]. Der englische Begriff des „Packaging“ bezieht sich also auf die Vorstellung über den zu erzeugenden Gegenstand. Der deutsche Begriff der „Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik“ ist abstrakter gefasst und weist Parallelen zu artgleichen Gebieten der Technik auf. Die Verbindungstechnik beschäftigt sich mit den Vorgängen beim Fügen, durch das Verbindungspartner miteinander gekoppelt werden [64]. Hierbei steht die Untersuchung und Optimierung verschiedener Fügeverfahren sowie die Bewertung ihrer Eignung für entsprechende Anwendungen im Vordergrund. Die dabei für elektronische Aufbauten verwendeten Verfahren unterscheiden sich nicht von denen anderer Technikdisziplinen. Der Begriff der Aufbautechnik verweist hingegen auf den konzeptionellen Inhalt des Gebietes. Hierbei steht die Systematik des Zusammenfügens der einzelnen Komponenten im Vordergrund, um so ein universelles Konzept zu entwickeln, das die spezifischen Anforderungen aller wichtigen Anwendungen erfüllen kann.
2.2 Wesen und Entwicklung des Untersuchungsgegenstandes
23
2.2.2 Inhalt der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik Elektronische Erzeugnisse haben in vielen Bereichen moderner Gesellschaften Einzug gehalten. Während sie in einigen entbehrlich scheinen, üben sie in anderen so elementare Funktionen aus, dass die Elektronik als vergleichsweise junges Teilgebiet der Technik sehr wesentlich den derzeitigen Grad der Zivilisation bestimmt. Beispiele für wichtige Bereiche, in denen Elektronik unentbehrlich ist, sind die Steuerung und Überwachung von Kraftwerken, großtechnischen Anlagen sowie modernen Fertigungsstätten, die Koordination von Verkehrsströmen sowie die Steuerung von Fahr- und Flugzeugen im Transportwesen, die Unterstützung ärztlichen Handelns in der Medizin sowie der Fernkommunikation zwischen Individuen. Um seine vielfältigen Aufgaben übernehmen zu können, musste Elektronik sehr anpassungsfähig sein, sich sehr kostengünstig und in hohen Stückzahlen herstellen lassen sowie sehr zuverlässig funktionieren. Diese drei Forderungen erscheinen besonders dann sehr schwierig erfüllbar zu sein, wenn die notwendige Komplexität der dazu notwendigen Schaltungen betrachtet wird. Ein durchschnittliches Rechenwerk, welches in vielen Steuerungen enthalten ist, besitzt allein mehr als eine Million Schaltelemente und stellt damit bereits an die Verdrahtung der Schaltung eine Aufgabe, die ohne eine fundierte wissenschaftliche Entwicklung geeigneter Methoden nicht zu bewältigen ist. Dabei darf nicht übersehen werden, dass jede Verbindung neben ihrer grundsätzlichen Funktion, einen Kontakt zwischen verschiedenen Funktionselementen der Schaltung herzustellen, auch bestimmte quantitative Leistungsmerkmale wie Übertragungseigenschaften, Signallaufzeiten, Stromtragfähigkeit, Wärmeabführung erfüllen muss. Da von den Prognosen für die Halbleiterentwicklung ausgehend sowohl die Anzahl der zu verdrahtenden Funktionselemente als auch die Anforderungen an die quantitativen Leistungsmerkmale steigen werden, ergibt sich für das Gebiet der Aufbau- und Verbindungstechnik die Notwendigkeit, neue Methoden für eine leistungsgerechte systematische Verdrahtung hochkomplexer elektronischer Schaltungen zu erforschen. Hinzu kommen Forschungsfelder, welche durch die mit der Leistungssteigerung verbundenen Koppeleffekte, z. B. Erzeugung großer Mengen an Verlustwärme, Entstehung mechanischer Beanspruchungen, bzw. durch die Erschließung und Erweiterung von Anwendungsfeldern, z. B. Schutz gegen Schlagbeanspruchungen bei Mobiltelefonen oder Vibrationsbeanspruchungen in Avionikanwendungen, hervorgerufen werden. Zur Bewältigung dieser Aufgaben unterteilt sich das Wissenschaftsgebiet der Aufbau- und Verbindungstechnik in eine Reihe spezialisierter Subdisziplinen, welche selbst zu unterschiedlichen anderen Wissenschaftsgebieten gehören. Zu den wichtigsten dieser Subdisziplinen gehören die angewandte Physik und Chemie zum Verständnis technologischer Prozesse und Abläufe, die Keramiktechnik zum Verständnis der Erzeugung und Prozessierung keramischer Träger, die Metallurgie zum Verständnis galvanischer Abscheidungen, des Lötens und des Schweißens, die Polymerchemie und -physik zum Verständnis der Anwendung und Verarbeitung polymerer Materialien für Träger und Verkapselungen, die Polygrafie zum
24
2 Untersuchungsgegenstand
Verständnis von Druck- und Transferverfahren, die Wärmetechnik zum Verständnis von Kühlstrukturen, die Elektrotechnik zum Verständnis des elektrischen Signal- und Energieflusses sowie unerwünschter Koppeleffekte, die Materialphysik zum Verständnis elektrischer, thermischer, optischer und mechanischer Charakteristiken verwendeter Werkstoffe. Eine große Zahl der Inhalte der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik werden durch Inhalte dieser Disziplinen bestimmt, wodurch sich dieses Gebiet sehr heterogen darstellt.
2.2.3 Entwicklung der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik Zu Beginn der Elektronikentwicklung wurden die Schaltungen zunächst aus einzelnen diskreten Bauelementen zusammengesetzt. Dabei erfolgte zuerst eine Befestigung dieser Bauelemente auf einem Chassis als erster Schritt. Danach wurden die elektrischen Verbindungen zwischen den Bauelementen über Drähte hergestellt, welche bei Überwindung längerer Entfernungen zu Kabelbäumen zusammengebunden wurden. Die Ablösung der Elektronenröhren durch Halbleitertransistoren hatte eine deutliche Verkleinerung der Energieaufnahme als auch des Gewichts und der Abmessungen der Bauelemente zur Folge. Dies ermöglichte ein neues Konzept der Bauelementemontage, bei der die mechanische Fixierung über die Anschlussbeine der Bauelemente erfolgen konnte. Durch die gleichzeitige Entwicklung der Leiterplatte entstand ein neues Verdrahtungskonzept, über das anfangs zunächst Elektronenröhren mit den sie umgebenden passiven Bauelementen montiert wurden [65]. Die großindustrielle Einführung der Leiterplatte fand Anfang der 50er Jahre statt und stellte für die industrielle Fertigung elektronischer Geräte eine technisch und ökonomisch effiziente Verdrahtungstechnik zu Verfügung. Die weiteren Stufen der Entwicklung waren die durchkontaktierte Zweiebenenleiterplatte (1953), die Mehrlagenleiterplatte (1961) und die Einführung eines volladditiven Verfahrens zur Erzeugung des Leiterbildes (1963) [66]. Gegenüber den bis zu diesem Zeitpunkt verwendeten Verdrahtungstechniken bot die Leiterplatte den Vorteil, eine konstruktive Einheit mit gut definierten elektrischen und geometrischen Verhältnissen darzustellen, welche zur Anwendung produktiver automatisierbarer Massenherstellungsverfahren bei der Bauelementebestückung und -kontaktierung geeignet war. Die Einführung der Mehrlagentechnik erlaubte eine erhebliche Steigerung der Verdrahtungsdichte, wie sie für die Montage hochintegrierter Halbleiterbauelemente notwendig ist. Gleichzeitig ergab sich aus ihrer Trägerfunktion eine definierte mechanische Stabilität aller Verbindungen, welche wiederum half, die Zuverlässigkeit der Verdrahtungstechnik zu erhöhen, wodurch die Funktionsfähigkeit immer komplexer werdender Schaltungen gewährleistet werden konnte [67]. Bis heute wird die Leiterplatte als Verdrahtungsträger für nahezu alle elektronischen Produkte eingesetzt [68], ohne dass sich das Grundprinzip ihres Aufbaus geändert hat. Die Innovationen, welche Leiterplatten den wachsenden Anforderungen im Bereich der Verdrahtungsdichte, neuen Anwendungen, wie z. B. Mikrowel-
2.2 Wesen und Entwicklung des Untersuchungsgegenstandes
a)
b)
c)
d)
e)
f)
25
Abb. 2.3 Vergleich der Aufbautechnik elektronischer Schaltungen verschiedener Technologiestufen: a) Fliegende Verdrahtung im Chassis eines Fernsehgerätes b) Durchstecktechnik mit diskreten Halbleiterbauelementen, c) Durchstecktechnik mit integriertem Schaltkreis, passiven Bauelementen, HF-Filtern d) Durchstecktechnik mit integrierten Schaltkreisen, e) Oberflächenmontagetechnik, f) HDI-Aufbauten in einem Mobiltelefon mit HF-Subsystemen
lenschaltungen, oder den veränderten Forderungen nach Umweltverträglichkeit gerecht machen sollen, betreffen das Basismaterial und die Schaffung kleinster Durchkontaktierungen (engl. Microvia). Für die zukünftige Entwicklung von Leiterplatten stehen die Einbettung von lichtoptischen Fasern [69] sowie passiven Komponenten [70] im Vordergrund. Am Anfang ihrer Entwicklung fand die Verdrahtung elektrischer Schaltungen ausschließlich auf der Leiterplatte statt. Dies änderte sich jedoch durch die Einführung der Siliziumplanartechnik. Ausgangspunkt für die Entwicklung der Siliziumplanartechnik zur Herstellung hochintegrierter Schaltkreise waren nach der Erfindung des Transistors (Ge-Bipolar-Transistor) [71-73] die Entwicklung eines Planarprozesses sowie die Ideen zur Realisierung integrierter Schaltkreise [74, 75] Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre. Zunächst wurde die Entwicklung der Halbleitertechnik durch das amerikanische Militär und die NASA vorangetrieben, sodass zunächst keine ökonomischen Aspekte, sondern die Zuverlässigkeit und Miniaturisierung im Vordergrund standen [76, 77]. Zivile Anwendungen, wie
26
2 Untersuchungsgegenstand
z. B. die Konstruktion des dritten transatlantischen Telefonkabels 1963, wurden nach wie vor in Röhrentechnik ausgeführt. Eine von wirtschaftlichen Gesichtspunkten getriebene Nutzung integrierter Halbleiterschaltkreise begann erst Mitte der sechziger Jahre und erreichte ihren Durchbruch Anfang der siebziger Jahre mit der Verwendung der MOS-Schaltungstechnik und der Erfindung des Mikroprozessors durch INTEL. Letztere erlaubte eine flexible Verwendung der zuvor in ihrer Funktionsvielfalt eingeschränkten festverdrahteten integrierten Schaltungen. Seit dieser Zeit ist die Herstellung integrierter Schaltkreise von einem exponentiellen Wachstum gekennzeichnet. Dieses betrifft sowohl technische Kennzahlen, wie z. B. die Kapazität von Speicherschaltkreisen (Vervierfachung aller drei Jahre) oder von minimalen Strukturabmessungen (Halbierung aller fünf Jahre), als auch wirtschaftliche Parameter, wie die Senkung der Kosten pro Bit und die Steigerung der Investitionskosten für neue Fertigungsstätten. Diese einzigartige Entwicklung der Halbleitertechnologie wurde maßgeblich durch die Wechselbeziehungen von spezifischen Technologieeigenschaften, hohen Investitions- und Technologiekosten sowie kurzen Produktlebenszyklen erreicht. Diese erzwingen den Vorrang der Weiterentwicklung der Produktionstechnik gegenüber grundlegenden Technologieveränderungen, da diese aufgrund der hohen Ausrüstungskosten ein zu großes wirtschaftliches Risiko darstellen. Hierdurch kristallisierten sich die Erhöhung des Integrationsgrades und die Verkleinerung von Strukturabmessungen als die wesentlichen Triebkräfte dieser Technologie heraus [76]. Die Entwicklung der Siliziumplanartechnik (Abb. 2.4) und der mit ihr erreichten Integrationsdichten hatte auch weitreichende Folgen auf die Art und Weise, wie die Verdrahtung elektronischer Schaltungen erfolgt. Bedingt durch die verschiedenen Fertigungstechniken für die Herstellung von integrierten Schaltkreisen und Leiterplatten, musste zur Erzielung hoher Integrationsdichten ein großer Teil der Verdrahtung auf die Chipoberfläche verlagert werden, da die Erzeugung einer derart feinen Verdrahtung nur mit den Fertigungsmethoden der Halbleitertechnik
SiN Al SiO2 TiW
n+
p-Wanne
n+
p+
n-Wanne
p+
LOCOS
p-Epitaxie p-Substrat
Abb. 2.4 Siliziumplanartechnik: Aufbau eines CMOS-Gatters (schematisch)
TiSi2 Poly-Si
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
27
möglich ist. Obwohl die kapazitiven Fähigkeiten der Verdrahtung auf dem Schaltkreis ausreichen würden, die Schaltungsverdrahtung vorzunehmen, muss für bestimmte Aufgaben eine Weiterverdrahtung auf einem Verdrahtungsträger, wie einer Leiterplatte, erfolgen. Zu diesen Aufgaben zählt z. B. die Einbindung passiver Bauelemente bzw. von Bauelementen mit großen Abmessungen (Elektrolytkondensatoren, Quarze, Stecker). Hierdurch ergibt sich eine Auffächerung der Verdrahtung auf mindestens zwei Ebenen - einer ersten (der Chipebene), welche einen hohen Integrationsgrad zulässt, und einer zweiten (der Verdrahtungsträgerebene), welche eine große Flexibilität bezüglich der Art der zu verdrahtenden Bauelementetypen ermöglicht.
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten 2.3.1 Grundkonzept und Aufbauhierarchie Der Aufbau elektronischer Schaltungen wird neben technologischen Aspekten durch Architekturkonzepte bestimmt. Während sich die Technologie mit der Art und Weise der Herstellung beschäftigt und vor allem Fragen des Zusammenwirkens der Prozesse und des Materialeinsatzes berührt, wird durch das Architekturkonzept der topologische Aufbau elektronischer Geräte bestimmt. Architekturkonzepte berühren daher Problemfelder, wie die Anschlusszahlentwicklung, die Erhöhung der Schaltfrequenzen, die Steigerung der Verlustleistung oder den Aufbau leichter, miniaturisierter, tragbarer Geräte. Für den Aufbau elektronischer Geräte gibt es eine große Anzahl verschiedener Architekturkonzepte. Um diese systematisch betrachten zu können, müssen die Konzepte nach bestimmten Gesichtspunkten unterschieden werden. Hierzu ist es hilfreich, zunächst die funktionellen Aspekte zu betrachten, die für verschiedene Konzepte ausschlaggebend sind. Obwohl eine Reihe von funktionellen Aufgaben, wie die Verteilung elektrischer Signale zwischen verschiedenen Schaltelementen, die Versorgung der Schaltung mit elektrischer Energie, die Abführung von Verlustleistung, der Schutz der Schaltelemente vor Feuchte, Chemikalien und mechanischen Belastungen, die Gewährleistung elektromagnetischer Verträglichkeit oder die Formgebung für nachfolgende Prozessschritte, die Architekturkonzepte bestimmen [78], liegt die grundlegende Aufgabe der Architektur in der zuverlässigen Verdrahtung aller in einer elektronischen Schaltung enthaltenen Funktionselemente. Wie in 2.2.3 bereits beschrieben, hat es sich als zweckmäßig herausgestellt, diese Verdrahtung auf zwei verschiedenen Ebenen durchzuführen - der Verdrahtung auf dem Schaltkreis, welche einen hohen Integrationsgrad erlaubt, und der Verdrahtung auf einem Verdrahtungsträger, welche eine hohe Flexibilität erlaubt (Abb. 2.5). Aufgrund dieser Verdrahtungsphilosophie ergibt sich der grundsätzliche strukturelle Zusammenhang durch Zuordnung verschiedener Elemente eines Architek-
28
2 Untersuchungsgegenstand
Wafer
einzeln gehäustes Halbleiterbauelement
Nacktchip
Multichip Modul
1. Verbindungsebene
stoffschlüssige Verbindungen
Chip (Ebene 0)
2. Verbindungsebene Baugruppe auf flexibler Polymerfolie
Baugruppe auf Leiterplatte
3. Verbindungsebene
Baugruppenträger zur Realisierung komplexer elektronischer Geräte
formschlüssige Verbindungen
Hybridbaugruppe auf Keramikträger
Abb. 2.5 Hierarchie elektronischer Aufbauten (schematisch)
turkonzeptes in hierarchisch geordnete Verbindungsniveaus [78-83]. Ausgangspunkt der hierarchischen Ordnung sind die Anschlussstellen der Verdrahtung auf dem Halbleiterchip. Da die auf dem Halbleiterchip befindlichen Strukturen funktionsbedingt sehr empfindlich gegen Umwelteinflüsse, wie z. B. Fremdionen, Strahlung oder Feuchte sind, werden sie in einem ersten Verbindungsniveau (engl. first level interconnect) zunächst auf das nächste Verbindungsniveau vorbereitet. Diese Vorbereitung umfasst die geometrische Adaption an die größeren Rastermaße des nächsten Verbindungsniveaus, den Schutz vor Umwelteinflüssen durch eine entsprechende Häusung und - falls notwendig - Maßnahmen zur Abführung von Verlustwärme sowie den Ausgleich von thermischen Fehldehnungen durch den geringen Ausdehnungskoeffizienten von Si. Nach dieser Vorbereitung liegen aktive Bauelemente als gehäuste Halbleiterbauelemente zur Weiterverarbeitung vor, sodass sie zusammen mit den passiven Bauelementen in einem zweiten Verbindungsniveau (engl. second level interconnect) auf einen Verdrahtungsträger montiert werden können. Eine Ausnahme bildet die Verarbeitung aktiver Bauelemente
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
29
mit Direktmontagetechniken, wie Flip-Chip oder Chip on Board. In diesem Fall entfällt das erste Verbindungsniveau und die aktiven Bauelemente werden gleich zusammen mit den passiven auf einen Verdrahtungsträger zu einer Baugruppe montiert. Diese Baugruppe kann nun direkt in ein fertiges Endgerät, z. B. einen Taschenrechner, ein Telefon oder eine Motorsteuerung, eingebaut werden oder sie wird, wie z. B. bei einem Computer oder einer Industriesteuerung, mit anderen Baugruppen auf einer Mutterplatine (engl. motherboard) oder Rückseitenplatine (engl. backplane) zu einem Gesamtsystem zusammengesetzt. In beiden Fällen kommt üblicherweise eine dritte Verbindungsebene (engl. third level interconnect) zum Einsatz. Im Falle des Endgerätes wird die Baugruppe über diese dritte Verbindungsebene, z. B. mit Ein- und Ausgabeeinheiten, einer Stromversorgung oder einer Geräteschnittstelle verbunden, wobei diese Verbindungen in einigen Fällen bereits über die zweite Verbindungsebene erfolgen. Im Fall großer komplexer Systeme dient die dritte Ebene der Verbindung verschiedener spezialisierter Baugruppen untereinander, was in der Regel einen modularisierten Geräteaufbau ermöglicht. Neuere Betrachtungen [78, 81] beenden die Verbindungshierarchie elektronischer Aufbauten inzwischen nach der dritten Ebene, ursprünglich wurde in insgesamt fünf Ebenen [82, 83] unterteilt. Wichtig für alle weiteren Betrachtungen sind jedoch nur die beiden unteren Ebenen, welche von allen gleich betrachtet werden. Aus technologischen Gründen werden in den beiden unteren Ebenen gewöhnlich stoffschlüssige Verbindungen benutzt, während in allen höheren Ebenen üblicherweise formschlüssige Verbindungen zum Einsatz kommen. Für die Betrachtung verschiedener Architekturkonzepte ist es zweckmäßig, sich zunächst auf die Darstellung einzelner Verbindungsniveaus zu konzentrieren. Während Architekturkonzepte sehr starken Veränderungen und Diversifizierungen unterzogen sind, ist zu beobachten, dass die Lösungen für einzelne Verbindungsniveaus vergleichsweise unveränderlich bleiben.
2.3.2 Erste Verbindungsebene
2.3.2.1 Entwicklung und Aufgaben der ersten Verbindungsebene Um die Entwicklung der verschiedenen Techniken zur Realisierung der ersten Verbindungsebene zu verstehen, müssen diese im Zusammenhang mit der Entwicklung integrierter Schaltkreise gesehen werden. Vor der industriellen Fertigung integrierter Schaltkreise Mitte der sechziger Jahre bestanden Halbleiterbauelemente aus diskreten Transistoren oder Dioden, welche in hermetischen Metallkappengehäusen einzeln gekapselt wurden. Für die Verbindung der Chipanschlüsse (Al-Flächen) mit den Gehäuseanschlüssen wurde zunächst ein Thermokompressionsschweißverfahren mit Au-Drähten eingesetzt, welches allerdings aufgrund seiner hohen Verfahrenstemperaturen (350°C-400°C) zur Bildung der schlecht haftenden und als Purpurpest bekannten AuAl2-Phase führte. Um die mit diesem
30
2 Untersuchungsgegenstand
Verfahren verbundenen Zuverlässigkeitsprobleme zu überwinden, wurden andere Verfahren, wie die Beam-Lead- und die Flip-Chip-Technik, entwickelt. Beiden Techniken war gemein, dass der Chip mit einer Passivierungsschicht vor Umwelteinflüssen geschützt wurde und somit keines hermetischen Einzelgehäuses mehr bedurfte, was eine direkte Verbindung verschiedener diskreter Halbleiterbauelemente untereinander ermöglichte, indem diese beispielsweise auf einen Dickschicht-Keramik-Träger montiert wurden. Mit der Fertigung der ersten integrierten Schaltkreise wurden diese auf einem äußeren Träger befindlichen Verbindungen durch Al- oder Au-Dünnschichtverdrahtungen auf der Passivierung des Siliziumchips ersetzt. Die erhebliche Steigerung der Integrationsdichte seit den siebziger Jahren führte zur Herausbildung einer Dünnschichtmehrebenenverdrahtung auf dem Siliziumchip, wie sie schematisch in Abb. 2.6 dargestellt ist. Diese Mehrebenenverdrahtung wird durch eine Passivierungsschicht abgeschlossen, welche Öffnungen zum Kontaktieren der Anschlussflächen aufweist. Zur elektrischen Verbindung dieser Anschlüsse werden zz. hauptsächlich drei Verfahren eingesetzt - die Drahtbondtechnik, die Flip-Chip-Technik und die Trägerfilmtechnik [84, 85]. Andere Verfahren tragen eher Nischencharakter. Die Realisierung der elektrischen Verbindung ist gleichzeitig mit der Forderung nach der Versiegelung der geöffneten Passivierungsfenster verbunden, da der integrierte Schaltkreis an diesen Stellen ungeschützt ist. Während beim Drahtbonden der
Anschlussfläche
Passivierung Dielektrika Globale Verbindung
Lage 6 5
Semi-globale Verbindung
4 3
Lokale Verbindung Kontakte Bauelemente
2 1
Halbleiterchip
Abb. 2.6 Schematische Darstellung einer Mehrebenenverdrahtung auf der Oberfläche eines integrierten Schaltkreises. Die Mehrebenenverdrahtung besteht aus übereinandergelagerten durch Isolationsschichten getrennten Verdrahtungsebenen, welche die Verbindung der einzelnen Schaltelemente auf der Halbleiteroberfläche übernehmen. Höher gelegene Verdrahtungsleitungen haben größere Abmaße als tiefer gelegene, damit sie eine höhere Stromtragfähigkeit aufweisen. Die Mehrebenenverdrahtung wird durch eine Schicht mit Anschlussflächen zur Weiterverdrahtung des Halbleiterbauelements in einer elektronischen Schaltung abgeschlossen.
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
31
Schutz durch eine anschließend aufgebrachte Vergussmasse bzw. einen hermetischen Gehäuseverschluss hergestellt wird, erfolgt die Versiegelung bei den anderen beiden Verfahren durch das Einbringen einer metallischen Barriereschicht in das geöffnete Passivierungsfenster, wodurch vorgelagerte Prozessschritte auf Scheibenniveau erforderlich sind. Neben der Schutzfunktion ist die Herstellung einer elektrischen Verbindung auch durch thermische und mechanische Aspekte begleitet. Diese betreffen das Abführen hoher lokaler Verlustwärmen als auch die mechanische Integrität während des Fügevorgangs und des Betriebes. Ursache mechanischer Schädigungen können zum einen durch den Fügeprozess eingebrachte Druckspannungen (z. B. beim Drahtbonden) sein, aber auch hohe Verfahrenstemperaturen, welche durch die unterschiedlichen Ausdehnungskoeffizienten verschiedener Schichtmaterialien zum Einfrieren hoher lokaler mechanischer Spannungen an der Verbindungsfläche des Chips führen.
2.3.2.2 Drahtbondtechnik Die Drahtbondtechnik ist ein reines Kontaktanschlussverfahren, welches voraussetzt, dass der Halbleiterchip -in der sogenannten Chipmontage- zuvor fest mit dem zu kontaktierenden Gehäuse oder Träger verbunden wurde. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass ein sehr feiner Draht dazu verwendet wird, die Anschlussfläche auf dem Chip mit einer Kontaktfläche eines Anschlusses des späteren Bauelementegehäuses bzw. eines Zwischenverdrahtungsträgers zu verbinden. Beide Verbindungen werden nacheinander erzeugt. Dadurch gewinnt die Drahtbondtechnik gegenüber den anderen Techniken erheblich an Flexibilität, da sie sich gut auf veränderliche Montagebedingungen einstellen kann. Obwohl die Drahtbondtechnik das heute dominierende Verfahren für die Realisierung der ersten Verbindungsebene ist, wies die Technik bei ihrer Einführung in den sechziger Jahren derart fundamentale Probleme auf, dass anderen Techniken, wie der Flip-Chip-, der BeamLead- und der Trägerfilmtechnik, zunächst größere Erfolgsaussichten zugeschrieben wurden. Zur Erzeugung einer Schweißverbindung zwischen der Al-Chipanschlussfläche und dem Au-Draht wurde zuerst eine Thermokompressionstechnik eingesetzt, welche durch Einbringung höherer Verfahrenstemperaturen die gegenüber einem reinen Pressschweißverfahren notwendigen Drücke senken sollte. Zu hohe Verfahrensdrücke führen zu zwei Problemen. Zum einen besteht das Risiko darin, im wenig risszähen Einkristallsilizium unterhalb der Anschlussfläche einen Muschelbruch zu erzeugen, zum anderen kann dies im sehr duktilen Au-Draht zu erheblichen festigkeitsmindernden Einschnürungen führen. Um letzteres Problem zu umgehen, wird der Druck über den Mantel einer Kapillare (Bondwerkzeug) auf einen mit dem Draht verbundenen Kugelkopf übertragen, wobei der Draht mittig aus dieser Kugel kommend durch die Kapillare geführt wird. Prozesstechnisch muss dazu der in einer Kapillare geführte Draht an seiner Spitze umgeschmolzen werden. Erst als dieser zuerst über eine Wasserstoffflamme realisierte Umschmelz-
32
2 Untersuchungsgegenstand
prozess durch die Verwendung eines Lichtbogens besser beherrscht wurde, gelang es, reproduzierbare Kugeldurchmesser herzustellen, welche Voraussetzung für die Erzielung eines reproduzierbaren Verbindungsdruckes sind. Das zweite Problem waren die hohen Verfahrenstemperaturen des Thermokompressionsprozesses sowie der nachfolgenden Gehäuseverschlussprozesse. Hierdurch wurden sowohl die Bildung der AuAl2-Phase sowie die Bildung von Kirkendalllöchern begünstigt, welche die Verbindungsfestigkeit stark verminderten. Erst durch die Einführung einer Ultraschallübertragung an das Bondwerkzeug und damit dem Einbringen von senkrecht zur Kompressionsrichtung wirkenden mechanischen Schwingungsenergien konnten die Verfahrenstemperaturen erheblich gesenkt werden, sodass sich die Drahtbondtechnik seit Anfang der siebziger Jahre zu einer zuverlässigen Verbindungstechnik mit hohen Prozessausbeuten entwickelte [86]. Der Einsatz von Ultraschallenergie führte zu zwei Verfahrensvarianten, dem sogenannten Ultrasonic-Verfahren (Abb. 2.7), hinter dem sich ein ultraschallunterstütztes Thermokompressionsverfahren verbirgt, und dem Ultraschallbonden (Abb. 2.8), bei dem ein Keilbondwerkzeug anstelle der Bondkapillare (vgl. Abb. 2.9) verwendet wird und das ohne thermische Unterstützung auskommt. Als Drahtmaterialien kommen zz. Gold-, Kupfer- und Aluminiumdrähte zum Einsatz, welche zur Eigenschaftsverbesserung auch mit Fremdstoffen dotiert sein können. Drahtdurchmesser liegen im Bereich von 17μm ... 75μm für normale Anschlusskontaktierung bzw. 100μm ... 625μm für Hochstromanschlüsse. Das Thermosonic-Bonden wird üblicherweise mit Au- oder Cu-Drähten durchgeführt, während für das Ultraschallboden in der Regel Aluminiumdrähte verwendet werden. Grund für diese Materialabhängigkeit der Bondverfahren ist die Tatsache, dass Aluminium auf seiner Oberfläche ein dünnes, stabiles und sehr hartes
1
2
Au-Draht Drahtzange Bondkapillare
Elektrode Chip
Leitbahn Substrat
3
4
Abb. 2.7 Drahtbondtechnik: Verfahrensablauf beim Thermosonic Ball/Wedge-Bonden
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
1
2
33
Drahtzange Bondkeil
Chip
Al-Draht
Leitbahn Substrat
3
4
Abb. 2.8 Drahtbondtechnik: Verfahrensablauf beim Ultraschall Wedge/Wedge-Bonden (unten)
Oxid bildet, welches eine zwingende Voraussetzung für den sehr komplizierten Verbindungsvorgang beim Ultraschallschweißen zu sein scheint. Es wird dabei davon ausgegangen [87], dass es im Randbereich des während des Bondvorgangs stark deformierten Aluminiumdrahtes zu einer Schwingungsfortpflanzung kommt, da die eingebrachte vertikale Kraft zum Rand hin stark abnimmt. Durch diese im Randbereich auftretenden Schwingungen kommt es zu einer vollständigen Reinigung der Kontaktfläche von Oxiden und Adsorbaten, in deren Folge sich oxid- und adsorbatfreie Metallflächen gegenüberliegen. Durch die horizontal wirkende Kraft nähern sich beide gleichzeitig soweit an, dass es zum Verschweißen einer ringförmigen Randfläche des Wedgebondes kommt. Bei Gold und Kupferdrähten, welche kein stabiles und hartes Oxid auf ihrer Oberfläche ausbilden, wird durch kombinierten Ultraschall und Temperatureintrag ein Verschweißen erreicht. Um dennoch solche Drähte für den Ultraschallprozess nutzbar zu machen, besteht die Möglichkeit, diese mit einem nm-dicken Aluminiummantel zu beschichten [88]. Für die Verbindungsbildung beim Thermosonic-Bonden wird davon ausgegangen, dass es durch die plastische Verformung während des Andrückens des Drahtes auf dessen Oberfläche zur Ausbildung von Gleitstufen kommt, welche bei Einleitung einer horizontalen Ultraschallschwingung zur partiellen Aufbrechung der Oberflächenoxid- und Adsorbatschichten führt, sodass thermisch aktivierte Interdiffusionsvorgänge zur Verbindungsbildung führen. Infolge dieser sehr unterschiedlichen thermisch-mechanischen Belastungen kommt es zu spezifischen Gefügeänderungen im Draht (vgl. Abb. 2.10). Im zz. üblichen Verfahrensablauf wird der zentrisch in einer Kapillare geführte Draht beim Thermosonic-Bonden zuerst durch einen Lichtbogen aufgeschmolzen, sodass am Drahtende eine Kugel mit dem 1,5-2,5 fachen Drahtdurchmesser entsteht. Diese Kugel wird dann durch einen kombinierten thermisch-mechanischen
34
2 Untersuchungsgegenstand
a)
b)
c)
d)
e)
f)
Abb. 2.9 Drahtbondtechnik: a) Kapillarwerkzeug und Substrathalter für Thermokompressionsbonden; b) Querschliff durch eine Ball-Bondverbindung, c) Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme der Topografie einer Ball-Bondverbindung, d) eines Ball-Wedge-Loopes, e) einer Wedge-Bondverbindung eines Ball-Wedge-Drahtbonds, f) einer Wedge-Bondverbindung eines Wedge-Wedge-Drahtbonds
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
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Verformungstextur durch Drahtformung
Rekristallisation während des Kugelanschmelzens Verformungstextur durch Ballbonden
Verformungstextur durch Wedgebonden stark gestörtes Gebiet am Heel
Abb. 2.10 Drahtbondverbindungen, Verbindungszonen, Drahtgefüge, Verformung und Bruch am sogenannten „Heel“ eines Wedge-Kontaktes (adaptiert aus [86])
Energieeintrag mit dem Anschlusspad der Halbleiterchips verschweißt (Ballbond). Danach wird der Draht nach außen gezogen und mit der Anschlussfläche des Bauelementekontakts oder der eines Verdrahtungsträgers verschweißt (Wedgebond). Danach wird der Draht abgerissen (Abb. 2.7). Neuste Verfahrensoptimierungen lassen offensichtlich auch ein Thermosonic-Ball/Wedge-Bonden ohne zusätzlichen Temperatureintrag zu [89]. Beim Ultraschallbonden wird ein Werkzeug verwendet, welches der Draht in einem Winkel von 30°-60° zur Fußfläche durchläuft. Wie beim Thermosonic-Verfahren wird zuerst der Anschlusskontakt am Chip und danach der Kontakt am Bauelementeanschluss erzeugt (Abb. 2.7). Aufgrund der schiefwinkligen Drahtführung lässt sich der Draht beim Ultraschallschweißen im Gegensatz zum ThermosonicVerfahren nur in einer Richtung wegziehen, wodurch es notwendig wird, den Chip mehrfach zu drehen, um alle vier Anschlussseiten zu kontaktieren. Die Vorteile des langsameren, d. h. unproduktiveren und damit wesentlich weniger verbreiteten, Ultraschallbondens liegen in der sehr stabilen Kontaktierung bei Raumtemperatur. Besonders bei Verwendung verschiedener Verbindungstechniken auf einem Träger, wie z. B. der Kontaktierung von Halbleiterchips auf einer Dickschichthybridschaltung, hat dies erhebliche Vorteile.
2.3.2.3 Flip-Chip-Technik Anders als beim Drahtbonden erfolgt bei der Flip-Chip-Technik keine Chipmontage vor der Anschlusskontaktierung. Stattdessen wird das Halbleiterbauelement mit der aktiven Seite gegen den Verdrahtungsträger gedreht (daher die Bezeichnung "Flip") und über Bumps - welche sich auf mindestens einem der beiden Fügepartner befinden - mit diesem verbunden. Über diese Anschlusskontaktie-
36
2 Untersuchungsgegenstand
rung erfolgt auch eine räumliche Fixierung des Halbleiterbauelementes, sodass der Schritt Chipmontage entfällt. Neben dem Fügeprozess besteht ein sehr wesentlicher Unterschied zum Drahtbonden auch in der Notwendigkeit, die Anschlüsse des Halbleiterchips vor dem eigentlichen Fügeprozess als lötfähige Flächen, sogenannte Bumps (Lothügel), zu gestalten. Da die Drahtbondtechnik das für die erste Verbindungsebene derzeit dominierende Verfahren ist, ist das Anschlussflächenlayout für Halbleiterbauelemente jedoch oft auf einen Drahtbondprozess ausgerichtet. Um ein Halbleiterbauelement Flip-Chip-fähig zu machen, reicht es jedoch nicht, auf die vorhandenen Anschlussflächen Bumps aufzubringen. Klassische Drahtbondlayouts können für den späteren Flip-Chip-Montageprozess eine Reihe erheblicher Nachteile mit sich bringen. Aus diesem Grund wird in einigen Fällen auf dem schon vorhandenen Drahtbondlayout eine weitere Umverdrahtung (z.B. mit BCB) aufgebracht, um das Halbleiterbauelement Flip-Chip-fähig zu gestalten. Ein gutes laterales Flip-ChipLayout ist dadurch gekennzeichnet, dass es eine regelmäßige Anordnung der Anschlussflächen über der Chipfläche gibt, da unregelmäßige Anordnungen zu ungleichmäßigen Druckbildern bzw. Potenzialverteilungen bei galvanischer Abscheidung führen. Bei der Gestaltung der Öffnungen müssen ausreichende Zwischenabstände gewährleistet sein, um entweder ein Überdrucken der Anschlussflächen oder ein galvanisches Anwachsen von Pilzstrukturen beim Waferbumping zu ermöglichen. Aufgrund dieser Besonderheiten beim Layout weist die Verbindungsanordnung eines Flip-Chip-montierten Halbleiterbauelements keine beliebig eng nebeneinanderstehenden Kontakte auf. In der Regel ist das Verhältnis von Zwischenraum und Kontaktdicke in etwa gleich. Andere geometrische Einschränkungen ergeben sich durch die verwendbaren Leitbahndicken sowie durch die Gestaltung des Lotstoplackes auf organischen Verdrahtungsträgern. Leitbahndicken müssen erheblich kleiner sein als die Höhe der Lotbumps, da sich ansonsten ein zu geringer Lotspalt ergibt. Für die Gestaltung der Lotstopmaske zur Definition der Landeplätze von Flip-Chip-Bauelementen hat sich auf organischen Verdrahtungsträgern ein sogenanntes Steglayout bewährt. Dadurch bekommt das Unterfüllungsmaterial mehr Platz zum Fließen und erhält eine gute Kopplung zum Basismaterial. Die Summe der verschiedenen geometrischen Einschränkungen führt zu der in Abb. 2.11 dargestellten Topologie von Flip-Chip-Verbindungen. Gegenüber der Drahtbondtechnik weist die Flip-Chip-Technik wesentliche technische Vorteile auf, welche ihr für die zukünftige Entwicklung elektronischer Aufbauten einen Vorzug einräumen. Zu diesen Vorteilen zählen die Möglichkeit, höhere Anschlusszahlen realisieren zu können (wie es für den Prozessorbereich bereits notwendig ist), ihre besseren elektrischen Eigenschaften zur Erzielung guter HF-Eigenschaften und niedrigere erreichbare Bauhöhen sowie geringere laterale Abmessungen, was vor allem bei kleinen tragbaren Geräten, aber auch bei Speicherriegeln und Smart-Cards von Bedeutung ist. Anders als aus den derzeit die technologische Ausrichtung bestimmenden Vorzügen ersichtlich, waren die Gründe, die zur Entwicklung der Flip-Chip-Technik führten, zunächst andere. Die erste großtechnische Anwendung der Flip-Chip-
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
Chip
37
Raster DO
Spalt Lotstop Leitbahn
RM
HSpalt
Lotkontakt
HLotstop HLeitbahn
Substrat
Abb. 2.11 Flip-Chip-Verbindungen mit den entsprechenden geometrischen Bezügen
Technik begann im Jahr 1964. Damals wurden Logikbausteine für den IBM System/360 gefertigt. Dafür wurden Halbleiterbauelemente in Flip-Chip-Technik auf Al2O3-Keramik gefügt. Zu diesem Zeitpunkt erwies sich die eingeführte FlipChip-Technik als wesentlich zuverlässiger als die damals bestehende manuelle Drahtbondtechnik, welche vor allem mit Problemen wie Whiskerbildung und Purpurpest zu kämpfen hatte. Auch unter ökonomischen Aspekten hatte die Flip-ChipTechnik keinen Nachteil gegenüber der Drahtbondtechnik, da der Lotbump aufgrund seiner rein vakuumtechnischen Herstellung ein integraler Bestandteil der hermetischen Versiegelung der Waferoberfläche durch die Glaspassivierung war (vgl. Abb. 2.12). Die meisten über Drahtbondtechnik montierten Halbleiterbauelemente hatten demgegenüber sehr aufwendige hermetische Metallkappengehäuse mit Glasdurchführungen. Zu dieser Zeit wurden selbst diskrete Transistoren und Dioden auf keramischen Hybridträgern in Flip-Chip-Technik montiert, da hierdurch Überschläge und Kurzschlüsse zwischen den ungeschützten Chipkanten und freiliegenden Dickfilmanschlussflächen vermieden werden konnten. Mit den Fortschritten in der Drahtbondtechnik und der Einführung kostengünstiger nichthermetischer organischer Gehäuse für Halbleiterbauelemente trat die Flip-Chip-Technik immer weiter in den Hintergrund. Anwendung fand sie vor allem in Nischenprodukten, wie den TC-Modulen (Thermal Conduction Module) von IBM, welche für die Realisierung leistungsstarker Prozessoren über eine Multichiptechnik verwendet wurden. Ihre Renaissance erlebte die Flip-Chip-Technik Anfang der 90er Jahre. Hierfür waren zwei Schlüsselentwicklungen ausschlaggebend - kostengünstige Prozesse zur Bumperzeugung und die Einführung des Unterfüllungsprozesses. Nasschemische Prozesse oder gar Siebdruck wurden für die Fertigung von Wafern lange Zeit nicht in Betracht gezogen, da der grundsätzliche Einwand bestand, dass diese Prozesse zu viele Verschmutzungen auf die Waferoberfläche bringen würden, welche
38
2 Untersuchungsgegenstand
Cu
Sn Pb Glas Al-Si
Ni (stromlos 1,25µm) Au (stromlos 0,25µm)
Kurzschluss Si Lot
Au (0,1µm) Cu (0,5µm) Cr+Cu Cr (0,15µm)
Problem: Kurzschluss an der Chipkante
Cu
Lot
Lösung A: Stand-Off durch Kupferkugel
Pb-Sn-Lot
Cu
Ni Ni-Sn (intermetallisch) Cu-Sn (intermetallisch) Cr+Cu Cr
Glas Al-Si
Lot
Glas
Lot
Lösung B: kontrolliertes Kollabieren des Lot-Bumps
Abb. 2.12 Verschiedene Bumpingtechniken der Flip-Chip-Entwicklung (adaptiert aus [85])
langfristig zu Kennliniendegradationen der Bauelemente führten. Die Entwicklung leistungsfähiger Passivierungen und Barrieren ermöglichte später jedoch die Einführung dieser Prozesse in die Waferbearbeitung. Die beiden wichtigsten Prozesse zur Herstellung von Lotbumps sind die chemische Abscheidung einer NiAu-Unterbumpmetallisierung mit anschließendem Lotpastendruck und die galvanische Abscheidung einer Cu/Ni-Unterbumpmetallisierung mit galvanischer Lotabscheidung. Beide Prozesse führen zu einem unterschiedlichen Aufbau einer Flip-ChipVerbindung, welche in Abb. 2.13 dargestellt ist. Die stark unterschiedlichen thermischen Ausdehnungskoeffizienten zwischen Silizium und organischen Trägermaterialien verhinderten lange Zeit aus thermo-
AlSi1 Oxid Si
Lot
Lot
Cu 7µm Passivierung WTi 50nm Passivierung Oxid
AlSi1
Ni
Si
a)
b)
Abb. 2.13 Vergleich: Aufbau galvanisch abgeschiedener Flip-Chip-Bumps auf a) Cu-UBM und b) gedruckter FC-Bumps auf Ni-Au UBM
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
a)
39
b)
Abb. 2.14 Reduzierung der thermisch-mechnisch bedingten Scherung von Flip-Chip-Kontakten durch den Einsatz eines Unterfüllungsmaterials (engl. Underfill): a) Flip-Chip-Aufbau ohne Unterfüllungsmaterial, b) Flip-Chip-Aufbau mit Unterfüllungsmaterial
mechanischen Gründen eine Anwendung auf diesen kostengünstigen Trägern. Damit blieb der Flip-Chip-Technik nur der kostenintensivere Bereich der keramischen Träger vorbehalten [90]. Erst durch die Einführung eines Unterfüllungsprozesses (engl. Underfilling) gelang es Ende der 80er Jahre, der Flip-Chip-Technik eine mit anderen Verbindungstechniken vergleichbare Zuverlässigkeit zu verleihen. Der Unterfüllungsprozess erfolgt, nachdem der Siliziumchip mit der aktiven Seite gegen das Substrat gebondet wurde. Hierbei wird unter Nutzung von Kapillarkräften ein Polymermaterial in den dünnen Spalt (h = 30 ... 100 μm) zwischen Chip und Substrat eingebracht, welches am Ende dieses Prozessschrittes die gesamte Fläche unter dem montierten Chip ausfüllt - daher auch der Name "Unterfüllungsprozess". Die Absicht des Unterfüllens von Flip-Chip-Verbunden besteht in der Schaffung einer ganzflächigen Klebeverbindung zwischen Chip und Substrat. Dadurch werden Chip und Substrat zu einem Bimaterialverbund vereint. Der Vorzug dieses gegenüber dem nicht unterfüllten Flip-Chip-Verbund sehr steifen Bimaterialverbundes bei Temperaturwechseln ist in Abb. 2.14 dargestellt. Anstelle der nahezu freien, entkoppelten thermischen Dehnung von Chip und Substrat beim nicht unterfüllten FC-Verbund, welcher eine große Scherung im FC-Kontakt erzeugt, kommt es bei Temperaturveränderungen zu einer Verwölbung des unterfüllten FC-Verbundes. Durch diese Verwölbung wird die Scherung in den FC-Kontakten erheblich reduziert und damit die Zuverlässigkeit des gesamten Aufbaus gesteigert.
2.3.2.4 Trägerfilmtechnik Für die Trägerfilmtechnik existieren verschiedene Namen. Am weitesten verbreitet ist TAB, welches vom französischen „Transfert Automatique sur Bande“ abgeleitet ist. In Japan wird auch der Begriff Tape-Carrier-Package (TCP) verwendet. Die Grundidee der Trägerfilmtechnik ist es, zur Kontaktierung der Anschlüsse auf dem Halbleiterbauelement ein Folienmaterial zu verwenden, auf dem sich, ähnlich wie auf einer flexiblen Leiterplatte, strukturierte Leitbahnen befinden. Diese Leitbahnen liegen in einem ausgesparten Innenbereich sowie im Außenbereich
40
2 Untersuchungsgegenstand
frei, sodass diese mit dem Halbleiterchip sowie mit einem Verdrahtungsträger verbunden werden können. Zur Verbindung auf dem Halbleiterchip sind auf diesem die Anschlusskontakte über metallische Festdepots (Au, Cu) deutlich über der Passivierungsoberfläche erhaben. Auf der Oberfläche der metallischen Festdepots kann eine lötbare Schicht aus einer Sn-Legierung vorhanden sein. Die Kontaktierung erfolgt in der Regel simultan durch Feinschweißen oder Löten. Nach der Kontaktierung der Halbleiterchips, welche in einem Rolle-zu-Rolle-Verfahren durchgeführt wird, erfolgt die Herstellung der Außenverbindungen. Dazu wird der Einzelträger aus der Trägerfolie ausgeschnitten und es werden gegebenenfalls die äußeren Anschlussbahnen abgewinkelt. Die Außenkontakte der Leitbahnen können über Löten oder Feinschweißen auf dem Verdrahtungsträger aufgebracht werden (Abb. 2.15). Die Entwicklung der Trägerfilmtechnik kam - wie die der Flip-Chip-Technik aufgrund der vielfältigen Probleme, welche mit der frühen Drahtbondtechnik verbunden waren, zustande. Ziel war es, ein hochgradig automatisierbares Rolle-zuRolle-Simultanbondverfahren zu entwickeln, welches aufgrund seiner Mechanisierung bei in hohen Stückzahlen hergestellten Halbleiterbauelementen geringer Anschlusszahlen zu geringeren Kosten als Drahtbonden führen würde [91]. Dieses Ziel wurde durch die Trägerfilmtechnik bis etwa Ende der achtziger Jahre erreicht, bis sich auch für die Montage einfacher TTL-Schaltkreise Drahtbonden als die kostengünstigere Technik herausstellte. Der Trägerfilmtechnik kam zunächst große Bedeutung bei der Realisierung von Workstations und Supercomputern zu, da sich auf dem Folienmaterial sehr enge Rastermaße realisieren ließen [92]. Allerdings
einlagiger Trägerstreifen
Anschlussbeinchen
Bump
Kunststoffrahmen Außenkontakt
Chip
zweilagiger Trägerstreifen
Innenkontakt Anschlussbeinchen Bump Kunststoffrahmen Anschlussbeinchen
Bump
Chip
Chip
b)
zweilagiger Trägerstreifen Klebstoffschicht Kunststoffrahmen
Bump
Anschlussbeinchen
Chip
a) Abb. 2.15 Trägerfilmtechnik (schematisch): a) unterschiedliche Ausführung des Trägerstreifens, b) vierseitige Kontaktierung des Halbleiterchips
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
41
war die Anwendung der Technik auf Anschlusszahlen von weniger als 1000 Anschlüsse beschränkt [93]. Auch bei der Einführung flächenkontaktierbarer Bauelemente, wie BGA und CSP, kam die Trägerfilmtechnik zur Realisierung der ersten Verbindungsebene sehr stark zum Einsatz [94]. Allerdings weist die FlipChip-Technik auf lange Sicht in diesen Anwendungen die besseren elektrischen Eigenschaften sowie die Realisierung höchster Anschlusszahlen auf. Ihre Vorteile wird die Trägerfilmtechnik überall dort behalten, wo ohnehin flexible Leiterplatten als Verdrahtungsträger zum Einsatz kommen, wie z. B. bei Uhren, Druckköpfen, Taschenrechnern, Kameras, Hörgeräten, Smart-Cards usw.usf.
2.3.3 Zweite Verbindungsebene
2.3.3.1 Entwicklung und Aufgaben der zweiten Verbindungsebene Die zweite Verbindungsebene war bezüglich ihres Aussehens und der durch sie zu übernehmenden Funktionen verschiedenen Wandlungen unterzogen. Bis in die sechziger Jahre hinein wurden Schaltelemente über Röhren und Relais realisiert, welche zunächst durch Drähte untereinander verbunden wurden. Diese Verdrahtung wurde in verschiedenen Varianten, z. B. als Mattenverdrahtung, geschriebene Blankverdrahtung oder Wirewrapverdrahtung, ausgeführt und in einem Gestell (bzw. Rahmen) aufgebaut, durch das die geometrische Anordnung und mechanische Befestigung von Bauelementen und Drähten erfolgte [93]. Durch die Einführung der Leiterplatte Anfang der fünfziger Jahre wurde dann eine Verdrahtungstechnik realisiert, welche die mechanische Befestigung und geometrische Anordnung der Bauelemente sowie die Herstellung der elektrischen Verbindungen zwischen ihnen in einer konstruktiven Einheit verband. Sie ermöglichte die Herstellung von Schaltungsverdrahtungen mit reproduzierbaren Eigenschaften und schuf die Grundlage für eine wirtschaftliche automatisierte Fertigung [67, 93]. Zur Bauelementemontage wurde eine Durchstecktechnik verwendet, welche den Vorteil einer Lagesicherung des Bauelementes vor dem Anlöten hatte. Dazu waren Löcher in die Leiterplatte eingebracht, welche später metallisiert wurden, um Durchkontaktierungen in Zwei- und Mehrebenenleiterplatten zu realisieren. Durch Mehrebenenleiterplatten konnten komplexere Verdrahtungen ermöglicht werden, um den mit der Einführung integrierter Schaltkreise gestiegenen Anforderungen nach höheren Packungsdichten gerecht zu werden. Die in den siebziger Jahren einsetzende zunehmende Verwendung integrierter Schaltkreise führte zur Verdrängung schwerer, voluminöser Bauelemente, z. B. Relais, aus der Schaltungstechnik. Bedingt durch die gleichzeitige Notwendigkeit, immer höhere Packungsdichten auf einem Verdrahtungsträger zu erreichen, wurde die bisherige Durchstecktechnik in den achtziger Jahren durch eine Oberflächenmontage- bzw. Aufsetztechnik (engl. Surface Mount Technology = SMT) ersetzt. Die Funktion der mechanischen Fixierung der Bauelemente wurde nun vollständig durch den Lotkontakt übernommen.
42
2 Untersuchungsgegenstand
a)
b)
c)
d)
Abb. 2.16 Evolution der zweiten Verbindungsebene:a) Durchstecktechnik (THT) auf einseitig metallisierten Verdrahtungsträgern, b) Durchstecktechnik auf Mehrlagenverdrahtungsträgern (Multilayer), c) Oberflächenmontagetechnik (SMT) auf Mehrlagenverdrahtungsträgern, d) flächenhafte Anschlussmontage (Area Array) auf hochdichten Mehrlagenverdrahtungsträgern (HDI)
Dies setzte nicht nur leichte Bauelemente voraus, sondern auch eine entsprechende Gestaltung ihrer Anschlussflächen. Diese mussten - vor allem bei mehrpoligen Bauelementen - über eine ausreichende Planarität und Kontaktfläche verfügen. Die Größe der Kontaktfläche war aus zwei Gründen entscheidend. Zum einen sorgte sie für eine ausreichende Haltekraft für das Bauelement nach dem Löten, zum anderen erhöhten größere Flächen die Benetzungskraft während des Lötvorganges, wodurch es zu einer nachträglichen Ausrichtung lageabweichend aufgesetzter Bauelemente während des Lötvorgangs kommt. Vor allem bei der Bewältigung sehr enger Anschlussraster hatte dies sehr positive Auswirkungen bezüglich der Aufsetzgenauigkeit von Bestückautomaten. Die vollständige Automatisierung der Bestückung war ein weiterer wichtiger Aspekt, welcher mit der Herausbildung der Oberflächenmontagetechnik einherging. Die automatische Bestückung war zwar mit der Durchstecktechnik möglich, allerdings war der Prozessablauf komplizierter und weniger produktiv. Die weitere technische Entwicklung der integrierten Schaltkreise führte zu einer Erhöhung der Anschlusszahlen und Schaltfrequenzen, welche durch die bisherigen Konzepte für Bauelementeformen nicht mehr zu bewältigen waren. Aus diesem Grund kam es Ende der achtziger und Anfang der neunziger zu zwei wichtigen Entwicklungen bei den Bauelementeformen - den Multichipmodulen (engl. Multi-
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
43
Drahtbondverbindung Leistungshalbleiter Lotverbindung Kupfer (DBC) Keramiksubstrat (DBC) Kupfer (DBC) Klebstoffverbindung
Kühlkörper
Abb. 2.17 Realisierung der zweiten Verbindungsebene durch keramische Verdrahtungsträger zur Fertigung von Baugruppen für höhere Betriebstemperaturen: Leistungshalbleiter auf DBCSubstrat (direct bonded copper), welches auf einen Kühlkörper montiert ist
chip Module = MCM) und den flächenkontaktierbaren Bauelementen (engl. Area Array Components). Die Idee der Multichipmodule besteht darin, einen Zwischenverdrahtungsträger einzusetzen, auf dem mehrere Halbleiterchips zunächst untereinander verbunden werden und von dem Bauelementekontakte zur eigentlichen zweiten Verbindungsebene abgehen. Aufgrund der besonderen Beschaffenheit des Zwischenverdrahtungsträgers sowie der räumlichen Nähe der Halbleiterchips sind auf diesem Träger höhere Schaltfrequenzen als auf einem außerhalb des Bauelementegehäuses liegenden Verdrahtungsträger möglich. Die mit den Multichipmodulen verbundene Entwicklung von Zwischenverdrahtungsträgern erleichterte gleichzeitig die Entwicklung gehäuster flächenkontaktierbarer Bauelementeformen zur Erzielung hoher Anschlusszahlen. Vor der Entwicklung der hauptsächlich unter der Bezeichnung Ball-Grid-Array (BGA) und Chip-Scale-Package (CSP) bekannten Bauelementeformen waren flächenhafte Kontaktierungen höchstpoliger Bauelemente nur über eine Flip-Chip-Montage möglich, welche allerdings den Nachteil sehr feiner Anschlussraster und die Problematik der Nacktchipmontage nach sich zog. Auf Verdrahtungsträgerseite wurde die Einführung hochpoliger Bauelementeformen durch die Entwicklung von HDI-Leiterplatten (HDI = HighDensity-Interconnect) begleitet, welche sich in ihrer Grundstruktur jedoch nicht von Mehrlagenleiterplatten unterscheiden (Abb. 2.16). Auf Mehrebenenleiterplatten aufgelötete Bauelemente bilden die Hauptrealisierungsvariante für die zweite Verbindungsebene. Jedoch existieren für bestimmte Anwendungsfälle auch alternative Realisierungen. Die wichtigste Alternativvariante besteht in der auf keramischen Substraten angewendeten Dickschichttechnik. Bei Verwendung der Dickschichttechnik können passive Bauelemente, wie Wider-
44
2 Untersuchungsgegenstand
Abb. 2.18 Nischenvarianten der zweiten Verbindungsebene: Flexible Leiterplatten zur Realisierung gebogener vieladriger Verbindungen auf einer Druckerpatrone und an einem Verbindungsstecker einer Festplatte
stände oder Kondensatoren, direkt gedruckt werden. Halbleiterbauelemente können durch Löten, Kleben oder Drahtbonden auf den Dickschichtschaltungen montiert werden. Aufgrund der guten Temperaturbeständigkeit werden Dickschichtschaltungen z. B. in der Kfz-Elekronik eingesetzt (Abb. 2.17). Andere Varianten der Verbindungstechnik der zweiten Ebene betreffen den Träger, z. B. durch Verwendung von flexiblen Leiterplatten oder dreidimensionalen MID-Substraten (MID = Mould-Injection-Devices, d. h. thermoplastische Spritzgußmasse wird als Träger verwendet), oder sie betreffen die Verbindungstechnik, z. B. Leitkleben statt Löten (Abb. 2.18). Die Vielfalt der Realisierungsvarianten entspricht den sehr unterschiedlichen Aufgabenstellungen, welche durch die zweite Verbindungsebene zu bewältigen sind. Im Gegensatz zu den Aufgaben der ersten Ebene werden diese viel stärker von der Anwendung vorgegeben. Zu den beiden Grundaufgaben zählen die mechanische Fixierung der Bauelemente und die Verdrahtung der Bauelementeanschlüsse. Letztere Aufgabe besteht dabei aus vielen Teilaspekten, wie der Gewährleistung stabiler Energieversorgung, Gewährleistung einer integeren Signalübertragung (d. h. Flankenzeiten, Signalstörungen durch Reflexionen), Berücksichtigung der Entstehung von Rauschsignalen, Signaleinkopplungen, Leitungsimpendanzen, Anpassung von Leitungsquerschnitten und Leitungsabständen, Erfüllung von EMV-Anforderungen (d. h. Gewährleistung der Störfestigkeit, Minimierung der Störsendung), dem Bereitstellen großer Betriebsspannungs- und Masseflächen zur Minimierung von Versorgungsspannungsschwankungen bei exzessiven Schaltvorgängen. Neben diesen Grundaufgaben sind in Abhängigkeit von der Anwendung auch weitere Aufgaben, wie Wärmeabführung, Aufnahme voluminöser, schwerer Bauelemente oder die Bereitstellung besonderer Funktionselemente, zu bewältigen. Die Aufgabe der Wärmeabführung wird über die Bereitstellung von Kühlflächen, thermischen Vias (d. h. vertikale Strukturen zur Wärmeleitung) oder durch die geeignete Montage von oder an Kühlkörpern erreicht. Zu den typischen voluminösen bzw. schweren Bauelementen, welche durch die zweite Verbindungs-
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
45
ebene aufgenommen werden müssen, zählen beispielsweise große Elektrolytkondensatoren, Leistungswiderstände, Stecker, Relais oder Transformatoren, welche in der Regel in Durchstecktechnik montiert werden. Besondere Funktionselemente umfassen beispielsweise Antennen oder die Kontaktflächen von Tastern, welche direkt durch Verdrahtungsträgerstrukturen bereitgestellt werden. Die Vielfalt von spezifischen Aufgaben, welche durch die zweite Verbindungsebene erfüllt werden, führen auch zu einer Vielfalt von Bauelemente-, Verdrahtungsträger- und Verbindungsformen. Aus diesem Grund richtet sich die Beschreibung von Verdrahtungsträgern und Bauelementeformen der zweiten Verbindungsebene nach der Erfüllung der genannten Grundaufgaben.
2.3.3.2 Verdrahtungsträger Verdrahtungsträger bestehen aus einem elektrisch isolierenden Trägermaterial, auf dem Leiterzüge zur Verdrahtung der einzelnen Bauelemente aufgebracht sind. Für verschiedene Anwendungen und Anforderungen existieren verschiedene Arten von Verdrahtungsträgern, welche jedoch das gleiche Grundkonzept besitzen. Verdrahtungsträger werden vor allem nach dem Trägermaterial, der mechanischen Flexibilität des Trägers, nach der Anzahl der Lagen und nach der Leiterzugdichte unterschieden. Die Unterscheidung nach dem Trägermaterial ist dabei die wichtigste in Bezug auf das mechanische Verhalten von Verdrahtungsträgern. Trägermaterialien werden dabei grundsätzlich in organische und keramische Träger unterteilt, wobei die organischen wiederum in starre und flexible Träger unterschieden werden. Im Gegensatz zu den flexiblen sind starre Träger Verbundmaterialien, welche aus einer steiferen Armierung und einem dieses umschließendes Harzsystem bestehen. Zusätzlich können noch weitere dünne Polymerschichten zur Realisierung hochdichter Verdrahtungen aufgebracht sein. Als Armierungsmaterialien werden u. a. Hartpapiere, Glasvliese und -gewebe, Aramidvliese und gewebe als auch PTFE-Gewebe eingesetzt. Übliche Harzsysteme sind Phenolharze, Polyesterharze, Epoxidharze, Bismaleinimid/Triazin-Harze, Cyanatesterharze und PTFE [66, 68, 95]. Organische Träger sind sehr kostengünstig und erlauben aufgrund ihrer hohen Risszähigkeit die Herstellung von großflächigen Trägern, wie z. B. Mutterplatinen von Computern. Überdies besitzen sie gute mechanische Dämpfungseigenschaften und reduzieren effektiv die Einleitung mechanischer Stöße bzw. Vibrationen. Nachteilig ist die niedrige Glastemperatur einiger organischer Trägermaterialien, die bei Hochtemperaturanwendungen durchaus im Betriebstemperaturbereich liegen kann. Die Leiterzüge bestehen in der Regel aus Kupfer, welches an seiner Oberfläche zur besseren Kontaktierbarkeit mit einer Beschichtung versehen sein kann. Typische Beschichtungen sind NiAg, Sn und OSP (Polymerbeschichtung). Für den Aufbau starrer organischer Verdrahtungsträger existieren verschiedene Aufbauvarianten. Zu den klassischen Varianten zählen dabei die in Abb. 2.19 dargestellten
46
2 Untersuchungsgegenstand
Einebenenleiterplatte Kupferleitbahn Basismaterial
undurchkontaktierte Zweiebenenleiterplatte nicht durchkontaktierte Bohrung durchkontaktierte Zweiebenenleiterplatte durchkontaktierte Bohrung Mehrlagenleiterplatte
Abb. 2.19 Aufbauvarianten starrer organischer Verdrahtungsträger
Aufbauten der einseitigen Leiterplatte, der doppelseitigen Leiterplatte mit und ohne Durchkontaktierung und der mehrlagigen durchkontaktierten Leiterplatte. Komplizierter als die Darstellung klassischer Aufbauvarianten von starren organischen Verdrahtungsträgern gestaltet sich die strukturelle Beschreibung moderner hochdichter Verdrahtungsträger, sogenannter HDI-Leiterplatten (HDI = High-Density-Interconnect). Die Notwendigkeit zur Entwicklung hochdichter Verdrahtungsträger ergab sich aus der Anschlusszahlentwicklung und der aus ihr folgenden Einführung von Bauelementen mit flächenhaften Anschlusskontakten. Die hohe Kontaktdichte dieser Bauelemente war mit herkömmlichen Aufbauvarianten von Verdrahtungsträgern nicht mehr zu entflechten. Hinzu kamen erhöhte Anforderungen bezüglich der HF- und EMV-Eigenschaften der Verdrahtungsträger. Schlüsselentwicklungen zur Realisierung solcher hochdichten Träger waren verbesserte Methoden der Locherzeugung, wie Laserbohren, Plasmabohren oder -ätzen und Mikrostanzen, neue Methoden zur Erzeugung additiver strukturierter Dielektrika mit Hilfe photosensitiver Werkstoffe, neue Methoden zur Metallisierung der Vias
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
gefüllte Mikrovias
47
Polyimidkern
Hochtemperaturklebstoff Polyimidkern Polyimidkern
plasmageätztes Mikrovia
Standard FR-4 Leiterplattenaufbau Standard FR-4 Leiterplattenaufbau
Umverdrahtungslagen (PERL ) mechanisch gebohrte Durchkontaktierung
Abb. 2.20 HDI-Aufbaustrukturen
über leitfähige Polymere oder Viafüllen. Einige Beispiele für Aufbauvarianten von HDI-Leiterplatten sind in Abb. 2.20 gezeigt. Flexible organische Verdrahtungsträger sind aus Polymerfolien aufgebaut, auf denen sich analog zu starren organischen Verdrahtungsträgern Leiterzüge aus Kupfer mit entsprechenden Oberflächenbeschichtungen befinden. Typische Folienmaterialien sind Polyester und Polyimid. Der Aufbau eines flexiblen organischen Trägers ist in Abb. 2.21 gezeigt. Organische Materialien besitzen den Nachteil, ihre mechanischen Trägereigenschaften bei hohen Betriebstemperaturen signifikant zu verändern. Aus diesem Grund erweist sich für Anwendungen mit höheren Betriebstemperaturen der Einsatz keramischer Träger als vorteilhaft. Neben der Konstanz der mechanischen Eigenschaften über den gesamten Temperaturbereich kommt bei diesen Trägermaterialien auch die Möglichkeit der Herstellung von Hybridschaltkreisen durch Dickschichttechnik zum Tragen. Dies ermöglicht die integrierte Herstellung aller passiven Bauelemente auf dem Trägermaterial, ohne dass störungsanfällige Lötoder Klebeverbindungen notwendig sind. Deshalb werden keramische Träger für bestimmte Anwendungen, z. B. zur Realisierung hochstabiler analoger Sensorauswerteelektroniken, trotz ihres höheren Preises bevorzugt. Noch höheren Anforderungen genügen keramische Trägermaterialien, wie bestimmte Gläser oder Silizium. Auf ihnen lassen sich Dünnschichtstrukturen abscheiden, welche z. B. zur Erzeugung von Verdrahtungsstrukturen für Hochfrequenzanwendungen geeignet sind. Die Aufwendungen für solche Dünnschichtverdrahtungen sind jedoch so hoch, dass sie nur als Nischenanwendungen zum Einsatz kommen. Klassische keramische Trägermaterialien für den Bereich der Dickschichttechnik sind Alumi-
48
2 Untersuchungsgegenstand
a) Leitbahn
Chip Lage 1 Lage 2
Durchkontaktierung
Lage 3
b)
R, C, L
Abb. 2.21 Aufbaustruktur flexibler organischer Träger: a) klassischer ein- oder zweilagiger Aufbau; b) zukünftiger funktioneller mehrlagiger Aufbau
niumoxid, Berylliumoxid und Aluminiumnitrid. Die Erzeugung von Leitbahnstrukturen und Strukturen für passive Bauelemente erfolgt durch den Druck verschiedener Pasten. In der Regel muss jede Paste dabei einzeln gedruckt, getrocknet und gebrannt werden. Zur Erzeugung komplizierter Verdrahtungen existieren eine Mehrebenen- und eine Mehrlagentechnik. Bei der Mehrebenentechnik werden mehrere Leitebenen erzeugt, welche durch eine Isolationsschicht voneinander getrennt sind. Die Verbindung zwischen den Leitebenen wird durch Leitpastenfüllen der Vias der Isolationsschicht erreicht. Bei der Mehrlagentechnik werden einzelne Leitebenen auf jeweils gesonderten Substraten aus ungesinterter grüner Keramik gedruckt. Anschließend werden diese einzelnen Substrate gestapelt und gemeinsam gebrannt. Die Verbindung zwischen den Leitebenen erfolgt durch Füllung gestanzter Vias der Einzelsubstrate. Der Aufbau keramischer Verdrahtungsträger ist in Abb. 2.22 gezeigt.
2.3.3.3 Bauelementeformen von integrierten Schaltkreisen Bauelementeformen für integrierte Schaltkreise werden in der Regel nach ihrem äußeren Erscheinungsbild eingeteilt, welches vor allem Informationen über Anschlusszahl, Rastermaß und Anschlussanordnung enthält. Für die Beschreibung des mechanischen Verhaltens dieser Bauelementeformen ist jedoch der innere Aufbau dieser Bauelemente entscheidend, da dieser das thermisch-mechanische Verhalten dieser Bauelemente bestimmt. Bezogen auf dieses Kriterium unterteilen sich Bauelementeformen integrierter Schaltkreise in Trägerstreifenbauelemente und in Bauformen mit Zwischenverdrahtungsträger.
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
49
a)
b)
c)
Abb. 2.22 Aufbaustruktur keramischer Verdrahtungsträger: a) Multilayeraufbau in Mehrschichttechnik, b) Durchkontaktierung durch eine Mehrlagen-LTCC-Keramik, c) Lötstelle (SnAg-Lot auf Ag-Leitbahn) eines aufgesetzten Chipwiderstandes
Trägerstreifenbauelemente sind die klassischen Bauformen mit peripheren Anschlüssen, wie DIP, SOP (TSOP), PLCC und QFP (TQFP). Hierbei wird der Halbleiterchip mit seiner Rückseite auf einen Trägerstreifen montiert und die Chipanschlüsse über Drahtbonden mit den Anschlussbeinchen des Trägerstreifens verbunden. Zur Verkapselung werden Trägerstreifen und Halbleiterbauelement mit einer Polymermasse umspritzt. In der Anfangszeit erfolgte die Montage des Halbleiterchips auf dem Trägerstreifen durch eutektisches Au-Si Bonden. Deshalb war es notwendig, den thermischen Ausdehnungskoeffizienten des Trägerstreifens an den des Si-Chips anzupassen, wofür die unter dem Namen Kovar bekannte FeNiCo-Legierung als Trägerstreifenmaterial verwendet wurde. Später erfolgte die Chipmontage über elastische Klebeverbindungen, sodass Kupfer als Trägerstrei-
50
2 Untersuchungsgegenstand
DIP
PLCC
a)
TSOP
b)
PQFP
c)
d)
Abb. 2.23 Trägerstreifenbauformen: a) mit geraden Durchsteckstiften (DIP = Dual Inline Package), b) mit nach innen gebogenen J-Leads (PLCC = Plastic Leaded Chip Carrier ), c, d) mit nach außen gebogenen Gull-Wings (TSOP = Thin Small Outline Package, (PQFP = Plastic Quad Flatpak)
fenmaterial eingesetzt werden konnte, welches später zum Teil durch Alloy42 (FeNi-Legierung) ersetzt wurde. Für die Ausformung der Anschlussbeine wurden drei verschiedene Varianten verwendet - gerade Stifte für die Durchsteckmontage und J-Leads sowie Gull-Wings für die Oberflächenmontage. Beispiele für wichtige Aufbauvarianten von Trägerstreifenbauformen sind in Abb. 2.23 gezeigt Trägerstreifenbauelemente erlauben nur eine periphere Anordnung der Anschlüsse entlang der Kanten des Bauelementes. Dieses führte durch die ständige Erhöhung der Integrationsdichten in Halbleiterbauelementen zu Problemen bei der Beherrschbarkeit der Anschlusszahlen. Eine Methode, die Zahl der Ein- und Ausgänge N p auf einem Chip abzuschätzen, welcher eine bestimmte Anzahl Gatter N g besitzt, besteht in der folgenden als Rent’sche Regel bekannten Beziehung: n
N p = K ⋅ Ng ,
(2.1)
Tabelle 2.1 Parameter der Rent’schen Regel [96] Baustein
n
Statischer Speicher
0,12
6
Mikroprozessor
0,45
0,82
Gate Array
0,50
1,9
K
Hochleistungsrechner Chip und Modul
0,63
Board und System
0,25
1,4 82
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
51
wobei K und n empirische Konstanten sind, welche von der Art der Schaltkreise abhängen und für die Beispiele in Tabelle 2.1 gegeben sind. Dieser 1969 von E. Rent empirisch gefundene Zusammenhang stellt eine wichtige Grundlage für das Verständnis der Entwicklung von Ein- und Ausgangsleitungen bei Logikschaltkreisen dar. Da durch höhere Integration und höhere Taktfrequenzen auch die Verlustleistung der Schaltkreise zunimmt, steigen auch die Anschlusszahlen für die Versorgungsleitungen. Unter der Annahme, dass aus verschiedenen Gründen, wie z. B. der Elektromigrationsfestigkeit, die Lastgrenze pro Anschluss bei 200 mA liegt, ergibt sich folgende Beziehung für die Abschätzung der notwendigen Versorgungsanschlüsse N s pro Schaltkreis [97]: Ps [ W ] N s = 10 ⋅ --------------- , Vs [ V ]
(2.2)
wobei P s die Verlustleistung und V s die Versorgungsspannung des Schaltkreises sind. Zukünftige Schaltkreise werden daher über die gleiche Anzahl von Versorgungsleitungen und Ein- und Ausgängen verfügen. Durch steigende Leistungsaufnahme und hohe Taktfrequenzen kam zusätzlich die Forderung nach Senkung von Induktivitäten der Anschlussleitungen auf, um das Entstehen starker Störimpulse an den Anschlüssen zu verhindern. Unter Berücksichtigung all dieser Faktoren stellte sich die Frage nach den maximal auf einem Chip platzierbaren Anschlüssen. Diese kann aus sehr einfachen geometrischen Überlegungen beantwortet werden. Für ein quadratisches Bauelement ergibt sich die maximale Anschlusszahl M p bei peripherer Kontaktanordnung aus X M p = 4 §© --- – 1·¹ , p
(2.3)
und die maximale Anschlusszahl M a bei matrixförmiger Anordnung aus 2 Ma = § X --- – 1· , ©p ¹
(2.4)
wobei X einer Kantenlänge des Bauelements und p dem Kontaktraster entspricht [68]. Aus dem Vergleich der Gleichungen (2.3) und (2.4) geht hervor, dass Bauelementeformen mit matrixförmiger (= flächenhafter) Kontaktanordnung bei größer werdenden Bauelementeabmaßen X oder bei kleiner werdendem Kontaktraster p wesentlich mehr Anschlusskontakte zur Verfügung stellen können als Bauelemente mit peripherer Anschlussanordnung (z. B. Trägerstreifenbauelemente).
52
2 Untersuchungsgegenstand
CPGA Gehäusedeckel (Metall)
Chip
Keramikträger
Drahtbondverbindung (erste Verbindungsebene)
Glasdurchführung Anschlussstifte
a)
PBGA organische Chip Spritzgusskappe
Drahtbondverbindung (erste Verbindungsebene)
organischer Zwischenverdrahtungsträger
Lotbälle
b)
Abb. 2.24 Bauformen mit flächenhafter Anschlussmontage: a) keramische Pin-Grid-ArrayGehäusebauform (CPGA), b) organsiche Ball-Grid-Array-Bauform (PBGA)
Für die Realisierung von Bauelementeformen mit flächenhafter Anschlussanordnung gibt es eine Reihe verschiedener Realisierungsvarianten. Ausgangspunkt für die Entwicklung dieser Gehäusebauformen waren Ceramic-Pin-Grid-Arrays (CPGA), eine Bauform, welche sich aus dem von IBM während der achtziger Jahre entwickelten Multichipmodulen (MCM) abgeleitet hatte. Kernstück dieser Multichipmodule war ein keramischer Zwischenverdrahtungsträger, der eine Dünnschichtmehrebenenverdrahtung enthielt und auf dem auf der einen Seite Si-Chips über Flip-Chip-Technik montiert waren und auf der anderen Seite Pins zur Einsteckmontage abgingen [98]. Durchsteckkontakte machten jedoch die Vorteile zur Erzielung höherer Integrationsdichten durch Flächenkontaktierung zunichte, da zum einen ihr Rastermaß zunächst auf 2,54 mm begrenzt war und sie zum anderen die Leitungsentflechtung unterhalb des Bauelementes in der Leiterplatte behinderten [85]. Aus diesem Grund versuchte man, die Pins durch Lotkugeln zu ersetzen [99]. Diese Substitution führte zum Ceramic-Ball-Grid-Array (CBGA), einer SMT-kompatiblen Bauelementeform [100, 101]. Zur Erhöhung der Zuverlässigkeit wurde aus dieser Bauform der Ceramic-Column-Grid-Array (CCGA) entwickelt, bei welchem die Lotkugeln durch hochschmelzende (Pb90Sn10) Lotsäulen ersetzt wurden. Durch Verbesserungen bei der Verdrahtungsdichte auf starren organischen Trägern (vgl. 2.3.3.2) sowie die Einführung eines Unterfüllungswerkstoffes für die Flip-Chip-Technik (vgl. 2.3.2.3) konnten keramische durch starre organi-
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
53
Chip Passivierungsschicht Trägerstreifen
Chip Ring Elastomer Flex
Anschlussbeinchen Anschlussbumps
Lotbumps
Chip Leiterplatte
Abb. 2.25 CSP-Bauformen mit peripherer und flächenhafter Anschlussmontage (Schnittdarstellungen)
sche Zwischenverdrahtungsträger ersetzt werden. Aus diesen Entwicklungen entstand der Plastic-Ball-Grid-Array (PBGA), in welchem zur Realisierung der Chipverbindungen neben der Flip-Chip-Technik auch die Drahtbondtechnik eingesetzt wurde. Die Weiterentwicklung dieser Bauelementeform führte zum Chip-ScalePackage (CSP) bzw. Fine-Pitch-Ball-Grid-Array (FBGA). Diese Bauformen zeichnen sich dadurch aus, dass die äußeren Abmessungen des gehäusten Halbleiterbauelementes die des Chips um höchstens 20% überragen. Zur Realisierung solcher Bauformen wurden eine Reihe von Varianten entwickelt, von denen einige in Abb. 2.25 dargestellt sind.
2.3.3.4 Formen passiver Bauelemente Obwohl passive Bauelemente in der Regel als oberflächenmontierbare Bauelemente verarbeitet werden, ist es aufgrund von Größe und Gewicht einiger passiver Bauelemente, z. B. Elektrolytkondensatoren, Leistungswiderstände, Spulen, notwendig, diese als Einsteckbauformen auszuführen, sodass über den Verdrahtungsträger ein Großteil der mechanischen Stabilisierung übernommen wird. Die Bauformen von Einsteckbauelementen sind aus mechanischer Sicht jedoch zumeist ohne Belang, da der Hauptteil der thermischen Fehldehnungen über die Anschlussstifte abgefangen wird. Bauformen oberflächenmontierbarer passiver Bauelemente sind in der Regel quaderförmig oder zylindrisch. Tabelle 2.2 und Abb. 2.26 enthalten die Abmaße der größeren quaderförmigen Bauformen von
54
2 Untersuchungsgegenstand
Widerständen und Kondensatoren, welche wegen ihrer relativ hohen absoluten thermischen Fehldehnungen gegenüber organischen Verdrahtungsträgern mechanisch kritisch sind. Tabelle 2.2 Abmessungen von Chipwiderständen und Chipkondensatoren [102] Bezeichnung
Länge [mm]
Breite [mm]
Höhe [mm]
Kontakttiefe [mm]
R1206
3,2
1,6
0,7
0,3
R1210
3,2
2,5
0,7
0,3
R2010
5,0
2,5
0,7
0,4
R2512
6,4
3,2
0,7
0,4
C1206
3,2
1,6
1,4
0,3
C1210
3,2
2,5
1,4
0,3
C1812
4,5
3,2
1,4
0,3
C1825
4,5
6,4
1,4
0,3
Neben den aufgeführten Keramikkondensatoren existieren auch Tantalkondensatoren als gepolte Kondensatoren mit hohen Kapazitätswerten für Stromversorgungsanwendungen. Diese besitzen jedoch einen anderen Aufbau mit nachgiebigen Anschlussfahnen. Kritisch durch steifen Aufbau sind jedoch zylindrische MELF-Bauformen. Diese besitzen für Widerstände und Kondensatoren einen Durchmesser von 2,2 mm und eine Länge von 5 mm [103].
Schutzschicht (Glas) Keramik (BaTiO3)
Innere Elektrode (z.B. Ag/Pd; Ni/Cu)
Widerstandselement
Anschlusselektrode Substratelektrode (z.B. Ag; Cu) Nickelbarriere Äußere Elektrode (z.B. Sn)
Abb. 2.26 Aufbau von SMD-Kondensatoren und SMD-Widerständen
Keramik (Al2O3) Anschlusselektrode Substratelektrode (Ag/Pd - min. 10µm) Nickelbarriere (min. 2µm) Äußere Elektrode (z.B. Sn - min. 2µm)
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
55
2.3.4 Architekturentwicklung Obwohl sich das Grundprinzip der Architektur elektronischer Aufbauten über Dekaden scheinbar nicht geändert hat, ist die Argumentation, welche hinter diesem Gestaltungsprinzip steht, starken Wandlungen unterzogen. Ausgangspunkt für die Technologie- und Architekturentwicklung in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik war die Aufgabe, sehr komplexe Schaltungsanordnungen mit einer unübersehbaren Anzahl an Bauelementen effektiv und rationell verdrahten zu können. Die komplexesten Schaltungsanordnungen wurden dabei für die Herstellung von Rechenanlagen benötigt. Zur Realisierung von Zentralrecheneinheiten (CPU) mussten einige hunderttausend Einzelschaltungen miteinander verdrahtet werden, welche selbst aus diskreten bzw. niedrigintegrierten Schaltkreisen aufgebaut waren [104]. Die Erhöhung des Integrationsgrades bei den integrierten Schaltkreisen vereinfachte die Verdrahtungsaufgabe erheblich und verringerte die Anzahl der Verbindungsebenen. Gleichzeitig vergrößerten sich aber auch die Integrationsdichte auf dem Verdrahtungsträger und auch die Anschlusszahlen der integrierten Schaltkreise. Die ursprüngliche Verdrahtungsaufgabe, welche zum größten Teil durch die Mehrebenenmetallisierung auf dem Halbleiterchip übernommen wurde, wandelte sich in eine Integrationsaufgabe [65]. Auf der zweiten Verbindungsebene wurde die Einstecktechnik durch die Oberflächenmontagetechnik abgelöst. Hierdurch wurde eine Erhöhung der Verdrahtungsdichte durch Verkleinerung von Leitbahnabmessung, Einführung neuer Bauelementeformen mit engerem Raster sowie kleineren lateralen Abmessungen und eine Erhöhung von Lagenanzahlen des Verdrahtungsträgers möglich. Gleichzeitig entwickelte sich für den anschlusszahlintensiven Logikbereich das Multichipmodul [85, 104]. Der für die Multichipmodule eingesetzte Zwischenverdrahtungsträger stellte innerhalb des Architekturprinzipes eine weitere Verdrahtungsebene dar, welche in ihrer Verdrahtungsdichte zwischen der Mehrebenenmetallisierung auf dem Chip und der Leiterplatte lag. Zunächst wurde der Vorteil dieses Zwischenverdrahtungsträgers nur in der Erhöhung der Integrationsdichte gesehen [98], bei den Nachfolgetypen der ersten Multichipmodule wurden durch den Einsatz neuer Dielektrika sowie durch spezielle Anordnungen entscheidende Fortschritte bei Signallaufzeiten und Wärmeabführung erreicht [105-107]. Obwohl die Anwendung von Multichipmodulen aufgrund der mit dem keramischen Träger verbundenen hohen Kosten auf den Bereich von Hochleistungsrechnern beschränkt blieb [85, 108], begünstigte die mit ihnen verbundene Technologieentwicklung bei den mehrlagigen Zwischenverdrahtungsträgern die Entwicklung neuer Bauformen für Halbleiterbauelemente, wie den Ball-Grid-Arrays [101], welche durch ihre flächenhafte Anschlusskontaktierung den inzwischen gewachsenen Anschlusszahlen gerecht wurden. Die Kosten für diese zunächst auf keramischen Trägern (CBGA) realisierten Bauformen [99] konnten später durch den Einsatz organischer Zwischenverdrahtungsträger [109, 110] deutlich gesenkt werden. Trotz aller weiteren Innovationen im Bereich Gehäusebauformen, wie z. B. der Einführung von Chip-Scaleund Wafer-Level-Bauformen, gelang es nicht, die Kosten pro Anschluss im glei-
56
2 Untersuchungsgegenstand
chen Maße zu senken, in welchem die Anschlusszahlen von Halbleiterbauelementen stiegen [111]. Hält diese Entwicklung an, so kommt es zu einer signifikanten Erhöhung der relativen Kosten für die Einzelhäusung von Halbleiterbauelementen, sodass die Kosteneinsparungen, welche auf Halbleiterebene bei Einführung eines neuen Technologieniveaus entstehen, sich nicht im gleichen Maße auf den Preis des gehäusten Bauelementes niederschlagen. Gleichzeitig ergibt sich durch die Steigerung der Integrationsdichte und der mit ihr verbundenen Anschlusszahlerhöhung bei einigen Typen von Schaltkreisen das Problem, dass der Platzbedarf, welcher zur Anordnung der Anschlussflächen auf dem Chip notwendig ist, den der integrierten Schaltung übersteigt [108], was zu einer uneffizienten und ökonomisch nicht vertretbaren Nutzung der zu prozessierenden Siliziumfläche führen würde. Beide Probleme stellen den Ausgangspunkt für das System-on-Chip-Konzept (SoC) dar, welches die Systemintegration verschiedener, bisher einzeln gehäuster Schaltungsteile, wie Logik, Speicher, Analog- oder HF-Schaltungen, auf einem Chip zum Ziel hat. Dabei wird davon ausgegangen, dass die zusätzlichen Kosten, welche durch die geringeren Prozessausbeuten bei der Halbleiterfertigung zustande kommen, durch die Einsparungen bei der Bauelementehäusung mehr als kompensiert werden [108]. Auf lange Sicht sieht das System-on-Chip-Konzept die Integration aller Komponenten, also auch optoelektronischer Komponenten, Sensoren und MEMS-Komponenten, auf einem Chip vor. Der Aufgabenbereich der Aufbau- und Verbindungstechnik würde sich dann auf die Montage eines „System-Chips“ und einiger wegen ihrer Größe nicht integrierbarer passiver Bauelemente beschränken [112]. Tabelle 2.3 Dielektrische Eigenschaften von Isolations- und Substratmaterialien [113] Material
εr
tan δ
α
[ 10
–6
⁄ K]
PTFE (60 GHz)
2,1
0,0001
100-120
PTFE mit Glasflies (10 GHz)
2,2
0,0009
12-16
FR-4
4,2-4,5
0,025
12-16
Getek
3,6-4,2
0,010-0,015
12-16
Al2O3 (96%)
9
0,0006
7
AlN
8-10
0,0007-0,002
4,5
0,05
3,7
SiC
40
Aufgrund der zunehmenden Bedeutung von drahtloser Kommunikation zwischen elektronischen Geräten wird die System-on-Chip-Vision jedoch angezwei-
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
57
felt, da Si, so wie es heute in Standard-CMOS-Prozessen verwendet wird, kein guter Substratwerkstoff zur Realisierung der für HF-Schaltungsteile notwendigen Spulen, Kondensatoren und Filter ist. Die hervorragenden dielektrischen Eigenschaften keramischer und organischer Materialien (Tabelle 2.3) sind Ausgangspunkt für das System-on-Package-Konzept (SoP), welches der vom SoC-Konzept getragenen Idee eines „System-Chips“ die eines „System-Boards“ entgegensetzt. Das System-Board löst den klassischen Verdrahtungsträger der zweiten Verbindungsebene ab und ist durch einen sehr komplizierten Schichtaufbau gekennzeichnet. In den aus vielen unterschiedlichen Werkstoffen bestehenden Schichten sollen die verschiedenen passiven Komponenten, Antennen, Filter, aber auch Lichtleiter sowie Leitbahnen und Vias, für die Verdrahtung erzeugt werden, sodass auf dem System-Board nur noch die hochdichte Montage von Halbleiterbauelementen erfolgt. Das Konzept des System-Boards ist kein vollständiges Gegenkonzept zum System-Chip, jedoch verneint es die vollkommene Systemintegration schwierig miteinander prozessierbarer Systemkomponenten auf einem Chip [114]. Für die Durchsetzung des SoC-Konzepts gibt es jedoch selbst bei unaufwendig miteinander auf einem Halbleiterchip integrierbaren Schaltungsteilen bestimmte Grenzen, da bei der Verkleinerung von Strukturen auf dem Halbleiterchip auch die Höhe und Breite der Leitbahnen herunterskaliert wird. Dies führt wiederum zu einer Erhöhung des RC-Produktes, einer Verbindung zwischen zwei Schaltelementen, und damit zur Erhöhung der Signallaufzeit. Da sich bei bestimmten Schaltkreisen, z. B. Mikroprozessoren, die Chipflächen erhöhen, begrenzen die auf ihnen befindlichen langen Leitbahnen die maximal erreichbare Taktfrequenz. Für dieses als Long3 Lossy-Lines ( L ) -Effekt bekannte Problem wurde in [115] errechnet, dass für eine Strukturbreite von 0,5 μm eine außerhalb des Chips durch einen Zwischenverdrahtungsträger gezogene Leitung ab einer Länge von etwa L = 10 mm eine geringere Signalverzögerung auftritt als in einer auf dem Chip verlegten Leitung. Daher ist eine Zerteilung großer Chips in einzelne Funktionseinheiten, welche über eine Mehrlagendünnfilmverdrahtung auf einem Keramikträger untereinander verdrahtet werden, von Vorteil. In [115] wird gezeigt, dass diese als Few-Chips-Module (FCM) bezeichnete Lösung bei kostenintensiven Schaltkreisen (> 1000 $) gegenüber einer in einer BGA-Bauform gehäusten Einzelchiplösung keine Kostennachteile besitzt. Für kostengünstige Schaltkreise, welche aufgrund niedrigerer Anschlusszahlen keiner hochdichten Verdrahtung auf einem Zwischenträger bedürfen, hat sich unter der Bezeichnung System-in-Package (SiP) eine Aufbauvariante entwickelt, die entweder gleichartige Schaltkreise (z.B. DRAMs) oder verschiedenartige Schaltkreise (z. B. Prozessor, DRAM, Flash-Speicher) oder Schaltkreise mit diskreten aktiven und passiven Komponenten auf einem Zwischenverdrahtungstäger integriert. Als Zwischenverdrahtungsträger kommen dabei in der Regel die bereits für die BGAund CSP-Bauformen entwickelten Träger zum Einsatz, sodass SiP-Gehäuse von außen denen der BGAs und CSPs gleichen. Im Unterschied zum klassischen MCM werden die Chips im SiP nicht mehr lateral, sondern horizontal über eine Reihe verschiedener Stapeltechniken angeordnet. Durch die Verwendung abgedünnter
58
2 Untersuchungsgegenstand
Einzelchips in Stapeln gelingt es, die Bauhöhen traditioneller Halbleiterbauformen nicht zu überschreiten. Typische Beispiele für SiPs sind spannungsgesteuerte Höchstfrequenzoszillatoren (UHVVCO) oder Synthesiser, wie sie in Mobiltelefonen eingesetzt werden, welche auf einem Si/Polymer-Stapelzwischenverdrahtungsträger aufgebaut sind, ein Metallkappengehäuse besitzen und sich wie ein CSP verarbeiten lassen [116]. Auch im Bereich der Speicherschaltkreise hat sich das SiPKonzept durchgesetzt, da es hierdurch gelingt, die Kapazität eines gehäusten Speicherbausteins um das Vierfache zu steigern. Das SiP-Konzept begrenzt dass SoCKonzept von der Seite kostengünstiger Schaltkreise mit niedrigen Anschlusszahlen, da es einfachere und damit schnellere Design-Verifikationen erlaubt, woraus sich wesentlich kürzere Entwicklungszeiten und schnellere Produktzyklen ergeben [114]. Neben diesem Time-to-Market-Aspekt besitzt SiP gegenüber den SoC-, SoP- und FCM-Konzepten den technischen Vorteil der vertikalen Integration, wodurch die lateralen Abmessungen eines SiP-Aufbaus unabhängig von der Anzahl der integrierten Bauelemente etwa auf der eines Einzelchips gehalten werden. Die verschiedenen Konzepte, welche aus heutiger Sicht die Entwicklung des Aufbaus elektronischer Geräte wesentlich bestimmen werden, haben sehr unterschiedliche Auswirkungen auf die Architekturentwicklung. Das SoC-Konzept wirkt konservierend, da es die Anschlusszahlentwicklung einfriert und damit die Entwicklung neuer Aufbauvarianten weitestgehend überflüssig macht. Die FCM-, SiP- und SoP-Konzepte führen zu sehr grundsätzlichen Änderungen, da sie die Anordnung und die Funktion der einzelnen Verbindungsebenen verändern. Beim FCM-Konzept sind diese Änderungen am geringsten. Zwar wird ein Teil der Integrationsaufgabe von der Mehrebenenmetallisierung auf dem Chip an den Zwischenverdrahtungsträger des Bauelementegehäuses übergeben, jedoch würde auch ein nicht zerteilter Chip im Gehäuse über einen Zwischenverdrahtungsträger verfügen. Komplizierter gestaltet sich die Bewertung der Aufgaben des Zwischenverdrahtungsträgers beim SiP-Konzept, da dieses von einfachen Verdrahtungsaufgaben bei Speicherchipstapeln bis hin zur Realisierung von Subsystemen, wie z. B. den UHVVCOs, reicht. Im letzteren Fall kommt es zu einer Veränderung gegenüber den traditionellen Aufgaben der ersten Verbindungsebene. Ähnlich muss das System-Board des SoP-Konzeptes bewertet werden, da es im Vergleich zu einem traditionellen Verdrahtungsträger der zweiten Verbindungsebene neben seinen Verdrahtungsaufgaben auch funktionelle Elemente bereitstellt. Trotz dieser erheblichen Veränderungen bezüglich der Funktions- und Aufgabenverteilung ist zu erwarten, dass die Architektur elektronischer Aufbauten bezogen auf ihre topologische und mechanische Struktur - sich nicht wesentlich ändert. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass ein flacher Träger existiert, auf dem Halbleiterbauelemente entweder direkt oder über Zwischenträgerstrukturen montiert sind. Dabei ist nicht zu erwarten, dass sich die in 2.3.2 und 2.3.3 beschriebenen Verfahren und Anordnungen grundlegend ändern.
2.3 Architektur elektronischer Aufbauten
59
2.3.5 Strukturabmessungen in elektronischen Aufbauten Neben den bisher dargestellten funktionellen und architektonischen Aspekten zeichnet sich die Aufbau- und Verbindungstechnik auch durch charakteristische Strukturabmessungen aus, welche aus einem technisch-ökonomischen Kompromiss zwischen informationstechnischen Anforderungen auf der einen und technologischen Möglichkeiten auf der anderen Seite resultieren. Dabei ergibt sich aus den informationstechnischen Bestrebungen nach einer hochauflösenden Gewinnung, schnellen Übertragung und Verarbeitung sowie massenhaften Speicherung von informationstragenden Signalen die Forderung nach einer immer größeren Anzahl von Verbindungen auf immer kleinerem Raum. Demgegenüber ergeben sich durch die technologische Realisierbarkeit grundsätzliche Einschränkungen bei der Verkleinerung von Strukturabmessungen. Je kleiner die zu erzeugenden Strukturen werden sollen, um so höher werden auch die Kosten der notwendigen Herstellungstechnologie, wobei zwischen Kosten und minimaler Strukturbreite oft ein exponentieller Zusammenhang besteht. Die sich aus diesem Kompromiss ergebenden charakteristischen Strukturbreiten sind von der Art der Struktur bzw. der Verbindungstechnologie abhängig. Im Folgenden werden die Strukturbreiten der wichtigsten metallischen Strukturelemente deshalb in bestimmten Gruppen dargestellt. Die erste Gruppe bilden die Strukturbreiten in der ersten Verbindungsebene. Die Tatsache, dass die Erhöhungen der Integrationsdichte zwangsweise auch zu einer Erhöhung der Anschlusszahlen führt (vgl. Rent’sche Regel, 2.3.3.3), zieht auch relativ schnelle Änderungen der Strukturabmessungen für die erste Verbindungsebene nach sich, deren Prognosen in Tabelle 2.4 dargestellt sind. Tabelle 2.4 Prognose der minimalen Strukturabmessungen (Rastermaße) der ersten Verbindungsebene [117, 118] Chipseitiges Anschlussraster [μm] für entsprechendesVerbindungsverfahren
2005
2007
2010
2013
2020
Drahtbonden Ball/Wedge
35
30
25
20
20
Drahtbonden Wedge/Wedge
30
25
20
20
20
TAB
35
30
20
20
20
Flip-Chip (flächenhaft)
150
120
90
90
70
Flip-Chip (peripher)
60
30
20
20
20
Während diese Anschlussraster für den Bereich der Drahtbondtechnik außer der Verringerung der Drahtdurchmesser keine grundsätzlichen Änderungen nach sich ziehen, sind für den Bereich der Flip-Chip-Technik Änderungen jenseits des Proportionenschrumpfens zu erwarten. Bei Rastermaßen von 20 μm kann durch das
60
2 Untersuchungsgegenstand
starke Phasenwachstum nicht mehr von der Ausbildung eines klassischen Lotkontaktes ausgegangen werden. Dementsprechend werden sich auch Änderungen in materialtechnischen Aspekten ergeben, unter denen die Verwendung von Cu-Säulen bzw. Federelementen [119] aus heutiger Sicht am wahrscheinlichsten erscheint. Die zweite Gruppe bilden die Strukturbreiten in der zweiten Verbindungsebene. Diese werden sehr stark von den auf einer Leiterplatte erreichbaren Strukturbreiten bestimmt. Mit der Erhöhung der Anschlusszahlen werden zunehmend auch hochdichte Träger zum Einsatz kommen, da dann die veränderten Kosten pro Anschluss den Einsatz solcher teureren Verdrahtungsträger rechtfertigen. Dadurch werden auch im Bereich Leiterplatte Rastermaße unterhalb der heute üblichen 300 μm möglich. Die Prognosen für die Entwicklung der Rastermaße im Bereich der zweiten Verbindungsebene sind in Tabelle 2.5 dargestellt. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Anwendungen mit ihren verschiedenen Anforderungen an Kosten und Leistungsfähigkeit der Bauelemente ist eine weite Spanne für die minimal zu realisierenden Rastermaße bis zum Jahr 2020 vorauszusehen. Diese wird etwa von 150 μm für CSP/FBGA Bauelemente bis zu den heute bereits üblichen 500 μm für BGA-Bauelemente reichen. Für passive Bauelementebauformen wird eine Verkleinerung bis auf Abmessungen von 400 μm X 200 μm vorausgesagt. Für Leitbahnen auf Verdrahtungsträgern sind Dicken bis < 10 μm und Breiten zwischen 3 ... 5 μm zu erwarten [120]. Tabelle 2.5 Prognose der minimalen Strukturabmessungen (Rastermaße) der zweiten Verbindungsebene [117, 118] Substratseitiges Anschlussraster [μm] für entsprechende Bauformen
2005
2007
2010
2013
2020
CSP (flächenhaft)
300
200
200
150
150
BGA
800
650
500
500
500
FBGA
400
300
150
150
150
FLGA
400
300
300
300
300
QFP/QFN
400
400
300
300
200
Für die relevanten zu untersuchenden metallischen Strukturen ergeben sich zum einen kompakte Körper (wie z. B. bei Lotkontakten), d. h. Kugeln oder Würfel, und zum anderen langgezogene linienförmige Körper (wie z. B. Drähte, Leitbahnen), d. h. Zylinder oder Quader. Die Abmessungen der kompakten Körper überspannen dabei einen Bereich von 0.02 mm ... 1 mm (bezogen auf die Kantenlänge eines Würfels oder den Durchmesser einer Kugel). Die Abmessungen der langgestreckten linienförmigen Körper reichen von 0.01 mm ... 0.5 mm (bezogen auf die
2.4 Thermisch-mechanische Problematik elektronischer Aufbauten
Gehäustes Halbleiter-Bauelement
61
Nacktchip
Matrix Peripher
PGA
BGA
CSP
WLP
FC
TAB
COB
>1,27 1,0 0,8 0,5 0,3 Raster (mm)
0,2 0,15
>2 1...2 Bauhöhe (mm)
1012
386
6
0,28
FR-4 (x,y - Richtung)
> 1010
18
16
0,10
Polyimid
> 1016
4
20
0,3
Neben der elektrischen Funktionalität beeinflusst der Bindungstyp und die daraus resultierende Gitter- bzw. Kettenstruktur jedoch auch andere fundamentale Werkstoffeigenschaften, wie z. B. den thermischen Ausdehnungskoeffizienten, die thermische Leitfähigkeit oder den Elastizitätsmodul. Werden Vertreter der entsprechenden Materialklassen miteinander verglichen, so lässt sich erkennen, dass beispielsweise viele keramische Werkstoffe einen sehr geringen, metallische Werkstoffe einen mittleren und polymere Werkstoffe einen sehr hohen thermischen
2.4 Thermisch-mechanische Problematik elektronischer Aufbauten
65
Ausdehnungskoeffizienten besitzen. Das Verhältnis der Elastizitätsmoduli ist etwa umgekehrt. Zwar lässt sich durch Legieren der Ausdehnungskoeffizient metallischer Werkstoffe in bestimmten Grenzen ändern. Allerdings hat dies gleichzeitig Auswirkungen auf den spezifischen elektrischen Widerstand. Für die Werkstoffauswahl zur Realisierung elektronischer Aufbauten ergeben sich in der Regel nur Materialgruppierungen, bei welchen bestimmte grundsätzliche Eigenschaften, wie spezifischer elektrischer Widerstand, thermischer Ausdehnungskoeffizient und EModul, in bestimmten Verhältnissen vorkommen. Aus dieser aus der Werkstoffstruktur resultierenden Verknüpfung physikalischer Werkstoffeigenschaften ergibt sich ein wichtiger Aspekt der thermisch-mechanischen Problematik elektronischer Aufbauten. Die schaltungsfunktionsbedingte Verwendung von Werkstoffen mit stark unterschiedlichen elektrischen Eigenschaften verhindert einen körperlichen Aufbau elektronischer Schaltungen mit aneinander angepassten thermisch-mechanischen Eigenschaften - insbesondere mit aneinander angepassten thermischen Ausdehnungskoeffizienten (engl. CTE-matching) und Elastizitätsmoduli. Hierdurch entsteht für die Architektur elektronischer Aufbauten das prinzipbedingte Problem der thermisch-mechanischen Fehlanpassung (engl. thermo-mechanical mismatch).
2.4.3 Aspekte der Architektur- und Entwicklungskonzeption Das Ausmaß, in dem durch nicht angepasste thermische Ausdehnungskoeffizienten Verspannungen in einem Materialverbund auftreten, hängt neben der Differenz der Ausdehnungskoeffizienten auch von der Topologie des Aufbaus ab. Dieser Zusammenhang ist in Abb. 2.29 illustriert. Sind zwei Materialien mit unterschiedlichen thermischen Ausdehnungskoeffizienten ganzflächig miteinander verbunden und es findet eine Temperaturänderung um den Betrag ΔT statt, so kommt es zu einer Verwölbung des Verbunds. Das entstehende Biegemoment entlang der Verbindungsfläche hat dabei einen konstanten Wert. Sind die beiden nur in der Mitte verbunden und können sich frei dehnen, kommt es weder zu Verformungen noch zum Auftreten von Verspannungen im Verbund. Werden die beiden Materialien hingegen nur an den Endpunkten miteinander verbunden, so kommt es an diesen Punkten zum Auftreten sehr hoher lokaler Biegemomente, die den Betrag des Biegemoments im Fall des ganzflächigen Verbundes weit übersteigen. Mit den hohen lokalen Biegemomenten sind auch hohe lokale Verformungen verbunden, die in Abhängigkeit von der Steifigkeit (E-Modul) der beteiligten Materialien auch zu einer leichten Verwölbung des Gesamtverbundes, jedoch vor allem zu mit einer starken Schädigung verbundenen hohen Deformationen im Bereich der Verbindungen führen. Wird die Entwicklung elektronischer Aufbauten betrachtet, so ist festzustellen, dass die Topologie früherer Bauelementeformen, z.B. Flat-Packs oder DIPs, dem thermo-mechanisch sehr ungünstigen letzten Fall (Abb. 2.29) entsprechen. Dies ist nicht verwunderlich, denn zunächst waren für die Architekturentwicklung elektro-
66
2 Untersuchungsgegenstand
Fall A
Fall B
Fall C
a1 > a2
a1 a2
a1
a1
a2
a2
DT
Dx M
M x
M x
x
Abb. 2.29 Ausbildung von Biegemomenten in Abhängigkeit von der Aufbaustruktur eines Bimaterialverbundes
nischer Aufbauten technologische Fragen vordergründig. Am Anfang der Entwicklung war es vor allem wichtig, einen Weg zu finden, die verschiedenen Bauelemente einer Schaltung effektiv miteinander verbinden zu können. Betrachtungen zu thermisch-mechanischen Aspekten spielten aufgrund der geringen Integrationsdichten und den damit verbundenen geringen Verlustleistungsdichten kaum eine Rolle. Die ersten Probleme aufgrund fehlender Betrachtung zur thermisch-mechanischen Integrität elektronischer Aufbauten entstanden bei der Einführung der Ceramic-Chip-Carrier (CCC) [131-134]. Diese Bauelementeform wies aufgrund der beinchenlosen Anschlusskontaktierung hervorragende Hochfrequenzeigenschaften auf. Allerdings provozierte der sehr steife Keramikträger in den peripher angeordneten Kontakten derart hohe mechanische Beanspruchungen, dass diese Bauelemente bei Montage auf organischen Verdrahtungsträgern keine ausreichenden Zuverlässigkeitskennzahlen erreichten. Der geringe Grad tiefgründiger mechanischer Überlegungen zur Bauelementegestaltung dokumentiert sich bei den CCCBauelementen darin, dass alle Anstrengungen, die thermisch-mechanische Integrität dieser Aufbauvariante zu erhöhen, vor allem darauf hinausliefen, eine sehr kostenaufwendige Anpassung der thermischen Ausdehnungskoeffizienten des Verdrahtungsträgers vorzunehmen [135]. Dagegen wurde die kostengünstige Variante der Verringerung der mechanischen Beanspruchung durch innere (passive) Stützkontakte nicht in Betracht gezogen. Diese Architekturvariante entstand erst mit der Einführung der BGA-Bauformen, jedoch nicht aus mechanischen Erwägungen. Die erste Innovation unter dem Gesichtspunkt der thermisch-mechanischen Integri-
2.4 Thermisch-mechanische Problematik elektronischer Aufbauten
67
tät bestand in der Einführung des Unterfüllungsprozesses bei der Flip-Chip-Montage, mit der der historisch entstandene und aus thermisch-mechanischer Sicht ungünstige Fall C (in Abb. 2.29) in den günstigeren Fall B überführt wurde. Im Gegensatz zu anderen mechanischen Überlegungen, wie der zur Gestaltung von Anschlussbeinen [136, 137], wurde mit dem Unterfüllungsprozess eine bemerkenswerte Steigerung der thermisch-mechanischen Integrität erreicht, ohne dass andere Eigenschaften des elektronischen Aufbaus verschlechtert wurden. Aufgrund dieses bemerkenswerten Erfolges stellt sich die Frage, ob ein konsequentes Codesign, welches technologische, elektrische und thermisch-mechanische Aspekte bei der Konzeption neuer Aufbauten in gleicher Weise berücksichtigt, zu neuen Aufbauformen führen würde, welche einen vergleichsweise geringen Grad thermischmechanischer Probleme aufwiesen. Wenn die Gesamtproblematik der Aufbau- und Verbindungstechnik besonders in Bezug auf ihre weitere Entwicklung betrachtet wird, erscheinen solche Hypothesen wenig realistisch. Dies hängt damit zusammen, dass Architekturkonzepte für neue Aufbauformen immer einen Kompromiss zwischen verschiedenen Erfordernissen darstellen, unter denen technologische und elektrische Aspekte die wichtigsten sind. Beispielsweise bringen periphere Kontaktanordnungen gegenüber zentralen Anordnungen, wie sie dem thermisch-mechanisch eher ungünstigen Fall C in Abb. 2.29 gegenüber dem günstigeren Fall B entsprechen, eine Reihe von technologischen Vereinfachungen mit sich. So ergibt sich bei peripheren Kontaktanordnungen eine Vereinfachung bei der Umverdrahtung, eine gute visuelle Beurteilung der Kontakte und eine bessere Ausrichtung des Bauelementes durch die Benetzungskräfte beim Löten. Bauelemente mit zentralen Kontaktanordnungen würden hingegen sehr leicht zum Verkippen neigen und wären für Reparaturzwecke schwieriger zu demontieren. Obwohl sich solche Argumentationen immer nur exemplarisch auf bestimmte Aufbaukonzepte anwenden lassen, ist aus der Betrachtung der bisherigen Entwicklung zu entnehmen, dass bestimmte, aus thermischmechanischer Sicht ungünstige Aufbauprinzipien (wie z.B. Fall C in Abb. 2.29) wohl auch in zukünftigen Aufbauten enthalten sein werden. Weiter verstärkt wird die thermisch-mechanische Problematik durch die angestrebte vertikale Verdichtung der Aufbauten, wie z. B. Stapelaufbauten für SiP (vgl. 2.3.4). Hierdurch entsteht neben der traditionell bekannten lateralen Ausdehnungsproblematik (= Fall C in Abb. 2.29) eine vertikale mechanische Wechselwirkung. Mercado et al. [138] führen eine der ersten Erörterungen zu dieser neuen Qualität von thermisch-mechanischen Wechselwirkungen in modernen Aufbauten. Dabei zeigen sie den komplexen Weg der Ursachen für Schädigungen in der Mehrebenenmetallisierung eines Halbleiterbauelements in einem BGA, welche durch thermisch-mechanische Beanspruchungen in der zweiten Verbindungsebene verursacht werden. Andere Untersuchungen, wie die von Dudek [139], zeigen, dass die Ausfallproblematik in modernen Bauelementeformen durchaus nicht mehr der klassischen DNP-Problematik (DNP = Distance to Neutral Point) entspricht, bei der sich das Versagen eines Anschlusskontaktes in Abhängigkeit von seinem Abstand zum Bauelementemittelpunkt berechnen ließ.
68
2 Untersuchungsgegenstand
2.4.4 Werkstoffphysikalische Seiteneffekte Ein anderer Aspekt der thermisch-mechanischen Problematik elektronischer Aufbauten besteht in der Verschärfung der Umweltbedingungen. In bestimmten Anwendungsgebieten, wie z.B. der Kfz-Elektronik oder der Luft- und Raumfahrttechnik, wird die Elektronik immer höheren Temperaturen von bis zu 150 °C ausgesetzt. Diese hohen Temperaturen beschleunigen in hohem Maße Diffusionsprozesse, durch welche sich die Struktur der Werkstoffe verändert. Bei metallischen Werkstoffen kommt es hierdurch in der Regel zu Korn- und Phasenvergrößerungen, bei thermohärtenden Polymeren kann hierdurch eine nachträgliche Härtung erfolgen. Mit den Strukturänderungen ist sehr oft auch eine Änderung des werkstoffmechanischen Verhaltens der Materialien verbunden. Das veränderte Verformungsverhalten der Materialien kann zu Verschiebungen in einer ursprünglich optimierten Mechanik eines Aufbaus führen, welche wiederum zur Konzentration der Beanspruchung in bestimmten Strukturen führt. Andere durch Diffusion hervorgerufene werkstoffphysikalische Seiteneffekte bestehen in der Schwächung von Grenzflächen. Hierfür sind vor allem der Feuchtetransport (in Polymeren), die thermische Aktivierung der Bildung schwach haftender intermetallischer Phasen sowie die Bildung von Kirkendall-Löchern durch heterogene Interdiffusion verantwortlich.
2.4.5 Belastungsszenarien Elektronische Aufbauten werden in sehr unterschiedlichen Bereichen eingesetzt. Dadurch können die Belastungen, die auf einen elektronischen Aufbau einwirken, sehr unterschiedlicher Natur sein. In Abb. 2.30 sind die wichtigsten Belastungsszenarien unter den Gesichtspunkten der Intensität und Dauer klassifiziert. Dabei wird in impulsartige Belastungen, Vibrationsbelastungen, Biegung und thermisch-mechanische Ermüdungsbelastungen unterschieden. Impulsartige oder Schock-Belastungen sind die kürzesten und intensivsten Belastungen, denen eine elektronische Baugruppe ausgesetzt sein kann. Sie treten vor allem dann auf, wenn Baugruppen - vor allem in tragbaren Geräten wie Mobiltelefonen - nach einem freien Fall auf einen steifen unnachgiebigen Boden auftreffen (z. B. Stein). Der Aufprall regt Eigenschwingungen der im Gerät befindlichen Aufbauten an, welche jedoch schnell in ihrer Amplitude abfallen, sodass nur wenige Schwingungen zu mechanischen Beanspruchungen des Aufbaus führen. Im Gegensatz dazu wirken Vibrationsbelastungen, wie sie in vibrierenden Umgebungen (z. B. Fahrzeugen, Flugzeugen, Baumaschinen) vorkommen, als dauerhafte Schwingungsbelastungen. In Abhängigkeit von der Art und Weise, wie ein elektronisches Gerät technisch realisiert wurde, können auch erhebliche Biegebelastungen auf die Elektronik einwirken. Dies ist beispielsweise in Mobiltelefonen oder PDAs der Fall, wenn aus Gründen der Raumeinsparung die Tastatur direkt auf der Hauptplatine zusammen mit allen wichtigen Bauelementen montiert ist. Ein anderes sehr typisches Beispiel
2.4 Thermisch-mechanische Problematik elektronischer Aufbauten
69
für Biegebelastungen sind Smart-Cards, welche aufgrund ihrer geringen Dicke für die in ihnen aufgebaute Elektronik keinen steifen Rahmen bilden, sodass diese sich jeder von außen aufgebrachten Biegung anpassen muss. Neben diesen rein mechanischen Belastungen sind thermisch induzierte mechanische Verspannungen, welche durch die in 2.4.1 angesprochenen Unterschiede der thermischen Ausdehnungskoeffizienten zustande kommen, die vielleicht wichtigste Art der Belastungen für elektronische Aufbauten. Abgesehen von wenigen Ausnahmen ist jeder elektronische Aufbau ständigen Temperaturänderungen ausgesetzt. Diese reichen von einfachen Tag-Nacht-Schwankungen mit einem Temperaturhub von ΔT = 20 °C bis zu komplizierten Temperaturprofilen, wie sie vor allem in Kfzund Avionikanwendungen vorkommen. Als Beispiel für komplexere Temperaturbelastungen sind in Abb. 2.31 Temperaturkurven gezeigt, welche an verschiedenen Bauelementen einer Motorsteuereinheit im Betrieb aufgenommen wurden 140. Die Auswahl der Bauteile erfolgte anhand eines Thermografiebildes der Baugruppe, welche zuvor an einem Motorsimulator aufgenommen wurde. Die Temperaturverläufe während verschiedener Fahrsituationen, von denen die Startphase, Stadtverkehr und Autobahn exemplarisch in Abb. 2.31 dargestellt sind, zeigen die sehr unterschiedlichen Temperaturverläufe individueller Komponenten einer Baugruppe. Wie anhand der in Abb. 2.31 gezeigten Diagramme abzulesen ist, werden die Temperaturverläufe der einzelnen Komponenten zum einen von der Außentemperatur (in diesem Fall der Temperatur des Motorraums) und zum anderen durch die Verlustleistungen der Bauelemente selbst bestimmt. Letzterer Beitrag hängt von der konkreten Funktion des Bauelementes in der Schaltung ab, wodurch sich keine generellen Aussagen zur Größe von Temperaturbelastungen treffen lassen.
Intensität Schock hohe G-Last Millisekunden 1x ... 6x
Biegung hohe Auslenkung 0,5 ... 3 s 2...20*103 Zyklen Vibration niedrige G-Last 0,005 ... 0,05 s 1...20*106 Zyklen
Thermische Wechsel hohes DT, a 5 s ... 24 h, 500 ... 10000 Zyklen
Dauer
Abb. 2.30 Verschiedene Belastungsmodi von elektronischen Aufbauten
70
2 Untersuchungsgegenstand
a)
c)
b)
d)
Abb. 2.31 Aufgenommene Temperaturprofile aus Thermoelementmessungen in einer Motorsteuereinheit (ECU) während verschiedener Fahrsituationen: a) Startphase, b) Stadtverkehr, c) Autobahn. Die Anordnung der Thermopaare ist im Thermografiebild d) eingezeichnet, welches zur Bestimmung relevanter Messstellen mit einem Motorsimulator aufgezeichnet wurde. Die nummerierten Messstellen entsprechen folgenden Bauelementen auf der Motorsteuerplatine: 1: ZenerDiode (Überspannungsschutz Zündspule), 2: Leiterplattenrückseite, 3: 1206 CR (Spannungsteiler für Analogmasse), 4: PLCC68 Mikroprozessor, 5: THT-Diode, 6: THT-Leistungswiderstände (3W), 7: Außenseite Gehäuse [140]
3.1 Zusammenhang zwischen Verformung und strukturellem Aufbau
71
3 Struktur metallischer Werkstoffe 3.1 Zusammenhang zwischen Verformung und strukturellem Aufbau Die Komplexität und Vielfalt von Erscheinungen bei der Verformung von Werkstoffen wirft für deren Beschreibung folgendes grundsätzliche Problem auf. Geht man über die Beschreibung grundsätzlicher Verhaltensformen, wie elastisches Verhalten, Materialfließen oder Bruch, hinaus und kommt in den Bereich sehr spezieller Verhaltensformen, so treffen diese in einigen Fällen nur für die Beschreibung einer bestimmten Untergruppe von Werkstoffen zu, während sie für einen Großteil industriell eingesetzter Werkstoffe entweder keine bzw. nur eine geringe Bedeutung besitzen. Um zu verstehen, welche Gruppen von Werkstoffen welche Formen des Verformungsverhaltens aufweisen, ist es wichtig, sie in ihrem strukturellen Aufbau, d. h. ihrem Werkstoffgefüge, zu vergleichen. Der Schlüssel zu einem umfassenden und vertieften Verständnis des Verformungsverhaltens der Werkstoffe liegt in deren mikroskopischem Aufbau, d. h. dem Gefüge. Auf den Begriff des „Gefüges“, der in der unter dem Begriff „Microstructure“ in der englischsprachigen etwas abweichend von der deutschsprachigen Literatur behandelt wird und dem für das Verständnis des Verformungsverhaltens von Metallen besondere Bedeutung zukommt, soll später detaillierter eingegangen werden. Um den Begriff des Gefüges zunächst grob zu illustrieren, befindet sich in Abb. 3.1 und in Abb. 3.2 eine Zusammenstellung von rasterelektronenmikroskopischen Aufnahmen, welche das Gefüge der zweiphasigen Legierung des eutektischen SnPb-Lotes in verschiedenen Zustandsformen zeigen. Um den Zusammenhang zwischen der makroskopisch beobachtbaren Verformungsreaktion eines Werkstoffes und seinem Gefüge herstellen zu können, muss eine Beschreibung der Werkstoffcharakteristik aus zwei Betrachtungswinkeln erfolgen. Zum einen ist es notwendig, eine qualitative und quantitative Beschreibung der Gefügebestandteile eines metallischen Werkstoffes vorzunehmen, wozu die verschiedenen in der Metallografie genutzten Untersuchungsmethoden Aussagen liefern. Die andere Betrachtungsrichtung besteht in den qualitativen Vorstellungen sowie in den quantitativen Modellansätzen, welche den Einfluss bestimmter Gefügemerkmale auf das mechanische Verhalten beschreiben. Diese auf wirksamen Elementarmechanismen der Verformung, d. h. mikrophysikalischen Einzelvorgängen, basierende Beschreibung des Deformationsverhaltens ergänzt und vertieft die klassische phänomenologisch-werkstoffmechanische Beschreibung der Verformungseigenschaften [141,142]. Neben der Beschreibung physikalischer Hintergründe zum besseren Verständnis des phänomenologisch beobachteten Verformungsverhaltens ermöglicht die strukturelle Beschreibung metallischer Werkstoffe auch die Zuordnung zu bestimmten Untergruppen. Dies kann zum einen nützlich sein, da sich dadurch
72
3 Struktur metallischer Werkstoffe
a) Vergrößerung: x500
b) Vergrößerung: x575
c) Vergrößerung: x2000
d) Vergrößerung: x2000
Abb. 3.1 Darstellung des Gefüges der zweiphasigen Legierung des eutektischen SnPb-Lotes durch rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen: a, b) Unterschied zwischen äußerer Gestalt eines Werkstoffs in einer Struktur und dem Gefüge des Werkstoffs in dieser Struktur. Im Bild a) ist ein SnPb-Flip-Chip-Lotkontakt im Sekundärelektronenkontrast aufgenommen worden, wodurch seine Topografie deutlich zu erkennen ist (dunklere Muster auf der Oberfläche entsprechen dabei Flussmittelrückständen). Im Abbildung b) ist der gleiche SnPb-Flip-ChipLotkontakt im Rückstreuelektronenkontrast aufgenommen worden, wodurch sein zweiphasiges Gefüge gut zu erkennen ist und gleichzeitig die im Sekundärelektronenkontrast hervorgehobenen Unebenheiten der Oberfläche, welche durch die Flussmittelrückstände hervorgerufen wurden, verschwinden. Die dunklen Gebiete im Rückstreuelektronenkontrast entsprechen der zinnreichen Phase, während die hellen Gebiete der bleireichen Phase zugeordnet werden müssen. c, d) Unterschiede in der Gefügemorphologie eines Werkstoffes, dargestellt an Querschliffen von SnPb-FlipChip-Lotkontakten nach der Erstarrung im Fügeprozess, welche im Rückstreuelektronenkontrast aufgenommen wurden. Abbildung c) zeigt sehr bleireiche Phasen mit tendenziell globularem Aussehen, welche sich fein verteilt in der zinnreichen Phase befinden. Im Gegensatz dazu sind in Abbildung d) laminare Gefügestrukturen zu erkennen, welche durch bleireiche und zinnreiche Phasen gebildet wurden.
Erkenntnisse zum Verformungsverhalten von Werkstoffen aus anderen Anwendungen auch auf die in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik verwendeten Metalle übertragen lassen. Zum anderen lässt sich dadurch aber auch die
3.2 Struktureller Aufbau
a) Vergrößerung: x2000
73
b) Vergrößerung: x5000
Abb. 3.2 Darstellung des Gefüges der zweiphasigen Legierung des eutektischen SnPb-Lotes durch rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen: Abbildung a) zeigt das Gefüge der SnPbLegierung im Querschliff eines SnPb-Flip-Chip-Kontaktes nach thermischer Auslagerung. Gegenüber Abb. 3.1 c, d) sind die Gebiete der zinnreichen und bleichreichen Phase größer und in geringerer Anzahl vorhanden (Gefügevergröberung). Gleichzeitig ist eine stärkere Zuordnung der Phasen zu einzelnen Körnern zu beobachten, sodass die Phasengrenze oft einer Korngrenze entspricht. Abbildung b) zeigt das feine Erstarrungsgefüge aus Abb. 3.1 c) mit herausgeätzter bleireicher Phase. Dadurch ist ein Eindruck zu gewinnen, wie die bleireiche in die zinnreiche Phase eingebettet ist.
Behandlung des Verformungsverhaltens auf das begrenzen, was für die in der Aufbau- und Verbindungstechnik eingesetzten Werkstoffe zutreffend ist. Hierbei ist zu beachten, dass die Auswahl der für diesen Anwendungsbereich geeigneten Werkstoffe nach bestimmten physikalischen Eigenschaften, wie Leitfähigkeit, Schmelzpunkt und Verarbeitbarkeit, getroffen wurde, welche wiederum mit bestimmten strukturellen Merkmalen korrelieren, wodurch von vornherein die Anzahl bestimmter Klassen metallischer Werkstoffe einschränkt wird. Durch diese eingeschränkte Auswahl an eingesetzten Materialien ergibt sich wiederum die Möglichkeit, für diese die vielfältigen Formen der Verformung bei den zum Teil sehr komplexen Beanspruchungszuständen der Werkstoffe detaillierter betrachten zu können.
3.2 Struktureller Aufbau 3.2.1 Strukturebenen Werkstoffe besitzen, ausgenommen von einigen Sonderfällen wie dem für die Herstellung von Halbleiterbauelementen verwendeten einkristallinen Silizium, in der Regel einen mehrschichtigen Strukturaufbau. Dabei herrschen auf unterschied-
74
3 Struktur metallischer Werkstoffe
lichen Größenniveaus, z. B. nm-, μm- und mm-Niveau, unterschiedliche Organisationsstrukturen der diesen Niveaus zugehörigen Strukturelemente vor. Diese verschiedenen Organisationsstrukturen sind in einer strukturellen Hierarchie einander zugeordnet, welche während der Formierung des Werkstoffes, z. B. bei der Erstarrung einer Metallschmelze, entsteht. In den verschiedenen Phasen der Werkstoffformierung, welche durch eine Aggregation individueller Struktureinheiten gekennzeichnet ist, kommt es zuerst zur Ausbildung struktureller Einheiten niederer Hierarchie, aus deren Zusammenschluss sich nach und nach Strukturelemente höherer Hierarchie ergeben. Beim Arrangement individueller Struktureinheiten treten in der Regel Baufehler auf, welche zusätzliche Zwischenebenen in die Hierarchie regulärer Strukturelemente einschieben. Die Struktureinheiten verschiedener Hierarchieebenen befinden sich auf sehr unterschiedlichen Größenniveaus. Die strukturelle Hierarchie eines metallischen
0,1 mm
Korngefüge
10 µm
einzelnes Korn
0,2 µm
Versetzungszelle
10 nm
individuelle Versetzung
0,5 nm
Kristallgitter
Abb. 3.3 Struktureller Aufbau der Metalle nach ASME [149]
3.2 Struktureller Aufbau
Leerstelle
75
Substituiertes Fremdatom Zwischengitteratom Stufenversetzung Kleinwinkelkorngrenzen Großwinkelkorngrenze Korngrenzentripel Versetzungsquelle
Elementarzelle, z.B. kubisch Schraubenversetzung Versetzungsaufstauung an Korngrenzen inkohärente Ausscheidungen
hochschmelzende Fremdphase Korngrenzenausscheidungen
kohärente Ausscheidungen
schalenförmige Korngrenzenausscheidungen
Abb. 3.4 Schematische Darstellung der Strukturebenen einer metallischen Legierung - die Darstellung erfolgt verzerrt, um die einzelnen Strukturelemente trotz ihrer stark unterschiedlichen Größenniveaus in einem Schema gemeinsam zu zeigen (adaptiert aus [150])
Werkstoffes ist schematisch in Abb. 3.3 und Abb. 3.4 dargestellt. Die niedrigste strukturelle Hierarchieebene ist die Einheitszelle des Kristallgitters, in welchem sich Metallatome aufgrund ihrer Bindungsart anordnen. Die Dimension einfacher Elementarzellen, wie sie für Gitter reiner Metalle üblich sind, liegt bei knapp 1 nm. Ordnen sich hingegen Atome verschiedener metallischer Elemente in einer sogenannten intermetallischen Phase an, so können sich kompliziertere Elementarzellen bilden, deren Größe bis zu einigen nm betragen kann. Innerhalb eines Gitters befinden sich Baufehler, wie Leerstellen oder Versetzungen, welche den regulären Gitteraufbau abändern. Während punktförmige Baufehler, wie Leerstellen, Zwischengitter- oder Fremdatome, den Gitteraufbau nur lokal stören, führen linienhafte Baufehler, wie Versetzungen, zu weitreichenden Abänderungen des Gitteraufbaus und stellen daher die nächste Ebene der strukturellen Hierarchie dar. Versetzungen können als einzelne linienhafte Störungen oder als eine Verknäulung ineinander verhakter Versetzungslinien, d. h. als Versetzungs-
76
3 Struktur metallischer Werkstoffe
netzwerk, auftreten. Um die Größe einer Versetzungsstruktur anzugeben, wird üblicherweise der durchschnittliche Abstand zwischen Versetzungen herangezo– 1⁄ 2 gen, welcher sich mit ρ ändert, wobei ρ der Versetzungsdichte entspricht. Charakteristische Versetzungszellstrukturen haben Abmessungen im Mikrometerbereich [149] (siehe Abb. 3.3). Die nächste Hierarchieebene wird durch Korngrenzen dargestellt, welche aneinandergrenzende Kristallite voneinander abgrenzen. Korngrenzen sind schalenartige Gebilde, welche eine Schalendicke von wenigen Atomlagen besitzen. Die Größe der von ihnen eingeschlossenen Körner umfasst einen weiten Bereich, welcher etwa bei 1 μm beginnt und bei etwa 1 mm endet. Die Größe der Körner eines metallischen Werkstoffes liegt jedoch in der Regel innerhalb einer Größenordnung. Die verschiedenen Körner eines Werkstoffes bilden durch ihre Anordnung untereinander eine Kornstruktur, aus der sich eine Textur des Werkstoffgefüges ergibt. Neben der Form und Ausrichtung einzelner Körner ist eine solche Textur in mehrphasigen Systemen auch von der Anordnung der Phasen untereinander bzw. von der Verteilung und Größe von Ausscheidungen und Fremdteilchen abhängig. Aufgrund dieser vielfältigen Abhängigkeiten ergibt sich bei mehrphasigen Gefügen eine große Vielfalt morphologischer Varianten (Abb. 3.5), welche sich schwer systematisieren und einheitlichen Größenbereichen zuordnen lässt. Terminologisch wird der strukturelle Aufbau über die beiden Begriffe atomarer Aufbau und Gefüge bezeichnet. Der atomare Aufbau (engl. atomic structure, nanostructure) betrifft die Struktur der Atome und den aus ihren interatomaren Wechselwirkungen folgenden Aufbau der Grundgitter. Der Begriff des Gefüges (engl. microstructure) umfasst alle höher liegenden Ebenen der Strukturhierarchie, welche im Größenbereich zwischen 1 nm ... 1 mm liegen und durch die Methoden der Licht- und Elektronenmikroskopie sichtbar gemacht werden können [141]. Der mehrschichtige strukturelle Aufbau von Metallen wird in verschiedenen Quellen [146-149, 164] unterschiedlich dargestellt. Aufgrund der Vielfalt von Möglichkeiten, wie die verschiedenen in der strukturellen Hierarchie enthaltenen Elemente miteinander verankert sein können, ist es sehr schwierig, alle Ebenen in einer Abbildung darzustellen. Eine detaillierte Darstellung der einzelnen Strukturelemente (in Kap. 3.2.2, 3.2.3) soll ihren zum Teil vielfältigen Charakter verdeutlichen1. 1. Eine Ausnahme bilden nanokristalline Materialien, welche Körner im Nanometerbereich besitzen. Jedoch trifft bei nanokristallinen Materialien aufgrund der in ihnen hervorgerufenen Besonderheiten der Nanostruktur die gesamte hier vorgenommene Beschreibung der Strukturhierarchie nicht mehr zu. Alle in der Arbeit vorgenommenen Betrachtungen beziehen sich aber auf den hier dargestellten gewöhnlichen strukturellen Aufbau von metallischen Werkstoffen, da in nanokristallinen Materialien aufgrund der Besonderheiten ihres Aufbaus oft völlig andere Zusammenhänge in Bezug auf das Zusammenwirken der der Verformung zugrunde liegenden Elementarmechanismen vorherrschen. Alle Betrachtungen zu Versetzungsbewegungen, welche eine wesentliche Grundlage für diese Arbeit bilden, werden hinfällig, wenn sich Korngrößen aus dem Submikrometerbereich deutlich in den Nanometerbereich verschieben. In den meisten in der Aufbau- und Verbindungstechnik vorkommenden Strukturen erreichen die Korngrößen allerdings im Mittel ein Niveau, welches oberhalb dieses kritischen Nanometerbereiches liegt.
3.2 Struktureller Aufbau
a) Vergrößerung: x500
b) Vergrößerung: x250
c) Vergrößerung: x1600
d) Vergrößerung: x500
e) Vergrößerung: x1600
f) Vergrößerung: x500
77
Abb. 3.5 Morphologie mehrhphasiger Gefüge, linke Spalte (Bilder a, c, e): zinnreiche (hell) und bleireiche Phase (dunkel) in naheutektischen SnPb-Loten; rechte Spalte (Bilder b, d, f): β-SnMatrix (hell), Ag3Sn-Phasen (dunkel), Cu6Sn5-Phasen (mitteldunkel) in naheutektischen SnAgCu-Loten
78
3 Struktur metallischer Werkstoffe
3.2.2 Atomarer Aufbau
3.2.2.1 Atombindungen Atome, welche die elementaren Bausteine eines Festkörpers repräsentieren, bestehen grundsätzlich aus einem von einer Elektronenhülle umgebenen Kern (vgl. Abb. 3.6). Viele grundsätzlichen Verformungseigenschaften eines Festkörpers hängen dabei davon ab, wie diese Elektronenhülle aufgebaut ist. Betrachtet man z. B. Elemente des Periodensystems mit metallischem Charakter, so wird man feststellen, dass diese oft nur eine geringe Zahl von Elektronen auf der äußersten Schale besitzen. Dies hängt damit zusammen, dass die äußerste Schale die Wechselwirkung mit anderen Atomen bestimmt. Das dominierende Prinzip dieser Wechselwirkung besteht in der Auffüllung bzw. der Leerung der äußeren Schale, sodass die nach dieser Wechselwirkung äußerste besetzte Schale - bei allen höheren Schalen - mit acht Elektronen gefüllt ist (Edelgaskonfiguration). Dieses Prinzip bildet die Grundlage der chemischen Bindung. In Abhängigkeit von der Anzahl der Außenelektronen wechselwirkender Atome können sich unterschiedliche Bindungstypen ergeben, welche wiederum das Verformungsverhalten des Festköpers sehr stark beeinflussen. Hauptvalenzbindungen, d. h. starke Bindungen kurzer Reichweite, werden dabei in heteropolare und kovalente Bindungen sowie Metallbindungen unterschieden. In Abb. 3.6 wird in einer schematischen Darstellung eine Übersicht über diese drei Arten von Hauptvalenzbindungen gegeben. Während die ersten beiden Bindungstypen dadurch gekennzeichnet sind, dass die beteiligten Partneratome die Elektronen der äußersten Schale so austauschen, dass eine Edelgaskonfiguration erreicht wird, ist die Metallbindung dadurch charakterisiert, dass die Zahl der Außenelektronen aller beteiligten Partneratome bei weniger als vier liegt und somit eine zueinander gerichtete räumliche Anordnung über eine Ionenbindung oder eine kovalente Bindung nicht möglich ist. In diesem Fall versuchen die Atome, eine Edelgaskonfiguration zu erreichen, indem sie ihre Außenelektronen an ein sie umgebendes Elektronengas abgeben, wodurch die Elektronen nicht mehr einem bestimmten Atom zugeordnet sind. Die Bindung der positiv geladenen Ionenrümpfe zueinander resultiert aus dem sie umgebenden negativ geladenen Elektronengas. Die Metallbindung ist die unter den Elementen des Periodensystems am weitesten verbreitete, da zum einen etwa 3/4 aller natürlichen Elemente einen metallischen Charakter aufweisen und zum anderen kein besonderes stöchiometrisches Verhältnis für diese Art der Bindung notwendig ist. Aus ihrem besonderen Charakter folgt eine gegenüber der kovalenten und heteropolaren Bindung geringere Bindungskraft der Atome untereinander sowie eine erhöhte Möglichkeit der so gebundenen Ionenrümpfe, einen Platzwechsel innerhalb ihrer räumlichen Anordnung vorzunehmen. Beides ist für die Verformungseigenschaften metallischer Festkörper von besonderer Bedeutung [143].
3.2 Struktureller Aufbau
Atomkern vollbesetzte Schale Valenzelektronen
Cl
79
Na
Abgabe eines Elekrtons Ionenbindung
Si
Si
Elektronenpaar
Me+
Me+
Elektronengas Si
Si
Atombindung
Me+
Me+
Metallbindung
Abb. 3.6 Schematische Darstellung von Atom-, Ionen- und Metallbindung
3.2.2.2 Kristallsysteme, Raumgitter Die Bindung zwischen Atomen gibt zunächst keine genaue Auskunft darüber, wie die Atome räumlich untereinander angeordnet sind. Für diese Anordnung existiert die Möglichkeit, amorphe und kristalline Strukturen auszubilden. Im Gegensatz zur amorphen Struktur ist ein kristalliner Aufbau durch eine bestimmte regelmäßige Ordnung gekennzeichnet. Metalle verfügen mit Ausnahme stark unterkühlter Schmelzen über einen kristallinen Aufbau. Diese regelmäßige Anordnung der Metallatome kann mit den Punkten eines Raumgitters verglichen werden. Die Struktur der Metallgitter wird aufgrund des richtungsunabhängigen Charakters der Metallbindung vor allem durch das Prinzip der dichtesten Packung bestimmt. Der Hauptteil der Metalle kristallisiert dabei in drei Gittertypen - dem kubisch-flächenzentrierten Gitter (kfz), dem kubisch-raumzentrierten Gitter (krz) und dem hexagonal dicht gepacktesten Gitter (hdp). Betrachtet man die in der Aufbau- und Verbindungstechnik vorrangig verwendeten Metalle - Cu, Al, Ni, Pb, Au, Ag, Pt - so fällt auf, dass diese im kfz-Gitter kristalli-
80
3 Struktur metallischer Werkstoffe
sieren. Einzige Ausnahme bilden Sn und Bi. Sn kristallisiert in zwei unterschiedlichen Gittertypen, wobei für seine Verwendung in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik das tetragonal raumzentrierte Gitter wichtig ist. Bi bildet ein monoklines Gitter aus. Andere metallische Elemente kommen in der Regel nur als Legierungsbestandteile bzw. in intermetallischen Phasen vor, weshalb ihr Gittertyp ohne Interesse für die weitere Betrachtung ist. In Abb. 3.7 sind das kubisch-flächenzentrierte Gitter sowie das raumzentrierte-tetragonale β-Sn Gitter schematisch dargestellt.
tetragonal-raumzentrierte Elementarzelle von b-Zinn
kubisch-flächenzentrierte Elementarzelle
1/4
1/2
1/2
1/2
1/2
3/4
1/2
3/4
1/4
Abb. 3.7 Schematische Darstellung der Elementarzelle eines kubisch-flächenzentrierten Gitters (rechts, entspricht Elementen: Cu, Al, Ni, Pb, Au, Ag, Pt) und eines β-Sn Gitters (links) [555]
3.2.2.3 Intermetallische Phasen Wenn zwei oder mehrere metallische Elemente in einem bestimmten stöchiometrischen Verhältnis vorliegen, so können diese ebenfalls in einem bestimmten Gitter kristallisieren, welches sich von den Ausgangsgittern der beteiligten Ele-
3.2 Struktureller Aufbau
81
mente unterscheidet. Solche Gitter werden als intermetallische Phasen bezeichnet und sind in der Regel komplizierter als die reiner Metallgitter [158]. Obwohl sich der Terminus „Intermetallische Phase“ auf die Kombination zweier oder mehrerer metallischer Elemente beschränken sollte, wird auch die große Gruppe metallischer Phasen, die nichtmetallische Elemente, wie z. B. Bor, Phosphor, Schwefel oder Kohlenstoff enthalten, unter diesem Begriff behandelt [159]. Während die Anzahl der in der Aufbau- und Verbindungstechnik verwendeten Metalle begrenzt ist, gibt es eine große Anzahl intermetallischer Phasen, die für sie wichtig sind. Die kristalline Struktur der beiden wichtigsten intermetallischen Phasen - der sich zwischen Sn und Cu ausbildenden Cu3Sn- und Cu6Sn5-Phase - sind in Abb. 3.8 und Abb. 3.9 schematisch dargestellt. Die Cu6Sn5-Phase lässt sich im Lotgefüge in der Regel gut erkennen, da sie aufgrund ihrer kristallinen Struktur dazu neigt, hexagonale Querschnitte auszubilden. Hintergrund der Ausbildung intermetallischer Phasen sind die höheren Bindungskräfte zwischen ungleichen Atomen im Gittertyp der intermetallischen Phase
Sn g - Phase
Cu
e-Cu3Sn - Phase
Abb. 3.8 Elementargitter der γ-Phase [153] und der ε-Sn3Cu-Phase des SnCu-Systems [154, 155]. Beide Phasen kommen im gleichen Konzentrationsbereich jedoch bei unterschiedlichen Temperaturen vor.
82
3 Struktur metallischer Werkstoffe
h-Cu6Sn5 - Phase
Sn Cu
Abb. 3.9 Elementargitter der η-Sn5Cu6-Phase [156, 157] und rasterelektronenmikroskopische Aufnahme einer Sn5Cu6-Phase in einem SnAgCu-Lot, in der sich die hexagonale Grundstruktur widerspiegelt
im Vergleich zu den Bindungskräften zwischen den gleichen Atomen in den monometallischen Gittern der Ausgangselemente. Daher ordnen sich die verschiedenen Atomtypen in einer bestimmten Art und Weise im Gitter der Phase an, sodass geordnete Kristallstrukturen entstehen, in welchen die Atome einer Sorte bevorzugt von den Atomen anderer Sorten umgeben sind. Die Kristallstruktur einer intermetallischen Phase wird durch die Bindungskräfte zwischen den Atomen bestimmt, welche wiederum von den spezifischen Elektronenkonfigurationen abhängen. Der Zusammenhang zwischen den atomaren Eigenschaften der Ausgangselemente und der Gitterstruktur der entstehenden Phasen ist jedoch nicht trivial, wodurch verschiedene Kriterien existieren, um Struktur- und Phasentypen miteinander in Beziehung zu setzen, d. h. eine Kristallstruktur für eine bestimmte Phase bzw. einen bestimmten Phasentyp zu erklären. In diesem theoretischen Kontext hat sich herausgestellt, dass anders als für monometallische Gitter für die intermetallischen Phasen nicht grundsätzlich von einem metallischen Bindungstyp ausgegangen werden kann. Intermetallische Phasen lassen sich daher nicht einheitlich besprechen und werden üblicherweise in verschiedene Gruppen, z. B. Zintl-Phasen, Laves-Phasen, Hume-Rothery-Phasen usw., eingeteilt [160]. Um einen Eindruck von Komplexität und Größe verschiedener Elementarzellen zu vermitteln, sind verschiedene für den Bereich der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik wichtige metallische Elemente und intermetallische Phasen
3.2 Struktureller Aufbau
83
in Tabelle 3.1 mit ihren Kristallstrukturen, Gitterkonstanten, Dichten und Elementarzellenvolumina einander gegenübergestellt. Es ist zu erkennen, dass die Gitter dieser Elemente und Phasen bezüglich ihrer Volumina und Gitterkonstanten vergleichbare Dimensionen aufweisen, was eine wichtige Voraussetzung für den Aufbau stabiler Phasengrenzflächen ist. Tabelle 3.1 Kristallstruktur, Gitterkonstante, Dichte, Elementarzellenvolumen ausgewählter metallischer Elemente und intermetallischer Phasen [151-158] Element
Kristallstruktur
Gitterkonstanten
Dichte
V(Elementarzelle)
IMV
(Raumgruppe)
(nm)
(g/cm3)
(nm3)
Sn
tetragonal (I41/amd)
a = 0,58 c = 0,32
7,28
0,108
Cu
kubisch (Fm 3 m)
a = 0,36
8,93
0,047
Ag
kubisch (Fm 3 m)
a = 0,41
11,68
0,068
Pd
kubisch (Fm 3 m)
a = 0,39
10,52
0,059
Cu3Sn
orthorhombisch (Cmcm)
a = 0,55 b = 0,48
8,97
0,114
a = 0,42 c = 0,51
8,28
0,120
a = 0,59 b = 0,48
10,03
0,147
c = 0,43 Cu6Sn5
hexagonal (P63/mmc)
Ag3Sn
orthorhomb. (Pmmn)
c = 0,51 Ag5Sn
hexagonal (P63/mmc)
a = 0,29 c = 0,48
9,94
0,036
Pd3Sn2
hexagonal (P4/mmm)
a = 0,44 c = 0,57
9,79
0,095
PdSn
orthorhomb. (Pmmn)
a = 0,63 b = 0,39
9,4
0,149
c = 1,22
3.2.3 Werkstoffgefüge
3.2.3.1 Arten von Gitterbaufehlern Die perfekte Gitterstruktur eines Kristalls ist ein theoretisches Konzept. In natürlich vorkommenden Metallen wird die Fernordnung, welche durch die Periodizität des Kristallaufbaus der Metalle zustande kommen würde, durch sogenannte Gitterstörungen räumlich begrenzt. Gitterstörungen führen zu Unregelmäßigkeiten und Abweichungen vom Idealkristall und fügen im strukturellen Aufbau
84
3 Struktur metallischer Werkstoffe
der Metalle höhere Strukturebenen ein, durch die unter anderem die mechanischen Eigenschaften metallischer Werkstoffe beeinflusst werden. Frenkel [144] führte als Erster aus, dass bei einer vom absoluten Nullpunkt verschiedenen Temperatur die Anordnung der Atome im Kristall nicht der eines natürlichen Gitters entspricht. Die Entropie der Mischung, welche durch die große Anzahl der möglichen Konfigurationen in den Gitterstörungen, die im Kristall auftreten können, entsteht, wird immer zu einer Verringerung in der Freien Energie führen, egal wie hoch die Bildungsenergie für die Störung auch sein mag. Gitterstörungen können dabei verschiedene geometrische Ausmaße annehmen. Die geringste geometrische Störung des Idealgitters besteht in punktförmigen Defekten, wie Leerstellen, Zwischengitteratomen und Substitutionsatomen. Versetzungen stellen linienhafte Defekte dar. Flächenhafte Gitterstörungen kommen durch Korngrenzen und Phasengrenzflächen zustande. Der Entropiegewinn durch eine Störung verhält sich umgekehrt zur geometrischen Ausdehnung und ist für punktförmige Defekte am größten [145].
3.2.3.2 Punktdefekte Punktdefekte, wie Leerstellen, Zwischengitteratome und Substitutionsatome, sind in der Regel intrinsischer Natur. Dabei ist die Störung, welche durch Leerstellen und Substitutionsatome erzeugt wird, in der Regel kleiner als die der Zwischengitteratome, da diese sich ins ungestörte Gitter einbauen. In metallischen Werkstoffen sind Leerstellen der dominierende Punktdefekt. Da sie durch den Wechsel von Gitterplätzen einen Atomtransport ermöglichen, kommt ihnen für alle mit der Festkörperdiffusion verbundenen Verformungsprozesse, z. B. Kriechen, eine besondere Bedeutung zu. Zwischengitter- und Substitutionsatome treten oft in Zusammenhang mit metallischen Legierungen auf. Durch die durch sie hervorgerufenen Gitterstörungen können bestimmte Verformungseigenschaften verändert werden [145]. Für die in der Aufbau- und Verbindungstechnik verwendeten Legierungen sind vor allem Substitutionsatome von Bedeutung. In der schematischen Darstellung in Abb. 3.10 wird ein Überblick über die verschiedenen Arten von Punktdefekten gegeben. Wegen ihrer Bedeutung für die Mechanismen der Verformung für die in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik verwendeten Metalle und Legierungen sind unter diesen Defekten vor allem Leerstellen und Substitutionsatome wichtig, welche nachfolgend näher erläutert werden sollen. Leerstellen: Gitterplätze, die nicht von einem Atom besetzt sind, heißen Leerstellen. Leerstellen sind Bestandteile der Realstruktur von Metallen im thermodynamischen Gleichgewicht. Ihre Konzentration ist temperaturabhängig und wird als Leerstellendichte ( c v ) bezeichnet. Für die meisten Metalle beträgt sie bei Raumtemperatur etwa 10-12 und nimmt mit der Temperatur exponentiell zu, sodass sie kurz vor dem Schmelzpunkt einen Wert von etwa 10-4 erreicht. Diese exponentielle Zunahme der Leerstellendichte mit der Temperatur ist die wesentliche Ursache für die Dominanz sogenannter diffusionskontrollierter Mechanismen bei hohen
3.2 Struktureller Aufbau
Leerstelle
Zwischengitteratom
kleineres Fremdatom
größeres Fremdatom
85
Abb. 3.10 Überblick über die verschiedenen Typen von Punktdefekten in Kristallgittern (Schematische Darstellung)
homologen Materialtemperaturen. In Abb. 3.11 ist der Zusammenhang zwischen Leerstellendichte und Temperatur, welche experimentell an Kupferproben ermittelt wurde, dargestellt [145], wobei sich für die temperaturstellenabhängige Leerstellendichte der folgende Zusammenhang ergibt: ln ( c v ) ∼ – --1T
(3.1)
Substitutionsatome: Aufgrund ihres Bindungstyps können die meisten Metalle in ihrem Gitter bestimmte Mengen anderer Atome aufnehmen. Dabei wird der Gittertyp des Grundmetalls nicht geändert. Fremdatome werden in das Wirtsgitter des Grundmetalls eingebaut, wodurch es in Abhängigkeit von der Größe des Fremdatoms elastisch verspannt wird. Kristalle mit gelösten Fremdatomen werden im Deutschen als Mischkristalle und im Englischen als „solid solution“ (feste Lösung)
86
3 Struktur metallischer Werkstoffe
-3
Au
log cv
-4
Cu -5
1000 900
800
700
600
500
400
T in °C
Abb. 3.11 Zusammenhang zwischen Leerstellendichte und Temperatur bei Gold (Abwärtspfeil) und Kupfer (Aufwärtspfeil), ermittelt durch Positronenannihilation bzw. Differenzielle Dilatometrie (in einer 1/T Darstellung), adaptiert aus [145]
bezeichnet. Die Anzahl der Fremdatome, die sich im Wirtsgitter lösen lassen, hängt von der Temperatur und vom Größenunterschied zwischen Fremd- und Wirtsgitteratomen ab. Unterscheiden sich die beiden Atomsorten in ihrer Größe um weniger als 15%, so kann sich eine vollständige Mischbarkeit zwischen den Metallen ergeben. Grundlegend erreichen die verschiedenen Elemente des Periodensystems trotz ihrer sehr unterschiedlichen Anzahl von Elementarladungen recht ähnliche Atomradien, da mit der steigenden Anzahl von Elektronen in der Hülle auch die Gesamtladung steigt, wodurch es zu einer stärkeren Kontraktion kommt. Die präzise Ableitung der Größe aus der Ordnungszahl ist schwierig, da die Elektronenhülle im engeren Sinne keine scharfen Grenzen aufweist. Zwar ließe sich aufgrund der Wellengleichung für die äußere besetzte Schale ein Radius ableiten, da sich die Betrachtung der Lösung von Fremdatomen jedoch nicht auf ein Gas, sondern auf ein Gitter bezieht, ist die Entfernung zwischen zwei benachbarten Atomen ausschlaggebend, welche wiederum sehr stark von der interatomaren Bindungskraft abhängt. Tabelle 3.2 gibt einen Überblick über verschiedene Atomradien in Bezug zum jeweiligen Bindungstyp. Die für die Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik wichtigsten Systeme mit vollständiger Mischbarkeit sind Cu-Ni, Au-Ag und Au-Cu. Systeme mit vollständiger Mischbarkeit sind aber eher die Ausnahme. In der Regel ist die Löslichkeit der Fremdatome im Wirtsgitter beschränkt. Im Falle begrenzter Löslichkeit von Fremdatomen in einem Wirtsgitter nimmt diese in der Regel mit der Temperatur ab. Im Sn-Pb System betragen die Löslichkeiten der Sn-Atome im PbGitter bzw. der Pb-Atome im Sn-Gitter jeweils 19,1% und 2,5% am eutektischen
3.2 Struktureller Aufbau
87
Punkt und fallen bei Raumtemperatur auf Werte von 3,8% bzw. auf eine nahezu Unlöslichkeit von Pb-Atomen im Sn-Gitter. Tabelle 3.2 Berechnete Radien von Atomen und Ionen ausgewählter Elemente in Abhängigkeit vom Bindungstyp in Ångström [184] Element
Bindungstyp van der Waals
kovalent
(Koordinationszahl)
O
1,4
Al
metallisch
ionisch (Anzahl freier Ladungen der Kationen (-) o. Anionen (+))
0,74
-
1,35 (-2); 0,09 (+6)
-
1,25
1,43 (12)
0,55 (+3)
P
1,9
1,1
-
1,86 (-3); 0,44 (+3); 0,35 (+5)
Cr
-
1,17
1,25 (8)
0,89 (+2); 0,65 (+3); 0,36 (+6)
Ni
-
1,15
1,25 (12)
0,87 (+2)
Cu
-
1,17
1,27 (12)
0,96 (+1); 0,72 (+2)
Pd
-
1,28
1,37 (12)
0,80 (+2); 0,65 (+4)
Ag
-
1,34
1,44 (12)
1,13 (+1); 0,89 (+2)
Pt
-
1,29
1,38 (12)
1,06 (+2); 0,92 (+4)
Au
-
1,29
1,37 (12)
1,37 (+1); 0,85 (+3)
Pb
-
1,54
1,71 (12)
2,15 (-4); 1,32 (+2); 0,84 (+4)
Bi
-
1,52
1,74 (12)
2,13 (-3); 1,20 (+3); 0,74 (+5)
In
-
1,50
1,57 (12)
0,92 (+3)
Sn
-
1,41
1,58 (12)
2,94 (-4); 1,02 (+2); 0,74 (+4)
Sb
2,2
1,41
1,61 (12)
2,08 (-3); 0,90 (+3); 0,62 (+5)
3.2.3.3 Linienförmige Defekte Versetzungen ziehen sich als linienförmiger Baufehler durch den Kristall. Tatsächlich sollte man jedoch von röhrenförmigen Defekten mit einem Radius von einigen Atomabständen sprechen, welche sich durch den Kristall ziehen. Innerhalb dieser Röhre sind die Atome zueinander verschoben, sodass sich ihre Koordinaten von dem des perfekten Gitters deutlich unterscheiden. Außerhalb der Röhre liegt jedoch eine perfekte Gitteranordnung vor. In der Realität gibt es jedoch keine
88
3 Struktur metallischer Werkstoffe
Versetzungskern
Abb. 3.12 Stufenversetzung
scharfe Grenze zwischen dem Inneren und dem Äußeren der Versetzungsröhre, sondern vielmehr einen allmählichen Übergang. Überdies muss der Querschnitt der Röhre, welche etwas irreführend als Versetzungskern bezeichnet wird, keinen kreisförmigen Querschnitt besitzen [161]. Versetzungen können in zwei verschiedenen Formen auftreten - als Stufenversetzung und als Schraubenversetzung. In Abb. 3.12 ist eine Stufenversetzung schematisch dargestellt. Sie teilt den Kristall in zwei Ebenen, wobei die obere Ebene eine Atomreihe mehr enthält als die untere. Bei Schraubenversetzungen (Abb. 3.13)werden die Gitterebenen des Kristalls um die senkrecht zu ihnen stehende Versetzungslinie wendelförmig verzerrt. Reale Versetzungen treten in der Regel als gemischte Versetzung auf, d. h., verschiedene Abschnitte der Versetzungslinie treten als Stufen- und Schraubenversetzung auf. Im Allgemeinen enden oder beginnen Versetzungen an der Oberfläche des Kristalls. Innerhalb des Kristalls bilden sie geschlossene Linienzüge. Versetzungen sind eine wichtige Voraussetzung für die leichte plastische Verformbarkeit von Metallen. Ihre Häufigkeit im
Versetzungskern
Abb. 3.13 Schraubenversetzung
3.2 Struktureller Aufbau
89
Kristall, die sogenannte Versetzungsdichte, hängt von verschiedenen Faktoren, wie der Temperatur und der mechanischen Spannung, ab. Versetzungen können sich vervielfachen, aber auch annihilieren (sich gegenseitig vernichten).
3.2.3.4 Körner und Korngrenzen Korngrenzen trennen Bereiche gleicher Kristallstruktur, aber unterschiedlicher Orientierung voneinander. Durch eine Drehung im Raum wäre es möglich, diese getrennten Bereiche wieder ineinander zu überführen. Für kubisch-flächenzentrierte Kristalle gibt es aufgrund der Symmetrie des Gitters 24 Möglichkeiten für diese Drehung. Der kleinste dieser möglichen Drehwinkel wird als Missorientierungswinkel bezeichnet. In Abhängigkeit vom Betrag dieses Winkels lassen sich Korngrenzen in Kleinwinkelkorngrenzen und Großwinkelkorngrenzen einteilen. Als Kleinwinkelkorngrenzen werden alle Korngrenzen mit einem Missorientierungswinkel unterhalb 15° angesehen, als Großwinkelkorngrenzen alle mit einem größeren Missorientierungswinkel θ . Diese Klassifizierung geht von der Annahme aus, dass Missorientierungen bis zu 15° allein durch Versetzungen entstehen können. Zur Realisierung größerer Winkel müsste der Abstand der Versetzungen so klein werden, dass sich die Versetzungskerne überlagern würden. Großwinkelkorngrenzen besitzen daher keine regelmäßige Atomanordnung und sind oft einige Atomlagen breit, wodurch sie für die Versetzungsbewegung sehr effektive Hindernisse darstellen. Aus diesem Grund werden die durch die Korngrenzen zueinander abgegrenzten Bereiche auch in Körner und Subkörner unterschieden. Als Korn ist ein dreidimensionaler Bereich zu verstehen, der vollständig von einer Großwinkelkorngrenze eingeschlossen wird. Innerhalb solcher Körner können Subkörner existieren, die voneinander durch Kleinwinkelkorngrenzen abgegrenzt sind. Die Struktur von Kleinwinkelkorngrenzen lässt sich als eine bestimmte Anordnung von Versetzungen darstellen. Den einfachsten Fall bildet dabei eine symmetrische Kipp-Korngrenze (Abb. 3.14), welche sich durch eine parallele Anordnung von Stufenversetzungen ergibt. Die Korngrenze verläuft entlang der sich daraus resultierenden Stufenversetzungswand und steht senkrecht auf der Gleitebene. Der Missorientierungswinkel dieser Kipp-Korngrenze ergibt sich aus dem Abstand der Versetzungen entlang der Korngrenze h mit b θ = --- , h
(3.2)
wobei b dem Burgersvektor entspricht, die Energie einer solchen Kippkorngrenze γ s ergibt sich aus [162]: γ s = γ 0 ⋅ θ ⋅ ( A – ln ( θ ) ) ,
(3.3)
90
3 Struktur metallischer Werkstoffe
wobei γ 0 = G ⋅ b ⁄ 4π ( 1 – ν ) mit G = Schubmodul und ν = Querkontraktionszahl, A = 1 + ln ( b ⁄ 2πr 0 ) mit r 0 = Radius des Versetzungskerns, welcher zwischen 1…5 ⋅ b angenommen wird. Gemäß der Formulierung in Gleichung (3.3) nimmt die Energie der Kleinwinkelkorngrenze degressiv mit dem Missorientierungswinkel θ bzw. der Zahl der Versetzungen zu. Ein zweiter einfacher Grenzfall von Kleinwinkelkorngrenzen ergibt sich aus der Anordnung von zwei Scharen von Schraubenversetzungen. Hierbei entsteht eine Drehkorngrenze (Abb. 3.14), deren Missorientierungswinkel θ senkrecht zur Korngrenze steht und sich wiederum aus Gleichung (3.2) ergibt. Im allgemeinen Fall ergibt sich die Kleinwinkelkorngrenze jedoch aus Versetzungen mit zwei oder mehr verschieden gerichteten Burgersvektoren, sodass sich ihre Gestalt aufgrund der unterschiedlichen Typen an beteiligten Versetzungen schwer einheitlich beschreiben lässt. Die Gestalt von Großwinkelkorngrenzen lässt sich nicht so einfach beschreiben wie die der Kleinwinkelkorngrenzen. Die bis heute plausibelste Erklärung lieferten Kronberg und Wilson [163] über das Konzept eines Koinzidenzgitters, welches die
Drehkorngrenze
Kleinwinkelkorngrenze Grenze
Korngrenze
asymmetrische Kippkorngrenze
Drehachse
symmetrische Kippkorngrenze
Q Symmetrieebene
Korngrenze
Kippachse und Achse der Korngrenzenrotation
Abb. 3.14 Schematische Darstellung der prinzipiellen Möglichkeiten, Korngrenzen in einem Gefüge ausbilden zu können. Reale Korngrenzen bilden sich in der Regel als Mischtypen und enthalten Elemente aus verschiedenen prinzipiellen Möglichkeiten der Korngrenzenausbildung (adaptiert aus [164]).
3.2 Struktureller Aufbau
a)
91
b)
Abb. 3.15 Großwinkelkorngrenzen: a) Koinzidenzgitter Σ5 , welches sich aus zwei um einen Missorientierungswinkel von 36,9 ° entlang der Achse gegeneinander verdrehten einfachen kubischen Gittern ergibt. Die gefüllten Kreise entsprechen den gemeinsamen Gitterplätzen, b) kohärente Zwillingsgrenze mit Σ = 3 (adaptiert aus [165]).
Anzahl der gemeinsamen Gitterplätze zweier beliebig gegeneinander orientierter Kristallgitter beschreibt. Der reziproke Wert der aufeinandersitzenden Gitterplätze zur Gesamtanzahl der Gitterplätze wird mit Σ bezeichnet. Die Energie einer Großwinkelkorngrenze hängt neben Σ auch von anderen Faktoren, wie z. B. vom Abstand der Netzebenen parallel zur Korngrenze, ab, weshalb niedrige Werte von Σ nicht zwingend zu niedrigen Korngrenzenergien führen [164, 165]. Ein Sonderfall der Großwinkelkorngrenze ist die kohärente Zwillingsgrenze, welche je nach Kristallsymmetrie niedrigen Werten von z. B. Σ = 3 entsprechen kann und eine Grenzfläche zweier spiegelsymmetrisch angeordneter Kristallgitter darstellt.
3.2.3.5 Phasen und Phasengrenzen Wenn ein metallischer Werkstoff aus mehreren Atomarten aufgebaut ist, kann er mehrere Phasen aufweisen. Als Phasen werden alle gleichartigen einheitlichen Bestandteile bezeichnet. Ausschlaggebend ist neben der Zusammensetzung auch die Kristallstruktur. In der Regel treten in metallischen Werkstoffen verschiedene Phasen in Form der reinen Metalle, in Form von Mischkristallen und als intermetallische Phasen auf. Verschiedene Phasen werden durch Phasengrenzflächen voneinander abgegrenzt. Der Aufbau von Phasengrenzen ist komplizierter als der von Korngrenzen, da neben Missorientierungen in der Regel auch unterschiedliche Git-
92
3 Struktur metallischer Werkstoffe
semikohärente Phasengrenze
a1
a2
b) inkohärente Phasengrenze
a)
c)
Abb. 3.16 Arten von Phasengrenzen: a) homogen, b) quasihomogen, c) heterogen
tertypen bzw. unterschiedliche Gitterkonstanten (bei gleichem Gittertyp) miteinander verbunden werden müssen (vgl. Abb. 3.16). Aufgrund dieser vielen Anpassungsunterschiede werden Phasengrenzflächen in kohärente, semikohärente und inkohärente Grenzflächen eingeteilt. Kohärente Grenzflächen sind mit Kleinwinkelkorngrenzen vergleichbar und stellen die Verbindung zwischen strukturell ähnlichen Phasen her. In semikohärenten Grenzflächen werden beispielsweise Unterschiede in der Gitterkonstante zwischen Phasen gleichen Gittertyps durch Versetzungen ausgeglichen. Inkohärente Grenzflächen sind hingegen ein Pendant zu Großwinkelkorngrenzen und stellen ein effektives Hindernis für die Versetzungsbewegung dar [164].
3.2.3.6 Kristallgemische Die Mischung zwischen zwei Metallsorten durch Einbau einer Atomsorte in das Gitter der anderen (Mischkristallbildung) ist, wie in 3.2.3.2 dargelegt, nur innerhalb eines begrenzten Verhältnisses der Atomradien der beiden Metallsorten möglich. Sind die Atomradien hingegen sehr unterschiedlich, kommt es zur Ausbildung eines Kristallgemisches. Dieses kann entweder aus den Kristalliten der reinen Komponenten bzw. aus Mischkristallen bestehen, wenn zwischen den beiden
3.2 Struktureller Aufbau
93
A-Kristalle
B-Kristalle
Abb. 3.17 Kristallgemisch (schematisch)
Komponenten eine begrenzte Mischbarkeit vorliegt. Da zwischen den Kristalliten eines Kristallgemisches immer Phasengrenzen vorliegen, unterscheiden sie sich in bestimmten Aspekten von den Mischkristallgefügen. Zu diesen Aspekten zählen z. B. das Kristallwachstum als auch der Aufbau thermisch induzierter Spannungen durch unterschiedliche Ausdehnungskoeffizienten der verschiedenen Kristallite. Das schematische Aussehen eines Kristallgemisches ist anhand eines zweiphasigen Gefüges in Abb. 3.17 dargestellt.
3.2.3.7 Ausscheidungen Unter einer Ausscheidung versteht man einen Bereich, in dem die chemische Zusammensetzung gegenüber der sie umgebenden Metallmatrix geändert ist, ohne dass sich dabei die Kristallstruktur dieser Matrix geändert hat. Ausscheidungen entstehen durch eine Phasenumwandlung im festen Zustand. Grund für eine Ausscheidungsreaktion ist zum Beispiel die Übersättigung der Metallmatrix mit Fremdatomen, da deren Löslichkeit mit sinkender Temperatur abgenommen hat. Die Bildung einer Ausscheidung erfolgt oft über eine Sequenz metastabiler Zwischenphasen. Bei Ausscheidungsreaktionen wird in zwei Mechanismen kontinuierlicher Entmischung unterschieden - in Keimbildung und Wachstum oder in spinodale Entmischung. Im ersten Prozess bilden sich durch thermische Schwankungen an einzelnen Stellen Keime der 2. Phase, die bereits die Zusammensetzung der im Zustandsdiagramm (vgl. 3.3.1) auftretenden Gleichgewichtsphase haben. Diese Keime wachsen durch normale Diffusion im Konzentrationsgradienten der Verarmungszone. Im Fall der spinodalen Entmischung kommt es hingegen zur Zunahme ursprünglich kleiner Konzentrationsschwankungen durch eine sogenannte „Berg-
94
3 Struktur metallischer Werkstoffe
aufdiffusion“ innerhalb einer Spinodalen. Neben diesen kontinuierlichen Entmischungsprozessen existieren aber auch diskontinuierliche, bei denen z. B. die Ausscheidung längs einer sich in das übersättigte Material hineinschiebenden Entmischungsfront abläuft. Ausscheidungen werden nach der Beschaffenheit der Phasengrenzfläche zur Matrix in kohärente, semikohärente und inkohärente Ausscheidungen eingeteilt. Mit dem Wachstum von Ausscheidungen kann ein Übergang von kohärenten zu inkohärenten Ausscheidungen verbunden sein. Das Wachstum von Ausscheidungen kann mit einer Verringerung der Anzahl der Ausscheidungen einhergehen, da größere Ausscheidungen auf Kosten kleinerer wachsen (Ostwaldreifung). Triebkraft dieser Wachstumsprozesse ist das Bestreben, die Grenzflächenenergie zu vermindern. Aus diesem Grund lagern sich Ausscheidungen auch bevorzugt in Korngrenzentripeln an.
a)
b)
c)
Abb. 3.18 Ausscheidungen mit a) kohärenter, b) teilkohärenter, c) inkohärenter Phasengrenzfläche zur Matrix
3.3 Legierungen 3.3.1 Formen von Legierungen Reine Metalle werden in technischen Anwendungen sehr selten eingesetzt. Dies hängt damit zusammen, dass monometallische Systeme über Eigenschaften verfügen, die sie für technische Anwendungen unbrauchbar machen. Zu solchen Eigenschaften zählen beispielsweise starke Oxidationsneigung, schlechte Benetzung, hohe Schmelzpunkte, Gefügeinstabilität oder mangelnde Festigkeit. Durch Zumischung anderer metallischer Elemente können viele dieser Eigenschaften signifikant verbessert werden. Mischungen zweier oder mehrerer metallischer Elemente werden als Legierungen bezeichnet. Da die Eigenschaften von Legierung weitest-
3.3 Legierungen
95
gehend durch die Gleichgewichte bestimmt werden, in denen die Elemente, aus denen die Legierung aufgebaut ist, nebeneinander vorliegen, ist die Bestimmung und Darstellung dieser Gleichgewichtsverhältnisse zur Herstellung und Nutzung metallischer Legierungen notwendig. Diese Darstellung erfolgt in der Regel über Zustandsschaubilder, in denen die im Gleichgewicht befindlichen Phasen in Abhängigkeit von ihrer Konzentration und der Temperatur dargestellt sind. Aus der Gibbs’schen Phasenregel folgt, dass in einem Zweiphasengebiet, in der z. B. eine feste Phase mit einer Schmelze im Gleichgewicht steht, entweder die Konzentration oder die Temperatur dieses Gleichgewichtes frei wählbar ist. Daraus folgt, dass bei einer vorgegebenen Temperatur die Zusammensetzung der im Gleichgewicht befindlichen Phasen eindeutig gegeben ist [146]. In Abhängigkeit von der Art der metallischen Elemente gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie sich diese miteinander mischen können. Wird davon ausgegangen, dass alle Bestandteile der Zweistofflegierung in der Schmelze in beliebigen Verhältnissen mischbar sind, so ergeben sich folgende Grundtypen für die Entstehung der festen Phase: a) die Bestandteile kristallisieren aus der Schmelze im reinen Zustand aus, b) die Bestandsteile bilden eine kongruent schmelzende Verbindung mit einem Schmelzpunktmaximum, c) die Bestandteile bilden eine Verbindung mit einem verdeckten Maximum, die unter Zersetzung inkongruent schmilzt, d) die Bestandteile bilden miteinander eine lückenlose Reihe von Mischkristallen, e) die Bestandteile bilden begrenzte Mischkristallreihen mit einem Eutektikum, f) die Bestandteile bilden im flüssigen Zustand Mischkristallreihen mit einem Peritektikum [147]. Für die in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik verwendeten Lote sind vor allem die Varianten a), e) von Bedeutung, da Lote, die nicht an einem bestimmten Punkt sofort erstarren oder aufschmelzen und einen großen Schmelzbereich aufweisen, eine Reihe verfahrenstechnischer Nachteile mit sich bringen würden. Der Fall a) ist als Grenzfall zu betrachten, da in der Praxis üblicherweise zumindest eine geringe Löslichkeit zur Bildung von Mischkristallen immer vorhanden ist. In Zusammenhang mit der Bildung intermediärer Kristallarten, z. B. intermetallischer Phasen, ist oft Variante c) von Interesse. Allerdings reduziert sich das Problem in der Praxis durch den gewählten Zusammensetzungs- und Temperaturbereich auf eine den Varianten a), e) vergleichbare Betrachtung. Eine Ausnahme bildet das System SnSb, welches in Variante f) erstarrt. Auch für Stoffgemische, die nicht aufgeschmolzen werden, stellt sich die durch das Zustandsdiagramm dargestellte Phasenverteilung ein. Der Zeitraum, in dem dies passiert, hängt aber von der konkreten Aktivierung der Transportprozesse der Festkörperdiffusion ab [148].
3.3.2 Eutektische Systeme Eutektikum ist vom griechischen Wort „eutektos“ abgeleitet und bedeutet „leicht schmelzbar“. Diese Bezeichnung folgt der Beobachtung, dass bei einer bestimmten Zusammensetzung der Schmelzpunkt der Legierung unterhalb der Schmelzpunkte der Einzelkomponenten liegt. Für binäre eutektische Systeme exis-
96
3 Struktur metallischer Werkstoffe
Gewichtsprozent Silizium 2
1600
4
6
8
10
15
20
25 30
40 50 6070 80 90
1404°
1400
Temperatur C°
1200 1063° 1000
800
600
400 ~31 (~6) 200
0
10
20
30
370° 40
50
60
70
80
90
100
Atomprozent Silizium
Abb. 3.19 Zustandsschaubild Au-Si System
tieren zwei Möglichkeiten: ein System mit völliger Mischbarkeit im flüssigen und Unmischbarkeit im festen Zustand (= Variante a) in 3.3.1) und ein System mit völliger Mischbarkeit im flüssigen und begrenzter Mischbarkeit im festen Zustand (= Variante e) in 3.3.1). Wie schon angeführt, ist das erste ein Grenzfall des zweiten. Jedoch gibt es eine Reihe von Legierungen, in welchen die Löslichkeit der Bestandteile ineinander an der Nachweisgrenze liegt. Das System Au-Si (Zustandsdiagramm in Abb. 3.19) ist ein typisches Beispiel für ein solches System. Es wird zum Diebonden von Halbleiterchips auf Trägerstreifen genutzt. In diesem Prozess wird die Rückseite des Siliziumchips auf den mit einer dünnen Goldschicht versehenen und auf die eutektische Temperatur von T E = 370°C aufgeheizten Trägerstreifen gedrückt, sodass sich zwischen Si und Au eine eutektische Legierung ausbildet. Das Gefüge dieser Legierung ist durch fein verteilte Au- und Si-Kristallite gekennzeichnet, welche in einem Verhältnis vorliegen, aus dem sich die eutektische Zusammensetzung aus 31 at% Au und 69 at% Si ergibt. Das typische Beispiel für ein eutektisches System mit einer begrenzten Mischbarkeit in der festen Phase ist SnPb (siehe Zustandsdiagramm in Abb. 3.20). Das eutektische SnPb-Lot wurde früher als universeller Lotwerkstoff in elektronischen Aufbauten eingesetzt. Mit dem im Jahre 2006 einsetzenden Bleiverbot kommt es nur noch in Bereichen, wie der Kfz-Elektronik, zum Einsatz, für die bisher kein
3.3 Legierungen
97
Gewichtsprozent Blei 10
350
20
30
40
50
60
70
80
85
90
327°
2
1
Temperatur C°
5
6
300
250
95
4
232°
200 26,1
1,45
183°
3 (Pb)
71
150 (Sn)
7
100
93
50 96,8 0 0 Sn
10
20
30
40
50
60
Atomprozent Blei
70
80
90
100 Pb
Abb. 3.20 Zustandsschaubild Sn-Pb System
gleichwertiger Substitutionswerkstoff gefunden werden konnte. Weiterhin werden hochbleihaltige SnPb-Werkstoffe für die Flip-Chip-Montage von Mikroprozessoren und anderen hochpoligen Halbleiterbauelementen eingesetzt. Im Gegensatz zum Au-Si-System ist das Sn-Pb-System dadurch gekennzeichnet, dass bei der Erstarrung keine Entmischung in eine Sn- und eine Pb-Phase erfolgt, sondern dass durch die beschränkte Löslichkeit von Sn und Pb ineinander aus der Schmelze zinnreiche α - und bleireiche β -Mischkristalle kristallisieren. Bei schneller Erstarrung, wie sie für das Löten typisch ist, ergibt sich die Zusammensetzung der Mischkristalle aus der Löslichkeit bei der eutektischen Temperatur T E , d. h., die Zusammensetzung des zinnreichen α -Mischkristalls beträgt 97,5%Sn-2,5%Pb und die des bleireichen β -Mischkristalls beträgt 19,1%Sn-70,9%Pb. Da beide Mischkristalle bei Raumtemperatur übersättigt sind, tritt langfristig eine Segregation der überschüssigen Fremdatome aus den Mischkristallen auf. Da dieser Prozess aber aufgrund der hohen homologen Temperatur T h ( 20°C ) = 64% ⋅ T E parallel zu einer Phasenvergröberung abläuft, kommt es nicht zur Ausbildung eines Korngrenzensegregats im Gefüge des eutektischen SnPb-Lotes. Aus dem Sn-Pb-Zustandsdiagramm lassen sich für verschiedene Zusammensetzungen der Sn-Pb-Legierung folgende Erstarrungsreaktionen ableiten. Hatte die SnPb-Schmelze eine eutektische Zusammensetzung von 63%Sn-37%Pb, so zerfällt
98
3 Struktur metallischer Werkstoffe
diese bei Erreichen der eutektischen Temperatur T E = 183°C sofort in die beiden Mischkristalle (Linie 1). Hatte die Schmelze eine nichteutektische Zusammensetzung, welche allerdings oberhalb der Zusammensetzung der Mischkristalle bei T E liegt, z. B. 42%Sn58%Pb (Linie 2), so fällt bei Erreichen der Liquiduslinie zunächst der entsprechende Mischkristall (bleireicher β -Mischkristall ), welcher die Zusammensetzung (Punkt 4) bei der entsprechenden Temperatur ( T ≈ 240°C ) besitzt, aus, sodass die Schmelze bei sinkender Temperatur immer weiter an Pb verarmt, bis sie bei der eutektischen Temperatur die eutektische Zusammensetzung erreicht. An dieser Stelle erstarrt die Restschmelze wie die eutektischer Zusammensetzung, d. h. wie bei Linie 1. Die Anzahl der im Gefüge der entstehenden zinnreichen α und β -Mischkristalle richtet sich nach der Zusammensetzung der Schmelze. Hatte die Schmelze eine nichteutektische Zusammensetzung, welche allerdings unterhalb der Zusammensetzung eines Mischkristalles bei T E liegt (Linie 3), z. B. 5%Sn-95%Pb, so fällt bei Erreichen der Liquiduslinie ( T ≈ 320°C ) der bleireiche β -Mischkristall mit Zusammensetzung (Punkt 5) bei der entsprechenden Temperatur aus, sodass die Schmelze bei sinkender Temperatur immer weiter an Pb verarmt, bis sie bei der Solidustemperatur ( T ≈ 310°C ) für die Zusammensetzung 5%Sn-95%Pb erreicht und endgültig mit einem bleireichen β -Mischkristall bei dieser Zusammensetzung (Punkt 6) erstarrt. Das Gefüge besteht nur aus diesem Mischkristall, wobei sich die leichten Zusammensetzungsunterschiede bei hohen Temperaturen sofort wieder auszugleichen beginnen, bis eine homogene 5%Sn-95%Pb-Zusammensetzung erreicht ist. Da dieser Mischkristall aufgrund der mit der Temperatur absinkenden Löslichkeit ab einer Temperatur ( T ≈ 115°C ) übersättigt ist (Punkt 7), beginnt Sn unterhalb dieser Temperatur durch eine Ausscheidungsreaktion auszusegregieren. In realen Kontakten können daraufhin zwei Dinge passieren, entweder das aussegregierende Sn wird durch der Reaktion mit Leitbahnmetall (z. B. mit Cu oder Ni) gebunden, sodass keine Segregation zu beobachten ist, oder es tritt im Betrieb durch Temperaturwechsel1 ein zyklisches Lösen und Ausscheiden des Sn in bzw. aus dem Pb-reichen Mischkristall auf [166-171]. Die dargestellten, aus dem Zustandsdiagramm entnommenen Erstarrungsreaktionen gelten jedoch nur für den Fall des thermodynamischen Gleichgewichts, d. h. bei unendlich langsamer Abkühlung. Bei den schnellen Abkühlungsbedingungen, wie sie für Lötprozesse in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik typisch sind, wird die Entstehung jedoch von weiteren Faktoren bestimmt (vgl. 3.4.1, 3.4.2) und kann nicht direkt aus dem Zustandsdiagramm entnommen werden. Der durch das Zustandsdiagramm beschriebene Fall des thermodynamischen
1. Bleireiche SnPb-Lote, wie z. B. Pb90Sn10, Pb95Sn5, Pb 96,5Sn3,5 oder Pb97,5Sn2,5 wurden bevorzugt zur Flip-Chip-Montage von Mikroprozessoren verwendet, z. B. in den TC-Modulen von IBM. Die im Betrieb auftretenden zyklischen Temperaturschwankungen können daher sehr leicht Temperaturen von 115 °C übersteigen, da sich die Flip-Chip-Lotkontake unmittelbar über den aktiven Strukturen der Schaltkreise befinden.
3.3 Legierungen
99
Gleichgewichts ist jedoch bei nachträglicher Erwärmung schnell erstarrter Gefüge ausschlaggebend.
3.3.3 Systeme mit intermediären Phasen Für Lotwerkstoffe kommen auch Systeme zum Einsatz, welche intermediäre Kristalle (in der Regel intermetallische Phasen, vgl. 3.2.2.3) bilden. Ein typisches Beispiel ist das in Abb. 3.21 dargestellte Ag-Sn-System. Dieses System kommt vor allem in eutektischen SnAg-Loten zum Einsatz, welche zu den momentan favorisierten Substitutionswerkstoffen für das eutektische SnPb-Lot für Flip-Chip-Lotkontakte zählen. Dieses System enthält zwei intermediäre Phasen, die eine ist die bei einer Temperatur von T = 724°C inkongruent schmelzende Ag4Sn-Phase und die andere die bei einer Temperatur von T = 480°C inkongruent schmelzende Ag3Sn-Phase. Das Ag-Sn-System verfügt über zwei peritektische und einen eutekGewichtsprozent Zinn 10
1600
20
30
40
50
60
70
80
90
950,6° 1400
1200 11,5
Temperatur C°
1000
724°
19,5
800
600
22,85
25
49,6
480°
400
300 96,2 232°
221° 200
9,35
100
11,8
18
23,7 18°
0
0 Ag
10
20
30
40
50
60
Atomprozent Zinn
Abb. 3.21 Zustandsschaubild Ag-Sn System
70
80
90
100 Sn
100
3 Struktur metallischer Werkstoffe
tischen Phasenübergang [172]. Da die Temperatur für die inkongruent schmelzenden Phasen sowie für die peritektischen Phasenübergänge in realen Elektronik-Lötprozessen nie erreicht wird und die Zusammensetzung der SnAg-Lote in einem Bereich zwischen 1%...5% Ag-Anteil liegt, reduziert sich die Betrachtung auf den eutektischen Phasenübergang, welcher auf der rechten Seite des Zustandsdiagramms zu finden ist und dem des eutektischen Au-Si-Systems (vgl. 3.3.2, Abb. 3.19) ähnelt. Die feste Phase setzt sich aus Ag3Sn-Phasen, welche in einer aus mehreren β Sn-Kristalliten bestehenden Matrix eingebettet sind ( β -Sn ist eine Kristallform des Zinns und kein Mischkristall), zusammen. In den β -Sn-Kristalliten können sich jedoch zu einem kleinen Teil Ag-Atome lösen. Die Morphologie des Gefüges lässt sich nicht aus dem Zustandsdiagramm entnehmen, sondern hängt sehr stark von den Erstarrungsbedingungen ab (vgl. 3.4.2.2). Die eutektische Reaktion wird in [172] mit L = Ag 3 Sn + Sn beschrieben und einer eutektischen Temperatur von T E = 221°C zugeschrieben. Demgegenüber haben Kattner und Boettinger [173] aus einem thermodynamischen Modell den eutektischen Punkt bei einer Zusammensetzung von Sn-3,87at%Ag und einer Temperatur von T E = 220, 9°C ermittelt. 3.3.4 Andere Systeme Unter bestimmten Umständen, u. a. wenn die Atomradien zweier metallischer Elemente sehr ähnlich sind (vgl. 3.2.3.2, Tabelle 3.2), können sich Atome vollständig miteinander mischen, d. h. bei der Erstarrung bildet sich eine lückenlose Reihe verschieden zusammengesetzter Mischkristalle. Ein Beispiel für ein binäres System mit vollständiger Mischbarkeit bildet die in Abb. 3.22 mit ihrem Zustandsdia1500
1452° Schmelze
Temperatur C°
1400
1300 Schmelze und Mischkristalle
1200
1100
Mischkristalle
1083° 1000 0 Cu
10
20
30
Abb. 3.22 Zustandsschaubild Cu-Ni
40
50
60
Atomprozent Nickel
70
80
90
100 Ni
3.3 Legierungen
101
gramm dargestellte Legierung aus Cu und Ni. Zur Verwendung als Lotwerkstoffe eignet sich ein solches System nicht nur wegen seiner hohen Schmelztemperatur nicht. Ein wesentlicher Nachteil besteht vor allem darin, dass anstelle eines definierten Schmelzpunkts ein großer Schmelzbereich vorhanden ist und dass das bei der Erstarrung entstehende Gefüge Mischkristalle sehr unterschiedlicher Zusammensetzung aufweist. Allerdings hat das Zustandsdiagramm Bedeutung für das Verständnis von Diffusionsvorgängen in mehrschichtigen Leitbahnmetallisierungen, in denen das System Cu-Ni häufig vorkommt. Ein anderes Beispiel für eine beschränkte Mischbarkeit von metallischen Elementen sind peritektische Systeme, wie das mit seinem Zustandsdiagramm in Abb. 3.23 dargestellte System Sn-Sb [174]. Das System verfügt über drei peritektische Punkte. Am untersten dieser drei Punkte ( T P = 250 °C ) beträgt die Löslichkeit von Sb im Sn-Gitter etwa 10,2 % und die von Sn im Sb-Gitter etwa 10 %. Bei
Gewichtsprozent Antimon 10
650
20
30
40
50
60
70
80
90 630,75°C
600
550
Temperatur C°
500
450 425°C 65,8
51,0
87,7
400
350 324°C
48,3
21,4
6,7 250 231,96°C
(Sn)
10,2
250°C
9,6
242°C
Sn3Sb2
300
43,6 b
(Sb)
200
150
100
0 Sn
10
20
30
Abb. 3.23 Zustandsschaubild Sb-Sn
40
50
60
Atomprozent Antimon
70
80
90
100 Sb
102
3 Struktur metallischer Werkstoffe
Raumtemperatur betragen die Löslichkeiten ca. 2,2 % bzw. 10 %. Weiterhin wird bei tiefen Temperaturen eine intermetallische Phase ( β-Phase ) paritätischer Zusammensetzung (SbSn) ausgebildet, welche einen weiten Bereich verschiedener Zusammensetzungen überstreicht und durch die Nutzung zweier Subelementarzellenmodelle beschrieben werden kann. Die zweite intermetallische Phase Sn3Sb2 besitzt hingegen nur einen extrem schmalen Zusammensetzungsbereich und existiert auch nur in einem begrenzten Temperaturbereich von T = 242°C…324°C [174, 175]. Wenn von einer SnSb5-Legierung ausgegangen wird, wie sie für Weichlote zur Verwendung kommt [176-178], so spielen die peritektischen Phasenreaktionen des SnSb-Systems keine Rolle, da sich die Zusammensetzung unterhalb des letzten peritektischen Punktes befindet. Wenn die Temperatur der sich abkühlenden Schmelze die Liquidusline bei T L ≈ 243°C erreicht, beginnt der Sn-Mischkristall direkt aus der Schmelze auszufallen bis die Restschmelze knapp über dem Schmelzpunkt der reinen β -Sn-Phase ( T s ≈ 232°C ) vollständig erstarrt. Bei dieser Temperatur liegt die Löslichkeit des Sb im Sn-Mischkristall noch bei ca. 10% und nimmt bei sinkender Temperatur immer weiter ab, sodass sich ab einer Temperatur von T = 192°C die β -Phase (SnSb) fein verteilt im Sn-Mischkristall auszuscheiden beginnt [179]. Zur Beschreibung der peritektischen Reaktion soll der untere peritektische Punkt betrachtet werden, wobei von einer ebenfalls als Weichlot einsetzbaren SnSb8-Legierung ausgegangen wird [180]. Wenn die Temperatur der sich abkühlenden Schmelze die Liquidusline bei T L ≈ 260°C erreicht, beginnt zunächst die properitektische Sn3Sb2-Phase aus der Schmelze auszufallen, wodurch diese an Sb verarmt, sodass die Zusammensetzung der Restschmelze entlang der Liquidusline auf den peritektischen Punkt ( T P = 250 °C ) zuläuft, wo es zu einer peritektischen Reaktion in der Form Schmelze + Sn3Sb2 → Sn-Mischkristall kommt [174]. Wird weiter abgekühlt, bildet sich die neue Sn-Mischkristall-Phase unterhalb der peritektischen Temperatur entlang der Grenzfläche zwischen der Sn3Sb2-Phase und der flüssigen Restschmelze aus, wodurch die Sn-Mischkristall-Phase die Sn3Sb2-Phase von einer Reaktion mit der Schmelze zu isolieren beginnt. Aus dem Phasendiagramm in Abb. 3.23 ist abzuleiten, dass die Sn-Mischkristall-Phase sich dort bildet, wo die beiden Ausgangsphasen vorhanden sind. Möglicherweise kann der Sn-Mischkristall jedoch auch primär aus der Schmelze, d. h. ohne peritektische Phasenreaktion, ausgeschieden werden. Infolgedessen ist eine peritekische Phasenumwandlung als Überlagerung von zwei Phasenbildungsprozessen zu verstehen, welche die Prozesse einer peritektischen Phasenreaktion und einer peritektischen Phasentransformation beinhaltet [181, 182]. Erstere verlangt den Kontakt aller drei Phasen, sodass durch die Reaktion der Schmelze mit der Sn3Sb2-Phase eine β-Sn -Phase gebildet wird. Bei der peritektischen Transformation sind die Schmelze und die Sn3Sb2-Phase jedoch nicht mehr direkt in Kontakt, sodass das Wachstum der β-Sn -Phase unter Verbrauch der Sn3Sb2-Phase durch Diffusionsprozesse erfolgt. Dieser Transformationsprozess ist zunächst sehr schlecht von der Erstarrung der reinen β-Sn -Komponente unterhalb seiner
3.3 Legierungen
103
Schmelztemperatur ( T S = 232 °C ) zu unterscheiden. Allerdings bildet sich bei langsamer Abkühlung und damit vollständiger peritektischer Transformation eine thermodynamisch ausgeglichene Legierung, während im Fall der schnellen Erstarrung die peritektische Transformation, d. h. die Bildung von β-Sn unter Verbrauch der Sn3Sb2-Phase, weiter fortgesetzt würde. Aufgrund des begrenzten Temperaturbereiches, in welchem die Sn3Sb2-Phase existiert und, da es sich bei der Sn3Sb2Phase um eine Strichphase handelt, ist die genaue Beschreibung der Transformation ohne Betrachtung der Transformationskinetik jedoch schwierig [183]. Analog zur SnSb5-Legierung beginnt sich bei weiter sinkender Temperatur die β -Phase (SnSb) fein verteilt im Sn-Mischkristall auszuscheiden. Die beschriebenen Transformationsvorgänge und der sich einstellende Schmelzbereich sind die wesentlichen Nachteile von peritektischen gegenüber eutektischen Systemen für die Nutzung als Lotwerkstoffe. Als Vorteil erweist sich jedoch der gegenüber den eutektischen Systemen höhere Schmelzpunkt (bzw. Schmelzbereich), welcher oberhalb des Schmelzpunktes von reinem β-Sn liegt, ohne dass sich, wie bei anderen Systemen mit höheren Schmelzpunkten (z. B. SnAu), spröde intermetallische Phasen ausbilden.
3.3.5 Drei- und Vielstoffsysteme Werden mehr als zwei Komponenten miteinander vermischt, ergeben sich Probleme in der Darstellung in ebenen Diagrammen. Bei Dreistoffsystemen (Komponenten A, B, C), wie z. B. dem SnAgCu-System, kann dieser Problematik noch über eine Hilfsdarstellung in einem gleichseitigen Dreieck entgangen werden, welches allerdings nicht gleichwertig zu den Zustandsschaubildern von Zweistoffsystemen ist und sich oft auch nur über das Verständnis der diesem Dreieck zugrunde liegenden drei binären Zustandsdiagramme (A - B, B - C, A - C) vollständig erschließen lässt. Das Dreieck ABC (Abb. 3.24) entspricht dabei einer Projektion der gewölbten Schmelzflächen der ternären Legierung. Um die Wölbung sichtbar zu machen, werden oft auch Temperaturisolinien in das Diagramm eingezeichnet. Um den Weg der Erstarrung im ternären Dreieck verfolgen zu können, werden in der Regel die sich zwischen den eutektischen Punkten (eutektische Ausgangszweistofflegierungen vorausgesetzt) ergebenden Rinnen bis zum eutektischen Punkt des Dreistoffsystems weitergeführt. Aus den ternären Zustandsdiagrammen lassen sich die Phasenreaktionen sowie die Lage intermediärer Phasen ablesen. Qualitativ ergeben sich in Mehrstoffsystemen bezüglich der Phasenreaktionen gegenüber Zweistoffsystemen keine Besonderheiten, nur ihre grafische Darstellung ist komplizierter.
104
3 Struktur metallischer Werkstoffe
A
E
C
B
Abb. 3.24 Schematische Darstellung eines Dreistoffsystems in einem gleichseitigen Dreieck. Die Schmelzflächen der Phasendiagramme aus Zweistoffsystemen werden auf das Dreieck projiziert.
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen 3.4.1 Entstehung des Erstarrungsgefüges
3.4.1.1 Faktoren Obwohl Zustandsdiagramme eine große Anzahl von Informationen über das Zusammenwirken verschiedener metallischer Elemente in einer Legierung geben, lassen sich aus ihnen keine Informationen über die genaue Beschaffenheit des Gefüges nach der Erstarrung ableiten. Zustandsdiagramme beschreiben den speziellen Fall der Phasenumwandlung unter Beibehaltung des thermodynamischen Gleichgewichtes, der aber im Prinzip nur bei einer unendlich langen Abkühlung eintreten würde. Reale Erstarrungsvorgänge sind jedoch durch schnelle Abkühlung und damit mit adiabatischen anstelle isothermer Umwandlungsprozesse verbun-
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
105
den, sodass es nicht zur Einstellung eines Gleichgewichtes kommen kann. Aus diesem Grund wird das Aussehen des Erstarrungsgefüges - neben der Zusammensetzung der Legierung - vor allem von der Erstarrungsgeschwindigkeit, dem Temperaturgradienten an der Erstarrungsfront bzw. der damit verknüpften Größe der Abkühlungsgeschwindigkeit bestimmt. In Abhängigkeit von diesen Größen stellen sich für eine gegebene Schmelze folgende ein Erstarrungsgefüge charakterisierende Merkmale ein [185]: • Gefügefeinheit (Korngröße, Dendriten- oder Phasenabstände) • Gefügekomponenten (Phasen) • Gefügeausrichtung (Textur) • Makroskopische Gefügefehler (Lunker, Poren, Warmrisse) • Seigerungszustand bzw. chemische Homogenität des Gefüges • Innerer mechanischer Spannungszustand Oft kommt es vor, dass Erstarrungsgefüge offensichtlich Eigenschaften aufweisen, die so nicht mit den aus dem Zustandsdiagramms zu gewinnenden Aussagen übereinstimmen. Dazu zählt z. B., dass die Konzentration einer Atomsorte die normale Löslichkeitsgrenze in einer festen Phase übersteigt. Derartige Verschiebungen gegenüber den normalen Phasengleichgewichten werden durch den Überschuss an freier Enthalpie hervorgerufen, die vorhanden ist, wenn eine Schmelze im Laufe des Erstarrungsvorganges unterkühlt ist. Eine unterkühlte Schmelze kann im Gegensatz zur Erstarrung nahe dem thermodynamischen Gleichgewicht über eine Reihe von Erstarrungswegen in unterschiedlichen festen Phasen kristallisieren. Aus diesem Grund spielt die Kenntnis der Erstarrungskinetik eine wesentlich größere Rolle für das Verständnis der Gefügeausbildung bei technologischen Prozessen mit Flüssig-Fest-Übergängen als die eigentlichen Zustandsschaubilder der beteiligten Legierungen. In Abb. 3.25 sind verschiedene rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen von Querschliffen benachbarter Flip-Chip-Kontakte aus SnPb37-Lot einander gegenübergestellt, welche aus zwei verschiedenen Flip-ChipAufbauten stammen, die mit unterschiedlichen Prozessparametern hergestellt wurden. Aus diesen Gefügebildern wird deutlich, dass die Gefügeausbildung einerseits deutlich von den Erstarrungsbedingungen, andererseits jedoch auch von anderen eher „stochastischen Faktoren“ abhängt. Die vollständige theoretische Beschreibung der vielfältigen physikalischen Prozesse, die während der Erstarrung ablaufen, ist schwierig. Dies liegt unter anderem daran, dass in Bezug auf reale Schmelzen in den Strukturen elektronischer Aufbauten immer von Temperatur und Dichtegradienten ausgegangen werden muss, sodass sich zur exakten Beschreibung der Erstarrungsreaktion umfangreiche Betrachtungen der Fluiddynamik erforderlich machen. Diese umfassen neben Kon-
106
3 Struktur metallischer Werkstoffe
a)
b)
c)
d)
e)
f)
Abb. 3.25 Rasterelekronenmikroskopische Aufnahmen von Gefügen benachbarter Flip-ChipKontakte aus SnPb37-Lot (d. h. zinnreiche (dunkel), bleireiche Phase (hell)). Gegenübergestellt sind Querschliffe von Kontakten aus zwei verschiedenen Flip-Chip-Aufbauten (FC), welche mit unterschiedlichen Prozessparametern hergestellt wurden. In der linke Spalte (Bilder a, c, e) sind aus dem ersten FC-Verbund die Kontakte mit den Nummern #1, #2, #3 dargestellt. In der rechten Spalte (Bilder b, d, f) sind aus dem zweiten FC-Verbund die Kontakte mit den Nummern #1, #3, #7 dargestellt. Aus dem Vergleich der Gefügebilder der beiden Spalten untereinander geht hervor, dass es entsprechend dem verwendeten Lotprofil, d.h. den Erstarrungsbedingungen, zuordenbare Unterschiede in der Gefügeausbildung gibt. Im Gegensatz dazu geht aus dem Vergleich der Gefügebilder einer Spalte hervor, dass es offensichtlich auch stochastisch wirkende und damit nicht deterministisch an die Erstarrungsbedingungen gebundene Faktoren gibt.
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
107
tinuitätsgleichungen auch eine mathematische Behandlung von Hydrostatik, Potenzialströmung, Rheologie, Stoff- und Wärmetransport [186]. Darüber hinaus treten sehr oft Ablegierungsreaktionen als Teil der technologisch genutzten Verbindungsvorgänge auf. Diese führen zu schwer beschreibbaren dynamischen Verschiebungen der Schmelzzusammensetzung während des in der Regel sehr kurzen Zeitraums des Auftretens der flüssigen Phase. Deshalb werden sich die nachfolgenden Beschreibungen auf die grundsätzlichen Prozesse der Keimbildung und des Keimwachstums sowie ihres Zusammenhanges mit der Unterkühlung einer Schmelze beschränken, die für das phänomenologische Verständnis der Erstarrung wichtig sind.
3.4.1.2 Keimbildung Die Erstarrung einer Schmelze beginnt mit der Bildung von festen Keimen. Durch das anschließende Wachstum dieser Keime wird die schmelzflüssige Phase nach und nach in eine feste Phase überführt. Voraussetzung für die Bildung von stabilen Keimen ist eine Unterkühlung ΔT u = T s – T der Schmelze, d. h., die Schmelze muss auf eine Temperatur T unterhalb der Schmelztemperatur T s abgekühlt werden, bevor eine stabile Keimbildung einsetzen kann. Diese Unterkühlung ΔT u ist notwendig, da sich die Freie-Energie-Bilanz der Keimbildung aus zwei konkurrierenden Termen ergibt. Auf der einen Seite kommt es durch die Ausbildung einer Phasengrenzfläche zur Erhöhung der Freien Energie 2
ΔF O = σ SL ⋅ 4πr ,
(3.4)
wobei σ SL der Grenzflächenenergie und r dem Keimradius entspricht, sodass aufgrund dieser positiven Energiebilanz keine Ausbildung stabiler Keime bei T s möglich ist. Auf der anderen Seite besitzt die feste Phase bei einer Temperatur unterhalb von T s eine geringere Freie Energie pro Volumeneinheit f S als die Schmelze f L . In erster Näherung ist diese Differenz Δf v = f s – f L proportional zur Unterkühlung Δf v = α ⋅ ΔT u [164]. Die Gesamtbilanz der Freien Energie für einen kugelförmigen Keim in einer Schmelze ergibt sich aus 4 3 2 ΔF ges = σ SL ⋅ 4πr – Δf v ⋅ --- πr 3
(3.5)
Nachdem diese Funktion bei 2σ SL 2σ SL r * = ----------- = ----------------Δf v α ⋅ ΔT u ein Maximum mit dem Betrag
(3.6)
108
3 Struktur metallischer Werkstoffe 3
16π ⋅ σ SL * ΔF ges = ----------------------------2 2 3 ⋅ α ⋅ ΔT u
(3.7)
durchläuft, erhält sie einen negativen Anstieg, wodurch die Bildung stabiler Keime ermöglicht wird, da Keime nun unter Energiegewinn wachsen können. Bei der beschriebenen homogenen Keimbildung wird davon ausgegangen, dass nur Keim und Schmelze beteiligt sind, wodurch die Keimbildung allein von den intrinsischen Eigenschaften der Legierung abhängt. In realen Schmelzen liegen in der Regel Fremdphasen vor, die am Keimbildungsprozess beteiligt sind. In einem Lotkontakt sind solche Fremdphasen zum Beispiel die Kontaktflächen, die vom schmelzflüssigen Lot benetzt werden. Aber auch innerhalb des Lotkontaktes können beispielsweise Reste von Oxidhäuten, welche in die Lotschmelze geraten, solche Fremdphasen bilden. Die zur Keimbildung aufzuwendende Energie entspricht der der homogenen Keimbildung (vgl. Gleichung (3.7)) zuzüglich eines Faktors, der sich aus dem Benetzungswinkel Θ ergibt [187, 188]: 3
16π ⋅ σ LS ⋅ f ( Θ ) * * ΔF het = ΔF hom ⋅ f ( Θ ) = ---------------------------------------2 2 3 ⋅ α ⋅ ΔT u
(3.8)
1 3 f ( Θ ) = --- ( 2 – 3 cos ( Θ ) + cos ( Θ ) ) , 4
(3.9)
wobei sich der Benetzungswinkel Θ gemäß der in Abb. 3.26 gegebenen Definitionen an einem Flüssigkeitstropfen auf einer Festkörperoberfläche aus σ LF – σ SF cos ( Θ ) = ----------------------σ LS
(3.10)
1,0 Schmelze (L)
Keim (S)
Q
sLS sSF
sLF
DF*het (Q) /DF*hom
0,8 0,6 0,4 0,2
Fremdphase (F) 0
0,25
cos Q
Abb. 3.26 Heterogene Keimbildung auf Fremdphase
0,5
0,75
1,00
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
109
ergibt. Da der kritische Keimbildungsradius für Metalle in der Größenordnung –9 –8 von 10 …10 m liegt [164, 187], ist dieser für die Gesamtkinetik des Erstarrungsvorgangs nicht von Bedeutung. Diese wird vor allem von der Bildungsrate von Keimen kritischer Größe bestimmt [188] und lässt sich für die heterogene Keimbildung aus *
§ ΔF hom · 0 I het = I het ⋅ exp ¨ – ---------------- ⋅ f ( Θ )¸ © k⋅T ¹
(3.11) 0
ermitteln, wobei k der Boltzmann-Konstante entspricht und I het einen vorexponentiellen Faktor darstellt, der sich aus ns ⋅ k ⋅ T ΔF 0 I het = ------------------- ⋅ exp § – ---------A-· © k ⋅ T¹ h
(3.12)
ergibt [187], wobei h dem Plank’schen Wirkungsquantum entspricht, n s der Zahl der Grenzflächenatome entspricht, welche in die Keimbildung eingebunden sind, und ΔF A die Aktivierungsenergie zum Transport der Atome über die Grenzfläche darstellt. Aus den Gleichungen (3.11) und (3.12) geht hervor, dass die Temperaturabhängigkeit der Keimbildungsrate durch einen thermodynamischen und einen kinetischen Anteil bestimmt wird. Dabei wird vom Exponentialterm in Gleichung (3.11) mit der Aktivierungsenergie im Argument die Abweichung vom thermodynami* schen Gleichgewicht beschrieben. Der Verlauf von ΔF hom ( T ) (vgl. (3.7)) führt zu einem starken Anstieg der Keimbildungsrate mit zunehmender Unterkühlung. Gleichzeitig nimmt jedoch die Mobilität der Atome mit sinkender Temperatur ab. In reinen Metallen und metallischen Legierungen dominiert jedoch der Exponentialterm die Temperaturabhängigkeit von I het [188]. Daraus folgt, dass in der Regel die Keimbildungsrate mit steigender Unterkühlung zunimmt.
3.4.1.3 Keimwachstum und Morphologie der Erstarrungsfront Die Art und Weise, wie die gebildeten stabilen Keime wachsen, eine gemeinsame Erstarrungsfront ausbilden, wie sich diese ausformt und somit die Morphologie des während der Erstarrung entstehenden Gefüges ausbildet, hängt wesentlich davon ab, wie die bei der Kristallisation entstehende Wärme abgeführt wird. Für die Abführung der Kristallisationswärme wird grundsätzlich zwischen zwei Fällen unterschieden - dem freien (unterkühlten bzw. richtungsunabhängigen) Wachstum und dem gezwungenen (stabförmigen oder gerichteten) Wachstum. Im ersten Fall liegt eine unterkühlte Schmelze vor, durch welche eine Keimbildung ausgelöst wird. Hierzu ist es notwendig, dass die heterogene Keimbildung an einer Tiegelwand energetisch ungünstiger ist als eine heterogene Keimbildung mit
110
3 Struktur metallischer Werkstoffe
Wärmestrom Erstarrungsrichtung
T Kristall Schmelze
Ts dT dx > 0
dT dx > 0
z
a)
Zeit
Wärmestrom Erstarrungsrichtung
T Kristall Schmelze Ts
b)
dT dx = 0
dT dx < 0
z
Abb. 3.27 Morphologie der Erstarrungsfront in Abhängigkeit von der Richtung der Wärmeabfuhr aus der Schmelze: a) gerichtete Erstarrung mit facettierter (glatter) Erstarrungsfront, b) freie Erstarrung mit diffuser (ausgebeulter) Erstarrungsfront (adaptiert aus [190])
Partikeln innerhalb der Schmelze. Kristalle wachsen daraufhin mit einer Grenzflächentemperatur oberhalb der Temperatur der sie umgebenden Schmelze. Die entstehende Kristallisationswärme wird in die unterkühlte Schmelze abgeführt, was einen negativen Temperaturgradienten an der Fest-Flüssig-Grenzfläche voraussetzt. Es findet kein Wärmetransport in den gebildeten Kristall statt (Abb. 3.27). Im Fall des gezwungenen Wachstums ist der Temperaturgradient an der FestFlüssig-Grenzfläche positiv. Keime bilden sich durch Kontakt mit der kälteren Tiegelwand oder sind bereits vorhanden. Die beim Wachstum entstehende Kristallisationswärme wird in den gebildeten Kristall abgeführt. Beim freien Wachstum bestimmt die Unterkühlung der Schmelze die Wachstumsgeschwindigkeit und somit die geometrischen Verhältnisse des sich ergebenden Erstarrungsgefüges. Bei gezwungenem Wachstum bestimmt der Wärmefluss durch den sich gebildeten Kristall die Wachstumsgeschwindigkeit, da hierdurch die Grenzflächentemperatur (d. h. die Unterkühlung) bestimmt wird, woraus sich wiederum die geometrischen Verhältnisse des Erstarrungsgefüges ergeben [189]. Mit den unterschiedlichen Wegen der Abführung der Kristallisationswärme sind auch unterschiedliche Morphologien der sich ausbildenden Erstarrungsfront ver-
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
111
bunden. Wird die Wärme durch den Kristall abgeführt, besteht für ein individuelles Atom aus der Schmelze der energetisch günstigste Ort für seine Anlagerung an die Oberfläche des Kristalls dort, wo es möglichst viele Bindungen mit Nachbaratomen eingehen kann. Daraus folgt, dass das Füllen von Grübchen oder offenen Kanten gegenüber dem Anlagern auf einer ebenen Atomlage bevorzugt wird, sodass beim Kristallwachstum zunächst immer eine Ebene aufgefüllt wird, bevor mit der nächsten begonnen wird. Dadurch bleibt die Erstarrungsfront auf atomarer Ebene immer glatt und der entstehende Kristall ist facettiert [190]. Dieses facettierte Wachstum tritt jedoch nicht mehr auf, wenn die Wärme statt über den Kristall in die unterkühlte Schmelze abgeführt wird. Für die sich aus der Schmelze an den Kristall anlagernden Atome ist es dann energetisch vorteilhaft, sich in Richtung der unterkühlten Schmelze anzuordnen, weil dort die entstehende Kristallisationswärme am besten abgeführt wird. Dadurch wird das Wachstum von sich aus der ebenen Kristalloberfläche herauslösenden Ausbeulungen (Dendriten) unterstützt. Die dadurch entstehende wellige Erstarrungsfront weist jedoch verschiedene Krümmungen auf, wodurch ihre Grenzflächenenergie nicht mehr der einer ebenen Phasengrenzfläche entspricht. Die auf ein Mol der Schmelze bezogene freie Enthalpie ergibt sich aus g L = h L – T ⋅ s L , wobei h L dem Anteil der Enthalpie und T ⋅ s L dem Anteil der Entropie entspricht. Für den Kristall ergibt sich analog mit g S = h S – T ⋅ s S + σ ⋅ Ω m ⋅ K eine von der Krümmung1 K abhängige, auf das Mol bezogene freie Entropie, wobei σ der spezifischen Grenzflächenenergie und Ω m dem mittleren Molvolumen entspricht. Im thermodynamischen Gleichgewicht sind die partiellen freien molaren Enthalpien von Kristall und Schmelze gleich g L ( T∗ ) = g S ( T∗ ) , wobei T∗ der lokalen Schmelztemperatur an der gekrümmten Phasengrenzfläche entspricht. Durch Einsetzen der einzelnen Beziehungen ineinander ergibt sich: σ ⋅ Ωm ⋅ K Δh - , T∗ = ---------m- – ----------------------Δs m Δs m
(3.13)
wobei Δh m = h L – h S der molaren Schmelzenthalpie und Δs m = s L – s S der molaren Schmelzentropie entsprechen. Beide Größen sind über die Schmelztemperatur T s der ebenen Phasengrenzfläche, für die die Krümmung K = 0 ist, miteinander verbunden Δs m = Δh m ⁄ T s . Dementsprechend lässt sich T∗ auch als σ ⋅ Ωm T∗ = T s – ---------------- ⋅ K Δs m
(3.14)
1. Da sich Krümmung auf eine Fläche im Raum bezieht, wird sie im allgemeineren Fall über die beiden Hauptkrümmungsradien R 1, R 2 ausgedrückt: K = 1 ⁄ R 1 + 1 ⁄ R 2 , wobei beide Radien ortsabhängig sein können [191].
112
3 Struktur metallischer Werkstoffe
in Abhängigkeit von T s ausdrücken. Definiert man mit Γ = σ ⋅ Ω m ⁄ Δs m eine spezifische Kapillarlänge, so lässt sich die relative Abweichung der Schmelztemperatur der gekrümmten von der ebenen Phasengrenzfläche als T∗ – T ΔT ------- = -----------------s = – Γ ⋅ K Ts Ts
(3.15)
ausdrücken. Aus Gleichung (3.15) geht hervor, dass die lokale Schmelztemperatur umso stärker abgesenkt wird, je größer die Krümmung1 der Phasengrenzfläche ist [191]. Durch diese Erniedrigung des Schmelzpunktes an den Spitzen der aus der ebenen Phasengrenzfläche heraustretenden Dendriten wird deren weiteres Wachstum verzögert. Hierdurch entsteht eine sogenannte diffuse Morphologie der Erstarrungsfront, welche regelmäßige Ausbuchtungen besitzt, die eine von dem Grad der Unterkühlung abhängige Geometrie besitzen. In Abb. 3.28 ist schematisch das Temperatur-Zeit-Profil für die Erstarrung einer unterkühlten Schmelze dargestellt. Diese Darstellung nimmt insofern eine Vereinfachung des Sachverhaltes vor, als dass in der Schmelze ein sich zeitlich veränderndes Temperaturfeld vorliegt, dessen Verlauf sehr stark von den Randbedingungen, z. B. dem Volumen, d. h. der räumlichen Ausdehnung der Schmelze, abhängig ist. Wird jedoch angenommen, dass an einem bestimmten Punkt der Schmelze ein idealer Temperaturaufnehmer eingelassen wird, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er weder eine räumliche Ausdehnung besitzt und auch das Temperaturfeld der Schmelze nicht beeinflusst, so ließe sich an diesem Temperatursensor der in Abb. 3.28 schematisch dargestellte Temperatur-Zeit-Verlauf aufnehmen. Aus diesem Verlauf lässt sich erkennen, dass der Prozess der Erstarrung mit Wärmeabführung in die unterkühlte Schmelze in der Regel zweistufig erfolgt. In der ersten Phase (Wiedererwärmungsphase bzw. Rekaleszenz, engl. recalescence) erstarrt die Probe zunächst dendritisch. Infolge dieses schnellen Erstarrungsprozesses wird jedoch ein nicht unbeträchtlicher Betrag an Kristallisationswärme in die Schmelze freigesetzt. Hierdurch kommt es zu einer Wiedererwärmung der Schmelze, bis die Schmelztemperatur T s erreicht wird, wodurch weiterer dendritischer Erstarrung die Triebkraft genommen wird. Die verbliebene Restschmelze erstarrt deshalb erst allmählich in der nun folgenden zweiten Phase (Plateauphase). Die so unter Gleichgewichtsbedingungen erstarrende Restschmelze umgibt dabei die primär erstarrten Dendriten. Der dendritisch erstarrte Anteil nimmt mit dem Grad der Unterkühlung ΔT u zu, wobei sich die Plateauphase verkürzt. Überschreitet die Unterkühlung ΔT u die sogenannte Hypercooling-Grenze ΔT hyp , erstarrt die Probe vollständig während der ersten Phase [190]. 1. Der Begriff der Krümmung wird hierbei als absolute Krümmung und nicht als der Betrag der Krümmung verstanden. Eine positive Krümmung erhält man dabei, wenn der Mittelpunkt eines Kreises, der die Phasengrenzfläche nur an dem Punkt berührt, an dem die Krümmung ermittelt werden soll, in der festen Phase liegt. Liegt der Mittelpunkt dieses Kreises hingegen im Gebiet der Schmelze, handelt es sich um eine negative Krümmung.
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
T
Ts
113
Wiedererwärmung Plateauphase
DT
DThyp
t
Abb. 3.28 Temperatur-Zeit-Profil für die Erstarrung einer unterkühlten Schmelze. Durch das schnelle Dendritenwachstum wird in kurzer Zeit ein erheblicher Betrag an Kristallisationswärme frei, welcher die Restschmelze bis zur Schmelztemperatur erwärmt. Die Restschmelze erstarrt unter Gleichgewichtsbedingungen zwischen den Dendriten in der sich anschließenden Plateauphase. Der dendritisch erstarrte Anteil nimmt mit dem Grad der Unterkühlung ΔT zu. Erreicht die Unterkühlung die sogenannte Hypercooling-Grenze ΔThyp, erstarrt die Probe vollständig dendritisch [190].
3.4.2 Erstarrungsgefüge von Sn-Basis-Loten
3.4.2.1 Experimentelle Untersuchung der Loterstarrung Unter den in der Aufbau- und Verbindungstechnik eingesetzten metallischen Materialien wird besonders die Gefügeausbildung und -entwicklung der für Verbindungen eingesetzten zinnhaltigen Lotwerkstoffe untersucht. Das hängt zum einen damit zusammen, dass sich die Gefügeausbildung über die technologischen Parameter des Lötprozesses sowie der Verbindungspartnerauswahl beeinflussen lässt, und zum anderen damit, dass die Ausbreitung von Ermüdungsrissen in Lotkontakten durch eine starke Wechselwirkung mit dem Gefüge gekennzeichnet ist. Außerdem ist der Grad der durch thermische Fluktuationen induzierten mechanischen Beanspruchungen sehr stark von den Verformungseigenschaften der Lotwerkstoffe abhängig, welche wiederum mit dem Gefüge korrelieren. Aus diesem Grund kommt dem Verständnis der Gefügeausbildung und -entwicklung in Loten
114
3 Struktur metallischer Werkstoffe
besondere Bedeutung zu, da die mechanischen Eigenschaften der Lotwerkstoffe sehr stark vom Gefüge beeinflusst werden. Für andere Werkstoffe, wie z. B. Stähle [192, 193], Superlegierungen [194] und supraleitende Legierungen [195], existiert eine Reihe von theoretischen Ansätzen, um die Gefügeausbildung während der Erstarrung zu beschreiben. Bisher werden solche Ansätze jedoch noch nicht auf dem Gebiet der Lotwerkstoffe eingesetzt. Zum einen fehlt die Datenbasis für exakte Berechnungen, zum anderen resultiert aus experimentellen Betrachtungen über die Individualität der Gefügeausbildung in benachbarten Kontakten ein genereller Zweifel, ob eine theoretische Beschreibung der Gefügeausbildung überhaupt zu brauchbaren Ergebnissen führt. Aus diesem Grund werden zu Aussagen zur Gefügeausbildung in der Regel qualitative und halbquantitative Aussagen herangezogen, deren Grundlage durch verschiedene Experimente zur Gefügeausbildung und -entwicklung gelegt wird. Ziel vieler Untersuchungen ist es dabei, die in realen Lotkontakten vorzufindenden Gefüge mit solchen aus experimentellen Probekörpern ins Verhältnis zu setzen. Um Aufschluss darüber zu haben, unter welchen Bedingungen eine Erstarrung in Schmelzen verschiedener Zusammensetzung oder Größe erfolgt, wird üblicherweise das Maß der Unterkühlung ΔT u einer Schmelze herangezogen, da diese das bestimmende Maß für die Prozesse der Keimbildung und des Keimwachstums ist (vgl. 3.4.1.2, 3.4.1.3). Zur experimentellen Bestimmung von ΔT u werden üblicherweise die Verfahren der Differentiell-Thermischen-Analyse (DTA) und der Differentiellen-Scanning-Kalometrie (DSC) eingesetzt. Beide Verfahren sind ähnlich und beruhen darauf, dass der Temperaturverlauf einer Schmelze bei der Erstarrung mit dem einer nicht schmelzenden Referenzsubstanz verglichen wird. In Abb. 3.29 ist der schematische Aufbau einer Apparatur zur Durchführung einer DTA gezeigt. Dazu werden Messsubstanz und Referenzsubstanz in einem Heizblock gesteuert aufgeheizt oder abgekühlt, wobei gleichzeitig der Temperaturunterschied zwischen beiden Substanzen gemessen und aufgezeichnet wird. Im Gegensatz dazu wird bei einer DSC die Temperatur der beiden Substanzen während des Abkühlprozesses durch zwei separat geregelte Heizungen gleich gehalten und der Unterschied in der Zuführung von Wärmeenergie bestimmt. Aus den Untersuchungen mit DTA oder DSC lassen sich bestimmte physikalische Parameter, wie der Schmelzpunkt T s , die Unterkühlung ΔT u oder die Schmelzwärme Q c , sehr gut bestimmen. Allerdings haben kommerziell gefertigte Geräte für DTA- oder DSC-Untersuchungen bestimmte Einschränkungen bezüglich der Probengestaltung und der Abkühlbedingungen. Aus diesem Grund sind alternative Experimente notwendig, um einen Zusammenhang zwischen der in der Praxis vorkommenden Gefügeausbildung und der die Erstarrung beschreibenden Parameter zu finden. Die einfachste Möglichkeit, verschiedene Abkühlraten zu erzeugen, besteht in der Erstarrung des Lotes über sogenanntes Abschrecken in Wasser, Luftkühlung und Ofenkühlung. Auf diese Weise erhält man Erstarrungsbedingungen mit sehr weit auseinanderliegenden Abkühl–1 gradienten ( ∂T ⁄ ∂t = { 24; 0,5; 0,08 }Ks [196]). Obwohl diese einfachen Expe-
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
115
rimente sehr gut die Wirkung verschiedener Abkühlbedingungen auf die Gefügeausbildung zeigen, lassen sich aufgrund der nicht genau einstellbaren Abkühlbedingungen keine genauen Schlüsse über den Zusammenhang zwischen den für die Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik relevanten Abkühlgeschwindigkeiten und Gefügeausbildung ziehen. Aus diesem Grund wurde in der Arbeitsgruppe des Autors ein neuer experimenteller Ansatz zur Untersuchung des Erstarrungsverhaltens von Lotwerkstoffen erarbeitet. Dieser umfasst unterschiedliche Aufbauten, mit welchen sich verschiedene Erstarrungsbedingungen einstellen lassen [197]. Ein erster Versuchsaufbau wurde entwickelt, um den generellen Zusammenhang zwischen Abkühlgradient ∂T ⁄ ∂t , Unterkühlung ΔT u und Gefügeausbildung untersuchen zu können. Hierfür wurde ein 80 mm X 80 mm X 84 mm großer Aluminiumblock mit Bohrungen versehen, sodass in 8 mm Standard-Reagenzgläsern befindliches Lot aufgeschmolzen und erstarrt werden kann (Abb. 3.30). Das –6 3 dabei untersuchte Lotvolumen ist mit 1 ⋅ 10 m um etwa zehntausendfach größer als durchschnittliche Lotkontakte. Dieses bewusst gewählte große Volumen dient zum einen dazu, Keimbildungseffekte, welche durch Wechselwirkung mit der Reagenzglaswand entstehen, von der Erstarrung des reinen Lotwerkstoffes trennen zu können. Wesentlich wichtiger ist es jedoch, die entstehenden Gefügemuster in allen Größenniveaus beobachten zu können. Durch zu klein gewählte Probenvolumina besteht immer die Gefahr, nur einen Teil der sich wiederholenden Muster erkennen zu können und dadurch die mit der Erstarrung zusammenhängenden Prozesse nicht vollständig verstehen zu können. Ein wichtiges Anliegen bei der Konzeption des Experimentieraufbaus war die Realisierung einer Abkühlvorrichtung, welche eine simultane Abkühlung mehrerer Proben mit genau definierten Abkühlraten erlaubt. Hierdurch sollte ein VersuchsDT Thermopaar 1
Messsubstanz
Thermopaar 2
Heizer
Referenzsubstanz
Abb. 3.29 Prinzipieller Aufbau einer Apparatur zur Differentiell-Thermischen-Analyse (DTA). Mit einem Heizblock werden Messsubstanz und Referenzsubstanz gesteuert aufgeheizt oder abgekühlt. Gleichzeitig wird der Temperaturunterschied zwischen beiden Substanzen gemessen und aufgezeichnet.
116
3 Struktur metallischer Werkstoffe
a)
b)
c)
Abb. 3.30 Vorrichtung zur gezielten Erstarrung von Lot mit verschiedenen Abkühlgradienten: a) Gesamtansicht des Versuchsaufbaus, b) Heiz- und Kühlblock (Aluminium) für 8 in Reagenzgläsern befindliche Lotproben, c) Steuergerät zum gezielten Abkühlen mit konstanten Abkühlgradienten [207]
programm ermöglicht werden, welches sowohl die Gefügeanalyse direkt nach der Erstarrung als auch nach mehreren Auslagerungsschritten ermöglicht. Durch die simultane Abkühlung mehrerer Proben wird gewährleistet, dass alle Proben den gleichen Abkühlprozess durchlaufen haben. Die Verwendung von Reagenzgläsern bot eine einfache Realisierung einer inerten Form zur Herstellung von Gussstücken (Proben) mit den gewünschten Abmaßen ( ∅ = 7 mm / l = 23 mm ) . Die Heizung des Aluminiumblockes erfolgte über Leistungswiderstände, die Kühlung über vier 92 mm große Lüfter. Widerstände und Lüfter wurden über einen OMRON EC5CJK Prozessregler angesteuert. Eine hochlineare Abkühlung konnte im Temperaturbereich von 250°C bis 150°C mit Abkühlraten von 0,35 K/min bis zu 35 K/min erreicht werden. Pro Versuch wurden jeweils 7 identische Proben umgeschmolzen. Die Messung der Temperatur erfolgte durch ein K-Thermopaar im Zentrum der Probe. Die Vergleichstemperatur wurde über ein Thermopaar durch eine gleich große Referenzprobe aus Blei aufgenommen. Um einheitliche Probenvolumina zu erhalten, wurde Stangenlot zunächst in einem Messbecher umgeschmolzen und danach in die erhitzten Reagenzgläser gefüllt. Die auf diese Weise erhaltenen Gussstücke wurden entnommen und so lange abgedreht, bis alle ein einheitliches Gewicht aufwiesen. Diese bearbeiteten Gussstücke wurden dann zur Durchführung des Versuches wieder in die Reagenzgläser eingeführt. Um eine vollständige Durchmischung des Lotes in den Gussstücken, d. h. die Auflösung aller während der Vorpräparation entstandenen Phasenbestandteile, sicherzustellen, wurde dieses zu Beginn des Experiments
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
a)
117
b)
c) Abb. 3.31 Vorrichtung zur gerichteten Erstarrung von Lot: a) Segementheizvorrichtung (Seitenperspektive), b) Segementheizvorrichtung mit Reagenzglas (Draufsicht), c) Zerteilung des aus dem Versuch erhaltenen Lotingots in 5 einzelne Segmente zur Anfertigung von Querschliffen [207]
zunächst für 15 min auf einer Temperatur von T = 250 °C gehalten. Während dieses Zeitraums wurden die Thermopaare in die Proben eingetaucht. Danach erfolgte die Erstarrung gemäß dem für das Experiment angestrebten Abkühlregime. Eine zweite Versuchseinrichtung wurde aufgebaut, um die Gefügeausbildung entlang einer sich gerichtet bewegenden Erstarrungsfront untersuchen zu können. Sie besteht aus einem Aluminiumblock der Größe 40 mm X 40 mm X 115 mm, welcher in 5 gleich große Segmente unterteilt ist (Abb. 3.31). Diese sind mit einem Abstand von 0,3 mm Abstand aufeinander gesetzt und können separat beheizt werden. Die Realisierung der Heizregelung erfolgte analog zum ersten Aufbau. In allen Segmenten befindet sich eine Zentralbohrung für ein 12 mm Standard-Reagenzglas, welches im untersten Segment als Sackloch ausgeführt ist. Für das Experiment wird das Reagenzglas bis zu einer Höhe von 95 mm mit Lot gefüllt, sodass das letzte Segment um 5 mm über das Lot hinausragt. Zur Durchführung der Experimente wird schmelzflüssiges Lot in die ca. 250 °C heiße Apparatur gegossen. Danach erfolgt die Abkühlung, indem zunächst das mittlere Segment, dann die beiden inneren und zuletzt die äußeren Segmente abgekühlt werden In einem dritten Versuchsaufbau wurde eine Messstruktur entwickelt, um den Erstarrungsvorgang von realen Lötstellen auf Leiterplatten untersuchen zu können (Abb. 3.32). Die Grundidee dieses Aufbaus besteht darin, die Temperatur der Löt-
118
3 Struktur metallischer Werkstoffe Thermopaarverstärker
Datenaufnahme und -verarbeitung
+5V
U(therm)(t)
OV
A
D
USB
Datenlogger prog. "Monitor"
U(t)
H(U)
T(t)
-5V
neg. Schenkel (CuNi) pos. Schenkel (Cu)
Lotpaste Cu-Leitbahn Leiterplatte
a)
b)
Abb. 3.32 Messstruktur zur Untersuchung des Erstarrungsvorgangs von realen Lötstellen auf Leiterplatten: a) Prinzip des Messaufbaus, b) Aufbau auf Leiterplatte mit Mess- und Vergleichsstelle [207]
stelle über ein T-Thermopaar aufzunehmen. T-Thermopaare bestehen aus einem Cu- und einem CuNi-Schenkel, wodurch sich die Möglichkeit ergibt, einen der beiden Schenkel als Leitbahn auf der Leiterplatte auszulegen. Über den Kurzschluss der beiden Schenkel durch das Lot der Lötstelle wird genau deren Temperatur aufgenommen. Zur Auswertung des stark nichtlinearen T-Thermopaars wurde ein spezieller Messverstärker aufgebaut, der eine Kalibrierung dieser Temperaturmessanordnung vor dem eigentlichen Experiment ermöglichte. Danach wurde eine Leiterplatte mit einer Lotstellenmessstelle und einer Vergleichsmessstelle präpariert und die Temperaturen der beiden Messstellen während eines Reflowprozesses aufgenommen. Für ein weiteres Experiment wurden kleine Lotplättchen aus einer Folie ausgestanzt, welche zuvor durch mehrere Walzvorgänge aus einer handelsüblichen Lotstange hergestellt wurde. Die Lotplättchen wurden mit verschiedenen Durchmessern ausgestanzt, sodass sich nach dem Umschmelzen Lotkügelchen mit Durchmessern von d = 130 μm, 270 μm, 580 μm, 1100 μm ergaben. Das Umschmelzen erfolgte auf zwei übereinanderliegenden Dickschichtkeramiken, wobei die obere Keramik kreisförmige Aussparungen entsprechend der angestrebten Lotballgröße enthielt (siehe Abb. 3.33). Beim Erstarrungsvorgang wurde durch das Anbringen verschieden großer thermischer Massen unter der Dickschichtkeramik die Abkühlgeschwindigkeit zwischen 0,14 K/s ... 10,9 K/s variiert.
3.4.2.2 Erstarrungsgefüge von Sn-Ag-Cu-Loten Zu Beginn der Untersuchungen lagen vor allem die in [198-201] publizierten Erkenntnisse zur Gefügeausbildung in SnAg- und SnAgCu-Loten vor. Während der Laufzeit des Forschungsprojektes wurden folgende weitere wichtige experimentelle Befunde bzw. theoretische Überlegungen [202-203] veröffentlicht. Die genannten Veröffentlichungen [198-203], welche den Kern des momentanen Ver-
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
119
Thermopaare (K-Typ)
Al2O3-Keramik mit Vertiefungen für Lotkugeln
Datenlogger
Heizplatte
a)
b)
Abb. 3.33 Messstruktur zur Untersuchung des Erstarrungsvorgangs von realen Lötstellen auf Leiterplatten: a) Prinzip des Messaufbaus, b) Aufbau auf Leiterplatte mit Mess- und Vergleichsstelle aus [208]
ständnisses zur Gefügeausbildung in SnAg- und SnAgCu-Loten widerspiegeln, konnten durch die nachfolgend beschriebenen Untersuchungen in wichtigen Punkten erweitert werden. Der wesentliche methodische Unterschied zu den bisher publizierten Untersuchungen besteht (analog zu den Kriechuntersuchungen) in der Wahl eines umfangreichen Untersuchungsbereiches für die Probenvolumina, welcher sich von Bulk-Proben mit V = 1.10-6 m3 bis hin zu kleinstvolumigen Lotkügelchen mit V = 1.10-12 m3 erstreckt, wodurch sich im Gegensatz zu vielen publizierten Untersuchungen [198-203], welche sich auf kleinvolumige Lotkugeln beschränken, ein für die Interpretation der Gefügebilder vollständigeres Bild ergibt. Der Gesamtumfang der in [197] beschriebenen Untersuchungen an großen Bulk-Ingots zur Ermittlung des Zusammenhangs zwischen Abkühlrate und Gefügeausbildung betrug 46 Proben, welche metallografisch präpariert und in ca. 1500 lichtmikroskopischen Aufnahmen dokumentiert wurden. In Abb. 3.34 ist die Auswertung der einzelnen Gussstücke exemplarisch dargestellt. Im ersten Schritt wurde eine Gesamtaufnahme des metallografisch bearbeiteten Gussstückes aus ca. 30 Einzelaufnahmen hergestellt, sodass eine Gesamtaufnahme des Gefüges mit 7 einem Bildinhalt von ca. 4 ⋅ 10 Pixeln entsteht. Aus dieser Gesamtaufnahme lässt sich zum einen ein Eindruck von der Gesamterscheinung des Gefüges gewinnen, aber es lassen sich auch Gefügedetails stufenlos herausvergrößern, sodass ein Überblick des Gefüges in jeder beliebigen Größendimension entsteht. Aus den bisher ausgewerteten Daten dieser Untersuchung konnten verschiedene Schlüsse über das Erstarrungsverhalten des SnAgCu-Systems gezogen werden. Im Vergleich mit anderen Untersuchungen [199-201] ergeben sich neue, den bisherigen Erkenntnisstand ergänzende Einsichten zur Gefügeausbildung des SnAgCuLotes. Betrachtet man das sich im SnAgCu-Eutektikum ausbildende Gefüge nicht nur unter einer bestimmten, sondern unter verschiedenen Vergrößerungen (dies ist der wesentliche Unterschied bei der Auswertungsmethodik dieser zu vorangegangenen
120
3 Struktur metallischer Werkstoffe
Abb. 3.34 Lichtmikroskopisches Gefügebild eines in einem Reagenzglas erstarrten SnAg3,8Cu0,7 Lotes mit Ausschnittsvergrößerung einzelner Bereiche [207]
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
121
Untersuchungen), so ist festzustellen, dass im Gefüge der gleichen Probe zum einen sich wiederholende Strukturmuster in einer Größe von mehreren hundert Mikrometern und zum anderen sich einzelne Strukturelemente im Submikrometerbereich befinden. Anders als in [199] vermutet, wird die Ausbildung bestimmter Muster nicht allein durch die Legierungszusammensetzung, sondern auch durch die gewählten Erstarrungsbedingungen bestimmt. Deshalb kann mit der in [199] getroffenen Annahme, dass aus dem tenären Eutektikum des SnAgCu-Lotes grundsätzlich drei verschiedene Phasen (β-Sn, Ag3Sn, Cu6Sn5) sequentiell in der Reihenfolge α −> α + β −> α + β + γ ausfallen, das unter praxisrelevanten Abkühlraten im SnAgCu-Lot entstehende Gefüge nicht vollständig erklärt werden. Aus den an Bulk-Probekörpern durchgeführten Experimenten geht hervor (siehe Abb. 3.34, Abb. 3.35), dass im Erstarrungsgefüge Ag3Sn-Phasen in Form großer Platten sowie Cu6Sn5-Phasen in Form von Hexagonen oder scherenartigen Strukturen von β-Sn-Dendriten umgeben sind, welche untereinander durch Gebiete umschlossen sind, die aus in einer β-Sn-Matrix eingebetteten Ag3Sn- und Cu6Sn5Partikeln (in Form kleiner Nadeln oder Sphären) bestehen. Die Ausbildung der sehr großen Ag3Sn-Platten bzw. der Cu6Sn5-Hexagone findet um so stärker statt je niedriger die Abkühlraten sind. Bei sehr hohen Abkühlraten wird die Ausbildung dieser Phasen komplett unterdrückt. Bei sehr niedrigen Abkühlraten besteht das Gefüge nur aus diesen Phasen, welche dann in eine β-Sn-Matrix eingebettet sind (vgl. [204]). Die Größe der β-Sn-Dendriten nimmt mit zunehmenden Abkühlraten SnAg3,8Cu0,7
SnAg3,5Cu0,4
SnAg3,0Cu0,5
-0,5 K/min
-0,35 K/min
-0,34 K/min
-35,1 K/min
-33 K/min
-37,4 K/min
Abb. 3.35 Darstellung des Einflusses der Abkühlrate auf die Mikrostruktur großvolumiger Bulkproben aus verschiedenen bleifreien Lotlegierungen anhand von lichtmikroskopischen Gefügebildern (Ausschnittsvergrößerungen) [207].
122
3 Struktur metallischer Werkstoffe
a)
b)
Abb. 3.36 Rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen vom Gefüge von SnAg-Lot: In Abhängigkeit von der Abkühlrate entstehen entweder a) sub-μm-große Sphären (schnelle Abkühlrate) oder b) μm-große Nadeln (langsame Abkühlrate).
ab, wobei sich gleichzeitig die Größe der Ag3Sn, Cu6Sn5-Partikel in den die β-SnDendriten umgebenden Gebieten verkleinert, d. h., es entstehen eher sub-μm-große Sphären als μm-große Nadeln (vgl. Abb. 3.35, Abb. 3.36). Zu vergleichbaren Ergebnissen gelangt auch Swenson [203], welcher - ausgehend von dem von Moon et al. [199] im Jahr 2000 veröffentlichten Phasendiagramm unter Berücksichtigung weiterer in der Zwischenzeit veröffentlichter Erkenntnisse zum Erstarrungsverhalten von SnAgCu-Loten - zu einer Interpretation des Erstarrungsvorgangs gelangt, welche die Reihenfolge der ausfallenden Phasen gegenüber [199] dahingehend erweitert, dass auch monovariante (z.B. β-Sn + Ag3Sn) oder quasieutektische Phasen direkt aus der Schmelze ausfallen können. Als weiterer wichtiger Gesichtspunkt wird in [203] eine unterdrückte β-Sn-Keimbildung als entscheidende Ursache für die sehr hohen Flächenanteile von β-SnDendriten gesehen, welche den Hauptanteil des Gefüges in SnAgCu-Loten ausmachen. Diesen Überlegungen liegen die verhältnismäßig hohen Werte der Unterkühlung, welche für die homogene Keimbildung von β-Sn (ΔT = 0,37 Ts [205]) bzw. die heterogene Keimbildung von β-Sn (ΔT = 0,05 ... 0,08 Ts [199], [201] ) ermittelt wurden, zugrunde (durchschnittliche Werte für Unterkühlung bei heterogener Keimbildung in Metallen liegen bei ΔT = 0,02 Ts ). Ausgehend von der Annahme einer unterdrückten β-Sn-Keimbildung wird in [203] aus einer virtuellen Projektion der im Sn-Ag-Cu-Phasendiagramm aus [199] errechneten Ag3Sn-Cu6Sn5Liquiduslinie die Zusammensetzung der Restschmelze unter Annahme einer spezifischen Unterkühlung für die β-Sn-Keimbildung ermittelt (z. B. Sn-1,5wt%Ag0,25wt%Cu für ΔT = 30 K). Für die Erstarrung dieser Restschmelze wird in [203] davon ausgegangen, dass nach einsetzender Keimbildung aufgrund der hohen Unterkühlung die Bedingungen für ein rasches Wachstum von β-Sn-Dendriten gegeben sind, an deren Phasengrenzfläche zur Schmelze es zu einer erheblichen Anreicherung von Ag und Cu kommt, sodass die Ausscheidung monovarianter (β-
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
123
Sn + Ag3Sn bzw. β-Sn + Cu6Sn5) Phasen bzw. ternärer Phasen (β-Sn + Ag3Sn + Cu6Sn5) zwischen den Dendritenarmen aufgrund konstitutioneller Unterkühlung sehr wahrscheinlich erscheint. Aus den Experimenten an Bulk-Probekörpern geht jedoch hervor, dass sich in diesen größeren Volumen im Gegensatz zum Erstarrungsgefüge kleiner Lotbälle durchaus große zusammenhängende Gebiete einer monovarianten (β-Sn + Ag3Sn bzw. β-Sn + Cu6Sn5) bzw. ternären Phase (β-Sn + Ag3Sn + Cu6Sn5) ergeben, welche nicht von β-Sn-Dendriten durchzogen sind. Für die Experimente, in denen die Gefügeausbildung entlang einer vorgegebenen Erstarrungsrichtung untersucht werden sollte, wurde SnAg3Cu0,5-Lot umgeschmolzen. Zusätzlich wurden zwei weitere Proben dieser Legierung mit Zusätzen von 0,14 % Au und 1 % Cu untersucht. In Abb. 3.37 sind die Gefüge des mittleren Segments (Beginn der Erstarrung) und die eines äußeren Segments (Ende der Erstarrung) gegenübergestellt. Hierbei ist zu erkennen, dass sich an der Stelle des zuerst erstarrten Lotes ein ungeordnetes Gefügebild ergibt, während im später erstarrtem Lot eine sehr regelmäßige Anordnung der Gefügebestandteile zu beobachten ist. Eine Zulegierung von 0,14 % Au bewirkte keine signifikante Änderung des Gefügebildes. Eine Zulegierung von 1 % Cu führte zur Ausscheidung großer plattenförmiger Cu6Sn5-Phasen sowohl im zuerst als auch im später erstarrten Lot. Diese waren stets von β-Sn-Dendriten umgeben. Für das vollständige Verständnis des Erstarrungsverhaltens des SnAgCuSystems war eine vergleichende Betrachtung des Erstarrungsvorgangs in räumlich begrenzten Schmelzen notwendig. Aus den Untersuchungen zum Erstarrungsgefüge an kleinstvolumigen Lotkugeln (d = 1100 μm, 590 μm, 270 μm, 130 μm) ergeben sich Anhaltspunkte, welche Schlüsse über den Verlauf von Keimbildung und Keimwachstum in diesen volumetrisch stark begrenzten Schmelzen zulassen. Wie aus den lichtmikroskopischen Aufnahmen im Phasen- und Interferenzkontrast (Abb. 3.38 - Abb. 3.40) hervorgeht, ist das Gefüge der Lotkugeln mit einem Durchmesser von 1100 μm durch einen Kernbereich gekennzeichnet (siehe Abb. 3.38), in welchem sich eine hohe Anzahl kleiner Körner mit einer zueinander möglicherweise in einem Winkel von ca. 60° verteilten Orientierung (vgl. [203]) befindet. Dieser Kern ist von einem Bereich umschlossen, welcher durch wenige große Körner einer ebenfalls um ca. 60° verschobenen Orientierung gekennzeichnet ist. Bezogen auf die metallografische Schliffebene entspricht die Form dieser Körner der von Tortenstücken. Wie aus den summarisch in Abb. 3.40 dargestellten Polarisationsaufnahmen hervorgeht, ergibt sich nicht notwendigerweise die in Abb. 3.38 gezeigte tortenähnliche Erscheinungsform des Gefüges. Sehr oft ergeben sich kompliziertere Erscheinungsformen, die keine einheitliche Beschreibung zulassen. Generell lassen sich jedoch zwei Phänomene erkennen. Zum einen scheint die Größe der Kernzone mit zunehmender Abkühlgeschwindigkeit zuzunehmen, zum anderen nimmt der relative Anteil der Kernzone am Gesamtgefüge mit kleiner werdenden Kugeldurchmessern zu, sodass die Kernzone mit ihren vielen kleinen, definiert zueinander orientierten Körnern in Lotkugeln mit einem Durchmesser von d = 130 μm das gesamte Gefüge ausmacht, wenngleich es auch hier Ausnahmen gibt. Werden die Polarisationsaufnahmen zusammen mit den Auf-
124
3 Struktur metallischer Werkstoffe
Abb. 3.37 Gefügebilder von SnAg3Cu0,5 Lot mit 0,14% Au Zusatz bei gezielter gerichteter Erstarrung vom mittleren Segment (links) zum äußeren Segment (rechts) [207].
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
125
c) b) a)
b)
c)
d)
e)
f)
Abb. 3.38 Lichtmikroskopische Aufnahmen im Polarisationskontrast (= a, b, c) und im Phasenindifferenzkontrast (= d, e, f) zur Gegenüberstellung von Korn- und Dendritenstruktur im Erstarrungsgefüge einer kleinvolumigen Lotkugel (1100μm; 1 K/s) aus SnAg3,0Cu0,5 Lot [208]
nahmen im Phasendifferenzkontrast betrachtet (Abb. 3.38, Abb. 3.39), so lässt sich klar ableiten, dass die Erstarrung mit der Bildung einer größeren Anzahl von Keimen in einer Kernzone beginnt, an die sich ein dendritisches Wachstum einer geringen Anzahl von Keimen anschließt. Das Ergebnis der Untersuchungen an den Lotkugeln weist auf einen Größeneffekt in der Erstarrung von Mikroschmelzen hin, welcher sich vermutlich durch eine Erhöhung der für stabiles Keimwachstum notwendigen Unterkühlung bei kleiner werdenden Schmelzen ergibt. In Untersuchungen von Cotts [206] wurde die Erhöhung der zur Erstarrung von SnAgCu-Kugeln notwendigen Unterkühlung durch DTA-Messungen bestimmt. Dabei ergab sich eine Unterkühlung von ca. 60 K für kleinvolumige Flip-ChipKontakte. Die in den eigenen Messungen an Bulkproben (Reagenzglasproben, –6 3 V ≈ 1 ⋅ 10 m ) ermittelten Werte der Unterkühlung lagen im Bereich von 5 ... 10 K. Hierbei muss allerdings beachtet werden, dass aufgrund der großen räumlichen Ausdehnung der Proben, die Messung verschieden von der an kleinen Proben ist. Die Messstelle im Lotvolumen befand sich auf der halben Länge der Probe im Zentrum des Querschnitts. Bei den Messung an einem kleinen Lotkontakt –8 3 (SMD-typische Größe, V ≈ 1 ⋅ 10 m ) auf einer Leiterplatte mit Cu-Metallisierung wurden Werte der Unterkühlung im Bereich von 50 K bestimmt. Das dazugehörige Temperatur-Zeit-Diagramm, welches Aufschluss über die Temperatur des Lotkontaktes gegenüber der Temperatur einer freien (d. h. ohne aufgetragene Lotpaste) Cu-Anschlussfläche gibt, ist in Abb. 3.41 dargestellt. Geht man davon aus, dass die beim Wachstum von stabilen Keimen entstehende Kristallisationswärme über ein Temperaturfeld an der Erstarrungsfront in die unterkühlte Schmelze abgegeben wird, so ergibt sich die Wachstumsgeschwindig-
126
3 Struktur metallischer Werkstoffe
keit in einer genügend großen Schmelze allein aus der Unterkühlung dieser Schmelze, da die Abmessungen der unterkühlten Schmelze gegenüber der charakteristischen Länge dieses Temperaturfeldes einen nahezu unendlichen Raum darstellen. Werden die Abmessungen der Schmelze jedoch verkleinert, so ist der Effekt der Erwärmung der unterkühlten Schmelze vor der Erstarrungsfront durch die abgeführte Kristallisationswärme entsprechend größer. Infolgedessen verkleinert sich der Gradient des Temperaturfeldes so stark, dass kein stabiles Keimwachstum mehr stattfinden kann. D. h., um ein stabiles Keimwachstum zu ermöglichen, ist in sehr kleinen Schmelzen eine höhere Unterkühlung notwendig. Da gleichzeitig die Keimbildungsrate mit der Unterkühlung exponentiell zunimmt, ergibt sich ein Punkt, an dem ein Umschlag zwischen einem Erstarrungsprozess, der durch das Wachstum weniger Keime gekennzeichnet ist, und einem Erstarrungsprozess, bei dem es durch eine größenbedingte hohe Unterkühlung zu einer massiven Zunahme der Keimbildungsrate kommt, stattfindet. Ist diese Vermutung zutreffend, so hängt die Ausbildung des Erstarrungsgefüges bei großen Schmelzen von der Abkühlgeschwindigkeit ab, während es bei kleinen Schmelzen vor allem durch die Abmessungen der Schmelze bestimmt wird. Folgt man den Ergebnissen der Untersuchungen, so liegt der Umschlagpunkt zwischen großen und kleinen Schmelzen für untereutektische SnAgCu-Legierungen sowie für SnAg-Legierungen bei etwa V = 10-11 m3, was einem Kugeldurchmesser zwischen 300 ... 500 μm entspricht. Eine Ausnahme bildet jedoch die SnAgCu-Legierung mit eutektischer
a) d = 130 μm / 1,1 K/s
b) d = 270 μm / 1,1 K/s
d) d = 1100 μm / 1,1 K/s
e) Ingot / 0,15 K/s
c) d = 590 μm / 1,1 K/s
Abb. 3.39 Lichtmikroskopische Aufnahmen (Phasenindifferenzkontrast) zur Darstellung des Einflusses des Lotvolumens auf die Größe der β-Sn Dendriten (SnAg3,0Cu0,5 Lot). Gezeigt werden Querschliffe von kleinvolumigen Lotkugeln mit Durchmessern von (d = 1100 μm, 590 μm, 270 μm, 130 μm) und ein Querschliff einer großvolumigen Reagenzglasprobe [208].
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
a)
b)
c)
d)
e)
f)
127
Abb. 3.40 Polarisationsaufnahmen von Lotkugeln aus SnAg3,5 Lot (linke Spalte, Bilder a, c, e) und von Lotkugeln aus SnAg3,7Cu0,8 Lot (rechte Spalte, Bilder b, d, f). Die Kugelgrößen betragen 130 μm (Bild a,b); 270 μm (Bild c,d) und 1100 μm (Bild e,f) [209].
Zusammensetzung (SnAg3,8Cu0,7), welche ausschließlich aus wenigen dendritisch erstarrten Körnern zu bestehen scheint. Bisher ist ungeklärt, weshalb bei dieser Legierungszusammensetzung ein solcher Effekt auftritt. Aus den Ergebnissen der in [197, 208] beschriebenen Grundsatzuntersuchung ergeben sich durch den Vergleich mit den Gefügen in realen kleinvolumigen Lot-
128
3 Struktur metallischer Werkstoffe
Abb. 3.41 Erstarrungsdiagramm an Lotkontakten [207]
kontakten folgende Erkenntnisse. Bei gleicher Abkühlrate ergibt sich in kleinvolumigen Lotkontakten ein feineres Gefüge als in Bulkproben, d.h. kleinere Dendriten und kleinere Ag3Sn-, Cu6Sn5-Partikel. Dennoch können sich sehr große Ag3Sn-, Cu6Sn5-Platten in diesen sehr kleinen Volumen bilden. In Übereinstimmung mit den in [201] veröffentlichten Ergebnissen ist zu schlussfolgern, dass die für die Bildung der β-Sn-Phasen notwendige Unterkühlung bei kleiner werdenden Schmelzen zunimmt, während die Unterkühlung zur Bildung großer Ag3Sn-, Cu6Sn5-Platten größenunabhängig ist. Dies bedeutet, dass in kleinvolumigen Kontakten grundsätzlich andere Gefüge entstehen als in Bulkproben. Die zwischen benachbarten Lotkontakten beobachteten unterschiedlichen Gefüge lassen sich offensichtlich auf unterschiedliche Verläufe der Erstarrungsfronten in diesen Kontakten zurückführen. Ursache der unterschiedlichen Startpunkte der Erstarrung könnte heterogene Keimbildung an den zuerst entstehenden Ag3Sn-, Cu6Sn5-Platten sein. Das Zulegieren von Cu führt zum Ausfällen großer Cu6Sn5-Platten bzw. Hexagonen, ohne dass es zu signifikanten Änderungen des restlichen Gefügebildes kommt.
3.4.2.3 Erstarrungsgefüge von Sn-Pb-Loten Ausgangspunkt für die in [210] durchgeführten Untersuchungen zum Erstarrungsverhalten von Sn-Pb-Loten waren Gefügeinhomogenitäten, welche in FlipChip-Kontakten gefunden wurden. Hierzu wurden zunächst kleinvolumige Kontakte von Flip-Chip-, CSP- bzw. μBGA-Bauelementen analysiert. Im Rahmen der in [12] durchgeführten Arbeiten wurden diese Analysen durch generelle Untersuchungen an Schmelzen unterschiedlicher Volumen vervollständigt, um Aufschluss
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
129
darüber zu erhalten, ob das in Flip-Chip-Kontakten erstarrte Lot bestimmte mikrostrukturellen Besonderheiten gegenüber dem SnPb37-Lot in größeren Volumen (V > 10-9 m3) hat. Hierzu wurde handelsübliches LSn62-Lot aufgeschmolzen und dann in Lotvolumina zwischen 10-9 m3 < V < 10-8 m3 erstarrt. Die Erstarrung des Lotes erfolgte zum einen an Luft, d. h. normale Abkühlrate, und zum anderen in Wasser, d. h. hohe Abkühlrate. Die durch diese beiden Erstarrungsbedingungen entstandenen Mikrostrukturen sind in Abb. 3.42 dargestellt. Das Gefüge des in Wasser abrupt erstarrten Lotes erscheint wesentlich feiner als das des in Luft normal erstarrten. Werden die Größen einzelner Phasengebiete miteinander verglichen, so fällt auf, dass im Gefüge des schnell erstarrten Lotes die Größe einzelner Phasengebiete gering streut und die Phasengebiete eine globulare Form aufweisen, während im Gefüge des normal erstarrten Lotes sehr starke Größenunterschiede zwischen einzelnen Phasengebieten auftreten, welche zum Teil eine laminare Form aufweisen. Der markanteste Unterschied zwischen beiden Gefügen besteht in der Form der Bleiausscheidungen. Im Fall schnell erstarrten Lotes sind diese kreuzförmig (bzw. dendritenartig) und im Fall normal erstarrten Lotes sind sie kugelförmig. Diese Besonderheit der in Abhängigkeit von der Abkühlgeschwindigkeit im Gefügebildes von SnPb-Lot auftretenden großen Bleiausscheidungen lassen sich verstehen, wenn die in [211] ermittelten Werte für die zur Keimbildung einer Komponente α notwendigen Unterkühlung in einem zweiphasigen System mit und ohne Anwesenheit einer zweiten Komponente β , welche in Tabelle 3.3 zusammengefasst sind, betrachtet werden. Hieraus wird deutlich, dass die in den eutektischen und naheutektischen Zinn-Blei-Legierungen zu beobachtenden Bleiausscheidungen aufgrund des nichtreziproken Keimbildungsverhaltens des SnPb-Systems entstehen. Während Zinn bei Anwesenheit von Blei eine hohe Unterkühlung (ΔT = 55 K) benötigt, genügt Blei bei Anwesenheit von Zinn eine geringe Unterkühlung (ΔT =0 K ... 0,5 K) zur Keimbildung [211]. Durch dieses nichtreziproke Keimbildungsverhalten bilden sich bei der Erstarrung eutektischen Blei-ZinnLotes zuerst Keime der bleireichen Phase. Da bei der Keimbildung Wärme freigesetzt wird, verlangsamt sich die Abkühlung, sodass zunächst ein Keimwachstum der bleireichen Phase auftritt, bevor die Schmelze so weit unterkühlt ist, dass auch die zinnreiche Phase Keime bildet. Durch die sich zuerst bildenden bleireichen Ausscheidungen verschiebt sich die Zusammensetzung der noch flüssigen Restschmelze. Erreicht diese ein Verhältnis von 80wt%Sn-20wt%Pb, so ist die notwendige Unterkühlung für die Keimbildung von bleireicher und zinnreicher Phase gleich [212, 213]. Aufgrund dieses dargestellten Mechanismus weist das Gefüge von realen Flip-Chip-Kontakten (Abb. 3.43) ohne Einbeziehung der Bleiausscheidungen eine übereutektische Zusammensetzung zwischen (70wt% ... 80wt%)SnPb auf. Werden lokale Bereiche betrachtet, so bestehen diese entweder aus einem übereutektischen Zinn-Blei-Lot oder aus Bleiausscheidungen. Die Zusammensetzung des übereutektischen Lotes ist im gesamten Volumen gleich, schwankt aber zwischen verschiedenen Proben im Bereich von 70wt% bis 80wt% Zinnanteil. Die Zusammensetzung der Bleiausscheidungen beträgt 19,2wt%Sn-Pb [215]. Durch
130
3 Struktur metallischer Werkstoffe
In Wasser (schnell) erstarrtes Lot
An Luft (normal) erstarrtes Lot
a) Übersichtsbild typisches Gefüge (280 X)
b) Übersichtsbild typisches Gefüge (360 X)
c) Detailbild typisches Gefüge (2800 X)
d) Detailbild typisches Gefüge (2800X)
e) Detailbild Bleiausscheidung (5500 X)
f) Detailbild laminarer Bereich (2800X)
Abb. 3.42 Mikrostruktur (SE-Kontrast) erstarrten SnPb37-Lotes (V > 10-9m3), linke Seite: schnelle Erstarrung in Wasser; rechte Seite: normale Erstarrung an Luft [12]
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
131
Tabelle 3.3 Unterkühlung ΔT für die Keimbildung der Komponente α bei gleichzeitiger Anwesenheit der Komponente β aus [211] System
ΔT von α
α − β
(max.)
ΔT von α bei Anwesenheit von β (unter α-Liquidus)
Pb - Sn
72 K
0,5 K
Sn - Pb
52 K
> 55 K
Ag3Sn - Sn
-
> 50 K
Sn - Ag3Sn
35 K
>42 K
Sn - Cu6Sn5
50 K
> 45 K
die aufgrund des nichtreziproken Keimbildungsverhaltens des SnPb-Systems und des mehrfachen Aufschmelzens des Zinn-Blei-Lotes bei der Herstellung und Verarbeitung zustande kommenden Mechanismen bei der Loterstarrung ist die ursprüngliche Zusammensetzung des Lotes ohne Einfluss auf das später in den Lotkontakten entstehende Gefüge. Der die Materialeigenschaften prägende Hauptteil an übereutektischem Lot hat im Mittel, unabhängig von der Ausgangszusammensetzung, die gleiche Zusammensetzung, da sich diese aus dem nichtreziproken Keimbildungsverhalten des SnPb-Systems ergibt [12]. Dadurch hat z. B. die Ausgangszusammensetzung von SnPb-Bumps keinen Einfluss auf die spätere Zusammensetzung des Gefüges in den daraus gefertigten FlipChip-Kontakten. Allerdings kann durch extreme Abkühlraten eine solche Unterkühlung erzielt werden, dass die Bildung von Bleiausscheidungen unterbunden wird und ein homogenes Gefüge mit der Lotzusammensetzung des Flip-ChipBumps im gesamten Kontakt entsteht [210]. Um diese zunächst auf Flip-Chip-Kontakte bezogenen Aussagen zu verallgemeinern, wurden verschiedene Analysen vorgenommen, um festzustellen, welches Gefüge sich in einem produktionstypischen Lötprozess in realen Bauelementekontakten einstellt. Hierzu wurden verschiedene, auf eine FR4-Leiterplatte gelötete Bauelemente zusammen mit einem Flip-Chip-Probekörper in einem Reflow-Ofen umgeschmolzen. Um das zweite Aufschmelzen der Lotkontakte zu garantieren, wurde das SMT-typische Temperaturprofil des Reflow-Ofens in allen Zonen um 30 K angehoben. Die untersuchten Bauelemente bestanden aus einem μBGA, einem CSP und einem TC1 (Testchip). Die aus dem zweiten Umschmelzen entstandenen Gefüge sind in Abb. 3.43 dargestellt. Daraus ist abzulesen, dass zwar zwischen den Flip-Chip-Kontakten, CSP- und μBGA-Kontakten Unterschiede im Gefüge bestehen, dass aber der auf Leiterplattenmetallisierung gelötete Flip-Chip sich nicht von dem auf Si-Metallisierung gelöteten Flip-Chip unterscheidet. Werden weiterhin die Gefüge der Realkontakte mit denen aus dem umgeschmolzenen Bulkmaterial verglichen, so ist festzustellen, dass das Gefüge der Flip-Chip-Kontakte zwar Bleiausscheidungen derselben Form und Größe wie die an Luft erstarrte
132
3 Struktur metallischer Werkstoffe
a) Flip-Chip-Kontakt (Si auf FR4) Reflow-Ofen gelötet (420 X)
b) Flip-Chip-Kontakt (Si auf Si) Reflow-Ofen gelötet (390 X)
c) microBGA-Kontakt (Si auf FR4) Reflow-Ofen gelötet (140 X)
d) gestreckter CSP-Kontakt (Si auf FR4) Reflow-Ofen gelötet (110 X)
e) Flip-Chip-Kontakt (Si auf Si) SET 950 mit N2-Kühlung gelötet (280 X)
f) Flip-Chip-Kontakt (Si auf Si) SET 950 ohne Kühlung gelötet (280 X)
Abb. 3.43 Mikrostrukturen (BSE-Kontrast) realer Bauelementelotkontakte aus eutektischem bzw. naheutektischem Blei-Zinn-Lot, gelötet im Reflow-Ofen (obere 4 Bilder), im Flip-Chip-Bonder SET 950 (untere 2 Bilder) [12]
3.4 Gefügeausbildung bei Erstarrung von Legierungen
133
ausscheidungen) aber einen ganz anderen Charakter trägt. Die im Gefüge der CSPund μBGA-Kontakte zu beobachtenden Bleiausscheidungen besitzen eine Kreuzform (bzw. eine Dendritenform), sind aber wesentlich größer als die der in Wasser erstarrten Schmelze des Lotdrahtes. Kreuzförmige Bleiausscheidungen wurden auch in den mit dem SET 950-Bonder gelöteten Flip-Chip-Kontakten beobachtet, wenn diese durch das Einleiten eines kalten Gasstroms beschleunigt abgekühlt wurden. Beim normalen Abkühlen in stehender Luft waren die Gefüge der im FlipChip-Bonder SET 950 mit denen der im Reflow-Ofen gelöteten Flip-Chip-Kontakte vergleichbar. Aus den durchgeführten Experimenten zur Erstarrung des ZinnBlei-Lotes in Flip-Chip-Kontakten können keine weitreichenden Schlüsse gezogen werden, da die Möglichkeit einer lokalen Temperaturmessung (unterhalb eines Bondpads) auf dem verfügbaren Testchip TC1 [214] fehlte. Aus dem Vergleich zwischen dem Gefüge eines Flip-Chip-Kontaktes mit dem von CSP-, μBGA-Kontakten kann abgeleitet werden, dass im Zinn-Blei-Lot der Bumps bereits heterogene Keimbildner für Blei vorhanden sind. Ansonsten würden Flip-Chip-Kontakte, welche das kleinste Volumen besitzen und damit voraussichtlich die höchste Abkühlrate im Lot hervorrufen, nicht genauso große und genauso geformte Bleiausscheidungen besitzen wie die sehr viel voluminösere LSn62- Schmelze, welche ein um den Faktor 104 größeres Volumen besitzt und dadurch wahrscheinlich sehr viel langsamer erstarrt.
3.4.2.4 Volumenabhängigkeit des Sn-Ag-Cu- und des Sn-Pb-Systems Aus dem Vergleich des in 3.4.2.2 dargestellten Sn-Ag-Cu-Systems und des in 3.4.2.3 dargestellten SnPb-Systems wird ersichtlich, dass das sich einstellende Gefügebild bei ersterem vorrangig vom Schmelzvolumen abhängig ist, während das sich einstellende Gefügebild bei letzterem vor allem von der Abkühlgeschwindigkeit bestimmt wird, wobei zu beachten ist, dass bei großen Volumen die Abkühlgeschwindigkeit auch beim Sn-Ag-Cu-System ein wichtiger Faktor ist, der allerdings bei abnehmendem Schmelzvolumen an Einfluss verliert. Diese deutlichen Unterschiede in der Größenabhängigkeit des Gefügebildes im Sn-Ag-Cu-System gegenüber dem Sn-Pb-System lassen sich verstehen, wenn die in [211] ermittelten Werte für die zur Keimbildung einer Komponente α notwendige Unterkühlung in einem zweiphasigen System mit und ohne Anwesenheit einer zweiten Komponente β , die in Tabelle 3.3 zusammengefasst sind, untereinander verglichen werden. Hieraus wird deutlich, dass sich die für die Keimbildung einer Phase im Sn-Ag-Cu-System notwendigen Unterkühlungen der einzelnen Komponenten kaum unterscheiden, unabhängig davon, ob eine Komponente allein vorliegt oder mit einer anderen Komponente wechselwirkt. Hierdurch wird die für die Keimbildung notwendige Unterkühlung vor allem durch das Schmelzvolumen bestimmt, da dieses wiederum den Verlauf des Temperaturfeldes vor der Erstarrungsfront bestimmt. Demgegenüber wird in den eutektischen und naheutektischen Zinn-Blei-Legierungen die Pb-Keimbildung durch das nichtreziproke Keimbil-
134
3 Struktur metallischer Werkstoffe
dungsverhalten des SnPb-Systems bestimmt. Der einzige Weg, die Dominanz des nichtreziproken Keimbildungsverhaltens auf die Gefügeherausbildung zu unterdrücken, besteht in der Erzeugung sehr hoher Unterkühlungswerte. Im betrachteten Größenbereich sind die aufgrund geometrischer Begrenzungen erreichten ungezwungenen Unterkühlungen offensichtlich nicht so groß, dass eine signifikante Veränderung der Erstarrungsreaktion auftritt, woraus sich die relative Unabhängigkeit der Gefügeausbildung vom Schmelzvolumen erklären ließe. Ein anderer Unterschied zwischen dem Sn-Ag-Cu-System und dem Sn-Pb-System ergibt sich aufgrund der mit dem nichtreziproken Keimbildungsverhalten des Sn-Pb-Systems verbundenen Entmischung der Restschmelze während des Erstarrungsprozesses. Diese bewirkt eine relative Unabhängigkeit der Erstarrungsreaktion von der Ausgangszusammensetzung. Im Gegensatz dazu gibt es beim Sn-Ag-Cu-System eine starke Abhängigkeit der Erstarrungsreaktion von der Ausgangszusammensetzung, sodass das Erstarrungsgefüge sich qualitativ sehr stark ändern kann, wenn eine Komponente eine gegenüber dem Eutektikum höheren Anteil an der Legierung hat.
3.5 Gefügeveränderung 3.5.1 Gefügeveränderung durch thermische Belastung
3.5.1.1 Kornwachstum Wie in 3.2.3.4 dargestellt wurde, besitzen Korngrenzen in Abhängigkeit vom Missorientierungswinkel eine Freie Energie, welche gleichzeitig eine Triebkraft für eine Neuanordnung von Körnern darstellt mit dem Ziel, diese Freie Energie z. B. durch die Schaffung von Σ3 -Korngrenzen zu minimieren. Normales Kornwachstum führt in der Regel zu einer uniformen Gefügeänderung, d. h., die Korngrößenverteilung bleibt unabhängig von der absoluten Korngröße und der Wachstumszeit gleich. Die Wachstumsgeschwindigkeit wird vor allem durch die Faktoren Temperatur, gelöste Mischkristallatome bzw. Ausscheidungen, Strukturgröße und Gefügetextur bestimmt. Die Temperatur ist dabei der Hauptfaktor, da sie die Korngrenzenmigration von Großwinkelkorngrenzen über deren Mobilität bestimmt. Korngrenzen können durch gelöste Mischkristallatome besonders aber durch Ausscheidungen gepinnt und damit unbeweglich werden, wodurch ein Kornwachstum erheblich gebremst werden kann. Eine starke Verlangsamung setzt auch dann ein, wenn Körner größer als charakteristische Strukturgrößen, z. B. die Dicke eines Bleches oder eines Films, werden, da das Wachstum in nur zwei Dimensionen gegenüber dem allseitigen Wachstum eine wesentlich geringere Triebkraft hat. Ähnlich liegt der Fall in stark texturierten Gefügen, welche eine hohe Zahl an Kleinwinkelkorngrenzen aufweisen. Aus theoretischen Überlegungen lässt sich
3.5 Gefügeveränderung
135
ableiten, dass die mittlere Korngröße R einem parabolischem Wachstumsgesetz folgen sollte [165] R = α⋅ t
(3.16)
Demgegenüber zeigen experimentelle Ergebnisse, dass eine allgemeinere Formulierung zur Beschreibung des Kornwachstums in der Form R = α⋅t
1⁄n
(3.17)
notwendig ist, wobei α ein Vorfaktor ist und n als Kornwachstumsexponent bezeichnet wird. Typische Werte für n liegen zwischen 2 und 4 [165]. In Abb. 3.44 ist das Phänomen des Kornwachstums am Beispiel des SnPb-Lotes gezeigt. Aufgrund des zweiphasigen Gefüges lassen sich die Wachstumsprozesse durch die damit verbundenen Phasenvergröberungen gut beobachten. Die Sichtbarmachung der Körner im Ausgangszustand ist schwierig, da diese sehr klein sind und unregelmäßige Korngrenzen besitzen. Es ist zu erkennen, dass aufgrund der hohen homologen Materialtemperaturen Kornvergröberungsreaktionen bereits in erheblichem Maße bei Raumtemperatur stattfinden und daher in Lotkontakten elektronischer Aufbauten kein Phänomen ist, welches unbedingt an das Vorhandensein hoher Betriebstemperaturen gekoppelt ist.
3.5.1.2 Ostwaldreifung Die Ostwaldreifung behandelt die Vergröberung von Phasen, z. B. Ausscheidungen, in einem Zweiphasengemisch durch Umlösung. Die Theorie der Ostwaldreifung wurde Anfang der sechziger Jahre von Lifshitz, Slyozov [217] und Wagner [218] entwickelt. Die Bezeichnung Ostwaldreifung geht auf Wilhelm Ostwald [219] zurück, der bei der Untersuchung von HgO-Niederschlägen in Wasser entdeckte, dass kleinere Teilchen eine größere Löslichkeit haben als große. Als Ursache für dieses Phänomen benannte er die Abhängigkeit des chemischen Potenzials eines Teilchens von seinem Radius. Wird eine zweiphasige ausscheidungsgehärtete Legierung betrachtet, so ist festzustellen, dass das Gefüge sich nicht im Gleichgewicht befindet, obwohl die Konzentration der β -Phase in der Matrix α durch die Entmischung während der Ausscheidungsreaktion den Wert der Löslichkeit c β erreicht hat. Ursache hierfür ist die in den α – β -Phasengrenzflächen befindliche Freie Energie, welche durch Reifung, d. h. dem Wachstum größerer Ausscheidungen unter Verbrauch kleinerer Ausscheidungen, minimiert werden soll. Werden zwei kugelförmige Ausscheidungen mit den Radien r 1, r 2 betrachtet, so unterscheiden sich ihre chemischen Potenziale um
136
3 Struktur metallischer Werkstoffe
a)
Vergrößerung x500
b)
Vergrößerung x500
c)
Vergrößerung x2000
d)
Vergrößerung x2000
Abb. 3.44 Rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen von kombinierter Korn- und Phasenvergröberung an Flip-Chip-Kontakten aus eutektischem SnPb-Lot: a) Querschliff eines Flip-ChipKontaktes im Ausgangszustand und b) nach 5 Jahren Lagerung des Querschliffs bei Raumtemperatur, c) Ausschnittsvergrößerung eines Flip-Chip-Kontaktes im Ausgangszustand mit feinen laminaren Phasenstrukturen, d) Ausschnittsvergrößerung eines Flip-Chip-Kontaktes aus Bild b)
Δc β 1 – ---1 · = kT ⋅ -------Δμ p = 2 ⋅ E αβ ⋅ Ω ⋅ § ---©r r ¹ cβ 1
(3.18)
2
Durch den Konzentrationsunterschied Δc β = c β ( r 1 ) – c β ( r 2 ) in der Matrix α zwischen gelösten β -Teilchen unterschiedlichen Radius kommt es zu einem Diffusionsstrom, in dessen Resultat das größere Teilchen durch Auflösung des kleineren wächst, bis c β ( r → ∞ ) = c ∞ erreicht wird. Befinden sich in der Matrix viele willkürlich räumlich verteilte Teilchen unterschiedlichen Radius, so lässt sich aus der Gibbs-Thomson-Gleichung ableiten, dass es einen kritischen Radius r c gibt, der die Gleichgewichtskonzentration mit der Matrix charakterisiert. Teilchen mit einem in Vergleich zu r c geringeren Radius lösen sich auf, während Teilchen mit
3.5 Gefügeveränderung
137
einem größeren Radius wachsen. Infolge dieses Prozesses nimmt aber gleichzeitig auch r c zu. Die Beschreibung dieses sehr komplexen Umlösungs- und Wachstumsprozesses gelang erstmalig durch die Arbeiten von Lifshitz, Slyozov [217] und Wagner [218] (LSW-Theorie). Hierbei wurde vereinfacht angenommen, dass die Matrix eine stark verdünnte Lösung der β -Phase in der α -Phase ist, d. h., dass das Volumen der Ausscheidungen sehr klein ist und dass die Teilchen nur mit einer unendlichen Matrix wechselwirken. Weiterhin wird von der Annahme ausgegangen, dass die Entmischung fast beendet ist und die Übersättigung der Lösung daher annähernd null ist. Diese Annahme beschränkt die LSW-Theorie auf die späten Stadien der Entmischung, welche kurz nach der Erstarrung von mehrphasigen Schmelzen nicht notwendigerweise erreicht sind. Vereinfachend wird außerdem eine linearisierte Gibbs-Thomson-Gleichung verwendet, die die Konzentration in der Nähe der Ausscheidungen beschreibt. Unter Verwendung dieser Näherungen ergibt die LSW-Theorie eine Proportionalität zwischen dem mittleren Radius der Ausscheidungen und der Zeit 3
r – r0
3
2
8 ⋅ γ αβ ⋅ D ⋅ Ω ⋅ c ∞ = ---------------------------------------------- ⋅ t = C LSW ⋅ t , 9⋅k⋅T
(3.19)
wobei r der mittlere Ausscheidungsradius zur Zeit t und r 0 der anfängliche mittlere Ausscheidungsradius ist, D dem Diffusionskoeffizienten entspricht, γ αβ die spezifische Grenzflächenenergie darstellt und Ω das mittlere Atomvolumen ist. 1/3
Der durch die LSW-Theorie vorausgesagte t -Zusammenhang wurde nicht in allen Fällen bestätigt [220]. Die beobachteten Größenverteilungen sind generell breiter und symmetrischer als die Voraussagen der LSW-Theorie. Weiterhin zeigte sich, dass die LSW-Konstante vom Volumenanteil der Ausscheidungen abhängig ist.
Konzentration c(r)
r < rc
c(rc)
r > rc
Beliebiger Ort der Teilchen in einer Matrix
Abb. 3.45 Konzentrationsgefälle zwischen verschiedenen Phasenteilchen
138
3 Struktur metallischer Werkstoffe
a)
Vergrößerung x3000
b)
Vergrößerung x3500
Abb. 3.46 Rasterelektronenmikroskopische Gefügeaufnahmen von SnAgCu-Flip-ChipKontakten (Querschliff): a) Erstarrungsgefüge, b) Gefüge nach 1500 h thermischer Auslageung bei 150°C. Aus dem Vergleich beider Bilder lässt sich die Vergröberung von kleinen Phasenteilchen durch Ostwaldreifung erkennen.
3.5.1.3 Wachstumserscheinungen an Mehrphasengrenzflächen Während die bisher besprochenen Vergröberungserscheinungen eine intrinsische Gefügeveränderung beschreiben, ist es in Strukturen der Aufbau- und Verbindungstechnik oft auch notwendig, Gefügeveränderungen in Werkstoffverbunden beschreiben zu können. Ein typisches Beispiel für solche Werkstoffverbunde sind Sn-haltige Lotkontakte auf Cu-Metallisierungen, die eine Schichtfolge CuMetallisierung / Cu3Sn-Phase / Cu6Sn5-Phase / Sn-haltiger-Lotwerkstoff aufweisen. Langfristig ist dabei zu beobachten, dass in Abhängigkeit von der Betriebstemperatur die Schichtdicken der Cu3Sn-Phase und der Cu6Sn5-Phase unter Verbrauch von Cu aus der Metallisierung und Sn aus dem Lotwerkstoff kontinuierlich in ihrer Schichtdicke zunehmen. Grundlage zur Beschreibung der Kinetik der Schichtdickenzunahme ist das diffusionsgesteuerte Wachstum von intermetallischen Phasen. Dabei wird die thermische Aktivierung der Diffusion durch den Arrhenius-Ansatz berücksichtigt. Dies führt zur Annahme des parabolischen Wachstumsgesetzes (vergleichbar mit Kornwachstum, siehe Gleichung (3.16)) mit einer von der Temperatur abhängigen Wachstumskonstante k: Q d = k ⋅ t mit k = k 0 ⋅ exp § – ----------· , © k ⋅ T¹
(3.20)
wobei d die Schichtdicke der entsprechenden Phase ist. Bei einem Mehrphasensystem, wie es in der Cu / Sn-Grenzfläche vorkommt, kann es in Abhängigkeit von der Temperatur jedoch dazu kommen, dass eine Phase unter Verbrauch der angrenzenden Phase wächst, wodurch kompliziertere Formulierungen für das
3.5 Gefügeveränderung
a)
Vergrößerung x3000
b)
139
Vergrößerung x3500
Abb. 3.47 Rasterelektronenmikroskopische Gefügeaufnahmen von der Phasengrenzfläche zwischen Cu-UBM und SnAgCu- Lot in einem Flip-Chip-Kontakt (Querschliff): a) Grenzfläche nach dem Löten, b) Grenzfläche nach 1500 h thermischer Auslagerung bei 150°C. Aus dem Vergleich beider Bilder lässt sich das Wachstum der intermetallischen Sn5Cu6-Phase und Cu3SnPhase unter Verbrauch der Cu-Metallisierung erkennen. Die Sn5Cu6-Phase und Cu3Sn-Phase lassen sich nicht unterscheiden, da die Bilder im Sekundärelekronenkontrast aufgenommen wurden.
Wachstumsgesetz notwendig werden. In Abb. 3.46 sind rasterelektronenmikroskopische Gefügeaufnahmen von der Phasengrenzfläche zwischen Cu-UBM und SnAgCu- Lot in einem Querschliff eines Flip-Chip-Kontaktes dargestellt. Aus den Bildern lässt sich das Wachstum der intermetallischen Sn5Cu6-Phase und Cu3SnPhase unter Verbrauch der Cu-Metallisierung nachvollziehen.
3.5.2 Gefügeveränderung durch thermisch-mechanische Belastung
3.5.2.1 Rekristallisation Der Umstand, dass die während des Betriebs in elektronischen Geräten auftretenden Beanspruchungen einen kombinierten thermisch-mechanischen Charakter besitzen, führt zu spezifischen Prozessen bei der Gefügeentwicklung von Werkstoffen, welche zum Aufbau der entsprechenden Strukturen verarbeitet wurden. Während durch eine reine thermische Beanspruchung vor allem Prozesse des Wachstums intermetallischer Phasen an Grenzflächen, der Vergröberung intermetallischer Ausscheidungen durch Ostwaldreifung und des Kornwachstums ausgelöst werden, kommt es bei einer kombinierten thermisch-mechanischen Beanspruchung zum komplexen Prozess der Rekristallisation, d. h. der Neubildung des Gefüges im festen Zustand (ähnlich der Gefügeausbildung durch Kristallisationsvorgänge bei Erstarrung einer Schmelze, vgl. 3.4). Obwohl Rekristallisationsprozesse in allen kristallinen Materialien auftreten, d. h. z. B. in natürlichen (geologi-
140
3 Struktur metallischer Werkstoffe
a)
b)
c)
d)
e)
f)
Abb. 3.48 Gefügeentwicklung durch kombinierte thermisch-mechanische Beanspruchung: a) kaltverformter Zustand, b) Erholung, c) beginnende Rekristallisation, d) vollständige Rekristallisation, e) Kornwachstum, f) anormales Kornwachstum (adaptiert aus [165])
schen) Gesteinsbewegungen als auch bei der Verarbeitung technischer Keramiken, wird dieses Phänomen vor allem in Zusammenhang mit Umformprozessen und Wärmenachbehandlung von metallischen Werkstoffen besprochen, da hier der Hauptteil der technischen Anwendung liegt, welcher darauf ausgerichtet ist, eine Gefügeoptimierung typischer Umformprodukte, z. B. von Walzblechen, zu erreichen. In diesem Kontext lässt sich das Zusammenwirken verschiedener Prozesse bei der Gefügeentwicklung, wie sie in Abb. 3.49 dargestellt sind, am einfachsten illustrieren. In einem ersten Schritt erhöht sich die Freie Energie des kristallinen Materials infolge der durch Kaltverformung eingebrachten Baufehler (vor allem Versetzungen), welche den Werkstoff in einen thermodynamisch instabilen Zustand versetzen (Abb. 3.48 a). Bei niedrigen homologen Materialtemperaturen, in denen atomistische Ausgleichprozesse nur sehr langsam vonstattengehen, kann dieser instabile Zustand lange aufrechterhalten werden. Erst durch thermische Aktivierung, d. h., wenn das Material bei einer höheren homologen Temperatur wärmebehandelt wird, laufen Festkörperdiffusionsvorgänge in einem solchen Umfang ab, dass eine deutliche Verringerung der Freien Energie durch Umordnung bzw. Annihilation der bei der Kaltverformung eingebrachten Versetzungen eintritt (Abb. 3.48 b). Die Versetzungsumordnungen während die Erholungsphase verändern für gewöhnlich nicht die Korngrenzen des Gefüges aus dem kalt ver-
3.5 Gefügeveränderung
141
formten Zustand. Im Anschluss an diesen Erholungsprozess setzt der Rekristallisationsprozess ein, in welchem neue versetzungsarme Körner aus den alten versetzungsreichen Körnern gebildet werden, wodurch eine völlig neue Kornstruktur entsteht (Abb. 3.48 c, d). Da bei diesem Rekristallisationsprozess üblicherweise eine hohe Zahl kleiner Körner mit vielen Korngrenzen entstehen, bleibt das Gefüge thermodynamisch weiterhin instabil, sodass sich ein Prozess des Kornwachstums anschließt, welcher die vielen kleinen Körner zugunsten größerer Körner wandelt, deren Korngrenzen eine niedrigere Grenzflächenenergie besitzen (Abb. 3.48 e, Abb. 3.49). Dieser Wachstumsprozess kann auch durch das überproportionale Wachstum einzelner Körner bestimmt sein (Abb. 3.48 f) [165, 221].
Abb. 3.49 Schematische Darstellung des Kornwachstums infolge der Verringerung der Versetzungsdichte über Erholungsprozesse nach erfolgter Verformung
Der in Abb. 3.48 dargestellte Vorgang der Gefügeentwicklung durch kombinierte thermisch-mechanische Beanspruchung ist in dieser stark sequenziell gegliederten Form vor allem für Umformprozesse bei der Metallverarbeitung, jedoch nicht für Gefügeveränderungen in Strukturen elektronsicher Aufbauten gültig. Die Tatsache, dass die mechanische Beanspruchung in elektronischen Aufbauten kein singulärer Prozess bei einer niedrigen Temperatur ist, welcher von einem davon getrennten Prozess der Wärmebehandlung gefolgt wird, sondern eine Folge der sich zyklisch ändernden Betriebstemperatur ist, führt zu einer Parallelität der in Abb. 3.48 sequenziell dargestellten Prozesse. Hinzu kommt, dass bei sehr hohen homologen Materialtemperaturen, wie sie z. B. in Lötverbindungen auftreten, Kriechverformungen dominieren, welche von Prozessen der dynamischen Erholung und dynamischen Rekristallisation begleitet sein können. Aufgrund dieser verschiedenen Umstände sind die den Gefügeveränderungen in Strukturen elektronischer Aufbauten zugrunde liegenden Einzelmechanismen sehr schwer zurückzuverfolgen. Die Komplexität der Rekristallisationsprozesse an Lotkontakten ist in Abb. 3.50 am Beispiel von rasterelektronenmikroskopischen Aufnahmen des Gefüges von SnPb-Flip-Chip-Lotkontakten im Ausgangszustand und nach jeweils 300 Zyklen; 1800 Zyklen; 2300 Zyklen; 5100 Zyklen; 16000 Zyklen in einem Temperaturwechseltest -40°C/125°C dargestellt [216]. Der Flip-Chip-Probekörper wurde für diesen Versuch aus zwei gegeneinandergelöteten Si-Chips aufgebaut, wodurch die
142
3 Struktur metallischer Werkstoffe
Kontakte keine globale Fehldehnungsbeanspruchung erfuhren, wie dies der Fall wäre, wenn ein Si-Chip über Flip-Chip-Lotkontakte auf einer Leiterplatte montiert werden würde. Die Rekristallisationserscheinungen im Gefüge der SnPb-FlipChip-Lotkontakte, welche in den Bildern in Abb. 3.50 sichtbar sind, kommen ausschließlich infolge der unterschiedlichen Ausdehnungskoeffizienten der bleireichen und zinnreichen Phase im Gefüge des eutektischen SnPb-Lotes zustande. Aber auch das SnAgCu-Lot zeigt derartige Rekristallisationserscheinungen. Dadurch dass der β -Sn Einkristall eine starke Anisotropie des E-Moduls und der thermischen Ausdehnungskoeffizienten hat, können bei SnAgCu-Lotkontakten die gleichen Rekristallisationserscheinungen wie bei SnPb-Lot auftreten. Zur Aufklärung der vielschichtigen Prozesse, die in Zusammenhang mit Rekristallisationserscheinungen in Lotkontakten stehen, wurden von Dreyer und Müller [222, 223] Anstrengungen unternommen, Einzelprozesse, z. B. Vergröberungsreaktionen in den Gefügen durch Simulationsverfahren auf der Grundlage von Phasenfeld-Modellen sowie der LSW-Theorie (vgl. 3.5.1.2), nachzubilden, um so die Voraussetzung für die Einbindung von sogenannten Strukturparametern in Verformungs- und Schädigungsmodelle zu ermöglichen. Wie in [223] eingeräumt wird, fehlt für die praktische Anwendung dieser Modelle zur Beschreibung mikrostruktureller Änderungen in bleifreien Lotwerkstoffen infolge thermisch-mechanischer Beanspruchungen zz. eine ausreichende experimentelle Datenbasis. Ausgangszustand
2300 Zyklen
300 Zyklen
1800 Zyklen
5100 Zyklen
16000 Zyklen
Abb. 3.50 Rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen von Rekristallisation von SnPb-FlipChip-Lotkontakten infolge der unterschiedlichen Ausdehnungskoeffizienten der bleireichen und zinnreichen Phase im Gefüge des eutektischen SnPb-Lotes. Der Flip-Chip-Probekörper wurde aus zwei gegeneinandergelöteten Si-Chips gefertigt, wodurch die Kontakte keine globale Fehldehnungsbeanspruchung erfuhren. In den Bildern sind in der Reihenfolge von links auch rechts und von oben nach unten die Gefügezustände im Ausgangszustand und nach jeweils 300 Zyklen; 1800 Zyklen; 2300 Zyklen; 5100 Zyklen; 16000 Zyklen in einem Temperaturwechseltest -40°C/125°C dargestellt [216].
4.1 Phänomenologie der elastischen Verformung
143
4 Elastische Verformung 4.1 Phänomenologie der elastischen Verformung Um die charakteristischen makroskopisch beobachtbaren Erscheinungen bei der elastischen Verformung deutlich zu machen, wird der in Abb. 1.5 dargestellte Zugversuch geringfügig abgeändert (siehe Abb. 4.1). Die Beanspruchung, d. h. die Dehnungsänderung über der Zeit, wird dabei beginnend bei null (A) nur bis zu einem Wert gesteigert, welcher unterhalb der Grenze εF liegt (B), danach wird die Belastung wieder auf null abgesenkt (D). Werden die in diesem Experiment ermittelten Spannungs- und Dehnungsverläufe in ein Spannungs-Dehnungs-Diagramm übereinander aufgetragen, so ergibt sich in diesem Diagramm für den Belastungsteilabschnitt A-B-C eine im Ursprung beginnende Gerade mit dem Anstieg E, welcher den Werkstoffwiderstand des Materials unterhalb von σF bzw. εF charakterisiert und der - wie später noch beschrieben wird - als Elastizitätsmodul bezeichnet wird. Der im Ursprung des Spannungs-Dehnungs-Diagramms liegende Anfangspunkt der Geraden korrespondiert mit den Lastpunkten A und C, der Endpunkt korrespondiert mit dem Lastpunkt B. Daraus lässt sich ablesen, dass die Verformung unterhalb von σF , εF bei Belastungssteigerungen und -absenkungen auf der gleichen Linie verläuft, d. h. reversibel ist. Dieses reversible Verhalten zu Beginn der Verformung wird als linear-elastisches Verhalten bezeichnet.
s
s C
sF
B
A
D
C
sF
B
E
E t
A, D
1. Belastungsprofil A-B-D
elastische Verformung
2. Belastungsprofil A-C-E
elastisch-plastische Verformung
Abb. 4.1 Zugversuch mit verschiedenen Belastungsregimen
eF
e
144
4 Elastische Verformung
4.2 Physikalischer Hintergrund der elastischen Verformung 4.2.1 Verzerrung des Kristallgitters Die Beschreibung der physikalischen Grundmechanismen der elastischen Verformung ist durch die zum Teil komplexe Argumentation [143, 158, 164], welche aus der Vielzahl von verschiedenen Gittertypen resultiert, nicht einfach. Außer für spezielle Fälle, wie z. B. dem des NaCl-Gitters, für das Rosental [224] eine Beschreibung der elastischen Verformung auf der Basis zwischenatomarer Kräfte vornimmt, welche für NaCl zu über 98% aus Coulomb-Wechselwirkungen besteht, ist es aufgrund der unterschiedlichen Natur der zwischenatomaren Wechselwirkungen sowie der z. T. komplizierten Gitterstrukturen schwierig, eine allgemeine Theorie über die elastische Verformung auf konkreten zwischenatomaren Wechselwirkungen aufzubauen. Daher stützen sich die meisten Autoren [32, 225] auf die Atomabstands-Potenzialkurve als Grundlage für eine allgemeine Theorie des elastischen Verhaltens. Diese beschreibt die potenzielle Energie eines Atoms in Abhängigkeit vom Abstand zum Nachbaratom. In Abb. 4.2 ist die AtomabstandsPotenzialkurve schematisch dargestellt, deren exakte Berechnung für Metalle höherer Ordnung bzw. für Legierungen jedoch nicht möglich ist [32]. Die asymmetrische Form bezüglich der Ruhelage r 0 ergibt sich unabhängig vom Bindungstyp aus der Überlagerung eines mit dem Atomabstand r langsam ansteigenden attraktiven Energieterms gegenüber einem im Vergleich dazu schneller abfallenden repulsiven Energieterm. Der Verlauf der Atomabstands-Potenzialkurve kann allgemein durch einen Polynomansatz beschrieben werden: 2
3
U ( r ) = U0 + A1 ( r – r0 ) + A2 ( r – r0 ) + A3 ( r – r0 ) + … ,
(4.1)
wobei U 0 die potenzielle Energie in der Ruhelage ist und A 1 …A n Vorfaktoren der einzelnen Polynomglieder sind. Aus der ersten Ableitung des Potenzials U ( r ) ergibt sich die innere Wechselwirkungskraft F i ( r ) zwischen den Atomen: U(r) Fi ( r ) = – d -------------dr
(4.2) 2
Fi ( r ) = –( A1 + 2 ⋅ A2 ( r – r0 ) + 3 ⋅ A3 ( r – r0 ) + … )
(4.3)
Ausgehend davon, dass die Ruhelage dadurch gekennzeichnet ist, dass die Wechselwirkungskraft zwischen den Atomen F i ( r 0 ) = 0 ist, ergibt sich, dass für die Beschreibung der Potenzialkurve kein lineares Glied notwendig ist: A 1 = 0 . Vernachlässigt man bei den für die elastische Verformung üblichen kleinen Dehnungen, d. h. kleinen Atomverschiebungen, alle Polynomglieder höherer Ordnung, so lässt sich das Potenzial in der Nähe der Ruhelage sehr einfach über:
4.2 Physikalischer Hintergrund der elastischen Verformung
U ( r ) = U0 + A2 ( r – r0 )
2
145
(4.4)
beschreiben, und es folgt für die Wechselwirkungskräfte zwischen den Atomen Fi ( r ) = –2 ⋅ A2 ( r – r0 )
(4.5)
Wird eine äußere Kraft F a auf einen Körper aufgebracht, so wirkt die bei der dadurch hervorgerufenen Verschiebung der Atome aus ihrer Ruhelage erzeugte innere Kraft F i dieser entgegen, sodass bei Gleichheit dieser Kräfte die Atome in dieser Lage gehalten werden. Unter Hinzuziehung der Definitionen für die mechanische Spannung und Dehnung Fa σ = ----A
(4.6)
U
Abstoßung Anziehung Überlagerung
0
r
Fi
0
r
Fmin C
0 0
r0 rD
r
Abb. 4.2 Schematische Darstellung der Wechselwirkung zwischen zwei Atomen (Potenzial U, innere Wechselwirkungskraft Fi=-dU/dr, Steifigkeit C=d2U/dr; Ruhelage: r0, Destabilisierung der Bindung: rD) [225]
146
4 Elastische Verformung
r–r ε el = ------------0r0
(4.7)
erhält man in Analogie zu Gleichung (4.5) den Zusammenhang für die linearelastische Verformung: σ = E 0 ⋅ ε el ,
(4.8)
wobei E 0 der Elastizitätsmodul ist, welcher die elastische Verformung als werkstoffabhängiger Parameter beschreibt. Eine theoretische Berechnung von E 0 aus A 2 erscheint nicht zweckmäßig, da selbst bei Bekanntsein der genauen Atomabstands-Potenzialkurve aufgrund des mehrschichtigen Aufbaus eines Festköpers mit Gitterdefekten, Fremdatomen sowie durch die in Körnern verschiedener Orientierung (vgl. 3.2) geometrisch sehr unterschiedlich angeordneten Atome sich nie der reale E-Modul des Werkstoffes ergeben würde.
4.2.2 Nichtlinearität der elastischen Verformungsreaktion Bei der Beschreibung der werkstoffphysikalischen Grundmechanismen der elastischen Verformung wurde bei der Berechnung der inneratomaren Kräfte (Gleichung (4.5)) - unter der Annahme kleinster Verformungen - ein Abbruch des das Potenzial beschreibenden Polynoms nach dem quadratischen Glied vorgenommen. Geht man von dieser Einschränkung weg und nimmt eine Beschreibung des elastischen Verhaltens bei größeren Verformungen vor, so ergibt sich in Analogie zu Gleichung (4.3) ein Ansatz höherer Ordnung, wobei - wie aus experimentellen Daten [226] hervorgeht - zumindest ein quadratischer Ansatz zur Beschreibung des elastischen Verhaltens bei größeren Deformationen notwendig ist 2
σ = E 0 ⋅ ε el + E 1 ⋅ ε el ,
(4.9)
welcher zu den in Abb. 4.3 dargestellten - experimentell nachweisbaren - nichtlinearen elastischen Reaktionen einkristalliner Stoffe führt. Weiterhin wurde für die Betrachtung des Zusammenhangs zwischen einer makroskopisch aufgebrachten Kraft und der mikroskopischen Gitterverformung von einem idealen Gitter ausgegangen. In der Realität weisen reale Gitter aufgrund der in 3.2.3.1 benannten thermodynamischen Gründe verschiedene Defekte auf (Versetzungen, Leerstellen), welche zu Abweichungen gegenüber der Verformungsreaktion eines Idealgitters führen und so zu einer gegenüber der in 4.2.2 idealisiert betrachteten linearen elastischen Reaktion nichtlinearen elastischen Reaktion des Realgitters beitragen.
4.3 Beschreibung der elastischen Verformung
147
s 7
10 Nm
-2
Fe [111]
1000 900 800
zunehmende Dehnung abnehmende Dehnung
700 600 500
Fe [100]
400 300 200
Cu [100]
100 0,01
0,02
0,03
0,04
e
Abb. 4.3 Spannungs-Dehnungs-Kurven im elastischen Bereich, adaptiert aus den in [227] veröffentlichten Untersuchungen an Fe und Cu
4.3 Beschreibung der elastischen Verformung 4.3.1 Elastizitätsmodul Der Elastizitätsmodul ist der grundsätzlichste aller werkstoffabhängigen Parameter, die das mechanische Verhalten einer Struktur beschreiben. Im Gegensatz zu allen anderen materialabhängigen Parametern ist er für jede auch noch so vereinfachte Beschreibung des mechanischen Verhaltens unentbehrlich und besitzt gleichzeitig in vielen Problemfällen eine sehr hohe Bedeutung für die exakte Berechnung mechanischer Spannungen und Dehnungen in elektronischen Verbunden. Aus diesem Grund ist für die Berechnung derartiger Probleme eine tiefer gehende Betrachtung des Parameters Elastizitätsmodul notwendig. Obwohl der Elastizitätsmodul zunächst ein sehr einfacher Parameter zu sein scheint, ist für seine zweckmäßige Festlegung oft eine profunde Betrachtung des zu berechnenden Problems als auch der vorliegenden experimentellen Werkstoffdaten notwendig. Dies ist zum einen auf die Schwierigkeiten bei der experimentellen Bestimmung hierfür existieren verschiedene Verfahren, welche in der Regel auch unterschiedliche Ergebnisse liefern - und zum anderen auf seinen Einfluss auf das errechnete Ergebnis zurückzuführen, da, wie z. B. bei kritischen Lotkontakten, sich die praktischen erreichten elastischen und plastischen Dehnungen etwa die Waage halten,
148
4 Elastische Verformung
d. h., dass in Abhängigkeit von der Größe des E-Moduls sich der Anteil der plastischen Dehnung sehr deutlich verändert. Für die Schwierigkeiten bei der exakten Bestimmung des E-Moduls existieren werkstoffphysikalische (vgl. 4.2.2) als auch messtechnische Gründe. Letztere liegen vor allem darin begründet, dass eine rein elastische Verformung nur bei einer Temperatur von T = 0 K möglich wäre. Bei von 0 K verschiedenen Temperaturen - besonders bei Werten von T > 0, 3 ⋅ T s - kommt es im Werkstoff zu Mechanismen der Festkörperdiffusion, welche wiederum zu Versetzungsbewegungen (vgl. 5.2.1) führen, die in Kombination mit Versetzungsgleiten von der Gitterverformung unabhängige Beiträge zur makroskopischen Verformung leisten. Da der Elastizitätsmodul temperaturabhängig ist (vgl. 4.3.6), macht sich grundsätzlich eine Bestimmung bei Einsatztemperatur erforderlich. Die messtechnischen Schwierigkeiten bei der exakten Bestimmung des EModuls hängen bei den nicht auf die Bestimmung des E-Moduls spezialisierten Versuchen, z. B. Zugversuch, Biegeversuch, Scherversuch, mit technischen Beschränkungen bei der Probeneinspannung, der Versuchsgeschwindigkeit und der Auflösung der Längen- oder Verschiebungsmessung zusammen. Da die Messung des elastischen Verhaltens entweder aus Stillstand oder nach einem Lastwechsel erfolgt, kann es durch Einspanneffekte, d. h., das effektive Greifen der Probe erfolgt erst nach einem bestimmten Lastauftrag, oder durch Probenausrichten, z. B. bei folienartigen Proben, zur Messung von Verformungen kommen, welche nicht durch eine Werkstoffreaktion hervorgerufen werden. Beide Effekte führen zu einer Krümmung im Nullpunkt, sodass der E-Modul erst ab einer bestimmten Spannung ausgewertet werden kann. Die Notwendigkeit, das elastische Verhalten aus einem Nullpunkt bzw. abrupten Lastwechsel zu bestimmen, wirft auch für die Einhaltung einer definierten Verformungsgeschwindigkeit erhebliche Probleme auf. Besonders bei hohen Versuchsgeschwindigkeiten, wie sie zur Unterdrückung zeitabhängiger plastischer Verformungsanteile zu bevorzugen sind, ist es schwierig, eine genau definierte als auch konstante Verformungsgeschwindigkeit, z. B. aus dem Ruhezustand, zu erreichen, sodass gut definierte Versuchsbedingungen erst nach einer bestimmten Anfangsdehnung erreicht werden. Daraus folgt für die Bestimmung des E-Moduls, dass dieser in der Regel erst ab einem geringen Verformungszustand der Probe bestimmbar ist (Abb. 4.4). Hinzu kommt, dass das elastische Verhalten in der Regel auf einen sehr kleinen Verformungsbereich beschränkt ist, sodass die Genauigkeit von Dehnungs- oder Längenmesssystemen nicht ausreicht, um beispielsweise leichte Krümmungen im Bereich des elastischen Verhaltens darzustellen. Aus den genannten Gründen werden für die E-Modul-Bestimmung spezialisierte Verfahren, wie die Ultraschallausbreitung, verwendet, um eine genaue Bestimmung des Elastizitätsmoduls vornehmen zu können. Wird ein homogener, isotroper Festkörper angenommen, so besitzt die Wellengleichung zwei Lösungen - eine für die longitudinale Welle und eine für die transversale Welle, die den rotationsfreien bzw. divergenzfreien Teil des Verschiebungsfeldes u darstellen:
4.3 Beschreibung der elastischen Verformung
s
s
Krümmung:
D(Ds/De) De
149
Obere Grenze:
0,5 Rm
Ds
Limit + 0 Limit -
Untere Grenze:
0,05 Rm
e
e a)
b)
Abb. 4.4 Messtechnische Probleme bei Bestimmung des E-Moduls: a) Bestimmung der Grenzen des elastischen Teils aus der Krümmung des Spannungs-Dehnungs-Astes, b) starre Festlegung der unteren und oberen Grenze des elastischen Bereiches als Funktion der Festigkeit (Rm) [228] 2 E(1 – ν) E d u -------- = ----------------------------------------- grad div u – ------------------------ rot rot u , 2 ρ ( 1 + ν ) ( 1 – 2ν ) 2ρ ( 1 + ν ) dt
(4.10)
wobei ρ der Dichte des Festkörpers entspricht, dessen Volumenelemente bei longitudinalen Wellen in Ausbreitungsrichtung und bei transversalen Wellen senkrecht zu dieser schwingen. Die Ausbreitungsgeschwindigkeiten für diese beiden Wellenmoden c L, c T sind abhängig von den elastischen Eigenschaften des homogenen, isotropen Festkörpers, welche sich durch die Parameter Elastizitätsmodul E und Querkontraktionszahl ν (vgl. 4.3.2) charakterisieren lassen: cL =
E(1 – ν ) ----------------------------------------ρ ( 1 + ν ) ( 1 – 2ν )
(4.11)
cT =
E ----------------------2ρ ( 1 + ν )
(4.12)
Über das Verhältnis der Ausbreitungsgeschwindigkeit der longitudinalen Wellen c L zu der der transversalen Wellen c T lassen sich die elastischen Konstanten eines Materials sehr genau bestimmen [229]. Zur experimentellen Bestimmung der elastischen Eigenschaften unter Nutzung von Ultraschallausbreitung lassen sich verschiedene Methoden, wie das Interferenzverfahren oder das Puls-EchoVerfahren, einsetzen. Beim Interferenzverfahren wird die Frequenz gemessen, bei der sich zwei verschiedene Ultraschallimpulse gegenseitig auslöschen oder verstärken, wodurch sich die Werkstoffeigenschaften sehr genau bestimmen lassen. Apparatetechnisch weniger aufwendig ist jedoch das Puls-Echo-Verfahren, bei dem die Laufzeit eines hochfrequenten Pulses durch die Probe gemessen wird. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit c ergibt sich aus der Probenlänge l und der Laufzeit Δt :
150
4 Elastische Verformung
2l c = ----Δt
(4.13)
In Einkristallen ist die longitudinale bzw. transversale Schallgeschwindigkeit richtungsabhängig (vgl. 4.3.5). So ergibt sich für einen [110]-orientierten Einkristall (kubisches System) folgender Zusammenhang zwischen den elastischen Konstanten und den longitudinalen und transversalen Ausbreitungsgeschwindigkeiten 1 2 ρ ⋅ c L = --- ⋅ ( C 11 + C 12 + 2C 44 ) = C L 2
(4.14)
1 2 ρ ⋅ c T = --- ⋅ ( C 11 – C 12 ) = C T 1 2
(4.15)
2
ρ ⋅ c T = C 44 = C T , 2
(4.16)
wobei sich die Indizes T 1 und T 2 auf die Polarisationsrichtung [ 110 ] und [ 001 ] der transversalen Schallwellen beziehen [230-232]. Wenn, wie im Fall von polykristallinen Festkörpern, die Richtungsabhängigkeit der elastischen Konstanten nicht gegeben ist, so ergibt sich der Zusammenhang zwischen der Ausbreitungsgeschwindigkeit und den das elastische Verhalten eines Festkörpers beschreibenden Parametern Elastizitätsmodul E , Schubmodul G (vgl. 4.3.3) und Bulkmodul K (vgl. 4.3.4) aus 4 4G – E 2 ρ ⋅ c L = K + --- ⋅ G = G ⋅ ----------------3 3G – E 2
ρ ⋅ cT = G
(4.17) (4.18)
Bei der Bestimmung der Temperaturabhängigkeit des E-Moduls (vgl. 4.3.6) ergibt sich für die Anwendung der Puls-Echo-Methode die Schwierigkeit, ein geeignetes Koppelmedium zu finden, welches das üblicherweise verwendete, jedoch in seinem Temperaturbereich sehr begrenzte Wasser ersetzt [230]. Vergleicht man die verschiedenen in Abb. 4.5 dargestellten Ergebnisse aus experimentellen Untersuchungen zum E-Modul von Weichloten [235-239], so fällt eine große Streuung zwischen den einzelnen Untersuchungen auf, welche wahrscheinlich auf die oben genannten Schwierigkeiten bei der experimentellen Bestimmung zurückzuführen sind. Dies wirft die Frage auf, ob man für die Nachbildung des elastischen Verhaltens überhaupt auf Experimentaldaten zurückgreifen sollte, die aus nicht spezialisierten Versuchen, wie dem Zugversuch, gewonnen wurden, oder ob man nur Daten aus spezialisierten Versuchen, wie der Utraschall-
4.3 Beschreibung der elastischen Verformung
151
Abb. 4.5 Temperaturabhängigkeit des E-Moduls von SnPb37, SnAg3.5 und SnAg3,8Cu0,7 aus [240]. Die Werte entstammen verschiedenen Messungen, die unter (1) = [237], (2, 4) = [236], (3) = [235], (5) = [239]; 6 = [238], (7) = [237] aufgenommen wurden.
ausbreitung, vertrauen sollte. Die Beantwortung dieses Problems hängt mit der terminologischen Frage nach der Bedeutung des Begriffes elastisches Verhalten bzw. E-Modul zusammen. Aus einem streng physikalischen Blickwinkel, welcher die elastische Verformung mit Gitterverzerrungen assoziiert, sollten für den E-Modul nur Werte aus den spezialisierten Versuchen verwendet werden. Aus einem ingenieurtechnischen Blickwinkel spielt jedoch der Zusammenhang mit mikrophysikalischen Mechanismen eine untergeordnete Rolle, hier liegt das Augenmerk auf dem makroskopisch beobachteten Phänomen der Verformung einer bestimmten Struktur. Aus diesem Grund sind für ingenieurtechnische Betrachtungen in der Regel die Werkstoffparameter aus den nicht spezialisierten Versuchen, wie dem Zugversuch, maßgebend, da die elastische Verformung in der Regel als die Verformung unterhalb eines Fließpunktes angesehen wird, auch wenn die dabei makroskopisch beobachtete Verformung nicht ausschließlich auf Gitterverzerrungen zurückzuführen ist.
4.3.2 Die Querkontraktionszahl Wenn, wie in 4.2 beschrieben, Atome durch Wirken einer äußeren Spannung aus ihrer Ruhelage im Gitter gebracht werden, hat dies auch eine Änderung des zwischenatomaren Potenzialfeldes zur Folge. Durch diese Feldveränderung kommt es neben dem Auseinanderziehen der Atome in Spannungsrichtung gleichzeitig zu einem Zusammenziehen der Atome in den normal zur Spannungsrichtung verlaufenden Kristallrichtungen (Abb. 4.6). Dieser Effekt wird durch die Querkontraktionszahl (Poisson-Zahl) ν beschrieben, welche den Zusammenhang zwischen der
152
4 Elastische Verformung
y
y B
A
y B
F
C
A` A
C C`
x D
B B`
F
F
A`
C`
x D
F x
D` D
Abb. 4.6 Querkontraktion des Gitters bei elastischer Verzerrung
Dehnung in Richtung der Beanspruchung und der Kontraktion quer zur Beanspruchungsrichtung ausdrückt: d0 – d l0 ν = – §© -------------- ⋅ -----·¹ l0 – l d0
(4.19)
Der Wert der Poisson-Zahl hängt stark von der Kristallstruktur und den dort wirkenden zwischenatomaren Kräften ab. Für die meisten polykristallinen Metalle entspricht ν ≈ 0,3 .
4.3.3 Der Schubmodul Während der Elastizitätsmodul das elastische Verformungsverhalten unter Wirkung einer Zugspannung beschreibt, lässt sich dieses für den Fall der Wirkung einer reinen Schubspannung über den Schubmodul G bescheiben. τ = G ⋅ γ el
(4.20)
Der Schubmodul wird in der Regel aus dem Torsionsversuch bestimmt. Für seine exakte Bestimmung treten in etwa die gleichen Probleme auf wie für die Bestimmung des E-Moduls. E-Modul und Schubmodul hängen über die Querkontraktion miteinander zusammen: E G = -----------------2 ( 1+ν )
(4.21)
4.3.4 Der Bulkmodul Um die elastische Verformung für den Fall des hydrostatischen Druckes (bzw. Zuges) zu beschreiben, wird der Bulkmodul K verwendet. Dieser Beanspruchungs-
4.3 Beschreibung der elastischen Verformung
153
fall liegt dann vor, wenn alle drei Hauptspannungen gleich sind ( σ 1 = σ 2 = σ 3 = p ) und dadurch eine Kontraktion (bzw. Expansion) des Materials in alle 3 Raumrichtungen erfolgt. Dann wird das elastische Materialverhalten über p = K ⋅ εv
(4.22)
ausgedrückt, wobei p dem hydrostatischen Druck und ε v der volumetrischen Dehnung entspricht, welche sich aus der Differenz des Ausgangsvolumens v 0 des unbeanspruchten Raumquaders mit den Kantenlängen a, b, c v = a0 ⋅ b0 ⋅ c0
(4.23)
und des Endvolumens v des beanspruchten Raumquaders mit den Kantenlägen a, b, c v = ( a0 + Δ a ) ⋅ ( b0 + Δ b ) ⋅ ( c0 + Δ c ) = a ⋅ b ⋅ c ,
(4.24)
Δa Δb Δc ergibt. Aufgrund der geringen Dehnungen ------, ------, ------ können die Glieder a0 b0 c0
höherer Ordnung vernachlässigt werden, sodass sich ε v aus a–a b–b c–c v–v ε v = -------------0 = Δ -----a- + Δ -----b- + Δ -----c- = -------------0- + -------------0- + -------------0 a0 b0 c0 v a0 b0 c0
(4.25)
εv = εx + εy + εz
(4.26)
ergibt. Bulkmodul und E-Modul hängen über die Querkontraktion miteinander zusammen: E K = -----------------------3 ( 1 + 2ν )
(4.27)
4.3.5 Richtungsabhängigkeit der elastischen Konstanten Da in einem Metallgitter (vgl. 3.2.2.2) die Abstände zwischen den Atomen in unterschiedlichen Raumrichtungen variieren, existieren für Einkristalle unterschiedliche E-Moduli in den verschiedenen Raumrichtungen. Dicht gepackte Richtungen (z. B. ¢ 111 ² Ebenen) weisen dabei höhere Steifigkeiten auf als weniger
154
4 Elastische Verformung
dicht gepackte Richtungen (z. B. ¢ 100 ² Ebenen). In Tabelle 4.1 sind die richtungsabhängigen E-Moduli verschiedener kubisch-flächenzentrierter Metalle aufgeführt. Tabelle 4.1 Elastische Moduln bei Raumtemperatur für verschiedene Raumrichtungen, E ist der Elastizitätsmodul eines polykristallinen Materials [241, 242] Metall
E
E ¢ 100 ²
E ¢ 111 ²
[GPa]
[GPa]
[GPa]
Al
70
64
76
Au
78
43
117
Cu
121
67
192
Ni
207
137
305
Um in einem elastisch verformten Festkörper den Zusammenhang zwischen dem Spannungstensor σ ij mit den Normalanteilen σ xx, σ yy, σ zz und den Tangentialanteilen τ xy = τ yx, τ xz = τ zx, τ yz = τ zy σ xx τ xy τ xz σ ij =
τ yx σ yy τ yz
(4.28)
τ zx τ zy σ zz und dem Dehnungstensor ε ij mit den Normalanteilen ε xx, ε yy, ε zz und den Tangentialanteilen γ xy = γ yx, γ xz = γ zx, γ yz = γ zy ε xx γ xy γ xz ε ij = γ yx ε yy γ yz
(4.29)
γ zx γ zy ε zz auszudrücken, wird ein generalisiertes Hooke’sches Gesetz für anisotrope Werkstoffe verwendet σ ij = c illm ⋅ ε lm
(4.30)
Da σ ij und ε ij symmetrische Tensoren sind, reduziert sich die Zahl der elastischen Konstanten von 81 auf 36, mit denen der Zusammenhang zwischen Spannungs- und Dehnungstensor über 6 lineare Gleichungen ausgedrückt werden kann:
4.3 Beschreibung der elastischen Verformung
155
σ xx = C 11 ε xx + C 12 ε yy + C 13 ε zz + C 14 γ yz + C 15 γ xz + C 16 γ xy
(4.31)
σ yy = C 21 ε xx + C 22 ε yy + C 23 ε zz + C 24 γ yz + C 25 γ xz + C 26 γ xy
(4.32)
σ zz = C 31 ε xx + C 32 ε yy + C 33 ε zz + C 34 γ yz + C 35 γ xz + C 36 γ xy
(4.33)
τ yz = C 41 ε xx + C 42 ε yy + C 43 ε zz + C 44 γ yz + C 45 γ xz + C 46 γ xy
(4.34)
τ xz = C 51 ε xx + C 52 ε yy + C 53 ε zz + C 54 γ yz + C 55 γ xz + C 56 γ xy
(4.35)
τ xy = C 61 ε xx + C 62 ε yy + C 63 ε zz + C 64 γ yz + C 65 γ xz + C 66 γ xy
(4.36)
bzw. in der abgekürzten Form σ i = C ij ⋅ ε j
(4.37)
Da C ij eine symmetrische Matrix ist, werden die elastischen Konstanten eines beliebigen anisotropen Mediums durch 21 unabhängige elastische Moduli beschrieben [233]. Weist das Kristallgitter weitere Symmetrien auf, so reduziert sich die Zahl der elastischen Konstanten mit steigender Symmetrie. Ein Überblick über die Anzahl der elastischen Konstanten in Abhängigkeit vom Gittertyp wird in Tabelle 4.2 gegeben [234].
Tabelle 4.2 Anzahl der elastischen Konstanten in Abhängigkeit von der Symmetrie der Elementarzelle [234] Kristallstruktur
Raumgruppe
Zahl der elastischen Konstanten
triklinisch
1
21
monoklinisch
2/m
13
rhombisch
mmm
9
rhombohedral
6/m
6
tetragonal
4
7
tetragonal
4/m
6
hexagonal
6/mmm
5
kubisch
m3m
3
sphärisch (isotrop)
2
156
4 Elastische Verformung
4.3.6 Temperaturabhängigkeit der elastischen Konstanten Da eine vom absoluten Nullpunkt verschiedene Temperatur eine Erhöhung der Energie der Atome um den temperaturabhängigen Betrag U th bewirkt, schwingen diese um den Ruhepunkt ihrer Gleichgewichtslage im Kristall. Wie aus der schematischen Darstellung der Atomabstand-Potenzialkurve in Abb. 4.2 hervorgeht, besitzt die abstoßende Wechselwirkung einen höheren Gradienten als die anziehende Wechselwirkung. Dadurch kommt es zu einer asymmetrischen Amplitude gegenüber dem Ruhepunkt bei 0K , wodurch sich der Mittelpunkt der Schwingung zu größeren Abständen hin verschiebt (Abb. 4.7). Makroskopisch lässt sich dieses Phänomen als thermische Ausdehnung von Werkstoffen beobachten. Die thermische Ausdehnung eines Materials entspricht mikroskopisch der Vergrößerung der Atomabstände, d. h. einer Verschiebung der Ruhelage r 0 zu größeren Werten, bei denen der Anstieg der Wechselwirkungskraftkurve F i ( r ) (vgl. Gleichung (4.2), (4.3); Abb. 4.2) geringer ist, wodurch sich bei Temperaturerhöhung ein niedrigerer E-Modul ergibt (vgl. Gleichung (4.5) - (4.8)). Bei niedrigen Temperaturen ( T < 0,5 ⋅ T s ) ergibt sich für Metalle eine nahezu lineare Abhängigkeit des EModuls von der Temperatur. T E ( T ) = E ( 0K ) ⋅ § 1 - 0,5 ⋅ -----· © T s¹
(4.38)
Bei höheren Temperaturen ergibt sich jedoch oft eine nichtlineare Abhängigkeit des E-Moduls von der Temperatur. In der Regel reicht jedoch ein quadratischer Ansatz aus, um die Temperaturabhängigkeit des E-Moduls auch für höhere Temperaturen ( T < 0,8 ⋅ T s ) zu beschreiben. Die Temperaturabhängigkeit des E-Moduls für verschiedene Lotwerkstoffe ist in Abb. 4.5 dargestellt. U mittlerer Aufenthaltsort
0 T2 > 0 K U th
r
0K r 0 (0K)
r 0 (T2 )
Abb. 4.7 Schematische Darstellung der Temperaturabhängigkeit der Atomabstand-Potenzialkurve, adaptiert aus [225]
5.1 Phänomenologie der plastischen Verformung
157
5 Plastische Verformung 5.1 Phänomenologie der plastischen Verformung 5.1.1 Erscheinungsformen Die plastische Verformung eines polykristallinen Metalls wird üblicherweise mit dem in Abb. 1.5 dargestellten Verformungsverhalten assoziiert, bei dem das Material nach dem Erreichen einer Fließspannung sich plastisch zu verformen beginnt und der Deformation nur noch einen geringen Widerstand entgegensetzt, während es sich unterhalb dieser Fließgrenze elastisch verformt und der Deformation einen hohen Widerstand entgegenbringt. Ein solches Verhalten existiert allerdings nur bei T = 0K . Oberhalb 0K ergibt sich ein wesentlich differenzierteres Bild. Die Art und Weise, wie sich ein Werkstoff plastisch verformt, kann dann nicht mehr einem bestimmten Beanspruchungsparameter zugeordnet werden, sondern hängt von einem komplexen Zusammenhang zwischen verschiedenen Parametern ab, unter denen die Spannung, die Verformungsgeschwindigkeit, die Temperatur sowie die Werkstoffstruktur die wichtigsten sind. Der Werkstoffwiderstand, den ein sich plastisch verformendes Material einer bestimmten Beanspruchung, z. B. einer Spannung, entgegenbringt, kann bei einer explosionsartigen Verformung, welche nur wenige Millisekunden bzw. Mikrosekunden dauert, sehr viel größer sein als bei einer instantanen Verformung, welche im Sekundenbereich abläuft. Trägt eine plastische Verformung hingegen einen allmählichen Charakter, sodass diese sich in einem Zeitraum von mehreren Minuten bis zu einigen Jahren hinzieht, so ist der durch den Werkstoff aufgebaute Widerstand gegen die Verformung in der Regel sehr viel geringer als bei einer instantanen Verformung. In typischen Strukturen von elektronischen Produkten, wie z. B. dem Lotkontakt eines flächenkontaktierten Halbleiterbauelementes in einem Mobiltelefon, treten sehr oft alle Möglichkeiten der plastischen Verformung auf (vgl. 2.4.5), wodurch eine sehr grundlegende Darstellung der vielfältigen Erscheinungsformen plastischer Verformung notwendig wird, welche sich im Gegensatz zur phänomenologischen Beschreibung der elastischen Verformung (vgl. 4.1) nicht über eine einfache Darstellung der Werkstoffreaktion durch einen funktionalen Zusammenhang zwischen den Verformungsparametern Spannung und Dehnung erreichen lässt. Im Diagramm in Abb. 4.1 sind die Werkstoffreaktionen der elastischen und plastischen Verformung einander gegenübergestellt. Hieraus lässt sich die Abgrenzung der plastischen gegenüber der elastischen Verformung ersehen. Wird im Gegensatz zur elastischen Verformung die Beanspruchung, d. h. die Dehnungsänderung über der Zeit, beginnend bei null (A) bis zu einem Wert gesteigert, welcher
158
5 Plastische Verformung
oberhalb der Grenze εF liegt (C), und danach wieder auf null abgesenkt (E), so ergibt sich in diesem für den Belastungsteilabschnitt A-C eine im Ursprung beginnende Gerade mit dem Anstieg E0, welche beim Erreichen des Punktes σF bzw. εF ihren Anstieg (= Werkstoffwiderstand) verringert. Für den Belastungsteilabschnitt C-E ergibt sich eine in Punkt C beginnende Gerade mit dem Anstieg E0, die rechts vom Ursprung (in Punkt E) die Abszisse schneidet. Plastische Verformung verläuft bei Belastungssteigerungen und -absenkungen nicht auf der gleichen Linie, d. h., sie ist irreversibel. Der Abstand zwischen Ausgangspunkt A und Endpunkt E entspricht dem Betrag der plastischen Gesamtverformung des Werkstoffes. An Punkten, die nicht auf der Abszisse liegen, setzt sich die Gesamtverformung des Werkstoffes sowohl aus Anteilen plastischer als auch elastischer Verformung zusammen, wodurch es nicht möglich ist, den Betrag der reinen plastischen Verformung in einem beliebigen Spannungszustand direkt zu bestimmen. Der Verlauf der plastischen Verformung kann jedoch auch abweichend von dem in Abb. 4.1 dargestellten Regelfall erfolgen, weshalb das Bemühen bestand, andere Formen der Darstellung zu finden, welche geeignet sind, die Gesamtphänomenologie der plastischen Verformung adäquat wiederzugeben.
5.1.2 Verformungsmechanismenkarten Um zu einer übersichtlichen Darstellung der verschiedenen Erscheinungsformen plastischer Verformung zu gelangen, haben verschiedene Autoren [33, 243, 244] versucht, ein zusammenhängendes Bild der plastischen Verformung von kristallinen Werkstoffen über sogenannte Verformungsmechanismenkarten (engl. Deformation Mechanism Maps) zu geben. Die bekanntesten Arbeiten stammen dabei von Frost und Ashby [33], welche für eine große Anzahl von Werkstoffen Verformungsmechanismenkarten entwickelt haben. Die Idee der Karten besteht darin, verschiedene der plastischen Verformung zugrunde liegende Einzelmechanismen, z. B. Versetzungsgleiten, Versetzungsklettern, Korngrenzengleiten oder Diffusionsprozesse, als einen kinetischen Vorgang zu betrachten, welcher durch einen Zusammenhang zwischen Spannung, Verformungsgeschwindigkeit, Temperatur und Struktur gekennzeichnet ist. In den Karten wird dargestellt, in welchem Spannungs-Temperatur-Verformungsgeschwindigkeitsregimen ein bestimmter Mechanismus für die phänomenologisch erfassbare Verformung des Werkstoffes ausschlaggebend ist. Nach Ansicht von Frost und Ashby sind vor allem Scherspannungs-Temperatur-Diagramme mit überlagerten Äquidehnungsratelinien für den ingenieurtechnischen Gebrauch nützlich. Es lassen sich jedoch auch andere Formen der Darstellung, z. B. Scherspannungs-Scherrate-Diagramme verwenden (vgl. Abb. 5.1). Um Karten verschiedener Materialien miteinander vergleichen zu können, sind die Achsen des Diagramms auf die Werkstoffparameter Schmelztemperatur T s und Schermodul τ normiert worden. In den Verformungsmechanismenkarten wird der ( T ⁄ T s ;τ ⁄ G ) -Parameterbereich in einzelne Sektionen unterteilt, in denen jeweils ein bestimmter Mecha-
5.1 Phänomenologie der plastischen Verformung
159
Normierte Scherspannung t/G
nismus vorherrschend ist. Die Sektionsgrenzen entsprechen ( T, τ ) -Parameterpaaren, bei denen 2 oder mehr Mechanismen den gleichen Beitrag zur Gesamtdehnungsrate leisten. Die in Abb. 5.1 dargestellte Verformungslandkarte hat das typische Aussehen einer Karte für kubisch-flächenzentrierte Metalle (z. B. Cu, Ni, Ag, Al, Pb). Die darin eingezeichneten vorherrschenden Mechanismen, wie Versetzungsgleiten, Versetzungsklettern, Korngrenzengleitung durch KG-Diffusion oder Korngrenzengleitung durch Volumendiffusion, beruhen auf den Erkenntnissen zur plastischen Verformung von Metallen, welche bei Publikation der ersten Verformungsmechanismenkarten Anfang der siebziger Jahre vorlagen. Inzwischen existieren eine Reihe neuer Erkenntnisse [245-252], welche die von Frost und Ashby [33] zusammengefassten Grundgedanken zur Kinetik der plastischen Verformung in vielen Punkten erweitern. Dennoch soll sich die Erläuterung der metallphysikalischen Hintergründe an der in [33] vorgenommenen Darstellung orientieren, da sich diese durch ihre Transparenz und Klarheit sehr gut eignet, um später die wichtigen Zusammenhänge in der messtechnischen Erfassung und modellhaften Beschreibung der plastischen Verformung einordnen zu können. Um sehr umfangreiche Abhandlungen zu vermeiden, wird auf den Versuch einer detaillierten Darstellung aller bisherigen Ansätze zu den Elementarmechanismen, wie er beispielsweise in [252] vorgenommen wurde, verzichtet. Stattdessen soll ein Kurzabriss zur Versetzungskinetik in 5.2 erfolgen, welcher den Ausgangspunkt für alle weiteren Betrachtungen zu den verschiedenen Erscheinungsformen der plastischen Verformung (5.3 - 5.5) bildet.
10
-1
10
-2
10
-3
A 10-1s -1 B
10
-4
10
-5
10
-6
C D 10-10s -1 0,2
0,4
0,6
E 0,8
1,0
Homologe Temperatur T/Ts
Abb. 5.1 Verformungsmechanismenkarte aus [33], A: Versetzungsgleiten, B:Versetzungsklettern, C: Korngrenzengleitung, D: Diffusionskontrollierte Verformung durch Korngrenzendiffusion, E: Diffusionskontrollierte Verformung durch Matrixdiffusion
160
5 Plastische Verformung
Wichtige ergänzende, auf neueren Experimenten beruhende Detailerkenntnisse sollen in den Abschnitten 5.4.3.1 bis 5.4.3.7 direkt im Zusammenhang mit den speziellen Phänomenen bei der plastischen Verformung bestimmter metallischer Werkstoffklassen besprochen werden. Hierbei sei darauf verwiesen, dass viele der neueren Modelle zu den Elementarmechanismen nicht widerspruchsfrei sind und sehr oft das experimentell ermittelte Werkstoffverhalten nicht wiederzugeben vermögen [246, 253]. Unter Berücksichtigung dieser Tatsache sowie im Bestreben einer möglichst breiten Darstellung des plastischen Verformungsverhaltens konkreter in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik verwendeter Werkstoffe wird eine in ihrer Allgemeingültigkeit möglicherweise eingeschränkte Darstellung der Versetzungskinetik gewählt, welche jedoch alle für das Verständnis der beschriebenen Sachverhalte notwendigen Grundgedanken enthält.
5.2 Kinetik der plastischen Verformung 5.2.1 Versetzungsbewegung Der Hauptmechanismus plastischer Verformung ist die Bewegung von Versetzungen durch den Kristall. Da es eine große Anzahl von Möglichkeiten gibt, in denen Versetzungen plastische Deformationen in makroskopischen Strukturen hervorrufen können, ist die Beschreibung der Grundmechanismen plastischer Verformung sehr komplex. Metalle können sich beispielsweise in ihrem plastischen Verformungsverhalten bereits deutlich unterscheiden, sobald sie unterschiedlichen Kristallsystemen angehören. Neben dieser starken strukturellen Abhängigkeit plastischer Verformung existiert die schon erwähnte Abhängigkeit von äußeren Parametern, wie Dehnungsgeschwindigkeit, Temperatur oder Art der Beanspruchung, welche eine kurze, übersichtliche bzw. vollkommene Beschreibung der Mechanismen plastischer Verformung unmöglich macht. Aus diesem Grund soll hier eine vereinfachte Beschreibung der Grundmechanismen erfolgen, welche die wesentlichen Phänomene darstellt, um so eine Beschreibung des grundsätzlichen theoretisch qualitativen Verständnisses plastischer Verformung mit dem Ziel einer sachgemäßen Einordnung bestimmter experimentell beobachteter Phänomene anzustreben. Um die der makroskopisch beobachteten plastischen Verformung zugrunde liegenden Elementarmechanismen zu verstehen, ist es zunächst notwendig, die Wirkung einer aufgebrachten Scherspannung auf die im realen Kristallgitter vorhandenen Versetzungen darzustellen. Wie in Abschnitt 3.2.3.3 dargestellt, existieren zwei Arten von linienhaften Gitterstörungen in einem Kristall - Stufenversetzungen und Schraubenversetzungen. Die Bewegung einer Stufenversetzung unter Wirkung einer Scherspannung ist schematisch in Abb. 5.2 dargestellt. Dazu ist der Kristall so geschnitten worden, dass der Versetzungskern normal zur Bildebene
5.2 Kinetik der plastischen Verformung
t
t
A B
D
t
A
C
B
t t
161
D
C
t
t
t
t
t
Abb. 5.2 Bewegung einer Stufenversetzung unter Wirkung einer Scherspannung
steht und die Scherkräfte entlang der Ober- und Unterseite des Kristalls aufgebracht werden. Im spannungsfreien Zustand hat Atom A den gleichen Abstand zu Atom B wie zu Atom C. Beim Aufbringen einer Scherspannung nähert sich Atom A jedoch immer mehr Atom C und entfernt sich von Atom B. Im Ergebnis dieser Bewegung findet einer Umordnung der Atome in der Nähe des Versetzungskerns statt, sodass dieser sich nicht mehr zwischen den Atomen A, B, C befindet, sondern zwischen die Atome C, D, E bewegt wurde. Diese Bewegung des Versetzungskerns führt zunächst nicht zu einer äußerlich feststellbaren plastischen Verformung des Materials. Erst wenn nach und nach weitere Umordnungen der Atome in der Nähe des Versetzungskerns erfolgen, sodass dieser eine Materialoberfläche erreicht, wird auch makroskopisch eine plastische Verformung sichtbar. Die Bewegung von Versetzungen unter Wirkung einer Scherspannung wird als Versetzungsgleiten bezeichnet. Die Ebene, auf der sich der Versetzungskern bewegt, ist die Gleitebene und die Richtung, in der die Gleitung erfolgt, entspricht der Gleitrichtung. Die Bewegung einer Schraubenversetzung ist in Abb. 5.3 schematisch dargestellt. Der durch die Wendel einer Schraubenversetzung (vgl. 3.2.3.3) gestörte Kristallbereich entspricht dem Mantel eines Zylinders, dessen Achse vertikal von A nach B verläuft. Wird eine Scherkraft entlang der Ober- und Unterseite des Kris-
162
5 Plastische Verformung
D
A
C
B
t
t
D
A B
D
A' C
A
B
C
t
t
Abb. 5.3 Bewegung einer Schraubenversetzung unter Wirkung einer Scherspannung
talls aufgebracht, erfolgt das Abgleiten dieser Schraubenversetzung nach links. Im Unterschied zur Stufenversetzung, welche in Richtung der wirkenden Scherspannung abgleitet, bewegt sich die Schraubenversetzung entlang der Normalen der aufgebrachten Scherspannung. Durch die fortlaufende Bewegung der Schraubenversetzung nach links kommt es zu einer Relativbewegung der unteren und oberen Kristallhälfte, sodass makroskopisch eine plastische Verformung erfassbar ist, wenn die Schraubenversetzung an die Werkstoffoberfläche gelangt. In realen Kristallen liegt jedoch oftmals ein gemischter Versetzungstyp vor, sodass die Segmente der Versetzungslinie sich sowohl aus Stufen- als auch aus Schraubenversetzungen zusammensetzen. Die Abgleitung einer solchen gemischten Versetzung ist schematisch am Beispiel eines Versetzungsrings in Abb. 5.4 dargestellt. Dieser Versetzungsring vergrößert oder verkleinert unter einer wirken-
5.2 Kinetik der plastischen Verformung
163
b
b
b
b b
b
Abb. 5.4 Bewegung eines Versetzungsrings unter Wirkung einer Schubspannung, gleichmäßig (links) und ungleichmäßig
den Schubspannung seinen Durchmesser, da sich die Stufenversetzungssegmente in Richtung dieser Spannung bewegen (Abb. 5.4a), während die Schraubenversetzungssegmente quer zu ihr abgleiten. Für den Fall, dass einer der beiden Versetzungstypen über eine höhere Beweglichkeit im Kristall verfügt, verlängern sich vor allem die Segmente dieses Typs unter Wirkung einer angelegten Schubspannung (Abb. 5.4b). Neben dieser grundlegenden vereinfachten Betrachtung des Abgleitens von Stufen- und Schraubenversetzungen ergeben sich aus der Atomanordnung im Kristallgitter weitere Argumente für die Art und Weise, in der die Abgleitung im Kristall stattfindet. Da die Abgleitung durch die Bewegung von Versetzungen entlang einer Gleitebenen erfolgt, müssen die Versetzungslinie v und die Bewegungsrichtung r der Versetzung in dieser Gleitebene liegen. Auch der Burgersvektor b , der die Gleitrichtung angibt, muss in dieser Ebene liegen. Für die Lage der Gleitebene mit dem Normalenvektor n ergibt sich unter Einhaltung der genannten Bedingungen n⊥b und n⊥v und n⊥r ,
(5.1)
dass eine Stufenversetzung bzw. eine gemischte Versetzung diese fest vorgeben, da b und v nicht parallel sind. D. h., die Lage der Gleitebene ergibt sich für die Stufenversetzung aus b×v n = -------------b×v
(5.2)
164
5 Plastische Verformung
Nur für den Fall einer reinen Schraubenversetzung, bei der b und v parallel sind, ergibt sich keine zwingende Festlegung für die Bewegungsrichtung der Versetzung. Daher kann diese durch sogenanntes Quergleiten auch Hindernisse umgehen.
5.2.2 Versetzungskinetik
5.2.2.1 Verformungsrategleichungen Um zu einer einheitlichen Darstellung der verschiedenen, die plastische Verformung bestimmenden Mechanismen zu gelangen, werden diese über die makroskopischen Variablen Spannung (genauer Scherspannung) τ , Temperatur T und Ver· formungsrate (genauer Scherrate) γ dargestellt, wobei letztere in Abhängigkeit von den beiden ersten bestimmt wird: · γ = f ( τ, T )
(5.3)
Dieser Betrachtung liegt eine Vereinfachung bezüglich der Werkstoffstruktur zugrunde, welche als konstant angesehen wird, was im Fall mittlerer und hoher homologer Temperaturen nur für eine quasistatische Verformung (vgl. 5.4.3.1) zutreffend ist. Der Betrag einer makroskopisch erfassbaren Deformation in Form einer Scherung hängt auf der einen Seite von der Anzahl der in einem Kristall bewegten Versetzungen und auf der anderen Seite von dem von ihnen zurückgelegten Gleitweg ab. Abb. 5.5 verdeutlicht dies anhand der Bewegung von Stufenversetzungen in einem idealisierten Kristallquader. Definiert man die makroskopisch sichtbare Scherung als s γ = --- , h
(5.4)
wobei h der Höhe des Kristallquaders entspricht und s die Verschiebung der oberen parallel zur Scherkraft τ verlaufenden Deckfläche gegenüber der Grundfläche des Quaders ist. Geht man für diese Betrachtung davon aus, dass alle Versetzungen nach der plastischen Deformation die Oberfläche des Kristalls erreichen, so ergibt sich ihre individuelle Gleitbewegung aus b ⋅ x i ⁄ L , wobei b dem Burgervektor entspricht, x i der Abstand der Versetzung von der linken Kristallfläche ist und L der Länge des Kristalls in Gleitrichtung entspricht. Da sich die makroskopische Verschiebung der Deck- zur Grundfläche s aus der Summe der individuellen Gleitbewegungen der Versetzungen ergibt, erhält man für die Scherung des Kristalls:
5.2 Kinetik der plastischen Verformung
b b γ = ---------- ⋅ ¦ x i = ---------- ⋅ N ⋅ x tot , L⋅h L⋅h
165
(5.5)
wobei N der Gesamtmenge der Versetzungen entspricht und x tot die durchschnittliche Versetzungsbewegung auf den einzelnen Gleitebenen darstellt. Ersetzt man den Term N ⁄ Lh durch die Versetzungsdichte ρ (eigentlich ρ = Nz ⁄ L hz , wobei z die Dicke des betrachteten Kristallquaders ist), so erhält man: γ = ρ ⋅ b ⋅ x tot
(5.6)
Aus Gleichung (5.6) geht hervor, dass die makroskopisch erfassbare plastische Scherung mit den mikroskopischen Größen Versetzungsdichte ρ und durchschnittliche Gleitlänge bx tot einer Versetzung zusammenhängt [241]. Wird Gleichung (5.6) nach der Zeit abgeleitet, so ergibt sich eine Beziehung zwischen Scher· dehnungsrate ( γ ) und der durchschnittlichen Versetzungsgeschwindigkeit ( v tot = dx tot ⁄ dt ) aller Versetzungen: · γ = ρ ⋅ b ⋅ v tot
(5.7)
Aufgrund der Tatsache, dass im Gegensatz zu dem in Abb. 5.5 dargestellten vereinfachten Beispiel in einem realen Kristall in der Regel nicht alle Versetzungen frei beweglich sind, ist es zweckmäßig, sich anstelle des Produktes ρ ⋅ v tot , welches sich auf die Gesamtheit aller Versetzungen sowie ihrer Durchschnittsgeschwindigkeit bezieht, sich alternativ über das Produkt ρ m ⋅ v nur auf die Versetzungsdichte aller beweglichen Versetzungen ρ m und deren durchschnittliche
t z D
L
Di
h
xi
t Abb. 5.5 Beziehung zwichen einer makroskopisch beobachtbaren Scherung und der mikroskopischen Versetzungsbewegung
166
5 Plastische Verformung
Geschwindigkeit v zu beziehen. Hierdurch gelangt man zur Orowan-Gleichung [254], welche die Kinetik der Versetzungsbewegung beschreibt. · γ = ρm ⋅ b ⋅ v
(5.8)
Die funktionale Abhängigkeit der Versetzungsdichte ρm von der Spannung wird von Argon [255] mit σ 2 ρ m = α ⋅ § -----------· © G ⋅ b¹
(5.9)
angegeben, wobei α eine Konstante ist. Die Durchschnittsgeschwindigkeit v einer Versetzung ergibt sich aus der auf sie wirkenden Kraft pro Längeneinheit F = b ⋅ τ und ihrer Mobilität M . v = F⋅M
(5.10)
Das Problem der Beschreibung der Versetzungskinetik wird damit auf die Beschreibung bzw. Berechnung der Mobilität M einer Versetzung zurückgeführt. Diese ist davon abhängig, wie schnell das Segment einer Versetzungslinie bestimmte Hindernisse (z. B. das periodische Potenzial des Gitters, Versetzungswälder, Ausscheidungen) überwinden kann. Damit hängt die Mobilität neben der mechanischen Spannung und Temperatur vor allem von Form und Natur der Hindernisse ab. Auf den ersten Blick behindert die Vielfalt von Hindernissen die Entwicklung einheitlicher Verformungsrategleichungen. Bei genauerer Betrachtung lassen sich Hindernisse jedoch in zwei große Gruppen einteilen, solche, die individuell umgangen bzw. durchschnitten werden (z. B. harte Ausscheidungen), und solche, die kollektiv überwunden werden (z. B. das periodische Potenzial des Gitters). Im Folgenden sollen die Verformungsrategleichungen in Abhängigkeit von den für die Mobilität wichtigen Größen Spannung, Temperatur und Natur des Hindernisses beschrieben werden.
5.2.2.2 Niedertemperaturplastizität Im Bereich niedriger Temperaturen, d. h. T < 0,3 ⋅ T s , finden vor allem die unter 5.3.1.1 und 5.3.1.2 beschriebenen Prozesse der instantanplastischen Verformung statt. Obwohl diese Verformungsprozesse zunächst nicht als zeitabhängig eingestuft wurden, ist die Kinetik der Versetzungsbewegung nahezu immer hinderniskontrolliert, d. h., die Wechselwirkung mit anderen sich bewegenden Versetzungen, mit Korngrenzen, mit dem periodischen Potenzial des Gitters oder mit Ausscheidungen bestimmt die Verformungsgeschwindigkeit bzw. bei einer gegebenen Verformungsgeschwindigkeit (so ist in der Regel das Vorgehen zur Aufstel-
5.2 Kinetik der plastischen Verformung
167
lung des in Abb. 1.5 dargestellten Spannungs-Dehnungs-Diagramms) wird die Größe der Fließspannung bestimmt. Jedoch ist in vielen polykristallinen Metallen die Fließspannung nur sehr gering (sowohl absolut als auch im Vergleich mit anderen Faktoren, wie der Korngröße) von der Dehnungsrate abhängig, wodurch gerechtfertigterweise in den meisten gängigen Beschreibungen der Fließspannung eine Abhängigkeit von der Dehnungsrate (und damit eine zeitabhängige Beschreibung) nicht betrachtet wird. Geht man für den beschriebenen Temperaturbereich von Einzelhindernissen aus, die überwunden werden müssen, so lässt sich die Durchschnittsgeschwindigkeit einer Versetzung beim Überwinden dieser Einzelhindernisse, welche mit einer Frequenz φ auftritt, aus ΔF τ v = β ⋅ b ⋅ φ ⋅ exp – ------- ⋅ § 1 – -----· kT © τ 0¹
(5.11)
berechnen [33, 256], wobei β eine Konstante ist, ΔF der Aktivierungsenergie entspricht, bei der das Hindernis auch ohne äußere Scherspannung überwunden werden würde, und τ0 die Fließspannung darstellt, bei der das Hindernis auch ohne thermische Aktivierung überwunden werden würde. Aus (5.8), (5.9) und (5.11) ergibt sich eine Beziehung der Dehnungsgeschwindigkeit für eine durch die Überwindung von Einzelhindernissen bestimmte plastische Verformung: ΔF τ 2 · τ γ = α ⋅ β ⋅ φ ⋅ § ----· ⋅ exp – ------- ⋅ § 1 – -----· © G¹ kT © τ 0¹
(5.12)
Durchdringen Versetzungen kollektiv das Metallgitter, so oszilliert das Potenzial ihres Versetzungskerns in der Bewegungsrichtung mit einer Wellenlänge, welche dem Gitterabstand der Kristallmatrix entspricht. Um den Potenzialberg zu überwinden, der zwischen den zwei angrenzenden und als stabile Verweilposition zu betrachtenden Potenzialmulden liegt, ist das Aufbringen einer bestimmten Scherspannung τp notwendig, die als Peierls-Nabarro-Spannung bezeichnet wird. Das kollektive Überwinden eines Potenzialberges findet oberhalb 0 K versetzt statt. Nachdem zuerst ein kurzes Segment der Versetzungslinie mit thermischer Unterstützung in die nächste Potenzialmulde gelangte, wird der verbliebene Teil der Versetzungslinie unter Wirkung der anliegenden Scherspannung Stück für Stück in die nächste Potenzialmulde gezogen. Für diesen Prozess, welchem eine Aktivierungsenergie ΔFp zugeordnet ist, kann die Versetzungsgeschwindigkeit wie folgt beschrieben werden ΔF p τ p q ½ · v = γ p ⋅ b ⋅ exp ® – ---------- ⋅ § 1 – § -----· · ¾ , © τ p¹ ¹ © ¯ k⋅T ¿
(5.13)
168
5 Plastische Verformung
wobei γp eine materialabhängige Konstante ist, welche, wie die Exponenten p, q, aus dem Experiment bestimmt wird. Für viele Metalle ergibt sich mit p = 3 ⁄ 4 und q = 4 ⁄ 3 ein guter Fit an die experimentellen Daten [33, 256]. Aus den Gleichungen (5.8), (5.9) und (5.13) lässt sich somit eine Beziehung für die Dehnungsgeschwindigkeit einer von Versetzungsbewegungen durch das Metallgitter bestimmten Plastizität formulieren: 3 --4 ° ΔF p τ τ· · · § --§ · γ = γ p ⋅ - ⋅ exp ® – ---------- ⋅ 1 – ----© G¹ © ¹ τp ° k⋅T ¯
4 --3½
° ¾ ° ¿
(5.14)
5.2.2.3 Hochtemperaturplastizität - Gleiten und Klettern Wird ein polykristallines Metall einer Temperatur von über 0,5 Ts ausgesetzt, das entspricht bei SnPb37 einer Temperatur von -45 °C, so gelangt es in den Bereich der Hochtemperaturplastizität. In diesem Bereich ist die plastische Verformung sehr stark von Temperatur und Zeit (bzw. Dehnungsrate) abhängig. Das liegt daran, dass bei hohen Temperaturen Versetzungen die Fähigkeit des Kletterns gewinnen. Der Prozess des Kletterns ist schematisch in Abb. 5.6 dargestellt. Dabei wird die Lage einer Stufenversetzung im Kristallgitter durch die Adsorption einer Leerstelle um eine Ebene verschoben. Klettern, d. h. die Verschiebung der Stufenversetzung in die entgegengesetzte Richtung, kann durch den Einbau einer zusätzlichen Leerstelle in das Atomgitter erfolgen. Für das Überwinden von Hindernissen ist die Kletterbewegung von Bedeutung, da die in ihrer Gleitbewegung durch ein Hindernis festgehaltenen Versetzungen hierdurch die Möglichkeit erhalten, sich durch eine Kletterbewegung von diesem Hindernis zu befreien, um dann frei weiter gleiten zu können. Weertman [257, 270, 272] unternahm einen der ersten Ansätze, Kriechverformung über den Mechanismus des Versetzungskletterns zu beschreiben. Er ging dabei davon aus, dass der Kriechprozess aus einem Gleitprozess besteht, durch den Versetzungen relativ große Wege x g zurücklegen, welcher von einem Kletterprozess gefolgt wird, bei dem zwar nur eine geringe Distanz x c zurückgelegt wird, der aber aufgrund seiner geringen Geschwindigkeit der Versetzungsbewegung v c der die Gesamtverformungsrate bestimmende Prozess ist. Die Geschwindigkeit, mit der Versetzungen klettern und annihilieren, wird durch den Konzentrationsgradienten zwischen der Leerstellenkonzentration im thermodynamischen Gleichgewicht und der Leerstellenkonzentration nahe der kletternden Versetzung bestimmt. Erstere ergibt sich aus Q c v = c 0 ⋅ exp § – ------v-· , © KT¹
(5.15)
5.2 Kinetik der plastischen Verformung
169
b
Abb. 5.6 Schematische Darstellung des Kletterns einer Stufenversetzung
wobei Q v der Energie zur Bildung einer Versetzung entspricht, wenn sich das Material im spannungsfreien Zustand befindet. Wirkt jedoch eine Spannung auf das Kristallgitter, so kommt es in der Umgebung einer Versetzung aufgrund der durch den Kletterprozess geleisteten Arbeit zu einer Änderung der Leerstellenkonzentration. Entsteht infolge des Kletterprozesses eine Leerstelle, so entspricht die veränderte Leerstellenkonzentration an diesem Ort d+
cv
Q – σΩ = c 0 ⋅ exp §© – ------v-·¹ ⋅ exp §© -----------·¹ . kT KT
(5.16)
Analog ergibt sich die Leerstellenkonzentration für den Fall, dass durch den Kletterprozess eine Leerstelle absorbiert wird +σ n ⋅ Ω Q dc v = c 0 ⋅ exp § – ------v-· ⋅ exp § ------------------· , © kT ¹ © KT¹
(5.17)
wobei σ n die Spannung ist, unter deren Wirkung sich das Metall verformt und Ω dem Atomvolumen entspricht. Der Gradient der Leerstellenkonzentration Δc v zwischen Orten, an denen das Klettern von Versetzungen mit der Abgabe von Leerstellen verbunden ist, und solchen, an denen es zur Absorption von Leerstellen kommt, ergibt sich aus –σn ⋅ Ω Q Δc v = c 0 ⋅ exp § – ------v-· ⋅ sinh § ------------------· , © kT ¹ © KT¹
(5.18)
170
5 Plastische Verformung
wobei sich unter der Annahme kleiner Spannungen der Ausdruck in (5.18) zu σn ⋅ Ω Q Δc v = c 0 ⋅ exp §© – ------v-·¹ ⋅ exp §© ---------------·¹ kT KT
(5.19)
vereinfacht. Aus dem Gradienten der Leerstellenkonzentration Δc v zwischen kletternden Versetzungen ergibt sich ein Leerstellenfluss zwischen diesen Orten. Die Größe dieses Leerstellenflusses und damit die Geschwindigkeit des Klettermechanismus von Leerstellen hängt von der tatsächlichen Anordnung der Versetzungen im Kristallgitter ab. Unter Annahme eines Diffusionsradius R 0 , welcher mit dem Abstand zwischen Versetzungen zusammenhängt, gelangt Weertman zu folgendem Ausdruck für die Geschwindigkeit v c , mit der eine Versetzung unter der Wirkung einer in Richtung ihres Burgersvektors b wirkenden Spannung σ n klettert σn ⋅ Ω R0 Dv v c = 2π ⋅ § ------· ⋅ § ---------------· ⋅ ln § ------· , © b ¹ © kT ¹ © b¹
(5.20)
wobei D v der Diffusionskoeffizient für die korrespondierende Leerstellenbewegung ist, welche bei Temperaturen oberhalb 0,6 Ts durch Matrixdiffusion dominiert wird. Zu vergleichbaren Ergebnissen bei der Beschreibung des Kletterprozesses gelangten auch andere Autoren, wie Hirth und Lothe [258]. Wenn die durchschnittliche Versetzungsgeschwindigkeit v mit xg v ≅ ----- ⋅ v c xc
(5.21)
angenähert wird, so ergibt sich aus (5.8), (5.9) die quasistatische Kriechrate mit xg D V EΩ τ 3 · γ = A 1 ⋅ ------2- ⋅ § --------· ⋅ § -----· ⋅ § ---· , © kT ¹ © x c¹ © E¹ b
(5.22)
wobei A 1 einer Konstante entspricht, D V den Koeffizienten für Selbstdiffusion darstellt und E den Elastizitätsmodul repräsentiert. Der Wert von 3 für den Spannungsexponenten in (5.22) repräsentiert das sogenannte natürliche Potenzgesetzkriechen. Alternativ zu dem von Weertman ausgearbeiteten theoretischen Modell des Versetzungskletterns zeigen spätere Ansätze [252, 253] andere Mechanismen zur kletterbeherrschten Versetzungsbewegung auf. Gemeinsam ist all diesen Ansätzen, dass sie einen Spannungsexponenten von 3 voraussagen. Verschiedene experimentelle Ergebnisse zeigen jedoch, dass das so beschriebene Verformungsverhalten
5.2 Kinetik der plastischen Verformung
171
eher eine Ausnahme ist und sich stattdessen folgende Formulierung zur Beschreibung der Dehnungsrate für diesen Mechanismus eignet: DV ⋅ G ⋅ b τ n · γ = A 2 ⋅ ----------------------- ⋅ § ----· , © G¹ k⋅T
(5.23)
wobei n Werte zwischen 3 und 10 annimmt. Die zurzeit existierenden theoretischen Modelle können das über (5.23) beschriebene Verhalten nicht ausreichend erklären und finden keine Begründung für die experimentell ermittelten Werte von n und A2. Für Temperaturen unterhalb 0,6 Ts wird angenommen, dass die Diffusion durch Versetzungskerne der dominierende Transportmechanismus für die Bewegung von Versetzungen ist [317]. Der Beitrag dieser Diffusion für die Dehnungsrate kann über (5.23) ausgedrückt werden, indem der Matrixdiffusionskoeffizient DV durch einen effektiven Diffusionskoeffizienten Deff ersetzt wird 10 ⋅ a c § σ · 2 - ⋅ ---- , D eff = D V + D C ⋅ -------------2 © G¹ b
(5.24)
wobei ac dem Durchmesser des Gebietes des Versetzungskerns entspricht, in welchem gegenüber der Matrixdiffusion erhöhte Diffusionsgeschwindigkeiten erreicht werden, und Dc den Diffusionskoeffizienten in diesem Gebiet darstellt, welcher in vielen Fällen dem Korngrenzendiffusionskoeffizienten entspricht. Übersteigt die Spannung Werte von etwa 10-3 G, so wird die Dehnungsgeschwindigkeit zunehmend vom Versetzungsgleiten bestimmt. In diesem Fall kann die Dehnungsrate auch nicht mehr über ein einfaches Potenzgesetz (wie (5.23)) beschrieben werden. Stattdessen wird ein Ansatz nach (5.25) verwandt, der sowohl zur Beschreibung der Dehnungsrate für mittlere Spannungen (Versetzungsklettern und Diffusion durch Versetzungskerne) als auch für hohe Spannungen (Versetzungsgleiten) geeignet ist D eff ⋅ G ⋅ b τ · γ = A 3 ⋅ -------------------------- ⋅ sinh § α ⋅ ----· © G¹ k⋅T
n
,
(5.25)
wobei A3 und α Materialkonstanten sind. 5.2.2.4 Diffusionskontrollierte Verformung Ist das Material sehr geringen Spannungen ausgesetzt, wird die plastische Verformung durch Diffusionsprozesse dominiert. Hierunter fällt z. B. die Deformation eines Korns aufgrund der Bewegung von Leerstellen, welche einem Potenzialfeld
172
5 Plastische Verformung
folgen, das durch ein äußeres Spannungsfeld hervorgerufen wurde. Die Dehnungsgeschwindigkeit bei Diffusion ergibt sich nach [33] 42 D σ ⋅ Ω· γ = ------ ⋅ ---------- ⋅ ----------π k ⋅ T d2
(5.26)
π ⋅ δ ⋅ D GB D = D V + ------------------------- , dg
(5.27)
g
wobei dg die Korngröße, Ω das Atomvolumen, DV der Bulkdiffusionskoeffizient, DGB der Korngrenzendiffusionskoeffizient und δ der effektive Korngenzenabstand sind. Bei hohen Temperaturen tritt diffusionsdominierte plastische Verformung infolge Matrixdiffusion (Nabarro-Herring-Kriechen) und bei niedrigen Temperaturen infolge Korngrenzendiffusion (Coble-Kriechen) auf. Bei großen Korngrößen, welche für die Größenverhältnisse der Mikroelektronik allerdings keine Rolle spielen, wurde anstatt des Diffusionskriechens ein auf Klettern und Gleiten von Versetzungen basierender Mechanismus beobachtet, welcher durch einen linear-viskosen Ansatz beschrieben werden kann und als Harper-Dorn-Kriechen bezeichnet wird. Die Temperaturabhängigkeit der Kriechmechanismen kommt im Wesentlichen durch die Temperaturabhängigkeit der Diffusion zustande, welche – bezogen auf den Diffusionskoeffizienten – sich im Allgemeinen aus dem Arrhenius-Ansatz ergibt Q D = D 0 ⋅ exp § – ----------· , © k ⋅ T¹
(5.28)
wobei Q der dem dominierenden Transportmechanismus zugehörigen Aktivierungsenergie entspricht und D0 als eine Kalibrierungskonstante für den Diffusionskoeffizienten zu betrachten ist.
5.2.3 Bedeutung der Kinetik der Versetzungsbewegung für die Beschreibung und Charakterisierung der plastischen Verformung Wie den Darstellungen in 5.2.1 bis 5.2.2.4 entnommen werden kann, existieren in Abhängigkeit von den äußeren Parametern Spannung, Temperatur und Verformungsgeschwindigkeit unterschiedliche Mechanismen, welche der plastischen Verformung von Metallen zugrunde liegen. Diese bewirken auch ein qualitativ unterschiedliches phänomenologisches Verformungsverhalten. Aus diesem Grund ist es für die Beschreibung des plastischen Verformungsverhaltens nicht möglich, eine einfache zusammenhängende Darstellung zu verwenden wie für das elastische
5.2 Kinetik der plastischen Verformung
173
Normierte Scherspannung t/G
Verformungsverhalten. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass die in 5.2.1 bis 5.2.2.4 vorgenommenen Betrachtungen die Zeit- und Strukturabhängigkeit des plastischen Verhaltens außer Betracht lassen, um zu einer in ihrer Gesamtkomplexität erfassbaren Gesamtdarstellung des plastischen Verhaltens in Form von Verformungsmechanismenkarten (siehe Abb. 5.7) zu gelangen. Diese mechanismenorientierte Unterteilung der plastischen Verformung soll auch als Grundlage für die weitere Beschreibung dienen. Dabei sollen in Abschnitt 5.3 zunächst die Erscheinungsformen plastischer Verformung besprochen werden, welche mit dem Versetzungsgleiten assoziiert werden. Die Dominanz der auf Versetzungsgleiten basierenden Verformungsmechanismen liegt in der Regel im Bereich niedriger homologer Temperaturen, da hier durch die geringe thermische Aktivierung alle auf Festköperdiffusion beruhenden Mechanismen eine eher untergeordnete Rolle spielen. Im Anschluss daran soll im Abschnitt 5.4 eine sehr detaillierte Darstellung der der zeit- und temperaturabhängigen Verformung zugrunde liegenden Mechanismen erfolgen, welche üblicherweise im Bereich hoher homologer Temperaturen auftreten und daher mit dem durch die hohe thermische Aktivierung verbundenen Mechanismen der Festköperdiffusion assoziiert werden können. Die in 5.3 und 5.4 besprochenen Mechanismen unterscheiden sich jedoch nicht nur bezüglich der Temperatur, sondern auch im Hinblick auf die im Werkstoff auftretenden Spannungsbeanspruchungen. In der Verformungsmechanismenkarte in Abb. 5.7 wird eine grobe Einteilung zwischen diesen grundsätzlichen Verformungsarten und den damit in Zusammenhang stehenden globalen Beanspruchungen gegeben, um eine allgemeine Orientierung zwischen den später zu besprechenden Details der Elementarmechanismen und den für die phänomenologische Erscheinung der Verformung wichtigen Grundparametern 10
-1
10
-2
10
-3
10
-4
10
-5
10
-6
Instantanplastische Verformung (siehe 5.3)
Zeitabhängigkeit und Temperaturabhängigkeit der plastischen Verformung (siehe 5.4)
0,2
0,4
0,6
0,8
1,0
Homologe Temperatur T/Ts
Abb. 5.7 Einteilung der Arten der Deformation in einer Verformungslandkarte
174
5 Plastische Verformung
zu erhalten. Grundsätzlich sind mit den in Abschnitt 5.3 dargestellten Erscheinungsformen plastischer Verformung im Bereich niedriger homologer Temperaturen auch hohe Spannungsbeanspruchungen verbunden, damit eine plastische Verformung des Werkstoffs überhaupt einsetzt. Im Gegensatz setzt plastische Verformung bei den in Abschnitt 5.4 beschriebenen Mechanismen im Bereich hoher homologer Temperaturen oft schon bei sehr geringen Spannungsbeanspruchungen ein. Zum Abschluss sollen in Abschnitt 5.5 die Besonderheiten der plastischen Verformungsreaktion bei wechselnder Beanspruchung angerissen werden, bei denen Materialgedächtniseffekte eine wichtige Rolle spielen, welche sich so nicht mehr einfach, d. h. analog zu den Verformungsmechanismenkarten für einsinnige Beanspruchung, darstellen lassen, da die Vielfalt der entstehenden Effekte sowie deren unterschiedliche Ausbildung in Abhängigkeit von der Materialstruktur eine einfache, übersichtliche Beschreibung unmöglich macht.
5.3 Niedertemperaturplastizität 5.3.1 Merkmale Die plastische Verformung von Metallen im Bereich geringer homologer Temperaturen wird in der Regel mit der in Abb. 5.8 dargestellten Spannungs-Dehnungs-Kurve assoziiert, d. h., die plastische Verformung beginnt nach Überschreiten eines als Fließspannung gekennzeichneten Beanspruchungswerts. Anders als in
s E
R
Einschnürung
R
p0,2
Bruch
sF Fließgrenze
0,1% Fließgrenze
Zugfestigkeit
m
0,1 % Dehnung
e
Bruchdehnung A
Abb. 5.8 Typisches Spannungs-Dehnungs-Diagramm eines metallischen Werkstoffs mit wichtigen mechanischen Werkstoffkennwerten, adaptiert aus [316]
5.3 Niedertemperaturplastizität
175
Energie
D
A
Spannung
tf
0
D
A Position des Versetzungskerns
Abb. 5.9 Potenzialverlauf und daraus abgeleiteter Kraftverlauf für die Bewegung einer Versetzung von A nach D (vgl. Abb. 5.2)
den Betrachtungen zur Kinetik der Versetzungsbewegung (vgl. 5.2.2) wird bei der phänomenologischen Betrachtung der plastischen Verformung bei niedrigen Temperaturen ein Zusammenhang zwischen Spannung und Verformung anstatt zwischen Spannung und Verformungsrate bevorzugt. Diese Betrachtungsweise wird plausibel, wenn man die der Niedertemperaturverformung zugeordneten Ratengleichungen (5.12) und (5.14) genauer analysiert. Der funktionale Zusammenhang zwischen Verformungsrate und Spannung ist in beiden Gleichungen durch einen quadratischen und einen exponentiellen Term gekennzeichnet. Wenn die Aktivierungsenergie hoch ist, was vor allem beim Überwinden von Einzelhindernissen der Fall ist, bestimmt der exponentielle Term die Spannungsabhängigkeit der Verformungsrate. Für den umgekehrten Fall bedeutet dies, dass die Abhängigkeit der Fließspannung von der Verformungsrate gering ist. Gleichzeitig existiert eine hohe Abhängigkeit des plastischen Fließens von der Werkstoffstruktur, sodass die vorhandene geringe Abhängigkeit von der Verformungsrate für eine Beschreibung des plastischen Verhaltens bei niedrigen Temperaturen unbedeutend ist. Diese starke Abhängigkeit von der Werkstoffstruktur wird plausibel, wenn der Unterschied zwischen der Niedertemperaturplastizität von ein- und polykristallinem Material betrachtet wird.
5.3.1.1 Plastische Deformation in Einkristallen Wird die Versetzungsbewegung unter Berücksichtigung der anziehenden und abstoßenden zwischenatomaren Wechselwirkungen betrachtet, so ergibt sich die in Abb. 5.9 schematisch dargestellte Potenzial-Positions-Kurve bzw. die daraus abgeleitete Kraft-Positions-Kurve für die Bewegung einer Versetzung durch das Atomgitter. Daraus ist zu erkennen, dass das Gitter der Versetzungsbewegung einen periodisch auftretenden Widerstand entgegenbringt. Peirels und Nabarro haben
176
5 Plastische Verformung
diesen Widerstand unter Annahme einer sinusförmigen Potenzialänderung während der Versetzungsbewegung mit 2πa τ f = G ⋅ sin § – --------------------· © ( 1 – ν )b¹
(5.29)
abgeschätzt, wobei G der Schubmodul, ν die Querkontraktionszahl, a der vertikale Abstand zwischen Gleitebenen und b das Gleitinkrement ist. Aus Gleichung (5.29) lässt sich ableiten, dass der periodische Widerstand des Gitterpotenzials am kleinsten ist, wenn a groß und b klein ist, d. h., Gleitung erfolgt bevorzugt in den dicht gepackten Ebenen eines Kristallgitters. Für einen kubisch-flächenzentrierten Kristall sind beispielsweise die Ebenen vom Typ [111] und die Richtungen vom Typ am dichtesten gepackt. Da in diesem Kristallgitter vier solche Ebenen existieren, auf denen jeweils drei unabhängige Gleitrichtungen vorhanden sind, ergeben sich insgesamt 12 unabhängige Gleitsysteme, d. h. Kombinationen aus Gleitebenen und Gleitrichtungen. Da eine auf einen Kristall aufgebrachte Schubspannung τ in der Regel nicht parallel zu einem Gleitsystem ausgerichtet ist, trägt nur die parallel zum Gleitsystem wirkende Komponente τ GS zur Versetzungsbewegung bei. Für einen einachsig belasteten Zugstab (Abb. 5.10), wie er auch in den Betrachtungen zum Spannungs-Dehnungs-Diagramm in Abschnitt 1.4.2.2 herangezogen wird, ergibt sich diese Komponente aus dem Schmid’schen Schubspannungsgesetz: τ GS = σ ⋅ cos λ ⋅ cos θ
(5.30)
wobei der Term cos λ ⋅ cos θ dem Schmidfaktor entspricht. Nimmt man das Spannungs-Dehnungs-Diagramm eines kubisch-flächenzentrierten Einkristalls,
F
q
n
l m A A0
F
Abb. 5.10 Lage eines Gleitsystems innerhalb eines Zugstabes
5.3 Niedertemperaturplastizität
177
wie z. B. Cu, auf, so ergeben sich die in Abb. 5.11 dargestellten Verläufe, wobei Abb. 5.11a die tatsächlich in [318] ermittelten Verläufe darstellt und Abb. 5.11b eine schematische Darstellung des Verlaufes für den Fall vornimmt, bei welchem der Kristall gegenüber der Belastungsachse so ausgerichtet ist, dass die resultierende Schubspannung in einem bestimmten Gleitsystem deutlich größer als die resultierenden Schubspannungen in allen anderen Systemen ist. In diesem Fall ist der Verlauf plastischer Verformung im Spannungs-Dehnungs-Diagramm in 3 Bereiche unterteilt. Bereich I beginnt nach elastischer Verformung des Kristalls bei Erreichen der notwendigen resultierenden Schubspannung im dominierenden Gleitsystem. In diesem Bereich können die Versetzungen lange Wege zurücklegen, bis sie miteinander wechselwirken. Er wird daher auch als Bereich der Einfachgleitung bezeichnet und besitzt nur eine geringe Verfestigung (d. h. einen geringen Verformungswiderstand). Ihm schließt sich Bereich II mit einer stark ansteigenden Verfestigung an, die auf Reaktionen zwischen Versetzungen primärer und sekundärer Gleitsysteme sowie auf Versetzungsvervielfachung - und damit Zunahme der Versetzungsdichte - durch Frank-Read-Quellen zurückzuführen ist. Im sich daran anschließenden Bereich III nimmt der Anstieg der Verfestigung durch Prozesse der dynamische Erholung, wie z. B. dem Quergleiten von Schraubenversetzungen, wieder ab.
5.3.1.2 Plastische Deformation in Polykristallen Wird das Spannungs-Dehnungs-Verhalten bei der plastischen Verformung eines Einkristalls mit dem eines polykristallinen Werkstoffes des gleichen Metalls, z. B. Cu, verglichen, so zeigen sich deutliche Unterschiede (Abb. 5.12). Das Einsetzen plastischer Verformung findet im polykristallinen Metall erst bei wesentlich höheren Spannungen statt und auch der Bereich von Einfachgleitung, d. h. geringe Ver-
50
C23
C29
t II tI 0 0
C26 C27
40
C2 3
Scherspannung t
t III
29
III
C
II
Effektive Scherspannung [MPa]
I
7
30
C2
20
6
C2
10 0
Scherdehnung
Abb. 5.11 Abgleitkurven eines Cu-Einkristalls aus [318]
0
0,05
0,1
0,15
0,2
Scherdehnung
0,25
0,3
0,35
178
5 Plastische Verformung
festigungszunahme, ist im Gegensatz zum Einkristall nicht zu beobachten. Diese Unterschiede zwischen plastischer Ein- und Vielkristallverformung sind vor allem auf zwei Gründe zurückzuführen. Zum einen führt die unterschiedliche Orientierung der verschiedenen Körner im polykristallinen Werkstoff bei einer gegebenen äußeren Spannung zu einem individuellen Abgleitverhalten der Versetzungen in jedem einzelnen Korn (vgl. Abb. 5.11). Was aber noch viel wichtiger ist, ist die Tatsache, dass abgeglittene Versetzungen, wenn sie eine Korngrenze erreichen, aufgrund der unterschiedlichen Orientierung der Gleitsysteme im Nachbarkorn nicht in diesem weitergleiten können. Andererseits können sie auch das Korn an dessen Oberfläche nicht verformen, d. h. von der Korngrenze einfach aufgenommen werden, da hierdurch der Zusammenhalt der Körner nicht mehr gewährleistet wäre. Infolgedessen stauen sich die Versetzung und alle ihr auf der gleichen Gleitebene folgenden Versetzungen vor der Korngrenze auf. Schließlich wird die durch diese Aufstauung erzeugte lokale Spannungskonzentration so groß, dass dadurch im Nachbarkorn trotz ungünstiger Orientierung Versetzungsquellen aktiviert werden. Die in den benachbarten Körnern bereitgestellten Versetzungen lagern sich daraufhin so in Korngrenzennähe an, dass bei plastischer Verformung der Körner der Zusammenhalt unter ihnen trotzdem gewahrt bleibt. Da die durch die Versetzungsaufstauung erzeugte Spannungskonzentration mit wachsender Korngröße zunimmt [164], wird der Spannungs-Dehnungs-Verlauf bei instantanplastischer Verformung neben dem Abgleitverhalten des Einkristalls auch sehr stark durch die Gefügestruktur bestimmt (vgl. 3.2.3), wodurch sich für die instantanplastische Verformung in polykristallinen Metallen ein Spannungs-Dehnungs-Verlauf ergibt, der sich zunächst durch eine sehr hohe Verfestigung auszeichnet, welche mit zunehmender Dehnung rasch absinkt. Durch die beschriebenen Versetzungswechselwirkungen an den Korngrenzen ist die Fließspannung im polykristallinen Werkstoff deutlich höher.
s in MPa 300
Cu-Polykristall
200
100
Cu-Einkristall
10%
20%
30%
40%
Abb. 5.12 Abgleitkurven eines Cu-Einkristalls und eines Cu-Polykristalls
50%
e
5.4 Hochtemperaturplastizität
179
5.4 Hochtemperaturplastizität 5.4.1 Merkmale Wie in 5.2.2 ausgeführt, wird bei der plastischen Verformung bei hohen Materialtemperaturen das Versetzungsgleiten durch einen Kletterprozess ergänzt, welcher mit einer Leerstellendiffusion zusammenhängt und wesentlich die Geschwindigkeit der Versetzungsbewegung beeinflusst. Aus diesem Grund weist die plastische Verformung bei hohen Materialtemperaturen sowohl starke Zeitabhängigkeit, d. h. eine Abhängigkeit der Fließspannung von der Verformungsgeschwindigkeit, als auch eine hohe Temperaturabhängigkeit auf. Zunächst sollen die durch die Zeitabhängigkeit entstehenden vielfältigen Erscheinungsformen der plastischen Verformung von Metallen bei hohen Materialtemperaturen dargestellt werden, indem die · · mehrseitigen Beziehungen zwischen den Verformungsvariablen ( σ, σ, ε, ε, t ) durch eine Reihe verschiedener spezialisierter Experimente charakterisiert werden. Zu den grundlegenden und etablierten Versuchen, mit denen das zeitabhängige plastische Verformungsverhalten untersucht wird, zählen der Versuch mit konstanter Dehnungsrate, der Kriechversuch und der Relaxationsversuch. Beim Versuch mit konstanter Dehnungsrate wird die Probe einer Dehnungsbe· anspruchung ausgesetzt, welche die Bedingung ε = const. erfüllt. Aus dieser · Lastbedingung ergibt sich mit ε = ε ⋅ ( t – t 0 ) ein von der Verformungsreaktion · unabhängiger Zusammenhang zwischen Verformungsvariablen ε, ε, t , sodass · sich die Verformungsreaktion über die Variablen σ, σ als Funktion von ε oder t ergibt. Für das Darstellung des zeitabhängigen Verhaltens hat sich wegen seiner s e1, T 1 e1, T 2 e2, T 1 e1, T 3 e3, T 1 e1 > e2 > e3 T1 < T2 < T3
e Abb. 5.13 Spannungs-Dehnungs-Diagramm des gleichen Werkstoffs bei unterschiedlichen Verformungsgeschwindigkeiten und Materialtemperaturen
180
5 Plastische Verformung
Vergleichbarkeit zum Spannungs-Dehnungs-Diagramm die Form σ = f ( ε ) als die zweckmäßigste herausgestellt (Abb. 5.13 a). Da es sich hierbei in der Regel um · eine monotone Funktion handelt, enthält die Darstellung von σ = f ( ε ) keine zusätzlichen Informationen, verdeutlicht jedoch den Verlauf der Verfestigung (Abb. 5.13 b). Für das in Abb. 5.13 a dargestellte zeitabhängige Verformungsverhalten wurden vier verschiedene Versuche mit mittleren Verformungsgeschwin–4 –7 –1 · digkeiten, z. B. ε = ( 10 …10 ) ⋅ s durchgeführt und eine Versuchstemperatur gewählt, die einer mittleren bis hohen homologen Materialtemperatur entspricht, z. B. T h = 0,5 ⋅ T s . Aus den in Abb. 5.13 a eingetragenen Verformungsreaktionen wird ersichtlich, dass das plastische Fließen eines metallischen Werkstoffes sich bei hohen Temperaturen in Abhängigkeit von der Verformungsgeschwindigkeit ändert. Die Spannung, bei der die plastische Verformung einsetzt, wird um so niedriger je langsamer die Verformung stattfindet. Weiterhin ist zu e
I
II
III
t e
e
I
I
II
II
III
III
t
e
Abb. 5.14 Kriechversuch, I: primäres Kriechen, II: sekundäres Kriechen, III: tertiäres Kriechen
5.4 Hochtemperaturplastizität
181
s
t
Abb. 5.15 Relaxationsversuch
beobachten, dass nach einer anfänglichen Verfestigung, welche in einem kleinen Anfangsdehnungsbereich stattfindet, keine weitere Verfestigung bei weiterer Werkstoffverformung einsetzt. Beim Kriechversuch wird die Probe einer Spannungsbeanspruchung ausgesetzt, welche die Bedingung σ = const. erfüllt. Aus dieser Lastbedingung ergibt sich, · dass σ = 0 ist und demzufolge sich die Verformungsreaktion als Beziehung · unter den Variablen ε, ε, t ergibt. Die Diagramme in Abb. 5.14 zeigen die aus dem Versuch folgenden Verformungsreaktionen in den Darstellungen ε = f ( t ) · · (Abb. 5.14 a), ε = f ( t ) (Abb. 5.14 b) und ε = f ( ε ) (Abb. 5.14 c), wobei aufgrund der mit der Zeit stetig wachsenden Kriechdehnung eine der drei Kurven zur Charakterisierung der Verformungsreaktion beim Kriechversuch ausreichend wäre. Allerdings ist es zum Verständnis der offensichtlich dreigeteilten Kriechkurve nützlich, alle drei Darstellungen des Verformungsverlaufes zu betrachten. Beim Relaxationsversuch wird die Probe zunächst einer Spannungs- oder Dehnungsbeanspruchung (bzw. einer kombinierten Beanspruchung) ausgesetzt und dann zu Beginn des Versuches in dem momentan erreichten Verformungszustand · eingefroren, d. h. ε = const. bzw. ε = 0 . Während des Versuches wird σ über t aufgezeichnet. In der Regel ergibt sich der in Abb. 5.15 dargestellte Spannungsabfall über der Zeit. Aus den in den Abb. 5.13 bis Abb. 5.15 dargestellten Verformungsreaktionen lassen sich die verschiedenen, äußerlich wahrgenommenen Erscheinungsformen des zeitabhängigen plastischen Verformungsverhaltens ablesen. Wird ein Material bei einer erhöhten Temperatur über einen bestimmten Zeitraum mit einer Spannung beansprucht bzw. mit einer mittleren Geschwindigkeit gedehnt, so ist eine allmähliche plastische Verformung des Materials zu beobachten. Die Spannung, bei der diese plastische Verformung einsetzt, ist um so niedriger je langsamer die
182
5 Plastische Verformung
Probe verformt wird (Gleiches gilt auch andersherum). Wird das Material nach Auftrag einer Beanspruchung in einem bestimmten Verformungszustand eingefroren, so findet ein Abbau der Spannung im Material statt. In der Anwendung findet die zeitabhängige Verformung jedoch nicht nur als Folge der bisher dargestellten Beanspruchungsarten statt, bei welchen eine oder mehrere Variablen als konstant bzw. null angenommen werden. In solchen Fällen kann es z. B. gleichzeitig zur plastischen Verformung und zum Spannungsabbau im Material kommen. Aus diesem Grund gibt es für die Charakterisierung und Beschreibung des zeitabhängigen Verhaltens über Werkstoffparameter verschiedene Ansätze, von denen die wichtigsten nachfolgend besprochen werden sollen.
5.4.2 Beschreibung des zeitabhängigen Verformungsverhaltens Aus der Vielschichtigkeit der Erscheinungsformen beim zeitabhängigen Verformungsverhalten ergibt sich das Problem, eine einfache und nachvollziehbare Beschreibung des Verhaltens zu finden, welche eine Charakterisierung über wenige aussagekräftige Parameter ermöglicht und damit zum einen eine Vorstellung von Verformungsverhalten gibt und andererseits einen Vergleich zwischen verschiedenen Werkstoffen zulässt. Für eine solche Beschreibung ist es notwendig, einen Verformungszustand zu finden, der für verschiedene Arten der Belastung vergleichbar ist und sich eindeutig definieren lässt. Werden die Verläufe der Beanspruchungsfunktion und der Verformungsreaktion beim Versuch mit konstanter Dehnungsrate (Abb. 5.13) mit denen des Kriechversuchs (Abb. 5.14) verglichen, so ergibt sich zwar für den in beiden Diagrammen eingezeichneten Bereich I eine voneinander verschiedene Charakteristik, im Bereich II weisen beide Verläufe jedoch dieselben Spezifika auf - eine konstante Dehnungsrate sowie eine konstante · Spannung. Dieser Verformungszustand σ, ε = const. wird in beiden Versu· chen über unterschiedliche Beanspruchungen - ε = const. für den Versuch mit konstanter Dehnungsrate und σ = const. für den Kriechversuch - erreicht und kann auch über viele dazwischen liegende Beanspruchungszustände erreicht werden. Offensichtlich handelt es sich bei diesem Zustand um einen eingeschwungenen Verformungszustand bei der zeitabhängigen Verformung, der über das Durchlaufen von von der Beanspruchungsart abhängigen Zwischenzuständen (Bereich IVerformung) eingenommen wird. Aufgrund seiner Unabhängigkeit von der Beanspruchungsart ist dieser eingeschwungene Zustand, welcher sich durch · σ, ε = const. auszeichnet und als quasistatische Kriechverformung bezeichnet wird, sehr gut geeignet, um das zeitabhängige Verformungsverhalten in einer ersten Näherung effektiv zu beschreiben. Wie später noch gezeigt wird (vgl. 5.4.3.3 - 5.4.3.7), lässt sich dabei die Dehnungsrate bei quasistatischer Kriechver· formung ε ss sehr einfach als Funktion der Spannung und der Temperatur ausdrükken:
5.4 Hochtemperaturplastizität
· ε ss = f ( σ, T )
183
(5.31)
Obwohl die Beschreibung des quasistatischen Kriechverhaltens bereits eine sehr effektive Möglichkeit bietet, das zeitabhängige Verformungsverhalten für viele technische Anwendungen mit hinreichender Genauigkeit zu beschreiben, ist für einzelne Belastungsfälle in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik eine weiter reichende und detailliertere Beschreibung erforderlich. Hierzu ist es notwendig, sich mit dem Verlauf des transienten Bereiches (Bereich I) bei der Kriechverformung zu befassen. Besonders für die in Abb. 5.14 dargestellte Kriechkurve existieren in der Literatur eine Reihe unterschiedlicher Beschreibungen. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, den Verlauf der Kriechkurve als Potenzreihe darzustellen [319]: · ε =
–ni
¦i ai ⋅ ti
,
(5.32)
wobei a i und n i Funktionen der Temperatur T und der Spannung σ sind. In der Regel sind mehrere Glieder dieser Potenzreihe für eine befriedigende Beschreibung notwendig. In besonderen Fällen, wie in Gleichung (5.33) 1 3 –2 · ε = --- ⋅ β ⋅ t ⋅ ( ε – ε 0 ) , 3
(5.33)
reicht jedoch das erste Glied aus. Die Formulierung in Gleichung (5.33) geht aus der Lösung einer Differenzialgleichung hervor, welche sich wiederum auf die Gleichung für das sogenannte Andrade-Kriechen zurückführen lässt [252, 320] ε = β⋅t
1⁄3
+ ε0 ,
(5.34)
wobei β ein konstanter Vorfaktor ist und ε 0 die instantane Dehnung bei Lastauftrag charakterisiert. Um den Zustand des quasistatischen Kriechens (Bereich II in Kriechkurve, Abb. 5.14) isoliert zu beschreiben, muss in der Potenzreihe in Gleichung (5.32) n = 0 gesetzt werden, sodass sich folgender Ausdruck für ε ergibt · ε = ε ss ⋅ t + ε 0 ,
(5.35)
· wobei ε ss der quasistatischen Kriechrate entspricht. Durch Kombination von Gleichung (5.35) mit der Formulierung für das Andrade-Kriechen ergibt sich ε = β⋅t
1⁄3
· + ε ss ⋅ t + ε 0
(5.36)
184
5 Plastische Verformung
Diese Formulierung lässt sich um einen weiteren Term zur Beschreibung des tertiären Kriechens (Bereich III in Kriechkurve, Abb. 5.14) erweitern, welche von Graham und Walles vorgeschlagen wurde [319] ε = ε0 + β ⋅ t
1⁄3
3 · + ε ss ⋅ t + γ ⋅ t
(5.37)
Aus dieser Gleichung, welchen den gesamten Verlauf der Kriechkurve in Abb. 5.14 wiedergibt, ergibt sich allerdings, dass für den Grenzwert t → 0 die · Kriechrate ε → ∞ strebt, was den Vorstellungen über die Kinetik des Kriechprozesses grundsätzlich widerspricht. Von McVetty wurde daher eine andere mathematische Formulierung vorgeschlagen, welche das Problem einer unendlichen Anfangskriechrate umgeht [321]. Zusammen mit adäquaten Formulierungen für den Bereich des tertiären Kriechens ergibt sich [322] t · ε = ε 0 + ε p ⋅ 1 – exp § – ----- · + ε ss ⋅ t + ε t ⋅ exp [ p ⋅ ( t – t t ) ] , © τp ¹
(5.38)
wobei ε p die Dehnung ist, die der primären Kriechphase zugerechnet werden kann, t t der Zeitpunkt ist, an dem die tertiäre Kriechphase beginnt und τ p , ε t und p weitere Materialkonstanten sind. Für die Beschreibung des tertiären Kriechens mit dem Term ε t ⋅ exp [ p ⋅ ( t – t t ) ] ergibt sich das praktische Problem, den Zeitpunkt t t zu bestimmen. Aus diesem Grund wurde die Formulierung aus Gleichung (5.38) wie folgt modifiziert [252, 323] t – tf t · ε = ε 0 + ε p ⋅ 1 – exp § – ----- · + ε ss ⋅ t + ε t ⋅ exp § ---------- · , © τp ¹ © τt ¹
(5.39)
wobei t f die experimentell leicht bestimmbare Zeit bis zum Bruch ist, ε t die Dehnung ist, die der tertiären Kriechphase zugerechnet werden muss und τ t eine weitere Materialkonstante darstellt. Da der Term für das quasistatische Kriechen · aufgrund des geringen Wertes von ε ss ebenso wie der Term für die instantane Dehnung ε 0 nur einen unbedeutenden Beitrag an der Gesamtdehnung leisten, wurde von Evans und Wilshire eine vereinfachte Beschreibung der Kriechkurve über das sogenannte Theta-Konzept vorgeschlagen [324, 325] ε = θ 1 [ 1 – exp ( – θ 2 ⋅ t ) ] + θ 3 [ exp ( – θ 4 ⋅ t ) – 1 ] ,
(5.40)
welches auf der additiven Überlagerung zweier Exponentialfunktionen besteht, die über vier Parameter θ 1 …θ 4 charakterisiert werden, welche aufgrund dieser völlig empirischen Kurvenbeschreibung keinen physikalischen Bezug mehr besitzen und anhand experimentell gewonnener Kriechkurven als spannungs- und temperaturabhängige Größen gewonnen werden müssen.
5.4 Hochtemperaturplastizität
185
Alle in den Gleichungen (5.32) - (5.40) dargestellten empirischen Beschreibungen der Kriechkurve beziehen sich auf den Beanspruchungsfall σ, T = const. , welcher in praktischen Beanspruchungsfällen in der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik jedoch selten vorhanden ist. Dennoch bestehen verschiedene Bemühungen [326 - 328], die aus den Kriechkurven gewonnenen Parameter zur Beschreibung des transienten Verformungsverhaltens von Sn-basierten-Loten in elektronischen Aufbauten einzusetzen. Am weitesten gehen dabei die Arbeiten von Deplanque [328], der versucht, über eine Verformungs-Zeit-Relation auch eine Veränderung der Spannungsbeanspruchung bei der Beschreibung des transienten Verformungsverhaltens zu berücksichtigen. Eine andere Möglichkeit, transientes Verformungsverhalten zu beschreiben, besteht in der Verwendung viskoplastischer Stoffgesetze. Wippler, Kullig und Kuna [329] haben dabei eine auf den Materialmodellen von Chaboche [330] beruhende Materialroutine für das FEM-Programm ABAQUS entwickelt und auf der Basis von verschiedenen Experimenten an SnAgCu-Lot kalibriert.
5.4.3 Grundmechanismen
5.4.3.1 Kinetik der Versetzungsbewegung und Strukturentwicklung Um einen Zusammenhang zwischen den phänomenologisch beobachteten Erscheinungsformen der zeitabhängigen Verformung und ihren physikalischen Grundmechanismen herstellen zu können, ist es wichtig, zwischen der Kinetik zeitabhängiger (und gleichzeitig temperaturabhängiger) plastischer Verformung für eine konstante Struktur und der Kinetik der Strukturentwicklung zu unterscheiden. Der Unterschied zwischen der Kinetik konstanter und variabler Strukturen wurde über verschiedene Experimente verdeutlicht [331, 332]. Am deutlichsten geht er aus dem in Abb. 5.16 dargestellten transienten Kriechexperiment hervor. Die beiden gestrichelten Linien zeigen die zeitabhängige Verformungsreaktion für den Fall einer konstanten Spannungsbeanspruchung zweier verschiedener Spannungsniveaus. Die Volllinien zeigen hingegen die zeitabhängige Verformungsreaktion, wenn während des Kriechexperiments die Beanspruchung zwischen diesen beiden Spannungsniveaus hin und her wechselt. Dabei ist zu erkennen, dass im Fall der Spannungsreduzierung von σ1 auf σ2 die Verformungsgeschwindigkeit unter den Wert der zugehörigen Verformungsgeschwindigkeit bei einer konstanten Spannungsbeanspruchung mit σ2 fällt. Dies zeigt, dass bei zeitabhängiger Verformung bei einer höheren Beanspruchung ( σ1 ) eine „härtere“ Struktur entwickelt wird, welche der Verformung einen höheren Widerstand entgegensetzt. Im Zeitpunkt der Beanspruchungsreduzierung bleibt diese Struktur erhalten, woraus sich eine zunächst niedrigere Verformungsrate als bei der gleichen Beanspruchung mit jedoch niedrigerer Beanspruchungsvorgeschichte ergibt. Bei Aufrechterhaltung dieser niedrigeren Beanspruchung ( σ2 ) erhöht sich jedoch mit zunehmender Ver-
186
5 Plastische Verformung
10-2
Kriechrate [1/s]
4,31 MPa
10-3
10-4
2,84 MPa 10-5 0
0,08
Kriechdehnung
0,16
0,24
Abb. 5.16 Transientes Kriechverhalten, verbunden mit Spannungsänderungen [331, 332]
formung die Verformungsrate wieder und läuft gegen den Wert der Verformungsgeschwindigkeit bei konstanter Beanspruchung mit σ2 . Wird daraufhin die Beanspruchung wieder von σ2 auf σ1 gesteigert, so ergibt sich aus der nun vorhandenen „weicheren“ Struktur eine gegenüber dem Fall mit konstanter Beanspruchung ( σ1 ) höhere Verformungsrate, welche sich im Verlauf einer weiteren Verformung wieder auf den Wert der Verformungsrate bei konstanter Beanspruchung σ1 absenkt. 5.4.3.2 Versetzungsstruktur Um einen Zusammenhang zwischen der Versetzungsbewegung und der makroskopisch erfassbaren Verformung herzustellen, wurde in 5.2.2.1 die Orowan-Glei· chung (5.8) verwendet, welche die Schergeschwindigkeit γ in Abhängigkeit von der Versetzungsdichte aller beweglichen Versetzungen ρ m und deren durchschnittlicher Geschwindigkeit v darstellt. Wird ein Kriechversuch betrachtet, so ändern sich die Beträge von ρ m und v infolge der Verformung und müssen daher als zeitabhängige Größen behandelt werden. Neben dieser Zeitabhängigkeit existiert jedoch auch noch eine Ortsabhängigkeit, wenn nicht die globale Verformung des gesamten Probekörpers, sondern eine lokale Verformungsrate betrachtet wird. Die makroskopisch beobachtete plastische Verformung ergibt sich aus einer hete-
5.4 Hochtemperaturplastizität
187
rogenen lokalen Abgleitung. Obwohl momentan noch keine durchgehende Theorie existiert, gibt es zahlreiche experimentelle Befunde, die zeigen, dass es zwischen der makroskopisch beobachteten Verformungsgeschwindigkeit und der über mikrostrukturanalytische Verfahren (TEM, SAED, EBSD) ermittelten Versetzungsstruktur einen Zusammenhang gibt. Nach dem momentanen Erkenntnisstand zur Entwicklung der Versetzungsstruktur bei der plastischen Verformung von Metallen bei erhöhten Temperaturen erhöht sich mit dem Beginn der plastischen Verformung zunächst die Gesamtversetzungsdichte. Durch die Wechselwirkungen zwischen den Versetzungen kann es zum Aufbau von Zellwänden mit geringem Orientierungsunterschied Θ kommen. Wird weiterhin von einem polykristallinen Werkstoff ausgegangen, in welchem die Fehlwinkel zwischen Körnern zwischen Θ = 10° - 62° betragen, so bilden sich innerhalb dieser Körner Subkörner aus, deren niedrig-energetische Korngrenzen durch die Versetzungswechselwirkungen während der Kriechverformung gebildet werden. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass die Fehlwinkel der Subkorngrenzen Θ ≤ 1° betragen. Aus der Bildung von Subkörnern folgt, dass die Mikrostruktur von polykristallinen Metallen nicht allein durch die durchschnittliche Korngröße, sondern für den Fall der Kriechverformung auch durch die durchschnittliche Subkorngröße λ , den durchschnittlichen Fehlwinkel der Subkorngrenzen Θ λ und die Dichte der nicht in den Subkorngrenzen befindlichen Versetzungen ρ f gekennzeichnet ist. 5.4.3.3 Mechanismencharakteristik der Verformungskinetik Wenn, wie in 5.4.1 dargestellt, die plastische Verformung eines Werkstoffs bei höheren Materialtemperaturen unter Wirkung einer konstanter Last hervorgerufen wird, so lässt sich experimentell in der Regel eine Verformungsreaktion beobachten, welche sich in drei Bereiche unterteilen lässt (vgl. Abb. 5.14). Nachdem der erste Bereich bzw. das primäre Kriechen, in welchem sich das Material durch Änderungen in der Versetzungsstruktur verfestigt, durchlaufen wurde, beginnt der zweite Bereich bzw. das sekundäre Kriechen bzw. das quasistatische Kriechen. In diesem Bereich kommt es zu keiner weiteren Materialverfestigung. Aufgrund der komplexen Vorgänge während der Strukturentwicklung im ersten Bereich ist es zweckmäßig, anstelle einer Gesamtbeschreibung eingeschränkte Beschreibungen bestimmter Verformungszustände anzufertigen. Anfang der 1950er Jahre wurde erkannt, dass die Charakterisierung des Kriechverhaltens über den Zusammenhang zwischen der quasistatischen Verformungskinetik und bestimmten Beanspruchungsparametern, wie Scherspannung τ und der Temperatur T , sehr nützlich ist. Auf der Basis dieser Zusammenhänge war es möglich, verschiedene Arten der plastischen Hochtemperaturverformung zu klassifizieren und diese über experimentell gestützte theoretische Betrachtungen zu werkstoffphysikalischen Grundmechanismen identifizieren zu können.
188
5 Plastische Verformung
Die Vorstellungen über bestimmte Grundmechanismen der Verformung und ihre Zuordnung zu bestimmten Werkstoffklassen waren eine elementare Voraussetzung, um überhaupt geeignete Methoden zur experimentellen Untersuchung der Hochtemperaturplastizität sowie Ansätze zur Modellierung des Verformungsverhaltens zu finden. Durch die vielfältigen gegenseitigen Abhängigkeiten der die Hochtemperaturverformung von metallischen Werkstoffen bestimmenden physikalischen Parameter, wie Spannung, Dehnungsgeschwindigkeit, Temperatur und Werkstoffstruktur, ergäbe sich für die Charakterisierung der Hochtemperaturverformung eines bestimmten Werkstoffes ein nahezu nicht beherrschbares Experimentalprogramm, lägen nicht Vorstellungen über das zu erwartende qualitative Verformungsverhalten vor. Für diese experimentelle Charakterisierungsaufgabe hat sich die Beschreibung der Verformungskinetik über drei Parameter etabliert die mechanische Spannung σ , die Temperatur T und einen Mikrostrukturparameter, wie z. B. die Korngröße d g , den Phasenabstand d λ oder die Größe von Ausscheidungen d p . Dazu wird üblicherweise der Betrag der quasistatischen Kriech· geschwindigkeit ε ss über folgende Beziehung bestimmt · A⋅D⋅G⋅b b p σ n εss = ---------------------------- ⋅ § -----· ⋅ § ----· , © d g¹ © G¹ k⋅T
(5.41)
wobei D dem Diffusionskoeffizienten entspricht (mit D = D 0 ⋅ exp ( – Q ⁄ RT ) . Q entspricht der Aktivierungsenergie, R ist die Gaskonstante und D 0 stellt die spezifische Diffusionsgeschwindigkeit dar, G der Schermodul bei der entsprechenden Temperatur T ist, b den Burgersvektor darstellt, k der Boltzmannkonstante entspricht und A ein dimensionsloser Vorfaktor ist. Die Charakteristik eines vorherrschenden Kriechmechanismus lässt sich anhand der beiden Exponenten ablesen, welche als inverser Korngrößenexponent p und als Spannungsexponent n bezeichnet werden. Da die Kriechverformung in der Regel mit spezifischen Diffusionsmechanismen verbunden ist, gibt die im Diffusionskoeffizienten D implizit enthaltene Aktivierungsenergie Q Auskunft über den der Kriechverformung zugrunde liegenden Mechanismus, wenngleich dieser Wert oft weniger eindeutig ist als die sehr charakteristischen Werte für p und n [247]. Im Gegensatz zur Niedertemperaturplastizität, die durch die Wechselwirkung der Versetzungsbewegung mit bestimmten Elementen der Werkstoffstruktur (z. B. Gitter, Korngrenzen) gekennzeichnet war, können bei der Hochtemperaturplastizität verschiedene Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen Elementen der Werkstoffstruktur (z. B. Gitter, Leerstellen, Versetzungen, Korngrenzen, Ausscheidungen) gleichzeitig auftreten und darüber hinaus kooperativ zusammenwirken, was eine eindeutige Zuordnung oft erschwert. In der Regel treten die mit einer Versetzungsbewegung verbundenen Mechanismen vor allem innerhalb einzelner Körner auf. Diese intergranularen Mechanismen repräsentieren häufig den Hauptmechanismus der Hochtemperaturverformung, wenn von üblichen Belastungsbedingungen ausgegangen wird. Unter besonderen Voraussetzungen kann jedoch auch ein Abgleiten einzelner Körner entlang ihrer Korngrenzen stattfinden. Ebenso
5.4 Hochtemperaturplastizität
189
Tabelle 5.1 Mechanismencharakteristik der Verformungskinetik bei hohen Temperaturen [247] Mechanismus
Q
p
n
Kornde- Korngrenz- Quelle formtion effekte
Intragranulare Versetzungsbewegungsmechanismen (Abgleiten von Kristallebenen) Versetzungsklettern
QV
0
4,5
ja
nein
[266]
Gleiten und Klettern von Versetzungen
QV
0
3
ja
nein
[267]
Haper-Dorn-Kriechen
QV
0
1
ja
nein
[268]
Korngrenzengleiten (Abgleiten verschiedener Körner gegeneinander) Korngrenzengleiten bei Kriechverformung
QV
1
3
nein
ja
[269]
Korngrenzengleiten bei Superplastizität
Q KG
2
2
nein
ja
[269]
Nabarro-Heering-Kriechen
QV
2
1
ja
ja
[262], [263]
Coble-Kriechen
Q KG
3
1
ja
ja
[264]
Diffusionskriechen
kann der Leerstellendiffusion eine dominante Rolle zukommen, wenn die homologen Materialtemperaturen zwar hoch, jedoch die mechanischen Beanspruchungen sehr niedrig sind. Tabelle 5.1 gibt einen kurzen Überblick über verschiedene Mechanismen mit den dazugehörigen charakteristischen Werten für Q , p und n sowie ihre Zuordnung zu intergranularen Versetzungsbewegungsmechanismen, Korngrenzengleiten und Diffusionskriechen.
5.4.3.4 Charakteristik intragranularer Versetzungsbewegungsmechanismen Als intragranulare Mechanismen werden solche verstanden, welche nur durch Wechselwirkung mit Strukturelementen entstehen, welche in der Strukturhierarchie (vgl. 3.2.1) unterhalb von Körnern angesiedelt sind. Die plastische Verformung der meisten ingenieurtechnisch verwendeten polykristallinen Werkstoffe lässt sich bei hohen Temperaturen sehr oft auf intragranulare Versetzungsbewegungen zurückführen, da diese in der Regel sehr große Körner besitzen. In Werkstoffen mit einer feinen Kornstruktur - wie sie aufgrund der allgemeinen Strukturabmessungen in elektronischen Aufbauten gewöhnlich vorkommen - können intragranulare Mechanismen dann von Bedeutung sein, wenn nur ein Korn bzw. wenige Körner über dem Querschnitt der Werkstoffstruktur zu finden sind, da diese dann wie einkristalline Materialien behandelt werden müssen. Nachdem Anfang der 1950er Jahre aus experimentellen Befunden klar geworden war, dass sich die plastische Verformung metallischer Werkstoffe bei erhöhten
190
5 Plastische Verformung
Temperaturen von der bei niedrigen Temperaturen unterscheidet [333], bestand das Bemühen, diese auch theoretisch nachvollziehen zu können. Die Aufgabenstellung einer solchen theoretischen Modellbetrachtung bestand grundlegend darin, zu erklären, wodurch es ohne Spannungssteigerung zu einem kontinuierlichen Abgleiten von Kristallebenen kam und weshalb die Geschwindigkeit dieses Abgleitvorganges mit einem Mechanismus zusammenhing, der selbst durch Prozesse der Festkörperdiffusion bestimmt war. In einem ersten theoretischen Modell ging Weertman [270] davon aus, dass sich Vesetzungsaufstauungen (pile-ups) an unbeweglichen Versetzungskonfigurationen (Lomer-Cottrell-Versetzungen) bilden, welche gleichmäßig im Kristall verteilt sind. Da die Existenz von Lomer-Cottrell-Versetzungen jedoch experimentell nicht bewiesen werden konnte, entwickelte Weertman [271, 272] eine modifizierte Variante dieses Modells, welche davon ausgeht, dass Versetzungsringe auf verschiedenen Gleitebenen von gleichmäßig verteilten Quellen (z. B. Frank-Read-Quellen) emittiert werden (siehe Abb. 5.17). Durch die Spannungsfelder um die Versetzungsringe entstehen verschiedene Wechselwirkungen, wenn zwei Ringe auf benachbarten Ebenen einander passieren wollen. Durch ihre Fähigkeit zum Quergleiten annihilieren sich passierende Schraubenversetzungssegmente, wenn diese ein unterschiedliches Vorzeichen aufweisen. Dieses Annihilieren der Schraubenversetzungssegmente blockiert wiederum die Bewegung der verbleibenden Stufenversetzungssegmente, welche sich infolgedessen aufstauen und dadurch eine Rückspannung erzeugen, die die Emission neuer Versetzungsringe zum Erliegen bringt. Im Modell wird nun angenommen, dass die äußersten Stufenversetzungssegmente der Versetzungsringaufstauung durch Kletterprozesse annihilieren, wodurch wiederum ein neuer Versetzungsring durch die Quelle emittiert werden kann. Unter der in 5.2.2.3 ausgeführten Annahme, dass kletternde Versetzungen je nach Richtung Leerstellen absorbieren bzw. generieren, entsteht eine vom Kletterprozess und damit von der Leerstellendiffusion abhängige Verformungskinetik mit einem Spannungsexponenten von n = 4,5 und einer Aktivierungsenergie, die der Volumendiffusion entspricht (Q = Qv). In späteren Versionen seines Modells modifiziert Weertman wiederum seine Vorstellungen über die Versetzungsanordnung, da experimentelle Beobachtungen keine Hinweise auf Versetzungsaufstauungen geben [252, 265]. Dies ändert jedoch nichts an der ermittelten Spannungsabhängigkeit der Verformungsrate mit n = 4,5. Diese kommt allerdings durch die Annahme einer konstanten und von der wirkenden Spannung unabhängigen Dichte von Versetzungsquellen zustande. Verwirft man diese experimentell nicht zu belegende Idee, so gelangt man zu den bereits in 5.2.2.3 ausführlich dargestellten Modellvorstellungen über einen kletterprozesskontrollierten quasistatischen Kriechprozess mit einem Spannungsexponenten von n = 3 und einer Aktivierungsenergie, die der Volumendiffusion Q V entspricht. Aufgrund der intragranularen Betrachtungsweise dieses Modells existiert keine Korngrößenabhängigkeit, d. h. der Korngrößenexponent p = 0. Ein anderer theoretischer Ansatz für intragranulare Versetzungsbewegungsmechanismen stützt sich auf die Bewegung von Schraubenversetzungen mit Sprün-
5.4 Hochtemperaturplastizität
191
Abb. 5.17 Modellvorstellung eines intergranularen Kletter- und Gleitprozesses nach Weertman [271]
gen. Die bekanntesten Arbeiten stammen dabei von Barett und Nix [273]. Ausgehend von der Annahme, dass Sprünge in Schraubenversetzungen, welche sich nicht innerhalb einer selben Gleitebene befinden, nur bewegt werden können, wenn Leerstellen emittiert werden, ergibt sich eine Erhöhung der Leerstellenkonzentration gegenüber der Gleichgewichtskonzentration in der Umgebung der Sprünge. Es wird weiterhin davon ausgegangen, dass die Rückstellkraft auf den Sprung gleich der wirkenden äußeren Kraft ist, woraus sich analog zu den Betrachtungen von Weertman (vgl. 5.2.2.3, Gleichung (5.15) - (5.22)) eine entsprechende Rate für das Klettern von Schraubenversetzungen berechnen lässt. Dadurch, dass die Abhängigkeit der Versetzungsdichte von Schraubenversetzungen mit der dritten Potenz angenommen wird, gelangt der Ansatz zu einem Spannungsexponenten von n = 4. Neuere Ansätze beruhen auf komplexeren Gleichungssystemen, welche die parallele Wirkung mehrerer Mechanismen unter Ausbildung spezifischer infolge plastischer Verformung entstehender werkstoffstruktureller Elemente, z. B. Versetzungsdipole, berücksichtigt. Für diese komplexen Ansätze ergeben sich jedoch nur nummerische Lösungen. Diese sagen Spannungsexponenten im Bereich von n = 3 ... 4 voraus [274, 275]. In einer Betrachtung einer großen Anzahl vorliegender Kriechdaten kommen Frost und Ashby in [33] zu dem Schluss, dass das theoretisch beschriebene Verformungsverhalten eher eine Ausnahme ist, da experimentell für die meisten Metalle und Legierungen ein charakteristischer Spannungsexponent zwischen n = 4…10 bestimmt wurde. In einer neueren Analyse jüngerer Kriechdaten von Al, Cu und Cr0,5Mo0,5V0,25-Stahl gelangt Wilshire [246] zu der Aussage, dass der Spannungsexponent bei mittleren Spannungen bei n ≥ 4 liegt. Blum [245] widerspricht jedoch der Anschauung, dass tatsächlich eine Diskrepanz zwischen der theoretischen Beschreibung und der experimentellen Charakterisierung des Kriechverhaltens vorliegt, indem eine nichtadäquate Versuchsführung als Ursache für die ermittelten Unterschiede verantwortlich gemacht wird. Dabei argumentiert er, dass der
192
5 Plastische Verformung
Zustand einer quasistatischen Kriechverformung, welcher allein durch ein Gleichgewicht zwischen der Generation und Annihilierung von Versetzungen gekennzeichnet ist, bei gleichzeitigem Auftreten dynamischer Rekristallisationsvorgänge, wie sie bei hohen Spannungen und Temperaturen vorkommen, nicht erreicht werden kann. Viele Modellmaterialien, wie z. B. Cu, Ni, Ag, neigen jedoch zu starken Rekristallisationserscheinungen. Eine Ausnahme bilden jedoch Al und α -Fe. Tatsächlich konnte ein Spannungsexponent von n = 3 an Aluminiumproben bei niedrigen Spannungen nachgewiesen werden [260, 261]. Ein zum theoretischen Ansatz adäquates Experiment verlangt seiner Ansicht nach die Aufrechterhaltung einer konstanten Versetzungsstruktur, was versuchsmethodisch jedoch sehr schwierig ist.
5.4.3.5 Charakteristik von Korngrenzgleitprozessen Beim Korngrenzengleiten, d. h. beim Abgleiten von Körnern gegeneinander, handelt es sich um einen Prozess, der auf einer hohen Ebene der Strukturhierarchie stattfindet. Um einen solchen Verformungsmechanismus unter Beibehaltung der allgemeinen Strukturintegrität eines Werkstoffes zu ermöglichen, sind jedoch begleitende Prozesse notwendig, welche von niedriger gestellten Elementen der Strukturhierarchie, z. B. Leerstellen und Versetzungen, getragen werden. Korngrenzgleitprozesse werden vor allem in Zusammenhang mit superplastischer Verformung von metallischen Werkstoffen diskutiert. Zum Erreichen sehr hoher Verformungsgrade (mehrere hundert bis tausend Prozent) müssen unter kontinuumsmechanischen Gesichtspunkten, z. B. bei der Betrachtung eines Zugversuches, besondere Bedingungen erfüllt werden. Dies lässt sich am einfachsten nachvollziehen, wenn der Zusammenhang zwischen der zeitabhängigen Probenverlängerung dl ⁄ dt und der bei einsetzender Kriechverformung der Probe zu erwarteten Versuchskraft F in einer vereinfachten impliziten Form aufgestellt wird: n dl ----- ⋅ 1 --- = C ⋅ § F ---· , © A¹ dt l
(5.42)
Hierbei entspricht l der Probenlänge, A dem Probenquerschnitt, C einer temperatur- und gefügeabhängigen Konstanten und n dem Spannungsexponenten. Wird in Gleichung (5.42) die erste Zeitableitung der Gleichung zur Berechnung des Probenvolumens eingesetzt (unter Annahme eines konstanten Probenvolumens während des gesamten Zugversuches) dl 1 ----- ⋅ 1 --- = – dA ------- ⋅ --- , dt l dt A
(5.43)
5.4 Hochtemperaturplastizität
193
so ergibt sich eine Beziehung für die Abhängigkeit der Querschnittsverjüngungsrate – d A ⁄ d t vom Probenquerschnitt A n (1 – n) dA – ------- = C ⋅ F ⋅ A dt
(5.44)
Aus Gleichung (5.44) kann abgeleitet werden, dass die auf Versetzungsgleiten und -klettern basierenden Verformungsmechanismen n ≥ 3 zu einer Beschleunigung der Verjüngungsrate bei abnehmendem Probenquerschnitt führen (d. h. selbstbeschleunigende Einschnürung), die um so stärker wird je höher n ist. Infolgedessen werden bei monotoner plastischer Verformung nur geringe Bruchdehnungen erreicht. Bei auf Diffusionsprozessen ( n = 1 , Coble- oder Nabarro-HerringKriechen) basierenden Verformungsmechanismen ist die Verjüngungsrate unabhängig vom Probenquerschnitt (d. h. stabile Einschnürung), wodurch sehr große Verformungen erzielt werden könnten. Allerdings sind die geringen Verformungsgeschwindigkeiten dieser Mechanismen irrelevant für die meisten technischen Belange. Bei Korngrenzgleitprozessen beträgt n = 2…3 . Hierdurch schreitet die Einschnürung zwar konstant fort, allerdings beschleunigt sich dieser Prozess kaum selbst. Dadurch sind größere Verformungen als bei auf Versetzungsgleiten und klettern basierenden Verformungsmechanismen möglich. Pearson [276] war einer der Ersten, der superplastische Verformung an speziell präparierten SnPb- und SnBi-Legierungen nachwies. Voraussetzung für das Zustandekommen superplastischer Verformung sind jedoch bestimmte Gefügemerkmale und Verformungsbedingungen [277], wie geringe Korngröße (d < 10 μm) und globulare Kornform, hohe Verformungstemperaturen T > 0,5 Ts und moderate Verformungsraten ε/ dt = 10-2 ... 10-6. Die der superplastischen Verformung zugrunde liegenden physikalischen Mechanismen sind zum Teil umstritten [278]. Viele Autoren gehen allerdings von Korngrenzengleiten und Korngrenzenmigration als den grundlegenden Mechanismen aus [45, 277, 279, 280], welche sich aufgrund der Größe von Körnern gut experimentell beobachten lassen. Das Prinzip des Korngrenzengleitens ist schematisch in Abb. 5.18 dargestellt. Die Verschiebung findet in allen drei Raumrichtungen (x, y, z) gleichzeitig statt. Der Spannungsvektor zeigt dabei entweder schräg zur Abgleitfläche (entsprechende Korngrenze) oder liegt in der Ebene dieser Fläche. In der Regel sind der Abgleitvektor a und der Spannungsvektor und die Raumwinkel θ, ϕ gegeneinander verdreht. Diese Verdrehung, welche für gleichzeitig ablaufende Einzelabgleitprozesse jeweils unterschiedlich ist, macht eine Modellbetrachtung des Korngrenzengleitens sehr schwierig. Die offensichtliche Komplexität von Korngrenzenabgleitmechanismen führt jedoch zu der These, dass dieser Prozess nur in Verbindung mit anderen Verformungsmechanismen stattfinden kann. Da reale polykristalline Materialien mannigfaltige Individualformen von Körnern aufweisen, ist der Abgleitprozess nur in Zusammenhang mit Prozessen der Korngrenzenmigration vorstellbar, welche wiederum Versetzungs- oder Leerstellenbewe-
194
5 Plastische Verformung
q
Korn 1
Korn 2
w
s
a
v
y
s
u
A
B
A
w
s B
Abb. 5.18 Schematische Darstellung eines Abgleitprozesses zwischen zwei Körnern, wobei a der Abgleitvektor zwischen Korn 1 und Korn 2 ist und u, v und w die Verschiebungen in x-, y- und zRichtung charakterisieren (aus [247]).
gungen voraussetzen. Vorstellungen über das Zusammenwirken von Leerstellenbewegung und Korngrenzengleiten sind schematisch in Abb. 5.19 dargestellt. Die linke Abbildung skizziert dabei den Fall für einen Werkstoff mit verhältnismäßig großen Körnern, welche eine Subkornbildung innerhalb des Korns erlauben. Die Bewegung von Versetzungen entlang der Korngrenze führt zu einem Aufstau am Tripelpunkt A. Die dadurch hervorgerufene Spannungskonzentration aktiviert die Versetzungsbewegung im Nachbarkorn. Diese führt zu intergranularen Mechanismen der Versetzungsbewegung, welche, wie in 5.4.3.4 beschrieben, durch Kletterprozesse bestimmt werden. Diese bestimmen wiederum die Geschwindigkeit des Abgleitens, sodass der Gesamtverformungsprozess durch einen Spannungsexponenten von n = 3 und eine Aktivierungsenergie, die der Volumendiffusion Q V entspricht, charakterisiert ist. Es existiert eine Korngrößenabhängigkeit mit p = 1. Wenn die Körner allerdings so klein werden, dass intragranulare Mechanismen nicht mehr zum Tragen kommen können, führt die durch den Versetzungsaufstau hervorgerufene Spannungskonzentration im Korngrenzentripel A zu einer Versetzungsaufstauung an der gegenüberliegenden Korngrenze in Punkt B (rechte Skizze in Abb. 5.19). Versetzungen dieser Aufstauung klettern in die Korngrenze. Dieser Mechanismus kontrolliert die Geschwindigkeit des Abgleitprozesses, welcher infolgedessen durch einen Spannungsexponenten von n = 2 und eine Aktivierungsenergie, die der Korngrenzendiffusion Q KG entspricht, charakterisiert ist. Es exis-
5.4 Hochtemperaturplastizität
d >l
d σ th konstant ist ( σ th = const. ), während es bei σ ≤ σ th zu einer Funktion σ' th = k ⋅ σ
σ ≤ σth
(5.56)
der angelegten äußeren Spannung σ wird. In diesem Fall erfolgt die Beschreibung des Kriechverhaltens teilchengehärteter Materialien für den Spannungsbereich σ ≤ σ th mit einer aus den Gleichungen (5.55) und (5.56) abgeleiteten Formulierung: σ n n Q · ε = A 3 ⋅ ( 1 – k ) ⋅ § ---· ⋅ exp § – --------- , © E¹ © k ⋅ T¹
(5.57)
wobei n wiederum einen Wert von ca. 4 annimmt und Q der Aktivierungsenergie für Selbstdiffusion der partikelfreien Metallmatrix entspricht. Auch für teilchengehärtete Lotwerkstoffe, wie z. B. SnAg4Cu0,5 [293], konnten bei Raumtemperatur unterhalb einer Spannung von σ = 6,5 MPa konstante Werte von n = 4,4 und Q = 88,4 KJ/mol (Q = 96.7 KJ/mol für Kriechen von β-Sn [294]) ermittelt werden, während oberhalb dieser Spannung (bei Anwendung von Gleichung (5.23)) sich der Wert des Spannungsexponenten bis auf n = 20 (bei σ = 25 MPa ) steigerte. Der Zweck der Einführung eines teilweise variablen (vgl. Gleichung (5.56)) Kriechfestigkeitsinkrements σ th besteht darin, die Wirkung der Mikrostruktur auf das Kriechverhalten über σ th = f ( Mikrostruktur ) darstellen zu können. Experimente haben gezeigt, dass der Wert von σ th sowohl mit dem Volumenanteil als auch mit der Größe und Form der harten Ausscheidungen korreliert [295-297]. Dabei besteht bei ausscheidungs- und teilchengehärteten Werkstoffen die Besonderheit, dass aufgrund von verformungsbedingten mikrostrukturellen Veränderungen des Werkstoffes unterschiedliche Werte von σ th bei verschiedenen Verformungsgraden zu beobachten sind [287, 298].
5.5 Wechselverformung 5.5.1 Merkmale In allen bisherigen Betrachtungen zur plastischen Verformung wurde immer eine Beanspruchung gewählt, welche entweder kontinuierlich gesteigert wurde (vgl. Abb. 4.1) bzw. über einen bestimmten Zeitraum konstant gehalten wurde (vgl. Abb. 5.14; Abb. 5.15). Die Möglichkeit, die Beanspruchungsrichtung umzukehren, um somit eine Deformation in entgegengesetzter Richtung zu erzielen,
202
5 Plastische Verformung
wurde von allen bisherigen Betrachtungen nicht berührt. Aufgrund ihrer vielfältigen Erscheinungsformen bei einsinniger Verformung ist die Phänomenologie einer plastischen Rückverformung bei weitem komplexer als die einer elastischen Rückverformung, welche sich sehr einfach als Übergang einer Federstreckung in eine Federstauchung vorstellen lässt. Hierbei steht vor allem die Frage im Vordergrund, wie die sich bei einsinniger Beanspruchung entstandene Versetzungsstruktur bei Gegenbeanspruchung weiterentwickelt. Analog zu dem in Abb. 4.1 dargestellten Versuch sollen die wesentlichen Merkmale der Werkstoffreaktion bei Wechselverformung anhand eines klassischen Wechselbeanspruchungsexperimentes mit einem einfachen Beanspruchungsprofil dargestellt werden. Die Beanspruchung, d. h. die Dehnungsänderung über der Zeit, wird dabei beginnend bei null (A) nur bis einem Wert gesteigert, welcher oberhalb der Fließgrenze εF , σF liegt (B), danach wird die Beanspruchung mit dem inversen Anstieg der bisherigen Dehnungs-Zeit-Gerade (zwischen A-B) wieder abgesenkt, sodass diese, nachdem sie die Abszisse geschnitten hat, bis zu Punkt C läuft. Der Ordinatenwert von C hat dabei den negativen Betrag von B. Von C aus wird die Beanspruchung mit dem Anstieg der ersten Dehnungs-Zeit-Geraden (zwischen A-B) bis zum Punkt D gesteigert, wobei wiederum die Abszisse geschnitten wird. Der Ordinatenwert von D entspricht dem von B (vgl. Abb. 5.21). Werden die in diesem Experiment ermittelten Spannungs- und Dehnungsverläufe in ein Spannungs-Dehnungs-Diagramm übereinander aufgetragen, so ergibt sich zunächst der in 5.1.1 besprochene und in Abb. 4.1 dargestellte Verlauf. Nach der Lastumkehr in Punkt B ergibt sich eine von dort beginnende Gerade mit dem Anstieg E0 (elastische Verformungsreaktion), die rechts vom Ursprung die Abszisse schneidet. Nachdem in Ordinatenrichtung ein charakteristischer Wert (beispielsweise 2 ⋅ σF ) durchlaufen wurde, beginnt sich der Anstieg, d. h. der s
s B
D
B, D
sF
A
A
t
e
-sF C
C
Abb. 5.21 Versuch mit zyklischer Dehnungsbeanspruchung in Form einer symmetrischen Dreiecksfunktion über der Zeit
5.5 Wechselverformung
203
Werkstoffwiderstand, gegen die Rückverformung abzusenken, da sich das Material in entgegengesetzter Richtung plastisch rückverformt. Nachdem in Punkt C eine Lastumkehr eingeleitet wurde, verformt sich das Material in entgegengesetzte Richtung wieder mit einem Anstieg E0 und schneidet links vom Ursprung die Abszisse. Nachdem in Ordinatenrichtung wiederum ein charakteristischer Wert (z. B. 2 ⋅ σF ) durchlaufen wurde, beginnt sich der Anstieg, d. h. der Werkstoffwiderstand, gegen die Rückverformung abzusenken, da sich das Material nun wieder in Vorwärtsrichtung plastisch zu verformen beginnt. Bei weiterer Verformung wird Punkt D erreicht, der abhängig vom zyklischen Verfestigungsverhalten (vgl. Abb. 5.23) mit Punkt B identisch sein kann, sodass der Verformungsverlauf des Werkstoffes im Spannungs-Dehnungs-Diagramm zwischen den Lastpunkten B und D eine Hysteresenform um den Ursprung beschreibt.
5.5.2 Beschreibung der Wechselverformung Im Gegensatz zum äquivalenten Versuch mit monotoner Belastung, welcher mit einer konstanten Dehnungsrate durchgeführt wird (vgl. 5.1.1 und Abb. 4.1), erhält man beim zyklischen Versuch keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Spannung und Dehnung, sondern eine Spannungs-Dehnungs-Hysterese, welche in ein auf vier Quadranten erweitertes Spannungs-Dehnungs-Diagramm aufgetragen wird (Abb. 5.22). Aus der Hysterese lassen sich bestimmte Werkstoffkennwerte direkt bestimmen. Der Elastizitätsmodul entspricht dem Anstieg der Spannungs-Dehnungs-Kurve direkt nach dem Lastumkehrpunkt. Die doppelte Gesamtdehnungs-
E
s
ε
Neukurve
t
Ds
Depl
e
De
Abb. 5.22 Spannungs-Dehnungs-Hysterese, Δσ = doppelte Spannungsamplitude,Δε = doppelte Dehnungsamplitude, Δεpl = doppelte plastische Dehnungsamplitude
204
5 Plastische Verformung
amplitude 2Δε = 2 ( Δε el + Δε pl ) , die der Werkstoff erfährt, entspricht dem Abstand der beiden Lastumkehrpunkte. Entsprechendes gilt für die Gesamtspannungsamplitude. Die reine plastische Dehnungsamplitude Δε pl ⁄ 2 ergibt sich aus der Hälfte der Strecke zwischen den beiden Schnittpunkten der Hysterese mit der Dehnungsachse. Dadurch lassen sich aus der Spannungs-Dehnungs-Hysterese
a) Zyklische Verfestigung
σ
ε
t
σ
ε
t
b) Zyklische Entfestigung
ε
σ
σ
c) Zyklische Relaxation
σ
ε
ε
t
t
t
σ
ε
t
d) Zyklisches Kriechen
σ
σ
ε
t
t
ε
Abb. 5.23 Mögliche Verformungsreaktionen infolge zyklischer Belastung in Abhängigkeit des Werkstofftyps und der Beanspruchungsart: a) zyklische Verfestigung, b) zyklische Entfestigung, c) zyklische Relaxation, d) zyklisches Kriechen [304, 312]
5.5 Wechselverformung
205
(Abb. 5.22) - im Gegensatz zur monotonen Spannungs-Dehnungs-Kurve (Abb. 5.8) - auch sehr kleine plastische Dehnungen sehr genau bestimmen. Beim zyklischen Aufbringen einer Dehnung in Form einer symmetrischen Dreiecksfunktion über der Zeit wird durch die Kombination der verschiedenen Beanspruchungsparameter (Dehnungsamplitude Δε ⁄ 2 , Periodendauer t p oder Frequenz f und Zyklenzahl N ) ein bestimmtes Aussehen der Verformungshysteresen in der Werkstoffreaktion erzeugt. Aus den Unterschieden zwischen diesen Hysteresen lassen sich weitere Eigenschaften bzw. Parameter des Werkstoffes ablesen. Eine Möglichkeit der Gestaltung zyklischer Verformungsexperimente besteht im Beibehalten von Dehnungsamplitude Δε ⁄ 2 und Periodendauer t p mit dem Ziel, die Veränderung der Hysterese über der Zyklenanzahl zu beobachten (Abb. 5.23). Dadurch lässt sich feststellen, ob sich ein Werkstoff bei Wechselbeanspruchung ver- oder entfestigt. Eine andere Gestaltungsmöglichkeit von Verformungsexperimenten mit zyklischer Beanspruchungsfunktion besteht in der Veränderung der Amplitude Δε ⁄ 2 unter Beibehaltung der Verschiebegeschwindigkeit. Dadurch erhält man die Darstellung des zyklischen Werkstoffverhaltens in Bezug auf mehrere Dehnungsamplituden, mit der die Hysteresen ermittelt wurden. In dem in Abb. 5.24 dargestellten Versuch werden dazu jeweils zwei Zyklen mit konstanter Amplitude durchgeführt und die Werkstoffreaktion aufgezeichnet. Im nächsten Schritt wird die Amplitude um das Inkrement ε i gesteigert und weitere zwei Zyklen mit konstanter Amplitude durchgeführt. Das Ausführen von zwei aufeinanderfolgenden identischen Dreiecksdehnungen ist erforderlich, da sich das Gedächtnis des Materials (vgl. 5.5.4) zu Beginn des ersten Zyklus in einem unbekannten Zustand befindet. Bei der Durchführung zweier aufeinanderfolgender identischer Belastungszyklen determiniert hingegen der erste Zyklus das Materialgedächtnis, wodurch der zweite Zyklus eine klar definierte Spannungs-DehnungsHysterese erzeugt. Im Ergebnis dieses Versuches entsteht ein Satz von Spannungs-
s ε
t
Abb. 5.24 Spannungs-Dehnungs-Hysteresen für unterschiedliche Amplituden [32]
e
206
5 Plastische Verformung
Dehnungs-Hysteresen. Durch Verbindung der Wendepunkte im ersten Quadranten ergibt sich eine eindeutige Spannungs-Dehnungs-Kurve, wie sie auch im Versuch mit monotoner Belastung und konstanter Dehnungsrate entsteht. Diese wird als Zyklische-Spannungs-Dehnungs-Kurve bezeichnet. Die Darstellung der Zyklischen-Spannungs-Dehnungs-Kurve wird sehr oft unter Abzug der elastischen Verformungsreaktion in der Form σ = f ( Δε pl ) vorgenommen. Bei der Charakterisierung eines Werkstoffes über eine Spannungs-Dehnungs-Kurve wird - wie beim Spannungs-Dehnungs-Diagramm - keine wesentliche Abhängigkeit der Verformung von der Zeit angenommen, d. h., es wird vom Auftreten niedertemperaturplastischer Verformungsmechanismen ausgegangen. Um die Dehnungsrateabhängigkeit, d. h. die Zeitabhängigkeit, der SpannungsDehnungs-Hysterese zu bestimmen, wird der Versuch mit zyklischer Dehnungsbeanspruchung einer symmetrischen Dreiecksfunktion über der Zeit unter Beibehaltung einer konstanten Amplitude mit veränderlicher Periodendauer ausgeführt (Abb. 5.25). Analog zur Versuchsvariante mit veränderlicher Amplitude werden jeweils zwei identische Zyklen pro Periodendauer ausgeführt. Zwischen diesen Doppelzyklen wird eine Relaxationsperiode durchgeführt, die die im Material verbleibenden Spannungen nach Beendigung zweier Zyklen abbauen sollen. Bleibende Spannungen, welche beim direkten Übergang von einer zur nächsten Periodendauer auftreten, führen zwar nicht zu einer Verfälschung der Messung, in Einzelfällen können jedoch die dadurch entstehenden asymmetrischen Hysteresen nur schlecht ausgewertet werden, da sie von einer Materialrelaxation überlagert werden, da die Dehnungsrateabhängigkeit der Spannungs-Dehnungs-Hysteresen vor allem auf Kriechprozesse zurückzuführen ist. Die soeben beschriebene Versuchsvariante mit sich zyklisch wiederholender Dreiecksdehnung unterschiedlicher Periodendauern korrespondiert - bezogen auf Experimente monotoner Belastung mit Experimentalreihen von Zugversuchen, welche mit verschiedenen konstanten Dehnungsraten durchgeführt wurden.
σ
ε
t
t3 t2
tRELAX
tRELAX 2.t1
t1
tRELAX 2.t2
2.t3
Abb. 5.25 Spannungs-Dehnungs-Hysteresen für verschiedene Dehnungsraten
ε
5.5 Wechselverformung
207
5.5.3 Mechanismencharakteristik bei Wechselverformung
5.5.3.1 Verformungsreaktion bei zyklischer Beanspruchung Um die Besonderheiten der elementaren werkstoffphysikalischen Mechanismen der Wechselverformung geeignet darzustellen, soll zunächst der phänomenologische Zusammenhang zwischen Versagen und Beanspruchung betrachtet werden. In Abb. 5.26 ist das Werkstoffversagen bei einsinniger und bei sich zyklisch wiederholender Wechselbeanspruchung gegenübergestellt. Wie in den Abschnitten 5.3.1.1 und 5.3.1.2 angeführt, ist die Verfestigung bei plastischer Verformung infolge einsinniger Beanspruchung durch Elementarprozesse der Versetzungsvervielfachung gekennzeichnet. Durch diese Versetzungsmultiplikation entsteht eine immer höhere Anzahl von auf verschiedenen Ebenen abgleitenden Versetzungen, welche aufgrund ihrer steigenden Dichte im Kristall sich in ihrer Abgleitbewegung zunehmend zu blockieren beginnen. Das mit zunehmender Verformung steigende Spannungsniveau (sowohl global über der Probe als auch lokal zwischen Versetzungen) führt im Zusammenhang mit der sich ausbildenden Versetzungsstruktur je nach Verformungsbedingungen zu verschiedenen ein Versagen des Werkstoffes hervorrufenden Mechanismen, wie dem Aufreißen zwischenatomarer Bindungen (vgl. 3.2.2.1) durch starke Zugspannungen, dem Lunker- bzw. Porenwachstum und der Hohlraumbildung im Werkstoffinneren bzw. der Kerbbildung an der Werkstoffoberfläche. Im Spannungs-Dehnungs-Diagramm (Abb. 5.26) wird das Einsetzen dieser Versagensmechanismen durch ein scheinbares Abflachen des Werkstoffwiderstandes bei zunehmender Verformung gekennzeichnet. Wie aus den Entlastungskurven (E3 gegenüber E2) hervorgeht, ist dieses Abflachen jedoch auf eine Verringerung des effektiven Probenquerschnittes durch Versagensmechanismen zurückzuführen [299]. Bei sich zyklisch wiederholender Wechselbeanspruchung tritt Werkstoffversagen auf, auch wenn die Dehnungsbeanspruchung innerhalb eines einzelnen Zyklus so niedrig ist, dass sie bei einsinniger Beanspruchung noch nicht zum Versagen geführt hätte (entspricht Beanspruchung bei Fall 2 in Abb. 5.26). Versagen infolge Wechselbeanspruchung kann in Abhängigkeit vom Werkstoff sogar dann auftreten, wenn global, d. h. über der gesamten Probenlänge, eine rein elastische Verformung vorgenommen wird. Es gibt jedoch auch sogenannte dauerfeste Werkstoffe, die unter einer zyklischen elastischen Beanspruchung nicht zum Versagen neigen (entspricht Fall 4 in Abb. 5.26). Das Auftreten von Versagensmechanismen bei Spannungsniveaus, die signifikant unterhalb der Streckgrenze liegen, hängt mit den Besonderheiten der sich bei zyklischer Wechselbeanspruchung ausbildenden Versetzungsstrukturen zusammen, durch die stark lokalisierte plastische Verformungsreaktionen hervorgerufen werden können, welche pro Zyklus zwar nur zu einer geringen, z. T. kaum nachweisbaren Schädigung des Werkstoffes führen, die sich in kumulativer Weise jedoch zu einem Wert steigern, bei dem dann ein vollständiges Werkstoffversagen auftritt.
208
5 Plastische Verformung
5.5.3.2 Versetzungsanordnungen bei zyklischer Beanspruchung Im Ergebnis zahlreicher Untersuchungen an einkristallinen Werkstoffen mit einem kubisch-flächenzentrierten Kristallgitter [299-310] konnten verschiedene Formen der Versetzungsanordnung bei eingeschwungener Werkstoffreaktion ermittelt werden. Die schematische Darstellung in Abb. 5.27 verdeutlicht das Auftreten der verschiedenen Formen von Versetzungsanordnungen in Abhängigkeit von der zyklischen Dehnungsamplitude (bzw. Lastwechselzahl) und dem Gleitcharakter im jeweiligen Werkstoff. Für das Verständnis der weiteren Beschreibungen zu den Versetzungsanordnungen ist es in Bezug auf die Vorstellungen bei einsinniger Beanspruchung wichtig, wahrzunehmen, dass die Verformungen, welche im linken Teil des Diagramms in Abb. 5.27 erreicht werden, so klein sind –5 ( Δε pl < 10 ) , dass sie bei einer plastischen Verformung infolge einsinniger Beanspruchung in der Regel nicht betrachtet werden. Bei diesen sehr kleinen Verformungen führen Versetzungsbewegungen als auch die Wechselwirkung zwischen verschiedenen Versetzungen bzw. zwischen Versetzungen und Hindernissen wie Korngrenzen und Fremdphasen zu Veränderungen in der Mikrostruktur, so dass infolge einer zyklischen plastischen Wechselverformung typische Arten bestimmer Mikrostrukturänderungen hervorgerufen werden. Eine Art der Mikrostrukturänderung, welche aus einer stabilen Versetzungsanordnung resultiert, besteht in der Bildung persistente Gleitbänder. Durch sie wird eine Konzentration der plastischen Verformung auf bestimmte Materialgebiete hervorgerufen, da die Versetzungsbewegung hauptsächlich innerhalb dieser Gleitbänder stattfindet. Persistente Gleitbänder wurden vor allem in kfz-Metallen, wie Cu
s
s s
Ds
e
2
m3
2
1
m2
m1
Bruch
2
e
3
4
2 3 4
m4 > m3 > m2 > m1
e
a)
e
1
4
m4
s
e
1 3
s
10
4
10
5
10
6
10
7
10
8
NB
b)
Abb. 5.26 Zusammenhang von Versagen und Beanspruchung bei a) einsinniger und b) sich zyklisch wiederholender Beanspruchung. Bild a) zeigt eine Spannungs-Dehnungs-Kurve. Bild b) zeigt den Verlauf der Spannungsamplitude der Spannungs-Dehnungs-Hysterese über der Zyklenzahl.
5.5 Wechselverformung
209
wellige Gleitung planare Gleitung
Stapelfehlerenergie
oder Ni, beobachtet und waren dort in der Regel parallel zur Ebene dichtester Packung ausgerichtet [305-307]. Sie bilden sich jedoch nur dann aus, wenn eine zyklische plastische Wechselverformung mit sehr geringen Amplituden auftritt. Eine andere Art der Mikrostrukturänderung, welche ebenfalls aus einer stabilen Versetzungsanordnung resultiert, besteht in der Bildung von Versetzungszellstrukturen, die im fortschreitenden Stadium zu Subkorngrenzen führen können, wie sie auch für die Kristallerholung typisch sind [308-310]. Versetzungszellen sind dreidimensionale Gebilde. Sie bilden sich dann aus, wenn eine zyklische plastische Wechselverformung mit sehr großen Amplituden auftritt. Die Ausbildung von Versetzungszellen bzw. Subkörnern wurde vor allem bei erhöhten Temperaturen bzw. bei Werkstoffen mit großer Stapelfehlerenergie in Zusammenhang mit sogenannter welliger Gleitung beobachtet. Form und Größe der Versetzungszellen bzw. Subkörner sind vor allem von der Amplitude der plastischen Wechselverformung, der Temperatur, der Anzahl der Wechselverformungszyklen als auch von den Wechelwirkungen mit Korngrenzen und Fremdphasen abhängig [311]. So geht aus [312] beispielsweise hervor, dass die Zellgröße mit zunehmender Dehnungsamplitude sinkt. Die Folge der Bildung von Versetzungszellen ist, dass sich - vergleichbar zur Kristallerholung vor dem Einsetzen von Rekristallisationsprozessen (vgl. 3.5.2.1) Versetzungen annihilieren als auch sich innerhalb von Versetzungszellgrenzen bzw. Subkorngrenzen energetisch günstig anordnen [305, 306]. Wenn die Versetzungsdichte innerhalb der Versetzungszellen sinkt, ergeben sich für die noch vor-
Versetzungszellen Aderstrukturen, Dipole, persistente Gleitbänder
Gemischte Strukturen Planare Anordnungen, Versetzungsgruppen
10
5
10
6
7
10 Bruchlastspielzahl N B
plastische Dehnungsamplitude Δεpl
Abb. 5.27 Schematische Übersicht der Versetzungsanordnung von kubisch-flächenzentrierten Metallen bei Ermüdungsversuchen [299]
210
5 Plastische Verformung
handenen frei beweglichen Versetzungen größere freie Weglängen, welche wiederum zu einem geringeren Widerstand gegen plastische Verformung führen. Hieraus ergibt sich eine zyklische Entfestigung des Materials, die nicht auf die Bildung von Mikrorissen oder Poren im Material zurückzuführen ist [305, 313].
5.5.3.3 Aufbau von Subkörnern Metallische Werkstoffe mit mittlerer und höherer Stapelfehlerenergie zeigen schon bei geringen Anfangsverformungen eine ausgeprägte Neigung zur Vielfachgleitung, d. h., neben dem primären Gleitsystem sind auch eine Reihe sekundärer Gleitsysteme aktiviert. Aufgrund der Wechselwirkung zwischen diesen sich auf kreuzenden Gleitebenen bewegenden Versetzungen kommt es zur Ausbildung von Versetzungszellstrukturen, die bei steigender Verformung zunehmen und dann Subkorngrenzen bilden können. Die Unterscheidung zwischen Versetzungszellwänden und Subkorngrenzen ergibt sich aus dem geometrischen Arrangement der Versetzungen. Der Terminus Versetzungszellwände wird im Allgemeinen dann gebraucht, wenn die Grenze Dipole oder Multipole enthält, welche sich ausbilden, wenn sich Stufenversetzungen entgegengesetzten Vorzeichens auf naheliegenden parallelen Ebenen (ca. 20 ... 30 nm) anordnen, jedoch im Unterschied zu quergleitfähigen Schraubenversetzungen sich nicht annihilieren können. Hierdurch haben Versetzungszellwände eine bestimmte räumliche Ausdehnung senkrecht zur Grenzfläche, d. h. eine Dicke. Bei Subkorngrenzen handelt es sich hingegen um Kleinwinkelkorngrenzen (vgl. 3.2.3.4), d. h. um Versetzungsnetzwerke ohne Dipole. Bei zunehmender Verformung kommt es zur Aufstauung von immer mehr Dipolen in den Versetzungszellwänden und damit zur Erhöhnung der Versetzungsdichte, wodurch zunehmend Prozesse der dynamischen Erholung einsetzen, wodurch die Zellwände der Versetzungszellen immer schärfer werden und zunehmend einen Subkorngrenzencharakter einnehmen. Eine andere Form der Umwandlung von Versetzungszellwänden in Subkorngrenzen tritt bei thermischer Aktivierung auf, da hierdurch Dipole annihilieren können und nur geometrische Versetzungen übrig bleiben, die einen bestimmten Missorientierungswinkel zwischen benachbarten Subkörnern hervorrufen. Durch die Umwandlung von Versetzungszellwänden in Subkorngrenzen sinkt der relative Anteil von Dipolen in den Grenzen (zu Beginn nahe 100%) gegen null. Bei höheren homologen Materialtemperaturen erhöht sich der Subkorngrenzencharakter der Zellwände mit zunehmender Verformung, bis der Zustand einer quasistatischen Kriechverformung erreicht wird. Versetzungszellwände sind daher eher typisch für Niedrigtemperaturplastizität, welche durch eine permanente Verfestigung gekennzeichnet ist, während Subkorngrenzen vor allem bei Hochtemperaturverformung ausgebildet werden, wenn sich ein eingeschwungener Verformungszustand, d. h. keine Verfestigung, einstellt [141, 251, 259, 314].
5.5 Wechselverformung
211
5.5.4 Materialgedächtniseffekte
5.5.4.1 Der Bauschinger-Effekt Im vorhergehenden Abschnitt konzentrierte sich die Beschreibung verschiedener Versuchsvarianten zur Ermittlung der Spannungs-Dehnungs-Hysterese zunächst auf einen Vergleich zu äquivalenten Versuchen mit monotoner Belastung. Neben solchen Parametern, die sich sowohl aus monotonen Versuchen als auch aus reversiblen Versuchen bestimmen lassen, liefern letztere noch zusätzliche Aussagen über die Verformungsreaktion von Werkstoffen. Ein wichtiges Phänomen ist dabei das Materialgedächtnis. Erfährt ein Material zunächst eine Zugbeanspruchung (Abb. 5.28) bis in den Bereich der plastischen Verformung (Punkt B), so erfolgt die nachfolgende Entlastung zunächst so lange elastisch, bis eine plastische Rückverformung einsetzt (Punkt C). Dabei ist die Elastizitätsgrenze für das Einsetzen plastischer Rückverformung erniedrigt. Dieser Effekt wird nach seinem Entdecker [315] als Bauschinger-Effekt bezeichnet. Bei erneuter Zugbeanspruchung über den Punkt B hinaus folgt das Material jedoch nicht der erwarteten gestrichelten Kurve, sondern erinnert sich an die Vorverformung und verformt sich entlang der Linie, die ohne Entlastung beschritten worden wäre. Diese scheinbare Fähigkeit des Werkstoffs, sich den bisher durchlaufenen Spannungs-Dehnungs-Pfad zu merken, wird als Materialgedächtnis bezeichnet. s
s B D
B, D
C
E
C
A
A
t
e
Abb. 5.28 Materialgedächtnis und Bauschinger-Effekt (adaptiert aus [32])
5.5.4.2 Lastwechseleffekte Alle bisherigen Betrachtungen bezogen sich vor allem auf stetige Beanspruchungsänderungen und ließen den Fall einer sprunghaften Beanspruchungsände-
212
5 Plastische Verformung
rung weitestgehend unbetrachtet. Obwohl sprunghafte Beanspruchungsänderungen sich nicht notwendigerweise aus typischen Feldbelastungen ergeben, sind diese sehr nützlich, um typische Charakteristika des transienten Verformungsverhaltens, d. h. der Übergangsreaktion, zu erhalten [141, 252, 259]. Grundsätzlich lässt sich jede Sprungantwort in folgende drei Anteile zerlegen: • Eine instantan einsetzende elastische Verformungsreaktion, welche aufgrund des in 4.2.1 beschriebenen Mechanismus der Gitterverzerrung direkt an jede Änderung der Spannung gekoppelt ist. • Eine anelastische Reaktion, welche bei einer Spannungsreduktion mit einer Rückbewegung der sich an Hindernissen aufgestauten bzw. durchgebogenen Versetzungssegmente verbunden ist und damit zu einer Relaxation weitreichender innerer Rückspannungen führt oder welche bei einer Spannungserhöhung zu einer Vorwärtsbewegung, d. h. einer stärkeren Durchbiegung der an Hindernissen aufgestauten Versetzungssegmente, und damit zu einem Aufbau der weitreichenden inneren Rückspannungen führt. • Eine plastische Verformungsreaktion, welche einer Versetzungsbewegung bei der wirkenden Spannung entspricht, welche zusätzlich zur anelastischen Reaktion stattfindet. Es ist schwierig, deutlich zwischen den beiden Arten nichtelastischer Verformung zu unterscheiden. Allerdings findet die anelastische Reaktion in der Regel in einem kurzen Zeitraum nach dem Spannungssprung statt, während die plastische Reaktion unabhängig von der verstrichenen Zeit nach dem Sprung ist und nur von der Höhe der wirkenden Spannung abhängt. Sind die aufgebrachten Spannungsreduktionen klein, so ist in der Regel zu beobachten, dass sich die plastische Verformung mit verringerter Geschwindigkeit fortsetzt, ohne dass sich anelastische Rückverformungen im Zeit-Dehnungs-Verlauf bemerkbar machen. Haben die aufgebrachten Spannungsreduktionen hingegen einen beträchtlichen Betrag, wird die weitere Verformung nach dem Spannungssprung zunächst von anelastischen Rückverformungen dominiert und die Verformungsgeschwindigkeit ändert das Vorzeichen. Diese Rückverformung ist eine Folge der weitreichenden, während der vorangegangenen Verformung aufgebauten inneren Rückspannungen. Es existieren vielfältige Anstrengungen, den Betrag der inneren Rückspannung zu bestimmen, welche vor allem zum sogenannten Dip-Test geführt haben. Hierbei wird versucht, den Betrag der Spannungsreduktion so zu wählen, dass die durch die wirkende Spannung verursachte Vorwärtsbewegung von Versetzungen genau durch die durch Rückspannung verursachte Rückwärtsbewegung ausgeglichen wird, sodass die globale Verformungsgeschwindigkeit null ist. Jedoch haben eine Reihe von Untersuchungen gezeigt, dass die experimentelle Bestimmung der inneren Rückspannung ein sehr komplexes und experimentell sehr schwierig zu beherrschendes Thema ist [252]. Trotz dieser Komplikationen liefert der Spannungsreduktionstest wichtige Hinweise zur Abschätzung der inneren Rückspannung [141].
6.1 Technische Ursachen von Ausfällen
213
6 Schädigung 6.1 Technische Ursachen von Ausfällen Das Versagen einer mechanisch funktionellen Struktur zeigt sich phänomenologisch durch einen Bruch, welcher die jeweilige Struktur in mindestens zwei nicht mehr miteinander verbundene Bereiche teilt. Diese für einen (mechanischen) Ausfall charakteristische makroskopisch beobachtbare Erscheinung des Bruches ist allerdings nur der Endzustand, welchem üblicherweise eine weniger sichtbare kontinuierliche Schädigung des Werkstoffes vorausgeht. Bevor die physikalischen Einzelmechanismen dieser Schädigung als auch die Methoden ihrer Beurteilung bzw. Berechnung beschrieben werden, soll zuvor kurz auf den Zusammenhang zwischen den Ausfällen und der Zuverlässigkeit eines technischen Systems eingegangen werden, da es für die Einordnung der verschiedenen Konzepte zur theoretischen Analyse von Schädigungsvorgängen notwendig ist, zunächst die Beziehungen der einzelnen Termini untereinander deutlich zu machen und voneinander abzugrenzen. Der Begriff der Zuverlässigkeit eines technischen Systems bezeichnet die Eigenschaft, eine bestimmte Funktion fehlerfrei unter definierten Bedingungen über einen festgelegten Zeitraum zu erfüllen. Unter dem Oberbegriff der Zuverlässigkeit sind verschiedene technische Kennwerte definiert, welche die Zeitperiode angeben, in der ein Bauelement, eine Baugruppe oder ein Gerät mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit einwandfrei funktioniert. Das Problem des Begriffes der Zuverlässigkeit eines technischen Systems ist, dass dieser eine Eigenschaft kennzeichnet, die sich nicht direkt untersuchen bzw. beschreiben lässt. Um die Zuverlässigkeit beschreiben zu können, ist es notwendig, ihre Komplementärgröße, die Unzuverlässigkeit bzw. den Ausfall zu beschreiben bzw. zu untersuchen. In dieser Weise ist die nichtmessbare Eigenschaft Zuverlässigkeit an das erfassbare Ereignis eines Ausfalls gebunden. In umgekehrter Richtung gilt diese Beziehung jedoch nicht. Zum Verständnis der Beziehung zwischen den Begriffen Zuverlässigkeit und Ausfall der Zuverlässigkeit ist es zweckmäßig, den Begriff der Zuverlässigkeit eines technischen Systems von dem der Qualität zu unterscheiden (vgl. Tabelle 6.1). Diese klare Trennung von Zuverlässigkeit und Qualität wird in der Fachliteratur nicht immer vollzogen, da beide Aspekte die Lebensdauer eines Produktes in gleicher Weise beeinflussen. Die Qualitäts- und Zuverlässigkeitssicherung komplexer elektronischer Systeme erfordert eine Reihe von Aktivitäten während der Entwicklungs- und Produktionsphase. Zu diesen gehören u. a. die Berechnung der Betriebsfestigkeit, die Durchführung von Analysen und Prüfungen, die Wahl und Qualifikation von Bauteilen und Materialien, eine Dokumentation der Fertigungsschritte, eine Beurteilung der Eignung der Fertigungsverfahren für das angestrebte Produkt und eine Überprüfung von Fertigungstoleranzen während der laufenden Produktion. Wäh-
214
6 Schädigung
rend die Qualitätsarbeit darauf ausgerichtet ist, Konformität zu getroffenen Spezifikationen zu erreichen und die Stabilität des Fertigungsprozesses zu verbessern, zielt die Zuverlässigkeitsarbeit darauf ab, die fehlerfreie Funktion eines Produktes für definierte Umgebungsbedingungen abzusichern. Dabei beziehen sich Zuverlässigkeitsbetrachtungen oftmals auf ein noch zu entwickelndes Produkt und gehen davon aus, dass dieses ein Idealprodukt ist, welches in höchster Qualität und ohne strukturelle Mängel gefertigt wurde. Tabelle 6.1 Ziele und Methoden in den Bereichen Qualität und Zuverlässigkeit zur Vermeidung von Ausfällen in technischen Erzeugnissen während einer von der Anwendung geforderten Mindestlebensdauer Qualität
Zuverlässigkeit
-Eingangskontrolle
-Design
-Prozesskontrolle
-Werkstoffauswahl
-Prozessverifikation
-Last- und Feldbedingungen
-Technologieoptimierung
-Ausfallmechanismen
-Konformitätsprüfung
-Transformationsgleichungen
-Akzeptanzkriterien
-Lebensdauerprognosen
Für die Einordnung bestimmter Arten von Ausfallen zu zuverlässigkeitsrelevanten und zuverlässigkeitsirrelevanten Typen ist es notwendig, ihre Ursachen genau zu betrachten. Für die Beantwortung der Frage, warum es im Laufe der Geschichte in technischen Anlagen und Geräten immer wieder zu zum Teil in ihrer Auswirkung sehr katastrophalen Ausfällen kam, konnten aus den historisch gesammelten Erfahrungen in [334] zwei wichtige Ursachen ausgemacht werden: (1) Nachlässigkeiten während der Entwurfs-, Konstruktions- und Fertigungsphase oder der Nutzung einer technischen Anlage, d. h., durch Berechnungsfehler, Fabrikationsmängel oder Überlasten bei Fehlbedienung kommt es zum Ausfall eines strukturellen Elementes der Anlage. (2) Verwendung neuer Materialien oder Technologien, wodurch unerwartete (unerwünschte), nicht vorhersehbare Effekte hervorgerufen werden. Zwischen diesen beiden Arten von Ursachen ist bei der angestrebten Vermeidung von Ausfällen grundsätzlich zu unterscheiden. Beide enthalten sowohl zuverlässigkeitsrelevante als auch qualitätsrelevante Aspekte. Die im ersten Fall zusammengefassten Fehler kommen, wenn sie nicht durch eine mangelnde Qualifikation bzw. Nachlässigkeit der Nutzer (Qualitätsproblem) bzw. durch eine Fehleinschätzung von potenziellen Umweltbelastungen hervorgerufen werden (kein den Werkstoff betreffendes Problem), vor allem durch eine unsachgemäße Anwendung von Rechenmethoden und Bewertungskriterien zustande. Letzteres hängt in der Regel
6.2 Materialphysik der Schädigung
215
mit unzureichenden Vorstellungen über die vielfältigen Wege zusammen, auf denen ein Fehler im Werkstoff entstehen kann. Die dem zweiten Fall zugeordneten Fehlermöglichkeiten lassen sich wesentlich schwieriger verhindern, da die Verwendung neuer Materialien oder Technologien neue unbekannte Fehlermechanismen hervorrufen kann, die beim Entwurf nicht vorhersehbar waren. In der Regel treten bei der Einführung neuer Werkstoffe oder Technologien aus Mangel an Erfahrung in nicht unbeträchtlichem Umfang Qualitätsprobleme während der Fertigung auf. Methodisch ist die Bewältigung solcher Probleme vor allem an Technologieoptimierungen gebunden, in denen stabile Werkstoffkombinationen zusammen mit dafür geeigneten Fertigungsverfahren gesucht werden müssen, um unvorhersehbare werkstoffphysikalische Mechanismen der Materialschwächung weitestgehend zu unterdrücken. Dies wird zweckmäßigerweise am schnellsten über die experimentellen Methoden der physikalischen Fehleranalyse erreicht. Zwar existieren für verschiedene prominente werkstoffphysikalische Schädigungsmechanismen entsprechende theoretische Berechnungsmodelle. Allerdings können diese in der Regel erst dann nutzbringend angewendet werden, wenn eine entsprechend breite Basis experimenteller Befunde vorhanden ist.
6.2 Materialphysik der Schädigung 6.2.1 Problematik der Ursacheninterferenz Aufgrund der hohen Komplexität der verschiedene Schädigungen hervorrufenden Prozesse kommt es selbst bei scheinbar überschaubaren Verhältnissen immer wieder zu Überraschungen, wodurch eine deterministische Gesamtmethodik zur Bewertung oder Berechnung zuverlässigkeitsrelevanter Schädigungsprozesse technischer Systeme unmöglich ist. Bei der Darstellung der verschiedenen einer Schädigung zugrunde liegenden Mechanismen sollen daher zunächst einige der für die Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik häufig auftretenden nichtmechanischen Degradationsvorgänge in metallischen Strukturen kurz umrissen werden, bevor dann auf typische mechanische Mechanismen der Schädigung eingegangen wird und die wichtigsten damit verbundenen Möglichkeiten sowie die Methoden, mit denen der Grad der Schädigung berechnet werden kann, dargestellt werden. Die werkstoffphysikalisch technischen Ursachen von Ausfällen in elektronischen Aufbauten sind sehr vielfältig und umfassen mehr Faktoren als die in 2.4 innerhalb der thermisch-mechanischen Problematik beschriebenen Mechanismen. Sehr oft hängen diese von den spezifisch zum Einsatz gebrachten Werkstoffkombinationen, Montagetechnologien, Bauelementen bzw. Verdrahtungsträgern ab. Auch die sich später aus den konkreten Feldbedingungen ergebenden Lastbedingungen haben großen Einfluss auf das Auftreten bestimmter Ausfälle. Es ist unmöglich, hierfür eine allgemeine Klassifizierung vorzunehmen - dafür ist die
216
6 Schädigung
Zahl der verschiedenen möglichen Schädigungsmechanismen zu groß. Nachfolgend sollen daher eine Auswahl der wichtigsten in elektronischen Aufbauten auftretenden nichtmechanischen werkstoffphysikalischen Schädigungsmechanismen kurz mit den ihnen zugrunde liegenden Wirkmechanismen dargestellt werden.
6.2.2 Wichtige nichtmechanische Schädigungsmechanismen Die Schädigungsproblematik in elektronischen Aufbauten ist sehr viel komplexer als die klassischer Schädigungsszenarien im Anlagen-, Fahrzeug- oder Maschinenbau. Eine Ursache dieser Komplexität besteht in der paritätischen Kombination von metallischen, keramischen und polymeren Werkstoffen, welche eine Reihe problematischer Grenzflächen nach sich zieht und aufgrund des qualitativ unterschiedlichen mechanischen Verhaltens dieser Werkstoffgruppen auch immer zu thermisch induzierten mechanischen Spannungen führt, welche oft Auslöser für die Aktivierung anderer nichtmechanischer Mechanismen sind. Ein anderer Grund ergibt sich aus der zahlreichen Verwendung verschiedener chemischer Prozesse bei der Herstellung elektronischer Aufbauten. In Kombination mit den während des Betriebes vorhandenen elektrischen Potenzialfeldern führen die aus diesen Prozessen stammenden Rückstände oft zu schwer vorhersehbaren elektrochemischen Reaktionen in verschiedenen Strukturen des Aufbaus. In Zusammenhang mit den für die eingesetzten Werkstoffe oft hohen homologen Temperaturen im Betrieb ergeben sich darüber hinaus nicht unbeträchtliche Möglichkeiten für Stofftransportprozesse. Insgesamt lässt sich die Vielzahl der verschiedenen in elektronischen Aufbauten ablaufenden Schädigungsmechanismen kaum überblicken. Im Schema in Abb. 6.1 wird ein grober Überblick über die verschiedenen grundlegenden Triebkräfte und ihre bevorzugten Wirkungsorte in elektronischen Aufbauten gegeben. Bei katastrophalen Ausfällen aufgrund eines spezifischen Mechanismus ist es oft nicht leicht, diesen in seiner Ursache-Wirkung-Kette zurückzuverfolgen. Manchmal haben geringfügige Änderungen, z. B. bei den in der Produktion eingesetzten Hilfsstoffen, langfristig verheerende Auswirkungen auf die Zuverlässigkeit. Jedoch gibt es bestimmte Erscheinungen, die besonders häufige nichtmechanische Ursachen katastrophaler Schäden in elektronischen Aufbauten darstellen. Überblicksartig ist eine Auswahl dieser wichtigen nichtmechanischen Mechanismen nachfolgend dargestellt, wobei die Reihenfolge der Aufzählung keinen Bezug zur Bedeutung der jeweiligen Mechanismen hat. Elektrische Ausfallmechanismen: Elektrische Ausfallmechanismen treten vor allem am Halbleiterbauelement, aber auch in passiven Bauelementen auf. Infolge dieser elektrischen Ausfälle kann es zur Überhitzung kommen und nachfolgend auch ein nicht ursächlicher mechanischer Schaden hervorgerufen werden. Zu den wichtigsten elektrischen Ausfallmechanismen gehören beispielsweise: 1) elektrische Durchbrüche in Isolationsschichten, wie Gateoxiddurchbrüche durch Generation von Traps aufgrund von Leckströmen oder Durchbrüche im Dielektrikum von
6.2 Materialphysik der Schädigung
Hauptwirkungsort im elektronischen Aufbau 1. Verbindungsebene elektrisches Funktionselement z.B. Transistor, Kondensatorplatten
2. Verbindungsebene
physisches Bauelement z.B. BGA, CC
Triebkraft
217
Mechanismus (Beispiel)
3. Verbindungsebene
Baugruppe
nuklear
a-Strahlung
elektrisch
Dielektrikumsdurchschlag
elektrisch-chemisch
Elektrolytische Migration
chemisch
Korrosion
thermisch-chemisch
Feuchtigkeitsmigration
thermisch
Gefügevergröberung
thermisch-mechanisch
Schichtspannungen
mechanisch
Stoß, Vibration
Abb. 6.1 Natur der verschiedenen Triebkräfte von Schädigungsmechanismen mit ihren bevorzugten Wirkungsorten in elektronischen Aufbauten
Keramikkondensatoren aufgrund mechanischer Beanspruchung, 2) Hot Carrier Degradation, stark beschleunigte Ladungsträger bauen sich nach Streuung am Gateoxidgitter in dieses ein und verschlechtern dessen elektrische Eigenschaften, 3) Elektrostatische Entladung (ESD), die Energie zu hoher Spannungsimpulse kann z. B. mikroelektronische Strukturen (Source-Drain-Bereich, Vias, Leitbahnen) aufschmelzen oder zu Durchbrüchen in dünnen Isolationsschichten führen. Kirkendall-Effekt: Der Kirkendall-Effekt ist eine zur Festkörperdiffusion gehörige Erscheinung, bei der sich durch unterschiedliche Interdiffusionsgeschwindigkeiten eine asymmetrische Leerstellenkonzentration entlang der Diffusionsgrenzfläche ausbildet. Ist beispielsweise die Diffusionsgeschwindigkeit von A-Atomen im B-Gitter größer als die von B-Atomen im A-Gitter, ergibt sich als Konsequenz ein Fluss der für die Festkörperdiffusion verantwortlichen Leerstellen vom B-Gitter in das A-Gitter. Durch Vereinigung von Leerstellen ergeben sich innere Oberflächen in Form von Poren, welche als Senken für den Leerstellenfluss von B nach A wirken. Durch das Aufsammeln immer neuer antransportierter Leerstellen vergrößern sich diese Poren zu makroskopisch sichtbaren Hohlräumen - den sogenannten Kirkendall-Voids (Löchern). Dadurch wird das A-Material porös und verliert an Festigkeit. Unerwünschte intermetallische Phasenbildung: In Abhängigkeit von den Materialkonzentrationen und einwirkenden Temperaturen kann es in metallischen Mehrkomponentenverbunden zur Ausbildung von intermetallischen Phasen kommen, durch welche die Festigkeit des Verbundes, z. B. durch mangelnde Kompatibilität der Phasengrenzfläche, herabgesetzt wird. Ein typisches Beispiel für solche unerwünschten intermetallischen Phasenbildungen ist die beim Golddrahtbonden zur Anschlusskontaktierung von Si-Chips an
218
6 Schädigung
der Au/Al Grenzfläche stattfindende intermetallische Phasenausbildung und umwandlung. Bei ungünstig gewählten Materialvorräten kann es zur Bildung der Au4Al-Phase (Purpurpest) kommen, welche schlechte Hafteigenschaften besitzt und zum Ablösen des Bonddrahtes führt. Gleiches passiert bei vollständiger Umwandlung des Al-Vorrates in die entsprechenden AuAl-Phasen, da diese nicht auf Si haften. Ähnliche Vorgänge können auch beim Löten mit Sn-haltigen Loten stattfinden. Die beim Lötvorgang gebildeten Cu3Sn- und Cu6Sn5-Phasen wachsen unter Temperatureinfluss beständig weiter und verspröden damit die Verbindungsstelle. Solche Versprödungen könnten bei entsprechenden (thermo-)mechanischen Belastungen zum Abriss der Cu-Pads von der Leiterplatte führen. Versprödungen: Materialversprödungen können durch Legierungsreaktionen bei oder nach Verbindungsvorgängen auftreten und durch die Herabsetzung der Duktilität eines Verbindungswerkstoffs zu Brüchen in den Verbindungspartnern führen. Erhebliche Versprödungen in Sn-basierten Loten können auch durch in Lot gelöstes Tauchgold hervorgerufen werden, welches ursprünglich auf den Lötpads zum Oxidationsschutz aufgebracht war. Elektromigration: Wenn Leitbahnen, wie die von Umverdrahtungen auf Halbleiterbauelementen, sehr dünn sind, können sehr hohe Stromdichten auftreten. Diese verursachen einen sogenannten Elektronenwind, welcher Atome innerhalb der Leitbahn bewegen kann. Infolgedessen wird Material von der einen Seite zur anderen bewegt, sodass dort, wo es wegbewegt wird, Unterbrechungen entstehen können, während es dort, wo das Material angelagert wird, es zu Kurzschlüssen kommen kann. Elektrolytische Migration: Salze aus z. B. Flussmittelresten, aber auch chemische Funktionsgruppen in Harzen von Basismaterialien können bei Feuchteeinwirkung Kriechstrompfade zwischen Leitbahnen unterschiedlichen Potenzials erzeugen. Entlang dieser Strompfade kann Leitbahnmaterial elektrolytisch aufwachsen, bis es zwischen den Leitbahnen zum Kurzschluss kommt. Die verschiedenen aufgeführten nichtmechanischen Mechanismen stehen in einem sehr unterschiedlichen Verhältnis zu mechanischen Schädigungsmechanismen. Bestimmte Mechanismen, wie z. B. der Kirkendall-Effekt oder die Versprödungsreaktionen, haben direkten Einfluss auf die strukturelle Integrität und die mechanischen Eigenschaften eines Werkstoffs und sind daher meist Vorläufermechanismen für eine spätere mechanische Schädigung einer entsprechenden Struktur. Andere Mechanismen, wie z. B. die elektrolytische Migration, wirken in der Regel unabhängig von mechanischen Aspekten der Schädigung. Sie können jedoch indirekt, z. B. über starke Wärmeentwicklung in Kurzschlussstrompfaden, thermisch induzierte mechanische Spannungen bzw. Werkstoffeigenschaftsänderungen hervorrufen und auf diese Weise zu Vorläufermechanismen einer späteren mechanischen Schädigung werden.
6.2 Materialphysik der Schädigung
219
6.2.3 Mechanismen der mechanischen Schädigung von Werkstoffen
6.2.3.1 Problematik der Mechanismenvielfalt im Schädigungsverlauf Die Mechanismen der Schädigung von Werkstoffen hängen mit den in Kapitel 4 und Kapitel 5 dargestellten Mechanismen der Verformung zusammen. Um diesen Zusammenhang grob einzuordnen, soll auf das zur Erläuterung der Grundbegriffe von Verformungsreaktionen in Abb. 1.5 dargestellte Spannungs-Dehnungs-Diagramm zurückgegriffen werden. Der in diesem Diagramm eingezeichnete Zusammenhang zwischen Spannungsbeanspruchung und Gestaltänderung wurde dort zunächst idealisiert dargestellt. Eine in einem realen Experiment aufgenommene Kraft-Verlängerungs-Kurve würde, wie in Abb. 6.2 dargestellt, nicht dem in Abb. 1.5 angedeuteten idealisierten Verlauf folgen, sondern ab einer bestimmten Dehnung unter ihm wegknicken. Ursache für die Diskrepanz zwischen der idealisierten und der real in einem Experiment aufgenommenen Verformungskurve ist das Auftreten von Schädigungsprozessen, welche in Begleitung der ablaufenden Verformungsmechanismen auftreten. Im Unterschied zur idealisierten Verformungskurve durchläuft die reale Kurve ein Maximum und fällt von dort kontinuierlich wieder ab, bis es zum Versagen, d. h. zum letalen Bruch, kommt. Dieser nichtmonotone Verlauf der Kurve kommt durch Überlagern der durch Verformungsmechanismen hervorgerufenen Materialverfestigung gegenüber der durch Schädigungsmechanismen hervorgerufenen lokalen plastischen Einschnürung zustande. Während durch den ersten Mechanismus der Werkstoffwiderstand mit fortschreitender Verformung ansteigt, wird durch den zweiten Prozess der effektive Querschnitt der Probe kontinuierlich verringert. Bei Erreichen von Punkt B
s
elastisch
plastisch
idealisierte Verformungskurve B C
sF
reale in einem Experiment aufgenommene Verformungskurve
A
E
e Abb. 6.2 Idealisierte und reale experimentell aufgenommeneVerformungskurve für metallische Werkstoffe im Spannungs-Dehnungs-Diagramm
220
6 Schädigung
halten sich beide Prozesse die Waage, wodurch der Strukturkörper (in diesem Fall die Probe) instabil wird, da sein Widerstand gegen Verformung bei weiterer Verformung sinkt. Anhand dieses sehr einfachen Beispiels für das Zusammenwirken von Verformungs- und Schädigungsprozessen wird unter Berücksichtigung der in Kapitel 4 und Kapitel 5 dargestellten Vielfalt der Verformung deutlich, wie schwierig es ist, für Werkstoffe Beanspruchungsgrenzen festzulegen, in denen ihre strukturelle Integrität gewahrt bleibt, d. h., es nicht zum Versagen des Werkstoffs kommt. Exemplarisch sollen dazu die im Spannungs-Dehnungs-Diagramm in Abb. 6.3 dargestellten realen Deformationskurven für unterschiedliche Arten der Verformung betrachtet werden. Kurve A zeigt das Verhalten eines Werkstoffes, dessen plastische Fließfähigkeit mit dem Ziel, eine höhere Festigkeit zu erreichen, durch das Zusetzen bestimmter Legierungselemente drastisch herabgesetzt wurde. Im Spannungs-Dehnungs-Diagramm weist das Material ein für spröde Werkstoffe charakteristisches Verhalten auf und verformt sich weitestgehend linear-elastisch, bis bei Erreichen seiner Festigkeit σ A abrupt zerbricht. Die Kurven B und C zeigen das übliche duktile Verhalten eines metallischen Werkstoffs bei unterschiedlichen Verformungsbedingungen, wobei sich die Kurve B auf instantanplastische Verformung, d. h. eine Verformung bei hohen Geschwindigkeiten und niedriger homolo-
s
sA
A W Bruch A W Bruch B
sB
B W Bruch C
sC
C
eA
eB
eC
e
Abb. 6.3 Schematische Darstellung real experimentell aufgenommener Verformungskurven für metallische Werkstoffe im Spannungs-Dehnungs-Diagramm für unterschiedliche Formen von Verformungsverhalten: A) gehärtete Legierung mit geringer plastischer Fließfähigkeit; B) gewöhnliche duktile Metalllegierung bei instantanplastischer Verformung (hohe Verformungsgeschwindigkeit oder niedrige homologe Temperatur), C) gewöhnliche duktile Metalllegierung bei Kriechverformung (niedrige Verformungsgeschwindigkeit bei hoher homologer Temperatur)
6.2 Materialphysik der Schädigung
221
ger Temperatur, bezieht, während Kurve C den entgegengesetzten Fall einer Kriechverformung, d. h. eine Verformung bei niedrigen Geschwindigkeiten und hoher homologer Temperatur, darstellt. Für die einzelnen Kurven ergeben sich unterschiedliche Bedingungen, unter denen es zum letalen Riss kommt. Während dieser bei Kurve A mit dem Erreichen der maximalen Festigkeit zusammenfällt, tritt er bei den Kurven B ein, wenn sequenziell zunächst die maximale Festigkeit erreicht und danach auch eine maximale Bruchdehnung überschritten wurde. Im Fall der Kurve C spielt hingegen die im Material auftretende Spannungsbeanspruchung keine Rolle (es wird nicht einmal die Fließspannung erreicht). Stattdessen hängt das Auftreten eines letalen Bruches allein mit dem Erreichen der maximalen Bruchdehnung zusammen. Werden die beim Verformungsvorgang bis zum Bruch aufgetretenen maximalen Spannungsbeanspruchungen im Werkstoff verglichen, so ergibt die Reihenfolge σ A > σ B > σ C . Bei den erreichten Bruchdehnungen ergibt sich hingegen die umgekehrte Reihenfolge ε C > ε B > ε A . Wird stattdessen die zum Erreichen des Bruches aufgewendete Energie als Kriterium herangezogen, ergeben sich die höchsten Werte für den in Kurve B dargestellten Verformungsprozess W Bruch B > W Bruch C > W Bruch A . Aus diesem Vergleich wird deutlich, dass schon bei sehr einfachen und leicht überschaubaren Randbedingungen, wie sie für die im Spannungs-Dehnungs-Diagramm in Abb. 6.3 dargestellten Verformungsformen vorherrschen, eine sehr differenzierte Betrachtungsweise notwendig ist, um das Eintreten von Materialschädigungen nachzubilden. Betrachtet man nicht einen einzelnen Werkstoff im Probekörper, sondern einen Verbund von Werkstoffen, wie er in einem elektronischen Aufbau auftritt, so wird klar, dass für die Beschreibung des schädigungsmechanischen Verhaltens eine einfache Kenngröße, wie z. B. die Festigkeit oder die maximale Bruchdehnung, nicht ausreichend sein kann. Aufgrund des komplexen strukturellen Aufbaus von metallischen Werkstoffen (vgl. 3.2) und der Vielfalt der den verschiedenen werkstoffmechanischen Verformungsreaktionen zugrunde liegenden Mechanismen (vgl. 4.2, 5.2 - 5.5) existiert auch eine Vielzahl von unterschiedlichen Wegen, auf denen es zum Versagen des Materials kommt. Welche dieser Wege bis zur letztendlichen Ausbildung eines letalen Risses eingeschlagen wird, hängt wesentlich von den Beanspruchungen, wie der Temperatur, dem Spannungszustand, dem zeitlichen Verlauf der aufgebrachten Spannungen und Dehnungen als auch der zeitlichen Entwicklung der Werkstoffstruktur infolge der wirkenden Umweltbedingungen, ab. Obwohl es bei einer bestimmten Form der Beanspruchung (z. B. einem Kriechbruch durch konstante statische Belastung bis zum Ausfall) gelingt, den genauen Mechanismus vom unbeanspruchten Ausgangszustand bis zum Versagen detailliert aufzuzeigen, ist es in der Regel nicht möglich, das komplexe Zusammenwirken verschiedener Mechanismen in nichttrivialen Beanspruchungssituationen nachzuverfolgen. Um dennoch Schädigungsverläufe für die in realen Anwendungen nicht untypischen komplexen Beanspruchungssituationen voraussagen zu können, wird in der Regel eine Bewertung der Schädigung über bestimmte Schädigungskriterien vorgenommen, welche nicht notwendigerweise an einen konkreten physikalischen
222
6 Schädigung
Mechanismus gekoppelt sein müssen. Üblicherweise geht man für die Berechnung der Gesamtschädigung von einer Superposition der Schädigungswirkung verschiedener Einzelmechanismen aus, wie sie schematisch in Abb. 6.4 dargestellt ist [14]. Voraussetzung für solche zusammenfassende Betrachtungen ist jedoch das Vorhandensein einzelner Schädigungskriterien, mit denen es gelingt, die Wirkung spezifischer Beanspruchungen unter Berücksichtigung der struktureller Gegebenheiten gut nachzubilden. Hierzu haben sich im Zusammenhang mit bestimmten im Laufe der technischen Entwicklung aufgetretenen Schadensfällen verschiedene Konzepte herausgebildet, welche es ermöglichen, Aussagen über Schädigungsverhalten in technischen Strukturen zu treffen. Da die Mechanismen der mechanischen Schädigung für den Entwurf funktionell-struktureller Verbunde in elektronischen Aufbauten eine wichtige begrenzende Randbedingung dahin gehend darstellen, dass sichergestellt werden muss, dass die in diesem Verbund auftretenden Beanspruchungen nicht zum Werkstoffversagen in einzelnen Bereichen dieses Verbundes führen, gab es in den letzten Jahren vielfältige Bemühungen, die in der Regel aus dem Maschinen-, Flugzeugund Anlagenbau stammenden Konzepte für diesen Bereich nutzbar zu machen. Die ersten Ansätze bestanden dabei in der Nutzung einfacher Beziehungen, wie sie zur Absicherung der Betriebsfestigkeit im Anlagen-, Kraftwerks- und Fahrzeugbau verwendet wurden. Im Gegensatz zu den typischen Problemfällen in diesen Anwendungsgebieten sind Schadensfälle im Bereich elektronischer Aufbauten durch verschiedene, mit den Merkmalen dieser Aufbauten verbundene Besonder-
Ermüdung
Zeitstandsfertigkeit
Kriechen
Sa
e
log (N)
S
N (t)= N (s / X (t))
Rm
Dauer
Zeit E (t) = > s ij(t)
Mikroskopische Schädigung Eij
Zeit / Durchlauf
Temperatur
X (t)
G (t), v (t) = > s ij(t)
X (t)
ò ( ( )) ( ) ( ) t
Fr ( t ) = 1 -
Umgebungsbedingungen
0
1 - Fa
s(t)ij X(t)ij
*j*
n N(t)
j-1
d
n N(t)
Abb. 6.4 Berechnung der Lebensdauer aus verschiedenen Komponenten der Materialschädigung - entnommen aus [14]. Dargestellt wird die Berechnung einer normalisierten verbleibenden Festigkeit Fr in Abhängigkeit von einem generalisierten Fehlerkriterium Fa, einer Anzahl von Lastwechseln n und dem Schädigungszustand eines kritischen Elementes N.
6.2 Materialphysik der Schädigung
223
heiten gekennzeichnet. Aus Werkstoffsicht sind elektronische Aufbauten komplexe Materialverbunde, welche eine große Anzahl heterogener Grenzflächen aufweisen, von denen viele sogar einen Übergang zwischen Werkstoffen unterschiedlicher Klassen, d. h. Metall/Polymer, Keramik/Polymer oder Metall/ Keramik, darstellen. Schäden im Sinne eines funktionellen Ausfall des elektronischen Systems sind in vielen Fällen ein Resultat unterschiedlicher, in ihrer Ursachennatur (vgl. 6.2.2, Abb. 6.1) nicht identischer, oft an verschiedenen Orten des Aufbaus parallel als auch sequenziell ablaufender Schädigungsprozesse. Die üblichen Ausfälle im Anlagen-, Kraftwerks- und Fahrzeugbau sind - abgesehen von einigen Sonderformen, wie der Spannungsrisskorrosion - oft das Resultat eines in einer kritischen Struktur aufgrund einer eindeutigen Ursachennatur auftretenden, zum Teil in verschiedenen Stadien fortschreitenden Schädigungsprozesses. Aus diesem Grund ist es wichtig, beim Versuch der Übertragung der in den genannten Anwendungsgebieten erarbeiteten Konzepte zur Schädigungsbewertung auf den Bereich der elektronischen Aufbauten zunächst den Ausgangspunkt zu verstehen, von welchem aus das entsprechende Konzept in den genannten Gebieten erarbeitet wurde. Obwohl sich viele dieser Konzepte als fester Bestandteil in der Betriebsfestigkeitsbewertung von technischen Anlagen und Geräten etabliert haben, verlangt ihre transdisziplinäre Nutzung im Gebiet der Aufbau- und Verbindungstechnik der Elektronik unter Umständen eine Weiterentwicklung oder Modifizierung dieser Konzepte (z. B. Versagenshypothesen, Lebensdauermodelle), um diese auf die beschriebenen Besonderheiten von Schädigungsvorgängen in elektronischen Aufbauten anpassen zu können. Von Michel [335, 336] wurde daher beispielsweise der Begriff „Fracture Electronics“ eingeführt, welcher als verkürzender Arbeitsbegriff für die Bruchprobleme in der Mikroelektronik und Mikrotechnik steht und eine Abgrenzung von den unter dem Begriff „Fracture Mechanics“ bekannten klassischen Bruchproblemen (vgl. 6.3.2.1 und 7.2.2) vorzunehmen versucht. In ähnlicher Weise wird von Reifsnider [14] darauf hingewiesen, dass die klassischen Versagenshypothesen (wie von Coulomb, Tresca oder von Mieses), wie sie für homogene isotrope Werkstoffe Verwendung finden, für die Schadensanalyse im Bereich elektronischer Aufbauten nicht nützlich seien, stattdessen müssten Wege gefunden werden, wie lokale Beanspruchungs- und Schadengrößen miteinander korreliert werden können. Werden die bisher für die Bewertung der Schädigung in elektronischen Aufbauten eingesetzten Konzepte betrachtet, so ist festzustellen, dass sich ein Großteil der zu Beginn gemachten Schädigungsbetrachtungen auf die Nutzung der Coffin-Manson-Beziehung (vgl. 6.3.3.3) bezog. Jedoch wurde sehr schnell klar, dass aufgrund der hohen homologen Materialtemperaturen sowie der sehr verschiedenen Temperatur-Zeit-Belastungen elektronischer Aufbauten eine detailliertere Betrachtung der verschiedenen Schädigungsmechanismen notwendig war. Ein Ausweg aus diesem Dilemma wurde durch Anwendung des Strain-Range-Partioning-Konzeptes (vgl. 6.3.3.3) gesucht [28]. Ein anderer Ansatz, eine universale Lösung zu finden, welche in der Lage ist, die verschiedenen Formen der Schädigung zu berücksichtigen, bestand in der Betrachtung der treibenden Kräfte bei Rissvorgängen durch
224
6 Schädigung
Methoden der Bruchmechanik. Durch ein unzureichendes Verständnis für bruchmechanische Methoden auf der einen Seite und der komplexen Schädigungsabläufe in spezifischen Werkstoffen (z. B. SnPb-Lot) der Aufbau- und Verbindungstechnik auf der anderen Seite gelang es allerdings nicht, die erwarteten genauen Voraussagen für Schädigungsverläufe zu erzielen [337]. Große Erfolge bei der Anwendung bruchmechanischer Konzepte wurden hingegen auf dem Gebiet der Mikrosystemtechnik erzielt. Allerdings betrafen die dort vorgenommenen Bewertungen vor allem keramische Werkstoffe, wie das wegen der umfangreichen Möglichkeiten seiner Funktionalisierung sehr breit eingesetzte Silizium [338].
6.2.3.2 Mechanismencharakteristik der Schädigungskinetik Obwohl sich im Resultat der verschiedenen in einem Werkstoff auftretenden Schädigungsprozesse immer ein letaler Bruch einstellt, welcher die jeweilige Struktur in mindestens zwei nicht mehr miteinander verbundene Bereiche teilt, können die phänomenologischen Erscheinungsformen dieser Brüche sehr verschieden sein. Die finale Erscheinungsform des Bruches hängt von Werkstofftyp und den aufgetretenen Belastungsbedingungen ab. Daher lassen Bruchbilder oft Rückschlüsse auf die Ursachen des Werkstoffversagens zu. Die Analyse der Bruchfläche ist eine praktikable und recht eindeutige Möglichkeit, Hinweise auf die Ursachen für einen Versagensvorgang zu finden. Zum Beispiel sind für eine Ermüdungsbruchfläche Schwingungsstreifen typisch oder eine Wabenstruktur für einen Gewaltbruch. In dem sich damit beschäftigenden wissenschaftlichen Teilgebiet der Fraktografie werden die phänomenologischen Erscheinungsformen der Brüche grundsätzlich nach ihrem äußerem Erscheinungsbild in Spaltbrüche oder Duktilbrüche, nach ihrem Risspfad in transgranulare oder intergranulare Brüche, nach dem Belastungsverlauf in Gewaltbrüche, Schwingungsbrüche oder Kriechbrüche eingeteilt [150, 339, 340]. Um einen Zusammenhang zwischen den phänomenologisch beobachteten Erscheinungsformen des Bruches und seinen physikalischen Grundmechanismen herstellen zu können, ist es wichtig, zwischen den verschiedenen Mechanismen der Schädigungskinetik zu unterscheiden. Bruchvorgänge in metallischen Festkörpern unter konstanter bzw. monoton steigender Beanspruchung sind in der Regel auf folgende Grundmechanismen zurückzuführen [341, 342]: • Aufreißen von Atombindungen durch starke Zugspannungen ( = Spaltbruch) • Intragranulares Porenwachstum an Einschlüssen und Lunkern ( = Duktilbruch) • Einschnürung durch plastisches Fließen (= Duktilbruch) • Intergranulares Porenwachstum durch spannungsgerichtete Festkörperdiffusionsprozesse (= Kriechbruch) • Verformungsunterstützter chemischer Angriff an Rissspitzen (= Spannungsrisskorrosion)
6.2 Materialphysik der Schädigung
225
In Abhängigkeit vom Verformungsverhalten des Werkstoffs und der Form der Beanspruchung (konstant, monoton steigend oder zyklisch wechselnd) kann sich der Bruchverlauf in bis zu vier verschiedene Phasen einteilen, in welchen unterschiedliche Schädigungsmechanismen dominieren. Diese treten vor allem dann als deutlich unterscheidbare Einzelschädigungsphasen auf, wenn es keine eindeutigen äußeren Faktoren gibt, welche zu Rissvorgängen führen, d. h. an einer unbeanspruchten glatten Probe, welche mit einer homogen verteilten, in ihrem absoluten Betrag sehr niedrigen Wechselbeanspruchung beaufschlagt wird. In einem solchen Fall ergibt sich der in Abb. 6.5 dargestellte Ablauf der Schädigung [343-347].
Versetzungsbewegung
Risskeimbildung
Mikrorisswachstum
Rissfortschritt physikalisch
Makrorisswachstum
Rissfortschritt stabil
Rissfortschritt technisch
Restbruch Rft. instabil
Risseinleitung technisch
Technischer Anriss (0,5 mm ... 1 mm)
Abb. 6.5 Phasen der Materialschädigung aus [343]
Eine Unterscheidung der vier Schädigungsphasen ist sowohl aus werkstoffphysikalischer (grundlagenbezogen) als auch aus technischer Sicht (anwendungsbezogen) zweckmäßig. In der ersten Phase tritt in der Regel eine Schädigung (Veränderung) des mikrostrukturellen Werkstoffaufbaus in einer ansonsten anrissfreien Ermüdungsphase mit Verfestigung bzw. Entfestigung auf. Die durch Versetzungsbewegungen und Risskeimbildung gekennzeichnete werkstoffphysikalische Risseinleitungsphase und der durch Mikrorisswachstum charakterisierte Teilprozess des stabilen Rissfortschritts bilden aus ingenieurmäßiger Sicht die Schädigungsphase bis zum sogenannten technischen Anriss (vgl. Abb. 6.5 - Risseinleitung technisch). In der Regel kann hier nicht eindeutig zwischen einer mikrostrukturellen Schädigung und dem Entstehen eines technischen Anrisses differenziert werden [346, 347]. Der Risskeimbildungs- und Mikrorisswachstumsprozess hängt stark von den Gefügeeigenschaften des Werkstoffes ab. Die entstandenen Risslängen liegen noch in der Größenordnung der einzelnen Körner des Gefüges (vgl. 3.2.1). Experimentelle Befunde weisen bei Vorliegen einer Zug-Druck-Belastung auf ein stark gefügebeeinflusstes und daher in der Regel intergranulares Mikrorisswachstum in der Ebene maximaler Schubspannung hin, wobei die Risslängen das drei- bis fünffache der Korndurchmesser betragen [348]. Aufgrund dieser starken Wechselwirkung mit der Werkstoffstruktur lässt sich der Rissfortschritt aufgrund seiner besonders stark ausgeprägten statistischen Streuung nur sehr schwer über allgemeine,
226
6 Schädigung
von der konkreten Werkstoffstruktur unabhängige Kenngrößen beschreiben, was einfache mathematische Ansätze zur Rissfortschrittsberechnung erschwert [343, 346]. Nachdem sich ein technischer Anriss gebildet hat, erfolgt in der Regel eine Veränderung des Ausbreitungspfades und es stellt sich ein stabiles Wachstum des Einzelrisses oder mehrerer koaleszierender Mikrorisse (vgl. Abb. 6.5 - Rissfortschritt technisch) senkrecht zur Richtung der größten wirkenden Zugspannung in einer bestimmten kritischen Bruchebene ein [349]. In dieser Phase ist die Wechselwirkung des sich ausbreitenden Risses mit der Werkstoffstruktur von eher untergeordneter Bedeutung, sodass die Rissfortschrittsberechnung über geeignete mathematische Ansätze möglich wird.
6.2.3.3 Bruchmechanismenkarten Da die Art und Weise, wie die Schädigung eines Werkstoff abläuft, nicht einem bestimmten Beanspruchungsparameter zugeordnet werden kann, sondern von einem komplexen Zusammenhang zwischen verschiedenen Parametern abhängt, unter denen die Spannung, die Verformungsgeschwindigkeit, die Temperatur sowie die Werkstoffstruktur die wichtigsten sind, ist es für die Beschreibung der Schädigung wichtig, die verschiedenen Formen der Schädigungsmechanismen richtig zuzuordnen. Mit dem Ziel, eine übersichtliche Darstellung der verschiedenen Erscheinungsformen von Schädigungsprozessen zu erstellen, wurde analog zu den Bemühungen bei der Darstellung des Verformungsverhaltens in den sogenannten Verformungsmechanismenkarten (vgl. 5.1.2) von verschiedenen Autoren [350-356] mit der Erarbeitung sogenannter Bruchmechanismenkarten begonnen. Die heute verbreitetesten Arbeiten stammen dabei von Ghandi und Ashby [353, 354], welche für eine große Anzahl von metallischen Werkstoffen Bruchmechanismenkarten entwickelt haben. In Abb. 6.6 ist eine Bruchmechanismenkarte vereinfacht schematisch dargestellt. Einer solchen Karte liegt die Idee zugrunde, verschiedene phänomenologische Erscheinungsformen von Brüchen, die in der Regel mit bestimmten Schädigungsmechanismen zusammenhängen, in einen allgemeinen Zusammenhang mit den Beanspruchungsgrößen Spannung und Temperatur (zum Teil auch mit Verformungsgeschwindigkeit und Werkstoffstruktur) zu bringen. In den Karten wird angezeigt, welche phänomenologische Erscheinungsform eines Bruches in welchem Spannungs-Temperatur-Bereich zu erwarten ist. Um Karten verschiedener Werkstoffe untereinander vergleichen zu können, sind die Achsen des Diagramms auf die Werkstoffparameter Schmelztemperatur T s und Elastizitätsmodul E normiert worden. In den Bruchmechanismenkarten wird der ( T ⁄ T s ; ( σ ⁄ E ) ) -Parameterbereich in einzelne Sektionen unterteilt, in denen jeweils eine bestimmte Bruchform vorherrschend ist. Im Bereich niedriger Temperaturen tritt in der Regel Spaltbruch ein, wenn eine kritische Spannung überschritten wird. Oberhalb einer bestimmten Spröd-zu-Duktilbruch-Übergangstemperatur
6.2 Materialphysik der Schädigung
227
ändert sich die Bruchform in einen intragranularen Duktilbruch, dem in der Regel Mechanismen des Porenwachstums an Einschlüssen und Lunkern zugrunde liegen. Der Bereich des intragranularen Duktilbruchs verbreitert sich zu höheren Temperaturen hin, da die Prozesse des plastischen Fließens zunehmend von der Verformungsrate abhängig werden. Dies bedeutet, dass die Prozesse des Porenwachstums auch unterhalb der kritischen Spannung für einen Bruch bei instantaner plastischer Verformung stattfinden. Sinken die Spannungen im Bereich höherer homologer Temperaturen noch weiter ab, kommt es zu einem Übergang von intragranularen zu intergranularen Porenwachstumsprozessen. Letztere finden an Korngrenzen statt und basieren auf diffusiven Prozessen, wie spannungsgerichteten Leerstellenbewegungen, während den zuerst genannten eher Versetzungsbewegungen zugrunde liegen [342]. Zum Verständnis der Schwierigkeiten, welche sich bei der Modellierung der Materialschädigung ergeben, sollen in den folgenden Abschnitten wichtige, den verschiedenen Formen von Brucherscheinungen zugrunde liegende werkstoffphysikalische Mechanismen kurz umrissen werden. In Abschnitt 6.2.3.4 werden die grundlegenden physikalischen Betrachtungen zum Spaltbruch dargelegt. Um die verschiedenen Formen von Schädigungsverläufen bei Duktil- und Kriechbruch darstellen zu können, ist es notwendig, die Mechanismen, welche zum Entstehen von Rissen führen, getrennt von Mechanismen zu betrachten, mit denen diese entstandenen und sehr kleinen Risse im Laufe einer fortgeführten Beanspruchung zu wachsen beginnen. Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig, da in Abhängigkeit davon, wie ein Bauteil beschaffen ist und welcher Beanspruchung es ausgesetzt 10 -1 transgranularer Duktilbruch
Normierte Normalspannung s/E
10 -2
Zerreißen infolge dynamischer Rekristallisation
Spaltbruch
10 -3
10 -4
intergranularer Kriechbruch
10 -5 kein Bruch 10 -6
0,2
0,4
0,6
0,8
1,0
Homologe Temperatur T/Ts
Abb. 6.6 Schematische Darstellung einer Bruchmechanismenkarte (adaptiert aus [342])
228
6 Schädigung
wird, entweder die Phase der Rissentstehung oder die des Risswachstums den Schädigungsverlauf dominieren kann. Aus diesem Grund werden in den Abschnitten 6.2.3.5 und 6.2.3.6 die verschiedenen dem intragranularen oder dem intergranularen Porenwachstum zugehörigen Mechanismen getrennt nach den Phasen der Rissbildung und des Risswachstums dargelegt.
6.2.3.4 Bruch auf atomarem Niveau Rissvorgänge in einem Material treten dann ein, wenn zum einen ein ausreichend hoher Betrag an mechanischer Spannung vorhanden ist und gleichzeitig genügend mechanische Arbeit verrichtet wird, um auf dem untersten Strukturniveau (vgl. 3.2.1 und 3.2.2.1) Atombindungen entweder im Kristallgitter oder zwischen einzelnen Kristalliten aufzubrechen. Für das grundsätzliche Verständnis dieses Vorgangs auf atomaren Niveau soll zwischen diesen beiden Varianten der Einfachheit halber nicht unterschieden werden, da sich bezüglich der nun folgenden allgemeinen Abschätzung für die erforderliche Spannung und Arbeit keine Unterschiede ergeben. Aufbauend auf den in 4.2.1 gemachten Betrachtungen zur Verzerrung des Kristallgitters beziehen sich alle folgenden Überlegungen auf den hinteren Teil der in Abb. 4.2 dargestellten Wechselwirkungskraft-AtomabstandsKurve, welcher in Abb. 6.7 noch einmal mit den für die Bruchproblematik relevanten Details dargestellt ist. Um die Bindung zwischen zwei Atomen zu lösen, muss eine Kraft der dargestellten Anziehungskraft entgegenwirken, damit die Atome aus der Ruhelage r0 über dem Punkt der Destabilisierung der Bindung rD auseinandergezogen werden. Zur Abschätzung der Anziehungskraft auf Atomniveau wird deren Verlauf als die erste Hälfte der vollen Periode einer Sinusfunktion idealisiert angenommen: π⋅r F = F min ⋅ sin § ----------------· , © r D – r 0¹
(6.1)
wobei F min die interatomare Bindungskraft ist und alle anderen Variablen den in Abb. 4.2 bzw. Abb. 6.7 dargestellten Funktionen entsprechen. Im Sinne einer weiteren Vereinfachung für die hier vorgenommene Abschätzung wird die Sinusfunktion in Gleichung (6.1) durch ihr Argument ersetzt π⋅r F = F min ⋅ ---------------rD – r0
(6.2)
Entsprechend dieser vereinfachenden Annahme ergibt sich die Steifigkeit der Bindung k aus:
6.2 Materialphysik der Schädigung
229
U
0
r Bindungsenergie
Fi Bindungsenergie k
F = Fmin sin (pr/(rD-r0))
0
r Bindungskraft
Fmin r0 rD
Abb. 6.7 Schematische Darstellung der Anziehung zwischen zwei Atomen (Potenzial U, innere Wechselwirkungskraft Fi=-dU/dr, Steifigkeit in der Ruhelage k=d2U/dr). Um die Bindung zwischen zwei Atomen aufzubrechen, müssen die Atome aus der Ruhelage r0 bis zum Punkt der Destabilisierung der Bindung rD auseinander gezogen werden [334].
π k = F min ⋅ ---------------rD – r0
(6.3)
Werden beide Seiten dieser Gleichung mit der Anzahl von Bindungen pro Flächeneinheit und der Distanz der Ruhelage multipliziert, lässt sich sehr leicht eine Formulierung ableiten, in der der Elastizitätsmodul E an die Stelle von k rückt und F min durch eine Kohäsivspannung σ K ersetzt wird. Aufgelöst nach σ K ergibt sich dann: E ⋅ ( rD – r0 ) σ K = ---------------------------π ⋅ r0
(6.4)
230
6 Schädigung
Wird weiterhin davon ausgegangen, dass der Abstand zwischen dem Punkt der Ruhelage und dem Punkt der Destabilisierung, ( r D – r 0 ) , etwa dem Atomabstand in der Ruhelage r 0 entspricht, so ergibt sich folgende einfache Abschätzung für die Beziehung zwischen σ K und E : E σ K ≈ --π
(6.5)
Da sich nach Aufbrechen der Atombindungen zwei neue Oberflächen mit der jeweiligen Oberflächenenergie γ s bilden, lässt sich folgende Energiebilanz für den Bruch auf atomarer Ebene formulieren: ∞
EB =
³ F dx
= 2 ⋅ γs ,
(6.6)
r0
wobei E B der Bindungsenergie entspricht und F eine in Zugrichtung wirkende Kraft ist. Damit ergibt sich die Oberflächenenergie aus 1 γ s = --2
rD – r0
³ 0
rD – r0 π⋅r σ K ⋅ sin §© ----------------·¹ dx = σ K ⋅ ---------------rD – r0 π
(6.7)
Aus der Substitution von Gleichung (6.4) in Gleichung (6.7) und Auflösung nach σ K ergibt [334]: σK =
E ⋅ γs -----------r0
(6.8)
Wie aus der oben durchgeführten Abschätzung hervorgeht, liegt der theoretische Wert für die Festigkeit eines Materials im Bereich von E ⁄ π . Tatsächlich liegen experimentell bestimmte Festigkeiten jedoch viel niedriger. Bei spröden Werkstoffen beträgt der Unterschied zwischen theoretischer und experimentell bestimmter Festigkeit sogar drei bis vier Größenordnungen [334]. Aus diesen deutlichen Diskrepanzen zwischen makroskopisch beobachteter Festigkeit und korrespondierender atomarer Kohäsivspannung lässt sich schlussfolgern, dass Inhomogenitäten der Werkstoffstruktur zu einer drastischen Erhöhung des Betrages des Spannungszustandes an einzelnen Atombindungen führen. Diese festigkeitsmindernden Inhomogenitäten können entweder Poren, Oberflächenrisse oder Mikrorisse im Werkstoffgefüge sein. Aber auch durch plastische Verformung erzeugte Versetzungsstrukturen können zu lokalisierten Spannungserhöhungen auf atomarer Ebene führen, wodurch Rissinitiierungen entstehen, aus denen sich bei weiterer
6.2 Materialphysik der Schädigung
231
mechanischer Belastung große Makrorisse bilden können. Hieraus ergibt sich eine bestimmte Komplexität bei der theoretischen Beschreibung von Rissentstehung und -wachstum, da sich in Abhängigkeit von Material und Beanspruchung sehr unterschiedliche Möglichkeiten für die Erzeugung lokal erhöhter Spannungszustände ergeben, welche Auslöser von Rissen sind.
6.2.3.5 Rissentstehung Wie zahlreiche Untersuchungen gezeigt haben, sind die Prozesse der Rissentstehung vielschichtig und lassen daher keine einheitliche werkstoffunabhängige Beschreibung zu. Eines der elementaren Probleme besteht darin, dass viele der bei der Rissentstehung ablaufenden Prozesse auf atomaren Niveau stattfinden, sodass sie sich nur an sehr speziellen Laborproben untersuchen lassen. Einer Rissbildung gehen in der Regel Prozesse der Lokalisierung der plastischen Verformung voraus, d. h., spezifische, der plastischen Verformung zugrunde liegende Mechanismen treten örtlich gebündelt auf, sodass an dieser Stelle eine für die Schädigung auf atomaren Niveau notwendige Beanspruchung auftritt. Beim Prozess der Lokalisierung kommt es analog zu den Verformungsmechanismen (vgl. 5.3.1, 5.4.3, 5.5.3) zu einer Wechselwirkung zwischen den Versetzungen und Leerstellen mit bestimmten Elementen der Werkstoffstruktur (z. B. Gitter, Korngrenzen, Ausscheidungen). In Abhängigkeit von der Art dieser Wechselwirkung treten unterschiedliche Mechanismen der Rissentstehung auf. Sie unterteilen sich grob in intragranularen Rissbildungsmechanismen, dazu zählen alle Mechanismen, die auf einer Wechselwirkung mit Elementen der Strukturhierarchie (vgl. 3.2.1) unterhalb von Körnern basieren, und intergranulare Mechanismen, d. h. Mechanismen, die an Korngrenzen bzw. Phasengrenzen wirken. Eine typische Form von intragranularen Rissbildungsmechanismen sind Verformungslokalisierungen aufgrund der Ausbildung persistenter Gleitbänder bei zyklischer Verformung (vgl. 5.5.3.2). In diesen werden bei zyklischer Verformung Versetzungen ständig erzeugt und annihiliert. Infolge der Annihilation von Versetzungsdipolen des Leerstellentyps kommt es zur Bildung von Leerstellen, wodurch der Werkstoff in Form einer Protrusion an der Oberfläche austritt [341]. Die im Gitter einzelner Körner auftretenden persistenten Gleitbänder können jedoch auch intergranulare Mechanismen der Rissbildung auslösen, indem ein Versetzungsaufstau im persistenten Gleitband an der Korngrenze eine Spannungskonzentration hervorruft. In Abhängigkeit von der Beschaffenheit der Korngrenze können die so induzierten Zugspannungen ausreichen, um die Korngrenze aufzureißen [341]. Allerdings ist bei diesem eher bei niedrigen homologen Materialtemperaturen auftretenden Mechanismus der Rissbildung eher von intragranularen Rissbildungen auszugehen. Der Übergang zu intergranularen Mechanismen findet vor allem bei hohen homologen Materialtemperaturen in Zusammenhang mit den mit der Kriechverformung zusammenhängenden Elementarmechanismen statt [357, 358]. Einer der wichtigsten Mechanismen besteht dabei in der Bildung von
232
6 Schädigung
Poren an den Korngrenzen infolge der durch Spannungsgradienten verursachten Bewegung von Leerstellen oder Versetzungen (vgl. Abb. 6.8). Wenn ein einzelnes Korn in einem Werkstoffgefüge an einer Seite Druckspannungen und an einer anderen Zugspannungen erfährt, so kommt es gemäß dem in 5.2.2.3 in Zusammenhang mit dem Versetzungsklettern dargestellten Mechanismus des Leerstellenflusses (Gleichungen (5.15) - (5.20)) zur gerichteten Leerstellenbewegung. Damit an der Korngrenze eine Kondensation dieser Leerstellen zu einer Pore erfolgen kann, muss jedoch analog zu den Ableitungen in 6.2.3.4 und 3.4.1.2 eine für die mit den sich bildenden Porenoberflächen hinzukommende Oberflächenenergie γ s sich ergebende Energiebilanz erfüllt werden. Aus den Abhandlungen in [359-361] * ergibt sich, dass die Porenbildungsrate P stark von der Temperatur T und der wirkenden Spannungsbeanspruchung σ abhängig ist * ΔF P ∼ exp § – -------· , © kT ¹
(6.9)
wobei 3
16 ⋅ π ⋅ γ ΔF = ----------------------s2 3⋅σ
(6.10)
der aufzubringende Betrag an Freier Energie für die Bildung einer stabilen Pore ist. Die für die Bildung stabiler Poren erforderlichen Spannungen sind zwar niedriger als beim einfachen Zerreißen von Atombindungen, liegen jedoch mit einer Größenordnung von etwa E ⁄ 100 deutlich über den für Kriechverformungen üblichen Spannungsbeanspruchungen [358]. Daraus folgt, dass Porenbildung durch Leerstellenkondensation an Korngrenzen nur dann erfolgen kann, wenn gleichzeitig durch andere Mechanismen hohe lokale Spannungskonzentrationen erzeugt werden. Hierfür werden in der Literatur drei Mechanismen vermutet. Zum einen können an Korngrenzentripeln hohe lokale Spannungskonzentrationen auftreten, wenn dort gleichzeitig Prozesse der Korngrenzengleitung ablaufen. Eine andere
K or ng re
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Teilchen
s
s
K
or
ng
re
e nz
ng
le
ite
n
s Gleitband Korngrenze
s
Abb. 6.8 Schematische Darstellung der Porenbildungsmechanismen aus [358]
6.2 Materialphysik der Schädigung
233
Möglichkeit ergibt sich in teilchengehärteten Legierungen, wenn die harten Phasenteilchen sich genau auf einer Korngrenze der weichen Matrix befinden, an der ebenfalls Korngleitprozesse ablaufen. Eine Möglichkeit, welche kein Korngrenzengleiten voraussetzt, ist das Aufstauen von Versetzungen an Korngrenzen.
6.2.3.6 Risswachstum Bleiben die Spannungsbeanspruchungen, welche zur Bildung kleiner Initialrisse bzw. Poren geführt haben, bestehen, so können in der unmittelbaren Umgebung der Rissspitze aufgrund lokaler Spannungsüberhöhungen Mechanismen der plastischen Verformung ablaufen. Als Rissspitze wird dabei der Teil des Initialrisses bzw. der Pore verstanden, welcher den kleinsten Radius besitzt. Je nach Beanspruchung und homologer Materialtemperatur kann es an der Rissspitze zu kristallografischem Gleiten, zu Versetzungsbewegungen durch Kriechmechanismen oder zur Leerstellendiffusion kommen [358]. Da die ersten beiden den in 5.3 und 5.4 besprochenen Verformungsmechanismen entsprechen, sollen sich die folgenden Betrachtungen auf das Porenwachstum durch Leerstellendiffusion konzentrieren. Die Pfade der Leerstellendiffusion an einer Pore des Radius a sind für den Fall weniger, gleichmäßig entlang der Pore verteilter Leerstellen in Abb. 6.9 dargestellt. Das Wachstum der Pore wird dabei ausschließlich durch gerichtete Diffusion hervorgerufen, ohne dass Mechanismen der plastischen Verformung daran beteiligt sind. Die Diffusion der Leerstellen findet zunächst entlang der Porenoberfläche und danach entlang der angrenzenden Korngrenzen statt. Die Wachstumsgeschwindigkeit entspricht folglich dem langsamsten dieser beiden Transportprozesse, d. h. entweder dem Korngrenzen- oder dem Oberflächendiffusionsprozess. Wird davon ausgegangen, dass der Korngrenzendiffusionsprozess der langsamere und damit bestimmende Prozess ist, so ergibt sich die Porenwachstumsgeschwindigkeit nach den in [362, 363] getroffenen Ableitungen aus
2b
Oberflächendiffusion Korngrenzendiffusion
2a
Abb. 6.9 Schematische Darstellung des Porenwachstums durch Leerstellendiffusion aus [358].
234
6 Schädigung
d KG ⋅ D KG ⋅ Ω ⋅ σ da -, ------ = ----------------------------------------2 dt a ⋅k⋅T
(6.11)
wobei d KG die Dicke der Korngrenze, D KG der Koeffizient für Korngrenzenselbstdiffusion und Ω das Atomvolumen ist. Die aus Gleichung (6.11) hervorgehende lineare Spannungsabhängigkeit des Porenwachstums durch Leerstellendiffusion konnte jedoch über experimentelle Befunde nur selten bestätigt werden [358]. Wird davon ausgegangen, dass der Oberflächendiffusionsprozess der langsamere und damit bestimmende Prozess ist, so nimmt das Porenwachstum eine äußere Gestalt an, welche mit einem klassischen Risswachstum vergleichbar ist, da Leerstellen an der Rissspitze schneller abdiffundieren, als sie von der Porenoberfläche nachgeliefert werden. Die Porenwachstumsgeschwindigkeit, welche im Gegensatz zum zuerst beschriebenen Prozess nicht mehr mit einer Formstabilität der Pore verbunden ist, ergibt sich für den Bereich niedriger Spannungen nach den in [364] getroffenen Ableitungen aus 3
ds ⋅ Ds ⋅ Ω ⋅ σ da----= ----------------------------------, 2 dt 2 ⋅ k ⋅ T ⋅ γs
(6.12)
wobei d s ⋅ D s der Oberflächendiffusionsrate entspricht. Die aus Gleichung (6.12) hervorgehende Spannungsabhängigkeit des Porenwachstums mit der dritten Potenz entspricht experimentellen Beobachtungen [365, 366]. Die beschriebenen diffusionsgesteuerten Porenwachstumsprozesse können durch Wechselwirkung mit umgebenden Prozessen der Kriechverformung beschleunigt werden, da hierdurch die charakteristische Diffusionslänge für den Leerstellentransport durch die Korngrenze verkürzt wird. Dies ist besonders bei hohen Spannungen und hohen
2b
L
L
Oberflächendiffusion Potenzgesetz- Korngrenzendiffusion kriechen
Korngrenzen- Potenzgesetzdiffusion kriechen 2a
Abb. 6.10 Schematische Darstellung des gekoppelten Porenwachstums durch Leerstellendiffusion und Potenzgesetzkriechen aus [358].
6.3 Modellierung der Materialschädigung
235
Dehnraten der Fall, wodurch es zu einer starken Beschleunigung des Porenwachstums kommen kann (vgl. Abb. 6.10).
6.3 Modellierung der Materialschädigung 6.3.1 Problematik der Schädigungsmodellierung Wie aus den Ausführungen zur Rissbildung (vgl. 6.2.3.5) und zur Rissfortpflanzung (vgl. 6.2.3.6) hervorgeht, handelt es sich bei Schädigungsprozessen in der Regel um lokalisiert im Werkstoff ablaufende physikalische Mechanismen. Im Gegensatz zur Verformung, bei der angenommen wird, dass sie bei homogener äußerer Belastung gleich verteilt über dem Querschnitt des Werkstoffs stattfindet, muss bei Schädigungsprozessen davon ausgegangen werden, dass trotz homogener äußerer Belastung sich an einer bestimmten Stelle im Querschnitt des Werkstoffs ein Anriss bildet, der sich von dort aus über den Querschnitt auszubreiten beginnt. Der Ort der Rissentstehung hängt dabei nicht unmittelbar mit der Belastung zusammen. Für die Nachbildung von Schädigungsprozessen in einem Modell wirft dies ein Problem auf, wenn - wie bei den werkstoffmechanischen Modellen - ein funktionaler Zusammenhang zwischen vorgegebener Belastung und im Werkstoff erfolgender Schädigungsreaktion angestrebt wird. Grundsätzlich wäre es zwar möglich, die konkreten werkstoffstrukturellen Spezifika, d. h. Korngrenzen, Ausscheidungen, harte Phasenteilchen usw., einem Modell vorzugeben, um so lokale Spannungsüberhöhungen zu ermitteln und Orte der Rissentstehung abzuschätzen. Für praktische ingenieurtechnische Belange ist ein solches Vorgehen sehr aufwendig, da derselbe Werkstoff in verschiedenen in einer Serienproduktion gefertigten Bauteilen gleichen Typs immer ein anderes strukturelles Aussehen haben wird und somit viele Varianten möglicher Werkstoffgefüge in die Berechnungen einbezogen werden müssen. Auch die Nachbildung der Rissbildung ist für ingenieurtechnische Anwendungen schwierig. Zwar liegen für die verschiedenen möglichen Mechanismen physikalische Modelle vor, allerdings ist die experimentelle Verifizierung dieser Prozesse sehr aufwendig, sodass nur für wenige ausgesuchte “Modellwerkstoffe“, wie Cu oder Ni, entsprechende Modellparameter vorliegen. Eine Ausweitung dieser Experimente auf alle technisch verfügbaren Legierungen erscheint unrealistisch. Überdies ist die Modellierung mechanischer Prozesse über viele Größenordnungen hinweg, d. h. von der Makroebene bis auf das atomare Niveau, sehr schwierig, da hierzu viele Zwischenmodelle notwendig sind, welche die Zusammenhänge zwischen den Mechanismen in den einzelnen Strukturebenen herstellen. Aus den genannten Gründen haben sich für ingenieurtechnische Belange Formen der Modellierung durchgesetzt, bei denen durch die Vorgabe bestimmter Randbedingungen bzw. durch bestimmte Vereinfachungen die eingangs für die
236
6 Schädigung
Nachbildung schädigungsmechanischer Prozesse genannten Schwierigkeiten umgangen werden, sodass für die Anwendung praktisch nutzbare Schädigungsberechnungen ermöglicht werden. Zu den weit verbreitetsten Modellformen zählen dabei die kontinuumsmechanisch abgeleiteten Konzepte der Bruchmechanik und der Kontinuumsschädigungsmechanik sowie verschiedene empirische Ermüdungsmodelle.
6.3.2 Bruchmechanische Konzepte „Die Bedeutung des Pilotprogramms beim U.S. Naval Research Laboratory und die der Risstheorie von Griffith aus dem Jahr 1920 sollte nicht überbetont werden. Die grundsätzlichen Ideen der Analysen ergaben sich nahezu offensichtlich aus allgemeinen Prinzipien und wären zu jeder Zeit bei Vorhandensein einer ausreichenden Motivation zustande gekommen. Tatsächlich war es so, dass die bestehende Praxis, Sicherheitsfaktoren über vorhandene Schadensfälle abzuschätzen, einfach zu teuer wurde und dringend einer Ablösung durch ein rationaleres Vorgehen bedurfte. Innovativer Fortschritt bei Werkstoffen und Konstruktionen benötigte ein besseres Verständnis der Bruchfestigkeit und verbesserte Methoden der Bruchvermeidung.“ George R. Irwin in Journal of Metals, Juli 19971
6.3.2.1 Hintergrund bruchmechanischer Konzepte Der Zweck bruchmechanischer Konzepte besteht darin, die Analyse und Voraussage des Risswachstums ohne explizite Kenntnis der werkstoffphysikalischen Schädigungsmechanismen durchführen zu können. Das methodische Vorgehen besteht dabei in der Verwendung verschiedener Konzepte, welche die Verteilung von Spannung und Dehnung in der Nähe der Rissspitze charakterisieren. In Versuchen an speziellen Modellproben wird der Zusammenhang zwischen einem bestimmten bruchmechanischen Parameter und der Rissausbreitung bestimmt. Mit Hilfe der so erhaltenen Kennwerte lassen sich durch Anwendung der bruchmechanischen Konzepte auf Rissvorgänge in realen Strukturen Aussagen zum Rissfortschritt ableiten [357]. Die heute bekannten bruchmechanischen Konzepte gehen auf Arbeiten von Inglis [367] aus dem Jahr 1913 zurück, in denen er das Konzept von Spannungskonzentrationen an geometrischen Diskontinuitäten vorschlug, um so eine Erklärung dafür zu geben, weshalb Brüche in der Regel von Rissen, Löchern oder anderen 1. Das Zitat stammt aus einem Übersichtsaufsatz über die historische Entwicklung des Bruchverständnisses [374] (übersetzt durch den Autor).
6.3 Modellierung der Materialschädigung
237
Defekten ausgehen. Diese Überlegungen wurden wenige Jahre später von Griffith [368] weitergeführt, indem er diese mit Hypothesen zur Energiebilanz während der Rissbildung kombinierte und daraus das Konzept einer kritischen Risslänge ableitete, ab der es in spröden Werkstoffen zur instabilen Rissausbreitung kommt. In theoretischen Analysen leitete er eine inverse Beziehung zwischen der Bruchspannung und der Wurzel der Risslänge ab. Experimentell konnte dieser Ansatz jedoch nur an sehr spröden Glasproben bestätigt werden. Alle Versuche, das Griffith-Konzept auch auf Metalle anzuwenden, scheiterten, wodurch keine praktische Nutzbarkeit des Konzeptes gegeben war. Erst im Jahr 1956 wurde durch Irwin ein für ingenieurtechnische Belange geeignetes Energiefreisetzungsrate-Konzept vorgestellt, welches auf den theoretischen Ansätzen von Griffith aufbaute und vorhergegangene Überlegungen [372, 370] zum lokalen plastischen Fließen an der Rissspitze berücksichtigte. Kurze Zeit später veröffentlichte Irwin seinen wichtigsten Aufsatz [372] zur Bruchmechanik, in welchem er durch Nutzung der Westergaard-Näherung [373] zeigte, dass die Amplitude der Spannungen oder Verformungen vor der Rissspitze in sich elastisch verformenden Medien durch einen einzigen Parameter charakterisiert werden kann. Die Einführung dieses heute allgemein als Spannungsintensitätsfaktor K bezeichneten Parameters war einer der wichtigsten Meilensteine für das sich entwickelnde Gebiet der Bruchmechanik. Die Größe von K hängt von der äußeren Belastung sowie der Größe und Form von Riss und Bauteil ab. Es konnte weiter gezeigt werden, dass K eindeutig zur Energiefreisetzungsrate ins Verhältnis gesetzt werden kann, was zeigt, dass eine Korrelation zwischen den Spannungsund Energieansätzen besteht [375, 334]. In Abhängigkeit vom Verformungsverhalten der Werkstoffe werden verschiedene bruchmechanische Konzepte zur Bewertung rissbehafteter Bauteile verwendet. Grundsätzlich wird zwischen der linear-elastischen Bruchmechanik (LEBM) und der elastisch-plastischen Bruchmechanik (EPBM), welche auch als Fließbruchmechanik (FBM) oder Zähbruchmechanik bezeichnet wird, sowie der zeitabhängigen Bruchmechanik (ZBM) unterschieden. Ausschlaggebend ist, in welchem Ausmaß plastische Verformungen vor der Rissspitze den Bruchvorgang begleiten und ob diese sich zeitlich verändern. Sind die Fließbereiche vor der Rissspitze groß und ist damit der Radius der plastischen Zone nicht mehr klein gegenüber der Risslänge, verlieren die einfacheren Konzepte der LEBM ihre Gültigkeit und es muss die EPBM zur Anwendung kommen. Sollen darüber Zeitabhängigkeiten betrachtet werden, kommt in Abhängigkeit von der Rissgeschwindigkeit und vom Materialverhalten eines von mehreren Konzepten innerhalb der ZBM zum Tragen - die dynamische Bruchmechanik für schnelle Risse in der Größenordnung der Schallgeschwindigkeit im jeweiligen Werkstoff, die viskoelastische Bruchmechanik für zeitabhängige Rissvorgänge in Polymeren sowie die Kriechbruchmechanik für langsame Rissausbreitung in Keramiken und Metallen.
238
6 Schädigung
6.3.2.2 Linear-elastische Bruchmechanik Das LEBM-Konzept ermöglicht die quantitative Vorhersage des Versagens eines angerissenen Bauteiles als Folge von instabiler Rissausbreitung. Zunächst wird das Spannungsfeld um einen Riss betrachtet. Dabei wird angenommen, dass das Spannungsfeld auf eine elastische Verzerrung zurückgeführt werden kann. Dies ist nur möglich, wenn die am Körper anliegende Spannung gleichmäßig verteilt und der Körper um den Riss homogen und isotrop ist. Um einen solchen Spaltbruch unter überwiegend linear-elastischen Verformungsbedingungen vorauszusagen, existieren zwei wesentliche Konzepte. Das erste baut auf einer Energiebilanz auf, welche die notwendigen Bedingungen für den Bruch formuliert. Das zweite verwendet die Amplitude einer Rissspitzen-Spannungsintensität, welche einen kritischen Wert überschreiten muss, damit es zum Bruch kommt.
Energiebilanz-Ansatz In der von Griffith [368] durchgeführten Energiebilanz-Betrachtung wird als Voraussetzung für die Vergrößerung einer Bruchfläche A um dA formuliert, dass die Gesamtenergie H sich entweder verkleinern sollte oder zumindest konstant bleiben muss. Wird eine Platte betrachtet, welche durch eine konstante Spannung σ beansprucht wird und einen Anriss der Länge 2a enthält, so ergibt sich unter der Annahme, dass die Breite der Platte b » 2a ist und dass ein ebener Spannungszustand vorherrscht, die folgende Energiebilanz W d H- = d Π- + d ---------s = 0 ----------dA dA dA
(6.13)
bzw. dW dΠ – ------- = ---------s , dA dA
(6.14)
wobei Π die potenzielle Energie ist, welche durch die elastische Streckung der Platte zustande kommt. Zur ihrer Berechnung nutzt Griffith die Spannungsanalyse von Inglis [367], um für den in Abb. 6.11 abgebildeten Riss zu zeigen, dass 2
2
π⋅σ ⋅a ⋅d Π = Π 0 – ------------------------------- , E
(6.15)
wobei Π 0 die potenzielle Energie der ungerissenen Platte ist und d der Plattendicke entspricht. W s entspricht der Arbeit, welche zur Bildung der zwei neuen Oberflächen notwendig ist und sich aus
6.3 Modellierung der Materialschädigung
239
s
d 2a
s Abb. 6.11 Riss durch die Dicke einer dünnen Platte, welche unter Zugbeanspruchung steht.
Ws = 4 ⋅ a ⋅ d ⋅ γs
(6.16)
ergibt, wobei γ s die Oberflächenenergie des Materials ist [334], d. h. 2
dΠ π⋅σ ⋅a – ------- = --------------------dA E
(6.17)
und dW s --------- = 2 ⋅ γ s dA
(6.18)
Aus den Gleichungen (6.17) und (6.18) ergibt sich eine Bruchspannung von σB =
2 ⋅ E ⋅ γs -------------------- . π⋅a
(6.19)
Gleichung (6.19) gilt jedoch nur für sehr spröde Werkstoffe. Bei der Anwendung auf Metalle zeigte sich, dass es zu einer deutlichen Unterbewertung der
240
6 Schädigung
Bruchfestigkeit kommt. Irwin und Orowan modifizierten daher die Lösung von Griffith, indem sie einen zusätzlichen Energiebetrag für plastische Verformung vor der Rissspitze in die Bilanz mit aufnahmen, sodass sich die Bruchspannung aus σB =
2 ⋅ E ⋅ ( γs + γp ) ----------------------------------π⋅a
(6.20)
ergibt, wobei γ p die plastische Verformungsarbeit ist, die im Material vor der Rissspitze geleistet wird, welche in Metallen üblicherweise deutlich größer als γ s ist [334]. Im Gegensatz zu Bruchvorgängen in spröden Werkstoffen, in denen Risse hauptsächlich durch das Aufreißen von Atombindungen gebildet werden, kommt es in Metallen zu einer erheblichen Versetzungsbewegung in der Nähe der Rissspitze, aus welcher ein zusätzlicher Betrag von Verformungsarbeit resultiert. Obwohl Irwin und Orowan die Formulierung in Gleichung (6.20) ursprünglich für Metalle gemacht haben, lässt sich durch die Einführung einer spezifischen Bruchenergie w B folgende Generalisierung dieser Formulierung erreichen σB =
2 ⋅ E ⋅ wB ---------------------- , π⋅a
(6.21)
wobei durch w B in Abhängigkeit vom Werkstoff auch Anteile viskoelastischer bzw. zeitabhängiger plastischer Verformungen vor der Rissspitze als auch andere Effekte, wie das Verzweigen von Rissen, berücksichtigt werden können.
Spannungsintensitätsfaktoren-Ansatz Bei der Bewertung von Rissen mit dem Rissspitzen-SpannungsintensitätsAnsatz wird in drei verschiedene sogenannte Bruchmoden (Abb. 6.12) unterschieden, mit denen ein Riss in Abhängigkeit von der Form der Beanspruchung an der Rissspitze vorangetrieben wird. Der üblicherweise mit dem Index römisch eins bezeichnete Modus I, ist der sogenannte Rissöffnungsmodus, d. h., es werden die Rissufer spiegelsymmetrisch gegenüber der x-z-Ebene in Richtung der x-y-Ebene auseinandergezogen. Der Modus II ist der sogenannte Gleitmodus, d. h., die Rissufer gleiten symmetrisch auf der x-z-Ebene und in Richtung der x-y-Ebene gegeneinander ab. Modus III ist der Zerreiß- oder Torsionsmodus, d. h., die Rissufer gleiten spiegelsymmetrisch zur x-y-Ebene in Richtung y-z-Ebene gegeneinander ab. Bruchmechanische Betrachtungen beziehen sich in der Regel auf Mode I-Belastungen, da die meisten in Metallen auftretenden Risse unter dieser Bedingung stattfinden. In der Praxis reißen Bauteile mit Innen- bzw. Oberflächenrissen, die auf Zug oder Biegung beansprucht werden, überwiegend in Modus I. Überdies exis-
6.3 Modellierung der Materialschädigung
241
F
y
x
F
F
z F F Mode I
F Mode II
Mode III
Abb. 6.12 Bruchmodi
tiert für Risse in den Moden II und III bzw. für sich überlagernde Bruchmoden (engl. mixed-mode) keine vollständig etablierte Theorie [375]. Das Konzept der Spannungsintensitat ermöglicht die quantitative Erfassung der das Risswachstum vorantreibenden Kräfte unter Annahme eines überwiegend linear-elastischen Verformungsverhaltens des Werkstoffes. Ausgangspunkt für den Spannungsintensitätsfaktor-Ansatz waren geschlossene mathematische Ausdrücke zur Spannungsberechnung in einem sich als isotrop linear-elastisch verformenden rissbehafteten Körper, welche durch verschiedene Autoren [372, 373, 376] vorgelegt wurden. Eine generalisiertere Lösung zur Spannungsberechnung im Raum vor der Rissspitze, welche nicht auf die unmittelbare Rissspitzenumgebung begrenzt ist, wurde von Williams [377] formuliert:
σ ij
m ----
∞ k 2 (m) = § ------· ⋅ f ij ( θ ) + ¦ A m ⋅ r ⋅ g ij ( θ ) , © r¹ m=0
(6.22)
wobei σ ij dem Spannungstensor entspricht (vgl. 4.3.5), die (Polar-)Koordinatenparameter r und θ gemäß der in Abb. 6.13 gegebenen Definition zu verwenden sind, k eine Konstante ist und f ij eine dimensionslose Funktion von θ ist, die nur von der Geometrie des Bauteils (bzw. der Probe) und der Risslänge abhängt. Wie aus der Formulierung von Gleichung (6.22) hervorgeht, leisten die Terme höherer Ordnung nur für größere Werte von r einen signifikanten Beitrag. Mit anderen Worten, in der Nähe der Rissspitze, d. h. r → 0 , wird die Spannungsverteilung nahezu ausschließlich vom ersten Term bestimmt. Aus diesem geht hervor, dass die Spannungsverteilung direkt vor der Rissspitze immer einer 1 ⁄ r Funktion folgt, unabhängig davon, wie die konkrete Geometrie des rissbehafteten Körpers aussieht. In gleicher Weise kann gezeigt werden, dass die Verformung an der Rissspitze sich proportional zu r verhält. Durch Gleichung (6.22) wird eine Sin-
242
6 Schädigung
y
syy txy
sxx tyx
q Rissspitze
x
Abb. 6.13 Rissspitzenkoordinatensystem mit entsprechenden Spannungszuständen vor der Rissspitze. Die z-Achse steht normal zum Blatt.
gularität an der Rissspitze ( r = 0 ) für den asymptotischen Spannungsverlauf im rissbehafteten Körper beschrieben. Jeder Bruchmodus besitzt die gleiche 1 ⁄ r Singularität an der Rissspitze, jedoch hängen die anderen beiden Faktoren ( k und f ij ) vom Bruchmodus ab. Zur Vereinfachung wird k gegen einen sogenannten Spannungsintensitätsfaktor K ausgetauscht, wobei K = k 2π . Die drei möglichen Spannungsintensitätsfaktoren erhalten den gleichen Index wie die Bruchmoden, also K I , K II oder K III . Entsprechend finden für die Bruchmoden I, II, III folgende Formulierungen für die Spannungsfelder vor der Rissspitze in einem isotropen, linear-elastischen Material Verwendung: KI (I) (I) lim σ ij = ------------- ⋅ f ij ( θ ) r→0 2πr ( II )
lim σ ij
r→0
( III )
lim σ ij
r→0
K II ( II ) = ------------- ⋅ f ij ( θ ) 2πr K III ( III ) = ------------- ⋅ f ij ( θ ) 2πr
(6.23)
(6.24)
(6.25)
Wenn das singuläre Spannungsfeld im Modus I auf der Rissebene, d. h. θ = 0 , betrachtet wird, ergeben sich die gleichen Spannungsverläufe in x- und in y-Richtung
6.3 Modellierung der Materialschädigung
KI σ xx = σ yy = -----------2πr
243
(6.26)
Für θ = 0 ergibt sich keine Schubkomponente, was bedeutet, dass in der Rissebene eine reine Mode I-Belastung vorliegt. Das Diagramm in Abb. 6.14 zeigt schematisch den Verlauf von σ yy , d. h. die normal zur Rissebene stehende Spannungskomponente über der Entfernung von der Rissspitze. Die Gültigkeit des über Gleichung (6.26) berechneten Verlaufes beschränkt sich auf die unmittelbare Umgebung vor der Rissspitze, welche durch die 1 ⁄ r Singularität beherrscht wird. Die weit von der Rissspitze im Bauteil vorliegende Spannungsverteilung wird von den äußeren Randbedingungen bestimmt. Wird ein rissbehaftetes Bauteil beispielsweise durch eine homogen angreifende Zugkraft belastet, so nähert sich σ yy mit zunehmender Entfernung vom Riss einem konstanten Wert σ ∞ an. Innerhalb der singulären Zone gelten die unter 6.2.3.4 formulierten Ableitungen zum Bruch auf atomarer Ebene. Der Spannungsintensitätsfaktor K gibt über die Amplitude der Singularität an der Rissspitze Auskunft, d. h., Spannungen in der Nähe der Rissspitze verhalten sich proportional zu K . Über K lässt sich auch die Spannungs- und Dehnungsverteilung in der Nähe der Rissspitze als Funktion von den Koordinatenparametern r und θ bestimmen. Der Spannungsintensitätsfaktor K ist damit eine einparametrige Beschreibung der Rissspitzenbeanspruchung, da er die Einflussgrößen äußere Kräfte und vorhandene Risslänge miteinander kombiniert, d. h., ein rissbehaftetes Bauteil ist der gleichen wirksamen Rissspitzenbeanspruchung ausgesetzt, wenn entweder eine hohe äußere Kraft auf einen kurzen Riss wirkt oder eine niedrige äußere Kraft auf einen langen Riss. Der quantitative Betrag der Rissspitzenbeanspruchung, welcher darüber entscheidet, ob der Riss wächst, lässt sich einfach an K ablesen, wodurch der Rissspitzen-Spannungsintensitäts-Ansatz das effektivste und damit bedeutungsvollste Konzept der Bruchmechanik ist [334]. syy
sµ KI 2pr Rissspitze
r durch Singularität beherrschte Zone
Abb. 6.14 Spannungsverteilung normal zur Rissebene bei Mode I-Belastung
244
6 Schädigung
6.3.2.3 Nichtlineare Bruchmechanik Aufgrund des relativ einfach beschreibaren werkstoffphysikalischen Mechanismus für das Aufbrechen von Atombindungen lassen sich die verschiedenen Ansätze zur Beurteilung von Rissvorgängen in der linear-elastischen-Bruchmechanik in einer Art und Weise ableiten, in der ein sehr enger Zusammenhang zwischen den werkstoffphysikalischen Elementarmechanismen und dem kontinuumsmechanischen Ansatz (z. B. Spannungsintensitätsfaktor-Ansatz) herrscht. Legt man anstelle der idealisierten Voraussetzung eines rein linear-elastischen Verformungsverhaltens das im Realfall wahrscheinlichere Auftreten elastischer und inelastischer Verformungserscheinungen zugrunde, so ist es aufgrund der verschiedenen diesen Deformationsphänomenen zugrunde liegenden Mechanismen schwer, eine umfassende mechanismenorientierte Beschreibung von Bruchvorgängen anzufertigen. Zwar ist es möglich, bestimmte Vorgänge isoliert in verschiedenen Einzelmodellen zu betrachten. Jedoch ergeben sich daraus keine klaren Ableitungen für das Aufstellen kontinuumsmechanischer Beschreibungen. Aus diesem Grund existiert im Fall nichtlinearen Verformungsverhaltens eine stärkere Diskrepanz zwischen den kontinuumsmechanischen Analysen der den Riss vorantreibenden Kräfte auf der einen Seite und den tatsächlich an der Rissspitze auftretenden werkstoffphysikalischen Elementarmechanismen auf der anderen Seite [342]. Unter Berücksichtigung der aufgeführten Problematik bei nichtlinearem Verformungsverhalten besteht das Ziel einer effektiven kontinuumsmechanischen Analyse, eine universelle Charakterisierung des Rissspitzenbeanspruchungsfeldes anzufertigen, welche dieses für verschiedene Belastungsbedingungen über geeignete Parameter beschreibt. Die heute am weitesten verbreiteten Ansätze sind das JIntegral und das C*-Integral. Außerdem existiert das sogenannte Rissspitzenaufweitungsverfahren (Crack Tip Opening Displacement, CTOD), welches allerdings nicht näher besprochen werden soll.
Der J-Integral-Ansatz Für ebene Verformungsfelder wurde in unabhängigen Arbeiten von Cherepanov [379] und Rice [380] ein wegunabhängiges Linienintegral diskutiert, mit dem sich das Bruchverhalten bei elastisch-plastischem Verformungsverhalten beschreiben lässt. Dieser als J-Integral bezeichnete Ansatz beruht auf einem Linienintegral mit geschlossenem Integrationsweg um die Rissspitze J =
du j
- ⋅ ds· ³ §© W ⋅ dy – σ ij ⋅ n i ⋅ -----¹ dx
Γ
mit
(6.27)
6.3 Modellierung der Materialschädigung
245
y Ti uj
r
q Rissspitze
0
x
ds
ni
Abb. 6.15 Definition des J-Integrals
ε ij
W =
³ σij ⋅ dεij
,
(6.28)
0
wobei Γ ein beliebiger Integrationsweg um die Rissspitze ist, n i den nach außen gerichteten Normalenvektor auf Γ darstellt, W der Verformungsenergiedichte entspricht und σ ij der Spannungstensor und ε ij der Verschiebungstensor ist, u j dem entsprechenden Verschiebungsvektor und ds dem zugehörigen Bogenelement des Integrationsweges entspricht (vgl. Abb. 6.15). [375] Aufgrund der Formulierung des J-Integrals besteht eine wichtige Bedingung darin, dass die Verformungsenergiedichte Potenzialcharakter besitzt. Das hat zur Folge, dass nur monoton belastete Bauteile bzw. Proben über das J-Integral bewertet werden können, während Wechsellasten unzulässig sind. Die Bestimmung des J-Integrals kann sowohl experimentell als auch nummerisch erfolgen. Die experimentelle Bestimmung des J-Integrals erfolgt, indem die zur Verformung eines rissbehafteten Körpers verrichtete mechanische Arbeit bei zwei inkrementell nacheinander erreichten Risslängen zugrunde gelegt wird: J = –
∂ F ⋅ --- ⋅ dx , ∂a ³ b
(6.29)
wobei F der Kraft, welche auf den Probekörper der Dicke b aufgebracht wurde, entspricht und dx die inkrementellen Verschiebungen des Lastangriffs-
246
6 Schädigung
punktes während des Experimentes sind [342]. Die nummerische Bestimmung des J-Integrals ist hingegen sehr viel komplizierter [378]. Im Spezialfall einer linearelastischen Verformung ergibt sich für den Fall des ebenen Spannungszustandes folgende Beziehung zwischen J und K 2
K J = -----IE
(6.30)
bzw. 2
2
KI ( 1 – ν ) J = ------------------------E
(6.31)
für den Fall des ebenen Verzerrungszustandes.
Der C*-Integral-Ansatz Nachdem sich das J-Integral als Konzept zur Bewertung von Brüchen bei elastisch-plastischen Verformungsverhalten etabliert hatte, entwickelten sich Ansätze zur Beschreibung des Kriechrissverhaltens bei Hochtemperaturanwendungen. Das C*-Integral, mit dem sich das Risswachstumsverhalten bei quasistatischer Kriechverformung beschreiben lässt, wurde unter anderem von Landes und Begley vorgeschlagen [383]. Hierbei wird auf die Hoff’sche Analogie [384] zurückgegriffen, dass, wenn ein nichtlinearer elastischer Körper, welcher der Beziehung ε ij = f ( σ ij ) folgt, und ein viskoser Körper, welcher durch die Beziehung · ε ij = f ( σ ij ) gekennzeichnet ist, demselben zeitlichen Spannungsverlauf ausgesetzt sind, dann entwickelt sich in beiden die gleiche Spannungsverteilung für dieselbe Belastung [334]. Das C*-Integral zeichnet sich dadurch aus, dass gegenüber dem J-Integral Spannungen gegen Spannungsraten und Verschiebungen gegen Verschiebungsraten ausgetauscht werden du· j
- ⋅ ds· , ³ §© w· ⋅ dy – σij ⋅ ni ⋅ -----¹ dx
C* =
(6.32)
Γ
wobei w· die Verformungsrateenergiedichte mit · ε kl
w· =
·
³ σij ⋅ dεij 0
(6.33)
6.3 Modellierung der Materialschädigung
247
ist. Durch verschiedene Autoren wurde das C*-Integral als Beanspruchungsparameter zur Beschreibung für Kriechrisswachstum vorgeschlagen. Analog zum JIntegral ergibt sich die Möglichkeit, es über die Bewegung der Lastangriffspunkte an einem Probekörper zu bestimmen. Durch eine Pfadunabhängigkeit charakterisiert es das Rissspitzenfeld und steht damit in engem Zusammenhang mit dem Bruchverlauf [342].
6.3.2.4 Problematik der Rissspitzenplastizität Bei einer rein linear-elastischen Betrachtung der Spannungsverteilung vor der Rissspitze wird an dieser eine unendlich große Spannung vorausgesagt. Tatsächlich ist dies jedoch nicht möglich, da bei sehr hohen, im Bereich vor der Rissspitze auftretenden Spannungen werkstoffphysikalische Mechanismen aktiviert werden, in deren Folge inelastische Verformungen in einem kleinem Bereich um die Rissspitze auftreten, welche diese abstumpfen, sodass immer ein endlicher Rissspitzenradius entsteht. Gleichzeitig wird die Spannung im Bereich der Rissspitze durch diese Verformungen reduziert. Ist der Bereich der inelastischen Verformung klein (Kleinbereichsfließen, engl. small-scale yielding) lässt sich durch Korrekturen an einfachen LEBM-Beschreibungen der Spannungsverteilung das veränderte Spannungsfeld vor der Rissspitze abschätzen. Um die Größe der plastischen Zone zu ermitteln, wurde von Irwin vorgeschlagen, die Entfernung von der Rissspitze r F , bei welcher die Spannung bei der rein elastischen Analyse der Spannungsverteilung der Fließspannung σ F des Materials entspricht, zu verwenden (siehe Abb. 6.16). Da es aufgrund der inelastischen Verformungen jedoch zu einer Spannungsumverteilung kommt, ist der Radius r p der plastischen Zone größer als der bei der elastischen Abschätzung angenommene. Für die Abschätzung von r p wird angenommen, dass die Flächen unter der elastischen und der elastisch-plastischen Spannungsverteilungsfunktion vor der Rissspitze gleich sein müssen, damit das Kräftegleichgewicht gegenüber der äußeren Belastung erhalten bleibt, sodass sich aus der Bedingung ry
K
dx – σ F ⋅ r F ³ ------------2πx
= σF ⋅ ( rp – rF )
(6.34)
0
folgende Lösung für r p ergibt 1 K 2 r p = 2 ⋅ r F = --- § ------· π © σ F¹
(6.35)
Ist die Größe der plastischen Zone klein gegenüber der Risslänge, bleibt die Lösung für Spannungsverteilung um die Rissspitze erhalten und wird nur durch
248
6 Schädigung
syy
sF
Rissspitze
r
rF
rp
ideal elastisches Verhalten
ideal elastisch-plastisches Verhalten
Abb. 6.16 Rissspitzenplastizität
eine kleine Fließzone vor der Rissspitze ergänzt, welche den bisherigen Verlauf dort abschneidet. Wenn sich das Problem der Rissspitzenplastizität aufgrund der Größe der plastischen Zone nicht mehr durch den Fall des Kleinbereichfließens abdecken lässt, lassen sich Form und Größe der plastischen Zone nur mit nummerischen Verfahren ermitteln, da beide dann stark von der Form des Bauteils abhängig sind. Bei steigender Belastung kann sich die plastische Zone über den gesamten Querschnitt des Bauteils ausbreiten. Die Berechnung der Spannungsverläufe in der Nähe der Rissspitze wurde von Hutchinson [381] und von Rice und Rosengreen [382] vorgenommen. Dabei gingen sie davon aus, dass das Verfestigungsverhalten des Werkstoffes bei einsetzender plastischer Verformung einer Potenzfunktion folgt, wie sie von der Ramberg-Osgood-Beziehung [386] vorhergesagt wird. Unter Berücksichtigung der gleichzeitig stattfindenden elastischen Verformung ergibt sich folgende Beziehung für den einachsigen Beanspruchungsfall: σ N ε σ ----- = ------ + α ⋅ § ------· , © σ F¹ εF σF
(6.36)
wobei σ F , ε F die entsprechende Fließspannung und -dehnung sind, α ein dimensionsloser Vorfaktor ist und N der Verfestigungsexponent (engl. strain hardening exponent) ist. Das von Hutchinson, Rice und Rosengreen berechnete Spannungsfeld (HRR-Feld) hat die Form
6.3 Modellierung der Materialschädigung
249
1 ------------
§ ·N+1 E⋅J -¸ ⋅ σ ij ( N, θ ) σ ij ( r, θ ) = σ F ⋅ ¨ ----------------------------2 © α ⋅ σ F ⋅ I n ⋅ r¹
(6.37)
N ------------
α ⋅ σF § ·N+1 E⋅J -¸ ⋅ ε ij ( N, θ ) , ε ij ( r, θ ) = -------------- ⋅ ¨ ----------------------------E © α ⋅ σ 2 ⋅ I ⋅ r¹ F
(6.38)
n
wobei σ ij dem Spannungstensor und ε ij dem Verschiebungstensor entspricht (vgl. 4.3.5), die (Polar-) Koordinatenparameter r und θ gemäß der in Abb. 6.13 gegebenen Definition zu verwenden sind und σ ij ( N, θ ) , ε ij ( N, θ ) dimensionslose Winkelfunktionen sind, welche nummerisch bestimmt werden müssen. I n ist eine Integrationskonstante, welche sowohl von N als auch vom Spannungszustand (d. h. ebener Verformungszustand oder Spannungszustand) abhängt. Aus den Gleichungen (6.37) und (6.38) geht hervor, dass sich für verschiedene Risse in unterschiedlichen Bauteilen des gleichen Werkstoffs, welche den gleichen Wert für J aufweisen, der gleiche asymptotische Spannungsverlauf ergibt und das entsprechende Rissverhalten daher identisch sein sollte - wenngleich einschränkend hinzugefügt werden muss, dass die Spannungen in der plastischen Zone im ebenen Verzerrungszustand kleiner sind als im ebenen Spannungszustand. Während das J-Integral die Spannungsfelder vor der Rissspitze in einem sich elastisch oder elastisch-plastisch verformenden Werkstoff charakterisiert, werden in einem sich viskos, d. h. sich zeitabhängig plastisch verformenden Werkstoff, die Spannungsfelder vor der Rissspitze ausschließlich durch das C*-Integral definiert. Die Hoff’sche Analogie impliziert dabei, dass das C*-Integral pfadunabhängig ist, da auch das J-Integral pfadunabhängig ist. Wenn davon ausgegangen wird, dass sich das Material im Zustand der quasistatischen Kriechverformung befindet und zur Beschreibung des ratenabhängigen Verformungsverhaltens ein einfaches Potenzgesetz angewendet werden kann n · ε ij = A ⋅ σ ij ,
(6.39)
wobei der Vorfaktor A und der Spannungsexponent n Materialkonstanten sind, ist es möglich, ein HHR-Feld für Spannungen und Dehnraten nahe der Rissspitze zu formulieren 1 -----------
n+1 C* σ ij ( r, θ ) = § -------------------· ⋅ σ ij ( n, θ ) © A ⋅ I n ⋅ r¹
(6.40)
250
6 Schädigung n -----------
n+1 C* ⋅ ε ij ( n, θ ) , ε ij ( r, θ ) = § -------------------· © A ⋅ I n ⋅ r¹
(6.41)
wobei σ ij , ε ij , r , θ , σ ij ( n, θ ) , ε ij ( n, θ ) und I n die gleiche Bedeutung wie die entsprechenden Parameter in den HRR-Feld-Beziehungen in Gleichung (6.37) und (6.38) haben. Bei Kriechrissbildung und -fortpflanzung durch Kondensation von Leerstellen an Korngrenzen mit anschließendem Porenwachstum (vgl. 6.2.3.5 und 6.2.3.6) lässt sich bei monotoner Belastung das Versagen in der Regel dem Erreichen einer kritischen Bruchdehnung ε B zuordnen [385]. Somit lässt sich über das HRR-Feld ein Ausdruck für die Kriechrissrate ableiten. 1 ----------n+1
n ----------n+1
⋅ ( C* ) ( A ⋅ Δa ) a· = -------------------------------------------------------εB
(6.42)
Die von Gleichung (6.42) vorhergesagte Abhängigkeit des Kriechrisswachstums von ( C* )
n ----------n+1
konnte experimentell bestätigt werden [342].
6.3.2.5 Bewertung der Rissausbreitung bei Wechselbelastung In allen bisherigen Betrachtungen zur Bewertung rissbehafteter Bauteile über bruchmechanische Konzepte wurde immer eine Beanspruchung zugrunde gelegt, welche entweder kontinuierlich gesteigert wird oder über einen bestimmten Zeitraum konstant gehalten wird. Die Möglichkeit, rissbehaftete Bauteile einer Wechselbeanspruchung auszusetzen, wurde von allen bisherigen Betrachtungen nicht berührt. Dafür ist es zunächst notwendig, bestimmte etablierte Formen der Beschreibung von Wechselbeanspruchungen über festgelegte ingenieurtechnische Kennwerte zu erläutern. Diese Formen der Beschreibung von Wechselbeanspruchungen haben nicht ursächlich mit den Konzepten der Bruchmechanik zu tun, sondern entstanden ursprünglich in Zusammenhang mit der Entwicklung von empirischen Ermüdungsmodellen (vgl. 6.3.3). Ausgangspunkt für die in Abb. 6.17 schematisch gezeigte Darstellung von Wechselbeanspruchungen war die Intention, die an technische Anlagen und Fahrzeugen auftretenden Schwingungsbeanspruchungen über geeignete Kennwerte darzustellen. Aus diesem Grund liegt der Darstellung die Überlegung zugrunde, dass die Bemessung des Bauteils gegenüber der Amplitude einer Schwingbeanspruchung so erfolgt ist, dass diese in ihrem Betrag deutlich unterhalb einer für die Formstabilität des Bauteils kritischen Beanspruchung liegt. Zur grundsätzlichen Beschreibung einer Schwingbeanspruchung wer-
6.3 Modellierung der Materialschädigung
251
s smax3
smax2 smin3 0
t
smax1 smin2
smin1
Druckschwellbeanspruchung 1